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Full text of "Arch Psychiatr Nervenkrankh 60.1919 Festschrift C. MOELI"

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Cornell Umoetaih* Hibrats 

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bought with the income of the 

SAGE ENDOWMENT FUND 

THE GIFT OF 

henry W. SAGE 

1891 


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AK 0 H 1 V 

FDR 

PSYCHIATRIE 

UND 

NERVENKUANKHEITEN. 


Du. <i. ANTON, 

Professor in Halle. 

Du. A. HOl'HE. 

l'r-;f**s>A*r-in Freiburg i.B 

L)u. J. RAECKE, 

!‘i ofo^or in Frankfurt a.M. 


I1ERAUSGEGEBEN 

VON 

Oh. 0, BJXSWAXGER. 

Professor in Jena. 

I)u. E. MEYER, 

Professor in KUnigsberg. 

Dr. E. S1HULTZE. 

Professor in Gottingen. 


Du. K. BONHOEKKER, 

Professor in Berlin. 

Du. <. JIOELJ. 

Professor in Berlin. 

Du. E. SIEMERLINB. 

Professor in Kiel. 


Du. A. WESTPHAL, Du. K. WOUENBEBti, 

Professor in Bonn. Professor in Marburg. 

\ 

REDIG1ERT VON E. SIEMEKLING. 


0O. HAND. 

MIT I BILDN1S I NI* 10 TAFKLN 


BERLIN l!Ui>. 

VKRLAG VON AUGUST HIKSCHWALk 

MV. L'NTKR PKN LINDEN fiS. 


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ARCHiy 

FOR 

PSYCHIATRIE 


UND 

/ 

NERVEN KRANKHEITEN. 


l)u. 6. ANTON, Dk. 0. BINSWANOBR, 

Profeasor In Haile. Professor in Jena. 


Dk. A. HOCHE, 

Profcsaor In Freiburg 1. tt. 

Dr. J. RAECKE, 

Professor In Frankfurt a. M. 


HERAU SG EGEBEN 

▼on 


Dr. E. MEYER, 

Professor in Kfinigsberg. 

Dr. E. SCHULTZE, 

Professor in Gottingen. 


Dr. K. B0NH0EFFER, 

Profossor in Berlin. 

Dr. C. MOELI, 

Professor in Berlin. 

Dk. E. S1EMERLING, 

Professor in Kiel. 


Dr. A. WESTPHAL, Dr. R. W0LLENBER6, 

Professor in Bonn. Professor in Marburg. 

REDIGIERT VON E. SIEMERLING. 


60. BAND. S./3. HEFT. 

Festschrift, 

Herrn Geh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. C. Moell gewidmet 
MIT 1 B1LDNI8 UND 8 TAFBLN. 


BERLIN 1919. 

VERLAG VON AUGUST fflRSCHWALD. 

NW. UNTER DEN LINDEN 08. 


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Festschrift 

Herrn 

Qeh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. C. Moeli 

zu seinem » 

70. Geburtstage 

gewidmet von 

seinen Freunden, Schulern und Verehrern. 


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C. Moeli 


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Hochverehrter Herr Geheimrat! 


Zu Ibrem 70. Geburtstag haben sich die Freunde, Schuler und 
Verebrer vereinigt, urn Ihnen in Gestalt einer Festschrift die herzlichen 
Wunsche ram Ausdruck zu bringen, die uns alle beseelen. 

Wenn Sie am hentigen Tage auf die Jahrzehnte freudigen nnd 
unermudlichen Schaffens zuruckblicken, die hinter Ihnen liegen, so 
werden Sie mit Befriedigung feststellen kSnnen, dass Ihre klinischen 
und anatomischen Arbeiten eine wesentliche nnd dauernde Bereicherung 
unserer diagnostischen und symptomatologischen Kenntnisse bilden. 

Dass die gerichtliche Psychiatric heute eine wfirdige Schwester der 
anatomischen und klinischen Forschung und eine selbst&ndige Teil- 
disziplin unserer Wissenschaft geworden ist — dass der Sachverstandige 
vor Gericht die seiner Bedeutung entsprechende Stellung einnimmt —, 
dass insbesondere der Jurist und Mediziner sich sowohl im Gericbts- 
saal, wie auch bei wissenschaftlichen Diskussionen besser verstehen 
gelernt haben und getneinsam an dem grossen Problem der Ver- 
brechensbek&mpfung arbeiten —, auch dazu haben Sie als Vork&mpfer 
in Wort und Schrift beigetragen, und wo fiber diese Fragen ein Meinungs- 
austausch stattfand, insbesondere damals, als es gait, an die bestehenden 
Gesetze die bessernde Hand anzulegen, da waren wiederum Sie es, der 
seine reicben Erfahrungen .in den Dienst der Sache stellte und dabei 
das Erreichbare vom Wunschenswerten weise zu trennen wusste. 

So haben Sie Ihr Leben iang unserer Wissenschaft gedient, als 
Foracher und akdderoiscber Lehrer sowohl, wie- dadurcb, dass Sie das 
Verst&ndnis fur psychiatrisches Denken und fur die sozialen Seiten 
unserer Wissenschaft in der Oeffentlichkeit uncrmudlich fOrderten. 

Es war selbstverst&ndlich, dass die Selbstverwaltungsbehbrde und 
der Preussische Staat sich Ihre wertvoile Arbeitskraft sicherton. Sie 
warden Direktor der Anstalt Herzberge, Referent fur die psychiatrischen 
Fragen im Ministerium des Innern, und viele Provinzialverb&ndo und 
SUtdte holten ihren Rat bei der Errichtung neuer Anstalten ein. 

Die schdnste Anerkennung lhrer Fachgenossen aber wurde Ihnen 
dadurcb zuteil, dass der Deutsche Verein fur Psychiatric Sie vor mehr 


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als 15 Jahren zu seinero Vorsitzenden ernannte, und dass seitdem dieses 
wichtige Amt in Ihren Handen blieb. 

Wir, die Ihnen als Freunde oder Schfiler n&her treten durften, 
wissen, dass Sie, ohne Worte zu machen, geholfen haben, wo es not 
tat, dass Sie uns als Lehrer viel Anregongen zuteil werden liessen, die 
fur unser gesamtes weiteres wissenschaftlicbes Denken richtunggebend 
waren, und dass Sie als Vorgesetzter Ihren Untergebenen stets das 
gr5sste Wohlwollen entgegengebracht haben. 

Fur alles das mSchten wir Ihnen durch diese Festschrift danken 
und zwei Wunsche hinzufugen, namlich einmal den, dass in der zu- 
kunftigen Irrengesetzgebung die Gedanken verwirklicht werden mOgen, 
die Sie seit vielen Jahren vertreten haben. Das wurde eine KrOnung 
Ihres Lebenswerkes bedeuten. 

Unser zweiter Wunsch gebt dabin, dass Ihnen noch viele Jahre 
frOhlicher wissenscbaftlicher Arbeit an der Seite Ihrer treuen Lebens- 
gef2.hrtin beschert sein mogen. 

Bonn, im April 1919. 

A. Htibner. 


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Inhalt. 


Heft I. (Ausgegeben im Marz 1919.) 8eiu 

I. Aus der psychiatrischen Universitatsklinik Frankfurt a. M. (Di- 
rektor: Geh. Med.-Eat Prof. Dr. Sioli). 

Walther Riese, Dr.: RiickenmarksTeranderungen eines 
Paralytikers. (Hierzu Tafeln I und II.). 1 

II. Aus der Kgl. Psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat 
Konigsberg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Meyer) 
u dem Kgl. Festungshilfslazarett I (Chefarzt: Oberstabsarzt 
Dr. Eckermann). 

Frieda Reiehmann, Dr.med. und Eduard Reichan, Taubstummen- 
lehrer: Zur Uebungsbehandlung der Aphasien ... 8 

III. Aus dem patholegisehen Institut der Yereinigten Friedrichs* 

Universitat Halle-Wittenberg (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. 

Dr. Beneke). 

Neste, Dr., Die Beziehungen des Status thy raico-ly m - 
phaticus zum Selbstmord von Soldaten.43 

IV. Harry Marease, Dr. (Herzberge), Stabsarzt d. R., zurzeit im Felde: 

Aufsatze zur energetischen Psychologie. (Sohluss.) . 72 

V. Harald Siebert, Dr., Norvenarzt und leitendem Arzt der psy¬ 
chiatrischen Abteilung am Stadtkrankenhaus in Libau: Hyste - 


rische Dammerzustande.153 

VI. Ernst Herxig, Dr. (Wien-Steinhof): Ueber Krankheitsein- 

sioht.180 

VII. 8 . tialant, Dr. (Bern-Belp): Suggestion und psychische 

Infektion . ;.208 

VIII. Friederick Kaangiesser: Zur Pathographie des rmmanucl 

Kant.219 

IX. W. Heinieke, Medizinalrat Dr., Sachsische Hoil- und Pflegeanstalt 

Waldheim, friiber lcitendcr Arzt der Nervenstation des Rcs.- 
Lazaretts I Bautzen: Zur Kasuistik kriegshysteriscbcr 
Storungen.223 

X. Albert Knapp, Dr., fr. Direktor und Privatdozent, z. Z. Komman- 

danturarzt: Sprachstdrungcn bei Epilepsic 220 


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X 


lohalt. 


8eile 

XI. Aus der psychiatrischen Nervenklinik Rostock-Gehlshcim (Direktor: 

Prof. Dr. Kleist). 

Gottfried Ewald, Dr. med., Assistent der psychiatrischen und 
Nervenklinik Rostock-Gehlsheim: Untersuchungen liber 
fermentative Vorgange im Verlaufo der endogenen 
Verblbdungsprozesse vermittcls des Abdorhalden- 
schen Di aly sicrv erf ahrens, und liber die diffential- 
diagnostische und forensische Vcrwertbarkeit der 

Methode in der Psychiatric.248 

X1L. J. Raecke, Prof. Dr. (Frankfurt a. M.): Zur Abwohr .... 282 

XIII. 21. Versammlung (K riegstagung) mitteldeutscher Psy¬ 

chiater und Neurologen in Leipzig am 27. Oktobcr 
1918. (Offizieller Bericht.).287 

XIV. 43. Wanderversammlung der Siidwestdeutschen Neu¬ 

rologen und Irrenarztc am 25. und 26. Mai 1918 in 

Baden-Baden.307 

XV. Ludwig EdingerV.351 

XVI. Korbinian Brodman +.354 

XVII. Referate: M. Reichardt, Allgcmeine und spezielle Psychiatrie. 

— H. Schrottcnbach, Studien liber den Hirnprolaps. — 

E. Kraepelin, Hundert Jahre Psychiatrie. — K. Marbo, 
Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. — 

L. Kaplan, Hypnotismus. — P. Schilder, Wahn und Er- 
kenntnis. — S. Hens, Phantasiepriifung. — C. v. Econo mo, 
Encephalitis lethargica. — R. Gaupppsychologic des Kindes. 

— R. Becker, Die jiidische Nervositat. — G. Schlomer, Leit- 
faden der klinischen Psychiatrie. — Arbeiten aus der psychiatri¬ 
schen Klinik inWiirzburg. — A. Wimmer, Psykiatrisk-Neuro- 
logiske Undersogelsesraetoder. — Zeitschrift fur Militarrecht . 357 


Heft II und III. (Ausgegeben im Mai 1919.) 

Festschrift, Herrn Geh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. C. Moeli gewidmet. 

XVIII. A. Westphal (Bonn): Ueber doppelseitige Athetose und 
verwandteKrankheitszustande(„striares Syndrom"). 
Ein Beitrag zur Lehre von den Linsenkernerkrankungen. (Mit 


17 Textfiguren.).361 

XIX. Aus der Provinzial-IIeil- und Pflegeanstalt Bonn. (Direktor: Geh. 

Rat Prof. Dr. Westphal.) 

F. Sioli, Dr.: Die Spirochaete pallida bei der progressi- 

ven Paralyse. (Hierzu Tafeln III—VII.).401 

XX. E. Meyer (Konigsborg i. Pr.): Einwirkung ausserer Ereig- 

nisse auf psychogene Dammerzustande.465 

XXL Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitiit Konigs- 
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Mod.-Rat Prof. Dr. Meyer.) 


Max Kastan, Priv.-Doz. Dr., I. Assistent der Klinik: Beitrag 
zurKenntnis der mitErhohung derRigiditat der 
Muskeln einhergehenden erworbenen Krankheiten 
des Nervensystcms (Pseudosklerose). (Mit 7 Textfig.) 477 


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Inhalt. 


XI 


Seitft 


XXII. J. Raecke, Prof. Dr. (Frankfurt a. M.): Ueber Aggravation 

und Simulation geistiger Stbrung.521 

XX111. MtinkenSller, Dr. (Langenhagen): Die Simulation psychi- 
scher Krankheitszustande in militarforensischer 
Beziehung.604 


XXIV. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Charite in Berlin. 

K. Benhoeffer: Einigo Schlussfolgerungen aus der psy¬ 
chiatrischen Kran ken be wegungw lib rend desKrieges 721 

XXV. Aus der psychiatrischen und Nerfenklinik der Universitat Konigs- 

berg i. Pr. (l)irektor: lieh. Med.*liat Prof. Dr. Meyer.) 

FriBZ Pfabel, approb. Arzt: Zwei Falle von Haarausfall 
nach Kopfsellussveilctzung.729 

XXVI. Ernst Sebttltze (Gottingen): Die Gewerbesteuerpflicht der 

Privatirrenansta lten. Ein Gutachten.742 

XXVII. A. Westpkal: Ueber cigenartige Einschliisse in den 
Ganglienzellen (Corpora amylacea) bei einem Falle 
von Myoklonus-Epi 1 cpsie. Vorlaufigc Mitteilung. (Hierzu 

Tafeln VIII—X.).769 

XXYUI. Aus der Klinik fiir psychisch und Xcrvcnkranke der Universitat 
Bonn. (Direktor: Geb. Med.-Rat Prof. Dr. A. Westphal.) 

A. 11. Htthner, Prof. Dr., Oberarzt der Klinik: Ueber dio 
manisch-dcpressive Anlage und einige ihrer A u s - 

laufer. I. Teil. . 783 

XXIX. Aus der psychiatrischen und Ncrvcnklinik der Universitat Kdnigs- 
berg i. Pr. (Direktor: Gch. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer.) 

('art Fiirst. approb. Arzt: Ueber die Abnahme des Alko- 
holismus an der psychiatrischen und Nervenklinik 


zu Konigsbcrg i. Pr. wahrend des Krieges .... 861 

XXX. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik zu Kiel. 

E. Sieaerling: Beitrag zur Verantwortlichkeit des 
Irrenarztes..877 



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I. 


Aus der psychiatrischen Universitatsklinik Frankfurt a. M. 
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sioli). 

RlickenmarksyerUnderungen elites Paralytikers. 

Yon 

Dr. Walther Riese. 

(Hierzn Tafeln I und n.) 


Die Eltern des Kranken, um den es sich handelt, sind nach den Angaben 
der Fran im hoben Alter gestorben. Geschwister bat er nicht. Seit 1909 ist 
•r verheiratet, aus der Ehe ist kein Kind hervorgegangen. Er ist jetzt 43 Jahre 
alt Geschlechtskrankheit vor der Ehe wird zugegeben. Anfangs besteht ein 
gedeihliches Zusammenleben mit der Frau; bald fangt der Mann an zu trinken, 
wird roh und gewalttatig, bedroht die Frau, sucht Bordello auf, begeht schliess- 
lich ganz sinnlose Handlungen: nimmt die Fenstersobeiben heraus, steckt vor 
dem Ofen Holz an, weil es ihn friert, zerkleinert immer Holz. 

Er ist Kriegsteilnebmer gewesen. Wegen eines Augenleidens schwebt 
ein Entlassungsverfahren. Er wird am 18. 2. 1917 in zweifellos angetrunkenem 
Zustande durch die Rettungswache aus der Wohnungin die Klinik eingeliefert; 
bei der Aufnahme begrusst er den Arzt in euphorischer Weise mit iallender 
Sprache mit den Worten: „Ich begriisse Sie im Namen des deutschen Reiches ! w 
Er riecht stark nach Alkohol. Kurze Zeit nach der Aufnahme wird eine Ex¬ 
ploration des Kranken vorgenommen, wahrend welcher er u. a. folgendes 
produziert: „Mein Grossvater war ein Raubritter. Die ganzen Schlosser hat 
er kaput gemacbt, und wenn jemand Geld haben wollte, hat er ihm mit Salz 
in den Arsch gesobossen, dass er 14Tage.im kalten Wasser sitzen musste. . . 
Ich babe heute 20 Kognak und ein Scbdppchen Bier getrunken, und 10 Zigarren, 
dann habe ioh in meinem Lokal (Pat. ist Ton Beruf Gastwirt) den Ofen an- 
gemacbt, habe einen Gummischlauch genommen und habe die Wande, die 
Bilder und den Boden nass gemacht, dann habe ich einen Schrubber ge- 
Dommen . . • und sauber geputzt . . . Meine Frau ist narrisch geworden, weil 
ich in der Ankergasse eine Berlinerin geTogelt habe und habe die goldene Uhr 
und zwei 20 Markstucke in Nr. 4 dem Madchen gesohenkt. Ioh habe sie dafiir 
Ton hinten und von Torne gevogelt. Wie ich heimgekommen bin, habe ich es 
der Frau erzahlt, und da ist die Frau hingegangen, und meine Frau hat 
5 Mark bezahlen mussen, weil icb in den Hausgang gepisst habe . . . w 

Arch!? f. Piyehiitrfc. Bd. SO. Heft 1. \ 


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2 


Dr. Walther Riese, 


An beiden Augen besteht eine Trdbung im Papill&rbereich and Kolobom; 
die Beweglichkeit der Iris ist beiderseits aafgehoben; Patellarreflexe sind 
beiderseits von normaler Starke, Aohillessehnenreflexe nicht anszuldson. Zange 
wird gerade herausgestreckt und zeigt leiohtes Zittern, ebenso die gespreizten 
Finger. Bei offenen Augen ist der Gang etwas schleudernd, bei geschlossenen 
Augen unsicher. Sensibilitat am Korperstamm und an den Armen int&kt, 
an den Beinen ist das Unterscheidungsvermogen fur spitz und stumpf auf- 
gehoben, die Schmerzempfindung stark herabgesetzt. 

Da auch nach Abklingen des akuten Alkoholrausohes der ethische Defekt, 
eine erhebliche Urteilsschwache nnd deutliche artikulatorisohe Sprachstorung 
und Schriftstorungen bestehen bleiben, lenkt sich der Verdacht auf progressive 
Paralyse. Tatsachlich ist die Wassermann’sche Reaktion sowohl im Blut wie 
im Liquor positiv, ausserdem besteht im Liquor erhohter Eiweissgehalt und 
eine massige Lymphozytose. 

Der weitere Verlauf der Erkrankung gestaltet sich folgendermassen: 
Er ist meist unruhig und erregt, neigt zu Gewalttatigkeiten gegen das Pflege- 
personal, lasst Kot und Urin unter sich, entweicht einmal aus der Klinik, 
wird aber am nachsten Tage von der Rettungswache in angstlich-verwirrtem 
Zustande wiedergebracht und schliesslich gegen arztlichen Rat am 16. 5. 1917 
von der Frau abgeholt. Am 2. 6. schon muss ihn die Frau wiederbringen, 
weil er zu Hause dauernd erregt ist, Feuer ansteckt, alles aufbricht. Jetzt 
beginnt er sichtlich zu verfallen, die motorische Erregung aber besteht fort 
bis kurz vor dem am 25. 7. erfolgenden Exitus letalis. 

Der Sektionsbefund am Gehirn ergibt makroskopisch den fur 
Paralyse gew5linlichen Befund: Die Pia ist getrubt und verdickt, die 
Hirnwindungen sind abgeplattet und verschm&lert. Beim Heransnebmen 
des Gehirns entleert sich reichlich Flussigkeit. Histologisch offenbart 
sich die Verdickung der Pia als m&cktige Zell infiltration, namentlich 
auch der Gefasse; Plasmazellen und Lymphozyten beherrschen das Bild. 
Auch in der Rinde wird die charakteristische Gef&ssiufiltration nicht 
vermisst, daneben trifft man auf Endothelkernwucherungen, progressive 
Gliawucherungen, chronische Ganglienzellerkrankung, degenerierte 
Plasmazellen, St&bchenzellen, diffusen Markfaserschwund. Auf diese 
Weise wird also die schon intra vitam gesteilte Diagnose bestfitigt. 

Im Riickenmark finden sich auf Markscheidenbildern folgende Ver- 
anderungen: Lichtungen im Bereiche der Hinterstr&nge, namentlich zu 
beiden Seiten des Sulcus long. post, und lings der ganzen Peripherie 
des Ruckenmarkes bis an die Fissura long ant. heran; stellenweise auch 
Andeutung von Degenerationen der Vordcrstringe und Pyramidenbahnen. 
Diese Erscheinnng kehrt mit geringen und nebens&chlichen Variationen 
auf verschiedenen Hfihenbildem wieder. Abgesehen nun und vOIlig 
unabhangig von diesen bei der Paralyse l&ngst beschriebenen und nicht 
ungewdhnlichen Yer&nderungen ausgesprochen systematischen Charakters 


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Ruckenmarksveranderungen eines Paralytikers. 


3 


treten auf drei Pr&paraten, die dem Brastmark entstammen, plOtzlich 
Herde auf, die vOllig entf&rbt, tod der Omgebung scharf abgegrenzt 
sind, fast ansscbliesslich die weisse Substanz befallen and ohne jede 
Beziehang zur Gliederung derselben zu stehen scheinen. (Fig. 1, Taf. I.) 
Sie baben die mannigfaltigste Gestalt: oval, keilfbrmig, vom Rande aos 
hineinragend, bohnen- Oder nierenfOrmig, bei schwacher VergrOsserung 
scheint die Markhalle am Rande der Herde wie abgeschnitten; aber bei 
stlrkerer VergrOsserung kann man feststellen, dass der (Jebergang der 
gefirbten in die ungef&rbte Substanz mehr allm&hlich stattfindet, unter 
BrOekelnng nnd Klumpnng des Myelins; vereinzelt erblickt man auch 
noch in den ungef&rbten Herden Reste stehengebliebener, gef&rbter 
Markhullen (Fig. 2, 3, Taf. I.) 

Elektivf&rbungen dieser Herde in anderer Richtung namentlich die 
in diesem Falle so wichtige Darstellnng der Axenzylinder haben leider 
nicht vorgenommen werden kOnnen, da sich diese drei marklosen Herde 
gleich im ersten Block gefunden haben, der in Bearbeitung genommen 
werden ist and zun&chst nnr mit der Spielmeyer’schen Methode auf 
Markfasern hat gef&rbt werden sollen. Trotz intensiveu Suchens haben 
in anderen Teilen des Zentralnervensystems keine derartigen fleck- 
fOrmigen Herde mehr ausfindig gemacht werden kOnnen. Bei der Deutung 
dieses merkw&rdigen Befundes kann es sich also im Hinblick auf die 
Einseitigkeit des histologischen Bildes nur urn eine Wahrscheinlichkeits- 
diagnose handeln. FleckfOrmiger Schwund von Markfasern im Rucken- 
mark ist an sich wohl schon lange bekannt. Jedenfalls weiss Haenel 1 ) 
scbon auf Arbeiten aus der SLlteren Literatur hinzuweisen, in denen fleck - 
weise auftretende, syBtemlose Degenerationen der Markfasern beschrieben 
werden. Von den Befunden der zitierten Autoren scheint sich aber nur 
der von BTasch 2 ) mitgeteilte, unter dem Bilde der tabischen Paralyse 
verlaufende Fall von Syphilis des Zentralnervensystems mit Sicherheit 
auf einen Fall von progressiver Paralyse zu beziehen. Haenel’s 
eigene Beobachtung betrifft einen Fall, in welchem sich neben einer 
syphilitischen Meningitis der Gehimbasis und des Ruckenmarks, neben 
ausgebreitetem Faserschwund und einer Gliomatose der Grosshirnrinde, 
so wie michtigen Gpendymgrannlationen in alien Ventrikeln in der 
Medalla oblongata und im Rflckenmark zahlreiche berdfOrmige, den 
Systemen nirgends entsprecbonde Faserdegenerationen und Bildung von 
sklerotischen unregelmSssigen kernarmen Plaques gefunden haben. 


1) Beitrag zur Kenntnis der Syphilis des Zentralnervensystems. Aroh. 
f. Psycb. 1900. 33. Bd. 

2) Neurol. Zentralbl. 1891. Nr. 16. 

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Dr. Walther Riese, 


Es ist daher naheliegend, deD herdfOrmigen Markfaserschwnnd der 
mitgeteiltea Beobachtung in Zasammenhang zu bringen mit Befundon, 
die von Spielmeyer 1 ) im Ruckenmark eines Falles von sicherer 
progressiver Paralyse erhoben worden und von ihm als ungemein selten 
bezeichnet worden sind; im Gegensatz zu analogen Rindenherden, dem 
von ihm bezeichneten „kortikalen Markfrass", in dem er sogar anf 
Grand der Haufigkeit seines Vorkommens u. a. ein wichtiges, ana- 
tomisches Charakteristikum der progressiven Paralyse erblicken will. 
Dieser kortikale Markfrass hat sich, wie schon betont, in der Rinde 
nnseres mitgeteilten Falles nirgendwo erheben lassen; vielmehr gestaltet 
sich der zerebrale Markfaserausfall in unserem Falle nur nacb dem bei 
Paralyse gewOhnlichen Bilde des diffusen, gleichm&ssigen Schwundes. 
Die Markscbeidenbilder im Ruckenmark indes scheinen eine vollige 
Identifizierang mit dem Spielmeyer’scben Fade zuzulassen; aach hier 
die gleichen Charakteristika der Herde wie bei Spielmeyer: regellos, 
von Fasersystemen unabh&ngig, scbarf begrenzt, „die an die Herdgrenze 
heranziehenden Fasern erscbeinen wie abgeschnitten u ; sekund&re 
Degenerationen treten im Geiolge der Herde nicht auf, das Querschnitts- 
bild des Ruckenmarks wird nirgends im Sinne einer solchen sekund&ren 
Degeneration ver&ndert gefunden. Aach andere, in den verschiedensten 
HOhen vorgenommene, spezifiscbe Farbungen lassen in der Substanz des 
Ruckenmarks keine Veranderungen entdecken, die mit den fleckfCnnigen 
Herden in urs&chlichen Zusammenhang gebracht werden kdnnten. 

Die zweite Reihe von pathologischen Veranderungen des Rucken¬ 
marks, die unser Fall bietet, spielt sich am mesodermalen Gewebe ab, 
d. h. an der Pia und der Wand der Blutgefasse. Die Pia weist allseitig 
eine recht erbebliche Verdickung auf, die sich bei genauerer Analyse 
als zeliiger und bindegewebiger Natur erweist. Der zellige Anteil wird 
durch eine Infiltration von morphologischen Elementen dargestellt, die 
sich bei spezifischen Farbungen als Lymphozyten und Plamazellen offen- 
baren. Neben diesen meningitiscben Veranderungen und unabhangig 
von ihnen treten zellige Infiltrate auf, die an gummbse Bildungen er- 
innern. Diese zelligen Infiltrate der Pia scheinen zwei Typen zu 
folgen: einmal besteht eine mebr diffuse, gleichmassige Durchsetzung 
der weichen Haut des Ruckenmarks mit Zellen lymphozytarer Natur. 
Andererseits kdnnen Bilder beobachtet werden, bei denen man von aus- 
gesprochen umschriebenen, scbarf begrenzten Infiltrationen zu sprechen 
gezwungen ist. Auf diese Weise kommen allerhand Variationen zu- 


1) Ueber einige anatomischeAehnlichkeiten zwischen progressiver Paralyse 
und multipler Sklerose. Orig. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 1910. 


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Rfickenmarksreranderungen eines Paralytikers. 


5 


staude: perivaskulfire Infiltrate, herdfOrmige irgendwo in der Pia, herd- 
formige Zellwucherungen in einer Wurzel von nicht ganz gleichm&ssigem 
Charakter dergestalt, dass die etwa kreisfOrmige Wurzel nur auf der einen 
Hfilfte von einer nennenswerten Infiltration durchsetzt ist, wahrend im 
dbrigen der Peripherie entlang ein Saum von Zellen gewnchert ist; 
lnfiitrationen, die sich mitten in der Achse einer Wurzel ausgebildet 
baben; iehrreich und interessant sind auch jene Bilder endlich, bei denen 
ein scharf gegen die Umgebung abgesetztes, zelliges Infiltrat eine Wandung 
des Geffisses geradezu in das Lumen vorbuchtet. (Fig. 4—6, Taf. I u. II.) 
Kiesenzeilen haben sich nirgends gefunden. Was die Verfinderung der 
Gefisse anbetrifft, so darf mit vollem Rechte von einer Endarteriitis 
obliterans gesprochen werden, jener Erkrankung mittlerer und grosser 
arterieller Geffisse, die von Heubner zuerst beschrieben, und von ihm 
— wenn auch nicht mit vollem Rechte — als charakteristisch fur den 
syphilogenen Charakter der jeweiligeu Erkrankung bezeicbnet worden 
ist. Jedenfalls sind wir imstande, an unserem Falle -die typiscben und 
charakteristiscben Verfinderungen solcher erkrankten Gefasse nach- 
zuweisen. In alien Hdhen des Ruckenmarks haben sich diese Gefass- 
verfinderungen ausfindig machen lassen. Sie bestehen in einer Wucherung 
der Intima, die stellenweise von einer solchen M&chtigkeit ist, dass es 
fast zu volliger Verlegung des Lumens, zu einem Gefassverschluss ge- 
kommen ist. Daneben besteht jene Aufsplitterung der Membrana elastica 
iu mehrere Lamellen, die den Weigert’schen Resorzin-Fuchsin-Praparaten 
ein so charakteristisches Geprage gibt. Die Intimawucherung ist ubrigens 
nicht stets gleichmassig, oft vielmehr lassen Querschnittsbilder der 
erkrankten Gefasse deutlich erkennen, dass eine Seite der Gefasswandung 
von der Verdickung bevorzugt ist. 

Wie sind nun die erhobenen Befunde zu bewerten? 

Diffuse lnfiitrationen der Meningen und der adventitiellen Lyraph- 
ravt<e mit Plasmazellen und lymphozytaren Elementen gehdren auch 
im paralytischen Ruckenmark zu charakteristischen, wenn auch im 
Gegensatz zum Grosshirn keineswegs haufigen Befunden (Schroeder, 
K. Meyer). In solchen lnfiitrationen kann zun&cbst ebensowenig wie 
in unseren diffusen und herdffirmigen Infiltraten an sich schon etwas 
spezifisches erblickt werden. In diesem Zusammenhange darf vielleicht 
auch erwahnt werden, dass sich in unserem Falle weder im Dunkelfeld 
nocb im Schnittpraparat von Hirn und Ruckenmark, die nach Jahnel’s 1 ) 
Methode gefarbt worden sind, Spirochaten gefunden haben. Wenn man 

1) Studien fiber die progressive Paralyse. Arch. f. Psych. Bd. 56. H. 3. 
bd. 57. H. 2 u. 3. 


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6 


Dr. Walther Riese, 


sich nun aber vor Augen halt, dass jene Infiltrationon der spinalen Pia zur 
Beobachtung gelangt sind bei einem Fall, dessen klinischer Yerlauf, 
sowie kOrperlicbe und psychische Symptome, dessen anatomische Hirn- 
verfinderung keinen Zweifel an dem paralytiscben Charakter der Er- 
krankung aufkommen lassen, so wird man jene spinalen Infiltrationen 
in Zusammenhang mit den arteriitischen Veranderungen unschwer als 
spezifiscb luische deuten dfirfen. Ueber das Vorkommen solcher gum m 5s- 
luischen Veranderungen im Rfickenmark von Paralytikern hat meioes 
Wissens bisher nur 0. Fischer 1 ) berichtet, der Prfiparate hierher- 
gebOriger Falle hat demonstrieren kOnnen. Bei der systematischen Unter- 
suchung von 14 Rhckenmarken haben sich in 4 Fallen Verandernngen 
linden lassen, die Fischer nicht zfigert, als gummOse zu bezeichnen 
und sie in Parallels zu setzen zu den milliaren Gum men Straeussler’s, 
die in etwa 4 pCt. der paralytischen Gehirne vorkommen. 

Bndlich sei noch einer merkwfirdigen Veranderung gedacht, die 
sich nur an einer einzigen Stelle des unteren Brustmarkes im Nissl- 
schen Zelipraparat gefunden hat, und deren Deutung durch das Febien 
von Serienschnitten erschwert ist. Mitten im Lumen eines pialen Ge- 
ffisses von mittlerem Kaliber, das im Querschnitt getroffen ist, Liegt 
ein rundliches Gebilde von jener blassblauen Farbe, mit der sich der 
Dntergrund des ganzen Pr&parates tingiert hat, mit reichlichen, dunkel- 
gefarbten, vorwiegend l&nglichen Kerneu, ein Gebilde, das allseitig von 
der Gefasswaod abzugrenzen ist und selbst im Innern eineu lnmenartigen 
Spalt besitzt. (Fig. 7, Taf. II.) Diese Neubildung imponiert zunachst als 
thrombusartiger oder mit Thrombenbildung in Zusammenhang stehender 
Korper, und mit Bestimmtheit darf man eine derartige Anuahme an der 
Hand eines einzigen Praparates wobl kaum zuriickweisen. Indessen 
hat Cerletti 2 ) bei seinen Studien fiber scheinbare intrava^ale Gefass- 
neubildung ahnliche Bilder gesehen und andere Erklarungsmfiglichkeiten 
aufgezeigt. Er bringt sie in Zusammenhang mit einer Losl5sung der 
Endothelwand, deren Entstehungsmechanismus auf Grund krankhafter. 
agonaler, kadaverdser Vorgange und der von den Fixierungsflussigkeiten 
ausgefibten Wirkung allerdings unentschieden bleiben muss. Daneben 
hat aber Cerletti ahnliche Bildungen offenbar anderer Genese beob- 
achtet, deren Deutung weitaus sebwieriger ist als in Fallen von Los- 
lOsung der Endothelwand; oft lasst sich selbst durch Untersuchung von 
Serienschnitten eine befriedigende Erklarung nicht geben. Dahin gehOrt 
auch eine Beobachtung, die mit unserer eigenen (nach Cerletti's 


1) Allgem. Zeitschr. f. Psych. 1914. 

2) Histologische nnd histopathologische Arbeiten. Jena 1911. 


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Ruckenmarksveranderungen eines Paraiytikers. 


7 


Photograpbie) eine auff&llige Aehnlichkeit zu besitzen scheint, und die 
Cerletti dorcb Einstfilpung (Invagination) desGef&sses in einen weiteren 
Toil desselben Gef&sses bis zu einem gewissen Grade erklaren zu kdnnen 
glanbt. 

Wirft man endlich fiber die wichtigsten Befunde, die dieser Pall 
zu erheben gestattet, einen zusammenfassenden Deberblick, so bietet 
er folgendes: 

1. fleckfOrmigen Markfaserschwund im paralytischen Rfickenmark; 

2. gummOse Neubildungen in der Pia; endarteriitische Ver- 
finderungen, 

3. wahrscheinlich sogenannte scheinbare intravasale GefSLssneu- 
. bildung. 

Es tauebt die Frage auf: bestehen Beziebungeu zwischen den fleck- 
fSrmigen marklosen Herden einerseits und den tertiSr-luetischen oder 
endarteriitischen Verfinderongen andererseits? Insbesondere ist zu er- 
wigen. ob sich zwischen Gef&ssverfinderungen und fleckfQrmigem Mark¬ 
faserschwund eine kausale Brficke schlagen l&sst. Es ist nicht ein- 
zusehen, warum derartige ursSchliche Beziehnngen nicht statthaben 
sollten. Die Spielmeyer’sche Beobachtung l&sst sicb in dieser Hinsicht 
nicht als Vergleichsobjekt heranziehen, da bei ihr endarteriitische und 
terti&r-luetische Ver&nderungen vermisst werden. 

Allerdings ist aucb denkbar, dass bei der progressiven Paralyse 
fleckffirmige Markausf&lle verschiedener Genese auftreten. 


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II. 


Aus der Kgl. Psychiatrischen a. Nervenklinik der Universitat Konigs- 
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Meyer) u. dem Kgl. 
Festungshilfslazarett I (Chefarzt: Oberstabsarzt Dr. Eckermann). 

Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 

Von 

Dr. med. Frieda Reichmann und Taubstummenlelirer Eduard Reichau 1 ). 


Froschels weist in einer seiner Arbeiten fiber die Behandlung der 
Aphasien 1 ) auf die grosse Bedeutung hin, welche der Therapie der 
Sprachstfirungen ffir ihre tbeoretische Erkenntnis zukomme. Unter diesem 
Gesichtspuukt bringen wir im Folgenden einige Erfahrungen aus unserer 
Uebungsschule ffir sprachgesch&digte Hirn/erletzte mit den theoretischen 
Ueberlegungen und Problemstellungen, zu welchen sie uns anregen. 

Jedem Untersucher sind die Besserungen zentraler Ausfallserscbei- 
nungen, insbesondere apbasiscber Symptome bekannt, welcbe bei fiber- 
haupt riickbildungsfaliigen Fallen scbon nach eingebenden klinischen 
und psychologiscben Untersuchungen beobachtet werden kfinnen. Die \ 
Untersucbung wirkt hier als Uebungsbehandlung. ‘Von dieser Erfabrung 
ausgehend, bat schon Broca die Hoffnung auf eine Heilbarkeit der 
motorischen Aphasien durch padagogische Behandlung ausgesprochen; 
auch sind von den altereu Autoren verschiedentlich fibungstherapeutische 
Versuche gemacht worden. 

Eine bewusste „heil padagogische Psychotherapie" der aphasischen 
Symptome 2 ) ist jedoch im Frieden nur von wenigen Autoren angeregt 
und durchgeffihrt worden, in Deutschland zuerst 1877 von Kussmaul 3 4 ), 

1) Die Arbeit ist im Marz 1918 abgeschlossen and im Mai 1918 eingesandt 
worden. Die seither erschieneneLiteratur konnte alsonichtberficksichtigtwerden. 

2) Ueber die Behandlung der Aphasie. Arob. f. Psych. Bd. 53. 

3) Hartmann, Uebnngsschulen ffir Gehirnkruppel. Mfinchener med. 
Wochenschr. 1915. Nr. 23. 1916. Nr. 12. 

4) Die Storangen der Sprache. 1877. 


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' Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 


9 


der methodologische Uebungen von Lauten, Silben, WOrtern und S&tzen 
unter Beachtung.der Mundstellung des Lebrers fordert, also dem Grund- 
gedaukeu uach scbon die aacb heate in der Aphasiebehandlung ange- 
wandte optiscb-taktile Methode des Taubstummenunterrichtes, von der 
waiter unten eingebender die Rede sein soil 1 ). (Unbewosst haben in 
Taubstummenanstalten wohl scbon lange vorher neben Tanbstummen 
„H5rsturame u , d. b. also aphasische Kinder, auf optisch-taktilem Wege 
sprechen gelernt.) Eine Erweiteruog der Kussmaul’schen Vorschlftge 
findet sich bei Oppenbeim 2 3 ) and Nemann 8 9 ); sie fordern eine Indivi- 
doalisiemng des systematischen Spracb- and Schreibunterrichts je nach 
den Innervationswegen und Sinneseindrucken, fur welche die Sprach- 
zentren des betreffenden Kranken nocb ansprechbar sind. Auf die Be- 
deutung des Scbreibuuterrichts bei der Bebandlung der SprachstOrungen 
weist spAter Stadelmann besondera bi 5 6 n 4 ). 

Grundlegende methodologische Bereicberung bedeutet die dann ein- 
setzende Mitarbeit neurologisch gescbulter Logop&den, vor allem Gutz- 
mannV), sp&ter Frdschels’*) und Liebmann’s 7 ). Beide Autoren 
ziehen die optiscb-taktile Metbodik des Tanbstummenunterrichts in vollem 
Umfang znr Behandlung der motorischen Apbasien beran. Gutzmann 
lasst ferner als erster linksh&ndige Schreibubungen auafflhren, ebenso 
wie sp&ter Berkhan 8 ), Fr&nkel 0 ), Bernhardt 10 ), Dejfirine 11 ), 
Frdschels. 

1) Die von Kussmaul zitierten auslandischen Autoren Trousseau, 
Ramskill, ferner die bei Oppenheim zitierten einschlagigen Arbeiten von 
Danjou, F4r4, Thomas und Roux, Mills u. a. konnten nioht berucksichtigt 
werden, da uns die einschlagige Literatur gegenwartig nicht zuganglich ist. 

2) Lehrbuch der Nervenbrankheiten. 

3) Dissertation. 1884. 

4) Therap. Mon.-Hefte. 1903. S. 251 ff. 

5) a)Lehrb.d.Sprachhlk.Berlin 1912. b)Penzoldt-Stintzing’sHand- 
boob. 5. c) Zeitschr. f. physik. Tberapie. 8. d) Arch. f. Psych. 20. 28. S. 354. 
e) Mon. f. ges. Sprachheilk. f) Zur Behandlung der Aphasie. Kongr. f. innere 
Med. Wiesbaden 1907. g) Berliner klin. Wochenschr. 1901. S. 28. 1916. Nr. 7. 

6) Froschels u. Siemon, Erfahrungen fur die Ohrenheilkunde. 1911. 
Lehrb. d. Sprachheilk. Wien u. Leipzig 1913; Arch. f. Psych. Bd. 53. Bd.56; 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1915; Wiener med. Wochenschr. 1915; 
Zentralbi. f. d. ges. Tberapie. 1916. 

7) Int. med. Mon.-Hefte. 1913. 

8) Ueber Storungen der Spraohe und der Schriftsprache. 1899. 

9) Arch. f. Psych. 1908. Bd. 43. 

10) Virch. Arob. 1906. 

11) Rev. near. 1908. 


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10 Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reichau, 

Goldscheider 1 ) und scin Schuler Bonge 2 3 ) bringen 1894 und 97 
einige weitere Anregungen, wie die Bevorzugung des scbwierigeren sinn- 
losen Sprachubungsmaterials vor dem sinnvollen, um eine begriffliche 
Ablenkung des Lernenden zu Gunsten der Konzentration auf den rein 
artikulatorisclien und lautlichen Wert des Uebungsstoffe9 zu erzielen. 
Einen eingebenden kasuistiscben Beitrag zur Uebungsbehandlung der 
Aphasien verdanken wir Mohr 1899®). Froment und Monod 4 ) lebnen 
die optiscb-taktile Methods ab und versuchen die Sprache auf dem 
Wege fiber das Lautklangbildzentrum zu erwecken, ohne die Aufmerk- 
samkeit auf d^e artikulatorische Komponente zu lenken. Froschels 
und Pick 5 6 ) habeu sich wiederholt rait dieser Methode auseindergesetzt: 
wir kommen darauf spater zurfick. 

Alle bisher genannten Arbeiten bezieheu sich fast ausscbliesslich 
auf motorische Aphasien. Fur die sensorischen Sprachstfirungen gait 
nach den Friedenserfahrungen der Grundsatz, dass sie im allgem einen 
leichter spontan ruckbildungsfahig, aber der Uebungsbehandlung weniger 
zuganglich seien als die motorischen. Scbon Bastian, spater Heil- 
bronner 8 ) u. a. weisen allerdings darauf bin, dass die scheinbare spon- 
tane Besserung der sensorischen Aphasien unter dem Einfluss des Unter- 
richts geschehe, welcher — wie wir schon weiter oben erwalluten — 
durch wiederholte Untersuchungen unwillkfirlich erteilt wird. Auch wir 
selbst hielten in der ersten Zeit unserer ubuugstherapeutischen Versucbe 
an dieser Auffassung fest. 

Nur Gutzmann, Goldscheider und Frfischels 7 ) berichten 
kurz fiber systematische Behandlungsversuche ihrer Friodensffille von sen- 
sorischer Aphasie. 

Gutzmann und Goldscheider empfehlen Verwertung des Ab- 
lesens vom Munde und des Scbriftbildes (event, phonetische Bilder- 
fibeln), FrOschels einfache Worterbucher mit Bildern. 

Erst die Kriegsliteratur fiber Sprachfibungsbehandlung berficksichtigt 
die sensorischen Aphasien baufiger. Die heilpadagogische Bcbandlung 
erfubr ja bekanntlich in den Uebungsschulen der IJirnverletzten-Lazarette 
durch die gemeinsame Arbeit von Aerzten und Padagogen an der grossen 
Zahl jugendlicher Spracbgestorter mit rfistigen Gehirnen eine viel grdssere 

1) Berl. klin. Wocbenschr. 1891. Handb. d. pbysikal. Therapie. 

2) Dissert. 1897. Berlin. J. Schade. 

3) Aroh. f. Psych. Bd. 39. 

4) Lyon m66. 1914. 

5) Arch. f. Psych. Bd. 56. S. 810. 

6) a. a. 0. 

7) Berl. klin. Wochenschr. 1917. Nr. 29. Arch. f. Psyoh. Bd. 58. 


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Zur UebungsbehandluDg der Aphasien. 


11 


Bedeutung, als sie der Therapie der Friedensaphasien Alterer Individuen 
mit zerebralen Allgemeinsch&digungeu ziikommen koonte. Poppel¬ 
reuter, Hartmann, Gutzmann, Goldstein, Frdschels, Aschafr 
fen burg, Reichmann haben darnber wiederholt berichtet. 

Yon den ersten Mitteilungen aus der Debungsschule Poppelreu- 
ter’a 1 ), in welcber die verloren gegangenen Sprachelemente motorisch 
und sensorisch Aphasiscber „wie Vokabeln einer fremden Sprache u mit 
Hilfe der Bild-, Schreib- and Leseeinpr&gung wieder erlernt werden 
so 11 ten, bis zu den Anregungen Goldstein’s and Poppelreuter’s 
auf der Tagnng der dentscben Vereinigung fur Kruppelfiirsorge im 
Februar 1916 2 ) und zur Einrichtung der siebenklassigen Uebungsscbule 
dee KOlner Kopfschussverletztenlazaretts mit ihren 12 Lehrkrftften 3 ) bat 
die Uebungsbebandlnng der Aphasien im Kriege eine weitgebende Ent- 
viekelung durcbgemacbt. Heute bebandelt Poppelreuter die motorischen, 
sensorischen und psychogen geschadigten Spracbkranken in getrennten 
Klassen. Bei den motorischen Aphasien stehen Lautbildungsubungen, 
Nachsprechen, Rezitieren, bei den sensoriscbeu Sprachstorungen ein- 
gehender Anscbauungsunterricht im Vordergrunde der Behandlung. 

Die Forderung getrennten und je nach der Art der sorgf&Itig ana- 
lysierteu Sprachdefekte individualisierten Unterricbts ist jetzt Allge- 
meingut der Hirnverletztenschulen. Goldstein 4 ) trennt von den scbweren 
motorischen Aphasien, die er wie Gutzmann und Poppelreuter be- 
handelt sehen will, leicbtere, bei denen Schnelligkeit und prompter 
Ablauf durcb rasches Reihen- und Nachsprechen geubt werden sollen. 
Wortarmut und Agrammatism us sollen durcb Lesen, NacherzUhlen und 
Bilderbescbreiben, sensorische StOrungeu durch systematiscbe Unterhal- 
tungen gebessert werden, welche nach inhaltlichen Schwierigkeiten ge- 
ordnet sind. Auf die weitgehende Heranziehung etwa erhaltener Schreib- 
und Lesefahigkeit wird in Uebereinstimmung mit den Ulteren Autoren 
hingewiesen Auf diese, wie uberhanpt auf die Mitverwertung aller 
erhaltenen Restfuuktionen und aller Wege, auf welchen die jetzt ge 

1) Erf. und Anregung zu einer Kopfschuss-Invalidenfiirsorge. Neuwied 
und Leipzig. Houser’s Verlag. — Miinohener med. Wochensohr. 1915. Nr. 14. 
Arob. f. Psycb. Bd. 56. (Wandervers. sddwestdeutscher Neurol.) 

2) Zeitscbr. f. Kruppelfiirs. 1916. 

3) Psych. Sch&digungen im Kriege 1914/16. Bd. 1. Leipzig, Leop. Voss. 
Vergl. dazu ferner Volk, Padag. Ztg. 1916. Nr. 3. 

4 ) Fortschr. d. Med. 1915/16. Nr. 22. — Miinchener med. Woohenschr. 
1916 . Nr. 23. — Zeitscbr. f. Arztl. Fortbild. 1916. — Jahresber. f. Neur. u. 
Psyeb. Bd. 19. 


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12 


Dr. Frieda Reichmann and Edaard Reich&u, 


sch&digten Funktionen physiologischerweise erworben wurden, legt 
Aschaffenburg 5 ) besonderen Wert. 

In gleicher Weise wie die letztgenannten Autoren handhaben auch 
wir die Debnngsbebandlung unserer sprachgesch&d igten Hirnverletzten. 

A. Behandlnng der motorischen Aphasien. 

Bei der Behandlung der naotorischen Aphasien unterscheiden wir 
nach tberapeutiscben Gesichtspunkten drei Gruppen; dabei handelt es 
sich nicht urn verschiedene Aphasieformen, sondern lediglicb um ver- 
schiedene Stadien der Ruckbildung. 

1. To tale motorische Aphasien behandeln auch wir mit der 
optisch-taktilen Methode. Diese berubt bekanntlich darauf, dass die 
Sprache beim Ausfall der zentralen oder peripheren akustiscben An- 
sprechbarkeit (Aphasie, Taubstummheit) der Sprachzentren mit Hilfe 
optischer und taktiler Lautbilduugseindrucke neu entwickelt wird. Man 
zeigt dem Patienten die fur jeden Laut charakteristische Mundstellung 
und lasst ihn die von der Sprechluft erzeugten Vibrationeu mit der vor- 
gelegten Hand am Kehlkopf bezw. vor dem Munde oder vor der Nase 
fuhlen. 

Der Patient wird nun aufgefordert, mit Hilfe eines Spiegels und 
der vor den eigenen Mund gehaltenen Hand die aufgenommenen opti- 
schen und taktilen Lauteindriicke unter stSndiger Eontrolle und Hilfe 
des Lehrers so lange nachzuahmen, bis es ihm gelingt, den Laut zu 
bilden. Schliesslich muss er bei jedem Laut genau wissen, wie er die • 
Sprachwerkzeuge einzustellen und den Luftstrom zu leiten hat. Durch 
diese Lautbildungsversucbe werden dem Patienten selbst Artikulations- 
bzw. Innervationsgefuhle im gesamten Sprachapparat bewusst gemacht, die 
beim normalen, akustisch sprechenden Individuum in der Regel rein reflek- 
torische sind. Und diese Umbildung des von aussen zugefuhrten opti- 
schen oder taktilen Lauteindrucks zum eigenen kinasthetischen Eindruck 
ist sicber die zweite bedeutsame Komponente der optisch-taktilen Sprach- 
bildungsmethode; denn nicht die bei der ersten Lautentnicklung an den 
Artikulationsorganen des Lehrers gewonnenen Tasteindrucke oder am 
Munde des Lehrers und im Spiegel empfangenen optischen Wahrneh- 
mungen sind es letzten Endes, die der Patient schliesslich beim Sprechen 
verwendet; sondern die kinasthetischen Erinnerungsbilder, die sich mit 
jedem neu erlernten Laut verbinden, bilden die eigentliche Stutze der 


1) Samml. zwangl. Abh. a. d. Geb. d. Nerven- a. Geisteshrankh. 11.Bd. 
H. 6. Halle 1916. Karl Marhold. 


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Zur Uebnngsbehandlnng der Apbasien. 


13 


auf optisch-taktilem Wege erworbenen Spracbe, wie etwa die akustischen 
Engramme bei normal sprechenden auditiv veranlagten Individuen. 

Aufbauend auf die so entwickelten Laute werden dann Silben, 
Worte und S&tze gebildet, bis der Kranke wieder in den Besitz der 
Spracbe gelangt ist. 

Neben der Artikulation erfordern spater die normale, sowie die stofif- 
liebe Seite der Spracbbildung grdsste Aufmerksamkeit; mehr wohl die 
formale, da ja bekanntlich die Anwendung von Formworten bei Moto- 
riseb-aphasiseben in der Regel auch dann nocb gestflrt ist, wenn sich 
die Sprachfahigkeit far selbstandige sinnvolle Worte schon leidlich resti- 
tuiert bat. 

II. Auch bei niebt totaler motorischer Aphasie, sondern 
partiell restitoierten oder transkortikalen Formen, deren spontane Ruck- 
bildong aosbleibt, fuhrten wir eine optisch-taktile Entwicklung aller 
Einiellaute durcb. 

Entgegen der Ansicht von Froment und Uonod (siehe oben) 
nehmen wir also wie FrOschels an, dass die erhaltenen spraebliehen 
Erinnerongen bei solchen Kranken nicht stark genug sind, um durch 
bloeses Vor- und Nachsprecben wieder zum vollen Anklingen gebraebt 
zu werden. Sondern die spraebliehen Engramme bedurfen, um zu voller 
Deutlicbkeit zu gelangen „des artikulatonschen Romplements u . Wir 
wenden deebalb heute bei alien Fallen von motorischer Aphasie prin- 
zipiell die optisch taktile Methode an. 

Die ersten motoriseben Apbasien unserer Debungsschule teilten wir 
naeh Pick’s vermittelndem Standpunkt in akustisch (d. h. auf dem 
Wege des Vor- und Nachsprechens) behandlungsfahige Fa lie, bei welchen 
die „Einstellung des akustischen auf den motorischen Apparat“ noch 
erbalten war, und in solcbe mit gestdrtem akustisch-motorischem Mecha- 
nismus, die nur optisch-taktiler Behandlung zug&nglich sind. In der 
Praxis ergab sich uns aber bald die Erfahrung, dass in alien Fallen, 
wo noch AuBfallserscheinungen des zentrafen sprachlicben Exekutivappa- 
rates best an den, auch seine Abstimmung auf den akustisch perzipierten 
Sprachanteii in irgend einer Form gestdrt war, zum raindesten keine voll- 
kommene Prizision und Sicherheit aufwies. Es fehlte deshalb die Merk- 
fihigkeit fur die im Wege der Vor- und Nachsprechens erlernten Laute, 
Worte oder Silben, so dass spracbliche Elemente, die in einer bestimmten 
Lautverbindung auf akustischen Wege eingeiibt und richtig nacbge- 
bildet werden konnten, in jeder neuen Verbindung wieder neu erlemt 
werden mussten. Dadurch werden sehr haufige ermudende ubungsthera- 
peutische Wiederholungen notwendig, die vom Eranken gleichwohl immer 
wieder als Neuerwerbungen empfunden wurden. Der sebeinbare thera- 


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14 Dr. Frieda Reiobmann and Eduard Reichaa, 

peutische Umweg uber die optisch-taktile Methode ffihrt deshalb schliess- 
lich docb schneller und sicherer zam Ziele, als die theoretisch anschei- 
nend einfachere akustiscbe Methode. 

Oft gelingt es z. B. auf diese Weise Kranke, die auf dem Wege . 
des Vor- und Nachsprechens, Schreibens und Lesens usw. keine Fort- 
schritte im Spontansprechen gemacht haben, dahin zu ffihren, dass sie 
Worte, die mit einem bereits optisch-taktil entwickelten Laut beginnen, 
spontan sprechen kfinnen, auch wenn die fibrigen Laute des Wortes 
noch nicht optisch-taktil erlernt sind. Obne diese optisch-taktile Stfitze 
konnten sie die gleichen Worte zwar nachsprechen, aber auch nach 
wochenlanger Uebung nicht selbst&ndig bildon. Dies Verhalten erinnert 
an das bei einzelnen Aphasieformen mit erhaltenem Reibensprechen bei 
gegebenem Anfangsgliede. Der Kranke kann die Reihe (hier das Wort), 
deren Einzelglieder er nicht zu bilden vermag, als Ganzes sprechen, 
wenn ihm das Anfangsglied (hier der erste Laut) gegeben ist. 

In schweren Fallen motorischer Aphasie wird es sich nicht nur um 
eine Wiedererweckung vorhandener sprachlicher Engramme, sondern um 
eine vollst&ndige sprachliche Neuentwicklung bandeln; das beweist einer 
unserer Falle, der als Gesunder einen bestimmten Dialekt (ostpreussisch 
Platt) sprach, durch Uebungsbehandlung die dialektfreie Schriftsprache 
vollstfindig wieder eriernte und dann nicht mehr im Stande war, den 
ihm doch vorber vertrauteren Dialekt zu sprechen. 

A. G., Fusilier, 21 Jahre alt, Landarbeiter. 

18.4. 1916. Kopfschussverletzung. Hemiparese reohts. Sprachrerlust. 

5. 9. 1916. Aufnahme auf der Station fur Kopfschussrerletzte Festungs- 
l&zarett I, Konigsberg i. P. 

Befund bei der Aufnahme: 

Spontansprache: —. 

Reihensprechen: —. 

Gegenstande bezeichnen: —. 

Gegenstande erkennen: -J-. 

Nachsprechen: (Papa) „P — h — a — p — h — a“. (Garten) „ter 
— ter“. (Gartenhaus) „tero — ter u spricht nicht weiter, doch empfindot er 
selbst, dass er eine Silbe zu wenig rhythmisiert habe. Abmt weiter© vor- 
gesprochene Worte dem Stimmfall und der Silbenzahl nach richtig nach, be- 
merkt selbst, dass er sie falsch ausspricht. 

Lesen: 

Lautlesen: —. 

Leiselesen: -j-(Kommt schriftlich an ihn gerichteten Aufforderungen 
nach). 

Buchstaben erkennen: -j-. 

Worte aus Buchstaben zusammensetzen: 


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Zur Uebungsbehandlung der Apbasien. 


15 


Schreiben: 

Spontanschrift: (Tag der Verwundung?) 18. A (sucht ratios, 
obvohl er den Mon&t genau weiss). (Datum ?) 6. Sete—Sep¬ 
tember. 

Diktat: (Die Sonne sobeint). „Die Sonne schn schn warm u . (Meine 
Miihle). Das Mein Muhti. 

Abschrift: + • 

Sprachverstandn is: Voliig int&kt. 

Einleitung der Uebungsbehandlung nach optisch-taktiler Methode. 

15. 9. 1916. Patient spricht die Laute a, o, u, au } e f i, ei — p, b, m 
und die sinnvollen Lautverbindangen. Papa, Hama und ab. 

10. 11. 1916. Spricht alle Laute und einfacbe Lautverbindungen (Yokale 
vor und nach Konson&nten ta to tu — at ot ut) und einfache Satzchen, z. B. 
Ich bitte. lch danke. Ich gebe usw. 

18. 1. 1917. Patient liest, spricht und schreibt langere Satzchen, z. B.: 
Ich bitte urn das Heft. Ich hole das Buch. Heute ist Montag usw. 

23. 3. 1917. Gebraucht die erlernten Worte zunehmend in der Umgangs- 
sprache. Besohreibt ohne Hilfe schriftlich und mundlich Bilder, z. B. „Das 
ist eine Bauernstube. Der Tisch steht. Der Stuhl steht am Tisch. Der Mann 
isst die Suppe. Die Frau steht am Tisch. DieBilder hangen an der Wand. u usw. 

8.5.1917. Weitere Besserung der Sprafchstorung. Langsam artikulierend 
kann er fast alle Worte bilden. Beim Schreiben haufig Pehler bei Worten, 
die artikulatorische Schwierigkeiten verursachen, z. B. Spontanschrift: 
,,loh war spasieren. Ich gehe am Prengl (Pregel). Das Wetter ist mind (mild) 
nsw. (Es treten also Verwechselungen von homogenen Lauten auf, z. B. ng 
= g — n = 1). Diktat: n Ich habe einSn Halter und eine Feder. Ich tauohe 
die Fedor in Tinte. Ich schreibe. Der Halter ist aus Holz. Die Feder ist 
aus Eisen u . 

14. 8. 1917, Sprach- und Schreibstorung bessern sich weiterhin. Patient 
ist irostande, Erlebtes schriftlich und mundlich in kleinen Satzen zum Aus- 
druck zu bringen. Besohreibt z. B. einen an die See gemachten Ausflug selbst- 
standig mundlich und schriftlich: Nach Neukuhren. Wir waren Sonnabend 
in Neukuhren. Wir farhen (fuhren) im Eisenbahnzuge. Der Zuge war voll. 
Das Wetter war schon warm. Eine Stande furhen wir im Zuge. Wir gingen 
in das Kurhaus. Die Schwersten (Schwestern) teilten das Brot aus. Wir haben 
Salat gegessen nsw. 

2. 11. 1917. Weitere gnte Fortschritte im Gebrauch der Laut- and 
Sohriftsprache. Schreibt z. B. frei, ohne Nachhilte, indem er sich Wort far 
Wort vorsprioht: 

Naoh der Verwundnng. 

Ioh wurde am 18. April 1918 verwundet morgens um 4 bis 5 Uhr. Ich 
wnrde besinnonslos. Ich weiss nicht, ein Granatstuok oder Geschoss ver- 
wnndet am Kopf. Sie haben mich verbnnden im Graben. Das Spreohen war 
auoh weg. Ioh habe nichts gemerkt, das ioh gelahmt war. Sie haben in das 


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Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reicbau, 


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Feldlazarett in Weissensee gescbafft. In Weissensee habe ich gelernt geben. 
Nach 4 Monate haben sie nach Ponewisch (Ponewiez) geschafft. Ich war 
3 Wochen da. In Brauns^erg war 4 Wochen. Am 3. September war ich in 
Konigsberg. Dor Unteroffier R. hat mich sprechen gelernt. Ioh konnte nicht# 
spreohen. Ich musste die Silben lernen. Fruher habe 5 bis 10 Minuten ge- 
lernen und ich war mude. Heute ist nicht schwer. Die Satze sind auch schwer, 
aber ich will gut sprechen lernen. Es ist langsam aber sicher. Das Beine und 
der Arm ist auch besser. Am Tage haben 2 mahl Trunen. Das istschdn“. 

1. 12. 1917. Patient gibt an, dass er im Zivilleben platt gesprochen 
habe, jetzt aber nur das neu entwickelte Hochdeutsch konne. Fiihlt sich da- 
durch behindert im Verkohr mit seinen Landsleuten. Nur mit einer viel grosseren 
Muhe als der beim hochdeutschen Spontansprechen vermag er wenige platt- 
deutsche Worte zu bilden, jedoch immer mit den reinen Lauten des Hoch¬ 
deutschen, nioht mit den eigentlicen plattdeutschen Uitlauten z. B. fur „Et 
gait goat u gelingt nur u Es gait got u (Es geht gut). 

Gute Fortschritte in der Spontansprache, wenn auch noch immer unter 
uberlegter Bildung der Einzel- besonders der Anfangslaute des Wortes. Fehler 
nur noch bei Formworten, Hilfszeitworten, Artikeln. Erkennt die Fehler selbst 
und korrigiert sie. 

15. 2. 1918. Die Spraohe hat sich weiterhin mechanisiert, so dass er 
bewusst der optisch-taktilen Stutze immer weniger bedarf. Es werden Uebungen 
mit inhaltlich und formell schwierigen Stoffen yorgenommen (geschichtliche 
und erdkundliche Stoffe). Da er die hoohdeutsche Laut- und Schriftsprache 
fast vollstandig beherrscht, werden Uebungen zur Wiedererlernung des ost- 
preussisohen Platt yorgenommen, (dessen er zur Verstandigung mit der Heim&t- 
bevolkerung bedarf). Nach Neuentwicklelung der Mischlaute macht Patient 
gute Forschritte. 

Es handelt sich hier also um einen Landarbeiter mit totaler Wort- 
stummheit, der durch 18monatige optisch-taktile Uebungsbehandlung 
yollstandig schriftdeutsch sprechen lernte, dann aber zu seinem eigenen 
Erstaunen bemerkte, dass er nun doch nicht imstande war, sich mit 
seinen Angeh5rigen zu verstandigen; denn da er nur diejenigen reinen 
Laute der deutsehen Schriftsprache bilden konnte, die er durch die 
optisch-taktile Behandlung erlernt hatte, ist er nicht mehr imstande, 
der sich ihm fruher yertrauteren plattdeutschen Umgangssprache mit 
ihren bei der Uebungsbehandlung nicht berucksichtigten eigentumlichen 
Mischlauten zu bedienen. Er findet zwar in der Regel die richtigen 
plattdeutschen Ausdrucke, vermag sie aber nur mit den reinen Lauten 
der hochdeutschen Spracho nachzubilden. 

Stein 1 ) hat bei einem Aphatiker, den er auf schriftrumanischer 
Basis optisch-taktil behandelte, die umgekehrte Beobachtung machen 


1) Stein, Monatsschr. f. Ohrenheilk. 1917. 1. u. 2. H. 


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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 


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konneu: der Kranke sprach wfihrend der Behandlung und nach der 
Heilung vollstAndig auf der alten heimatlicben Artikulationsbasis, d. h. 
dialektrumAmisch. Wenn Stein darin verallgemeinernd einen Beweis 
dafur erblicken will, dass durcb dip Uebungsbehandlung der Aphasien 
prinzipiell keine sprachlicheu Neuentwicklungen, sondern nur „gewisse 
neue Bahnungen“ geschaffen werden, so ist dem entgegenzuhalten, dass 
sein Fall zur Entscheidung dieser Frage nicht geeignet ist, weil er 
keinen totalen Sprachverlust erlitten hatte, sondern „zahlreiche Silben 
gleicb anfangs korrpkt nachsprach", eine Neuentwicklung der Sprache 
bei ihm also gar nicht in Betracbt kommen konnte. 


B. Behandlung der sensorischen Aphasien. 

Auch zur Behebung der sensorischen 'Aphasien bedienen wir uns 
der kombinierten optischen und taktilen Methode, w&hrend andere 
Autoren die sensorischen Aphasien vorwiegend durch Ablesen zu heilen 
suchten uud dadurch der optischen Komponente, unserer Auffassung 
uach, eine nicht ungefAhrliche Rolle bei der Wiedererlangung der Sprache 
und des SpracbverstAndnisses zuwiesen. 

Cnseres Erachtens sollen dieselben kinasthetischen Erinnerungs- 
bilder, die bei der Behandlung der motorischen Apbasie die eigentliche 
Stutze der expressiveu Sprache bilden, bei sensorischen Aphasien als 
Grundlage des wiederkehrenden Sprachverstandnisses dienen. Als Grund- 
prinzip der Uebungsbehandlung muss gelten, dass die optiscbe Kompo¬ 
nente der optiscb-taktilen Lautentwicklung als solche nur ein Mittel zur 
Bilduog fester kin&sthetischer Engramme mit enger assoziativer Bindung 
an den perzeptiven Spracbanteil sein soli, d. h., dass der Kranke zwar 
zur Einubung der Sprache der optischen Stutze (des Ablesens vom 
Hunde des Lehrers) bedarf, sie aber spftter, nach Festigung der neu- 
erworbenen zerebralen Erinnerungsbilder, vOllig entbehren kann. Nur 
auf diese Weise wird er in Bezug auf den Gebrauch der Laut- und Schrift- 
sprache wieder unabhAngig von zweiten Personen; er stutzt sich allein 
auf sein eigenes Artikulationsgefuhl, wAhrend fur die nach Gutzmann 
und Frftschels nur mit Ablesen behandelten sensorischen Aphasien die 
Gefabr besteht, dass sie wie der Taubstumme auf optische Eiudrucke 
beim SprachverstAndnis angewiesen bleiben. Wir legen demnach den 
Hauptwert auf die taktile Komponente deroptisch-taktilenLautentwicklung. 

Schon die Erfahrungen bei normalen Individuen weisen ja darauf 
hin. dass den Artikulationsgefuhlen und kinasthetischen Erinnerungs- 
bildern eine grosse Bedeutung zur Unterstutzung des SprachverstAnd- 
nisses zukommt. Sprachungewandte Individuen lesen und schreiben be- 
kanntlich mit dauernder Uitartikulation. Auch bei gebildeten Personen 

f Psyehi«tri«. Bd. 60. Heft 1. 2 


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Dr. Frieda Reiohmann und Eduard Reichau, 


konnte Frau Woyczoikowska 1 ) nachweisen, dass feine Zungenbewe- 
gungen das Denken und das B5ren von Worten begloiten, und Exner 
beschreibt im „Entwurf zu einer pbysiologischen Erkl&rung der psychi- 
schen Erscheinungen" 2 ), „wie ihm das Klangbild eines Wortes innerlich zer- 
rinne, wenn er sich zwinge, die entsprechenden artikulatorischen Vor- 
stellungen zu bannen M . 

Von Schauspielern und Rednern ist bekannt, dass sie sich bei der 
Einubung von Memorierstoffen teils bewusst, tells unbewusst, der arti¬ 
kulatorischen Stutze bedienen. 

Auch in pathologischen Fallen ist die Zusammenarbeit des Artiku- 
lationsgefuhls mit sprachlichen, bzw. Lese- oder Schreibleistungen wieder- 
holt beobachtet worden. So beschreibt Kleist einen Fall, der nur 
unter Mitbewegung der Lipp4n lesen* konnte. Gab man ihm den Auf- 
trag, die Zunge herauszustrecken, um ihn am Mitartikulieren zu hindern, 
so konnte man ihm das Lesen anfangs unmflglich machen. 

1m Folgenden bringen wir Protokolle von einigen in unserer 
Debungschule mit optisch-taktiler Methode behandelten sensorisch Apha- 
sischen und berucksichtigen dabei besonders die Bedeutung des Artiku- 
lationsgefuhls fur das Sprachverstandnis. 

H. V., Grenadier (Zapfer), 25 Jahre alt. 

12. 8. 1915. Aufnahme im Festungshilfslazarett V zu Konigsberg i. Pr. 
Laut dortigem Krankenblatt bestanden bei der Aufnahme Bewusstlosigkeit, 
Krampfe. Spastisohe Hemiparese rechts, Druckpuls. In der Zerebrospinal- 
flussigkeit Blut, Ueningokokken. 

30. d. Wird naoh Heilung der Meningitis wegen Resten einer rechts- 
seitigen Lahmung und Sprachstbrung nach der Dniversitats-Nervenklinik uber- 
wiesen. 

Aus der dortigen Krankengesohichte geht hervor, dass eine rechtsseitige 
Hemiparesebestand und eine schwere sensorische und motorisoheSpraohstorung. 
Gibt auf alle Frage immer wieder unter lebhaften Gestikulationen mit dem 
Kopf denselben oft wiederholten kurzen Laut zur Antwort, elwa „te—be—te u . 

Aufforderungen warden nur ganz vereinzelt anfgefasst. 

6. 4. 1916. Aufnahme auf der Station fur Kopfschussverletzte Festungs- 
Hilfslazarett I, Konigsberg i. Pr. 

Korperlicher Befund: Innere Organe, Herz, Lunge, Bauohorgane o. B. 

Nervensystem: Pupillen gleich, mittelweit L. R. -f- C. R. -|-. Augen- 
bewegungen frei. Zunge weicht stark naoh rechts ab, der linke Maud-' 
winkel hangt herab. Spastische Hemiparese im rechten Arm und Bein von 
zerebralem Pradilektionstyp. 


1) Psychol. Rev. 1913. 

2) Leipzig u. Wien. 1894. 


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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 


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Spontansprache fallt vollstandig aus, nur die in der Nervenklinik 
geubten Worte „Papa, Mama, Anna, Marie u kann er nndentlich sprechen. 

Reihensprechen: Zahlen — Tage —. 

Gegenstande bezeichnen: —. 

Gegenstande erkennen: Gegenstande des taglichen Lebens werden 
richtig erkannt, seltener gebrauchte nieht. 

Naohsprechen: Nor einzelne genbte Lante, Silben nnd Worte werden 
nachgesproohen, kein Unterschied zwischen sinnvollen and sinnlosen Worten. 

Lesen: Gelingt weder leise, noch laut. 

Bnehstaben erkennen: Genbte Bnchstaben werden erkannt. 

Worte aus Bnchstaben znsammensetzen: —. 

Schreiben: 1 

a) Spontanschrift: — ausser Name nnd Beruf (schreibt „Schan- 
ken u soil heissen „Schanker“). 

b) Diktat: —. 

o) Abschrift -}“• Wortweise langsam. 

Sprachverstandnis: Znm Toil aufgehoben. Kommt ganz einfachen 
Auffordernngen nach, schwereren aber nicht, z. B. versteht er den Befehl 
„linke Hand ans rechte Ohr u nicht. 

Zahlen verstandnis fehlt vollstandig. 

11. 4. Beginn der Uebnngsbehandlnng im Sprechen, Schreiben nnd Lesen 
nach optisch-taktiler Methode zur Behebnng der motorischen Aphasie. 

15. 5. Pat. maoht sehr geringe Fortschritte, besonders infolge rednzierter 
Merkfihigkeit. 

23. 7. Spricht ein- nnd mehrsilbige Worte, selbst solche mit Kpnso- 
Bantenanhaufangen nach. Verwertung in der Spontansprache noch sehr gering. 

11. 11. Mit der Hebung seiner sprachlichen Ansdrnoksfahigkeit tritt die 
sensorische Komponente seiner Sprachstbrung noch deutlioher hervor. Yer- 
bindet z.B. mit schriftlich nnd miindlich ihm vorgelegten Farbenbezeichnungen 
nnd Zahlen in Worten keinen Begriff, obwohl er mit Ziffern grosse Reohen- 
operationne ausfuhren kann. Hemiparese rechts so weit gebessert, dass Pat. 
sehon rechtshandig zu sohreiben beginnt. 

25. 2. 1917. Sehr langsame Fortschritte im Sprechen, Sohreiben nnd 
Leeen. Unterricht muss ausgesetzt werden wegen anfallsweise auftretender 
epileptiformer Znckungen im rechten Arm und Bein. Dabei Reduktion des 
kdrperlicben Allgemeinzustandes. 

16. 8. Seit mehreren Wochen keine Reizerscheinungen mehr. Benntzt 
die erlernten Worte jetzt zunehmend in der Spontansprache und versucht sioh 
selbst zu rerstandigen. Spricht z. B.: „Es geht gut u — n Ich bitte um das 
Buch u usw. 

K 8 werden jetzt Uebungen zum Wiedererwerb des Zahlenverstllnd- 
OM68 vorgenommen. Die Debung geschieht in der Weise, dass die 
Zahlen im Zahlenranm Ton 1—10 als Ziffern, gesehriebene Worte und 
BLlder nebeneinander gestellt (z. B. Ill; 3; drei) und optisch-taktil 

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Dr. Frieda Reichmann and Eduard Reich&u, 


sprachlich entwickelt werdeo. Dauach folgen Uebungen im richtigen 
Auffassen der Zahlworte. Patient muss gesprochene Zablen als Zahl- 
worte, Ziffern oder bildlich aufschreiben oder aus einer Anzahl ihm 
vorgelegter ricbtig heraussuchen. Dabei stutzt er sich vollst&ndig auf 
Artikulationsgefiihle bezw. kinasthetiscke Erinnerungsbilder, wie sich 
aus folgenden, wiederholt vorgenommenen Versuchen ergibt. 

Patient soil oft geubte vorgesprochene Zahlen aus einer Zahlen- 
reihe heraussuchen: 

z. B. a) Patient wird aufgefordert, b) Patient artikuiiert die vorge- 
die vorgesprochene Zabl nicht sprochene Zahl rait. 

mitzuartikulieren. Zunge und 
Lippen werden kontrolliert. 


(7) zeigt 

8 

4* (nach 2maliger Artikulation). 

(9) 


10 

+ 

(3) 

' 

4- 

nach 3maliger Artikul. „9 U kor- 
rigiert selbst, artikul. nochmals, 
dann -|~- 

(6) 

V* 

+ 

+ 

(8) 

11 

7 

+ 

(5) 

11 

+ 

+ 

(2) 

r 

1 

+ 

(9) 

ii 

6 

+ 

(3) 

V 

— 

+ 

Mund 

des Vorsprechenden wird nicht beobachtet. 


c) Optisch-taktile Uebungsversuche mit mehrstelligen Zahlen. 

1. Bei tonvollem Vorsprechen. (Patient liest vom Munde ab und 
artikuiiert mit.) (14) -f- (19) 90 (13) -|- (17) -f- (12) +• 

2. Bei tonlosem Vorsprechen (Patient lieet vom Munde ab und 
artikuiiert mit.) (16) + (19) 90 (13) 30 (17) -| r (12) +• 

3. Nacbsprechen obne Ablesen: (Untersucher verdeckt den Mund.) 

(16) + (19) 90 - 19 (13) 30 (17)-„z“ (sucht) „sie“ — — 

„sieb“ (17) „siezehn“ (scheint nicht zu wissen, was er gesprocben, 
spricht immer undeutlicher, scbreibt) „sechszehn K (a. V.) ,-16“. Bei 
Ablesen vom Munde prompt -|-. 

25. 8. Die Uebungsbehandlung wird weiter im beschriebenen Sinn* 
fortgesetzt. 

28. 12. Spontansprache: „Bitte am TJlaub“ (Urlaub) Stadt (a. B. 
zu welchem Zwecke) „kaufen — Messe“ (Messer). 1st imstande, sich mit den 
wesentliobsten sinngebenden Worten verstandlich zu machen, allerdings miih- 
sam, unter haufigem Besinnen sowohl auf das Wort, dem Begriff als dem Arti- 
kulationsgefuhl naoh. Probiert die Bewegungen mit dem Munde aus. 


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Zur Uebnngsbehandlung der Aphasien. 


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Reihensprechen: Zablen: -|-, Tage: -J-, Mon&te: -f-. 

Oegenstande bezeichnen: (Apfel) —, (Scbtassel) -j-, (Zahnbfirste) 
Bn—B6 —. Zahnputzen. (Streichholzschachtel) (Kucben) Tott (soil Torte 
beissen). (Messer) (Zange) -}-, (Trompete) Tro—Tro—Trompete, etwas 
undentlich. Zur Wiederholung aufgefordert, „Trommel“. Weiterhin tritt eine 
dautliche Neigung zur Perseveration ein. 

Alle Oegenstande werden ricbtig erkannt, auoh ihre Benutzung ist be- 
kannt. Artikulatorisch schwierige vennag er nur mit Sobwierigkeiten zu be- 
zeiohnen. 

Gegenstande erkennen: (Fiscb) -j-, (Sichel) -|-> (Blumenstrauss) 
-f-, (Kirscben) 

Nachsprecben: 

a) Sinnvolle Worte: (Nachsprecben) „nach“ — „naoh u — (pro- 
biert) „spr u — „naohspreohen u , (Qartenhaus) Ga—ten—bans, 
(Konstantinopel) Kon—stan—ti—no—pel. (Dampfschiff) -J- (un- 
deutlich). 

b) Sinnlose Worte: (Bakairi) 'Ba—Baka — Ba—ka—iri. (Eu¬ 
terpe) Kein wesentlicher Unterschied zwischen Sinnvollem 
und Sinnlosem, Artikulation von Sobwierigerem und Leicbterem. 

Lesen: (Eleines Lesestfick aus der Fibel) „Wir reise (reisen) ab. Mutter 
und Rosa eila—eila—eilen zum Zuge. Wa (Wo) steigpn wir ein, wann fahre 
(fahren) wir ab, so fragen in (die) Madchen u . 

Nach dem Inhalt des Gelesenen gefragt, sagt er, er wisse nioht, was er 
gelesen babe. 

Aufgefordert, nooh einmal zu lesen, liest er etwas deutlicher, naob dem 
Inhalt gefragt, artikuliert er sioh den Satz leise vor, sagt dann: „Mutter reisen 
zum Zuge u . (Zeigt den Zug auf einem Bilde.) A. B. nach dem weiteren In¬ 
halt: „Der Mann, Mutter und zwei Madohen u . (Was machten sie?) „Zum 
Zuge u . (Was wollen sie?) „Der Mutter rascb nach u . 

Buchstaben erkennen: 

Worte aus Buchstaben zusammensetzen: -j-. 

Scbreiben: 

a) Spontanschrift: (A. B. fiber im Zimmer befindliche Gegen¬ 
stande etwas aufzuschreiben.) „Der Tisch steht. Die Stuhl steht. 
Das Bett liegt“. Vor Beginn eines jeden Satzes besinnt er sich 
sehr lange, dann sohreibt er ihn als Ganzes nieder. 

b) Diktat: (Ein Knabe kam.) „Der Knabe gehen u . (Artikuliert 
n Der Knabe kam a , besinnt sich lange, schreibt scbliesslich wie 
oben und artikuliert dabei ricbtig „kam u . 

c) Abschrift: -J-. 

Sprachverstandnis: (Aufforderungen befolgen). (Zur Tfir geben, 
offnen, schliessen, zurfickkommen): -J- (Linkes Knie zeigen): -|~, (sagt dabei 
selbst „linke Knie u . Bei „Kn“ muss er langere Zeit artikulatoriscb suchen). 

(Mit der linken Hand den obersten Knopf vom Rook aufmachen.) Arti¬ 
kuliert „Linke Hand zwei — auf—auf — aufmachen 1 *. Pahrt ricbtig mit der 


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Dr. Frieda Reichmann and Edaard Reiehau, 

linken Hand an den Knopf, offnet ihn and offnet dann den zweiten Knopf der 
Unteijacke. Dabei fragend and ansicher. Den Begriff n aafmachen a verstand 
er offenbar erst, nachdem er ihn nachartikalierte. 

8. 1. 1918. Da Pat. noch nicht imst&nde ist, eine selbstandige Existent 
za fuhren, so soli er, am der trotz regelmassiger Ausgange and Arbeitstberapie 
darch das eintonige Lazarettleben drobenden Gefahr der Entfremdang von 
einer selbstandigen bdrgerlichen Existenz vorzubeugen, auf l / 2 Jahr nach 
Haase entlassen werden. Die Angehorigen and Pat. selbst warden mit ge- 
naaen Anweisangen fiber Weiterdbang versehen. Spatere Wiederaafnahme 
vorgesehen. 

E. B., Leut. der Res., Lehrer, 29 Jahre ait. 

3. 6. 1916. Kopfschassverletzung, rechtsseitige Hemiparese, partielle 
sonsorische and motorischo Aphasie. 

23. 11. Aafnahme auf der Station far Kopfsohassverletzte. (Ueber Be- 
fand bei der Aafnahme and Uebungsbehandlung der motorischen Aphasie siehe 
Reiohmann, Arch. f. Psych. Bd. 58. S. 120.) 

Die weitere Priifung ergibt, dass er sinngebende Worte (Haupt-, Zeit- 
und Eigenschaftsworte) miindlich und schriftlioh einzeln versteht und wieder- 
gibt and in der Spontansprache sinngemass anwendet. Formworte fasst er nor 
im Zasammenhang auf. (Ruft man ihm z. B. „ist a zu, so fasst er es iqhalt- 
lich nicht auf, im Zusammenhaug „Das ist ein Tisch u versteht er es richtig, 
and vermag es nan sinngemass anzuwenden. 

Zahlworte'Spricht er nach, zunachst ohne sie zu verstehen. Hit Ziffern 
fdhrt er schriftlich alle Rechenoperationen richtig aus, selbst Braohrechnung. 

Die sensorische Komponente der Sprachstorung wird auf optisch-taktiiem 
Wege iibungstherapeutisch zu beeinfiussen versucht, besonders auch das mfind- 
liche Zahlenverstandnis. Die Zahlen von 1—10 werden in der Weise geubt, 
dass siealsBild,Ziffer and Wort nebeneinandergestellt andoptisch-taktil sprach- 
lich entwickelt werden. (Pat. muss Bild, Ziffer oder Wort riohtig aussprechen.) 
Danach folgen Uebungen im richtigen Auffassen der Zahlworte. Pat. mass 
ihm zugerufene Zahlworte richtig identifizieren lernen, sie als Bild, Zifier oder 
Wort schriftlich darstellen. Dabei stiitzt er sich vollstandig auf Artikalations- 
gefdhle, bezw. kinasthetische Erinnerungsbilder. 

Zur Untersuchung des Zusammenhanges zwischen Zahlen- 
sprechen auf optisch-taktiler Basis und Zablenverst&ndnis, 
werden folgende Versuclie wiederholt vorgenommen: 

a) Lehrer artikuliert langsam sichtbar tonvoll vor, Patient artiku- 
liert laut mit und nach: 

(3 -|- 4 ) (prompt) 7 

(4 + 2) 2 + 4 ist 7 ... 6 

(2 + 5) 2 + 5 „ 7 

(2 + 6 ) 2 + 6 „ 8 


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Zur Uebungsbehandlnng der Aphasien. 


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(4 + 2) 4 + 2 ist 6 

(13 + 6) 13 + 6 „ 19 
(14 + 6) 14 + 6 „ 19 

(12 + 4) 12 + 4 „ 16 

(33 + 42) 33 + 42„ 6 ... 5 ... 76. 

(35 + 62) 34 + ? (erst nach mehrmaliger Vorartiku- 
lation verstanden) 34 + 52 ist-86. 

b) Lehrer artikuliert langsam, tonvoll bei verdecktem Monde vor. 
Patient artikuliert leiBe mit und spricht dann: 

( 3 + 4) ist 7 3 + 4 

(13 + 5) „ 18 13 + 6 

(14 + 6) „ 20 14 + 6 

(12 + 6) „ 18 12 + 6. 

e) Lehrer artikuliert langsam, sichtbar, tonvoll vor; Patient wird 
angehalten, nicht mitzuartikulieren. 

( 2 + 6) 2 + 6 ist 8 

(16 + 4).20 

(16 + 3).19 ... 15 + 4 ist 19 

(17 + 2.17+.17 + 3 ist 19 

(14 + 6) 14 + 5 ist 19 
(12 + 6) 12 + 6 ist 18. 

Trotzdem Patient mehrmals angehalten wurde, nicht mitzuartiku¬ 
lieren, war leise Mitartikulation — geringe Bewegung der Artikulations- 
organe — nicht auszuschliessen. 

d) Lehrer artikuliert schnell sichtbar, tonvoll vor; dem Patienten wird 
fiber sein Verhalten keine Anweisung gegeben. 

(6 + 2) 6 -J-2? 6 + 2 ist 7 

( 1 + 6) 2 + 6 ist 8 

( 5 + 3) 3.+ 

(6 + 4) . 

(12 + 6) 12++12 + — 

(13 + 6) 13 + 3 ist 16 

(32 + 43) lehnt ab, bedeutet, es sei zu schnell. Anfgabe wieder- 

holt (82 + 43). Ach Gott.. . (ungeduldig.) 34 +.Wiederholt 

(32 + 43) 6 — 6 und 66. 

Zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Artiku- 
lationsgefQhl und Sprachverst&ndnis werden folgende Versuche 
vorgeoommen: 


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Dr. Frieda Reichm&nn und Eduard Reichau, 


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Patient soli einen Satz bilden, der ein vorgesprocbenes Umstands- 
wort oder Tatigkeitswort in einer nicht gel&ufigen Form enth&lt. 

1. (wegen) a) Patient artikuliert nicbt mit, gibt zu verstehen, 
er habe den Sinn des Wortes nicht aufgefasst. KOnne keinen Satz 
bilden. 

b) Patient artikuliert mit, fasst sofort das Wort auf und bildet 
dann den Satz: „Wegen des Besuches waren wir nicht nach Hause ge- 
gangen". 

2. (trotzdem) a) Patient macht gar keinen Versuch zu artiku- 
lieren, da er nichts aufgefasst hat. 

b) Aufgefordert, zu artikulieren, sagt er „zumal". Nochmals ror- 
gesprocben „trotz“ „tr“. Bildet dann: „das Wetter ist regnerisch, den- 
noch wollen wir nach Hause gehen“. Auf Vorhalt, ob „dennoeb A 
ricbtig, sagt er „zumal‘‘. 

„Trotzdem“ wird jetzt deutlich vorartikuliert, er versucht nachzu- 
artikulieren, was nicht gelingt. Versucht zu schreiben, auch das ge- 
lingt nicht. Sagt, er wisse den BegrifT ungef&hr scbreibeu, kOnne er 
das Wort nicht. 

Es wird allein „trotz“ vorgesprochen; darauf schreibt er prompt 
„trotzdem“ und bildet folgenden Satz: „das Wetter ist regnerisch, trotz¬ 
dem will ich spazieren gehen“. 

3. (Geliefert) a) Patient artikuliert nicht mit, kann auch keinen 
Satz bilden. 

b) Patient artikuliert mit und bildet den Satz: „Die Ware ist 
geliefert". 

Weiterbehandlung wie bisher. Gute Fortschritte. Ueber den jetzigen 
Zustand gibt folgendes Protokoll Auskunft: 

22.2.1918. Spontansprache: Beschreibung eines Bildes: „Es ist 
Fruhling. Die — Der Mann pilugt den Acker. Der — Ein Pferd zieht den 
Wagen — den Pflug. Dann wird geeggt und gesat". 

(Auf Befragen, woran er sehe, dass Fruhling sei) „der Mann pflugt den 
Acker". 

(Was unternehmen Sie nachmittags?) „Nachmittags wird massiert und 
spazieren gegangen". (Wohin?) „Steindamm und Tiergarten u . 

(Wofiir haben Sie E. K. I. bekommen?) „2. Jnni war der Sturm Ton 
Damlonp. Morgens war — hatte orntlich geschossen und dann der Sturm und 
ich war verwundet". 

(Sie sind etwas verstimmt. Warum?) Vormittag war Magenschmerzen". 

Fasst also samtliche, auch inbaltlich garnicht imZusammenhang stehende, 
rasch aufeinander folgende Fragon, ricbtig auf und beantwortet sie sinn- 
gemass. 


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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 


25 


Gegenstande im Bild erkennen 
(aos 18 Bildern ein genanntes 
heranssnchen): 
(Tintenfasa) -j- 
(Kreisel) -|- 
(Hut) + 

(Sobrank) -|- 
(Schwert) + 


Gegenstande im Bild benennen: 


(Wolf) + 

(Gewehr) -f- 

(Weihnachtstanne) Weihnachten 
anf Vorhalt -j- 
(Yacht) Segler 
(Geige) + 

(Tulpe) + 


Lantieren und Worte ans einer Reibe ungeordneter Bucbstaben zu- 
sammensetzen 

Lesen: Gedruckte Texte von mittlerer Schwierigkeit werden mit geringen 
Fehlern (z. B. Obst statt Aepfel, was er dann selbst korrigiert, eilends statt 
eilig) nnd mit einer gewissenSpracberschwerung bei artikulatorisch schwierigen 
Worten, z. B. Pfirsiobe, leidlicb fliessend gelesen und sowobl bei lautem wie 
leisem Lesen vollig aufgefasst. Gate vollinbaltliche Wiedergabe: z.B. „Wilhelm 
stand in dem Garten". (Gibt dnrcb ein Zeicben zu verstehen, dass „Pfirsische u 
zn scbwer. Soil dafur nach Uebereinknnft „Aepfel sagen.) Der — der — Nach- 
bar — der Naohbar scbenkte den Wilhelm die Aepfel. Eilig lauft er davon 
nnd lanft naeb Hanse u . (anf Befragen, was er dacbte) „Der Wilbelm — 
scbmeckt schon". „Der Wilbelm ging nacb Haase, nnd 2 Briider waren krank. 
Die Gescbwister scbenkte die Aepfel nnd war sehr froh". 

Schreiben. a) Spontanschrift: „Am Sonntag gehe ich meistens 
nacb Hause. Nach Kaffee kommen die Verwandten zum Besuch, oder wir 
gehen zum Besnob. Wir spreohen vom Krieg, von Wetter nnd andere Sachen. 
Anoh geben wir nacb dem Theater. Es gibt zwei Theaters in Konigsberg. 
Das Luisentheater ist anf die (den) Hufen, and das Neue Schauspielhans ist 
in der Passage. Das Stadttheater wird Herbst 1918 geoffnet, weil jetzt ein 
Lazarett ist. usw. (-}-) 

b) Diktat: „Ein Fucbs kam in der Nacht ans dem Walde in einen Hof. 
Da alls Lento scbliefen, hdrte und sab den Fuchs niemand. Er sohlich sich 
in den Gansestall, biss eine Gans tot and trag sie fort in den Wald". 

c) Absohreiben: fliessend mit vollem Verstandnis. 

Es bandelt sich hier um 2 Kranke mit gemiscbter sensorischer upd 
motorischer Aphasie. Bei beiden wurde aus den weiter oben ge- 
schilderten Grunden eine beilpadagogische Bebandlung nach der optisch- 
taktilen Metbode erfolgreich eingeleitet. Dass in der Tat der oben 
angenommeneZusammenhang zwiscben optisch-tktailer Sprach- 
entwicklnng, KinSsthesie der Artikulationsorgane nnd Wortver- 
st&ndnis besteht, glauben wir an dem Verhalten dieser beiden Kranken 
zu neuerlernten perzeptiven Sprachkomponenteu nachweisen zn kOnnen. 
Beide Kranken vermOgen Zahlworte ungeubt nicht aufzufassen. Nach 
optiscb-taktiler Einubnng vermogen sie dann'Zahlen aufzufassen 
nnd leicbte Rechenanfgaben zu idsen, wenn sie mitartikulieren, 


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26 Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reichau, 

d. h. sich auf das Artikulationsgefiihl stutzen kbnnen. Fillt 
die Mitartikulation weg, so wird sofort die Zahl der Fehl- 
leistungen eine erheblicb grOssere. 

Vom ersten Patienten werden aus einer Reibe von Ziffern 9 vor- 
gesprochene Zahlworte bei Mitartikulation fehlerlos, nur 2 mal unsicher, 
ohne Mitartikulation 6 mal falsch identifiziert. 

Der zweite, weniger schwer geschadigte und iu der Besserung 
schon weiter vorgescbrittene Eranke, l5st bei Mitartikulation unter 11 
einfacben Recbenaufgaben nur 2 unsicher, alle anderen fehlerlos. Bei 
fehlender Mitartikulation bleiben von 7 Aufgaben gleicher Schwierigkeit 
3 ungelost, 4 werden feblerbaft geldst. 

Die Aufgabe, einfache Satzchen mit einem bestimmten vorge- 
sprochenen, ihm wenig vertrauten Wort (wegen, trotzdem, geliefert) 
zu bilden, gelingt nur bei Mitartikulation, und zwar dann prompt. 
Ohne Mitartikulation fasst er das Wort gamicht auf. 

Bei den Aufgaben mit wiederholt geubten Zahlen sind beide Patienten 
vom Ablesen bereits vollst&ndig unabh&ngig, wie die mitgeteilten Ver- 
suclie mit dem 2. Patienten beweisen. Es ergibt sich, dass im Auf- 
fassen und L5sen von Aufgaben kein Unterschied besteht, gleichviel, 
ob die Aufgaben bei verdecktem Oder sichtbarem Munde vorgesprochen 
werden. Bei weniger geubten Zahlen ist der erste Kranke neben der 
taktilen noch auf die optische Stutae angewiesen. 

Soil er wenig geubte Zahlenworte ohne Ablesen nachsprechen, 
so treten Verwecbselungen mit artikulatorisch ahnlichen Zahlenworten 
auf (13 = 30; 19 = 90). Das Ziel der weiteren Behandlung muss 
sein, auch diesen Kranken vom Ablesen uuabh&ngig zu machen. 

Wir haben schon weiter oben darauf hingewiesen, dass neben der 
optisch-taktilen Methode die bei jedem Kranken erhaltenen sprachlichen 
Funktionen ubungstherapeutisch mitverwertet werden mussen. Auch 
bei den eben beschriebenen Eranken ist auf eine gemeinsame Behand¬ 
lung von Sprach-, Lese- und Schreibstbrung und gegenseitige Unter- 
stutzung durch jede der auf den drei Gebieten erhaltenen Funktionen Wert 
gelegt worden. 

Im folgenden bringen wir einen Fall, iu dem es uns besonders 
deutlich gelang, eine Beziehung zwischen den durch die optisch-taktile 
Methode gewonnenen kin&sthetischen Eindrucke und den noch erhaltenen 
Schriftbildern herzustellen und diese gemeinsam zur Wiedererlernung der 
Sprache zu verwenden. 

A. L., Hptm. d. Res., 45 Jahre (Reg.-Baurat). 

27. 6. 1916. Apoplexie, Hemiplegia rechts, sensorische Aphasie. 


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Zur Uebangsbehandlang der Aphasien. 


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26. 1. 1917. Beginn der ambulanten Uebangsbehandlong anf der Station 
fur Kopfschussverletzte Festnngs Hilfslazarett I Konigsberg. 

Befnnd bei der Aufnahme: 

Spontansprache: Versucht Fragen in ganzen Satzen zn beantworten, 
bringt aber unter grosser Erregung nur einzelne Worte, dazwischen sinnlose 
Silben, horror; z. B. (a. B. seit wann die Spraohstorang?) Wenn — ioh ging 
— dans — dano — dann — es wurde mir — weg — dann fing es an. 

Reihensprechen: (Monate) Januar bis April gelingt, weiterhin nioht. 
Zahlen -f-. 

Gegenstande erkennen: darchweg -f-. 

Gegenstande bezeiohnen: Gegenstande des taglichen Lebens werden 
nur mit grosser Sohwierigkeit naoh mehrmaligem Versnoh richtig bezeichnet. 

(Trommel)-„na das ist — ioh — ein namlioh — am Gottes Willen — 

na, man weiss — Prommel-Trommel u (sehr nndentlich). (Kaffeemuhle) 

„Kaffee — ist Kaffee — buh — biihle u . (Beruhrt dabei das Buch mehrmals, 
sehr erregt, bis er schliesslich das Wort findet) -|~. 

Naohsprechen: (Sonnenschein) „Sonnen — Sonnensoh — Sonnen- 
schein u . (Konstantinopel) Lacht rerlegen, sagt / n das ist zn riel**. Als ab- 
gelenkt, „Icb wills rersuchen". Versncht einzelne Silben heranszobringen, 
sagt „Sohnee u (Erinnerang an vorher Besprochenes). Anf Vorsagen der ersten 
Silbe fliessend das ganze Wort. 

Lesen: Einzelne Worte werden richtig herausgefunden and ihrer klang- 
liehen Wirkung nnd Silbenzahl naoh ungefahr wiedergegeben. Ein Untersohied 
zwisohes lautem and leisem Lesen besteht nicht. 

Bach'staben erkennen: -}-. 

Worte aas Baohstaben zusammensetzen: (Kind) -|- (Wald) -f- 
Sagt: „Ja, das kann ich — wenns nachher so bleibt u . 

Sohreiben: a) Spontansohrift: (Name?) -j- (Wie lange im Felde?) 
„Dor Feld gross* 4 . 

b) Diktat: —. 

c) Abschrift: -j-. 

Spraohrerstandnis: Die Aaffassnng an ihn gerichteter Fragen ist 
nieht intakt, was er daroh den Gebraaoh reihenartig erhaltener Redewendongen 
so rerdecken sacht, z. B. sagt er, als ron der Weiterbehandlnng die Rede ist: 
j.Nein, ach Gott, ich bitte Sie — ioh rie — ra — Furcht“. Dabei stellt sich 
spater heraus, dass er sich gern der Uebnngsbehandlang anterziehen moohte. 

20. 4. 1917. Uebangsbehandlung nach optisch-taktiler Methode. Sehr 
geringe Fortschritte, da Patient immer akastisoh za arbeiten versncht and 
optiseh-taktile Methode ablehnt. 

23. 7.1917. Arbeitet jetzt etwas nach optisch-taktiler Methode. 

Spontansprache: Wenig gebessert. 

Lesen: Einzelworte werden gat gelesen. Beim fortlaafenden Textlesen 
rielfacb Fehler im gleichen Sinne wie bei der Spontansprache. Liest einzelne 
als Ganzes erhaltene Wortbilder, ohne za laatieren, nnd kombiniert aus diesen 
z. T. mit Hilfe erhaltener Redensarten falsohlich den Sinn des ganzen Textes. 


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Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reichau, 

Sohreiben: a) Spontansohrift: Wiedergabe eines mehrmals be- 
sprochenen Textes: „Ich habe die Tafel. Die Tafel ist eckig. Die Wandtafel 
ist auch eckig. Die Tafel ist voll. Der Griffel ist spitz. Der Rahmen ist aus 
Holz. Die Tafel ist schwarz u . 

b) Diktat: Das (bosen) boseWetter ist (yon — yon) voruber. Der Donner 
(ran) rollte so (n n) laut. Der Regen (kaltschte) klatschte an die Scheiben k . 

5.9.1917. Spontansprache etwas gebessert. Konkrete Haupt-, Eigen- 
sohafts- und Zeitworte in der Grundform werden meist richtig aufgefasst, 
Formworte usw. noch nicht. Miindlicbe Beschreibung eines besprocbenen 
Bildes: Da ist ein Garten. Da ist die — die Baume. Da ist — die Aepfel. 
Der Baum ist scbon. Der Mann ist — sind. Der Mann pfluckt Aepfel. 

Unter ubungstherapeutischer Mitverwertung der mecha- 
nischen Lesef&higkeit, die als solche bei L. gut erhalten ist, werden 
zur Besserung der Sprachauffassung folgende Uebungen vorgenommen: 

Patient muss Worte, die ihm vorgesprochen werden, aus einem 
gegebenen Text heraussuchen. Er artikuliert dabei besonders scharf 
die Anfangssilbe des vorgesprochenen Wortes nacb und geht leise 
artikulierend den ganzen Text Wort fur Wort durch, bis er das vor- 
gesprochene Wort findet. 

Aus 5 Zeilen eines leichten zusammenhangenden Textes in deutscher 
Normaldruckschrift werden herausgesucht: 

1. Formworte: „Einst w (Artikuliert dauernd leise t mit, sucht 
die Zeilen Wort fur Wort durch, geht iiber das gesucbte Wort hinweg. 
Geht die Zeilen unter lantern Mitartikulieren nochmals durch), dann 
(Zeit 2 Min.), „durch w (Artikuliert „d — d w ) schliesslich (Zeit 7 Sek.) 
„gar“ ebenso (Zeit 8 Sek.), „zu“ ebenso (Zeit 15 4 / 5 Sek.). 

2. Sinngebende Hauptworte, Eigenschaftsworte und Zeit¬ 
worte in der Grundform: 

„Ameisen u (ohne Artikulation und wortweises Suchen) prompt -\- 
(Zeit: 2 Vb Sek.), „Lowe“ ebenso (Zeit: 3 Sek.), „Hase u ebenso (Zeit: 

3 Sek.), „sch5n u ebenso (Zeit: 4 Sek.), „laufen w ebenso (Zeit: 5 Sek.). 

Zur Kontrolle des inhaltlichen Verst&ndnisses fur die aufgesuchten 
Worte muss er selbstandig kleine Satzcheu mit diesen bilden. 

Aus diesen Untersucbungen ergibt sich, dass der Patient, der an 
einer in der Riickbildung begriffenen sensorischen Aphasie leidet, sinn¬ 
gebende Worte (Haupt-, Eigenschafts- und Zeitworte in gel&ufigen Formen, k 
besonders der Grundform) als einheitliches Schriftbild ohne weiteres 
formell und inhaltlich aufzufassen und den richtigen Begriff damit zu 
yerbinden vermag, wkhrend er ^orte ohne selbstandigen Sinn z. B. 
Formworte (oder andere weniger gebrauchte Wortformen) nur dann im 


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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 


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Schriftbild zu identifizieren vermag, wenn er sie immer wieder artikulierend 
laagsam aufsucht. Dass ein erheblicher Unterscbied beim Aufsuchen 
sinngebeader Worte und Formworte besteht, geht schon aus den beiden 
vorgenommenen Zeitmessungen hervor, indem das Aufsuchen des laut- 
klanglich erfassten sinngebeuden Wortes erheblich rascher vor sich geht, 
als dasjenige des Form wortes. 

Die Identifikation der Formworte erstreckt sich zun&chst lediglich 
auf eine Debertragung von der artikulatorischen auf die schriftliche 
Lantverbindung, obne dass der Wortinhalt aufgefasst wird. Erst wenn 
Patient wiederholt das artiknlatoriBche und schriftlich e Lantbild 
sn einander in Beziebung setzt, gelingt es ibm auf diesem 
doppelten Wege, den zu dem betreffenden Wort gehfirigen Begriff zum 
Anklingen zu bringen. Dass er dabei in' der Tat auf die doppelte 
kinflsthetbische und Schriftbildstiitze angewiesen ist, geht daraus hervor, 
dass er ein Zeichen seines Wortverst&ndnisses bei alien Formworten 
erst dann gibt, wenn er die betreffenden Worte wiederholt artikuliert 
und gelesen hat Als objektiven Beweis fur die nun erfolgte richtige 
Auffassung fubren wir an, dass er jetzt erst imstande ist, sie sinogemSss 
in von ihm selbst gebildeten S&tzen zu verwerten. 

Zentrale Vorg&nge bei der Rnckbildung aphasischer Symptome. 

Dem Uebungstherapeuten, welcher diese und ahnliche Behandlungs- 
erfolge beobachtet, dr&ngt sich die Frage auf, wie diese Ruckbildung 
zerebraler Symptome nach ZerstOrung nicht restitutionsf&higen Nerven- 
gewebes anatomisch zn orklaren sei. 

Die Ruckbildung sensorischer Aphasien wird schon seit Wernicke 
betont und als Folge eines Ersatzes des linken durch das rechte Klang- 
zentrum erklart. [Pick 1 ), Freund 2 ), Niessl von Mayendorf 3 ), 
Fille von Randers, Touche, Lannois, Roster, Spiller 4 5 6 )]. Ana- 
tomische Belege fur diese Auffassung bringen Quensel 8 ), Entzian 8 ), 
und Niessl von Mayendorf. Dieser bezeichnet als Voraussetzung 
des vikariiierenden Eintretens der rechten fur die linke Hemisphere 

1) Arch. f. Psych. Bd. 28. Bd. 37. Fortschr. d. Psych. (Marbe) 1915. — 
Zeitschrift d. ges. Psych, u. Neurol. Bd. 30. 

2) 76. Vers. Deutsoher Naturforscher und Aerzte. Ref. Neurol. Zentralbl. 
1904. Nr. 23. 

3) Die aphasischen Symptome und ihre kortikale Lokalisation. Leipzig 
1911. Deutsche Ztschr. f. Nervenhlk. Bd. 35. Jhb. f. Psych, u. Neurol. Bd.28. 

4) Zitiert nach Quensel. 

5) Deutsche Ztschr. f. Nervenhlk. Bd. 35. 

6) Dissertation. Jena 1899. 4 


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Dr. Frieda Reiohmann und Eduard Reichau, 

in pathologischen Fallen die schon physiologischerweise bestebende 
Zusammenarbeit beider Himhalften, die er durch folgende Ueberlegungen 
fur bewiesen halt: Die Uebertragung akustischer Reize geschehe in 
gleicher Weise durch den linken und rechten Kochleanerven auf das 
jedem von ihnen zugehdrige zentrale Ausbreitungsgebiet; daraus ergibt 
sich, dass sich auch die assoziative Verarbeitung, die Wortwahrnehmung 
und Wortreproduktion, schliesslich der ganze zentrale Sprachvorgang 
in beiden Hemispbaren abspiele. 

Eine Restitution des Sprachverstandnisses gilt detnnach nur dann 
als aussichtslos, wenn die beiderseitigen Schlafenwindungen erkrankt 
sind. Nach Quensel’s Zusammensteilung fanden sich unter 55 Fallen 
von ungeheilter Worttaubheit, 24 mit doppelseitigen Herden 1 ). 

Fur die motorischen Aphasien hingegen stellt Heilbronner 2 ) 
noch 1894 die Restitutionsmdglichkeit iib.erhaupt in Frage und fordert 
Untersucbungen daruber, ob „wirklich motorisch Aphasiscbe wieder 
sum Sprechen gelangen wurden, wenn ihr motorisches Sprachzentrum, 
eventuell die analogen Partien der rechten Hemispbaren, durch systems- 
tischen Unterricht geubt wurden“. Auch Bonhoeffer 3 ) vertritt noch 
1902 die Auffassung, dass die Mehrzahl der motorischen Aphasien, die 
durch Zerstftrungen des Broca’schen Zentrums entstehen, stationSr bleibe. 
Dass die Erscheinungen der motorischen Aphasie sich schwerer und 
langsamer zuruckbilden als diejenigen der sensorischen betont auch 
Pick als allgcmein bekannte Beobacbtung. Eine Erklarungsmoglich- 
keit sieht er ausser der oben zitierten Niessl’schen Auffassung in der 
Tatsache, dass das Wortverstandnis eine phylogenetisch altere und mehr 
automatische Funktion sei, als die spater erworbene und stets mit einem 
Willkurakt verbundene Funktion des Sprechens. Die Restitution des 
jiingeren und seiner Natur noch weniger mechanisierbaren motorischen 
Sprachmechanismus, gegebenenfalls seine Debernahme durch das der 
Broca’schen Stelle entsprechende wenig vorgeschulte rechtshirnige 
Zentrum, sei schwieriger als diejenige des Sprachverstandnisses durch 
den rechten Schlafenlappen, der durch die doppelte Akustikusausstrahlung 
fur.die.se Ersatzfunktion besser vorgebildet ist. 

Wie weitgehend aber auch alle Formen der motorischen Aphasien 
ruckbildungsfahig sind, haben die Erfahrungen der Sprachubuugs- 
therapeuten (Gutzmann, Frdschels), insbesondere diejenigen der 

1) Vgl. hierzu Liepm&nn und Pappenheim. Ztscbr. f. Neurol, u. 
Psych. Bd. 27. 

2) Arch. f. Psych. Bd. 34. 

3) Mon. f. Psych, u. Neurol. Bd. 35. H. 2. — Aroh. f. Psych. Bd. 37* 
H. 2 u. 3. 


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Zur Uebangsbehandlnng der Aphasien. 


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Hirnverletxtenschulen im Kriege, wie wir sahen, inzwischen bewiesen, 
so dass tod Monakow’s Auffassung, dass die aphasischen Symptome 
im Prinsip eine heilbare StOrung darstellen, aucb fur die motorischen 
Aphasien erfolgreich in die Praxis ubernommen werden kann. 

Die Frage nach deni anatomisch-fnnktionellen Weg, auf welchem 
die Restitution der motorischen Aphasien — sei es spontan, sei es durcb 
Uebungsbehandlung — zustande kommt, gehOrt jedoch noch zu den 
Tielumstrittenen Problemen der modernen Neurologie. 

Ein Teil der Autoren nimmt an, dass die Heilung der aphasischen 
Symptome in mehr minder hohem Masse von der Lokalisation des aus- 
Itoenden Traumas innerhalb des gesamten Sprachgebietes abhangt, so 
Bonhoeffer 1 ) und Mingazzini 2 3 ), der an Hand klinischen und anato- 
mischen Beweismaterials nur Aphatiker fur heiibar halt, deren linke 
Regio supra- und praelenticularis intakt ist; andere, vor allem von 
Monakow*), erkl&ren die Ruckbildung frischer Aphasien mit der 
Aufbebung der durcb das ansldsende Trauma gesetzten Diaschisiswirkung, 
die langsamere Heilung Ulterer Falle als Ausgleich durch die Tatigkeit 
benachbarter Rindengebiete, die vorher als Hilfszentren tatig waren, 
oder durch das kompensierende Eintreten der direkten kortiko-bulbaren 
Babnen fflr die ausfallenden „pbasiscb-motorischen u . 

Auf die Abhangigkeit der Reparabilitat der motorischen Aphasien 
von dem mehr kortikalen oder tiefen Sitz des Krankheitsberdes wird 
anch von verschiedenen Autoren hingewiesen; z. B. nimmt Liepmann 4 ) 
an, dass die Mdglichkeiten der Wiederherstellung um so geringere sind, 
„je mehr die Lasion ins Mark dringt, je mehr also St&bkranz, innere 
Kapsel, Assoziations- und Kommissurenfasern mitbetroffen sind“. — 
Quensel*) misst der Erhaltung des Balkens besondere Bedeutung fur 
die Rfickbildung bei. 

Die Richtigkeit der letztgenannten Anscbauungen ware Vorbedingung 
fQr denjenigen Erklarungsversnch, welcher die meisten Anbanger zablt, 
die Hypothese Ton der Ruckbildung motorischer Aphasien durcb Tikari- 
ierendes Eintreten der rechten Hemisphare fur die zerstfrten links- 
birnigen Zentren. Deon VoraussetzuOg der vikariierenden Leistungsf&higkeit 

1) Mitteilnngen a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1902. Bd. 10. 

2) Ges. Deutscher Natnrforscber u. Aerzte 1901 — Fol. nenrobiol. 1913. 
Bd. 7. — Arch. f. Psych. Bd. 54. 

3) Die Lokalisation im Grosshirn. Bergmann, Wiesbaden. — Neurol. 
Zentralbl. 1906. Bd. 25. — Dentsohe med. Wochenschr. 1909. — Neurol. 
Zentralbl. 1909. Bd. 28. — Ergebn. d. Physiol. 13. Jhrg. 1913. 

4 ) Neurol. Zentralbl. 1909. 

b) A. a. 0. 


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Dr. Frieda Reichmann and Edoard Reichau, 


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rechtshirniger Zentren ware ein Weg, der vom linken Spracbgebiet 
Impulse in die rechte Hemisphare ubertragt. Dieser ware in den zum 
Teil durch den Balken verlaufenden Assoziations- und Kommissuren- 
fasem gegeben. 

Die Vikariierungshypothese wird bekanntlich von v. Monakow 1 ) 
mit der Begrundung abgelebnt, dass er die Dmwertung bestimmter 
Partien des hochdifferenzierten Zentralnervensystems im Dienste von 
Funktionen, an deren Ausubung sie vorher nicht beteiligt waren, far 
nicht vereinbar mit den Gesetzen des Ablaufs zentralnervosen Geschehens 
halte; und eine solche stellt ihm das vikariierende Eintreten der rechten 
Spracbzentren bei den linksberdig bedingten Aphasien da. Diese gegen 
die Vikariierungsbypothese geltend gemachten Grunde werden aber durch 
dieArbeiten Liejpmann’s 2 3 ), Quensers 8 ), Mingazzini’s 8 ), Niessl’s 8 ), 
Rothmann’s 4 ) und Heilbronner’s 5 ) u. a. entkraftet. Nach ihnen 
kommt der linken Hemisphare zwar eine deutliche PrSponderanz, nicht 
aber eine funktionelle Alleinberrschaft fur die hbheren psychischeu 
Leistungen zu, so dass im Falle ihres vikariierenden Eintretens fur die 
linke nicht die Notwendigkeit eiues Neuerwerbs, sondern lediglich die 
Steigerung einer im Prinzip schon vorher bestehenden LeistungsmOglich- 
keit gegeben ist. Als Beweis fur diese Auffassung kdnnen wiederholt 
beschriebene Beobachtungen herangezogen werden, in welchen Dauer- 
herde der linkshimigen Spracbzentren nur ganz vorubergehende oder 
gar keine aphasischen Symptome machten. Ein besonders charakte- 
ristisches Beispiel fur diese im Sinne der Lokalisationstheorie sogenannten 
negativen Falle konnte Bonhoeffer 8 ) klinisch und anatomisch beob- 
achten. Es handelt sich um einen Patienten mit dem typischen klinischen 
Krankheitsbilde der Broca’schen Aphasie, der bei intaktem Broca’schen 
Zentrum eine „alte Erweichung links durch Verschluss der Arteria 
cerebri ant. mit Vernichtung des Balkens bis fast zum Splenium, der 
vorderen Vierfunftel der ersten Frontal- und der vorderen Zweifunftel 

1) Die Lokalisation im Grossbirn . . . Bcrgmann, Wiesbaden. — Neurol. 
Zentralbl. 1906. Bd. 25. — Deutsche med. Wochenschr. 1909. — Neurol. 
Zentralbl. 1909. Bd. 28. — Ergebn. d. Physiol. 13. Jahrg. 1913. 

2) Liepmann, Mon. f. Psych, u. Neurol. 1905 u. 1906. — Miinchener 
med. Wochenschr. 1905. Nr. 48. — Deutsche med. Wochenschr. 1905. — 
3 Aufsatze a. d. Apraziegebiet. Berlin 1908. — Liepmann u. Pappenheim, 
Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. 27. — Liepmann u. Quensel, Mon. 
f. Psych, u. Neurol. Bd. 26. — Berliner Klin. 1907. 

3) A. a. 0. 

4) .Ztschr. f. klin. Med. Bd. 60. 

5) Lewandowsky’s Handb. Bd. 1. — Arch. f. Psych. 1908. Bd. 43. 


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Zur Debangsbehandlang der Aphasien. 


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der zweiten Frontalwindung“ zeigte, f ein Beweis fur das Bestehen eines 
„doppelten Weges von der linken Sprachregion erstens durch die linke 
inn ere Kapsel and zweitens fiber den Balken und die rechte Hemi- 
spbire“ und damit fiberhaupt ffir die Mitbeteilung der rechten Hirnhelfte 
an den spracblichen Funktionen. 

Niessl von Mayendorf, Weber u. a. geben sogar so weit, die 
Priponderauz der linken Hemisphere nur ffir eine sekundfire „durch den 
Mehrgebrauch der in der linken Grosshirnrinde vorwiegend projizierten 
rechten oberen Extremist" anzuseben. Weber bezieht sie hauptsfichlich 
auf die grOssere Gebahntheit linkshirniger Zentren durch das rechts- 
.seitige Schreiben. Gegen diese Auffassung und im Sinne einer Zusammen- 
arbeit beider Hirnhalften bei primSrem, nicht sekund&rem 
l eberwiegen der linken sprechen die Beobachtungen Rothmann’s 1 ): 
Bei gcsunden Individuen kommt nach seinen Erfahrungen jeder Uebungs- 
erfolg, welcher Arm auch gefibt wird, der fiberwiegenden Hemisphere, 
d. h. bei Rechtshendern der linken, bei Linkshfindern der rechten 
Hirnhelfte, zu gute. Auch Liepmann 2 ) widerlegt die Annahme 
der erworbenen Prfiponderanz der linken Hirnhelfte mit dem Hinweis 
auf die auch bei Kindern in vorschulpflichtigem Alter beobachteten 
Aphasien nach linkshirnigen Herden und auf die auch bei analphabe- 
tiscben BevOlkerungsschichten nachweisbare Mebrwertigkeit der linken 
Hemisphere bzw. der rechten Hand. 

Dass aber in der Tat ein Znsammenhang zwischen den Leistungen 
der Extremiteten und den sprachlichen Funktionen fiberhaupt, zwischen 
dem Ueberwiegen einer Hand, der ihr zugehorigen kontralateralen Hirn¬ 
helfte und den bier deponierten hSheren psychiscben Leistungen be- 
steht, ist eine allgemein anerkannte Tatsache, die schon allein in dem 
limstandc ibre Best&tigung findet, dass Aphasien nur bei Rechtsh&ndero 
in der Regel linksherdig bedingt sind, bei Linkshfindern aber in der 
bei ihnen funktionell mehrwertigen rechten Hemisphere lokalisiert sind. 
Auch die ErfahruDgen bei Linkshfindern sprechen in dieser Richtung, 
z. B. die von Stier 3 ) und Gutzmann 4 ) festgestellten Beziebungen 
zwischen Linkshfindigkeit und Sprachstfirungen. 

Erkennen wir diesen Zusammenhang an, so durfen wir zur Unter- 
suchung der Frage des Vikariierens der Sprachleistungen auch die 
F.rfahrungen bezfiglich des Verhaltens der Extremiteten heranziehen. 

1) Diskussion d. Berl. Ges. f. Psych, u. Nervenkrankh. Ref. Neurol. Zen- 
tralbl. 1911. Bd. 30. 

2) Deutsche med. Wochenschr. 1911. Nr. 27 u. 28. 

3) Mon. f. Psych, u. Neurol. Bd. 25. S. 408. 

4) a. a. 0. 

Arebit f. Pajchistrie. Bd. 60. Heft 1. 3 


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34 Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reicbau, 

Liepmann 3 4 ) konnte nachweisen, dass Herde der einen Hemisphere 
neben Lahmungen der kontralateralen Seite homolaterale Dyspraxien 
hervorrufen kSnnen. In diesem Sinne sprechen auch die an Rraoken 
und Gesunden gewonnenen Ergebnisse bei linkshandigen Schreibversucheu 
[Treite 2 l 1 )]. Fehlt die willkurliche Korrektur, so schreibt der geubte 
Rechtser bei den ersten linkshandigen Versuchen Spiegelschrift. Wenn 
wir hieraus auch nicht so weitgehende Schlusse wie Erlenmeyer*) 
ziehen raSchten, der in jeder Hemisphere ein Zentrum annimmt, das die 
Bewegungen beider Extremitaten nach der kontralateralen Seite innerviert, 
so sehen wir doch darin einen Beweis fur die Zusammenarbeit beider 
Hemispharen, und zwar nach Goldscbeider 3 ) in dem Sinne, dass beim 
Einuben der rechten Hand und ihrer zugehSrigen linkshirnigen motoriscben 
Zentren fur die Innervationsfolge des Schreibens die rechtshirnigen 
Zentren gleichsinnig fur die linke Hand eingeubt werden. Wenn also 
an den scheinbar an eine Hemisph&re gebundenen hoheren psychischen 
Leistungen trotz der primaren Praponderanz der linken Hirahalfte 
beide Hemispharen beteiligt sind, so ist auch unter Berucksichtigong 
von v. Monakow’s Einwknden zunachst theoretisch die Moglichkeit 
des vikariierenden Eintretens der gesunden rechten fur die erkrankte 
linke Heroisphare gegeben. 

Hierfur finden sich einige anatomische Belege in den Sektions- 
befunden von Liepmann, ferner in zwei von Kussmaul*) angefuhrten 
Fallen: einem infolge in fruhester Jugend erworbenen Defektes der 
linken Urwindung rechts gelahmten Rranken, der sprechen und lesen 
lernte, und einer seit der Kindheit rechts gelahmten 70jahrigen Frau, 
deren Sektion eine fast ganz in eine Blase verwandelte linke Hemi- 
sphare ergab, und die doch „ordentlich“ sprechen konnte. 

Auch Oppenheim 5 ) teilt einen Fall von im 17. Lebensjahre wegen 
Verlustes der rechten Hand erworbener Linkshandigkeit mit, der im 
69. Jahre an „gemiscbter Aphasie, absoluter Agrapbie und Alexie u , 
linksseitiger motorischer und sensibler Hemiparese mit Reizerscheinungen 
in der linken oberen Extremitat und linksseitiger homonymer Hemianopsie 
erkrankte. Als Ursache ergab sich bei der Sektion ein fast faust- 
grosses Sarkom des Thalamus, Linsenkerns und der rechten inneren 
Kapsel bis an die Insel und die Marksubstanz des Schlafenlappens 


1) Ztschr. f. Nervenhlk. 1893. Bd. 4. 

2) Die Schrift. Stuttgart 1879. 

3) Berliner klin. Wochenschr. 1891. 

4) a. a. 0. 

5) Arch. f. Psych. Bd. 21 u. 22.— Berliner klin. Wochenschr. 1890. Nr.2. 


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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 


35 


hineinreichend. „Das ubrige Gebirn ist vollst&ndig intakt, namentlich 
lisst sich in der linken Hemisphere keinerlei Ver&nderung auffinden 11 . 

Mit Recht verlangen allerdings Rothmann and Liepmann, dass 
solche Fille mit grOss ter Vorsicbt bewertet und analysiert werden, ehe 
sie wirklich als beweiskrSftig far die Uebernahme physiologischerweise 
linksbirniger Leistungen durcb die rechte Hemisphere angesehen werden 
durfen. 

Handelt es sich am Tumoren, so ist die MOglichkeit einer Fernwirkang 
anf die kontralaterale Hemisphere, auch bei fehlenden anatomischen 
Verinderungen, nicht aaszuschliesseu. Ferner muss differentialdiagnostisch 
an iatente LinkshSndigkeit gedacht werden, auf dereu heufiges Vor- 
kommen Stier 1 2 ) hinweist, sowie an angeborene rechtshirnige Sprach- 
lokalisation, sogenannte „Rechtshirnigkeit bei Rechtsbendern u , wie sie 
von Lewandowsky 3 ) and Mendel 3 ) beschrieben wurde. Schliesslich 
ist noch — allerdings nur im Since eiues ultimum refugium — das 
Fehlen bzw. die mangelhafte Entwicklung der Pyramidenkreuzung zu 
berucksichtigen, wie sie in einem Falle von Charcot and Pitres 4 5 ) 
beechrieben worden ist (zit. nach Mendel). 

Aber selbst bei vorsichtigster Bewertung alles heraogezogenen 
Materials bleibt auf Grand der vorangegangenen Ueberlegangen die 
MOglichkeit des vikariierenden Eintretens der recbten Hemisphere fur 
die erkrankte linke sehr wahrscheinlich. 

Setzen wir dieses voraus, and gehen wir ferner davon aus, dass die 
Zentralstetten der Extremitetenfunktionen mit denjenigen der sprachlichen 
in engem Zusammenhang stehen, eine Annahme, deren Berechtigung wir 
weiter oben nachwiesen, so ist der Gedanke naheliegend, dass das 
Eintreten der recbten fur die linke Hirnheifte zur Ruckbildung aphasischer 
StOrungen auch durch vikariierendes Eintreten der linken Hand fur die 
rechte ubbar sein muss; and zwar were auf Grand dieser theoretischen 
Erwfcgungen wegen des engen Zusammenbanges zwischen Schreib- 
leistung and mundlicber Sprache auch bei nicht agraphischen Aphatikeru 
von linkshendigen Scbreibubungen ein guter Erfolg zu erwarten. 
Scbon Broca, spiter Heilbronner fassen deshalb, wie wir weiter oben 
sahen, diese MOglichkeit ins Auge; Berkhahn, Clarus, Bernhardt 4 ) 
sehlugen entsprechende therapeutiscbe Yersuche vor. Gutzmann, 
Prosebels und Goldstein 3 ) haben mit linkshendigen Schreibubungen 

1) Mon. f. Psych, u. Neurol. 1909. Bd. 25. 

2) Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. 4. H. 2. 

3) Neurol. Zentralbl. 1912. 1914. 

4 ) Ref. Nearol. Zentralbl. 1895. S. 169. 

5) a. a. 0. 

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36 Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reichau, 

auch bei nicbt gelehmten Sprachkranken die Ruckbildung apliasischer 
Symptome erfolgreich unterstutzt. 

Als Resultat des eiuschlagigen Literaturstudiums ergebeu sich dem- 
nach folgende Anschauungen, die bei dcr Behandlung zerebraler Sprach- 
kraokheiteu Beriicksichtigung verdienen: 

1. Die hflheren psychischen Funktionen, insbesondere die Sprache, 
sind Leistungen beider Grosshirnhemisphftren, in der Weise, dass dem 
linken Grosshirn (bei Rechtshandern) die Fiihrung, dem rechten eine 
gewisse Mitbeteiligung zufUllt. 

2. DieRiickbildung psychischer Ausfallserscheinungen z.B.aphasischer 
Symptome infolge Erkrankung der fuhrenden Hemisphere ist deshalb da- 
durch denkbar, dass die andere Hirnh&lfte vikariierend zu f fuhrenden wird. 

3. Zwischen den sprachlichen Leistungen und den Funktionen der 
oberen Extremitaten besteht ein zentraler lokalisatorischer Zusammen- 
hang. 

4. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass das vikariierende Eintreten 
der gesunden fur die erkrankte Hemisphere durch Uebungen der kontra- 
lateralen Extremitat unterstutzt werden kann (linkshandige Schreib- 
iibungen bei SprachstOrungen infolge rechtshirniger Herde). 

Bei der Beurteilung der Erfolge linkshendiger Schreibubungen muss 
allerdings beriicksichtigt werden, dass die Besserungen Folge der an 
sich intensiveren Bescbaftigung mit dem Kranken sein konnen. Auch 
k5nnen sie, da, wie wir seit Liepmann wisseu, die linke Hemisphere 
auch an den Leistungen der gleichseitigen Extremitat beteiligt ist, 
Restitutionsvorg&nge in dieser unterstutzen und dadurch — nicht durch 
Unterstiitzung des rechtshirnigen Vikariats — zur Riickbildung der 
SprachstOrungen beitragen; kurz. die durch linkhendige Schreibubungen 
erzielte vikariierende Wirksamkeit der rechten Hemisphere ist auf Grand 
aller vorangegangenen Ueberlegungen zwar sehr wohl denkbar, bleibt 
aber bisher noch imraer eine zwar sehr plausible, aber nicht bewiesene 
Annabme, fur deren Richtigkeit ein klinischer und anatomischer Beweis 
ausserordentlich schwer zu erbringen ist; insbesondere kommt alien 
nicht-sezierten Fellen, wie Liepmann mit Recht hervorhebt, besten- 
falls die Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsbeweisen zu. 

Wenn wir trotzdem im Folgenden diesbezugliche Erfahrungen aus 
unserer Uebungsschule mitteilen, so sind wir uns sehr wohl bewusst, 
dass auch diese anatomisch nicht gestiitzten Beobachtungen keinen An- 
spruch auf bindende Beweiskraft liaben. Bei dem geringen bisher 
verdffentlichten sicher verwertbaren einschlegigen Material halten wir 
uns aber doch fur berechtigt, Beobachtungen an unseren Kranken mit- 


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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 


37 


zuteiien, die, zunachst ohne jede theoretische Voreingenommenheit ge- 
sammelt, nos auch unter Berucksichtigung aller oben gel tend gemachten 
Einwinde, fur das vikariierende Eintreten der rechten fur die 
erkraukte linke Hemisphere und fur deren Uebbarkeit durch 
linksh&ndige Schreibubungen zu sprechen scheinen. 

Unsere Hauptbeobachtungen bezieheu sich auf den weiter oben 
S. 18 ff. geschilderten Kranken. Dieser wurde, nachdem sich die recbts- 
seitige Hemiparese zuruckgebildet hatte, aufgefordert, wieder rechts- 
bandig zu scnreiben, wahrend er bis dahin linkshSndige Schreibubungen 
gemacht batte. Dieser Auffassung widersetzt sich der sonst willige 
Patient immer wieder. (Eine gieiche Mitteilung macht Draesecke 1 ) von 
einem seiner Patienten). Auf Vorhalt sagt er „Danken fehlen“ (Gedanken 
fehlen) und gibt immer wieder zu verstehen, er glaube rechtshandig 
Geschriebenes schwerer einpragen und schlechter merken zu kOnnen, 
ale das mit der linken Hand Geschriebene. Patient ist nicht anders 
als vorubergehend zum Rechtsschreiben zu bewegen. Es werden darauf- 
bin Merkfabigkeitsprufungen mit rechtshandig und linkshandig ge- 
scbriebenen Worten vorgenommen: 


Abscbrift von 8 begrifflich Schriftlicbe Wiedergabe nach 


bekannten Worten. 

60 Sekunden. 

. Tisch 

Rechtshandig: 

Tisch 

Tur 


Tur 

Ast 


Buch 

Hund 

(Lange Pause) sagt: ich 

Scbrank 


nicht, schliesslich 

Tafel 


Tafel 

Buch 

Scfauh 

Bild 

Linkshandig: 

Biid 

Uhr 


Uhr 

Blatt 


Blatt 

Hahn 


Hahn 

Licht 


Licht 

Tafel 


Strumpf 

Tuch 


Tuch 

Strumpf 




1) Die Kriegsbescbadigten-Fiiisorge. 1. Jahrg. Nr. 12—13. 


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Dr. Frieda Reichmann and Edaard Reichaa, 


Von 8 begrifflich bekannten rechtsh&ndig abgeschriebenen artiku- 
latorisch einfachen Hauptworten reproduziert Patient also nach 60 Se- 
knnden die beiden ersten in richtiger Reihenfolge, dann imter grossen 
Schwierigkeiten noch 2 einzelne weitere Worte; bei linksh&ndigem 
Sebreiben erfolgt prompte Wiedergabe der 5 ersten Worte in richtiger 
Folge, dann zweier weiterer richtiger Worte mit einer Umsteilung; nor 
1 Wort feblt. 

Abschrift begrifflich nickt Schriftliche Wiedergabe nach 
bekannter Worte. 60 Sekunden. 



Rechtsh&ndig: 


Apotheke 

Preisliste 

Universitftt 

Vorwort 


Aporthort 

Alkohol 

Linksh&ndig: 

Alkohol 

Verzeichnis 


Verzeichnis 

Medikament 

Nachschrift 


Nachschrift 


Von 4 rechtsh&ndig abgeschriebenen begrifflich nicht bekannten 
artikulatorisch schwierigen mehrsilbigen Substantiven wird also rechts 
nur eine Wortverstummelung reproduziert, links werden bei gleicher 
Versuchsanordnung 3 von 4 Worten richtig wiedergegeben, 1 aus- 
gelassen. 

Ans diesen wiederholt bei dem Kranken ausgefuhrten Untersachnngen 
ergibt sich, dass die sprachliche Merkf&higkeit fur links- 
h&ndig Geschriebenes bei ihm eine bessere ist, als die fur 
Worte, die mit der rechten Hand niedergeschrieben wurden. 

Die gleiche Erfahrung konnten wir bei einem auderen Kranken 
machen. Es handclt sich um einen Fall von schwerer motorischer 
Aphasie, der sich auch, nachdem er die einzelnen sprachlichen Elemente 
wiedererlernt hatte, der Spontansprache nur ganz unznreichend bedienen 
konnte wegen einer schweren StOrung der Merkf&higkeit. 

Auf Grand der Erfahrungen an dem eben genannten Fade 
wurden nun aucb diesem Kranken zun&chst versuchsweise linksh&ndige 
Schreibiibungen aufgetragen, die von dem gebildeten Patienten selbst 
als zwecklos angesehen' und nur sehr widerwillig ausgefuhrt wurden. 

Nach 6—8 Wochen trat eine entschiedene Besserang der Merk¬ 
f&higkeit hervor, die von dem Patienten subjektiv sehr lebhaft emp¬ 


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Zur Uebungsbehandlnng der Aphasien. 


39 


funden wird und aach objektiv deutlich zum Ausdruck kommt. Als 
Jlassstab dienen uds Vergleiche zwischen der Niederschrift einfacher 
gelesener Stoffe vor Beginn der linksh&udigen Uebungen und 6— 8 Wochen 
aach deren Beginn. (Systematiscbe Merkf&higkeits- und Ged&chtnis- 
prdfuugen aind leider bei dem Patienten nicht durcbgefuhrt worden.) 

19. 5. 1916. Preie schriftliohe Wiedergabe von Erlebtem, das mehrmals 
besprochen wnrde. 

„Das Konzert. Gestern batten wir im Garten Konzert. Es spielte eine 
Kegiments-Kapelle and zwar Pionier-Bataillon Nr. 18. Der Inbalt der Stucke 
war mir nicht bekannt u . 

Die hier angefuhrten schriftlichen entsprechen im Prinzip den jeweiligen 
mdndlichen Leistungen. 

Erlebtes gibt Patient also schon leidlich gut schriftlich wieder, 
ebenso bildlich dargestellte Stoffe. Schriftliche Wiedergabe fliessend 
gelesener und beim Lesen inhaltiich'aufgefasster Stoffe ist ihm jedoch 
unmdglich. 

28. 10. 1916. Spontaoscbrift. Besohreibung eines Bildes. 

„Der Marktplatz. Der Marktplatz ist in einer Stadt. Grosse sohone 
Haaser stehen dort. Ein kleines Madchen kauft Aepfel. Die Gemiise- and 
Fischfraa warten auf Kanden. Die Schuhmacherfrau bietet ihre Waren ver- 
geblich an. Die Trodlerfrau setzt eine Menge Waren ab. Eine Elektrische 
Bahn fahrt dort u . 

13. 12. 1916. Auch mehrmals gelesene Stoffe kann Patient noch 
turner nicht schriftlich wiedergeben. Beginn der linksh&ndigen 
Schreibubungen. 

16. 2. 1917. Wiedergabe eines zweimal gelesenen Textes. Spontan- 
schrift. „Vom Zaunkonig 14 . n Der Zaunkonig bleibt auch im Winter bei uns, 
Wenn andere Vogel traurig dasitzen, und selbst die Spatzen unter der Dach- 
luke traurig sitzen, so findet der Zaunkonig immer noch was zu Fressen. Der 
Zaunkonig frisst die Schmetterlingseier ab. Den Vogeln singt er ein Trostlied 
and den rerhungerten Hasen a . 

Wiedergabe eines zweimal gelesenen Textes: 

29. 8. 1917. Spontanschrift. n Deutsche Arbeit 44 . „Ein Hamburger Kauf- 
mann brachte sicb einen Herrensohreibtisoh fur 5000 Franks, den er auf der 
ersten Pariser Weltausstellung erworben batte, naoh Hamburg mit. (E) Der 
Schreibtisch war mit alien Schikanen ausgestattet, hatte schmiedeeiserne Unter- 
iagen und batte ein Wandschrankchen fur Pretiosen. Da besuchte ihn ein 
Hamburger Schlossermeister. Der Kaufmann nahm an, dass der Schreibtiscb in 
Paris angefertigt worden ware. Der Kaufmann zeigte den Tisch dem Schlosser- 
taeister und raachte ihn auf alle Vorzuge aufmerksam. Der Schlossermeister 
fragte den Kaufmann, ob er nicht die Platte des Tisches abschrauben kdnnte. 
L»er Kaufmann gab seine Einwilligung hierzu. Der Schlossermeister enthielt 


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Dr. Frieda Heichmann and Eduard Reichau, 


sich yorlaufig jedes Urteils. Plotzlich sagte der Schlossermeister zu dem Kauf- 
mann, dass seine eigene Firma obenstande and dass das Schloss in des 
Schlossermeisters eigener Werkstatte angefertigt ware. Aach der Tisch war in 
einer Hamburger Tischlerei hergestellt. Der Tischlermeister and der Schlosser¬ 
meister batten fur den Tisch eine hohe Bezahlung, die jedoch an 5000 Franken 
nicht heranreichte. So machen die Franzosen ibre Geschafte". 

Der Kranke, der trotz lOmonatigerUebungsbehandlung am 13.12.1910 
noch unfahig war, mit VerstSudnis gelesene Stoffe scbriftlich wieder- 
zugeben, w ah rend er Selbsterlebtes und bildlich Dargestelltes schrift- 
lich reproduzieren konnte, vermag also nach secbs- bis achtwbchiger 
linkshandiger Uebungsbehandlung (am 16. 2. 1917), zunachst 
leichtere gelesene Stoffe and kurze Zeit darauf selbst komplizierte 
Lesestucke gewandt schriftlich und mundlich wiederzugeben. 

Dass cs sich hier etwa urn eine pldtzliche Besserung handeln 
kSnnte, die auch ohue linkshandiges Schreiben im Verlauf der Uebungs- 
bebandlung eingetreten ware, ist nicbt anzunehmen, denn Pat. raachte 
scbon vorher, wahrend eines 10 Monate langen Unterrichts gute Fort- 
schritte im Wiedererwerb der sprachlichen Funktionen, gewann aber mit 
Hilfe rechtshandiger Uebungen nicht die genugende sprachliche Merk- 
fahigkeit zur mundlichen oder schriftlichen Wiedergabe gelesener 
Stoffe, wie sie ihm nach Einsetzen der Linksschreibubung plotzlich 
gelingt. 

Wir glauben demnach, diese beiden Uebungserfolge nicht anders 
auffassen zu konnen, denn als Unterstutzung des Wiederaufbaues 
der sprachlichen Merkfahigkeit durch linkshandige Schreib- 
iibungen. Die MOglichkeit, dass diese im Sinne einer Unterstutzung 
der Ruckbildung linksbirniger Leistungen gewirkt habenkbnnten, ist aller- 
dings, da die linke Hemisphare auch an der Innervation der gleichzeitigen 
Extremitaten beteiligt ist, mit Sicherheit nicht auszuschliessen. (Vgl. 
Rothmann, Arch. f. Psych., 1908, Nr. 43, Diskussion in der Berliner 
Gesellschaft fur Psychiatric und Nervenkrankheiten.) Immerhin er- 
scheint es hochst unwahrscheinlich, dass eine etwa bestehende Tendenz 
zur Restitution linkshirniger Zentren nach so langer Uebungsbehandlung 
erst durch die linksbandigen Schreibiibungen eine so plotzliche Unter¬ 
stutzung erfahren sollte, zumal die Impulse, die die linke Extremilat 
von der homolateralen Hemisphare empfangt, doch gegenuber der kon- 
tralateralen relativ geringe sind und demgemass auch umgekehrt ihrer 
Einwirkung auf die homolaterale Hemisphare keine allzu grosse Bedentung 
beigemessen werden darf. Es erscheint uns deshalb wahrscheinlich, dass 
unsere Beobacbtungen im Sinne einer vikariierenden Uebernahme der 
Fuhrung durch die rechte Hemisphare fur die physiologischerweise uber- 


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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 41 

\ 

geordnete linke beim zentralen Sprachmechanismus gcdeutet werden 
dor fen. 

Al8 interessant in dieser Richtung, wenn aucb selbstverstandlich 
nicht beweiskrfiftig, diirfen vielleicht auch die Angaben eines Aphatikers 
(Hemiparese rechts, rechtsseitige Jackson’sche Anf&lle) mit Schuss- 
verletzung des linken Stirn- und Schlafenlappens angeffilirt werden, 
der im Laufe der Uebungsbehandlung angab, bei lfingerer Uebung oder 
sonstigei geistiger Anspannung, Scbmerzen in den korrespondierenden 
reehtshirnigen Partien zu empfinden. Anhaltspunkte fur eine lokale 
rochtshirnige Schadigung bestanden nicht. Im Bereich der Schuss- 
verletzang in der linken Hemisphere fanden sich bei wiederhoit not- 
wendigen operativen Eiugriffen multiple Geschoss- und Enochensplitterchen 
and eine etwa pflaumengrosse Zyste, fiber deren genaueren Sitz sich im 
chirurgischen Krankenblatt keine n&heren Angaben finden. Heine Zeichen 
einer difTusen zerebralen Storung, keine Drucksteigerung. 

Angeregt durch diese Erfahrungen und durch die oben zitierten 
Mitteilungen aus der Literatur, baben wir neuerdings linkshandige 
fibungstberapeutische Versuche an zwei aphasiscben Hilfsschulkindern 
vorgenommen. Obwohl beide schon frfiher mit grosser Hingabe unter- 
riehtet und individuell berucksichtigt wurden, konnte w&hrend der mehr- 
jlhrigen Schulzeit keine nennenswerte Beeinflussuug des psychischen 
Allgemeinsustandes erzielt werden. Bei dem einen Kinde ist jetzt nach 
2 monatiger optisch-taktiler und linkshindiger Uebungsbehandlung eine 
so auffallende Hebung des psychischen Gesamtzustandes eingetreten, 
dass uns die Angebfirigen des Kindes, die die Einleitung einer neuen 
Bebandlung nur mit grossem Widerstreben zuliessen, spontan von seinem 
verftnderten Verhalten im Hause Mitteilung machten. 

Ueber das Ergebnis unsererer weiteren Beobachtung an diesen 
Kioderu, die jetzt noch zu kurzdauernd und daher noch -zu unsicher 
fur weitere Verwertung sind, werden wir spfiter berichten. 

V. 

Zusammenfassend bezeicbnen wir folgende Erfahrungen an heil- 
pfidagogisch behandelten Aphasien als Ergebnis unserer Beobachtungen: 

1. Die optisch-taktile Methode ffihrt auch bei partiellen 
motorischen Aphasien zu guten Heilerfolgen. 

2. Sensorische Aphasieen kfinnen ebenso wie motorische 
Sprachstfirungen erfnlgreich nach der optisch-taktilen 
Methode behandelt werden. Die auf diesem Wege 
erzeugten zerebralen kinSstbetischen Erinnerungsbilder unter- 
stutzen die Rfickbildung perzeptiver Sprachstfirungen ebenso 


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42 Dr. P. Reichmann a. E. Reich&u, Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 

wirksam wie die Heiiung von Erkrankungen des expressiven 
Sprachapparates . l ) 

3. Dnsere Beobachtungen bilden einen Beweis fur die Uebbarkeit 
der sprachlichen Merkfahigkeit Aphasiscber durch 
linksh&ndige Schreibubungen. Diese sehen wir als neue 
Wahrscheinlichkeitsstutze fur die Hypothese an, dass rechts- 
hirnige Zentren vikariierend fur die geschadigten linken die 
Fuhrung des zentralen Sprachmechanismus ubernehmen k5nnen. 

1) Meine (Reichmann) inzwischen in der Hirnverletztenschule Frank¬ 
furt a. M. (Goldstein) gesammelten Erfahrungen veranlassen mich jedoch dar- 
auf hinzQweisen, dass die guten therapeutischen Moglichkeiten der optisch- 
taktilen Methode uns nicht verleiten diirfen, sie kritiklos bei alien Aphasischen 
anzuwenden; neue Methoden und Kombinationen alter und neuer Methoden 
sind inzwischen gefunden und erprobt worden, und mtissen, von Fall zu Fall 
sorgfaltig individualisierend, therapeutisch mit in Betracht gezogen warden. 
(Vgl. Goldstein, Die Behandlung, Begutaehtung und Fursorge Hirnverletzter. 
C. F. W. Vogel. Leipzig 1918.) 




III. 


Aus dem pathologischen Institut der vereinigten Friedrichs-Universitat 
Halle-Wittenberg (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Beneke). 

Die Beziehungen des Status thymico-lympliaticus 
zum Selbstmord yon Soldaten. 

Von 

Dr. Neste. 

Die vorliegende Arbeit enth&lt einen Beitrag zur klinischen Bewer- 
tung and Beacbtung der Beziehungen des sogenannten Status thymico¬ 
lymphaticus. bestehend aus einer Thymus- und Lymphdrusen-Hyperplasie 
oinerseits und einer mehr oder weniger ausgebildeten Atrophie der 
Nebennieren andererseits, zum Nervensystem und einer daraus sich er- 
gebenden Predisposition zum Selbstmord. 

Kntwicklungsgeschichtliche Wechselbeziehungen zwiseben Neben¬ 
nieren and Thymusdruse einerseits, dem Zentralnervensystem anderer¬ 
seits, sind seit langer Zeit bekannt. In den moisten der beschriebenen 
Fille handclt cs sich um Missbildung des Gehirns, Hemizephalie, An- 
enzcphalie, Synzephalie, Zykiopie, Akranio, Hydrozephaius, bei denen 
sich eine Hyperplasie des thymiko-lymphatischen Apparates und eine 
Hypoplasic des Nebennierengewebes und zwar vorwiegend ihres inter- 
renalen und ebromaffinen Systems vorfand. Vor allem die Beziehungen 
der Nebennieren zum Zentralnervensystem sind der Gegenstand 
ciugehendcr Untersucbungeu gewesen. Die Kenntnis der Tatsache der 
Nebennierenbypoplasie bei Azephalie geht schon auf Morgagni zurfick; 
spatere Forscher (die beiden Meckel, Vetter, Rayer u. a.) haben sie 
vielfach best&tigt. Ueber 17 F&lle von Hemizephalie mit Hypo- oder 
Aplasie der Nebennieren berichtete dann Lomer (1), und lenkte hier- 
durch von neuem die Aufmerksamkeit auf diese merkwurdige Kombi- 
nation. Gleich daranf verOffentlichtc Weigert (2) ahnliche Erfahrungen; 
<*r hielt es fur wahrscheinlich, dass die Defektbildung des Zentralnerven- 
systems, etwa uoter Vcrmittlung des Sympathikus, die Hypoplasie der 
Nebennieren (— eine vOllige Aplasie fand er in keinem Fhlle —) ver- 


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44 


Dr. Neste, 


anlasste, und betonte, dass diese Hypoplasie die Rindensubstanz min- 
destens ebenso sehr betreffe wie die Marksubstanz. 

Sehr eiDgehend ist den Beziehungen zwischen Nebennieren and 
Nervensystem Zander (3) nachgegangen. Er praparierte die Neben¬ 
nieren und bestimmte ihr Gewicht und Grosse bei 42 Hemizephalen, 

8 Hydrozephalen, 8 Hydrozephalozelen, 4 Zyklopen und 3 Synzephaien. 

% 

Bei keinem Hemizephalug hat er normal grosse Nebennieren gesehen, so 
dass er als das Ergebnis seiner Untersuchungen ansieht, dass bei Hemizephalen 
die Nebennieren immor verkleinert sind. 

Bei den 8 Hydrozephalen der Konigsberger Sammlung fand er die Neben¬ 
nieren normal gross, wahrend sich bei den Hydrozephalozelen eine Aplasie der 
Nebennieren vorfand, so dass sich der Schluss ergab, dass die Nebennieren nicht 
nur bei volligem Hirnmangel, wie bei den 42 Hemizephalen, verkleinert sind, 
sondern auch bei solchen Friichten, bei welchen nur die vordere Halfte der 
Grosshirnhemisphare fehlt, selbst wenn die iibrigen Teile des Gehirns mehr 
oder weniger vollstandig sind. Die Zerstorung der hinteren Partie des Gross- 
hirns bedingt umgekehrt keine Verkleinerung der Nebennieren, wenn die vor- 
deren Abschnitte normal gestaltet sind. Anch bei den 4 Zyklopen fanden sich 
die Nebennieren kleiner als bei entsprechend ausgebildeten normalen Friichten. 
Bei den 3 Synzephaien waren die Nebennieren nicht verkleinert. 

Zander fasst den Zusammenhang zwischen dem Grosshirn und den 
Nebennieren so auf, dass das Wachstum der Nebennieren nur dann in 
normaler Weise vor sich gehen kann, wenn das Gehirn intakt ist. Ist 
die Nebenniere bereits vollstandig entwickelt. so wird sie sich nicht ver- 
kleinern, wenn das Gehirn zugrunde geht. Tritt aber die Zerstorung 
des Gehirns in einer Periode auf, wo die Nebennieren noch in der Aus- 
bildung begriffen sind, so wird in der Entwicklung der Nebennieren ein 
Halt eintreten, oder doch eine Verlangsamung ih^es Wachstums. 

Zander halt also wie Weigert die Hirnmissbildung fur ausschlag- 
gebend fur die mangelhafte Entwicklung der Nebennieren. 

In direktem Gegensatz dazu stellt sich Alexander (4). An die kritische 
Wiirdigung der Zander’schen Arbeit anschliessend, fiihrt er aus: „Nicht das 
Gehirn hat Einduss auf das Wachstum der Nebennieren, sondern die Neben¬ 
nieren haben Einfluss auf die Entwicklung des Zentralnervensystems. Es ist 
ganz klar, dass natiirlich selbst bei richtiger Funktion der Nebennieren andere 
Schadlichkeiten auf den Schadel und das Gehirn wirken und zur Vernichtung 
der urspriinglich normal angelegten Teile fiihren konnen. Damit erklaren sich 
auch die Falle, wo bei intakten Nebennieren Hydrozephalie gefunden wurde 
und ebenso auch, dass manchmal Hemizephali ganz normale Nebennieren — 
wenn auch selten — haben. „Eins ist festzuhalten: In der ganzen Literatur, 
die hier in Frage kommt, habe ich nicht Falle gefunden, bei denen Mangel 


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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 45 

oder Aplasie der Nebennieren mit gut entwickeltem Gehirn und Ruckenmark 
zusammenfiel, nur solche, wo bei intakten Nebennieren Veranderungen oder 
Missbildungon im Zentralnervensystem vorlagen. Folglioh scbeint mir meine 
Erklarung hierfur besser zu passen: Veranderungen, Zerstorungen im Gehirn 
und Nervensystem konnen eben durch versohiedene Einfliisse bedingt sein. 
Einer derselben ist gegeben durch den Ausfall der Funktion der Nebennieren, 
und daher fiudet man bei Aplasie oder beim Fehlen derselben stets Abnormi- 
taten im nervosen Zentralapparat“. Auch die Ansicht von Weigert, dass ein 
solohes Organ, wie die Nebennieren, so wichtige Teile wie Him und Schadel 
in ibrem Wachstum nioht beeinflussen konne, erkennt Alexander nicht an. 
,,Wenn wir bedenken 11 , fahrt er fort, „dass wir es mit einer Druse zu tun 
haben u , — Alexander hat dies in seiner Arbeit immer wieder betont — „und 
wenn wir erwagen, dass im Korper Driisen im Laufe eines Tages Produkte in 
einer Masse liefem konnen, die im Verbaltnis znr Driisensubstanz sehr gross 
genannt werden muss (liefern doch zum Beispiel die Speicheldruseen in 
24 Stunden bis 2000 g Speichel), so konnen wir uns wohl erklaren, dass ein 
Organ, wie die Nebenniere, durch Eingreifen in den intermediaren Stoffwechsel 
selbst ungleich grossere Organe des Korpers beeinflussen kann“. 

Dass diese Ausfuhrungen Alexander’s nicbt bloss Hypothesen 
siud, sondern eine tatsSchliche Berechtigung haben, geht ans seinen 
chemiscben Untersuchungen hervor, die den Nachweis von Lezithin in 
den Nebennieren brachten und zwar in solchen prozentualen Mengen, 
wie sie im ganzen Organismus nur noch im Nervenapparat, vor allem 
in der grauen Substauz, vorkommen. Sie werden fernerhin noch ge- 
stutzt durch die Untersuehungscrgebuisse Tizzoni’s, der nachwies, dass 
bei Exstirpation der Nebennieren sich Veranderungen im Gross- und 
Kleinhirn, im Ruckenmark und in den peripheren Nerven einstellen, 
vorwiegend immer in der grauen Substanz nnd in der Pia mater. 

Bemerkenswert ist auch der histologische Versuch Czerny’s (5), 
der bei o Hydrozephaien eine Nebennierenatrophie fand. Berliner Blau, 
welches er in die Hirnventrikcl junger Ratten injizierte, wurde zuerst 
in einem Lympbgef&ss sichtbar, welches einen Gang zu den Nebennieren 
abgibt. Ferner drang der Farbstoff auf dem Lymphwege ganz auffallend 
reichlich in die Nebennieren ein. 

Ich babe oben bereits erwahnt, dass an dieser Ilypoplasie des 
Nebennierengewebes die Rinde (Interrenalsystem) in ausgeprSgtem Masse 
teilnimmt. Diese Ansicht ist schon von Weigert vertreten. Meyer (6) 
berichtet uber seine Untersuchungen mit den Worten: „das, was raor- 
phologisch die Nebennieren der Anenzephalen von anderen unterscheidet, 
ist in alien Fallen der Mangel oder die geringe Ausbildung in den 
inneren Schichten der Zona fasciculata und der reticularis bei meist 


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Dr. Neste, 


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gut erbaltener und fettreicher Zona glomerulosa mit angrenzonder Partie 
der Zoua fasciculata, in etwa der Halfte der Falle ein byperplastisches 
und weit differenziertes Mark. 

Aucb in anderer Hinsicbt sind die Untcrsuchungen Meyer’s inter- 
essant. Er untersuchte 2 Anenzephalen im zweiten und funften Fotal- 
monat — wesentlich junger also als diesonst beschriebenen Falle — und 
konnte bei diesen keine Abnorraitat der Nebennieren feststellen. Aus 
seinen Fallen geht hervor, dass bei Hemizephalie und Anenzepbalie 
nicht nur das Nebennierengewebe normal sein, sondern auch bis in 
den 5. Fotalmonat normal erbalten bleiben kano, dass also eine 
sekundare Atrophie durch einen vorlaufig unbekannten Ein- 
flnss eintritt. Dass diese mit der Gehirnmissbildung zusammenhangt, 
scheint Meyer unabweislich; die Vcrschiedenheit der Gehirnmissbil- 
dungen deute ferner darauf bin, dass nicht in einer dritten gemeinsamen 
Ursache die Fehler begrundet seien, sondern dass die Stdrungen der 
Nebennieren direkt mit denen des Gehirns zusammenh&ngen. Auch 
Meyer sicht die Hirnmissbildungen als das Prim&re an, ist also der- 
selben Ansicht wie Weigdrt und Zander. 

Wiesel(7) wies nacb, dass auch Unterentwicklungen im Gebiete 
des chromaffinen Systems vorkommen, meist in Gesellschaft mit ander- 
weitigen Anomalien. 

So steben also zwei Anscbauungen: die eine, welcke die Missbildung 
des Gehirns als ausscblaggebend fur die mangelbafte Entwicklung der 
Nebennieren, die andere, welche die hypoplastische Anlage der Neben¬ 
nieren fur die Hirnmissbildung verantwortlich gemacht haben will, sich 
gegeniiber. Das Prim&re und Sekundare ist vorl&ufig nicht gekl&rt, 
aber jedenfalls sprecben viele Bcobacbtungen fur die Tatsache, dass 
die morphologische Entwicklung beider Organe bestimmte quantitatir 
nachweisbare Bezieliungen hat. Die einfachste Auffassung wurde 
wohl, nach Beneke’s Vorstellung, dahin lauten, dass der Ver- 
brauch bestimmter Mengen einer fur das Zentralnervensystem 
notwendigen Substanz, etwa des Lezithins, durch die physio- 
logische Produktion der Nebennieren gewahrleistet wird, 
und dass demgemiss die letzteren einer funktionellen Atrophie 
unterliegen, falls eine Defektbildung der Hirnmasse die An- 
forderungen an die Nebennieren herabsetzt. Hieraus wurde 
sich dann ergeben, dass die „normale u GrSsse der Neben¬ 
nieren einem bestimmten Stoftwechsel innerhalb des Zentral- 
nervensystems entsprecben wurde, und dass Schwankungen 
dieser Korrelation auch im postfdtalen Leben quantitativen 
Ausdruck finden kdnnen. 


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Beziebungen des Status thymico-lympbaticus zum Selbstmord von Soldaten. 47 

Ueber die Beziehongeu der Thymusdruse oder des Status thymico¬ 
lymphaticus zum Zeutralnervensystem ist entwicklungsgeschichtlich 
weniger bekaunt geworden. Drei franzdsische Autoren (We ns low, 
Borneville, Katz) beschrieben Gntwicklungshemmuugen des Gebirns 
bei Anomalie der Thymusdruse. Gelegentlich einer Besprechung fiber 
den noch spfiter zu erwahnenden Status thymicus bericbtet Anton (32) 
fiber drei Sektionsfalle, bei denen neben einer grossen Thymusdruse 
gleichzeitig eine Hypertrophic des Gebirns nachweisbar war. „Es ist 
schon Rokitansky bekannt“, fuhrt Anton aus, „dass Hypertrophic 
des Gehirns, vielleicht besser gesagt, relative Hypertrophie des Gehirns 
plfitzlichen Tod herbeifuhren kann. Gs ist Tatsache, dass die Hyper¬ 
trophie des Gehirns, besonders bei Kindern h&ufig fibersehen wird, sinte- 
mal die Gehirnwfigungen nicht regular vorgenommen werden. In der 
Tabelle von Gehirngewichten, welche Marchand verfiffentlicht, finden 
sich solche hohe Gehirngewichte auch boi Kindern, ebenso findet in der 
Publikation von Neusser fiber den Status thymico-lymphaticus die Tat¬ 
sache der Gehirnhypertrophie eingehende Beachtung. 

n P)fitzliche Todesfille ereigen sich auch bei Hydrocephalus internus; 
es sind also bereits hinreichend Tatsachen vorhanden, weiche das gleich- 
zeitige Vorhandensein von vergrfisserter Tbymusdrfise und Gehirnhyper- 
tropbie illustrieren". 

Experimentell sind die innigen Beziehungen zwischen Thymus und 
Nervensystem von Klose und Vogt(13) eingehend studiert worden. Sie 
haben nachweisen kfinnen, dass beide Organe, ebenso wie Nebennieren 
und Nervensystem, in enger Wechselwirkung stehen. Die Aenderungen 
bestehen im motorischen Verhalten der thymusexstirpierten Tiere, in 
einem Trig- und Plumpwerden der Bewegung — infantiler Bewegungs- 
eharakter — infolge Verblfidung der Tiere. Weiterbin stellen sich Er- 
mudungserscheinungen und leichte Paresen und endlich koordinatorische 
Stfirungen ein. Die Sensibilitfit bleibt lange Zeit intakt, spfiter stumpft 
sie sich ab und die Schmerzempfindlichkeit geht verloren. Auch die 
Sinnesfunktionen nehmen an Sicherheit recht erheblich ab, am auffallend- 
sten der Geruchssinn. Die Hautreflexe sind erst erhfiht, spfiter herab- 
gesetzt, die Sehnenreflexe schon wfihrend des Latenzstadiums erhfiht, 
werden dann spfiter noch lebhafter; in manchen Fallen zeigen sie 
schliesslich ein Absinken. Die elektrische Grregbarkeit ist erhfiht 

Basch (11) stellte nach der Thymusexstirpation Krampfanffille, bald 
von tonischem, bald von klonischem Charakter fest, eine Beobachtung, 
die von Klose und Vogt nicht gemacht werden konnte. Nach ihm 
wird das Krankheitsbild der thymusexstirpierten Tiere sehr wesentlich 
in alien Zfigen durch eine schwere psychische Verfinderung bestimmt 


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Dr. Neste, 

Gehen aus derartigen experimentellen Befunden deutliche Beziehungen 
zwischen den funktionellen Leistungen der Thymusdruse und denen 
der verschiedenen Abschnitte des Zentralnervensystems hervor, so lassen 
sich solche wohl auch aus den eigenartigen klinischen Erfahrungen 
uber den sogenannten „Thymustod“ herauslesen. Auf die Einzelheiten 
dieser so viel diskutierten Erklarung einzugehen, wurde hier zu weit 
fuhren. Ich begnuge mich mit dem Hinweis, dass die Auffassung man- 
cher Autoreu, dass diese unter Krampfen erfolgende j&he Todesart eine 
Folge mechanischeu Druckes der vergrosserten Thymusdruse auf die 
Trachea sei, zwar fur mapche FSlle des frubesten Kindesalters aus- 
reichend bewiesen erscheint [so z. B. in den von Flugge(lO) mitge- 
teilten Beobachtungen Beneke’s; vgl. auch 26 u. 27], dass aber fur die 
meisten F&lle, namentlich die pldtzlichen Todesf&lle bei Erwachseneu, 
an eine toxische Eiuwirkung gedacht werden muss. Fur solche Fille 
gilt offenbar die von Paltauf (14) geschaffeue und von Bartel u. a. 
weiter ausgefuhrte Lehre vom „Status thymico-lymphaticus u , als einer 
„Konstitution8anomalie“, welche Paltauf mitfolgenden Worten definierte: 

„Blasse der Haut, wohlentwickelterPanniculus adiposus, Hyperplasie der 
verschiedenen Teile des lymphatisohenApparates, der Lymphdriisen des Halses, 
der Axilla, des Mesenteriums; die Follikel des Nasen- und Rachenraumes, der 
Darmwandungen, des Zungengrundes und derMilz stark vergr5ssert, dioThymus 
iibennassig gross. Diese Befunde fuhren uns dahin, einen allgemein krank- 
haften Zustand des Korpers anzunehmen, der durch die Bezeichnung lympha- 
tische Konstitution am ehesten gekennzeichnet wird. Die hyperplastische und 
abnorm laag erhaltene Thymusdruse ist nicht die Ursache des Todes, sondern 
nnr ein Teilsymptom jener allgemeinen Ernahruugsstorungen, die des weiteren 
durch die Vergrosserung der Lymphdriisen undTonsillen charakterisiert wird“. 

Bei solchen Individuen, die Russerlich vollkommen gesund erscheinen, 
geniigt eine geringe Yeranlassung (korperliche Anstrengung, Baden, 
psychische Erregungen, beginnende Chloroformnarkose u. a.), um den 
Tod herbeizufiihren. 

Die zunehmende Erfahrung hat mehr und mehr gelehrt, dass eine 
grdssere Empfiudl ichkeit solcher Individuen gegenuber Scha- 
digungen aller ATt besteht. Schou altere Aerzte haben in diesem 
Korperzustande eine Anlage oder Disposition zu gewissen Infektions- 
krankheiten, insbesondere zu Tuberkulose erblickt; Bartel (15) aussert 
sich in ahnlichem Sinne. Die grossere Vulnerabilitat dieser Individuen 
gelangt schou darin zum Ausdruck, dass die grdssere Halfte derselben 
in einer fruhen Altersperiode (14.—25. Lebensjahr) zumeist an Infek- 
tionskrankheiten, namentlich an Tuberkulose, weiter an Nephritis, Eklamp- 
sie, Diabetes zugrunde geht. 


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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 49 

Fur diese F&lle von Status tbymicus ist nun das gleichzeitige Zu- 
sammentreffen von Thymushyperplasie und Nebennierenatrophie von 
Wiese l (8) zuerst angegeben worden. Diese so cbarakteristische Kom- 
bination raft sofort die Eriunerung an die eingangs mitgeteilten eut- 
wicklungsgeschichtiichen Beziebungen der Nebennieren zu dem Zentral- 
nervensystem wach. 

Leber die Frage, was beim Status thymicus das Ausscklaggebende 
ist. ob die Hyperplasie der Thymus, oder die Hypoplasie der Neben¬ 
nieren, besteht keine einheitliche Auffassung. Biedl (28) h3.lt die 
Thymus in Abhangigkeit von anderen endokrinen Organen, die auf die* 
selbe teiis im Sinne einer Hemmung (Tbvmusdepressoren), teils im Sinne 
einer Steigerung ibrer Aktivit&t (Tbymusexzitatoren) wirken. Zu den 
letzteren waren in erster Reihe die Schilddriise, die Epithelkdrper- 
chen, und nachWiesel die Nebennierenrinde zu recbnen, w ah rend eine 
tbymusdepressorische Wirkung vor allem den Keimdrusen zukommt. 
Nach W iesel hat auch das Adrenalsystem Einfluss auf die Thymus im 
Sinne einer Depression. Er weist auf den Parallelismus zwischen phy- 
siologischer Involution des Nebcnnierensystems und der physiologischen 
Involution der Thymus und auf den Antagonismus zwischen Adrenalin 
und Thymusextrakt bin. Durch starke Verminderuug des thymusdepres- 
sorischen Adrenalius kann es zu einem Ausbleiben der physiologischen 
Involution der Thymus komraen, falls die Erkrankung noch vor der 
Pubertat cinsetzt, oder aber die Thymus kann durch den Wegfall der 
hemmenden Substauz noch spater zu einer Tatigkeit erwachen. Hierher 
gehfirt auch die auffallige Thymushyperplasie in vielen Fallen von Mor¬ 
bus Addison [vgl. Wiesel’s Zusammenstellung (8)]. Auch Beneke(25) 
hat gelegentlich eiuer Ausfuhrung uber seine bei Kriegsteilnehmern ge- 
machten Beobachtungen uber Status thymicus und Nebennierenatrophie 
diese Frage kurz gestreift. Er fuhrt aus: 

„lch bezeichne als ^Status thymicus 41 Falle mit ausgepragt parenchyma- 
loser, vergrosserter Thymusdrnse und entsprechenden Hyperplasien des Folli- 
kalarapparates, wobei ich ebenso wie Sohridde die Hypertrophie der Zungen- 
balgdrdsen ganz besonders auffallig und regelmassig finde, andererseits mit 
Atropbie der Nebennieren. Die Schmalheit der Nebennieren, vorwiegend der 
Kinde, aber nicht selten auch desMarkes, welche das ganze Organ in schweren 
Fallen fast papierdiinn erscheinen lasst, scheint mir noch bedeutungsvoller, 
als der Zustand der Thymusdruse selbst. Ich babe den Eindruck, als ob die 
Nebennierenatrophie, wie es ja auch in dcr Literatur vielfach angenommen 
wird, den ganzen Prozess, den ich nicht als eine angeborene Konstitutions- 
anomalie, sondern als eine erworbene schwankende Stoffwechselsto- 
rung auffasse, einleiten und in vielen Fallen bis zur starken Thymushyper- 

Archit f. Psych itim. Bd. CO. Heft 1. 4 


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Dr. Neste, 


plasie treiben konne. Ich habe deshalb auch die Zahl der Falle mit Neben- 
nierenatrophie zusammengestellt. Unter 240 Sektionen von Soldaten fan den 
sich 56 Falle (23,3 pCt.) mit Nebennierenatrophie, davon 28 mit Thymushyper- 
plasie; sehr schwere Atropbie zeigten 19 Falle (7,9 pCt.), schwere 14 Falle. 
(5,8 pCt.), beide zusammen also 13,7 pCt. aller Sektionen; in 23 Fallen 
(9,5pCt.) war die Atrophie meistens deutlich erkennbar. Diese Zahlen scheinen 
mir darauf binzuweisen, dass dieVorgange des Stoffwechsels, welche die Grosse 
der Nebennieren bedingen, vorwiegend des Cholestearinfettstoffwechsels, bei 
den Soldaten besonders beeinflasst wurden — ich kann einstweilen kaum die 
Frage andeuten, ob es sich dabei urn Folgen der Tatigkeit, der Muskelanstren- 
gung, der nervosen Erregung, oder infolge der Ernahrung im allgemeinen, 
oder nor um- Folgen der todlichen Erkrankungen handelt. Dass die letzteren. 
Sepsis oder ahnliches, nicht allein massgebend sein konnen — wenn sie auch 
manchmal eine rapide Abnahme der Lipoide veranlassen, — geht schon aus 
dem Vorkommen der sohwersten Atrophien bei plotzlichen Todesfallen hervor. 
Offenbar handelt es sich auch keinesfalls allein um Abnahme der Lipoidablage- 
rungen und dadurch bedingte relative Schmalheit der Rinde, sondern um einen 
wirklichen Zellenschwund, starke Verkurzung der Zona fasciculata und wie ich 
wiederholt beobachtete, fast vollkommenes Fehlen der Regenerationszone der 
Nebennieren, der Zona glomerulosa. — Demgegeniiber scheint mir dieThymus- 
hyperplasie, wie die Hyperplasie des Follikularapparates im wesentlichen eine 
Steigerung des Nukleinstoffwechsels (Ueberschwemmung des Korpers 
mit nukleinreichen Zellen) zu verfolgen, wobei natiirlich die Produktion ander- 
weitiger Hormone parallel laufen kann u . 

Die Frage, ob die Nebennierenatrophie die Thymushyperplasie ver- 
anlasst hat, oder umgekehrt, erscheint vorlfiufig noch ebensowenig, wie 
die zweite, welches von diesen beiden Organen die Alteration im Ge- 
samtorganismus hervorruft, erklart. 

Eine eigentiimliche Beleuchtung erffihrt die Lehre vom Status thy- 
micus durch die neuerdings bei Selbstmfirderleichen gemachten fiber- 
raschenden Befunde. Bei einem auffallend hohen Prozentsatz 
der Selbstmorder unter den Soldaten fand sich ebenfalls ein 
mehr oder weniger ausgepr&gter Status thymicus mit Neben¬ 
nierenatrophie. Man ist damit der Frage, ob der Selbstmord etwa 
pathologisch-anatomische Grundlagen habe, einer Frage, die schon immer 
Pathologen und Psychiater beschfiftigte und auch eine recht grosse 
praktische Bedeutung hat, erheblich n&her getreten. Besonders von den 
Psychiatern ist die Frage vielfach aufgeworfen worden, indem man den 
Selbstmord als die Reaktion einer erkrankten Psyche ansah. In der 
Literatur sind zahlreiche Beobachtungen fiber jene Beziehungen bekannt 
geworden. Die letzte grossere Zusammenstellung bis zum Jahre 1912 
publizierte Miloslavich (22), der ich lolgende Ausfuhrungen entnehrae: 


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Beziehungap des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord you Soldaten. 51 

Die erste umfassendere Darstellung fiber Beobachtungen an Selbstmorder- 
leichen verdanken wir Heller (23), weloher im Jabre 1900 fiber 300 Sektions- 
falle von Selbstmordern berichtet. Heller betont in seinen Fallen die grosse 
Zahl von aktiten Krankheiten, welcbe Erfahrungen er sonst nicht in der Lite- 
ratur erwahnt fand. Er registries ferner: „Veranderungen des Zentralnerven- 
systems and seiner Hfillen in mannigfaohen Kombinationen: Hyperostosen, 
Sklerosen des Schadels, Hamorrhagien, Erweichungsherde des Gehirns usw., 
Missbildungen, Tumorbildungen. Bei Frauen Zustande von Graviditat, Status 
post partum und Menstruationen als physiologische Zustande, welcbe zu ab- 
abnonnem psychischem Verhalten in bohem Masse disponieren. Mancherlei 
Veranderungen werden von ibm auf Alkoholismus bezogen, der gleichfalls mit 
unter den letzten Ursacben des Selbstmordes angeffihrt erscheint. Nur in 
8 pCt. seiner Falle ist verxnerkt, dass patbologische Befunde nicbt vorhanden 
waren. Beziiglich der Beurteilung der Selbstmordfrage meint er: So durfte 
scharf zu unterschoiden sein zwischen dem letzten Anlasse zur Tat, und der 
eigentlicben, die abnorme Reaktion bringenden Ursache. Die letztere ist das 
wescntliche, der erstere ist in seiner Art bedeutungslos, statt des einen hatte 
ebenso gut ein ganz anderes, verhaltnismassig wenig bedeutendes Ereignis den 
gleicben Erfolg herbeiffihren konnen u . So sind auch nach seiner Meinung 
statistiscbe Angaben fiber die Veranlassungen der Selbstmorde von sehr ge- 
ringem Werte und mfisse es deshalb prinzipiell verlangt werden, dass die Sek- 
tion aller dem Anscbein nach durch Selbstmord Umgekommenen stattfande, da 
durch die Sektion patbologische Zustande aufgedeckt werden konnen, welohe 
zu vorubergebenden geistigen Storungen oder dauernder Beeintracbtigung der 
Zurechnungsfahigkeit erfahrungsgemass die Grundlagen geben. (Von einem 
Status thymicus erwahnt Heller nicbts in seinen Beobachtungen; es liegt nabe 
anzunehmen, dass er auf diesen damals nocb nicht genauer bekannten und 
definierten Zustand noch nicht geachtet hat.) 

Ollendorf (18), auf der Arbeit von Heller fussend, berichtete im Jahre 
1905 fiber 362 Selbstmordlalle, die eine fast vollinhaltlicbe Bestatigung der 
Heller’schen Befunde darstellen. Akut fieberhafte Krankheiten verzeichnet 
er in 65 Fallen (17,96 pCt.), worunter sich 34 Falle (9,39 pCt.) von frischer 
Milzschwellung befinden. 

Auch Ollendorf schenkt dem Statustbymico-lymphatious offenbar keine 
besondere Beachtung, denn in seinen Fallen findet man nur 3Mai eine Schwel- 
lung des lymphatischen Apparates, ferner in 4 Fallen eine persistierende Thy¬ 
mus, die letztere einmal in Kombination mit der Schwellung des lymphatischen 
Rachenringes erwahnt. 

Im Jahre 1906 haben sodann Bartel mit Stein (17) gelegentlich der 
Wiedergabe histologischerUntersuchungen fiber den Status thymico-lymphaticus 
drei Falle von Selbstmfirdern vermerkt, welohe einen ausgepragten Grad von 
Lymphatismus mit fibergrosser Thymus aufwiesen. 

Fall 1. 18jahriger Mann (Kopfschuss 13. 3.1905). Status thymico- 
lymphatious. Thymus 30,6 g. Enge des arteriellen Systems. 

4* 


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Dr. Neste, 


Fall 2. 19jahriges Madchen, 4. 12. 1904 (Vergiftung mit 100 bitteren 
Mandeln). Status tbymico-lymphaticus, Thymus 18 g. 

Fall 3. 20jahriges Madchen, 4. 12. 1904 (Sturz aus der Hohe.) Status 
tbymici-lymphaticus (Thymus 29,5 g). Enge des arteriellen Systems. 

Die Zahl der Falle war zu klein, urn damals daraus irgendwelche posi- 
tiven Schlussfolgerungen zu ziehen, wohl aber gaben die Fade Veranlassuag 
zu einer spater zu erorternden ausfuhrlicheren Mitteilung Bartel’s. 

Das Jahr 1909 bringt uns eine grossere Abhandlung von Brosch (16), 
welche spezied die Frage der militarischen Selbstmorder zum Ziel hat. 

Soweit er Veranderungen pathologisch-anatomischer Natur beschreibt, 
findet er sich vielfach in Uebereinstimmung mit Heller. Speziell den Resi- 
duen akuter Entziindungen, sowie Atrophien und Hypertrophien und mannig- 
fachen Bildungsanomalien, erscheint ein besonderes Augenmerk zugewendet. 
Ein grosses Gewicht wird ferner auf den ^Status digestionis a gelegt. Im An- 
hang wird erwahnt, dass Veranderungen am lymphatischen Apparate bei Seibst- 
mordern ziemlich reichlich beobachtet wiirden. Es wird diesbezuglich ferner 
bemerkt, dass die Untersuchungen schon fast abgeschlossen waren, als die 
Aufmerksamkeit auf diese Verhaltnisse gelenkt wurde. So ergab sich an Fallen 
spaterer Untersuchungsreihen eine oft ungewohnliche Grosse der Thymus und 
auch das Bild des Status lymphaticus. Hierzu bemerkt Brosch: „Da aber 
im vorliegenden Material nicht systematisch auf diese Veranderungen geachtet 
wurde, konnen daruber auch keine prazisen Zahlen angegeben werden und 
bleiben dieselben einer spateren Publikation vorbehalten a . 

So viel jedoch ist trotzdem zu ersehen, dass Status lymphaticus bei seinen 
Selbstmordfallen ziemlich haufig war. Bald nach Brosch veroffentliohte 
Bartel (15) im Anschluss an jene oben erwahnten drei Falle in einer grossen 
Arbeit seine Beobachtungen an 126 Selbstmorderobduktionen. Das Hauptge- 
wicht wird diesmal von ihm auf das Vorhandensein eines Status thymico-lym- 
phaticus bezw. lymphaticus gelegt. Er zeigt, indem er sein Material je nach 
der Genauigkeit der Sektion mit Beachtung der verschiedenen Befunde in 
Gruppen teilt, wie das Bild des Selbstmorders auf dem Sektionstische bei zu- 
nehmender Aufmerksamkeit auf „scheinbar zufallige und unbedeutende Neben- 
befunde u ein bestimmtes Geprage zeigt. Dies gilt in erster Linie fur den Lym- 
phatismus, der, wie Miloslavich betont, „mit Fug undRecht als ein sicheres 
und pragnantes Signum einer „Konstitutionsanomalie u zu betrachten ist. 

Unter 52 Fallen seiner Gruppe 2 und 3 vermerkt Bartel in 63 pCt. einen 
Status tbymico-lymphaticus, in 20 pCt. Teilsymptome einer solchen Korper- 
besehaffenheit. Bartel bemert hierzu: „Wenn solchergestalt in 18 pCt. der 
Falle Angaben negativ erscheinen, so darf nicht vergessen werden, dass in 
Gruppe 2 die Protokollierung keine entsprechend sorgfaltige war a . Tatsach- 
lich erwies sich in Gruppe 3, welche 26 auf das Genaueste protokollierte Falle 
umfasste, dass der Lymphatismus moistens hohen Grades, mit und ohne Thy¬ 
mus persistens, bei Selbstmordern namentlich der jiingeren Jahrzehnte ein fast 
konstanter Befund ist. Bartel stellt sodann, ohne jedoch ein Dogma damit 


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Beziehungen des Status tbymico-lymphatious zum Selbstmord von Soldaten. 53 

zu verkunden, als allgemeine Regel im Obduktionsbefunde bei Fallen von 
Selbstmord folgende Satze auf: „Es stellt sich hiermit der Selbstmord vor- 
wiegend als eine Erscheinnng des jugendlichen Alters, wahrend und nach der 
Pubertatszeit dar, ohne dass sich hierbei eine besondere Pravalenz des einen 
oder anderenGesohlechts ergeben wiirde. Oft fiber ihr Alter entwiokelt, sind es 
sefar oft fibermittelgrosse Individuen mit zumeist kraftigem Knochenbau, wobei 
die zum Teil sehr hoch gewachsenen Individuen gelegentlich Anzeichen von 
Rachitis erkennen lassen. Bei gut, ja oft fiberreich entwickeltem Fettpolster 
sind auch die inneren Organe gut entwickelt und zeigt namentlich das Gehirn 
hohe Gewichtszahlen, so dass gelegentlich direkt von einer Hypertrophic der 
inneTen Organe gesprochen werden kann. Wie die grossen parenobymatosen 
Organe ist auoh das lymphatische Gewebe stark entwickelt. Es ist gelegent¬ 
lich an einzelnenStellen, nicht allenthalben, namentlich beiindividuen jungerer 
Altersstufen hyperplastisoh, so dass in vielen Fallen geringere oder hohere 
Grade von Lymphatismus konstatiert werden konnen. Gleichzeitig zeigt oft 
auch die Thymus eine starke und fur das Alter eine fiberstarke Entwicklung, 
so dass sehr oft die Diagnose eines Status thymico-Jymphaticus gereohtfertigt 
crscheint. In einem gewissen Gegensatz zu diesen Beobachtungen steht die 
Entwicklung des arteriellen Systems. Bis auf einzelne Falle der hohenAlters- 
stufen ist die Aorta fiber den Klappen von oft bedeutend geringerer Weite als 
die Pulmonalis und besteht des ofteren eine Aorta angusta. Die Gefasswand 
ist meist zart, zeigt ofters geringgradige fleckweise Degeneration der Intima, 
sehr selten ein auch nur einigermassen entwickeltes Atherom. Das Herz zeigt 
in H5he und Dioke weohselnde Verhaltnisse. Bezuglich der inneren Organe 
weise ich noch erganzend bin auf fast durchaus immer vorhandene starke Ent¬ 
wicklung der Appendix, auf Befunde eines Etat mamellon£ des Magens und 
der kolloiden Entartung der Thyreoidea. Genitale beim Mann meist gut ent¬ 
wickelt; zeigt beim weiblioben Selbstmorder ein paralleles grosses, mitFollikel- 
zysten durchsetztes Ovarium. Allgemein als krankhaft angesehene Prozesse — 
abgesehen von den durch die Art des Selbsmordes bedingten Veranderungen 
und Folgekrankheiten — gehoren zu den relativ selteneren Befunden. Zum 
Schluss wird betont, dass, wenn auch durch diese Befunde die Selbstmordfrage 
noch keineswegs gelost erscheine, doch ein Fingerzeig vorhanden sei, fiber die 
bisherige Art und Weise der Sektionen bei Selbstmordern hinaus genau auf 
Momenta zu achten, welche fur eine konstitutionelle Anomaly zu sprechen 
geeignet sind; dabei mfisse man, wie den mannigfachen Bildungsfehlern, auch 
dem ganz haufigen Befunde des Status thymico-lymphaticus das Interesse zu- 
wenden. 

Die nachste Zusammenstellung liefert Egglhuber (24), der aber wieder 
dem Status thymico-lymphaticus kein besonderes Augenmerk zuwendet. 

Er erwahnt drei Mai die Persistenz der Thymus, die in einem Falle mit 
lymphatischer Hyperplasie verbunden war, und bemerkt hierzu: „Dem Status 
ihymico-lymphaticus wird von manoher Seite eine Beziehung zur Entstehung 
von Gei4tesgestortheit zugeschrieben. Wir wissen von diesen Verbaltnissen 
wenig Sicheres. u Sonst sind in den Aufzeiohnungen Egglhuber’s zablreiche 




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54 


Dr. Neste, 


Beobachtungen derart, wie sie seit Heller bekannt sind und auch von Broscb 
and Bartel gesehen warden, vermerkt. Egglhuber meint, diese Befunde 
miissen, wo die Sektion sonst nichts ergibt, als Verlegenheitsursache dienen, 
and es komme ihnen, besonders wenn sie nicht auffallend sind, keine Be- 
weiskraft zu. 

Als Fortsetzung der Arbeit von Broscb verSffentlicbt Miloslavich 
selbst im Jahre 1912 eine Statistik iiber Selbstmordf&lle. Er teilt 
dieselbe in 6 Gruppen ein: 

Gruppe 1: Status thymioo-lymphaticus: Ausgesprochene Schwellung des 
gesamten lymphatisohen Apparates mit iibergrosser Thymus. 

Gruppe 2: Status lymphaticus: Schwellung des gesamten lymphatisohen 
Apparates ohne Bestehen einer Thymushyperplasie oder mit einem Thymus- 
fettkorper. 

Gruppe 3: Status thymicus: Uebergrosse, zuweilen zw^ilappige Thymus 
ohne anscheinend sichtbare Beteiligung des lymphatisohen Apparates. 

Gruppe 4: Teilsymptome eines Lymphatismus: Partielle Schwellung des 
lymphatischen Apparates (wie Darmmesenterialdriisen,Milz, Zungengrund usw.). 

Gruppe 5 : Negative Falle. 

Als Ergebnis finden sich Anzeichen einer lymphatischen Konstitution in 
80 pCt. aller Falle (88 von 110) und zwar: 

Gruppe 1: Status thymico-lympbaticus in 52 Fallen = 47 pCt. 

Gruppe 2: Status lymphaticus in 23 Fallen = 21 pCt. 

Gruppe 3: Status thymicus in 9 Fallen = 8,5 pCt. 

Gruppe 4: Teilsymptome in 4 Fallen = 3,5 pCt. 

Gruppe 5: Negative Angaben in 22 Fallen = 20 pCt. 

Es findet sich in diesen Befunden eine weitgehende Uebereinstimmung 
mit den Beobachtungen Bartel’s: Die Tatsache, dass bei der iiberwiegenden 
Mehrzahl der Selbstmorder ein Status thymico-lymphaticus oder Teilsymptome 
desselbenzukonstatierenist,istnichtzuleugnen. Ferner auch die Tatsache, welche 
auohMiloslavich bestatigen konnte, dass dieser Status haufiger in der Jugend 
anzutreffen ist, wie in spateren Jahrzehnten, und der Selbstmord ebenfalls Indi- 
viduen der ersten Jahrzehntebetrifft. Seine Abhandlung resumiert Miloslavich 
mit folgenden Worten: „Wenn seinerzeit Heller auf Grund seiner Beobach¬ 
tungen die genaue Obduktion der Leichen von Selbstmordern als ein auf ver- 
schiedenen sozialen Momenten basierendes Erfordernis bezeichnete, so mochte 
ich mich diesem Standpunkte auch nach den von mir mitgeteilten Befunden 
voll und ganz anschliessen. Dabei mochte ich mit Bartel auf die besondere 
Bedeutung der so iiberaus haufigen Beobachtungen eines zumeist sehr ausge- 
sproohenen Status thymioo-lymphaticus hinweisen, welche Konstatierung man 
bei keiner Sektion von Selbstmordern unterlassen sollte. Es hat ja gerade die 
Frage der besonderen Leibesbeschaffenheit der Selbstmorder nicht nur ihre Be¬ 
deutung. fur den betreffenden Fall an sich, sondern auch fur die so oft zur 
Diskussion gestellte Frage der auslosenden Mitschuld dritter Personen an der 


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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 55 

eingetretenen Katastrophe, welche Frage besonders im militarischen Milieu eine 
bedeutende Rolle spielt.“ 

Die Ergebnisse der klinisch-psychiatrischen Beobachtungen stellt 
Piles (31) in einem Sammelreferat zusammen. Er ffibrt Statistiken 
der verschiedenen Autoren fiber die Prfivalenz des m&nnlichen und weib- 
lichen Gescblechts zum Selbstmord an, verteilt auf die einzelnen Lander, 
sodann Zusammenstellungen der einzelnen Altersklassen. Auch er kommt 
zum Schluss, dass der Selbstmord vorwiegend eine Erscheinung der drei 
ersten Lebensjahrzehnte sei. In seinen weiteren Ausffihrungen, die- eine 
Tabelle fiber die einzelnen Todesarten bringen, sowie Beziehungen von 
Menstruation und Geisteskrankheiten zum Selbstmord, interessiert uns, 
dass auch er in 3 Fallen einen Status thymicus erwahnt. 

Mit den zuletzt referierten Angaben der Wiener Autoren steben nun 
die Befnnde, welche Herr Geheimrat Beneke in seiner Tfitigkeit als 
fachfirztlicher Beirat wfihrend des Krieges erheben konnte, und welche 
«*r mir zur Verfiffentlicbnng fiberwiesen hat, in erfreulicher Ueberein- 
stimmung, insofern bei der fiberwiegenden Mehrzahl der Sol- 
da tense lbs tmor der ein Status thymico-lymphaticus konstatiert 
werden konnte. Es handelt sich am 16 Fftlle, von denen 8 einen 
ausgesprochenen, 4 einen weniger deutlichen Status thymico-lymphaticus 
zeigen, 4 Falle waren negativ. Die ausffihrlichen Sektionsberichte und 
Epikrisen der 8 positiven Falle nebst den entsprechenden anamnesti- 
schen Angaben, soweit solche zu erlangen waren, will ich hier folgen 
lassen: 

Fall 1. Paul Sch., Kanonier, 19 Jabre. 

Sektionsdiagnose: Selbstmord duroh Erhangen. Schwerer Status 
thymicus. 

Angaben aus dem Leben (einem Briefs der Schwester entnommen): 
Ais Kind war Scb. sehr artig und gehorsam; mit 9 Jahren Lungenentziindung, 
m<t 15 .labren Typhus (16 Wocben krank gewesen). Als Bursche war er sehr 
fleissig und sparsam. Als er zum Militar eingezogen war, zeigte er gedruckte 
Stimmung, ausserte mehrmals, er konne das Soldatenleben nicht ertragen. Auf 
mr-brfaohe Fragen seiner Sobwester, was ihm eigentlicb fehle, sagte er, er 
wisse nicht, was ibm fehle, er babe eine solche Angst, die er nicht wieder los 
werden konnte. Erregt war er sehr leicht. 

Sektionsberioht: Am 12.5. 1916. Selbstmord durch Erhangen. Sek- 
tioo am 16. 5. Ilochgradig entwickelte Faulnis, sehr starke Entstellung des 
tiesiebts, welches tiefblaurot und schwarzgrun erscheint, sowie des uberall 
durch Gas aufgetriebenen Korpers. Untersetzter, kraftiger K or per, stark ent- 
wi.'keltes Fettgewebe, prall. Strangulationsmarke am Halse nicht deutlioh. 
I>a die Beerdigung unmittelbar bevorstand, konnte nur eine unrollkommene 


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Dr. Neste, 

Sektion vorgenommen werden. Dieselbe ergab starke Blutfiberffillung des Her¬ 
zens und der Lnngen sowie der Banchorgane. Die Thymusdruse ist rela- 
tiv weich, gross, dunkelrot, parenchymatos. Nebennieren auf- 
falligklein,schmal, nurhierunddakleine Fettberde inderRinde, 
welche im fibrigen dunkelbraun erscheint, sehr schmales Mark von grauer 
Farbe. 

Epikrise: Aus dem Sektionsbericht geht unzweifelhaft die Ver- 
grosserung der Thymusdruse sowie die Nebeunierenatrophie hervor. Die 
anamnestischen Aussagen der Schwester schildern den Sch. als einen 
in letzter Zeit sehr nervosen Menschen, auf den das Soldatenleben eine 
sehr starke depressive Wirkung ausQbte, die sicherlich in der durch 
den Status thymicus bedingten Alteration seiner Psyche ihre Begrun- 
dung findet. 

Fall 2. Willi M., 30 Jahre, Flieger. 

Sektionsdiagnose: Selbstmord durch Erhangung (breite Strangrinne). 
Allgemeine akute Stauung. Status thymicus (Nebennierenhyperplasie, Hyper¬ 
trophic der Zungenbalgdrfisen). 

Bericht des Arztes: Am 1. Januar 1917 abends zwischen 7 und 7Uhr 
30 Min. wurde der diensthabende Sanitatsunteroffizier zur Stube 9 im Revier 
derFliegerkompagnie gerufen,dort soi ein Mann wahnsinnig geworden. Als der 
Sanitatsunteroffizier in die Baracke kam, fand er M. vor, der von 2 Kameraden 
festgehalten wurde. M. zitterte am ganzen Korper, die H&nde krampften sich 
auf und zu, die Augen waren ganz geistesabwesend, irrten bin und her, 
Schweiss stand ihm auf derStirn. M.machte vollkommen einen geistesgestorten 
Eindruck. — Seine Kameraden auf der Stube maohten folgende Angaben: M. 
habe die letzten lOTage seinen Kameraden gegenfiber fiber starke Kopfschmerzen 
geklagt und habe die ganzen Nachte nicht geschlafen. Er hatte sich krank 
gemeldet und da leichte Temperaturerhohung da war, Bettruhe erhalten. Der 
Vater von M. sei Sylvester 1915 wahnsinnig geworden und 8 Wochen in einer 
Anstalt gewesen. Am 1. Januar 1917 gegen 7 Uhr abends war M. mit seinem 
Freunde dem Flieger W. in ein benachbartes Dorfwirtshaus gegangen. Er 
habe dort nur ein Glas Bier getrunken, sei aber gleich wieder weggegangen, 
weil er so starke Kopfschmerzen gehabt hatte, er wolle ein wenig Luft schnap- 
pen. Um 7 l / A Uhr sei er wieder auf die Mannschaftsstube gekommen, habe 
sich ganzlich erschopft und schwer atmend, angezogen und mit Mantel und 
Koppel auf den Schemel gesetzt. Die Kameraden glaubten, dass ihm schlecht 
ware, banden ihm das Koppel ab, zogen ihm den Mantel aus und gaben ihm 
etwas Kaffee zu trinken. M. blieb auf dem Stuhl sitzen. Mit einem Mai erhob 
er sich, zog sein Seitengewehr aus der Scheide, hielt es ganz lose in der Hand. 
DieSpitzewar dabei eher nach seiner Brust als nach den Kameraden hingeneigt. 
Ein Kamerad nahm ihm das Seitengewehr aus der Hand und zwei andere 
hielten ihn, der jetzt ganz schwach und vollig irre schien. Es wurde nach 
dem Sanitatsunteroffizier geschickt. M. hatte kein einziges Wort gesprochen 


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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 57 

auch nicht auf gutes kameradschaftliches Zureden. Nur als ihm der Kamerad 
zum zweiten Male Kaffee reicben wollte, sagte er: „Wilbelm, nun willst Du 
mir auch Gift geben! u Dem Sanitatsunteroffizier sagte er kein Wort und gab 
keine Antwort. Der Sanitatsunteroffizier ordnete deshalb seine Ueberffihrung 
mit Krankenautomobil in das Lazarett an. 

Daten aus der Krankengeschichte: Wegen Tobsuchtsanfall im 
Lazarett zur Beobachtung aufgenommen, maoht M. den Eindruck eines Betrun- 
kenen. Nach durcbgescblafener Nacht anscheinend ganz normal, nur Kopf- 
schmerz. In der darauf folgenden Nacht entwich M. und wurde in der Scheune 
eines benachbarten Dorfes erhangt aufgefunden. 

Sektionsbefund: 170 cm gross, massig kraftig gebaut. Haut am Kopf 
massig stark zyanotisch. Unter cfemKinn eine breite Strangulationsmarke, fiber- 
wiegend auf der rechten Halsseite; sie zeigt keine deutlichen Abdrficke, wie 
von gedrehtem Strick, sondern erscheint mehr als platte bis 3 cm breite Ein- 
trocknung. Unter derselben zeigt das Binde- und Muskelgewebe keine Blu- 
tungen oder sonstige Verletzungen; aucb die Karotiden sind beiderseits nor¬ 
mal. An beiden Beinen oberfialb und unterhalb der Knie leichte Abschfirfung, 
untar welchen ungemein starke, pr&ll sohwarzrote Kontusionsblutungen liegen. 
mebrere finden sich auch ohne oberflachliche Abschfirfungen. Auch am Kinn 
eine kleine subkutane Blutung. — Fettgewebe massig entwickelt, Muskulatur 
kraftig, dunkelrot. 

Schadel dfinn, hart, fest, fast keine Diploe, blutreich. Dura und Pia 
sehr blutreich, letztere feucht. Gehirn prall, blntreich, etwas feucht, fest. 
Yentriket ohne Besonderheiten. Keine Htfrderkrankungen. 

Thymus im oberen Teil deutlich parenchymatos, dieser Ab- 
schnitt wiegt 3 g; wo der untere Abschnitt liegen sollte, findet sich nur ein 
grosser Fettballen, dessen Natur als Thymus nicht sicher erkennbar ist. 

Herzbeutel normal. Herz360g, normal proportioniert, fest, kraftig, 
dunkelgraurote Muskulatur. Alle Lumina sind mit flfissigem dunklem Blute 
geffillt. Klappen ohne Besonderheiten. 

Aorta 60mm, glatt, Pulmonalis 62mm, keine Ekchymosen. 

Lungen frei beweglich, blutreich, sonst ohne Besonderheiten. Luftwege 
ohne Besonderheiten. Am Kehlkopf und Zungenbein keine Verletzungen. Thy- 
reoidea normal gross, blutreich. 

Zungenbalgdrfisen und Tonsillensehr gross, sohr prall, Oeso¬ 
phagus ohne Besonderheiten. 

Milz mittelgross, blutreich, Follikel nicht besonders hervortretend. 

Beide Nebennieren je4g, gross und breit, aber auflallig platt, scharfe 
Rander, Mark sehr stark reduziert, Rinde dfinn, halb gelb, halb braun. 

Beide Nieren je 120 g, sehr blutreich, prall, sonst ohne Besonderheiten. 
Blasse Genitaiien ohne Besonderheiten, Hoden je 32 g. 

Leber gross, prall, blutreich. 

Magen und Darm ohne Besonderheiten. Keine Follikularhypertrophie. 
Im ganzen Dickdarm sehr dfinnbreiiger Kot. Alle nach unten liegenden Darm- 
teile sehr hochgradig hyperamisch (Senkung). 


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Dr. Neste, 

Gpikrise: Auch hier handelt es sich um einen Mann mit hoher 
Labilit&t des Nerveosystems, welche zweifellos in dem bei der Sektion 
gefundenen Bunde von Hypoplasie der Nebennieren einerseits, der Hyper- 
plasie der Zungenbalgdrusen und der Thymusdruse andererseits, die 
wohl sicher einen pathologischen Einfluss auf den Organismus ausubten, 
ihre Ursacbe hat. Die Angaben iiber die letzten Lebenstage deuten auf 
schwere geistige St5rung. Sehr bemerkenswert ist die anscheinend vor- 
handene Heredity der letzten. 

Fall 3 . Johann B., 26 Jahre, Musketier. 

Sektionsdiagnose: Hirnschussverletzung (Suicidium)mit ausgedehnter 
Schadelzertriimmerung.. Lungenhyperamie. Nebennierenschwund. Geringe 
Hautexkoriationen. 

Daten aus der Krankengeschichte: Kam am 20. 9. 1916 mit dem 
Lazarettzug in Naumburg an, nachdem er angeblich am 13. 9. im Schiitzen- 
graben verschuttet worden war. Aeusserte seit lingerer Zeit, sohon vor der 
Verschdttung, Selbstmordabsiohten, weil er das Leben an der Front nicht mehr 
ertragen konne. Angeblioh sohwerhorig. Ohrenlaufen nach der Verschuttung. 
Erschoss sich mit Revolver am 21. 9. ira Garten des Reservelazaretts. 

Sektionsbefund: 180 cm lang, sehr kraftig gebaut, starke Zyanose, 
Fettgewebe kraftig entwickelt, Muskulatur sehr stark, steif. An der oberen 
Brust und vorderen Halshaut eine Anzahl kleiner verschorfter, sehr oberflach- 
licher Exkoriationen. Keine Einsprengungen. Die iibrige Haut des Korpers 
zeigt keine Verletzungen ausser der rechten Schlafe. Hier findet sich eine etwa 
2 cm lange, fetzige, klaffende Platzwunde, deren Umgebung teils von Kohle 
geschwarzt, teils blutbeschmutzt ist. Aus dem linken Ohr und beiden Nasen- 
lochern entleert sich Blut. Die Gegend des linken oberen Augeniides ist etwas 
blaulicb. 

Unter der Kopfwunde ist die Haut etwas aufgehoben und in einem Um- 
kreis von mehr als Fiinfmarkstiickgrosse mit Kohle impragniert. Weiterhin ist 
die Subkutis hier in Ueberhandtellergrosse sehr stark hamorrhagisch infiltriert. 
Als Quelle dieser Blutung ist eine grosse zerrissene Temporalvene anzusehen. 
Dicht unter der Hautwunde sitzt in der Galea ein plattes, sehr diinnes, etwa 
7 mm grosses Bleifragment, mit scharfen Schlifflinien der glanzenden Ober- 
flache. Das Schlafenbein zeigt in der Nahe der Linea semicircul. eine kreis- 
formige Oeffnung etwa 8 mm breit. Der Wundrand der Tabula ext. ist sehr 
scharf, an der Innenflache ist ein Stuck genau kreisformig in einem Umfang 
von etwa 3 cm abgesplittert. Die Dura ist in funfmarkstiickgrossem Umfang 
vom Schadel gelost. Zwisohen beiden liegt viel Kohlenstaub fest in dem Binde- 
gewebe; auch die Knochenwundflache ist iiberall schiefergrau. Die Dura zeigt 
einen etwa 2 cm langen Riss, aus welchem die Hirnmasse vorquillt. Unter 
ihm beginnt ein mindestens 2Finger breiter, zerfetzter Schusskanal, in welchem 
zahlreiche Enochensplitter und ein kleines Bleistiick liegen, einige sind weit 
in die anstossende Hirnsubstanz versprengt. Der Kanal zieht sich sehr 
oberflachlioh durch das rechte Zentralhirn unter zunehmenderVerschmalerung, 


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Beziehungen des Status tbymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 59 

durchbricht mehrere Sulci und zuletzt die Falx cerebri dicht unter dem Sinus. 
Dunn geht er links durch die Rinde der vorderen Zentralwindung, iiber welcher 
die Dura einen 1cm langen Kiss aufweist; hier ist wiederum im Subduralraum 
reichlich Koble der Dura eingelagert. Weiterhin geht der Schusskanai fast 
bogenformig durch die oberflachlichen Teile des linken Parietalhirns und endet 
unmittelbar iiber dem Felsenbein, als schmaler blutinfiltrierter Gang. Hier 
liegt eine grosse, zum Teil abgeschliffene und stark verbogene Revolverkugel 
in der Hirnrinde. Alle Piateile um den Kanal herum sind erheblioh in weitem 
Umfange hamorrhagisch infiltriert. An der Hirnbasis fast gar kein Blut. Ge- 
hirn im allgemeinen von normaler Festigkeit und Form. Nur am rechten 
Schlafenlappen findet sicb vorn unten eine tiefe keilformige Einsenkung (Sul- 
kus), welcher ein besonders hoher Zacken des Schadels, entsprechend einer 
Kammhobe zwischen tiefen Impressiones digitatae, entspricht. Hirnventrikel 
normal, blutfrei. 

Von der Wunde des reohten Schlafenbeines zieht sioh ein mehrfach ver- 
astelter Sprung durch die rechte Orbitaldecke am Siebbein und weiter durch 
die ganze linke Orbitaldecke. Diese bildet mehrere grosse, durch Spriinge von 
einander getrennte, aber sonst nicht dislozierte Splitter. Ein weiterer grosser 
Sprung zieht sich von dem Einschuss aus horizontal durch das Siebbein bis 
ienseits der linken Stirnbohle. Auch an der linken Felsenbeinpyramide findet 
sich vorn aussen^ein zarter Sprung. Unter diesem zeigt sioh das Felsenbein 
und die Trommelhohle stark von Blut durchsetzt; Eiterung fehlt vollig. Das 
rechte Mittelohr ist ganz normal. Die Siebbeinzellen und die Keilbeinhfihle 
sind stark mit Blut gefullt, ebenso das Bindegewebe der linken Orbita. In 
alien diesen Hohlen findet sich kein weiteres Geschoss mehr. Vor dem grossen 
Stirnbeinsprung ist die Galea sehr stark hamorrhagisch infiltriert. 

Herz normal gross, fest zusammengezogen, steif. 

Lungen hochgradig hyperamisch, geblaht, sonst normal. 

Thymus mittelgross, nicht besonders prall, blutreich. 

Abdominalorgane uberall blutreich, sonst ohne Besonderheiten. Nur die 
Nebenieren sind auffallend schmal und platt, hellgelbe, scharf be- 
*renzte Rinde, schmales graues Mark. 

Die Sektion musste wegenZeitmangels abgebrochen werden. 

Epikrise: Die schon h&ufiger ge&usserten Solbstmordabsichteu 
deuten auf eine anormale Beschaffenheit des psychischen Gleichge- 
wichtes hin. Die auffallende Schmalheit und Plattheit der Nebennieren 
diirfte wohl in direkter Beziehung dazu stehen. Die Entwicklung der 
Thymusdruse erschien nicht uberm&ssig, doch ist auch im Hinblick auf 
die Starke der allgemeinen Fettentwicklung der vorgefundene Zustand 
jedenfalls eher im Sinue eines positiven Status thymicus aufzufasseu. 
Bemerkenswert sind die interessanten Befunde der Schftdel- und Gehirn- 
schusswonde. 


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Dr. Neste, 

Fall 4 . Richard H., 21 Jahre, Musketier. 

Sektionsdiagnose: Vergiftung durch Kresol (Selbstmord). Erstickung 
durch Larynxodem? Starke Entziindung und oberflachliche Veratzung des Oeso¬ 
phagus, Magens, Duodenums, Jejunums. Lungen-, Leber-, Nierenhyperamie, 
Tracheitis. Bronchitis acuta. Schadelusur und Ausweitung. Hochgradiger 
Status thymico-lymphaticus mit Nebennierenatrophie. 

Vorgeschic hie: War als Rekrut seit Juni 1915 im Dienst. Seit einiger 
Zeit in arztlicber Behandlung, machte den Eindruck von Jmbeziilitat, 
zeitweise lappisches Wesen. Kopfschmerzen. In der letzten Zeit angeb- 
lich Selbstmordgedankon (suchte sicb eine Pistole zu verschaffen). Heute friih 
trank H. in einem unbewachten Augenblick eine Flasche Kresolseifenlosung 
aus. Alsbaid Brechen, anhaltende sofortige Ausspiilung des Magens mit HC1- 
Losung, eine Stunde nach der Aufnahme des Kresols Exitus. 

Sektionsbefund: Gross, kraftig gebaut, Haut prall, sehr starke Blut- 
senkung. Massige Zyanose des Gesichts, Fettgewebe sehr kraftig, prall, hell- 
gelb. Starke Muskulatur, ausgepragte Starre. Aus alien angeschnittenen 
Hauptvenen stromt dunkles, flussiges Blut, aus den Halsvenon ganz besonders 
grosse Mengen. — Thorax normal. 

Thymus liegt, ungewohnlich gross, inzwei langen,hellgrau- 
roten Lappen dem Herzbeutel seitlich an, reicht bis fast zur 
Schilddriise; diese ist klein, prall, tiefrot, trocken, ohne Kolloid. 

Herzbeutel ohne Besonderheitpn, Herz gross, prall, steif, mit dunklem, 
fliissigem Blut gefiillt, namentlich der rechte Ventrikel. Muskulatur steif. hell- 
graurot, sehr kraftig. Aorta ausgepragt eng, von guter Fcstigkeit. 

Lungen frei beweglich, glatte Pleuren, Lungengewebe Stark blutreich, 
trocken, Bronchi links normal, rechts mit zahem Schleim gefiillt, miissig ge- 
rotet. Die Schnittflache riecht etwas nach Karbol. 

Trachea stark gerotet, reichlich zaher Schleim. Larynx erbeblich diffus 
gerdtet, falsche Stimmbander leicht odematos, die Schleimhaut der Epiglottis 
und ihrer Umgebung sehr hochgradig odematos, in ganzer Ausdehnung mit 
sehr zahem, reichlichem, klarem Schleim fest bedeckt. Keine Weissfarbung. 
Zungenbalgdriisen ganz ungewohnlich dick und reichlich prall, 
weissgrau. Tonsillen desgleichen sehr gross, Zungen und Mund- 
hohlenschleimbaut wenig veriindert, schleimbedeckt. 

Oesophagusschleimhaut in ganzer Lange trocken. faltig, weissrdtlioh. 
lederartig. Keine Membranen oder Veratzungen der tieferen Lagen. 

Peritoneum normal. 

Milz mittelgross, schlaff, stark gelappt, weich, dunkelrotgrau. Schnitt¬ 
flache einsinkend, briichig, Follikel nicht hervortretend. 

Nebennieren ausgepragt atrophisch, schmal, hellgraugel b. 
Nieren ziemlich klein, prall, fest, tiefrot, Rinde leicht getriibt. Im Nieren- 
becken rechts dunkelrotliche triibe Flussigkeit. 

Blase prall gefiillt mit nicht nach Karbol riechendem, hellgelbem 
klarem Ham. 


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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 61 

Prostata ohne Besonderheiten. Samenblasen leer, normal gross, Hoden 
gross, sehr bellgelbgrau, weich, leicht auffaserbar, Penis sehr gross, biutreich. 

Leber prall, dunkelrotbraun, ohne Herderkrankungen. Leichtes Oedem 
am Ligamentum coronarium. Stark hervortretende Glisson’sche Kapsel der 
Portalgefasse. 

Magen sehr gross, weit, prall gefullt mit IV 2 Liter einer intensiv nach 
Karbol riechenden weissgrauen Flussigkeit, in welcher reichliche grobe Nah- 
rungsstiicke, darunter lange, pralle, harte Wiirstchenschalenstucke schwimmen. 
Schleimhaut iiberall intensiv gerotet, weich, vielfach auch leicht weisslich, ge- 
quollen, mit reichlichem Schleim bedeckt, keine. Membranen, sehr Starke 
Entwicklung der Follikel. 

Im Duodenum und Jejunum reichliche Uengen derselben weissgrauen, 
stark nach Kresol riechenden Flussigkeit. Schleimhaut schlaff, leicht infiltriert, 
rotlich oder dick weisslich triib belegt. Keine Blutungen. Erst im unteren 
Ueum hort der Kresolgeruch auf. Hier ist die Schleimhaut trocken, mit gallert- 
artigem Kotbrei bedeckt. Sie zeigt reichliche Follikelbildung. Peyer- 
Haufen treten nioht besonders auffallig hervor. Dickdarm enthalt reichlich 
trocknen, broiigen Kot, uberall sehr reichliche Solitarfollikel. Retro- 
peritoneallymphdriisen nicht auffallig. Wirbeikorper normal. 

Sc had el diinn, vorn schraal, in den hinteren Abschnitten breiter. Innen- 
flache zeigt unregelmassigeImpressiones sehr deutlicb, sie ist viefach etwas 
rauh, poros, rotlich. Dura diinn, gespannt. Pia leicht odematos. Gehirn 
riecht deutlich nach Karbol, gross, prall, feucbt, massig biutreich, normale 
Zeichnung und Formen aller Teile. Ventrikel massig weit, klare Flussigkeit. 
Nirgends Herderkrankungen. Tela und Plexus normal. Hypophysis etwas gross. 
Epiphysis normal. Knochen der Schadelbasis auffallend diinn. 

Epikrise: Die Eigentumlichkeiten des Status thymico-lymphaticus 
sind ausserordentlich gut ausgeprfigt, ausserdem lautet die Sektions- 
diagnose auf Sch&delusur und Ausweitung. Dies deutet auf eine Ge- 
hirnbypertrophie hin, die in Korrelation mit dem Status thymicus, vor 
allem mit der ausgepragten Nebennierenatrophie steheu durfte. (Es ist 
dies ein analoger Fall, wie die anfanglich von Alexander und Anton 
erwfthnten.) Die laut der anamnestischen Angaben bestehende Imbe- 
zillitat und das lappische Wesen durften wohl der klinische Ausdruck 
dieser Anomalie gewesen sein. 

Fall 5 . Friedrich F., Alter? Landsturmrekrut. 

Sektionsdiagnose: Selbstmord durch Erhangung. Soharfe Strang- 
nnue. Status thymicus. Rachitische Kyphoskoliose. Chronische Bronchitis. 
Rechtsseitige Herzhypertrophie. Massige chronische Stauungsinduration der 
Nieren. 

Sektionsbefund: 168 cm lang, Schadel sehr breit, rund, Okzipit&l- 
gegend platt. Brustwirbelsaule erheblich kyphoskoliotisch. Hant prall, sehr 
tief zyanotiscb. Fettgewebe gut entwickelt. Muskulatur sehr stark, tiefrot, 


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Dr. Neste, 


sehr bedeutende Starre (Exitus etwa 10 Stunden a. m.). Hiinde durch einen 
zerrissenen Hosentrager zusammengebunden. 

Am Halse dicht unter dem Kinn eine sehr tief einschneidende schmale 
Doppelstrangrinne mit Schnurabdriicken. Unter derselben ist das Bindegewebe 
dicht zusammengepresst, trocken, keine Blutungen. 

Schad el sehr blutreich, dick, rachitische Form. Dura and Pia hoch- 
gradig hyperamisch. Gehirn desgleichen, sonst ohne Besonderheiten, nur sehr 
schwer; kein Hydrozephalus. 

Thymus fast vollkommen paienchymatos, rotgrau, 28 g. Herz- 
beutel ohne Besonderheiten. Herz gross, 410 g, sehr prall, sehr fest, dunkei- 
rotbraun, steif, in alien Hohlen mit schwarzrotem fliissigem Blut gefiillt, wel¬ 
ches auch nach langer Beriihrung mit der Tischplatte nicht gerinnt. Hechter 
Ventrikel erheblich hypertrophisch, nicht dilatiert. Aorta 62, Pulmonalis 
67 mm, beide glatt, keine Ekchymosen. 

Lungen hochgradig hyperamisch. Schleimhaut der Bronchi dick, dunkel- 
rot, mit reichlichem, zahem Schleim und Eiter bedeckt. Trachea o. B. Am Kehi- 
kopfzeigtdaslinkeSchildknorpelhorn eine alte, anscheinend verheiiteAbknickung 
der Knorpelspitze, das rechte eine starke Kriimmung der entprechenden Stelle. 

Zungenbalgdriisen prall, massig gross. Tonsillen nicht gross, fest, 
mit knorpliger Basis. 

Thyreoidea blutreich; starke Zyanose aller inneren Teile am Halse. 

Milz gross, prall, etwas fest, in tiefroter, feuchter Pulpa treten 
massenhafte Follikel hervor. 

Nebennieren, linke 6, rechte 7 g, beide etwas platt, scharfe, gelbe 
undbrauneZone, beidegleichbreit. Mark scharfbegrenzt, grau, in den Flugeln 
sehr reduziert. 

Nieren, linke 70, rechte 140 g, beide hart, prall, tiefrot, keine Herd- 
erkrankungen. Blase und Genitalien ohne Besonderheiten, Hoden sehr gross, 
prall, hellgraurot, linker 28, rechter 30 g. 

Leber sehr gross, prall, sehr blutreich, keine eigentliche Staunngs- 
zeiohnung. 

Magenschleimhaut faltig, dick, lederartig fest, meist tiefrot, keine 
Blutungen. 

Darm ohne Besonderheiten. 1m Ileum reioblich ziemlich grosse 
Solitarfollike 1, Peyerhaufen nicht auffallig. 

Epikrise: Anamnestische Angaben von irgend einer Seite fehlen. 
Der Status thymicus ist sehr ausgepragt und steht wohl in irgend einer 
Beziehung zum Selbstmord. 

Fall 6. Ernst R., 28 Jahre, Landsturmrekrut. 

Sektionsdiagnose: Erstickung durchKompression des Larynx undAuf- 
wartstreiben der Zunge. Status thymico-lymphaticus. Leichte Hypo¬ 
plasia der Genitalien. 

Nahm sich im Gefangnis dasLeben, indem er seinen Hals unter das B&nk- 
eisen der schweren Holzpritsche legte. 


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Beziehungen des Status ihymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 63 

Vorgesohichte: R. war Lehrer und wurde von seinem vorgesetzten 
Schulinspektor, dem Ortspfarrer, als ein sehr fleissiger und strebsamer Mensch 
geschildert, der zudem in gliickliohen ausseren Verhaltnissen lebte. Bei dem 
geringsten Genuss von Alkohol jedocb fing er an zu querulieren, Handel und 
Streit zu suchen. Am anderen Tage wusste er nichts mehr davon. So kam er 
auch als Soldat — er hatte sich iibrigens wabrend der Dienstzeit sehr gut ge- 
fuhrt — nach sehr geringem Alkoholgenuss mit seinem Unteroffizier in Streit 
und wurde sebr ausfallend gegen ihn. Der Unteroffizier redete ihm gut zu, 
jedocb ohne Erfolg, er erbielt darauf wegen Widerstands gegen Vorgesetzte 
Zachthausstrafe. Der Selbstmord erfolgte in der Arrestzelle, angeblich nach 
Empfang eines Briefes von der Braut. 

Die Art des Selbstmordes zeugte von der ungewohnlichen Energie des 
Mannes. In Ermangelung irgend eines anderen Mittels — die Zelle enthielt nur 
dieHolzpritsche — hatteR. die sehr starken eisernenBiigelschlosser, mit welcben 
die Pritschenfusse vermittels Bankeisen am Fussboden befestigt w&ren, gewalt- 
sam aufgerissen, so dass es moglich wurde, die schwere Pritsche etwas hoch- 
zuheben. Hierdurcb war es ihm gelungen, den Hals zwiscben das Bankeisen 
und den Fussboden zu klemmen, so dass das Gewicht der Pritsche die Luft- 
rohre zudriicken konnte. R. lag ausgestreckt auf der Erde. Gewiss ein beson- 
ders seltener Modus der Selbsterdrosselung! 

Sektionsbefund : Mittelgrosser, kraftig gebauter Mann, Haut intensiv 
zyanotisch, namentlich am Kopf. Am Hals links in Kehlkopfhohe eine kleine 
fiache Eintrocknung. Eine zweite kleinere am rechten Unterkieferrand. Keine 
sonstigen Eindriicke in der Haut. Fettgewebe stark entwickelt, hellgelb, prall. 
Kopf im allgemeinen normal, nur das Horn des rechten Schildknorpels ist ein- 
geknickt, aber frei von Blutung. Zungenbein und seine Bander normal. 

Thyreoidea blutreich. Das Mediastin&lgewebe in derGegend 
der Thymus kraftig entwiokelt, einer Hyperplasie entsprechend. 
In den Halsmuskeln finden sich keine Blutungen, alle Halslymphdrtisen 
sind vergrossert, feucbt, prall, tiefrot, auch das Fettgewebe am Halse 
stark injiziert; keine Blutungen. Zunge ganz ohne Besonderheiten. Follikel 
des Zungengrundes auffallend gross, desgleichen Tonsillen. 
Oesophagus ohne Besonderheiten. Milz relativ hellgraurot, sehr weich, schlaff, 
trube. Follikel treten nicht besonders hervor. 

Beide Nebennieren auffallend,schmal, klein, dunkelbraungrau, 
nur wenig kleine, gelbe, inselformige Herde. Nieren gross, tiefschwarzrot, 
prall, trube Rinde. Nierenbecken und Blase normal. Prostata ohne Besonder- 
htiten. 

Hoden etwas klein, kornig rotgrau, Penis relativ klein, desgleiohen Skro- 
tum, Behaarung des Genitale etwas sparlich, die Thoraxhaut gleichfalls wenig 
behaart, Kopfhaare sehr stark. Leber gross, prall, fest, tiefgraurot, fettlos. 
Hagen und Darm enthalten reiohlich unverdaute Speisereste, noch im Dick- 
darm unverdauteRiibenstucke u.a. Keine Follikelentwicklung im Darm, 
keine Peyerbaufen. Magenschleimhaut glatt, blass. Schleimhaut und Mus- 
kulatur des Traktus etwas dunn. Mesenterialdrusen ohne Besonderheiten. 


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Dr. Neste, 

Pankreas mittelgross, weich, triibe. Das Netz- und Mesenterialgewebe kraftig 
entwickelt. 

Epikrise: Es bestand bei diesem Fall eine auffalleud geriuge 
Widerstaudsfahigkeit des Nerveosystems gegen Alkokol, die vielleicht 
ihre chemische Ursache in einer durch den Status thymicus bedingten 
Stoffwechselanomalie hat. Diese Intoleranz darf wohl als eine Teil- 
erscheinung psychischer Anomalie, einer nerv6sen Reizbarkeit im all- 
gemeinen angesehen werden, aus welcher sich das Delikt des R. sowie 
sein ablehnendes Verhalten nach der Straftat einerseits, der Entschluss 
zu dem mit besonders verzweifelter Encrgie ausgefuhrten Selbstmord 
andererseits erklaren. Vielleicht wiire die Strafbestimmung (10 Jahre 
Zuchthaus), welche den R. zur Verzweiflung trieb, milder ausgefallen, 
wenn dem Richter die psychischen Anomalien bekannt gewesen w3ren. 
Diese sind erst nach dem Tode des R. durch die Angaben, welche dem 
Obduzenten seitens des Ortspfarrers gemacht wurdeu, aufgekl&rt worden. 
Wie mancher Fall wiirde vielleicht gerichtlich milder beurteilt werden, 
wenn der psychiatrischen Untersuchung auch die Untersuchung auf den 
etwaigen Status thymicus angeschlossen worden w&re! — Eiu Fall, wie 
der des R., deutet mit allem Nachdruck auf die Notwendigkeit einer 
derartigen Beriicksichtigung des letzteren durch den Gerichtsarzt hin. 

Fall 7 . Georg W., Alter ? Ersatzreservist. 

Selbstmord durch Herz-Lungenschuss. 

Sektionsdiagnose: Hamoperik&rd. Hamothorax. Status thymicus. 
Hypoplasie des Gehims. Kyphoskoiiose. 

War psychisch minderwertig, ein Nichtstuer. Hat vor Jahren bereits 
mehrfach Selbstmordversuche gemacht (Lysol). Erschoss sich mit einem Re- ^ 
volver. Der Tod trat sofort ein. 

Sektionsbefund: 157 cm gross; Thorax durch starke Kyphoskoiiose 
nach rechts erheblich deformiert und verkurzt; Beine relativ lang, Haut im 
allgemeinen blass, Gesicht gerotet, Fettgewebe und Muskulatur massig ent- 
wiokelt, letztere weich und schlaff. 

Ueber dem 4. Interkostalraum eine kleine Sohusswunde, mit Blut iiber- 
stromt, in deren Umgebung weithin ein brauner eingetrockneter Hof mit zahl- 
losen eingesprengten kleinsten Pulverkornchen sich zeigt. Der Schusskanal 
fiihrt durch das massig blutunterlaufene Fettgewebe zwischen 4. und 5. Rippe, 

3 Finger breit vom Sternalrand entfernt, in den Herzbeutel, welcher einen 
schmalen Schlitz aufweist und mit geronnenem und flussigem Blute, etwa 
300 ccm, prall gefiillt ist. Weiterhin findet sich einEinschuss am Herzen genau 
in der Mitte des Septums. Die entsprechenden Koronargelasse sind durch- 
schossen, der Ausschuss liegt an der hinteren Wand des linken Ventrikels, ist 
nur wenig grosser als der Einschuss. Das Loch im Herzbeutel hinter dem 
Ausschuss ist schlitzfdrmig, klein, unmittelbar darunter setzt sich der Schuss- 


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Beziehungen des Status tbymico-iymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 65 

fcanal m die verwachsene linke Lunge fort, tritt unten links hinten wieder aus 
und trifft dieS.Rippe, welche vollig quergebrochen und bier mit Blut umgeben 
isi. Hinter ibr im Muskelgewebe die Ravolverkugel, 6 mm, etwas abgeschliffen. 
Der Lungenschusskanal ist stark mit Blut gefiillt, die linke Pleura enthalt 
zwischen weichen Verwachsungen etwa 500 ccm flussiges Blut. Das Lungen- 
gewebe zeigi keine Blataspiration, doch sind die Bronchi beiderseits mit biu- 
tigem Schleim gefiillt. 

Thymus mittelgross, deutlich rotgrau, parenchymatos. Thy- 
reoidea mittelgross, rotgrau. 

Trachea enthalt etwas blutigen Schleim. sonst ohne Besonderheiten. 

Zungenbalgdriisen gross, sebr prall, reichlich. 

Tonsillen mittelgross, Oesophagus ohne Besonderheiten. 

Milz klein, sehr schlaff, weich, sehr blassgrau, keine Follikelhypertrophie. 

Nieren selir klein, links 105, rechts 120 g, hellgrau, sonst ohne Be- 
>c*ndertieiten. 

Nebennieren sehr klein, schmal, platt, gelb, Mark sehr atrophisoh. 

Leber blassbraunrot. Keine Herderkrankuug. Magen zeigt blassgraue, 
weicbe diinne Schleimhaut, keine Narben. Darm sehr blass, schlaff, ziem- 
lioh leer. Brustwirbeisaule sehr hochgradig nach rechts gebogen. Lumen der 
reohten Thoraxhalfte verengt, Zwerchfell steht sehr hoch. Lendenwirbelsaule 
wemg gekriimmi, keine Spondylitis deformans. Schadel klein, sehr dick, platt. 
Dura normal, Pia blutreich. Gehirn sehr klein, 1195 g, richlig proportioniert, 
aber auffallig platte, soharf gezeichnete Windungen, sonst keine Anomalien, 
gut* Resistenz und Blntgehalt, Ventrikel normal. 

Epikri.se: Die Anamnese ergab eine psyehische Minderwertigkeit, 
die in der Hypoplasie des Gehirns ihre Erklarung findet. Ob der aus- 
grpragie Status thymicus bezw. die Nebennierenhypoplasie bedeutungs- 
vnll war, bleibt dahingesteilt. Jedenfalls muss in dieser Richtung der 
Degensatz des Falles zu dem fruheren mit Gehirnhypertrophie (Fall 4) 
i>evonders hervorgehoben werden. Vielleieht lasst sich ganz allgemein 
sagen, dass die Gewichtsverhaltnisse des Gehirns, welche doch uur sehr 
approximatee Lrteile gestatten, da sie ja den Flussigkeitsgekalt der 
Glia mu! die Ouantittt der Markmasseu gleicbzeitig bestiminen, wenig 
gmgnet sind. um als Massstab fur die funktiouellen Besonderheiten 
d# s Gehirns zu dienen. Indessen sind die Gegeus&tze der mitgeteilteu 
Filie doch zu stark, als dass die Tatsache abgeleuguet werden kdnnte, 
dass tier Status thymicus, sowohl mit Hyperplasie, wie mit 
Hypoplasie des Gehirns vergesellschaftet sciu kann. Offenbar 
liegt hierin ein Hinweis darauf. dass weniger die Quantity als die 
fiiuktiunelle Keizung der Gehirnsubstanz in Frage kommt. 

Fall S. Kurt A., 26 Jahre. 

Sektionsdiagnose Hirnschussverletzung (Suizidium). Lungenhyper- 

Status thymicus. 

Arr it? f. Payrhiatrie. B<L 60. H«ft 1. \ 


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Daten aus der Krankengeschichte: Lebte anscheinend in etwas 
schwierigen Verhaltnissen (Frau schwer epileptisch, Zerwurfnis mit Schwieger- 
vater aus pekuniaren Ursachen). Ende 1916 als Rekrut eingezogen, meldet 
sich sofort krank, simuliert im Krankenhaus Genickstarre. Am 9.11. empfangt 
er den Besuch seiner Frau, verlasst mit ihr obne Erlaubnis das Lazarett, er- 
schiesst sie in der Wohnung und darauf sich selbst. Sofort ins Lazarett ge- 
bracht, Exitus 2 Stunden nach dem Schuss. 

Sektionsbefund: 179 cm lang, kraftig gebaut, Haut bleioh, von nor- 
maler Elastizitat, Fettgewebe wenig entwickelt, deutlich abgemagert, Musku- 
latur kraftig, starr. An der rechten Schlafe eine kleine eingetrocknete Einschuss- 
offnung, aus welcher massige Mengen Blut iiber das Gesicht herabgelaufen sind. 

Unter der Schusswunde nur geringe Blutsugillation iiber der Temporalis- 
faszie. Hier findet sich ein etwa funfpfennigstuckgrosses Loch im Schlafenbein, 
die innere Flache erbeblich grosser als die aussere. Die Stelle entsprioht dem 
Verlauf der Art. mening. media; ein Ast derselben ist zerrissen, die Dura eine 
Strecke weit vom Schadel abgerissen und spaltformig perforiert. Aus der 
Schadelwunde entleert sich reichlich flussigos Blut nach' aussen in das Tem- 
poralisgewebe. Eine starkere extradurale Blutung besteht nicht. Im Subdural- 
raum massiger Bluterguss, ebcnso sehr ausgedehntsubarachnoideal fiber beiden 
Hemispharen und an der Hirnbasis. Im rechten Schlafenlappen findet sich 
eine etwa fingerdicke Einschusswunde, welohe durch einen entspreobenden 
Schusskanal mit hamorrhagischen zerrissenen Wanden zu einem Ausscbuss im 
rechten Parazentrallappen fiihrt; er geht durch den Falx unterhalb des Sinus 
in den linken Parazentrallappen dicht am Winkel und bildet hier ein Knie, 
fiber welohem die Dura spaltformig geplatzt und der Schadel schwarzlich pig- 
mentiert, aber nicht eingedruckt ist. Der Schusskanal geht waiter gegen das 
linke Schlafenbein und endet in dessen Markmasse, hier findet sich die defor- 
mierte 6 Millimeterkugel. Die Hirnventrikel sind unverletzt, blutfrei. Gehirn 
im fibrigen vollig normal. Ebenso die Hirnhaute. 

Thymus, 24 g, breit, rotgrau, deutlich abgrenzbar, schlaff. 

Herzbeutel breit. Ueber dem rechten Ventrikei eine markstfickgrosse, 
epikardialo Schwiele. Herz sehr kraftig, 315 g, mit flfissigem Blut reichlich 
gefullt, pralle, rotgraue Muskulatur, normale Klappen. Aorta 62, Pumonalis 
60 mm, Aorta abd. 38. Die Aorta im allgemeinen glatt, im Gebiet der Nabei- 
blutbahn reichlich schmale Fettstreifen. 

Lungen im allgemeinen normal, uberall stark hyperamisch, ganz leichtes 
Oedem in der linken; Bronchi mit schaumigem, zahem Schleim geffillt. Larynx 
und Trachea ohne Besonderheiten. 

Thyreoidea normal gross, prall, rotgrau. Zungenbalgdrusen und 
Tonsillen sehr gross, prall, stark vorspringend, Oesophagus ohne 
Besonderheiten. Milz mittelgross, etwas schlaff, dunkelgraurot, reichliche, 
aber undeutlich begrenzte Follikel. 

Linke Nebenniere ausgepragt in denFlfigeln verdfinnt, rechte 
etwas weniger, linke 3 g, rechte 5 g. Rinde beiderseits massig fetthaltig. 
Mark schmal, grau, nicht weich. 


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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 67 

Nieren sehr prall, fast, tiefrotgrau, koine Herderkrankungen; linke 160 g, 
rechte 155 g. 

Blase ohne Besonderheiten. Prostata und Samenblasen ohne Besonder- 
heiten, letztere leer, Hoden links 27, rechts 22 g, prall, hellgelbgrau. 

Leber normal gross, prall, sehr blutreich, keine ischamisohen Herde, 
nor male Gallenblase. 

Magen mit unverdautem Speisebrei stark gefallt, kein blutiger Inhalt. 
Schleimhant weich, triib, blassrotgrau. Diinndarm enthalt streckenweise eigen- 
tumliche trockene schwarze Kotmassen, an Blutkot erinnernd, die Darmwand 
ist an der entsprechenden Stella tintensohwarz durchtrankt. Die Follikel 
und Peyerhanfen des Ileums sind flaoh, nur im unteren Abschnitt 
praller und gerdtet. Die Peyerhanfen reichen weit in das Jejunum 
hinauf. Mesenterialdrusen nicht verdickt. Diinndarm ohne Besonderheiten, 
kaine Follikelschwellung. 

Retroperitoneal- and sonstige Lymphdrusen nicht auffallend. 

Epikrise: Auch in diesem Falle handelt es sich um einen Men- 
schen, der an allgemeiner Nervositat, die durch die Lebensverh&ltnisse, 
spater vielleicht auch durch Kriegsangst bedingt war, litt; offenbar war 
diese Nervositat auf dem unverkennbaren Status thymicus basiert. Der 
Versuch, durch Simulation sich dem Eriegsdienst zu entziehen, sowie 
die j&he Verzweiflungstat (Mord und Selbstmord) deuten auf das seit 
lingerer Zeit gestorte seelische Gleichgewicht bin. 

Nach den Ergebnissen der vorliegenden Falle ist fuglich die Tat- 
sacbe, dass bei der Mehrzabl der militarischen Selbstmorder ein Status 
thymico lymphaticus vorkommt, nicht zu leugnen. Wie aber ist der 
innere Zusammenhang? 

Die letzten Jahre baben uns die Erkenntnis von der Bedeutung 
jener Substanzen gebracht, welche aus den Drusen ohne AusfQhrungs- 
gang dem KOrper zugefuhrt werden, haben uns gezeigt, in welch innigen 
Beziehungen, sei es, dass sie hemmende oder fSrdernde Funktion haben, 
die BlutdrOsen und ibre Sekrete, die Hormone, zum Gesamtorganismus 
steben. Klinisch hat man bei den Erkrankungen dieser Orgaue mannig- 
fache Erscheinungen, welche auf Hyper- oder Hypofunktion, oder, wie 
einige Autoren angeben, Dysfunktion, d. h. eine qualitativ gestOrte Funk¬ 
tion, zu beziehen seien, unterscbieden. Hierbei hat sich gerade das 
Nervensystem als von den Hormonen der Blutdrusen besonders abh&ngig 
erwiesen; mancherlei funktionelle StCrungen zeigten sicb bisweilen deut- 
licb als Ausdruck der gestOrten Beziehungen zu gewissen Blutdrusen. 
Trefflich charakterisiert Biedl(28) den Debergang in diese neuen An- 
sehaunngen: „Fruher gait jede Organkorrelation fflr nervds, heute 
werden sogar die nervdsen Beziehungen als cbemisch ubermittelt be- 
traebtet 4 *. Wie bereits oben erwlhnt, nimmt Paltauf beim Status 

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tbymico-lymphaticus das Bestehen einer besonderen Konstitutionsanomalie 
an, bei der nicht eine lokalisierte Erkrankung, sondern ein allgemem 
krankhafter Zustand des Kdrpers anzunelmien ist. Die hyperplastische 
Thymus ist also nicht die Ursache der pathologiscben Verftnderungen, 
sondern nur ein Teilsymptom einer allgemeinen Emahrungsstfirung, 
des weiteren charakterisiert durch die Vergrosserung des lympha- 
tischen Apparates und eine Atrophie der Nebennieren, eine Dys- 
funktion des Blutdrusensystems und ihrer Ausfuhrstoffe, die ihreu Aus* 
druck auch in einer Alteration und Insuffizienz des Net vensystems und 
der Psyche finden kann. So ergab es ja auch die Anamnese bei unseren 
Fallen. Es handelte sich um Individuen mit einem reclit labilen Nerven- 
system, die auf Grund der Anomalie ihrer Konstitution erfabrungsgem&ss 
Krankheitseinflussen, besonders Infektionskrankheiten, Alkoholintoxika- 
tionen, wie oben bereits berichtet, sehr leicht unterliegen, fernerhin aber 
auch psychischen Einwirkungen gegeniiber sehr wenig widerstandsf&hig 
sind. Die Feststellungen Bartel’s, der den Selbstmord vorwiegend als 
eine Erscheinung des jugendlichen Alters bezeicbnet — eine Auffassung, 
welcher allerdings andere Statistiken widersprechen — gibt uus auch 
die Erkl&rung fur die leider recht zahlreichen Soldatenselbstmorde. Sind 
es doch meistens Leute in jugendlichem Alter, an die, zudem zum ereten 
Male in ihrem Leben, psychische Einfliisse schwerer Art, der milit&rische 
Drill, die bisher nie gekannte Subordination, oder etwa die Einwirkung 
ungerechter und misshandelnder Vorgesetzten, eventuell die mannigfacheu 
Schrecken und Anstrengungen des Krieges herantreten. Die dorch ihre 
krankhafte Anlage an sich schon nerv5s alterierten Leute kdnnen diesen 
ausseren Einflussen keinen Widerstand entgegensetzen, ihnen erscheint 
das Suizid als der beste Ausweg. 

Alle oben angefiihrten Autoren, ausser Miloslavicb, stellten ledig- 
lich die Tatsache feet, dass bei der uherwiegenden Zahl von Selbst- 
mordern ein Status thymico-lymphaticus zu konstatieren sei, obne jedocb 
eine Erkl^rung uber eiuen Zusammenbang mit den Ursachen des Selbst- 
mordes zu geben. Miloslavich stutzt sich auf Dntersuchungen von 
Bartel, Hermann, v. Wiessner, Kyrle, die ergeben haben, dass 
man bei Individuen mit lymphatischer Konstitution Entwick]ungsst5rungen 
an spezifischen Parenchymen, speziell an Lymphdriisen und Sexualdrusen 
mit gleichzeitiger Wucberung des Stiitzgewebes sehen kann, und nimmt 
an, dass bei solchen Lymphatikern auch das spezifiscbe Parenchym des 
nervosen Systems, speziell der Nervenzellen, ein von der Norm niehr 
oder weniger abweichendes Verhalten zeigt. Er weist dabei auf die 
auch von mir oben erw&hnten Befunde von Hirnhypertrophie bei Lym- 
phatUmus (vergl. S. 61) hin. Sodann erscheint ihm aber noch eine 


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Beziehungen des Status thymico-lymph&ticus zum Selbstmord von Soldaten. 69 

andere Mfiglichkeit erwfihnenswert. Bonhoeffer (33) beschrieb 1910 in 
ciner Monographic die im Gefolge von akuten Infektionen und inneren 
Erkrankungen anftretenden vorfibergehenden GeistesstSrungen. Mil os - 
iavich betont, dass das Zusammentreffen von solchen auf Grund 
lage von aknten Infektionen, von inneren Erkrankungen, odor physiolo- 
gischen Vorg&ngen (Status digestionis, Menstruation, Puerperium usw.) 
auftretenden passageren geistigen Stdrungen mit einem Status thymico¬ 
lymphaticus wabrscheinlich das Wesen der inneren organischen Selbst- 
morddisposition bildet. 

Etwas Derartiges Hess mein Material in keinem Falle erkennen. 
Regelmfissig war es anscheinend nur der psychische Affekt, welcher 
zu dem Entschluss zum Selbstmord fiihrte. Hiermit ist natfirlich nicht 
gesagt. dass nicht aucb einmal die Kumulation des Status thymicus 
durcb eine Sexualerregung, eine Infektionsintoxikation u. fihnl. die Rei- 
zung des Nervensystems fiber das ertrfigliclie Mass steigern konnte. 

Die Statistik ist nur eiue Grundlage und Aufforderung fur weitere 
Forschungen. Wenn sie, wie es im Vorstehenden goschehen ist, die 
Beziehungen des Status thymicus zu nervfisen Reizzustfinden erweist, so 
mussen diese Beziehungen weiterhin analysiert werden. In dieser Rich- 
tung kommen hauptsfichlich wohl zwei' chemische Wirkungsreihen in 
Frage. Die Hyperplasie der Thymusdrfise und der Lympbfollikel deuten 
auf eine Ueberproduktion von Nukleinsubstanzen. — Diese gehen, wie 
Beneke (s. o.) vermutet, mit den Lymphozyten in das Blut und, etwa 
durcb Zerfall der letzteren, als hochwertige Nukleinbausteine in die 
Gewebe. Es wire vielleicbt mfiglich, durch die Yerfolgung des Purin- 
stoffwechsels, bei Leuten, welche an Status thymicus leiden (Zungeu- 
balgdrfisenhypertrophiel), einige Aufklfirungen zu erhalten. Zweitens 
konnte wohl die Beziehung des Cholesterinfettes der Nebennierenrinde 
zum Cholesterinfctt der Markscheiden und Achsenzylinder des Nerven¬ 
systems sicli der direkten Bestimmung unterwerfen lassen; hierzu wurde 
die Gewichtsbestimroung des Fettgehaltes im Vergleich zum Wasser- 
gehalt des Zontralnervensystems notwendige Grundlage sein mfissen. 
Ausser diesen beidon Kfirpern wurde auch wohl noch eine Reihe an- 
derer Hormone, unter ihnen Adreuin und Cholin, gewiss heranzuziehen 
sein. Dem wirklichen Verstfindnis der bier besprochenen Beziehungen 
muss jcdenfalls die Lfisung zahlreicher Vorfragen vorangehen. Wfirden 
diese gelost, so wfire mancber neue Einblick in das Geschehen inner- 
balh des Nervensystems und damit besseres psychologiscbes Verstfindnis 
nicht nur den Schwerkranken, sondem auch den annfihernd „normalen“ 
Menschen gegenuber gewonnen. Auch die Rechtsprechung wfirde von 
diesen Ergebnissen grOssten Nutzen haben. 


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Zum Schluss kann ich eine Bemerkung nicht unterdrucken, welche 
sich auf die jungst vom Kriegsministerium dem Reichstag mitgeteilte 
Tatsache bezieht, dass die Selbstmordf&lle im Laufe der letzten Eriegs- 
jahre gegen die Zahl der im Kriegsbeginn vorgekommenen F&lle wesent- 
lich abgenomraen liaben. Beneke(25) hat in einem Vortrage in der 
Eriegstagung der Deutschen patbologischen Gesellschaft fiber die auf- 
fallend bohe Ziffer der an Status thymicus leidenden Soldaten seines 
Arbeitsbezirkes (IV. Res.-A.-E.) bericbtet. Einer personlichen mfind- 
lichen Mitteiiung nacb bat sich seit jener Zeit (1916) diese Ziffer ganz 
auffallig verringert; weder an den in der Heimat zurfickgebliebenen, 
noch an den aus dem Felde kommenden, an akuten oder chronischen 
Erkrankungen eingegangenen Soldaten konnte Be neke in den letzten 
zwei Jahren Thy mushy per trophie in irgendwie auff&lliger Prozentzahl 
nachweisen; da diese Differenz von dem gleichen Beobachter festgestellt 
wurde, so darf die Tatsache des Unterschieds der 2 ersten und 2 letzten 
Kriegsjahre als sicher angenombien werden. Sie kann sich nur aus 
allgemeinen Verbaltnissen, sehr wahrscheinlicb der Ernfihrung, er- 
kl&ren und muss demnach als Stutze der schon erw&hnten Auffassung 
Beneke’s gelten, dass der Status thymicus keine angeborene, sondera 
eine passagere Eonstitutionsanomalie sei. Bringt man jene statistische 
Feststellung bezuglich der Zahl der Soldatenselbstmorde biermit in Ver- 
bindung, so erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Abnahme der 
Selbstmordfrequenz mit der Abnahme des Status thymicus in einer mehr 
oder weniger direkten Verbindung stehen konnte, womit natfirlich Be- 
ziehungen anderer Art nifcht in ihrer Bedeutung herabgesetzt werden 
sollen. Jedenfalls besteht zwiscben beiden Angaben eine bemerkens- 
werte Eongruenz. 


Literatnrverzeichnis. 

1. Lomer, R., Ueber ein eigentiimliches Verhaltnis der Nebennieren bei 
Hemizephalen. Viroh. Arch. 1884. Bd. 98. 

2. Weigert, C., Hemizephalio und Aplasie der Nebennieren. Virch. Arch. 
1885. Bd. 100. S. 176—79. 

3. Zander, R., Ueber funktionelle und genetische Beziehungen der Neben- 
nieren zu anderenOrganen, speziell zumGrosshirn. Ziegl.Beitr. 1890. Bd.7. 

4. Alexander, K., Untersuchungen iiber die Nebennieren und ihre Be* 
ziehungen zum Nervensystem. Ziegl. Beitr. 1892. Bd. 11. 

5. Czerny, Hydrozephalus und Hypoplasie der Nebennieren. Zentralbl. f. 
pathol. Anatomic. 1899. Bd. 10. 

6. Meyer, R., Nebennieren bei Anenzephalie. Virch. Arch. 1912. Bd. 210. 

7. Wiesel, Zur Pathologic des chromaffinen Systems. Virch. Arch. 1904. 
Bd. 176. 


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Beziehuugen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 71 


8. W iesel, Pathologie der Thymus. Lubarsch-Ostertag’s Ergebn. 1911. XV. 2. 

9. Dersolbe, Wiener klin. Wochenschr. 1912. Bd. 27. Zeitschr. f. Heilk. 
1903. 24. Bd. H. 7. 

10. Fliigge, Die Bedeutung der Thymus far die Erklarung plotzlicher Todes- 
falle. Vierteljahrssohr. f. gerichtl. Med. 1899. Bd. 17. 

11. Basch, Die Beziehuugen der Thymus zum Nervensystem. Jahrb. f. Kin- 
derheilk. 1900. Bd. 68. 

12. Priedleben, Die Physiologie der Thymus. Frankfurt 1858. 

13. Klose und Vogt, Klinik und Biologie der Thymusdriise. Beitr. z. klin. 
Chir. 1910. Bd. 79. 

14. Paltauf, Ueber die Beziehung der Thymus zum plotzlichen Tod. Wiener 
klin. Wochenschr. 1889. 2. Jahrg. 1890. 3. Jahrg. 

15. Bartel, Zur pathologischen Anatomie des Selbstmordes. Wiener klin. 
Wochenschr. 1910. Nr. 14. 

16. Brosch, A., Die Selbstmorder. Leipzig 1909. F. Deuticke. 

17. Bartel und Stein, Ueber abnormale Lymphdriisenbefunde und ihre 
Beziehungen zum Status thymico-lymphaticus. Arch. f. Anat. u. Phys. 1906. 

IS. Ollendorf, Krankheit und Selbstmord. Greifswald 1905. Kanike. 

19. Miloslavich, Hirnhypertrophie bei Lymphatismus. Wiener med.Wochen- 
schrift. Militararzt 1913. 

20. Dersolbe, Zur Pathologie der Nebennieren. Wiener med. Wochenschr. 
1914. Militararzt. 

21. Derselbe, Ueber Bildungsanomalien der Nebennieren. Virch. Archiv. 
1914. Bd. 218. 

22. Derselbe, Ein weiterer Beitrag fur pathologische Anatomie der militari- 
schen Selbstmorder. Virch. Arch. 1912. Bd. 208. 

23. Heller, A., Zur Lehre vom Selbstmord, naoh 300 Sektionen. Munch, med. 
Wochenschr. 1900. 

24. Egglhuber, Ueber Sektionen von Selbstmordern. Diss. Miinchen 1911. 

25. Ben eke, Ueber Status thymicus und Nebennierenatrophie bei Kriegsteil- 

nehmern. Pathol. Zentralbl. 1916. B(f. 27. (Kriegstagung der pathol. 
Gesellschaft.) I 

2*’. Derselbe, Zur Frage nach der Bedeutung der Thymushypertrophie fur 
plotzlicheTodesfalle im Kindesalter. Berliner klin. Wochenschr. 31. Jahrg. 
1894. S. 216. 

27. Ben eke, Ueber Trachealabplattung bei Neugeborenen und Kindern der 
ersten Lebensjabre im Zusammenhang mit dem sogenannten Thymustod. 
Aerztl. Verein. Marburg 1907. Miinchener med. Wochenschr. 1907. Jahrg. 4 . 
>. Biedl, Innere Sektretion. 2. Aufl. 1913. Urban u. Schwarzenberg. 

29 Faita, Erkrankung der Blutdrusen. Springer, Berlin 1913. 

Martius, Konstitution und Vererbung. Springer, Berlin 1914. 

31. Pilcz, .Jahrb. d. Psych, und Neurologie. Bd. 26. 

32. Anton, Wiener klin. Wochensohr. 1912. Nr. 20. 

5.1 Bonhoeffer, Die symptomatischen Psyohosen. Leipzig 1910. Deuticke. 


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IV. 


Aufsatze zur energetischen Psychology. 

Von 

Dr. Harry Marcuse (Herzberge), 

Stabsarzt d. R., zurzeit im Feldc. 

(Schluss.) 


VIII. Kapitel. 

Defektreaktion und Defekterregnng. 

1. Allgeraeine8. * 

Definition. Angeborene underworbene Defektzustande. Es gibt keinen iso- 
lierten Defekt. Hemmung ist stets supprimar. Erregung und Hemmung konnen 
gleichzeitig wirksam sein. Das Verhalten der supprimaren Funktion bei Hem- 
mung. Der „Erregungsdefekt“* Die mechanischen Schadigungen des Gehirns 
in ihrer psycbologischen Bedeutung. Die Unzulanglichkeit der histologisohen 
Befande fur den Nachweis des Defekts. DieNotwendigkeit der psychologischen 
Analyse. Gegensatz der energetischen Anschauung zu der gewohnlichen. Die 
verschiedenen Arten der Defektreaktionen. 

Die Begriffe der Defektreaktion und Defekterregung haben sich aus 
den Voraussetzungen der energetischen Auffassung des psychologischen 
Geschehens ergeben. Sie sind theoretisch wie praktisch sehr wichtige 
Konsequenzen dieser Theorie. 

Sie unterscheiden sich nur durch die Intensit&t der produzierten 
psychischen Energie und gehen daher ohne scharfe Grenze in einander 
fiber. Beiden gemeinsam und fur sie charakteristisch ist, dass sie psy- 
chische Reaktionen eines Zentralnervensystems sind, das aus irgend 
einem Grunde an der vollen Entfaltung seiner Kraft gehindert ist. Die 
Reaktion ist daher im Verhfiltnis zur St&rke des Reizes schw&cher als 
normal und auch die stfirkste Erregung bleibt hinter der normalerweise 
maximalen Erregung zuruck. Es kann sich dabei um einen voruber- 
gehenden Hemmungszustand des Kraftzentrums handeln, wie er physio- 
logisch bei Ermudung oder im Schlaf besteht, oder um eine dauernde 
Storung, wie sie durch Krankheiten, Gifte oder Verletzungen liervor- 
gerufen wird. Man f>flegt vorfibergehende Stftrungen als Hemmung, 
dauernde als Defekt zu bezeichnen. Es ist jedoch klar, dass es fur 
den Ablauf der einzeinen Reaktion gleichgfiltig ist, wie lange die w&h- 
rend ihres Ablaufes vorhaudene Abschwfichung der psychischen Kraft 
besteht oder bestanden hat. 


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Aufsatze zur energetischen Psychology. 


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Man kbnnte auch die imbezille Konstitution als einen Defektzustand 
anseben und ihre Reaktionen als Defektreaktionen bezeichnen, um so 
mehr als sie den Defektreaktionen Normaler mehr oder weniger ahnlick 
sind. Der Ausdruck „Defektmenscben“ wird auch vielfach auf Imbezille 
angewandt. Es erscbeint aber zweckiniLssiger, die Bezeichnung zun&chst 
nicht auf die angeborenen Zustande anzuwenden. Wenn wir das t&ten, 
warden wir verscbiedene Individuen mit einander vergleicben, wbhrend 
bei der Beschr&nknng auf erworbene Zustande die Defektreaktion grade 
darch den Vergleicb mit fruheren Reaktionen desselben Individuums als 
solche erkannt wird. Der Nachweis, dass Individuen mit angeborenem 
Defekt in gleicher oder ahnlicher Weise reagieren, ist an der Hand der 
klinischen Erscheinuugen unschwer zu erbringen. Der Unterschied 
zwiscben den angeborenen und erworbenen Defektzustanden liegt in den 
Inhalten. Die Reste des in gesunden Tagen Erlebten und Erfahrenen 
wie der erworbenen Kenntnisse lassen sich auch bei stark ere tn Defekt 
eines Katatonikers usw. noch nachweisen und imterscbeiden ihn von 
dem geborenen Imbezillen oder Idioten. Die klinische Forschung hat 
im allgemeinen mehr Interesse daran, die Unterschiede festzustellen, ist 
aber in diesem an sicb berechtigten Streben zweifellos zu weit gegangen. 
Das Gemeinsame dieser Zustande wurde daher zu wenig gewurdigt. Es 
liesse sich zeigen, dass die Aehnlichkeit imbeziller Reaktionen und De¬ 
fektreaktionen auf die Konstitution P 1 zuruckzufuhren ist, dass 
also in beiden Fallen die verminderte Intensitat von P die Reaktion 
charakterisiert. Dieser Nachweis, der fur die Auffassung mancher kli- 
nischer Fragen von Bedeutung sein diirfte, ist bereits in der Theorie 
der Psychosen, wenn auch nur wenig ausfuhrlich enthalten. Im Fol- 
genden wollen wir vor allem die erworbenen oder vorubergehenden 
Hemmungen besprechen. 

Wir fanden, dass das Wesentliche einer psychisclien Reaktion nicht 
der Inhalt, also nicbt die Qualitat, sondern ihre Starke und Form ist, 
und konnten nun ^usammenhange und Gegensatze feststellen, die bisher 
nicht gesehen worden sind. Die vier Hauptsymptome der krankhaften 
Erregungszustande, die Halluzinationen, Affekte, motorische Erregung 
und Wahnideen konnten als Ausdrucke primbrer oder katatoniscber 
Firregung zusammengefasst werden und iknen eine gleiche Reilie gegen- 
ubergestellt werden, die von der sekundaren Stufe ausgehen und daher 
hysterisch oder psychogen genannt werden. Wir konnten also die kata- 
toniscben oder imbezillen Reaktionen den hysterischen oder psychogeneu 
gegenuberstellen und schliessen, dass jedes Erregungssymptom auf diese 
zwci verschiedenen Arten zu Stande kommen kann. welchen Inhalt es 
auch baben mag. 


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Dr. Harry Marcuse, 


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Es war unverineidbar, dass hierbei den in der Psychiatrie ublichen 
Begriffen teilweise eine etwas andere Bedeutung gegeben wurde, als sie 
bisher hatten, wenn man nicht zu vollig neuen Bezeichnungen greifen 
wollte. Als solche wurden nur die Hypernoiker und Hyponoiker auf- 
gestellt, die die geringeren Grade der Hysterisclien und Imbezillen besser 
als bisher herausheben. Der Wert der Theoric sckeint uns gerade da- 
durch erhoht zu werden, dass die alten Namen durch eine scbarfe Be- 
griffsbestimmung eine klare Deutung erhalten, wenn diese sick auch 
nicht mit den alten Inhalten deckt. Handelt es sich doch bisher bei 
fast alien Namen der Psychiatrie um ganz unklare und verschwommene 
Begriffe, die den verschiedeusten, aber nie psychologischen Gesichts- 
punkten ihre Entstekung verdanken. 

Zu diesen unklaren Begriffen gehdrt nun auch die Bezeicknuog 
Defekt. Noch niemals ist die Herabsetzung der psychischeu Energie 
als das Wesentliche der Defekte angeseken worden und noch niemand 
hat erkannt, dass diese Herabsetzung die Form der Reaktion in be- 
stimmter Weise ver^ndert. Man sah eben stets nur, dass der Inbait 
der Reaktionen sich anderte und sprach nicht von Defekt schlecht- 
hin, sondern von Defekt der Intelligenz, der Moral, der Willenskraft, 
kurz von einera qualitativ naher bestimmten Defekt. 

Der Annahme eines so isolierten Defekts widerspricht unserer Au- 
schauung nach die Einheit der psychischeu Energie, die auf jede Sckii- 
digung wie auf jede Erregung in ihrer Gesamtheit reagiert und nicht 
in einer Qualit&t ausschliesslich beeiuflusst werden kann. Eine Herab¬ 
setzung oder Hemmung der psychischeu Energie, sei sie vorubergehend 
oder dauernd, kann zwar in einer Qualitat besonders deutlich in die 
Ersckeinung treten, sie muss aber alle drei prim&ren Qualitaten in 
gleicher Weise betreffen. Ist z. B. die Spontaneitat herabgesetzt, so 
muss auch Affektivitat und Empfinden schwacher sein als normal usw. 

Wir haben friilier gezeigt, dass die Erregung der psychischeu 
Energie sich in derselben Weise stets auf alle drei primaren Qualitaten 
erstreckt und nur fur die oberMckliche Betrachtung eine Qualitat be¬ 
sonders hervortritt. Die Erregung der anderen Qualitaten als der in 
der einzelnen Reaktion vorherrschenden und damit in dem Bewusstseins- 
zustand dominierenden ist stets nachweisbar und naturlick leichter zu 
erkennen als die Hemmung, da grossere Intensitaten psychischer Energie 
stets der Beobachtung zuganglicher sind als kleinere. Das bewirkt 
schon die objektiv erkennbare Erregung der supprimaren Funktiou, die 
stets in demselben Masse wie die primare erregt sein muss. Es ware 
unlogisch, fur die Erregung zwar anzunehmen, dass sie die psyckische 
Energie stets in alien Qualitaten betrifft und doch die Bescbr&nkung 


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( 

Aufsatze zur energetischen Psychologic. 75 

dor Hemmung auf einzelne Qualitaten fur moglich zu halten. Es ist 
vieimehr logisch uotwendig, dieselbe Annahme auch fur die Hemmung 
za machen. Man braucht auch nur die Aufmerksamkeit darauf zu 
richten, um einzusehen, dass es sich tats&chlich so verhftlt, dass es also 
eine partielle Hemmung der psyfchischen Kraft ebenso wenig gibt, wie 
eine partielle Erregung. 

Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings zwischen Erregung 
und Hemmung und auf ihn wurde bereits mehrfach hingewiesen: Die 
Erregung kann von der sekund&ren Stufe ihren Ausgang nehmen, sie 
kann durch Vorstellungen ausgeldst werden. Dieser Modus kann da- 
gegen fur die Hemmung nicht in Frage kommen. Eine Vorstellung 
kann zwar den Ablauf der Assoziationen hemmen und zu den gewdhn- 
licb als Denksperrung bezeichneten ZustSuden fuhren. Dabei ist aber 
die psychische Kraft als solche erregt. 

Ein bemmender Einfluss der sekundaren auf die prim&re oder sup- 
primare Funktion ist nicht denkbar, wenn man mit Jodi annimmt, dass 
die sekundare Funktion die prim&re zur Voraussetzung hat. Eine sekun- 
dare Keaktion ist transformierte primare Energie, sie kann sich wieder 
in die tiefere Stufe zurflckverwandeln und damit eine primare Erregung 
bervorrufen, sie kann aber unm5glich dadurch eine Verminderung der 
primttren Energie herbeifuhren. Jeder primare oder supprimitre Reiz, 
der zu einer psychischen Reaktion fubrt, lost damit psychische Energie 
aus und kann nur zu einer Steigerung der Erregbarkeit des Kraftzen- 
trums fuhren. 

Fur die Entstehung der Hemmung oder des Defekts kommt da- 
gegen keine Art von intrapsychischen Reizen in Betracht. Hemmung 
der psychischen Energie kann nur durch supprim&re Einflusse hervor- 
gerufen werden. 

Der supprimfire Einfluss, der die Reaktionsfhhigkeit des psychischen 
Kraftzentrums herabsetzt, kann als negativer Reiz bezeichnet werden. 
Es gibt eine Reihe von Substanzen wie Alkohol, Chloroform u. a., die 
zunachst eine Erregung und dann eine Hemmung der psychischen Kraft 
hervorrufen. Andere wie die gebr&ucblichen Schlafmittel wirken gleich 
ini negativen Sinne, also hemmend. Die Scb&digungen des Gehirns, die 
durch die sogenannten organischen Erkrankungen hervorgerufen werden, 
wirken oft schneller hemmend als die Noxe der katatonischen Seelen- 
storuugen. Hysterische Erkrankungen dagegen kdnnen nie oder doch 
nur indirekt durch Ueberanstrengung hemmenden Einfluss ausuben. 

Ein psychisches Kraftzentrum, das unter der Wirkung einer Schftdi- 
gung stebt, die seine Leistungsf&higkeit herabsetzt, reagiert trotzdem 
noch auf Reize. Die Reaktionsfkhigkeit wird ja erst mit dem Tode 


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Dr. Harry Marcuse, 


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aufgehoben. Die w&hrend der Hemmung produzierte Energiemenge. 
also ihre Intensit&t, ist aber kleiner, als sie der Intensit&t des Reizes 
normaler Weise entspricht. Zur Erzielung derselben Reaktion bedarf es 
daher bei einem gehemmten Kraftzentrum eines starkeren Reizes als 
bei einem normalen. 1st der Reiz stark genug, so kann es aucb bei 
einem gehemmten Kraftzentrum zu Reaktionen kommen, deren Gesamt- 
heit wegen dieser Intensitat als Erregungszustand zu bezeichnen ist. 
Es kanu also Erregung und Hemmung gleichzeitig bei demselben Indi- 
viduum vorhanden sein. Da es zunachst gleicbgultig ist, ob die Hem¬ 
mung dauernd oder vorubergehend ist (aucb die Erregung ist in ihrer 
Dauer sehr wechselnd), so kann man man jede Reaktion eines gehemmten 
Kraftzentrums als Defektreaktion bzw. Defekterregung bezeichnen. 

Der Defekt kann also nicht wie die Erregung intrapsycbisch und 
uicht durch aussere primare Reize entstehen. Er entstebt vielmehr 
durch negative, supprimare Reize und gehort daher seiner Entstehung 
nach nicht eigentlich in das Gebiet der Psychologie, sondern in das der 
biologiscben und roedizinischen Wissenschaft. Die Psychologie als solche 
bat nur seine Wirkung auf das psychische Geschehen zu untersuchen 
oder sein Vorhandensein festzustellen, sie kann aber mit ihren Mitteln 
seine Ursache nicht ergriinden. Denu aucb hier konneu wie bei der 
Erregung verschiedene Ursachen dieselben und eine Ursache bei ver- 
schiedenen Individuen sehr verschiedene Wirkuugen haben. 

Die Untersuchung der supprimaren Funktion, also der Reflexe, der 
Muskelerregbarkeit, der Herztatigkeit usw., die man noch in weiterem 
Sinne als psychologische Tatigkeit betrachten kann. wie wir es bei der 
Untersuchung der Erregung getan habeiT. ist fur Hemmungszu^t&nde in 
unserem Sinne noch nicht so weit durchgefuhrt, dass sich ein klares 
Bild von ihrem Verbulten entwerfen liisst. Die angeboreneh Defekt- 
zustande, also Imbezille und Idioten, zeigen gewohnlich eine grossere 
supprimare Erregbarkeit als normale. Diese bekannte Tatsache scheint 
zun&chst unserer Anschauung zu widersprechen. Sie steht mit der fruher 
erw&hnten Tatsache in Einklang, dass Hyponoiker durch pr&seutative 
Reize starker erregt werden konnen als Hypernoiker. Der Hyponoiker 
reagiert lebhaft, aber kurz, der Hypernoiker dagegen weniger lebhaft. 
aber nachhaltiger. Er transformiert den grdsseren Tell der psychischen 
Energie, die der Reiz ausgelost hat und unter Hinzurechnung der hierbei 
verbrauchten Energie, die zuuachst nicht festzustellen ist, kommen wir 
zu dem Schluss, dass seine Reaktion im Vergleicb zu der des Hyponoiker* 
im ganzen tatsachlich eine starkere ist. 

Die Erklarung fur die Steigerung der supprimaren Reaktionen der 
konstitutionellen Defektzust&nde ware danach analog darin zu selien, 


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Aufsatze zur energetischen Psychologie. 


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<lass allgemein bei Sch&digung der psychischen Kraft die hohere Stufe 
in erster Linie gebemmt wird und die tiefere desto deutlicher in die 
Erscheinung tritt. Diese Tatsache steht mit der Annahme Jodi’s, 
dass sieh die hoheren Funktionen auf den tieferen aufbauen, in Ein- 
klang. 

Wir koimen sie uns noch durch ein Bild verdeutlichen. Bei einem 
Idioten k&nnen pri mitre Reize sich nicht wie normal in psychische 
Energie der prim&ren oder sekund&ren Stufe umsetzen, da diese nicht 
irenugeud entwickelt sind. Anstatt daher nach den verschiedenen Rich- 
tungen zu irradiieren, fliesst der Strom der Erregung, den der prim&re 
Keiz erzeugt, im wesentlichen der supprimaren Stufe zu. Trotzdent 
daher die Starke der Reaktion aller Stufen zusammen hinter der nor- 
malen Intensity zuruckbleibt, kann die supprimkre st&rker als bei einem 
normalen Individuum sein. 

Bekanntlich sind bei vision Menschen die lyuesehnenreflexe nur 
auslosbar, wenn Kunstgriffe angewandt werden, welche die Aufmerksam- 
keit des betreffenden von deni Versuch der Auslftsung ablenken. Das 
heisst psychologisch ausgedruckt: Es genugt die Beobachtuug des Vor- 
ganges (lurch das Individuum, den primaren Reiz, den der Schlag auf 
die Kniesehne erzeugt, unwillkurlich so zu transformieren, dass die Er¬ 
regung der supprim&ren Funktion, der Selmenreflex, nicht in die Er¬ 
scheinung tritt. Hindert man die Beobachtung, so tritt die supprim&re 
Reaktion ein. Die Reaktion im ganzen ist nicht starker als im ersten 
Falie. aber die Verteilung des Energiestromes ist eine andere. 

Man pflegt hierin eine Hemmung der tiefereu Funktionen durch 
die hohere zu sehett und es entspricht dies zweifellos den Tatsachen. 
Nur muss man sich klar sein. dass eine solche Hemmung etwas ganz 
anderes ist, als die Herabsetzung der psychischen Energie, die wir als 
Hemmung bezeichnen. Diese Hemmung der tieferen durch die hoheren 
Funktionen entspricht viclmehr derjenigen, die eine iiberwertige Idee, 
'•in Affeki usw. auf den Vorstellungsablauf bzw. die Motilitat ausiibt. 
Sie beruht wie diese auf der Verteilung der verfiigbaren psychischen 
Energie. deren Intensitat ja stets beschr&nkt ist. So wenig man bei 
starker Aufmerksamkeit Schmerz fuhlt, vielmehr aus^eren Eindrucken 
gegeniiber refraktar ist, so wenig kanu der Sehnenreflex ausgeldst wer¬ 
den. wenn die Aufmerksamkeit zu sehr erregt ist, die Spontaneitat also 
underweitig zu stark jn Anspruch genommen ist. Man kann das Aus- 
Meiben des Reflexes als „Erregungsdefekt w bezeichnen und diesen 
Ausdruck aueh auf die Erregungszust&nde der hGheren Stufen anwenden. 
Hierbei wurde der Defekt in dem Ausbleiben einer Reaktion infolge 
der ungewohnlichen Verteilung der gesteigerten psychischen Energie 


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Dr. Harry Marcuse, 


bestehen, wihrend der wirkliche Defekt gleichbedeutend ist mit Herab- 
setzung der psycbischen Energie. 

Unter den Schadigungen des psychischen Kraftzentrums, die seine 
Reaktionsfahigkeit lierabsetzen, nehmen die Verletzungen des Gehirns 
< durch Stoss, Schuss, Blutung usw. eine besondere Stellung ein, die aber 
auf die Psyche im allgemeinen ohne Einfluss sind. Eine Embolie kann 
z. B. das Sprachzentrum schadigen oder die Liihmung eines Beines 
herbeifuhren, wihrend die iibrigen Funktionen vollig intakt sind. 

Die Feststellung, dass es im Gehirn sogenannte Zentren gibt, die 
bestimmte Empfindungen wie das Sehen und Horen oder die Tastempfin- 
dung vermitteln, sowie andere, die die Bewegungen des Kbrpers und 
der Gliedmassen sowie die Sprache beherrschen, hat die Hoffnung er- 
weckt, dass es der weiteren Forschung gelingen musste, schliesslich fur 
jede psychische Funktion z. B. den Geschlechtstrieb, den Affekt, ja vieJ- 
leicht auch fur die moralischen Begriffe oder die Intelligenz bestimmte 
Felder der Gehirnoberfl&che oder bestimmte Anhaufungen von Ganglion- 
zellen, sogenannte Kerne, festzustellen. Besonders die Entdeckung der 
Apraxie schien einen Fortschritt in dieser Richtung zu bedeuten. Hier 
war anscheinend der Wille nahe an seinem Ursprung lokalisiert. 
Der Apraktische im urspriinglichen Sinne weiss, was er will oder soli, 
seine Glieder sind frei beweglich und fukren unwiilkurliche, automa- 
tische Bewegungen bei entsprechenden Reizen ohne Scbwierigkeit aus. 
Nur wenn eine bestimmte Bewegung gewollt wird, gelingt sie nicht oder 
kommt nur unvollkommen zur Ausfiihrung. Gewisse Sprachstdrungen 
lassen ein analoges Verhalten erkennen. Als Ursache dieser Symptome 
findet man die Zerstdrung bestimmter Hirngebiete, die eine mehr oder 
weniger volls^andige Abtrennung der an sich unverletzten Zentren fur 
die entsprechenden Bewegungen von dem iibrigen Gehirn bewirkt. Da- 
durch sollen nun die vorhandenen Bewegungsvorstellungen gehindert 
sein, sich in Bewegung umzusetzen. 

An die Stelle der Bewegungsvorstellungen tritt in der energetischen 
Theorie die reflektorische Assoziation, die Transformierung sekundarer 
Energie in supprim&re. Beide Arten, die willkurliche Bewegung dem 
Verstandnis naher zu bringen, sind bildlich aufzufassen. Doch ist die 
reflektorische Assoziation ein Vorgang, den wir uberall im psychischen 
Geschehen als wichtig und bedeutungsvoll erkannt haben, w&hrend die 
„BewegungsvorsteIlungen“ kein Analogon haben. 

Fur die ErklSrung der Bewegungsstorungen durch lokale Schadi¬ 
gungen des Gehirns sind sie jedenfalls nicht notwendig. Es is’t min- 
destens ebenso verstandlicb, dass Umformungen der psychischen Energie 
in die supprimare Funktion gehindert werden kbnnen, wenn die mate- 


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Aufsatze zur energetischen Psycbologie. 


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riellen VorgAnge, die wir fur alles Psychische voraussetzen mussen, 
unmoglich gevorden sind. Die Bewegungsvorstellungen konnen sich 
aaeh nicht in die Tat nmsetzen, wenn die entsprecbenden Babnen zum 
oder im Ruckenmark gesch&digt sind. Die Reflexe, um die es sich bei 
der Apraxie handelt, sind nur ihrer Entwicklung nach hoher stebend, 
meist nicht ererbte, sondem erworbene Automatismen. 

Wir haben diese Fragen deswegen hier angeschnitten, um zu er- 
drtern, wie sich diese Art von Defekten der psychischen Energie zu den 
anderen Defektreaktionen verbalten. Wir haben selbst zugegeben, dass 
solche Ausfalle vorkommen kdnnen, ohne die psychische Kraft im Ganzeu 
herabzusetzen. Das triflFt naturlich nicht zu, wenn die Apraxie usw. 
nur Teilsymptome einer allgemeinen organischen Gehirnkrankbeit wie 
Arteriosklerose, Lues, Dementia senilis u. a. ist. Hierbei linden wir im 
Gegenteil die allgemeine Verminderung, also den Gesamtdefekt stets 
sehr ausgeprAgt. 

Die isolierten Bewegungsausfalle sind gleichzusetzen dem Verlust ein- 
zelner Sinnesorgane, die ebenfalls einen Defekt bedeuten, aber das psy- 
chiscbe Geschehen als solches nicht zu beeinflussen brauchen. Beethoven 
komponierte trotz vOlliger Ertaubung, Fecbner verfasste w&hrend langer 
Blindheit seine Schriften, Helen Keller entwickelte ihre Intelligenz trotz- 
dem sie blind und taub geboren war. Gerade die Falle von angeborener 
Blindheit oder Taubheit zeigen, dass der Ausfall in einer Qualit&t durch 
Verst&rkung anderer z. B. des Tastsinnes ausgeglichen werden kann, 
dass also das Fehlen einer Qualitat der Empfindung die Gesamtinten- 
sit&t der psychischen Kraft, wenn keine allgemeine Gehirnerkrankung 
vorliegt, nicht herabzusetzen braucht. Ebenso ist offenbar das ausge- 
wachsene Gehirn im Stande, lokale Stdrungen auszugleictien. Die Fahig- 
keit zu sprecben, ein Glied zu bewegen, wire alsTeil der Spontaneitat 
anfzufasson. 

Um solche Ausfalle graphisch darzustellen, was fur bestimmte 
Zwecke von Wert sein kann, brauchte man nur unser Konstitutions- 
scbema nach Art des Spektrums auszubauen und den vorhandenen Defekt 
in ibm zu vermerken. An der Starke und Form der psychischen Reak- 
tion wird also eine derartige qualitative Lucke nichts andern. Sie ware 
nicht als konstitutionelle Eigenart zu betrachten, sondem der Konstella- 
tion zuzurechnen, die sie allerdings oft in hohem Grade beeinflusst. 

Von diesem Standpunkte aus kfinnen wir die Resultate der lokali- 
satorischen Gebirnforscbung dahin zusammenfassen, dass es ihr bisher 
gelungen ist, eine Reihe von Qualitaten zu lokalisieren bezw. den Ort 
im Gehirn zu bestimmen, der zu ihrem Zustandekommen notwendig ist. 
Im Einklang mit unserer Theorie ist auch die Schmerzempfindung an 


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Dr. Harry Maroase, 


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die „motorischen Zentren 44 gebunden (nicbt die Tastempfindung), tiud 
wir kdnnen wobl annehmen, dass die mit den Sinnesenipfindungen ver- 
bundenen Gefuhle beziiglich ihrer Entwicklung in entsprechender Weise 
von den Zentren abbangig sind. Einen taubgeborenen Komponisten kanu 
es nicht geben und wkhrend das Geliirn des Taubgewordenen keine 
mikroskopisch nachweisbare Ver^nderung des Hdrzentrums zeigt, ist es 
nicht unwahrscheinlich, dass sich die angeborene Taubheit in der ver- 
rainderten Grosse oder Zahl der Zellen usw. ausdruckt, die sich fruher 
oder sp&ter nachweisen lassen wird. Bisher aber ist es noch nichr 
mdglich, im Gehirn Zellveranderungen der Zentren nachzuweisen, wenn 
auch l&ngere Zeit vor dera Tode ein Auge oder Ohr, ein Bein oder Arm 
verloren gegangen war. Es ist auch zu beachten, dass die ersten loka- 
lisatorischen Erfolge nicht dem Mikroskop zu verdankeu sind, sondern 
dem elektrischen Strom und dass die Herde, wie sie bei der Apraxie ge- 
funden werden, bei geeigneter F&rbung mit blossem Auge erkeunbar sind. 

Aus allem ergibt sich, dass fur einen histologischen Nachweis der 
hdheren (primaren und sekundiren) psychischen Funktionen noch nicht 
die geringsten Grundlagen geschaffen sind. Wir kdnnen am Gehirn 
nicht erkennen, ob ein Sinnesorgan funktioniert hat oder eine Extre¬ 
mist gelahmt war oder nicht, wir kdnnen noch weniger den Willen 
oder das Gefuhl, den Zeit- oder Raumsinn iokalisieren oder gar auf die 
Vorstellungen des Individuums irgendwelche Schlusse ziehen. In der 
Ausdrucksweise der energetischen Theorie heisst das: die Konstitution 
entzieht sich noch vollig dem histologischen Nachweis. Wir kdnnen 
aus den bisherigen Forschungsergebnissen auch nicht die Hoffnung 
schopfen, dass darin so bald eine Aenderung eintritt, denn diese be- 
treffen ausschliesslich Eigenschaften der Konstellation. 

Dementsprechend kdnnen wir aus den histologischen Befunden bei 
Gehirnkrankheiten (zu denen wir die Katatonie rechnen) keinen Scbluss 
auf den Grad der im Leben vorhanden gewesenen Sch&digung ziehen. 
Die Starke der Demenz bei Paralyse oder Dementia senilis steht be- 
kauntlich durchaus nicht immer im Einklang mit der SUrke der histo¬ 
logischen Veranderungen, und nicht einmal alle Idiotengehirne lassen 
krankhafte Befunde erkeunen. Wir kdnnen daher den Nachweis dee 
Defektes nicht durcb die Histologie erbringen und sind fur ibn ebenso 
wie fur den der vorubergehenden Hemmung auf die psychologischen 
Methoden angewiesen. 

Ein Beweis, der sich ausschliesslich auf die immer recht subjektive 
psychologische Analyse stutzt, braucht aber fur die Annahme der neuen 
Begriffe Defektreaktion und -erregung nicht jedem ohne weiteres zu ge- 
niigen. Manchem diirften vielmehr die bisherigen klinischen Anschauungen 


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Aufsatze zur energetischen Psyohologie. 


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einfacher und naturlicher vorkommen. So wird z. B. gewdhniich das 
sinnlose Toben eines verblOdeten Katatonikers anf den Verlnst der Intelli- 
geuz zuruckgefubrt. Eine tlemmung d. b. Herabsetzung der psychischen 
Energie scheint hier auf den ersten Blick nicht in Frage zn kommen. 
Die energetische Tbeorie zwingt jedoch zu dem Schluss, dass hier eine 
cbroniscbe Hemmuug neben der akuten Erregung vorhanden ist und 
dass daher auch die starkste Erregung nicht nur qualitativ, sondern 
anch quantitativ binter den Erregungen zuruckbleibt, deren dasselbe 
Individuum in gesimden Tagen fahig war. 

Der Unterschied der Anschauungen liegt vor nllem darin, dass die 
allgemeine Ansicbt den Begriff der Energie vdllig aus dem Spiel l&sst. 
Sie stellt sich partielle Ausfftlle der psychischen Funktionen vor, fur 
die sie womOglich bestimmte, besonders stark gesch&digte Hirnpartien 
in Anspruch nimmt (vg). Kleist). 

Die energetische Theorie behauptet, dass jeder Defekt und jede 
Hemmuug silmtlicbe psychiscbe Funktionen betrifft, wenn auch einzelne 
Qualit&ten starker als die anderen. Durch die UnmOglichkeit, die Er¬ 
regung in Energie hOherer Stufe zu transformieren, tritt die tiefere Stufe 
deutlicher hervor und tauscht so eine starkere Produktion psychischer 
Energie vor. 

Wir sind so sehr gewObnt, einen starken Affekt oder motorische 
Erregung nur zusammen mit Vorstellungen zu seben und zu erleben, 
dass wir unwillkurlich auch den sinnlosen, tatsachlich uumotivierten 
Erregungen Gedanken und Empfindungen unterschieben. Im Leben des 
Gesunden spielen fur gewdhniich die durcb Vorstellungen hervorgerufenen 
Empfindungen, Affekte und Strebungen eine viel grOssere Rolle als die 
durch die primaren Akte hervorgerufenen Vorstellungen. Erst wenn 
die psychiscbe Energie sinkt oder auch bei katatonischer Erregung ist 
' das Umgekehrte der Fall, also immer in abnormen Bewusstseinszustanden 
nut Ausnahme der hysterischen. 

Bei den katatonischen Erregungszustanden treten reflektorische 
Assoziationen von Vorstellungen, die der Individualitat d. h. der Kon- 
stellation nach wechseln, in grosser Zabl auf, sie verhindern das logische 
Denken und erzeugen unter UmstXnden Ideenfiucht. Ebenso muss bei 
Hemmiuigszustanden, die ja stets katatonisch sind, die reflektorische 
Assoziation in den Vordergrund treten, dagegen Zielvorstellung, Auf- 
merksamkeit, Logik wie alle hdheren psychischen Akte scbwerer pro- 
dnzierbar oder gar unmdglich werden. Das kiinische Bild eines Er- 
regungszustande8 kann daher unter Omstanden dem eines Defektzustandes 
mit Erregung im Anfange sehr Ahnlich sein bis die weitere Entwicklung 
die Lage kl&rt. 

Arslttv t PsjehiAtrit. Bd. 00. Hafl 1. r 


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Dr. Harry Marcuse, 


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Der Beweis fur das gleichzeitige Vorhandensein tod Hemmung und 
Erregung kOnnte aus einer Analyse der zu dauernder VerblOdung fuhren- 
den Psychosen erbracht werden. Oder aber man kOnnte zeigen, dass die 
Grnppen der Hyponoiker und relative!) Hysteriker, die beide unter den 
Sammelnamen der Psychopathen fallen, eine weitgehende Aehnlicbkeit 
der Symptomatologie mit den Anfangsstadien der Geisteskrankheiten 
mit Defekt darbieten und daraus das Vorhandensein der Hemmung in 
beiden Fallen erschliessen. 

Hier wollen wir uns jedoch nur mit einer Gruppe von psychiscben 
Reaktionen besch&ftigen, deren Vorkomraen stets mit einem Zustand 
verbunden ist, der eine Herabsetzung der psychischen Energie auch nach 
allgemeiner Anschauung zur Voraussetzung hat Damit sind wir der 
Notwendigkeit uberhoben, den Defekt selbst erst aufzuzeigen, und kCunen 
zun&chst erGrtern, welche Wirkung er auf das psychische Geschehen 
ausfibt. Darans wird sich die Begrundung unserer Begriffe Defektreak- 
tionen und -erregungen um so leicbter ergeben, als diese Art Reaktionen 
pbysiologisch vorkoromen und daher jedem aus eigener Erfahrung be- 
kanot sind. Wir meinen die Traume. 

2. Die Traume. 

Die supprimaren Funktionen im Schlafe. Die Entstebung der Traume. Ein- 
fluss der Konstitution. Traume sind Defektreaktionen. Vorkommen von Trau- 
men. Der Defokt als (Jrsache der Eigenart der Traume. Naohweis der im 
Traum bestehenden Hemmung. Die scbeinbare Starke der Affekte. Die geringe 
Intensitat der primaren Funktion. Schwierigkeiten der Traumanalyse. Die Er- 
innerung an die Traume. Schlaftiefe. Zusammenhangslosigkoit der Traume. 
Das primare Empfinden im Traum. Die Unlustaffekte als Schutzreflexe. Die 
Lustaffekte. Die Spontaneitat im Traum. Das „erotische Gefiihl 11 als Teil der 
Spontaneitat. Der Sexualtrieb im Traum. Die Vorstellungen im Traum. Raum 
und Zeit. Die Aufmerksamkeit. Einteilung der Traume. Die Aehnlichkeit 
der Traume mit anderen Defektzustanden. Hemmung und Verbrechen. Der 
Egoismus ein Zeioben des Defekts. ErmucTung, Scbwachsinn und Traum. Die 
Deutung der Traume. Reiz und Trauminbalt. Grenzen der Traumanalyse. 
Einfluss der Konstellation. Hysterische Traume. Wirksamkeit von Vorstellungen 
im Sohlaf.' ‘Katatonisohe Entstebung der Angsttraume. Traum und Charakter. 

Soblaf und Hypnose. Zusammenfassung. 

Der Schlaf ist ein Zustand von Bewusstlosigkeit, fur den wir in 
derselben Weise wie fur andere Hemmungszustande als Orsache einen 
negativen Reiz. annehmen mussen, den noch unbekannte Stoffwechsel- 
produkte ausuben. Unter Tr&umen verstehen wir die psychischen Reak¬ 
tionen hOherer Stufe, die wahrend eines Schlafzustandes vorkommen. 
Es sind danach die supprimaren Reaktionen nicht zu den Traumen im 


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Aufsatze zur energetisohen Psychologic. 


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engeren Sinne zu rechnen. Da aber, wie oben angefuhrt wurde, jede 
Hemmong die hdberen Funktionen starker scbadigt als die tieferen, so 
moss die snpprimare Funk lion wahrend des Schlafes relativ am besten 
erkennbar sein und wird daber zunfichst unsere Aufmerksamkeit ver- 
dienen. 

In der Tat gehdren die Reaktionen, die sich objektiv an einem 
Schiafenden erkennen lassen, ausschliesslich der supprimkren Stufe an. 
Jede Einffihlnng in den Bewusstseinszustand ist unmQglich. Nicht nur 
was ein scblafender Mensch trfiumt, sondern auch ob er uberbaupt 
trfiumt, lasst sicb nie mit Sicberheit feststellen. Den automatischen 
Bewegungen, dem Mienenspiel, dem Seufzen oder Lachen braucht keine 
primare Qualitfit und keine Vorstellung zu entsprechen. Jedenfalls hat 
das Individuum, wenn es sofort nach solchen Reaktionen geweckt wird, 
oft keine Erinnerung, getraumt zu haben. Es scheiot daber anch die 
populare Annabme willkfirlich zu sein, die das Belien und Heulen 
sehlafender Hunde auf Trfiume zuruckffihrt. Andererseits kann sehr 
lebbaft getraumt werden, ohne dass der Beobachter das Geringste davon 
feststellen kann. 

Objektiv feststellen lasst sicb, dass wahrend des Schlafes (und in 
geringerem Grade wahrend eines Ermfidungszustandes) die Starke eines 
Reises erheblich grCsser sein muss, als im Wachen, wenn eine Reaktion 
erzielt werden soli. Die Reizscbwelle liegt bdher als im Wachen oder, 
wie wir sagen, die psychische Kraft ist herabgesetzt. 

Diese Tatsache bedarf keines weiteren Beweises. Die supprimare 
Fnnktion hat aber fur das psychische Gescbehen im Scblaf eine sehr 
weitgehende Bedeutung, deren Umfang in keiner der zahlreicben Hypo- 
thesen fiber das Trfiumen richtig erkannt ist. 

„ Je starker die Hemmung ist, desto weniger psychische Energie kann 
produziert werden. Der tief Schlafende liegt rubig, atmet regelmfissig 
und langsam, zeigt keine Muskelspannungen. Er wird weder durcb 
Licht, noch durcb Gerfiusche gestOrt, reagiert nicht auf Reize des Tast- 
oder Geruchsinnes, wenn diese Reize nicht zu intensiv werden. 

Ganz anders wird jedoch das Bild, wenn dem uegativen Reiz posi¬ 
tive entgegentreten, sei es vor oder wahrend des Schlafes. Es kann 
sich z. B. im Schlafe Fieber einstellen, es kann durch reichliches Essen 
oder Krankheit die Tatigkeit des Darmes und der Verdauungsdrusen 
stark in Anspruch genommen werden, ein Lungenkatarrh nfitigt zu 
htufigem Hasten, unbequemes Liegen erzeugt irgendwo einen Schmers 
oder beengt die Atmung, zu starke oder feblende Bedeckung erzeugt 
Temperaturempfindungen, kurz es treten irgendwelcbe supprimare Reize 
auf, die so einer Erregung ffihren. Der Schlafende braucht dabei nicht 

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sofort aufzuwacheu, er wird aber unruhig, wirft sich bin and ber, gibt 
unartiknlierte Laute von sich oder spricht unzusamraenhftngend und ist 
nan darch Reize von erheblich geringerer Intensitftt za erwecken. 

Die Brregung der supprimftren Punktion teilt sich den hOheren 
Funktionen mit, d. h. es treten reflektoriscli psychische Akte hOherer 
Ordnung auf. Der supprimftren Brregung k&nnen sich prim&re Blemente 
und Vorstellungen assoziieren, es kommt zum Trftumen. 

Dieser Entstehungsmodus der Trftume entspricht v5llig dem der 
katatonischen Psychosen, bei denen die Krankheitsursache den suppri- 
mftren Reiz ausubt. 

Trftume kOnnen aber auch den bysterischen Zustftnden entsprechend 
durch Vorstellungen hervorgerufeu werden, doch muss diese Genese 
sich auf hysterische oder doch stark hypernoische Konstitutionen be- 
schrftnken. 

Gelegentlich traumt wohl jeder Mensch. Sicher jedoch trftumen 
kleine Kinder, Hyponoiker, Schwachsinnige viel seltener als Brwachsene, 
als Hypernoische, als die sogenannten NervOsen. Und nicht nur, dass 
bei den Konstitutionen, in denen P. uberwiegt, uberhaupt seltener 
Trftume auftreteh, auch die Form der Trftume ist bei beiden Gruppen 
von Konstitutionen sebr verschieden. Die Trftume der Hypernoiker sind 
reicbhaltiger, detaillierter, beziehungsreicher als die der Hyponoiker. 

Wir haben gesehen, dass die Brregung der sekundftren Funktiou 
viel langsamer abklingt, als die der tieferen Stufen. Dadurch erklftrt 
sich die Tatsache, dass Hypernoiker schwerer einscblafen und schwerer 
tief schlafen. Der Herabsetzung der psycbiscben Bnergie wirkeu die 
stftndig aus der sekundftren Funktion zustromenden Reize entgegen, sie 
erhalten die Reizschwelle linger auf einer gewissen HOhe. Schon relativ 
kleine Erregungen kdnnen bei diesen Individuen daher den Schlaf v&llig 
verscheuchen und bei hysterischen Krankbeitszustftnden erweisen sich 
selbst grosse Dosen von Schlafmitteln als unwirksam. 

Aus der hysterischen Konstitution wird durcb die den Schlaf be- 
dingende Hemmung eine relativ-hysterische, d. h. solche Individuen 
denken auch im Schlaf noch relativ viel, jedenfalls viel mehr als der 
Normale und mehr als der Intensitat von P. ini Schlafe normalerweise 
entspricht. 

Die Hemmung verftndert die Konstitution, indem sie stftrker ver- 
mindernd auf S wirkt als auf P. Aber wenn das Uebergewicht von S gross 
genug ist, wird es sich wfthrend des Hemmungszustandes in gewissem 
Grade erhalten. Dem entspricht, dass es Defektzustilnde bei Hysteri¬ 
schen gibt, die sehr lange hysterische Zuge neben typisch katatonischen 
Erregungen zeigen. 


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Aufsatze 2 nr energetischen Psychologic. 


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Wir kOnnen die Tribune ebenso wie die anderen psychischen Reak- 
tionen ibrer Entstebung nach in katatonische and hysterische einteilen. 

Wean es aber auch psychogene Tr&ume gibt, ist doch der Bewusst- 
seinszustand stets ein Hemmangszustand und der Traom daher stets 
eine relativ-liysteriscbe Reaktion. Tr&ume sind stets Defektreaktionen. 

Diese Tatsache ist noch nicht genugend hervorgehoben worden und 
so warden die Tr&ume immer wieder mit den Geisteskrankheiten ver- 
glichen, ohne dass der Vergleicb, wie es notwendig ist, auf die Defekt- 
psychosen beschr&nkt wurde. Ffilschlicher Weise glaubte man gerade 
die hysterischen D&mmerzust&nde und die bypnotischen Erscbeinungen 
den Tr&umen ah die Seite stellen zu mfissen, w&hrend diese im Gogen- 
teil Erregungszust&nde und keine Defektzust&nde sind. 

Die Tr&ume beweisen also scbon durch die Tatsache ihres Vor- 
kommens w&hrend eines Hemmungszustandes der psychischen Kraft, 
dass es Defektreaktionen in unserem Sinne gibt. Sie bieten uns die 
MOglichkeit an einem reichhaltigen und jedem zur Verffigung stehenden 
Material zu untersuchen, in welcher Weise das psychische Gescheben 
durch die Hemmung beeinflusst wird oder umgekehrt, wie Reize wirken, 
die ein gehemmtes Kraftzentrum treffen. Ferner werden wir auf Grand 
nnserer Theorie manche den Traum betreffende Frage ki&ren und manche 
unrichtige Anschauung widerlegen kOnnen. 

Die Ansichten fiber die verschiedenen Probleme des Tr&umens gehen 
sehr auseinander, ohne dass die eine besser als die audere begrfindet 
wire. So wird behauptet, dass es keinen traumlosen Schlaf gebe, son- 
dern der Traum nur h&ufig vergessen werde. Hier kOnnen wir uns 
durehaus auf die Seite derer stellen, die den traumlosen Schlaf ffir 
naturlich halten. Ausschlaggebend ist offenbar der Grad der Hemmung 
and die Konstitution. Je erheblicbcr die Hemmung ist und je mehr P 
in der Konstitution fiberwiegt, desto weniger wird im gewGhnlichen Sinne 
getr&nmt. Die byponoischen Konstitutionen schlafen schneller ein und 
schlafen tiefer als die bypernoischen. Daher der feste Schlaf der 
Jugend und der kGrperlich Arbeitenden im Vergleich zu den Aelteren 
and geistig Angestrengten. Hier kann es leichter zu Reflexbewegungen 
kommen, zum aus dem Schlafe Reden oder zu Lust und Unlust, die 
sich im Mieneaspiel kundgibt, ohne dass Vorstellungen vorhanden bzw. 
erinnerungsf&big sind. Die Mdglichkeit, sich des Traumes zu erinnern, 
mass ebenfalls von dem Grad der Hemmung abh&ngig sein, insofern 
die prim&ren Akte and Vorstellungen von zu geringer Intensit&t nicht 
reproduziert werden kOnnen. 

Es muss also alle Ueberg&nge geben voro traumlosen Schlaf .zum 
deutlichen Traam. Bei einer Hemmung, die nicht zam vOIligen Ein- 


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schlafen genugt, tr&umen wir am lebhaftesten. Man denke nur an die 
Zust&nde von ErschOpfung, in denen man sich mit Muhe wach erh&lt, 
sich zur Aufmerksamkeit auf ein Gespr&cb, einen Vortrag usw. zw ingen 
will. Dabei kommt es nicbt selten vor, dass pldtzlich der Kopf vom- 
fiber sinkt, man fahrt auf und bemerkt, dass man schon eine Zeitlang 
getr&umt bat. Auch die Hallnzinationen, die von Wanderern in der 
Wuste und Teilnehmern von Nordpolexpeditionen benchtet werden, ge- 
hSren bierher. 

Zn falscben Yorstellungen moss es fuhren, wenn man wie H. Ellis 
eine besondere Traumwelt annimmt, oder wie Freud das Traumbewusst- 
sein gewissermassen personifiziert. Wir museen vielmebr davon aus- 
gehen, dass die Eiemente des Traumes dieselben sind, wie die des 
Wachens, wenn wir nicht auf ein Yerst&ndnis des Tr&umens verzichten 
wollen. 1st aber, wie wir annehmen, der Defekt, also die geringe In- 
tensit&t der im Schlafe produzierbaren psycbiscben Energie, die Drsache 
der Eigenart der Tr&ume, so mussen wir in den der Selbstbeobachtung 
zug&nglicben eigenen Tr&umen und in den Schilderungen der anderen 
diese Schwicbe der psycbischen Energie feststellen und weitgehende 
Aehnlichkeit zwischen Tr&umen und anderen Defekterregungen linden 
k&nnen. Eine objektive Feststellung der psycbischen Energie ist bier nocb 
weniger als sonst mdglich. Wir sind daber auf Ueberlegungen angewiesen. 

Fur uusere Annahme spricbt zun&chst, dass jeder prira&re Reiz von 
gewisser St&rke den Schiaf unmbglicb macht oder aufhebt. Wenn er 
also durch die Tr&ume, wie es docb der Fall ist, sehr oft nicht gestbrt 
wird, so muss das besondere Grunde baben. Jedenfalls geht dem Ein- 
schlafen gewdbnlich ein Stadium der Berubigung vorauf, die Erregung 
des Wachens klingt ab, die Glieder Ibsen sicb. Der geistig Arbeitende 
muss seine Gedanken gleicbgultigen Dingen zuwenden, der kOrperlicb 
Angestrengte die erregte Herzt&tigkeit und die Atmung zur Rube kommen 
lassen. Die sekund&re wie die supprim&re Funktion darf sich also in 
keiner erheblichen Erregung mehr befinden, wenn es zum Schlafen 
kommen soil. Dementsprechend darf aucb die prim&re Funktion nicht 
erregt sein. Schmerz, Angst, Triebe jeder Art (motorische oder sexuelle 
Unrube) bindern das Einschlafen. 

Das Eintreten eines D&mmerzustandes kann dadurch bervorgerufen 
werden, dass ubergrosse Erschbpfung die psychische Kraft trotzdem weit 
genug herabsetzt und nun lebbaft getr&umt wird. Sehen wir aber von diesen 
nicht gewbhnlichen Zust&nden ab, so ist im Allgemeinen erst mit Eintreten 
des Schlafes die Mdglichkeit zum Tr&umen gegeben. Dass wir am leb- 
baftesten bei Beginn und gegen Ende des Schlafes tr&umen, ist vielfacb 
festgestellt und stimmt jedenfalls zu unserer Anschauung. 


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Aufsatze zor energetisohen Psychologic. 87 

Der Grad der Erregong oder besser Hemmang, in welcbem sich 
die supprim&re Funktion w&hrend des normalen Schlafes befindet, ent- 
zieht sich der Selbstbeobachtung vSllig. Nur in manchen F&lletr be- 
merken wir beim Erwachen Herzklopfen, Schwitzen, Schraerzen, sexuelle 
Erregung. Wir haben dann meist iebhaft getrSumt, baben uns ini 
Traume ge&ngstigt, erschreckt, anfgeregt, wollten etwas ausfubren z. 6. 
jemanden einbolen nod konnten doch die- Fusse nicht erheben, soliten 
im Examen eine Frage beantworten, machten uns irgendwie lacherlich. 

Alle diese Affekte kOnnen sebr Iebhaft empfunden werden, die pri- 
m&re Qualitit des Geffibls kann also im Traum stark erregt erscheinen 
and sich sogar durch die Erregung der supprim&ren Funktion, die wir 
nocb beim Erwachen spuren, als tats&chlich erregt dokumentieren. 

Man nimmt gewbhnlich an, dass die kOrperlichen Erscheinungen als 
Folge dieser Affekte aufzufassen sind. Dies kann der Fall sein, dann 
w&rde es sich um einen psychogenen Traum handeln. Das h&ufigere 
aber ist unseres Eracbtens, dass der Traum katatoniscb, also aus einer 
supprim&ren Erregung entsteht. Eine kOrperliche StGrung liefert den 
Reis, der sich nun auf die hdheren Funktionen ausbreitet und, wie 
Freud sagen wurde, gedeutet wird, d. h. in unserer Anschauung zu 
reflektoriscben Affekten und Assoziationen uberbaupt ffihrt. Diese so- 
genannten Angsttr&ume sind daher schon nicht als vdllig normal anzu- 
seben. Wenn sie auch nicht selten sind und ohne erhebliche Erkran- 
kung auftreten, so kommen sie doch auf katatonischem Wege aus- 
schliesslich bei StOrangen des Allgemeinbefindens zu Stande. Vor allem 
spielen hier alkoholische Exzesse und Ueberlastung der Verdanungs- 
organe eine Rolle. Beide setzen die psychische Energie starker als ge- 
wOhnlich herab, sie erschweren damit das Erwachen und geben so die 
Mdglichkeit, dass der Schlaf trotz relativ starker Erregung der primfiren 
Funktion z. B. des FOhlens (es kann auch eine Empfindung oder ein 
Streben sein) andauert. Es ergibt sich hier, dass bei stftrkerer Hem¬ 
mang lebhafteres TrSumen mflglicb ist als bei gewdhnlichem Schlaf. 
Das ist nicht paradox, da Hemmang und Erregung verschiedene Ursachen 
haben, die gleichzeitig auf das Kraftzentrum wirken. Eine gewisse 
Schlaftiefe ist f&r jeden Traum Vorbedingung. 

Das Wichtige ist dabei, dass die prim&re Erregung nur relativ 
stark ist. Sie erecheint dem Trftumenden zwar Iebhaft, damit ist noch 
nicht bewiesen, dass sie es ist. Der Tr&umende gleicht in gewisser 
Beziebung dem Kinde, das um seine zerbrochene Puppe weint. Nur 
empfindet das Kind den Schmerz so stark, wie es zu empfinden f&hig 
ist, es tranert mit der ganzen „Kraft seiner Seele u . Der Tr&umende 
aber ist im Wachen nocb viel st&rkerer Empfindungen f&hig, er trauert 


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nur mit halber Kraft. Wall rend des Scblafes aber feblt ibm jeder 
Massstab, es fehlt die Begrfindung und die Kritik. Hemmungslos kann 
sich die Affekterregung ausbrciten, verst&rken, die supprim&re Funktion 
erregen, sie kann sich aber nicbt in hfihere psychische Akte transfor- 
mieren. Mitunter tritt nur eine einzige Vorstellung hinzu, die den 
Tr&umenden im Augenblick ausreichend fur die Begrundung des Affekts 
erscheint, die er aber beim Erwachen sofort als sinnlos erkennt. Oefter 
ist auch keine klare Vorstellung mit der prira&ren Erregung verbunden 
oder wird beim Erwachen nicht mehr erinnert. Dies zeigt, dass die 
Erregung von der supprim&ren Stufe ausgeht und die Vorstellungen bei 
diesen Angsttr&umen nur eine untergeordnete Rolle spielen. 

Diese Erkl&rung wird durch eine weitere Ueberlegung noch wahr- 
scheinlicher gemacht. Es ist eine haufige Beobachtung, die wohl jeder 
aus eigener Erfahrung mit Beispielen belegen kann und fCLr die auch 
H. Ellis eine Reibe von Fallen beibringt, dass n&ralich der Affekt aus- 
bleibt, trotzdem wir im Traum die ungeheuerlichsten Dinge erleben, ja 
sogar ausffihren. Situationen, deren Gefahren uns zwar klar werden, 
erzeugen keine Angst, Verwunduogen keinen Schmerz und auch Stre- 
bungen, die wir erwarten, bleiben aus. Man nimmt diese M&ngel nicht 
selten im Schlafe mit Verwnnderung wahr. Derartige Tr&ume treten 
besouders bei hypernoischen Konstitutionen auf, sie sind die normals 
Art ihrer Tr&ume. Hierbei ist trotz der Hemmung noch ein Ueberwiegen 
der sekund&ren Funktion fiber die prim are vorhanden, die Konstitution 
ist vorfibergehend relativ hysterisch geworden. Sobald die Hemmung 
starker ist und nun von der supprim&ren Stufe ausgehende Erregungen 
auftreten, die nicht wie sonst in Vorstellungen transformiert werden 
kfinnen, erscheint die Erregung der prim&ren Qualit&t ungewfihnlich 
stark. Der Mechanismus ist fihnlich wie der bei Auslfisung des Kuie- 
sehnenreflexes bei darauf gerichteter und abgelenkter Aufmerksamkeit. 
Auch hier verteilt sich die Erregung im ersten Falle, im zweiten da- 
gegen kommt sie ganz der supprim&ren Funktion zu gute. 

Dazu kommt noch, dass wir nicht feststellen kfinnen, wie lange die 
Erregung der prim&ren Qualit&t, haupts&chlich also die Angst im Traume 
besteht, bevor sie zum Erwachen ffihrt. Es fehlt uns im Traum das 
Zeitmass und, wie bekannt, tr&umt man manchmal in wenigen Minuten 
mehr als sonst in Stunden. Das Geffihl, sehr lange Schmerz oder Angst 
ausgestanden zu haben, seiner Bewegungen nicht Herr gewesen zu sein, 
kann daher sehr wohl auf T&uschung beruhen. Auch im Wachen wer¬ 
den ja die Minuten, die man in unangenehmen Situationen verbringeu 
muss, zur Ewigkeit. 


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Wir kommen also zu dem Schluss, dass die prim Are Erregung in 
Wirklichkeit nicbt so stark ist, wie sie dem TrAumendeu erscheint und 
nicht so lange dauert wie er glaubt. Sie fuhrt vielmehr scbnell sum 
Erwachen and bleibt tatsAchlich hinter den Erregungen im Wacken 
weit znruck. 

Wir nahmen oben an, dass die AngsttrAume und die ihnen ent- 
sprecbenden der anderen prim Aren Qualitaten (man kGnnte sie analog 
Schmerz- and Willenstrftume nennen, w Ahrend Affekt-Empfindungs-Spon- 
taneitAtstrAume nmfassendere und ricbtigere Bezeicbnungen wAren) meist 
katatoniscben, nicht hysterischen Ursprungs seien. Diese Aunabme ist 
nicbt willkurlich, sondern beruht auf der Erkenntnis, dass bei alien 
DefektzustAnden in unserem Sinne die seknndAre Funktion eino im Ver- 
hAltnis zum Wachen nur geringe Rolle spielen kann. Sie wird ja durch 
den negativen Reiz am stArksteu geschAdigt. Nur bei Hypernoikem 
stArkeren Grades und voraufgehenden hysterischen Erregungen, die den 
Schlaf nicbt tief werden lassen, kdnnen einzelne Vorstellungen zu stAr¬ 
keren primAren Erregungen Veranlassung geben. Solche TrAume werden 
dann leicbt die Beziehungen auf das affektbetonte Erlebnis erkennen 
lassen, werden detaillierter und zusammenhAngender sein und dentlicher 
in der Erinnerung baften ais die katatoniscben, bei denen die Veran¬ 
lassung des Affekts mitunter beim Erwachen vergessen oder doch nur 
sehr nnklar zu reproduzieren ist. Auch diese TrAume sind also selten 
uud stellen einen von den gewbhnlicben abweichenden Typus dar. 

Zusammenfassend kdnnen wir sagen: StArkere Erregungen der pri- 
mAren Funktion sowohl katatonischen wie hysterischen Ursprunges treten 
nur in besonderen FAllen auf und gebOren nicht zu der alltAglichen 
Form der TrAume. Im Ailgemeinen aber ist die IntensitAt primArer 
Akte im Traum sebr geriiig, wie es der Hemmung der psychischen 
Encrgie entspricht. 

Daher geben so viele TrAume spurlos an uns voruber, wirken nicbt 
als erlebt, sind in der Tat dem Schaum vergleichbar, der nur die Ober- 
fliehe, nicht die tieferen Schichten krAuselt. WAre es anders, so wAren 
wir aucb gar nicht im Stande, unsere wirklichen Erlebnisse von unseren 
TrAumen zu untereebeiden, wAhrend dies gewdhnlicb mit absoluter 
Sicherbeit gesebieht. Die seltenen Ausnahmen, in denen das nicbt der 
Fall ist, sind stets darauf zuruckzufubren, dass entweder der Schlaf 
oder der Bewusstseinszustand des Wachens nicht normal ist. Mit Recbt 
sagt Jodi: n Der Traum ist ein schlafendes Hallnzinieren u , worait der 
sekundAren Funktion die wesentliche Rolle im Tranmbewusstsein zuge- 
wieeen wird. 


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Id Uebereinstimmung damit sehen wir viel Ofter gesonde Menacheo, 
Hypemoiker naturlich, vom Trfiumen beeinflusst, als Geisteskranke, aus- 
genommen die hysterischen. Bei Schwachsinnigen bOheren Grades and 
alien st&rkeren Verblddnngszust&nden sind Tr&ume nicht mehr festxu- 
stellen. Die Behauptung von Ellis (W. d. Tr. p. 259), dass Geistes- 
krankbeit durcb einen Traum hervorgerufen werden kann, entbebrt jeder 
Begrfindung. Hdchstens kOnnten relative Hypernoiker (also Schwack- 
sinnige, bei denen P < S ist) gelegentlich st&rkerer Beeinflnssang darcb 
Traume anterliegen. 

Man bat behauptet, dass kein Reiz das Traumbewusstsein erreichen 
kann, ohne erst eine Dmformung durchzumachen. Ellis drfickt das 
folgendermasseD ans: „Sie (die Reise) mussen erst das Gepr&ge voa 
Erscbeinungen der fiusseren Welt, das sie tragen, abstreifen. Sie mussen 
das Gepr&ge einer anderen Welt, das der Traumwelt annebmen u . Sehr 
poetisch, aber falsch! 

In der Annabme einer besonderen Traumwelt scbeint der Glaabe 
an ein Doppelleben der Seele nocb fortzuwirken. Wenn die Traumwelt, 
wie Ellis meint, wirklicb eine Welt fur sicb wire, „ein dimmeriges 
Scbattenbaus, in das kein Strabl aus der iusseren Welt des wachen 
Lebens fillt u , dann muss ten wir wohl auf ein Verstindnis dieser psychi- 
schen Akte verzichten. Auch das Aufzeicbnen des Traumes, direkt nach 
dem Erwachen, auf das Ellis mit Recbt Wert legt, kfinnte uns nicht 
viel helfen. 

Das Interesse, das den Triumen zu alien Zeiten entgegengebracht 
worden ist, hat dazu geffihrt, sie mit einem Nebel mystiscber Vor- 
stellungen zu umgeben, die naturlich den jeweils berrschenden Welt- 
anschanungen entsprachen. Erst sandten die Gutter den Traum, um die 
Zukunft zu verkunden, spiter der Teufel, um die Frommen zu ver- 
suchen, jetzt verkiindet Freud, der Traum diene zur Erhaltung des 
Scblafes. 

Die mit diesen Ansicbten verbundenen Fragen werden sich durcb 
die Analyse des Traumes ohne weiteres beantworten iassen. Vor allem 
mussen wir ohne Voreingenommenheit irgend welcher Art an die Tat- 
sachen herangehen, die jedem bekannt sind. 

In Wirklichkeit sind die Schwierigkeiten der Traumanalyse nicht 
wesentlich grosser als die, welche der Analyse des subjektiven Erlebens 
fiberhaupt entgegenstehen und sie sind keineswegs prinzipieller Natur. 
Dnsicberheit der Auffassung, der Erinnerung, des Urteils fiber bestimmte 
Vorg&nge sind auch im Wachen vorhanden. Auch auf der Vergangen- 
heit ruhen Scbatten, die sich mit wachsender Entfernung verdichten und 
die Rekonstruktion erschweren. 


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Zweifelloa erschweren besonders die Ungenaaigkeit und Unvoll- 
stfindigkeit, die die Erinnerung des Traumes auszeichnen, seine Analyse 
nicht unwesentlich. Man hat daher versucbt, den Traum mOglicbst xu 
▼ervollst&ndigen. Ellis u. a. empfehlen zu dem Zweck, ihn sofort nach 
dem Erwachen aufzuschreiben. Es ist jedoeh klar, dass auch bierbei 
eine Menge nachtr&glicher Zus&tze, Ver&nderungen, Auslegungen unter- 
lanfen kftnnen, die sicb der Feststellung und Prafung vOllig entzieben. 
Auch die Freud’sche Methode erscheint uns nicht geeignet, einen 
Traum vollstindig und genau zur Reproduktion zu bringen. 

Wir sind vielmehr uberzeugt, dass immer nur Brucbstucke dessen, 
was getrftumt wird, in der Erinnerung haften, und zwar hangt die Er- 
ionerangsf&higkeit von verschiedenen Umst&nden ab. Sie ist zunichst 
geringer bei tiefem, grosser bei weniger tiefem Scblaf, also der Hem- 
mung umgekehrt proportional. Sie ist aber bei gleicber Hemmung dem 
Grade der Defekterregung direkt proportional. Hysterische Tr&ume baften 
genauer in der Erinnerung als katatonische, entsprechend erinnern sicb 
Byperoniker bcsser ihrer Traume als Byponoiker. Neben den zahlreichen 
Beziehungen, die durcb die Vorstellungen gegeben sind, kommt dazu, 
dass sie sicb besser erz&hlen lassen, da sie verst&ndlicher, motivierter 
sind, als die unklaren katatonen Erregungen. 

Der Grad der Erinnerangsf&higkeit oder -unf&liigkeit ist also fur 
die Diagnose, am welche Art von Traum es sich handelt, in gewissem 
Grade zu verwerten und wir baben keinen Grand, uns diesen Anbalts- 
punkt methodiscb zu verkummern. 

Fur die Tiefe des Scblafes besteht zweifellos ein ziemlich richtiges 
Gefuhl. Diese hingt mit der Erfrischung zusammen, die wir nacb tiefem 
Scblaf empfinden und auch mit der Erinnerung an eine kurzere oder 
llngere Zeit vOlliger Bewusstlosigkeit. Beides tritt Jbesonders nach traum- 
losem Schlaf ein. Bei lebbaften Triumen wird manchmal die LJnmOg- 
lichkeit des Erwachens gespurt, manchmal dagegen tritt die Vorstellung, 
dass ailes nur ein Trabm ist, mildernd und den Schlaf verl&ngernd auf. 
Im letzten Falle ist die Remmung weniger intensiv, die hysterische Er- 
regong starker, im ersten Falle ist die Remmung stark und gleicbzeitig 
eine erhebliche Erregung vorhanden. 

Stets erschwert aber die Hemmung bzw. der Defekt die Erinnerung 
des Traumes. Ein Zweites kommt hinzu, das sich aber sp&ter als Folge 
des Defektes erweisen wird. 

Die moisten Trftume haben wenig Zusammenhang und ebenso wie 
man eine Anzahl sinnlos aneiuandergereihter Silben schwerer bebA.lt 
alt zusammenh&ngende Worte, ebenso muss der Mangel an logischem 
Gescheben nnd Denken, der den Traumgebilden eigentumlich ist, ibr 


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Erinnern erscbweren. Ein zu logischer Traum wird sogar berechtigte 
Zweifel an der Wahrheitsliebe oder Kritik der ibn benchtenden Person 
bervorrufen, auch wenn er sofort nacb dem Erwachen aafgescbrieben 
wurde. Immerhin kann man, am gleichartiges Material zu haben, solche 
Aufzeicbnangen mit der nOtigen Vorsicbt benatzen. 

Wir glauben, darauf verzicbten zu kdnnen, neucs kasuistisches 
Material beizubringeu, wollen vielmebr gegebenen Palls auf Ellis „Welt 
der Tr&ume u Bezug nehmen. Da namlich dem Traum der Znsammen- 
hang fehlt, so stellt eigentlicb jede Traumerz&blung, wie sie gewOhnlich 
erinnert wird, eine Summe von Einzeltrauinen dar. Pur eine allgemeine 
Besprechung der Starke uud Form der psycbischen Reaktioo, die uns 
auch bier wieder vor dem Inbalt interessieren, ist cs aber gleichgultig, 
ob sie wahrend desselben oder wahrend verschiedener Scblafzust&ude 
vorgekommen sind. Anstatt uus also auf Einzelfalle zu beschrankeu, 
wollen wir versucben, das den normalen Tr&umen Gemeinsame, fur sie 
cbarakteristiscbe, namlich die geringe Intensitat der psycbischen Energie 
nachzuweiseu, indem wir voraussetzen, dass jedem Reaktionen in ge- 
ougender Zahl erinnerlicb sind, urn unsero Angabcn nacbprufen zu 
kdnnen. 

Eine Betrachtung der einzelnen Qualit&ten der primaren Punktion 
soli zunachst erweisen, dass die primare Energie im Traum herabge- 
setzt ist. 

Die hkufigsten Empfindungen im Traum sind wohl die des Gebdrs. 
in zweiter Linie erst stehen die Gesichtsempfindungen. Geruchs- nnd 
Geschmacksempfindungen sind selten, ebenso die eigentlicben Tastemp- 
findungen. Eine Souderstellung nehmen die sexuellen Empfindungen ein. 

Das Verhaltnis ist hier offenbar dasselbe wie bei den Halluzina- 
tionen. Deutlicbe Tastempfindungen sind aucb hier selten, wie in der 
Th. d. Ps. gezeigt wurde. 

Die Rollen sind also ebenso wie im Wachen verteilt. Es gibt an- 
scbeinend mebr Menschen vom Typus der „Tontie|jp t ‘ als von dem der 
„Sehtiere u . Bei diesen mussten naturlich die Gesichtsempfindungen 
aucb im Traume hSufiger sein. 

Die geringe Intensitat der primaren Energie failt uns wahrend des 
Traumens nur selten auf. Es kommt allerdings vor, dass wir einen 
heftigen Schmerz, einen Enall oder Scbrei erwarten und uns uber sein 
Ausbleiben wundern. Im allgemeinen aber empfinden wir die Siunes- 
eiodrucke als den Umstanden entsprecbend. 

DieGebOrsempfindungen sind oftdeutlich. Melodien, Orchestermusik 
u. a. wird genau unterschieden und erkannt, die Stimme Verstorbener 
hat den aus dem Leben bekannten Rlang, wir hOren es regnen oder 


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Aufs&tze zur energetisohen Psychologic. 


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donnern, horen die Ger&usche, die uns im t&glichen Leben gewohut 
sind. Die geringe Intensity der prim&ren Empfindung zeigt sicb bier 
darin, dass eine Explosion z. B. ohne Knall verl&uft, dass Larmen oder 
Schreien zwar vorgestellt, abcr nicbt empfunden wird, ohne sofort sum 
Erwachen zu fubren. Auch dann hCren wir kein iautes GerSusch, er- 
wacheu vielmehr durcb die Erwartung desselben. Nur wenn ein ausserer 
Reiz, also ein reales Ger&usch zum Erwacben fuhrt, bOren wir wirklich 
etwas. (UeberIautes Empfinden realer Reize.). Charakteristisch scheint 
mir noch, dass wir eine Melodie gcrade dann nicbt hehaltcn, wenn wir 
sie besonders schOn findeu. Sie kommt uns fremdartig vor, klingt wuu- 
derbar, so schou, wie wir es uns immer „ertraumt“ batten und beim 
Erwachen ist es unmdglich, sicb ihrer zu erinnern. In diesen Trauraeu 
betrifft die Erregung offenbar mebr das prim tire Fuhlen. Der Lustaffekt 
schafft die Musik, indeni die Erregung auf das Empfinden ubergreift. 
Die Worte, die wir im Traume gehort baben, oder die von fruher be- 
kannten Melodieu kdnnen wir dagegen oft naebber genau angeben. 

Aucb den Gesichtsempfindungen fehlt die lutensitat. Das Licbt der 
Sonne blendet nicht, andererseits sebeiut vOllige Dunkelheit im Traum 
nicht vorzukommen. Bekanntlich trilumen auch Erblindete, dass sie 
wie fruher sehen. Ueber die Traume Blindgeborener liegt uns kein 
Material vor, es ist aber nicbt anzunehmen, dass sie im Traum Licbt- 
empfindungen baben. Denn nur was bereits erlebt oder vorgestellt 
worden ist, kann Inbalt des Tr&umens sein. Nie erfahren wir vorher 
vfillig Fremdes im Traume, der nur neue Kombinationen der friiberen 
psycbischen Akte schaffen, nicht aber neue primiiro Akte hervorbringen 
kann. Was sonst nur vorgestellt war, kann als primer, als erlebt er- 
sebeinou, z. B. glauben wir zu fliogen oder tr&umen uns als Meister 
irgend einer Kunst, die wir nie geiibt baben. So wenig uns aber dies 
getraumte Kdnneu fur das Leben nutzt, so wenig kaun uus der Traum 
die einfachste Empfindung lebren, die wir nie gehabt baben. 

Ellis behauptet, dass die Farbe bei den meisten Menscben im 
Traum selten vorkommt, die Visionen meist grau ersebeinen. Das wurde 
unsere Ansicht von der Schw&che der Lichtempfindungen best&tigen, da 
bei geringer lntensitat des Lichtes die Farben verschwinden. Wir glauben 
aber. dass E. bier zu weit geht. .Selten sind nur die greilen Farben, 
die eben starke Lichtempfindungen darstellen. 

Die Gesichtsempfindungen dos Traumes sind im aligeineinen un- 
sebarf und ver&ndern sicb bei darauf geriebteter Aufmerksamkeit. „Die 
Traumvisionen ziehen kaleidoskopisch voruber 1 * (Ellis). 

Geruchs- und Geschmackstrtlume, die auch nach Ellis selten auf- 
treten, zeigen nie eine grosse lntensitat, ohne zu sofortigem Erwachen zu 


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Dr. Harry Marcuse, 


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fuhren. Aucb hier darf man nicbt die Affekterregungen mit den Sinnes- 
empfindnngen verwechseln. Wie Gehdrsempfindungen, so treten im Traam 
manchmal wunderbare Geruchs- oder Geschmacksempfindungen anf, die 
wir nachber zuruckzurufen uns vergeblich berauhen. Der Ton liegt 
auch bier auf dem Affekt, nicbt auf der Gmpfindnng. Die Unlustemp- 
findnngen, die durcb Geruchs- oder Geschmacksempfindungen entstehen, 
sind noch softener und dann gewohnlicii durch aussere, reale Reize her- 
vorgerufen. Sie fuhren meist zum Erwachen, was einen reflektorischen 
Schutz des Individuums bedeutet. 

Zur Erhaltung des Individuums notwendig, also al6 Schutzreflex 
aufznfassen, scheint die Tatsache, dass st&rkere Unlust, welcher Art sie 
auch sei, zum Erwachen fuhrt und daher im Traum nicht erlebt wer- 
den kann. Die Ausnahme, die die Angsttr&ume bilden, wurde oben 
bereits erklftrt. 

In Zusammenhang mit dem Zweck, das schlafende Individuum vor 
Schaden zu bewahren, durfte auch die besondere Wirkung stehen, die 
aussere Reize auf das Tr&umen ausuben. Man kann nSmlich hSufig 
feststellen, dass relativ kleine aussere Reize, sei es, dass sie Empfin- 
dungen des Tastsinnes, des GehSrs, Geruchs oder Gesichts auslosen, im 
Traum ungeheuer stark erscbeinen und schreckhaftes Erwachen herbei- 
fuhren. Hierbei spielt die Konstellation eine wesentliche Rolle, durch 
welche die prim&ren Qualitaten sich mit Vorsteliungen assoziieren kSnnen, 
die affektbetont sind und zu einer Verstarkung der Erregung und damit 
zum Erwacben fuhren. Es ist mitunter nicht mdglich jemanden aufzu- 
wecken, ohne ihn zu erschrecken, da jeder Ieise Reiz in dieseni Sinne 
wirkt. Dies ist der Fall, wenn ein besonderer Grund zur Aufregung 
gegeben ist, wie Krankheit eines Angehdrigen oder, wenn der Schlaf 
nicht erlaubt war, wie bei Personen, die Rrankenwachen ubernommen 
haben, bei Posten, auch bei ubermudeten Kindern in der Schule, bei 
Erwachsenen in VortrSgen oder Konzerten. 

Diese primaren Affekte, die zum Erwachen fuhren, kann man fug- 
lich nicht mehr den Traumen zurechnen. Sie beweisen vielmebr, dass 
die Intensitat auch hier eine gewisse Starke nicht uberschreiten kann, 
sondern gegen das Wacbbewusstsein stark herabgesetzt ist. Auf die 
Verarbeitung der ausseren Reize im Traume wird noch einmal zuruck- 
zukommen sein. 

Fur die Lustaffekte ist im Traum erheblich mehr Platz als im 
Wachen. Sie brauchen nicht als Schutzreflexe zu wirken, man kann 
sich ihnen, ohne durch die Fesseln der Vernunft gebunden zu sein, hin- 
geben, sie sind nicht nur das Zeichen eines guten Gewissens, sondern 
auch des normalen Zustandes der kbrperlichen Funktionen. Daher treten 


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Aufsatze zur energetiscben Psyobologie. 95 

8ie vor allem dann auf, wenn die gr5sste Mudigkeit fiberwnnden ist and 
das Wohlbehagen der wiedergewonnenen Frische sich geltend macht, 
wenn man also eine Stunde linger schlafen kann als gewOholich. Auch 
hier kann scblieeslich die wachsende Lust zum Erwacben fuhren, z. B. 
wenn wir fiber irgend etwas herzlich lachen mfissen oder besonderen 
Stolz, lebhafte Frende empfinden. lin allgemeinen kommt es aber auch 
hier nur zu Stitamungen, zu allgemeinem Wohlgeffihl, zu angenehmen 
Empfindungen, zur Zufriedenbeit mit sich und der Welt. Diesen Tr&umen 
gilt vor allem das Lob der Dicbter und Vfllker. 

Es ist merkwfirdig, dass gerade sie dem Traumpsychologen Ellis 
ganz entgangeu sind. Er widmet zwar den „Gemut$bewegungen der 
trftumenden Seele“ ein besonderes Kapitel, in dem aber von Affekten, 
besonders von Lustaffekten im Traum sehr wenig die Rede ist. Seine 
Beispiele zeigen gerade einen auffallenden Mangel an entsprechenden 
Gefuhlen und er hat offenbar nur Unlustaffekte im Auge, wenn er sagt: 
n Der Schlaf ist deshalb eine so wirksame Yorbedingung fur das Auf- 
treten von Affekten, weil er, wAhrend er der Sinnest&tigkeit eine erheb- 
liche Aktivitit und der Phantasie die allergrfisste Freiheit gew&hrt, zu- 
gleich die motorische Aktivitit in alien Richtungen aufs stirkste hemint“. 
Er ist der Meinung, dass der meist vergebliche Kampf der Bewegungs- 
impulse sich in Handlungen umzusetzen, auf das Seelenorgan derart 
snrfickwirkt, dass in ihm die reflektorischen Wellen zum Affekt werden! 
Dabei kOnnen wobl nur Unlustaffekte zu Stande kommen, die aucb wir 
nicht leugnen, denen wir aber ffir das Traumen selbst keine grosse 
Intensit&t zusprecbeo konnen. Sobald sie starker werden, ffihren sie 
vielmehr zum Erwachen. 

Wie die moisten Autoren erkennt Ellis die durch den Schlaf her- 
vorgerufene Bemmung vor allem fur die Spontaneit&t an. Dabei uber- 
sieht er aber zweierlei. 

Erstens siebt er die „motorische Aktivitfit w als den einzigen Aus- 
druck der Spontaneity an, w&hrend sie ffir uns nur einen Teil derselben 
darstellt. Wir nnterscheiden dio verschiedenen Triebe wie den Wahr- 
nebmungs-, Nab rungs-, Bewegungs-, Nachahmungstrieb, auf denen sich 
die Aufmerk3amkeit, das Interesse aufbaut, und rechnen vor allem den 
sexuellen Trieb bierher, den E. vfillig in dem erotischen Geffihl ver- 
scbwinden l&sst. 

Zweitens aber unterscbeidet er, zum Teil wohl infolge dieses ersten 
Feblers, nicht scharf zwischen Traum und Schlaf. Niemand zweifelt, 
dass die Spontaneit&t im Schlafe stark gehemmt ist. Wir wollen nach- 
weisen, dass dem Traumbewusstsein st&rkere Triebe normaler Weise 
ebenso feblen, wie st&rkere Affekte und Empfindungen. Wir bewegen 


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Dr. Harry Marcuse, 


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uns docb im Traum uubehindert, bandeln so, wie es uns zweckmassig 
erscheint, haben Wunsche und Hoffnungen, Sorgen and Beffirchtungea 
wie im Wachen. Hier sind docb Gberall Spontaneitatskomponenten 
deatlich erkennbar, ebenso wie Rmpfindungen and Affekte. Nur tritt 
es bier bei den Bewegungen eben deutlich zu Tage, dass wir die pri- 
mSren und supprimAren Akte mebr vorstellen aLs wirklich erleben, dass 
wir die Bewegungen halluziuieren ohne sie auszufuhren. Wie aber bei 
alien vorgestellten Rmpfindungen und Affekten stets die primAre Stufe 
mitschwingt, so werden auch die Bewegungsballuzinationen von Bewe- 
gungsimpulsen begleitet. Sie kdnnen sogar zu irgendwelchen Bewe¬ 
gungen fubren, die das getrAumte Ziel naturlicli nicht erreicben. Wir 
trAumen z. B. eine Rede zu halten und geben in Wirklichkeit nur ein- 
zelne unartikulierte Laute von uns. Macht sicb der Widerstand dee 
KOrpers bemerkbar, was nicht die Regel bildet, so steigt die Rrregung 
des Widens und es tritt Rrwachen ein. 

Es kommt uns nicbt darauf an, ob eine Bewegung w&hrend des 
Traumes ausgefflhrt wird — eine solche braucht in gar keinem Zu- 
sammenhang mit dem Traum zu stehen — sondern ob das Streben nach 
Bewegung ais erlebt empfunden wird. Es zeigt sich sofort, dass wir 
uns alle Bewegungen nur summarisch vorstellen, uns ais Schwimmer, 
Reiter, Flieger trAumen ktinnen, obne aber dabei einzelne Bewegungen 
oder gar Bewegungsvorstellungen zu halluzinieren oder zu erleben. Wir 
trAumen, irgend wohin geben zu wollen und sind im nAchsten, Moment 
bereits dort, wir wunschen etwas zu besitzen oder zu erreichen und es 
steht sofort vor unseren Augen, wir sehnen uns nach einem Verstorbenen 
und hbren ibn sofort sprechen. Der Trieb hat in diesen Fallen keinen 
Grund sich zu verstArken, verschwindet vielmehr mit seiner Befrie- 
digung. 

Dieser schnellen Befriedigung alien Strebens steht die ebenso prompt 
eintretende Erfullung aller Befiircbtungen, des Widerstrebens zur Seite, 
Wir versinken, sterbeD, fallen durchs Examen und erleben die unange- 
uehmsten Situationen. In diesen Traumen tritt aber das Widerstreben 
gegen den Unlustaffekt in den Hintergrund. Es ist so innig mit ihm 
verschmolzen, dass es schwierig oder unmOglich ist, im Einzelfall zu 
bestimmen, welcbe Qualitat uberwiegt. Wir entscheideu uns hier leichter 
fur den Affekt, weil er im Wacben fur uns das Wesentliche ist. Er- 
innern wir uns aber, dass im Traum sogar eine Melodie, die uns ent- 
zuckt, Nebensache, das Wohlgefuhl Hauptsache sein kann, wahrend wir 
im Wachen stets die Tonempfindung ais die den Bewusstseinszustand 
cbarakterisierende Qualitat anerkennen werden. Wir erkennen dann 
in der Verschmelzung der primaren Qualitaten zu fast unauflOslicher 


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Einheit die Wirkung der Hemmung. An den geringen Quantittiten der 
peychiscbeu Energie lassen sich die Elemente erlieblich schweror nach- 
wcisen als an den grosseren, besonders also als an den Erregungs- 
xust&ndeu. 

Aoch im Traum zeigt sich ferner, dass die Verknupfung von Yor- 
stellungen und Affekten enger ist als die von Vorstellnngen einerseits, 
Empfindungen and Strebungen andererseits. Es kommt leicbter zn affek- 
tiven Erregungen ala zu solchen der anderen Qualitaten, aber eine ge- 
vrisse Grenze kOnnen auch die Affekte nicht uberschreiten, ohne die 
Hemmung zu uberwinden und den Schlaf zu stOren. Schon aus diesem 
Grande ist ein melancholischer Zustand im Traum unmoglich. 

Es treten also die Affekte des Traumes leicht in den Vordergrund 
und haften besser in der Erinnerung. Dies darf uns aber nicht dazu 
verleiten, die Erregungen des Empfindens und Strebens zu ubersehen, 
die im Verhaltais nicht mehr Einbusse an Intensity erleiden als jene. 
Dies wird aber fur das Streben gewdhnlich angonommeu und beson¬ 
ders verfuhrt dazu seine Identifizierung mit der „motnrischen Aktivitat". 

Weil Erregungszust&nde beweisen, dass das „erotische Gefuhl“ als 
reiner Sexualtrieb vorkommt, wobei das Gefiihl durchans in zweiter 
Linie steht und von den begleitenden Umstinden abhfingig ist, sehen 
wir auch in Hemmungszust&nden wie dem Traum, wenn auch hier die 
Trennung der Komponenten schwieriger ist, das Wesentliche des eroti- 
tischen Gefuhls im sexuellen Trieb. Die Auffassung von Ellis steht 
mit dieser von Schopenhauer, Jodi u. a. begrundeten Anschauung 
in Widerepruch. Fur Ellis scheint das Wollustgefuhl das Wesentliche 
des sexuellen Triebes zu sein. Dies entsteht aber erst bei seiner Be- 
friedigung, ist nicbt in ihm enthalten. Dasselbe zeigen alle anderen 
Triebe z. B. der Nahrungstrieb. Auch bei seiner Befriedigung treten 
Empfindungen und Wohlgefuhl auf. Ebenso wie Hunger und Durst 
im Traum oft durch halluzinierte Genusse beschwichtigt werden, so 
auch der sexuelle Trieb. Dieser spielt im Traum ebenso eine grdssere 
Rolle als Hunger und Durst wie im Wachen, weniger viel leicht weil er 
der stfirkere Trieb ist, als weil seine Befriedigung schwerer ist.’ Hunger 
und Durst, also der Nahrungstrieb, kann sicher ebenso lebhaft werden 
und ihn vflllig verdr&ngen. 

• Die Griinde der Sonderstellung, die der Sexualtrieb unter den Trieben 
einnimmt, sollen hier nicht n&her erOrtert werden. Dass es der Fall 
ist, dafdr spricht schon die Tatsache, dass seine Befriedigung mit dem 
besonderen Begriff der Wollust bezeichnet wird, wihrend fur die Stillung 
von Hunger und Durst so wenig wie fur die Befriectigung des Bewegungs- 
oder Wahrnehmungstriebes besondere Ausdrficke existieren. 

Anktv r. P»yehl«tri«. Bd. SO. Halt 1 . 7 


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Dr. Harry .Marcuse, 


Die sexuelle Erregung l&sst besonders deutlich die beiden MOglicb- 
keiten der supprimftren and sekund&ren Entstebung erkennen, die wir 
ffir alle primfiren Qualit&ten aunehraen. Beide Entstehungsarten kommeo 
aach im Traume vor. Gewdlinlich hebt eine stark ere sexuelle Erregung 
wie jede andere den Scblaf auf. Dies gescbiebt nicht, wenn die Hem* 
mung sebr stark ist, so dass st&rkere Defekterregungen mdglich werden. 
Besonders kOnnen Stoffwechselvorg&nge pbysiologischer Art erregend 
wirken, wenn der Scblaf infolge abnormer Hemmung z. B. darch Alko- 
holgenuss besonders tief ist. Hier kann es zu supprim&ren Reaktionen 
(Pollutionen) kommen, die den Scblaf nicbt unterbrechen, aber auch den 
Traum nicht beeinflussen, vielmehr unterbewusst bleiben oder nur von 
wenigen und undeutlichen Assoziationen begleitet sind. Es sind Defekt- 
reaktionen einer zeitig byponoischen Konstitution, die zwar einen gewissen 
Grad der Erregung beweisen, aber den unwillkfirlichen Bewegungen 
oder Spracbversuchen des Tr&umers analog sind. 

Im Gegensatz zu diesen katatonen Traumreaktionen stehen die byste- 
rischen. Bei ibnen komrnt es trotz lebbafter sexueller Phantasien viel 
seltener zur supprim&ren Reaktion. Auch die sexuellen Akte werden nur 
vorgestellt ebenso wie die motorischen oder das Essen und Trinken. Das 
Auftreten zablreicber Vorstellungen kann auch bei katatonischen Tr&umen 
der Hypernoiker die Erregung transformieren und die Steigerung der- 
selben bis zum Erwachen vermeiden. So sind l&ugere Tr&urae erotischen 
Cbarakters mdglich, obne dass die prira&ren Qualit&ten st&rker erregt sind. 

In diesen Mechanismus greifen aber individuell erworbene Reflexe 
nicbt selten stfirend ein, die viel beacbtet werden und die Ansichten 
fiber die Sexualit&t im Traume beeinflussen. 

Wir mfissen uns vergegenw&rtigen, dass die sexuelle Erregung die 
Sinne, das Ffihlen und das Streben in sicb vereinigend normalerweise 
die prim&re psychische Kraft auf das Aeusserste in Auspruch nimmt und 
das Denken vollig ausscbaltet. Diese Kraft fehlt der sexuellen Erregung 
im Traume stets, ebenso wie der Schmerz oder der Gescbmack bei ent- 
sprechenden Vorstellungen ausbleibt, ffibren die erotischen Vorstellungen 
nur zu einem Lustgeffihi, das die Fortsetzung des Tr&umens begunstigt, 
nicht zu sexueller Erregung. 

Anders ist es aber, wenn eine Uebererregbarkeit des sexuellen Triebes 
bestebt, wie es bei den sogenannten Neurasthenikern nicht selten der 
Fall ist. Hier kann es ohne erhebliche Lustempfindung auf dem Wege 
der reflektorischen Verknfipfuug zu Pollutionen kommen, die Defekt- 
reaktionen darstellen. 

Das Auftreten solcher reflektorischen sexuellen Erregung beansprucht 
aber wie alle Reflexe keine erhebliche psychische Energie. Es ist ja 


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Aufsatze zor energetisohen Psychologic. 


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gerade der Zweck oder jedenfalls das Resultat ailer reflektoriscben 
Assoxiation, dass Rnergie gespart wird. Die supprim&re Reaktion kommt 
infolge der Erregung, in der sich die supprimare Funktion daaernd be- 
findet and die sich aach in dem unruhigen, nicht tiefen Schlaf der 
Kranken ausdruckt, leichter zu Stande und kann daber auch mit ent- 
sprechenden Vorstellungen einhergehcn oder durch diese hervorgerufen 
werden. Sie kann also auch im Traum wahrgenommen, erlebt werden. 
Trotzdem ist sie aber kein Beweis fiir eino Starke Intensitat des sexuellen 
Triebes im Traam, sondern vielmehr fur die enge reflektorische Ver- 
bindung der sekandaren und supprimaren Funktion, die hier auf krank- 
h after Basis beruht. 

Wir kommen also zu dem Schluss, dass aach die sexuelle Energie, 
der Sexual trieb wie alle anderen Qualitaten der Spontaneitat im Traum 
herabgesetzt, wie alle primaren Erregungen uberhaupt auf ein geringes 
Mass bescbrankt ist. 

Mit diesem Nachweis kOnnten wir uns eigentlich begnugen, da 
nnserer Anschauung nach die sekundare Funktion von der primaren 
abhangig ist und daber bei Hemmung derselben selbst hdchstens relativ, 
nicht aber absolut erregt sein kann. Wir mussen also folgern, dass auch 
die Intensitat der Vorstellungen schwacher als im Wachen ist. Es ban- 
delt sicb aber fur uns darum, die Anwendbarkeit des Energiebcgriffs 
zu xeigen und damit den Begriflf „ Intensitat der Vorstellungen 1 * zu be- 
grunden, der ohne ihn inhaltslos ist. Ausserdem haben wir selbst zu- 
gegeben, dass die Vorstellungen im Traume eine grOssere Rolle spielen 
als die primaren Qualitaten und es kdnnte daber scbeinen, als ob wir 
der gewohnlicheu Anschauung gar nicht so fern standen, die immer 
wieder die gesteigerte Phautasie des Traumes als charakteristisch be- 
tont. Indem wir ferner die „Gedankenwelt der Traume u naher unter- 
suchen, werden wir gleichzeitig feststellen, ob die starke Hemmung, wie 
sie der Schlaf darstellt, als ausreichend fQr die Eigentumlicbkeiten des 
Traumbewusstseins zu erachten ist, oder ob noch andere Momente dafur 
herangezogen werden mussen. 

Wesentlich erleichtert wird diese • Untersuchung gegenuber der bis- 
lierigen dadurch, dass wir nun nicht mehr allein auf die Einfuhlung 
angcwiesen sind, sondern das Verstehen in seine Rechte tritt. Es ist 
sicbcr schwerer, sich aus der Erzahlung des Traumes eines anderen ein 
Bild davon zu macben, wie stark seine Empfindung usw. gewesen ist, 
als diese Erzahlung inhaltlich mit ahnlichen Ereignissen des wirklichen 
hebens zu vergleichen, besonders wenn wir zunachst nicht den Zusam- 
nenliang, die logische Verknflpfung der Gedanken oder hdhere geistige 

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Leistungen ins Auge fassea, sondern die einzelnen Yorsteliungen des 
Traumes den analogen des Wachens gegenuberstellen. 

Die Tranmvor8tellungen weisen gewbhnlich dem Ichgefuhl gegen- 
uber dieselben Beziehungen auf wie die des Wachens. Man kann zwar 
triumen, verwandelt oder gestorben zu sein, hat aber stets das Bewusst- 
sein der eigenen, ununterbrochen bestehendeu PersOnlichkeit, man trftumt 
als das lndividuum als welches man lebt. Wir sehen also onsere Tr&ame 
nicht wie kinematographische Bilder an uns voruberziehen, sondern wir 
erleben sie, wenn auch dies Erleben sich durch seine geringere Inten¬ 
sity von dem des Wachens unterscheidet. 

Die Tr&ume spielen sich ferner ebenso wie aJle Bewusstseinsvor- 
g&nge des Wachens auf dem Untergrunde der Begriffe von Raum und 
Zeit ab. Wir konnen diese Grundformen unseres geistigen Lebens auch 
im Traume nicht entbehren. Aber wir sehen hier eine audere Art von 
Abkangigkeit der psychischen Akte als im Wachen. Unsere Phantasie 
nimmt im Traume keine Rucksicht ^Arauf, ob sich die Einzelheiten 
r&umlich und zeitlich, also neben und nacheinander ordnen lassen. Was 
wir sehen, sehen wir r&umlicli, in richtiger Perspektive, uns selbst 
finden wir oft nicht als Zuschauer gegenuber einer Buhne, sondern ais 
mitten in deu Vorgangen drinstehend und handelnd und, ob die Ereig- 
nisse sich Iangsam oder schnell folgen, es fehlt uns me an einer, wenn 
anch unzutreffenden, Sch&tzung oder doch einem Bewusstsein der Zeit. 
Suchen wir aber tr&umend uber Raum und Zeit ins Klare zu kommen, 
so gelingt das nicht, vielmehr wechselt der Schauplatz, vOllig andere 
Ereignisse Ibsen die soeben noch vorhanden gewesenen ab, wir werdcn 
abgelenkt. 

Die Entstehung der Begriffe Raum und Zeit hat Jodi eingehend 
erdrtert und gezeigt, dass sie sich aus den prim&ren Qualit&ten ent- 
wickelt haben. Sie erfordern eine gewisse Starke der primaren Quali- 
taten, zunachst der Aufmerksamkeit, also der Spontaneitat. Diese Starke 
ist im Traum nicht aufzubringen und so werden die Begriffe zwar reflek- 
torisch mitgedacht, kOnnen aber niemals scharf und deutlich in das 
Bewusstsein treten. Sie erfordern ferner ein Vergleichen mit dem Ueber- 
und Nebeneinander der Erscheinungen und da dies infolge des Fehlens 
der realen Eindrucke im Traum keinen Anhaltspunkt gew&hrt, konnen 
sie nicht zur Entwicklung gelangen und keinen Einfluss auf die Asso- 
ziation a us ii ben. 

Alle Traumerlebnisse entbehren daber gcnauer Raum- und Zeitvor- 
stellungen und lassen sich diesen Begriffen nie einwandsfrei unterordneu, 
wie es bei jedem Erlebnis des Wachens der Fall ist. Sie stehen nicht 
ausserbalb dieser Begriffe — was undenkbar ist — aber sie lassen bei 


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Aufsatze zur energetischen Psychologic. 101 

naherer Betrachtung erkennen, dass sie die Grenzen nicht achten, die 
dem wirklichen Erleben bier gesteckt sind. 

Stellt man sich nun vor, dass uns irgend ein Vorgang ohne genaue 
Zeit- und Raumangabe initgeteilt wird, so ist es klar, dass eine solche 
Mitteilung sebr wenig bestimmt, unscharf, verworren sein muss. Selbst 
die M&rchen sind in sich ortlich und zeitlich bestimmt. Zunachst fragen 
wir bei allem, wann, wo und in wie lunger Zeit es geschehen ist. Bei 
den TrAnmen kCunen wir schon auf diese einfachsten Fragen keine Aus- 
kunft erhalten. Oem TrAumenden selbst fAllt dieser Mangel nur selten 
auf, er gibt sich vielmehr, ohne an den UnmOglichkeiteu Anstoss zu 
oehmen, den Ereignisseu hin. 

Die Folge ist, dass an Stelle der durcb die firtlichen und zeitlichen 
Bedingungen geschaffenen Ordnung das wirre Durcheinander der Erlebnisse 
tritt, wie es viele TrAume darbieten. Trotzdem konnen auch in ihnen 
einselne Vorstellungen eine gewisse Scharfe und Lebbaftigkeit zeigen. 
Bei naherer Betrachtung ergibt sich aber, dass die Halluzinationen des 
Traumes in Ahnlicher Weise wie die von Geisteskranken und die Illu- 
sionen Gesunder sich damit begnugen, einen Teil eines Ganzen vorzu- 
stcllen, das Uebrige aber reflektorisch zu erg&nzen. So sehen wir von 
einem Menschen oft nur das Gesicbt, von einem Saal nur eiue Ecke, 
von einer Landschaft nur ein kleines Stuck, GesprAche oder Hand I ungen 
bieten sich nur in Bruchstflcken dar. Wird uoser Iuteresse, also die 
SpontaneitAt rege, so dass wir genauer hinsehen oder hinh&ren, so spielt 
sich bereits ein anderer Akt ab, der ebenso oberflAchlich wahrgenommen 
wird, wie die vorigen. Mitunter, besonders kurz vor dem Erwacben, 
kritisieren wir die VorgAnge bereits im Traum und suchen nach kausalen 
Zusaminenhangen. Ihr Fehlen wird aber meist, nAmlich bei stArkerer 
Hemmung, nicht bomerkt. 

Dasselbe ist der Fall, was die logischen ZusammenbAnge anbetrifft, 
nur scheint hier das Bewusstsein des Unsinns bAnfiger aufzutauchen, 
was damit in Einklang stehen wurde, dass abstraktes Denken nur auf- 
Ueten kann, wenn eine sUrkere IntensitAt psychischer Energie verfugbar 
ist So machen wir uns in n^anchen pathologischen Angsttraumen die 
Folgen der getrAumten Ereignisse oft sehr klar und geraten dadurcb 
noch stArker in Aufregung. 

Trotz dieser Zusammenhanglosigkeit der meisten TrAume bat man 
viellach versucht, sie nach ihrem Inhalt einzuteilen. So hat man Wunsch- 
Mord-Flug-Fall-Angst usw. TrAume unterschieden, vor allem auch den 
•rotiseben Traumen eine grosse Wichtigkeit beigelegt. Dns erscheint 
eine solche Gruppierung, die ja auch stets besondere Nebenzwecke ver- 
folgt, vbllig verfehlt. 


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Die Gedankenwelt der Tr&ume umfasst nicht nur alles, was im 
Wachen gedacht werden kann, sondern auch alles das, was im Wachen 
aus Grunden des Ort- und Zeitbewasstseins, des kaasalen und logischen 
Bedurfnisses sowie der Wirksamkeit &stbetischer, moraliscber, sozialer 
Vorstellungen nicht gedacht werden kann, Oder doch sogleich unter- 
■ druckt wird. Die unendliche Zahl von Kombinationen, die sich daraos 
ergeben, dass ohne jede Rucksicht Bruchstucke von fruheren Gedanken 
und Erlebnissen zu nenen Gedanken und Eriebnissen zusammengesetxt 
werden, spottet jeder Einteilung. Eine solche w&re auch ebenso zweck- 
los, als wenn man die Wahnsysteme Geisteskranker nach ihrem Inhalt 
gruppieren wollte. 

Die Assoziation der Vorstellung erfolgt im Traum in boohstem Masse 
reflektorisoh, ideenfldchtig. Dad arch allein sind die Eigenarten der Tr&ame za 
erkl&ren, die Frond als Verdichtnng and Traumverschiebang bezeichnet and 
far die er in Zusammenhang mit dem von ihm angenommenen ^Element des 
Damonismus" einebesondere n Tranmarbeit“inAnspruch nimmt. Mit diesenAas- 
dracken werden die Produkte der kritiklos aneinander gereihten psychiscfaen 
Elemente sehr treffend bezeiohnet. Sie sind aber nicht auf den Traam be* 
schr&nkt, sondern kommen auoh im Wachen and vor allem bei Geisteskranken 
vor. Freud aber fiihrt za ihrer „Erklarong u den „Gesicbtspankt der Zensar 
als Hauptmotiv der Traamentstellung u ein und darin konnen wir ihm so wenig 
wie in seiner sonstigen Auffassangsweise des Psychischen folgen. 

Als Einteilung8prinzip muss auch fur die Traume das den Be- 
wusstseinszustand Charakterisierende genommen werden, das ist das 
quantitative Verh&ltnis der psychischen Reaktionen zueinander. Dann 
kdnnen wir innerhalb der bereits unterschiedcnen Hauptgruppen, den 
katatonischen und den hysterischen Traumen, noch Unterabteilungen 
abgrenzen, die zun&chst die prim&ren Elemente und erst in letzter Linie 
die Vorstellungen ihrem Inbalte nach berucksichtigen. Wir erhalten so 
zwei Reihen von Empfiodungs*, Affekt- und Spoutaneititstr&umen, w&h- 
rend alle Tr&ume, in denen Vorstellungen eine wesentliche Rolle spielen, 
also die Mord-, Examen-, Wunsch- usw. Tr&ume als Defektreaktionen 
einer hysterischen Konstitution aufzufassen sind, die katatonisch oder 
hysterisch entstanden sein kOnnen. 

So erhalten wir allerdings keine scbarf begrenzten Gruppen, aber 
das entspricht wohl dem Wesen der Tr&ume besser als die ublichen 
einfachen Inhaltsangaben, die eigentlich nur wie Ueberschriften von 
Romanen zu bewerten sind. 

Jeder Traum ist ein abnormer Bewusstseinszustand, der nicht ohne 
weiteres mit dem normalen, sondern mit den Hemmungszust&nden des 
normalen und kranken Wacbbewusstseins verglichen werden kann. Ist 


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Aufsatze zur energetischen Psychologic. 


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die Hemmang der psychischen Kraft wirklich die einzige Ursache fur 
die Eigenart der Tr&ume, so mussen ihre charakteristischen Uerkmale, 
die sie vom psychischen Geschehen des Wachens unterscheiden, den 
kliniscben Symptomen dieser Hemmungszust&nde entsprechen, und zwar 
muss die Aehnlichkeit dem Grade der Hemmung proportional sein. Je 
grosser der Defekt der Vorgleichspsychose, desto ahnlicher muss der 
Bewusstseinszustand dem des Traumes sein. Starkere Defekte, als sie 
der Traum darbietet, mussen sich der Erkennung entziehen, da dieser 
bereits mit Bewusstlosigkeit verbunden ist. 

Alle Hemmungssymptome sind Ausfallssymptome, also etwas Nega¬ 
tives. Die Zustande geringer Hemmung zeigen Lucken im Ablauf des 
bOhereu psychischen Geschehens, wenn wir sie mit dem normalen Be- 
wusstseinszustand vergleiehen. Diese Lucken werden durch reflektorische 
Assoziation verdeckt, so dass das psycbische Geschehen auch w&hrend 
der Hemmung in ununterbrocbenem Strom dahinfliesst. Die Erregung 
sehligt nicht so hohe Wellen wie sonst. Es treten zwar keine Inter¬ 
val le des Bewusstseins auf, wohl aber Ausfallo der bOcbsten psychischen 
Leistungen. 

Wir sind gewOhnt, die Taktlosigkeit des im Anfangsstadium befind- 
lichen Paralytikers, die Roheiten des Alkoholisten, die Entgleisungen 
des Imbezillen als Defekt aufzufassen. In den Tr&uinen zeigt jeder ge- 
legentlich derartige Dofekte, so dass er sich nach dem Erwachen ver- 
wundert fragt, wie er nur dazu f&big ist, solcbe Dinge zu tr&umen. 
Nicht zufallig sind gerade die Frommen so oft im Traume vom Teufel 
versucht worden, tr&umen die Keuschen erotische Dinge, die Ehrgeizigen 
das Misslingen ibrer Plane. In den Vorstellungen der Frommen spielte 
der Teufel eire ebenso grosse Rolle wie die Heiligen,* die Keuschheit 
verlangt stindige Bekampfung des Geschlecbtstriebes, der Waghalsige 
muss stets das Misslingen befurchten. Im Traume feblt es ihnen alien 
an der psychischen Kraft, die Assoziationen wie sonst zu lenken, die 
Tricbe nnd Affekte durch Vorstellungen wie Ehre und Schande, Pflicht, 
Treue, Ehrlicbkeit usw. zu uberwinden. Die Einschrankung der Asso- 
ziation verhindert das „Spiel der Motive", die Kraft der einzelnen Vor- 
stelluugen ist nicht ausreichend, am die entsprechenden Gegenimpulse 
anznregen, es feblt die Voraussicht, die Kritik, die Ueberlegung. So 
werden Sitaationen, Handlungen, Geschehnisse, die wohl mal gehOrt, 
geiesen oder vorgestellt worden sind, als eigene Erlebnisse getraumt. 

Das Fehlen moralischer, asthetischer, sozialer Begriffe wird beim 
Wachenden an Aeusserungen oder Handlungen entgegengesetzter Natur 
erk.mnr. Das Zentralnervensystem des Schlafenden ist ebenso wenig 
wie das des psychisch Defekten zu den HOchstleistungen f&big, die nur 


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104 


Dr. Harry Marcuse, 


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im gesuuden und starken Geist gedeihen und wirken konuen und dessen 
beste Kennzeicben Bind. Das Traumbewosstsein verfugt uicht fiber die 
Gedanken, die die Individualist, den Charakter des Wachenden aus- 
maclien, seine Konstellation bilden, solidern die Vorstellungen treten 
ohne die gewohnten Assoziationen in seinen Kreis. So tr&umt der Beste 
gelcgentlich unmoralich, un&stbetiscb, unsozial. 

Die Tatsache wird jeder zugcben, nicbt aber die Annahme, dass 
sie auf Herabsetzung der psychischen Kraft beruht. Man nimmt viel- 
nichr an, dass in diesen lnhalten, selbst wenn sie dem Cbarkter des Men- 
schen in keiner Weise entsprechen, unbewusste Wunsche in das Blick- 
feld des Bewusstseins treten, die sonst durch die Zensur der Assozia¬ 
tionen verdrfingt oder uuterdruckt werden. Auch Magenrerstimmungeo 
und andefe kfirperliche Stfirungen werden fur den Inbalt der Traum- 
vorstellungen verantwortlicb gemacht. Jedenfalls ist man geneigt, den 
TrSumen in Bezug auf deu Cbarakter mebr zu glauben als dem Wachen. 

Die Hemmung aber kann darum nicbt die Ursacbe der Tr&ume sein, 
glaubt man, weil ein uuedler Gedanke nicbt weniger psycbische Kraft 
▼erbrauchen dfirfte als ein edler. Wenigstens scbeint dies vielen eine 
unbeweisbare Behauptung. 

Sicher gebort zum Planen und zur Ausffihrung vieler Verbrechen 
ein grosses Mass psycbischer Energie und es wire eine Verkennung 
dessen, was uns die t&gliche Erfabrung lehrt, wenn wir dies dem Ver- 
brecher absprecben wollten. Die Quantitftt oder Intensitat der Kraft, 
die fur einen Gedanken oder fur eine Handlung, fur eine Empfindung 
oder ein Geffihl notnendig ist, kann nicht von dem Inbalt des psychi- 
scben Aktes abb&ngig sein. Das - wird aber auch von uns nicht be- 
hauptet und trotzdem glauben wir, einen urs&chlichen Zusammenhang 
zwischen Hemmung und Verbrechen (um es kurz zu sagen) nachweisen 
zu kdnnen. 

Nicbt die absolute psychisclie Energie ist fur uns allein mass- 
gebend, sondern das lntensitfitsverh&ltnis der primSren zur sekundaren 
Funktion. Dies Verb&ltnis wird durch Hemmung verkndert. Wahrend 
die Erregung ein etwa vorhandenes Missverhftltnis nur vergrSssert und 
starker in die Erscheinung treten lSsst, bewirkt die Hemmung eine Ver- 
minderung der hOheren Funktionen, die sicb desto starker fuhlbar macht, 
je hdhere Anforderungen an die psychische Energie gestellt werden, und 
die daber die hocbsten Leistungen zuerst schadigt. Es bleibt gewisser- 
massen nocb geuug Strom im Hauptkreis, wahrend der im Nebenkreis 
fast versiegt. Die hCheren Funktionen sind daher das bessere Reagens 
auf psychische Hemmung als die primare Stufe, abgesehen davon, dass 
sie leichter zu erkennen sind. 


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Aufsatze zur energetischen Psyohologie. 


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Das sind theoretische Erwagungen, die sich aus unseren Voraus- 
setxungen ableiteu lasseu. Sie wiren wertlos, wean sie nicht durch die 
Erfahrung stetig bewiesen wfirden. Niemand wundert sich, dass ein 
verblodeter Geisteskranker an Kunst und Wissenschaft keine Preude hat 
und doch mit sichtlichera Genuss isst und trinkt und raucht. Hat er 
die Ideen, von denen er frfiher beherrscht war, nur jetzt so griindlich 
verdr&ngt oder hat er sich vielleickt die asthetischen Genfisse fruher 
nur eingebiidet? Kommt jetzt sein eigentlicher Charakter ans Licht? 
1st seine psychische Kraft unverfindert geblieben und wendet sich nur 
anderen Objekten zu? 

Wir nebmeu im Gegeuteil an, dass die Hemmuug aus der fruher - 
hyparnoischen oder normalen Konstitution eine imbezille gemacht hat. 
Die psychische Kraft ist gleicbzeitig unter die Norm gesunken. (P<1) 
und die primilre Puuktion hat das Uebergowicht fiber die sekundfire 
•rlangt (P>S). 

Das letzte kann der Fall sein, obne dass geistige. Erkrankung vor, 
angegangen und ohne dass eine Verringerung der psychiscben Kraft 
vorhanden ist. P kann grdsser als normal und doch grosser als S sein, 
ee kann eine relativ imbezille Konstitution vorliegen. Diese Konsti- 
tution, die h&ufig bvsonders begabte Heuschen besitzen, mfissen wir 
auch fflr eine Anzahl von Verbrechern annehmen. Es sind stets solcbe, 
die durch das Raffineroent, die Geschicklichkeit, die Energie ihrer Un- 
taten Erstaunen erregen und das Bedauern, dass sie ihre Geistesgaben 
nicht auf andere Weisc verwerten. Infolge ihrer Konstitution hat sich 
ihnen aber ein grosser TeiI der Vorstellungswelt des Normalen gar nicht 
•rscblosseu, die hdheren BegrifFe, die das Leben des Normalen beherr- 
schen, sind ihnen leerer Scball. Nicht das Fehlen von Kenntuissen oder 
der Mangel an kunstlerischem oder wissenschaftlichem Interesse, nicht 
irgendwelche Defekte anderer Art sind ffir den Imbezillen so charak- 
teristisch wic der Egoismus. Er ist egoistisch, das heisst doch: seine 
Empfindungen, seine Gefuhle und Triebe sind ihm mehr als die der 
MiUnenschen, sie sind stets in ihm lebendig, sind pr&sentativ, kfinnen 
sugar st&rker ausgebildet seiu als normal. Die Empfindungen, Gefuhle 
and Triebe anderer kann er sich dagegen infolge seiner Konstitution 
weniger deutlich vorstellen als ein normaler. Der Hypernoiker dagegen 
kann sich ganz andere in die Seele des Anderen hinoinversetzen und 
ist daher Altruist. So zeigt sich hier eine gewisse Abh&ngigkeit der 
QualitAt der psychischen Akte von der Quantitit, d. h. von dem Ver- 
hlltnis P : S, von der Form. 

Wir sehen ferner, dass die hdheren BegrifFe dem Kinde fremd sind, 
und erst durch Erziehung in ihm zur Entwicklung gelangen. Das Kind, 


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Dr. Harry Marotue, 


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das seine Pnppe xerbricht, urn ihr Inneres kennen zu lemen, oder dem 
Sehwesterchen ins Auge sticht oder eine Fliege zerreisst, handelt genaa 
wie manche Verbrecher aus egoistischen Motiven. Nur ist der Mangel 
an Vorstellangen hier nocb normal, der Verbrecher ist in seiner psychi- 
schen Konstitution Kind geblieben. Beim Kinde ist die sekundare Funk- 
tion im Verhaltnis zu der des Erwacbsenen nicht entwickelt, defekt, 
bci dem Verbrecher ist sie auf dieser Stufe geblieben, beim VerblOdeten 
wieder zu ihr binabgesunken. Alle drei Kategorien sind gewalt- 
tatig, grausam, roh, handeln ohne die Folgen zu bedenken, ohne Deber- 
legung. 

Es sind dies die Cbaraktere, bei denen niemand das Fehlen der 
hOheren psychischen Akte auffallend findet und bei alien dreien treten 
die unsozialen Eigenschaften oft deutlich hervor! Wir fubren diese 
Uebereinstimmung auf das Ueberwiegen der primaren Funktion zurfick, 
die 8ich auch fur einen grossen Teil der Traumzust&nde ergeben hat 
Die hyponoischen oder imbezillen Konstitutionen wie die relativ imbe- 
zillen Konstitutionen treten also in den Tr&nmen in analogen Formen 
auf, nur dass die Intensitat der primaren Funktion im Traum erbeblich 
geringer ist. Dadurch wird die Unterdruckung der bdberen psychischen 
Akte noch rollkommener und das Hervortreten der egoistischen Motive 
nocb deutlicher. Die Trkume ubertreffen in der Tat nicht selten die 
Wirklichkeit in Bezug auf den Mangel der fisthetischen, moralischen 
nnd sozialen Gefuhle. 

Dieser Mangel ist allerdings nicht das einzige Merkmal der zum 
Vergleich herangezogenen Beispiele, wenn er auch ein sehr wesentlicbes 
darstellt. Er ist erst die Folge anderer Symptome wie der Stdrung der 
Merkfahigkeit, Aufmerksamkeit, Konzeutration, der Logik und Kritik. 
Die Moral ist stets vom Verstand abhangig, nicht von den erworbenen, 
angelernten Kenntnissen, sondern Von der geistigen Energie, die man 
gewdhnlich als deu gesunden Menscbenverstand bezeicbnet. Jedes Qu&nt- 
cben, das hier fehlt, lasst dort eine grosse Lucke entstehen. Das ist 
eine altbekannte Erfahrung. 

Fassen wir nun die Zustande ins Auge, die hier einen Defekt er- 
kenneu lassen, also die eigentlich Schwachsinnigen, so lasst sich leicht 
zeigen, dass alle Symptome, die sie bieten, auch den Traumen eigen- 
turn I icli sind. Wir kounen uns im Traum nicht konzentrieren, die Asso- 
ziation nicht willkurlich lenken, Zusammenhange nicht erfassen. Wir 
lachen fiber Dinge, die' uns nachher durchaus nicht komisch oder witsig, 
sondern unverstandlich, blddsinnig vorkommen. Ebenso kfinnen wir im 
Traum heftig weinen und die RGhrung beim Erwachen nicht begrundet 
finden. Es fehlt uns im Traum die Mdglicbkeit der Kritik. 


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Aufs&tze zar erorgetischen Psychologic. 


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Die Hemmung 1st im Traum so erheblich, dass uns im t&glichen 
Leben keioe ibnlichen Bewusstseinszust&nde entgegentreten, so dass wir 
bier die Erfahrongen der Psychiatric zu Hilfe nehmen mussen, am ge- 
eignetes Vergleichsmaterial za gewinnen. Mehr Aebnlicbkeit mit dem 
Scbwachsinn leichteren Grades zeigen naturgem&ss die Rnnudungszu- 
stftnde Normaler. 

Die Ermudung setzt jedem psychischcn Geschehen gewisse Schran- 
ken. Nickt nor der Wille erlahmt, sondern auch das Empfinden und 
Ffihleu. Ebenso wie wir uns nur eine beschr&nkte Zeit zu kfirperlichen 
Anstrengungea Oder zur Aufmerksamkeit zwingen kdnnen, versagt auch 
onsere Ffthigkeit zu sehen und zu hfiren, zu geniessen und zu leiden. 
Wir stumpfen schneller oder langsamer ab und kOnnen die Intensitftt 
der anf&nglichen psychiscben Energie nicht mehr aufbriagen. Der Kraft- 
begriff ist hier bezeichnender Weise allgemeiuer Spracbgebrauch. 

Ebenso wie zu den prim&ren, einfachen Akten bedurfen wir auch 
zu den sekund&ren, komplexen Funktionen psychischer Energie. Der 
Genus8 eines Kunstwerkes unterliegt ebenso der Ermudung wie der einer 
Speise, Lust und Leid wird gemildert, Ehrgeiz und Widerstand er- 
seblaffen. Hier sehen wir, dass die hOehsten Akte die meiste Energie 
gebrauchen. Nur wenn wir ausgeruht, kfirperlieh nnd geistig frisch 
dnd, k&nnen wir die psychische Kraft aufbringen, die zum Verstflndnis 
eines wissenschaftlichen Werkes, zur Wurdigung einer Kunstleistung, zu 
iusserster Pflichterfullung notwendig ist. Nur dann sind wir Herr unser 
selbst, wenn wir uneingeschr&nkt fiber unsere psychische Kraft verffigen 
kfinnen. 

Jede krankhaftc Erregung beeinflusst das psychische Geschehen 
nngunstig/ weil die Energie an falscher Stelle verbraucht wird, jede 
Hemmung, weil sie das Niveau der psychiscben Leistung herabdrfickt. 
Das Kesultat ist in mancher Beziehung das gleiche, die Steigerung der 
reflektori8chen Assoziationen. 

Der angstvoll Wartende hfirt und sieht leicht Gespenster, aber auch 
der ErschOpfte wird leicht das Opfer illusionfirer Sinnestfiuschungen. 
Die Erwartung, ein bestimmtes Wort vor sich zu haben, ffihrt zum 
Cebersehen sinnentstellender Dmckfehler, ebenso verschreibt Oder ver- 
spricht sich der Ermfidete fifter als der Normale. „Es irrt der Mensch, 
solang er strebt u , d. h. solange er sich von HofTnungen und Wfinschen, 
too Angst and Sorge, Liebe und Hass treiben I asst, steht er der Aussen- 
welt nicbt objektir gegenfiber. Aber ebenso wenig erkennt der die 
Wahrheit, der sie nicht mit der ganzen Kraft seiner Seele sucht. Der 
Ermfidete verliert den Faden, seine Gedanken ordnen sich nicbt mehr 
einer Zielvorstellung unter. Nebens&chliches, fruher Erlebtes dr&ngt 


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sick ungewollt auf and ienkt ibn ab. Es ist zweifellos schwerer, sich 
von den fiusseren Eindrficken, von den prasentativen, stets auf uns ein- 
sturmenden Keizeu zu emanzipieren and ihrer ungeacbtet sich in ab- 
strakte Dinge zu vertiefen, als sich ibnen hinzugebcn. Schon bei ge- 
ringer Hemmung sind wir dazu nicht mehr f&hig, sondern werden durcb 
Gerauscbe Oder Empfindungen, die vorher nicht bemerkt wurden, durch 
Affekte und Strebungen, die wir unterdrucken konnten, gestfirt. 

Solchen Stdrungen unterliegt der Schwachsinnige stftndig. Was bei 
dem Normalen nur Anzeichen von Ermudung bedeutet, charakterisiert 
dauernd sein Geistesleben. Und in viel hoherem Masse treteu diese 
Mangel des psychischen Geschehens in den Tr&umen hervor. 

Je geringer die psychische Kraft, desto wirksamer werden die 
reflektorischen Akte, desto vollkommener werden die hokeren Funk- 
tionen ausgeschaltet. 

Wir sehen es physiologisch beim Tier, beim Kind, beim Ermudeten, 
wir finden es beim angeborenen Schwachsinn wie bei dem erworbeoen, 
ob die Hemmung durch Alkohol, durch Krankheit oder durch Alter 
hervorgerufen ist und wir finden, dass die charakteristischen Symptome, 
die diesen Zust&nden gemeinsam sind, die wesentlichen Eigentumlich- 
keiten der Trfiume bilden, und dass sie sich hier in verst&rktem Masse, 
gleichsam vergrdbert zeigen. 

Man sollte meinen, dass diese Uebereinstimmung, die sich aus den 
Tatsachen ergibt, die jeder kennt, deutlich genug beweist, dass der De- 
fekt das Wesen der Trkume bedingt und es erscheint uberflnssig, diese 
Dinge noch eingebender auszufuhren. 

Warum halt man aber diese einfache Erklkrung der Trfiume nicht 
fur ausreichend, warum will man in den Tr&umen durchaus etwas Beson- 
deres sehen, was der Erforschung, der Erklarung und Deutung bedarf? 
Hierfiir gibt es verschiedene Grunde. 

„Findet das Wesen des Traumes und ihr werdet alles, was man 
fiber Irresein wissen kann, gefunden haben u meinte Hughlins Jack- 
son. Er wollte also von den Tyumen zum Verstandnis der Psychosen 
gelangen, wahrend wir den urogekehrten Weg fur gangbarer halten und 
die Traume den Defektzustanden angliedern. Immerhin zeigt das Stre- 
ben, von hier aus den Geisteskrankheiten n&herzukommen, dass man 
die vorhandenen Aehnlichkeiten erkannte und die Hoffnung ist verstfind- 
lich, weil der Traum schnell vorubergeht und mitgeteilt oder selbst 
erlebt werden kann. Man erkannte aber nicht, dass er dem Studium 
schwerer zug&nglich ist, als Erregungszustfinde und dass der Erfolg aus 
diesem Grunde ausbleiben musste. Sobald man sich die Wirkung der 
Hemmung auf das psychische Geschehen klar macht, muss die Aunabroe, 


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Aufsatze zar energetischen Psychologic. 


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aus Triumen mehr als a as Wachzustanden uber das eigene oder fremde 
Seelenleben erfabren zu kOnnen, hinf&llig werden. 

In einer Zeit, als man den Geisteskranken von Dftmonen beherrecht 
glaubte, musste man konsequenter Weise fur den Traum fibematurliche 
Kr&fte in Anspruch nehmcn. Und es dfirfte der von hier stammende 
Rest von Aberglauben sein, der noch jetzt immer wieder mit der Deu- 
tung der Tr&time dem Unergruudlichen naher zu kommen gianbt. Dieser 
Drang nacli Erkenntnis ini Verein mit der Verkennung dessen, was er- 
kennbar ist, l&sst immer wieder neue „Erkl&rungen“ des Traumes ent- 
stehen and Anh&nger gewinneu. 

Wir wollen nur einige der wicbtigsten Irrtfimer, die hierbei unter- 
laufen sind, hervorheben.' Wir haben zu verstehen gesucht, wie es 
fiberhaupt dazu kommt, dass wir tr&umen, d. h. dass w&hrend des 
Scblafes psychische Reaktionen von besonderer Eigenart auftreten. Wir 
sahen, dass neben der Hemmung Erregungen auftreten kOnnen, die vor 
allem auf supprim&re, seltener auf sekundfire Reize zurfickzuffiliren sind. 

So allgemeiu wird die Frage gewOhnlich nicht gestellt, sondern 
man versucht immer wieder zu ergrunden, warum gerade der bestimmte 
Inhalt getrfiumt worden war, und versucht, ihn auf einen.bestimmten 
Reiz zurfickzuffihren. 1 

Es ist dies derselbe Fehler, den die Psychiater begehon, wenn sie 
bestimmte klinische Symptome, wie einzelne Gruppen von Wahnideen, 
von Halluzinationen u. a. ffir bestimmte Gruppen von Krankheiten als 
cbarakteristisch ansehen. So erschien der Grfissenwahn ffir Paralyse, 
Verfolgungsideen fur Paranoia, Gebfirshalluzinationen ffir Dementia prae- 
eox zu sprechen. Es soli nicht bestritten werden, dass dies bis zu einem 
gewissen Grade auch der Fall ist. Aber man darf nicht fibersohen, 
dass die masslosesten Grfissenideen bei Paranoikern, stark angstbetonte 
Verfolgungsideen bei Paralytikern, GehSrsballuzinationen bei psycho- 
genen Zustanden ebenso hfiufig sind. Es ist noch immer zu wenig be- 
tont worden, dass dasselbe Symptom durch sehr verschiedene Reize zu 
Stande kommen kann und umgekehrt, derselbe Reis sehr verschiedene 
Symptome hervorzurufen vermag. Die Wirksamkeit des Reizes ist in 
weitera Umfang von der Konstellation abhfingig und es gibt keinen Vor- 
stellungsinbalt, der ffir einen bestimmten Reiz spezifisch wire. 

I)iese Tatsache ist auch bei den Traumdeutungen nicht beobachtet 
worden. So sieht Ellis z. B. die Ursache ffir einen Mordtraum in dem 
Genuss von Fasanenbraten! „Trfiume von Hord, bevorstehendem Tod 
oder fihnlichen tragischen Situatiouen, scheinen gewdhnlich ihren Ur- 
sprung in Verdaunngsstfirungen zu haben. Es kann kein Zweifel be- 
steheo, dass der Hageo einen ungeheueren Einfluss in dieser Hinsicht 


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(n&mlich anf Gemfitsbewegungen) ausubt 1 *. Es ist eine volkstumliche 
Anschauung, die dem Magen besondere Wichtigkeit fur die Traume bei- 
misst, die anderen Organe Herz, Lunge, Leber, Niere, Darm usw. aber 
gar nicht berficksichtigt. 

KOrperlicbe Storuugen kfinnen die Scblaftiefe vermindern and da- 
durch das Zustandekommen von Trfiumen begunstigen, sie haben aber 
keinen Einfluss auf den Inbalt der Trfiume, dieser ist vielmebr von der 
(Constellation des Individuums abhfingig. Ebenso wenig kfinnen wir 
demgemfiss den Yer&nderungen der Atmung und der Herztatigkeit im 
Schlaf, auf die Ellis die Flug- und Falltrfiume zuruckfuhrt, diese 
Bedentung zuschreibeu. 

Kinder traumen and ere Tr&ume als Erwachsene, Frauen andere ala 
Manner, Bauern andere als Kaufleute usw. Was b&ufig oder intensiv 
das Indiviuum beschaftigt bat und daher am meisten Beziehungen zu 
den verschiedensten Assoziationsreiben besitzt, wird leicbter und haufiger 
reproduziert werden, als flfichtigo und oberflachliche Erlebnisse. Je 
mebr Vorstellung^material vorbanden ist, desto wecbselnder, je weniger 
desto einffirmiger muss sich der Inhalt der Traume gestalten. Daher 
haben Kinder meisteDS einfache n Wunschtrtlume u , sie tr&nmen die Er- 
fullung ihrer Wfinsche. 

Was die Assoziationen miteinander verknupft, ist infolge der Hem- 
mung niebt Logik oder Zielvorstellung, sondern oberflachliche Aehnlich- 
keit, Gleichklang, Oebereinstimmung in Einzelheiten wie Farbe, Geruch. 
Bewegung, Affekt. Es ist die Ideenflucht des Scbwacbsinns, der wir im 
Traum unterliegen. 

Die Beispiele, die Ellis selbst anfiihrt, urn Zusammenh&nge zwischen 
Reiz und Trauminbalt nachzuweiseu, zeigeu sebr deutlieb, dass dieser 
Zusammenhang uur ein lockerer ist. So fuhrt er als Folgen des Ge- 
rausches, das sturmisches W'etter vcrursacht, an: 1. eine Dame traumt, 
dass ihr kleiner Hund eine steile Klippe binunter gefallen ist und sie 
sein Winseln hbrt. 2. Zwei Freunde traumen gleichzeitig (!), sie wan- 
derten naebts zwischen hohen Klippen. 3. E. selbst traumte in einer 
sturmischen Nacht, er bdre einen Teil von Gluck’s Alceste. 4. E. traumte, 
einem Schauspiel von etwas zweifelhaftem erotischen Charakter beizu- 
wohnen. 5. Traum von einem furebtbaren Zyklon, bei dem Blitze eine 
Rolle spielen, Fragmente von Hausern, allerhand Triiiumer, eine Frau 
durch die Luft segelte. 6. E. irrte mit einem befreundeten Arzte durch 
Gange, Treppen, fiber Plattformen. 

Ellis begnugt sich damit, darauf hiuzuweisen, dass alle diese 
Traume durch den akustischen Reiz des Sturmes hervorgerufen seien. 
In einem fruheren Kapitel behauptet er im Gegensatz dazu, „dass die 


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Aofsatze zur energetisehen Psychologic. 

Quelle des Triumens stets central, rein psychisch“ sein mfisse. „Der 
Sonnenstrahl, der auf den Tr&umenden f&llt .... kann seinen Traum 
ebenso wenig erklfiren wie der Klingelzug des Brieftr&gers den Inhalt 
der Briefe, die er bringt, erklftrt 44 . Die Traumwelt ist ihm doch eine 
Welt fur sich, „ein dllmmriges Schattenhaos, in das kein Strahl aus der 
fiusseren Welt des wachen Lebens 

Die Frage ist ofifenbar, wie wirken fiussere prim&re Reize auf den 
Inhalt der Tribune and es entspricht der Unsicberheit der Anschauungen 
bierfiber, dass Ellis einmal jeden Einflass leugnet, ein anderes Mai die 
Terschiedensten TriLume auf deuselben Reiz beziebt. 

Man hat anch experimentell die Frage zu lGsen vorsucht. Ellis 
berichtet fiber einen Versuch des amerikanischen Professors W.S.M onroe: 
„20 Studentinnen bekamen in 10 aufeinander folgenden N&chten eine 
serdrfickte Gewfirznelke abends auf die Zunge gelegt. Von 254 Tr&umen, 
die unter diesen Umst&nden auftraten, waren 17 Geschmacks- und 8 Ge- 
sichtstr&ume, 8 von diesen Tr&umen bezogen sich auch auf Gewurz- 
nelken. Das Gewurz beeinflusste auch Traume anderer Eategorien; so 
trfiumte eine Studentin infolge des breuneuden Geschmacks auf der 
Zunge, dass das Haus brennt“. 

Diese nngenauen Angaben lassen unseres Erachtens wenig Schlusse 
zu. Wieviel Studentinnen batten die Geschmacks- bzw. Geruchstr&ume? 
Waren diese besonders nervOs, hypernoisch, so dass das Experiment 
mehr Erwartung und damit st&rkere Erregung bei ihnen hervorrief als 
bei den anderen? Was tr&umten die anderen? Vielleicht w&ren hiW 
doch noch fieziehungen nacbwcisbar gewesen. Wie viele tr&umten gar 
nicht? u. a. 

Der angenommene Zusammenhang „brennender Geschmack, brennen- 
des Haas" erscheint sehr zweifelhaft, denn das brennende Haus ent¬ 
spricht wohl weniger einer Geschmack- als einer Lichtempfiudung. Hier 
ist die Association, wie sie im Wachen sein kOnnte, einfacb dem Traum 
untergcschoben. 

Aus dem Mitgeteilten geht nur bervor, dass die direkte Beein- 
flussung der Traume durch prim are Reize sehr gering ist und dass ver- 
scbiedene Individuen auf denselben Reiz sehr verschieden reagieren. 
Pur Ellis ist das gleichzcitige Auftreten desselben Traumes bei zwei 
Freunden der Beweis, dass in diesem Fall der Sturm als Ursache anzu- 
sehen ist, w&hrend wir darin nicht mehr als einen Zufall erblicken 
kfinnen, abgesehen davon, dass sicb bei genauerer Analyse jedenfalls 
grosse Verschiedenheiten der Sturmtr&ume herausstellen wurden. 

Er beacbtet zweierlei nicht, n&mlich erstens, dass die Hemmung 
auf die psychiscbe Kraft je nach ihrem Grade und ihrer Art verschieden 


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wirkt und die Erregung infolge dessen verschiedene Richtungen ein- 
schlagen und zu verschiedenen TrSumen fuhren muss. Zweitens wird 
derselbe Reiz auch bei Voraussetzung gleicbstarker und gleichartiger 
Hemmung (die nicbt nachweisbar ist, die Spontaneit&t kann z. B. st&rker 
gehemmt sein als Empfindung und Geffihl usw.) bei verschiedenen In- 
dividuen oder auch bei demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten 
zu inhaltlich verschiedenen Traumen fuhren. Denn es kann nicht znrei 
Individnen geben, die in ihrer (Constellation so vfillig ubereinstimmen, 
und auch die Ver&nderungen der Ronstellation des Einzelnen im Laufe 
der Zeit sind so weitgehend, dass derselbe pr£sentative Reiz nicht zwei- 
mal auf genau die gleiche Ronstellation des Bewusstseinszustandes 
treffen kann. 

Ellis zieht ebeu weder den Bewusstseinszustand in Betracht, auf 
den der Reiz trifft, noch berucksicbtigt er die reflektorische Assoziation 
primarer und sekundarer Elements. Bedenken wir ferner, wie ungenau 
die Erinnerung an Trkume stets sein muss, so k&nnen wir variierend 
sagen: „Wenn zwei dasselbe tr&umen, ist es nicht dasselbe u und jeder 
wird aus eigener Erfahrung hinzufugen: „wenn einer zweimal dasselbe 
trSumt, ist es auch nicht dasselbe u . 

Der aussere Reiz, der den Schlafer trifft, z. B. ein Sonnenstrahl, 
wird zunacbst eine Empfindung ausldsen, an diese schliesst sich die 
Vorstellung, wic Feuersbrunst — Sonnenaufgang — nun tritt ein affektives 
Element Angst — Preude hinzu und verbindet sich mit weiteren Vor- 
stellungsreihen. Der Reiz bewirkt eine Erregung, die in verschiedener 
Weise ausstrahlt. Er erscheint im Traume oft verstarkt, einmal infolge 
der illusionkren Vergrosserung oder auch, weil er im Verhaltnis zu den 
sonst vorhandenen psychischen Akten eine starke und besonders deut- 
liche Reaktion hervorruft, weil ihm also gewissermassen die Ronkurrenz 
fehlt. Er fubrt aber sofort zum Erwachen, wenn die Erregung wirklich 
einen gewissen Grad erreicht. 

Zusammenhange zwischen prasentativen Reizen und Yorstellungen 
kdnnen also vorkommen, aber die Einzelglieder in der Rette der Asso- 
ziationen, die den Traum zusammensetzen, kdnnen wir trotzdem in ihren 
kausalen Zusammenhangen nur selten erfassen. 

Das kdnnen wir aber auch bei den Reizen, die das psychische Ge- 
scbeben des wacben Zustandes beeinfiussen, nicht. Wir mussten dazu 
nicht nur gendu alle Eindrucke kennen, die das Individuum kberhaupt 
erlebt hat, sondern auch alle Gedanken, die es je gedacht hat. Ferner 
mussten wir im Stande sein, auch die Intensity jedes fruheren Aktes 
in Rechnung zu setzen. Erst dann wurden wir-die vorliegende Kon- 
stellation kennen. 


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Aufsatze zur energetischen Psyohologio. 


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Eine so eingehende Kenntuis kann niemand von seinem eigenen 
Geistesleben erwerbeo, viel weniger von dem eines anderen. Wie viel 
hier Vererbung bedeutet, was auf Gewotinheit, Erziehung, Uebung zu- 
ruckzufuhren ist, was also reflektorisch gescbiebt und was unter Leitung 
des Willens, das kGnuen wir oftmals in nnserem eigenen Fuhlen 
and Denken nicht auseiuanderhalten, viel weniger bei den wenigen uns 
erkennbaren psychiscben Reaktionen eines anderen Individuums oder 
gar bei einera Hemmangszustand wie dem Traum entscheiden. 

Es ist also zuviel verlangt, wenn wir den lnhalt der Tr&ume bis 
ins Eiuzelne erkliren zu mussen glauben, indem wir die assoziativen 
Znsammenh&nge zwiscben Reiz und Vorstellungen samtlich klarzulegen 
versucben. Das Strcben danacl) ist aber nicht nur aussichtsios, es 
sebliesst auch die grosse Gefahr der Selbstt&uchung in sich. Was m6g- 
licb ist, wird leicht fur wahrscheinlich, das Wahrscheinlicho fur gewiss 
gehalten, wenn es sich dem einfugt, was man gem beweisen mochte. 
Die meisten, wenn nicht alle Psycboanalysen der Freudianer, siud bier- 
nach zu bewerten. Jeder kritisch Urteilende wird bei ihrer Lekture zu 
dem Schlosse kommen, es kann wohl so sein, es kann aber auch sich 
ganz anders verhalten (abgesehen von den hautigen Fallen, in denen 
mit Hilfe der „Syrobolik“ das unsinnigste Zeug als wissenschaftliche Tat- 
sache vorgebracht wird). Die Suggestion der Versuchsperson bzw. des 
Patienten oder die Autosuggestion der Forscher liegt oft klar zu Tage 
and maebt den Erfolg der analytiseben Methode sowie die fanatische 
Bcgeisterung ffir sie verstandlich. Auch der heilige Rock von Trier 
heilt und begeistert maneben, der die geeignete Konstellation mitbringt. 

Void Stand pun kt der energetischen Theorie mussen wir uns damit 
begnugen. die Schwierigkeiten zu erkennen, die einer so genaueu Ver- 
folgung der Assoziation im Wachen und im Traume im Wego stehon, 
and mussen sie praktisch fur unuberwindlich erklSren. Die eingehendste 
Analyse kann nur einen kleinen Ausscbnitt des gesamteu Bewusstseins- 
mstandes aufzeigeu und nur einzelne engbegrenzte Anfgaben experi- 
mentell mit Erfolg in Angriff nehmen. An die Stelle von unbewiesenen 
and unbeweisbaren Behauptungen setzen wir ein bescheidenes aber be- 
grundetes Ignoramus. 

Ks konnte manchem erscheinen, dass mit diesem Verzicbt der in- 
teressanteste und wichtigste Teil der Psychologie, nftmlicb die Ueber- 
tragung ihrer Ergebuisse auf den Einzelfal! und das Individuum vGllig 
fortfallt. Man kann die Art, wie gewisse Freudianer Soelenstudien 
treiben, unkritisch oder unsympathiscb finden, ohne dass man sich mit 
der Feststellung von Form uud Starke der psychischen Akte ohne ROck- 
riebt auf ibren lulialt begnugen will. 

Artfcr* t. Pfjeliiatri#. Bd. 60. H«ft 1. g 


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Dies geschiebt nun keineswegs von Jodi oder der auf seiner Lehre 
aufgebauten, energetiscben Theorie. Aber im Gegensatz zu alien an- 
deren Psychologen weist Jodi durch seine Einteilung des Psychischeo 
in verscbiedene Stufen der Form alter psychischen Akte den Plalz an, 
der ihr gebuhrt. Er erkl&rt das Psychiscbe, indem or es den letzten, 
nicht weiter erklarbaren Prinzipien, der Energie und Eutwicklung, unter- 
ordnet. So ist seine Psycbologie einfacher als die anderer Autoren, 
aber einfacher nur in Bezug auf den Rahmen, der das aufs feinste aus- 
gearbeitete Bild umgibt. Dieser hindert nicht, sich in Einzelheiten zu 
versenken, er verhindert aber die unwissenschaftlichen Spekulationen, 
die sich gerade in der Psychologio und nicht zum wenigsten auf dem 
Gebiete der Traume breit machen. 

Die Beachtung der Umgestaltung bezw. der Erweiterung, die der 
Begriff der Assoziation durch die Annahme primarer und supprim&rer 
Elemente erfahrt, lasst schon manches verstindlicher erscheinen, wofur 
man bisher nur neue Worte, aber keine klaren Begriffe geschafifen hat. 

Aus der Erkenntnis des stufenweisen Aufbaues. des psychischen 
Gescbehens zieht die energetiscbe Theorie den unabweisbaren Schluss, 
dass nur die hOheren psychischen Akte dem Verstehen zug&nglich sind, 
das Wirken der psychischen Kraft auf ihrer niederen Entwicklungsstufe 
dagegen unbegreiflich ist und bleiben wird. Auf der prim&ren Stufe 
tritt an die Stelle des Verstehens die Einfuhlung, auf dev supprim&ren 
die Feststellung ven Hemmung und Erregung. Indem wir so die ver- 
schiedenen Entwicklungsstufen der Einzelglieder beachten, aus denen 
sich eine Kette von Assoziationen zusammensetzt, werden wir ohne 
Zweifel der Wahrheit naher kommen und die handgreiflicben Fehler 
anderer psycbologischer Systeme vermeiden. 

Zu der Annabme, dass die Traume aus den primaren Reizen er- 
klarbar seien, verfuhrte vor a'llem der Umstand, dass im Anschluss an 
aufregende Erlebnisse nicbt selten Trfiume auftreten, die ihrem Inhalte 
oder ihrem Afifekt nach einen gewissen Zusammenhang mit diesen er- 
kennen lassen. Nicht beacbtet oder nicht erkannt wurde aber, dass es 
sich hierbei stets um hypernoische Konstitutionen handelt, bei denen 
hysterische oder psychogene Traume vorkommen kOnnen. Ueber diese 
mdgen noch einige Bemerkungen folgen. 

Die Annahme, dass Vorstellungen aus dem Wachzustand im Schlafe 
nachwirken und Traume hervorrufen kdnnen, wurde von uns bereits 
gemacht, als wir die Hauptgruppe der hysterischen Traume den kata- 
tonischen gegenuberstellten. Es braucht aber nicht eine Vorstellung 
sich kontinnierlich in den Traum fortzusetzen, sondern sie kann durch 
eine primkre Qualitat hervorgerufen sein und nun infolge ihrer Affi- 


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nitat za anderen Vorstellungen oder zum Affekt, also infolge ibrer 
Valenz wie man sagen kdnnte, im Traum die Vorherrschaft erlangen. 
Wir werden z. B. im Traum etwas gefragt und kdnnen die Antwort 
nicht linden. Das unangeaebme Gefuhl erinnert uns an eino Situation 
im Rxamen, es taucht vielleicht das Bild des prufenden Lehrers auf, 
wir hdren wieder eine Frage und nun befallt uns dieselbe Angst wie 
damals. Solch Traum ist katatoniscben Ursprungs, aber der Bewusst- 
seinszustand ist relativ hysterisch, wenn wir annehmen, dass die Vor¬ 
stellungen einigermassen zusammenhangend sind. 

Das Beispiel eines hysterischen Traumes wire dagegen folgendes: 
Wir waren im Theater und haben uns uber die Handlung des Stuckes 
aufgeregt, so dass uns einzelne Szenen beim Einscblafen wieder ein- 
fallen. PlOtzlich seben wir in den Personen des Stuckes gute Bekannte, 
oos selbst in einer der Rollen, wir reden in der Sprache des Dichters, 
erleiden das Scbicksal des Helden und erwacben. Hier kann der Inbalt 
des Traumes auf fernliegende Gebiete ubergreifen, der Zusammenhang 
braucht nicht gewabrt zu sein und trotzdem ist der Traum psycbogen. 
Die Vorstellung des Stuckes hat den Anstoss zu der Reihe von Asso- 
ziationen gegeben, die durcb prim&re Akte wie durch Ideenflucht beein- 
flusst zu den verschiedensten Triumen fubren kann. Solcben Beein- 
Bussungen unterliegen bekanntlicb vor allem nervOse d. b. hypernoische 
Konstitutionen. 

Der assoziative Zusammenhang zwischen Reiz und Traum ist hier 
leicht festzustellen, wAhrend dies oft nicht der Fall ist, wenn es sich 
urn prim&re oder supprim&re Reize bandelt. Die den Traum hervor- 
rufende Erinnerung braucht naturlicb nicht direkt vor dem Einschlafen 
erworben zu sein, sondern kann auch weiter zuruckliegende Ereignisse 
betreffen. 

Je ausgesprochener bypernoisch eine Konstitution ist, desto starker 
kSnnen Erinnerungen aus dem wachen Zustand in dem Hemmungszu* 
stand weiter wirken. So finden wir besondere bei Hypernoiscben die 
Fikigkeit, zu der Minute aufwachen zu kdnnen, zu der sie es sich vor* 
nehmen. Die Autosuggestion wird bbufig durch die Angst unterstutzt, 
etwas Wicbtiges za versaumen oder Unannehmlicbkeiten im Falle des 
Verschlafens zu haben. Der Schlaf ist dann weniger tief, oft treten 
Tr&ume auf, die sich urn die Folgen des Verschlafens drehen und die 
Angst davor unterhalten. Wenn es sich dagegen um eine belanglose 
Sacbe handelt, kann der Schlaf bis zur bestimmten Zeit fest und traum- 
los sein. 

Der Mechanismus ist hierbei derselbe wie bei den posthypnotischen 
Auftragen. Der Wachzustand verbalt sich ja zur Hypnose ebenso wie 

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der Schlaf zum Wachzustand, d. b. die psychiscbe Kraft ist in der 
Hypnose starker als im Wachen, im Wachen starker als im Schlaf. Der 
Auftrag, der in der Hypnose gegeben wurde, ist nachher nur scheinbar 
vergessen. Das geistige Leben spielt sicb obne Stfirung ab, bis der 
Aogenblick kommt, fur den der Auftrag gegeben wurde. Ebenso wirkt 
die Autosuggestion des Erwachenmiissens wahrend des Schiafes nach 
und lost erst im gegebenen Moment die Erregung aus, die das Erwachen 
herbcifuhrt. 

Derartige Ausldsungen dutch eiuen bestimmten Zeitpunkt sind nichts 
Erstaunliches, sondern kommen im taglichen Leben sehr hautig vor. 
Weuu man fur den nachsten Tag z. B. eine Verabredung trifft oder an 
einem bestimmten Tag einen Termin wahrzunebmen bat, so kann die 
Zwischenzeit auf die gewohnte Weise ausgefullt werden, ohne dass man 
standig an die Verabredung oder den Termin denkt. Erst die bestimmte 
Stunde weekt die Erinncrung daran. Anders ist es nur, wenn man die 
Stunde sehnsiichtig oder angstvol) erwartet, die Vorstellnng also stark 
affektbetont ist. Man denke an die Unrube nervdser Menschen vor deni 
Examen, vor einer Rede oder vor sonst einem sle aufregenden Ereig- 
nisse. Bei nerv&sen Kindern genugt die Erwartung eines Theaterbesuches, 
einer Reise, des Weihnachtsfestes, um das seeliscbe Gleichgewicht zu 
erschfittern. 

Es zeigt sich bier, dass die Absch&tzung der wahrend des Schiafes 
verflos8enen Zeit bei Hypernoischen und weniger tiefem Schlaf recht 
genau sein kann, wobei aller dings auch Uebung oft eine Rolle spielt. 
Bei starker ErschdpfuDg und entspreebend tiefem Schlaf gelingt das 
rechtzeitige Erwachen auch dem Hypernoiker niebt Bei dem alltSglichen 
zur selben Stunde erfolgeuden Aufwacben spielen noch andere Momente 
der GewOhnung, vor allem auch physischer Natur eine Rolle, so dass 
dies auch Hyponoikern oft gelingt. 

Auf Hypernoiker ist ferner eine andere, oft diskutierte Erschei- 
nung beschr&ukt. Die TrSume malen ihnen bisweilen die Zukunft bis 
ins Einzelne aus, allerdings mehr ein erhofftes oder befiirchtetes als ein 
zutreffendes Bild der Wirklichkeit im Voraus entwerfend. In manchen 
Pollen kommen aber doch Aehnlichkeiten in Situationen oder Worten 
vor, die bei der summarischen Erinnerung an den Traum zur Ursache 
fur das Gefuhl des d6ja vu werden. Man glaubt, dasselbe Ereignis, 
dieselbe Situation schon einmal erlebt zu haben, ohne sich zu erinnern, 
dass es nur ein Traum gewesen war. 

Ellis konstatiert, dass mehrere Autoren (Laland, Heymans, Du¬ 
gas) diese Erscheinung viel h&ufiger bei gebildeten Leuten als bei uu- 
gcbildeten feststellen konnten. Das trifft mit unserer Behauptung zu- 


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sammen, dass die Gebildeten ofter and detaillierter tr&umen. Sie sind 
vielfacb Hyperuoiker, ihre TrSume enthalten in jedem Falle, ob sie vou 
der prim&ren oder sekund&ren Stufe ausgeben, zahlreiche sekund&re 
El entente, ebenso wie die katatonischen Psycbosen der Hypernoiker. 

Aus denselben Gruoden, die die Unterscheidung einer katatonischen 
Melancholic vou einer hysterischen ini Anfang erschweren, ist die Ent- 
seheidung schwer oder unraoglich, welchc. Art von Traum im Einzelfall 
vorliegt. Wenn auch die Vorstellungen in den Traumen einer byper- 
uoischen Ronstitution eine gewisse Inteusit&t entfalten und relativ stark 
sein konnen, so ist doch ihre Macbt durch die den Schlaf bedingende 
Hemmung sehr erheblich bcschrSnkt. Es gibt dalier keineu Traum, 
der sich dem Bilde der hysterischen Melancholic vergleichen liesse, 
deren Erleben im Traume sonst seinen hysterischen Ursprung dokumen- 
tieren wurde. 

Daher ist aach das Auftreten von Augst in keiner Weise als ein 
Zeichen der hysterischen Entstehung eines Traumes zu verwerten, was 
man naeh ihrem hauflgeu Auftreten bei der hysterischen Melancholie 
vielleicht erwarten kdnnte. Der Grund hierfur sei kurz auseinander 
gesetzt. 

Mit grfisster Wahrscbeinlichkeit konnen wir eine hysterische Melan¬ 
cholic dann annehmen, wenn ein hypernoisches Individuum im Anschluss 
an eine schwere seelische Erschutterung eine Psychose mit depressiver 
Erregung bekommt. Der Aflekt ist zun Hells t nicht immer als Angst zu 
bczeichnen. Oft ist es genaner Reue fiber frfihere Handlungen, Sorge 
vor der Zukunft, Gram fiber die Vernichtung des Lebensgluckes, Insuf- 
fuienzgeffibl gegenfiber den Aufgaben des t&glicben Lebens, die mit- 
unter zu den heftigen Angstanfallen fuhren, in denen die Gefahr des 
Selbsimordes auftritt. Angst ist der allgemeinere Begriff. Es gibt daher 
eine unbestimmte und nicbt uaher zu begrundende Angst, wEhrend die 
oben augefubrten Affekte eine bestimmte Ursache, ein Objekt haben, 
auf das sie sich beziehen. Ebenso verhalt es sich mit Schreck, Ent- 
setcen, Furcht, nur liegt in diesen Affekten noch das Plbtzliche, Vor- 
ubergehendc, im Gegensatz zu den erstgenannten, die anhalteuder sind. 
Auch diese Uuterschiede der Dauer verwischen sich in dem umfassenderen 
Begriff der Angst. Bei schw&cberen Graden der Erregung bleibt sich 
das Individuum bewusst, worauf der Affekt zuruckzufubren ist, und 
schildert die Gruude oft in beredter Weise. Wird aber der Affekt fiber- 
macbtig, so treten alle Vorstelluugeu in den Hiutergrund und wir haben 
es dann nicht mehr mit Reue, Sorge, Gram usw. zu tun, sondern mit 
anertriglicher, grenzenloser, sinnloser Angst, dem prim&ren asthenischen 
Affekt. 


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Ein solcher Angstsustand bietet daher koine Kennzeichen seiner 
hysterischen Entstehung, er kdnnte ebenso gut prim&rer, katatoner Natur 
sein. Nur die Kenntnis der Konstitution and der Vorgeschickte, also 
der Konstellation und der Grad der Erregung kann die Diagnose er 
mdglichen. 

Die hysterische unmotivierte Angst stellt also einen besonders hoheu 
Grad von Erregung dar. Sie kann daher im Traum nicht vorkommen. 
Unbestimmte Angst muss vielmehr stets katatonen Ursprungs sein. Fur 
das Auftreten auch der leichteren hysterischen Melancholiezust&nde sind 
aber die durch die Hemmung geschaffenen Bedingungen obenfalls sehr 
ungunstig. 

Kaum ein Geisteskranker ist schwerer einzuschllferu, als der Melan- 
cbolische. Die angstvolle Erregung raubt wie keine andere den Schlaf 
und besonders wenn sie immer von neuem durcb die Gedanken anfge- 
peitscht wird, wenn sie also hysterischer Natur ist. Zum Schlafe ist 
eine gewisse Herabsetzung der psychischen Energie erforderlich und 
diese wird durch die Konzentrierung der Vorstellungen und der damit 
▼erbundenen affektiven Erregung verhindert. Auch andere Affckte, wie 
Freude, Hoffnung konnen ebenso wie kCrperlicher Scbmerz oder sexuelle 
Erregung den Schlaf verscheuchen. Sie alle sind aber leichter zu be- 
k&mpfen als die Angst. Tritt nun in solchem Zustand Schlaf ein, so 
muss vorher die Angst nachgelassen haben. Sobald umgekohrt im 
Schlaf heftige Angst auftritt, wird die Erreguug so gross, dass Er- 
wachen die Folge ist. 

Die im Schlaf bestehende Hemmung lasst eine Konzentrierung der 
Aufmerksamkeit, wie sie der Melancholie eigen ist, nicht zu. Es gelingt 
auch im lebhaftesten Tr&umen nicht, einen Gedanken dauernd festzuhalten 
oder ihn in logischer Weise zu verarbeiten. Die Melancholie ist aber 
gerade dadurch ausgezeichnet, dass die „fixe ldee“ immer weitere Kreise 
zieht und die ganze psychische Kraft absorbiert. Im Gegensatz dazu 
wird der Traumende immerzu abgelenkt, seine Vorstellungen reihen 
sich ja in unlogischer Weise, ideenfl&chtig aireinander. 

Ein affektvolles Erlebnis kann zwar die Traum vorstellungen stark 
beeinflussen, die Motivierung des Affektes kann aber im Traum eine 
vdllig andere sein als im Wachen. W&hrend wir bei der hysterischen 
Melancholie das ausldsende Ereignis im Anfang der Erkrankung meist 
aus den Reden des Kranken erschliessen konnen, da alle Gedankenreihen 
auf denselben Mittelpunkt fubren, kann der affektbetonte Traum einen 
vdllig anderen lohalt haben, als der ursprungliche Affekt. Die Vor- 
stellung, die den Affekt anfangs ausgelOst hat, kann durch andere er- 
setzt nnd selbst vergessen sein (Yerschiebung). Was bei der Melan- 


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Aufsatze zar energetischen Psyohologie. 


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cbolie durch Halluzinationen, also starke Erregung, bewirkt werden 
kann, wird im Traum durcb die Hemmung hervorgerufen, die za ideen- 
fluchtiger Assoziatioo fuhrt 

Es ist also die aomotivierte Angst im Traum nicht als Zeichen 
hy&teriscber, sondem katatoner Defek ter regang anzusehen und nur die 
motivierten Affekte bei Hypernoikern stlrkcren Grades sind fur die 
Aonahme eines hysteriscben Traumes zu verwerten. 

Neben der irrtumlichen Ansicht, dass der Inhalt der Traume von 
den Reizen abh&ngig sei, sind es wobl noch zwei Momente, die vor 
allem daxu gefuhrt haben, ausser dem Defekt noch audere Ursachen fur 
die Eigeoart der Tribune zu suchen.. Das eine ist das Streben, einen 
geoaueren Einblick in das intimste Seelenleben zu gewinnen, als es sonst 
mfiglich ist, das zweite h&ngt mit der Auffassnng der Hypnose zu- 
aammen. 

Man glaubt noch heute vielfach, dass sich im Traume der wahre 
Charakter des Menschen zeigt. Die im Wachen vorhandenen Hemmungen 
fehlen and nan treten die geheimsten Wunscbe, die sonst unterdruckten 
Triebe und Leidenscbaften ans Licht. Die Auffassung ist sogar sehr 
verbreitet und bei den Freudianern gerftt zweifellos jeder in den Ver- 
dacht pro domo zu sprechen, der ihr entgegentritt. Nun, wir haben 
oben anseinandergesetzt, dass die Hemmung gerade die hdchsten psy- 
chischen Akte, zu denen wir die Ssthetiscben, moralischen, sozialen — 
die kotnplexen — Gefuhle rechnen, am st&rksten schadigt und dass 
daher jeder, anch der beste Mensch gelegentlich Tr&ume hat, in denen 
er entgegengesetzte Cbaraktereigenschaften zeigt. Wir wurden uns doch 
anch nicht einfallen lassen, den Charakter eines Menschen nach Haod- 
I cm gen seiner ersten Rindheit oder nach dem klinischen Bilde zu be- 
urteilen, das er w&hrend einer katatonischen Psychose zeigt. Und doch 
wire das kein grdberer Fehler! Die Trlume sind jedenfalls in dieser 
Bene hung nicht zu verwerten, auch nicht, wenu man sich eine beson- 
dere Symbolik nach Freud’schem oder sonstigem Master dafur zn- 
rechtmacht. 

Wesentlich dagegen scheint, dass sich aus ihnen die Abh&ngigkeit 
der Ethik von der psychischen Energie ergibt. „Moral begrunden ist 
schaer**. Hier zeigt sich wenigstens, dass ihre hohe Bewertung inso¬ 
lent bercchtigt ist, als sie hbchste Rraftleistungen erfordert. Das Be- 
wusstsein, dass jede sittlich wertvoile Handlung den gcistigen oder 
kunstlerischen Taten ebenburtig an die Seite zu stellen ist, durfte jeden¬ 
falls tief in der Volksseele wurzelo. Es ist die Kraft, die psycbische 
Energie, die man in jeder Leistung, auf welchem Gebiet es auch sei, 
wh&tzt und achtet. 


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Dr. Harry Marcuse, 


. Schlaf und Hypuose werden noch heuto vielfach als sehr abnliche 
Bewusstseinszustande angesehen. In der energetischen Theorie ist aus- 
einandergcsetzt, dass die Hypnose mit Schlaf nichts zu tun hat, sondern 
einen auf Vorstellungen beruhenden, nur durch das Vorhandensein be- 
stiramter Vorstellungen mdglichen, Erregungszustand darstellt. Es gibt 
in der Tat keine Schlaf erregende Vorstellung. Wenn wirklicher, nicht 
hypnotischer Schlaf hervorgerufen werden soli, so entfernt man alles, was die 
geistige Tatigkeit anregt oder als supprimarer oder primirer Reiz wirken 
kdnnte. Die Versachsperson soil nichts denken, sich nicht bewegen, 
nichts sehen oder hOren. Wenn es nicht gelingt, die Reize aaszuschalten 
z. B. bei heftigem Zahnweh, bei grosser Angst oder Widerstreben, wird 
die Schlafsuggestion erfolglos seiu. Bei fehlenden Reizen sinkt die 
psychische Kraft und es kann schliesslich zu richtigem Scblafen kommen. 

Der hypnotische Zustand zeigt sich als das Gegentcil des normalen 
Schlafes u. a. durch den sogenanuten Rapport zwischen Hypnotiseur 
und Versuchspersou. Die Konzentrieruug der psychischen Euorgie der 
ietzteren auf bestimmte VdrsteUungen oder gegebene Reize bewirkt, 
dass schon sehr kleine, den Zuschauern nicht bemerkbare, auch unwill- 
kurlicbe Einwirkuugen des Hypnotiseurs das Medium beeinflussen. Die 
Vorstellungen des Hypnotisierten sind „das Instrument, auf dem der 
Hypnotiseur spielt". Es gelingt daher die Hypnose ausschliesslich bei 
hypernoischen Konstitutionen. Sie ist ein Erregungszustand und beruht 
ebenso wie die hysterischen Erregungszustande auf Vorstelluogen. 

Grade an der Auffassung der Hypnose zeigt sich, dass die Beruck- 
sichtigung der lutensitatskomponente und die Annahine psychischer 
Akte verschiedeuer Entwicklungsstufe richtig und notwendig ist. Dann 
braucht man auch zur Erklarung dieses vielumstrittenen PhSnomens 
keine „Spaltung der PersOnlichkeit“ oder abnliche nichtssagende Bilder 
zu Hilfe zu nebmen. 

Unsere Anschauung uber das Traumen lasst sich folgendermassen 
zusammenfassen: 

Der normale Meusch ist als Hypernoiker zum Traumen dispouicrt. 
Nur wenn der Schlaf eine gewisse Tiefe oder, was dasselbe sagt, die 
Hemmung der psychischen Kraft einen gewissen Grad erreicht, ist der 
Schlaf traumlos. 

Alle Momente, die die Schlaftiefe verringern, sind geeignet, das Auf- 
treten von Traumen zu begunstigen. Solche Momente sind: 

1. Supprim&re Reize wie Stdrungen der Herztatigkeit, der Atmung, 
der Verdauung u. a., die korperliches Unbehagen (oder Be- 
hagen) verursachen; 


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Aufsatze zur energetischen Psychologie. 


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2. Prim ire Reize, die eatweder auf den sup prim Aren beruhen, 
wie Atemnot, Uebelkeit, Schmerz, sexuelle Erregung oder das 
Individuum von aussen treffen, wie akustische Reize, Hautreize, 
Licht usw.; 

3. Sekund&re Reize, wie affektbetonte Vorstellungen oder inten¬ 
sive geistige Titigkeit. 

Die letztgeuannten fuhren zu bysterischen oder psychogenen, die 
ersten bpiden Gruppen zu priunaren oder katatonischen Tr&umen. 

Die Lnterscbeidung von hysterischen und katatonischen Tr&umen 
betrifft nur ihre Entstebung, nicht ibren Inhalt. 

Die Wahrscheinlicbkeit, dass ein Traum von der sekuudiren Stufe 
ausgegangeu, also bysterisch ist, liegt dann vor, wenn 1. ein hysteri- 
scher Erreguugszustand vor dem Schlaf bestanden bat, dagegeu primare 
Erregungeu wie Alkoholgcnuss, kOrperlicbes Unbehagen, Fieber uud der- 
gleichen auszuscbliessen sind, 2. eine hypernoische Konstitution vor- 
banden ist, 3. der Traum lehhaft, detailliert und einigermassen zusam- 
menhaugend war. 

Das erste Merkmal ist das wichtigste, das zweite ist fur das Zu- 
standekommen eines bysterischen Traumes Bedingung, wird aber meist 
als vorliegend anzunehmeu sein, wenn es sich um normale Menschen 
handell, das dritte ist bei Hypernoikern hOberen Grades auch baufig vor- 
banden. wenn der Traum von der prim&ren Stufe ausgegangeu ist; es 
ist also nur bei Hypernoikern geringeren Grades zu verwerten, bei Men 
schen, die selten lebhaft traumen. 

Sicker sekuod&ren Urspruugs sind nur die Tr&ume, in denen affekt- 
betonte Erlebnisse mil so geringen Ver&nderungen reproduziert werden, 
dass der iogische Zusammenhang erkennbar ist, dock darf man bier die 
Grenzen nicbt zu weit ziehen. Man kann also leicbter einen katatoni- 
scben Traum und nur selten einen bysterischen Traum diagnostizieren 
und wird in einer Anzabl von Fallen nicht tiber eine gewisse Wahr- 
scheinlichkeit binaus kommen. 

Der Inhalt der TrAume ist nicbt von den sie auslosenden Reizen, 
sondern von der Konstellation abh&ngig. 

Die Ursacbc ihrer Eigenart ist die Hemmuug der psychischen 
Kraft, infolge deren das psychiscbe Gescheben im wesentlichen reflek- 
torisch verl&uft und die hOberen psychischen Leistungen unmOglich ge- 
maeht sind. 

Den Tr&nmen kommt keine grdssere Bedeutung zu als den Wakn- 
vorstellungen oder den Aeusserungen von Geisteskranken. Sie sind kein 
Spiegelbild, sondem ein Zerrbild des Lebens. 


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3. Die relative!) Erregungszust&nde. 

Gleichzeitige Wirksamkeit positiver uod negativer Reize. Die Konstellation 
bei Hypernoikern. Das Sohlafwandeln. Physiologisohe Dammerzustande. Die 
Erschopfung. Die relative Erregung als Grundlage der traumatischen Neurose. 

Entstehung der traumatischen Symptome. Die Kriegsnearose. 

Bei der Betrachtung der Hysterie und Neurasthenic haben wir nach- 
zuweisen versucht, dass die Symptome dieser Krankheitsbilder stete Er- 
regungssymptome sind, w&hrend die Cntersucbung der Tribune zeigen 
sollte, dass das Wesentliche, die Ursache ihrer Eigenart, in der Hem- 
mung zu erblicken ist, der das psychische Kraftzentrum w&hrend des 
Schlafes unterliegt. 

Die Begriffe der Erregung und Hemmung habe ich friiher bereits 
in ausfuhrlicher Weise erflrtert und auch in diesen Aufs&tzen ist zum 
Ausdruck gebracht, dass es sich um Einfluihe bandelt, welche die Reak- 
tionsf&higkeit des Kraftzentrums in positivem Oder negativem Sinne 
verandern, dass aber Erregung auch dnrch fruher wirksam gewesene 
reproduzierte Reize, durch Vorstellungen hervorgerufen werden kann. 

Die bisherige Darstellung musste in gewissem Grade einseitig sein, 
um zunachst d;is Wesentliche von dem Unwesentlichen scharf zu trennen. 
Es machte sich jedoch bereits an mehreren Punk ten fuhlbar, dass die 
psychologische Analyse den klinischen Bildern nicht vOllig gerecht wurde, 
dass noch ein Rest der Neurastlienie z. B. nicht als Erregung, das Schlaf- 
wandeln nicht als Hemmung allein aufgefasst werden kann. 

Haben wir erst nachzuweisen gesucht, dass Hemmung und Erregung 
uberhaupt zusammen vorkommen kOnuen, so erubrigt nun noch klarzu- 
legen, dass sie nicht selten vereint sind und dass es sich bei jeder Ana¬ 
lyse eines Bewusstseinszustandes darum handelt, den Einfluss der einen 
gegen den der entgegengesetzt wirkenden Moroente, das Yerbaltnis der 
positiven zu den negativen Reizen, abzuw&gen. 

Die Reaktionsf&higkeit eines psychischen Kraftzentrums ist durch 
seine Konstitution nur in groben Umrissen festgelegt, innerhalb deren 
aber Schwankungen nnterworfen, die auf sehr verschiedene Drsachen 
zuruckzufuhren sind. Derselbe Mensch reagiert auf denselben Reiz iu 
verschiedener Weise, wenn er kbrperlich gesund oder krank, frisch oder 
ermudet, jung oder alt, nucbtern oder angetrunkcn ist, wenn sein In- 
teresse von anderen Dingen bereits in Anspruch genommen ist oder er 
grade nach Betatigung verlangt. 

Diese gewissermassen zuf&lligen Umstande sind der Konstellation 
znzurechnen und kounen eine einzelne Reaktion sehr wesentlich beein- 
flussen, sie unterscheiden sich aber von den konstitutionell bedingten 


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Aufs&tze zur energetischen Psychologic. 


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Einflassen, denen die Reaktion unterworfen ist, dadurcb, dass sie erworben 
oder verubergebend, jene dagegen angeboren und dauernd wirksam sind. 

Die Reaktion h&ngt nun bei hypernoischen und hysterischen Kon- 
stitutionen in stArkerem Masse als bei Hyponoia und Imbezillit&t 
von der Konsteliation ab. Die sekundAre Funktion ist nicht nur gegen 
alle Arten supprimArer und primArer Reize empfindlicher und beant- 
wortet sie mit stArkeren Schwankungen als die prim are, sondern es 
werden auch die gerade vorhandenen Vorstellungen einen Reiz unwirk 
earn macben oder ibn verst Arken kOnnen. Diese Wirkung der Vorstel¬ 
lungen ist naturgemiss weniger bedeutend in den Konstitutionen mit 
uberwiegendem P und daher sind die Mbglichkeiten verschiedener Kon¬ 
steliation zahlenmAssig hier viel geringer. Der Hyponoiker^ ist im 
wesentlichen nur von Ausseren und supprimAren UmstAnden abhAngig, 
auf den Hypernoiker wirken ausser diesen noch die ihn bescbAftigenden 
Gedanken, seine Vorstellungen. 

Hier werden daher die gleicbzeitig nuftretenden erregenden und 
bemmenden Reize zu komplizierteren Zustanden fiihren, denen wir noch 
einige Bemerkungen widmen wollen. 

Wir fassen sie als n re)ative ErregungszustAnde“ zusammen und 
untersebeiden sie dntnit von den Defekterregungen. Sie stellen geringere 
Grade als diese dar, sowobl was die Erregung wie aucb die Hemmung 
betrifft und stehen also dem normalen Zustande nAher als diese. 

Die Ermfidung bei geistiger Arbeit, bei anhaltendem Kunstgenuss, 
bei affektiver Erregung u. a. fuhrt zu den leiebtesten Formen dieser 
ZustXnde, in denen sich die Wirksamkeit der negativen und positiven 
Reize kombiniereu. Hierher reebnen wir ferner gewisse Formen der 
traumntischen Neurose und der Neurasthenie, sowie das Schlafwandeln 
der Hysteriker. Die DAmmerzustAnde auf epileptischer Basis sind als 
Defekterregungen zu bezeichnen, weil sie Ausseren Einflussen nicht zu- 
gAnglich sind und sich dadurch als HemmungszustAnde stArkeren Grades 
erweisen. Ebensowenig gehOreu die hysterischen DAmmerzustAnde hier¬ 
her, da in ibnen die Erregung zu stark ist. 

Eine ^relative Hemmuug“ in entsprechender Weise anzunehmen, liegt 
kein Grand vor. Die relative Erregung l&sst sicji umschreiben als eine im Ver¬ 
batim's zur Hemmung der primaren erregte sekundare Funktion. Die relative 
Hemmung ware eine im Verhaltnis zur Erregung der sekundaren gehemmte 
primare Funktion, was auf dasselbe herauskommt, oder eine im Verhaltnis zur 
erregten primaren gehemmte sekundare Funktion, was nur eine imbezilie oder 
Defektreaktion zur Folge haben kann. 

Schlafwandeln kommt nur bei hysterischer Konstitution vor und 
steilt einen relativ hysterischen DAmmerzustand dar, dessen Hemmung 


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auf der scblaferzcugenden Ursache beruht, dessen Erregung katatonisclien 
oder bysterischen Urspruugs sein kanu, in jedem Falle aber die Spon¬ 
taneity der ho here n Stufe in uberwiegendem Masse betrifft. Gs ent- 
spricht also den Affekttrauraen der Hysteriker. Die Erinnerung ist eine 
suramarische, meist beschrankt auf die Zielvorstellung, die das Woilen 
lenkt. Sie fiihrt aber nur zu automatiscbein Handeln, das sicb im 
Wachen als ebenso falsch motiviert, sinnlos, kritiklos erweist, wie die 
AlTekte des Trauraes. Die VorstelluDgen der Gefahr, des Verbotenen, 
auch des Uumoralischen der Handlungsweise, die im Wachen sofort 
assoziiert werden, sind infolge der Hemmung nicht reproduzierbar. Das 
Missverhaltnis vou P: S ist so erheblich,’ dass die geringe Hemmung 
gerade noch genugt, den Schlaf zu ermoglichen, wabrend die Grregung 
der sekund&ren Punktion sicb bereits in reflektorisch ausgelSstera Han¬ 
deln geltend machen kann. Dass dieses aucb vom Staudpunkte der 
Traumvorstellung unzweckmassig sein kann, ist naturlich, da es nur von 
der Konstellation, nicht von der Ueberlegung abh&ngt, was getan wird 
und die Vorstellungen, also Halluzinationen, das Bewusstsein beherr- 
schen. Der Schlafwandelnde glaubt etwas tun zu sollen, biidet sich 
ein, eine bestimmte Handlung auszufuhren, wabrend er, ohne es zu be- 
merken, reflektorisch auf ein falsches Gleis geriU und sich so automa- 
tisch weiter von seinem Ziel entfernt. 

D&mmerzust&nde, in dcnen das Empfinden iiberwiegt, kdnnen bei 
Ermudeten z. B. in einem Vortrag oder Konzert auftreten. Sie enthalten 
besonders Gesichts- und Gehorsballuzinationeu. Man erlebt plotzlich 
eine Veranderung der Situation, bort deutlich andere Worte, tr&umt 
lebhaft und wird durcb eine Pause des Vortrags, eine Verstarkung der 
Musik oder auch ein Zeicben des Nachbars geweckt. Der Zustand steht 
ebenso auf der Grenze zwischen Scblaf und Wachen wie das Schlaf- 
wandeln, bei beiden geniigen geringfugige aussere Reize, um die geringe 
Hemmung der primaren Funktion zu uberwinden. 

In ibneu ist die Erregung immer nur relativ gross, die Hemmung 
dagcgen noch recht erheblich, was daraus zu schliessen ist, dass die 
bdheren psychischen Akte ausgeschaltet sind und die Erinnerung grosse 
Lucken zeigt. Der Affekt durfte selten oder nie die uberwiegende Qua- 
litat sein, da bier die Grenze, die zu vblligem Erwachen fubrt, sehr 
bald erreicht werden wurde. 

Starkere Erregung und geringere Hemmung zeigen nun gewisse 
Zustande, die hauptsachlich dem Kreis der neurasthenischen Krankheits- 
bilder angehbren, die aber in ahnlicher Weise auch in den Anfangs- 
stadien der Katatonie und aller organischen Hirnkrankheiten entstehen 
kdnnen. Vorbedingung ist auch bier stets das Vorhandensein einer 


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hypernoischen Konstitution. Die be'mmend wirkende Noxe ist sehr h&ufig 
die chronische Ermfidung, die Erschopfung. Besonders anstrengende 
Mfirsche, uuregelm&ssige Ern&brung, nicht genfigender Schlaf bei st&n- 
diger korporlicber Anstrengung und oft aufregenden gef&hrlichen Situa¬ 
tions odor geistiger Anstrengung stelleo hohe Anforderungen an die 
psychische Energie und mussen selbst bei normaler Widerstandskraft 
schli^sslich zu einer Unterbilanz ffihren. Die Znst&nde mussen psycbo- 
logisch vollkommen denen gleicben, die cbronisch verlaufende allgemeine 
organische Schadigungen des Gehirns hervorrufen. Wahrend sich jene 
aber sukzessive verschlimmern, je weiter das Leiden fortschreitet. kann 
die Erschopfung zwar zunaehst zu vQlligem Zusammenbruch fuhren. 
Mit deni Augenblick aber hOren die Anforderungen auf und die Resti¬ 
tution beginnt und kann bei Ruhe und Pflege zu volliger Wiederher- 
stellung fortsebreiten. Naturlich haben wir bier nur die psycbologischen 
Verhaltnissc im Auge und seben von der grossen Zahl kdrperlicher 
Stdrungen ab, die das Bild kliniscb anders gestalten konnen. 

Das modeme Leben schafft auch in normalen Zeiten Verhaltnisse, 
die eine Uebermudung infolge Deberanstrengung bei vielen Menschen 
zur Folge haben. Die Entfernungen in den Grossst&dten, die harte 
korperliche Arbeit in Fabriken, Bergwerken, industrielleu Betrieben, die 
scbiechten Wohnungsverhaltnisse, kurz der Kanipf ums Dasein wirkt auf- 
reibend und zermurbend, wenn die Gelegenheit zur Erbolung feblt. 

Dazu komtnt vor allem, dass die Ansichten fiber das, was Erholnng 
ist. noch recht verkehrte sind. Der Arbeiter glaubt, er musse sich 
inindestens am Sonntag im Wirtshaus oder im Kino ffir die Muhe der 
Woche entscbfidigen. Der Kaufmanu will sich vielleicht kunstlerische 
Genusse gOnuen und opfert dem Theater oder Konzert seine Nacht- 
ruhe. Viele loekt der Tanzboden, die Freuden der Geselligkeit oder 
sexuelier Betfttigung. Die Wenigsten aber bedenken, dass diese Art 
der Krholung das Gegenteil von dem ist, was ihnen Not tut, dass hier- 
bei stfindig Kraft verbrauebt wird, die Zeit der Rube, des Schlafes ver- 
kiirzt und so die einzige Mdglichkeit das Verbrauchte zu ersetzen, die 
Krifte zu sammeln und die Leistungsf&higkeit zu erbalten, mehr und 
mehr ausgeschaltet wird. Man glaubt eben noch vielfach, Vergnugeu 
und Erbolung seien identisch, wahrend das Vergnugen oft anstrengender 
als die Arbeit ist. 

Auch der Irrtum ist verbreitet, dass man geistige Arbeit durch 
kfirperlicbe kompensieren kfinnte, und bis vor kurzem waren die Turn- 
stunden in den Schulen als Erbolung zwischen wissensebaftliehe Stunden 
eingeschaltet. Neuerdings hat man wobl eingesehen, dass beimTurnenzwar 
eine andere Form psych ischer Energie verbraucht wird als beim Lernen, 


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dass aber die Quelle fur alle psychiscbe Energie dieselbe ist, und das 
Kraftzentrum leichter erschopft wird und Schaden erleidet, wenn es be- 
reits dutch geistige Arbeit ermudet noch korperlichc Leistungen voll- 
bringen muss oder umgekehrt. 

Dass die Zeit der Verdauung geistigeu H&chstleistungen nicbt gun- 
stig ist, weiss man seit langem: Plenus venter nou studet libenter. Hier 
wird die supprimare Funktion durch die Steigerung der Drusentatigkeit 
von Magen und Darm, die Erhdhung des Blutdruckes, Erschwerung der 
Atmung usw. in hdherem Masse in Anspruch genommen, so dass fur 
die h5heren Funktionen weniger psychisclie Energie als sonst verfugbar 
ist. Ebenso muss natiirlich jede korperliche Arbeit durch ihre Wir- 
kung auf den Organismus den h5heren psychischen Funktionen Energie 
entziehen. 

Der Wert der Abwechslung zwischen geistiger und kGrperlicher 
Betatigung liegt darin, dass weder Geist noch Kdrper zu kurz kommen 
sollen. Vielleicht ist aber dies Ziel doch nur in beschr&nktem Masse 
erreichbar, insofern Veroachl&ssigung und damit Verkummerung oder 
Erkrankung des einen von beiden vorgebeugt wird. Wird z. B. die 
Muskulatur stark ausgebildet, so verlangt sie dauernde Debung, ist es 
aber der Geist, so stellt er mindestens ebenso grosse Anforderungen. 
Die Kraft wird also zersplittert und das wird aus praktiscken Grfinden 
gewohnlich unzweckmassig sein. 

Je nacbdem man Gefahr und Nutzen der Spezialisierung hewertet, ent- 
soheidet sich die Frage der sogenannten Kultur der linken Hand. Man kann 
den Rechtshandern wohl kaum eine recht erbebliohe Kultur auch der linken 
Hand absprechen. Sie Uegt gerade in der Differenzierung, die es fur die rechte 
fast ebenso schwer macht, die linke zu ersetzen als umgekehrt. Die Kraft bier 
gleichmassig auf beide verteilen, nur urn fur einen etwaigen Unfall oder Schlag- 
anfall besser gerustet zu sein, scbliesst die bohe Wahrsoheinlichkeit in sich, 
dass die Kultur der Rechteu leidet. Die angebliohe Wirkung auf Bildung eines 
zweiten Spracbzentrums, wiihrend das liuksseitige noch funktioniert, erscheint 
recht zweifelhaft. Wahrschoinlich wiirde auch in diesem Falle zwischen den 
beideu Zentren eine Arbeitsteilung Platz greifen, die die Gesamtleistung nicht 
erhoht, aber bei Schadigung des einen doch das Auftreten sohwerer Ausfalls- 
symptome nicht verhindert. 

Die hygieniscbe Forderung, dass man nach der Arbeit Kdrper und 
Geist Ruhe gonnen muss, konnen wir also von unserem Standpunkte 
gut verstehen. Wir wissen aber, dass ihr haufig nicht Genuge geschehen 
kann, dass vielmehr der Mensch von neuem an die Arbeit gehen muss, 
bevor vollige Erbolung eingetreten ist. Einige Zeit lang wird er deu 
gesteigerten Anspruchen gerecht werden konnen, indem er sich ge- 


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wissermassen darauf einstellt. Er nimmt seine ganze Kraft zusammen 
and befindet sicb nan in einem Zustande Ausserster Anspannung. Er 
denkt jetst schneller, begreift rascber, urteilt scharfer, bandelt ent- 
sehlossener als gewbhnlich. Entsprechend ist er empfindlicber gegen 
Aussere Eindrucke, reizbarer in seinen Gefuhlen, der Blutdruck ist ge- 
steigert, die HerztAtigkeit beschleunigt. Der Scblnf weniger tief. Er 
befindet sich in einem Erregungsznstand. 

Je stArker die Konstitution bypernoisch ist, desto fruher muss das 
MissverhAltnia von P: S so erheblicb wachsen, dass die klinischon Syra- 
ptome der Hysterie oder Neurasthenic auftreteu. Wird das Tempo der 
Arbeit nicbt verlangsamt, so muss Ermudung die Folge sein. Nqben 
die Erregung tritt die Hemmung mit all den Konseqaenzen, die wir 
bereits besprocben baben, die kurz gesagt, Quantit&t und QualitAt der 
Leistung schadigt. Es kommt noch nicht zu eigentlicben Defektreak- 
tionen; bei wichtigen AnlAssen gelingt es noch immer, die notwendige 
LeistungsfAhigkeit aufzubringen. Es ist aber aus dem anfAnglichen Er- 
regangszustand bereits ein „relativer Erregungszustand“ geworden. Es 
fehlt die fruhere Ausdauer, die unermudliche Schaffensfreude, die Schlag- 
fertigkeit, die jeder Situation gewacbsen war. Es kommen Irrtumer 
»or, die auf Mangel an Aufmerksamkeit und Konzentration beruhen. 
Zerstreutbeit, Vergesslichkeit, Unsicherheit fallen auf, ein Versagen 
gegenuber neuen, ungewohnten Aufgaben. An die Stelle der scbOpferi- 
schen Kraft ist die reflektorisck ausfuhrbare Schablone getreten und 
damit die NervenscbwAche, die Neurasthenie im eigentlichen Sinne des 
Wortes, offenbar. 

Wir sehen also wohl ein, dass der Begriff der Neurasthenie einer 
gewissen Begrundnng nicht entbehrt, halten aber daran fest, dass sie 
stets einen Erregungsznstand einer hypernoiscben Konstitution darstellt 
und dass eine Schw&che oder Hemmung nicht unbedingt zu ibr gehort, 
wenn sie auch hkufig mit ibr verbunden ist. 

Die „relativen ErregungszustAnde“ sind nun dadurcb von besonderer 
praktiscber Bedeutung, dass sie den gunstigsten Boden fur das Auftreten 
der „traumatiscben Neurosen 11 abgeben. Es ist vielleicht nicht zu viel 
gesagt, wenn man die Behauptung aufstellt, dass sie nur auf dieser 
peyehologischen Grundlage zur Entwicklung kommen. Doch ist ihre 
Definition zu unscharf, das Rrankheitsbild zu wechselnd, die Ansichten, 
was als trauniatische Neurose aufzufassen oder anderen Formen der 
Neurose zuzurechnen ist, za rerschieden, als dass mit einer solchen Be- 
hauptung viel gewonnen wire. 

Aus unseren Ueberlegungen ergab sich ferner, dass die Unterecbei- 
dung der versebiedenen psychogenen Krankbeitsbilder nur klinisch, nicht 


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psychologisch ist. Die Beschrankung auf eine der klinischen Forraen, 
deren Berechtigung fraglich and nur empiriscb nachzuweisen ist, durfte 
daher nicbt angebracbt sein. lmnierhin glauben wir gerade die Bnt- 
stehung der traumatiscben Neurose dem Verstandnis niher bringen zu 
kOnnen, indem wir die Wirksamkeit der relativen Erregnng als ein die- 
ponierendes Moment ins Auge fassen. das neben der hysterischen Koii- 
stitution und der Erregung fur eine Anzahl von Fallen in Betracht 
kommt. 

Unfall und Shock sind die beiden wichtigsten Ursachen der trau¬ 
matiscben Neurose. Das „epidemische“ Auftreten dieser Ursachen im 
Kriege musste eine enorme Steigerung der Falle von traumatischer Neu¬ 
rose zur Folge liaben, wenn sie wirklich die einzigen Ursachen w&ren. 
Die Tatsache, dass sich dock nur in relaiiv wenigen Fallen eine Neu¬ 
rose an das Trauma anscbliesst, wie es sicb auch im Frieden verhalt. 
fuhren wir darauf zuruck, dass eine hypemoiscbe Konstitution erforder- 
lich ist, um die Erregung dauernd zu unterhalten. Diesc Hypernoiker 
werden sich aber infolge der Strapazen des Krieges h&ufiger als im 
Frieden im Zustand der Erregung befinden. Die Wirksamkeit des 
Traumas muss hierdurch noch verstarkt werden, so dass die immerhin 
vorhandene Hautigkeit der Kriegsneurose hierdurch ihre Erklarung findet. 
Die Disposition eines Hypernoikers zur traumatiscben Neurose wird 
durch das Bestehen eiuer „relativen Erregung 4 * wesentlich gesteigert. 

Wahrend der relativen Erregung befindet sich das Kraftzentrum 
gewissermassen in einem besonders labilen.Gleicbgewicht. Es sind keine 
Reserven mebr verfugbar. Ein psychisches Trauma, das, wie wir ge- 
sehen haben, stets erregend wirkt, muss nun durch Kraftverbrauch zum 
Zusammenbruch, zum Defekt fuhren, sei es ein primarer Reiz wie 
Schmerz oder ein Affekt Oder eine durch die Umst&nde hervorgerufene 
Vorstellung. Ein supprimarer negativer Reiz, z. B. eine Gehirnerschutte- 
rung, die zunachst vielleicht Bewusstlosigkeit zur Folge hat, muss sich 
der bereits bestehenden Erschopfung hinzuaddieren, und ebenfalls die 
Hemmung vers tar ken. 

In jedem Falle besteht daher kurzere oder liugere Zeit ein Zustand, 
in dem die hOchsten psychiscben Funktionen mehr oder weniger aus- 
geschaltet sind und die reflektorischen Akte das Uebergewicht haben. In 
dieser Zeit konnen sich neue reflektorische Verbindungen bilden, die als 
Krankbeitssymptome in die Erscheinung treten. 

Die Entstehung dieser Reflexe ist von dem Willen des Individuums 
selbstverst&ndlich vbllig unabhangig. Es hat die Fixierung des Zittems 
oder die Lahmung des Armes, die funktionelle Aphonie usw. nicht 
gewollt. Jeder weiss, welche Energie dazu gehOrt, ein derartiges Sym- 


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ptom za simulieren. Aber die Reflexe sind in ihrer Entstehung von der 
Konstellation abh&ngig. Der Wunsch, krank zu sein, Rente zu beziehen, 
aus dem Milit&rdienst entlassen zu werden, kann reflexbahneud wirken, 
ibr Zustandekommen fordern. Das einzelne Symptom ist damit nocb 
nicht bestimmt, es wird vielmehr nur der angenblickliche Zastand im 
Hinblick auf die mOglichen Folgen betrachtet und dabei unwillkurlich 
die vorhandenen Storungen verstirkt empfunden. 

Der vielleicht auftauchende Wunsch, dies oder jenes Symptom zu- 
nachst zu behalten, wird sicber moist sofort unterdruckt und die Ver- 
gangenheit des Uannes beweist oft, dass es ihm nicht an soldatischen 
Tugenden fehlt. Er kann aber nicht dagegen an, dass sich bereits der 
Glaube an die Krankheit bei ihm entwickelt bat. Mit welcbem Sym¬ 
ptom sich dieser Glaube besonders fest verbindet, bftngt von den ver- 
Kchiedensten Zuf&Uigkeiten ab, die dem Kranken selbst vdllig unbekannt 
sind, da es sich eben urn Reflexe handolt. Dnd wenn wir ihm auch noch so 
kiar beweisen, dass sein Glaube falsch ist, kanu das auf sein Leiden keinen 
Einfluss haben, da es nicht logisch, sondem reflektorisch entstanden ist 

In schwereren Fallen zeigt sich, dass aus der hysterischen Konsti- 
tution eine reiativ-hysterische geworden ist. Der Egoismus, die Willens- 
schwache, der Mangel an Konzentrationsf&higkeit, die Gleichgultigkeit 
in mancher Beziebung, die Wehleidigkeit, die zahlreichen kdrperlichen 
Beschwerden sind dieselben Symptome, wie wir sie bei anderen Defekt- 
zustanden Hysterischer finden. 

Die Erregung macht sich in der Herrschaft der Vorstellungen gel- 
tend und iiussert sich besonders deutlich mid leicht nachweisbar in der 
supprimaren Funktion. Die Hemmung macht Kraftleistungen ksthetischer, 
moralischer, sozialer Art unrobglich und beeinflusst daher mancbmal 
den Charakter in recbt ungunstiger Weise. Sie erschwert ferner die 
Bildung neuer Assoziationen und begunstigt so die Entstehung und Fixie- 
rung reflektorischer Akte. Sie verhindert schliesslich zum Teil die 
Umformung der supprim&ren Energie in solche hbherer Stufen und ea 
kann eino starke Erregung der supprim&ren Funktion mit Demenz vor- 
getHnscht werden. Dass auch aus der funktionelleu, scheinbaren Demenz 
eine organiscbe entsteben kann, ist theoretisch nicht auszuschliessen. 
Es kann die Erschopfung so lange gedauert haben, dass eine Restitution 
nicht mehr mdglich ist. Praktisch sind diese FSlle, soweit ich sehe, 
aosserst selten, da der Organismus durch die gewOhnlich rechtzeitig 
einsetzende Bewusstlosigkeit dagegen geschfitzt ist. 

Treten organische Verletzungen des Gehirns hinzu, so pfiegen wir 
nicht mehr von traumatischer Neurose zu sprechen. Die Annahme mole- 
kuiarer Verschiebungen, die wir stillschweigend fur jeden psychischen 

A/ekiv f. P*yebi»tri». Bd. CO. Haft 1. g 


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Akt voraussetzen, kann unsere psychologische Analyse niclit fdrdern, 
da sie ein anatomiscber Begriff ist. Wir kdnnen sie nur ebenso als 
sapprim&ren Reiz werten, wie andere organische Ver&nderangen, die 
sich dem mikroskopischen Nachweis noch entziehen. 

Pur die Auffassung der Kriegsncurosen folgt aus unserer Anscbauuug, 
dass man zwischen rein hysterischen Erregungszust&nden and relative 
hysterischen Erregungszust&nden mdglicbst scharf unterscheiden muss. 
Bine genaue Anamnese wird das in vielen Fallen mdglich machen. 

Die erstgenannten Formen werden naturgem&ss starker hysterische 
Konstitutionen betreffen. Sie erkranken bftufig bereits in der Garnison 
oder werden bei der ersten Gelegenbeit manifest hysterisch. 

Die zweite Gruppe wird dagegen Individueu betreffen, die niemals 
als nervds gegolten haben. Sie sind erst durch die Einwirkungen des 
Feldzuges labil geworden und, weil* sie erschdpft waren, durch ein be- 
stimmtes Ereignis znm Traumatiker geworden. 

Dnter die Einwirkungen des Feldzugs fallt aucb der Alkoholmiss- 
brauch, der haufig eine Rolle spielt und das Krankheitsbild im Sinne 
der Intoxikation beeinflusst. Auch dann aber kann nur auf Grand der 
hysterischen Konstitution eine traumatische Neurose entstehen. 

Den traumaiischen Neurosen glauben wir alle die Falle nicht zu- 
rechnen zu sollen, die eine Gebirnerscbutterung erlitten haben und daher 
nicht als funktionelle Erkrankungen gelten kdnnen. Der Nachweis, dass 
eine Gehirnerschutterang nicht stattgefundeu hat, wird sich oft erst 
durch Nachforschen erbringen lassen. Jedenfalls muss man den An- 
gabcn der Patienten gegenuber eine gewisse Skepsis walten lassen. 

Prognose und Behandlung werden von dem Grade der konstitutio- 
nellen Hysterie und der Erschdpfung bestimmt. Neben der suggestiven 
Beeinflussung muss zweifellos zunachst fur mdglichste Rube und Erho- 
lung gesorgt werden. Einen relativen Erregungszustand wird mau mit 
der Kaufmanu'schen Oeberrampelungsmethode nicht heilen und auch 
andere Arten der Suggestion kdnnen erst dann wirksam werden, wenn 
die psychische Energie eine gewisse Starke wiedergewonnen hat. Fur 
die reinen Erregungszustande gilt das bei der Hysterie Gesagte. 

Die Einteilung der Kriegsneurosen trifft auch auf die Unfallsneurose 
des Friedens zu. Die Erschdpfung ist heilbar, die Konstitution nicht 
Dies erkl&rt, dass die Krankheit im Frieden langwieriger und hart- 
n&ckiger ist, als im Kriege, in dem der Einfluss der Erschdpfung h&ufiger 
und starker zur Geltung kommt. 

Eine genauere Analyse der verschiedenen Formen der Traumatiker 
nach den hier dargelegten Prinzipien durfte meines Erachtens von grossem 
praktischen Wert sein, da sich eine Reihe neuer Fragestellungen ergeben. 


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IX. Kapitel. 

Die energetisehe Anffassnog des psychischen Geschehens 
als Arbeitsbypothese. 

Der Etagenbau der Seele. Ergebnisse der energetischen Anschauungsweise. 
Die Behandlang der Hysterie. Die Beeinflassung der K&tatoniefr&ge. Die Epi- 
lepsie. Die Vererbung psycbischer Eigenschaften. Erziebung and Konstitation. 
Die forensiscbe Bedeatang der Theorie. Die Pathographie. Energetik and 
Kanst. Die Psyphoiogie Scbopenhaaer’s. 

Gegen die „cnergetiscbc Theorie der Psychosen“ ist von verschie- 
denen Seiten der Vorwnrf erhoben worden, dass man nichts mit ihr 1 
anfangen k&nne, dass es doch gleichgultig sei, wie man einen Zustand 
beqeone, dass also die Theorie praktisch keinen Wert babe. Wenn das 
zutr&fe, h&tte die Theorie in der Tat keine Existenzberechtigung, denu 
sie soil vor allem eine Arbeitsbypothese fur die Psychiatric sein. 

Allerdings bat sich die Psychiatrie erst zu ihrer jetzigen H5he ent- 
wickelt, seitdem sie einen Teil der Medizin bildet. Dieser Umstand hat 
aber auch nachteilige Foigen geliabt. Die grossen Portschritte, die der 
Anatomie, Histologie, Serologie, kurz den mediziniseben Forschungs- 
methoden zu verdanken sind, und das Vertrauen in die experimentelle 
Psychologie lassen theoretische Ueberlegungen uianchem als uberfliissige 
Spekuiationen erscheinen. Die Psychiatrie darf den Zusammenhaug mit 
der Medizin zwar nicht verlieren, sie ist aber ebenso sehr ein Teil der 
Psychologie. Trotzdem hatte sie unseres Erachtens den Zusammenhang 
mit dieser bisher noch nicht gefunden. Die Uuzul&nglichkeit der bisher 
aufgestellten Systeme, die schori in den GegensAtzen hervortritt, die 
iwischen den verschiedenen Schulen eines Kraepelin, Ziehen, Wer¬ 
nicke, Binswanger, Bleuler u. a. vorhanden sind, ist stets erkannt 
worden und hat immer wieder zu Versuchen gcfuhrt, die Ursachen dieser 
Verschiedenheiten aufzufinden und zu beseitigen. Da sie nicht den ge- 
wunsehten Erfolg batten, ist der Skeptizismus begreiflich, mit dem 
Jaspers unter grossem Beifall der Fachgenossen auf jede' Theorie 
feierlich verzichtet hat. Es ist in der Psychiatrie niebt mehr modern, 
ein psychologisches System zu haben und es gilt fast als anmassend, 
ein ueues aufstellen zu wollen. 

Ein gewisserGr&d, wenn aaoh nicht von Anm&ssung, so doch von Selbst- 
vertraaen gehort sicherlich za jeder eigenen Ansicht. Wir finden diese Eigen- 
schaft bei Paranoikern daher stets krankhaft gesteigert. Wie unterscheidet sioh 
aber, konnte man vielleicht fragen, ein wissenschaftliches System von einem 
paranoisoben? Der Grad des Selbstbewusstseins, mit dem es verkiindet wird, 
durfte nicht massgebend sein, auch falsche Schlusse sind noch kein Beweis for 

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Paranoia. In der allgemoinen Beurteilang wird auf die Art derNutzanwendung 
der Hauptwert gelegt. So hat man die Freud’sche Anschauung mit der Para¬ 
noia verglichen, weil sie besonders in ihren extremen Vertretern den Tatsachen 
Gewalt antut, wahrend man Wernicke’s immerhin recht erheblich von der 
iiblichen Betrachtungsweise abweiehende Tbeorie wegen iher scharfen Abgren- 
zung der verschiedenen Krankheitszustande von einander bewunderte. Aber 
auch das „paranoische u Festhalten an einer falschen Idee ware noch keine 
Paranoia. Denn dicse kann, wie wir gesehen baben, niemals von der sekun- 
daren Funktion ihren Ausgang nebmen, vielmehr ist die paranoiscbe Idee stets 
erst die Polge katatoner Erregung. Die Paranoia beruht auf krankhaften pri- 
maren psyohischen Akten, auf Erlebtem, der wissenscbaftlichen Tbeorie liegt 
stets eine Idee, eine abstrakte Vorstellung zu Grnnde. Daher gibt es nicht 
zwei Verruckte, die dasselbe System haben, wahrend die suggestive Gewalt 
mancber Vorstellungen ganze Volker in ihren Bann schlagt. Eine abstrakte Idee 
kann wohl zu einer Zwangsvorstellung, aber niemals zu einer Paranoia werden. 

Ohne theoretische Grundlage gibt es jedoch keine Wissenschaft. 
Von besonderer Bedeutung aber muss sie fur das Studium des psychi- 
sclien Geschehens sein, das wir uns stets durch einen Vergleich nfcher- 
rucken miissen, um das Ungreifbare bildlich zu verdeutlichen. 

Wenn die Psychiatrie bisher aus psychologisclien Systemen keinen 
Nutzen gezogen hat, durfen wir nicht schliessen, dass diese iiberhaupt 
zwecklos sind, sondern dass ihre psychologische Grundlage falsch war. 
Indem wir diese Grundlage und damit den Standpunkt, den wir den 
Tatsacben gegenuber einnehmen, in zweckm&ssiger Weise verandern, 
konnen wir wohl die Fekler zu vermeiden hoffen, die den bisherigen 
Theorien anhaften. 

Die „energetische Theorie der Psychosen u hat die alte Vorstellung 
wieder aufgenommen, dass das psychische Geschehen nichts als eine 
Erscheinungsform der Energie ist. Das W 7 esentliche und fur die Psy¬ 
chiatrie Neue der von uns vertretenen Ansicht ist aber die Verbindung 
der energetischen Auffassung des Psychischen mit dem Entwicklungs- 
prinzip. Diese Kombination ist der Kernpunkt der Jodl’schen Psycho- 
logie. So gelangen wir zwar in weiterer Durchfuhrung der Jodl’schen 
Einteilung des psychischen Geschehens zu dem bereits fruher vielfach 
angenommenen „Etagenbau der Seele u . Dieser Begriff ist h&ufig be- 
spOttelt worden, aber nur deswegen mit Recht, weil ihm seinerzeit der 
Energiebegriff fehlte. Und dessen Anwendung auf das Psychische f5r- 
derte uns nicht, weil auch sein konsequenter Vertreter, Ostwald, die 
Vorstellungen nicht als hbhere Stufen, sondern als den anderen koor- 
dinierte Elemente des Seelenlebens auffasste. Wenn uns aber das Bild 
von der psychischen Kraft in der neuen Gestalt leichtere Verst&ndi- 
gungsmflglicbkeit, neue Ausblicke nnd neue Fragestellungen gewfthrt, 


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Aufsatze zar energetischen Psychologic. 


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wenn es zii klaren Definitionen und neuen Erkenntnissen von Zusammen- 
h&ngen fuhrt, wenn es also mehr leistet als die bisherigen Darstellnngen, 
so ist es berechtigt und wertvoll. Die wesentlicbsten prinzipiellen Abwei- 
chnngen von der herrschenden Art, die Tatsachen zu deuten, seien hier 
unter Einbeziebung der Ergebnisse vorliegender Aufsatze nochmals zu- 
sammengestellt, um eine Uebersicht uber die Tragweite der Theorie 
zu geben. 

Die theoretischen Irrtumer der Psychiatrie spiegeln sich in ibrcr 
Nomenklatur. Die Hysterie, die Hypnose, die Neurastheuie, die Kata- 
tonie, Dementia praecox, Schizophrenic u. a. sind Namen, die von den 
Zust&uden, die sie bezeichnen sollen, im Voraus einen falscben Begriff 
geben. Man muss daher, wenn nicht ibre Beseitigung, so doch ihre 
Klarstellung als dringende Aufgabe bezeichnen. Die energetische Theorie 
erscbeint hierzu in befriedigender Weise geeignet. Sie gibt zum ersten 
Male eine Definition des Begriffes „psychische Konstitution u und stellt 
sechs von der normalen abweichende Typen auf. Diese Verschieden- 
heiten werden zusammen mit der individuellen Konstellation als die 
Ursache fur die Verschiedenheit der Reaktionen, bezw. der Krankheits- 
bilder angesehen. Wahrend man also bisher glaubt, dass eine Krank- 
heitsursache immer dieselben Krankheitssymptome hervorrufen musse 
— eine aus der Medizin ubernommene Anschauung — finden wir, dass 
im Gegenteil verschiedene Ursachen gleiche Wirkungen, dieselbe Ur¬ 
sache aber verschiedene Wirkungen haben kann und tats&cblich oft hat. 

Die Begriffe Reiz, Reflex, Assoziation werden untersucbt und ge- 
winnen eine etwas andcre Bedeutung als die bisher ubliche. Da eine 
VerSnderung des psychischen Kraftzentrums nur in Erregung oder Hem- 
mung bestehen kann, kOnnen nur zwei Arten von Ursachen fur alle 
mftglichen Abweicbungen vom Normalzustand in Betracht kommen, die 
positiven und die negativen Reize. Die gewOhnlich beachteten psychi¬ 
schen Krankheitssymptome sind fast ausschliesslich Folgen der positiven 
Reize, also Erregungssymptome, w&brend die Hemmungssymptome noch 
nicht gcniigend erkannt sind und oft falsch gedeutet werden. 

Reflex und Assoziation sind durchaus nicht so verschiedene psy- 
ehische Vorg&uge, wie man anzunehmen scheint, sondern jeder Reflex 
ist Assoziation and jede Assoziation kann reflektorisch sein. 

Die bisher ublichen psychologischen Begriffe, wie Apperzeption, 
Dissoziation, Bewegungsvorstellung u. a., haben die Erkenntnis der psy¬ 
chischen Krankheiten nicht gefOrdert and halten der Kritik^nicht stand. 
Die energetische Theorie weist das im Einzelnen nach. 

Die vier Kardinalsymptome der Geisteskrankheiten entsprechen den 
vicr psychischen Elementen, d. h. es sind Erregungssymptome, in denen 


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Dr. Harry Marcuse, 


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das botreffende Element Oder wenn man will, die eine Seite des psychi- 
schen Gescbehens besonders deutlicb hervortritt. Die starks ten Grade 
der Erregung fuhren zum Stupor, der entsprechend in vier verscbiedeuen 
Arten auftritt. AIs funfte Stuporform konimt der bisher zu wenig be- 
achtete Hemmangsstupor hinzu, bei dem eine Unterscheidung nach Qua- 
litaten nicht roOglich ist. 

i Infolge des Etagenbaus der Seele kaun nun aber jedes Erregungs- 
symptom auf zwei verschiedene Arten zu Stande kommen, es kann kata- 
tonisch oder psycbogcn sein. Hemmungssymptome dagcgen sind nur auf 
katatonisckem Wege moglich. 

Der Begriff „katatonisch u erhalt hier zum ersten Male eineu greif- 
baren Sinn und eine psycbologiscbe Bedeutung. 

Die Einteilung der Geisteskrankheiten muss deuen der Symptome 
parallel geben und ist in dcr Tat auf unserer Grundlagc ohne Schwie- 
rigkeiten durchfuhrbar, wenn auch die Tbeorie der Praxis hier noch 
etwas vorauseilt. Es ergab sicli die Einheit dcr katatonischen Krank- 
heitsformen und die Identitat der vielumstrittenen Begriffe Hysterie, 
Neurasthenie, Psychogenie. Allerdings konnten bei diesen Betrachtungen 
die Bedurfnisse der Klinik uicbt massgebend sein, sondern nur die psy- 
cbologische Erkenntnis. Wabrend aber die Klinik durch iminer feinere 
Zergliederung der Erscbeinuugen allmablicb die Uebersicht fiber die 
Fulle der Einzelheiten zu verlieren droht, gibt ibr die energetische Psy- 
chologie ein einigendes und ordnendes Prinzip an die Hand. 

Wabrend die Psychiatric bisher immer wieder den unfruchtbaren 
Yersuch macbte, das Zustandekommen einzelner Symptome zu erklaren 
legen wir darauf Wert, ob die Erregung von der supprimaren oder 
von der sekundaren Stufe ausgegangen ist. Das Zustandekommen des 
einzelnen Symptoms hangt von der Konstellation ab, es ist daher 
unwichtig, in gewissem Grade zufallig. Nicht der Inhalt von Haliuzi- 
nationen usw. ist wesentlich, sondern die Art ihrer Entstehung. Zu 
ibrer Feststellung ist die Kenntnis der Konstitutiou von Bedeutung, wobei 
besonders die Gegensatzlichkeit der Hysterie und Imbezillitat win der 
Hypernoia und Hyponoia zu beachteu ist. 

Die Anwendung des EnergiebegrifTs fubrt mit Notweudigkeit dazu, 
die gewOhnlich als somatisch bezeichneten Funktionen dem psychiscben 
Geschehen als „supprimar“ anzugliedern. Nun folgt ohne weiteres, 
dass auch jedes somatische Symptom auf zwei Arten, namlich suppriuiar 
oder sekundar, entstehen kann, d. h. es kann einen realen Grand haben 
oder vorgcstellt, organisch oder hysterisch sein. Diese wichtige Scbluss- 
folgerung wird man immer wieder bestatigt linden. Sie ist fur die 
Auffassung der sogenannten traumatischen Neurose von besondereui In- 


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Aufsatze zur energetiscben Psyohologie. 135 

teresse ood praktischem Wert. Eine Neurose, die ja der Aasdruck 
einer Erregung ist, muss stets mit Erregungssymptomen auch suppri- 
m&rer Art einhergeheu. Daher kann unter Umstanden das Fehlen der- 
selben die Diagnose der Simulation sicbern. 

Auch die somatischen Symptome der hysterischen Krankheitszu- 
st&nde, zu denen also die traumatische Neurose gehOrt, sind als zuf&llig 
entstanden ansusehen. Daher ist jedes bysteriscbe Symptom heilbar, 
die Konstitution aber und damit die Neigung zu Rezidiven oder zum 
Auftreten anderer Symptome bleibt besteben. 

Nur die Beilung der hysterischen Symptome kann Aufgabe des 
Arztes sein. Auf Grund unserer Anschauung, dass diese wShrend eines 
besonders starken Erregungszustandes entstehen und reflektorische Ver- 
bindungen der supprimSren oder prim&ren mit sekund&ren Elementen 
darstellen, bestebt die Tberapie in suggestiver Behandlung. Dazu ist 
lunltchst notwendig, dass die Erregnng nacbgelassen hat, da sich der 
Patient sonst in einem hysterischen Dammerzustand befit) det oder min- 
destens einer Autosuggestion untersteht, die ibn gegen Suggestion von 
anssen unempfindlich macht. Andererseits aber mus6 die psychische 
Energie des Patienten eine gewisse IntensitAt bcsitzen. Die Suggestion 
kann also nicht gelingen, solange nach einem Shock oder einem kdr- 
perlichen Trauma eine schwcre Erschdpfung vorhanden ist. Dann kann 
natiirlich die Aufmerksamkeit. die Erwartung, die Macht der Vorstel- 
iuogen, kurz die Erregung der sekund&ren Punktion nicht geniigend 
gesteigert werden, um eine wirksame Gegenvorstellung zu erzeugen. 
ist aber eine genugende IntensitSt von P vorhanden, so kann die so- 
iortige Beseitigung der Krankheitssymptome auf die verschiedenste Art 
erreicht werden. Man kann zweifellos auf so drakonische Mittel, wie 
sio in neuester Zeit empfohlcn werden (Kaufmann), verzichten. 

E. Mendel lehrte, die Hysteric wird durch den Glauben an das 
Heilmittel gcbeiit, und demoustrierte in jedem Semester seinen ZuhSrern 
solche Heilungen, die er w&hrend des Rollegs mit Hilfe eines Ma- 
gneten ausfuhrte. Wir meinen, dass der Glaube an die Erankheit 
beseitigt werden muss, und halten es daher fur unzweckm&ssig, sich auf 
ein Mittel oder eine Methodc festzulegen. Die Form der Suggestion 
muss vielmohr dem Falle angepasst sein, je mehr verschiedeno Methoden 
dem Arzt zur Verfugung stehen, desto besscr. 

Die Kranken fuhren ihr Leiden oft auf Drsachen zuruck, die tat- 
sichlich nicht als solche in Fragc kommen. Sie halten sich vielmehr 
oft an Nebenumst&nde. Das kann man auch den Freudianern zugeben, 
ihre Annahme jedoch, dass stets sexuelle Ursachen an die Stelle der von 
den Patienten angegebenen zu setzen sind, trifft jedeufalls nur selten zu. 


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Ein typischer Fall von Verkennung der Ursacke radge liier folgen: 

Ein 20jahriger Infanterist lilt seit einem Nervenshock, den er vor l j 2 Jahr 
an der Westfront erlitten hatte, an der ublichen Pseudoparesis spastioa mit 
Schutteltremor der rechten Hand, Zuckungen des Kopfes und des rechten Beins. 
Er konnte die Hand wenig gebrauchen, nicht schreiben, zeigte das Pseudo- 
Romberg’sche Symptom. Er war 4 Woohon lang im Lazarett mit starken elek- 
trischen Stromen behandelt worden, wobei er Schmerzen hatte, „als ob das 
Fleisch herausgerissen warde u . Das Leiden hatte sioh in der Garnison etwas 
gebessert, war aber nach zweitagigem Aufenthalt dicht hinter der Front wieder 
in alter Starke aafgetreten. 

Er selbst gab an, durch Verschdttung krank geworden zu sein. Im Laza¬ 
rett sei ihm gesagt worden, dass der starke Knall einen Nervenshock hervor- 
gerafen habe, daher vertrage er auch jetzt koine Gerausche. Jeder wisse, dass 
die starken Explosionen solche „raoralische w Wirkung hatten. 

Nachdem ihm auseinander gesetzt war, dass der Eindruck der verwun- 
deten Kameraden und die Lebensgefahr, in der er sich befunden hatte, ihn so 
aufgeregt habe, dass er zitterte, wurde er ohneSchwierigkeiten in Wachsugge- 
stion von seinem Leiden befreit. Am selben Tage schrieb er einen Brief nach 
Hause und macht nun unbehindert Dienst. 

Bemerkenswert erscheint immerhin, dass dieser Erfolg trotz ungiinstiger 
ausserer Verhaltnisse (hauGges Schiessen der Artillerie wahrend der Behand- 
lung) erzielt werden konnte. 

Diese Zusammenstellung der tkeoretischen Ergebnisse kOnnte leicht 
durck eine Reihe von Einzelkeiten vermekrt werden. Wenn die Theorie 
aber nichts als eine klare Bestimmung kliniscker Begriffe und eine 
naturliche Gruppierung der Geisteskrankhciten ermoglichen wurde, 
musste sie schorl als wertvoll anerkannt werden. Besonders bemerkens¬ 
wert ersckeint noch, dass sie die Unterscheidung von Hysterie und 
Simulation erleichtert und die Tkerapie der kysteriscben Symptome, 
die aus dem Stadium des Experimentiereus noch nicht herausgekommen 
ist, zu zielbewusstera Handelu anleitet. 

Welcher Nutzen der Prognose der katatoniscken Erkraukungen aus 
der Beacktung der Theorie erwachsen wird, kann erst nach entsprechen- 
der Bearbeitung eines gr6sseren Materials beurteilt werden. Immerhin 
durften gerade hier die neuen Gesichtspunkte zu einer Belebung der 
seit langerer Zeit resignierenden Forschung fukren. 

Von besonderem Einfluss kann aber die Theorie auf die Erforschung 
von der Ursache der Geisteskrankheiten und die Vererbung psyckischer 
Eigenschaften werden. Trotzdem darauf bereits mehrfach hingewiesen 
wurde, wollen wir diese Punkte hier noch etwas ausfuhrlicher erdrtern, 
weil der erste Fortschritt, der auf Grand der neuen Theorie gemacht 
wurde, mehr als alle anderen Umstaude ihren Wert erweisen wurde. 


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Da es sich hier aber urn die schwierigsten Fragen der Psychiatric 
handelt, kOnnen wir uns nicht der Hoffnung hingeben, dass ihre LOsung 
unmittelbar bevorsteht. 

Anstatt fur die Dementia praecox, das zirkulSre Irresein, die 
Paranoia usw. vcrschiedene Krankbeitsursachen anzunehmeu, fuhrt die 
energetische Theorie zn der Annahme, dass diese Krankbeiten nur ver- 
schiedene Konnen der katatoniscben Psychose darstelien und es sich 
also nur urn eine einzige, ilinen alien zu Grunde liegende Krankheits- 
ursache handeln kann. Wir halten es femer fur wabrscbeinlich, dass 
auch einzelne Formen der Dementia senilis, der Idiotie und der Epilepsie 
nicbts als Kombinationen dieser unbekannteu Noxe mit Alterserschei- 
nungen bezw. Entwickelungsstdrungen darstelien. Dieselben Umst&nde, 
die uns in der Ratatonie eine Stoffwechselerkrankung vermuten lassen, 
weisen uns zur Erforscbung ihrer Noxe auf die Serologie. Dabei wird 
man zweckm&ssiger Weise zunichst die Falle untersuchen, 'in denen 
man die st&rksten Grade der Erkrankung vermuten muss. Das durften 
einerseits die in der Pubertat einsetzenden und scbnell zu geistigem 
Verfall fuhrendcn Fallo sein, andererseits gehOren die cbroniscben Er- 
krankungen der sp&teren Jahre hierber, soweit sie besonders hyper- 
noische Konstitutionen betreffen, bei denen die katatoniscben Symptome 
lange durch hysterische verdeckt werden konnen. Beide Kategorien 
von Kranken stellen jedenfalls schwere Formen dar, der Unterschied 
de8 Verlaufs durfte auf der geringen Widerstandsf&higkeit des jugend- 
lichen Organismus beruhen. 

Der Vergleicb mit don genannten organischen Erkrankungen ist 
unter Zuhilfenahme der Histologie anzustellen. Wir unterscheiden zwei 
Formen von Epilepsie. Die eine zeigt im Wesentlichen supprimftro 
SWrangen, also Kr&mpfe und Absencen, zu denen allenfalls eine ge- 
wisse Reizbarkeit hinzukommt, die andere zeigt daueben alle Symptome 
der Dementia praecox. Bei dei; ersten Form fubrt die histologiscb 
nachwoishare EntwickelungsstOrung zu den periodiscbeu Storungen, bei 
der zweiten treten diese gegenuber den katatoniscben Erscbeinungeu 
zuruck oder kombinieren sich zu schwerstem Verfall der psychischen 
Kraft. Schon eine verhaltnismassig geringe Starke der katatoniscben 
Komponente wird hier zu erheblichen StOrungcn fubren, was sich bisto- 
logisch und serologisch erweisen muss. Aehnliches muss sich fur die 
Dementia senilis ergeben, docb ist die histologische Abgrenzung hier 
noch weniger scharf als bei der Dementia praecox, so dass die Erkran¬ 
kungen des Alters zuu^chst fur diese Untersuchungen am wenigsten 
Erfolg versprechen Von Idioteu kommen dagegen die nicht seltenen 
Fllle mit negativem histologischen Befund als wabrscbeinlich stark 


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katatoniscb in Betracht. Diese Vermutung wird durcli die event, nach- 
weisbare erblicbe Belastung mit Katatonie zu stutzeu sein. 

Bei hysterischen Krankheiten kann naturlick die katatoniscke Noxe 
nie auftreten. 

Gegen unsere Einkeitspsychose, die sich allerdings in ihrem Wesen 
und ibror Bcgrundung von der alten Arndt’schen sehr unterscheidet, 
kCnnte eiugewandt werden, dass z. B. die Paralyse anf diese Weise 
anch hiuzugerechnet werden kOnute und ibre Spezifizitat nie gefunden 
worden ware, wenn man die Konstitution und Konstellation als die 
Ursache des verschiedenartigen Auftretens angenommen hatte. Aber 
gerade das Beispiel der Paralyse scheint fur unsere Auffassung be- 
weisend, da wir an ihm seben, dass einc und dieselbe Noxe tatsacb- 
lich alle Formen der jetzt nocb als fnnktionell anzusebenden katatoni- 
schen Psychose hervorrufen bezw. vortjiuschen kann. Unsere Auffassung 
muss dazu fuhren, ebenso wie es bei der Paralyse der Fall war, an- 
scheinend ganz verschiedene Krankbeitsbilder nuf eine gemeinsame Ur- 
sacbe zuruckzufuhren und so eine neue Gruppe gegenuber den wirklicb 
funktionellen d. h. psychogenen und den organischen Psychosen abzu- 
grenzen. Es durfte jedenfalls mehr Erfolg versprechen, eine einzige 
Noxe zu suchen als fur jede der verscbiedenen Formen eine besondere. 

Zur Begrundung der Annahme, dass es sich in den von uns als 
katatoniscb bezeicbneten Psychosen um dieselbe Rrankheitsursache 
handelt, liefert die Betrachtung der Vererbung eine wesentliche Stutze. 
Dies ist fur die klinischen Tatsacken beroits in der Theorie der Psychosen 
erOrtert worden. Auf Grund dieser Aufsatzo konnen wir nun auch die 
Vererbung im Bereich des normalen psychiscben Gescbehens beruck- 
sichtigen. 

Die Definition und die Einteilung der Konstitution liefert uns die 
Erbeinheiten, deren Vererbung wir nackgehen miissen. Vererbbar ist 
nur die Konstitution, die Starke und Form der psychiscben Reaktiouen. 
Die Konstitutionsformeln P < S und P > S werden wir zum Zweck 
dieser Untersuchung besser pS und Pa schreiben und konnen die Ab- 
weichungen P <[ 1 und P 1 zunachst unberucksichtigt lassen, da es 
im Bereich des Normalen nur auf das Verh&ltnis P: S ankommt. 

Dies Verbaltnis ist aber nicht nur fur die gesamte Intensitat von 
P und S wichtig. Diese setzt sich vielmehr aus einer unbestimmten 
Anzahl von Teileinheiten zusammen, namlich aus so viel Teilen, wie 
wir Qualitaten prim&ren psychiscben Geschehens annehmen kOnnen, 
wenn wir, wie bereits erwahnt, unser Schema nach Art des Spektrums 
erweitern. Dann erhalten wir z. B. im Gebiet des Empfindens die zahl- 
reicben Qualitaten sinnlicher Eindrucke. Hier konnen wir, obne irgend 


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Aufsatze zur energetiscben Psycbologie. 


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welchen Annahmen unserer Theorie zu widersprecheu, fur einzelne ein 
Verh&ltuis P = S, fur andere P S uud schliesslich fur einige P )> S 
annebmen. Darait tragen wir nur don stets betonten Tatsachen Recbnuug, 
dass die Konstitution nur im Grossen -und Ganzen fur die psychisohe 
Art zu reagieron entscheidend ist und dass einzelne Qualitaten im Be- 
wusstseinszustand eine grOssere Rolle spieleu als andere. Die psychi- 
scben Reaktionen kSdnen in gewissen Grenzeu auf einzelne Reize starker 
oder schwacker ausfallen als im allgemeinen. Ebenso wie es ein 
temporares oder konstellatives Ueberwiegen einer Qualitat gibt, so muss 
es auch ein konstitutionelles Ueberwiegen oinzelner Qualitaten geben. 

Qualitaten dcs Empfindens sind in dem bier gemeinten Sinne Sehen, 
HOren usw. Wir haben es also mit einer hdheren Form des primaren 
Empfindens zu tun. Entsprechend waren fur das Fuhlen und Streben 
„an sich“ die unmittelbar eriebten Affekte und Triebo zu setzen, die 
der primaren Lust and Unlust und dem primaren Streben und Wider- 
streben gegenuber jedenfalls eine hohere Differenzierung voraussetzende 
Form primaren psychiscben Geschebens darstellen. 

Die normale Konstitution kann man sicb danacb aus sehr vielen 
PS zusamraengesetzt deuken und eine besonders bervertreteude Qualitat 
als P* S 11 bezeicbnen. Aucb diese kann wieder als zusammengesetzt 
and aus verschiedenen Einzelgliedcrn bestehend angenommen werden. 
Nehmeu wir z. B. an, in einer Konstitution (PS) n XP 2 S 2 sollte P 2 S 2 
die musikalische Begabung bezeicbnen, so kOnnte die Art derselben 
doch sehr verschieden sein. Sie kann sich mehr reproduktiv als pro- 
duktiv aussern, was wir auf starkeres oder geringeres Ueberwiegen 
von S zu beziehen batten, sie kann besonders mit Gefubl fiir Rhytkmus 
oder fur Stimmung gcpaart sein, sich in schnellem Erfassen oder in 
gutem Gedacbtuis fur neuc Harmonien aussern, je nachdem die Spon- 
taneitat, die AfTektivitat oder das Empfiuden starker ausgebildet ist. 
Nicht konstitutionell bedingt ist dagegen, ob sich das Talent betatigt 
oder welches Instrument es bevorzugt. Das hangt naturlich von Zu- 
falligkeiten ab. Stets ware aber festzustellen, aus welcher primaren 
Qualitat die vorliegende Art der Begabung uberwiegeud abzuleiten ist. 

Hicr sind zweifellos Zusammenhangc vorhanden, die nocb zu wenig 
beach tet sind, und es ergeben sich fur die Frage der Vorerbung wichtige 
Anhaltspunkte. G. Sommer 1 ) macht darauf aufmerksam, dass sich der 
Blockausdruck „Sprachbegabuug“ in eine Summo von Einzeldispositionen 
auflosen ifisst. Welche Begabung man aber untersucht, stets wird man 
•ines der prim&ren Elements als die wesentliche Quelle der Begabung 


1) G. Sommer, Geistige Veranlagung und Vererbung. Teubner. 191b. 


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ansprechen mussen. Fur diese prim&re Quelle mussen die Vererbungs- 
regeln zunftchst studiert uud festgestellt werden, nicht aber fur ihre 
eutferntesten Auslaufer. 

Sommer kommt an anderer Stelle zu dem Schluss, dass nur die 
Disposition erblich ist, „eine Labilitat der seelischen Konstitution, dieje 
nach der gebotenen Gelegenheit zu der gleicben oder aber einer anderen, 
eveut. ahnlichen Verrirrung disponiert‘‘. Setzen wir hier fur „Verirrnng u 
„Inbalt M , was berechtigt sein durfte, da die Vererbbarkeit von guten und 
bosen Eigenschaften wohl gleicbartig ist, so linden wir hierin eine Be- 
statigung unserer Anschauung. Die Labilitat sehen wir in dem vererb- 
baren YerhaJtnis P : S. 

Sommer glaubt aber, die „Anlage zur Wahrhaftigkeit 11 auf ihre 
Erblichkeit untersnchen zu kbnnen, und macbt also gerade den Fehler, 
an einer tertiaren Eigenschaft die Vererbung des psyckischen Geschehens 
auseinanderzusetzen, deren Entwickelung im Individualleben von ausseren 
Zufalligkeiten abhangig ist. Bevor nicht mebr Klarbeit iiber die Ver¬ 
erbung der primaren Qualitaten und ihres Verhaltnisses zur sekundaren 
Fuuktion gescbaffen ist, halten wir es fur zwecklos, iiber die Vererbung 
komplizierter psycbischer Eigenschaften zu diskutieren. Eine Eigen¬ 
schaft wie die Wahrhaftigkeit kann nie vorhanden sein, obne dass auch 
das ethische Empfinden als solches entwickelt ist. Die Grundlage hier- 
fur stellt die sekund&re Fuuktion dar, deren hOhere Entwickelung sich 
uberwiegend auf ethischem Gebiet aber ebensogut auf sozialem oder 
asthetischem betatigen kann. Fur die Art der Betatigung sind aussere 
Momente massgebend. Wenn also der Sohn eines Pastors Arzt oder 
Lehrer wird, so kann er zwar die Hyperfunktion von S ererbt haben, 
er kann sie aber anders verwerten als der Vater. Das hangt im Einzelnen 
von den erworbenen reflektoriscben Assoziationen ab, daher baufig der 
Sohn wieder Pastor wird, wenn nicht andere Einfliisse der Umgebung 
die des Vaters iiberwiegen. Vererbt wird aber nur die Begabung, 
nicht das Theologische oder Medizinische oder Juristische. Wir mussen 
also derartige Eigenschaften, die inhaltlich von einander abweichen, 
zu einander in Beziehung setzen und als vererbt ansehen, wodurch das 
Problem doch wohl in anderem Lichte erscheint als sonst. 

Fur die Vererbung kunstlerischer F&higkeiten ist in Betracht zu 
ziehen, dass die Trennung von Gesichts- und Gehbrseindrucken z. B. 
ausgesprochener ist als die von juristischen und anderen wissenschaft- 
lichen Gedaukenghngen. Die Funktionen des Auges und des Ohres 
sind an bestimmte Gehirnteile gebunden, was von den tertiaren psy- 
chischen Akten nicht angenommen werden kann. Es ist infolgedessen 
wohl moglich, dass der Vererbung der kunstlerischen Talente eine 


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Aufsatze zur energetischen Psychologic. 


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Vererbung lokaler Ueberwertigkeit der betreffenden Zentren einhergebt. 
Ianerbalb der einzelnen Erbeinkeit gibt es zwar Verscliiedenheiten. 
Ob jemand aber Zeichner, Maler, Bildhauer oder Arcbitekt wird, ob 
er also starker in der Kormgebung oder in der Farbenempfindung, in 
tier Auffassung der Bewegung oder der der Perspektive ist, immer muss 
er ein besonders entwickeltes Selizentrum baben. 

Die Vererbung gewisser Talente kann daher auch auf abnorme, 
ja minderwertige Konstitutionen erfolgen. Wir finden bei Imbezillen 
and Idioten mitunter eine auffallende musikalische oder sonstige — in 
letztem Falle allerdings relative — Begabung, die das ubrige geistige 
Niveau weit uberragt. Das scbwachsinnige lndividuum kann jedocb 
mit seiner Begabung nickts anfangen, die Ausubung und Verwertung 
eines Talentes ist vielmebr nur bei Iudividuen von normaler Konstitution 
mOglich. Wie eine ethische Qualitat nur auf dem Untergrund einer 
hockstekenden PersOnlichkeit, einer kockentwickelten Sekundarfunktion 
emporwachsen kann, so ist ein kunstlerisches Talent nur bei hochent- 
wickeltem Sinnesorgan denkbar. Das Talent allein mackt nocb keinen 
Kunstler, es muss dazu mit einer hockwertigen Konstitution verbunden 
sein. Eiue etbische, ftsthetische oder soziale Begabung kann nur mit 
einer solcheu zusatnmen vorkommen, sie ist ein Teil einer stark ent- 
wickelten terti&ren Funktion, die kunstleriscbe Eigenschaft jedoch ein 
Teil der betreffendeu Empfindung, die in prim&ren Akten wurzelt. 
Diese ist daher in ilyer speziellen Eigenart vererbbarer als jene, die 
nur in ihrer allgemeinen Grundlage — der Hyperfunktion von S — 
vererbbar ist. 

Die psychischen Funktionen sind, wie sich aus diesen ErOrterungen 
ergibt, nicht in gleicher Weise vererbbar wie kdrperliche Eigenschaften, 
die Vererbbarkeit nimmt vielmebr mit der Hflhe der Entwickelungs- 
stufe ab. 

Nun wird auch die fruhere Ablehnung dor Behauptung, dass die 
Homosexuality angeboren sei, begrundet erscheinen. Auch hier wird 
nur der Trieb, nicht die Richtung desselben, die Disposition, nicbt der 
Inbalt von den Vorfahren geerbt. 

Die kOrporlichen Eigenschaften sind stiirker vererbbar, sie sind 
mit dem Organismus inniger verbunden als die geistigen. Daher auch 
die individuellen Ver&nderungen des Kdrpers wftbrend des Lebens er- 
beblicb geringer sind als die des Geistes und die kdrperlichen Eigen¬ 
schaften der Vorfahren sich bei den Deszendenten 5fter wiederholen 
und l&nger erhalten als die geistigen. Das musikalische Talent ist als 
solches vererbbar, die Wahrbaftigkeit nur in Form der Disposition fur 
etbisches Empfinden. 


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Die Aufgabe ware also zunachst, die Vererbung der Konstitution 
als solcher festzustellen. Wie verhalten sich die Deszendenten, wean 
die Konstitutionen der Elteru die Formel: 1) pS-|-pS, 2) Ps-j-Ps, 
3) pS-J-Ps haben. Im Fall 3 ist noch zu unterscheiden, welcber 
Einfluss dem Vater und der Mutter zukommt, so dass hier zwei Mfig- 
lichkeiten vorhanden sind. Ferner ist auch das Geschlecbt der Kinder 
zu berficksichtigen. 

Die weitere Frage ware dann. welche Elemente der psychischen 
Konstitution vererbbar sind, ob gewisse Elemente enger miteinander 
verbunden sind, so dass sie stets gemeinsam vorkomraeri. Vor allem 
wfirde wolil interessieren, ob korperlicbe und psychische Elemente mit- 
einauder verkoppelt sind, wie es in vielen Fallen den Anscbein bat, 
z. B. musikalisches Talent und Bildung der Ohren oder die hypernoiscbe 
Konstitution der Mutter und die Form ihrer Hande, die Farbe der Iris, 
oder eine besonders starke Spontaneitat uud gute Entwickelung der 
Muskulatur. Es gibt bier sebr viele MOglichkeiten, fiber die nocb kein 
Tatsachenmaterial vorliegt, deren Erforschung wohl geeignet erscheint, 
das Dunkcl der psychischen Vererbung etwas zu licbten. 

Man bat besonders versucht, die Kopfform in Beziehung zur geistigeu 
Entwickelung zu setzen, ohne aber zu verwertbaren Resultaten zu ge- 
langen. Mit den absoluten Massen dfirfte bier uicht weiterzukommeu 
sein und man ist auch bereits dazu fibergegangen, verschiedene Rela- 
tionen wie Gewicht des Gehirns zum Kdrpergewicht, Lange der ver- 
schiedenen Kopfdurchmesser zu einander u. a. zu berficksichtigeo. Dem 
Geffihl erscheint oft das Verhfiltnis des Gesichts- zum Gebirnschadel 
dem der prim&ren zur sekundarcn Funktion zu entsprechen. Ob Mes- 
sungen vorliegen, die ffir oder gegen eine solcbe Proportionalitat sprechen. 
entzieht sich uuserer Kenntnis. Man mfisste sich dazu etwa auf einer 
der Gehirnbasis entsprechend durch den Schadel gelegten Ebene zwei 
Kegel konstruieren und bestimmen, ob deren Volumina dem Verhaltnis 
P: S entsprochen. Die Feststellung, ob bier eine konstante Beziehung 
vorhanden ist, erscheint immerhin von Interesse. 

Vielfach hat man bei Katatonikern ein Deberwiegen kfirperlicher 
Degenerationszeichen festzustellen geglaubt, ohne bier zu einwandfreien 
Schifissen zu gelangen. Sie findeu sich auch bei normalen Individuen, 
sind aber vor allem bei pathologischen Konstitutionen h&ufiger. Nicht 
die Erkrankung an Katatonie dfirfte mit ihnen in Verbindung zu bringen 
sein, sondern die absolute Schw&che von P. Es ist nicht unwahr- 
scheinlicb, dass Individuen, die kfirperliche Anomalien erben, auch die 
psychischen Abweichungen aufweisen, dass also hier eine Kombination 
von Erbeinheiten vorliegt. 


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Aufsatze zur energetischen Psychologie. 143 

Nicht zu iiberseken ist hierbei, dass der Begriff „Degenerations- 
zeichen" kein feststeheuder ist. Gs erscheiut z. B. recbt zweifelhaft, 
ob die angewachsenen OhrlAppchen oder die zusammengewachsenen 
Augenbraaen die ihnen anhaftende ominSse Bedeutuug wirklicb ver- 
dienen. Sie sind gerade bei hochentwickelten Individueu nicht selten 
und es kOnnte doch auch cine aberratio ad majus geben. 

Die Erfalirung, dass das Genie gewbhnlicb nicht erblich ist, be- 
sonders aber dass es oft einc oder (seltener) mehrere Generationen 
uberspringt, ist vielleicht jetzt schon leichter zn verstehen. Das uber- 
grosse P des Vaters wird dnrch eino weniger begabte Mutter (vielleicht 
auch durch das Alter des Vaters ?) kompensiert, und erst in der n&ch- 
ston Generation ist das psychische Grbgut wieder grosser als normal. 
Die Mendel’schen Gesetze sind hier, wo es sich stets um kleine Zahleu 
handelt, nur in beschrAnktem Masse verwertbar. Trotzdem scheint mir 
ein Versuck ihrer Anwendung Rrfolg zu versprechen, wenn man in 
einer inoglichst grossen Zahi von Fallen die Konstitutionsformeln von 
Gltern und Deszendenten eruiert. 

Eine schwierige Frage ist noch zu crOrtern. Wir nannten die der 
Hyponoia naliestehende bezw. im Sinne dorselben starker von der Norm 
abweichendc Konstitution imbezill oder katatonisch. Die Berechtigung 
dazu sahen wir in dor Uebereinstimmung ihrer Kcaktionsweise mit den 
katatonischen ZustAnden. Es liegt nalie anzunehmeu, dass hier ein 
tieferer Zusammenhang vorliegt. dass namlich die imbezilie Konstitution 
zur katatonischen Erkrankung disponicrt, dass sie vielleicht sogar den 
Ausdruck der ererbten Kata ton ie darstellt. Gegen diese Auffassung 
spricht, dass Imbezilie wohl nicht hAufiger als Normale katatODisch cr- 
kranken, fur dieselbe. dass AngehOrige von Katatonikern mitunter 
imbezill sind. Beides ist behauptel worden, fur boide Behauptungen 
scheiuen mir aber- ausreicheudc Erfalirungen nicht vorzuliegen. Wir 
sehen dagegen hAufig hypernoischc Menschen schnell katatonisch ver- 
fallen und finden bei Katatonikern kochbegabte und gesunde Geschwister. 
Es durfte also vorlAufig die katatonische Konstitution von der kata¬ 
tonischen Krankheit, was die Vererbung anbelangt, scharf zu trennen 
sein. Vielleicht ist der Zusammenhang der, dass die Konstitutionen 
mit kleinera P der katatonischen Noxe gegenuber goringere Widerstands- 
kraft besitzen, wAhrend die Vererbung von Konstitution und katatoni¬ 
scher Noxe nichts miteinander zu tun haben. 

Das Studium der Konstitution und der Vererbung muss auch das 
fur die Psychiatric so wichtige und heute noch recbt undankbare Kapitel 
der Prognose katatonischer Krankheiten beeinflussen. Die Prognose 
einer Psychose ist bei katatonischer Entstehung ungdnstiger als bei 


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Dr. Harry Marcuse, 


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psychogener. Bekanntlich uberstehen aber minderwertige lndividuen, 
Hyponoiker stSrkeren Grades ofter katatoniscbe Anfalle, obne besonderen 
Scbadon davonzutragen, wahrend sie bei Hypernoikern nur selten yollig 
ohne Defekt ausheiien. Wie in der Theorie der Psychosen scbon er- 
w&bnt, fuhrt die katatonische Noxe im ersteren Falle scbon bei ge- 
ringerer Intensitat zu Krankbeitserscbeinungen, so dass katatoniscbe 
Symptome einer hypernoiscben Konstitution entsprochend prognostisch 
ungiinstiger zu veranscblagen siud. Die kliniscben Erfabrungen sprecben 
ferner dafur, dass die iiberwiegende Beteiligung eines primareu Elementes 
an der katatonischen Erregung prognostiscb gunstiger ist ais die gleich- 
massige Beteiligung der gesamten prim&ren Fuuktion. Hemmungs- 
symptome scheinen, wenn sie deutlich ausgebildet sind, die Prognose 
zu verscblechteru, doch bedarf gerade dieser Punkt noch grundlicher 
Bearbeitung. Er ist zunacbst fur die mit Hemmung beginnende Kata- 
tonie von Wichtigkeit, dann aber auch fur die hysterischen Zustande 
_ mit Erschbpfung, also fur gewissc Formen der traumatischen Neurose. 
Solange die serologische Erkennung der Katatonie noch ausstebt, durfte 
die psychologiscbe Analyse iii unserem Sinne auch hier wertvolle 
Dienste leisten. 

Die hier aufgeworfeuen Fragen stellen gewissermassen eiu Programm 
fiir kunftige Untersuchungen auf. Dasselbe kann wobl etwas kuhn 
und phantastiscb erscheinen uud ich wurde mich scheueu, solche Zu- 
kunftsplane auszusprecben, wenn niebt die Arbeit, die hier zu leisten 
ware, meines Erachteus Erfolg verspracbe, dabei aber die Kraft eines 
Einzelnen bei weitem uberstiege. Ein Institut fur psycbiatrische For- 
sebung ist im Entstehen begriffen. Sollte es niebt der Muhe wert 
sein zu erproben, ob sicb unsere theoretischen Vorstellungen als uutz- 
licb erweisen? 

Gegenuber der Auffassung von Jaspers, die uns einen Fortscbritt 
zu erschweren scheint, mochten wir uns auf Fr. A. Lange berufen; 
„Die Idee ist fiir den Fortscbritt der Wissenscbaft so unentbehrlich 
wie die Tatsache. Sie fuhrt niebt notwendig zn Metapbysik, obwohl 
sie jedesmal die Erfahrung iiberschrcitet. Aus den Elementen der Er- 
fabrung unbewusst und schnell, wie das Anscbiessen eines Kristalls, 
hervorspriugend, kann sip sich auf Erfahrung zuruckbeziehen und ihre 
Bestatigung oder Verwerfung in der Erfahrung suchen 1 ). „Nicht ab¬ 
solute Wahrheit“, fuhrt Lange weiter aus, wird von der Idee gefordert, 
sondern „Brauchbarkeit, Vertraglichkeit mit dem Zeugnis der Sinne 
in dem durch die Idee geforderten Experiment, entsebiedenes Ueberge- 


1) Fr. A. Lange, Geschichte des Materialismus. II. 2. 11. 


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I 


Aufsatze zar ftnergetischen Psychologie. 145 

wicht fiber die eatgegenstehenden Auffassungen — das genfigt schon, 
am der Idee das Burgerrecht im Reiche der Wissenschaft zu geben.“ 

Diese Forderungen sind diesel ben, die wir an unsere Arbeitshypo- 
these stellen und denen diese anseres Erachtens in hobem Masse ge¬ 
nfigt. Sie ist far die Psychiatric geschaffen und ist fur diese vor allem 
von Bedeutung, wShrend sie gleichzeitig hier ibre wesentlichste Be- 
stltigung findet. Ihre Anwendbarkeit erstreckt sich aber noch weiter. 
Wer sich die Grundlagen unserer Anscbauung zu eigen gemacht hat, 
wird psychologische Fragen, wo sie sich auch darbieten, in etwas 
anderem Lichte ansehen als vorher. Eine ausffihrliche Darlegung uns 
vorbehaltend wollen wir hier nur, um falschen Schlfissen vorzubeugen, 
einige Hinweise geben. 

Am nficbsten liegt es wohl, das Problem der Willensfreiheit, 
dessen Bedeutung fur die forensisclie Psychiatric wie fur die Ethik 
keines Beweises bedarf, zu betracbten. Wenn die Eonstitution ange- 
boren ist, die moisten psychischen Akte aber gemass der Konstellation 
reflektorisch verlaufen, so entfallt offenbar jede Verantwortlicbkeit des 
lodjviduums fur seine Taten. Wir braucben die guten Handlungen 
nicht zu bewundern und durfen die Verbrechen nicht bestrafeu, ja wir 
kfinnen auch nicht erwarten, dass die Erziehung einen erheblichen Ein- 
fluss ausubt. Denn alles, was der Mensch empfindet find fuhlt, was 
er tut und denkt, ist durch die Struktur seines Zentralnervensystems 
bedingt. stellt gewissermasscn einen Mechanismus dar, der unbeirrt, 
ohne Rucksicht auf Gesetz und Recht, auf Gut und Bfise, seine Walze 
abspieien lfisst. 

Die Seele ist in der Tat einem Saitenspiel vergleichbar, das infolge 
einer geheimnisvollen Kraft stfindig tfint, mal starker, mal schwacher. 
Die Melodie stellt die herrschende Qualitat dar, die andern sind die 
begleitenden Akkorde. Einfluss hat (lie Vergangenbeit wie die Gegen- 
wart, besonders aber die Bauart des Instruments. Nicht wir spielen 
auf diesem Instrument — dies Instrument sind wir. Und nur zum 
kleineren Toil lenken wir die Melodie nacb unserem Willen. Die Er¬ 
ziehung will auch aus dem weniger edlen Instrument herausholen, was 
berauszuholen ist, das Gesetz unterdrfickt mit Gewalt die stfirenden 
Disharmonien, die Ethik schafft durch Anerkennung und Bewunderung 
der Hfichstleistungen das Streben, solche hervorzubringen. 

Es ware also TfiUig unberechtigt, unserer Anscbauung entgegen- 
halten zu wollen, dass sie die pfidagogischen Bestrebungen als illusorisch 
hinstelle, jede Dntat entschnldige und jede etbische Tat ihres Wertes 
beraube. Das Gegenteil ist der Fall! 

ArtUf L PiychimtrU. Bd. 60. Heft t. 


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Dr. Harry Marcuse, 


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Allerdings kann Erziehung nur da etwas erreichen, wo etwas Er- 
ziehbares vorhanden ist. Wir halten es nicht fur zweckm&ssig wie 
es leider vielfach ublich ist, grosse Muhe darauf zu verwenden, Idioten 
Dinge auswendig leroen zu lassen, die sie nicht verstehen. Das ist 
keine Erziehung, sondern Dressur! Erziehung kann nur darin bestehen, 
Vorstellungei} zu bilden, an der Starke der primaren Funktion und 
ihrem Verhaltnis zur sekund&ren kann sie nichts Sndern. Vorstellungen 
lassen sich nur bilden und k5nnen nur dann das Handeln und Denken 
beeinflussen, wenn die sekuud&re Funktion in gewissem Grade ent- 
wickelt ist. Dnsere Anscbauung wird uns also in der Auswahl der 
erziehbaren Individuen unterstutzen und das Herausfinden der Unerzieh- 
baren erleichtern. Diese Trennung ist bisher praktisch zu wenig durch- 
gefuhrt. Es ist noch viel zu sehr von Zufalligkeiten abh&ngig, welche 
Psychopathen in die Irrenanstalt und welche in die Erziehungsanstalt 
kommen. Viel zu sebr h&ngt das einfach davon ab, ob die Gelegen- 
heit zu einer strafbaren Handlung gegeben war oder nicht. 

Verbrecher gibt es nur vom juristischcn, nicht vom psychologischen 
Standpunkt. Der Begriff der freien Willensbestimmung, den das Gesetz 
noch immer zum Masstab der strafrechtlicken Verantwortlichkeit macht, 
trifft nicht das Wesentliche. 

Jede Handlung, ob gut oder schlecht, kann auf zweifache Art zu 
erkl&ren sein. Sie kann erstens der Konstitution entspringen. Dann 
wird das Individuum gegebenenfalls stets in derselben Weise reagieren, 
es ist unverbesserlich, unbelehrbar. Steht die Art der Reaktion (ihr 
Inhalt) in erheblichem Widerspruch zu den Interessen der Gesiyntheit, 
die denen des Einzelnen vorangeken mussen, so bleibt nichts ubrig, 
als sie mit Gewalt zu verhindern. Nicht Strafe sondern Iuternierung 
in einer Irrenanstalt ist hier angebracht. 

Zweitens kann die Handlung durch krankhafte Erregung einer ge- 
wohnlich nicht so stark reagierenden Konstitution ausgelost werden. 
Hier ist die supprimftre oder sekundare Entstehung der Erregung zu 
unterscheiden, bezuglich der Verantwortlichkeit aber kommt vor allem 
der Grad der Erregung in Betracht. Praktisch wurde wohl stets hier- 
auf der grSsste Wert gelegt und nicht die Frage beantwortet, ob Ein- 
schr&nkung oder Ausschluss der freien Willensbestimmung vorgelegen, 
sondern ob die Erregung stark genug war, um dies zu vermogen. 
Unsere Einteilung der Konstitutioneu durfte es erleichtern, die Wirkung 
eines bestimmten Reizes, sei er supprim&r oder intrapsychisch, abzu- 
sch&tzen und so mit grOsserer Sicherheit als bisher zu bestimmen, ob 
die Grenze der Zurecknungsf&kigkeit, im Sinne des Gesetzes, uber- 
schritten ist oder nicht. f 


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Aufsatze zur energetiscben Psyohologie. 


147 


Massgebend daffir, ob eine krankhafte oder eine strafbare Hand- 
lnng vorliegt, ist unserer Auffassung uach die Starke und Form der 
psvchisehen Kraft, die sie erforderte. War die Kraft gering, so handelte 
es sicb um eine reflektorische Handluug, die also nicht strafbar sein 
kann. War die Kraft aber gross, so kann sie uberwiegend primar 
oder ilberwiegend sekund&r gewesen sein. In beiden Fallen liegt eine 
abnorme Reaktion vor. Nur wenu die Kraft erheblich, dabei aber das 
□ormale Yerhalten V : S gewahrt blieb, kann es sich um eine strafbare 
Tat handeln. 

Der Staat interessiert sich vor allem fur die schlechten Taten, 
der Psychologe aber muss von der moralischen Wertung absehen. Fur 
ihu gibt es ebeuso auch krankhafte gute Handlungen. Nicht jede 
gute Tat ist ethisch wertvoil, vielmehr gelten hier dieselben Bedin- 
gungen, die wir soeben fur das Verbrechen aufgestellt haben. Gbenso 
wie es Verbrechen aus Schwache und aus krankhafter Grregung gibt, 
entspringen dieser konstitutionellen und konstellativen Ursache soge- 
nannte gute Handlungen. Diese kSnnen natiirlich keincn Anspruch 
auf ethischen Wert haben, sondern sind mehr oder weniger k rank haft. 

Bine Handlung gewinnt erst ethischen Wert, wenn die psychische f 
Kraft, die sie bervorgebracht hat, von ungewdhnlicher Starke, aber von 
normaler Form gewesen ist. Nur dann wird sie auch von alien als 
etuisch anerkannt und gewurdigt. Nicht den nennen wir mutig, der 
berauscht in Kampf und Tod geht oder sich in religibser Gxtase 
opfert, sondern den, der sich bewusst der Gefahr aussetzt unter Ab- 
wagung der ethischen Pflichten. Seine Handlungsweise erfordert die 
rnciste psychische Kraft und steht daher am hochsten. Hier findet die 
Gthik ihre naturliche Begriindung. 

Finer der wenigen, die das eingesehen oder doch gefuhlt haben, 
ist Dostojewski, der in dem „Idioten“ die krankhaften ethischen 
Handlungen in gl&nzender Weise behandelt. Gs wurde sich lohnen, 
die Charaktere dieses Werkes eingehend zu analysieren. Bine solche 
Betrachtung literarischer Werke crscheint uns fruchtbarer und interes- 
santer als die sogenannte Pathographie, die aus. den Werken den Cha- 
rakter oder sogar die Krankheit des Verfassers erkennen will. Abge- 
sehen davon, dass dies gewChnlich auf einfachere Art und sicherer mQg- 
lich sein wird, entbehrt diese Pseudowissenschaft auch jeder Grundlage. 
Seibst wenn man aus dem „Idioten (1 nachweisen wurde — was man 
obnedies weiss —, dass Dostojewski an epileptischen Anf&llen ge- 
litten hat, wire das keiu grosser Gewinn. Gs wurde vor allem die 
geniale Bebandlung des schwierigen Stoffes zwar nicht verkleinern, 
aber auch nicht richtig wQrdigen kOnnen. Dies aber wire gerade die 

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Dr. Harry Uarcuse, 


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Aufgabe der Psychologie, zu zeigen, wie aus Konstitution und Ron- 
stellation folgerichtig die Handlung entwickelt wird. Nor auf diese 
Weise kann aus solchem Werk eines Genies psychologiscbes Verstind- 
nis fur das t&gliche Leben gewonnen werden. Und es ware wohl ver- 
dienstvoll, an den Werken literariscber Tagesberfihmtheiten zu zeigen, 
wie wenig Abnung sie von psychologischen Dingen baben, und wie 
im Gegensatz dazu die unsterblichen Werke gerade durch ibre psycho- 
logische Wahrheit die Jabrbunderte fiberdauern find eine Quelle der 
Erkenntnis werden. 

Mit Recht wirft Jodi 1 ) der Arbeit von Moebius fiber J. S. Rous¬ 
seau vor, dass sie nicht in die „Gedankenwelt des grossen Bahnbrechers“ 
eindringt. „Vom Patbologiscben aus gelangt roan nie zum Grossen, 
sondern iromer nur zum Kleinen, Jammerlichen; nie zum Unsterblicben, 
sondern iromer nur zum Verg5nglichen.“ Die zahlreicben Nachfolger 
von Moebius auf dem Irrwege der Pathographie baben dies Wort 
Jodi’s iromer wieder bestatigt. Den Psychiater aber muss es davor 
warnen, die Grenzen seiner Wissenscbaft zu fiberschreiten. 

Aus einem belletristischen literarischen Werke wird man obne 
Zweifel eine Anzahl von Scblussen auf die Intelligenz, das Wissen, 
die Gedankenwelt seines Urhebers ziehen kfinnen, ebenso wie aus deu 
Reden eines Menschen. In erster Linie sollten aber die in dem Werk 
enthaltenen Gedanken interessieren, deren Wert unabhfingig von dem 
des Autors zu beurteilen ist. Eher noch lassen die Werke der Musik 
und der bildenden Kfinste ffir den, der sicb eiiifuhlen kann, Scblfisse 
auf die psychiscbe Konstitution ihres Schfipfers zu. Hicr, wo Nach- 
ahmung und schopferischer Trieb, Vorstellungen und prim&re Akte 
leichter auseinander zu halten sind, kfinnte viel eher ein Zusammen- 
hang zu konstruieren sein. Wir wollen aber nicht eine Pathographie 
der Musiker oder Maler hervorrufen, sondern nur auf die Tatsache bin- 
weisen, dass aucb der Wert dieser Werke der psychischen Intensitfit 
und Form entspricht, der sie ibre Entstehung verdanken. 

Die vorliegenden Aufs&tze greifen besonders dadurch fiber das 
Gebiet der psychischen Erkrankungen hinaus, dass sie das psychische 
Geschehen den anderen Lebenserscheinungen zwar als eine andere und 
bdhere Form, aber doch als ein derselben Kraft entspringendes Ph&nomen 
angliedern. Dadurch verwischen wir die anscheinend so scharfen Grenzen 
zwischen Physjschem und Psychischem, und w&hrend wir einerseits den 
BegrifF des Psychischen weiter ausdehnen, als es gewdhnlich geschieht. 


1) Jodi, Vom Lebenswege4. „ Rousseau im Lichte der Pathologie u , zu- 
erst erschienen in der Neuen Freien Presse. 15. 11. 1903. 


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Aufsatze zar energetischen Psychologic.) 

ubertrageu wir auch die sonst nur fur die physischen Vorg&nge ange- 
wendeten Erkenntnisse und Gesetze auf das Psychische. 

Daun gilt nicht rriehr, was von manchen betont wurde, dass der 
erste Gedanke, der die Materie durchzuckt, etwas vfillig Neues, vflllig 
Anderes darstellt als die bisherigen Prozesse. Dann ist psychisch und 
bewusst nicht mehr identisch, unbewusstes Psychisches dagegen keine 
Contradictio in adjecto, sondern es gibt mehr oder weniger bewusstes 
und unbewusstes psychisches Geschehen. 

Das Charakteristische des Psychischen ist nicht mehr, dass es von 
dem Individuum bewusst erlebt wird, sondern dass sein Zentralnerven- 
system bei diesem Vorgang spezifische Energie verbraucht, spezifische 
Kraft produziert 1 ). Wenn wir das Psychische als eine spezifische Ener¬ 
gie des Zentralnervcnsystems dcfinieren, mfissen und kfinnen wir auch 
die Emkehruug gotten lassen und jede Keaktion als psychisch bezeichnen, 
bei der diese Energie auftritt. 

Es ist in dem engen Zusammenhange der Naturvorgtinge begrfindet, 
dass die Anschauung, die man sich von einem Teil derselben bildet, 
nicht auf dieseu beschr&nkt bleiben kanu, sondern sich entweder der- 
jenigen, die man in Bezug auf die fibrigen als richtig erkannt hat, 
unterordnen muss oder aber zum Fundament wird, auf dem man sich 
eine Weltanschauung aufbaut. 

So kunuten unsere Betrachtungen leicht dazu fuhren, den Zusam- 
menhang von Leib und Seele oder den Ursprung des Denkens und an- 
deje Problemo zu erortern, die fiber die mogliche Erfahrung hiuaus- 
geheu. Es wurde aber darin eine Verkennung der Tragweite unserer 
Theorie liegen. 

Es kann nicht Aufgabe einer psychologischen Theorie sein, sich 
mit den angedeuteten, letzten Fragen fiberhaupt zu befassen. Durch 
die Annahme, dass wir es mit einer Form der Energie zu tun haben, 
sclmeiden wir uns die Mdglichkeit ab, etwas anderes als Energie in 
dem psychischen Geschehen zu findeu. Eine derartige Annahme kann 
weder bewiesen nocb widerlegt werden. Sie dient dazu, sich fiber 
etwas Unerforschliches, fiber ein X zu verstftndigen. Es liesse sich 
nichts dagegen sagen, wenn jemand lieber annehmen wollte, das psy- 

1) Die Begriffe Kraft und Energie sind zwar in der Physik verschieden zu 
definieren, bezw. zu gebraucbon. Sobald es sich aber um psychische Kraft und 
psychische Energie handelt, sind sie nicht soharf zu trennen, da die geleistete 
Arbeit bezw. die produzierte Kraft nicht messbar ist. Sachlich durfte es an den 
bier dargelegten Anschauungen nichts andern, wenn ein Unterschied zwisohen 
den beiden Begriffen auch for diePsychologie konstruiert wurde (z.B.Euergie = 
Kraft X Zeit). 


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chische Geschehen sei eine Form der Wellenbewegung oder Strahlung, 
vorausgesetzt, dass damit Aiehr erreicht wurde. Die Ergebnisse sind 
bier ausschlaggebend. Welche Berechtigung unsere Annahme vom philo- 
sophischen, tkeologischen oder erkenntnistbeoretischeu Standpunkt hat r 
kummert uns so wenig, wie den Astronomen die Frage, wo der Himmel 
sich befindet. Daher berubren uns auch keine EinwSLnde, die von einem 
anderen als psychologischen Standpunkt erboben werden kOnnten. 

Wir kQnnen nicbt beweisen, dass das Gesetz von der Erbaltung der 
Kraft auf die angenommene Umformung der supprim&ren in primare 
oder sekund&re psychische Energie Anwendung findet oder hier eine' 
Ausnahme erleidet. Es ist dies aber keine psyckologische Frage. Die 
psychische Energie ist so wenig wie die chemische Affinitat oder die 
Attraktionskraft der Materie weiter erkl&rbar. 

Von anderen Erfahrungen ausgehend als Jodi, sind wir wobl in 
Einzelheiten auch zu anderen Ergebnissen gekommen und stellen Fragen 
in den Vordergrund, die der Darstellung der normalen Psychologie 
ferner liegen. 

Es war mir noch vergdnnt, Jodi selbst die „energetische Theorie 
der Psychosen u vorlegen zu kOnnen. Er bat die Konsequenzen, die in 
ihr aus seiner Lehre gezogen worden sind, durchaus gebilligt. Dnd so 
bin ich auch der Ueberzeugung, dass die vorliegenden Aufsatze mit den 
Grundanschauungen der Jodl’scben Psychologie nirgends in Widerspruch 
stehen. Das erscheint mir von Wichtigkeit, wenn es mir auch fernliegt, 
die Verantwortung fur die hier vertretene Auffassung kliniscber Begriffe 
und psychopathologischer Zust&nde Jodi zuscbieben zu wollen. 

Die Auffassung der Tribune, der Hypnose, der Halluzinationen u. a. 
weicbt in mancher Hinsicht von der Jodi’s ab. Diese Verschiedenheiten 
treten jedoch bereits in der fruheren Arbeit hervor, obne dass Jodi 
selbst Anstoss daran genommen hat. Sie sind gegenuber der Tatsache, 
dass die Einteilung des Psychischen von Jodi ubernommen ist, unwesent- 
lich. Diese Einteilung ist das Fundament der Theorie. 

Eine eingehende Darstellung der vorhandenen Unterschiede, sowie 
des Verh&ltnisses der energetischen Psychologie zu anderen Systemen 
wurde zu weit fiihren. Was uns von Wundt, Ziehen, Bleuler, Freud 
trennt, ist mehrfach hervorgehoben worden. 

Hier sei nur noch darauf hingewiesen, dass sich unsere Anschauungen 
in einzelnen Punkten mit denen Schopenhauer’s begegnen 1 ), dass 


1) Im Folgenden sind selbstverstandlich nur die psychologischen, nicht 
die philosophischen Anschauungen Sch.’s gemeint, und zwar insbesondere der 
Aufsatz: Ueber den Willen in der Natur. 


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Aufsatze zur energetischen Psychologie. 


151 


aber die Dreiteilung der primaren Funktion die Welt nicht als Wille 
and Vorstellung anzusehen erlaubt, sondern dem Willen Gefuhl und 
Empfindung gleichberechtigt zur Seite stellt. Die Aehnlicbkeit liegt in 
der Herausbebung der Vorstellungen als einer bdbereu Stufe psycbi- 
scber Akte. 

Die supprim&re psycbische Funktion l&sst die drei Qualitftten Erap- 
finden, Fuhlen, Wollen nicht mebr erkennen, sie ist nur eine Form der 
Energie, an der man nichts als Intensitatsunterschiede wabrnehmen kann. 
Man spracli fruher von Lebenskraft, fur die Schopenhauer den Willen 
setzte. Von unserem Standpunkt kdnnen wir Schopenhauer hierin 
nicht zustimmen. Er gibt selbst zu, dass es nur eine Art von Willen 
sei, um die es sich hier handele, die unbewusste Spontaneit&t. Mit 
detnselben Recbt kOnnte man aber von unbewusster Empfindung Oder 
Gefuhl sprechen. Er belegt das Vorhaudensein dieser Spontaneitat fur 
die Pflanzen mit Beispiclen, aus denen sich das ohne Weiteres ergibt. 
Der Kurbis, der den nebenstehenden Wasserkubel findet, die Kartofifel, 
die dem Licbt einen meterlangen Stengel entgegenstreckt, sie mussen 
ebensoviel Empfinden oder Gefuhl haben als Willen. Es handelt sich 
stets um eine tiefere Stufe psycbischer Entwicklung, um eine Kraft, auf 
die wir den Begriflf des Psychischen nur in der das Unbewusste ein- 
schliessenden Form des supprimaren anwenden. 

Sobald wir uns aber Schopenhauer’s Weltanschauung mit dieser 
Einschrankung ansehen, finden wir eine Reihe von Einzelheiten, mit 
denen wir in entsprecbend modifizierter Form ubereinstimmen. So vor 
ailem den Satz, dass Wille nicht durch Erkeuntnis bedingt sei, wohl 
aber Erkenntnis durch Wille. Wir mussen nur hinzufugen, dass es 
nicht der Wille allein ist, sondern ebenso auch die andereu beiden 
primaren Qualitaten, so dass also Erkenntnis ohne diese nicht mdg- 
lich ist. 

Das Psycbische zeigt auch nach Schopenhauer verschiedene Ent- 
wicklungsstufen, er glaubt aber, dass die alte Einteilung der Lebens¬ 
kraft in Reproduktion, Irritabilitat und Sensibilitat seiner Auffassung 
nicht entgegenstehen, wahrend dies d?ch in erheblichem Masse der Fall 
sein durfte, will man der alten Anschauung nicht Gewalt antun. 

Schopenhauer sieht bekanntlich in dem Willen das „Ding an 
sicb u . Die Berechtigung dazu wollen wir dahingestellt sein lassen, nur 
sei bervorgehoben, dass die „supprimare Funktion u ein psychologischer 
Begriff ist, der uns die psychologischen Prohleme klaren, die Gedanken- 
welt mit den ubrigen Lebenserscheinungen verbinden und so die Ent- 
stehung des Bewusstseins begreiflicb machen soil, dass er aber nicht 
metapbyBiscbe Spekulationen irgendwie zu fOrdern geeignet ist. 


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152 Df. Harry Marcuse, Aufsatze zur energetisohen Psychologic. 

Wenn wir also den supprim&ren Widen gelegentlich als „Widen 
an sicb u bezeichnet haben, so soil damit keine Parallele zu dem „Ding 
an sich* gezogen werden. Der Begriff der supprim&ren Funktion um- 
fasst ja ebenso die Qualit&ten des Fuhlens und Empfindens. Er erm6g- 
licht der Psychologie, ilire besondere Anscliauungsweise auch auf die 
Lebenserscheinungen auszudehnen, die bisher der Physiologic vorbehalten 
zu sein schienen, und so deren Untersuchungen zu erg&nzen. Wahrend 
sich die Physiologie auf die Erforschung der im Organismus wirksamen 
chemischen und physikalischen Krafte beschr&nkt, ist Gegenstand der 
Psychologic die psychische Kraft. 

So wenig wir die anderen Krafte weiter erklaren kfinnen, so wenig 
k5nnen wir die Entstehung der psychischen Kraft verstehen. Diese Tat- 
sache kann aber unseres Erachtens die Ablebnung des Begriffes der 
psychischen Kraft niclit begriinden, sie muss vielmehr dazu fiihren, ihn 
als gleich berechtigtes theoretisches Prinzip den anderen Kraften anzu- 
reihen. Nur wer der Meinung ist, die Physiologie werde frtiher oder 
spater die Erscheinungen des Lebens restlos erklaren, wird ihre Ergan- 
zung durch die Psychologie fttr iiberfliissig halten. 

Wir lioffen gezeigt zu haben, welcher Nutzen der Psychologie daraus 
erw&chst, wenn sie den Begriff der psychischen Kraft in der Form der 
energetischen Theorie zur Anwendung bringt: eine Auffassung des psy¬ 
chischen Geschehens, die sich von metaphysischen Spekulationen frei 
halt und grade dadurch keinem Glauben und keiner philosophischen 
Betrachtung im Wege stcht, eine Auffassung, die die Ergebnisse der 
Naturwissenschaft vcrwertet und damit selbst zu einem Zweig der Natur- 
wissenschaft wird. 


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V. 


Hysterische DUmmerzustSnde. 

Von 

Dr. Harold Siebert, 

Nervenarzt und leitendem Arzt der psychiatrischen Abteilung 
am Stadtkrankenhause in Libau. 

Fur die Erkennung ^fast aller Krankheiten kaim es als notwendige 
Forderung eracbtet werden, dass das jeweilige zu beurteilende Bild 
mit einer Reihe frfiber gesehener, analoger oder fihnlicher Zust&nde 
verglichen wird, dass gewissermassen die „Erfahrung“ als fur die 
Diagnose ausschlaggebendes Moment nnzusehen ist. Es gilt dieses ganz 
besonders fur die Vielgestaltigkeit der hysterischen Zustandsbilder; die 
Worte Krehls 1 ): „Von einer scharfen Beobacbtungsgabe, der Fahig- 
keit zu kombinieren und dem Besitz einer grossen Reihe von Erinne- 
rnngsbildern wird der Erfolg abhfingen 11 — haben dalier nicbt un- 
wesentlichen Bezng auf die richtige Deutung eines so komplizierten 
Nerven- und Seelenleidens, wie wir es in der Gestalt der Hystcrie vor 
uns haben. Fast jeder kritisch denkende Beobachter. der an die Be-; 
bandlung bysterischer Stdrungen herantritt, ist sieh darfiber klar, dass 
wir eine einbeitliche Definition des Hysteriebegriffs nicbt haben, und 
dass deslialb auch die Beurteilung mancher Storungen an der abweichen- 
den Auffassung der einzelnen untersuchenden Aerzte auseinander gebt; 
andererseits meinen vielfach Verschiedene dasselbe, sagen nur Ver- 
schiedenes. Sondern wir nun die nebens&chlichen Begriffe und ver- 
; 1 > Komponente einer jeden Auffassung, so bleibt dabei dock 
meist die cine gleichc Tatsache besteben, dass auf vcrschiedenen 
Seiten der gleicbe Grundgedanke anzutreffen ist. 

Weon ich auch die Frage der Definition der Hysterie keineswegs 
vom prinzipiellen Standpunkt aus anschneiden mdchte, so muss doch 
in Rurze anf die grundlegenden Theorien fiber das Wesen dieser Krank- 

1) Pathologiscbe Physiologic. 1907. Vorwort. 


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heit hingewiesen werden. Wahrend MObius 1 ), Cramer 2 ), Striimpell 3 ) 
and andere, bei der Beurteilung dcr Hysterie der Vorstellungen den 
wesentlichsten Teil beim Gntsteben der StGrungen, besonders den Ver- 
anderungen des Korpers zuschreiben, bebt Oppenbeim 4 ) die gesteigerte 
Affekterregbarkeit und den krankbaft gesteigerten Einfluss der 
, Gemutsbewegungen auf die diese in der Norm begleitenden moto- 
riscben, sensprischen, vasomotorischen and sekretorischen Funktionen 
hervor. Aucb neuerdings betont Oppenheim 5 ), dass wir keine pra- 
zise, allgemein anerkanote Begriffsbestimmung der Hysterie 
besitzen. Als Grundpbanomene bezeichnet er den abnormcn Seelenzu- 
stand: die Reizbarkeit, den jahen, unmotorischen Stimmungswechsel, 
die Cbarakteranomalien, die Neigung zu explosiven Handlungen, femer 
die Steigerung des Einflusses der Affekte auf die korperlicbe Sphare 
in typischer Ausdrucksform, die Entstehung und Beseitigung kOr- 
perlicher Symptome auf ideagenem bezw. psycbogenem Wege und 
die damit in der Regel verknupfte Unbestandigkeit der Erscbeinungen. 
„Die einfacbe Steigerung der euiotionellen Erregbarkeit ist kein Cha- 
rakteristikum der Hysterie, sie kommt auch der Neurasthenic, dem 
neuropathischen Zustand schlechtweg zu. Erst die Art ihrer Aeusse- 
rung (Lach- und Weinkrampfe usw.) und das grobe Missverhaltnis 
zwischen Reiz und Wirkung verleibt ihr das hysteriscbe Geprage. Bei 
der Hysterie ist der AfFekt nur die Gelegenheitsursaclie, wahrend die 
Grundlage der durch ibn ausgeldsten Krankheitserscheinungen in der 
Personlicbkeit, und zwar in erster Linie in der gesteigerteu Erregbar¬ 
keit und dem gesteigerten Einfluss der Gemutsbewegungen auf die 
kOrperliche- Sphare beruht, ausserdem in der besonderen Physiognomic 
dieser Ausdrucksbewegungen, die sie durch die Fixation erhalten. 11 

0. Binswanger 6 * ) halt den Beweis fur unmdglich, dass alle hyste- 
rischen Krankbeitsvorgange auf eine psychologiscbe Grundformel zu- 
ruckzufiihren seien. Er ist der Meinung, dass zwar alle hysteri- 
schen Krankheitserscheinungen durch psychiscbe Vorgange 
beeinflusst werden k5nnen, dass aber der Satz, die Hysterie 
entstehe ohne jede Ausnahme aus psychischen Vorgangen 

1) Neurologische Beitrage. 1898. S. 68. 

2) Lehrbuoh der Psychiatrie von Binswanger und Siemerling. 1907. 
S. 274. 

3) Spezielle Pathologic und Therapie. 1907. II. 753. 

4) Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 7. Aufl. S. 1203. 

5) Die Neurosen infolge von Kriegsverletzungen. Berlin. 1916. S. 191. 

6) Die Hysterie. In Nothnagels Handbuch der speziellen Pathologic 

und Therapie. 1904. S. 14. 


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Hysterische Dammerzustande. 


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noch uicht bewiesen worden ist und aucb nicht bcwiesen 
wcrden kann. „Die hysterische Veranderung besteht darin, dass die 
gesetzmassigen Wechselbeziehungen zwischen der psycliischen und mate- 
riellen Reihe gestflrt sind, nnd zwar in doppelter Richtung, auf der 
einen Seite fallen fQr bestimmte Reihen materieller Rindenerregungen 
die psychischen Parallel prozesse aus oder werden nur unvollstandig 
durch jene geweckt; auf der anderen Seite entspricht einer materiellen 
Rindenerregung ein Uebermass psychiscber Leistung, das die verschie- 
denartigsten Ruckwirkungen auf die gesaniten Innervationsvorgange, 
die in der Rinde entstehen oder von ihr beherrscht werden, hervor- 
ruft u . 

Sehr zuruckhaltend verhalt sich Reichardt 1 ) beziiglich der 
Diagnosestellung auf Hysterie, auch er will mit Sommer 2 ), wenigstens 
dem Publikum gegenuber, lieber die Bezeichuung „Psycbogenie“ ange- 
wandt wissen, zum mindesten um der weitveibreiteten Auffassung vom 
Zusammenhang zwischen dieser Neurose und den Sexualorganen (39 baripa- 
Gebarmutter) entgegenzutreten. „Was fur das Wesen der Hysterie am 
meisten als ckarakteristisch gelten kann, ist die ausserordentlich ge- 
steigerte Suggestibilitat den Ausseren Einfltissen, sowohl wie den 
eigencn Vorstcllungen gegenuber 1 '. Im Uebrigen akzeptiert Reichardt 
auch die Definition von Kraepelin 3 ). „Als wirklicb einigermassen 
kennzeictmend durfen wir vielleicbt die ausserordentliche Leich- 
tigkeit und Schnelligkeit ausehen, mit welcher sich psychische 
Zustaude in mannigfaltigen kOrperlichen Storungen wirksam zeigen- 
seien es Anasthesien, ParSsthesien, seien es Ausdrucksbewegungen, Lab 
mungen, Krampfe oder Sekretionsanomalien." 

Hellpach 4 ) betrachtet als die psychologische Grunderscheinung 
der Hysterie die intensive, extensive und qualitative Vermehrung der 
psychogenen psychischen Vorg&nge (der Ausdrucksbewegungen im wei- 
testen Sinne des Wortes) und ihre DisproportionalitAt zu den Gemuts- 
bewegungen. Gegenuber der Psychogenie will er folgende Unterechei- 
dung obwalten lassen 5 ): „psychogenisch ist einer, der krank sein kann, 
wenn er krank sein will, und so krank sein kann, wie er will — 
aber hysteriseh erst einer, der (unter Aktualisierung solcher Potenzen) 
krank wird, weil er krank sein will." 


1) Leitfaden zur psychiatrischen Klinik. 1907. S. 192. 

2) Diagnostik der Geisteskrankheiten. 1894. S. 125. 

3) Lebrbach der Psychiatrie. 7. Aufl. II. S. 684. 

4) Lit. naoh Oppenheim, Lehrb. der Nervenkr. II. S. 1209. 

5) Die Physiognomic der Hysterischen. Neurol. Zentralbl. 1917. No. 15. 


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Den Unterschied der zuletzt genannten Begriffe habe ich auch in 
folgendem hervorgehoben 1 ): „die meisten faysterischen Stfirungen 
sind psychogen bedingt, aber weit weniger psychogene St6- 
rungen sind hysterisch u . Auch ich bin der Ansicht 2 3 4 5 * * ), dass die Dia¬ 
gnose auf Hysterie viel zu oft gestellt wird, und will diese Diagnose 
nnr fur gewisse qualitative Verfinderungen der psychisch-nerv6sen Funk- 
tionen reserviert wissen. Es erscheint mir daher unerl&sslich, dass 
daffir die notwendigen Kritericn dieses Krankheitsbildes, wie das alte- 
rierte Vorstellungsleben und gesteigerte Affekterregbarkeit 
nachweisbar sind. 

A. Behr 8 ) betont, dass „mit der Vorstellung krank zu sein, 
der Hysteriker den Wunsch verbindet krank zu sein“ — und 
Sokolowsky 4 ) hebt hervor: „der Simulant will krank scheinen, der 
Hysterische krank sein u , auch weiterhin: „der Hysterische findet in 
dem Kranksein den Rettungsanker fiir seine Minderwertigkeit, da er 
sich alsdann vom Kampf urns Dasein befreit glaubt und trotzdem eine 
Rolle spielt und die Beachtung findet, welcbe ihn allein befriedigt“. 

An letzter Stelle soli noch in Kurze auf die Breuer-Freud’sche 5 ) 
Hysterieauffassung hingewiesen werden, welche ich, ob der ihr zeit- 
weise weuigstens sehr weitgehend gezollten Anerkennung, der Erw&hnung 
wert halte. Vom Begriff des „eingeklemmten Affektes w ausgehend — 
hysterische Symptome verdanken nach Auffassung dieser Autoren ihre 
Entstehung bestimmten, vielfach dem Kranken selbst nicht erinnerlichen, 
erschutternden Ereignissen — waren sie bemfiht durch die „Psycho- 
katharsis“ das auslOsende Ereignis, das „psychische Trauma w in Hyp- 
nose festzustellen und durch „Abreagieren 14 den Affekt zur Erledigung 
zu biingen. Auf dem Boden dieser Psychokatharsis kam Freud zur 
Auffassung von der Verdrangung und baute auf solchen Voraussetzungen 
seine Sexualtheorie auf, indein er aunahm, bei seinen Beobachtungs- 
objekten bis in die zarteste Kindheit hinein sexuelle Traumen nach- 


1) H. Siebert, Die Psychosen und Neurosen der Bevolkerung Kur- 
lands. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 73. 

2) H. Siebert, Einige Bemerkungen fiber die allgemeinen Neurosen. 
Monatsschr. f. Psych. Bd. 35. H. 4. S. 400. 

3) Ein Fall von Hysterie im Anschluss an Leuchtgaseinatmung. Wiener 
med. Wochenschr. 1896 H. 40—42. 

4) Petersb. med. Wochenschr. 1895. No. 51 u. Zentralbl. f. Nervenheilk. 
und Psych. 1896. Jam. 

5) Psych. Mechanismus hyster. Phanomene. Neurolog. Zentralbl. 1893. 

Studien fiber Hysterie. 1895. Leipzig u. Wien. Kleine Schriften zur Neurosen- 

lehre. 1906. 


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Hysterische Dammerzustande. 


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weisen zu kOnnen, und sah die Hysterie als Folge dieser Erlebnisse an. 
Aligemein werden sowohl der Standpunkt Freud’s, obgleich sicb ein 
Autor wie Bleuler an dem Ausbau der Neurosen leli re auf Grundiage 
der VerdrAngung der Komplexe lebhaft beteiligt hat, als erst recht 
die weitgehenden Schlussc und Behauptungen der Schuler and AnhAnger 
Freud’s in ihren wesentlichen Punkten von den meisten deut- 
schen Gelehrten und psyckiatrischen Schulen abgelehnt, ich erwAhne 
dabei lediglich Sommer 1 ), Hoche 2 ), Oppenheim 3 ), Schultz 4 ) und 
anderc. — 

Durch den Begriff der VerdrAngung und das uheraus scharfe Her- 
vorheben des sexuellenMomentsuuterscheidet sich dieBreuer- Freud’sche 
Auffassuug nicht nur in quantitativer, sondern hauptsAchlich in quali- 
tativer Hinsicbt von den meisten anderen Hysteriethcorien der deutschen 
Psychiater. Die Gefahr, welche eine solche Anscbauung in sich birgt, 
ist nicht zum mindesten darin enthalten, dass man in den Fehler gerAt, 
Symptome isolierter Natnr zu verallgemeinern, NebensAchliches als Haupt- 
sAchliches zu betrachten und da kausale Zusammenh&nge zu suchen, 
wo nicht ein Auf- oder Naclieinander der Erscheinungen besteht, sondern 
hOchstensein Nebeneinander derselben, wAhrend dem Begriff der Minder- 
wertigkeit, welcher in den wesentlichsten Bestandteilen ein Charakte- 
ristikum der Hysterie an sich ist, durcb das Suchen nach neuen Kom- 
plexen oder Definitionen, welche in anderen Worten dasselbe sagen, 
eine zu geringe Beachtung geschenkt wird. WAhrend die motorischen, 
sensiblen und die vom vegetativen Nervensystem regulierten sekretorischen, 
vasomotorischen und trophischen StOrungen einerseits, die Charakter- 
anomalien, die perversen Aeusserungen der Stimmung und die Perfidien — 
als psychiscbe Stdrongen — andererseits, bald mehr isoliert, bald kom- 
biniert, relativ hAufige Anzeichen der erwAhnten Psycho-Neurose dar- 
stellen, sehen wir in den DftmmerzustAnden krankhafte Erschei¬ 
nungen vor uns, wie solche durchaus nicht so alltAglich auf- 
treten, dass sie ohne weiteres Bedenken als eisernes Inventar 
in den Beobachtungs- und Erfahrungsschatz der meisten 
Aerzte aufgenommen werden durften. Folgen wir in der Frage 
des Vorkommens bysterischer D&mmerzustAnde Ziehen 5 ), so linden 

1) Psyehologische Untersuchungsmethoden. Klinik f. psych, u. nerv. 
Krankb. 1911. Bd. 6. S. 227. 

2) Medizinische Klinik. 1910. 

3) Lehrbuoh der Nervenkrankh. 7. Anil. 

4) Ueber Psychoanalyse in gerichtsarztlicher Beziehung. Monatsschr. f. 
Psych. Bd. 36. H. 4. S. 296. 

5) Psychiatric. 1911. S. 524. 


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wir an der Spitze seiner diesbezugliclien Abhandlung, dass „diese hy- 
sterischen Dammerzustande, ebenso wie die epileptischen, teils in engerer 
Beziehung zu cinern hysterischen Krampfanfall (pra- oder postparoxys 
mell, oder auch intraparoxysmell) oder freistehend vorkommen u . Ich 
will dann einiges bervorheben, was gerade Ziehen, der meiner Ansicht 
nach die klarste und am moisten urarisseneDarstellung dieser psychotiscben 
Symptomenkomplexe gegeben, als wesentlich betont: meist treten die 
hysterischen Dammerzustande erst nach Vorbestehen jahrelanger, ander- 
weitiger bysterischer Svmptome auf, selten ist es, wenn der Dammer- 
zustand die erste erkennbare Aeusserung der bis dahin „latenten u Hy- 
sterie darstellt; ofter, als die epileptischen, schliessen sich die hyste¬ 
rischen Dammerzustande uumittelbar oder nach einer mehrstundigen 
oder mehrtiigigen Latenzzeit an cine Affekterregung — „gefuhlsbetontes 
Ereignis u — an. 

Da die epileptischen Dammerzustande die haufigsten dieser Spezies 
von krankhaften Seelen&usserungen sind, richtet sich naturgemass unser 
diagnostisches Augenmerk in erster Linie auf diese, den hysterischen 
horaologen, Erscheinungen. Auch in der Diagnose sei die Ansicht 
Ziehen’s wiedergegeben: „alle Zeichen sind nicht untruglich, am wert- 
vollsten ist ini Sinne der hysterischen Stbrung die Beeinflussbarkeit 
durch Suggestionen, ferner sprechen gegen epileptischen Dammerzustand 
und fur hysterischen: 

1. Remittierender Verlauf; 

2. Allmahliches Abklingen; 

3. Theatralische Nuancierung der Affekte; 

4. Romanhafter Zusammenhang der Sinnestauschungen und Be¬ 
ziehung auf ein dera Dammerzustand vorausgehendes gefiihlsbetontes 
Erlebnis; 

5. Ausgesprochene hysterische Symptome; 

6. Selbstverstandlich interkurrente hysterische Anfalle; 

7 Suggestive Beeinflussbarkeit. 

Nahe verwandt den hysterischen Dammerzustanden sind die hyste¬ 
rischen Delirien. Sie unterscheiden sich von den Dammerzustanden 
nur dadurch, dass sie erstens ausgesprochener remittierend zu sein 
pflegen, dass sie zweitens am Anfang und am Schluss nicht so scharf 
abgegrenzt sind, dass drittcns die Assoziations- und Orientierungsstflrung 
viel oberflachlicher ist und dass viertens die Aranesie fehlt. w Solch 
eine Unterscheidung ist aus mehr als einem Grunde richtig, soweit sie 
sich eben nur immer anstellen lasst, in der Mekrzahl der Falle durfte 
jedoch bei genauer Analyse der Erscheinungen diese Abgrenzung durch- 
fuhrbar sein. 


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Hysterische Dammerzustande. 


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Dem Begriff der fur solche Zustiinde erforderlichen Differential- 
diagnose wird auch Wernicke 1 ) gerecht, indem er als Hauptmerkmal 
der hysterischen Dammerzustande „nicbt sowohl die Benommenheit des 
Sensoriums 11 , als die totale allopsyckische „Desorientierung“ hervor- 
hebt, wobei sich die Kranken einer traumbaft ver&nderten, meist sebr 
affektvoll gef&rbten Situation entsprecbend verbalten, andererseits steht 
Wernicke auf dem Standpunkt 2 ), dass Zustande von doppeltem 
Oder auch alternierendem Bewusstsein oft auch unzweckmassig 
als D&mmerzustSnde bezeichnet werdeu, da „das Sensorium dabei an- 
scheinend wohl erbalten ist, es sich gewissermassen um eine Unter- 
brcchung der Kontiuuitat in dem Bewusstsein handelt, derart, dass zwei 
von einander gauz verschiedene Personlichkeiten sich gegenseitig ab- 
losen, die eine an die Stello der anderen tritt. Die Unabh&ngigkeit 
der cinen Personlichkeit von der anderen beschrankt sich dabei uicht 
auf die Auswahl bestimmter Erinnerungen, sondern auf das Gebiet der 
interessen, Neigungen und Abneigungen, Charaktereigenschaften und 
dergl. rnehr, so dass ein bisher untadelhafter Cbarakter in dem zweiten 
Zustande die Gemutsverfassung eines vertierten Verbrechers darstellen 
kann. u 

Diesen Zust&nden gegenuber nimmt nun Wernicke den 
Standpunkt ein, dass .ihre TatsSchlichkeit nicht angetastet 
werden soil, uud auch ihr theoretisches Interesse nicht zu leugnen 
sei, doch scheinen sie zum Teil Eunstprodukte hypnotischer Suggestion 
zu sein und sind ausserdem so s el ten — so hatte er selbst nie einen 
solchen Fall zu Gesicbt bekommen — dass sie fUr das praktisclie 
Leben keine wesentliche Bedeutung besitzen. K. Rieger 3 ) erwkhnt 
bus SchrOdej' van der Eolk’s „PathoIogie und Therapie der Geistes- 
krankheiten“ einen Fall, wobei ein junges Madcben alternierend und 
ia photograpbischer Regel- und GesetzmMssigkeit an einem Tage ein 
kindisch-lilppisches Wesen aufwies, w ah rend sie am nachstfolgenden 
Tage vollkommen geordnot und besonnen war. Die Erinnerungslosigkeit 
ging bei der Kranken so weit, dass ibr Gedachtnis stets vom hellen 
zum ubernacbsten hellen Tage korrespondierte. Sie begann z. B. am 
l&ppiscben oder kindischon Tage franzbsisch zu lernen, w ah rend sie am 
luziden Tage ganz fliesseud sprach; dasselbe wiederholte sich auch in 
bezug auf Erkennen bezw. Wiedererkennen von Personen und die um- 
gebenden Verhaltnisse. Rieger knupft hieran die Bemerkung: „Das 


1) Grundriss der Psychiatrie. 1906. S. 496. 

2) Daselbst S. 299. 

3) Der Hypnotismus. Jena 1884. S. 99. 


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Dr. Haraid Siebert, 


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eben Erzfthlte klingt ganz fabelhaft, die AutoritAt des Berichterstatters 
ist aber eine zu gute, der Bericht selbst zu beatimmt und ausfuhrlich, 
als dass wir ihn in Zwejfei ziehen durften. Bei einem so exquisiten 
„doppelten Bewusstsein 14 ist eine einheitliche Persflnlichkeit gar nicht 
mehr mbglich, solchen Iudividuen gegenuber h5ren derartige vom nor- 
malen psychischen Leben bergenommene Begriffe einfach auf u . Sehr 
beachtenswert ist die Auffassung Rieger’s, dass, wie uberall in psycho- 
logischen und psychiatriscben Zustanden, es keine scharfe Grenze 
zwischen erhaltener und v6llig aufgehobener Erinnerung gibt, sondem 
nur gradweise OebergAnge zwischen beiden. 

I. 

lch selbst bin vor kurzer Zeit in der Lage gewesen einen Ahn- 
lichen, aber selbstverstAndlich keineswegs so atisgesprochenen, Fall von 
alternierendem Bewusstsein zu beobachten. 

Das 24jahrige Fraulein L. wurde mir von ihren Angehorigen zwecks 
Untersuchung und Begutachtung zugefiihrt. Die Vorgeschichte' ergab keine 
wesentlicbe hereditare Belastung, die Entwicklung der jungen Dame war in 
der Jugend glatt vor sich gegangen, sie batte nie-viel an korperliohen Krank- 
heiten zu laborieren gehabt, gute Fahigkeiten wies sie auf alien fur sie in Frage 
kommenden Gebieten auf, lernte fleissig, war im Hause als hilfsbereit und 
fleissig bekannt. Mit 13 Jahren — die Menses bestehen seit dem 15ten Lebens- 
jahre — stellten sich nervose Reizzustande ein, welohe anscheinend nicht eine 
psychologisch begrundete Ursache besassen, sie lachte und weinte ohne Ver- 
anlassung und konnte dann nur mit Muhe beruhigt werden. Die Puber- 
tatszeit wurde gut tiberstanden, die erwabnten Anfalle wiederbolten sich nicht 
mehr. 

Mit 19 Jahren verlobte sie sich, nach zwei Jahren teilte ihr der Brautigam 
schriftlich mit, dass er nicht in der Lage sei das Yerlobnis aufrecht zu er- 
halten. Bald nach diesem Vorfall setzte das unten zu schildernde Krankheits- 
bild ein. 

Unter dem Bilde einer schweren psycho-motorischen Erregung, als ein- 
leitender Ersoheinung, veranderte sich der Bewusstseinszustand der Kranken 
in aufialligstef Weise. Wahrend sie bis zum Ausbruch dieses Paroxysmus, 
welcher in lebhaftem zuckendem Spiel einzelner Muskelgebiete, im Haarraufen 
und lauten Schreien bestand, mit ihrer Umgebung in vollkommenem geistigen 
Konnex sich befand, an der (Jnterhaltung in sachgemasser und geordneter 
Weise teilnahm, kurzum nach alien Richtungen bin besonnen und geordneter- 
schien, veranderte das Einsetzen dieses Exzitationsstadiums ganzlich die ganze 
Personlichkeit. Schon im Verlauf der motorischen Reizzustande schien das 
Bewusstsein sich gewaltig verandert zu haben, wie dieses durch die Ausdrucks- 
bewegungen (Blick) unzweideutig dokumentierte; mit Nachlassen der siohtbaren 
korperliohen Phanomene, welohe von durchaus wechselnder Dauer, bis zu einer 


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Hysterische Dammerzustande. 


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balben Stunde and mehr, waren, trat die Verandernng des Bewusstseins offen- 
sichtlich zu Tage: die Kranke war ihrer Umgebung anscheinend ganzlich fern, 
sprach wohi die sie umgebenden Personen an, sobien jedooh fur die Umgebung 
selbst und den Ort beine prazise Vorsteilung zu bilden. Die Sprechweise war 
geordnet und ruhig, Akoasmen Hessen sioh nicbt nachweisen, wohl aber fiel 
cine Personenverwechslung auf, indem sie einzelne, jedoch nicht alle, gerade 
anwesende mannliche Verwandte als ihren ehemaiigen Brautigam ansprach 
und sich mit ihnen in lebhaftes Gesprach einliess. Eine besonders gesteigerte 
Affektivitat konnte wahrend dieser Gesprache nicht beobachtet werden, weder 
dass sie ihm Untreue oder Wortbruchigkeit yorwarf, oder in Zorn geriet, noch 
dass eine besonders traurige oder heitere Stimmungslage dabei auftrat. Sie 
spielte auch kompiizierte Klavierstiicke und legte dabei musikalisobes Ver- 
siandnis an den Tag. Den Abschluss dieses veranderten Gemiitsverhaltens, 
welches bis zu mehreren Stunden andauerte, bildete eine grosse Mudigkeit, 
der Kranken begannen die Augenlider schwer zu werden, sie zeigte gehemmte 
und tragere Bewegungen und begab sioh meist spontan in ihr Zimmer, wo sie 
sich dann hinlegte und fest einschlief. Gewalttatigkeiten oder Drobungen 
gegen ihre Umgebung sind nie beobachtet worden, desgleichen menials die 
Neigung zum Selbstmord. Beim Erwachen vom Schlaf bestand stets eine 
yollkommene Amnesie fur die durchgemachte Episode, das Gedachtnis 
korrespondierte fast vollig liickenlos mit der Zeit kurz yor Einsetzen der 
Attacks, ohne dass die Kranke jedoch irgend eine Rechensohaft fiber das, yom 
veranderten Bewusstsein ausgeftillte, Iniervall abzugeben imstande war. Der 
Versuch eines Neurologon im Hohestadium der Bewusstseinsveranderung Hyp- 
nose einzuleiten, missgluckte zu wiederholten Malen, wie uberhaupt ziemlich 
jede Art einer Therapie — Suggestion, Sanatorium, Milieuwechsel — sioh als 
refraktar erwies. Auffallend war aber das Phanomen, dass das Bewusstsein 
des Frauleins wiederholt wahrend des krankhaften Zustandes mit 
der vorhergehenden Attacke korrespondierte, und der Gedankengang 
gewissermassen im neuen Anfall vom vorhergehenden weitergesponnen wurde, 
wahrend sie im luziden Zustand nichts mehr vom kurz bevor durchgemachten 
su wissen angab: Sie fubrte ihre Gesprache fort, konnte die gleichen Musik- 
xtucke vorspielen und dergleichen mehr. 

Uiese GemutsstOrung durfte nun nach genauer Analyse des Falles 
als eine bedingt hysterische aufgefasst und angesprochen werden, es 
ist vieles in derselben enthalten, was an den oben von Rieger er- 
wiilinten Fall Schroeder van der Kolk’s erinnert, so das sonderbare 
Korrespondieren im Gedachtnis von einer Attacke zur anderen, bei 
ganzlicher Amnesie hierfur im luziden Zustande. Sowohl das Gesamt- 
bild, wie auch das AnkniipfungsvermSgen an die letztvorhergehende 
Sprung spricht gegen einen epileptischen Zustand. FQr hysterische 
Aflektion kann ferner angefuhrt werden eine Reibe neuro-somatischer 
Phinomene, wie gelegentlicher Globus, unter dem Einfluss emotioneller 
Momente entstehende muskulAre Zuckungen und eine ausgesprochene 

Ar«hiv f.FajehUtri^. Bd. 60. Heft 1. \\ 


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Herabsetzung alter Gefuhlsqualitaten, besonders der Schmerzempfindung 
an der ganzen linkeu K5rperhalfte „vom Scheitel bis zar Sohle“. Die 
Frage, welche bier bei der Beurteilung des Gesamtzustandes drin- 
gend gestellt werden muss, ist derart, ob und wieweit diese Bewusst- 
seinsstSrungen durcli die Umgebung bezw. ein lebhaftes Interesse des- 
selben an diesen Zustanden gefbrdert werden. Es spielt dieser Umstand 
hier sicher eine mitbestimmende Rolle, wenn auch wobl nicht die aus- 
schlaggebende. Die Starring an sick macht, wenn man das Einsetzen 
derselben einmal genau studiert, durchaus den Eindruck einer prim&ren 
Affektion der Geistesqualit&ten und des Geistesgesekebens: das mit voll- 
kommener Sicherheit zu erwartende Schwinden der ricktigen Vorstel- 
lungen im Raum — die allopsyckiscke Veranderuug —, das Personen- 
verkennen und der auffallende Wecbsel im Inhalt des Blicks, den ich 
als Sttfrung in der Innervation der mimiscken Muskulatur betrachte —, 
sind Erscheinungen, die nach alien Richtungen kin die psyckische Alie¬ 
nation als solcke kennzeichnen. Vielseitige Rehandluug, Aufenthalt im 
Sanatorium und manckes mehr haben jedock diese Erkrankung nickt 
beeinflussen konnen. Zugegeben auck, dass bis jetzt kein Arzt so weit 
im Besitz suggestiven Einflusses gewesen ist, urn die Psychose am rechten 
Fleck noch in nStiger Weise zu packen, so hat dieses Moment sicher- 
lich nur die Bedeutung rein quantitativer Natur. Das auffallende Kor- 
respondieren im Gedachtnis wahrend der eiuzelnen Attacken durfte viel- 
leicbt auf Kosten ausserer, suggestiver Einfliisse geschrieben werden; 
mOglich, dass durch frivoles Experimentiereu der AngebCrigen die Zu- 
stande eine ungeahnte Steigerung erfakren batten, und dass auf diesem 
Gebiet auck tberapeutisck etwas zu erreichen ware. An sich halte ich 
hier Heilversuche nach Art der Psychoanalyse nicht fiir gerechtfertigt. 
Dass ein sexuelles (vielleicht unbefriedigtes und unerreichtes) affektives 
Moment hier eine Rolle spielt, ist wakrscheinlich, besitzt sicher eine relativ 
nebens&cbliche Bedeutung gegenuber den bereits vor der Pubertat auf- 
getretenen nervdsen Allgemeinst5rungen. Jedenfalls durfte hier sicher- 
licb ein Herumwrihlen im Unbewussten und Unterbewussten auf sexueller 
oder uberhaupt erotischer Grundlage, unter eventueller Heranziehung 
des „psychischen Traumas* — der gelosten Verlobung —, kaum als die 
geeignete Psychotherapie erscheinen. 

Ich benutze die Bezeichnung Hysterie fttr die StOrungen des Frau- 
lein L. deshalb, weil sie an sich eine Reihe hysterischer — sit veoia 
verbo — Anzeichen darbietet. Ob die beobachteten transitorischen Ver- 
anderungen der Geistestatigkeit als hysterische anzuseken sind, ist eine 
Frage, welche ich, trotz gewisser Bedenken, im bejahenden Sinne be- 
antworten mochte, teils weil die St5rung uberhaupt schwer in ein fest 


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Hysterische Dammerzustande. 


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tunrissenes Krankheitsbild hineinpasst, teils weil die Grenzen des Hysterie- 
begriffs eben sehr weite sind. — Ich will hier auf die uberaus merk- 
wurdige Erscheinung der von Reichardt 1 ) beschriebeneu Marianne 
Illig hinweisen, wo sich periodische Hirnblindheit and Verwirrtheit, 
besonders in rAumlicher und zeitlicber Hinsicht paarten. Der Fall Illig 
konnte nicbt guterdings glatt als Hysterie bezeichnet werden. Wenn 
icb auch ohne Bedenken im Fall L. von DAmmerzustAnden spreche und 
keineswegs eine so strenge Kritik in bezug auf die diesbezugliche Auf- 
fassung obwalten lasse, wie dieses Wernicke in der oben erwAhnten 
Weise tut, so ist im GesetzmAssigen und in der Gleicbartigkeit 
der Stdrung, welche, ohne sich durch Stereotypien Oder Verscbroben- 
heiten im engeren Sinne auszuzeichnen, deutlich zu Tage treten, doch 
ein prinzipieller Gegensatz zu den weiter unten zu beschreibenden ge- 
nuinen hysterischen DAmmerzustAnden zu erblicken, welcbe stets ein 
gewisses mehr affektvolles GeprAge aufwiesen. Die Unmdglichkeit bei 
FrAulein L., die Situationen durch Suggestion in weiterem Masse umzu- 
stalten, ist auch fur mich ein Grund, neben den sicher hysterischen 
Zugen und Eigenarten, nicht nAber prAzisierbare psycho- 
neurotische Stbrungen anzunehmen. Eine Epilepsie kann mit 
Sicherheit ausgescblossen werden, desgleichen muss ich das Bestehen 
sonstiger wohlbekannter und genau definierbarer affektiver oder intellek- 
tueller Seelenstfirungen ansschliessen, — es wire eben ein eigenartiges 
Krankheitsbild von luzidem Verhalten und DAmmerzustAnden, bei welchen 
jedenfalls das hysterische Moment ausschlaggebend ist. 

Bovor icb mich der Betrachtung der weiteren hysterischen Dammer¬ 
zustande zuwende, soli noch in Kurze in gewisser Hinsicht der Sympto¬ 
matology dieser krankhaften Aeusserungen gedacbt werden. In einer 
Arbeit „ fiber die Psychosen und Neurosen der Bevfilkerung Knrlands" 2 ) 
babe ich anf die recht betr&chtlicbe Reihe meiner Beobachtungen auf 
dem Gebiet der hysterischen Dftmmerzustande hingewiesen und betonte 
direkt, dass ich mich in bezug auf Anerkennung eines solchen, ganz 
besonders in forensischer Hinsicht, der Aussersten Vorsicht und Zuruck- 
baltung befleissigt babe. In der Regel sprach ich nur solche Geistes- 
stdrungen als Dammerzustande an, wenn auch in der Tat nachgewie- 
aenermassen die Kriterien der hysterischen Konstitution vorbanden waren. 
Ich muss betonen, dass ich nie in der Lage war und vielleicht auch 
nicht im Stande wire, eine bis dahin latente Hysterie, welche sich 
dttrch einen DAmmerzustand der Umgebung kund gibt, von einer simu- 


1) Arbeiten aus der psych. Klinik zu Wurzburg. H. 8. S. 730. 

2) Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 73. 

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164 Dr. H&r&ld Siebert, 

lierten StOrung unterscheiden zu kdnnen, falls bei der dieses Leiden vor- 
t&uschenden PersCnlichkeit in der Tat gewisse fur Hysterie spreckende 
Anzeichen bestehen. Ick kabe bisker aucb keinen einzigen Diebstahl, 
als im kysteriscken D&mmerzustand begangen und deskalb der freien 
Willensbestimmung bar, in gerichtlicker Hinsicht zur Begutachtung ge- 
habt. Die derartigen Falle waren teils (anscheinend) simuliert, teils 
war keineswegs ein so tiefer Erinnerungsdefekt vorhanden, dass man 
die Anwendung der entsprechenden Schutzparagrapken zubilligen konnte, 
kingegeu kabe ich eine recht grosse Anzahl vou kysterischen D&^nmer- 
zust&nden, wo fCir die Auslosung derselben emotionelle Momente mit- 
spielten, beobachtet; die Dammerzustande setzten dann als prompte 
Reaktion auf ein reizendes Etwas ein, im Vprlauf — meist zu Beginn 
fuhrte das betreffende Objekt eine Gewalthandlung aus oder zeigte sicb 
zerst6rungswutig. Solche Erregungen dauerten dann meist mehrere 
Stunden bis zu andertbalb Tagen in einem Fall, so dass das klinische 
Bild, aucb vor Festlegung der d&mmerbaften Bewusstseinsstdrung genau 
den Weg fur die folgericktige Beurteilung wies. Auf Grund meines 
Materials muss icb dabei von einera g&nzlichen Versageu des Gan- 
ser’schen Symptoms 1 ) sprecken. Das Fixiereu einzelner Kranker 
und das Auhalten zu einem geordneten Antworten war gelegentlick 
schwer, oder gar, wegen allopsyckischer Verwirrtheit, unmoglich, ein 
regelrecktes Vorbeireden ist mir in der von Ganser betonten Weise 
nickt begegnet, wobei ja sickerlich die Verschiedenheit des Materials 
eine nicht zu uoterscb&tzende Rolle spielen durfte. Ich glaube nicht, 
dass ick einen zu laienhaften Standpunkt einnekme, wenn icb der An- 
sickt bin, dass das Ganser’sche Symptom, dessen grosse uosologiscke 
und psychologische Bedeutung keineswegs abgestritten werden soil und 
darf, dock bereits das Allgemeingut vieler Psyckopathen, Minderwertiger, 
iiberhaupt unsozialer Persflnlichkeiten, ja auck genuiner Hysteriker, ge- 
worden ist, welche mit demselben bei passender oder unpassender 
Gelegeuheit operieren und von demselben gegebenen Falles Gebrauch 
machen. 

II. 

Anna D., 35 Jahre alt, russischer Nationalitat, Frau eines russischen 
Obe^sten. Die Mutter der Kranken litt an schwerer Hysterie, welche sich 
im wesentliohen in Form von gehauften Anfallen ausserte. Sie war viele Jahre 
hindurch Patientin von Charcot. Die Tochtcr Anna ist das einzige Kind, sie 
zeigte von fruhester Jugend auf ausgesprochene neuropathische Zuge, wie Reiz- 
barkeit, naohtliche Schreianfalle und Tics universeller Art. Bei Eintritt der 


1) Arch. f. Psych. Bd. 30 und 38. 


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Hysterische Dammerzustande. 


165 


Pubertat schwanden diese nervosen Zustande ganzlich, mit 20 Jahren stellten 
sich die ersten fiir Hysterie charakteristischen Erscheinungen ein. 
Sichtlich ohne irgend einen psychogenen Anlass bekam sie plotzlich Wein- 
krampfe und muskulare Uebererregbarkeit. Trotz sachgomasser Behandlung 
kehrten solche Anfalle alle Monate etwa, jedoch in keinem Zasammenhang mit 
den Menses, wieder. Ansser diesen sehr hervortretenden Symptomen be- 
herrschte eine sehr wecbseinde Stimmungslage, eine groteske Launenhaftigkeit 
und'Sprunghaftigkeit das Wesen der Anna D., daneben liessen sioh vielfach 
bedeutungslose Anzeichen von untergeordnetem Wert, wie Globus, Gefuhls- 
storungen u. a. nachweisen. Nach Angaben sehr hervorragender Neurologen 
war die Kranke ein schwer zu behandelndes und wenig beeinflussbares Objekt. 
In der Ebe, die sie mit 25 Jahren einging, besserte sich die Krankheit recbt 
betrachtlicb, jedenfalls verloren sich die schweren Anfalle in kaum weiter be- 
merkfcarer Art; der Mann ubte anscheinend einen beruhigenden und ausglei- 
chenden Einfluss auf die disharmonischen Eigenscbaften aus. 

Erregungen, besonders bei kleinen Streitigkeiten, traten olt auf, Dammer- 
zustando sind friiher nie beobachtet worden. Zwei Geburten wurden glatt 
uberstanden, die Kinder, 8 und 6 Jahre alt, sind gesund, zeigen einstweilen 
keinerlei psycho-neuropathische Ziige oder Gepflogenheiten. Im Juli 1912 
schwerer Herpes zoster beiderseits, dielnterkostalnerven X, XI und XII waren 
befallen. Oktobor 1912 allgemeine Urtikaria, welche in einigen Tagen, 
angeblich nach suggestiver Behandlung abklang. 

Januar 1913 — in keinem Zusammenhang mit den Menses — setzte der 
erste, unten zu beschreibende Diimmerzastand ein. Anlass zur psychiscben 
Erregung gab eine an sich sachlich gefuhrte Auseinandersetzung mit dem Mann, 
welcher seiner Frau nicbt auf der St el 1 e die Einwilligung gab zu 
ibrer Mutter nach Petersburg zu reisen und sie bat etwas zu warten, be¬ 
sonders da die Reise eben, in Hinblick auf die Erziehung der Kinder, inopportun 
erschien. Hierauf ging der Mann zum Dienst. Frau D., welcbe bis dahin ganz 
ruhig und besonnen gesprochen, nur ibren ausserst dringenden Wunsch nach 
der Reise geaussert, rief das Dienstmadchen, liess sich ihre Kleider bringen 
und erklarte, dass sie zu ihrer Mutter verreisen wolle. Sie hatte sich ganz 
ordnungsgemass angezogen und sprach ruhig, so dass das Dienstmachen sich 
nichts bei diesem Ausspruch dachte. Von Hause ging sie direkt zum russischen 
Polizeiprasidenten, der sie auf Grund personlicher Bekanntschaft auch um- 
gehendempfing, undmeldetedemselben ruhig und in sicher vorgetragener 
Weise, dass ihr Mann sie heute friih vergiften wollte und seine 
Absicht urn die Mittagszeit sicher realisieren wurde, falls die Polizei 
nicht vorher seine Verhaftung vornehihe. Sie schilderte dabei bis ins kleinste 
und genauoste die Art, wie der Mann die Manipulationen vorgenommen babe, 
dass in ihren Worten durchaus der Charakter der Wabrsoheinlichkeit entbalten 
zu scin schien. Immerhin glaubte der Beamte derselben nicht blindlings, ver- 
sprach ihr Obacht zu gebe'n und liess dabei Frau D. nach Verlassen des Hauses 
unauffallig verfolgen. Sie begab sich darauf zur Kirche, wo gerade eine gottes- 
dienstlicbe Handlung stattfand, der sie etwa innerhalb einer halben Stunde 


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166 Dr. Harald Siebert, 

beiwohnte; nach Schluss derselben suchte sie den Popen auf und beichtete ihm 
eine Reihe von Sdnden: dass sie ihren Mann betriige, ihre Kinder nmbringen 
wolle und dergleichen mehr. Uierauf bestieg sie eine Droschke, fuhr zum Bahn- 
hof und trat dortselbst an den geschlossenen Fahrkartenschalter 
und verlangte mebrfach mit lauter Stimme, so dass die anwesenden 
Personen ringsum aufmerksam wurden, ein Billett nach Petersburg. Hierauf 
sank sie plotzlich ohnmachtig zu Boden und wurde vom Schutzraann, der sie 
die Zeit iiber beobachtet, nach Hause gebracht. 

Bei meinem Eintreffen fand ich die Kranke unter dem Bilde eines stupo- 
rbsen Zustandes. Lider krampfhaft geschlossen, Bulbi nach oben verzogen, 
Pupillen rechts gleioh links, schlaff-hypotonisohes Verhalten der quergestreiften 
Muskulatur, alia Reflexe ungestort, dabei ganzliche Analgesie der Hautdecken. 
Herztatigkeit leicht beschleunigt — 92 Pulse 1 ). Bei Eihatmen von NH S so- 
fortiges Erwachen vom Stupor, die Kranke richtete sich auf, blickte er- 
staunt auf den Arzt und fragte, wozu er hergekommen und was ihr fehlen solle. 
Sie hatte weder gleich noch spater jemals eine subjektive Erinnerung an alle 
Vorfalle, an ihre eigenen Handlungen und Aeusserungen; auch ein genaues 
Roferieren iiber diesciben war nicht jmstande in ihr die Vorgange ins Gedacht- 
nis zu rufen, sie erschienen ihr samtlich so absurd, kritiklos und unverstand- 
lich, dass sie das Faktum derselben kaum glauben wollte. Sie wusste nichts 
davon, dass sie ihr Haus verlassen, dabei war die Erinnerungslosigkeit so weit 
retrograd, dass sie sioh nich einmal der Gesprache mit dem Mann kurz vor 
Ausbruch des Dammerzustandes entsinnen konnte. Die Entstehung dieser 
Storung war anscheinend eine langsame, sie muss aus dem vollen Bewusst- 
sein allmahlich in den schleierhaften Dammerzustand mit volliger Amnesic 
hiniibergefuhrt haben. Diese Erinnerungslosigkeit brachte es auch mit sich, 
dass die Frage nach eventuellen Sinnestauschungen, welche das ganze Handeln 
moglicher VVeise geleitet oder die wahnhaften Empfindungen in gewisaer Rioh- 
tung geformt, sich als rollkommen illusorisch erwies. Vortauschung war hier 
ganzlich ausgeschlossen, es ware zweoklos gewesen solche Handlungen zum 
Schein zu ersinnen, zudem waren dieselben bizarr und spraohen von einer 
inneren seelischen Disharmonie. Beim Abklingen der Erscheinungen war die 
geistige Genesung von den krankhaften Symptomen des Dammerzustandes 
eine ganzliche, in jeder Richtung vollkommene, das Pathologische war wie ab- 
geschiittelt. 

Die transitorische Storung hatte 6—7 Stunden gedauert, 
eine Anstaltsbehandlung erwies sich nicht als notwendig. 

Bis zum Jauuar 1916, wo ich die Kranke letztmalig untersuchte, 
haben sich keine weiteren psychotischen Episoden, wie die oben ge- 
schilderte, wiederholt, ob fur sp&terhin muss naturgem&ss als unent- 
schieden hingestellt werden; die hysterische Konstitution bleibt bestehen, 


1) Vgl. Chr. Siebert, Zur Kasuistik der lethargo-kataleptischen Zu 
stande. Petersburger med. Wochenschr. 1910. Nr. 36. 


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Hysterische Dammerzustande. 


167 


und daher ist die Wiederholung eines D&mmerzustandes als durchaus 
im Betracht der Mdglichkeit liegend anzusehen, in dem Sinne lautet 
aucb die Prognose den Anghdrigen gegenuber. Ein Krankheitsgefuhl 
hatte Frau I). in ausgesprochener Wejse, die ihr gemachte Schildernng 
ties Vorkommnisses gewabrt der hoch intelligenten PersSnlichkeit sich 
volikommen in das Sckleierhafte und Ratselhafte der Episode hinein- 
zufinden, jedoch ist das Krankheitsbewusstsein in der Hinsicbt nur ein 
partielles, weil die Erinnerungsbilder fur die Ereignisse jedenfalls in 
den liquiden BewusstseinsvorgSngen nicbt beliebig na#h subjektivem 
Erniessen zur Disposition gestellt werden kbnnen, hingegen hat sich 
auf Grand der objektiven Darlegungeu eine vollkommene Krankheits- 
einsicht gebildet. Im Gegensatz zu Paranoiscben, welche gelegentlich 
wohl ein Krankheitsbewusstsein besitzen kQnnen, da sie auch im Stande 
sind, kraft ihrer Besonnenheit die Wahnbildung sich selbst vorzuhalten 
und uber jeden (wabntiaften) Gedankeu ibre ganze Verstandesthtigkeit 
und Kombinationsgabe ins Gewicht zu legen, jedoch trotzdem keine 
Einsicht fur das Falsche und Verkehrte ihrer Denkweise besitzen, hat 
unsere erwahnte Kranke trotz Fehlens der Erinnerung, fur die Episode 
iiirer Wahnbildung. die beste Einsicht fur das Unsinnige ihrer falschen 
Gedanken. Hierin liegt ebcn der, meines Erachtens, grunds&tzliche 
Gegensatz zwischen den dammerhaften, durch Suggestionen verschiedener 
Art herausgeforderten, Wahnideen und der stabilen Wahnbildung im 
Gefuge der funktionellen — nach uuserer heutigen Auffassung und 
Klassifikation — Psychosen. 

I in konkreten Fall hier liisst sich die schwerwiegende Bedeutung 
des auslOsenden Moments nicht sicher heraussclialen. Ist in der Tat 
der Umstand, dass der Mann ganz mit Recht die gewunschte Reise ab- 
sehlug, Grand genug, urn den ersten DUmmerzustand, zudem so schwerer 
Natur. auszuloscn? Darf roan hier etwa in dieser Reaktionsform einen 
r eingeklemmten Affekt" nach der Devise: „Los voro Mann um jeden 
Preis u — suchen, der sicb in einer so perversen Form nach aussen 
bin entlud. Mein psychiatrisches Empfinden lehnt dieses entschieden 
ab, und auch die, vie gesagt, sehr intelligente Kranke spricht in ganz 
sachgeni&sser und ruhiger Weise, dass ihr die psychiscbe Alienation 
hei sich volikommen r&tselhaft ist, und sie weder in sexueller, noch 
in persdnlicher Uinsicht mit ihrem -Mann in tats&chlichem Konflikt 
oder unbefriedigtem Verhaltnis gelebt. Wenn auch der Streit an sich 
noch keinen Shock aufs Nervensystem ausgeubt hat, so muss indes 
dem fur Hysterie charakteristischen groben Missverhaltnis zwiscben 
Reiz und Reaktionsform Rechnung getrageu werden, welches einem 
die schwierigsten Probleme vorlegen kann, ohne dass man darauf eine 


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Dr. Harald Siebert, 


befriedigende Antwort geben konnte. Auch der g&nzlich unerkl&rliche 
Umstaud der schweren Wahnblldung — ob der Wahn vorubergehend 
oder bleibender Natur ist, spielt dabei keine Rolle —ist ein irrealer 
Vorgang und steht in keinem Verhaltnis zur Wirklichkeit 1 ), und darum 
halte ich hier ein Suchen im Unbewussten und Unterbewnssten fur 
zwecklos und nicht sinnentsprechend. 

III. 

Emma 0., 22 Jahre alt, Littauerin, seit einem Jahr an einen Letten ver- 
heiratet, vor 2 Monaten Geburt eines Kindes, welobes sie eben stillt. Von 
friihester Jugend auf ein nervoses Individuum, war in iiberaus auffalliger Weise 
jedem Eindruck von aussen her unterworfen, indem sie mit schweren krank- 
haften Aeusserungen korperlicher und seelischer Natur auf oft recht unbedeu- 
tende Anlasse reagierte. Sie stand eigentlich stets in arztlicher Behandlung, 
ohne dass eine solche jemals andauernde Besserung hervorgerufen hatte, 
meist genugte jede neue Ordination fiir eine kurze Frist, bis dann das alterierte 
Vorstellnngsleben der Krankheiteinbildung auf einer anderen Stelle die Pforte 
offnete. — Die Kranke ist an sich recht ungebildet, dabei aber intelligent und 
tatkraftig, sie ist eine sehr religiose Natur. Die Ehe musste von Anfang an 
als denkbar ungliicklich bezeichnet werden. Der Mann ist ein Produkt der 
Halbbildung, liest viel popular-wissenscbaftliche Literatur, bewegt sich viel 
im Theater und in Versammlungen, vernachlassigt die Frau auf Schritt und 
Tritt, gibt ihr stets zu verstehen, dass sie ganz ungebildet sei, und ergeht sich 
andauemd in Spottreden iiber ihre Volksart und den, von dem seinen verschie- 
denen, Glauben der Frau. Solche Verhobnungen wurden sowohl niiobtern, als 
auch in betrunkenem Zustande geaussert. Die fortgesetzten Erregungen, das 
fast bei jedem Zusammensein erfolgende Reizen und Kranken wirkten natur- 
gemass stark zermiirbend auf die Gemiitslage der Kranken ein; toxischen Ein- 
flussen unterlag sie nioht. 

Im Februar 1914 kehrte der Mann schwer betrunken nach Hause und 
bedrohteunvermittelt seine Frau mit dem Stock inGegenwart mehrerer 
fremder Personen. Sie erschrak so heftig dariiber, dass sie sofort zu Boden 
stiirzte. Im Bett liess sie sich nicht halten, sondern stand auf, war jedoch wie 
ganzlich von ihrer Umgebung entruckt. Auf Fragen gab sie keine Antworten 
oder reagierte sprachlioh mit einem unverstandlichen undkeineswegszusammen- 
hangenden Gerede. Die psychische Anlienation steigerte sich progressiv und 
ausserte sich in einer ganzlichen allopsychischen Dosorientiertheit, dabei war 
sie motorisch nicht sonderlich erregt. Sie verkannte ihre Umgebung, achtete 
nicht auf ihr Kind, redete eine fremde Frau fiir ihre feme Mutter an; auch 
mit dem Mann sprach sie, wie mit einer ganzlich fremden Personlichkeit, doch 
ausserte sie hierbei weder Verstimmung noch Aerger oder iiberhaupt irgendwie 

1) H. Siebert, Zwei Falle paranoischer Erkrankung. Sommer’s Klinik 
f. psych, u. nerv. Krankh. Bd. 10. H. 1. 


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Hysterische Dammerzustande. 


169 


betonten AfTekt. Von Stunde zu Stunde steigerte sich die Erregung, es ent- 
wickelteo sich Sinnestauschungen sowobl visueller als auch akustischer Art: 
sie horte sich rufen, antwortete bald leise bald schreiend, horchie an der Tiir, 
wandte sich an irgend einen Gegenstand und fiihrte laute Selbstgesprache. 
Sie sah Teufel und Gestalten, welche dann wieder mit den Gehorstauschungen 
verquickt wurden. Dabei klagte sie uber unertragliche Kopfschmerzen, hielt 
sich bestandig die Stirn; das Gesicbt war turgeszent, es liess sich iiberhaupt 
eine betrachtliche Kongestion des Kopfes nacbweisen. 

Die somatische Untersuchung, welche ich in diesem Zustande vornahm, 
ergab eine enorme Hyperhsthesie des ganzen Korpers, indem jede Beriihrung 
der Korperoberflacbe lebhafte Abwehrbewegung ausloste, besonders jedooh 
eine Steigerung der Schmerzempfindung; dabei keine Differenz zwischen rechts 
und links, sonst liess sich am Nervensystem kein Befund erheben. Bis zu 
einem gewissen Grade war die Kranke dabei suggestibel, indem sie sich der 
Exploration glatt unterzog und wabrend derselben von ihren Sinnestauschungen 
ganzlich abgelenkt schien, sie sprach auch die Person des ibr ganzlich fremden 
Arztes sofort als solche an und dokumenticrte dadurch ihre teilweise Orientie- 
rungsfahigkeit. Bti der Ungunst der hauslichen Verhaltnisse riet ich doch 
umgehend zur Anstaltsbehandlung, obgleich die Prognose an sich mir nicht 
schlecht erscbien, und konnte die Verbringnng in die von mir geleitete psycbia- 
trische Abteilung umgehend vorgenommen werdeu. Hierselbst wi^derholte sich 
im Grossen und Ganzen das gleiche Bild psychischer Exzitation, wie es zu 
Hause wahrnehmbar gewesen. Per os dargereichte narkotische Mittel iibten 
keinen Einfluss auf den Zustand aus, die Kranke war in der Abteilung im 
Laufe von 36 Stunden schlaflos. Es begann langsam und allmahlich ein Naoh- 
lassen der Sinnestauschungen sich bemerkljar zu machen, sie w’urde sichtlich 
luzider, erlangte auf dem Wege der Kombination ihre Orientierung wieder, 
und jetzt stellle sich bei ihr erst eine psychologisck begriindete Zornempfindung 
uber das Yerhalten des Slannes ein. Teilweise noch in damineriger Benommen- 
beit, teilweise in verstandlicher Begriindung stiess sie eine Reihe von Dro- 
hungen und Yerwiinschungen gegen ibn aus. Die Kopfschmerzen batten jetzt 
ganzlich nachgelassen. Die Priifung der kutanen Sensibilitat ergab, im Gegen- 
satz zur kurz vorber angestellten Untersuchung, eine ganzliche Analgesic der 
Hautdecken und Scbleimhaute. Man konnte die Haut durchstechen und durch- 
bohren, ohne dass die Kranke selbst oder auf Befragen angab einen Schraerz 
zu empfinden oder auch nur eine Abwehrbewegung machte. — Der nach der 
Erregung eintretonde Scblaf war von vierstiindiger Dauer. Beim Erwachen 
war das Sensorium nicht ganzlich frei, die Kranke war wohi besonnen und 
orientiert, docb betonte sie dabei nicht geuau zu wissen, was in ihr vorgeht, 
— es bestand hierin, sowie iiberhaupt in ihren Angaben, ein deutliches Krank- 
beitsgefiihl, doch liess sich ein stuodliches Nachlassen desselben beobachten. 
Nach etwa 48 Stunden war die Kranke vollkommen klar, die Erinnerung bezog 
sich nur auf den Vorfall mit ihrem Mann; nach demselben „stieg ihr eine 
solche Hitze in den Kopf, dass sie sich weiterer Vorgange nicht mehr entsinnen 
konme u . Fur die Dauer der krankhaften Vorgange fehlte ihr jede Erinnerung, 


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Dr. Harald Siebert, 


auch die Ueberftihrung in die Anstalt lag ihr nicht im Bewusstsein, erst lang- 
sam und allmahiich konnte sie sich wieder auf sieh und ihre Umgebung be- 
sinnen. 

Sie hielt sich nun fur gesund, konnte sich den Vorgang nur so erklaren, 
dass % durch den grossen Schreck und die Erregung sich bei ihr eine Storung 
eingestellt hatte, welohe „Gehirn und Geist umnachtete u . Den Uann wollte 
sie weiterbin nicht mehr sehen und beabsichtigte mit dem Kinde zur Mutter 
zu ziehen und vom Manne weiterhin getrennt zu leben. 

Die Kranke hat dieses auch ausgefiihrt, lebt seitdem vom Mann getrennt 
bei ihrer Mutter. Erregungszustande sind weiter nicht Vorgekommen. lm Marz 
1915 wurde die Kranke nach einerBeschiessung derStadt aphonisch. 
Auch diese Erscheinung beruhte auf einer funktionellen Storung im Gebiet der 
Phonationsmuskeln. Die Behandlung war schwierig und bis zum Schwin- 
den der Ausfallserscheinungen vergingen viele Wochen — eine Beobachtung, 
welche ich in bezug auf die Behandlung der korperlicben Aeusserungen der 
Hysterie bei der littauischen Volksart oft gemacht habe. Seit weiteren 2 1 / 2 
Jahren sind grobere Storungen auf psychisch-nervbsem Gebiet nicht weiter 
wahrnehmbar gewesen. Die Kranke hat mich oft konsulliert, meist jedoch trug 
sie lediglich indiderente Klagen vor; ihre Krankheitsvorsteliungen waren der- 
art, wie sie von joher zu ihrer Personlichkeit und zu ihrem psychisch-nervosen 
Geschehen gehorten. 

/ Dauer der krankhaften Storung des Bewusstseins etwa 
48 Stunden. Anstaltsbekandlung wurde angewandt. 

Dass wir es bier mit einer hysterischen Stflrung zu tun hatten, 
diirfte wolil auf Grund der Vorgescbichte, als auch auf Grund der Er- 
hebungen uber die konstitutionellen Eigenheiten ohne jeden Zweifel sein; 
auch hier ist die blitzartige Verdammerung des Bewusstseins auflfallig. 
Ich glaube, dass wir uns beziiglich des Ausbruchs der psychischen 
Alienation bei Emma 0. die Auffassung BonhOffer’s 1 ) zu eigen machen 
mussen, dass die Sckreckeraotion einen vasomotorischen neuro- 
tischen Komplex hervorruft, und nicht den hysterischen. Der Kurz- 
schluss im Bewusstsein ware hier eben durch gewaltige vasomotorische 
Vorgange angebahnt und hervorgerufen worden, und nachdem konnte 
sich auf diesem Boden die hysterische Bewosstseinsstfirung — der 
Dammerzustand — voll entwickeln. 

Betrachten wir nochmals, rekapitulierend, die charakteristischeu 
Merkroale des Dammerzustandes an sich, so imponiert, wie ausdriick- 
lich herorgehoben, das pl5tzliche und umgebende Einsetzen der StQrung; 
der Oebergang vom Normalen, soweit es die Umgebung beurteilen 
konnte, zum Psychopathologischen vollzog sich im Handumdrehen, hin- 

1) Psychogene Krankheitszustande. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 68. 


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Hysterische Dammerzustande. 


171 


gegen machte sich dann eine stundlich zunehmende Steigerung der 
krankhaften Aeusserungen bemerkbar, zur Desorientiertheit gesellten 
sich die Siunestkuschungen, so dass jedenfalls ein st&ndiger Progress 
unverkennbar war. Daneben muss dringend das auff^Uige Verhalten 
der Scnsibilit&t in einer fur Hysterie charakteristischen Weise im Auge 
behalten werden. Relativ gering, wenn auch vorhanden, war die Sug¬ 
gestibility der Kranken, auf alle Falle wkre dieses noch keineswegs 
ein Grand, urn Zweifel au der Richtigkeit der Auffassung uber die hy¬ 
sterische Qualitat der SWrung aufkommen zu lassen. Ich hob gerade 
oben die geringe Suggestibilit&t der hysterischen Littauer uberhaupt 
hervor und erw&bnte hier die Schwierigkeit der spaterhin erfolgten 
Behandlung der aphonischen StSrungen. Fur Hysterie sprechen auch 
die glatte Heilung mit vollkommener Einsicht, das langsame und suk- 
zessive Schwinden der krankhaften psychischen Ph&uomene, sowie die 
durchaus beachtenswerte Schnelligkeit, mit welcher bei unserer Kranken 
sich psychische Momente in kOrperliche Projektionsformen umzuwandeln 
vermochten. 


IV. 

Betty K., 25 Jahre alt, Jiidin, Inhaberin eines grossen kaufmannischen 
Betriebes, dem sie seit etwa 3 Jahren in mustergiltiger Weise vorsteht. Sie 
ist seit 6 Jahren verkeiratet, 2 Kinder. Der Mann ist eine vollig nichts- 
sagende Personlichkeit, der eigentlich von der Frau unterhalten wird. Frau K. 
ist nach Angabe aller Bekannten eine ausserst energische und tiichtige, aber 
auch eine hochgradig nervose und reizbare Personlichkeit. Sie ist wechselnd 
in ihrer Gemutslage, sprunghaft in ihren Neigungen, ist zu Hause durch die 
Laonenhaftigkeit und Norgeleien ein iiberaus schwierig anzufassendos Wesen. 
Korperlichen Vorstellungen gegeniiber sei sie von jeher sehr suggestibel ge- 
wesen, es lagen bei ihr andauernd die verschiedensten allgemeinnervosen 
Storungen vor, bald Globus, bald Schmerzen, bald Gchstorungen, dann wech- 
selte die Stimmung in auffallender Weise — kurzum es bestand der Symptomen- 
komplex, der wohl meist vom Arzt und von den Angehorigen als Hysterie be- 
zeichnet wird. Um den noch neuerdings von Hellpach uber die Physiognomic 
der Hysterischen (S.155 Lit.5) gemacbten Ausfuhrungen gerecht zu werden, sei 
auch hier erwahnt, dass sich sowohl „Boopie u , als auch das eigenartige 
Lacheln in charakteristischer Weise beobachten liessen. 

Die psychische Bewusstseinsstorung wurde hier durch folgenden Vorfall 
ausgelost. Die Frau K. wurde plotzlich davon benachrichtigt, dass sie um- 
gehend in einigen Tagen eine recht umstandliche und mit grossen Sohwierig- 
keiten verbundene Reise antreten masse, um vor einem Gericht in einer 
recht schwerwiegenden Sache, von der sie angeblich etwas wissen solle, 
als Zeugiu aufzutreten. Da Eile geboten war, hatte sie in etwa 12 Stunden 
abfahren miissen. Diese plotzlioh an sie herantretende Tatsache ubte einen so 


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172 Dr. Harald Siebert, 

gewaltigen Einfluss auf sie aus, dass sie umgehend aus ihrem psychischen 
Gleichgewicht herausgehoben wurde und in einen bis dahin Die dageweseDen 
Zustand psychischer Alienation verfiel. Sie warf, laut aufschreiend, ihre 
Sachen durcheinander, verliess ohne Hut und Ueberkleider das Geschaft und 
rannte auf die Strasse, so dass sie nur mit Miihe ihrer Wohnung zugefuhrt 
werden konnte. Hier beging sie auch eine Reihe verkehrter Handlungen, sie 
stellte die Stiihle auf die Tische, kleidete ihre Kinder grundlos aus, scbuttete 
Wasser ins Feuer usw. Den hinzugezogenen Arzt begrusste sie freundlich, er- 
kannte ibn anscheinend nicht, jedenfalls vermochte sie nicht seinen Namen zu 
nennen. In Bezug auf die Zeit war sie ganzlich verwirrt, gab jedoch an zu 
Hause zu sein. Sie sab Gestalten, horte Pferdegetrappel, Kanonenschiessen, 
glaubte sicb auf einem Schlachtfelde zu befinden. Aucb bei dieser Kranken 
iiess sich eine Exploration gut ausfiibren, indem sie prompt alien an sie ge- 
richteten Wiinscben und AufForderungen Folge leistete. 

Vom rein neurologischen Standpunkt konnte, ausser einer leichten Hyper- 
algesie, nichts von Bedeutung nachgewiesen werden. War jedoch die Kranke 
einen Augenblick nicht fixiert, so wurde ihre Aufmeiksamkeit umgehend durch 
jeden neuen Eindruck gefesselt, es schien dann, ob sie ihn sofort im Sinne 
einer Illusion verarbeiteto; auch sich selbst uberlassen, hielt das unbestandige 
Gebahren und Sprechen, das Hasten und Delirieren an. Zwischendurch er- 
folgten kurzandauernde Lach- oder Weinkrampfe, welche sich in ihrer Intensitat 
durch suggestive Einfliisse mildern liessen. Der Schlaf, der nach etwa zehn 
Stunden dammerhaften Delirierens eintrat, wal* kurz, er stellte sich erst nach 
einer Skopolamin-Panlopon-Injektion ein, Beim Erwachen besteht die Bewusst- 
seinsstoruug in unverandertem Masse fort; im Laufe des nachstfolgenden Tages 
keine nennenswerte Veranderung, die Suggestibility der Kranken scheint in- 
des geringer zu sein, sie ist schwerer zu untersuchen, die Lach- und Wein- 
krampfe sind kaum beeinflussbar. Die Verbringung ins Krankenhaus erfolgt 
mit grosser Schwierigkeit, die Veranderung der Umgebung und der sacbgemasse 
Umgang beeinflussen bis auf weiteres das Verhalten der Kranken kcineswegs. 
In der zweiten Nacht nach Morphium-Skopolamin 6 Stunden Schlaf, beim Er¬ 
wachen ist sie sichtlich luzider, halluziniert nicht mehr, ist aber im Raum und 
in der Zeit vollig unorientiert. Im Laufe des dritten Tages langsames Schwinden 
des Dammerzustandes. Sie kann sich kaum irgend welcher Vorgange entsinnen, 
glaubt nur aus der Stadt fortgewesen zu sein, konfabuliert, indem sie an¬ 
scheinend noch unter dem Eindruck der auf sie vorher einstiirmenden Sinnes- 
tauschungen steht. Trotz der weitgehenden Besserung noch haufige, aber 
leichtere, Lach- oder Weinanfalle. Am vierten Tage ganzlich klar und be- 
sonnen, halt sich fur gesund, nur noch fur sehr angegriffen und mude. Enormes 
Schlafbediirfnis, standiges, krampfhaftes Gabnen. Die gauze Erkrankung liegt 
wie ein Traum ziemlich erinnerunglos hinter ihr; der Sinnestauschungen ent- 
sinnt sie sich nur dunkel, als etwas Fremden und Unangenehmen, Einzelheiten 
fehlen ihr im Gedachtnis. Die Einsicht ist eine vollkommene, insofern als aile 
diese Erscheinungen als Aeusserungen krankhaften geistigen Geschehens von ihr 
angesprochen werden. 


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Hysterisohe Dammerzustande. 


173 


Dauer des Dammerzustandes drei Tage. Anstaltsbehand- 
lung erforderlich. 

Auch hier diirfte an der Hysterie, als der Grundlage des Damraer- 
zustaudes keiu Zweifel bestehen; beachtenswert erscheint dabei die 
Frage des D&mraerzustandes vom rein forensischen Standpunkt bezw. 
von dem fur das Gericht in rein praktischer Hinsicht bedeutungsvollen 
Ausblick zu sein. Dass eine Reise wSLhrend der Erregung und des ver- 
Inderten Geisteszustandes ausgeschlossen erscliien, auch wenn, wofur 
keinerlei Anhaltspunkte bestanden, hier beabsicktigte T&uschung 
oder Cebertreibung vorgelegen hatten, muss als selbstverstandlich an* 
gesehen werden. Ich hielt aber auch eyentuelle Zeugenaussagen 
der Frau K. in einer Sache, die bald nach erledigtem Dkmmerzustand 
zur Verhandlung kkrae, deshalb fur unerwunscht und keineswegs 
fur genugend einwandfrei, weil die Gefahr als durcbaus berechtigt 
und mbglich angesehen werden muss, dass Frau K. infolge ihrer eben 
stark aus dem Gleichgewicht geworfenen hysteriscben Konstitution leicht 
unrichtige oder durch Konfabulationen geleitete Angaben machen kOnnte. 
Hierdurch ware der Sache an sich mit nichts gedient, und Frau K. 
ware leicht der Gefahr ausgesetzt selbst mit dem Strafgesetz in Kon- 
flikt zu geraten, weil bei ihr nach AbkJingcn des D&mmerzustandes von 
einer Beeintrftchtigung der freien Willensbestimmung wohl keine Rede 
sein wurde. Aus diesem Grundo erscheint mir an sich ein Vermeiden 
von Zeugenaussagen effektiv schwerer hysteriscber lndividuen, 
wie unsere Kranke es ist, nach M6glichkeit als geboten. 

V. 

Wilhelm S., 18 Jahre alt, Lette, Mutter Littauerin, wird aus der chi- 
rurgischen Abteilung im stuporosen Zustand der psychiatrischen Abteilung 
des Stadtkrankenhauses uberwiesen. Er wurdo von seinem Fabrikbetriebe, an 
dem er tatig war, blutuberstromt ins Krankenhaus eingeliefert, ohne dass ihm 
ein Unfall oder ein besonders schadigendes Ereignis zugestossen ware. In der 
chirurgischen Abteilung war eine Hamoptoe festgestellt worden, zugleich er- 
weckte jedoch das psychiscbe Verhalten den Verdaoht auf gleicbzeitig ?or- 
handene Geistesstorung, weshalb auch die psychiatrische Behandlung angezeigt 
erschien. 

Die erste Untersuchung zeigte den Kranken im tiefen Stupor, eine ali- 
gemeine Hypotonie der Extremitatenmuskulatur, eine ganzliche Reaktionslosig- 
keit bei Nadeleinstichen in die Ilaut, der spontane und der reaktive Mutismus 
sprachen fiir ein schweres Daniederliegen oder Verschrobensein der psychischen 
Funktionen. Am nachsten Tage war der Kranke aufgestanden, ging umber, 
die Mimik war lebhaft; er achtete auf alle Fragen, antwortete jedoch nur 
pantomiraisch und sobrieb auf Papier, dass er nioht sprechen kbnne. Die Sen- 


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174 


Dr. Harald Siebert, 


sibilitatspriifung ergab dann anscheinend eine bessere allgemeine Leitang 
als am Tage vorher. Nach weiteren 24 Stunden spraoh er, jedoch in deutlich 
stotternder Weise, nach einigen Tagen war die Sprache vollkommen glatt und 
fliessend. 

Aus seiner Vorgeschichte liess sich ersehen, dass er von Jugend auf ein 
neuropathisches Kind war, er war bald furchtsam, bald tolikuhn, log viel, war 
unfolgsam, lernte schlecht. Besondere Belastung konnte nicht nachgewiesen 
werden. Mit 13 Jahren wurde er Trapezkiinstler und Degenschlucker, zog dann 
mit einer Gauklergesellsckaft umber. Er trank nicht, vertat jedoch sein Geld. 
Darauf hat er verschiedene Bcschaftigung gehabt, welche er teils schlecht, teils 
zufriedenstellend verrichtete. Seit dem 16ten Lebensjahre ist eine Lungen- 
tuberkulose manifest, welche auch mekrere Blutstiirze zur Folge hatte. Zu der 
Zeit wurde S. fiir einen Diebstahl bestraft. — Spaterhin begann er in Oel zu 
malen und stellte auch einige Gemalde aus, obgleich er nie eine Malstunde 
gehabt. Gleichfalls mit dem 16ten Jahre sind nun die ersten Storungen auf 
psychisch-nervosem Gebiet in einer fur seine Angehorigen greifbaren Weise 
aufgetreten. Es liess sich namlich zeitweise beobachten, dass S., sei es nach 
Erregungen oder auch ohne dass solche direkt erwiesen wurden, die Sprache 
verlor und dann stundenlang, wie geistesabwesend, umherlief, er vagierte ziel- 
los in der Stadt, kehrte aber stets in kiirzerer oder langerer Zeit zuriick. Auf- 
fallend war, dass meist nach einigen Stunden, selten erst nach einem Tage, der 
S. klarer wurde, sich ganz besonnen und geordnet verhielt, jedoch nicht im 
Besitz der Sprache war, diese kehrte dann nach Ablauf weiterer Tage 
wieder, und zwar, wie dieses oben bereits als Beobachtnngsresultat geschildert, 
unter anfanglichem Stottern. — Jetzt steht S. im Verdacht seinem Ka- 
meraden den Schrank aufgebrochen zu haben, von einer Veranderung des 
Geisteszustandes vor der Tat ist niemand £twas bekannt, soweit die Umgebung 
solches beurteilen kann, er selbst stellt den Vorgang in Abrede. Forensische 
Begutachtung erwies sich als nicht erforderlich. 

Der innere Organbefund, vom Spezialisten erhoben, rechtfertigt voll¬ 
kommen die Auffassung vom Bestehen einer Lungentuberkulose als Ursache 
der Hamoptoe. Vom rein psychiatrischen Standpunkt aus betrachtet ist S. ein 
Individuum, das wenig gelernt hat, aber iiber eine glanzende Kombinations- 
fahigkeit verfugt, er bildet Begriffe und Vorstellungen, welche fur sein Milieu 
geradezu uberraschend sind. Auch ist er durchaus weltgewandt und fruhreif. 
Sexuell hat er sich viel und lebhaft betiitigt (Tuberkulose-|-Psychopathic?) 
Er ist jetzt zum zweiten Male verlobt! Bei seiner Einlieferung war er im Besitz 
verschiedener narkotischer Mittel, mit denen er sich angeblich vergiften wollte, 
auch gelang es ihm umgehend durch einen aus der Anstalt hinausbeforderten 
Brief einen Pflcger anonym bei der Direktion zu denunzieren, und nur durch 
Zufall konnte er daraufhin ertappt werden. Dabei versuchte er rastlos hohe 
Temperaturen vorzutauschen oder die verschiedensten Krankheitssymptome 
vorzuspiegeln, so dass bei der tatsachlichen recht groben Stoning der 
Atmungsorgane ein vielfach unentwirrbares Chaos von Wahrheit und Dichtung 
entstand. 


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Hysterisohe Dammerzustando. 


175 


loh habe nun wahrend des mehrmonatigen Anstaltsaufenthalts bei S. 
einige dieser Dammerzustande beobachtet, die mehr oder weniger einen gleich- 
artigen Charakter trugen, nur war die Dauer der Bewusstseinsstorung wechselnd 
von einer Stande bis etwa einem vollen Tage. Ira Gegensatz zu den anderen, 
genau studierten Beobachtungen, war hier das Einsetzen der Storung kein 
plotzliches, sondern ein langsames, kaum merkliches. Wahrend die ubrigen 
Falle wohl eine sukzessive Steigerung, ob ohne oder durch Suggestibility 
bleibt dahingestellt, aufwiesen, wobei die Ausschaltung aus dem normal 
fliessenden geisligen Geschehen eine plotzliche war, ging der Prozess bei S. in 
steter Weise vorwarts, bis der Bewusstseinsverlust den Grad des Dammer- 
zustandes erreicht batte, indera die Desorientierung und die Unfahigkeit im 
Hamieln den Zustand als solcben dokumentierten. 

Der Scblaf konnte ungesiort sein, nach dem Erwachen bestand die 
Storung fort. Sinnestauschungen traten nicht in ausgesprochener Weise auf; 
er schien Musik zu horen und begann zu tanzen. Es liess sich das Faktum 
der Halluzinationen nie genau feststellen, da der begleitende Mutismus zu der 
Zeit nie fehlte, und hierdurch die Untersuchung sehr erscbwert wurde. Einen 
Stuporzustand habe ich nur das eine Mai gesehen, sie sind angeblich vorher 
auch nicht vorgekommen. Ueber die Erinnerungsfiihigkeit liess sicb, nach ab- 
gelaufener Storung, wenig Positives ermitteln, da man bei dem bekannten 
Lugen des Kranken iiber den Grad der Amnesie, die er stets als voll- 
kommen schilderte, die Angabo nur sehr mit Vorbehalt verwerten konnte. 
Ein schweres Krankheitsgefiihl bestand unzweifelhaft, iiber die Einsicht in den 
Zustand waren die Ermittlungen auch ungeniigend, da man desgleichen mit 
betrachtlicheu Aggravationen einerseits, mit grosser Durchtriebenheit anderer- 
seits zu recbnen hatte, zudem hielt ich ein allzu intonsives Eingehen auf den 
Krankheitszustand aus didaktisch-therapeutischen Griinden fiir unerw‘iinscht. 
Simulation der Zustande diirfte wohl ausgeschlossen sein, soweit eben iiber- 
haupt unsere Diagnosestellung auf Hysterie Fug und Recht besitzt. Fiir Epi¬ 
lepsia bestanden keine Anhaltspunkte; 0,03 bezw. 0,05 Cocaini muriat. mehr- 
fach subkutan angewandt riefen auch keine epileptischen Zustande hervor, wie 
solche iiberhaupt eigentlich nicht in Frage kamen. Sonderbar verhielt sich die 
kutaneSensibilitat wahrend des Bestehens der stotterneurotischenErscheinungen 
nach Abkiingen des Dammerzustandes. Man erhielt am Korper die verschie- 
densten anasthetiscben und analgetischen Zonen.und Flecke, wie solche etwa 
auf den beriihmteu Darstellungen Charcot’s sichtbar sind. Auch diese merk- 
wurdige Koinzidenz erhartete wohl wesentlich die Diagnose dor Hysterie gegen- 
uber Scbwindel und Simulation eines Psychopathen. — 

Bei S. war demgem&fts die Dauer der Dammerzustande von 
einer Stunde bis zu einem Tage; sie traten sowohl im haus- 
licben Leben, als auch in der Anstalt auf. 

Ueber meine Auffassung, dass ich diese Krankheitsbilder den byste- 
rischen Damracrzust&ndeu zurechnen mOchte, habe ich oben bei der 


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176 


Dr. Harald Siebert, 


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Betrachtung eines jeden einzelnen Bildes berichtet. Es fragt sieh nun, 
ob eine solche Anschauung auch gerechtfertigt erscheint. Gaupp 1 ) 
weist ausdriicklich auf die Schwierigkeit einer solchen Auffassung hin, 
indem er nach Erw&hnung der Scliwankungen dieses Begriffs seit Char¬ 
cot, die Feststellung Hoche’s vora Jahre 1902 anfuhrt: „Wer die 
These aufstellen wollte, dass es uberhaupt ein Krankkeitsbild Hysterie 
nicht gibt, sondern nur eine besondere Form psychischer Disposition, 
die man als hysterisch bezeichnet, wftre gar nicht zu widerlegen“. Es 
wird hierbei von Gaupp darauf hingewiesen, dass von den Psychosen 
und Vergiftungen besonders die zur Dissoziation fuhrenden haufig mit 
hysterischen Symptomen verknupft sind (Dementia praecox, Paralyse, 
Stirnhirntumor, Sklerose). Solche Bedenken uber die Richtigkeit und 
die Berechtigung mit der Hysterie und dementsprechend mit den ein¬ 
zelnen Symptomengebilden derselben, als mit einer festgefugten Einheit 
im nosologischen Sinne, operieren zu durfen, sind nicht nur erwunscht, 
sondern sprechen und raahnen immer in dem Sinne, dass Krankheits- 
bilder nur dann als hysterisch bezeichnet werden sollen und k6nnen, 
wenn wir in der Tat anderweitige Affektiouen mit Sicherheit aus- 
schHessen durfen. Es fragt sich nun, welche Krankheitsbilder aus 
differentialdiagnostischen Grunden in Erwkgiing gezogen werden mussen. 
Nehmen wir die Beobachtungen II, III und IV, so l&sst sich in klarster 
Weise verfolgen, dass dem Ausbruch des DSmmerzustandes unmittelbar 
ein affektvolles Ereignis vorherging, an welches sich dann die Bewusst- 
seinsstorung nebst den sonstigen psychoneurotischen Phanomenen an- 
schloss. Dieser Umstand lftsst naturgemkss daran denken, dass hier 
eine affektive Seelenst5rung im Spiel sein konnte. Nach der psychia- 
trischen Betrachtungsweise v. Krafft-Eking’s 2 ) mtissen wir hei deu 
Hysterischen folgende Stdrungen des Seelenlebens unterscheiden: 1. tran- 
sitorische Irreseinszust&nde, 2. protrahierte, delirante Zust&nde, analog 
den protrahierten psychischen Aequivalenten und 3. die hysterischen 
Psychosen. In diesem Sinne w&ren die geschilderten Beobachtungen 
kaum sachgem&ss in der einen oder andereu Klasse unterzubringen, 
eher konnten schon die Beobachtungen I und V unter die transitorischen 
Irreseinszustande rubriziert werden. — Die Gesamtauffassung Krafft- 
Ebing’s wird wohl heute von einer relativ geringen Anzahl Facbge- 
nossen geteilt, so durfte der Frage der hystero-epileptischen Delirien, 
sowie der Melancholie mid der Manie auf hysterischer Grundlage doch 
nur mit grosster Reserve n&her getreten werden. 


1) Ueber den Begriff der Hysterie. Neurol. Zentralbl. 1911. Nr. 11. 

2) Lehrbuch der Psychiatrie. 1903. VII. Aufl. S. 508ff. 


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Hysterisohe Dammerzustande. 


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Neben der Manie und der Melaacholie, als Prototypen einer affek- 
tiven Seelenstorung, hat Ziehen 1 ) auf eine Gruppe anderer affektiver 
Psychosen hingewiesen, welche er als protrahierte Affektschwan- 
kungen bezw. als Eknoia bezeichnete. Er betrachtet diese St6- 
rungen als Herausreissung aus den normalen Denkgeleisen durch die 
Affektstdrung und betont, neben dem seltenen Vorkommen der Eknoia, 
die MQglichkeit der Verwecbslung mit der Amentia. Der Unterschied 
beruht jedoch im Wesentlichen darauf, dass im Anschluss an den &tio- 
logischen Affektstoss sich eine unverkennbare pathologische Affektsteige- 
rung entwickelt, auf deren Boden sich erst nachtr&glich Sinnest&uschungen, 
Wahnvorstellungen und Inkoh&renz einstellen. Es liegen ahnliche Schil- 
derungen von Bresowsky 2 ) vor, welcber warm fur die nosologische 
Selbstandigkeit der protrabierten Affektschwankungen eintritt. Abgesehen 
▼on den ausgesprochenen „hysterischen“ Zeichen, welche die von mir 
beobachteten Krankeu darboten und dadurch das „hysterische“ Moment 
als solches sicherten, getraue ich fur meine Person nicht eine so kom- 
plizierte Diagnose auf Eknoia anzuwenden. Wenn ein Meister im Fach, 
wie Ziehen, aus seinem enormen Material solche Beobachtungen schdpfen 
konnte, so ist dieses verst&ndlich, in praxi wird jedoch kaum jemand 
in der Lage sein, seine diesbezugliche Auffassung folgerichtig vertreten 
cu konnen. Dass Zust&nde von schwerer Bewusstseinstrubung 
vorkommen, welche nicht zur Hysterie gehOren, hebt auch Bon- 
hoeffer 3 ) hervor, wobei die Unsicherheit des Hysteriebegriffs eine sach- 
gemasse Behandlung dieser Frage sicher sehr erschwert; solche Beob¬ 
achtungen geh5ren nicht zu den hhufigen Vorkommnissen, auch rechnet 
Bonhoeffer ferner die eigentlichen haftpsychotischen ZustUnde, den 
Ganser’schen Dimmerzustand, die psycbogene Pseudodemenz und den 
hysterischen Stupor zur Hysterie, fur welche nnter anderem der Wunsch 
fur geisteskrank zu gelten, als charakteristisch anzusehen ist. 

Es sind weiterhin in Frage zu ziehen gewisse Erscbeinungen, die 
bei den VerblCdungsprozessen der Gruppe der Dementia prae- 
cox (hebephrenica) vorzukommen pflegen. Besonders diejenigen Krank- 
heitsvorgange, welche unter dem Bilde einer pseudo-hysterischen Neurose 
ihren Beginn dokumentieren, kOnnen am allerehesten Anlass zu ver- 


1) Psychiatric. 1911. S. 421. 

2) Ueber protrahierte Affektschwankungen und eknoische Zustande. 
Monatsschr. f. Psych. Bd. 31 und Neurol. Bote (russisch) 1914. H. 3. 

3) Wie weit kommen psychogene Krankbeitszustande und Krankheits- 
prozesse vor, die nicht der Hysterie zuzurechnen sind. Neurol. Zentralbl. 
1911. Nr. 11. 

▲rekiT f. Ptjrehiatrie. Bd. 60. Heft 1. t.i 


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Dr. H&r&ld Siebert, 


b&ngnisvollen Verwechslungen geben. Auch die Spaltung der Persfin- 
lichkeit, wie sie im Fall l, zwischen luzidem Verhalten und krankhafter 
Bewusstseinsstfirung auftritt, gibt durchaus berechtigte Hinweise darauf, 
dass man einen zerebralen Abbanprozess in Frage zieben mass, indes 
ist bei der sturmischen Art des Auftretens der Grscheinnngen, wie eine 
solcbe alle unsere Beobachtungen auszeicbnet, das Einsetzen so tiefer 
und nachhaltiger Remissionen obne jeden Intelligenzdefekt und bei aus- 
' gesprocbener Krankheitseinsicht eine Vermutung, die eigentlich keine 
positive Stutze besfisse. 

Die Frage grober organischer StOrungen, iu deren Verlauf, 
etwa bei Tumor und Paralyse, transitoriscbe BewusstseinsstOruugen 
den Beginn der Erkrankung eiuleiten kdnnten, darf mit vOlliger Sicher- 
heit verneint werden. 

Der Erw&huung wert w&rcn uoch toxische VorgSnge, welche 
durch direkte Scbadfgung des Gehirns Stdrungen, wie die oben erwfihnten, 
bedingen konnten. Ich babe selbst einen Fall beschrieben x ), wo ein 
Delirium tremens alcobolicum im Beginn, w&hrend eines halben 
Tages, bei einem fruher nicht hysterischen Individuum unter dem Bilde 
einer hysterischen Erregung verlief, bis dann mit Steigerung der spezi- 
fiscben StOrung die pseudohysteriscben Stdrungen schwanden. Auch 
A. Behr 2 ) hat eine Beobachtung von einem Abstiuenzdelir bei chboni- 
schem Paraldehydraissbrauch mitgeteilt, wo eigentlich nur die ge- 
naue Kenntnis der Vorgescbichte mit Sicherheit vor einer Verwechslung^ 
mit einem hysterischen D&mmerzustand scbutzeu konnte. Erw&hnt sei 
noch von anderen toxischen D&mmerzustRnden die Vergiftung mit Hyos- 
cyamus niger 3 ) und den ihm analog wirkenden Alkaloiden, dock 
durften hierbei die StOrungen an den Pupillen und die Trockenheits- 
erscheinongen einzelner, von sezerniereuden Drusen versehener KOrper- 
abschnitte vor Verwechslung schutzen. 

In letzter Linie sei noch der Epilepsie mit einigen Worten ge- 
dacbt, die wesentlichsten Punkte daruber wurden bereits oben hervor- 
gehoben; die differentialdiagnostische Unterscheidung des hysterischen 
D&mmerzustandes gegenuber dem epileptischen ist insofern die scbwie- 
rigste, weil eben die epileptischen Bewusstseinsstbrungen quantitativ am 

1) H. Siebert, Zur Klinik der Gesohwisterpsychosen, anscheinend exo- 
genen Ursprungs. Monatsschr. f. Psych. Bd. 42. H. 2. S. 43. 

2) Beitrag zur Kasuistik der Paraldebyddelirien und Bemerkungen fiber 
die Trunksucht der Frauen besserer Stande. Petersburger mod. Wochenschr. 
1902. H. 14. 

3) Vergl. Chr. Siebert, VergiftuDgspsyohose nach Radix Hyoscyami 
nigri. Petersburger med. Wochenschr. 1911. H. 35. 


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Hysteriscbe Dammerzustande. 


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h&ufigsten in Frage kommen. Die provokatorische Anwendung subku- 
taner Kokaininjektionen, als eines einem epileptischen Anfall ausldsen- 
den Mittels, ist eine noch zu uagewisse und unpr&zise Massnahme, tun 
uberhaupt positive nnterscheidende Bedeutung zu besitzeo. Unter 41 Epi- 
leptikern, denen ich wiederbolt Kokain injizierte, reagierte bloss einer 
mit einem leichten Anfall, doch auch bei dem wurde das Mittel zu 
einer Zeit angewandt, in der der Rranke an sich eine Reihe von Par- 
oxysmen batte. Fur die Frage der Differentialdiagnose zwischen Hysterie 
und Epilepsie wurde ich fur meine Person jedenfalls hiervon Abstand 
nehmen, wir baben uns darin doch bis auf weiteres lediglich an rein 
klinische Beobachtungsresultate zu halten. 

So sebr auch an sich vor einem ubereilten und fibertriebenen An- 
wenden des Hysteriebegrifls gewarnt werden muss, weil sowohl orga- 
nische, als auch uberhaupt destruierende StOrungen, wie andererseits 
auch einfache Vort&uschung, sich hinter, uns als hysteriscb anmutenden 
Zust&nden verbergen kOnnen, ist es trotzdem unerl&sslich fiir eine ganze 
grosse Reihe von Krankheitsbildem die nosologische Einheit „Hysterie“ 
festzubalten. Wicbtig ist dabei, dass die abnorme Reaktion auf 
psychische und sum Toil auch somatische Reize 1 ) nachgewiesen 
ist, dann ist man auch in die Lage gesetzt zu zeigen, dass die Psycho¬ 
neurosen wirklich Rrankheiten sind, was lange Zeit hindurch geleugnet 
wurde und was auch heute noch von mancher Seite bestritten wird. 
Ich halte die vOlkische und rassenindividuelle Verbreitung der Hysterie 
fBr so wechselnd und schwankend, dass es wohl verst&ndlich ist, dass 
mancher Beobachter weniger Hysterien zu Gesicht bekommt als ein an- 
derer. Mein spezieller Wirkungsradius gew&hrt mir die Mdglichkeit 
gerade unter der jddischen und littauischen BevOlkerung Krankheits- 
bilder in reichem Umfange zu studieren, die nur mit Hysterie bezeichnet 
werden kdunen. 

Zum Schluss will ich noch hervorheben, dass hysteriscbe St5- 
rnngen und besonders hysterische D&mmerzust&nde nach 
meinen Erfahrungen selten Objekte der Anstaltspsychiatrie 
werden (bezflglich der Rliniken, besonders solcber mit einer Nerven- 
station, l&sst sich solches nicht sagen); nur zu oft haben Katamnesen 
spbterhin ergeben, dass die anscheinend hysteriscbe Stdrung doch 
nur eine Begleiterscheinung oder der Deckmantel eines 
groben Defektzustandes war. 

1) E. Stern, Beitrag zor Patbogenese det Psychoneurosen. Sommer’s 
Klinik f. psyoh. und nervose Kranke. Bd. 10. H. 1. S. 22. 


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VI. 

Ueber Krankheitseinsicht. 

Von 

Dr. Ernst Herzig (Wien-Steinhof). 

* 

W&hrend altere Autoren nur von einem Bewusstseio, welches bei 
Geisteskranken in Bezug auf ihre Krankheit und deren Symptome sich 
zeigen k5nne, sprechen, haben spate re im Anschlusse an einen Aufsatz 
von Pick im Archiv fur Psychiatrie (1882) an einer strengen Ab- 
trennung des Krankheitsgefuhles vom Krankheitsbewusstsein festgehalten. 
Pick selbst hat noch den Ausdruck Krankheitsbewusstsein als Allge- 
meinbezeichnung fur die Gesamtheit der in Frage stehenden Erschei- 
nungen: Krankheitsgefuhl und Krankheitseinsicht aufgefasst. Die letztere 
stehe strong genommen in keinem reinen Gegensatz zum Krankheits¬ 
gefuhle, weil auch dieses, wenn noch ein gewisser Grad von Befangen- 
heit bestehe, zu klarer Krankheitseinsicht fuhre. Diese werde gegenuber 
dem Krankheitsgefuhle charakterisiert durch ihre vorwaltend r&sonierende 
Genese. Nach Pick hat man vielfach eine scharfere Abgrenzung des 
Begriffes der Krankheitsgefuhle vorgenommen, wie mir scheint erst da- 
durch mOglich gemacht, dass man als Krankheit nicht mehr die geistige 
Krankheit in das Auge fasste, sondern den vollen Komplex der durch 
die krankhaften GebirnvorgSnge bewirkten Unlustgefuhle zusammen- 
fasste. Heilbronner hat auf dieser Auffassung aufbauend vorge- 
schlagen, von Krankheitsgefuhl iiberall da zu reden, wo der Betroffene 
uberhaupt nur eine Vertinderung seines Zustandes bemerkt. Erst, und 
nur, wenn man diesen Sinn mit dera Ausdruck des Krankheitsgefuhles 
bei geistigen Krankheiten verbindet, gelangt man zu einer Erkl&rung 
der psychologischen Moglichkeit, dass ein solches nicbt nur als Grund- 
lage einer auftretenden Krankheitseinsicht vorhanden sei, sondern als 
ein selbst&ndiges psychologisches Moment bei Geisteskranken eine 
Rolle spiele. Denn dann wird nur gesagt, dass die entstandenen Hirn- 
empfindungen noch nicht zu einer Eindeutigkeit ihres Ausdruckes ge- 
fuhrt haben, aus der die Richtung eines auf ihnen basierenden Erkennt- 
nisaktes Jestzulegen sei. Im gewohnlichen Leben bringt man durch 


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IJeber Krankheitseinsicht. 


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die Redensart: Ich habe das Gefuhl, als ob . . . . zum Ausdruck, dass 
die einen klaren und bestimmt gerichteten Erkenntnisvorgang bietenden 
Vorginge des niederen Erkenntnisvermflgens nicht vorhanden sind, 
sondern, unterdessen wenigstens, weniger klare und weniger sichere, 
weil mehrdeutige Allgemeingefuhlsver&nderungen zum Bewusstsein 
kommen. Der psychologische Ablauf der ira Vorwurfe in Betracht ge* 
zogenen Vorg&nge muss sich in analoger Weise erklaren lassen. Dar- 
ruber werde ich sp&ter ausfuhrlicher meine Anschauungen entwickeln. 
Wo es sich nicht mehr bloss um die Empfindung einer somatischen 
Ver&nderung, sondern um jene BeeintrSchtigung der psychiscben Lei- 
stungsfahigkeit bandelt, pflegt man von Krankheitsbewusstsein zu reden. 
Ob man als Unterscheidungsmerkmal des Krankheitsbewusstseins vom 
Krankheitsgefiihle ausserdem noch das Vorhandensein oder das Fehlen 
von Erkl&rungsideen anfuhren kann, scbeint mir von keinem wesent- 
lichen Werte zu sein, sondern ein nebens&chliches Moment zu bilden, 
wie auch jene Forderung, dass das Krankheitsbewusstsein unmittelbar 
der erw&hnten Empfindung folge. Bezuglich des zweiten Punktes meine 
ich, dass es gleicbgultig sei, ob die Genese eine unmittelbare oder 
mittelbare sei. 

Von Krankheitseinsicht spricht man gewdbnlich dann, wenn der 
Kranke nicht nnr das Gefuhl einer eingetretenen Veranderung, auch 
nicht nur das Bewusstsein einer durch krankhafte Momente bedingten 
Beeintrachtigung seiner psychischen Funktionen hat, sondern auch im- 
stande ist, den Einzelsymptomen der Erkrankung gegeniiber Kritik zu 
uben. 

Eine scharfe Abgrenzung des Krankheitsgefuhles vom Krankheits¬ 
bewusstsein wird in den meisten Krankheitsf&llen auf die Aufangs- 
stadien geistiger Erkrankungen beschr&nkt bleiben, weil nur liier jene 
Disharmonie in der T&tigkeit der Nerven und dem. Wollen als unange- 
nehm empfunden wird, welche als die Grundlage des Krankheitsgefuhles 
zu gelten hat. Solange die naturliche Harmonie in jenen beiden 
Punkten vorhanden ist, ist die Entstebung eines Krankheitsgefuhles, 
welches nebst dem Gefuhle der Cnlust noch die Beziehung einer chro- 
nischen StOrung der physiologischen Funktionstatigkeit beinbaltet, eine 
ganz naturliche Folge, welche bci keinem Individuum, welches davon 
betroffen wird, ausbleiben kann. Es kommt nur allzu oft vor, dass 
bei spaterer Aufnahme einer Anamnese von den Kranken das Vorhandeu- 
sein eines solchen Krankheitsgefuhles geleugnet wird. Fur solcbe Vor- 
koromnisse hat man ausser Erinnerungsdefekten die Scbeu der Kranken 
in Betracht zu ziehen, ihr Innenleben dem forschenden Arzte zu ent- 
hullcn. Ein gradueller Unterscbied und individuelle Verschiedenheiten 


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182 


Dr. Ernst Herzig, 


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im Ausdrucke des Gefubles werden durch die physiologische Reaktions- 
weise des betroffenen Individuums an sich erkl&rt, nacbdem insbesondere 
in den erw&hnten Anfangsstadien eine Aenderang derselben gegenuber 
dem Gesandheitszustande unmoglich ist, da eine so tief greifende Altera¬ 
tion naturgem&ss erst die Folge eines linger dauernden Andr&ngens 
der geinderten Nervenvorgftnge an die Psyche sein kann. Diese Aende- 
rung der Nervenvorg&nge tritt in Rrscheinung durcb Abnormitaten des 
Gemeingefuhles, welche nach Kundt 'als Resultate aus den Empfind- 
dungen der inneren Teile aufzufassen sind. Es ist gleich, ob man non 
der Meinnng beitrete, das hier in erster Linie in Betracht kommende 
Gehirn I8se jene unangenehmen Organgefuhle aus oder jene, durch 
Strieker inaugurierten, dass wir von dem die Vorsteliungen vermitteln- 
den Gehirnteile gewisse Gefuhle erbalten. Diese Divergenz der An- 
schauungen wird immer eine rein theoretische sein. 

Von dem Vorhahdensein eines Krankheitsgefuhles kann man nur 
dann reden, wenn das betreffende Individuum sich desselben bewusst 
geworden ist. Da also nach dieser Richtung bin eine Abgrenzung 
gegen das Krankbeitsbewusstsein niebt stattfindet, bat man durch eine 
abstrakte Abgrenzung oder durch eine gewShlte Anschauungsrichtung 
eine Scheidung der Begriffe vorgenommen, die also logisch dasjenige 
auseinanderk&lt, was in psychologischer Einheit ‘verknupft sich vorfindet. 
Das seiuer Natur nach Differente wird gesebieden. Auf Grund dieser 
psychologischen Erkenntnis konnte man in eine weitere Erorterung der 
sich erhebenden Frage eintreten, ob also ein bewusstes Krankheitsge- 
fuhl und das Bewusstsein des Krankheitsgefuhles nicht inhaltlich Gleiches 
besagen und deswegen die Gewobnheit, beide als verschiedene psycho- 
logische Vorginge zu betrachten, einen Wert habe und Nutzen bringe. 
Vielleicht hangt es mit dem verneinenden Resultate, zu welchem die 
verschiedenen Autoren bei dem Nachdenken uber letztere Frage kamen, 
zusammen, dass man an die Auseinandersetzung uber die Frage des 
Krankheitsgefiihle.s wenig Worte zu verschwenden pflegt. Ueber diesen 
Punkt wird stets nur in den Einleitungen der das Krankheitsbewusst- 
sein und die Krankheitseinsicbl behandelnden Aufsatze gesprochen. 

Uebrigens ist ja auch die Trennung dieser Vorg&nge keine so tief- 
gehende, als es beim ersten Horen scheinen kQnnte. Die Wundt’sche 
Psychologie bietet in der Perzeption und der Apperzeption ein Analogon. 
Das bei der Krankheitseinsicht zum Krankbeitsbewusstsein Hinzu- 
kommende, das den zugrunde liegenden Erkenntnisakt Erweiternde ist 
die zielbewusste Willenstatigkeit, welche die einzelnen intellektuellen 
Akte erschfipft. Das Krankbeitsbewusstsein ist fur die Krankheits¬ 
einsicht das psychologisch Prim&re, nach meiner Meinung, in gleicher 


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CORNELL UNfVERSSTV 



Ueber Krankheitseinsicbt. 


183 


Weise wie das Krankheitsgefuhl dem Krankheitsbewusstsein voraus- 
gehen muss. 

Das Krankheitsbewnsstsein kann man als relative Krankheitseinsicht 
bezeichnen, wenn man diese als das Absolute einer psychologischen 
Skala ansehen will. 

B. F., geboren 1882, ledig protestantisch Augsb. Bek. Im Sommer 1902 
wanderte er von Galizien nach Amerika ans. Neben seiner beruflichen Tatig- 
keit als Schlosser and Werkzeugmechaniker beschaftigte er sich mit der Aus- 
klugelung von Erfindnngen, welche er aber nie zu einem eigentlichen Abschluss 
brachte, weil Zweifel an der Vollkommenheit derselben ihn abhielten, damit 
in die OefTentlichkeit zu treten. In den letzten 2 Jahren seines Aufenthaltes 
in Amerika (er kam im Dezemder 1913 wieder nach Europa) belastigten ihn 
unlnsterregende Wahmehmungen; er hatte das Gefiihl des Hypnotisiertwerdens, 
dann, dass man ihm seine Gedanken abziehe, indem man duroh seinem eigenen 
Gedankengange entgegenarbeitende Einmischung ihn zwinge, nicht seine, son- 
dern fremde Gedanken zu denken. Im Februar 1913 Hess er sich, da ihm die 
bereiteten „seelischen Leiden u unertraglich wurden, in ein New-Yorker Spital 
aufnehmen, welche ihn in eine Irrenanstalt iiberstellte, Im Dezember 1913 
wurde er nach Europa gebracht, wo er die Mon&te bis zum Kriegsausbruche 
bei seinen Eltern verbrachte, ohne sich zu irgend einer Arbeit aufraffen zu 
kdnnen. Jene erwahnten seelischen Qualen machten ihm eine Arbeitsleistung 
unmoglich. Nachdem er im Februar 1914 als tjmglich erklart worden war, 
ruckle er bei der Mobilisierung im August 1914 ein, geriet im Dezember 1914 
in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Oktober 1916 im Austausoh- 
wege nach Oesterreich zuriickkam. Nach mehrwochiger Beurlaubung wurde 
er zum Hilfsdienste bestimmt; aus den schon bekannten Griinden erklarte er 
sich zum Dienste unfahig. Zum Zweck der Konstatierung gab man ihm am 
31. 5. 1917 in die psychiatrische Abteilung des Krakauer Garnisonspitales ab, 
▼on wo er am 9. 8. 1917 unserer Anstalt zuwuchs. 

Ich explorierte den Kranken mehrere Male speziell in Bezug auf sein 
Krankheitsbewusstsein und seine eventuelle Krankheitseinsicht. Die diesbezug- 
lichen Angaben des Kranken gebe ich im Folgenden unter Beibehaltung der 
▼on ihm selbst gebrauchten Ausdriicke und Redewendungen wieder. Seit Jahren 
babe er gegen die ihm aufgedrangten fremden Gedanken, welche zum grossen 
Teil gegen seinen Glauben gerichtet waren, aktiv abwehrende Stellung einge- 
nommen. Dadurch sei es ihm ab und zu gelungen, diese Gedanken aus sich 
herauszubringon, in den meisten Fallen hatten diese aber die Oberhand be- 
halten, wodurch er schreckliche seelisohe Sohmerzen leiden musste. Die Quelle 
dieser Schmerzen bildete die Erkenntnis, dass jene Gedanken die Reinheit und 
Polgerichtigkeit seines Denkens trubten und seine geistige Leistungsfahigkeit 
durch sio herabgesetzt werde. Die fremden Gedanken seien wirkliche und tat- 
sachliche Beeinflussungen von aussen, ein Zwang, von andern ihm vorgelegte 
Gedanken nachzudenken. Er sei sich klar daruber, dass jeder Gedanke Produkt 
seiner psychischen Aktivitat sei, doch nehme er an, nach den an sich .selbst 


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Dr. Ernst Herzig, 


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gemachten Erfahrungen, dass jemand auf die Seele eines anderen einen der- 
artigen Einfluss gewinnen konne, dass jede Freiheit des Denkens aufgehoben 
werde. Wahrend er fruher glaubte, kein Gedanke konne ohne die entsprechende 
Willenskraft in ihm aufsteigen, respektive, wennaufgestiegen,wiederunterdrdokt 
warden, sei er durch die Erfahrong eines andern belehrt worden. Nach einer 
Diskussion uber Willensfreiheit and Willenssohwache, bebanptet der Kranke 
die zum Losreissen von seinen Zustanden erforderliche Willensstarke fehle ihm, 
er leide an psychischer Schwache. 

Bei diesem Kranken existiert ein ausgesprochenes Krankheitsbewusstsein, 
welches in der Erkenntnis der Verursachung des in Betracht kommenden Zu- 
standes den Begriff desselben im angenommenen Sinne uberschreitet, durch die 
fehlende Erkenntnis der Irrealitat des von aussen Aufgezwungenwerdens sich 
aber von der Krankheitseinsicht abscheidet. 

Die Grundbedingung, dass Krankheitseinsicht zustande komme, ist 
die M5glichkeit, dass zu einer bestimmten Zeit die Erinnerung und die 
Erinnerungsmogliclikeit fruherer Zustande gegeben sei. Diese beiden 
Momente sind erforderlich, wenn die Frage, ob Krankheitseinsicht he- 
stehe, fur die Zeit der Rekonvaleszenz und der Gesundheit aufgeworfen 
wird, ebenso, als wenn sie fur manche luzide Interval!e im Ablaufe 
der Krankheit in Frage gestellt wird. Besitzt ein Genesener oder Ge- 
nesender nicht die Erinnerung an seine friiheren krankhaften Zustande, 
dann fehlt ihm die Grundlage fur den vergleichenden Akt, als welcher 
die Krankheitseinsicht in psychologischer Hinsicht aufzufassen ist. Die 
Kenntnis des gegenwartigen Zustandes muss wie jene des fruheren 
dem Einsichtigen gegenwartig sein, damit er beide nebeneinander prufen 
k6nne. Diese letztere ist das geistige Richtmass, welches das Indivi- 
duum an alles es Betreffende anlegt. Es verhalt sich hier genau wie 
in dem Falle, wo es sich um den Vergleich zweier normaler Zustande 
handelt. Deswegen findet auch die Tatsache, dass die Griindlichkeit 
der Einsicht in gerade proportionalem Verbaltnisse zur Klarheit, Detail- 
lierung und Sicherheit der Zustandserinnerungen stelit, auch fur die 
in Betracht kommenden psychotischen Falle ihre Anwendung. Weiter 
folgt daraus, dass die Einschatzung fruherer Zustande umso scliwerer 
sein wird, jemehr dieselben mit dem normalen Leben des Genesenden 
verankert und verknupft sind. Krankhafte affektive St5rungen werden 
daher stets einer nachtraglichen korrigierenden Erkenntnis eher zugang- 
lich gemacht werden, wie wahnhafte Zustande, welche dem vorpsycho- 
tischen Lebensgange des Individuums sich verkettet haben. Dieser Fall 
wird eintreten, wenn zwischen Wahnideen und fruheren Gedankengangen 
irgend eine Kongruenz besteht. Fremdere, der Persbnlichkeit des Kran¬ 
ken fernerliegende Ideen regen leichter die Kritik des Individuums an, 


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Ueber Krankheitseinsicht. 


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weil sie mit diesem Fernerliegen dem Streben abseits liegen. Aller- 
dings darf nicht ubersehen werden, dass solcbe Ideen erfahrungsgem&ss 
(man sehe ab von den organischen Geisteskrankheiten) in jenen Psy¬ 
chosen zum Vorscheine kommen, welcbe akut verlaufen und schon aus 
diesem Verlaufe besondere Aussichten auf Gesundung und Eintreten 
der Krankheitseinsicht bieten. Diese eben angefuhrte Tatsache grundet 
sich in der, dass bei jenen ersten Ideen der Beziehungscharakter der- 
selben leicht Anknupfungen zu den allgemeinen Lebensverhaltnissen 
des Individuums findet, wodurck gleichzeitig die aflfektive Verkettung 
eine leichtere und innigere wird nach dem Gesetze der affektiven Asso- 
ziation. Bei den letzteren aber macht es gerade die Loslflsung des- 
selben von dem normalen Lebensinhalte, dass sie doch ihre sckwere 
aflfektive Bedeutung verliereu, damit aus dem Zusammenhange lieraus- 
treten und dadurch leichter Objckt einer Krankheitseinsicht werden 
konnen, als jene, welcbe diescn genannten Charakter nicht haben. 
Von vomherein affektivc Storungen werden darum in Hinsicht auf sich 
ansbildende Krankheitseinsicht umso mehr Aussicht bieten, je weniger 
dieselben in ihren Verlaufe zur Ausbildung von festen Wahnideen fuhrten. 
Fur diese Auffassung kann man auf die Tatsache hinweisen, dass der Gross- 
teil der rein manischen und melancholischeii Krankheitsbilder einen 
diesbezuglichen gunstigen Verlauf hat. 

Krankheitseinsicht ist dennoch in alien jenen Fallen nicht zu or- 
warten, in denen jene Erinnerung oder Erinnerungsmoglichkeit nicht da 
ist, in jenen Fallen, in denen Amnesic fur die krankhaften Vorfftlle 
besteht. Fehlerhaft ist daher die Ansicht jener, welcbe die Krankheits¬ 
einsicht als Kennzeicken einer Heilung verlangen, welcbe da sein musse, 
um von einer Heilung uberhaupt reden zu kdnnen. Abgesehen von 
hysterischen und epilepti-chen Ausnahmezustanden, Alkohol und Fiebcr- 
delirien widersprechen einer solcken Auffassung viele Falle von Amen¬ 
tia-Erkrankungen. Auch das hilft nicht iiber die aus diesen Fallen 
sich erkebemie UnroOglichkeit, die gonannte Ansicht zu vertretcn, hin- 
weg, dass man zwischen detaillierter und summarischer Krankheitsein¬ 
sicht unterscheidet. Denn auch die letztere ist oft nicht vorhanden. 

Ein Soldat wurde in einem schweren akuten Erregungszustande einge- 
bracht, der im Beginne eines kurzen Urlaubes aufgetreten war. Mit dem Aus- 
drucke weitgehender affektiver Erregung berichtet er, seine Frau sei mit einem 
Liebhaber durchgebrannt, er babe zu Hause nur leere Wiinde gefunden und 
der Liebhaber habe lhm 15000 Gulden gestohlen. Nach zwei Tagen war der 
Patient vollkommen klar. Als ihm seine friiheren Aussagen vorgehalten war¬ 
den, war er verdutzt, hiolt es fur unmoglich, dass er so etwas auch nurdenken 
konnte. Dio wieder eingetretene psychische Ordnung war von Dauer, es kam 


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Dr. Ernst Herzig, 


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dem Patienten nie eine Spar einer Erinnerang. Er musste als geistesgesund 
geworden angesehen warden, nachdem sein Handeln zar psychologisoben Norm 
zaruckgekehrt war. Der Fall warde mangels aller alkoholischen, hysterisohen, 
toxischen and epileptischen Antezedentien and bysterischen Stigmata als 
Amentia diagnostiziert. 

Die Tiefe der zu Stande kommenden Kraukbeitseinsicht ist nicht 
in alien Fallen die gleiche. Sie entspricht immer der geistigen Reife 
des in Betracht kommenden Individuums und seiner F&higkeit, sein 
eigenes geistiges Leben in seinen verschiedenen Kurven zu beobachten, 
dem Masse der Selbstkritik, welches jenes zu uben gelernt hat Die 
Stufenleiter der fortschreitenden MSglichkeiton verl&uft hier proportional 
der allgemeinen geistigen Ausbildung der Individuen. Dieselbe durfte 
entscheidend sein, ob es im einzelnen Falle zum Krankheitsbewusstsein 
(in dem eingangs erwahnten Sinne) oder zur Krankheitseinsicht kommt 
Diese Erwagung fiihrt von einer anderen Richtung wie jene des vorher- 
gehenden Absatzes zur Erkenntnis, die dort erw&hnte Ansicht, man 
musse die wiedergekehrte geistige Gesundheit durch die Krankheitsein- 
sicbt bestimmen, unrichtig sei. Denn die kindlichen Psychosen fuhren 
raeistens zur vollstiindigen geistigen Gesundheit. ohne dass irgend eine 
relative oder absolute Kraukbeitseinsicht sich entwickelt. 

Ich sagte friiher, die Krankheitseinsicht sei das Resultat eines Ver- 
gleiches des im Augenblick des Vergleichaktes bestehenden und vom 
Bewusstsein erfassten Zustandes mit einem anderen als erinnerter be- 
wussten. Dass er den ersten als den objektiv richtigen erkennt, be- 
griindet sich in der dem naturgemassen Streben des Individuums nach 
Befriedigung entsprechenden Natur der jetzt von ihm gesetzten ausseren 
und inneren Akte; dass er den letzteren gegensatzlich fihdet, indem 
nach der Erinnerung gegensatzlichen Charakter der entsprechenden Akte. 
Entsprechend der teleologischen Einrichtung des Universums besteht fur 
die Beurteilung der menschlichen Handlungen, ob sie normal oder ab¬ 
normal seien, der Gesichtspunkt zu Recht, dass sie danach zu bewerten 
seien, ob sie zur Selbsterhaltung und Selbstentfaltung, zur Befriedigung 
beitragen. Normal ist jener Mensch, dessen Haudeln jenen Zielen an- 
gepasst ist Als normal beurteilt das Individuum jene Handlungen, 
welche zu diesem Ziele fuhren. Auch das kranke Individuum wird in 
den meisten Fallen eine Bezeichnung seiner Handlungen als krankhafter 
entschieden zuriickweisen, auf dem Standpunkt stehen, seine Hand- 
lungsweise sei die gesunde. 

Fruber hatte man auch in wissenschaftlicheu Kreisen die Ansicht, 
dass jedem geisteskranken Individuum die Beurteilung seiner Handlungen 
als krankhafter unmSglich sei. Erst urn die Mitte des vergangenen 


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Ueber Krankheitseinsicht. 


187 


Jahrhunderts tauchten Stimmen auf, welche fur eine gegenteilige An- 
sicht eintraten. Pick hat im 13. Bande des Archivs fiir Psychiatrie 
eiue eingehende Studio fiber dieses Thema im. zweiterwahnten Sinne 
verfiffentlicht. In derselben sind aucli Erklfirungsversuche erwfihnt, 
durcb welche einzelne Autoren dqr Erfassung der Tatsache auf den 
Grand zu kommen suchten. 

Zu einer psychologischen Erklfirung kann der Vergleich mit dem 
n&cbststehenden Akte aus dem normalen Geistesleben einige Anhalts- 
punkte geben. Dieser Akt ist der Irrtum. Dass derselbe znr Erl&ute- 
rang herangezogen werden kann, wird nur dadurch mfiglich, dass bei 
den normal-psychologischen wie bei den patho-psychologischenHandlungen 
dieselbe in ihrem Grandvermfigen unverfinderliche Psyche als Wirkungs- 
ursache da ist. Die Grundeigenart der Psyche bleibt auch unter den 
gestfirten Bedingungeo ihrer Wirksamkeit dieselbe. Jene psychologischen 
Momente, die bei der Irrtumseinsicht wirken, werden daram auch dort 
einen nrs&chlichen Einfluss haben, wo es um Irrseinseinsicht sich han- 
dolt. Die die Irrtumseinsicht begfinstigenden Momente werden auf das 
Eotstehen einer Irrseinseinsicht fdrderlich wirken, die jene hemmenden 
Momente ffir das Entsteben dieser ein Hemmnis sein. Zur ersteren 
Kategorie gchfirt die Freiheit von krankhafter affektiver Erregtheit und 
Erregbarkeit, zur zweiten deren Vorhandensein. 

Es scheint mir, dass man die wichtige Rolle, welche die Affekti- 
vitat im Geistesleben fiberhaupt spielt, oft nicht in gebfihrender Weise 
einscbatzt, da man doch immer wieder Stimmen hOrt, welche fur die 
Eigenkraft der Vorstellungen eintreten, als ob die den Willen treibende 
und bcstimmende Kraft derselben nicht der psychologisch notwendigen 
sofortigen Verknfipfung von Erkenntnis und Gefuhl, sondern auch nur 
in einem Falle der Vorstellung als solcher eutspringon wurde. Man 
braucht durchaus kein bedingungloser Anbanger der Freud’schen Schule 
zu sein, um den Wert ihrer Bestrebungen, der Affektivitat eine hfihere 
Bewertung in der Beurteilung der psychologischen und der psychopatho- 
logischen Zust&nde zu verschaffen, ruckhaltslos anzuerkennen. Wie im 
Geistesleben im Allgemeinen darf man die Einflussnahme des Gefuhl- 
lebenB bei der Entstehung und der Behinderung der Krankheitseinsicht 
nicht ubersehen. 'Das Verhaltnis der affektiven Betonung zur Krank¬ 
heitseinsicht wird immer das der umgekehrten Proportion sein. Die 
Erkenntnis eines Irrtums gelingt dann, wenn das in Frage kommende 
Erlebnis, sei es durch die Ueberlegung, sei es durch den Einfluss der 
Zeit, seine gemutliche Schfirfe verloren hat. In gleicher Weise wird 
ein Haupterfordernis zum Zustandekommen der Krankheitseinsicht 
sein. dass die allzu leichte und allzu scharfe Reaktion auf Erkenntnis- 


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Dr. Ernst Uerzig, 


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akte aufgeh&rt bat. Diese teleologisch inadequate Reaktion ist fur 
alle physisch abnormen Zustande der Schlttssel zu deren VerstSndnis. 
Jede Schwierigkeit zur Erkenntnis einer psycbiscben Abnormitat ent- 
steht, abgesehen von den reinen Defektzust&nden, beim betroffenen 
Individuum selbst aus der fiberm&ssig gesteigerten Kraft, welcher ein 
bestimmter Affekt fiber die mit anderen Erkenntnisakten sich erheben- 
den gewinnt. DieseJbe erzeugt Hemmung oder sogar Aufhebung der 
Folgerichtigkeit des Denkens und Handelns, weil sie das ganze Lebeu 
in eine dem objektiven Lebenszweck entgegenlaufende Einseitigkeit hin- 
eindr&ngt. 

Erst nach Aufhebung dieses Einflusses kann eine energische intel- 
lektuelle Arbeit einsetzen, welche zu einer Vertiefung der einmal mfig- 
lich gewordenen Einsicht ffihrt. Diese Festsetzung hat ffir die Krank- 
heitseinsicht gesunder und gesund gewordener Individuen in der gleicben 
Weise Gfiltigkeit, wie ffir die in den lfingeren und kfirzeren Krankheits- 
remissionen, welche letztere man mit Vorliebe als luzide Intervalle be- 
zeicbnet. Forscht man nach dem Grunde dieser Erscbeinung, wird man 
kaum einen anderen angeben kfinnen, als dass aus jener affektiven Be- 
tonung eine Verbindung mit der geistigen PersQnlichkeit entspringt, 
welche eine Loslfisung von dem Erkenntnisakt erschwert oder unmfig- 
lich macht, welche dem einzelnen psycbischen Inhalte einen Ueber- 
zeugungscbarakter gibt, der dem betreffenden Individuum als objektive 
Wahrheit imponiert. Solange dieser Ueberzeugungscharakter besteht, 
ist es dem Individuum unmfiglich, zur Erkenntnis der Unrichtigkeit des 
Erkenntnisaktes vorzudringen. 

Die erwahnte affektive Tonung irgend eines Erlebnisses begrfindet 
die jedesmalige innere Stellungnahme des Individuums. Ob diese Stel- 
lungnahme innerhalb eines noch in der Gesundheitsbreite liegenden 
Zeitraumes einer Aenderung zur objektiv richtigen Bewertung fahig ist, 
oder erst ein daruber hinausliegender dazu ffihrt oder eine Unkorrigier- 
barkeit der eigenommenen Steilung bestehen bleibt, hfingt wieder von 
der habituellen Reaktionsweise des Individuums ab, ausschlaggebend 
ist auch meiner Ansicht wiederum die Beschaffenheit des affektiven 
Vermfigens der Psyche. 

Die Steilung des Individuums kann zunfichst eine zweifache sein; 
entweder gelingt es ihm schon zur Zeit der Kenntnisnahme zur objek¬ 
tiven Wahrheit durchzudringen oder nicht. Im letzteren Falle kann 
entweder nach einem bei verschiedenen Fallen, und verschiedenen Indi¬ 
viduen verschieden langen Zeitraum eine Korrektur ausbleiben. Auch 
dann, wenn der erste Fall gegeben ist, kann doch trotz des richtigen 
intellektuellen Aktes, trotz der richtigen Erkenntnis jenes Geffihl des 


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Ueber Krankheitseinsioht. 


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Bcfriedigtseins fehlen, welches der allgemeineu psychischen Zweckmassig- 
keit und Naturerfullung folgt. Dieser Defekt bat semen Grand in der 
dann bestehenden Willensanentschiedenheit. Dmgekehrt bildet ein un- 
richtiger Erkenntnisakt keinen Grand, das erwEhnte Gefuhl unmdglich 
zu machen. Nor darf man damit nicht ein anderes verwechseln, welches 
nicht von dem lnhalte eines Erkenntnisaktes an sich seinen Ursprung 
nimmt, sondern einer zufaliigen Verknupfung entspringt, welche Hand- 
lungen und Erlebnisse mit diesem haben; dieselben kdnnen dann, wenn 
sie eine Unannebmlichkeit zur Folge haben, ein Unlustgefuhl ausldsen; 
mit dem als wahr hingenommenen Inhalt hat dasselbe aber nichts zu 
tun. Auch dann, wenn die intellektuelle Haltung des Individuums nicht 
gleich die Einsicht in das Fehlerhafte des Erkenntnisaktes gestattet, 
kann die Steilungnahme dessclben eine zweifacbe sein, indem der Kor- 
rektionsakt nach einiger Zeit sich einstellt oder ausbleibt. Durch die 
Gegensatzlichkeit dieses Verhaltens erkl&rt sich die Wesensverschieden- 
beit psycbologischer Akte. 

Diese Tatsachen lassen die Assoziationspsychologie als fehlerhaft 
erkennen, denn bei der Voraussetzung derselben, dass der Wille nicht 
vom ErkenntnisvermOgen wesentlich Verschiedenes sei, ware eine ver- 
schiedene Stellung des Individuums gegenuber logiscb gleich begrun- 
deten Erlebnissen nicht mdglicb. Es wurde uberhaupt unmdglich sein, 
dieselbe zu erkl&ren, insbesondere aber, wie im Laufe der Zeit eine 
einmal eingenommene Stellung verandert werden kdnnte; mit anderen 
Worten wie Irrtumskorrektur und Krankheitseinsicht zu Stande kommen. 
Das Erlebnis bleibt dasselbe. Wodurch geschieht es, dass das Indivi- 
duum zu verschiedenen Zeitpunkten in ein anderes Verhaltnis zu ihm 
tritt, daifs es seine innerliclie Beziehung zu ihm andert? Und wenn 
man gar bedenkt, dass diese Stellungsanderung einer Entscheidung des 
Individuums selbst entspringen kann, wahrend die Erkenntnistatigkeit 
ein rein passives Vermdgen ist, wird dem Denkenden klar, dass die 
Assoziationspsychologie, welche das ganze geistige Leben in einer 
Summation von Erkenntnisakten sich erschGpfen lasst, zur Erklarung 
der psychologischen Akte des behandelten Themas nichts beitragen 
kann. 

Aus der fruheren Zweiteilung ist somit eine Vierteilung geworden. 
Erstens kann zur Zeit des sich vollziehenden Erkenntnisaktes der ent- 
sprechende Anerkennungsakt ohne weiteres sich einstellen, zweitens kann 
zu jcner Zeit der Anerkennungsakt unmdglich sein, weil der Wille zu 
einem abschliessenden Urteile sich nicht durchsetzen kann; drittens kann 
der objektiv richtige Erkenntnisakt einem fruhereb falschen doch nach 
einiger Zeit folgen, wenn die Hemmungen ausserlich ricbtiger Erkenntnis 


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Dr. Ernst Herzig, 


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gefallen sind; viertens kann der objektiv ricbtige Erkenntnisakt inner- 
halb einer noch als normal-psychologisch zu bezeicbnenden Zeit unmflg- 
lich sein, infolge innerer Hemmungen. Im ersten Falle ergibt sich das 
Bild vollkommener geistiger Normality, welches im dritten eigentlicb 
nur verdeckt wird. Dagegen erscheinen 2 und 4 psychologische Zu¬ 
stande. Zwei behalten die Zwangsvorstellungszustande, vier die para- 
noischen Geistesstorungen und die affektiven Psychosen. 

Es ist nicht notwendig, eine Unterscbeidung zwischen akut ver- 
laufenden und chronischen paranoiscben Zukunftsbildern zu machen, da 
fur das vorliegende Thema nur das Paranoische einfach bin in Frage 
kommt. 

Solange die gerniitlichen StOrungen der affektiven Psychosen so 
heftige sind, dass die aos den Innenempfindungen geborene Storung der 
zerebralen Zentren durch die Psyche nicht uberwunden werden kann, 
ist bei denselben an das Zostandekommen einer Krankheitseinsicht nicht 
zu denken. Sobald aber ein Abklingen jener zentralen Stdrung, eine 
Beruhigung der aus ikrer Ruhelage herausgeworfenen biologischen und 
vielleicht anatomischen Funktionen, eingetreten ist, erscbeint damit die 
Grundlage fur die Ausbildung der Krankheitseinsicht gegeben. Fur 
das raehr oder minder Kritische, fur die Tiefe des diesbezuglichen Rai- 
sonements, ist die habituelle Kritikfahigkeit des einzelnen Individuums 
massgebend. Detaillierter darf man sie bei einer geistig hSber stehenden, 
summarischer bei einer geistig niedrig stehenden Person erwarten. 
Ausserdem darf man nicht ubersehen, dass auch fur die Ausweitung 
jener Einsicbt die retrospektive Meditation eine grosse Rolle spielt, zu- 
mal ja die Erinnerung an alle in der Krankheit durchlebten Erlebnisse 
nicht in einem Bilde und mit einem Schlage, sondern gewdhnlich erst 
im Ablaufe der Zeit kommt. 

In Hinsicht der Krankheitseinsicht, dem nach durchgemachter affek- 
tiver Psychose wiederkehrenden Gesundheitszustande gleicb, ist oft das 
mit der jenem fruheren Zustande in der grundliegenden Verstimmung 
im Gegensatze stehende spatere Krankheitsbild. Im manischen Zustande 
kann Einsicht fur die fruheren depressiven Krankheitserscheinungen 
und im depressiven fur frubere manische bestehen. Besonders im Be- 
ginne der diesbezuglichen Krankheitszustande und bei geringer Intensi¬ 
ty derselben sind derartige Beobachtungen zu machen. Wahrend aber 
die Details vielleicht in besonderer Scbarfe herausrucken, ist der objek- 
tive Wert einer solchen Einsicht doch zum wenigsten kein besonderer, 
weil man nie einer der Wirklichkeit entsprechenden Adaquatheit der¬ 
selben sicher sein kann, sondern immer an UebertreibuDg der gegen- 


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Ueber Krankheitseinsicht. 


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sfitzlichen Erinnerung denken mass. Die Art, in welcber solcher Ein¬ 
sicht Ausdruck gegeben wird, kann Anhaltspunkte daffir gebeD, als Bilder 
welcher zusammengesetzten Psychose jene zu betrackteu seien. 

Bezuglich der Krankheitseinsicht ist bei jenen beiden affektiv-psy- 
chotiscben Zustande eine Vcrschiedenheit zu vermerken, insoferne, als 
bei den manischen eine solche bezuglich der depressiven h&ufiger in 
die Erscheinung tritt Ich bin entfernf davon zu behaupten, dass sie 
bei letzteren in Bezug auf erstere nicht ebenso hfiufig vorhanden sei. 
Nachdem sich aber dieser Vorgang als innerer der direkten Kenntnis- 
nabme entzieht, ist es unmfiglich, daruber ein Urteil zu fallen, wall rend 
die verbalen Mitteilungen der Kranken fiber die Richtigkeit der ersteren 
Behauptuug keinen Zweifel lassen. MOglicberweise lassen die depres¬ 
siven Verstimmungen nur weniger eine solche Mitteilsarakeit der Indi- 
viduen aufkommen iuid verdecken dadurch das Bestehen der vorhandeuen 
Einsicht ffir den Beobachter. 

Am leichtesten verstfindlich ist die Krankheitseinsicht bei den Zwangs- 
vorstellungen, weil bei denselben die Einsicht in den psychologischen 
Vorgang einen wesentiichen Zug des ganzen Krankheitsbildes darstellt. 
Denn der subjektiv empfundene Zwaug hat zur notwendigen Bedin- 
gung, dass die Erkenntnis des Widerstreitens durch logisches Denken 
hervorgernfener uud frei aufsteigender Vorstellung dem Willen einen 
Zwang bereite, der dadurch bewirkt wird, dass es diesem nicht gelingt, 
zum entscheidenden Beschlusse zu kommen, nur die eine Vorstellung 
als die Norm seines Handelns wirkeu zu lassen. Der daraus entsprin- 
gende innere Kampf, welchen das Individuum durch das Auftreten der 
sogenannten Zwangsvorstellung im Gegensatze zil einer gleicbzeitig be- 
stehenden logisch riebtigen Vorstellung zu bestehen hat, ist das den 
psychiscben Zwang Kennzeichnende. 

Dieser Begriff des psychischen Zwanges wurde vielfach verkannt. 
Man hat sich heute in vielen Kreisen daran gewfibnt, aus ihm das Ge- 
fuhl des Subjektivempfundenwerdens auszuschalten und psychische 
Vorg&nge als Zwangsvorg&nge in gleichem Sinne wie die Zwangsvor- 
stellungen zu bezeichnen, bei welchen der Zwang nur ffir den Beob¬ 
achter als eine durch eine bestiminte Willensrichtung gekennzuichnete 
Form einer menschlichen Handlung erscheiut; Empfindungen, Tiks und 
Angstanfttlle kfinnen nie in dem von mir in Anlehnung an Westphal 
festgehaltenen Sinne mit dem Bestimmungsworte des Zwanges versehen 
werden, weil ffir ihr Zustaudekommen der Wille als genetischer Faktor 
versagt. Auch das Moment der Unverdr&ngbarkeit gibt den Begriff 
des psychiscben Zwenges nicht gehdrig wieder, da damit nichts fiber 
die Stellung einer Handlung im Rahmen des spezifisch Menschlichen 


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Dr. Ernst Herzig, 


ausgesagt wird. Denn die naturliche Art der menschlichen Handlungs- 
weise erfUhrt bei durch diese Eigenschaft gekennzeichneten Handlungen 
keine Beintr&chtigung. Zur Empfindung eines Zwanges kann es nicht 
kommen. Alle psychischen Vorgange sind von den Zwangsvorstellungen 
ausgeschlossen, bei welchen es nicht von vornherein zu einem Eingreifen 
des uberlegenden Icks koromt im Augenblicke ihres Auftrittes. 

Der Begriff der Zwangsvorstellungen war schon dem Hippokrates bekannt; 
Westpbal hatto also ricbtiger nicht von einem neuen Krankheitsbilde der 
Zwangsvorstellungen gesprocben, sondern nur von einer erneuten Darstellung 
desselben. Wem Helen, wenn er die von Nasse (De insania commentatio secun¬ 
dum libros Hippocraticos, Leipzig 1819) wiedergegebene Erzahlung des Alt- 
meisters der Medizin, von einem gewissen Timokies liesst, nicht die Diskus- 
sionen der letzten Dezennien uber Agoraphobic ein? Timokies wurde, an einem 
Graben oder einerBriicke angelangt, von uniiberwindlicher Angst, hinabzufallen, 
ergriffen, die ihm das Ueberschreiten unmogiich machte. Aus dem von Hippo¬ 
krates gebrauchten Ausdrucke Aumio^areiv sohliesst Nasse: Aegrotum non so¬ 
lum vertigine tentatum fuisse sed etiam fixa sibi cogitatione laborasse. Der 
Kranke besass also Krankheitseinsicht. 

Es ist selbstverstftndlich, dass man in vielen Fallen von Zwangs- 
vor8tellungskrankbeit sich mit einer relativen Krankheitseinsicht wird 
begnugen rniissen. Dass aber diese in irgend einem Falle fehlen solle, 
scheint mir unmdglich, wenn man nur mitjenem Grade sich bescheidet, 
der bei dem Bilduugsgrade des Individuums mdglich ist. Schliesslich 
bedeutet die Ausdrucksweise fur den an sich gleichen inneren Vorgang 
nicht mehr, als eine mehr oder minder scbOne Einkleidung desselben. Die- 
selbe ist Sache des Bildungsniveaus. Warum k&mpft denn der Betroffene 
gegen seine Vorstellungen an? Doch nur, weil er dieselben als Etwas 
seinem Ich Schadenbringendes erkennt. Das Auftreten gegen dieselben 
ist ein sicheres Kennzeichen, dass er von den Unzukflmmlichkeiten jener 
Vorstellungen, von deren Uuvereinbarkeit mit seinem geistigen Wohler- 
gehen uberzeugt ist, dass er weiss, dass nach denselben zu bandeln, 
seinem geistigen Leben abtrAglich ist. Dass er oft fur sie das Wort 
Krankheit nicht anwendet, mag ja sein, das Ausschlaggebende ist, dass 
er ihnen gegenuber eine Stellung einnimmt, wie er sie nur Krankheiten 
entgegentrigt, die Stellung der Abwehr. 

Diese Stellungnahme bezieht sich auf jene Vorstellungen unmittel- 
bar, nicht auf irgend ein unangenehmes Erlebnis, welches dem Indivi- 
duum begegnet, wenn es jenen Vorstellungen gem&ss liandelt. Eine 
solche kann bei den Zwangsvorstellungen auch vorhanden sein; sie 
ist aber nicht dasjenige, wodurch die Reaktion des Individuums gegen¬ 
uber jener auf andere psycbologische Ereignisse charakterisiert ist. 


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Ueber Krankheitseinsicht. 


193 


Den Zwangsrorste]langen in Hinsicht auf Krankheitseinsicht zu- 
n&chststehend sind die Psendoballuzinationen. Bei ibnen koramt es 
zur Hervorrufung sinnlicher Vorstellungen und sinnlicher Biider, welche 
an sich von den echten Hallnzinationen sich nicht unterscheiden, aber 
noch im Momente ihres Auftretens von dem betroffenen Individuum 
als etwas subjektiv Entstandenes erkannt werden. Diese Erkenntnis 
des snbjektiven Ursprunges schliesst die Erkenntnis des ganzen Vor- 
ganges als eines krankhaften in sich, da ja damit die Erkenntnis eines 
naturwidrigen Entstehens vorliegt. Wie bei den Zwangsvorstellungen 
gehdrt die Krankheitseinsicht zum Wesen des ganzen Krankheitsbildes 
der Pseudohalluzinationen. Das geistige Gebilde, auf welche sich hier 
die Einsicbt bezieht, ist ein anderes. Der Pseudohalluzinant steht den 
Hallnzinationen gegenuber wie einer, der ein Gemalde betrachtet und 
dasselbe kritisiert. Der Unterschied der geistigen Gebilde der Zwangs¬ 
vorstellungen und der Pseudohallnzinationen wird Often rait dem oft 
vorhandenen Unterschiede in der erst sekund&r auftretenden Affektlage 
verwechselt. Tatsache ist, dasa die ZwangsTorstellungen immer von 
einem Affekte der Unlust begleitet, w&hrend Pseudohalluzinationen Lust 
ebenso wie Unlust erzeugen kOnnen. Eben deswegen werden erstere 
als etwas Zwangsm£ssiges empfunden, was bei lustbetonten Vorstellungen 
garnicht der Fall sein kann, erst dieses Zwangsm&ssige fuhrt dazu, 
dass das betroffene Individuum jene Vorstellungen als etwas Fremdes 
empfindet. Krankhafte psycbiscbe Gebilde gebon so lange keinen An- 
lass zu einem Entgegenstreben des Individuums, als sie nicht zum 
wenigsten als etwas L&stigcs oder Fremdes empfuDden werden. Sicher 
als solcbes treten nun die Pseudohalluzinationen in jedem Falle auf, 
da sie dem Individuum gegenuber seinen sonstigen Wahrnehmungen 
als etwas Neues imponieren. Sie erzeugen zwischen sich und der ubri- 
gen PorsSnlichkeit einen Gegensatz. Die Einsicbt in diesen Gegensatz 
Ut die Krankheitseinsicht bei Pseudohalluzinationen. 

Bei alien anderen Halluzinationen ist die fur l&ngere oder kurzere 
Zeit bestehende Ueberzeugung von der Objektivit&t derselben kenn- 
ceichnend. Von einer Krankheitseinsicht kann erst die Rede sein, wenn 
die durch sie bewirkte Persdnlichkeitsver&nderung vorubergehend oder 
dauernd scbwindet, wenn Remission des Krankheitsprozesses oder seine 
Heilung eingetreten ist. Daun kommt es zur normalen Perzeptionsfihig- 
keit, welcbe alle der Natur des Individuums zuwider gebenden iusseren 
and inneren Handlungen ricbtig erkennt und zu jener Assoziationsf&hig- 
keit, welche durch objektiv ricbtige Verknflpfung der einzelnen Wabr- 
nehmungs- und Erinnerungsvorstellungen charakterisiert ist. In den 
Remissionen steht der Kranke in einer stabilen Ruhelage gegenuber 

Aiehir f. Fiyehlatrie. Bd. 00. Hefl 1. ]3 


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194 


Dr. Ernst Herzig, 


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seinen fruheren Zustande, nicht anders, als ein normales Individuum 
nacb einem Affektzustande demselben nach Eintritt der Beruhigung 
gegenubersteht. In der Erinnerung sind ibm seine fruheren Erlebnisse 
haften geblieben, er kritisiert dieselben in Bezug auf ihre seiner Natnr 
entsprechende Tragfahigkeit und gewinnt aus dem Fehlen derselben 
die Ueberzeugung ibrer Schadlichkeit. Bei den Halluzinationen besteht 
diese Piufung darin, dass er der Begrundung der in Betracht kommen- 
den von ihm gemacbten Wahrnebmungen nachgeht. Sobald er nun 
einen Gegeusatz zu der naturlichen Bildungsart seiner sonstigen Wabr- 
nehmungen findet, ist ihm ohne weiteres die Krankhaftigkeit der ohne 
Sussere (n&here Oder entferntere) Kausalit&t dagewesenen Wahrnehmun- 
gen klar. 

In ahnlicher Weise bildet sich die Krankbeitseinsicht bei den Wahn- 
ideen. Auch hier bildet die Grundlage derselben die Moglickkeit eines 
Urteiles, in dessen Pr&misseu die beiden zu beurteilenden Vorstellungs- 
gattungen durch einen Oder mebrere Mittelbegriffe verglichen werden. 

Dass Remissionen w&hrend des Krankbeitsverlaufes tats&chlich 
vorkommen, ist jedem Psychiater bekannt. Durch die Leugnung 
dieser Tatsache wurde man sicb hinter die Mitte des vergangenen Jahr- 
hunderts zurucksetzen. Auf die psychologische Begrundung hat man aber 
vielfach nicht jene Aufmerksamkeit verwendet, welche eine diesbezugliche 
Erkenntnis wert ist. Jene psychologische BegrGndung stutzt sich auf 
den Wegfall der Hemmnngen, welche die freie Bet&tigung der natur¬ 
lichen Assoziationsf&higkeit einschr&nken oder aufbeben. Alle diese 
Hemmungen sind affektiven Charakters. Man hat sich aber daran ge- 
w6hnt, nur jene als solche zu bezeichnen, welche letzten Endes als ihr 
direkt in die Augen springendes Kennzeichen das afiektive Moment her- 
vorkehren. Andere, bei denen intelektuell assoziative StGrungeu im 
Vordergrunde erscheinen, hat man abgetrennt. 

Zu diesen letzteren z&hlt man vor allem die der bestimmten Indi- 
vidualitat wesentliche geistige Konstitution. Ausser dieser gehoren 
hierher die berufliche und ausserberufliche Beechaftigung des Eranken, 
das ihn umgebende soziale Milieu und der ihm zugewiesene oder auf- 
gezwungene Umgang. (Die Wirksamkeit dieser Faktoren ist, wie ich 
schon betonte, auch auf der von ihnen ausgelbsten Stimmung beruhend). 
Die aus ihnen im gegebenen Falle entspringende Hemmung in Hinsicbt 
einer sonst moglichen Krankbeitseinsicht begrundet sich psychologisch 
darin, dass die erwahnten Momente, wenn sie in der den vorhandenen 
Wahnideen gleichlaufenden Richtung wirken, notwendigerweise zur Aus- 
bildung von Erki&rungsideen fuhren, welche dann eine Versch&rfung 
der Grundideen in der Weise verursachen, dass dieselben dem Indivi- 


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Ueber Krankheitseinsicht. 


195 


damn eine breitere Basis geben. Diese Tatsache an sich, wie auch die 
Erfahrung, dass eine solche Verknfipfung der einzelnen IdeengEnge die 
Einsicht in die Fehlerbaftigkeit der an der Spitze stehenden pathologi- 
schen Idee verhindert, sind imstande, die Bedeutung der ErklErungs- 
ideen in das rechte Licht zu rficken. Die Reaction im Sinne der Aus- 
bildnng von Erklarungsideen ist nicht als das Resultat einer abnormalen 
GedaokentEtigkeit, sondern als durcb krankhafte Stimraungslage ver- 
ursaebte, euergische Reaktion auf die einmal gesetzte VerEnderung des 
Bewusstseiniubaltes zu betrachten. Die beim Auabau der ErklErungs- 
ideen sich bekundende Denkkraft ist ebenso normal wie jene beim Zu- 
standekommen der Krankheitseinsichten zu betEtigende. Einzig die Rich- 
tung ist eine verschiedene, bewirkt dadurch, dass ein subjektiver, aber 
als objektiv richtig hingenommener geistiger Vorgang die Grundlage 
fur ein GedankengebEude abgibt. 

Die Erkenntnis des Irrtumes kann auf' einem doppelten Wege ge- 
schehen, indem entweder die erkannte Unmfiglicbkeit einer der Er- 
klErungsideen rfickwErtsschreitend zur Korrektur der Grundidee fuhrt 
oder in erster Linie diese erschuttert und damit das ganze fiber ibr 
sich erhebende GebEude dem Zusammensturze preisgegeben wird. Man 
8ollte meinen, dass beim Irresein dieser doppelte Weg ebenfalls eiuge- 
scblagen werde. Nach meiner Erfahrung wird immer nur der zweite 
Weg gegangen; die lehrreicbsten Beispiele, welche dieselbe belegen, 
werden durcb die typischen Trinkerdelirien gegeben. Ein langer tiefer 
Scblaf fuhrt erstens zu einer vollstfindigen PersfinlichkeitsEnderung der 
im Delirium befangen gewesenen Person, alle SinnestEuschung ist vor- 
fiber und was in der Erinnerung davon hEugen blieb, wird obne Wei- 
teres als „Dummheit u „Unsinn“ und „Krankheit“ erkannt. Ich bin bei 
meinen retrospektiven Krankenexplorationen wiederholt dieser Erschei- 
nung nacbgegangen und babe in den psycbologischen Gang derselben 
einzudringen gesucht. Verwertbar wurde mir beim Auseinanderlegen 
desselben, dass die Kranken selbst bei sonstiger guter AssoziationsfEhig- 
keit sich nie dazu aufraffen konnten, sogar bei Unsinnigkeit der Er- 
klarungswahnideen ruckwErtsgebend der unterliegenden Grundidee ihre 
iogiscbe Berecbtigung abzuerkennen; im Gegenteil waren sie immer be- 
reit zu erkiSren, os rausste halt doch so sein.’ In dieser Erscheinung 
findet das dem Menscben naturliche Streben nach Konsequenz im Denken 
beredten Ausdruck. . Dieses Streben ist ununterdrfickbar. 

Man darf mit demselben an sich die Mfiglicbkeit nicht verwechseln, 
den Ausdruck desselben anhalten zu kfinnen; dieselbe ist gleichbedeutend 
mit der Mfiglichkeit der Simulation. Diese hEngt davon ab, ob fur das 
Individuum wichtige Interessen vorliegen, welche ffir lEngere oder kfirzere 

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Dr. Ernst Herzig, 


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Zeit es ermoglichen, Handlungen im Sinne der Wahnideen zu unter- 
lassen Oder gar denselben entgegenlaufende auszufubren. Bei den 
meisten Anstaltskranken, welche fur diesen Punkt in Betracht kommen. 
liegt dieses wichtige Moment in dem Wunsche, die Freiheit zn erlangen. 
Unter zwei Bedingungen wird es dem Individuum unmbglich zu simu- 
lieren. Erstens, wenn die mit der Wahnidee verbundene affektive Kraft 
die zum Zustandekommen der Simulation notwendige Selbstbeherrschung 
unmoglich macht, und zweitens, wenn ein allgemeiner Defekt des Affekt- 
lebens, welcher in IndifFerenz gegenuber seiner Situation zum Ausdruck 
kommt, dem Individuum die Notwendigkeit der Zuruckhaltung in den 
Aeusserungen seiner Wahnhaftigkerit nicht mehr aufdrhugt. 

Umgekehrt konnen einem Individuum in seiner Interessensph&re 
sich Grtinde aufdr&ngen, welche ibm nabelegen, trotz vorhandener 
innerer Einsicht dieselbe nicht in erkenntlicher Weise nach aussen treten 
zu lassen, eine vorhandene Krankheitseinsicht zu dissimulieren. Neben 
der Beobachtung der Handlungsweise des Kranken kann man auch hier 
einen Anhaltspunkt fur die Wahrscheinlichkeit der Dissimulation ge- 
winnen aus der Ueberlegung der Vorteile, welche einem Individuum 
aus dem Weiterbestande der Krankheit entstehen. Man kSnnte des- 
wegen meinen, dass gerade unter dem milit&rischen Material der psy- 
chiatrischen Anstalten wenigstens eine grOssere Zabl von Patienten zu 
finden sein werde, bei der eine solche Dissimulation in Frage kommen 
kbnnte. In unserer Anstalt haben wir Aerzte eine dahingehende Er- 
fahrung nicht gemacht; auch babe ich in der umfangreichen deutsch 
geschriebenen psychiatrischen Kriegsliteratur keine diesbezugliche An- 
gaben machen konnen, woraus man wohl mit Sicherheit schliessen kann, 
dass zum wenigsten bei keiner nennenswerten Patientenzahl derartige 
Beobachtungen gemacht wurden. Uebrigens: wer kann einem, der einen 
akuten Gelenkrheumatismus uberstanden bat, gegen dessen Aussagen 
beweisen, dass alle schmerzhaften Reste geschwunden sind? Niemand. 
Wer kann also schon gar einem nach einer Geisteskrankheit rekon- 
valeszenten Individuum auf den Kopf zusagen, dass diese oder jene 
neuropathischen oder psycbopathischen Erscheinungen, zu denen seine 
Krankheit abgeklungen ist, nicht wahrbaft noch bestehen? 

Wenn von einer Simulation oder Dissimulation gesprochen wird, ist 
es vor allem notig, auf die Verschiedenheit der Individueu hinzuweisen, 
welche das Subjekt der Simulation oder Dissimulation sind. Dasselbe 
kann ein geistesgesundes (gesundgewordenes) oder ein noch geistes- 
krankes sein. Alle jene Individuen konnen Krankheitseinsicht simulieren 
oder dissimulieren, welche in Bezug auf Geisteskrankheit die genannten 
zwei Fahigkeiten entwickeln konnen. Denn in der Aenderung des Ob- 


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Ueber Krankheitseinsioht. 


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jektes der letzteren liegt kein Grand, die mOglicbe Ausiibung derselben 
auch nur in Frage zu ziehen. Bezuglich der Geistesgesunden steht die 
Beantwortuog der diesbezuglichen Frage ausser alter Diskussion; be¬ 
zuglich der Geisteskranken aber braucht sie eine Unterscheidung. 

Ob nur der Geistesgesunde imstande sei, Krankheitseinsickt zu 
8imulieren, ist eine Frage, welche bier zu behandeln, mir von Vorteil 
scheint. Diese Frage kann man vielleicht deutlicher (unter Beruck- 
siehtigung des Themas) so formulieren: 1st das Vorhandensein von 
Krankheitseinsicbt unter alien Umstiinden ein Beweis, dass das betreffende 
Individuum nicht geisteskrank sei? 

Sich fur eine positive oder eine negative Antwort zu entscheiden, h&ngt 
von der Stellung in der Grundfrage ab, ob bei einera geisteskranken 
Individuum Symptome da sein kftnnen, welche auch dasselbe als krank- 
haft erkennen kano. Ich glaube, diese Frage bejahend beantworten zu 
musscn. Hierber zu rechnen sind die jedem Psychiater unterkommenden 
Falle, in denen Paranoiker gelegentlich durchgemachten Erregungs- 
xustanden das Brandmal krank aufdrucken, Epileptiker und Hysteriker 
fur ibre Er&rapfc and Ausnahmezustande die Bewertung als krankhafter 
zum Ausdruck bringen, Schwachsinnige und Dementia praecox-Kranke 
fur einzclne Handlungen selbst den Ausdruck kranke Handlung ge- 
brauchen. Wann immer der allgemeine Geisteszustand des Individuums 
eine solche Erkenntnis ermOglicht, kann Erankheitseinsicht sich aus- 
bilden. Ich selbst bin weit davon entfernt, alle jene Beteuerungen der 
Schwachsinnigen, dass sie ibre Aufregungen als Krankheitszeichen er¬ 
kennen, als klingende Munze zu nebmen. Sie haben deni Anstaltsaufenthalte 
seine truben Stunden abgescbaut, finden dieselben doch zu unangenehm 
und suchen unter Weinen und Schwuren die Freiheit zu gewinnen. In 
gleicher Weise sieht man bei Paranoikern Erankheitseinsicht sich ein- 
8tellen respektive als vorhauden zum Ausdruck gebracht in Be^ug auf 
schwerere Erregungszustande, zu welcben sie sich in der Reaktion auf 
seine Sinnestfiuschungen fortreissen lassen. Der Erkenntnis, dass die¬ 
selben abnormal und darum krankhaft seien, steht an sich kein grund- 
s&tzliches Hindcrnis entgegen. Unter den oben erwahuten Voraussetzungen 
kann man also bier von einer Erankheitseinsicht bei einem Paranoiker 
trotz Weiterbestehens einer paranoischen Erankheit reden. Die Krank- 
heitseinsicht bezieht sich nicht auf das Wesen seiner Geisteskrankheit, 
sondern auf etwas derselben Externes, unwesentlich und rein Susserlich 
Verknupftes. Insbesondere bei Hysterikern ist die MSglichkeit einer 
im gleichen Sinne laufenden Erkenntnis gegeben. 

Diesel be begrundet die Ansicht, dass also in Bezug auf jene 
Aeusserlichkeiten Erankheitseinsicht simuliert (und dissimuliert) werden 


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kOnne. Wenn dem einzelnen Individuum es mOglich ist, zur Erkenntnis 
eines aus einem bestimmten Krankheitssymptome ihm entstebeoden Yor- 
teils oder Nachteils zu gelangen und jenen Vorteil oder die Vermeidong 
jenes Nachteils die Motivation seiner kusseren Hand) tings weise sein zn 
lassen, ist damit das psychologische Requisit fur das Auftreten von 
Simulation (und Dissimulation) gegeben. Der Geisteskranke steht den 
erwahnten Yorkommnissen in derselben Weise gegeniiber wie ein 
Gesundgewordener oder in Remission Befindlicher den Zust&nden der 
ehemaligen Geisteskrankbeit. Solange es in seiner Gewalt steht, Sussere 
Erscheinungen durcb Absicbt hervorzurufen, kann bei jedem Geistes- 
kranken Simulation mdglich sein; psychologisch erklart, so lange es in 
seiner Gewalt steht, aus Yorstelluugen von einem durch den Glauben 
anderer an die Wirklichkeit eines nicbt vorhandenen Zustandes zu er- 
langenden Vorteil (oder abzuweisenden Nachteile) Handlungen ent- 
springen zu lassen. Simulation und Krankheit, sagt Richarz, haben 
ein Gemeinsames, n&mlich die Anomalie der ausseren Erscheinungen. 
Das beide Unterscheidende liegt darin, dass bei ersterer die Erschei¬ 
nungen durch die Absicht der T&uscliung vermittelt werden, w&hrend 
bei letzterer diese Absicht gar nicbt einmal in Frage kommt, allerdings 
nur in Hinsicht auf die Krankbeitserscheinungen selbst. 

Manehe Autoren betrachteu als die Grundlage sicb fixierender 
Wahnideen Schwacbsinn des betroffenen Individuums (also eine all- 
gemeiqe Minderung der geistigen speziell der intellektuellen Leistungs- 
fahigkeit). Da es scbliesslich nun doch Falle von Heilung bei wahn- 
bildenden Psycbosen gibt, hatte man in ihnen ein klares Beispiel fur 
die eben abgetanen Ausfuhrungen. Dafur, dass man vielleicht annimmt, 
jener Scbwachsinn werde den Wahnideen voraus geheilt, babe ich in 
der mir zuganglicben reichen Literatur keine Anhaltspunkte gefunden. 
Eine andere naheliegende Auffassung, dass man deuselben auch bei 
wissenschaftlicher Exploration leicht ubersehen kbnne, ist mir auch 
nicht untergekommen. In alien diesen Fallen wurde die Heilung von 
den Wahnideen nicht gleichbedeutend sein einer Heilung des Indi¬ 
viduums schlechthin. Eine Einsicbt in die Rrankbaftigkeit der Wahn¬ 
ideen wurde nicbt Einsicht in seine krankhafte PersOnlichkeit sein. 
Simulation (und Dissimulation) in Hinsicht auf die Wahnideen wurden 
gleich zu bewerten sein, wie ich fruher von diesen psychologischen 
Vorgangen, von den Erregungszust&nden der Schwachsinnigen es be- 
hauptete. 

Der Anschein des Schwachsinns bei Paranoikern wird erweckt durch 
den passiveu Zwang des Individuums, nach einer bestimmten Richtung 
in objektiv dem Inhalt der Wahnidee inadaquater Weise zn denken. 
Indem deswegen durch den Ausfall der jene Idee korrigierenden Er- 


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Ueber Krankheitseinsicht. 


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fahrungen das ganze Denken in Einseitigkeit hineingedr&ngt wird, er- 
weckt die entstehende MonotonitEt des geistigen Lebens den Eindruck 
geistiger SchwEche. 

Diese Auffassnng besagt nicbt, dass nur bei geistig rustigeu Menscben 
es zar Ausbildung vou Wahnideen kommen ktinne und komme, sondern 
nor, dass Schwachsinn kein notwendiges Erfordernis derselben bilde. 

Nach Jessen kommen die heharrlichsten und metbodiscbsten 
Simulanten unter den Geisteskranken vor. * 

Das eventuelle GestEndnis von Simulation darf darum nicbt dazu 
verleiten, den Gest&ndigen als geistig Gesunden anzusehen. Deun, wenn 
Kranke behaupten, dass sie dieses oder jenes Symptom willkurlich er- 
zeugt batten, dann haben sie damit, wenn die Wahrheit dieser ibrer 
Angaben sich herausstellt, nur bewiesen, dass trotz der StCrung der Selbst- 
beberrscbung, des Denkens und des Empfindens ein gewisses Mass von 
freier Selbstbestimmung ihnen geblieben ist. Wird ein hierher gebOriger 
Fall forcnsisch, dann baben die SachverstEndigen den Richter darauf 
aufmerksam zu macben, dass Simulation und Geisteskrankheit sich nicht 
ausschliessen. 

Man hat im Lanfe der letzten Dezennien die Erfahrung gemacht 
und therapeutisch auszuwerten gesucbt, dass organisch begrundete 
Geisteskrunkbeiten durch fieberhafte kOrperliche Erkrankungen gunstig 
beeinflusst werden, indera wEbrend derselben fur kurzere oder lEngere 
Folgezeit Pausen des Krankheitsprozesses sich einstellten. Bei Pnra- 
noikern tritt oft bei schwereren korperlichen KrankheitszustEnden weit- 
gehende Beruhigung ein, durch welche die psychopathologischen Vor- 
g&nge so tief in den Hintergrund gedruckt werden, dass sie dem nur 
zuscbauendeo, aber nicbt prufenden Beobacbter als vollstandig ver- 
schwunden imponieren kbnnen. Entscheidend dafur, ob man hier tat- 
sacblich ven einer Heilung jener paranoiscben Erscbeinungen sprechen 
kann, oder nur von einer Herabsetzung der psychischen AktivitEt 
sprechen durfe, ist immer der spEtere Verlauf; meipt gelingt bei jenen 
KrankheitszustEnden w&brend ibrer Dauer oft uberbaupt nicht eine 
solche Feststellung trotz eingebender Explorationen, weil die der kdrper- 
licben nebenhergehende geistige ErschOpfung nicbt zulEsst, dass der 
Patient eine geistige Spannung bckomme, welcbe notwendige Bpdingung 
zur Ausbildung paranoischer Zustandsbilder ist. Noch weniger als bei 
dieser allgemeinen Feststellung kommt man zu einem Resultate, wenn 
man die Frage beantworten will, ob bei dem Eranken Einsicht in seine 
pathologiscben Ideen vorhanden sei. 

Tatsacbe ist bei kdrperlicbem Leiden ein Zurucktreten der psy- 
cborischen Symptome. Die vollstEndige Analogie mit psychischen 


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Or. Ernst Herzig, 


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Leiden, welche nacb einer anderen Richtung zielen wie die habilaellen 
psychischen Erscheinung6n, lasst von vornberein vermuten, dass bier ein 
beiden gemeinsames Moment die Begriindung fur die gleiche Folge- 
wirkung abgebe. (Voraussetzung ist das Erbalteosein einer klaren Per- 
zeptionsfahigkeit.) Dasselbe findet sicb in der tiefen und scharfen 
affektiven Erregung, welche die einen wie die anderen begleitet. So- 
lange diesel ben in einem Grade vorhanden ist, welcher jenen durch 
die pathologischen Symptome der niederen Oder der hdheren Erkenntuis- 
sphare bewirkten uberragt, wird die Aufmerksamkeit des Eranken von 
jenen besetzt, bleibt es so lange, als die letzteren nicbt gradweise uber- 
schlagend werden. Fur den Beobachter mag 5fter die Graduierung, 
wenn er beide Erlebnisse nebeneinander stellt, widerspruchsvoll sein; 
die Reaktion des Individuums ist aber eine unfehlbar sichere. Um die- 
selbe nachfuhlen zu kbnnen, miisste der Beobachter notwendig in die 
Erkenntnis- und Auffassungsweise des kranken Individuums sich ein- 
leben konnen. Schon im t&glichen Umgange mit Geisteskranken macht 
man die Erfahrung, dass dieselben durch momentan wichtige Ereignisse 
aus ihrem Krankenbett herausgeworfen werden, ihre Ideen vergessen zu 
haben und davon frei zu sein scheinen. In demselben Masse, in welchem 
diese Ereignisse abblassen, drangen sich die zuruckgedr&ngt gewesenen 
pathologischen Erscheinungen wieder vor. Wahrend der erwahnten 
Pause gehorte eben die Aufmerksamkeit des Kranken nicht mehr allein 
Oder in besonderer Weise jenen psychischen Vorgangen, deren Resultat 
die pathologischen Bewusstseinseinhalte sind, sondern wurde in weit- 
gehendem Masse von neuen Erlebnissen absorbiert, so dass fur die Vor- 
gange des Halluzinierens und der aktuellen Wirksamkeit der Wahn- 
ideen nicht mehr jenes Mass an psychischer Euergie zur Verfugung 
stand, welches notwendig ist, darait sie als aktuell wirksam auftreten 
konnen. Der gleiche Gedankeugang hat fur die vbllig gleiche Wirkung 
kbrperlicher Krankheitszust&nde Geltung. Solcbe Zustande wirken die 
Aufmerksamkeit ableitend. 

Jene kSrperlichen Zustande brauchen nicht Krankheitszustande im 
engeren Sinne dieses Wortes zu sein. Jede vorubergebende korperliche 
Unannehmlichkeit hat diesel be Wirkung, welche in der Dauer der aktuell 
einwirkenden Unannehmlichkeit umgekehrt proportioniert ist, so dass 
man von einem Gegensatz von akuter kOrperlicher Erankheit und 
offenliegender GeistesstOrung reden kann. Richtig ist die auf solchen 
Beobachtungen basierende Anschauung, dass Wahnideen Resultate zeit- 
licher geistiger Produktivitat seien und in der Art ihres Vorhanden- 
seins von tieferliegenden somatischen Bedingungeu mit abhaugen. Die 
Therapie der alien Psychiatrie suchte aus dieser Beobacbtung prak- 


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tischeD Nutzen zu schdpfen. Die Anwendung der von ihr im tbera- 
peutiscben Inventar durch Dezennien mitgeschleppten mechanischen 
and instramentellen Zwangsmittel bezweckte, die Ablenkung zu erzielen. 
Der Fehler, den sie dabei beging, war, dass sie ubersah, welche weit- 
gehende allgemeine psychische Schw&chung durch die wiederholte kOrper- 
liche Schwacbung und durch die Erregung von vornherein nicht vor- 
handen gewesener Zwangsaffekte als Folgen der korperlichen Miss- 
handlungen sie verursachen musste. 

Auf dem Prinzip der Aufmerksamkeitsablenkung fusst auch alle 
Psychotherapie. In der Methodik derselben gibt es dann im allgemeinen 
zwei Wege, auf welchen man zum Ziele zu gelangen sucht: Jenen der 
Ueberredung und jenen der Ueberzeugung. Der erstere will gar nicht 
dem betroffenen Individuum auf dem psychologisch naturlichen Wege 
der Willensbe9timmung auf Grand einer vorausgehenden Erkenntnis in 
die Details der einzelnen willensbestimmenden intellektuellen Akte, 
also auf Grund einer Krankheitseinsicht seine geistige Gesundheit zuruck- 
geben, er bcscheidet sich bei einer rein autoritativen Willensdirigierung. 
Der zweite fuhrt durch Berucksichtigung der naturlichen Anlage des 
Indiriduums zur Krankheitseinsicht und damit automatisch zur gesunden 
Handlungsfahigkeit. Nur dieser zweite Weg kann zum Ziele fuhren. 
Die typischen Belege fur die Bicbtigkeit dieser Behauptungen geben 
die Falle nicht zu weit vorgeruckter Charakterveranderung. Ein ein- 
facbes Ueberrumpeln solcher Kranken kann ja ein zeitweiliges Pausieren 
krankhafter Symptome herbeifiihren, ein Ausbleiben derselben nur fur 
lingere Zeit kann zufalliger Weise eintreten. Dann ist es aber 
Zufall, nachdem es nicht unmittelbar durch jeno uberraschende 
Uandlung herbeigeftihrt wird, sondern durch eine derselben. folgende 
Reibe von Schlussen, welche in ihrem Aufbau nicht Vorlagen des 
Therapeuten, sondern Ausflusse der ureigensten und selbstaudigen 
geistigen Tatigkeit des Patienten sind. Dafur, ob dieser Weg im ein¬ 
zelnen Falle eingescblagen .werde, ist der babituelle intellektuelle Zu- 
stand des Individuums massgebend. 

Nach Aschaffenburg entstehen Wahnideen auf der Grundlage 
einer Affektstdrung bei stark egozentrischer Richtung des Denkens. 
Aus dieser krankhaften Eigenbeziehung musse man das Wahnbedurfnis 
zu erklarcn suchen, da durch dieselbe der Kranke in den Mittelpunkt 
der veranderten Denkrichtung trete; beim Irrtum sei eine Loslbsung 
von der Persfinlichkeit des Irrenden denkbar. Normale Handlungen des 
Kranken scien daram auf jenen Gebieten mOglich, welchen eine Eiu- 
mischung der Eigenbeziehung fern liegt. Ein wahnbildender Kranker 
konne deshalb ein genialer Mathematiker sein. Entsprechend dieser Auf- 


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Dr. Ernst Herzig, 


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fassung w^Lre das Zustandekommen von Krankheitseinsicht gleich der 
Bebebung dieeer krankhaffeen Eigenbeziehung oder mit der Zuruck- 
fuhrung des Denkens auf das richtige Beziehungsverhaltnis. Dieses 
letztere ist immer dann da, wenn das Denken nicbt von seinem natur- 
lichen Wege abgeleitet wird. Ableitung aos dem naturlichen Geleise 
ist nur durch Einmischang der Affektivitat mOglich. Diese gibt dem 
Denken eine von seiner naturgemassen abweichende Richtung, die selbst- 
verstandlich nicht durch zu grosse Objektivitftt, sondern nur durch 
Subjektivitat des Denkens sich ausdruckt. Wann diese Subjektivitat 
vom Individuum noch uberwunden werden kanu und wann nicht 
mehr, dafiir besitzen wir keine aprioristische Entscheidungsmbglich- 
keit; die Empirie gibt Ausschlag. Denn man findet im Inhalt der 

Wahnideen nichts hierfur Entscheidendes, man kann auch aus der Zeit 
ihres Bestandenhabens keine Anhaltspunkte gewinnen. Allerdings 
pflegen alle psychischen VorgSnge bei langerer Dauer sich mehr weniger 
fest zu fixieren; wann aber diese Fixation in eine nicbt mebr trenn- 
bare Konsolidation ubergeht, kann man auch nicht annahernd von 

vornherein bestimmen. Man hat fiir ein diesbezugliche Berechnung nur 
einen gauz beilaufigen Auhaltspunkt in dem fruheren babituellen Zu- 
stande der geistigen Aktivitat eines bestimmten Individuums. Derselbe 
ist von Einfluss auf die Krankheitseinsicht nach der Genesung von 
geistiger Krankbeit wie auf jene, welche in manchen sogenannten 

luziden Intervallen sich einstellt. Sowohl die Tiefe wie die Dauer 

werden von demselben mitbestimmt; und zwar nach doppelter Hinsicht. 
Erstens einmal, indem derselbe eine seichtere oder tiefere Erkenntnis 
des krankhaften Vorgangs und Erlebens bewirkt, und zweitens, indem 
die an sich stark ere Willenskraft es eher zustande bringt, jenen Um- 
standen aus dem Wege zu gehen, welche erkannter Weise die psycho- 
logische Grundlage jeder Wahnbildung sind. Jaspers hat diese Um- 
stande zusammenfassend als Wahnstimmuog bezeicbnet. Nach Hagen 
bezeichnet er dieselbe als eiu Gefuhl der Haltlosigkeit und der Cn- 
sicherheit, welches den Kranken instinktartig treibe nach einem festen 
Punkt zu suchen, an welchem er sich halten und anklammern kdnne. 
Wie jeder Gesunde unter analogen Urns tan den findet auch er ihn in 
einer Idee, welche infolge der durch jenes Gefuhl einseitig gewordenen 
Denkrichtung dem objektiven Weltgehalte nicht mehr entspricht und 
damit als wahnhafte gekennzeichnet erscheint. Ob er diese Idee unter 
alien Umstanden festhalte oder zeitweise von derselben frei sei, hangt 
von der Umwandlung ab, welche die Persdnlichkeit als Ganzes durch 
die Krankheit erfabren hat. Ein Moment, welches engstens mit der 
ehemaligen geistigen Kraft und Widerstandsfahigkeit des Individuums 


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(Jeber Krankheitseinsicht. 


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zusammenbangt. Je grosser dieselbe ist, urn so schwerer werden von 
aussen andr&ngende Ereignisse dieselbe zu biegen oder gar zn brecben 
vermOgen oder, wenn e< schon dazn gekommeu ist, werden gunstige 
Einflusse dieselbe leichter wieder aufzurichtcn vermCgen. Wie also 
jeuer fruhere psychische Zustand eine Hemmang der Ausbildung der 
Krankheit entgegenstellen kann, so bedeutet er andererseits eine Er- 
leichternng, wenn Krankheitseinsicht sicb einzustellen beginnt. Der 
Psychothbrapeut kann mit vielem Vorteile von dieser Erkenntnis Ge- 
brauch macben, indem er dieselbe bei der Dosierung seiner — sit venia 
verbo — psycbotberapentiscben Medizin als Leitfadeu dafur verwendet, 
in welcher Schnelligkeit er auf seinem Heilwege nach vorwiirts rucken 
kann. Dem an' sclbst&ndiges Denken Gewohuten braucht er nor einige 
Schlagworte fur sein Denken zu geben, an denen derselbe genugsam 
Stoff fur seine geistige Arbeit findet, wakrend er dem schon von fruher 
her geistig tiefer stehenden ein detailliertes Denkrezept und oft in viel- 
facher Wiederholnng vorlegen muss. 

Erfolg hat diese psyckotherapeutische Arbeit nur danu, wenn die 
inlellektuelle Potenz in ikrer aktuellen Kraft nicht bis zur Unraoglick- 
keit gesiort ist und der Wille Kraft genug aufbringt, um an der Hand 
der Veruunftsvorlageu das Ziel seines Handelns zu verfolgen. Eine 
direkte Rinflussnahme auf den letzteron ist fur den Psychotherapeuteu 
ein Ding der Unmdglichkeit. Cnfehlbar wirkt darum sein psychothera- 
peutisches Muhen nie. 


Wo oder in was liegt das Hinderni.s fiir das Zustandekommen der 
Krankheitseinsicht? 

Bei den rein affektiveu Geisteskrankkeiten kann das Hindernis von 
kciner anderen Seite koimnen als aus diesem Affekte lieraus. Das heisst 
aus dor Bekinderung dor uberlegenden Verstandestatigkeit. Jenes Mo¬ 
ment also selbst, welches bei diesen Psychosen das hervorsteckeudste 
Merkmul derselben bildet, hemmt diejenige geistige Fahigkeit, in deren 
Resort dio Krankheitseinsicht als intellektuellcr Akt fallt. Dass gerade 
bei diesen - Psychosen with rend der Krankheitsdauer vorflbergehende 
Ruhepausen in der Intensity der affektiven Sturme zu ebenso voruber- 
geheuden Krankheitseinsicbten fuhren, ist von vielen Autoren betont 
and hervorgekoben werden. An und fur sich macht es keinen Unter- 
scbied. ob jene affektiv-psychotischen Zust&nde im Verlaufe eiuer zu- 
sammengesetzten Psychose oder aber auch als selbstandige Erkrankung 
anftreten. Meine Erfabrungen liessen mich aber erkennen, dass oft ge¬ 
rade das Verhalten dor Kranken im voriiegcnden Punkte Finprzeige 
gab, wie dies ganzc Krankheitsbild zu klassifizieren sei. Wie in anderer 


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Dr. Ernst Herzig, 


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Hinsicbt erscheint auch in der angeregten die Begrundung darin ge- 
geben, dass in solchen Pausen die babituelle psychologiscbe PersOnlich- 
lichkeit nach aussen tritt mit jenen Aenderungeu, welche sie im Laufe 
krankbafter Attacken erfahreu bat. Dieseiben imponieren in jenen 
Zust&nden vorfibergehenden stabiien psych ischen Gleicbgewichtes als 
Charaktereigentfimlichkeiten. Nur deijenige, welche den einzelnen Fall 
kennt, ist klar fiber die tiefer liegende geistige Sch&digung, welche 
dem Verhalten des Individuums zugrunde liegt. 

Anders liegen die Verlialtnisse bei den psychotiscben Krankheits- 
bildern, welche mit intellektuellen StOrungen, mit Wahnbildungen und 
Sinnest&uschuugen einhergeheu. Wahrend man in den frfiheren Fallen 
es mit durcb den Affekt verursachter Aenderung im Assoziationsablaufe 
zu tun batte, bandelt cs sicb hier uni einen Defekt in der Per- und 
Apperzeption selbst, welcher nebeu der affektiven Stfirung, welche ihn 
verursacht bat und bestehend erb&lt, seine Selbstandigkeit bat. Da- 
durch wird es moglicli, dass jeuer Defekt nach dem Abklingen des 
Affektes weiter fortbesteht und in einer vom Affekte unabh&ngigen Per- 
soulichkeitsknderung sich kundgibt. Nacb Ablauf des fioriden Frank- 
lieitsprozesses konnen also noch psycbotische Symptome vorhanden sein, 
welche durcb das Fchlen der psyckischen Potenz gekennzeicbnet sind. 
Dieseiben kfinnen in nichts anderem bestehen, als in einem Defekte 
der intellektuellen Potenz. Indem sicb derselbe als eiue Abweichung 
vom physiologischen Typus darstellt, andererscits durch Insuffizienz der 
psycliischen Potenz gekennzeicbuet ist, fasst er alle Sekund&rzustande 
nach akuten Psychosen in sich. Objektiv treten dieseiben als solche 
in Erscheinung; im Individuum selbst hat sich weitgehende G leichgiltig- 
keit gegenfiber den in Betracht koiumenden psycbopathologiscben In- 
halten eingestellt. Die Tatsache, dass es derartige Zustande gibt, be- 
statigt meiue Behauptung, dass der iutellektuelle Defekt neben dem 
affektiven selbstandig auftreten kann. Das Zustandekommen dieser 
Selbstandigkeit kann keiue andere Erkl&rung haben, als dass die in 
Betracht kommenden Ideen im nichtpsychischen Anteile der mensch- 
lichen Natur, also im somatischcn Teile des psychozerebralen Systems 
starre Fixation gefunden haben, andererseits aber die Affektivitfit ihnen 
gegenfiber schon vollst&ndig sicb abgestumpft hat, gleichgiltig geworden 
ist. Damit deute ich an, dass in alien diesen Krankheitsf&llen von 
einer Krankheitseinsicht nicht die Rede ist und sein kann. Denn in 
diesen Kranken hat ihre Stellung nicht zu den wahnhaften Ideen an 
sich eine Aenderung erfahren, die Reaktiou auf diese Erkenntnis- 
vorgfinge ist dem Nuilpunkte nahegekommen oder an demselben an¬ 
gel angt. 


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Ueber Krankheitseinsicht. 


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Fur die praktische Psychiatric ist dieses Angelangtsein von Wichtig- 
keit, weil es die Stellungnahme des Psychiaters bei der Entscheidung, 
ob fur ein derartiges Individuum die geschlossene Anstaltsbehandlung 
notwendig oder nutzlich sei, bestimmt. Allerdings kann auch hier 
keine einfache Schablone festgestellt werden. Denn, obwohl jenes Her- 
absiuken der Aktivit&t gewbbnlich ein ganz allgemeines fur die Ver- 
bftltnisse innerbalb und ausserhalb der Anstalt ist, gibt es docb manche 
Falle, welche im Leben ausserhalb der Anstalt bald eine Wiederer- 
hbhung ihrer Affektivit&t erfahren, wShrend sie in der Anstalt durch 
Rube und Gelassenheit imponieren. Besonders hervorstehend ist solcbes 
Verhalten bei an Beziebungswahu Leidenden. Mit den Wahnideen selbst 
scheinen auch die Lebensgewobnheiten der Krauken etwas Fixiertes ge- 
worden zu sein. Indem ihnen gleicbzeitig durch ihre geistige Minder- 
wertigkeit die Akkommodationsf&higkeit an neue Lebensverhaltnisse ver- 
loren ging, kOnnen sie sich in die docb erhohten sozialen Anspruche 
des Aussenlebens nicht mehr finden. Sie stelJen den Grossteil der 
wegen geistiger Hilflosigkeit Pflegebedurftigen. Gelangen solche Indi- 
viduen in das Leben zuruck, ohne eine regelniUssige ruhige T&tigkeit 
und geordnete soziale Verhaltnisse vorzufinden, so kann es zur Aus- 
bildung eines stabilen deprimierenden Affektes kommen, der in weiterer 
Folge zu neuerlicher Wahnbildung fiibrt, eine ganz neue Psychose aus- 
l6st. Weil die affektive Reaktionsf&higkeit des kranken Individuums 
ihre Hemmungslosigkeit verloren hat, braucht man das ungezugelte 
Losfahren bei Berubrung seiner Wahnideen nicht mehr zu furchten. 
Die psychologiscbe Tatsache der Gew&hnung kommt hier zur vollen 
Geltung, da sie infolge ihrer AUgemeinheit die normal psychologiscbe 
Handlungsweise ebenso wie die psycho-pathologische unter sich fasst. 
Dass trotz der eingetretenen Beruhigung keine Krankheitseinsicht sich 
entwickelt? Weil sich gleichzeitig Schwachung der Assoziationsfahig- 
keit eingestellt hat, welche die Verminderung an affektiver Erregbar- 
keit wieder quitt macht. Was die individuelle Luziditat auf der einen 
Seite gewann, verlor sie auf einer anderen reicblich, so dass das Ge- 
samtresumee bei den erwahnten Zustanden eigentlich dasselbe geblieben 
ist und die allgetneine Eignung zur Ausbildung von Krankheitseinsicht 
sich nicht erhtiht hat. 

F. Ch. E., geboren 1879, verheiratet, Anstreichergehilfe, aufgenommen 
15. 9. 1917. 

Aus der Vorgeschiohte ist zu erwabnen, dass der Kranke sehon von 1905 
bis 1909 in einer galizischen Irrenanstalt interniert war, wegen „Stimmen- 
horens 44 , welches in den letzten 9 Monaten seines dortigep Aufenthaltes voll- 
standig verscbwand. Schon im einen fruheren Jabre war er nach einjabriger 


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Dr. Ernst Herzig, 


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Militardienstzeit daaernd wegen Geisteskrankheit beurlaubt worden. Die An- 
gaben, welohe der Kranke iiber die damals bestanden habenden Symptome 
macht, sind so verschwommen, dass man sich nicht einmai darfiber klar werden 
kann, ob Sinnestauschungen bestanden oder nicht. 

Bei seiner Einruckung zur Kriegsdienstleistung als Feldgendarm sei er 
nach seiner Meinang geistig vollkommen gesund gewesen, in jener Verfassung, 
in welcher er die erwahnto Irrenanstalt verlassen hatte und seitdem seinem 
Berufe nachgegangen war. Bis zum Spatsommer 1916 hatte er keinen Anstand 
im Dienste. Da aber begann wieder das Stimmenhoren; er mfisse davon auch 
seinen Kameraden erzahlt und diese dem Rittmeister Meldung gemacht haben. 
Letzteror bestimmte ihn zum llapporte und sc-bickte ihn vom Fleck weg in die 
Irrenabteilung eines Lubliner Spitales. Nach dreimonatigem Aufenthalte dort 
wurde or in seine Heimat beurlaubt und wahrend des Urlaubs aus dem Miiitar- 
verbande ausgeschieden. Wahrend dos Spitalaufenthaltes Schwinden der Stimmen, 
so dass er wieder eine Arbeit aufnehmen konnte in einer Papierfabrik in der 
Nahe Wiens. 

Naoh ungefahr lOmonatiger Pause begannen im August 1917 wieder die 
Belastigungen durch die Stimmen, welche nach Art und Inhalt des friiher Ge- 
horten ganz analog waren. Nach der ietzteren Richtung sind sie charakterisiert 
als Beschimpfungen und ekelhafte Kritiken seiner Handlungsweise. Wenn er 
zu Zeiten innerer Ruhe fiber die Stimmen nachdenke, komme er dazu, sie als 
Krankheitserscheinungen seines Gehirns zu erkennen, und nehme sich fest vor, 
sich durch sie zu keiner Reaktion hinreissen zu lassen. Trotz alledem gelinge 
es ihm in den entscheidenden Momenten nie, seinem Vorsatze treu zu bleiben, 
bis nach Ablauf eines inneren schweren Druckes innere Erleichterung, Beruhi- 
gung eintrete und die Stimmen von selbst schwinden. Der jedesmalige Anlass 
zum Auftreten werde durch vorhergegangene gemfitliche Erregungen gegeben. 
Vor seiner Intemierung in Lublin war er durch vielen und strengen Dienst in 
seinen Nerven geschadigt worden; seiner letzten waren Aufregungen wegen 
der durch die Teuerung geschaffenen Notlage seiner Familie vorangegangen. 

Das hauptsachlichst Unlusterzeugende bei diesen Kranken war allerdings 
durch den negativen Inhalt seiner Stimmen gegeben; er ist sich auch bewusst, 
dass gerade durch diese Stimmen seine Leistungsfahigkeit beschrankt werde. 
Er besitzt aber auoh zeitweise eine vollkommene Einsicht in die Krankhaftig- 
keit jenes psyohisohen Vorganges, den er wie Halluzinanten oft als Stimmen¬ 
horen bezeichnet; welches er aber wegen mangelnder Selbstbeherrschung nicht 
unterdrficken kann. 

Krankheitseinsicht lfisst sich immer erwarten, solange die Heftig- 
keit der gemutlichen Erregungen die intellektuellen Vorgfinge nicht in 
dem Grade verwirrt, dass letztere in objektiv richtiger Art zustande 
kommen. Insbesondere bei geringgradig affektiven Stdrungen ist daher 
oft ein Verstfindnis fur den bestehenden gemutlichen Defekt vorhanden, 
ohne dass die aus diesem Verstfindnis erwachsenden sittlichen Motive 
eine derartige Kraft erlangen, dass das Individuum den Geffihlsantrieben 


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Ueber Krankheitseinsicht. 


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Widerstand leisten kann, indem jene sittlichen Motive auf Art und 
Richtung der durch diese Antriebe ausgeldsten Handlung entscheidend 
einwirken. Die Handlungsweise des Individuums bleibt eine krankhafte. 

Dass krankhafte intellektnelle Vorgange selbst in ihrer Krankhaftig- 
keit -erkannt werden, erscheint von vornherein dem psychologischen 
Verstftndnisse unuberwindllche Scbwierigkeiten bietend, verst&ndlich in 
dem Momente, da man sich vorhttlt, dass der Eranke ja nicht zu alien 
Zeitpunkten der Krankheitsdauer in gleicher Weise seinen psycho-patho- 
logischen VorgSngen gegenubersteht. Abgesehen davon, dass in letzter 
Linie die habitnelle psychiscbe Eigenart for das Auftreten und fur die 
Art der auftretenden Krankheitseinsicht massgebend ist, ist auch bei 
den sogenannten intellektuellen Psychosen die Gruudlage die gemut- 
liche Aenderung. Tritt dieselbe zuruck, dann muss unter alien Urn- 
stinden die nur unterdruckte, aber nie aufgehobene naturliche Betati* 
gung der Psyche sich auch darin aussern, dass sie den objektiv krank- 
haften Vorgang auch subjektiv als solchen bewertet. 


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VII. 

Suggestion und psychische Infektion. 

Yon 

Dr. S. Galant (Bem-Belp). 

In der Literatur ist unseres Wissens bis jetzt keine strikte Grenze 
zwiscben Suggestion und psychischer Infektion gezogen worden. Manche 
Autoren werfen sogar beide Begriffe in einen Topf, und fur sie sind 
Suggestion und psychische Infektion zwei Worte fur ein and denselben 
Begriff. Fiir LOwenfeld ist psychische Infektion „die Oebertragung 
von Ideen von Person zu Person" und unterscheidet sich sonst in nichts 
von der Suggestion, die am meisten und besten durch die ttgliche 
Presse ausgeubt werden soli 1 ). Andererseits kastriert derselbe Autor 
den Begriff der Infektion auf psychischem G6biet, indem er ihr den 
eigentlichen medizinischen Sinn wegnimmt. Er sagt: „Mut und Kalt- 
blutigkeit wirken erfreulicher Weise nicht minder ansteckend wie Feig- 
heit und Ratlosigkeit" (1. c.). Die psychische Infektion ist also nicht 
beklagenswert: wenn sie ihre schlechten Seiten hat, so hat sie auch 
ihre guten, wie alles andere in der Welt. Sie ist eine Erscheinung, 
die wir nicht etwa bek&mpfen mussen, vielleicht sogar nicht durfen, 
denn wir hatten uns eines Mittels beraubt, urn das Gute in der Welt 
zu pflanzen. 

Wir wollen daher in diesem kurzen Aufsatze versuchen, die zwei 
Begriffe zu analysieren, um uns klarzulegen, um welche psychischen 
Prozesse es sich bei der Suggestion und bei der psychischen Infektion 
handelt. Wenn es sich in beiden Fallen um ein und denselben psy¬ 
chischen Prozess handeln sollte, so werden wir berechtigt sein die beiden 
Worte zu identifizieren, wie es bisher geschehen ist. Im anderen Falle 
werden wir auf Grand der entdeckten Unterschiede eine strenge Grenze 
zwischen beiden Begriffen durchfuhren mussen. 


1) Lowenfeld, Psycbopathia gallica. Grenzfragen des Nerven- und 
Seelenlebens. Heft 100. 


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Suggestion und psychische Infektion. 


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Was ist Suggestion? 

Eine kurz zusammengefasste Definition fiir diesen Begriff zu pr&gen 
ist gar nicht leicht, vielleicht verwegen, und wenn wir doch wagen 
eine solche zu geben, so geschieht es nur deshalb, weii wir bier keine 
Anspruche auf Vollst&ndigkeit erheben und nur die Prinzipien der Sug¬ 
gestion, so wie wir sie uns vorstellen, kurz ausdriicken wollen. 

Wir verstehen unter Suggestion (Suggestibilit&t) eine angeborene 
thymopsychische Eigenschaft unseres Geistes, dank weicher 
wir auf affektivem Wege Ideen verschiedenster Natur ver- 
dauen kCnneu und sie zu einem der Elemente unseres ich 
assimilieren. 

Die Definition ist nicht so kurz atisgefallen wie wir uns dachten, 
und enth&lt mOglicher Weise auch manche duukle Punkte. Wir wollen 
sie erl&utern. 

Die Suggestion ist angeboren. Dieser Satz ist leicht zu beweisen, 
wenn, wie wir es gemacht haben, die Suggestion, als ein affektiver 
Vorgang und nur als solcher aufgefasst wird. Eine inteilektuelle oder 
noopsychiscbe Suggestion existiert uuserer Meinung nacb uberhaupt nicht. 
Einer der besten Tbeoretiker dieser Art Suggestion ist Max Nordau 1 ). 
Dieser Autor behauptet, die geistige Entwicklung der Menschbeit sei 
eine Suggestion, die vom Genie ausgeht und der die ganze Menschheit 
sich unterwerfe. WOrtlich heisst es dort: „Das Genie denkt, urteilt, 
will und handelt fur die Menschbeit, es verarbeitet Eindriicke zu Vor- 
stellungen, es err&t die Gesetze, deren Ausdruck die Erscheinungen 
sind, es antwortet auf die &usseren Anregungen mit zweckm&ssigen 
Bewegungen und bereicbert fortwfthrend den Inhalt des Bewusstseins. 
Die Mehrbeit tut nichts anderes als das Genie nachzuabmen; sie 
wiederholt, was das Genie vorgetan hat. Die Tollkommen normal ge- 
bildeten, gut und gleichm&ssig entwickelten Individuen tun es sofort 
and erreichen ann&hernd das Muster. Man nennt sie Talente. Die in 
einer oder der anderen Richtung zuruckgebliebenen, an die Durch- 
schnittsmasse des jeweiligen Menschentyps nicht heranreichenden Indiv 
viduen gelangen erst sp&ter und muhsam dazu, und ihre Nachahmung 
ist weder geschickt noch treu. Das sind die Philister.“ 

Die Nachahmung, von der oben die Rede war, bezeiebnet Nordau 
als Suggestion. „Was ist aber das Wesen der Suggestion und auf 
welche Weise kommt sie zustande u , fragt sich der Autor selbst. Die 
Antwort ist eine Hypothese. Suggestion ist die Oebertragung der Mole- 
kularbewegungen eines Gehirns auf ein anderes in der Weise, wie eine 

1) Max Nordau, Paradoxa. Zweite Auflage. Leipzig 1888. 

ArekiT f. Psychiatri*. Bd.60. Hffl 1. 


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Dr. S. G&lant, 

Saite ibre Schwingungen auf eine benachbarte Saite ubertrigt, wie 
eine beisse Eisenstange, wenn man sie gegen eine k&ltere halt dieser 
ihre eigene Molekularbewegungen mitteilt. Da alle Vorstellungen, Dr- 
teile und Emotionen Bewegungsvorg&nge der Hirumolekule sind, so 
werden naturlicb durch die Uebertragung dej Molekularbewegungen aucb 
die Urteile, Vorstellungen und Emotionen ubertragen, deren mecbanische 
Unterlage jene Bewegungen sind. 

Nordau entwickelt also eine Molekulartheorie auf psychischem 
Gebiet. Die Psyche ist fur ihn etwas physikalisch Fassbares. Es gibt 
„Molekule“ von Urteilen, Vorstellungen und Emotionen usw., und diese 
Urteils-, Vorstellungs- und Emotionsmolekule kommen eben in Bewegung, 
wenn identische Molekule eines anderen Gehirns sie in Schwingung 
bringen. Eine recbt phantastiscbe Hypothese, die zu kritisieren kaum 
der Muhe wert ist. 

Wir kSnnen diese Theorie, die darnm entstanden ist, weil ibr Autor 
offenbar bestrebt war, eine noopsychische Suggestion zustande zu bringen, 
obne weiteres verwerfen und uns dem Problem der thymopsychiscben 
Suggestion zuwenden. 

Die Suggestion, wie wir sie versteben (wir wiederbolen es noch 
einmal), ist angeboren. Davon sicb zu uberzeugen ist leicbt, wenn man 
die Entwicklung der menschlichen Psyche vom S&uglingsalter her ver- 
folgt. 

Die ersten Anf&nge der Suggestion sind schon ini fruhen S&uglings- 
alter zu konstatieren. Wir konnten es bei folgendem Anlass feststellen. 
Wir untersuchten in der Frauenklinik S&uglinge, die nicht uber 14 Tage 
alt waren, auf Reflexe. Wir waren imstande zu beobachten, wie manche 
Sauglinge schon mit dem 4. — 6. Tage auf ein lachendes Gesicht mit 
einem deutlichen L&cheln reagierten. Ein besonders empfindlicher 
Sftugling stiess bei der Untersuchung der Sohlenreflexe, gegen die die 
S&uglinge sehr empfindlich sind, ausserordentlich starke Schreie aus. 
Nach einigen Minuten baben alle Sauglinge, die im Saal waren (6, von 
ihnen einige, die bloss ein und zwei Tage alt waren) mitgeschrieen. 
Solcbe und ahnliche Tatsachen konnten wir Tag fur Tag beobachten. 

Diese primiiren Aeusserungen der Suggestion im fruhen S&uglings- 
alter sind rein affektive. Nur Affekte und zwar sehr starke (lautes 
Lachen, intensives Weinen) werden von dem SSugling durch Vermittlung 
der Suggestion beantwortet. Leichte Affekte oder affektbetonte Worte, 
ein heiterer oder trauriger Gesichtsausdruck rufen bei dem Singling 
keine Reaktion hervor. 

Mit der geistigen Entwicklung entwickelt sich aucb die angeborene 
Eigenschaft der Suggestion allmfihlich. Die Suggestion braucht schon 


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Suggestion and psychischo Infektion. 


211 


nicht mebr bis zum Extrem gesteigorte Affekto. Affekte leichterer Art, 
oder nor affektbetonte Worte genugen, um suggestiv auf ein Kind von 
5—7 Monaten zn wirken. So genfigt es z. B., dass man den Zeigefinger 
an die Nasenspitze bringt und dem 5 Monate alten Kind dabei im leicht 
drobenden Tone „Nn-nu-nu“ zuruft; wie man es in der Kinderstube 
macht, und das Kiod fangt an bitterlich zu weinen. 

Je weiter die psychische Entwicklung vor sich gebt, deato weiter 
gebt die Suggestion, so dass schliesslicb ein hocbintelligenter Mensch 
keine eigentlicbe Affektivit&t seitens des Suggestors mebr braucbt, um 
•eine Ideen aufzufassen und versteben zu kOnnen. Denn jedes Wort, 
wenn es auch nicht affektbetont gesprochen wird, bat in sich eine ge- 
wisse suggestive Kraft durcb den Begriff oder die Vorstellung, die da- 
binter stecken, nnd die immer von einem Affekt begleitet sind. Diese 
(Begriffe und Vorstellungen) sind beim intelligenten Menschen so gut 
entwickelt, dass ein Wort oder Wortkomplexe (Satae) ohne jeden Affekt 
vorgetragen, doch die entsprechendeu Vorstellungen hervorrufen und doit 
ibnen die Affekte, die an ibnen haften, d. b. sie wirken auf den ZuliOrer 
affektiv, so dass sie ihm leicht verstandlich und klar werden. 

So tritt allmahlich die Suggestion von rein affektivem Gebiet im 
Sanglingsalter auf das rein intellektuelle im vorgeruckten Alter, aber 
auch dann wirkt die Suggestion nur durch jenen kleinen Teil Affektivitat, 
der im Worte versteckt ist. Je intelligenter der Mensch ist, desto 
starker werden bei ihm die Begriffe, die hinter den Worten verborgen 
aind, ekpboriert, desto starker wird der Affekt belebt, desto mehr 
werden die Gedanken anderer, die durch die WOrter ausgedruckt sind, 
klarer, aflfektbetonter, nnd wenn sie auch nicht genugend affektbetont 
vorgetragen werden, wirken sie doch auf den intelligenten ZuhOrer 
affektiv, d. h. suggestiv. 

Das ist der Begriff der normalen oder (aus Grunden, die wir gleich 
beflser erOrtern werden) sekundaren Suggestion in ihrer Entwicklung. 
Je intelligenter ein Mensch ist, desto starker ist bei ihm die Suggestion 
entwickelt, so dass er sich von dem ausseren Affekt des Sprechenden, 
des Suggestors, nicht verleiten lasst, sondern kontrolliert durch die 
Affekte, die die Gedanken der anderen in ihm erweckt haben, das Vor- 
getragene, das durch die erweckten Affekte zuganglicher nnd verstand- 
licher wird. 

Die sekundare Suggestion ist desto starker entwickelt, je 
hOher das Individuum auf der intellektuellen Stufe steht. 

Wir sind also zu einem ganz anderen Begriffe der Suggestion ge- 
kommen, einem Begriffe, der bis jetzt nicht ausgesprochen worden ist. 
Bis jetzt ist unter Suggestion allgemein die kritiklose Dnterwerfung 

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Dr. S. Oalant, 


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unter den Willen des Suggestors oder kritiklose Aufnahme seiner Ideen 
verstanden worden. Diese Art Suggestion 1st bis zum gewissen Grade 
als etwas normales betrachtet worden und wurde als therapeutisches 
Mittel verwendet. Dabei sol] die Suggestion am st&rksten bei dem 
willensschwachen Menschen wirken. Diese Art Suggestion werden wir 
noch besprecheu, sie gehort aber nicht zu der normalen sekundSren 
Suggestion, die ihre Quelle in der Vortellungskraft des Individuums 
hat. Am besten sieht man das bei Rindem, die ihre GefUhle nicht 
b&ndigen kbnnen. Es genugt, einem Einde in dem gleichg&ltigsten 
Tone das Wort „Bonbon" zn sagen, urn in ihm einen starken Affekt 
hervorzurufen, suggerieren. Beim intelligenten Erwachsenen sugge- 
riereu die Worte mit abstrakten Begriffen Affekte, ahnlich wie „Bonbon" 
beim Kinde, und dadurch werden die Begriffe noch deutlicher ekphoriert, 
regen das Denken auf das intensivste an und machen die Begriffe sehr 
verst&ndlich. Aber eine hohe Intel I i gen z ist dazu notwendig, um von 
vornherein die Begriffe, die binter den Worten stecken, wenigstens 
dunkel sich vorstellen zu kbnnen, damit der Affekt hervorgerufen wird 
und durch seine Kraft das Dunkle beleuchtet. 

Von diesem Standpunkte aus kbnnen wir nicht mit Bleuler sagen: 
„Ideen ohne begleitenden Affekt wirken nicht suggestiv" 1 ). Eben Ideen, 
die ohne begleitenden Affekt aufgenommen und assimiliert werden (wir 
wurden sagen suggeriert werden) sind unserer Meinung nach die wirk- 
lich suggestiv wirkendeD. 

Man wird vielleicht erwidem, dass unsere sekund&re Suggestion 
schliesslich eine mehr intellektuelle als affektive sei, denn wir sagen 
ja, dass das Wort eine Vorstellung bei dem Hbrenden wenigstens dunkel 
ekphoriert, dann kommt noch der Affekt dazu und belebt das Bild. 
Es ist aber insofern unmdglich die Sache so aufzufassen, als eine Vor¬ 
stellung an sich ein affektiver Vorgang ist (vgl. Beispiel von „Bonbon“) 
und das Denken als solches auf affektiver Basis beruht. Zuerst kommt 
die Vorstellung, die durch weiteres Mass von Affekt sich in einen 
Begriff umwandelt, und die klaren Begriffe ermoglichen das weitere 
Denken. Das Denken ist also im Grunde genommen ein affek¬ 
tiver Vorgang. 

Ein mehr oder weniger rein intellektueller Vorgang w&re das Ur- 
teilen, das ubrigens durch die affektive Richtung des Individuums be- 
stimmt ist. Ein Mensch kann in alien mbglichen Richtungen denken, 
urteilt aber nur in einer Richtung, n&mlich in der, die durch jene 
Begriffe bedingt ist, die mit angenehmen oder weniger unangenehmen 


1) Bleuler, Lehrbuoh der Psychiatrie. S. 31. Springer, Berlin 1916. 


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Suggestion and psychiscbe Infektion. 


213 


Affekten verbunden sind. Darch ‘ das Urteilen kommen die Meinungs- 
verschiedenheiten der Menschen zastande, indem bei dem einen diese, 
bei dem anderen jene Begriffe von angenehmen Affekten begleitet 
werden, und in der Richtung der „angeuehmen“ Begriffe urteilt der 
Betreffende, failt sein Urteil. Bine Diskossion ist darum ein intellek- 
taeller Vorgang, weil die Affekte des Diskutierenden schon vorbedingt 
sind and nar noch die intellektaelle Fabigkeit, der Reich turn-- an Asso- 
ziationen, eine Rolle spielt. — 

Neben der sekund&ren Suggestion, die durch die hohe geistige 
Entwicklang des Individuams bis auf ibren Gipfel getrieben werden 
kann, unterscheiden wir die prim&re Suggestion, das ist diejenige, 
die aaf dem Stadium der fruhen Jugend steben geblieben ist und die 
der sekund&ren Suggestion wenig Raum fur ibr Spiel gelasseu bat 
Die Suggestion hat aus irgend welcbem Grunde, der sich haupts&chlich 
in einer geistigen SchwSche des Individuams birgt, ihre normale Ent¬ 
wicklang nicht durchmachen kSnnen und ist, wie gesagt, auf einer 
niedrigen Stufe steben geblieben. Die prim are Suggestion ist diejenige, 
▼on der bis jetzt allgemein in der Psychologic und der Psycbiatrie ge- 
sprochen worden ist. Das Charakteristische fur diese Art Suggestion 
ist, dass das Individuum sich von dem ausseren Affekt des Sug- 
gestors ohne weiteres hinleiten lasst, ohne dass die Idee, die 
dabei geaussert wird, genugend aufgefasst oder sogar kontrolliert wird. 
Der aussere Affekt wirkt auf das Individuum und nicht jene indi- 
▼ iduellen Affekte, die hervorgerufen werden sollten durcb die Vor- 
stellangen und Begriffe selbst. Damit erklart es sich leicht, warum 
der Durchschnittsmensch durch eine „feurige“ Predigt uberzeugt wird, 
dass er von nun ab froram und gut sein werde, aber schon am nachsten 
Tage Sacben begeht, die dem Sinne der Predigt ganz widersprechen. 
Denn er hat die Predigt in Wirklicbkeit gar nicht aufgefasst (sie ist 
ihm durch den Inhalt nicht suggeriert worden), sondern der aussere 
Affekt, der die Predigt begleitet hat, der hat auf ihn momentan ein- 
gewirkt, und der Zuhbrer, der den ausseren Affekt als einen solchen. 
der angenebme Empfindungen begleitet, gefuhlt hat, meinte die vor- 
getragenen Ideen waren seine eigenen, denn der aussere Affekt ist auf 
ibn Gbertragen worden. Mit dem Affekt ist aber auch die Idee, die 
gar nicht suggeriert worden ist, verschwunden. Wenn der suggerierte 
Affekt (der aussere Affekt, nicht die Idee!) ein sehr starker war, so 
kann er noch einige Zeit nachwirken, verliert aber scbliesslich doch 
seine suggestive Kraft, wabrenddem eine wirklich suggerierte Idee, die 
mit den Anschauungen des Individuums ubereiustimmt, von dem letzteren 
assimiliert wird und fur immer sein geistiges Eigentum bleibt. 


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Dr. S. Galant, 


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Die prim&re Suggestion ist die dominierende bei den meisteo 
Menschen. W&hrend die sekund&re, hOhere Art Suggestion bis sum 
gewissen Grade mit der Intel ligenz fest verbanden ist und eine so za 
sagen bedingte ist, ist die prim&re Suggestion diejenige, die das Indi- 
viduum mit auf die Welt gebracht bat und fur deren Entwicklung er 
keine Sorge tragen musste: Die sekund&re Suggestion ist in dem Sinne 
angeboren wie die Sprache angeboren ist. Der Menscb kommt auf die 
Welt obne Sprache und akquiriert sie erst nacb einiger Zeit. Nichts- 
destoweniger sagen wir von der Eigenschaft der Sprache, dass sie dem 
Menschen angeboren sei. So steht es aucb mit der sekund&ren Sug¬ 
gestion, die ihre Entwicklung, wenigstens in fruher Jugend, parallel 
mit der Sprache durchmacht, die eine hOhere Stufe der ersten nicht 
artikulierten Laute des S&uglings ist. Beim Tier bleibt die Suggestion 
auf dem ersten Stadium: Die Tiere besitzen eine prim&re Sug¬ 
gestion. Die bChere Art Suggestion ist bei den Tieren nicht vor- 
handen, da sie keine Spracbe besitzen, mit der die sekund&re 
Suggestion eng verbunden ist und ohne die sie uberhaupt nicht 
existieren kano. 

Die Geschichte, so wie sie bis jetzt ihre Entwicklung durcbgemacht 
hat, ist ein Produkt der prim&ren Suggestion. Der Menge, die eigent- 
lich die Geschichte macht, ist diese Ieichter zug&nglich. Die ver- 
schiedenen Reformatoren, Religionsstifter, Philosophen wirken auf sie 
nur durch den &usseren Affekt, der die Masse zu der oder jener Tat 
anfeuert, und die durch den allgemein provozierten „Willen“ geheiligt 
wird. Der Sussere Affekt der Menge ist aber so stajjc, dass er die 
einzelnen Individuen mit der hochentwickelten sekund&ren Suggestion 
sich unteijocht, und so kommt es, dass auch bochintelligente Leute 
gegen ihre Ueberzeugungen mit dem Strom schwimmen, da sie den 
wogenden Wellen der Menge nicht widerstehen kOnnen. 

Wir sehen also, dass niemand von der prim&ren Suggestion ganz 
frei ist. Der Besitzer der hochentwickelten sesund&ren Suggestion aber 
uberwindet durch diese letztere die prim&re und nur in Ausnahme- 
f&llen kommt es zu einem Sieg der prim&ren Suggestion. Auch haben 
andererseits alle Menschen mehr oder weniger von der sekund&ren 
Suggestion. Nur die Oligophrenen (Imbezille, Idioten usw). sind sehr 
oft der sekund&ren Suggestion ganz beraubt, und sie befinden sich fast 
ausschliesslich unter Wirkung der prim&ren Suggestion. Sie lassen sich 
ohne weiteres von dem ftusseren Affekt des Sprechenden lei ten, und ihr 
eigener Affekt wechselt so oft als jener des Suggestors. Darum spricht 
man von der gut erhaltenen Affektivit&t der Oliphrogenen, die aber 
im Grunde genommen maschinenm&ssig vor sich geht, und die nur so 


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Suggestion and psychische Infektion. 


215 


■weit den Namen der AffektivitSt verdient, als wir sie beim S&ugling 
and jangen Kinde vor unseren Aagen haben. 

Bei den F&llen von Dementia praecox, wo die Affektivitat voll- 
standig ausgeldscht ist, stirbt die prim&re wie die sekund&re Suggestion 
ab. Man hat mit ihnen keinen eigentlichen Kontakt, weil sie weder 
die notwendige Vorstellungskraft besitzen, noch der Beeinflussung durch 
den &u£seren Affekt des Suggestors zuganglich sind 

Damit haben wir die fur die Suggestion aufgestellte Definition 
genngend erl&utert. Die primitre wie die sekund&re Suggestion sind 
rein affektive Vorgange. Die prim&re Suggestion ist angeboren und 
wie den Menschen so anch den Tieren eigen. Die sekund&re Suggestion 
hat sich aus der prim&ren entwickelt parallel mit der Sprache, und da 
sie sich aus der ersteren (prim&ren Suggestion) entwickelt hat, so be- 
ruht sie selbstverst&ndlich auf derselben Basis und ist thymopsychisch, 
wie wir es auch nachgewiesen haben. 

Jetzt kOnnen wir uns dero Begriffe der psychischen Infektion zu- 
wenden. 

1st die psychische Infektion mit der Suggestion identisch? 

Durchaus nicht. Der Hauptunterschied ist der, dass die psychische 
infektion, wie der Begriff fur sich selbst spricht, nicht angeboren sein 
kann, soudern pr&sentiert etwas, das erworben ist. Gine Infektion ist 
das, was nicht sein soil, was vermieden wird, wogegen wir uns mit 
alien Kraften str&uben. Gine Infektion ist, was gelegentlich eintreteu 
und was eben so schnell verschwiuden kann. Der Suggestion sind wir 
aber iinmer unterworfen: ohne Suggestion ist kein psychisches Leben 
mfiglich. 

Alle anderen Unterschiede, die zwischen Suggestion und psychischer 
Infektion existieren, werden von selbst zum Vorschein kommeu, wenn 
wir fur die psychische Infektion folgende Definition schaffen. 

Die psychische Infektion ist eine imbezille Neophilie, 
die iliren Ursprung haup ts&cblich in der krankhaften Affek- 
tivitit des Individuums nimmt. 

Das Streben nach neuen Gindrucken ist im allgemeiuen eine er- 
freuliche Gigenscbaft der mendchlichen Psyche. OhDe dieses Streben 
wurde das Individuum kaum vorw&rts kommen. Bei normalen Menscben 
aber ist dieses Streben durch seine individueile Gutwicklung sozusagen 
vorbediugt. Sein Streben nach Neuem ist in gewisse Bahnen, die durch 
seine Bildung, seine interessen, seine Stellung in der Gesellschaft be- 
stimmt sind, gelenkt. Die Neophilie aber, besonders die imbezille Neo- 
phitie ist ein Streben nach Neuem, das nicht von innen herkommt, 
nicht durch die Grziehung und das Milieu bedingt ist, sondern eine 


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Dr. S. Galant, 


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Last darstellt neue, nicht erprobte Empfindungen zu haben, in andere 
Situationen zu geraten, etwas zu machen, das die anderen nicht tun 
und das darum die anderen in Aufregung bringt, in Schrecken versetzt, 
Abscbeu erweckt. Die imbezille Neophilie wird ausschliesslich, 
durch Sussere Einwirkungen bedingt, weil der Imbezill-Neopbile keine 
festen Prinzipien hat, nach denen er vorgehen soil. Darum ist es auch 
leicht erkl&rlich, warum die imbezille Neophilie, also die psychische 
Infektion, besonders stark bei Geisteskranken entwickelt ist, wo das 
Seelenleben stark zerruttet ist, keinen festen Boden unter den Fussen 
hat und geneigt ist alles nachzuahmen. Die imbezille Neophilie ist 
meist eine kritiklose Nachahmung. 

Der Grundunterschied aber zwischen Suggestion und psychiscber 
Infektion besteht darin, dass die letztere nicbt von der Affektivit&t ge- 
leitet wird, wie es bei der Suggestion der Fall ist. Der Affekt des 
Nachgeahmten spielt bei dem Nachahmer, Her Infektion Unterworfenen, 
auch nicht die geringste Rolle. Er vollfuhrt die Tat, wenn auch die 
Affekt&usserung des Nachgeahmten ihn von der Tat abschrecken sollte. 

Wir wollen es an folgenden Beispielen klarlegen. 

Eine schwere Katatonika muss regel mSssig gefuttert werden; der 
Akt ist ihr sehr unangenehm und sie scbreit with rend der Futterung 
furchterlich. Nach der Art, wie Patientin scbreit, ist ohne weiteres zu 
urteilen, dass das Futtern ihr nicht viel Vergnugen roacht. Ihr Ver- 
halten sollte die anderen warnen in eine solche Situation zu gelangen. 

Eine andere Katatonika, die die Szene ansieht, und die, der 
Husseren Affektivit&t der Gefutterten nach, einsehen konnte, dass das 
Futtern unangenehm sei, verlangt trotzdem jedesmal bei der Visite 
gefuttert zu werden. Patientin motiviert ibr Verlangen damit, dass die 
Mitpatientinnen ihr Vorwurfe machen, sie sei gefr&ssig. Wenn sie aber ge¬ 
futtert wird, so wird es fur die anderen ein Zeichen sein, dass sie zu 
wenig esse, und sie wird auf solche Weise von den Vorwurfen befreit werden. 

Es handelt sich in diesem Falle um eine psychische Infektion. Die 
Sache mit den Vorwurfen, die die Kranke vorbringt, ist eine einfache 
Erfindung. Die Patientin sehnt sich nach einem neuen Erlebnisse, und 
da sie schon genug verblddet ist, um sich was SchSnes auszudeuken 
(die Kranke meint sie sei „une bfite“. — Pourquoi? „Parce que je 
fais des betises“), so mbchte sie die Futterung erproben, ganz gleich, 
ob sie angenehm oder unangenehm sei. Dass es so ist, ist daran zu 
sehen, dass Patientin, deren Wunsch nicht erfullt wurde, etwas anderes 
gefunden bat, um nachzuahmen. Sie hat n&mlich gesehen, wie die oben- 
erw&hnte Katatonika ihr Gesicht mit Kot beschmiert hat, und sie eilt 
es nachzuahmen. 


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Suggestion and psychische Infektion. 


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Letzte Zeit abmt dieselbe Patientin eine Haarzupferin nacb und zupft 
den ganzen Tag ibre Haare, so dass sie schon eine grosse Glatze hat. 

Ein ahnlicher sehr interessanter Fall ist bei Bleuler erw&hnt, 
bloss hat ihn Bleuler 1 2 ) mit dem richtigen Namen nicht belegt. Ein 
KatatoDiker sieht zu, wie sein Nachbar gefuttert wird, wie dieser sich 
gegen die Futterung auf allerlei Weise str&ubt und eineu qualvollen 
Affekt Sussert. Die ganze Szene regt ihn absolut uicht auf. Er isst 
von nun ab nicht und muss gefuttert werden, wobei er sich ausserst 
rubig verh&lt. Gefragt, warum er sich fiittcrn lasst, antwortet Patient, 
er mflchte zeigen, dass er nicht geisteskrank sei, wie sein Nachbar, der 
blddsinniger Weise sich gegen die Futterung wehrt. 

Auf die Motivierung des Kranken brauchen wir nicht weiter einzu- 
gehen. Es ist selten, dass ein tief verblOdeter Katatoniker sein Benehmeu 
nieht begrilndet h&tte*). Es handelt sich wiederum um eine psychische 
Iofektion, die so stark war, dass Patientin sich dem Hunger unter- 
worfen hat um seine imbeziile Neophilie zu befriedigen. 

Etwas ahnliches haben wir in folgetidcm Fall. Ein ziemlich stark 
verblddeter Epileptiker, der sonst uuzuganglich ist und keine Untersuchung 
auf sich gehen lasst, wird von uns zusammen mit anderen Epileptikeru 
zur Prufung auf die Reflexe genommen. Patient sieht mit scheinbareni 
Interesse zu, wie einige Versuchspersonen sich gegen das Experiment 
wehren und Wehlaute ausstossen. Mcrkwiirdigcr Weise verhiilt sich 
unser Epileptiker, als die Reihe an ihn kam, vollst&ndig ruhig und 
lasst auf sich ohne Widerstreben alles gehen. Als wir aber nacb einigen 
Tagen das Experiment mit dem Patienten wiederholen wollten, so 
wehrtc er sich so viel er konnte und iiess sich nicht untersucheu. Er 
hatte es mit einem Male genug, seine Neophilie war befriedigt. 

Ein anderes schfines Beispiel fiir die psychische Infektion wiire 
noch folgendes. Eine Imbeziile schluckt Nadeln. Sie ist" eine Kunst- 
lerin auf diesem Gebiet, schluckt sechzig und mehr Nadeln auf einmal 


1) Bleuler, Dementia praecox, in Ascbaffenburg’s Handbucb der Psy¬ 
chiatric. 

2) Wir fubren bier einige Beispiele von Begrundung bei der Dementia 
■ praecox an, die zeigen, wie die Kranken motivieren, bloss um zu motivieren. — 

Ein Patient vorlangt, man soil ibm die Zahne aus dem Munde zieben. (Warum?) 
— Damit ich weiter reiseb kann. (Warum?) — Weil meine Verwandten es 
wollen. (Warum?) — Damit ich ohne Zahne bin. (Warum?) — Mein Onkel 
in Buenos-Aires will es aucb. — Ein Katatoniker will entlassen werden. 
(Warum wollen Sie hinans?) — Deswegen weil ich da bin, sollte man mich 
berauslassen. — Eine Patientin pfliickt Blumon vom Rasen, was sie nicht tun 
sollte. (Warum pOucken Sie die Blumen, es ist verboten.) Jetzt ist Ferieu usw. 


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Dr. S. Galant, Suggestion und psychische Infektion. 


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ohne sich zu verletzen. Patientin gibt an, dass sie beim Schlucken von 
Nadeln eine starke Angst hat. Die Angst findet offenbar ibren Aus* 
druck im Gesicht wkhrend des Aktes. Die Nadelschluckerin sagt einer 
anderen Imbezillen, sie (Nadelschluckerin) musse jetzt Nadeln schlucken. 
Die andere sieht zu und schluckt auch. 

Auch hier, wie in den anderen drei Fallen, bandelt es sich um 
eine psychische Infektion. Von einer Suggestion kann in alien diesen 
Fallen keine Rede sein. Die Suggestion ist, wie gesagt, ein affektiver 
Vorgang, in diesen vier Fallen aber hat die Affektivitat keine Rolle 
gespielt. Die Patienten lassen sich gar nicht durch die Affektivitat der 
Nachgeahmten (in den ersten drei Fallen Schmerz, im letzten Falle 
Angst) leiten. Fur sie kommt nur der Akt als solcher, als etwas Neues 
noch nie Erprobtes in Frage und ihn mussen sie auf sich wirken lassen. 
Die vier Beispiele sind typische Falle von psychiscber Infektion. 

In der Psychiatric sind wir also mit dem Begriffe der Infektion 
viel weiter gekommen als in den anderen Fachern der Medizin. 
Wfthrend *wir auf den anderen Gebieten der Medizin noch nicht wissen, 
worauf die Disposition zur Infektion beruht, kdnnen wir in der Psychi¬ 
atric bestimmt sagen, dass die Disposition zur Infektion in der 
krankhaften Affektivitat sich birgt und darnm am moisten 
bei den Geisteskranken vorkommt. 

Wir glauben an unserem Ziel angelangt zu sein. Wir haben den 
Unterschied zwischen Suggestion und psychischer Infektion feststellen 
kbnnen, wir haben an Hand einiger Beispiele die psychische Infektion in 
ihrer Wirkung demonstrieren kOnnen. Wir kommen also zum Sckluss, dass 
Suggestion und psychische Infektion zwei grundverschiedene 
Erscbeinungen sind, die ihre besonderen Kennzeichen haben 
und die wir von nun an nicht verwechseln durfen. 

Anmerkung. Wir sind in unseren Anschauungen uber Suggestion (Sug¬ 
gestibility) denselben Weg gegangen, den Bleuler in seinem Werke: n Affek- 
tivitat, Suggestibility, Paranoia u , Halle, Marhold, betreten hat. Leider ist 
Bleuler mitten im Wege, wenn nicht gar am Anfang stehen geblieben und 
hat die Konsequenzen, die ohne weiteres aus seinen Ansiohten zu ziehen sind, 
nicht gezogen. Hatte es Bleuler getan, er rnusste zu denselben Resultaten* 
wie wir kommen. 

Unsere Arbeit ist unabhangig von dem oben erwahnten Werke Bleuler’s 
entstanden: erst spater hat uns Bleuler selbst darauf aufmerksam gemacht, 
dass unsere Anschauungen in manchem Punkte mit den seinigen harmonieren. 
Die Tatsache, dass unsere Ansichten mit denen Bleuler’s zum Teil zo- 
sammenfallen, hat uns jene Genugtuung versohafft, die ein Forsoher, wenn er 
seine Resultate von einer anderen erfahrungsreicheren Seite her bestatigt 
sieht, haben kann. 


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vm. 


Zur Pathographie des Immanuel Kant. 

Von 

Friederioh Kanngiesser. 

Ein kablet Zimmer, weiss getttneht und ohne Kant starrt durchs Fenster anf zu dem Komet-en, 
Deo kleinsteo Schmuck. der Leben wfirdig macht Und m&rchenschtta wird jfth der blaoe Blick 
Das einzge Ornament: der dunkle Streifen Des wanderliohen ganz einsamen Mannes, 

Aof roher Bretterdiele, dranf den Weg Des Manns, der handelte vie die Natar, 

Tom Poll zum Bttcherschrank millionen Male Keiner Erziebung f&hig und bedtirftig. 

Kants rubeloser Sohnallensohub gesncbL — Zngleicb notwendig ganz, and ganz auoh frei: 

Non sehiebt derZfferg, gobUckt, onsflglichraager, »Zwei Dingo aind es, die das Herz des Menscben 
SorgUch xnreoht das Kissen auf dem Stahl, Mit immer nener Ehrfurobt anerfUllen: 

Seio Diener legt bebntsam auf die niedre Da fiber mir gestirnter ewger Hiramel, 

Ton bober Schulter seinen Zopf und geht. Und du in mir, da sittliohes Gesetz !* 

Barries, Frh. v. MQnchhausen: Aos dessen Ballade .Die Kometenjahre*. 

Immanuel Kant wurde geboren zu Kdnigsberg am 22. April 1724. 
Die Voreltern v&terlicherseits stammten aus Schottland. Ueber die 
Eltern iiegen keine anamnestischeo Daten von Belang vor. Kant 
selbat war, nach eigener Aussage, weder krank, noch gesund. Er war 
kaum funf Fuss hoch, die rechte Schulter prominierte nach oben und 
hinten, er war skoiiotisch, sein flacher Brustkorb batte Anlage zur 
Trichterbrust. Lateuto Tuberkulose? Bemerkeuswert ist immerhin, dass 
sein R Atem bis in seine letzte Zeit frei war u . Sein Kopf war verh&lt- 
nism&ssig gross. Sein Kbrperbau sehr grazil. Muskulatur atropbisch. 
Keine Fettpolster. Ueber den „g&nzlichen Mangel des Ges5sses“ pflegte 
er selbst zu scherzen. Seine Augen waren myopisch. Seine Stimme 
schwach. Er war unverbeiratet. Seine Moralist streng. Sein Be- 
nehmen war liebenswurdig und gutig. „Das Wort Kindlicbkeit druckt 
den ganzen Kant aus“ meinten zwei seiner Frennde. 

Er raucbte, und trank Wein: beides mfissig. Hingegen schnupfte 
er stark. Bier trank er nie: er hielt es fur ein die Lebensdauer ver- 
.karzendee Gift. So gross sein Interesse fur die Heilkunst war, beson- 
ders fur die Makrobiotik: er wollte an sich selbst seben „wie lange das 
Zeug halt 4 *, so war er doch vom Medizinieren kein Freund: „Alles, 
was in der Apotheke verkauft wird, Pharmakon and Gift sind Syno- 
nyma**. Aosserdem war er Impfgegner. Sein Lebenswandel war sebr 
geregelt; bis,ins hOchste Alter liess er sichGlockenschlag 5 wecken und 


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220 


Friederich Kanngiesser, 


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stand sofort auf; erst um 10 Uhr begab er sicb wieder zur Rube. Er 
hielt 7 dem Schlaf gewidmete Stunden fur geuugend. Ich glaube, dass 
dieses gewaltsame Herausreissen aus dem Scblaf mittelst des kategori- 
schen Imperativs „Du sollst u , desgleichen sein gcradezu sybaritisclies 
Geniessen des Schnupftabaks, gewiss neben dem Hauptmomente des 
hoben Alters, aber immerhin docb eine Rolle mitgespieit hat in der 
Aetiologie der Geistesschw&che w&hrend seiner letzten Lebensjahre. Es 
ist zu verwundern, dass Kant’s „Lebenskunst“ diese Sch&dlichkeiten 
nicht erkannte. Aber er wich nicht von seinen „Maximen“ ab und ver- 
trug keinen Widersprucb, wie er sich auch um die Schriften seiner 
Gegner kaum oder gar nicht kummerte. Ein fur einen Weltweisen son- 
derbares Verhalten. Andererseits darf man seine Prophylaxie: er atmete 
nur durcb die Nase und hutete sich in Schweiss zu geraten, als lebens- 
verlangernd wohl anerkennen. 

Er ass bloss einmal des Tages und zwar reichlich, Bewegung machte 
er sich wenig. Beides lag meines Erachtens nicht im Interesse seiner 
chronischen Intestinalbeschwerden: der Hartleibigkeit und der als Gas- 
troptose des atonischen Magens anzusprechenden Inkommodit&t, von der 
seine Biographen berichten. 

Dass sein fein organisierter Geist durch einen Nachbarshahn oder 
durch das Singen von Insassen eines seiner Wohnung naheliegenden 
GefSngnisses sich bel&stigt fuhlte, ist verstandlich. Doch darubcr 
hinaus konnte er wahrend des Universit&tsvortrags im ruhigen Ab- 
lauf seiner Gedanken gestOrt werden durch das Fehlen eines Knopfs 
bei einem ZuliSrer, ebenso zerstreute ihn ein auffalliges Aeussere 
bei Studenten. Da er beim Teetrinken des Morgens gewohnt war allein 
zu sein, fuhlte er sich bier durch zuf&llige Gegenwart anderer geniert, 
sofem man ihm gegenuber Platz nalim. Ein Nachbar f&llte ihm zu 
lieb eine Pappel, da Kant durch diesen beim Blick vom Fenster zum 
Turm in sein Gesichtsfeld hineingewachsenen Baum in seinen Betrach- 
tungen gestort wurde. Einzelne Begriffe fixierten sich derart in ihm, 
dass er im Gesprach auch unwillkurlich auf sie zuruckkam. In seinem 
letzten Lebensjahr litt er darunter, dass Scherzverse aus seiner Scbul- 
zeit sich ihm zwangsweise aufdr&ngten. Kant war ubertrieben vorsichtig 
und gewissenhaft. So erwtlhnte er z. B. in einer Vorlesung zwar die 
Aqua tofana, aber nicht ihre Zubereitung: „Es kOnnte docb irgend 
einer einmal davon Gebraucb machen u . Die Scherben eines bei Tisch 
zerbrochenen Glases liess er behutsam sammeln und bat seine Freunde 
(nicht den Diener) dieselben nach laugem t gemeinsamem Suchen eines 
„sicheren“ Ortes daselbst tief zu vergraben. 


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Zur Pathographie des Immanuel Kant. 


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Seit 1796 „las und schrieb Kant nicht mehr“. Erst 1799, also in 
seinem 75. Lebensjabre, konnte man die ersten Anffinge des Nachlassens 
seiner Geisteskr&fte beobachten. Er fing an seine Erz&hlungen am 
gleichen Tage zu wiederholen. Die Gegenwart machle auf ibn gerin- 
geren Eindruck, wihrend fur Ereignisse der entfernteren Vorzeit sein 
Ged&chtnis vorzfiglich blieb. Zur Unterstutzung desselben machte er 
sicb in den letzten vier Jahren seines Lebens Denkzettel. Er klagte 
aucb sebr fiber Druckempfindung im Kopf. In den letzten drei Jahren 
kam es hfiufig zu einem Ausgehen oder Stehenbleiben der Gedanken. 
1m Jabre 1802 wurde diese arteriosklerotische Schw&clie bezw. der 
Marasmus senilis manifested Er fiel im Gehen und Stehen, sogar vom 
Stub). Verwechslung der Mfinzen. Desorientierung im eigenen Garten. 

Seit Begiun 1803 wurde er durch (bei seniler Geistesschwficbe so 
bfiofig beobachtete) schreckhafte nfichtliche Halluzinationen bzw. Angst- 
trfinme geplagt. Er glaubte sicb von Rfiubern und Mordern umgeben, 
doch lachte er anderen Tages selbst fiber diese Trfiumereien. Die Ffihig- 
keit klarer Ausdrucksweise verminderte sicb, anch der Sinn ffir das 
Zeitmass verliess ibn. Infolge seiner Schwfiche stellte sich Schlafsucht . 
ein. Die Esslust, das GehOr und die Gescbmacksempfindung stumpften 
ab. Ein steter Drang zum Wasserlassen (Prostatahypertropbie?) wurde 
ihm l&stig. Seit Herbst 1803 konnte er kaum einen Schritt mebr gehen. 
Am 8. Oktober 1803 Schlaganfall. Danacb drfickte er sich nur noch 
sebr unverst&ndlich aus, bloss fiber naturwissenschaftliche Dinge gab er 
merkwfirdigerweise noch gute Auskunft, sogar nocb am 6. Februar 1804, 
sechs Tage vor seinem Tode. Nach dem Schlaganfall stellten sicb 
Stereotypien bei ihm ein, die er rast- und ruhelos wiederholte, so das 
Auf- und Zuknfipfen der Kleider. Seit December 1803 konnte er seinen 
eigenen Namen nicht mehr schreiben, ganz abgesehen davon, dass seine 
Sehkraft (teils durcb Katarakt) erheblich gescbw&cht war. In den letzten 
Wochen verkannte er oft die Personen seiner nfichsten Umgebung. Seit 
dem 3. Februar 1804 nahm er keine Speise mebr zu sich. Als ihn an 
diesem Tage der Doktor besuchte, wollte er seinen Dank aus- 
drucken, brachte aber nur einzelne Worte verbinduugslos vor. Sein 
Freund and treuer Pfleger Wasianski erlfiuterte dieselben und bat 
den Xrzt, Platz zu nehmen, da Kant sich sonst nicht setzen wfirde. 
Der Arzt tat es, wenn auch unglfiubig, und war zu seinem Erstaunen 
nberrascht als sein Patient, der sich mit grosser Mfihe aufrecht gehalten 
hatte, sich niederliess and mit letzter Kraft sagte: „Das Geffihl fur 
HumanitMt hat mich noch nicht verlassen“. Am 10. Februar wurde 
Kant bewusstlos und verbrachte die Zeit bis zu seinem Ableben, bei 


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222 Friederioh Kanngiesser, Zur Pathographie des Immanuel Kant. 

intermittierendem, schliesslich peripher erlbschendem Pulsschlag, in 
Sopor. Sein Tod, der am 12. Februar 1804 eintrat, war eiu sanftes 
Hinubergleiten vom Leben, ein stilles Einscblummern zur ewigen Ruhe. 

Die yorstehenden Zeilen habe ichauf Veranlassung eines lieben Freundes, 
der mir daza das von H. Schwarz zusammengestellte Buch fiber Immanuel 
Kant: Ein Lebensbild naoh Darstellungen seiner Zeitgenossen Borowski, Jach- 
mann und Wasianski (Halle 1907) gab, geschrieben. Moge dieser medizinische 
Beitrag das Interesse erwecken, auoh das Leben anderer Geistesgrossen vom 
arztlichen Standpunkt aus zu betrachten. Mag ein solcher Aufsatz auch als 
„kleinlioh w bewertet werden, ioh denko er ist immerhin ein, wenn auch nur 
winziges Steinchen im Mosaik der biographischen Forschung. 




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IX. 


Zur Kasuistik kriegshysterischer St'drungen. 

Yon 

Medizinalrat Dr. W. Heinicke, 

Sachsische Heil- und Pflegeanstalt Waldheim, 
friiher icitender Arzt dor Nervenstation des Res. - Lazaretts I Bautzen. 


Welche ungeahnte Fulle hysterischer Erscheinungen der Weitkrieg 
zeitigt, weiss Jeder, der roit Kriegsnervenkranken zu tun bat. Es ist 
auch bereits so viel daruber geschrieben worden, dass es Eulen nach 
Athen trageo hiesse, wenn auch ich noch mein diesbeziigliches reiches 
Material zusammenstellen wollte, zumal die Klinik meiner Beobachtungen 
und meine Aulfassung psychogener Erscheinungsformen im allgemeinen 
gaoz mit deuen Anderer ubereinstimmt. Ausserdom wurde mir augen- 
blicklich nicht die Zeit zu so einer umfangreichen Arbeit zur Verfugung 
stehen. Auch fiber die Therapie dieser Zustfinde eingehend zu reden, 
erscheint mir ebenso wenig notig. Die Grundzfige der Behandlung der 
Hysterie sind ja im Grosseu und Ganzen die alteo, bereits festgelegte und 
der weitere feinere Ausbau der jeweils ndtigen Behandlungsart ist eben- 
falls bekannt und so verschiedenartig, dass man nicht einer bestimmteu 
Therapie das Wort reden kann. Es liegt eben in der Eigenart der 
Hysterie, dass es bei ihr weniger auf eine bestimmte engere Heil- 
methode ankommt, als vielmehr auf die Persdnlichkeit des Arztes 
und sein Geschick fur den jeweiligen Patienten die gerade passende 
Heilmethode zu linden. Schliesslich hat sicb im Laufe der Zeiten jeder 
Neurologe seine eigenen Behandlungsarten zurecht gemacht, die er bei- 
beh&lt, weil er mit ihnen ebenso schnelle und gute Erfoige erzielte, 
wie Andere mit ihren Methodeu. So sehr ich zum Beispiel das Verdienst 
Kaufmann’s schMtze, das er sich mit seiner Behandlungsart er- 
worben hat, so stehe ich doch nicht an, zu behaupten, dass auch Hei- 
I ungen verschleppter hysterischer Zust&nde in einer Sitzung durch an¬ 
dere, mildere Metboden zu erreichen sind. Ich z. B. babe bereits im 
ersten Eriegsjabr, immer naturlich die geeigneten F&lle vorausgesetzt, 
durch eindringliche Aufk I fining des Patienten uber seinen Zustand, im 
Verein mit Vorbalsuggestion und anschliessenden Bewegungskommandos 


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224 


Dr. W. Heinicke, 


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# 

auch in einer Sitzung Heilung linger bestehender hysterischer Kr&mpfe 
undL&hmungszust&nde erzielt; wenn n8tig, unterstutzte icb meineTberapie 
dadurch, dass ich die kranke Extreinit&t in 6in Warmwasserbad bracbte 
bzw. den Kranken der Wirkung des schw&chsten vollstAndig schmerz- 
losen Vierzellenbades aussetzte. Trotzdem bin icb aber kein allzugrosser 
Freund dieser Scbneilbeiiungen; icb babe immer das Gefuhl als bSten 
sie geringere Garantien hinsichtlich ties Bestandes, ais Heilungen, die 
langsamer erzielt wurden; beweisen^ kann ich dieses nicht; ich bin 
auch gem jeder mich anders iiberzeugenden Belebrung gegenuber zu- 
ganglicb. 

Den Fall, den ich jetzt in aller Kiirze beschreiben will, erwies sich 
fur eine Schnellheilung nach meiuer Uethode zunachst Susserst gunstig, 
so dass icb nicht einmal zum Vierzellenbad meine Zuflucht nehmen 
musste. Ich scbildere ihn aber nicht deshalb, sondern wegen einer in- 
teressanten Komplikation, die w&hrend der Therapie eintrat und die ich 
in solcher Yollkommenheit nicht wieder sah. 

Soldat K. hatte vor Monaten eine Schussverletzung der reohten Hand er- 
litten, die ihm den Verlust zweier Fingerglieder einbrachte. Im Anschluss an 
diese Verwundung hatte sich eine scheinbare Dauerkontraktur der rechten Hand 
im Sinne des Faustschlusses eingestellt; die ganze Hand war vollstandig be- 
wegungsunfahig; die Finger hatten sich tief in die Vola eingekrallt und jeder 
Versuch, sie zu strecken, bzw. etwas zu lockern, scheiterte vollstandig. In 
diesem Zustande wurde K. mir zur Untersuchung iiberwiesen. Ich stellte die 
Diagnose auf psychogen bedingten Dauerkrampf der Hand. Nunmehr erlauterte 
ich dem vollgeordneten, aber etwas minderwertigenEindruck machenden Mann, 
dass gar kein Grund vorlage, warum er die Hand nicht bewegen konne; er 
habe nur die Herrschaft viber dieses Glied verloren usf. Hand in Hand mit 
diesem suggestiven Zuspruch maohte ich Versuche, die zur Faust gebalite 
Hand zu offnen; nach einigem Bemiihen gelang es mir dann auch, ein geringes 
Nachlassen der Spasmen hervorzurofen; auf jedes Mehr reagierte aber der 
Patient in Hinblick auf den langen Bestand des Krampfzustandes begreiflicher- 
weise mit Qchmerzausserungen; ich setzte ihn deshalb unter den Einfluss eines 
Warmwasserbades; sehr bald liessen in demselben die restlichen Krampfe 
weiter naoh und ich konnte passiv miihelos die Finger bewegen, strecken, ad- 
und abduzieren. Das Erstaunen des Kranken benutzte ich, um unter Forfc- 
setzung der passiren Bewegungen jede derselben mit dem entsprechenden 
Kommando zu begleiten, bis schliesslich K. im Warmwasserbade schnell und 
geschmeidig ohne jede Hilfe die Finger normal bewegen konnte. Das Warm¬ 
wasserbad wurde nunmehr unterbrochen und Patient gebrauchte seine rechte 
Hand fast wie eine gesunde. 

Ehe ich jedoch dazu kam, dem Chefarzt des Lazarettes diesen fur die 
damalige Zeit noch einigermassen uberraschendenHeilerfolg vorzufuhren, setzte 
gewissermassen vikariierend fur die geschwundenen Spasmen bei dem Patienten 


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Zor Kasuistik kriegshysterischer StSrungen. 


225 


ein Schwerer hysterischerDammerzustand ein; er stierte plotzlioh vor sich hin, 
sprang dann nnter lebhafter motorischer Unruhe vom Stnbl auf, balluzinierte 
auf das Lebhafteste Fouer und Flammen, wie sein angstvolles Schreien efgab, 
and drangte mit alterMacht nach demFenster, um sioh aus diesem zu stiirzen. 
Mit Mdhe davon abgehalten, brach er bewnsstlos zusammen. Vollstandig starr 
lag er darauf einige Minuten da, bis er vollkommen klar erwacbte, und von 
neuem wieder den bis dabin verschwandenen schweren Handkrampf bot. Von 
weiteren Versuchen, diesen zu beseitigen, liess icb nacb dem Erlebten naturlicb 
ab; K. wurde vielmehr zunacbst zur allgemeinen Kraftigung seines Nerven- 
systems einer Heilanstalt iiberwiesen. Was aus ihm wurde, weiss ich leider 
nicht. 

Jedenfalls zeigt dieser Fall, wie wechselseitig die Hysterie in dexn- 
selben Individuum ihre Erscheinungsform zu gestalten weiss und auf 
was fur unangenehme Zwiscbenfftlle man selbst bei vorsichtigster Aus- 
wahl der Eranken bei der Schnellheilung gelegentlich gefasst sein muss. 


IrcbiT f. Pfjcbiatrie. Bd. 80 . Heftl. 


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X. 


Sprachstfrungen bei Epilepsie. 

Von 

Dr. Albert Knapp, 

fr. Direktor und Privatdozent, z. Z. Kommandanturarzt. 


Spracbstfirungen bei Epilepsie sind von einer Reihe von Beobach- 
tern beschrieben worden. Vorwiegend wareu es aphasiscbe Stdrungen, 
denen die Aufmerksamkeit zugewendet und eine eingehendere Analyse 
zu teil geworden ist. Sie sind h&ufiger, als man bei einer Durchsicht 
der Literatur erwarten sollte. Den Versucb einer erschfipfenden Be- 
handlong aphasiscber und verwandter Erscbeiuungen behalte ich einer 
spateren monographischen Bearbeitung vor. Heute will ich nur einen 
kurzen Ueberblick fiber diese mannigfachen Rrankheitsbilder geben und 
haupts&chlich diejenigen Gesichtspunkte hervorheben, welche auch fur 
die Beurteilung der weniger beachteten artikulatorischen Stdrungen 
von Bedeutung sind. 

Bei der Untersuckung von Sprachver&nderungen jeder Art bei Epi- 
leptikern ist zuerst die Frage aufzuwerfen, ob dieselben 

1. prfiepileptisch, 

2. postepileptiscb, 

3. ein D&mmer- und Verwirrtbeitszustand, 

4. als Aequivalent oder 

5. als Dauersymptom im anfallsfreien Intervall beobachtet werden. 

Die vor dem epileptiscben Krampfanfall auftretenden aphasiscben 
Symptome sind besonders von Fer6 beschrieben worden. „Unter den 
eigentlichen Erscheinungen der Aura“, schreibt er, „mussen noch Sprach- 
stdrungen erw&hnt werden, welche an die Stelle der motorischen, sen- 
sitiven oder psychiscben Erscheinungen treten. Manches Mai bestehen 
sie in einfachem Stottern, einer Paraphasie oder motorischen, mehr 
weniger intensiven Aphonie“. 

Diese motoriscbe Aphonie oder, wie wir sagen warden, Aphasie 
dauert nach meinen Beobachtungen meist nur ganz kurz, hSufig nur 
wenige Sekunden. Die Kranken ffihlen den Anfall berannahen, wollen sich 


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/ 


Spraohstdrungen bei Epilepsie. 227 

darch Hilferafe oder Anweisungen an die Umgebung darauf vorbereiten, 
haben aber die Herrschaft fiber die Sprache verloreo, kfinnen hfichstens 
einige Silben oder Lante hervorstossen und gleichen in ibrem Verbal ten 
durchaus einem Menschen, der durch einen apoplektischen Insult seine 
.Sprache verloren hat nnd nan vergeblicb versucht, mit den zurfickge- 
bliebenen Laatresten seine Gedanken und Wfinsche zum Ausdruck zu 
bringen. Die Kranken klagen nach dem Anfall dariiber, dass ihnen die 
Sprache versagt bat. t 

Sehwieriger ist es, eine sensorische Aphasie w&hrend der 
Aar a einwandsfrei nachzaweisen. Dieselbe dauert in der Regel zu 
kurz, um die notwendigen Fragen zu stellen, und geht zu rasch in den 
Ver&nderungen des Gesamtbewusstseins unter. Der Nachweis einer prlt- 
epileptischen oder, besser ausgedruckt, pr&konvulsiven sensorischen 
Apbasie ist mir nur selten gelungen. Soweit ich sehe, ist F6re der 
Einzige, der sie kennt. Er scbreibt S. 79 seiner von Ebers fibersetzten 
Monographie: „In anderen Fallen hOren die Kranken wohl den Ton, 
▼ersteheu aber nicht die Bedeutung des Wortes. In einer Anzahl von 
Fallen scheint die rechte WorttaubheiW wirklich bestanden zu haben 1 '. 

Paraphasie babe ich bisher nur ala Teilcrscheinung einer motd- 
rischen Aphasie wahrend der Aura beobachtet, nie als Schlafenlappen- 
symptom nachweisen kdnnen. 

Dngleich haufiger als vor den Anfallen kommen Aphasien 
postkonvulsivisch zur Beobachtung. Ein Fall von motorischer 
postepileptischer Aphasie wird unten ausffihrlicher mitgeteilt. Der 
Kranke G. von A. konnte oft nach den Anfallen 10 Minuten lang bei 
klarem Bewusstsein nicht sprechen. Auch nach F6r6 ist „eine Anzahl 
von mehr minder rasch vorubergehenden postepileptischen (motorischen) 
Aphasien beobachtet worden". „Todd, Robertson, Jackson be- 
haupten, dass diese transitorischen Paralysen auf nervfiser ErschOpfung 
beruhen, die eine Folge der fibermassigen Anstrengungen wahrend des 
Anfalles durch Entladung der Rindenzellen ist“. 

Wahrend ror dem Anfall die motorjsche Aphasie haufiger 
nachweisbar ist, als die sensorische, ist es nftch den An¬ 
fallen umgekehrt. 

Fere hat nach meinen Wahrnehmungen recht, wenn er sagt, dass 
„die wahre Worttaubheit nach den Anfallen haufig“ ist. Auch 
Pick hat die Beobachtung gemacht, dass n vielfach ausgesprochene Para¬ 
phasie besteht and Stfirungen von sensorisch-aphasischem Charakter 
In Gottingen hat mich ein benachbarter Epileptiker mit zahlreichen 
Anfallen hiufig in der Poliklinik besucht. Ich habe Ofters Qelegenheit 
gehabt, nach dem kurz dauernden typischen Krampfanfall eine 10 bis 

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228 Dr. Albert Knapp, 

30 Minuten wfihrende sensorische Aphasie zu beobachten, die regel- 
missig anf den Anfall folgte. Die Rfibkbilduug erfolgte nicht in der 
von Pick als Regel angegebenen Weise. Echolalie war nie vorhanden, 
dagegen ausgesprochene Parapbasien. Die poistkonvulsivische 
Paraphasie, soweit ich sie beobachtet habe, ist im Gegensatz zu 
der prakonvulsivischen immer als Teilerscheinung einer sen- 
soriscben, nie einer motorischen Apbasie anzusehen. 

Pick glaubt ein eigenartig gesetzm&ssiges Abklingen der 
postepileptischen sensorischen Aphasie beobachtet zu haben. 
„Zuerst das Fehlen jedweden Sprachverstfindnisses, daran anschliessend 
fehlendes Sprachverstfindnis mit Perzeption der unverstandenen Worte 
und dadurch ermfiglichter Echolalie, drittens endlicb fehlendes Sprach- 
verstandnis bei richtiger Perzeption der als solche aufgefassten Worte 
und dadurch ermdglichter Benutzung derselben in wilikurlicher, nicht 
wie im vorigen Stadium in automatiscber Weise u . 

Bei einigen der von mir beobacbteten Faile scheint die Ruck- 
bildung in ahnlicher Weise erfolgt zu sein. 

Nur kurz sei auf das Vorbeireden nacb den Anfalleu hingewiesen. 
Auch Binswanger liat den Ganser’schen Symptomenkomplex beob¬ 
achtet. 

Die Sprachstfirungen wahrend der DSmmer- undVerwirrt- 
heitszustande sind besonders von .Liepmann, Heilbronner und 
Raecke behandelt worden. Raecke und Heilbronner machten auf 
echolalische und aphasische Erscheinungen aufmerksam. In an- 
deren Fallen hat man „bestandiges Nachplappern eines einzigen Satzes, 
bald als Antwort, bald als Anrede, bald als Drohung beobachtet 41 
(Binswanger). 

Ich habe motorische und sensorische Aphasie sowohl jede 
von beiden isoliert, als auch beide kombiniert gesehen. 
Liepmann weist in dem Vortrag uber epileptische Geistesstfirungen in 
der Deutschen Klinik auf die Erscbwerung der Wortfindung hin und 
erwfihnt Zeichen einer amnestischen Aphasie, die alle sonstigen 
Bewusstseinsstfirungen gelegentlich tagelang fiberdauerte. „Zusammen- 
hangslose Satze, deplazierte Redensarten, Bruchstficke von Zitaten, Wort- 
reihen ohne Sinn und Verstand, bisweilen in eigentfimlicher Stereotypie 
und Perseveration linden sich im Dfimmerzustand und gehen der Ver- 
wirrtheit oft auch langere Zeit voraus 44 (Binswanger). 

Perseveration, Echolalie und Verbigeration sind bei epi- 
leptischen Dammerzustfinden auch von Liepmann beobachtet worden, 
die Haufigkeit der Verbigeration wird auch von Binswanger hervor- 
gehoben. Ich kfinnte ffir alle diese Stfirungen Beispiele aus eigenen 


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Sprachstdrungen bei Epilepsia. 


229 


Beobachtungen beibrlngeu. Eines ist iu meiner Publikation fiber Epilepsie 
und Korsakow’schen Symptomenkomplex eingebend beschrieben. 

Der wfihrend der Dammerzustande auch von mir hfiufiger beob- 
achteten apraktischen und seltener sicher nachgewiesenen asymbo- 
liscben Erscheinungen bat Liepmann Erwihnung getan. Sie ver- 
diesen sorgfiltige Beacbtung. Icb habe sie fibrigens nicht bloss w&h- 
rend der'Dfimmerzustfinde, sondern aucb prfi- und postepi- 
leptiseb gelegentlich wahrgenommen. 

Sehr wenig bekannt scheint zu sein, dass sowohl motorische 
als auch sensorische Aphasie als epileptisclies Aequivalent 
vorkommen kann. Sensorische Aphasie statt eines Anfalls habe ich 
bei dem oben erwfihnten Gdttiuger Krauken beobachtet, der sonst die 
8ensorischen Stdrungen nacb den Anfallen aufwies. Meist gehen frei- 
lich diese Aphasien der Petit mal-Anfille iu der allgemeinen Bewusst- 
seinsanderung unter. Mit kurzen Anfallen von motorischer Aphasie be- 
gaunen die epileptischen Erscheinungen bei dem Kranken G. v. A. 

Wenu aphasische Sprachstdrungen in der anfallsfreien Zeit zur Bo- 
obachtung kommen, so wird es sich so gut wie immer um eine Herd- 
erkrankung des Gehirns handcln, bei der die epileptiformen Anf&lle 
nur ein beilSufiges Symptom darstellen. Bei genuiuer Epilepsie 
bin icb in der anfallsfreien Zeit motorischer oder sensori- 
scher Aphasie noch nie begegnet. Dagegen sind amnestisch 
aphasische Stdrungen auch zwischen den Anfallen gelegentlich 
zu beobachten, auch wenn die Bromsalze als Ursache mit Sicberheit 
ausgeschlossen werden kdnnen. Der Kranke G. von A. beklagte sich 
zu eiuer Zeit, in der er uberhaupt kein Brom erhielt, selbst daruber, 
„dass er bei lfingeren Auskunften, die er zu geben habe, oft die rich- 
tigen Worte nicht fiodeu konne und dann Biddsinn rede“. 

Weniger beacbtet und untersucht, aber viel hfiufiger und 
fur die Differentialdiagnose wichtiger als die aphasisclien 
Stdrungen sind die artikulatorischen Sprachstdrungen der 
Epileptiker. Dieselben Verfiuderungen der Artikulation, die man als 
Symptome der Epilepsie bfiufig nameutlich in vorgeschrittenen Fallen 
firidet, kommen auch bei der cbronischen Bromvergiftung zeitweise 
vor. Ehe man also die Erschwerung und Ver&nderung der Artikulation 
der Krampfkrankheit zur Last legt, muss man erst mit Sicherheit aus¬ 
geschlossen haben, dass sie durch die Medikation verursacht seiu kdnnen. 
Bei hohen Bromdosen wird die Artikulation hfiufig beein- 
trficktigi, aber auch bei lingerer Darreichung von4—6g sind Stdrungen 
zuweilen zu beobachten. Diese Tatsache ist wenig bekannt und doch 


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Dr. Albert Knapp, 


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kfinnen gelegentlich Schwierigkeiten bei derDifferentialdiagnose 
gegen die progressive Paralyse entstehen, wenn der Kranke ohne 
Vorgeschichte unter Bromwirkung dem Arzte oder der Klinik zugeffihrt 
wird. 1st die Spracbe schwerfallig, lallend und verwaschen 
und ist gar Silbenstolpern vorbanden, so wird der Verdacbt auf 
Paralyse am so mehr wachgerufen, ale auch bei dieser Krankheit, wie 
bei der chroniscben Bromvergiftung, die Sebnenreflexe berabgesetzt oder 
aufgehoben sein konnen und zuweilen einseitige oder doppelseitige 
Pupillenerweiterung and Pupillentr&gheit beobachtet wird. 

Die Lebrbficher von R. von Jacksch und Rad. Robert fiber die 
Vergiftungen erwfihnen die Spracbstdrungen bei chroniscbem Bromismus 
nicht; ich babe sie nur bei Lewin beachtet gefunden. Bei Tagesdosen 
von 4—10 g hat er beim langsam auftretenden Bromismus „Sprachver- 
langsamung, Stocken und Schwere in der Spracbe, sprachliche Artiku- 
lationsstorungen, Verdrehen und Verwechseln von Silben und Worten w 
kennen gelernt. 

In der Literatur fiber Epilepsie babe ich nur bei Binswanger 
diese Stdrungen bei Bromvergiftung berficksichtigt gefunden. Er sagt: 
„der sprachliche Ausdruck ist mangelhaft, schwerfallig, einsilbig, die 
Spracbartikulation ist erschwert, plump, lallend, undeutlich. Es tritt eine 
Art Silbenstolpern und Verschleifen der Konsonanten, fihnlich wie bei der 
paralytischen Sprachstfirung ein“. Analog der Spracbstdrung kommt 
eine Schreibstfirung vor: „die Schrift wird kritzlich, unordentlicb. 
Die Patienten lassen einzelne Buchstaben aus, verstellen Silben und 
schreiben oft verkehrte Worte nieder, wodurch der Inhalt ganz unver- 
stfindlich wird 11 . 

Schon die Zahl der unten mitgeteilten Falle kann als Beweis dienen, 
dass die artikulatorischen Spracbstdrungen nicht so gar selten bei Epi¬ 
lepsie vorkommen. Ich habe nnr diejenigen ausgewahlt, bei denen 
Silbenstolpern vorbanden war. Die Durchsicht der Krankengeschichten 
ergibt ohne weitere Hinweise, wie schwierig zuweilen die Differential- 
diagnose gegen die Paralyse sich gestalten kann. Weitaus am hfiu- 
figsten treten die Artikulationsstdrungen postkonvulsivisch 
auf, seltener wfilirend der Dimmer- oder Verwirrtheitszustande; 
im anfallsfreien Intervall sind sie bisher, soweit ich sehe, nur von 
Binswanger erwfihnt worden, in der Aura und als Aequivalent bin 
ich ihnen nie begegnet. 

Am eingehendsten sind die Stdrungen der Artikultation von F6re 
behandelt worden. Er bat „nach epileptischen An fallen Ofters Sprach- 
stdrungen beobachtet, und zwar sind diese urn so ausgesprochener, je 
intensiver und frequenter die Anffille waren. Wir sehen in diesen Fallen 


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Sprachstorungen bei Epilepsie. 


231 


eine Verlangsamung der Sprache, ein Zogern und Stocken bei der Aus- 
sprache der Worte, das ebenso wohl durcb Vergesseo der Worte als 
dorch eine KoordinationsstOrung der Zunge erkl&rt werden muss. Diese 
KoordinationsstOrung der Zungeumuskeln ist ferner noch mit einem 
Tremor der ganzen Zunge in toto zu einem Zittern der Lippen verbun- 
den. Dies Zittern und diese VerzOgerung der Sprache, Erscheinungen, 
die mehrere Stunden nach dem Anfall andauern kdnnen, erinnern 
an die Sprachst5rung der Paralytiker, die sich jedoch durch 
fibrill&re Kontraktionen kenntlich machen. Zuweilen bleibt die Stdrung 
sehr lange bestehen“. 

F6re hat auch eine ErklSrung fur dieselbe gesucht: „die postepi- 
leptischen StCrungen der artikulierten Sprache scheinen sicherlich als 
physiologische Grundlage eine Stdrung in der Beweglichkeit der Zunge 
zu haben“. Fer6 hat ein Glossodynamometer erfunden und damit fest- 
gestellt, dass die Energie der Zungenbewegungen nach den Anf&llen 
zuweilen geringer ist. „Nach epileptischen An fallen lassen die Patien- 
ten mit Sprachstorungen eine betr&chtliche Herabsetzung 
des Widerstandes der Zunge auf Druck erkennen, die oft auf 
beiden Seiten verschieden ist, auch wenn die Anf&lle nicht halbseitig 
waren. Es kanu sogar vorkommen, dass die Bewegungen der Zunge 
oft l&ngere Zeit ganz aufgehoben sind, auch wenn der Kranke schon 
l&ngst wieder zu sich gekommen ist“. 

Die ArtikulationsstOrungen sind verschiedener Art, im allgemeinen 
trifft es zu, wenn Nadoleczny meint, „dauernde Sprachstorungen 
scheinen seltener zu sein, als vorubergehende Artikulationsbehinderung 41 . 

Wir nnterscheiden eine: 

1. verlaugsamte, ' 4. stocken de und skandierende, 

2. monotone, 5. stotternde und 

3. lallende, 6. silbenstolpernde Sprache. 

Die Bradyphasie ist eine Teilerscbeinung der allgemeinen 
Erschweruug und Verlangsamung der Bewegungen und aller 
Reaktionen. Diese quantitative Ver&nderung der Artikula- 
tion ist die am h£ufigsten zu beobachtende Artikulations- 
stOrung. Ich habe sie bAufig als einzige oder mit Monotonie verbun- 
dene SprachstOrung nach den AnfUllen beobachtet. 

Fflrstner hat gleichfalls eine postepileptische Bradyphasie und 
Bradylalie beschrieben und auf die „verlangsamte, angestrengte, mono¬ 
tone Aussprache der Silben und Worte u hingewiesen. 

Im Verwirrtheitszustand bat Hin rich sen „h&sitierende Sprache" 
beobachtet. Ich bin diesem Symptom bei D&mmerzust&nden wiederholt 
bcgegnet. 


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Dr. Albert Knapp, 


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Binswanger und Nadoleczny haben Verlangsamung and 
SchwerfAlligkeit der Sprache auch im anfallsfreien Inter¬ 
val 1 festgestellt, and ich selbst habe nicht bloss in den drei mitge- 
teilten G. von A., H. de H. and A. von 0., sondern auch bei einer 
Reihe von anderen Kranken die langsame und schwerfAllig artikalierte 
Sprache als Dauersymptom unabhAngig von den Krampferscheinangen 
kennen gelernt. Besonders eindrucksvoll war die Verlangsamung der 
Sprache bei einem Kranken, dessen Geschichte ich in. einer Arbeit fiber 
Epilepsie und Korsakow’schen Symptomenkomplex verOffentlicht habe 
und bei dem auch alle anderen Reaktionen dauernd ausserordentlich 
verlangsamt gewesen sind. 

Nach der Verlangsamung ist die Monotonie der Sprache das 
hAufigste Symptom, wenigstens nach meinen Erfahrungen. Als Beispiel 
moge der Fall H. de H. gelten. Furstner hat die EintOnigkeit der 
Sprache nach den AnfAilen beobachtet, Nadoleczny hat generell anf 
dieses Symptom bei Epilepsie aufmerksam gemacht. 

Bei der Kranken J. Sch. wie auch bei anderen Kranken habe icb 
die Sprache dauernd lallend und verwaschen gefunden. Bins¬ 
wanger hat bervorgehobeD, dass die Sprache im postepileptischen 
Er,sch6pfungszustand hAufig „einen lallenden Typus“ zeige, 
und berichtet, dass er Kranke im DAmmerzustand „in monotoner Ver¬ 
bigeration lallend“ gefunden babe. 

Stockend und abgerissen fanden wir die Sprache auch unab¬ 
hAngig von den AnfAilen bei dem Kranken G. v. A. Auch Binswanger 
fand die Sprache zwischen den Anfallen zuweilen „stockend, undeut- 
lich, oft geradezu skandierend“. Fere erwahnt ein postepileptisches 
„Zflgern und Stocken bei der Aussprache", das oft lange zurfick- 
bleibe. 

Es gibt Kranke, bei denen unter dem Einfluss der epileptischen 
VerAnderungen die fruher fliessende Sprache stotterud wird, 
Ahnlich wie in anderen FAllen ein epileptischer Nystagmus eintritt, den 
man auch als Augenstottern bezeichnen kdnnte. Nach Nadoleczny’s 
Ansicht „kommt das Stottern prA- und postepileptisch vor u . 
Auch F6r6 kennt dieses Symptom und glaubt es bei einem von Pitres 
beschriebenen Kranken auf einen Krampf der Gesichtsmuskulatur zu- 
ruckfuhren zu konnen. Du cl os hat das Stottern als postepileptischen 
LAhmungszustand der Sprachmuskulatur erklArt. Ich habe stotternde 
Sprache nicht bloss vorubergehend im Anschluss an AnfAlle beobachtet, 
sondern auch Kranke kennen gelernt, bei denen dieses Stottern im 
freien Intervall zwischen und unabbAngig von den AnfAllen 
als Dauersymptom nachzuweisen war. 


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Sprachstorungen bei Epilepsie. 233 

Die wichtigste und wenigstens fur die Differentialdiagnose bedeu- 
tungsvolUte SprachstOrung ist das SMbenstolpern. Ehe ich dieses 
Symptom eingehend bespreche, teile ich zun&chst die Geschichte von 
acbt Rranken mit, bei denen ich dasselbe in ausgesprochener Weise 
beobachtet habe. 

Fall 1. Der 37jahrige Weber Ph. G. leidet seit dem 2. Militarjahre, 
nach nberstandenem Typhus an epileptischen Anfallen. Erblich ist er nioht 
belastet. Bis vor 2 Jahren wiederholten sich die Anfalle 1—3mal wochent- 
lich, seither sind sie hauflger und ofters mit Wutanfallen, Geistesab- 
wesenheit, Wandertrieb uud Neigung zu Gewaltt&tigkeit verbunden. 
Ein solcher Anfall zu Weihnachten 1902 soil 4 Tage gedauert haben. Seit 
2 Jahren hat sich der Geisteszustand so verschlechtert, dass er, der 
vorher ein gescbickter, fleissiger Weber war, zu keiner Arbeit mehr fahig war. 

Am Abend des 5. 1. 1904 geriet er ohne vorangegangene Krampfe in 
Wut, zertrummerte die Wohnungseinrichtung, irrte drei Stunden in der Kalte 
nmher, so dass die Fiisse von Frost wund wurden und die Haut abgefetzt war 
und bedrohte, nachdem er eingefangen war, seine Angehorigen, so dass er ge- 
bandigt werden musste. Er glaubte sich verfolgt und auf dem Kasernenhof 
turn Dauerlauf umhergejagt. Stets seien seine Verfolger hinter ihm. 

Urin und Stuhl lasst er unter sich, die Pupillen sind mittelweit 
und reagieren kaum. Am 8. 1. wird er der Nervenklinik in H. zugeiuhrt. 

Bei der Aufnahme hat er starkes Silbenstolpern, sonst ist der kor- 
perliche Zustand, abgesehen von dem iiblen Zustand der Fusssohlen, mehreren 
Zungenbissnarben und Patellarklonus normal. Insbesondere reagieren die 
Pupillen gut und sind die Hornhautreflexe erhalten. 

Zeitweise ist Vorbeireden und Perseveration vorhanden. 

Vom Tage der Aufnahme am 8. 1. bis zu seiner Ueberfiihrung nach der 
Anstalt U. am 13. 2. ist er ortlich und zeitlich unorientiert. Die 
Merkfahigkeit und Auffassungsfahigkeit ist herabgesetzt, z. B. 
kann er vier einstellige Ziffern gar nicht nachspreohen, wahrend er einfache 
Rechenexempel prompt lost. Offenbar unter dem Eindruck von Sinnestau- 
schungen hat er phantasUsche Verfolgungsideen, er hat dabei Krankheitsgefiihl 
and erklart sich seine Wunden an den Fiissen richtig. Bald glaubt er auf dem 
Magdeburger Bahnbof, bald in seinem Heimatsort, bald in einer Krankenanstalt 
zu sein. Sein Alter gibt er um 3 Jahre zu niedrig an und glaubt, erst 
vor 3 Tagen vom Militardienst „freigesprochen u zu sein. 

Die Aerzte verkennt er haufig als friihere Bekannte. 

Wahrend die Kniephanomene spater nicht mehr gesteigert gefunden war¬ 
den, bleibt das Silbenstolpern bestehen und wird zeitweise noch star¬ 
ker, andert sich auch nicht nach einem plotzlichen Erregungs- 
zustand, in dem er gewalttatig.wird und sinnlos trotz seiner wunden Fiisse 
fortzustiirmen sucht, ebenso nicht nach den wiederholten Krampfanfallen. Bei 
der Entlassung aus der Klinik am 13. 2. ist das Silbenstolpern noch vorhanden, 
bei der in U. am 2. 3. vorgenommenen Untersuchung ist es verschwunden. 


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Dr. Albert Knapp, 


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Fall 2 . G. v. A. &us B., ist abgesehen von hochgradiger Nervositat der 
Grossmntter vaterlicherseits erblich nicht belastet. Bis zum 9. Jahre war er 
geistig sehr geweckt und korperlich vorzeitig entwickelt. 

Wahrend des Unterrichts beim Vater versagte im 9. Jahr, als er ein 
Gedicht aufsagen sollte, plotzlich die Sprache. Diese Erscheinung 
wiederholte sich mehrmals, schliesslich unter Zuokungen. Er war aber im 
Stande sich das Einjahrige zu erwerben. 

Bei der Aufnahme in die Anstalt war der 22jahrige Mensch korperlich, 
abgesehen von Steigerung der Fnsssefrnenreflexe, normal. Eine' glatte Narbe 
auf dem Scheitelbein von 1,5 cm Lange riihrte von einem Sturz im Anfail her. 
An der Zunge sind Bissnarben vorhanden. 

Fast alle 14 Tage treten typische epileptische Anfalle auf, meist 
morgens im Bett oder unmittelbar nach dem Aufsteben, zuweilen mit ini- 
tialem Scbrei, fast regelmassig mit Zungenbiss ohne Sezessus, 
mit nachfolgender, bald langerer, bald kiirzerer Benommenheit. 

Am 23. 8. 1903 zuckt er wahrend des Gottesdienstes 2 — 3mal mit dem 
Oberkorper, drebt den Kopf nach rechts, stosst einige stohnende Laute aus und 
zieht dann den Korper krampfhaft zusammen, so dass die Kniee an den Unter- 
leib angedriickt sind. Der Oberkorper ist dabei stark vorniiber geneigt. Nach 
x / 2 Minute ErschlafTung und gleichzeitig leichte klonische Zuckungen. Das 
Gesichtvist bleich, von Schweissperlen bedeckt, Speichel und Schaum steht 
vor dem Munde, die Pupillen sind weit und starr. Nach dem Anfail schlaft 
der Kranke 1 / 2 Stunde und ist zwei Tage lang etwas miide. 

Bei Behandlung mit salzarmer Kost wird der Kranke hinfallig, Brom 
wird schlecht vertragen, so dass die Darreichung ausgesetzt 
wird. 

In den folgenden zwei Jahren stellen sich die Anfalle durchschnittiich 
5mal monatlich ein. 

Im Jahre 1906 warden haufige Angstzustande beobachtet, die, ebenso 
wie das Allgemeinbefinden, sich bei fleischloser Kost bessern. Die Zahl der 
Anfalle bleibt dieselbe. 

Im folgenden Jahre steigt die Zahl der monatlichen Anfalle auf durch¬ 
schnittiich 6, dazu gesellen sich vereinzelte Anfalle von Petit mal. 

1918 macht sich eine allmahliche Abnahme der geistigen Fahig- 
keiten bemerkbar, die auch dem Kranken zum Bewusstsein konlmt. Er sagt 
selbst, dass ejr bei langeren Auskiinften, die or zu geben habe, oft 
die riohtigen Worte nioht finden konne und dann „B15dsinn u rede. 

Er ist sehr unzufrieden, reizbar und jahzomig und gibt selbst zu, dass 
es ihm an Selbstbeherrsohung fehle. 

Die Sprache ist schwerfallig, stockend, abgerissen, die Aus- 
drucksweise umstandlich. 

Merkfahigkeit und Auffassungsf&higkeit ist mangelhaft, z.B. 
ist er zur Wiederholung von 5 Zahlen zwischen 1 und 10 unfahig. Die Scbul- 
kennisse sind erheblich vermindert, das begrifQiche Unterscheidungsvermogen 
ist weniger herabgesetzt. 


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Sprachstorungen bei Epilepsie. 


235 


Id den nachsten 2 Jahren werden die ausgebildeten typiscben Krampf- 
anfalle seltener, z. B. werden von Januar bis August 1910 darchschnittlich 
nar 3—4 Anialle monatlich gezahlt, dagegen sind die friiher seltenereti Petit 
inal-Anf&lle immer mehr in den Vordergrund getreten, durchschnittlioh 
34 monatlich. 

Dieselben beginnen mit lantern anhaltendem Schrei, dann tram- 
pelt der Kranke einige Sekundenauf derS telle oder springtmehr- 
mals in die Hohe oder lauft durchs Zimmer und wird bleich im 
Gesicht. Die Dauer uberschreitet gewohnlich 1 / 4 Minute nicht. Nachher ist 
der Kranke mude und schlafsuchtig, gelegentlich verstimmt und unzufrieden 
und kann oft bei klarem Bewusstsein 10 Minuten lang nicht spre- 
ohen. Einige Stunden nachher ist er geistig frisch. 

Der korperliche Befand ist unauffallig, abgesehen von ausgesprochenem 
dauernd vorhandenem Silbenstolpern. 

Durch eino im September 1910 begonnene Bromkur(2mal2 g tfiglich) mit 
Verringerung der Kochsalzdarreichung (die Suppen werden durch Milch er- 
set 2 t, Butter und Eier ohne Salz gegeben, im iibrigen erhalt er die gewohn- 
liche Kost) werden die Anfalle erheblich vermindert. Im September wird neben 
2*1 Petit mal-Anfallen nur 1 ausgebildeter Krampfanfall beobachtet, imOktober 
bleiben beiderlei Anialle vollig aus. 

Der korperliche Befund andert sich nicht. Das Silbenstolpern bleibt 
in unverminderter Starke bestohen. 

Fall 3 . A. v. 0. soil sohon als kleines Kind an Blutandrang gegen den 
Kopf gelitten haben, wozu sich von seinem 7. Lebensjahr an Schwindel und 
Krampfanfalle gesellten. Die letzteren traten nach Ermiidung und besonders 
nach Aufregung ein und bestanden in einem einige Minuten dauernden und 
von Bewusstlosigkeit begleiteten Krampfzustand, der bis zu 7mal an einem 
Tage auftrat und von intensivem 24 Stunden anhaltendem Kopfschmerz be- 
gleitet war. Alle 1—2 Wochen setzten diese Zufr.lle ein und zwar mit beson- 
derer Vorliebe dos Nachts. 

Der Kranke ist erblich belastet. Sein Vater soli n nervos veranlagt u 
gewesen, einem Herzschlag erlegen und etwas dem Trunke ergeben gewesen 
sein. Eine altere Schwester des Kranken ist von Geburt an beiden Beinen ge- 
lahmt, geistig aber frisch. Eine Schwester des Vaters war bis zum 40. Jahre 
epileptisch, seither aber anfallsfrei. 

Mit Miihe eignete sich der Kranke die elementarsten Schulkennt- 
an und katn nicht tiber die drei ersten Klassen des Realgymnasiums hinaus, 
brachte es aber nicht bloss in der Handhabung der russischen, sondern auch 
der franzosischen, englisohen und deutschen Sprache zu der seinem Stande 
entspreohenden Fertigkeit. Naoh einem P/gjahrigen Aufenthalt in einem Sana¬ 
torium und voriibergehendem Aufenthalt in der Anstalt suchte er auf einem 
mecklenburgischen Gut die Landwirtschaft praktisch zu erlernen und kehrte 
nach einem Jahre in das Elternhaus zuriick, angeblich weil die Familie des 
Gutsbesitzers an seinem Leiden Anstoss nahm. 


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236 


Dr. Albert Knapp, 


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Mit seinem 23. Lebensjahr trat er noch einmal in die Anstalt ein, die er 
seit Oktober 1887, abgesehen von kurzen Urlaubszeiten, in der Heimat nnd an 
See nicht mehr verliess. 

Abgesehen von einer 4mal im Anfall zngezogenen Luxation des linken 
Schultergelenkes ist der korperliche Zustand sehr gut. 

Seine Antworten erfolgen langsam und' schwerfallig artikuliert, 
aber sinngemass. Auch in fremden Sprachen z. B. englisch druckt er sich 
geschickt aus. Sein Horizont ist enge; im Gesprach kehrt er immer wieder zu 
seinem Leiden und besonders zu seinem russischen Besitz zuriick. Das Ge- 
daohtnis fur die Daten seines Lebens ist gut, die Fahigkeit, Neues seinem 
geistigen Besitztum hinzuzufiigen, gering. Seine geographiscben und 
geschichtlichen Kenntnisse sind schlecht, z. B. ist nach ihm die Schlacht von 
Poltawa gegen die Franzosen gesohlagen worden, und nur den einfachsten 
Rcohenaufgaben ist er gewachsen. 

Der im April 1903 aufgenommene korperliche Befund war normal. Spe- 
ziell waren samtliche Schleimhautreflexe vorhanden, die Gesichts- 
farbe und der Gesichtsausdruck frisoh, die Haut nicht wesentlich ver&ndert. 

1905 war der Kranke wohl, abgesehen von den etwa alle 3 —i Tage 
hauptsachlich nachtswiederkehrenden Anfallen. Dieselben begannen mit einem 
lautenSchrei und waren von allgemeinen heftigen klonisohen Zuckungen 
begleitet. Nur 3—4 Minuten ging das Bewusstsein verloren, haufig erfolgte 
Urinabgang. * 

Der Kranke erfullt gewissenhaft seine Pflichten als Postbote. Er beteiligt 
sich willig an giirtnerischen Arbeiten, zu Zeiten will die Arbeit nioht voran- 
gehen. Er bleibt dann mit dem Spaten in der Hand eine Viertelstunde ver- 
sonnen stehen und wird aufgeregt und unwirsch, wenn er sieht, dass andere 
mehr gearbeitet haben. 

Zeitweise spricht er die Befiirchtung aus, dass seine Angelegenheiten 
nicht richtig besorgt werden und sein Vermogen verloren gehen kdnnte, da 
Niemand auf die Verwaltung seines Gutes aufpasse. Daher wolle er nach dem 
Yorschlag seines Vaters nach Hause gehen, der ihm geraten habe, trotz seiner 
Anfalie einLeben zu fiihren, wie es einem jungen kraftigen Edelmann gezieme. 
Mit seinen 40 Jahren sei es Zeit zu heiraten, damit sein Stammgut nicht in die 
Hande der Regierung falle. 

Im Jahre 1896 hatte er 66 Krampfanfalle und 3 Schwindel, 1897 67 Au- 
falle und 14 Schwindel, 1898 75 Anfalie und 13 Schwindel, 1899 89 und 10, 
1900 100 und 35, 1901 144 und 17, 1902 198 und 18, 1903 156 und 12, 1904 
145 und 17, 1905 144 und 8 Anfalie und Schwindel. 

Trotz 2mal 3 g Bromsalz taglich hat v. 0. vom 21. Juli 1906 bis zum 
Jahresschluss 115 Anfalie und 19 Schwindel, im Jahr 1907 111 und 23, 1908 
100 und 36, 1909 109 und 22, 1910 85 und 15 Anfalie und Schwindel. 

Bei sonst normalem Korperbefund und Fehlen aller Zeiohen einer chro- 
nischen Bromvergiftung ist ausgesprochenes Silbenstolpern vorhanden. Im 
iibrigen ist die Artikulation langsam und schwerfallig. 


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Sprachstorungen bei Epilepsie. 


237 


Pall 4 * Der Schohmacher K. L. wurde im Alter von 40 Jahren im 
Oktober 1909 in die Anstalt aufgenommen. Er ist erblich nicht belastet. 
Schon in friiher Jngend hat er an einer rechtsseitigen Lahmung gelitten 
mit hochgradiger Verkiirzung des reohten Beines. Naoh 8jahrigem 
Schulbesnoh nnd Konfirmation kam er zu einem Schahmacher in die Lehre, 
hat aber nicht ausgelernt. Angeblich erst seit dem 25. Lebensjahre sind 
Krampfanfalle vorhanden, in unregelmassigen Zwischenraumen, mit kloni- 
schen Zuckungen, BewusstlQsigkeit und haufigem Urinabgang. 
Er ist wegen Geistesschwache entraiindigt. 

Wahrend die Gesiohtsmuskulatnr symmetrisch ist and die Zunge 
gerade vorgestreckt wird, ist der rechte Arm wesentlich (urn 4 cm) 
karzer und um 2cm diinner als der linke. Auf derUlnarseite des rechten 
Unterarms ist eine strahlige, vom Ellbogen bis zur Kleinfingerkuppe reichende, 
von einem Anfall herruhrende Brandnarbe zu sehen. Das rechte Ellbogenge- 
lenk kann nicht voliig gestreckt werden. Die grobe Kraft des rechten Hande- 
drucks betragt 15, die des linken 32 kg. Die rechte Hand kann zum Schreiben 
und anderen Verriohtungen gebrauoht werden. Noch mehr ist die rechte 
Unterextremitat im Wachstum zuriickgeblieben und sehr atro- 
phisch. Der Wadenumfang rechts bleibt um 12 cm zuruok. Das rechte Bein 
kann im Kniegelenk nicht voliig gestreckt werden und der rechte Fuss steht 
in extreraer Spitzfussstellung. 

Die Kniescheibenreflexe sind symmetrisch lebhaft, rechts ist der Ke¬ 
flex auch von der oberen Quadrizepssehne auszulosen. Das Ba- 
binski’sche Zeichen ist rechts zuweilen vorhanden, Oppenheim und 
Mendel fehlen. Die ubrigen Sehnen- und Hautreflexe sind symmetrisch. Horn- 
haut- und Rachenreflexe sind in normalcr Starke vorhanden. 

Die Sprache ist unauffallig. 

Einfache Fragen werden prompt beantwortet. Von 6 einstelligen Zahlen 
werden 4 richtig wiederholt. Die Merkfahigkeit ist etwas herabgesetzt. Die 
Sohulkenntnisse sind mangelbaft. Rechnet im kleinen Einmaleins richtig, da- 
gegen addiert er 14 26, 23 + 44 nicht richtig und kann 35: 7 nicht aus- 

rechnen. 

Den Inhalt einer kleinen Geschichte kann er nicht wiedergeben, er liest 
ohne jedes Verstandnis. Den Unterschied zwischen Teich nnd Bach, Wasser 
und Eis gibt er richtig, aber umstandlich an. Was Undankbarkeit ist, kann er 
nicht sagen. Er asSOziiert sehr schlecht. Die Ebbinghausprobe misslingt voll- 
standig. Urteilsvermdgen maugelhaft* 

24. 10. Abends 9 ] / 4 nach dem Bettgehen bekommt er einen Krampfanfall 
mit initialem Schrei, stark gerotetem Gesioht und klonischen 
Zuckungen, Urinabgang und Zungenbiss. Nachher schlaft er ruhig 
und weiss anderen Morgens nichts von dem Vorgefallenen. 

30. 11. Zur Arbeit in der Schusterei gefuhrt, musste er zuruckverlegt 
werden, da er in 4 Wochen 2mal Erregungszustande bekommen und mit 
einem Stock auf die Umgebung eingeschlagen hatte. Nachdem er 'im Bett 


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238 Dr. Albert Knapp, 

noch einige Tage erregt gewesen und laut geschimpft hatte, trat allmahlich 
Bernhigung ein. 

21. 1. 1910 auf die Station fur gewalttatige Kranke verlegt. Vor der 
Verlegung sehr erregt, schlug mit einetn Stock gegen die Haustur und musste 
eine Stunde isoliert werden. Darnaeh ging der P/gStundige Transport gut 
von statten. 

15. 3. Meist gehobener Stimmung. Merkfahigkeit stark herabgesetzt. 
Kennt noch jetzt seine Umgebung nicht. Leicht reizbar, schlagt dann mit der 
Kriicke drein. Wird vormittags im Bett gehalten. Zur Arbeit unbrauchbar. 

18. 5. Geistig sehr sohwach. Nicht mehr gewalttatig. 

12. 8. Sohimpft zuweilen. Sonst unverandert. 

28. 10. Schlug nach der Verlegung auf eine andere Station mit dem 
Stock um sich und verletzte seine Umgebung. Sonst ist der Befund gegen 
fruher unverandert, abgesehen davon, dass jetzt dauernd Silbenstolpern 
vorhanden ist. Brom bekommt der Kranke nioht. 

Fall 5 . H. de H. leidet seit dem 6. Lebensjahre an epileptisohen An- 
fallen. Auch der Vater hat in der Jugend an epileptiformen Zufallen gelitten, 
die sich aber spater verloren. Er wird als schwachbegabt bezeichnet und ist 
wegenGeschaftsunfahigkeitinKonkurs gerate.n Die Mutter ist nervos und leidet 
an einer hysterischen Stimmlosigkeit. Haufig treten die Anfalle des Kranken 
nach Verdauungsstorungen auf. Er sieht dann sehr angegriffen 
aus. sinkt lautlos zur Seite, verliert aber angeblich das Bewusst- 
sein nicht immer vollstandig. Die Anfalle dauern angeblich 5 Minuten 
und stellen sich in Pausen von 4—5Wochon ein. Der Kranke sei fruher geistig 
normal gewesen. Vor dem Anfall sei er erregt, sonst gutmiitig. Die Schule 
besuchte er mit geringera Erfolg. Er war 2 Jahre lang in einer anderen An- 
stalt. Da die Anfalle sich hauften, wurde er im Alter von H Jahre zum ersten 
Mai aufgenommen und nach 4 Jahren gebessert wieder enllassen. 

Im April 1902 wurde seine Aufnahme zum zweiten Mai erbeten. Der 
Gesichtsausdruck des jetzt 27jahrigen Kranken ist blode, seine Bewegungen 
langsam, der Kopf nach oben spitz zulaufend. Auf dem linken Fussrucken 
sieht man eine von einer Knochenoperation herriihrende Narbe, an der Zunge 
sieht man die Narben von mehreren Bissverletzungen. 

Die Sensibilitat ist herabgesetzt, die Hautreflexe sind lebhaft, obenso die 
Kniephanomene. 

Hochgradiger Schwacbsinn. Sprache langsam und eintonig. 

April 1902. 2 Serien von Anfallen, deren 4 an 2 Tagen, 3 und 1 Petit 
mal-Anfall in 3 Tagen, 2 andere Petit mal-Anialle erfolgen einzeln, 2mal 2 g 
Bromsalz taglich. 

Im Juni 6 ausgebildete und 1 kleiner Anfall, im Juli 7 gross© und 

1 kleiner. 

Da das Brom ohne erkennbare Wirkung ist und die Zahl der An¬ 
falle sich monatlich ungefahr in gleicher Hohe halt, wird die Dosis auf 2 mal 

2 g herabgesetzt. 


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Sprachstdrungen bei Epilepsie. 


239 


Im Jahr 1903 darchschnittlioh monatlich 4—5 ausgebildete, 2—3 kleinere 
Anfalle. Der Kranke ist stumpf, braucht sehr lange, bis er die einfachste 
Frage beantwortet and ist zeitweise verwirrt and unklar. 

In den Jahren 1904—1906 ist der Zastand unverandert. Zeitweise ist er 
naoh den Anfailen einige Tage benommen und macht dann vollig 
erfandene Berichte dber die Aaordnungen des Arztes. 

1907 98 schwere, 12 leichtere, 10 Petit mai-Anfalle bei 2 g Brom. 

1908 81 schwere, 18 leichte, 48 Schwindel. 

1909 81 schwere, 21 leichte, 51 Schwindel. 

1910, Oktober 67 schwere, 18 leichte, 51 Schwindel bei 3 g Bromkali. 

Korperlioher Zastand unauffallig, keine Zeichen von Bromintoxikation. 
Haut normal. Rachenreflex erhalten. Allgemeine hoohgradige Demenz ohne 
besondere Farbung. 

Silbenstolpern beieinfachen Parad igmen aach in den an fall s- 
freien Zeiten. Sonst ist die Sprache langsam und monoton. 

Fall 6. C.J.ist 1877 geboren und im Alter von 15Jahren in die Anstalt 
aufgenommen worden. Ein Bruder des Vaters ist epileptisch. Im 5., im 
10. Monat und im 5. Lebensjahr hatte sie Kramp fan falle, mit 12 Jahren litt sie 
an Veitstanz. Seitdem 14. Jahr stellten sich wieder typische epileptische An¬ 
falle ein. Sie begannen ohneVorboten mit pinem durchdringenden Schrei, 
der typische Anfall dauerte nur kurze Zeit, wahrend die Bewusst- 
losigkeit sich iiber eine Stunde ausdehnte. Die Anfalle tarten gruppen- 
weise zu 3—4 an einem Tage auf, mit 10—12 Tagen Zwischenpause. 

Zuerst soil das Madchen eine gate Schulerin gewesen sein. Bei der Auf- 
nahme war sie mit ihren 15 Jahren weniger entwickelt als ein lOjahrigesKind. 

In den ersten Jahren hatte sie zuerst bei 4, spater bei 2 g Bromsalz 
durchscbnittlich 6 Anfalle monatlich. Im Jahre 1903 nahmen die AnfaUe bis 
zu 34 monatlich zu, trotz Steigerung der Bromdosisf auf 6 g. 

Im September 1904 hatte sie nacbts einen Status epileptious, 1905 
wiederbolte sich derselbe dreimal, wurde aber durch Amyleninjektionen kou- 
piert; im September 1906, Juli und September 1908 and Februar 1909 trat 
wieder je ein Status epilepticus ein, wahrend sonst die Anfalle ausblieben. 

Seit Februar 1909 ist kein Status epilepticus mehr eingetreten. Dagegen 
stellten sich trotz 2mal 2 g Bromsalz darchschnittlioh 5—6 Anfalle 
monatlich ein ohne Aura mit initialem Schrei and haufigen Zun- 
genbissen und Urinabgangen. Nach den Anfailen ist sie tagelang be¬ 
nommen. 

Was den psychischen Zastand im Oktober 1910 betrifft, so ist die Auf- 
fassungs-and Merkfabigkeit herabgesetzt, die Ausdrucksweise schwer- 
fallig and amstandlich. Das begriffliche Unterscheidungsvermogen und die 
Korobinationsfahigkeit so gat wie aufgehoben. Die Schulkenntnisse sind fast 
ganz verloren gegangen. — Alter und Heimat gibt sie richtig, aber um- 
stan d 1 i ch an. Nachher kommt sie bei jeder Frage wieder darauf zuruok, dass 
sie aas der Rheingegend and dem Regierungsbezirk Wiesbaden sei. 


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240 


Dr. Albert Knapp, 


V 


Sie halt sich far ganz gesund. Die Pflegeschwester ist ihrer Meinung 
nach zam Nahen and Stricken da, ebenso die anderen Kranken. 

Sie ist reizbar, gerat leicht in Streit and ist sehr kraftig. Unterliegt sie 
ausnahmsweise, so droht sie mit den Gerichten. Sonst ist sie stets heiter, zam 
Singen geneigt and erotisch. 

Zaweilen hat sie Anfalle von Geistesstorung. Sie glaubt dann in 
Hoffnang zu sein. Ihr Vater and ihr blinder Bruder liegen bei ihr im Bett. 
Kaiser Friedrich ist ihr Brautigam, der im Astloch oder in den Fassleisten des 
Bodens sitzt und dem sie Brocken von ihrer Speise hinlegt. Sie legt sich um- 
gekehrt ins Bett, mit dem Kopf am Fussende. Auf andere, die ihr Zimmer be- 
treten, ist sie eifersdchtig. 

Korperlich ist sie wohl. Abgesehen von Steigerang der Kniephanomene, 
Hautschrift und Herabsetzung des Rachenreflexes ist niohts Auffalliges nach- 
zaweisen. Der Hornhautreflex ist vorhanden. Die Hant ist rein. Ihre Be- 
wegungen sind tappisch, aber sehr flink, wenn sie davon laufen oder Essen 
holen will. 

Auch bei verhaltnismassig einfachen W or ten ist Silbenstolpern ver- 
handen und haufige Silbenauslassungen. 

Fall 7 . E. E. wurde im Alter von 30 Jahren im Juni 1905 in die An- 
stalt aufgenommen. Ein Bruder war Epileptiker, ein anderer hat sich selbst 
entleibt. Die Eltern sind gesund. Kbrperlioh und geistig hatte sich das 
Madchen gut entwickelt, sie war eine gute Schulerin, ist aber jetzt geistig 
sehr schwach geworden. Die Menstruation erfolgte seit dem 16. Jahre regel- 
massig. 

Die epileptischen Erscheinungen begannen im 12. Lebensjahre; zunachst 
waren es nur Schwindelanfalle, jetzt sind es ausgebildete Krampfan¬ 
falle, die nur nachts ohne Aura etwa zwei Mai wdchentlich sich 
einsteilen. 

Korperlich lasst sioh niohts Besonderes finden. 

Sie lachi und grimassiert bestandig, ist auf die moisten Fragen nicht zu 
fixieren und vermag selbst ihre Personalien nur liickenhaft anzugeben. Die 
Schulkenntnisse sind gleich Null. Auf die Frage nach der Provinz, nach dem 
Namen und Wohnort des Kaisers gefragt, bleibt sie die Anwort sohuldig. 

Im Jahre 1906 sinkt die Zahl der Anfalle bei 2mal 4 g Bromkali >uf 30. 

Sie stellen sich stets nur bei Nacht ein. 

„ „ 1907 werden bei 2mal 3 g Bromkali 21 

n „ 1908 „ w 2 n 3g w 13 

. * 1909 * * 2 „ 3 g * 21 Anfalle 

beobachtet. 

Nach den Kranken bench ten hat sich das Befinden der Kranken nie ge- 
andert. Sie sitzt dauemd fast ganzlich untatig da, ist entweder ausgelassen, 
lappisch und albem oder gereizt und zu Tatlichkeiten geneigt. Beim gering- 
sten Anlass schlagt sie in blinder Wut mit den Fausten oder Schuhen auf die 
Mitkranken. 


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Sprachstorungen bei Epilepsie. 


241 


Oktober 1910. Bei 2mal 3 g Bromkali taglich treten die Anfalle duroh- 
schnittlich 2mal monatlich aaf, immer ohne Aura, durch initialen Scbrei sich 
anmeldend, stets nur bei Naoht, in typiscber Ausbildung. Am Tage nacb den 
Anfallen ist die Kranke benommen und reizbar. Auch gegenwartig zeigt sie 
sich reizbar, gewalttatig und nachtraglich. 

Die Auffassungs- und Merkfahigkeit ist schlecht (365 wird nacb 
2 Minuten nicht agnosziert). Das begriffliche UnterscheidungsvermSgen und 
die Scbulkenntnisse sind so gut wie vdllig geschwunden. 

Ihr Alter gibt sie falsch (auf 39 statt auf 35 Jahre) an, weiss ihr Geburts- 
jabr nicht, will schon 10 Jahre (statt 5) in der Anstalt sein. 

Die pflegendeSchwester ist, wie sie glaubt, zur Dnterhaltung der Kranken 
da. Sie halt sich nicht fur krank und behauptet, sohon seit Jahren anfallsfrei 
zo sein. Sie weiss ebenso wenig den Grund, warumsie in der Anstalt ist, als 
was den anderen Kranken fehlt. 

Sie ist ouphorisch und geschwatzig, kommt immer wieder auf sich selbst 
su sprechen, erzahlt weitlaufig von ihrerFamilie, ihrerKrankheit, ihren Zahnen, 
ihren kirchlichen Leistungen. 

Korperlich ist sie wohl. Die Kniephanomene sind gesteigert, die 
mechanische Erregbarkeit der kleinen Hautgefasse und der Muskeln erhdht, der 
Kornealreflex vorhanden, der Rachenreflez aufgehoben. Die Haut ist rein, der 
Atem nicht ubelriechend, auoh sonst sind keine Zeichen von Bromismus 
vorhanden. 

Die im ubrigen unveranderte Spraehe ist artikulatorisch gestort. Han 
beobaohtet dauernd deutliches Silbenstolpern. 

Fall 8. Die Kranke J. S. ist nach den Angaben der Angehdrigen erb- 
lich nicht belastet und eine gute Schiilerin gewesen. Im 16. Lebensjahre trat 
ohne ausseren Anlass der erste typische Krampfanfall auf. Zunaohst wieder- 
holten sich die Anfalle alle 3—4 Wochen, dann steigerte sich die Zahl: im 
20. Jahr hatte sie dieselben oft dreimal taglich. 

Dieselben beginnen ohne Aura mit lautem oft lange anhatyendem Schrei. 
Es folgen tonisch-klonische Krampfe des ganzen Korpers bei vdlligem 
Bewusstseinsverlust mit Pupillenstarre und terminalem Sohlaf. 

Im Juli 1898 tritt die Kranke in ihrem 20. Lebensjahre in die Anstalts- 
pflege ein. ' 

Abgeseben von Blutarmut, Schwellung der Nasenmuschel und nasalen 
Spraehe ist der korperliche Befund unauffallig. Ueber den geistigen Zustand 
istnotiert: „Rechnet schlecht, 3 X 8 = 35, liest ohne Verstandnis. Hat 
st&rke Gedachtnisdefekte tt . 

1899 warden durchsohnittlich 8 Anfalle, 

1900 „ * 7 „ 

1901 „ „ 10 „ 

moDAtlicb festgostellt. • 

1902 wird die Spraehe als lallend bezeichnet. Bei 2mal 4 g Brom¬ 
kali vermindert sich die Zahl der Anfalle nicht. 

AnsUv r. Prf«hi»trie. Bd. 80. Hert I. jg 


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242 


Dr. Albert Knapp, 


1903. Znweilen stellen sich nach Anfallen Erregungszustande mit Ge- 
horstausch ungen ein. 

1908 werden bei 2mal 2 g Bromkali % Anfalle, 

1909 „ « ^ j) 2g tj r) 

jahrlich gezahlt. 

1910 wird das Bromkaliquantum zunachst auf 2 g taglich herabgesetzt, 
nach einigen Monaten ganz weggelassen. Die Zahl der Anfalle andert sich 
nicht wesentlich, Monatlioh sind es durchscbnittlich 5,9. 

Ohne Aura mit initialem Schrei, Urinabgang und terminalem Schlaf haben 
die Anfalle durchaus typischen Charakter. Nachher ist die Kranke ganz munter. 

Die Intelligenzdefekte sind sehr stark. Merkfahigkeit, Auf- 
fassungsfahigkeit. Gedachtnis, Schulkenntnisse, Kombinationsfahigkeit und be- 
griffliches Unterscheidungsvermogen sind sebr schlecht. Sie kann auch im 
Rahmen des kleinen Einmaleins nicht rechnen, gibt die Zahl der Tage im Jahr 
auf 44 an, die Zahl der Wochentage auf 10. 

Sie halt sich fiir „ganz gesund u , glaubt, dass die pflegende Schwester 
hier sei, , 7 um frohlich zu leben u , die anderen Kranken „zu besserer Arbeit tt ^ 

Sie ist euphorisch, tibermutig, reizbar, gewalttatig, hort zuweilen Stitn- 
men, bezieht alles, was gesprochen wird, auf sich, macht sich aus Strumpfen 
und Lumpen Puppen, die sie als Wickelkinder von verschiedenem Alter und 
Namen bezeichnet. Augenblicklich sind es zehn. Sie spricht gern von ihren 
Entbindungen, ist sehr religios, behauptet ihre Menses verloren zu haben und 
reibt sich mit Kot ein, urn den Blutfluss wieder hervorzurufen. (Sie ist erst 
32 Jahre alt und menstruiert etwas unregelmassig.) 

Korperlich ist sie wohl. Die Extremitaten sind zuweilen kuhl. Dio 
Kniescheibenreflexe sind gesteigert, dieHornhautreflexe normal, derRachenreflex 
stark herabgesetzt. Sonst ist der korperliche Befund unauffallig. Sie klettert 
sehr gewandt. 

Die Sprache ist meist verwasohen und 1 all end, zuweilen dann wieder 
auffallend fliessend. Standig ist Silbenstolpern auch bei anderen 
Worten vorhanden (z. B. Elektrizizitat, Oberburgcrmeimeister). Die Sprach- 
storung bleibt auch nach wochenlangem Aussetzen des Broms 
bestehen. 

Nachdem ich Silbenstolpern bei Epileptikem wiederholt beobachtet 
hatte, habe ich unter den 2100 epileptischen Kranken der Anstalt etwa 
500 auf das Symptom hin untersucht und die Sprache in neun Fallen* 
von denen ich mitteilen kann, ausgesprochen und dauerud silbenstolpemd 
gefonden. Angedeutet und weniger ausgesprochen habe ich das Symptom 
sehr viel hHufiger beobachtet, besonders bei Kranken, die sich auch 
durch das Vorhandensein der objektiven neurasthenischen Kennzeichen 
als Neurastheniker verrieten. Ware ich imstande gewesen, meine Onter- 
suchungen fortzusetzen, so hatte ich wohl das Silbenstolpern noch 
haufiger nachweisen konnen. 


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SprachstSrungen bei Epilepsie. 


243 


Unter deo mitgeteilten Krankengeschichten nimmt die letzte eine 
Sonderstellung ein. Ich babe diesen Kranken am Anfang meiner Tatig- 
keit an der Nervenklinik in Halle beobacbtet und verdanke die Udg- 
lichkeit, meine Krankengeschichte noch einmal einzusehen, dem Ent- 
gegenkommen von Herrn Geheimrat Anton, einige ergfinzende Notizen 
der Freandlichkeit von Herrn Prof. Alt. In diesem Fall bandelte es 
sich am einen wochenlang daaernden Dammerzustand, der anfaogs 
Ofter von halluzinatorisch bedingten Erregungszustanden and Verfolgungs- 
vorstellungen unterbrochen war und wabrend der rabigeren Zeiten ganz 
unter dem Bild eines Korsakow’schen Symptomenkomplexes sich 
darstellte. Das schon bei der Aufnahme am 8. Januar nacbweisbare 
Silbenstolpern steigerte sich spater immer mebr, ohne sich 
durch den Eintritt der Erregungszustande beeinflussen zu 
lassen, und konnte bis zar Ueberfuhrung nach Dcbtspringe am 
13. Februar nacbgewiesen werden. In Uchtspringe war am 2. Marz 
mit dem Korsakow’schen Symptomenkomplex auch das Silbenstolpern 
verschwunden. 

Wahrend in diesem Fall das Silbenstolpern nur voruber- 
gehend wahrend eines Dammerzustandes und anderer psychi- 
scher Veranderungen, wenn auch mebrere Wochen lang, vor- 
banden war, war es in alien anderen Fallen als Dauersym- 
ptom unabhangig von den epileptischen Zufallen festzustellen. 
Wenn also Nadoleczny bei der Besprechung der Veranderungen der 
Ausseren Spracbe der Epileptiker das Urteil -abgibt: „Dauernde Sprach- 
stdrungen scbeinen seltener zu sein, als vorfibergehende Artikulations- 
bebinderung u and wenn, wie wir gesehen haben, dieses Urteil im all- 
gemeinen fur die ubrigen Arten der artikulatorischen Storung zutrifft, 
scheint es fur das Silbenstolpern keine Geltung zu haben. 

Bei den Kranken E. E. und K. L. war ebenso wie bei dem Kranken 
Ph. G. das Silbenstolpern das einzige sprachliche Symptom, 
bei den anderen war es mit andern Artikulationsveranderungen 
verBchwistert. Bei samtlichen Kranken bestanden die epileptischen 
Veranderungen schon jahrelang, fast bei alien beganuen die Krampfe 
schon in frdher Kindheit. Drei von ihneu litten an der besonders 
omin&sen Serienepilepsie, die geistig schwachste an wiederholten An- 
Alien von Status epilepticus. Bei alien waren erhebliche lntelligenz- 
defekte nacbzuweisen und war der Nachlass der geistigen Krftfte 
schon in der Jugend offenkundig geworden, so dass ein besonders 
rascher und b&sartiger Verlauf der Krampfkrankheit ange* 
nommen werden muss. Vier von den Kranken befanden sich in 
einem Zustand hochgradiger Verblddung, der weniger demente Kranke 

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Dr. Albert Knapp, 


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Ph. G. mit seinem Damraerzustand hatte kurz nach dem Einsetzen der 
Anfalle seine fruhere berufliche Tuchtigkeit vollkommen eingebfisst, der 
starke Ruckgang der geistigen Krafte erfolgte bei dem Kranken K. L. 
innerhalb eines Jahres ohne Bromsalze unter meinen Augen, namentlich 
war auch der Nachlass der Merkfahigkeit sehr dentlich, der Kranke 
A. t. 0. vermocbte sich zwar Kenntnisse in vier Sprachen anzueignen 
und zu eri>alten, konnte sich aber nur die elementarsten Schulkenntnisse 
muhevoll erwerben und zeigte im ubrigen scbon in jungen Jahren seine 
geistige Schwfiche, und der verhfiltnismfissig geistig lebendigste G. v. A. 
hatte selbst das Geffihl, unter unseren Augen an geistigen Fahigkeiten 
einzubfissen. 

Bei sfimtlichen Kranken war speziell die Merkfahigkeit und 
meist auch die Auffassungsfabigkeit wesentlich herabgesetzt, 
bei mehreren so gut wie aufgehoben. Diese Beobachtung bedarf desbalb 
besonderer Erwabnung, weil bei andern epileptischen Verblodungszu- 
stfinden die Merkfahigkeit oft auffallend lange gut bleibt. Vier von den 
Kranken litten an psychischen Stflrungen. Von H. d. H. wurde 
angegeben, dass er zeitweise verwirrt und unklar war, Ph. G. batte in 
seinen Dammerzustanden Anfalle von halluzinatorisch bedingtem phan- 
tastischem Verfolgungswabn, J. Sch. hatte neben zeitweise auftretenden 
Phonemen und Beziehungsideen einen Dauerzustand, der am meisteu 
Aehnlichkeit mit einer paralytischen Manie hatte, bei C. J. traten An¬ 
falle auf mit auto psych ischer und allopsychischer Desorientierung und 
monotonen phantastischen Wahn- und Grfissenvorstellungen. 

Fast alle Kranken wurden von zahlreichen Anfallen beimgesucht. 
Meist waren es ausgebildete typische Krampfanfalle; nur bei dem Kranken 
G. v. A. spielten die taglich auftretenden kleinen Anfalle die Hauptrolle. 

Bei mehreren Kranken war frfiher die Wahrnehmung gemacht 
worden, dass Bromsalze wirkungslos waren. Bei dem Kranken 
G. v. A. gelang es, durch geringe Bromdosen (2 X 2 g Bromsalz) und 
kochsalzarmere Kost die Anfalle zum Verschwinden zu Jbringen, ohne 
dass das Silbenstolpern aufgehort hatte. 

Fast immer sind die Sprachstdrungen in unsern Fallen als 
einziges kdrperliches Symptom ohne andere neurologische 
Veranderungen im anfallfreien Intervall nachzuweisen gewesen. 

Wenn wir nach der Ursache des Silbenstolperns forschen 
wollen, mussen wir uns in erster Linie fiber das Verhfiltnis des Kranken 
zu den Bromsalzen im Klaren sein. Da Silbenstolpern sowohl nach 
meinen Wahrnebmnngen, als auch nach der Ansicht yon Binswanger 
bei der Bromvergiftung vorkommt, mussen wir erst den chronischen 
Bromismus ausschliessen kdnnen, ehe wir das Symptom als durch die 


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Spracbstorungen bei Epilepsie. 


245 


epileptischen Veranderungen bedingt ausehen. Bei alien unsern 
Kranken kann eine Brom in toxitation, bei einzelnen selbstBrom- 
medikation mit Sicherbeit ausgeschlossen werden. Die Kranken 
Ph. G. und K. L. haben uberhaupt kein Brom erhalten, bei dem Kranken 
G. v. A. war die Bromdarreichung scbon monatelang ausgesetzt, als ich 
das Silbejiftolpern feststellte, die Kranke J. Sch. hatte wenig Brom 
erhalten und die Spracbstdrung Suderte sich auch nicht, als das Brom 
weggelassen wurde, die Kranken H. de H. und C. J. erhielten nur 
2X1? bezw. 2 X 2 g t&glich, nur den Kranken E. E. und A. v. 0. 
wurden grGssere Bromdosen (je 2 X 3 g Bromsalze) gereicht. Aber auch 
bei den letzteren kann die Sprachstdrung dem Brom nicht zur Last ge- 
legt werden. Bei ihnen, wie bei den ubrigen Kranken war das kflrper- 
liche Befinden gut und waren Zeichen einer Bromvergiftung nicht vor- 
handen. Die Haut war bei alien rein, die Bewegungen ungestbrt, Hande 
und Zunge zitterteu nicbt, die Sehnenreflexe waren nicht abgeschw&cht, 
die Pupillen normal, die Kornealreljexe waren vorhanden, nur bei den 
zwei Kranken E. E. und C. J. war der Rachenreflex aufgehoben. 

Eine direkte AbhAngigkeit von den Krampfanfallen war 
schon doshalb auszuschliessen, weil das Silbenstolpern 
dauernd, uicht bloss postkonvulsivisch vorhanden war. Ueber- 
dies blieb bei dem Kranken G. v. A. das Silbenstolpern zuriick, nachdem 
die Anf&lle wochenlang durch therapeutische Maassregeln ausgesetzt 
batten; und war bei dem Krauken Ph. G. nur ein ausgebildeter Krampf- 
anfall w&hrend der psychiscben Storungen vorhanden. 

Immerhin ist es in manchen Fallen nicht ausgeschlossen, dass das 
Silbenstolpern alspostkonvulsivisches Erschbpfungssymptom 
anzusehen ist, wie es bei den aphasischen StOrungen und bei manchen 
transitomchen Lahmungen der Fall ist. Da Silbenstolpern bei der 
Ruckbildung motorischer Aphasien haufig beobachtet werden 
kann, so k5nnte man wenigstens bei dem Kranken G. v. F., der haufig 
eine motorische Aphasie als Aequivaleut und als postkonvulsivisches 
Symptom hatte, daran denken, das Silbenstolpern mit der motori- 
schen Aphasie in Zusammenhang zu bringen und es wie diese als 
Erschdpfungssymptom zu deuten. Da aber das Silbenstolpern dauernd, 
auch unabhangig von den Anfallen vorhanden war, kommt diese. Er- 
klarung auch fur den Patienten G. v. A., geschweige denn fur die 
ikbrigen Kranken nicht in Betracht. 

Berucksichtigt man die spontanen Klagen des Kranken Ph. G.: 
n Es zuckt mich so im Maul, wenn ich viel spreche“ und n es zuckt 
immer im Mund, da vergesse ich alles u , so kdnnte man auf den Ge- 
danken kommen, dass die lastigen und offenbar die Aufmerksamkeit 


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246 


Dr. Albert Knapp, 


in Anspruch nebmenden Sensationen das Silbenstolpern mit veranlasst 
haben kOnnten. Diese Klage ist aber vereinzelt and derartige Sensationen 
sind kejneswega die Regel. 

Wenn F6re die artikulatorischen Sprachstbrungen ganz allgemein 
durcb eine Koordinationsstbrung der Znngenmuskeln so erkliren 
sucht und mit seinem Glossodynamometer eine Herabsetzung der groben 
Kraft der Zungenmuskeln als ihre Ursache festgestellt zu haben glaubt, 
so trifft diese Erkl&rung weniger fur das Silbenstolpern, das ibm als 
epileptisches Symptom flberdies nicht bekannt ist, als fur die andero 
ibm bekannten artikulatorischen Stbrungen zu und kann fur die Mehr- 
zahl der Ffille von .Silbenstolpern nicht in Betracht kommen. 

Nacb der Ansicht von Wernicke, die jetzt wohl die allgemein 
giltige ist, kommen als Ursache fur das Silbenstolpern drei Krankheiten 
in Frage: 1. die progressive Paralyse, 2. die motoriscbe Aphasie, 
3. der cbronische Alkoholismus, besonders das Delirium tremens. Wenn 
wir nach unsern Erfahrungen diesen drei Krankheiten die Epi- 
lepsie als vierte an die Seite stellen mfissen, so ist es das wahr- 
scheinlichste, dass auch bei ibr dieselbe anatomische oder pbysiologische 
Ursache fur diese Sprachstbrungen anzunehmen ist, wie bei den drei 
andern, d. h. dass es sich urn leichte Verfinderungen in der motori* 
schen Sprachregion handelt. Diese Ver&nderungen sind bei der 
motorischen Aphasie, wenn im Rfickbildungsstadium Silbenstolpern auf- 
tritt, und beim Delirium tremens reparabel, bei der Paralyse immer, 
bei der Epilepsie in der Regel, wenigstens gilt das fur unsere F&lle, 
irreparabel. 

Silbenstolpern als epileptisches Symptom ist fast ganz 
unbekannt. Nicht bloss ist es in keinem neurologischen und internen 
Lehrbiicher erw&hnt, sondern auch in keiner der Uonographien fiber 
Epilepsie bertlcksichtigt. Nur in der Wiedergabe der Krankengeschichte 
eines an Petit mal leidenden Kranken von Binswanger ist bemerkt, 
dass die Sprache einmai silbenstolpernd gewesen sei, ohne dass weitere 
Schlussfolgerungen daraus gezogen worden wfiren, und Nadoleczny 
erw&hut unter den Ver&nderungen der fiusseren Sprache bei Epileptikern 
auch das Silbenstolpern. 

Und docb verdient das Symptom aile Aufmerksamkeit, weil unter 
Umst&nden die Differentialdiagnose gegenfiber der progres- 
sivenParalyse dadurch erschwert undVeranlassungzu Fehldiagnosen 
gegeben werden kann. Einerseits kommen bei der Paralyse bekanntlich 
epileptiforme Zust&nde vor, die sich vom typischen epileptischen Krampf- 
anfall in keiner Weise unterscheiden, andererseits kommen bei der 
Epilepsie ausser dem Silbenstolpern eine Reihe von Symptomen vor, 


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Sprach stdrungen bei Epilepsie. 


247 


die als charakteristisch fur die Paralyse gelten, so Pupillenstdrungen, 
Verftnderungen der Sehnenreflexe, Gangstdrungen, Tremor der Zange und 
Lippen, lallende und verwaschene Sprache, Silbenauslassungen, Schrift- 
ver&nderungen und unter den psychischen Symptomen hauptsHchlich 
Herabsetzung der Merkf&higkeit und Auffassungsf&higkeit. Auch die 
epileptische Demenz kann der paralytischen gelegentlich zum Verwechseln 
fihnlich sein, und der Symptomenkomplex einer epileptischen Psychose 
kann den psychischen Stdrungen bei Paralyse gleichen. Wurde man 
allein mit dem psychischen Status der Kranken G. J. und J. Sch. be- 
kannt gemacht, so wurde man gewiss zuerst an Paralyse dcnken. 

Der Psychiater und Neurologe hat daher alien Grund, dem Symptom 
des Silbenstolperns bei Epilepsie Aiifmerksamkeit zu schenken. 


Literatnrverzeichnig. 

1. Binswanger, Otto, Die Epilepsie. 2. And. Wien und Leipzig. 1913. 

2. F4r6, Charles, Die Epilepsie. Uebersetzt von Paul Ebers. Leipzig. 1896. 

3. Furstner, Ueber einige nach epileptischen und apoplektischen An fallen 
auftretende Ersoheinungen. Arch. f. Psych. S. 518. 

4. Duclos, Etudes cliniques pour servir a l’histoire des convulsions de 
Penfance. 1854. S. 36. 

5. Heilbronner, Bedeutung aphasischerStdrungen beiEpileptikern. Zentral- 
blatt f. Nervenheilk. 1905. 

6. Hinrichsen, Beitrag zur Kenntnis des epileptischen lrreseins. Allgem. 
Zeitschr. f. Psych. 1911. Bd. 73. 

7. v. Jacksoh, Die Vergiftungen. 2. Aufl. 1910. 

8. Robert, Lehrbuch der Intoxikationen. 2. Aufl. 1906. 

9. Lewin, Die Nebenwirkungen der Arzneimittel. 2. Aufl. 1893. 

10. Liepmann, Epileptische Geistesstdrungen. Deutsche Klinik. Bd. 6. 

11. Nadoleczny, Beitrag zur Kenntnis der Physiologic, Pathologic und 
Thcrapie der Sprache. Heransgeg. v. H.Gutzmann. Monatsschr. f. Spraoh- 
beilknnde. Berlin. 1908. Bd. 18. 

12. Pick, A., Ueber die sogenannte Revolution nach epileptischen Anfallennsw. 
Archiv. f. Psych. Bd. 22. 

13. Racke, Das Verhalten der Sprache in epileptischen Verwirrtheitszustanden. 
Mnnchener med. Wochenschr. 1904. 

14. R&oke, Znr Symptomatology des epileptischen lrreseins usw. Archiv f. 
Psych. Bd. 41. 

15. Sohnlze, W., Beitrag znr Kenntnis der SprachstSrungen der Epileptiker. 
Inaug.-Diss. Gottingen. 

16. Knapp, Albert, Epilepsie und Korsakow’soher Symptomenkomplex. 


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XI. 


Aas der psychiatrischen und Nervenklinik Rostock -Gehlsheim 
(Direktor: Prof. Dr. Kleist). 

Untersuchungen uber fermentative Yorgange im 
Yerlaufe der endogenen Verblodungsprozesse ver- 
mittels des Abderhalden’schen Dialysierverfahrens, 

und iiber die differentialdiagnostisehe und forensische Yer- 
wertbarkeit der Methode in der Psychiatrie. 1 ) 

Von 

Dr. med. Gottfried Ewald, 

Assistent der psychiatrischen und Nervenklinik Rostock-Gehlsheim. 

Wenn ich heute fiber Untersachungen serologischer Art bei den 
endogenen VerblOdungen berichte, so kommt bier nur ein begrenztes 
Gebiet zur Darstellung, mit dem wir uns im Verlaufe des letzten balben 
Jahres mit grosserer Intensitat an unserer Klinik beschaftigt haben, 
namlich die serologische Erforschung der endogenen Verblodungsprozesse 
vermittels des Abderhalden’schen Dialysierverfahrens. 

Die Verfiffentlichungen Fauser’s Ende 1912 fiber seine Ergebnisse 
mittels des Abderhalden’schen Dialysierverfahrens in der Psychiatrie 
riefen ein ausserordentlicbes Aufsehen hervor. Bekanntlich kam Fauser 
im weiteren Verlauf. seiner Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass in 
Fallen von Dementia praecox und bei anderen organischen Gehirn- 
erkrankungen, besonders bei Paralyse, fast immer ein Organabbau im 
Dialysierversuch nachgewiesen werden konnte. Dagegen fand er niemals 
Organabbau bei Gesunden und bei den sogenannten funktionellen Psy¬ 
chosen, dem manisch-depressiven Irresein, Hysterie und Psychopathie. 
Ihm war damit ein objektives Kriterium an die Hand gegeben, urn eine 
funktionelle Psychose von einem organischen, zu Defekten ffihrenden 
Leiden zu trennen. Bei der Ueberzeugung, mit der Fauser seinen 

1) Nach einem Vortrag auf dem Norddeutschen Psychiatertag vom27.7.1918 
in Rostock-Gehlsheim. 




Fermentative Vorgang& im Verlaufe d. endogonen Verblodungsprozesse asw. 249 

Befunden vertraute, ist es nicht Wander zu nehrnen, dass er auch bald 
zu weittragenden praktischen Schlussfolgerungen und Nutzanwendungen 
fiberging. Im Hinblick darauf, dass der Organabbau von Drfisen mit 
innerer Sekretion eine Dysfunktion dieser Drusen ihm zu beweisen schien, 
anternahm er operative Eingriffe, z. B. Strumektomien, und glaubte 
tats&chlich dadurch nicbt nur Besserungen, sondern sogar Heilungen der 
operierten Psycbosen eintreten zu sehen. Auf der anderen Seite schien 
ihm durch die Ergebnisse der Untersucbungen eine wertvolle Bereiche- 
rung auch fur unsere forensische Begutachtung an die Hand gegeben. 
Die serologische Diagnose ermOglichte es seiner Ansicht nacb, Simu- 
lanten und Psychopatben von beginnenden Hebephrenen objektiv zu 
nnterscheiden, er glaubte, die serologische Diagnose fiber die klinische 
Beobachtung stellen zu dfirfen, und auf Grand des Ergebnisses des 
Abderhaldeu-Versucbes sollte die Berechtigung zu einem operativen 
EingrifF, die Berechtigung zu einer gerichtlichen Verarteilung oder Frei- 
sprechung gegeben sein. 

Bei der ungeheuren und weittragenden Bedeutung dieser Befunde 
und Ueberlegungen ffir die theoretische Wissenschaft und die praktische 
Medizin ist es wohl verst&ndlich, dass sich in kfirzester Zeit eine Ffille 
von Autoren dieses neuen Arbeitsfeldes bemfichtigte, und in den 
l 1 /* Jahren bis zum Ausbruch des Krieges waren samtliche Zeitschriften 
uberschwemmt von einer Flut von Arbeiten auf diesem Gebiet. 

Els lag in den Ergebnissen Fauser’s, in seinen Rfickblicken und 
Ausblicken, wie er es nannte, etwas ausserordentlich Bestechendes, und 
nur wenige, die sich damals mit der neuen Methode befasst haben, 
werden sicb dem enormen Einfluss und der suggestiveh Wirkung der 
Fauser’schen Ideen ganz haben entziehen kfinnen; schien sich uns 
doch eine MOglichkeit aufzutun, in das Dunkel der Aetiologie der 
Psycbosen einzudringen. So kam es, dass mancher Forscher die immer 
noch mit Vorsicht und Reserve von Fauser aufgestellten Leitsatze als 
vollendete Tatsachen nahm, und dass bei Berficksichtigung der ausser¬ 
ordentlich diffizilen Methodik — und Abderhalden hat selbst immer 
wieder betont, wieviel von der peinlichen Durchfuhrung der Reaktionen 
abh&ngt — an der Spitze der Ergebnisse einer Arbeit der Satz stehen 
konnte: „Paradoxe Reaktionen sind Ausfluss von Versuchsfehlern". Als 
2. Satz wurde vom Autor dieser Arbeit, Wilhelm Mayer, die Be- 
hauptung aufgestellt: „Das Serum von Dementia praccox-Kranken ent- 
h&lt immer Abwehrfermente gegen Geschlechtsdrusen, es enthfilt meist 
Fermente gegen Hirnrinde und Thyreoidea u , und 3.: „in der Grappe 
der funktionellen Psychosen ist kein Abwebrferment im Blut gefunden 
worden“. 


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250 


Dr. Gottfried Ewald, 


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Diese Resultate blieben allerdings nicbt lange unwidersprochen. 
Ich will hier gleich hinzuffigen, dass Mayer seinen Stand pun kt sehr 
bald finderte, er verOffentlichte bald darauf eine neue Statist!k, in der 
von einem negativen Ausfall der Reaktion in 23 pCt. der Dementia 
praecox-Kranken berichtet wurde, blieb allerdings die Begrfindung der 
Aenderung seiner Ergebnjsse schuldig. 

Am schfirfsten hat wohl Plaut gegen die Ergebnisse der Abder- 
balden’scben Untersucbungsmethodik Front gemacht, indem er den 
Abderhalden’scben Abwehrfermenten jeglicbe Spezifit&t absprach. Be- 
rechtigt glaubte er sicb dazu dadurch, dass Ontersuchungen von Seren, 
die er an Fa user und an den frfiheren Abderhalden’schen Assistenten 
und einen seiner eifrigsten Anh&nger, Lam p6, einsandte, einen wesent- 
licben Unterschied zwisehen Dementia praecox einerseits und dem 
maniscb-depressiven Irresein, Hysterie und Psychopathie anderseits, nicbt 
erkennen liessen. Auch von experimenteller Seite her griff er die 
Methode an, indem er nachzuweisen suchte, dass durch physikalische 
Einwirkung seitens anorganiscber Substanzen, wie Kaolin, Barium- 
sulfat usw., auf Blutserum auch positive Niubydrinreaktion erzeugt 
werden kann. Die Rolle der anorganischen Substanz sollte im Abder- 
baldenversucb dem Organsubstrat zufallen, und also auf rein pbysikali- 
schem Wege ein — naturlich unspezifiscber — Abbau vorget&uscht 
werden. Die giinstigen Resultate der anderen Autoren glaubte Plaut 
lediglich auf Suggestivwirkung zurfickfuhren zu mfissen, ist damit aber 
zweifellos fiber das Ziel hinaus gegangen. 

Es wurde viel zu weit ffihren, wollte ich heute auf die Frage der 
Spezifit&t der Abwebrfermente an sich eingehen. Ffir micb existiert 
eine solche mit Bestimmtbeit in weitgehendem Masse, und die grosse 
Mehrzahl der Autoren, die sich des weiteren mit dem Studium der 
Abwehrfermente befasst baben, hat eine solche anerkannt. 

Damit ruckte die Frage immer mehr in den Vordergrund, ob es 
gelingen wurde, tatsficblich die Dementia praecox-Gruppe scharf von 
der Gruppe der funktionellen Psychosen zu trennen. In diesem Punkte 
divergierten die Ansichten bei Kriegsausbruch noch ganz ausserordent- 
lich. Auf der einen Seite Fauser, Mayer, Bundscbuh und Rfimer, 
Maass u. a., die so gut wie nie Abbau bei den funktionellen Psychosen 
und Psychopathien sahen, auf der anderen Seite Bowman, van Hasselt, 
Schwarz u. a., die ebenso oft bei diesen wie bei den Verblfidungs- 
prozessen positive Reaktionen erhalten baben wollten. Eine grosse Zahl 
Autoren hielt sich allerdings in der Mitte, es seien nur einige wenige 
wie Sioli, Runge, Rosental und Hilffert genannt, sie fanden zwar 


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Fermentative Vorgange im Verlanfe d. endogenen Verbloduogsprozesse usw. 251 

anch bei Manisch-depressiven und Hysterikern nicht ganz selten Abbau, 
jedoch bei weitem nicht so hilufig wie bei Dementia prapcox. 

Kurz vor dem Kriege nahm nun die Friedrichsberger Anstalt, 
besondera Kafka und Rautenberg wieder die Frage auf, ob nicht 
die Abderbalden’scbe Reaktion doch geeignet erscheine, in klinisch 
sweifelbaften Fallen bei gerichtiicber Begutachtung den Ausscblag zu 
geben, und sie beautworteten die Frage in bejabendem Sinne 1 ). Wie 
der voijfihrige Norddeutsche Psychiatertag zeigte, konnten sie fiber 
gfinstige Erfolge bericbten; die betreffenden Kliniker fiusserten sich 
dahin, dass ihnen das Grgebnis der serologischen (Jntersuchungen stets 
eine angenehme (Jnterstfitzung gewesen sei bei Beurteilung schwer zu 
rubrizierender forensischer Ffille. Um Missverst&ndnisse zu vermeiden, 
mftcbte ich hier betonen, dass die Friedrichsberger Anstalt sich damals 
keineswegs auf den Standpunkt stellte, den Niescytka vor dem Kriege 
nocb dahin prfizisierte, dass die serologieche Diagnose an Wert die 
klinische fiberwiege. Dies hat die Debatte auf dem vorjahrigen Nord- 
deutschen Psychiatertag einwandfrei ergeben; sie zeigte allerdings gleich- 
seitig auch, dass die Mehrzabl der Dntersucher sich mit Entschiedenheit 
ablehnend verhielt gegenfiber der in Hamburg gefibten praktischen 
Verwertbarkeit der Abderhalden’schen Methode in gerichtlichem Betriebe. 
Ich werde zu dieser Frage noch spfiter Stellung nehmen. 

Wenn ich jetzt dazu fibergehe, fiber meine Befunde bei endogenen 
Defektpsychosen zu berichten, so lege ich die nach Kraepelin fibliche 
Einteilung zugrunde, unterscbeide also zwischen Katatonie, Hebephrenie, 
Schizophrenie (Scbizophasie) und paranoider Demenz. 

Untersucht wurden im ganzen 41 verschiedene Praecoce, von diesen 
eine grOssere Zahl zu wiederholten Malen, so dass sich die Zahl der 
aogestellten Reaktionen auf 86 bel&uft. Inzwischen ist sie auf weit fiber 
100 Reaktionen angestiegen, ohne dass deshalb eine Aenderung in den 
gleich mitzuteilenden Resultaten dadurch eingetreten ware. 

Lege ich die Zahl der Personen zugrunde, so hatte ich unter 
41 Fallen 8, die dauernd ganz negativ waren, also 

80,6 pCt. positiv, 19,6 pCt. negativ. 


1) Im Privatgesprach erklarte mir Kafka, er persdnlich trete keineswegs 
so ffir die Verwertung der Abderhaldenreaktion im forensischen Betriebe ein, 
es werde nur der Dialysierrersucb immer wieder von Seite der Kliniker von ihm 
erbeten. 


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252 


Dr. Gottfried Gwald, 


Lege ich die Zahl der uberbaupt angestellten Untersuchungen zu- 
grande, so fanden sich unter 86 Reaktionen 19 negative, also 

77,9 pCt. positiv, 22,1 pCt. negativ. 

Halte ich diese Zahlen mit denen anderer Antoren zusammen — 
ich wahle absichtlich zwei Autoren aus den verschiedenen Lagern — so 
ergibt sich eine verhftltnism&ssig recht gate Uebereinstimmung: 

W. Mayer (2. VerOffentlichung) 77 pCt. positiv, 23 pCt. negativ 

Rosental und Hilffert 69 „ „ 31 „ „ 


Bezuglich der Verteilung auf die einzelnen Gruppen der Dementia 
praecox verhalten sich meine Zahlen in folgender Weise: 


von 18 Katatonien 
., 8 Hebephrenien 

„ 3 Schizophrenien 

„ 12 Paranoiden 


14 positiv 


7 
1 

8 


17 

57 

77 


4 negativ 
1 

2 

^ 55 


Danach hat es den Anschein, dass besonders Katatonie und Hebe- 
phrenie zu Organabban neigen, wahrend die Schizophrenie und paranoiden 
Formen verbaltnismassig oft ganz negative Resultate ergeben. Allerdings 
sind die Zahlen noch viel zu gering, um irgend welche bindenden 
Schlusse zuzulassen. 


Zur Erklarung der negativen Reaktionen suchte man nun besonders 
die alten stationaren Falle heranzuziehen. Eine grbssere Anzahl der- 
selben fuhrte auch tatsachlich bei meinen Untersuchungen zu negativen 
Resultaten, aber es wurden auch hier zwischendurch Falle mit positiven 
Reaktionen beobachtet. Audi nahm man an, dass ganz frische Falle, 
bei denen es noch nicht zu erheblicheren Defekten gekommen war, eine 
Anzahl der negativen Resultate erklaren kdnnte. In dieser Hinsicht 
waren mir zwei meiner Beobachtungen interessant: Der eine blieb im 
Verlauf mehrerer Untersuchungen vollig negativ, obwohl es sich um 
einen ganz akut einsetzenden schweren Stupor bandelte, der nach Ab- 
klingen klinisch einen schweren Defekt bot, der andere, der ebenfalls 
ausserordentlich schnell zu schweren Ausfallserscheinungen fuhrte, ergab 
im Verlaufe mehrerer Untersuchungen nur einmal einen geringen Abbau 
von Hoden und Schilddruse. Nach kurzer Entlassung wurde er in einem 
nenen Erregungszustand vor wenig Wochen hier eingeliefert, diesmal 
zeigte er einen Abbau von Gehirn, Hoden und Schilddruse. Es lasst 
sich demnach zum wenigsten generell nicht behaupten, dass die negativen 
Reaktionen aus frischen noch nicht verblQdeten Erkrankungen oder aus 
den alten stationaren Fallen sich rekrutieren. 


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FermentativeVorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 253 


Analysiere ich meiue Zahlen, die ich fur Dementia procox- Kranke 
fund, mit Hinblick aaf die Art der einzelnen abgebauten Organe, weiter, 
so ergab sich unter den 67 positiven Dementia praecox-Reaktionen. 
Gehirnabbau in 44 Fallen = 65,7 pCt. 

Genitalabban „ 49 „ = 73,1 ,, 

Schilddrusenabbau „ 48 ,, =71,3 

Leberabbau „ 13 „ = 19,4 „ 

I 

Diese Zahlen stimmen wieder, besonders was den Abbau von Gehirn- 
und Genitalorgan anbelangt, recbt gut uberein mit den Zahlen anderer 
Autoren. Niescytka hat es vor dem Eriege in dankenswerter Weise 
unternommen, die Zahlen einer grossen Anzahl von Antoren zusammen- 
znstellen und Durchschnittswerte zu berechnen. Vergleiche ich meine 
Zahlen mit diesen Durchschnittswerten, so ergab sich folgendes: 


Gehirnabbau 

in 

70,9 pCt. 

gegenuber 65,7 pCt. 

bei mir 

Genitalabbau 


82,4 „ 

„ 73,1 „ 


Schilddrfisenabbau 


38,2 ,, 

r 71,3 „ 

r v 

Leberabbau 

n 

11,3 „ 

v 19,4 ,, 

» Vi 


Woher die verb&ltnismfissig bohen Zahlen an Scbilddrusenreaktionen 
bei mir kommen gegenuber dem Durchschnitt, kann ich nicht sagen. 
Mayer fand bei Uutersuchung akuter F&lle sogar in 75 pCt. Scliild- 
driisenabbau. Die Zahlen der fibrigen Dntersucher be^egen sich dagegen 
im allgemeinen im Rahmen zwischen 30 und 40 pCt. Dass der Kom- 
bination Gehirn-Genitale eine besondere Bedeutung zukommt, wurde von 
jeher betont. Ich fand die Kombination in 51 pCt., Kafka 1914 in 
44 pCt; eine erhebliche Bedeutung scheint mir auch der Trias Gehirn- 
Genitale-Schilddrfise in der pathologischen Physiologic der Dementia 
praecox zuzukommen. Ich fand dieselbe 27 mal, also in 40 pCt. aller 
positiven Reaktionen vertreten. Kafka fand sie nur in 16 pCt., was 
dem von mir oben schon erw&hnten hftuflgeren Scbilddrusenabbau in 
meinen Reaktionen entspricht. 

Bine weitere Frage, die schon mehrfach aufgeworfen, aber ver- 
h&ltnismfissig wenig systematisch behandelt worden ist, ist die, wie es 
sich mit dem Vorhandensein von Abwehrfermenten im Verlauf des 
VerblOdungsprozesses verhalt. Es war ja naheliegend, daran zu denken, 
dass in akuten Erregangszust&nden, vielleicht auch im schweren Stupor, 
sich Fermeute in besonderer Menge im Blute vorfinden, dieselben aber 
sn Zeiten von Remissionen zurucktreten oder auch ganz verschwinden 
kftnnten. Meine Untersnchungen in dieser Richtung, die sich allerdings 
erst fiber ein knappes halbes Jahr erstrecken, mag folgende Tabelle 
wiedergeben. 


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254 


Dr. Gottfried Ewald, 


T a b e 11 e I. 


Serien-Untersnchongeii bei Katatonie. 


1. Han. 

25.2.18. 

3. 

3. 

11. 3. 

„ 5. 4. 

12. 6. 

8. 7. 




a. 1 ) i.a. 

a. 

i.a. 

a. 

a. i. a. 

a. i.a. 

a. i.a. 

1,0 

Serum allein 

— — 


— 

— 

— — 

— 

— — 

1,5 

V 

+ Gehirn 

+ - 

((+» 

— 

(+) 

++ — 

— 

— 

1,5 

V 

-j- Hoden 

+ - 

(+) 

— 

(+) 

(+) - 

— 

+ - 

1,5 

r> 

+ Schilddriise 

+ - 

((+)) 

— 

«+» 

+ - 

— 

— 

1,5 

V) 

-j- Leber 


O 

O 

«+)) 

— — 

— 

o o 

1,5 

V 

-j- Nebenniere 

o o 

((+)) 

((+)) 

(+) 

o o 

O O 

o o 


Klinische Bemerkungen. 25.2.: Kurz nachschwererkatatonerErregung. 
3. 3.: Fortschreitende Bcsserung. Bewegungsarm bis zum Stupor. 11. 3.: 
Etwas freier, geht spazieren. 5. 4.: Liegt noch gern zu Bett, sonst freier. 
Viel Sensationen. 12. 6.: Zustand unverandert. Dauernd Rlagen iiber *Un- 
geziefer* (Sensationen). 8. 7.: Dauernd ruhig. Kommt zur Entlassung. 
Parallelismus zwischen klinischem und serologischem Befund angedeutet. 


2. Vo. 

25.1. 

1918. 

8. 2. 

21. 2. 

5. 3. 

6. 4. 

26. 6. 

10. 7. 

1,5 Serum allein 

a. 

a. 

a. i.a. 

a. 

a. 

a. 

a. i.a. 

1,5 „ + Gehirn 

(+> 

+ 

(+) - 

— 

+ 

((+» 

(+) - 

1,5 „ + Hoden 

++ 

(+) 

+ «+)) 

— 

— 

((+)) 

(+) - 

1,5 „ + Schilddriise 

+ 

((+» 

++ ((+» 

— 

(+) 

«+)) 


1,5 „ -j- Leber 

o 

o 

O O I 




((+» - 

1,5 „ + Nebenniere 

o 

o 

o o 

— 

o 

o 

o o 

Klinische Bemerkungen. 25. 1.: Kurz nach heftiger 

katatoner Er- 


regung. Stereotypieen, Manieren, Katalepsie, Mutazismus. 8. 2.: Etwas freier, 
aber dauernd kataleptisch und mutazistisch. Steht auf. 21. 2.: Zustand unver¬ 
andert. Katalepsie, Mutazismus, nur selten unterbrochen von unverstandlichem 
Gemurmel. Manieren. 5. 3.: Zustand vollkommen unverandert. 6. 4.: Zustand voll- 
kommen unverandert. 26. 6.: Status idem. 10. 7.: Status idem. Parallelis¬ 
mus zwischen klinischem und serologischem Befund nicht nachweisbar. 


3. Har. 

7. 1. 18. 

26. 2. 

6. 6. 

. 

2. 7. 

1,5 Serum allein 

a. 

a. 

_ | 

a. 

a. 

a. i.a. 

1,5 „ Gehirn 

(+) 

+ 

? 

((+)) 

— — 

1,5 „ + Hoden 

+ 

— 

— 

? 

— — 

1,5 „ + Schilddriise 


— 

(+) 

+ 

— — 

1,5 „ -j- Leber 

O 

(+) 1 

(+) 

+ 

O O 

1,5 „ + Nebenniere 

— 

(+) 

o 

o 

o o 


Klinische Bemerkungen. 7. 1. 18.: Alte Katatonie. Bewegungsarm, 
steht untatig umher. Stereotypieen. 26. 2.: Status idem. 6. 6.: Status idem. 
7. 6.: Status idem. 2. 7.: Status idem. Parallelismus zwischen klinischem 
und serologischem Befunde nicht nachweisbar. 

1) a. = aktives Serum; i. a. = inaktives Serum. 


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CORNELL UNfVERSSTV 





Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 255 


4. Seh. 


18. 

2. 

20 . 4 . 

17. 6. 

2 . 7 . 

1,6 Serum allein 

a. 

i. a. 

! 

a. 

_ 

a. 

a. i. a. 

1.5 • H 

|- Gehirn 

— 

— 

(W) 

(+) 

— — 

1.5 , H 

h Hoden 

+ 

— 

(+) 

(+) 

((+)) - 

1,5 H 

f- Schilddriise 

+ 

— 

«+)) 

(+) 

(+) 

1,5 * H 

h Leber 

O 

O 


0 



Klinische Bemerkungen. 18. 2.: Alte Katatonie, stumpf, bewegungs- 
arm, einformig. Manieren. Keine Katalepsie. 20. 4.: Status idem. 17. 6.: 
Status idem. 2. 7.: Status idem. Auch serologisch dauernd ziemlich 
gleichmassig. 


5. Wi. 

od 

22. 2. 

1 

26. 6. 

10.7. 

1,5 Serum allein 

a.. 

a. 

a. 

a. i. a. 

1,5 „ -f Gehirn 

- 1 

— 

((+» 

(+> 

1,5 „ 4* Hoden 

— 

— 

((+» 


1,5 * ■+■ Schilddriise 

— 

4- 

((+» 

— — 

1,5 „ 4* Leber 

— 

_ i 

— 

(+) - 

1,5 * 4“ Pankreas 

((+)) 

O 

O 

0 0 


Klinische Bemerkungen. 8. 2.: Leicht erregbar, Katatoniker. Krank 
seit IV2 Jahren. Andeutung von Katalepsie. Reizbar. Ausgesprochene Hypo- 
tonie. 22. 2.: Etwas ruhiger. Sonst Status idem. 26. 6.: Geht mit zur Arbeit, 
ruhiger. Reizbar. Hypotonie. Grimassieren. 10. 7.: Status idem. Paralle¬ 
lism us zwiscben klinischem und serologischem Befund nicht deutlich. 


6. Via. 

28. 2. 

9. 8. 

21 . 4 . 

1 

24. 6. 

8. 7. 


a. i. a. 

a. 

a. 

! 

a. 

| 

a. i. a. 

1,5 Serum allein 

— — 

— 

— ■ 

— 1 

— — 

1,5 „ + Gehirn 

+ — 

+ 

(+) 

«+)) 

— — 

1,5 • + Hoden 

++ «+)) 

((+)) ’ 

((+)) 

— 

— — 

1,5 „ -j- Schilddriise 

++ _ 

— 

((+)) 

4—h 

— — 

1,5 , + Leber 

0 0 

O 

«+)) 

((+)) 

O O 


Klinische Bemerkungen. 28. 2.: Schwerer aogstlicher katatonischer 
Stupor. Bettfliichtig. Negativismus. Jammert unausgesetzt. Aengstlich ver- 
zerrtes Gesicht. Stereotypien. 9. 3.: Stuporos. Liegt dauernd unter der 
Decke. Weniger angstlich. 21. 4.: Besserung. Erwacht allmahlich aus dem 
Stupor. Leichte Katalepsie. Oft noch negativistisch. 24. G.: Deutliche Besse¬ 
rung. Stcht auf. Bewegungsarm. Noch angstlich. Wenig Katalepsie, keine 
Stereotypien. 8. 8.: Ausserordentlich gebessert. Geht regelmassig zur Arbeit. 
Nunmehr leicht gehemmt. Deutlicher Parallelismus zwischen klinischem 
und serologischem Befund. 


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Gck igle 


Original from 

CORNELL UNIVERSITY 



256 


Dr. Gottfried Ewald, 

Serien-Untersactaoiigen bei Hebephrenic. 


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1. St. 

6. 2. 

1,5 Serum allein 

a. 

1,5 „ + Gehirn 

+ 

1,5 r -j- Hoden 


1,5 ,. + Schilddriise 

(+) 

1,5 r -j- Leber 


1,5 * -j- Nebenniere 

— 

1,5 r 4 * Pankreas 

— 


2. 6. j 

1 

26. 6. 

8. 7. 

a. 

a. 

i. a. 

a. 

«+)) 

(+) 

(+) 

«+)) - 

o o 

«+» 

((+)) 

o 

o 

O 

o 

0 

O 

o 

o 


Klinisch* Bemerkungen. 6. 2. Alte, langsame progrediente Hebe¬ 
phrenic. Geraiitlich verstumpft. Bewegungsarm. Steht oder sitzt untatig umber. 
2. 6.: Status idem. 26. 6.: Status idem. 8. 7.: Parallelismus zwischen 
klinischem und serologischem Befund nicht nachweisbar. 


2. Me. 

8. 2. 

i 

21. 2. 

i 

24. 6. 

8. 7. 


a. 

a. 

a. i. a. 

a. 

1,5 Serum allein 

— 

— 

— — 

— 

1,5 ,, + Gehirn 

— 

+ 

+ — 

— 

1,5 „ + Hoden 

+ 

++ 

+ ((+» 

«+)) 

1,5 r + Schilddriise 


+ 

+ — 

«+)) 

1,5 „ 4“ Leber 

O 

o 

(+> 


Klinische Bemerkungen. 8. 

2.: Alte, langsam progrediente Hebe- 


phrenie. Gemiitlich stumpf. Bewegungsarm. Fades Lacheln. Fast muta- 
zistisch. Steht untatig umher. 21. 2.: Status idem. 24. 6.: Status idem. 
8. 7.: Status idem. Parallelismus zwischen klinischem und serologischem 
Befund nicht nachweisbar. 


Serien-Untersnchiiiig bei Schizophrenic (Schizophasie). 


1. Lo. 

0 s * 

od 

9. 3. 

25. 3. 

14. 4. 

25. 6. 



a. 

a. 

a. i. a. 

a. 

a. 

1,5 Serum allein 

— 

— 

— — 

— 

— 

1,5 „ 

+ Gehirn 

(+) 

— 

4- - ! 

(+> 

a+» 

1,5 , 

4* Hoden 

++ 

(+) 

+ - 

++ 

+ 

1,0 „ 

+ Schilddriise 


— 

+ - 

(+) 

(+) 

1,5 „ 

4 Leber 

(+) 

— 

— — 

+ 

((+» 

1,5 * 

4- Pankreas 

— 

o 

o o 

o 

o 

1,5 „ 

+ Nebenniere 

— 

o 

O O I 

o 

o 


Kliniscbe Bemerkungen. 28. 2.: Stupor, liegt mutazistisch mit abge- 
hobenem Kopf. Keine Katalepsie. Wenig Negativismus. 9. 8.: Status idem. 
25. 8 : Erwacht aus dem Stupor. Spricht vollig inkoharente Satze. Rede- 
drang. Katatone Haltung. 14. 4.: Steht auf. Vollig inkoharent. Bewegungs¬ 
arm. Steht untatig umher. Keine Initiative. 25. 6.: Status idem. Paralle¬ 
lismus zwischen klinischem und serologischem Befund nicht nachweisbar. 


Gck igle 


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CORNELL UNIVERSITY 



Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenenVerblddangsprozesse usw. 257 


2. Eg. 

23.8.13. 

9. 2.18. 

14. 3. 

25. 6. 

12. 7. 

1,5 Serum allein 

! 

a. 

a. 

a. i. a. 

a. i. a. 

a. i. a. 

1,5 » + Gehim 

— 

— 

(+) 

— — 

+ - 

1,5 „ 4- Hoden 

— 

— 

((+)) - 

— — 


1,5 „ + Schilddruse 

— 

— 

((+)) - 

? — 

— — 

1,5 » t|- Leber 

O 

O 

- —T 

— — 

— — 


Klinische Bemerkungen. 23. 8.13.: Alte stationarc inkoharente Ver- 
blddung. Wortneubildungen und Gedankenverquiekungen. Bester Arbeiter. 
9. 2. 18.: Status idem. 14. 3.: Status idem. 25. 4.: Status idem. Hat in 
vergangener Nacht stark optisch und akustisch halluziniert. 12. 7.: Wieder 
fruherer Status. Parallelismus zwischen klinischem und serologischem Befund 
.nicht nachweisbar. 


Serien-Untersuchnng bei paranoider Form. 


1. De. 


24. 1. 

27. 2. 

4. 5. 

24. 6. 

11. 7. 

1,5 Scrum allein 

a. 

a. i. a. 

a. 

i. a. 

a. 

a. i.a. 

1.5 „ - 

- Gehirn 

+ 

(+) ((+» 

«+)) - 

((+)) 

((+)) - 

1.5 . - 

- Hoden 

+ 

+ ((+» 


+ 

(+) - 

1,5 , H 

- Schilddruse 


(+) «+)) 

c+) - 

((+)) 

+ - 

Ifi „ H 

- Leber 

— 

1 — — 

1 O 

O 

o 

+ - 


Klinische Bemerkunged. 24.1.: lJahrkrank. Unsinnige Wahnbildung, 
Grossenideeu. Bewegungsunruhe. Schreit oft plotzlich laut auf. Halluziniert. 
27. 2.: Reaktionsfohler. 4. 5.: Ausgesprochen unsinniges, verworrenes Wahn- 
gebaude. Keine Halluzinationen. In der Personlichkeit sonst gut erhalten. 
Drangt sehr fort. 24. 6.: Deutliche Besserung. Zuriicktreten der Wahnideen, 
ruhiger, halluziniert angeblich nicht mehr. 11. 7.: Anhaltende Besserung. Ge- 
mutlich sehr stumpf. Drangt wenig fort Parallelismus zwischen klinischem 
and serologischem Befund nicht nachweisbar. 


2. Wa. 

5. 6. 

% 

26. 4. 

11. 7. 



a. 

a. i. a. 

a. 

i. a. 

1,5 Serum allein 

— 

— — 

— 

— 

1,5 , H 

Gehirn 

— 

+ - 

— 

— 

1,5 „ H 

\- Hoden 

— 


— 

— 

1,5 , - 

b Schilddruse 

— 

+ — 

— 

— 

1,5 . H 

h Leber 

O 

O O 

o 

o 


Klinische Bemerkungen. 5. 6.: Alte, phantastische Wahnbildung. 
Stationar. Tageweise erregt. Mitunter stereotype Bewegungen. Sensationen. 
Personlichkeit erhalten. 26. 4.: Status idem. 11. 7.: Status idem. Paralle¬ 
lismus zwischen klinischem und serologischem Befund nicht nachweisbar. 
inbir f. Psyehiatris. Bd. 60. Heft 1. yf 


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CORNELL UNIVERSITY 




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258 Dr. Gottfried Ewald, 

Ich weiss sebr wohl, dass die Zahl der hier angefuhrten Beob- 
achtungen nicbt sehr gross, dass ein lebhafter Wechsel zwiscben Er- 
regung uod Stupor hier nicbt beobachtet wurde, das eine kann man aber 
m. E. docb aus der Tabelle entnehmen, dass auch ohne irgend eiuen 
erkennbaren Wechsel im klinischen Bild die Abwehrfermente im Blute 
plOtzlich schwinden oder auch plfitzlich wieder auftreten konnen. Ein 
Parallelismus zwiscben klinischem und serologiscbem Befunde wurde 
nach meinen Beobacbtuogen in den meisten Fallen nicbt deutlich. 

Kurz zusammenfassend l&sst sich nach meinen Dntersuchungen also 
sagen: dass bei Dementia praecox sich in einem sebr hohen 
Prozentsatz, etwa80pCt. der Falle, ein Organabbau nach- 
weisen l&sst. Die Gruppierung, Gehirn-f-Genitalorgan, ist 
dabei bevorzugt (in 51 pCt. der positiven Reaktionen), und 
auch der Trias Gehirn-Genitale-Schilddrfise kommt eine we- 
sentlicbe Bedeutung zu (40 pCt. aller positiven Reaktionen). 
Katatonie uud Hebephrenie scbeinen sich am lebhaftesten 
am Organabbau zu beteiligen. Ein Parallelismus zwischen 
Fermentgehalt des Blutes und klinischem Verlauf w&hrend 
der Beobachtung fiber l&ngere Zeit wurde nicht deutlich. 

Wenn wir jetzt der Frage der praktischen Verwertbarkeit zwecks 
differentialdiagnostiscber Schlfisse mit besonderer Berficksichtigung der 
forensischen Psychiatrie naher treten wollen, so mfissen wir uns aus- 
einander setzen in Sonderheit mit der Gruppe der Hysterischen und Psycho- 
pathen, und auf der anderen Seite mit dem manisch-depressiven Irresein. 

Ich kann mich hier nicht in Erfirterungeu der verschiedenen Er- 
gebnisse bei diesen funktionellen Psychosen nach den verschiedenen 
Autoren einlassen, auch hier geht die Kette von denen, die niemals 
Abbau fanden, kontinuierlich hinfiber zu denen, die einen solchen genau 
so oft fanden, wie bei der Dementia praecox. Die Mehrzahl der Autoren 
ist allerdings der Ansicht, dass den funktionellen Psychosen eine geringere 
Neigung zum Abbau zukomme als der Dementia praecox. 

Ich kann mich auch auf methodologische Fragen im einzelnen nicht 
einlassen, nur ein Wort sei mir gestattet zur Frage der Beurteilung der 
Reaktion, vielleicht dfirfte dies einige Aufkl&rung bringen fiber meine 
etwas abweichenden Befunde, wenn sie auch trotzdem in weitem Umfang 
in ibrer Besonderheit gewahrt bleiben werden. 

Es wird von vielen Untersucbern so grosser Wert darauf gelegt, 
dass die Rontrollprobe „Serum allein“ vollkommen negativ ausf&llt; 
darauf lege ich keinen Wert, im Gegenteil, ich liebe es, wenn diese 
Rontrollprobe allein schon eine ganz schwach positive Reaktion gibt, 
und zwar aus folgendem Grande: 


Gck igle 


Original from 

CORNELL UNIVERSITY 



Fermentative Yorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 259 

Wir wissen, dass das Seram allein schon Substanzen enth&lt, die 
dialysabel sind und mit Ninliydrin, sobald sie in genugender Menge vor- 
handen sind, eine positive Reaktion geben. Setzen wir die Menge der 
znr fraglichen Reaktion notwendigen Stoffe bei Verweodung von 1,5 ccm 
Seram = 75, so werden wir bei Verwendung von uur 1 ccm Seram eine 
Menge von 50 ins Dialysat bekommen, mithin eine vollkommen negative 
Reaktion. Nehmen wir nun an, dass der Abbau irgend eines Organ es 
zu 10, der eines anderen zu einer Menge von 20 an dialysablen S to (Ten 
fiihrt, so addieren sich diese Zahlen zu den im Serum allein vorliandenen 
Mengen. Wir werden also bei 1,5 ccm Serum bei dem 1. Organ einen 
Abbau finden, der vielleicht mit (-{-) zu bezeichnen wire, bei dem 
2. Organ vielleicht einen solchen, der mit -|- zu bezeichnen ware, also 
zwei positive Reaktionen; denn in dem einen Fall fand sich eine Menge 
von 85, bei dem anderen von 95 an Ninhydrin-positiven Stoffen im 
Dialysat, also bedeutend mehr als die zum Grenzwert erforderlichen 75. 
Anders bei Verwendung von nur 1 ccm. Da ergibt die Addition zu den 
60 im Seram vorhandenen dialysablen Stoffen das erstemal 60, das 
zweitemal 70. Wir haben eine vollkommen negative Reaktion, obwohl 
ein Abbau tats&chlich stattgefunden. 

Rosental und Hilffert heben hervor, dass die grosse Zahl der 
fraglichen Reaktionen sehr unbequem sei, und erblicken in. dem Fehlen 
scharfer absoluter Reaktionsgrenzen einen metbodischen Mangel des 
Dialysierverfahrens. 

1st aber die Reaktion Serum allein schon schwach positiv, so 
komrneu die sogenannten fraglichen Reaktionen so gut wie ganz in Wegfall. 
Es handelt sich nur darum, festzustellen, ob die Reaktion Serum -f- 
Organ eine intensivere BlaufErbung ergibt, als Serum allein, und dies 
stdsst auf keine grOsseron Schwierigkeiten 1 ). Gleichzeitig haben wir die 
absolute Gewissheit, dass ein Organabbau nicht in der oben geschilderten 
Weise latent geblieben ist. Und wir mussen joden Abbau als positive 
Fermentwirkung anerkennen und als Abbau bewerten (nicht nur starke 
lntensitatsunterscbiede), sonst begeben wir uns jeglicher Mdglichkeit 
Vergleichswerte zu erbalten, willkurlicher Beurteilung ist Tur und Tor 
geSffnet. Die Abderhalden’sche Reaktion ist eine qualitative Reaktion 
und keine quantitative, das mSchte ich gegenuber einer neuen Arbeit 
von Lindstedt an dieser Stelle hervorbeben. 

1) Bei Eiobung der Hulsen auf gleichmassige Durchlassigkeit fur Peptone 
geschieht die Hulsengruppieruug ja aucb nach Intensitat der Blaufarbung. Der 
Einwaud, dass es misslicher sei, zwei blaue Reaktionen miteinander zu ver- 
gleicben, als eine negative von einer schwaoh positiven zu untersebeiden, ist 
also nicht stichhaltig. 

17 * 


Digitized by 


Gck igle 


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CORNELL UNIVERSITY 



260 


Dr. Gottfried Ewald, 


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Unter Zugrundelegung dieser Methodik kam ich bei Psyclio- 
patben und Hysterikern zu folgendem Ergebnis: 

50 Untersuchungen an Psychopathen und Hysterikern ergaben in 
25 Fallen also in 50 pCt., Abbau von irgend einem Organ, gegenuber 
nahezu 80 pCt. bei Dementia praecox. 


Unter den 50 pCt. positiver Reaktionen fanden sich: 


Gehirnabbau 

in 

72 pCt. 

gegenfiber 66 pCt. bei Dementia 

praecox 

Genitalabbau 

11 

72 „ 

11 

^ 71 11 11 

ii 

Schilddrfisenabbau 

11 

76 „ 

It 

11 11 11 

ii 

Leberabban 

« 

86 „ 

11 

IQ 

11 V 

ii 


Die Trias Gehirn-Genitale-Schilddruse wurde bei Psychopathen in 
36 pCt. aller positiven Reaktionen gefunden gegenuber 40 pCt. bei 
Dementia praecox, gleichzeitiger Abbau von Genitale und Gehirn in 
50 pCt. gegenuber 51 pCt. bei Dementia praecox. Ein wesentlicher Unter- 
scbied fand sich in der Organgruppierung zwischen Dementia praecox 
und Hystero-Psychopathen also nicht, dagegen fanden sich bei Hysterikern 
und Psychopathen wesentlich seltener fiberhaupt positive Reaktionen, 
n&mlich nur in 50pCt. gegenuber 80pCt. bei Dementia praecox. 

I 

Und nun noch meine Zablen fiber das manisch-depressive 
Irresein: auch hier weiche ich nicht unerheblich von den Zahlen an- 
derer Autoren ab. Ich fand n&mlich, Manien, Melancholien und Misch- 
zustfinde zusammen genommen, Abbau irgend eines Organes in nicht 
weniger als 63,6 pCt. 

Aber eines ist nun meines Erachtens recht wichtig, unter den 
13 positiven Reaktionen fand sich 

Gehirnabbau nur in 38 pCt. gegenuber 66 pCt. bei Dementia praecox 


Genitalabbau nur „ 

46 „ 

W 

73 

11 

11 

J1 

11 

dagegen 
Schilddrfisenabbau „ 

77 „ 

11 

71 

11 

11 

11 

11 

Leberabbau „ 

31 „ 

11 

19 

11 

11 

11 

11 

Verhfiltnismfissig 

oft fand 

sich 

bei 

den 

Manien 

isolierter 


Schilddrfisenabbau, w&hrend sich die positiven Leberreaktionen fast 
nur bei Melancholic fanden. Wegener hat ja als erster hervorgehoben, 
dass bei Melancholien sich hfiufig Leberabbau finde, ich will dies hier 
nur der Yollstfindigkeit halber anffihren, ohne weiter mich auf eine 
Kritik seiner Beobachtungen einzulassen. 

Nach meinen Untersuchungen erscheint es also wohl bis zu gewissem 
Grade mfiglich, eine Dementia praecox serologisch vom manisch-de- 


Gck 'gle 


Original from 

CORNELL UNIVERSITY 



Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 261 

pressiven Irresein mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu trennen, 
insofern, als sich verhfiltnismfissig selten Gehirnabbau bei manisch- 
depressiver Grkrankung findet, h&ufig dagegen isolierter Schilddrfisen- 
abbau. Die Trias Gehirn-Genitale-Schilddrfise scheint ferner 
ausserordentlich selten bei dieser Erkrankung aufzutreten. 
Davon, dass man die serologische Diagnose auch nur in 
dieser Frage fiber die klinische stellen kfinne, kann jedoch 
keine Rede sein. Ich sah z. B. gerade vor wenig Tagen bei einem 
klassischen Maniker einen Abbau von Gehirn und Hodon. 

Tabellarisch zusammengestellt ergibt sich also aus meinen Uoter- 
suchungen Folgendes: 

Tabelle II. 

Abbau irgead eines Organes bei 


Dementia praecox in.80 pCt. 

Manisch-Depressiven in.60 „ 


Hysterischen und Psychopathen in ... 50 „ 
Tabelle III. 

Unter den positiven Reaktionen finden sich bei 



Dementia 

Manisch- 

Hystero- 


praecox 

Dcpressiven 

Psvchopathcn 


pCt. 

pCt. 

pCt. 

Gehirnabbau. 

66 

38 

72 

Genitalabbau. 

73 

46 

72 

Schilddriisenabbau. 

71 

77 

76 

Leberabbau. 

19 

31 

36 

Gehirn- und Genitalabbau .... 

51 

15 

56 

Trias: Gehirn - Genital - Schilddriisen- 
abbau . 

40 

7 

3G 


Was nun die Frage der forensischen Verwertbarkeit anlangt, die 
ja moistens ’die Differentialdiagnose, ob Psychopatbie oder 
Dementia praecox, ob nur gemindert zurechnungsf&hig oder 
geisteskrank, zu entscheiden hat, da haben meine Resultate wohl schou 
fur sich gesprochen. Der Unterschied zwischen 60 pCt. positiven Reak¬ 
tionen bei Psychopatben und 80 pCt. positiven Reaktionen bei Dementia 
praecox ist denn doch ein zu geringer, um verwertet werden zu kdnnen. 
Trotzdem spreche ich der Reaktion auch in dieser Frage einen gewissen 
Wert nicht ab. Eine negative Reaktion darf man doch recht erheblich 
auf der Seite der Psychopathic buchen, eine positive Reaktion dagegen 
kann niemals entscheiden, ob Psychopathic oder Geisteskrankheit vor- 
liegt Ich kann mir denken, dass in einem Fall, wo die Reaktion 
negativ ausffillt, der Kliniker eine willkommene Best&tigung ffir 
seine schon vorher gefasste Meinung, dass es sich nicht um Geistes- 


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CORNELL UNIVERSITY 








262 


Dr. Gottfried Ewald, 


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krankheit handelt, finden wird. Weiter darf man meiner Ueberzeugung 
nach aber nicbt geben. Ich habe gerade zwei Falle im Auge, die 
uns von vornherein klinisch nicbt ganz klar erscbienen. In dem einen 
Fall handelt es sich um eine Art D&mmerzustand, bei dem die organische 
Grundlage an fangs nicht ohne weiteres auszuschliessen war, von dem 
sich sp&ter aber herausstellte, dass er im Anschluss an ein Delikt im 
Arrest entstanden war, und der weitere Verlauf bewies dann aucb die 
zweifellos psychogene Natur der Erkrankung. Die Reaktion fiel w&hrend 
des D&mmerzustandes sehr stark positiv aus mit Gehirn, stark mit Hoden; 
kurz nacb Ablauf des D£mmerzustandes war sio noch immer stark 
positiv mit Gehirn, schw&cher mit Hoden, und weitere 8 Tage sp&ter 
waren Gehirn und Hoden negativ, Schilddruse aber andeutungsweise 
positiv. In einem 2. Falle handelte es bich um eine Haftpsychose, 
die unter dem Bild eines schweren Stupors, der anfangs die Diagnose 
Eatatonie wahrscheinlich machte, verlief. Die Verbringung aus der 
Haft bracbte den Stupor jedoch fast sofort zum Schwinden, und auch 
weiterhin bot der Kranke nichts, was die Diagnose eines Verblbdungs- 
prozesses h&tte stutzen kOnnen. Die Reaktion ergab zweimal starken 
Hirn- und Hodenabbau, das 1. Hal auch solchen von Schilddruse und 
spurweise von Leber. Wir haben naturlich den Verbrecher trotzdem 
wieder in das Zuchthaus zuruckbringen lassen. 

Fur die praktische Verwertbarkeit der Abderhalden’schen 
Reaktion in der forensischen Psychiatrie ist meines Erach- 
tens die Zeit noch nicht gekommen. 

Auf der andereu Seite aber mbclite ich noch einmal betonen, dass 
fur mich kein Zweifel besteht, dass wir es tats&chlich mit echter, spezi- 
fischer Fermentwirkung beim Studium der Abderhalden’schen Reaktion 
zu tun haben. Abderhalden hat selbst einmal ausgesprochen: wie 
weit sich seine Reaktion als praktisch verwertbar erweisen wurde, stebe 
ausserhalb seines Machtbereiches und seiner Interessen, das zu begrun- 
den, sei Sacbe des Klinikers; ihm liege nur daran, festgestellt zu habeu, 
dass spezifische auf Organe eingestellte Fermente im Blute auftreten. 
Das bleibt auch sein grfisstes Verdienst. 

Dass fur mich als suggestives Moment, von dem ja immer so 
gem bei dieser Reaktion gesprochen wird, nur der 'Wunsch in Be- 
tracht kommen konnte, meinem hochverehrten Lehrer Herm Geheim- 
rat Abderhalden den Beweis der praktischen Verwertbarkeit seiner 
Reaktion auch in der forensischen Psychiatrie zu erbringen, wird 
mir gewiss jedor zubilligen. Ich bedauere, dass ich das bislang nicht 
gekonnt. 


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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenenVerblodungsprozesse usw. 263 

Allerdings muss ich gesteken, es ist mir gar nicht so wunderbar, 
dass auch bei Psychopatben und Hysterikern haufig allerbaud Organ- 
abbau auftritt; denn auf endokrine Storungen mfissen wir letzten Endes 
doch auch die reaktive AfiFektlabilitftt des Hysterikers, die Reizbarkeit 
des Psychopathen zurfickffihren; und wie enge Beziebungen besteheu an- 
erkanntermassen zwischen ecbten eudokrinen Erlcrankungen, wie z. B. 
dem Basedow und zwischen Hysterie. Fur erstere Erkrankung hat man 
ja sogar eine typiscbe Abbaugruppierung, uud wobl mit Recht, angefuhrt. 
Stdrungen im einzelrienOrgan rutte 1 n eben immer am ganzen 
System. Meines Erachtens beweisen uns die Abderhalden- 
scben Dntersucbungen im Reagenzglas-Versuch objektiv 
gerade das, was wir klinisch bereits so oft erkaDnten, nfimlich 
das enge Ineinandergreifen und Zusammenarbeiten ganzer 
Organsysteme. Das Schwanken im Ausfall von Reaktionen bei Unter- 
suchung fiber Ifingere Zeit hat ffir mich aus diesem Grunde nichts 
Yerwunderliches. Die Abderhalden’schen Untersuchungen lehren uns 
hineinsehen in einen fiusserst kompliziert arbeitenden Mechanismus. Wir 
koonen einstweilen noch nicht sagen, dass wir die Gesetze des Meckanis- 
mus durchschaut haben. Ob es der Abderhalden’schen Methode, ob 
einer andereu UntersuchuDgstechnik vorbehalten ist, uns tiefer hinein 
zu fuhren in diese Renntnisse, bleibe dahingestellt. 

Es war mir interessant, meine frfiheren Untersuchungen an Geistes- 
kranken aus dem Abderbalden’schen Institut—sie beschranken sich 
allerdings auf ganze 17 Falle — mit meinen jetzigen Resultaten zu 
vergleichen. Sie scheinen mir nicht different von meinen heutigen Er- 
gebnissen. Auch damals oft kombinierter Abbau eines ganzen Systems, 
auch bei zweifellos nicht organischen Psychosen. 

Wenn ich damals fiber recht zufriedenstellende Untersuchungen be- 
zuglich der Gravidit&ts- und Karzinomdiagnose bericbtete, so stebt dies 
meines Erachtens auch nicht im Widerspruch mit meinen heute mitge- 
teiltcn Befunden; denn nicht jeder Meusch trfigt eine Plazenta mit sich 
herum oder ein Karzinom. Normalerweise finden sich die auf diese 
Organe eingestellten Fermente natfirlich nicht. Aber jeder Menscb hat 
ein Gehirn, ein Genitalorgan, eine Schilddruse, hat ein sehr labiles 
endokrines Organsystem, und daher werden wir viel leicbter bei An- 
setzen derartiger Organe auf positive Reaktionen stossen bei Menschen, 
die klinisch gar nicht erheblioh von dem Normalen abzuweichen brau- 
chen, da die geringen Abnormitfiten keine ffir ibn selbst oder sozial 
auffallende Erscheinungen verursachen. Das drfickt den Wert der Reak- 
tion beim Ansetzen derartiger Organe naturgemfiss erheblich herab. 
Fur Graviditfits- nod Karzinomdiagnosen wird der praktiscbe Wert der 


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264 Dr. Gottfried Ewald, 

Abderhalden’schen Reaktion nach wie vor von mir anerkannt, das wird 
durch die Ergebnisse meiner psychiatrischen Beobachtungen nicht berubrt. 

Ich will zum Schluss eine Anzahl meiner Versuchsprotokolle 
mitteilen. Dabei komme icb noch ganz kurz auf die Erdrterung 
einiger technischer Fragen. Die Dialysierversuche wurden stets unter 
mOglichst absoluter Wahrung der Sterilit&t angesetzt, aucb wurde nor 
mit friscb destilliertem Wasser gearbeitet. Um Vergleichswerte zn 
haben, wurde die Dialysierdauer von 16 Stunden stets genau innege- 
halten. Das Serum wurde fast stets nuchtern entnommen. Seren zur 
Zeit der Verdauung sind nicht verwertbar, da sie leicht allgemein gro- 
teolytische Fermente entbalten kOnnen. Die Hulsen wurden ungefchr 
alle 14 Tage auf Eiweissundurchl&ssigkeit und auf gleichmissige Durch- 
l&ssigkeit fur dialysable ninbydrinpositive Substanzen gopruft. Dabei 
zeigte sicb, dass eiue Eiweissdurchl&ssigkeit nur in sebr selteuen Fallen 
auftrat, dagegen scbwankte die Permeabilitat der Hulsen starker, so 
dass eine Umgruppierung der Hulsen Ofter stattfinden musste. Dies war 
auch der Anlass, dass,ganz minimale Scbwankungen, also die seltenen 
Reaktionen, die mit ? zu bezeichnen waren, stets den negativen Reak- 
tionen zugerechnet wurden. 

Den scbwierigsten Punkt bildeten, wie icb schon in einer fruberen 
Arbeit betonte, und wie aucb von Abderbalden und Lamp6 bereits 
hervorgehoben wurde, die Organsnbstrate. Ich wandte zur Organpru- 
fung, wie scbon bei meinen Untersucbungen am Abderhalden’schen 
Institut, folgende Methodik an: Gleichzeitig mit den Versuchen wurde 
auch eiu Teil von den bei scharfster Prufung negativ gefundenen Organen 
in Reagenzglasern mit destilliertem Wasser angesetzt und 16stiindiger 
Bebrutung unterzogen. Darauf wurde das Bebrutungswasser abfiltriert, 
das Organ noch einmal mit etwa 10 ccm destillierten Wassers versetzt 
und auf etwa 1—2 ccm eingekocbt. Dies Kochwasser wurde sodann 
zum Bebriituugswasser hinzufiltriert, mit 1 ccm Ninhydrinlbsung versetzt 
nnd abermals auf 1—2 ccm eingekocbt. Es durfte nicht die geringste 
Spur von Blaufarbung auftreteu. 

Ferner wurde nach Mdglichkeit wenigstens eines der Seren, die an 
eiu und demselben Tage angesetzt wurden, inaktiviert, und das inaktive 
Serum in der gleichen Weise angesetzt, wie das aktive. Es durfte dann 
keine Spur von Abbau eintreten, wenn der Versuch als eiuwandsfrei 
gelten sollte. Schliesslich war icb bestrebt, stets am gleichen Tage 
neben Seren, bef denen Abbau erwartet wurde, solche anzusetzen, bei denen 
Abbau nicht zu erwarten war. Es konnte dabei naturlich einmal vor- 
kommen, dass ich mich in der Annahme des voraussichtlichen Abbauens 


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Fermentative Vorgange imVerlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse asw. 265 

oder Nicbtabbaaens tSuschte, in fast alien Fallen fand sich aber wenig- 
stens ein ganz negatives Serum an jedem Versucbstage, und waren ja 
einmal alle Versucbe positiv, so konnte das inaktive Serum den Beweis 
der Intaktheit der Organe neben der scbarfsten Organprufung nocb er- 
bringen. Wichtig erscbien mir das Ansetzen mit inaktivem Serum neben 
der scbarfsten Organprufung (Organbebrutungsmethode) aus dem Grande, 
weil man nocb denken kdnnte, dass vielleicht Serum eher als Aqua 
destillata imstande ware, wahrend der Bebrutungsdauer aus den an sich 
vorher einwandsfrei praparierten Organen ninhy drinpositive Stoffe her- 
vorzulocken. Ich halte dies nach meinen Untersuchungen allerdings fur 
sehr unwahrscbeinlich, die Organbebrutungsprufung erschien mir zum 
wenigsten gerade so einwandsfrei, wie die Kontrolle mit inaktivem Seram, 
ist ihr vielleicht sogar uberlegen. Andererseits erscheint die Organ- 
kontrolle mit wahrscheinlicb negativen Seren wiederum wertvoll, um 
dem Binwand zu begegnen, dass inaktives Serum hinsichtlich des nicht 
fermentativ hervorgerufenen Hervortretens von ninhydrinpositiven Stoffen 
anders auf die Orgaue wirke, als aktives' Serum. Der Binwand, dass 
das eino Seram roehr, das andere weniger die Fahigkeit habe, auf nicht 
fermentativem Wege aus einwandsfreien Organen ninhydrinpositive, dia- 
lysable Substanzen lierauszuziehen, und dass auf dicse Weise ein Abbau 
vorgetauscht werden konne, bleibt naturlich bestehen. Bbenso der Bin¬ 
wand, dass vielleicht in der einen Hulse ein Substanzteilchen noch batte 
Stoffe abgeben kdnnen, wahrend ein anderes Teilchen in einer anderen 
Hiilse ebcn absolut „ninhydrinfrei“ war. Wer sich an diese beiden 
Punkte klammern will, um der Methode damit Abbruch zu tun, der ist 
naturlich schwer zu widerlegen. Ihnen gegenuber sei nur bemerkt, dass 
der gleiche Ausfall bei Ansetzen von Doppelversuchen oder bei Wieder- 
holung des Versuches am nacbsten Tage sich doch damit ausserordent- 
lich schwer vereinigen liesse. 

Das Ablesen derVersuche erfolgte stets so, dass ich nur die num- 
merierten Rohrchen vor mir sah, ohne eine Ahnung zu haben, wie sie 
zu den angesetzten Sereu gehOrten. Das subjektive Moment war damit 
vullig ausgcschaltet. 

Ich gebe die Protokolle wieder genau so, wie sie von meiner Labo- 
rantin unter meiner Leitung und nach meiner Anweisung in das Proto- 
kollbuch eingetragen wurden, stelle die Versuche von einem Tage 
immer in besonderer Rubrik zusammen, so dass die Zusammenstellung 
der Seren an den einzelncn Tagen gut ubersehbar ist. Wo mir eine 
Bemerkung betreffs der Versuchsdeutung wunschenswert erschien, habe 
ich sie am Schlusse jeder Rubrik angefuhrt. 

Die Protokolle sind folgende: 


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266 Dr. Gottfried Ewald, 


Nr. 1. 25. 6. 18. 


Name 

Diagnose 

j S t 0 f f 

Reaktion 

Bemerkungen 

Mei., 

Hebephrenie. Chronisch ver- 

Aktives Serum allein 


-») 

1,5 ccm Serum. 

miinnl. 

laufend, noch nicht stationar. 

do. 

+ Gehirn 


+ 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Einfach gemutlich verblodet. 

do. 

+ Hoden 


+ 

Scharfste Organpro 



do. 

+ Schilddr. 


(+) 

ben, samtlich neg 



do. 

+ Leber. 


(+) 




Inaktiv. Serum allein 


— 




do. 

+ Gehirn 


— 




do. 

-j- Hoden 


«+» 




do. 

-j- Schilddr. 






do. 

+ Leber 


— 


Vial., 

Katatonie. Stupor nach an- 

Aktives Serum allein 


— 


mannl. 

fanglicher Erregung. Krank 

do. 

+ Gehirn 


((+)) 



! seit V 2 Jabr. Katalepsie. 

do. 

+ Hoden 


— 

Im inakt. Versuch be 



do. 

+ Schilddr. 


+4- 

Mei. Hoden ((-f-)) 



do. 

+ Leber 


a+)) 


Gus., 

Normal. 

i Aktives Serum ellein 


— 


mannl. 


do. 

+ Gehirn 


(+) 


vergl. 


do. 

' + Hoden 


(+> 

Im inakt. Versuch bei 

Nr. 2. 


do. 

+ Schilddr. 


— 

Mei. Hoden ((+)) 



do. 

+ Leber 


— 


Det. 

Paranoide Form der Dementia 

Aktives Serum allein 

! 

— 


mannl. 

praecox mit verworrener, un- 

do. 

+ Gehirn 


((+)) 



sinniger Wahnbildung, ziem- 

do. 

+ Hoden 


■+* 

Im inakt. Versuch be 


lich schnell fortschreitend, 

do. 

+ Schilddr. 


((+)) 

Mei. Hoden ((+)) 


erst seit IV 2 Jahren bestehend. 


i 





Der Versuch ist nicht ganz einwandfrei beziiglich der Hodenreaktioncn, doch war es wahr 
scheinlich, dass kein Organfebler vorlag; denn die scharfste Organpriifung war negativ, und dei 
Versuch Vial, ergab eine negative Hodenreaktion. Auffallend war auf der anderen Seite die positive 
Gehirn- und Hodenreaktion bei dem anscheinend normalen Serum Gus. Zur Kliirung wurde dieses Serum 
daher sofort noch ein zweites Mai angesetzt. Die Reaktion findet sich in der Rubrik des foigenden Tages 
Die Reaktionen dieses Tages wurden als mit grosser Wahrscheinlichkeit einwandfrei bezeichnet 
Die positive Reaktion des Hodens im inaktiven Versuch ist vielleicht als Hiilsenfehler, vielleieh’ 
durch nicht ganz gleichmassiges Kochen zu erklaren. Auf letzteres wurde aucb stets streng ge 
achtet. Es kann aber natiirlich einmal zu einem Zwischenfail kommen, wie jeder weiss, der dit 
Methode selbst langere Zeit ausgeiibt. Auch die gleichmassige Weite der Rohrchen darf bei dei 
Beurteilung, selbst schon bei Ansetzen der Reaktion nicht vernachlassigt werden. 


Nr. 2. 26. 6. 18. 


Gus., 

mannl. 

Normal. 

Aktives Serum allein 


— 

Das gleiche Serun 
wie in Nr. 1. 

vergl. 
Nr. 1. 


do. + Gehirn 

do. + Hoden 

do. + Schilddr. 


((+)) 

«+» 

Nur 1,0 ccm Serum 
0,2 ccm Ninhydrin. 


1) Die Wahl derBezeichnungen ist folgende*. ? = fragliche Reaktion (negativ gedeutet); ((+)) = sehi 
geringe Blaufarbung; (+) = deutliche Blaufarbung; + = starke Blaufarbung; ++ = starker* 
Blaufarbung. Mit +++ zu bezeichnende Reaktionen kamen so gut wie nie zur Beobachtung. 


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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblddungsprozesse usw. 267 


Name 

Diagnose 

S t o f r 

Reaktion 

Bemerkungen 


Schizophrenic. Stationarer Fall. 

Aktives Serum allein 


_ 

Nur 1,0 ccm Serum. 

mannl. 

Bester Arbeiter der Anstalt. 

do. 

+ Gehirn 


— 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Zeitw. Halluzinationcn. Wort- 

do. 

4* Hoden 


— 


neubildungen, Kontaminatio- 
nen, Gedankenverquickungen. 

do. 

+ Schilddr. 




Tie., 

Manische Attache im Yerlauf 

Aktives Serum allein j 


— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

eincs manisch - depressiven 

do. 

+ Gehirn 

++ 

1 + 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Irreseins. 

do. 

+ Hoden 

++ 

+ 



do. 

+ Schilddr. 

a+)) 

* 



do. 

4 Leber 

((+)) 

— 




Inaktiv. Serum allein 

((+» 

— 




do. 

+ Gehirn 

((+)) 

— 




do. 

4- Hoden 

((+)) 

— 




do. 

Schilddr.! 

((f)) 

— 




do. 

-1- Leber 

«+)) 

— 


Drae.. 

Schwere periodische Manie, aber. 

Aktives Serum allein 

■ 

— 

1,5 ccm Serum. 

weibl. 

nicht verworren. Enorraer 

do. 

+ Gehirn 


— 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Rededrang und Bewegungs- 

do. 

4 Ovar 


— 


unruhe, bochgradige Ideen- 

do. 

4* Schilddr. 


+ 



flucht. 

i do. 

+ Leber 




Skr., 

Kongenitaler Strabismus mit 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

schwerem Nystagmus. Sonst 

do. 

+ Gehirn 


+ 

0,2 ccm Ninhydrin. 


normal. 

do. 

4 Hoden 


— . 

! 


do. 

4* Schilddr. 

! 

— 




do. 

4- Leber 

1 

— 



Die Reaktion Gus. in Nr. 2 bewcist zuniicbst die Richtigkeit der Reaktiou Gus. in Nr. 1. Da 
sic mil nur 1,0 rcm Serum ausgefiihrt wurdc, war der Abbau ein entsprcchend geringerer. Die 
Richtigkeit des Schilddriisenabbaucs bei der Manic Drae. diirfte angesiehts der iibrigen vielfachen 
negativen Scbilddriisenrcaktionen kaum anzuzweifeln sein. Das gleiche gilt yon den positivon Gehirn- 
und Hodcnreaktionen. — Der Versuch gilt als einwandfrei. 


Nr. 3. 27. 6. 18. 


Stu., 

Hebephrenic, langsam fort- 

Aktives Serum allein 


___ 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

schreitende, einfach gcmiit- 
liche Verblodung mit seltenen 
tagweisen Vcrstimmungen. 

do. + Gehin 

do. 4" Hoden 

do. 4" Schilddr. 

do. 4“ Leber 


? 

0,2 ccm Ninhydrin. 
Hoden im Organ- 
bebriitungsversuch 
schwacb +• 

Wit., 

Katatonie, krank seit iy 2 J., 
ziemlich rasch fortschreitend, 
Wechsel zwischen Stupor und 
mehr oder minder heftigen 
Errcgungcn. Starke Hypo- 
tonie, zeitw. erhcbl. Katalepsie, 
z.Z. der Blutentnahmc inassige 
Erreguug u. starke Hypotonie. 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

maonl. 

do. + Gehirn 

do. -j- Hoden 

do. 4 Schilddr. 

do. 4- Leber ! 


((+» 

((+» 

«+)) 

? 

0,2 ccm Ninhydrin. 
Hoden im Organ- 
bebriitungsvcrsuch 
schwach +. 


1) Bei Reaktionen, bei denen Serum allein nicht negativ war, ist das Ergcbnis in die linke Spalte 
der Rubrik „Reaktion - cingetragen. In der rechten Spalte lindet sich das „auf 0 reduzierte* 4 Ergebnis. 


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CORNELL UNIVERSITY 





268 


Dr. Gottfried Ewald, 


Name 

Diagnose 

S t 0 f f 

Reaktion 

Bemerkungen 

Was., 

Dementi a paranoides, ziem- 
lich stationar, Fiille von phan- 

Aktives Serum allein 

((+)> 

— 

1,5 ccra Serum. 

0,2 ccm Ninhydrin. 

mannl. 

do. 

+ Gehirn 

++ 

+ 


tast. Wahnideen, sei Christus, 

do. 

+ Hoden 

((+» 


Hoden im Organ 


schon 125 mal gekreuzigt usw. 

do. 

4- Schilddr. 

+■+■ 

+ 

bebrutungsversuc 


Dabei gute Erhaltung der Per- 
sonlichkeit, weiss, dass er da- 

do. 

+ Leber 

((+» 

— 

schwach +. 


bei doch Schuhraacher Was. 






Kum., 

ist, gibt geordnete Auskunft. 
Vereinzelte Stereotypien. 

1 





Hysterie. Enuresis. 

I Aktives Serum allein j 

(+) 

— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

do. 

+ Gehirn 


— 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 

4“ Hoden 

+ 

(+) 

Hoden im Organ 



do. 

4- Schilddr. 

+ 

(+) 

bebrutungsversuc] 



do. 

Leber 

(+) 

— 

schwach . 

Mai., 

Schwere Melancholie, zahllosc 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

weibl. 

Selbstbeschuldigungen u.Ver- 

do. 

+ Gehirn 


((+)> 

0,2 ccm Ninhydrin. 


siindigungsideen. Selbstmord- 

do. 

4“ Ovar 


— 


neigung. Tiefe Traurigkeit, 

do. 

4- Schilddr. 


c +» 



spater auch Angst. 

do. 

4- Leber 


— 



Der Versuch ist wicderura betreffs des Hodens nicht einwandfrei. Zwar ist derselbe bei de 
Reaktion Was. negativ, die drei anderen positiven Reaktionen bleiben aber suspekt. Inaktivierei 
wurde aus Serummangel unterlassen. Die anderen Reaktionen miissen als einwandsfrei gelten. Di 
negative Reaktion mit Gehirn in der linken Spalte bei Kum. bei positiver Reaktion von Serum alleii 
erkliirt sich durch Adsorption, wie alle weiteren gleichartigen Falle im weiteren Verlaufe der Statistik 
In den folgenden Tagen Hulsenpriifung. 

Nr. 4. 2. 7. 18. 


Mun., 

Leichte Melancholie mit Klein- 

Aktives Serum allein 1 

((+» 

_ 

1,5 ccm Serum. 

weibl. 

hcitswahn und Suicididcen. 

do. 

+ Gehirn j 

(4-) 

«+» 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 

4" Ovar | 

((+)) 




do. 

+ Schilddr.! ((+)) 

— 




do. 

+ Leber ! 

(+) 

((+» 




Inaktiv. Serum allein 

(+> 

— 



- 

do. 

+ Gehirn 

(+> 

— 




do. 

4- Ovar 


— 




do. 

4- Schilddr. 


— 




do. 

4- Leber 

— 

— 


Lok., 

Normal. 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

weibl. 


do. 

+ Gehirn 


— 

0,2 ccra Ninhydrin. 



do. 

Ovar 


— 



do. 

4- Schilddr. 


— 




do. 

+ Leber 


— 


Mel., 

Katatonie, fast stationar. 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

weibl. 

Katalepsie. Stereotypien. Sitzt 

do. 

4- Gehirn 


T“ 

0,2 ccm Ninhydrin. 


den gaozen Tag zusammenge- 

do. 

4* Ovar 


— 



kauert auf einer Bank. Blddes 

do. 

4“ Schilddr. 


— 



Lachen. Selten einen Tag er- 
regt, schimpft dann, schlagt 
gelegentl. Weitgeh. verblodet. 

do. 

4- Leber 

i 





Der Versuch ist einwandsfrei und bcdarf keiner Erliiuterung. 


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CORNELL UNIVERSITY 








Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 269 


Nr. 5. 3. 7. 18. 


Name 

Diagnose j 

S to f f 

Reaktion 

i 

Bemerkungen 

Koh., 

Schwere Angstmelancholie mit 

Aktives Serum allein 


_ 

1,5 ccm Serum. 

weibl. 

Beeintrachtigungsgedanken, 

do. + Gehirn 


— 

0,2 ccm Ninhydrin. 


bewegungsarm. Keine Ilalluzi- 

do. + Ovar 


— 



nationen. Ratios. 

do. + Schilddr. 


— 




do. + Leber 




Wag., 

Normal. 

Aktives Serum allein 

((+)) 

— 

1,5 ccm Serum. 

nannl. 


do. + Gehirn 


— 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. + Hodcn 

«+» 

— 




do. + Schilddr. 


— 




do. -j- Leber 

— 

— 


Schii., 

Ratatonie, nahezu stationar. 

Aktives Serum allein , 

((+» 

— 

1,5 ccm Serum. 

nannl. 

Katalepsic zeitweise. Aus- 

do. + Gehirn 


— 

0,2 ccm Ninhydrin. 


gesprochene Manieren. Aeus- 

do. 4“ Hoden 

(+) 

«+)) 



serste Bewegungsarmut. Ste- 

do. 4" Schilddr. 

' + 

(+) 



reotypien. 

do. 4“ Leber 

— 

— 




Inaktiv. Serum allein 


— 




do. + Gehirn 


— 




do. 4” Hoden 


— 




do. -j- Schilddr. 


— 




do. 4- Leber 


— 


Har.. 

Ratatonie, nahezu stationar. 

Aktives Serum allein 

((+)) 

— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

ZusammengekriiramteHaltung, 

do. + Gehirn 


— 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Neigung zu Ratalepsie, Steroo- 

do. 4- Hoden 

— 

— 



typien. Selten impulsive Akte. 

do. 4“ Schilddr. 

— 

— 




do. 4* Leber 

— 

— 



Der Versuch ist cinwandsfrei, die Krankenzusammenstellung klar. 


Nr. 6. 4. 7. 18 (Fehlversuch). 


Sei., 

Leichto endogene Depression 

Aktives Serum allein 


_ 

fl,5 ccm Seram, 0,2 ccm 
\ Ninhydrin. 

weibl. 

mit Mangel an Initiative und 

do. 

+ Gehirn 


((+)> 

Im inaktiv. Versuch 


Unzulanglichkeitsgefiihlen. 

do. 

4 - Ovar 



Lun. Gehirn ((+)) 



do. 

4 * Schilddr. 


+ 




do. 

4- Leber 


(+) 


Car., 

Paranoide Form der Dem. 

Aktives Serum allein 


— 

/ 1,5 ccm Serum, 0,2 ccm 
l Ninhydrin. 

weibl. 

praecox m. unsinnig., verworre- 

do. 

+ Gehirn 


(+) 

Im inaktiv. Versuch 


ner Wahnbild., auch Wortneu- 

do. 

4 - Ovar 


+ 

Lun. Gehirn ((+)) 


bild. u. Rontamination. Zeitw. 

do. 

4 - Schilddr. 


+ 



heftige Erreg. Nahezu station. 

do. 

-j- Leber 


+ 


Lun-, 

Endogene Depression mit In- 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum 

mannl. 

suffizienzgefiihl und Arboits- 

do. 

+ Gehirn 


(+> 

0,2 ccm Ninhydrin. 


unlust, Selbstmordgedanken. 

do. 

4 - Hoden 


(+> 



Sehr weinerlich. Wasser- 

do. 

4 - Schilddr. 


+ 



mann im Blut und Liquor 

do. 

4 “ Leber 


+ 



negativ. 

Inaktiv. Serum allein 


— 




do. 

-f- Gehirn 


«+)) 




do. 

4- Hoden 






do. 

+ Schilddr. 


— 




de. 

4 - Leber 


— 



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Go 'gle 


Original from 

CORNELL UNIVERSITY 






270 


Dr. Gottfried Ewald, 


Dieser Versuch wurde verworfen, ist naturgemass auch in. der oben mitgetcilten prozentualen 
Zusammenstellung nicht mit vorwandt. Zwar war das inaktive Serum bei Liin. mit Ausnahrae einei 
schwachen Gehirnreaktion negativ, samtliche Organe auch bei Bebriitung einwandfrei. Der gleich- 
massig positive Ausfall in alien 3 Reaktionen mit samtlichcn Organen war aber zu verdachtig, es 
musste eine Storung votliegen. Die Richtigkeit dieser Annahrae beweist der folgende Tag, Nr. 7, 
an dem die Sera Sei. und Car. nochmals angesetzt wurdon und negativ ausfielen. 

Was der Anlass zu den Fehlresultaten war, konnte nicht eruiert werden. Auch aus diesen 
Ergebnis erhellt der Wert des Ansetzens mehrerer Versuche gleichzeitig. Das^ Ansetzen eines 
isolierten Versuches bleibt gefahrlich. 


Nr. 7. 5. 7. 18. 


Name 

Diagnose 

Stoff 

Reaktion 

Bemerkungen 

Sei., 

weibl. 

S. Nr. 6. 

I 

! Aktives Serum allein 
do. + Gehirn 
do. + Ovar 
do. + Schilddr. 
do. + Leber 


i i i i i 

1,5 ccm Serum. 

0,2 ccm Ninhydrin. 

Car., 

weibl. 

S. Nr. 6. 

1 Aktives Serum allein 
do. + Gehirn 
do. -j- Ovar 
do. -t- Schilddr. 


— 

1,8 ccm Serum. 

0,2 ccm Ninhydrin. 

Bek., 

Schizophrenic mit zahlreichcn 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

weibl. 

Wortneubildungen und Kon- 
taminationen. Vollige Inko- 
harenz des Gedankenganges. 
Nahezu stationar. 

do. + Gehirn 
do. + Ovar 
do. 4* Schilddr. 
do. 4- Leber 


? 

? 

(+) 

0,2 ccm Nin hydrin. 

Eich., 

Dem. paranoides, nahezu statio¬ 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

weibl. 

nar, mit ganz phantastischer, 
produktiver Wahnbildung bei 
verhaltnismassig gut erhal- 
tener Personlichkeit. 

do. + Gehirn 
do. 4“ Ovar 
do. 4" Schilddr. 
do. 4“ Leber 


? 

<+) 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Der Versuch gilt als einwandfrei. Zwar bestand koine Moglichkeit zum Ansetzen inaktiver Ver¬ 
suche. Die dreifach beobachteten negativen Reaktionen mit Leber und Ovar verbiirgen die Richtigkei: 
des fermentativen Abbaues in den zwei positiven Versuchen. Ein Organfehler lag offenbar nicht vor 


Np. 8. 6. 7. 18. 


Wol., 

r 

Paranoide Form der Dem. 

Aktives Serum allein 



1,5 ccm Serum. 

raannl. 

praecox, im ersten Beginn. 
Vor Wochen ausgesprochene 
Beziehungsideen, hat jetzt ein 
Geheimnis, das er niemandem 
mitteilt. Lappisches Wesen, 
unvertraglich. 

do. + Gehirn 

do. 4" Hoden 

do. 4" Schilddr. 

do. 4* Deber 


? 

0,2 ccm Ninhydrin. 

Gen., 

Alte stationare Hebephrenie, 
affektiv verblodet, lappisches, 
albernesWesen, unmotiviertes 
Lacheln. 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

do. + Gehirn 

do. 4* Hoden 

do. 4" Schilddr. 

do. 4“ Deber 

i 

INI 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

CORNELL UNIVERSITY 








Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse nsw. 271 


Same 

Diagnose 

Stof f 

Reaktion 

Bemerkungen 

Met., 

Hebephrenic im Beginn, son- 

Aktives Serum allein 


_ 

1,5 ccm Serum. 

*nnl. 

derliches Wesen, bewegungs- 
arm, afiektiv stumpf, ist gern 
fiir sich. Mitunter lappisches 
Lachen. Galt erst fur Psycho¬ 
path, en tpuppte sich erst spater 
als Dem, praecox. 

do. + Gehirn 

do. + Hoden 

do. + Schilddr. 

do. + Leber 


? 

? 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Aus Mangel an Serum konnten inaktive Versuche nicht angesetzt werden. Doch liegt kein 
rund vor, dem Ausfall der Reaktion zu misstrauen. Der Versuch gilt als einwandfrei. 


Nr. 9. 9. 7. 18. (Am 7. und 8. 7. wurde nicht gearbeitet.) 


Vial., 

Katatonie. Allmahliches Ab- 

Aktives Serum allein 

(+) 


1,5 ccm Serum. 

lannl. 

klingen des Stupors. 

do. + Gehirn 

(+) 

- ! 

0,2 ccm Ninhydrin. 


do. + Hoden 

<(+)) 

- 1 


Nr. 1 


do. + Schilddr. 

((+)) 

— 




do. 4- Leber 

(+) 

— 




Inaktiv. Serum allein 

<(+)) 

— 



t 

do. - 
do. - 
do. - 
do. i 

h Gehirn 
|- Hoden 
|- Schilddr. 
b Leber 

(+) 

(+) 

((+)) 

((+)) 

((+)) 

((+)) 

> Organbebrutungs- 
' proben absolut ne- 
gativ. Im inaktiv. 
Versuch Liin. bci- 





1 


des negativ. 

Mci., 

Hebephrenie. Klinisch unver- 

Aktives Serum allein 

(+) 

_ 

1,5 ccm Scrum. 

nannl. 

andert. 

do. + Gehirn 

((+» 

— 

1 0,2 ccm Serum. 



do. 4“ Hoden 

+ 

((+)) 

1 lm inaktiv. Versuch 

Nr. 1 


do. 4* Schilddr. 

+ 

((+)) 

Vial, beides ((+)), 



do. 4* Leber 

((+); 


ira inaktiv.Vorsuch 






Lun. jedocb beides 
negativ. Die Or- 








ganbebriitungspro- 
ben waren durch- 







weg negativ. 

Han., 

Katatonie, in Schuben ver- 

Aktives Serum allein 

(+) 

— 

1,5 ccm Serum. 

nannl. 

laufend, mit guten Remis- 




0,2 ccm Ninhydrin. 


sionen, seit Jahron bestehend. 

do. - 

- Gehirn 

(+) 

— 

> Im inaktiv. Versuch 
' Vial, beides ((+)), 

im inftl'tiv 


Vor 2 Mon. ausserst schwerer 

do. 

- Hoden 

H—H 

+ 


Erregungszustand, langsam 

do. - 

- Schilddr. 

((+)) 



abklingend. Jetzt sohon recbt 
gute Remission. Noch Sen- 
sationen. 

do. - 

- Leber 

((+)) 


till lUuaU V • Y viaULU 

Liin. jedoch beides 
negativ. Die Or- 
ganbebriitungspro- 
ben waren durch- 
weg negativ. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

CORNELL UNIVERSITY 







272 


Dr. Gottfried Ewald, 


Name 

Diagnose 

S t 0 f f 

Reaktion 

Bemerkungen 

Liin., 

Endogene Depression. 

Aktives Serum allein 

((+» 


1,5 ccm Serum. 

mannl. 





0,2 ccm Ninhydric 

vgl. 
Nr. 6. 


do. + Gehirn 

do. + Hoden 

do. + Schilddr. 

do. + Leber 

Inaktiv. Serum allein 

(+) 

(+) 

((+» 

((+» 

++I 1 1 

> Im inaktiv. Versucl 
1 Vial, beides ((+) 1 
Samtliche Organ 
bebriitungsprobe: 
absolut negativ. 



do. + Gehirn 

((+)> 

— 



do. + Hoden 

((+» 

— 




do. 4“ Schilddr. 

((+» 

— 




do. 4“ Leber 


— 



Hier ist ein Organfehler nicht anzunehmen, da sowohl samtliche Bebriitungsproben negstr 
waren, als auch der inaktive Versuch Ltin.; auch hatte man bei vorhandenem Organfehler eiw 
positive Gehirn- und Hodenreaktion im aktiven Versuch Vial, erwarten miissen. Wahrscbeinlici 
handelt es sich um einen Kochfehler bei dem inaktiven Serum Vial, allein. Moglicb ist auch ei: 
Hiilsenfehler. Daher sofort Hiilsenpriifung auf gleichmassige Durchlassigkeit fiir Peptone. 


Nr. 10. 11. 7. IS. 


Lan., 

Normal. 

Aktives Serum allein 

(+) 


1,5 ccm Serum. 

mannl. 


do. + Gehirn 

(+> 

— 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 4" Hoden 

(+) 

— 



do. 4" Schilddr. 

(+) 

— 




do. 4“ Leber 

(+) 

— 


Was., 

Dem. paranoides. Klinisch 

Aktives Serum allein 

(+) 

— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

unverandert. 

do. + Gehirn 

(+) 

— 

0,2 ccm Ninhydrin. 

vgl. 


do. 4“ Hoden 

— 

— 

Nr. 3. 


do. 4" Schilddr. 

r+) 

— 




do. -f Leber 

(+) 

— 




Inakt. Serum allein 

(+) 

— 




do. + Gehirn 

(+) 

— 




do. 4“ Hoden 

— 

— 




do. 4" Schilddr. 

(+) 

— 




do. 4" Leber 

0 

0 


Wit, 

Katatonie. Klinisch etwas 

Aktives Serum allein 

((+)) 

_ 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

erregter. 

do. + Gehirn 

+ 

(+) 

0,2 ccm Ninhydrin. 

vgl. 


do. 4“ Hoden 

((+)) 

— 

Nr. 3. 


do. 4* Schilddr. 

((+)) 

— 




do. 4" Leber 

+ 

(+) 


Nil., 

Leichte endogene Depression. 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

Weinerlich, Suizidgedanken. 

do. 4- Gehirn 


— 

0,2 ccm Ninhydrin 


do. + Hoden 


— 



do. 4* Schilddr. 


((+)) 



Der Versuch ist einwandfrei. 


Digitized dGOOfilC 


Original from 

CORNELL UNIVERSITY 







Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblddungsprozesse usw. 273 


Nr. 11. 12. 7. 18. 


B 

Diagnose 

Stoff 

Reaktion 

Bemerkungen 

leek.. 

Schizophrenic, chronisch fort- 

Aktives Serum allein 

(+> 


_ 

1,5 ccm Serum. 

iinnl 

schreitend, mit katatonen 

do. + Gehirn 

(■+•> 

- 

— 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Ziigen, Stereotypien, Ver- 

do. + Hoden 

((+» 

- 

- 



bigeration, vdlliginkoh&rentem 

do. + Schilddr. 

— 

- 

- 



Gedankengang. 

do. + Leber 

— 

- 

— 


Stn., 

Hebephrenie. 

Aid ives Serum allein 


- 

— 

0,6 ccm Serum -f- 

annl. 

Rlinisch unverandert. 

do. + Gehirn 


- 

- 

1,0 ccm physiolog. 

T g l. 


do. + Hoden 

, 

- 

- 

NaCl-Losung. 

<r. 3. 


do. + Schilddr. 


- 

- 

0,3 ccm Ninhydrin. 

lun., 

Chronische Melancholic mit viel 

Aktives Serum allein 


- 

- 

1,5 ccm Serum. 

anni. 

hypochondrischen Ziigen, seit 

do. - 

- Gehirn 


+ 

0,2 ccm Ninbydrin. 


2 l /z Jahren ohne Unter- 

do. - 

- Hoden 


+ 



brechung bestehend. 

do. - 

- Schilddr. 


- 

- 




do. - 

- Leber 


<+> 


Det., 

Paranoide Form der Dem. prae- 

Aktives Serum allein 

«+» 

- 

- 

1,5 ccm Serum. 

annl. 

cox, ziemlich schnell fort- 

do. + Gehirn 

(+> 

((- 

-» 

0,2 ccm Ninhydrin. 

'gi- 

schreitend. 

do. + Hoden 

+ 

(- 

-) 


iT. 1 . 


do. + Schilddr. 

++ 






do. + Leber 

++ 

- 

- 



Der Versuch Stn. wurde nicht in der prozentualen Statistik verwertet, da die Serummenge viei 
i gering war. Inaktive Versuche wurden wegen Serummangel nicht angesetzt. Doch sichert der 
'g&tive Ausfall in Versuch Beck mit hoher Wahrscheinlichkeit die Bichtigkeit auch des Versuches 
uo. Die Organbebrutungsproben waren nstiirlich samtlich negativ. 

Die Versuche Beck., Jun. und Sch. durften als einwandfrei zu bezeichnen sein. 


Nr. 12. 13. 7. 18. 


tei 

Schizophrenie, stationar. 

Aktives Serum allein 

(+) 


1,5 ccm Serum. 

iannJ. 

do. 

+ Gehirn 

++ 

+ 

0,2 ccm Ninhydrin. 

v gl- 


do. 

+ Hoden 

- 

- 

— 

<r. 2. 


do. 

+ Schilddr. 

(H 

b) 

— 




do. 

-b Leber 


b 

(+) 


Val., 

’ eibl 

Schizophrenie, stationar, voll- 

Aktives Serum allein 

- 

b 

— 

1,5 ccm Serum. 

kommene Inkoharenz des Ge- 

do. 

+ Gehirn 

(- 

b) 

— 

0,2 ccm Ninhydrin. 


dankenganges, Wortneubil- 

do. 

+ Ovar 

(- 

b) 

— 


dungen, Kontaminationen. 

do. 

+ Schilddr. 

((- 

b)) 

— 



do. 

+ Leber 

((- 

b)) 

— 




Inaktiv. Serum allein 



— 




do. 

+ Gehirn 



— 




do. 

4* Ovar 



— 




do. 

+ Schilddr. 



— 




do. 

+ Leber 



— 


ini.. 

Paranoide Form der Dem. prae- 

Aktives Serum allein 

((+)) 

— 

1,5 com Serum. 

ribJ. 

cox, falsche, unsinnige Be- 

do. 

+ Gehirn 

- 

- 

— 

0,2 ccm Ninhydrin. 


ziehungen, Wortneubildungen 

do. 

-f- Otar 

(+) 

((+)) 


und Verquickungen, aber aus- 
gesprocben einformig. 

do. 

+ Schilddr. 

? 

1 




Der Versuch ist einwandfrei. 

Arsklr t PtyehUtri*. Bd. SO. Heft 1. 


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Gck igle 


Original from 

CORNELL UNIVERSITY 






274 Dr. Gottfried Ewald, 


Nr. 13. 14. 7. 18. 


Name 

Diagnose 

Stof f 

Reaktion 

Bemerkungen 

Gri., 

weibl. 

Hebepbrenie, einfach gemiit- 
liche Verblodung. Lasst unter 
sich. Grosste Bewegungsar- 
raut, fades Lacheln. Lang- 
sam progredient. 

Aktives Serum allcin 

do. + Gehirn 

do. -f Ovar 

do. + Schilddr. 

do. + Leber 


? 

+ 

+ 

+ 

1,5 ccm Serum. 

0,2 ccm Ninhydrin. 

Bod., 

weibl. 

Irabezill, mit Pfropf-Katatonie. 

Aktives Serum allein 

do. + Gehirn 

do. 4- Ovar 

do. + Schilddr. 

do. 4" Leber 

((+)) 

+ 

+ 

(+) 

(+> 

(+) 

«+)) 

1,5 ccm Serum. 

0,2 ccm Ninhydrin. 

Brei., 

mannl. 

Frische Katatonie. 2. Attache, 
schnell verblbdend. Erre- 
gungszustaud. 

Aktives Serum allein 
do. + Gehirn 

do. 4* Hoden 

do. 4“ Schilddr. 

do. 4“ Leber 

(+) 

+ 

+ 

«+» 

((+» 

(+) 

(+) 

1,5 ccm Serum. 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Versehentlich wurde hier kein wahrscheinlich negatives Serum angesetzt. Aus Serummangel kei3 
inaktiver Versuch. Es liegt bei dem vollig negativen Ausfall der Organbebriitungsproben aber keii 
Grund vor an der Richtigkeit der Reaktion zu zweifeln. Ferner ist Gehirn im Versuch Gri., Schilddr 
im Versuch Brei., Leber im Versuch Brei. und Bod. negativ. Es lag kein Grund vor, die Versuch 
Gri. und Brei. in der prozentualen Statistik nicht zu vcrwendcn. 

Am 15. 7. keine Reaktion, 16.—18. 7. IlUlsenpriifung. 


Nr. 14. 19. 7. 18. 


Bre., 

Zirkuiares Irresein. Mischzu- 

Aktives Serum allein i 

((+» 


1,5 ccm Serum 

weibl. 

stand, manischer Stupor, 

do. 

+ Gehirn 

++ 

+ 

0,2 ccm Ninhydrin. 


spater plotzlich in manische 

do. 

4- Ovar 

(+) 

«+)) 



Erregungumschlagend. Hallu- 

do. 

4- Schilddr. 

((+» 

— 



ziniert stark optisch. 






Vich., 

Paranoide Deraenz, produktive, 

Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

weibl. 

phantastische Wahnbildung 

do. 

+ Gehirn 


++ 

0,2 ccm Ninhydrin. 


bei verhiiltnismassig gutem 

do. 

4- Ovar 


+ 



Erhaltenbleiben der Person- 

do. 

4- Schilddr. 


+ 

- 


lichkeit. 

do. 

4- Leber 


++ 


Hei., 

Chronische Manio, von Zeit zu 

1 Aktives Serum allein 


— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

Zeit crheblich anschwellcnd. 

do. 

+ Gehirn 


++ 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Potator. 

do. 

4- Hoden 


(+) 




do. 

+ Schilddr. 


(+) 




do. 

4- Leber 


((+)) 


Vol., 

Katatonie, chronisch, in Schii- 

Aktives Serum allein 

((+)) 

— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

ben verlaufend. Vor l / 4 Jahr 

do. 

+ Gehirn 

((+« 

— 

0,2 ccm Ninhydrin 


letzteschwereErregung. Jetzt 

do. 

4“ Hoden 


— 



schwcre Katalepsie, Stereo- 

do. 

4~ Schilddr. 

— 

— 



typien, Manieren, Mutazismus. 

do. 

4“ Leber 

— 

— 



Der iiberraschenderweise negative Ausfall der Reaktion Vol. sichert trotz Mangels eines inti 
tiven Versuches mit hoher Wahrscheinlichkeit die Richtigkeit von Versuch Bre. und Hei. Der Ver 
such gilt als einwandfrei. 


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Original from 

CORNELL UNIVERSITY 








Fermentative Vorgange imVerlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 275 


Nr. 15, 20. 7. 18. 


lame 

Diagnose 

Stoff 

Reaktion 

Bemerkungen 

iru.. 

Katatonie, chroniscfy verlaufend. 

Aktives Serum allein 

«H 

h)) 


1,5 com Serum. 

annl. 

Stereotypien u. Manieren, ite- 

do. 

+ Gehirn 

H 


(>) 

0,2 ccm Ninhydrin. 


rierende Bewegungen. Vereinz. 

do. 

+ Hoden 

«- 

-)) 

? 


Kontaminat. Zeitw. Verstim- 

do. 

+ Schilddr. 

(H 

-) 

((+)) 



mung. Grosste Einformigkeit. 

do. 

+ Leber 

(CH 

h)) 



Lis., 

Angstpsychose auf atheroskiero- 

Aktives Serum allein 

((H 

h» 

— 

1,5 ccm Serum. 

h'annl. 

tischer Basis. 

do. 

+ Gehirn 

H 


(+) 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 

+ Hoden 

((H 

-)) 

? 



do. 

+ Schilddr. 

H 


(+) 




do. 

+ Leber 


- 


VVol., 

Paranoide Form der Dem. 

Aktives Serum allein 

(+) 

— 

1,5 ccm Serum. 

iannl. 

praecox. Rlinisch in letzter 

do. 

+ Gehirn 

+ 

((+)) 

0,2 ccm Ninhydrin. 

vgl. 

Zeit aufi&Uende Verstim mung. 

do. * 

+ Hoden 

++ 

(+) 

Nr. 8 

! do. 

+ Schilddr. 

+ 

((+)) 




do. 

+ Leber 

+ 

((+)) 




Inaktiv. Serum allein 1 

+ 

— 



1 

do. 

+ Gehirn 

- 

- 

— 




do. 

+ Hoden 

((+)) 

— 




do. 

-f Schilddr. 

(+) 

— 




do. 

+ Leber 

(+) 

— 



Der Versuch ist einwandfrei. Die Reaktion Lis. wurde nicht in der prozentualen Statistik des 
nanisch-depressiven Irreseins verwendet. 


Nr, 16. 21. 7. 18. 


Web., 

Paralyse, expansiv. 

Aktives Serum allein 

«+)) 

_ 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

do. 

+ Gehirn 

+ 

(+) 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 

+ Hoden 

«+)) 

? 



do. 

+ Schilddr. 

{(+)) 

— 




do. 

+ Leber 


— 




Inaktiv. Serum allein 

(^■) 

— 




do. 

+ Gehirn 

((+» 

— 




do. 

-f" Hoden 

((+» 

— 




do. 

+ Schilddr. 


— 




do. 

4- Leber 

«+) 

— 


Bum., 

Paralyse, expansiv. 

Aktives Serum allein | 


— 

1,5 ccm Serum. 

maonl. 

do. 

+ Gehirn 


(+> 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 

4- Gehirn 


(+> 



do. 

4* Hoden 


((+)) 




do. 

+ Hoden 


? 




do. 

+ Schilddr. 


— 




do. 

4- Schilddr. 


? 




do. 

4- Leber 


— 



i 

do. 

4- Leber 


— 



Der Versuch ist einwandfrei. Man sieht aber an dem Versuch Bum., dass die fraglichen 
Heaktionen sowohl fiir positive, wie negative Resultate sprechen konnen. Die doppelt angesetzto 
Hodenreaktion diirfte als positiv, die doppelt angesetzte Schilddriisenreaktion als negativ zu deuten 
scin - Fiir die vorstehende Arbeit kommen die Reaktionen nicht weiter in Betracht. 

22. 7. 18. keine Reaktion angesetzt. 

18 * 


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276 


Dr. Gottfried Ewaid, 


Nr. 17. 23. 7. 18. 


Name 

Diagnose 

Stoff 

t 

Reaktion 

Bemerkungen 

Ofl., 

Reizbarer Psychopath. 

Aktives Serum allein 

«+)) 


_ 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 


do. + Gehirn 

(+) 

((+» 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. + Hoden 

(+> 

<(+)) 




do. + Schilddr. 

++ 

+ 




Inaktives Serum allein 

(+) 

- 

- 




do. + Gehirn 

((+)) 

- 

- 




do. + Hoden 

((+)> 

- 

- 




do. + Schilddr. 

((+)) 

- 

- 


Zie., 

Dem. paranoides, stationar. 

Aktives Serum allein 

(+> 

- 

- 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

Phantastische, produktive 

do. + Gehirn 

++ 

+ 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Wahnbildung bei gut er- 

do. + Hoden 

++ 

+ 



haltener Personlichkeit. 

do. + Schilddr. 

— 

- 

- 


Ron., 

Schizophrenie. Vollige Zu- 

Aktives Serum allein 

((+)) 

- 

- 

1,5 ccm Serum. 

weibl. 

sammenhanglosigkeit des Ge- 

do. + Gehirn 

c+) 

((- 

-)) 

0,2 ccm Ninhydrin. 


dankenganges. Wortneubil- 

do. + Gehirn 

+ 

(- 

-) 



dungen. Stereotypien, Ma- 

do. + Ovar 

++ 





nieren. 

do. + Ovar. 

++ 

- 

- 




do. + Schilddr. 

+ 

(H 

-) 




do. + Schilddr. 

+ 

(H 

b) 



Der Versuch ist einwandfrei. 

Der Wechsel in der Starke des Gehirnabbaues im Doppelversueh der Pat. Ron. zeigt, dass 
die Abderhalden’sche Metbode eine qualitative und nicht eine quantitative Methode ist. Die Starke 
der Reaktion ist zu sehr abhangig von der Menge des zugesetzten Substrates und dessen angriffs- 
fahiger Oberflache. Diese zu regulieren, hat man nicht in der Hand. 


Nr. 18. 25. 7. 18. 


Con., 

Dem. paranoides, station&r. Gut 

Aktives Serum allein 

+ 


1,8 ccm Serum. 

weibl. 

erhaltene Personlichkeit bei 

do. + Gehirn 

(+) 

— 

0,2 ccm Ninhydrin. 


produktiver, ganz phantasti- 

do. -j- Ovar 

+ 

— 



scher Wahnbildung. 

do. + Schilddr. 

(+) 

— 




do. + Deber 

+ 

— 


Pap., 

Psychopath, reizbar. 

Aktives Serum allein 

<+) 

— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 


do. + Gehirn 

- 

- 

— 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 4* Hoden 

(+) 

? 




do. 4" Schilddr. 

((+)) 

— 




do. + Leber 

- 

- 

— 


Mill., 

Paralyse, manisches Zustands- 

Aktives Serum allein 

((H 

b)) 

— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

bild, leicht ezpansiv. 

do. + Gehirn 

-H 

-+ 

++ 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 4“ Hoden 

((H 

-)) 

? 




do. 4" Schilddr. 

++ 

+ 




do. + Leber 

((+)) 

? 


Papen, 

Imbezillitat. 

Aktives Serum allein 



— 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 


do. + Gehirn 



— 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 4" Hoden 



— 




do. + Schilddr. 



— 




do. 4" Leber 



? 



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Fermentative Vorgange imVerlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 277 


Name 

Diagnose 

Stoff 

Reaktion 

Bemerkungen 

Soha., 

nitnl. 

Hysterische Anfalle. 

Aktives Serum allein 

do. + Gehirn 

do. + Hoden 

do. + Schilddr. 

(+) 

((+» 

((+» 

«+)) 



Der Versaoh ist trotz Mangels inaktiver Kontrollen angesichts der zahlreichen negativen 
Reaktionen zweifellos einwandfrei. 

27. and 28. 7. keine Reaktionen angesetzt. 


Nr. 19. 29. 7. 18. 


Hu., 

Katatonie. Klin, fortschreitende 

Aktives Serum allein 

(+) 


1,3 ccm Serum. 

mannl. 

Remission. 

do. 

+ Gehirn 

(+) 

— 

0,2 ccm Ninhydrin. 

vgl. 


do. 

-j- Hoden 

(+) 

— 

Nr. 9. 


do. 

+ Schilddr. 

«+» 

— 




do. 

4- Leber 

«+)) 

-- 




Inaktiv. Seram allein 

- 

- 

— 




do. 

+ Gehirn 

(H 

-) 

— 




do. 

4* Hoden 

(- 

-) 

— 




do. 

4- Schilddr. 

(- 

-) 

— 




do. 

4- Leber 

(H 


— 


PriL, 

Hysterische Gangstorung. 

Aktives Serum allein 

((+)) 

— 

1,25 ccm Serum. 

mannL 

do. 

+ Gehirn 

+ 

(+) 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 

4- Hoden 

? 

— 



do. 

+ Schilddr. 

(+) 

((+)) 




do. 

4- Leber 

? 

— 


Klan., 

Hysterischer Schiitteltremor. 

Aktives Serum allein 

((+)) 

_ 

1,5 ccm Serum. 

mannl. 

do. 

+ Gehirn 

-1- 

(+) 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 

4- Hoden 

+ 

(+) 




do. 

+ Schilddr. 

(+) 

((+)) 




do. 

4- Leber 

((+)) 

— 


Stef, 

Katatonie, seit l / 2 Jahr krank. 

Aktives Serum allein 



— 

0,6ccm Serum+lccm 

weibL 

Viel Stereotypien. Zeitweise 

do. 

+ Gehirn 



— 

phys. NaCl-Losung # 


Katalepsie. 

do. 

4- Schilddr. 



((+)) 

0,8 ccm Ninhydrin. * 


Der Yersuch ist einwandfrei. Die Reaktion Stef, wurde wegen der geringen angewandten 
Serummenge in der Statistik nicht verwandt. 


Nr. 20. 80. 7. 18. 


Nie, 

Hy3terie. 

Aktives Serum allein 



1,5 ccm Serum. 

nionl. 

do. 

+ Gehirn 


— 

0,2 ccm Ninhydrin. 



do. 

4- Hoden 


— 



do. 

-j- Schilddr. 


— 




do. 

4- Leber 


— 



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278 


Dr. Gottfried Ew&ld, 


Name 

Diagnose 

Stoff 

Reaktion 

Bemerkungen 

Kre., 

mannl. 

Hypomanischer, reizbarer Psy¬ 
chopath. 

Aktives Serum allein 
do. + Gehirn 

do. + Hoden 

do. + Schilddr. 

do. + Leber 


? 

1,5 ccm Serum. 

0,2 ccm Ninhydrin. 

Kar., 

mannl. 

Psychopath, Alkoholiker mit 
Leberschwellung, Polyneuritis 
und Merkdefekt. 

Aktives Serum allein 
do. + Gehirn 
do. + Hoden 
do. + Schilddr. 
do. -j- Leber 
Inaktiv. Serum allein 
do. + Gehirn 
do. + Hoden | 

do. 4* Schilddr. 
do. 4“ Leber 


+ 

+ 

((+)) 

1,5 ccm Serum. 

0,2 ccm Ninhydrin. 


Der Versuch ist einwandfrei. Eeaktion Kar. wurde in der vorstehenden Arbeit wegen dr 
alkoholischen Nebenerscheinungen statistisch nicht mit verwertet. 

So weit die Protokolle meiuer Versuche. Ich babe etwa den 4. bis 
5. Teil der bisher von mir angestellten Reaktionen gebracht; die Ge- 
samtzabl bel&uft sich bislang auf etwa 3—400 Reaktionen. Die Zahl 
ist noch nicht ubermSssig gross. Aber ich glaube mich doch berechtigt, 
ein vorsichtiges Urteil abgeben zu durfen. Es geht dahin, dass wir 
viel 6fter, als wir bisher geglaubt, auch bei Psychopathen und Hysteri- 
kem positive Reaktionen sehen. Meine Befunde bei Manich-Depressiven 
erscheinen mir zwar bemerkenswert, sie sind aber an Zahl noch zn ge- 
ring; ich teile sie daher vorerst nur unter gewissem Vorbehalt mit. 

Die ausfuhrliche Mitteilung der Versuchsprotokolle geschah aus dem 
Grunde, dass jedermann nachprufen kann, in welcher Weise die Beur- 
teilung der Reaktion geschah, und um darzulegen, dass die Beurteilong 
in kritischer Weise vorgenommen wurde. Ich mCchte noch binznfugen, 
dass ein zu schnelles Arbeiten, Massenreaktionen, nur von Nachteil sein 
konnen; die Resultate der diffizilen Arbeitsmetbodik mussen darunter 
leiden. Meiner Ansicht nach hat eine Laborantin mit 5 Seren am Tag 
vollstSndig ausreichend zu tun. Lieber sollte man einmal einen Tag 
mit dem Arbeiten aussetzen, als auf Kosten der Genauigkeit bei der 
grossen Inanspruchnahme der Geduld und der Aufmerksamkeit seitens 
des Arbeitenden eine hohe Reaktionszahl zu erzielen. Nur so kann 
man meines Erachtens zu einwandfreien Resultaten kommen. Wer selbst 
die Reaktion l&ngere Zeit ausgefuhrt hat, wird mir Recht geben. Auch 
sollte man lieber eine Reaktion zu viel als eine zu wenig verwerfen. 


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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodangsprozesse usw. 279 

Wenn ich mich auf Grund meiner Ergebnisse nicht auf den Fauser- 
schen Standpunkt und den seiner Anhfinger stellen kann, nicht der 
Ansicht bin, dass die Sache so einfach liegt, dass fnnktioneile Psychosen 
nicht abbauen, organische aber positive Ergebnisse zeitigen, so ist das 
keineswegs mit einer Verneinung der Methods identisch. Gerade meine 
Untersuchnngen haben mir die Spezifit&t der Abwehrfennente wieder 
kiar vor Augen geffibrt. Durch allgemein proteolytische Fermente 
Ifisst es sich nicht erkl&ren, dass ein Serum, zu wiederholten Malen an- 
gesetzt (vergl. Nr. 1 und 2, Reaktion Gus.; Nr. 16, Reaktion Bum.; 
Nr. 17, Reaktion Rdn.) sich stets von den mehrfach vorgelegten Organen 
immer nur dieselben spezifisch heraussucht. In der weitaus fiber- 
wiegenden Mebrzahl der Reaktionen wurde ja auch immer nur das eine 
oder andere Organ abgebaut, wfihrend eine mehr oder minder grosse 
Zahl der Organe negativ blieb. Das ist mit der Wirkung allgemein 
proteolytischer Fermente nicht vereinbar. Die Abderhalden’sche Reaktion 
ist eine spezifisehe Reaktion. 

Noch einmal aber mfichte ich mich wenden gegen die viel geiibte 
Praxis, schwacb positive Reaktionen (mit ((-}-)) bezeichnete) als negativ 
anzusprechen. Denn der eine halt dann fur positiv, was der andere 
noch als negativ begutaehtet. Vergleichswerte werden auf diese Weise 
niemals gewonnen, und wir kommen nicht weiter. Viellcicht liegt darin 
zum Toil der Unterschied zwischen meinen verbaltnismasig „schlechten“ 
Ergebnissen und denen andorer Autoren mit den bisher als „gunstig“ 
bezeichneten Resultaten. „Gfinstig u werden aber auch meine Ergebnisse 
noch nicht, wenn ich meine mit ((-f-)) bezeichneten Ergebnisse als 
negativ buche. Ich bekomme dann bei Hysterikern und Psychopathen 
zwar nur 25 pCt. positive Resultate, aber die Zahl der positiven Reak¬ 
tionen bei Dementia praecox geht auch gleichzeitig auf 50 pCt. herunter. 
Ich kann darin keinen Vorteil erblicken. Ich habe mich fibrigens ge- 
wundert, dass sich in der Literatur nur ganz verschwindend wenig 
zahlenmfissige Angaben finden fiber die positiven Reaktionen bei Hysteri¬ 
kern und Psychopathen. Die weitaus fiberwiegende Mehrzahl der 
Autoren begnfigt sich mit der Feststellung, dass sich bei diesen funktio- 
nellen Leiden nur negative, oder seltener positive, oder gerade so 
b&ufig positive Reaktionen finden, wie bei Dementia praecox. Zahlen- 
mlssige Angaben dfirften bier gerade ausserordentlich erwfinscht sein. 
Hierbei wfire dann genauestens auf den augenblicklichen Zustand des 
Patienten zu achten. Es liegen auch noch keineswegs genfigend ein- 
wandfreie Beobachtungen darfiber vor, wie sich die fermentativen Vor- 
gfinge bei Menstruation, nach k6r per lichen und seeliscben Anstren- 
gungen, nach sexuellen Exzessen und fihn lichen von der Norm ab- 


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280 


Dr. Gottfried Ewald, 


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weichenden Zust&nden des Organismus verhalten. Aucb darauf wire zu 
acbten. Vielleicht erkl&rt sich die eine oder aodere positive Reaktioo 
bei Normalen, die wenn aucb selten, so docb immer wieder einmal 
beobachtet wird, auf solcbe Weise. 

Alle diese Dingo weisen darauf bin, dass ein noch weithin unbe- 
bautes Feld vorliegt, und gerade dieser Umstand zwingt dazu, mit einer 
praktiscben Verwertung der Reaktion auf psychiatrischem Gebiet, besonders 
im forensischen Betriebe, nocb ausserst vorsichtig zu sein, ja, sie einstweilen 
noch rundweg abzulehnen. DerZeitraum, seit dem wir die Methode besitzen, 
ist ja aucb noch ausserordentlicb kurz; die Kriegszeit ist nahezu abzu- 
rechnen, und vor dem Kriege waren es gerade l 1 ^ Jahre, seit Fauser 
mit seinen ersten psychiatrischen Beobachtungen in die Oeffentlichkeit 
trat. Icb mOchte also ja nicht dabin verstanden werden, dass ich die 
Abderhalden’scbe Methode als Forschungsmethode ablehne. 1m Gegen- 
teil, ich halte sie fur eine wesentliche Bereicherung unserer Ar- 
beitsmethoden; sie bat schon viel geleistet, und wird sicher auch 
weiterhin unsere Kenntnisse noch durch viele interessante Befunde be- 
reichern. Aber sie erfordert z&he Ausdauer, peinlichste Genauigkeit, 
ruhiges Arbeiten und sch&rfste Kritik und Selbstkritik, auch in der 
Hand des geubten Serologen. Ein enges Zusammenarbeiten zwischen 
Serologen und Kliniker ist hier mehr, als bei irgend einer anderen 
Methode, erforderlich. 


Literaturverzeichnis. 

1. Abderhalden, Abwehrfermente. 1914. Springer. 

2. Bowmann u. van Hasselt, Die Abderhalden’sche Reaktion bei Psychosen 
und Neurosen. Nederl. Tijdschrft. vor Geneesk. 1915. 59. I. 423. 

3. Bundschnh u. Romer, Ueber das Abderhalden’scbe Dialysierverfahren in 
der Psychiatrie. Deutsche med. Wochenschr. 1913. S. 2029. 

4. Ewald, Erfahrungen mit dem Abderbalden’scben Dialysierverfahren und 
fiber seineVerwertbarkeit am Krankenbett. Fermentforscbg. 1915. I. S. 315. 

5. Fauser, Pathologisch-serologiscbe Befunde bei Geisteskranken. Allgem. 
Zeitschr. f. Psych. 1913. Bd. 70. 

6. Derselbe, Zur Frage des Vorhandenseins usw. Mfinchener med. Wochen- 
schrift. 1913. Nr. 11. 

7. Derselbe, Die Serologie in der Psychiatrie (Rfickblicke und Ausblicke). 
Ebendas. S. 1985. 

8. Derselbe, Die Serologie in der Psychiatrie. Ebendas. 1914. S. 126. 

9. Derselbe, Deutscher Verein ffir Psychiatrie. Strassburg 1914. Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol, u. Psych. Ref. Bd. 10. S. 55. 

10. Kafka, Ueber den Nachweis von Abwehrfermenten usw. Ebendas. 1913. 
Bd. 18. 


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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 281 


11. Kafka, Die Abderhalden’sche Uethode in der Psyohiatrie. Med. Klinik. 
1914. S. 155. 

12. Lampd nnd Fuohs, Serologisobe Untersnohungen mit Hilfe des Abder- 
balden’schen Dialysierverfahrens usvf. Munchener med. Wochenschr. 1913. 
S. 2112 u. 2177. 

13. Lindstedt, Deutsche med. Woohenschr. 1918. Nr. 27. 

14. Maass, Psychiatrisobe Erfahrungen mit dem Abderhalden’sohen Dialysier- 
verfahren. Zeitschr. f. d. ges. Nenrol. u. Psych. 1913. Bd. 20. S. 560. 

15. W. Mayer, Die Bedentung der Abderhalden’sohen Serodiagnostik fur die 
Psychiatrie. Munchener med. Woohenschr. 1913. S. 2045. 

16. Derselbe, Die Bedeutung der Abderhalden’schen Dialysiermethode. Zeit- 
schrift f. d. ges. Neurol, n. Psych. Orig. 1914. Bd. 23. S. 539. 

17. Derselbe, Bemerkungen zur Abderhalden’schen Methode in der Psychiatrie. 
Munchener med. Wochenschr. 1915. 62. 1. S. 580. 

18. N iezoy tka, Ergebnisse der Abderhalden’schen Methode fur die Psychiatrie. 
Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 1914. Orig. 

19. Plant, Ueber Adsorptionsersoheinungen beim Abderhalden’schen Dialysier- 
verfahren. Munchener med. Wochenschr. 1914. S. 238. 

20. Derselbe, Deutscher Verein fur Psychiatrie. Strassburg 1914. Zeitschr.f. 
d. ges. Neurol, u. Psych. Ref. Bd. 10. S. 55. 

21. Rautenberg, Ueber den klinischen Wert der Blutreaktion nacb Abder- 
halden, insbesondere auf Grand kriegsforensischer Begutachtung. Verein 
Nordd. Psych. 1917. Hamburg. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Ref. 
Bd. 15. S. 222. 

22. Rosental und Hilffert, Zur Frage der klinischen Verwertbarkeit des 
Abderhalden’schen Dialysierverfahrens in der Psychiatrie. Zeitschr. f. d. ges. 
Neur. u. Psyoh. 1914. Bd. 26. S. 6. 

23. Range, Ueber Erfahrungen mit dem Abderhalden’schen Dialysierverfahren 
usw. Aroh. f. Psych. 1917. Bd. 58. 

24. Sohwarz, Erfahrungen mit der Abderhalden’schen Blutuntersuchungs- 
methode. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1914. Bd. 32. S. 19. 

25. Sioli, Die Abwehrfermente Abderhalden’s in der Psychiatrie. Arch. f. 
Psych. 1915. Bd. 55. S. 241. 

26. Wegener, WeitereUntersuchungsergebnisse mittels des Abderhalden’schen 
Dialysierverfahrens. Munchener med. Woohenschr. 1914. S. 15. 


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s 


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XII. 

Zur Abwehr. 

Von 

Prof. Dr. J. Raecke (Frankfurt a. M.). 

Der Unterscbied zwischen Forschung und Schriftstellerei ist erst 
kfirzlich zum Gegenstande einer VerOffentlichung aus dem Munchener 
Forschungsinstitute gewiblt worden. Umso verwunderlicher wirkt es, 
dass die anatomischeu Vertreter gerade dieser von uns Psycbiatera 
mit den hfichsten Erwartungen begrussten neuen Schflpfung rich 
vorzugsweise iu polemischer Schriftstellerei ergehen. Den Angriffen 
Spielmeyer’s gegen mich ist jetzt ein weiterer von Nissl gefolgt, 
weil ich sein Dogma vom paralytischen Parallelismus angegriffen babe: 
Zwei getrennte histopathologiscbe Prozesse sollen, ohne sich zu schneiden, 
in der paralytischen Hirnrinde nebeneinander herlaufen, entziindlicbe 
und toxisch-degenerative. 

Diese Hypothese berubt nicht, wie Nissl annimmt, auf histo- 
pathologischen Tatsachen — die Tatsachen habe ich nicht bestritten —, 
sondern nur auf Nissl’s Deutung dieser Tatsachen. Wir haben wobl 
bei der Paralyse, im Gegensatz zu der auf das Mesoderm beschr&nkten 
gummosen Lues cerebrospinalis, zugleich Verfinderungen am Mesoderm 
und Ektoderm vor uns, aber beides ist Ausdruck der durch Spiroch&ten 
erzeugten lokalen Entzundung. Naturlich kfinnen ektodermale und 
mesodermale Ver&nderungen bis zu einem gewissen Grade ungleich- 
m&ssig verlaufen, so dass man beispielsweise mit Salvarsanbehandlung 
den mesodermalen Prozess zu beeinflussen und die meningitisch ent- 
standenen abnormen Liquorbefunde zu beseitigen vermag, w Eh rend gleich- 
zeitig der ektodermale Prozess fortschreitet und zum Tode fuhrt. 

Nissl selbst muss einraumen, dass man zweifelhaft sein kann fiber 
die Berechtigung, regressive und progressive Gewebsverfinderungen nur 
deshalb als nichtentzfindlich zu bezeichnen, weil die gleichzeitig nach- 
weisbaren exsudativen Erscheinungen nur geringffigig und sporadisch auf- 
treten. Man konnte vielleicht noch weiter gehen und das Erfordernis 
einer Exsudation in Nissl’s Sinne ffir den Begriff Entzundung im Zentral- 


Go^ 'gle 


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Zur Abwehr. 


283 


nervensystem uberhaupt anzweifeln. Jakob 1 2 ) hat erst kurzlicb wieder 
daraaf hingewiesen, dass die proliferativ reaktiveu Vorgange an der 
Glia sick sebr wohl als exsudative deuten liessen. Die von Nissl ge- 
forderte Einschrankung des Entzundungsbegriffes fuhre zur Notwendigkeit, 
prinzipieli gleiche histologische Vorgange verschieden zu charakterisieren. 

Nissl’s scharfsten Widerspruch baben meiue Ausfiihrungen erweckt, 
dass Alzheimer gerade auf Grund der verschiedenartigen Bilder, welche 
die Nervenzellen in paralytischen Rinden darbieten, nochmals die Frage 
erwogen habe, ob Veranderungen im Nissl-Praparate wirklich einen 
wesentlichen Ausdruck verschiedener Schadigungen darstellten, und dass 
er erst im allgemeinen Hinblick auf die Strukturverhaltnisse der er- 
krankten Zellen uberhaupt ,• auch im nicbtparalytischen Gehirne, zu 
dem Ergebnisse gelangt sei, dass es sich nicht urn gleichgultige Unter- 
schiede sondern um verschiedeue ErkrankungszustSnde handle. 

Nun, wdrtlich hat Alzheimer fiber seine paralytischen Zellbefunde 
geschrieben (Histol. u. histopath. Arb. Bd. 1. S. 55): „Die Ganglienzell- 
veranderungen, welche man findet, kfinnen der allervcrschiedensten Art 
sein und ich glaube, alle von Nissl beschriebenen Formen, manchmal 
mehrere Arten neben- und untereinander und dazu kaufig solche, die 
Kombinationen verschiedener Erkrankungsarten darstellen, neben anderen 
noch nicht beschriebenen Erkrankungsbildern gesehen zu haben . . . . 
Im allgemeinen sind Mischformen und weniger scharf gekennzeichnete 
Erkrankungszustande sogar hanfiger als die von Nissl beschriebenen, 
leichter erkennbaren Formen. 

„Diese auffallige Erscheinung konnte uns bedenklich 
macben,'ob uberhaupt die Ganglienzellveranderungen, wie 
wir sie heute, besonders an Praparaten nach der Nissl’schen 
Farbung, soben und durch Nissl’s Vorarbeiten kennen, einen 
wesentlichen Ausdruck verschiedener Schadigungen dar¬ 
stellen, ob ihnen eine grfissere Bedeutung fur die patho- 
logiscbe Histologie zukommt. Doch sprechen wichtige Grunde 
dafur, dass diese Zellveranderungen nicht als bedeutungslose 
Umwandlungen des normalen Zellbildes betrachtet werden 
durfen*). Denn zunhchst seben wir, dass mit bestimmten Umlagerungen 
der chromatischen Substanz, welche in erster Linie den pathologischen 
Zellformen ihr Geprage geben, auch ganz bestimmte Veranderungen 
am Kern und Kernkorperchen, an Form und Grdsse des GanglienkCrpers 
und seiner Fortsatze einhergehen, wie dies Nissl eingehend beschrieben 


1) Jahreskurse fur arztlicbe Fortbildung. Mai 1918. 

2) Im Original nicht gesperrt gedruckt. 


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284 


Dr. J. Raecke, 


hat. Zweitens mussen wir annehmen, dass eine Umlagerung der chro- 
matischen Substanz, die normaler Weise nur die Fibrillenbahnen freilSsst, 
auch eine Schfidigung der Fibrillen selbst andeutet, also eine SchKdigung 
von Zellstrukturen, die direkter als die €hromatinmassen mit nervOsen 
Funktionen in Zusammenhang zu bringen sind. Dazu finden wir die 
im Nissl’schen Pr&parat an gesunden Zellen ungef&rbten Fibrillenbahnen 
bei krankbaften Zust&nden oft gef&rbt, was wieder eine Ver&nderung 
derselben beweist. Drittens sieht man vielfach, dass mit bestimmten 
Ganglienzellver&nderungen aacb ein bestimmtes Verhalten der Trabant- 
sellen einhergeht, deren Wucherung oder Rfickbildung, wie wir spfiter 
noch sehen werden, Storungen in den feinsten periganglion&ren nervOsen 
Strukturen anzeigen dfirfte. So erscheiut es wohl sicher, dass die 
verschiedenen Ganglienzellveranderungen nicbt auf gleich- 
gfiltigen Umlagerungeu der Granula beruben, sondern den 
Ausdruck verschiedenartiger, tiefergreifender Schadigungen, 
dass sie mit kurzen Worten verschiedene ErkrankungszustSude 
darstellen“ . . . *). 

Auch persOnlicb erinnere ich mich aus mehrfacben Aeusserungen 
Alzheimer’s in den Jahren 1898—1900, dass ihm wenigstens damals der 
fiberraschende Formenreichtum der Ganglienzellbilder im Paralysegehirn 
hinsichtlicb ihrer Einschatzung fur die Histopathologie besonders wichtig 
erschien. Die an fan gl ich sehr fibertriebenen Hoffnungen, welche durch 
Nissl’s Befunde erregt worden waren, batten anfgegeben werden mussen. 
Das eifrige Forschen nach spezifiscben Ganglienzell veranderungen wurde 
allmahlich eingestellt. Die Wurdigung der starken Einwirkung zufalliger 
kOrperlicher Stdrungen setzte sich durcb. 

Alzheimer selbst hatte zeitweilig geglaubt, in einer fiber nabezu 
alle Rindenschichten ausgebreiteten akuten Ganglienzellerkrankung das 
anatomische Substrat der Amentia 1 2 ) gefunden zu baben. Seine eigenen 
und fremde Arbeiten (Binswanger und "Berger, Cramer, E. Meyer, 
Sander, Schroder usw.) ffihrten zur Erkenntnis, dass bei den meisten 
akuten Infektions-, Intoxikations- und Autointoxikationspsychosen, 
namentlich auch bei dem Delirium tremens (Bonhoeffer, Tromner, 
Kfirbitz, SchrOder usw.) die akute Zellerkrankung in der gesamten 
Rinde auffallig verbreitet, dass aber ihre vermutlicbe Ursache weniger 
in psychischen als begleitenden somatiscben StOrungen zu suchen ist. 

Im Gegensatze zu diesen bekannten Bildern ffillt im paralytischen 
Zellpraparate, gleichgfiltig, welche interkurrente Erkrankung den Tod 


1) Im Original nicbt gesperrt. 

2) Monatsschr. f. Psych. Bd. 2. S. 111. 


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Zur Abwebr. 


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herbeigefuhrt hatte, in der Regel ein weit bunterer Wecbsel der Formen 
mit Vorherrschen schwerster StOrungen auf. WOrtlich bat Alzheimer 
darfiber gelehrt: „Was nun znnfichst im allgemeinen die Veranderungen 
der Ganglienzellen bei der Paralyse von denen bei vielen anderen Psy¬ 
chosen nntersoheidet 1 ), ist das haufige Vorkommen solcher Er- 
kranknngsbilder, welche scbon aus der Art der Veranderung eine be- 
sonders schwere Scbadigung andeuten u . (Folgt eine Beschreibung der 
Formen.) „Das sind nur eiuige der auffalligsten Formen. Recht haufig 
begegnen wir Zustanden, die die letzten Stadien des Zellzerfalls dar- 
stellen und sich als kSrnige Protoplasmahaufen, Ausgangsstadien der Ver- 
flfissigung, Vakuolisierung, Zellschattenbildung (Nissl) kennzeichnen“ . . . 

Diese von Alzheimer so klar betonte Eigenartigkeit paralytiscber 
Ganglieuzellpraparate legt meines Erachteus den Gedanken nahe, ob 
nicbt hier neben den sonst einwirkenden AllgemeinstOrungen toxischen 
Cbarakters ein neues lokales Moment hinzutritt und die auffallend 
schweren Nervonzellveranderungen in erster Linie verursacht. Meine 
Fragestellung ist von Nissl missverstanden worden. 

Niemand wird beute daran denken, bei der grossen Mannigfaltig- 
keit mfiglicher Zellbilder aus derartig leichten und schwankenden Unter- 
schieden differentialdiagnostische Richtlinien gewinnen zu wollen. Wohl 
aber erschien es mir verlockend, die von Alzheimer so trefflich ge- 
schilderten Befunde mit der Spirochateninvasion in Zusammenhang zu 
bringen. Ob dabei die Spirochaten wirklich after in die Zellen ein- 
dringen oder sich nur an sie anlegen, ob sie mechaniscbe oder chemiscbe 
Schadigungen setzen, ist, wie ich an anderer Stelle ausdrficklich betont 
habe, eine mehr nebensachliche Frage. 

Ebenso habe ich mehrfach hervorgehoben, dass regressive and 
proliferative Gewebsverfinderungen zugleich mit den exsudativen zum 
Wesen einer Entzfindung gehCren. Das hindert aber nicht, dass an 
einzelnen Stellen des Hirngewebes sogleich nach Eindringen der 
Spirochaten die exsudativen Erscheinungen noch einige Zeit febleu 
kQnnen, wAhrend sich Degeneration und Proliferation bereits als Folgen 
jener Invasion bemerkbar machen. Dafur treten wieder an aoderen 
Gewebsstellen die Exsudationen deutlich hervor. Der paralytische 
Prozess ist eben imraer, trotz vorubergebend einsetzender Exazerbationen, 
ein ausgesprochen chronisch-scbleichender, der im Laufe von Jahren 
allmAhlich fiber die Hirnrinde kriecbt bzw. sprunghaft unregelmfissig 
verbreitet. Der im Augenblicke des Todes zu erhebende Befund bietet 
nur einen Ansschnitt aus dem ganzen Vorgange. 


1) Im Original nicht gesperrt. 


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Dr. J. Ra«cke, Zur Abwehr. 


Nicht immer mag uberall das Bild der Eutzundung gleich uber- 
zeugend im Schnitte hervortreten. Wenn man dann sofort selb- 
stftndige Degenerationeu annimmt, versetzt man sicb in die UnmOglich- 
keit, den gesamten nervGsen Zerfall im paralytischen Gehirn von lokalen 
EntzundungsvorgSngen abh&ngig zu denken, und verbaut sicb die meines 
Erachtens naturlichste Erklarung des paralytischen Prozesses. Auch 
bier hat mich Nissl missverstanden. 

Trotz Nissl’s Widerspruch muss ich an der Behauptung festhalten, 
dass massenhafte Plasmazellinfiltrate das Vorliegen parasit&rer Ent- 
ziindungsursachen wahrscbeinlich machen. Uebrigens scbeint auch 
Jakob diese Auffassung zu vertreten, da er sagt: 

„Aber so viel lehren uns die Erfahrungen aus der Patbologie des 
Zentralnervensystems, da'ss bei alien Affektionen, in denen sich eine 
starke lymphozytare Reaktion des Gewebes zeigt, die Einwirkung eines 
Bakteriums mit grosser Wahrscheinlichkeit angenommen werden darf; 
ich verweise hier auf Tuberkulose, Syphilis, Schlafkrankbeit, Heine- 
Medin’sche Krankbeit (epidemische Kinderl&hmung), Lyssa, Hundestaupe, 
Borna’sche Krankheit der Pferde, alles Prozesse, die mit starken 
infiltrativen Bindegewebsexsudationen einbergehen. Im Gegensatze hierzu 
stehen die Befunde bei Dysenterietoxin, Bid, Alkohol, Diphtberie, Blut- 
giften, wo mehr reine Toxinwirkungen im Yordergrunde stehen, und 
exsudative Prozesse, wenn iiberhaupt, nur sehr geringgradig im Zentral- 
nervensystem entwickelt sind“ (1. c. S. 39). 

Von einem Widerspruche der Anschauungen zwischen Jahnei und 
mir, wie ihn Nissl behauptet, ist mir nichts bekannt. Jahnei hat 
allerdings die Frage nach dem Zusammenhange zwischen entzundlichen 
und degenerativen VerSnderungen im paralytischen Hirngewebe einst- 
weilen offen gelassen, da es nur in seiner Absicht lag, die von ihm 
beobachteten histopathologischen VerSnderungen zu beschreiben, ohne 
auf n&here Deutung derselben einzugehen. Allein auch Jahnei ist gleich 
mir fest davon iiberzeugt, dass die Dementia paralytica als eine lokale 
Gebirnerkrankung, als eine Spirocbaetosis cerebri aDzusprechen ist. 

Es war stets eine undankbare BeschSftigung, an ein Dogma zn 
riihren. Es iliegen dem Storenfried nur zu leicht Liebenswurdigkeiten, 
wie Dngereimtheit, Verdunklung des Gewounenen, Verwirrung der Frage- 
stellung an den Kopf. Doch darf das nicht schrccken! 

Auch meine jetzige Kontroverse mit Nissl beruht wie die andere 
vor 17 Jahren, bei der ich trotz des schon damals von Nissl aufgefah- 
renen groben Geschutzes schliesslich Recht behielt, zum grossen Teil auf 
Vorbeireden. Der Nutzen solcher Polemik entspricht kaum der darauf 
verwendeten Zeit. 


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XIII. 


21. Versammlnng (Kriegstagung) 
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen 
in Leipzig am 27. Oktober 1918. 

(Offizieller Bericht.) 


. Referent: Dr. Karl Ponitz-Halle. 

Anwesend sind die Herren: 

Anton- Halle, B a u e r - Alt-Scherbitz, B e r 1 i t - Sonnenstein, B i e 1 i n g - 
Friedricbroda, Bock horn-Nietleben, Braune-Conradstein, 
B r as s e r t - Leipzig, B r i 11 - Magdeburg, B r n s t - Sonnenstein,D e o tj e n- 
Wilhelmshohe, D e h i o -Zschadrass. F a c k 1 a m-Suderode, O.Foerster- 
Breslau, Hey m an n-Leipzig, Hoehe-Demnitz, H os el-Dresden, 
11 b e r g - Sonnenstein, J a e g e r - Wernigerode, Jolly - Niirnberg, K1 i e n- 
Leipzig, Klipstein-Magdeburg, Krapf-Kreischa, Langer-Niet- 
leben, Lehmann-Hartheck, Levy-Suhl-Berlin - Wilmersdorf, 
Liebers, Lustig-Leipzig, Marloth-Zschardrass, Moeli-Berlin, 
Neuendorff-Bernburg, Nitzsche-Leipzig, Pfeifer-Halle, 
Pfeifer-Leipzig, Ponitz-Halle, Quensel-Leipzig, Rheinboldt- 
Leipzig, Riohter-Leipzig, von Rohden-Nietleben, Roper-Jena- 
Hambnrg, Ru st-Jericho w-Magdeburg, Sohafer-Roda, Curt 
Schmidt-Dresden, Schroder-Alt-Scherbitz, Schuhmacher- 
Roda, Sohutz-Leipzig, Schwabe-Plauen, Schwarz-Leipzig, 
Schwede-Uchtspringe, Seeligmdller-Halle, Sommer-Giessen, 
Sobe-Dresden, Stadler-Plauen, Strohmeyer-Jena, von 
Strnmpell-Leipzig, Tetzner-Schkeuditz, Wendt-Thonberg, 
Wiener- Leipzig, W i c h u r a - Sch warzeck. 

I. Sitzung Yormittags 9 Uhr 

in der Medizinischen Klinik zu Leipzig. 

Herr Hosel-Dresden erofTnet in Vertretnng des erkrankten ersten Ge- 
schaftsffihrers Flechsig-Leipzig die Sitznng und begriisst die Anwesenden. 
Er wird zum Vorsitzenden der Vormittagssitzung gewahlt, Herr Sommer- 
Giessen zum Vorsitzenden der Nachmittagssitznng. Zu Schriftfubrern werden 
die Herren PSnitz-Halle and Tetzner-Schkeuditz gewahlt. 


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288 21. Versammlung (Kriegstagung) miiteldeutscher Psychiater a. Nearologen. 

Vortrftge. 

1) Herr Wichara-Schwarzeck: „Zur spezifischen Behandlang 
der Tabes dorsalis w . 

Naohforschungen bei 18 Tabikern, die im Laufe der letzten 4 l / t Jahre 
nach Drey fas behandelt worden waren, ergaben, dass der unmittelbar gate 
Karerfolg auch angehalten hatte. 

Das gfinstige Ergebnis wird darauf zurfickgeffihrt, dass die spezifisohe 
Behandlang zwar so intensiv wie moglich, aber keinesfalls intensiver als mit 
einer gleichzeitigen Kraftigung des Korpers yereinbart durohgeffihrt wurde. 

Es wird empfohlen, die einschleichende und yorsichtig weitertastende 
spezifische Behandlang als ein wertvolles Unterstdtzungsmittel der klinischen 
physikalisch-diatetischen Therapie zu betrachten and sie nach biologischen, 
nicht chemo-therapeutischen Riioksichten za gestalten. (Eigenbericht). 

Aussprache. 

Herr 0. Foerster-Breslau weist u. a. darauf hin, dass es fast nie ge- 
linge, die spezifische Reaktion daroh die spezifische Behandlang zam Ver- 
schwinden za bringen, weil es offenbar fraglich sei, ob das Medikament tief ins 
Gewebe eindringe. Foerster behandelt seit 1913 mit der endolumbalen Me¬ 
thods wie sie Wechselbaum, Marinesco, Swift und Ellis eingefdhrt 
haben. Er hat 130 Tabesfalle behandelt und hat beobachtet, dass die Wasser- 
mann’sche Reaktion vermindert wird oder verschwindet, dass die Lymphozytose 
zuriickgeht, dass die Nonne-Apelt’sche Reaktion aber am langsten erhalten 
bleibt. Was das Klinische anbelangt, so schwinden die lanzinierenden 
' Schmerzen oft, die Ataxie wird sehr giinstig beeinflusst, auch gastrische Krisen, 
Parasthesien, Blasenstdrangen sollen milder werden und sogar objektive Sym- 
ptome, wie die Reflexe, sollen gebessert werden. (Eigenbericht). 

Herr Strumpell-Leipzig: In meiner Klinik werden seit 8 Jahren fast 
alle Tabes-Kranken in ausgiebiger Weise antisyphilitisch mit Qaecksilber 
(Schmierkar) und Salvarsan behandelt. Ich muss leider sagen, dass die Ergeb- 
nisse keineswegs besonders erfreulich sind. Gewiss loben viele Kranken an- 
fangs die Behandlung und zuweilen bessem sich auch einzelne Symptoms 
(Ataxie, Schmerzen, Blasenstorungen). Aber im ganzen gehen dieseBesserangen 
keineswegs fiber das hinaas, was man auch sonst durch die friiher ublichen 
Behandlangsmethoden (Ruhe, Bader, Elektrisieren and dergl.) erreioht hat. 
Nach meinen Erfahrungen tritt jeder neae jange Assistenzarzt mit grossen Er- 
wartungen und sanguinisohem Optimismus an die Salyarsan-Behandlung der 
Tabes heran. Es ist ja so erfreuliob, ein spezifisch und yermeintlich sicher 
wirkendes Mittel gegen'die traurige Krankheit zu haben! Aber nach 1 bis 
2 Jahren, wenn die bebandelten Tabiker im ganzen noch immer dasselbe Bild 
darbieten, dann weicht der anfangliche Enthusiasmus einer recht resignierten 
Stimmung. Ich selbst habe stets besonders diejenigen Falle za energischer 
Salvarsan- and Qaecksilber-Behandlung ausgewahlt, bei denen ein Heileffekt 
leioht and deutlich nachweisbar gewesen ware: dies waren namentlich F&lla 


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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutsoher Psychiater u. Neurologen. 289 


mit schweren anhaltenden gastrisoben Erisen odor mit anhaltenden tabischen 
Krisen. Und gerade bei diesen Fallen hat die Kur fast immer versagt oder 
hoohstens zweifelhaften Erfolg gehabt. Wer, wie ich, der Ueberzeugung ist, 
dass die Tabes etwas anderes ist als eine gewohnliche tertiare Syphilis des 
Gehirns und Riickenmarks, der wiirde von vornherein die Wirksamkeit einer 
antisyphilitisohen Behandlung nur gering ansohlagen konnen. Von grosster 
Wichtigkeit ware die Entscheidung der beiden Fragen, ob eine mogliohst 
energische Behandlung der Syphilis bald nach erfolgter Infektion das spatere 
Auftreten von Tabes oder Paralyse seltener machen oder gar verhindern konnen, 
sodann, ob durch eine energische spezifische Behandlung bei einer be- 
ginnenden Tabes das weitere Fortschreiten der Krankheit gehindert 
oder wenigstens gehemmt werden kann. Leider kann ich nach meinen eigenen 
Erfahrungen keine bejahende Antwort geben. Gewiss miissen wir Aerzte fort- 
fahren, aus den Errungenschaften der Aetiologie die erreichbaren Vorteile fur 
die Therapie der Tabes zu ziehen. Das bisher Erreichte konnen wir aber — 
wenn wir kritisoh und aufrichtig sind — nur recht bescheiden beurteilen. 

(Eigenbericht). 

Herr Schwarz-Leipzig: Auf Grund meiner Erfahrungen b^i Augen- 
storungen als Teilerscheinungen von Hirnlues, Tabes, Paralyse kann ich die 
oft guten Erfolge auch schon mit kleinen Dosen von Salvarsan und Neosal- 
varsan bestatigen. Besonders frische Falle von Ophthalmoplegia interior habe 
ich zuweilen rasch zuriickgehen sehen. Manche vollstandig, mancho unvoll- 
standig (Ruckgangder AkkommodationslahmungmitZuruckbleibenreflektorischer 
oder auoh allgemeiner Pupillenstarre). Fur Falle, wo intravenose Einspritzung 
nicht oder schwer anwendbar ist, weise ich auf die ebenfalls gut wirksame 
Verabreichung durch Einlauf hin, wie sie schon mehrfach auch von mir emp- 
fohlen wurde: Vorbereitung durch etwa 24stiindige Beschrankung der Flussig- 
keitszufuhr, urn den Korper aufsaugungsbediirftig zu machen, Darmentleerung 
durch Glyzerin-Suppositorium (Perca-Glyzerin wirkt auch) eine halbe Stunde 
bis eine Stunde vor dem Einlauf, der in Linkslage erfolgt, darauf Knie-Ellen- 
bogenlage, nach einigen Minuten Rechtslage (s. Munchener med. Wochenschr. 
1913, Nr. 5). Man kommt damit auch urn die neuerdings bei der militararzt- 
lichen Behandlung angeordnete Beschrankung der intravenosen Dosis auf 0,45 
herum, wenn man starkere Dosen fur erforderlich und nach den vorausge- 
gangenen Dosierungen fur unbedenklich halt. 

Auch der Wirksamkeit innerlicher Behandlung, sowohl gleiohzeitig wie 
in Abwechslung mit den anderen Behandlungsformen mSchte ich das Wort 
reden. Seit Jahren verwende ich, nachdem ich fruher auch Mergal angewendet, 
▼on inneren Mitteln vor alien Merjethin, gelegentlich auch als erste Behand¬ 
lung, wenn die Luesdiagnose noch unsicher ist, namentlich aber zu periodiscber 
Nachbehandlung, wofur es mir recht gute Dienste leistete. (Eigenbericht). 

Herr Anton-Halle spricht erganzend uber die Behandlung der progres¬ 
sion Paralyse. Aehnlich wie Strumpeli zur Tabesfrage aussert sich Anton 
zur Salvarsanbehandlung bei Paralyse, d. h. kritisoh. Er geht auf die neueren 
Theorien der Paralysebehandlung ein, erwahnt die Tuberkulinkur, die En6sol- 

Irebit f. PgjehSatrit. Bd. 60. Heft 1. iq 


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290 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 

Injektion, die Malariaimpfungen usw. Er weist darauf hin, dass bei jedem 
Paralytiker eine polyneuritische Komponente vorhanden ist, dass das Nerven- 
system eine andere Vitalitat als der Korper hat, dass die Syphilis oft vom 
Korper „aufgefangen“ wird, d. h. dass das Nervensystem dann nicht erkrankt. 
Es werden die Volker erwahnt, die viel Lues, aber keine Paralyse haben. 
Anton erwahnt die endolumbale Behandlung Gennerich’s, wie sie auch 
Willige ausfiihrt und seine Arbeit mit v. Bramann (Ventrikel!). 

Herr Quensel-Leipzig: So gut die Erfolge bei Lues cerebrospinalis mit 
Schmierkur und intravenosen Neosalvarsan-Injektionen sind, so wenig habe ich 
bei Tabes bisher durchgreifende Erfolge und Besserungen gesehen. Ich be- 
handle im Lazarett nur diejenigen Tabesfalle spezifisch, bei welchen die 
Wassermann-Reaktion positiv ausfallt oder Zeichen fur einen floriden Prozess 
vorliegen. Bestimmt haben mich zu dieser teilweise ausserlichen Beschrankung 
und Indikationen Erfahrungen, dass trotz und unter energischer spezifischer 
Behandlung Tabes sehr sohnell Fortschritte machte. Bei der Beurteilung der 
Erfolge habe ich allerdings den Eindruck, dass Dosen von 0,45 Neosalvarsan, 
selbst bei ziemlich protrahierter Behandlung, nicht ausreicheu, wie sie auch 
nicht genugen, um die Wassermann’sche Reaktion negativ zu machen. 

(Eigenbericht). 

Herr Roper-^Hamburg-Jena hatte als Marinearzt sehr viele Tabiker zu 
behandeln, er hat in den ersten drei Kriegsjahren lege artis mit Salvarsan und 
grauem Oel behandelt, hat aber von der doch immerhin in Anspruch nehmenden 
Kur keinen Nutzen gesehen, der von dem Militarfiskus die Aufwendungen 
lghne. Nicht selten wurden die Kranken durch die kombinierte Salvarsan- 
Queoksilberkur in ihrem Allgemeinzustande verschlechtert, so dass wieder 
Woohen notwendig waren, um sie zur Entlassung geeignet zu maohen. R. be¬ 
handelt im allgemeinen die Tabiker jetzt wie Erschopfungszustande. Die 
Moglichkeit, die Leute arbeitsfahig zu entlassen, wird so durchweg schneller 
und sicherer erreicht und eine eventuell aus den Anstrengungen des Kriegs- 
dienstes resultierende Verschlimmerung wird so sicherer behoben. Trotzdem 
lehnt R. die Salvarsan-Quecksilberbehandlung nicht a priori ab, er wendet sie 
z. B. mit sichtlichem Nutzen bei den Fallen an, in denen starke tabische 
Schmerzen bestehen. Doch muss Vortr. auch, abgesehen von dem militararzt- 
lichen Standpunkte, aussprechen, dass die spezifische Behandlung bei ausge- 
sprochenen Tabesfallen einen nennenswerten Einfluss auf den Verlauf des 
Leidens nicht habe. 

Was die Frage der Paralysebehandlung betrifft, so mochte Referent der 
Fieberbehandlung das Wort reden. Zur Tagung dieser Gesellschaft, die im 
November 1914 stattfinden sollte, hatte Ref. einen Vortrag fiber Behandlung 
der Paralyse mit albumosenfreiem Tuberkulin angemeldet, die Arbeit blieb 
seinerzeit liegen, ist aber jetzt wieder aufgenommen. Nach den bisherigen Er- 
gebnissen der Nachforsohungen scheint es doch, dass sehr wohl Aussicht vor¬ 
handen ist, durch kiinstliche Fiebererzeugung weitgehende Remissionen her- 
beizufiihren. Es ist aber durchaus notwendig, wirklich hohes Fieber und ort- 
liche Entzundungen, die tagelang leukozytentreibend wirken, herbeizufuhren. 


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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 291 


3 der 1912 bebandelten Paralytiker stehen noch heuto selbstandig grossen Ge- 
schaften vor. (Eigenbericht). 

Herr Klien-Leipzig: In der bisherigen Diskussion sind einige meines 
Eraohtens sehr wichtige Punkte unerwahnt geblieben, die za einem Tail 
wenigstens zur Erklarung der Widerspriiche der von den Herren Vorrednern 
geausserten Ansichten beitragen konnen. Wenn es als ein besonderes Kriteriom 
fur die Wirksamkeit des Salvarsans bezeichnet wurde, ob die als Reiz- 
erscheinungen aufzufassenden lanzinierenden Schmerzeu beseitigt werden 
konnen, so ist dem entgegen zu halten, dass die lanzinierenden Schmerzen 
nicht in alien Fallen als Reizerscheinnngen infolge eines aktiven Prozesses auf- 
gefasst werden mussen. Es ist sehr wohl moglich, dass lanzinierende Schmerzen 
anch ausgeldst werden konnen durch reaktive Wncherungen der Stutzsubstanz, 
durch narbige Prozesse im weiteren Sinne. In solchen Fallen kann natdrlich 
dine giinstige Beeinflussung durch Salvarsan nicht erwartet werden und es ist 
wohl moglich, dass die Falle, in denen lanzinierende Schmerzen jahrelang hin- 
durch unverandert und durch nichts beeinflussbar fortbestehen, auf solche 
Weise zu erklaren sind. 

Dagegen werden die lancinierenden Schmerzen in zahlreichen Fallen 
gunstig beeinflusst, ja, sie gelten als das Symptom, das am haufigsten in un- 
zweideutiger Weise gunstig beeinflusst wird. In solchen Fallen beruhen sie 
wohl auf frischeren Prozessen, vor allem auf entzundlichen Vorgangen an den 
hinteren Wurzeln. 'Weiterhin wurde betont, dass die Ruokbildung einer Ataxie 
unter der Einwirkung des Salvarsans gar nicht erwartet werden konne, da es 
sich hier um eine Ausfallserscheinung infolge von Untergang der Hinterstrangs- 
fasern handle. Gewiss ist die Ataxie eine derartige Ausfallserscheinung, aber 
es braucht doch keino irreparable zu sein. Man muss annehmen, dass der 
vollstandigen Zerstorung der Fasern ein Zustand der Schadigung vorausgeht, 
in welchem zwar die Funktion erheblich gestort ist, der aber der Ruokbildung 
fahig ist. Auf jeden Fall sieht man unter dem Einfluss intensiver spezifisoher 
Behandlungen Bosserungen bestehender Ataxie, die fiber das Mass spontaner 
Scbwankungen hinausgehen. 

Auch eine ganze Reihe anderer tabischer Symptoms sehen wir nicht selten 
unter dem Einfluss von Salvarsanbehandlung sich bessern, bzw. schwinden. 

Eine andere Frage ist aber, ob diese Besserungen der tabischen Sym¬ 
ptom e in der Regel von Dauer sind. Es ist wohl anzunehmen, dass durch kon- 
sequente und intensive Fortbehandlung ein Stationarbleiben der erzielten 
Besserung erreicht werden kann. Zu einer solchen intensiven Fortbehandlung 
kommt es aber in der Praxis aus verschiedenen Grfinden in den seltensten 
Fallen, unter Omstanden auoh durch das bereohtigte Bedenken, dass man evtl. 
durch zureicbende Behandlung irgend welchen Schaden stiften konnte. Treten 
aber Ruckfalle ein, so sind dieselben entschieden nicht in gleichem Grade 
gunstig beeinflussbar wie die zum ersten Mai bebandelten Tabesfalle. Dies 
scbeint fur eine gewisse Arsenfestigkeit der uberlebenden Spirocbaten zu 
sprecben. Ioh babe aber auch nach massig starker Behandlung Stationarwerden 
des Krankheitsprozesses ein treten sehen, wo dies nach dem vorherigen Verlauf 

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292 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeatscher Psychiater u. Neurologen. 

der Krankheit nicht zu erwarten wer. Dass das suggestive Moment das Haupt- 
agens bei den Erfolgen der Salvarsanbehandlung sei, kann nicht angenommen 
werden. Der ausserordentlich in die Augen springende Riickgang der Liquor- 
Lymphozytose, wie auch bei intravenoser Behandlung haufig zu beobachten ist, 
sprioht doch selbstverstandlich fur die direkte chemische Beeinflussung. Auf- 
fallig ist aber, dass der Eiweissgehalt kaum beinflusst wird. Auch der Ruck- 
gang, resp. Sohwinden der Plasmazellen konnte K. feststellen. Bei manchen 
auf Salvarsan sich bessernden Symptomen (z. B. bei okulistischerseits festge- 
stellter betrachtlicher Erweiterung des Gesichtsfeldes in einem von K. beob- 
achteten Palle von Tabes) kann man auf die Vermutung kommen, dass es sich 
hier nicht urn echte tabische Symptome gehandelt hat, sondern um spat lu- 
etisohe, da ja die Kombination von Metalues mit tertiaren Ersoheinungen nicht 
selten ist. Gerade dieses Nebeneinandervorkommen bedingt aber die dringende 
Indikation, in jedem Tabesfalle eine Salvarsanbehandlung zu versuchen, wenn 
es sich nicht um an sich gutartige oder stationare Formen handelt. Mindestens 
gilt dies fur die ausgesprochenen fortschreitenden Falle. Dasselbe gilt fur die 
Paralyse. Es gibt Falle, die unter dem klinischen Bilde der Paralyse verlaufen 
oder wenigstens von dieser unsicher zu trennen sind, die durch spezifische, 
insbesondere Salvarsanbehandlung einer so weitgehenden Besserung entgegen- 
gefuhrt werden konnten, dass sie nur noch einen stationaren Defekt zeigen. 
Wahrscheinlich handelt es sich in diesen Fallen um luetische Pseudoparalyse. 
Mit Riicksicht auf eine solche, wenn auch entfernte Moglichkeit, ist der Versuch 
mit einer intensiven Salvarsanbehandlung bei jeder frischen Paralyse indiziert, 
selbst auf die Gefahr hin, bei ausbleibendem Erfolg eventuell sogar eine Be- 
schleunigung des paralytischen Prozesses bei dem immer doch verlorenen Pa- 
tienten herbeizufiihren. 

Betreffs der Technik ist auf das allerdringendste hervorzuheben, dass 
stets mit sehr kleinen Dosen begonnen werden muss, die Gesamtdosis aber eine 
grossq sein muss. Am besten ist, eine kurze Quecksilberbehandiung voraus zu 
schicken. Die grossen Anfangsdosen bringen die Gefahr einer Herxheimer-Re- 
aktion, die am Zentralnervensystem zu den verhangnisvollsten Folgen fiihren 
kann. Todesfalle bei latenter Endarteriitis der Hirnarterien (wahrscheinlich 
ein Fail Hoffmann’s), bei latenter Meningitis in Hohe des Zervikalmarks 
(wahrscheinlich in einem Fall Westphal’s). 

K. sah in einem Falle von latenter Tabes (Pupillenstarre und Areflexie, 
ohne subjektive Symptome nach einer dermatologischerseits vorgenommenen 
Injektion von 0,4 Salvarsan zwei Stunden spater erstmalig die heftigsten und 
spaterhin sehr hartnackigen lanzinierenden Schmerzen auftreten. 

Eine zu schwache Behandlung bedingt vielleicht die Gefahr baldiger Re- 
zidive, die, wie gesagt, schwerer zu beeinflussen scheinen, bedingt auch viel¬ 
leicht die Gefahr einer Forderung des metaluetischen Prozesses in Analogic zu 
den Vorgangen beim Nourorezidiv der Friihperiode. Ja, es erscheint — wie 
ich dies schon 1913 aussprach (Sitzung der Medizinischen Gesellschaft Leipzig, 
19. November 1913, Diskussion zum Yortrag Riecke) — nicht ganz unmoglich, 
dass eine schwache Behandlung von Spatluetikern oder vielleicht uberhaupt 


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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 293 

der Luetiker eine spatere Entstehung metaluetischer Erkrankungen fordern 
k&nn. (Eigenbericht). 

Herr Wichura (Schlusswort) glaubt seine Ansiohten durch vieles, was 
in der Disknssion gesagt wurde, bestatigt. 

2) Herr Anton-Halle: „ Kopfrontgenbilder bei Entwicklungs- 
storungen“. 

Der Vortr. demonstriert einen Schadel mit Gehirn, wobei das Kleinhirn 
als minimaler Rest vermindert war und wobei die hintere Schadelgrube schlaff 
nnd schmal und mit knochernen Auswuchsen gefunden wurde. 

Dann ein Fall von Hypertrophic des Kleinhirns mit entspreohender Aus- 
scheidung der hinteren Schadelgrube. In diesem Falle waren die Nebennieren 
verkummert und die Thymus vergrossert. 

Weiterbin demonstriert A. gegen 30 Schadelrontgenbilder: Mit Ver- 
grosserung der Kleinhirngrube, mit auffalliger Verkleinerung derselben, mehrere 
Turmsehadel mit Verbildung der Kleinhirngrube. 

Endlich wurde das haufige Vorkommen partieller oder allgemeiner 
Lagunenschadel vorgezeigt. 

Der Vortr. gab folgende Zusammenfassung: 

1. Die mangelhalte Ausbildung oder der friihzeitige Schwund des Klein¬ 
hirns bekundet sich durch Verkleinerung der hinteren Schadelgrube, durch 
kompensatorisches Knochenwaohstum daselbst, mitunter auch durch steilen 
Winkel des Klivus. 

2. Die iibermassige Ausbildung des Kleinhirns ist desgleichen im Ront- 
genbilde erweisbar. Die oberen Grenzen sind durch den Sinus transversus und 
die dort befindliche Knochenleiste meist gut zu bestimmen. 

Die Hypertrophie des Kleinhirns ist bei Entwicklungsstorungen viel ofter 
durch das Rontgenbild erweisbar als durch andere Untersuchungsmethoden. 
Sie ist nur in seltenen Fallen mit Stauungspapille und tumorosen Erschei- 
nungen einhergehend. 

3. Es ist moglich, durch genaue prazisierte Ebene das Verhaltnis von 
Grosshimraum zum Kleinhirnr&um genauer zu bestimmen. Die planimetrische 
Abmessung des Grossbirnraumes und des Kleinhitnraumes sind am Rontgen¬ 
bild mdglich, wenn moglichst dieselben Ebonen eingestellt werden, urn mitein- 
ander vergleichbar zu sein. 

4. Bei Turmsehadel ist Lagunenbildung am Hirnschadel sehr hauflg zu 
finden und lasst, wenigstens zu einer Entwicklungsphase, ein Missverhaltnis 
zwisohen Schadelraum und Gehirn vermuten. 

5. Bei Turmsehadel sind auch andere Anomalien des Hirnschadels er- 
kennbar, welche nicht nur durch vorzeitige Nahtverschliessung der Koronarnaht 
und der basalen Sychondrosis bedingt sind. 

Der krankhafte Turmsehadel ist eine Teilerscheinung einer allge- 
meinen Entwicklungsstorung, wobei die Driisen mit Innensekretion in Betracht 
kommen. 


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294 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater a. Neurologen. 


6. Das Missverhaltnis zwischen Schadelkapazitat und Gehirnraum nach 
Rieger and Reichardt lasst sich sohon beim Lebenden durch Schadelront- 
genbilder anschaulich machen. Desgleichen sind die Venenstauungen, be- 
sonders an der konvexen Gehirnoberflache am Rontgenbild sichtbar zu machen 
and daher bei Operationen eine praktisoh verwertbare Grundlage, am die 
Venenstellen za vermeiden. 

7. Die Laganenbildangen am Hirnschadel sind wahrscheinlich auch be- 
dingt darch krankhafte Abandoning der Knochensabstanz selbst. Sie sind haufig 
auch bei Psychopathen ohne Schadelverbildung am Rontgenbilde nachweisbar. 


3) Herr Strdmpell-Leipzig: „Ueber Wilson’sche Krankheit 41 . 

Vortr. steilt der Gesellsohaft den Kranken E. Heidenreicb vor, den er in 
seiner Arbeit uber n Wilson ? sohe Krankheit, Pseudosklerose u (Deutsche Zeit- 
schrift fur Nervenheilkande) ausfdhrlioh beschrieben hat. Die hervorsteohend- 
sten Symptome (Bewegungsarmut, die Muskelstarre, die abnormen Steilungs- 
fixationen, der dadarch bedingte eigentiimliche Gang, das leichte Zittem) 
werden demonstriert. Im Anschluss hieran bespricht Striimpell kurz die 
Symptomalogie der Erkrankung der extrapyramidalen motorischen Leitungs- 
bahnen. Dient die Pyramidenbahn der Myodynamik, so dient die Linsen- 
kernbahn vorzugsweise der Myostatik. Ihre Symptome sind daher vor allem 
Muskelfixation und Bewegungsstarre, Tremor, Athetose. Striimpell nennt 
diesen Symptomenkomplex den amyostatisohen. Er findet sich bei der 
Paralysis agitans, der Pseudoskierose, der Wilson’schen Krankheit and der so- 
genannten Myastasie in ausgepragtester Form, ausserdem aber auch teilweise 
bei Chorea und Athetose. Auch in den Fallen gewdbnlicher apoplektischer 
Hemiplegie spielen wahrscheinlich die amyostatlschen Symptome zuweilen eine 
beachtenswerte Rolle neben den gewohnlichen Pyramidenbahn-Symptomen. 

‘ (Eigenbericht). 


Aussprache. 

Herr Ni ess 1 v. May end or f- Leipzig: Ein anatomisches Glied dieses 
statischenFasersystems kennen wir, es sind das dieBindearme, welche dieNerven- 
kerne der Wiirmer mit den kontralateralen Nuclei rubri verbinden. Von hier 
steigenBahnen durch die Linsenkerne in die Zentralwindungsgebiete, anatomisch 
verfolgbar in der hinteren Zentralwindung. Ein Kausalnexus zwischen der 
Unterbrechung dieser Faserung mit dem Auftreten choreatischer Zuokungen ist 
klinisch bcwiesen (Benedickt’scher Symptomenkomplex). Da die Hysterie den 
funktionellen Ausfall motorisoher und sensibler Leitungsbahnen als klinisches 
Charakteristikum an der Stirn tragt, so ist es durchaus gerechtfertigt, die Zitter- 
phanomene bei den traumatischen Neurosen im Kriege auch auf eine funktionelle 
Ausschaltung zerebello-kortikaler Zusammenhange zu beziehen. 


4) Herr Pfeifer-Nietleben: ^Ueber kortikale Blasenstorungen 
und deren Lokalisation bei Hirnverletzten a . 

Beim Erwachsenen ist die Urinentleerung in erheblichem Grade rom 
Willen abhangig. Das Bestehen von zerebralen Blasenzentren ist schon fraher 


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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 295 

durch experimentelle Untersuchungon bei Tieren nachgewiesen worden. Auch 
klinische Beobaohtungen iiber zerebrale Blasenstorungen wurden wiederholt 
schon in Friedenszeiten gemacht. Dagegen ist die Frage der Blasenstorungen 
nach Schussverletzungen des Gehirns noch nicht in ausfiihrlicher Weise be- 
handelt worden. 

Vortr. hat unter den ersten 200 Fallen, welohe im Sonderlazarett far 
Hirnverletzte in Nietleben aufgenommen worden, im ganzen 20mal Bl&sen- 
storungen im Anschluss an Hirnverletzung feststellen konnen. Die Schussver- 
letzong des Gehirns betraf7mal die linke, 6mal die rechte Grosshirnhemi- 
sphare, in 7 weiteren Fallen waren beide Hemispharen betroffen. 

Die Blasenstorungen bestanden im wesentlichen in Harnverhaltung. 
Einige Male musste anfangs katheterisiert werden, einige Male kam es spaterhin 
zur Aosbildang einer imperativen Inkontinenz. Die Blasenstorungen d&uerten 
meist einige Wochen; einwesentlicherUnterschied zwischen den linksseitigen and 
rechtssoitigen sowiezwiscbenden einseitigen unddoppelseitigenHirnverletzungen 
inbezug auf Intensitat ond Dauer der Blasenstorungen war nicht festzustellen. 

Die kortikale Innervation der Harnblase ist demnach eine doppelseitige. 
Eine vorwiegende Bedeutung einer Hirnhaifte ftir die Innervation der Harnblase 
ist nicht anzunehmon. Der Sitz der kortikalen Blasenzentren ist im Rinden- 
gebiete der motorischen Region zu suchen. In alien Fallen, welche nach der 
Verwundung Blasenstorungen zeigten, hatte die Verletzung ihren hauptsach- 
lichsten Sitz in der Gegend der Zentralwindungen und alle diese Falle gingen 
mit zerebralen Motilitatsstorungen einher. Das Stimhirn kommt als kortikale 
Innervationsstatte fur die Harnblase nicht in Betracht. 

Da eine erhebliche Zahl von Hemiplegien infolge von Schussverletzungen 
im Bereich der motorischen Rindenregion ohne Blasenstorungen verlauft, ist 
anzunehmen, dass das kortikale Blasenzentrum nur ein kleines Feld im Bereich 
der motorischen Rindenzone einnimmt, das der Zerstorung leicht entgehen 
kann. Der Sitz dieses Feldes ist in Uebereinstimmung mit klinischen Einzel- 
beobachtungen aus der Friedenszeit in der Gegend des Huftzentrums, also in 
dera Rindengebiet zwischen Arm- und Beinzentrum zu suchen, nicht aber im 
Bereich des Beinzentrums selbst, wie neuerdings Kleist und Forster auf 
Grund von Kriegsbeobachtungen annehmen. Hierfiir spricht die Art und Aus- 
breitung der sonstigen motorischen Lahmungserscheinungen und der Sitz der 
Kopfverletzung. Bei den 13 Fallen von einseitiger Hirnverletzung mit Blasen- 
storung war in keinem Fall das Bein allein oder in vorwiegendem Masse von 
der Lahmung betroffen. Dementsprechend fanden sich auch die Schadelnarben 
bei fast alien diesen Fallen am mittleren oder zwischen dem mittleren und 
dem oberen Drittel der Zentroparietalregion lokalisiert. Bei den 7 Fallen von 
doppelseitiger Hirnverletzung handelte es sich slots urn Triplegia mit ent- 
sprechender Schadelnarbe. Bei diesen Fallen war aber trotz der doppelseitigen 
Beinlahmung die Blasenstorung nicht sahwerer als bei den Fallen von ein¬ 
seitiger Hirnverletzung. 

Gegen den Sitz der kortikalen Blasenzentren im Bereioh der motorischen 
Beinregion spricht besonders auch ein Fall von allerschwerster doppelseitiger 


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296 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 


spastisoher Beinlahmung ohne sonstige Lahmungserscheinungen und ohne die 
geringsten Blasenstorungen. 

Bei diesem Fall land sich auch eine durch Verletzung der sensiblen Bein- 
region an der hinteren Zentralwindung bedingte Sensibilitatsstorung von spinal- 
segmentarem Charakter. Die kutane Sensibilitat war vom 9. Dorsalsegment 
abwarts beiderseits herabgesetzt, aber mit Aussparung der gesamten Genito- 
Analhant. Dieser Umstand, im Verein mit dem Fehlen jeglicher Blasenstorung 
spricht dafiir, dass auch das sensible kortikale Blasenzentrum an der hinteren 
Zentralwindung ebenso wie das motorische an der vorderen seinen Sitz an der 
Hirnrinde unterhalb des Beinzentrums hat. 

• Aussprache. 

Herr Niessl v. Mayendorf: Ich fand Gelegenheit einen Fall zu beob- 
achten, welcher infolge einer Sohrapnellverletzung an derPfeilnaht desSchadels 
anfangs eine Lahmung der rechten Korperhaifte mit einer Fusslahmung der 
linken Seite kombiniert gezeigt hatte. Die rechtsseitige Hemiplegie besserte 
sich, die beiderseitige Fusslahmung spastischer Natur blieb ungebessert zu- 
ruck. Bei einem operativen Eingriff wurde zerstortes Gewebe aus der Gegend 
der Parazentrallappen entfernt. Der Mann hatte niemals Blasenstorungen. 

Herr Foerster-Breslau. 

Herr Pfeifer (Schlusswort): Der von Herrn Niessl angefiihrte Fall 
liefert eine sehr treffende Bestatigung meiner Beobachtung, dass Falle mit 
schwers ter Paraplegia derBeine infolge von doppelseitiger Verletzung dermotori- 
schen Beinregion der Hirnrinde vollig frei von Blasenstorungen sein konnen. 

Falle von iiber Jahre sich erstreckenden Blasenstorungen bei Hirnrinden- 
verletzten mit Lahmung der Beine habe ich nie beobachtet. Bei meinen 
Fallen von Triplegie war die Blasenstorung inbezug auf Dauer und Intensitat 
trotz der doppelseitigen Beinlahmung nicht schwerer als bei den einseitig Hirn- 
verletzten. Nur in einem Fall dauerte die Blasenstorung iiber ein halbes Jahr 
an und zwar in Form von Inkontinenz, wahrend es sich bei alien iibrigen 
Fallen um Harnverhaitung, evtl. in vereinzelten Fallen mit gelegentlicher im- 
perativer Inkontinenz handelte. Bei diesem Fall fanden sich aber, abgesehen 
von derHirnrindenverletzung in beiden Grosshirnhemispharen, wie dieRontgen- 
untersuchung ergab, 15Geschossplitter, so dass die Vermutung naheliegt, dass in 
diesem Fall auch das subkortikale Blasenzentrum imSehhugel, dessen Erkrankung 
naoh den Erfahrungen der Friedenszeit Inkontinenz verursacht, verletzt war. 

5) Herr von Rohden-Nietleben: ^Experimentelle Aufmerksam- 
keitsuntersuchungen an normalen und hirnverletzten Soldaten 44 . 

Die Ausfuhrungen des Vortragenden beschranken sich auf eifrzelne Er- 
gebnisse von tachistokopischen Untersuchungen des optisch-sensoriellen Auf- 
merksamkeitsumfanges. Die Versuche wurden an 10 normalen und 
70 hirnverletzten Soldaten mit dem Wundt’schen Falltachistoskop und dem 
mit einer neuen Zeitmessvorrichtung versehenen Netscbajeff’schen Apparat 
angestellt. Als optische Reizobjekte dienten 1—6 stellig© Zahlen und sinnlose 
Konsonantenkomplexe. Die Expositionszeit betrug 30, bezw. 15 Sekunden. Das 


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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 297 

Durchscbnittsmass des von Cat tel u. a. festgestellten Aufmerksamkeitsum- 
fanges erreiohten 56pCt. der normalen und 40pCt. der hirnverletzten Soldaten. 
Par die Gute der tachistoskopischen Leistang ist nicht der Grad, sondern in 
erster Linie der Ort der Hirnscbadigung massgebend. Unter der Voraus- 
setznng, dass fur das untersuchte Soldatenmaterial die simultane Grkennung 
▼on 3 Einbeiten anch nocb als normal gelten kann, zeigten die nntersuchten 
normalen Soldaten sowie die stirnverletzten keine Einschrankung des Aufmerk- 
samkeitsumfanges. Tachistoskopische Aufmerksamkeitsstorungen traten erst 
anf bei Rindendefekten in der Zentropariotalregion. Am kleinsten war der 
Aofmerksamkeitsumfang bei Scheitelhirnverletzten, ohne dass bei ibnen Seh- 
stdrungen nachzuweisen waren. Die ausserst durftigen tachistoskopischen 
Leistungen derOkzipitalhirnverletzten sind nicbt auf Aufmerksamkeitsstorungen, 
sondern anf Sebstorungen zuruckzufiihren. Hysterische Stirnverletzte zeigen 
einen in quantitativer und qualitativer Beziehung wohl charakterisierten Anf- 
merksamkeitstypus, der von differentialdiagnostischer Bedeutung ist. Aus der 
Tatsache, dass bei Scheitelhirnverletzten die optische Aufmerksamkeit mehr 
geschadigt ist als bei alien anderen Hirnverletzten, soweit sie keine Seh- 
storungen aufweisen, diirfen irgendwelche lokalisatorischen Schliisse hin- 
sichtlich der Gesamtfunktion der sensoriellen Aufmerksamkeit nicht ge- 
zogen werden. (Erscheint im Original.) 

Aussprache. 

Herr Niessl v. Mayendorf-Leipzig: Sowohl bei einseitigen als 
doppelseitigen Stirnhimverletzungen sind psychische Ausfallssymptome von 
mir nicht beobachtet worden. Man darf nicht bloss die befallene Lokalitat, 
sondern muss auch die Art der Yerletzung in Betracht ziehen, da posttrauma- 
tische Nenrasthenien und Kommotionsneurosen mit Aufmerksamkeitsstorungen 
einhergeben. Ehe man nicht dieso Quelle der letzteren auszuschalten vermag, 
kann man den Aufmerksamkeitsdefekt nicht mit der Lasion einer bestimmten 
Hirngegend in kausale Beziehung bringen. 

(Erwiderung auf die Diskussionsbemerkung Pfeifer’s). Ich wollte nicht 
behaupten, dass psychische Veranderungen stets bei Stirnhimverletzungen 
fehlen miissen, ich leugne nur, dass die im Kriege gewonnenen Bcfunde uns 
zwingen, diese psychischen Veranderungen als die Folge der Stirnhirn- 
▼erletzungen aufzufassen. Es liegen keine statistisch einwandfreien Reihen vor, 
welche den Nachweis fiihren konnten, dass die typischen Veranderungen nicht 
als Symptome einer posttraumatischen Neurasthenie oder Kommotionsneurose 
auszuschliessen waren, also nichts mit der Stimbirnlasion zu tun hatten. Dio 
psychologisch-experimentellen Untersuchungen sind in der Regel zu fein, um 
die Grenze zwischen psychologischer Breite und pathologischer Abweichung 
sicher ziehen zu konnen, so dass deren Ergebnisse neue Aufschliisse fur loka- 
lisatorisohe Zwecke erwarten liessen. Die exakten Untersuchungsergebnisse 
des Vortr. sprechen dem Stirnhirn eine psychische Funktion ab. Es erscheint 
mir gefahrlich, veralteten Tbeorien zu Liebe unsere Erfahrungen zu deuten und 
Gall’s zerebrale Organologie wieder aufnehmen zu lassen. 


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298 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Nearologen. 

Herr K lien-Leipzig: Wenn der Herr Vortragende auf Grand seiner Ex- 
perimente za dem Resultat kommt, dass moglicherweise in dem parietalen 
Assoziationszentrum ein Aafmerksamkeitszentrum lokalisiert ist, so meint er 
damit wohl, was er nicht besonders hervorgehoben bat, nor ein Zentrum fiir die 
optische Aufmerksamkeit. Im ubrigen ist zu bedenken, ob nicbt die unter dem 
Parietallappen verlaufende Sehstrahlung moglicherweise durch die Verletzang 
des Parietallappens in einer Weise geschadigt sein kann, dass zwar Ausfalle im 
Gesichtsfeld fehlen, dass aber die Leitungsgeschwindigkeit in der Sehstrahlung 
herabgesetzt ist, ahnlich wie wir dies u. a. bei Drucksohadigung und unter Er- 
krankung peripherer Nerven beobachten. Selbst eine sehr geringeVerminderung 
der Leitungsgeschwindigkeit konnte natiirlich bei den tachistoskopischen Ver- 
suchen dieLeistung herabsetzen. (Nachtraglicher Zusatz: Vielleicht konnte durch 
tachistoskopische Versuche mit vergleiohender Exposition der Objekte in der 
homolateralen und kontrolateralen Gesichtsfeldhalfte eine Klarung iiber diesen 
Punkt herbeigefiihrt werden.) 

Herr Pfeifer-Nietleben: Der Vortragende hat auf Aufmerksamkeits- 
storungen hingewiesen, die ich friiher bei Fallen von Hirntumoren machen 
konnte. Es handelte sioh dabei um 2 Falle von Tumoren an der lateralen Seite 
des Parieto-Okzipitallappens, bei welchen die Aufmerksamkeit-auf optische Ein- 
driicke stark herabgesetzt war. Allerdings sei bemerkt, dass es sich bei meinen 
damaligenFeststellungen nicht um experimentell-psychologischeUntersuchungen 
bei der Priifung der Aufmerksamkeit handelte. Immerhin war in dem einett Falle 
eine Stoning des Sehvermogens und in beiden Fallen eineTrubung des Bewusst- 
seins alsUrsache fiir die Aufmerksamkeitsstorung mitSicherheit auszuschliessen. 

Der Vortr. ist auf Grund seiner experimentellen Untersuchungen bei Ilirn- 
verletzten bezuglich der Lokalisation der Aufmerksamkeit zu ahnlichen Resul- 
taten gelangt, wie ich selbst fruher bei Hirntumoren, insofern als Aufmerk- 
samkeitsstorungen bei den Stirnhirnaffektionen gar nicht, dagegen besonders 
bei den Affektionen der Parieto-Okzipitalregion hervortreten. 

Ich mochte besonders nooh nachdriicklich betonen, dass meines Erachtens 
eine allgemeine Herabsetzung der Aufmerksamkeit fiir alle Sinnesgebiete nicht 
in einem bestimmten Hirnteil lokalisiert werden kann. Bei meinen Fallen 
yon Tumoren der seitliohen Scheitel-Hirnhauptgegend hdndelte es sich um eine 
Reduhtion der Aufmerksamkeit speziell auf optischem Gebiete, und das trifft 
ja auch fiir die experimentell-psychologischen Untersuchungen des Vortr. zu, 
wobei ebenfalls die Aufmerksamkeit speziell auf optische Reize gepriift wurde. 

Herr Pfeifer-Leipzig: Der Diskussionsbemerkung des Herrn Niessl 
von Mayendorf habe ich entnommen, dass er die Ansicht vertritt, der 
Mensch konne selbst grosserer Mengen von Gehirnsubstanz verlustig gehen, 
ohne Ausfallserscheinungen d. h. Schadigungen in funktioneller Hinsicht zu 
zeigen. Diese Auffassung ist nicht neu und gait bis zu Kriegsbeginn ganz all- 
gemein. Die Lehre von den stummen Ecken des Gehirns verdankt ihr die Ent- 
stehung. In der Tat gibt es Falle von chirurgisch erwiesener Hirnverletzung, 
wo der ubliche neurologische Befund vollkommen negativ ist und auch die 
klinische Beobachtung im Krankenhaus keinen krankhaften Befund feststellen 


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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater a. Neurologen. 299 


liess. Diesen Zwiespalt zu iiberbruoken war physiologisch und anatomisch 
UDgebeuer schwer. Die Kriegserfahrung von Hirnverletzten lasst aber nan die 
sogenanaten negativen Falle in einem ganz anderem Lichte erscheinen. Es 
ware doch zu erwarten gewesen, dass gerade diesen Hirnverletzten der Ruck* 
tritt in das Wirtschafts- und Berufsleben sehr leicht hatte fallen miissen, zu- 
mal ihre Entlassung aus dem Heeresdienste in sehr vielen Fallen begvinstigt 
wurde. Das ist nun keineswegs der Fall. Es erwies sich sehr bald ihre ganz- 
liche Unbrauohbarkeit beim Heere und nicht selten auoh eine ganz unerwartete 
Herabsetzung ihrer Leistung im biirgerlichen Beruf. Dieser Umstand hat ja 
gerade dazu gefuhrt, die neurologische Untersuchung durch experimentelle 
Hilfsmittel zu verfeinern und die klinische Beobachtung zu einer berufliohen 
Arbeitsbeobachtung zu erweitern. Wie^konnte man aber auch von der kli- 
nisohen Beobachtung im Krankenhaus Unmogliches verlangen? Sie ist ja in 
keiner Weise geeignet, in alle Nfschen des Geisteslebens hineinzuleucbten. 
Kir ist ein Fall bekannt geworden, wo ein Fabrikdirektor eine Schussverletzung 
des Scheitelhirns davontrug und neurologischer Befund sowohl als klinische 
Beobachtung als negativ verzeichnet wurden. Und doch hatte die Personlioh- 
keit eine schwere Einbusse erlitten. Anscheinend gut geheilt vom Militar ent- 
Iasset), bemerkte die Frau zu ihrem Erstaunen, wie ihr Mann, der fruher die 
Seele des Fabrikbetriebes war, allmahlich auch die wichtigsten Obliegenheiten 
in die Hande des Werkmeisters hiniibergleiten liess. So kann selbst eine 
sohwere Einbusse an Initiative am Krankenblatt glatt iibersehen werden, wah- 
rend sie im Berufsleben offen zutage tritt. Jeder, der mit Hirnverletztenfiir- 
sorge zu tun hat, kann weitere Beispiele anfiihren. Wir sind deshalb vorsich- 
tiger geworden. Bei chirurgisch erwiesener Hirnverletzung kann man nicht 
mehr ohne Bedenken sagen, es bestehen keine Ausfallsersoheinungen, sondern 
nur so viel, dass man keine Ausfallserscheinungen gefunden bat. 

6) Herr Pfeifer-Leipzig: „Einleitung und arztliche Ueber- 
wachung des Defektausgleiches bei Hirnverletzten*. 

Die Sonderabteilungen fur Hirnverletzte haben eine vierfache Aufgabe zu 
erfullen: Die prazise Defektbestimmung, Einleitung und Ueberwachang des 
Defektausgleiches, die Rentenbegutachtung und die arztliche und berufliche 
Beratung der Rentenempfanger. Der Defektausgleich, als einzige therapeutische 
Massnahme nach Ablauf der chirurgischen Behandlung, ist an sich schon ge¬ 
eignet die Sondereinricbtung zu rechtfertigen und bei gutem Erfolge auch ren- 
tabei erscheinen zu lassen. Es ist zweckmassig, von vornherein diejenigen 
Hirnverletzten, die nachchirurgisoh behandelt werden miissen, zu trennen von 
denen, die dieser Behandlung nicht mehr bediirfen. Die Trennung ist eventuell 
ausschlaggebend fur die Erreichung des Zieles. Auch frische Rekonvaleszonz 
nod Epileptiker mit gehauften Anfallen sind von der Unterrichts- und Arbeits- 
therapie auszuschliessen. Ihre zu fruhe Belastung mit Arbeit kann zur Ver- 
schlimmerung des Leidens fiihren und hat jedenfalls sehr viel zur Befestigung 
des Vorurteils beigetragen, dass jeder Hirnverletzte der Schonung bedarfe. 
Die dadurch mogliche Schadigung des Arbeitswillens ist kaum wieder gut zu 


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300 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 

machen, denu alle therapeutischen Massnahmen des Defektausgleiches sind 
Anpassungsvorgange an neue Bedingongen ond erfordem einen ganz ener- 
gischen Willen. In der Mebrzahl der Falle handelt es sich nm den Erwerb 
von neuen Fertigkeiten, die nur durch ausdauernde Uebung erlernt werden 
konnen. Auf der Station wurde deshalb jeder Hirnverletzte mogliohst booh 
und bis zn 6 Stunden am Tag mit Arbeit belastet. Das hat sich glanzend 
bewahrt. 

Urn einen Defekt auszugleichen, muss man ihn kennen. Die prazise De- 
fektbestimmung ist daher Voraussetzung. Der frische Defekt, wie ihn z. B. 
Alters in seinem Buche schildert, sieht ganz anders aus als der Defokt des 
chirurgisch abgelaufenen Falles, wie ihn etwa Poppelreuter beschreibt, und 
grundverschieden ist jene Defektbestitnmung unmittelbar vor der Entlassung, 
wenn die angewandten therapeutischen Massnahmen erfolgreich waren. In 
letzterem Falle wird der Defekt gewissermassen indirekt bestimmt durch die 
Beschreibung der wirklichen Restfunktionen des noch vorhandenen Gehirns. 
Im allgemeinen erscheint namlich der Defekt viel zu gross. Die Ausfalls- 
erscheinungen werden durch Ausheilen der weniger betroffenen Hirngebiete 
und durch Uebungstherapie wesentlich geringer. Auch ein physiologischer 
Faktor spielt dabei eine Rolle. Das Leben an der Front nimmt die Leute per- 
sonlich mit. Durch die langwierige chirurgische Behandlung sind sie dann 
noch verurteilt zu dem willenlahmenden Rentierleben im Lazarett. Fur einen 
Gesunden wiirde es unter solchen Umstanden Ueberwindung kosten, im Leben 
und Beruf wieder tiichtig zu sein. Diese Schadigung der Personlichkeit stort 
sehr bei der Defektbestimmung und fuhrt zur Ueberschatzung des Erfolges 
beirn Defektausgleich. Gleichwohl haben die therapeutischen Massnahmen 
mit der Behebung dieser Schaden einzusetzen. Die systematiscb betriebene 
Uebungstherapie verspricht Erfolg auf dem Gebiete der sensorischen und mo- 
torischen Aphasie, der hemianopischen Sehstorung, den dynamischen Muskel- 
storungen usw. Ein besonderes Problem fur sich bildet die Hebung der Ge- 
schicklichkeit der linken Hand bei Rechtsgelahmten. Ref. erlautert das an 
der Linkshanderschrift, die er zu Versuchszwecken an Analphabeten studierte. 

Der Not gehorchend hat die Medizin auf dem Gebiete der Uebungstherapie 
Fiihlung genommen mit der sogenannten Heilpadagogik. Darin liegt aber eine 
Gefahr, weil es verfehlt ist, den Unterricht bei den Hirnverletzten gleich auf 
den Schwachsinn einzustellen. Die richtige Methodik ist nur aus der Zusammen- 
arbeit des Padagogen mit dem Arzt zu entwickeln. 

Die gesamten gemachten Erfahrungen laufen darauf hinaus, dass die 
Therapie des Defektausgleichs keinesfalls aussichtslos ist. Im Grunde ge¬ 
nommen hangt es damit zusammen, dass der Hirnverletzte, abgesehen von ein- 
zelnen sehr schweren Fallen, eben nicht vollkommen ausserhalb des Rahmans 
der Gesunden steht und die Einbusse eine so grosse ist, dass er unter jeder 
Schlechtleistung der Normalen herabsinkt. Mit Hilfsmitteln der experimentation 
Psychologie lasst sich nachweisen, dass die Mehrzahl der Hirnverletzten mit 
ihren Leistungen noch in die Variationsbreite der Gesunden hineinfallen. Ref. 
erlautert das an einer graphischon Darstellung. 


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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater a. Neurologen. 301 


Zu einem geradeza verbluffenden Ergebnis fdhrte z. B. die Prdftmg der 
Hebebiickarbeit mittels der Poppelreuter’schen Eimerprobe. Schon wahrend 
der Eichung des Verfahrens durch Gesunde (Aerzte, Lazarettporsonal) drangten 
sich Hirnverletzte heran und wollten die Sache auch einmal probieren. Dam 
Wunsche wurde mit List naohgegeben und es entfachte sich auf der Station 
▼on selbst eine Art Sporteifer, indem sich die Hirnverletzten an Leistungen zu 
ubertrefifen versuohten. Bei ganz exakter Ausfuhrung der Probe leistete ein 
schwer aphasischer Hirnverletzter 900 Hebungen, was einer korperlichen 
Dauerarbeit von 2% Stunden entspricht. Die vorgefuhrte graphische Dar- 
stellung der Ergebnisse zeigt, dass die Hirnverletzten mit ihren Leistungen bei 
der Hebebiickarbeit nicht so schlecht gastellt sind wie Poppelreuter an- 
nimmt und dass das Experiment zugunston Goldstein’s spjicht, der es far 
unbedenklioh halt, den Hirnverletzten auch das Gebiet der landwirtschaftlichen 
Arbeit zu erschliessen. 


Ausspraohe. 

Herr Pfeifer - Nietleben: Eingehende experimen tell - psychologische 

Untersuchungen der Hirnverletzten sind, abgesehen von deren hoher Bedeutung 
fur die wissensohaftliche Erforschung der Hirnfunktionen, auoh von grosser 
' praktischer Wichtigkeit als Grundlage fur die padagogische Behandlung, die 
Werkstattenbeschaftigung und Begutachtung der Hirnverletzten. Wir diirfen 
uns nicht mehr wie friiher bei der Untersuohung organischer Nervenkranker 
damit begniigen, die klinisch nachweisbaren lokalen und aligemeinen Ausfalis- 
erscheinungen festzustellen. Wir miissen uns ein moglichst genaues Urteil iiber 
den Grad der durch die Hirnverletzung bedingten Herabsetzung der korperlichen 
und geistigen Leistungsfahigkeit zu verschaffen suchen, und zwar auf Grund von 
experimentell-psychologiscben Untersuchungen. Es ist namentlich Poppel- 
reuter’s Verdienst, diese Forderung zuerst eindringlich gestellt zu haben. 

Anderererseits diirfen aber die Aufgaben der Hirnveriotztenlazarette nicht 
auf die experimentell-psychologischen Untersuchungen und auf die Unterrichts- 
und Workstattenbehandlung beschrankt werden. Die arztlich-klinische Behand¬ 
lung der Hirnverletzten muss voll zu ihrem Recht kommen.' Es diirfen nicht 
Kranke von der Aufnahme ausgeschlossen werden, weil sie an Epilepsia leiden 
und deshalb fur die Uebungsschule und Arbeitstherapie nicht geeignet sind. 
Fur arztliohe sorgfaltige Ueberwachung und Behandlung der Epileptiker und 
Schwergelahmten muss besonders gut gesorgt werden. Vor allem muss in alien 
geeigneten Fallen chirurgische Behandlung stattfinden und zwar nicht nur bei 
Spatabszessen und traumatischer Epilepsie, sondern auch besonders bei den 
spastischen Lahmungen durch Vornahme der von Foerster angegebenen Ope- 
rationsmethode an den hinteren Rtickenmarkswurzeln und an den gelahmten 
Extremitaten selbst. 

7) Herr Dehio-Zschadrass: „Ueber Hayner 11 . 

Herr Dehio zeigt eine Nachbildung einer Tonbiiste des ersten Direktors 
der Landesheilanstalt Colditz, Dr. Hayner, die von den ersten Colditzer Ton- 


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302 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 

werken, Thomsberger und Hermann in Colditz, hergestellt worden ist und von 
dort bezogen werden kann. 

Hayner war, bevor er im Jahro 1829 die Anstalt Colditz einrichtete, 
Arzt an der damaligen Versorgungsanstalt Waldheim i. S. und hat als solcher 
im Jahre 1817 eine kleine Schrift veroffentlicbt: „Aufforderung an Regierungen, 
Obrigkeiten und Vorsteher der Irrenhauser zur Abstellung einiger schwerer 
Gebrechen in der Behandlung der Irren. w In dieser Schrift wendet er sich in 
warmer, menschlich packender Weise gegen die damals iibliehe Behandlung 
der Irren duroh Fesselung mit Ketten, korperliche Ziichtigungen und duroh 
rohes, ungebildetes Personal. Seiner Zeit weit vorauseilend hat er schwere 
Bedenken gegen die verschiedenen Zwangsmittel, und er kann die Zwangsjacke 
nur fur besonders schwierige Falle und unter Anwendung besonderer Vorsichts- 
massnahmen empfehlen. Als geeignetes Hilfsmittel fur die erste Versorgung 
der Geisteskranken sohlagt er das Autenriet’schePalisadenzimmer vor, die Dr- 
form des spateren Isolierzimmers, die aber in ihrer ursprungliohen Bauart die 
dauerndeUeberwachungdesKranken durchPflegergestattet. In kurzen Leitsatzen 
gibt er weiterAnweisungen fur denUmgang mit Geisteskranken, bestimmt fur die 
Warter, die in ihrer knappen und doch warmenForm sebr wohl noch jetzt fur die 
ersteUnterweisung des Pflegepersonals brauchbar sind. SeineGedanken undAn- 
regungen sind unzweifelhaft mit massgebend gewesen beim Aufbau der sachsi- 
schen Anstaltspflego unter dem Minister von Nostiz und Jankendorf. 

8) Herr Sommer-Giessen: n Optisches Gedachtnis u . 

Sommer geht von der Untersuchung eines iiberwertigen optischen Ge- 
dachtnisses aus, die er in dem Jahresbericht fur Neurologic und Psychiatric 
1916 beschrieben hat. Die Methods besteht darin, dass der Versuchsperson 
25Figuren, in 25Feldern eines Quadrats geordnet, exponiert werden. Sommer 
vereinfacht die Methods dadurch, dass er das Schema in verkleinerter Form 
auf ein Blatt drucken Hess, auf dem sich gleichzeitig ein Quadrat mit 25 leeren 
Feldern zum Eintragen der behaltenen Figuren findet. 

Die behandelte Versuchsperson, der bekannte Rechner Dr. Ruckle, 
konnte nach der ersten Exposition von durchschnittlich 2 Sekunden (zusammen 
50 Sekunden) 7 Figuren richtig, 6 halbrichtig reproduzieren, wobei 12 Figuren 
in die richtigen Felder lokalisiert waren. Sommer suchte nun weiter normale 
Vergleiohswerte zu gewinnen, indem er eine Anzahl von Horern seines Kollegs 
iiber „Experimentelle Psychologies (Studenten und Studentinnen) untersuchte. 
Die bei Dr. Ruckle angewandte Expositionszeit von 2 Sekunden erwies sich 
dabei als zu kurz. Bei Exposition von durchschnittlich 6 Sekunden fur jede 
Figur d. h. von 2 l / 2 Minuten merken diese Versuchspersonen im allgemeinen 
8—10 von 25 Figuren richtig, ausserdem noch durchschnittlich 2 halbrichtig. 
Die richtige Lokalisation geschieht relativ seltener, namlich durchschnittlich 
etwa in 6 Fallen bei der genannten Zahl von formell richtigen oder halbrich- 
tigen Erinnernngsbildern. Im Hinblick auf diese normalen Zahlen hat sich 
bei pathologischen Fallen eine Reihe von charakteristischen Abweichungen und 
Storungen ergeben. ' (Eigenbericht.) 


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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 303 

9) Herr Klien-Leipzig: „Zur Frage nach dem anatomischen 
Verlauf and der Leitungsrichtung der 01ivenbahn a . 

Klien demonstriert Praparate von einem Fall von Kleinhirnapoplexie, 
aus denen hervorgeht, dass die Olivenbahn aus aufsteigenden und ab- 
steigenden Fasern zusammengesetzt ist, die in der Oblongata 
einen im wesenilichen getrennton Verlauf nehmen, in denen die auf¬ 
steigenden Fasern die Oliven durch den Hilus verlassen, die absteigenden da- 
gegen in den „Biretropyramidalen Bogenfasern u beide Oliven umschliessen, 
um dann von aussen durch das Amikulum in die kontralateraie Olive einzu- 
treten. Die aufsteigenden Fasern unterliegen einer besonders starken retrogra- 
den Degeneration, weshalb bei einer Unterbrechung der Olivenbahn im Striok- 
korper odor oberhalb beide Systeme hochgradig entarten. Bei primarer Erkran- 
kung der Oliven findet man dagegen nnr eine starke Degeneration der Hilus- 
fasern bei relativ viel geringerer Entartung der Olivenfasern im Strickkorper 
und Kleinhirn (Foix, Marie). Hier sind eben die biretropyramidalen abstei¬ 
genden Fasern nicht nennenswert degeneriert. Fur die absteigende Leitungs- 
richtung des biretropyramidalen, von aussen in die Olive eintretenden Faser- 
zuges spricht auch der aus Golgipraparaten erhobene Befund, dass die Oliven- 
zellen ihre Azone fast durchaus in den Ililus aussenden. 

Die dem Kleinhirnherd kontralateraie Olive war regionar in sebr verschie- 
denen Graden atrophisch. Die Lokalisation dieser Atrophie in Gegeniiber- 
stellung zu der Lokalisation des Kleinhirnherdes sprach dafiir, dass die von 
Henschel und Stuart-Holmes behauptete Projektion bestimmter 
Olivenanteile auf bestimmte Kleinhimrindenanteile zu Recht be- 
stehen. — Den von diesen Autoren festgestellten Beziehungen ware noch hin- 
zuzufugen, dass die kaudaleren Absohnitte des Kleinhirns auch den kaudaleren 
Teilen der Olive entsprechen. An umschriebenerer Stelle war auch die homo- 
laterale Olive erkrankt (ausfiihrlich wird dieser Fall veroffentlich in einer dem- 
nScbst in der Monatsschr. f. Neurolog. und Psychiatr. erscheinenden Arbeit: 
^Ueber den anatomischen Befund eines Falles von kontinuierliohen Krampfen 
der Schlingmuskulatur nach Kleinhirnapoplexie usw. l< ). 

10) Herr Pfeiffer-Leipzig: n Ueber rhythmische Schlingmuskel- 
krampfe u (mit Krankenvorstellung). 

Kontinuierliche, rhythmische Krampfe der Schlingmuskulatur sind nicht 
so selten, wie man fruher annahm. Seit die Aufmerksamkeit darauf eingestellt 
worden ist, werden sie haufiger beobachtet. Klien gebdhrt das Verdienst ihre 
Abhangigkeit von Kleinhirnherden naohgewiesen und den anatomischen Zu- 
sammenhang am Sektionsbefund bei einer Reihe von klinisch beobachteten 
Fallen dargetan zu haben. Was den vorzustellenden Fall besonders interessant 
macht, ist der Umstand, dass hier die drei anderenUrsachen, aus denen solcbe 
Krampfe entstehen kSnnen, namlich Hysterie, reflektorische Erregung vom Ohr 
aus und Erkrankung der motorischen Kerne ausgeschlossen werden konnen, 
w&brend als wahrscbeinliobe Ursaohe die Kleinbimverletzung in Frage kommt, 
da das gesamte Krankheitsbild von ausgesprochenen Kleinbirnsymptomen be- 


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304 21. Versammkmg (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiateru. Neurologen. 

herrscht wird. Die Untersuchung ergibt seit etwa einem Jahr: Am linken 
Hinterkopf dicht oberhalb der Haargrenze breitflachige Narbe. Am knochemen 
S chad el in Hohe des Warzenfortsatzes und zwar ^}icbt dahinter isLein 3 cm 
langer und 2cm breiter Spalt durchzutasten, der von einer Trepanationsoffnung 
herriihrt. Bei der Operation im Feldlazarett war aus der Wunde reichlich 
Hirnmasse hervorgequollen. Die Wunde ist glatt verheilt und es bestehen von 
seiten des Nervensystems folgende Erscheinungen: Beim Drehen des Kopfes 
nach links und beim Bucken und Schwindel mit der Neigung binzufallen, beim 
schnellen Gehen leichtes Taumeln nach links, sowie auch Abweichung der 
Gangrichtung nach links. Unmittelbar nach der Verletzung war angeblich die 
ganze linke Seite gelahmt. Jotzt besteht nur noch eine deutliche motorische 
Schwache der linken Hand und des linken Beines. Bei extremer Blicksteilung 
nach rechts leichter horizontaler Nystagmus, nach links langsamer, jedoch 
rotatorischer Nystagmus. Die Motilitat der Zunge ist beeintrachtigt. Sie kann 
herausgestreckt, aber nur muhsam hin und her bewegt werden. Demzufolge 
ist die Sprache verlangsamt. Der Gesichtsausdruck ist maskenarrtig starr, da 
die mimische Muskulatur, ohne gelahmt zu sein, an Beweglichkeit eingebiisst 
hat. Spontanes Vorbeizeigen nach links im linken Hand-, Ellenbogen- und 
Schultergelenk. Besonders auffallend sind halbseitige klonische, rhythmische 
Zuckungen des Gaumensegels und der Rachenwand links. Auoh am linken 
Stimmband sind synchron mit den rhythmischen des Gaumensegels und der 
Rachenwand Zuckungen angedeutet. Diese rhythmischen Krampfe bestehen 
seit dieser Zeit unverandert fort und werden vom Pat. nicht empfunden. Auch 
die Zahl der Zuckungen, etwa 140 pro Minute, hat sich wahrend der langen 
Beobachtungszeit nicht geandert. EinZusammenhang dieser klonischen, rhyth- 
misohen Krampfe mit der Kleinhirnverletzung scheint unverkennbar. 

11) Herr Sommer-Giessen: „Behandlung von Muskelstorungen 
mit Metallfedern u . 

Sommer erortert zunachst die Polgen, die sich bei Lahmung einzelner 
Muskeln durch die antagonistische Kontraktur ergeben. Im Kriege haben sich 
solche Falle besonders bei peripherischon Verletzungen ausserordentlich ge* 
hauft. Besteht die Antagonistenkontraktur langere Zeit bei Dehnung des ge¬ 
lahmten Muskels, so trifFt dieser bei eintretender Besserung, z. B. infolge elek- 
trischer Behandlung, auf sehr ungiinstige mechanische Bedingungen. Daraus 
ergibt sich die Notwendigkeit, die Lahmung moglichst bald auszugleichen, 
wahrend in Wirklichkeit oft eine Reihe von Monaten, z. B. bei Peroneuslah- 
mungen, bis zur Korrektur durch orthopadische Schuhe vergeht. S. verwendet 
daher moglichst friihzeitig Metallfedern, die nach genauem Studium der Aus- 
fallserscheinungen im einzelnen Fall so angebracht werden, dass sie die Funk- 
tion der gelahmten Muskeln ersetzen. Vielfach haben Lahmungen infolge von 
Nervenverletzungen, z. B. an den Beinen, auch indirekte weitgehende Folgen 
in Bezug auf Haltung der Patienten. Mit Hilfe der Metallfedern lassen sich 
haufig bei solchen organischen Krankheiten wesentliche Besserung erzielen und 
gunstige Bedingungen fur die Wiederherstellung der Funktion der gelahmten 


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21. Versammlung (Kriegstagang) mitteldeatsoher Psychiater u. Neurologen. 305 

Maskeln schaffen. Bisher hat S. 14 Falle, unter denen Verletzungen der peri* 
pherischen Nerven, des Kdckenmarks and des Gehirns sind, in dieser Weise 
behandelt. (Eigenbrrioht.) 

Aussprache: Herr Quensel warnt davor, die Metallfedern bei funktio- 
nellen Leiden anzuwenden. 

12) Herr Krapf-Kreisoha: „Ueber die Bebandlnng der Kriegs- 
neurosen u . 

Ref. berichtet dber 450 in seinem Neurotiker-Lazarett behandelte Falle 
von Kriegsnearosen verschiedener Art, von denen nur 2 als ungeheilt, 28 er- 
heblich gebessert und alle iibrigen als vollig symptomfrei entlassen werden 
konnten. Er bevorzugt die von Kehrer angegebene Methods des sogenannten 
Zwangsexerzierens, die mit der Kaufmann-Methode eng verwandt sei. Das 
wirksame Prinzip beruht in der Anwendung energischer suggestiver Mass- 
nahmen bei gleichzeitiger Ausnutzung de$ dem Soldaten anerzogenen Subordi- 
oationsgefiihls unter steter sorgfaltigor Pflege der „psychischen Atmosphare w 
des Lazaretts. Ebenso wichtig, wie die Symptombefreiung selbst ist der zweite 
Teii der Behandlung: die Anhaltung zu geordneter intensiver Arbeit in kriegs- 
wirtschaftiichen Betrieben. Die etwa 6wochige Bewahrungsfrist wirkt erfolg- 
fixierend und ermoglicht gleichzeitig eine einwandsfreie arztliohe Beurteilung 
hinsichtlich der Leistungsfahigkeit. 

Vortr. kommt hierauf auf die schweren Psychopathen und die Krampf- 
hysteriker zu sprechen und auf diejenigen, die aus irgend einem Grunde, meist 
wegen unbotmassigen oder gewalttatigen Verhaltens dem Lazarett uberwiesen 
werden, und ist derMeinung, dass auch diese Kranken durchaus im Neurosen- 
Lazarett behandelt werden konnen, vorausgesetzt alierdings, dass entweder das 
Lazarett einer gesohlossenen Anstalt angegliedert ist oder dass zum mindesten 
die Moglichkeit einer sofortigen Ueberfiihrung in eine geschlossene Anstalt be- 
steht. Die giinstigen Erfahrungen, welche Raether-Bono mit der Behandlung 
schwerer hysterogener Seelenstorungen nach der Kaufmann-Methode gemacht 
bat (Mendelsohes Zentralbl. 1918, Nr. 5), kann Vortragender auf Grund seiner 
Erfahrungen durchaus bestatigen. 

Vortr. vergleicht alsdann die Methode der Waohbehandlung mit der Hyp- 
nose und bezeichnot die hypnotische Behandlungsform als die wissenschaft- 
lichere, hingegen die scharfe Kur als die im allgemeinen dem Neurotiker- 
Material gegenuber angebrachtere, da doch ein nioht geringer Prozentsatz 
sohlechten Willens bezw. von Mangel an Willen zum Symptomuberwinden in 
Rechnung zu setzen ist. Den sensitiven weichlichen Hysteriker gegenuber 
erscheint alierdings jede mildere Methode gegenuber der lauten und schroffen 
angezeigt, wahrend auf denBildungsgrad des zu Behandelnden nur hinsichtlich 
der suggestiven Vorbereitung Riicksicht genommen zu werden braucht. So 
wurden vom Vortr.20Offiziere mit vollem Erfolg nach derMethode desZwangs- 
exerzierens behandelt und geheilt. 

Zum Schluss aussert Vortr. seine Bedenken hinsichtlich der Zukunft, wo 
einerseits die Rentenkampfhysterie sioherlich eine grosse Rolle spielen wird 

Arehif f. Psychiatric. Bd.60. Heft 1. 20 


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306 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 


und andererseits naoh Beendigung des Krieges das Subordinationsverhaltnis 
und die Moglichkeit der Wiedereinziebung in Wegfall kommen. Leute mit 
„defektem Gesundheitsgewissen u werden bei fehlender Moglichkeit der Anwen- 
dung von Zwangsmassnahmen einer psychischen Behandlung and Erziehung 
schwer zugangig sein. (Eigenbericht.) 

13) Herr Jolly -Niirnberg: n Ueber Polyneuritis bei Soldaten tf . 

ErsterFall: 20jahriger Kanonier, April 15 Abschiirfung am linken 
Knie, die vereiterte, maohte trotzdem weiter Dienst. Seit Anfang Juni pelziges 
Gefiihl in den Zehen, an den Fusssohlen, taubes Gefiihl in den Fingerspitzen. 
Mitte Juni wieder Fieber, Entleerung von Eiter durch Inzision in der Leisten- 
gegend. Konnte nicht mehr gut gehen. Bei Untersuchung am 24. 6. taubes 
Gefuhl vom Ende derWirbelsaule bis in die Fiisse, besonders an der Riickseite 
der Beine, taubes Gefuhl in den Fingerspitzen, Kraftlosigkeit und Unsicherheit 
in den Beinen, Schmerzen in denselben. Keine Blasenstorung. Objektiv 
Schmerz-und Beriihrungsgefiihl an den Fingerspitzen herabgesetzt, sonst obere 
Extremitat frei. Beide Beine schwere, schlaffe Lahmung; soweit Bewegungen 
ausgefiihrt wurden, nur unter starkem Schwanken; von oben nach unten zu- 
nehmend Schmerz- und Beriihrungsempfindung in den Beinen abgestumpft. 
Lagegefiihl in den Zehen gestort. Waden und Ischiadioi auf Druck empfind- 
lioh. Kniereflexe fehlten, Achillesreflexe ganz schwach. Allmahlich Besserung. 
Pat. jetzt im Felde, bei Nachuntersuchung vor kurzem objektiver Befund frei, 
subjektiv etwas taubes Gefuhl an der Riickseite der Beine und grossere Ermud- 
barkeit derselben. 

Zweiter Fall. 23jahriger Kanonier, Januar 16 Furunkulose, nach 
einiger Zeit Schmerzen in den Waden, es fiel das Gehen schwer. Keine Blasen- 
und Mastdarmstorung. Bei Untersuchung im April ausgedehnte Hautnarben von 
Furunkulose, Sehnenreflexe an Armen und Beinen nicht auszulosen, Waden- 
muskulatur sehr schlaflf, Gang unsicher mit hangender Fussspitze, Zielbewe- 
gungen unsicher ausgefiihrt. Keine starkere Druckempfindlichkeit, Sensibili- 
tatssthrungen fehlten; offenbar war der Hohepunkt scbon uberschritten. Dio 
Reflexe kamen allmahlich wieder, auch der Gang war wieder normal. 

Dritter Fall: Anfang 1916 Furunkulose, Mai doppelseitige Akkommo- 
dationsparese, taubes Gefiihl im Munde, Erschwerung des Sprechens und 
Schluckens. Diese Erscheinungen verschwanden, es kamen zur schlaffen Lah¬ 
mung der Beine mitVerlust der Sehnenreflexe, SensibilitatsstSrung und Druck- 
schmerz an den Beinen. Keine Bla9en- und Mastdarmstorung. Narben von 
Furunkulose und Hauteiterungen. Allmahliche Heilung. 

Die Besonderheit derselben liegt in der Aetiologie. Bei Fehlen der 
Sehnenreflexe wird man, besonders bei Soldaten, auch an Furunkulose bezw. 
Hauteiterungen und dadurch bedingte Polyneuritis denken miissen. 

Roper: Fragt, ob es sich bei dem einen Fall nicht um Wundiphtherie 
gehandelt haben konne. 

Jolly: Es ist nur eine subjektive Anamnese vorhanden. 


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XIV. 


43. Wanderversammlnng der Siidwestdeutschen 
Neurologen und IrrenSrzte am 25. und 26. Mai 1918 

in Baden-Baden. 


Anwesend sind die Herren: 

A igner-Miinchen, Arndt-Strassburg, Leopold A u er bach -Frank¬ 
furt a. M., Sigmund Auerbach-Frankfurt a. M., H. Bade- 
Mannheim, Barbo-Pforzheim, Bauer-Baden-Baden, Baumler- 
Freiburg, Beetz-Stuttgart, Bender-Mannheim, Berliner-Giessen, 
Bethe-Frankfurt a. M., Beyer-Roderbirken, Bohs, Brill-Frank- 
furt a. M., Buttersack-Heilbronn, Damkohler-Klingenmunster, 
Deetjen-Wilhelmshohe, Dillenburger-Strassburg, G. L. Drey- 
fus-Frankfurt a. M., Dreyfus-Mulhausen, Du hr-Baden-Baden, 
Ebers-Baden-Baden, Ecoard-Frankenthal, Edzard-Strassburg, 
v. Ehrenwall-Ahrweiler, Erb-Heidelberg, Erlenmeyer-Bendorf- 
Goblenz, Feldbausch-Emmendingen, Friedmann-Mannheim, 
Freund-Strassburg, Freund-Tubingen, Furstenheim-Frank- 
furt,G erhardt-W urzburg, G i e r 1 i c h-Wiesbaden ,G i e s e-Baden-Baden, 
Glitsch-Herrenalb, Gratz-Karlsruhe, Gross-Rufacb, Gross- 
Schussnried, Goldstein-Frankfurta.M., Haardt-Emmendingen, 
Haen el-Strassburg, Hagmann-Coblenz, Hahn-Baden-Baden, 
Happi oh-Heidelberg, Hauptmann-Freiburg, Haymann-Konstanz, 
Hedinger-Baden-Baden, Heinsh eimer-Baden-Baden,Hell man n- 
Frankfurt a. M., He tz el-Wiesbaden, Hoche-Freiburg, Hoffmann- 
Heidelberg, Hoestermann-Karlsruhe, Hubner-Bonn, Hugel- 
Elingenmunster, Jaeger-Konstanz, Jahnel-Frankfurt a.M., John- 
Hirsau, F. Kaufmann-Mannheim-Ludwigshafen, Klee-Karlsruhe, 
K 9 n i g -Bonn, K o s c h e 11 a -Stuttgart. Kraft -Baden-Baden, L a u d en - 
heimer-Alsbach-Darmstadt, Lasker-Freiburg, Leva-Strassburg, 
Hugo Levy-Stuttgart, Lydtin, Mango Id-Freiburg, Mann-Mann- 
heim, K. Eduard Mayer-Ulm, W. Mayer-Tubingen, 0. B. Meyer- 
Wurzburg, Muller-Baden-Baden-Basel, Leo Muller-Baden-Baden, 
L. R. Muth-Wurzburg, Monokeberg-Strassburg, Naunyn-Baden- 
Baden, Nobiling-Miinoben, Nonne-Hamburg, Obkirohner- 

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308 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 


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Baden-Baden, Offenbacher, Ollendorf-Berlin, zurzeit Wald 
bei Solingen, van Oordt-Karlsruhe, Pfersdorff-Strassburg, 
K. Pfunder-Cdln, Pletzer-Bonn, Raeoke-Prankfurt a. M., 
Rath-Baden-Baden, Reichardt-Wiirzburg, Rietscher-Wurzburg, 
Roith-Baden-Baden, Rosenfeld-Strassburg, Rostoski-Dresden, 
Seitz 5. Bayer. Ers.-Regt., v. Szily-Freiburg, Sohottelius-Frei- 
burg, Schmitt-Augsburg, Sohneider-Dlenau, Schultze-Bonn, 
Schultze-Frankfurt a.M., Schultze-Gottingen, Sch wenninger- 
Reichenau, St ark-Karlsruhe,Ste ok elmacher-Heidelberg, Steiner- 
Karlsruhe, Steiner-Strassburg, Stenger-Ba 3 rr.Res.Pion.Komp. 2 i, 
Stern-Strassburg, A. Stoffel-Mannheim, Edda Stoffel-Mann- 
heim, Thoma-Dlenau, Thorspecken-Rastatt, Volhardt-Mann- 
heim, Volker-Baden-Baden, Wallenberg-Danzig, Weichbrod- 
Frankfurt a. M., Max Weil-Stuttgart, Weimann-Miinohen, Wein- 
t r a u d - Wiesbaden ,Wollenberg -Strassb urg, Z a c h e r - Baden-Baden. 

Folgonde Herren haben die Versammlung begriisst bzw. ihr Fernbleiben 
entschuldigt: 

Eschle-Sinsheim, v. Hecker, Obergeneralarzt, Sanger-Ham- 
burg, Asohaffenburg-Coln, Steinthal, Weygandt-Hamburg, 
v. Monakow-Zurich, Westphal-Bonn, Romheld-Hornegg, 
Friedlander-Kreuznaoh, Generalarzt Gillet-Strassburg. 

I. Sitznng am 25. Mai, nachmittags 2 Uhr. 

Der Geschaftsfuhrer Prof. Gerhardt-Wurzburg eroffnet die Versamm¬ 
lung und begriisst die Anwesenden. Er gedenkt des im letzten Jahre ver- 
storbenen Prof. Edinger-Frankfurt a. M., zu dessen Ehren sich die Ver¬ 
sammlung von ihren Sitzen erhebt. 

Zum Vorsitzenden der ersten Sitzuug wird Geheimrat Schultze- 
Bonn, der zweiten Sitzung Geheimrat Wollenberg-Strassburg, der dritten 
Sitzung Geheimrat Hoche-Freiburg gewahlt. 

' Sohriftfiihrer: Privatdozenten Hauptmann-Freiburg und Steiner- 
Strassburg. 

Es halten 

Vortrage: 

1) Herr Stoffel-Mannheim: „Ueber die operative Versorgung 
der Lahmungen nach Nervenverletzungen bei undurchfiihrbarer 
oder missgliickter Nervenoperation u . (Mit Vorfiihrung von Kranken, 
Tafeln und Modellen.) 

Bei Sehnenuberpflanzung bei volliger Radialislahmung vermeidet St. 
grundsatzlich alle starren Fixierungen, Tenodesen, Sehnenverkiirzungen. Die 
Tenodese der Handstreoker verwirft er unbedingt. Wenn man eine derart 
wunderbare aktive Dorsalflexion der Hand erzielen kann, wie sie die vorge- 


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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 309 

stellten Patienten aufweisen, dann darf man nicht zu einer stark verstummelnden 
Operation, welche die aktive Beweglichkeit im Handgelenk dauernd aufhebt, 
greifen. Das Gleiche gilt far die Fingerstrecker and die langen Daumen- 
maskeln. I 

St. dberpflanzt den M. flex. carp. rad. anf M. ext carp. rad. brev., den 
H. flex. dig. subl. Ill auf M. abd. poll. long. et. ext. poll, brev., den U. flex, 
carp. nln. aaf ext. dig. com. et ext. poll. long. 

St. stellt noch einige Sehnenuberpflanzungen bei teilweiser Radialis- 
l&hmung vor. * 

Urn das Hangen der Finger vor allem des Zeigefingers zu verbessern, 
machte erfolgenden kleinen Eingriff: erverschob die Insertion der Mm. interossei 
dorsales aaf die Streckseite der Finger and wandelte somit den Abzieber and 
Beager za einem Streoker der Grundphalanx am. Der Erfolg abertraf eigent- 
lich die Erwartung. Die Patienten zeigen, dass durch die Maskelkontraktion 
ein energischer Zug im Sinne der Streckang aaf die Grandglieder ausgeiibt 
wird. Der Eingriff eignet sich aus anatomisch-pbysiologischen Granden vor 
allem far den Zeigefinger. 

Wenn bei einer Ulnarislahmung eine storende Krallenstellung der Finger 
vorliegt, dann lasst St., am wieder teilweise Streckfahigkeit der Mittel- and 
Endphalanx za erzielen, die Endsehne des Ext. digt. comm, bis zum Nagel- 
glied weiterlaafen. Aus der Fascia lata wird ein langer sobmaler Streifen ge- 
schnitten, der in der H5he des Mittelhandgrundgelenkes an der Sebne des 
Fingerstreckers angenabt, subkutan bis zum Endglied durcbgezogen und bier 
periostal befestigt wird. Selbstverstandlicb miissen Kontrakturen und Ver- 
steifangen vorher beseitigt sein. In erster Linie eiguen sich passiv gut be- 
wegliche Finger dazu. Es liegt aaf der Hand, dass vbllige Streckang nicht 
erzielt werden kann, aber eine wesentliohe Besserung ist zu verzeichnen. 

Es wird immer noch viel zu wenig beachtet, dass nach der Nerven- 
operation die gelahmten Maskeln nicht uberdehnt werden diirfen. Deshalb 
tritt St. dafur ein, dass man lebende Radialisschienen, lebende Peroneus- 
stutzen sohafft, die gegen den Wiilen des Arztes niemals abgelegt werden 
kSnnen. Er sohneidet aus der Fascia lata am Oberschenkol ein 25 cm langes 
and 8 cm breites Faszienstiick, das funffingrig ist, aus. Das breite Teil wird 
periostal am Unterarm befestigt, die fiinf Zipfel werden subkutan bis zu den 
Grundgliedern der 4 Finger and des Daumens durchgezogen und hier angefcaht. 
Nur wenn Versteifungen der Grandglieder in Streckstellung vorliegen, werden 
die Finger nicht versorgt, dann sohafft er nur eine Stdtze fur die Hand and 
den Daumen: ein Lappen mit drei Zipfeln wird in diesem Fall genommen. 

Diese Fascienplastik wird gleicbzeitfg oder kurz im Anschluss an eine 
Nervenoperation vorgenommen. Nach Wiederkehr der Nervenleitung wird die 
Faazie wieder darchtrennt. Ist die Nervenoperation erfolglos, dann wird nach 
ungefahr zwei Jahren die Faszie durchtrennt and eine Sehnenuberpflanzang 
vorgenommen. 

Sehr Gates leistet die Faszienplastik aach bei Peroneuslahmang, man er¬ 
zielt mit ibr eine wirkungsvolle lebende Peroneasschiene. Ein doppelt zu- 


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310 43. Wandervers. der Siidwestdeutscben Neurologen u. Irrenarzte. 

sammengelegter Faszienlappen wird urn den 5. Mittelfassknochen spiralig her- 
umgeffihrt und an einem Knochenhaken verankert. Mittels dieses Zfigels wird 
der Fuss in die Hohe gezogen. Die Befestignng an der Fibula geschieht in der 
gleichen Weise. Je nach der Stellung des Fusses, ob reiner Spitzfuss oder mehr 
Klumpfuss vorliegt, muss man die Angriffspunkte des oder der Zfigel w&hlen. 

Abgrenzung des Indikationsgebietes der Nervenoperation 
gegen das der Sehnenoperation bei Kriegsverletzungen der 
peripheren Nerven: Die Meinungen, welcher der beiden Methoden der Vor- 
zug gebiihrt, gehen zum Toil recht weit auseinander. Es liegt sehr im Inter- 
esse der Verletzten, dass eine gewisse Einigung erzielt wird. Eine am 
falschen Platze oder zur falschen Zeit ’ ausgeffihrte Sehnen¬ 
operation kann erheblichen Schaden stiften. 

Wo es sich urn hochgradige Zerstorung des Muskelbauches oder der 
Endsehne handelt, kommt nur eine Sehnenoperation in Betracht. Das Gleiche 
gilt auch fur die meisten derjenigen Falle, bei denen die ausserhalb des 
Nervenstammes verlaufenden Nervenfasern abgesohossen sind; meistens wird 
man im Narbengewebe die feinen Nervenfasern schlecht finden. 

Der Pessimismus, den manche Aerzte den Nervenoperationen gegenuber 
an den Tag legen, ist nicht am Platze. Sie stiitzen ihre Ansioht hauptsachlich 
auf ihre Lazaretterfahrung und iibersehen, dass die Angelegenheit erst spruch- 
reif wird, nachdem der Patient das Lazarett langst verlassen hat. Nach einer 
Nervennaht tritt der Erfolg meist spat, oft sehr spat zu Tage (1 bis 2 Jahre 
und langer). 

Selbst die bestgelungene Sehneniiberpflanzung kann sich mit einer 
Nervenoperation, welcher voiles Resultat beschieden ist, nicht messen, sie 
wird immer zurvickstehen. 

Bei manchen Lahmungsformen ist das Missverhaltnis zwischen dem Er¬ 
folg einer Nerven- und Sehnenoperation besonders gross. • Die Erfolge bei 
Ulnaris- und Medianuslahmung sind sehr massig. Ihre Triumphe feiert die 
Sehneniiberpflanzung bei der seltenen Lahmung des N. femoralis und der 
haufigen des N. radialis. Gute Resultate erzielt man auch bei teilweiser 
Lahmung des N. peroneus. 

Die Nervenoperation ist der logische Eingriff, der dort ansetzt, 
wo der SchaJen sitzt. 

Das lange Zuriickliegen der Verletzung ist keine absolute Indikation fur 
Sehneniiberpflanzung. Wiederkehr der Nervenleitung kann nach einer Nerven¬ 
operation eintreten, auch wenn die Verletzung 2—3 Jahre, vielleicht noch 
langer zurfickliegt. Damit sei nicht gesagt, dass eine sehr spate Nervenopera¬ 
tion wiinschenswert ist. 

Aus alien diesen Griinden redet St. zuerst den Nerven¬ 
operationen das Wort. Er greift zuerst zur Nervennaht oder Neurolyse; 
nur dann, wenn sie versagt habenoder undurchfiihrbar sind, geht 
er zur Sehneniiberpflanzung iiber. 

Wenn ungiinstig lokalisierte chronische Fisteln (vor allem am Oberarm) 
oder sehr schlecht und langsam heilende Hautwunden fiber der Verletzungs- 


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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 311 


stelle am Nerven bestehen, so entsoheidet er sich, namentlich wenn es sich 
urn eine Radialislahmung handelt, primar zur Sehnenoperation. 

Zeitpunkt der Sehnenoperation: Nach der Nervenoperation lange 
warten, da der Erfolg oft sehr spat ersoheint! Nur ein halbes Jahr za warten, 
wie vorgeschlagen wurde, durfte nicht einmal for die Neurolyse angangig sein. 
Nach einer Nervennaht muss man l 1 ^ — 2 Jahr^ verstreichen lassen, ehe man 
an eine Sehnenuberpflanzung herantritt. (Selbstbericht.) 

2) Herr L. Mann-Mannheim: „Unberechtigte Operationen an 
Nervenverletzten 11 . 

Bei der Sitzung der im Sammellazarett fur Nervenverletzte des X1V.A.-K. 
zusammengekommenen Nervenverletzten hat es sich gezeigt, dass bei einigen 
Fallen Ers&tzoperationen gemacht wurden, die nach zwei Seiten hin falsch 
sind. Bei den einen war die Leitungsfabigkeit der Nerven nach der Ersatz- 
operation wiedergekehrt; bei den andern war durch die Ersatzoperation die x 
Gebraucbsfahigkeit des gelahmten Gliedes verschlechtert worden. Wenn die 
Falle auch nicht zahlreich sind, so sind sie immerhin jetzt, wo wir anscheinend 
einer nicht immer berechtigten Steigerang der orthopadischen Operationen ent- 
gegengehen, von grundsatzlicher Bedeutung und deshalb will ioh die Falle 
hier zeigen. 

Die erste Riicksicht, die man zu nehmen hat, ist die, dass man keine Er¬ 
satzoperation an einem Nervenverletzten vornehmen darf, ehe die Wiederkehr 
der Nervenleitung nicht mit volliger oder annahernder Sicherhoit auszu- 
schliessen ist. Dies ist naturlich der Fall wenn bei einer Operation sich zeigt, 
dass die Wiedervereinigung eines Nerven nicht durchzufiihren ist. In solchen 
Fallen ist es das Beste, die Ersatzoperation moglichst scbnell, tunlichst sofort 
anzuschliessen. In jedem anderen Fall aber muss abgewartet werden. Denn — 
abgesehen davon, dass wir uber die Dauer der Abbauzeit im degenerierenden 
Nerv und die Auswachszeit des sich regeneriorenden Nerv nicht geniigend 
orientiert sind — hat uns die Erfahrung bei Nachuntersuchungen von Renten- 
empfangern gelehrt, dass die Wiederkehr der Nervenleitung auch zwei Jahre 
nach der Verletzung und Operation nioht ausgeschlossen ist. Erst vor wenigen 
Tagen hat Vortr. einen Mann untersucht, der am 31. 8. 1915 am Gesass ver- 
wundet wurde, in der Hohe des Trochanter m^jor, und eine Tibialis- und Pero- 
neuslahmung hatte. Wegen des ungunstigen anatomischen Sitzes wurde keine 
Operation gemacht. Bei der Lazarettentlassung noch vollige Peroneuslahmung 
mit schwerster kompletter EaR., Tibialis in Wiederkehr begriflfen mit kompletter 
EaR. Am 15. 5. 1918, also 2 8 / 4 Jahre nach der Verletzung, Funktion 
der beiden Nerven wiederhergestellt, ebenso direkte und indirekte elek- 
trische Erregbarkeit. Von neurologisoher Seite war einige Monate naoh der 
Verletzung wegen der Aussichtlosigkeit des Falles Operation verlangt worden. 

Vortragender zeigt folgende Falle: 

Fall 1. Oberarmschuss 13. September 1916. Sofortige Radialislahmung; 
schwere Gasphlegmone mit zahlreichen Inzisionen. 6 Monate nach der Ver« 


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312 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 

letzung erstmals neurologisch e Untersuchung. Vollige Lahmung, elektrische 
Erregbarkeit erloschen. 8 Honate nach der Verletzuog elektrisohe Erregbarkeit 
erloschen. 9 Monate nach der Verletzang Ueberpflanzang des Ext. carpi rad. 
auf ext. poll long., des Ext.carpi ulnaris auf den ext. digit. IS^Monate nach 
der Verletzung Wiederkehr der Beweglichkeit im ganzen Radialis- 
gebiet. Elektrische Erregbarkeit direkt und indirekt wieder vor- 
handen. 

Fall 2. Oberarmschuss rechts. Sofortige Radialislahmung. 2 x / 2 Honate 
nach der Verletzung komplette EaR. vom Neurologen festgestellt, damals Ope- 
rationsvorschlag. S 1 / 2 Honate nach der Verletzung Nervennaht. 
l 1 ^ Monate nach der Nervenoperation Raffung der Strecksehnen 
und Ueberpflanzung des Palmaris longus auf den Ext. carpi rad. 
7 Monate nach der Verletzung Radialisfunktion wiedergekehrt. 
8 y 2 Monate nach der Verletzung direkte und indirekte Erreg¬ 
barkeit der Handstrecker vorhanden. 

Fall 3. Radialis-Lahmung durch Oberarmschuss. Lange Eiterung. 
Sequestrotomie. 7 Monate nach der Verletzung ohne neurologisch 
untersucht worden zu sein periostale Fixation der Handstrecker 
und Ueberpflanzung des Flex. carp. rad. auf den Daumenstrecker 
und Flex. carp. uln. auf Fingerstrecker. Dadurch Fixation des 
Handgelenks in Ueberstreckstellung, mit der der Mann funktionell schlechter 
daran ist als vorher. Die Faustbildung ist nunmehr unmoglich, die Hand zum 
Greifen unbrauchbar. Selbst wenn der Nerv nicht wiederkehrt, ware der Mann 
mit einer guten Radialisarbeitsschiene und freiem Handgelenk erheblich besser 
daran als mit dem fixierten Handgelenk. 

Fall 4. Gegenstiick zu Fall 3. Oberarmverletzung mit schwerer 
Knochenzertrummerung. Pseudarthrose. Erloschene elektrische Erregbarkeit. 
13 Monate nach der Verletzung Ueberpflanzung der langen Handbeuger auf den 
Ext. dig., Ext. poll. long, und Abd. poll. long. Funktionell gute Beugung 
und Streckung der Hand und Finger. 

Fall 5. Peroneuslahmung durch Schussverletzung. Nie neu¬ 
rologisch untersucht. 9 Monate nach der Verletzung Verkiirzung der 
Sehne des Tib. ant. zur Beseitigung des Spitzfusses. Dadurch rechtwinklige 
Fixierung des Fusses. In diesem Fall hatte auf jeden Fall vor der Behelfs- 
operation der Nerv operativ aufgesucht werden mussen. Bei der Notwendigkeit 
einer Behelfsoperation ware die Ueberpflanzung eines lebenden Kraftspenders 
und nicht die einfache Fixierung durch Sehnenverkiirzung angebracht gewesen. 

Fall 6. Oberschenkelschuss. Am Tage der Verletzung Wund- 
revision, Ischiadikus unverletzt. Fussbewegung frei. 3 Monate nach der 
Verletzung erstmals Peroneuslahmung ohne sensible Storung erwahnt. In 
Krankenblattern ist dauernd nur von geringem Grade der Peroneuslahmung 
die Rede. Niemals neurologisch und elektrisch untersucht. Nie 
Sensibilitatsstorung. 2 l j 2 Monate nach der Verletzung Ueberpflanzung des 
Ext. hall. long, auf den Peroneus HI der lateralen Halite des Tib. ant. auf den 


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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 313 

Ext digit, and Kiirzung der Tib. ant.-Sehne. Bei der Einweisungin das 
Neryenlazarett elektrisch und sensibel vollkommen normaler 
Befund. Gehstorung genau wie vor der Operation, also offenbar 
psyohogen. Vortragender stellt auf Grund dieser Erfahrnngen folgende vor 
einem neurologischen Forum nicht naher zu begrundende Satze auf: 

1. An einem Nervenverletzten darf obne vorherige neurologische 
Untersuchung, Behandlung und Begutachtung keine Operation vorgenommen 
werden. 

2. In jedem Fall, wo dies anatomisch moglich ist, muss vor einer Ersatz- 
operation der verletzte Nerv aufgesucht werden. 

3. Wo dies nicht mdglich ist, ebenso nach Operationen am Nerv darf vor 
Ablauf von 2 Jahren nach der Verletzung resp. Nervenoperation keine Ersatz- 
operation gemacht werden. Auch in diesem Fall muss der Operation eine neu¬ 
rologische Untersuchung vorausgehen. 

4. Die verlorene Funktion darf nicht auf Kosten des volligen Verlustes 
erbaltener Funktionen ersetzt werden. 

5. Bei jeder Ersatzoperation ist der Beruf des Verletzten zu beriick- 

sichtigen. ^ (Eigenbericht.) 

3) Herr M. Hedinger und H. Hiibner-Baden-Baden: „Ueber 
Haltungs- und Gehstorungen bei Ischias, mit Krankendemon- 
stration w . 

In die Begutachtungsstation fur Rheumatiker des 14. A.-K. wurden im 
Laufe des letzten Jahres 534 Patienten mit der Diagnose Ischias eingewiesen. 
Bei 268 = 50pCt. wurde diese Diagnose bestatigt. Die Diagnose Ischias wird 
danach zu haufig gestellt. 206 Falle hatte andere organische Erkrankungen 
(Piattfusse, Hiiftgelenkserkrankungen, Tumoren usw.). 60 Falle hatten rein 
psychogene Gehstorungen. 211 Ischiadiker hatten eine Gehstorung, nur 57 
keine Gehstorung, 83 Falle eine Skoliose, davon 13 Falle ohne gleichzeitige 
Gehstorung. Fur die Ausbildung einer Geh- oder Haltongsstorung war ein 
oharakteristischer Befund (Sitz der Schmerzen, der Atrophie, Roflexstorung, 
Wurzelischias usw.) nicht festzustellen. 49 Falle hatten eine typische Geh- 
storung mit bekannter Haltungsanomalie: Abduktion, Aussenrotation des Ober- 
schenkels, Flexion des Beins in Hiifte uud Knie, meist Spitzfussstellung. Nicht 
in alien Fallen gleichzeitig eine Skoliose. Abbangigkeit der Skoliose von der 
Haltungsanomalie des Beins besteht danaoh nicht. 162 Falle hatten eine un- 
charakteristische Gehstorung, die als psychogen entstanden anzusehen war, 
in vielen Fallen war eine anfanglioh organische Erkrankung psyohisch flxiert. 
Die psychische Fixierung kommt vornehmlich in der Gehstorung zum Ausdruck. 
Diese Gehstorungen wurden samtlich durch Verbalsuggestion, Zwangsexerzieren, 
in einem Toil der Falle unter Zuhilfenahme eines sohwachen faradisohen 
Stroms in einer Sitzung geheilt und die Heilung durch Exerzieriibungen und 
straffe Disziplin im Lazarett festgehalten. 

Die Falle mit typischer Gehstorung, teilweise mit starker Atrophie, Reflex- 
verlust, starkstem Ischiasphanomen, vasomotorischen Veranderungen, oft schon 


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314 43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 

monatelangem Bestehen, mit Gehlahigkeit nut an Kriicken oder Stdcken, Falle, 
bei denen eine schwere chroniscbe Ischias angenommen wurde, waren mit den 
iiblichen Methoden: Badern, Massage, Injektionen (nach Lange and n&ch 
Sicoard) nur sehr langsam und unvoilkommen zu bessern. Der Versuch, 
auch diese Gehstorungen wie die obigen, als psychogen bedingt entstandenen 
in einer Sitzung mit Verbalsuggestion und Zwangsexerzieren zu beseitigen, 
gelang ebenfalls in fast alien Fallen, in einzelnen Fallen war mehrmalige Be- 
handlung notwendig. Auch die Skoiiose ist durch das gleiche Vorgehen zu 
beseitigen, im Gegensatz zu den Gehstorungen aber nur in einzelnen Fallen 
mit einmaliger Behandlung, in der Mehrzahl der Falle nach mehnnaligen ener- 
gischen Uebungen. Nach Beseitigung der Haltungs- und Gehstorung gingen 
sofort die vasomotorischen Storungen zuriick, ebenso die Angaben uber 
Schmerzen, das Ischiasphanomen wurde an Intensitat wesentlich geringer. 
Die Patienten waren dankbar und froh uber die sohnellen Erfolge der Behand¬ 
lung im Gegensatz zu der oft monatelang vorausgehenden vergeblichen 
Behandlung. Katamnesen haben das Anhalten der Heilung und die gate mili- 
tarische Verwendbarkeit, ofter Kriegsverwendungsfahigkeit der so Geheilten 
gezeigt. 

Nach diesen Erfahrungen erscheint uns die chronische Ischias, soweit sie 
nicht rein symptomatisch ist (bei Tumoren, Diabetes usw.), als psychogene 
Fortsetzung einer anfanglich organischen Neuralgie oder Neuritis im Gebiet des 
Ischiadikus. Die Gehstorung ist nur durch Angst vor dem Schmerz bedingt 
und angewohnt. Die Beseitigung ware sonst auf die oben geschilderte Art 
nicht moglich. Um eine etwaige unblutige Dehnung des Nerv oder Zerreissung 
perineuritischer Verwachsungen kann es sich bei diesem Vorgehen nicht ban- 
deln, da die Methode keineswegs besonderS schmerzhaft ist. Sie ware 
undurchfuhrbar, wenn sie mit starken Schmerzen infolge gewaltsamer Dehnung 
des Nerv verbunden ware. 

Die schnelle Heiibarkeit dieser Gehstorungen lasst auch wohl viele oder 
die meisten dor Falle von chronischer Neuralgie des Ischiadikus ohne Geh¬ 
storungen, bei denen schnelle Heilungen durch die verschiedensten Methoden 
(Injektionen, spezielle Massagen usw.) berichtet warden, als psychogen bedingt 
und suggestiv geheilt ansehen. 

Jedenfalls scheint uns bei Soldaten die Schonungsbehandlung der chro- 
nischen Ischias nicht angezeigt, die bisher perhorreszierte Parforcekur ist die 
Methode der Wahl im Lazarett. (Eigenbericht.) 

4) Herr Nonne-Hamburg: „Ueber einen Fall von intra vitam 
diagnostizierter hypophysarer Macies mit anatomischen Demon¬ 
strati onen“. 

N. spricht fiber einen erstmalig wahrend des Lebens richtig diagnosti- 
zierten Fall von Kachexie auf der Basis von primarer Atrophia der Hypophyse 
und zeigt Diapositive der erkrankten Hypophyse. 

Der Fall wird veroffentlicht werden von Dr. Bostroem. 

(Eigenbericht.) 


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43. Wandervers. der Sfidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 315 

5) Herren KfipfeYle and von Szily-Freiburg i.B.: ,,'Ueber die nicht- 
chirurgisohe B eh and lung, insbesondere fiber Strahlenbehandlung 
der Hypophysis-Tumoren 44 . 

Ausgehend von den klinisch bekannten verschiedenen Formen der duroh 
Hypopbysistumoren bedingten Krankheitsbilder, der ophthalmischen Form, der 
Akromegalie und der hypophysaren Dystrophic wird ein kurzer kritisoher Be- 
richt gegeben fiber die bei solohen Fallen duroh chirurgische Eingriffe erreich- 
baren und erreichten Erfolge. 

Da der chirurgische Eingriff keinen Dauererfolg versprioht, also nur als 
Palliativoperation im Sinne der Druckentlastung zu gelten hat, ist man be- 
rechtigt, nach anderen Uethoden zu suchen, die eine wirksame und nachhaltige 
Beeinflussung des Tumorgewebes im Sinne einer spezifischen Tumorschadi- 
gung ermogliohen. 

Diese spezifische Tumorschadigung kann erreicht werden durch eine 
zweckmassig durchgeffihrte kombinierte Rontgen-Radiumbehandlung bei all 
den Tumoren, die sich nach dem Ergebnisse der kiinischen Beobachtung als 
radiosensibel erwiesen habon. 

Es wird fiber ffinf Falle berichtet, die der Strahlenbehandlung unterzogen 
worden sind. Von diesen ffinf ist bei vieren eine ganz merkliche und auch 
dauernde Besserung der Sehfunktion erreicht worden. Ein Fall ist besouders 
dadurch bemerkenswert, dass die trotz gelungenen operativen Eingriffes ein- 
getretene Erblindung durch die Strahlenbehandlung beseitigt werden konnte, 
und zwar mit nachhaltigem Erfolge, so dass die Sehfunktion fiber zwei Jahre 
nach Abschluss der Behandlung erhalten blieb, wahrend sie scbon wenige 
Wochen nach Vornahme des operativen Eingriffes erloschen war. Auch in vier 
weiteren Fallen ist eine Besserung der Sehfunktion erreicht worden, wie die 
objektiv kontrollierten und demonstrierten Gesichtsfelder beweisen. 

Auf Grund der Beobachtungen und Erfahrungen im Laufe mehrerer Jahre 
teils chirurgisch, teils konservativ mit Strahlenanwendung behandelter Falle 
haben die Verfasser folgende Richtlinien ffir die Behandlung von Hypophysen- 
tumoren festgestellt: 

1. Die kombinierte Rontgen-Radiumbehandlung ist bei den Fallen in 
Anwendung zu bringen, die sich nach den kiinischen Beobachtungen als radio¬ 
sensibel erwiesen haben und bei denen nicht eine sofortige Druckentlastung 
angezeigt erscheint. 

2. Da mit Ausnahme der Akromegalie die Art der Geschwulst nach kii¬ 
nischen Gesichtspunkten nur mit Zurfickhaltung beurteilt werden kann, ist die 
Strahlenbehandlung zunaohst bei alien Fallen von Hypophysentumoren be- 
rechtigt. 

3. Ein operativer Eingriff erscheint dann angezeigt, wenn rasch zuneh- 
mende Drucksyroptome eine rasche Druckentlastung erfordern; ferner ist die 
Operation bei all den Fallen angezeigt, die sich als strahlenrefraktar erwiesen 
haben (Zysten, Terratome, eventuell auch Gliome, und verschiedene Formen 
von Strumen) und trotz medikamentoser Therapie fortsohreiten. 


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3 1 6 43. Wandervers. der Sodwestdeotscben Neurologen u. Irrenarzte. 

4. Als unterstutzende Bebandlungsmethode kann sowohl neben der 
Strahlenbehandlang als anch neben der ohirargiscben Behandlang die innere 
Darreichung von Jod gelten, ond bei den Fallen, die mit hypophysarer Dys- 
trophie einhergehen, anch die interne Einverleibung von Hypophysissubstanz. 
Die medikamentose Therapie kann auch in all den Fallen far sich allein ver- 
sucht werden, die nicht prqgressiv sind und das zentrale Sehen noch nicbt 
bedrohlich gefahrden. (Eigenbericht.) 

6 ) Herr Hoche-Freiburg im Breisgau: „Die Heilbarkeit der pro¬ 
gression Paralyse 4 *. 

Jeder Irrenarzt, der Erfahrungen macht, wird mit zunehmenden Jahren 
vorsichtiger in dem Aussprecben absoluter Prognosen 'bei der Paralyse. 
Einige wenige Falle (F. Schultze, Nonne) existieren, die als tatsachliche 
Heilnngen anznsprechen sind. Immerhin ist die verschwindende Seltenheit 
diesos Yerlaufs noch immer ein Beweis fur die im praktischen Sinne be- 
stehende Unbeilbarkeit der Krankbeit. Eine Wabrscheinlichkeit der Genesnng 
von 1 : 10000 oder 1 : 20000 ist keine Wahrscheinlichkeit. TTotzdem notigen 
uns neuere Erfahrungen, das Problem nicht fallen zu lassen. Die progressive 
Paralyse ist ein Spezialfall aus dem Kapitel Syphilis. Es gelten fur sie alle 
grundsatzlichen Erwagungen, die bei lnfektionskrankheiten eine Rolle spielen. 
Es gab eine Zeit, in der die europaische Menschheit keine Syphilis kannte; 
es gab einige hundert Jahre lang in EuropaSyphilis, ehe sie die Erscheinungs- 
form der Paralyse annahm. Vielleicht wird eines Tages durch die natvirliche 
innerliche Entwicklung, ohne unser Zutun, die Paralyse mit der Syphilis ver- 
schwinden; darauf zu warten, ware sundhaft. Jede lnfektionskrankheit, deren 
Erreger bekannt und in seinen Lebensbedingungen untersuchbar ist, muss als 
prinzipiell heilbar gelten. Das Erreichen dieses Zieles ist eine Frage des Zu- 
falls, des Glucks, der Technik, der Beharrlichkeit des Suchens. In der sonst 
fruchtbaren Syphilistherapie ist eine lahme Stelle: die Tabes, eine tote 
Stelle: die Paralyse. Dass durch quantitative Energie der bisherigen Be- 
handlungsmethoden der Paralyse nicht beizukommen ist, wissen wir; worm 
die besondere Unangreifbarkeit der Spirochaten bei Paralyse ihre Ursaohe hat, 
wissen wir nicht. Denkbar ware eine chemische Autonomie des zentralen 
Nervensystems, die die Spirochaten unangreifbar macht; denkbar ein beson- 
derer Kapillarwiderstand des Plexus choroides und der Hirngefasse; denkbar 
eine besondere Unfahigkeit des Gehirns zur Bildung von Antikorpern; denkbar 
eine besondere Giftfestigkeit der metaluetischen Spirochaten. Wir wissen jetzt, 
dass im Gehirn des Paralytikers wahrscheinlich aberall Spirochaten vorhanden 
sind. Ihre Rolle ist hier wohl zum kleineren Teile die lokal wirksamer Krank- 
heitserreger, zum grosseren Teile die der Lieferanten toxischer Stoffe, deren 
Wirkung die chronisch parenchymatosen Veranderungen bedingt. Wahrschein¬ 
lich ist in alien Fallen von sekundarer Syphilis der ganze Kreislauf mit Spiro¬ 
chaten beschiokt. Die eigentliche Frage bei der Paralyse lautet also nicht: 
warum werden 4—5 pCt. der Syphilitiker paralytisoh, sondern: warum werden 
95—96 pCt. der Syphilitiker nicht paralytisoh? — vielleicht losbar durch An- 


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43. Wandervers. der Sfidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 317 

nahme einer erworbenen Organimmunitat des Gehirns. „Heilung“ bei der 
Paralyse heisst nicht Verschwinden aller Krankheitsspuren. 

Wir sprechen von Heilung der Pocken, auoh wenn die gesamte Kdrper- 
oberflache mit Narben bedeokt bleibt. Die Heilungsnarbep der Paralyse sind 
zunachst anatomisober Art, dann aber auf kliniscbem Gebiete sowohl neu- 
rologiscbe wie psychische. Der Heilung gleichzusetzen ist praktisch ein 
lebenslanglicher Stillstand mit den dem Stadium der Krankbeit entsprechenden 
anatomischen und klinischen Narben. Wir haben koine Ahnung, wieviel Even- 
tualfalle von Paralyse sich mit dem fruhesten Stillstandsbilde einiger neurolo- 
gisoher Narben, Pupillenstarre und dergl. begniigeu mogen. Das Problem zeigt 
eine ungeheure Ffille von ungelosten Pragen und damit von zahlreichen expe- 
rimentellen und therapeutischen Angriffsmoglichkeiten. Moglich wird vielleicht 
sein ein VerhindernderEntstehungderParalyse, derenAnfang vielleicht schon 
mit Beginn des Sekundarstadiums anzusetzen ist; moglich ein planmassiges 
oder zufalliges Finden anderer Sohwermetalle ausser Quecksilber, die in Albu- 
minatform den Spirochaten zugeffihrt werden konnen; moglich durch Zufall 
oder planmassiges Suchen das Finden von Giften, nach dem Prinzip des Sal- 
varsans, die die Mikroorganismen treffen, ohne den Trager zu scbadigen; mog¬ 
lich, dass es uns glfickt, eine Vorbehandlungzu finden (— analog etwa 
der Beizung bei der Gliafarbong —), die die Spirochaten therapeutisoh ver- 
letzlich maoht; moglich das Finden einer grundsatzlich anderen Uethode, die 
den Spirochaten nichts tut, aber ihre Umgebung etwa zu einer Verkalkung ver- 
anlasst. Das Dogma der Unheilbarkeit, im Augenblick das grosste Hemmnis 
fur die notige allseitige Freudigkeit der Mitarbeit muss fallen. Ich zweifle nicht 
daran, dass die Jiingeren unter uns den Tag noch sehen, an dem die Paralyse 
uns nur noch historisch interessiert. (Eigenbericht.) 

7) Herr Prof. Schultze-Bonn berichtet fiber von ihm beobachtete zwei 
Falle von Geschwisterataxie („hereditarer Ataxie u ), die am moisten nach 
dem zur Zeit festzustellenden Befunde mit der Friedreich’schen Form der 
Erkrankung Aehnlichkeit haben, aber sich durch mangelnden Nystagmus und 
durch jetzt noch vorhandene, wenn auch bei einem der Geschwister etwas ab- 
gesohwachten Patellarreflexe von ihr unterscheiden. Zwei Geschwister waren 
nach der Angabe der Mutter ziemlich frfih ihrer Erkrankung erlegen, die in 
dem einen Falle zu erheblichem Schwachsinn und Incontinentia alvi geffihrt 
haben soli, in dem anderen mit epileptischenAnfallen sich verband. Bei beiden 
von dem Vortragenden beobachteten Kindern bestand Friedreich’scher Fuss 
und Babinski. 

Die Untersuchung der Spinalflfissigkeit ergab negative Wassermann-Reak- 
tion, die Rontgenuntersuchung der Ffisse keine Veranderung der Knochen. 

Der Vortragende geht des Naheren auf die Ursache der hereditaren Ataxie 
ein, bei der gewohnlich, wie auch bei seinen Fallen weder die Syphilis, noch ein 
Alkoholismus der Eltern eine Rolle spielt. Die Edinger’sche Aufbrauch- 
tbeorie erklart weder die Lokalisation der Erkrankung, nooh im wesentlichen 
die Neigung zu dauerndem Fortschreiten derselben, besonders da auch die 


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318 43. Wandervers. der Sddwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 

Sohonung der betroffenen Nervengebiete selbst in fruheren Stadien der Erkran- 
kung keine sicher erkennbare Besserung hervorruft and umgekehrt ebenso wie 
Ueberanstrengang auchUeberrahe schaden kann. — Bemerkenswert ist der auch 
sonst bei hereditarer Ataxie beobachtete Schwachsinn. (Eigenbericht.) 

8 ) Herr L. R. Muller-Wurzburg: „Ueber die Innervation der 

Harnblase. u 

* 

Die Ganglienzellen der Blase, die an der Einmundungsstelle der Ureteren 
angehauft sind, erweisen sich bei geeigneten Farbemethoden als multipolar. 
Sie sind ganz derselben Art, wie wir sie am Herzen, im Oesophagus, im Darm 
und auch in den Ganglienknoten des Grenzstranges finden. Wie zu alien 
inneren Organen so ziehen auch zum Plexus vesicalis Nervenfasern von zwei 
verschiedenen Gebieten vom sympathischen und vom parasympathi- 
schea System. Die ersten gelangen vom oberen Lumbalmark iiber die Rami 
communicantes lumbales iiber den Plexus aorticus und endlich fiber die paa- 
rigen Plexus hypogastrici zum Blasengeflecht. Vom sakralautonomen System, 
dessen Ganglienzellen in der Intermediolateralsubstanz des untersten Sakral- 
markes gelegen sind, ziehen die Bahnen fiber die unteren Sakralwurzeln und 
von dort als Nervi erigentes oder Nervi pelvici zum Nervengeflecht an der 
Blase. Die Innervation dieser beiden Nervengebiete ist eine gegensatzliche: 
Reizung der Nervi pelvici bedingt Eroffnung des Sphincter und Kontraktion 
des Detrusor vesicae und somit Entleerung der Blase. Erregung der Plexus 
hypogastrici fiihrt zur Verstarkung des Sphinktertonus und zum Nachlass der 
Detrusorkontraktien und damit zur Harnretention. Ueber die Bahnen im 
Rtickenmark, durch welche die spinalen Blasenzentren beeinflusst werden, 
wissen wir nooh gar nichts, wir wissen nur, dass Querschnittslasionen des 
Ruckenmarks, in welcher Hohe sie auch sitzen mogen, ob sie im Halsmark, im 
Lendenmark oder im Sakralmark gelegen sind, immer das gleiche klinische Bild 
auslosen, wie wir es auch bei der Caudakompression sehen. Die Bahnen, 
welche iiber das Sakralmark und iiber die Cauda equina und die Nervi pelvici 
zum Plexus vesicalis ziehen und dort den Entleerungsreflex auslosen, sind 
unterbrochen und damit ist die Harnausstossung unmoglich und es kommt zur 
Ischurie. Naoh kiirzerer oder langerer Zeit kontrahiert sich aber die Blase bei 
einem gewissen Fiillungsgrade spontan und es entwickelt sich die automatische 
Blasenentleerung. Ueber die Stellen im Gehirn, von welcben aus eine Beein- 
flussung der Blaseninnervation erfolgen kann, haben uns die letzten Jahre 
manchen Aufschluss gebracht. Durch Karplus und Kreidl und dann auch 
von Leichtenstern wurde experimentell festgestellt, dass Reizung der Seiten- 
wande des dritten Veitfrikels und damit Reizung des Hypothalamus ausser 
maximaler Pupillenerweiterung und ausser Schweissausbruch auoh Kontraktion 
der Blase bedingt. Diese Stelle in der Tiefe der grossen Stammganglien ist 
wohl auoh der Ort, iiber welche die Stimmungen, wie die Angst und der 
Scbrecken ihren Einfluss auf die Blasentatigkeit ausiiben. Die willktirliche 
Auslosung der Blasenentleerung und die willkfirliche Hemmung dieses Reflexes 
beim Harndrang kann nur vom Grosshirn aus erfolgen. Es ist nicht wahr- 


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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 319 

scheinlicb, dass dort in der Rinde ein eigentliches ^Blasenzentrum 14 zn suchen 
ist, von dem die glatte Muskulatur dieses Organs direkt beeinflusst wird. Far 
eine solche Annahme fehlen all© Anhaltspunkte. Unseres Wissens hat kein 
anderes inneres Organ eine eigene Vertretung in der Grosshimrinde. Wenn 
manche Funktionen innerer Organe, wie die peristaltische Bewegnng der 
Schlundrohre oder die Entleerung des Enddarmes bis za einem gewissen Grade 
willkiirlich anszulosen sind, so erfolgt die dazu notwendige Innervation des 
vegetativen Nervensystems sicherlich nicht primar von einem Zentrum in der 
Hirnrinde, vielmehr werden die dazu notwendigen Reflexvorgange wohl immer 
erst darch Bewegungen der willkiirlich zu innervierenden quergestreiften 
Muskulatur angeregt. Durch die willkurliche Verbringung des Bissens mittels 
der quergestreiften Schlundmuskulatur in den Anfangsteil des Oesophagus wird 
dort die peristaltische Bewegung ausgelost, die den Bissen in den Magen 
weiter befordert. Die Anspannung der Bauohpresse und das dadurch bedingte 
Vortreiben der Kotsaulo verursacht den Reflex, welcher der Stuhlentleerung zu 
Grunde liegt und der in letzter Linie in den Ganglienzellen der Darmwandung 
zustande kommt. So kann wohl auch durch die willkurliche Innervierung der 
am Blasenboden gelegenen quergestreiften Muskulatur und durch den Nachlass 
des Tonus des Compressor urethrae der Reflex im vegetativen Nevensystem 
ausgelost werden, welcher die Harnausstossung zur Folge hat und so kann 
durch starke Anspannung des Compressor urethrae das Zustandekommen eines 
solchen Reflexes bei starkem Harndrang verhindert werden. Die Stelle in der 
Hirnrinde, von welcher die quergestreifte Muskulatur am Beckenboden will- 
kurlich innerviert wird, ist beider6eits im obersten Teil der Zentralwindung 
oder im Lobulus paracentralis zu suchen. So ist es auch zu verstehen, dass 
Kleist bei tangentialen Scbeitelschussen, die beiderseits zur Zerstorung 
der obersten Zentralwindungen geftihrt haben, neben Fusslahmungen auch 
Storungen in der Blasenentleerung gesehen hat. Ueber ahnliche Beobaohtungen 
verfugen auch 0. Forster-Breslau, Auerbach-Frankfurt und Wallenburg- 
Danzig. Auf Grand solcher Feststellungen durfen wir also annehmen, dass 
tatsachlioh vom Grosshirn aus die Blasenentleerung ausgelbst werden kann, 
wenn dort auch kein Blasenzentrum im strengen Sinne des Wortes zu suchen ist. 

(Eigenbericht.) 

9) Herr F. E. Otto Schultze-Frankfurt a. M.: „Auf welchem Wege 
konnen wir in der Erforschung der Neurosen und Psychosen zu 
iibersichtlichen Erkenntnissen gelangen? u 

Obschon der Krieg vielen Aerzten eine geradezu unbegreifliche Full© von 
Einzelerscheinungen vor Augen gefuhrt hat, in denen sioh der Einfluss seeli- 
scher Vorgange auf den Korper aussert, ist die Ausbeute an wissenschaftlichen 
Erkenntnissen verbaltnismassig gering geblieben. Der Grand hierfiir wird in 
der ungenugenden Entwicklang der Gehirnanatomie und Gebirnphysiologie ge¬ 
sehen. Viele Einzelvorgange sind desbalb vorlaufig in ihrem inneren Mecha- 
nismus vollstandig unbekannt geblieben; hinsichtlich der yielen Beobaohtungen 
motoriscber Bewegungsstdrungen konnen wir nur vereinzelt und in allergrobsten 


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320 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 

Ziigen verfolgen, wie sie zustande gekommen sein mogen. Die Diagnose ist 
desh&lb moist nichts weiter als eine Klassifikation, nicht eine durchdringende 
Erkenntnis. Wir steben vielfach noch auf dem Standpunkt des Botanikers der 
ersten Halfte des 19. Jabrhunderts, dessen Aufgabe darin bestand, nach dem 
Linn6’sohen System Pilanzen zu bestimmen. Die eigentliche wissenschaftliohe 
Aufgabe der biologiscben Erklarung ist noch wenig entwickelt. Es fragt sich 
daher: Konnen wir die schematischen Grundansohauungen, auf die aiies natur- 
wissenschaftliche Denken zuruckgehen muss, uns nicbt unabhangig von der 
Gehirnanatomie schaffen? Wie wir die krankhaften Vorgange der Niere, der 
Lunge und ailer einzelnen Organe unseres Korpers daduroh begreifen, dass 
wir ihre einzelnen Glieder und einzelnen Funktionen als quantitativ variiert 
auffassen, so miissen wir auch die im seelischen Leben wirksamen Faktoren 
feststellen und aus ihren Funktionen durch quantitative Variationen die unbe- 
schrankte Fiille krankhaft veranderter seelischer Vorgange erklaren. 

Ein Funktionsschema in dem gewunscbten Sinne bat Wernioke ge- 
geben. In seiner Einfachheit entwickelt es die wesentlichen Bestandteile eines 
zentralsensorischen, eines zenttelmotorischen und eines intrazentralen Apparates. 
Die Hauptbestandteile sind damit gegeben. Sie kommen nicht bloss fur die 
sprachlichen, sondern auch fur die anderen seelischen Vorgange in Betracht. 
Der intrazentrale Apparat tragt nun den ungliioklichen Namen Begriffszentrum; 
denn es kommen in ihm nicht pur Begriffe vor, und ebensowenig ist er ein 
Zentrum. Statt seiner konnten wir fast ebenso gut sagen Seele. Einmal ent~ 
halt er alle Erfahrungsmomente (oder mit anderen Worten Erfahrungsdispo- 
sitionen der Residuen der verschiedenen Sinneseindriicke, die wir in uns auf- 
genommen haben, und auch die Residuen alles dessen, was die Phantasie das 
Wort im weitesten Sinne als Fahigkeit zur Synthese gefasst aus ihnen ge- 
schaffen hat). Daneben laufen vollstandig die von ihnen zu trennenden Vor¬ 
gange des Gemiitslebens ab, die ganz anderen Gesetzen unterworfen sind, als 
jene, die wir unter dem Worte Geist zusammenfassen konnen. Noch andere 
Grundfunktionen, wie Merkfahigkeit, Produktion an Energie usw. miissen in 
das Schema aufgenommen werden. Entscheidend ist aber, dass der Begriff 
Bewusstsein in ihm nicht beriicksichtigt ist. Wernicke hielt an dem Stand¬ 
punkt des krassen Materialismus fest, der in seiner Jugendzeit in Deutschland 
herrschte: Bewusstsein ist Giehirn. Er schied nicht zwischen dem Gehirn und 
seinem Produkte. Er erkannte nioht, dass das Bewusstsein etwas mit dem Ge¬ 
hirn nicht zu Vergleichendes ist. Mit der Einfuhrung des Bewusstseins erobert 
sich aber das Funktionsschema ein ganz neues Gebiet, das an Fruchtbarkeit 
die gegenwartige Gehirnanatomie und Gehirnphysiologie um das unbegrenzt 
Vielfache iibertrifft. Es kann erst so die Beziehung zur Psychologie herge- 
stellt werden. Von ihm aus kann ein Ausbau der bisher nur angedeuteten Be¬ 
griffe Geist und Gemiit, Wille und Gedachtnis erfolgen. Mit seiner Hilfe ist 
erst eine voile Geschlossenheit eines Schemas des seelischen Haushaltes 
zu erreichen. Die Psychiatric sowohl wie die Lehre der Neurosen mussen von 
beiden Seiten her weiter arbeiten, von der Seite des Bewusstseins, wie von der 
Seite des Gehirnes aus, und sehen, ob die Faktoren und Mechanismen, zu 


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43. Wandervers. der Sddwestdeutschen Nearologen u. Irrenarzte. 321 

deren Annahme sie durch die Wacht der Tatsaohen gedrangt werden, identisoh 
warden konnen oder nicht. Das Ergebnis dieser Forsohungsarbeit wird ein 
Fanktionsschema des seeliscben Haushaltes sein, das for die genannten Wissen- 
schaften die gleiche grundlegende Bedeutung bekommen moss, wie die Sche¬ 
mata des Korpers und seiner Organe fur die innere and aussere Medizin. 

(Eigenbericht.) 

10) Herr Hauptmann-Freiburg i. Br.: „Ueber herdartige Ver- 
breitung der Spirochaten im Gehirn bei Paralyse 44 . 

An der Hand einer grdsseren Anzahl von Diapositiven wird iiber eine 
herdartige Spirochatenverbreitung in der Hirnrinde bei Paralyse berichtet, 
welche deswegen ihre besondere Bedeutung hat, weil es auch gelang, die Herde ' 
im Zellbilde farberisch zur Darstellung zu bringen. 

Unser Bestreben muss dahin gehen, die Spirochatenpraparate mit den 
uns von den andem Farbeverfahren gelieferten bekannten histologischen 
Bildern in Beziehung zu setzen, urn festzustellen, inwieweit die lokale An- 
ordnung der Spiroch&ten im Gehirn fur die paralytischen Veranderungen in 
Anspruoh zu nehmen ist. Fur einen Teil derselben, wie die diffuse Infiltration 
der Gefasscheiden und die systematischen Degenerationen ist die Unabhangig- 
keit von der Lagerung der Spirochaten in der Hirnrinde a priori wahrschein- 
lich, far einen andem Teil, wie z. B. den fleckweisen Markscheidenausfall, 
konnte ein Zusammenhang eher vermutet werden. 

Die Schwierigkeiten einer Yergleichung der mit verschiedencn Farbever¬ 
fahren behandelten Schnitte liegen in der einstweilen noch vorhandenen Un- 
moglichkeit, die Spirochatenimpragnation im Schnitt vorzunehmen. H. um- 
ging diese deshalb durch fast schnittartige Verkleinerung der Blocke, so dass 
annahernd Vergleichspraparate gewonnen werden konnten. Dass man auf 
diese Weise zum Ziel kommt, konnte auch an einem, dem Vortr. von Nissl 
giitigst zurVerfugung gestellten Fall bewiesen werden, bei dem dieser schon vor 
10 Jahren einen Herd im Zellbilde beobacbtete, dessen Genese er sich damals 
noch nicht erklaren konnte. Das Diapositiv dieses Herdes wurde demonstriert. 

Im einzelnen Spirochatenpraparat stellten sich die Herde dar als im all- 
gemeinen scheibenformige Gebilde, in welchen sich ein zentraler Kern und ein 
peripherer Kreis deutlich trennen lasst. Das Gewebe des Kerns ist in seiner 
Struktur mehr oder weniger zerstort, oder doch wenigstens infolge dichtester 
Durchwachsung mit Spirochaten, die sich nur sobwach braunlich farben und 
(dadurch?) in ihrer Gestalt undeutlicher hervortreten, in seinen einzelnen 
Bestandteilen nicht mehr kenntlich; der periphere Kreis besteht aus einem 
dichten Kranz wohl gefarbter und gut gebildeter Spirochaten. Durch Rekon- 
struktion von zahlreichen Serienschnitten erweist sich die Herdbildung als 
kugelformig in der Gehirnsubstanz sitzend. Demgemass begegnet man je nach 
Lage des Schnittes Herden verschiedener Grdsse, und, je naher man den Polen 
kommt, auch verschiedener Gestalt, insofern diese keinen amorphen Kern mehr, 
sondern nur noch eine scheibenformige Anordnung der gut gefarbten Spiro¬ 
chaten besitzen. 

▲rehir f. Psyehiatrie. Bd. 60 . Haft 1 . 91 


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322 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Nearologen u. Irrenarzte. 


Die Entstehung der Herde lasst sich einmal an eben beginnenden und 
dann an Serienschnitten durch grossere studieren: Aus den Gefasswanden and 
adventitiellen Raumen von kleineren Gefassen und Kapillaren wucbern Spiro¬ 
chaten ins Gehirngewebe, wobei sich auch schon an eben beginnenden Harden 
die zentrale Amorphisierung des Gewebes bezw. der Spirochaten zeigt. Dnd 
im Zentrum grosserer Herde sieht man bei Seriensohnitten fast immer ein Ge- 
fass, das meist in seiner Wand wenig verandert ist und in ihr wohi erhaltene 
Spirochaten aufweist. Dieser immer wiederkebrende Befund und vor allem die 
Betrachtung jungerer Herde lasst den Zusammenhang mit Gefassen (was bei 
der Gefassvermehrung ja moglich ware) nicht als zufallig erscheinen.. 

Aeltere Herde gewinnen dadurch ein anderes Aussehen, dass Zellen glio- 
gener Herkunft, grosstenteils sogenannte „gemastete“ in sie eindringen. In 
diesen Zellen sieht man nicht selten Spirochaten, die Form und Farbung be- 
wahrt haben, was urn so auffallender ist, da sie inmitten der schlecht gefarbten 
Spirochatenhaufen liegen. Man konnte auf eine Fresstatigkeit dieser grossen 
Gliazellen schliessen, weniger auf ein aktives Eindringen von Spirochaten in 
sie, daman Spirochaten in Ganglienzellen ausserst selten antrifft. 

Eine Gliafaserbildung scheint, soweit sich das bisher farberisch nach- 
weisen liess, in der Gegend der Herde nicht stattzufinden. 1 

Im Zellbild stellt sich der zentrale Kern als homogene Anfarbung des 
Grundgewebes dar, in dem je nach dem Alter des Herdes Zellen verschiedener 
' Genese (gliogen, Polyblasten) eingelagert sind. Ganz junge Herde oder An- 
schnitte alterer sind nur eben als ganz hauchartige Anfarbung (ohne ZeHein- 
lagerung) zu sehen und entgehen leicht der Beachtung. Es ist deshalb wohl 
moglich, dass man ihnen bei entsprechend gerichteter Aufmerksamkeit kiinftig- 
hin doch ofters begegnen wird. 

Verfiihrerisch ist es, in ihnen etwa die oder wenigstens eine der Ursaohen 
des fleokweisen Markscheidenschwundes (und zwar des „Mottenfrasses w ) zu 
sehen. In den entsprechenden Windungen fanden sich fleckige Ausfalle, die 
in ihrer Lagerung wohl den Herden entsprechen konnten. Dieser Annahme 
steht aber einstweilen nooh die Seltenheit des Befundes an solchen Herden 
gegeniiber der Haufigkoit des fleckweisen Markscheidenschwundes entgegen. 
Allerdings ist zu bedenken, dass wir hier das Produkt eines iiber viele Jahre 
ausgedehnten Zerstorungsprozesses vor uns haben, der sehr wohl im einzelnen 
auf einer nur kurzfristigen Herdbildung beruhen konnte. 

Und diese geringe Lebensdauer der Spirochatenherde, die zudem nur 
an ganz wenigen Stellen der Hirnrinde sitzen, der Beobachtung also leicht 
entgehen konnen, und sioh im Zellbilde lange nicht in der gleichen Regel- 
massigkeit wie im Spirochatenbilde zeigen, lasst erwarten, dass im weiteren 
Verlauf der mit der vergleichenden Zell- und Spirochatenfarbung angestellten 
Forschung diese herdformige Spirochatenverteilung ein haudgeres Vorkomnis 
bilden wird. (Eigenbericht). 

11) Herr Hiibner-Bonn hat Experimente zur Simulationsfrage 
angestellt. Er brachte auf der Beobachtungsabteilung zunachst, um zu sehen. 


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43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 323 

wieviel fiber Simulation gefcprochen wurde, einen Rechtsanwalt unter, der die 
diesbezfiglichen Erfahrungen sammelte. Es stellte sich heraus, dass diese 
Frage viel diskutiert wurde. 

Die Simulation von manschettenfdrmigen und handschuhformigen Sensi- 
bilitatsstorungen gelang bei Anwendung schwacher Reize leicht, auch auf 
starke Schmerzreize konnte eine Person Abwehrreaktionen regelmasssig unter- 
drficken. 

Dass auch bei Dynamometerversuchen Vorsioht am Platze ist, lehren 
weitere Untersuchungen des Vortragenden. 

In ganz kurzer Zeit gelang es dem Vortragenden, ein 20jahriges Madchen 
zur Vortauschung einer Handkontraktur anzulernen, die von einem Chirurgen 
und einem Neurologen fur echt gehalten wurde. 

Eingehender geht Vortragender dann an der Hand von 2 selbst beobacb- 
teten Fallen auf die Frage der Anamnese ein. Er warnt davor, sie glaubig 
hinzunehmen, und zeigt, wie ein Mann 9mal in Lazaretten Aufnahme fand und 
dort lediglich wegen der genauen anamnestischen Angaben fiber neurotische 
Zustande bebalten wurde. Objektiv war an ihm nie etwas gefunden worden. 

In einem anderen Falle, den H. beobachtet hat, sohaffte sicb der Ange- 
schuldigte eine Anamnese durch propbylaktische Simulation vor Laien, wah- 
rend er in der Klinik selbst nur noch einige Tage krank schien und dann sicb 
rasch besserte. 

Was scbliesslich die psycbischen Storungen anlangt, so vermocbte das 
oben zitierte junge Madchen ohne nennenswerte Erlauterungen und ohne je 
einen Schwachsinnigen gesehen zu haben, sowohl bei der Intelligenzprufung, 
wie auch sonst eine Imbezillitat mittleren Grades vorzutauschen. 

Es gelang ihr auch einen Dammerzustand zu markieren. 

Ausfuhrlicb geht dann der Vortragende noch auf einen Fall ein, in dem 
ein zuveriassiger Mann mehrere Wochen eine schwere Psyohose mit dem Erfolge 
simulierte, dass er den erstrebten Zweck, weloher ihm vorschwebte, erreiohte. 
Unmittelbar nach Erreichung desselben meldete er siob freiwillig und machte 
nun fiber das, was er sich im einzelnen bei der Vortauschung der versohiedenen 
Symptome gedacht und wie er Erfahrungen gesammelt hatte, den Aerzten sehr 
genaue Angaben. 

Vortragender schliesst aus seinen Beobachtungen und Versuchen, dass 
es doch leichter sei, einzelne Zustandsbilder vorzutauschen als man ursprfing- 
lich angenommen babe, dass man jedenfalls aber auch dem Simulationsproblem 
experimentell nahertreten mfisse. (Eigenbericht). 

12) Herr E. Rappers (Freiburg) Ueberlingen: „Die systematische 
Bek&mpfung der Rentenneurose im Frieden auf Grund der Kriegs- 
•rfahrungen u . 

Der Krieg ist der gfinstigste Zeitpunkt, urn auch gegen die alten Renten- 
neurosen des Friedens therapeutisch vorzugehen (Einweisung in die bestehenden 
Neurosenlazarette, Heilung, Unterbringung in die Munitiousindustrie und Ent- 
ziehung der Rente). Zugleich werden dadurcb die Berufsgenossenschaften von 

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324 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 

der Heilbarkeit der Rentennearosen dtirch arztiiche Massnahmen uberzeagt und 
fur die Schaffung entsprecbender Einriohtungen im Frieden gewonnen. 

Die Frage, ob es moglich ist, auch im Frieden auf die im Kriege 
bewahrte Weise gegen die Rentenneurosen vorzugehen, muss bejaht werden. 
Das Geheimnis der Kriegserfolge liegt in der Verkniipfung der personliohen 
Autoritat mit der militarischen, die in der Strafgewalt des Vorgesetzten ver- 
korpert ist. Die Strafgewalt des Neurosenarztes im Frieden ist gesetzlich fest- 
gelegt im §606 der R. V. 0., der die Entziehung der Rente bei unbegrundeter 
Verweigerung der Bebandlung androht. Diese Moglichkeit muss nur ausgenutzt 
werden. Als Bebandlungsmethode kommt neben der Hypnose vor allem die 
konsequente Bettruhe, kombiniert mit Paokungen, Dauerbad und Isolierung in 
Betracbt. Derartige arztiiche Anordnungen konnen nicht „mit gesetzlichen 
oder sonstigen triftigen Grunden tf (§606) verweigert werden. — Als Ausgleich 
verlangt die Anwendnng des §606 die Sicherung des Kranken gegen unzu- 
lassige Anwendung der Strafgewalt (Verkennung organischer Falle, inhumane 
Prozeduren). Als solche Sicberungen werden vorgeschlagen: Trennung von 
Beobachtungs- und Behandlungsstationen und Beigebung eines Arbeiterver- 
treters an die Seite des behandelnden Arztes zur Kontrolle dariiber, dass einer- 
seits die suggestiven Massnahmen an Scharfe und dass andererseits der 
Patient bei seinem Widerstande die Regeln des Anstandes wahrt. —r Riickfalle 
konnen durcb keine Form der Symptomiiberwindung verhutet werden. Viel- 
mehr ist wochen- bis monatelange Erptobung der Dauerhaftigkeit des Behand- * 
lungsergebnisses bei Lohnarbeit unter arztlicher Aufsicht erforderlich. Nach 
einer solchen Erprobung, bei der moglicbst die naturlicben Verhaltnisse des 
Berufes hergestellt werden mussen, kann fur den trotzdem etwa eintretenden 
„Riickfall w kein Kausalzusammenhang mit dem Unfall mehr anerkannt werden. 
Die Streichung der Rente ist also endgiiltig und damit auch die Heilung. — 
Unerlassliche Voraussetzung fur die Durchfuhrung des Verfahrens ist, dass 
die Aerzteschaft geschlossen hrnter dem Neurosenarzte steht und ihn gegen 
die vorauszusehenden Angriffe von seiten der Neurotiker und der Oeffentlich- 
keit wirksam unterstiitzt. (Eigenbericht). 

13) Herr Hezel-Wiesbaden: a) w Eine im Felde vorkommende Be- 
schaftigungsneurose w . 

Major C., welcher viele Monato lang den ganzen Tag mit demTelephon- 
horer in der rechten Hand tatig war, verspiirte seit Marz 1917 ein Taubheits- 
gefiihl in der ulnaren Halfte der rechten Hand und zunehmende Schwache 
derselben, in der Folgezeit bemerkte er auch einen Schwund der kleinen Hand- 
muskeln. Er fuhrte diese Storungen ganz richtig auf eine Geberanstrengung 
der Hand beim Telephonieren zuriick. Der Militartelephonhorer ist so einge- 
riohtet, dass die Finger, welche den Stiel des Horers umfassen, gleichzeitig 
die in den Stiel eingelassene Sprechtaste niederdriicken mussen, so lange ge- 
sprochen wird. Das Festhalten des Stiels geschieht nicht nur mit den vier 
Fingern, sondern auch mit demDaumen, der dabei hauptsachlich durchAdduk- 
tion den Stiel zwischen Daumen und Hand fixiert. 


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43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 325 


Wie mir der Kranke mitteilte, hat er die gleiche Stdrung auch bei einem 
Kameraden gesehen. 

Im Febraar d. J. erbob ich folgenden Untersuohungsbefund: 

Die Hand hat das Anssehen wie bei der Ulnarislahmung, d. h. Krallen- 
stellong der vier Finger and Atropbie der Interossei and des Adductor pollicis, 
in geringem Grade auch des Hypothenar. Am 5. Finger stehen die Hittel- und 
Endglieder in extremer Beugestellung und konnen passiv nur unvollstandig 
gestreckt werden, wahrend das an den iibrigen Fingern mit einiger Gewalt 
vollstandig gelingt. Aktiv erfolgt die Streckung dieser Glieder am 2. und 
3. Finger leidlioh, am 4. und 5. aber gar nicht* Die aktive Beugung dieser 
Glieder wird an alien Fingern mit voller Kraft ausgefiihrt. Die aktive 
Beugung der Grundglieder dagegen sehr mangelhaft und schwaoh. Ebenso ist 
die Adduktion ganz schwach und erfolgt nur unter gleichzeitiger Beugung der 
Hittel- und Endglieder, also offenbar hauptsachlich durch die Wirkung der 
langen Beuger. Eine aktive Spreizbewegung vermogen nur der 2. und 3. Finger 
auszufuhren. Der Daumen kann vollstandig und ziemlich kraftig adduziert 
werden, aber diese Bewegung geschieht, wie man sich deutlich durch lnspek- 
tion und Palpation iiberzeugen kann, nicht durch den Adductor pollicis, son- 
dern durch die Ersatzmuskeln der Opposition des Daumens, der Beugung der 
Daumenglieder und der Hand sind vollkraftig, letztere erfolgt auch unter 
kraftiger Hitwirkung des Flexor carpi ulnaris. 

Die elektrische Untersuchung ergibt eine hochgradige Herabsetzung der 
dirckten und indirekten faradischen Erregbarkeit der atrophischen Muskeln, an 
den am starksten atrophierten bis zur fast volligen Aufhebung. Die indirekte 
galvanische Erregbarkeit ist ebenfalls merklioh, aber nicht so hoohgradig her- 
abgesetzt und bei der direkten galvanischen Reizung Zucken der atrophischen 
Muskeln mehr oder weniger trage, der Abductor digit. V. aber fast normal. Die 
langen Fingerbeuger zeigen keine Abweichungen der elektrischen Erregbarkeit. 

Auch die Sensibilitat zeigt bemerkenswerte Storungen. Die Tastempfin- 
dung ist im Ulnarisgebiet hocbgradig herabgesetzt, am kleinen Finger und dem 
zugeborigyi Hetakarpusgebiet beinahe ganz aufgehoben, in geringerem Grade 
herabgesetzt an den Volarflachen der iibrigen Finger, ganz gering am Hand- 
teller. Aehnlich verhalt es sich mit der Temperatur- und Schmerzempfindung. 
Das Tastgefiihl ist in alien Fingergelenken erheblich herabgesetzt. Druck- 
schmerzhaft sind weder die Stamme, noch einzelne Zweige des Ulnaris und 
Hedianus. 

Bemerkenswert ist, dass die langen Fingerbeuger, welche das Nieder- 
driicken der Sprechtaste besorgen, also auch ebenso angestrengt sind, wie die 
Interossei, gar keine Schadigung erlitten haben, im Gegensatz zu den schwer 
geschadigten Interossei. Innerhalb des Gebietes der kleinen Handmuskeln da¬ 
gegen lasst sich ein gutes Proportionalitatsverhaltnis zwischen dem Grade der 
Schadigung und der der Grosse der geleisteten Arbeit erkennen. 

Toxische oder infektiose Schadlichkeiten, welche zur Entwicklung von 
Neuritiden disponieren, lagen nicht vor. Es handelt sich also wahrscheinlich 
urn die Folge einer reinen Ueberanstrengung. 


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326 43. Wandervers. der Sudwestdeutsohen Neurologen u. Irrenarzte. 

b) „Eine durch subdurale Injektion von Tetanus-Antitoxin 
erzeugte lokale Hirnrindenschadigung w . 

In einem Falle von Spat-Tetanus nach einer Granatsplitterverwundung 
des Beines wurden am 18. 12. 1917 naoh vorausgegangenen Neisser’schen 
Trepanationen im Bereiohe jedes der beiden Soheitelbeine subdurale Injektionen 
von Tetanus-Antitoxin ausgefuhrt. Nach diesen Injektionen konnte der Kranke 
den linken Arm 14 Tage lang so gut wie gar nicht bewegen, und 2 Tage lang 
bestand ein klonischer Krampf desArmes. Allmahlich kehrte die Kraft in dem 
gelahmten Arm zuriick, aber dauernd besteben blieb taubes Gefuhl und Unge- 
schioklichkeit beim Gebrauoh des Armes, besonders der Hand. 

Ich untersuchte den Kranken am 17. 3. 1918 und fand keinerlei Beein- 
trachtigung der passiven Beweglichkeit, eine geringe Herabsetzung der groben 
Kraft der aktiven Bewegungen bei ausgesprochener Koordinationsstdrung der- 
selben. Die Sensibilitatspriifung ergab taktile Anasthesie fast an der ganzen 
Hand und Hypasthesie am tibrigen Arm, proximalwarts allmahlich abnehmend, 
in ganz geringem Grade lasst sich die Hypasthesie auch an den Schuitern, dem 
Hals, der Wange und dem Ohre nachweisen. Die Schmerz- und Temperatur- 
empfindung ist nur an der Hand deutlich herabgesetzt Erheblich ist die Sto- 
rung des Lagegefdhls, in den Gelenken der vier Finger ganzlioh aufgehoben, 
in den Daumengelenken und im Handgelenk hochgradig, im Ellbogengelenk 
weniger stark herabgesetzt. Unsicher bleibt das Verhalten am Schultergelenk. 

Damit ist ein Symptomenbild gegeben, wie man es bei Lasionen des 
mittleren Drittels der hinteren Zentralwindung beobaohtet. Nun liegt die Tre- 
panationsliicke im Bereiche des reohten Scheitelbeines so, dass sie dem mitt¬ 
leren Drittel der hinteren Zentralfurche ungefahr entspricht. Es ist deshalb 
die Annahme naheliegend und berechtigt, dass die nach der subduralen Injek¬ 
tion im Bereiche des rechten Scheitelbeines zuriiokgebliebene Storung dos linken 
Armes auf einer ernsteren Schadigung der Hirnrinde durch die Injektion be- 
ruht. Ich glanbe, dass eine direkte Verletzung der Hirnrinde erfolgt ist etwa 
derart, dass die Nadel, iiber den subduralen Raum hinaus, in die Rinde ein- 
gedrungen ist, und dass durch die Injektion in die Rinde selbst eine mecha- 
nische Lasion derselben stattgefunden hat. Dieser Fall wiirde demnach, wenn 
meine Deutung derselben richtig ist, zu einer entsprechenden Vorsicht bei 
Vornahme von subduralen Injektionen mahnen, es durfte geraten sein, diffe- 
rente Hirnrindenpartien am besten zu vermeiden. (Eigenbericht.) 

14) Herr Kronfeld: „Zur Aetiologie der Landry’schen Para¬ 
lyse 44 . 

Mitteilung eines Falles von Landry’scher Lahmung, welcher bis zum 
Ende der dritten Woohe unter zunehmenden Bulbarersoheinungen und volliger 
Lahmung des ganzen Korpers zum todlichen Ausgang zu fiihren schien. Im 
Liquor wurde der Streptococcus mucosus (Schottmulller, Stephan) ge- 
ziiohtet. Dieser ist nach Rochs ein Glied der Pneumokokkengruppe. Infolge- 
dessen wurde sofort ein therapeutischer Versuch mit Optochin gemacht, 3 g 
oral in funf Tagen. Am funften Tage koine Bazillen mehr im Liquor; schlag- 


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43. Wandervers. der Sadwestdeutschen Neurologen a. Irrenarzte. 327 

artige weitestgehende Besserung, die in vollige Heilung iiberging. Hieraus 
werden bezaglich der Aetiologie und Behandlung der Landry’schen Paralyse 
die Folgerungen entwickelt. 

(Original erscheint in der Zeitschr. fur die ges. Neurol, u. Psych.) 

(Eigenbericht.) 

15) Herr Lilienstein-Nauheim demonstriert einen einfachen, 
neuen Stromanzeiger fCir den farad ischen Strom (Faradimeter). 
Der faradisohe Strom wird jetzt besonders bei der erfolgreichen aktiven Be- 
handlang der Kriegsneurosen auch in den Lazaretten haufiger zur Anwendnng 
gebracht. 

Hierbei sind in einigen Fallen schadliche Nebenwirkungen beobachtet 
worden, die zum Teil auf die Anwendung zu starker Strome zuriickgefuhrt 
warden. Dieser Fehler war bisher beim Mangel jeglicher Messinstrumente fur 
den sekundaren Strom kaum vermeidlich. Der demonstrierte einfache Apparat 
gestattet nun, wahrend der Behandlung den zur Anwendung kommenden 
Strom dauernd zu kontrollieren. 

Er kann an jeden, auch den einfachsten faradischen Handapparat, ange- 
sehlossen werden. 

(Ausfuhrliche Verdffentlichung demnachst in der Munch, med. Wochen- 
schrift und im Neurol. Zentralbl.) 

II. Sitznng am 26. Mai, vormittags 9 Uhr. 

Als Versammlungsort fur das nachste Jahr wird wieder Baden-Baden 
verabredet. 

Zu Geschaftsfiihrern werden die Herren Geh. Rat H o c h e - Freiburg und 
Sanitatsrat Dr. Zacher-Baden-Baden gewahlt. 

16) Herr S. Auerbach-Frankfurt a. M.: „Verschiedene Vulnera- 
bi 1 itat bzw. Giftaffinitat der Nerven Oder Gesetz der Lahmungs- 
typen? w 

Auf der letzten Jahresversammlung der Gesellscbaft Deutscher Nerven- 
arzte in Bonn (September 1917) sagte A., dass er den von 0. Foerster zur 
Erklarung des zeitiicb und graduell verschiedenen Ruokganges der Lahmungen 
in den einzelnen Muskelgruppen nach Schussverletzungen aufgestellten Begriff 
der verschiedenen n Vulnerabilitat u der Nervenfasern nicht akzeptieren konne. 
Er betonte, dass jene regelmassige Erscheinung restlos durch das von ihm fur 
die gesamte Neuropathologie aufgestellte „Gesetz der Lahmungstypen (< zu er- 
klaren sei. Dieses Gesetz lautet: 

„Diejenigen Muskeln bzw. Muskelgruppen eriahmen am 
raschesten und vollkommensten bzw. erholen sich am lang- 
samsten und am wenigsten, die die geringste Kraft (ausgedriiokt 
durch das Muskelgewicht) besitzen und ihre Arbeitsleistung 
unter ungunstigen physikalischen, physiologischen und anato- 


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328 43. Wandervers. der Sddwestdentschen Neurologen u. Irrenarzte. 


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mischen Bedingungen zu vollbringen haben, wahrend die in 
dieser Beziehung besser gestellten Muskeln von der Lahmung 
grosstenteils verschont bleiben.“ 

In seinem Schlnssworte bielt Foerster (vgl. den Eigenbericht im Neurol. 
Zentralbl., 1917, Nr. 20) den Begriff der verschiedenen Vulnerability der 
Nervenfasern fur versohiedene Muskeln unbedingt aufrecht und hielt ferner auf- 
recht, dass' die Fasem fur die distalen Muskeln vulnerabler seien als die fur 
die proximalen. Fur toxische und infektiose Schadigung kamen noch ganz be- 
sondere Affinitaten in Betracht. Curschmann stimmte Foerster zu und 
sprach noch von der verschiedenen Erkrankungsbereitschaft verschiedener 
Nerven auf toxische Einfliisse. 

Diesen Auffassungen gegeniiber fuhrt A. unter Hinweis auf seine ausfuhr- 
lichen Publikationen Folgendes aus: 

Ausdriicke wie versohiedene „Vulnerabilitat w , „Giftaffinitat u und „Er- 
krankungsbereitschaft u der Nerven sind nur Umschreibungen des Tatbestandes, 
der Erscheinungen, aber keine Erklarungen. Er findet es wohl begreiflich, 
dass ein Hautnerv oder auch ein oberflachlich liegender Nerv wie der N. ra- 
dialis an seiner Umschlagstelle am Oberarm eher verletzt werden kann als ein 
tiefliegender Nerv, dass er „vulnerabler“ ist als der letztere. Die Annahme 
einer verschiedenen „Vulnerability bringt aber dooh niemanden in seinem 
kausalen Denken einen Sohritt vorwarts, wenn man sich die jetzt in zahlreichen 
Fallen ganz regelmassige Beobachtung erklaren soli, dass nach Absohuss des 
N. ischiadicus am Oberschenkel oder nach .Resektion eines seinen ganzen 
Querschnitt durchsetzenden Kallus und darauffolgende Naht dieses Nerven 
stets, falls Regeneration eintritt, zuerst die vom N. tibialis innervierten 
Plantarflexoren des Fusses ihre Funktion wieder erlangen, und erst viel spater, 
wenn uberhaupt, die vom N. peron. beherrsohten Dorsalflexoren und Abduk- 
toren. Diese bei Lasion des Gesamtquerschnittes des N. ischiad. — bei Ver- 
letzung einzelner Bahnen kommen naturlich rein topographische Gesichtspunkte 
in Betracht — regelmassige Erscheinung ist doch unmoglich damit zu er¬ 
klaren, dass man annimmt, die Bahn des N. peron. im Ischiadicus sei „vulne- 
rabler u als die des N. tibial. Sie ist auoh nicht zu erklaren mit der grosseren 
Distanz, welche die auswachsenden Nervenfasern zu durchlaufen haben, eben- 
sowenig mit der grosserenEntfernung vom trophischen Zentrum der zugehorigen 
Vorderhornganglienzellen. Denn es wird doch niemand behaupten wollen, 
dass in dieser Beziehung Unterschiede zwischen dem N. tibial. und dem 
N. peron. bestehen. 

Dem Verstandnisse zugangig wird die erwahnte Beobachtung erst durch 
folgende Ueberlegung: nach Frohse und Frankel verhalt sich das Gewicht 
der Plantarflexoren des Fusses (Gastroknemius -j- Soleus -\- Plantaris) zu dem 
der Dorsalflexoren (Tibial. ant. -|~ long. + peron. tertius) wie 

795:196, also wie 4:1. Die Mm. peron. long, et brevis (Abduktoren bzw. Pro- 
natoren) gehoren zu den schwachsten; ihre Gewichtszahl betragtnach Frohse 
und Frankel 123. Beriicksichtigt man nun ausserdem, dass die Waden- 
muskeln mit der Sohwere arbeiten, die ohnehin schwachen Peronei aber gegen 


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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 329 


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diese und als Abduktoren den Fuss von der Medianebene des Korpers zu ent- 
fernen haben, welche Bewegnng natiirlich eine grossere Arbeitsleistung dar- 
stellt als die Bewegung nach der Medianebene der Korpers hin, so wird man 
es begreiflich finden, dass ceteris paribus die Plantarflexoren des Fusses ihre 
Fun kt ion friiher wieder aufnehmen als die Dorsal flex oren. Das Erfolgsorgan 
des N. tibia!, ist eben viel kraftiger und bat ausserdem seine Arbeit unter 
gunstigeren Bedingungen zu leisten als dasjenige des N. peron. 

In ganz analoger Weise ist die Beobachtung zu erklaren, dass bei Ab- 
schiissen des N. radialis am Oberarm, bzw. bei einem seinem ganzen Quer- 
schnitt durchsetzenden Nervenkallus, Resektion desselben mit darauffolgender 
Nabt regelmassig zuerst die Strecker des Karpus wieder in Tatigkeit treten, 
viel spater erst die Strecker der Finger. 

Fur die traumatische Gruppe unter den peripberen Labmungen kommt 
das Gesetz der Lahmungstypen nur in beschranktem Umfange in Betracht. 
Durch eine Verletzung kann jeder Nerv und jedor von ibm abbangige Muskel 
gelahmt warden ganz obne Rucksicht auf seine spezielle Muskelkraft und die 
Arbeitsbedingungen, unter denen er sich zu betatigen pflegt. Es kann sich 
nur um solche Falle handeln, in denen das Trauma einen mebrere 
Muskeln innervierenden Nerven nacbweislich in seinem ganzen Quer- 
schnitt ladiert oder einen Nervenplexus in toto getroffen hat, oder wenn bei 
partieller Verletzung eines solcben durch einen autoptiscben Operationsbefund 
konstatiert werden kann, welobe Aeste verschont geblieben sind. Allgemeine 
Giiltigkeit hat das Lahmungsgesetz jedoch iiir die iibrigen typischen Lah- 
mungen der peripberen Nerven, insbesondere fur die dnrcb eine Polyneuritis 
bedingten. Und biermit kommt A. auf den Begriff der „Giftafflnitat u und der 
„Erkrankungsbereitschaft w zu spreohen. 

Wir nehmen an, dass die verschiedenen Gifte, mogen sie toxisoher oder 
infektioser Natur sein, eine verschieden grosse Affinitat zu einzelnen Organen 
oder Organsystemen baben oder umgekebrt. So gibt es Gefass-, Blut-, Muskel- 
gifte usw., selbstverstandlich auch Nervengifte, und unter diesen wieder solche, 
die sich mit Vorliebe in der Gehirn- oder Ruckenmarksubstanz verankern, 
and ere, welcbe die peripberen Nerven bevorzugen. Warum das eine Gift mit 
Vorliebe oder ausscbliesslicb dieses oder jenes Organ befallt, wissen wir, von 
einigen Ausnahmen abgeseben, nicbt und nebmen desbalb zu dem Begriffe der 
differenten Giftaffinitat unsere Zuflucht. Unser Kausalbediirfnis kann und muss 
sich hiermit vorlaufig zufrieden geben. Es kann ibm aber unmoglich zuge- 
mutet werden, anzunebmen, dass ein und dasselbe Gift eine besondere Ver- 
wandtschaft zu bestimmten peripheren Nerven oder Nervenasten eines Extremi- 
tatenabsobnittes besitzt, dass es aber andere derselben Gliedmasse, die ana- 
tomisch und cbemisch genau ebenso konstruiert sind, verschont. Besonders 
bemerkenswert ist, dass, wenn bei der gewohnlichen Polyneuritis ein vom 
N. peron. profund, innervierter Muskel ibtakt bleibt, es der relativ kriiftigste 
M. tibia 1. anticus ist, obgleich aucb er die Anziehungskraft der Erde zu uber- 
winden hat. Das kann man docb wirklioh nicbt mit einer verschiedenen Gift¬ 
affinitat oder Erkrankungsbereitsohaft der Nervenfasern erklaren. Es ware doch 


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330 43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 


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mehr als gezwungen, anzunehmen, dass die die Mm. extens. digit, long, et 
brevis und Ext. hall. long, et brevis versorgenden Nervenaste des N. peron. 
prof, eine grossere Affinitat zu dem betreffenden Qifte haben als die in dem 
M. tib. ant. eindringenden, dass das krankmachende Agens jene befallt und vor 
diesen Halt macht. 

Wie wenig berechtigt die Annahme einer verschiedenen Giftaffinitat oder 
Erkrankungsbereitsohaft der Nervenfasern ist, zeigt auch die von vielen 
Beobachtern gemachte Feststellung, dass bei der Polyneuritis anscheinend 
funktionstfiohtige Muskeln bei genauer Untersucbung sich oft auch als leicht 
geschwacht erweisen und eine deutlich herabgesetzte elektrisohe Erregbar- 
keit zeigen. Zum volligen Versagen aber kommt es nur bei den 
weniger kraftigen und unter ungfinstigen Umstanden arbeitenden 
Muskeln. 

Nach dem Ergebnis von A.’s Untersuohungen, die er natfirlich nur in 
Kiirze vortragen konnte, sollte man Begriffe wie verschiedene „ Vulnerability 
oder Giftaffinitat” der Nervenfasern cndgiiltig fallen lassen. Sie sind fur 
unser kausales Denken entbehrlich geworden, nachdem es gelungen ist, sie 
durch exakte physikalische und psycbologisch-anatomische Vorstellungen zu 
ersetzen. (Eigenbericht.) 

17) Herr Steiner-Strassburg: „Ueber die atiologische Erfor- 
schung der multiplen Sklerose 4 *. 

Nach einem Hinweis auf seine in Gemeinschaft mit Kuhn ausgeffihrten 
experimentellen Forschungen berichtet Vortr. fiber Untersuohungen ana- 
mnestisch-statistischer Art bei multipier Sklerose. 

Was den Stand und die Arbeitsweise der Polysklerotiker angeht, so 
scheinen die sozial niederen Stande mehr betroffen zu sein. Es ist jedoch hier 
Vorsicht am Platz, da das vielen Aerzten zuganglicbe Krankenmaterial sich 
vorzugsweise aus den niederen Standen zusammensetzt und femer entsprechend 
der grosseren Anzahl von Menschen niederer Stande die Erkrankungshaufigkeit 
auch absolut eine grossere sein muss. * 

Betrachtet man die Arbeitsweise derjenigen Personen der niederen Stande, 
die an multipler Sklerose erkranken, so finden sich gerne landwirtschaftliche 
Arbeiter, Holzhauer, Forster, Arbeiter in Sagewerken, Zimmerleute, Fuhrleute, 
Maurer, Monteure usw. erkrankt. Allen diesen Berufsschichten gemeinsam ist 
die Arbeitsweise im Freien und zwar besonders die auf dem freien 
Lande. Gewiss erkranken auch Leute in der Grossstadt; sehr haufig handelt 
es sich aber bei diesen urn Personen, die frfiher auf dem Lande gelebt oder 
sich langere Zeit aaf dem Land aufgehalten haben. Bei der vor dem Kriege 
herrschenden Landfiucht der landlichen Bevolkerung ist es notwendig, die Er* 
krankung der grossstadtischen Bevolkerung immer auoh daraufhin zu beachten, 
ob nicht Landaufenthalt frfiher vorgelegen hat. 

Bei sozial hoheren Standen kommt zweifellos multiple Sklerose ebenfalls 
vor. Hier scheinen mir aber zwei Momente beachtenswert: gerade diejenigen 
Teile der gebildeten Bevolkerung erkranken gerne an multipler Sklerose, die 


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43. Wander?ers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 331 


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sich riel im Freien bewegen, die Ansfldge machen oder grosse sportliche 
Leistungen rornehmen. 

Andererseits seheinen die Stubenhooker vor der Erkrankang an mnltipler 
Sklerose fast gesichert. 

Wenn wir das Lebensalter betrachten, in dem die multiple Sklerose er- 
scheint, so lasst sich die Erkrankang als ein Leiden des kraftigsten Lebens- 
alters bezeichnen. Vorzugsweise am Ende des zweiten and Anfang des dritten 
Lebensjahrzehnts tritt die multiple Sklerose auf, wobei ausdriicklich darauf 
hingewiesen wird, dass die zum Arzt fdhrenden ersten Krankheitsersoheinungen 
sehr haufig nicbt den Beginn der Krankheit darstellen, sondem bei genauer 
Nachforschung oft voriibergehende, kurzdauernde, schon jahrelang znriick- 
liegendeKrankheitsersoheinungen (Sehstorungen, LahmungsArscheinungen usw.) 
naobgewiesen werden konnen. 

Auffallig ist, was das Lebensalter angeht, dass kleine Kinder und Greise 
von einer Erkrankung an multipier Sklerose in der weitaus iiberwiegenden 
Mehrzahl aller Falls versohont bleiben. Gerade diejenigen Jahresschichten er- 
kranken an multipier Sklerose, die in ihrer korperlichen Beweglichkeit am 
besten gestellt sind und die fur ihren Bewegungsdrang auoh am moisten freie 
Zeit zur Verfiigung haben. 

Man konnte dagegen einwenden, dass Kinder, etwa vom 7. bis 15. Lebens- 
jahr auffallend selten an multipler Sklerose erkranken und dass dooh bei ihnen 
sowohl die korperliche Beweglichkeit wie auch die Verfiigung uber ihre Zeit 
mindestens ebenso gunstig liegt, wie bei den Schichten vom Ende des zweiten 
und Anfang des dritten Lebensjahrzehnts. Demgegeniiber ist zu betonen, dass 
naoh allem, was wir iiber die lange „initials Latenz w der multiplen Sklerose 
wissen, die arztlich erkennbaren und zum Arzt fiihrenden „ersten w Krankheits- 
erscheinungen erst vom 16. oder 17. bis zum 25., 26. Lebensjahr aufzutreten 
brauohen und trotzdem der Keim der Erkrankung sohon innerhalb des 7. bis 
15. Lebensjahres aufgenommen worden sein konnte. 

Besteht eine Erklarungsmoglichkeit fiir das eben Dargelegte? 

Wenn die multiple Sklerose eine Infektionskrankheit ist, so miissen wir 
uns uberlegen, in weloher Weise die Krankheit dbertragen wird, wie der 
Krankheitskeim in den Menschen hineingelangt? 

Eine Uebertragung der Erkrankung von Mensch zu Mensch ist ganz 
gewiss ausgeschlossen, dafiir bestehen keinerlei Anhaltspunkte. 

Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Krankheitskeim durch Aufnahme 
mit der Nahrnng oder mit der Luft, durch Beriihrung mit Gebrauchsgegen- 
standen oder mit Abfallstoffen den Monsohen befallt, es fehlen im grossen und 
ganzen alle Beobachtungen uber Erkrankungen am selben Ort und zur selben 
Zeit, uber endemisches oder epidemisohes Auftreten; die ausserordentlioh sel- 
tenen familiaren Erkrankungen diirfen hier gerade wegen ihrer Seltenheit 
ausser Berucksichtigung bleiben. 

Als eine weitere Uebertragungsmdglichkeit kommt die duroh lebende 
Krankheitsubertrager in Betracht. 


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332 43. Wandervers. der Sodwestdeotschen Neorologen o. Irrenarzte. 

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Man konnte da an die Uebertragong dorch Haostiere denken, jedoch 
konnte Vortr. bei anamnestisehen Nachforschongen keinerlei Hinweis auf eine 
Moglicbkeit finden. 

in neuerer Zeit hat man immer mehr die Bedentang gewisser Insekten far 
die Uebertragong der verschiedensten Infektionskrankheiten kennen gelernt. Nicht 
nor beimMenschen (Malaria iibertragen duroh Anopheles, Fleckfieber iibertragen 
dorch Kleiderlaose, Schlafkrankheit iibertragen durch Glossina palpalis, afrika- 
nisches Riickfallfieber iibertragen dorch eine Zeckenart, Gelbfieber obertragea 
dorch Stegomyia osw.), sondern aoch beimTier werden Krankheiten (Babesiosen, 
Nagana, Hdhnerspirochatose osw.) dorch Insekten verschiedener Art iibertragen. 

Vorhin worde schon daraof hingewiesen, dass bei der Entstehung der 
moltiplen Sklerose anscheinend der Aofenthalt ond das Leben in der freien 
Nator eine Rolle spielt. Wir ddrfen also vielleicht annehmen, dass alle die- 
jenigen Insekten, die im menschlichen Gemeinscbaftsleben bei engem Zo- 
sammensein vorkommen, Laose, Flohe osw., fiir das Zostandekommen der 
moltiplen Sklerose onwesentlioh sein konnten. Wir worden damit aof eine be* 
sondere Art von Insekten hingewiesen. 

Von diesen Ueberlegongen aosgehend hat Vortr. zo erforschen gesocht, 
ob nicht in der Vorgeschichte der Polysklerotiker Erlebnisse vorkommen, die 
einen Hinweis aof Uebertragong dieser Erkrankong dorch Insekten geben 
worden. Bei 21 von bis jetzt gesammelten 43 Fallen von moltipler Sklerose, 
also bei nahezo 50 pCt., findet sich in der Vorgeschichte angegeben, dass sie 
frdher von Zecken befallen worden oder dass sie mit der Hand Zecken an sich 
selbst, an anderen Menschen oder an Tieren entfernt ond zerqoetscht haben. 
Wahllos alle erreichbaren Falle worden vom Vortr. befragt; aoch die schon 
viele Jahre bestehenden Falle, bei denen nicht selten das Gediichtnis etwas 
gelitten hatte, worden anamnestisch ontersocht, obwohl jabei der vorhandenen 
Demenz eine negative Angabe keine bindende Kraft besitzen kann. Dem Vortr. 
standen im wesentlicben nor Klassen der sozial niederen Stande zorVerfdgong. 
Es darf wohl angenommen werden, dass bei ihnen ein Zeckenstich, der ganz 
schmerzlos verlaoft, oft kaom beacbtet wird ond im Gedachtnis deshalb wohl 
aoch kaom haften bleibt. Aoch ist die Haotpflege ja natorgemass in diesen 
Bevolkerongsschichten nicht so got wie bei den sozial hoheren Klassen. 

Die Gegenprobe an nicht-polysklerotischen Personen der gleichen Alters- 
ond Bevolkerongsklasse ergab 10 pCt. positive Ergebnisse. 

Die Feststellong der Zeit des Zeckenbisses oder der Zeckenzerqoetschong 
begegnet natorgemass Schwierigkeiten, da Aofzeichnongen von den Kranken 
nie gemacht worden ond bei der Geringfiigigkeit des Erlebnisses das genaoe 
Datom nioht im Kopf behalten worde. Immer lag der Zeckenbiss vor der Er¬ 
krankong ond zwar aoffallenderweise sehr haofig verbaltnismassig lange Zeit, 
einige Jahre vor dem Aoftreten der ersten Krankheitserscheinongen. 

Es darf dies nicht Wonder nehmen, wenn man den schleichenden Beginn 
der moltiplen Sklerose mit ihrer verhaltnismassig langen initialen Latenz be- 
trachtet. Ferner miisste ja aoch, wenn der Zeckenstioh tatsachlich etwas mit 
der moltiplen Sklerose zo ton hat ond die Erkrankong nach einer ganz korzen 


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43. Wandervers. der Sddwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 333 


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Inkubationszeit auftreten wurde, der Zasammenhang zwischen Zeckenstich bzw. 
Zecken zerquetschung and mnltipler Sklerose scbon lange bekannt sein. Das 
ist aber nicht der Fall. Es bestehen also bloss zwei Moglichkeiten: entweder 
der Zeckenstich hat nichts mit der multiplen Sklerose za tan oder die Erkran- 
kang an mnltipler Sklerose tritt langere Zeit nach dem ursaohliohen Zecken¬ 
stich anf. Nebenbei sei nur erwahnt, dass das Ansbleiben der Erkrankong an 
mnltipler Sklerose nach einem Zeckenstich nicht als Gegenbeweis gegen einen 
ursachlichen Zasammenhang zwischen Zeckenstich and multipler Sklerose ver- 
wendet werden darf. 

Aus der Geschichte der Ursachenlehre der nervosen Krankheiten liessen 
sich hier Vergleiche heranziehen. Bei der ganz kurzen Zwischenzeit zwischen 
Diphtheric and der postdiphtherischen Lahmung ist der ursachliche Zusammen- 
hang anvorkennbar. Bei der Chorea postinfectiosa wird ebenfalls noch der Za¬ 
sammenhang mit der fruheren Infektionskrankheit klar erkennbar. Aber schon 
bei der Schlafkrankheit war man sich langere Zeit fm Unklaren daruber, ob das 
anfangliche Trypanosomenfieber mit dem spateren psychisch-nervosen Krank- 
heitsstadiam zusammenhinge. Beide Stadien waren friiher als voneinander za 
trennende Krankheiten tot allem auch deshalb aufgefasst worden, weil der 
zeitliche Zwischenraom zwischen den beiden Stadien oft ein recht grosser war. 
Wird endlich die zeitliche Entfernung der psychischen oder nervbsen Krank- 
heitserscheinungen von der ursachlichen Infektion sehr gross, so kann es Jahr- 
zehnte lang dauern, bis der ursachliche Zasammenhang sicher klargestellt ist. 
Ein klassisches Beispiel hierfur sind die der Geschichte angeborenden Kampfe 
bezuglich des ursachlichen Zusammenhangs zwischen Syphilis einer- und 
Tabes bzw. Paralyse andererseits. 

Die Befragung nach den Zeckenstichen hat Yortr. immer in der Weise 
vorgenommen, dass er nicht unmittelbar darauf losfragte, ob der Kranke von 
einer Zecke gestochen worden sei. Vielmehr wurde nach einleitenden Fragen 
dber Beschaftigung auf dem Land, mit Haustieren, Aufenthalt im Wald, Be- 
arbeitung von Holz usw. festzostellen gesuoht, ob der Kranke dberhanpt 
wusste, was Zecken sind. Nicht sei ten erwiderte auf solche Fragen der Kranke 
lachelnd von sich aus, das kenne er sehr wohl, er sei ja schon einmal von 
einer Zecke gestochen worden. Damit darf man sich aber nicht begndgen, man 
muss sich aach eine Beschreibang des stechenden Insekts geben las sen. Bei 
negativem Ergebnis der Befragang wird man sich vergewissern miissen, ob 
der Kranke Zecken dberhaupt nicht kennt, oder ob sie ihm nur dem Namen 
nach unbekannt sind. Darch Vorzeigang von Bildern, darch Sohilderung des 
Verbaltens der Insekten l^sst sioh dies ja mit Leichtigkeit feststellen. Die 
Kriegszeiten brachten es mit sich, dass dem Vortr. Falle von mnltipler Sklerose 
aus den verscbiedensten Teilen Deutschlands zugingen. Die Benennung der 
Zecken ist provinzial ausserordentlich verschieden (Zack, Zwack im Elsass, 
Waldbock im Thuringischen, Tacke im Hannoverschen usw.). 

Die anamnestischen Erhebungen mussen aach darauf ausgedehnt werden, 
ob jemand mit der Hand Zecken bei anderen Menschen oder bei Tieren aus 
der Haut entfernt und mit den Fingem zerquetscht hat. Ein solche9 Vor- 


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33 4 43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 



kommnis wurde auch unter den positiven Fallen vermerkt. Genau mussten 
natiirlich auch die zeitlichen Verhaltnisse des Zeckenstiches oder der Zer- 
quetschung mit der Hand beobachtet werden. Als positiv konnte ein Fall nur 
bezeichnet we'rden, wenn das Erlebnis mit den Zecken sicher vor alien Krank- 
heitserscheinungen stattgefunden hatte. 

In einigen (4) meiner negativen Falle wurden „Wespenstiohe u angegeben. 

Vortr. ist sich sehr wohl bewusst, dass die auffallende Haufigkeit des 
Zeckenstiches und der Zerquetschung der Zecken in der Vorgeschichte seines 
Materials zufallig sein und auf der geringen Zahl der bisherigen Unter- 
suchungen und der sozialen Gleichartigkeit der Falle beruhen kann. 

Immerhin scheinen dem Vortr. die bisherigen Ergebnisse doch wichtig 
genug, um als Richtlinien fiir kiinftige anamnestisch-statistische Unter- 
suchungen zu dienen. 

(Demonstration von Praparaten der Tierimpfungen im Nebenzimmer.) 

(Die Falle werden spater ausfiihrlich veroffentlicht werden.) 

(Eigenbericht.) 


A ussprache. 

Herr Ph. Kuhn-Strassburg i.E.: Abgesehen von einigen weiteren erfolg- 
reichen Verimpfungen bei frischen Fallen von multipler Sklerose haben Steiner 
und ich folgende Fortschritte zu verzeichnen: 

Mittels der Levaditimethode fanden wir die Spirochaten in den Lebern 
der Tiere von drei unserer veroffentlichten vier Falle. Wir sahen sie nicht 
nur in den grosseren Gefassen, sondern auch in den Kapillaren, die manch- 
mal vollgestopft sind. 

Wir beobachteten die Spirochaten nicht nur bei den geimpften 
Kaninchen, sondern auch bei den Meerschweinchen. Damit halten 
wir den Einwand fiir widerlegt, dass es sich um harmlose Parasiten handelt, 
die den Kaninchen eigentiimlich sind. Wenn sie nicht aus den kranken 
Menschen stammen, so mussten sie sowohl imMeerschweinchen wie im Kaninchen 
vorkommen. Das ist zwar unwahrscheinlich, liegt aber imBereich desMoglichen. 
Wir beschranken uns nach wie vor darauf, unsere sicheren Beobachtungen mit- 
zuteilen. Auch der von Siemerling mitgeteilte Befund von Spirochaten im 
Gehirn eines an multipler Sklerose Verstorbenen geniigt uns noch nicht, um 
unsere Spirochaten endgultig als die Erreger der Krankheit zu bezeichnen. 

Bei unseren Impfversuchen legen wir den grossten Wert auf die Auswahl 
ganz frischer Falle von wenigen Monaten Krankheitsdauer. Alte Falle sind 
ziemlich aussichtslos, was wir bei Nachpriifungen zu beachten bitten. 


18) Herr Bet he-Frankfurt a. M.: „Theoretisches und Praktisches 
zur Frage der Nervennaht 44 . 

Vergleichende Versuche iiber die verschiedenen Arten der Ausfiihrung der 
Nervennaht, welche nachMoglichkeit an vergleichbarenNerven desselbenHundes 
ausgefiihrt wurden, ergaben folgendes: Durchgreifende Nahte sind ungiinstig, 
da sie ganze Nervenbiindel abschniiren. Diese Methode scheint auch fast voll- 




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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen a. lrrenarzte. 335 


kommed aufgegeben zu sein. Die viel aussichtsreichere paraneurale Nabt wird 
zum Teil mit (wenig zahlreichen) weit ausgreifenden Nahten, die dann meist 
stark angezogen werden, ausgefuhrt, zum Teil mit zahlreichen Nahten, die das 
Perineurium moglichst kurz fassen. Letztere Methode gibt wesentlich bessere 
Resaltate. Die Narben sind glatt, die Neurombildung und Faserverwirrung ist 
meist gering, Wachstumsverirrungen (Keulen, Spiralen und riicklaufige Fasern) 
fehlen fast ganz und die meisten Fasern finden Anschluss aneinander. Da- 
gegen tritt beim starken Anziehen weitausgreifender Nabte eine pinselartige 
Auseinandertreibung der Faserbiindel an den Querschnitten ein, so dass nur 
die zentralgelegenen Bundel glatten Anschluss erreichen. Die randstandigen, 
umgebogenen Bundel des zentralen Stumpfs wuchsen zum Teil riickwarts, zum 
Teil erschopfen sie sicb in der Bildung von zahlreichen Keulen und Spiralen. 
Neurombildung und Faserverwirrung sind hior sehr bedeutend. Dementspreohend 
ist das physiologisohe Resultat and die Neurotisation des peripheren Stumpfes 
bei weitausgreifenden Nahten ungiinstiger. 

Die Angabe vieler Autoren, dass eine Einscheidung der Nahtstellen not- 
wendig ware, oder wenigstens viel sichere Resultate ergebe, konnte nicht be- 
statigt werden. Auch dann, wenn die umgebende Muskulatur in ausgiebigster 
Weise zerfleischt war, traten ohne Tubulierung niemals bedrohliche Ver- 
waohsungen ein. Das pbysiologische Resultat war bei der Einscheidung nie¬ 
mals gunstiger wie bei freiliegender Naht. Auch bei Tubulierung kommt es 
nach Zerfleischung der Umgebung stets zu Verwachsungen an den Jtohrenden 
und dem freiverlaufenden Nerventeil. VergleichendeVersuche fiber verschiedeie 
Einscheidungsmaterialien ergaben die geringsten Verwachsungen bei Galalitb- 
robren, welcbe meist in einigen Wocben resorbiert wurden, stiirkere bciKollodium- 
rohren, die starksten bei Kalbsarterien. Die Reaktion vonseiten des Nerven 
selbst und der Umgebung (Infiltrationen und Riesenzellenanbaufung) waren bei 
GalalithrShren und Kalbsarterien mehrmals recht betrachtlich, bei Kollodium- 
rftbren fehlten sie meist ganz. Kalbsarterien werden oft organisiert und fiihren 
zu Bindegewebstumoren. 

Haufig lasst man Patienten nach Nervennaht, besonders wenn sie unter 
Spannung erfolgte, wocben-, ja monatelang in fixierenden Verbanden. Nach 
dem Tierversuch muss dies als iiberflussig erscheinen, da die Nahtstelle schon 
nach 5 bis 6 Tagen fest verwachsen ist. 

Gegen die Einpflanzung von uberlebenden Nerven der gleichen Tierart 
ist von Bielschowsky eingewandt worden, dass solche Transplantate nicht 
mit ihrem spezifischen Gewebe an der Heilung beteiligt seien. Es muss dem 
widersprochen werden, ebenso der Ansioht Bielsohowsky’s, dass es keine 
Aohsialstrangfasem gabe. Die Ansicht Bielscbowsky’s, dass abgetdtete 
Nerven auch anderer Tierarten die gleichen Dienste leisteten, konnte nicht be- 
statigt werden. In meinen Versuchen wurden solche Nerven bisher immer 
resorbiert und durch Gewebe des Wirts ersetzt. 

Kirchner hat gegen die Transplantation den Ein wand erhoben, dass bei 
diesem Operationsverfahren zwei Nahtstellen zu durchwachsen seien; jedeNaht¬ 
stelle gabe aber ein neues Hindernis. Der Vergleich zwischen einem Hund, bei 


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336 43. Wandervers. der Siidwestdeutscben Neurologen u. Irrenarzte. 






dem der linke Ischiadikus nur einmal durchschnitten und genaht, der rechte 
Ischiadikus dagegen an vier Stellen durchschnitten und vernaht wurde, efgab 
das Resultat, dass die vielfache Durchschneidung nicht ungiinstiger wirkt. Die 
physiologiscbe Wiederberstellung (Auftreten der Sensibilitat und Motilitat) 
geschah auf beiden Seiten fast gleicb scbnell und die Erregbarkeit der frei- 
gelegten peripheren Stiimpfe war nabezu gleicb. Ebenso war die Neurotisation 
rechts und links nicht verschieden. Dieses Resultat erklart sich daraus, dass 
die Verheilung an alien Unterbrechungsstellen von Serien des lokalen Gewebes 
geschieht. (Eigenbericht.) 



19) Herr Goldstein berichtet iiber eigentiimliche „ringformige u 
Gesicbtsfelddefekte bei Hirnvorletzten, die or gemeinsam mit Dr.Gelb 
untersucbt hat. Perimetriert man fortlaufend von aussen nach innen, so fmdet 
man bei gewissen Kranken ein ^peripheres Ringskotom“, das etwa die Grade 
40 bis 60 einnimmt. Zwischen dem Ringskotom und der Aussengrenze des 
Gesichtsfeldes liegt eine ringformige Zone, in der der Patient das Priifungs- 
objekt sieht. Eine genaue Untersuchung ergab, dass es sich nicht urn abso¬ 
lute Skotome handelt, sondern dass es mdglich ist, durch starkere Reize 
Empfindmigen innerhalb des „Ringes u hervorzurufen. Der Ring ist auf der 
temporalen Seite gewohnlich starker ausgebildet als auf der nasalen. Er ist 
hier breiter und amblyopischer und manchmal uberhaupt nur temporal als 
Sichel nachweisbar. Der „Ring“ hat bei verschiedenen Untersuchungen unge- 
fahr dieselbe Lage in Beziehung auf die Aussengrenze des Gesichtsfeldes und 
entspricht deshalb bei verschiedenen Aussengrenzen des Gesichtsfeldes ver¬ 
schiedenen Partien der Netzhaut. Es handelt sich also uberhaupt nicht 
um eigentliche Skotome. Engt sich die Aussengrenze infolge Ermiidung 
ein, so wird der Ring breiter und amblyopischer und umgekehrt bei Erholung. 
Diese Ermiidung tritt sehr schnell bei fortlaufender Untersuchung ein, und 
dadurch kann es zu sehr verschiedenen Gesichtsfeldbildern kommen, je nach- 
dem man in der Richtung des Uhrzeigers oder in der entgegengesetzten Richtung 
perimetriert. Bei Benutzung eines grbsseren Objektes liegt der Ring zentraler, 
bei Benutzung eines kleineren mehr peripher. Bei zentrifugaler Objektfiihrung 
kommt es vor, dass das Objekt, wenn es einmal verschwunden ist, uberhaupt 
nicht mehr gesehen wird, so dass die sonst erhaltene ringformige Ausseuzone 
gar nicht oder nur unvollkommen feststelibar ist. Alle angefiihrten Momente 
gelten sowohl fur Perimetrie mit Weiss, wie fur Farben. 

G. sieht in diesen Erscheinungen die Folgen einer Ermiidbarkeit des Seh- 
organes, die sich in einer abnormen Herabgesetztheit der Leistungsfahigkeit bei 
seiner Inanspruchnahme, einer aussergewohnlich starken Abnutzung der Seh- 
substanz aussert. Dadurch lassen sich alle erwahnten Eigentvimlichkeiten er- 
klaren. Dadurch erklart sich auch die Abhiingigkeit der Giite der Leistungen 
vom Allgeraeinzustand und eine Reihe von anderen Tatsachen, die G. noch 
erwahnt. Er bringt die Storung in Beziehung zu den von Wilbrandt und 
Saenger beschriebenen Erscheinungen des oszillierenden Gesichtsfeldes, ist 
aber der Ansicht, dass dieser Ausdruck nicht ganz den Tatsachen gerocht wird. 



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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 337 

Es handelt sich nicht am eine Oszillation im wirklichen Sinne, bei der Starke 
and Aasdehnung der Amblyopic des Skotoms in alien Netzhaotstellen die 
gleiche ist, sondern ihre Starke ist recht versohieden and abhangig Ton der 
Netzhautpartie, die nntersacht wird. Die Starke und Aasdehnung wird amso 
grosser, je mehr man sich der Aussengrenze des Gesichtsfeldes nahert. Nor 
dadurch kommt es ja zu dem ringformig aussehenden Gesiohtsfelddefekt. Der 
Vortragende ist deshalb geneigt, nicht einfach yon einer Oszillation za spreohen, 
sondern von einer abnormen Abnutzung des ganzen Sehorganes 
unter dem Einfluss des Reizes. Die scheinbare Oszillation beim fort- 
laafenden Perimetrieren auf einem Meridian kommt: 1. durch die Verschieden- 
heit der normalen Ansprechbarkeit der verschiedenen Zonen zastande, deshalb 
tritt iiberhaapt, naohdem eine periphere Zone unerregbar geworden ist, in einer 
zentraleren das Objekt wieder auf, da die gleiche Herabsetzang der Anspreoh- 
barkeit des ganzen Gesichtsfeldes den zentraleren Partien weniger schadet als 
den peripheren; 2. dadurch, dass mit fortschreitender Perimetrie die Ermddang 
auf der noch nicht gereizten Netzhaut dauernd zunimmt. Deshalb tritt schliess- 
lich auch in den zentraleren Partien bei Weiterreizung peripher gelegener and 
noch sehender eine so starke Herabsetzang der Leistangsfahigkeit auf, dass 
wieder eine blinde Stelle entsteht a. s. f. Die Aatoren sehen in der Storung 
den Ausdruck einer Schadigung des Sehorganes, wahrscheinlich durch eine 
Ernahrungsstorung. Sie wollen diese speziell mit dem zentralen Sehapparat in 
Beziehang bringen, aach deshalb, weil sie sie besonders bei Hinterhaupts- 
▼erletzten gefunden haben. Far das Vorliegen diner Ernahrungsstorung spricht 
der Umstand, dass es sioh meist am Falle handelt, bei denen auch sonst eine 
Stdrung des yasomotorischen Regulationsmechanismus vorliegt. 

Eshandelt siohumorganischbedingteStorangen, nicht am hysterisohe. 
Die Storungen haben eine grosse praktische Bedeutung, weil sie ihre Seh- 
fahigkeit bei der anhaltenden Inanspruchnahme des Aages and damit ihre 
Leistungsfahigkeit in starkem Masse beeintrachtigen. 

(Ausfuhrliche Mitteilung, in der auoh die Literatar berdcksichtigt werden 
wird, erfolgt demnachst.) (Eigenberioht.) 

20) Herr Gierlich-Wiesbaden: „ Lymphozytose and Neatropenie 
bei Kriegsnearotikern u . 

Zur besseren Beurteilung der Krankheitsansserangen der Nearotiker 
untersuchte Vortragender das weisse Blatbild, sowie mittels der Adrenalin- 
nod Pilokarpinprobe das Vorhandensein von Sympathikotonie and Vagotonie. 
Nach sorgfaltiger Ausscheidang aller infektiosen Erkrankangen, bei denen 
Lymphozytose darch tozische Einflusse vordbergehend nachgewiesen worde, 
fand sich bei 230 Neurotikern in 80 pCt. Lymphozytose and Neatropenie, das 
sogenannte Kocher’sche Blatbild. Die Lowi’sche Adrenalinprobe war 22 mal, 
die Pilokarpinprobe 25 mal positiy. 26 yon den 230 Fallen zahlten za den 
Basedowoiden. Status thymicolymphaticus war bei 10 Fallen deatlich aasge- 
pragt. Die anderen Diathesen, Dogeneratio adiposogenitalis, Eanuchoidismus, 
Asthenic Stiller’s asw. warden nur yereinzelt angetroffen. Das Kooher’sche 

Arehlt f. Ptychiatri*. Bd. 60 . Heft I. 22 


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338 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 



Blutbild steht somit ebensowenig in Abhangigkeit von Sympathikotonie, Vago¬ 
tonia, Basedowoid, wie vom Status thymicolymphaticus, mit dem es vielfaoh 
identifiziert wird, und anderen Diathesen. Das, wie Kocher meinte, dieses 
Blutbild fur den Morbus Basedowii charakteristisch sei, gilt heute als wider- 
legt. Vortragender kommt somit zu dem Schlusse, dass die endogene Lympho- 
zytose und Neutropenie eine selbststandige Krankheitsanlage darstellt. Das 
Blutbild entspricht dem eines Kindes von 10—12 Jahren. Es besteht ein In- 
fantilismus der blutbildenden Organe, der eine Minderwertigkeit des Gesamt- 
organismus zur Folge hat. Bauer spricht von degenerativem Blutbild auf der 
Grundlage eines Status degenerativus. Verursacht ist das Blutbild durch eine 
Dysfunktion der Blutdriisen, eine Dyshormonie. Es ist stets verbunden mit 
einer grossen Labilitat des Nervensystems, einer neuropathischen Veranlagung. 
Lymphozytose und Neutropenie sind somit ein wertvolles objektives Krankheits- 
zeichen zur Beurteilung der Neurotiker. (Eigenbericht.) 

21) Ilerr Stern-Strassburg i. E.: „Ueber die Storung der motori- 
schen Geschicklichkeit bei Imbezillen“. 

Wenn man die Ergebnisse der allgemein iiblichen Intelligenzpriifungen 
mit der praktischen Leistungsfahigkeit eines Mannes vergleicht, so finden sich 
hiiufig ganz auffallende Widerspriiche. Leute, die bei der Intelligenzprufung 
schlecht abschneiden, erweisen sich oftmals im Leben noch als durchaus 
brauchbar. Worin hat dieser Umstand seine Ursache? Doch wohl in erster 
Linie — es kommen noch andere Faktoren in Betracht — darin, dass die In¬ 
telligenzprufung ganz andere psychische Funktionen untersucht, als diejenigen, 
welcho fiir die Praxis in Betracht kommen. Mit Recht hebt Otto Lip mann 
in einer kiirzlich erschienenen Arbeit hervor, dass die gewohnliche Intelligenz¬ 
prufung den Gelehrten und nicht den Mann der Praxis zu priifen geeignet sei. 
Er trennt daher die „theoretische u von der „ praktischen u Intelligenz und 
fordert die Untersuchung der letzteren fiir die Beurteilung der praktischen 
Brauchbarkeit. Er gibt auch bereits einige Hinweise, wie dies geschehen kann, 
wobei er sich ziemlich eng an den kiirzlich von der Preussischen Akademie 
der Wissenschaften herausgegebenen Bericht iiber eine Arbeit von Kohler: 
„Intelligenzpriifungen an Antropoiden u halt. Ich kann leider auf diese inter- 
essanten Untersuchungen nur kurz hinweisen. 

Definieren wir die natiirliche Intelligenz ganz allgemein mit 'William 
Stern als die „allgemeine Fahigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst 
auf neue Forderungen einzustellen, als allgemeine geistige Anpassungsfahig- 
keit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens u , so will mir scheinen, 
dass sich dieser Intelligenzbegriff in verschiedene Faktoren zerlegen lasst, oder 
wenn man ihn, wie ich dies vorschlagen mochte, enger fasst, dass zur Be- 
stimmung der praktischen Leistungsfahigkeit noch einige andere Faktoren hin- 
zutreten miissen, und unter diesen scheint mir nun die Priifung der motorischen 
Geschicklichkeit eine besondere Stellung einzunehmen. Wir konnen die mo- 
torische Geschicklichkeit definieren als die Fahigkeit, Bcwegungen sicher, 
schnell und zweckentsprechend auszufiihren. 



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43. Wandervers. der Sfidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 339 


Bei^Imbezillen linden sich nan weitgehende Storungen der motorischen 
Gesohicklichkeit; die Tdlpelhaftigkeit vieler Schwachsinniger ist ja bekannt, 
und anch ihr bidder Gesichtsausdmck scheint znm grossten Toil seine Ursache 
in der man^elnden Beherrscbnng der Gesiohtsmuskulatur zu baben. Es fallt 
nan oftmals auf, dass ancb ganz einfacbe Bewegnngen eine mangelnde Ge- 
scbioklichkeit verraten. Um dies eingehend zu prfifen, babe ich auf Anregung 
and in Gemeinscbaft mit Herrn Dr. Steiner, nnter Mitbilfe von Herm 
Dr. Rot backer ein Schema zur Prdfung der Psychomotilitat aufgestellt; wir 
gehen dabei so vor, dass wir die Yersuohsperson zunachst eine Reihe ge- 
wohnter Bewegnngen eines Gliedes ausffihren lassen. Dann gehen wir zn un- 
gewohnten fiber and lassen sobliesslich Bewegnngen von zwei and drei 
Gliedern gleichzeitig aasffihren. Das Schema ist dabei an Bewegnngen ange- 
passt, welcbe in der Praxis des taglichen Lebens wirklicb vorkommen. Gerade 
dies ersobeint ffir die Benrteilung der praktischen Verwendbarkeit erforderlich. 
Es fallt nan auf, dass eine grosse Anzahl von Scbwacbsinnigen nicbt in derLage 
ist, drei, oft sogar scbon zwei Bewegnngen gleichzeitig aosznffibren, dass oft 
ungefordert Mitbewegungen gemacht werden; einige erweisen sicb als lernfahig 
and fibbar, bei anderen trifft dieses nicbt oder nur in sebr geringem Masse zn. 

Ausser diesen eben skizzierten Untersuohangen kommt die Feststellang 
der Bewegungsgesohwindigkeit and der Bewegangssicberbeit in Betracht. Zur 
Prfifang der ersteren liess icb einen Karbelapparat anfertigen, der die Dauer der 
Kurbelbewegung am Cbronoskop misst. Anch hier zeigte sich eine wesent- 
liche Yerlangerung der erforderlicben Zeit bei Scbwachsinnigen. Die Bewe- 
gungssicherheit der Hand warde dad arch gemessen, dass ich die Versuchs- 
person vor eine Bleobtafel setzte, ans der verschiedene Buobstabon and Figaren 
ansgeschnitten waren, and sie anwies, mit einer Metallnadel duroh die Lficken 
hindurobzufahren. Die Berfihrnngen der Nadel und des Metalles scblossen 
einen Stromkreis and wurden am Kymographion aufgezeichnet. Die Zabl der Be- 
rfibrnngen und erforderliohe Zeit ergeben ein Mass ffir die Bewegangssicherbeit 
der Hand. Anch hier ist die Leistung der Scbwacbsinnigen wesentliob schleohter. 

Neben diesen Methoden baben wir nnn nocb die Prfifung der komplexen 
Gesohicklicbkeit mit Hilfe von Geschicklicbkeitsspielen vorgenommen. Anch 
bier ergeben sich interessante Resultate. 

Yergleicht man die Ergebnisse der gescbilderten Yersuchsanordnung mit 
dem Ansfall der Intelligenzprfifang, so zeigen sicb deatliohe Widersprfiche 
and zwar in dem Sinne, dass die Kranken, die sicb im Leben als brauchbar 
erweisen, selbst bei schlecbtem Ausfall der Intelligenzprfifang, hier meist nocb 
recht gat absohneiden, so dass diese Untersuehungen, neben anderen, fiber die 
ich an anderer Stelle aasffibrlioh bericbten werde, ein besseres Bild von der 
praktischen Leistungsfahigkeit des Untersuchten ergeben. Die bisherigen 
Methoden der Intelligenzprfifang bedfirfen also, wenn diese ibre Aufgabe er- 
ffitlen soil, ans ein Mittel zur Bearteilung der Yerwendbarkeit eines Kranken 
an die Hand zu geben, eine Erganzung duroh andere Methoden. 

Unter diesen spielen, wie mir scheint, die hier vorgetragenen eine 
wicbtige Rolle. (Eigenbericbt.) 

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340 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 




22) Herr Wollenberg: „Zur Vorgeschichte der Kriegsneuro- 
tiker u . 

Der Vortragende unterscheidet bei der Kriegshysterie einerseits die vor- 
iibergehenden Hysterismen, wie Zittern, einzelne Anfalle, Sprach- 
storungen usw., bei denen von vornherein eine Heilungstendenz vorhanden 
ist T andererseits die hysterischen Dauerformen, also die schweren Sto- 
rungen des Ganges, hartnackige Neigung zu Krampfen, Zittern und Tics usw., 
welche diese Heilungstendenz nicht haben und sich gewissermassen „ein- 
fressen u , wenn sie nicht aktiv behandelt werden. 

Die Hystorismen konnen rein exogen sein und bei Gesunden allein durch 
Kriegserlebnisse hervorgerufen werden. Natiirlich kommen auch sie bei En- 
dogendisponierten besonders leicht vor. Dagegen sind die Dauerformen in 
ibrer grossen Mehrzahl nachweisbar endogen bedingt. Es bleiben aber auch 
hier immer einige Falle iibrig — und Jeder von uns wird solche im Gedachtnis 
haben —, in denen die tiblichen Naohforschungen keinen Boweis fiir Endogenie 
ergeben. Es fragt sich nun, ob in der Tat solche Falle schwerer 
Hysterie bei Nichtveranlagten vorkommen, mit anderen Worten, 
ob die seinerzeit von Hoche ausgesprochene Meinung, jeder- 
mann sei hysteriefahig, ohne Einschriinkung gilt. 

Wir beantworten die Frage der Endogenie gewohnlich auf Grund der 
Anamnese, die wir von dem Kranken selbst und den uns gerade zuganglichen 
Personen seiner (Jmgebung erhalten, und der Erhebungen, die wir auf schrift- 
lichem Wege bei den Heimatsbehorden anstellen. Dariiber hinaus ist nach 
meiner Kenntnis bisher nur Laudenheimer gegangen, welcher vor 3 Jahren 
hier fiber „die Anamnese der sog. Kriegspsychoneurosen“ gesprochen hat. Er 
hat aber, dem Zweck seiner Untersuchung entsprechend, die Hysterischen nur 
nebenher behandelt und auch damals nur eine kleine Zahl von Fallen benutzen 
konnen. 

Ich habe deshalb einen der jiingeren Aerzte meines Lazaretts, den Feld- 
unterarzt Kossler, veranlasst, 100 Krankenblatter von Kriegshysterikem auf 
das Vorhandensein von endogener Veranlagung durchzusehen und fiber die 
dort als ganz gesund und nicht veranlagt Bezeichneten am Wohnort selbst 
persdnlich Ermittelungen anzustellen. Von diesen 100 Fallen, von denen 
iibrigens 50 pCt. nicht aktiv gedient hatten, sollte nach den Krankenblattern 
bei 11 eine endogene Veranlagung durchaus fehlen. Die Ermittelungen zu 
Hause ergaben nun ohne weiteres fiir 6 Falle das Gegenteil; es waren Ziige 
▼on Minderbegabung, abnorme Weichlichkeit, Erregbarkeit, Widerspenstigkeit, 
auch friihere krankhafte Reaktionen festzustellen. In 2 Fallen hatte sich Zit¬ 
tern an fieberhafte Erkrankungen angeschlossen, sie hatten also etwas Beson- 
deres an sich, 1 Fall war ein alter Rentenempfanger, und von den 2 iibrig 
bleibenden machte der eine auf den Besucher doch einen recht psychopathi- 
schen Eindruck, wahrend bei dem anderen von Anfang an psychotische Merk- 
male sehr stark hervorgetreten waren. Ausserdem ergaben sich bei Ver- 
gleichung der schriftliohen und mfindlichen Auskiinfte erhebliohe Widerspriiohe 
hinsichtlich des Gesundheitszustandes der anderen Familienmitglieder. Ueber 




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43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 341 


die Einzelheiten der Untersuchungen wird Herr Kossler in einer Arbeit dem- 
nachst berichten. Jedenfalls soheint mir das Mitgeteilte die Folgerung zu 
rechtfertigen, dass man mit der Annahme hysterischer Dauerformen ohne En- 
dogenie sehr vorsichtig sein muss. Ioh glaube an solche nicht recht und bin 
der Meinung, dass sie immer seltener sein werden, je eifriger man nachforscht. 
Hierfur stebt aber der besohrittene Weg der persdnlicben Erkundigung allein 
zur Verfugung nnd dieser ist mfihsam, auoh wenn die Naobforscbungen wie 
bei *uns auf die nahere Umgebung des Standortes besohrankt werden. Die 
Sacbe ist von praktisober Wichtigkeit, weil in einer Arbeit von Nonne neuer- 
dings mit Recht das Vorbandensein oder Fehlen der Endogenie als Anhalts- 
punkt fur die Benrteilung dor weiteren militarisohen Leistungsfahigkeit der 
Leute bezeicbnet worden ist. (Eigenbericht.) 

23) Herr Haenel: „Zur pbysiologisohen Meobanik der 
Wfinsohelrute“. 

In den mancherlei Arbeiten, die sicb neuerdings mit der Wiinscbelrute 
beschaftigen, ist bisber der Bewegnngsvorgang selbst, der sioh an ihr abspielt, 
noch kaum einer naheren Betrachtung unterworfen worden, Ibn zu studieren 
ist aber scbon deshalb notig, weil wir dadurch allein Aufschluss erhalten 
konnen fiber die Quelle der Kraft beim Rutenausschlag; das Missverhaltnis 
zwischen der Geringffigigkeit der strablenden oder sonstwie gearteten Erdkraft 
und der Heftigkeit der Ausschlagsbewegung ist ja einer der auffalligsten Mo- 
mente in der ganzen Wfinscbelrutenfrage. 

Die Wfinschelrute bat von alters her stets eine gleiche Form: ein Gabel- 
zweig aus frischgeschnittenem elastischen Holze mit zwei gleichlangen und 
mdglichst gleichstarken Gabelenden, und einer unpaaren kfirzeren Gabelspitze. 
Die Art des Holzes ist gleichgfiltig. Haufig sind auch Ruten, in der gleicben 
Form gebogen oder gedreht, aus Eisen-, Kupfer-, Messing-, Silberdrabt in 
Gebrauoh. Das Material ist mebr oder weniger Gescbmackssacbe des einzelnen 
Rutengangers. 

Wie wird diese Rute gebandbabt? Folgende Regeln beobachtet der 
Rutenganger: 

1. Er legt die Oberarme fest an den Oberkorper an. 

2. Er iasst die Rute mit Untergriff, d. h. mit supinierten Handen. 

3. Er bait sie mit der Spitze horizontal nach vorne. 

4. Das Wichtigste: Er spannt sie, d. h. spreizt die Gabelenden ausein- 
ander, wozu je naoh der Starke und Elastizitat des Materials eine grossere 
oder geringere Kraft aufgewandt werden muss. Und zwar sind dabei folgende 
Muskeln tatig: 

a) Die Muskeln des Scbultergurtels adduzieren die Oberarme. 

b) Die Beuger am Oberarm flektieren die Unterarme reohtwinkelig. 

c) Die Rotatoren am Scbulterblatt drehen die Ober- und damit zugleich 
die Unterarme nach auswarts, dem Widerstand der Rute entgegen. 

d) Die jFingerbeuger suchen die an der Daumenwurzel sich stfitzenden 
Gabelenden in die Handflache bineinzudrfioken. 


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342 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 



e) Die Supinatoren halten die Handflache nach oben und damit die 
Gabelspitze nach vorne. 

Diese letztere Aufgabe ist aber grundsatzlich anderer Art als: die Rate 
zu spannen. Der Rutenganger weiss, dass die Rute in seiner Hand ausscblagen 
will und soli, und dass er sie darin nioht hindern darf. Sie muss trotz der 
Spannung in seinen Handen „spielen u . Mag er also auf die Muskelgruppen 
a—d selbst erhebliohere Kraft aufwenden, die Supinatoren wird er nur so 
wenig innervieren als notig ist, die horizontal Ausgangsstellung beizubehalten. 
Er spart also unter einer ganzen Menge stark arbeitender Muskeln eine einzelne 
Gruppe aus und halt sie in Minimalspannung; die Beobachtung lehrt, dass 
dieser scheinbar so komplizierte Normalgriff des Rutengangers sich ohne gross® 
Schwierigkeiten erlernt und sich bald von selbst einstellt. 

Wahrend die Muskulatur des Rutengangers in dieser besonders gearteten 
Koordination sich befindet, geht an der Rute folgendes vor: Die auseinander- 
gedrangten Gabelenden streben kraft ihrer Elastizitat darnach, sich einander 
wieder zu nahern. Sie suchen das zu erreichen an der Stelle des geringsten 
Widerstandes und finden diesen dort, wo die Innervation am schwachsten ist: 
bei den Supinatoren. Die Stellen, wo die Gabelenden ihfen Stiitzpunkt haben, 
das erste Spatium interosseum, liegen bei supinierten Handen nach aussen, 
also am weitesten von einander entfernt. Zwingt die Rute die Hande in Pro¬ 
nation, so erreicht sie ihr Ziel, die Entspannung, ohne dass die Arme ein¬ 
ander genahert zu werden brauchen, gewissermassen durch Ueberrumpelung: 
Durch die Handdrehung wird bei unverriicktem Abstande auf beiden Seiten 
urn eine halbe Handbreite der Abstand der Gabelenden vermindert; gentigend, 
urn sie zur Ruhelage kommen zu lassen; diese ist bei der Pronation dann 
natiirlich mit abwarts gerichteter Gabelspitze vorhanden: Die Rute hat aufge- 
hort zu „arbeiten u , hat ausgeschlagen, und zwar ohne dass der Rutenganger 
seine innervierten, gespannten Arm- und Handmuskeln losgelassen hat, also 
scheinbar ohne, ja gegen seinen Willen. Das vorhergehende labile Gleich- 
gewicht wurde noch dadurch begiinstigt, dass das Radio-Humeralgelenk als 
ein Rollgelenk mit der am langen Hebelarm angehangten Last der Hand be¬ 
sonders leicht spielt. Der angehende Quellensucher spurt dies im „Arbeiten u 
der Rute in seiner Hand als eine Art Eigenkraft, die dieser inne wohnt: er 
halt sie mit festem Griff gespannt, seine Aufmerksamkeit ist auf die Spreizung 
der Arme gerichtet, das Tasten der Rute naoh dem Locus minoris resistentiae 
hat fast etwas von einem lebendigen Wesen an sich. Die Rute zieht auf- oder 
abwarts, natiirlich, weil er sie auseinander zieht. Es ist in der beschriebenen 
Mittellage fast schwerer, sie horizontal zu halten, als sie ausschlagen zu 
lassen. 

Es ist damit auch verstandlich, dass der Ausschlag um so heftiger er- 
folgt, je fester der Rutenganger die Rute halt, d.h. spannt: ist erst dieSupina- 
tionsstellung iiberwunden, so erfolgt der Uebergang in die Pronation mit einem 
schnappenden Rucke, der um so kraftiger ist, je mehr die Elastizitat der Rute 
beansprucht worden war, und in der Tat etwas Ueberraschendes, Gewaltsames 
an sich hat. 



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43. Wanderrers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 343 

Die Frage nach der Herkunft der bewegen'den Kraft beim Aus- 
scblag ist also dahin zu beantworten: sie staramt aus 2 Quellen, 1. der 
spannenden Kraft der Armmaskeln, 2. dem Widerstand, den die 
elastische Rute der Spreizung entgegensetzt. Die spezielle Form des 
Ausschlages ist bedingt durch den Mechanismus des Handgelenks. Das labile 
Gleichgewicht in der Ausgangsstellung ist ebenfalls die Folge zweier Mo¬ 
menta: eines psychisch-physiologischen, das einzig die Supinatoren nahezu 
entspannt, lasst unter den iibrigen stark innervierten Muskeln des Armes und 
eines anatomisch-physiologischen, das auf der leichten Rollbewegung 
des Speichenkopfchens beruht. Das stabile Gleichgewicht ist die Folge 
der plotzlichen Pronation, die die Gabelenden bis zur Entspannung 
wieder einander nahert. 

Es ist somit erklarlich, dass das Material der Rute als solches, ob Holz, 
Draht, Stahl usw., gar keine bestimmende Rolle spielt, sobald ihm nur eine 
gewisse Elastizitat inne wohnt. Der Vorgang des Ausschlages ist rein physio- 
logisch-mechanisch; auf magnetische, hygroskopische oder sonstige Eigen- 
schaften kommt es dabei gar nicht an. 

Was wir bisher betrachtet haben, ist die von den Rutengangern am 
haufigsten eingenommene Grundstellnng und der Normalausschlag nach unten. 
Nun gibt es aber oine Reihe anderer Ausschlagsarten, die freilich selteu vor- 
zukommen scheinen. Beim Ausschiag nach oben findet die Rute trotz 
gleichbleibenden Armabstandes — was fur den subjektiven Eindruck immer 
sehr wichtig ist — die Ruhelage dadurch, dass die Hande statt zu pronieren 
in Ucbersupination geraten; auch dabei nahern sich die Gabelendon und 
haben ausserdem die Moglichkeit, von ihrem Stutzpunkte an den Daumon- 
wurzeln nach dem Zeigefinger zu abzugleiten und somit an Spannung zu ver- 
lieren. Die Gabelspitze schlagt gegen die Brust und hat das Bestreben, sich 
rnckwarts und abwarts bis zur Ruhelage nach unten weiter zu drehen: der 
Anfang des „Rotierens u der Rute. Das mechanische Prinzip ist das gleiche 
wie beim Normalausschlag abwarts. Bei Obergriff, der bei Holzruton etwas 
Seltenes ist, fehlt das labile Gleichgewicht, wenn die Spitze nach vorn zeigt, 
tritt aber ein, wenn die Grundstellung mit der Spitze nach hinten genommen 
wird; dann stiitzen sich die Gabelenden an den Kleinfingerballen und worden 
entspannt, wenn die Hand supiniert wird; die Folge ist der Ausschiag nach 
oben und vorn. Wir sehen, dass bei diesen letzteren Bewegungsarten der Aus- 
schlagswinkel von 90° schon gem iiberscbritten wird: schnellt bei heftigem 
Ausschiag die Rute fiber die Senkrechte hinaus, so kann der Rutenganger den 
naheliegenden Irrtum begehen, dass er, statt nunmehr nachzulassen, noch 
fester „zupackt“, d. h. starker auseinander zieht und die fur einen Moment 
ausgeschaltete Elastizitat der Rute damit von neuem weckt. Er hat dann den 
Eindruck, dass sie sich trotz alien Widerstandes, d. h. in Wirklichkeit wegen 
dieses seines Widerstandes, unaufhaltsam weiterdreht, und der Erfolg ist das 
fur den Zuschauer so auffallende Rotieren der Rute. Bekanntlich kann der 
Ausschiag gelegentlich so heftig sein, dass „es u die Rute dabei zerbricht, d.h. 
der Rutenganger selbst sie, sobald er die missverstandene Bremskraft, die ja 


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344 43. Wandervers. dor Sudwestdeutschen Neurologen a. Irrenarzte: 





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in der Tat als Triebkraft wirkt, ubertreibt: sie reisst dann entweder an der 
Spitz© anseinander oder knickt an den Stellen, die die starkste Durehbiegung 
erfabren, d. h. dioht an den haltenden Handen ab. 

lnsoweit ist an der Bewegung der Wdnschelrute nichts Mystisohes oder 
Okkultes; dieses Gebiet beginnt erst, wenn man die Frage zu beantworten 
sncht, weshalb an bestimmten Stellen im Gelande der Ansschlag erfolgt. Wir 
wissen jetzt, dass der Ruteng&nger diesen nicht eigentlich erzengt, sondern 
ntur die mechanischen Bedingnngen dafur in dem Muskel-Ruten-System schafft, 
and ibn dann zul&sst. Es sind keine j^Greif*- oder Benge- oder Tast- 
bewegangen (wie yon anderer Seite bebauptet wurde) dabei im Spiele, be- 
zeicbnend ist die eigenartige Miscbnng zwischen Innervation and Erschiaffung 
in eng zusammengehorigen Muskelgebieten. Das Naobgeben der Sapinatoren 
kann dann hervorgernfen werden dnrch allerhand, was die Anfmerksamkeit 
des Rntengangers fesselt oder ablenkt, uberbaupt andert; sei dies nan die 
Empfindang far irgend welcbe „Erdstr<jme M oder Erdstrahlen, oder die Ent- 
deckung bestimmter Merkmale der Bodenoberflache, unklare korperlicbe Sen- 
sationen oder reine Autosuggestionen oder eine Miscbung von mebreren dieser 
Moment© — der Erfolg auf den Muskel-Ruten-Apparat wird der gleicbe sein. 
Lasst sicb doch, wie wir geseben baben, der Ausscblag aucb wirklicb obne 
besondere Kunst bervorrafen. Wegen dieser Mannigfaltigkeit der moglicben 
Ursaoben, die im Einzelfalle oft scbwer oder gar nicbt auseinanderzubalten 
sein werden, wird auch der Streit urn das Wesen der Wtinschelrute, urn Echt- 
beit oder Trug des Phanomens, nicbt so leicbt zur Entscbeicfong kommen. 
Jedenfalls ist es aber nicht berechtigt, wenn so manche Untersucher, die da 
and dort Selbsttauschung, Betrug oder Mystifikation nacbgewiesen baben, 
nunmehr den Stab brecben fiber jeden, der sicb mit den Wunschelrutenerschei- 
nungen befasst, und die gauze Angelegenheit in das Gebiet des Aberglaubens 
verweisen. (Eigenberiobt.) 

24) Herr M. Rosenfeld-Strassburg i. E. demonstriert Kopfkurven 
oder Kepbalogramme, die in der Weise hergestellt warden, dass bei der 
Prdfung auf das Romberg’sche Phanomen die Bewegungen des Kopfes bzw. 
des Korpers durcb eine einfacbe Vorriohtung aufgescbrieben warden. Die zu 
antersuchende Person erhalt eine belmartige Kappe auf den Kopf gesetzt, 
welche aus scbmalen gebogenen Blecbstreifen zusammengesetzt ist, welcbe in 
Soheitelbohe zusammengeben und unten frei enden, so dass die Kappe durcb 
ein die freien Enden verbindendes Band sicb leicbt jeder Schadelform an- 
passen kann. Oben tragt die Kappe einen Scbrcibbebel, der etwas nacb hinten 
gebogen ist, stark federt und sich auf diese Weise gut an die fiber der Person 
befindliche Scbreibtafel anlegt. Die Schreibtafel kann an einer an der Wand 
befestigten Eisenstange auf- und abbewegt werden. Yortr. demonstriert nun 
normale Kepbalogramme, solche von Personen mit soblecbter Stabilitat, von 
nervdserscbopften mit und obne Kopftrauma und von simulationsverdacbtigen 
Personen. Auch die versohiedenen Tremorformen geben recbt charakteristischo 
Kepbalogramme. An den Kurven sind zu beachten: die L&nge der in einer 


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43. Wandervers. der Sudwestdeutsohen Neurologen u. Irrenarzte. 345 

Zeiteinheit (meist am 20 Sekunden) zuruckgelogten Strecke, die sich leicht 
darch einen Kurvenmesser bestimmen lasst, ferner das Areal, welches die 
Kurve im ganzen einnimmt, die Form der Kurven, die Zitterbewegungen, 
welche die Kurve unterbrechen, und schliesslich die zeitlichen Verhaltnisse, 
unter denen die Kurve zustande kommt. , Namentlich bei den sehr charakte- 
ristischen Kephalogrammen der Tabiker, von denen mehrere demonstriert 
werden, wird eine genauere Zeitmessung angezeigt sein, da wir bei diesen 
Kranken ja gerade schleudernde Bewegungen von wechselndem Tempo zu 
sehen pflegen. Diese Zeitmessung hat der Vortr. dadurch zu ermoglichen ver- 
sucht, dass er den Schreibhebel des Helms in Form eines holzernen schmalen 
Brettes naoh unten gerichtet hat, so dass er der Sohreibtafel aufliegt; die 
Reibung des Sohreibhebels auf der Unterlage wird durch einen glatten Metall- 
knopf mfiglichst verringert. Neben dem Schreibstift, welcher in blaoer Farbe 
zeicbnet, ist ein zweiter, sehr weicher Graphitstift angebracht, der durch 
eine einfache Vorrichtung jede Sekunde in die blau gezeiohnete Kurve oder 
direkt daneben einen kleinen schwarzen Strioh einzeichnet. Vortr. demonstriert 
ein solches Kepbalogramm mit Zeitmessung bei einem Soldaten mit links- 
seitiger Kleinhirnverletzung und Hemiataxie. Schliesslich hat Vortr. noch ver- 
sucht, die angegebene Methode auch zur Aufzeichnung von solchen Kopf- 
bewegungen zu beniitzen, die bei der Untersuchung auf dem Drehstuhl als 
Reaktionsbewegungen der Vestibularisreizung auftreten. Auch hier werden 
sich diagnostisch verwertbare Kurven herstellen lassen. Die Resultate sind 
aber noch nicht zahlreich genug, urn fiber sie etwas aussagen zu konnen. 

(Ausffihrliche Veroffentlichung demnachst im Arch. f. Psych, u. Neurol.) 

(Eigenbericht.) 

25) Herr Pfersdorff-Strassburg-Tfibingen: „Ueber paranoide Er- 
krankungen im Felde u . 

Die paranoiden Erkrankungen betragen etwa 4 pCt. der beobachteten 
Psychosen. Nicht mit eingereohnet sind Paraphrenien und paranoide Zustands- 
bilder der Dementia praecox und des manisch-depressiven Irreseins. 

Die Falle lassen sich in zwei Gruppen einteilen: 1. in solche, bei denen 
eine psychopathische Veranlaguug bestand, 2. in Falle, bei denen vor der Er- 
krankung ein Abweichen von der Norm nicht erkennbar war. 

Was die erste Gruppe, die der Psychopathen anlangt, so liegen ihre 
Stfirungen vorwiegend auf dem Gebiet des Affektlebens. Ein Toil wird als 
reizbar und misstrauisch geschildert, ein anderer Teil als angstlich und zu 
Stimmungsschwankungen geneigt. Diese Psychopathen geraten wegen ihrer 
Eigenart leicht in Konflikt mit der Umgebung und es ist nicht ausgesohlossen, 
dass ein Teil der von ihnen geschilderten „verfolgenden w Handlungen tat- 
sachlich ausgefuhrt wurde. 

Die Psychopathen mit mehr angstlicher Stimmungslage pflegen Verfol- 
gnngsideen diffuser Art zu anssern. Die persekutorische Eigenbeziehung ist 
das wesentliche Symptom. Sinnestausohungen sind ausserst selten. Der Be-, 
ziebungswahn dauert in der Regel auch in der Klinik an und klingt erst all- 


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346 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen n. Irrenarzte. 




mahlich ab; er geht unmerklicb in die Dauerform des den Kranken eigentura- 
lichen Aflekts der Aengstlichkeit fiber. Dio Psychopathen, die mehr gereizt 
und misstranisch sind, produzieren ebenfalls lebhaften Beziehungswahn. Als 
Verfolger wird auch hier stets eino Mehrzahl, nie ein Einzelner, genannt; die 
Eigenbeziehung arbeitet auch in der Klinik weiter. Nur werden zu gleicher 
Zeit auch expansive Wahnideen produziert. Die Kranken berichten fiber innere 
Erleuchtungen und Vorahnungen, innere Worte der Entscheidung; sie ent- 
decken auch expansive Beziehungen. „Der Zeitgeist spricht aus mir“, ausserte 
ein Kranker. Sie haben Erfindungen zur Vernichtung der Foinde, beschaftigen 
sich mit Verbesserung der Flugapparate usw. Auch hier geht das akute 
Stadium der Erregung mit Beziehungswahn in den Habitualzustand des Psycho¬ 
pathen iiber. 

Typisch ist das starke Hervortreten des Beziehungswahnes, ohne dass ein 
richtiges Wahnsystem komplizierterer Art zur Entwicklung gelangt. Diese 
Kranken zeigen das „Delire d’interpr6tation“, das far die Kraepelin’sohe Para¬ 
noia charakteristisch ist, in ziemlich reiner Auspfagung. Interessant ist, dass 
auch die expansiven Vorstellungen sich nur auf Funktionen, auf Leistungen 
beziehen, nicht auf die Persbnlichkeit des ({ranken; Grossenideen in Bezug auf 
den sozialen Rang des Kranken treten auf. Obwohl, wie schon hervorgehoben, 
das Krankheitsbild frei von Sinnestauschungen ist, so erinnert doch das gleich- 
zoitige Auftreten von persekutorischer Eigenbeziehung und expansiver Eigen- 
leistung an die Verhiiltnisse, die wir bei manchen Formen von Paraphrenien 
treffen, namlich bei den Fallen, die mit motorischen Halluzinationen (Muskel- 
sinnhalluzinationen,Gedankenbeeinflussung)einhergehen. Diese Kranken pflegen 
zu gleicher Zeit auch iiber Eigenleistungen zu berichten, iiber Beeinflussungen 
der Bewegungen und Gedankon anderer Personen, die sie selbst zu leisten 
imstande sind. 

Was die Entstehungsvveise anlangt, so ist interessant, dass die Mehrzahl 
der Psychopathen schon nach relativ kurzer Zeit, ohne dass besondereStrapazen 
vorausgegangen sind, erkrankt. Konflikte mit der Umgebung linden sich in 
jeder Anamnese; der Psychopath wirkt als Fremdkorper unter dem Gros der 
Soldaten und kann sich nicht, wie im Frieden, isolieren. 

In der zweiten Gruppe der paranoiden Falle kann von ausgesprochener 
krankhafter Veranlagung nicht die Rede sein. Andeutungsweise finden sich 
Ziige, die von der Norm abweichen, so bisweilen geringe Verstandbegabung 
oder scheues Benehmen. Bei alien diesen Fallen finden sich in der Anamnese 
schwere mehrjahrige Kriegsstrapazen, Verwundungen und korperliche Krank- 
heiten. Vortragender ist der Ansicht, dass wenn die Erschopfung allein auch 
nicht krankmachend wirken soil (vergl. Bonhoeffer’s serbische Kriegs- 
gefangenen), sie doch im Verein mit anderen Faktoren diese Wirkung haben 
kann. Die anderen Faktoren sind: die Zermfirbung, die durch langdauerndes 
Trommelfeuer undLeben in der ersten Linie psychisch und nervos sich geltend 
macht; auch die Sorge urn die eigene Familie in der Heimat kommt als Faktor 
hier in Betracht. 





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43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen a. Irrenarzte. 347 

Was non das paranoids Zostandsbild anlangt, das bei diesen Fallen sich 
entwickelt, so steht auch bei ihm die persekatorische Eigenbeziehung im 
Vordergrande. Nur dauert sie eine relativ kurze Zeit nnd ist bei der Aufnahme 
in die Klinik meist abgeklangen. Auoh diese Kranken glanben sich verspottet 
nnd verfolgt, sollen bestraft, erscbossen werden. Im Gegensatz zu der Gruppe 
der Psychopathen treten in dieser Gruppe Sinnestauschungen auf, illusionare 
Verkennung und akustische Halluzinationen, die jedoch stets affektiv gef&rbt 
sind, der Situation inhaltlich entsprechen und vom Kranken nur inhaltlich ver- 
wertet werden. Die Schilderung der Erlebnisse erinnert lebhaft an diejenige 
paranoider Alkoholiker. Was den Inhalt der Wahnvorstellungen anlangt, so 
handelt es sich zumeist Urn einfaohe Verfolgungswahnvorstellungen. Es linden 
sich jedoch auch andere Formen. So religios gefarbte Vorstellungen und ferner 
Eifersuchtswahn. Samtliche Zustandsbilder anderten sich insofern, als weitere 
Eigenbeziehung nach dem Initialstadium nicht stattfand; die Wahnideen ver- 
schwanden restlos. Vortragender bespricht sodann die Differenzialdiagnose der 
paranoiden Zustande und der paranoid gefarbten Depressionen. Er vergleicht 
ferner die paranoiden Formen mit andern Geistesstorungen, die ebenfalls im 
Kriege sich entwiokeln, namlich mit den Zustanden depressiver Verstimmung; 
auch diese pflegen sich nur nach langer Zeit zu entwiokeln, bei pradisponierten 
naturlich rascher als bei andern. Die Aehnlichkeit der Entwicklung und des 
Verlaufs dieser Depressionen und der paranoiden Falls ist eine sebr grosse. 
Erst nach jahrelangem Verwetten in der Front tritt das psychische Versagen 
ein. Das psychotische Zustandsbild aussert sioh entweder als depressive Ver¬ 
stimmung, als angstliche Erregung mit Sinnestauschungen (kurz, der Affekt 
beherrscht die Symptomatologie) oder, wie in den heute besprochenen Fallen, 
als paranoides Zustandsbild. Die Depressionen pflegen meist langer anzu- 
halten, wie die paranoiden Formen, jedoch auch bei letzteren konnen nach Ab- 
klingen der Wahnideen Zustande von Inaktivitat langere Zeit anhalten. 

Trotz dieser Aehnliohkeiten in Entwicklung und Verlauf sind die De- 
dressionen und die paranoiden Zustande doch symptomatisch scharf von ein- 
ander zu trennen. Man kann jedoch ihrer Entstehung nach beide als Schick- 
salspsychosen(Sympathopathien) im Kraepelin’schen Sinne bezeichnen. Wie 
die gleichfalls zu den Schicksalspsychosen gerechneten Haftpsychosen, horen 
auch diese im Krieg entstandenen Geistesstorungen bei Aenderung der Situation 
des Kranken, bei Wegfall der sohadigenden Momente, auf. Vortragender weist 
zum Schluss auf einen interessanten Parallelismus hin, der zwischen diesen 
paranoiden Fallen und den Untergruppen der Paranoiaformen besteht. So wie 
bei letzteren, kann man auoh hier, wie geschildert, Gruppen unterscheiden, die 
mehr einfache Verfolgungsideen, die erotisch gefarbte Wahnideen (Eifersuchts¬ 
wahn) und die religiose Wahnvorstellung in erster Linie darbieten. Dies ist 
deshalb auoh von Interesse, als die Mbglichkeit somit gegeben erscheint, dass 
duroh Schicksalswirkung eine Gruppierung stattfindet die man sonst nur auf 
Grand angeborener Charaktereigentumlichkeit kennen gelernt hatte und die 
eben in den Gestaltungsweisen der echten Paranoia ihren Ausdruck findet. 

(Eigenbericht.) 


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34 8 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 

26) Ilerr Jahnel-Frankfurt a. M.: „Die Frage der Lues nervosa 
im Lichte der modernen Sy philisforsch ung a . 

Wenn von einer ^Lues nervosa a gesprochen wird, darf darunter nur jene 
Lues verstanden werden, die haufiger als die „gewohnliche u Lues zu Paralyse 
und Tabes fiihrt. Die im wesentlichen tertiiiren Prozessen zugehorende Lues 
cerebri kann bei dieser Betrachtungsweise nicht beriicksichtigt werden. 

Die Argumente der Anhanger dieser Lehre, die sicb auf Einzelbeobach- 
tungen von gehauften Erkrankungen an Paralyse und Tabes bei aus einer 
Syphilisquelle Infizierten berufen, sind nicht stichhaltig. 

Zur Losung dieser Frage auf der^rtige Weise ware der von 0. Fischer an- 
gebahnte Weg einer exakteren Statistik der konjugalen Paralyse geeignet. wenn 
ein grosseres Material in diesemSinne verarbeitet wiirde und wenn wir vor allem 
eine vergleichbare Statistik der Paralyse- und Tabesmorbiditat der Luetiker 
hatten. Die verdienstvollen, bisher vorliegenden Statistiken von Pick und 
Bandler, Mattauschek und Pilcz bergen zu grosse Fehlerquellen in sich. 

Noguchi hat angegeben, dass drei verschiedene Stamme der Spirocbaeta 
pallida existieren, einer von mittlerer Dicke, ein dicker und ein diinner Typus. 
Er hat sich jedoch nicht dariiber ausgesprochen, zu welchem Stamme die Para- 
lysespirochaten gehoren. Die Angaben Noguchi’s und auch die Levaditi’s, 
der im Tierexperimente Unterschiede zwischen der gewohnlichen Luesspiro- 
chate und der vom Paralytiker stammenden gefunden haben will, bediirfen 
noch der Nachpriifung. Waren Paralyse und Tabes von einer besonderen 
Art des Syphiliserregers erzeugt, dann miissten Paralytiker und Tabiker zwar 
gegen eine Reininfektion mit Lues nervosa immun sein, nicht aber gegen 
eine Neuinfektion mit einem anderen Luesstamm, was nicht zutrifft. 

Der Vortragende konnte weder morphologische, noch larberische Unter¬ 
schiede zwischen den Spirochaten der gewohnlichen Lues und denen der Para¬ 
lyse linden. Die Existenz von Hause aus neurotroper Spirochatenstamme ist 
daher in keiner Weise erwiesen. 

Wohl aber ist es moglich, dass die Spirochaten wahrend ihres langen 
Aufenthaltes im Organismus eine Umwandlung erfahren, dass also die Para- 
lysespirochatcn imEhrlich’schenSinne hoheRezidivstamme darstellen. Jedoch 
bedarf auch diese Frage noch eines eingehendeu Studiums. 

Die Tatsache, dass nur ein geringer Bruchteil der Syphilitiker spater 
paralytisch oder tabisch wird, kann auch ohne dieAnnahme einer Lues nervosa 
erklart werden, wenn wir bedenken, dass die Lues ofters vollig ausheilt, dass 
nicht jeder Paralysekandidat den Ausbruch der Paralyse erlebt, dass die Loka- 
lisation der Spirochaten in den einzelnen Organen in jedem Fall eine ver¬ 
schiedene sein kann (wie bei der Tuberkulose und der tertiaren Lues). Auch 
der Verlauf der frischen Lues ist ein so mannigfaltiger, dass wir in ihren 
spateren Stadien nicht mit einer in alien Fallen gleichformigen Entwicklung 
der Krankheit rechnen diirfen. 

Wir miissen uns einstweilen mit der Erkenntnis zufrieden geben, dass die 
Paralyse eine parasitare Erkrankung des nervosen Gewebes ist, wie solche 
auch bei Tieren vorkommen. 



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43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 349 

AUe iiber diese Feststellung hinausgehenden Betrachtungen uber das 
Wesen der Paralyse miissen zur Zeit als fruohtlose Spekulationen gelteo. 

(Eigenberioht.) 

27) Herr Weichbrodt-Frankfurt a. M.: „Die Hirnpunktion nach 
Beriel M . 

Vortragender gibt die Technik der Bdriel’schen Hirnpunktion an, fiber 
die B6riel im Lyon ohirugioal. 1909, im Lyon medical 1913, im Neurol. Zen- 
tralbl. 1914 berichtet hat. Unabhangig davon hat Sioli — Bonn 1913 — den 
Weg durch die Augenhohle zum Temporallappen auf Grund eines Sektions- 
befundes einer Epileptikerin fur gangbar erklart (Allgem. Zeitschr. f. Psych. 
69. Bd.). An 30 Paralytikern im Endzustande wurde diese Hirnpunktion nach- 
gepruft, und es kann naoh diesen Versuchen gesagt werden, dass die Punktion 
in der Tat sehr einfach ist, da man nur eine diinne Punktionsnadel dazu ge- 
braucht, sonst keine Apparate. Auch darin hat Bdriel Reoht, dass die Punk¬ 
tion ungefahrlich ist, wenn man einige Uebung besitzt; . aber bis man sich 
diese Uebung erwirbt, ist die Punktion nicht ganz gefahrlos. Nicht immer zu 
vermeiden ist ferner, dass man in der Orbita venose Blutungen bekommt, es 
entsteht dann eine, wenn auch schnell vorubergehend^ Exophthalmic, einige 
Tage sind auch die Augenlider blau verfarbt, es sieht dann aus, als wenn der 
Kranke aofs Auge gesohlagen worden ware. Wegen dieser Naohteile wird sich 
die Bdriel’sche Hirnpunktion nioht einburgern. (Eigenberioht.) 

28) Herr Richard Offenbacher-Furthi.Bayern. „Zur Psyohologie 
des Feldzugs-Soldaten u . , 

Auffallenderweise liegen psyohologische Veroffentlichungen von Truppen- 
ond Frontarzten fast nicht vor, trotzdem von anderer Seite (Kriegsberichter- 
statter, Theologen usw.) vielfach derartige Fragen gestreift und erortert wurden. 
Das durch diese publizierte Material kaun arztlichen Anforderungen nioht ge- 
nugen, es bedarf der Erganzung und Korrektar durch fronterfahrene, psycho- 
logisch vorgebildete Aerzte. Bei der Verschiedenheit und Veranderlichkeit der 
zu beobachtenden Objekte (Zeit, Kriegsphase, Einsatz an ruhiger oder Gross- 
kampf- Front usw.) sind moglichst viele, aber eingehende Besohreibungen und 
Beurteilungen erwiinscht, urn zu allgemeinen Richtlinien zu kommen. Auf 
diese Weise konnte der Truppenarzt die Arbeit der Lazarette wertvoll erganzen 
(Fragen der Neuropathogenese, der Simulation, der Kriegsdienstbeschadigung 
usw.) and den Gesichtskreis dec Nicht-Frontarzte entsprechend erweitern. 
Leitsatze aus eigner Arbeit: 

A. Die Motnente, die auf das Seelenleben des Feldzugssoldaten in den 
einzelnen Kriegsphasen (s. u.) in verschiedener Kombination und verschiedener 
In ten si tat einwirken, sind einzuteilen in: 

1) Moment©, die auf jedenVolksgenossen wahrend eines Krieges einwirken 
(Sorgo urn Angehorige zuhause und im Felde, urn die wirschaftliche Existenz). 

2) Momenta, die mit den Besonderheiten des militarischen Dienstes 
^im allgemeinen u zusammenhangen: Subordination, Disziplin, Vorgesetzten-, 
Kameraden-Verhaltnisse usw. 


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350 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. irrenarzte. 

3) Momente, die mit den Besonderheiten des Frontdienstes zusammen- 
hangen: Todesgedanken (Religiositat); Driickebergerei und Heldentum; Be- 
geisterung und Pflichtgefuhl; Kameradschaft und Nachstenliebe; Affekte im 
Kampf usw. 

Die sub 1 und 2 erwahnten treten an der Ruhefront, die sub 3 er¬ 
wahnten besonders an der Hauptkampffront in den Vordergrund. 

B. Kriegspbasen: Die Bedeutung der Eindriicke der Hauptkampffront fiir 
Nerven und Seele wird haufig unter-, die der Ruhefront haufig iiberschatzt. 

C. Beziehungen zwischen sittlichen Eigenschaften und Krieg: 

I. Helden: Wenn auch in der Mehrzahl der Falle sittliche Motive den 
Heldentaten zugrunde liegen, so gilt dies doch nicht fur aile Falle. Die Motive 
zu „Heldentaten u sind vielmehr sehr verschiedenartig. Wenn man von den 
„Helden u absieht, die die Gefahr nicht kennen oder auf dem dummen Stand- 
punkt stehen, dass „ihnen doch nichts passieren u kann, kann man die Helden 
nach ihren Motiven in folgende Kategorien einteilcn, wobei im Einzelfalle 
selbstredend mehrere Motive gleichzeitig mitwirken konnen: 

1) Helden mit nicht egoistischen Motiven: a) echte Patrioten, b) Leute, 
die ein gewisses Veranlwortungsgefiihl fiir ihren Stand (Lehrer, Angehorige 
studentischer Korporationen), fiir ihre Glaubensgemeinschaft (Juden) usw., die 
einen gewissen Korpsgeist haben, und sich deshalb auszeichnen wollen. 

2) ^Helden 44 mit egoistischen Motiven: a) ehrgeizige Leute, b) Leute, 
die sich rehabilitieren wollen. 

3) „Helden 44 die aus irgendwelchen Griinden den Tod suchen, die sich 
preisgeben, in der ausgesprochenen Absieht zu fallen — sie wiirden im Frieden 
Selbstmord begehen, ziehen nun aber den Heldentod als „salonfahigen Selbst- 
mord u vor. 

II. Driickeberger: Der ausgesprochene Driickeberger ist ein Individuum, 
bei dem neben einem beinahe pathologischen Mangel an Willensstarke und 
Selbstzucht gewisse sitttiche Charakterfehler zutage treten (Mischform der 
moral insanity). Altruistische Momente (Sorge urn Familie usw.) spielen keine 
ausschlaggebende Rolle, werden aber haufig als Vorwand gebraucht; der 
Hauptgrund ist die Sorge um das eigene Leben, das er unter alien Umstanden 
dem ehrenvollen Tode vorzieht; dies Ziel behorrscht ihn vollstandig — jedes 
Mittel, es zu erreichen, wird versucht. Diese reinen Typen sind nicht sehr 
haufig — die meisten besinnen und iiberwinden sich doch noch. 

III. Allgemein sittliche und religiose Anschauungen und Qualitaten 
werden durch die Erlebnisse des Krieges nur in seltenen Fallen prinzipiell und 
dauernd geandert; der bisherige (bejahende oder ablehnende) Standpunkt wird 
meist bestarkt und gefestigt; es gilt auch hier der Satz Binswanger’s „Den 
Starken reissen grosse Ereignisse empor, den Schwachen schlagen sie nieder! 44 

Anregung einer frontpsychologischen Sammelforschung! 

(Ausfiihrliche Arbeit wird spater erscheinen.) (Eigenbericht.) 

Freiburg i. B. und Strassburg, Juli 1918. 

Hauptmann.* Steiner. 


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XV. 

Ludwig Edinger f. 

In der Zeit des grossen Sterbens, das uns die letzten Jahre gebracht 
haben, stumpft sich das Gefiibl gegeniiber dem Verluste Eiuzelner un- 
willkurlich ab und nanientlich der Heimgang Aelterer wird mit dumpfer 
Resignation als etwas Unverraeidliches getragen. Dennoch wirkt es auf 
weiteste Kreise erschutternd, wenn ein geistiger Fiihrer wie Edinger, 
dessen Lekren wir seit Jahrzehnten zu lauschen gewohnt waren, und 
von dem wir noch so manche wertvolle Forderung der Wissenschaft 
erwarteten, seinem Wirkungskreise plotzlich entrissen wird. 

Der Name Ludwig Edingerist mit der Geschichte des medizinischen 
Lebens in Frankfurt a. M. and mit der Entstehung der jiingsten deutschen 
University untrennbar verknupft. Neben Weigert batte er am Senken- 
bergischen Institute lange Jabre zugleich als Hirnanatom und vielbe- 
schiiftigter Nervenarzt, geforscht und gelehrt, bis es ihm endlich gelang, 
sich seine eigene Arbeitsstatte nach seinen Wunscben zu scbaffeu, die 
er bezeichnenderweise Neurologisches Institut nannte. 

Denn Edinger hat niemals die Besch&ftigung mit der Anatomie 
als Selbstzweck betrieben, sondern sie nur als Grundlage angeseheu, 
von der aus er an eine Erkennung der funktionellen Leistungen des 
Gehirns herantreten und neue Gesichtspunkte fiir die Kliuik gewinnen 
wollte. Sogar seine vergleichenden Arbeiten liber das tierische Zentral- 
nervensystem sind von diesem Standpunkte aus geschrieben, suchen vor 
allem die Grundlinien des Hirnbaues aufzudecken und eutbalten wertvolle 
pbysiologische und psychologische Bemerkungen. 

Aus solcben Beweggriinden beraus ging Edinger an die nShere 
Erforschung des Zwischenhirns, klarte er die Bedeutung der Hypophyse 
und Epiphyse, stellte er den Begriff des Oralsinnes auf, legte er die 
Verbindung des Striatum mit den tieferen Hirnteilen dar. In gleicher 
Wcise gewann er einen Einblick in die verwickelte Zusamraensetzung 
des Kleinhirns mit seinen mannigfachen Faserbeziebungen, trennte 
die afferenten Babnen von den eflFerenten, verfolgte die Ziige von den 
Purkinjezellen zu den Kleinbirnkernen und sprach den Wurm als eigent- 


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352 


Raeoke, 


liches Organ des Statotonus an. So gelangte er auch schliesslich zu einer 
Neueinteilung des gesamten Nervensystems, indem er die Grosshimrinde 
als Neencepbalon von dem ubrigen nervdsen Bau, dem Palaeencephalon, 
unterschied. Das letztere habe als urspriinglicher Tr&ger der Reflexe 
und Instinkte nur die Sinnesreize zu empfangen und mit Bewegungen 
zn beantworten, w&hrend das allm&hlich in der aufsteigenden Tierreibe 
hinzutretende Neencephalon der Sitz der Gnosien, Assozialionen und 
Praxien werde, bis endlich beim Menscben mit Auswachsen des Stirn- 
lappens die eigentliche lntelligenz sich entfalte. 

Ueber die Fulle der Edinger’schen Arbeiten, die uns ausser wert- 
yollsten anatomischen Entdeckungen anregende Erdrterungen uber neu- 
rologisch-kliniscbe Probleme geschenkt haben, gibt die Ged&chtnisrede 
seines Schulers Goldstein einen so vorzuglicben Deberblick, dass ich 
mich mit einem Hinweise auf diese (Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u. 
Psychiatric, Bd. 44, S. 114) begniigen darf. Ueberall tritt uns neben er- 
staunlichem Gedankenreicbtum hOchste Klarheit der Darstellung entgegen. 

Man hat mit Recht die Kiinstlerbegabung Edinger’s geruhmt. 
Intuitiv erfasste er stets das Wesentlicbe, arbeitete rastlos auf das ihm 
vorschwebende Ziel hinaus, wusste auch andere fur seine Entwurfe zu 
begeistern, sie auf neue Fragestellungen higzulenken und ibnen in un- 
nacbahmlicher Weise die Schwierigkeiten aufzuhellen. 

Gerade als Lehrer wirkte Edinger, fast ebenso sehr wie durch das 
lebendige Wort, durch seine hervorragende Beherrschung des Zeichen- 
stiftes. Selbst in der Unterhaltung uber allt&gliche Dinge im Freundes- 
kreise liebte er es, seine Erz&hlungen durch rasch entworfene kleine 
Skizzen zu erl£utern. Noch weit mehr kam ihm diese Gabe bei der 
Darstellung verwickelter anatomischer Verbaltnisse zu statten. Namentlich 
in seinem beruhmten Lehrbuche uber den Bau der nerv5sen Zentralorgane, 
das, aus Vorlesungen fiir praktische Aerzte hervorgewachsen, vor allem 
seinen Namen in der ganzen wissenschaftlichen Welt bekannt gemacht 
hat, springt uns diese unvergleichliche Beherrschung des Darstellerischen 
in die Augen. 

Edinger’s gliickliche Vielseitigkeit, seine einzigartige Verbindung 
von anatomischen uud klinischen Interessen, von wissenschaftlichem und 
prakiiscbem Kdnnen erkl&rt sich teilweise aus seinem Lebensgange: 

Geboren zu Worms am 13. April 1855, hatte er unter Gegenbaur 
und Waldeyer mit leidenschaftlicher Liebe anatomische Studien be- 
trieben. Aeussere Verhaltnisse zwangen ihn dann, die klinische Assistenten- 
laufbahn einzuschlagen. So wurde er Schuler von Kussmaul und 
Riegel, habilitierte sich an der Giessener medizinischen Rlinik und liess 
sich 1883 in Frankfurt als praktischer Nervenarzt nieder, um hier, auf 


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Ludwig Edinger f. 


353 


eigenen Fussen stehend, seine vergleichenden hirnanatomischen Arbeiten 
za beginnen und das eben geschilderte Lebenswerk zu vollenden. 

Noch erlebte er die Genugtuung, sein selbstgeschaffenes Forschungs- 
institut der bei Kriegsausbruch neugegriindeten Universitiit anzugliedern 
und als Ordinarius fur Neurologie in die medizinische Fakultiit einzu- 
treten. Mit Eifer widmete er sich den Bestrebungen, die durcli Schuss- 
verletzungcu entstandenen Nervenlahmungcn zu beseitigen, und suchte, 
dem Operateur neue Mittel zur Ueberbriickung von Nervenliicken an die 
Hand zu geben. Das ersehute Ende des Krieges, der die wissenschaft- 
liche Fortarbeit in seinem geliebten Institute vielfach behiuderte, sollte 
er nicht mehr schauen. Am 26. Januar 1918 hat der Tod seinem 
arbeitsreichen Leben uberraschend ein Ziel gesetzt. Raecke. 



▲rehiv f. Psjchiatrie. Bd. 60. Heft 1. 


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XVI. 

Korbinian Brodmann f. 

Nach Alzheimer Brodmann! Sckon wieder hat die deutsche 
Gehirnforschung einen unersetzlichen Verlust zu beklagen, schon wieder 
hat der Tod uns Psychiatern der Besten einen genommeu. Was Brod¬ 
mann fur die anatomische Wissensckaft im Einzelneu geleistet hat, 
mag von berufenerer Seite naher dargelegt werden. Hier soil nur in 
grossen Ziigen eine Wurdigung seiner kervorragenden Personlichkeit 
versucht werden: 

Korbinian Brodmann begann seine psychiatrische Laufbahn an 
der Jenenser Klinik unter Binswanger. Damals habe ich ihn zuerst 
kennen gelernt und wegen seiner ausgezeichueten menschlichen Eigen- 
schaften rasch lieb gewonnen. Holies wissenschaftlickes Streben gepaart 
mit streuger Gewissenhaftigkeit, liebenswurdiger Frohsinn und kamerad- 
schaftlicke Treue waren ilirn zu eigen, mack ten den Umgang mit ihm 
besonders genussreich. Seine Interessen waren damals noch vorwiegend 
klinische. In erster Linie der Hysteriefrage und dem Hypnotismus schien 
sich seine Aufmerksamkeit zuwenden zu wollen. Erst nachdem er im 
Jahre 1900 Assistent an der Frankfurter Irrenanstalt geworden war, fing 
er unter dem Einflusse von Alzheimer’s gewinnender PersOnlickkeit 
in immer steigendem Masse an, sich fur die histologische Forschung zu 
erw&rmen. Allein das geschah etwa nicht in der Weise, dass er einfach 
in des anderen Fussstapfen trat, sondern nach kurzem Umhertasten 
hatte Brodmann bald sein bestimmtes Arbeitsgebiet gefunden, auf 
welchem ihm die schonsten Erfolge beschieden sein sollten. 

An Oskar Vogt’s neurobiologischem Institute in Berlin, iu das er 
bereits 1901 eintrat, vollbrachte Brodmann mit staunenswertem Fleisse 
und Grundlichkeit ausgedehnte vergleichend anatomische Untersuchungen, 
auf welchen er in mustergiiltiger Weise seine Lehre von der Cytoarchi- 
tektonik der Rinde aufzubauen vermochte. Grundlegend ist da sein 
Werk aus dem Jahre 1909 geworden: „Vergleickende Lokalisationslekre 
der Grosshirnrinde in ihren Prinzipien dargestellt auf Gruud des Zellen- 
baues w mit 150 Abbildungen im Texte. 



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Korbinian Brodmann f. 355 

Ursprunglich war nur die Absicht gewesen, einen von den Hirn- 
anatomen und Pathologen langst als Bedurfnis empfundenen Normalstatus 
der gesamten Grosshirnrindenflriche des Menschen zu schaffen mit Beriick- 
sichtigung auch der kleinen und kleinsten Rindenteile. Aber im Ver- 
laufe der Vorarbeiten sab Brodmann bald die Notwendigkeit ein, eine 
breitere entwicklungsgeschichtliche und vor allem vergleichend anato- 
mische Basis zu geben. Erst musste aus einfachereu Gehirnformen und 
aus ontogenetischen Verhaltnissen heraus ein Einblick in den Bauplan 
der Grosshimrinde angestrebt werden, ehe es moglich war, den einheit- 
lichen Ausgangstypus der mannigfachen Scbichtungen klarzustellen. 

Sobald das Brodmann erkannt hatte, zbgerte er auch nicht, sich 
dieser Riesenaufgabe zu uuterziehen und sie in 8 Jahren angestrengtester 
histologischer Tatigkeit zu ltisen. Das reiclihaltige Sektionsmaterial des 
Berliner Zoologischen Gartens wurde von ihm nutzbar gemacht, danu 
auch menschliche Gehirne in grosserer Zahl in Angriff genommen. So ge- 
langte Brodmann zu seiner bekannten Aufstellung eines sechsschichtigen 
Gruudtypus, zum Entwurf einer histologisclien Landkartentopographie 
der Hemispharenoberflache und zu der wichtigen Einsicht, dass die Gross- 
hirnriude der Saugetiere als ein Organkomplex zu betrachten sei, d. h. 
als eine Summe von aus gleicher Anlage hervorgegaugenen und in ver- 
schiedenen Graden der Aus- und Riickbildung begriffeuen Partialorganen, 
welche nach ihrem mikroskopischen Bau rnehr oder minder scharf ab- 
gegrenzt sind. 

Es soil hier nicht weiter auf die Einzelheiten dieses wahrhaft epoche- 
machenden Werkes eingegangen werden, auch nicht auf die spateren 
Untersuchungen Brodmaim’s, welche auch die Beziehungen zur Physio- 
logie und rasse-anatomise he Fragen immer mehr in den Bereich seiner 
Betrachtungen zogen. Wer ihn in jenen Tagen freudigster Schaffens- 
tatigkeit besuchen und sprechen durfte, weiss, mit welch riihrender 
Begeisterung er von seinen Planen und Entwiirfen zu reden pflegte, und 
vermag zu abnen, wieviele Hoffnungen jetzt mit ihm begraben worden sind. 

Brodmann hat es im Leben nicht leicht gehabt. Mit seinem sonst 
so liebenswiirdigen und heiteren Wesen verband sich eine gewisse hart- 
n&ckige Schroflfheit in der Durchfiihrung des von ihm fur richtig Ge- 
haltenen, welche keine Kompromisse kannte und vielleicht die engere 
Zusammenarbeit mit ihm nicht immer ganz leicht gestaltet haben mag. 
Diese Veranlagung und eine Reihe widriger ausserer UmstSnde er- 
schwerten seine Laufbabn. In Berlin gelangte er trotz seiner anerkannten 
Bedeutung nicht zur Habilitation. Von der Statte seiner erfolgreichen 
Wirksamkcit, dem neurobiologischen Institute trennte er sich. Wiederholt 
streckte sich ihm eine Freundeshand hellend entgegen, seinen Weg zu 

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II 



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356 Raecke, Korbini&n Brodmann f. 

ebnen. Gaupp rief ihn an die Tubinger Klinik und ermdglichte ihm 
die Habilitation, Pfeiffer nahm ihn als Prosektor an die Nietlebener 
Anstalt. Allein erst mit der Begrundung der Munchener Forschungs- 
anstalt fur Psychiatric erOffnete sich ibm endlich die Aussicbt auf eine 
Stellung, wie sie wohl seinen eigensten Wunschen angepasst war. 

Wer Brodmann gekannt hat, vermag sich vorzustellen, mit welch 
boffnungsfrohen Erwartongen er diese schdne Arbeitsst&tte aufgesncht 
haben wird, an der ihm die Leitung der topographisch-histologischen 
Abteilung von Kraepelin zngedacht worden war. Da, als er sich 
schon eben am Ziele seiner Wunsche glanben durfte, raffte ein jaher 
Tod an Sepsis ibn am 22. August 1917 dabin! Nicht nur seine An- 
gehbrigen und Freunde, die gesamte Wissenschaft wird ihm stets eine 
treue Erinnerung bewahren. Raecke. 


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XVII. 

» 

Referate, 


Reichardt, Martin, Allgemeine und spezielle Psychiatrie. Ein 
Lehrbuch fur Studierende und Aerzte. Zweite umgearbeitete Auflage des 
Leitfadens zur psychiatrischen Klinik. Mit 95 Abbildungen. 605 S. Jena 
1918. Verlag von Gustav Fischer. 

Der Leitfaden Reichardt’s ist mit umgearbeitetem und stark erweiter- 
tem Inhalt als Lehrbuoh neu erschienen. Einen breiten Raum, nicht ganz die 
Halfte des Buches nimmt die allgemeine Psychiatrie (eingeteilt in allgemeine 
Symptomatology, Ursachen der Geisteskrankheiten, Lebensalter und Geistes- 
krankheit — die diagnostischen Hauptfragen — die Einteilung der Geistes¬ 
krankheiten, die prognostischen Erwagungen, die Anamnese, die Untersuchung 
auf Geisteskrankheit, die Behandlung der Geisteskranken) ein. Auch werden 
bier die forensischen Fragen und die Simulation eingehend besprochen. Dem 
speziellen Toil ist entsprechend dem besonderen Arbeitsgebiet Reiohardt’s 
ein Absohnitt iiber Hirn und Schadel (Grosse des Schadelinnern, Hirnge- 
wioht, Theoretisches iiber Hirnvorg&nge und krankhafte Hirnveranderungen) 
angefugt. 

in dem vorliegenden Buche tritt die personliche Note des Yerfassers ganz 
besonders stark zu Tage. Darin liegen seine Vorzfige, aber auch seine Schwa- 
chen bogrundet; Vorzuge insofern, als die in mancherlei Hinsicht neuartige 
Beleuchtang, welche einige Fragen erhalten, die Aufrollung von mancherlei 
Problemen auf den Studierenden anregend zu wirken vermag, Nachteile and 
Schwachen insofern als der Verfasser offenbar der Gefahr nicht immer ent- 
gangen ist, den Stoff in einer zu einseitig und individual gefarbten Weise zu 
behandeln und infolge dessen das Ziel, den Lernenden besonders in die prak- 
tisch wichtigen Fragen einzufuhren, zu verfehlen. Diese Nachteile treten be¬ 
sonders in dem allgemeinen Teil, in der Einleitung mit ihren theoretischen 
Erdrterungen, in dem Abschnitt iiber optisch-raumliche Storungen, fiber vege¬ 
tative Symptome und anderen Abschnitten zu Tage. 1m speziellen Teil begegnet 
man ihnen weniger. Hier halt sich R. bei der Abgrenzung und Einteilung der 
Psychosen und Psychosengruppen auf einer mittleren Linie zwischen den 
divergierenden Anschauungen der verschiedenen Sohulen. Hervorzuheben ist, 
dass K. eine besondere, umfangreiche Paranoiagruppe aufstellt, zu der er auoh, 
was nicht allgemein als berecbtigt anerkannt werden wird, die Degen orations- 
psyohosen (degenerative Wahnbildung von Birnbaum) z&hlt. Unberechtigt 


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358 


Referate. 



I 



ersoheint es, wenn die Haftpsychosen und hysterischen Psychosen als sehr 
bezw. ungemein selten bezeichnet werden. Wie schon im Leitfaden wird dem 
Woohenbett, den Gemiitsvorgangen und iiberhaupt den exogenen Faktoren sehr 
wenig Bedeutung fur die Entstehung von Psychosen zugesprochen. 

Zahlreiche Abbildungen, Kurven and instruktive Krankengeschichten 
unterstiitzen das Studium des Buches. Runge. 

Schrottenbach, Heinz, Studien iiber den Hirnprolaps mit beson- 
derer Beriicksichtigung der lokalen posttraumatischen Hirn- 
schwellung nach Scbadelverletzungn. MitAbbildungen aufl9Tafeln. 
Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie. 
Heft 14. Berlin 1917. Verlag von Julius Springer. 

DieAbhandlungSchrottenbach’s bringtbeachtenswerteUntersuchungen 
fiber den Hirnprolaps und seine Pathogenese. Nach einer Einleitung, die sic-h 
mit den bisherigen Anschauungen iiber den Hirnvorfall an der Hand der ein- 
schlagigen Literatur befasst, werden die physikalischen Verhaltnisse beim 
I primaren und sekundaren Hirnvorfall einer Betrachtung unterzogen. Im 3. Ab- 
schnitt werden die eigenen Untersuchungen iiber den Hirnvorfall mitgeteilt, 
die sich auf vier Falle von sekundarem Hirnvorfall erstrecken. Das zur Ver- 
fiigung stehende Material ist nach den verschiedenen Methoden histologisch 
untersucht. — Hier ergibt sich als wichtiges Resultat das Bestehen enzepha- 
litischer Vorgange beim sekundaren Hirnprolaps, die einer am Orte ihres Auf- 
tretons sich entwickelnden lokalen Entziindung der Himsubstanz ihre Ent¬ 
stehung verdanken. Sehr schone photographische Reproduktionen veranschau- 
lichen die Befunde. Ausfiihrliches Literaturverzeichnis ist beigegeben. S. 

Kraepelin, Emil, Hundert Jahre Psychiatric. Mit 35 Textbildern. 
Berlin 1918. Verlag von Julius Springer. 

Einen Beitrag zur Geschichte der menschlichen Gesittung nennt der Ver- 
fasser diese historische Abhandlung. Sie ist die erweiterte Form eines Vor- 
trages, der in Miinchen gelegentlich der ersten Sitzung der Deutschen For- 
schungsanstalt fur Psychiatrie gehalten wurde. Die Geschichte der Psychiatrie 
mit ihren reizvollen Wandlungen und Irrungen sehen wir in lebhafter eindrucks- 
voller Schilderung an uns voriiberziehen und das Studium dieser Schrift ge- 
wabrt uns einen fesselnden Einblick in die Entwicklung dieses medizinischen 
Sondergebietes, das wie kein anderes im engen Zusammenhang mit den allge- 
meinen geistigen Zeitstromungen steht. S. 


Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen, heraus- 
gegeben von Dr. Karl Marbe. IV. Bd. 11. Heft. Leipzig-Berlin. Verlag 
von B. G. Teubner. 

A. Peters bringt das Ergebnis interessanter Versucbe iiber Gefiihl und 
Wiedererkennen. 



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Referate. 


359 


Das I. Heft des V. Bandes dieser Zeitschrift enthalt eine Abhandlung yon 
0. Sterzinger: Zur Psychologic and Naturphilosophie der Ge- 
sohicklichkeitsspiele. S. 


Kaplan, Leo, Hypnotismus, Animismus und Psyohoanalyse. Histo- 
risch-klinische Versuche. Leipzig, Wien. 1917. Verlag von Franz Deuticke. 

Das 1. Kapitel bringt eine Entwicklungsgesohichte des Hypnotismus, die 
als Vorgeschichto der Psychoanalyse im 2. Kapitel mit Suggestion und Hysterie 
fortgesetzt wird. 

Der 3. Abschnitt beschaftigt sich mit der Seele und dem Unbewussten, 
der 4. mit den ursprunglichen Ideen und der Wirklichkeit, der 5. mit der Seele 
und den psychischen Reaktionen. S. 


Schilder, Paul, Wahn und Erkenntnis. Eine psychopathologische Studie 
mit 2 Textabbildungen und 2 farbigen Tafeln. Monographien aus dem Ge- 
samtgebiet der Neurologic und Psyohiatrie. Heft 15. Berlin 1918. Verlag 
von Julius Springer. 

An der Hand einsohlagiger Falle, die genau analysiert werden, beschaf¬ 
tigt sioh der Verfasser mit der Frage der Halluzination, mit Wirkliohkeits- 
anpassung und Schizophrenie. Im Abschnitt Volkerpsychologie und Psychiatric 
wird hingewiesen auf die Zuge, welche der Denkweise der Primitiven und ge- 
wisser Geisteskranken gemeinsam sind. In einem Anhang „Ueber den Futuris- 
mus u wird hingewiesen auf den Zusammenhang der zeiohnerischen Entwiirfe 
Geisteskranker mit dem Futurism us. S. 


S. Hens, Phantasiepriifung mit formlosen Klecksen bei Schul- 
kindern, normalen Erwachsenen und Geisteskranken. Zurich 
1917. Verlag von Speidel & Wurzel. 

Hens benutzt den formlosen Tintenklecks zur Prtifung derPhantasie bei 
Kindern, normalen Erwachsenen und Geisteskranken und teilt seine Ergebnisse, 
welche er mit dieser eigemartigen Methode erhalten hat, mit. S. 


C. v. Economo, Die Encephalitis lethargica. Mit 12 lithographischen 
Tafeln. Leipzig und Wien 1918. Verlag von Franz Deuticke. 

An der Hand von 13 Krankengeschiohten, 5 mit Sektionsbefund zeiohnet 
Verfasser das Krankheitsbild der Encephalitis lethargica klinisch und patholo- 
gisch-anatomisch. Er sieht in der Encephalitis lethargica einen duroh eine 
Infektion hervorgerufenen echt entziindlichen Prozess des Parenchyma des 
Nervengewebes mit sekundarer kleinzelliger Infiltration der GeiUsse. Hervor- 
gerufen wird die Erkrankung durch einen Diplostreptokokkus. Vorziigliche 
Abbildungen uber die anatomischen und histologischen Veranderungen im Ge- 
him sind der Arbeit beigegeben. S. 


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360 


Referate. 


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R. Gaupp, Psychologic des Kindes. AusNatur und Geisteswelt 213/214. 
Vierte Auflage. Leipzig, Berlin. Verlag von B. G. Teubner. 

Das vortreffliche bekannte Werk von Gaupp wird sich in der neuen er- 
weiterten Auflage viele Freunde erwerben. S. 


Rafael Becker, Die jiidische Nervositat, ihre Art, Entstehung und 
Bekampfung. Zurich 1918. Verlag von Speidel & Wurzel. 

In seinem Vortrag beschaftigt sich Verfasser mit einom interessanten Pro¬ 
blem. Er sieht die Ursachen der Haufigkeit der nervosen Erscheinungen bei 
Juden nicht in der besonderen Predisposition, sondern in den Bedingungen, 
in welchen sie gezwungen warden zu leben: unnormale rechtliche Lage, Be 
vorzugung der fur das Nervensystem schadlichen Berufe, das durch Bevor- 
zugung dieser Berafe bedingte anormale geschleohtliche Leben. 

Als Hauptmittel diesem Uebel zu steuern, wird Schaffung eines eigenen 
Heimes und Landes empfohlen. S. 


Schlomer, Georg, Leitfaden der klinischen Psychiatrie. Miinchen 
1919. Verlag yon Rudolph Muller & Steinioke. 

Der Leitfaden erftillt seinen Zweck, den Anfanger in die psychiatrische 
Klinik einzufuhren durch leicht fassliohe Darstellung. S. 


Arbeiten aus der psychiatrischen Klinik in Wdrzburg. 9. Heft. 
Die Messstange von Professor Rieger. Mit 3 Abbildungen im Text. 
Jena 1918. Verlag von Gustav Fischer.. 

Abbildung und Besohreibung der von Rieger verwendeten Messstange 
und ihre Anwendung in der Psychiatrie. S. 


Wimmer, August, Psykiatrisk-Neurologiske Undersogelsesmeto- 
der. Kobenhavn 1917. G. E. C. Gads Foriag. 

Der Leitfaden enthalt eine gate Zusammenstellung der in der Psychiatrie 
und Nejurologie gebrauohlichen Untersuchungsmethoden. S. 


Die neu gegriindete Zeitschrift fttr Milit&rrecht unter Mitarbeit 
von Georg Lelewer und Viktor Cs&sz&r von Kolgydr, herausgegeben 
von Albin Schager. Verlag von Karl Harbauer, Wien und Leipzig, bringt 
in den bis jetzt vorliegenden 6 Ileften Abhandlungen aus den verschiedensten 
Gebieten des Militarrechts, enthalt Besprechungen und Entscheidungen. Im 
6. Heft befasst sich ein Artikel von Hirschmann mit Erfahrungcn und Wun- 
schen aus der forensisch-psychiatrischen Praxis im Felde. S. 


Drnek von L. Schumacher in Berlin N. 4. 


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XVIII. 


' Veber doppelseitige Atlietose und verwandte 
KrankheitszustHnde („striUres Syndrom"). 

Eiii Itoitrag xnr Lefcre von den Linsenkemerkranknngen. 

Von 

A. Westphal (Bonn). 

(Mit 17 Abbildungen ini Text.) 

Die Frage nacb der Bedeutung und der Funktion des Linsenkerns 
bat in neuerftr Zeit wesentliche FOrderung durch eine Reihe von Arbeiten 
erfahren, welche deutlich die nutzbringende Verbindung von klinischen 
Beobachtungen und pathologisch-anatomischen Untersuchungen zeigen. 
Auf den durch die bekannten Verfiffentlichungen von Anton, Oppenhei m 
and C. Vogt, sowie von Wilson u. a. geschaffenen Grundlagen arbei- 
teten zahlreiche Forscher mit Erfolg weiter und erweiterten unsere 
Kenntnisse von den Erkrankungen der Stammganglicn und der durch 
die 9 e bedingten Bewegungsstftrungen. Die Arbeiten aus der neuesten 
Zeit, viie die von Marburg 1 )? v. Stauffenberg 2 ), H. Deutsch 3 ) und 
Thomalla 4 ) geben auf Grund eigener Beobachtungen an der Hand der 
Literatur eine gute Uebersicht und kritische Betrachtung des Stand- 
punktes unsercr Kenntnisse auf diesem Gebiete, so dass icli, um Wieder- 
holungen zu vermeiden, auf die Ausfuhrungen dieser Autoren verweise. 
um auf die uns interessierenden Punkte spftter des Naheren einzugehen. 
In kliniscber Hiusicbt ist unsere Kenntnis von den extrapyramidaieu 

1) Zur Patbologie und Pathogenese der Paralysis agitans. .Jahrb. fur 
Psych, u. Neurol. 1914. 36. Bd. (Festschrift. ) 

2) Zur Kenntnis des extrapyramidalon motorischen Systems. Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol, u. Psych. 1918. 39. Bd. 

3) Bin Fall von symmetrischer Erweichung im Streifenhugei und im 
Linsenkern. Jahrb. f. Psych, u. Neurol. 1917. 37. Bd. 

4) Bin Fall von Torsionsspasmus mit Sektionsbefund und seine Be- 
ziehungen zur Athdtose double, Wilson’soher Krankheit und Fseudosklerose. 
Zeitschr. f. ges. Neurol, u. Psych. 1918. 41. Bd. 

Aretiiv f. Pnyebiatrie. Bd. GO. Hoft 2 / 11 . 91 


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A. Westpha), 


Bewegungsstorungen besonders durch v. S trump ell 1 ) gefdrdert wordea, 
dessen Arbeit iiber den „amyostatischen Syroptomenkomplex“ k lit rend und 
sichteud gewirkt hat, indem in ihr die verwandtscbaftlichen Beziehungen 
von anscheinend so verschiedenartigen Symptomen, wie sie uns bei der 
sogenannten „Pseudosklerose“ (Westphal-Strumpell), der Wilson- 
schen Krankheit, der doppelseitigeri Athetose, der Paralysis agitans usw. 
im Gegensatz zu den durch Affektion der Pyramidenbahn hervorgc- 
rufenen Erscheinungen, entgegeutreten, dargetan werden. In jungster 
Zeit ist von C. und 0. Vogt 2 3 ) der erste Versuch gemacht worden, die 
von C. Vogt in ihren fruheren Arbeiten ais „striftres Syndrom u be- 
bezeicbneteu MotilitatsstOrungen nach patbologisch-anatomischen Ge- 
sichtspunkten einzuteilen. 

- Die Untersuchungen C. u. 0. Vogt's haben zur Unterscheidung „von 
vier ganz differenten pathologisch anatomischen Prozessen gefuhrt, von 
denen jedem ein so charakteristisches klinisches Bild entspricbt u , dass 
die Autoren auf Grund desselben „den pathologisch-anatomischen Pro- 
zess diagnostizieren und den weiteren Verlauf voraussagen k5nnen u . 
Fur die Auffassung der subkortikalen Bewegungsstorungen ist die neueste 
Arbeit Kleist’s 8 ) von Bedeutung, welche die bisher- vorliegenden Er- 
fahrungen besonders auch in theoretischer Hinsicht mit einander zu 
verknupfen sucht. 

So gross die Fortschritte sind, die diese Veroffentlichungen auf dem 
uns beschftftigenden Gebiete gebracbt baben, gebt doch aus denselben 
hervor, dass es sich zun&chst vielfacb noch um vorlftufige Einteilungs- 
und Erklftrungsversuche der mannigfachen in Frage kommenden Sym- 
ptomenkomplexe handelt, und dass wir von einem vollen Verstftndnis 
der klinischen und patbologisch-anatomischen Zusammenhftnge noch 
weit entfernt sind, so dass in erster Linie die Herbeischaffung neuen 
Tatsachenmaterials n5tig ist, welches geeignet ist, einerseits featzustellen, 
oh die bisherigen Erfabrungen durch neue Befunde eine Bestfttigung 
finden, andererseits die noch vorbandenen Lucken unseres Wissens aus- 
zufullen. Aus diesem Grunde erfolgt hier die VerOfFentlichung von drei 
in mancber Hinsicht bemerkenswerten Fallen, die verschiedene Formen 
,,striftrer w MotilitfttsstDrungen betreffen, von denen in zwei Fallen die 

1) ZurKenntnis der sogenannten Pseudosklerose, derWilson’schen Krank- 
heit und verwandter Krankheitszustande (der amyostatische Symptomenkom- 
plex). Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1915. 54. Bd. 

2) Erster Versuch einer pathologisch-anatomisohen Einteilung striarer 
Motilitatsstorungen nebst Bemerkungen uber seine allgemeine wissenschaftliche 
Bedeutung. Journal, f. Psyohol. u. Neurol. 24. Bd. 

3) Arch. f. Psych, u. Nervenkrank. 59. Bd. 2. u. 3. II. 


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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 363 

Erkrankung des C. striatum durch die Sektion nacbgewiesen und die 
Ver&nderungen bistologisch untersucbt werden konnten, w&hrend sich 
der dritte Fall nocb in unserer Beobachtung befindet. 

Fall l 1 ). Johann Reicbardt, 43jahriger Arbeiter. Aufnahme am 11. 2. 
1918. Es bestdbt keine hereditare Belastung. Das Zittem, an welcbem sein 
Vater in spaterem Lebensalter gelitten haben soli, war auf den Potns desselben 
^uruckzufiihren. Pat. bat voriibergehend 3—4 Mai, jedes Mai etwa 8 Wochen 
in Fabriken mit Bleiweissfarben zu tun gehabt. Koliken oder andere Symptome 
von Bleivergiftung sindnichtaufgetreten. Erbat vor einigenJabren einen Tripper 
und einen Schanker akquiriert. Ueber den genauen Zeitpnnkt der Infek- 
tion ist nicbts zu erfabren, ebenso wenig dariiber, ob eine spezifische Behand- 
lung stattgefunden hat. In den letzten Jabren bat er viel an Kopfschmerzen, 
Scbwindel und Ohrensausen gelitten. Das Gedachtnis soil erst in der letztenZeit 
abgenommen haben. Das jetzige Leiden, wegen dessen Pat. das Krankenhans 
aufsucht, bat sich nacb seinen Angaben scbnell innerhalb weniger Tage, vor 
einigen Wochen eingestellt. Er bemerkte damals ziierst unwillkiirliche Bewe- 
gungen im linken Arm und Bein, denen sich „Zuckungen“ in der Gesichts- 
muskulatur anscblossen. Ein Zustand von Bewusstlosigkeit oder Triibung des 
Bewusstseins ist dieser Storung niobt vorangegangen; dieselbe soli ohne be- 
sondere psychiscbe Begleiterscbeinungen entstanden sein. 

Pat. ist ein Mann von massigem Ernahrungszustand. Zeicben einer 
fruheren Bleivergiftung (Bleisaum) sind nicht vorbanden. In der linken In- 
gumalgegend eine von einer Inzision berruhrende Narbe. Die auffallendste 
Erscbeinung bietet bei der Anfnabme ein fortwahrendes Grimassieren. 

Es handelt sich um langsame Bewegungen, durch welche der Mund und 
die angrenzenden Wangenpartien abwechselnd nach links und reohts oder in 
die Hohe gezogen werden, dabei werden Schmeckbewegungen ausgefiihrt, 
Scbnalzlaute ausgestossen, der Mund oft riisselartig vorgestreckt. Trotz dieses 
Grimassierens hat der Gesichtsausdruck etwas eigenartig Starres. Die Zunge 
nimmt an der Storung Teil, macht, aus dem Munde herausgestreckt, langsame 
drehende Bewegungen. Beim Zeigen der Zunge hort das Grimassieren vor- 
iibergebend auf. Im linken Arm und Bein bestehen langsame, drehende Be¬ 
wegungen von ausgesprochen athetotischem Charakter, die auffallender- 
weise nicht die dislalen Enden der Extromitaten, die Finger und Zeben, son- 
dern die grossen Gelenke betrofTen. Die Bewegungen finden statt im Schulter- 
nnd Hiiftgelenk, Knie- und Ellenbogengelenk, sowie im Hand- und Fussgelenk. 
Beugungen und Streokungen, Ab- und Adduktionen weohseln miteinander ab. 
Am linken Vorderarm und Hand sind haufig Pronationsbewegungen zu beob- 
achten. Die linke Scbulter ist in der Regel in die Hohe gezogen. Wenn Pat. 
stebt, stellt sich der linke Fuss in Spitzfussstellung, so dass in diesem 


1) Dieser Fail ist von rair in der Sitzung der niederrheinischen Gesell- 
vom 4. 3. 1918 vorgestellt worden. Referat Deutsche med. Wochensohr. 1918. 
Nr. 16. 

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364 


A. Westphal 


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Stadium des Leidens, die durch die atbetotisohen Bewegungen bedingte 
Korperhaltung der Abb. 1 entspricht. Hand in Hand. mit den atbetoti- 
schen Bewegnngen gehen Muskelspasmen von wechselnder Intensitat und 
Dauer. Bei passiven Bewegungen in den betroffenen Gelenken ist eih bald 
leichterer, bald stSrkerer spastischer NViderstand zu fiihlen, der bei pldtzlichen, 
briisken, passiv vorgenommenen Bewegungen nicht starker' w'ird, sondern 
eher nach einigen schnell auf einander folgenden Bewegungen an Intensi¬ 
tat nachlasst. Lahmungserscheinungen bestehen an den Extremi- 
taten nicht. 

Die Patellar- und Ach illessehnenreflexe sind lebhaft, ohne deutlich gesteigert 
zu sein. Kein B&binski, Oppenheim rechts mitunter angedeutet, aber nicht deut¬ 
lich vorhanden. Es besteht ein leichter Grad von Inkontinenz der Blase mit 
Harntraufeln. Bauohdeckenreflexe vorhanden. Die Pupillen reagieren gut auf 
Lichteinfall und Konvergenz. Augenhintergrund normal. Kcin Pigmentring 
an der Kornea vorhanden. Gehirnnerven abgesehen von der Bewegungsst5rung 
imMundfazialis ohneBesonderheiten. Was dielntelligenzdesPat. betrifft, isteine 
genauere Priifung derselben nicht moglich, da er alle Angaben mit sehr schwer 
verstandlicber, leiser, mitunter stockender Sprache, die einen etwas nasalen 
Beiklang hat, maoht. Es lasst sioh aber feststellen, dass das Gedaohtnis ge- 
litcen hat, was aus den sich widerspreohenden Angaben des Pat. tiber zeitlfche 
Verhaltnisse seinet Vorgeschichtehervorgebt. Besonders istdieMerkfabigkeit 
herabgesetzt. Pat. vermag ofters uber die gewohnlichen Vorkommnisse des 
taglichen Lebens, das Einnebmen der Mablzeiten usw. keine richtigen Angaben 
zu machen. Grobere Storungen der Intelligenz sobeinen nicht zu besteben. 
Sinnestauschungen oder Wahnvorstellungen sind nicht vorhanden. Die Stim- 
mung ist, seinem qualvollen Zustande entsprechend, eine deprimferte, er bittet 
haufig um Schlafmittel, da im Schlafe die unwillkurlichen Bewegungen vor- 
iibergohend aufboren. Die Untersuchung der inneren Organe, besonders auch 
der Leber und Milz ergibt keinen von der Norm abweichenden Befund. Keine 
starker© peripherische Arteriosklerose. Die Nabrungsaufnahme ist durch mit- 
nnter auftretende, nicht konstant vorbandene Behinderung des Schluckaktes 
gestort. Es besteht starke Salivation. Die Was serin an n J scbe Reaktion ist 
im Blut und Liquor negativ. Wahrend sich die langsamen, drehenden, atheto- 
tischen Bewegungen in den ersten Tagen der Beobachtung auf die linksseitigen 
Extremitaten beschriinken, greifen sie bald auch auf die rechte Korperseite 
fiber. Zuerst werden athetotische Bewegungen im rechten Arm konstatiert, 
denen bald auch solche des rechten Beins folgen. Bei detu Versuch des Pat. zu 
gehen, fallt zuerst auf, dass auch die Muskeln des Rumpfes an der Bewegungs- 
storung teilnehmen. Pat. geht mit langsamen kleinen Schritten, in st$ifei 
Korperhaltung. Beim Gehen tritt dann eine allmahlich immer mehr zuneh- 
mendeBeugung des Rumpfes nach vorn in sehr auffalliger Weise in die Ersehei- 
nung. Die Wirbelsaule wird kyphotisch nach hinten gekrummt, der Kopf nach 
vorn gebeugt gehalten. Nach wenigen Schritten bleibt Pat. in dieser Stellung 
mit vornubergebeugtem Rumpf, gebeugten Knie- und Hiiftgelenken stehen, ist 
nicht im Stande weiter zu gehen (Abb. 2 u. 3). Mitunter kommt es aus dieser 


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Ueber doppelseitige Atlietose und verwandte Krankheitszustande. 365 

stebenden Stellung beraus oder auch beim Versucb, waiter zu gehen, zu der 
Ersoheinung der Retropulsion in ausgesproehener Wtise; er fangt an, sieh 
mit kleinen sterfen Schritten, in bescbleunigtem scbiessendem Tempo nach 
riickwarts zu bewegen. Mitunter treten auch Andeutungen von Lateropulsion 
bervor. Diese Erscbeinungen in Verbindung mit der steifen nach vorn ge- 
beugten Kfirperbaltung, dem starren Gesichtsausdruck, der profusen Salivation 
verleiben dem Krankheitsbilde vorubergehend eine weitgehende Aebnlichkeit 
mit der Paralysis agitans. Die Haltung der Arme ist bei den Gehversucben 
eine verschiedene, wecbselnd naob der Intensitat und Lokalisation der gerade 
w irks amen unwiHkiirlichen Bewegungen und Muskelspannungen (Abb. 2—3). 
In Folge derselben kommt es auch bei ruhiger Riickenlage zu ganz grotesken 
Korperbaltungen. Zunachst treten stavke Beugebewegungen in Ilfift- und Knic- 
gelenken, baufig mit Adduktionsbewegungen verbunden auf(Abb.4), denen eine 
extreme Beugung des Rumpfes und Kopfes nach vorn folgt, so dass schliesslich 
Pat. den Korper bogenformig naob vorn gekrfimmt, nur mit einem Teil des 
Riickens auf dem Bett aufliegend, mit von der Unterlage weit abgeliobenen 
Beinen und Gesass sozusagen fiber seiner Lagerstatte schwebt (Abb. 5) und 
langere Zeit in dieser merkwurdigen Stellung, die er willkurlich nicbt zu an- 
dern vermag, verharrt. Es ist bemerkenswert, dass diese bizarren, an die Ver- 
drehungen beim „Torsionsspasmus u erinnernden Koiperbaltungen nach einem 
gewissen Rbytbmus in mehr oder weniger regelmassigen Intervallen und auch 
nach einem bestimmten Typus der Aufeinanderfolge der eigenartigen Bewegun¬ 
gen einzutreten und zu verlaufen pflegen. Wahrend dieser Phasen ist dcr 
hypertonische Zustand der Muskeln, wie er uns bei dem Versuch von passiven 
Bewegungen entgegentritt, besonders deutlich ausgepragt. Naoh einigen 
Minuten pflegt die abnorme Kbrperhaltung zusammen mit den starken Spasmen 
wieder zu versohwinden. Andauernd ist zu beobachten, dass psychische 
Reize der alter?ersohiedensten Art verslarkend auf die athetotischen Bewegun¬ 
gen einwirken, oder dieselben, wenn sie zeitweilig nicbt hervortreten, wieder 
auslosen. Oft genfigt das Herantreten an das Bett, das blosse Anredon des 
Kranken, um sie hervorzurufen. Mitunter sieht man, dass auch die Zehen und 
Finger, die frtiher keine athetotischen Bewegungen zeigten, in geringerem Grade 
von dieser Storang jetzt qitbetroffen sind. Die athetotischen Bewegungen im 
Gesiobt, die sich znerst auf den Mundfazialis beschrankten, greifen allmahlich 
auch auf die underen Aeste des Fazialis fiber, so dass es schliesslich zu einem 
allgemeinen Grimajssieren kommt. Diese Bewegungen zeigen stets den 
exquisit langslmen, ziehenden Charakter der Atbetose. DasSchlucken und die 
Sprache wird in immer boherem Grade gestort, so dass die Nahrungsaufnahme 
grosse Schwierigkeiten macht, besonders ist das Schlucken vonFlussigkeiton be- 
hindert, wfibrend das Kauen fester Speisen besser vonstatten geht. Die Sprache 
ist kaum mehr verstandlich; Pat. versucht mitunter durch die in den Mund ge- 
steckten Finger die unwiHkiirlichen Bewegungon desselben zu unterdrficken. 
Der gesamte Krankheitsvcrlauf lasst trotz seines ausgesprochen progressiven 
Charakters, mitunter Remissionen von kurzer Dauer erkennen, in denen die 
Atbetosebewegungen mehr zurucktreten, mitunter vorubergehend versohwinden. 


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Abbildung 4. Abbildung 5. 


* t* 



Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 367 


Pat. ist durch die sich plotz- 
lich einstellenden spastiscben 
Zustande der Korpermusku- 
latur in seinen Aktionen sehr 
behindert; ervermagz.B.nicht 
allein ausdemBett zukommen, 
sondern verharrtbeidiesenVer- 
suchen mitunter in ganz bi- 
zarren Stellungen, wie erstarrt 
auf derBettkante sitzend. Eine 
auffallende Bewegungsar- 
mut tritt in seinem ausse- 
renVerhalten hierbei deutlich 
hervor. Was den iibrigen Be- 
fund amNervensystem betrifft, 
ist das Oppenheim'sche 
Zeichen, welches am Beginn 
der Beobachtung rechts zwei- 
felhaft war, spater rechts an- 
dauernd deutlich vorhanden, 
ebenso ist der Gordon’sche 
Reflex rechts in ausgesproche- 
nerWeise nachweisbar. Links 
sind diese Zeichen nur init- 
unter und weniger deutlich zu 
konstatieTen. 

Babinski fehlt beiderseits 
andauernd. Die Bauchdecken- 
reflexe sind deutlich vorhan¬ 
den. Die Sehenrellexe sind an 
den Beinen sehr lebhaft, aber 
nicht ausgesprochen patho- 
logisch gesteigert, nur einmal 
war voriibergehend beiderseits 
Fussklonus vorhanden. Keine 
^paradoxe Kontraktion u . An 
den Armen sind die Sehnen- 
reflexe nicht gesteigert, von 
normaler Starke. 

Anhaltende Kontrak- 
turen oder La h mu n gen 
sind nicht zur Entwick- 
lung gekommen, wie sich 
in den Zeiten von voriibei. 
gehendem Verschwinden der 


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368 


A. Westphal, 





Spasmen nachweisen liisst. Die Bewegungsstdrung lasst andauernd den 
Charakter der Athetose erkennen, cboreiforme Bewegungen oder Tremor werden 
nicht beobachtet. Kurz dauernde kloniscbe, auf den linken M. sartorius 
beschninkte Zuckungen sind einmal bemerkt worden. Sogenannte n identische M 
Mitbewegungen sind nicht zu konstatieren. Ataxie ist nioht vorhanden. Ziel- 
bewegungen werden, sobald sie nicht durch eintretende athetolischeSpannongen 
verhindert werden, sicber ausgefuhrt. Sensibilitatsstorungen waren niemals 


Abbildung 6. 



Horizontalsclmifct durch das Gehirn in der Hohe der Corpora striata gelegt. 
Das Putamen beiderseits bei H von kleinen Herden durchlochert. 



nachzuweiscn. Wiederholt ist Urintraufeln zu beobachten. Keine Storangen 
der Stuhlentleerung. Erst in den letzten Wochen stellen sich Durchfalle ein, 
die den schon sehr erschopften Pat. noch mehr herunterbringen. Fieberbe- 
wegungen sind wahrend des gesamten Krankheitsverlaufes nicht beobaohtet 
worden. 

Exitns am 20. Marz 1918 nach kaum secbswochentlichem Krankenbaus- 
aufenthalt. 





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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankboitszustande. 3H9 

Aus dem Sektionsproiokoll ist Fol gen des hervorzuheben: Schadel 
diinD. Dura massig gespannt. Pia diinn und durchscheinend. Gefasse an der 
Basis und der Fossa Sylvii zartwandig. Hirnwindongen nicht verscbmalert. 
Ein dorch das Gehirn gefuhrter, den Linsenkern beiderseits frei- 
legender Horizontalscbnitt lasst eine bi lateral e symmetrise be Er- 
krankung desselben erkennen. Der hintere aussere Teil des Pu- 
tamen zeigt beiderseits in einem etwa zebnpfennigstiickgrossen 
Bezirk eine wabenartige Struktur, die bedingt ist durcb mehrere 
birsekorn- bis linsengrosse, dicht bei einander liegende Hohl- 
r&ume (Abb.6). Die Sussere Grenze dieses erkranktenBezirks wird sebarf durch 
die aussere Kapsel gebildet. Dorsal warts reicben diese durchlocherten Stellen 
beiderseits nur wenige Millimeter in die Tiefe. Die Hohlraume entbalten eine 
geringe Menge eines zaben, fadenziebenden, hellen Inbalts. Die iibrigen Teile 
des Linsenkerns, der N. caudatus und der Thalamus opticus lassen makrosko- 
pisch koine VerEnderungen erkennen. Ebenso ersoheint das Rtickenmark un- 
verandert. Von den inneren Organen sind llerz und Aorta, Nieren, Magen und 
Hoden auffallend klein, obne sonstige Veranderungen erkennen zu lassen. Die 
Leber ist etwas vergrossert, Gewicht 1650 g. Die Oberflache glatt. Der Dick- 
darm stark byperEmiscb mit zahlreiohen Geschwuren. 

Mikroskopiscbe Ontersuchung. Aus dem Gehirn wurde je ein 
kleines Stuck aus der linken Frontalwindung, der vorderen und hinteren Zen- 
tralwindang, sowie aus dem erkrankten Linsenkern einer Seite inAlkohol gelegt 
zur ToluidinblaufSrbung nach Kissl. 

Das ubrige in Formol konserrierte Gehirn wurde zur weiteren Bearbeitung 
in das neurologische Universitfits-Laboratorium nach Berlin gescbickt. Den 
Herren Kollegen 0. Vogt und Bielschowsky bin ich fur die liebenswiirdige 
Ausfuhrung dieser Untersuchungen zu vielem Dank verpflichtet. lob gebe zu- 
naohst den ton mir in Gemeinscbaft mit Herrn Dr. Sioli am Alkoholmaterial 
gewonnenen Befund nieder. 

1. Frontalwindung. Pia stellenweis etwas verdiokt durch Fibroblasten 
und Abraumzellen mit ziemlicb viel grunem Pigment. GehirnoberflEobe stark 
grobwellig, keine bemerkenswerte kernfrele Deckscbicht. Keine Storung der 
Rindenarobitektur. 

Die Gefasse der Ilirnrinde und des Marks sind niclit vermehrt, einzelne 
Gefasse aber stark geschlEngelt. Endothelkerne niebt vergrossert, aber stellen¬ 
weis etwas vermehrt. In vielen Gefasswandzellen grune Pigmentkorner. In 
den adventitiellen Scheiden vieler Markgefasse reichliche Zellansammlungen 
(Abb. 7), von denen ein grosser Teil als gelbes oder griines Pigment enthal- 
tende AbrSumzellen erkennbar ist, ein anderer Teil nur grosse oder kleine 
Kerne obne Protoplasma zeigt. Iofiltrationszellen sind nicht mit Sicberheit 
nachweisbar. Es fin den sicb keine PJasmazellen. 

Die Ganglienzellen beilnden siob vielfacb im Zustand der ebroniseben 
Voranderung in verschiedenen Graden des kornigenZerfalls. Stellenweis starke 
Neuronopbagie. Gliakerne stark vermebrt, es linden sich viele kleine, aber 
auoh eine vermebrte Anzahl geschwellter Gliakerne. Stabchenzellen sind nicht 


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A. Westphal, 


vorhanden. Vordere und hintere Zentralwindung gleichen der 1. Fron- 
talwindung, nor ist die Ganglienzellenveranderung geringer. 

Linsenkern. Im Bereich des Linsenkerns finden sich in den adventi- 
tiellen Lymphsoheiden neben Lymphozyten, Plasmazellen in wechselnder 
Anzahl. Wahrend dieselben an manchen Stellen nur sparlich vertreten sind, 
sind sie an anderen Stolen zahlreicher vorhanden, liegen mitunter in den 


Abbildung 7 


Perivaskulare Zellanhaufungen (Mark des Stirnhirn); schwache Vergrbsserung, 


Lymphsoheiden derkleinenGe fa ssedichtbei einander (Abb.8). Dane- 
ben sind zahlreiche Pigment fiihrende Abraumzellen sichtbar. Unregelmassig 
im Gewebe zerstreut sind zahlreiche Stabchenzellen sichtbar. 

Die Ganglienzellen sind vielfach verandert im Sinne eines kornigen Zer- 
falls mit Vorhandensein zahlreicher Zellschatten. 

Die Gliakerne sind vermehrt, es finden sich besonders zahlreiche grosse 
geschwellte Kerne, umgeben von Stippchen oder hauohartigen Protoplasma- 
fortsatzen. 


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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 371 

Das Uesultat der bisherigen histologischen von Prof. Bielschowsky aus- 
gefiihrton Untorsuchung des in Formol aufbewahrten Materials lasse ich in 
abgekdrzter Form folgen 1 ): 

Bei schwacher Vergrosserung bietet das Gewebe der erkrankten Stelie 
des Putamen das Aussehen eines grosslocherigen Schweizerkases. Die Looher 
enthalten haufig Ballen einer koagulierten, durchsichtigen und mit Kresylviolett 
metachromatisch gcfarbtenSubstanz, in welcher sich nioht selten kristallinische 
Nadeln und Nadelbiindcl ausgeschieden haben. Die Locher entsprechon in der 
Mehrzahl den stark erweiterten Lymphraumen der grosscren Arterien; zum Teil 

Abbildung 8. 


» ^ 



Plasmazellen im pcrivaskuliircn Lymphraum eines kleincn Gcfiisses 
des Corpus striatum (Zeiss liomogen. Immersion). 

lasst ihr Inhalt aber Reste eingeschmolzenen zentralen Gewebes (Giiakerne, 
schattenhaft abgeblasste Ganglienzellen, Rundzellen von lymphozytarem Aus¬ 
sehen) erkennen, %efunde, welcbe darauf sohliessen lassen, dass neben einer 
erheblichen Lymphstauung auch eine sekundare Einschmelzung des 
infiltrierten Gewebes'in derUmgebungderGefasse stattgefundenhat. Forner 

l) Das vollstandige Fjigebnis der anatoniischen Untersuchung wird nach 
Fortigstellung derselben im Journal fur Psychologie und Neurologie verbiTent- 
licht werden. 


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372 


A. Westphal, 


l *?■>■ •*'. > 



finden sich in der Umgebung kleiner Arterien frische und Reste a 11erer 
Blutungen, welche ebenfalls an der Bildung der kleinzystischen Verande- 
rungen des Gcwebes mitgewirkt baben konnen. 

Neben diesen in enger Beziehung zum Gefassapparat stehenden kleinen 
zystischen Herden finden sich iin ganzen Putamen und vereinzelt aucb im 
N. caudatus kleine rundliche, scharf begrenzte Proliferationszonen 
von Gliakernen, in deron Bereicb sich aucb zahlreiche Stabcbonzellen nach- 
wcisen lassen. Bei Kisenbamatoxylinfarbungen treten diese Herde mit ibren stark 
injizierten und gedrangt stehenden Kapillaren besonders deutlicb bervor. Die 
Venen sind in den makroskopisch erkrankten Partien desPutamen von Rundzellen 
umsaumt. Die peri vaskularen Infiltrate durchsetzen baufig die Gefass- 
wand und bilden gelegentlich breite Wallc. Sie enthalten vorwiegend lympho- 
zytare Elemente, aber aucb Plasmazellen und vereinzelte Mastzellen. Dazwi- 
scben finden sich adventitielle, oin griinliches Pigment entbaltende Abbauzellen 
und freiliegende Pigmentklumpen. An den Gefassen des Putamen und 
des Globus pallidas fallt ferner das reichlicbe Vorkommen von Kalkein- 
lagerungen in den Gefasswanden, teils in Form einer staubartigen 
Durchsetzung der Media, teils in der Bildung einer derben Konkrement- 
scbicht zwisoben Intima und Media auf. Haufig geht eine hyaline Meta¬ 
morphose der Media mit dieser Inkrustation des Gefassrohres Hand in 
Hand. Im Globus pallidus finden sich rundliche oder eiformige, mitunter eine 
/.wiebelartigo Scbichtung erkeunenlassende Gebildc, die ihrer farberiscben 
Reaktion nach kalkhaltigo Verbindungen darstellen und als schollenartige 
dunkle Bildungen viele Kapillaren auf weite Streckcn bedecken. Der N. cau¬ 
datus bietet ahnliche Befunde wie der Linsenkern, nur in quantitativ abge- 
scbwacbtem Masse. Auch in den dem Linsenkerne benaobbarten Inselwin- 
dungen, in der llegio substriata und dem Claustrum, sowie in der Pia der Insel- 
windungen sind zahlreiche erweiterte Gefasse, besonders Venen mit zellig 
infiltrierten Wandungen und erweitertenLymphraumen vorhanden. Die Linsen- 
kernschlinge, die Haube und die Faserung des Mittelhirns zeigen 
keine Abweichu'ngen von -dor Norm, insbosondere weder Herde, noch 
sekundare Degenerationen. Die Parenchymbestandteile sind in dem erkrankten 
Linsenkerngebiet im Zellbild relativ wenig veriindert. Immcrkin sieht man 
nicht selten an den grossen Zelltypen desPutamen und Globus pallidus Zerfalls- 
erscheinungen und in den grossen Zellen des letzteren Anhaufungen von grob- 
kornigerlipoider Substanz, wie sie unter normalen Verhaltnissen nicht vorkommen. 

Das Riickenmark lasst in beiden Pyramidenseitenstrangen 
deutliche Vermehrung dor faserigen Glia erkennen, so dass sich die- 
seiben scharf von den nicht veranderten Kleinhirnseitenstrangbahnen abgrenzen. 
Bei Markscheidenfarbungen (nach Pal) ist jedoch keinAusfall vonNervenfasern 
m dem Areal der Pyramidenseitenstrango zu erkennen. 

Die Untersuchung der Leber ergab: Beginnende Exsudation an den 
kleinen Gefassen des interazinosen Bindegewebes, fettige Degeneration der 
Leberzellen, keine Kapillarneubildungen in den Gallenwegen. 

Diagnose: Beginnende Zirrhose. 



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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 373 

Dieser Fall ist in symptomatologischer, lokalisatorischer und patho- 
logisch-anatomischer Beziehung bemerkenswert. Wenden wir uns zuerst 
den Syroptomen der Krankheit zu. Rs handelt sicb um eine doppel- 
seitige, die Muskeln der Extremit&ten, des Rumpfes und des Geeichts 
betreffende Athetose. Die Beteiligung des Gesichts ist einc selir aus- 
gesprochene, es besteht ein fast kontinuierliches Grimassieren. Die 
athetotischen Bewegungen der Extremitaten betreffen niclit wie in der 
Regel vorwiegend die distalen Abschnitte derselben, sondern linden in 
erster Linie in den mehr proximal gelegenen Gelenken statt, eine ge- 
ringe Beteiligung der Finger und Zehen wird erst im spateren Krank- 
beitsstadium beobachtet. Dass die Lokalisation der athetotischen Be¬ 
wegungen an Hand und Fuss keine ganz konstante ist, wird schon von 
Lewandowsky 1 ) erwahnt, der hervorhebt, dass die Bewegungen, wenn 
auch selten. an andejren Muskeln beobachtet werden. Er selbst sah die 
Athetose zweimal an den Muskeln der Schulter auftreten. Die Bewe¬ 
gungen haben den exquisit langsamen, drehenden, der Athetose eigen- 
tumlichen Charakter, zeigen niemals die schnellere Verlaufsweise von 
choreatischen Zuckungen. 

Was den rhythmischcn Charakter der Bewegungen betrift't, auf den 
Lewandowsky besonders Gewicht legt, so ist derselbe im allgemeinen 
uicht zu konstatieren, vielmehr erfolgen die Bewegungen in der Regel 
in ganz ungeordneter, uberaus wechselvoller Weise. Dagegen zeigen die 
mit der Athetose eng zusammenh&ngenden passageren Kontraktureu, 
der „Spasmus mobilis u der Autoren, niitunter eine eigenaqtige, sich 
rhythmisch wiederholende Verlaufsweise bei nnserem Kranken. Dass es 
sich bei der Erscheinung der Athetose double in meinem Fall aus- 
schliesslicb r nm eine Art generalisierter, aber keineswegs identischer 
Mitbewegnngen handelt’, als welclie sie Lewandowsky auffasst, much to 
ich nicht glauben. Zwar konnte auch ich feststellen, dass mitunter so- 
genaunte athetotische Stellungen erst auftreten, wenn andere Kfirper- 
teile Bewegungen maclien, oder wenn sich der Kranke in Bewegung 
setzt, aber viel h&ufiger sah ich athetotische Bewegungen einzclner 
Muskeln, ohne dass diese Bewegung als Mitbewegung gedeutet werden 
konnte oder wieder andere Bewegungen auslfiste. In evideuter Weise 
tritt der von Lewandowsky besonders. betonte Einfluss psychischer 
Emotionen l>ei nnserem Kranken hervor; das Anreden desselben, das 
Ilerantreten an das Bett, ja mitunter schon eine von dem Kranken be- 
merkte Beobachtuug aus der Feme genfigt, athetotische Bewegungen 
hervorzurufen oder vorhandene wesentlich zu verstiirken. 

1) Ueber die Bewegungsstfirungen der infaniilen zerebralen Hemiplegie 
and fiber die Athetose double. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 29. 


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A. Westphal 






374 • 

Von besonderem lntercsse ist die Betrachtung der mit der Atlie- 
those untrennbar verbundenen Spasmen in den betroffeneu Mus- 
kelgruppen, seitdem Striimpell (1. c) diese hypertonischcn Zustande 
der Muskeln zum Gegenstand eingebeuder Untersuchung gemacht und 
gezeigt hat, dass sie ein wesentliches Merkmal verschiedener mit ein- 
ander verwandter, auf Storungen der Myostatik beruhender motorischer 
Symptomenkoniplexe bilden. Zu diesem „amyostatischeu Syndrom u 
gehort auch die Athetose, welche besonders in zwei von Strumpell’s 
Fallen in den Vordergrund trat. Der von Striimpell als eine Haupt- 
eigentumlichkeit desj veranderten Muskelzustandes beschriebene Ura- 
stand, dass die hypertonischen Muskeln die Glieder in den eingenom- 
menen Stellungen fixieren und festbalten, eine Erscheinung, die er 
,, Fixationsrigiditat“ oder „Fixationskontraktur“ nannte, tritt 
auch in unserer Beobachtung deutlich hervor. Die Abbildungen 1—5 
zeigen die bizarren Stell ungen, in welche der Patient durcli diese Fixa- 
tionsrigiditat gebracht wird. Die Tatsache, dass „diese Stellungen ganz 
von allein kommen M , wie sich ein Patient Strum pel 1 ’s ausdruckte, ist 
auch fiir unsere Beobachtung. zutreffend. 

In ausgesprochener Weise trat die Bewegungsarmut bei unserem 
Patienten in die Erscheinung. Die in den sonderbarstcn und unbequem- 
sten Stellungen geratenen Extremitaten verharreu oft l&ngere Zeit be- 
wegungslos in denselben. Der Gesichtsausdruck bat trotz der athetoti- 
schen Bewegungen der Gesichtsmuskulatur etwas Starres, es fehlt jede 
eigentliche Mimik. Patient bewegt sich iiberhaupt spontan so gut wie 
gar nicht, die an ihm zu beobachtenden Bewegungen sind unwillkur- 
liche. Das Verlialten der Muskeln bei passiveil Bewegungen 
entspricht ini wesentlichen dem von Striimpell Angegebenen; insbe- 
sondere kann bei plotzlichen, briisken, ))assiven Bewegungen keine Ver- 
starkung der Spasmen auf reflektorischem Wege, wie dies bei spastischen 
auf Erkrankung der Pyramidenbahn beruhendeu Lahmungen der Fall 
zu sein pflegt, hervorgerufen werden. Im Gegenteil, die Spasmen lasseu 
bei mehrfach wiederholten passiven Bewegungen nach; niemals ist dabei 
auch nur eine Andeutung von Schutteltremor vorhanden. Diesel* Um- 
stand ist urn so bemerkenswerter, weil unser Fall ’kein ganz „reiner u 
ist, sondern eine Komplikation mit einer auch anatomisch nachgewie- 
senen, allerdings nur geringfiigigen Erkrankung der Pyramiden¬ 
bahn zeigt, auf die klinisch das rechts im spateren Krankheitsverlauf 
andauernd vorhandene Oppenheim'sche und Gordon schen Zeichen 
hinwiesen, die links nur mitunter hervorzurufen waren. Das Babinski- 
sche Zeichen jedoch war niemals nachweisbar. Die Sehnenreflexe waren 
lebhaft, oline deutlich gesteigert zu sein. Nur einmal liess sich in der 



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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 375 

letzten Zeit der Erkrankung vorfibergehend Fussklonus hervorjrufen. 
Die Bauchdeckenreflexe waren deutlich vorhanden. Dass durcb die Bei- 
mengung einiger auf eine Mitbeteiliguug dcr Pyramidenbabn hinweisen- 
der Symptome, die prinzipielle Bedeutung des myostatischen 
Symptomenkomplexes nicht verringert wird, ist bei Berucksicbtigung 
der anatomiscben Verk&ltnisse ohne weiteres verstfindiich, wenn man be- 
denkt, dass es sich in diesen Fallen „wohl nur um eine Ueberscbreituug, 
um ein Ueberdieufertreten 14 des anatomischen Prozesses handelt (Oppen- 
heim). Nicht zweifelbaft ist es aber, dass durch das Auftreten von 
Pyramidenbahnsymptomen bei zum amyostatischen Symptomenkomplex 
gehfirenden Krankheitsffillen die Differential diagnose erschwert werden 
kann, wie das fur die Pseudosklerose gegenuber der multiplen Sklerose 
in eingehender Weise von Oppenhetm 1 ) dargetan ist. 

Unser Fall zeigt, dass trotz der bestehenden Komplikation mit einer 
leichten Pyramidenbahnerkrankung, die Art der Muskelrigiditfit im wesent- 
lichen dem StrfimpeH’scken Typus entspricht, dass demnack der Eigen- 
art des hypertonischen Zustandes der Muskulatur eine besonders grosse 
Bedeutung in diagnostischer Hinsiclit zukommt. 

In unserem Falle R. spielen neben der Athetose Stdrungen der 
Sprache and des Schluckens eine wichtige Rolle. Die Sprache ist 
leise, mitunter stockend, von monotonem Charakter und nasalem Bei- 
klang, sie ist in der letzten Zeit der Beobachtung kaum noch verstfind- 
lich. Das Schlucken ist sehr erschwert^ besondere Schwierigkeiten 
macht die Einnabme von Flussigkeiten, die zuletzt nicht mebr herunter 
gebracht werden kdnnen. Starke Salivation ist mit diesen Stdrungen 
verbunden. Diese „pseudobu)b&ren u Erscbeinungen sind schon in den 
ersten Fallen von C. Vogt und Oppenheim bei doppelseitiger Alhe- 
tose von diesen Autoren beobacbtet und auf die Erkrankung des Corpus 
striatum zuruckgefuhrt worden. Von Wilson ist spttter bei Beschrei* 
bung seiner Krankheitsf&lle betont worden, dass die in seinen Beobach- 
tungen zu konstatierende Dysarthie und Dysphagie auf die bilaterale 
lentikul&re Erkrankung zu beziehen seien. 

Was die in unserem Fall vorhandenen Blasenstdrungen, die in 
leicbter Inkontinenz bestandeu, betrifft, weise icb darauf hin, dass 
v. Czylarz und Marburg 2 ; in* ihrer Arbeit fiber zerebrale Blasen- 
stdrungen zur Annahme eines im Corpus striatum gelegenen Blasen- 
zentrums kommen, durch dessen Mitbetroffensein die Blasenstdrungen 


1) Differentialdiagnose zwischen multipler Sklerose und Pseudosklerose. 
Deutsche Zeitsohr. f. Nervenheilk. Bd. 54. H. 4. 

2) Jahrb. f. Psych, u. Neurol. Bd. 21. 


V 


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376 


A. Westphal, 


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unser^s Kranken eine Erklarung fin den kbnnten. Das Fehlen schwererer 
psychischer Stdrungen in unserem Falle steht in Uebereinstimmung 
mit den Erfahrungen bei den fr&her beobachteten Fallen von doppel- 
seitiger Athetose [Freund 1 )]. 

Dass die in unserem Falle konstatierten leichteren V erSnderungen, 
wie die Abnabme des G ediich tn isses und der Merkf&higkeit. 
auf die zerebrale Erkrankung zuruckzufubren sind, nicht lediglich als 
beginnende Alterserscheinungen aufgefasst werden durfen, wird durch das 
zeitliche Zusammeutreflfen des Einsetzens dieser Stdrungen mit den mo- 
torischen Krankheitssyraptoraen wahrscheinlich geniacht. Diese Ged&cht- 
nisstftrungen sind ini Gegensatz zu den Angaben Stdcker’s 2 ) bemer- 
kenswert, dass bei der progressiven Lentikularerkrankung „auf psychi- 
scbem Gebiete in alien bisher beobachteten Fallen immer nur eine 
eigenartige geistige Schwache beobachtet worden ist, die sich vor allem 
ausserte in einer gewissen Urteils- und Aflektstdrung . . . Jedoch nicht 
in Stdrungen der Merkfahigkeit“. 

Bei der Vorstellung meines Kranken (I. c.) wies ich auf die Aehn- 
licbkeit bin, welcbc das Krankheitsbild einerseits mit dem der Para¬ 
lysis agitans, andererseits mit der Dystonia musculorum defor¬ 
mans (Oppcnheim) in mancben Punkten aufweist. 

An die Paralysis agitans erinnern in erster Linie die Muskel- 
spannungen, die den Cbarakter der bei der Zitterlabmung zu beobacb- 
tenden Spasmen zeigen. Striimpell hat bei der Schilderung des 
amyostatischen Symptomenkomplexes auf die Aebnlicbkeit bingewiesen, 
welcbe die Muskelrigidit&t mit dem Yerhalten der Muskelspannungen 
mancber Fiille von Paralysis agitans aufweist, die von ibm als „Para¬ 
lysis agitans sine agitatione w bezeicbnet worden sind. Auch in unserem 
Falle fehlt das Zittern vollstandig. Der Gesichtsausdruck unseres 
Kranken bat den starren der Paralysis agitans eigentiim lichen Charakter, 
der bei dieser Krankheit auf die Muskelspannungen zuruckgefuhrt zu 
werden pflegt, wiihrend Zingerle 3 ) das Fehlen der inimischen Aus- 
drucksbewegungcn als ein den Spasmen koordiniertes Symptom, nicht 
als eine Folge derselben betrachtet. 

Weitgebende Aebnlichkeit mit dem Verbalten bei der Paralysis 
agitans zeigt die Korperbaltung und der Gang unseres Kranken. Das 
Symptom der Retro puls ion, welches, wenn auch nicht ko ns taut nach- 

1) Journal f. Psych, n. Neurol. Bd. 18. Erganzungsheft 4. % 

2) Ein Fall von fortschreitender Lentikulardegeneration. Zeitschr. f. die 
ges. Neurol, u. Psych. Bd. 15. 

3) Journal f. Psych, n. Neurol. Bd. 14. 


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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 377 

weisbar, doch zeitweilig in ausgesprochener Weise vorhanden 1st, muss 
besonders hervorgehoben werden, da es, soviel ich die Literatur fiber- 
sehe, bisber bei Fallen von doppelseitiger Athetose nicht beobacbtet ist. 
Es geht aber ana der Bescbreibung von zum amyostatischen Symptomen- 
komplex gehdrigen Fallen, und zwar in erster Linie solcben der Wilson - 
schen Krankheit hervor, dass dieses Symptom keineswegs ffir die Para¬ 
lysis agitans pathognomoniscb ist, sondern auch bei verwandten Krank- 
heitszustanden vorkommt. So beschreibt St6cker*(l. c.) in seinem Falle 
von fortschreitender Lentikulardegeneration (Wilson’scher Krankheit) 
ganz analog unserer Beobachtung Retro- und Lateropulsion als Sym¬ 
ptoms, die er mit der Muskelsteiiigkeit in Zusammenhang bringt, und 
ihre Entstehung dadurch erkl&rt, „dass in Folge der Steifigkeit und vor 
allem tier dadurch bedingten Erschwerung und Verlangsamung aller 
Muskelbewegungen, die statische Ausbalanzierungsf&higkeit des Kfirpers 
Scbaden gelitten hat u . Leichte Erscheinungen von Propulsion bei einem 
Falle Wilson’scber Krankheit konnte auch Stier 1 ) bei einem seiner 
Fade nacbweisen. Von den pseudobulbfiren in unserem Falle beobach- 
teten Symptomen kommen Dysarthie und Dysphagie in vereinzelten Fallen 
bei Paralysis agitans vor, wfihrend der bei unserem Patienten bestehende 
Speichelfluss zu den hfiufigen Begleiterscheinungen dieses Leidens ge- 
hfirt. Noch nShore Beziebungen wie zum Symptomenkomplexe der 
Paralysis agitans l&sst unser Fall zur Dystonia musculorum defor¬ 
mans (Torsionsspasmus) erkennen. Seitdem Oppenheim und Ziehen 
in ihren ersten dieses Krankheitsbild schildernden Darstellungen auf 
verwandtschaftliche Verhaltnisse desselben zur doppelseitigen Athetose 
hingewiesen baben, ist die Frage* nach diesen Beziehungen in den fol- 
genden Verfiffentlichungen und Diskussionen nicht mehr von der Bild- 
flache verschwunden. In jfingster Zeit bat Thom alia (1. c.) bei der 
Schiiderung eines in klinischer und anatomischer Hinsicht bemerkens- 
werten Fades von Torsionsspasmus eine zusammenfassende Uebersicht fiber 
den Standpunkt unserer Kenntnisse auf diesem Gebiete gegeben. Wenn 
ich meine Beobachtung in das Gebiet der allgemeinen Athetose eiureihe, 
so geschieht das aus folgenden Grfinden: Der Fall unterscbeidct sich 
von dem ursprfinglichen Krankheitsbilde der Dystonia musculorum de¬ 
formans dadurch, dass er einen Erwachsenen, nicht das kindliche Alter 
betrifft, dass der Patient nicht semitischer Abstammung ist, und dass 
das Leiden in akuter Weise entstanden, sich in rapider Weise weiter 
entwickelt hat, nicht den bei der Dystonia musculorum deformans ge- 


1) Wilson’sche Krankheit und Paralysis agitans. Neurol. Zentralblatt. 
1917. Nr. 24. 

ArchfT t P»ychl»irie. Bd. 60. Heft 2/3. 25 


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378 


A. NVestph&l, 


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wdhnlicheu schleichenden Charakter zeigt. Von den kliniscben Eracbei- 
nungen ist das lebhafte Grimassieren, die starke StSrung der Sprache 
und des Sckluckaktes, sowie der Umstand, dass die eigenartige Bewe- 
gungsstOrung nicht nur im Gehen und Stehen auftritt, sondern auch im 
Liegen zu deu groteskesten StelJungen fuhrt, dem Oppenheim-Ziehen- 
schen Krankkeitsbilde fremd. Hypotonische Zust&nde der Muskulatar, 
die Oppenkeim besckreibt, sind in unserem Falle nicht zu konstatieren. 
Fur die Athetose kingegen spricbt in meinem Fail der exquisit langsanie 
Charakter der Bewegungen, die Tatsache, da$s die Pradilektionsstellen 
der Atlietose, die Finger und Zeken im sp&teren Krankheitsverlauf von 
der StOrung mitergriffen werden, sowie der ausserordentlicke Einfluss, 
den psycbiscke Erregungen auf die Auslftsung der Beweguugen kaken. 
Der torquierende, zu ubertriebenen Stellungen fuhrende Verlauf’der Be* 
wegungen bei unserem Kranken ist fur die Dystonia musculorum defor¬ 
mans kennzeichnend, aber auck der Athetose nicht fremd. Dass das 
Vorhandensein oder Fehlen von auf ein Mitergriffensein der Pyramiden- 
bakn hinweisendenSymptomen, besonders wenn diesel ben ein wechselvolles, 
fluktuierendes Verkalten zeigen, keineu Scbluss fur oder gegen die An* 
nakme des Bestekens eiuer Athetose double oder des Torsionsspasmus 
gestattet, hat bereits Thomalla ansgefukrt. Das Vorhandensein einer 
Reihe der Athetose double zukomraender Symptome (Grimassieren, 
Sprach- und SckluckstOrungen, typisch atketotiscke Bewegungen, starke 
Salivation) in seinem im iibrigen mekr dem Biide des Torsionsspasmus 
entspreckenden Falle, veranlasst Thomalla diesen als einen Grenzfall 
zwiscken Torsionsspasmus und Athetose double zu bezeicknen, wie sie 
auch von Flatau, Maas, Fischer u. a. beobachtet sind. Wie sckwierig 
die Differeutialdiagnose dieser beiden Symptomenkomplexe sein kann, 
geht mit besonderer Deutlicjikeit aus der sick an eine Krankkeits* 
vorstellung Kramer's 1 ) ansch lies sen den Disk uss ion hervor, in der von 
Bonhoeffer darauf hingewiesen wurde, dass auch das Verhaiten der 
Bewegungsstorung bei Ruhelage und Lokomotion, der ckronische Ver* 
lauf, die semitiscbe Abstammung, keine durcbg&nglgen, in alien F&llen 
vorkandene Attribute des Torsionsspasmus sind, und in welcker 
Oppenkeim betoute, dass derartige Drebkrampfe nicht nur bei der 
Dystonie bezw. dem Torsionsspasmus, sondern auch unter anderen uns 
nock unbekannten Bedingungen vorkommen. Wir konnen uns Op pen- 
heim nur anschliessen in der Forderung, dass es eine Hauptaufgabe 
der weiteren Forschung sei, die Differentialdiagnose der so niannigfacke 


l i Torsionsspasmus iihnliches Bild beim Krwachsenen. Ref. Zeitschr. f. 
die gos. Psych, u. Neurol. Bd. 1G. If. 2. 1918. 


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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszusiande. 379 

Beruhrungspunkte darbietenden Dystonia musculorum deformans und 
der bilateralen Athetose weiter auszubauen. Ob und inwieweiteine 
scharfe Trenuung dieser Krankheitsbilder auf symptomnto- 
logiscbem <Wege raftglich ist, wird erst die Zukunft leh.ren. 
Auf keinen Fall wird die klinische Arbeit auf diesem Gebiete die Kon- 
trolle durcb die anatomische Untersucbung entbebren k&nnen. 

Die Lokalisation der Erkrankung ira Striatum in unserein Falle ist 
dieselbe wie in den Fallen von Anton, C. Vogt und O'ppenheim, 
von C. Vogt, Freund und Barrd, die s&mtlick mit Ausnabme des 
Anton’schen Falles, in dem choreatische Bewegungen iiberwogen, das 
Bild der doppelseitigen Atbetose darboten. Der neue „Grenzfall w 
Thomallas, bei dem der anatomische Befund ebenfalls eine 
doppelseitige symmetrische Erkrankung des Putamen ergab, 
ist in Verbindung mit unserer Beobachtung besonders ge- 
eignet, zum Verstandnis der auf klinischem Wege festge- 
stellten nahen Beziehungen des Torsionsspasmus zur Atbe¬ 
tose double beizutragen und auf die Bedcutung weiterer ana- 
tomiscber Befunde fur die Lokalisation der in Frage stehen- 
den Krankheitsbilder binzuweisen. Mit Hinsicht auf die feinere 
Lokalisation im Gebiet des Striatum hebt Kleist (I. c.) bervor, „dass 
Erkrankuugen des Striatum choreatische uud atbetotische Bewegungen 
uberwiegend dann zeigen, wenn die nacb Ban und Entwicklungsgescbichte 
zusammenh&ngenden „kleinzelligen Striatumteile u , Purameu und Scbwanz- 
kern verletzt sind. In raehreren Fallen (Anton, Berger, v. Mona- 
kow, Abundo) war nur das Putamen betroffen, bei den bciden Krankeu 
von C. Vogt, das Putamen und der N. caudatus, w fill rend der Globus 
pallidus in einem Falle, wcnn auch in geringerem Grade, mitbeteiligt 
war. ... Nur Fischer und Bothmann beschrieben Gehime von 
Kranken mit Athetose double, die cine starkere bezw. ausscbliesslicbe 
Erkrankung des Globus pallidus, des grosszelligen Striatumteils auf- 
wiesen u . Das Intaktsein der Linsenkernscblinge in unserer Beobachtung 
steht im Kinklang mit der Angabe K1 cist's (1. c.), „dass dieselbe bei 
der Linsenkcrnchorea und Atbetose zwar auch zuweilen beteiligt ist, 
aber im Ganzen weniger befallen zu sein scbeint 14 . 

Neben den lokalisatoriscben Fragen ist die Betrachtung der histo- 
logischen Eigenart der am Linsenkcrn gefundenen VerUnderungen in 
unserem Falle von Bedeutung. Was zuniichst die makroskopischen sicli 
auf einen kleinen Teil der hiuteren und basalcn Partien des Putamen 
beiderseits besclir&nkenden Ver&nderungen betrifft, die sicb auch dorsal- 
warts nur wenige Millimeter weit erstreckten, crgibt die mikroskopiscbe 
Cntersuchung, dass die wabenartigen kleinen, an diesen Stellen sicht- 

25* 



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380 


A. Westphal, 


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baren Hohlrfiume ihre Entstehung toils einer star ken, durcb Lymph* 
stauung bedingten Erweiterung der adventitiellen Lymphrfiume verdan- 
ken, teils auf sekundfirer Einschmelzung des Gewebes in der Umgebung 
von infiltrierten Geffissen beruhen, zum Toil auch auf Bltftungen in der 
Umgebung kleiner Geffisse zurfickgeffihrt werden mfissen. Die starke 
Beteiligung der Geffisse tritt uns nicht nur in den makroskopisch ver- 
anderten Partien des Putamen, sondern in diffuser Verbreitung im ge- 
gesamten Gebiete des Linsenkerns entgegen. Die Geffissverfinderungen 
iiberschreiten aber dies Gebiet und greifen, wenn auch in geringerera 
Grade, auf den N. caudatus und benachbarte Partien der Regio sub- 
striata, der Inselwindungen und des Claustrums uber. 

Die Geffissverfinderungen besteben in erster Linie in vielfach erheb- 
licben Infiltrationen der adventitiellen Lympbscheiden mit Lymphozyten; 
neben diesen finden sich an vielen Stellen nur in geringerer Zahl, an 
manchen kleii^n Gefassen aber auch zahlreichere Plasmazellen. 
Daneben sind in reichlicher Menge pigmenthaltige Abbauzellen, sowie 
freiliegendes Pigment und sparliche Mastzellen vorhanden. 

In diffuser Verbreitung finden sich in dem erkrankten Gebiet 
Stabchenzellen in bald spfirlicher, bald reichlicher Anzahl. Besonders 
zahlreich treten sie in den rundlichen Proliferationsberden des Linsen¬ 
kerns und des N. caudatus auf. Neben diesen progressiven Verfinde- 
rungen am Geffissapparat, finden sich im Gebiet des Linsenkerns Ver- 
finderungen der Geffisswandungen regressiver Natur in Gestalt von 
feinen, staubartigen und * derberen kalkhaltigen Konkrementbildungen, 
die haufig mit einer hyalinen Metamorphose der Media verbunden sind. 
Im Globus pallidus bedecken dunkle schollenartige kalkhaltige Gebilde 
oft die Kapillaren auf weite Strecken. 

Besonders bemerkenswert ist es, dass diese Verfinderungen 
am Geffissapparat sich fast ausschliesslich auf das Gebiet 
des Linsenkerns und wenn auch in geringerem Grade auf die 
ihm benachbarten Gehirnabschnitte beschrfinken, wfihrend sie 
in den zur Untersuchung gelangten Rindenpartien des Grosshirns fehlen 
und nur stellenweise in der Marksubstanz in einer leichten Infiltration 
der adventitiellen Lymphscbeiden mit zum grOssten Teil aiis Abrfium- 
zellen bestehenden Elementen hervortreten, wfihrend Plasma und Stab¬ 
chenzellen vermisst werden. 

Auch in der stellenweis etwas verdickten Pia finden sich neben 
Fibroblasten und pigmenthaltigen Abrfiumzellen nur vereinzelte kleine, 
lymphozytfire Infiltrationen. 

Die Verfinderungen des Parenchyms im erkrankten Linsenkerngebiet 
treten gegen diejenigen am Geffissapparat in den Hintergrund. Immer- 


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Uober doppfilseitigfi Athetose und verwandto Krankheitszustande. 381 

bin sind an den Ganglienzellen vielfach Zerfallserscheinungen mit An- 
haufungen lipoider Substanz nachweisbar, Erscheinungen, die auch an 
mancben Stellen an den Ganglienzellen der Hirnrinde hervortreten. 

Fragen wir nach dem Wesen dieser Befunde, so ist es nicht 
zweifelbaft, dass die dnrcb reichliche Lyraphozyteninfiltrate in den ad- 
ventitiellen Lymphscheiden, dem Vorkomn^en von Plasma- und Stab- 
chenzellen ausgezeichneten Veranderungen entzdndlicber Natur sind. 
Ueber die Orsache dieser entzundlichen Vorgange lasst sich ein be- 
stimmtes Urteil nicht abgeben. Der Umstand jedoch, dass mit Aus- 
nabme der sebr wabrscbeinlich vorausgegangenen Syphilis 1 2 ), andere 
atiologiscb in Betracht kommende Momente nicht nachweisbar sind, ruckt 
die MOglichkeit in den Vordergrund, dass es sich urn entzundliche 
Veranderungen'auf luetischer Grundlage handelt. 

Die regressiven Veranderangen an den Gefassen, bestehend in Ab- 
lagerung kalkhaltiger Snbstanzen in den Gef&sswandungen und hyaliner 
Entartung derselben, sind arteriosklerotischer Natur. Ob irgend 
welcbe Beziehungen derselben za den entzundlichen Veranderungen be- 
stehen, mussen wir dahingestellt sein lassen, aber auch hier die M5g- 
lichkeit offen lassen, dass nach bekannten Erfahrungen a ) die Syphilis 
als prlldisponierendes Moment w^rksam gewesen und zu relativ fruh- 
zeitigen arteriosklerotischen Veranderungen am Gefassapparat gefuhrt 
hat. Besonders hervorgehoben sei, dass weder die Lokalisation, noch 
die Ausdehnung der Arteriosklerose sich fur die Annahme einer syphi- 
litischen Genese derselben verwerten lasst, zumal in unserem Falle die 
Pradilektionsstelle der sypbilitischen Veranderungen am Gefassapparat, 
der Anfangsteil der aufsteigenden Aorta, frei von Veranderungen gefunden 
wurde. 

Was die Untersuchung des Ruckenmarks betrifft, lasst sich die 
Frage, ob die Affektion der Pyramidenbahn mit der Erkrankung 
des Corpus striatum im Zusammenhang stebt, vielleicbt auf Entzun- 
dungsYorgange oder Stauungserscheinungen in der Umgebudg des er- 
k rank ten Linsenkerns zuruckzufuhren ist, oder ob ihr eine mehr selbst- 


1) Der negative Aosfall der Wa. R. in unserem Falle bei einmaliger 
Untersuchung kann nach un9eren Erfahrungen, die sich mit der wohl jetzt 
allgemein vertretenen Ansicht decken, dass nur der deutlich positive Ausfall 
der Reaktion beweisend ist, nicht gegen die Annahme der Syphilis bei unserem 
Patienten, der die Infektion zugab, verwertet werden. 

2) Vergl. Nonne, Syphilis und Nervensystem S. 72 „Arteriosklerose bei 
Syphilitikern M . 



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A. Westphal, 



382 

st&ndige Bedeutung zukommt, auf Grund unseres bisher vorliegenden ana- 
tomischen Befundes niclit entscbeiden. 

Von besondereni Interesse ist die Beantwortung der Frage, zu wel- 
cber der von C. und U. Vogt (I. c.) neudings aufgestellten, auf patho- 
logisch-anatomischem Wege zu differenzierenden Gruppen von Linsenkern- 
erkrankungen unser Fall geliort? Die drei ersten von diesen Forschern 
aufgestellten, in engster Beziehung zur Heredodegeneration stehenden 
Gruppen, der Etat raarbre (Status marmoratus), der Etat fibreux (Status 
fibrosus), und die totale Nekrose des Striatum konnnen auf Grund des 
von uns erhobenen liistologischen Befundes nicht in Betracht. Es ban- 
delt sich in unserein Fall um die vierte Gruppe, welche die akut auf- 
tretenden, vaskularen Herde umfasst. Das fiir diese Falle cliarak- 
teristiscbe plotzliche Auftreten der klinischen Symptome ist fiir unseren 
Fall zutreffend, wahrend von einer bald beginnenden und mehr oder 
weitgehenden Besserung, die C. und 0. Vogt bei iliren Beobachtungen 
konstatierten, bei der ungewohnlich schwereu, sturmischen Verlaufs- 
weise in unserer Beobachtung nicht gesprochen werden kann. Blutungen 
und Erweichungen ini 0. striatum, welcbe anatoinisch diese Gruppe 
kennzeichnen, sind in unserem Fall vorhanden. Es muss jedoch kervor- 
gehoben werden, dass ein Missverhaltnis besteht zwischen diesen win- 
zigen, ini wesentlichen nur auf einen kleinen zirkumskripten Teil des 
Putamens beschrankten Herdchen und der Schwere der Krankheits- 
erscheinungen, so dass als Grundlage derselben wohl die Allgemein- 
erkrankung des C. striatum, berukend auf entzundlichen und 
arteriosklerotischen Gefiissveranderungen, wesentlich mit in 
Betracht zu ziehen ist. 

Auf Grund unserer Beobachtung spielen demnach nrcht 

nur Herdbildungen, sondern auch diffusere Erkrankungen 

des Striatum bei den akut auftretenden Fallen striarer Moti- 

litatsstorunge n eine Rolle. 

° * 

Die Erkrankung der Leber in unserem Fall verdient Beachtung, 
da Leberveranderungcn bei unserer Beobachtung verwandten Krankheits- 
gruppen, der VV i Ison'schen Krankheit und der Pseudosklerose, bei ersterer 
konstant, bei letzterer haufig gefunden werden, und da bemerkenswerter 
Weise, Thomalla (1. c.) eine Erkrankung der Leber auch iu seinem 
Falle von Torsionsspasmus nachgewiesen bat. Der Befund einer be¬ 
ginnenden Zirrhose in unserem Falle entspricht aber weder makro- 
skopisch, nocli inikroskopiscb den eigenartigen Veranderungen, wie sie 
bei den genannten Krankheiten gefunden worden sind. Es handelt sicb 
zunjichst nicht um eine verkleinerte, sondern um eine in massigem Grade 
vergrosserte Leber mit glatter Oberflache, oline die groben HOcker und 


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I’cber doppelseitige Athctose und verwandte Krankheitszustande. 383 

Knotchen, wie sie bei der Wilson’schen Krankbeit und der Pseudo- 
sklerose gefuuden werden, und der roikroskopiscke Befund l5sst die 
von der gewBhnlicben Zirrhose abweicbenden, auf fStale Schadigungen 
des Lebcrgewebes hinweisenden Veranderungen, wie sie bei der Pseudo- 
sklerose von Pryra und mir, Volsch, Fleischer, Schulte, Rumpel 
u. :i. neuerdings auch in dom Falle T ho mall a’s bescbrieben worden 
sind 1 ), verraissen. So wenig wahrscheinlicb es also ist, dass nakere 
Beziehungen der leickten zirrhotischen Leberaffektion in unserem Falle 
zu der zerebralen Erkrankung besteken, m&chte ick dock erw&kneu, 
dass V&lsck hervorkebt, dass sein Befund bei der Pseudosklerose sekr 
wokl einem Entwicklungsstadium der Leberzirrhose entsprechen, und dass 
die relative Massenhafrigkeit der neugebildeten Knoten in dem jugend- 
licben Alter de9 K ran ken ikre ErklArung fin den kOnne. 

Es wird die Aufgabe der Pathologen sein, den bei Erkrankungcn 
des l-orpus striatum vorkommenden Lcberveranderungeu weiter ihre 
Aufmerksamkeit zuzuwenden und vor allem die noch ungeklarten Be- 
ziehungen von Lebererkrankungen zu Erkrankungen des Zentralnerven- 
systems dem Verstandnis naher zu bringen. 

Auf die iii unserem Fall gefundene auffallende Kleinbeit sfimt- 
licher innerer Organe (mit Ausnahme der Leber), die durck Ver- 
gleich mit den durcbschnittlicben mir von Herrn Gebeimrat Ribbert 
freundlickst zur Verfiigung ges tell ten Normalwerten Gesuuder ermittelt 
werden konnte, sei kurz kingewiesen, da die Vorstellung einer konge- 
nitalen Veranlagung zu Erkrankungen des Linsenkerns, wie sie wohl 
zueret von Anton (1. c.) ausgesprochen und spater vielfach in der 
Literatur wieder aufgetaucht ist, vielleickt in derartigen Befunden eine 
Stutze findet. Auch Thomalla erwaknt in seiner Beobacbtung den 
infantilen, besonders in der mangelkaften Ausbildung der Sexualorgane 
hervortretenden Habitus seines Kranken. 

Fall 2. P. Grohe, Gojahriger•Schlosser, ist wegen schweren Alkoholis- 
mus und verscbiedener alkoholiscber Psychosen (Delirium tremens, abater 
Alkoholballazinose, typiscbem Eifersucbtswahn) zu wiederholten Malen in der 
hiesigen Anstalt in Behandlung gewesen. Abgesehen von den psycbischen 
Storangen und leiohten neuritischen Erscheinangen (Druckschmerzhaftigkeit 
der Waden osw.) waren bei don ersten Aufnahmen keine auffallenden Erschei* 
nungen bei dem Pat. zu konstatieren. Bei der letzten Aufnahme (1914) 

1) In einem zur Pseudosklerose gehorigen von Fr. Schultze vor kurzem 
verdffentliobten Fall (Neurol. Zentralbl. 1918, Nr. 20), den er 1878 auf der 
Friedreich’sohen Klinik zu beobachten und zu untersuchen Gelegenheit 
hatte, konnte sobon ein analoger Leberbefund erbobon werden. 


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384 


A. Westphal, 






wurde trage Lichtreaktion der Pupillen festgestellt, die im Laufe der weiteren 
Beobachtung bei erhaltener Konvergenzreaktion vollig erloscb. 1917 bestand 
beiderseits Miosis und reflektorische Pupillenstarre. Pat. gab eine 
friihere syphilitische Infektion zu. Wassermann im Blute stark posi- 
tiv, im Liquor negativ. Nonne-Apelt, schwache Trubung, Lymphozyten leicht 
vermehrt. (15 im cmm.) Auf psychischem Gebiete ist die grosse Stumpfheit 
und Aflektlosigkeit des Pat. horvorzuheben. Die Merkfabigkeit ist stark 
herabgesetzt. Keine paralytische Sprachstorung. Die Sehnenrefiexe sind von 
normaler Starke. Kein Oppenheim, kein Babinski. Starke peripberische Arterio- 
sklerose. Gang und Haltung des Pat. zeigten bis auf eine leicbte Unsicber- 
heit beim Gehen keine Storungen. 1918 fallt zuerst auf, dass Pat., im 
Begriff durch den Krankensaal zu scbreiten, plotzlich in stark 
riicklaufige Bewegung gerat. Die Retropulsion ist so ausgesprochen, 
dass Pat., wenn er nicht gehalten wird, nacb hinten bertiber auf den Riicken 
fallen wurde. Die Untersuchung ergibt jetzt starren, maskenartigen 
Gesichtsausdruck. Die Korperhaltung ist aufTallend steif, ohnejedoch 
das typische Verhalten der Paralysis agitans zu zeigen. Alle Bewegungen 
lassen eine gewisse Verlangsamung und Erschwerung erkennen. Bei 
passiven Bewegungen fiihlt man in den Gelenken der oberen und unteren Ex- 
tremitaten einen leichten gleichmassigen spastischen Widerstand, 
der sich bei plotzlichen, briisken Bewegungon nicht verstarkt. Zittern besteht 
nicht. Pat. klagt liber starken Speichelfluss, der sich in letzter Zeit be- 
merkbar gemacht hat. Exitus plotzlich am 27. 6. 1918 unter den Erscheinungen 
der Herzschwache. 

Die Sektion ergab: Schiideldach schwer, Diploe erhalten. Dura raassig 
gespannt, Innenflache glatt und glanzend, Hirngewicht 1270 g. Pia iiber der 
Konvexitat verdickt und getriibt, ohne Substanzverlust des Gehirns abziehbar. 
Stirnwindungen etwas verschmalert. Pia der Basis diinn und durchscheinend. 
Gefasse der Basis und der Fossa Sylvii massig arteriosklerotisch verandert. 
Auf einem durch das Gehirn gelegten, das Corpus striatum beiderseits frei- 
legenden Horizontalsohnitt tritt im dorsalen Teil des rechten Putamens 
ein grosser, zystischer, sparliche Gewebsfetzen entbaltender 
Substanzverlust von annahernd dreieckiger Gestalt hervor, der 
auch auf die benachbarte Partie der Capsula interna iibergreift (Abb. 9H). Auf 
der linken Seite findet sich an einer entsprechenden, aber etwas tiefer geiegenen 
Stelle des Putamens in der Umgebung kleiner Gefasse eine etwa linsengrosse, 
sich durch den rotlichen Farbenton deutlich von der Umgebung abhebende 
Stelle (beginnende Erweichung?). Aus dem iibrigen Sektionsprotokoll ist her- 
vorzuheben: 

Herz stark vergrossert, besonders linker Ventrikei. Sehr starke Arterio- 
sklerosedes Anfangsteils der Aorta mitGeschwiirsbildung, geringe 
Arterioskleroso der Aortenklappen. Starke Arteriosklerose der absteigenden 
Aorta. Geringe Granularatrophie beider Nieren. Leber und Milz ohne Be- 
sonderheiten. Das in Formol aufbewahrte Gebirn und Riickenmark wurde dem 
neurobiologischen Laboratorium in Berlin zur weiteren Untersuchung iibersandt. 


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Uebor doppelseitige Atbetose und rerwandte Krankheitszustande. 385 


Es wird nach Abschluss derselben iiber den Befund berichtet werden. An 
dieser Stelle gebe ich zunachst das Resultat der von Professor Bielschowsky 
freundlichst ausgefiihrten Untersuchung des Herdes ini rechten Putamen, sowie 

der Gehimrinde wieder. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung sieht man, dass der Sub- 
stanzverlust im rechten Putamen kein vollstandiger ist. Im Gebiet der Uiicke 


Abbildung U. 



Grosser, anniihernd dreieckiger Krwcichungshcrd I! im <iobict 
des rechten Linsonkerns. 



ist der bindegewebige Gefassapparat wenigstens zum Teil erhalten geblieben. 
und es haften an ihm auch noch Keste glioser Substanz mit vermehrten Glia- 
kemen. An den Randpartien der Liicko hat das Gewebe stellenweis einen 
grobmaschig spongicisen Charakter. Die Balken des schwammigen Gcriistes 
werden von den Gefass- und Kapillarwiinden gebildet. In den Maschen linden 
sioh zahlreiche gliogene Fettkornchenzellen. Gegen die Nachbarschaft ist dieser 


J}(\ 


•u 






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A. Westphal, 



38b 

Herd an einzelnen Stellen ziemlich scharf durch eine glioseijrenzsckicht mit 
dicht gelagerten Gliafasern abgesetzt. Jenscits dieser Grenzschicbt ist das 
Gewebe nur relativ wenig verandert. Die Ganglienzellen sind vermindert, an 
den Markfaserbiindeln sind frische und altere Degenerationszeichen nachweis- 
bar; es finden sicli auch bier Fettkdrnchenzellen zum Teil in reihenformiger 
Anordnung. An anderen Stellen ist die Demarkation zwiscben Herd und 
Nachbargewebe weniger deutlicb. Der Uebergang vom Einschmelzungsherde 
zu dem an den Randgebieten noch vorbandenen normalen Gewebe des Putamens 
vollzieht sich bier allmahlich. An solcben Uebergangsstellen bat das Gewebe 
oinen areolierten Obarakter. Man siebt zahlreiche ftndliche kleine Lucken, in 
deren Lichtang geschrumpfto Ganglienzellen mit starken Degenerationser- 
scbeinungen imSinneeiner pigmentosen AtrophienebenFettkornchenzellen liegen. 

An den erhalten gebliebenen Gefiissen der grossen Gewebs- 
liicke. und an den Gefassen der Nacbbarscbaft sind grobereWand- 
veranderungen nicht nactiweisbar. Insbesondere fehlen Proliferations- 
vorgange an der lntima, welcbe im Sinne einer Endafteriitis gedeutet werden 
konnten. Nur in der Adventitia sind an einzelnen Stellen lebbafte Prolifera- 
tionsvorgange an don Gewebszellen und Anhaufungen von lymphozytaren Ele- 
menten sichtbar. Ilier handelt es sich aber unzweifelhaft um sekundiire Er- 
scheinungen. 

Gehirnrinde (die am Formolmaterial gewonnonen Befunde wurden von 
HerrnDr.Sioli durchNisslpraparate von inAlkohol aufbew’ahrtenRindenstiicken 
erganzt). Pia im allgemeinen nicht verdickt, stellenweis geringe bindegewebige 
Verdickung mit Pigment fubrenden Abraumzellen und freiem Pigment. Keinc 
Infiltrationszellen. Rindenoberllacbe glatt, kein wesentlicher kernfreier Rinden- 
saum. Rindenanchitektonik obne Storung. Die Ganglienzellen haufig im Zu- 
stand chronischer Erkrankung, nicht selten aber auch im Zustand des akuten 
Zerfalls. In tieferen Scbichten leicbte Vermebrung der meist pyknotiscben 
Gliakerne. Keine Neuronophagie. Gefasse obne Infiltrationszellen und obne 
Schwellung derGefasswandkerne, keincGefassvermehrung,keineStabchenzellen. 
Einige Gefasse zeigen Schlangelung und lassen leicht verdickte Wandungen 
crkennen. In den Gefassen des Marks finden sich in vielen Gefasscheiden Ab¬ 
raumzellen mit griinem Pigment. 

Die klinischen Erscheinungen, welche sich bei diesem Kranken 
im Laufe der Beobachtung entwickelten, die eigenartige Muskelrigiditat 
ohne Symptome einer Pyramidenbahnerkrankung, die mimische Starre, die 
Erscheinungen der Retropulsion, die Salivation entsprecben dem Bilde der 
Paralysis agitans sine agitation e, so dass ich ihn in symptoma- 
tologischer Hinsicht als ein dieser Krankheit verwandtes Zustandsbild 
betrachte. Wir liaben sclion bei Besprechung des vorigen Falles auf 
die Beziehungen der Paralysis agitans zum amyostatischen Symptomcn- 
komplex Strumpells hingewiesen und mOchten an dieser Stelle mit 
Hinsicht auf den vorliegenden Fall hervorheben, dass dieser Autor 



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1 


Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankbeitszustande. 387 

deinselben „auch im httheren Alter auftretende Fillle subsummiert, die 
zur Arteriosklerose der Gehimarterien oder zur senilen Demenz in Be- 
ziehang gebracht wurden. u Besonders wird von Strum pell darauf 
aufmerksam gemacht, dass die von 0. F&rster 1 ) treffend geschilderto 
„arteriosklerotische Muskelstarre", unzweifelhaft in dies Gebiet gehftre, 
ohne dass er der Arteriosklerose der Gehirnarterien eine so grosse 
and primkre Bedeutung zuzuscbreiben geneigt ist, wie es Ffirster tut, 
sondern meint, dass noch andere unbekannte atiologiscbe Momente 
hierbei in Betracbt kamen. Strum pel l schildert als (l'ypus dieser 
Krankheitsgruppe eiuen Fall, bei dem sich bei einem Manne in hOherem 
Alter ein sebr an Paralysis agitans sine agitatione erinnemder Krank- 
heitszustand entwickelte, und bei dem sich bei der Sektion erne Endo- 
aortitis fand, die mit grosster Wahrscheinlichkeit (trotz negativen 
Wassermanns) als eine sypbilitische Erkrankung aufgefasst werden musste. 
Dieser Befund ist auch mit Hinsicbt auf unsere Beobacbtung, in der sich 
eine schwere und ausgebreitete Endoaortitis bei einem sicher syphilitiscben 
alteren Manne fand, bemerkenswert. Auffallender Weise liess aber in 
dem Strumpellschen Fall die makroskopische Untersuchung des in 
Formol gebkrteten Gehirus auf Frontalschnitten keine Ver&nderungen 
an den Linsenkernen erkennen. 

Es wirft sich die Frage auf, ob die in unserem Fall gefundenen 
Veranderungen, der Nachweis eines grossen gegen die Nachbarschaft 
ziemlich scharf abgegrenzten Erweichungsherdes im Putamen des rechten 
Linsenkerns einen Ruckschluss auf die Aetiologie des Leidens gestatten? 
Diese Frage muss verneint werden. Die mikroskopische Untersuchung 
des erkrankten Linsenkerns liess am Gefessapparat keine Ver&nderungen 
erkennen, insbesondere fehlten alle entzundlichen Erscheinungen an 
demselben, und auch Ver&nderungen arteriosklerotiscber Natur waren 
nicht vorhanden, so dass der Nachweis des Zusammenhanges des anato- 
mischen Befundes mit der klinisch festgestellten Syphilis und den 
scbweren arteriosklerotischen Verauderungen der Aorta auf histologischem 
Wege nicht zu erbringen war, und lediglich das Bestehen eines 
nekrobiotischen Prozesses nicht vaskul&ren Charakters kon¬ 
st at iert werden konnte. Der weiteren noch ausstehenden Unter¬ 
suchung des Zentralnervensystems bleibt es vorbehalten, festzustellen, 
ob sich anderen Ortes auf eine syphilitische Grundlage hin- 
weisende Ver&nderungen nachweisen lassen, fur deren Vor- 
handeDsein das Bestehen der reflektorischen Pupillenstarre spricht. 
Die Untersuchung des Gehirns hat ergeben, dass eine Para- 
• _ 

1) Allgem. Zeitschr. fur Psychiatr. Bd. S. 90*2. 


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388 


A. Westphal, 


lyse oder eine syphilitische Erkrankung desselben im engeren 
Si one niclit vorliegt. Die am Gehirn gefundenen Ver&nderungen 
sind solche, wie sie bei den verschiedensten cbronisclien Psycbosen and 
im Senium nicht selten beobachtet werden. Yon Interesse wird es sein, 
festzustellen, ob die Untersuchung des Rfickenmarks tabische Ver&nde- 
rungen erkennen Iftsst, da ja Kombinationen von Paralysis agitans mit 
Tabes resp. mit zur Tabes gehdrigen Symptomen, besonders auch 
Pupillenstfiruugen, in einer Reihe von Fallen [Seiffer 1 )] beobachtet 
worden sind. Von der weiteren anatomischen Untersuchung wird auch 
Aufschluss fiber die auffallende Tats ache zu erwarten sein, dass trotz des 
Uebergreifens des krankhaften Prozesses auf die innere Kapsel klinische, 
auf eine Mitaffektion der Pyramidenbahn hinweisende Symptome fehlten. 

Was die Einroihung unseres Falles in eine der von C. u. 0. Vogt 
(1. c.) aufgestellten Gruppen betrifft, ist derselbe wohl, ebenso wie die 
vorhergehende Beobacbtung, den - akut auftretenden Striatum- 
herden (Erweichungen) zuzuz&hlen, bei denen alle Beziehungen zur 
Heredodegeneration fehlen. Auch der Symptomenkomplex in unserer 
Beobachtung entspricbt der Einteilung dieser Autoren, welcbe der 
Paralysis agitans zugehfirige Zustandsbilder dieser Form stri&rer Erkran- 
knngen subsum mieren. 

Von besonderer Bedeutung ffir die Lokalisation des Symptomen- 
komplexes der Paralysis agitans sine agitatione ist die Beobachtung 
von Helene Deutsch (1. c.). Dieselbe konnte bei einer vorher ge- 
sunden Person im Anschluss an einen an ihr ausgeffihrten Erwfirgungs- 
versuch die Entstehung eines hypertonischen Zustandes der Extremit&ten- 
muskeln, besonders an den unteren Extremit&ten, welche zuletst eine 
unfiberwindlicbe Kontraktur zeigten, feststellen. Auch eine auffallende 
mimische Starre, bedingt durch den gesteigerten Tonus der Gesichts- 
muskulatur, war bei dieser Kranken, bei der alle Zeichen einer Pyra- 
midenbahnerkrankung fehlten, zu konstatieren. Der anatomische Befund, 
etwa 3 Monate nach dem Wfirgakt erhoben, ergab eine symmetriscbe, 
isolierte Erweichung im N' caudatus und lentiformis, bei mikroskopisch 
norm ale m Befunde der fibrigen Teile des Zentralnervensystems, speziell 
des Thalamus und der Hirnrinde. Dieser Fall weist mit der Exaktheit 
eines Experiments auf die nahen Beziehungen der lentikulfiren Er¬ 
krankung zu dem uns besch&ftigenden Symptomenkomplex hin und ist 
ffir die Beurteilung der etwas komplizierteren Verhaltnisse in unserer 
Beobachtung besonders wertvoll. Die auffallende Muskelstarre in den 

1) Neurol. Zentralbl. 1900. S. 1119. 


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Ueber doppelseitige Athetose und verwaudte Krankheitszustande. 389 

unteren Extremit&ten in dem Falle von Deutsch erinnert an das Ver- 
halten der Muskeln bei der Little'schen Erankheit. Den Untersuchangen 
von C. u. 0. Vogt verdanken wir die Kenntnis der naben Beziebungen 
dieser Affektion zu einer angeborenen Missbildung des Corpus striatum, 
dem Etat marbrd (Status marmoratus) C. Vogt’s. Was die Entstehung 
der Little'schen Starre betrifft, nebmen diese Autoren auf Grund ihrer 
Befunde an, „dass Kinder nicht als Folge der Asphyxie einen Etat 
marbr6 bekommen, sondern dass Kinder mit dieser Missbildung des- 
wegen h&ufiger asphyktiscb zur Welt kommen, weil sehr oft die im 
oralen Toil des Striatums gelegene Bulbfirregion desselben erkrankt, 
und dadnrch die EinstelluDg der Kinder auf die Lungenatmung er- 
schwert ist. w Die Beobacktung von H. Deutsch zeigt, dass asphyk- 
tfsche Zust&nde bei Erwachsenen aucb das urs&chlicbe 
Moment fur die Entstehung von Erweichungsberden im 
Corpus striatum darstellen kdnnen, mit den Folgeerschei- 
nungen einer ausgesprochen „reinen w Muskelstarre. H.Deutsch 
wei8t in ihrer Arbeit auf ahnliche Beobacbtungen von L5wy und 
Cassirer hin, in deren kliniscbem Bilde ebenfalls Hypertonie das 
konstanteste Symptom bildete (ohne Tremor, Chorea Oder Athetose), 
so dass sicb diese F&lle wie Paralysis agitanB sine agitatione zu dem 
gewdhnlichen Bilde der Schuttell&hmung verbielten. 

Mit Hinsicht auf meine Beobachtung mOchte ich besonders hervor- 
heben, 'dass wenn aucb die grosse Aehnlichkeit des bei Erkrankung 
des Linsenkerns gefundenen Symptomenkomplexes mit dem der Paralysis 
agitans sine agitatione, den Gedanken nahegelegt, diese Erfahrungen 
auf das Problem der Genese der Paralysis agitans im allgemeinen zu 
ubertragen, mir dock die bisherigen Befunde bei der echten Paralysis, 
agitans nicht eindeutig und vor allem nicht iibereinstimmend genug zu 
sein scheinen, urn ohne weiteres den Schluss zu rechtfertigen, dass die 
Schuttell&hmung ausschliesslich auf die Erkrankung des Striatums zuruck> 
zufuhren ist. Besonders zeigen die Ausfuhrungen Marburg's (1. c.) aus 
neuester Zeit, nach denen die Paralysis agitaus eine auf Stdrung der 
Nebennierenfunktion beruhende Hormontoxikose mit Affektion gewisser 
Systeme des Zentralnervensystems (Systeme des Bindearms und kortiko- 
zerebellare Bahnen) ist, die Rigidit&t der Muskeln aber myogenen 
Ursprungo sein soil, dass hier doch offenbar recbt komplizierte Ver* 
h&ltnisse vorliegen, deren einheitliche Erkl&rung zur Zeit noch Schwierig- 
keiten bereitet. Die Aonahme des myogenen Ursprungs der Muskel* 
rigidit&t scheint mir mit den von uns wiedergegebenen Tatsachen nur 
schwer in Einklang zu bringen zu sein. 


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390 


A. Westphal, 


Zusammenfassend lasst sicli fiber die beiden mitgeteilten FJille 
sagen, dass sie klinisch verschiedeoe Formen des amyostatischen Sym- 
ptomeukomplexes darstellen, deneu anatomisch in dem ersten Falle eioe 
doppelseitige symmetriscbe Erkrankung des Linsenkerns zu Grunde lag, 
wfihrend in dem zweiteu Fall die weitere histologische Untersuchung 
zeigen muss, ob es sich nur urn die nachgewiesene schwere einseitige 
Erkrankung Oder auch, wie es nach dem makroskopischen Be fund wahr- 
scheinlich ist, um eine doppelseitige Affektion des Linsenkerns gehan- 
delt hat. Was die atiologischen Verh&ltnisse betrifft, sind die 
Beziehungen zur Syphilis von besonderem Interesse. W ah rend in dem 
zweiten Fall nicht nur Syphilis sicher vorlag, sondern die reflektorische 
Pupillenstarre auf eine syphilidogene Erkrankung des Zentral- 
nervensystems hinwies, war nach der Anamnese in dem ersten Fall 
eine vorausgegangene Syphilis sehr walirscheinlich. Die histologische 
Untersuchung zeigt in beiden F&llen, wie schwer bezw. unmoglich es 
nach dem heutigen Standpunkte unserer Kenntnisse sein kann, aus dem 
anatomischen Bilde mit irgend welcher Sicherheit Rfickschlfisse auf die 
Natur der zu Grunde liegenden Erkrankung zu zieben. In dcr Literatur 
linden sich nur spfirliche Angaben fiber etwaige Beziehungen der lenti- 
kularen Degeneration zur Syphilis. Wilson (1. c.) konnte bei seinen 
Fallen keine Beziehungen zur Syphilis entdecken. Den bekannten Fall 
Anton's von ^Dementia choreoastheiiica mit juveniler knotiger Hyper- 
plasie der Leber u fasste er als kongenitale zerebrale Lues auf. Da* 
gegen ist die Frage, ob die Lues in der Aetiologie der dem uns Le- 
schfiftigenden Krankheitsbilde nabestehenden Pseudosklerose eine Rolle 
spielt, vielfach erfirtert worden, seitdem Strum pell in seiner bekannten 
Arbeit fiber die Pseudosklerose auf die Mfiglichkeit eines ursfichlichen 
Zusauimenhan&es hingewiesen hat. Ich 1 ) hob hervor, „dass es ein 
dringendes Erfordernis sei bei kfinftigen Beobachtungeu von Pseudo¬ 
sklerose, Liquor und Blut nach der Wassermann'scben Methode zu 
prfifen, da nur auf diesem Wege sichere Anhaltspunkte fiber die Ktio- 
logisclie BedeutUng der Syphilis, inqbesoudere der wohl vornehmlich in 
Frage kommenden lieredit&ren Form derselben, zu gewinnen seien. 
Oppenheim 2 ) nimmt ffir einen seiner Fklle, in denen heredit&re 
Syphilis vorlag, an, „dass der keimschfidigende Einfiuss der Syphilis 
wohl den Grund zu der Krankheit gelegt hat, ohne dass diese selbst 
als ein Produkt der Spirochaeta pallida angesehen werden konne u . 

1) Beitrag zur Lehre von der Pseudosklerose (Westphal-Striimpell). 
Arch. f. Psych. Bd. 51. II. 1. 

2) Zur Pseudosklerose. Neurol. Zentralbl. 1914. Nr. 22. 


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Ueber doppelseitige Athetose and verwandte Krankheitszustande. 391 

Mit flinsicbt auf unsere Beobachtung erscheint es mir besonders bemer- 
kenswert, dass Oppenheira bei zwei Geschwisterpaaren mit Dystonia 
musculorum deformans ebeufalls Syphilis in der Aszendenz nachzuweisen 
vernaochte. In jungster Zeit ist dann von Thoma 11 a (I.c.) bei Besprechung 
seines Fa lies von Torsionsspasmus und der eigenartigen bei ihm nach- 
gewiesenen Leberverftnderungen mit Hinweis auf die Fftlle von Vfilsch, 
Hom6n, Anton, auf die MOglickkeit hingewiesen worden, dass ungunstige 
Entwicklungsverhaltnisse in einern kranken z. B. kongenital luetisclien Or- 
ganismus die Entfaltung der Leberfunktion kindern und die Intoxikation 
kervorrufen k5nnen“, und v. Dziembowski l ) ist auf Grand seiner Beob- 
aclitungen zu der Annahme gelangt, r dass hereditSrc Lues in atiologischer 
Hinsicht als kaugaler Faktor eine bedeutsame Rolle spielt w . Auf jeden 
Fall fordern diese Beobachtungen dazu auf, der Bedeutung der 
Syphilis fur die Entstehung der in Frage koramenden Krank- 
hei tszustande weiterhin besondere Aufmerksam keit zu schen- 
ken. Die Gesamtheit der bisher vorliegenden Erfahrungen zeigt, dass die 
allerverschicdensten Soh&dlichkeiten 2 ) eine Erkrankung des 
Linsenkerns hervorzurufen im Stande sind. 11. Deutsck (l. c.) 
hat die versckiedenen iitiologiscken Faktoren in das Bereich ihrer Be- 
trachtung gezogen und hobt hervor, „dass die merkwiirdige Tatsache, 
dass es Krankkeitspnuessc gibt, die sich auf das Corpus striatum in 
so elektiver Weise beschr&nken, einmal als Sitz eines kongenitalen Pro- 
zesses, dann als besondere Reaktion auf gewisse toxische Prozesse, dann 
wieder als Pradilektionsstelle fur Erweichungen ohne vaskulHre Pro¬ 
zesse, die V$ruiutung nahe legt, dass im Organ selbst die disponierende 
Ursache gelegen ist“. Zur Erklarung einer solchen angenommenen Pre¬ 
disposition wird 1. die Gefassverteilung (Kolisko), 2. eine das Organ- 
gebiet betreffende besondere Disposition von ihr herangezogen. Audi 
Thom alia (1. c.) weist auf die Moglickkeit hin, dass die Linsenkerne 
eine besonders holie Empf&nglichkeit oder Angreifbarkeit fur Toxine 
kaben und fasst seine 'atiologisehen Betracktungen folgendermassen zu- 
sammen, „es kommen Entwicklungsfekler im Gehirn in Betrackt, femer 
Krk rank ungen der Leber, vielleickt in Folge infektidser Allgeinein- 
erkrankung, oder auch Entwicklungsfekler der Leber, jedenfalls an- 
schliessend Antointoxikation. Audi faraili&re Disposition liegt oft vor“. 

\) Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilson’schen Krankheit. 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 57. H. 6. 

2) Oppenheim (Aerztl. Sachverstandigenzeitung 1918, Nr. 22) hat vor 
Kurzern an der Hand eines von ihm bcgataohteten Falles darauf hingewiesen, 
dass auoh Kopfverletzungen einen der Wilson 7 schon Krankheit verwandten 
Symptomenkomplex herorvrufen konnen. 



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392 


A. Westphal, 



Diesc Betrachtungen zeigen, dass die Erforschung der atiologischen 
Verhiiltnisse der leutikularen Erkrankungsformen zwar eine Reihe vod 
Tatsachen ergeben hat, an denen kiinftige Untersuchungeu anknupfen 
konnen, dass wir aber von einem Yerstandnis der Bedeutung und des 
Zusammenlianges der verschiedcneu in Betracht kommenden Faktoren 
nocb weit entfernt sind, und dass der Forschung auf diesem Gebiete 
noch mannigfache Probleme zu In sen iibrig bleiben. 

Fall 3. Martha Busch, Arbeiterin, 24 Jahre alt, aufgenommen am 
24. Januar 1918. Aus der Vorgeschichte ist herauszuheben, dass ihre Mutter 
vom 12. bis lo. Eebensjahr an „Yeitstanz u gelitten haben und im 29. Lebens- 
jahr am _Herzschlag a gestorben sein soil. Bin Bruder litt an epileptischen 
Anfallen und ist geisteskrank in der Anstalt Friedrichsberg gestorben. Bei der 
Sektion fand sich nach den uns iiberlassenen Akten multiple Tumorbildung 
im Grosshirn. Patientin selbst soil massig gelernt haben, im iibrigen in der 
Kindbeit und in den Entwickelungsjahren auffallende Erscheinungen nicht 
dargeboten haben. Entbindung (1916?) von einem unehelichen Kinde. Seit 
1917 verandert, still und traurig. Es sei ihr so gewesen, „als ob ihre Robren 
(Blutgefasse) zugefroren seien, die Augen seien wie verglast gewesen, sie habe 
wie eine Totenraaske ausgesehen, habe keine Blahungen mehr gehabt, nicht 
mehr aufgestossen. Seit einigen Wochen seien Schwindel, Kopf- und Herz- 
schmerzen aufgetreten, sie fiihle keinen Herzschlag mehr. Sie.hore Stimmen 
im eigenen Leib,wie bei einem Bauchredner, aber furchtbar traurige. Sie selbst 
sei Ideal ist in, schwore auf die Real i tat der Tatsachen. w Dicse Angaben werden 
von der Patientin bei ihrer Aufnahme, wenn auch miihsam und in abgerissener 
Weise vorgebracht. Sie maclit zunachst einen geordneten Eindruck, nimmt 
Interesse an ihrer Umgebung. Sehr schnell versinkt sie aber in den folgenden 
Tagen in einen stuporosen Zu stand. Sie liegt von jetzt an fast stets unter 
derBettdecke versteckt, fast andauernd besteht sehrausgesprochenerSohnauz- 
krarapf (Abb. 10), der in der Folgezeit nur voriibergehend verschwindet. 
Anfang Juni werden typisch athetotische Bewegungen zunachst in den 
Fingern der linkenHand beobachtet, die bald auch die Finger der rechten Hand 
ergreifen. In Abb. 11 sind athetotische Stellungen der Finger wiedergegeben, 
die Verdoppelung der Finger der r. Hand ist durch die Bewegungen derselben 
bei derMomentaufnahme bedingt. Am 25. Juni werden zuerst langsame drehende 
Bewegungen von athetotischem Charakter an den Fiissen konstatiert. 
Beim Gehen treten extreme Plantarllexionen des 1. Fusses ein, dabei starke 
Beugung im Kniegelenk. In dieser vertrakten Stellung bleibt Patientin eine 
Zeit lang stehen, bis sie das Gleichgewicht verliert und sich mit dem r. Arm 
auf den Boden stiitzt, urn nicht nach links heriiberzufallen. Nach kurzer Zeit 
verschwinden die mit der Athetose verbundenen Spasmen, und Pat. geht mit 
kleinen, trippelnden Schritten in ihr Bett zuriick. Die athetotischen 
Bewegungen beherrschen von jetzt an das Krankheitsbild, sind 
aber zu verschiedenen Zeiten in sehr verschiedener Intensit&t 
und Ausdehnung nach weisbar. Fast konstant, wenn auch mitunter nur 


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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 393 


in geringerem Grade, sind sie an den Fingern vorhandcn. Zu mancben 
Zeiten tritt eine ausserordentliche Verstarkung und weiteres Um- 
sichgreifen der Bowegongen auf die Extremitaten und den Rumpf 
hervor, mitunter bei Gelegenheit irgend einer psychisohen Erregung wie beim 
Akt der Untersuchung, mitunter aber ohne eine nachweisbare Ursacbe. Die 
athetotiscben Bewegungen an den unteron Extremitaten und am Rumpf pflegen 
bei dem Versucb aufzustehen oder zu gehen am deutlichsten hervorzutreten, 
mitunter treten sie aber aucb beim rubigen Liegen im Bett in die Erscheinung. 
Man kann dann beobacbten, dass die Beine in Stellungen gebracbt werden, 
in denen sie uber der Unterlage erhoben, bald nebeneinander, bald ineinander 
verschlungen, frei in die Luft ragen. Beim Stehen und Gehen fiihren 


Abbildung 11. 



Starker, fast kontinuirlicher Athetotische Stellungen der Finger. 

Schnauzkrampf. 


die Bewegungen ofters zu den bizarrsten Stellungen; so bleibt 
Patientin mitunter mit gekreuzten (Abb. 12) oder auch schlangcnartig sich 
umwindenden Beinen stehen, oder stebt auf einem Bein mit heraufgezogenem 
anderen Beine nach Storchenart. Beim Sitzen treten mitunter eigenartige Be¬ 
wegungen des Beckens, ahnlich den Bewegungen beim Bauchtanz hervor. 
Beim Versuch aus sitzender Stellung aufzustehen. kommen Rumpf und Ex- 
treraitaten in die vertraktesten Stellungen, wie sie Abb. 13 und 14 
wiedergibt, so dass Pat. schliesslich durch extreme Vorniiberbeugung der 
Wirbelsaule mit den Handen auf den Boden zu ruben kommt (Abb. 15) und 
dann auf alien Vieren weiterkriecht (Abb. 1G). Da die diese eigenartigen 
Stellungen bedingenden spastiscben Zustande der verscbiedensten Mnskel- 
gruppen sich in der Regel nicht sofort wieder losen, sondern langere oder 
kurzere Zeit andauern, wird nicht selten ein Verharren der Kranken in 
den sonderbarsten und unzweckraassigsten Positionen beob- 

ArchiT f. Pejehiatrie. Bd. 60. Heft 2/S. 2f> 


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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankbeitszustande. 395 


achtet. Auch bei passiven Bewegungen behalten die in eine bestimmte 
Stellung gebraohten Arme (Abb. 17) oder Beine eine Zeit lang dieselbe bei. 
Mitunter ist festzustellen, dass die Kranke Gegenstande, die sie an- 
gefasst hat, nioht wieder loszulassen imstande ist, z. B. Seiten 
eines Buohes, in dem sie blattert, so fest halt, dass eine Losung nur unter 
Zerreissung der Seite moglich ware, eine Erscheinung, die wohl dadurch zu 
erklaren ist, dass sich athetotische spastische Zustiinde in die willkiirlichen 
Bewegungen einmischen und dieselbe zeitweilig verhindern. Auch die Ge- 
sichtsmuskulatur ist, obwohl an ihr eigentliche athetotische Bewegungen 
nioht zu sehen sind, an diesen voriibergehenden spastischen Zustanden beteiligt; 


Abbildung 17, 


.Fixationskontraktur* 1 (Katalepsie?) des linken passiv erhobenen Armcs. 


man kann mitunter beobachten, dass Patientin den geofifneten Mund nicht so 
schnell schliessen kann und den gescblossenen Mund nicht so schnell oflfnen, 
wie es unter normalen Verhiiltnissen der Fall ist, so dass man den Eindruck 
erhalt, dass der auffallende, kontinuierliche Schnauzkrampf wohl auch durch 
derartige Spasmen der Mundmuskulatur mitbedingt ist. Symptome von 
Myotonie fehlen im iibrigen vollstandig. Auch die Zunge zeigt bei 
langerem Herausstrecken langsame, athetotische, drehende Bewegungen. Mit 
den spastischen Zustanden in engem Zusammenhang stehen die Ersohei- 
nungen der Pro- und Retropulsion, die hauGg bei der Patientin zu be¬ 
obachten sind. Sie bekommt beim Versuch zu gehen einen „Ruck u nach vorn 


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396 


A. Westphal, 


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oder hinten, so dass sie sich einige Schritte in bescblennigtem Tempo nach 
einer dieser Riohtungen bowegt, mi tun ter in schiefer nach einer Seite herdber- 
gezogener Haltung des Korpers, wenn die Spasmen der einen Seite die der 
anderen an Intensity ubertreffen. Auffallend kt die Erscheinung, dassPatientin 
sich manchmal leichter und schneller nach hinten als nach Torn beim Gehen 
bewegt. Treten die Spasmen, besondors Dorsal- oder Plantarflexionen derFdsse 
beim Gehen plotzlich in starker Weise auf, so stiirzt Patientin nach einigen 
Versuchen, die Balance zn halten, auch mitunter brCisk hin. DerFlussder 
athetotisohen Bewegnngen ist ein verschiedener. In der Regel 
schreiten sie von den am starksten betroffenen Extremitatenenden proximalwarts 
fort, in anderen Fallen sieht man sie am Rumpf beginnen und sich dann nach 
der Peripherie ausbreiten. Haufig ist auoh ein ganz regelloses Auftreten der 
athetotisohen Bewegungen zugleich an den verschiedensten Korperstellen zu 
beobaohten. Bei passiven Bewegungen ist in don Gelenken, besonders 
denender unteren Extremitaten ein deutlicher gleichm assiger spastischer 
Widerstand zu fiihlen, der sich bei plotzliohen Anspannungen 
nicht verstarkt. Ein negativistisches Anspannen der Muskeln ist 
nicht nachweisbar. Die Sehnenreflexe sind nicht gesteigert, Babinski, 
Oppenheim oder Gordon nicht vorhanden. Was das motorische Verhalten der 
Patientin, abgesehen von der Athetose, betrifft, wechselnin auffallender 
Weise Zeiten eines anscheinend stupordsen Verhaltens, in denen 
Patientin sich kaum bewegt, unter der Decke versteckt, bis auf einzelne athe- 
totische Bewegungen fast regungslos daliegt, mit Zeiten gross ter moto- 
rischer Unruhe, wilden Umherwalzens, unsteten Herumlaufens und Heraus- 
drangens aus der Abteilung ab. In diesen letzteren Zeiten pflegt auch die In¬ 
tensity und Ausdehnung der athetotischen Bewegungen am starksten zu sein. 
Die Lange der ruhigen und der erregten Phasen ist eine wechselnde, schwankt 
zwischen einigen Tagen und wochenlanger Dauer. Die'Spracheder Patientin 
ist eigenartig kindlich, lappisch, so sagt sie mitunter „sa u statt ja. Auch un- 
sinnige selbstgebiidete Worte, wie „enlatielriamalatria u werden vorgebracht. 
Eigenartig sind girrende Laute, ahnlich derti Girren von Tauben, die Patientin 
oft von sich gibt. Haufig ist zwangsartiges Auftreten von Weinen und L&chen 
zu beobachten. Es besteht zeitweilig starke Salivation. Stdrungen des 
Sohluckens sind nur voriibergehend zur Beobachtung gekommen, in der Regel 
ist die Nahrungsaufnahme reiohlich und unbehindert. Patientin ist zeitweilig 
unrein mit Stuhl und Urin, der mitunter plStzlich in profuser Weise in das 
Zimmer entleert wird. 

Der Befund am Nervensystem ist im ubrigen ein negativer. 
Nur sind die Bauchdeokenreflexe bei den sehr schlaffen Bauchdecken (Diastase der 
M. recti) nioht auszulosen. Keine Pigmentierungen, keine Yeranderungen an der 
Leber nachweisbar. Im Urin kein Eiweiss oder Zucker, kein Urobilinogen. Es 
besteht keine alimentare Lavulosurie (Prof. Gerhartz). Wa. im Blut negativ. 
Spinalpunktion bei der Unruhe der Patientin bisher nicht ausfuhrbar gewesen. 

Das psychische Verhalten ist in erster Linie durch seinen lebhaften 
Wechsel ausgezeichnet. Wahrend in der Regel stuporahnliche Zustande oder 


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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszust&nde. 397 

Phasen starker Erregnng eine Priifung ihres geistigen Besitzstandes sebr er- 
schweren oder unmoglich machen, erscbeint Patientin zu anderen Zeiten freier, 
so dass wenigstens bis zu einem gewissen Grade eine Prufung des psychiscben 
Zustandes mogliob ist. Wiederholte Untersuchungen ergeben, dass sie ortlicb 
und zeitlich nicht orientiert ist. Oft erfolgen ganz unsinnige, an Vorbeireden 
erinnernde Antworten, so nennt sie den Arzt v „Onkel Wilhelm 44 , die Patienten 
in der Klinik bezeicbpet sie als „Hindenburg u , sie sei schon drei Jabre in der 
Klinik und ahnliches. Bei der Prufung der Sohulkenntnisse wird das Alphabet 
richtig, aber in manirierter Weise aufgesagt. Sie zahlt obne Fehler bis 11. 
Die Monatsnamen fangt sie mit Juni an. Das Vaterunser wird riohtig an- 
gefangen, dann schliirfende, girrende Laute ausgestossen. Das erste Gebot? 
„Ich der Herr Dein Gott, bin ein eifriger Gott, Nini, Titi“— Fluss in Deutsoh- 
land? „Rhein u , — Zu welchem Staate geborig? „Preussen u — Wer fiibrte 1870 
Krieg? ,,Napoleon. 4 * Auffallend gut ist das Reobnen erbalten, Aufgaben aus 
dem Einmaleins werden fast ausnahmslos schnell und richtig gelost. 

Die Sc hr i ft geht nach einigen korrekt geschriebenen Worten in ein sinn-’ 
loses Gekritzel uber. Nacb Sinnestausohungen gefragt, gibt sie zu, mit- 
unter Stimmen zu boren und Gostalten zu seben, „das sei dann so komisch 4 *. 
Sowohl bei diesen Prufungen, wie bei der Beobacbtung des Gesamtverbaltens 
der Patientin, fallt besonders auf, dass ein eigentlich negativistisches 
Verhalten, abgesehen von dpn an Vorbeireden erinnernden unsinnigen Ant¬ 
worten, nicbt zu konstatieren ist. Patientin sucbt alle an sie gerichteten 
Aufforderungen, soweit es ibr Zustand gestattet, zu befolgen, ist freundlicb 
und willig. Selbst in ibren stuporahnlichen Zustanden ist sie zuganglicb, 
steht auf Befehl auf, legt sioh auf Aufforderung wieder bin, sinnloses Wider- 
streben ist bei diesen Versuchen nioht festzustellen. Auch die affektive 
Sphare ist keine so weit daniederliegende, wie es auf den ersten Anblick den 
Anscbein hat. Man kann oft feststellen, dass Patientin Vorgiinge ibrer Um- 
gebung mit Anteilnahme verfolgt, besonders lebbaften Affekt zeigt sie, sobald 
man das Gesprach auf ibr Kind oder ibre Hamburger Heimat bringt. Es 
wechseln Zeiten einer beitcren Erregung, in denen sie sich sebr erotiscb zeigt, 
sich zu anderen Patientinnen ins Bett legt und dieselben kusst, die Aerzte zu 
umarmen versuoht u. dergl., mit Zeiten ab, in denen sie andauernd weint, 
jammert und siob zu verstecken sucht. Die athetotischen. Bewegungen 
empfindet sie als sebr lastig, klagt fiber dieselben und bezeiohnet 
das „Zappeln“ als ibre Krankheit. 

In diesen) Fall steht im Vordergrund der krankhaften Erscheinungen 
auf kdrperlichem Gebiete die Athetose, die in typischer Weise vor- 
nehmlich die distilen Abschnitte der Extremit&ten betrifft. Aber wie 
in nnserer ersten Beobacbtung ist auch die Rumpfrauskulatur nicht frei 
von dieser BewegungsstOrung geblieben. Die drehenden langsamen 
Bewegungen des Rumpfes, die in Verbinduug mit den entsprechenden 
Bewegungen an den Extremit&ten zu den sonderbarsten KOrperstellungen 
fQhren, haben weitgehende Aebnlichkeit mit den bei der Dy- 


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398 


A. Westphal 




stonia musculorum deformans zu beobackteuden Erschei- 
uungen. Sie untersclieiden sich aber von den typiscken Fallen dieses 
Leidens dadurck, dass sie auck in dcr Ruke, beim Liegen auftreten. 
Audi sind die Torsionsspasmen keineswegs konstant vorkanden, sie treten 
zu mancken Zeiten mit grosser Deutlickkeit in die Erscheinung, uni dann 
wieder fur kiirzere oder liingere Zeit zu versckwinden. Dieses Verkalten 
ist auch von Oppenheim bei Dystonia musculorum progressiva mitunter 
beobachtet, und von Maas 1 ) in einer Beobachtung sogar eine jakrelange 
Besserung der krankkaften Erscheinungen festgestellt worden. Das von 
Tkomalla bei seinem Falle von Torsionsspasmus beobachtete, an myo- 
touische Zustande erinnernde Verkalten der Muskulatur, welches 
darin bestebt, dass durck die plotzlick einsetzenden Muskelspasmen die 
Ausfiihrung aktiver Bewegungeu vorubergekend erschwort oder unmoglich 
gemackt wird, j^t auck in unserem Falle mitunter zu konstatieren, wenn 
Patientin vergeblick versuckt, den geoffneten Mund zu sckliessen oder 
einen ergrifTenen Gegenstand aus der Hand zu legen. 

Zu den Ersckeinungen der Atketose und des Torsionsspasmus ge- 
sellen sich in unseren Beobachtungen bei der Paralysis agitans zu 
beobachtende Symptome, von denen ick besonders die ausgesprockenen 
Pulsionserscheinungen mit Storungen des statischen Gleickgewickts, 
die maskenartige Starre des Gesichts, die starke Salivation, 
hervorhebe. 

Zusanimenfassend liisst sich liber die motoriscken Er¬ 
sckeinungen unseres Falles sagen, dass sie dem amyostati- 
scken Symptomenkomplex StriimpelTs in alien wesentlicken 
Punkten entsprecken. Die Eigenart der Muskelspasmen mit dem Feklen 
aller auf eine Mitbeteiliguug der Pyramidenbahn kinweisender Symptome, 
die „Fixationsrigiditiit u der Muskeln, durch welche dieselben in den ver- 
traktesten Stellungen zeitweilig festgekalten werden, die Bewegungsarmut 
in Verbindung mit den Ersckeinungen von doppelseitiger Atketose und 
Symptomen der Paralysis agitans, kennzeichnen den Fall als zur „My- 
astasie“ gekorig. Seine naken Beziekungen zur Dystonia mus¬ 
culorum deformans sind mit Hinsickt auf unsere erste kier 
mitgeteilte Beobacktung besonders kervorzukeben. 

Von Interesse sind die schweren, dem gewdhnlichen Krankkeitsbildc 
der doppelseitigen Atketose nicht zukommenden psyckiscken StSrun- 
gen unseres Falles. Die Entwicklung der Psyckose bei einer jugend- 
lichen Person nach einem depressiven mit unsinnigen hypockondriscben 

1) Zur Konntnis der Vorlaufs des Dystonia musculorum deformans. Neu¬ 
rol. Zentralbl. 1918. Nr. 6. 


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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 399 

Wahnideen einhergekenden Vorstadium, sowie die am meisten in die 
Augen fallenden Symptome, der Wechsel von stuporosen und Erregungs- 
stadien, die manirierte Sprechweise mit Wortneubildungen, die gesucht 
unsinnigen Antworten, entsprecben anscheinend vOllig den 
Krankheitserscbeinungen der Katatonie. Jeder Beobachter, der 
die Kranke nur kurze Zeit zu seben Gelegenbeit h&tte, wiirde wobl 
diese Diagnose stellen. Bei lingerer Beobachtung der Kranken jedoch 
fkilt auf, dass ein eigentlicher Negativismus, trotz der Schwere 
der psyehischen Krankheitserscheinungen, fehlt. Patientin ist 
nicht widerstrebend, kommt alien Aufforderungen gern und willig nach. 
Die Muskelspannungen steben bei ihr im Zusammenhang mit den athe- 
totischen Rewegungen, sind in ihrer Stfirke von der Intensit&t dieser 
Bewegungen abh&ngig, sie haben nicbt den Charakter des sinu- 
losen Widerstrebons wie bei der Katatonie. Es ist nicbt auszu- 
scbliessen, dass die anscheinend stupordsen ZustSnde durch die zweifel- 
los bestehende allgemeine n Bewegungsarmut“ mitbedingt sind, und dass 
die „kataleptischen u Erscheinungen bei passiven Bewegungen auf die 
„Fixationsrigidit&t“ zuruckzufuhren sind, wie ja aucli bei den 
Strum pell’schen Kranken ein analoges Verbalten obne jeden Anhalts- 
punkt fur eine katatonische Erkrankung konstatiert werden konnte. 
Dass auch der fast andauernd vorbandene Scbnauzkrampf vielleicht 
auf die dem amyostatiscben Symptomenkomplex eigentumlichen Muskel- 
spannungen zuruckzufuhren ist, habe ich bereits hervorgehoben. 

Ueber den Endausgang des Leidens in psychischer Hinsickt 
ist zurzeit etwas Sicheres noch nicbt zu sagen. Eine ausgesprochene, 
fur die schweren Verlaufsweisen der Dementia praecox charakteristische 
gemutlicbe Verblddung, lasst sich bis jetzt nicht feststellen., Diese Erwa- 
gungen veranlassen mich, die Frage, ob es sich bei unserer Patientin 
urn eine Komplikation von Katatonie mit allgemeiner Athetose oder um 
einen der Katatonie khnlicben Symptomenkomplex bei doppelseitiger 
Athetose handelt, zun&chst unentschieden zu hissen und ihre Beant- 
wortung von dem Resultat der weiteren Beobachtung abh&ngig zu 
macben. Sollte sich die Annahme, dass es sich um ein katatones 
Zustand8bih) im amyostatischen Symptomenkomplex handelt, als die 
wahrscheinlichere lierausstellen, dann muss man sicb vergegenw&rtigen, 
dass die fur die Myastasie nach den bisherigen Erfahrungen in vielen 
Fallen ala wesentlich zu betracbtende Linsenkernerkrankung nicht auch 
als Ursache der in unserer Beobachtung so hervortretenden psyehischen 
Stdrungen angesehen werden kann, sondern dass diese auf einer diflfu* 
seren Gehirnerkrankung beruhen mussen. Hat ja auch Striimpell (I. c.) 


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400 


A. Westpbal, Ueber doppelseitige Athetose usw. 


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besonders mit Hinsicht auf die bei der Wilson’schen Krankheit vor- 
liegenden Verhaltnisse hervorgehoben, dass die bei diesem Leiden „doch 
in vielen Fallen sehr ansgesprockenen psychischen Storungen auf eine 
wesentlich allgemeinere Beteiligung des Gehirns an dem Krankheits- 
prozesse hinweisen u . Eine Untersuchung der Gehirnrinde erscheint bei 
Fallen des amyostatischen Symptomenkomplexes, in denen psychische 
StOruugen eine hervorragende Rolle spielen, ein unabweisbares Erfordernis 
zur Feststellung der diesen Zust&nden vielleicht zugrundeliegenden ana- 
tomischcn Veranderungen. Diese Untersuchungen sind von besonderem 
Interesse.da neuereForschungen aufBeziehungen desStirnhirns zurMotilitat 
hingewiesen haben. So erwahnt Mills Fall©, bei denen „Stirnbirn- 
l&sionen die gleicben Symptome bewirkten, wie sie bei den Lentikular- 
erkrankungen gefunden wurden, dieselben Innervations- und Spannungs- 
verknderungen u und Kleist’s Untersuchungen haben es wahrscheinlich 
gemacht, „dass die eigenartigen tonisellen und akinetischen Erscbei- 
nungen, die man bei manchen linksseitig Apraktischen findet, auf den 
Ausfall einer im wesentlichen vom linken Stimhim ausgehenden tonus- 
hemmenden und bewegungsanregenden Funktion zuruckzufuhren* sei tf . 
(H. Stauffenberg 1. c.) 

Es bleibt abzuwarten, ob bei unserm Fall die weitere klinische 
Beobachtung 1 ), und eventuelle anatomisebe Untersuchung uns Anhalts- 
punkte zur Feststellung der Grundlage des in psychischer und somatischer 
Beziehung eigenartigen Krankheitsbildes liefern wird. 

Die Anamnese ergab uns keine fur die BeantwortuDg dieser Fragen 
in Betracbt kommende Momente, da die Angabe, dass die Mutter der 
Patientin in ihrer Kindbeit an „Veitstanz w gelitteu haben soli, ebenso- 
wenig wie die Tatsache, dass ibr Bruder an multiplen Hirntumoren 
gestorben ist, bei der Bewertung der in Frage kommenden &tiologischen 
Faktoren mit irgendwelcber Sicherbeit verwertet werden kanm 


1) Aum. wahrend der Korrektar (Ende Marz 1919): DerZustand der 
Patientin hat sich allmahlioh wesentlich gebessert. Die Bewegungsstorun- 
gen sind bis anf eine leichte Atbethose der Finger geschwunden. Psychisch ist 
Patientin erheblich freier, beschaftigt sich, stupordse oder Erregungszust&nde 
sind nicht mehr aufgetreten. Das Gesamtverhalten hat einen ausgesprochen in* 
fantilen Habitus. 



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1 


XIX. 

Aus der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn 
(Direktor: Geh. Rat Prof. Dr. Westphal). 

Die Spirochaete pallida bei der progressiyen 
Paralyse. 

Voa 

Dr. F. Sioli. 

(Hierzu Tafeln in— VII.) 


Einleitung. 

Zwar war das Vorkommen der Spiroch&ten bei Paralyse seit 
Noguchi’s erster Mitteilung im Jabre 1913 roehrfach bestatigt. Der 
Nachweis beschr&nkte sich aber mit ganz wenigen Ausnahmen auf Be- 
funde mit Hilfe der Dunkelfelduntersuchungen oder anderer Schnell- 
methoden. Deren Bedeutung ist auch in der Bearbeitung der Paralyse 
unbestritten und mit ihrer Hilfe erzielte Ergebnisse sind von grosser 
Wichtigkeit, wie insbesondere der von Forster und Tomasczewski 
erbrachte Spiroch&tenbefund an einer grossen Zahl von lebenden Para- 
lytikem, denen Hirnrinde mittels der Hirnpunktion entnommen war, 
und die Arbeiten vonLevaditi, A. Marie, Bankowski, die in Ge- 
hi men von nach paralytiscben Anfallen Verstorbenen bei Durchsucbung 
einer grossen Anzahl von Hirnstellen fast regelm&ssig Spirocb&ten 
fanden. 

Ffir den Sypbilidologen haben die Schnellmethoden ihre grosse 
Bedeutung bei der Diagnostik des einzelnen Falles in der Praxis, fur 
den Psychiater liegt bei der Paralyse kein entsprechendes Bedurfnis vor. 
Die Diagnose der Paralyse wird kaura jemals an Lebenden der Him- 
pnnktion und des Spiroch&tennachweises bedfirfen and am toten Gebirn 
wird die histologiscbe Untersuchung mit den bew&hrten Methoden dor 
Nissl-Alzheimer’schen Scliule in der Prufung oder Berichtigung der 
klmischen Diagnose vor dem Spirochktennachweis stets den Vorzug haben. 

Die Schnellmethoden der Darstellung sind bei der Paralysebearbei- 
tung notwendig zur Untersuchung einer grOsseren Anzahl von Hirnstellen 


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402 


Dr. F. Sioli 


in kurzer Zeit and sie waren und sind notwendig zur Bearbeitang der 
vitalen Morphologic der bei der Paralyse gefundenen Spirochate, sie 
werden besonders gebraucht werden bei den bevorstehenden experimen- 
tellen Arbeiten. 

Die n&chstliegenden Fragen der Paralysebearbeitung verlangten 
gebieterischer als in der Syphilidologie nicht nur den Nachweis der 
Spirochete mittels der Scbnellmethoden, sondern die Darstellung im Ge- 
websschnitt. Diese Darstellung im Gewebe aber war seit Nogucbi 
und Moore nur in ganz vereinzelten Fallen gelungen und wurde von 
keiner Methode, auch nicht von der durcb Noguchi angegebenen, 
gewahrleistet. 

Jahnel’s Verdienst ist es, Methoden einer zuverlassigen und uber- 
sichtlichen Darstellung der Spirochaten im Gewebe ausgearbeitet zu haben. 

Jahnel selbst hat in zahlreicheo Arbeiten Ergebnisse seiner Me- 
thode bekannt gegeben und damit den Bau einer Grundlage fur die 
weitere Erkenntnis der Paralyse begonnen. Seine ilethoden ermftglichen 
durch eine grosse Zahl von Befunden diese Grundlage zu einem trag* 
fahigen Gebaude zu verbreitern. 

Einen Beitrag dazu sollen die nachfolgend mitgeteilten Unter- 
suchungen bilden. 

' Von April 1917 bis zum Abschluss der Arbeit habe icb 32 Gehirne 
von Paralytikern untersucht, obne dass eine Auswahr unter dem Ge- 
sichtspunkt klinischer Besonderheiten getroffen wurde; von jedem Fall 
wurde je ein Stuck aus der ersten Frontalwindung und der vorderen 
und hinteren Zentralwindung nach der Methode II von Jahnel (Pyridin- 
Uranmethode) zur Darstellung der Spirochaten im Gewebeschnitt behandelt. 

Bei einem Teil der Falle wurde eine grosse Menge von Gehirn- 
stiicken untersucht. Mitgeteilt werden die positiven Falle. 

Eigene Befunde. 

Fall 1. Robert N., geb. 23.4.1869, Bucbhaltor. Lues 1898, 12 Sprit- 
zen Hg. Jod. Wassermann im Blot positiv 1911, daraufl911 Kur in Oeynhausen, 
6 Spritzen Salvarsan intramuskular, 1912 nocbmal 4 Spritzen intramuskul&r. 
Seit Oktober 1912 Verfolgungsideen, Unruhe, Angst, Gedachtnisabnahme, Reiz- 
barkeit, Zittem der Hand beim Schreiben. 25. 1. 1913 Selbstmordversuch darcb 
Erschiessen, keine Bewusstlosigkeit, kam ins Krankenbaus und am 6. 2. in die 
Prov.- Heil- und Pflegeanstalt Bonn. 

Befund: 2 Einschusse an linker Schlafe, Zunge weicbt nach links ab, 
linker Fazialis schwacber, Pupillen eng, lichtstarr, verzogen, Sehnenreflexe 
fehlen, Sensibilitatsstorungen an den Beinen, paralytische Spracbstbrung. 
Tremor. Stimmung weinerlich, bypocbondrische und depressive Wahnideen. 

/ Orientierung und Merkfahigkeit gut. 



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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 


403 


Verlauf: angstlich depressiv. Isst schlecht. Am 11.2. 1913 plotzliches 
Umfallen, nach 5 Minuten tot. 

Sektion 7Stunden nach dem Tode: Leptomeningitis iiber der Konvexitat. 
Versohmalerung der frontalen Hirnwindungen, Grweiterung der Seitenventrikel, 
Granulation ihrer Wand, Hydrocephalus interims, kolossale Granulation der 
Wand des 4. Ventrikels. Herz scblaff, linker Ventrikel hypertrophisch, Embolie 
in der linken Pulmonalarterie. Aortitis luetica. In der linken Hypogastrika und 
Pemoralis der Wand anhaftender Thrombus. 

Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial. Farbung mit Tolui- 
dinblau nach Nissl: I. Frontalwindung rechts: Pia abgezogen, Rinden- 
architektonik stark gestort, diffus massige Gefassvermehrung, stellenweise 
starker, ziemlich reichliche Gefassaussprossungen. Mittelstarke Infiltration der 
grosseren und kieinen Gefasse, meist aus Plasmazellen bestehend. Ziemlich 
zahlreiche Stabchenzellen. Ganglienzellen difTus stark verandert, im Sinne.der 
wabigen Veranderung. Gliakerne meist ruhend, einzelne progressiv oder 
regreasiv verandert; geringe Proliferation des Gliazellprotoplasmas. Keine 
Vermehrung der Trabantzellen, keine Neuronophagie. Vordere und hintere 
Zentralwindung rechts: Pia stark verdickt, bindegewobig, stellenweise 
reiohlicbe Infiltration mit zahlreichen Plasmazellen. Kindenoberflache massig 
wellig, verschieden starker, stellenweise sehr starker kernfreier Rindensaum, 
Rindenarohitektonik gut erhalten. Mit schwacher Vergrosserung fallt Gefass- 
scheideninfiltration kaum insAuge. Bei Immersionsvergrosserung diffuse gleich- 
massige Infiltration der kieinen Gefasse meist mit Plasmazellen. Stabchenzellen, 
Gefassvermehrung, Ganglienzellen, Glia wie in der ersten Frontalwindung 
verandert, nur weniger hochgradig. 

Formolmaterial: Spirochatendarstellung nach Jahnel: I. Frontal¬ 
windung rechts. In der stark vordickten Pia, in der 1. Rindenschicht und 
dem Mark keine Spirochaten, in der iibrigen Rinde massig reioblich Spirochaten, 
am moisten in der Tiefe der 3. Schicht, Formen die typischen dor Spirochaete 
pallida, einzelne, nicht sehr hochgradige Einrollungsformen. Lagerung diffus 
im Gewebe, nicht gleiohmassig, sondern an verschiedenen Stellen wesentlich 
zahlreicher. Beziehungen zuGewebselementen: im allgemeinenohneBeziehungen 
zu den Gewebselementen im Gewebe, an einzelnen Ganglienzellen sind mehrere 
Spirochaten angelagert. Vordere und hintere Zentralwindung rechts: Sehr spar- 
liche vereinzelt liegende Spirochaten in der Hirnrinde ohne Beziehungen zu Ge¬ 
webselementen. An einer ortlich begrenzten Stelie findet sich eine iiberwiegende 
Zahl von Exemplaren, die auffallig diinn und schwacher impragniert, zum Teil 
nioht schwarz, sondern braun erscheincn. Die ortliche Begrenzung der Verande¬ 
rung konnte als mangelhafte Impragnierung erscheinen. Da aber an einer Anzahl 
dieser Exemplare an mehr oder weniger grossen Stellen verklumptes Periblast 
zu sehen ist und einige Exemplare dick und verkiirzt erscheinen, muss man 
annehmen, dass es sich um Skelettierungsvorgange handelt, die durch ihre 
ortliche Begrenzung besonders bemerkenswert sind (Tafel III, Fig. 1 i). 

Fall 2. Franz Z., geb. 1. 9. 1872, Fabrikarbeiter. Seit Dezember 1910 
nervensehwach, Schlaflosigkeit, Gedachtnisschwache: Depression, leichte Er- 


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404 Dr. F. Sioli, 

regbarkeit. 6. 3. 1911 ins Krankenhaus, dort unruhig 9. 3. in Prov.-Heil- und 
Pflegeanstalt Bonn. 

Befund: Pupillenreaktion ungestort, Reflexe, Sensibilitat, Motilitat un- 
gestort, paralytiscbe Sprachstorung, Merkfahigkeit herabgesetzt, keine wesent- 
liche Demenz, gibt an, er habe Anfalle von Zuckungen im linken Arm ohne 
Bewusstseinsstorung, einmal sei er bewusstlos gewesen. Wassermann im 
Blut positiv. 

Verlauf: Nacb einigen Tagen Euphorie und bluhende Grossenideen, zeit- 
weilig gereizt. Bleibt so bis 5. 5. 1911, dann plotzlich revoziert er die Grossen¬ 
ideen, es seien Illusionen gewesen, bleibt urteilsscbwach, kritiklos, euphoriscb. 
26.6. entlassen. Arbeitete ordentlicb auf der Werft. Seit 27. 11. niederge- 
scblagen, gehemmt, am 12. 12. wieder in Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn. 
Pupillenreaktion ungestort, linker Fazialis schwacher, Sehnenreflexe lebbaft, 
negativistiscb, im Februar 1912 zuganglicher, stumpf apathisch, dement. Im 
Mai 1913 Pupillenreaktion spurweise, Patellarreflexe gesteigert. August 
Wassermann im Blute stark positiv, im Liquor von 0,2 aufwarts stark ppsitiv. 

20.8. 0,3 Altsalvarsan intravenos. 4. 9. 0,5 Altsalvarsan intravenos. 10.9. 
0,6 Altsalvarsan intravenos, alb Naohmittag einmal Erbrechen. 20. 9. begin- 
nender lkterus, Temperatur 37,1—37,4, Puls64. 21. 9. Temperatur 3^,3—37,6. 

22.9. Dreimal Erbrechen galligerMassen, Temperatur37,4—38,2. Urin: Eiweiss 
positiv. Bilirubin positiv. Zucker negativ. Mikroskopisch: zahlreiche Leuko- 
zyten, vereinzelte hyaline und granulierte Zylinder, keine roten Blutkoiperoben. 
Tod 22. 9. 1913 ll 1 ^ h.p.m. 

Sektion nach 12 Stunden: Scbadeldacb ikterisch, sonst o. B. Dura 
ziemlich stark gespannt, beim Einschneiden entloert sich sebr viel ikterisober 
Liquor. Frische Pachymeningitis hoemorrhagica. Pia sulzig getrubt an der Kon- 
▼exitat. Pia der Basis diinn, ungetrubt. Gefasse der Basis diinnwandig. Hirn- 
gewicbtll85. Erwacbsene mannliobe Leiohe, Totenstarre deutlich, Totenflecke, 
keine Oedeme. Hautfarbe ikterisch. Muskulatur schwach, kein Fettpolster. 
In der Bauchhohle bedeokt das Netz die Darme, kein Aszites; Darmserosa glatt 
und spiegelnd. Leber reiobt bis zum Rippenbogen. Zwercbfell 1. 4. ICR, r. 4R. 
Fett und Muskulatur ikterisch verfarbt. Herzbeutel liegt frei, r. Lunge kolla- 
biert, 1. Lunge in ganzer Ausdehnung mit der Pleura costalis verwachsen. 
Herz sehr schlaff. Im r. Vorhof Speckhaut, Ostien geschlossen. Trikuspidalis 
o. B. Muskulatur zum Teil fettdurchwachsen. Koronararterien etwas erweitert, 
enthalten Speckhaut. Muskulatur, Klappen der Aorta und Pulmonalis ikterisch. 
L. Vorhof Speckhaut, normale Weite, Mitralis o. B., nicht verdickt, Conus ar¬ 
teriosus entsprechend. Aorta: herdformig weisslich gelbliche Plaques, die an 
den Klappen beginnen; ikterische Farbung. Verwaohsungen der 1. Lunge leicht 
zu losen. Anthrakotische Hilusdrusen, Pleura verdickt. Massiges ikterisches 
Lungenodem. Im Unterlappen einzelne Herde. Halsorgane ikterisch, sonst 
o. B. Massige luetische Aortitis. Milz doppelt vergrossert. Serosa glatt spie¬ 
gelnd, sehr weich. Pulpa leicht abzustreifen. Trabekel deutlich. Follikelo.B. 
17 : 9 : 2 l / 2 cm. L. Nierenkapsel leicht abziehbar. Auf der Oberflache bis 
Talergrosse prominierende Herde, die zum Teil nur aus weisslichen Knotchen 


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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse. 405 

i 

und hyperamischem Rand besteben. Auf der Schnittflache entsprechen die 
Horde den Markkegeln. Stark ikterisch. Im Nierenbecken leichte zum Toil 
blutige Auflagerungen. Kapsel von r. Niere leicht abziebbar. Anf der Ober- 
flacbe zablreicbe Knotchen, an Einzelstellen geringe Blatungen. Anf der 
Schnittflache einzelne Knotchen der Rinde. Nierenbecken leicht injiziert, weiche 
Auflagerungen. In Magen und Duodenum etwas Speisebrei. Sohleimhaut des 
Duodenums leicht hamorrhagisch injiziert. Ductus choledoohus anscheinend 
nicht durcbgangig auf Druck auf die Gallenblase. Nach Sondierung entleert 
sich reichliche Galle. Leber 25 : 9 : 20 cm. Gew. 1855, Schnittflache massig 
stark ikterisch. Gallengange nicht erweitert, deutliche ikterische Zeichnung 
nicht vorhanden. In der Gallenblase reichlidh dunkelbraune Galle. Im Darm 
weisslich gelblicher Inhalt. Im Dickdarm harter galliger Kot. Dunndarm 
Schleimhaut leicht injiziert, ikterisch, enthalt viel Schleim. in der Nahe der 
Ileozokalklappe kleines linsengrosses Geschwur. Im Douglas leichte schwarz- 
licbe punktformijje Pigmentierungen. Blase stark kontrahiert, enthalt wenig 
traben Ham. Im Rektum schleimiger Kot. Schleimhaut leicht injiziert. Im 
Trigonum der Blase leichte flbrinose Auflagerungen. Fundus massig injiziert. 

Histologische Untersuchung: Alkobolmaterial, Farbung mit Tolui- 
dinblau nach Nissl: I. Frontalwindung: Pia massig stark verdickt und 
infiltriert, Hirnrinde stellenweise versohmalert, llindenarchitektonik deutlich, 
aber nicht sehr stark gestort, Oberflache der Rinde leicht wellig, schmaler 
kernfreier Rindensaum. Reichliche diffuse Vermehrung kleiner GefSsse mit 
Sprossbildung und sehr vielen geschwollenen Gefasswand- und Endothelkernen. 
Diffuse Inflltration mit grossen offenbar meist frischen Plasmazellen. Keine 
massiven Infiltrationszellmengen. In den adventitiellen Scheiden und den Ge- 
fasswandzellen grosserer Venen Tiel gelbes Pigment. Seltene Stabchenzellen. 
Ganglienzellen diffus, meist wabig verandert, stellenweise perizellulare Inkru- 
stationen. Keine Neurenophagie. Gliakerne in der Rinde und Mark meist 
ruhend. Keine betrachtlichen Wucherungserscheinungen am Gliazellprotoplas- 
ma. Die Veranderung ist diffus, aber nicht ganz gleichmassig. Es bestehen 
Bezirke starkerer Gefassvermehrung. Vordere und hintere Zentralwin - 
dung: Die gleiche Veranderung der Ganglienzellen wie in I. Frontalwindung; 
Inflltration, Endarteriitis, Gefassvermehrung von gleicher Art, aber weniger 
stark ausgepragt wie in I. Frontalwindung. Rindenarchitektonik gut erhalten. 
Medulla oblongata und Kleinhim: Infiltration vereinzelter Gefasse, keine 
Gefassvermehrung. 

Formolmaterial: Spirocbatendarstellung nach Jahnel. Von I. Fron¬ 
talwindung, vorderer und hinterer Zentralwindung, Kleinbirn und von einem 
Block aus dem Boden des 4. Ventrikels. In den Schnitten der Frontal- und 
vorderen Zentralwindung ganz vercinzelt hie und da eine Spirochate; in den 
Schnitten von Kleinbirn und Boden des 4. Ventrikels keine Spirooh&ten. 

Fall 3. Heinrich P., geb. 7. 2. 1864, Kutscher. Exzesse in venere et 
baccho, wiederholt Delirium tremens. Ami.5. 1912 ins Krankenhaus Miilheim 
wegen Delirium tremens, nach dessen Ablauf dauern Halluzinationon an, ver- 


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waschene Sprache, Reflexsteigerung, deshalb am 4. 6. in die Prov.-Heil- und 
Pflegeanstalt Bonn aufgenommen. 

Befund: Starker Tremor, Pupillenreaktion links trage and wenig aus- 
giebig, recbts ungestort. Sehnenreflexe lebhaft, paralytische Sprachstdrung. 
Stimmung euphoriscb, bumoristiscb, geringe Aufmerksamkeit, sebr Starke Merk- 
fahigkeitsstorung, delirante motorische Unrube, verwirrter Rededrang, will das 
Auge herausgenommen baben, balluziniert. Liepmann negativ. 

Verlauf: Euphorie, cbronisch delirante Unruhe, verlangt dauernd Ent- 
fernung seines Auges. November 1912 ein Anfall, in dem er fallt und den 
Oberarm bricbt, danach ruhiger, stumpf, ganzdement. Geht korperlich zuriick 
und stirbt am 27. 2. 1913. 5 h. p. m. 

Sektion \ l l 2 Stunde nach dem Tode: Hydrocephalus externus und in- 
ternus, starke Leptomeningitis chronica uber der vorderen Konvexitat, Epen- 
dymitis granularis des Seitenventrikels und des 4. Ventrikels, Verschmalerung 
der frontalen Hirnwindungen. Aortitis luetica, Verdickung der Mitralklappen, 
broncbopneumonische Herde, hamorrhagischer Infarkt im Unterlappen der 
rechten Lunge. 

Histologischer Befund: Alkolmaterial, Toluidinblaufarbung nacb 
Nissl: I. Frontal win dung rechts: Pia wenig verdickt, stark infiltriert mit 
Plasmazellen, Lymphozyten und Abraumzellen, von der Hirnoberflache gut 
abgesetzt, an einzelnen Stellen mit ihr verlotet. Gehirnoberflache aiemlich 
glatt, kein kernfreier Rindensaum, Rindenarchitektonik gut erbalten, Gef&sse 
nicht sebr vermebrt, zablreiche Gefasse aber von dicken Infiitrationsmanteln 
umgeben, die meist aus Plasmazellen bestehen. Auch im Mark dicbt unter der 
Rinde nocb starke Infiltrationen der Gefassscbeiden. Bndotbelkerne nicbt 
wesentlich geschwollen. Die Infiltration halt sich in den adventitiellenScheiden 
und durcbsetzt nicht die Gefasswand bis zum Endothel. Stabchenzellen und 
Neubildungen von Gefassen. Ganglienzellen diffus stark verandert, Zustand 
des komigen Zerfalls in Verbindung mit der chronischen Erkrankung. Tra- 
bantzellen nicbt vermehrt, keine Neuronopbagie. Gliakerne allgemein und sebr 
stark geschwollen, deutlich am starksten in der 3. Schicht. Starke Prolifera¬ 
tion eines lockeren Gliazellprotoplasmas um die Kerne. Die Ver&nderung ist 
diffus, stellenweise sind Stabohenzellen und Gliakernschwellung starker aus- 
gepragt. Vordere und hintere Zentralwindung rechts: Die Ganglien- 
zeliveranderung ist weniger stark, alle anderen Veranderungen an Art und 
Starke wie in der I. Frontalwindung. 

Formolmaterial: SpirochatendarstellungnachJahnel: I.Fron¬ 
talwindung links: In Pia, I. Rindenschicht und Mark keine Spirochaten. In 
einem Teil des bearbeiteten Stiickes, einer Seite der betreffendenHirnwindung, 
einzeln liegende sparliche Spirochaten von typiscber sehr langer Form mit ein¬ 
zelnen knospenartigen Formyer&nderuugen im oberen Teil der 3. Schicht. Sie 
liegen im Gewebe ohne erkennbare Beziehungen zu zelligen Gewebselementen. 
Gyrus rectus links: Etwas weniger reiohliche Exemplare, aber diffus regel- 
massiger verteilt in alien Schicbten ausser der I. Rindenschicht. Form typisch, 


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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 


407 


Lage im Gewebe. Hint ere Zentralwindnng: Ganz vereinzelte Spirochaten 
in der 3. Sohioht. Vordere Zentralwindnng: Keine Spirochaten. 

Es ist hervorzuheben, dass in den sehr massigen Infiltraten dieses Falles 
keine Spirochaten liegen. 

Fall 4 . Peter H., geb. 30. 1. 1881, Scbmied. 23. 10. 1916 in der / 
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn aufgenomznen. Ein balbes Jahr vorber eine 
Art Anfall (starke Kopfschmerzen, es ginge ibm alles rund), danacb Gedacbt- 
nisschwache, unsicberes Sprechen, in letzterer Zeit nachlassig. 

Befund: Papillen lichtstarr, starker Tremor, lebhafte Sehnenreflexe, 
links Andentung von Babinski, starke Spraobstorung. Stumpf, enphoriscb, 
hochgradige Demenz. 

Verlauf: Stumpf, eupborisob, findet sicb nicbt zurecht, wird hinfallig 
und stirbt am 21. 12. 1916. 2 ] /s b« p. m. 

Sektion 20 Stunden nach dem Tode. Gefasse der Basis und Fossa 
Sylvii zartwandig, Pia vom Frontalpol bis zur Zentralfurcbe etwas getrubt, 
nicbt wesentlich verdickt, Windungen nicbt deutliob verscbmalert. Seiten- 
ventrikel nicbt erweitert. Ependym derselben und des 4. Ventrikels nicbt 
granuliert.. 

Histologiscbe Untersuchung: Alkobolmaterial, Toluidin- 
blaufarbung nach Nissl. Frontalpol rechts: Pia wenig verdickt durch 
Infiltrationszellen, diese sind vorwiegend Lymphozyten, eine gewisse Anzabl 
Abraumzellen, nur vereinzelt Plasmazellen. Die Infiltration durcbsetzt nir- 
gends die Wand der pialon Gefasse. Die Pia ist von der Gehirnoberflache gut 
abgesetzt. Die Gehirnoberflacho ist im grossen ganzen glatt, ein bemerkens- 
werter kernfreier Rindensaum besteht nicbt; die Rindenarchitektonik ist im 
allgemeinen gut erhalten, fleckweise starker gestort, mehr durch Reicbtum in- 
filtrierter Gefasse als durch Zellausfall. Die Rindengefasse sind ziemlich all- 
gemein mit Plasmazellen locker infiltriert, diese Plasmazellen sind von auf- 
fallend verscbiedener Form und Grosse, starke Vermehrung kleiner Gefasse, 
zatlreiche Stabchenzellen. Endotbelkerne stellenweise vergrossert. Im Rinden- 
bilde fallt besonders in die Augen die allgemeine Ganglienzellerkrankung des 
„Zellschwundes w (Vakuolisierung des Kernkorperchens, Grosse und Blasse des 
Kerns, obne oder mit ganz dunner Kernmembranfalte, perinukleare Unfiirbbar- 
keit, farbbare Substanzen als Basalkorper, Kernkappen, Verzweigungskegel in 
blasser, krumeliger, scblecht umschriebener Form erhalten, Dendriten und 
Acbsenzylinder gleiohmassig biass ziemlich weit gefarbt, nicbt aber die feineren 
Verzweigungen). Von dieser Erkrankung bestehen die verschiedensten Stadien 
bis zur Auflosung der Zeilen. Glia der 1. Schicht und der ganzen Rinde sebr 
stark progressiv verandert und gewucbert, Kerne meist gross und blass, zum 
Teil von langer Form, mit mehreren Polkorpercben, reichlicb Protoplasmabil- 
dung, zum Teil Rasenbildung. Einige bomogene Gliakerne, umgeben von 
einem hauchartigen Leib von Gestalt der amoboiden Gliazellen, in denen einige 
metacbromatiscbe Kornchen eingelagert sind. Die Trabantzellen liegen in 
etwas vermebrter Menge den Ganglienzellen sebr eng an und haben meist 


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grosse helle, zum Teil gestreckte Kerne und zum Teil Protopl&smastippchen. 
Bilder schwerer Nearonophagie fehlen. Die ganze-Rinde sieht schmutzig aus 
durch eine Menge von Kdrnern, Kringeln und Resten, deren Zugehorigkeit zu 
Zellen oft nicht mebr genau zu bestimmen ist. Im Mark ganz allgemein grosse 
Gliakerne und eine ziemliche Menge von Gliazellen mit grossem formverander- 
tem blassem Kern, mehreren roetacbromatischen Polkorperchen und einem 
grossen massiven Protoplasmaleib, der sicb am Rande in feine Fortsatze auflost 
gemastete Gliazellen). Fleckweise im Mark freie Korncben, Kringelcben usw. 
1. Frontalwindung recbts gleicbt dem Frontalpol. Vordere und bintere 
Zentralwindung recbts gleicbt dem Frontalpol, Gefassvermebrung und 
Infiltration ist fleckweise starker. 

Formolmaterial: Spirochatendarstellung nacb Jahnel (die Praparate 
sind nacb der Metbode I — ohne Pyridinvorbehandlung — dargestellt, sie 
sind nur stellenweise braucbbar, da sie stellenweise Fibrillendarstellung und 
Niederscblage zeigen). 1. Frontalwindung links: keine Spirochaten. Vor¬ 
dere und hintere Zentralwindung links: an einer sicb iiber mebrere 
Immersionsgesichtsfelder erstreckenden Stelle der hinteren Zentralwindung 
zahlreicbe (etwa 20 im Gesicbtsfeld) Spirochaten in typisoher Form, viele mit 
Verscblingungen des Leibes, dififas einzeln im Gewebe, obne erkennbare Be- 
ziebungen zu zelligen Gewebselementen, nur urn Ganglienzellen starker an- 
gebauft. 

Fall 5 . Gustav K., geb. 24. 12. 1879, Chauffeur. Am 8. 6. 1914 in 
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn aufgenommen, nachdem er 2 Wochen vor- 
ber erkrankt mit Kopfschmerz, Schwindel, Aufgeregtheit, schwerer Sprache, 
Grossen ideen. 

Befund: Pupillen fast lichtstarr, Sehnenreflexe gesteigert, Romberg, 
paralytische Sprachstorung, Euphorie, unsinnige Grossenideen, Storung der 
Merkfahigkeit. 

Verlauf: 13. 6. 1914 0,3 Altsalvarsan intravends, 23. 6. 0,6 Altsalvarsan 
intravenos. Er ist rubig, besoheiden, geistig leioht geschwacht, wird am 19. 8. 
entlassen, am 15. 10. wieder aufgenommen, rubig, affektlos. Oktober 1915 
nochmals 3mal Altsalvarsan, Wassermann bleibt positiv, Patient bleibt onver- 
andert. Juli 1916 mehrere paralytische Anfalle, nach denen er geistig zurfick- 
geht. 1917 korperlicher Riickgang, Tod 28. 2. 6 8 / 4 ~h. p. m. 

Seklion nacb 15 Stunden: Sebr starke Verdickung und Trubung der 
Pia vom Stirnpol bis zum Partiallappen beiderseits, massige Verschmalerung 
der Windungen im Stirnhirn, starke Granulation der erweiterten Seitenventrikel 
und des 4. Ventrikels. 

Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial. Farbung mit To- 
luidinblau nacb.Nissl. 1. Frontalwindung links: Pia stark verdickt, 
meist bindewebig fibros, mit vielen Abraumzellen, stellenweise mit Anhaufung 
zablreicber Infiltrationszellen, in denen Plasmazellen iiberwiegen. Keine die 
Gefisswand dnrchsetzende Infiltration. Pia liberal! vom Gehirn gut abgesetzt. 
Rindenoberflache grobwellig, verscbieden dicker kernfreier Rindensaum, an 


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Die Spirocbaete pallida bei der progressiven Paralyse. 409 

einer kleinen Stelle dicht unter der Oberflache um ein Gefass Infiltrationszellen 
frei im Gewebe, moist Lymphozyten, vereinzelt Plasmazellen. Hirnrinden- 
architektonik stark gestort, an verschiedeneu Stellon in verschiodenor Starke, 
an einzelnen Stellen sehr betrachtlicher Nervenzellausfall. Gefassvermehrung 
in der ganzen Rinde deutlich, an verschiedonen Stellen verschieden stark. Die 
Gefassscheiden sind zum Teil sehr stark infiltriert, meist mit Plasmazellen, 
teilweise mit Lymphozyten, an einzelnen Stellen dnrchsetzt die Infiltration die 
Gefasswand bis zur Intima, deren Kerne zum Teil stark geschwollen sind. Die 
kleinsten Gefasse und Kapillaren zeigen fast reine Plasmazelleninfiltration, die 
Plasmazellen sind von kleiner bis grosser Form, die Intimawucheruug ist an 
den kleinen Gefiissen sehr deutlich. Gefiissaussprossungen und Stabohenzelien 
massig reiohlich. Die Ganglienzellon zeigen durchgehend das BiId der chro- 
nischen Veranderung, an verschiedenen Stellen verschieden stark; einzelne 
Ganglienzellen sind im Schwund. Gliazellen: viele pyknotische Kerne, vielo 
Schwellungsfornien der Kerne mit reieblieher Protoplasmabildung massiver 
Art. In den verschiedenen Schichten ist die Veranderung an Qualitat gleich, 
an Quantitiit bestehen die stiirksten Ausfalle in der 3. Rindeuschicht, die 
starkste Gefassinfiltration in der 5. und 6. Rindenschicht. Auch im Mark 
finden sich stark infiltrierte Gefasse in ziemlicher Zahl. Die Veranderung ist 
an verschiedenen Stellen sehr verschieden stark, Fig. 1 und 2 der Tafel V 
zeigen 2 dicht nebeneinanderliegende Stellen aus^dem gleichen Schnitt. 
1. Tempo ralwi nd ung links: Pia Veriinderung gleichor Art, Infiltration 
starker wie bei 1. Frontalwindung. Rinde: Veriinderung glcicher Art wie in 
1. Frontalwindung, lleokweise aber viel starker als dort, sowohl in Infiltration, 
wie Gefassvermehrung, wie Zellausfallen und Storung der Architektonik. Die 
Zellausfalle sind am starksten in dor 3. Rindenschicht, von der an einzelnen 
Stellen keine Nervenzellen mehr vorhanden sind, sondern nur ein Gcfiissgeriist, 
zwischen dem Stabchenzellen, Gliazellen (progressiv und regressiv verandert), 
zum Teil rasenartig und einige Ganglienzellreste liegen. Keine freien Infil¬ 
trationszellen. Die Gefasse dieser Stellen sind gering infiltriert. An der Ober- 
flache eine kleine Stelle mit vielen freien Infiltrationszellen frei im Gewebe 
um ein Gefass. Die Ganglienzellen sind im allgemcinen weniger stark chro- 
nisch verandert als in 1. Frontalwindung. Vordere und hintere Zentral- 
windung links: Pia stark bindegewebig verdickt, fast ohne Infiltrations¬ 
zellen. Rinde zeigt sehr gut erhaltene Architektonik und nur geringe krank- 
hafte Veranderungen. Nur vereinzelt finden sich Gcfassscheideninfiltration mit 
Plasmazellen, Schwellung der Intimakerne, Stabchenzellen. Ganglienzellen 
und Gliazellen zeigen nur geringfugige Veranderungen. 

Formolmaterial: Spirochatendarstellung nach Jahnel. 1. Frontal¬ 
windung rechts: Im Mark und der stark verdickten Pia keine Spirochaten. 
In der ganzen Hinrinde roichlich Spirochaten, bei weitem am zahlreiohsten in 
der 3. Rindenschicht (ca. 20 ira Gesichtsfeld, Taf. Ill, Fig. 4), aber auch in 
der 1. Rindenschicht. Formen typische meist sehr lange Exemplare, vereinzelt 
Einrollungsformen. Verteilung diffus, einzeln liegend, fieckweise stiirkerc An- 
haufungen. Die meisten liegen ohne erkennbaro Beziehungcn zu Gewebsele- 

ArchiT f. Fsychiatrie. Wd. 60. Heft 2/3. 


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menten diffas im Gewebe, eine grosser© Anz&hl liegt einzeln oder in mehreren 
Exemplaren an Ganglienzellen und anch anderen Zellen an. Unverkennbar 
- sind die Beziehungen einiger Exemplar© zu Gefassen, in denen einige langs 

oder schrag gestellt in der Gefasswand liegen (Taf. Ill, Fig. 8 und 9), verein- 
zelte auch in den adventitiellen Scheiden zwischen Infiltrationszellen liegen 
(Taf. Ill, Fig. 5), ganz vereinzelt sieht man eine stark eingerollte Spirochate 
zwischen Infiltrationszellen so um einen Kern gerollt liegen, dass anzunehmen 
ist, sie liegt in einer Infiltrationszelle. Stuck aus der Mantelkante 
vom hinteren Ende der linken Frontalwindung mit ungeheuer stark ver- 
dickter Pia rechts: In der Pia keine Spirochaten, in der Hirnrinde Spirochaten 
wie in vorigem Stuck, aber erheblich weniger. Vordere und hintere Zen- 
tralwindung rechts: Keine Spirochaten. 

Fall 6. Arnold H., geb. 7. 5. 18G4, Anstreichergeselle. Juli 1909 
* - im Krankenhaus wegen Rheumatismus, 6. 8. in Prov.-Heil- und Pllegeanstalt 

Bonn. 

. Befund: Pupillenreaktion ungestort. Patellarreflexe schwach, links 

sohwacher als rechts, allgemeine massige Hypalgesie, paralytische Sprach- 
storung, euphorisch, stumpf, gute Merkfahigkeit. 

Verlauf: Jeden Monat 3—-5 paralytische Anfalle, danach oft verwirrt 
oder erregt, zeitweilig pjptzliche Wahnideen (glaubt Geld verschluckt zu haben 
oder bestohlen zu sein), wird plotzlich aggressiv. Wechsel von Euphorie und 
Gereiztheit, kommandiert die Umgebung. Zeitweilig zeigt er gute geistige 
Fahigkeiten, geht aber seit 1911 unter regelmassigen Anfallen zuruck, 
schliesslich monatelange starke Erregung, wird elend und stirbt am 22. 7.1912 
* 2 h. p. m. 

Sektion 21 Stunden nach dem Tode: Massige Verdickung und Triibung 
der Pia vom Frontalpol bis zur hinteren Zentralwindung. Sehr starke Atrophie 
der Hirnwindungen in gleicher Ausdehnung, stark erweiterte Seitenventrikel, 
Granalation des 4. Ventrikels. Oedem beider Lungen, sohlaffe beginnende 
Pneumonie )., sonst kein Befund. 

Histologische Untersuchung: Nur Formolmaterial vorhanden. 
Farbung mit Kresylviolett. Vordere und hintere Zentralwindung links: 
Pia massig verdiokt, toils durch Bindegewebe, toils duroh Infiltrationszellen, 
diese meist Plasmazellen, viel Pigment. Gehirnoberflache etwas wellig, starke 
kernarme Deckschicht. Hirnrinde allgemein zellarm, besonders auflailig fast 
volliges Fehlen der oberen und tiefen KSrnersohicht, an Stelle der tiefen 
Komerschicht eine besonders zellarme Zone. Massige Gefassvermehrung, all* 

. ' gemeine Infiltration grosser und kleinster Gefasse, meist mit Plasmazellen, viel 

Pigment in den adventitiellen Scheiden. Endothelschwellung und Stabchen- 
zellen nicht erkennbar. Ganglienzellen zum Teil chronisch verandert. 1. Fron- 
talwindung links: Wie Zentralwindung. 1. Temporal- und Okzipital- 
windung: Nur geringe Veranderungen erkennbar, Kornerschichten erhalten. 
Spiroohatendarstellung nach Jahnel: 1. Frontalwindung links: In Pia, 
^ 1- Rindenschicht keine Spirochaten. In der tieferen Rinde uberall einzelne 


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Die Spirochaete pallida bei der prhgressiven Paralyse. 


411 


Spirochaten, in einigen flachenhaften Bezirken der tieferen Rinde ganz unge- 
heuer viel Spirochaten (weit fiber 100 im Gesichtsfeld), sehr lange auffallig 
dfinne Exemplare, gleichmassig einzeln liegend, Beziehungen zu Gefassen oder 
zelligen Gewebsbestandteilen nicht erkennbar. Aoch bei don Praparaten dieser 
Farbung siebt die Hirnrinde auffallig aas, ihr oberer Teil wie ein scholliges 
ineinandergeschobenes Gerfistwerk, die sonst bei dieser Farbung gut abgrenz- 
baren Gliazelien der 1. Rindenschicht sind schlecht zu erkennen, ein Teil ist 
deutlich amoboid vorandert. Vordere und hintere Zentralwindung 
links: In der tiefen Rinde fleekweise massig reichliche Spirochaten, einzeln 
liegend. Die Rinde wie in 1. Frontalwindung. 

Fall 7 . Helene T., geb. 11. 10. 1869, Arztfrau. Vater litt an Angst- 
neurose, Mutter sebr bigott, zerfahrene Erziehung. Patientin stets sehr 
exzentriscb, ethiscbe Defekte, krankhaft eifersfichtig, in letzten Jahren Alkohol- 
missbrauch. 1892 verheiratet mit Arzt, dieser hatte 1892, als Frau mit erstem 
Kind im 4. Monat schwanger, scbwerbeilende Wunde an der Hand, die nach 
Sachverstandigenurteil nicht spezifisch war. Kind kam richtig zur Welt, nach 
14 Tagen Hautausschlag, nach einigen Wochen tot. Ehemann hatte nie 
Erscheinungen von Lues bemerkt ebenso nicht Patientin. Mai 1915 liess Ehe¬ 
mann Blut untersuchen, Wassermann positiv, hat seit 1914/15 Rekurrens- 
lahmung, nach facharztlichem Urteil infolge Erweiterung der Aorta. 4 Kinder 
leben gesund. Patientin seit 1913 wortkarg, vernachlassigt sich, lebte zuletzt 
nur von Wasser und Brot. War vom 22. 9.—1. 12. in psychiatrischer Klinik 
Koln. Dort Pupillen verzogen, kaum wahrnehmbare Lichtreaktion, ausser- 
ordentliche Steigerung der Sehnenreflexe, unregelmassige unkoordinierte cho- 
reatische Bewegungen der Arme, zwei Anfalle epileptischer Form, Zuckungen 
rechts mehr als links, lang dauernde Bewusstseinstrubung. Wassermann in 
Blut und Liquor negativ, mittelstarke Polyzytose, Nonne positiv. Apathisch, 
grimassiert, zeitweilig unrein, nach 4 Wochen freier, maniriert, affektlos, zeit- 
weilig verstimmt. Am 12. 5. 1915 wieder zur psyohiatrischen Klinik Koln, 
seit kurzem erregt, verwirrt, halluziniert. Wassermann erneut negativ. Am 
22. 5. zur Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn. 

Befund: Links Fazialisschwache, Pupillenreaktion trage. Sprache lang- 
sam, hasitierend, Sehnenreflexe vorbanden. Choreatische Bewegungen der 
Hande, Gang taumelig. 

Verlauf: Wechselnder Zustand, manchmal heiter orientiert, manchmal 
verwirrt, angstlich, benommen, Sprache oft kaum verstandlicb, zeitweilig un<< 
rein. Geht von Oktober an khrperlich und geistig progress!v zurfick, Pupillen 
lichtstarr, Sehnenreflexe lebhaft. 20. 10. wiederholte allgemeine Konvulsionen 
mit Bewusstlosigkeit, seitdem ohrfe Besinnung, stirbt 24. 10. 6 Y 2 ^ p. m. 

Sektion 15^2 Stunden nach dem Tode: Gefasse der Basis und der 
Fossa Sylvii fleekweise verdickt und verhartet. Pia fiber dem Frontalhirn sul- 
zig verdickt, nicht wesentlich getrfibt, Gehirnwindungen nicht wesentlich ver- 
schmalert. Seitenventrikel erweitert, v Ependym glatt. Ependym des 4. Ven- 
trikels gTanuliert. 

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412 


Dr. F. Sioli, 



Histologisch e Untersuchung: Alkoholmaterial, das nach Alkohol- 
fixierung in Formol aufbewahrt war; Kresylviolettfarbung. 1. Frontal- 
windunglinks: Pia massig vordickt, Infiltrationszellanhaufungen in lockerem 
Bindegewebe, mehrere Gefasse stark hyalin entartet. Rindenoberfiache grob- 
wellig, erheblicher allgemeiner kernfreier Rindensaum, Rindenarchitektonik 
fleckweise stark gestort, verschieden starke Vermehrung und Infiltration von 
Rindengefassen, die Infiltrationszellen sind meist Plasmazellen. Keine wesent- 
liche Endothelkernschwellung. Wenige Stabcbenzellen. Ganglienzellzustand 
nicht klar erkennbar, infolge Konservierung. Gliakerne teils ruhend, teils pro- 
gressiv verandert. Vordere und hintere Zentralwindung links: Infil¬ 
tration der Pia geringer, der Itinde wie in Frontalwindung. Architektonik 
besser erhalten, Gefassvermebrung geringer, kernfreier Rindensaum wie in 
Frontalwindung. Okzipitalwi ndung (Calc arina) links: Wie Zentral- 
windung. Formolmaterial. Spirochatendarstellung nach Jahnel. 1. Fron¬ 
tal windung rechts: In mehreren fleckfbrmig verteilten Stellen der 2. bis 
6. Rindenschicht linden sich sparliche (1—3 im Gosichtsfeld) Spirochaten, 
meist von typiscber Form, einige auch von sehr stark eingerollter Form (bis zu 
knotenartiger Form) difTus einzeln liegend im Gewobe ohne erkennbare Be- 
ziehungen zu zelligen Gewebselementen. Keine Spirochaten in Pia, Mark und 
1. Rindenschicht. Vordere und h intere Zentral windung rechts: Ganz 
sparlich einzeln liegende Spirochaten in der Rinde ohne Beziehung zu zelligen 
Gewebselementen. Okzipital windung rechts (Calcarina): Sparliche 
vereinzelt liegende Spirochaten ohne Beziehung zu zelligen Gweebselementen 
in der 1. und den anderen Rindenschiohten. 

Fall 8. Fritz K., geb. 1. 2. 1865, Kaufmann. Am 10. 6. 1913 in die 
Prov.-Heil- und Pllegeanstalt Bonn aufgenommen nachdem er vollig verwirrt 
in Bonn auf der Strasse aufgegriffen war. 

Be fund: Beben der Mundmuskulatur, Pupillen rechts weiter als links, 
lichtstarr, Patellarreflexe rechts schwach, links nicht auslosbar, Romberg an- 
gedeutet, paralytische Sprachstorung, affektlos, stumpf, Grossenideenpekuniarer 
Art, verwirrte Angabcn, Bonehmen geordnet. Gibt Syphilis zu. 

Verlauf: Sehr stumpf, 3. 9. 1913 paralytischer Anfall, danach rapider 
korperlicher Verfall und Tod am 8. 9., 8 l / 2 h. p. m. 

Sektion nach 14 1 /* Stunden: Lfeptomenigitis chronica, Athropia, 
gyrorum cerebri,Ependymitis granularis, schlaffes Herz, Nephritis interstitialis. 

Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial, Toluidinblaufarbung 
nach Nissl: 1. Frontalwindung rechts: Pia stark verdickt, halb binde- 
gewebig, halb inliltrativ, die Infiltration ist gleichmassig, der Hirnoberflache be- 
nachbart, meist von der Hirnobertlacho gut abgesetzt, an einigen kleinen Stellen 
mit ihr verlotet. Die Infiltration enthalt viele Plasmazellen, cs besteht keine In¬ 
filtration, welche dieGefasswande durchsetzt. Gehimoberfiache stellenweise sehr 
stark wellig; deutlicher massig dicker kernfreier Rindensaum. Rindenarchitektonik 
wenig gestort, eine Verringerung der Zahl der Ganglienzellen ist vorgetauscht 
durch akute Zellerkrankung. In Hirnrinde ausgedehnte diffuse Infiltration der 


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Dio Spirochaeto pallida bei dor progressiven Paralyse. 413 

Gefassscheiden mit z. T. dicken Zellmanteln, die Infiltration besteht grossten- 
tcils aus grossen Plasmazellen. An einzelnen Stellen der GefSsse finden sioh 
dicke Polster von gewucherten Intimazellen und Gefassaussprossungen. An 
einigen kleinen Stellen ortlich begrenzter Austritt von Plasmazellen und 
Lymphozyten ins Gehirngewebe. Stabchenzellen stellenweise vorhanden, an 
anderen Stellen fehlend. Ganglienzelien im Sinne der akuten Zellveranderung 
Nissl’s erkrankt. Gliakeme in ziemlicher Zahl hochgradig progressiv ver- 
andert, ohne sichtbarenProtoplasmaleib,eine gewisseZahl Gliakerne pyknotisoh 
Oder homogen verandert umgeben von einem schwachsiohtbaren, wolkenartigen 
Protoplasmaleib von der Form der amoboiden Zellen, der einige rotgefarbte 
Granula enthalt. Die Ganglienzellveranderung ist diffus, aber nicbt gleioh- 
massig, sondern fleckweise mehr oder weniger stark. Vordere und hintere 
Zentralwindung reohts: Gleicht in Art der Veranderung und darin, dass 
die Veranderung fleckweise versohieden stark ausgepragt ist, der 1. Frontal- 
windung. Die Quantitat der Veranderung ist starker als an der 1. Frontal- 
windung in Bezug auf Piainfiltration, Verlotung der Pia mit der Hirnoberflache 
auf weite Strecken, Gefassvermehrung und Dicke der Infiltration. Intima- 
wucherung. An einzelnen Gefassen von Pia und Rinde durchsetzt die In¬ 
filtration die Gefasswand fleckweise in ganzer Dicke. 

Formolmaterial: Spirochatendarstellung nach Jahnel. L.Frontal- 
windung rechts: In der Pia, der 1. Rindenschicht und dem Mark keine 
Spirochaten. In den tieferen Zweidritteln der 3. Schicht und den 
tieferen Sobichten bis zur Markgrenze reichlich Spirochaten (fiber 10 cm 
Immersionsgesichtsfeld), am moisten in der 3. Schicht. Form der Spirochaten: 
Neben einzelnen typischen Exemplaren uberwiegend Einrollungsformen von 
teilweisen Einrollungen bis zu sehr stark eingerollten Formen (Taf.IlI, Fig.lb 
bis f). Verteilung einzeln liegend, diffus verteilt, aber ungleichmassig, 
indem der eine Bogen der geschnittenen Hirnwindung die Spirochaten enthalt, 
der andere Bogen fast frei ist. Beziehung zu Gewebselementen: Meist ohne 
erkennbare Beziehung zu zelligen Gewebselementen im Gehirngewebe, einige 
liegen in der Gefasswand von Kapillaren und deren naheren Umgebung, keine 
in der Wand oder Umgebung grosserer Gefasse. Vordere Zentralwindung: 
Spartiche Spirochaten (1 in 3—4 Gesichtsfeldern) in der 3. Rindenschicht 
ohne erkennbare Beziehungen zu Gewebselementen, gleichmassig verteilt. 
Hintere Zentralwindung: In Pia, 1. Rindenschicht und Mark keine Spiro¬ 
chaten, massig reichliche (2—4 im Gesichtsfeld) Exemplare in den tieferen 
Zweidritteln der 3. Schicht, einzeln liegend, diffus gleichmassig verteilt, ohne 
erkennbare Beziehungen zu Gewebselementen. Unter den Formen neben einigen 
typischen sehr langen Exemplaren uberwiegend eingerollte usw. veranderte 
Formen bis zu sehr stark eingerollten. 

Fall 9 . Peter B., geb. 1890, Laufburscbe. Eltern gesund, Lues negiert, 
7 Geschwister gesund, 2 Geschwister tot mit 2 und 4 Monaten, 1 Zwillings- 
geschwisterpaar tot geboren. Patient selbst h&tte Rachitis und lernte erst mit 
4 Jahren laufen, lernte in der Schule gut, dann Fortbildungssohule, erhielt ein 




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Dr. F. Sioii, 


Dipiom. War immer schwachlich. 22. 2. 1908 in psychiatrische Klinik Coin 
aufgenommen, nachdem er 3 Monate allmahlich verandert war, teilnahmslos, 
weinte grundlos, unbeholfener Gang. 11.3. in Prov.-Heil- nnd Pflegeanstalt 
Bonn anfgenommen. 

Befund: Korperlich zuruckgeblieben, Habitus eines 14—15jahrigen 
Jungen. Pupillen different, lichtstarr, grobe Wellenbewegungen der unbehilf- 
lichen Zunge, Hypalgesie der Beine, ataktischer Gang, Steigerung der Patellar- 
reflexe, starke Sprachstorung, Mitbewegung der Gesichtsmuskulatur. Sehr 
starke Demenz, blode Euphorie. 

Verlauf: Lebt blode, abwechselnd weinerlich und reizbar. August 1908 
Blindheit (Optikusatrophie), Sprache wird unverstandlicher, aus vereinzelten 
verstand lichen Worten gehen Grossenideen hervor (grosse Reisen auf Motorrad) 
oder Angst (sieht wildeFiichse). 1909 ganz verblodet, hilfsbediirftig, unverstand- 
lich, lallend. 1911 rapider korperlicher Verfall und Tod. Am 10.1. 2 1 /, h. a. m. 

Sektion: 7 x / 2 Stunden nach dem Tode. Hirngewicht 1027 g. Gefasse 
der Basis und Fossa Sylvii zartwandig, Optikusatrophie beiderseits. Pia fast 
fiber dem ganzen Gehirn getriibt, fiber dem Frontalhirn stark sulzig verdickt 
und stark getriibt, im Zusammenhang ohne Rindenschadigung abziehbar. 
Hirnwindungen iiberall schmal, im Frontalhirn sehr schmal. Seitenventrikel 
stark erweitert, Ependym glatt. Ependym des 4. Ventrikels granuliert. 

Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial; Toluidinblaufarbung 
nach Nissl. Vorhanden sind 4 unbezeichnete Rindenteile, von denen Nr. 1 als 
aus der Frontalgegend, Nr. 2 aus der Zentralgegend, Nr. o aus der Parietal- oder 
Okzipitalgegend, Nr. 4 aus der Okzipitalgegend (Calcarina) stammend erkenn- 
bar sind. Nr. 1: Sehr starke Verdickung der Pia, meist aus lookerem Binde- 
gewebe mit Abraumzellen und Pigment bestehend; an dem der Hirnoberflache 
zugekehrten Blatt der Pia eine verschieden dicke Schicbt von Infiltrationszellen, 
toils Plasmazellen, teils Lymphozyten. Pia vom Gehirn gut abgesetzt. Gehirn- 
oberflache glatt, sehr starker kernfreier Rindensaum, starke Storung der Rinden- 
arohitektonik durch Gefassvermehrung und Zellausfalle, die fleckweise sehr 
verschieden stark sind. Die Gefasse sind z.T.mit massiven Zellhaufen infiltriert, 
ii) denen Plasmazellen fiberwiegen, dabei viel Pigment. Stellenweise starke 
Wucherung der Endothelzellen, Neubildung von Gefassen, zahlreiche Stabchen- 
zellen. Die Ganglienzellen zeigen allgemein das Bild der wabigen und chro- 
nischen Zellerkrankung in hohem Grade. Gliakerne meist ruhend, vieie von 
feinen Pigmentkornchen umgeben, einzelne stark vergrossert, von Stippchen 
oder oinem massig dichten Protoplasmaleib umgeben. Keine Neuronophagie, 
keine Trabantzellenvermehrung. Auch im Mark vieie Gefasse mit Plasmazellen 
infiltriert und mit viel Pigment. Nr. 2: Pia: Wie bei Nr. 1. Gehirn: Kern¬ 
freier Rindensaum, Gefassvermehrung, Infiltration, Endothelwucherung, Gang- 
lienzellerkrankung gleicher Art wie bei Nr. 1, aber wesentlich starker, fleck¬ 
weise sehr verschieden stark. An einzelnen Rindengefassen durchsetzt die 
Infiltration die ganze Gefasswand. Einzelne submiliare Gummen. Nr. 3: 
Pia sehr wenig verdickt, Veranderungen an Art wie bei Nr. 1, an Starke 
geringer. Nr. 4: Wie bei Nr. 3, nur ist die Ganglienzellerkrankung gering. 



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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 


415 


Formolmaterial: Spirochatendarstellung nach Jahnel. 1. Frontal- 
windungrechts: In Pia, 1. Rindenschnitt und Mark koine Spirochaten, in 
der iibrigen Rinde an einigen Stellen mehrere einzeln liegende Spirochaten 
ohne erkennbare Beziehungen zu zelligen Gewebselementen, von sehr ver- 
schiedenen, meist stark eingerollten, teilweise gestreckten Formen (Taf. Ill, 
Fig. 1 g, h). Gyrus rectus recbts: Bei sehr laugem Suchen findet sich 
hie und da eine ganz vereinzelte Spirochate in der Hirnrinde. Vordero und 
bintere Zentral windung rechts: In Pia, 1. Rindenschioht und Mark keine 
Spirochaten; in der iibrigen Rinde zahlreiche Spirochaten, in der Tiefe der 
3. und in der 5. Sohicht stellenweise ungeheuer zahlreiche (100 im Gesichts- 
feld). Die Formen sind meist typisch, sehr lange Exemplars, einzelne zeigen 
teilweise Streckungen, Verschlingungen, Einrollungen des Leibes. Sie sind 
diffus verteilt, meist einzeln, hie und da in kleinen Zopfen von 3—8 Exem- 
plaren zusammen liegend. Ihre Menge zeigt, ausser der erwahnten flachen- 
haften Vermehrung in den tiefen Ganglienzellschichten, noch deutliche fleck - 
weise Unterschiede in der ganzen Rinde. Beziehungen zu den zelligen Ge¬ 
webselementen sind bei den meisten Spirochaten nicht festzustellen. Um 
Ganglienzellen ist eine starkvermehrte Anhaufung deutlich (Taf.Ill, Fig.6u. 7); 
Eindringen in Ganglienzellen fehlt. Ganz vereinzelte Spirochaten liegen in 
der Wand oder den Infiltrationen von Gefassenj ohne dass Beziehungen zu den 
Zellen erkennbar sind; noch vereinzeltere sind als in Gliazellen liegend er- 
kennbar. Kleinhirnrinde: An einer sich fiber mehrere Immersionsgesichts- 
felder erstreckenden Stelle sparliche Spirochaten in der Molekularschicht 
(Taf. IV, Fig. 8). Medulla oblongata: (Stuck mit Boden des 4. Ventrikels 
und Olive). Keine Spirochaten. Spinalganglion aus Lendengegend: Keine 
Spiroohaten. ( 

Fall 10 . Max G., geb. 10.6.1880, Buchdrucker. 1907 Schanker, 
mehrfach energische Hg« und Salvarsanbehandlung. September 1915 plotzlich 
Sprachverlust, 3Tage bewusstlos, dann Verstandigung durch Zeichen, langsam 
Wiederkehr der Sprache, danach wieder Behandlung mit Hg und Salvarsan. 
Oktober 1916 Schlaganfali und Krampfe, Dezember 1916 und spater Kramf- 
anfalle. 27. 2. 17 Aufnahme in psychiatrische Klinik Coin, 23. 3. in Prov.- 
Heil- und Pflegeanstalt Bonn. 

Be fund: Pupillen liohtstarr, eng, verzogen, Patellar- Achillessehnen- 
reflexe fehlen, Sensibilitatsstorungen an den Beinen, Romberg, paralytische 
Sprachstornng. Wassermann in Blut und Liquor positiv, Nonne positiv, Zell- 
vermehrung. Deprimiert, Wahnideen(erwerde geblendet), Merkfahigkeit gestort. 

Verlauf: Nahrungsverweigerung infolge Vergiftungsideen, Negativismus. 
Vom Mai 1917 an paralytische Anfalle. Vom 9. 7. 17 an taglich Anfalle, zum 
Teil stundenlange Korperzuckangen. 16. 7. I. h. a. m. Tod. 

Sektion: 9 Stunden nach dem Tode. Pachymeningitis haemorrhagica 
interna beiderseits an Konvexitat und Basis. Leptomeningitis ohronioa der 
Konvexitat geringen Grades, geringe Erweiterung des Seitenventrikels, Epen- 
dymitis gtanularis des 4. Ventrikels. Himgewicht 1560 g. 





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416 Dr. P. Sioli, 

Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial, Toluidinblaufarbung 
nach Nissl. 1. Frontalwindung links: Pia massig verdickt durch Infil- 
trationszellcn, von Gehirnoberfliiche gut abgesetzt. Gehirnoberflache sehr stark 
grobwellig, sehr geringe kernarme Deckschicht. Starke Storung der Rinden- 
architektonik durch Nervenzellausf&lle und starke Gefassvermebrung. Gefasse 
d iff as mit Plasmazellen infiltriert, koine dicken Infiltrationshaufen. Verbreitete 
Wucherungserscheinungen an Endothelzellen undGefassaussprossungen. Wenige 
Stabchenzellen. Ganglienzellen durchgehend stark verandert: Kernkorperchen 
gross, oft randstandig, Kern klein, oft eckig, dunkelbomogen gefarbt, Kern- 
membran wird meist verraisst, uin Kern oft Lichtung, farbbare Substanz als 
dicht aneinanderliegende ditTus vortcilte Kornchen verandert, Rand der Zelle 
wie angenagt, oft nicht abgrenzbar, Fortsatze weit gefarbt, z. T. geschlangelt. 
Verschwinden von Zellen, um einige Zellen perizellulare Inkrustationen. (Zell- 
erkrankung des kornigen Zerfalls.) Keine Trabantzellvermehrung, keine Neuro- 
nophagie. Glia vermehrt, meist regressiv oder amoboid verandert. Vordere 
und hintere Zentralwindung, Gyrus rectus, 1. Temporalwindung 
und Okzipitalhirn (Calcarina und Umgebung) links zeigen gleiche 
Veranderungen wie die 1. Frontalwindung. 

Formolmateri al: Spirochatendarstellung nach Jahnel. Gyrus 
rectus, hintere Zentralwindung, 1. Frontalwindung, 1. Temporal¬ 
windung links: Keine Spirochaten. Vordere Zentralwindung links: 
Einzelne Spirochaten in der Tiofe der Rinde. Okzipitalhirn (Calcarina) 
links: Ganz vereinzelte Spirochaten. 

Fall 11. Jakob D., geb. 8. 6. 1864, Fabrikarbeiter. Seit Juli 1916 Ge- 
dachtnisschwache, daraals mehrfach nach Schlaganfallen rechtsseitigeLahmung, 
Sprachverlust. 27. 12. in die psychiatrische Klinik Koln, 5. 1. 1917 in die 
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn aufgenommen. 

Befund: Pupillen links queroval verzogen, beide lichtstarr, Patellar- 
Achillessehnenreflexe fehlen, Romberg, ataktischer Gang, Sensibilitatsstorung, 
sehr starke paralytischo Sprachstorung, fibrillar© Zuckungen der Gesichtsmus- 
kulatur. Grosse geistige Stumpfheit und Demenz. 

Verlauf: Mai 1917 plotzliche Veranderung, sieht verfallen aus, ist hin- 
tiillig, sorgt nicht mehr fur sich, Ischuria paradoxa, nach3—4Tagen Erholung, 
ist aber geistig und korperlich mehr zuriickgegangen. Wird immer hilfloscr, 
die Sprache fast unverstiindlich, dauernde fibrillare Zuckungen der Gesichts- 
muskulatur. Tageweise auffalliger Wechsel im Zustand. 30. 10. 1917. 4 x / 4 h. 
p. m. Tod. 

Sektion: 2 Standen nach dem Tode. Gefasse der Basis und Fossa 
Sylvii zeigen an einzelnen Stellen weissliche Verhartungen und Verdickungen 
der Wand. Pia fiber der ganzen Konvexitat etwas verdickt und getriibt. Gra¬ 
nulation des 4. Ventrikels. Keino wesentliche Verschraalerung der Hirnwin- 
dungen. Graue Degeneration der Hinterstrange des Riickenmarks. 

Histologische Untorsuchung: Alkoholmaterial. Toluidin¬ 
blaufarbung nach Nissl: 1. Frontalwindung rechts: Geringe Ver- 



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Dio Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse. 417 

dickung der Pia, meist aus Abraumzellen bestehen, nur wenige Lympbozyten 
und Plasmazellen. Pia von Rinde gut abgesetzt. Gehirnoberflache stellenweise 
grobwellig. Erheblicher, stellenweise sehr erheblicher kernarmer Rindensaum. 
Rindenarchitektonik im allgemeinen sehr gut erhalten, nur an einzelnenFlecken 
gestort. Keine wesentliche Gefassvermehrung, diffuse Infiltration der Gefasse 
meist mit Plasmazellen, keine wesentliche Endothelw r ucherung. Miissig zahl- 
reiche Stabchenzellen. Ganglienzellen diffus im Sinne der chronisohen Erkran- 
kung verandert in verscbieden vorgeschrittenen Stadien. Vermehrung der Tra- 
bantzellen, massige Stadien der Neuronophagie. Gliakerne in iiberwiegender 
Zahl klein und pyknotisch, von kleinen Pigmentkornchen und kleinen hell- 
metachromatischen Kornchen umgeben; eine gewisse Zahl Gliakerne gross, hell, 
von Stippehen oder einem deutlichen massiven Protoplasmaleib umgeben, ver- 
einzelt kleine Rasengebilde. Die progressiven Gliaveranderungen sind fleckweise 
starker. Gyrus rectus reohts: Die Infiltration von Pia und Rindengefassen 
und die progressiven Gliaveranderungen sind starker, der iibrige Befund ebenso 
wie in der 1. Frontalwindung. Vordere und hintere Zentralwindung, 
1. Temporalwindung, Okzipitalwindung (Calcarina) wie Gyrus rectus. 

Formolmaterial: Spirochatendarstellung nach Jahnel. 1. Frontal¬ 
windung rechts: in Pia, Mark und 1. Rindenschioht keine Spirochaten. In 
der Tiefe der 3. Rindenschicht und den tieferen Schiohten ziemlich zahlreiche 
Spirochaten (5—15 im Gesichtsfeld), meist sehr lange typische Exemplare, ein- 
zelneEinrollungsformen, diffus verteilt, nicht gleichmassig, sondern in grosseren 
Bezirken verschieden viel; einzeln liegend, ohne erkennbare Beziehungen zu 
zelligen Gewebselementen. Gyrus rectus rechts: Im Bulbus olfactorius, 
Pia, Mark und 1. Rindenschicht koine Spirochaten. Auf einer Seite der Hirn- 
windung von der 2. Rindenschicht bis zum Mark ungeheuer zahlreiche Spiro¬ 
chaten (weit iiber 100 im Gesichsfeld), meist von typischer langer Form, diffus 
gleichmassig im Gewebe verteilt, einzeln liegend, ohne erkennbare Beziehungen 
zu Gefassen oder zelligen Gewebselementen. In der anderen Seite der Hirn- 
windung keine Spirochaten. Vordere und hintere Zentral win dung 
rechts: fleckweise reichliche Spirochaten, die in der hinteren Zentralwindung 
om Ganglienzellen biischelartig angebauft sind, andere Stellen sind spirocha- 
tenfrei. 1. Temporalwindung wie 1. Frontalwindung. Okzipitalhirn 
(Calcarina und Umgebung): in der Rinde sparliche Spirochaten, teils einzeln 
liegend, teils in kleinen Biischeln Gefassen anliegend. Len den mark und ein 
Spinalganglion aus der Lendengegend: keine Spirochaten. 

Fall 12 . Peter Q., geb. 27. 2. 1863, Packer. Vor 20 Jahren im An¬ 
schluss an Bowusstlosigkeit mit Krampfen Verwirrtheitszustand. Seit 4 Jahren 
kranklich, ofter Schwindel und geistiger Verfall. Seit 1 / 2 Jahr Sprachstorung, 
Reizbarkeit, erregte Stimmung, in letzter Zeit Grossenideen. Am 3. 9. 1910 in 
die psychiatrische Klinik Koln aufgenommen. Pupillen ungleicb, lichtstarr, 
Patellarreflexe schwer auslosbar, Sprachstorung. Wassermann positiv. Zuerst 
vollig verwirrt, schwachbesinnlich, zuweilen erregt, aggressiv, zuw T eilen klar 
geordnet. Am 21. 11. in Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn iibergeftihrt. 


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Dr. F. Sioli, 



Befund: Pupillen rund, gleich weit, prompte Reaktion auf Licht and 
Konvergenz. Patellar-Aehillessehnenreflexe gut auslosbar, kein Romberg. Keine 
Ataxie, keine Sensibilitatsstorungen, keino Sprachstorungen. Aortenklappen- 
fehler. Merkfiihigkeit gut, keine Demenz, gibt Gedacbtnisschwache zu, in Kolner 
Klinik babe er phantasiert und Wahnideen gebabt, er habe wobl eine Gehirn- 
erscbiitterung durcbgemacht. 

Verlauf: Geistig geordnet, attent, keine Urteilsschwache. Beeintrach- 
tigung der Lichtreaktion uud Sprachstorung tritt zeitweilig in Beobachtung 
und wird zeitweilig vermisst. Wassermann im Blut und Liquor positiv. Nonne 
posiiiv, starke Lymphozytose. 2. 5. 1911 entlassen, 15. 1. 1912 wieder aufge- 
nommen. Starke Gewichtszunahme. Pupillen ungleich, beeintrachtigte Licht¬ 
reaktion, starkere Sprachstorung, Andeutung von Strabismus, will vor kurzem 
doppelt geseben baben. 

Weiterer Verlauf: Unzufrieden, Grdssenideen, halluziniert, ablehnend. 
.labrelang ablehnend unter dem Einlluss der Halluzinationen, gebt von Herbst 
1914 an korperlich und geistig zuriick, verblodet im Verlauf von 1915 und 
stirbt ohne besondere Erscbeinungen am 22. 12. 1915. 

Sektion: 22. 12. 1915. Gelasse der Basis und Fossa Sylvii zartwandig. 
Pia iiber dem Frontal- und Zentralkirn etwas getrubt, nicht wesentlich ver- 
dickt. Hirnwindungen nicbt deutlich verscbmalert. Seitenventrikel erwei- 
tert. Ependym glatt. Ependym des vierten Ventrikels stark grauuliert. In 
der linken Lunge bronchopneumonische Herde und Hepatisation desLungenge- 
webes. Rechte Pleurahoble: eitrig fibrinoses Exsudat. Das Ilerz ist etwas 
vergrossert, Aortenklappen stark verdickt. 

Histologische Untersucbung: Nur Formolmaterial vorhanden. Far- 
bung mit Kresylviolett: 1. Frontal wind ung rechts: Pia kaum verdickt, 

nur vereinzelto Infiltrationszellen, viel Pigment. Rindenobeiflache grobwellig, 
erhebliche kernarmeDeckschicht, Rindenarchitektonik gut erbalten, mit schwa- 
cher Vergrosserung keine Infiltration und keine Gefassvermehrung zu sehen, 
mit Immersionsvergrosserung findet sich sparlichePlasmazelleninfiltration, keine 
Endothelschwellung; lleckweise viele Stabchenzellen, Gliakernvermehrung und 
Neubildung feiner Gefasse. Vordere und hintere Zentralwindung 
rechts: Pia starker verdickt, Riudengefasse starker infiltriert als in 1. Fron- 
talwindung. Fleckweise Ganglienzellausfalle, einige dieser Flecke sind zeli- 
reich durch grosse Mengen Gliazellen. Spirochatendarstellung naoh Jabnel: 
1. Frontalwi nd ung rechts: In der Hirnrinde diffus verbreitet sparlicb ein- 
zelne, lleckweise zahlreiche Spirocbaten, von denen die Mebrzahl obne erkenn- 
bare Beziebungen zu zelligen Gewebselementen, ein Teil den Ganglienzellen 
angelagert, einige in Gefassvvandungen nnd einige offenbar in Gliazellen liegen. 
Vordere Zentralwindung rechts: an einer kleinen Stelle des Blocks (ca. 
4—6 Gesicbtsfelder) Spirochaten in der Tiefe der 3. Schicht, mit ausgespro- 
chener Anhiiufung urn Ganglienzellen. Die iibrige Rinde ohne Spirocbaten. 
Hintere Zentralwindung rechts: ^bienenscbwarmartige u Anhaufungen 
von Spirocbaten in einem begrenzten Teil des Blockes. Diese Scbwarme sind 
scbon bei schwacher Vergrosserung als feinmaschige sohwarzeFlecke erkennbar 


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Die Spiroch&ete pallida bei der progressive!! Paralyse. 


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(Tafel IV, Fig. 10). Sie bestehen aus zahllosen, eng zusammenliegendenSpiro- 
chiten im oberen Toil der 3. Scbicht; ein Toil der Spirochaten ist aufftllig 
gestrecbt. Beziehungen zu Gefassen sind nioht festzustellen, Ganglienzellen, 
Gliazellen, kleine Gefasse sind von dem Sohwarmhaufen umschlossen, insbe- 
sondere die Ganglienzellen (TafelIV, Fig. 12u. 13). In der Naho der Schwarme 
einzelne Spirochaten im Gewebe mit Bevorzugung der Anlagerung an Ganglien¬ 
zellen and mit einer zur Oberflache der Rinde senkreohten Stellung, offenbar 
Nervenfasern folgend. Schwarme haben eine Grosse vomUmfang eines Immer- 
sionsgesichtsfeldes bis zu ganz kleinen, die den (Jebergang zur einzelnen Lage- 
rung darstellen. Die Rinde ausserhalb des kleinen Gebietes, in dem die 
Schwarme liegen, ist spirochatenfrei. 

Fall 13. Joseph T., geb. 17. 4. 1881, Maschinist. Ein Bruder des 
Vaters geisteskrank, ein Kind Idiot gestorben. Er selbst lebt immer fur sioh. 
Im November 1915 fing er an viel zu schitnpfen, versetzte alles, zerschlug 
Sachen, starke Unruhe, dumme Streiche, gehobene oder weinerliche Stimmung. 
17. 12. 1915 zur Prov.-Heil- und Pflogoanstalt Bonn. 

Befund: Pupillen links weiter als rechts, linke reagiert prompt, rechte 
sehr langsam und wenig auf Licht, Konvergenz und Akkommodation. Patellar- 
Achillessehnenreflexe sehr sohwach. Zungentremor. Analgesie an der unteren 
Extremitat. Sprachstorung bei Paradigmaten. Geordnet, orientiert. 

Verlauf: Ruhig, Qeissig, freundlich, keine Sprachstorung mehr nach- 
weisbar. Am 6. 2. 1916 entlassen, gebessert (Dementia praecox?). Am 21. 3. 
wieder aufgenommen, versetzte und verkaufte alios. Deutlicho Sprachstorung, 
geht zur Arbeit, geordnet. Wird im Laufe des Jahres stumpfer. 1917 geht er 
korperlich zuriick, wirdweinerlich, starke Sprachstorung, wird ganz stumpf und 
korperlich elend und stirbt am 24. 6. S l / 4 h. p. m. 

Sektion 3 / 4 Stunden nach dem Tode: Hirngewicht 1100 g. Hydroce¬ 
phalus externus und internus. Leptomeningitis massigen Grades uber der 
ganzen Konvexitat ausscr fiber dem Okzipitalhirn, ganz geringe Atrophie der 
frontalen Hirnwindungen. Ependymitis granularis des 4. Yentrikels. Keine 
Veranderung der basalen Gefasse. 

Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial, Farbung mit Tolui- 
dinblau nach Nissl: 1. Frontalwindung rechts: Pia ziemlich verdickt 
durch sehr grosse Mengen von Infiltrationszellen, besonders Plasniazellen, von 
der Hirnrinde gut abgesetzt. Hirnobertlache sehr stark grobwellig; allgemeine 
starke, stellenweisc sehr starke, kernarme Deckschicht. Rindenarchitektonik 
stark gestort, fleckwoise sehr stark gestort durch reichliche Vermehrung 
und sehr starke Infiltration von Gefassen und durch Nervenzellausfalle. Die 
Ganglienzellen fallen schon bei schwacher Vergrosserung als blass auf mit 
sehr deutlichem Kernkorperchen, besonders in der Tiefe der dritten und in 
den tieferen Rindenschichten. Grossere und kleinste Rindengefasse sind diffus 
mit Plasmazellen infiltriert, einige mit dicken Infiltrationszellhaufen und Pig¬ 
ment Sehr verbreitete und starke Endothelwucherung, zum Toil polsterartig, 
starke Gefassvermehrung durch Sprossbildung, wenige Stabchenzellen. Gan- 


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Dr. F. Sioli, 


glienzellen allgemein in einer dem Nervenzellschwund ahnlichen Form in ver- 
schiedenen Stadien verandert; Kernkorpereken sehr gross, zum Teil vakuolig, 
Kern sehr gross, sehr hell ohne Geriist rnit nur einzelnen Piinktchen, sekr dtinne 
Kernmembran, keine Membranfalte. Farbbare Substanzen des Zelllcibes nur 
im Basalteil der Zelle als kriimelige Masse und in den weitgefarbten Dendriten 
des basalen Zellteils und im Achsenzylinder als wabige Struktur; Form der 
Zelle basal wenig verandert, spitzenwarts vom Kern allgemeine Aufbellung 
und Verschwinden der Zelle bis zur volligen Unabgrenzbarkeit. Keine Tra- 
bantenzellenvermehrung, hie und da Eindringen eines Gliakernes in die Zelle, 
aber keine allgemeineNeuronophagie. Glia stark gewuchert, (iberall iiberwiegen 
unter denGliakernen grosse helleExemplare mit mehreren dichtderMetnbran an- 
gelegten basischenKorperchen, umfastalle dieseKerneStippchenoderhelleProto- 
plasmaleiber, zum Teil Rasenbildung. Die Veranderung ist fleckweise ver- 
schieden stark. Vordereund hintere Zentralwindung rechts gleicht 
der 1. Frontalwindung. Kleinhirn rechts: ganz geringe Infiltration der 
Pia, keine Veranderung im Kleinhirn. 

Formolmaterial. Spirochatendarstellung nach Jahnel. 1. Frontal¬ 
windung rechts: in Pia, Mark und erster Rindenschicht keine Spirochaten. 
In der ubrigen Rinde ganz ungcheure Mengen von Spirochaten (weit fiber 100 
im Gesichtsfeld), ziemlich gleichmassig verteilt, nur geringe fleckweise Unter- 
schiede. Neben vielen langen typischen Exemplaren finden sich sehr viele, 
ganz kurze und teilweise eingerollte. Viele Spirochaten liegen in den Gefass- 
wanden teils einzeln, teils in Biischeln (Tafel III, Fig. 10, Tafel IV, Fig. 1 
bis 5), keine Spirochaten in den Infiltrationszellhaufen. Bei weitem die Mehr- 
zahl der Spirochaten liegt diffus im Gehirngewebe fern von denGefassen, keine 
starkere Anhaufung urn Gefasse. Beziehungen zu zelligen Gewebselementen 
nicht erkennbar. Vordere und hintere Zentralwindung rechts: sparlicher als 
in Frontalwindung, aber immer noch sehr reichliche Spirochaten in der ganzen 
Rinde, vereinzclt auch in derl. Rindenschicht. Einige Exemplare scheinen bier 
in einer Gliazelle zu liegen. Sonst wie Frontalwindung. Kleinhirn rechts: 
keine Spirochaten. 

Fall 14 . Hermann S., geb. 7. 12. 1867, Viehhandler. Am 29. 6. 1911 
in psych. Klinik Koln, am 29. 7. in Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn auf- 
genommen, nachdem er seit langerer Zeit sehr erregt und streitsuchtig y un- 
sinnige Einkaufe machte, seinem Geschaft nicht nacbgehen konnte. Pupillen 
lichtstarr, Sprachstorung, Zunge weicht nach links ab, Patellarreflexe gesteigert, 
allgemeine Hypalgesie, expansive gehobene Stimmung. Rededrang, verkennt 
Umgebung, ideenfliichtiges Geschwatz, Grossenideen kaufmannischer Farbung 
und sexueller Art, bleibt dauernd manisch erregt, verwirrt. Februar 1912 vier 
paralytische Anfalle, danach linksseitige Abduzensparese. Juni 5 paralytische 
Anfalle, ohne Folgen, seitdem hie und da paralytische Anfalle. Seit Januar 
1913 haufige Anfalle. Im Januar 8, im Februar 2, dabei dauernd erregt und 
voll verwirrter Wahnideen. Vom 9. April an fast taglich Anfalle. Am 20. 4. 
76 Anfalle. Am 21. 4. 254 Anfalle. Am 22. 4. 104 Anfalle. Am 23. 4. 


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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse. 


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44 Anfalle. 1st seit 20. 4. benommen, schlaffe Liihmung der ganzen linken 
Korperseite, die Augen weichen zusammen naoh rechts ab. Die Anfalle be- 
ginnen in der linken Korperseite und erstrecken sich hauptsachlich auf die 
linke, gehen nur vereinzelt nach rechts iiber; Arm, Bein und Gesichtsmuskulatur 
zucken, die Augen werden beim Anfall nach links gedreht. Babinski bei und 
nach manchen Anfallen vorhanden, Mendel, Oppenheim dauernd negativ. Seit 
22. 4. schluckt der Patient nicht mehr. Stirbt am 24. 4. 9 h. a. m. 

Sektion Stunde nach dem Tode. Pia iiber der ganzen Konvexitat 
von Fissura parietooccipitalis nach vorn stark getriibl, etwas verdickt, rechts 
erheblich dicker als links. Gefasse der Basis enthalten nur einige verdickte 
verhartete Wandstellen. Pia nur mit Substanzverlust abziehbar. Seitenven- 
trikol rechts etwas weiter als-links; Wand nicht granuliert, *ebenso nicht 
3. Ventrikel. 4. Ventrikel deutlich granuliert. Nach Abzug der Pia frontale 
Gyri massig verschmalert. Pia und Rinde der Zentralwindungen zeigen rechts 
keine Unterschiede gegen links. Stammganglien und innere Kapsel rechts 
gleich links. Im Durchschnitt der Briicke und Medulla unterhalb der Oliven- 
gegend kein Untcrschied von rechts und links. Der rechte Gyrus rectus 
und die beiden benachbarten Himwindungen sind 1 / 2 bis l j 3 
schmaler als die der linken Seite. Hirngewicht 1250 g. 

Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial, Toluidinblau- 
farbung nach Nissl. 1. Frontalwindung rechts: Die Pia ist stark ver¬ 
dickt und stark infiltr&rt; an einigen Gefassen durchsetzt die Infiltration nach 
innen zu die Gefasswand; an einigen Stellen ist die Pia mit der Hirnoberflache 
verlotet. Hirnoberflache stark wellig. Stellenweise kernfreie, stellenweise sehr 
kernreiche Deckschioht. Die Hirnrindenarchitektonik ist stark gestort, die 
Rinde zellreich. Starke Infiltration der Gefasse, meist mit Plasmazellen, deren 
Kerne zum Tail gross, wie gequollen sind. Massige Gefassvermehrung, keine 
wesentlichen Wuohorungserscheinungen am Endothel; viel gelbes Pigment in 
den Gefasswanden; wonig Stabchenzollen sehr langer Form. Ganglienzellen 
zum Teil wonig verandert, einige wabig verandert, zum grosseren Teil aber im 
Zustand des „Zellschwundes w in verschiedenen Stadien: Der Kern erscheint 
vergrossert, die gofarbten Teile des Kerninnern sind unscharf gezeichnet, 
kriimelig. Kernkorperchen weist Vakuolen auf, Kernmembran diinn, nur selten 
Membranfaltung zu sehen, im Zelleib kriimelig kornige zum Teil netzartige 
Anordnung intensiv gefarbter Substanz, teils dicht am Kern, teils von diesem 
durch schwach gefarbte Substanz abgesetzt, kaum ungefarbte Bahnen im Zell- 
leib. Zellfortsatze nur auf kurze Strecken blass gefarbt. Keine Trabanten- 
zellenvermehrung, vereinzelte Bilder massiger Neuronophagie. Glia sehr stark 
progressiv verandert: Sehr grosse Kerne versohiodener zum Teil gelappter 
Form, einige mit mehreren basisch gefarbten Polkbrperchen, sehr reichliohes 
Gliaprotoplasma, zum Teil als Stippchen, zum Teil als massiv verzweigtes 
Protoplasma dor gemasteten Gliazellon, letztere besonders zahlreich in der 
1. Rindenschicht und im subkortikalen Mark, das eine so starke Vermehrung 
der Gliazellen aufweist, dass das subkortikale Mark bei schwacher Vergrosserung 
dunkler erscheint als der innere Teil des Marks der Windungen. Die Ver- 


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Dr. F. Si6li, 


*■ 


anderung ist allgemein and gleiohmassig. Vordere und hintere Zentral- 
windang rechts: Die Veranderung am Gefassapparat und dem nervosen 
Gewebe gleicht in der Art der Veranderung der in der Frontalwindung, ist aber 
von betrachtlich geringerem Grad. Gyrus rectus rechts und benach- 
barte Wind ungen: Pia verschieden stark verdickt und infiitriert, an einzelnen 
Stellen mit der Hirnrinde verlotet. Die Verscbmalerung der Windungen er- 
weist sich als vorzugsweise durch eine starke Verschmalerung des Marklagers 
verursacht. Im Marklager sieht bei schwacher Vergrosserung das subkortikale 
Mark wesentlich dunkler aus als das tiefe Marklager (durch Reichtum an Glia- 
zellen). Auch die Rinde ist stark, stellenweise verschieden stark verschmalert. 
Die Oberfliiche des Gehirns ist grobwellig mit tiefen Einziehungen. Die kern- 
freie Deckschicht ist verschieden stark, gerade iiber den atrophischen Stellen 
oft nicht verdickt. Die Hinrinde ist im ganzen sehr arm an Nervenzellen, aber 
reich an Gefassen und Gliazellen (Taf. V, Fig. 3 u. 4). Die Gefasse sind nur 
massig infiitriert, meist Lymphozyten, weniger Plasmazellon, vereinzelt Mast- 
zellen, keine Abraumzellen, von den Plasmazellen zeigen einige regressive Ver- 
anderungen. Die Gefasswandkerne sind an einigen Gefassen vermehrt, sie sind 
toils klein und dunkel, toils etwas geschwellt; keine allgemeinere Endothelpro¬ 
liferation, kein Pigment in den Gefasswanden. Starke Vermehrung kleiner Ge¬ 
fasse, viele Stabchenzellen. Die Ganglienzellen zeigen teils Veranderungen im 
Sinne der chronischen und wabigen Veranderung, teils Bilder des Nervenzeil- 
sohwundes, wie in der 1. Frontalwindung, meist aber das Bild der „schweren 
Zellerkrankung 44 : Kern klein, dunkel gleichartig metachromatisch gefarbt, 
Kernmembran sehr deutlich, Kernkorperchen klein, wandwarts geriickt, Zerfall 
der Zelleibsubstanz in Kdrnchen, die Fortsatze verschwinden, die Zelle wird 
klein, ein homogener abgerundeter Haufen (Taf. V, Fig. 5), sie verschwindet, 
allerlei Zellreste geben dem Gewebsgrund ein verunreinigtes Aussehen. Einige 
Ganglienzellen zeigen an der Basis ballonartige homogene Anhange. Die Glia¬ 
zellen sind an Zahl stark vermehrt, nur wenige sind progressiv verandert im 
Sinne der gemasteten Gliazellen, die Mebrzahl zeigt kleinen, pyknotischen oder 
homogenen blassen Kern und Spuren von dicht anliegenden nicht verzweigten 
Protoplasmateilen oder einigen hellen Pigmentkornchen. Keine Neuronophagie, 
keine Trabantzellvermehrung. Im subkortikalen Mark starke Vermehrung von 
Gliazellen, teils als gemastete, teils als regressiv veranderte. Die Geiasse des 
Marks sind nicht vermehrt, ihr Endothel nirgends in Proliferation, in ihren 
Scheiden viele Abraumzellen, wenig Pigment, einzelne Infiltrationszellen. 

Formolmaterial: Fettfarbung mit Scharlachrot. 1. Frontalwindung 
rechts: In der 1. Rindenschicht dicht unter der Rindenoberflache enthalten 
eine grosse Anzahl von Gliazellen ganz ausserordentliche Mengen mittelgrosser 
Fetttropfen. In der ganzen Rinde enthalten sehr viele Ganglion- und Gliazellen — 
ungefahr dem Vorkommen der wabigen Veranderung im Zellbiid entsprechend — 
grosse Haufen meist einseitig gelagerter feinster Fetttropfchen. Im ganzen 
Mark finden sich ausserordentlich viel mittelgrosse bis sehr grosse Fetttropfen, 
die teils um Kerne gelagert als zu Zellen gehdrig erkennbar sind, teils frei im 
Gewebe zn liegen soheinen, um manche Gefasse ist die Menge des Fetts ausser- 


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Die Spirochaete pallida bei der progressive!) Paralyse. 423 

ordentlich vermehrt. In den Gefassscheiden der Rinde findet sich kein Fett, 
in denen des Marks verschiedentlich viel. Die Gefasswandzellen sind fettfrei. 
Gyrus rectus rechts: Die Ganglienzellen enthalten allgemein etwas mehr 
Fettkorner als die der Frontalwindung, die Gliazellen der Rinde sozusagen 
gar kein Fett, ebenso nicht die Gefassscheiden und Gefasswandzellen der Rinde. 
lm subkortikalen Mark finden sich massige Mengen Fetttropfen in Gliazellen, 
mehr als in der Rinde aber wesentlich wenigor als in der entsprechenden 
Schicht der 1. Froutalwindung, in oinigen Gefassscheiden des subkortikalen 
Marks mehr Fett. Im tiefen Mark reichliche Mengen Fetttropfen, aber erheblioh 
weniger als in der Frontalwindung. 1. Temporalwindung rechts: Rinde 
wie 1. Frontalwindung, Mark sehr wenig Fett. 

Spirochaten d arstellung nach Jahnel: 1. Frontalwindung 
links: Vereinzelte Spirochaten. Vordere und hintere Zentralwindung 
links (mehrere Blocke): Keine Spirochaten. 1. Frontalwindung rechts: 
Vereinzelte Spirochaten, mehr als links. Vordere und hintere Zentral¬ 
windung (mehrere Blocke) und 1. Temporalwindung rechts: Keine 
Spirochaten. Gyrus rectus rechts und benachbarte Windungen: 
Ganz vereinzelte Spirochaten in der atrophischen und nichtatrophischen Rinde. 

Fall 15 . Friedrich B., geb. 17. 11. 1860, Kaufmann. Am 25. 11. 1912 
in Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn aufgenommen, nachdem er sich seit 21. 5. 
wegen Paralyse in Privatanstalt befand. 

Befund: Pupillen sehr eng, paradoxo Lichtreaktion (Erweiterung auf 
Belichtung) Beben der Mundmuskulatur, Patellarreflexe lebhaft, rechts starker 
als links, Sprachstorung, grobsschlagiger Tremor, Sensibilitatsstorungen an 
den Beinen, Romberg. Aortenklappenfehler. Stimmung wechselnd von Gereizt- 
heit und Euphorie, unsinnige Grossenideen, konfuser Rededrang, Stoning der 
Auffassung und Merkfahigkeit. Im Verlauf stumpf und euphorisch, manchmal 
gereizt, ah und zu ynrein, dauernd affektlose Grossenideen. Pupillenreaktion 
manchmal paradox, manchmal fehlend. 15. 4. 1913 Schwachezustand. 17. 4. 
dauernde Zuckungen in der Gesichtsmuskulatur und linken Hand. Bewusst- 
losigkeit. Tod 17. 4. 1913, 9 h. p. m. 

Sektion eine Stunde nach dem Tode: Gefasse an der Basis und der 
Fossa Sylvii stellenweise stark verdickt ohne Kalkeinlagerung. Leptomeningitis 
chronica fiber der Konvexitat. Keine Erweiterung der Ventrikel, kein Hydro¬ 
cephalus externus oder internus. Kolossale Granulation aller Ventrikelwande. 

Der linke Gyrus rectus ist auf die Halfte des reohten ver- 
schmalert. Hirngewioht 1230g. 

Histologische Untersuohung: Alkoholmateria), Farbung mit Tolui- 
dinblau nach Nissl: 1. Frontalwindung links: Pia stark verdickt, meist 
bindegewebig mit Einlagerung einzeln liegender Plasmazellen und Abraum- 
zellen, dem Gehirn zugekehrt eine dichte Reibe von Plasmazellen. Gehirnober- 
flache grobwellig, keine kernfreie Deckschicht. Hirnrindenarchitektonik stark 
gestort durcb Zellreichtum, der verursacht wird durch ausserordentliche Gefass- 
vermebrung und Gliavermehrung. Dicke Infiltrationsm&ntel an etwas grdsseren 


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Dr. F. Sioli, 

Rindengefassen, diffuse Infiltration derKapillaren mit Plasmazellen, nur geringe 
Wucherungserscheinung am Endothel, sehr starke Gefassvermehrung, zahlreiche 
Stabchenzellen. Gangiienzellen allgemein verandert im Siune der wabigen Ver- 
anderung in VerbindungmitNervenzellschwund, keineTrabantzellenvermehrung, 
keine Neuronophagie. Glia der Rinde ganz allgemein stark progressiv verandert: 
Sehr grosse Kerne, zum Teil mit mehreren basischen Korperchen, Stippchen 
um die Kerne, Rasenbildung, nur wenige gemastete Gliazellen. Die Rinden- 
verandorung ist diffus gleichmassig. Im Mark Infiltration vieier Gefasscheiden 
mit Infiltrationszellen und vielen Abriiumzellen mit grfinem Pigment. Starke 
Gliavermehrung im Mark besonders im subkortikalen Marklager mit zablreiohen 
gemasteten Gliazellen. Vordere und hintere Zentralwindung links: 
Die Veranderung gleicht in ihrer Art der in der 1. Frontalwindung, ist aber 
in ihrem Grad ganz erheblich geringer, sie ist fleckweise verschieden hoch- 
gradig. Gyrus rectus rech ts: Die Veranderung gleicht in Art und Grad im 
allgemeinen der in der 1. Frontalwindung, ist aber hochgradiger; fiber weite 
Strecken findet sich „schwere Nervenzellerkrankung* 4 . Im subkortikalen Mark 
noch starkere Gliavermehrung als in 1. Frontalwindung. Stellenweise ist die 
Veranderung anderer Art: Es findet sich betrachtliche Endothelproliferation 
und einzelneStellen von fleckweise abgegrenzter Ernahrungsstorung imGewebe: 
Versohwinden der Gliazellen, neben stark progressiven Gliakernen blassen die 
meisten Gliakerne ab, zahlreiche Abraumzellcn frei im Gewebe (Taf.VI, Fig. 3). 
Gyrus rectus links: Rinde und Mark verschmalert, in der Rinde gleich- 
massige Verschmalerung aller Schicliten, bei schwacher Vergrosserung sieht 
man keine bemerkenswerte Infiltration oder Gefassvermehrung (Taf.VI, Fig. 2). 
Bei starker Vergrosserung erscheint massige Infiltration vieier kleinster Gefasse 
mit Plasmazellen, von denen einige degeneriert sind, keine allgemeine, an ein- 
zelnen Stellen aber betrachtliche Prolifcrationserscheinungcn am Endothel, keine 
Gefassvermehrung. Wenige Stabchenzellen. Allgemeine Ganglienzeilver- 
anderung: Grosse blasse strukturlose Kerne, meist mit wand warts gerficktem 
kleinen Kernkorperchen, mit sehr deutlicher Membran und sehr deutlichen 
Faltungserscheinungen, teils wabige, teils feinkornige Farbung des Zelleibs, 
ohne ungefarbte Bahnen, Leib der Zelle unscharf begrenzt, nicht vergrossert, 
Fortsatze nicht weit gefarbt, unscharf, bei einem Teil der Zellen blasst Kern 
und Leib ab bis zum Verschwinden (Taf. V, Fig. 6). Keine Neuronophagie. 
Keine Trabantzellvermehrung. Gliazellen der Rinde meist regressiv verandert: 
Kleine homogene blasse Kerne, viel pigmenthaltige. Im ganzen Mark sehr starke 
Gliavermehrung, wesentlich hochgradiger als im rechten Gyrus rectus, teils 
gemastete Gliazellen, teils regressiv veranderte. 

Die Fig. 1 und 2 der Taf. VI zeigen im Uebersiohtsbild den Vergleich 
der nicht verschmaierten aber stark infiltrierten Rinde des Gyrus rectus rechts 
mit der entsprechenden Stelle verschmalerter nicht wesentlich infiltrierten 
Rinde links. 

For molm ate rial: Markscheidenfarbungnach Wo Iters: 1. Frontalwin¬ 
dung links: allgeraeiner hochgradiger Schwund der tangentialen und supra- 
radiaren Fasern, starke Lichtung der intraradiaren Fasern und der Radii, ausser- 


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Die Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse, 425 

dem* starker fleckweiser Fasernsohwund in der Rinde. Vordere nnd hintere Zen- 
tralwindung nnd 1. Temporalwindung links: Kein bemerkenswerter allgemeiner, 
sehr geringer fleokweiser Fasernschwund. Spirochaten darstellung naoh Jahnel. 
1. Frontalwindang links: Keine Spirochaten in Pia, ersten Rinden- 
schicht nnd Mark. In der iibrigen Rinde zahlreiche Spirochaten (Taf. Ill, Fig. 2) 
in der 3. Rindenschicht sehr zahlreiche, stellenweise ansserordentlich zahl¬ 
reiche (Taf. Ill, Fig. 3). Sie sind diffns verteilt, stellenweise mehr-oder weniger 
zahlreich. Die Formen sind typisch, zahlreiche ansserordentlich lange Exem- 
plare, einzelne Verschlingnngen zu knospenartigen Formen. Beziehnngen zu 
zelligen Gefasselementen sind im allgemeinen nicht vorhanden. Einige Spiro¬ 
chaten aber liegen in der Gefasswand oder der adventitiellen Scheide kleiner 
Gefasse, zum Teil dentlich in Zellen znsammengerollt, ob in Plasmazellen ist 
nicht zu entscheiden (Taf. Ill, Fig. 2 bei iz). Vereinzelte Spirochaten liegen in 
Gliazellen zum Teil lang ausgestreckt, yon zelligen Fortsatzen der Gliazellen 
umgeben; nm einige kleine Gefasse and einige Ganglienzellen besteht in der 
Umgebung eine reichliche Anhaufung yon Spirochaten. Keine Spirochaten 
finden sich in den massigen Infiltrationen von Gefassscheiden, wo pigment- 
fiihrende Abraumzelien orkennbar sind. Vordere nnd hintere Zentral- 
windung links: Fleckweise sparliohe nnd fleckweise keine Spirochaten in 
der 3. Rindenschicht, diffns verteilt, typische Formen mit vereinzelten Ver- 
schlingnngen nnd einzelnen Einrollungen, die wie in der 1. Frontalwindang 
zam Teil in zelligen Elementen liegen. Die grosse Mehrzahl ohne Beziehung 
za zelligen Gewebselementen. In der hinteren Zentralwindang mehr Spiro¬ 
chaten als in der vorderen. Gyrus rectus links (makroskopisch versohm&lert) 
nnd Nachbarwindung (nicht verschmalert): Ganz vereinzelte Spirochaten diffns 
im Gewebe ohne Beziehung zu Gewebselementen, kein Unterschied im Vor- 
kommen bei den verschmalerten und nicht verschmalerten Rindenteilen. 

Fall 16 . Jakob H., geb. 1879. Keine Hereditat, Lues 1904, Quecksilber- 
kur. Krankheitsbeginn 1911: Aufgeregt, vergesslich, daher 11. 6. 1912 in die 
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg anfgenommen. Pupillen liohtstarr, 
Silbenstolpern, Kniesehnenreflexe gesteigert; dement, erregt, schneller Verfall. 
Gestorben 8. 10. 1912. 

Sektion: Leptomeningitis chronica. Atrophia cerebri, Hydrocephalus 
internes, in Grosshirnrinde verstrent sehr .zahlreiche kleine silberweisse Herde. 

Mikroskopisch: Ueberall in Hirn und Riickenmark typischer Para- 
lysebefund, am starksten in Stirnhirnrinde. Herde: Hyalin-amyloide Ver- 
andernng. 

Den Fall verdanke ich Herrn Dr. Witte in Bedburg, der ihn mir zum 
Stadium der Spirochatenlagerung uberlassen hat. Witte wird ihn anderweitig 
veroffentlichen. 

Zur Spiroohatenuntersuchung lagen mir 3 Gehirnstiickchen vor. Der 
Befund ist in alien drei Stucken der gleiche. 

Sehr starke Gefassvermehrung in der Hirnrinde, besonders von der 
3. Rindenschicht nach der Tiefe. Die Gefasse sind teils zellig infiltriert, teils 

Archiv f. PayehUtrie. Bd. 60. Heft 2/3. 28 


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Dr. F. Sioli, 


sind ihre Wande durch eine homogene Substanz in dicke starre Rohre ver- 
wandelt, diese Substanz liegt an einzelnen Stellen auch ansserhaib der Gefass- 
scheiden im Hirngewebe, toils sind die Gefasse bereits bei schwacher Ver- 
grosserung eigentiimlich schwarz verfarbt. Starke Vergrosserung zeigt, dass 
diese schwarze Farbung von der Anhaufung ungeheurer Spirochatenmengen 
herriihrt. 

Spirochaten liegen in der Hirnrinde diffas verteilt,'fleckweise verschieden 
reichlich im Gewebe and finden sioh auch da, wo an den Gefassen weder 
grosse Spirochatenanhaufungen nooh Ablagerungen der fremden Substanz be- 
stehen. 

Die grosse Menge der Spirochaten steht in Beziehung zu Gefassen; sie 
.liegen in alien Schiohten der Gefasswand vom Endothel bis in die Umgebung^ 
des Gefasses hinein, einzelne Exemplare auch frei im Lumen von Gefassen 
(Taf. VII, Fig. 5). 

Die Ablagerung der fremden Substanz ist toils mit Spirochaten vereinigt 
und zeigt dann besonders Bilder, wie die fremde Substanz in konzentrischea 
Ringen die Gefasswand durchsetzt, wiihrend zwischen diesen Ringen Schichten 
oder Inseln von Spirochaten liegen, toils findet sich die Ablagerung in Gefass- 
wanden, ohne dass Spirochaten vorhanden sind. 

Auch in den infiltriertenZellmanteln der Gefasse ohneSubstanzablagerung 
finden sich Spirochaten. 

Alle genannten Befunde kommen nebeneinander im gleichen Gewebs- 
schnitt vor, also: 

Spirochaten diflfus im Gewebe, 

in der Gefasswand (Taf. VII, Fig. 2), 

„ „ „ „ und in ungeheurer Menge in der Um- 

gebung der Gefasse (Taf. VII, Fig. 1), 

Ablagerung der fremden Substanz mit Spirochaten (Taf. VII, Fig. 3 u.4), 
„ „ „ „ ohne „ (Taf. VII, Fig. 6), 

Uebersichtsbilder mit schwacher Vergrosserung (Taf. VI, Fig. 4—6). 

Znsaramenstellung der Befunde anderer Untersucher mit 
meinen Befunden. 

Wie eingangs erwahnt sind die 16 mitgeteilten FUlle die 
positive Ausbeute der Untersuchung von 32 Paralytikerge- 
hirnen. Noguchi (69) hatte bei 24 von 200 Fallen, also in 26 pCt. 
positive Befunde, Moore (62) in 12 von 70 also 17pCt., Forster und 
Tomasczewski (28) in 27 von 61 also 44pCt., Levaditi, A. Marie 
und Bankowski (56) bei systematischer Absuckung von Hirnwindung 
imAnfall gestorbener Paralytiker 8 von 9 Fallen also90pCt. Marinesco 
(60) erwahnt den fast konstanten positiven Befund bei Dunkelfeldunter- 
suchung. Jahnel(51) schlieslich gibt an, dass er Spirochaten in 
Schnittpr&paraten in uugefahr einem Viertel seiner Falle, bei Unter- 


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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 427 

sachung des frischen Gehirns im Duukelfeldo in uber 50 pCt. gefunden 
babe, er bait hSheren Prozentsatz positiver Befunde fur dnrcbaus mSg- 
licb, warnt aber vor der Sucht in alien Fallen positive Befunde erheben 
zn wollen und wurde derartigen Angaben kritisch gegenuber steben. 

Wenn ich in 60 pCt. meiner Falle positiven Befund in den Schnitt- 
prdparaten batte, so ist dieses ein hoher Prozentsatz, wenn man bedenkt, 
dass die Falle nicht nacb kliniscben Gesichtspunkten ausgesucht waren 
and im allgemeinen von jedem Gehirn nur 2 Hirnstellen der Unter- 
suchang zu Grunde gelegt waren. Mein Prozentsatz geht uber die bis- 
her vorliegenden in Gewebsscbnitten hinaus. Man kann nach allge¬ 
meinen Erfabrongen in der Wissenschaft annehmen, dass spatere 
Untersucber bei Voraussetzung gleicben Eifers und gleicher Befahigung 
stets bdhere Prozentsatze positiver Befunde haben werden, da ihnen ein 
Teil der Scbwierigkeiten der Technik und Beobachtuug durch die ersten 
Untersucher aus dem Wege geraumt ist, und dass erst nach einer 
grCsseren Reihe von Arbeiten die Grenzen klar werden, in denen sich 
die positiven Befunde balten. Dass das Optimum der Befunde nocb 
nicht erreicht ist, und dass der positive Nacbweis von Spirochaten aucb 
in den nicht ausgesuchten Fallen in mebr als 60pCt. gelingen wird, halte 
ich fur sicber, und zwar glaube icb, dass dazu nicht einmal die Durch- 
untersucbung fast alter Windungen ndtig sein wird, sondern dass scbon 
mit einer Untersuchung von cinigen Hirnstellen jedes Falles eine hobere 
Prozentzahl erreicbt wird, nachdem durch weitere Erfahrung ein ge- 
scharfter Blick fur die Beurteilung erworben ist. Fur solche Unter- 
sucbungen wird wabrscbeinlich die Untersuchung von Gewebsschnitten 
vor der Dunkelfeldmethode den Vorzug haben, da sie die Durchmuste- 
rung flachenhafter Gebiete ermdglicbt. 

Dass es sich bei den in den Paralytikergehirnen dar- 
gestellten Organismen um Exemplare der Spirochaete pallida 
handelt, ist seit den Noguchi’schen Arbeiten unbestritten. Zahl- 
reiche Autoritaten haben die Gebilde in Originalpraparaten und Photo- 
graphien anerkannt und die charakteristische Form schutzt sowohl bei 
der Dunkeifelduntersuchung, wie den Farbemethoden im Ausstrich und' 
der Darstellung in Gewebsschnitten, unter der Voraussetzung kritischer 
Beobacbtung vor Verwecbslung. Dass es sich um den lebenden Erreger 
der Syphilis im Gehirn handelt, geht aus den Befunden mittels Hirn- 
punktion von Forster und Tomasczewski (28) und Bdriel (8) hervor, 
sowie aus den Impferfolgen mit paralytischem Hirngewebe. Dass die 
Aoffindung in Gewebsschnitten bisher im allgemeinen nicht gelang, ist 
darauf zuruckzufuhren, dass stets die verschiedenen Fibrillen des Ge¬ 
hirns mit impragniert wurden und mit ihrem ungebeuren Reichtum die 

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Dr. P. Sioli, 

Spirochaten verdeckten. Woran es lag, dass Noguchi mit seiner 
Methode Erfolge hatte, die fast alien seinen Nacharbeitern versagt 
blieben, ist noch unklar. Levaditi, A. Marie, Bankowski (56) 
geben an, dass sich auch mit der alten Levaditimethode besonders an 
altem Formolmaterial gelegentlich Erfolge erzielen lassen. 

Dem bisherigen Mangel ist durch die Jahnel’schen Methoden 
abgeholfen. Soweit es bis jetzt zu uberseben ist, hindern diese Metho¬ 
den die Mitimpriignierung der Fibrillen und gewahrleisten dabei die 
Darstellung der Spirochaten, wenn sie sotgf&ltig geubt werden. Weiteres 
grOsseres Dntersuchungtmaterial wird zeigen, ob ibnen noch irgend 
welche bei Silbermethoden ja bekannte Launenhaftigkeit anhaftet. Es 
kann sich einerseits darum bandeln, dass docb vereinzelte Fibrillen 
dargestellt werden und zu Verwechslungen fiihren konnen, davor wird 
kritische Beurteilung schutzen, andererseits darum, ob vorhandene 
Spiroch&teu der Darstellung entgeben, das wird Vergleich von Dunkel- 
felduotersuchung mit Darstellung im Gewebe lehren. 

Jahnel hat es unternommen alle Beobachtungen mit mikrophoto- 
graphischen Abbildungen zu belegen, eine Art des Vorgehens, die sich 
ausserordentlich empfieblt und Missverst&ndnisse verhindert und die 
allgemein nacbgeahmt werden sollte. Jahnel hat in sorgf&ltiger Weise 
die ublichen typischen Formen der Spirochaete pallida bei der 
Paralyse beschrieben und hat besonders ausfubrlich die verscliiedenen 
von demTypus abweichenden Formen beschrieben, abgebildet und 
erklart. Mit den Formabweichungen bei Paralyse batten sich die fruheren 
Beschreiber nicht besch&ftigt, abgesehen davon, dass Levaditi, A. Marie 
und Bankowski Formes en boucle erwahnen. 

Die Spirochaete pallida bei der Paralyse bat im allgemeinen die 
typisch schraubenartig gewundene Form mit gleichm&ssigen Windungen, 
gelegentlich koromen Endfkden vor (Taf. Ill, Fig. If). 

Die Formabweichungen bestehen in Biegung der Achse bis zur 
Verschlingung, Einrollungserscheinungen an einem oder beiden Endeu 
oder des ganzen Exemplars, Ungleichmassigkeit der Windungen, Streckung 
von kleinen oder grOsseren Teilen des Leibes, Verkurzungserscheinungeu. 

So entstehen Endknopfe oder Ringe an einem oder beiden Enden 
(Hantelform, E. Hoffmann), mehrfache Ringe am Ende (Brillenform), 
Yformen, seitliche scheinbar knospenartige Anh&nge, spiralige Ver- 
schlingungen, ringformige, stecknadelknopfartige und vielerlei anders- 
artige Gebilde, Abflachungen der Windungen bis zu fast gradlinigen 
Exemplaren (Formes rectilignes von Fouquet). Alle diese Formen 
sind als zu den typiscben Exemplaren gehorig erkenntlich dadurqh, dass 


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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 


429 


bei eiDem Teil von ihnen noch typische Schraubenwindungen abgehen, 
and dass alle in technisch einwandfreien Prftparaten gewebsfremd er- 
scheinen. 

Neben den durcb Streckung, Verscblingung und Einrollung entstan- 
denen Formabweichungen ist nocb die Erscbeinung der Skelettierung 
zu beobacbten: man sieht auffallig dfinne aber typisch gewundene Exem- 
plare, die ganz oder zum Teil nicbt so scbwarz impr&gniert sind, wie 
sonst, sondern einen schw&cheren mebr braunen Farbton haben; an 
einem Teil dieser Exemplare sieht man klumpige Anlagerungen auf mehr 
oder weniger grossen Strecken. Bei einigen Exemplaren ragt aus einem 
dickeren verkurzt erscheinenden Teil ein feines Ende heraus. Es 
handelt sich zweifellos um den Vorgang der Skelettierung, das Periblast 
streift sich von dem Acbsenfaden ab, welcber alsdann in mehr oder 
weniger grosser Ausdehnung nackt vorliegt. 

Alle diese Formen sind bei Syphilis bekannt. 

Sowohl die typischen Exemplare wie die Formabweichungen der 
Spirochaete pallida bei Paralyse unterscheiden sich morphologisch in 
nichts von den Formen der Spirochaete pallida, wie sie in den ver- 
schiedenen Perioden der Syphilis gefunden werden und wie sie in Ein- 
zelarbeiten und Zusamnienfassungen von Syphilidologen und Spiroch&ten- 
forschern ausfuhrlich beschrieben sind. (u. A. von E. Hoffmann im 
Handbuch der Geschlechtskrankheiten, Muhlens im Prowazeks Hftnd- 
buch der pathogenen Protozoen, Sobernheim in Kolie-Wassermann, 
Handbuch der pathog. Mikroorganismen, Mayer-Neumann). 

Die Bedeutung der atypischen Formen kann nocb nicbt als 
gekl&rt betracbtet werden. Der Neigung zur Streckung mit Einrollung, 
Verknotung und Schlingenbildung wird von Prowazek als Depressions- 
formen eine Rolle im Entwicklungszyklus der Spiroch&te zugeschrieben, 
ahnlich fassen sie Krzysztalowicz und Siedelecki auf, welche die 
Ringformen als definitives Ruhestadium betrachten und davon unter¬ 
scheiden die „formes eutortillees et 6paissies*‘, die verschlungenen und 
plnmpen dicken Formen, die aus den geknitterten Spirochaten (formes 
ramollies) entstehen und zu Keulen uud knrzen Formen und zur Dege¬ 
neration der Spirochaten fuhren. Sie betrachten die „formations com¬ 
pacts ou en baguette 1 * (Stabchen) als Depressionsstadien, die „indivi- 
dus oblongs et granuleux** als Degenerationsaufldsungsform (zit. nach 
Muhlens). Andere Forscher (Levaditi, Roche, Mfihlens) konnen 
die Auslegung der aufgerollten Formen als Rubeformen noch nicht an- 
erkennen und glauben an wesentlichen Einfluss der Degeneration, event, 
unter dem Einfluss der Praparation. 


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Dr. F. Sioli, 


Die Streckung wird als Absterbeerscheinung gedeutet durch Mfih- 
lens aus der progressiven Zunahme atypischer Formen bei Untersuchang 
des gleichen, verschieden lange aufbewahrten Materials. 

Zu all den Auffassungen fiber die atypischen Formen muss man 
wohl auf die Aeusserung von Schaudinn verweisen, gelegentlich der 
Beobachtung von Streckung auf Glyzerinzusatz, dass die Frage der 
Ruhestadien nur ein langdauerndes vergleichendes Studium der Ent- 
wickelungsgescbicbte der verschiedenen Spirochfitenarten entscheiden 
kfinue. 

Bisher dauert das Studium noch nicht lange genug. Yielleicht 
wird gerade die Bearbeitung des Paralysematerials eine Forderung bringen 
kfinnen. 

Es verdient Beachtung, dass diese Formabweichungen in keinem 
meiner Paralysef&lle ganz fehlten, in einigen recht zahlreich waren, 
in einem meiner F&lle (No. 8) fiberwogen. Wie aus der Beschreibung 
der Ffille und ihrem Befunde bervorgeht, ist es nicht moglich einen 
Zusammenhang von klinischem Verlauf, Todeseintritt, Zeit der Sektion 
mit dem Auftreten der Formabweichungen festzustellen. Die Erschei- 
nung der Skelettierung fand sich sebr selten, aber fast allgemein an 
einer ortlich umschriebenen Stelle eines meiner Falle (No. 1). Unter 
den Formen der Spirochfite in den spfiter zu erwahnenden bienenschwarm- 
artigen Herden sind viele typische aber auch viele auffallig gestreckte 
Exemplare. (Taf. IV, Fig. 11—13). Jedenfalls kanu man sageu, dass 
sich die Spirochaete pallida bei der Paralyse morphologisch nicht von 
der bei den anderen Erscheinungen der Syphilis unterscheidet. 

Da alle typischen und atypischen Formen der Spirochfiten von 
Jahnel in erschopfender Weise beschrieben und abgebildet sind, habe 
icb micb darauf bescbrfinkt, nur einzelne atypische Formen als Beispiel 
auf Taf. Ill, Fig. 1 abzubilden, vieles von den typischen und atypischen 
Formen siebt man aus den Uebersichtsbildern. 

Neben den Formabweichungen der Gewebsspirochfiten muss 
man einige Eigeuarten der Spirochfiten in Kulturen erwfihnen, die 
vorzugsweise Noguchi beschrieben hat. Noguchi beschrieb eigentfim- 
liche runde lichtbrechende Korperchen von ca. 0,75/u GrOsse, die meist 
in Einzahl dem Periblast der Spirochfite angeheftet seien und aucb frei 
vorkfimen, sie scheinen mit dem Wachstum der Spirochfite in irgend 
einer Beziehung zu stehen. Er beschrieb weiterhin in Kulturen eine 
Granularbildung, indem zahlreiche runde und ovale Korner mit aktiver 
Molekularbewegung und 0,2—0,3 /i Grfisse aus der Spirochfite austreten, 
was bis zur Freilegung eines nackten Achsenfadens ffihren konne, diese 
Kfirner stellten Fragmente des Periblasts dar, im Verlauf eines Degene- 


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Die Spiroohaete pallida bei der progression Paralyse. 


431 


rationsprozesses, bei Uebertragung in ein frisches Medium trEten wieder 
typische SpirochEten auf. 

Wie Noguchi und Jahnel bemerken, ist die Darstellung mit 
SilberimprEgnation im Gewebeschnitt nicht geeignet zur Feststellung 
solcher VerEnderung. Die Darstellung mit ImprEgnierungsmetbftden er- 
laubt auch keine Stellungnabme zur Frage der Unterscheidung ver- 
scbiedener Typen von SpirochEten nach ihrer Dicke — Noguchi unter- 
scheidet 3 Typen von 0,2, 0,26 und 0,3 a — and keine Stellungnahme 
zur Frage des Teilungsmodus der SpirochEten. 

Von Forster und Tomasczewski (28) ist angegeben, dass sie in 
ihren FEllen von Paralyse die im Hirnpunktionsmaterial durch Dunkel- 
felduntersuchung gefundenen SpirochEten nicht nach Giemsa fErben 
konnten. ' 

Jahnel (50) gibt an, dass er mit Giemsalfisung selir schOne Bilder 
von ParalysespirochEten erhielt und dass nach dem Tit^l einer amerika- 
nischen Arbeit von Brock zu schliessen auch diesem die Giemsa- 
fErbung gelungen sei. 

Ich selbst habe von dem Fall 10 ebenfalls im Ausstrich mit Gierasa- 
Iftsung SpirochEten fErben kOnnen. 

Es ist also wohl Jahnel beizupflichten, dass das Ergebnis von 
Forster nnd Tomasczewski auf einem gelegentlich vorkommenden 
Versagen der Farbung beruht. Die NichtfErbbarkeit der SpirochEten 
nach Giemsa bei Paralyse besteht nicht und auf diesem Wege ist ein 
verEndertes biologisches Verhalten der ParalysespirochEte nicht zu be- 
grunden. 

Die Verteilung der Pallida auf die verschiedenen Gegen- 
den des Gehirns wurden von Noguchi (69) nur in soweit erwEhnt, 
als er im allgeraeinen sagt, dass Gyrus frontalis, Gyrus rectus und Regio 
Rolandi hauptsEchlich zur Untersuchung ausgewEhlt wurden und die 
Befunde zeigten, in einigen FEllen wurde auch der Gyrus Hippocampi, 
das Ammonshorn und andere Regionen untersucht, in cinem Fall fanden 
sich die. SpirochEten in alien Teilen, aber in weit geringerer Anzahl 
als im motorischen Zentrum. Moore (62) sagt, dass Lokalisierung und 
Verbreiteruug des Organismus genugend ubereinstimmend mit der Ver¬ 
teilung des paralytischen Prozesses sei. Levaditi, A. Marie und 
Bankowski (56) fanden die Verteilung wechselnd in den verschiedenen 
FEllen, im ganzen aber hEufiger in den vorderen Gebieten des Gehirns, 
sio vermissteu sie im Bulbus, Ruckenmark und Spinalganglien, fanden 
sie aber in einem Fall in der Flussigkeit des Seitonventrikels. Jahnel 
(49) gibt an, dass sich die SpirochEten am hEufigsten und zahlreichsten 
im Stirnhim fanden, besonders am Stirnpol, aber auch in den anderen 


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Dr. P. Sioli, 


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Rindenregionen bis znm Hinterhaupt, nach dort an Haufigkeit abnehmend. 
Ansser in der Hirnrinde fand Jahnel Spiroch&ten in den subkorti- 
kalen Ganglion und im Eleinhirn (48, 48). 

Meine eigenen Fftlle zeigen, dass sich die Spiroch&ten am zabl- 
reichsten und regelm&ssigsten' in der ersten Frontalwindung finden, 
n&chst dem in den Zentralwindungen, dass sie aber auch in den anderen 
Teilen des Hirnmantels gefanden werden, gelegentlich z. B. in den 
Okzipitalwindungen, w&hrend sie in den frontalen Teilen vermisst wurden, 
and dass ich sie in einem Falle auch im Eleinhirn gefunden habe. 

Nach all dem ist anzunehmen, dass uberall in der grauen Substanz 
des Gehirns Spiroch&ten gefunden werden konnon, am regelm&ssigsten 
und zahlreichsten im Stirnbirn; diese Verteilung entspricht im allge* 
meinen der Art und dem Grade der Verteilung der histologischen Ge- 
websver&nderungen. 

Spiroch&ten in der Pia wurden von Me. Intosh und Fildes 
(44) und von Jahnel gefunden, Noguchi (69) erw&hnt ausdrucklich, 
dass er sie in der Pia vermisst habe, ebenso Marinesco (54). Unter 
meinen F&llen zeigte keiner Spiroch&ten in der Pia. Ihr Vorkommen 
in der Pia scheint zu den grCssten Seltenheiten zu gehOren. In der 
weissen Substanz des Gehirns hat Noguchi (69) Spiroch&ten ge¬ 
funden, aber weniger zahlreich und h&ufig als in der Rinde. Mari¬ 
nesco (51) fand sie ausnahmsweise in der weissen Substanz. Leva- 
diti, A. Marie (56) und Jahnel (51) betonen ausdrucklich, dass sie 
in der weissen Substanz keine Spiroch&ten gefunden haben. Auch 
meine F&lle waren in der weissen Substanz spiroch&tenfrei. Alle Unter- 
sucher sind darin einig, dass der eigentliche Sitz der Spiroch&te die 
Hirnrinde ist. Noguchi fand sie nicht in der 1. Rindenschicht, 
Jahnel (51) fand sie auch dort ausnahmsweise aber meist vereinzelt, 
aber auch kleine Ansammlungen. 

Drei meiner F&lle (5, 7,13) weisen in der 1. Rindenschicht einzelne 
Spiroch&ten auf. 

Die grosse Menge der Spiroch&ten findet sich in der tieferen Hirn¬ 
rinde und zwar im allgemeinen am regelm&ssigsten und bei weitem am 
zahlreichsten in der Tiefe der 3. Brodmannschen Rindenschicht (oder 
Pyramidenschicht). Im Eleinhirn fand Jahnel die Spiroch&ten in der 
Molekularschicht, der Nachbarschaft der Purkinjezellen und der E5rner- 
scbicht. Mein einer Fall 9, der sie im Eleinhirn bot, zeigte sie in der 
Molekularschicht. 

Ueber die Art der Lagerung der Spifbch&ten zueinander ist 
von Noguchi die Bemerkung zu erw&hnen, dass die Spiroch&ten ver¬ 
einzelt oder so zahlreich sein konnen, wie in der Leber syphilitischer 


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Die Spirocbaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 433 

F6ten, Levaditi, A. Marie, Bankowski erklaren, dass die Spiro¬ 
chaten in einigen Fallen so zahlreich seien, wie beim Primaraffekt, und 
dass die Neigung in Herden aufzutreten, bemerkenswert sei. 

Jabnel (49) unterschoidet zwischen der Anordnung der Krankheits- 
erreger in scharf umschriebenen Herden und der diffusen Ver- 
teilung fiber die Hirnrinde. Den ersten Typ bezeichnet er als bienen- 
schwarmartig, bei seiner reinen Form ist die Grenze scharf abgegreuzt, 
in ikrer Umgebung finden sich keine oder nur vereinzelte Spirochaten, 
auch in anderen Hirnteilen sind keine Spirochaten zn finden. Der weit- 
aus hfiufigere Typ der diffusen Yerteilung im Gewebe zeige grossen 
Wecbsel in Bezog auf die Menge der Spirochaten an verechiedenen 
Stellen. Zwischen beiden Typen bestfinden zablreicbe Uebergange. 

Meine Befunde bestatigen in vollem Umfange die Bescbreibung 
Jahnel’s. In einem meiner Falle findet sich die Anordnung der 
Spirochaten in bienenschwarmartigen Kolonien, welche in den Schnitten 
schon mit schwacher VergrOsserung als feinmascbige schwarze Flecke 
kenntlicb sind. Sie bestehen aus zahllosen enggedrangten Spirochaten, ' 
wie die Abbildungen zeigen. Der Fall weist mehrere solcher Bienen- 
schwarme verschiedener Grosse auf, ausserdem finden sich aber noch 
einzelne Spirochaten im Gewebe in der Umgebung der Schwarme und 
diffuse Verteilung in anderen Hirnteilen. Die grosse Mehrzahl der Falle 
weist eine diffuse Verteiiung der Spirochate in der Hirnrinde auf. Der 
Parasitenreichtum ist in den einzelnen Fallen ein durchaus verschiedener. 
In einzelnen Fallen finden sich nur vereinzelte, in anderen ungeheure 
Mengen vou Exemplaren. Auch in den Fallen, in denen eine diffuse 
Ausbreitung zahlreichster Mengen bestebt, ist die diffuse Ausbreitung 
nicht uberal 1 gleichmassig, sondern fleck- und fifichenffirmig verschiedeu 
stark. Eine Himwindung kann an einer Seite von Spirochaten erfullt 
und an der anderen Seite frei von Spirochaten sein, dicht neben Stellen 
diffuser Anhaufung liegen Stellen, die ganz oder fast frei von Spirochaten 
sind. Der Wecbsel des Spirochatenreichtums ist im ganzen unrfigel- 
massig, immerhin lasst sich annehmen, dass eine ringffirmige oder 
scbeibenfdrmige Anordnung, wie sie Jahnel als fur manche Anordnung 
denkbar halt, m5g!ich ist. 

Ueber die Beziehung der Spirochaten zu den Elementen 
des Zentralnervensystems liegen bisber wenig Mitteilungen vor. 
Noguchi (69) fand sie nicht in der Pia, fast niemals in den Gefass- 
wandungen und nur ganz selten in der Nahe von Blutgefassen, er er* 
wahnt die enge Anlagerung von ein oder mebreren Spirochaten an 
Pyramidenzellen und dass in einigen Fallen ein Teil des PallidakQrpers 
sich dem Zytoplasma der NervenzelJen zu inserieren scheine, zuweilen 


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Dr. F. Sioli, 


liegen die Parasiten in den perineuralen Rfiumen lfings des Verlaufs 
der Achsenzylinderfortsfitze. Jahnel gibt an, dass sebr hfiufig Spiro- 
chfiten in der Umgebung von Ganglienzellen angehfiuft sind, dass 
mancbmal die Ganglienzellen von Spirochaten ganz umlagert sind, ein 
Eindringen der Spirochate in die Ganglienzellen scbeine nur ausnahms- 
weise vorzukommen. In Plasmazellen babe er Spirochaten nicht geseben, 
wohl aber habe er als seltene Erscheinung Spirochaten zuweilen 
zwischen den Infiltratzellen der Lympbraume beobacbtet. In der Pia 
hat Jabnel Spirocbaten als sehr seltenen Befund gesehen, ebenso wie 
Mc.Intosh und Fildes.5 Die Angaben Noguchi’s fiber das Niclit- 
vorkommen der Spirocbaten in den Geffisswandungen bezeichnet Jahnel 
in dieser Exklusivitat nicbt fur richtig, es kamen gelegentlich auch 
Spirochaten in den Geffissen vor und Bilder von Entlangwuchern der 
Spirocbaten an den Geffissen oder von Darchwachsung aller Schichten 
der Geffisswand vom nervfisen Gewebe aus; solche Bilder zeigt Raecke 
(78) nacb Jahnel’schen Prfiparaten und Jahnel leitet aus diesen Be- 
obacbtungen eine besondere Theorie von der Reinfektion aus dem Ge¬ 
webe, die spfiter zu erwfibnen ist, ab. 

Die Befunde meiner Falle zeigen, dass ffir die grosse Masse der 
Spirocbaten Beziebungen zu zelligen Gewebselementen des Zentral- 
nervensystems nicht erkennbar sind. Es feblen aber Beziehungen zu 
zelligen Elementen nicht ganz. Unter diesen Beziehungen tiberwiegt 
bei weitem die Anhfiufung von Spirochaten um Ganglienzellen, 
ohne dass ein Eindringen in Ganglienzellen nachweisbar ist. (Taf. Ill, 
Fig. 6 und 7.) Beziebungen zu Gliazellen sind als seltener Befund, aber 
etwas hfiufiger als zu den Infiltrationszellen und Geffissscheiden vor- 
handen, sie sind scbwer erkennbar und nocb schwerer zu pbotographieren 
Taf. IV, Fig. 7 ist die Photographic einer Stelle an der das Mikroskop 
bei Benutzung der Mikrometerschraube zeigt, dass die 2 dunkleren 
Stellen (gl) Gliakerne sind, die von einem lappigen Protoplasmaleib um- 
geben sind, in welchem eine abgeknickte (a) und eine aufgerollte (b) 
Spirochate liegen. Unter den Beziehungen zu den Geffissen kann ich eine 
erhobte diffuse Anhfiufung in der Nfihe von Geffissen nicht finden; wo die 
Nacbbarschaft von Geffissen eine gewisse vermehrte Menge zeigt (Taf. Ill, 
Fig. 11), bietet derselbe Fall eine gleiche oder hfihere fleckweise An¬ 
hfiufung fern von Geffissen, so dass die Beziebungen zu Geffissen nicht 
sicher zu bebaupten sind. Beziebungen zu anderen nervfisen Elementen 
sind ausserordentlicb seltene Einzelvorkommnisse. Zuweilen erscbeint 
eine Spirochate senkreclit zur Hirnoberflfiche gelagert, dass man glauben 
konnte, sie folgt einer Nervenfaser. Einige Male habe ich eine Spiro- 


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Die Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse. 435 

chate zu einem Knauel geballt in einer Infiltrationszelle geselien, ohne 
dass icb erkennen konnte, ob es sich am eine Plasmazelle Oder eine 
andere Infiltrationszelle bandelte (Taf. Ill, Fig. 2 iz). Mit Jahnel kann 
icb mich von der Ueberzeagungskraft der Schilderung und Abbildung 
von Spirochaten im Innereu von Plasmazellen, auf welche Markus 
weitgehende Hypothesen aufbaut, nicbt nberzeugen, ohne dass ich die 
MOglichkeit der intrazellularen Lagerung bestreiten will. Gelegentlich, 
aber sehr selten sieht man Spirochaten den Infiltrationsmanteln der 
Gefassscheiden angelagert (Taf. Ill, Fig. 5) oder zwiscben den Zellen 
gelagert (Taf. VII, Fig. 5). 

Beziehungen zur Gefasswand sind selten, sind aber haufiger 
als Beziehungen zu Infiltrationszellen. Fig. 8 und 9 auf Taf. Ill zeigen 
unverkennbare Lagerung von Spirochaten in der Gefasswand des Falles 5. 

Einer meiner Falle zeicbnet sich dadurch aus, dass bei ihm einzeln 
und in Buscheln liegende Spirochaten in der Gefasswand ein weit ver- 
breiteter Befund sind (Taf. Ill, Fig. 10, Taf.. VII, Fig. 1—6). Histologisch 
zeigte dieser Fall die typischen Veranderungen der paralytischen Er- 
krankung mit einer diffus verbreiteten Endothelwucherung. Dass der 
histologisch auffalligen Eudarteriitis eine noch vorhandene Spiro- 
chatenwucherung in den Gefasswandungen entspricht, ist von grossem 
Interesse. 

Eine Beziehung der bienenschwarmartigen Kolonien zu den Gefassen 
oder Elementen des Zentralnervensystems kann ich nicht finden. In 
den Schwarmen sieht man einzelne Ganglienzellen oder Gefasse wie 
ausgespart liegen, zu denen die Schwarme in keiner Beziehung zu stehen 
scheinen (Taf. IV, Fig. 9, 10, 13). • 

Eine vollstandige Sonderstellung mount der Fall 10 ein, der weitcr 
unten zu erortem ist. 

In meinen Fallen babe ich aucb den histologischen Befund 
aufgefuhrt, um fur den Vergleich der pathologisch-anatomischen Ver- 
anderung mit dem Spirochatenbefund den Anfang einer Grundlage zu 
schaflen. Ich habe mich im allgemeinen auf die Zellfarbung nach 
Nissl beschrankt, da diese grundlegend fur die Diagnose und Erkenntnis 
des paralytischen Prozesses ist. Am nach Jahnel zur Spirochaten- 
darstellung behandelten Formolmaterial ist eine geeignete Gewebsfarbung 
nicht mehr mdglich. Daber wurden, soweit angangig, benachbarte 
Blbcke in Alkohol znr Zellfarbung und in Formol fur Jahnel’sche 
Spirochatendarstellung konserviert, es sind das die Falle, in denen beim 
histologischen Befund die Halbseitenbezeichnung gleichseitig reclits oder 
links ist. Von mehreren Fallen war eine Hirnhalfte in Alkohol, die 


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Dr. F. Sioli, 


andere in Formol konserviert, alsdann wurden korrespondierende Stellen 
beider Halften nach den beiden Methoden boarbeitet. 

Aus dem Vergleich des histologischen BefundeS rait dem 
Spirochatenbefund ist bisher von Bedeutung: Wie oben gesagt, ist 
im allgemeinen der Pradilektionssitz der paralytischen Erkrankung, 
namlicb die frontalen Hirnteile, sowohl an der konvexen wie der 
orbitalen Seite auch die Gegend des regelm&ssigsten und reichlichsten 
Spirochatenbefundes, und im allgemeinen decken sich auch im eiuzelnen 
Falle H5he der histologiscben Veranderung und des Spirochatenbefundes, 
nur entspricht nicbt in jedem Falle der hdchste Grad der bistologischen 
Veranderungen dem sicbersten und reichlichsten Nachweis der Spiro- 
ch&ten, sondern es kann in Gegenden, in deneu die histologische Ver- 
anderung am Gefassapparat und nervGsen Gewebe am ausgesprocbensten 
ist, der Spirochatennachweis fehlen oder geringer sein als in histologisch 
schwache Veranderungen aufweisenden Hirngegenden. Dieses Ver- 
halten ist von Jabnel bescbrieben und gewurdigt. 

Die fleck- und flachenfdrmigen Unterschiede in der diffusen Ver- 
teilung der Spirocbaten veranlasste mich, darauf in den Zellpraparaten 
zu achten; dabei ergab sicb, dass auch die Zellfarbung in fast jedem 
Falle sehr betrachtlicbe Unterschiede des Grades der diffusen Gewebs- 
veranderung in einer der Spirochatenverteilung ahnlichen fleck- und 
flachenfdrmigen Verteilung zeigt, indem dicht nebeneinander sehr ver- 
schieden schwer veranderte Stellen liegeu. Als Beispiel zeige ich zwei 
benacbbarte Stellen aus einem Schnitt des Falles 5 (Taf. V, Fig.l und 2). 
Ich denke nicht daran, dass sich Spirochatenbefund und histologische 
Veranderung im einzelnen decken sollen, aber die grosse Verbreitung 
des Gradunterschiedes weist darauf hin, dass der Hergang der histo- 
logischen Veranderung eine weitgehende Beziehung zu der Ausbreitung 
der Spirochatenverteilung haben mag. 

Bemerkenswert ist, dass sich bei dem Falle mit bienenschwarm- 
artigen Spirocbatenkolonien in den Zentral wind ungen bei der Zellfarbung 
fleckweise Ganglienzellausfalle flnden, von denen einige zellreich dnrch 
grosse Mengen Gliazellen sind. DieSchwierigkeit, aufeinander folgende 
Schnitte geeignet zu bebandeln, lasst die Frage, ob die Spirochaten- 
kolonien diese fleckweisen Ganglienzellausfalle verursacht haben, vor- 
laufig unentschieden. 

Besonderer Erwahnung bedarf der Fall 8, in dem die Zellfarbung 
das Vorhandensein der akuten Zellerkrankung Nissl’s, also einer im all¬ 
gemeinen ubiquitaren und einen akuten Erankheitsprozess ausdrucken- 
deu Veranderung ergab, besonders deshalb, weil in diesem Fall die 
Spirochaten in weit iiberwiegender Menge Einrollungsformen zeigten. 


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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 


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Die Betrachtung des klinischen Verlaufs der Falle zeigt, dass 7 
von den 16 Fallen im Zusammenhang mit paralytischen Anfallen moto- 
rischer Art starben (6, 7, 8, 10, 14, 15). Die Mehrzabl der ubrigen 
Falle (1, 3, 4, 6, 9, 11, 12, 16) zeigte in der Zeit vor dem Tode einen 
geistigen oder kOrperlichen progredienten Verfall, der als akuter Krank- 
heitsschub der Paralyse aufgefasst werden muss. Nur 1 Fall (No. 2) kann 
als stumpf apatbischer Zustand aufgefasst werden, bei dem die Krank- 
heit zur Zeit des Todes nicht im Fortschreiten war, dieser Fall zeigt 
nur ganz vereinzelte Spirochaten. 

Meine Falle mit negativem Spirocbatenbefund enthalten 2 Falle 
mit Tod nach paralytischen Anfallen, von denen einer nacb schnell 
progressivem Verlauf im unmittelbaren Anschluss an mehrere schwere 
paralytische Anfalle starb. Die Spirochatenuntersuchung war in zabl- 
reicben Hirnwindungen negativ. Von den anderen negativen waren 6 
stumpf dement, die anderen 8 in einem Zustand teils langsamen teils 
schnellen Verfalls. 

Es spricbt also der Vergleich des klinischen Verlaufs mit dem 
Spirocbatenbefund dnrchaus dafur, dass bei in oder nach Anfallen ver- 
storbenen Paralytikern eine grOssere Wahrscheinlichkeit des Spirochaten- 
nacbweises vorhanden ist, und dass eiu schneller progredierender Krank- 
heitsverlauf, der als akute Erankheitsverschlimmerung zu betrachten 
und in seiner akutesten Phase als psychischer Anfall den epileptiformen 
und apoplektiformen an die Seite zu stellen ist, ebenfalls eine hohere 
Wahrscheinlichkeit des Spirochatennachweises gibt, als sie den Fallen 
mit langsamem progredienten Verlauf oder in stumpfdementen Endzu- 
stand zukommt. Levaditi, A. Marie und Bankowski (56) hielten 
os auf Grund ihrer Befunde fur wahrscheinlich, dass die Anfalle der 
Paralytiker entspr&chen akuten Schuben der Spirochatenvermehrung, 
besonders in den motorischen Zonen. Forster und Tomasczewski 
(28) widersprachen dieser Annahme, da sie am Material ihrer Hirn- 
punktionen in einfach dementen Fallen mauchmal zahlreich Spirocbaten 
fanden, sie in Fallen mit expansiven Grossenideen und Anfallen ver- 
missten; Jahnel (51), der den Begriff Anfall im weitesten Sinne fasst, 
sagt, dass man bei im Anfall verstorbenen Paralytikern in der Regel 
zablreiche Spirochaten und zwar gleichzeitig an vielen Stellen des Ge- 
birns finde. 

Wenn in entsprechenden Fallen von kdrpcrlichen und psychiscben 
Anfallen mit progredientem Krankheitsverlauf die Spirochaten leichter 
und in grosserer Zahl nachgewiesen werden, so legt das die Annahme 
nnhe, dass sie in solcben Fallen in einem Zustand akuter Vermehrung 
sind, und dass zeitlicbe Schwankungen der Spirochatenzahl durcb 


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Dr. F. Sioli, 

solche Befunde erwiesen werden. Aus meinen Fallen mfichte ich diese 
Folgerung von Levaditi, A. Marie, Bankowski und'Jahnel im all- 
gemeinen annehmen. Noch aber scbeint es roir nicht erlanbt, fSr die 
genanntcn Krankbeitspbasen stets das Vorhandensein einer akuten 
Spirochatenausbreitung anzanebmen oder die Krankheitserscheinungen 
dadurch unmittelbar erklaren za wollen. Dagegen spricht, dass ich in 
einem akut progredienten Falle mit motoriscben Anfallen bei Unter- 
suchung zahlreicber Hirnwindungen die Spirochfiten vermisst habe, und 
spricht weiterhin besonders der Fall 14, ein Fall, der kliniscb das 
Musterbeispiel von motorischen Anfallen war, die auf Entstehung in der 
rechten Hirnhalfte binwiesen; fiber dieser recbten Hirnhalfte zeigte sich 
bei der Sektion eine erheblich stfirkere Leptomeningitis als links, der 
rechte Seitenventrikel war weiter als der linke, die Spirocbatenzahl 
aber war eine geringe und in den Zentralwindungen wurden trotz Unter- 
sucbung mehrerer Blficke keine Spirochfiten gefunden. Die Beziebungen 
des Spirochatenbefundes zu korperlicben und psycbischen Anfallen und 
den akuten Schfiben des paralytischen Krankheitsprozesses werden erst 
endgfiltig zu beurteilen sein, wenn ein sebr grosses Untersuchungs- 
material vorliegt. Da die Kranken verschieden lange Zeit nach dem 
Anfall sterben, ist im Auge zu behalten, dass der mikroskopische Be- 
fund bereits eine Verscbiebung der Verhaltnisse zur Zeit des Anfalies 
darstellen kann und dass das Zugrundegehen der Spirocbaten sebr 
schnell geschehen kann, darauf weist der Fall 8 hin, in dem sich uber- 
wiegend Einrollungsformen fanden. 

Der Fall 14 weist ebenso wie der Fall 15 einen wicbtigen Sonder- 
befund auf. Beide sind anatomiscbe Falle Lissauer’scher Paralyse, 
d. h. mit herdartiger Veranderung in bestimmten Windungsgebieten. 
Die herdartige Veranderung findet sich bei beiden Fallen einseitig im 
Gyrus rectus, bzw. seiner Umgebung und war kliniscb nicht erkennbar 
gewesen. Art und Grad der Veranderung ist im Befund der Falle aus- 
fuhrlich beschrieben und wird durcb die Bilder Taf. V, Fig. 3—6, 
Taf. VI, Fig. 1—3 erlautert. 

Es handelt sich um eine abgegrenzte Verschmalerung von Windun- 
gen, an der Rinde und subkortikales Mark beteiligt ist. Durcb die 
Ausbreitung und den histologiscbeu Befund ist auszuscbliessen, dass 
eine durch einen iokalisierten vaskulfiren Prozess (Verlegung eines Ge- 
fasslumens) bedingte Ernahrungsstorung die Drsache des Prozesses ist. 
Durcb den Befund ist weiterhin auszuschliessen, dass eine lokalisierte 
tertifir-luetische meningitische oder enzephalitische Veranderung den 
Prozess verursacht oder eingeleitet hat. Es besteht im befallenen Ge- 
biet ein diffuser Nerveuzellschwund der Hirnrinde, an dem sich die 


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Die Spirocbaete pallida bei der progressiven Paralyse. 439 

Gewebselemente gleickmassig beteiligen. Zustand der Nervenzellen, der 
Markscheiden, und besonders der Glia and der Abbauprodukte zeigen, 
dass es sick am einen nicbt mehr akuten Prozess bandelt, sonderu ein 
Zustand relativer Ruhe in dem befallenen Gebiete eingetreten ist. Die 
charakteristischen bistologischen Merkmale der paralytiscben Hirnrinden- 
erkranknng sind vorhanden. Die herdfdrmige Veranderung ist in beiden 
Fallen als ein besonders weit vorgeschrittener Endzustand derselben 
Erkrankung anzusehen, die in der ubrigen Hirnrinde der beiden Falle 
bestebt, und muss auf die gleicben Ursachen zuruckgefukrt werden. 

Spirocbaten findeu sick in beiden Fallen in den herdfOrmig boch- 
gradig atropbischen Gebieteu, an Zahl wesentlich geringer als an anderen 
Stellen der gleicken Gehirne. Da die herdformige Veranderung auf die 
gleiche Ursacke zuruckzufuhren sein muss, wic die Verfinderung der 
ubrigen Hirnrinde, so muss angenommen werden, dass in den betreffen- 
den Gebieten eine bedeutend hokere Zakl von Spirockaten zu irgend 
einer Zeit der Krankheit vorhanden war und sich das Gewebe von iknen 
fast gereinigt hat. Insofern bedeuten diese beiden Falle einen sicheren 
Beweis fur die hochgradigen zeitlicken Schwankungen des Spirochaten- 
vorkommens. Diese Annahme wird unterstutzt dadurcb, dass im Falle 15 
im Frontalbirn ein bistologisch ganz akuter Prozess in der ersten Hiru- 
windung bestekt, in dessen Beroich eine ungeheure Spirochatenmenge 
nackweisbar ist. Aus diesen Fallen geht weiterkin hervor, dass eine 
region&re Ausbreitung des Erregers in der Hirnrinde stattfinden kann, 
denn anders ist das Bild dicser herdfbrmigen Rindenveranderung nicbt 
zu erklaren. 

Ein Fall besonderer Art ist der Fall 16. Es kandelt sick urn 
eine klinisch und bistologisch einwandfrei festgestellte Paralyse, bei der 
sich lokal begrenzt an mekreren Stellen eine besondere Gefassveraudc- 
rung zeigt, namlich die Ablagerung einer homogenen Substanz in der 
Gefasswand. Witte, dem ich den Fall verdanke, hat einen anderen 
derartigen Fall bescbrieben (95), er glaubt, dass es sich urn ein Exsu- 
dationsprodukt aus den Gefassen bandelt; an der Hand eines anderen, 
etwas anders gearteten Falles katte ich die bekannten Falle von Ab¬ 
lagerung homogener Substanz im Gekirn zusammengestellt und es offen 
gelassen, ob der Prozess von Einschmelzung und Verwendung des 
Grundgewebes zum Aufbau der amyloidahnlicken Substanz mit einer 
Exsudation aus den Gefassen beginnt (83). Einen weiteren Fall hat 
inzwiscken Fankkauser beschrieben (25). Der vorliegende Fall reikt 
sich dem fruheren Witte’scben Fall an und wird von Witte selbst 
beschrieben werden. Es haudelt sich wobl nicbt oder nock nicht um 
Einschmelzung des nerv09en Gewebes, sondern um eine Ablagerung 


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Dr. F. Sioli, 


eines Exsudationsproduktes aus den Gefasswanden. Hier interessiert der 
Fall nnr durch die Spirochatenverteilung. 

Der Fall wird durch die Bescbreibung im Befund und die Bilder 
veranschaulicht. (Taf. VI, Fig. 4—6, Taf. VII, Fig. 1—6.) Der Fall zeigt 
neben der diffusen, fleckweise verschieden reichlichen von Gef&ssen un- 
abh&ngigen Spirochaten verteilung in der Hirnrinde, wie sie die anderen 
Falle von Paralyse bieten, eine gauz besondere Erkrankang der Gef&sse, 
die teils mit Ablagerung der homogenen Substanz vergesellschaftet, 
teils von ihr unabh&ngig ist. Dass die Spiroch&teninvasion der Gefass- 
wande das Primare, die Ablagerung der homogenen Substanz das Sekun- 
dSre ist, scheint mir aus Bildern wie Taf. VII, Fig. 3 und 4 hervorzugehen, 
in denen sichtlich auf dem Ruckgang befindliche Spirochatenzuge und 
Inseln von der Ablagerung wie erdruckt erscheinen. Sicher zeigt der 
Fall, dass bei der Paralyse neben der ublichen diffusen Verteilung im 
Gewebe auch ausgebreitete Spirochatenwuclierung in den Gefasswanden 
und deren Umgebung vorkommt. Bedeutungsvoll ist der Nachweis von 
Spirochaten im Lumen von Gefassen, also in der Blutbahn (Taf. VII, Fig. 5). 

Erwahnenswert ist, dass im Fall 7, bei dem2malige Untersuchung 
der Wassermann’schen Reaktion im Blut und Liquor negativ gewesen 
war, sich Spirochaten fanden. 

Ueber das Wesen der Paralyse. 

Noguchi hatte die Paralyse als cine diffuse Spirochatose des 
ganzen Gehirns mit vorziiglichem Befallensein der Rindenzone bczeichnet 
und nahm an, dass die Lasionen unmittelbar auf die Gegenwart der 
Pallida bezogen werdeu mussten (69, 70). 

Allgemeine Zustimmung fand er fur diese Auffassung der Paralyse 
damals noch nicht; Moore (62), der an Noguchi's ersten Spirochaten- 
befunden beteiligt war, meinte, dass die Frage, ob die Paralyse wahre 
Syphilis sei oder nicht, noch offen bleibe, wenn auch der wichtigste 
Punkt, der damit im Widerspruch stehe, beseitigt sei, und Hoche (39) 
erkannte nach Noguchi’s Befunden zwar an, dass Paralyse und Tabes 
nicht als 6p5te Nachkrankheiten der Lues, sondern als ein Stuck der 
Syphilispathologie selbst gelten raussen, die Verteilung der Mikroorganis- 
men liesse es aber als ausgeschlossen erscheinen, dass sie in direkter 
Rontaktwirkung die patbologischen Ver&nderungen hervorriefen, da 
sich in den entzundlich veranderten Partien (Pia und Gef&sse) keine 
Spirochaten fanden und die Verteilung so regellos sei, dass aus ihr die 
Moglichkeit einer systematischen Erkrankung von Zellgruppen Oder 
Fasersystemen nicht abzuleiten sei; es bestande die Moglichkeit, dass 
die Spirochaten im Gehirn bei Paralyse nur ein Nebenbefund seien, wie 


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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 


441 


Spirochaten in der Nebenniere von Paralytikern, und dass der chronisch 
degenerative Prozess der Paralyse nicht einer lokalen, sondem einer 
allgemeinen toxischen Wirkung der Spirochaten zuzuscbreiben sei; un- 
gekl&rt sei auch durch die Spirochatenbefunde, warnm Hirnsyphilis im 
Prinzip heilbar, Paralyse im Prinzip und tats&chlich unheilbar sei und 
warum nur 4—5 pCt. der Syphilitiker paralytisch wfirden. 

Inzwischen haben sich die Spirochatenbefunde in Paralytikergehir- 
nen vermebrt. Die Forscber, welche selbst fiber eine grfissere Zahl 
von positiven Befunden verffigen, betrachten die Spirochate im Gehirn 
als Ursache der Paralyse. Levaditi, A. Marie und Bankowski (56) 
meinen, dass die Paralyse hervorgerufen ist durch Ausbreitung der Spi- 
rochfiten und die dadurch gesetzten Schfidigungen. 

Nach Forster und Tomasczewski(28) kann es als sehr wahr- 
scheinlich gelten, dass die Paralyse verursacht ist durch eine (biologisch 
verinderte — siehe unten —) Syphilisspirochate, Marinesco (69) nennt 
die Paralyse eine diffuse Syphilose der Hirnrinde ohne Hautsymptome. 
Ehrlich (15) sagt: „Nachdem Noguchi der Nachweis von Spiroch&ten 
im Gehirn von Paralytikern gelungen ist, hat die Anschauung, welche 
die Paralyse als eine metasyphilitische Erkrankung betrachtet, ihre Be- 
rechtigung verloren. Wir werden anzunehmen haben, dass es sich nicht 
urn eine Folgeerscheinung einer aktiven syphilitischen Infektion handelt, 
vielmehr noch um einen syphilitischen Infektionsprozess", und weiter, 
„dass die Paralyse als eine atiologisch gekl&rte Krankheit erscheint“. 

Es fragt sich, ob wir aus den bis jetzt vorliegenden Befunden 
schliessen dfirfen, dass in jedem paralvtischen Gehirn Spirochaten vor- 
handen sind, oder gefordert werden muss, dass in alien Fallen von 
Paralyse Spirochaten nachweisbar sind. Diese Forderungen nennt Jah- 
nel(51) unberechtigt und unerffillbar, da die Mfiglichkeit, die Spiro- 
ch&ten im Gehirn von Paralyse aufzufinden, eine beschrfinkte ist, denn 
abgesehen davon, dass auch die grfindlichste Untersuchung sich nur auf 
einen winzig kleinen Bruchteil des Zentralnervensystems erstreckt, engen 
die zeitlichen und Ortlichen Schwankungen des Spirochatenvorkommens 
die M&glichkeit der Auffindung der Spirochaten noch mehr ein. 

Die Annabme der drtlichen Schwankungen des Spirochatenvorkom¬ 
mens wird durch die Beobachtung der wechselnden Verteilung in den 
verschiedenen Hirngegenden (Levaditi, A. Marie, Bankowski) und 
durch das Vorkommen von einzelnen bienenschwarmartigen Eolonien, 
deren Auffinden ein Glficksfall ist, begrundet (Jahnel). 

Die Annahme der zeitlichen Schwankungen wird begrundet durch 
die natfirliche Ueberlegung, dass die Vermehrung nicht scbrankenlos, 
sondem in verschiedenen Schfiben entsprechend den Hautsyphiliden und 
Arefai* f. Pqrohlatrie. Bd. 60. Heft 2 3. 29 


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Dr. F. Sioli, 


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durch den regelmSssigen Befund in Anfallen (Levaditi, A. Marie and 
Bankowski, Ehrlich und Jahnel). 

Ein weiterer anatomischer Beweis fur die zeitlichen Schwankungen 
ist erbracht durch die geringe Spirochatenzahl in den atrophischen Rin- 
denteilen meiner beiden Falle von Lissauer’scher Paralyse, in denen 
sie an Ort und Stelle der Ver&nderung in reicher Zahl vorhanden ge- 
wesen sein mussen und grOssstenteils verschwunden siud, wie ich das 
oben begiindet habe. 

Dabei ist zu erwahuen, dass bei tertiiirer Lues der Spirochaten- 
nachweis, der erst spat in wenigen Fallen von Doutrelepont und 
Grouven und Tomasczewski besonders iu den Randpartien gelang, 
ein sehr seltener Befund ist und doch „uber ihre Anwesenheit in tertiar- 
luetischen Produkten kein Zweifel besteht" [Sobernheim (86)]. 

Man darf auf Grund der vorliegenden Befunde wohl mit Jahnel 
schliessen, dass in jedem paralytischen Gehirn Spirochaten vorhanden 
sind, auch wenn der Nachweis nicht in alien Fallen gelingt. 

Dieser Meinung ist inzwischen auch Hoche(40) beigetreten und 
sagt jetzt, dass „wir annehmen diirfen, dass wohl in alien Paralyse- 
fallen das ganze Gehirn reichlich Spirochaten beherbergt w . Es mag 
jetzt scbon Falle von Paralyse geben, die heilen oder zum Stillstand 
des Krankheitsprozesses fuhren, der auf endgultigem Verschwinden der 
Spirochaten beruhen musste, unter Umstanden, ohne dass das klinisch 
in Erscbeinung tritt, da die Kranken mit ihren erworbenen Krankheits- 
erscbeinungen unter dem kliniscben Bild der Paralyse fortleben kOnnen. 
Fur die Erkenntnis dieser MSglichkeit ist durch die Jahnel’schen Me- 
thoden der Spirocbatendarstellung im Verein mit klinischer Beobach- 
tung und der histologiscben Untersuchung die Grundlage geschaffen. 

Yon grosser Bedeutung ist die Frage, ob bei der Paralyse das Ge¬ 
hirn allein der Sitz von Spirochaten ist, oder ob auch andere 
Organe von Spirochaten durchseucht sind. Jahnel (51) hat seine Unter- 
suchungen auf die inneren Organe von Paralytikern ausgedehnt und 
dabei Lungen, Herz, Milz, Leber, Nebenuieren, Pankreas. Schilddriise, 
Lymphdriisen, Hoden, Knochenmark u. a. berucksichtigt, mit dem Er- 
gebnis, dass er einmal im Dunkelfeld eine Spirochate in der Verreibung 
eines Herzmuskels und einmal im Levaditipraparat eine einzige Spirochate 
in der Lunge fand. Er halt Einschleppung auf dem Blutwege fur mdglich 
und halt es aus dem fast regelmassigen Fehlen von Spirochaten in 
den inneren Organen von Paralytikern fur hSchst unwahrscheinlich, dass 
daselbst Herde starkerer Proliferation des sypbilitischen Virus existieren. 

Andere einwandfreie Befunde von Spirochaten in inneren Organen 
von Paralytikern, bzw. Tabikern existieren nicht; bei einem von ScbmorL 


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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse. 443 

mitgeteilten Fall Scblimpert’s von Spiroch&ten in der Milz erortert 
Schmorl selbst die Mfiglichkeit, dass es sich urn verschleppte Spiro- 
ch&ten aus ulzeriertem Magenkarzinom gebandelt habe. Hirschl und 
Marburg bezweifeln auch die Tabesdiagnose dieses Falles [zitiert nach 
Jahnel(51)], eine Arbeit von Krasser(53), deren Referat im Neurol. 
Zeutralbl. auf Durcbsetzung der Nebennieren mlt Spiroch&ten schliessen 
Ifisst, zeigt sich im Original als eine reine Spekulation fiber diese M6g- 
lichkeit. 

Die H&ufigkeit der Aortitis bei Paralytikern verdient Beacktung, 
da bei Aortitis Spirochaten gefunden siud, allerdings noch nicht bei 
Paralytikern. Ueber entzundliche Veranderungen, diffuses Vorkommen 
von Lymphozyten und Plasmazellen in Leber und Niere von Paraly¬ 
tikern berichtet Catola (9). Abgeschlossen ist die Frage des Zustandes 
der inneren Organ bei Paralyse noch nicht. Weitere histologiscbe und 
Spirochfttenuntersuchungen in dieser Richtung sind notwendig, um die 
metaluetischen Erkrankungen (im Sinne Erb’s) zu klaren. 

Jetzt schon kann man aber fiber die Paralyse sagen, dass diese 
Form der Metalues keine Nachkrankbeit der Lues, sondern ein aktiver 
Infektionsprozesses (Ehrlich) und weiter, dass das Gehirn der Haupt- 
sitz dieses aktiven Infektionsprozesses ist und* die paralytiscbeu Veran¬ 
derungen durch Wirkung der Spirochaten am Ort ihres Hauptsitzes im 
Gehirn erzeugt sind. „Die Auffassung, dass die Paralyse eine Allge- 
meinerkrankung des KOrpers darstellt, bei welcher die Erscheinungen 
von Seiten des Zentralnervensystems ira Vordergruode stehen, hat nur 
dann und auch nur vom klinischen Standpunkt aus Berechtigung, wenn 
man die Kacbexie usw. als Folgeerscheinung der paralytischen Erkran- 
kung im Nervensystem ansieht“ [Jahnel (61)]. 

Die Paralyse ist in ihrer Aetiologie geklart als eine Spi- 
rochatenerkrankung des Gehirns, ungeklfirt aber ist ihre 
Entstehung und Entwicklung. 

Die ffir diese Fragen wichtigsten Eigenarten der Paralyse sind, dass 
nur eine geringe Anzahl der Luetiker paralytisch wird, dass die Para¬ 
lyse klinisch im allgemeinen erst lange Jahre nach der Infektion in 
Erscheinung tritt, und dass im Prinzip die sogenannte Hirnlues durch 
die gebr&uchlicben antOuetiscben Mittel beeinflusst wird, die Paralyse 
nicht. Zwar war schon vor der Salvarsan&ra bekannt, dass vorsichtige 
antiluetische Kuren bei mancben Paralytikern nfitzlich sind und seit 
der Verwendung des Salvarsans haben sich solcbe Mitteilungen gemehrt. 
Wie aber auch das Salvarsan verwendet wurde, ob iutravenOs in kleinen 
oder grossen Mengen von Raecke und Runge, ob intralumbal nach 
Gennerich, ob als intralumbale Einverleibung salvarsanisierten Serums 

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Dr. F. Sioli, 


nach Swift und Ellis, immer kann man nack den bisher vorliegenden 
Veroffentlichungen nur sagen, dass eine gewisse Anzahl von Paralytikern 
gfinstig beeinflusst wurde, im Sinne von Remissionen und Stationfir- 
werden, die Paralyse aber nicht als gefindert anerkannt werden kann, 
denn Remissionen und stationfire Zeiten gibt es bei unendlich vielen 
Paralytikern. 

Schon Noguchi (69) sah den Grund de therapeutischen Unbeein- 
flussbarkeit dcr Paralyse darin, dass die Mikroorganismen in der Tiefe 
des Organparenchyms liegen und gegen den Angriff der Medikamente 
geschfitzt seien, wAhrend sie bei der gewfiknlichen Form der Syphilis 
des Zentralnervensystem8 in der NAhe von BlutgefAssen therapeutischer 
Einwirkung besser zugfinglich seien. Moore (62) sak in der Hirnsypkilis 
eine lokalisierte syphilitische Erkrankung der Hirnbaut mit Erbaltung 
einer schutzenden Barriere gegen das Eindringen der Spirochaten in die 
Gehirnsubstanz, in der Paralyse eine allgemeine Verbreitung des Orga- 
nismus infolge verschiedener UmstAnde, Alkohol, Erblichkeit, PrAdilek- 
tion einer gewissen Art des Organismus fur Nervengewebe. Ich (84) 
habe bei der Demonstration eines Noguchi’scben OriginalprAparates 
durch E. Hoffmann darauf verwiesen, dass die Widerstandsfahigkeit 
der Paralyse gegen antilaetische Bekandlung begrfindet sein kfinnte in 
den besonderen anatomischen Verbaltnissen des Gehirns. Die Meningen 
und adventitiellen Scheiden der GefAsse seien im allgemeinen bei Para¬ 
lyse eine Grenzmauer fur Infiltrationszeilen, die fiber die beschrAnkte 
PermeabilitSt der Meningen bekannten Befunde liessen vermnten, dass 
hier auch ffir Arzneimittel eine Sperre besteht; ffir Spirochaten bestehe 
diese Sperre offenbar nicht. 

In letzter Zeit hat Bekr (5) diese GedankengAnge am Beispiel des 
Sehnerven ausgebaut auf Grund von Injektionsversucken, die ihn zur 
Annahme eines an das Gliafasersystem gebundenen parenchymatfisen 
Lympbstrom8 und zu dem Schluss ffihrten, dass „die luetische Sehnerven- 
atrophie durch Infektion des Bindegewebes des BlutgefAsssystems, die 
metaluetische dagegen durch eine Infektion des nervds glifisen Gewebes 
zustande kommt“, die glifisen Grenzmembranen stellten eine biologische 
Scheide zwiscben dem Debertritt der in Blutplasma gelfisten Arznei¬ 
mittel und dem parenckymatfisen Saftstrom dar. 

Diese Anschauungen sind Annahmen, sie stfitzen sich einerseits 
auf Beobachtung histologischer Gewebsveranderungen, andererseits anf 
den Typus der SpirochAtenverteilung im paralytischen Ge- 
hirn. Dieser Typus der Spirochatenverteilung im Gehirn ist durch 
die bisher vorliegenden Befunde sicher begrfindet und besteht darin, 
dass die Spirochaten ohne Beziehung zum Gefftsssystem im Gehimge- 


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Die Spirochaete pallida bei der progressives Paralyse. 445 

webe liegen. Els fehlt zor Sicherung dieser Annahmen noch eine ge- 
nauere Kenntnis der Spirochatenverteilung bei der sogenann- 
ten Hirnlues. 

Der Strasmann'sche Fall (89) ist der allgemein bekannte Fall 
von Him- bezw. Ruckenmarkslues mit Spirochatenbefund. Der Fall 
erkrankte ca. ein Jahr nach der Infektion an zerebrospinaler Lues und 
starb 21 Monate nach der Infektion. Er zeigt als Typus der Spiro¬ 
chatenverteilung allerdings die Lagerung in den Gefasswanden und den 
Infiltrationen ihrer Scheiden und von den Gefassen aus ins nmliegende 
Gewebe ausgebreitet, doch finden sich einzelne Exemplare auch im Ge- 
webe zwischen Ganglienzellen und in der weissen Substanz, ohne dass 
Bezieh ungen zu den Gefassen sicherzustellen sind. 

Ein weiterer Fall ist von Vers6 (92) verOffentlicht, es handelt sich 
um eine akute und subaknte Phlebitis im Sekund&rstadium der Lues 
mit frischer Myelomeningitis, ausgebreiteter Wurzelneuritis und herd- 
fOrmigen Degenerationen in den Hinter- und Seitenstrangen bei einem 
10 Monate nach Infektion gestorbenen Kranken. Es fanden sich Spiro- 
chaten am Nervensystem des Gehims, besonders zahlreich in einer 
stark veranderten und vOllig thrombosierten Vene des Stirnlappens, wo 
auch die infiltrierten weichen Haute von ihnen durchsetzt sind; gelegent- 
lich Spirochaten im Lumeu von Venen. In den peripheren Rinden- 
schichten der Gehirnsubstanz nicht selten spirocbatenartige Gebilde, 
die sich wegen der Aehnlichkeit mit gewundenen Nervenfasern doch 
nicht mit der wunschenswerten Sicherheit differenzieren lassen. Im 
Ruckenmark Spirochaten sehr reichlich im Lumen von Venen, dem 
Endothel angeschmiegt, die Wand durchsetzend, auf die weichen Haute 
ausgebreitet ohne starkere Zellinfiltrate, in der Lissauer’schen Rand- 
zone und weiter in der weissen Substanz, wobei sie in dem glibsen 
Balkenwerk zwischen den erweiterten Mascben vordringen; Nervenbundel 
der hinteren Wurzel sind hie und da von den Venen ans von Spiro¬ 
chaten durcbsetzt; sparlicbe Spirochaten im Zwischengewebe des Hodens 
und in den venbsen Gefassen des Nebenhodens, keine Spirochaten in 
Milz, Leber, Nebenniere, Leisten- und Halsdrusen. Fahr (23, 24) hat 
einen Fall demonstriert, der 9 Wochen nach dem Primaraffekt im 
Sekundarstadium der Syphilis plbtzlich zusammenbrach, und inner- 
halb kurzer Zeit im Roma starb. Die Sektion ergab etwas sulzige 
Verdickung der Meniogen am Stirnbiro, die bei der histologischen 
Untersuchung sich als aus massigen Infiltraten bestehend erwies, die 
auch die intrazerebralen Gefasse als Mantel umscheideten; in dieser 
Infiltration sowohl wie innerhalb der Gefasse fand man massenhaft 
Spirochaten. Ein Praparat dieses Falles habe ich bei Jahnel gesehen, 


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Dr. F. Sioli, 


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die Fibrillendarstellung in dem PrSparat verbindert die Erkennnng, ob 
in nSherer Oder weiterer Entfernung von den Gefassen Spirochaten im 
Hirngewebe liegen. Schiiessiich ist noch ein Fall von Verhoeff(91) 
zu erwahnen, bei dem 7 Monate nach der Infektion ein doppelseitiges 
Augenleiden begann mit Stanungspapille, Glaskdrpertrubung, Iritis, 
Exophthalmos and Lidddem, 20 Monate nach der Infektion wurde ein 
Auge enukleiert; es fand sich ein Syphitom des Optikus und der Pa- 
pille, uberal] im Optikus fanden sich Spirochaten sehr zahlreich, be- 
sonders in den zentralen Teilen, auch in den thrombosierten Zentral- 
gefassen in betracbtlicher Menge, sie fehlten nur im sobvaginalen Granu- 
latioQsgewebe; die histologische Dntersucbung liess nicbt erkennen, ob 
es sich um ein sekondares oder tertiares Loesstadium handelte, wahr- 
scheinlich kann man den Fall zu den Neurorezidiven rechnen. 

Um die an sich naheliegende Unterscheidung der Hirnlues als meso- 
dermaler von der Paralyse als ektodermaler Spirochatenerkrankung ge- 
nugend sicher zu begrunden, fehlen also noch ausreichende Spirocbftten- 
untersuchungen bei der Hirnlues, eine unverkennbare Schwierigkeit fur 
die Bearbeitung dieser Frage ist, dass nicht wenige Falle von Hirnlues, 
besonders unter den Insassen unserer Irrenanstalten, sich schiiessiich 
zu atypischen oder typischen Paralysen entwickeln; auf solche Aus- 
gange der Hirnlues haben Nonne(72) und Jakob und Kafka (45) 
hingewiesen, auch das Material unserer Anstalt zeigt diese Erscheinung, 
so dass es nicht leicbt ist, in den Besitz eines Falles von Hirnlues zu 
kommen, der auch nach der histologischen Untersuchung als solcher be- 
zeiclmet werden kann. 

Dem Rahmen dieser Art Annahmen uber die Unbeeinflussbarkeit 
der Paralyse fugen sicb die Beobachtungen uber gunstige Beeinflussung 
mancher Paralytiker ein, wenn man die Abweichungen vom Typus der 
Spirochatenverteilung berucksicbtigt. Der Typus ist die Verteilung der 
Spirochaten im Gehirn oline Beziehungen zu Gefassen. Durch Jahnel’s 
und meine Untersuchungen ist genugend erwiesen, dass bei manchen 
Fallen von Paralyse neben der typischen Verteilung im Gewebe fern 
vom Gefasssystem auch Beziehungen der Spirochaten zu den Gefassen 
bestehen, bei einigen Fallen in bemerkenswertem Umfang, bei ganz 
vereinzelten in ausserordentlicher Ueppigkeit. Wenn Spirochaten im 
mesodormalen Gewebe beeinflussbar sind, im ektodermalen nicht, so 
erklaren diese Befunde vollauf die Beeinflussbarkeit mancher Paralytiker, 
indem der mesodermale Anteil der Spirochaten vernichtet und dadurch 
eine Entlastung des Paralytikers erzielt werden kann, der ektodermale 
Spirochatenanteil aber, der fur die Paralyse typisch ist, ungestort 
weiterwirkt. 


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Die Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse. 447 

Jahnel hat die Beobachtungen von Durcbwachsung der Gef&ss- 
wand darcb Spirochaten und ibr Entlangwuchern in der Gefass- 
-wand so gedeutet, dass aus dem nervQsen Gewebe die Spirochaten 
in die Gefasse eindringen und zur hamatogenen Aussaat komtnen 
konnen. 

Nur ion nervbsen Gewebe und zwar in der grauen Substanz fanden 
die Spirochaten beim Paralytiker giinstige Bedingungen zur Nieder- 
lassung und Vermehrung, die in verschiedenen Hirnstellen region&r fort- 
scbreite und gelegentlich zu neuem Einbrucb in die Blutbabn ffihre, 
er sagt: „Wir batten demnach bei der Paralyse einerseits eine Aus- 
breitung der Parasiten durch Wanderung im Nervengewebe, mitunter 
nach erfolgter Rezidivbildung an Ort und Stelle in einem fruberen 
Zeitraum liegen gebliebenen Virus, andererseits eine vom Gebirn aus- 
gehende und in dasselbe zuruckgehende Aussaat auf dem Blutwege 
anzunehmen. Demnach ist bei der Paralyse das nervOse Parencbym 
des Zentralnervensystems der nie erloschende und stets sich erneuemde 
Infektionsherd, von dem aus wohl Parasiten ins Blut gelangen, aber 
wieder aus diesem ins Neryengewebe zuruckkehron". Jabnel meint, 
dass die bei dieser Art von Reinfektion ins Blut ausges&ten Spiro¬ 
chaten bei der Paralyse in den anderen Organen zu Grunde gehen, in 
der Hirnrinde aber giinstige Em&hrungsbedingungen linden und nur 
dort die zufallig dortbin gelangten Reime sich entwickeln konnen; das 
kOnne man allerdiugs eine Art Neurotropismus oder strong genommen 
Polioencephalotropismus nennen, wobei nicht daran zu denken sei, dass 
die Spirochaten von der Hirnrinde angezogen wurden oder sie willkur- 
lich aufsuchten. Raecke (78) sieht in der Aonahme der Reinfektion 
aus dem Gehirn in die Blutbabn eine Ermutigung zur nicht resignieren- 
den, haufigen Zufubr kleiner Sal varsanmengen in den Blutkreislauf auch 
gerade zur Zeit paralytischer Anfalle in der Hoffnung, die Reinfektion 
und ihre Ursache, offene Spirochatenherde, zu bekampfen. 

Fur die Frage, ob uberhaupt bine hamatogene Aussaat der Spiro- 
cbate vorkommt, ist der Nachweis der Spirochaten in der Blutbahn von 
grundlegender Bedeutung. Impferfolge mit Paralytikerblut batten Graves 
und Levaditi, Jahnel macht darauf aufmerkam, dass in der Arbeit 
von Levaditi, A. Marie, Bankowski Spirochaten im Lumen von 
Gefassen gezeichnet seien, die aber vom Zeichner aus einer anderen 
Ebene eines Schr&gschnittes versehentlich in das Gefass gezeichnet sein 
kdnnten, zumal die Autoren diesen auffallenden und wichtigen Be fund 
nicht ausdrucklich betonen; einwandfrei seien also Spirochaten in der 
Blutbahn von Paralytikern auf histologischem Wege noch nicht festge- 
stellt. Die Lucke wird durch meinen Befund im Falle 16 ausgefiillt. 


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Die Figur 5 auf Taf. Y1I zeigt eine deutliche Spirochfite im Lumen eines 
quergeschnittenen Gef&sses, also in der Blutbahn. 

Die bei der Frage der Dnbeeinflussbarkeit der Paralyse bisher er- 
wfihnten Befunde und auf sie gestutzten Annahmen werden durch weitere 
histologische und Spirochfitenuntersuchungen der Paralyse und Hirnlues 
geffirdert werden mfissen. Mfiglicberweise findet sich die Begrundung 
der Unterschiede und Beziehungen von Hirnlues und Paralyse in einer 
sinngemfissen Zusammenordnung der histologischen und Spirochfitenbe- 
funde zu gewissen Zeiten und unter Umstfinden in einem schubweisen 
Wechsel. Mein Fall 13, bei dem neben der Spirochfitenverteilung fern 
von Gefassen auch reichliche Spirocbatenlagerung in Gefasswanden be- 
stand, ist durch seine endarteriitischen Wucherungserscheinungen jeden- 
falls bemerkenswert. 

Neben den bisher genannten, auf histologischen Befunden aufge- 
bauten Annahmen fiber wichtige Merkmale des paralytiscben Krank- 
heitsprozesses stehen die der Immunitfitslehre entnoromenen Ueberlegun- 
gen. Ehrlich (14) hat die Lehre von den hohen Rezidivstfimmen der 
chronisch rekurrierenden Erkrankungen, als deren Typus man die Try- 
panosomenkrankheiten bezeichnen kann, auf die Paralyse angewendet 
und damit Wechsel von Rrankheitsschilben und Remissionen erklfirt, 
er sagt: „So kann man sich leicht vorstellen, dass die im Gehirn vor- 
handenen Spirochfiten, wenn sie eine gewisse Wucherungsintensitfit er- 
reicht haben, schliesslich einen potenten Antikfirper auszulfisen, der 
mehr oder weniger die im Gehirn vorhandenen Spirochfiten abtfitet und 
so eine scheinbare Heilung, die Remission, einleitet. Eine Neuerkran- 
kung folgt dann, wenn die vereinzelten zurfickbleibenden Spirochfiten 
sich dem Antikfirper angepasst haben und so eine neue Propagation 
gewinnen. Auf diese Weise kann man sich das Wesen der Remissionen 
klar machen und wird auch verstehen, warum man in einem grossen 
Teil der Ffille von Paralyse keine Spirochfiten findet, man hat eben 
dann die Untersuchung in dem spirillolytischen Intervall ausgeffihrt." 
„Es ist anzunehmen, dass sich bei der Paralyse, die ja solange nach der 
Infektion aufzutreten pflegt, offenbar ein Rezidivstamm vorfinden muss, 
der in seinen biologischen Eigenschaften von der die frischen Infektionen 
bedingenden Spirochfiten weitgehend verschieden sein kann, und ich 
vermute, dass diese Verschiedenheit auch in einer Resistenz gegen die 
therapeutischen Agentien zutage tritt.“ Diese Annahmen des Biologen 
sind die notwendige Ergfinzung ffir die anatomisch begrfindeten fiber 
das Wesen des paralytischen Krankheitsprozesses, nur das Problem der 
Beeinflussbarkeit der Paralyse beleuchten sie von einer anderen Seite 
und sehen es begrfindet in der Eigenschaft des Syphiliserregers, nicht 


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Dio Spirocbaete pallida bei der progressiven Paralyse. 449 

in seiner Lagerung. Wie sich beide Ansichten vereinigen lassen, wird 
weitere Forschung lebren, keine schliesst bisber die andere aus. 

Die Eigenart der Paralyse, erst lange Zeit nach der syphilitiscben 
Infektion klinisch in Erscbeinnng zu treten, •'hat eine Reibe von Ge- 
dankeng&ngen und Forscbungen aufgerollt. Aus der ErOrteruug der 
langen Inkubationszeit wurde dabei die Frage nach dem Beginn des 
paralytiscben Prozesses. Anatomisch ist die Frage berechtigt, da auch 
die kliniscb frischen Paralysen histologisch einen erstaunlich ausge- 
breiteten und vorgeschritteneren Grad von Hirnrindenverwustung zeigen, 
der die Mdglichkeit nahelegt, dass beim Inerscheinuugtreten der Para¬ 
lyse der paralytische Prozess schon lange bestand. Die klinische Be- 
obacbtung rudiment&rer Symptome am Zentralnervensystem von Lueti- 
kern (isolierte Pupillenstarre, Refiexanomalien), die Hfiufigkeit der lue- 
tischen Aortitis bei Paralytikern und Tabikern verwiesen darauf, die 
Elarung dieser Fragen auf die Forschung am Luetiker, nicht am Para- 
lytiker zu stutzen und den Luetiker von der Infektion an zu verfolgen. 
Alzheimer (3) hat erwabnt, dass sich in nicht seltenen Fallen bei 
fruheren Luetikern eine manchmal gar nicht unerhebliche Anhfiufung 
von Lymphozyteu und Plasmazellen in den Meningen findet, wenn auch 
gar keine Erscheinungen einer nervbsen oder kortikalen Erkrankung 
vorlagen. 

Wohlwill (96) beschaftigt sich mit den pathologisch-anatornischen 
Ver&nderungen am Zentralnervensystem von klinisch nervengesunden 
Syphilitikern; er fand bei einer Syphilitischen, die ein Vierteljahr nach 
der Infektion an Tuberkulose starb, keine Veranderung am Zentral- 
nervensystem, bei 42 Fallen von Spatformen erworbener Syphilis zeigten 
20 keine auf Syphilis zu beziehetide Veranderungen an Gehirn und 
Ruckenmark, 6 perivaskulare Infiltrate, die mfiglicherweise durch 
Syphilis bedingt waren, 3 kleine Zerfallsherde im Gehirn anscbeinend 
im Zusammenhang mit Kapillarveranderungen, die ins Gebiet der End- 
arteriitis der kleinen Hirngefasse gehbren, 3 infiltrativ meningitische 
Prozesse an Him- und Ruckenmarkspia, 1 ein kleines Granulom an der 
Pia, 8 Paralyse, Tabes oder Hirnsyphilis (bei diesen 8 Fallen war die 
neurologiscbe Untersuchung intra vitam nicht mdglich gewesen, da sie 
moribund oder wegen schwerer anderer Leiden in extremen Stadien zur 
Anfnahmo gekommen waren, sie kfinnen also eigentlich nicht als klinisch 
nervengesunde Luetiker bezeichnet werden), 1 ungewOhnlich friihes 
Stadium der Tabes. 

Die vorliegenden sparlichen • pathologisch-anatomischen 
Befunde am Zentralnervensystem von Luetikern zeigen also 
bisher, dass Veranderungen bei einer ziemlich betrachtlichen Zahl 


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klinisch Nervengesunder vorkommeu, vermitteln aber noch keine Ansicht 
fiber Omfang und Bedeutung dieser Verttnderungen und ihre Beziehung 
zur paralytisclieu Erkrankung. 

Die Anwesenheit von Spirochaten im Liquor cerebrospinalis 
im frfihen Stadium der Syphilis ist nachgewiesen durcb eineu 
positiven Impferfolg von E. Hoffmann (41) mit Lumbalflfissigkcit von 
einem Patienten mit sehr dichten papulosen Exantliemen, von Steiner 
(81) gemeinsam mit Mulzer durch Impferfolg mit Liquor bei 3 von 
20 Lues II-Kranken, deren Liquor weder Zell- noch Eiweissvermehrung, 
noch Wassermann'sche Reaktion hatte (lnkubation 3—4 Monate), von 
Arzt und Rerl (4) in 2 Fallen von Lues 11, von Frfihwald und 
Zaloziecki (31) in 1 Fall von 4 mit Lues II mit friscken, 2 Fallen 
■von 7 von Lues II mit alteren Eruptionen (lnkubation 7 uud 12 Wochen). 
Nichols und Hough (65) hatten Impferfolg mit Liquor bei einem 
Fall von zerebrospinaler Lues 8 Monate nach der Infektion. Nichols 
(66) legt diesem Stamm foigende Charakteristika bei: dicke Formen, 
sie erzeugen harte demarkierte Verfinderungen mit nekrotischem Zentrum, 
charakteristisch lokalisiert, es bestand nur kurze Inkubationszeit, da- 
gegen neigte die erzeugte Ver&nderung dazu, nach lokaler Inokulation 
im Testikel und Skrotum zu generaiisieren, insbesondere mit Haut- und 
Augenerschfeinungen. Spirochatennachweis im Liquor mittels des 
Mikroskops ist erbracht von Dohi und Tanaka (10) mit Giemsa- 
f&rbung bei Lues II, von Sezary und Pail lard (81) mit Dltra- 
mikroskop bei einer Frau mit papulo-ulzerdsem Syphilid und totaler 
linksseitiger Hemiplegie, von Gaucher und Merle (32) mit Ultra- 
mikroskop bei einem Fall von Hirnberden 7 Monate nach der Infektion. 

Wesentlich grundlicher erforscht ist das Schicksal der Luetiker von 
der Infektion an mittels der Zerebrospinalflussigkeitsunter- 
suchung. Krankhafte Verfinderungen der Zerebrospinalflussigkeit 
fruherer Luetiker wurden zuerst von den Franzosen, dann von anderen 
Dntersuchern festgestellt. Zusammenfassende Bearbeitung grosseren 
Materials durch Untersuchung vou Wassermann’scher Reaktion, Eiweiss- 
gebalt, Nonne’s Phase I, Zellzahl, Druckmessung von Dreyfus und Alt- 
mann (1,11,12, 13) kamen zu dem Schluss, dass bei der unbehandelten 
Lues im Frfihstadium eine uberwiegende Zahl (80 pCt.) einen krank- 
haften Zustand des Liquors zeigte, dass zuweilen diese krankhafte Ver¬ 
finderung des Liquors, die vorher nicht nachweisbar war, durch Be- 
handlungsbeginn provoziert werden kfinne, aber im allgemeinen unter 
Fortffihrung systematischer Behandlung verschwinde, dass bei Lues III 
und in der Latenzzeit aber nur bei etwa 23 pCt. krankhafte Verfinde¬ 
rungen des Liquors gefunden wurden. Aus der grossen Prozentzahl der 


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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse. 451 

krankhaft veranderten Liquores in der Fruhperiode ist auf eine friih- 
zeitige und uberraschend hftufige Mitbeteiligung des Zentralnerven- 
systems in dieser Zeit der allgemeinen Durcbseuchnng des KOrpers zu 
schliessen, aus dem Zuriickgehen dieser Prozentzahl bei der Spat- und 
Latenzperiode aucb bei unzul&nglicher Behandlung auf eine therapeutische 
und spontane Beeinflussbarkeit dieser Mitbeteiligung. Auffallig ist, dass 
die Zahl der schweren Liquorver&nderungen bei Lnes II (33 pCt.) der 
Prozentzahl der LiquorverSnderungen in Spat- und jLatenzstadium 
(23 pCt.) genahert ist. Gennerich (33) kam auf Grund eines grossen 
Materials zu ahnlichen Ergebnissen, ebenso Wechselmann und 
Dinkelacker (94). 

Diese Untersucbung fuhren zur Ueberzeugung, dass in fruhem 
Stadium der Lues eine Liquorveranderung mindestens sehr baufig ist, 
und sich im weiteren Verlauf auch spontan bei einer Anzahl von Fallen 
zuruckbilden kann, bei einer Anzabl aber persistiert. Die eben an- 
gefuhrten Liquoruntersucbungen waren inaugariert durcb die Forderung 
einer zu Beginn der Salvarsanara gehauft auftretenden und die Auf- 
merksamkeit auf sicb ziehenden besonderen Gruppe von Krankheits- 
erscheinungen, der Ncurorezidive. Diese Neurorezidive, die in Beziehung 
zu setzen sind mit anderen Monorezidiven, werden von Ebrlieh und 
seinen Schulem, insbesondere Benario (6), sowie von Gennerich u. a. 
aufgefasst als birnsypbilitische Herdsymptome, die fast ausscbliesslich 
an die frube Sekundarperiode der Lues gebunden sind, im allgemeinen 
als eine Folge insuffizienter Behandlung mit antisyphilitischen Mitteln 
entsteben und zwar nur da, wo schon vor der Behandlung Spirochaten 
im Gebirn vorhanden waren. Sie stellen eine besonders frube Form 
der herdformigen meningoenzephalitiscben Hirnlues dar. 

Vorzugsweise auf den auf sie beziiglicben Beobacbtungen ist eine 
systematische Erklarung des Verlaufs der luetischen Infektion, die aucb 
fur das Wesen des metaluetischen Prozesses von grOsster Bedeutung ist, 
anfgebaut: Bei frischen Luesfallen erstreckt sich die Durchseuchung 
des KOrpers aucb auf die Meningen. Bei Rezidiven nimmt die Zahl 
der Herde und die Zahl der Spirochaten im allgemeinen ab, so dass 
schliesslich im spaten Stadium nur ganz vereinzelte Herde mit spttr- 
licbeu Spirochaten vorhanden sind. Das beruht auf den vom KOrpcr 
mitbewirkten Immunisierungsvorgangen, der AntikOrperbildung, die nacb 
jedem Rezidiv sich progredient steigert, einer Anzahl von Spirochaten 
die Eutwicklung8- und Expansionsfahigkeit nimmt und nur den hohen 
Rezidivstammen eine lokalere Wirkungsfahigkeit erlaubt. AbtOtung 
eines Teiles der Spirochaten durch Behandlung verursacht eine Hinde- 
rung der Immunvorgange, der AntikOrperbildung, so dass die sparlich 


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im Organismus gebliebenen Spiroch&ten auch eines niedrigen Rezidiv- 
stammes am Ort ihrer Lage zu uppiger T&tigkeit gelangen kSnnen. So 
wird die Entstehung des Neurorezidivs gerade durch insuffiziente Be- 
bandluDg erkl&rt, die Monorezidive entstehen durch Einschr&nkung der 
Allgemeininfektion, diese Einwirkung eutsteht durch ImmunvorgSnge 
oder therapeutische Beeinflussung, die insuffiziente therapeutische Beein¬ 
flussung begunstigt die Entwicklung der lokalisierten Monorezidive. 

Es muss erw&hnt werden, dass nicht alle Autoren in Neurorezidiven 
lokalisierte Fruherkrankungen an lediglich durch die Spiroch&ten be- 
dingter Hirnlues sehen, sondern die Arsensch&digung im Auge behalten, 
sei es, dass sie nur eine unmittelbare toxische Salvarsaneinwirkung auf 
das Nervengewebe annehmen, oder die MOglichkeit, dass die Arsen¬ 
sch&digung des Nervengewebes die Entwicklung lokaler Sypkiliswirkung 
als in einem kunstlich geschaffenen locus minoris resistentiae begunstigt 
[siehe Stern (88), Mentberger (61)]. 

Zur eudgultigen Stellungnahme zur Frage der Neurorezidive fehlen 
bisher Befunde von genauen histologischen und Spiroch&tenunter- 
suchungen bei denselben. 

Derartige Untersuchungen sind fur die Paralysefrage von grund- 
legender Bedeutung. Vielleicht werden sie im Verein mit weiteren 
Untersuchungen der Hirnlues die Briicke zum Verst&ndnis der Paralyse 
schlagen. 

Eine solche Brucke glaubt Gennerich (34, 35) jetzt schon 
schlagen zu konnen mit folgenden Annahmen: Die Liquorinfektion ist 
im fruhen Sekundarstadium der Lues allgemein und kann spontan durch 
allgemeine Immunvorgange oder therapeutisch beeinflusst heilen oder 
kann persistieren. Ihr Haften erzeugt eine chronische Entziindung der 
Pia, die schliesslich zur Funktionsstorung der Pia durch Ersch5pfung 
fuhrt. Tritt infolge des Riickgangs der Allgemeindurchseuchung des 
Korpers der Anlass zur Rezidivbildung der meningealen Infektionsherde 
in Wirkung, so entsteht die Hirnlues, solange nock keine Funktions¬ 
storung der Pia eingetreten ist. Die Funktion der Pia ist: das Nerven¬ 
gewebe vom Liquor abzuschliessen. Die „Funktionsst5rung“ oder „Um- 
stimmung“ oder „funktionelle Durchl6cherung“ oder „Permeabilit&t u der 
Pia schliesst Gennerich aus der Abwanderung der syphilitischen 
Reaktionsprodukte in den Liquor, und dem Ergebnis der Weil- 
Kafka’schen Reaktion, Uebertritt der menschlichen Normalh&molysine 
fur Hammelblatkorperchen bei Paralyse. Die Funktionsstorung der 
Pia bewirkt Einbruch des Liquors in das nervose Parenchym, „die auf 
diese Weise zustande gekommene Liquordiffusion, deren Wirkung uus 
bereits makroskopisch durch die sulzige Beschaffenheit der Rinde eines 


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Die Spirochaete pallida bei der progressives Paralyse. 453 

Paralytikers ebeu die nicht gummose Erweichung entgegeutritt, macht 
uns den Abstand der bistologischen Befunde and der therapeutiscben 
Zuganglichkeit der syphilitischen Meningoenzephalitis und der Para¬ 
lyse verstandlicb.” Die Spiroch&ten brechen mit dem Liqaoreinbruch 
ins Parenchym ein, alle Abwehrvorgknge, die dieses gegen die Spiro- 
chaten bildet, wandern durch Aaslaugung (Diffusion) in den Liquor ab. 
„Wir finden daher bei Metalues wohl noch die Lymphscheideninfiltrate 
— iibrigens ein schdner Beleg fur die Herkunft der Plasmazellen —, 
aber im Gewebe vdllige Auslaugung aller lymphozyt&ren Elemente, eben 
die sogenannte prim&re Degeneration”, alle anatomischen Befunde fuhrt 
Gennerich auf auslaugende Liquordiffusion zuruck, selbst die St&bcheu- 
zellen und Fettkbrnchenzelleu, indem die Zellen zum Toil erheblich 
schrumpfen, zum Teil die in ihnen enthaltene Fettsubstanz nicht mebr 
festzuhalten verrnogen. Gennerich baut seine Annahme auf auf Be- 
funden der Liquoruntersuchungen, der lmmunforschung, der histologischen 
Untersuchung, indem er Befunde, Deutung und Schliisse in buntem 
Wechsel ineinander greifen l&sst. Stern (88) bezeichnet die Liquor- 
befunde Gennerich’s, die ihn zur Annahme der allgemeineu Liquor- 
infektion im fruheren SekundSrstadium der Lues fuhrten, als einer 
kritischen Nachprufung bedurftig, indem er auf Unstimmigkeiten in 
Gennerich’s Tabellen hinweist, er warnt weiterhin davor, krankhafte 
Ver&nderung des Liquors als bindenden Beweis wirklich dauernder 
spezifischer anatomischer Gewebsveranderungen ohne weiteres an* 
zunehmen, sie beweisen nur, dass Reaktionserscheinungen an den serbseu 
Hauten des Ruckenmarks vor sich gehen. Die Funktion, welche 
Gennerich der Pia zuschreibt (Abschluss des Nervengewebes vom 
Liquor), ist unerwiesen. Dass die Pia bei der Paralyse gestort ist, ist 
nach dem anatomischen Befunde klar, eine Funktionsstbrung im Sinne 
Gennerich’s aber ist durch die anerkannte veranderte Permeabilitat 
fur hamolytische Normalambozeptoren und einiges andere noch nicht 
erwiesen. Die Verwendung, die Gennerich von anatomischen Befunden 
macht, muss abgelehnt werden: 

Die Annahme, dass die Spirochaten mit dem Eintritt der Funktions- 
stbrung der Pia, dem Beginn der Paralyse nach Gennerich, in das 
Nervengewebe einbrechen, ist eine bisher aprioristische unerwiesene 
Annahme, die oben angefuhrten allerdings noch sparlichen Befunde 
uber die Spirochatenlagerung bei der Hirnlues sprechen dagegen. Die 
„bereits makroskopisch sulzige Beschaffenheit der Rinde des Paralytikers” 
ist eine falsche Beobachtung oder eine falscbe Verallgemeinerung einer 
seltenen Beobachtung. Die Auslaugung von zelligen Bestandteileu aus 
dem Nervengewebe und die Verandernng anderer zelliger Elemente 


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Dr. P. Sioli, 


durch Liijuordiffusion (z. B. die Stabchenzellen) erscbeint bisber un- 
glaubbaft; dass auf diese einfache Weise die sogenannte prirnSre De¬ 
generation entsteht, die also gar keine prim are ware, sondern ein un- 
endlich vorgeschrittener Gndzustand, ist eine ganz unbegrundete Losung 
der Streitfrage der Prioritat und der Beziehungen entzundlicher «nd 
degenerativer Veranderungen bei der Paralyse, einer Streitfrage, die ge- 
rade in letzter Zeit in der Rustling der Himhistologie wieder lebbaft 
erdrtert worden ist und in der man die Ldsung der gegenwartigen Ver- 
strickung wohl nur durcb die Stellungnahme Nissl’s erhoffen kann. 
Die Annahmeu Gennericb’s fiber Gntstebung und Wesen der Paralyse 
mussen also bisber abgelehnt werden. 

Die in den Gigenarten der Paralyse liegenden Schwierigkeiten, aus 
der Syphilis allein die Gntstehung der Paralyse zu erklaren, baben zur 
Lues nervosa-Frage gefuhrt, der Annahme, dass es eine besondere 
Varietat des syphilitischen Virus gabe mit ausgesprocbener Fahigkeit, 
das Zentralnervensystem zu schadigen (Syphilis a virus nerveux). Ihre 
Hauptstfitzen siud: 1. Die Beobachtung paralytiscber und tabischer 
Gruppenerkrankuugen bei Personen, die sich an .der gleichen Quelle 
mit Lues infiziert batten [Morel und Fournier, Babinski, Marie 
und Beaussart, Mott, Brosius, Grb, Nonne, Mflrchen (63)]. 
Diesen Beobachtungen kann man aber nur die Bedeutung von Anregung, 
nicht Beweiskraft fur die Lues nervosa zuerkennen, zumal eine Beob- 
acbtung Gichelberg’s (19) vorliegt, dass aus einer Gruppeninfektion 
von 13 Personen mit im wesentlicben gleicher Bebandlung nur je 1 an 
Paralyse bzw. Tabes erkrankte. 2. Das baufige Vorkommen der kon- 
1 jugalen und familiaren Metalues [0. Fischer (27) u. A.]; auch diesen 
Beobachtungen kann man bei den komplizierten Mdglichkeiten, die sich 
aus statistiscben Feststellungeu ergeben, nur die Bedeutung von An- 
regungen, nicht von Beweiskraft zuerkennen [siebe Seelert (80), von 
Rohden (79)]; 3. Die besonders von Grb und Fournier (30) einwand- 
frei nachgewiesene Tatsache, dass nacb leicbtem Verlauf der Lues sehr 
oft, nacb scbwerem Verlauf der Lues relativ selten Metalues beobachtet 
wird [0. Fischer (27)]; diese Grscheinung wird vou Fournier durch 
nacblassige Behandlung der leichten VerlaufBformen der Lues erklart, sie 
wird von Plaut (74) unterstrichen durch die Grwahnung, dass die bei den 
Gingeborenen der tropischen und subtropischen Lander sehr verbreitete 
und mangelbaft bebandelte Lues meist einen schweren Verlauf nehme 
und docb sehr selten zur Metalues ffihre. Dass bei den Gingeborenen 
der tropischen und subtropischen Lander die Metalues so ausserordent- 
lich selten sei, kann nocb nicht als Lehrsatz neurologisch-psychiatrischer 
Wissenschaft und als sicherc Grundlage von weiteren Hypothesen an- 


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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 


455 


erkannt werden; nach Zusammenstellung von E. Sioli (82) geben ver¬ 
schiedene Beobachter sebr verschiedene HEufigkeitszahlen an, es liegt 
daber die MSglichkeit nahe, dass dem nicht eingeborenen, besonders 
dem reisendcn, Beobachter die Diagnose vieler FElle entgebt. Plant 
denkt aber zur ErklErung daran, dass die an Metalues erkrankenden 
Personen mOglicherweise von vornberein gegenuber der Lues eine cin- 
heitliche und besondere Reaktionsweise darbieten, schiebt also die Er- 
scheinung ins Gebiet der endogenen Ursachen. lnzwischen stebt fur 
die H&ufigkeit der Metalues nach mildero, ibre Seltenheit nach schwerem 
Verlauf der Lues eine ansprechende ErklErung aus dem Gebiet der 
ImmunitEtslehre zur Verfugung: dass der milde Verlauf der Lues eine 
nur geringe Antikbrperbildung verursacht und so die schleichende Ent- 
wicklung chronischer lokaler SpirochEtenwucherung begunstigen kann; 
aus der Lues nervosa-Frage durfte die Erscheinung ausgeschieden sein. 

Nachdem die Spirochaete pallida als Erreger der Lues anerkannt 
war, hat sich die Lues nervosa-Frage vom syphilitischen Virus auf die 
Spirochete umgestellt. Die Fragestellung hat jetzt verschiedene MSg- 
lichkeiten, deren bauptsachliche Formulierungen folgende sind: 1. gibt 
es eine Abart der Spirochete, die von vornberein infolge einer besonderen 
' Affinitet zum Nervengewebe die Neigung hat, sich im Zentralnerven- 
systein zu lokalisieren oder in diesem vorzugsweise zu gedeihen? 
[0. Fischer (27), Nonne(72), Levaditi (58)]. Diesen Zustand kbnnte 
man als echte oder primere Neurotropio bezeichnen; 2. kOnnen Spiro- 
cbeten durch den Aufenthalt im mcnscblichen Korper eine biologische 
Verenderung erleiden (z. B. Bildung hoher Rezidivstemme durch Im- 
munisierungsvorgenge u. a. m.), die sie zur Lokalisation im Gehirn und 
dadurch zur Erzeugung der Paralyse befehigt und ibre Unbeeinflussbar- 
keit erklert? [Erb (20—22), Ehrlich (14), Forster (29)]. Diesen Zu¬ 
stand kOnnte man als erworbene oder sekundEre Neurotropie bezeichnen; 
3. wird die Spirochete, nachdem sie im SekundErstadium zufellig ins 
Gehirn gelangt ist, dort so verSndert, dass sie gegen antiluetischeMittel 
widerstandsfEhig wird und nur dort ihre weitere Entwickluug nimmt 
[Hauptmann (38)]. Diese Moglichkeit sieht von irgend einer neuvo- 
tropen Eigenschaft ab und kleidet die Lues nervosa-Frago in ein ganz 
neues Gewand. 

Bevor ich weiter auf die Lues nervosa-Frage eingehe, muss ich an 
dieser Stelle die Bezeichnung Metalues erdrtern, die ich bisher 
meist fur die paralytischen und tabischen Erkrankungen, aber auch 
bereits im weiteren Sinne Erb’s angewandt habe; Erb (21) sagt: 
„Metasyphilis ist eine besondere Form des von den LuesspirochEten 
ausgelOsten Infektionsprozesses; sie tritt nur im spEteren Verlauf der 


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Dr. F. Sioli, 

syphilitischen Infektion in die Erscbeinung uud beruht wobl auf bio- 
logischen Vorg&ngen, die zu einer weitgebenden Aenderung der bio- 
logischen Eigenscbaften der Spirochatenstamme (bezw. ihrer Antigene 
und AntikSrper) gefuhrt haben. Metasyphilis beffillt mit Vorliebe das 
Zentralnervensystem in alien seinen Abscbnitten — obne deshalb den 
ubrigen KSrper and seine Organe zu verschoueu“. Erb erSrtert die 
Mfiglichkeit, Tabes und Paralyse als metasyphilitische Lokalisation im 
Nervensystem, einen Teil der sogenannten tabischen Symptome aber 
nicht als eigentlich tabische, sondern lediglicli als metasyphilitische 
aufzufassen (Arthropathie, Osteopathie, Malperforant, Optikusatrophie), 
, statt sie ohne weiteres bei den neurogen bedingten, trophischen Sym- 
ptomen zu verbrauchen. Diese Auffassung des Altroeisters Erb erbffnet 
weitreichende Erkenntnis- und Forscbuugsmoglichkeiten, die zuntlchst 
eine breitere Grundlage von Spirockiitenbef unden verlangen. 

In der weiteren Erbrterung der Lues nervosa-Frage ist zun&chst zu 
erwahnen, dass Ehrmann (16—18) auf Grund von Spirocfafttenbefunden 
obne Reaktionserscbeinungen in Nerven und Nervenscheiden aus Primar- 
affekten und in NerveD, die aus grossmakulbsen Syphiliden abgingen, 
eine Propagation der Spirochaten in den Nerven und ibre Fortleitung 
zum Nervensystem als Entstehungsursache der Metalues fur wahrschein- 
lich betracktete; Hoffmann (43) betonte demgegenuber, dass man die 
Spirochaten auch ganz frisch in vbllig reaktionslosem Gewebe findet; 
daher ist bei dem grossen Spirochatenreicktum in der ganzen Umgebung 
von Syphiliden die Ehrmannsche Annahme ungenugend begrundet 
[Levaditi, Plaut(74)]. Die anderen Begrundungen eines Neurotropis- 
mus der Spirochate verlangen den Nackweis, dass sich die Spirochate 
der Paralyse bezw. der Metalues von der der Lues noch durch andere 
Eigenschaften untersckeidet als die Tatsache der Paralyseerzeugung. 
Dass die Gewebsspirockate der Paralyse sich morphologisch von der 
der Lues nicbt unterscheidet, ist durch die bisherigen Befunde erwiesen; 
die Kulturspirochate der Paralyse ist noch nicht genugend erforscht. 
Der friiher diskutierten MOglichkeit eines Entwicklungszyklus mit Form- 
wechsel der Spirochate ist durch den Nachweis bei der Paralyse die 
Wabrscheinlichkeit entzogen [Neumann-Mayer (67)]. Eine farberische 
Eigenart der Paralysespirochate war dadurch in Erbrterung gezogen, 
dass Forster und Tomasczewski (28) sie nicht nach Giemsa hatten 
farben konnen, dieser Befund ist inzwischen widerlegt. 

Ein weites Feld zur Feststellung biologischer Eigenart ist aber 
durch die experiineutelle Tierimpfuug eroffnet., Die Irapfung kaun mit 
Liquor, Blut Oder Hirngewebe von Paralytikern erfolgen. 


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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse. 


457 


Impferfolg mit Liquor am Kaninchenhoden hatten Volk und 
Pappenheim (93) bei 1 von 5 Paralytikern (Inkubation 4 Monate), 
Mattausehek mit Arzt und Eerl (4) bei 2 von 6 Paralytikern und 
2 von 3 Tabikeru, von dem einen Impferfolg erzielten sie Fortfuhrung 
auf die zweite Generation, Fruhwald und Zaloziecki (31) bei 1 Fall 
(Inkubation 3 Monate), Marinesco und Minea (60) bei 1 Fall juveniler 
Paralyse; dagegen hatte Steiner (87) mit Chlenhuth und Mulzer bei 
19 Fallen keinen Erfolg. 

Impferfolg mit Blut am Kaninchenhoden hatte Graves (36, 37) 
von 2 Paralytikern (Inkubation 48 bezw. 66 Tage), Mattausehek mit 
Arzt und Kerl (4) bei 1 von 3 Paralytikern und 1 Tabiket, A. Marie 
und Levaditi (58). Letztere haben mit Paralytikerbluteinspritzung 
unter die Skrotalhaut beim Kaninchen Hautveranderungen mit zahlreichen 
Spirochaten erzeugt und diesen Stamm PG weiterverimpft und mit dem 
Truffi’schen Stamm verglichen; der PG-Stamm bat als Eigenscbaften: 
lange Inkubation (127 Tage bei Ansteckung, 94, 46, 49 Tage bei 
folgenden Ueberimpfungen), die erzeugten Ver&nderungen sind ober- 
flachliche Erosionen, die mit Schuppen bedeckt und von einer In- 
filtrationszone in der Haut umgebeo sind, es fehlen Geschwursbildung, 
Induration, in die Tiefe gehende Schadigungen, die Haut und Schleim- 
haut der Scheide in Mitleidenschaft ziehen, wie sie der Truffi-Stamm 
erzeugt. Mikroskopisch zeigen die Spirochaten des PG-Stammes auf- 
falleude Wucherung in der Epitbelschicht; die Veranderungen des PG* 
Stammes beilen auffallig langsam (in 169 und 195 Tagen), der PG-Stamm 
war nicht auf niedere Alien und Schimpansen ubertragbar, er schien 
nur fur Kaninchen pathogen im Gegensatz zum Truffi-Stamm, er erzeugte 
keine Immunitat gegeu den Truffi-Stamm und umgekehrt. Marie und 
Levaditi halten daher die Spirochate bei Paralyse fur eine besonders 
neurotrope Abart, deren Verwandtschaft zum Nervengewebe die langsame 
Ausbreitung der Gehirnsymptome erklare. 

Mit Gehirngewebe vom Paralytiker baben Landsteiner und 
Pdtzl 1908 wohl den ersten Impferfolg beim Alien erzielt. Forster 
und Tomasczewski (28, 29) haben mit dem Gebirnpunktionsmaterial 
lebender Paralytiker von 53 Fallen an 60 Kaninchen keinen Impferfolg 
gehabt, Berger (7) aber mit gleichem Material bei 3 von 20 Fallen 
(Inkubation 81, 110, 69 Tage). Mit Gehirn toter Paralytiker hatten 
Impferfolg am Kaninchenhoden: Noguchi (70, 71) in 2 Fallen (Inku¬ 
bation 87 und 102 Tage), Uhlenhuth und Mulzer (90) in 1 Fall (In¬ 
kubation 50 Tage) nnd Wile. 

An eine geringe Infektiositat der Paralysespirochate und an eine 
lange Inkubationszeit muss man auch nach diesen Befunden denken, 

Arehiv f. Psychiatric. Bd. 60. Heft 2/8. * 30 


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Dr. P. Sioli, 


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man muss aber beriicksicbtigen, dass auch mit Luesmaterial die Impf- 
erfolge anfangs selten waren und dass die Inkubationszeit auch beim 
Ausgaug von diesem Material schwankend ist. 

Am bedeutungsvollsten sind die Befunde von A. Marie uod 
Levaditi fiber die Unterschiede ihres PG-Stammes gegen den Truffi- 
Stamm, besonders die Verscbiedenheit der erzeugten Ver&nderungen und 
das Ausbleiben der Immunisierung fur den einen Stamm nach fiber- 
standener Impfung mit dem andern. Noch ist aber die Zabl der Impf- 
erfolge zu klein, um irgendwelche allgemeine Annahmen sicher begrfinden 
zu kdnnen. - 

So ist die Frage der Lues nervosa noch nicht entschieden; 
das vorliegende Material erlaubt es, an sie in irgend einer ihrer Ge- 
stalten zu denken, bis weitere (Jntersuchungen sie verneinen oder be- 
jahen werden; die notwendigsten Untersuchungen sind Impf- und Kultur- 
ergebnisse und sorgf&ltige Familienforschung. 

Bisber muss man aber auch betonen, dass die Annahme einer neu- 
rotropen Eigenscbaft oder biologischen Aenderung der Spirocbfite ffir 
die Erklfirung des paralytischen fiberhaupt metaluetischen Krankheits- 
vorgangs nicht unbedingt notwendig ist. Die Eigenarten der Metalues 
kdnnen auch lediglicb aus der „Verschiedenheit des Terrains" 
verstanden werden [Hoffmann (43), Finger (26)]. Diese Verschieden- 
heit des Terrains kann vielleicht nur in der anatomiscben Sondersteilung 
des Gehirns und seiner Art der Gef&ssversorgung (bzw. bei der Aortitis 
im Aufbau der Geffisswand usw.) liegen, sie kann auch der Ausdruck 
anderer individueller Eigenschaften sein. Welche Mdglichkeiten solchen 
endogenen Faktoren zugeschrieben werden kdnnen und welche exogenen 
Momente als Mitursachen in Frage kommen, ist noch kfirzlich von 
Nonne(72), Hauptmann (38), Kafka (52) erfirtert. An dieser Stelle 
gebe ich auf die endogenen und exogenen Ursacben nicht ein, sondern 
beschrfinke mich auf die Spirochfite und die mit ibr in Beziehung 
stehenden Fragen. 

Die Forschung hat das Ziel, das Wesen des paralytischen Krank* 
heitsvorgangs zu enthfillen, um aus dessen Verst&ndnis einen Weg zur 
therapeutischen Beeinflussung zu linden. Die Darstellung der Spiro* 
chfite bei der Paralyse hat maucberlei Wege angeschnitten, die dem 
Ziel nfiher zu ffihren scheinen, auf keinem ist bisher das Ziel er- 
reicht und das Wesen des paralytischen Krankheitsvorganges eindeutig 
sichtbar. 


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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse. 


459 


Literatarverzeichnis. 

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gem. Zeitsohr. f. Psych. Bd. 66. S. 920. 

4. Arzt und Kerl, Ueber experimentelle Kaninchensyphilis und ihre prak- 
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5. Be hr, Ueber die Ernahrung des Sehnerven und ihre Beziehungen zu 
der Erfolglosigbeit der Therapie der tabisohen Sehnervenatrophie. Mtin- 
chener med. Wochenschr. 1917. S. 517. 

6. Benario, Ueber Neurorezidive nach Salvarsan- und Quecksilberbehand- 
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1905. Bd. 5. H. 5 u. 6. Zit. nach Friihwald. 

11. Dreyfus, Die Bedeutung der modernen Untersuchungs- und Behand- 
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12. Derselbe, Erfahrungen mit Salvarsan. 1. Die Dosierung des Salvarsans. 
2. Die Dosierung des Salvarsans bei Neurorezidiven. Miinchener med. 
Wochenschr. 1912. S. 1801 u. 1857. 

13. Derselbe, Ueber Entstehung, Verhiitung und Behandlung von Neuro¬ 
rezidiven. Miinchener med. Wochenschr. 1912. S. 2157, 2233, 2287. 

14. Ehrlich, Demonstration eines Praparates mit Spirochaten usw. Sitzungs¬ 
ber. Munehener med. Wochenschr. 1913. S. 443. 

15. Derselbe, Biologische Betrachtungen fiber das Wesen der Paralye. All¬ 
gem. Zeitschr. f. Psych. 1914. Bd. 71. S. 830. 

16. Ehrmann, Ueber Befunde von Spirochaete pallida in den Nerven des Pra- 
putiums bei syphilitischer Initialsklerose. Deutsche med. Wochenschr. 1906. 
S. 1115. 

17. Derselbe, Ueber Spirochatenbefunde im syphilitischen Gewebe. Verhandl. 
der Deutsohen dermat. Ges. 9. Kongr. Bern 1906. 

18. Derselbe, Diskussionsbemerkung. Neurol. Zentralbl. 1913. S. 1340. 

19. Eiohelberg, Diskussionsbemerkung. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 
Bd. 50. S. 59. 

30* 


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460 


Dr. F. Sioli, 


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20. Erb, Ueber neue Wendungen und Dmwertungen der Tabeslehre. Sitzungs- 
ber. Neurol. Zentralbl. 1913. S. 791. 

21. Derselbe, Tabes, ruokschauende und nacbdenkliche Betrachtungen. 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1914. Bd. 47—48. S. 74. 

22. Derselbe, BetrachtungenuberdieneuestenGrundlagen desBegriffsund des 
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23. Fahr, Sitzungsber. Miinohener med. Wochenschr. 1914. S. 1313. * 

24. Derselbe, Deber einen Fall von rasch todlioh verlaufender Meningitis 
luica, neun Wochen nach dem Primaraffekt. Dermat. Wochenschr. 1914. 
B. 59. S. 1103. 

25. Fankhauser, Zu herdformiger Rindenverodung fuhrende hyaline Degene¬ 
ration bei progressiver Paralyse. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1917. 
Bd. 37. S. 489. 

26. Finger, Diskussionsbemerkung. Neurol. Zentralbl. 1913. S. 1341. 

27. 0. Fischer, Gibt es eine Lues nervosa? Zeitschr. fur d. ges. Neurol, u. 
Psych. 1913. Bd. 16. 

28. Forster und Tomasczewski, Untersuchungen uber die Spirochate des 
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29. Forster, Deber Spirochatenbefunde bei progressiver Paralyse. Sitaungs- 
ber. Neurol. Zentralbl. 1913. S. 1523; 1914. S. 70, 

30. Fournier, Les affections parasyphilitiques. Paris. 1909. 

31. Friihwald und Zaloziecki. Deber die lnfektiositat des Liquors cere- 
brospinalis bei Syphilis. Berl. klin. Wochensohr. 1916. S. 9. 

32. Gaucher und Merle, Toxiinfection syphil. aigue. An. m6d. ven. 1910. 
S. 426. Zit. nach Friihwald. 

33. Gennerich, Die Liquorveranderungen in den einzelnen Stadien der Sy¬ 
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34. Derselbe, Die Drsachen der Tabes und Paralyse. Monatsschr. f. Psych, 

u. Neurol. 1915. Bd. 38. S. 341. < 

35. Derselbe, Die Drsachen der pathologisch-auatomischen Sonderstellung 
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40. Derselbe, Die Heilbarkeit der progressiven Paralyse. Zeitschr. f. d. ges. 
Neurol, u. Psych. 1918. Bd. 43. S. 430. 

41. Hoffmann, Mitteilungen und Demonstrationen iiber experimentelle Syphi¬ 
lis, Spirochaete pallida und andere Spirochatenarten. Dermat. Zeitschr. 
1906. S. 561. 


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Die Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse. 


461 


42. Hoffmann, Aetiologie der Syphilis im Handbuch der Geschlecbtskrank- 
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46. Jahnel, Studien fiber die progressive Paralyse. Arch. f. Psych. Bd. 56. 
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47. Derselbe, Ueber Spirochatenbefunde in den Stammganglien bei Paralyse. 
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48. Derselbe, Ueber das Vorkommen von Spirochaten im Kleinhirn bei der 
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49. Derselbe, Ueber die Lokalisation der Spirochate im Gehirn bei der pro¬ 
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50. Derselbe, Ueber die Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse. 
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51. Derselbe, Ueber einige Beziehungen der Spirochaten zu dem paralytischen 
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462 


Dr. F. Sioli, 


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81. Sezary und Paillard, Soc. de Biol. Bull. mid. 1910. S. 232. Zit. naoh 
Fruhwald. 

82. E. Sioli, Geisteskrankheiten bei Angehorigen versohiedener Volker. Fest¬ 
schrift d. 39. Vorsamml. d. Deutsch.anthropolog. Gesellsoh. Frankfurt 1908. 

83. F. Sioli, Ueber amyloidahnliche Degeneration im Gehirn. Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol, u. Psych. 1912. Bd. 12. S. 447. 

84. Derselbe,Diskussionsbemerkung. Deutsche med. Wochenschr. 1913. S.533. 

85. Derselbe, Ueber die Spirochaete pallidabeiParalyse(vorlaufigeMitte)lung). 
Arch. f. Psyoh. 1918. Bd. 59. H. 1. 

86. Sobernheim, Syphilisspirochate. Kolle-Wassermann’s Handbuch der 
pathogenen Mikroorganismen. 2. Aufl. 1912. 


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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse. 


463 


87. Steiner, Impfexperimente mit Spinalflussigkeit von Syphilitikern. (Sit* 
zungsber.) Neurol. Zentralbl. *1914. S. 132. 

88. Stern, Die Pnnktion des Rfickenmarkkanals in der Diagnose und Therapie 
der Syphilis. Arch. f. Dermat. u. Syph. 1916. Bd. 123. S. 943. 

89. Strasmann, Zwei Falle von Syphilis des Zentralnervensystems mit Fieber, 
der zweite mit positivem Spirochatenbefund im Gehirn and Rfickenmark. 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1910. Bd. 40. S. 387. 

90) Uhlenhath and Malzer, WeitereMitteilnngen fiberErgebnisse der expert* 
mentellen Syphilisforschung. Berliner klin. Wochenscbr. 1913. S. 2031. 

91. Verhoeff, Ein Fall von Syphilom des Opticas and derPapille mit Spiro* 
chatenbefnnd. Klin. Monatsbl. f. Aagenheilk. 1910. S. 315. 

92. Vers6, Ueber Phlebitis syphilitica cerebrospinalis, zugleich ein Beitrag 
zur Nervensyphilis. Ziegler’s Beitrage, 1913. Bd. 56. • S. 580. 

93. Volk a. Pappenheim, Sitzungsber. Wiener klin. Wochenscbr. 1913. S. 1824. 

94. Wechselmann undDinkelacker, Ueber dieBeziehnngen derallgemeinen 
nervosen Symptome im Frfihstadiam der Syphilis za den Befanden des 
Lambalpunktates. Mfinchener med. Wochenschr. 1914. S. 1382. 

95. Witte, Ueber eine eigenartige herdformige Gefasserkranknng bei Dementia 
paralytica. Zeitsohr. f. d. ges. Neurol, a. Psych. 1910. Bd. 2. 

96. Wohlwill, Pathologisoh-anatomische Untersachangen am Zentralnerven- 
svstem klinisch nervengesunder Syphilitiker (mit Einschluss der kongeni* 
talen Syphilis). Arch. f. Psyoh. 1918. Bd. 59. S. 733. 

97. Markus, Spirochaete pallida in den Plasmazellen bei der progression 
Paralyse. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. 26. S. 245. 


Erkl&rung der Abbildungen auf Tafeln III—VII. 

Tafel III. 

Fig. 1. Atypische Formen von Spirochaten. Vergr. 1000—1200. a = End- 
knopf, Streckung in der Mitte des Leibes. b = Hantelform. c and d = seit* 
liche Knoten darch Verschlingung. g = Einrollang za Doppelring. h = Yp- 
silonform. i = Skelettierang. 

Fig. 2. Zahlreiche Spirochaten, diffas verteilt, bei iz Spirochate in Infil- 
trationszelle (Fall 15). Vergr. 800. 

Fig. 3. Ansserordentlich zahlreiohe Spirochaten, diffus verteilt (Fall 15). 
Vergr. 800. 

Fig. 4. Zahlreiche Spirochaten, diffas verteilt (Fall 5). Vergr. 800. 

Fig. 5 . Spirochate in Beziehung zum Infiltrat der adventitiellen Scheide 
(Fall 5). Vergr. 800. 

Fig. 6 and 7. Spirochatenanhaafung am eine kleine and eine grosseGang* 
lienzelle (Fall 9). Vergr. 800. 

Fig. 8 and 9. Spirochaten in der Gefasswand (Fall 5). Vergr. 800. 

Fig. 10. Spirochaten in der Gefasswand (Fall 13). Vergr. 800. 

Fig. 11. Sehr zahlreiohe Spirochaten in der Umgebang eines Gefasses, 
diffus verteilt (Fall 9). Vergr. 800. 


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464 Dr. F. Sioli, Die Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse. 

Tafel IV. 

Fig. 1—6. Diffuse Spirochatenverteilong, viele Etnrollungsformen, Bezie- 
hungen zur Gefasswand (Fall 13). Vergr. 800. 

Fig. 7. Beziehung der Spirochaten zur Gliazelle, bei gl. 2 Gli&kerne, bei 
a eine abgeknickte, bei b eine eiogerollte Spirochete im Protoplasma der Glia* 
zellen (Fall 12). Vergr. 800. 

Fig. 8. Spirochaten in der Molekularschicht des Kleinhirns (Fall 9). Ver- 
grosserung 800. 

Fig. 9—13. Bienenschwarmartige Spirochatenkolonien. (Fig. 10. Deber- 
sichtsbild, bei k Spirochatenkolonien. Vergr. 80. Fig. 9. Vergr. 800. Fig. 11 
bis 13. Vergr. 1200.) 

Tafel V. 

Alkoholmaterial, Toluidinblaufarbung. 

Fig. 1 und 2. Unterschied der Ver&nderungen von benachbarten Stellen 
aus dem gleichen Schnitt des Falles 5. Vergr. 60. 

Fig. 3 und 4. Rindenatrophie aus dem rechten Gyrus rectus des Falles 14. 
(Lissauer’sche Paralyse). Vergr. 60. 

Fig. 5. Endstadium der Nervenzellveranderung aus der atrophischenRinde 
des Falles 14 (Lissauer’sche Paralyse). Vergr. 800. 

Fig. 6. Nervenzellveranderung aus der atrophischen Rinde des Falles 15 
(Lissauer’sche Paralyse). Vergr. 800. 

Tafel VI. 

Fig. 1—3. Alkoholmaterial, Toluidinblauf&rbung. 

Fig. 1. Nicht atrophische Rinde aus dem rechten Gyrus rectus des Falles 15. 
Vergr. 60. 

Fig. 2. Atrophische Rinde aus der entsprechenden Stelle des linken Gyrus 
rectus des gleichen Falles. Vergr. 60. 

Fig. 3. Nicht atrophische Rinde aus dem rechten Gyrus rectus mit lokaler 
Ernabrungsstorung. Vergr. 60. 

Fig. 4—6. Spirochatenfarbung, Uebersichtsbilder der Rinde von Fall 16. 
Vergr. 60. 

Fig. 4. Uebersicht der ungeheuren Spirochatenanhaufung an Gefassen. 

Fig. 5. Dasselbe mit Ablagernng von homogener Substanz. 

Fig. 6. Ablagerung der homogenen Substanz ohne Spirochaten. 

Tafel VII. 

Fall 16. Vergr. 800. 

Fig. 1. Ungeheure Spirochatenmenge in Gefasswand und Umgebung. 

Fig. 2. Spirochaten in der Gefasswand. 

Fig. 3 und 4. Ablagerung von homogener Substanz in der Gefasswand 
und der adventitiellen Scheide mit Spirochaten. 

Fig. 5. Spirochaten in Gefasswand, dem Infiltrationszellmantel und im 
Gefasslumen (bei sp). 

Fig. 6. Ablagerung von homogener Substanz ohne Spirochaten. 


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XX. 

Einwirkung ausserer Ereignisse auf 
psychogene Dammerzustande. 

Yon 

E. Meyer (Ednigsberg i. Pr.). 

Die Kriegserfabrangen haben uns in Uebereinstimmung mit denen 
der Friedenszeit gelehrt, dass es mit Unlustgeffihl verbundene aussere 
Ereignisse sind, die zn psychotischen Erscbeinungen psychogener Art 
fuhren, insbesondere sind Konflikte mebr oder weniger krimineller Natur, 
Verschfittungen, Granat-Explosionen u. dgl. m., auch korperliche Krank- 
heiten solche Ursachen, wobei Kriegsunlust und Kriegsfiberdruss mebr 
oder weniger nnbewnsst wesentlich mitspielen. 

Unter den Psychosen psychogener Herknnft nehmen die meisten die 
Form der Dammerzustande, insbesondere des Ganser’scben Dammer- 
zustandes an. Wahrend manche Falle von selbst in kurzer Zeit ab- 
liefen, zogen sich andere, abgesehen von denen, bei welchen besondere 
tberapeotische Eingriffe im Sinne des Nonne’schen oder Kaufmann- 
schen Verfahrens vorgenommen wurden, nicht selten — auch bei weit- 
gehender Vernachlassigung zu Heilzwecken — fiber eine Reihe von 
Monaten hin. Haufig war auch eine Neigung zu Rezidiven, sei es 
infolge von Verlegung oder durch irgendwelche neue aussere Eindrucke, 
aber auch obne solche ans der psychopathischen Veranlagung an sicb 
heraus. 

Zur Zeit der Revolution befanden sich vier psychogene Dammer- 
znstande in unserer Beobachtung, zum Teil von schon recht erbeblicher 
Dauer. Es schien mir von wesentlicher Bedoutung, bei ihnen die Ein- 
wirkungen des Umsturzes, durch die der Zwang des Kriegsdienstes wie 
des militarischen Dienstes fiberhaupt und die etwaigen Nachwirkungen 
militariscber Vergeben, also gerade die Hauptursacben psychogener 
Dammerzustande im Kriege, mit einem Scblage beseitigt wurden, zu 
beobachten. 


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466 


E. Meyer, 


Hermann E., 19 Jahre. Seit 1. 12. 17 Sold&t. 11.6. 18 in ein Lazarett 
aufgenommen, nachdem er sich aus einem Rekruten-Depot, wo er erst 8 Tage 
war, entfernt nnd einige Tage umhergetrieben hatte. 

Bei der Aufnahme gab er auf keine Frage Antwort. 

Die korperliche Untersuchung ergab niohts Besonderes. Aoch in 
den nachsten Tagen sass Pat. den ganzen Tag stnmm and anscheinend voll- 
kommen gleicbgultig auf seinem Bett. Stundenlang starrte er auf ein Blatt 
Papier, auf ein Buch. Sprach weder von selbst noch antwortete er auf Fragen. 
Nahrnng nahm er selbst zu sich. 

Am 16. 6. 18 in ein weiteres Lazarett iiberfuhrt, erschien er auch dort 
vollig stnmm, verstandigte sich nur duroh Zeiohen und Schreiben. Aus seinen 
Bekundungen ging hervor, dass er raumlich und zeitlioh, sowie zur Person 
gut orientiert war, und dass sein Auffassungs- und sein Denkvermogen frei 
von groben Storungen erschien. Er machte einen miiden Eindruck. Den ihm 
gegebenen Weisungem kam er zogernd und wie unwillig nach. Bei passiven 
Bewegungen kein Widerstand; in gegebenen Stellungen yerharrte er. Seine 
Haltung war fur gewohnlioh meist gebiickt, der Blick gesenkt. Bei der korper- 
lichen Dntersuchung zeigt er stellenweise starkes Widerstreben. Am 20. 6. 
schrieb E. in einem Brief an seine Pflegeeltern: Er konne gar nicht sprechen, 
er sei vor Schreck stumm geworden, sei schon in Belgien erkrankt. 

11. 6. sei er in das Festungslazarett zu L. gekommen, wo er bis 14.6. 
gewesen sei, dann sei er untersucht und nach C. geschickt. Manchmal sei er 
auch taub. 

Am 22. 6. klagt er schriftlich fiber Schlaflosigkeit, ist sehr beunruhigt 
fiber seine Zukunft. Auch weiterhin scheues Benehmcn, ersoheint viel in Ge- 
danken versunken, liest aber allmablich mehr. 

14. 7. Muder Gesichtsausdruck, spricht noch nicht, fasst aber alles auf 
und driickt sich in Briefen gewandt und verstandig aus. 

5. 8. In den Tagen etwas teilnehmender, hilft in der Hausarbeit, spielt 
bisweilen Karten mit anderen Soldaten. 

3. 9. Spricht noch immer nicht, klagt zeitweise fiber heftige Kopf- 
schmerzen, auch in den nachsten Wochen keine wesentliche Aenderung, spricht 
nach wie vor gar nicht, erscheint sonst in jeder Hinsicht goordnet. 

30. 10. Aufnahme in die psychiatrisohe und Nervenklinik. 

Antwortet auf Fragen iiberhaupt nicht, spricht eben so wenig spontan, 
verstandigt sich durch Zeichen und Schreiben. 

Wo hier? Schuttelt den Kopf. 

Krank? Etwas Kopfschmerz habe ich. Auf Vorhalt: Zeigt er sich ortlich 
und zur Person orientiert. 

Weshalb sprechen Sie nicht? Ich kann nicht sprechen. 

Wie lange nicht? Seit 1. Juli 1918. Er mochte gem sprechen, er sei 
matt und traurig, es wolle gern in die Heimat. Auf Befragen: Er sehe n&chts 
eine Gestalt und konne auch nicht schlafen. 

18 + 17? 23. 

22—9? 17. 


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Einwirkung ausserer Ereignisse auf psyohogene Dammerzustande. 467 

5X4? 18. 

18:6? 4. 

19 + 11? Richtig. 

Farbe von Schokolade? Gelb. 

Farbe von Schnee? Gran. 

Farbe von Glas? Schwarz. 

Haoptstadt von Deutschland: Riohtig. 

Von Frankreich? Metz. 

Weshalb Weibnachten? Weil Christas gestorben ist. 

Unterschied zwischen Teioh and Fluss? See. 

Muder Gesichtsaasdrack, starre Haltang, langsame Bewegungen. Samt- 
liche Aufforderungen werden prompt befolgt. Nach Angabe des Pflegers soli 
Pat. mit seinen Nachbam leise gesprochen haben. 

Die korperliche Dntersuohung ergibt nnr Zeichen allgemeiner Ueber- 
erregbarkeit sowie allgemeiner starker Hypalgesie. 

4. 11. Liegt vollig ruhig da, erscheint teilnahmslos, sprioht nicht, ver- 
standigt sich wie friiher nur schriftlich, macht auch nach Angabe des Personals 
nie Versuche sich anders als schriftlich zn verstandigen. 

10. 11. Aas Anlass der grossen staatlichen Umwalzungen werden 
einzelne Mitkranke entlassen. Dem Pat., der sich ansserlich wie 
vorher verhalt, wird gesagt, or kame auch zar Entlassung in 
Betracht. In der Nacht darauf beginnt er zu sprechen. 

12. 11. Seit gestem morgen zoganglicher, gibt richtige Antworten, 
ist zar Person orientiert, ebenso ortlich and im wesentlichen zeit- 
lich. AafBefragen: Ich bin noch etwas krank, ich habe Kopfschmerz, die 
Verdauang ist schlecht. Ich kann nicht so got denken wie fraher. Sonst gibt 
Pat. geordnetAuskunft, erscheint etwas made. Man sieht unruhige Bewegungen 
der Hande. Im Zivil sei er Kutscher auf dem Lande gewesen. Im Felde war 
er nicht, nor in einem Feldrekruten-Depot. Er wisse, dass er dort krank ge- 
worden sei, wie es gekommen, konne er nicht angeben. Er wisse aas der Zeit 
sonst gar nichts. Er erinnere sich, dass er nicht gesprochen habe, waram 
wisse er nicht. Aufregangen habe er viele gehabt, doch konne er Bestimmtes 
als Grand nicht angeben. Die Sprache sei allmahlich wiedergekommen. Auf 
Befragen sagt er, es sei ihm vorgekommen, als ob man ihn verfolge, es war 
ihm angstlich. Im zweiten Lazarett sei ihm nachts die Gestalt eines Mannes 
erschienen. Wie erjetzt plotzlioh besser geworden ware, konne er 
nicht sagen. 

In der Schule habe er leidlioh gelernt. 

6 X 7? 36 - 38. 

4X5? 18. 

2 X 4? 6. 

5 + 7? 13. 

12 — 4? 7. 

2 X 4? 6. 

3 X 3? 7. 


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468 


E. Meyer, 


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Gegenstande, Bilder bezeichnet er richtig. 

Soil die Zahl 246 bebalten. 

4X5? 10. 

2X8? 15. 

3 X 9? 25. 

15 -|- 14? 23. 

Hat die Zahl vergessen. 

Bilder erkennt er richtig. Macht bei der Untersuchung einen zanebmend 
miiden Eindruck. 

Bei AssoziationspriifaDg ergibt sich langsame Reaktion, sonst nichts 
Besonderes. 

19. 11. noch etwas made bei Bewegangen. Es gehe ihm im ganzen 
besser, aber mit dem Verstand ware es noch nicht so richtig. Er sei aafgeregt 
and angstlich. AafBefragen: Weil er nicht seine Freiheit habe. Antwortet 
stets sehr langsam mit tonloser Stimme, oft gar nioht. 

Soil heate wieder die Zahl 246 behalten. 

4X5? Richtig. 

15 —J— 14! Richtig. 

3X9? Richtig. 

21 — 9? 11. Auf Vorhalt: Richtig. 

Zahl? 44. 

Unterschied zwischen Spiegel and Fenster? Weiss er nicht anzageben. 

1870/1871? Richtig. 

Bismarck? Richtig. 

Unterschied zwischen Richter und Reohtsanwalt?- 

MeiDeid?-Auf Vorhalt: Auf dem Gericht. 

22. 11. Etwas frischer and reger. Geht aus, kommt rechtzeitig wieder. 
Allmahlich immer freier. 

Der vorstehende Fall ist schon an sich bemerkenswert, weii er an- 
fangs in den Lazaretten als „Katatonie u aufgefasst wurde und zwar 
besonders wohl wegen der anscheinenden Apathie und Regungslosigkeit. 
Dass es sich nur um eine scheinbare Apathie handelte, ging schon aus 
des Patienten schriftlichen Bekundungen hervor, insbesoudere aus dem 
Brief an seine Eltern, in dem er schrieb, dass er vor Schreck stumm 
geworden sei, sowie aus seinen weiteren Briefen, in denen er zeigte, 
dass er mit seinem Schicksal. sehr besch&ftigt war. Gegen Dementia 
praecox sprachen auch das Fehlen von Grimassieren und Stereotypien, 
von eigentlichem Negativismus, die sehr verst&ndig und geordnet ab- 
gefassten Briefe und die regelrechte Affektverbindung. Es handelte 
sich nach allera um psychogene Hemmung, die die Apathie vort&uschte 
und die ja auch nach der Losung des mit Mutismus verbundenen Stupors 
noch deutlich zu bemerken war. 


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Einwirkung ausserer Ereignisse aaf psyohogene Dammerzustande. 469 

Mit der Revolution, die ihm durch die Mitteilung, er konne eben- 
falls entlassen werden, n&her gebracht wurde, schwindet von einem 
Tage zum anderen der Mutismus bei unserem Kranken. Er war ge- 
ordnet und orientiert, klagte nur fiber nervfise Beschwerden und fiber 
Stfirungen* von seiten des Darms, macbte auch Angaben fiber ftngstliche 
Vorstellungen, die ihn beberrscbt hfitten. Entsprechend seinen Elagen 
waren die Merkffihigkeit noch herabgesetzt und die Assoziationen ver- 
langsamt. Besonders bemerkenswert war, dass das w&hrend des D&mmer- 
zustandes festgestellte Vorbeireden im wesentlichen nun geschwunden 
war, jedoch in bezug auf das Recbnen am ersten Tage nacb der Auf- 
hellung noch sehr deutlich bestand und erst nach mebreren Tagen ab- 
geklungen war. Auch das Urteilsverrafigen erschien noch beciutr&chtigt. 

Das auslfisende Moment lag in diesem Falle uicht klar zutage. 
Patient selbst erw&hnt einen Schreck, fiber den aber nichts weiter be- 
kannt war. Im fibrigen sind wir auf den zeitlichen Zusammenhang 
zwischen der Versetzung in ein Rekrutendepot und dem Ausbruch der 
geistigen Stoning und damit auf die Kriegsunlust als Anstoss zur Er- 
krankung bei einem Psychopathen angewiesen. Eine gradweise Ab- 
hfingigkeit der Schwere der Erkrankung von der Starke des auslfisenden 
Ereignisses braucht ja nicht vorhanden zu sein. 

Der so entstandene psychogene Stuporzustand loste sich nach einer 
Dauer von vier Monaten unter dem Einfluss der Revolution innerhalb 
eines Tages bis auf geringe Reste, die auch bald schwanden. Ich betone 
dabei, dass von der Revolution mit dem Patienteu nicht gesprochen 
wurde, um das Ereignis als solcbes, wie es innerhalb der Elinik an 
den Eranken herantrat, mdglichst rein auf ihn einwirken zu lassen. 
Eine Verstfirkuug des Eindrucks durch Verbalsuggestion von seiten des 
Arztes wurde daher ganz vermieden, abgesehen von der Mitteilung, er 
kfinne jetzt ebenfalls entlassen werden. Ebenso sind wir in den 
fibrigen Fallen verfahren. 

Ernst 6., 18 Jahre alt. Seit Mai 1918 Soldat. Die Mntter soil leicbt 
aufgeregt sein und an Wutanfallen leiden. Der Vater trinke. Patient will 
oft von seinem Vater missbandelt und dadurch sebr verangstigt worden sein. 
Er babe von jeher an Kopfschmerzen sehr viel gelitten, wenig mit anderen 
Kindern verkehrt. Er babe schlecht gelemt. Habe nur zwei Klassen durch- 
gemacht. Korperlich krank sei er nie gewesen. Luetische Infektion stellt er 
in Abrede, ebenso Alkoholmissbraucb. 

9. 10. 1918 wurde Pat. in ein Lazarett aufgenommen. Nach arztlicher 
Mitteilung soil er einen Vorgesetzten vorher mit einem Messer angegriffen 
haben. Er erschien bewusstlos. Der Kopf war leicht nach hinten geneigt, der 
Nacken massig gut beweglich. Die Pupillenreaktion, ebenso wie die Knie- 

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470 


E. Meyer, 


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sehnenreflexe waren vorhanden. Der Konjunktivalreflex war herabgesetzt. Der 
Pols war regelmassig, kraftig, 60 in der Minute. Im Urin kein Eiweiss. 

10. 10. Hat nachts unter sich gelassen. Die „Benommenheil u erscheint 
geringer. Nach Angabe der Stubenkameraden soil Pat. in der Nacht auf die 
Bettkante gestiegen sein, hatte sich dann auf Anrufen der Sohwester steif auf 
den Fussboden fallen lassen, wo er bis zum Morgen ruhig liegen geblieben 
ware. Nachdem in seiner Gegenwart gesagt war, wenn das Bewusstsein bis 
znm folgenden Tage nicht wiederkehre, musse er einer sehr schmerzhaften 
nnd unangenehmen Operation — dem Riiokenmarkstich — unterzogen werden, 
fing Pat. an von selbst zu essen, wahrend er bis dahin keine Nahrung zu sich 
genommen hatte. 

11. 10. Aeussert zur Schwester, er wiinsche entlassen zu werden, er 
habe sich zur Sanitatsschule gemeldet und fiirchte bei langerem Aufenthalt im 
Lazarett nicht dorthin zu kommen. 

13. 10. Klagt iiber Kopfschmerz, aussert zur Sohwester, er kdnne nie 
lachen, miisse in Gegenwart heiterer Kameraden oft weinen. 

3. 11. Aufnahme in die Psyohiatrische und Nervenklinik in Kdnigsberg. 
Sieht bei der Untersuchung unrnhig im Zimmer umher, blickt zur Docke, starrt 
dann wieder zur Erde. Stirn stark quer gerunzelt. Mund geoffnet. Die Augen 
starr, seltener Lidschlag. Gesichtsausdruck gespannt, Kopf vornuber geneigt. 

Name? Richtig. 

Geburtstag? Weiss ich nicht. AufVorhalt: Ich glaube September, den 16. 

Wo? Richtig. 

Beruf? Anstreicher. (Richtig.) 

Wo hier? In einer Stube (spricht immer plattdeutsch). 

In welohem Hause? In einem Hause. 

In weloher Stadt?-in Bentheim bei den Eltern. 

Auf Befragen: Er sei gesund, ihm fehle nichts, er sei nicht krank gewesen. 

Auf Befragen: Warum er friiher nicht gegessen habe? Er esse immer. 
Soli die Zahl nachsprechen: 8346 8003 und 46? 

2X2? Richtig. 

8 7? Richtig. 

22—9? 11. 

5 -f 11? 44. 

3X12? 26. 

Tintenfass? Glas. Wozu? Zum Sohreiben. 

Glas? Topf. 

Messer? Schliissel? Richtig. Von 1—20 zahlen? Richtig, langsam. 

Monate? Januar, Februar, Mai. Dann richtig. 

Wocbentage? Richtig. 

Eine Mark in Pf.? Richtig. 

Kaiser? Richtig. 

G. antwortet immer langsam, zeigt wenig Ansprechbarkeit fur aussere 
Eindrucke, sitzt anscheinend teilnahmslos da. In seinen Bewegungen ist er 
schwerfallig, halt den Kopf dauernd geneigt, kann ihn nicht heben. 


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Einwirkung ausserer Ereignisse auf psychogene Dammerzustande. 471 

8. 11. Liegt teilnahmslos zu Bett, mit weit geoffnetem Mand and weit 
aafgerissenen Augen, kummert sich am seine Umgebang gar nicht, antwortet 
auf Befragen langsam, immer plattdeutsch. 

11. 11. Seit heate — er hat von der Revolution gehort — ver- 
andert: Unterhalt sioh mit den Nachbarn, spricht hochdeutsch; gibt gute 
Antworten, zeigt natdrliohe Haltung. 

12. 11. 5XH? Richtig. 

3X12? Richtig. 

28 -f 37 ? 56. 

22—9? 11. 

55:5? 9. 

22 + 13? 45. 

Datum? 12. November 1918. 

Monate? Januar, Februar, April, Jali, August, September, November, 
Dezember. 

Wieviel Monate? Richtig. 

Wochentage? Ruokwarts Sonntag, Sonnabend, Freitag, Mittwoch, Donners- 
tag, Dienstag, Sonntag, Montag. 

Weihnaohten? Richtig. 

Nenjahr? Richtig. 

Erscheint noch vielfach apatbisoh, halt vielfach den Mand offen. 

15. 11. Auf Befragen: Er wisse nicht, warum er hierher gekommen. 
Dass er jemand angegriffen, sei ihm nicht erinnerlich. Rechne schlecht, habe 
das immer getan. Bei langerem Befragen verfallt Pat. wieder in ein mehr 
apathisches Verhalten. Die nachsten Tage ruhig and geordnet. Bei langerer 
Exploration verfallt er immer in sein friiheres Verhalten. An der Umgebang 
nimmt er'teil and beschSftigt sich. 

29. 11. entlassen. 

Der zweite Fall ist dem ersten insoweit ahnlich, als auch bei ihm 
ein ausserer Anlass fur die Entstehung der psychotischen Erscheinungen 
nicht nachweisbar, ja, noch weniger zu konstruieren ist, als bei jenem; 
wabrend andererseits in der starken Belastung, der angeborenen Minder- 
wertigkeit und den kdrperlichen und seelischen Schadigungen, die seinen 
Entwicklangsgang noch getroifen haben, eine besonders starke Disposition 
zu pathologischen Reaktionen auf sonst geringffigige Anlasse gegeben war. 

Nach einem kurzen Erregungszustand mit Neigung zu Gewalttfitig- 
keiten seben wir eine stupordse Phase sich entwickeln, die, insbesoadere 
die Nahrungsverweigerang, darch einmalige Verbal-Suggestion schon 
Besserung erfuhr, aber bei Verlegung in die Klinik wieder hervortrat. 
Auch hier zeigte sich anscheinend apathisches Verhalten, das durch 
psychogene Hemmnng bedingt war, wahrend im iibrigen wesentlich Ver- 
dachtsmomente fQr Dementia praecox fehlten. Mit der Revolution schwand 
auch hier fiber Nacht nach etwa einmonatiger Dauer der Stupor. Starre 


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472 


E. Meyer, 


Haltung and Apathie wichen naturlicher Haltung und Teilnahme fur 
die Umgebung. Der Kranke, der im D&mmerzustand nur plattdeutsch 
sprach, spricht jetzt hochdeutsch, doch macht sich bei Anstrengung and 
Aerger das apathische Wesen ofter wieder bemerkbar. 

Robert R., 24 Jahre. Soldat seit 1. 10. 1914. 9. 8. 1918 Aafn&htne in 
ein Lazarett. Leidet seit binem halben Jahr an Krampfen and Kopf- 
schmerz. Friiher sei er gesund gewesen. Bei der Aufnahme war er nicht 
bewusstlos, aber apathisch, gab keine Antwort, verhielt sich aber im ubrigen 
rnhig. Wann und wamm er gekommen sei, wisse er nicht. Meint, es sei Mitte 
Juli. Er wisse nicht, ob das hier ein Lazarett sei. Er habe jetzt Erholungs- 
urlaub gehabt und sei von diesem gerade zuruckgekehrt. Wie lange der Urlaub 
gedauert und wann er begonnen habe, konne er nioht sagen, er habe sich in 
dej. Auskunftsstelle nach seiner Truppe erkundigt, sei dann wo anders hinge- 
schickt, habe dort seine Scheine vorgezeigt, wisse dann nicht mehr, was weiter 
geschehen sei. Erst heute fruh sei er wieder zu sich gekommen. 
i Auf korperlichem Gebiet ergab sich eine Herabsetzung der Schmerz- 

empfindlichkeit am ganzen Korper. Keine Zeichen organischen Nervenleidens, 
kein Zungenbiss. Die Hande zitterten stark. 

12. 8, Reagiert nioht auf Fragen. Auf langeres Zureden zeigt er die 
Zunge. Auf tiefes Kneifen einer Hautfalte aussert er keinen Schmerz. 

Auf Befragen nach Schmerzen greift er nach dem Kopf. 

13. 8. Etwas freier, befolgt einfache Aufforderungen, weiss, dass er in 
einem Lazarett ist. 

18. 8. In ein zweites Lazarett uberfuhrt. Gibt dort an: Ein Bruder sei 
in einer Irrenanstalt. Er habe gut gelernt, sei Arbeiter und Maurer gewesen. 
War znerst in Frankreich, dann in Russland, schliesslich wieder in Frankreich. 
Verwundet sei er nicht. Warum er ins Lazarett gekommen sei, wisse er nicht. 
Arzt habe gesagt, er habe einen Anjall gehabt. Vor 4 Monaten habe er schon 
einmal einen solchen bekommen. Pat. macht einen sehr schwerfalligen 
Eindruck, liegt in schlaffer Haltung da, antwortet erst nach mehrfacher 
Wiederholung der Frage, vielfach auch: „Ich weiss nicht w . Klagt viberZittem 
und Kopfschmerz. In den nachsten Tagen allmahlich freier, zeigt auch mehr 
Interesse fur die Umgebung, dann wieder mehr gedruckt. Klagt fiber Kopf¬ 
schmerz. Zeigt auch eigensinniges Wesen, ist ablehnend. 

30. 10. Aufnahme in die Psychiatrische und Nervenklinik zu Konigsberg. 
Gibt bei der Aufnahme noch au: Er habe einmal eine Gasvergiftung gehabt. 
Sei wegen Anfallen ins Lazarett gekommen, die angeblich durch Granatein- 
schlage verursacht seien. Er habe Stechen im Kopf und wenn er die Augen 
zumache, sahe er lauter Kafer. 

Pat. sitzt in fast starrer Haltung da, brutet mit gerunzelter Stirn vor sich 
hin, achtet nicht auf die Umgebung, sondern schaut auf die Erde. Er ant¬ 
wortet meist erst nach mehrfachen Wiederholungen der Fragen, nachdem er zu- 
erst nachhelfende Bewegungen gemacht hat. Er spricht meist nur wenige Worte 
tonlos. Auf Befragen sagt er: „Die Kafer seien ganz schwarz, es knalle ihm 


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Einwirkung ausserer Ereignisse aaf psychogene Dammerzustande. 473 


such ofter in den Ohren u . Er habe eine Art Kafer summon gehort. Seinen 
Geburtstag kann er nicht nennen, ist im iibrigen znr Person orientiert. Manch- 
mal wisse er gar niohts, wenn einer etwas zu ihm sagt. Den Ort bezeichnet er 
richtig, das Datum kennt er nicht, es sei September. 

Auf Befragen, warum er nicht recht antworten konne: Er wisse, er wisse 
auoh nicht was das ist, ein Woohentag. Monate ruckwarts kann er nicht auf* 
zahlen, sagt sie vorwarts. 

3x12? Uacht mit dem Korper und mit den Lippen Bewegungen, gibt 
keine Antwort. 

6X4? Richtig. 

18- 9? . . . 

3X3? 6. 

2X2? 2+2 ist 4. 

8 : 2? 8-|-2 ist 10. 

Wann der Krieg angefangen? Vor 4 Jahren. 

Wilson? Hindenburg? . . . Hindenburg, ich habe ihn schon gesehen. 

Kaiser? Wilhelm. 

Wann Neujahr? . . . 

Farbe des Grases? Gras? Gras? 

Tintenfass? Glas. 

Federhalter? Schlussel? usw. richtig. 

7. 11. 1st noch immer sehr gehemmt, schaut sich angstlich urn, halt sioh 
abseits. 

12. 11. (Nach der Revolution). Es gehe besser. Das Kafersummen 
habe aufgehdrt. Antwortet freier. Hilft auf der Station. 

15. 11. Auf Befragen, ob er entlassen werden wolle, er 
mochtegern noch ein paarTagebleiben. Sonst geordnet, zeigt nur leichte 
Unruhe. 

5X12? Richtig. 

28+37? 64. 

22 — 9? 11. 15+18? Richtig. 

55:5? Richtig. 

Wilson? Kdnig von Amerika. 

Hindenburg? Richtig. 

Gegenstande bezeiohnet er riohtig. Datum? Anfang November. Wochen- 
tage? Richtig, ebenso Jahreszahl. Alle Reaktionen erfolgen noch lang* 
sam. Weiss, wie lange er hier ist. Er habe immer Kopfschmerz und Zittern 
gehabt, schon vom vorigen Jahr. Sei seit 1917 krank, wo er von einer 
Granate umgeworfen sei. Er soli bewusstlos gewesen sein. Monate von 
ruokwarts richtig, wenn auch langsam. Denken geht noch langsam, nicht wie 
in gesunder Zeit Auf Befragen: Er erinnere sich, schwarze K&fer in ganzen 
Klumpen wimmeln gesehen zu haben. Was das bedeute, wisse er nicht. Es 
sei wohl durch Krankheit gekommen. Soli Zahl 426 behalten. 

3X6? 18. 

2+7? Richtig. 

▲rdkir f. Ptjehiatrie. Bd. 00. Heft 2/3. * 01 


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474 


E. Meyer, 


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5 — 3? Richtig. 

6X8? 40. 

Z&hl? 425. 

Weiterhin zugangliob, bilft anf der Abteilang, macht taglich Spaziergange 
in die Stadt, kommt regelmassig wieder. 

28. 11. noch immer leicht erregbar, bekommt Streit. 

29. 11. entlassen. 

Unser dritter Kranker stammt ebenfalls aus belasteter Familie. Seit 
Kriegsbeginn Soldat and lange im Felde, ffihrt er auf eine Granat- 
explosion die Entstehang seines Leidens zurfick, das zuerst in Form von 
Anfallen auftrat. Ob und welchd besonderen Schadigungen den gegen- 
wartigen Dammerzustand hervorgerufen haben. ikt nicht festzustelien. 
Vielleicht lasst sich seine Angabe, dass er gerade von einem Erholungs- 
urlaub zu der Truppe znrfickkehren sollte, so verwerten, dass, wie wir 
es fitter bei Rfickkehr vom Uriaab oder aus dem Lazarett sehen, nan 
eine Steigerung des Leidens infolge der Kriegs- und Dienstanlast, bzw. 
des Geffihls der Unfahigkeit dazu, sich einstellt. Der Dammerzustand 
entspricht dem Ganser’schen Typus. Einen besonderen Zug bilden 
die Halluzinationen akustischer and optischer Art, fur die wir ein rich- 
tanggebendes Moment nicht nachzuweisen vermogen. 

Nach fiber zweimonatigem Besteben des Dammerzustandes tritt 
durch die Revolution Lfisung desselben ein, nur ist, wie bei den vorigen 
Fallen, eine gewisse Hemmung und Neigung zum Vorbeireden, sowie 
abnorme Erregbarkeit noch zu bemerken, ebenso deutliches Rrankheits- 
geffihl, das ibn aucb zu der Bitte veranlasst, noch einige Zeit in der 
Klinik verbleiben zu dfirfen. 

F., Alfred, 30 Jabre. Seit Januar Soldat. Ein Bruder babe sich das 
Leben genommen. Habe frtiher viol getrunken, scblecht gelernt. Ab- 
gesehen von Kinderkrankheiten frfiher gesund. Mai 1916 durch Granat- 
splitter am Hinterkopf verwundet, ebenso durch Gewehrsohuss 
Oktober. Schon nach der ersten Verwundung Kopfbeschwerden. Oktober 
1917 durch Granatsplitter am Rficken verwundet. Machte schliesslich keinen 
Dienst mehr. Streit mit Vorgesetzten. 

Pat. macht einen sehr unruhigen Eindruck, macht schnelle Schritte auf 
und ab, gestikuliert lebhaft mit den Handen. Kann sioh auf Einzelheiten nicht 
besinnen. Klagt fiber heftigen Kopischmerz, konne keine Ruhe finden, konne 
die vielen Mensohen niobt vertragen, schlafe scblecht. Es sei ihm angstlich 
zu Mute. Er habc Zueken im Rficken und in den Beinen. Schilt, dass man 
man ihn bei der Truppe hatte zum Narren machen wollen. Er solle kr. u. 
nach Hause geschickt werden. In denPapieren stand drin, man solle ihn nicht 
reizen. Ist ortlich, zeitlich und zur Person orientiert. Er klagt fiber dauernden 


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Einwirkung ausserer Ereignisse auf psychogene D&mmerzustande. 475 

Kopfschmerz. Wenn er in Rahe lebe and nioht aafgeregt werde, gehe es. Das 
<}edachtnis sei sohlecht. Soil 829 merken. 

18 + 9? Richtig. 

22 -j- 8? Richtig. 

14 X 4? 42. 

91-7?-36-19? 24. 

15 X 4? 15mal? 

Zahl? 828. 

Weshalb Pfingsten? Weiss ich nicht. 

Weihnachten? Znckt die Aohseln. 

Christi Geburt? Wann? 28. Dezember. 

Unterschied von Rechtsanw&lt nnd Staatsanwalt? Keiue Ahnung. 

Unterschied von IHpd and Zwerg? Zwerg ist klein. 

Vorgehaltene Gegenstande richtig. 

Eigentumliohe, etwas stockende Sprache, abgehaokt, etwas qtarrer Ge- 
siohtsausdruck. Stirn in Falten gelegt. Kein.Anhaltspnnkt for ein organisches 
Nervenleiden. Allgemeine Hypalgesie. 

11. 11. 1918. Nach der Revolution. 

Beschwerden? Habe noch solche Kopfschmerzen. 

Monat, Jahr? Richtig. 

Oertlich orientiert. Datum und Wochentage werden um einen Tag ver- 
schoben. Soil sich eine Zahl merken, hat diese bald vergessen. Es strenge 
ihn zu sehr an. Bilder kann er erst nach langerer Zeit erkennen. 

12.11. Freier, geht in die Stadt, kehrt regelmassig znruck, ist im ganzen 
seit der Revolution ausserlich viel geordneter, spricht gleiohmassi- 
ger, der Gang ist unauffallig, die Stirn wird nicht me hr gerunzelt. 

15. 11. Psychisch noch reoht ormiidbar. Assoziation verlangsamt, dabei 
starke Eigenbeziebnngen, z. B.: Krank? Mir fallt nichts ein, ich denke immer 
an zn Haase. Kircbe? War ich nioht mehr. 

Tranring? Ich habe keinen. 

15. 11. entlassen. 

Unser letzter Kranker zeigt mit dem zweiten insofern Aehnlichkeit, 
als er belastet, von Hause aus minderwertig nnd ebenfalls Sch&digungen 
verschiedener Art — Potos, Kopfverletzung — in seiner Entwicklnng 
ausgesetzt war, so dass die Entstebnng pathologischer Reaktionen ausser- 
ordentlich erleichtert erschien. . Wodurch schliesSlich der bei dena Pa- 
tienten bei der Anfnahme in die Elinik bestehende Sngstliche Erregungs- 
zustand mit Stoning der Sprache bedingt war, ist nicht sicher zn sagen, 
wahrscheinlich hat irgend ein Konflikt bei der Truppe, wo sich der 
Kranke schikaniert glaubte, den Anstoss dazu gegeben. Mit der Revo¬ 
lution traten die Erscheinungen der Sngstlichen Erregnng nnd der Std- 
rung der Sprache, deren Daner uns nicht bekannt ist, zuruck. Abnorme 

31* 


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476 E. Meyer, Einwirkang ansserer Ereignisse aaf psychogene Dammerzu stande. 

Ermiidbarkeit und Insuffizienzgefuhl blieben noch besteben, ebenso bei 
Assoziationsversuchen verlangsamte Reaktion, mit Neigung zu Eigen be. 
ziehungen, wie wir es bei psychogenen psychotischen Erscheinungen za 
linden gewohnt sind. 

0 

Bei Beginn des Krieges habe ich untersucht, wie weit der Kriegs- 
beginn aaf schon bestehende geistige StOrungea einwirkte 1 ). Es ergab 
sich dabei, dass eine Beeinflussung bestehender Psychosen darch den 
Krieg Oder Kriegsausbruch nicht erfolgte. Psychogene Stdrungen stan- 
den mir damals nicht zur Verfugung. Eine Einwirkang b&tte man bei 
solchen voraussichtlich dann in erster Linie erwarten kOnnen, wenn 
ihre Entstehung mit dem drohenden Krieg etwa jp irgend welcher Be- 
ziehung gestanden hatte, wenn auch artfremde Einflusse, den auslbsen- 
den Ursachen nicht verwandte seelische Erschutterungeu, zu einer LOsung 
von D&mmerzust&nden ebenfalls erfahrangsgemftss fuhren kOnnen. 

Wenn wir aach bei unseren jetzigen Beobachtungen die auslbsenden 
Momente fur die psychogenen Psychosen nicht mit Sicherheit festzu- 
stellen vermochten, so kSnnen wir doch so viel sagen, dass sie jeden- 
falls in Unlastgefuhlen wurzelten, die darch die Revolution beseitigt 
warden, so dass Entstehen und Schwinden der psychotischen Erschei- 
nungen psychogener Art sich durcb die Zeitverhkltnisse hier erkl&ren. 

1) Arch. f. Psych. Bd. 55. S. 353. 


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XXI. 


Aus der psychiatrischen and Nervenklinik der Universitat Konigs- 
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer). 

Beitrag zur Kenntnis der mit Erhdhung der 
Rigiditiit der Muskeln einhergehenden erworbenen 
Krankheiten des Nervensystems (Pseudosklerose). 

Von 

Priv.-Doz. Dr. Max Rastas, 

I. Asstatent der Klinik. 

(Mit 7 Abbildungen im Teit.) 

Unsere Kenntnis von den Krankheiten, welche einen erhohten Mus- 
keltonus oder besser gesagt eine erhOhte Rigidit&t aufweisen, ist in den 
letzten Jahren erheblich bereichert worden. In vieler Beziehung haben 
wir unsere fruberen Anschauungen korrigieren mussen, auf jeden Fall 
sie sebr erweitern k&unen. In erster Linie kommt als eine derartige 
Krankheit die multiple Sklerose in Betracht. Hier hat besonders Oppen- 
heim und spaterhin aucb H. Curschmann Krankheitstypen aufgestellt, 
welche uns fruher unbekannt waren. Das Eigenartige und ganz beson¬ 
ders Wichtige an den Darlegungen Oppenheim’s liegt dariu, dass 
er die Formen der multiplen Sklerose, die doch als Prototyp der nicht 
systematischen Erkrankungen gait, in Beziehung zu den einzelnen Faser- 
systemen des Ruckenmarks gesetzt hat, so dass er Formen beschreibt, 
welche der Tabes, der Syringomyelie, der amyotrophischen Lateralsklerose 
und anderen ahneln kOnnen. 

Die zweite in Betracht kommende Krankheit ist die Pseudosklerose, 
die wohl jetzt als identisch mit der Wilson’schen Linsenkerndegene- 
ration angesehen wird. Hier ist es vor allem v. Strumpell gewesen, 
der nicht nur als einer der ersten die Krankheit beschrieben und ihr 
auch den Namen gegeben hat, sondern ganz besonders durch Auffindung 
des amyostatischen Symptomenkomplexes ihre klinische Stellung wesent- 
lich gekl&rt hatte. Weit mehr als der fthnliche Klang der in den Be- 
zeichnnngen multiple Sklerose und Pseudosklerose zum Ausdruck kommt, 
zeigt die Tatsache, dass Oppenheim der Differentialdiagnose beider 
Krankheiten im vorigen Jahre eine umfangreiche Arbeit gewidmet hat, 
wie schwer es oft ist, trotz unserer erweiterten Kenntnisse von den 
Symptomen sicb schlussig zu macben, ob bei einem bestimmten Fall 
dieses oder jenes Leiden vorliegt. 


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478 


Dr. Max Kastan, 


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Gerade im letzten Jahre ist die Pseudosklerose mehrfach ram 
Gegenstand der wissenschaftlichen Diskassion gemacht worden. Eioe 
ganze Reihe tod Fallen siod verdffentlicht worden, die sich mit ihr 
beschaftigen, von einem Autor, v. Dziembowski, sogar mehrere, was 
ans der Erscheinung sicb herleiten l&sst, dass die Pseudosklerose ein 
vornebmlich familiar auftretendes Leiden ist. v. Dziembowski ist 
der Meinung, dass nicht nur Pseudosklerose und Wilson’sche Erank- 
heit dasselbe w&ren, sondern dass auch die juvenile Paralysis agitans 
dem gleichen Krankheitsbild zuzurechnen sei. Ich glaube niebt, dass 
man dieser Vermutung wird beitreten kdnnen. Durchsiebt man die von 
Willige stammende Uebersicbt der als juvenile Paralysis agitans be- 
schriebenen Falle, so fallt auf, dass fast nie psychiscbe StCrungen bei 
der juvenilen Form vorkommen, wahrend diese zu den hervorstechend- 
sten Zugen der Pseudosklerose gebOren.- Auch sind pathologisch-ana- 
tomiscbe Befunde bei der juvenilen Paralyse agitans, soweit die Wil¬ 
li ge’sche Zusammenstellung ergibt, nicht erhoben worden. Hingegen 
hat man bei der Pseudosklerose wenu auch nicht eindeutige, so doch 
ganz sichere Abweicbungen des grob anatomischen und des histologischen 
Bildes feststellen kSnnen. Hierhin gehOren die Veranderungen im Linsen- 
kem selbst, die eigentumlichen Gliabildungen im Nucleus dentatus und 
in den Stammganglien, ferner auch die Erscheinungen in der Leber. 
Erst in allerletzter Zeit hat Hunt auch fur die juvenile Paralysis agi- 
. tans ein pathologisch-anatomisches Substrat aufgedeckt, indem er eine 
Veranderung des Globus pallidussystems (zitiert nach Spielmeyer) 
beschrieben hat. Aber jedenfalls ergibt sich auch daraus, dass dann 
die Veranderung ihren Sitz nicht an der Stelle bat, an der sie die moisten 
Falle der Pseudosklerose aufweisen. 

In allerjungster Zeit hat auch Thomalla sich mit der Pseudo¬ 
sklerose beschaftigt. Er will dieselbe mit zwei anderen Krankheiten, 
namlich dem Torsionspasmus und der atb&ose double zu einer grossen 
Gruppe der Dystonia lenticularis vereinigen. Es begrundet das damit, 
dass der Linsenkern bei all diesen Erkrankungen in einer Reihe von 
Fallen als Sitz anatomischer Veranderungen beschrieben sei, jedoch 
wird man auch dieser Neuauffassung und Neueinteilung der Pseudo¬ 
sklerose mit einiger Vorsicht entgegentreten mussen. Von der gewShn- 
* lichen Dystonie allerdings unterscbeidet sie sich ja schon durch das Fehlen 
des dieser Erankheit eigentumlichen Zusammentrefiens von Hypertonie 
und Schlaffheit, aber die bei dem Torsionsspasmus auftretenden merk- 
wurdigen Bewegungen sehen doch den Symptomen sehr ahnlich, die 
als Teilerscheinung einer Erankheit erst neulich von v. Stauffenberg 
beschrieben wurden, welche ihren Sitz an ganz anderer Stelle im Ge- 


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Mit Erhohung der Rigiditat der Muskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 479 

him hat, n&mlich der Atrophie olivo-c4r6bellaire und der von mir in diesen 
Bl&ttern beschriebenen Chorea mollis. Man sieht auch, die Topographic 
sicher bekannter Ver&nderungen sollte uns nicht verleiten, neue Krank- 
heitsgruppen anfzostellen, welche man aus noch nicht bekannten Einzel- 
bildern und Krankheitsformen zusammensetzen verfuhrt werden kdnnte. 

Im folgenden gestatte icb mir einen Fall zu bescbreiben, welcher 
geeignet zu sein scheint, die Schwierigkeiten der Differentialdiagnose 
zwischen all diesen Krankheitsbildern aufs neue grell zu beleuchten. 
Ich mbchte dabei jedoch ganz besonders darauf hinweisen, dass, als 
die Pseudosklerose bekannt wurde, Charcot geneigt war, sie uber- 
haupt dem Krankheitsbilde der Hysterie einzureihen. Ferner sind in 
der Literatur der Pseudosklerose Falle beschrieben — ich erinnere an 
die von Fleischer —, welche zuerst f&lschlicherweise als Demeutia 
praecox diagnostiziert wurdeu. Die ersten Beobachtungen, die an unserem 
Kranken gemacbt wurden, geben' anf das Jahr 1909 zuruck. Er ist 
dann bis zum Jabre 1910 dauernd in klinischer Behandlung gewesen. 
Zuerst im Lazarett Juterbog, dann im Garnisonlazarett Berlin, in der 
dortigen psychiatrischen und Nervenklinik und in der Anstalt Buch. 
Er ist zwar sp&ter entlassen worden, ist aber immer unter arztlicher 
Kontrolle geblieben insofern, als er sowohl von milit&rischer Seite be- 
gutacbtet worden ist (1913) als auch durch gerichtliche BehOrden in 
einer Entmundigungsangelegenheit 1916 und weiterhin im Zivil im 
Krankenhaus 1917 untersucbt worden ist. Es l&sst sich also der Ver- 
lauf der Krankheit w&hrend 8 Jahren ziemlich gut verfolgen, genaue 
KlSrung durfte allerdings erst eine sp&tero eventuelle Obduktion 
bringen. 

Ich lasse nun die fruheren Krankengeschicbten und Gutachten folgen; 
im Februar 1909 war Pat. wegen Zellgewebsschadigung des ■ linken 
Unterschenkels im Lazarett. 

Abschrift 

des Krankenblattes aus dem Garnisonlazarett Juterbog. 

Diagnose: Syphilis und zur Beobachtung auf seinen Geisteszustand. 
a) Vorgesohichte. 

33.12. 1909. S. ist vom Gericbt der 1. Garde-Division dem Lazarett zur 
BeobachtungseinesGeisteszustandesuberwiesen. Wahrend seiner Untersuchungs- 
haft ist sein Benehmen aufgefallen, so dass Zweifel an seinem Geisteszustande 
entstanden. In seiner Familie sind angeblicb koine Nerven- und Geisteskrank- 
heiten vorgekommen. Vater starb angeblich an Herzschlag. Mutter und Ge- 
schwister leben, sind kSrperlicb und geistig gesund. Als Kind ist er angeblich 
stets gesund gewesen. Krampfe bat S. nie gebabt. Als Kind hat er angeblich 
gut gelernt. Er hat angeblich rechtzeitig spreohen und laufen gelernt. Seit 


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480 


Dr. Max K&stan, 

\ 

der Untersuchungshaft gibt er an, sehr nervos zu sein. Seitdem er das erato 
Mai aus der Untersachnngshaft herausgekommen ist, kann er sicb, wie er sagt, 
mit seinen Gedanken nicht zureohtfinden. Er gibt an, in seiner Untersuchungs- 
zelle einen schwarzen Mann gesehen zu haben, mit dem er nicht einig warden 
konnte. Er leidet angeblich zeitweise anKopfsohmerzen, hat haufigeSchwindel- 
anfalle. Sein Gedachtnis hat anch angeblich gelitten. Keine Angstzustande. 
Seit dem 10. 12. gibt er an, Leibschmerzen zu haben and auch geschlechts- 
krank zu sein. Er gibt an, nicht Onanie getrieben zu haben. 

b) Befund bei der Aufnahme: regelrecht. 

1. Korperlicher Zastand. Kraftig gebauter Mann yon guter Musku- 
latur and gatem Ernahrungszustand. Gesichtsfarbe frisch und gesund. Haat 
and sichtbare Schleimhautc gat darchblatet. Zange nicht belegt. Appetit and 
Schlaf nicht besonders, Stahl trage. Rachenorgane nicht entzundet and ver- 
grossert. Langen: ohne krankhaften Befund. Herz: Dampfung nicht ver- 
breitert. Tone rein. Pals mittelvoll, kraftig, regelmassig, 72. Leib: etwas 
aafgetrieben. Milz and Leber nicht vergrossert. Urin: frei von Eiweiss and 
Zucker. Mannliches Glied: Links auf der Eichel 2 etwa linsengrosse Ge- 
schwdre. Nervensystem: Pupillen gleich weit, sehr weit, reagieren prompt 
auf Lichteinfall and Konvergenz. Kniesehnenreflexe sind gut aaslosbar, desgl. 
die Fnsssohlenreflexe. Sensibilitatsprufung: anscheinend nicht in Ordnung, 
kann spitz and stampf nicht unterscheiden. Kalt und warm vermag er zu 
unterscheiden. Kein Romberg. Keine Koordinationsstorungen. Keine Storung 
des Lagegefdhls. Leichtes Zittern der Augenlider bei geschlossenen Augen. 

2. Geistiger Zustand. Der Gesichtsausdruck des S. ist unruhig; er 
lasst seine Blicke unstet umherschweifen. Die Sprache ist auffallend 
langsam und stockend; sie klingt wie gemacht. Er scheint sich 
anzastrengen, am die Tone hervorzupressen. Dabei lauft ihm an- 
aafhorlich der Speichel aus dem Munde. Wenn er mit einem Vorge- 
setzten spricht, so errotet er. Die Antworten erfolgen langsam. Gefragt fiber 
hausliche Verhaltnisse gibt er die Antwort gat mit einer gewissen Intelligenz. 
Rechenaufgaben: 9X3? 27; 7X8? 56; 8X12? 96; 15X16? 240. Die 
Antwort erfolgt ziemlich prompt. 5- und 6stellige Zahlen kann er nicht voll- 
standig im Gedachtnis behalten. Wenn man ihm komplizierte Wortverbindungen 
vorspricht, so vermag er sie tadellos nachzusprechen. In der vaterlandischen 
Geschichte weiss er gut Bescheid, er kennt den Namen des Kaisers, seines 
Vaters und Grossvaters. Die Ebbinghaus’sche Probe gelingt ihm nur mangel- 
haft. Er kennt die Namen seiner Mitkranken bis auf einen. Ueber Ort and 
Zeit ist er gut orientiert. 

24. 12. Er hat gestern an der Weihnachtsfeier teilgenommen and sich 
dabei ruhig verhalten. Die Nacht dber hat er ruhig geschlafen. 

25. 12. Heute ist er sehr lebhaft, spricht viel, namentlich vor sich Inn. 
Er will durchaus im Garten spazieren gehen. 

26. 12. Da er sich am Mitt&g des 25. 12. unruhig zeigt und durch sein 
vieles Reden die ubrigen Kranken stort, wird er isoliert. Gleichzeitig wird er 


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Mit Erhohung der Rigiditat der Muskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 481 


wegen Schanker zur gemischten Station verlegt. Die Krankheit will er sich 
Mitte November d. J. in Berlin zngezogen haben. 

26. 12. Hente bei der Morgenvisite zeigt er, als ihm gesagt wird, es 
seien zwei Pakete for ibn angekommen, lebhaftes Interesse, antwortet rasch, 
sinn- nnd sacbgemass auf die an ihn gerichteten Fragen betreffend den vermut- 
licben Inhalt und Absender der Pakete. Aach treten die sonst beobachteten 
Gesiohtsverzerrungen nnd der Speichelfluss nicht auf. Die anfangs kleinen 
Erosionen am Gliede beginnen sich scharfer abzngrenzen, sie sind jetzt etwa 
bobnengross nnd sondern ziemlich reichlich ab. Uikroskopisch keine Spiro- 
chaten nachzuweisen, nnr Detritus nnd Epitbelien. Beh and lung: Einlegung 
eines mit Cupr. sulf. getrankten Streifens. 

28. 12. S. sohlaft in der Nacht ruhig. Am Tage spricht er oft vor sich 
hin; dabei lauft ibm der Speichel aus dem Munde. Die Gerichtsverhandlung 
ist meistenteils der Qegenstand seiner Gesprache. Behandlung bleibt. 

29. 12. S. verhalt sioh ruhig; er spricht oilers vor sich hin, der Gegen- 
stand seiner Selbstgespraohe bildet hauptsachlich die Gerichtsverhandlung. 
S. aussert sich dfters: Er wurde sioh mit seinen Gedanken nicht einig, sie 
gingen ihm im Kopfe herum. Seine Sprechweise und Wortstellung sind die- 
selben wie vorher, dabei starker Speichelfluss. Die mikroskopische Unter- 
suchung eines Abstriohes von den Geschwiiren am Glied ergibt denselben Re¬ 
fund wie am 26. 12. Die Wache beobachtete, dass S. jede Bewegung der 
Waohe scharf beobachtete, und, sobald seine Blicke mit denen des Wacht- 
babenden sich trafen, seine Grimassen schnitt. 

2. 1. Stabsarzt Dr. B. maoht den Einj.-freiw. Arzt Dr. K., der den Pat. 
znm ersten Hal sieht, auf die gesuchteWortstellnng in seinerRedeweise fldchtig 
aufmerksam. Als nun Pat. noohmal die Ereignisse bei seiner geschlechtlichen 
Infektion angeben soli, fallt es auf, dass er seinen Satzbau normal ausfuhrt. 
Er sagt z. B.: „Ich bin im Oktober nach Berlin gefahren (( . Nach seiner 
sonstigen Redeweise wurde er etwa gesagt haben: Ich nach Berlin im Oktober 
bin gefahren u. dgl. mebr. Sonst ist in dem Verhalten des Pat. keine Ver- 
anderung zu konstatieren. Er liest zumeist den ganzen Tag liber und schlaft 
in der Nacht ruhig. 

8. 1. In dem Verhalten des Pat. ist kaum eine Veranderung eingetreten. 
Er ist seit einigen Tagen mit im gemeinsamen Saal der gemischten Station 
untergebraoht. Er verhalt sich auch da ganz ruhig. Die anderen Pat. geben 
an, dass er ihren Gesprachen immer zuhore. Wenn er sich beobachtet fuhle, 
sehe er dann schnell in sein Buoh. Die schiefe Stellung der Lippen beim 
Sprechen und der Speichelfluss sind noch vorhanden. Die Verhartung der 
Wundrander an den beiden Geschwiiren am Glied ist sehr deutlich, so dass an 
der syphilitischen Natur der Affektion niobt mehr gezweifelt werden kann. 
Sekundare Erscheinungen bestehen zur Zeit noch nicht. 

11. 1. Es besteht eine deutliche Roseola an Brost und Leib. Deshalb 
wird mit einer Schmierkur begonnen. Graue Quecksilbersalbe. 


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482 


Dr. Max Kastan, 
c) Entlassungsbefund. 

15. 1. Die syphilitischen Erscheinungen auf der Haut sind sehr ausge- 
pragt. Die beiden Schankergeschwdre sind noch offen. — Pat. verhalt sich im 
allgemeinen ruhig und gibt auf Fragen sinngemass Antwort. Sein Schlaf in 
der Nacbt ist in der letzten Zeit etwas unruhiger. — Er hat immer verlangt, 
dass nachts das Licht auf dem Saal nicht ausgeloscht wird. Gestem Abend 
erzahlte er dem Stationsaufseher, dass nachts immer ein schwarzer Mann zn 
ihm kame and er deshalb Licht haben musste. lm Dunkeln furchte er sich. — 
In der gezwungenen Wortstellung, in der Stellung des Mundes und dem 
Speiohelfluss beim Sprechen ist keine Veranderung eingetreten. — Urin frei 
yon Eiweiss. S. wird zur weiteren Beobachtung seines Geisteszustandes in das 
Garnisonlazarett I Berlin uberfiihrt, nachdem die Genehmigung des General- 
kommandos des Gardekorps (11. 1. 10 Seite II b Nr. 291) eingetroffen ist. 

Abschrift 

des Krankenblattes aus dem Garnisonlazarett Berlin Nr. 2933. 

Krankheit: Syphilis und jugendliche Verblodung (katatonische Form). 

Aufnahmebefund. 

16. 1. 1910. lm Sulcus coronarius, das Bandchen mit eingreifend, ein 
hartes Infiltrat yon iiber Markstiickgrosse. Die Oberflache, soweit sie sichtbar 
zu Tage liegt, ist erodiert und sondert diinnfliissiges Serum ab. Dorsales 
Lymphgefass hart, strobbalmdick. Es besteht allgemeine Driisenschwellung, 
(Leistendriise haselnuss- bis walnussgross. Kubitaldrusen,Halsdriisen, Nacken- 
driisen). Am Korper, hauptsachlich auf Brust, Rucken, Beugeseite der Ober- 
arme und Oberschenkel findet sich eine Roseola, die sich aus erbsen- bis 
pfennigstiickgrossen Flecken zusammensetzt. Fusssohlen und Handflachen frei, 
sowie der behaarte Kopf. Auf der rechten Tonsille ein spez. Belag. Bezeich- 
nung: LuesII (Roseola, Lymphadenitis universalis, Angina specifica). Jugend¬ 
liche Verblodung, katatonische Form. Behandlung: Schmierkur, Jodkali 
10/200. Mundpflege. 

Verlauf. 

20. 1. Der Ausschlag am Korper ist deutlich abgeblasst, der Schanker 
am Glied fast verheilt. Angina versohwunden. 

27. 1. Patient yertragt die Schmierkur gut. Im Urin kein Eiweiss. 
Mund frei. Roseolen verschwunden. Schanker uberhautet. 

3. 2. Mund frei, Schmierkur wird weiter gut vertragen. Appetit gut. 

Entlassungsbefund. 

6. 2. Primaraffekt abgeheilt. Roseola und Angina specifica verschwunden. 
Allgemeine Drusensohwellung massigen Grades besteht noch. Da S. heute 
einenErregungszustand starker Art bekam, wird er in dieKgl. Charity iiberfuhrt. 

18. 1. Einzelzimmer fur Geisteskranke. Pat. grimassiert lebhaft, reisst 
die Augen auf, greift nach den Papieren des Arztes. „Meine Papiere a , ^ich 
kann doch nicht kriegen meine Papiere. 41 Sprache manieriert, weinerlich mit 
grunzenden Lauten untermischt. 


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Mit Erhohung der Rigiditat der Muskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 483 

Name? „Kanonier S. u (Nimmt dem Arzt die auf dem Tisch liegenden 
Papiere.) 

Wo hier? „Sie haben mich hier eingesperrt. a 

Wo? „Ich kann nicht raus. w 

Welches Haas? „Garnisonlazarett, ich will meine Papiere haben.“ 

Jahreszeit? — 

Sommer oder Winter? ^Winter, ja, wir haben Winter, ja. u 

(4 Finger gezeigt.) Wieviel Finger? „4. a 

Liest die Zeit von der Uhr des Lazaretts, die er vom Fenster aus sehen 
kann, ab. 

Sind Sie krank? „Ich noch nicht, nein, ich mache gleich meinen Dienst. u 
Spricht affektiert-quiekend. 

20.1. Gesichtsaasdruok and Speicheln unverandert. Isst besser, ist 
reinlich und ruhig, springt aber ans dem Bett, sobald ein anderer als der 
Pfleger eintritt, soli auch mit dem Pileger naturlich sprechen, weckt sogar selbst 
denWarter, wenn er austreten will, wahrend er, wenn der Arzt mit ihm spricht, 
eine eigentiimlich manirierte und gescbraubte, quiekende, abgerissene, von 
zisohenden, schliirfenden Gerauschen begleitete Sprachweise hat. Aeussert 
dem Pfleger gegeniiber, gestern Abend hatten sie ibn festbinden wollen. Sobald 
ich ihn frage, starrt er mich an, besinnt sich lange auf die einfachsten Fragen. 

Wie heissen Sie? „Kanonier S. u 

Vorname? — 

Rufname? „Wir konnen nicht zusammenkonimen.“ 

„Herr Doktor, jetzt frage ich, meine Papiere?-* 

Verlangt das Speiglas, er musse sich brechen. Es kamo ihm iramerZeug 
in den Mund. Verweigert deshalb Kaffee und Milch. In allem sei Arznei. 

„Herr Doktor — ich sage gestern — bringt einer einen Topp Tee — ich 
trinke ibn frei weg — bring einer Tee — ja (murmelt dann unverstandlich) ja, 
darnach wollte er mir festbinden. u (Womit?) „Mit Schnallen, Stricke braohten 
sie rein.“ 

Deutliche Katalepsie. Pupillen mittelweit, gleich. L. R. prompt und 
ausgiebig. Stirn-Augen-Mundfazialis symmetrisch. Zunge gerado heraus- 
gestreckt. Gaumenhebung symmetrisch. Trigeminus-Austrittspunkte an- 
scheinend schmerzhaft. 

Romberg: Lasst sich wie ein Stock hintenuber auf das Bett fallen. Arm- 
und Beinbewegung, soweit prufbar, koordiniert. Grobe Kraft gut. Kein Tremor. 
Sehnenreflexe: Patient ist nicht zur volligen Entspannung zu bringen. 
Achillessehnenreflexe normal. Plantarreflex bds. sehr schwach. Sensibilitat 
nicht in den einzelnen Qualitaten prufbar. Nadelstiche werden uberall als nicht 
schmerzhaft bezeichnet, bringen auch keine Schmerzausserung hervor. 

Echolalie 0, Echopraxie 0. 

Die Aufforderungen bei der somatischen Untersuohung werden teils 
schnell, teils langsam, teils trotz mehrfacher Aufforderung gar nicht\ befolgt. 
S. wird ans Fenster gefiihrt, von wo aus der Blick in den Garten fallt. 

Was sehen Sie da? „Baume w (schnell und sehr laut.) 


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484 


Dr. Max Kastan, 

Was noch? In der Luft? Auf dem Boden? „Schnee“ (langsam, leise 
und undeutlioh.) 

„Herr Doktor, ich mochte noch etwas sagen u ,(bringt aber weitere Aeusse- 
rnngen nicht hervor). 

22.1. Unverandert. Sprache, Grimassieren, Speiobein unverandert, ver- 
zieht dieLippen schnauzenformig nach vorn oder nach einer Seite. Ruhig, wenn 
alleine gelassen, bei der Visite sofortiges Anfspringen aus dem Bette, setzt 
sich auf den Bettrand, gibt auf Befragen an, er sei gat zu Wage. Erklart mit 
Bezug auf einen Riss im Hemde, nach dessen Herkunft er befragt wird, da 
seien ihm Steine darchgezogen, wiederholt mehrmals stereotyp diese Antwort. 

25. 1. Nicht die geringste Aenderung des Verhaltens. 1st ruhig und 
liegt Oder sitzt teilnahmslos da, wenn man sich nicht mit ihm beschaftigt. Die 
bizarre Spreohweise ist konstant, alle Aeusserungen sind abgerissen, kurz, zu- 
weilen aber der Frage entsprechend. Langere zusammenhangende Aeusse¬ 
rungen sind nicht zu erlangen, eine geordnete Unterhaltung ist nicht mit ihm 
zu fiihren. Gegenstande bezeiohnet er nicht richtig, oft erst nach mehrmaligen 
dringlichen Fragen. Doch fallt auf, dass er einzelne Objekte ,,danoben“ be¬ 
zeiohnet und sich stets dieser verkehrten Bezeichnung bedient, seine Hand 
z. B. „Stein u nennt, die Tiir ,,Weg(?). w Soil gelegentlich zornig werden dem 
Pfleger gegeniiber und ihn besohuldigen, dass er ihn vergifte. Droht ihm, er 
werde es dem „ganz langen Arzt u (er meint den Chefarzt) sagen. 

31. 1. Vollig unverandert. Sehr stereotyp ist der oft wiederhoite Ausruf 
w meine Papiere u , sobald er mich mit den Krankenblattem kommen sieht. 
Gefragt, wie lango er hier sei, antwortet er nach langerer Pause: 4 Wochen, 
auf weitere Orientierungsfragen gibt er keine Antwort. 

5. 2. Ziemlich lenksam und fiigsam. Gebahren stets bizarr, Aeusse¬ 
rungen unzusammenhangend. Sprechweise verschroben. Als iiber sein Ver- 
halten mit dem Pfleger gesprochen wird, aussert er „ich nichts tun? u . 

Wie lange hier? Ich-ja — hier, ja, meine, meine, hier, ja — 5, 5, 

ja, 5 — ja, ja. Wo? Ja, hier, ja (gibt dann unverstandliche, z. T. nicht 
artikulierte Laute von sich). 

Lazarett? „Ja (nickt sehr hastig) Lazarett. u 

Wo gedient? „Ja-Batterie-. a 

„Stiebel-ja-Batterie-Dienst-.“ 

Bei der Verabschiedung steht er auf und stellt sich militarisch hin. 

7. 2. Gestern beim Mittagessen soil S. plotzlich sehr erregt gewesen 
sein, aggressiv gegen die Pfleger und ausserst energisoh sinnlos hinausgedrangt 
haben. Er soil wiederholt ausgerufen haben: „Was wollt ihr, w ^7, 8 Jahre 
bin ich hier u und anderes nicht Verstandliches. Es ist aus den Aussagen der 
Pfleger und des einj.-freiw. Arztes nicht zu erkennen, ob Sinnestauschungen 
bestanden haben. 

Diagnose: Katatonische Form der Dementia praceox. 

Diese Beobachtung fiihrte zu folgendem Gutachten: 

Am 15. 12. beantragte Hauptmann Yanselow die Untersuchung des S. 
auf seinen Geisteszustand, da er bei einer Verhandlung beim Oberkriegsgericht 


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Hit Erhdhung der Rigiditat derMaskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 485 


am Tage zuvor eine auffallende geistige Veranderung des S. seit seiner Ein- 
liefernng in die Untersochungshaft bemerkt babe, die anch von anderen Zeugen 
wahrgenommen sei. In der kriegsgerichtlichen Hanptverbandlnng am 21. 12. 
wegen der hier in Rede stehenden Straftaten gab S. an, dass er nicht mehr 
wisse, wie damals alles gekommen sei, ihm gingen seit der ersten Verurteilung 
dieGedanken so im Kopfe herum, dass er nnr an die vierwochige Strafe denke. 
Hauptmann V. als Zeuge erklarte, dass er S. fur schwer geisteskrank balte, 
Oberarzt W. als Sachverstandiger wiederholte seine friiheren Aussagen und 
fiigte binzu, dass S. ibm in der Untersucbungsbaft gesagt babe, ein Mann mit 
dunklen Haaren sei in seiner Zelle gewesen and babe gesagt, er solle sich 
Watte in die Obren stecken, er habe mit einem Buch nach diesem Manne 
geworfen. Eine absohliessende Begutachtung des S. konne er nicbt ab- 
geben. Das Gericht beschloss darauf kommissarische psychiatriscbe Begat- 
acbtang. 

Am 23. 12. warde S. ins Garnisonlazarett Juterbog uberfubrt zur Be- 
obachtung seines Geistesznstandes. Er bat dort angegeben, erbtich nicht 
belastet zu sein und in derSohule gut gelernt zu haben. In der Untersuchungs- 
haft sei er nervos geworden, habe sicb mit seinen Gedanken nicht zurecht 
finden konnen und in der Zelle einen schwarzen Mann gesehen. Die korperliohe 
Untersuchung ergab ein frisches syphilisverdachtiges Schankergesohwur am 
Gliede. Die Sprache war auffallend langsam und stockend, wie gemacht, aus 
dem Munde lief Speicbel. S. war zeitlich und ortlich orientiert. Die Prufung 
seiner Kenntnisse ergab leidlich gute Resultate, dagegen erwiesen sich Korn- 
binationen und Merkfahigkeit geschadigt. Am 26. 12. trat Unruhe hervor, 
sprach sehr viel, seine Reden bescbaftigten sich hauptsacblich mit der Gerichts- 
verhandlung, die Wortstellung dieser Reden war eigentiimlich gesucht, zeit- 
weise war S.ganz ruhig. Am 11.1. wurde nach Auftreten eines ausgesproohenen 
syphilitischen Hautaussohlags eine Scbmierkur eingeleitet. In den letzten 
Tagen trat wieder vermehrte Unruhe hervor, S. behauptete auch, einen 
schwarzen Mann 5fters neben sich zu sehen. Am 16. 1. 10 erfolgte die Ueber- 
fuhrung ins Garnisonlazarett Berlin. 

Die antisyphilitisohe Bebandlung wurde hier sofort weitergefuhrt. Der 
Gesichtsausdruck war erstaunt und dabei eigentiimlich maskenartig 
▼erzerrt, die Augen weit aufgerissen, der Mund nach einer Seite ver- 
zogen, bestandig war starkes Speicheln vorhanden. Wenn S. allein war, war 
er ruhig; sobald aber der Pileger sich mit ihm beschaftigte oder gar ein Arzt 
das Zimmer betrat, sprang er aus dem Bett, lief herum und sprach beziehungs- 
los und verworren. Die Sprache war abgehackt und abgerissen, mit grunzenden 
und quiekenden Lauten untermischt, z. T. vdllig unverstandlich. Fragen und 
Zureden gegenuber war S. unzuganglich, selten war er zu Antworten zu 
bringen, aus denen hervorging, dass er die Eindrucke der Umgebung ziemlioh 
ricbtig auffasste. So wusste cr, wo er sich befand, und kannte die Aerzte als 
solche; zu zusammenhangenden geordneten Aeusserungen war er aber nie zu 
bringen. Auf Befragen bezeichnete er sich als Yollig gesund und verlangto 
zum Dienst zu gehen. 


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486 


Dr. Max Kastan, 


Seine Aeusserungen and Handlungen waren eigentdmlich maniriert and 
bizarr und wiederholten sich vielfach. So lief er jedesmal dem Arzt entgegen, 
wenn derselbe mit Krankenblattern sein Zimmer betrat, und rief bestandig 
„meine Papiere a , sachie auch die Krankenblatter za ergreifen. 

Am Nervensystem fanden sioh keine korperlichen Storungen. Das ge- 
schilderte Verhalten blieb im allgemeinen unverandert. 

Wiederholt traten plotzlich Zornaffekte hervor. In diesen bebauptete S. 
vergiftet za werden und verweigerte auch die Nahrang. Wiederholt behauptete 
er auch von Mannern gefesselt worden zu sein; Risse in seiner Hand, die er 
selbst verursacht hatte, fdhrte er auf solche Misshandlungen zuriick. Eigen- 
tamlich war sein Danebenbezeichnen von Gegenstanden in der letzten Zeit. Er 
nannte z. B. seine Hand „Stein u , die Tiire „Weg a . Ansatze zu richtigen Ant- 
worten machte er gelegentlioh, doch wurden die Satze nie vollendet. So fiel 
die Antwort auf die Frage, wie lange er im Lazarett sei aus: „lch—ja—hier 
—ja, fiinf, fiinf, ja ja ja u . „Dieselbe Antwort wurde auf eine Anzahl nach- 
folgenderFragengegeben, bis erauf eineFrage, bei welchemTrappenteiler diene, 
die Antwort fand: „Ja—Batterie—Stiefel—ja, Batterie-Dienst u . Bin starkerer 
Erregungszustand, in welohem sich die Ausrufe: „7, 8 Jahre bin ich hier u , 
„was wollt ihr u und dergleichen ganzlich beziehungslose und absurde Aeusse¬ 
rungen fortwahrend wiederholten, und in denen er heftig hinausdrangte und 
das Personal angriff, veranlasste am 7. 2. 1910 die Ueberfuhrung in die psy- 
chiatrische Klinik der Charity. 

Das Krankheitsbild, welches S. bietet, ist ein ausserordentlich charak- 
teristisches. Es setzt sich aus hochgradiger geistiger Zerfahrenheit, aus Sprach- 
verwirrtheit, Negativismus sowie Verschrobenheit, Maniertheit, lmpulsivitat 
und Stereotypic in Ausdruckbewegungen und Handlungen zusammen und offen- 
bart hierdurch deutlich seine Zugehorigkeit zur katatonischen Form der De¬ 
mentia praecox (jugendliohe Verblddung). Nebenher bestehen noch Sinnes- 
tauschungen und Wahnbildungen, wie sie gleichfalls bei dieser Krankheit vor- 
kommen. Die Yorgeschichte weist darauf hin, dass zwar, wie so haufig, die 
Haft den Anstoss zu dem Hervortreten schwerer Krankheitserscheinungen ge- 
geben hat, dass der eigentliche Krankheitsbeginn aber waiter zuriick liegt. In 
dem vom Oberarzt W. und den anderen Zeugen in der Zeit, in die die Straf- 
handlungen fallen, beriohteten konfusen und unstaten Wesen des S. ist mit 
Sicherheit ein sehr charakteristisches Zeichen der bereits vorhandenen krank- 
haften geistigen Veranderung zu erkennen, dieStrafhandlung selbst zeigt deut- 
liche Zvige des Negativismus, der Zerfahrenheit und der lmpulsivitat. Es ent- 
spricht zudem der wissenschaftlichen Erfahrung, dass ein^so schwerer Krank- 
heitszustand, wie ihn S. jetzt bietet, langere Zeit bis zu seiner Ausbildung 
braucht. Sehr bemerkenswert zur Beurteilung der Frage, wie lange die Ent- 
stehung der Krankheit zuruckreicht, sind auch die anliegenden schriftlichen 
Aufzeichnungen dos S. Sie lassen neben einigermassen zusammenhangenden 
Betrachtungen, welche an den S. zur Last gelegten Diebstahl ankniipfen, die 
deutlichen Erscheinungen der geistigen Zerfahrenheit und der fur die Krankheit 
charakteristischen Sprachverwirrtheit bereits Ende August 1909 hervortreten. 


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Mit Erhohnng der Rigiditat der Muskeln einbergebende Nervenkrankheiten. 487 

Abschrift der Kankengcschichte der Konigl. Charitd. 

Wird nacbmittags von ffinf Sanitatssoldaten eingeliefert, lasst siob aus- 
ziehen, verhalt sich rohig. Yerzieht das Gesicht, lasst den linken Mund- 
winkel hangen, fortwahrender Speichelfluss. Als er ins Unter- 
SDcbungszimmer gefiibrt wird, bricbt er in Weinen aus. 

Wo b>er? „Ja, eben ja—ja, eben gefragt . . Ich gewesen Lazarett ja“. 
?? „Lazarett, jawohl". 

Wer ich? „Doktor“. 

Jahr? „19 . . . 1910 . .ja“. 

Uonat? „Januar . . . Januar“. 

Datum? „Nein . . . nicht u . 

Wo gestern? „Lazarett“. 

Krank? „Nein u . 

Schmerzen? „Mir gedruokt“ (deutet auf die Magengegend and hebt das 
Hemde boch). 

Gesnnd? Ja, gehen in Batterie? ja, macht er Dienst? ja, maoh meinen 
Dienst 11 . 

Bei der Visite: „ich beiss Ibnen doch nioht“ . . . Fortgesetzt ziemlioh 
eintonige Mnndbewegnngen, Entblossen der Zahne, Verziehang des Mundwin- 
kels. Nach links and rechts Vorstossen von Speichel, Hocbziehen der Angen- 
braaen. Haben Sie Krampfanfalle gehabt? „Nein, ich bin krank nicht nein“. 
Wann beim Militar eingetreten? „Die Tage kommen nicht u . (Nacb wieder- 
holtem Befragen.) Wie lange Soldat? „Ein Jahr, ein Jahr ja“. Anfregnng ge- 
habt? „lch komme doch u . Was fiir Aufregung? — Besonders haufig kommt eine 
Mundverziehung vor, bei der die rechte Mundhalfte feat geschlossen, 
die linke weit gedffnet wird. Seit wann so ver&ndert? „Mir warde ge- 
sagt, ja, diese Nacht nichts gewesen". 

Die hingehaltene Urkette wird sofort fixiert und richtig bezeichnet, dann 
spontan: „Nun gesagt, laaft weg, ja, die Geschicbte da, halb 2 ja, da kommen 
mir, kommen mir, kommen mir, besser ja die Worte". 

Uhr? Es wird 1 / 2 9 abgelesen (tatsachlioh 6 Minuten vor 1 / 2 10). 

2 X 3? 6, 8 X 9 = 48. ? !) Stimmt. Siebt den Arzt dabei gross an. 

Farbe Blut? Nach langer Pause „Blut“ (kurz hervorgestossen. ?!). Ver- 
ziebt das Gesicbt, grimassiert und schdttelt den Kopf. Weiss, Weiss . . . 

Welche Farbe der Schnee? Ja —0. 

Verstehen Sie meine Frage? „loh verstebe ja“. Fortwahrendes Finger- 
spiel and Grimassieren, aber keine Antwort. „Mag die Gescbichte nicht". 

? !) „Ja Gesicbt 11 . 

? !) „Der hat welche, ist jiie Gesohichte ja“. 

Auf tiefe Stiche in die bebaarte Kopfhaut keine Schmerzreaktion, bei tiefen 
Sticben in die Nasenschleimbant Zusammenpressen der Kiefer. Kein Blinzeln. 

Klinisohe Vorstellang. (Spontan-Aeusserungen.) 

Ich erzahle die Geschicbte ... lob setze ja, ja, ich setze die Stuhle her. 

Wie heissen Sie? „r.“ 


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Dr. Max K&stan, 


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Was sind Sie? „Ja, die Geschichte, ja u . 

? !) Ich, herkommen, ein Jahr Schiessschule, ja erzahlen Sie die Ge- 
schichte? 

2X3? Ja, 6. 

Farbe Blut? „Weiss, Weiss ja u . 

Farbe Scbnee? „Er kommt niobt durcheinander 4 . 

? !) „Er kommt, ja er kommt, setzen, nicht hier stehen, SttLhle bringea 
Sie mir. 

Zurufen? 

Fisch? 0. Tanzen? 0. 

Gift? 0. Krank? 0. 

Keinerlei assoziative Reaktioo. 

Auf Sticbe keine Reaktion. 

8. 2. 1910. Pat. verhielt sicb nachts ruhig, auch beute dieselbe Mund- 
stellung and fortwahrender starker Speichelfluss. Der vorgehaltenen Pistole 
weicht Pat. aus, beim Knall kein Blinzeln. Auf den Warter Sch. aofmerksam 
gemaoht, der mit dem Pat. in einer Batterie gedientbat, erkennt erihn wieder. 
Als ihm der Name genannt wird, nickt er mit dem Kopf und wiederholt den 
Namen mehrmals. 

9. 2. Visite. Hande leicbt zyanotiscb, bis jetzt reinlicb. 

10. 2. Wer bin ich? ,ja, frei weg M . 

Wo hier? „ja w . 

Auch heute dieselbe Mundstellung, starker Speichelfluss. 

12. 2. Die Mundstellung ist noch nicht anders geworden, immer nocb 
starker Speichelfluss. Auf die Frage, wie es ihm gehe, macht er mit seinem 
Munde eigenartige Bewegungen, als wenn er sprechen wollte, lallt einigeWorte, 
die ganz unverstandlich sind, und grimassiert im Gesicht. Er verhalt sich 
sonst ruhig, sein Appetit undSohlaf sind gut. Haufig steht er aufrecht imBett. 

13. 2. Auf Befragen gibt Pat. an. dass er vom Lazarett nach dem Kran- 
kenhaus gebracbt worden ware, dazwischen sei ein weiter Weg gewesen. Er 
wollte dann anscheinend erzahlen, wie er hierher gekommen ist, konnte es 
aber nicht aussprecben. Weiterhin sagt er, dass im Lazarett ein Arzt mit 
einem weissen Mantel gewesen ware, und dass hier auch ein Arzt mit einem 
weissen Mantel sei, deshalb musse hier auch ein Lazarett sein. 

14. 2. Reibt an den Beinen und sagt, er mbchte die die . . . (kann das 
Wort nicht finden) und als gesagt wird: die Hosen, sagt er ja, die Hosen. 

Perkussionshammer? 0. 

Ist es ein Nagel? 0. 

Ist es ein Hammer? 0. 

Schlussel? „Das ist die 44 (macht die entspreckende Handbewegung). 

Ist es ein Schlussel? „Schliissel u (lacht dazu erfreut). 

Uhr? „Na lauft mir weg, ja u (mit weinerlioher Stimme und schlagt sich 
gegen die StirnL 

Ist es ein Taschentuch? fasst nach seinem Taschentuch und sagt erfreut: 
^Tucha, Tucha u und zeigt es. 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 489 


Noch einmal gezeigt: „Die Uhr fertig“. Haben Sie Krampfanfalle ge- 
faabt? „ja“, maoht die entspreohende Bewegnng and sagt die Qesohichte. 

Wann gebabt? 0. 

In der Scbale? ,ga“. 

Sieht hente den Arzt mit freudigem erstannten Gesicht an. Wer bin ioh? 
deutet anf die Aerzte and sagt: „Doktor, Doktor, Doktor“. Uhr? „Laaft ja 
immer im Kopf, lauft, lauft“. 

1st es ein Loffel? „Schuttelt den Kopf“. 

1st es eine Uhr? „ja“, mit freadigem Lachen. 

Wie viel ist die Uhr? „12 u (in der Tat war 11). 

Welohe Farbe der Sohnee? „liegt die Wege“. 

Wie sieht er aus? Fasst das Betttaoh zwischen seine Hande and suoht 
naoh dem Worte, aussert dann „diese u and sieht dabei das Betttaoh an. 

Hell? 0. 

Weiss? ,ja“. 

Deatet dann noch einmal anf die Stirn und sagt: „da die Worte- 

lauft, lauft“. 

2 X 3? 6. 

15. —16. 2. (Waohbericht). Pat. wollte sich von Anfang der Wache 
mit seinem Nachbar unterhalten. Pat. S. gab ihm jedoch keine Antwort, dann 
nahm Pat. eine sitzende Stellung ein, so dass es aussah, als wenn sich Pat. 
mit seinem Naohbarn weiter unterhalten wollte, spater legte Pat. sich hin, and 
schlief bis zam Morgen. 

16. —17. 2. (Wachberich)t. Um IY 2 Uhr stand Pat. auf und fragte 
verwundert, wo er denn sei and was er im Krankenbett machen sollte. Anf 
Fragen gab er ganz klare Antworten, las die Uhr genau ab. Er stand dann 
anf, kam an den Tisch vor und unterhielt sich mit Pat. R., wobei er richtige 
Auskanft gab. Alsdann fragte er, ob er an seine Matter gesohrieben habe; als 
ibm dies verneint wurde, bat Pat., ein paar Zeilen schreiben zu durfen. Er 
bat dann um ein anderes Bett und sagte, es komme ihm alles so komisch vor. 
Es sei ihm im Kopf noch so dumm und im Kehlkopf laufe ihm immer nooh 
etwas zusammen. Er mochte gleich Dienst machen. Pat. wiinschte alien gate 
Naoht and legte sich dann hin.. Auf Befragen gibt er ganz genau die Dauer 
seiner bisherigen Dienstzeit an, Oktober wurde er entlassen. Auf weitere 
Fragen gab er ganz klare Aaskanft. Pat. sohlief dann gut bis zum Morgen. 

17. 2. Wo hier? „im Krankenhaus“. 

Wer ich? „Herr Doktor“. 

Jahr? ,,1910“. 

Monat? „Febrnar“. 

Auf Befragen gibt Pat. an, dass ihm eines Tages, als er mit seiner Bat- 
terie von einer Schiessiibung zuriickkehrte, plotzlich auf dem Kasernenhofe 
„seine Gedanken gesohwunden u waren. Ueber die Yorgange in der Zwisohen- 
zeit weiss er absolut nichts. 

Weiss nicht, wie er hierher gekommen ist. Haben Sie mich schon mal 
gesehen? „Nein“. Gestern sohon bei Ihnen? „nein“. 

Arohiv f. Psychiatric. M. HO. Heft 2/3. go 


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Dr. Max Kastan, 


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Fruher Krampfanfalle? „ich weiss nicht 44 . 

Fruher Krampfe? „es hat immer nur in den Beinen gezogen 44 . 

Mundfazialisinnervation heute fast symmetrisch. Behauptet, die Uhr des 
Arztes noch nioht gesehen zu haben. 

Fragt dann, was er eigenlich gemacht habe, ob er einen totgeschlagen 
habe. Sieht dann naoh seinen Handen and sagt: „Ich weiss gar nioht, das 
ist doch nicht mein Fleisoh, ich habe doch fruher anderes Fleisch gehabt u . 

Seit wann hier? „Seit gestern 44 . 

Wer ich? „Herrn Doktor gestern gesehen 44 . 

Wo hior? „Krankenhaus in Berlin 44 . 

Krank? „Ich fuhlo mich gerade so, als wenn ich in einem, in einem, als 
wenn ich ganz aufgedunstet bin 44 . 

Patient sitzt ruhig im Bett, der Gesichtsausdruck ist lebhaft, Gegenstande 
werden richtig bezeichnet. 

Datum? „17. Februar 44 . 

Soldat? „Ja 44 . 

19. 2. Wie auf der Schule gelernt? „Gut 44 . 

Wieviel Klassen die Schule? „Zuerst Volksschule bis 10. oder 11. Lebens- 
jahre, dann noch eine bohere Schule und dann in die Stadtschule nach Tilsit 44 . 

Gibt an, nicht sitzen geblieben zu sein, sondern Nachhilfestunden ge- 
liabt zu haben. 

317? „r.“ 

Kolonie? „Ist eine neuangelegte Ansiedelung 44 . Auch jetzt noch beim 
Sprechen oft Hochziehen der Augenbrauen. 

19.—20. 2. (Wachbericht). Patient war von Anfang der Wache auf- 
geregt und weinte laut. Dann kam Pat. aus dem Bett und behauptete, der Arzt 
hatte gesagt er ware geisteskrank. Pat. sah den Arzt immer in einer Ecke 
stehen, „ich sehe ihn ja u . Auf Zureden legte Pat. sich dann ins Bett. Nach 
einer halben Stunde meint der P^t., der Doktor stehe in der Tur, er kdnne 
nioht hingehen, sonst reisst Pat. dem Doktor die Nase ab. 

Pat; sah fortwahrend nach der Tur, dann fiihrte Pat. leise Selbstgespraohe 
und drohte mit der Hand nach der Tur. Pat. sagte spater: „Da an der Tur 
brennt Licht und da tanzt der Doktor auf ein Bein, wenn ich hingehe, dann 
schlage ich den Hund tot 44 . Als der Warter ihm sagte, dass da niemand steht, 
ging Pat. auf die Tur zu und schlug mit der Faust rein, und sagte, jetzt geht 
er zuriiok 44 . Dann legte Pat. sich wieder ins Bett. Auf Anordnung des Arztes 
bekam Pat. 1,5 Veronal und 2 Ldffel Amylenhydrat. Pat. blieb wach, frug den 
Warter fortwahrend, wie spat es sei, er konne die Uhr nicht mehr sehen. Pat. 
blieb aufgerichtet im Bett sitzen und sah fortwahrend nach der Tur, dann kam 
der Pat. zu dem Warter und sagte, er mochte ihm doch Hilfe leisten, er allein 
bekommt ihn dort von der Tur nicht weg. Als der Warter ihm erklarte, dass 
da niemand sei, ling Pat. an zu weinen und bat, „helfen Sie mir doch, da 
kommt er, der will mich erwurgen, wenn or dort nicht weg geht, dann muss 
ich mich aufhangen. Erwurgen lassen will ich. mich nicht, nicht von ihm 41 . 
Um l j 2 < i Uhr schlief Pat. in sitzender Stellung, rechte Hand am Kopf, ein,. 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMoskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 491 


legte sich naoh einer halben Stunde erst hin and sohlief dann mit Unter- 
brechung bis frub. 

21. 2. Behauptet seit gestern, dass ein Volontararzt, der eine Brille tragt, 
ihn als geisteskrank bezeichnet babe. Siebt ihn auch heute unverwandt an 
nnd aussert: „Brille abnehmen — allein mal — Willen mich betrugen — Sie 
denken iob kenne nicht mehr ein Talglicht. (Bezieht sicb auf die Intelligenz- 
prufung, Pupillenprufung mit dem Wachsstock.) Ich kenne Honig dooh und da 
wollen Sie mir vorreden, das ist ein Talglicht. Oft stotterndes Wiederholen 
einzelner Worte und kurzer Satzteile. Linke Unterlippe wieder sohief 
nacb unten gezogen. 

Es wird ihm das Talglicht gezeigt, er greift danacb und sagt: „Licht — 
Licht". 

Was ist das? „Wie Honig sieht’s aus", behauptet dann, es ware Talglicht, 
wirklich ein Honiglicht. 

Gestern floss ihm der Speichel wieder aus dem Mundwinkel auf das Hemd. 

Abends liest Pat. in der Zeitung von einem Beileidstelegramm des Kaisers 
nach dem Ableben des Grafen Stollberg. Sagt dann zum Arzt: „Wie kann denn 
der Kaiser den Grafen beleidigen!" 

Warum Mund verzogen? „lch mach’ das doch nicht. Ich war mit einem 
guten Uenschen am Bett, jetzt muss ich fort, mit dem mit der Brille". 

Sind Sie nun verniinftig? „Ja". 

Ganz klar doch nicht? „Bin ganz klar u . 

Benommen? „Das kann ich doch nicht glauben". 

Spontan: „Die Klappen schreien hier, ich halte es nicht aus." 

26. 2. n War heut morgen verreist, war in der polnischen Weltausstellung 
in Pari3 und habe mir den Klapperstorch angesehen". 

Wie sah er aus? „Grun mit schwarzen Federn". 

Blauem Kopf? Ja, hat er einen blauen Kopf". 

Rote Federn? „Ja, hat er rote Federn". 

Kariert? „War er kariert". 

Behauptet dann, sein Rucken ware blutig, er habe es beim Baden gesehen. 

27. 2. Die machen hier tolle Sachen, das kann ich nicht aushalten, wie 
in einer Maschine bin ich hier drin* (bezieht sich wohl auf den tobsiichtigen 
Baron). 

Merkzahl 472.- 
Es war 472 diktiert. 

1. 3. War nachts sehr aufgeregt, sprach sehr laut und nahm den andern 
Pat. die Decke weg. Wollte die Fensterscheibe zersohlagen. 

8 80 Uhr 1 Spr. Hyosoin. Schlaft darauf bis zum Morgen. 

Behauptet am Morgen, die ganze Nacht geschlafen zu haben. 

3. 3. Pat s erhalt eine Karte yon einer Schwester, welche er nicht an- 
nehmen will, er heisse nicht Max, sondern Ludwig; er sei Ludwig XVI. Spater 
aussert er, ihm sei der Kopf auseinandergeplatzt, ihm sei ganz bunt im Kopf. 

4. 3. Pat. gerat gegen 6 Hhr mit einem Warter in Streit, geht auf diesen 
los und yersucht ihn zu schlagen. Er ist dann sehr erregt, sohimpft laut mit 

32* 


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Dr. Max Kastan, 


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unverstandlichen Worten und nimmt ganz eigentdmliche Korper- 
haltungen an. Erkrampft bald den ganzen Korper zusammen, bald 
liegt er wie auf dem Querbett, den Kopf nach unten, die Arme ge- 
spreizt in der Luft. 

7. 3. Sobald Pat. angeredet wird, zeigt er ein weites Aufreissen der 
Augen, Hochziehen von Branen and Stirn, and ein Verziehen des linken Mund- 
winkels nach nnten und zur Seite. 

8. 3. Pat. war am Uorgen aufgeregt und schimpft und ruttelt an den 
Tiiren. 

Weshalb? „Ja, ja, wollen totmachen — der Dioke, der Dioke, raus, ich, 
ich — ich habe ihm u (ballt die Faust und schlagt um sich). 

Klinische Vorstellung, nach derselben. Wo waren Sie vorhin? „In der 
Weltausstellung — der Dioke, der Dioke u . 

Er ruttelt an den Tiiren, geht auf Warter und Pat. los, wirft den Pat. K. 
mit Wucht an die Wand seines Kastenbettes und den Pat. P. aus dem Bett, 
wobei der letztere eine leichte Hautabschiirfung davon tragt. 

8. 3. Nachtrag, klinische Vorstellung. 

Geh. Z.: Wer bin ich? „Weiss — weiss weiss ich 11 . 

Was? „Fischer w . 

Geh. Z. setzt dann Pat. ein Horrohr auf die Brust. 

Was bin ich? „Ziehst aus, hier doch (Pat. versucht seine Jacke zu offnen). 

Was? „Doktor w . Wo hier? „Tilsit“. 

Welches Jahr? Falsche Antwort. 

Welcher Monat? „Juni u . 

Welohe Tageszeit? „Abend u . 

Wie lange hier? „1 Jahr a . 

Haben Sie Angst? „Ich nur hier stehen, jetzt ist sie weg 41 . 

Welche Farbe hat das Bint? „blau“. 

(Es wird ihm ein Wachsstock gezeigt.) Was ist das? „Honig“. 

Wieviel Beine hat ein Pferd? „8 U . 

9. 3. Hat den ganzen Tag geschlafen. 

10. 3. Lag ruhig im Bett. 

11. 3. An diesem Tage geriet er zweimal mit einem Warter aneinander, 
den er verpriigeln wollte. Er rollt dabei die Augen und Schaum tritt ihm vor 
den Mund. Der Korper wankt dabei stark hin und her, ohne indessen hinzu- 
sturzen. Mit seinen Armen macht er eigenartige pathetische Bewegungen, 
schlagt sich dabei zeitweilig auf Brust und Riicken. Die Worte, welche er 
sprechen will, wiederholt er 5mal und mehr, ohne irgendeine Satzstellung zu¬ 
sammen. Nach einer Spritze Hyoscin beruhigt er sich. 

12. 3. Bei der Visite liegt der Pat. zusammengekauert an dem Fussende 
des Bettes eines Mitpatienten. Er hat dabei seine Hande um den Fuss des 
Bettes geschlungen. Das rechte Bein ist im Knigelenk gebeugt, das 
linke ausgestreckt auf dem Boden; der' Oberkorper ist stark ge- 
krummt, der Kopf herabgesunken. In dieser Stellung verharrt er unge- 
fahr eine Stunde, schlaft ein und wird zu Bett gebracht. 


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13. 3. Am Abend ist Pat. wieder unruhig, will sein Bett verlassen. Er 
erbalt 1,0 Veronal. 

Pat. geht gegen Abend auf den Pat. P. los, wird aber zuriickgehalten. 
Anf die Frage weshalb, bringt er nnr die Worte „Dieser dieser“ . . . herans. 
Er maoht den Eindrnok, als ob er naoh weiteren Worten suche, sie aber nicht 
finden konne. Mehrmals schliigt er sich dabei mit der geballten Faust gegen 
die Stirn. 

15. 3. Er verhalt sich heute ruhig. 

16. 3. Pat., weloher ein kleines Glasstiickchen auf der Erde fand, wollte 
dieses nicbt herausgeben; es musste gewaltsam abgenommen werden, wobei er 
sich eine Kratzwunde am linken Ellenbogen zuzog; ebenso einige Schrammen 
an der linken Bauchseite. 

18. 3. Pat. hauft alle Zeitungen, Trinkbecher, welche er anderen Pat. 
abnimmt, unter seinen Decken zusammen. Auf die Frage, weshalb er das tue, 
bringt er nur das eine Wort heraus: „Schind, Scbind u . . . welches er 5 bis 
6mal wiederbolt. Hittags will Pat. kein Mittagessen zu sich nehmen und liegt 
den ganzen Naohmittag starr Tor sich hinsehend im Bett. Er stosst dann die 

Worte ans: „Stehlen-stehlen. Mittagessen nicht essen u ; er fangt dann 

laut an zu weinen. (Am Morgen war bei der Visite davon die Rede, dass Pat. 
als Soldat gestohlen haben soli). 

19. 3. Was sollen Sie gestohlen haben? „Nichts“. 

Was? „Essen u . 

Wem? „Hier — den den den“. 

Wem denn?! Runzelt die Stirn, scheuert Bart und Hals, antwortet aber 

nicht. 

21. 3. Wahrend der Nacht war Pat. ruhig, er macht in den letzten Tagen 
reibende Bewegungen auf seinem Bauch; nach der Ursache gefragt, bringt er 
nur die Worte heraus: „hart, hart w . 

22. 3. Pat. geriet in der Nacht mit dem Pat. H. in Streit und bringt 

diesem einen Schlag ins reohte Auge bei. i 

24. 3. „Mir ist so duselig im Kopf; 99 Tage war ioh in Untersuchungs- 
haft — 99 Tage, da habe ich — da habe ich gearbeitet, meine Papiere ge- 
schrieben. Bestraft bin ich, bestraft mit, mit .... — wieviel Wochen weiss 
ich nicht — Berufung, Berufung eingelegt, ich habe zwei Bogen geschrieben. u 

Bei welohem Regiment gedient? „Artillerie 53 u . 

Wo? „Bromberg u 

Wann geboren? „ 1887“ 

Wie alt? „23 Jabre u 

Wie heisst Ihr Hauptmann? von V. 

Der Leutnant? v. H. 

Der Oberst? Seine Exzellenz von K. 

26. 3. Pat. ist heute sehr unrubig, er erklart: „die Syphilis geht in 
meinem Leib rum. hier ist schon alles dick geworden (er zeigt auf seine Mus- 
kulatur), meine Korperteile sind schon ganz gelb geworden, ich werde hier 
schon durch die Syphilis verfaulen u . Pat. beginnt laut an zu weinen, lasst 


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Dr. Max Kastan, 

sich aber durch einen kleinen Soherz zum lauten Lachen um- 
stimmen. Er setzt sich dann hin and verfasst einen Bericht fiber seine 
Krankheit. 


Berlin d. 27. Marz 1909. 

Einige Anmerkungen iiber meine Geschlechtskrankheit. 

Ich entsinne mich ganz genau, als ich in Untersuchungshaft war, meldete 
ich Herrn Oberarzt Dr. Wiedel, dass ich bei mir Schanker bemerkte, an 
der linken Seite der Kreuzfurche eine offene Stelle. Hierauf erhielt ich den 
Befehl, das Glied, taglich mehrere Male mit kaltem Wasser zu kfihlen. — 

Auch war die Vorhaut am.angeschwollen. — Es wurden mir aoch 

mehrere Stiickchen Gaze in die Zelle gebracht, von Herrn Sanitatsfeldwebel 
.So habe ich denn nun einige Zeit in der Zelle gesessen. 

Dann bin ioh nach dem Lazarett gebracht worden. 

29. 3. Der Pat. zeigt in den letzten Tagen ein ganz verandertes Wesen, 
er ist ietzt vollstandig ruhig und liegt nachsinnend im Bett. Die Sprache ist 
nicht mehr so stockend wie fruher, sie ist heute verhaltnismassig fliessend. 
Wahrend er fruher stets erklart batte, fiber einen Diebstahl niohts zu wissen, 
ebenso wie von einer syphilitisohen Infektion, vermag er heute, Einzelheiten 
anzugeben. „Nach und nach ist mir alles eingefallen. u Auch die Iutelligenz- 
priifung ergibt bessere Resultate. 

Haben Sie gestohlen? „Nein u . 

Haben Sie Qeld gestohlen? „Nein“. 

„Ich habe die Pakete von der Post geholt, da sollen Geld und andere 
Sachen weggekommen sein. w 

Haben Sie doch nicht etwas Geld herausgenommen? „Nein, ich habe von 
meiner Schwester vorher Geld erhalten und auch 15 Mark von Hause. Ich bin 
augeklagt worden, aber ein Offizier als Verteidiger ist mir versagt worden, weil 
es sich urn einen schweren Diebstahl handelte. Der Verteidiger war R,echtsan- 
walt S., der Kriegsgerichtsrat Dr. M. Ich wurde zu der geringsten Strafe — 
6 Wochen Gefangnis verurteilt — Untersuchungshaft abgerechuet. Damals 
konnte ich mich nicht verteidigen, da meine Sprache schlechter war. Ich habe 
dann gleich Berufung eingelegt auf Rat meines Verteidigers und auf meinen 
eigenen Willen hin tt . Der Pat. erzahlt dann den weiteren Verlauf seiner An- 
gelegenheit ganz genau bis zu alien Einzelheiten. Manohe Dinge weiss er unter 
Angabe der Stunde zu erzahlen. Er gibt dabei auch an, dass es ihm ausser- 
ordentlioh peinlich sei, wenn auf Kontrollversammlungen die Strafen vorgelesen 
wurden, wo er doch nichts getan habe. 

30. 3. Pat. klagt heute iiber Schmerzen in der Brust und glaubt, das 
Sekret seiner Nase mfisse wohl nach hinten abfliessen, da vorne niohts mehr 
herauskomme. 

„Dass ioh leidend bin, weiss ich schon fruher, aber dass ich jetzt 
nicht weiss, was zuletzt passiert ist, das verstehe ich nicht, Ich habe friiher 
zeitweise nicht gewusst, was ich gemaoht habe. Eine Stellung habe ich fur 
ein gauzes Jahr angenommen, ich konnte sie aber nicht durchffihren. So sollte 


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Mit Erhohnng der Rigiditat derMaskeln einhergehende Nerrenkrankheiten. 495 


ich auf dem Gate ein Madchen geschlagen haben, aber ioh wasste nichts da- 
von; erst als ich vom Gerioht die Vorladung erhielt, horte ioh davon. Ich 
wurde zu 3 Hark Strafe verurteilt and ich wollte damals bis zam hochsten Ge- 
richt gehen and wean die Sache nicht duroh Zureden vom Herrn Amtsgerichts- 
rat erledigt worden ware, so schwebte sie heute noch. Ioh war bei Kraften, 
aber ich war geistig krank. Ich stellte die Gespanne richtig an, verteilte dio 
Lente, aber wenn mal etwas verkehrt war, so wassto ioh naohher nichts daron. 
Auch beim Militar war es nichts, ich verweohselte die Kokarden and fiel immer 
auf. Was soil nan aus mir werden, meine Mutter hat mich etwas lernen lassen 
and ioh moohte ihr in dem Alter etwas Gates tun. tt Pat. beginnt laut an zu 
weinen. Von dem Verziehen des Mundes, dem Krausziehen der Stirne ist nicht 
das Geringste mehr wahrzunehmen. 

31. 3. Vormittag. Heute ist der Pat. winder unruhiger, er lauft wieder 
erregt durch den Saal. Zeigt wieder das gleiohe Zeichen desGesichts wie fruher, 
auch die Sprache ist wieder stookend. 

„Wenn ich, ich . . kriege . . den Oberstabsarzt — ich kriege ihn — kriege 
ihn . . . meine Papiere, die sind, sind, sind . . . nehme meinen Loffel Leber* 
tran, kriege Appetit und besser Stahlgang — nein, nein heisst nicht Lebertran, 
ich — ich — will dooh nicht verfaulen.“ (Der Pat. leidet an einem spezifi- 
schen sekundaren-makulbsen Exanthem). 

Naobmittag. Der Pat., welcher wahrend der letzten beiden Tage ver- 
langt hatte, ron einem Herrn der Hautklinik nntersucht zu werden, wird, als 
seinem Wanscbo nachgekommen ist, wieder ruhiger; der Erregungszustand des 
Vormittags klingt vollstandig ab. 

4X33? r. 


Merkzahlen 


624378 r. 
274536 r. 


Aufgabe behalten. 

5 X 47? r. (Sehr schnell gerechnet.) 


368 420 r. 

537 48 37 r. 
Aufgabe vergessen. 
13X12? r. 

367 426 78 r. 

527 476 43 r. 


Aufgabe behalten. 

Wieriel bringen 450 M. zu 4°/ 0 ? r. 

2 Pferde 3700 M. wieriel 1 Pferd ? r. 

4 Pferde 9230 M. 1 Pferd? r. 

634789206? r. 

920 642 374 8? Palsch bei der 10.Stelle. WelcheAufgabe zuletzt? Richtig 
mit genaaer Zahlenangabe. 

Stadt, Dorf? Die Stadt ist Stadt, weiter begrenzt wie ein Dorf. 

Irrtum, Luge? Liige mit rollem Bewusstsein. 


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Dr. Max Kas tan, 


Rechtsanwalt, Staatsanwalt? Der Staatsanwalt ist angestellt, der Rechts- 
anwalt ist iiir das Yolk da. 

Loiter, Treppe? In Ostprenssen ist beides eins, hier ist die Loiter too 
Sprossen, die Treppe von Stufen. 

Monate rfickwarts? r. 

Obgleich der Hand bissig ist? Lauft er los her urn. 

7 + 23? 30 r. 

7 + 2750? 5400 f. 

Wie recbnen Sie das? Indem ich die beiden Faktoren abziehe. 

4. 4. Der Pat. liegt hente rnhig im Bett, er meint, er wfirde trotz der 
Sohmierkar seine Krankbeit nicbt dbersteben; er sei scbon ganz gelb am Korper 
and er babe starke Scbmerzen in der Brnst. 

2. 4. Hente ist der Pat. weniger klar, am Korper findet sicb ein gross- 
fleckiges Syphilid; auch leidet er an einer Angina specifica. 

4. 4. Der Pat. klagt hente fiber Scbmerzen im Leib; er leidet ferner an 
Diarrhoen, wahrend in den Tagen vorher eine Ostipation bestand. Temperatnr 
38,9°. Der Leib ist massig aufgetrieben, and bei Drnck aaf der reohten Seite 
schmerzempfindlich. Der Pat. redet wieder mit stockender Sprache and zeigt 
wieder das alte Grimassieren. 

Am Naohmittag betragt die Temperatnr 39,8°. Puls 102, voll and regel- 
massig. Am Morgen hat der Pat. wieder Erbrechen. 

5. 4. Die Scbmerzen baben nacbgelassen; Temperatur 37,5°. (Leicbte 
Appendicitis simplex). Die Konjnnktiven zeigen eine leicbte ikteriscbe 
Verfarbung. 

7. 4. Die Appendioitis ist abgeklungen, der Pat. ist augenblicklioh nicht 
imstande einfache Rechenaofgaben zu losen, die Sprache ist stockend; er rer- 
greift sich zaweilen in den Wortern, sagt z. B. statt Hauptmann - Haas; beim 
Sprechen kratzt er aaf seinem Kopfe beram, fahrt mit der Hand darch die 
Haare, zieht die Stirn in Falten, and verzieht den Mund. Die Schrift, welche 
z. B. am 27. 3. gat zu lesen and ricbtig war, ist kaum zu lesen and voll ortho* 
graphischer Fehler. Die Stimmung ist sehr scbwankend, zaweilen beginnt er 
fiber Kleinigkeiten za weinen. 

9. IV. Der Pat. gerat hente fiber eine Kleinigkeit in die heftigste Aaf* 
regang, er verzieht dabei das Gesicht krampfhaft, die Stimme wird lallend, 
der ganze Oberkorper zeigt eine intensive Rote, sonst gleicber Zustand wie am 
7. 3., spater erklart er, er kijnne noch Millionen verdienen als Landwirt. Er 
wolle die Weltausstellang bescbioken und bekame ffir einen Ochsen 8000 Mark. 

11. 4. Dem Pat. werden hente zwei Zahne gezogen; vorher and naohher 
stellt er sich vor den Spiegel and schneidet Grimassen. Karze Zeit daraaf ge¬ 
rat er wieder in einen hochgradigen Erregnngsznstand, er schimpft, dass man 
ihm die Zahne nicht riohtig gezogen and erklart, er wfirde dem Arzt das Ge- 
nick brechen. Er ist nor schwer zur Ruhe za bringen. (1 mg Hyoszin.) 

13. 4. Der Pat. erklart hente, er babe eine Million zurfickgelegt and er 
babe die Plane za einer grossen Villa gezeichnet, er wfinsche jetzt entlassen 
za werden, am das Haas baaen za konnen. 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMoskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 497 

14. 4. 17. Der Pat. gerat auf der chirurgisohen Kiinik, als ihm ein paar 
Zabne gezogen werden sollen, wieder in einen derartigen Erregungszustand, 
dass die Extraktion nicht ausfuhrbar ist. Aueh heute bait er die Behauptung 
aafrecht, er besitze 2 Millionen and wolle sicb jetzt eine Villa bauen. 

17.4. 6X5? f. 

635 489 f. bei der 3. Zahl. 

580 474 f. bei der 4. Zahl. 

Dorf, Stadt? „Das ist gleich u . 

lrrtum, Liige? 0 

Fluss, Teich? „Der Teich, der Teich, Teich ist — ist — ist eine Abtren- 
nung vom Fluss u . 

Starker Speichelfluss und Verzieben der Mundwinkel, weites Aufreissen 
der Aagen and Krausziehen der Stirne. Die Sprache bat wieder etwas Stooken- 
des; der Pat. vergreift sicb wieder in den Worten and fahrt sicb beim Sprechen 
fortwabrend durch die Haare. 

18. 4. Der Pat. erklarte heute, er babe in der Nacht einen Unteroffizier 
gesehen, welcher ibn habe holen wollen, er yerlange jetzt dringend entlassen 
zu werden; ich werde noch Leutnant und Oberleutnant. 

20. 4. Der Pat. erklart heute, es seien ihm 2000M. aus demBettgestohlen, 
und gerat dann in einen starken Erregungszustand. Er lasst sich langsam zur 
Erde gleiten, schreit und weint „Meinetwegen, ver-ver-verfressen“. Er bleibt 
ungefahr 20 Minuten auf dem Fussboden liegen, lauft dann noch einige Zeit 
im Zimmer herum und legt sich dann zu Bett. 

21. 4. Der Pat. klagt heute viber Scbmerzen in der rechten Bauchgegend, 
leidet ferner an Durchfallen. 

24. 4. Liegt ruhig im Bett, verlangt immer wieder zur Batterie entlassen 
zu werden; er sei ganz gesund, er solle hier nur abgeschlachtet und unter die 
Erde gebracht werden; auf Orientierungsfragen gibt er richtigeAntwort. einfache 
Rechenexempel vermag er heute nicbt zu losen, auch auf Unterschiedsfragen 
gibt er heute ungeniigende oder falsche Antwort. 

27. 4. Als dem Pat. eine Zoiiung angeboten wird, beginnt er zu weinen, 
n ich lese, ich lese und kann doch nichts bebalten, es ist alles gleich weg u . 
Im Kolleg sieht er einen Oberstabsarzt, den er nie gesehen fur einen fruheren 
Hauptmann an, er gibt ferner an, in der Nacht einen General gesehen zu haben, 
welcher ihn habe holen wollen. 

28. 4. Erkennt Prof. Z. nach vierwocbiger Abwesenheit gleich wieder. 
Schlagt heute und tritt nach dem Arzt. 

1. 5. In den letzten beiden Tagon keinerlei Erregungszustande. 

2. 5. Pat. ist ziemlich erregt. Als ein Zimmergenosse eine Bemerkung 
macht, springt er aus dem Bett und schlagt ihm mit der Faust zweimal auf 
den Kopf. 

3. 5. Pat. gibt an, unter dem rechten Rippenbogen Scbmerzen zu haben. 
Ein objektiver Befund lasst sich nioht erheben. 

6. 5. Pat. ist ruhig, sagt: „Ich ganz gesund w . Auf Fragen antwortet er 
nicht. „Ich mochte doch gerne raus. Wenn ich hier nicht angenommen werde, 


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498 Dr. Max Kastan, 

gehe ich zum Auslandmilitar. Ich kann Millionen verdienen. Ich kann noch 
General werden u . 

7. 5. „Wenn ich hier nicht die Tressen kriege, maohe ich mir selbst ein 
Armeekorps, ich kann damit Millionen verdienen. tt 

9. 5. Pat. verweigert die Schmierkur und sagt, er wolle heute nach der 
Hautklinik gehen. Ordination. Schmierknr nioht erzwingen. 

11. 5. Pat. iasst sich, nachdem er Senna bekommen hat and Stahl d&nach 
hatte, wieder schmieren. 

13. 5. Pat. springt gestern Nachmittag aas dem Bett and greift den Pat. 
R. an. Aaf Vorhaltungen wird cr sehr erregt, wirft seinen Kakao um and ver- 
lasst das Bett und sagt wiederholt: „Ich konnt nicht an mich halten, es ging 
nicht mehr w . 

15. 5. Pat. ist heute und gestern ruhig, zeigt auch dem Arzt. den er an- 
lasslich des Berichtes uber den Streit S.-R. Liigen vorwarf, ein ruhiges Be- 
nehmen und scheint auf Vorhaltungen einsichtig zu sein. 

16. 5. Pat. bat gestern, dass ein Warter far ihn einen Brief sohreiben darfe. 

19. 5. Pat. ist heute x /s Std. unter besonderer Aufsicht in den Garten 
gegangen und hat sich dabei korrekt benommen. Wird abends sehr unruhig. 

20. 5. Heute ircih will Pat. durchaus nach der Hautklinik. Sei belogen 
und betrogen vom Arzt. Donnert mit den Pausten an die Tut und will fort. 
War wieder geordnet im Garten. 

25. 5. Pat. bekormnt, als er heute nachmittags im Garten vom Pat. 0. 
mit kleinen Steinchen beworfen wird, einen starken Erregungszustand, schimpft 
^ und schreit und weint vor Wut. Zertriimmert in seiner Wut eine Scheibe ia 
der Gartentur, ohne sich erheblich zu verletzen. Lasst sich aber gutwillig zu 
Bett bringen, wo er noch langeZeit weint und schimpft. Verhalten sonst korrekt. 

3. 6. Verhalten dos Pat. ist in den letzten Tagen korrekt gewesen. 

12. 6. Pat. beschwert sich, dass er nicht geniigend Zeit zum Baden habe 
und ihm das Wasser vorzeitig abgekiihlt sei. Tatsachlich hat er reichlich Zeit 
gehabt. Er schimpft und zankt deswegen den ganzen Morgen etwa lOMin. Baden. 

14. 6. Heut wieder ruhig. 

20. 6. Klagt heut fiber Halsschrnerzen, derRachen ist gerotet. Temperatur 
morgens 38°. Ord, Bettruhe, Umschlag. 

23. 6. Rotung des Rachens ist voriiber. Extraktion zweier karioser Zahn- 
wurzeln des Unterkiefers unter Lokalanasthesie. 

2. 7. Verhalten des Pat. nach wie vor korrekt, beschaftigt sich viel mit 
Kartenspiel. 

3. 7. Uebergibt heute ein von ihm in ausgezeichneter Handschrift ge- 
schriebenes Gesuch an sein Regiment. 

24. 7. Fertigt auf Aufforderung einen Aufsatz uber das Thema: „Was 
der Krieg fur einen Nutzen bringt“ an. 

29. 7. Verfasst heute ein Schreiben an den Kriegsminister, in dem er ganz 
vernunftig auseinander setzt, dass er auf Anwendung des § 51 verziohte, da 
er nicht geisteskrank, sondern unschuldig sei. 

31.7. Pat. wird durch 3 Soldaten abgeholt und nach Buch uberfuhrt. 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMaskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 499 

Die Diagnose auf Grund dieser Beobachtung lautete: Hysterisoher 
Dammerzustand? Dem. praecox? 

In Buoh war er einige Monate ruhig. 

In einem 1912 erstatteten Gutachten des Herrn Generalarztes G. heisst 
es fiber das fernere Sohicksal unseres Kranken: 

S. wurde durch Verfugung des Generalkommandos vom 13. 7. 1910 wegen 
Geisteskrankheit (jugendliche Verblodung) infolge Dienstbeschadigung als 
zeitig (1 Jahr) 100 pCt. erwerbsunfahig, und zeitig (1 Jahr) einfaoh verstfimmelt 
anerkannt. 

Zur Zeit der Anerkennung befand or sich in der lrrenanstalt Buob. Am 
7. 9. 1910 wurde er von der Mutter naoh Hause gebracht, die Anstalt entliess 
ihn als „gebessert u . Ein Antrag der Mutter vom 1. 11. auf Erhohung der Ver- 
stfimmelungszulage ffihrte zu einer ausserterminlichen Untersuohung. In dieser 
Untersuchung vom 30. 12. warde S. als nicht verstfimmelt, aber als zeitig 
(1 Jahr) 100 pCt. erwerbsunfhhig eraohtet und anerkannt. Das Wesen des S. 
wird darin als fahrig und urteilslos bezeichnet, die katatonischen Erscheinungen 
waren gesohwunden. In einer Auskunft des Gemeindevorstehers vom 11.4.1911 
wird das Aussehen als das eines vollig gesunden Menschen bezeiohnet. S. be- 
rnfihte sich um eine Schreiberstelle. S. war dann von Mitte Juli bis Ende Sep¬ 
tember als Schreiber in Tilsit tatig, von da ab 4 Monate als Rechnungsfiihrer 
auf einem Gute Prankenheim. Dann war er zwei Monate im Hause der Mutter, 
ging am 21. 3. 1912 als Gutsverwalter nach dem Gute Glombowen. Seit Sep¬ 
tember halt er sich beschaftigungslos bei der Mutter auf. Von Glombowen 
wurde er nach Angaben.des Amtsvorstohers am 21. 11. wegen Unredlichkeit 
entlassen. Auch in der Rentennachliste vom 1. 7. wird sein Wesen als zer- 
fahren, der Blick starr, die Stimmung bald als aufgeregt und bald als weiner- 
lich bezeichnet^ In einem von ihm verfassten Schreiben machen sich inhaltlich 
querulantanhafte Zfige bemerkbar. Nach Auskunft des Gemeindevorstehers 
vom 6. 11. halt er sich riel bei der Mutter auf, in den Stellungen bleibt er 
nicht lange. Der Gemeindevorsteher fuhrt dieses auf seinen Gesundheits- 
zustand zurfiok. 

S. wurde im Lazarett im Bett behalten. Er war sehr lebhaft und erregt, 
erz&hlte den Kranken von seinen vielen Prozessen, warf aber zeitlich alles 
durcheinander, las mitunter, konnte das Gelesene aber nicht inhaltlich wieder- 
geben, sonst hielt er sich sauber, wusch sich und ass manierlich. 

Auf die Aufforderung, aufzustehen, sich anzuziehen und sich zur Unter¬ 
suchung auf einen Stuhl zu setzen, erscheint er schwankend, mit breitbeini- 
gen, steifen Schritten. Wie beim Gehen, so macht sich auch im Sitzen 
eine gewisse Starrheit in seiner Haltung bemerkbar. Oft schlagt er ein 
Bein fiber das andere, sitzt mit steifem Oberkorper, den Kopf nach rechts ge- 
wandt da (eine bei Katatonikern haufige Haltung). Mitunter macht er stereo¬ 
type Bewegungen beim Reden, macht kreisformige Bewegungen mit dem rechten 
Unterarm, oder schlagt rhythmisch mit dem linken Arm auf das Knie, oder nickt 
mit dem Kopfe. Die Pupillen sind gleich, reagieren etwas trage. Bei ge- 
schlossenen Augen tritt leichtes Schwanken ein. Das Empfindungsvermogen 


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Dr. Max Kastan, 


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ist im ganzen etwas herabgesetzt, nicht inselformig oder halbseitig. Die Re* 
flexe sind gut auslfisbar, nioht erhoht. Beim Sprechen grimassiert er sehr 
stark, die Augen werden gerollt, alle Gesicbtsmuskeln sind in lebh&fter Tatig- 
keit. Die Sprache ist hastig, aufgeregt, bei dem schnellen Sprechen znacht 
sich Silbenstolpern bemerkbar. Besonders haufig sind Wort- nnd Satzwider- 
bolungen in seinen Antworten. 

Z. B. Waren Sie friiher in Stellung? „Ja ich war in Stellung, ja ich 
war auch, war anch. u 

Weshalb haben Sie ihre Stellung verlassen? „Ja ich war, ja ich war 
da, da icb war draus zum Schreiben, spater sollte ich etwas anderes machen, 
das ging nicht, das ging nicht, ging nicht, ich war zu schwach. w 

Sie haben einen Prozess? „Da hab ich viel Prozesse, da hab ich 
viel Prozesse, ich will ja alles zu Ende fiihren, da ich ja bloss ein Jahr, da 
ich ja bloss ein Jahr (fangt an verwirrt zu werden). Versteh ich nicht so 
richtig, weshalb babe ich, da habe ich viel u . 

Ueber Person, Ort und Zeit .ist er orientiert. Der Gedankenablauf ist be- 
schleunigt, absohweifend, zerfahren. 

Z. B. In welchem Jahre sind Sie geboren? „87, ich habe hier keinen Spie¬ 
gel, kann garnicht sehen, ich will sehen wie das so ist, will Aussicht. w 

Was macben Sie in Tilsit? ,,Ich sollte, na was ich da, na dass ich (leb- 
haft grimassierend), ich war in Buch, da babe ich meine Rente bekommen, 
nachher haben sie mir geraten, sagt hatte Geld unterschlagen, hat mich ver- 
klegt, ist noch nicht zu Ende, nachdem war ich nach Hause gekommen. Wie 
war das doch? Da waren meine Akten verschwunden“. 

Die Merkfahigkeit ist herabgesetzt. Die Intelligenz ist sichtlich im Riick- 
gange, doch ist ein stattlicher Rest der Schulkenntnisse erhalten, besonders 
Rechnen. Das Gedaohtnis fur die jiingere Vergangenheit ist liickenbaft. Seine 
Urteilsfahigkeit ist gering. Der Zukunft steht er vollig sorglos gegeniiber, 
seine Gedanken werden nur von seinen Prozessen beherrscht. Dass er wegen 
Unterschlagung bestraft ist und wegen Meineids (nach seiner Angabe) angeklagt 
ist, erzablt er wie einen Scherz. Sinnestauschungen bestehen nicht. Stereo- 
typien sind, wie schon oben erwahnt, zur Zeit deutlich. 

S. ist geisteskrank. Nach dem Verlauf der Krankheit ist anzunehmen, 
dass Zeiten grosserer gemutlicher Ruhe mit Erregungszustanden wechseln. 
Zur Zeit besteht sicher ein derartiger Zustand von Erregung, dessen voraus- 
sichtliche Dauer nicht mit Sicherheit abzugrenzen ist. Zu irgend einer dauem- 
den Arbeit ist S. nicht zu verwenden. Er ist zeitig (1 Jahr) 100 pCt. erwerbs- 
unfahig. Der Anstaltspflege bedarf er nicht. 

In einem Gutachten von Oberstabsarzt Prof. S. wird 1913 folgende 
Schilderung entworfen: 

Bei ruhigsterBespreohung dieserFrage fallt schon seine leichte psychische 
Erregbarkeit auf, er aussert den Gedanken, dass ich ihn verleumden wolle, da- 
mit kein Mensch mehr zu ihm kame; seine Stellung als Geschaftsagent in K. 
sei schon an und fur sich schwierig, so dass er sie aufgeben miisse. Prage: 
„Weshalb wollen Sie die Stelle aufgeben ? u Antwort: „Die Leute kamen und 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 501 


liessen sich von ihm Testamente und Klagen aufsetzeo, es bezahle ihn aber 
niemand. u Setzeo Sie viele Klagen auf? „Ich babe schon 34Journalnummern. w 
Was erhalten Sio fur solch ein Schriftstiick? „Ich lasse mir 20 M. Vorschuss 
zahlen und arbeite mit einem Juristen in T. zusammen. w Wer ist der Jurist? 
„Er ist ein sehr gesoheiterOberlehrer. w Weshalb zahlen denn die Leuto nicht? 
„lch werde jetzt Geschaftsabsohluss machen und den Leuten Zahlungsbefehle 
schicken und sie verklagen und wenn sie nicht zahlen, gehe ich nachRussland. u 
WaswollenSie inRussland? „Dort will ich littauischerMissionspfarrer werden, 
dann gehe ich amTage in die Hauser und rufe dieLeute zusammen und abends 
predige ich littauisch und erhalte von jedem 1 M.“ Woriiber werden Sie denn 
predigen? „Es gibt solche Bucher, daraus lese ich ihnen etwas vor. u Wie 
kommenSie denn nacb Russland ? „Ich will jetzt den Aufenthalt inK. benutzen, 
um auf das russischeKonsulat zu gehen und mir einenPass zu holen. w Darauf 
bittet er mioh um seinenPass und um seine Papiere, denn sonst erhalte er vom 
Konsulat keinen Pass. 

Wieviel haben Sie in K. bar eingenommen und konnen Sie mir Leute 
nennen, die Ihnen grosser© Summen bezahlt haben? Antwort: ,,500—600 M., 
die Namen der Leute sind mir entfallen. Sie wollen mich aber wohl auslaohen, 
dann gehe ich Ihnen gleich an den Kragen.“ 

Alle Antworten werden mit einem gespannten Gesichtsausdruck gegeben, 
die Augen sind gross aufgerissen, auf den Fragenden gerichtet, dabei aber leer 
und ohne Ausdruck. Er hat eine grosse und vollgepfropfte Aktenmappe unter 
dem Arm, die er hastig hin und her walzt. 

Dann kommt noch eine Szene, in der er energisoh auftritt und verlangt, 
von seinem Haisleiden ira Garnisonlazarett geheilt zu werden. Als ich ihm 
erklarte, dass dieses erdt das Kriegsministerium bestimmen miisste, beruhigto 
er sich und ausserte nur: das verlange ich aber, denn sonst lasst man mich 
nicht in Russland hinein. 

Urteil: S. ist geisteskrank. fleute trat noch eine Ideenflucht besonders 
zutage. 

Da er gutmtitig und lenkbar ist, bedarf er augenblicklich der Anstalts- 
behandlang nicht, ebenso ist er nicht fremder Pflege und Wartung bediirftig. 

Er ist unter Beriicksichtigung seines Berufes als Landwirt 100 pCt. er- 
werbsunfahig. 

Dieser Zustand bestand schon am 1. 7. 1912. Wenn S. vorubergehend, 
wie vor dem 1. 7. Arbeit gefunden hat, so ist das mehr einem Zufall zuzu- 
schreiben. Wenn er die iibernommene Arbeit leisten soil, ist er infolge unge- 
niigender Konzentrationsfahigkeit und mangelnden Verantwortungsgefuhls dazu 
nicht imstande. 

Das jetzt noch hinzUgekommene Drusenleiden steht mit dem Invaliditats- 
Ieiden in keinem Zusammenhang. 

l / 2 Jahr spater wird S. auf Grund folgenden Gutachtens entmiindigt. 

Der unverheiratete Wirtsohaftsfiihrer Max S., geboren am 23. 1. 1887 in 
K. soil aus einer Familie stammen, in der Geisteskranke nicht vorgekommen 
sind. Auf der Volksschule, welche er besuchte, soli er gut gelernt und sich 


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Dr. Max Kastan, 

als Kind regelmassig und kraftig entwickelt baben. An schweren Kinderkrank- 
heiten und Epilepsie will er nicbt gelitten haben. Naoh Verlassen der Schule 
erlernte er die Landwirtschaft, sodann wurde er Soldat und stand vom Ok- 
tober 1908 bis Juni 1909 bei der Feldartillerie in Bromberg und von dann ab 
bis Ende Juli 1910 bei der Artillerie-Schiessschule in Juterbog. Ein bei dem 
Gericht der 1. Gardedivision in Berlin gegen S. wegen Gehorsamsverweigerung 
eingeleitetes Strafverfahren wurde eingestellt, da die Voraussetzungen des §51 
R.St.G.B. vorlagen. Zur Beobacbtung seines Geisteszustandes wurde S. am 

6. 1. 1910 nach der Charity nach Berlin und dann von hier aus am 31. 7. 
nach der Irrenanstalt Buch bei Potsdam ubergefiihrt. Seine Mutter hat ibn am 

7. 9. als „gebossert“ zu sich nach K. abgeholt. 

Am 21. 11. 1913 leitete die Staatsanwaltschaft in L. auf Antrag der Ostpr. 
Landgesellschaft in Konigsberg i. Pr. gegen S., der sich als Wirtschaftsassistent 
der genannten Gesellschaft Veruntreuungen hatte zu schulden kommen lassen, 
ein Strafverfahren ein. Dieses Verfahren wurde am 29. 3. 1914 naoh Kenntnis- 
nahme vom Inhalt der Militarstrafakten aus § 51 R.St.G.B. eingestellt. 

Am 14. 5. fand vor dem Koniglichen Amtsgericht in K. ein Termin 
statt. S. prasentierte sich als ein im Allgemeineh gesund aussehender Mann, 
auffallend war der stiere Blick und ein unstetes Rollen der Augen. Seine Ant- 
worten auf die gestellten Fragen wurden immor erst nach langerem Besinnen 
gegeben, teilweise wurden dieselben richtig beantwortet, indessen fielen doch 
erhebliche Gedachtnisliicken auf. Frage: Welche Kriege hat Wilhelm I. gefiihrt? 
Antwort: Den Deutsoh-franzosisohen Krieg 1860 und noch einenKrieg. Frage: 
Was haben wir fur den Krieg bekommen? Antwort: Geld, waiter nichts. 
Frage: Haben wir nicht auoh Land bekommen? Haben Sie schon mal etwas 
von Elsass-Lotbringen gehort? Antwort: Nein, nurGeld, vonElsass-Lothringen 
babe ich schon mal was gehort. Auch auf wichtige Vorgange in seinemLeben, 
die ihn, wie aus den Akten hervorgebt, friiber sehr beschaftigt haben, konnte 
er sich nicht mehr besinnen, so, dass er geschlechtskrank gewesen ist und eine 
Schmierkur durchgemacht hat. Auf Befragen des Ersten Stajitsanwalts fiber 
seine Rentenbezuge sowie uber seine Vorstrafen gibt er verworrene Antworten 
und entwickelt ziemlich hochtrabende Plane fur seine Zukunft, welche er mit 
einem gewissen iiberhebenden Selbstbewusstsein vortragt. Auoh auf Befragen 
der Aerzte antwortet er bezuglich der iiberstandenen Syphilis in verneinendem 
Sinne. Leichtere Rechenaufgaben loste er im allgemeinen, nach allerdings 
langem Besinnen, richtig. Hierauf schloss sich noch eine oberflachliche korper- 
liche Untersuohung an, welche ergab, dass die Pupillen zwar auf Lichteinfall, 
indessen sehr trage reagieren, dass die Kniesebnenrellexe normal sind und dass 
er beim Stehen mit gesohlossenen Augen so erheblioh schwankt, dass er unge- 
halten hingefallen ware. Schliesslich wurde eine Gangprobe gemacht, welche 
ergab, dass er mit gespreizten Beinen, eigentiimlich stampfend und unsicher 
geht, so dass der Herr Erste Staatsanwalt seinem Verdachte auf bestehende 
Riickenmarkserkrankung Ausdruck gab. 

Die Saohverstandigen erklarten hierauf, dass es notwendig ware, den S. 
nochmals in seiner Wohnung untersuchen zu miissen, uni ein endgiiltiges Gut- 


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Hit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 503 

aohten abgeben zu konnen. Dr. K. hat den zu Entmiindigenden demgemass 
untersucht und am 28. 5. nooh einmal gemeinsam mit dem Erstunterzeich- 
neten. Nach Mitteilung des Dr. K. deckto sicb der Befund der Untersuchung 
bei dem von ihm allein gemachten Besuch mit dem bei dem gemeinsam ge- 
machten Besuoh erhobenen. Er war beziiglich der korperlichen Untersuchung 
folgender: S. ist ein hagerer, ziemlich grosser Mann, dessen Korpertemperatur 
normal und dessen Puls etwas beschleunigt ist, an der linken Halsseite weist 
er eine 6 cm lange, 2 cm breite Narbe auf als Folge einer operativen Lymph- 
drusenentfemung. Die Organe sind gesund, die Sensibilitat im Wesentlichen 
ungestort, die Sehkraft bat nicbt abgenommen, das Gesichtsfeld ist nicht ein- 
geengt. Als auffallehd erwiesen sich rasch bin und her schwankende 
Bewegungen ganzer Glieder, also ein Gemisch von willkurlichen und un- 
willkuriichen Bewegungen. Die Sprache hat etwas Objektives, was man als 
skandierend bczeicbnet. Die Sehnenreflexe, namentlich an den Armen, aber 
auch an den Beinen sind erhbht. Aufgefordert, in ruhiger Haltung zu stehen, 
scbwankt er schon bei geoffueten Aogen sehr erbeblich, bei geschlossenen Augen 
aber derartig, dass man ihn am Fallen hindern muss. Der Gang ist unsicber, 
er geht mit gespreizten Beinen und fast unbeweglichen Kniegelenken 
(spastisoh-paretisoher Gang). Die Pupillen reagieren nur trage auf Lichteinfall. 
Die Prufung seiner geistigen Funktionen hatte folgendes Ergebnis: Er war zeit- 
lich und ortlich orientiert. Wiederum fiel eine ausgesprocbene (Jnbesinnliohkeit 
rucksichtlich wichtiger Vorgange in seinem Vorleben auf. So konnte er sich 
anfanglicb gar nicht darauf besinnen, dass er im Militarlazarett behandelt 
worden ist; *als es ihm mit Bestimmtheit gesagt wurde, wusste er nicht, wie 
lange er dort gewesen, ob 4 Wochen oder 1 Jahr lang. Dabei antwortet er 
stets erst naoh langem Besinnen, man merkt ihm an, dass er mit grosser An- 
strengung nachdenkt. Alles sei fruher anders gewesen, warum es jetzt so ge- 
kommen sei, dafiir hatte er keine Erklarung. Syphilis hatte er niemals gehabt. 
„Wo werde ich denn so was gehabt haben. tt Darauf aufmerksam gemacht, dass 
er selbst darum eingekommen sei, dass er mit Salvarsan behandelt werde und 
dass er dieserhalb auch an das Medizinal-Kollegium geschrieben hatte, zeigt er 
vollstandige Unbesinnlichkeit. Rucksichtlich seiner Zukunft gefragt und darauf 
aufmerksam gemacht, dass er doch als Gutswirtschafter schwerlich werde be- 
stehen konnen, meint er, dass er jederzeit ein Gut von 3000 Morgen bewirt- 
schaften konne, es musse nur immer einer aushelfen, wenn es nicht weiter ginge. 
Die Prufung seiner Kenntnisse ergab leidlich gute Resultate, dagegen erwiesen 
sich Kombination und Merkfahigkeit als erheblich geschadigt. Seine ganze Art 
undWeise, zu antworten, hatte etwas Weinerliches an sicb; er wollte gerne 
„sitzen u oder die Sacha mit Geld abmachen, nur nicht entmiindigt werden, da 
er sich doch im Besitze seiner vollen Manneskraft fiihle. 

Gutachtcn. 

Fassen wir die Ergebnisse der Ermittelungeu iiber das Vorleben 
des S. und unsere tats&chlichen Beobachtungen bei dem Terrain in K. 
und den Vorbesochen zusaramen, so kommen wir zu folgendera Schluss: 


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Dr. Max Kastan, 


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Der zu Entmundigende leidet an einer Ruckenmarkserkrankung, welche 
die Wissenschaft als multiple Sklerose bezeichnet, and er leidet ferner 
an jugendlicher VerblOdung (Dementia praecox). Die erstere Erkranknng 
ist eine Folge der in fruheren Jahren uberstandenen Syphilis und bietet 
eine sehr schlechte Voraussage, d. h. sie ist in der flberwiegenden Mehr- 
zahl der F&lle unheilbar und fuhrt nieist nach mehreren Jahren znm 
Tode. Bezuglich der jugendlicben Verblodung ist zu bemerken, dass 
sich diese Krankheit gewOhnlich erst im Pubert&tsalter entwickelt; es 
hat also nichts Besonderes an sich, dass er ein leidlicher Schuler 
gewesen ist, aber es ist als sicher zu betrachten, dass diese Krankheit 
schon in der Entwicklung war, als er Soldat wurde, und es ist durch 
die fruheren Gutachten erwiesen, dass sie w&hrend seiner Dienstzeit znm 
vollen Ausdruck gekommen ist. Daher ist auch bei der Beurteilung 
seiner Straftat § 51 R.St.G.B. in Anwendung gekommen. Trotz ziemlich 
gunstiger Susserer Umst&nde hat er sich nur vorubergehend eine Stellung 
im Leben erwerben kdnnen. Auf sich selbst angewiesen, legt er Un- 
tatigkeit an den Tag und gibt sicb ubertriebenen Hoffnungen fur die 
Zukunft im Vertrauen auf die ihm zu Gebote stehenden korperlichen 
und geistigen Kr&fte bin. Bei der kOrperlichen Untersuchung zeigt er 
Mangel an Gewandtheit im Ausdruck und bemerkenswerte Liicken im 
Auffassungs-, Erinnerungs- und UrteilsvermOgen. Er zeigt weder Ver- 
st&ndnis fur das Strafbare der von ihm begangenen Handluugen, noch 
empfindet er Reue daruber. Er wurde also im gegebenen Augenblick 
voraussichtlich wieder bei sich bietender Gelegenheit ebenso strafbar han- 
deln und ebenso wieder kein VerstSndnis fur das Strafbare seiner Hand- 
lungen an den Tag legen. Es muss also die Frage, ob er f&hig ist, die 
Folgen seiner Handlungen zu iiberlegen, mit nein beantwortet werden. 
Zudem ist keine Hoffnung vorhauden, dass in dem Zustande des S. eine 
Besserung eintreten wird, es ist vielmebr anzunehmen, dass sich seine 
Aufnahme in eine geschlossene Anstalt demnacbst als notwendig er- 
weisen wird. 

Fassen wir das Ergebnis unserer Beobachtungen zusammen, so lautet 
dasselbe: 

S. ist in seinen intellektuellen Leistungen so beschrankt, dass er 
einem unmundigen Kinde gleichzustellen ist; er ist also im Siune des 
Gesetzes des §6 B.G.B. als geisteskrank zu erachten und ausser Stande, 
sein$ Angelegenheiten zu besorgen. 

Kurz vor der hiesigen Aufnahme ist er im hiesigen Institut fur 
gericktliche Medizin begutachtet worden. Nacb diesem Gutachten w&re 
er scheinbar vorbestraft wegen KOrperverletzung und Unterschlagung 
(1912). Aus diesem Gutachten erw&hne ich ferner folgendes: 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMaskeln einhergebende Nervenkrankheiten. 505 


Im Jahre 1913 leitete die Staatsanwaltscbaft in L. auf Antrag der 
Landgesellschaft gegen S., der sich als Wirtschaftsassistent der ge- 
nannten Gesellschaft Veruntreuungen hatte zu Scbulden kommen lassen, 
ein Strafverfahren ein. Dieses Verfahren wurde im Jahre 1914 aus 
§ 51 R.St.G.B. eingestellt. Dem Antrag der K5niglicben Staatsanwalt- 
schaft T., S. zu entmundigen, hat das KAnigliche Amtsgericht K. ent- 
sprochen. — 20. Juli 1914. — S. ist wegen Geisteskrankheit ent- 
mundigt. 

Am 19. 1. 1917 ist seitens des Rittergutsbesitzers H. Anzeige er- 
stattet, dass der bei ihm t&tige Oberinspektor S. verschiedene Sachen 
— Autouberzug, Woilach, Graupensacke, Uebergardinen, Anschnallsporen, 
Rauchservice aus Kupfer, Milchsieb, neue Sacke, Ledertucher, neue 
woliene Unterhosen — entwendet nnd sicb aus einem Antriebriemen 
Stiefeisohlen habe machen lassen. Es findet sich ein Eingestandnis des 
S., dass er frevelhaft gebandelt babe und dass ihm seine Handlungs- 
weise leid tue. Bei seiner ricbterlichen Vernebmung bat er seine Straf- 
taten bestritten und erklart, er habe die Sachen, um Ordnung zu schaffen, 
in seinen Koffer gelegt. 

Eigene Untersuchung. 

icb hatte den S. am 7. und 10. April d. Js. untersucbt und babe am 
letzten Tage noch mit seiner Schwester, bei der er wobnt, Rucksprache ge- 
nommen. Diese hat mir erklart, dass ihr Bruder erregbar sei und nicbts tue. 
Sie wisse nicht, wo er sich hinwenden sollo. In K. lebe sein Stiefvater, ob 
dieser sicb fur S. interessieren werde, sei der Referentin zweifelhaft. 

S. ist ein ziemlich grosser, sohlanker Mensch, mit leidendem Gesichts- 
ausdruck, breitbeinigem Gang, Flechte an Hals und Brust — Pitbyriasis ver¬ 
sicolor —. Sprache etwas stolpernd. Beim Bedecken der Augen tritt Schwanken 
des Korpers ein. Lichtreaktion der Pupillen trage, Haotgefuhl normal, Knie- 
sehnenreflexe gesteigert. Achillessehnenreflexe vorhanden, keinBabinski-Reflex. 

Bemerkenswert sind die Schmerzausserungen bei Bewegung der Knie- 
gelenke in denselben. Ein krankhafter Befund ist daselbst nicbt erboben. 

Die inneren Organe zeigen nicbts Besonderes. Herz ohne Abnormitat. 
Erin frei von Eiweiss und Zucker. 

Auf Befragen erklart Explorat: Vater sei Trinker gewesen, Uutter starb 
1916, nacbdem sie sich nach dem friihen Tode des Vaters wieder verheiratet 
hatte. S. bat die Landwirtsohaft erlernt. Als ioh den Namen seines Lehrherrn 
aufschreibe, erklart Explorat: Icb schriebe alles auf und bekame keineStelluDg, 
wenn ich micb bei dem Herm erkundige. NVeiter erklart er, er sei nicht ent- 
mundigt, weil er seinen Entmundigungsbeschluss nicht bekommen babe. 

Ich habe ibn an der Hand der Zivilprozessordnung bele^rt, dass ihm 
ein Entmundigungsbeschluss nicht zugestellt zu werden braucbe, weil er 
wegen Geisteskrankheit entmiindigt sei. 

Archiv f. Ptyehietrie. Bd. 00. Heft 2/3. 33 


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Dr. Max K&stan, 




Explorat erklart dann auf Befragen waiter: er babe spater Stellen be- 
kleidet. Zwischendurch war er dann wieder zu Hause. Welche Konflikte er 
beim Militar hatte, weiss er nicht mehr aufzufubren, nach Besinnen erklart er 
dann: er hatte dasWasser nicht richtig auSgegossen, batte sich widersetzt and 
kam in Untersuchungshaft. 

Spater hat er dann als zweiter Inspektor gearbeitet, 1 / 2 Jahr wird es ge- 
wesen sein. Naheres kann er von seinen fruheren Stellen nicht angeben. 

Auf Befragen hinsichtlich seinerVorttrafen erklart er: Er habe gar nichts 
gemacht, auch hinsichtlich der ihm jetzt zur Last gelegten Straftaten erklart 
er: dass er die verschiedenen Sachem in seinen Kasten gelegt habe, damit sie 
nicht in seinem Zimmer herumlagen. 

Die Merkfahigkeitspriifang hat folgendes Ergebnis: 

3X13? Richtig. 

4X14? Richtig. 

27 + 35? 62. 

Wiederholung von 859723 ergibt 859732. 

208541? Richtig. 

729184 ergibt 729841. I 

281743 ergibt 281345. 

Wiederholung von 2% 187 ergibt 2% 164. 

S. wird nnnmehr aufgefordert, die zuerst gestellten drei Aufgaben zu 
wiederholen. Die beiden Multiplikationsaufgaben vermag er za wiederholen, 
die Additionsaufgabe dagegen nicht. S. erklart auf Befragen, welche Kriege 
Kaiser Wilhelm 1. gefuhrt habe: Der Krieg 1866, das sei der Krieg, der mit 
der grossen Volkerschlacht bei Leipzig endete. Auf Befragen erklart er weiter, 
dass der Krieg 1870/71 der Freiheitskrieg ware. Auf Befragen, wie lange der 
jetzige Krieg dauere: seit August 1916. Er weiss, dass wir mit England, 
Frankreich und Russland kampfen und dass in Russland die Revolution ist. 

Wenn 1 Pfd. Butter 2,50 Mk. kostet, dann kann er ausreohnen, wieviel 
3 Pfd. Butter kosten. Das Datum des Untersuchungstages kennt er, behaupte; 
aber, dass der Marz 30 Tage habe. Wenn 1 Zentner Roggen 11,50 Mk. kostet, 
dann kosten 8 Zentner 100 Mk. Naohher kann er die Aufgabe richtig losen. 
Auf Befragen erkl&ft Explor&t noch, dass er an „Syphilis“ gelitten.babe. 

Gutachten. 

S. ist wegen Geisteskrankheit entmundigt. Die zu Grunde liegende 
Erkrankung ist von den Herren MilitarSrzten als Jugendirrsinn be- 
zeichnet worden. Ich glaube, dass sich an dieser Diagnose auch heute 
nicht viel andern lisst, und dass S. an einem Folgesustand nach Jugend¬ 
irrsinn, einer Defekt-Psychose, leidet. Der Defekt ist ein intellektueller, 
aber auch moraliscber. Der intellektuelle Defekt geht hervor aus der 
Tatlosigkeit des S., aus seiner mangelnden Merkf&higkeit und seinen 
mangelhaften Kenntnissen, die darauf schliessen lassen, dass er grosse 
GedSchtnislucken hat, ferner aus der mangelhaften Darstellung seines 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 507 

eigenen Lebens, die denselben Ruckschluss gestattet. Der moralische 
Defekt ergibt sich aus der Schamlosigkeit, mit der er seine Diebstable 
bem&ntelt, insofern als er erklart, er babe nur in seinem Ziramer auf- 
ger&umt und deshalb die Sacben in seinen Koffer gelegt. 

S. ist aber daneben noch mit versckiedenen Abnormitaten in seinem 
Nervensystem bebaftet. Er hat das sog. Romberg’sche Symptom, ferner 
trage Pupillenreaktion auf Lichteinfall. gesteigerte Kniesehnenreflexe. 
Dabei besteben Neuralgien in den Beinen. Ich halte es fur wahr- 
scheinlicb, dass sich neben der im Anschluss an eine Hebephrenie — 
Jugendirrsinn— erfolgten Verblfldung noch eine organische Nervenkrank- 
beit entwickelt hat. 

Die wesentlichsten Einzeiheiten der Anamnese sind in diesen 
Krankengeschichten und Gutachten enthalten. Die Famiiie hat daruber 
nnr noch angegeben, dass er nicht belastet sei und auch kein Unfall 
ihn selbst fruher betroffen babe. Er selbst habe fruher wenig mit der 
Famiiie verkehrt und habe diese erst wieder aufgesucht, als er zu Be- 
ginn des Jahres 1917 an einer Lahmung der rechten Seite erkrankt sei. 
Der ktirperliche Befund, der bei seiner Aufnahme erhoben wurde, war 
folgender: 

Uebermittelgrosser Mann. Die Wirbelsaul© ist skoliotisch und leicht 
lordotisch verkrummt. Die Muskulatur und das Fettpolster sind reduziert. An 
beiden Schulterblattern sind im Bereiche der Mm. trapezii braunlich pigmen- 
tierte Stellen, an der Leistenbeuge und der Achselhdhle Ekzem. Keine Narben, 
keine Driisen. Schadel unsymmetrisoh und sehr druckempfindlicb. Gaumen, 
Zahne und Ohren, ebenso Haare normal. An Lungen iyid Herzen kein krank- 
hafter Befund. Puls 72,-gleichmassig und regelmassig. Blutfarbstoff 52 pCt. 
Hemoglobin, 4 Millionen rote, 6&00 weisse Blutkorperchen, 5 pCt. Uebergangs- 
formen, keine Eosinophilie, 63 pCt. Polymorph., 30 pCt. Lymphoz, \ l / 2 pCt. 
Eosinophile. Im Blut Wassermann’sche Reaktion positiv. Lumbal- 
punktion wird verweigert*. Seltener Lidschlag und seltene Augen- 
bewegungen. Lidspalten weit aufgerissen, starrer Blick. Hornhaut und 
Bindehaut ohne Besonderheiten, kein Kornealring. Bauchorgane nicht krank- 
baft verandert. Leberdampfung nicht vergrossert. Milz nicht palpabel. Keine 
alimentare Glyko- und Lavolosurie. Der Mund steht of fen, wird nicht 
geschlossen. Speichel wird nicht abgesondert. Die rechte Lidspalte etwas 
grosser als die linke. Pupillen reagieren auf Lichteinfall und Blickanderung, 
sind rund und mittelweit, die Augapfel zeigen eine lebhafte E ins tel lungs- 
unruhe bei den zu dieser Reaktion notigen Bewegungen. Kein Nystagmus. 
Spraohe sehr langsam, schleppend, an Falsetton anklingend. Fa- 
zialis,Trigeminus,Zunge o. B,EbensoGeschmack undGeruch. Augenhintergrund 
und inneres Ohr ebenfalls normal. Scbrift unsicher und unbeholfen (s.Abb. lj, 
keine eigentliche Ataxie. Schleimhautreflexe vorhanden. Kniereilexe beiderseits 
lebhaft. Kein Klonus. Kein Babinski. Kein Oppenheim. Achilles- und 

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Dr. Max Kastan, 





Abbildung 1 


Abbildung 3. 


Schrift von Fall 1 im Beginn 


Abbildung 2, 


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Abbildung 4. 






Mit Erhohung der Rigiditat der Muskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 509 


Fusssohlenreflexe vorhanden, desgleichen beiderseits Bauchdecken- 
und Kremasterreflexe. In der Schulterrauskulatur und dem Deltoideus 
leichte Atrophie. Bewegungen im Schultergelenk sehr erschwert. Arm wird 
in der Ellenbeuge leicht kontrakturiert gehalten, kann aber im Ellen- 
bogen- und Handgelenk besser als im Schultergelenk bewegt werden. Deutliche 
spastisohe Schwache des rechten Armes. Ira rechten Bein ebenfalls starke 
Beugekontraktur. Im Kniegelenk, auch im Huftgelenk stark bescbrankte 
Bewegung, ausgesprochene Spitzfusstellung. Links sind diese Erschei- 
nungen nur angedeutet. Der Gang ist breitbeinig und unsicher, es besteht 
Neigung zu Retro- und Propulsion in geringem Masse. Die Bewegungen 
des Kopfes sind ebenfalls stark behindert, die Haltung macht im allgemeinen 
einen sehr starren Eindruck. Bei geschlossenen Augen und Fiissen fallt 


Abbildung 5. 



Patient hin. Es besteht ein deutlicher feiner Tremor, der hin und wieder 
etwas starker wird. Hypalgesie und Hypasthesie leichten Grades im rechten 
Arm; rechte Hiifte und Beckengegend druckschmerzhaft. Keine Ovarie, keine 
Mastodynie. Koine Storung des Druck-, Lage- und Gleichgewichtssinnes. Aus- 
gesprochenes Westphal’sches paradoxes Phanomen d. h. bei Annaherung der 
Ursprung- und Ansatzstellen der Muskeln starke Kontraktion (vergl. hierzu die 
Bilder, von denen bei 2 der starre Blick, der geoffnete Mund, bei 3 die eigen- 
tiimliche Armhaltung, bei 4 die Kontraktur und Spitzfussstollung besonders 
deutlich zura Ausdruck kommen; infolge des Zitterns wurde die Photographie, 
welchedas Westphal’schePhanomen zeigen sollte, undeutlich und unbrauchbar.) 

Der psychische Befund und die Autoanamnese ergaben folgendes: Patient 
war schon vor einigen Wochen von der Polizei als gemeingefahrlicher Kranker 
angemeldet; kommt dann allein in die Poliklinik. Er hatte eine Liihmung des 


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510 Dr. Max Kastan, 

rechten Armes und des rechten Beines und man hatte ihm gesagt, er wurde 
hier behandelt werden. Gibt selbst an, er sei 1910 in der Nervenklinik der 
Berliner Charit6 nnd von dort aus in der Anstalt Bach gewesen. Dort sei er 
auf der ruhigen Station gewesen und nach einigen Wochen von der Matter 
abgebolt worden. Erklart umstandlich, weshalb er hergekommen sei, aussert 
sioh euphorisoh fiber die baldige, schnelle Heilung. Es werde ihm ja schwer 
sein, sich hier so lange aufzuhalten, aber die Hauptsache sei ja die baldige 
Besserung. A. B. mit der Polizei batte er insofern zu tun gehabt, ais ein 
Rittergutsbesitzer, bei dem er als Inspektor tatig sei, ihn beschuldigt habe, 
allerlei Sachen, an denen er gar kein Interesse babe, gestohlen zu haben. Das 
sei nicht der Fall. Er sei darauf von Geh. Rat P. hier untersucht worden. 
Er sei 1912 entmiindigt worden, wolle jetzt aber eine Schwester zum Vormund 
haben. Beschwert sich, dass man ihm 25 Mk. Militarrente entzogen. 

Patient war angeblich friiher ganz gesund. Ging in die L&ndscbule, 
habe gut gelemt. Ein Versuch, Kaufmann zu werden, scheiterte daran, dass 
er das Rechnen„nicht so kapieren u konnte. Wurde dann Inspektor, wurde 1908 
zum Feld-Art.-Reg. 53 nach Bromberg eingezogen, diente bis 1910, wurde im 
letzten Vierteljahr wegen „Nerven a als invalide entlassen. Er hatte wohl 
etwas beim Scharfschiessen nicht gut gemacht und hatte eine grosse Klage 
gehabt „ wegen vieler Saohen 14 vorm Kriegsgericbt. Sei zuerst zu 6 oder 
8 Wochen Gefangnis verurteilt worden, legte Berufung ein, wurde aber dann 
krank. Nach der Entlassung vom Militar auf den verschiedensten Inspektor- 
stellen, hatte zeitweilig auch bei den Verwandten auf dem Lande mitgeholfen. 

A. B. er sei entmiindigt worden, das konne er nicht bestreiten, auf dem 
Amtsgericht hatte man ihm gesagt, wegen „Geisteskrankheit. u Er wolle aber 
dann durch arztliche Beobachtung Entmiindigung aufheben lassen, denn er 
sei doch noch jung und wolle sich, wenn der bdse Krieg zu Ende sei, nicht 
allein herumqualen, sondern sich verbeiraten. Die Beurteilung als Geistes- 
kranker sei vielleicht auch falsch, denn er sei doch ganz ruhig. 

Datum? „Weiss ich nicht . u 

Monat? „Mai, nein Juni. u (Falsch.) 

Jahr? „-Da weiss ich Bescheid, da habe ich starkes gutes Ge- 

dachtnis. Bloss, dass ich so schnell immer vergesse. u 

Ferner fehlten ihm oft die Wqrte, die er sprechen wolle, „aber das sei 
nicht so schlimm, das ist ja nicht das Schlimmste. (Wiederholt das mehrfach.) 

A. B. Die rechtsseitige Lahmung sei in diesem Friihjahr aufgetreten, er 
hatte es beim Anziehen gemerkt. die Westen seien ihm zu klein geworden. 
Allmahlich hatte sich das verschlechtert, er hatte auch ein steifesGenick 
bekommen. Durch Bettruhe hatte sich nichts gebessert, er hatte nicht schlafen 
konnen und sei naohts unruhig geworden. Ein Arzt hier hatte Herz- und 
Leberkrankheit festgestellt, hatte ihm Tropfen gegeben, nach denen der Arm 
sohlimmer geworden sei. 

Fragt, ob Ref. ihm auch das viele Geschriebene alles vorlesen wurde, 
soviel zu schreiben sei nicht notig. 

579 merken. 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 511 


7X8+; 27+17? „35 u 63-19 . . +; 91:7? „13“ 12X6+; Zahl - 
in den 600, 678, 675. 

Reg.-Bezirk von Ostpreussen? „K5nigsberg und Gumbinnen. 44 

Hauptstadt von Oesterreich? „Prag, nein Wien. 44 

Wo Prag? — 

Weshalb Pfingsten? n So allgemeiner Feiertag. a 

Zinsen? „Zinsen sind fur die — wie man soli sagen — (lacht) ich weiss 
ja, was es sind, aber Namen nennen! tf 

Unterschied zwischen Zwerg und Kind? (Lacht) „Zwerg ist klein, das 
weiss ich nicht. 44 

Teich, Fluss? — 

Scheibe, Spiegel? „Spiegel gibt das Ebenbild wieder, Fensterscheibe 
auch, doch nioht in dem Uasse. Spiegel sei dazu hergerichtet. u 

Langsame, bisweilen skandierende, etwas kindliohe Sprache. Pat. ist meist 
sebr stumpf, haufig euphorisch, dann wieder weinerlich. Yergisst oft denAnfang 
seiner Satze oder dasThema, wiederholt oft seineAeusserungen leisevor sich hin. 

Bei der kbrperlichen Untersuohung sehr empfindlich; kann nur muhsam 
auf der linken Seite ltegen, klagt iiber starke Sohmerzen und Schmerzgefiihl in 
alien Gliedem, konne den Kopf nicht anheben, miisse die rechte Hand immer 
festhalten, da sie beim Hinunterfallen zu grosse Schmerzen mache. Aeussert 
weinerlich viel Klagen und Befiirchtungen, dazwischen wieder sehr hoffnungs- 
froh. Klagt uber Nackensteifigkeit, Gefiihl, als falle er nach hinten. 

Leugnet fruhere Wahnvorstellungen. 1908 bewusstlos naoh Unfali. Vater 
an Lungentuberkulose gestorben. 

Wei tere lntelligenzpriifung. Kennt Namen der Lehrer und Schulen. 
Habe einmal Ausscblag als Kind gehabt. Spater habe er wohl keinen Aussoblag 
gehabt. Ueber andere Krankheiten gibt er nichts an. 

(Wiederholt immer dieselben Wendungen: n Das kann ich nicht besinnen. 
Der Feldwebel hat gesagt, Du bist vom Pferde gefallen 44 .) Weintleichtbei 
Schilderung der schwierigen Lebensverhaitnisse. Lacht bei 
scherzhaften Bemerkungen. Meint, er babe nicht geglaubt, Ref. werde 
ihn noch am Samstag untersuchen. 

Weiss den Tag nach dem friiheren Lazarett nicht anzugeben. 

Monat? + 

Fiinfstcllige Zahlen + 

Sechsstellige Zahlen — 

Erzahlt eine Geschichte richtig naoh, gibt aber den Schluss falsch an. 

Bilder: Storcb bringt die Puppe. Zwei Magde (recte ein Bauer) sehen 
zu. (A. V. kann auch ein Bauer sein.) Bar und Biene: Ein Tiger mit Mucken 
oder Fliegen, reibt sich im Gesioht. weil es so warm ist. Ein Affe oder Bar 
kann nioht so auf dem Hintern sitzen. . 

Definition: Treue ist Verbindliohkeit. 

Mut: Aufopfernde Tapferkeit, wenn man Eifer zeigt, so wie ich wollte 
Soldat warden im Krieg. 

Schliissel? + 


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Dr. Max Kastan, 


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'^RI 


Kritik: Eid, Meineid 

Vogel, Schmetterliog? Vogel fliegt vom Blame za Blame, hat ein grosses 
Knochengerust als Riickgrat. Schmetterliog hiipft. 

Assozv&tionspriifung: 


Reizworte: 

Assoziation: 

Reproduktion: 

Schwarz 

Farbe 

Tinte 

Riechen 

Dufte 

Geruoh 

Gift 

Aether 

+ 

Unfall 

hilflos 

+ 

Schneider 

naht 

auch ein Name 

Stimme 

Gehor 

+ 

Krank 

siech 

hilflos 

Gefangnis 

Zwangshaft 

Abbiisseanstalt 

Kopf 

Das Haupt des Korpers 

edelster Teil des Korpers 

Bilder 

Schmuck 

+ 

Engel 

Geist 

4 - 

Ring 

Schmuokgegen stand 

+ 

Leben 

Wandem dnrchs Leben 

Weiterschaffen 

Bier 

ein Henkel 

+ 

Schenken 

Opferwilligkeit 

einem Gates tun 

Griin 

die Farbe 

grasgrun 

Traorig 

mitleidig 

niederschlagen 

Rose 

Pflanze 

rot 

Apfel 

Gewachs 

Frucht 

Haus 

Unterkunft 

+ 

Bett 

Niederlage 

Niederkunft 

Gold 

Edelmetall 

+ 

Konig 

Herrscher 

+ 

Reisen 

unterwegs sein 

+ 

Frosoh 

ist ein Tier 

+ 

Sonne 

Fixstern 

+ 

Soldat 

V aterlandsverteid iger 


Pfleger 

Hilfspersonen 

hoflicher Mensch 

Gras 

griin 

+ 

Hand 

Glied 

+ 

Stark 

kraftig 

kraftiger Mensch 

Schuld 

Abbussung 

falsches Bewusstsein 

Vogel 

Tier 

+ 

Pferd 

ausch ein Tier 

+ 

Saner 

muss sauer gemacht werd en 

Geschmack 

Feind 

boser Mensch 

+ 

Hanfen 

angehaufte Stelle 

+ 

Trommel 

Ledertrommel 

+ 


AbsurditatenrlstSelbstmordbei46Schnittenmoglich? „Nein46Schnitte 
zu feige“. , 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 513 

„loh habe zwei Brfider, Paul und ich u -f- 

Heilbronner -|- 

Zeitlich unorientiert. 

Rechnet Zinsen, Lobnbereohnung. 

Datum? ,',Weil es angefuhrt ist.“ 

Weihnacbten? „Da haben wir Weihnachtsfreude. Maria empfangt das 
Jesuskind.“ 

Eroberungen im Winter? Nicht riel, einige Vorstosse in Rumanian. 

Schlacht? Arras. 

Friedrich der Grosse? Der dritte Hohenzollernffirst. 

Bismarck? Hat Deutsobland hoch gebraobt. Reichskanzler war er nicbt. 

Dankbarkeit? -j- 

Scherzfragen ? 1 Pfund Blei ist schwerer als 1 Pfund Federn. 

Grille und Ameise? Grille ist trage, Ameise fleissig. 

Ebbinghaus? -{- (1 Febler). 

Worte ordnen? — 

Witzverstandnis? — 

Zeigt emotionelle Sohwache. Fangt an, wenn ihm ein Wunsch versagt 
wird, zu weinen. Hort er Freudiges, so lacht er, ohne aofboren zu konnen, 
ist dann sehr euphoriscb. 

Fassen wir die ganze Entstehung des Rrankheitsbildes zusammen, 
so ergibt sich folgendes: 

Ein erblicb nicht gleicbartig belastgter junger Mensch erkrankt 
an Lues. Gleichzeitig wird uber ihn eine Haft verh&ngt. Zu dieser 
Zeit ist er 23 Jahre alt, noch wfihrend des Bestehens der primfir und 
sekundftr syphilitischen Symptome bricht ein psychischer Verwirrtheits- 
zustand aus. Der Kranke ist "dabei zeitweise sehr erregt, ablehnend 
und gibt Antworten, die etwas an das Symptom des Vorbeiredens er* 
innern und die Form des Agrammatismus und Puerilismus tragen. Es 
tritt starker Speichelfluss ein. Sonstige Lahmungserscheinungen fehlen 
vfillig, nur eine damalige Schriftprobe zeigt schon starke Unsicherheit. 
Der Kranke bleibt dann einige Monate in psychiatrischer Bebandlung, 
allm&hlich verliert sich die Desorientierung und er wird klar, er wird 
entmfindigt und es bleibt ein mfissiger Schwachsinn fibrig, wobei eine 
starke Reizbarkeit immer wieder hervortritt. Nachdem er nicht weiter 
aufffillig geworden ist, tritt 7 Jahre sp&ter eine „Lahmung“ auf, die 
nun bis zum Abschluss der hiesigen Beobachtung besteben bleibt. 

Wenn auch leider die Autopsie in diesem Falle nicht mfiglich war, 
so bietet doch, glaube ich, das gesamte Krankbeitsbild viele Einzel- 
heiten, die die genaue Schilderung der Anamnese rechtfertigen dfirften. 
Fragen wir uns zunficbst, was bier wohl vorgelegen habe. Von den im 
Beginn unserer Ausffihrung erw&hnten Krankheiten fkllt nach der ganzen 
Symptomatologie der Torsionspasmus und die Ath4tose double weg, 


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514 


Dr. Max K as tan, 


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derm von derartigen Verdrehungen des Kdrpers, wie wir sie bei dem 
Torsionspasmus sehen, und von athetotischen Bewegungen ist nicbts 
festzustellen. Der chronische Verlauf und die Anordnung der Symptome, 
vor allem das Fehlen eindeutiger Hirnsymptome, sprechen gegen eine 
olivo-zerebellare Erkrankung. Aucli von einer echten Dystonie wird 
man in unserem Falle nicht sprechen konuen. Es bleibt mithin nur die 
Mdglicbkeit, dass eine multiple Sklerose, eine Pseudosklerose oder eine 
juvenile Paralysis agitans vorliegt. Es fehlen aber die extrapyramidalen 
Symptome der multiplen Sklerose, das Babinskrsche Ph&nomen, die 
allgemeine Erhdhung der Sehnenreflexe und Stbrungen des Augenhinter- 
grundes, ferner der Nystagmus. Eine juvenile Paralysis agitans mtfchte 
ich deshalb nicht annehmen, weil, wenn man die Willig’sche Zu- 
sammenstellung verfolgt, bei dieser Krankheit nur sehr selten bulbire 
Symptome und psychotische Erscbeinungen anzutreffen sind. 

Nun muss allerdings zugegeben werden, dass einige der h&uiigsten 
Symptome, die bei der Pseudosklerose anzutreffen sind, bei unserem 
Kranken nicht gefunden werden kbnnen. Das gilt vor allem von dem 
Kornealring, von einein ausgesprocbenen Wackeln und von greifbaren 
Anzeichen einer Lebererkrankung. Ich mochte aber betonen, dass ein 
so ausgezeichneter Kenner wie Schultze erst neuerdings darauf aufmerk- 
sam gemacht bai, dass der Kornealriug keineswegs zu den unumg&ng- 
lich notwendigen AnhaltspuAten fur die Diagnose der Pseudosklerose 
gehSrt. Dem hatte schon fruher Oppenheim und in einer auch zuletzt 
erscbienenen Darstellung von Economo beigestimmt. Der letztgenannte 
Autor verweist auch bei seinem Falle auf das Fehlen eines ausge§pro- 
chenen Tremors hin und zieht zum Beweise, dass trotzdem eine Wil¬ 
son sche Krankheit angenommen werden kOnne, den Cassirer’scheu 
Fall heran. Es verdient aber hervorgehoben zu werden, .dass in einem 
fruheren Gutachten ganz besonders starkes Wackeln betont wird, obwohl 
damals nicht an Pseudosklerose gedacht wurde. Die Einstellungsunruhe 
der Augapfel — als Augenrollen von einem Vorgutachter bezeichnet — 
glaube ich aber als ein auf die iiusseren Augenmuskeln beschranktes 
oszillatorisches Wackeln auffassen zu kOnnen. Die Leberveranderung 
wird man am Lebenden palpatorisch kaum feststellen konnen, da es 
sich meist um zirrhotische d. h. Schrumpfungsprozesse handelt. Der 
negative Ausfall der funktionellen Leberprufung ist allerdings bemerkens- 
wert. Wenn man aber der Ansicht ist, dass sich Veranderungen der 
Leber auch von den Verhaltnissen der Milzfunktion widerspiegeln, so 
ist auch auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass im Blutbilde 
eine erhebliche prozentuale Verraehrung der Lymphozyten imd ein 
starkes Vorhandensein der Uebergangszellen festzustellen ist. Der zur 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankhoiten. 515 

Zeit negative Leberbefund verliert aucb an Bedeutung durch die im 
Beginn der Erkrankung sicher vorbandene Leberaffektion, die sick in 
der ikterischen Verf&rbung der Augenbindeh&ute dokumentierte. 

Nicht minder wicbtig ist ein Fingerzeig, den uns die Entstebung 
des ganzen Krankheitszustandes auf dife Aetiologie des Leidens gibt. 
Schon A. Wes tp ha I hat auf Grand des Leberbefundes ganz besonders 
auf die Mdglicbkeit hingewiesen, dass der Lues eine Rolle fur die Ent- 
stehung der Krankheit zukommt. v. Dziembowski hat sich deal fur 
seine F&Ue angeschlossen, ohne allerdings Westphal’s Annahme zu 
erwShnen. In unserem Falle hat sich nun kurz vor Ausbruch der Er¬ 
krankung die syphilitische Infektion nachweisen lassen, hat vielleicht 
auch damals zu Leberveranderungen und Ikterus gefiihrt, und dass 
auch jetzt nach der ■ zur Zeit herrschenden Auffassung iebende Spiro- 
chaten im Organismus sich finden, beweist die Wassermann’sche 
Reaktion. Eine erbliche JBelastung konnte im Gegensatz zu den meisten 
der beschriebenen Falle, wo familiares Auftreten die Regel war, nicht 
nachgewiesen werden. Auch fur Unfalle, wie sie friiker mit verant- 

wortlich fur die Entstebung der Krankheit gemacht wurden, ist kein 

Anhaltspunkt in der Anamnese vorhanden. 

Ueberschaut man das kSrperliche Symptomenbild in unserem Falle, 
so ist das Hervorstechendste die Spitzfussstellung, die Kontraktur, die 
voro Kranken und seinen Angehdrigen selbst als Lahmung aufgefasst 
wurde, und die allgemeine Starre der Muskulatur und des Gesichts- 
ausdruckes, die sich auch auf die Augenbewegungen und den Mund 
erstreckt. Gerade diese Starre des Gesichts und der KOrperhaltung 
liess an eine Paralysis agitans denken, wie das gleichermassen v. Strum- 
pell in einem seiner Falle tat. Von einer Lahmung im klinischen 

Sinne konnte nicht die Rede sein. Auch die eigenartige Falsettstirome 

ist bereits von v. Strumpell betont worden. Man hatte den Eindruck, 
als ob unser Kranker immer mit der Stimme uberschnappte, daneben 
war die Sprache aucb langsam, aber nicht eigentlich skandierend. Auch 
dies gehCrt ja zum Symptomenbild der Pseudosklerose. Die Spitzfuss- 
stellung und Beugekontraktur im Knie sind genau dieselben wie sie 
Rausch und Scbilder an den Bildern von ibren Kranken zeigen. 

Ganz eigentumlich war nun das psychische Verhalten in miserem 
Falle. Bekannt ist ja, dass bei der Pseudosklerose sowobl psychische 
als auch kfirperlichy Krankheitszeichen schub- und anfallsweise auf¬ 
treten. Bei unserem Kranken bestand zuerst ein Zustand von Desorien- 
tiertheit, Angstlicher Erreguug, grosser motorischer Uuruhe, es wurde 
daher aucb immer nur an einen psychogenen D&mmerzustnnd oder eine 
Dementia praecox gedacht. Und das scheinbar unter dem Einfluss der 


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Autoritat eines der ersten Diagnostiker noch dann, ais alle akuten 
Symptome, die dafflr sprechen konnten, abgelaufen waren. Es muss 
ja zugegeben werden, dass die Wirkung der Haft psychogene Zuge ira 
Krankbeitsbilde auftauchen liess. Aber bei der Pseudosklerose treten 
sowieso bysteriforme Zuge — z. B. Mutismus im Fall v. Econo mo, 
der vielleicht der Verbigeration und erschwerten Wortfindung unseres 
Kranken an die Seite zu setzen ist — so haufig in Erscheinung, dass 
Charcot sie ja an sich ais Hysterie auffassen wollte, eirie Auffassung, 
der keiner beigepflicbtet bat. Ebenfalls sind schon fruber Verwechse- 
lungen mit der Dementia praecox vorgekommen. Ich erwahnte hier 
schon einen Fall von Fleischer, in dem spater das Auftreten des 
Kornealringes zur richtigen Diagnosestellung gefuhrt bat. Wie,Rausch 
und Schilder schon hervorheben, bildet sich bei der Pseudosklerose 
eine Afiektlabilitat und ausgesprochene emotionelle Schwache aus; diese 
mit einer allgemeinen geistigen Einschrankung, Herabsetzung des Asso- 
ziationsvermdgens, der Kritik und sehr deutlichen Erinnerungsfaischungen 
verbunden, ist aucb bei unserem Kranken deutlich ausgepragt. Der 
ausgesprochene kOrperliche Befund ist mit einer pathogenen oder schizo- 
phrenen Erkrankung nicbt vereinbar. 

Es handelt sich also um einen jetzt 6 Jahre bestehenden Fall von 
Pseudosklerose, der in der Haft nach einer luetischen Infektion mit 
einem psychiscben Verwirrtheitszustande begann und kdrperlich anfangs 
nur Speicbelfluss und Scbriftstdrungen zeigte, bei dem sich allmiblich 
eine psycbiscbe und affektive Abschwachung ausbildete und bei dem 
6 Jahre nach der Erkrankung Kontrakturen und erhdhte RigiditAt der 
Muskeln sicb bemerkbar machten. 

Bei chronisch verlaufenden Fallen (Strumpell's letzte Arbeit Bd. 59 
der Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., v. Dziembowski und mein Fall) 
tritt relative Vermehrung der Lymphozyten, Absinken der polymorph- 
kernigen Leukozyten und teils des Hamoglobingehalts ein, das wohl der 
Leber- und Milzsckadigung zuzuschreiben ist. 

Rumpel's Annahme einer durcb kongenitale Lues bedingten pri- 
mkren Leberschadigung trifft nicht fur alle Falle zu. Es mag eine 
fehlerhafte embryonale Anlage oder eine frisch einwirkende Noxe die 
Leber schon ver&ndert haben; die frCLh erworbene Lues fuhrt erst den 
Ausbruch der typischen Krankheit herbei. Hierbei mag dahingestellt 
bleiben, ob die schon vor der Lazarettbeobachtung bemerkte psychische 
Eigenart ebenfalls nur ais disponierendes Moment zu gelten hat oder 
schon Initialsymptome des Leidens waren, da ich die Akten hi er fiber 
nicht bekommen konnte. 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMoskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 517 

Nachtrag bei der Korrektur: Nach Fertigstellung der Arbeit 
sind noch folgende zwei einschlagige F&lle bier beobachtet worden: 

Fall 2 . Paul W., 17 Jahre alt, erkrankte 1917 mit Zittern der linken 
Hand, das auch auf die andere Hand und auch auf den ganzen Korper spater 
ubergriff. Nach Angabe des Vaters sei er dummer geworden, spreche jetzt 
auoh schwer und scblafe viel. Aufnahme 30. 12. 1918. Gibt selbst an, seit 
Februar 1917 mit der linken Hand zu zittern, was sich bei Gebraucb der Hand 
verstarkte Und spater auf den Arm und den iibrigen Korper iiberging, so dass 
er nur geben konnte, wenn der KSrper nicht zu sebr „scblackerte. u Herz und 
Lungen o. B. Haut, besonders am Mund, Kinn zu Abschiirfungen geneigt, 
naoh Injektionen subkutane Blutungen. Ohrlappchen angewacbsen, Uvula 
geht nach rechts, Brustorgane o. B. Im Rontgenbilde nach der Rautenberg- 
schen Insufflationsmethode kleine Leber mit auffallend kantigen Randern. Im 
Harn Urobilinogen -f-* Wassermann’sche Reaktion negativ im Blut und Liquor, 


AbbilduDg 6. 



Sclirift von Fall 2. 


Nonne’sohe Reaktion positiv, Lympbozytose -f-- Im Blutbild 60 pCt. poly- 
nukleare, 30 pCt. Lympbozyten. Keine Thrombopenie. Pupillen etwas entrundet 
L. R. -j-, C. R. -f-? Schleimhautreflexe etwas herabgesetzt, Sehnen- und Haut- 
reflexeo.B. Kein Babinski, Hautroten KeinOppenbeim. Zunge zittert grob- 
scbl&gig, Sprache ist skandierend, langsam. Fistelton. Langsame athetotische 
Fingerbewegungen in der Ruhe. Schrift unsicber (s. Abb. 6.). Arme und Beine 
ataktisch. Beim Bewegen, z. B. Schreiben oder Essen, wird die Hand addu- 
ziert, der ubrige Arm fuhrt grobschlagige Zitterstosse aus. Dasselbe gilt 
fur die Beine beim Gehen, dabei wird die Hacke aufgesetzt, die Zeben dorsal 
flektiert, die Kniee stark gebeugt, die Beine geschleudert. Beim Aufsetzen 
waokelt der ganze Oberkorper mit dem Kopf, Gesicbtsausdruck starr, Augen- 
bewegungen selten, bei Fixation Wackeln des Kopfes und der Augenmuskeln, 
Hand bleibt offen, kein Speiohelfluss. Beim Trinken wird der ganze Mund, 
nicht nur die Lippen ans Glas gepresst. Sensibilitat o. B.: Psychiscb: 
emotionelle Schwacbe, weint und lacht sehr leicht. Im allgemeinen eupho- 
risch, zeigt aucb eine Verringerung des Wortschatzes, gebraucbt oft dieselben 
Worte. 


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518 


Dr. Max Kastan, 


Fall 3 . Fritz R., 21 Jahre alt, soli seit 4 Jahren krank sain. Soli 
anfangs nur gezittert baben, spater soli sich die Krankbeit verschlimmert 
haben. Angeblicb sei die Krankheit nach einem Schreok entstanden. Pruher 
habe er gut gelerot, seit zwei Jahren seien, nachdem vorher nur die Beine 
erkrankt waren, auch die Anne ergriffen worden, dann der Kopf, die Sprache 
sei scbleohter geworden. Br habe, obne etwas dagegen tun zu koonen, um 
sich schlagen miissen und habe seines Leidens wegen Viehhuter werden mussen. 

Befund: Allgemeinzustand gut, grosser Gesichtsschadel, niedrige 
Stirn, zusammengewachsene Augenbrauen, angewachsene Ohrlappchen, innere 
Organe o. B. Im Harn kein Bilirubin, kein Urobilin. Prufung der Reflexe 
infolge der starken Bewegungsstorungen fast nicht moglich. Allgemeine 
Hyperasthesie, Pupillen gleich- und mittelweit. L. R. -f-, C. R. Bauch- 
reflexe desgleichen Kremasterreflexe. lm Blut und Liquor Wassermann- 
sche Reaktion —, Nonne’sche Reaktion —, keine Lymphozytose. Sprache dys- 
arthrisch gestort, fast unverstandlicb. Sehr starke und grobe Zitterstosse 
beim blossen Versuch der Untersuchung, schon, wenn auf den zu unter- 
snohenden Korperteil besonderes Augenmerk gerichtet wird. Dabei Gesicht 
stark gerotet, beim Sprechen seitliches Wackein des Kopfes, der sonst meist nach 
links liegt, kan-n fast gar keine Konsonanten sprechen, weohselnd Pro- und 
Supination der Hande, ungleichmassiges Schlagen derselben auf die Bettdecke 
und Schlagen der Beine, die abduziert werden und dann mit den Fersen zu- 
sammenstossen. *Aufrichten des Korpers und Gehen unmoglich. Alle Zitter¬ 
stosse zeigen grosse Amplitude. Gesichtsausdruck starr. Nach Luminal 
Besserung der Bewegungen, die nur noch nach passiven und aktiven Be- 
wegungsversuchen auftreten, Sprache deutlich scbleohter, schlaft mit ofTenem 
Mund, die Zunge bewegt sich dabei von oben nach unten (sagittal), Sprache 
dysarthrisch, skandierend. Nach Hyoszin-Morphium rechts Fallhandstellung. 
Ellenbogen gebeugt, schlaff, Andeutung von Katalepsie, Zittern angedeutet, 
reohte Hand mit gespreizten Fipgern aufs Belt gestiitzt. Naoh einem Monat 
Erbrechen, Schluckstorung, wird sebr still und rubig, Puls kleiu, Temperatur 
39,1 bis 39,0. lm Munde gelbliche Belage, ausgesprochene Gingivitis; daher 
Verlegung nach der medizinischen Klinik. Hier Auftreten von blasigen Ab- 
hebungen etwa 50 Pfennig-Stuck grosser Hautstiicke, die sich zum Teil bareits 
nach einem Tage entleeren, und dunkle, gelbe Pigmentierungen an den Armen, 
ferner roseolaartiger Ausschlag. Einen Tag nach der Verlegung Exitus. 
Histologische Untersuchung: Milz: Bild der Stauung ohne Trabekelwuche- 
rungen. Leber: Vollstandiger Umbau der Leberlappchen, die teils frisch 
regeneriert sind durch Leberzellen von der doppelten Grosse der normalen mit 
zwei bis drei Kernen ohne Mitose. Teils erstrecken sich in sie Auslaufer von 
Bindegewebe mit kleinzelligen Infiltrationen. Gallengange gewuchert. In der 
Haut nur normales Pigment, kein Blut, Eisen oder Silber. Die vorlaufige 
Untersuchung des Zen train ervensystems ergibt Gliawucherung, Unregelmassig- 
keit der Anordnung der Ganglienzellen in der lnselrinde, wo die Fortsitze 
nach alien Richtungen auseinandergehen, dort ferner auch Trabantzellen, die 
zum Teil die Ganglienzellen deformiert haben. 


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Mit Erhohung der Rigiditat derMaskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 519 

Sektionsprotokollauszug: (Privatdozent Dr. Christeller.) Fibrose 
Aorten- und Kranzarteriensklerose; pleurale und pratracheale Blutungen, 
Hyperamie der Nieren, Erweiterung des Nierenbeckens, atelektatische Broncho- 
pneumonie, Intimaverfettung der Aorta, chronische Leptomeningitis fibrosa, 
Zahnlleisch und Mundschleimhaut mit zabem, schleimigem, sohmierigem und 
mit geronnenem Biut untermiscbtem Sekret bedeckt. Rechte und linke 
Aortenklappe 5 mm weit verwachsen miteinander. Gelbe, leicht erhabene 
Einlagerung im recbten Kranzgefass. 1m Bindegewebe zwiscben den vorderen 
Halsmuskeln und der Trachea reichliche itacbe Blutaustritte. Milz 16:13 cm, 
620 g, stark vergrossert, weich, schlaiT, Durchscbnitt gleichmassig graurot 
Zeichnung deutlich, Pulpa fest, nicht abstreichbar, Leber 23:15:7,5 cm, 
1285 g. Oberflache auffallig grob gehockert, Pareitchym bestebt aucb im 
Durchscbnitt aus erbs- bis kirscbgrossen festen, genau kugligen Knoten, die 
durch einen Strang von einander getronnt sind. Farbe der Knoten dunkel- 

V 

Abbildung 7. 



Leber von Fall 3. • 

braunrot bis bellbriiunlich gelb. Leber stark verwachsen. Gallenwege durcb- 
gangig, nicht erweitert. Pankreas ziemlich klein. Riickenmark o. B. Schadel- 
dach selvr schwer, nur am Scheitel transparent. Diploe sehr blutreicb, Dura 
schlalT, blass: Oberer Sinus longit. hat rechts geronnenes Blut. Pia milchig- 
blaulich-weiss getriibt, besonders in einera weissen Strang langs der Gefasse, 
stark mit klarer Fliissigkeit durchtrankt. Gleiche Fliissigkeit in den Hirnhohlen. 
Gehirn im ganzen klein, 1085 g, Briicke atrophisch. 

Besonders wichtige Punkte liebe ich noch bervor. Allen drei 
Fallen fehlt der Kornealring. Fall 1 und 2 haben gemeinsam die 
emotionelle Schwiiche, ferner ist bei ihnen Lues anzunehmen (Wasser- 
mann, Nonne). Je nachdem es sich um akquirierte Lues mit frisch in 
den Organismus eindringenden Spirochiiten oder um kongenitale bandelt, 
sind die Erscbeinungen aucb an der Leber akut oder weniger akut- 
Aucb bei geringen klinischen Syraptomen seitens der Leber (siebe Fall 3) 
zeigt die Autopsie ganz enorme Veranderungen, diese deuten auf eine 


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520 Dr. Max Kastan, Mit Erhohung d. Moskelrigiditat einhergeh.Nervenkrankh. 

krankhafte embryonale Anlage hin. Die kleinzellige Infiltration spricht 
fur chronische Entziindung (Lues?). Es ist dringend zu empfehlen. in 
alien F&llen durch Anwendung des Insufflationsverfahrens sich fiber 
Grfisse und Form von Leber und Milz Klarheit zu verschaffen. Erwfihnt 
sei nocb, dass auch Fall 2 eine Iymphozytfire Blutverschiebung hatte 
und bei Fall 2 und 3 Neigung zu Blutungen besteht. (Vgl. Fall Voelsch.) 


Die Literatur des letzten Jahres, die v. Dziembowski in seiner Arbeit 
noch nioht berucksichtigen konnte, sei aus Raumersparnis fur sich erwahnt, 
da die altere bei v. D. siob vollstandig findet. 

Oppenheim, Zeitschr. f. Nervenbeilk. Bd. 55. 

Maas, i 

Schultze, > Neurol. Zentralbl. 1918. 

Bostroem, l 

v. Economo, Zeitschr. f. d. ges. Psych, u. Neurol. Bd. 43. 

Thomalla, Zeitschr. f. d. ges. Psych, u. Neurol. Bd. 41. 


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xxn. 


Ueber Aggravation nnd Simulation geistiger 

StSrung. 

Yon 

Prof. Dr. J. Raecke (Frankfurt a. M.). 

Die Feststellung von VortHuschung geistiger Stdrnng bedeutet eine 
der schwierigsten Aufgaben der Psychiatric, wiewohl unsere Lehr- 
bficher in der Regel zierolich kurz uber diese ganze Frage hinweggehen. 
Hinsichtlich der Hfiufigkeit solcher Simulation waren die Ansichten der 
einzelnen Autoren frfiher sehr geteilt, doch scheint heute im allge- 
meinen die Auffassung herrschend zu werden, dass nur reine Simulation 
wirklich selten ist, dass aber T&uschungsversuclie auf psycbopathischer 
Grundlage verhfiltnismflssig hfiufig vorkommen, vielleicbt auch in letzter 
Zeit an Zabl zugenommen haben. Bestimmte Ziffern lassen sicb da schlecht 
geben, weil das Material der einzelnen Beobachter zu verschieden ist, 
um einen Vergleich zu gestatten, und weil ferner je nach der persfin- 
lichen Auffassung der Gutachter die Grenzen zwischen bewusster und 
unbewusster Uebertreibung zu verschieden gezogen werden. 

Hoche bat leider Recht mit seiner Behauptung, dass allgemein 
gfiltige Kennzeichen der Simulation bislang nicht bestehen. Es erschwert 
das die Stellung des gerichtlicben Sachverst&ndigen ungemein. Man 
sollte sich nicbt wie Bolte mit dem Gedanken trfisten, die Simulations- 
diagnostik sei praktisch unwesentlich, weil es sich in 90 pCt. der ein- 
scblfigigen F&lle doch im Grande um krankhaft veranlagte Menscben 
bandelte, denn nicht jede] Erankhaftigkeit bedingt gleich Unzurech- 
nungsf&higkeit. Der von Wassermeyer beschriebene Fall, dass die 
widersprachsvolle Auffassung verschiedener Sachverst&ndiger einen Simu- 
lanten wiederholt zwischen Strafhaft und Irrenanstalt bin und her irren 
lasst, bildet leider keine seltene Ausnahme, sehr zum Schaden des An- 
sehens der gerichtlichen Psychiatric. Der an sich richtige Satz, dass 
Simulation nicht geistige Krankheit ausschliesst, wird leicht irrtfimlich 
dahin ausgelegt, als sei Simulation an sich ein krankhaftes Zeichen, 
und es ist nicht so selten, wenn auch nicht zu billigen, dass verant- 

Arohir f. Pfjehifttrie. Bd. 00. Heft 2/3. 34 


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Dr. J. Raecke, 


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wortungsscheue Gutachter sich trotz innerer Zweifel nicht entschliessen 
konnen, in einem bereits 6fter als krankhaft angesprochenen Falle an- 
ders zu entscheiden, als ihre Vorghnger. Freilich die Voraussicht, dass 
der betreffende Simulant nach seiner Verurteilung weiter seine psycho- 
pathischen Eigentumlichkeiten zur Schau tragen, den Str&fvollzug stfiren 
und neue Begutachtungen notwendig machen wird, lasst es bequemer 
und vielleiclit zweckm&ssiger erscbeinen, den teilweise abnormen Men- 
scben sogleich wieder irrenarztlicher Verwabrung zu ubergeben. Allein 
auf die Dauer ist mit diesem halben Verfahren niclits gewonnen. Ein- 
mal muss doch entsckieden Stellung genommen werden. 

Gerade die sogenaunteu Grenzf&lle, haltlose Psychopatben und 
mftssig Schwachsinnige mit ausgesprochenen sittlichen Mangel n, die 
dauernd hart an der Grenze der Zurechnungsfahigkeit stehen, baben es 
besonders leicht, durch Aggravation ihrer seelischeu Abweichungen sich 
den Schutz des § 51 zu erlisten. Hier begegnen wir auch Beispielen 
planvoller und geriebener Simulation von StQrungen, die in Wahrheit 
niemals vorhanden waren. Die an sich schwierige Beurteilung wird 
durcb ungenugende Vorbegutachtungen immer mehr erschwert und der 
Fall so verwickelt,. dass die endliche Klarstellung auf die gr5ssten Hin- 
dernisse stosst. 

Wie leicht es manchen Psycbopathen gemacht wird, die zur Er- 
reichung der Unzurechnungsfahigkeit erforderlichen „Krankheitszeichen u 
aufzubringen, mag folgende Beobachtung von neuem zeigen: 

Fall 1. Hermann J., unehelich geboren 1880, Arbeiter, war 7mal wegen 
Diebstahl and Hehlerei vorbestraft, 2mal wegen Korperverletznng, batte zwar 
in der Schule leicht gelernt, war aber mit 13 Jahren wegen Schwanzens, Steh- 
lens, Lugens in Zwangserziehung gekommen. Nach der Konfirmation erst 
Sohlosserlehrling, tat nicht gut, kam zum Schiffer, lief diesem fort. 2 Bruder 
der Matter sollen in Irrenanstalten gewesen sein. 

Seit Oktober 1900 wieder wegen Diebstahls in Untersuchnngshaft, bot 
anfangs nichts Auffalliges bis Dezember, wo er wahrend Verbiissung einer Dis- 
ziplinarstrafe in hochgradige Aufregung geriet, Fensterscheiben, Tisch und 
Schrank der Zelle zertriimmerte, dem Personal Widerstand leistete und es be- 
schimpfte. Nach einigen Stnnden beruhigte er sich, sagte, er sei manchmal 
ganz von Sinnen, habe das schon einmal in der Haft gehabt. 

Sein Benehmen war weiterhin trotzig, frech, prahlerisch. So behaupiete 
er falsohlich, 2 Brnder bei der Marine zu baben, selbst schon in Ostafrika ge¬ 
wesen zu sein. Einmal machte er einen nach der ganzen Art der Aasfdhrung 
wenig emsthaft gemeinten Suizidversuch, nntemahm Fluohtversuche, bedrohte 
wiederholt die Aufseher. Dooh fugte er sich stets, wenn er Ernst sah. Wegen 
seiner reizbaren, unberechenbaren Stimmung liess man ihn zeitweilig Hand- 
fesseln tragen. Anfangs behauptete er, damit nicht ossen zu konnen, begann 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stoning. 


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aber nacb kurzem Fasten von selbst wieder zu essen. Seine Untersuchung 
durch den Gefangnisarzt wurde angeordnet. 

In dessen Gatachten werden Fehlen organischer Erkrankungen and Bil- 
dungsfehler betont, das Vorhandensein der Fahigkeit zum Lesen, Sohreiben 
Rechnen zugegeben, aber angeborener Schwachsinn angenommen wegen Feh- 
lens hoherer Interessen nnd Strebungen, mangelnder Liebe zu den Eltern, 
Reuelosigkeit und Unfahigkeit zu geregelter Lebensfiihrung. 

Am 9. 7. 1901 ward J. von der Strafkammer nach § 51 freigesprooben, 
in die Irrena'nstalt S. eingewiesen und entmundigt. Er entwich am 25.3.1903, 
nachdem man dort seine Entlassung schon ins Auge gefasst hatte, da er bei 
fortgesetzter Beobachtung nicbt Gegenstand irrenarztlicber Behandlung und 
Verwabrung zu sein schien. Es heisst im Bericht der Anstalt ausdruoklich, er 
babe koine krankhaften Erscheinungen geboten und an seiner Zurechnungs- 
fahigkeit sei nioht zu zweifeln. 

Scbon Oktober 1903 beging J. none Diebstahle, nachdem er zunachst auf 
verschiedenen Hofen gearbeitet hatte, Er entschuldigte sich mit augenblick- 
licber Hittellosigkeit. Im Gefangnis zeigte er alsbald wieder das gleiche Ver- 
halten wie das letzte Mai: Auflehnung gegen die Ordnung, Unlust zur Arbeit, 
eitles Prahlen, Drohen mit Gewalttatigkeit. Wieder ward er von dem gleichen 
Arzte wegen angeborenen Scbwachsinns exkulpiert. 

In den Grunden der Freisprechung heisst es (Urteil vom 21. 3. 1904): 
„Er raumt die ihm zur Last gelegten Handlungen ein, ist nach dem Gutachten 
desKreisarztes jedoch strafrecbtlich dafiir nicbt verantwortlich zu macben, weil 
er an unheilbarem angeborenem Schwachsinn leidet“. 

20. 5. bis 25. 7. in der Nervenklinik Kiel, wo er sich dauernd ruhig und 
geordnet betragt, willig in die Hausordnung fiigt, nicht prablt, nicht droht, 
uberraschend gate Schalkenntnisse zeigt. Er gibt zu, in der Schule gut ge- 
lernt zu haben, er sei nicht krank, sei es auch nie gewbsen. Bei seinen ersten 
Straftaten habe es sich urn jngendliche Yerfehlungen ohne rechte Ueberlegung 
gehandelt. Einmal sei er auch unschuldig verurteilt worden. Jetzt habe er 
nurausNot gestoblen, bebauptet Reue. Nie Krampfe, Schwindel, Ohnmachten. 
Gleicbmassig freundliches Wesen. Fleissig und geschickt. Liest viel. Nur 
am 5. Juli einmal vorubergehend erregt, als er nach Ablehnung seines Ent- 
lassungsgesuches aus Vorsicht in die feste Abteilung verlegt werden soil. 
Wehrt sich, macht Fluchtversuch, droht, beruhigt sich aber, als er keinen Aus- 
weg sieht. Ueberfuhrt nach Irrenanstalt N. 

Ein eigentumliches Licht auf seine „Affekthandlungen tt im Gefangnisse 
warfen ubrigens die gelegentlichen Aussagen eines Mitgefangenen, die uns 
durch das Gericht zugingen: J. habe sich dahin geaussert, wenn er Termin 
kriege, wolle er sich zur Wehr setzen und einen Radau herbeifdhren und einen 
Skandal auf dem Gericht machen, dass der Termin nioht zustande kame. Be- 
strafen konne ihn das Gericht nicht, er rufe den Gefangnisarzt zum Zeugen an, 
der erklare ihn dann wieder fur verriickt und frei! 

2. 10. entwich J. aus der Anstalt N., wo er ebenfalls keinen kr&nken 
Eindruck gemacht und allmahlich mehr Freiheit genossen hatte. Nach seiner 

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Dr. J. Raecke, 


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Wiederaufnahme in der Kieler Klinik am 16. 10. infolge polizeilioher Einvei- 
sung verstand er es, bereits am 31.10. anch von bier zu entwisohen. Er hatte 
die 14 Tage rubig nnd fleissig gearbeitet, sioh alien Anordnnngen gefugt. Am 
26. 1. 1905 brachte ihn die Polizei wieder. Er sah gut gekleidet aus, konnw 
naohweisen, dass er bisher in regelmassiger Arbeit gestanden hatte. Da nichU 
Nenes gegen ihn vorlag, wurde er als nioht geisteskrank am 7.2. wieder entlassen. 

In dem nunmehr von der Klinik eingeforderten Gutachten wurde darge- 
legt, dass wahrend des wiederholten Aufenthaltes hier ausser leichtem Schwach- 
sinn keine krankhaften Ersoheinungen bei J. beobachtet worden waren. Die 
kdrperliche Untersuchung ergab normals Verhaltnisse. Das Bewusstsein war 
dauernd ungetriibt gewesen. Das gesamte Betragen war den Verhaltnissen 
angemessen, die Stimmnng gleichmassig. Eine gewisse Reizbarkeit war wobl 
vorhanden, im Aerger neigte er zn Zornausbriichen mit Gewalttatigkeit, ver- 
mocbte sich aber selbst dann zn beberrscben. Seine Neigung zum Prablen 
liess ihn doch nie das Verstandnis for die Wirkliohkeit verlieren. Eigentliche 
Wahnvorstellnngen waren nie vorhanden, das Gedachtnis war gut, die allge- 
meinen Kenntnisse nicht soblecht. Bei korperlicher Arbeit erwies er sioh ge- 
scbickt und anstellig. 

Lediglioh ein beschrankter Gesiohtskreis, geringe Voraussicht, Haltlosig- 
keit und Hang zn leichtsinnigen Streichen, sobald er der Yersuchung ausge- 
setzt war, liessen sicb bei J. als auffallig feststellen. Von Jugend auf benahm 
er sich unsozial, roh, empfand keine rechte Rene, wurde durch Strafen nicht 
gebessert. Er war also ausgesprochen moralisch minderwertig, intellektuell 
vielleicht etwas beschrankt. Man konnte einen gewissen Schwaobsinn anneh- 
men, doch nicht einen solchen Grad der Imbezillitat, dass daduroh die freie 
Willensbestimmung dauernd aufgehoben worden ware. 

Es ward daraufhin noch ein weiteres Gutachten vomProvinzial-Medizinal- 
kollegium eingeholt, das sich nioht klar ausspracb, ob es eigentlich Schwach- 
sinn annehmen wollte oder nicht. Nur den Begriff eines moralischen Schwach- 
sinns schloss es entschieden aus, liess aber dieFrage offen, ob etwa ein Mangel 
an Vernunft bestebe, der tiefer in das Seelenleben des J. einschneide, als es 
zunachst den Anschein babe. Zu beurteilen, welches Gewicht dieser Moglich- 
keit beizumessen sei, musse dem Gerichtshofe iiberlassen bleiben. Es erfolgte 
wiederum Freispreohung. 

Am 17. 10. 1905 wurde J. polizeilich in die Klinik verbracht und von 
dort weiter nach der Anstalt N. Bei der Aufnahme war er zunachst wieder 
ruhig und fiigsam. Nur als die Transporteure, welche ihn abholten, ihren 
Weisungen gemass auf seiner Fesselung bestanden, ward er zornig und setzte 
sich kurz zur Wehr, ging dann, als es ihm nichts niitzte, friedlich mit. 

Inzwischen ist J. infolge der weiteren Beobachtungen langst als nicht 
geisteskrank aus der Irrenanstalt entlassen worden. Bei seinem letzten Ruck- 
fall ins Verbreohen ist er vom Gericht als zurechnungsfahig angesehen und 
zu mehreren Jahren verurteilt. Seine Strafe hat er auch angtreten. 

Aus den mir vorliegenden Gerichtsakten ergibt sich, dass er dieses Mai kei- 
nerlei Erregungszustande bekommen hatte, nachdem man ihn wegen Einbruchs 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stfirung. 


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verhaftet hatte. J. war auoh gestandig, betonte, dass er in Arbeit gestanden 
and die ernste Absicht gehabt habe, ein ,,ordentlioher Mensch 11 zu werden, bis 
er abermals derVersuchnng unterlag. Nachdem ervon der fiber ihn verhangten 
Znchthausstrafe 2 Uonate obne Storungen verbfisste hatte, gelang es ihm, bei 
der Aussenarbeit zu entweicben. 

Der Fall J. bietet an sicb nichts Besonderes. Aehnliche Erfahrun- 
gen kfinnen wohl die moisten Kliniken and Anstalten mitteilen, dennoch 
ist es angezeigt, von aeuem auf die hier zutage tretende Dnzutrfiglich- 
keit binzuweisen, dass ein Krimineller heute immer wieder vom Ge- 
richtsarzte exkulpiert werden kann, obgleich alle Irrenfirzte, welche 
ihn Monate und Jahre hindurch in Anstalten and Klinik zu beob- 
achten Gelegenheit gehabt haben, ihn fibereinstimmend ffir zurechnungs- 
ffthig eracbten. Dass damals auch das Medizinalkollegium sich nach 
einigem Schwanken der Ansicht des nichtspezialistischen Arztes anschloss, 
mag freilich darauf berubt haben, dass ihm zu jener Zeit zuf&llig kein 
psychiatrischer Fachmann angehfirte. 

Man kann im Falle J. nicht einmal von richtiger Simulation sprechen, 
nor von einer gewissen Aggravation. Der Hfiftling hatte es ausser- 
ordentlich leicht. Sobald er sich gegen die Haosordnung auflehnte, 
nicht arbeiten wollte, Zeichen von Erregung vorffibrte, ward er ohne 
Weiteres einer psychiatrischen Anstalt Qberwiesen und ihm der § 51 
zugebilligt. Er war sich bald dieses Vorteils bewusst und ging plan- 
rofissig darauf aus, ihn zu nutzen. Dass es sich bei seinem auffallen- 
den Gebahren im Geffingnisse nur um ein Kunsterzeugnis handelte, geht 
aus seinem ganz andersartigen Betragen in den Ahstalten hervor, wo 
er die Erfahrung gemacht hatte, dass er mit seinen Matzchen nichts 
erreichte. Hier war er ein fleissiger und geschickter Arbeiter von 
ruhigem, gleichm&ssigem Yerhalten, an dem wirklich krankhafte Er* 
scheinungen nicht zu bemerken waren. Wohl machte sich hin und 
wieder eine gewisse Eeizbarkeit geltend, aber er konnte sich gleich be- 
berrschen und in die (Jmstfinde ffigen. Es fehlte seinen Erregungen 
vollkommen die charakteristische Rficksichtslosigkeit mit Nichtbeach- 
tung aller Folgen ffir die eigene Person. Sie waren vielmehr stets 
nicht nur in Susseren Vorgfingen begrfindet, sondern auch in ihren Folgen 
berechnet. Niemals verlor er wirklich die Herrschaft fiber sich. 

Es ist daher nicht zu bezweifeln, dass J. im Falle einer Verur- 
teilung sich auch in die Gefangnisordnung zu ffigen gelernt haben wfirde. 
Tatsfichlich hat er denn auch nicht nnr frfiher, ebe die Periode seiner 
Exkulpierungen einsetzte, obne Stfirung Strafen abgesessen, sondern auch 
spater, wie katamnestische Nachfragen ergaben, hat er im Zuchthause 
unauff&llig zugebracht. 


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Dr. J. Raecke, 


Hubner bat einmal in einem lehrreichen Vortrage hervorgehoben, 
wie gem sich Kriminelle die verschiedenartige Beurteilung and Behand- 
lung durcb Gefangnisarzt and Anstaltsarzt zunutze machen, and wie 
gunstig es wirkte, als infoige getroffener Vereinbarang beim n&chsten 
Aufregungszustande des aus der Rlinik in die Haft Zuruckgeschickteu 
statt des erwarteten Gef&ngnisarztes der Klinikarzt selbst erscbien and 
die Zweckiosigkeit solcher vorget&uscbten Grregungen aaseinanderzusetzen 
in der Lage war. Die „Krankbeitserscheinungen“ horten damit wie 
abgeschnitten auf. 

Bei J. mag man lediglicb von Uebertreibung einer tatsAchlich vor- 
handenen Reizbarkeit reden. In anderen Fallen werden auch einselne 
Gesichtstauschungen und Wahnideen hinzusimuliert. M5nkem6ller, 
der in beweglichen Worten die schwierige Stellung des Anstaltsarztes 
gegenuber der Ginweisang solcber Individuen aus den Gefangnissen ge- 
schildert bat, spricht treffend von einer Aufpfropfung kunstlicher Gr- 
findungen auf eine allgemeine psychopathische Minderwertigkeit. Die 
Schwierigkeit liegt vor allem in der Aehnlichkeit solcher simalierten 
Zust&nde mit manchen der von Bonboeffer, Siefert, Birnbanm 
a. a. geschilderten degenerativen Hafterkrankangen. Indessen meinte 
schon Wilmanns, dass in einzelnen derartigen Fallen wohl zunichst 
eine primare Vortauschung geistiger Stdrung bestehe, bis dann mit der 
Zeit, vielleicht durch eine Art von Autohypnose, der Betreffende sich in 
eine hysterische Psychose hineinarbeite. 

Jedenfalls ist es oft eine beikle Frage, wie weit man bei Benr- 
teilung der Haft- und Strafvollzugsf&higkeit den Hauptnackdruck auf 
die minderwertige Gmndlage einer solchen Pfropfsimulation legen soli. 
In Zweifelsfallen wird es gewiss ratsamer sein, die Moglichkeit tatsach- 
lichen Irreseins zu beriicksichtigen und sich zunachst in diesem Sinne 
auszusprechen, bis der Fall etwa durch weitere Beobachtung in scharfere 
Beleuchtung geruckt wird. Es ist sicher besser, lieber in solcher Rich- 
tung einen Irrtum zu begehen, als umgekehrt. Jedoch darf man nicht 
unter alien Umstanden hartnackig die erstmalige Auffassung festhalten 
wollen, obwohl die femere Gntwicklung nahe legt, dass nur Tauschung 
vorlag. Im folgenden FaUe, wo ich mich erst fiir Krankbeit entschied, 
hatte bestimmt Simulation die Hauptrolle gespielt: 

Fall 2 . HugoSch., 31 Jahre alt, hatte mit seinen beidenBrudernKuno and 
Bruno zusammen scbwindelbafteKrankenversicherungsgesellschaften in verschie- 
denen Stadten begrundet. Es wurden wohl die Versichorungsbeitrage erhoben, 
aber am die Gegenleistangen wusste sich die Kasse zu drucken; gleichzeitig 
wurden den Briidern als Beamte ubermassig hobe Gehalter gezablt. Als die Auf- 
sichtsbehorde, auf das Treiben aufmerksam geworden, die Auflosung dieser Ver- 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 527 

sioherungsgesellschaften verlangte, riefHago alsDirektor eine„Generalversamm- 
lung w ein, in der nur er and seine Brader erschienen, am darch „Beschlass u 
den noch vorhandenen Kassenbestand von ca. 22000 M. „als Entsobadigung a 
unter sich za teilen. Als das Aafsichtsamt nun einschritt and das Geld zuruck- 
forderte, suchte Hugo mit der Summe ins Aasland za gelangen, warde aber 
an der Gronze am 20. 4. 13. verhaftet; die 22000 M. warden an seinem Korper 
gefunden. 

Bei seiner Vernehmung am 21. 4. behauptete er, darch „Generalversamm- 
lungsbeschlass u sei ihm das Geld zuerkannt worden. Sein Brader Kano ffihre 
die Geschafte noch waiter. Ebenso ausserte er sich am 22. 4., machte jetzt 
einen „nervosen tt Eindrack, sohrieb aach in einem Briefe, der Richter sache 
ibm einen „Mord u nachzuweisen. Am 24. 4. erhob er gegen den Haftbefehl 
Einspruch, er habe die Geschafte der Gesellschaft einwandfrei gefuhrt, das Geld, 
stehe ihm als Gehalt za. Gleichzeitig klagte er in einem Briefe an den Brader 
Brano uber Nervenzucken und drohte, den Gerichtsarzt zu verklagen. 

Ebenso betonte er am 9. 5. sein gutes Recht, schrieb aber zagleicb an 
einen ihm bekannten Psychiater, er moohte ihn untersachen, der Gerichtsarzt 
verstehe nichts; er sei doch erst kurzlioh aus einem Nervensanatoriom entlassen 
worden. Der Richter habe diese Nacht zu ihm gesagt, er habe einen Mord be- 
gangen. Ferner am 15. 5. protestierte er gegen die unberechtigte Verhaftnng 
und klagte uber seinen schlechten Gesundheitszustand. Es sei alles rechtmassig 
zugegangen, nach ihren Satzungen sei jede Generalversammlung ohne Rdck- 
sicht aaf die Zahl der erschienonen Mitglieder beschlussfahig. 

Am 4. 6. drohte er jede weitere Aussage zu verweigern, aach vor dem 
Schwurgericht: „Solange ich lebe, wird gut prozesst! 44 Alles frage ihn hier 
aus, der Untersuchungsrichter, der Oberinspektor, der Arzt, der Anwalt, es sei 
zum Weglaufen. Nur wenn er nicht mehr antworte, .bore die Fragerei auf. 
Am 11.4. liess er durch seinen Yerteidiger mehrere arztliche Atteste dber 
frdhere nervose Sthrungen vorlegen. Er hatte sich von Februar bis Marz wegen 
Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Vergesslichkeit, Kopfschmerzen in einem Sana¬ 
torium behandeln lassen; ebenso vorher im Dezember an anderer Stelle wegen 
Blatarmut and nervosen Herzbeschwerden, endlich im Oktober von dritter Seite 
wegen allgemeiner Nervositat. In dem einen Atteste war von oberflachlicher 
Sorglosigkeit und Schwache des Willens and des Urteils die Rede. Es handle 
sich anscheinend am eine seit Jahren sohleichend begonnene Krankheit mit 
Niedergang der psychischen Fahigkeiten and Unvermflgen, die Tragweite ge- 
wisser Handlungen and Unterlassungen za ubersehen. In dem anderen Atteste 
warde sogar behauptet, dass Hugo Sch. mindestens seit 2 Jahren for die im 
AfTekt and in krankhafter Vorstellung begangenen Handlungen nicht verant- 
wortlich gemacht warden konnte. Er sei angemein leicht reizbar, anangenehme 
Eindriicke losten bei ihm Affekte aus, die nicht darch Selbstbeherrschung und 
logisches Denken anterdrdckt and korrigiert wurden. In solchen Momenten 
gehe ihm die Fahigkeit ab, die Folgen seiner Handlungen za erwagen. 

Endlich bescheinigte der Gefangnisarzt in H., er habe den Besch. schon 
vor Jahren begutacbtet. Damals sei dieser hochgradig neurasthenisch gewesen 


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Dr. J. Raecke, 


and sei infolge seiner Reizbarkeit bei der geringsten Kleinigkeit in grosste Auf- 
regung geraten, sodass er nicht mehr Herr seiner Sinne ersohien. in solchen 
Affekte babe er beleidigendeFlugblatter veroffontlicht and sei deshalb exkulpiert 
worden. Er sei erblich belastet; schon die Eltern seien nervos gewesen, ein 
Brader habe Selbstmord veruben wollen, der jdngste Bruder Otto sei schwach- 
sinnig. 

Am 12. 6. verfasste der Besch., der sich bis dahin immer noch sachge- 
mass yerteidigt hatte, konfase Sohreiben, in welohen er gegen Staatsanvralt, 
Richter, Gefangnisarzt allerlei Anschuldigungen erhob, bohe Entschadigungs- 
ansprdche stellt, yon einem Adelspradikate sprach. Uebrigens erhob auch die 
Hatter Sch. fabelhafte Beschwerden: Ihre Sdhne mfissten hungern, im Bretter- 
sohlag sitzen, warden langsam zu Tode gemartert. Desgleichen richtete der 
Brader Brano die heftigsten Aasfalle gegen Gericbt und Beamte. 

Eigene Beobachtung: Am 2. 4. and 14. 10. besachte ich die Bruder 
Scb.im Untersaohangsgefangnisse. Wahrend Kano nichts besonderes bot, ffihrte 
Hugo wirre Reden, yerbat sioh erregt jedeFragerei, schlug auf den Tiscb, weinte 
and gab das erste Mai keine Antworten. Das zweite Hal ausserte er: „Die Bull- 
dogge scblage ioh tot, wenn sie wieder ins Haas kommt. 5—6mal kommt sie 
herein, ich habe jedesmal die Tiir zugemacht. Endlichwar sierausgesprungen.“ 
(Blickt scbea amher, macht sonderbare Tope, nimmt den einen Fuss in die 
Hand, spielt mit den Fingern daran). „lch denke fiber die Broschfire nach, die 
ich heransgeben will. Die Reohtanwalte und die ganzen Aerzte, die stecken 
mit dem Gericht unter einer Decke. Das will ich jetzt an die OefTentlichkeit 
bringen.“ 

(Geld zam Drnck?) „Ach ich habe genug Geld, aber die Volker machen 
einen bettelarm; das ist es ja gerade! Die Katze sass auf dem Ofen und war 
so schwarz, wie das Ofenrohr. Die hat mich ganz bos angeguckt. Ich habe 
dem Volk ja garnichts getan!“ 

(Stimmen gehort?) „Die Bade ist fur mich nicht geeignet. Das ist ja 
ein Zag! Wie, wie ein Blitzzag, so geht das. Man will sich aber anch nicht 
beschweren, denn die Leute haben ja genag schon. Ioh will gem 2—300 Jahre 
hier bleiben, aber man soil mir meine Ruhe lassen. Ich will hier ruhig sitzen 
and meine Rohe haben 1“ 

(Krank?) „Nein, ioh bin ganz gesund. u 

(Wie hierher?) „Das weiss ich aach nicht. Ich habe ja den ganzen Tag 
Unterhaltang genag. “ 

(Spricht wer nachts zu Ihnen?) „Ich branche ja nicht za scblafen, 
ich gebe ja einfach Antwort, and wenn mir die Sache za dumm wird, 
fange ich an za schimpfen. Die Sache muss ganz aus der Welt gesohafft 
werden.“ 

(Was wird gesagt?) „Mein Vater sagte diese Naoht, ich sollte mich nicht 
bezwingen lassen. Die mfissen mir alle parieren! Das ist ja aach ganz selbst- 
verstandlioh." 

(Spricht er oft za Ihnen?) „Mein Vater and ich, wir sind ja immer za- 
sammen. u 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 


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Spricht dann plotzlich wieder von der Broschiire, die or heransgeben will: 
„Den Untersnohungsrichter habe ich ja schon zweimal belehrt and der Staats- 
anwalt hat auch keine Kenntnisse und das Landgericbt and Oberlandsgericht 
wissen auch von nichts. Das sind doch keine Zastande!" 

(Woriiber belehrt?) „Da habe ich eingesehen, dass ich mehr Kenntnisse 
habe wie er, und da hat er mich garnicht mehr untersucht. Das ist bezeiohnend 
fur das ganze Yerhalten des Untersuchungsrichters. Er soil mich dooh rufen, 
dann helfe ich ihm darauf. 

(Wie liegt die Sache?) „Das ist uberhaupt keine Sache! So eine Sache 
kann man im Sohlaf erledigen. Und die Anw&lte? Ich weiss nicht, wofur die 
Kerle auf der Welt sind! Die haben keine Ahnung! Die verstehen nicht 
den blauen Teufel! Ich habe den Untersnohungsrichter in C. aufmerktam ge- 
macht, den Staatsanwalt auch in M. Ich muss die ganzen Leute belehren. 
Die haben die Gesetze, sind aber zu faul, in die Gesetze zu gucken. Ich kenne 
das Gesetz auswendig. Der Untersuchungsrichter hat reingeguckt und hat es 
falsch verstanden. Was sagen Sie dazu? Werden sie auch oine Broschiire 
nehmen? Ich denke doch, dass ich 500000 bis 1 Million absetze. Die mussen 
in die ganze Welt. Ich tue einzelne Filialstellen machen und die Vertreter 
kriegen ein Quantum Bucher. Eine Million ! w 

Auch bei dem dritten Besuche fing er gleich von der Broschiire an. Er 
murmelte grimassierend vor sich hin, kratzte auf dem Tische, sagte: „Ich 
werde die Brosohure doch herausgeben und vorn tu ich meine Photographic 
hin. Dann weiss jeder, dass ich das Geld hatte. Die Photographic kommt 
darauf ! w 

Aeussert dann argerlioh: „Ich glaube, dass die Kerls mioh hier noch 
vergiften. Ich habe sohon ein paar Tage Durchfall gehabt. Jetzt sehen Sie, 
dass ich nicht hinaus will. Nun machen sie es auf diese Weise. u (Weint). 
„Mit dem Leichenzug war es ganz anders; da waren die Pferde schwarz be- 
hangen und die Musik spielte und die Leute sind hinterher gegangen. Das ist 
so unniitz! w 

(Wann?) „Vor ein paar Tagen. w 

(Wie hierhergekommen?) „Das weiss ich ja nicht. Ich bin spazieren ge¬ 
gangen und da haben sie mich eingesteokt. u 

Beantwortet die einfachsten Fragen nicht, will nicht einmal die Monate 
wissen. Sei nie zur Schule gegangen. 

Am 21. 10. erfolgte die Aufnabme in die Klinik. Die korperliche Unter- 
suchung ergab folgenden Befund: 

31jahriger Mann von-Uebermittelgrosse, kraftigem Knochenbau, massiger 
Ernahrung, blasser Hautfarbe. Schadel ohne Besonderheiten. Sehlocher weit, 
rund, gleich, verengern ” sich regdlrecht bei Belichtung und Einwartssehen, 
Augenbewegungen frei. Gesicht gleichmassig bewegt. Zunge kommt geiade 
heraus, zittert leicht. Stotternde, aber sonst nicht gestorte Sprache. Sehnen- 
reflexe stark erhoht. Hautreflexexe ohne Besonderheiten. Tast- und Schmerz- 
empfindung herabgesetzt. Gang sioher. Puls von mittlerer Starke, regelmassig. 
Herztone rein. Lungen ohne Besonderheiten. Urin frei von Eiweiss und Zucker. 


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530 Dr. J. Raecke, 

Liegt ruhig im Bette, spricht nur leise vor sich hin and zupft Faden acs 
seiner Decke. Nimmt Nahrung, schlaft aber wenig. Wird allmahlich freier, 
kniipft Gespriiche mit seinen Bettnachbarn an, verlangt Zigarren, erklart dem 
Pfleger, er habe Geld auf der Verwaltung. Lasst sich nicht photographieren. 
Fordert Briefpapier. Zeitweise beobachtet er misstraaisch seine Umgebung und 
fiihrt nnter lebhaftem Gestikulieren unverstandliche Reden. Dem Arzte gegen- 
cuber zuriikhaltend in seinen Antworten. 

22. 10. (Warum hier?) „Ioh bin doch vollstandig gesund, ioh weiss nicht/ 

(Ans Untersochungshaft?) „Ich habe so viel im Kopfe, das sind 4 bis 
500 Jahre her, dass wir die Schlosser gehabt haben. Die Zeitung tut das 
ja alles. u 

(Welche Zeitung?) „Da muss ich ja immer hin. Die 300 Masohinen und 
die ,800 Millionen Einwohner. u 

(Wer Redakteur?) „Das geht ja anders, davon verstehen Sie nichts. u 

(Geldmittel?) Jede Annonce von der Grosse kostet schon 80000 Mark/ 

(Das sehr viel) „Die Annoncc geht ja doch durch die ganze Welt, kommt 
ja in alle Sprachen. 44 

(In welcher Schule gewesen?) ^Schule? Weiss ich nicht! 44 

(Wo aufgewachsen?) „Weiss ich nicht. Ich habe das mit der Zeitung. 
Meine Photographie ist vorn darauf. Ioh habe 500 Automobile und die Eisen- 
bahnstation. Die Stadt hier heisst Sch. (sein Name) Alles aussteigen! 44 

(Wo liegt die Stadt Sch.?) „Weiss ich nicht. Da muss noch alles, das 
ist . . . da verstehen Sie nix von! w 

(Wo Ihr Vater geboren?) ^Das haben wir gar nicht. 44 

Kommt Aufforderungen nur zogej-nd nach, hat dauernd die Stirn gerunzelt. 
Stottert stark. Liegt oft unter der Decke und fubrt laute Selbstgespracbe. 
Einmal weinte er bei der Visite, verschmahte nachher das Mittagessen. Sonst 
ass er gut, hielt sich sauber. Auf Fragen antwortete er ausweichend oder 
gar nicht, wollte nicht rechnen konnen. Als ihm ein Kranker mit einer Zeitung 
einen leichten Schlag vcrsetzte, ward er sehr erregt, fasste nach dem Betttische 
und drohte damit zu werfen. Beruhigte sich nur langsam. 

8. 11. (Wie geht es?) „Ich habe ja iiber nichts zu klagen. u 

(Wie lange nicht mehr?) „Da habe ich ja weniger Interesse fur; ich 
habe ja mit meiner Broschiire genug zu tun. Das lasst sich ja schnell rnachen.* 4 

(Wie viel davon gesohrieben?) „Ioh habe es im Kopf. Es ist ja schnell 
hingeschrieben. u 

• (Wie lange bei uns?) ^Weiss ich nicht. a 

(Wie heisst Ihr Nachbar?) w Das weiss ich nioht. a 

(Wie der Pfleger?) ^Weiss ich auch nicht. Das kann mir ja ganz egal 
sein, wie der Kerl heisst, nioht? tf 

(Was fur Leute neben Ihnen?) „Ganz ordentliche. a 

(Kranke?) „Aoh, die sehen gar nicht krank aus! u 

(Sie krank ?) ^Ioh bin nicht krank . u 

(Haus hier?) ^Irrenanstalt. Was habe ich da zu tun, das mocbte ich 
gern mal wissen. 44 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Stoning. 531 

(Nicht mit Anwalt verhandelt?) ^Ach, die haben alle kein Verstandnis, 
die Kerls ! u 

(Wo wir uns friiher gesehen?)- 

(Vielleioht im Gefangnis?) „Das kann sein, Ich habe so viel mit der 
Broschure zu tun. Wenn die fertig ist, ist ja alles festgelegt. u 

(Monat?) ^November. 44 (Wie vielte?) „Der 5. 44 

(Wo festgenommen?) ^Ich will einfach meine Rube haben. 44 

(ImSanatorium gewesen?) „Ich habe so viel mit meinerBroschure zu tun.“ 

(Woriiber handelt die?) „lch werde denen sohon das Gesetz beibringen, 
wenn die keine Kenntnisse haben . u 

(Wieso?) „Die haben ja so viel gesiindigt, dass das himmelschreiend ist. u 

(Wer?) „Ueberhaupt alle! Die Rechtsanwalte und die Gerichte. 44 

(Haben was gegen Sie?) „Die sind immer auf uns herum. Wir tun 
nichts; aber weil die nicht das Gesetz verstehen, sitzen die auf uns. tt 

(Haben Sie Porderungen?) „Wenn wir Prozesse gegen andere Leute an- 
strengen, verlieren wir sie. Strengen die Prozesse gegen uns an, haben die 
gewonnen! Das wird durch meine Broschure schon alles festgelegt. Die er- 
soheint in Franfcreich, England und Amerika. u 

(Wer tibersetzt sie?) „Ach, da sind uberall so viel Deutsche. Die setzt 
man sofort ab, die Broschure. a 

(Kopfschmerzen?) „Nur so ein Druck auf dem Kopf. 44 

(Schlaf?) „Wenn meine Broschure fertig ist, werden sie in ganz Deutsch¬ 
land aufgucken. 44 

(Gedachtnis schlecht?) „Ich braucbe mich doch urn nichts zu bekiimmern. 
Ich muss hauptsachlich sehen, dass meine Broschure genugend Absatz findet. a 
^Wenn wir jemand anzeigen, dann ist es einZivilprozess! Ist es aber wirklich 
ein Zivilprozess, ist es eine Strafsache! Der Honsbroch hat das Schloss von 
uns durch Schwindeleien erworben. Unsere Vorfabren batten doch ein Schloss; 
das hat er einfach so eingesteckt. Wie heisst noch das Nest? Er wohnt ja 
selbst darin. Unsere Vorfahren waren Freiherren. Warum wir jetzt anders 
heissen, weiss ich nicht. Wir suchen das jetzt festzustellen. 44 

Unterhielt sich in der naohsten Zeit viel mit anderen Kranken, suohte auf 
den Korridor vor dem Waohsaal hinauszugelangen, hatte in seinem Nacht- 
schrankchen eine abgerissene Eisenklammer versteckt. 

20. 11. Abends plotzlich erregt, wirft mit einem Glas nach der Nacht- 
wache. Wird auf die unruhige Abteilung verlegt, wo er sich sogleich beruhigt 
und geordnet benimmt. 

21. 11. Bittet bei der Visite urn seine Riickverlegung nach dem oberen 
Saale. 

(Woriiber erregt?) ^Da karaen 2 Kerls und haben mich einfach herunter- 
geholt. u 

(Geworfen mit Glas?) n Ach, die haben mich heruntergeholt. Seitdem 
bin ich hier. a 

(Mit Glas geworfen?) „Ich habe Kaffee getrunken und da sind sie ge- 
kommen, mir nichts, dir nichts sind sie dagewesen. Ein ganzer Trupp war 


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Dr. J. Raecke, 


das. Die haben wohl koine Betten mehr und darum daohten sie, sie schaffen 
mich ranter. Komm ich wieder rauf? tf 

(Waram mit Gias geworfen?) „Ja, wenn der das sagt, ioh weiss es nicht 
Ich weiss nur, dass sie geko,mmen sind. u 

(Denken Sie naoh!) „Aoh, der hat vielleicht getraumt oder hat ge- 
schlafen. Er miisste ja verwundet gewesen sein! Ioh weiss von nichts. Komm 
ich nicht wieder hinauf? u 

(Gefahrlich, wenn Sie nicht wissen, was Sie tun.) n Ach, die kdnneii 
doch die Glaser wegstellen. u 

(Sonst auch schon so geworfen?) Laohelt: „loh wfisste nicht, dass ick 
schon jemand totgeschmissen habe. a 

(Gern oben?) ^0, ja, Pfleger sind gut und Aerzte. Ioh habe fiber nichts 
zu klagen. a 

Nennt auf Befragen die Namen von Kranken, aber nicht von Pflegern 
oder Aerzten. Gibt an, er wolle jetzt eine Reise um die Welt antreten. Ent- 
fernt sich mit spottischer Verbeugung: ^Guten Abend, Herr Professor!* 4 Seine 
verschiedenen Briefe an die Aerzte und Angehorigen waren stets kindlich ab- 
gefasst und merkwurdig unorthographisch. So schrieb er z. B.: ^Schon 
2 Wogen bin ich im Bet heute as ich einen Hering und Kartofln. Ich muss 
mog einen Lebensblann schrepen hete aber noch . . . schickt 1 Giste Cikaren 
und einiche siisigkeiten.“ Bei Intelligenzfragen antwortete er sofort mit 
Vorbeireden. 

Das ganze Verhalten machte von vornherein einen ubertriebenen und stark 
gekiinstelten Eindruck. Indessen war zu bedenken, dass es sich nach der 
Vorgeschichte um einen schwer belasteten Psyohopathen handelte, der seit 
Jahren nervose Erscheinungen gezeigt hatte, und dass bei derartigen degene- 
rativen Individuen in der Untersuchungshaft die eigenartigsten Formen psy- 
chischer Storungen vorubergehend vorkommen. Eine Dementia praecoz war 
dagegen nach Vorgeschichte und Krankheitsbild weniger wahrscheinlich. Jeden- 
falls erschien er zur Zeit nicht verhandlungsfahig. Um dem Gericht die Mdg- 
lichkeit zu geben, die Sache gegen ihn abzutrennen und zunachst gegen den 
Bruder allein zu verhandeln, ward unter solchen Umstanden folgendes Gut- 
achten abgegeben: 

Gutachten. 

Hugo Sch. ist zur Zeit geisteskrank. 

Er fuhrt verwirrte. Reden, vollfuhrt sonderbare Handlungen und tragt eine 
Reihe von Wahnvorstellungen vor, scheint auch vorfibergehend an Sinnes- 
tauschungen zu leiden. Er neigt zu plotzlichen Erregungen und will sich der 
einfachsten Dinge nicht erinnern kdnnen, weiss aber anderersqits offenbar fiber 
seine Situation ganz gut Bescheid. 

Dieses etwas widerspruohsvolle Krankheitsbild, das er zur Zeit bietet, 
macht keineswegs den Eindruck einer alten chronisohen Verrficktheit oder 
eines Falles von Spannungsirresein, sondern ahnelt nooh am moisten gewissen 
hysterischen Haftpsychosen, wie sie bei dazu veranlagten, moist von Haus aus 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stdrung. 533 

minderwertigen Individuen gelegentlich in der Untcrsuchungshaft ausbrechen, 
nm spater wieder vollstandig zu verschwinden. Man hat sie wegen ihrer Ent- 
stehung durch ungliickliohe Sitoationsbedingungen treffend Situationspsychosen 
genannt. Sie machen wohl den Betreffenden vorubergehend haft- und ver- 
handlungsunfahig, laufen aber in verhaltnismassig kurzer Zeit wieder ab und 
erlauben an sich niemals schon den Schluss auf Unzureohnungsfahigkeit zur 
Zeit der Begehung der Tat. 

Die Frage, ob Sch. bereits bei Begehung der ihm zur Last gelegten 
Handlungen der freien Willensbestimmung entbehrte, muss an der Hand der 
Akten erortert werden. Es ist beachtenswert, dass er einmal in M. auf Grund 
des § 51 freigesproohen worden ist, dass er sich zur Behandlung in einer 
Nervenheilanstalt aufgehalten hat und dass er nach Ansicht des Gefangnisarztes 
von H. schon langer an einem chronischen Nervenleiden erkrankt gewesen ist, 
in welchem er nicht immer Herr seiner Sinne gewesen sein soli. Unter diesen 
Umstanden bedarf jene Frage einer grundlichen Prufang: 

Der Besch. stammt aus einer erblich sehr belasteten Familie. Beide 
Eltern werden als nervos bezeichnet, dazu die Schwester und der eine Bruder. 
Zwei Bruder sollen geistig minderwertig oder direkt schwachsinnig sein. Der 
letzte Bruder schreibt hochst sonderbare Eingaben, ist mindestens ebenfalls ein 
Psychopath. Der Besch. selbst hat als Kind Rachitis und eine Kopfverletzung 
gehabt, lernte schwer, kam nur bis Untertertia, wurde dann Kaufmann. Er 
war blutarm und hatte ausser Lungenspitzenkatarrh zahlreiche nervosa Be- 
schwerden, wie Herzersoheinungen, Kopfschmorzen, allgemeine Schwaohe, 
grosse Reizbarkeit. Vom 13. 2. bis 22. 3. 13 befand er sich zur Behandlung in 
der Nervenheilanstalt H. in B. y naohdem angeblich infolge einer missgliiokten 
Verlobung seine Nervositat eine Verschlimmerung erfahren hatte. Ausserdem 
liess er dort eine syphilitische Ansteckung mit Hg und Salvarsan behandeln. 

Ein damals erstattetes Gutachten von W. betont nervose Schlaflosigkeit, 
Erregbarkoit, Yergesslichkeit, Unfahigkeit zu geistiger Arbeit, Schwaohe 
von Willen und Urteil. Die ganze Schilderung maoht den Eindruck 
einer sohweren Neurasthenie, nicht einer eigentlichen Geisteskrankheit. Die 
Verneinung der Zurechnungsfahigkeit geschah nur im Hinblick auf solche 
Falle, in denen sich Sch. durch seine krankhafte Erregbarkeit im Zorn zu einer 
Affekthandlung hatte hinreissen lassen oder in der Zerstreutheit sich einer 
blossen Unterlassung schuldig gemacht hatte. 

Von einer derartigen nervosen Affekthandlung kann nun aber im Hinblick 
auf die dem Besch. jetzt zur Last gelegten Straftaten nicht wohl die Rede 
sein. Das ganze Vorgehen ist mit voller Ueberlegung und Konsequenz im 
Einvernehmen mit dem Bruder Kuno erfolgt, hat sich iiljer eine langere Zeit 
erstreckt, und der Besch. hat nachher nicht nur Erinnerung an die Einzelheiten 
der Tat gezeigt, sondem er hat sein Tun immer als berechtigt zu verteidigen 
gesucht und mit Geschick nach Entsohuldigungsmomenten sich umgesehen. 
Wenn somit auch nicht bestritten werden soli, dass Hugo Sch., wie das die 
friiheren Gutachter betont haben, seit Jajiren nervos leidend ist, so erscheint 
es doch im hbchsten Grade zweifelhaft, ob diese Nervositat jemals zu einem 


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Dr. J. Raecke, 


solohen Grade geistiger Storung Veranlassung gegeben hat, dass dadurch Auf- 
hebuDg der freien Willensbestimmung bei Ausfuhrung der heute in Frage 
stehenden Straftat begrundet werden konnte. 

Die zur Zeit bestehende Geistesstorung.macht, wie bereits oben hervor- 
gehoben wurde, schon ihrer Form nach durohaus den Eindruck einer in der 
Haft ansgebrochenen Erkrankung. Auch die Durchsioht der Akten gibt uns 
Anh&ltspnnkte fur die gleiehe Annahme. Alierdings ist sogleich nach der Ver- 
haftung an Soh. eine grosse Nervositat dem vernehmenden Amtsrichter auf- 
gefallen, so dass dieser die Untersuchung durch den Kreisarzt veranlasste, 
auch bat Sch. in einem Briefe die merkwiirdige Behauptung aufgestellt, der 
Richter habe ihm nachts gesagt, er wollte ihm einen Mord nachweisen; allein 
im ubrigen sehen wir anfangs in alien Vernehmungen dauornd saehgemasse 
Beantwortung der Fragen und zweckentsprechende Verteidigung. Auch die 
Briefe enthalten lange Zeit hoohstens Klagen fiber Zunahme der uervosen Be* 
schwerden, wie Nervenzucken, Kopfschmerzen, dann im Juni die Behauptung, 
er wisse nicht mehr, was er vor einer Viertelstunde gesagt habe. Dann folgen 
Klagen iiber die ewige Fragerei; er werde iiberhaupt nichts mehr antworten. 

Erst am 12. 6. beginnt der Besch. konfuse Schreiben zu verfassen, in 
denen er gegen Staatsanwalt, Richter, Gefangnisarzt allerlei Anschuldigungen 
erhebt, als wolle man ihn zum Meineid verleiten und toten oder ihm den Adels*- 
titel zusprechen u. dergl. Von hier ab also setzt deutlich die psychogene 
Hafterkrankung oin. Bei den verschiedenen (Jntersuchungen im Oktober und 
November vermochte ich stets das gleiehe Bild zu konstatieren, wie es oben 
schon geschildert worden ist. Daraus wurde aber hervorgehen, dass die zur 
Zeit hervortretende Geisteskrankheit des Sch. erst in der H&ft entstanden ist. 

Solange diese neue Erkrankung nioht abgelaufen ist, erscheint es begreif- 
licherweise misslich, ein endgultiges Gutachten iiber den gewohnlichen Geistes- 
zustand des Besch. abzugeben. Immerhin durfte die uberwiegende Wahrsohein- 
lichkeit meines Erachtens schon heute fur die vorstehend niedergelegte Auf- 
fassung des Sachverhaltes sprechen. Zusammenfassend gebe ich mein Gut¬ 
achten dahin ab: 

1. Hugo Sch. ist in der Haft geistig erkrankt und zur Zeit weder haft* 
noch verhandlungsfahig. 

2. Er leidet zwar seit Jahren an schweren nervbsen Storungen, doch 
fehlen geniigende Anhaltspunkte fur die Annahme, dass er sich zur 
Zeit der Begehung der ihm jetzt zur Last gelegten Handlungen in 
einem Zustande krankhafter Storung der Geistestatigkeit befunden 
hatte, durch welchen die freieWillensbestimmung ausgeschlossen war. 

Kaum hatte der Besch. durch seinen An wait von diesem Gutachten 
gehort und begriffen, dass jetzt vermutlich gegen seinen Bruder allein ver- 
handelt werden wurde, ohne dass er doch auf spatere Freispreohung auf Grand 
des § 51 zu rechnen hatte, so anderte er sein gesamtes Verhalten. Er benahm 
sich nun vollig geordnet, horte auf zu stottern und zu grimassieren und ver- 
langte den Arzt zu sprechen. In fliessender Form trug er ihm folgendes vor: 
„Ioh wunsche, dass das Gutachten aufgehoben wird, da keine Geisteskrankheit 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 


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vorliegt. Es wird ja auoh keine Broschiire gemacht mit 500000 bis 1000000 
Exemplaren und kein Blitzesehen und mit Verstorbenen sprechen, das ioh bei 
den Vernehmungen angegeben habe. Ich kenne ja samtliohe Symptome der 
Geisteskrankheit. Ich habe auoh nioht mit einem Glas geworfen damals,sondern 
nur mit Filzpantoffeln. tt 

(Stadt Sch. griinden?) „Ja, das habe ioh auoh gesagt und ein Zeitungs- 
unternehmen mit 800—900 Millionen Exemplaren! Uan kann hochstens mit 
800 Abonnenten anfangen. u 

(Warum das alles erzahlt?) „Das kann ja kein Mensoh glauben, ioh auoh 
nioht! u (Laoht.) „Das habe ioh absichtlioh gemaoht. Ich dachte, ioh konnte 
dadurch Geld sparen fiir die Yerteidigung. Auoh das mit meinen Photo- 
graphien in der Ecke an den Zeitungen und 1060 Ballen Papier tagiich, das 
habe ich alles nur so gesagt . a (Hatte das tatsachlich fruher erzahlt.) 

(Warum so gestottert?) „Das kann man dooh leicht nachmachen. u 
(Lacht.) ' 

(Geschichte mit Bulldogge?) „Ach, das war bei der 2. Vernehmung im 
Untersuohungsgefangnis. Aber da habe ich auoh keine Bulldogge gesehen. 
Als Sie dann sagten, das genugt! (Zum Schliesser tatsachlioh gesagt), da habe 
ich gedaoht, dass ich bald frei kommen wurde. a 
, (Meinten, Verfahrenwurdewegen IhrerGeisteskrankheit eingestellt?) „Ja. w 

(Nioht gedaoht, dass Fall abgetrennt wurde?) „Nein, das habe ioh nioht 
gedaoht gehabt. u 

(Auoh gesproohen von sohwarzer Katze?) Lacht: „Ja, das habe ioh auoh 
gesagt. Ioh habe weder Katze noch Ofenrohr gesehen. u 

(Wollten 2—300 Jahre bleiben?) „Gewiss, wohl im UntersuchungsgefSng- 
nis!“ — Lacht hohnisch. 

(Filialen?) „Ja, ich habe gesagt, ioh wiirdeFilialen griinden. Ich mochte 
bloss wissen, wer sioh fiir meine Strafsache interessiert! Kein Mensoh. Ioh 
wurde mich doch nur selbst blamieren, dass ioh mit 30 Jahren schon Konkurs 
gemacht habe. Was soli nun noch meine Photographie dabei? u 

(Nie zur Sohule gewesen?) „Ach, ja, so habe ioh gesagt und Sie haben 
gesagt: Wir sind doch hier in Deutschland! w (Tatsaohliche Aeusserung.) 

(Vergiftungsfnrcht gehabt?) „Das sagte ioh nur, urn das Misstrauen zu 
begrunden, das gewbhnlich bei Geisteskranken besteht. a 

(Kopfschmerzen gehabt?) „Das habe ich vor allem gesagt, weil Dr. E. 
ausgesagt hatte, ich ware schon 2 Jahre geisteskrank, ioh wollte ihm keine 
Unannehmlichkeiten machen und das Oberlandesgerioht verlangte eine ausfuhr- 
lichere Begrundung. Ich war damals krank, als ioh zu Dr. E. kam. Ich habe 
das ja alles gewusst mit der Broschiire und konnte mir nioht anders helfen. 
Ioh wollte Dr. E. nioht hineiniegen. Ioh habe mir so viel Gedanken gemacht 
in der Untersuchung. u 

(Nach Verhaftung behauptet, des Amtsriohters Stimme zu horen, die 
Ihnen Mord vorwarf?) „loh dachte, ioh wurde dann vielleicht entlassen. 44 

(Warum in Nervenheilanstalt B.?) „Ioh hatte so eine Sohwaohe, wohl 
duroh Syphilis. 11 


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536 Dr, J. Raecke, 

(Klagten Reizbarkeit and Kopfdruck?) „Ach, ich bin besonders wegen 
meiner Beleidigungsklage bingegangen. 41 

Sagt: „Ich mochte vor allem, dass die Gemeingefahriiohkeit aufgehoben 
wird. Geisteskrankheit ist koine Sobande, es ist ein Zeichen, dass man den 
Kopf angestrengt bat. Ich sohlage aber keinen tot, ich mochte verhandelt 
werden. w 

(Ihnen recht, dass vor Gericht alles zur Sprache kommt?) „Gewiss, wir 
laden nnsere Entlastungszeugen, dann ist alles erledigt. u 

(Fruher gesagt, Sie woliten nicht sprechen?) „Jetzt besteht nicht die Ab- 
sicht. Stande das nicht in der Anklageschrift, wdsste ich das dberhanpt nicht 
mehr. Ich habe immer dieWahrheit gesprochen and da hiess es, es seienAus- 
fluchte. Die sollten doch froh sein, wenn einer die Wahrheit spricht! Mein 
Anwalt wollte mir auch nicht glauben, dass ich nicht iiber die Grenze wollte. u 

(Antwort auf Anklageschrift?) „Ach, mein Rechtsanwalt hat schon In¬ 
formation, ich mochte zur Schwurgerichtsverhandlung, ins Untersuchungs- 
gefangnis, nur dass ich nicht mehr hierher zuruckgebracht werde. u 

An seine Angehorigen schrieb er jetzt folgenden stilistisch and ortho- 
graphisch fehlerfreien Brief: 

„Meine Lieben! 

Herzlichen Gliickwunsoh, ich habe die Anklage erhalten, 42 Seiten ist 
sie lang, obwohl der Inhalt derselben nicht die Welt erschuttern kann. In den 
nachsten Tagen werde ich sie Each zasenden and fertige dann noch eine Ab- 
schrift fur Herrn £. in M., da ich ihn doch zuziehen mochte, umsomehr als 
der K. Bdrgermeister auch als Zeuge goladen ist and Letzterer aosgesagt hat, 
er wiisste nicht, wovon die Familie Sch. leben wurde. 

Was meine Geisteskrankheit anbelangt, so habe ich hente mit Herrn Prof. 
R. noch gesprochen, wie er mich fur geisteskrank bezeichnen konne. Wir 
miissen mal sehen, was sich jetzt machen lasst. Jedenfalls findet die Schwur- 
gerichtssitzung nicht eher gegenKano statt, bis dass dasGatachten der hiesigen 
Irrenanstalt aufgehoben ist. Dass samtliche Symptoms der Dementia praecox, 
Paralyse and Paranoia in einen Kessel geworfen sind, ist doch aus dem Gat- 
achten klar und deutlich zu ersehen. Mir geht es gut, lasst sioh doch denken 
and ich habe mich hier adch gut erholt, so dass meine Absicht, mich vor der 
Schwurgerichtssitzung wieder vollstandig herstellen zu lassen, ansj&tt nach 
dem Freispruch jeden Tag 10—12 M. an ein Sanatorium zu bezahlen, doch als 
gat bezeichnet werden muss. In 6Wochen habe ioh ca. 6 Pfund zugenommen. 
Der Schlaf ist auch gut, weshalb von einer innerliohen Erkrankung keine Rede 
sein kann. Mein korperliches Befinden ist also tadellos. 

Was die Anklage anbelangt, so ist sie nicht der Rede wert, obwohl man 
sich bei der Staatsanwaltschaft ja tuohtig angestrengt hat. Es ist keine Sache. 
Rechtsanwalt J. hat Information, obwohl ich ihm noch etwas mitzuteilen habe. 
„Mancher Rechtsanwalt konnte froh sein, wenn er Ihre Kenntnisse in diesen 
Sachen hatte, u sagte J.; die Sache ist zu kleinlich: ware ich aber auf freiem 
Fosse geblieben, ware es nicht zu einer Anklage gekommen. Fur die Urteiis- 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 


537 


begriindung des Oberlandesgerichts habe ich Interesse und war os demnach 
doch gut, dass Kuno meinem Rat, Revision einzulegen, Folge leistete. Sohickf 
die Begriindung also mal heriiber. Wie geht es Euch sonst? Mimis Brief und 
das Paket erhielt ich. Zigarren senden ist nicht notwendig, denn ich will mir 
das Rauchen doch ziemlich abgewohnen. 

Dem J. braucht Ihr nicht eher Geld zu sohicken, bis dass die Hauptver- 
handlung anberaumt ist bezw. das Gut&chten aufgehoben ist; jedenfalls soil 
gegen Kuno und mich am gleichenTage verhandelt werden, selbstverstandlich 
nachdem das Gutachten aufgehoben ist, andernfalls braucben wir uberhaupt 
koine Reohtsanwalte. 

Ich grusse Euch bestens nnd rufe auf Wiedersehen zu. Kuno kann mir 
mal schreiben. Hugo.“ 

Auf Mitteilung an das Gericht, nachdem sioh diese plotzliche Aufhellung 
von Bestand gezeigt hatte, dass Hugo Sch. wieder haft- und verhandlungsfahig 
sei, wurde er sehr zu seiner Befriedigung am 24. 12. 13 wieder in das Unter- 
suohungsgefangnis zuruokverbracht. Er scbrieb dann aus der Haft noch mehr- 
fach an die Aerzte der Klinik. Die Briefe seien hier mitgeteilt: 

Brief 1. 

Mein lieber Herr Dr. G.! 

' Bin gut angekommen und sende freundliohe Grusse. Vielleicht kommen 
Sie mit Freunden mich nooh mal besuchen. Es eilt. Je vous serre amicale 
la main. Votre H. S. 

Brief 2. 

Hochverehrter Herr Dr. G.! 

Zum Jahreswechsel moohte ich mir gestatten, Ihnen meine herzlichsten 
Gluckwunsche darzubringen. 

Ich denke noch oft an den „Feldberg“ zuriiok und wenn ich nicht daran 
denke, werde ich des Nachts um 2 Uhr von der Runde darauf aufmerksam ge- 
macht, dass ich hier nicht auf dem Feldberg sei und die anderen Gefangenen 
scblafen wollten. 

Immerhin kann ioh nicht umhin, auszudrucken, dass es mir gut geht 
und die neunwochige Kur droben viol dazu beigetragen hat, dass ioh nunmehr 
die Welt mit anderen Augen ansehe. 

Wenn es aber bis zur Sohwurgerichtssitzung noch lange dauem sollte, 
muss ich mir uitbedingt gestatten, da oben auch wieder vorzusprechen, denn 
icb vermisse sehr das Bett auf C 2. 

Genehmigen Sie die Versicherung meiner besonderen Hoohaohtung 

ganz ergebenst H. S. 

Brief 3. 

Herr Professor! 30. 1. 14. 

In meiner Zivilsache Sudwestdeutsche sollen Sie auf Anordnung des Ge- 
richts nochmals vernommen werden. Da Ihnen geniigend bekannt sein diirfte, 

ArefclT f. P*r«hlatri*. Bd. 40. Heft 3/S. 35 


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Dr. J. Raecke, 


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dass ich nicht auf meinen Geisteszastand untersucht sein wollte, das dm 
Oberlandesgericht anch seinerZeit mitteilte, so mochte ich es doch nicht niter- 
lassen, die Aussage bei meiner letzten Vernehmung dahin rich tig zu steilen, 
dass ich sowohl in S. von dem Gefangnisarzte als wie auch in Z. Brom aid 
Aspirin verschrieben bekommen babe, wesbalb hierans wohl der Sohlnss ge- 
zogen werden diirfte, dass die Angabe dem Herrn Kreisarzte gegendber der 
Richtigkeit entspricht. Jedenfalls kann ich mich in meiner Strafsache, in der 
das letzte Wort noch nicht gesprocben ist, nicht auf meinen Geisteszastand 
untersuchen lassen, abgesehen davon, dass die aufgestellte Anklage uberhaapt 
vollstandig unricbtig war and an Hand dieser einem Psyohiater nicht moglicb 
sein kann, ein Gutachten iiber jemanden abzugeben, dass letzterer die „straf- 
bare Handlong“ in einem Zustande der Bewusstlosigkeit oder krankhafter Stb- 
rnng der Geistestatigkeit began gen hat. 

Dass ich meinem Verteidiger 2 Tage vor der Hauptverhandlnng erst In¬ 
formation gab, diirfte Beweis genug sein, dass eine strafbare Handlnng nicht 
vorliegt und mir wenig Kopfschmerzen macht. 

Genehmigen Sie die Versicherung meiner besonderen Hoobachtung 

ganz ergebenst H. S. 

Auch bei der Hauptverhandlung betrng er sich darchaus geordnet, ver- 
teidigte sich and seinen Brader gewandt and zeigte ein ausgezeicbnetes Ge- 
dachtnis fur alle Einzelbeiten. Nach seiner Verorteilang trat kein Backfall ein. 

In die6em Fdlle war mir das gekiinstelte Benehmen zwar gleich 
bei meinem ersten Besuche im GefJLngnisse aafgefallen und war der 
Grand gewesen, wesbalb ich die Vorbesuche zweimal wiederholte, ehe 
ich mich entschloss, nach § 81 St. P. 0. den Antrag auf Einweisung in 
die Eiinik zur Beobachtung zu steilen. Allein die aktenmSssige Tat- 
sache, dass es sich um einen alten Psychopathen handelte, der schon 
in einer Nervenheilanstalt behandelt und einmal exkulpiert worden war, 
mahntezur Vorsicht. Das phantastische Krankheitsbild, das er alsdann 
in der Klinik bot, konnte eine Situationspsychose bei einem degenera- 
tiven Individuum vorstellen. Jedenfalls war es praktisch der sicherere 
Ausweg, ihn einstweilen fur weder haft- noch verhandlungsfahig zu 
erklaren and damit Zeit zu l&ngerer Beobachtung zu gewinnen. Da 
trat die Mdglichkeit ein, dass gegen seinen Brader, welcher au sich die 
Nebenperson gewesen war, allein verhandelt wurde, und das zu ver- 
hindem hatte er alles Interesse. Sofort mit einem Schlage trat die 
Aafhellung ein und erwies sich als best&ndig. 

Nun kdnnte man trotzdem meinen, es babe eine Art von D&mmer- 
znstand ursprunglich vorgelegen. Das unorthographische Schreiben and 
die Unkenntnis der einfachsten Dinge, die Unf&higkeit zu recbnen, die 
Verfolgungs- und Grdssenideen und die Geh5re* und Gesichtst&uschoo- 
gen seien echt gewesen und erst mit Ablauf des D&mmerzustandes ver- 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stoning. 539 

schwunden. Indessen was dagegeb spricht, ist doch wohl die Tatsache, 
dass Sch. sich seiner falschen Antworten wie der Frage und Aeusserun- 
gen des Antes gat entsann, selbst daruber spottete und ihre Entstehang 
aas der Absicht der T&uschung erkl&rte. Er hatte sich, vermutlich bei 
seinem fruheren Aufenthalte in einer Nervenheilanstalt, allerlei psychi- 
atriscbe Eenntnisse erworben und diese anscheinend bewusst zuT&uschungs- 
zwecken verwertet. Er war ein schlauer und gewandter Mensch, der 
jabrelang grossartige Versicherungsschwindeleien betrieben hatte. Ob 
er bei seiner fruheren Freisprechung auf Grund des § 51 aucb binzu- 
gemacht hatte, sei dabingestellt. Zweifellos war er ein sehr erregbarer 
Menscb, so dass etwaige Affektdelikte bei ihm doch anders zu beurteilen 
waren, als bei dem Gesunden. Seine Simulation wurde ihm eben durch 
diese krankhafte Grundlage sehr erleichtert, dem Sachverst&ndigen da- 
gegen die Aufgabe erscbwert. Man darf dafaer bei diesem Psychopathen 
wohl auch noch besser nur von Aggravation sprechen. 

Reine Simulation lag dagegen in folgendem Falle vor: 

Fall 3, Jakob F., 22 Jabre alt, Krankenwarter aus Holland, wegen 
Bettelns vorbestraft, kam am 24. 12. 1917 nacbmittags 8 1 j 2 Uhr in ein Gast- 
haus ersten Ranges, gab sich fur den „K5nig von Frankreich" aus und ver- 
langte ein Zimmer. Auch einem herbeigerufenen Kriminalsohutzmanne gegen- 
uber behauptete er. Konig von Frankreioh zu sein. Naheres war fiber seine 
Person nicbt festzustellen, da er auf alle Fragen nur sntwortete, er sei Kdnig 
von Frankreich. Er ward verhaftet, vom Kreisarzte untersucht und fur „gemein- 
gefahrlich geisteskrank u erklart, und der Anstaltspflege bediirftig. 

Am 27.12. erfolgte seine Einlieferung in die hiesige Klinik. Bei der 
Aufnahme zeigte er sich ruhig und geordnet, ausserte koine Wahnideen mehr. 
Die korperliche Untersuohung ergab in der Hauptsache folgenden Befund: 
Mittelgrosser Mensch von mittelkraftigem Korperbau und mittlerem Ernabrungs- 
zustande. Sehlocher sind mittelweit, gleich und verengern sich gut bei Be- 
Hchtung und Einwartssehen. Keine Lahmungen. Rachen ohne Besonderheiten. 
Sebnenreflexe lebbaft. Tast- und Sobmerzempfindung nicbt gestort. Innere 
Organe bieten keine Abweichung von der Regel. 

Auf Befragen gab er seine Personation bereitwillig an und erklarte weiter: 
„Ich babe vorige Woche, nacbdem iob mich pekuniar schlecht gestanden babe, 
eine Depesche an meine Eltern aufgegeben, dass sie mir Geld schicken sollten, 
Ich war in Nfirnberg in Stellung. Jetzt batte icb aber keine Bescb&ftigung 
mehr and ging von Nurnberg nach Wurzburg, dort habe ich aber auch nichts 
bekommen. Von dort aus ging icb naoh Aschaffenburg. Urn 11 Uhr 20 bin 
ich am Montag nach Frankfurt gefabren. Am Ostbahnhofe kam ich an mit 
etwa 4,50 M. Bei der Hauptpost habe ioh mich dann erkundigt, ob fur mich 
schop was eingetroffen ist, es war aber noch nichts da. Ich wollte dann zum 
Niederlandischen Konsulate und urn eine kleine Unterstutzung bitten. Des 
Nacbmittags zwischen 4 und 5 Uhr fiel mir aber ein, dass morgen Weihnachten 

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Dr. J. R&ecke, 


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sei. Im ganzen hatte ich noch 3,50 M. oder 80, ioh weiss es nicht mehr genau, 
davon konnte ich keine 3 Tage leben. Das Sohlafen in der Wirtsch&ft kostet 
mindestens 80 Pfennig©. Ich bin dann schliesslich darauf gekommen, mich auf 
Staatskosten verpflegen zn lassen. Von Bernf bin ich Krankenpfleger and 
Heilgehilfe. Ich konnte anf keine gescheitere Idee kommen, als Grossenwahn 
vorzuspielen, am in der Irrenanstalt verpflegt zu werden. Hieraufbegab ich 
mich in den H. Hof, am ein paar Zimmer za mieten.' Es war aber nichts fra. 
Ich fragte dann den Ober, ob er wisse, wer ich bin. Er meinte dann, woher 
soli ioh das wissen? Ich sagte dann: Ich bin der Konig von Prankreich! Da 
war er sofort ganz anders: Geruhen Ew. Majestat, Platz za nehmen, and hot 
mir einen Sessel an. In welch er Etage geruhen Ew. Majestat za wohnen? Er 
entfernte sich dann, um mit dem Direktor za sprechen, telephonierte aber der 
Polizei. Als er wiederkam r sprach ich etwas franzosisch. Wie er aber dann 
auoh anting, franzosisch zu sprechen, musste ich simulieren. Inzwischen kam 
ein Kriminalschatzmann and ersaohte mich, mich za legitimieren. Ich darfte 
mich aber nicht verbldffen lassen and masste dann mit zur Polizei. Nan dachte 
ich, meinen Zweck erreicht za haben and in die Irrenanstalt za kommen. 
Man behielt mich aber 3 Tage dort, die Transportgelegenheit sei za schlecht. 
Anstatt nan gat verpflegt zu werden, masste ich aber die Feiert&ge dort 
bleiben. Die Herren Aufseher wagten sich auch nicht in meine Zelle. Wenn 
sie mir etwas zu essen brachten: Ew. Majestat geruhen za essen! Als ich hier- 
her gefahren wurde, fragte ich meinen Begleiter, wann ich in mein Palais 
komme. Selbstverstandlich wusste ioh, dass ioh jetzt in die Irrenanstalt komme. 
Gestern morgen, als ich im Automobil hergefahren wurde, fragte mich der 
Kriminalschatzmann, ob ich denn wirklich verruckt ware. Ich sagte: Wir sind 
ja an ter ans. Er sagte, ioh sollte ihm ruhig alias anvertrauen, es liege ja 
weiter niohts gegen mich vor, and ich habe es ihm dann erzahlt. Er sagte 
mir noch, ich solle aber nichts weiter erzahlen, sonst konnte ich noch wegen 
groben Unfags bestraft werden. Herr Dr., ich habe gehort, im St&dtischen 
Krankenhause waren Stellen als Pfleger frei; vielleicht konnte ich auoh wieder 
nach Mannheim in meine alte Stelle u . 

(Warum dort fort?) „Ich habe dort zu wenig verdient. Mein Gepack. 
habe ioh auch noch auf der Bahn liegen, das kostet auch jeden Tag was. 
Ich habe noch eine Eilkarte aufgegeben; hoffentlich ist das Geld inzwischen 
eingetroffen, wenn nicht, bekomme ich so ungefahr 30 M. vom Konsulat. Es 
war mir ja nur darum zu tan, die Weihnachten angenehm zu verbringen. Das 
Konsulat war aber geschlossen, sonst ware es ja besser, wenn ich den Streich 
nicht gemacht hatte. Wenn man aber Hunger hat, dann kommt man ebon 
auf solche Gedanken. Voriges Jahr war ioh ja auch hier im Haase als Pfleger, 
ich dachte, es ist hier besser, als garnichts. Von den paar Mark hat man mir 
auch nooh 2 M. abgezogen wegen Verpflegung t£ . 

(Warum hier fort?) „Eben aus demselben Grunde. u 

(Wielange hier gewesen?) „Etwa 3 Wochen, das Geh&lt war ja ziemlicb 
gut. Von hier ging ioh nach Wiesbaden. Dort bin ioh mit Herrn Dr. F. 
bekannt geworden. Er war dort im Operationssaal. Ueber meine Fuhrung 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 541 

konnen Sie sich bei Herrn Dr. F. erknndigen. Von dort ging ioh nach 
Mannheim tt . 

(Warum soviet gewechselt?) „Ich babe gate and schlechte Stellangen 
gehabt. In Nnrnberg war ioh angefabr 5 Woohen im St. Krankenhanse, babe 
doTt etwa 104 H. verdient. Ich war aber nur Ausbilfspfleger 1 *. 

(Warnm nicbt in Holland geblieben?) „Am 5. 10. 1915 bin iob von 
Holland fort, ich babe ja auch ganz gate Stellangen bekommen. Ich wollte 
mal in einen lebhafteren Betrieb, mich mal in einem kriegfdhrenden Gross* 
staat amseben. Etwas Abentenerlichkeit kann ja aach wohl mit in Betracht 
kommen“. 

(Wenn wir Sie nicbt fortlassen?) „Wenn Herr Dr. meinen Geisteszastand 
priifen wiirden. u 

(Schon in Anstalt gewesen?) „Nein, noch nie.“ 

(Wenn ich Sie als krank befinde?) „Dann mass icb mich Ibrer Ent- 
scheidung unterwerfen.“ 

(Wenn wir Sie 1 Jahr festhalten?) „Ich babe sohon Strafe genug gehabt u . 

(Wo znr Scbole gewesen?) „ln Amsterdam. Ich babe bis znm 14. Jahre 
die Elementarschale besacht, dann Unterricht in engliscber and franzosischer 
Sprache genommen 1 *. 

Untersachung ergibt keine Zeichen von Schwachsinn oder sonstige Auf- 
falligkeiten. Krampfe will er nie gebabt haben. War aach als Pfleger in 
seinen Leistnngen ordentlich gewesen. Pnmpt Bekannte urn Geld and Zigaretten 
an, schreibt geordnete Briefe. 2.1. 1918 entlassen. 

Die Beurteilung gelingt in diesem Falle, wo keine eigentliche Straf- 
tat vorlag, sondern lediglich die augenblickliche Notlage den Wunsch 
zur Simulation hatte emporschiessen lassen, sehr viel einfacher als sonst. 
Das Geat&ndnis des Mannes kann ohne Weiteres als vollgultig belrach- 
tet werden, zumal die Persbnlichkeit selbst uns von ibrer fruheren 
Krankenpflegert&tigkeit her bekannt war. Immerhin war der gew&hlte 
Ausweg aus der Geldverlegenheit etwas ungewbhnlich und eben auch 
auf einer gewissen psychopathischen Grundlage erwachsen. Der fruhere 
Beruf, die Kenntnis psychotiscber Zust&nde traten veranlassend hinzu. 
Dennoch uberrascbt die Leicbtigkeit, mit der F. seinen Wunsch, geistes- 
krank zu erscheinen, verwirklichen konnte, und macht es uns begreif- 
lich, wieso immer wieder von Kriminellen zu diesem bequemen Aus- 
kunftsmittel gegriffen zu werden pflegt. Vermutlich dOrften solche 
bewusste VortSuschungs- und Uebertreibungsversache in den Gef&ngnissen 
sehr viel h&ufiger unternommen werden, als viele psychiatriscbe Autoren 
wahr haben wollen. 

Eine weitere Beobacbtung, in welcher das Eingest&ndnis bewusster 
VortAuschung von Irrsinn und zwar von einer katatonischen Geistes- 
stbrung vorlag, sei bier angeschlossen. Auch hier handelte es sich um 
einen von Haus aus psychopathischen Menschen. 


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Dr. J. Raecke, 


Fall 4 . Am 4. 4. 1917 wurde der Schriftsteller Wilhelm B. wages 
chronischer Geisteskr&nkheit aus der Schweiz nach Deutschland ausgetausekt 
und mit dem Lazarettzug naoh der hiesigen Klinik verbracht. Die Diagnose 
lautete auf Schizophrenic. Er benahm sich aber durchaus geordnet und Ter- 
standig und machte folgende Angaben: 

„lch betrachte mich auf der Raise von Amerika nach Deutschland: 
icb komme direkt aus C. Aber Sie nehmen Anamnese auf, ioh werde 
mich jetzt genau prazisieren, sonst wird mir hinterher ein Strick daraus ge- 
dreht. u 

(Wie alt?) „31 Jahre.“ 

(Beruf?) „Tagesschriftsteller und Dramaturg, man darf wohl nicht mehr 
Journalist sagen. Ich leide nicht an Verfolgungswahnsinn, aber bitte schreiben 
Sie auch Ihre Zwischenfragen auf.“ 

(Wo Dramaturg?) „Ich war Regiesohuler bei M. 1908/09. u 

(Dann wohin?) „Nach Berlin, studiert 1909/12 bei Erich Schmidt. u 

(Dann?) „War ich in B. am Stadttheater Dramaturg. u 

(Von B.?) „Dann kommt die dunkle Periode, ich war in Berlin einige 
Tage, habe sehr viel Geld durohgebracht, kam nach B. in die Anstalt .... 
Ich war ca. l / 2 Jahr in der Anstalt, wurde auf Antrag meiner Verwandten 
wegen Geistesschwache entmundigt, setzte meine Entlassung durch, ging dann 
nach Amerika, wo es mir gut ging, ich war zuletzt Mitdirektor zweier Theater. 
Als der Krieg ausbracb, fuhr ich auf hollandisohem Dampfer nach Hause, 
wurde im Kanal von den Franzosen erwischt, kam nach He longue, wo ich bis 
Ende April 16 blieb. Ich wurde gut behandelt, weil ich gleich einen nervosen 
Zusammenbruch installierte. Dann wurde ich mit der Diagnose trouble nenreux 
nach der Schweiz geschickt. Ich wollte nur nach Deutschland, um ins Heer 
eintreten zu kdnnen. u 

(Wie war es in der Schweiz?) „Gut in jederBeziehung, aber ich empfand 
es als ein Unrecht, es mir gut gehen zu lassen, ohne etwas getan zu haben. 
Ioh dachte nun unterBenutzung meiner subjektivenErfahrung in der Psychiatric, 
als Geisteskranker ausgetauscht zu werden. Zuerst ging ich mit einem Strick 
in den Wald 3 Tage lang. Da mich aber niemand fand, der mein Elend sah, 
ging ich zurPolizei und machte katatoneBewegungen, sagte immer„43“, sagte 
aufTage sonst irresZeug bei klaremBewusstsein, kam darauf insKrankenhaus, 
kam dann nach A., wo ich von Moissi Unterrioht haben wollte, er hatte aber 
keine Zeit, dann machte ich* einen 2. Versuoh, ich nahm 0,2 Morphium per os 
— ich hatte als Student eine Periode gehabt, wo ich Opium rauchte, ass und 
trank — hatte aber zuvor dafur gesorgt, dass der Arzt zeitig genug benach- 
, richtigt wurde: der Arzt wollte mich nioht mehr daraufhin behalten. Darauf 
kam ich naoh C., von dort sollte ich nach 8 Tagen wieder entlassen werden. Icb 
wollte ausgetauscht werden, aber der Arzt hielt es fur aussichtslos, ich schrieb 
daher meine Krankengeschichte. Ich nahm mir den Flaubert vor, schrieb daraus 
einen Bericht zusammen: „Der Blick ins 'Leere u . Nahm auch aus Hebbers 
Tagebuchern die Depressionsideen heraus, wo er die Berechtigung der Selbst* 
morder vertritt, nannte das „Tafeln am Wege u ; das genugte zum Austauscb- 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 


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antrag, der innerbalb 4 Wochen genehmigt wurde. Ich hatte vom 6. Tage an 
freien Ausgang.“ 

(Was fur Geld in Berlin durchgebracht?) „Ich hatte meinerMutter 2000 M. 
aus dem Schreibtisoh genommen. 1 * 

(Vater?) „Starb an.Lungentuberkulose mit 63 Jahren, war Tierarzt.“ 

(Mutter?) „Sie wurde oft operiert, ioh vermute, dass sie Karzi- 
nom bat. u 

(Gesohwister?) „Ein Bruder tot, es steht nicht fest, ob er Suizid veriibt 
hat oder nicht. Eine Schwester lebt in B., ist verheiratet. Ein Bruder hat 
Knochentuberkulose, ein Bruder ist lungeoleidend, ein Bruder ist gesund.“ 

(Geisteskrankheiten?) „Sind nicht in der Familie bekannt. a 

(Auf der Schule?) n Ich hatte Abiturium sehr gut gemacht mit 20Jahren, 
war einmal zuruckgeblieben, damals hatte mein bester Freund Suizid verubt.“ 

(Auf der Schule Konflikte?) „Nein.“ 

(Infiziert?) „Gonorrhoe 1909.“ 

(Potus?) n Wenig.“ 

(Bestraft?) „Nein.“ 

Auf der Abteilung unauffallig, vertraglioh, erz&hlt, man babe ihn in 
Frankreich und der Schweiz fur einen unheilbaren Geisteskranken gehalten; 
deshalb sei er ausgeliefert worden. Versichert, nicht krank zu sein; er habe 
nur .verstanden, jenen Aerzten das vorzumacben. Appetit und Schlaf gut. 
Keinerlei nervose Beschwerden. Die korperliohe Untersuchung ergibt keiue 
Abweichungen von der Regel. 

Aus dem Krankenblatte der Kriegsinternierung zu X. ging hervor, dass 
B. nach seiner Festnahme nervosen Zusammenbruch mit Weinkrampfen gehabt 
habe und yon jeder Arbeit wegen seiner Krankheitserscheinungen frei gewesen 
war. In der Schweiz bot er korperlich Lidzittern, Zungenzittern, erhohte Re- 
flexe. Er habe von Anfang an den Eindruck eines Querulanten gemacht. Stets 
exzentrisoh, aufbrausend. Am 2.1.17 habe er sich aus einer Gesellschaft ent- 
fernt, nachdem er sich schon einige Tage auffallend deprimiert gezeigt hatte, 
und habe ein 20 com Flaschohen mit lproz. Morphiumlosung getrunken. Beim 
Erscheinen des Arztes lag er ruhig auf dem Bette, zeigte etwas verlangsamten 
Pols, vorengtePupillen; versohiedeneBreohmittelwirkten, daraufMagenspulung, 
der sich B. ruhig unterzog. Nachher zeigte er guten Puls, ganz leichte Be- 
nommenheit, fuhlte sioh anderenTages wohl. Er erklarte, seinen Suizidversuch 
aus philosophischen Grunden unternommen zu haben. Unterwarf sich willig 
der Ueberfuhrung in eine Anstalt. 

Hier wurde die Diagnose auf Schizophrenie gestellt. B. sei ein haltloser, 
selbstgefalliger Mensch mit Neigung zu Schwindeleien. Ohne Grand nenne er 
sich 7 ,von“. Er sei fruher wegen Psychopathic entmiindigt worden, nachdem 
er mit 2000 M. der Mutter nach Berlin durchgebrannt war. Wiederholt habe 
er Selbstmordversuche gemacht, die misslangen oder vereitelt wurden; es sei 
ihm wohl nicht immer emst damit gewesen. Zwar betrage er sioh jetzt ruhig 
und gefugig, doch habe er jedes Selbstvertrauen (?) eingebiisst und bedurfe 
dauernd der Aufsicht und Fursorge. Er sei als unheilbar anzusehen. 


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Dr. J. Raecke, 


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Dasu diese Auffassung des Fades jedenfalls nicbt stimmte and dass 
es dem B. gegluckt war, semer Absicht gemAss kataton oder schizophreo 
zn erscheinen, durfte demnach nicht zweifelhaft sein. Seine seeliscbe 
VerAnderung in der Schweiz war wohl eine der Situation entsprungene 
.gewesen, aber bewusst entsprungene. B. war planvoll darauf ansge- 
gangeu, sich durch den Anschein einer schweren GeistesstOrang der ihm 
unangenehmen Situation zu entziehen. Soli ten unter den zahlreichen 
Schwindel- und Betrugsverbrechern, die in unseren GefAngnissen sitzen, 
wirklich zu Ahnlich planvollem Handeln nur so wenige imstande sein, 
wie das unsere Lehrbucber darzustellen belieben? 

Gewiss war auch B. eine von Haus aus krankbaft veranlagte Per- 
sdnlichkeit, ein ausgesprochener Psychopath. Man kann noch weiter 
geben und fragen, ob er nicht vielleicht zunAchst nach seiner Gefangen- 
nahme wirklich einen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Indessen sein 
Benehmen in der Scbweiz ist doch hdcbstwahrscheinlich schon von 
vornherein nicht mehr echt gewesen. Das dortige Krankenblatt beststigt 
seine eigenen Angaben zum grossen Teil, und wenn man auch einiges 
abstreicht von dem, was er in etwas prablerischer Weise hinterher be- 
hauptet hat, so bleibt immer noch genug, urn eine bewusste Ueber- 
treibung nicht nur, sondern auch eine direkte VortAuschung glaubhaf: 
zu machen. 

Lehrreich ist, wie bier und im vorhergehenden Falle persQnliehe 
Erlebnisse in der Irrenanstalt als Muster fur die Simulationsversuche 
dienen. Etwas ungewdhnlich ist bei B. der Plan, gerade eine kata- 
tonische Psychose vorzutAuschen. Mir scheint indessen der Gedanke 
gar nicht schlecht, da eben die Unterscheidung markierter und echter 
Schizophrenie sich bei dem unendlichen Formenreichtum schizophrener 
Krankheitsbilder besonders schwierig gestalten k<5nnte. In der Regel 
ist allerdings diese Geisteskrankheit zu wenig bekannt, urn zielbewusst 
zum Vorbild gewAhlt zu werden. Hdchstens kommen Stuporeu und 
Faxensyndrome vorubergehend zustande, und wir haben dann zu nnter- 
scheiden zwischen Katatonie, Hysterie, Simulation. 

lm allgemeinen sind alle erworbenen Psychosen schwerer vorzu- 
tauschen als angeborene Schwachsinnszust&nde. Namentlich die Geber- 
treibung tatsAchlicher leichter geistiger SchwAche bis zum Bilde boch- 
gradiger Imbezillit&t erfreut sich da grosser Beliebtheit. Unter den zur 
Beobachtung ihres Geisteszustandes in die Lazarette eingewieseneo 
MilitArpersonen ist mir mehr als ein Soldat begegnet, der seine Be- 
scbrAnktheit in geschickter Weise zu vergrdbern wusste und daher al> 
schwachsinnig betrachtet worden war. Ohne zuverlAssige Vorgeschiebte 
ist es misslich, an die Entlarvung solcher FAlle beranzugehen. Aber , 


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an der Hand genugender Auskunfte uber fruberes Verhalten und Eonnen 
gelingt es in der Regel leicbt, den Betreffenden zur Aufgabe seiner nun 
nutzlos gewordenen Debertreibung zu bewegen. Ein einschl&giger Fall 
sei wegen der praktischen Wichtigkeit kurz mitgeteilt, wennscbon die 
wissenschaftliche Ausbeute derartiger Beobachtungen fur unser Thetna 
gering bleibt: 

Fall 5. Georg P., 22 Jahre alt, Soldat, macht bei der Aufnabme einen 
„dementen“ Eindrnck, wie es im Krankenblatte heisst. Er benimmt sich tolpel- 
haft, gibt torichte Antworten, will keinen Beruf baben, zu Haase bei den Eltern 
gelebt baben. In eine Sohule sei er nie gegangen. Er sei von den Eltern er- 
nahrt worden und babe „gar nichts a gemacht. Aucb beim Militar babe er 
noch so gut wie keinen Dienst getan, weil man ihn zu nichts babe brauohen 
konnen. Zuletzt ist er wegen Kopfschmerzen und Einnassen dauernd in Laza- 
retten gewesen. Das Einnassen babe er von Jugend auf. 

9. 9. (Tag beute?) „Weiss ich nicht“. 

(Honat?) „Februar“. 

(Monate aufsagen?) Lasst Juli und September aus. 

(3 X 2) „Das weiss icb nicht“. 

(2X2) „Das weiss ich auch nioht u . 

Liest die Ubr faisch ab, bezeiohnet dagegen Gegenstande richtig. Farben 
nennt er faisch: (Rot) „Gelb“. 

(Blau) „Schwarz“. (Griin) „Rot“, Weiss richtig. 

Nachdem Erkundigungen ergeben batten, dass er die Schule bis zur 
2.Klasse besucht und fruher nicht eingenasst hatte, warden ihm seine Schwin- 
deleien energisch vorgehalten, worauf er sofort sein Verhalten anderte. 

30. 9. (Beruf?) „Bergmann. Als ich aus der Schule kam, bin icb in 
die Grube gegangen u . 

(Wann?) „Mitl5Jahren. Ich bin auoh in dieFortbildungsschule gegangen. “ 

(Wie lange in Grube gearbeitet?) „Zuerst ein Jahr und dann bin ioh in 
die Hutte gekommen u . 

(Was verdient?) „In der Hiitte babe ioh im Tag 2 M. gehabt“. 

(Einnassen?) ,,IchbineinmalaufUr]anb gewesen und da habe ioh Blasen* 
leiden gehabt u . 

(Als Kind Einnassen?) „Nein“. 

(Warum gesagt?) „Ich habe im Lazarett neben einem Mann gelegen, der 
hat gesagt, ich sollte so sagen“. 

Farben werden jetzt richtig bezeichnet. 

(Warum die Farben fruher falsoh?) „Oben ist so ein Soldat, so ein Blon¬ 
der, der hat gesagt, ich sollte alles faisch sagen, sonst kame ich doch nioht 
los vom Militar, er hatte es auch so gemacht u . 

Die Intelligenzpriifung ergibt jetzt im Einklang mit Anamnese und ge- 
samtem Eindruck, dass es sioh um einen minderwertigen und schwaoh be* 
gabten Menschen handelt. Von einer Anzeige der Aggravation wird daher Ab* 
stand genommen. 


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Dr. J. Raeoke, 


Die Erw&hnung dieses an sich sonst vrenig bemerkenswerten Fallee 
geschab in diesem Zusammenhange besonders, am aaf die Schwierigkeit 
der Beurteilung von angeborenem Schwacbsinn obne zuverlfissige Ana* 
mnese erneut hinzuweisen. 

Wir kommen darauf weiter anten nochmals ausfuhrlicher zuriick. 

Allein nicht nur tatsachlich leicht schwachsinnige Menschen, son- 
dern auch intellektuell gut begabte Psycbopathen bringen es mitunter 
zu einer staunenswerten Gewandtheit in der Vortfiuschung von hoch- 
gradigem Schwachsinn, so dass sie selbst Fachpsychiater wiederholt 
hinters Licht zu ffihren vermogen. Ein hOchst interessanteTs derartiges 
Beispiel, in welchem noch neben der Simulation von Demenz die Nach* 
ahmung epileptischer Anfalle eine wesentlicbe Rolle spielte, mfichte ich 
hier ausfuhrlicher wiedergeben wegen der weitgehenden praktischen wie 
theoretischen Bedeutung, welche derartigen Beobachtungen zukommt. 
Der Fall stammt nocb, wie der erste, aus der Kieler Klinik. 

Fall 6. Therese W., geboren 10. Dezember 1867, hatte eine lange Straf- 
liste mjtVerurteilungen wegen Diebstahl, Hansfriedensbruch and Misshandlang 
1885, von Betrng 1886, von Betrug, Unterschlagang nnd Korperverletzung 
1888, von Betrug and Untersohlagung 1889. Meist handelte es sich nar um 
kurzfristige Strafen. Die letzte and langste betrug 6 Uonate. 

1891 warde sie wieder wegen wiederholter Hehlerei verurteilt. Dieses Mai 
machte sie die Strafe nicht ab, sondern verfiel naoh der Verarteilang in so 
heftige Krampfe, dass sie ins Krankenhaus geschafft warde. Angeblich daaerten 
die Anfalle 5 Tage standig an. Es warde bei ihr Epilepsie von den Aerzten 
angenommen. 

Naoh Aussage ihres Mannes sollten ihre Matter and drei Sohwestern an 
Krampfen gelitten baben. Sie selbst sei znerst im 16. Jahre an Krampfen er- 
krankt. Seitdem babe sie geistig nachgelassen. Ein Physikatsgataohten nahm 
Unzareohnnngsfahigkeit wegen epileptischer Verblodung an. 

Ueber die Entstehang der Krampfe selbst hatte sie angegeben, dass sie 
mit 16 Jahren als Kindermadchen darch ein Nebenmadchen mit Strychnin ver- 
giftet worden sei. Zwei gleiohfalls vergiftete Kinder seien gestorben. Sie 
selbst sei nar sehr krank gewesen and habe seither die Krampfe zarfiok- 
behalten. 

In einem spateren Gntachten findet sich fiber diesen Vorgang folgender 
Vermerk: „SeitllJahren leidet die W. an epileptischen Krampfen. Zum ersten 
Malesollen dieselben sicheinigeTagenachdem ratselhaftenTodeder beiden Kinder 
A., deren Kindermadchen sie war, eingestellt haben, and warde sie damals, 
da diese Krampfe alsSymptome einer darch Selbstmordversuch herbeigefahrten 
Yergiftang aafgefasst warden, and sie in den Verdacht geriet, auch die beiden 
Kinder vergiftet zu haben, im Kurhanse langere Zeit beobachtet. Die Unter- 
sochung wegen Giftmordes warde niedergeschlagen and dieW. entlassen, doch 
finden sich in der Akte manche Anhaltspunkte daffir, dass sie schon damals 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stoning. 547 

merkwdrdige Charakterzuge, intellektaelle Ldcken bot. Mehrfach wird erwahnt, 
dass sie naohts „allerlei schreckliche Dingo sieht" und „weisse Manner yor 
ihrem Bette tanzen u . An einer Stelle wird sie als Kindermadcben entlassen, 
da sie „aberglaubige Vorstellungen hat“, an einer anderen, weil sie ,,unehrlioh 
und nascbhaft u ist. Bei ihrer Vernebmung im Kurbause durch Herr Ober- 
staatsanwalt B. fiel die grosse Rube auf, mit der sie alle Fragen, oft lachelnd 
beantwortete, und auffallend erschien es besonders, dass sie auf die eindring- 
licbsten und im giitigen Tone an sie gericbteten Ermabnungen zur Wabrheit 
sowie bei dem V orb alt, ob einem so jungen Madchen, wie sie sei (16 Jahre), 
die vielen und plotzlicben Todesfalle, bei denen sie zugegen gewesen sei — es 
starben zusammen 4 Kinder plotzlioh in 3 Familien, wo sie als Kindermadohen 
diente — nicbt zu Herzen gegangen sei, vollig teilnabmlos blieb und stereotyp 
bemerkte, sie „sei sehr kinderlieb“. 

Hierin glaubte der Qutacbter die ersten Spuren des in der Folge stets 
zunehmenden Scbwaobsinns zu erkennen. Zwei Jahre spater erklarte der Phy- 
sikus, dassinfolge epileptischer Krampfe eine gewisse Schwache der Intelligenz 
bestebe. 

Unter dem 30. 12. 1892 meldete der Polizeibericht, die W. babe vor der 
Kellerwohnung ihres Yaters, wo sie mit ibrem Ehemanne zum Besuobe weilte, 
durch Schreien und Toben einen Auflauf yerursaoht. Auf Befragen babe sie 
erklart, yon ihrem Manne misshandelt worden zu sein. Dieser aber, seine 
Schwiegereltern und Schwagerin stellten das in Abrede. Die W. sei ein jah- 
zorniges, Ieioht erregbares Weib. Sie babe mit ibrem Manne Streit angefangen 
und sei auf ihn eingedrungen. Als sich dann Eltern und Sohwester ins Mittel 
legten, sei sie im Aerger auf die Strasse gelaufen und habe dort woiter ge- 
larmt. Erst als ibr polizeilich mit Festnahme gedroht wurde, berubigte sie 
sioh. Im gleichen Jahre soli sie bei einem Termine vor dem Landgericht von 
Krampfen befallen worden sein, so dass sie fortgesobafft werden musste. 

1893 ward die W. wegen LadendiebstabIs und wegen Beleidigung ange- 
klagt, aber auf das Gutacbten des Physikus Dr. W. rom 7. 6.1893 wegen Un- 
zurechnungsfahigkeit freigesprochen. Sie leide an Krampfen und zeige in der 
Unterbaltung „kindliche Ausdruoksweise u . Der Gutachter nabm „epileptisobe 
Demenz u an. Die W. sei y 51 lig verblodet und niobt vorhandlungsfahig. 

In dem Gutachten ist von moralischen und intellektuellen Lucken vor 
Eintriti der Kr&mpfe die Rede. Nachts babe sie oft schreckliche Dinge ge- 
sehen, z. B. weisse Manner, die vor ibrem Bette tanzten. Sie habe nacb ihrer 
Verheiratung eine luetiscbe Infektion durchgemacht und mehrfach abortiert. 
Krampfe und Aufregungszustande zeigten sich besonders wahrend der Scbwan- 
gersohaften. Dann sei sie wie kindisch und you Sinnen, mache die wabn* 
sinnigsten Einkaufe, verschwendeHauseinrichtungsgegenstande, versetze Haas* 
rat und Kleider, sei masslos reizbar und gewalttatig, klage unausgesetzt fiber 
Kopfweb. Diese Angaben stammten vom Manne. Bei der Untersuchung fiel 
namentlich die Lfiokenbaftigkeit des Gedaohtnisses auf; alle moglichen Ereig- 
nisse sollten „gestern u gewesen sein. Naoh Aussage des Mannes sollte sie auch 
fur ihr Tun in der Erregung und in den Krampfen keiine Erinnerung besitzen. 


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Dr. J. Raecke, 


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Hinsichtlich der Untersuchung wegen Giftmordes ist noch nachzutragen, 
dass sie wegen mangelnder Beweise eingestellt worden ist. Bei der Beobach- 
tung der W. im Kurhause war erst Morphiumvergiftnng angenommen worden; 
schliesslich wurde die Diagnose auf „Hysterie a gestellt Die Anfalle sohein- 
barer Bewusstlosigkeit erschienen „gemaoht u . 

Aus obigem Psysikatsgutachten seien nun folgende Satze wortlich an- 
gefdhrt: „Die Gesichtsziige sind grob sinnlioh, der Ausdruok stumpf, blode, 
der Blick starr. Sie klagt iiber Kopfweh, halt sich sonst ffir ganz gesund. An 
sie gerichtete Fragen beantwortet sie oft dem Sinne nicht entspreohend and 
erst auf wiederholtes Eindringen, weitschweifig und fiuchtig. Bestimmte Wen- 
dungen kehren immer wieder, z. B. „ja, unordentlich bin iob nicht u ; auch 
brauoht sie fortwahrend Diminutive „Kleinchen, Kindchen, Schuhchen a usw. 
Ihr Gedachtnis ist ausserordentlich liickenhaft, sie meint, alle mog- 
lichen Ereignisse seien „gestern a gewesen. An friihere, nur aus den Akten 
bekannte Dinge aus ihrem Leben erinnert sie sich gar nicht, auf die Namen 
der ihrer Wohnung nahe liegenden Strassen kann sie sich nicht besinnen, 
samtliche Angaben iiber ihr Hausstandsgeld und sonstige Angaben waren, wie 
sich spater bei einer Unterhaltung mit ihrem Maune herausstellte, vollig falsch 
Als Probe ihrer allgemeinen Gefuhls- und Verstandesausserungen erlanbe ich 
mir einige Bruchstucke unserer Unterhaltung, die ich sofort niederschrieb, 
einzuiugen: 

(Haben Sie iiberhaupt schon einmal gestohlen?) ^Wenn man Sachen so 
nehmen kann, dann stehle ich, und wenn die Leute nacBher kommen, sage ich, 
es ist nicht wahr. Sehen Sie mal das Schuhchen, das habe ich auch gestohlen, 
auf dem Hopfenmarkt, nun miisste ich nur noch das andere haben, das konnte 
ich aber nicht kriegen, es ist zu gross fur das Kindchen, aber es wachst hinein, 
dann lasse ich noch ein Sohuhchen dazu machen, dann hat das Kindchen 
2 Schuhohen. Aber meinem Mann diirfen Sie es nioht sagen, der schlagt 
mich sonst. u 

(Ins Gefangnis, wenn Sie stehlen?) „Ja, dann komme ich ins Loch. u 

(Ihnen das einerlei?) „Ja, dann schlagt mein Mann mich nicht, aber 
das Kind soli mit. Ich ziehe es selbst aus, mache ihm neue Kleider. Nein, 
unordentlich bin ich nicht. a 

Auch einzelne W&hnideen sind nun erkennbar, so glaubt sie, dass die 
Leute sie auf der Strasse alle ansahen und sie fur verriickt hielten, dass ihr 
Mann es mit ihren Schwestern halt: „Aber sie diirfen ihn nicht anlachen und 
nicht mit ihm spreohen, sonst sohlage ich sio ! u Mit dem Schlagen ist sie 
iiberhaupt gleich bei der Hand. Ueber ihre Mutter, die Angeklagte K. befragt, 
aussert sie lebhaft: „Ja, die stiehlt alles, sie stiehlt immer, die stiehlt mir 
Kaffee und Zucker und 10 Mark hat sie mir auch gestohlen. u Ihre Ausdrucks- 
weise ist durchaus kindlich. Jeder Satz fangt mit „Und da a an, und wenn 
sie zu Ende gesprochen hat, klatscht sie frohlich in die Hande, um dann 
gleich wieder ernst zu werden und von ganz etwas anderem weiter zu reden. 

Fasse ich alle Beobachtungen zusammen, so glaube ich mich bereohtigt, 
zu sagen, dass die vielfachen Konflikte, in welohe die W. mit dem Strafgesetz 


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geraten ist, ibre stets wiederholten Diebstahle, Betrugereien und Hehlereien, 
mebr oder weniger durch die Ent&rtung und durch die Defekte ihrer ethisohen 
Gefuhle bedingt waren; wie ihre vielfachen Brutalitaten, die ihr die Anklagen 
wegen Korperverletzung zuzogen, mit ihrer krankhaften Gemutsreizbarkeit zu- 
sammenhangen. Weiter ergibt sich aber, dass die W. jetzt nicht mehr, wie 
fruher, nur periodische, mit den epileptisohen Krampfen im Zusammenhang 
stehende Beeintrachtigungen ihrer Geistestatigkeit zeigt, sondem vielmehr eine 
dauernde Veranderung ihres gesamten Geisteslebens bietet, deren Grundzug 
eine auf dieser epileptisohen Basis entstandene Verblodung ist. Sie zeigt eine 
so erhebliche Abnahme ihrer allgemeinen seelischen Leistungsfahigkeit, ge- 
kennzeichnet durch ihre krankhafte Gemutsreizbarkeit, welche fur den Schwaoh- 
sinn auf epileptischer Grundlage besonders charakteristisch ist, und durch 
hochgradige Gedachtnis- und Urteilsschwache, dass nicht anzunehmen ist, sie 
ware imstande, sittlich verwerfliohe und gesetzlich strafbare Handlungen zu 
unterscheiden und sich so zu beherrschen, dass sie ihre Gemutserregungen, 
ihre Triebe und Leidensohaften der Einsioht iiber Recht und Unrecht, Straf- 
bares und Erlaubtes unterordnen konne. u 

Auoh in den folgenden Jahren 1896, 1901, 02, 03, 04, 05 ist die W. 
regelmassig auf Gutachten desselben Sachverstandigen bin exkulpiert worden 
im Verfahren wegen Betrugs, Kurpfusoherei, Abtreibung, Diebstahls, Kuppelei; 
Unterschlagung, Kuppelei, Betrugs und Diebstahls; Ladendiebstahls und Ver- 
kuppelung der eigenen Tochter. 

Am 4. 5. 1896 wurde sie wegen Betrugs verhaftet und auf Grund des 
Physikatsattestes „epileptische Seelenstorung a der Irrenanstalt P. zugefiihrt. 
Sie hatte unter falschem Namen Waren im Werte von 571 M. ersohwindelt. 
Bei ihrer Verhaftung verfiel sie in Tobsucht, bald darauf in Krampfe. Bei der 
Aufnahme in die Anstalt war sie ruhig und geordnet. . Es heisst daruber in 
den Krankenakten: „Das Benehmen der Kranken ist nach keiner Richtung hin 
ein auffalliges. Sehr gross, gut genahrt, blasses Ausseben. Will friiher viel 
an Kopfschmerzen gelitten haben. Der Vater starb an Blutvergiftung. Eine 
19jahrige Schwester und der Vater litten an Krampfen, sonst noch 14 Ge- 
schwister, von denen 5 am Leben sind. Schadel spitz zulaufend. Ohrmuschel 
wohl gebildet. Pupillen sehr weit, beiderseits Konjunktivitis. Leichte Fazialis- 
parese links. Starker Zungentremor, die Zunge weicht nach links ab. Am 
linken Zungenrande Narbe (luetisch?), Herztone rein. P.-Sehnenreflexe vor- 
handen. 1 lebendes Kind. 9 Tot- und Fehlgeburten, 3 mal Umschlag. Will 
nioht gesohleohtskrank gewesen sein. 

30. 6. Hatte gestern einen schweten epileptisohen Anfall mit einleitendem 
Schrei, heftigen allgemeinen Zuokungen, nach dem Anfall etwa 1 / 2 Stunde 
sohlafsuchtig. 

10. 6. Hatte mehrfach Anfalle. 

20. 6. Beschaftigt sich sehr fleissig, manchmal gerat sie ohne merklichen 
Grund in Tranen. 

30. 6. In den letzten Tagen wurde nur ein Anfall konstatiert. 


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Dr. J. Raeoke, 

26. 7. Hielt sich seitdem ruhig und geordnet. Wird auf Wunsch des 
Mannes unter Zustimmung der Polizeibehorde beurlaubt. 

2. 11. Wird gebessert entlassen. 

Davon, dass ein Arzt die angeblichen Anfalle gesehen hatte, ist nichts 
vermerkt. Die ^Verblodung 44 scbeint nicht hervorgetreten zu sein. 

Am 25. 1. 01 erfolgte wieder Verhaftung wegen Betrugs, Kurpfascherei, 
Verdachts auf Abtreibung. Der Physikus bescheinigte, er babe die W. bereits 
wiederholt begutachtet. Sie sei vollig verwirrt und konne nicht verantwortiich 
gemacht werden. Aus der Anstalt, in die sie nun die Polizei verbrachte, 
entwioh sie alsbald am 26. 3. und wurde vom Manne verborgen gehalten. In 
einem Schreiben des letzteren, der ubrigens selbst eine lange Strafliste hat, 
heisst es, seine Frau leide infolge von Vergiftung und Magenauspumpung an 
Krampfen seit dem 18. Jahre. Sie sei seither nie mehr gesund gewesen, lasse 
sich von anderen ausnutzen. An sioh sei sie gutartig, werde nur gereizt bose. 
Bei den Krampfen bekomme sie eine Biegung des Korpers nach hinten, dann 
allgemeine Zuckungen. Manchmal sei sie auch hingestiirzt, hatte Schaum vor 
dem Munde. Bei Befragen wollte er auch wissen, sie habe sich in den Anfallen 
sohwer verletzt. 

Aus der damaligen Krankengeschichte der lrrenanstalt gebt hervor, dass 
die W. bei ihrer Aufnahme einen gedriickten Eindruck maohte. Sie folgte ruhig 
und willig auf die Abteilung, erzahlte, sie sei im 4. Uonate schwanger. Kura 
vor ihrer Verheiratung habe sie einen plotzlichen Schreck gehabt, seither leide 
sie an Krampfen. Sie wisse von diesen nur durcb Horensagen, nachher sei sie 
gewohnlich verwirrt, habe, wie sie von ihrem Manne wisse, oft unsinniges Zeug 
gemaoht, z. B. Saohen zum Fenster hinausgeworfen, uberflussige Einkaufe ge¬ 
macht. Ihre Straftat stellte sie in Abrede. Das sei nur Verleumdung; die 
Menschen gonnten ihr nicht, dass sie mit ihrem Manne so gliicklich lebte. 

Nach den Akten* hat die W. langere Zeit mit Wissen ihres Ehemannes 
mit 2 anderen Mannern geschlechtlichen Verkehr gehabt und hat von dem einen 
dieser Liebhaber nach und nach gegen 1000 M. zur Verwahrung erhalten, die 
sie veruntreut hat. Sie hat dabei, wenigstens eine Zeit lang, sich als Schwagerin 
ihres Mannes ausgegeben. Sie soli bei sich Fruchtabtreibung herbeigefuhrt 
baben. Sie hat sich anscheinend gewerbsm&ssig mit Kartenlegen und Kur- 
pfuscherei (Sympathiekuren, Abgabe von Medik&menten zu teilweise recht hohen 
Preisen) beschaftigt und ihre Klienten beschwindelt. Im Gefangnis erschien 
sie zeitweise hochgradig erregt und verwirrt. • 

Unter dem 18. 2. 01. ist eingetragen: „Frau W. klagt fiber etwas unregel- 
massigen Stuhlgang, schlaft mit Unterbrechungen, leidet manchmal an Kopf- 
schmerzen, im fibrigen ifihlt sie sich wohl. u .... ^Gesichtsausdruck recht 
dement. Pat. will sich an alle in den Akten erwahnten Delikte nicht erinnem 
konnen. Sie zeigt sehr wenig Interesse fur ihre Umgebung. Intelligenz er- 
scheint betrachtlich herabgesetzt, Kenntnisse aus Geschichte, Geographic und 
Religion sehr sparlich, Kopfrechnen geht langsam und unsicher, meist mit Zu- 
hilfenahme der Finger und auch bei den einfachsten Rechenaufgaben kommen 
Fehler vor. Krankhafte Affekte, Sinnestauschungen oder Wahnideen sind nicht 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 


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festzustellen. — Die W. ist einige Stunden am Tage ausser Bett, batte dabei 
vorgestenr einen kurzdauernden Ohnmaohtsanfall (epileptisch?). 

21. 2. Ist jetzt den ganzen Tag ausser Bett, benimmt sicb ruhig und 
ordentlioh, beschaftigt sich mit Lesen, fiiblt sicb ziemlich wohl, klagt fiber 
ihre Augen (will Granulose gebabt haben), uber Stublbesobwerden und ge- 
stbrten Schlaf. 

26. 2. Halt sich ruhig und ordentlicb, beschaftigt sich mit Lesen, scheint 
sich ganz zufrieden zu fiihlen. 

28. 2. Unverandert, nach Siechenabteilung verlegt. 

1. 3. Steht auf, beschaftigt sich mit Handarbeit. W&hrend sie sich oben 
angeblich ihrer Delikte nicht erinnern konnte, sucht sie sich Ref. gegeniiber 
ganz spontan wegen jener zu rechtfertigen. 

26. 3. Entwich heute Abend durch den Keller. 

Ende September 1902 klagte der Ehemann W. gegen eine Schwester seiner 
Frau, eine Frau D., wegen Diebstahls. Diese antwortete mit einer Anzeige 
wegen Kuppelei gegen W. Als die Saohe bedenklich wurde, machte der Ehe¬ 
mann W. wieder die „Geisteskrankheit u seiner Frau geltend. Er wurde aber 
verurteilt und nur sie wegen Unzurechnungsfahigkeit abermals freigesprochen. 
In dem betreffenden Gutachten heisst es, die W. mache ganz unsinnige An- 
gaben, behaupte z. B. wegen Brandstiftung 7 Jahre Zuchthaus gehabt zu baben. 

Juni 1903 wurde die W., die sich noch immer auf freiem Fusse befand, 
von einem Kaufmann N. verklagt, weil sie von ihm eine goldene Uhr auf Ab- 
zahlung gekauft und niohts bezahlt habe. Die W. suohte sich erst damit her- 
auszureden, die Uhr sei ihr gestohlen worden und der Diebstabl sei auch von 
ihrem Manne angezeigt. Auf das Unriohtige dieser Angaben hingewiesen, 
schutzte sie wieder Nervenleiden und Ged&ohtnisschwache vor. Ein Termin 
musste aufgehoben werden, da sie angeblich wegen Krampfe nicht erscheinen 
konnte. In dor nachsten Verhandlung fiihrte sie dann ganz verkehrte Reden, 
sprach z. B. wieder davon, sie habe 7 Jahre Zuchthaus wegen Brandstiftung 
gehabt; die ihr vorgehaltene Strafliste sei falsoh. Dann bek&m sie einenKrampf- 
anfall. Der Gerichtsarzt N. vorsicherte, sie leido an einem n betrachtlich vor- 
geschrittenen Zustand geistiger Verblodung im Anschluss an Fallsucht u und 
sei unzurechnungsfahig. So erfolgte Freisprechung. Inzwischen war eine neue 
Anzeige eingelaufen, dass sie ein auf Abzahlung gekauftes Piano versetzt hatte. 
Wieder schutzte sie Geistesabwesenheit vor. Wieder erfolgte auf Grund eines 
Attestes von Dr. Sch. Freisprechung, da die Angeklagte seit Jahren nicht mehr 
zurechnungsfahig sei. 

Dieser Sachverstandige hatte die W. naoh ihrer Entweichung aus der 
Irrenanstalt 1901 vergeblich in seiner Eigenschaft als Stadtarzt aufgesucht. 
Der Ehemann behauptete, sie sei naoh Pr. Eylau verreist. Als er sie endlich 
auffand, besohrankte er sich, wie es in seinem Gutachten heisst, wegen ihres 
hochschwangeren Zustandes auf eine kurze Untersuohung. Naoh den Akten 
sei sie Kartenlegerin und infolge ihrer Schwindeleien vielfach mit den Behorden 
in Konflikt geraten. Die vom Physikus Dr. W. betonte Verwirrtheit bestand 
nicht. Der schwangere Zustand sohien eine Ueberfuhrung in die Anstalt un- 


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552 Dr. J. Raecke, 

railich zu machen. Der Mann W. habe sich verpfliohtet, seine Frau sorgfaltig 
zu iiberwachen! Das Gntachten schliesst: „Da sie bislang anschfcinend nur 
wegen Schwindeleien, nioht wegen Gewalttatigkeiten mit den Behdrden in 
Konflikt geraten ist, so habe ich nichts dagegen, wenn sie vorlaufig bei ihrem 
Manne verbleibt. Letzterer miisste auf die ihm zafallende Varantwortlichkeit 
aufmerksam gemacht werden, auch dafdr sorgen, dass seine Fran nioht mehr 
ihr Gewerbe als Kartenlegerin ausubt >u 

Erst als sich die Anzeigen gegen dieW.im Jahre 1904 bedenklich hauften, 
hielt der Stadtarzt auf Anfrage der Polizei die baldige Verbringnng in eine 
Irrenanstalt fur geboten: „Da sie immer wieder mit dem Strafgesetze in Konflikt 
kommt, ist sie zweifellos als gemeingefahrlich anzusehen ,u 

Jetzt beantragte der Ehemann der W. ihre Entmiindigung wegen Geistes- 
krankheit und berief sich auf alle schon fiber sie erstatteten Gutachten. 

Der Gerichtsarzt Dr. N., welcher bereits im Jahre 1903 die W. in einer 
Strafsache exkulpiert hatte, hielt ^Epilepsia mitSohwachsinn w seitlangen Jahren 
fiir vorliegend. Die W. maohe noch denselben schwachsinnigen Eindruck, sei 
von derselben plumpen Vertraulichkeit und derselben uferlosen Redseligkeit. 
Ihre Stimmung sei schwankend, sie weine und lache in demselben Zuge. 

Ihr Intellekt sei sehr schlecht, sie sei nicht mehr uber die einfachsten 
biirgerlichen Verhaltnisse orientiert, rechne schlecht und konne koine Begriffe 
bilden. Innerhalb des Rahmens ihrer Hauslichkeit erscheine sie brauchbar, 
soweit Ordnung und Sauberkeit in Frage kamen. Sie wasche, putze, scheuere 
den ganzen Tag; auch machten ihre beiden Kinder korperlich einen wohlge- 
haitenen Eindruok. Gleicbwohl sei der Ehemann fortdauernd gewungen, eine 
Haushalterin zu halten, weil seine Frau ausser stande sei, sein Haus auch nur 
im gerinsten nach aussen hin zu vertreten; vor allera kenne sie den Wert des 
Geldes nioht und kaufe und schachere sich alles an, was sie sehe, schrecke 
auch vor einem Diebstahle nicht zuriick. Sonst sei sie harmlos und unachtsam 
zutraulicb, schwatze mit jedem, auch fremden Menscben, stundenlang und be- 
nehme sioh so, dass man ihr allein eine Wobnung nicht anvertrauen konne. 
Auch ihm habe sie unaufgefordert ihre ganze Garderobe gezeigt, ihre neu 
erworbenen Hutfedern, Bander usw. und von neuen Blumen erzahlt bzw. Aus- 
gestaltung der Garderobe. Dabei habe sie ihn fiir einen Versicherungsagenten 
gehalten, bei seinem 2. Besuche — 5 Tage spater — fiir den Augenarzt und 
ihm dieselben Sachen erzahlt und gezeigt. 

Aus Vorstehendem ergebe sioh zugleich ihre enorm herabgesetzte Merk- 
fahigkeit und gerade dieser Schaden, den ihr Gedachtnis genommen habe, sei 
es, der sie fiir die Vertretung eines Haushalts unbrauchbar mache. Epileptische 
Krampfe selbst habe er wahrend der letzten Beobachtungszeit nicht gesehen, 
doch konne kein Zweifel an der Persistenz derselben bestehen. Frau W. leide 
an einem vorgeschrittenen Grad epileptischen Schwachsinns (Epilepsia cum 
Dementia) und sei infolge dieses Schwachsinns nicht imstande, ihre Angelegen- 
heiten zu besorgen. 

Beim Entmiindigungstermin erklarte die W. aufBefragen, sie leide seit 
ihrer Konfirmation an epileptischen Anfallen. Geburtsort und Alter gab sie 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Stoning. 553 

verkehrt an: 56 Jahre! Sie fiihre ihren Haushalt mit Unterstutzung ihrer 
Schwester. Sie habe viel Geld und erbe noch. 

(Haben Sie viele Kleider?) „Ein graues, ein schwarzes, ein blaues. Ein 
schwarzes ist noch in Arbeit. tt (Kennen sie mich?) „Sie waren wegen der 
Assekuranz da. tt 

Weiter gab die W. auf Befragen des Richters an, zu 7000 M. versichert 
zu sein, friiher zu 4—5000. Sie habe einen Onkel, von dem sie noch viel erbe. 
Es gebe alles neue Kleider dafiir. 

Besonders fiel auf, dass die W. ihren Geburtstag nioht angeben konnte. 
Der Gerichtsarzt schloss aus diesem neu zu Tage getretenen Umstande auf 
schwere Schadigung des Gedachtnisses. 

Die Entmiindigung erfolgte am 10. Mai 1904 wegen Geistesschwache. In 
der Begriindung des Beschlusses heisst es: 

„Die angestellten Ermittlungen durch Vernehmung des Gerichtsarztes 
Dr. N. als Sachverstandigen und die personliche Vernehmung der Entmiin- 
digten selbst haben ergeben, dass die Entmiindigte zwar nicht an Geistes- 
krankheit leidet, aber an Geistesschwache, und an dieser in so erheblicher 
Weise, dass angenommen warden muss, dass sie nioht imstande ist, ihre An¬ 
gelegenheiten selbst zu besorgen. Denn abgesehen davon, dass der arztliche 
Sachverstandige nach seiner Bekundung auf Hinweis seiner Untersuchung oder 
Beobachtung der Entmiindigten sein Gutachten dahin abgegeben hat, dass die 
Entmiindigte an einem vorgeschrittenen Grad epileptischen Schwachsinns leidet 
und infolge dieses Schwachsinns ausser stands ist, ihre Angelegenheiten zu 
besorgen, hat das Gericht duroh seine Wahmehmungen bei der personlichen 
Vernehmung der Entmiindigten die Ueberzeuguug gewonnen, dass die Ent- 
mundigte nicht die geistige Fahigkeit besitzt, ihre Angelegenheiten selbst zu 
besorgen, da sie insbesondere nicht einmal im stande war, ihr Alter und ihren 
Geburtsort richtig anzugeben, indem sie ihr Alter auf 56 Jahre und als ihren 
Geburtsort Konigsberg angab, wahrend sio tatsachlich erst 36 Jahre alt war 
und in Pr. Eylau geboren ist. u 

Am 20. 11. 1904 kaufte die W., die nunmehr auf freiem Fusse unter Auf- 
sicht ihres Ehemannes belassen worden war, im Warenhause einige Kleinig- 
keiten und stahl bei dieser Gelegenheit verschiedene Gegenstiinde im Werte 
von 26 M. Sie wurde dabei ertappt und entschuldigte sich mit ^Kleptomania. a 
Eine 2 Tage spater erfolgende Vernehmung durch einen Kriminalbeamten ver- 
lief erfolglos, da sie „verwirrte Antworten tt gab. Einleitung eines Strafver- 
fahrons wurde von der Staatsanwaltschaft abgelehnt, da die W. wegen hoch- 
gradigen Schwachsinns nicht verantwortlich gemacht warden konne. Ausser- 
dem schwebte ein neues Verfahren wegen Betrugs, Misshandlung, Beleidigung 
und Widerstands. Auch dieses ware wohl eingestellt worden, da kam eine 
weitere Sache hinzu: Die W. wurde angeklagt, einen Konditor S. daduroh be- 
trogen zu haben, dass sie ihm unter der Vorspiegelung, Beweise fiir die Un- 
treue seiner Frau schaffen zu konnen, Geld abnahm. 

Frau S. klagte gegen den mit ihr in Ehescheidung liegenden Ehemann, 
dieser babe verbreitet, dass sie sich ein Absteigequartier gemietet habe, dort 

Archiv f. Psychiatric. Bd. 60. Heft 2/3. 30 


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Dr. J. Raecke, 


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mit Herren verkehre and sich auch was habe abtreiben lassen. Der beklagta 
Ehemann gab an, Frau W. habe ihm gegen Entgelt von SOO M. Beweismaterial 
gegen seine Frau beschaffen wollen und habe ihm erzahlt, seine Frau habo 
mit verschiedenen Mannera geschlechtlich verkehrt, sie habe selbst jene ein- 
mal dabei gesehen. Diese Angabe, die sie genau ins Einzelne ausgemalt ge- 
habt hatte, hielt sie freiiich vor Gericht nicht aufrecht, sondern entschuldigta 
sich wieder mit ^Nervensohwache 14 und mit ihrer Entmundigung. 

Ferner aber kam sie mit der Erzahlung heraus, ihr habe eine Frau H. die 
300 M. angeboten, damit sie im Prozesse S. gegen S. eine falsohe Aussage 
machen sollte. Yon der Frau H. deshalb verklagt, stellte die W. bei ihrem Ver- 
hor die Sache so dar, als sei sie iiberhaupt von der H. zu allem aufgestachelt 
worden. Die H. habe ihr erst die Namen der Manner bezeichnet, die sie, die 
W., dann dem eifersiichtigen Konditor als seine Rivalen angab. Die H. habe 
dafiir einen Teil der von dem Konditor S. ausgezahlten Summe abbekommen. 
Die Sache liege also nicht so, dass die H. ihr selbst 300 M. fur eine falsche 
Aussage angeboten habe, wohl aber habe die H. sie zu ihrem ganzen Verhalten 
in der Ehescheidungssache erst angestachelt. Nur im Auftrage der H. habe 
sie 300 M. gefordert. Ihr Ehemann habe indessen den Betrag, sobald er 
von der Sache horte, zuruokerstattet. Der geschadigte S. bestritt, irgend 
welches Geld zuriickerhalten zu haben. Die W. habe ihm mit ihren Ver- 
sprechungen und ausfuhrlichen Berichten das Geld allmahlich abgelockt. Sie 
habe ihm beteuert, sie konne alles beeiden, und habe ihn nachher stecken 
lassen. Beachtenswert ist die Anzeige der Frau H., die W. schwindle im Ein- 
verstandnis mit ihrem Ehemanne. 

Januar 1905 ging von Dr. C., dem leitenden Arzte des Krankenhauses m 
A., in das die W. als gemeingefahrliche Geisteskranke neuerdings untergebracht 
worden war, die iiberraschende Mitteilung ein, die W. scheine simuliert zu 
haben und uberhaupt nicht geisteskrank zu sein! 

Anfangs hatte die W. wieder ihre alte Darstellung bei der Aufnahme ge- 
geben: Sie sei krank soit ihrer Vergiftung mit 16 Jahren, habe dann gleich ge- 
heiratet, sei schon schwanger gewesen. Im Wocbenbette seien zuerst epilep- 
tisohe Krampfe aufgetreten, anfangs taglich, in den letzten Jahren nur alia 
4 Wocben. Einige Tage vor den Anfallen neige sie zu grossen Einkaufen. Su 
habe sie jetzt auch ihren Ladendiebstahl begangen. 

Bei naherem Befragen schilderte sie die Anfalle so, dass erst die Beine 
steif wurden, dann kamen Krampfe in Arm^n und Handen, und dann ver- 
liere sie erst das Bewusstsein. Den Vorgang beim Ladendiebstahl vermochta 
sie genau zu schildern, wusste, was sie fortgenOmmen hatte, zeigte ge- 
heuchelte Reue. 

Nacbforschung ergab, dass beide Schwestern Prostituierte und Yer- 
brecherinnen sind, dass auch der Mann vielfach, vor allem wegen Korperver- 
letzung und Kuppelei bestraft ist und sich wegen Verleitung zum Meineid in 
Untersuchung befindet. 

Die drohende Anstaltsinternierung schreckte die W. und veranlasste sie r 
sich entschieden gegen die Aussicht einer solchen zu wehren. Da sie einsah r 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storang. 555 

d&ss dieses Mai kein Entrinnen sei, anderte sie plotzlich ihr Verhalten. Hatte 
sie zunachst naoh der Aufnahme dem untersucbenden Arzte betont, sie sei bei 
ihrer Straftat unzurechnuugsfahig gewesen, sei einem nnwiderstehlichen Triebe 
gefolgt, bei dem sie nicht wisse, was sie mache, lenkte sie jetzt langsam ein 
und erklarte, lieber die Strafe zu verbiissen, als dauernd interniert zu werden. 
Dabei entwickelte sie einen anerkennenswerten Ueberblick uber die strafrecht- 
lichen Folgen ihres Tuns. 

Bei der nunmebr vorgenommenen Untersucbung liessen sich keine 
Storungen von Merkfahigkeit und Erfahrungswissen nachweisen. Nur war das 
Schulwissen gering. Ihre ^Verwirrtheit 14 bei der friiheren Untersuchung durch 
den Stadtarzt erklarte sie darnit, sie sei uber den Besuoh erschrocken gewesen; 
entsann sich aller Einzelheiten. 

Im Krankenhause erschien sie geordnet, zuganglioh, schloss sioh gesellig 
an die Mitkranken an, erzahlte ihnen pathetisch von ihrer ungliioklichen Lage, 
wusste ihr Mitleid zu erregen. In ihrer Geschicklichkeit, ihr Benehmen den 
Umstanden anzupassen, und in ihrer Beurteilung der eigenen Lage zeigte sie 
eine unleugbare Schlauheit. Den Arzt bat sie, zwar nicht von Unzurechnungs- 
fahigkeit zu sprechen, sie aber doch dem Richter so krank darzastellen, dass 
sie mit einer leichten Strafe davonkame. Als sich die Beobachtung hinzog, 
verlangte sie energisch ihre Entlassung, liess durch den Ehemann bei der 
Polizei wegen „Freiheitsberaubung w Schritte tun. Dann wieder spielte sie sioh 
auf die ungluckliohe Mutter heraus, legte ein schmeichlerisch-pathetisches Be- 
tragen an den Tag. 

Auf Veranlassung der Polizei erfolgte am IS. 1. 1905 die Entlassung. 
Die Diagnose war auf Hysterie gestellt worden. Im.Februar stellte sie sioh in 
einem anderen Krankenhause als „reiche Wohltaterin 11 vor mit dem Wunsche, 
eine dort untergebrachte Trinkerin zu besuchen, berief sich auf angebliohe 
Empfehlungen des Arztes, der sie zuletzt im Krankenhause behandelt hatte. 

In verschiedenen Sanatorien, welche sie dem Gerichte als ihre Adresse 
angegeben hatte, wusste man niohts von ihr. Im Juli beschloss die Straf- 
kammer auf Antrag des Sachverstandigen ihre Dnterbringung in einer offent- 
lichen Anstalt nach § 81 Str.P.O. 

Am 1. 8. 05 erfolgte ihre Aufnahme in die Irrenanstalt F. Sie liess sich 
willig auf die Abteilung fuhren, redete aber dabei fortwahrend in alberner 
Weise vor sich hin: „Ich weiss gar nicht, warum mein Mann micb hierher ge- 
braoht hat, ich habe nichts getan. Die andere Frau hat das Geld gestohlen. 
Mein Mann sagt, diesmal darf ich hier nicht wieder weglaufen. Dann nimmt 
er mioh nicht wieder auf. Das will ich auch nicht tun, dann komme ich dooh 
auch bald wieder weg. u 

Die korperliche Untersuchung ergab: „Grosse, kraftig gebaute Frau in 
gutem Ernahrungszustande. Muskulatur uberall ziemlich kraftig entwickelt. 
Kein Fieber. Urin ohne Zucker und Eiweiss. Oedeme, Ausschlage und Drusen- 
sohwellungen fehlen. Leiohter Kropf. Lungen und Herz ohne Besonderheit. 
Puls kr&ftig, regelmassig, 60, Pulssohl&gader weioh. Abdomen zeigt starkes 
Fettpolster, alteSchwangerschaftsnarben, keine druckempfindlichenResistenzen. 

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556 Dr. J. Raecke, 

Menses zur Zeit vorhanden, angeblich sonst unregelmilssig, alle 2—3 Wochen, 
angeblich vor 9 Wochen Umschlag, doch weiss die Angeklagte nicht, von wie- 
viel Monaten. 12 Kinder tot, einmal Drillinge, ausser diesen noch ein Kind am 
Leben. Der Schadel zeigt kleine, scbmale, niedere Stirn, im Verbaltnis dam 
vorspringende Baokenknochen. Am Hinterkopf in der Gegend der Lambdanaht 
eine druokempfindlichePartie. (Von einemFall herruhrend.) Haarwuchs dicht, 
ohne Besonderheit. Ueber dem linken Auge zwei alte Narben {Krampfanfall). 
An der rechten Schnlter, am linken Unterarm nnd in der linken Ellenbeoge 
ebenfalls Narben. Gesicht etwas asymmetrisch, die rechte Augenbraue steht 
hoher als die linke. Gesichtsfarbe gut. Ohren ohne Besonderheit. Die Zunge 
wird unter starken Zitterbewegungen vorgestreekt, deutiiche Bissnarben am 
4 Zungenrand nicht erkennbar. Gebiss teilweise karios, ZahnstelLung ohne Be¬ 
sonderheit. Rachen ohne Besonderheit. Rachenroflex vorhanden. Linke Lid- 
spalte enger als die rechte. Augenbindehaut beiderseits stark injiziert. Rechts 
Hornkauttriibung. Altes Trachom massigen Grades. Links starkeres altes 
Narbentrachom, leichte Trichiasis. Pannus trachomatosus, bezw. traumaticus. 
Augen- und Gesichtsmuskulatur ohne Lahmungserscheinungen. An den oberen 
Extremitaten lebhafte Trizepssehnenreflexe, sowie auch Knochenhautreflexe von 
den Vorderarmknochen, besonders rechts. Am rechten Unterarm, besonders am 
Handgelenk, epileptogene Zone, Druck auf dieselbe lost Ohnmacbt 
aus. Kniesehnenreflexe beiderseits sehr lebhaft. Fusssohlenreflexe ohne Be¬ 
sonderheit. An beiden unteren Extremitaten sowie am rechten Unterarm scheint 
Hyperasthesie und Hyperalgesie zu bestehen. Am linken Unterarm vielleicht 
etwas Hypasthesie und Hypalgesie. Sprache und Gang ohne Besonderheit. 
Kein Schwanken bei geschlossenen Augen (Romberg’sches Phanomen). Blase 
und Mastdarm funktionieren. u 

„ Wahrend der 6wochigen Beobachtungszeit zeigte die Angeklagte im 
grossen und ganzon das gleioheBenehmen wie beideMale wahrend des fruheren 
Anstaltsaufenthaltes, nur scheint sie damals mehrfach leidlich richtigeAngaben 
uber ihr Vorleben gemacht zu haben, wahrend sie jetzt angeblich bis auf die 
Zeit von etwa einemJahr alles, was ihre fruherenStraftaten betrifft, vergessen 
hat, dariiber weiter unten. w 

„Ausgesprochene Krampfanfalle sind nur 2 festgestellt worden, am 16. 
und 18. 8. je einer: sie konnten arztlich nicht beobachtet worden. Die 
Warterin des Waohsaals gab folgende Schilderung: 

16. 8. Heute 1 Anfall um 8Y 2 Uhr abends. Pat. sprach vorher unver- 
standliche Worte, streckte beide Arme stramm aus, machte die Hande ab- 
wechselnd auf und zu, machte fortwahrend zuckende Bewegungen mit dem 
gauzen Oberkorper, schiittelte den Kopf, hatte Schaura vorm Mund. Der Anfall 
dauerte 5 Minuten. Pat. zitterte aber noch lange daruach. 

18. 8. Bekam lO 1 /^ Uhr abends einen Anfall, war dabei sehr laut, schrie 
stossweise auf, streckte die Arme krampfhaft von sich. Diesmal kein Schaum 
vorm Mund. Pat. sprach dann viel, aber unverstandlich im Schlaf. u 

Ausserdem wurde „zwangsartiges u Lachen beobachtet. Die ersten Anfalle 
vonLachkrampfenwurden am31.8.beobachtet und folgendermassen geschildert: 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 557 

„1. 9. Hatte gestern Abend dreimal Anfalle von Lachkrarapf. Pat. lachte 
am Tage schon viel bei jeder Gelegenheit. Abends 8 Uhr der erste Anfall: 
Pat. lachte erst laut, allmahiich leiser, wobei das Gesicht ganz entstellt und 
scheinbar steif war. Nachdem der Anfall voriiber war, hatte Pat. eine ganze 
Weile zuckende Bewegungen. Die Augen waren wahrend des Anfalls ge- 
schlossen, die Tranen liefen iiber die Wangen. Pat. wusste am folgendenTage 
nichts von den Anfallen. — Menses.** 

Zwei ahnliche Anfalle wurden arztlicherseits beobachtet, von denen am 
7. 9. einer vom spateren Begutachter selbst: „Naohdem schon eine langere 
Unterredung mit der Frau W. stattgefunden hatte, reagierte sie auf die Frage, 
was nun mit ihr werden solle, damit, dass sie plotzlich gellend zu lachen an¬ 
ting, den Fragenden mit eigenartig maskenartig grinsendem, verzerrtem Ge- 
sichtsausdruck starr ansah, nach etwa 10 Sekunden ganz still wurde und an¬ 
ting, mit den Fingern an ihrem Taschentuch und der abgenommenen Brille 
zwecklos pdiickende und putzende Bewegungen auszufiihren. Sofort befragt, 
weswegen sie so gelacht habe, meinte sie, weil Referent sie so angesehen habe; 
fast unmittelbar darauf nochmals befragt, stellte sie in Abrede, iiberhaupt 
soeben gelacht zu haben. Eine sich dem Anfall anschliessende Verwirrt- 
heit bestand nicht, denn Frau W. konnte richtig angeben, welches Thema Ref. 
vorher mit ihr besprochen hatte, sie sagte ganz richtig, „von der H u . Die 
Pupillenreaktion war nicht sicher zu priifen. u 

„Abgesehen von diesen Anfallen von zwangsartigem Lachen, bei denen 
Frau W. zweifelsohne das Bewusstsein verlor, wurden niemals bei ihr 
Zwangshandlungen beobachtet, auch keine Dammerzustande, nur einmal fiel 
es auf, dass die Angeklagte 2 Tage lang augenscheinlich ein verandertes 
Wesen zeigte. Sie klagte iiber allgemeines Unwohlbefinden, iiber heftige Kopf- 
schmerzen und Ohrensausen und beachtete am nachstenTage, dem 20. 8. ihren 
sie besuchenden Mann, ganz gegen ihre sonstige Art, wenig, was sie am 
folgenden Tage sehr bedauerte. Die Menses traten erst \ l j 2 Wochen nachher 
auf, standen also damit in keinem Zusammenhang. u 

„Spontan machte Frau W. auch nie Angaben fiber Sinnestauschungen, 
sondem berichtete erst auf Befragen, sie hore auf dem reohten Ohre etwas, 
^da ruft immer einer: Therese komml; auch wenn ioh schlafe, wache ich 
schnell auf und kann nicht wieder einschlafen. u Gesiohtstauschungen zu haben, 
stellte sie in Adrede, meinte aber dann, n ich hore Musik nachts, die Ohren 
summon. a Sie selbst konnte nur sehr unsichere Angaben iiber ihre Krankheit 
xnachen, sie erzahlte, dass sie ungefahr seit ihrer Verheiratung an Krampfen 
leide, wie haufig sie diese habe, „weiss ich nicht, ich habe das letzte Jahr gar 
nicht mehr arbeiten diirfen, meine Tochter und Schwester machen alles, ich 
ging nur immer in die frische Luft. u 

„Die Priifung der allgemeinen Kenntnisse ergab ein ganz minder- 
wertiges Resultat. Frau W. beantwortete kaum eine Frage richtig. 

(Wie heisst die Hauptstadt von Deutschland?) ^Schleswig-Holstein.** 
(Das ist doch keine Stadt?) „So habe ich das gelernt.** 

(Wo wohnt der Kaiser?) „ Berlin.** 


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Dr. J. Raecke, 


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(Wie heisst er?) ^Wilhelm. 44 

(Der wievielte?) „Dritte. a 

(An welchem Fluss liegt Hamburg?) „Das ist die See bei Hamburg. Mein 
Mann holt die Segelsohiffe herauf. u 

(Wie heisst die See bei Hamburg?) „Ostsee, da haben wir drin gebadet, 
da sind wir beinahe ertrunken, ioh und meine Tochter. tt 

(Was ist Schnee?) „Das ist weiss. a 

(Was ist Eis?) „Das ist sehr kalt, das friert im Winter und wird kalt. 44 

(Wo kommt Wolle her?) „Das wird gepflanzt, meine Schwiegermutter 
hat das auch gemacht. tf 

(Wo?) „In Hitzaoker. u 

(Was ist Leinen?) „Ja, das macht ja meine Schwiegermutter, das wird 
durchgezogen. u 

(Was' fur Farben gibt es?) „Rot, schwarz, weiss, grun, blau, braun, grau. u 

Dabei fallt auf, dass FrauW. ziemlich unauffallig ihre Umgebung darauf- 
hin ansieht, Kleid ist rot und schwarz, Papiere auf dem Tische weiss, Tisoh- 
decke grun, sieht zum Fenster hinaus, blau, Bucher auf dem Tisch braun 
und grau. 

(Baume?) „Fuchsia, Geranium, Lebensbaum, Rosenb&ume, Aepfel,Birnen, 
Pflaumen, Kirschen, Flieder. u 

(Unterschied zwischen Fluss und Teich?) „Weiss ich nicht. u 

(Was ist die Elbe?) Ein grosses Wasser, viele Schiffe darauf, da fahrt 
mein Mann. 44 

Dor Hochste in Hamburg ist der Burgermeister, der Hochste in Deutsch¬ 
land ist „unser Herr Kaiser. 44 

Nach der Lange eines Meters befragt, meint Frau W. „ihr Mann rechne 
das immer nach seinem Arm, 1 m sei etwa noch einmal so lang 44 . 

Ganz rudimentare Kenntnisse schien die Angeklagte im Rechnen zu 
haben, 8X9 ist 38, 6X7 ist 28, 3X8 ist 27, 21 — 14 ist 16, 137 ist 20. 
Bei einer spateren Rechenpriifung bittet Frau W. sich Papier aus und rechnet 
6X7 foJgendermassen: 7,14,26,32,48,52, also 6X7 ist 52. 2—J—3 -f-5—|—114 
rechnet sie schriftlich erst nach mehreren Fohlern richtig, nimmt dabei, ohne 
es irgendwie autiallig zu machen, die Finger zu Hilfe. 

Bei der Aufgabe, wieviel 3 m Schnur kosten, wenn 1 m 15 Pf. koste, 
schreibt Frau W. 3mal 15 untereinander, addiert zuerst die Zehner, dann die 
Einer und erhalt so das Resultat 3,15 M. Auf Vorhalt verbessert sie sich, es 
seien ja 3 Grosohen, also 3 Groschen, 15 Pf. 5°/o von 100 M. kann sie nicht 
berechnen. Bei einem Multiplikationsezempel entschuldigte sie sich, „ich kann 
iiberhaupt nicht so schnell rechnen, ich muss mir Zeit lassen 44 . 

Ganz im Gegensatz dazu versteht sie mil kleinen Betragen baren Geldes 
ganz gut zu rechnen und addierte mehrfach Silber- und Nickelgeld sofort richtig 
und‘ ging dabei sichtlich mit Eifer und Befriedigung vor; ebenso wusste sie, 
dass 1 Taler 3 M. ist, 1 M. gleioh 10 Groschen, 1 Taler gleich 30 Groschen. 
Sie meint, in den Laden habe sie meist zu wenig Wechselgeld herausbekommen, 
daher sei bei Einkaufen stets ihre Tochter mitgegangen. 44 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Stoning. 559 

Weiter heisst es: „Ins Untersuchungszimmer gefiihrt, setzt sich Frau W. fc 
ruhig auf den Stuhl und gibt dann ruhig Antworten, dabei fallt auf, dass sie 
bei sonst guter Orientiertheit kaum eine zutreffende Antwort gibt. So meint 
sie, sie sei heute schon 5Wochen hier, wahrend es gestem erst 3 Wochen waren. 
Will an einem Mittwoch aufgenommen sein, wahrend es an einem Dienstag 
war. Will jetzt zum 4.Uale hier sein, wahrend es zum 3. Hale ist. Will nicht 
wissen, wie lange sie hier zu bleiben habe, der Mann habe ihr gesagt, nach 
2 Sonntagen werde er sie holen; fugt dann unvermittelt hinzu: „Von meinem 
Manne will ioh mich soheiden lassen! Da will ich nicht wieder hin. w Den 
moge sie nicht mehr leiden, ihr kleiner Junge, der vor einem Jahre gestorben 
sei, habe ihn auch nicht leiden mogen. Wann sie zum ersten Male hier ge- 
wesen sei, wisse sie nicht. „Das war schon lange Jahre her, da habe ich ein 
Baby gehabt, ich glaube es sind 5 Jahre her. tt 

„In ihren Reden macht Frau W. einen etwas eigenartigen Eindruck, sie 
spricht wie ein befangenes geziertes Kind. Will nicht in Pr. Eylau, 
sondern in Kbnigsberg, den 11. Oktober (ihre Schwester) geboren und jetzt 
42 Jahre alt sein. u Wollte die Namen der Aerzte nicht kennen. 

„Behauptet, sie sei noch niemals bestraft. Dabei wird Frau W. nicht 
orregt, sondern bekraftigt in ruhiger Art, es sei wirklich so, wohl sei ihre 
Sch wester bestraft; will aber nicht behaupten, dass ihre Sch wester stets auf 
ihren Namen bestraft sei. Ganz unmotiviert erzahlt sie im Anschluss daran, 
dass ihr Mann sie einmal 3 Wochen eingesperrt, und ihr Onkel aus Danzig 
ihr immer Geld geschickt habe. Auf Yorlesung eines Toils des Strafregisters 
fragt Frau W. *,und das soil ich alles getan haben? u Meint dann nachher zu 
Ref., dann werden Sie mir jetzt auch bos, dann glauben Sie das auch? u Will 
nie in Anklage gewesen sein, wenn in den Akten ihre Unterschrift zu linden 
sei, so wisse sie nicht, wo das herkomme, sie sei nie in einem Gefangnis 
gewesen. 

„Im Kurhaus sei sie einmal gewesen im vergangenen Jahr, sie wisse 
nicht, weswegen man sie hingebracht habe. Auf Befragen, ob sie nicht 
einmal in Stellung gewesen sei, wo Kinder vergiftet waren, bejaht sie, sie 
wisse aber nicht, ob sie damals auch vergiftet sei. Weiss nicht, seit wann 
sie an Kr&mpfen leidet, sie hatte schon lange keine mehr, auch hier hatte sie 
bestimmt noch keine gehabt; ganz unvermittelt fugt sie hinzu: „friiher waren 
immer meine Hiinde kaput, jetzt nicht mehr u , meint nachher, ihr Mann habe 
ihr fruher gesagt, das sei bei den Krampfen entstanden. 

„Nach ihrer Beschaltigung hier befragt, erzahlt sie in kindlichem Tonfall, 
sie lese, wenn die Augen nicht schmerzen, „dann singen wir einmal, gehen 
im Garten spazieren, zu Hause habe ich immer gescheuert." 

„Stellt heute in Abrede, gesagt zu haben, dass sie mit Frl. L. zusammen 
Blusen gestohlen habe. In recht scharfem, erregtem Tone erklart sie es fiir 
Lugen, wenn ihr Mann und ihre Schwester erklart hiitten, sie sei vorbestraft. 
„Das sind alles Lugen, dann steckt mein Mann im Komplott, die mir alles an- 
hangen wollen u . Meint, ihr Mann wolle von ihr loskommen, dann solle er es 
aber offen sagen. Setzt dann hinzu: „Ich maohe meine Treppen immer rein, 


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Dr. J. Raecke, 


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aber wenn andere dort wohnen, mussen sie auch reinmachen. 44 Auf Vorhalt, 
sie sei einmal der Kindsabtreibung angeklagt gewesen, meint Frau W. mit 
bitterem Tonfall „nun wird es aber ganz toll — dann bin ich ja kein Mensch 
mehr. 44 

„Gibt nach momentanem Besinnen zu, im Warenhaus festgehalten zu sein, 
„ja, das ist wahr, ich babe ein Jakett gestohlen, das hat mein Uann bezahlt u , 
sie glaubt, bei dieser Gelegenheit allein gewesen zu sein, sie kdnne die Einzel- 
heiten nicht mehr sagen, es sei ein paar Jahre oder nur ein Jahr her, ihre 
Tochter sei aber bestimmt nicht dabei gewesen. Auf Vorhalt, dass sie Klep* 
tomanie yorgesohiitzt habe, meint Frau W., ja sie wisse nicht, wie es sei, wie 
sie dazu gekommen sei, ibr Mann bringe die Sachen immer zuriick. 

Den Umstand, dass sie jetzt zugebe, sohon mehrfach gestohlen zu haben, 
wahrend sie es sonst immer abgestritten; erklarte sie dadurch, dass bei der 
Frage nach der Angelegenheit im Warenhaus ihr einiges eingefallen sei, „ich 
habe gestohlen, das gebe ich zu, dann muss ich nach dem Gefangnis 44 . Ge- 
sessen will sie aber noch nicht haben. Stellt mit Bestimmtheit in Abrede, ent- 
miindigt zu sein. Wielange und wann sie im A.-Krankenhause war, wisse sie 
nicht, es mogen wohl 3 Jahre her sein. 44 

„AufVorhalt der Jahreszahlen desStrafregisters mein t Frau W.verwundert: 
„Da habe ich ja noch garnicht gelebt 44 , gibt ihr Alter auf 42 Jahre an; sie 
konne es nicht mit den Jahreszahlen zusammenbringen. 44 

„Sie bleibt auch heute dabei, dass die Hauptstadt Deutschlands Schles¬ 
wig-Holstein heisse, das sei eine Stadt. Namen des Flusses bei Hamburg? 
„Wo mein Mann drauf fahrt? Elbe. „Stellt in Abrede, hier erzahlt zu haben, 
dass sie ih* Sofa mit Petroleum angesteckt habe, dazu sei sie mit ihren Sachen 
viel zu eigen. (Tatsachlich hat sie es einer Warterin erzahlt.) Will Frau H. 
zuletzt vor ein paar Jahren gesehen haben, gibt dann nachher zu, sich ver- 
sehen zu haben, es sei wohl zu Plingsten gewesen. 

Auffallend ist die kindliche Art, in der Frau W. allerlei Sachen er¬ 
zahlt, die garnicht zum Gesprach gehoren, ganz ohne Zusammenhang mit dem 
Vorhergehenden teilt sie irgend eine Tatsache mit, z.B. wenn von Frau H. die 
Rede ist, erzahlt sie plotzlich unvermittelt, dass diese ihr noch ein Kleid zu 
geben habe usw., ganz lockere assoziative Verbindungen. Dabei ist die Satz- 
bildung auffallend ungewandt, FrauW. bedient sich fast nur kurzer Hauptsatze 
Oder Satzrudimente. 

Kennt die Vornamen, Rufnamen der mit ihr in Beriihrung kommenden 
Warterinnen, auch die der mehr fur den Verkehr in Betracht kommenden 
Kranken. 

Will nicht wissen, zu welchem Zweck sie hier sei, der Mann habe sie 
mit List hergebracht, ihr dann gesagt, sie solle von Ref. untersucht werden 
„das kann ich mir nicht klar machen, was habe ich denn mit dem Gericht 
zu tun?* 

Auf Vorhalt, dass sie und Frau H. wegen Betrugs gegen Sch. angeklagt 
seien, meint Frau W., das sei ganz falsch ausgelegt, Sch. habe sie aufgefordert 
auszusagen, dass sie jemanden bei seiner Frau gesehen haben. E. bezeichnet 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 


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sie als „der das Milcbgeschaft hat, den Namen habe ich vergessen u . Erinnert 
sich auch, Sch. babe sie aufgefordert zu sagen, dass sie seine Fran in der 
Wohnung bei der fremden Logiswirtin getroffen habe, das sei aber garnicht 
war, dass sie sie dort geseben habe. Der Konditor Scb. (Name verstiimmelt) 
habe ihr ein grosses Papier vorgelegt, oder es sei der Onkel gewesen, da habe 
sie Therese W. nnterschreiben miissen, sie habe garnioht gewnsst, was darin 
stand; bleibt bei dor Auffassung, dass sie das nnterschreiben musse, was man 
ihr vorlege, ,ja ich musste das dooh unterschreiben w . Auf Vorhalt, dann sei 
ja Sch. der Schlechte, meint Fran W., ja aber die II. sei anch schlecht, habe 
ihr Geld fortgenommen, auch einmal Glasscheiben in der Haustur eingeschlagen, 
weil sie Fran W. habe schlagen wollen, als sie sich weigerte ausznsagen, dass 
die Frau mit dem Mann, „der das Milchgeschaft hat u , im Bett gelegen hat; 
FranW. setzt unvermittelt hinzn „ich habe nie geschlagen und nie geschimpft“. 

Sie will von Herrn Sch. oder dessen Onkel 1500 M. bekommen haben, 
aber wieder abgegeben haben; die 300 M. habe Fran H. erhalten, sie habe sagen 
sollen, sie hatte gesehen, wie Fran Soh. mit einem Manne, „der ein Milchge¬ 
schaft habe tt , der Name sei ihr entfallen, verkehrt habe; bei der Erzahlung 
benimmt sich Frau W. wie ein Backfisch, zupft am Taschentuch „das kann 
ich garnicht sagen — sie haben sich ausgezogen — znsammen — im Bett ge¬ 
legen 44 . Fran H. habe sie beauftragt, das zn sagen, aber sie habe es nicht 
getan; wenn sie es tate, habe ihr Sch. 1500 M. versprochen. 

Zu bemerken ist noch, dass eine der mit Frau W. in einem Zimmer 
wohnenden Kranken, die als absolnt zuverlassig angeseben werden muss, sich 
dahin ausserte, sie hatte anch einige Male bemerkt, dass Frau W. krampfhaft 
gelacht und dabei ganz starr ansgesehen habe, sonst hatten sie sich ganz nett 
mit einander unterhalten; es sei ihr aber aufgefallen, dass Frau W. ein sehr 
schlechtes Gedachtnis, Personcngedachtnis, habe. 

Menses hatte die Angeklagte wahrend des 6 wochigen Aufenthaltes in der 
Anstalt 2 mal, das eine mal ohne besoudere Erscheinnngen. Im anschliessen- 
den Gutachten, das der obige Referent erstattete, ward ansgefiihrt, dass die 
W. seit ihrem 15. Lebensjahre mit Sicherheit an Krampfen leide: „Auch jetzt 
konnten Anfalle zweierlei Art bei der Angcklagten festgestellt werden, 2Krampf- 
anfalle und mehrere Lachanfalle mit Bewusstseinsverlust; erstere traten inner- 
halb 2 Tagen ohne erkennbare Ursache auf, beide des Abends, sie wnrden von 
der wachenden Warterin in der im 2. Teil des Gutachtens referierten Weise 
beschrieben; die Lachanfalle warden erst nach 4 wochigem Anfenthalte der 
Angeklagten in der Anstalt beobaohtet und standen zeitlioh im Zusammenhang 
mit dem Anftreten der Menstruation; es fiel auf, dass Fran W. ein eigenartig 
lautes gellendes Laoben anschlug, wenn irgend etwas Heiteres passierte oder 
gesagt wurde, im Anschluss daran verlor sie augenscheinlich mitunter das Be- 
wusstsein und es zeigten sich Reizungen der motorischen Tatigkeit, Steifheit, 
Zittern usw., dieses Zwangslachen trat aber mitunter auch ohne normalen, ver- 
standlichen Anlass auf und von diesen Aufallcn konnten 2 arztlicherseits be¬ 
obaohtet werden, der eine vomRef. selbst; er ist ebenfalls im 2.Teil beschrieben; 
das plotzliche Anftreten und ebenso plotzliche Abklingen, die Starre des Ge- 


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Dr. J. Raecke, 


sichts, die zwecklosen putzenden und pfidckenden Bewegungen der Finger, die 
Gedachtnisliicke fur den Anfall, die augensoheinlich nicht markiert war, das 
alles spricht, abgesehen von dem zwingenden subjektiven Eindruck mit 
Sicberheit dafiir, dass die Angeklagte tatsachlich an einer Krankheit leidet, 
die in Anfallen von Bewusstlosigkeit und Krampferscbeinungen ihren ausseren 
Ausdruck findet. Es ist diese Krankheit 1883 im Krankenhause far Hysterie 
gehalten worden, ich mochte mich den zahlreicben friiheren Gutachten an- 
schliessen und die Krankheit der Angeklagten ins Gebiet der Epilepsie weisen. 
Von diesem Gesicbtspunkt aus verdient auch die sioh fiber 2 Tage hinziebende 
primare Verstimmung der Angeklagten eine Beriicksichtigung als eine haofig 
beobachtete Erscheinung im Krankheitsbilde der Epilepsie. 

Frau W. fiel durch ihr verandertes Wesen dem Wartepersonal auf, sie 
klagte iiber allerlei Beschwerden, war miirrisch auch gegen den am folgendcn 
Tage zum Besuch erscheinenden Ebemann. Ein erkennbarer Anlass bestand 
nicht, auch mit der Menstruation hatte dieser Zustand nichts zu tan. 

Niemals beobachtet wurden wahrend des sechswocbigen Aufenthaltes in 
der Anstalt bei der Angeklagten langer dauernde Verwirrtheits- oder Dammer- 
zustande, auch abgesehen davon ist aus allem, was die Angeklagte erzahlte 
und aus dem Anklagematerial mit Sicberheit auszuschliessen, dass bei der 
Begehung der strafbaren Handlungen epileptische Dammerzustande eine Roll© 
gespielt haben. 

Die Diagnose Epilepsie, die die zahlreichen Gutachter aus den friiheren 
Jahren fur erwiesen erachten, muss ich auch Herrn Dr. C. gegenuber aufrecht 
erhalten. Herr Dr. C. hat allerdings zu Anfang dieses Jahres die Angeklagte 
fiir eine Hysterika gehalten, ich mochte dazu nur bemerken, dass es nicht auf- 
fallen kann, dass Frau W. im Krankenhause in A. keine Anfalle gehabt hat, 
sie war nur 2 Wochen dort und auch hier in F. trat der erste Anfall erst am 
16. Tage der Beobachtung auf, die mit Lachanfallen verbundenen Absenzen 
erst nach 4 Wochen; diese Anfalle waren aber zweifelsohne epileptischer 
Natur. 

Mit der Diagnose Epilepsie ist nun selbstverstandlich an sich noch nicht 
gesagt, dass die Bedingungen vorliegen, die die Anwendung des §51 St.G. B. 
berechtigt erscheinen lassen. Ich habe auch keine Anhaltspunkte gefunden, 
urn die strafbaren Handlungen mit prae- oder postepileptischen psychischen 
Veranderungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Anfallen stehen, 
in Verbindung zu bringen. 

# Es handelt sich aber weiter um die Frage, ob die allgemeine geistige 
Verfassung der Frau W. so hochgradig krankhaft gestort ist, dass die Auf- 
fassung der friiheren fautaohten zu Recht bestehen bleiben muss. Die Beur- 
teilung wird nun in hohem Masse dadurch erschwert, dass Frau W. zweifellos 
iibertreibt und liigt, ob aus eigenem Antrieb oder ob dazu von anderer Seite 
veranlasst, ist nicht festzustellen. Diese Unzuverlassigkeit ihrer Angaben hat 
wohl auch Herrn Dr. C. mit dazu veranlasst, die auch von ihm festgestellte 
geistige Schwache der Angeklagten fur nicht hochgradig genug zu halten, um 
den § 51 St. G. B. als vorliegend zu erachten. 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 563 

Waren alle Angaben der Fraa W. glaabwurdig, so wurden sie einen der- 
artigen hohen Grad von Storung auf alien Gebieten der Geistestatigkeit be- 
weisen, dass ein Zweifel daruber, wie sie zu beurteilen ist, garnioht entstehen 
konnte. Uan mag aber die berechtigte Skepsis noch so weit treiben, es 
bleiben doch so viele positive Momente iibrig, die das psychische Bild der An- 
geklagten so weit von dem abweichen lassen, was nooh als normal bezeichnet 
werden kann, dass meines Erachtens der § 51 St. G. B. gegeben und kein An- 
lass vorliegt, von den Soblussfolgerungen der fruheren Gutachter abzugehen. 
Im Folgenden muss ioh naher darauf eingehen. 

Absehen mochte ich von dem zu Tage tVetenden Mangel an den aller- 
gewohnlichsten Kenntnissen allgemeiner Natur; so kurz und prazise gestellte 
Fragen lassen sich ja sehr leicht auch mit Absicht unsinnig odor falsch be- 
antworten. Aber auffallend war mir die Art und Weise, in der Frau W. die 
Antworten gab, auch in alien spateren Unterredungen; sie sprach oft geradezu 
in baokfisohartig gezierter Weise, dabei vermochte sie kaum einen wirklich 
ordentlichen Satz zu formulieren und brachte mitten hinein immer wieder ganz 
heterogene Dinge in ganz loser Ideenassoziation; ferner fiel dabei eine grosse 
Stereotypie der Antworten auf, z. B. fragte ich zu 3 verschiedenen Gelegen- 
heiten die Angeklagte, woher Wolle stamme, und jedes Mai folgte wortlioh auf 
die an sich schon falsche Antwort der Nachsatz, dass ihre Mutter auf die und 
die Art auoh schon Wolle geerntet habe. 

Im Vordergrunde der deutlichen scheinbaren Storungen stand der ganz- 
liche Verfall des Gedachtnisses: wenn Frau W. behauptete, sie sei noch nie 
bestraft, babe noch nie im Gefangnis gesessen, so erscheint mir ein Erinnerungs- 
defekt in dieser Ausdehnung nicht glaubhaft, auf gleicher Stufe stehen augen- 
scheinlicb zahlreiohe der im 2. Teil des Gutachtens besohriebenen Aussagen 
der Angeklagten, aber auch hier muss auffallen, dass die Angeklagte uber 
manche Perioden des fruheren Lebens doch noch Angaben, wenn auch lucken- 
hafte, maohte. Mitunter wurden diese geradezu phantastisch, dazu rechne ich 
auch die 2 mal in den Akten festgelegte Aussage der Angeklagten, sie sei nur 
einmal vorbestraft mit 7 Jahren Zuchthaus wegen Brandstiftung. Es haben 
mir allerdings nicht alle Akten, die liber die Angeklagte im Laufe der Jahre 
erwachsen sind, zur Verfugung gestellt werden konnen, aber das steht fest, 
dass die Angabe betr. 7 Jahre Zuchthaus wegen Brandstiftung absolut unwahr 
ist, wahrend Frau W. noch ofter in Anklage gestanden hat, als ich in vor- 
liegenden Gutachten aktenmassig habe verarbeiten konnen. Die zweimalige 
gleichlautende Aussage vermag ioh nicht zu erklaren, es ware aber nicht un- 
moglich, dass sie nicht unter die ganz bewussten Unwahrheiten zu zahlen ist. 
Die ganze Art und Weise des Verhaltens der Angeklagten ist gelegentlich 
einem Richter schon als sicher nicht normal aufgefallen. 

Eine Bestatigung fur das Vorhandensein eines wirklich sehr schlechten 
Gedachtnisses war mir die Angabe einer kranken Dame, an deren absoluten 
Zuverlassigkeit ich keinen Augenblick zweifle; sie erzahlte auf vorsichtiges 
Fragen hin, dass sie mit Frau W. ganz nett verkehrt habe, diese litte aller¬ 
dings an Anfallen und hatte ein auffallend schlechtes Gedacbtnis, Namen- 


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Dr. J. Raecke, 


gedachtnis. Dafar sprach ferner nooh die absolute Unfahigkeit der Angeklagten, 
die Namen Sch. und E. zu behalten, der erstere war stets „der Konditor a , der 
zweito „der Mann, der das Milchgeschaft hat u . Diese Umschreibungen er* 
folgten absolut prompt und stereotyp, und auf gelegentlich einmal erfolgtes 
Drangen, den wirklichen Namen des Konditors zu nennen, bracbte sie ihn ver- 
stiimmelt vor. Der Name der H. hat der Angeklagten nie gefehlt. 

Sehr skeptisch zu beurteilen sind naturlioh die total negativen Ergeb- 
nisse bei jeder Priifung auf Rechenkiinste. Frau W. versagte effektiv bei jedem 
nooh so kleinen Versuch und auch diese negativen Ergebnisse hatte ich wohl 
zum grossten Teil der Absicht einer Tauschung zugeschricben, wenn nicht 
ganz im Gegensatz zu diesem Manko Frau W. mit barem Geld ganz leidlich 
gerechnet hatte: ich habe sie mehrmals Silber- und Nickelgeld zusammen- 
zahlen lassen und sie machto sich augenscheinlich mit Eifer an die Aufgabe 
und teilte mit Befriedigung das stets richtige Resultat mit. Diese Inkongruenz 
scheint mir daher doch dafiir zu sprechen, dass ihre Fahigkeiten, im Kopf oder 
auf Papier zu rechnen, tatsachlich hochst minderwertige sind, es lasst sich 
darauf wohl gut der Satz von Prof. Kraepelin anwenden „die begrifflichen 
Gedankengange treten zuriick gegeniiber dem Greifbaren, Alltaglichen“. Aehn- 
lioh zu beurteilen ist es auch, wenn die Angeklagte auf die AulTorderung bin, 
Farben zu nennen, keine einzige „aus dem Kopf u nannte, sondern ganz un- 
auffallig ihre ganze Umgebung ansieht und deren Farben nennt, rot und schwarz 
ihr Kleid, grim die Tischdecke usw., schliesslich bratm und grau die Biicher- 
einbande. Auch hier war es augenfallig, wie die Angeklagte begrifflich nicht 
geniigend denken konnte, urn eine Anzahl Farben zu nennen, sondern erst auf 
Grund sinnfalliger, direkter konkreter Beobachtung dazu imstande war. 

Ich muss zum Schluss noch betonen, dass meiner Ansieht nach garnicht 
alle falschen Angaben der Angeklagten als bewussterweise zum Zweck der 
Tauschung gemacht anzusehen sind; ganz abgesehen davon, dass Epileptiker 
iiberhaupt gern in krankhafter Weise liigen und iibertreiben, so ist in diesem 
Falle eine genaue Scheidung zwischen dem, was bewusste Liige, und dem, was 
wirkliches Nichtwissen oder Falschwisson ist, ganz unmoglich, die Grenze liegt 
meines Erachtens aber weit im Pathologischen. 

Ich fasse kurz zusammen: Frau W. entstammt einer schwer degenerierten 
und zu Straftaten geneigten Familie, mit Eintritt der Pubertat treten bei ihr 
die ersten abnormen Erscheinungen auf, sie leidet an Krampfen und beginnt 
von der Zeit an ein Leben, das sie fast ununterbroohen mit den Strafgesetzen 
in Konfiikt bringt; zweimal wird sie der Irrenanstalt uberwiesen, zahlreiche 
Male von verschiedenen Gutachtern fiir geisteskrank erklart und deshalb nicht 
bestraft, schliesslich der Irrenanstalt zu einer erneuten Beobachtung uberwiesen. 
Das Ergebnis dieser Beobachtung fasse ich dahin zusammen: Frau W. leidet 
ganz zweifellos an einer schweren Kratikheit, die sich in der t Form von epi- 
leptischen Anfallen aussert, die arztlioherseits beobachtet worden sind. Im 
Zusammenhang mit dieser Krankheit steht eine so hochgradige krankhafte Ver- 
anderung der psychischen Funktionen, dass die Angeklagte als krank im Sinne 
des § 51 St. G. B. anzusehen ist. w 


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Nach ihrer auf Grund dieses Gutachtens abermals erfolgten Freispreohung 
befand sich die W. wieder langere Zeit auf freiem Fusse und wurde von Krimi- 
nalbeamten vergeblich gesucht. Endlich gelang ibre Fostnahme. Am 20. 2. 
1906 wurde sie der Kieler Nervenklinik zugefiihrt: Ihr Mann und sie hatten 
gegen die Einlieferung protestiert, doch war von dem Regierungsprasidenten 
der Protest verworfen worden. 

Die korperlicho Untersuchung ergab folgenden Befund: 39jahrige Frau 
von 1,68 m Grosse, 76 kg Gewicht, kraftigem Knochenbau, guter Muskulatur, 
und Ernahrung, 37,3 Temperatur. Ueber der linken Augenbraue horizontal 
verlaufende kleine Narbe, ebenso am linken ausseren Augenwinkel, beide ver- 
sohieblich, nicht druckempfindlich. Schadel frei von Druckpunkten. Linke 
Lidspalte kleiner als die rechte, beide Lider links der Wimpem beraubt. Altes 
Narbentrachora. Sehlocher untermittolweit, links enger, rund, verengem sich 
gut bei Belichtung und Einwartssehen. Augenbewegungen frei. Gesicht gleich- 
massig bewegt. Zunge weicht Spur nach rechts ab, zittert leicht, frei von 
Narben. Schlechtes Gebiss. Rachenreflex erhalten. Gaumonbogen gleichmassig 
gehoben. Hande zittern, zeigen beiderseits kraftigen Druck. SehnenreQexe der 
Arme lebhaft. Ausgesprochenes Nachroten. Bauchdeckenreflexe fehlen. Gang 
sicher. Kein Schwanken bei Fuss- und Augenschluss. Kniescheiben- und 
Achiliessehnenreflexe lebhaft. Zehenrefloxe regelrecht. Tast- und 
Schmerzempfindung ungestort. Herzdampfung nicht vergrossert. Tone laut, 
rein. Puls 72, regelmassig, von mittlerer Spannung und Fiillung. Arterien- 
wande weich. Lungen ohne besonderen Befund. Bauchorgane regelrecht. 
Zahlreiche Striae. Urin frei von Eiweiss und Zucker. 

Oertlich und zeitlich vollkommen orientiert. Fiihlt sich nicht krank. Sei 
hier ihrer Meinung nach, um auf ihren Geisteszustand untersucht zu werden. 
Sie habe 1905 in der Anstalt F. „simuliert a , sei 1904 auf schwindelhafte Aus- 
sagen, die sie dem Geriohtsarzte gemacht habe, entmundigt worden. 

Yon Geistes- und Nervenkrankheiten in ihrer Familie wisse sie nicbts. 
Schon als Kind sei sie von der Mutter zum Stehlen angehalten worden. Sie 
sei dannmehrfach wegen Dicbstahls mit Gefangnis und einmal wegen Kuppelei, 
verubt an ihrer jiingsten Tochter, mit Zuchthaus bestraft worden. Schwestern 
von ihr seien ebenfalls mit Zuchthaus bestraft, trieben sich als Kontrolldirnen 
herum; 1 Schwester sei verheiratet und unbestraft. 

Sie selbst habe in der Schule wenig gelernt, weil sie wegen hauflgen 
Augenleidens viel gefehlt habe. Trotzdem seien ihre Zeugnisse gut gewesen. 
Als kleines Kind Keuchhusten, mit 12 Jahren Diphtheritis. In der Schule habe 
sie nie etwas weggenommen. Sie habe auf Befehl der Mutter vom Obstmarkt 
Waren gestohlen, sei nie dabei gefasst worden. 

Nach Konfirmation als Dienstmadchen in Stelluog, habe sich gutgefiihrt, 
war 8 / 4 Jahr in der ersten Stellung, kam dann zum Kaufmann A., wo 5 Kinder 
waren. Am Sonnabend trat sie den Dienst an, am Sonntag ging die Herrschaft 
aus. Sie spielte mit den Kindern und brachte sie zu Bett. Als die Herrschaft 
wiederkam, musste sie aus festem Schlaf geweckt werden. — Sie hatte sich, 
wie sie meint, aufs Bett gelegt. — 2 Kinder wurden tot aufgefunden. Nach 


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566 


Dr. J. Raecke, 

einigen Tagen Erbrechen bei Pat., kam ins Krankenhaus, wusste nicht, wes- 
halb. Hier sei der Hagen mehrfach ausgepumpt worden, bekam Medizin, blieb 
x / 4 Jahr dort. In dieser Zeit Anfalle, angeblich infolge des Schrecks und des 
Magenspiilens, jedesmal, wenn sie sich argerte. Merkte nicht, wenn ein Anfall 
kam, wurde nur rot, manchmal schwindlig; legte sich dann hin, weil sie 
wusste, dass ihr etwas bevorstand. Dann Krampfe, kein Zungenbiss, kein Ein- 
nassen, zweimal Verletzung im Gesicht, einmal am Fuss durch Verbruhung mit 
Wasser, weil sie vom Anfall iiberrascbt wurde. Wisse nichts von Zuckungen. 
Anfalle in Zwischenraumen von 1—4 Woohen, manchmal auch in Pausen von 
*/ 2 Jahr, von 1884 an. Seit jetzt 13 Jahren frei von Anfallen! 

1884 Heirat mit 16 Jahren. Gluckliche Ehe. Vor jetzt 4 Jahren Eh© 
gebrochen; der Mann bestraft, weil er den Einwohner, mit dem sie geschlecht- 
lich verkehrte, priigelte, mit 3 Wochen Gefangnis; Dauer des geschlechtlichen 
Verkehrs mit dem Einwohner */ 4 Jahr. 

1885 wegen Korperverletzung mit 10 M. Geldstrafe und 2 Tage Gefangnis; 
Streit mit denNachbarn, welche angeblich die Geschwister der Pat. geschlagen 
hatten, und Priigelei, Pat. sei unschuldig gewesen, die anderen hatten erst 
geschlagen. 

1886 wegen Korperverletzung 1 Monat Gefangnis: Schlagerei mit den- 
selben Nachbarinnen und einem Ehemanne, wieder wegen der Schwestem. 
Schlagerei auf dem Boden. Berufung beim Oberlandesgericht Kiel, bekam die 
Strafe erlassen; sie sei wohl als sehr jung befunden worden. 

1886 gleichfalls bestraft wegen Betrugs mit 3 Tagen Gefangnis. Habe 
die Schneiderin um den Macherlohn fur ein Kleid betrogen, weil die Sohneiderin 
das Kleid so schlecht gemacht hatte und Pat. selbst zu jung war, um sich die 
Sache zu iiberlegen. Ihr Mann habe sie dafiir geschlagen. 

1888 Betrug, Unterschlagung und Korperverletzung: 6Wochen Gefangnis. 
Strafe abgesessen. Hatte einen Grunladen eingerichtet. Das Geschaft wollte 
nicht gehen, sie besohloss mit ihren Sachen auszuriicken. Wurde dem Haus- 
herrn gemeldet, dieser erschien und es gab eine allgemeine Schlagerei. Ferner 
Uhr auf Teilzahlung genommen, dann versetzt. 

Im selben Jahre vom Schoffengericht wegen Diebstahls 4 Wochen Ge¬ 
fangnis. Hatten sich ein Zimmer gemietet bei der Inhaberin eines Geschafts, 
der sie halfen. Pat. stahl dieser eine goldene Uhr. Sagt als Grund: Der 
Mann war krank, hatte keine Krankenkasse, sie hatten nicht wohnen bleiben 
konnen, wenn sie nicht die Miete bezahlten. 

1889 wegen Hehlerei 6 Monate Gefangnis. Sass davon 6 Wochen &b, 
wurde wegen Schwangerschaft und Krampfanfallen vor der Zeit entlassen. 
Hatte sich in G.mit einem Madchen angefreundet, besorgte dieser eine Stellung, 
diese stahl und gab ihr davon ab. Sie hatte es gar nicht notig. Ihr Mann 
hatte gute Stellung, die geschenkten Esswaren habe sie sogar weggeworfen. 
Ihre eigene Schwester habe sie angezeigt. Wisse nicht, weshalb sie die Sachen 
angonommen hatte, habe keine Entschuldigung. 

13 Geburten in der Zeit von 1885 bis 1902, ausserdem mehrere Fehl- 
geburten. 1 Tochter, jetzt 14 Jahre alt, am Leben. Von den 13 Geburten 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Stoning. 567 

10 Totgeburten; von den anderen 1 im Alter von mehreren Stunden an Lebens- 
schwaohe gestorben, 1 mit 3y 2 Jahren an Knoohentuberkulose und Lungen- 
erweiterung. Alio Geburten schwer, moist Querlage. 3 Kinder totgemeisselt, 
die ubrigen Steissgeburten. Leugnet, sicb jemals selbst die Frucht abgetrieben 
zu baben. 

1891 wegen Betrugs 6Monate Gefangnis abgesessen: Hatte Uhr auf Teil- 
zablung genommen und versetzt. Wegen Schwangerscbaft vorzeitig entlassen. 
Gibt als Grund der Tat an, es sei ihr schlecht gegangen. 

1893 Ladendiebstabl. Will erst nicbts von da wissen, sagt dann, sie babe 
bei einem Herrn B. unter falschem Namen Sachen gekauft. Wurde fur geistes- 
krank erklart. Kein Termin. 

Behauptet, ihre friiheren Angaben und Entschuldigungen mit Nerven- 
und Geistesschwache, als ob sie zu Zeiten des Unwohlseins und der Anfalle 
unsinniges Zeug zusammen kaufe, seien nicbt wahr gewesen. Das babe 
sie nur so gesagt, um frei zu kommen. Jetzt wolle sie vom Irren- 
hause freikommen. Sie habe die Tragweite ihrer friiheren Ausreden nicht 
uberblickt. 

Erzahlt plotzlich wieder eine Geschicbte, nach der sie in einen Laden- 
diebstahl ihrer Mutter und Schwester mitverwickelt wurde. Der Physikus habe 
sie damals untersucht. Meint dann, die Sache sei wohl 1896 gewesen. Sie 
hatte damals ein Unterleibsleiden vom Wocbenbett her, kam ins Krankenhaus 
und dann in die Irrenanstalt zur Beobaohtung. Wurde von dort wieder 
entlassen. 

1901 Anklage wegen Betrugs, Kurpfuscberei und Abtreibung: Sie legte 
Karten, bekam dadurch Feinde. Massierte 2 altere Damen we^en Rheumatismus 
in den Beinen, das sei als Kurpfuscherei ausgelegt worden. Auoh wurde 
gesagt, sie habe sich selbst ein Kind abgetrieben, sie sei aber gar nicht 
schwanger gewesen. Wurde verhaftet. Ein Arzt hielt sie nicht fur geistes-, 
krank. Auf Veranlassung von Dr. W. kam sie in die Irrenanstalt und entwioh 
nach 4 Wochen, weil sie sich schwanger fuhlte; lief zu ihrem Ehemanne. 
Dr. Sch. untersuchte sie dort; man liess sie auf freiem Fuss. 

1902—1903 Kuppelei-Sache: Da sie eine grosse Wohnung hatten, ver- 
mieteten sie an Madchen, die vom Geschlechtsverkehr lebten. Ihr Mann bekam 
6 Wochen. Sie wurde auf Veranlassung von Dr. Sch. als geisteskrank frei- 
gesproohen. Sagt, sie habe sich nur durch Verbrechen aus der Not helfen 
wollen. Geisteskrank sei sie nicht gewesen. 

Einmal habe sie in verschiedenen Geschaften Waren genommen und diese 
versetzt. Dem Dr. Sch. habe sie mit Willen sinnlose Antworten ge- 
geben. So habe sie ihm von Brandstiftung und einer abgesessenen 7jahrigen 
Zuchtbausstrafe gesprochen, um etwas zu sagen. 

Juni 1903 sei ihr eine auf Abzahlung genommene Uhr, die sie versetzen 
wollte, gestoblen worden. Ihr Mann habe Anzeige ersiattet. Sie sei dann vom 
Kaufmann N. verklagt, aber als geisteskrank freigesprochen worden. Der Ge- 
richtsarzt Dr. N. uptersuohte sie in ihrer Wohnung und schlug dem Manne 
Entmundigung vor, damit sie mit den Gerichten nichts mehr zu tun habe. 


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568 Dr. J. Raecke, 

1903 Klage oines Instrumentenmachers Sch.: Hatte 1900 ein Klavier auf 
Miete genommen und sollte es versetzt haben. Sie habe damals ^mit .Willen 
viel Unsinn gequatscht 44 von Versetzen, Abzahlen von Geigen, Spiel- 
klavieren usw. Sie wollte geisteskrank erscheinen. Wurde „nach § 51 u 
freigesprochen. 

10. 5. 1904 sei sie entmiindigt worden. Ein Uhrmacher R. wurde Vormund, 
Gegenvormund ihr Uann. Betont, sie habe sich nicht entmiindigen lassen, am 
neue,Straftaten zu veriiben, sondern um von alten Sachen freizukommen, sie 
hatte nooh viele Strafen vor sich wegen Kuppelei usw. 

Jetzt denke sie anders. Wenn sie auch zehn Jahre Zuchthaus absitzen 
miisse, so wolle sie das lieber, als unter kranken Leuten sein. Wenu sie ihre 
Strafe absitze, bekomme sie auch ihre Ruhe und ihren Frieden ,wieder. Dann 
habe sie gesuhnt, was sie verbrochen habe. 

Auf Aufforderung zeigt sie, wie sie ihre „Anfalle w aufWunsch bekommen 
habe: Streckt sich im Bette, Kopf etwas nach hinten, verdreht die Augen, macht 
Schuttelbewegungen mit Armen und Beinen. 

Am 21. 2. zur Behandiung des Trachoms in die Augenklinik verlegt. Am 
19. 4. von dort wieder zuriick. Hatte sich die ganze Zeit durchaus geordnet 
betragen, keine Anfalle gehabt. Eine geistig gesunde Patientin, die dort Bett 
an Bett mit ihr gelegen hatte und sie spater besuchte, erzahlte, die Frau W. 
habe nur liber ihre Augenkrankheit mit ihr gesprochen, fiber ihre eigenen An- 
gelegenheiten nicht, habe nur gesagt, sie sei in derNervenklinik, um elektrisiert 
zu werden. Sie habe der W. nie etwas Besonderes angemerkt. 

22. 4. Ruhig, willig, ' gleichmassig freundlich, beschaftigt sich fleissig, 
kehrt von einem Urlaub nach Hause freiwillig zuriiok. Erklart, ihre Absioht 
sei, hier fur gesund erklart zu werden. Es sei nicht wahr, dass sie ihreTochter 
zum Bosen verleitet habe, sie wolle diese rein halten und biissen, was sie ver¬ 
brochen habe. Boim Urlaub sei sie zum Abendmahl gegangen und habe das 
Grab ihres kleinen Sohnes auf dem Friedhof besucht. 

Ueber ihre frfiherenKrampfanfalle gibt sie an, sie habe diese stets Abends 
gemacht, wenn keine Aerzte da waren; dann batten die Warterinnen es in 
die Bucher eingesohrieben. 

27. 4. Hilft eifrig bei der Hausarbeit, andauernd ruhig und geordnet. 
Gibt auf Befragen klar und sachgemass Antworten. Weiss ziemlich genaa die 
Daten ihrer Vorgeschichte. 

1. 5. Ausser gelegentlichem Brennen in den Augen keine Beschwerden. 
Fortgesetzt gleichmassig willig und heiter, vollig geordnet. 

6. 5. Sagt auf Befragen, Ende 1904 sei die Anklage wegen Kuppelei ge- 
wesen, der Mann war auch verklagt. Nicht bestiaft auf Gutachten von Dr. 
Sch. hin. 1905 Vernehmung in Sachen der H. vor dem Untersuchungsrichter. 
Leistete nicht den von Frau H. verlangten Meineid. Hatte 300 M. dafiir er- 
halten. Wegen dieser Sache nach Irrenanstalt zur Beobachtung. Machte 
dort den Pflegerinnen Anfalle vor, 3mal. Oefter absichtlich sehr ge- 
lacht. Auch in Gegenwart des Arztes. Habe sich so verhalten, wie eine 
Kranke sei. Habe es an anderen Kranken gesehen, habe auch viele Krampf- 


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anfalle gesehen. Schildert das selbst: „Sohreien auf, kriegen Schaum vor 
dem Mund, schlagen hin, spreohen wirr, wenn sie so aufkommen, sind sie den 
Tag noch nicht zu gebrauohen, sind matt u . 

Sei von der Irrenanstalt am 12. 9. 1905 entlassen worden, war za Hause 
beim Manne, hatte Stellen als Reinmachefrau and ging zar AushiKe. Im No¬ 
vember kam ein Schutzmann in die Wohnang and frug, ob die Fraa W. mit 
ibrer Tochter bei ihrem Manne sei. Sie sagte: Das bin ich ja selber! Am an- 
deren Tage ging der Mann auf die Polizei, was das bedeuten solle. Bekam 
keine richtige Auskunft. 14 Tage spater kamen Schutzleute and wollten sie 
abholen. Fragten nach der W. Sie sagte, Frau W. sei nach Danzig, sie sei 
nur die Schwester. Darauf gingen jene. Dieselbe Woche kamen Kriminal* 
schutzleute morgens nach 6 Ubr, sie versteokte sioh im Kleiderschranke. Die 
Tochter sagte, die Matter sei in Danzig. Sie wurde nicht gefunden, blieb bis 
zum 31. 1. 1906 unbehelligt. Ging nicht aus der Wohnung. Die Nachbarn 
meinten, sie sei in derAugenklinik. Schliesslich wurde sie von ihrer Schwester 
angezeigt, auf dem Markte einen Korb Birnen gestohlen zu haben. Gntschloss 
sich nun, der eingehenden und vom Manne angenommenen Vorladung nachzu- 
kommen. Bei der Verhandluug soli sich ihre Unschuld herausgesteilt haben. 
Dagegen ward nun die Kriminalpolizei benachrichtigt, angeblioh wieder von 
der Schwester, sie sei da. Ein Beamter erschien und nahm sie fest. Trotz 
ibres Protestes erfolgte die Ueberfuhrung nach der Nervenklinik in Kiel. Die 
betreffende Schwester sei jetzt mit ihrem Zuhalter fliiohtig nach England. 

Erzfihlt dieses alles ruhig und gebrdnet, verfiigt gut fiber die versohie- 
denen Daten, bleibt bei der Sache, schweift nicht ab, antwortet auch saohge- 
mass auf Zwischenfragen. 

11. 5. Dauernd sehr fleissig, vertragt sich gut mit den anderen 
Kranken. 

25. 5. Andauernd ruhig und geordnet, arbeitet fleissig . Korrespondiert 
mit ihrem Manne wegen ernes Gesuchs um Entlassung aus der Klinik. Zeigt 
Einsioht and Verstandnis fur ihre Lage, sucht mit Geschick einen Ausweg aus 
dersolben. Weint einmal nach Besuch des Mannes, sonst stets gleichmassige 
Stimmung. Keinerlei Anfalle. Keine Auffalligkeiten. 

2. 6. Gibt ihre Personalien stets riohtig an, ohne zu zogern. 

(Wie alt?) „38 Jahre u . 

(Wann geboren?) „1867, 10. Dezember u . 

(Wie heissen Eltern?) „Vater Rudolf Ferdinand N.; Matter Christine K. u 

(Wann gestorben?) „Mutter 1902 im April, der Vater ist 10 Jahre tot w . 

(Geschwister?) Die alteste Schwester Auguste K., geschieden von ihrem 
Manne, ist Arbeiterin, treibt sich umber, ist vielfach vorbestraft, hat uneheliche 
Kinder, eine Marie D., Eversfuhrersfrau, vielfach wegen Diebstahls bestraft, 
znietzt vor einem Jahr in A., im Mai freigekommen. Margarete N., unverhei- 
ratet, treibt sich umher, hat einen Zuhalter. Sonst keine Geschwister, 11 sind 
gestorben 

(Mutter bestraft?) ^Vielfach wegen Diebstahls, einmal wegen schwerer 
Kuppelei der eigenen Tochter mit einem Jahr Zuchthaus. Das hat sie aber 

ArtkiT 1 PsjrohUtrie. Bd. 60. Heft 3/3. 37 


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Dr. J. Raeoke, 


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zu Unrecht bekommen. Die betr. Toohter war die Grate N. Es ist ein Jahr 
her. Sie ist in A. bestraft worden 44 . 

(Wo zar Schule?) „In A., in der S.*Strasse. Ich hatte eine Lehrerin FrL 
Hansen und einen Lehrer Heim Kreuzfeld. 

(Wann?) „Vor 26 Jahren. Bin mit dem 13. Jahre konfirmiert, noch 
keine 14 Jahre 14 . 

(Gut gelerat?) „Nein, hatte immer schlimme Augen. Konnte die Schule 
nur wenig besuchen 44 . 

(Spater gelernt?) „Bin schon auf Stall© gewesen, wie ich noch zur Schule 
war, bei Herrn Dr. S., Zahnarzt, B.-Strasse 44 . 

(Spatere Stellen?) „Von da bei Milchmann M. in E., P.-AUee, da waren 
3 Knechte, der Hann war gelahmt. 2 Kinder. Ich habe immer alles machen 
miissen. Ich habe immer schwere Stellen gehabt. Von da bei M., Tapeten- 
geschaft, in H. . . . twiete, bin 3 Monate dageblieben, bin weggekommen, weil 
ich billigeres Brot einkaufte, als ich Geld bekam, und den Uebersohuss dafur 
verwendete, urn mir Brot zu kaufen. Ich bekam zu wenig zu essen. Von da 
zu Herrn Senator R., bin 2 Monate dageblieben, wurde krank. Von da nach 
Weinhandler S., nur zurAushilfe. Vorher auch beiA., dort starben die Kinder 
und ich wurde auch krank. Von S. ab nur Aushilfsstellen bei v. T. in S.- 
Strasse und in E. .. . ich kam. nicht auf den Namen kommen, es waren Fran- 
zosen, dann bei L. in Sch.-f trasse, dann bei Gerichtsvollzieher L. in A. Ich 
war da schon verheiratet, wie ich bei L. war u . 

(Wann Heirat?) ,,1884, 11. Oktober 44 . 

(Wen?) „Johann Heinrich W. w 

(Kinder?) „Habe 13 Kinder gehabt, eins lebt davon, ist am 30. April 
14 Jahre gewesen. Ist 1892 geboren w . 

(Datum heute?) „2. Juni 1906 w . 

(Wochentage?) Richtig. 

(Wie lange hier?) „Ich bin gekommen am 20. Februar, am 21. nach der 
Augenklinik 44 . 

Sagt Wochentage und Monate vorwarts und riickwarts fliessend, richtig 
auf. Weiss, wieviel Stunden der Tag, Minuten die Stunde, Sekunden die 
Minute, Tage die Monate haben, meint nur, das Schaltjahr sei alle 5 Jahre. 

(Wochen im Jahre?) 13 Wochen ist ein Vierteljahr, 26 Wochen ein H&lb- 
jahr — 52 Wochen. 

(Tage im Jahr?) „Herr Doktor, das bringe ich nicht so schnell zusam- 
men, die Rechnung . . . 366 Tage 44 . 

Hat nach Monaten ausgerechnot. Weiss, dass das Schaltjahr einen Tag 
mehr hat. 

(Wann Weihnachten?) ,,24. und 25. Dezember 44 . 

(Ostern?) „Das ist verschieden. Dies Jahr haben wir Ostern am 15., 
16. April gehabt 44 . 

(Pfingsten?) „Immer 6 Wochen nach Ostern 44 . 

(Warum wird es Tag und Nacht?) „Bei Nacht ist es dunkel, am Tage ist 
es hell, weil die Sonne sich dreht, geht im Osten auf, im Westen unter 44 . 


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(Wann Tago langer?) „Im* Sommer ist er langer, weil es dann langer 
hell ist“. 

(Wann nehmen die Tage zn?) „So Ende Januar“. 

(Hamburg oder Kiel grosser?) „Hamburg“. 

(Richtung?) „Von Hamburg nacb Kiel naoh Norden“. 

(Wie finden Sie Himmelsrichtungen?) „Wo die Sonne aufgeht, ist Osten; 
-wo sie untergeht ist Westen. Sfiden and Norden liegen gegenfiber; Sfiden ist 
weiter ins Land hinein". (Zeigt nach der Richtung.) 

(km?) „Das weiss ioh niobt. Ist viel mehr wie andere Meter; das gebt 
ja per Bahn". 

(Meile?) „Man kann in einer Stunde eine Meile erreichen u . 

(qm?) „Ist P/j m.“ 

(m?) Zeigt rich tig. 

(Fluss bei Hamburg?) „An der Elbe". 

(Woher kommt die?) n LEuft in die Nordsee, kommt vom Rhein oder 
weiter da oben, wie nennt man das, bis zu Dresden da in die HShe". 

(Flusse in Deutschland?) „Oder, Rhein, Weichsel, liegt bei Danzig". 

(Stadte an der Elbe?) „Cuxhaven, Glfickstadt, Altona, Hamburg, Magde¬ 
burg, Domnitz, Dresden". 

Weiss die Namen ihrer Mitpatientinnen, der Aerzte und Pflegerinnen. 

8 X 10 sind 80; 6 X A sind 24; 6X8 sind 48; 7X9 sind 75; 11 X 12 
sind 120; 21 u. 38 sind 58; 8 u. 14 sind 22; 14 u. 26 sind 30; 19 u. 32 sind 
51; 28 u. 44 sind 72; 36 u. 25 sind 51; 21 — 4 sind 17; 22 — 9 sind 12; 
58-12 sind 46; 87 — 19 sind 68; 43 — 17 sind 26; 123 u. 235 u. 537 
sind. 

(16 M.? Fr., wenn 4 M. gleich 5 Fr.). 

(Wenn man an 1 Tag 2,50 M verdient, wieviel im Monat?) „65 M." 

(6 Mann machen eine Arbeit in 4 Tagen, in welcher Zeit 3 Mann?) 
„12 Tage." 

2 / a m sind ? cm) „15 cm." 

(% M. ? Pf.) „75 Pf.“ 

(Baume im Walde?) „Tannen, Buchen, Eichen, Linden, Eschen." 

(Unterscbied von Eiohe und Tanne?) „Tanne hat Nadeln, Eiche hat 
zaokige Blatter." 

(Frfichte auf dem Felde?) „KartofTeln, Weizen und Roggen, Ruben, 
Kohl, Wurzel, Sauerampfer, Spinat." 

(Religion?) „Evangelisch.“ 

(Andere Religioneu?) „Katholisch l judisch, Menoniten, Baptisten-Ge- 
meinde." 

(Unterschied?) „In der Kirche. Die Juden haben ihren Feiertag Sonn- 
abend. Katholischo baben sehr viele Feiertage." 

(Luther?) „Das war ein Dichter; nein, der hat die Bibel fibersetzt." 

(Was bedeutet Weihnachten?) n Da ist Christi geboren." 

(Was Ostern?) „lst Christi wieder auferstartden." 

(Was Taufe?) „Dass man den heiligen Glauben kriegt." 

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Dr. J. Raecke, 


(Wer war Schiller?) „Ein Diohter.“ 

(Gedichte tod ibm?) „Nein, Herr Dr. mebr Theaterstficke: Die Rauber 
und Maria Stuart. tt 

(Kaiser?) „ Wilhelm II. “ 

(Regiert seit?) „18 Jahren. a 

(Wer vorher Kaiser?) „Friedrich, vor dem Wilhelm I. u 
(Hauptstadt yon Deutschland?) „Berlin.“ 

(Staaten in Deutsohland?) Versteht die Frage nicht. 

(Lander in Deutschland?) „01denburg, Hamburg, Lubeck, Bremen, 
Wiirttemberg, Ostpreussen, Westpreussen. tt 
(Hauptstadt von Bayern?) „Munchen. u 
(von Sachsen?) „ Dresden, tt 
(Was war 1870?) „War Krieg mit Frankreich, u 
(Schlachten?) „Strassburg: sind bis Paris hineingegangen. u 

(Schlacht bei Leipzig?)- 

(Gustav Adolf?) „Friiherer Kaiser von Bayern. “ 

(Waifengattung?) Pioniere, Kfirassiere, Garde, Artillerie, Husaren. u 
(Zweck der Soldaten?) „Wenn Unfriede ausbricht, urn uns zu be- 
schfitzen.“ 

(Parteien?) „Sozialdemokratie, weiss garnicht, wie sioh die anderen 
Parteien nennen. u 

(Wozu Gerichte?) „Um Gerechtigkeit zu halten.“ 

(Warum wird man bestraft?) „Weil man etwas getan hat, wenn man 
stiehlt Oder sonst was macht. u 

(Wer gibt die Gesetze?) „Vom Reichstag. tt 

(Unterschied von Staatsanwalt und Rechtsanwalt?) n Rechtsanwalt ver- 
teidigt einem sein Recht, Staatsanwalt pruft und bestraft einen. u 
Die Geldstucbe kennt sie alle. 

(Warum Papiergeld?) „Vom Reich aus. Wenn man nicht soviet Silber 
hat und Gold. u 

(Pfund Blei oder Pfund Federn schwerer?) „lst wohl Beides egal. u 
(Wozu Steuern?) n Um den Staat zu erhalten, Militar und anderes fur 
den Staat. “ 

(Zinsen?) n Wenn man Kapital aufnimmt, muss man es verzinsen. u 
(4. Gebot?) Richtig. 

(Pfliohten gegen Mitmenschen?) „Um sie zu schiitzen und sie in Not 
beizustehn. u 

(Wie kann man Mensohen an der Ehre kranken?) „Wenn man . ibm was 
Unwahres nacbsagt, was er nicht begangen hat, und schlechte Worter sagt.^ 
(Wie finden Sie Ihr Gluck?) „Ich bin verheiratet und lebe recht zu* 
frieden mit meioem Maun und habe ein Kind, das ich herzlich lieb habe. u 

Antwortet bei dieser ganzen Unterrednng rasch, ruhig und geordnet. 
Immer fleissig bei der Hausarbeit und unauSallig. 

4. 6. Freut sich fiber den Besuch ihres Mannes. Dieser gibt zor Vor* 
geschichte n'och an: Er kenne seine Frau seit 24 Jahren. Ihr Vater sei ein 


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Ueber Aggravation nnd Simulation geistiger Stoning. 


573 


ordentlicher nnd strebsamer Mann gewesen, Chausseewarter. Die Matter sei 
niobt lobenswert gewesen, sei wiederholt wegen Diebstabls bestraft, znletzt 
Tor 9 Jabren. Seit 6 Jabren sei sie tot. Knppelei babe sie nicbt begangen. 
Die alteste Schwester seiner Fran and deren Tochter seien Umhertreiberinnen. 
Oft wegen Unzacbt, Kuppelei, Diebstabls bestraft. Aach die 2. Sohwester, 
Fran D., sei haafiger wegen Diebstabls bestraft. Die 3. Scbwester babe 
wiederholt Zachthaus and Gefangnis gebabt wegen Unzucbt, Diebstabls 
a. dergl. 

Bevor er seine Fraa kennen lerate, solle sie ganz gesand gewesen sein. 
Als sie bei A. in Stellang war, babe sie „vor Schreck u ibre Krankheit be* 
kommen. Wie die Kinder vergiftet warden, babe sich nie herausgestellt. Nach 
Ansioht der Aerzte sei seine Fraa mitvergiftet gewesen. Als er sie 1884 
heiratete, habe er besondere Erlaabnis gebraacht, da sie erst 15 Jabre alt war. 
Sie habe seit der Vergiftangsgeschichte Anfalle gehabt. Der Kopf war ganz 
hinten aaf dem Riicken, die Brust gewolbt. Kein Schaam vor dem Monde, 
kein Zangenbiss, kein Einnassen, Zackungen im ganzen Korper, bewasstlos. 
Nachher Kopfscbmerzen, keine Erinnerang, war 2 Tage ganz kapat. Yorher 
ofter verwirrt mit stierem Blick; manchmal ging das dann ohne Krampfe vor- 
fiber. Im Anfall mal ganz weiss, mal rot. Krampfe kamen mitunter ofter die 
Woche, mitanter 3Wochen nicbt. Seit 4 Jahren babe sie keine Krampfe. mehr. 
Er habe welche znletzt 1900 gesehen, aber nicht mehr so schlimm, wie friiher. 
Von 13 Kindern alle bis aaf 1 klein gestorben. Mann habe 1882 Syphilis 
gehabt nnd Schmierknr gebrauoht. Was seine Fraa alles begangen habe, wisse 
er nicht mehr so genau. Anfangs habe sie ihre Strafen abgesessen, naohber 
habe sie nioht fur zareohnnngsfahig gegolten. 

1904 sei ibm geraten worden, seine Fran entmundigen za lassen. Er 
habe selbst seine Fraa nicbt far geisteskrank gehalten, wie er eingestehen 
masse. Damals babe er freilich anders ausgesagt. Ihm gegeniiber habe sie 
sich nie krank gestellt. Er meine, sie babe aach za den Aerzten in seiner 
Gegenwart richtig gesprocben. Dagegen habe sie in der Irrenanstalt bei der 
Beobachtung aaf jeden Fall simaliert. Damals habe sie keine Krampfe mehr 
gebabt, nor vorgemacht. 

In der Zeit vor 1900 sei sie ofter standenlang verwirrt gewesen, habe an- 
notige Sachen gekanft. Er habe es an ibren starren Augen gemerkt. Duroh- 
einander gesprocben habe sie nicht. 

Bei alien diesen Angaben ist er sehr sohwankend and ansicher, macht 
einen wenig glaubwardigen Eindrack. 

5. 6. Pat. erzahlt selbst, sie habe mit dem Gerichtsarzte in Gegenwart 
ihres Mannes verndnftig gesprocben, sonst in kindlicher Weise. Aaf Aaf- 
forderung macht sie diese kindliche Sprechweise vor, die sie verschiedentlich 
angenommen babe. 

11. 6. In den letzten Tagen etwas gedriickter Stimmang, da die An- 
gelegenbeit ihrer Entlassung schon langere Zeit schwebt and keine Fort- 
sohritte macht. Ist aber andauernd fleissig, willig and geordnet. Vertragt 
sich got mit ihrer Umgebung. 


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Dr. J. Raecke, 


13. 6. Wird in der Vorlesung liber forensisobe Psyohiatrie von Geh. Rat 
Siemerling vorgestellt, soil lant Yerabredung erst in kindlioh gemaohter 
Weise anf Fragen antworten, wie wahrend ihrer Begntachtnng in der Irren- 
anstalt F., dann anf gegebenes Zeichen einen „epileptisohen Anfall“ vorfohren, 
daranf znm Scblnsse verniinftig reden. Fdbrt ibre Rolle ansgezeichnet durch, 
so dass die Horer von ihrer Krankheit zunachst nberzengt sind. 

(Wie beissen Sie?) „Frau W.“ (in geziert alberner, etwas kindlicber 
Sprechweise, zupft am Kleide.) 

(Wie alt?) „58 Jahre. u 

(Wo geboren?) „In Konigsberg.“ 

(Wann?) „11. Oktober. u 

(Wo bier?) „Ja, ioh bin hier zur Erholung." 

(Hans?) n In der Villa." 

(Wielange hier?) „2 Jahre." 

(Oho!) Lacht gellend. 

(Messer vorgezeigt:) „Das ist ein Griffel." 

(Schlussel?) „Das ist der Geldschrankschliissel, der ist mir fort- 
genommen. “ 

(Portemonnaie:) „Das ist mein Portemonnaie." 

(Schon bestraft?) „Nur 7 Jahre Zuchthaus babe icb gehabt. u 

(Was getan?) „Ich hab’ ein Haus angesteckt. 11 

(Menschen verbrannt?) „Pferde!“ (Lacht gellend.) 

(Wo hier?) „Altona.“ 

(An welchem Fluss?) „An der Spree.“ 

(Fliesst wohin?) „ln die Nordsee.“ 

(Von Berlin gehort?) „Ja, unser Kaiser." 

(Heisst?) „Konig der 3." 

(Wovon Konig?) n Konig von Schleswig-Holstein." 

(Was ist das?) „’ne Stadt, so gross wie Altona." 

(Wieviel Einwohner?) „4500." 

(Berlin?) „1000.“ 

(Wo geht die Sonne auf?) j,lm Norden." 

(Unter?) n Im Osten." 

(Stnnden der Tag?) „6." 

1m Anfalle stdrzt sie richtig hin, liegt erst starr, zuckt and scbdttelt 
dann, baumt sich aber nicbt auf, hat die Hande geballt. Schanm vor dera 
Monde! Zwinkert mit den Augen. Steht dann anf and erzahlt, wie sie 
das macht. 

15. 8. Wird in der Klinik mit derselben Verabredung vorgestellt: 

(Wie heissen Sie?) „W. heiss ich." (Mit hoher Stimme in kindlichem 
Tonfall, einfaltigem Gesicht, wie verlegen.) 

(Wie alt?) „58 Jahre." 

(Wesbalb hier?) fl Ich soli mich hier erholen." 

(Wo hier?) „In Altona." 

(Gebaude?) n In einer Villa bin ich." 


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1 



Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 


575 


Bekommt einen Anfall von laut gellendem Lachen, macht ganz verstortes 
Gesicht. Lacht anhaltend. 

(Warum freuen Sie sich?) „Alle Kinder sind da. u 

(Wo sind die?) „Im Himmel. u 

(Das freut Sie?) „Ein Kind ist lebendig begraben. u 

(Schliissel vorgezeigt:) „Mein Geldschlussel. u 

(Ring:) n Meiner Mutter Ring. a 

(Messer:) „Griffel, mit ’nem Messer dran. a 

(Portemonnaie:) „Mein Portemonnaie, das haben sie mir weggenommen. u 

(Uhr:) „Meine Uhr, die habe ich immer gehabt, die ist mir weg- 
gestohien. a 

(Strafen?) „Ich habeJahreZuchthaus gehabt! a (Lacht wieder gellend 
und noch langer.) 

(Was ist Altona?) „Ist ? ne Kirche, hier von aus dem Fenster ist ’ne 
Kirche. a 

(Kaiser?) „Der 4. a 

(Name?) „Friedrich. u 

Auf ein Zeichen (Taschentuch herausgezogen) stiirzt sie hin, Korper steif, 
Arme gestreckt, dann Zuckungen, schlagt mit den Fiissen den Boden, Daumen 
eingeschlagen, Schaum vor dem Munde, Augen aufgerissen. Dann wie be- 
nommen. Auf Anruf steht sie auf, ist vollig geordnet. Erzahlt lachelnd bei 
Befragen, sie „mache tf solche Anfalle seit 20 Jahren, vorher habe sie 
wirkliche Anfalle gehabt und zwar im Wochenbett und nach Aufregungen. 
Dass auch ihre Mutter und Schwestern Krampfe gehabt hatten, habe sie er- 
funden; das sei nicht wahr. 

21. 6. Nach einer Bemerkung in den Entmiindigungsakten befragt, als 
ob der Mann wegen ihrer Unfahigkeit eine Haushalterin hatte nehmen mussen, 
erklart sie lachend: ^Niemals, nein, wir haben zu der Entmiindigungszeit 
keine Hilfe gehabt. Ich habe alles allein gemacht. u Ihr Mann habe wohl alles 
etwas schlimmer dargestellt. Meint, sie babe sich ihrem Manne gegeniiber 
zur Zeit der Entmiindigung auch etwas diimmer gestellt. Sie habe ihm das 
erst neulich eingestanden, als er sie besuchte. Der Mann habe wohl wirklich 
geglaubt, dass sie geisteskrank sei. Die Tochter freilich habe ihre Verstellung 
bemerkt. Was die dabei gedacht habe, wisse sie nicht. Vor Gericht habe sie 
nie wirkliche Krampfe gehabt, sie habe das nur vorgemacht. Wie sie ihre 
letzte Strafe wegen Hehlerei vor 15 Jahren abgesessen habe, da habe sie von 
den 6 Monaten nur 6 Wochen abzumachen brauchen, weil sie hochschwanger 
war und Krampfe hatte. Seit gut 10 Jahren aber habe sie keine Anfalle mehr. 
Da habe sie die Anfalle nur gemacht. 

Zum ersten Male habe sie sich verst el It, als die Tochter 1892 ge- 
boren war und sie dieselbe nicht gern verlassen wollte und eine Strafe abzu- 
sitzen hatte. Damals markierte sie Krampfe und habe irre geredet. Der Mann 
holte einen Arzt. Dieser stellte ein Attest aus, dass sie krank ware, nicht 
geistesnormal und' die Strafe nicht absitzen kdnnte. Jene Anfalle im Gefang- 
nisse aber seien die letzten gewesen, welche sie wirklich gehabt habe. 


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576 Dr. J. Raecke, 

Die wirklichen Anfalle friiher hatte sie in der Sohwangerschaft und nach 
Aerger bekommen. Deshalb sei sie einmal bei der Entbindnng auoh chloro- 
formiert worden. Jene Anfalle babe sie vorber gemerkt; es sei ihr ubel ge- 
worden und schwindlig, so das9 sie sioh meist legte. Wahrend der Anfalle 
selbst sei sie bewusstlos gewesen. Nie babe sie sich verletzt, auf die Zange 
gebissen oder eingenasst. Nacbber habe sie sich matt gefuhlt. 

Die „gemachten u Anfalle babe sie nachgeahmt, sich auch nacb dem An- 
blick anderer Krampfkranker gerichtet. Jetzt wolle sie aber ein ordentliches 
Leben beginnen, werde absichtlich nie wieder mit Polizei und Gericht zu tun 
bekommen! Auch Anfalle werde sie nicht mehr vortauschen, etwaige Strafen 
geduldig absitzen. Sie wolle sich zusammennehmen und derTochter mit gutem 
Beispiel vorangehen. 

Bei dem dauernden geordneten Verhalten der W. lautete das Urteil auf 
„nickt geisteskrank u . Sie wurde mit polizeilicher Genehmigung entlassen und 
ist anscheineud nicht wieder mit den Gerichten in Konflikt gekommen. Wenig- 
stens sind nie Anfragen liber sie in der Klinik eingelaufen. Auch ergaben 
unsererseits angestellte Erkundungen bei ihrer Heimatsbehorde, dass sie nicht 
wieder bestraft wurde. 

Epikrise: Der Fall W. ist im Laufe von 20 Jahren, von 1883 
bis 1906, unz&hlige Male zur Begutachtung gelangt und hat eine viel- 
fach wechselnde Beurteilung gefunden Nur einen Toil der Akten und 
Gulachten habe ich hier verarbeiten konnen. Immerhin genugt wohl 
das Mitgeteilte, um ein abgerundetes Bild zu geben. Mit Bestimmtheit 
lassen sich Epilepsie und st&rkerer Schwachsinn ausschHessen. Meines 
Erachtens ist es sogar kaum angftngig, von einem leichten Schwach¬ 
sinn zu sprechen. Die unleugbaren Liicken im Scbulwissen durften eher 
auf ungenugenden Unterricht zuruckzufubren sein. Die Schlauheit, Be- 
obachtungsgabe, Menschenkenntnis, Energie und Ausdauer der W. waren 
erstaunlich. Gewiss wird man einen hysterischen Einschlag anzunehmen 
haben. Allein wenigstens in den spateren Jahren traten die hysteri¬ 
schen Erscheinungen mehr zuruck und Zust&nde nackter Simulation 
wechselten mit Zeiten vOllig geordneten und, wie ich nicht anstehe zu 
erklkren, geistesgesunden Verhaltens. 

Die W. stammte aus hdcbst ungunstigcn Verb ill tnissen. Mutter, 
Geschwister, Ehemann zeigten verbrecherische Neigungen und waren 
mehrfach bestraft. Sie selbst wurde schon als Rind von ihrer eigenen 
Mutter zum Stehlen angehalten. So ist es kein Wunder, dass sie eben- 
falls fruh mit den Strafgesetzen in Konflikt geriet und mehrfach ins 
Gef&ngnis wanderte. Allein nur anfangs liess sie sich verurteilen und 
sass die ihr zuerkannten Strafen wirklich ab. Sp&ter crkrankte sie 
regelm£ssig in der Dntersuchung an „Anf&lleu“, bekam auch bei den 
Vorladungen solcbe und, nachdem sie erst einmal wegen „epileptischer“ 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stdrung. 577 

GeistessWrung exkulpiert worden war, wiederholte sich das bei alien 
folgenden Verhaftungen regelmSssig. 

Sogar ob sie langere Zeit hysterische Krampfanfalle gehabt hat, 
ist nicht sicher festgestellt. Zuverlassige Schilderungen aus fruberer 
Zeit sind nicht vorbanden, die aus spaterer Zeit erwecken entschieden 
den Eindruck des Gemacbten. Gleich bei ihren allerersten Anfallen 
im Jahre 1883 stand sie in dringendem Mordverdachte. In 3 Familien, 
wo sie als Kindermadchen tatig gewesen war, starben pldtzlich 4 Kinder. 
Es wurde Vergiftung angenommen. Sie selbst betrug sich bei ihrem 
VerhOre auffallend gefuhllos. Dazu kommt, dass sie das letzte Mai 
selbst unter Vergiftungserscheinungen miterkrankt sein wollte. Es ist 
da von Morphium vergiftung die Rede, aber scbliesslich gelangte man 
in dem Krankenhause, das sie aufgenommen hatte, zur Diagnose eines 
hysterischen Zustandes. Damals soil 'sie nun auch ausser allerlei Ge- 
sichtstauschungen Krflmpfe gehabt haben. Hier liegt die Annahme hy- 
sterischer Anfalle nahe. 

Im Uebrigen sind wir hinsichtlich der Art ihrer angeblichen An¬ 
falle fast ganz auf ihre und ihres Ehemannes Bericbte angewiesen, und 
diese sind, wie die Betrachtung der gesamten Krankengeschichte lehrt, 
nicht nnr ungenau sondern teilweise wissentlich falsch und daher zur 
Stutze einer Diagnose nicht zu verwenden. Wahrend ihrer Beobachtung 
in der Irrenanstalt war sie so vorsichtig, nur in Abwesenheit der Aerzte 
Krampfanfalle zu bekommen. Angesichts ihrer verbluffenden Fahigkeit, 
epileptiscbe Anfalle, die sie bei anderen gesehen hatte, nachzuahmen, 
kann den Pflegerinberichten keine Beweiskraft beigemessen werden. In 
Gegenwart der Aerzte hat sie nur zweimal Lachanfalle gehabt. Schon 
nach der Schilderung des Krankenblattes ware ich da geneigt, mehr 
an Hysteric als an Epilepsie zu denken. Berucksichtigt man aber das 
eigene Gestandnis der W., dass sie die Anfalle gemacht habe — und 
dazu berechtigt wohl -die Tatsache, dass sie uns solche Anfalle auf 
Kommando vorzufuhren vermochte, — dann wird es doch fraglich, ob 
nicht hier auch Simulation mit in Betracht zu ziehen ist. 

Jedenfalls kann es 6ich, wenn uberbaupt jemals echte Anfalle statt- 
gehabt batten, nur um ganz seltene Zustande gehandelt haben. Eine 
VerblSdung und Charakterdegeneration infolge von Epilepsie, wie sie 
die verschiedensten Gutachter als sicher vorliegend angenommen haben, 
sind mit Bestimmtheit abzulehnen. 

Prachtig ist die Geschicklichkeit, mit welcher den Untersuchem 
Schwachsinn vorgespiegelt wird. Namentlich wahrend des als beliebten 
Schutzmittels auch hier wieder, wie so oft von Kriminellen, betriebenen 
Entmundigungsverfahrens weiss die W. Sachverstandigen und Richter 


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Dr. J. Raecke, 


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von der Schwere ihrer geistigen Mangel vollig zu uberzeugen. Die 
„enorme Merkfahigkeitsst5rung“, welche der Erstere an ihr festgestellt 
zu baben glaubte, erschien so charakteristisch, dass daruber die Nicht- 
beobachtung epileptischer Anfalle nebensachlich erschien. Und dabei 
vermochte die W. noch 3 Jahre sp&ter die falschen Antworten zu nennen, 
auf Grund deren damals der Gutachter Gedachtnisschwache und epilep- 
tische Demenz angenommen hatte! 

Die W. war eben zu schlau, urn in der plumpen Weise der Geistes- 
gesunden Henneberg’s die Geistesscbwache zu spielen. H&chstens 
kann man sagen, dass ihr zeitweises kindisches Gebaren, welches an 
Moria oder Puerilismus erinnerte, dem Ganser’scben Vorbeireden nahe 
gestanden babe. Auf die engen Beziehungen zwischen diesen beiden 
hysterischen ZustSnden babe ich bereits 1904 aufmerksam gemacht. 
SpSter bat dann Straussler sicb noch eingebender damit bescbaftigt. 
Allein bei der W. hat man docb immer das Geffihl des Unechten und 
bewusst Gekunstelteu. Aehnlich wie manche Hysterische Sensibilitats- 
storuugen und Gesichtsfeldeinschrankungen zur Scbau tragen, indem sie 
immer etwas schlechter angeben, als sie in Wabrheit zu antworten fahig 
waren, ahnlich erwecken bei den Intelligenzprufungen andere den Ein- 
druck starkerer Lvicken, als der Wirklichkeit entspricht. Von der mebr 
oder weniger unbcwusst infolge suggestiver Vorgauge irgend welcher 
Art sicb entwickelnden schlecbten Antwort bis hiniiber zur absichtlichen 
Vortauschung einer gar nicht vorhandenen Unwissenheit bestehen ohne 
Zweifel fliessende Uebergange. Oft ist es mehr Gefuhlssache, als dass 
sich bestimrat entscheiden lasst, wo die Grenze gezogen werden soil. Bei 
der W. bin ich nicht nur wegen ihres Gestandnisses sondern auch wegen 
der ganzen Art, wie immer wieder im geeigneteu Momente die rettende 
Demenz vorgeschoben wurde, durchaus der Ansicht, dass sie nicht in 
einem hysterischen Ausnabmfezustande, sondern rait klarer Ueberlegung 
ihre unrichtigen Antworten von sich gab. Sie hatte sich im Laufe der 
Jahre und der vielen Begutachtungen eine solch verbluffende Geschick- 
lichkeit nnd Sicherheit angewbhnt, dass ihr Erfolg schliesslich nicht zu 
verwundern ist, zumal damals noch der Verdacht auf Simulation von 
Schwachsinn bei vielen Gerichtsarzten zu wenig gepflegt wurde. 

Selbst bei der recht eingehenden Intelligenzprufung in der Irren- 
anstalt F. wie sie wahrend der 2. Aufnabme der W. dort stattfand, ver- 
stand sie es den Schein echten Nichtwissens zu erwecken. Ausgesprochen 
unsinnige Antworten vermied sie und ubertrieb ihre intellektuellen Lucken 
so unauffallig, dass trotz des anfanglich entstandenen Verdachts auf 
Bdswilligkeit ihr Gesamtverhalten dem psychiatrischen Sachverstandigen 
die Ueberzeugung von ihrem Schwachsinne aufdrangte. 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 57 9 

In dieser Beziehung erinnert die W. an den von B. Schultze er- 
wfihnten Fall eines X., der voile 9 Monate in der Anstalt so geschickt 
Scbwachsinn simuliert batte, dass er sogar alte und erfahrene Irren- 
firzte zu tAuscben imstande war. Schultze berichtet fiber ihn: „Was 
er bot, entsprach durchaus alien klinischen Anforderungen und ich 
mfichte mich nicht frei davon sprechen, dass ich mich heute bei gleicher 
Sachlage wieder t&uschen werde“. Allerdings hatte sich Schultze im 
Falle X., wie er einraumt, mit dem Studium der Vorakten begnfigt 
und unterlassen, durch eigene Erkundigungen die dort enthaltenen An- 
gaben nachzuprfifen. Auf diesen wosentlichen Punkt batten wir bereits 
weiter oben besonders hiuzuweisen Gelegenheit gehabt. Darum glaube 
ich nicht, dass man in alien Fallen den Skeptizismus von E. Schultze 
anerkennen muss, der auch bei erworbenen Psychosen dem sich dar- 
bietenden klinischen Bilde nur wenig Wert beimisst ffir die Entdecknng 
von Simulation, weil alles ohne kunstliche Zutat ebenso vorkommen 
konnte und die Abweichungen von dem erfahrungsgemfiss Ueblichen an- 
gesichts unseres beschrfinkten Wissens nichts bedeuteten. In der Regel 
tragen die von Simulanten gebotenen „Krankheitsbilder“ doch irgend- 
wie den Stempel des Unnatfirlichen gleich derartig auf der Stirn, dass 
wir schon auf Grand dieses ersten Eiudrucks berechtigt und verpflichtet 
sind, mit Misstrauen an ihre Prfifung heranzutreteu. Weiter freilich 
darf uns ein solcber erster Eindruck nie treiben. 

Weniger Gluck und Geschick, als dieser Fall X., entwickelte der 
von Schafer erwahnte Geldschrankknacker, obgleich er sein simuliertes 
Bild von „agitiertem Blfidsinn“ ebenfalls 9 Monate hindurch aufrecht 
zu erhalten gestrebt batte. Erst mit seiner Verarteilung gab er die Ver- 
stellnng auf und fiusserte: Nun habe es ja doch keinen Zweck melir! 

Becker hat zu bedenken gegeben, dass ein ungeheures Gedfichtnis 
erforderlich ware, wenn wirklich ein Simulant von Schwacbsinn bei 
immer wiederholten Prfifungen an der Hand von bestimmten Intelligenz- 
fragebSgen stets die gleichen Ausfalle bieten wollte. Durch mehrfacbe 
Untersuchungen mit demselben Einheitsreiz werde es gelingen mfissen, 
Widersprfiche festzunageln. Dem ist doch wohl entgegenzuhalten, dass 
auch der gutwillig Antwortende zu verschiedenen Zeiten nicht immer 
ganz gleiche Leistungen aufweist. Unwagbare Umstande wie Befangen- 
heit, Zerstreutheit, Ermfidung, auch zufallige Konstellationen spielen da 
eine Rolle. Die wenigsten Prfiflinge sind an jedem Tage gleich gut 
aufgelegt. Schon im Examen wird die Erfahrang gemacht, wie ungleich 
einzelne abschneiden, je nacbdem sie ihren guten oder schlechten Tag 
haben. Es werden da gelegentlich Fragen ausgelassen fiber Dinge, 
die eigentlich der Betreffende ganz gut gewusst batte. Immerhin ist 


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580 Dr. J. Raecke, 

der Versuch einer solchen mehrfachen Priifung bei vorsichtiger Bewer- 
tung der Rrgebnisse sicherlich ganz zweckm&ssig. Vielleicht hatte er 
gerade der W. gegenuber zum Ziele gefuhrt, wenn schon zu bedenken 
ist, dass sie sich mancber falschen Antwort spater fiberraschend gat 
entsann. 

Sehr lebrreich erscheint es, die Antworten der W. und ihr ganzes 
Gebaren bei der Priifung im Ginzelnen nfiher zu betrachten. Sie denkt 
garnicht daran, immer falsch zu antworten, sondern beeilt sich, sobald 
ihr die Frage leichter vorkommt, richtig zu erwidern. Darum macht 
sie auch einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Kopfrecbnen mit 
blossen Zahlen und dem Rechnen mit Geldstficken. Da sie gewohnt 
ist bei ihren Eink&ufen fur den Haushalt vielfach mit Geldbetr&gen zu 
rechnen, so hfitet sie sich jetzt, hier eine auffallende Unkenntnis zur 
Schau zu tragen. Ferner nennt sie auf Befragen nach Farben nur die- 
jenigen, welche sie just vor sich sieht. Gerade dieses Verhalten, das 
dem aufmerksamen Untersucher nicht entgeht, stfitzt sein schon schwan- 
kendes Vertrauen zu ihrer Aufrichtigkeit. 

Ueberhaupt hat sie ein gewisses System in ihren falschen Antworten. 
Sie will sich nicht ihrer Straftaten entsinnen kdnnen. Das ist eine 
hfiufige Ersckeinung bei Kriminellen und dem Untersucher verdachtig. 
Aber sie macht diesem die Beurteilung sogleich wieder dadurch 
schwieriger, dass sie andererseits Gerichtsstrafen bebauptet, die sie nie 
erlitten hat. Ferner erweckt sie bei jeder Beobachtung den Eindruck 
eines schlechten Gedachtnisses, indem sie die Aerzte nicht wiedererkennt, 
ihre Namen sich nicht einpragen kann, die eigenen Personalien verkehrt 
oder luckenhaft angibt, in der zeitlichen Orientierung stark versagt. 
Zwiscbendurch fiberrascht sie durch plbtzliche Bemerkungen, die in 
keinem erkennbaren Zusammenhange mit der Unterhaltung stehen. Sie 
spricht geziert, kindlich, fast ungrammatikalisch, lacht albern. Alle 
diese Matzchen brachte sie in gleicher Weise vor, als sie, aufgefordert 
sich zu verstellen, spater im Kolleg ihre Simulation zum Besten gab. 
Gerade dieses Daruberstehen fiber den Manieren, die gute Ruckerinne- 
rung an die Einzelheiten solchcr Aufffilligkeiten und die Fahigkeit, sie 
jederzeit auf Verlangen darzustellen, macht es vollig unglaubbaft, dass 
bier wirklich ein krankhaftes Moment im Sinne eines Dammerzustandes 
mitgespielt haben sollte. 

Die Absichtlichkeit in dem Yorgehen der W. ist klar genug: So- 
lange es ihr nur darauf ankam, den Bestrafungen ffir ihre Delikte zu 
entgehen, suchte sie sich auf jede Art mfiglichst krank zu stellen. Da- 
gegen ward sie schwankend in diesem Vorgehen, als allmahlich die 
Frage der Gemeingcfahrlichkeit in den Yordergrund trat und sie mit 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 581 

langdauernder Yerwahrung im Irrenhause bedrohte. Um dem zu ent- 
gehen, entschloss sie sich, ilire T&uscbuDg einzugestehen, zuckte jedoch 
wieder zurfick, als sich die Anzeigen h&uften und mit schwerer Be- 
strafang gerechnet werden musste. Aus der Irrenanstalt war ihr ja 
schon einmal die Flucht geglfickt. Endlich aber gestaltete sich die 
Sacblage docb fur sie so, dass ihr Bestrafung als das kleinere Uebel 
erschien, und nuu legte sie die Methode ihrer Simulation rfickhaltlos 
dar, um ja nicht mehr als geisteskrank begutachtet zu werden. Der 
Erfolg zeigte, dass sie auch da ricbtig gerechnet hatte; sie gelangte auf 
freien Fuss, verbielt sich nun Jahre hindurch ganz unauff&llig. 

Interessant ist, wie die falsche Diagnose Epilepsie, nachdem sie 
einmal in die Akten geraten ist, sich unausrottbar durch fast alle 
sp&teren Gutachten weiter scbleppt. Der alleinige Widersprucb von 
Cimbal, der mit Recht geltend machte, es dfirfte hfichstens von Ilysterie 
die Rede sein, verhallte ungehOrt. Es hat sich hier wieder, wie so 
haufig, die Nichtbeachtung vou Siemerling’s bekannter Mahnung ge- 
richt, niemals die Diagnose Epilepsie als gesichert anzuseheo, ehe man 
nicht entweder selbst einen einwandfreien Anfall beobachtet bat oder 
sich auf die Mitteilungen zuverlfissiger Beobachter zu stfitzen in der 
Lage ist. Dnkenntnis der diagnostischen Schwierigkeiten bei Epilepsie 
hat Qbrigens jetzt wieder im Kriege zu einer Ffille fehlerhafter Begut- 
achtungeu bei Krampfkranken gefuhrt, wie ich mich an meinem Material 
uberzeugen konnte. Nicht nur um Verwechselungen mit hysterischen 
Anfallen handelt es sich da, sondern auch am bewusste Vortfiuschung 
von Krfimpfen. Auf einer Erankenabteilung wurden solche von den 
Patienten systematisch eingefibt. 

Dass gerade epileptische Anfalle leicbt zu simulieren sind, ward 
schon von Calmeil, L. Meyer und C. Westphal entschieden betont. 
Allein diese wichtige Lehre ist niemals wirklich Allgemeingut der 
Aerzte geworden. Nur zu viele stehen jedem scheinbaren Anfalle hilf- 
los gegenfiber, vermOgen sicb einer starken Beeinflussung ihres Drteils 
durch ibn nicht zu erwehren. Es ist ein Verdienst von Mdnkemfiller 
and Hfibner, wieder entschieden auf die H&ufigkeit simulierter Epilepsie 
die Aofmerksamkeit der Fachgenossen gelenkt zu haben. Henneberg 
erw&hnt, dass in einem Lazarett die schriftliche Anweisung zur Simu¬ 
lation von Epilepsie gefunden ward. 

In der Literatur sind bereits zablreiche Beispiele simulierter Epi¬ 
lepsie niedergelegt. Ein besonders eindrucksvolles Gegenstuck zum 
Falle W. bildet die filtere Verflffentlichung von Salgo fiber erfolgreiche 
Vortfiuscbung von Epilepsie mit Schwachsinn durch einen Schwindler 
von „ungewohnlich scharfem und durchtriebenem Yerstande" und mit 


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Dr. J. Raecke, 


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einem Orientierungsvermogen von beispielloser Gewandtheit. Auch in 
diesem Falle D. Snderte sich das Verhalten mit einem Scblage, sowie 
das angestrebte Ziel mit der VersOtzung in die ^jsychiatrische Anstalt 
erreicht war, denn auch hier ging wohl der Wunsch dahin, aus dem 
Gef&ngnisse in die Rlinik zu gelangen, aber nicht dort zu verbleiben. 

Salgo sagt daruber in seiner Epikrise: „Der Fall D., in welchem 
die psychiatrische Diagnose von der Simulation der Geistesstfirung aus- 
geliend, durch den Nachweis schwerer Epilepsie mit konsekutivem, un- 
heilbarem BlSdsinn hindurcb, wieder zur anf&nglichen Simulation zurfick- 
kehrte, diirfte nacli jeder Richtung hin als exzeptioneller gelten. Er 
verdient die grftsste fachtnannische Aufmerksamkeit nicht nur wegen 
der Form des vorgetausckten Krankheitszustandes und wegen der dabei 
in Betracht kommenden psychiatrischen Sachverst&ndigen, bei deren 
grosser Erfahrung und geubtem Versthndnis das Gelingen der Simulation 
mit grellem Licht die Unvollkommenheiten der heutigen Psychiatrie zu 
beleuchten geeignet ist.“ Wir sind leider auch heute nicht viel weiter 
und sollten das in den Lehrbuchern mehr eingestehen. 

Salgo macht weiter die Bemerkung, dass eiu soldier Simulant 
vermutlich einen gewissen Reiz darin finde, die Aerzte zu tauscken und 
der von ihm befehdeten Gesellschaft eine Nase um die andere zu drehen. 
Das war fur den D. Zerstreuung, so dass er auch bei jahrelanger Simu¬ 
lation nicht ermudete und sogar Reflexepilepsie mit Erfolg vort&uschte. 
„Je schwerer die Sache, um so mehr mochte sie die Ambition des D. 
anspornen, und mit um so grdsserer Befriedigung konnte ihn das Gelingen 
des durchaus nicht reizlosen Spieles erfullen. Wir sehen, wie weit D. 
die Eonnivenz treibt, weun er die allerdings nicht schwere Operation 
am linken Brauenbogen ausfubren liess, womit er geniss sein konnte, 
die dankbare Anerkennung seiner Krankheit zu erringen.“ 

Auch Salgo beobachtete einen Eranken, der nach seiner Entlassung 
vom Milit&r wegen angeblicher Epilepsie ihm auf Wunsch den schonsten 
Erampfanfall vorfulirte und auf Befehl unterbrach. „Es fehlte in dem- 
selben auch nicht eiumal der blutige Schaum vor dem Munde, dessen 
wenig ingenidse Herstellung er mich in dienstbereiter Weise lehrte. 
Nach alledem ist die Gefahr der T&uschung durch Epilepsie sehr gross.“ 
Mit der scheinbaren Feststelluug einer Epilepsie werde aber alleu 
spateren Folgerungen die feste klinische Grundlage gegeben und ein 
fiktives klinisches Verstandnis der weiteren EntwickluDg des angeblichen 
Krankheitszustandes bis zur Verblodung ermoglicht. 

Ebenso passt in diesen Zusammenhang der lehrreiche 3. Fall aus 
K3nig’s bekannter Arbeit, in welchem die vollig unberechtigte Diagnose 
Epilepsie durch viele Jahre sich fortgeschleppt hatte und in zahlreiche 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 


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Gutachten ohne erneute Prufung als Tatsache binfibergenommen worden 
war. Hier hatte der betreffende Kriminelle selbst fiber Schwindel- 
anfalle bericbtet, lediglich ein War ter wollte einen Krampfanfall gesehen 
haben, und die bebaupteten Erregungszustfinde gestatteten eine gfinzlich 
abweichende Deutung. Ferner bielt die vorgeschfitzte Amnesie nicbt 
stand, die angeblichen paranoiden Ideen schwebten vdllig in der Luft, 
tancbten nur auf, sobald sie zur VerteidiguDg nfitzlich erschienen, ver- 
schwanden wieder, wenn sie den augenblicklichen Beziekungen zur Justiz 
binderlich waren. 

Beacbtenswert blieb in diesem Falle endlich der Widerspruch zwischen 
dem Beteuern geistiger Gesundheit auf der einen Seite und dem ziel- 
bewussten Streben, geisteskrank zu erscbeinen und Gutachter, die daran 
glaubten, zur Unterstfitzung heranzuziehen, auf der anderen Seite. Eben 
dieses Vorgehen, das auch schon von anderen Autoren, namentlich 
Schafer, gescbildert wurde, habe ich bei Uebertreibern mehrfach be- 
obachtet und mfichte es als eine beliebte Methode ansprechen. Ein vor 
Jahren exkulpierter Scbwindler und Dieb flekte mich sogar auf den 
Knieen an, ihn nicht wieder fur geisteskrank zu erklaren und dem 
Irrenhause zu fiberantworten. Als icb ikm jedoch mit gutem Gewissen 
diesen Gefallen tun konnte, zeigte er sich in der Hauptverhandlung 
hochlich enttfiuscbt und entrfistet. Uebrigens hatte Konig’s Patient 
eine langjahrige Irrenanstaltslaufbabn bin ter sicb gehabt und vermochte 
bei seiner guten intellektuellen Begabung aus dieser reichen Erfahrung 
entsprechenden Nutzen zu ziehen. 

Efinig selbst hat an den fihnlichen Fall K. von Nehrlick erinnert, 
der gleickfallg Epilepsie vorgab, obschon niemals Krampfanffille oder 
Verwirrtheitszustande wirklick gesehen worden waren. Dieser R. suchte 
gleichfalls Schwachsinn vorzutfiuschen und gab seine Simulation erst 
bei der Gerichtsverhandlung auf, als er sich fiberzeugen musste, dass 
man ihm nicht glaubte. Da ausserte E. zum Gutachter: „Ja, mein 
Lieber, man muss eben alles versuchen, um frei zu kommen!“ An diese 
Falle lasst sich meine Frau W. anreihen. Sie alle warnen vor fiber- 
sturzter Diagnose von Epilepsie. Es ist gar nicht immer nOtig, dass 
der Kriminelle aktiv Fallsucht vortauscht. Oefter kommt ihm der Gut¬ 
achter mit einer derartigen Vermutung zuerst entgegen und er geht 
nur ge8cbickt darauf ein durch Besckaffung der gewfinschtcn Anamnese. 
Wie sebr die scblauen Exploranden beflissen sind, Steckenpferde ihrer 
Sachverstaudigen zu erkunden und ihren wissenschaftlicben Anscbau- 
ungen Rechnung zu tragen, hat Schafer treffend beleuchtet. 

Es ist nicbt ricktig, wenn in manchen Lehrbfichern behauptet wird, 
der Simulant fibertreibe fast immer plump und verwickle sich dadurch 


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in Widerspruche. Das von ihm gebotene Bild pflege sicb mit unseren 
Erfahrungen nicht zu decken, und das bediage dann die Entlarvung. 
Gerade unser Fail W. erscheint vorzuglich geeignet, die grossen 
Schwierigkeiten aufzudecken, welche sich heute noch immer der Unter- 
scheidung zwischen Simulation und Geistesstorung entgegenstemmen 
konneu. Es ist leider nicht so, wie Henneberg einmal andeutete, 
dass gesunde Laien, wenn sie sich geisteskrank zu stellen trachteu, 
immer auf sinnloses Vorbeireden verfallen. Das beobachtet man viel- 
mehr mit Vorliebe bei Geistesschwachen, die ubertreiben wollen. 

Andererseits bleibt zu bedenkeu, dass wir auch noch lange nicht 
genugend s&mtliche mbglichen Bilder des Irreseins kennen, um olioe 
weiteres sagen zu durfen, dieses oder jenes Bild gibt es nicht, das kann 
einfach nicht echt sein! Auf diese wichtige Tatsache ist bereits hin- 
gewiesen worden. Der vielleicht zu weitgehende Skeptizismus von 
E. Schultze fand oben Erwahnung. Siemerling hat an die zugel- 
losen Uebertreibungen krankbafter Entstehung bei hypochondrischen 
Zust&nden erinnert. Kraepelin hat die sinnwidrige Triebartigkeit 
negativistischer Eatatoniker hervorgehoben, welche so gerne den Ein- 
druck des Gemachten erweckt, und hat mit Recht bemerkt, dass es bei 
Hysterischen ganz unmdglich werden kdnne, alie willkurlichen Zutaten 
auszuscheiden. Zweifellos sind hier manche altere Autoren in ihrem 
Misstrauen zu weit gegangen. 

Wenn v. Krafft-Ebing meinte, ein Simulant heuchle gem eine 
falsche Apperzeption, verrate aber zugleich in seiner mdglichst un- 
sinnigen Antwort, dass er die Pointe der Frage wohl erkaunt babe, so 
ist offenbar ganz das Gleiche auch von mancbem krankhaften Vorbei- 
redeD im Dammerzustande zu betonen, wahrend die Schilderung fur 
intellektuell hbher stehende Simulanten gar nicht einmal zutrifft. Die 
Vort&uscbung von BlGdsinn sollte nacb dem gleichen Autor an der 
Schwierigkeit scbeitern, vOllige Affektlosigkeit zu Eussern und ihr 
mimisch Ausdruck zu verleihen. Allein gerissene Simulanten, wie die 
W., huten sich vor soicher Uebertreibung und fallen trotz zahlreicher 
Untersucbungen nicht aus der Rolle. 

Wilmanns hat offen eingerEumt, dass unter Umst&nden die Er- 
kennung einer Simulation so schwierig wird, dass sogar unter den ver- 
offentlichten Fallen in der Literatur mehr als einer falsch diagnostiziert 
sein durfte. Ein grosser Teil der angeblichen Simulationen machten 
auf uns beim Lesen der Erankengeschichten den Eindruck von Haft- 
psychosen, Ganser’schen D&mmerzust&nden und Ehnlichen Bildern. 
Vielleicht sei eine scharfe Scheidung zwischen derartigen psychogenen 
Stbrungen und Simulationen uberhaupt nicht mbglich, weil eine enge 


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Ueber Aggravation nnd Simulation geistiger Stoning. 


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Verwandtschaft 'bestehe. Gin Teil jener Dfimmerzustfinde entspringe 
grade dem Wunsche, geisteskrank zu erscheinen. Das wurde freilich 
erklfiren, warum gerade bei Kriminellen Dfimmerzustfinde mit Vorbei- 
redeu so unverhfiltnismfissig oft angetroffen werden. 

Siemerling und Stern haben daher bei solchen Hafterkrankungen 
von Situationspsycbosen gesprocben, weil sie ohne zureichende innere 
Ursacbe infolge ausserer Verhaltnisse wie aus beiterem Himmel plotzlick 
einsetzen and ebenso anbegrfindet wieder verscbwinden, sobald die be- 
drangte aussere Lage nicht mehr vorhanden ist. 

Jung vermutete in einem Falle, dass die ursprfingliche Simulation 
wider Wissen nnd Willen zu gut geraten gewesen sei, so dass sie fast 
zur Geistesstfirung wurde und schon anfing, krankhafte Zfige anzunebmen, 
indem durch die konseqnent fortgefiihrle Darstellung eines blfidsinnigen 
Zustandes die normale Geistestatigkeit in Mitleidenschaft gezogen ward. 
Jung glaubte, dass wohl einzelne Momente der Simulation so fiber- 
zeugend auf seinen Patienten eingewirkt h&tten, dass sie die Bedeutung 
einer starken Suggestion erlangten und ihn in eine formliche Auto- 
bypnose versetzten. Das wiirde ganz der Annahme von Bonhoeffer 
entsprechen, dass psychopathische Schwindler eben infolge ihrer krank- 
haften Autosuggestibilitfit allmahlich selbst an ihre Erfindung glaubten. 

In diesem Zusammenhange muss knrz auf die Bedeutung des so- 
genannten Vorbeiredens eingegangen werden. Moeli hat es zuerst bei 
Untersuchungsgefangenen nfiker bescbrieben, allgemeiner bekannt wurde 
es durch Ganser, der es in der Verbindung mit Denkhemmung, Kopf- 
scbmerz und hysterischen Stigmata als Ausdruck eines hysterischen 
Dammerzustandes auffasste. Ganser legte auch Wert auf nacbfolgende 
Amnesie. Spater hat man an alien diesen Forderungen nicht mehr 
festgehalten und damit verwischten sicb die Grenzen nach der Seite 
bewusster Vortausehung immer mehr. 

E. Meyer fiel es auf, dass Traumatiker mit Vorbeireden fiber ihren 
Anfall immer nock gut Auskunft gabeu. Vor ihm batte Jung’s Schfiler 
Ricklin darauf aufmerksam macben konnen, dass die Grenzen des 
Nichtwissens in solchen Zustanden je nach der Art der Fragen erheb- 
lich wecbseln. Auf dem Wege des Gemttts wfirden Vorstellungen wieder 
zuganglich, von denen der Gefragte vorher nicbts habe wissen wollen. 
Der Gedanke des Nichtwissenwollens werde erst durch den Unter- 
suchungston der Fragen suggeriert und unterhalten und verbreite sich 
so aucb fiber Gebiete, die eigentlich fiber das Nichtwissenwollen des 
Delikts hinausgingen. Darum simuliere der Expiorand im Grunde sich 
selbst gegenuber, das Nichtgewfinschte werde von ihm abgespalten und 
verdrfingt. Jung spreche daher von Simulation im Unbewussten und 

Arehiv f. Psych i&trie. Bd, 60. Heft 2 3. gg 


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586 Dr. J. R&ecke, 

zwar unter der entfesselten Herrschaft der affektbetonten Vorstellung- 
des Nichtwissens. 

Einer ahnlichen Auffassung des Vorbeiredens babe ich selbst fruher 
Ausdruck gegeben, indem ich sagte, dass, wenn auf ein minderwertiges 
Nervensystem die Schadigungen der Haft einwirkten und einen Zustand 
von Ratlosigkeit, Unfahigkeit zur Konzfentration und Denkerschwerung 
bervorgebracht batten, arztliche Suggestivfragen nach den einfachsten 
Dingen notwendig ungunstigen Einfluss ausuben mussten. WOrtlicb achrieb 
icb: „Die verschiedenen Fragen des untersucbenden Arztes beeinflusseu. 
den Hysteriker weiter wie ebensoviele Suggestionen. Denn es muss 
ja auf den Kranken, der jsich leidend, matt und denkunlustig fuhlt, 
einen tiefen Eindruck macben, wenn er z. B. alien Ernstes gefragt 
wird, ob er noch bis 10 z&klen kaun. Von der naheliegenden Er- 
wEgung, dass er wohl recht krank erscheinen musse, wenn ibm ein 
Sackverst&ndiger nicbt einmal diese einfacbste Kenntnis mehr zutraue, 
ist es nur ein Scbritt zur Ueberzeugung, die Antwort tatsSchlich nicbt 
zu wissen. Es kann also eine solche Frage unter Umstanden ahnlick 
wirken, wie der einem Hypnotisierten erteilte Befehl, nicbt mehr bis 
10 zahlen zu kfinnen. Spater wird dann diese Suggestion, wie scbon 
gesagt, durcb den mehr weniger bewussten Wunscb, recht krank zu er- 
scbeinen, erbalten und verst&rkt; ahnlich wie der Traumatiker durch 
die Unfallrente in seiner Genesung aufgebalten wird, ohne dass man 
darum doch von Simulation reden durfte. u Heute wurde ich webl den- 
Wunsch, krank zu erscheinen, mehr an den Beginn der Entwicklung 
des ganzen Ganser’schen Zustandes rucken, im ubrigen darf ich meine 
Auffassung von damals wiederholen und vor ungeschickter Fragestellung 
wamen. Vor allem auf das Dammerkafte, Vertraumte wahrend des 
Vorbeiredenshaben zahlreiche Autoren, wie Ganser, Lucke,Westphal r 
Hey den Hauptnachdruck gelegt. Neuerdings hat Pick entschieden 
die Ansicht vertreten, der hysterische Dammerzustand sei nicht bloss 
durch den Helligkeitsgrad des Bewusstseins, wie Fiirstner annahm,. 
und durch die Aenderung der Sinnesempfindungen, sondern auch durch 
die verschieden weitgehende, psychologisch als Abstraktion (innerhalb 
der Teilempfindungen) zu bezeichnende, Einengung des Blickfeldes aus- 
gezeichnet. Auf den letzteren Umstand sei besonders das Danebenreden 
zuruckzufuhren. Allerdings hat Pick seine einschlagigen Untersuchuugen 
fast ganz auf das Vorzeigen von GegenstEnden beschr&nkt und aus der 
Art der erfolgenden Falschbenennung bezw. des verkehrten Gebrauches 
seine Schlusse gezogen. Abstraktionen der einfachsten Art, die der 
GrOsse, der Farbe, des Glanzes, der Harte, der Beweglichkeit bildeten 
die Grundlage des Vorbeigeredeten und es schien verstandlich, wenn 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 


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Kranke, die etnas gar nicht Sachbildendes abstrahiert hatten, auf Un- 
sinniges rieten oder ebenso oft uberbaupt nicht wussten, vomit sie es 
zu tun hatten. 

Diese geistreiche Deutung mag gewiss fur einen Toil der Falle 
zntreffen. Indessen wird man doch unwillkurlich stutzig, sofern man 
sich nicht auf die von Pick bevorz6gten Prufungen beschr&nkt, sondern 
z. B. zu Zahlen und bekannten Reihen ubergeht. Hier gewinnt man 
nur allzu oft ans der Art und Weise, wie der Explorand beim Aufsagen 
regelm&ssig jede zweite Zahl oder zweiten Monat ausl&sst, wie er bei 
Zeitangaben sich immer genau um einen Wochentag, einen Monat, eine 
Jahreszahl irrt, beim eigenen Geburtstag wombglich um die richtige 
Ziffer her urn rat usw., die unabweisliche Ueberzeugung, dass mehr eine 
gewisse Absicht als reines Dnvermflgen vorherrscht, und dass man es 
beim hysterischen Yorbeireden durchaus nicht immer mit einem eigent- 
lichen Dammerzustande zu tun hat. 

Vollends eiu so gekiinsteltes Vorbeireden, wie es Hoppe und Dietz 
in ihren Simulationsfallen geschildert haben, l&sst sich obne die An- 
nahme wohl uberlegter Ueberlegung uberhaupt nicht erkl&reu. Icb er- 
innere nur an die Behauptung des Di etz’scbeh Falles, dass Kalber auf 
dem Felde wachsen und auf die Frage, wie man diese schlachte, die 
weitere Autwort: Man m&he mit Sensen ihnen die Kopfe ab! Oder die 
angebliche UnmOglichkeit, Winter und Sommer auseinander zu halten, 
zu erkennen, ob es draussen warm oder kalt sei, w&hrend die Personen 
der War ter und Kranken rasch unterschieden und die im Krankenzimmer 
ublichen Gebriuche gut gemerkt wurden. Henneberg verlangt mit 
Recht, dass vorsatzliches Vorbeireden nicht mit dem Ganser’schen Bilde 
vermengt wird. 

Das Vorbeireden ist ubrigens nicht erst von Henneberg und 
Rosen bach als Ausfluss beabsichtigter T&uschungsbestrebungen auf* 
gefasst worden, scbon Moeli hatte klar dargelegt, dass es sich sowohl 
am krankhafte Bewusstseinstrubung als auch um den Versach, BlOdsinn 
za simulieren, haudeln kOnne. Neuerdings hat Moeli sehr glucklich 
die „stete Eiarheit des Ziels u bei Simulanten hervorgehoben im Gegen- 
satz zum Yerhalten des Hysterikers. 

Stern betrachtete als besonders verdachtig auf bewusste VortAuschung 
die Beschr&nkung der krankhaften Erscheinungen auf bestimmte Ge- 
legenbeiten. Dnsinnige Antworten gegenuber dem Arzte bei sonst ge* 
ordnetem Yerhalten dQrften zwanglos als vorgetAuscht augeseben werden, 
sobald Negativismus und Lust an Witzeleien ausgeschlossen seien. 
Wenn ein Patient, der sonst vorbeirede, heimlich auf dem Rloset den 
Gerichtsbeschlas8 lese, um ibn schnell zu zerreissen, da er sich beob- 

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588 Dr. J. Raecke, 

achtet sehe, so sei das ein Widerspruch and er werde in dem Augen- 
blick in unlauterer Absicht gehandelt haben. Ebenso liege Simulation 
vor bei einem Patienten, der den Pflegern bekenne, er wisse seinen 
Aufenthaltsort, aber sie mOchten ihn nicht verraten, and der gleich 
hinterher vor dem Arzte verwirrt tue. Wie autosuggestiv Vort&uschung 
in echte Psychose fibergehe, wfirden nach Ablauf einer Psyehose Ver- 
wirrtheit und Vorbeireden gelegentlich noch absicbtlich weiter festge- 
halten; es konnten aber auch zu jeder Zeit sonst bewusste Uebertreibun- 
gen sich einem Erankheitsbilde beimischen. Mit dieser Feststellung 
wird die erhebliche Schwierigkeit der Entscheidung im eiuzelnen Falle 
zngegeben. 

Auch mir ist es im Laufc der Zeit immer mehr zur Gewissheit 
geworden, dass wir es gerade bei solchen Situationspsychosen mit Vor- 
beireden mit recht verschiedenen Zustanden za tun haben. Wir befmden 
uns bier auf unsicherstem Boden und sind gezwungen, von Fall zu Fall 
zu entscheiden, wobei oft genug dem Dauerzustande ausserhalb des mit 
Vorbeireden verbundenen Ausnahmeverhaltens die grossere Bedeutung 
beigemessen werden muss. Vielleicht wird uns aber eine weitere Ein- 
teilung der mdglichen Zustandsbilder mit der Zeit weiterbringen. Falle, 
in deuen ohne alle anderen Erscheinungen des Ganser’schen Symptomen- 
komplexes lediglich ein plumpes Vorbeireden zur Schau getragen wird, 
sind mit hochster Vorsieht aufzunehmen. Gerade neuerdings sind mir 
unter den Psychopathen, die unsere Hoimatlazarette bevOlkern, so zahl- 
reiche derartige Individuen begegnet, dass sich der Gedanke, es handle 
sich da um einen gewohnheitsmassig dem Gutachter vorgemachten Trick, 
unwillkfirlich aufdr&ngt. Vielfach werdeu gleichzeitig einzelne kindische 
Streiche vollffihrt, die den Verdacht auf Irrsinn offenbar verstarken 
sollen, obne dass aber sonst Zeichen von Moria odor Puerilismus zu 
bemerken waren. So schor sich ein Soldat ein Kreuz ins Haupthaar, 
um angeblich gegen Fliegerbomben gesichert zu seiu. Ein anderer 
brachte bei der Aufnahme einen Frosch an der Leine mit und sagte, 
das sei ein Bar. Einige tranken Tinte und erklarten dieselbe fiir guten 
Wein. Ihre vorbeigeredeten Antworten erinnerten wohl stark an die 
von Pick beschriebenen, jedoch sie entsannen sich nachher ihrer und 
erzahlten sie den Kameraden auf der Abteilung als guten Witz. 

Vor allem ein zur Begutachtung wegeu Fahnenflucht eingewiesener 
M. tat sich in dieser Beziehung hervor. Nachdem er bei der Visite 
die verkehrtesten Antworten erteilt und sich vollig unorientiert gegeben 
hatte, berichtete er einem Mitpatienten, wie er in die Klinik gekommen 
war, und macbte sich fiber den Arzt lustig, der ihn am Morgen habe 
zahlen lassen. „Natfir!ich“ habe er getan, als vcrstfinde er das nicht. 


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Ueber Aggravation nnd Simulation geistiger Storung. 589 

Er fugte hinzu: „Was glaubst du wolil, ich werde die Ohren schon 
steif halten. Da kommen die bei mir schon an, wenn die glauben, 
mit mir machen zu kounen, was sie woilen. Andere kommen doch 
frei, warum soli ich es nicht anch schaffen?“ Ferner erz&hlte er, er habe 
7.wei Briefe an seine Eltern geschrieben und dem Arzte gegeben; er habe 
sie aber so abgefasst, als ob er verruckt sei. In der Tat waren diese 
Briefe ganz kindisch gehalten. Gleichzeitig gab er dem Mitpatienten 
einen vemunftig gehaltenen Brief zar Besorgung. Auch als er in der 
Vorleeung gezeigt worden war, berichtete er demselben Mitpatienten, 
er habe „natfirlich“ die Fragen, wie er in die Klinik gekommen sei 
und wer ihn gebracht habe, nicht beantwortet. Ein ihm vorgehaltenes 
Hfirrohr habe er nicht zu kennen behauptet, habe bis 20 nur v or warts 
richtig gezablt aber nicht ruckw&rts, sondern babe 18, 15, 13 ausgelassen. 
Freilich batten dann die Aerzte so gesprochen, als sei er nicht krank 
und mache alles nur ans Furcht vor Strafe. Er sei ja zwei Monate 
fiber Urlaub geblieben. 

Hierzu sei bemerkt, dass ich Bedenken sonst tragen wfirde, die Mit* 
teilungen des Mitpatienten hier zu verwerten, obgleich es sich um 
einen nicht geisteskranken Psychopathen gebandelt hat, dem wir den 
Schntz des § 51 nicht zugebilligt haben; aliein mochte dieser auch 
den Zweck verfolgen, durch seinen Verrat sich bei den Aerzten einzu- 
schmeicheln, so konnte er doch nicht aus eigener Erfindung wissen, 
was tats&chlich in der Vorlesnng sich abgespielt hatte. Die von ihm 
erw&hnten Einzelheiten waren richtig und mussten ihm von M. selbst 
entdeckt worden sein. Das durfte genfigen, um festzustellen, dass M. bei 
seinem Vorbeireden und Vorschfitzen von Amnesie zum mindesten be- 
wusst fibertrieb, wahrscheinlich simulierte 1 ). 

Auch Mdnkemfiller’s Fall Ba. wollte nur in Gegenwart der Aerzte 
nicht die einfachsten Dinge kennen, unterhielt sich aber ganz ordentlich 
mit anderen Kranken, spielte eifrig mit ihnen Earten und bedeutete 
einem neuen Ankommling, man durfe hier nicht zuviel wissen. Seine 
Amnesie hatte sich erst im Verlaufe der Vernehmungen ausgebildet; 
vorher war sein Gedfichtnis tadellos gewesen. Desgleichen benahm sich 
der Fall Di. des gleichen Autors nur im allgemeinen wie ein kleines 
Kind, war plfitzlich ganz verst&ndig, wenn er wollte, und verriet in 
Aeu8serungen zu anderen Kranken, dass er genau wusste, worauf es ankam. 

Ph. Jolly, der fiber eine Frau berichtet, die im Zfihlen und 
Schreiben gekfinstelte Fehler machte, bis die trotzdem erfolgende Ver- 

1) Ein andererSoldat hatte in seinem„Dammerzustande“ einemKameraden 
Geld fur eine Besorgung anvertraut. Wahrend er im ubrigen nachher totale 
Amnesie behauptete, forderte er diesen Betrag zuriick. 


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Dr. J. Raecke, 


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urteilung geradezu heilend wirkte, will eine hysterische Stbrung uber- 
haupt nicht annehmen. Die von ibr zur Schau getragene Schwerbesinn- 
lichkeit nebst weitgehender Amnesie sei unecbt gewesen. 

Forster l&sst zwar dem Wunsche, krank zu erscheinen, einen 
hysterischen Dammerzustand mit Vorbeireden entspringen, betont indessen, 
dass spatere Wiederholungen haufig nur Kopien des ersten, affektiv be- 
diogteD Ditmmerzustandes darstellten. Es wurden hier die Erfahrungen 
des fruheren Ausnahmezustandes, als neues Mittel krank zu erscheinen, 
verwertet. Gewollt sei die Einengung der Vorstellungen, die dann durch 
das Hineinversetzen in eine bestimmte Situation auch erreicht werde, 
allerdings anscheinend nur bei psychopathischer Grundlage. Demnach 
ware Absicht uberall vorhanden; nur gerate, je nach der Veranlagung, 
der eine wirklich in einen krankhaften Zustand, der andere bleibe mehr 
oder weniger reiner Simulant. 

Es ist zweifellos richtig, wenn Bunse schreibt, dass der Begriff 
des Dammerzustandes heute nacbgerade in verheerendem Umfange volks- 
tumlich zu werden drohe. Unter den minderwertigen Soldaten seiner 
Beobachtung fand sich kaum einer, der nicht in jedem Falle strafbarer 
Bandlung die Erinnerungslucke bei der Hand hatte. Sehr oft wurde 
gleich bei der ersten gerichtlichen Vernehmung mit erfrischender On- 
verfrorenheit die Behauptung aufgestellt, dass die fragliche Tat im 
„Dammerzustande“ begangen sei. Derartige Simulationsversucbe hatten 
den grOssten Teil seines Gutachtenmaterials ausgemacht. Fur den 
weniger geubten Sachverstandigen bedeutet da die Klarung des Sach- 
verhaltes keine leichte Aufgabe. Nach beiden Seiten bin sind Ent- 
gleisungen mdglich. Simulationsriecherei ist fraglos zu verwerfen, doch 
auch zu weitgehende Milde und Vertrauensseligkeit sind nicht zu recht- 
fertigen. Die alte Anschauung von der relativen.Seltenheit von Vor- 
tauschung geistiger Erankheit ist nicht aufrecht zu erhalten. Crell’s 
Berufung auf Schule, der unter tausenden von Geisteskranken keinen 
einzigen Simulanten gesehen babe, macht heute keinen Eindruck mehr. 
Vingtrinier’s oft zitierte Behauptung, schon Simulation sei eine Psy- 
chose, ist entschieden abzulebnen, auch Penta’s Annahme, dass sie die 
Geisteskrankheit des gebornen Verbrechers sei. Raimann, der bei 
jedem hysterischen Vorbeireden eine Beimischung von Uebertreibung 
vermutete, hat in alien Fallen von Simulation die Fragestellung mit 
Recht so formuliert: Ist der zu Begutachtende des Gebrauches seiner 
Vernunft so vSllig beraubt, dass er die Tat nicht zu verantworten ver- 
mag, deren strafrechtliche Verfolgung jetzt die Simulation von Geistes¬ 
krankheit veranlasst? Jedenfalls ist der Nachweis einzelner krankhafter 
Zuge noch nicht geniigend, urn nun gleich alles, was geboten wird, fur 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 591 

krankhaft anzusehen. Die Beherzigung dieser Warnung hatte vielleicht 
im Falle W. mit dem Versuche, die Uebertreibung von der tatshchlichen 
psychopathischen Grundlage zu trennen, schon fruher zu einer richtige- 
ren Anffassung dee Falles Veranlaesung geben kdnnen, anstatt dass jetzt 
•die Grundlosigkeit der Annahme ihrer Unzurechnungsfahigkeit erst mit 
ihrem Gestandnis zntage getreten ist. 

Das fubrt nns zur ErOrterung der wichtigen Frage, wieweit das 
Eingestandnis von Simulation als beweisend gelten darf. Schott hat 
sich dahin gehussert, Gestandnisse bewiesen so wenig wie Entlarvungen. 
Moeli hat anf die Mdglichkeit aufmerksam gemacht, dass Geisteskranke 
Simulation simulieren. Das ist gewiss zu beherzigen. Die blosse Be- 
hauptung, simuliert zu haben, besagt noch nichts. Wir hCren dasselbe 
oft genug von unseren Patienten erklaren, wenn sie auf Entlassung aus 
der Anstalt dr&ngen. Nach Schafer kann ein Gestandnis auch teil- 
weise echt sein, wenn namlich der in der Tat simulierte Symptomen- 
komplex nur die bewusste Uebertreibung wirklich vorhandener psychi- 
scher Krankheitserscheinungen darstellt. 

Eriminelle Psychopathen prahlen gern mit ihrer Scblauheit. Man* 
ches, was sie ohne die MOglichheit einer Nachprufung uns hinterher 
zum besten geben, mag einfach auf Phantasie und Erfindung beruhen. 
Oder sie haben, wie Schafer zu bedenken gibt, erst im Laufe ihrer 
zahlreichen Explorationen und Begutachtungen so allerlei erfahren, was 
sie uns nun als eigene Erinnerungen aufzutischen streben. Man kann daher 
derartigen Gestandnissen gegenuber gewiss nicht misstrauisch genug 
bleiben. 

Stets wird es erforderlich sein, zunachst eine nahere Prufung des 
Gestandniss-s eintreten zu lassen und sorgfaltigst alien zur Stutze 
angefuhrten Einzelheiteu nachzugehen. Wer sagt, er babe Anfalle 
kunstlich vorgetauscht, soli diese nochmals vorfubren. Wer sagt, er 
habe absichtlich falsch geantwortet, mag die falscben und richtigen 
Antworten nennen, damit wir sie mit unseren Aufzeichnungen verglei- 
chen. Nur als Bestatigung des auf Grund eigener Beobachtung ge* 
wonneneu Urteils darf, wie Siemerling mit Recbt verlangt, fur uns 
das Zugestandnis des Untersuchten Bedeutung erlangen. 

Um ausschliessen zu kOnnen, dass nicht etwa neben dem bewuBst 
vorgetauschten Bilde noch eine echte Krankheit eine Rolle spielte, ist 
immer die Einziehung einer m5glichst grundlichen Yorgeschichte erfor¬ 
derlich. Auch werde die eigene Beobachtung so lange wie mbglich 
ausgedehnt. Das Gestandnis soil nns nur einen Fingerzeig geben, keinen 
Beweis; diesen haben wir selbst zu fuhren. Ebenso bedeutet jji auch 
hartnackiges Ableugnen einer bewussten Uebertreibung niemals den 


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592 Dr. J. Raecke, 

Gegenbeweis. Der Untersucber bat sich in alien F&llen selbst seine 
Ueberzeugung za bilden. 

Indessen ebenso, wie ein Eingest&ndnis bei no tiger Vorsicht immer 
nfitzlich werden kann, so sind es auch Mitteilungen von Mitpatienten 
nnd Eameraden. Nur sei man ihnen gegenuber nocb vorsichtiger und 
skeptischer als gegenuber den Aussagen des Patienten. Oft hat dieser 
seine Umgebung mit Geschick beeinflusat, so dass sie ohne bose Absicht zu 
seinen Gunsten sicb aussert. Die falschen Angaben der als durchaus 
zuverlfissig geltenden Patientin der Irrenanstalt F. fiber die Frau W. 
sind hierffir ein beachtenswertes Beispiel. Dass Zellgenossen in den 
Gef&ngnissen es vielfach als Parteisache betrachten, den Exploranden 
dutch ihre Aussagen zu stfitzen, w ah rend umgekehrt die Aufseher in 
ihrem Misstrauen leicht fibers Ziel hinausschiessen, hat vor allem 
Fritsch betont. In anderen Fallen wieder mag persfinliche Abneigung 
oder der Wunsch, sich wichtig und bei den Aerzten beliebt zu machen, 
die Triebfeder bei den Mitteilungen von Mitpatienten bilden. Unzuver- 
lfissig sind leider auch oft genug die Berichte des Pflegepersonals und 
dfirfen nur mit einer gewissen Vorsicht und Auswahl den arztlichen 
Schlussfolgerungen zu Grunde gelegt werden. Dennocb wird wohl keia 
Psychiater auf diese ganz verzichten wollen. So steht es schliesslich 
auch mit den Aussagen der fibrigen Umgebung. Dieselben kfinnen, wie 
wir geseben haben, gelegentlich wertvoll werden und sind daher nach 
Moglicbkeit mitheranzuziehen und selbst dann, wenn sie zunfichst etwas 
fiberraschend lauten, nicht vorschuell zu verwerfen, soudern zu prfifen. 

Bei der Untersuchung eines schweren Schwachsinn vortfiuscbenden 
Verbrechers im Geffingnisse babe ich z. B. einmaf von dieser Methode 
mit Vorteil Gebrauch gemacht: Seine Antworten bei der ersten Explo¬ 
ration hatten wegen der allzu hochgradigen Unkenntnisse einen gekfin- 
stelten Eindruck gemacht. Beim zweiten Besuche im Gefangnisse liess 
ich zuerst seine Zellgeuossen einzeln vorffihren und fragte sie, was ihnen 
der Explorand fiber die frfihere Untersuchung erzfihlt hatte. Da ergab 
sich, dass er vor ihnen mit seinen absichtlich falschen Angaben geprahlt 
hatte. Als ihm das dann vorgehalten wurde, war er so betroffen, dass 
er jeden weiteren Tfiuschungsversuch aufgab. Es ergab sich, dass er 
wohl leicht schwachsinnig war, aber lange nicht in dem Masse, wie er 
sich anfangs gestellt hatte. 

In der Elinik ist das gesamte Verhalten des Exploranden zur Um¬ 
gebung, wie bereits mehrfach oben gezeigt wurde, bedeutungsvoll. Oft 
lassen sich selbst hartnfickige Uebertreiber gehen, wenn sie sich einmal 
unbeobachtet wahnen. Bei der Verwendung derartiger Vorkommnisse 
ffir die Beurtcilung ist es aber stets erforderlich, dass sich der Gut- 


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Ueber Aggravation and Simulation geiatiger Storung. 593 

achter selbst irgendwie nachtr&glich von der Zuverlassigkeit der ihm 
gemachten Meldung uberzeugt, falls er nicht durcb eigenen Augenscbein 
ihre Ricbtigkeit festgestellt hatte. 1st ihm Beides nicht mfiglich, darf 
erjene nur als Verdachts- und nicht als Beweismoment ansehen. Niemals 
ist es gestattet, die Aussagen von Laien ohne weiteres als gleichwertige 
Tatsachen neben den eigenen Beobachtungsergebnissen zu verwerten. 

Harmlosere Simulanten werden sogleich in der Umgebung wirklich 
Geisteskranker unsicber, kopieren ungeschickt das dort Gesehene, lassen 
sich neue Symptome durch fiberhfirte Ausstellungen des Arztes sugge- 
rieren oder fallen nach einiger Zeit ermudet aus der Rolle. Aber die 
Gewandteren und Gefahrlicheren, die scbon eigene Erfakrnngen hinter 
sicb baben, wissen sich vor solchen Klippen scblau zu schtitzen, und be- 
folgen hartnfickig einen ganz bestimmten Plan. So bielt der von Dietz 
beschriebene Simulant 6 Monate hindurch die Kopie eines Kindes fest 
und noch lfinger eine angebliche L&bmung. Es schien dieser ethisch degene- 
rirte Mensch bestrebt, die Luge kindlicher Naivitfit zur Schau zu tragen. 

Die grosse Bedeutung der Art der Entsehung eines angeblich psy- 
chotischen Zustandes ist bereits oben zur Besprechung gelangt. Pldtz- 
liches Einsetzen der StOrung fiber Nacbt bei ungfinstiger ausserer Situa¬ 
tion -ohne voraufgegangeue Krankheitszeichen und obne befriedigende 
Grundlage wird immer Verdacht erregen mfissen. Daher ist die Be- 
schafifung einer guten Vorgeschichte so wichtig und bildet stets die un- 
erlassliche Voraussetzung einer sorgffiltigen Beobacbtung. Sogar fruhere 
Gutachten in den Akten gestatten in verwickelteren Fallen dem vorsich- 
tigen Gutacbter nicht, auf eigene Nachforscbungen zu verzichten. Ge- 
rade hier kann vielmehr das Herausarbeiten einer wirklich einwands- 
freien Anamnese gelegentlich zu einer fiberraschenden Elfirung des Sach- 
verhaltes fuhren. Oft genug ergibt sich dann, dass im Laufe der Zeit 
das wahre Bild arg verffilscht worden war. 

Ein gutes Beispiel bietet auch da wieder unser Fall Frau W. mit 
den zahlreichen Gutachten, die sich auf angebliche epiieptische Ante- 
zedentien stutzten, wahrend nahero Nachprufung die Unhaltbarkeit der- 
selben erwies. Ganz fihnlich war in einem Simulationsfalle von Furstner 
die vorgetfiuschte Epilepsie durch eine vollig verffilschte Vorgeschichte 
glaubhaft gemacht worden. 

Selbstredend sind alle Mitteilungen der Angehdrigen in Begutach- 
tungsfallen mit dem grfissten Misstrauen aufzunebmen. Immer wieder 
macht der gerichtliche Sachverstfindige die Erfahrung, dass die gleichen 
Angehfirigen, wenn es sich darum handelt, den Tfiter durch Annahme 
von Unzurechnungsffihigkeit vor Strafe zu schutzen, oder darum, ihn 
als nicht mehr gemeingeffihrlich aus der Irrenanstalt wieder herauszu- 


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bekommen, vbllig w'idersprechende Anamnesen mit dem gleichen Brust- 
tone der Ueberzeugung abgeben. 

Nur recht bedingten Wert haben ferner viele Zeugenaussagen, veil 
sie infolge laienbafter Unkenntnis in medizinischen Dingen sehr viel 
mehr behanpten, als wissenscbaftlich haltbar ware. Hat aber nunmehr 
erst ein Sachverst&ndiger eine solche Zeugenaussage in sein Gutachten 
aufgenotnmen und sich die betreffenden Ausffihrungen zu eigen gemacht, 
dann gewinnt sie rasch unverh&ltnismfissige Bedeutung, und die im 
Grunde ganz unznverlassige Bekundung geht als gesicberte Tatsache 
durcb alle folgenden Gutachten und arztlichen Zeuguisse, bis endlich 
ein spaterer Dntersucher auf den Gedanken kommt, der Entstehnng 
jener Bebauptung n&lier nachzugehen. Es ist wobl verstJtndlicb, dass 
gerade viel beschaftigte Kreis- und Gerichtsarzte nicht immer Zeit und 
Lust zu solcher muhsamen Quellenforscbung aufbringen und dann ge- 
legentlich, obne es zu ahnen, mit ibren neuen Aeusserungen das Bild 
noch weiter verwirren. 

Aber schon die allerersten arztlichen Bekundungen in den Akten, 
soweit sie nicht von facharztlicher Seite stammen, soil ten nicht unge- 
prfift fibernommen werden. Der psychiatrisch nicht genfigend vorge- 
bildete Arzt wird, falls er einmal zufallig in einem Prozesse fiber psy- 
chiatrische Fragen vernommen wird, erfahruogsgemfiss leicbt dazu neigen, 
aus seinen Beobacbtungen auf Drfingen von Richter oder Verteidiger 
weitergehende Schlussfolgerungeu zu ziehen, als sich bei strenger Nacb- 
prfifung aufrecbt erbalten lfisst. Leicht schleppt sich dann solche un- 
genfigend gestutzte Behauptung als bedeutsame Unterlage aus einem 
Gutachten in das andere fort. 

Ferner sollte nie die blosse Tatsache, dass der Betreffende, dessen 
Geisteszustand begutachtet wird, sich schon fruher in Irrenanstalten als 
Patient befunden bat, genfigen, am darauf Annahmen aufzubauen. Immer 
ist erst zu versuchen, Einblick in seine Krankengeschichten zu erhalten, 
und auch diese sind kritisch zu lesen. Manchmal wfirde der Schreiber 
des einen oder anderen Krankenblattes seine Meinung findern, wenn er 
jetzt noch einmal den gleichen Fall auf Grund des inzwischen ver- 
mehrten Materials zu beurteilen hfitte. 

Endlich ist in unserem Falle der Frau W. darauf hingewiesen 
worden, dass sie gewissermassen ihr bestimmtes Simulationssystem hatte. 
Das dfirfte wohl von den meisten derartigen Individuen gelten. Zum 
Toil wohl auch aus diesem Grunde kehrt bei einzelnen die gleiche 
Form der Situationspsychose mit fast photographischer Treue wieder. 

Unrichtig erscheint mir jedenfalls die Bebauptung von Bresler, 
dass in der Art, wie Geisteskrankheit oder Krfimpfe simuliert wfirden, 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 


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keinerlei System vorhanden sei, so dass auch die Ausfubrnng der Ent- 
larvung nie in der Ausfuhrung bestimmter Technizismen erfolgen kSnne. 
Der Aafbau einer „Lehre“ von der Simulation geistiger Stfirungen ge- 
hfirt vielmehr nicbt ohne Weiteres zu den Unmfiglichkeiten, wenn wir 
auch zur Zeit von einer solchen noch kaum die Anfangsgrunde besitzen 
mOgen. Es war daher zu bedauern, dass Bresler sich lediglich roit 
einer Zusammenstellung der einschlagigen Schriften begnugte, ohne den 
Versuch zu wagen, das zusammengetragene Material nach bestimmten 
Gesichtspunkten zu ordnen und damit die Vorarbeiten fur eine ein- 
dringende Erkenntnis in die psycbologischen Gesetzmfissigkeiten bei 
dem Zustandekommen simulierter „Krankheitsbilder“ zu liefern. 

Liest man vielmehr die in der Literatur niedergelegten Simu- 
lationsffille von diesem Gesichtspunkte aus aufmerksam durch, so 
sieht man sich bald zu dem Eingest&ndnis gezwungen, dass ganz 
merkwfirdig oft die gleichen oder doch recht fihnliche Typen wieder- 
kebren. 

Sehr beliebt ist, wie schon erw&hnt ward, blosse Ged&chtnisschwSche 
fur alle belastenden Vorkommnisse, wobei bald dem Gutachter die 
Deutung dieser Erscheinung uberlassen, bald das Vorliegen eines 
„Dammerzustandes“ behauptet wird. Urn letztere Behauptung wahr- 
scheinlicber zu machen, sind geriebene Simulanten sogar so weit ge- 
gangen, sich vorher „propbylaktisch“ auffallig zu benehmen. Ein 
solches Verfahren erinnert stark an den beruchtigten Alibinachweis 
alter Verbrecher. 

Unter den bunteren Bildem phantastischer Wahnideen und Sinnes- 
tauschungen kehren, wie Schafer treffend bemerkt, auffallend haufig 
bestimmte Formen wieder, wie schwarze Manner, die an den Menschen- 
fresser im Marchen erinnern, Giftbeimengung im Essen, Intriguen des 
Staatsanwalts, der darauf ausgehen soil, den „Unschuldigen u zu ver- 
nichten und deshalb von diesem zum Duell gefordert wird, vomehme 
Abstammung, wobei volltfinende Namen, wie z. B. Benkel v. Donners- 
mark, eine schon unangenehme Bevorzugung erfahren. Stets fehlt jede 
merkiiche Veranderung der Persdnlichkeit und es besteht nur ein ober- 
flachlicher Affekt. Die angefuhrten Verfolgungen bleiben ohne ent- 
sprechenden Einfluss auf das gesamte Gebabren. Die Aufforderung, 
fiber die angeblichen Sinnestfinscbungen, die vorwiegend Gesichts- 
tauschungen sind, eingehender zu berichten, verursacht oft deutliche 
Verlegenheit oder es kommt zu ganz verzerrten Schilderungen, die sug¬ 
gest v beliebig zu beeinflussen sind. Man hat hier immer wieder den 
Eindruck, dass die meisten derartigen Versuche einer Vortfiuschung sich 
ganz ausserordentlich untereinander ahneln. 


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Auch MonkemSller gelangte auf Grand aasgedehnter Erfahrangen 
auf diesem Gebiete zu dem Schlusse, dass in der Regel die gleichen 
Krankheitsbilder vorgespielt wurden. Es seien das die landlaufigen 
Irrsinnsformen, wie sie das Publikum sich vorstellte. Nur wer irgend- 
wie Gelegenheit geliabt habe, selbst einen Fall von Geistesstorung naher 
zn beobacbten, wurde als Simulant dazu schreiten, diesen nachzuahmen 
und dadurch vielleicht ein selteneres Erankheitsbild kopieren. Verh&lt- 
nism&ssig beliebt sei ausserdem bei Simulanten wegen des Eindracks 
auf die meisten Gefangnisarzte die Nahrungsverweigerung, zuweilen 
verbunden mit Stummbeit und Selbstbeschadigungsversuchen. Diese 
Angabe ist zweifellos ricbtig. Schon geringe Anstrengungen in solcher 
Ricbtung fuhren nftmlich in mancben Gefangniseen mit absoluter Ge- 
wissbeit zur sofortigen Verlegung in die Irrenanstalt, wo dann aber bei 
ruhigem Abwarten rasch ein geordnetes Verhalten zuruckzukebren pflegt. 

Debrigeus mochte ich eine solche Vorsicbt der betreffenden Ge¬ 
fangnisarzte durchaus nicht tadeln. Im Zweifelsfalle ist es sicber besser, 
in dieser Ricbtung zu irren, als umgekebrt. 

Auf Grand aller derartiger Beobachtungen haufiger Uebereinstimmung 
der SimuiationsformeD lag der Gedanke nahe, die ublicbsten Bilder zu 
beschreiben und einzuteilen, um dadurch zu einer besseren Kenntnis 
und Uebersicht des auf diesem Gebiete MOglichen zu gelangen. Auf 
alle alteren Versuche dieser Art konuen wir hier nicbt eingehen. Be- 
kannt ist die Einteilung von Fiirstner in Zustande von Blddsinn, von 
balluzinatorischer Bewusstseinstriibung, von Erregung mit Zerstfirungs- 
sucbt und unsinnigen Aeusserangen, endlich in eine Gruppe, deren Bild 
sich ans sehr verschiedenartigen, unregelmassig miteinander wechselnden 
Erscheinungen zusammensetzt. Daneben erwahnt aber Fiirstner auch 
das Nachabmen von Paralyse und von Epilepsie mit Irresein. 

Siemerling, welcher anerkennt, dass „durch Ausdauer, Geschick- 
lichkeit, Intelligenz und Willenskraft mancher Simulant die geschicktesten 
Irrenarzto wenigstens eine Zeit lang zu t&uschen verstanden hat“, nennt 
als haufigste Bilder Blddsinns-, leichte Depressions-, paranoische Zu- 
stftnde, auch Erinnerangsdefekte und Epilepsie. 

Neuerdings bat dann Hubner eine erscbOpfende Aufzahlung zu 
bieten versucht. Er unterscheidet epileptische Anfalle, Stummheit, 
Regungslosigkeit, Schwachsinn, Bewusstseinstriibungen, traurige Ver- 
stimmung, Sinnestauschungen und Wahnideen. Aber auch diese Ueber¬ 
sicht vermag anf der einen Seite nocb nicbt alle Formen zu beriick- 
sicbtigen, die uberhaupt moglich sind, wabrend sie andererseits zu all- 
gemein und farblos bleibt, um unserem Zweck zu geniigen. Ohne 
grundlichere Vorarbeiten durfte sich die hier angeregte Aufgabe wohl 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 597 

gar nicht durchfuhren lassen. Zuviele Zuf&lligkeiten, persfinliche Ge- 
wandtheit, Wissen, Yorleben, Neigungen nsw. spielen beim Zustande- 
kommen der einzelnen Simulationsbilder mit. Im allgemeinen dfirften 
aber die zor Zeit im Lande herrsckenden laienhaften Anscbauungen 
fiber das Wesen Geistesgestfirter am meisten zum Ausdruck dr&ngen, 
oder aber die gelegentlich erworbenen individuellen Erfabrungen ver- 
wertet werden, wie z. B. der Fall von Riehm seine frfiher fiberstandene 
Alkoholpsychose benutzte. Je nach Begabung, Bildung, Rasse, Gegend 
-werden wir daber andere Bilder zu erwarten haben. Interessant sind 
in dieser Beziehung die Mitteilungen von Penta fiber die ausserordent- 
lich hfiufige Simulation' in Neapel. 

Immerhin bat Ffirstner Recht, wenn er behauptet, dass trotz 
mancher Abweichungen, die durch die fiusseren Verbfiltnisse bedingt 
sind, bestimmte Zfige und Merkmale immer wiederkehren, denen darum 
oine gewisse diagnostische Verwertbarkeit nicht abzusprecben sei. Nur 
sind eben diese bisker hfichst schwierig in Wort und Scbrift festzuhalten. 
Man wird bisweilen bei einem neuen Fall unwillkfirlich an eine frukere 
Simulationsbeobachtung erinnert, hat den zwingenden Eindruck des Un- 
echten und kann doch nicht gleich sagen, wieso. 

Mit Leppmann’s Forderung, der Unterschied zwischen dem simu- 
lierten Bilde und den wirklichen Krankheitsformen des eigenen Er* 
fahrungsschatzes mussten erheblich sein, ist in dieser Fassung wenig 
anzufangen. 

Am greifbarsten ist noch immer wieder unter der Ffille buntester 
Mannigfaltigkeit, die uns bei jedem Ordnungsversuche entgegentritt, der 
klaffende Widerspruch zwischen der vom Simulanten zur Schau getragenen 
Verwirrtheit oder Demenz und der tats&chlichen guten Orientierung. 

Penta hat sicb fiber diesen wesentlichen Punkt, der ihm bei seinem 
grossen Material gleichfalls nicht entgehen konnte, folgendermassen aus- 
gesprochen: Der Simulant setze sich leicht mit sicb selbst in Wider- 
sprucb und werde sein eigener VerrSter. Er sei nicht imstande, Gang, 
HaltuDg, Gesten, sein ganzes Benehmen und besonders seinen Blick mit 
seinen Reden in Einklang zu bringen. Sein lebhafter Wunsch, Eindruck 
zu machen, seine Unsicherheit fiber den Ausgang des Versuches und 
die Willensschwache und Sorg*losigkeit der Verbrechernatur bildeteu die 
Grunde, wesbalb der Simulant fortwfibrend sein Gebabren findert. So 
werde die Simulation meist zur Karikatur einer Geisteskrankheit. Das 
wiederhole sich so regelmfissig, dass man fast von einem besondereu 
klinischen Bilde sprecben kdnne. In dieser Hinsicht glichen sich alle 
Falle von Simulation, so dass wer einen gesehen habe, hnndert ge- 
sehen habe. 


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Oben ist bereits wiederholt auf derartige innere Widersprfiche id 
den Darbietungen von Simulanten aufmerksam gemacht worden. 

Scbon Dedichen stellte fest, dass sich Versagen bei einfachsten 
Fragen verband mit guter Auffassung und Eenntnis der Tagesereig- 
nisse. 

- Der von Siemens begutachtete Weppe schwatzte fast nur in Gegen- 
wart der Aerzte verwirrtes Zeug. Sein sich fingstlich verwirrt stellen- 
der Explorand Schmidt beobachtete stets alles genau, was urn ihn herum 
vorging, drehte sich lebhaft und intelligenteu Blickes urn, blinzelte mit 
den Augen; urn stets alles verfolgen zu kdnnen, zupfte bei Suggestiv- 
frage misstrauisch und unentschlossen an den Fingern, bewies durch 
passende Antworten, dass er die Fragen verstand. Anstatt eine wirk- 
liche Depression zu zeigen, lachte er, als Witze und Zoten gerissen 
wurden, unterdruckte aber das Lacben sofort, als es gemerkt wurde. 

In dem von Longard und Pelmann geschilderten Falle bestand 
ein scbroffer Gegensatz zwischen dem angeblichen totalen Versagen des 
Gedfichtuisses und dem soust ausgezeichneten Intellekt. 

Bolte bemerkte bei seinem Schwachsinn Simulierenden ein stets 
den Umst&nden angepasstes und mit ihnen wechselndes Verbalten. 

Krdmer’s Frau Z. erging sich den Aerzten gegeniiber in un- 
sinnigen Antworten, konnte nicht bis 10 zahlen, wusste ihre eigenen 
Personalien nicht, nichts von ihrer Tat, w&hrend sie gleicbzeitig 
einer Pflogerin gegeniiber sich in jeder Hinsicht unterrichtet und ge- 
ordnet erwies. 

Die gleichen Erfabrungen machte Heller mit seinen Simulanten, 
die sich vor allem durch Uebertreibung und Inkonsequenz verrieten. 
In der Unterhaltung mit dem Untersucher wollten sie fiber die gewfihn- 
lichsten Dinge nicht Auskunft geben kfinnen, wahrend sie flott alle 
Momente nannten, die ihrer Exkulpierung forderlich erschienen, oder 
aber sie brachten ihre bidden Erwiderungen immor dann vor,. wenn 
das Gesprfich auf die ihnen zur Last gelegten Handlungen gelenkt 
ward. 

Ferner sei erwfihnt der durch Detektivs klargestellte Fall von 
Marcuse: Der Unfallkranke H. hatte sich vor dem Gerichtsarzte wie 
vfillig verblddet benommen und keine Frage richtig beantwortet. Zwi¬ 
schen seinen Antworten sprach er schwachsinniges Zeug und erzfihlte 
unaufgefordert von ganz gleichgfiltigen Dingen, ein Zug, der uns auch 
, in unserem Falle Frau W. begegnet war. Trotzdem liess sich zeigen, 
dass H. die Zeitungen las und die Tagesereignisse kannte; er suchte 
sich geeignete Kameraden zur Unterhaltung aus, spielte mit ihnen Dame 
und Mfihle, sang mit richtigem Text ein Lied. Niemals beging er 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 599 

eine unsinnige oder der Tat nicht entsprechende Handlung. Alle seine 
angeblichen Krankheitserscheinangen waren stundenweise ganz ver- 
schwanden. 

Vielleicht wurde es sich ermoglichen lassen, durcb Aufdeckung der 
Gedankeng&nge, welche in einzelnen Fallen sicker entlarvter Simulation 
die Betreffenden zn gerade dieser Wahl von Symptomen bestimmt hatten, 
der hier vermutlich herrschenden psychologiscben Gesetzmassigkeit mehr 
auf die Spur zu kommen und schJLrfer umschriebene Grundtypen von 
Simnlationsmethoden aufzustellen. 

Gest&ndige Simulanten, wie unsere Frau W. durften bereitwillig er- 
kennen lassen, warum sie gerade diesen Weg wahlten, sich im einzelnen 
YerbOr so und nicht anders benahmen. Leider haben wir damals noch 
nicht auf diesen Punkt unser Augenmerk gerichtet. In kunftigen ein- 
echlSgigen Fallen wurde ich nicht verfehlen, das Vers&umte nachzuholen, 
und mOchte auch andere, die dazu Gelegenheit haben, um VerOffent- 
lichung entsprechender Feststellungen bitten. 

Erst auf Grand einer derartigen Erkenntnis von dem eigentlichen 
Mechanismus der Simulationsmethoden liesse sich auch unser Vorgehen 
bei der Entlammg in eine Art System bringen. Heute probieren wir 
mehr auf gut Gluck die verschiedenen empfohlenen Mittel durcb. 

Yor den friiher beliebten beroischen Gewaltkuren hat Moeli mit 
Recht gewarnt. Sie wirken nicht nur leicht inhuman und im Irrtums- 
falle uberaus schadlicb, sie verraten meist auch eine bedenkliche Un- 
sicherheit des Gutachters, falls dieser erst mit solchen Mitteln zu einem 
Drteil gelangen will. Audernfalls sind sie uberhaupt viberflussig. 

Zweifellos ist es ungeschickt, dem zu Begutachtenden von vorn- 
herein Misstrauen zu zeigen. Man braucht noch nicht so weit zu gehen, 
wie MdnkemSUer, der sogar im Falle fester Ueberzeugung von vor- 
liegender Simulation abr&t, solches dem Delinquent deutlich zu machen: 
Der Simulant falle leichter aus der Rolle, wenu er w&hne, man glaube 
ihm. Sonst nehme er sich zusammen und erschwere die Entlarvung. 
Allein Starke Yoreingenommenheit tut nie gut und es bleibl stets Auf- 
gabe des Arztes, nach MOglichkeit das Yertrauen seines Patienten zu 
erringen. Erst wenn man mit Sicherheit bewusste T&uschungsversuche 
beobachtet bat, mag man sein Betragen findern, und unter Umst&nden 
mit dem Simulanten offen und energisch reden. 

Mir hat sich bisher immer am besten bew&hrt anfangliches Igno- 
rieren der Uebertreibungen, gleichm&ssig freundliche abwartende Behand- 
lung, bei Gelegenheit vielleicht vorsichtiger Versuch, neue Symptome 
zu suggerieren, dann Yorstellung in der Yorlesung und Auseinander- 
setzen der verschiedenen Aussichten, je nachdem Zurecbnungsf&higkeit 


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Oder Unzurechnungsf&higkeit anzunehmen wftre, also eine Kombiaation 
der von Hoche, Leppmann, Hubner angeratenen Verfahren. 

Mit Ueberrumpelung und Gioschuchterung wird man nur bei aus- 
gesprochen hysterischen Erscheinungen oder bei manchen ubertreibenden 
Schwacbsinnigen Erfolg haben, liuft aber stets mit Anwendung der- 
artiger Mittel vie Faradisieren Gefahr, sicb bei Misslingen die Aufgabe 
zu erschweren. Dann wire es noch zweckm&ssiger, eine Kombiaation 
von Ignorieren und Abschreckung eintreten zu lassen durch Versetzung 
auf die unruhige Abteilung, und zwar unter Umst&nden ins Dauerbad, 
wie Weichbrodt fur rnanche Kriegsneurotiker empfohlen hat. Dort 
iibersieht man scheinbar den Patienten, bis er sich selbst meldet und 
Wunsche vortrSgt. Manchmai verschwinden so Stupor, Mutismus, Vorbei- 
reden uberraschend schnell. Es stellt ja diese Methode nichts eigentlich 
Neues dar, so wenig wie die sogenannte Kaufmann-Methode. In den 
meisten Anstalten diirfte man friiber die hysterischen Stuporzust&nde 
faradisiert, die hysterischen Erregungen zur Beruhigung vorubergehend 
auf die unruhige Abteilung verlegt haben. Es sind auch ia der Lite- 
ratur F&lle beschrieben, wo ein solches Vorgehen rasch die besten 
Fruchte bei Simulanten trug. So beobachtete Plaszek einen Kn., der 
nach leichtem Unfall schlecht hOrte und „den wilden Mann spielte“. 
Die blosse Verlegung auf die geschlossene Abteilung genugte, um sofor- 
tiges Eingest&ndnis der beabsichtigten Tauschung zu erzielen. In der 
Umgebung unruhiger Kranker versagte dem Kn. alle Energie, die bis- 
herige Rolle durchzuhalten. Er horte wieder gut und bekannte offen 
seinen Schwindel. 

Jedenfalls sollte man sich bei der Begutachtung von Simulations- 
verdachtigen stets mbglichst Zeit lassen und bedenken, dass gerade die 
Zeit sich gewOhnlich als wertvolle Verbundete erweisen wird, da sie 
unvermeidlich die Durcbfflhrung der Simulation erschwert, den Betreffen- 
den, der nicht erkennt, was mit ihm werden soil, schwankend macht 
und gleichzeitig dem Untersucher immer neues Material in die Hande 
spielt, zumal wenn es gleichzeitig gelingt, ein ausgedehntes Netz unauf- 
falliger Beobachtung um den Simulationsverdachtigen zu legen. 

Also grundlichste Aufdeckung der Vorgeschichte, vorsichtige Nach- 
prufung etwa fruher erstatteter Gutachten, sorgsame kOrperliche Unter- 
suchung und geduidige Ueberwachung und Beobachtung mit nur ge- 
legentlicber aktiver Eiwirkung je nach der Art des Falles, das mussen 
unsere hauptsachlichsten Mittel sein, um einer Simulation auf die Spur 
zu kommen. Nur wer in dieser Weise jede Uebereilung meidet und 
keine zeitraubende Arbeit scheut, wird sich vor unliebsamen Ueber- 
raschungen zu siehern imstandc sein. 


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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 


601 


Literaturverzeichnis. 

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Bonhoeffer, Klinisohe Beitrage zur Lehre von den Degenerationspsychosen. 

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Archly t. Psychiatrie. Bd. 60. Heft 3/3. 39 


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602 


Dr. J. Raecke, 


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Eaecke, Zur Lehre vom bysterischen Irresein. Aroh. f. Psych. Bd. 40. S. 171. 
Derselbe, Beitrag zur Kenntnis des bysterischen Dammerzustandes. Allgem. 

Zeitsohr. f. Psych. Bd. 58. S. 115. 

Derselbe, Hysterisoher Stupor bei Strafgefangenen. Ebenda. S. 409. 
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Wien. med. Wochenschr. 1905. S. 173. 

Derselbe, Hysterisohe Geistesstorungen. Leipzig u. Wien 1904. 

Repkowitz, Ueber die Simulation und Uebertreibung. Vers. Nordd. Psych, 
u. Neurol. Hamburg 1917. 

Rioklin, Zur Psychologie hysterisoher Dammerzustande usw. Psych.-neurol. 
Wochenschr. 1904. Nr. 22. > 


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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stoning. 


603 


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Sal go, FallB von Simulation. Ebenda. Bd. 52. S. 900. 

Soliafer, Simulation von Geisteskrankheit. Monatsschr. f. Kriminalpsych. 
10. Jahrg. S. 604. 

Scholz, Simulierte Geisteskrankheit. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 30. S. 222. 
Schott, Simulation und Geistesstorung. Aroh. f. Psych. Bd. 41. S. 254. 
Sohultze, E., Ueber Psychosen bei Militargefangenen. Jena 1904. 
Derselbe, Weitere psychiatrische Beobaohtungen an Militargefangenen. Jena 

1907. 

Siefert, Ueber die Geistesstorungen der Strafhaft. Halle 1907. 

Siemens, Zur Frage der Simulation von Seelenstorung. Arch. f. Psych. 
Bd. 14. S. 40. 

Siemerling, Simulation und Geisteskrankheit bei Untersuchungsgefangenen. 

Berl. klin. Woohenschr. 1905. Nr. 48. 

Derselbe, Streitige geistige Krankheit. Schmidtmann’s Handb. d. gerichtl. 
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Derselbe, Kasuistische Beitrage zur forensisohen Psychiatric. Berlin 1897. 
S. 36. 

Snell, Ueber Simulation von Geistesstorung. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 13. 
S. 1. 

Stern, Beitrage zur Klinik hysterischer Situationspsychosen. Arch. f. Psych. 
Bd. 50. S. 640. 

Straussler, Beitrage zur Kenntnis des hysterischen Dammerzustandes. Jahrb. 
f. Psych. Bd. 32. H. 1/2. 

'Wassermeyerj Geisteskrankheit oder Simulation. Friedreich’s Bl. 1912. 
Westphal, A., Ueber hysterische Dammerzustande usw. Neurol. Zentralbl. 
1903. Nr. 1 u. 2. 

Wilmanns, Ueber Gefangnispsychosen. Samml. zwangl. Abhandl. Halle 

1908. Bd. 8. H. 1. 


39* 


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XXIII. 


\ 


Die Simulation psychischer Krankheitszustande 
in militSrforensischer Beziehung. 

Von 

Dr. Honkemoller (Langenhagen). 

Die Simulation psychiscber Krankheitszustande hat zu alien Zeiteir 
im MilitSrwesen eine bedeutsame Stellung eingenommen. Es ist noch 
nicht so lange her, dass ihr von der forensischen Militarpsychiatrio 
ein grosses Gewicht eingeraumt wurde. Das Walten der bewussten Vor- 
tauschung geistiger Krankheitserscbeinungen witterte man beim Militar 
und insbesondere in gerichtlichen Fallen auch dann noch, als man sonst 
schon allgemein zu der Erfabrung herangereift war, dass die reine Simu¬ 
lation, also die bewusste Vortauschung krankhafter Geisteszustande von 
einem Individuum, dessen geistige Gesundheit unanfechtbar war, ausserst 
selten sei. 

Allerdings war man sicb auch hier schon langst daruber klar, dass 
man sicb davor huten musse, die Bedeutung der Simulation zu uberscbatzen. 
Auch hier erlebte man immer wieder, dass man, selbst wenn es ge- 
lungen war, die Vortauschung oder Uebertreibung psychischer Krank¬ 
heitszustande nachzuweisen, hinter diesem Schleier auf ein psychiscbes 
Gesamtbild stiess, dein die Zurechnungsfahigkeit entweder Qberhaupt nicht, 
oder doch nur mit grossen Einschrankungen zugebilligt werden konnte. 

Nach KOster 1 ) und Kirn 2 3 ) ist die Vortauschung psychischer Krank- 
heitsbilder ohne jede positive Grundlage in der Armee ausserordent- 
lich selten. 

Auch Du ms 8 ) vertrat die Ansicht, dass gewOhnlich Verstellung 
baufiger angenommen werde, als es wirklich zutreffe. Ueberhaupt waren 

1) Podesta, Haufigkoit und Ursachen seelischer Erkraokungen in der 
deutschen Marine unter Vergleich mit der Statistik der Armee. Arch. f. Psych. 
1905. Bd. 40. S. 668. 

2) Kirn, (Jeber die Verkennung von Seelenstorungen im Militarstande. 
Allgem. Zeitschr. f. Psych. 1875. Bd. 31. S. 478. 

3) Dums, Handbuch der Militarkrankheiten. Leizig 1900. Bd. 3. S.578. 


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Die Simulation psycbischer Krankheitszustande usw. 


605 


sich die neaeren Autoren [Bennecke 1 )] darfiber einig, dass Simulation 
als planmEssiges Delikt bei uns seltener geworden ist. 

In den Jahren 1905 bis 1909 schwankte beim deutschen Heere die 
Zahl der nacb den §§ 81 und 83 wegen Simulation und Selbstverstfim- 
melung verurteilten Personen zwischen 24 und 39 jEhrlich bei einer 
Gesamtziffer der Verurteilungen zwischen 11500 und 12800. 

Dabei betonte allerdings auch Bennecke, dass die Zahl der Simu- 
lationen — worunter natfirlich in erster Linie die von kfirperlichen 
Leiden zu rechnen sind —, in diesen statistischen Zahlen nicht nach 
ihrem vollen Umfange zum Ausdruck kommt, weil sie in ihren harm* 
losen Formen gar nicht bis zur richterlichen Brfassung gelangt. Die 
Bebandlung dieser leichteren VortEuschungs versuche ist eben anders ge¬ 
worden. Man appelliert an das Ehrgeffihl des Mannes, man baut ibm 
goldene Brficken und verspricht ibm, dass die Sache keine gerichtliche 
Folgen fur ihn haben soil, wenn eine Besserung erkennbar ist. Da aus 
solchen Drfickebergern noch oft recht brauchbare Soldaten werden 
konnen, ffihlt der MilitErarzt sich nicbt sofort berufen, fiber jede Vor- 
tEuschung Anzeige zu erstatten. 

So betont denn auch Blau 2 ): 

Und dann wollen wir nicht vergessen, dass der erste Betrug erst 
die oberste Stufe auf der Stufenleiter, erst das Extreme darstellt, dass es 
eine Menge Zwischenstufen gibt und dass eine ganze Anzahl von Ein- 
flfissen auf einen sonst recbtlich und gut denkenden Mann eingewirkt haben 
kann, um ihn zur KrankheitsvortEuschung zu bewegen: Beschranktheit, 
VerEngstigung durch andere, CharakterschwEche, Beeinflussung durch 
Angehorige, niederer Bildungsgrad und grosse innere UmwElzungen. Und 
mag auch der Arzt noch so r fest von der Simulation fiberzeugt sein, ob 
er in juristischer Beziehung die notigen Handhaben fur eine Verur- 
teilung darbietet, ist nicht immer gesagt. So wird lieber von vornherein 
darauf verzichtet, ihn dem Gerichte zu fiberweisen. 

Dagegen bat, was die Simulation psychischer Krankheiten anbetrifft, 
die Zahl der hierfiber verdffentlichten FElle eine wesentliche Verringe- 
rung erfahren. Denn ein grosser Teil von ihnen halt einer kritischen 
Anfechtung nicht stand. Gerade in der Slteren Literatur segeln noch 
zahireiche Falle von Hysterie und Dementia praecox mit ihren oft so 
gekfinstelt unnatfirlich erscheinenden KrankheitsEusserungen unter der 
Flagge der Simulation. 

1) Bennecke, Simulation und Selbstverstummelung in der Armee unter 
besonderer Beruoksicbtigung der forensischen Beziebungen. Arob. f. Kriminal- 
anthrop. und Kriminalstat. 1911. Bd. 43. S. 197. 

2) Bennecke, 1. c. S. 198. 


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Dr. Monkemoller, 


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Bennecke 1 ), der die Akten von 42 milit&rischen Simulationsf&llen 
bearbeitete, in denen es zur Verurteilung von 15 Simulanten kam, ver- 
fugte auch fiber 2 F&lle von Simulation psyichischer Stfirungen. 

Ffir den Soldaten hat die Simulation und selbst die Aggravation 
psychischer Stbrungen eine wesentlich unangenehmere Bedeutung als im 
bfirgerlichen Leben. 

Er wird, wenn er darauf ausgebt, der Erffillung der Dienstpflicht 
zu entgehen, strafbar. Dieser grundlegende Unterschied grfindet sich 
darauf, dass das feste Geffige der Armee auf der unbedingten Sicher- 
heit der Durchffihrung der allgemeinen Wehrpflicht beruht. Die Simu¬ 
lation rfittelt an diesem Geffige. Bliebe sie straflos, so wfirde sie sicher 
bei der ansteckenden Verbreitungsweise solcher Versuche in weitgehend- 
stem Masse die Bestrebungen fflrdern, die derErfiillung der Dienstpflicht 
entgenarbeiten. Die hohen Strafen, die darauf steben, sollen ab- 
schreckend wirken. 

Aber wenn es nicht zu einer Verurteilung kommt und nicht 
einmal ein Verfahren eingeleitet wird, ist das Scbicksal der Soldaten, 
die zum Simulanten gestempelt werden, bei der Truppe nicht gerade 
sehr erfreulich. Es ist klar, dass Elements, die derartigen Neigungen 
frdhnen, mit der ganzen Strenge des Dienstes angefasst werden. 

Spielen derartige Neigudgen in ein Verfahren wegen Fahnenflucht 
hinein, so werden Zweifel, ob der Titer sich der Dienstpflicht entziehen 
wollte, zu seinen Ungunsten ausgelegt. 

Auch sonst wird bei anderen militirischen Delikten seltener ein 
„minder schwerer Fall“ angenommen, wenn der Titer auf Vortiuschung 
und Uebertreibung ertappt wird, auch wenn gegen ihn nicht ausdrfick- 
lich das Verfahren wegen Simulation eingeleitet wird. 

Der jetzige Krieg liess von vornherein nicht erwarten, dass wir 
allzuviel mit der Simulation zu tun haben wfirden. 

An und ffir sich hitte ja theoretisch fiberhaupt nicht damit ge- 
rechnet werden dfirfen, dass die Verbindung von Verbrechen und Geistes- 
krankheit derartige Blfiten treiben wfirde. Im Beginne des Erieges 
war im Heere ein Material vertreten, das in korperlicher und geistiger 
Beziehung eine Auslese darstellte, von dem kriminelle Elemente schwe- 
rerer Firbung einerseits und psychisch kranke Persfinlichkeiten anderer- 
seits systematisch ferngehalten worden waren. Auch bei zweifelhafteren 
Naturen war dnrch die Begeisterung jener Zeit, durch den Idealismus, 
der alles verklirte, alle jene Bestrebungen fortgespfilt worden, auf denen 
die Simulation Fuss fassen konnte. 


1) Bennecke, 1. c. S. 203. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


607 


Im weiteren Verlaufe des Krieges ist hierin ja grundlich Wandel 
geschaffen worden. Vor allem bat der Krieg mit seinen unz&hligen, 
die Psyche sch&digenden Einflusseu die allgemeine geistige Beschaffen- 
heit des Heeres gewaltig verschlecbtert. Die Schranken, die bei Per- 
sonen, die einmal psychisch krank gewesen sind, dem Eintritt in die 
Armee entgegenstanden, sind gefallen. Die Insassen der Gef&ngnisse, 
der Eorrektionsanstalten, die schweren Psychopathen der Fursorge- 
erziebnng steben mit Oder gegen ihren Willen unter den Fahnen. 
So ist es kein Wudder, dass die Milit&rkriminalit&t einen erheblichen 
Cmfang angenommen hat. Spielte schon die Geisteskrankheit im Zivil- 
leben unter den Drsachen der Eriminalit&t eine grosse Rolle, so hat sie 
sich im allm£hlichen Fortschreiten des Erieges eine noch viel grund- 
legendere Steliung erworben. 

So war allm&blich eine genugend grosse Grundlage von Psycho¬ 
pathic and erworbener geistiger Entartung geschaffen, ohne die die 
Simulation nicht emporzuwuchem pflegt. 

Gleichzeitig wurde eine weitergebende Senkung des sittlichen Niveaus 
erkennbar. Bei schw&cheren Naturen wurden die ethischen und mora- 
liscben Gefflhle abgestumpft. Die Begeisterung der ersten Tage, die 
die niedrigen Instinkte zu Boden gehalten batte, verrauchte. Hatten 
solche psychisch gesch&digte Personen mit der Erinnerung an schwerste 
Eriegserlebnisse zu k&mpfen, dann suchten sie eher weiterer Sch&digung 
durch Mittel aus dem Wege zu geben, denen sie sonst abhold gewesen 
wiren. Dazu kam wieder die Macht der psychischen Ansteckung. Wer 
zu solchen Bestrebungen neigte, hatte reichlich Gelegenheit gehabt, sich 
mit dem ndtigen Rustzeug in anderem Masse zu wappnen als sonst. 
Was so viele Eriegsneurotiker, die von einem Lazarett zum andern 
wandelen, an geistiger Elastizit&t einbussten und was sie dafiir an 
neurologischen Eenntnissen eintauschten, das wurde geradezu ein Erebs- 
schaden. Nicbt selten mussten wir hier feststellen, dass Eranke, die 
von bestimmten Nervenstationen kamen, in der Technik der Unter- 
sucbung recht gut beschlagen waren und gelegentlich auch davon reich- 
lichen Gebrauch macbten. 

Mehr noch hat sich dieser Oebelstand auf den Abteilungen herausge- 
bildet, auf denen sicb eine grOssere Zahl von forensiscben Beobachtungs- 
kranken zusammendrttngte. Immer wieder mussten wir hier die Erfah- 
rung machen, dass sich gerade die kriminellen Elemente, die auf die 
Segnungen des § 51 nicht die weitgehendste Anwartscbaft hatten, sich 
bald gefunden hatten und dass sich die Unbefangenbeit, mit der sie 
zuerst der Beobachtung gegenuberstanden, bald sichtlich verlor. Die 
Erinnerung at) die Straftaten schrumpfte zusehends zusammen, je mehr 


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Dr. Monkemoller, 


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die Anw&rter auf den § 61 sich von der Tragweite eines erlOsendeo 
Erinnerongsaasfalles uberzeugt hatten. Ebenso hatten Soldaten in der 
Untersuchung8haft diese Gelegenheit nicht ungenutzt vorubergehen lassen, 
urn auf psychiatrischem Gebiete die Kinderschuhe auszutreten. Legte 
man gelegentlich Wert darauf, das Gutacbten in Abwesenheit des An- 
geklagten zu erstatten, so wurzelte das in der truben Erfabrung, dass 
das AnhOren des Gutachtens noch den Nebenzweck erfullt hatte, den 
Angeklagten auf manclie Fehler in seinen Yerteidigungsversuchen auf* 
merksam zu machen. Bei einer zweiten Untersucbung verrieten sie die 
Anregungen, die sie in den geistsprubenden Ausfuhrungen des Gutach¬ 
tens eingesogen hatten. 

Eine recht unerwunschte Quelle der Ausbildung in der MilitSrpsy- 
chiatrie sind auch die Gefangenenkompagnien, in denen sich die Haft- 
linge in freierer Bewegung als sonst zusammen drftngten. Manche Er- 
regungszust&nde, manche Depressionen, die sich hier plOtzlich einstellten, 
obgleich ein grosser Teil der ungunstigen Einflusse der Haft hier aus- 
geschaltet ist, machten eine kritische Beurteilung erforderlich, obgleich 
sich hier ein schwer psychopathisches Material anhftufte, bei dem der- 
artige Ereignisse nicht auffallig erschienen. Aber hier gedieh die Wert- 
scbatzung der militarisch-forensischeu Begutachtung ganz besonders. 
Schliesslich gestanden einige Delinquenten offenherzig ein, dass sie gar 
nicht im Ernste darauf gerecbnet hatten, dass die Beobachtung ihnen 
den Weg zur Straffreiheit erschliessen werde. Aber die Aussicht, einige 
Zeit die Ode Zwangsarbeit mit den lichten R&umen der Irrenanstalt 
vertauscben zu konnen, genugte, sie zu bestimmen,- den krankhaften 
Seiten ihrer meist nicht ganz einwandsfreien Psyche einige grelle Lichter 
aufzusetzen. 

Der Rrieg hat die Erfahrungen bestatigt, die wir im Frieden ge- 
macht batten: die Simulation ist sehr seiten, die Uebertreibung wesent- 
lich hanfiger und auf einem einwandsfreien Boden erw&chst sie nie. 

Nach Voss 1 ) wird von Laien und auch von Aerzten Vortauschung 
oder Uebertreibung bei unseren Soldaten haufig angenommen. Reine 
Simulation ist aber sehr seiten, baufiger Aggravation. 

Krull 2 ) wies darauf hin, wie wertvoll die Untersucbung der An¬ 
geklagten nahe an der Front ist. Dadurch wurden viele Einflusse aus- 
geschaltet werden, die eine Verdunkelung des Geisteszustandes herbei- 


1) Voss, Erfahrungen fiber Simulation b. Militarpersonen. Neurol. Zen- 
tralbl. 1916. Nr. 17. S. 728. 

2) Krull, Die strafreohtliche Begutachtung der Soldaten im Felde. Ber¬ 
liner klin. Woohenschr. 1918. Nr. 24. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 609 

ffibren konnen. Er erw&hnt in keinem Falle eine Simulation. Immer- 
bin lag nie eine ausgesprochene Geisteskrankheit vor, und weno er in 
13 Fallen jsu einer glatten Ablehnung des § 51 kam, so lasst sich nicht 
von der Hand weisen, dass bier auch gelegentlich Erankheitssymptome 
starker aufgebauscht wurden. 

In eingehender Weise kamen die Ansichten fiber- die Hfiufigkeit der 
Simulation in dem Vortrage Henneberg’s 1 ) zu Wort, bei dem es sich 
im wesentlichen um nervOse Erankheitserscheinungen handelte. Reine 
Simulation sah er selten, weil die unwilligen Disponierten zurzeit leicht 
den Weg in die Hysteric ffinden. 

Hirschfeld hielt die Simulation ffir eine seltene Erscheinung, 
w&hrend die Aggravation von Symptomen, die im Gefolge von Schreck 
aufgetreten seien, h&ufig nachweisbar sei. Unter ungef&hr 600 Fallen 
von Eriegshysterie konnte er die Simulation 5mal eiwandsfrei nach- 
weisen. 

Nach Peritz ist die Zahl der Simulation auf der inneren Station 
h&ufiger, als auf der neurologischen, was von Mfiller best&tigt wurde, 
und Singer glaubte, dass alle hysterischen Taubstummen Simulanten 
seien. Wenn auch Oppenheim auf dem- alten Standpunkte Charcot’s 
stehen blieb, dass von Simulation bei Hysteria und den verwandten Neurosen 
diejenigen am meisten sprfichen, die davon am wenigsten verstfinden, 
gab er zu, dass der grosse Erieg ganz neue Verh&ltnisse und neue Bc- 
dingungen geschaffen habe, einmal durch die Massenansammlung von 
Neurosen, dann besonders dadurcb, dass die Zahl der Menschen, die 
krank erscheinen wollen, zugenommen habe. Da seine Erfahrungen 
sich vorwiegend auf die beiden ersten Eriegsjahre erstreckten, hatte er 
weniger von Aggravation und Simulation gesehen. 

Auch Bonhoeffer betonte, dass die Aggravation praktisch eine 
grfissere Rolle spielte, als die Simulation. 

R6gis 2 ) verlangte Vorsicht bei der Verwertung des Ganser’schen 
Symptomes bei Militfirgefangenen, bei denen er Simulationsversuche als 
relativ b&ufig bezeichnete. 

Das Material, das mir zur Verffigung steht, umfasst fiber 700 Falle, 
die im hiesigen Vereinslazarette begutachtet wurden. Nicht in Betracht 
gezogen wurde eine Anzabl von Fallen, die spfiter kriminell wurden, 
und andere, fiber die nur kurze gutachtliche Aeusserungen erfordert 


1) Henneberg, Deber Aggravation and Simulation. Nenrol. Zentralbl. 
1917. Nr. 18. S. 765. 

2) R6gis, Simulation de la folio et syndrome do Ganser. Revue de 
m6decine llgale. 1912. 19. T. p. 226. 

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Dr. Monkemoller, 


wurden. Ausser Berecbnung blieben auch Kriminelle, die auf Grand des 
§51 freigesprochen waren und sp&ter bei Nachprufung ganz eigenartige 
Besserungen feststellen liessen und bei deneu andere Anhaltspunkte dafur 
sprachen, dass die Angeklagten ihr geistiges Licbt erheblich unter den 
Scheffel gestellt batten. 

Die beobachteten F&lle umfassen einen, allerdings ziemlich grossen 
Prozentsatz der in psychischer Beziehung verd&chtigen Elientel der 
stellvertretenden 38. und 40. Infanterie-Brigade, des Gerichtes des stell- 
vertretcnden 10. Armeekorps, des Gerichtes der Gefangenenlager des 
10. Armeekorps sowie der entsprecbenden Untergerichte. Zeitweise 
waren auch AngehOrige der 37. und 39. Infanterie-Brigade bier begut- 
achtet worden, sowie vereinzelte AngehSrige anderer Truppenverb&nde. 
Aber auf der einen Seite fielen nicht alle forensischen F&lle der hiesigen 
Beobachtung zu und auf der anderen Seite bringt es die Lage Hannovere 
an der bedeutendsten Verbindungslinie zwiscben dem westlicben und 
dstlichen Kriegsschauplatze roit sich, dass hier gelegentlich eine ver- 
h&ltnism&ssig grosse Zahl von AngehOrigen fremder Truppenteile strandet. 

Zahlenm&ssig lasst sich aus diesem Materiale nichts folgern. Die 
Hinzuziehung des Psychiaters hat sicb derart gesteigert, wie es im 
Frieden auch von der ausschweifendsten Pbantasie nicht fur mOglich 
gehalten worden w&re. Von Seiten der Milit&rgerichte wurde dem Her- 
anspielen der Psychopathic in dies Gebiet die weiteste Recbnung ge- 
tragen. Von der fruheren Neigucg, in ubertriebenem Masse Simulation 
zu erkennen, war nicht die Rede. Im Gegenteii, in nicht wenigen Fallen 
h&tten die Gerichte gerne auch dort noch Milde walten lassen, wo die 
psychopathische Grundlage gewaltig von Simulationsbestrebungen uber- 
wuchert war. Auch in der Milit&raTrestanstalt und im Milit&rgef&ngnis 
haben sich die Beamten eine durchaus milde Auffassung und ein ver- 
st&ndisvolles Erkennen psychischer Krankheitszust&nde angeeignet. Das 
steigerte sich gelegentlich bei dem Massenandrang derartiger Elemente 
zu dem unverkenobaren Bestreben, solche Kranke moglichst schnell an 
das Lazarett loszuwerden, wenn sie durch eine Zuspitzung oder ge- 
r&uschvolle Vorfuhrung zweifelhafter Symptome den Frieden des Ge- 
f&ngnisses gestort hatten. 

Jedenfalls stand hier ein Material zur Verfugung, wie es im Frieden 
nie auch nur ann&hernd zur Beobachtung gelangt war. Hier liess sich 
auch die allm&hliche Zunahme der psychopathischen Elemente feststellen 
und gleichzeitig die Zunahme der Bestrebungen, das Ergebnis der Beob¬ 
achtung nach den Wunschen der Angeklagten zu wenden. 

Im Nachstehenden habe ich nur 25 von den 55 Falien angefubrt, 
bei denen die Frage der Simulation zu ernstlichen Bedenken Anlass 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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gegeben hatte. Ausgeschieden sind die Falle, in denen von Laien- 
seite der Verdacht anf Simulation erhoben worden war, in denen sich 
aber ohne Zweifel die Krankheitsbilder feststellen liessen, die in 
der Regel bei Laien zn dieser falschen Auffassung Anlass gegeben 
batten. 

Unter den Krankbeitsformen, die im Milit&rleben am liebsten vor- 
get&uscbt werden, gehfirt nach wie vor die geistige Schwfiche und zwar 
wnrde bier mit besonderer Vorliebe die angeborene Geistes- 
schwache bevorzogt. 

Auch bierbei handelte es sich im wesentlicben nicbt urn die reine 
Yortfiuscbung eines geistigen Schwachezustandes von Personen, die fiber 
eine mittleren Ansprfichen genfigende Intelligenz verffigten. Gerade 
solche Glemente, die nnter anderen Umstanden sich gehfitet batten, ihr 
geistiges Veraagen zuzugeben, setzteo ihr erheblicb stark ere Lichter auf. 
Das kam zunachst auch in den Fallen nicbt selten zn Tage, in denen 
nur die Dienstfahigkeit festgestellt werden sollte. Weit mehr wie im 
Frieden hatte sich herausgestellt, dass selbst nicht unerhebliche geistige 
Schwfichezust&nde nicht genfigten, um die Dienstfahigkeit auszuscbliessen. 
Waren doch die frfiheren Besucher der Hilfsschulen und die ehemaligen 
FfirsorgezOglinge, bei denen die Anstaltsleiter die Militfirbehfirden mit 
Rucl^icht auf den geistigen Tiefstand vor der Einstellung in das Heer 
gewarnt hatten, ruhig Soldaten geworden und hatten sich zum Toil viel 
besser bewahrt, als das nach theoretischen Anschauungen von vorn- 
herein mfiglich erschienen ware. Hatte es auch sogar ein Soldat, der 
frfiher 8 Jahre tang ZOgling der hiesigen Idiotenanstalt gewesen war, 
bis zum Unteroffizier gebracht. 

Fall 1. Jager Friedrich A., Arbeiter, 29 Jahre. Entfemt sich einige 
Tage nach dem Diensteintritt unter Preisgabe seiner Dienstgegenstande. Ein¬ 
stellung des Strafverfahrens auf Grand eines Gutachtens, das nach den prak- 
tischen Erfahrungen, die die Yorgesetzten im Dienst gemaobt hatten, einen 
sehr erhebliohen Grad von Geistesschwache annahm. Gerade, weil 
„diese Geistesschwache fast an Idiotie reiohe, sei Simulation 
ganzlich ausgeschlossen. u 

Bald daranf entfemt A. sich wieder von der Trnppe. Die in der Heil- 
und Pflegeanstalt in L. durchgefuhrte Beobachtung kam zu dem Ergebnisse, 
dass A. wohl geistig schwach veranlagt sei, dass aber der Grad der 
Geistesschwache nioht als Strafaussohliessungsgrad angesehen werden konne. 
Auf Grand der fiber sein Yorleben eingezogenen Erkundigungen sowie der in 
der Anstalt fiber ihn gemachten Beobachtnngen mfisse vielmebr angenommen 
werden, dass er seine intellektuellen und ethisohen Mangel absichtlich und 
bewusst fibertreibe bezw. einwandsfrei simuliere. Darauf Wiedereroffnung des 
Strafverfahrens. 


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Dr. Monkemoller, 


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Nach den Angaben des Lehrers war er kein besonders begabter Schuler 
gewesen, hatte es aber bis zur ersten Klasse gebracht. In der Lehre und in 
seinen spateren Stellungen war er ganz brauchbar gewesen. 

Weitere Erknndignngen des Gerichts ergaben, dass A. zeitweise den Ein- 
druck eines nicht normalen Menschen erweokte, sich herumtrieb, nichts auf 
seine Kleidung gab, ofters mit der Arbeit aufhorte and damme Reden fuhrte. 
Mehrere Male ausserte er allerdings, er habe keine Lust zum MilitSr und 
finge noch etwas an, urn dann loszukommen. 

Das Gericht gewann den Eindruck offensichtlicher Simulation. 

Anstaltsbeobachtung. In den ersten Tagen yerkroch er sioh stets 
unter der Bettdecke. Spater sprach er nie yon selbst ein Wort, hielt sich auch 
von den anderenKranken zuruck und gab anfBefragen keine Antwort, dabeihatte 
er sich yon selbst an die Stationsarbeiten herangewagt and zeigte sich dabei 
sehr anstellig. Die Station yersorgte er, obgleich die Zahl der Insassen sehr 
stark wechselte, stets richtig, ohne dass an der Zahl jemals etwas gefehlt hatte 
oder zuviel gewesen ware. Einmal erklarte er, er ware weggelaufen, er ginge 
lijeber ins Gefangnis als ins Feld. Ein anderer Beobachtungskranker, 
mit dem zusammen er yorher einige Wochen in Untersuchungshaft gewesen 
war, teilte mit, dass A. ihm in der Haft ganz genaue Angaben iiber die Straf- 
taten gemaoht hatte und in keiner Weise das Verhalten gezeigt hatte, das jetzt 
bei ihm beobachtet wurde. Bei den Untersuchungen sass er anbeweglich da, 
starrte mit blodem Blicke vor sich hin und gab nur abgerissen und eintonig 
Antwort. Spater gab er sich uberhaupt keine Muhe nachzudenken, sondem 
antwortete sofort: „dat weit ick nich. u 

Die notwendigsten Personalien gab er an, musste sich aber lange be- 
sinnen, wie er mit Vornamen hiess. 

Auch bei der Intelligenzprufung antwortete er fast nur mit dem dusteren 
„das weit ick nich. u Die Woche hatte bei ihm 5 Tage, welcher Tag nach 
dem Sonntag kommt, weiss er nicht, die Uhr kennt er nicht. 1 X 1 rechnete 
er richtig aus, 2 und 2 gelang ihm nicht mehr. Woher die Milch kommt, 
wollte er nicht wissen, auch nicht, wozu sie verarbeitet wird. Ebensowenig 
war ihm bekannt, welche landwirtschaftlichen Arbeiten in der jetzigen Jahres- 
zeit verrichtet werden. Von landwirtschaftlichen Arbeiten, Pfliigen, Diingen, 
Pflanzen, Stallreinigen wollte or gar nichts wissen. Wieviel und wie oft ein 
Soldat Lohnung bekommt, war ihm unbekannt, schliesslich meinte er: „50 Mark 
am Tage, u Geld wollte er nicht kennen, Lesen und Schreiben wollte er 
nie gelernt haben. In der Sohule habe er sehr schlecht gelernt 
und sei immer in der untersten Klasse gewesen. Sonst wollte er aus seiner 
Kindheit nichts wissen. Einmal sei er mit einem Knuppel auf den Kopf ge- 
schlagen worden. Er habe gern und yiel Schnaps getrunken. Spater habe er 
bei einem Bauern gearbeitet und 6 M. in der Woche verdiont. 

Ueber die ihm zur Last gelegten Straftaten war so gut wie 
nichts herauszubekommen. Er antwortete mtirrisch ja oder nein, stierte 
immer mit odem Blicke yor sich hin and murmelte Unverstandliohes in 
sich hinein. 


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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw. 


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Die Symptome besagter Schw&che, die vor dem Militfirdienste nie 
beobachtet worden waren, sind im wesentlichen nur den Vorgesetzten 
und dem Beobachter angefubrt worden. Nachdeni er verurteilt worden 
war, wurde die Strafvollstreckung ausgeset&t. Er gab dann das Ver- 
halten auf, fuhrte sich gut, kam ins Feld und ist forensisch nicht wieder 
bekannt geworden. 

Fall 2 . Musketier Walter K., Landarbeiter, 22 J. Steht seit Dezember 
1915 im Felde. Nach dem ersten Vierteljahre kam er wegen einer Fuss- 
verletzung zuriick. Bis dahin, November 1916, Fabnenflucbt und eine kom- 
plizierte Urkundenfalschung. 5 Jabre Gefangnis. Bis April 1917 in Strafhaft. 
Dann Aussetzung der Strafe, fuhrte sich im Felde gut. Im Sommer 1917 
wegen eines Blasenleidens in die Heimat. Zeichen von Nervenschwache sind 
in den Krankenblattern nicht erwahnt. Schliesslich Diebstahle und unerlaubte 
Entfernung. Zweimal entzog er sich der Verhaftung in sehr geschickter Weise 
und pocbte darauf, er sei nervos. 

Bei den Vernehmungen n^ph seiner Festnahme gestand er die unerlaubte 
Entfernung ein und begriindete sie eingehend, erwies sich auch fiber die straf- 
rechtlichen Folgen seiner Handlungen sehr genau unterrichtet. Er entschul- 
digte seine Tat mit Nervensoh wache und bat zweimal um „facharztliche 
Untersuchung u wegen eines Schankers. Auch hier keine geistige Abweichung. 
Bei der facharztlichen Untersuchung macht er plotzlich einen „stark psyoho- 
pathischen, krankhaft gehemmten w Eindruck und ersoheint der bewussten Vor- 
tauschung nicht unverdachtig. 

Anstaltsbeobachtung. Naoh den Ffirsorgeerziehungsakten kam er, 
nachdem ihn der Umgang mit leichtsinniger Gesellschaft verdorben hatte, in 
Ffirsorgeerziehung. Fleiss und Schulleistungen stets befriedigend, zuletzt 
gut. Er neigte stark zum Liigen. Sonst gait er als normal. Spater in Stellung 
bei einem Jahreslohn von 220 U. (als Ffirsorgezogling). Im allgemeinen fuhrte 
er sich befriedigend. Der Zweok der Ffirsorgeerziehung wurde als erreicht 
angesehen. 

In den ersten Tagen der Lazarettbeobaohtung war Ka. besonders mfirrisch 
gestimmt, sab immer fmster drein, sprach spontan nichts und war sogar un» 
willig, wenn er angeredet wurde. Bei jeder Gelegenheit klagte er fiber Kopf- 
schmerzen. Mit der Zeit wurde er immer lebhafter und beteiligte sich mit 
grossem Interesse an Halma und Skat. Mit dem Reizen und Zusammenzahlen 
kam er nicht gut mit, dagegen zeigte er sich bei Kartenkunststficken ausserst 
gerieben. Yersohiodene Male versuchte er eine Nachricht an seine Frau heraus- 
zuscbmuggeln. 

Bei den Untersuchungen war er immer klar und orientiert, fasste gut auf 
und konnte, wenn er wollte, sehr gut Auskunft geben. Vielfach zogerte er 
mit der Antwort, fiberlegte lange und antwortete nicht oder nur mit einem 
eintonigen „ja u oder „nein. u Den Fragenden sah er nie an, sondern nestehe 
an seinen Fingern und seinem Zeuge herum. Bei der Intelligenzprfifung gab 
er durchweg mangelhafte Antworten. Ueber die einfachsten landwirtschaft* 


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Dr. Monkemoller, 


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lichen Verhaltnisse wollte er nicht Bescheid wissen. Um so aasgiebiger brachte 
er in seiner Vorgeschichte alles an, was ihn als krank erscheinen lassen konnte. 
In der Sohule habe er sehr schlecht gelemt und sei aus der 3. Klasse einer 
Volksschule konfirmiert worden. Er bestritt sehr energiscb, jemals gerichtlich 
bestraft worden zu sein, er sei auch niemals in Fursorgeerziehuug 
gewesen. Aaoh beim Militar sei er nie bestraft worden, sei nie fahnenfluchtig 
gewesen und sei nicht Soldat II. Klasse. Das mfisse ein anderer Ka. gewesen 
sein. In seinen Angaben fiber seine militarischen Verhaltnisse widersprach 
er sich fortgesetzt. 

Die ihm jetzt zur Last gelegten Straftaten gab er in der ersten Zeit zn. 
Er sei ohne Erlanbnis nach Hanse gefahren, weil er ins Feld gewollt habe. 
Er schilderte dann seine Entfernang von der Truppe mit alien Einzelheiten. 
Er bestritt sehr eifrig, si eh zweimal der Festnahme entzogen und die Aeusse- 
rung wegen seiner Nervositat getan zu haben. 

Bei den spateren Untersochungen wurde er dann ganz anders. Er trug 
ein lappisches Wesen zur Schau. Die Augen riss er weit auf und starrte er- 
staunt um sich. In kindlichem Tone erklarte er, er sei ja von der Truppe fort- 
gezogen, das sei aber doch nicht schlimm, wenn man mal nach Haase gehe. 
Bestrafen konne man ihn doch nicht, denn er gehe ja wieder ins Feld. Hier 
wolle er nicht bleiben, denn er sei nicht geisteskrank, auch nicht dumm, 
sondern ganz gesund. 

Alle Vorhaltungen, die Wahrheit fiber sein Vorlebon zu sagen, prallten 
von ihm an, er wurde sogar ganz unverschamt, als ihm die Ffirsorgeerziehungs- 
akten vorgehalten warden. Die Briefe, die ihm vorgeworfen werden, habe er 
nicht geschrieben, es sei ein ganz anderer Ka. Dabei entsprechen die Briefe, 
die sich in den Akten vorfinden, ‘durchaus in Form, Schrift und Inhalt den 
frfiheren Sohreiben. 

Vor dera Milit&rdienst und in der Zeit seines Militfirlebens wird 
nichts beobachtet, was seine geistige Gesundheit in Frage stellen kfinnte. 
Erst spfiter ffihrt er selbst seine Nervositat ins Feld und zeigt dann bei 
der Anstaltsbeobachtung ein Wesen, das allerdings seine geistigen Fahig- 
keiten als wesentlich eingeschrfinkt erscheinen lassen musste. 

Die auffallige Einengung seiner geistigen Fahigkeiten vollzieht sich 
erst in der spateren Zeit der Anstaltsbeobachtung, nachdem er mit 
Elementen zusammengesteckt hatte, die gleichfalls nicht dem Gerichte 
fiber ihre geistigen Fahigkeiten restlos klaren Wein einzuschenken ge- 
dachten. Der Verdacht, dass eine Dementia praecox in der Entwickelung 
begriffen sei, liess sich nicht halten. Das auffallige Verhalten zeigte 
er nur dann, wenn der Arzt sich mit ihm befasste. Sein spfiteres Ver¬ 
halten, — er hat sich auch in der Haft einwandsfrei gefuhrt —, hat nichts 
erkennen lassen, was eine sekundfire geistige Schadigung erwiesen hatte. 

Fall 3, Ffisilier Max Er., Arbeiter, 25 Jahre. Entfernte sich am 
13. 3. 1917 von der Truppe. Vorher hatte er sich Zivil verschafft und erklarte, 


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Dio Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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•or werde nach Holland tiirmen. Er werde, wenn er ergriffen werden sollte, 
den wilden Mann spielen, um der Verurteilung zu entgehen. 

Am 18.3.19 worde er ergriffen und auf dieSchreibstube seines Bataillons 
gebracht. Als der Feldwebel eintrat, stand Er. trotzdem nicht auf, sondern 
lacbte jenem ins Gesioht und ausserte auf polnisch, „Du bist verriickt w . Bei 
der gerichtlichen Vernehmung gab er keine Antwort. „Er stellte sich an, als 
ob er nicht im Besitze seiner Geisteskrafte sei. u In den Lazaretten, in denen 
er friiher wegen seiner Schussverletzung sehr lange gewesen war, war er in 
keiner Weise aufgefallen. 

Anstaltsbeobachtung. Macht einen gehemmten und benommenen 
Eindruck, wahrend er noch auf der Fahrt nach Langenhagen ganz munter und 
redselig gewesen war. Angeblich konnte er nicht angeben, wo er gewesen sei 
und bei welchem Truppenteile er gestanden habe. Auf alle Fragen erwiderte 
er nur, er sei bei seiner Kleinen in Frankreich gewesen. Soldat sei er noch nie 
gewesen. Sein Alter sei mindestens 37 oder 40 Jahre. 

In der Folgezeit lag er meist mit geschlossenen Augen da und schien yon 
den Vorgangen in seiner Umgebung gar keine Notiz zu nehmen. Wenn man 
sich ihm naherte, begann er mit den Augen zu blinzeln. Einem andereu 
Kranken, der sich mit ihm angefreundet hatte, erzahlte er, er stehe bei den 
73ern, sei von der Truppe fortgelaufen und habe sich bei seinem Madchen 
4 Tage aufgehalten. Er wisse ganz genau, was er getan habe. Sonst reagierte 
er auf Fragen gar nicht oder antwortete erst nach langem Nachdenken, indem 
er den Fragenden mit der Miene der aussersten Verstandnislosigkeit anstierte. 

Auf die Frage, wieviel Finger die Hand habe, begann er sie sofort 
zu zahlen, stierte dann gleich mit einem oden Blioke auf die Hand und 
brachte keinen Ton mehr heraus. Dabei war aber sonst sein Gesichtsausdruck 
ganz lebhaft und die Bewegungen frei. 

Spater besohaftigte er sich mit Lesen, zeigte ein ganz unverkennbares 
Interesse fur seine Umgebung und unterhielt sich lebhaft mit ihr. Sobald aber 
der Arzt kam und irgend eine Auskunft von ihm haben wollte, versagte er so¬ 
fort. Nach mehreren Tagen fragte er, wo er sich befinde. In Frankreich sei 
er noch erst gewesen und seine Kleine wohne in Hannover. Dabei sprach er 
in einem affektiert kindlichen Tone, indem er dazu siisslich lachelte. 

Gleiohzeitig versuchte er an seine „Kusine u einen geordnetenBrief durch- 
zuschmuggeln, in dem er mitteilte, dass er in Langenhagen zur Beobachtung 
sei. SpSter wurde er ganz lebhaft und unterhielt sich angeregt, wobei er sofort 
den Anschluss an die kriminellen Elements fand. Hier gab er genaue Aus¬ 
kunft fiber seine Kriegserlebnisse, die sich mit dem Akteninhalte vollkommen 
deckte. 

Sobald der Arzt erschien, senkte sich der Schleier der ausgepragtesten 
Verblodung fiber ihn herab. Zur Beantwortung der einfachsten Fragen ge- 
brauchte er unendlioh lange Zeit. Ein fades Lacheln thronte auf seinem Ant- 
litz. Nun wusste er weder Ort noch Zeit, konnte nicht angeben, wann er ge- 
boren war, ob er Geschwister habe, und hatte Seinen Zivilbertif vergessen. Er 
wusste auoh nicht, dass er Soldat und im Kriege gewesen war. 


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Dr. Monkemoller, 


2X2 war nach ihm 6. Die Zahl seiner Ohren gab er nach langem 
Zahlen mit 5 an. SeinenVornamen konnte er erst naoh reiflichster Ueberlegung 
nennen. 

Nachdem er spater einmal auf der Abteilnng angegeben hatte, bei welchem 
Eegimente er gestanden hatte, wann er eingezogen worden war and welche 
Gefechte er mitgemacht hatte, verfiel er, als er unmittelbar darauf in das Unter- 
suchnngszimmer gekommen war, ohne weiteres in seine Blodigkeit. Er rekelte 
sich grinsend auf dem Stnhle herum und befleissigte sich einer uberaos 
lappischen Ausdracksweise. Hinterher war er sofort wieder ganz geordnet and 
korrekt. 

Gelegentlich spielte er Karten mit und erwies sich dabei ganz gerissen 
und seinen Gegnern gewachsen. 

Im Untersuchungszimmer sohnellte er auf die Frage naoh seinem Vor- 
namen vom Stnhle empor and briillte: „Maxe u . Nach seinem Zunamen gefragt, 
machte er eine sehr lange Pause and nannte dann in fragendem Tone seinen 
Namen. Seinen Geburtstag wusste er nicht, da sei er nioht bei gewesen. Dann 
gab er einen falsohenMonat und alsJahreszahl 1904 an. Hier sei er imLangen- 
hager Lazarett seit gestern (3 Wochen). Weshalb man ihn hergelegt habe, 
konne er nicht sagen, sei er ja doch der Gesundesten Einer. Der Referent sei 
sicher ein Lehrer, weil er so viel schreibe, seinen Namen konne er doch nioht 
wissen. (Hatte ihn am selben Tage naoh einem anderen Kranken genannt.) 
Noch nie sei er beim Militar gewesen. Woher er gekommen sei, sei ihm ganz- 
lich unbekannt, zuletzt sei er immer hier in der Stube gewesen. Im Krieg sei 
er nicht gewesen, es gebe doch uberhaupt keinen Krieg. Wo er geboren sei, 
konne er nicht sagen, das sei in Oberschlesien oder sonstwo gewesen: „das 
kannVor-Oder Nach mittag gewesen sein. Er sei hinten in dieSchule gegangen, 
einen Lehrer habe es nicht gegeben, jetzt sei aber schones Wetter und da konne 
man spazieren geben. a 

2 X 2 = ja ja, auch Karten habe ich gespielt, da sagt man so was 
wie 5. 

3X3= (zahlt lange an den Pingern herum und sieht den Arzt mit 
einem bidden Blicke an, ohne ein Wort zn sagen. Als ihm vorgehalten wird, 
dass man ihm die Simulation nicht glaube, lachelte er hohnisch und erklarte, 
er verstehe uberhaupt nicht, was man von ihm wolle). 

In der Hauptverhandlung war das ganze lappische Wesen ganzlich Ton 
ihm abgefallen. Er gab prompt Auskunft, folgte dem Gutaohten mit ausberstem 
Interesse, aber berief sich nooh auf eine gewisse NerTOsitat, ohne an der 
schweren Geistesschwacbe festzuhalten. 

Er. hatte die geistige Schwache, die er in der Anstalt vorfuhrte 
und vorher rechtzeitig in Aussicht gestellt hatte, im allgemeinen nur 
dem Arzte vorgefuhrt. Darin, dass es derartige Individuen nicht fur 
ndtig halten, unentwegt daran festzuhalten, spricht sich die minder- 
wertige Anlage aus, die wir ja unterschiedslos bei ihnen nachzuweisen 
imstande sind. Er hielt auch nur fur die Zeit der Anstaltsbehandlung 


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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw. 


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daran fest und als er gesehen hatte, dass er mit dem Eopfe nicht 
durch die Wand konnte, liess er die Maske unbedenklicb fallen. 

Fall 4 . Rekrut Georg Ru., Landwirt, 21 Jahr. Am Tage vorher vor 
seiner Stellung scboss er sich mit einem Jagdgewehr in die linke Hand. Nach- 
her ging er zu einem Arzte und liess sioh verbinden. Dieser besoheinigte ihm 9 
dass er sich nicht stellen konne. 

Als Ru. duroh den Gendarmeriewachtmeister vernommen wurde, erklarte 
er, dass er seit langerer Zeit an Magenschmerzen leide. Deshalb habe er sich ins 
Bett gelegt, sei aufgestanden, im Zimmer dmhergezogen und musse so an das 
Gewehr gekommen sein. 

Allgemein wurde eine absichtliche Selbstverstummlung angenom- 
men. Der Landrat bemerkte zu dem Berichte, die ganze Familie habe sich 
wahrend der ganzen Dauer des Krieges durch eine vaterlandslose Gesinnung 
ausgezeichnet. c 

Dienst tat er spater iiberhaupt nicht. Er meldete sich wegen Schmerzen 
in der linken Bauchseite sofort krank. Der Beirat fur innere Krankheiten 
stellte einen chronischen Magenkatarrh fest. Er sah Ru. als Psychopathen 
an. Im Lazarett lag er immer im Bett und dachte fiber seinen Zustand naoh 
und hatte zu keiner verstandigen Beschaftigung Neigung. Fiir seine Umgebung 
zeigte er kein Interesse, nie beteiligte er sich an der Unterhaltung. Der Ge- 
sichtsausdruck war niedergeschlagen. Aufforderungen fuhrte er langsam mit 
einem deutlichen passiven Widerstande aus. 

Ru. blieb dabei, er konne sich auf nichts besinnen, denn er sei infolge 
heftiger Magenschmerzen ganz von Sinnen gewesen. 

Der Gutachter erklarte eine solche Wirkung der Magenbeschwerden 
fur hochst unwahrscheinlich, doch hielt er es auf Grund der bestehenden 
Psychopathie fur moglich, dass er sich tatsachlioh wahrend der Tat in einem 
<lie freie Willensbestimmung aussbhliessenden Zustande befunden habe. 

In der Hauptverhandlung erklarte der Saohverstandige ihn fiir geistes- 
schwach, aber nicht fur geisteskrank im Sinne des § 51. Der gegenwartige 
Zustand sei ubertrieben. Denn er habe selber beobachtet und zum Teil auch 
Ton anderen gehort, dass Ru. regelmassig die Zeitung lose, Karten naoh Hause 
scbreibe, sich mit seinem Yater fliessend anterhalte, plotzlich aber dann gar 
nichts mehr sage, sobald er bemerke, dass er beobachtet werde. 

Wahrend der Verhandlung benahm Ru. sich so, als konne er nicht folgen. 
Er behielt die Miitze auf, gab keine Antwort, konnte nicht einmal seinen Vor- 
namen und mit Miihe seinen Familiennamen nennen, hSrte nioht zu und war 
wie geistesabwesend. 

Naoh der Verhandlung verstand er alles und sprach bei einem Streite, 
den er mit anderen Kranken der Station hatte, frei und fliessend. 

Der Gendarm hatte Ru. als einen vemiinftigen Menschen kennen gelernt, 
<der sich gelegentlich eines Verdaohtes wegen Jagdvergehens sogar recht ge- 
schiokt verteidigte. Der Hausarzt vermochte fiber seinen Geisteszu- 
stand nichts auszusagen. Der Hauptlehrer bezeiohnete ihn als einen 

Arehir t Psyehi&trie. Bd. 60. Heft 2/3. ja 


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618 Dr. Monkem oiler, 

gaten Durchschnittsschuler, dessen Geisteszastand ihm wahrend der 
Schulzeit nicht aufgef&llen sei. Der Pastor gab an, er sei immer rnhig, still 
and niedergedrdckt gewesen. Er erkannte das aber nicbt alseinennor- 
malen Geisteszastand an. Daraaf Beobacbtang im Anstaltslazarett Hildes- 
beim (Oberarzt Dr. Grimme). Wahrend der ganzen Beobachtung lag Ra. meist 
rabig im Bette. Der Gesichtsausdruck war blode, ein Mienenspiel kaam za 
bemerken. Die Aagen waren ins Leere gericbtet. Yon selbst spraoher nie, 
redete man ihn an, so wandte er den Eopf nach der Seite. Die Stimmang 
war gedrdckt, sehr oft kam er ins Weinen, wenn die Rede auf seine Straftat 
gebracht wurde. Seine Lage im Bette yeranderte er nicht, nnr beim Essen 
ricbtete er sich auf and ass langsam. Zum Klosett ging er stets allein. 
Nach dem Aufstehen stand er dann mit leicht vorabergebeugtem Korper da, 
streckte beim Geben den Kopf nach vorne and verfiel bald in ein leichtes 
Zittern. 

Auch bei den Besuchen seiner Angehorigen blieb er rollkommen wort- 
karg. Nur in den letzten Tagen der Beobachtnng wurde er freier, bewegte 
sioh sohneller, sprach von selbst and zeigte ein gewisses Interesse fur seine 
Umgebung. 

Ueber seine Straftat machte er dieselben Angaben wie fruher. Er wisse 
nicht, wie die SchussverletzuDg zu Stande gekommen sei, da er in diesem 
Augenblicke ohne Besinnung gewesen sei. Er entsinne siob nur, dass er den 
ganzen Tag wegen seiner Magenschmerzen im Bette gelegen habe und spat am 
Nachmittage aufgestanden und dabei schwindelig geworden sei. Erst in der 
Kuche sei er za sich gekommen. Da babe er gemerkt, dass er geblutet habe. 
Was er mit dem Arzte verhandelt habe, konne er nicht sagen. Von seinen 
Eltern sei er nicht angestiftet worden. Trotz der Verwandung habe er sich 
stellen wollen, sei aber vom Arzte abgehalten worden. 

Der Verdacht auf Simulation, der beinahe zur Stellung des ent- 
sprechenden Strafantrages gefuhrt h&tte, war im wesentlicbea dadurcb 
hervorgerufen worden, dass Ru. sp&ter ein Verhalten darbot, das in auf- 
fallendem Gegensatze zu seinem sonstigen Gebahren stand. Dabei war 
er zeitweise aus diesem Zustande berausgefallen. 

Immerhin hat er sp&ter lange Zeit dasselbe Verhalten dargeboten, 
das Bich im wesentlichen mit einem Stuporzustande deckte, dessen 
Einzelheiten ihm unmdglich bekannt sein konnten. Ohgleich er sich 
lange auf den verschiedensten Wachabteilungen befand, ist er nie einen 
Augenblick aus der Rolle gefallen und wenn sich sp&ter dieser Stupor 
in klinisch einwandsfreier Weise ldste, so entspricht das kaum dem 
Wesen eines Simulanten, der so lange ohne Schwierigkeit seine Kunste 
hatte spielen lassen. 

Wie es zur Zeit der Tat damit bestellt gewesen war, liess sich 
nicht mit Sicherheit sagen, da das Material fur diese Zeit recht dilrftig 
war. Obgleich aber das Auftreten eines Bewosstseinsverlustes im Sinn» 


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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw. 


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eines Dammerzustandes lediglicb im Aoscblusse an eine Magenerkran- 
knng immerhin recht verd&chtig war, musste man bedenken, dass es 
sich ohne jede Frage am eioen Psychopathen handelte, der in kdrper- 
licher Beziehung nicht sehr leistungsfabig war. 

So genugte das Material eben nicht, am ihn der Simulation zeihen 
zu kdnnen und wenn das Verfahren gegen ibn eingestellt wurde, war 
das praktisch die beste LSsung der Frage. 

In diesem Falle musste sebr energiscb die Tatsache erwogen werden, 
dass ein beginaendes Jugendirresein im Spiele sein konnte. 

Die Dementia praecox beansprucht aber gerade, was die Simulation 
bei Militarpereouen anbetrifft, eine gauz besondere Bedeutung. 

Sie fallt gerade das Lebensalter, in dem der Militardienst aus- 
geiibt werden muss. Und wenn sie. auch eine durcbaus endogene Krank- 
heit ist, kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass die Strapazen 
des Kbrpers ihren Ausbruch beschleunigen und sie unter ungewOhnlicben 
Umstanden ins Leben treten lassen. 

Dabei ist gerade das Gekunstelte und Theatralische, was so manchen 
Ansdrucksformen dieser Krankheit anhaftet, durcbaus geeignet, nicht 
nur bei Laien den Verdacht auf Vort&uschung zu erwecken. Das an- 
scheinend Widerspruchsvoile in ibrem Wesen, der, Mangel an Folgerichtig- 
keit in ihren Symptomen, der jahe und unverwickelte Wechsel in ihren 
Krankheitserscheinungen, das Auftreten geordneter Augenblicke und 
selbst lingerer Zeitraume milssen um so mehr befremden, wenn der 
Betreffende einen Anlass zu haben jscheint, bewusst mit seinen Krank- 
heitssymptomen zu hantieren. Die schleichenden Anfangsstadien dieser 
Krankheit bleiben der milit&rischen Umgebung nur zu oft verborgen 
und so ttberrascht das sturmische Auftreten der Krankheit in forensisch 
bedeutsamen Augenblicken um so mehr. 

Die Neigung zu krimineller Bet&tigung ist an und fur sich schon 
fur diese Stadien der Krankheit bezeichnend. Die Delikte, die hier 
besonders in Betracht kommen, die unerlaubte Entfernung, die Fahnen- 
flacbt, die Achtungsverletzung, die Gehorsamsverweigerang und der 
Angriff auf Vorgesetzte werden durch die Krankheitssymptome dieser 
Krankheitsperiode begunstigt. Diese Krankheit bildet sich unter den 
Eiuflossen der Haft zu einer ger&uschvollen und lirmenden Ausdrucks- 
form um, w&hrend die Straftaten selbst noch in die ruhigeren Phasen 
bineingefallen waren. Da das Krankheitsbild noch nicht fest umrissen 
und das Jugendirresein gelegentlich die Neigung zeigt, unter dem Drucke 
der milit&riachen Disziplin und der unbewussten Widerspruchsgeste 
gegen die scta&rferen Anforderungen der straffen milit&rischen Zucht 
sich noch zerfahrener und zerrissener zu geberden, als sie es scbon 

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fur gewfihnlich tut, so muss die Betrachtung dieses eigenartigeu Weseus 
im falscben Lichte noch leichter aufkeimen. 

Es ist daher kein Wunder, dass, wie Bennecke 1 ) es in einem 
grossen Teile seiner Falle feststellen musste, bei diesen Pseudosimulanten 
an Verstellung oder Uebertreibung gedacht oder sie wenigstens fur 
verstockte, bdswillige und renitente Menscben gehalten wurden. Er be- 
obachtete das naturgem&ss besonders in solchen Fallen, in denen sie 
im Gegensatze zu ihrem sonstigen theatralischen Wesen, das sie den 
Beobachteru gegenuber zur Schau trugen, zwischeudurch orientiert und 
gerade in prozessualen Dingen besonders gut orientiert gewesen waren, 
oder; wenn sie auf eindringlicbes Zureden vorubergehend das an- 
scbeinend affektierte Wesen abzulegen vermocbten. 

Man muss sieh eben daran erinnern, worauf scbon Scbultze 2 ) ein- 
dringlich hinwies, dass bei der Dementia praecox, was die psychischen 
Symptome anbetrifft, einfach alles mbglich ist, vom scheinbar tiefsten 
Blddsinn bis zur maniakalischen Ausgelassenheit, von der ausgesprochen- 
sten Depression bis zu einem Grbssenwahn, dessen sonst nur der Para- 
lytiker fur fabig gehalten wird, von der tiefsten gemiitlichen Gleich- 
gultigkeit bis zur grdssten Reizbarkeit und Empfindlichkeit, von einer 
klaren Diktion bis zuro krausesten Wortsalat. 

Der Parallelismus der Simulation mit der Dementia praecox gipfelt 
im wesentlicben in diesem widerspruchsvollen Wesen. Man wird sich 
daher in alien Fallen, in denen eine Dementia praecox in Frage 
kommen kann, noch eine grossere Vorsicht auferlegen mussen, als 
sie sonst scbon bei der Beurteilung der Simulationsmdglichkeiten 
die Regel sein muss. Der Grundsatz des In dubio pro reo wird uns 
bier oft nOtigen, die Frage der Vortauschung ganz fallen zu lassen 
und auch dann noch die Mdglichkeit einer Krankheit gelten zu lassen, 
wenn wir uns von dem Verdachte auf Simulation nicht ganz losreissen 
kdnnen. 

In mebreren derartigen Fallen baben wir die Einstellung des Ver- 
fahrens und die Wiederaufnahme zu einer Zeit vorgeschlagen, in der 
sicb ein sicheres Urteii ermOglichen liess. 

Immerhin musste man auch in einzelnen Fallen, in denen das 
Jugendirresein mit in den Kreis der Betrachtungen gezogen werden 
musste, bei Annahme der schwersten Uebertreibung und Simulation auf 
Zurechnungsfahigkeit herauskommen. 


1) Bennecke, Dementia praecox in der Armee. 1907. S. 94. 

2) Sohultze, Ueber Psychosen bei Militargefangenen nebst Reform- 
vorschl&gen. 1905. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 621 

Fall 5* Musketier Max Qu., Kaffeehausmusiker, 25Jahre. Am 1.7.1915 
wurde Qu., dor im Biirgerquartier lag, Bettruhe verordnet. Zwei Tage spater 
wurde er fliichtig uuter Mitnahme von Wertgegenstanden, Kleidern und einem 
Fahfrad. Er ubemacfatete in Braunschweig, liess seineUniformsachen zuruck 
und verschwand unter Mitnahme eines Herrenanzugs und eines Portemonnaies. 

Am 30. 7. wurde er in Passau mit seiner Geliebten verhaftet, naohdem 
er mit ihr in den verschiedensten Stadten umfangreiohe Gasthofdiebstahle aus- 
gefuhrt hatte. 

Bei seiner Vernehmung gab er an, er sei auf eigenen Wunsch aus dem 
Gefangnisse eingestellt worden. Das sei bekannt geworden, man habe An- 
spielungen darauf gemacht, vor allem, naohdem einem Kameraden ein Geld- 
betrag entwendet worden sei. Das habe er sich so zu Herzen genommen, dass 
er nach Braunschweig gefahren sei. Ueber Frankfurt, Aschaffenburg,- Niirnberg, 
Regensburg sei er nach Passau gefahren. 

Am 1. 9. 1918 richtet er noch eine vollig geordnete Eingabe an das 
Kriegsgericht, in der er die Tat mit alien ihren Einzelheiten schilderte. 

Am 5. 9. schrieb er plotzlich dem Gerichtsherrn, er sei nach Empfang 
dieses prinzliohen Schreibens seines Postens enthoben. Er ernenne ihn zu 
seinem Geheimsekretar. Er selbst sei in deutscher Gefangensohaft und es sei 
eineSchande, dass dem Prinzen von Marokko so etwas passiere. Man habe 
sogar gegen ihn Meuchelmorder gedungen. Der Gerichtsherr moge sich mit 
seiner prinzlichen Schwester in Verbindung setzen. Hindenburg liege auch da 
krank, wo er selbst liege. Die Hauptsache sei, dass die unsiohtbare Luftflotte 
funktioniere. 

An seine Schwester schrieb er gleichzeitig, dort, wo er sei, seien alle 
Leute verruckt, nur er sei von diesem Uebel verschont. Diese Krankheit komme 
aus Frankreich und Russland. Er habe ein Patent erfunden, mit dem er ganze 
Regimenter vernichten konne. Der Kaiser von Marokko werde ihn zum Prinzen 
ernennen. 

Anstaltsbeobachtung. Bei der Aufnahme behauptete er, wild urn 
sich stierend, er sei der Prinz Marokko und gerade 14 Jahre alt geworden. 
Ein Taschentuoh, das er sioh um den Kopf gebunden hatte, bezeiohnete er als 
seinen Turban. Sein Schiff habe er telegraphisch besteilt, es stehe bereits vor 
der Ture. Hier sei er in Amerika, seinen Hunger habe er in Marokko gelassen, 
dafiir habe er sich einen Korb mit Hiihnern mitgebracht. Sobald sich eine 
Fliege auf sein Bett setzte, erklarte er jammernd, das seien Papageien und 
Schlangen aus dem fernen Orient. 

Zur Untersuchung erschien er in unordentlicher Kleidung und erklarte 
achzend, er konne den Hosentrager nioht mehr zuknopfen, da er zu schwach 
dazu sei. Dann steckte er die Hande in die Rockarmel und behauptete, hier 
sei es furohtbar kalt, an so eine Kalte sei er von Marokko her nicht gewohnt. 
Dann stierte er fassungslos im Zimmer herum und meinte in kindliohem Tone, 
in diesem Palaste sei es dooh zu fein. 

Hier sei er wohl in einem Soldatenhause und der Doktor miisse wohl so 
eine Art von Arzt sein. Dass die Anderen alle knatschgock seien, habe er gar 


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622 


Dr. Monkemoller, 

nicht bemerkt. Er sei tod oben bis onten gesund und wolle zur s^lben Stand© 
als tapferster Held in den Krieg ziehen. Ebenso babe er einen Brief gekriegt, 
da stehe eine 5 darauf, also masse heute der 8. November 1820 sein. 

Nachdem er dies Verhalten mehrere Tage durchgeffihrt hatte, wurde er 
energisoh angefasst. Daranf uberlegte er langere Zeit, gab kleinlaut seinen 
richtigenNamen an and erklarte weinerlioh, derPrinzvonMarokko sei er nicht, 
davon babe er noch nie ein Wort gesproohen. 

Aaf Befragen gab er dann seine Vorgescbichte ldokenlos an. Schon fruh 
sei er in ein Waisenhaas gekommen — so nenne man doch so was. In Fdr- 
sorgeerziehang sei er noch nie gewesen. Tatsachlioh war er vom 6. Lebens- 
jahre ab danernd in einer Fdrsorgeerziehangsanstalt gewesen. Im Waisenhaase 
habe man ihn bis za seinem 20. Lebensjahre gefangen gehalten, weshalb die 
bosen Lent© das getan hatten, konne er nicht sagen. Naohher habe man ihn 
auch zam Militar getan, aber er habe seine Feinde nicht besiegen ddrfen, weil 
er immer za viel Blasenkatarrh gehabt habe. Dann hatten ihn die Leate aach 
immerza so farohtbar mit Gefangnis yerarteilt and so sein ganzes Leben 
verpfascht. 

Bis dahin hatte er immer noch in kindiich-trotzigem Tone gesproohen, 
einen unendlich oden Gesichtsaasdruck zar Schau getragen und sich uberhaupt 
so geberdet, als sei er der Vertreter eines riesenhaften Schwachsinns. 

Als ihm noch einmal liebevoll-kraftig ins Gewissen geredet wurde, fing 
er an, heftig zu weinen and sprach von nun an in yollstandig verandertem 
natdrlichem Tone weiter. Man moge doch bedenken, was er alles durchzu- 
maohen gehabt habe. Schon mit 6 Jahren habe man iho in die Fdrsorge* 
erziehang and gleichsam in das Gefangnis gestossen. Die Fursorgeerziehung 
habe ihn yollstandig verdorben and da habe er aach gelernt, wie man 
sich verstellen kSnne and masse. Das dbrige habe er in den Gefang- 
nissen dazagelernt, aus denen er seitdem so gut wie gar nicht heraus- 
gekommon sei. 

Im Grunde seiner Seele sei er ein ganz gutmutiger Kerl, nur sei er zu 
willensschwach and mache dann immer gleioh seine Dummheiten. 

Von dieserZeit an entsagte Qu. alien angefiihrten Erankheitsersoheinungen 
yollstandig. Er sprach in naturlichem Tone and liess die theatralischen 
Gestikulationen, von denen er bis dahin sehr reichlich Gebrauoh gemacht hatte, 
ganzlich fallen. 

Die Gefangnisstrafen habe er glatt abgemacht. Nie sei es ihm 
hier schlecht za Mate gewesen, hochstens habe er einmalKopfschmerzen gehabt. 
Nie habe er Sinnestauschungen oder Wahnvorstellungen gehabt. 

Wobl aber habe er Geisteskranke im Gefangnisse gesehen and 
so sei er aufden Ge dan ken gekommen, es jetzt aach einmal dam it 
zu probieren, um um die Strafe herumzukommen. 

Das ganze Verhalten des Angeklagten war so barock, wie wir es 
mit besonderer Vorliebe als Zustandsform des Jugendirreseins in der 
Haft entstehen sehen. Trotzdem konnte das Eintreten einer Haftpsychose 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 623 

mit grdsster Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Qa. hatte 
wiederholt aach l&ngere Freiheitsstrafen ohne jede Sch&digung uber- 
«tanden und stritt selbst spater alle unangenebmen Einflusse der Haft 
ond der durch sie bedingten krankhaften Erscheinungen mit grdsster 
Entschiedenheit ab. 

Wenn er nachher alle seine Simulationsmatzchen vollkommen fallen 
liess und sogar ein Gestandnis ablegte, so konnte man diesem unbedenk- 
lich Glauben schenken. 

Gewiss muss man bei derartigen Eiugestandnissen Vorsicht walten 
lassen. Man findet ja gelegentlich, dass auch die Selbstbezichtignng 
psychopathologisch bedingt sein und als Krankheitssymptom einer Psy- 
chose auftreten kann fSerog 1 )]. 

Aber das sind doch nur verhaltnismassig seltene Falle. Kommt 
es zu einer derartigen Selbstbezichtigung, so wird die tatsacbliche psy- 
ebische Krankheit in ihren sonstigen Zugen in der Regel so deutlich 
ausgeprSgt sein, dass sie den Unwert des Gestfindnisses darzutun im- 
stande ist. 

Hier, wo der Angeklagte auch noch often angab, wie er zu seinen 
Simulationskunsten gekommen war, konnte man sich mit diesem Ein- 
gestlndnisse ruhig zufrieden geben. In der Regel wird man daranf ver- 
zichten mussen, ein solches Gestandnis zu erzwingen. Die meisten 
Delinquenten wissen natQrlich gaoz genau, was fur sie auf dem Spiele 
steht, und wenn sie auch mit ihren Machenschaften aufbOren, gestehen 
sie docb nicht ein, dass sie der Vortauschung gehuldigt haben. Man 
ist meist gezwungen, aus dem sonstigen kliniscben Verhalten die Un- 
ecbtheit des vorgefuhrten Erankenbildes zu erweisen. 

Fall 6. Ersatzreservist Otto Ta., Lakierer, 28 Jahr. In der Kindheit 
englische Krankheit und Fall von einer Kellertreppe. Kam in der Sohule bis 
zur zweiten Klasse. Verdiente in seinem Berufe sehr gut. lm Zivil mehrere 
Male bestraft. Bei Kriegsausbruch eingezogen, kam bald ins Feld. 

1915 Handschuss und Verscbuttung. Spater wegen Trippers und Rheu- 
m&tismus in 12 Lazaretten. Kam von einem Truppenteil zum anderen, kam 
immer wieder nach kurzem aus dem Felde zurnck. Mehrfach bestraft, weil er 
ohne Urlanb ron der Truppe fortgegangen war. Zweimal wegen Diebstahls zu 
Gefangnis verurteilt. Die Strafen brauohte er nieht abzumachen, da sie jedes- 
mal mit einer Amnestic zusammenfielen. 

Am 4. 7. 16 entfernte er sich Ton der Truppe. Naoh 3 Tagen Terhaftet 
Selbstmordversuch. Beobachtung im Reservelazarett. 


1) Serog, Zwei Falle von krankhafter Selbstbezichtigung der Simulation. 
Med. Klinik. 1916. Nr. 42. 


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Dr. Monbemdller, 


Hier wollte er von der ganzen Zeit seiner Entlassung nichts wissen. Er 
gab eine schwere erbliche Belastnng an und wollte seit Jahren an 
Kr&mpfen leiden. Er wurde als minderwertig, aber zurechnungsfahig 
begutachtet. 

Spater kam er in eine Arbeiterkompagnie. Als nach einigen Wochen ein 
Kamerad den Wansch ausspraoh, nach Leipzig zu kommen, macbte er ihm die 
Entweichung mundgerecht, dann packte er seine Sachen and gab an, es solle 
Gesohaftsordonnanz werden. Am verabredeten Tage ging er mit Th. zum Bahn- 
hof, nabm eine Bahnsteigkarte und stieg in einen Zug, der nach Leipzig durch- 
fuhr. Eine Station vorher stiegen sie aus, drangten sich durch die Sperre und 
hielten dabei die Bahnsteigkarten verkehrt herum. In der Folge begingen sie 
viele Diebstable und Betrugereien. 

/Die Geschadigten hatten bei ihm nichts Aurfalliges bemerkt. Nach drei 
Wochen festgenommen, benahm sich Ta. so auffallend, dass er einem Lazarett 
zugefuhrt wurde. Er erklarte hier, er habe auf der Strasse eine unbekannte 
Frau mit einem Dolche erstochen und das ganze Begrabnis mit angesehen. Er 
habe sich umbringen wollen, sehe aber kein Blut. In naiver Weise bat er, 
man moge ihm doch eine Gabel geben, da er das Leben satt habe. Von Zeit 
zu Zeit jammerte er lebhaft, der Leichenzug sei so gross gewesen und er 
furchte, auch seinen Bruder erstochen zu haben. 

„In der Folgezeit klagt er oft uber Sinnestauschungen, vor allem der 
angeblich gemordeten Frau, die ihn aber nur wenig erregt. Die angstliohe 
Erregung ist nicht besonders stark, er lasst sich stets duroh einige Worte be- 
einflussen und lenken. u 

Hautabschurfung am Oberschenkel erklart er duroh Ueberfahren durch 
den Leichenwagen. Sein Herz habe ihm 34 Stunden auf der Brust gelegen, 
dann sei es wieder hineingesprungen. Als er sich beim Anziehen des Hemdes 
nicht gleich in den Aermel findet, behauptet er jammernd, man habe ihm den 
ganzen Arm fortgenommen. 

In den naohsten Tagen hatte er sioh bei der Visite malerisch mit einem 
Bettuche drapiert. Er warte jetzt auf den hohen Befehl. Sechs Exzellenzen 
wollten ihn im Auto abholen. Er verlauge bei der Visite ganz verniinftig den 
Arzt allein zu sprechen. Plotzlich sprang er auf diesen zu: „Warum lasst Ihr 
mich nicht zu meinem Bruder. a Am selben Tage erzahlte er einem andern 
Kranken genau, wie er mit Th. einen Fluchtversuch unternommen habe. Am 
naohsten Tage teilte er dem Arzte mit grinsendem Gesiohte und in einer eigen- 
tiimlich abgehackten Sprache mit, er sei jetzt wieder k. v. 

Schon jetzt hatte man dringend den Verdacht der Simulation. 

Bei einer Intelligenzprufung war er personlich, ortlich und zeitliohschlecht 
orientiert. Er las stockend, viele Worte liess er aus, andere buchstabierte 
er in singendem Tone und verfolgte die Zeilen mit dem Zeigefinger. Zum 
Schreiben seines Namens brauchte er uber eine Minute und sohrieb weit aus- 
fahrend und die letzten Buchstaben ganz in unleserliche Krakel auslaufen 
lass end. 

3X4 = 8 (nach sehr langem Zahlen unter Zuhilfenahme der Finger). 


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Die Simulation psyohischer Krankheitszustande usw. 


625 


„Wenn Sie 5 Zigaretten haben und bekommen noch zwei geschickt, wie- 
▼iel sind das? u 

Hat yersuobt vergeblich die Aufgabe durch Abzahlen an den Fingern zu 
losen. Dann nimmt er einen Einmarkschein beraus und sagte plotzlich: „Fur 
dieses Geld bekommt man 6 Zigaretten. u Dann rechnete er nochmals nach, 
indem er mit dem Fingernagel immer Einkerbungen in den Rand des Scbeines 
machte. 

10 -|- 4? (fangt nach einer Weile an zu weinen: „Die Leute sollen mich 
lassen, ich mache ja meine Arbeit. u ) 

8 — 2? Rechnet wieder mit den Fingern und den Einkerbungen und 
kommt nach 5 Minuten zu der richtigen Losung. 

Hauptstadt yon Deutsbhland? . (Zuerst spricht Ta. in abgebrochenen 
Satzen yon seiner Heimat, rat dann auf Leipzig „da liegt Sie ja ooch Milidar.“ 

Kaiser? „Der ist im Feld in,-der heesst Sie ja Herzog Friedrich. u 

"Wo wohnt er im Frieden? („In Saalfeld, ich war in Saalfeld un der 
Genig Willem ooch.“) 

Name nnserer Feinde? „Frankreich, sonst niemand. Als ein anderer 
Kranker aniangt, stereotype Reden zu fuhren, bricht Ta. in Weinen aus und 
beklagt sich, dass Jener ihn schimpfe. 

Wer ist noch unser Feind? „In Russland is mein Bruder gefallen, zwei- 
mal 4 ist 9.“ 

Bundesgenossen? ^Deutschland stosst Russland, Blut soil iliessen . . . 
Russland, England, Deutsohland, . . . bitte, wir wollen weitermachen. u 

Unsere Bundesgenossen? („Holleben, das ist das grosse Land, die kost- 
baren Lander. u ) 

Wieviel Manate? (Naoh langem Zogern, „30 so oder so u .) 

Aufzahlen! ( n Januar, Mai . . . ne . . . 16. Mai 14. . . ne September . . . 
wir liegen jetzt im Bett. . . sanber sein . . . kommissarisch verwandt. u Trotz 
aller Bemuhungen ist er nicht auf die gestellte Frage zuruckzubringen.) 

Sehr haufig bricht er in weinerliche Klagen aus, sobald die Visits kommt 
und spricht yon seinem begrabenen Bruder. Einmal ausserte er, es sei Gift 
im Essen, nachdem sein Bettnachbar dasselbe geaussert hatte. 
Wenn man ihn zuredete, brach er sofort in Weinen aus und bat, man moge 
ihn doch in Ruhe lassen. 

Naoh 3monattger Beobachtung wurde er nach Langenhagen 
rerlegt. 

In der ersten Zeit war gesagt worden, dass wahrscheinlich ein Dammer- 
zustand yorlioge. Dass Ta. forensisoh war, war im Lazarett nicht bekannt. 

Das Schlussgutachten lautete: Ta. steht im dringenden Verdachte, 
dass er simuliert. Sobald man sich mit ihm eingehend beschaftigt, macht 
er sinnlose Einfalle, die ebensogut auf eine Hebephrenie schliessen lassen 
konnen. 

Als er bei der Ankunft in Hannover gerichtlich yemommen wurde, starrte 
er wie geistesabwesend um sich und gab keine Antwort. Schliesslich ging er 
ans Fenster und fing an laut zu weinen. 


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Dr. Monkemoller, 


Auf der Fahrt zur Anstalt war ich zufalligerweise auf der Elektrischen 
and hatte so Gelegenheit, Ta. anauffallig zu beobachten. Er sass hier mit 
belebtem Gesichtsausdruck, zeigte grosses Interesse fur die Mitfahrendert und 
die none Umgebang, unterhielt sich mit seinen Begleitem angelegentlich and 
ausdrucksvoll und erzahlte seine Kriegsabenteuer. Ueber alles war er genau 
unterrichtet, er fasste schnell auf und antwortete schlagfertig. Als er dann 
auf dem Bureau abgeliefert wurde, fiel er zusehends in sich zusammen, bekam 
einen damlichen Gesiohtsausdruck und antwortete stockend und abgerissen. 

Auf der Abteilung war er zunachst zuriickhaltend. Er spraoh langsam, 
gab aber gut Auskunft. 

Bei den Unterredungen war er die verkorperte Damlichkeit, das Gesicht 
geistlos, die Bewegungen ungelenk, die Sprache tbnlos. Zu seinen Antworten 
nahm er sich viel Zeit, wiederholte die Frage und dann noch einmal das letzte 
Wort und stierte den Arzt hiilflos an. Die einfaohsten Dinge wollte er nicht 
wissen. Redete man ihm gut zu, so wusste er pldtzlich gut Besoheid. Wenn 
man sich Zeit mit ihm gonnte, konnte man aus ihm seine Vorgesohichte in 
alien Einzelheiten herausholen. Seine Kriegserlebnisse gab er genau an, nur 
fiber seine Bestrafungen driickte er sich ausserst unbestimmt aus. Pldtzlioh 
fing er an, in unnatiirlicher Weise zu weinen: „Das ist einmal so plotzlich 
gekommen, dass ich so ein Lump geworden bin. w 

Nachdem er sich dann noch einige Tranen entrungen hatte, die er auch 
spater auf Yerlangen yon sich zu geben vermochte, sprach er viel schneller 
ohne jedes Ueberlegen und gab alle Einzelheiten prompt an. Er blieb denn 
auch ganz naturlich, wenn er auch ab und zu das kindliche Wesen hervor- 
zukehren versuchte. 

Einen bestimmten Grund zur Entfernung von der Truppe babe er nicht 
gehabt. Mit einem Kameraden, der auch aus Leipzig gestammt habe, habe er 
immer die Ziige vorbei fahren sehen, auf denen das Schild Hamburg—Leipzig 
gestanden habe. Da habe sein Freund Karl gesagt: „Weessde, wenn wer nn 
kennden nachLeibzig machen! w Und so seien sie eines Tages in Uniform fort- 
gefahren. Ueber seinen Aufenthalt in Leipzig machte er ganz genaue Angaben. 
Er habe einige „Dummheiten a gemacht. Eines schones Tages habe ein Polizei- 
diener ihn mitgenommen. Der Gerichtsoffizier habe ihn vernommen. Weshalb 
er dann in das Lazarett gekommen sei, kdnne er nicht sagen, er habe es mit 
dem Magen zu tun gehabt und auch Kopfschmerzen gehabt. Die Einzelheiten 
des Lazarettaufenthaltes gibt er genau an. Phantasiert habe er nie, von einer 
Frau, die er tot gestochen habe, wisse er nichts, habe sich iiberhaupt nichts 
eingebildet, sei weder erregt noch angstlich noch niedergesohlagen gewesen. 
Er wisse ganz genau, was er gemacht habe. 

In der Hauptverhandlung machte er einen sehr schlagfertigen und ge- 
rissenen Eindruck und verteidigte sich zweckmassig. 

Ta., der sclion fruher unbefugt eine schwere erbliche Belastung und 
Kr&mpfe in seine Vorgeschichte eingefuhrt hatte, hatte als alter Lazarett* 
l&ufer seine geringe Neigung zum Kriegsdienste zur Genuge bekundet. 


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Die Simulation psycbischer Krankheitszustande usw. 


627 


Wenn seine Straftaten mehrere Male durcb eine Amnestie der Strafe 
entgingen, so war auch hierbei die 5fters beobacbtete Tatsache zn be- 
rucksichtigen, dass er anscheinend vor neuen Straftaten desbalb nicht 
zuruckschreckte, weil er wusste, dass wieder eine Amnestie fallig war. 

Obne Einwirkung einer Strafhaft setzt der krankhafte Zustand, der 
znn&chst als Hebepbrenie zu imponieren vermag, ganz unvermittelt ein 
and halt dann drei Monate stand. Allerdings gelangt man dort all- 
m&hlich zur Annahme, dass es sich am Simulation bandeln musse. Das 
spatere Verbalten des Angeklagten konnte diese Annahme nnr bestatigen, 
wenngleich Ta. kein voiles Eingestandnis von sich gab. Die recht lange 
Zeit, die seitdem verstrichen ist, — er macbt jetzt ohne jeden Zwischen- 
fall die ihm zuerkannte Gefangnisstrafe ab, — spricht dafur, dass es 
sich nicht am eine vorfibergehende Besserang nach einer akuten heftigeren 
Phase des Jugendirreseins gehandelt haben kann. 

Eine sebr geringe Bedeutuug fur die Simulation nabm bier die 
Epilepsie in Ansprucb, bei der ja nicht nur ihre Folgezustande weit 
in die forensische Gestaltung krimineller Handlungen hineinragten. Auch 
die Vortauschang der Anfalle selbst zur Herbeifuhrung der Dienst- 
unbrauchbarkeit kann ja strafbar werden. Denn das V.orbandensein 
epileptischer Krampfanfalle befreite fruhet* ausnahmlos vom Militar- 
dienste. 

Scbon 1829 raumte Schmetzer 1 ) der Epilepsie den ersten Rang 
nnter den Krankheiten ein, die von MilitSrpflichtigen gerne nachgeahmt 
wurden. Auch spater sah man sich nicht selten gezwungen, mit dieser 
MSglichkeit zu rechnen. Die Bedeatnng der epileptischen Anfalle fur 
die Dienstunbranchbarkeit ist seitdem den Interessenten nie verborgen 
geblieben. So hatte ich wahrend meiner militararztlichen Dienstzeit mehr 
als einmal Gelegenheit, mich in dieser Hinsicht mit den Vertretern 
einer Simulantenschule za beschaftigfen, die die Anwarter fur den Mili- 
tardienst darin unterrichtete, wie sie sich bei einem derartigen Anfalle 
zn verhaiten hatten. 

So nahm denn aach die Nachahmang der epileptischen Anfalle in 
der Literatur eine ziemlich bedeutende Stellung ein und man war im 
allgemeinen geneigt, eine derartige Vortauschung als nicht allzu schwer 
darzustellen. 

Die Anstaltsbeobachtung wird in vielen Fallen durcb den Nachweis 
der Pupillenerweiterung und -starre, die Veranderungen des Pulses, die 
Verletzuogen, die Analgesie, also die Erscheinungen, die einer Simulation 


1) Schmetzer, Ueber die wegen Befreiung vom Militardienst vor- 
geschiitzten Krankheiten nnd deren Entdeckungsmittel. Tubingen. 1829. 


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628 Dr. Monkemoller, 

nicht erroiclibar sind, die wabre Natur der Anfalle aufzuklaren im- 
stande sein. 

Itnraer ist das allerdings nicht so leicht. Die Anfalle konnen so 
kurz sein, dass es nicht mCglich ist, sie der Beobachtung des Antes 
zug&nglich zu machen. Bin Simulant braucht nicht als besonders ge- 
rissen zu gelten, der die Anfalle vorsichtig zu Ende gelangen l&sst, 
sobald der Arzt auf der Bildflache erscheint. 

Dabei kSnnen die Simulanten mit gutem Gewissen uberhaupt auf 
das Auftreten der Anfalle im Lazarett verzichten, ohne sicb dadurch 
verdachtig zu machen. Es ist ja allbekannt, dass der ruhige Aufenthalt 
auf Erankenabteilungen und die Hygiene in der ganzen Lebensfuhrung 
die Erampfe selbst fur langere Zeit hintanhalten kann, zumal auch die 
jetzt durch die Macht der Umstande gebotene vollkommene Abstinenz 
vom Alkohol das Ausfallen der Krampfe begunstigt. 

In der Regel versagen auch die Mittel, durch deren An wen dung 
das Auftreten des Anfalls erzwungen oder beschleunigt werden soil: 
Salzreiche Eost, konzentrierte Zufuhrung yon Alkohol, Erweckung 
starker Affekte. Die Einspritzung von Eokain, der man nach dieser 
Richtung hin eine besondere a Wirkung nachruhmte, hat in einer grCsseren 
Zahl von Versuchen, die hier angestellt wurden, vollkommen in Stich 
gelassen. 

Im Eriege ist die Epilepsie nicht ganz aus dem Heere ausgeschaltet. 
Einzelne schwere Epileptiker haben sich selbst langere Zeit an der 
Front halten konnen. 

Die Zahl der Erampfanfalle, die zur Beobachtung auf Dienstf&hig- 
keit fubrten, hat ja in ganz ausserordentlichem Masse zugenommen und 
auch in unserm Lazarett haben wirhunderte von derartigen Fallen zur 
Beobachtung bekommen. 

In der weit uberwiegenden Mehrzahl der Falle handelte es sich 
aber um hysterische Erampfe. Yerdacht an der Echtheit wurde sebr 
selten ausgesprochen und war das einmal der Fall, dann konnte fast 
immer der Nachweis erbracht werden, dass es die Eigenart dieser Falle 
gewesen war, die diesen Irrtum ermoglicht hatte. Die Vortauschung 
eines Anfalls haben wir hier nicht nachweisen konnen. 

Ebenso selten kommen solche Falle in Betracht, die durch Vor- 
fuhrung der krankhaften Folgeerscheinungen der Epilepsie sich 
forensische Vorteile zu erringen versuchten. 

In erster Linie wurden hier angebliche Dammerzustande bewusst 
als Folgezust&nde einer Epilepsie ins Feld gefuhrt. Indirekt wurde 
eine Erschwerung der Beurteilung in einem fur den Angeklagten gun- 


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Original fro-m 

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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw. 


629 


stigen Sinne dadurch bedingt, dass, wie schon Raimann 1 ) hervorhebt, 
eine grosse Anzahl von Degenerierten und Gewohnheitsverbrechern — 
und die ist jetzt in der militErforensischen Klientel reichlich genug 
vertreten — epileptiscbe Antezedentien hat. Sie weisen Schadelnarben 
auf, sie wollen an Koplschmerzen und SchwindelanfEllen leiden und wenn 
sie behaupten, dass sie fruher an KrEmpfen gelitten haben, so wird man 
das nicht ohne weiteres von der Hand weisen durfen. 

Weit mehr wie die Epilepsie stellt die Hysterie die forensische 
Begutachtung vor Aufgaben, die mancbmal recht unbebaglich und ver- 
antwortungsvoll sind. 

Unter den Kriegsteilnebmern hat die Hysterie in einer Weise zu- 
genomnien, wie man das fruher nie fur mOglich gehalten hatte. Da- 
durcb hat sich das forensische Material ganz gewaltig gehEuft, auch 
wenn man davon absieht, dass man bei der Annahme dieses Krank- 
heitsbegriffes, der auch sonst seiner ganzen Natur nach einer scbarfen 
Abgrenzung entbehrt, ausserordentlich freigebig geworden ist und nicbt 
selten alles das, was man nicht forensisch dekiyrieren kann, schnell 
gefasst als Hysterie ansieht. 

Auf der einen Seite drEngt das ganze innere Wesen der Hysterie 
ibre TrEger in die KriminalitEt hinein. Die ZurechnungsfEhigkeit ist 
dabei immer in Frage gestellt oder bedarf doch wenigstens der Priifung, 
wenn die Hysterie an und fur sich ja auch nur dann als straffrei- 
tnachend gelten kann, wenn sie in ausgesprochener Weise in das Reich 
der Geisteskrankheit ubergetreten ist. 

Dabei fubren von ihr viele Brucken in das Gebiet der Simulation 
heruber. Das psychische Gesamtbild des Hysterischen trttgt oft den 
Stempel des Theatralischon und Gekunstelten. In gewissem Masse ge- 
hSrt die Neigung zur Luge und Uebertreibung geradezu zum Wesen 
der Hysterie. Da auch ihre kriminelle BetEtigung sich bEufig die Ge- 
biete zu ihrem Schauplatze aussucht, auf dem Luge und Betrug im 
Vordergrunde stehen, ist es selbst fur einen Kenner dieses Gebietes 
immer sehr schwierig, und oft sogar ganz unmbglich, die Grenze zu 
ziehen, die zwischen den krankhaften Lugenkunsten des Hysterikers 
und der planmEssigen und zielbewussten Uebertreibung und VortEuschuog 
des Simulanten nachgewiesen werden muss. 

Dazu kommt noch, dass die Hysterischen, die sich so gerne im 
Vordergrunde des Interesses sehen und denen das Theaterspielen zur 
zweiten Natur geworden ist, sich mancbmal in entsprechenden Simulati- 


1) Raimann, Ueber Simulation von Geistesstorungen. Jahrb. f. Psych. 
Bd. 58. S. 445. 


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Dr. Monkemoller, 


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onskomddien gefallen and gerne die - Unbequemlicbkeiten mit in den 
Rauf nehmen, die eine solcbe Betatigung nun einmal mit sich bringt. 

Die Schwierigkeit in der Beurteilung macht sich schon in recht 
stOrender Weise bei den bysterischen Anfallen bemerkbar, die dem 
Laienbeobacbter oft geradezu den Gedanken an Simulation aufzwingen. 

Die BewusstseinsstSrung ist ocler scheint doch meist viel ober- 
fl&chlicher zu sein und die Reaktion auf Eindrucke und Einflusse der 
Aussenwelt ist Dicht in dem Masse erloscben, wie bei den epileptischen 
Anfallen. Sie schliessen sich nur zu gerne an Zeitpunkte an, in denen 
es fur den Betreffenden nicht unvorteilhaft zu sein scheint, wenn er 
fur einige Zeit der Welt des Bewussten Valet sagt. Dabei gewinnt es 

oft den Anschein, dass er vollkommen Herr fiber diese Zust&nde ist 

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und sie nach Belieben in die Erscheinung treten lSsst. Da sich der- 
artige Rrampfkranke so gut wie gar nicht verletzen, sich meist eine 
bequeme Lagerungsstfitte aussuchen und durch barsches Zureden und 
energiscbe Massnahmen wieder aus dem Anfalle aufschrecken lassen, 
sind Nichtsachverst&ndige nur zu leicht mit einem Verdammungsurteile 
uber diese Zustfinde bei der Hand. Daffir haben wir jetzt ein sehr 
reiches Material beobachtet. 

Im Militfirwesen und vor allem im jetzigen Rriege hat sich dieses 
Wechselspiel zwischen Hysterie und Simulation im wesentlichen einen 
Schauplatz auserkoren, auf dem die fore'usiscbe Psychiatrie nicht zu 
Worte zu kommen braucht. In den zahllosen Neurotikerlazaretten mit 
ibren nicht immer sehr dankbareu Aufgaben hat die Hysterie recbt oft 
durch ihre Yerquickung mit einem anscheinend simulatorischen Ein- 
schlage auf die Frage der Entscheidung uber die Dienstfahigkeit ge- 
drfickt, ohne dass an die Anklage wegen Simulation auch nur gedacht 
worden wfire. 

Diese Wechselbeziehungen sind gerade in der letzten Zeit ein- 
gebender als frfiher gepruft worden. Was fur die Frage der Dienst¬ 
fahigkeit bier gesagt werden musste, hatte naturlicb auch fur die foren- 
sische Seite seine grosse Bedeutung. 

Wahrend Marcuse 1 ) die Unterechiede zwischen Hysterie und Simu¬ 
lation auf psychologischem Wege zu erreichen suehte, erklarte W. M ayer 2 )- 
es fur unmfigiich, dass die Unterscheidung der Hysterie und Vortauschung 
der subjektiv zu wertenden Auffassung des Dntersuchers zu uberlassen 


1) Marcuse, Zur psycbologisohen Unterscheidung von Hysterie und 
Simulation. Mediziniscbe Klinik. 1918. Nr. 9 u. 10. 

2) W. Mayer, Ueber Simulation und Hysterie. Zeitsohr. f. d. ges.Neurol, 
u. Psych. XXXIX. 1918. H. 4 u. 5. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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sei. Gine Unterscheidnng allein nach der fiusseren Form der Sym- 
ptome sei ausgeschlossen, denn die Symptomformen der Hysterie seien 
nnbegrenzt. Der zentrale, das ganze Seelenleben durchdringende Krank- 
heitswunsch erfulle den Hysterischen, nie den Simulanten. Die Frage, 
ob der Krankheitswunsch bewusst oder unbewusst vorhanden sei, sei, 
abgesehen von der Schwierigkeit einer sicheren Beantwortung, deshalb 
anch nicht ausscblaggebend, veil auch bewusste Tendenzen bysterische 
Mechanismen in Fanktion setzen kOnnten. Unter dem stets wichtigen 
anamnestischen Material verdiene die willensmassige Lebensgestaltung 
und der Nachweis fruherer ahnlicher Grkrankungen besondere Beacbtung. 

Macht man sich diese Ansebauungen ganz zu eigen, dann braucht 
man, wenn man einmal die Diagnose auf Hysterie gestellt hat, sich mit 
den Scbvierigkeiten der Annabme einer Simulation weitcr gar nicht 
abznmuhen und wird dann auch nnr selten einmal auf Zurechnuugs- 
f&higkeit herauskommen. 

Das wttrde aber praktisch um so weitere Folgea haben, als, wenn 
man sich auf die Ansichten Forster’s 1 ) einstellt, jeder Mensch in mehr 
oder weniger ausgesprochenem Masse zur hysterischen Reaktion neigt. 
Es hftngt nach ihm von der Umgebung ab, ob sich die bysterische 
Reaktionsweise weiter entvickelt oder befestigt oder uDterdriickt wird. 
F&r die hysterische Reaktion kommt die ursprungliche Neigung, die 
nicht unterdruckt, sondern ausgebildet wird, im Affekt zum Ausbruch, 
bei der echten Simulation wird nach Deberlegungen planm&ssig zu 
einer bestimmten Zeit gehandelt. 

Die forensischen Bedenken, die einem schrankenlosen Ueberwucbern 
dieser Grunds&tze entgegenstehen, liegen auf der Hand. 

Zu einer weit scharferen Fassung der Zurechnungsfahigkeit bei 
Hysterischen gelangte Niessl v. Mayendorf 2 ). 

Die Hysterie darf als strafausscbliessende Drsache und nicht 
nur als mildemder Umstand bloss unter gewissen Voraussetzungen ge- 
wertet werden. 

1. Eine Anzahl ausgesprochener kOrperlicher und seelischer Sym- 
ptome muss die Diagnose Hysterie ausser Zweifel setzen. Einzelne 
bysterische Zeichen sind bei psychopathisch Minderwertigen sehr h&ufig 
anzutreffen und fur Hysterie noch nicht entscbeidend. 

2. Die Hysterie darf nicht nur als Charakteranlage, sondern muss 
bereits als Krankheit offenbar sein. Eriterien hierfiir sind der ein- 

1) Forster, Hysterische Reaktion und Simulation. Monatsschr. f. Psych, 
n. Neurol. 1917. Bd. 42. H. 5 u. 6. 

2) Niessl v. Mayendorf, Zur forensischen Beurteilung Hysterischer. 
Arch. f. Psych. 1918. Bd. 59. S. 313. 


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Dr. Monkemoller, 

wandsfreie Nachweis von Krampfanffillen Oder Dammer- 
zustanden. 

3. Die Delikte mfissen ihrem Wesen nach den hysterischen psychi- 
schen Anomatien entsprechen und aus denselben eklatant hervorgehen. 
Auch wird die fiftere Wiederholang immer derselben Straftaten sowie 
die Unverbesserlichkeit des Tfiters dessen pathologische Willensschwfiche 
in so hohem Masse zu begrfinden haben, dass er der freien Wahl, so- 
bald seine Verstandestatigkeit von bestimmten Affekten beberrscbt wird, 
g&nzlich verlustig wird. 

Bei derAussprache fiber den Henneberg’schenVortragfiberAggrava- 
tion und Simulation kamen praktische Gesichtspunkte ffir die forensische 
Wertung der simulierten StSrungen verhaltnismassig wenig zur Sprache. 

Henneberg war der Ansicht, dass der Nachweis von Simulation 
hysterischer Anf&lle kaum zu erbringen sei. Leppmann, der betonte, 
dass die Frage der Simulation deshalb so schwer statistiseh zu beant- 
worten sei, weil die eigentlich arztlichen Methoden immer nur die Ent- 
scheidung ermdglichten, ob ein Symptom psychogen sei oder nicht, hob 
hervor, dass je nach den Ergebnissen mehr kriminalistischer Nach- 
forschungen und Beobachtungen man im Einzelfalle gelegentlich zur 
Simulationsdiagnose korame. Hirschfeld war der Ansicht, dass man 
im allgemeinen einen geschulten Simulanten von einem Hysteriker 
differential-diagnostiscb nicht scheiden konne. So sei man meist zur 
Ohnmacht verurteilt. 

Henneberg sah besonders hochgradige Aggravation bei Neurotikern, 
gegen die ein gerichtliches Verfahren schwebte. In der Regel werde 
bei den Kriegsgerichtsverhandluogen von diesen das Bild der Pseudo- 
demenz mit Amnesie ffir die Tat vorgespiegelt. 

Er hielt daran fest, dass es nicht angfingig sei, eine hysterische 
Stfirung wie eine organische zu bewerten. Die Hysteric babe im 
Laufe der Zeiten ihre Erscheinungsweise vielfach gefindert. Die heutige 
Kriegshysterie sei in sehr vielen Fallen eine wesentlich oberflach- 
lichere StOrung als in entsprechenden Fallen der Friedenserfahrung. 
Jetzt erkrankten auch viele nur wenig disponierte Individuen und 
Aggravation spiele eine viel grOssere Rolle: 

Nach meinen Erfahrungen gelten diese Betrachtungen auch gerade 
ffir die forensischen Ffille. 

Die Zahl der Hysteriker hat im Heere in ganz ungeheurem Mass* 
zugenommen. Wahrend sie sich im Frieden nur in der Marine in etwas 
weiteren, wenn auch an und ffir sich nocb sehr bescheidenen Grenzen 
- hielt, spielt jetzt die Hysteric in den militarischen Krankengeschichten 
eine fiberragende Rolle. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 633 

Bei aller Wertschatzung des tatsJlchlichen Anwachsens der hysteri- 
schen Krankheitszustande kann es aber keinem Zweifel unterliegen, 
dass ihr Machtbereich ungebuhrlich ausgedehnt worden ist. 

Gewiss sind die Grenzen der Hysterie schwer zu ziehen, ihre 
Aeusserungsformen vielgestaltig und zu Meinungsverschiedenheiten fiber 
derartige unbestimmte Symptomenkomplexe kann es nur zu leicht 
kommen. Ebenso sicher aber ist es, dass man mit der Diagnose recht 
freigebig umgeht. Neurastheniker aller Art, Psychopqtben mit ein- 
zelnen hysterischen Zfigen, Schwachsinnige, die unbestimmte ahn- 
licbe Symptome erkennen lassen, Verletzte mit nur leicht angedeu- 
teten Erscheinungen der traumatischen Neurose werden unterschiedslos 
mit der Diagnose der Hysterie geschmfickt, oft nur aus Bequemlichkeits- 
grfinden, oft aus mangelnder Kenntnis der ausserlich sich anscheinend 
nahe stehenden Krankheitsformen. 

Das ist ffir die praktische forensische Tatigkeit aber eiu Krebs- 
schaden. Die Betrachtung und Wertung des Krankheitsbildes wird 
damit auf eine Grundlage verrfickt, die von vornherein eine weit bessere 
Moglichkeit gew&hrt, die Zurechnungsfiibigkeit als gefahrdet erscheinen 
zu lassen. Es ist unbedingt geboten, sich ffir die forensische Beob- 
achtung eine mfiglichst scharfe Umschreibung der Krankheit zur Pflicht 
zu machen, so scharf als das eben bei der sprodeu Natur dieses Ge- 
bietes mfiglich ist. 

Man muss hier das Vorhandensein ausgepragter korperlicher Krank- 
heitssymptome und schwerer psychischer Krankheitserscheinungen ver- 
langen, vor allem von Dfimmerzust&ndeu. Abgesehen davon, dass die 
letzteren nicht immer ohne weiteres als echt anerkannt werden kOnuen, 
ist es wieder oft sehr schwer, zu bestimmen, ob sie auch zur Zeit der 
Tat vorgelegen haben oder erst zur Zeit der Beobachtung in die Er- 
scheinung getreten sind. Es ist ja seitdem oft so viel vorgefallen — 
in erster Linie die Untersuchungshaft — was eine st&rkere Auspragung 
von an und ffir sich harmloseren hysterischen Erscheinungen im Ge- 
folge gehabt haben konnte. Man wird daher der Anamnese eine 
recht erhebliche Wichtigkeit beilegen mfissen, wenngleich jetzt im 
Kriege leider gerade ffir die wichtige Zeitspanne, in die die strafbaren 
Handlungen fallen, einwandfreie Angaben nach dieser Richtung hin oft 
nicht zu erhalten sind. 

Was nun die Vortfiuscbung krankhafter Erscheinungen hysterischer 
Natur anbetrifft, so wird man sicher mit dem Begriffe der Simulation 
ganz besonders vorsichtig sein und nur im fiussersten Falle mit ihm 
operieren. Es darf eben nie vergessen werden, wie vielgestaltig das 
Krankheitsbild der Hysterie ist. Man darf den Symptomen eiuen ge- 

▲rehir f. PajcWatric. Bd. 60. Heft 2/3. 4 [ 


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Dr. Monkem&ller, 


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waltigen Spielraum lassen und man soil sich nicht von vornherein an 
ihrer Premdartigkeit stossen. Aber das darf uns docli nicht bewegen, 
non alles ohne jeden Widerspruch in den Kauf zu nehmen. Entwickeln 
sich diese oft so seltsamen Symptome bei Personen, bei denen die ganze 
Vorgeschichte fur eine hysterische Veranlagung vollkommen schweigt, 
dann wird man schon eher zn einem gewissen Misstrauen berechtigt 
sein durfen. 

Man wird dann aus der Betracbtung der gesamten psychischen 
PersSnlichkeit sich ein Drteil bilden mussen, ob man diesen Angaben 
Vertrauen schenken will oder nicht. Man wird sich dann eher zu einer 
Entscheidung entschiiessen konnen, ob man eine bewusste oder unbe- 
wusste Uebertreibung oder Vort&uschung annehmen soil, wenn man sich 
anch d^ruber nicht im Cnklaren ist, dass eine solcbe Entscheidung 
immer nur ein Ausfluss der subjektiven Anschauung bleibt und dass 
sie nie durch objektive Dntersuchungsmethoden gescbaffen werden kann. 

Das ist aber auch bei so vielen anderen Objekten der forensischen 
Psychiatric nicht anders. Man denke nur an die Abw&gung geistiger 
Schw&chezust&nde fur die Zurechnungsf&higkeit, die Glaubhaftigkeit der 
Amnesien, die Wertung der Macht der Triebe, der Zwangsvorstellungen. 

Man kommt ebon dabei nicht darum herum, dass wir der sub¬ 
jektiven Einsch&tzung dieser zweifelhaften Erscheinungen eine Bedeutung 
zukommen lassen, die man an und far sich gerne entbehren mbchte 
and die man in forensisch-psychiatrischen Dingen nur als iussersten 
Notbehelf in Anspruch nimmt. Auf Grand der klinischen Erfahrungen, 
die man sicb gesammelt hat, auf der Grundlage der forensischen Er¬ 
fahrungen und der Menschenkenntnis, die man sich zumuten darf, muss 
man sich bemfihen, diesem Subjektivismus eine mbglichst kr&ftige Unter- 
lage zu geben. Dann kann man sich immer ein zutrefifendes Gesamt- 
bild des T&ters aufbauen, auch wenn man sich dabei nie verschweigt, 
dass wir bei dieser Krankheit nie unfehlbar sein kdnnen. 

Es darf auch nicht zu gering angeschlagen werden, dasB manche 
Nebenumst&nde, manche Beobachtungen der Umgebung, die Wertung 
des Vorlebens des Angeklagten, die seine Glaubwurdigkeit in schlechtem 
Lichte erscheinen l&sst, wfthrend sie seiner Neigung zur Eriminalit&t 
und seine allgemeine Cnglaubwurdigkeit um so starker hervortreten 
lasst, uns die Unterlagen zur festeren Gestaltung unseres Urteils an die 
Hand gibt, obgleicb diese unterstutzenden Momente oft mehr in das 
Gebiet der Kriminalistik als der Psychiatrie gehbren. 

Ziehen wir uns aber in mnder Resignation auf den tbeoretisch ja 
ganz unanfechtbaren Grundsatz zuruck, dass bei der Hysteric alles mdg- 
lich ist, dass Simulation und Hysterie zwei sprechend ahnliche Zwillings- 


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Die Simulation psyohischer Krankheitszustande usw. 


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kinder sind and wir uns auch eine subjektive Trennung der Begriffe 
nicbt zutrauen dfirfen, dann wird man uns sicberlich nie eines Feblers 
zeihen kdnnen. Ebenso sicber ist es aber aucb, dass wir, wenn wir in 
so bequemer Weise der Endentscbeidung aus dem Wege gehen, der Ge- 
recbtigkeit keinen Gefallen erweisen und Personlichkeiten der Strafe 
entziehen, die sie auch bei Zuerkennung alter Milde verdient haben 
und die durch die Macht des Beispiels auch andere stammverwandte 
Naturen dazu anfeuern werden, sich gleichfalls auf diesem Gebiete zu 
versuchen. 

Bei ausgesprochenen Fallen von Hysterie wird man ohne weiteres 
den Begriff der Simulation ganz aus dem Spiele lassen. Auch bei den 
verwascbenen Formen begnugt man sich am besten damit, bei der Zu- 
meseung der Zurechnungsfabigkeit nur stillschweigend alles das in Ab- 
zug zu bringen, was man als Zutat ansieht. 

Hebt man in den Gutachten die Uebertreibungen hervor, dann ist 
man auch verpflichtet, das Gericht daruber aufzukl&ren, in welchem 
Zusammenhange diese Versucbe mit der Grundnatur der krankhaften 
Anlage stehen. 

Fall 7. Landsturmmann Zu., Viehhandler, 38 Jahre. Als Kind war 
Zu. schwachlich und litt an Schwindelzustanden. Sohlechter Schuler. Ernst- 
lioh krank war er nie. Im Wesen war er immer still, nur regte er sich leicht 
auf. Im Geschafte sehr brauchbar. 

'1915 als Landsturmpllichtiger eingezogen ruckte er mit einer Kolonne 
nach dem Osten aus. Hier will er sich durch Sturz von einem Heuwagen 
einenSchadelbruch zugezogen haben. LangeLazarettbehandlung. Verletzungen 
gehen aus den Krankenpapieren nicht hervor. Zuletzt in Langenhagen. Hier 
wurde festgestellt, dass er neben einer rechtsseitigen alten Sehnervenatrophie, 
die spezialistisch als nicht traumatisch festgestellt wurde, an Nervenstorungen 
leide, die in das Bild einer leichten hysteriscben Neurose gehorten. Da- 
neben bestand ein starkerVerdacht auf Aggravation der subjektiven Be- 
schwerden. Zu. wurde jetzt zu leichtem Dienste herangezogen und wiederholt 
wegen unerlaubten nachtlichen Fernbleibens aus dem Quartier bestraft. Zuletzt 
weigerte er sich andauernd, Dienst zu tun, da er es nicht konne und krank sei. 
Sobald man sich mit ihm beschaftigte, zitterte er am ganzen Korper und war 
nicht imstande, sich zu biicken. Der Truppenarzt hielt ihn fur einen 
Simulanten. Als er sich am 12. 7. 1917 zur Heldung uber eine fiber ihn 
verhangte Strafe auf der Schreibstube melden sollte, gab er dem Unteroffizier 
ungebubrlicbe Antworten und vergriff sich tatlioh an ihm. Zuletzt warf er sich 
auf den Boden und „bekam anscheinend Krampfe u . 

Anstaltsbeobaohtung. Aeusserlich still and apathisch, Gesichtsaus- 
druck unbewegt, doob hatte sein Wesen etwas Lauerndes. Seinen Eltern liess 
er von einem Kameraden mitteilen, er konne nicht schreiben. Immer stand er 
untatig fur sich allein herum. 

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636 Dr. Monkemoller, 

Allen Fragen, weshalb er da sei, wioh er ans oder erklarte, er sei mal 
yom Baume gefallen und babe einen Schadelbruoh erlitten, so dass die 
Splitter den Sehnerven durchtrennt hatten, spater, er habe noch eine Kugel 
im Kopfe. Nie werde er wieder seine Geschafte besorgen konnen, er sei 
schwermiitig geworden. Spater ausserte er einmal, er habe einen Zusammen- 
stoss mit einem Unteroffizier gehabt. Nach seinem Leben frage er nichts mehr 
und habe sich schon einmal aufgehangt. (Nicht zutreffend.) 

Alle seine Kameraden gewannen von ihm den Eindruck eines Simu- 
lanten. Einem Kameraden, der ihn besonders bemitleidete, schloss er sich 
immer mehr an und unterhielt sich mit ihm im Fliistertone ausfuhrlich fiber 
seine und seines Vaters geschaftliche Beziehungen. Anderthalb Jahre habe er 
in der Front gestanden, habe einen Kopfschuss erhalten und sei dadurch 
erblindet. Ausfuhrlich schilderte er seine Leiden, bei denen er woohenlang 
ohne Besinnung gelegen habe. Seit dieser Kopfverletzung leide er an 
Krampfen. Das eine Mal habe der Unterarzt einen solchen Anfall gesehen, 
ihn aber als Simulation aufgefasst und gesagt, man solle ihn nur in cfonHintern 
treten und in Arrest steoken. Der Stabsarzt habe die richtige Diagnose auf 
Hysterie gestellt! Der Arzt in Langentiagen habe ihn fur krank gehalten und 
von Traumzustanden gesprochen. Ob er ihm wohl sagen konne, 
ob Traum- und Dammerzustande dasselbe seien? Mit einem Unter¬ 
offizier habe er einen Zusammenstoss gehabt. Der Arzt habe ihn auch jetzt so 
angeschuauzt, ihm Vorhaltungen fiber seinen Briefverkehr gemacht und ihm 
einen Brief eines Madchens aus Koln gezeigt, den er ihm vorenthalten habe. 
Es habe ihm nicht gepasst, dass der Oberwarter immer gehorcht habe, als sein 
Yater dagewesen sei. Er und der Vater hatten nicht einmal geschaftliche 
Dinge besprechen konnen. 

\ Bei diesem Besuche zeigte er sich im Anfange ganz angeregt, machte 
durchaus nicht den schlafrigen Eindruck, den er sonst machte und erkundigte 
sich sehr interessiert, wie es zu Hause gehe. Nachher sprachen sie leise und 
unverstandlich miteinander und schienen sich durchaus zu yerstehen. 

Bei den Untersuchungen machte er immer sofort einen apathischen und 
stumpfen Eindruck. Kein Mienenspiel. Kein Affekt. Dabei fasste er gut auf, 
antwortete aber immer wie sohwerbesinnlich. Das Gedachtnis fur seine frfihere 
Vorgeschichte war sehr gut, fur die letzte Zeit wollte er nicht mehr Bescheid 
wissen. 

Dass er sich durch seine Anfalle einen Schadelbruch zugezogen habe, 
wisse er aus dem Soldbuche. (Enthalt nichts.) Ob, weshalb und wie oft er 
mit Arrest bestraft worden sei, konne er nicht mehr sagen, auch nicht, wann 
und wo er im Lazarett gewesen sei. 

Auf Befragen klagte er fiber zahlreiche nervose Beschwerden. An nichts 
mehr habe er Lust und konne sich nicht mehr freuen. Bei der Intelligenz- 
priifong, bei der er im Yergangenen Jahre sehr gut abgeschnitten hatte, 
gab er nur Fehlantworten. 

Den Angaben, die er im Yergangenen Jahre fiber erbliche Belastung ge¬ 
macht hatte, fugte er jetzt noch einen Onkel und eine Kusine hinzu. 


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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw. 


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Von den ihm zur Last gelegten Straftaten wollte er nichts wissen. Eines 
Vorfalls mit einem Unteroffizier konne er sich nicht entsinnen. Dass er von 
einem Gerichtsoffizier vernommen worden sei, wisse er, nicht aber, dass ihm 
eine Krankmeldung verboten gewesen sei und dass er wegen Uebertretung eine 
Arreststrafe bekommen sollte. 

Darauf wurde ihm auf Grand seines Briefweohsels, der erkennen liess, 
dass er an Angehorige und Bekannte geschrieben und seinem Bruder sogar 
kurzvorher noch ausfuhrlicheVerhaltungsmassregeln gegeben hatte,vorgehalten, 
dass er seine Besohwerden und vor allem seine Gedachtnisschwache ganz er- 
heblich iibertreibe. Er sohrak zusammen, stierte um sich, zitterte am ganzen 
Korper und schwankte hin und her, ohne aber hinzufallen, schnappte nach 
Luft, fasste sich an die Kehle und konnte kein Wort herausbekommen. 

Das Bewusstsein war nicht gestort. Er kam alien Aufforderungen prompt 
nach und buckte sich beim Ausziehen ohne jede Schwierigkeit. Die nachste 
Mahlzeit verweigerte er und lag noch stundenlang auf seinem Bette, ohne ein 
Wort zu sprechen. 

Bei einer spateren Untersuchung erklarte er, er konne sich dieses Zu- 
standes nicht mehr entsinnen und wollte von der ganzen Unterhaltung und 
Untersuchung nichts mehr wissen. Das miisse wohl mal wieder ein „Dammer- 
zustand u gewesen sein. Solche Anfalle habe er schon ofters gehabt. 

Als ihm seine Aeusserungen zu den Kameraden vorgehalten wurden, 
leugnete er in frechem Tone und mit grosser Ruhe alles rundweg ab. Er sei 
eben Jude und das geniige. 

Korperlicher Befund: Abgesehen von der Sehnervenatrophie negativ. 

Man musste schon sehr weit gehen, wenn man Zu. eine Hysterie 
zuerkennen wollte auf Grund des einen Anfalls, den er beim Militftr 
erlebt hatte, und des sehr anfechtbaren Zustandes, den er als Dammer- 
zustand aufgefasst wissen wollte, ohne dass in seiner Vorgeschichte ein 
entsprecheuder Vorgang nachzuweisen war. Dafur hatte er sich nach 
dem Wesen dieser Zustande erkuudigt und sich gleichzeitig als Unter- 
lage fur die bei ihm vorhandene nicht traumatische Sehnervenatrophie 
einen Unfall geschaffen, den er in wechselnder Weise darstellte. Ohne 
dass etwas eingetreten w&re, was ihn in intellektueller Beziehung hatte 
schadigen konnen, hat sich seine geistige Leistungsfahigkeit in der auf- 
fallendsten Weise gegenuber der fruheren Beobachtung gesenkt, d. h. 
nur dem Arzte gegenuber, walirend er durch Briefe und die Unterhaltung 
mit seinem Vater und Kameraden gegenuber bekundete, dass er in 
dieser Beziehung noch recht gut beschlagen war und vor allem auch 
nicht einen Ged&chtnisverlust zu beklagen hatte. 

Fall 8. Pionier Rudolf Sch., Kaufmann, 32 Jahre. Am 12. 7. 1917 
schlich er sich in eine Wirtschaft ein, durchsuchte das Zimmer eines Arbeiters 
und versuchte das Spind der Arbeiterin Ru. zu offnen. Als diese hinzukam, 
fluchtete er, nachdem er aufBefragen noch angegeben hatte, ersei nicht drinnen 


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Dr. Honkemolier, 


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gewesen. Am nachsten Tage bestritt er entschieden, in derWirtschaft gewcsen 
zq sein, iiber sein sonstiges Verhalten an diesemTage gab er genaaeAuskunft. 
Bei einer Haussuchung fand sich eine Menge Sachen, die von anderen Dieb- 
stahlen herruhrten. Ueber die Herkunft der. Sachen machte er ganz genane 
Angaben. Eine Hose wollte er von einem Arbeiter De— bekommen haben. 
Dieser leugnete das entschieden ab. Dagegen hatte Sch. ihm erzahlt, er sei 
wegen seiner Nerven schon im Krankenhause gewesen. Uan halte ihn fur 
nicht ganz normal, aber er sei schlauer, wie sie alle zusammen. 

Friiher wegen nnerlaubter Entfernung 6 Honate Gefangnis. Achtmal in 
Lazarettbehandlung. In zwei Lazaretten, in denen er sich wegen Muskel- 
rheumatismus befanden hatte, war er in nervhser und psychischer Beziehung 
in keiner Weise aufgefallen. Im Festungslazarett K. gab er an, er leide, seit- 
dem er in Serbian ein Ponton gegen ihn gefallen sei, an Kopfschmerzen and 
Schwindelanfallen. Keine Anfalle. Im Reservelazarett U. gab er an, er habe . 
seine Anfalle im Anschluss an eine Verschiittung bekommen. Hier 
bekam er angeblich drei Anfalle, die aber arztlich nicht beobaohtet wurden. 
Yom 24. 1. bis 12. 4. 1917 war er im Lazaret Be. Aerztlicherseits wurde hier 
einmal ein „Anfall u beobachtet, ohne Zungenbiss, ohne Einnassen. Die 
Pupillenreaktion konnte nicht gepruft werden. Er erwies sioh als 
reizbar und gewalttatig. Der Hausordnung fugte er sich schlecht und verliess 
naohts oft das Lazarett. Auf die psychiatrische Abteilung verlegt. Hier stets 
ruhig und geordnet. Die Natur der Anfalle konnte nicht als epileptisch fast- 
gestellt werden. Keine Anfalle. Da ein weiterer Aufenthalt in der psychiatri- 
schen Abteilung als unzulassig bezeichnet wurde, als „Affektepileptiker u ent- 
lassen. 

Nachdem er wieder einige Zeit im Lazarett Hi.— ohne Anfalle gewesen 
war, kam er in das Lazarett Ei. Keine Anfalle. 

Einmal hatte er auf dem linken Vorderarme einige rote Striche. Er be- 
hauptete, diese seien von einem Hanne mit sohwarzem Barte gemacht worden, 
der in der Nacht zu ihm gekommen sei. 

In Langenhagen wusste er iiber seine Vorgeschichte zunachst genau Be- 
scheid, die Diebstahle bestritt er entschieden. Dazwischen erkundigte er sich 
in kindlicher Weise, ob er Flieger werden konne. Hit den anderen Kranken 
verkehrte er nicht. Heist wandelte er im Wachsaale herum und fuhrte ver- 
worrene Selbstgespraohe. Ab und zu klagte er iiber Kopfschmerzen. 

InderUnterhaltung saher den Arztniean,sondernstiertemit wilden Blioken 
gegen die Decke. Er gab immer sehr widerstrebend Auskunft. Stimmung 
miirrisch. Urn die Antworten, die ihm nicht angenehm waren, suohte er sioh 
herumzudrucken. Dabei liess sich nur feststellen, dass er sehr gut auffasste 
und ganz genau wusste, worauf es ankam. Als Kind sei er immer ganz gesund 
gewesen, habe nie Krampfe oder dergleichen gehabt. „0, wie gerne mochte 
ich fliegen w . Auoh spater sei er immer gesund gewesen, habe nie getrunken, 
keinen Unfall erlitten und sei nicht geschlechtskrank gewesen. Auf der Schule 
habe er allerdings nicht besonders gut gelernt. Im Kriege habe er geheir&tet, 
wann und wo, wisse er aber nicht, auch nicht, wie seine Frau als Hadohen 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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geheissen habe. Dann sei er Schiffer geworden and auf der Weser zur See 
gegangen. (Sie da, Doktor, ich kann doch wohl mai sicher Oilaub kriegen?) 

Wo er in Frankreich gestanden habe, wisse er nicht, auch nioht, wo er 
im Lazarett gewesen sei. 1915 habe er in Galizien Anfalle gekriegt, wann 
and bei weloher Gelegenheit, sei ihm entfallen. Trotzdem habe er 
gegen Serbien gemus9t. Er babe die Donau uberschritten, sei dabei hineinge- 
falien und habe wieder einen Anfall bekommen. Von dieser Zeit ab sei er 
immer wieder in den Lazaretten gewesen, die er nicht nennen konne. Nur zu- 
letzt habe er in Mi. 8 Monate lang in einem Lazaretto gelegen. Dass er in 
einem anderen Lazarett gewesen sei, bestreitet er im affektiert kindlichen Toue: 
„In Mi, in Mi u . Erst bei nochmaligem Zureden weiss er dann plotzlich yon 
seinem Aufenthalte in Hannover in einem Lazaretto, dessenLage er ganz genau 
besohreibt. Jetzt sei er nur hier, „weil man ihn hierher gebracht habe a . 

Auf die Frage, ob er nicht wegen unerlaubter Entfernung im Felde ver- 
urteilt worden sei, erklart er mit hoher sittlicher Entrustung, er wisse davon 
nichts. Noch nie sei er vor Gerioht gewesen. Noch nie habe er etwas von 
Fahnenflucht gehort und dafiir konne ein Mensch doch nicht bestraft werden. 

Auobaus Be. sei er noch nie fortgelaufen: „da war ich doch immer in Caper¬ 
naum und in Moringen und habe, o, so fromme Lieder gesungen. Hallelujah! 

Aus dem Parkhause „solle a er auch einmal fortgelaufen sain, da sei er 
dann am Morgen auf der Wache gewesen, wohin ihn brave Zivilisten gebracht 
batten. Da sei auch der bdse schwarze Mann gewesen und habe ihn immer 
geschlagen. Aber hier kdnne er ihm nichts tun, da sei ja eine Irrenanstalt, da 
kdnne er nicht hinein. 0, wie scbon ist es doch hier! 

Auf nochmaliges Befragen erklart er nach langerem Ueberlegen, er solle 
Brotmarken gestohlen haben und wisse doch gar nicht, was das sei. Ausser- 
dem solle er 5 M. genommen haben, auch davon wisse er nichts. Auf weiteres 
Befragen raumt er dann noch eine Hose ein, die man ihm nicht gdnne. Die 
habe er aber von einem Manne Namens De— gekauft und sehr schabig sei sie 
gewesen. Die Frau habe auch behauptet, sie habe ihn gesehen, wie er die 
Treppe hinuntergegangen sei. Die ganze Sache solle sich ja in Mi. in der 
Wirtschaft von Wi. abgespielt haben. Da sei er nooh nie gewesen. Als der 
Diebstahl passiert sein solle, sei er dauernd in seinem Quartier gewesen und 
habe sich fleissig beschaftigt. Von der Haussuchung will er zunachst nichts 
wissen. Auf Vorhalt gibt er dann % gekrankt mit leidendem Gesiohtsausdruoke 
zu, dass bei ihm einDrillichanzug gefunden worden sei. Den habe er aus dem 
Lazarett mitgebracht. 

Als er nach erfolgter Beobachtung wieder in das LJntersuchungsgefangnis 
zaruckgebracht worden war, stellten sich dort bei ihm sofort „Anfalle“ ein, 
die nicht arztlich beobachtet werden konnten. Bald darauf lief er zweimal aus 
dem Lazaretto Wa. fort. Das eine Mai wurde er in der Stadt in Gesellschaft 
eines schonen jungen Madchens betroffen und erklarte dem Unteroffizier, der 
ihn anhielt, er werde sich in den nachstenTagen wohl wieder einmal im Laza- 
rett sehen lassen. Beim zweiten Mai lief er auf den Friedhof, wo er sich, 
nachdem er si oh die Stiefel ausgezogen hatte, leise weinend auf, einen Grab- 


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Dr. Monkemoller, 


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hfigel setzte. Schliesslich fahr er nach Mi. und wurde hier bei seiner Frau 
im Bette liegend gefunden. Fur beide Entweichungen wollte er nachher auch 
nicht die geringste Erinnerung haben. 

Daraaf kam er in das Reservelazarett Jl., anch hier liessen ihn die An- 
falle ganzlich im Stiche. Als er dagegen elektrisiert wurde — nach Aussage 
des behandelnden Arztes wurde er mit einem ganz schwachen Stromchen in 
iiberaus liebreicher Weise behandelt—, war plotzlich die Erinnerung an 
die beiden Entweichungen wieder da. Aus freien Stiicken gab er 
alle Einzelheiten aus dieser Zeit an. Darauf kam er nach Langenhagen. Mit 
der Miene eines ungerecht geplagten schweren Dulders betrat er die Anstalt. 

Im Lazarett Wa. habe man ihm gesagt, er solle sich so schnell wie mogiich 
um ein Schiff bewerben und das habe er dann auch getan. Weshalb man ihn 
dann wieder hierher gebraoht habe, konne er nicht verstehen. Die ganze Ge- 
schichte habe keinen Zweck, am besten sei es ja wohl, wenn man ihn in Ruhe 
lasse, da er doch schwer krank sei. Wie er nach Mi. gekommen sei, konne er 
nicht sagen. Man habe ihn bange gemacht, man wurde in Jl. so.furohtbar 
schwer elektrisiert. Da habe or und ein Kamerad sich gesagt, dass es doch 
am besten sei, wenn sie gleich fortliefen. Als er mit 6—8 Kameraden den Lei- 
densweg nach Jl. habe antreten sollen, sei er in das Wirtshaus hinten an der 
Ecke gegangen. Da habe er einen Schnaps getrunken und als er wieder zu 
sich gekommen sei, habe er bei seiner Frau in Mi. im Bette gelegen, ohne dass 
er gewusst habe, was er da gewollt habe. 

Bald darauf sei er eines Morgens auf dem Friedhofe gewesen, ohne zu 
wissen, wie er dort kingekommen sei. Seine Schuhe hatten ihm gefehlt. Die 
Sache sei ihm so furchtbar unheimlich gewesen, dass er sich von einem Manne 
in sein Lazarett habe zuriickfiihren lassen. 

In Jl. habe er genaue Mitteilungen fiber seine Fahrt nach Mi. gemacht, 
weil man ihn in der furchtbarsten Weise gequalt habe. Dann sage der Mensch 
alles, auch das, wovon er gar nichts wisse. Aber man habe einen solchen 
Starkstrom in sein schwaches Leib hineingelassen, dass ihm noch jetzt das 
ganze Rfickenmark wackele. 

Bei der Visite stand er in schlotteriger Haltung in den Ecken herum, 
indem er das Bild des tiefsten Grames darbot und seine umflorten Blicke ratios 
an der Decke herumirren lies. Auch bei den Untersuohungen sass er vollig 
zusammengebrochen da, sah den Arzt wehmutsvoll an und erging sich in den 
beweglichsten Klagen in iiberaus hohlem Theaterpathos. 

Sobald er dem Arzte aus den Augen war, lebte er auf und ffihrte das 
grosse Wort. Dabei norgelte er bestandig und schimpfte vor allem fiber den 
Militarismus und alles, was damit zusammenhangt. 

Krampfahnliche Erscheinungen wurden wahrend der Untersuchung nicht 
bemerkt. 

Nach seiner Gesamtveranlagung konnte man ihm die Diagnose der 
Hysterie, die an Stelle der fruheren Epilepsie getreten war, wohl gfinnen. 
Allerdings versagte der kfirperliche Befund ganz und dass die Krampfe 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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recht uberzeugend gewirkt h&tten, liess sich auch nicht behaupten. Auf 
der psych iatrischen Abteilung in Be., auf der man ihn ausdriicklich fur 
nicht geisteskrank erklarte, stellte man eine Affektepilepsie fest. Sonst 
aber gelang es ihm nicht, w£hrend der viele Monate umfassenden 
Lazarettbehandlung einen unanfechtbaren Anfall von sich zu geben. 
Dabei fuhrte er gleich vier verschiedene Ursachen dafur ins Feld! 

So hatte er sich um so mehr zum Vertreter der typischen Lazarett- 
degeneration ausgebildet, der ganz dem entnervenden Einflusse einer zu 
lange und zu liebevoll ausgeubten Behandlung zum Opfer gefallen war. 

Auch wenu man ihm seine Hysterie zu Gute hielt, brauchte man 
der kindlichen Art seines Auftretens, seiner kunstlichen Naivitat und am 
wenigsten seinen sich immer zur rechten Zeit einstellenden Dammer- 
zust&nden Glauben zu schenken, um so weniger, als sie sich bei geeig- 
neter Behandlung glatt und restlos listen. 

Bemerkenswert ist dieser Fall dadurch, dass die Uebertragung der 
Kaufmann’schen Methode auf die psychischen Ausfallserscheinungen 
zu einem dem Tater sp liter unbequemen Ergebnisse fuhrte. 

Damit knupft die Behandlung derartiger Simulanten an die Mittel 
an, deren sich die Psychiatric und nicht in letzter Linie die MilitSLr- 
psychiatrie in derartigeu Fallen friiher mit besonderer Vorliebe zu be- 
dienen pflegte. Es war die Zeit, in der man vor allem der Anwendung 
der kalten Dusche und langerer Nahrungsentziehung, Ekelkuren, Brech- 
mitteln, Douchen, Einsperrung zu ekelhaften, tobenden oder gefabrlichen 
Eranken, lebensgefahrliche Angriffe, Feuerruf im Hause, Chloroformie- 
rung nicht zuruckscheute, wenn es gait, den Trotz eines vermeintchen 
oder wirklichen Simulanten zu brechen. 

Man hat jetzt im allgemeinen von derartigen Mitteln Abstand ge- 
nommen. Ist man seiner Sache sicher, dann bedarf es solcher Mittel 
nicht und will man erst Elarheit in die dunkle Sachlage bringen, dann 
l&nft man Gefahr, einem Geisteskranken und Unzurechnungsfabigen ein 
nicht wieder gut zu machendes Unrecht anzutun. Zahe und wider- 
standsfahige Naturen dagegen wird man nur zu leicht noch mebr in 
ihre T&uschungsbestrebungen hineintreiben und ihre Gestaltungskraft zu 
neuen Taten anregen. Dabei verraten sie nur die Unsicherheit des Gut- 
achters und Erafft-Ebing bezeichnete sie geradezu als ein Armuts- 
zeugnis fur den Arzt. Auch Bonhoeffer hielt ein kriminalistisches 
Aufdeckungsverfahren, den Versuch der Gestandniserzwingung bei den 
Zwischenzust&nden zwischen Hysterie und Simulation fur unzweckmassig. 
Praktisch stelle man sich zweckmassiger auf den Standpunkt, dem 
Patienten eine Brucke zu bauen und ihn auf irgend einem Wege der 
Ueberredung oder irgend einer psychop&dagogischen Massnahme zum 


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Verlasseu seiner Position zu bestimmen. Nachtr&glich sei oft eine Auf- 
kl&rung mit moralischer Note angebracbt, am der Wiederkehr der Zu- 
stande zu begegnen. Auch von; militlrarztlichen Standpunkte aus ver- 
focht Dannehl 1 ) den Standpunkt, dass man solcbe nicht ganz einwands- 
freien Mittel und Ueberrumpelungsversuche nicht anwenden durfe. Auch 
bier habenwir im allgemeinen die besten Erfolge bei der Kilning dieser 
zweifelhaften Zustande dadurch erzielt, dass man znn&cbst mit sanfter 
Gutgl&ubigkeit zuhSrt und den Kunstler dadurch dazu begeistert, sicb 
an eine nocb so farbenreichere Ausgestaltung der vorgefuhrten Zustlnde 
zu begeben. Mit der notigen Geduld wird man dann schliesslich doch 
meist zum Oeberblicke fiber die Sachlage kommen. 1st man so weit, 
dann kann man versucben, durcb festes Zureden dem Betreffenden klar 
zu machen, dass er mit seinen Bemubungen keinen Erfolg h^ben wird. 
Ebenso hat das energische Zureden des Richters in der Hauptverhand- 
lung, doch auf die Simulation zu verzichten, schon recht oft einen offen- 
sichtlichen Erfolg gehabt. Das ist in letzter Linie darauf zuruckzu- 
fuhrcn, dass es den Angeklagten fast ausnahmslos bekannt ist, dass sie 
sich bei der Strafzumessung weit besser stehen, wenn sie die Geduld 
der Richter nicht durcb Leugnen, Lugen und Uebertreibungen auf eine 
zu barte Probe stellen. Dafur sorgt die Yerbreitung der kriminalisti- 
schen Erfahrungen, die unsere Delinquenten gesammelt haben. 

Allerdings haben die Stimmen, die fur eine rauhere Tonart sprechen, 
nie ganz geschwiegen. 

So glaubte Fritsch 2 3 * ), man kdnne nicht in jedem einzelnen Falle 
mit den milden Methoden zum Ziele kommen und wenn es auch vom 
Irztlichen Standpunkte aus nicht geraten erscheine, zu Repressalien seine 
Zuflucht zu nehmen, so musse dennoch hie und da einmal eine schlrfere 
Massnahme der Untersuchungsmassnahmen getroffen werden, um die 
Situation klarzustellen. 

Auch Reimann 8 ) hielt bei Simulanten unter bestimmten Indika- 
tionen die Anwendung hydropathischer Prozeduren und den faradischen 
Pinsel fur angezeigt, besonders wenn die logische Bearbeitung zu einem 
Resultat gefuhrt habe und man dem grausamen Spiel der Simulation 
ein Ende machen wolle. Auch meines Erachtens liegt kein Bedenken 

1) Dannehl, Ueber Simulation. Deutsche militararztl. Zeitschr. 1912. 
Bd. 41. S. 361. 

2) Fritsch, Erfahrungen fiber Simulation von Irresein und das Zusam- 
inentreffen desselben mit wirklioher geistiger Erkrankung. Jahrb. f. Psych. 
1880. Bd. 36. S. 322. 

3) Reimann, Ueber Simulation von Geistesstdrungen. Jahrb. f. Psych. 

Bd. 22. S. 443. ' 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 643 

vor, die Kaufmann’sche Methode in derartigen Fallen anzawenden. 
Sie ist fur kranke Menschen erdacht, die gesund gemacht werden sollen. 
Wenn unsere Beobachtungskranke angeben, an Folgeerscbeioungen einer 
Krankheit zu leiden, deren kfirperliche Symptome diesem Verfabren 
unbedenklich nnterworfen werden, dann ist nicht einzusehen, dass man 
auch der Heilung dter psychischen Rrankheitserscheinungen in Shnlicher 
Weise zu Leibe geht. Weshalb unsere kriminell gewordenen Krieger 
eher den vorubergehenden Cnbequemlichkeiten dieses Verfahrens aus 
dem Wege gehen sollen, wie ihre nicht straff&lligen Kameraden, 
lisst auch nicht durch die weitgehendste Sentimentalitat sich recht- 
fertigen. 

Voraussetzung ist naturlich, dass man auch hierbei die Vorsichtsmass- 
regeln nicht vergisst, die bei diesem Yerfahren nnu einmal unentbehr- 
lich sind. Und ebenso mussen wir uns bei dieser Wiederbelebung des 
angeblich erloschenen Erinnerungsvermdgens davor buten, die Frage- 
Btellnng nach den Einzelheiten der angeblich aus dem Gedacbtnisse 
ausgefallenen Tat irgendwie suggestiv zu gestalten. Man muss auch auf 
die unangenehmen Zwischenfalle gefasst sein, die hierbei gelegentlich 
einmal auftreten konnen. 

Fall 9. Flieger Erich Na., Kaufmann, 26 Jahre. Massige erblicbe Be- 
lastung. Als Kind englische Krankheit und Krampfe. Schlechter Schuler. 
Yield dumme Streiche. In der Lehre kummerlich. Kam als Kriegsfreiwilliger 
ins Feld. Nach wechselnden Schicksalen zertrummerte er mit Kameraden 
nachts in Laden die Scheiben, stieg ein und verkaufte spater die Beute. Hatte 
stets Dietriche bei sich. 

Nach Ergreifung wurde er in einem Nervenlazarett fur verhandlungs- und 
haftfahig erklart. Es sei moglich, dass er eine psyohopathische Personlichkeit 
sei, ebenso sicher aber, dass er „sich den Eindruck eines SchwerkrankW bei- 
zulegen suche u . Dem Personal und dem Arzte gegenuber tat er, als ob er 
kaum sprechen konne. atmete schwer, hielt sich den Kopf und schlich an* 
scheinend muhsam nmher. Dagegen nnterhielt er sich flott mit einer Bier* 
mamsell und Tersuohte von einem Oesterreicher Kranken sich dessen Uniform 
zu leihen, um in die Stadt zu gehen. Diesem erzahlte er, er babe flott rer* 
dient, viel gelumpt und einen Teil seines Geldes in der Uhrkapsel. Im Kreis* 
gefangnis bekam er sofort Anfalle und wurde wieder in das Lazarett zuruck- 
gebracht. Seine Abteilung hielt ihn fur einen Simulanten. Aerzt- 
licherseits stellte man fest, dass er zweifellos eines simulatorisohen Verhaltens 
uberfuhrt sei, doch bestehe die Moglichkeit, dass er ein Psyohopath sei. 

Anstaltsbeobachtung. Zunachst blieb er unter der Bettdeoke liegen, 
starrte nach den Tiiren und sah mehrere Male angstlich unter das Beit. Auf 
Fragen gab er gar keine Antwort. 

Am nachsten Morgen gab er richtige Antworten, klagte aber uber heftige 
Kopfschmerzen und legte sich ostentativ ein nasses Handtuch um den Kopf. 


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Am darauffolgendenTage wollte er wieder nicht wissen, wo er sei, stellt© 
an das Personal ganz sinnlose Fragen und klagte bestandig fiber die heftigsten 
Kopfschmerzen. Dem Oberwarter trat er in planloserWeise in denWeg, starrte 
ihn wie abwesend an und berfihrte ihn wie prfifend. Der Saalwaohe erzahlte 
er, er hore Stimmen, die ihn riefen. Eine Zeit lang ahmte er alle Geberden, 
Bewegungen und Hantierungen seiner Bettnachbaren nach. Zwischendurch 
beschaftigte er sich mit Lesen und unterhielt sioh mit don anderen Kranken, 
vor allem mit zwei sohwer Kriminellen. Das Untersuchungszimmer betrat er 
mit leeren Blicken. Die Frage nach seinem Geburtsjahr wiederholte er fitters 
wie abwesend. Auf weiteres Fragen sagte er, den Arzt vorwurfsvoll anschauend: 
2 X 12 = 25. Auf die Frage nach seinem Alter fragt er kindlich zutraulich: 
„Meine Seife ist doch hier? Sind meine Hosen nicht hier?* Dann stand er 
auf, ging vor den Spiegel, besah sioh wohlgefallig und kehrte gravitatisch auf 
seinen Platz zurfick. Auf die Frage, wann er beim Militar eingetreten sei, 
meint er, „das ist schon lange her, drum freut es uns so sehr u . Was ist Ihr 
Yater? „Der tut auch in Berlin sein. Er ist Feldwebelleutnant. Du, in dem 
Kronleuchter fehlt eine Birne, die ist hinausgeschraubt. u Die Zahl seiner Ge- 
schwister konne er nicht angeben, da sei auoh einer von Soldat. In welcher 
Strasse er in Berlin gewohnt habe, konne er nicht angeben, „sehen Sie, solche 
Kopfschmerzen hat man, dass man aliens vergessen hat u . Er habe eine Ober- 
realschule besucht, wo die aber gelegen habe, konne er nioht sagen, da sei er 
noch ein ganz kleines Baby gewesen. 

Bis zu welcher Klasse sind Sie gekommen? „In Berlin bin ich gewesen, 
was macht man denn mit so einem Dinge? 1914 sei er als Freiwilliger einge¬ 
treten, das weitere weiss ich nicht, da mfissen Sie in meinem Passe nachsehen. 
Ja Flieger war ich. Ja Flieger in der Tfirkei und zwar der allerbeste. u Will 
sich dann plotzlioh die Hande waschen. „Nein sind Sie schmutzig. u Was er 
hier in der Anstalt solle, wisse er nicht. „Nun kann ich doch auch gleich 
wieder gehen, denn ein fremder Mann hat mir gesagt, ich solle im Bette liegen 
bleiben. u Als unten die Hausglocke lautet, erhebt er sich, um aufzuschliessen. 
Er komme direkt aus einem Lazaretto in Berlin und sei ganz allein hier- 
her gekommen. 

An welchem Flusse liegt Berlin? „In Allenstein war ich auch. u 

In den nachsten Tagen beantwortete er jede Frage, die man an ihn* 
richtete, mit den Worten: „Morgen frfih um 9 Uhr muss ich zur Beerdigung. a 
Bei der Pupillenuntersuchung kniff er immer die Augen fest zu. Bei der 
Prfifung des Augenfussschlusses fiel er schon um, ehe er fiberhaupt die Augen 
geschlossen hatte. 

Auf der Rfickkehr erzahlte er dem Unteroffizier, dass er sich verstellt 
habe, er sei ebensowenig verrfickt, wie die andern, die dort zur Boobachtung 
gewesen seien. Er sei der gesundeste Mensch von der Welt und werde ver- 
suchen, aus dem Lazarett zu entweichen, da er frfiher schon im Auslande ge¬ 
wesen sei und ganz genau Bescheid wisse. Lieber ware es ihm schon, wenn 
er damit durohkomme, dass er den Verruckten markiere. Dann werde er um 
so schneller entlassen und beziehe Rente. Er wisse genau, dass die Aerzte 


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schon an seinem Geisteszustande zweifelten. Er babe aucb einen Freund, der 
es lebbaft bedanre, sicb nicht so anstellen zu konnen wie er. Der habe aber 
wenigstens eine alte Kopfverletzung aufzuweisen und hoffe damit sein Ziel er- 
reiohen zu konnen. Er habe im Gefangnis absichtlich nicht gegessen und sein 
Brot verschenkt. Das Hungern halto man ganz gut aus, wenn man einmal fiber 
den Anfang hinweg sei. Er habe nur da gestohlen, wo es die Leute gut hatten 
entbebren konnen. Ob er nicht gut markieren konne, ihn mfisse doch jeder 
Menscb fur verrfiokt balten. 

Wenngleicb der Angeklagte als Psychopath aufgefasst werden musste, 
stand die Hysterie, die man ihm zuerkannt hatte, wieder auf ziemlich 
schwacben Ffissen und die Taten, die er begangen hatte, konnten in 
keinen inneren Zusammenhang mit der Hysterie gebracht werden. 

An seinem Gest&ndnis hielt er spater immer auch in abgeschw&chter 
Form fest und liess in seinem Wesen nichts mehr erkennen, was an sein 
Tbeaterspiel w&hrend der Beobachtung erinnert hatte. 

Abgesehen von der kritischen Prfifung, die derartige Gestfindnisse 
an Eameraden an und ffir sich erfordern, scheinen sie gegen eine ziel- 
bewusste Simulation zu sprechen, well sie den Erfolg der Vortfiuschungs- 
bestrebungen ohne weiteres in Frage stellen kfinnen. Das gilt in 
gleichem Masse von der auch sonst so oft geubten Praxis der Simulanten, 
es nicht ffir der Mfihe wert zu erachten, an ihrer Komodie festzuhalten, 
wenn der Arzt nicht zugegen ist. 

Das liegt zum Teil daran, dass sie der Meinung sind, dass ihre 
Eameraden und das Personal unbedingt auf ihrer Seite stehen mfissten. 
Dazu kommt sehr oft bei ihnen die selbstzufriedene Renommiersucht, 
die es nicht duldet, dass sie fiber ihre Leistungen den Mund balten. 

Im Grunde genommeu kommt aber hier in erster Linie die all- 
gemeine minderwertige Veranlagung zum Ausdruck, die ihnen die nfitige 
Eonsequenz zur lfickenlosen Durchffihrung ihrer Bestrebungen versagt. 

Wie in manchen anderen der hier beigebrachten Falle hat auch 
Na. den Ganser’schen Symptomenkomplex, — oder richtiger gesagt, — 
einen Ersatz daffir vorgeffihrt. Wie der hysterische Stupor Raecke’s 1 ) 
und die emotive Stupidit&t Jung's 2 ) stellt er ein Gebiet dar, auf dem 
die Begutachtung immer am ersten Bedenken tragen wird, eine scharfe 
Greuze zwischeo Simulation und Geisteskrankheit zu ziehen. 


1) Raecke, Beitrag zur Kenntnis des hysterischen Dammerzustandes. 
Allgem. Zeitscbr. f. Psych. Bd. 58. S. 115. — Hysterisoher Stupor bei Straf- 
gefangenen. Ebendas. Bd. 58. S. 445. 

2) Jung, Ueber Simulation von Geistesstorung. Journ.f.Psyoh.u.Neuro- 
logie. 1903. 


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Auch naclidem nach dem Vorgange von Stertz dem Erankheiis- 
bilde der Name der bysterischen Pseudodemenz beigelegt wird, ist die 
am meisten in die Augen fallende Erscheinung die, dass die Kranken 
bei alien Anforderungen, die an ibre geistige Leistungsfahigkeit gestellt 
werden, einen so gut wie vollkommenen Ausfall aller Kenntnisse dar- 
bieten, die sie bald in der zweifelnden und fragenden Form einer nocb 
richtigen Antwort, bald durcb die Antwort „ich weiss nicht“, oder in 
der typiscben Ausdrucksweise des Vorbeiredens zum Besten geben. Man 
hat dies Symptom jetzt im wesentlichen der Hysteric zuerkannt, ob- 
gleich es gelegentlich, wenn aucb in grOberen Umrissen bei mancben 
Formen der Dementia praocox beobacbtet wird. 

Bei aller Wertsch&tzung dieser Erankheitserscheinung bat man nie 
ganz vergessen, dass es fruber als eines der sichersten Zeichen der 
Simulation gegolten hat. 

Schon zu der Zeit, in der Ganser auf diese Erscheinung aufmerk- 
sam machte, war es anfgefalleu, dass es sicb bei den von ibm beob- 
achteten Fallen nur um verbrecberische PersOnlichkeiten handelte. Auch 
in der Folgezeit ist das Symptom im wesentlichen bei Straf- und Unter- 
suchungsgefangenen beobachtet worden. Auch die F&lle, in denen es 
bei Unfallskranken in die Erscheiuung trat, kOnnen von vornherein den 
Gedanken an eine Vortauschung nicht vergcheuchen. Denn auch hier 
ist das Ziel, das durch eine solche Vorfuhrung erstrebt werden soil, 
deutlich erkennbar. Nun sind ja auch Falle beobachtet worden — und 
sie stehen auch mir zur Verfugung, — in denen irgend ein derartiger 
Zweck einer etwaigen Vorfuhrung nicht erkennbar ist. Aber von alien 
Seiten wird anerkannt, dass derartige F&lle iusserst selten sind und 
nur Ausnahmen darstellen. 

Und wenn wir jetzt diese Erscbeinungen bei Eriegsteilnebmern be- 
obachten, die schwere Eriegserlebnisse durchgemacht haben, bei denen 
irgend welche kriminelle Gesicbtspunkte nicht erkennbar sind, so darf 
doch nicht vergessen werden, dass bei ibnen im Unterbewusstsein der 
Wunsch und das Bestreben schlummert, der Wiederholung derartiger 
Anfechtungen zu entrinnen. Gerade diese Falle sind am meisten ge- 
eignet, den Uebergang zwischen der bewussten und unbewussten Vor¬ 
fuhrung dieser Erscheinungen zu vermitteln, wie diese Zust&nde auch 
in anderer Beziehung manche Aehnlichkeiten mit haftpsychotiscben Er¬ 
scheinungen erkennen lassen. 

Auch wir haben unter unserem milit&rischen Material eine recht 
betr&chtliche Menge ganserahnlicher Zustande gesehen. Aber auch hier 
waren die Falle, die gknzlicb aus dem kriminellen Bereiche herausfielen, 
ausserordentlich selten. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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So wird man auch jetzt an den immer wieder ausgesprochenen 
Mahnungen zur Vorsieht in der Wertung dieses Symptoms festhalten 
tnfissen. 

So wies Klein 1 ) auf die Bedeutung des Symptomenkomplexes bin 
and Jansky 2 3 ) liess sicb trotz des Auftretens dieser Erscheinungen nicht 
abhalten znr Diagnose der Simulation zu kommen. Henneberg bielt 
trotz der Tatsache, dass die Antworten bei Simulation sich inhaltlicb 
nicht von den Antworten bei hochgradiger bysterischer Zerstreutbeit 
und in manchen Fallen vom D&mmerzustand unterschieden, daran fest, 
dass das bewusste Vorbeireden nicht als Ganser’sches Symptom be- 
zeichnet werden dfirfe. R6gis 8 ) betonte, dass das Vorbeireden doch 
nocb nicht aufgebOrt habe, ein Merkmal der absicbtlichen Simulation 
zu sein, und bracbte einen Fall bei, in dem der Betreffende selbst ein* 
gestand, das Vorbeireden simuliert zu haben. Besondere Vorsieht bei 
der Verwertung dieses Symptomes riet er besonders fur Militfir- 
personen an, bei denen er Simulationsversucbe als relativ haufig be* 
zeichnete. Bonhdffer 4 ) hob hervor, dass bei der Mehrzahl der Falle 
von hysterischem Scheinblodsinu zum mindesten im Beginn eine be¬ 
wusste Absicht, Gedachtnisschwache, bezw. Geisteskrank- 
beit darzustellen, vorliege. Daffir spreche die zunehmende Haufig- 
keit dieser Zustande im letzten Jabrzehnt bei Renteuneurotikern und 
neuerdings bei Heeresangehflrigen. Ein grosser Teil hierher gehoriger 
Falle gehe unter Fehldiagnosen und werde durch Festnehmen seitens 
der Aerzte fixiert. In der Klinik gelinge es meist innerhalb weniger 
Tage, durch Ignorieren, Betonung der Unerheblichkeit und Verlegen auf 
die unruhige Station, den Komplex zu beseitigen. 

Wenn wir dem Ganser’schen Symptom in forensischer Beziehung 
die gebuhrende Bedeutung zukommen lassen wollen, sind wir jedenfalls 
gezwungen, unter alien Umstanden vorher den Nachweis zu erbringen, 
dass tatsachlich eine Hysterie vorliegt (abgesehen von den selteneren 
Fallen, deren Zugehfirigkeit zu einem katatonischen Krankheitsbild sich 
un8chwer nachweisen lasst). Jedenfalls dfirfen wir uns nicht bewegen 
lassen, nur aus dem Vorhandensein dieses Symptomenbildes ruck- 


1) Klein, Ueber^psychische Storungen in der Untersuchungshaft. Zeit- 
schrift f. Medizinalbeamte. 1917. Nr. 13 u. 14. 

2) Jansky, Simulation der Geisteskrankbeit bei einem Morder. Casopis. 
ceskyou 14k. 1917. Bd. 56. S. 43. 

3) Rlgis, Simulation de la folie et syndrome de Ganser. Revue de mid. 
llgale. 1912. 19. S. 226. 

4) Bonhoffer, Diskussion fiber den Henneberg’schen Vortrag l.c.S. 1017. 


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schliessend die Diagnose anf Hysteric zu stellen, wie wir das wieder- 
holt erlebt hahen. 

Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass aucb Hysteriker ge- 
legentlich einmal bewusst dies Symptom benutzen, urn einen forensi- 
schen Vorteil zu erringen. Wird das Vorbeireden hier aber in einwands- 
freier Weise vorgefGhrt, dann wird man kaum eine Handhabe haben, 
auch den sUrksten Verdacht auf Simulation zum Ausdrucke zu bringen. 

Dass das Vorbeireden vorget&uscht werden kann, ist durch eine 
genugende Zahl von Fallen, die ein Gest&ndnis abgelegt haben, be- 
wiesen worden. In groberen Umrissen ist es auch gar nicht so schwer 
vorzufuhren. Schon Ilenneberg machte darauf aufmerksam, dass man 
ein typisches Vorbeireden auch von Vollsinnigen sehr leicht dadurch 
erhalten kann, dass man sie aufforderte, sich geisteskrank zu stellen, 
auch wenn die Versuchspersonen nichts von psychischen Krankheits- 
bildem wussten. 

Der Ausfall der landlSufigen Kenntnisse geht eben aus der An- 
nahme des Laien hervor, dass die Geisteskrankheit im wesentlicben in 
einer allgemeinen VerblOdung und dem Schwinden des gewbhnlichsten 
geistigen Besitzstandes gipfele. 

Zur Entscheidung ist zunachst die mdglichst scharfe Fassung des 
Vorbeiredens in engerem Sinne erforderlich. 

Man darf nicht [Schuppius 1 )] alle groben Feblantworten, alle un- 
sinnigen Reaktionen auf die gestellten Fragen als Vorbeireden bezeichnen. 

Es ist gerade fur das Ganser’sche Vorbeireden bezeichnend, dass 
sich immer ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen der richtigen und 
der falschen Ant wort herstellen lasst, auch wenn man manchmal etwasMuhe 
hat, die Gedankensprunge und die ausgefallenen Gedankenglieder nach- 
zuweisen. 

Nimmt man eine genauere Analyse der Antworten vor, dann wird 
man schon eher zu der Annahme kommen, ob eine Simulation vorliegt 
oder nicht. Selbst wenn man damit rechnet, dass unsere Beobachtungs- 
kranken sich bemuhen, sich in der Krankheit, die sie vorfuhren wolleu, 
anszubilden, und auch im gewissen Masse Gelegenheit dazn haben, ist 
es kaum anzunehmen, dass sie den Feioheiten dieses Reaktionstypus 
auf die Spur kommen werden. 

Selbstverstaudlich schwinden alle Bedenken sofort, wenn es gelingt, 
eine Stdrung des Bewusstseins und damit den Zusammenhang des Vor- 


1) Sohuppius, Das Symptomenbild der Pseudodemenz und seine Be- 
deutung fur die Begntachtungspr&zis. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 
1914. Bd. 22. S. 566. 


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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande nsw. 649 

beiredens mit einem D&mmerzustand festzustellen. Nur darf dabei nicbt 
vergessen werden, dass gerade nnsere Beobachtungskranken, die sich 
bemuhen, diesen Typus vorzufiihren, die Neigung haben, sich im all- 
gemeinen damlich und dflsig 'hinzustellen, ohne dass eine tatsachlicbe 
BewosstseinsstSrung vorliegt. Das Verhalten der Umgebuug gegenuber 
schafft bier meist AufklSrung. 

Dass man das Symptom nicht durch die Art der Fragestellnng 
direkt bervorrufen darf, wie das ja unschwer zu erreichen ist, ist selbst- 
verst&ndlich. Wie Schuppius richtig bervorhebt, ist bei Simulanten 
eine grdssere Mannigfaltigkeit bei den Antworten zn erwarten, wabrend 
man bei *den unverfalschten Fallen immer eine gewisse EintOnigkeit in 
der Art der Antworten beobachtet. 

Einen Anbaltspunkt fur die Beurteilung haben wir auch in der 
Daner dieser Zustande. Handelt es sich nicht um einen bysterischen 
Dammerzustand, dann wird das pldtzliche Verschwinden des Symptoms, 
vor allem, wenn es im Anschluss an eine geeignete suggestive Ein- 
wirkung anf die Beobachtungskranken, doch mit diesera Verhalten auf- 
zuhOren, erfolgt, die Annahme nahelegen, dass es sich ura kein echtes 
Symptom gehandelt hat. Die Falle, in denen dies Symptom unab- 
hangig von einer BewusstseinsstOrung lange Zeit durchgeffthrt wird, 
sind entschieden Ausnahmen. Mehrfach hatten wir hier Gelegenheit 
zu beobachten, dass es bei einor zweiten Beobachtung gar nicht mehr 
vorgefuhrt' wurde, nachdem es bei der ergten Begutachtung nicht an- 
erkannt worden war. 

Scbliesslich sind wir noch in der Lage, durch den Nachweis der 
objektiven Merkmale der Hysterie die Diagnose zu stutzen, in erster 
Linie der GefuhlsstSrungen und der Gesichtsfeldeinengung. Wir dfirfen 
aber auch hier nicht vergessen, dass man gerade bei diesem Reaktions- 
typus die Frage nach der Simulation dieser anscheinend rein objektiven 
Symptome nicht ganz ausschalten darf. Wie unsere Simulanten hier 
die psychischen Krankheitssymptome zu ihren Gunsten zu gestalten 
suchen, schaffen sie sich im Notfalle dazu auch noch die somatische 
Unterlage. Alan braucht dabei gar nicht zu verlangen, dass sie uber 
die Bedeutnng dieser Befunde unterrichtet sein sollen, obgleicb nach 
unseren Erfahrungen auf diesem Gebiete mehr geleistbt wird, als fur 
die Beurteilung gerade angenehm ist. Da sie hier auch sonst das 
Gegenteil von dem tun, was der vernunftige Mensch in solchem Augen- 
blicke zu tun pflegt, so kann es ihnen nicht schwer fallen, auch bei 
der kOrperlichen Ontersuchung die entsprechende Nutzanwendung zu 
finden. Die Benutzung der komplizierten Untersucbungsmetboden ist 
hier unbedingt erforderlich. 

Arehir f. Psycbi atria. Bd. €0. Heft 2/3. 42 


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CORNELL UNfVERSSTV 



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Dr. Monkemoller, 


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In den meisten Fallen wird es moglich sein, abgesehen von dem 
Ganser’schen Symptom dnrch sonstige unanfechtbare Krankheitser- 
scheinungen die Diagnose sicber zu stellen. Bei einer l&ngeren Be- 
obachtung fallen die Simulanten aucb fast ausnahmslos aus der Rolle. 
Und schliesslich genugen die Erfabrungen, die man im Laufe der Zeit 
sammelt, um auch dem subjektiven Momente bei der Beurteilung dieser 
Zustande zu seinem Recht zu verhelfen. 

In forensischer Beziehung hat die in mancher Beziehung mit 
der Hysterie so nahe verwandte Neurasthenic verhaltuism&ssig selten 
zu weitgebenden ErOrterungen Anlass gegeben. 

Dass der Neurasthenie bei einem sehr erhebliehen Teile unserer 
militarischen Klientel eine nicht geringe Bedeutung zukommt, bat sich 
im weiteren Verlaufe des Krie^es immer mehr herausgestellt. Sie ist 
allm&hlich etwas so alltagliches geworden, dass sie gar nicht mehr 
auffallt. Da ihr der Richter von vornherein nur die Bedeutung einer 
Nervenkrankheit zuerkannt, die keine Grundlage fur den § 51 abgeben 
kann, fuhrt sie aus demselben Grunde nicht zur Beobachtung, aus dem 
der Verteidiger sich nicht auf diesen Paragrapben beruft. Die Ange- 
klagten selbst fuhren ja nun ziemlich regelm&ssig subjektive Rlagen 
neurasthenischer Natur ins Feld und tragen hierbei auch gerne die 
grellen Farben auf, die nun einmal zum Wesen der Neurasthenie ge- 
horen. Wenn sie aber in sich die Regungen fiihlen, sich durch Ueber- 
treibung oder Vortauschnng den Schutz des § 51 zu erwirkcn, erklaren 
sie sich lieber fur eine bandlichere Geisteskrankheit, weil es auch ihnen 
nicht verborgen bleibt, dass sie aliein mit einer solcben Nervenkrank¬ 
heit kein Gluck haben. Nur die D&mmerzustande, die auf einer solchen 
Grundlage erwachsen, konnten ffir diesen Zweck genugen und werden 
auch gelegentlich nach dieser Richtung hin ausgcbeutet. 

Damit soli nun nicht gesagt sein, dass nicht auch das Bestreben 
vorliegen kann, diese Beschwerden in der ausgesprochen^n Absicht zu 
ubertreiben, sich damit dem Militardienste zu entziehen und dass hier- 
durch der Simulationsparagraph des Militftrstrafgesetzbuches erfullt wird. 

Aber wie die Berufsgenossenschaften nur gauz ausnabmsweise gegeu 
die Vertreter derartiger Simulationsbestrebungen auf gerichtlicbem Wege 
vorgehen, kommt es in militariscker Beziehung nur sehr selten zur 
Anklagc. 

Die Neigung zur ubertrieben starken Betonung der subjektiven Be¬ 
schwerden, ja gelegentlich sogar die allzuscharfe Auspr&gung oder 
Vortauschung der objektiv nachweisbaren Beschwerden gehSrt nun ein¬ 
mal zu den kennzeichneuden Erscheinungcn der Neurasthenie. Obgleich 
von diesen Bestrebungen zur bewussten Simulation eine Briicke heruber- 


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Die Simulation psychischer Krankbeitszustande usw. 


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fuhrt, ist es hier fast ebenso schwer wie bei der Hysterie und meist 
gar nicbt mdglich, die Greuze zwiscben bewusster und unbewusster 
Uebertreibung zu ziehen. 

Man wird aucb bier Bedenken tragen, selbst in Fallen, in denen 
man die Deberzeugung gewonnen bat, dass Uebertreibung im Spiele ist, 
die entsprechenden forensischen Schlussfolgerungen daraus zieben. 

Man muss ja den Tragern dieser Form der Meurasthenie stets zu 
gute balten, dass sie ibre subjektiven Beschwerden tiefer empfinden, 
afs das aus ihrer objektiven Leistungsfahigkeit hervorzugehen scbeint. 
Dazu stellen sich diese verscharften subjektiven Bescbwerden in der 
Regel am st&rksten bei Personlicbkeiten ein, die scbon in der Anlage 
besonders empfindsam und wenig widerstandsffihig sind und bei denen 
eine gewisse allgemeine Minderwertigkeit die Willenskraft in ffihlbarem 
Masse schw&cht. Gerade die angeborene Schlaffheit und Energielosig- 
keit, die durch die erlittenen Scbadigungen des Krieges eine Vertiefung 
erfahren, eyleichtert das Aufwuchern der Bestrebungen, die vorhandenen 
Beschwerden in ungebuhrlicher Weise aufzubauscben. Die allgemeine 
Missstimmung, die dnmpfe Unlust, die durch das Gefuhl der Leistungs- 
unfibigkeit hervorgerufen wird, ist nur zu sehr dazu angetan, sie iu 
dieser Neigung noch mebr zu bestarken. 

Wenn man hierbei aucb besondere Vorsicbt gelten lassen muss, 
hat man doch einen gewissen Anhalt am kSrperlichen Befunde, der 
einen objektiven Massstab dafiir abgeben kann, dass tatsachlicb 
eine scbwere Schadigung des Nervensystems vorliegt 1 ). Ausschlag- 
gebend fur die forensische Wertung kdnnen diese objektiven Symptome 
allerdings auch nicbt sein. Mit der Mdglichkeit, dass derartige un- 
zweifelhafte Neurastheniker gelegentlich aucb anscheiuend der Simulation 
nicht erreichbare Symptome vorzutauschen wissen, muss gerecbnet werden. 
Darauf weist miter anderem sehr eindrucksvoll Szedlack 2 ) hin, der 
sogar fiber einen intelligenten Kranken berichtet, der, an Lues leidend, 
Gehimsyphilis simulieren wollte und durch Eintrfiufeln von Atropin die 
Lichtstarre der Pupillen herbeifuhrte. 

Fall 10 . Pionier Alfons Zo., Kaufmann, 36 Jahre. Als Kind Kopf- 
schmerzen. Sonst gesund. Mit 5 Jahren wurde er von seinem Bruder mit dem 
Kopfe gegen eine Tiscbecke gestossen. Zeitweise starkerer Potus, konnte viel 
vertragen. Starker Kaucher. Auf der Schule lernte er sehr gut. Spater einige 

11 Rubemann, Ueber einige bei Neurosen vorkommende Simulation 
und Uebertreibung ausschliessende Symptome. Zeitschr. f. psyoh.-diat. The- 
rapie. 1917. 

2) Szedlack, Simulierung und Aggravation nervoser Krankheiten wah- 
rend des Militardienstes. Budapesti Orvosi Ujsag. 1916. Nr. 22. 

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Dr. Monkemoller, 

Jahre auf einem Lehrerseminar. Die Examina bestand er glanzend. Zuletzt 
Referendar. 

Im Oktober 1905 trat er im Eisenbahnregiment in Berlin-Schoneberg ein. 
Im Januar 1906 entwich er yom Eisenbahnregiment Berlin, weil seine Brant 
von ibm in anderen Umstanden war. Er blieb in der Schweiz bis 1915. Hier 
zeitweise wegenNervenerscheinnngen in Behandlung. Angeblich wegen einer 
Sehstorung in einer Privaklinik, sah Schlangen und glaubte sich von ihnen 
erwurgt. Nach seiner Sohilderung war er in der Schweizer Zeit immer nervos. 
Stets will er eine Neignng zur Ortsveranderung gehabt haben nnd vom Hause 
einmal fortgelaufen sein. 

Bei Kriegsausbrnch begann er, „da er sich doch gerne patriotisch be- 
tatigen wollte tf , einen schwunghaften Lebensmittelhandel von der Schweiz 
nach Deutschland. In Wien verbaftet, wurde er ansgeliefert. Hier Verurtei- 
lung zu 2 Jahren Gefangnis („weil er aus dem Wege geraumt werden sollte, 
da er eine grosseErfindnng gemacht hatte, derenErtrag man ibm nicht gonnte u ). 
Seine Strafe machte er in Ragnit ab. Ein Rest wurde ihm geschenkt, „weil er 
sein Vergehen durch Tapferkeit vor dem Feinde wieder gut machen wollte a . 
Obgleich er im Gefangnis noch Nervenbeschwerden gehabt hatte, sollte er so- 
fort wieder Dienst tun und wurde fur transportfahig fur das Feld erklart. 

„Er war seelisch gebrochen und fiihlte sich gehetzt wie ein Hund a . Um 
sich zu kraftigen, ging er in eine Wirtschaft. Auf dem Heimwege brach er be- 
wusstlos zusammen. Als er zu sich kam, ging er zur Kaserne, die er ver- 
schlossen fand. Da er sich nicht hineintraute, trank er in einem Restaurant 
eine Flasche Wein und verbrachte mit einem Madchen die Nacht. Da er sich 
nicht wohl fiihlte, brachte diese ihn zu einer „Legationsratin u , die ihm eine 
Flasche Morphium mitgab, die sie aus einer sehr grossen Flasohe abzapfte. 
Sie lehrte ihn, wie man sich das Morphium einspritzen musste, immer senk- 
recht sich hinein bis in die Schlagader, immer 1—2 Strich. Da er sich matt 
und zerschlagen fiihlte, mietete er sich zwei Wohnungen. 

Hier nannte er sich Dr. R., liess sich Visitenkarten machen und wandte 
sich nun an alle moglichen Firmen, indem er ihnen Bohnen, Erbsen und Kak&o 
in grossen Mengen anbot. Er wollte sie aus einem Geschaft in Holland, auf 
dessen Namen er spater nie kommen konnte, eingekauft haben. Er verhandelte 
mit alien moglichen Geschaftsvertretern in der umsichtigstenWeise und sohloss 
mit ihnen Kaufvertrage ab. Zum Beweise dafiir, dass die Waren sich in Lehrte 
auf der Bahn befanden, zeigte er gefalschte Frachtbriefduplikate vor. Die 
Stempel zu diesen Frachtbriefen hatte er sich in mehreren Rahmen anfertigen 
lassen. Diese Geschafte, bei denen er auf die Beteiligten einen ausserst ge- 
sohaftsgewandten und zielbewussten Eindruck machte, spielten sich in einem 
Zeitraume von 14 Tagen ab. 

Er behauptete nun spater, in der ganzen Zeit habe er immer unter dem 
Einflusse des Morphiums gehandelt. Naoh den Einspritzungen sei ihm so ge- 
wesen, als ob er schwebe. Er sei nur so mit fortgerissen worden. Wenn er 
eingespritzt hatte, wurde er in seinen Geschaften geradezu zur Begeisterung 
hingerissen. Am Abend wusste er denn meist gar nicht, was er getan hatte. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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Seine Schwagerin habe ibm gesagt, dass er oft ganz nnzutreffende Antworten 
gegeben babe. 

Sohliesslicb, als er tibersehen konnte, welohe Geschafte ihm gegluckt 
waren, hob er in der Bank ungefahr 70000 M. ab, die von den betreffenden 
Firmen niedergelegt gewesen waren. Die Unterschrift unter den Vertragen 
hatte er am letzten Tage erst vollzogen. 

Am Abend vorher batte er noch ziemlicb erbeblicb gezecht. Er hatte 
dabei aber durchaus die Direktion bebalten und eine genaue Erinnernng be- 
wahrt. Gegen Mittag vollzog er die Unterschriften und hob das Geld ab. 

Dann fubr er nacb Stuttgart und bielt sich dort langere Zeit auf, indem 
er mehrereMal den Versuch machte, eine sichere Unterkunft zu bekommen, und 
einmai eine Entweichung nach der Schweiz yorbereitete. 

Am 22. 8. 1917 wurde er verhaftet und haufig vernommen, wobei er sich 
ausserst zielbewusst und in alien Dingen beschlagen erwies. Er wurde nach 
Berlin uberfiihrt und dort, weil ein alter Tripper wieder ausgebrochen war, in 
ein Lazarett uberfiihrt. 

Am 2. 10. entwich er von dort. Angeblich hatte man ihn als grossen 
Sohieber zu alien moglichen bdsen Zwecken ausniitzen wollen. Infolgedessen 
habe er sich wenig heimisch gefiihlt. Das habe ihn in namenlose Auf- 
regung versetzt, die anderen hatten das benutzt und ihn bei dem ersten Aus- 
bruohe mit genommen. Tatsachlich hatte er einen anderen kriminellenKranken 
bewogen, mit ihm auszubrechen. In Berlin hielt er sich langere Zeit auf, liess 
sich eine Offiziersuniform anfertigen, lebte recht gut und bereitete andere 
Untemehmungen vor. 

Spater behauptete er, er habe in dieser Zeit ganz plan- und ziellos ge- 
lebt. Er habe versucht, unter einem anderen Namen in das Sennelager zu 
koznmen, um seinen heisscsten Wunsoh, fiir das Vaterland zu kampfen, zur 
Tat werden zu lassen. 

Am 13. 1. wurde er verhaftet und am 25. 6. nach Hannover uberfiihrt, 
nachdem es ihm in der Untersuohungshaft sehr gut ergangen war. 

Die Transporteure hatten ihn sehr schlecht behandelt. Er habe sehr 
trube in die Zukunft gesehen. So sei er aus dem schnellfahrenden D-Zuge 
gesprungen. Tatsachlich hatte er, indem er das Klosett benutzte, seine Be- 
gleiter getauscht, war in das Nebenabteil gezogen und hatte, vor dem Heraus- 
springen noch langere Zeit gezogert, ehe er lossprang. 

Nach seinen spateren Angaben war er einen Augenblick betaubt, stand 
auf, fiel aber hin und wurde in den Zug zuriickgefuhrt. 

Am 7. 7. liess er sich in der Arrestanstalt, nachdem er vorher gar nicht. 
aufgefallen war, vorfiibren und erklarte, er habe auf dem Kopfe einen schweren 
Bleiklumpen, Schmerzen im Arme und standiges Rauschen im Kopfe. Er wisse 
auch nicht, weshalb er da sei. Als ihm erklart wurde, dass er der Fahnen- 
flucht beschuldigt werde, erklarte er, es sei riohtig, dass er sioh im Jahre 
1906 vom Eisonbahnregiment entfernt habe. Er sei nicht zu seiber Truppe 
zoruckgekehrt und habe sich in der Sohweiz aufgehalten. Wie er wieder nach 
Deutschland gekommen sei, wisse er nicht. Von seinen ganzen Taten wollte 


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Dr. Monkeraoller, 


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er nichts wissen. Er verlangte bestandig, man solle ihm den Arm abschneiden 
und ihm einen halben Zentner Blei aus dem Kopfe nehmen. 

Spater erklarte er dem Gerichtsoffizier, selbstredend gebeer zu, vor acht 
Jahren fahnenfliichtig geworden zu sein, aber deshalb nehme ihn doch die 
Schweiz. Wie komme er also nach Deutsohland? 

Da er beim Eisenbahnregiment in Schoneberg aktiv gewesen und weil 
Berlin der Ort der Tat gewesen sei, musse dieSache vor einem Berliner Kriegs- 
gericht verhandelt werden. Ausserdem bitte er um einen Arzt, der ihm den 
Bleiklumpen, der doch mindestens 1 / 2 Zentner wiege, aus dem Kopfe nehme. 
Der linke Arm musse ihm weggeschnitten werden > da er ihm so schrecklich 
weke tue. 

Aehnlich schrieb er am 14. 7. in einem Briefe an seine Frau, sie moge 
ihm ordentlioh Essen schicken und ihn in Bern abmelden. Dabei teilte er ihr 
die genaue Adresse seines Verteidigers mit. Imraer wieder sprach er von seiner 
Fahnenflucht, die vor acht Jahren erfolgt sei. Neben nervosen Besohwerden 
klagte er fiber absolutes Fehlen des Erinnerungsvermogens, wie er von Bern 
nach Hannover gekommen sei. Seiner Frau suggerierte er die Antwor- 
ten auf alle moglichen Fragen nach seinen fruheren Nervenerkran- 
kungen and den behandelnden Aerzten. In anderen Briefen behauptet 
er, er konne nicht mehr lesen, alles sei duroh die grosse Bleiplatte ver- 
dunkelt, die auf seinem Haupte laste. Man wolle ihm einreden, er sei aus dem 
Zuge gesprungen. Das glaube er aber nicht, denn dann ware er unfehlbar tot. 
Man habe gesagt, er habe davon eine Hirnerschiitterung bekommen, das glaube 
er nicht, man habe ihn jedenfalls fallen lassen, als man ihn yerschleppt habe. 
Seine Frau solle ihm doch nicht sChreiben, dass es keinen Tee, Kaffee, Kakao 
gebe. Ob sie nicht mehr rechnen konne. Sein Sohn solle 9 Jahre alt sein, 
der sei doch erst 6 Jahre alt. 

Zwischendurch machte er ganz geordnete Eingaben an das Kriegs- 
gericht. 

Als er in eine dunkleArrestzelle eingesperrt wurde, erhob erBeschwerde. 
Noch nie in"seinem Leben sei er ausgebrochen, auch nie eingesperrt gewesen, 
nur 1906 in Berlin, ehe er die Fahnenflucht beging. Auch musse er betonen, 
dass er Neurastheniker sei, wenn er das auch nur ungern sage. 
Die Zustellungsurkunde wies er zuriick, dass musse wohi ein anderer sein, er 
habe doch beim Eisenbahnregiment gedient und nicht bei den Pionieren. 

Am 8. 8. 1917 wurde er militararztlich untersucht. Er behauptete, jetzt 
sei 1914. Vom Kriege wollte er nichts wissen. Jetzt sei doch gerade der Bal- 
kankrieg gefiihrt worden. Wie er nach Hannover gekommen sei, wisse er nicht. 
Er habe in Bern gewohnt. als er eines Morgens aufwachte, habe er in der 
Arrestzelle gelegen, Man habe ihm dort eine fremde Uniform hingelegt. Ueber 
seine sonstige Vorgeschichte machte er sehr genaue Angaben und hob alles 
hervor, was ihn als krank erscheinen lassen konnte. 

Jetzt habe er dasGefuhl, dass ein schwerer Bleiklumpen auf seinem Kopfe 
liege. Er musse annehmen, dass einer ihm diesen auf den Kopf geworfen 
habe. Er sei jedenfalls, als man ihn aus der Schweiz holte, an der Grenze 


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Die Simulation psycbischer Krankheitszustande usw. 655 

aus dem Zuge herausgeworfen worden, dabei habe man diesen Klumpen auf 
ihn gestiirzt. Jetzt wolle man ihn umbringen und der Arzt habe schon Blau- 
saure in seinen Kaffee getan. 

Fasst gut auf. Wird nicht abgelenkt. Fliessender Gedankengang. Lachelt 
haufig listig. 

Er wurde als neuropathische Persdnlichkeit und Simulant bezeichnet. 

Am 12. Januar sohreibt er dann, er wisse jetzt wieder, was 
passiert sei, aber lediglioh dadurch, dass er seine Erinnerung aus einer 
AnzahlNotizen, Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Briefkopien rekonstruiert 
habe. Aus diesen gehe hervor, dass er zur Zeit der Tat sohwer verwirrt 
gewesen sei. Seine Erinnerung fangt dementsprechend damitan, dass er alles 
das, was als krankhaft erscheinen konnte, mit ganz genauer Zeit und Ortsbe- 
zeichnung bis in die feinsten Einzelheiten vorbringt. 

Von da an sind seine Eingaben vollkomraen sachgemass und in den Ver- 
nehmungen weiss er glanzend Bescheid. 

Anstaltsbeobachtung. DieEreignisse, die sich mit seinemAbspringen 
aus dem Zuge abgespielt hatten, konne er nur nach Notizen schildern, die er 
sich in der Haft gemacht habe. Was vorher geschehen sei, sei ihm ganzlich 
aus der Erinnerung geschwunden gewesen. Er habe sich immer in der Zeit 
gewahnt, in der noch in der Schweiz gewesen sei. Spater sei alles in seine 
Erinnerung zuruckgekehrt, aber lediglich an der Hand der Notizen, die er sioh 
in der ganzen Zeit gemacht habe. In der Zeit seiner Erinnerungslosigkeit sei 
er nie vernommen worden. Als dann die Novemberstiinne gekommen seien, sei 
plbtzlich der ganze Druck von seinem Gehirne fortgenommen worden. In der 
Zeit vorher habe er auch noch an Sehstorungen gelitten, die aber nie behandelt 
worden seien. Jetzt halte er sich fur gesund. Eine krankhafte Aenderung 
seines Geisteszustandesnehme ervom Januar 1916 an, da seien ihm die Sehmerzen 
strahlenformig durch den Kopf geschossen. 

In dieserZeit sei sein ganzes moral is oh es Rechtsbewusstsein 
getotet und er habe Taten gebilligt, die er friiher verabscheut habe. Seitdem 
habe er ein sohmerzhaftes Zucken durch den Korper gehabt, wie eine Angst 
und er habe sich abgehetzt gefuhlt. 

Als er dann das Morphium eingesetzt habe, habe er sich geradezu in 
einem hypnotischen Schwachezustand befunden. Da habe er sich ein- 
gebildet, er konne viel Geld bekommen, wenn er sich nur den dazu gehorigen 
Frachtbrief verscbaffe. 

Im Gefangnisse wieder sei er durch die Einwirkung seiner Mitgefangenen 
nervos uberreizt worden, was schon daraus hervorgehe, dass er sich mit den 
minderwertigsten Leuten eingelassen habe. Es sei ihm schwer, diesen Zustand 
zu schildern, er sei vollig geistig und korperlich ruiniert gewesen. 

Nach seiner Entweichung aus dem Lazarett babe er vollstaodig unter 
dem Einflusse seines Mittaters gestanden. Auf der Fahrt nach Hannover sei 
er durch eine tiefe Melancholie in den Selbstmord hineingejagt worden. Die 
angebliche Simulation habe doch gar keinen Zweck gehabt, denn sie falle nicht 
in die Zeit der strafbaren Handlungen. 


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Wahrend der Beobachtung war die Stimmung immer sehr gat. Stets 
anterhielt er sich mit den Wartern vergniigt und angeregt. In seinem ganzen 
Wesen batte er etwasEinschmeichelndes und Gewinnendes. In jeder Beziehnng 
erwies er sich als ein hochintelligenter Mensch. 

In der Haupt- und Berufsverhandlung, die sehr lange dauerten, be- 
herrschte er bis zum Schlusse ohne jede Ermiidung die Sachlage. Die lange 
Untersuohungshaft hatte er ohne Zwisohenfall iiberstanden. 

Zo., der als ein ausserst intelligenter und gerissener Mensch be- 
zeichnet werden musste, auch wenn man ihm die psychopathische Grund- 
lage nicht zu versagen brauchte und auch eiue Neurasthenie mittleren 
Grades zuerkennen durfte, hat auf die mannigfachste Art und Weise 
seine Zurechnungsfahigkeit zu schm&lern versucht. Er beruft sich auf 
unbestimmte Yerfolgungsideen, unter deren Einflusse er gestanden haben 
will, er will dem damonisch suggestiven Einflusse eines Spiessgesellen 
erlegen sein, seine eine Fahnenflucht schiebt er einem Dammerzustande 
zu, der sich an eine Ohnmacht angeschlossen haben soil, und die bedeut- 
same Dnterschrift will er in einem pathologischen Rauschzustande voll- 
zogen haben, obgleich die Alkoholvergiftung am Abend vorher statt 
gefunden hatte. 

Fur die voraufgehenden Straftaten, die als der Ausfluss einer ausser- 
ordentlich umsichtigen und berechnenden Tatkraft erscheinen, beruft er, 
der offenbar nie eine Morpbiumeinspritzung kenuen gelernt hatte, sich 
auf hdchst kuriose Morphiumeinwirkungen, die ihn zum willenlosen 
Werkzeuge unbestimmter M&chte machten, nachdem schon vorher durch 
die widrigen Einflusse der Haft und des Militarismus seine sonst so 
herrliche Moral gebrochen worden war. 

Es ist fur einen Mann, der in einem gerichtlichen Verfahren seine 
Unzurechnungsfahigkeit erweisen will, nicht sehr vorteilhaft, wenn er 
fur diesen Zwcck zu viele Eisen im Feuer hat. Und so musste Zo. es 
sich gefallen lassen, dass man auch dem eigeuartigen Foigezustand des 
Eisenbahnunfalles nicht die gewunschte Anerkennung schenkte. An und 
fur sich hatte der Unfall ja zweifellos eine schwere nervQse und psy- 
chische Schadigung im Gefolge haben kdnnen. Aber das Verhalten 
unmittelbar nach dem Sturze, fur das er eine ganz genaue Erinnerung 
hatte, stimmte dazu ebensowenig, wie die Tatsache, dass schliesslich 
alle objektiv nachweisbaren Folgen des Traumas vermisst wurden und 
dass er fiber eine glanzende Intelligenz, ein geradezu phanomenales 
Gedachtnis, eine beneidenswert geistige Elastizitat und eine ausserordent- 
liche Leistungsfahigkeit verfugte, trotz aller Wechselfalle, die er in den 
letzten Jahren erlcbt hatte, trotz der langen Haft und der schlechten 
Ernabrung und trotz der riesigen Anspruche, die an seine Erfindungs- 
und Gestaltungskraft gestellt wurden. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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Auch wenn man dem Unfall die Kraft gonnte, eine retrograde 
Amnesie zu schaffen, — man konnte Zo. nicbt glauben, dass drei Jahre 
Lebens vollkommen aus seiner Erinnerung herausgeschnitten sein sollten, 
dass diese mystische Amnesie 6 Monate lang auhielt, obgleich alles 
geschah, am ihn wieder zu orientieren und dass sich dann eines schonen 
Tages die Erinnerung bis auf die fernsten ^inzelheiten wieder einstellte. 
Und das nur dadurch, dass er sie aus alten Notizen, die er sich fur 
die kritische Zeit der angeblichen GeistesstOrung gemacht haben wollte, 
rekonstruierte. Zu beachten sind vor allem auch die Briefe, die er in 
dieser Zeit an seine Frau schrieb und durch die er ihr soufflierte, 
wie sie ihm in ihren Antworten eine brauchbare Vorgeschichte zugute 
kommen lassen kbnne. 

Und damit w&ren wir bei dem Kapitel der D&mmerzustfinde 
angelangt, die in der forensischen Psychiatrie dieses Krieges sich eiu 
geradezu unheimliches Hausrecht erworben haben. 

Es unterliegt ja keinem Zweifel, dass wir es jetzt mit einem wesent- 
lich anderen Menschenmaterial zu tun haben, als mit den Verbrechern 
der Friedenszeit. Es steht auch ebenso fest, dass bei den vielen ge- 
waltigen Kriegshandlungen ganz andere Gelegenheiten zur Aus 16sung 
von Bewustseinsstbrungen und triebhaften Handlungen der verschiedensten 
Art gegeben siud. Eine Zunahme der kriminellen Handlungen, die aus 
diesem Quell schbpfen, liegt auch deshalb auf der Hand, weil diese 
psychogenen Reaktionen [Bunse 1 )] mit einer gewissen Notwendigkeit 
zu Verstbssen gegen die milit&rische Ordnung fuhren mfissen. 

Das gait vor allem von den milit&rischen Delikten, die unser t&g- 
liches forensisches Brot bilden, von der unerlaubten Entfernung und der 
Fabnenfiucht, von tatlicben Angriffen gegen den Vorgesetzten, der 
Achtungsverletzung und der Gehorsamsverweigerung. Sie alle haben 
eine gewisse Anwartschaft darauf, im Dunkel eines Dammerzustandes 
unter gegebenen Umst&nden ihre Deutnng zu finden. Es kann aber 
gar nicht geleugnet werden, dass sie von diesem Rechte in einer Weise 
Gebrauch machen, die alles Schickliche weit ubersteigt. 

Schon bei einer frfiheren forensischen Studie fiber Marineangehbrige 
musste ich feststellen 2 ), dass die Dammerzustfinde sich in weitgehendstem 
Masse bei alien denen Geltung erk&mpft haben, denen ihre Kenntnis 

1) Bunse, Die reaktiven Dammerzustande und verwandte Storungen in 
ibrer Bedeutung als Kriegspsychosen. Zeitsohr. f. d. ges. Neur. und Psych. 
XI. 1918. H. 4 u. 5. 

2) Mb nkemoiler, Zur forensisohen Beurteilung Marineangehbriger. 
Arch. f. Psych. Bd. 46. H. 1 u. 2. S. 99. 


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von Vorteil sein musste. Die Zahl der Dammerzustande, von deren 
Echtheit man sich jetzt trotz des weitgehendsten Entgegenkommens nicht 
uberzeugen kann, hat an Zahl gauz ausserordentlich zugenommen. Und 
nach ahnlichen zahlreicken Fallen, die von anderen Fachgenossen frulier 
begutachtet worden waren und die spater in unseren Bereich kamen, 
babe ich die Ueberzeugung gewonnen, dass wir es nicht alleiu sind, 
die sich nicht imraer von der Unanfechtbarkeit dieser Zustande restlos 
zu uberzeugen vermogen. 

Das liegt sicher in erster Linie daran, dass die Bewerber um 
Straffreiheit sich dieses Mittels mit der gleichen Leichtigkeit bedienen 
zu kOnnen glauben, wie sie mit dem einfachen Leugnen durchzukommen 
hoffen. Man fasst dies Verhalten dann auch jetzt meist in einem &kn- 
lichen Sinne auf und wird sich meist gar night bewusst, dass man es 
hicr mit einer regclrechten Simulation zu tun hat. 

Schon vor dem Kriege hat die Oeffentlichkeit der Gericlitsverhand- 
Inngen und vor allem die genaue Berichterstattung in den Zeitungen 
dafiir gesorgt, dass diesen Zustanden eine recht unangenehme Volks- 
tumlichkeit beschert wurde. Ueber ilire Verbreitung im Interesseuten- 
publikum sorgt auch die Tatigkeit der Deliquenteu selber. 

Im Kriege hat diese Kenutnis unleugbar noch mehr zugenommen. 
Die meisten Soldaten, die im Felde gestanden haben, haben genug Ge- 
legenheit gehabt, im Anschlusse an Gewalteinwirkungen Verwirrtheits- 
zust&nde und Bewusstseinstriibungen in ihrer Umgebung zu beobachteu, 
in denen die Erinnerung verloren ging. Das enge Zusammenleben 
in den Militlirgefangnissen sorgt weiter fur die Ausbreitung dieser 
Kenutnis. Auf unserer Beobachtungsstation haben wir mehr als einmal 
beobachtet, dass sich auf Beobachtungskranke, die bis dahin treulich 
ihre Erlebnisse gebeichtet hatten, plotzlich eine dustere Amnesie herab- 
senkte, nachdem sie in die H&nde genugend aufgeklarter Genossen ge- 
fallen waren. 

In mancher Beziehung ist die Beurteilung ohne jede Frage schwerer 
geworden. Friiher war man ja zunachst verpflichtet, festzustellen, ob 
eine Grundlage vorhanden war, auf der sifh solche Zustande entwickeln 
konnten. Liess sich weder Epilepsie noch Hysterie, weder chronischer 
Alkoholismus noch Kopfverletzungen in der Vorgescbichte nachweisen, 
dann musste das unvermittelte Auftreten derartiger Zustande zum min- 
desten s^hr uberraschen, .wenn sich keine sonstigen Anzeichen fur das 
Vorhandenseiu einer psychischen Epilepsie nachweisen liessen. 

Das ist jetzt im Kriege anders geworden. Wenn wir so hanfig 
unter der Einwirkung der psychischen und kbrperlichen Gewalteinwir- 
kungen hysterische Zust&nde aller Art sich einstellen sehen, wenn wir 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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beobachten, wie die schlummernde hysterische Veranlagung dadarch 
zum Ausdraek gebracht wird, dann braucht uns das Auftreten derartiger 
BewusstseinsstOrungen auch bei Personen nicht in Erstaunen zu setzen, 
bei denen bis dahia die Vorgescbichte daruber geschwiegen hatte. 

Nur darf nicht vergessen werden, dass die meisten zweifelbaften 
D&mmerzust&nde bei' solchen Milit&rpersonen auftreten, die keine Kopf- 
verletzung, keine Verwundung, keine Verschuttung, keine Gasvergiftung 
durchgemackt hatten und die alien gefiibrlicben Kampfhandlungen mit 
Erfolg aus dem Wege gegangen waren, die sich aber mit um so grosserer 
Sickerkeit auf solche ursScblicben Einflusse beriefen, deren Bedeutung 
ibnen wohl bekanut war. Es ist leider nicht immer moglich, nach 
beiden Seiten bin Sicherheit zu erlangen, da die wichtigsten Zeugen 
dafur nicht zu erreichen sind und die Akten und Krankenpapiere 
manchraal daruber schweigen. 

Aus demselben Grunde kann man sich noch weuiger darauf be- 
rufen, dass in der Vorgeschicbte ein Analogon nicht zu ermitteln ist. 
1st das auch sonst eine Forderung, die nur mit einem gewissen Vorbekalte 
gestellt werden, darf, so sind wir jetzt noch weniger berechtigt, aus dem 
Fehlen eines solchen Analogous ungunstige Ruckschlusse fur den Ver- 
treter eines solchen zweifelbaften Znstandes zu ziehen. Die Gewalt- 
einwirkungen, die solche Reaktionen nach sich zu ziehen vermogen, 
sind jetzt an der Tagesordnung. Das ganze Wesen .des Kriegsdienstes 
erleichtert die kriminelle Einkleidung derartiger BewusstseinsstOrungen. 
Fur die Beurteilung bleibt es allerdings sehr wertvoll, wenn es gelingt, 
fur diese zum ersten Male auftretenden Dammerzustande einen zeitlichen 
Zusammenhang mit derartigen Einwirkungen nacbzuweisen. 

Fur viele militarische Delikte darf auch die Annahme eines der¬ 
artigen Zustandes nicht daran scheitern, dass der Tater zur Zeit der 
strafbaren Handlung nach aussen nicht auffiel, dass sein Verhalten 
logiscb und zielbewusst erschien und dass die Umgebung nicht an seiner 
geistigen Gesundheit zweifelte. Ein grosser Teil des militarischen Ver- 
haltens, der Gehorsam gegen Befehle der Vorgesetzten, die Ausfuhrung 
von militarischen Hand] ungen, Ehrenbezeugungen usw. erfolgt so mecha- 
nisch und automatisch, dass selbst verwickeltere Handlungen moglich 
werden, ohne dass voiles Bewusstsein dabei vorhanden zu sein braucht. 
Dabei ist die Beobachtungsgabe der militarischen Umgebung oft so 
gering und die Anspruchslosigkeit, die an ein „vcrnunftiges“ Verhalten 
gestellt wird, so gross, dass nur die grosste Vorsicht in der Beurteilung 
vor Fehlurteilen schutzen kann. Zu vergessen ist dabei naturlich nicht, 
dass ein derartiges geordnetes Verhalten an und fur nicht gerade fur 
die Krankhaftigkeit des Zustandes spricht. 


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Dr. Monkemoller, * 


Vor Fehlurteilen schutzt auf der anderen Seite auch nicht immer 
die anscheinende Motivlosigkeit der Tat. Auch hier wird man spater 
bei genauerer Kenntnis der Sachlage und bei tieferem Eingehen in das 
Seelenleben des Angeklagten gelegentlich nachweisen kOnnen, dass hier 
Grunde fur das anscheinend so zwecklose Vorgehen vorhanden waren. 

Bedingten Wert nur bat die Tatsache, dass die T&ter w&hrend der 
Tat nicht immer gauz folgerichtig handelten, nicht [mit eisernem Ziel- 
bewusstsein ibre Ziele verfolgten und durch mancbe Seitensprunge den 
Erfolg ihres Vorhabens aufs Spiel zu setzen schienen. Gerade wenn 
sie beabsichtigen, sich durch die Hilfe des § 51 der Verantwortung 
fur ihr Tun zu entledigen — und die Berufung auf den D&mmerzustand 
erfolgt oft prompt bei der ersten Vernehmung —, traut man ihnen 
nicht immer zu viel Vorsicht und Planm&ssigkeit zu, wenn man an- 
nimmmt, dass sie es sich angelegen sein lassen, der Glaubwurdigkeit 
des yon ihnen vorgefuhrten krankhaften Zustandes durch eine derartige 
Inkonsequenz eine Hilfsstellung zu geben: Nicht selten berufen sich 
gerade die Vertreter der anfechtbarsten Dammerzust&nde auf derartige 
Folgewidrigkeiten in ihrem Verhalten. 

Fall 11 . Musketier Heinrich He., Mechaniker, 30 Jahre. Keine erbliche 
Belastung. Normale Erkrankung. Massiger Schuler. In der Lehrzeit tat er 
nicht gut. Spater mehrfach wegen Betrugs und Hausfriedensbruches bestrift. 

1908 Militardienst als „Unsioherer“. Haufig wegen Zapfenstreichens 
bestraft. 

Gleich nach der Mobilmachung eingezogen. November 1914 Granatexplo- 
sion, Lazarettbehandlung. Entlassungsdiagnose: Psychopathie mit neurasthe- 
nischen Symptomen. Abgelaufener Dammerzustand hysterischer Herkunft. Bei 
einem spateren Lazarettaufenthalte nichts Besonderes. Eine Diagnose ist Sier 
iiberhaupt nicht gestellt. 

Am 29. 1. 1915 entfernte er sich von seinem Truppenteile Hannover und 
wurde am selben Tage auf dem Hauptbahnhofe Frankfurt a. M. festgenommen. 
Er erklarte sofort, or sei nervenkrank. Wann er sich aus der Kaserne entfernt 
habe, konne er nicht sagen. Auf einmal habe er sich in Hoohst auf dem Be- 
zirkskommando befunden. Seitdem er im Felde sei, habe er mehrere Dam- 
merzustande durchgemaoht. In diesem habe er auf Flieger geschossen und 
den President Poincar6 ermorden wollen. 

Die militararztliche Beobachtung liess die Frage nach der Zurechnungs- 
fahigkeit unentschieden. Da das Kriegsgericht die Moglichkeit eines Dam- 
merzustandes annahm, wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. 

Am 25. 8. blieb er auf dem Marsche zuriick und wanderte durch mehrere 
Lazarette. Diagnose: Neurasthenie. 

Am 20. 1. 1916 sollte er beim Truppenteil eintreffen, erschien aber nicht. 
3 Wochen war er in seiner Wohnung bei seiner Frau gewesen und hatte dieser 
angegeben, er habe Urlaub. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 661 

Am 8. 9. wurde er in Frankfurt ergriffen. Sofort berief er sich darauf, 
er sei wegen Dammerzustande und Neurasthenic wiederholt in Lazaretten ge¬ 
wesen. 

Wie er aus dem Lazarett in Frankfurt entlassen worden sei, konne er 
nicht angeben, ebensowenig, was spater passiert sei. Wie ihm seine Frau er- 
zahlt habe, sei er 4 Wochen in seiner Wohnung gewesen. Dann musse er den 
ganzen Sommer von Hause fortgewesen sein. Er habe eine dunkle Erinnerung, 
dass er zwischendurch mal in Kdln gewesen sei. In Hoohst sei er vorgestern 
plotzlich wieder zur Besinnung gekommen. 

Bei spaterenVernehmungen verlangte er immer auf seinen Geisteszustand 
untersucht zu werden. 

Anstaltsboobachtung. Rahig und geordnet. Betont bestandig, dass 
er vom Feldzuge her so heftiges Kopfweh und ein so aufgeregtes Wesen habe. 
Ueber seine Vorgeschichte maohte er ohne jede Gedachtnisstorung ausgiebige 
Angaben. Seitdem er im Felde seinen ersten Dammerzustand gekriegt habe, 
sei es mit ihm nicht mehr gut gegangen. Trotz seiner Kopfschmerzen und 
seiner Erregungszustande habe man ihn immer wieder ins Feld geschickt. 

In seinem jetzigen Dammerzustande sei er lange in seiner Wohnung bei 
seiner Frau geblieben. Soweit er sich dunkel erinnere, sei er ganz lange los- 
marschiert, nach Koln und Dusseldorf gekommen und von da wieder nach Frank¬ 
furt zuruckgewandert. Am liebsten mochte er sich auch jetzt noch aufmachen 
und losmarschieren. 

Wies man ihn auf Widerspriiche in seinen zeitlichen Angaben hin, so er- 
klarte er achselzuckend, es sei wirklich so, wie er es sage: mit sonen Dam- 
merzustanden sei es eben eine ganz eigentiimliche Sache. In stereo¬ 
typer Weise klagte er iiber Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und die Angst, ver- 
ruckt zu werden. Trotz der schweren Bedenken, die der Annahme eines Dam- 
merzustandes entgegen standen, wurde die Moglichkeit zugegeben, dass ein 
soloher vorgelegen haben konne. Freispreohung. 

Am 1. 12. 1916 trat er einen zehntagigen Heiratsurlaub an, von dem er 
nicht zuruckkehrte. Er wurde am 15. 12. in seiner Wohnung festgenommen. 

In seinei Yernehmung berief er sioh sofort wieder darauf, dass er mehr- 
fach in Irrenanstalten gewesen sei. So habe er dann geglaubt, dass er auf 
llUonate bis zu seiner Entlassung in die Heimat beurlaubt worden sei, zumal 
das auch auf seinem Urlaubsschein gestandeu habe. Tatsachlicb war das in- 
folge eines Schreibens so ausgefertigt worden. 

„Ich bemerke gleich, dass ich haufig bei geringer Aufregung 
Tobsuchtsanfalle bekomme, in denen ich alles um mich herum 
zertrummere M . 

Wenige Stunden nach dieser Erklarung zertrummerte er denn auch pro- 
grammgemass in der Zelle das Mobiliar. Als ihm die Hande gefesselt worden^ 
wurde er sofort ruhig und sprach ganz verniinftig. Zur Truppe zurtickgekehrt, 
blieb er dabei, er habe geglaubt, 10 Monate Urlaub zu haben. Ausserdem 
musse er sofort darauf aufmerksam machen, dass in einer ahnliohen Saohe ein 
Verfahren gegen ihn eingestellt worden sei, nachdem er in einer Irrenanstalt 


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Dr. Monkemoller, 


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beobachtet worden sei. Er habe nicht die blasseste Ahnung, was man von 
ihm wolle. Ein Verfahren sei uberhaupt nicht gegen ihn angestrengt worden. 
Er leide eben an sohweren Dammerzustanden. 

Bei einer erneuten Anstaltsbeobachtung erschien er wieder nieder- 
geschlagen und in sich gekehrt. Anfallsartige Zustande warden nicht be¬ 
obachtet. 

Er sei so lange zu Haase geblieben, weil er fur lOMonate Urlaub gehabt 
habe. Seine Kameraden hatten ihm gesagt, er werde entlassen werden and 
da habe er dann zu Haase gedaldig darauf gewartet, bis er entlassen werden 
wiirde. 

Von seinen Taten in der Zelle wollte er niohts wissen. Er werde aber 
sehr leicht aufgeregt und dann habe er es eben so an sich, er dass alles kaput 
schlage. Bei diesen Worten machte er ein sehr wildes Gesicht, rollte mit den 
Augen, knirschte mi denZahnen und stiess ein kurzeslndianergeheul aus. Nach 
einigen Minuten sagte er dann: „Sehen Sie, da habe ich eben mal wie¬ 
der einen sole hen Zustand gehabt, da wa war ich furchtbar err eg t, 
dann muss man mit mir sehr vorsichtig sein w . Dabei war er wieder 
vollstandig ruhig. 

Von dem „Tobsuchtsanfall“ in der Zelle wisse er nicht das Geringste. 

Trotz seiner anscheinend sehr niedergeschlagenen Stimmung brachte He. 
es fertig, auf sehr versohmitzte Weise zwei muntere Briefe an seine Frau aus 
dem Lazarett herauszuschmuggeln, wie er auoh bei ihrem Besuche sehr ver- 
gniigt war. 

Auch in diesem Falle war es selir wahrscheinlish, dass der Ange- 
klagte den fruher tats&chlich erlebten D&mmerzustand dazu benutzte, 
um spater ungestraft darauf los zu sundigen. Als ausgesprochen krimi- 
nelle Natur pocht er jetzt immer wieder bei seinen Delikten auf seine 
Nervenkrankheit und beruft sich geradezu auf seine Dammerzust&nde. 
Da er ja tats&chlich eine Schadigung seines Nervensystems erlitten 
hatte, so glaubte man ihm anstandslos selbst zweifelhafte D&mmerzu- 
st&nde — so wurde sogar ein D&mmerzustand von 8 Minuten zu seinen 
Gunsten in Rechnung gestellt —, ohne dass fiber die Grundnatur seiner 
Krankheit Uebereinstimmung geherrscht hatte. 

Wenn man fur den letzten Dammerzustand, den er vorfuhrte, den 
Glauben nicht aufbringen konnte, so war das bei der ganzen Sacblage 
ohne weiteres verstandlich. 

Eigenartig war es in diesem Falle, dass er seinen Tobsuchtsanfall 
— am ersten Tage der Haft, nachdem er fruher anstandslos jahrelange 
Haftstrafen durcbgemacht hatte — vorher ankiindigte. Wenn er spSter 
diesen Tobsuchtsanfall in einer Weise vorfuhrte, die den Stempel der 
Unnatur an der Stirne trug, so konnte man dabei erkennen, was er 
nach seinen bisherigen Erfahrungen mit der forensischen Psychiatric 
dieser auch sonst bieten zu kSnnen glaubte. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 663 

Fall 12 . Trainsoldat Wilhelm Am., Buchhalter, 38 Jahre. Als Am. 
aus dem Privatquartier in die Kaserne iibersiedeln sollte und der Wachtmeister 
ihn fragte, ob er dem Befehle nachgekommen sei, erklarte Am., der Truppen- 
arzt habe ihm erlaubt, zu Hause zu schlafen. Er lasse sich eine solche Be- 
handlung nicht mehr gefallen, er sei kein dummer Junge. Als der Wacht¬ 
meister ihm Ruhe gebot, erklarte er, er schweige vor Keinem, selbst wenn es 
sich um einen General handele. Am Tage vorher hatte er erklart, er werde 
auf das Ganze gehen, wenn man ihm etwas wolle. Die Abteilung fiberwies 
ihn nach Langenhagen, warnte aber zugleich vor ihm. Am. sei ein schlauer 
und gerissener Mensch. Einem Kameraden hatte er angegeben, er werde 
die Sache schon zu drehen wissen, ihn solle keiner kriegen. Die 
Abteilung nahm an, dass or simulieren werde. Er*selbst behauptete, 
er habe gerade einen „Nervenan fall 14 gehabt. Er war vollkommen klar und 
gab sehr wortreich Auskunft. Er sei beim Polizeiprasidium in Br. fiber- 
anstrengt worden, habe den Chinafeldzug mitgemacht und dabei einen Schadel- 
bruch erlitten. Im Felde habe er wieder einen schweren Sturz durchgemacht 
undimAnschlusse damach den erstenNervenanrall bekommen. (Diese Angaben 
erwiesen sich spater als erlogen.) 

Jetzt sei er in der Anstalt, da er die Eisenbahnfahrt fechlecht verfcragen 
habe. (Tatsachlich war er seit 14 Tagen in der Garnison gewesen.) Da habe 
er dann wieder seinen Nervenanfall bekommen. Da er nichts Besonderes dar- 
bot, wurde er nach einigen Tagen wieder entlassen. 

In seii^r Vernehmung gab er an, er konne sich der Vorgange nicht mehr 
entsinnen. Er wisse nur noch, dass der Wachtmeister ihm gesagt habe, er 
solle sich vom Arzte untersuohen lassen. Er leide eben an schweren 
Nervenzufallen, die sich an einen Schadelbruch angeschlossen hatten. 

Im Zivil war er wegen Majestatsbeleidigung, Beleidigung, Betrugs und 
Urkundenfalschung haufig bestraft. Beim Militar war seine Fuhrung schlecht. 
Wegen Unterschlagung degradiert und mit Gefangnis bestraft. Im Lazarett 
Or. war er 14 Tage wegen „Neurasthenie.“ Da er sich auf der Leicht- 
krankenabteilung befand, wurde eine Krankengeschichte iiberhaupt nicht 
gefuhrt. Auch im Reservelazarett B. wurde Neurasthenie angenommen. In 
seiner Vorgeschichte, die er vollkommen anders angab, wie bei seinen 
spateren Untersuchungen, ist nie von Dammer-, Erregungs- oder Nervenkrank- 
heitszustanden die Rede. Der objektive Befund war stets vollkommen negativ. 
Es wurde eine ganz erhebliche Besserung festgestellt. Im Reservelazarett A. 
wurde uberhaupt keine Krankheit nachgewiesen. 

Wabrend der ersten Beobachtung war die Stimmung immer heiter und 
zufrieden. Irgendwelohe anfallsartige Erscheinungen wurden hier nicht naoh- 
gewiesen. Von den anderen Kranken schloss er sich ab mit Ausnahme eines 
forensiscben -BeobachtungskTanken, mit dem er sofort eine dicke Freundsohaft 
schloss. Sehr anspruchsvoll, dem Arzte gegeniiber ausserordentlich hoflich 
und unterwiirfig. 

Ab and zu klagte er liber unbestimmte nervose Beschwerden, ohne dass 
ihm ausserlich etwas anzumerken gewesen ware. Wahrcnd er darfiber klagte, 


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Dr. Monkemoller, 


dass er so gedachtnisschwach sei und keinen Gedanken fassen konne, untwhielt 
er sich mit seiner Fran auf das lebhafteste, ohne jede Bebindernng, besprach 
mit ihr alles mogliche Geschaftliche und traf sachgemasse und energische 
zahlreiche Anordnungen. 

Auch in einem ausfiihrlichen Lebenslaufe, den er damals angefertigt 
hatte und der zahlreiche Abweichungen von der Wahrheit enthielt, hatte er 
alle seine Bestrafungen oft vfcrschwiegen, wahrend er seTbst seine kostlichen 
Vorziige in ein helles Licht setzte und zahllose nervose Besohwerden in den 
grellsten Farben sohildorte. 

Auch bei der zweiten Untersuchung war zunachst nicht das Geringste 
festzustellen, was als ein „Anfall u hatte gedeutet werden konnen. 

In den Unterredungen antwortete er jetzt vorsichtig und langsam, auch 
bei Fragen, deren Beantwortung jhm nicht die geringste Schwierigkeit machen 
konnte. Im Gegensatze zu friiher hatte er jetzt etwas Sondierendes und 
Lauerndes in seinem Wesen. 

Die korperliche Untersuchung hatte ein vollkommen negatives 
Ergebnis. ' 

Bis zum 10. Lebensjahr habe er an Krampfen gelitten (nicht bestatigt). 
Immer habe er einen unruhigen Schlaf und die angstlichen Traume. (Hier 
war der Sohlaf stets ausgezeichnet.) Im Chinafeldzng habe er Typhus, Ruhr 
und Malaria durchgemacht undwochenlang imLazarett gelegen (nicht bestatigt). 
Dort sei er auch einmal mit dem Pferde gesturzt und habe sich mehrere 
Wunden an der Stirne zugezogen. (Keine Narben.) Dann habe er nach 
1^/2 Jahren in Tientsin mit dem Pferde einen schweren Sturz durchgemacht 
und sei tagelang bewusstlos gewesen. (Nicht bestatigt.) Duroh die anstren- 
genden Arbeiten sei er mit sainen Nerven ausserordentlich heruntergekommen. 
Seine Erlebnisse im Felde schildert er mit grossen Uebertreibnngen. Schliess- 
lich habe er in Ostende einen schweren Nervenshock erlitten und sei in das 
Lazarett gekommen. 

Erst nach Yorhalt raumt er ein, dass er vorher eine gerichtliche Vor- 
ladung bekommen habe. Er habe von der ganzen Sache gar niohts mehr 
gewusst. Man habe ihm keinen Verteidiger gestellt, ihm keine Anklage vor- 
gelesen und iiberhaupt nicht gesagt, urn was es sich gehandelt habe. Es sei 
ihm beinahe so, als habe er auch wahrend dieser Verhandlung 
einen Anfall gehabt. Jetzt sei er von einem Zivilisten dem Oberstleutnant 
angezeigt worden, der ihn kommen liess und furchtbar anschnauzte. Als er 
einem Unteroffizier klagte, dass er trotz seiner ausgezeichneten Fuhrung so 
schlecht behandelt werde, kam der Wachtmeister dazu. Er weiss noch, dass 
dieser ihm sagte, er solle zur Untersuchung kommen. Er habe sich geweigert, 
sich von seinen Auszeichnungen zu treimen. Was dann weiter gesohehen sei, 
konne er auch nicht sagen, er sei dann in Langenhagen im Bette zu 
sich gekommen. Es habe sehr lange gedauert, bis er sich zurecht 
gefunden habe. Er habe dann erst in derVernehmung gehort, was er angestiflet 
haben solle. Vor allem leide er an heftigen Schwindelanfallen. Sehr oft habe man 
ihn aus dem Stalle ins Revier bringen miissen. Bestandig habe er die w&hn- 


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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw. 


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sinnigsten Kopfschmerzen, die sich bei Witterungswechsel bis zor Bewusst- 
losigkeit steigerten. Dabei leide er an einer masslos gesteigerten Reizbarkeit. 
Er sei deshalb aber nie bestraft worden, da man ohne weiteres anerkannt 
habe, dass er krank sei. In seinem Dienste als Polizist sei er oft so aufgeregt 
geworden, dass er aus dem Strassendienste habe zuriickgezogen werden mussen. 
(Nicht bestatigt.) In Ostende habe er viele Nachte lang furchtbar getobt. 
Viele Nachte habe er unausgeschlafen zubringen mussen. Am Schlusse der 
Beobachtung wurde ihm vorgehalten, wie eigentiimlich es doch sei, dass er 
trotz seiner angeblichen Reizbarkeit hiergarniohts von Aufgeregtheit,Schwindel- 
anfallen und Bewusstseinstrubungen dargeboten habe. Er wurde verlegen, 
gab darauf gar keine Antwort und griibelte den ganzen Tag vor sioh hin. 

Am n’achsten Morgen trat er auf der Visite an den Arzt heran und be- 
schwerte sich in einer Aufregung, die auf samtlicbe Zeugen des Vorfalles 
einen durchaus gekiinstelten Eindruck machte, dass man seine Frau nicht mehr 
zum Besuche zugelassen habe. Es wurde ihm ruhig bedeutet, dass der Besuch 
aus dienstliohen Griinden nicht zugelassen werden konne. Er blieb jetzt zu- 
nachst vollkommen ruhig, war bei klarem Bewusstsein und erklarte, er k6nne 
sich das nicht gefallen lassen. Eine halbe Stunde spater lief er von einem 
Spaziergange plotzlich fort, ohne dariiber sich irgendwie geaussert zu haben und 
ohne dass er seiner Umgebung irgendwie aufgefallen ware. Er wurde zu Hause 
im Bette liegend aufgefunden. 

Yon dem ganzen Yorfalle wollte er gar nichts mehr wissen. Er habe 
sich so entsetzlich dariiber aufgeregt, dass seiner Frau solch himmelschreiendes 
Unrecht angetan worden sei. Er konne sich nicht entsinnen, dass er auf der 
Yisite mit dem Arzte gesprochen habe und spater spazieren gegangen sei. Als 
er wieder zu sich gekommen sei, habe er zu Hause im Bette gelegen. 

Nach einigen Tagen bat er in einem Schreiben um Yerzeihung. Erst 
jetzt habe er wieder einen kleinen Gedanken fassen konnen. Wenn er einmal 
in einen solchen „Dammerzustand u hineingeraten sei, dann konne er machen, 
was er wolle, er kdnne nicht dagegen an. 

Am., der auf eine recht uble kriminelle Vorgescbichte zuruck- 
blickte und offen erklSrt hatte, dass man von ihm etwas erwarten 
durfte, was seinen Vorgesetzten sicher nicht angenehm gewesen 
wire, versuchte hei seinen Beobachtungen sich eine Vorgeschichte zu 
schaffen, die mit der Wirklichkeit in schreiendstem Widerspruche stand. 
Yor allem suchte er in zielbewusster Weise sich eine Neurasthenie zu 
sichern, uber deren Einzelheiten er auf das genaueste unterrichtet war. 
So wollte er auf einen Dammerzustand heraus, mit dem er ganz offen- 
sichtlich spielte und den er sogar noch auf die Hauptverhandlung aus- 
zudehnen suchte, weil die Angaben, die er hier gemacht hatte, ihm 
jetzt hinderlich waren. Schliesslich versuchte er auch, einen derartigen 
Dammerzustand dem Beobachter vor Augen zu stellen, allerdings in 
recht wenig glucklicher Weise. In der Hauptverhandlung wagte er 
AxthtT f. PsyehiAtrie. Bd. 60. Heft 2/3. ^ 43 


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Dr. Monkemoller, 


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auch riicht mehr, sich darauf za berufen. Er stutzte sich zwar uoch 
auf seine Nervositfit, liess den D&mmerzustand aber ganz fallen. 

Wie so oft bei derartigen D&mmerzust&nden war es bei ihm das 
ganze Wesen, das Drum und Dran in seinem Auftreten, was bei der 
Abwfigung seiner ganzen Personlichkeit ein Urteil fiber die$?en Zustand 
gewinnen liess. Allein die ungeheure Hoflichkeit, die er stets dem 
Beobachter auch dann entgegenbrachte, wenn er von dessen Willffibrigkeit 
gegenfiber seinen Aeusserungen nicht allzu sehr begeistert zu sein 
brauchte, musste wie meist bei derartigen fiberdevoten Beobachtungs- 
kranken einen gewissen Verdacht erwecken. 

Wenn er im fibrigen auf einen Dfimmerzustand binaus wollte, hatte 
er sich ein Vorbild ausersehen, das wieder besonders der Anfechtung 
anbeim fallen musste J ). Die Existenzberecbtigung neurasthenischer 
Dfimmerzustfinde soil nicht gfinzlich in Abrede gestellt werden, — 
aber sie sind in klinischer Beziehung stets sehr umstritten gewesen und 
wenn sie einmal ins Feld geffibrt werden, mussen sie sich in erster 
Linie eine kritische Musterung gefallen lassen. 

Fall 13 . Reservist Leo Tu., Dreher, 32 Jahre. Normale geistige Ent- 
wicklung, lernte auf der Schule leicht. Verdiente spater als Dreher sehr gut. 
1909 Syphilis. Spater ungluckliche Ehe. Aktive Militarzeit verlief ohne jeden 
Zwischenfall. Mehrere Male wegen Diebstahls bestraft, zuletzt wegen Korper- 
verletzung mit todlichem Ausgange mit 4 Jahren Qefangnis. Nach der Ent- 
lassung aus dem Gefangnisse 1916 eingezogen. Keine Kriegsbeschadigung. 

Im Juli 1917 wegen Trippers im Lazarett. 14 Tage stronger Arrest, weil 
er einmal Nachts das Lazarett verlassen und „ausserdem seine Krankheit 
kunstlich verlangert hatte“. 

Oktober 1917 fahr er aus dem Cellelager nach Hannover und blieb unter 
der Angabe, er habe Urlaub, 3 Tage bei seiner Braut. Als er horte, dass die 
Truppe nach ihm suche, stellte er sich freiwillig. 

In der Haft versuchte er zunachst einen Brief durchzuschmuggeln. Am 
zweiten Tage ffihrte er sinnlose Redensarten, zeigte eine ubertriebene Unruhe 
und grimassierte lebhaft. Schliesslich brachte er sich mit den Scherben eines 
Trinkglases, das er sehr vorsichtig zerbrochen hatte, einige oberflachliche 
Hautverletzungen bei. In der Militararrestanstalt nahm man an, dass er „den 
wilden Mann spiele u . 

Anstaltsbeobachtung. Ruhig und geordnet, gibt seine Personalien 
in erschopfender Weise an, ohne irgend etwas Auffalliges darzubieten. In seinen 
Briefen verstandigte er seine Braut sofort, dass hier alle ein- und ausgehenden 
Briefe gelesen wfirden. Im Gefangnis habe er einen schweren Anfall ge- 
habt und liege in den letzten Niichten bestandig in grosster Aufregung da 


1) Monkemoiler, Zur forcnsischen Bedeutung der Neurasthenic. Arch, 
f. Psych. Bd. 54. H. 2. S. 65. 


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(Tatsachlich ausgezeichneter Sohlaf). Herrlicher Appetit. Seine Stimmung 
blieb sehr gut. Er beschaftigte sich auf der Abteilung fleissig, unterhielt sich 
mit den anderen Kranken munter, wobei er die Unterhaltung beherrschte und 
liess Lektiire, Karten und sonstige Zerstreuungsspiele nicbt ungenutzt vorbei. 

Sobald derArzt erschien,. stand Tu. mit teilnahmslosen, in sich gekehrten 
Blicken da, antwortete kaum und schien ganz in sich versunken zu sein. Dabei 
beobachtete er alles genau, was urn ihn herum vorging und folgte vor allem 
den Gesprachen, die mit den neuaufgenommenen Kranken gefuhrt wurden, mit 
grosster Anfmerksamkeit. > 

Einmal blieb er ohne jede Veranlassung im Bett liegen. Der Wache er- 
klarte er, er sei verstimmt, fuhl© sich furchtbar aufgeregt und „das sei die 
Alteration, an der er immmer leide u . 

Mittags wollte er vor Aufregung nicht essen konnen, liess sich aber spater 
seine Portion kommen. Als geflissentiich nicht nach seiner Aufregung geforsoht 
und nachmittags Besuch angemeldet wurde, erhob er sich schleunigst voin 
duftenden Lager und unterhielt sich mit seinem Besuche angeregt und ohne 
jede Ermudung. 

Uebir seine Vorgeschichte gab er erschopfend Auskunft, indem er sich 
besonders liebevoll in seine Krankheitsgeschichte vertiefte. Sehr ungemein und 
verdrossen ausserte er sich fiber seine Vorstrafen, die er nur auf Befragen 
bruchstiickweise von sich gab. Wie er zu der letzten Straftat gekominon sei, 
wollte er nicht wissen. Er habe mal Scblage auf den Kopf gekriegt und 
seitdem wisse er manchmal nicht, was er tue. Dann konne er kaum sitzen, 
„bekomme Anfalle u und falle gleich bin. Rege man ihn auf oder lasse 
ihn wie letzthin im Arrest aliein, dann kamen ihm die Gedanken und er werde 
so erregt, dass er sich nicht mehr halten konne. Schon in seiner Gefangnis- 
haft habe der Direktor veranlasst, dass er aus der Einzelhaft herauskam, weil 
er diese nicht vertragen konne. Er sei deshalb aus dem Gefangnisse in Her- 
ford nach Hameln verlegt worden, da er dort nicht in Gemeinschaftshaft habe 
sein konnen (tatsachlich war er in der Haft nie aufgefallen). 

Spater sei dann infolge einer Schlagerei eine Verschlimmerung seines 
nervosen Zustandes herbeigefiihrt worden (er war beimMilitar wegen derartiger 
oder ahnlicber Zustande nie behandolt oder beobachtet worden). 

Ueber seine angeblichen „Anfalle u vermochte er niohts Bestimmtes an- 
zugeben. Er erging sich nur in ganz unbestimmten Redensarten und kam 
schliesslich darauf heraus, es seien die Gedanken, deren er sich nicht erwehren 
konne. 

Weshalb er aus dem Cellelager fortgelaufen sei, konne er mit dem allot- 
besten Willen nicht angeben. Das habe er doch olfenbar in seiner Nervo- 
sitat getan. 

Er wurde als Psyohopath begutaohtet, § 51 wurde ihm nicht zugebilligt. 
5 Monate Gefangnis machte er ohne jeden Zwischenfall ab. 

Nach 2 Monaten entfernte er sich wieder von der Truppe aus Nienburg. 
Nach3Wochen wurde er bei seinerSchwiegerrnutteraufgefundenund verhaftet. 
Er erklarte von vomherein, er habe im Dammerzustand gehandelt. 

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Dr. Monkemoller, 

Anstaltsbeobachtung. Bei der Aufnahme macht er jetzt einen affek- 
tiert kindlichen Eindruck. Mit blodem Gesichtsausdrucke starrte er vor sicb 
hin, wackelte mit dem Kopfe und zwinkerte mit den Augen, indem er ab and 
zn ein meckemdes Gelachter von sich gab. Man babe v ihm gesagt, bis in drei 
Tagen kdnne das Gutachten gut erstattet sein. Die Hanomag habe ihn rekla- 
miert and da er jeden Tag seine 18 M. verdiene und ein sehr brauchbarer Mann 
sei, werde es dort ohne ihn nicht gehen. 

Auf der Abteilung war er immer gehobener Stimmung. Er fiihrte das 
grosse Wort und renommierte yiel. Der Beschaftigung war er ganz abgeneigt, 
spielte aber dafiir urn so eifriger Karten. Keine Anzeichen fur Kopfschmerzen 
und Schwindelanfalle. 

In der Unterhaltung fasste er gut auf, antworte aber haufig abspringend 
in kindlich unterwiirfigem Tone. Immer liess sich feststellen, dass er ganz 
genau wusste, nach was er gefragt war. Dabei grimassierte er bestandig, 
machte abgerissene stossartige Bewegungen und stiess ein absoheuliches Ge- 
grunze aus. 

Sonst folgte er der Unterhaltung glatt, verfiigte uber ein glanzendes Ge- 
dachtnis und seine Urteilsfahigkeit genugte auch weitgehenden Anspruchen. 

Jetzt wollte er vor zwei Jahren bei einer Messerstecherei vier Stiohe 
in den Kopf bekommen und sehr lange bewusstlos im Krankenhause gelegen 
haben. Auch wollte er friiher Tripper, weichen und harten Schanker und 
Syphilis durchgemaoht und noch in den letzten Jahren einige sehr anstrengende 
Karen iiberstanden haben. Stets habe er furchtbar stark getrunken und sei ein 
wahnsinnig heftiger Rancher gewesen. In der „Schule“ habe er uberaos 
schlecht gelernt und sei nur bis zur 4. Klasse gekommen. In Zivil sei er ein- 
mal wegen einer harmlosen Sache unbillig bestraft worden. 

Seit seiner Kopfrerletzung habe er dauemd die heftigsten Kopfschmerzen. 
Wenn er gereizt werde, habe er mit Anfallen zu tun und verliere dabei voll- 
kommen das Bewusstsein. In diesem Zustande habe er sich alle mdglichen 
Verletzungen beigebracht. Sehr leioht werde ihm schwindlig, dann werde 
ihm griin, gelb und violett vor den Augen und er sei schon dabei vom 
Stuhle heruntergefallen. Seitdem er die Stiche in den Kopf bekommen und 
seitdem ihn ein Flieger eine ganze Menge Pfeile in den Leib gejagt habe, habe 
er am Leben keine Freude mehr. 

Im vergangenen Jahre habe er sich im Dammerzustande 6 Tage von der 
Trappe entfernt. Als man ihn jetzt aus dem Lazarett entlassen habe, habe er 
natdrlich gedacht, er konne bis zu seinerEntlassung vom Militar, die bei seinen 
schweren geistigen Storungen mit Sicherheit bald erfolgen musse, nun zu 
Hause bleiben. Dort sei er aber gar nicht gewesen. Er musse wohl so 
3 Wochen von der Truppe fortgewesen sein. Was er in dieser gan- 
zen Zeit angefangen habe, konne er mit dem besten Willen nicht 
sagen, und zuletzt sei er plotzlich zu Hause gewesen. Wie er von 
Nienburg fortgefahren und sohliesslich zu Hause angekommen sei, das sei ein 
diisteres Geheimnis, uber das er sich seinen schwachen Kopf schon- lange 
vergebens zerbrochen habe. Plotzlich sass er da und seine gute Sohwieger- 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 669 

matter fragte ihn,' wo er herkomme. Da habe er denn einfach gesagt, er sei 
beurlaubt. 

Er sei dann in Haft gekommen und habe in der Zelle haufig seine „An- 
lalle u bekommen (nioht bestatigt). Darauf habe man ihn entlassen und nun 
sei es die hochste Zeit, dass er sofort wieder an die Arbeit gehe. 

Tu., ein Mann von mangelhafter Ethik und einer ausgeprfigt krimi- 
nellen Vorvergangenheit, lSsst sehr bald im Kriege, der ihn weder 
psychisch noch kbrperlich geschfidigt hat, erkennen, dass ihm nicht 
viel daran liegt, Soldat zu bleiben. 

Als er dann die Folgen seiner Fahnenflucht tragen soil, beruft er 
sich auf Anfalle, von denen niemand etwas weiss, er grfindet sie auf 
Verletzungen, in deren Schilderung er wechselt and fur die sich ein 
Nachweis nicht erbringen lisst, und sucht aus einem kfinstlich verlfin- 
gerten Tripper Kapital zu schlagen. 

Dazu spielt er im Gef&ngnisse den „wilden Mann“ und erkfirt 
sich damit die Erankheit, die in Laienkreisen noch immer als die 
typische Ausdrucksform der Simulation gilt und vor allem durch die 
ausfuhrlichen Zeitungsberichte fiber derartige forensische Schaustficke 
immer von neuem dem Publikum vor Augen gehalten wird. 

Auch in der milit&risch - forensischen Tatigkeit haben sie ihren 
Nimbus noch nicht eingebusst. In den Milit&rgefhngnissen, Vorgesetzten 
gegenfiber und selbst in militfirischen Verbandlungen treten uns nicht 
selten diese sinnlosen Erregungszust&nde vor Augen, die sich in der 
zfigellosesten motorischen und sprachlichen Entladung, in Angriffen 
auf die Umgebung und Zertrfimmerung aller erreichbaren mfiglichen 
Gegenstttnde Luft machen. Auch ibnen steht man von militarischer 
Seite oft noch mit grosstem Misstrauen gegenfiber, wenn man auch von 
Seiten der Milit&rgerichte und nicht minder der Strafvollzugsbehfirden 
immer mehr dazu gekommen ist, unter alien Umstfinden hier den 
Psychiater zu Rate zu ziehen. 

Weit mehr noch wie vor dem Kriege muss man allerdings die Be- 
obachtung machen, dass es bei den vielen psychopathologischen Persfin- 
Hchkeiten, die das Kriegstoben in die milit&rische Rechtspflege ver- 
schlfigt, durch die Haft, durch die Aufregungen des gerichtlichen Ver- 
fahrens, durch den Druck der Hauptverhandlung die gewaltige innere 
Spannung zu einer Entladung gebracht wird, die in dieser gerfiusch- 
vollen und lfirmenden Weise zum Ausdruck gelangt. 

Meist ist es nicht so schwer, die Echtheit dieser anscheinend von 
Simulanten so gerne gewfihlten Stfirungen nachzuweisen. Fast immer 
gelingt der Nachweis, dass es sich um Personen mit einem labilen 
Affektleben, mit enorm gesteigerter Reizbarkeit, mit ausgesprochener 


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670 , 

imbeziller, hvsterischer Oder epileptiscber Veranlagung frandelt, in deren 
Yorleben meist scbon abnliche Auftritte nachzuweisen sind. Fast immer 
bieten die Ereignisse der letzten Zeit eine ErklErung fur das Entstehen 
dieser Spannung. GewChnlich bandelt es sich auch am lEnger dauerude 
ErregungszustEnde, die sicb durch die Eusserste Rucksicbtslosigkeit bis 
zum Wuten gegen die eigene. Person steigern. 

Gewiss versuchen aucb gelegentlich Simulanten sich auf diesem 
Felde zu bewegen. Aber selten nur vermCgen sie sich im Rahmen des 
kliniscb Echten und Unantastbaren zu halten. Es geh&rt eine ausser* 
ordentlicbe Energie und ein recht betrEchtlicher KrEfteaufwand dazu, 
diese Rolle lEngere Zeit durchzufuhren und an ibr auch festzubalten, 
wenn sie sich nicht beobachtet glauben, wie sie auch meist der eigenen 
Person nicht zu nahe treten. In der Regel findet man bei genauerer 
Nachforschung, dass es sich um Personen handelt, die nur eine kum- 
merliche geistige Veranlagung aufzuweisen haben. Meist kommen diese 
ZwischenfElle zu einem raschen Ende, wenn man sich gar nicht um sie 
kummert, ohne dass man ihnen dann eine weitere Bedeutung beizuiegen 
brauchte. 

Weshalb bei Tu., dessen Affektleben fast nie eine StOrung erkennen 
Hess, und der schon lange Jahre im Gefangnis ohne jeden Schaden fur 
seine geistige Gesuncjheit gesessen hatte, schon am zweiten Tage der 
Haft eine solche Explosion erfoJgen sollte, die er zudem auch an- 
gekundigt hatte, ist ohne Zuhilfenahme der Simulation gar nicht zu 
erklEren. 

Wieder lEsst sich bei ihm eine FQlle von NebenumstEnden nach- 
weisen, die seine Glaubwurdigkeit in einem fragwurdigen Lichte er- 
scheinen lassen. 

Nachdem er noch einen schwachen Versuch gemacht hat, wEhrend 
der Beobacbtung eine abnliche Alteration vorzufuhren, setzt bei ihm 
pldtzlich ein DEmmerzustand ein, der 3 Wochen gedauert haben soli, 
bei denen er Anspruch auf einen vollstEndigen Erinnerungsverlust macht 
und dessen Bedeutung er seiner Umgebung auf das Eindringlichste zu 
Gemute zu bringen sucht. 

Auch er beslEtigt die alte Erfahrung, dass man den totalen 
Amuesien mit besonders grosser Skepsis gegenuberstehen muss, zumal 
wenn sie eine durch eine entsprechende Geisteskrankheit gar nicht zu 
erklErende iibermEssig lange Dauer aufweisen. Es sind das zweifellos 
sehr seltene ZustEnde. 

Es ist verstEndlich, dass Simulanten sicb mit besonderer Yorliebe 
diese Form der Amnesie auserwEhlen, weil sie dadurch am ersten der 
Gefabr aus dem Wege zu gelien glauben, aus der Rolle zu fallen. Viel 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 671 

glaubbafter aber bleiben immer die- Erinnerungsverluste, in die noch 
einzelne Ged&chtnisinseln eingesprengt sind, oder der Ausfall einzelner 
Erinnerungspunkte. 

Jedenfalls spricht sich darin, dass der Tater fur einzelne Punkte 
die Erinnerung zugibt, in gewissem Masse seine Neigung aus, bei der 
Wahrheit zu bleiben. Gelingt es ihm, bei verscliiedenen Yernehmungen, 
die zeitlich lange genug auseinanderliegen, in der Wiedergabe seiner 
Eriunernngen keine zu groben Abweichungen zu machen, so wird man 
mit grSsserer Sicberheit die Richtigkeit seiner Angaben annehmen 
kSnnen. 

Fall 14 . Fusilier Hyronimus Sohu., Landwirt, 27 Jahre. Im Zivil 
haufig wegen Diebstahls, Betrugs, Urkundenfalschung vorbestraft. Tritt 1914 
als Freiwilliger ein. Wegen mehrerer Verwundungen ofters in Lazarettbehand- 
lung. Schlechte Fuhrung. 1915 wegen unerlaubter Entfernung 2 Jahre Ge- 
fangnis, die er glatt abmacht. 

Am 13. 2. 1918 wurde er, nachdem er wegen eines Nervenleidens beur- 
laubt, zuruckberufen. Obgleich er telephonisch seine Ankunft angemeldet hatte, 
hielt er sich von der Truppe fern und wurde erst am 1. 4. in Oldenburg fest- 
genommen. Wahrend dieser Zeit hatte er mehrere Diebstahle begangen. 
U. a. hatte er einem Schnlkameraden, der einen Koffer zur Bahn tragen sollte, 
vorgeschwindelt, er sei ein Bekannter des Besitzers, heisse Janssen, fahre mit 
demselben Zuge und wolle den Koffer dem Besitzer abliefern. Als er bald 
darauf wegen Uebertretung der Fahrradvorschriften angehalten wurde, gab er 
einen falschen Vomamen an und behauptete, bei einem anderen Regimente ge- 
dient zu habeti und als Yizefeldwebel der Reserve entlassen zu sein. Bei der 
Durchsuchung fand man bei ihm eine grosse Geldsumme sowie die gestohlenen 
Sachen. Den Wachtmeister suchte er zu bestechen. Auch das Fahrrad hatte 
er gestohlen. In der Yernehmung behauptete er, ganzlich unbestraft zu sein, 
und berief sich darauf, 8 Monate im Lazarett Langenhagen gewesen zu sein (in 
dem er zur Beobachtung auf Krampfe 11 Tage gewesen war), behauptete, er 
sei tatsachlich im Besitze der Auszeichnungen und unterschrieb als Sergeant 
Schu. Deber den Erwerb des Rades machte er erlogene Angaben. 

Keiner von den zahlreichen Personen, die mit ihm bei den Diebstahlen 
undBetrugereien inBeruhrung gekommen waren, hatte irgend etwasAuffallendes 
an ihm wahrgenommen. 

Wahrend seines ersten Aufenthaltes in Langenhagen hatte er einem 
anderen Kranken ein Paar Scbnurschuhe und wahrend eines Besuches in einem 
anderen Lazarett ein Paar Schniirschuhe und eine Sabelkoppel gestohlen. 

Wahrend aller friiheren gerichtlichen Verfahren hatte er nieErscheinungen 
dargeboten, die einen Zweifel an seiner Zurechnungsfahigkeit erweckt hatten. 
Die uber ihn verhangten Strafen verbusste er alle glatt. Er berief sich friiher 
auf angebliches Lungenbluten, ohne wahrend der Beobachtung eine Blutung 
gehabt zu haben und ohne dass auch nur der geringste objektive Befund er- 
hoben worden ware. In den Krankenblattern wird der Verdacht der Ueier- 


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treibung geaussert, so hatte er auch wiederholt die Temperatur kunstiich in 
die Hohe getrieben. Einmal wird direkt ausgesprochen, dass er simaliert babe. 

lm Oktober 1917 im Reservelazarett R. aufgenommen, weil er auf der 
Reise einen Anfall gehabt haben wollte. Wahrend 14 Tagen hatte er kcinen 
Anfall. Auf der Reise nach Ha. wollte er wieder einen Anfall gehabt haben. 
Im Reservelazarett II Ha. hatte er mehr Anfalle. Hier gab er an^ er leide seit 
dem 11. Jahre an Ohnmachtsanfallen (nicht bestatigt). In La. warden mehrere. 
Anfalle beobachtet, die als hysterisch aufgefasst werden (uber die forensische 
Sachlage war nichts bekannt). 

Es wurde eine absiohtlich vorgetauschte Abschwaohung der 
Intelligenz angenommen. 

Bei der zweiten Aufnahme in La. sofort hysterischer Anfall. Nach dem 
Anfalle war er klar und geordnet, unterhielt sich angeregt and zeigte keine 
Zeichen yon Miidigkeit. Sonst verhielt er sich ruhig und geordnet und war 
niemals verstimrat oder angstlich. Wenn er sioh beobachtet wusste, tat er 
ausserordentlich wehleidig, hielt den Kopf schief, wackelte damit hin und her 
und sprach mit leisem, klaglichem Tone. 

War der Arzt nicht in der Nahe, dann war er wie ausgewechselt. Er 
unterhielt sich lebhaft mit seiner Umgebung und zeigte fur alles Interesse. 
Gelegentlioh las er auch in der Zeitung. Dem Arzte gegeniiber behauptete er, 
nicht lesen zu konnen. Von anderen Kameraden liess er sich Karten schreiben, 
da er selbst nicht schreiben konne. Dagegen schmuggelte er versohiedene — 
selbst gesohriebene — Karten durch, in denen er zwei Madchen zum Besuch 
bestellte und sich Zigarren und Esswaren erbat. Trotz seines klagsamen 
Wesens suchte er auch ein Heiratsgesuoh in den Hamburger Anzeiger duroh- 
zuschmuggeln. Dem Arzte gegeniiber versank er sofort in ein Meer der beweg- 
lichsten Klagen und antwortete leise und zdgernd. Wenn er wollte, konnte er 
auf alle Pragen prompt und sinngemass Antwort geben und folgte den ein- 
gehendsten Unterhaltung^n ohne jedes Zeichen von Ermudung. 

Das Gedachtnis war geradezu ausgezeichnet, nur bei der Besprechung 
mancher Straftaten, die ihm unangenehm waren, hatte er damit Schwierig- 
keiten. In der Besprechung seiner Vorgeschichte batte er das ausgepragte Be- 
streben, sich als einen von Kind auf geistig abnormen kranken Menschen hin- 
zustellen. Seine ganze Pamilie sei minderwertig. Aus der Scbule sei er immer 
fortgelaufen. Beim Lernen sei er gleich schwindlig geworden. Spater habe 
er immer die masslosesten Schwindelzustande gehabt. Die Krampfe habe er 
mit dem 18. Lebensjahre bekommen und auch in alien Lazaretten gehabt. Als 
ihm vorgehalten wird, dass friiher bei ihm nie etwas yon nervosen Storungen 
bemerkt worden sei, meint er, die Zustande seien von den Aerzten ubersehen 
worden. Von seinen Vorstrafen wollte er gar nichts wissen. Er sei zwar bfters 
vor Gericht gewesen, konne sich aber mit dem besten Willen nicht erinnern, 
urn was es sich dabei gehandelt habe. 

Auch bei der Intelligenzpriifung suchte er auf jede Weise den Eindruck 
der schwersten Geistesschwache zu machen. Schreiben wollte er nicht konnen. 
Als,ihm ein Schriftstiick aus einer fruheren Akte vorgehalten wurde, in dem er 



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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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sich mit leidlioher Schrift, brauchbarem Stile and gutem Gedankengange ver- 
teidigt hatte, wurde er sehr bestiirzt und wusste nichts zu erwidern. Selbst 
bei den einfaohsten Rechenaufgaben versagte er, die er bei seinem ersten Auf- 
enthatte in La. glatt und richtig gelost hatte. Die Geldstiicke wollte er nioht 
unterscheiden konnen. Er kannte weder die Zahl der Monate, noch dieWochen- 
tage, und zahlte diese falsch auf. Als er nach der Zahl seiner Finger gefragt 
wurde, fing er an, sie abzuzahlen, kam damit aber nioht zuwoge. 

Wie er zu der unerlaubten Entfernung gekommen sei, konne er nicht 
sagen. Es sei ihm unmoglich, irgendwo langer zu bleiben, nach mehreren 
Stunden werde ihm schwarz vor den Augen, er bekomme Kopfschmerzen und 
dann wisse er nicht mehr, was mit ihm los sei. Die Diebstahle in den 
Lazaretten bestritt er, erwies sich dabei aber iiber alleEinzelheiten unterrichtet. 
Er selbst habe sich nur in seiner Unschuld dazu verleiten lassen. 

Aus ungunstigen Verh&ltnissen stammend, nimmt die Eutwicklung 
des Schu. einen abnormen Verlauf. Schon sehr fruh wird er straff&llig, 
ohne dass er w&hrend der zahlreichen Verfahren etwas dargeboten hatte, 
was seine Zurechnungsf&higkeit hatte in Frage stellen k6nnen. Alle 
Haftstrafen macht er ohne jeden Zwischenfall ab. Beim Militkr wird 
er ein eifrigor Lazarettlaufer, gerat in don Verdacht, ein Lungenleiden 
vorget&uscht zu haben, treibt die Temperaturen kiinstlich in die H6he 
und stellt sein geistiges Licht unter den Scheffel. Erst nach 3 Jahren 
stellen sich ohne jede Aussere Veranlassung — er selbst gibt falsch- 
licherweise eine Verscbuttung an — Anlklle ein, die nicht immer der 
Anzweiflung der Echtheit zu entgehen yermocbten, mit gutem Willen 
aber der Hysterie zugerechnet werden konnten, wAbrend der kOrperliche 
Befund fur hysterische Anzeichen g&nzlich im Stiche liess. 

Energisch versucht er dann die Anf&lle bis in seine Kindheit zu- 
ruckzuverlegen und sich auch sonst als geistig nicht normal hinzustellen. 
Fur Alles, was er spAter vorbrachte, fand sich in den Akten wieder 
kein Anhaltspunkt, er hatte ganz erheblich zugelernt. In zielbewusster 
Weise sucht er dann durch die Klippen der Beobachtung durchzusteuern. 

Fall 15 . Flieger Ferdinand Bu., Schlachter, 37 Jahre. 13 mal wegen 
Betrogs, Unterschlagung und Diebstahls vorbestraft. Bis Harz 1916 im Felde. 
Am 29. Dezember 1916 entfernte er sich auf einem Transport von seinem 
Truppenteil und meldete sich am 29. Januar 1917 wieder. Seinen Feldwebel 
beleidigte er spater durch Eingaben. 

Bei seiner Vernehmung gab er an, er sei nachtblind und bekomme 
hanfig Nervenanfalle. Infolge eines solchen Anfalls habe er aach bei seiner 
Ruckkehr aus dem Felde 3 Tage beim „Roten Kreuz u gelegen. Auch auf einer 
anderen Reise sei er in Neu. an ahnlichen Anfallen im Lazarett gelegen. Von 
11.—15. Januar habe er in Du. seine Angehorigen besucht. Dann babe er nach 
Ha. fahren wollen, habe aber in Es. und Do. wegen seiner Anfalle Aufenthalt 


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nebmen miissen. Sehr oft wisse er gar nicht, was er tue. Ein Bruder und 
eine Schwester seien in einer Irrenanstalt gewesen. 

Spater erklarte er, er habe sich in Na. vom Transport© entfernt, weil ihm 
iibel gewesen sei. Am 4. Januar sei er nach Du. gefabren und habe dort bis 
zum 16. Januar in seinem Geschaft gearbeitet. Spater habe ernoch Verwandte 
in Kr. besucht, um dann wieder nach Dii. zuriickzukehren. Schliesslich sei er 
mit Aufenthalt in Es. und Do. naoh Ha. zuruckgefahren. Er gab zu, die be- 
leidigenden BrieTe verfasst zu haben. 

In der Hauptverhandlung iinderte er wieder seine Aussagen. Er wisse 
nur, dass er sich einige Tage in Dii. aufgehalten habe, und wenn er spater 
andere Angaben gemacht habe, so sei das nur im Schreck und in der Ueber- 
sturzung geschehen. Zeugen hielten ihn fur einen Sonderling, den die Kame- 
raden gemieden hatten. Stets habe er sich vom Aussendienst zu 
driicken gesucht. Dabei habe er immer Krankheit vorgeschiitzt. Er gait 
als schlechter Soldat und Driickebcrger. Mehrere Zeugen bezeichneten ihn 
direkt als Simulanten. Auch im Zivilleben bezeichnete man ihn als ganz 
raffinierten Simulanten, der kein Mittel unversucht lassen werde, sich 
vom Militardienste zu driicken. 

Eine eingehende Untersuchung seiner angeblichen Nachtblindheit an einer 
Universitatsklinik batte ergeben, dass sie hochstwahrscheinlioh simuliert sei. 
Mehrere Angaben seiner Mutter gegeniiber, er sei von seiner Firma reklamiert 
worden, erweisen sich als erlogen. 

Aus den Briefen, die bei einer Haussuchung vorgefunden wurden, ging 
hervor, dass er auf jede Weise versuoht hatte, wieder nach Hause zu kommen. 
Die Mutter solle in einem entsprechenden Gesuche an die Behorde angeben, 
sie sei schwer krank. In einem Schreiben teilte er seinem Bruder mit, was er 
b$i der Vernehmung uber seinen angeblichen Aufenthalt in der Heimat und 
den Lazaretten wiihrend der unerlaubten Entfernung angegeben hatte und 
scharfte ihnen genau ein, was sie angeben sollten, falls dort Nachforschungen 
veranstaltet wurden. Es konne ja nichts herauskommen, wenn die beiderseiti- 
gen Angaben mit einander ubereinstimmten. Vor allem sollten sie aussagen, 
dass er dort viel allein gesessen und seinen Verstand teilweise nicht zusammen- 
gehabt habe. 

Am 19. 2. hatte er einen Brief an eine Verwandte geschickt mit der Auf- 
forderung, ihn abzuschreiben und an das Gericht nach Ha. zu schicken, von 
< der Mutter unterschrieben. Dies Schreiben solle den Anschein haben, als ob 
es von ihr ausgegangen sei und einen Beweis fur seine geistige Krankheit 
liefern. Die Mutter solle schreiben, dass er nachtblind sei. Er habe vielfaoh 
seine Gedanken nicht zusammen, so dass er nicht verantworten konne, was er 
so oft in umnachtetem Zustande ausfiihre. Seine Mutter selbst habe bei ihm 
haufig, besonders Nachts, Herzkrampfe festgestellt. Wahrend seines Aufent- 
haltes in Du. habe sie oft bei ihm Schwindelanfalle beobachtet, in denen es 
auch zum Erbrechen gekommen sei. Meistens habe er in dieser Zeit von seiner 
Schwester phantasiert. Nachts habe er mit Handen und Fiissen gearbeitet und 
sei plotzlich zusammengeschreckt. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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lm ubrigen waren die Briefe durohaus geordnet und sachlich. 

Anstaltsbeobachtung. Keine Intelligenzstorung. Gutes Urteilsver- 
mogen. Umfassende Kenntnisse. Ueber die Vorgange bei seiner nnerlaubten 
Entfernung wusste er offenbar ganz gut Bescheid, docb tat er meist so, als ob 
er intensiv nachdenken miisse. DieStimmung war im allgemeinen gleichmassig. 
Aeusserlich fiel er nioht auf. Besonders verkehrte er mit einem Beobachtungs- 
kranken, der sioh als grosser Uebertreiber entpuppte. Dem Personal gegeniiber 
war er mit seinen Aeusserungen ausserordentlich vorsiohtig. Er fuhrte eine 
ausgiebige Korrespondenz und suchte verschiedene Briefe an Madohen in Ha. 
durchzusohmuggeln. Auch meldete er sich auf eine Heiratsannonce als Be- 
werber. In Gegenwart des Arztes setzte er ein sehr wehleidiges Gesicht auf. 
An den Oberarzt einer .anderen Anstalt scbrieb er einen Brief, der aber tat- 
sachlich fiir den Beobachter bestimmt war. In diesem ausserte er, er reibe 
sich vollstandig mit seinen Aufregungen und Gedanken auf. Wenn nur jemand 
an seinem Bette vorbeigehe, fahre er aus dem Scblafe auf. Oft sei er ganz 
mit den Gedanken weg. Tatsachlich war der Schlaf immer ungestort. 

Trotz seiner Nachtblindbeit fand er sich stets in den dunkeln Schlafsalen 
muhelos zurecht und ging Tischen und Stiihlen, die absichtlich in seinen Weg 
gestellt waren, glatt aus dem Wege. 

Ueber seine Delikte machte er im wesentlioben dieselben Angaben wie 
bei seinen gerichtlichen Vernehmungen. Die Beschwerdeschrift habe er tat¬ 
sachlich geschrieben und mit dem Namen der Mutter unterzeichnet, er sei aber 
▼on dieser bevollmachtigt gewesen. Dagegen wollte er yon den unerlaubten 
Entfemungen nichts mehr wissen. Bei der Schilderung seiner angebliohen 
Erlebnisse auf der Riickreise von Ha. geriet er bald in Widerspriicbe. In Na. 
sei ibm schlecht und scbwindlig geworden. Kameraden hatton ibn aus dem 
Zuge getragen. Auch in Lu. und Aa. sei er liegen geblieben. In Ne. sei ihm 
dann wieder schlecht geworden. Sein schlechtes Befinden in Du. schilderte 
er in den schwarzesten Farben. Als er dann nach Kr. gefahren sei, babe er 
sich auch dort zu Bett legen miissen. Auch auf der Weiterfabrt habe er mehr- 
fach halt macben miissen und sei in Lazarettyn und Krankenhausern behandelt 
worden, er konne sioh aber nicht mehr entsinnen, wo das gewesen sei, er sei 
immer viel zu.erschopft und verwirrt gewesen. 

Seit dieser angebliohen Serie von Krankbeiteu ist er in der Garnison 
weder im Lazarett noch im Revier jemals mehr behandelt worden. 

Als ihm der Brief vorgehalten wird, in dem er die Angehorigen iiber sein 
angebliches Verhalten wahrend des Urlaubes instruiert, wird er zunachst ver- 
legen, dann meint er, das sei alles falsch aufgefasst, er habe seine Mutter nur 
an diese Zeit erinnern wollen, denn diese sei so sohwachsinnig, dass sie nicht 
mehr aUes rich tig aussagen konne. Auch sonst batte er, wenn er auf Wider- 
spruche aufmerksam gemacht wurde, stets eine andere Antwort zur Hand. 
In seine Vorgeschiohte trug er noch eine Menge von nervosen Beschwerden 
hinein, die sich spater als erdichtet erwiesen. 

Abgesehen davon, dass es in ethischer und moralischer Beziehung 
urn Bu. sehr schlecht bestellt gewesen war, so dafs er oft wegen Be- 


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trugs vorbestraft war, bei den Zivilbehorden als gerissener Simulant 
gait und beim Milit&r als gemeiner Druckeberger erschien, bietet seine 
Vorgeschicbte nichts dar, was ihn einer Psychose zuweisen konne. 
Selbst die geringen nervosen Beschwerdon, die er vorbringt, sind frag- 
los in der grfibsten Weise ubertrieben, wie auch seine Nachtblindheit 
rein simuliert war. 

Wenn er seine Bntfernung mit einem D&mmerzustande entschuldigen 
wollte, fehlte es zunacbst wieder an jeder Grundlage, auf der sich ein 
solcher zwanglos aufbauen sollte. Allmahlich fand er fur den grossten 
Teil der fraglichen Zeit die Erinnerung wieder, nur dass er jetzt alle 
moglichen Erankheitszustande in diese Zeit einzuscbieben versucht, fur 
die sich wieder nicht der geringste Anhaltspunkt ermitteln lasst. 

Im Uebrigen bescbrankt er sich nicht darauf, eine fingierte Vor- 
geschichte zum Besten zu geben, sondern bemuhte sich auch, seine 
Verwandte zu Aussagen zu Veranlassen, die diesen die nbtige Glaub- 
wurdigkeit verschaffen sollten. 

Die gewandte und zielbewusste Art, in der er seinen Zweck zu 
erreichen suchte, hatte, falls bei ihm die Anklage auf Simulation ge- 
stellt worden ware, wahrscheinlich zur Verurteilung gefuhrt, da seine 
Absicbt sich dem Dienste zu entziehen, ganz often auf der Hand lag. 

Pall. 16 . Theodor Po., Telegraphist, 38 Jahre. 16.11.1916 wegen 
Fehlens bei der Gestellung zur Vernehmung befohlen, erschien er nieht. Nach 
Aussage der Mutter war er krank. Von Mitarbeitern war er zur selben Zeit 
in der Stadt geseben worden. Verhaftung. 31. 1. 1917 gab er an, er babe 
sich gestellt, sei aber nicht verlesen worden. Als das„Publikum a aufgefordert 
worden sei, den Platz zu verlassen, sei er einfach fortgegangen. Schon am 
16. 11. 1916 sei er krank gewesen, er leide an Herzschwache, Rheumatismus 
und Leberkranksein. In einem Atteste wurde ihm bescheinigt, er sei ge- 
legentlich wegen Brustrohrenkatarrh behandelt worden. 

16. 5. 1917 sollte Hauptverhandlung sein. 14. 5. verliess er die Kaserne 
in Ve. 17. 5. telegraphierte die Mutter, er liege in unnormalem Zustande im 
Bette. Er erklarte, er konne nicht sagen, weshalb er sich entfernt habe. Er 
sei sicher stark herz- und nervenleidend gewesen. 

Anstaltsbeobaohtung. Zuerst wollte er iiberhaupt nicht wissen, dass 
ein Verfahren gegen ihn schwebe. Erst nach langeren Verhandlungen gab er 
das zu. Den Inhalt der Vemehmungen in den Akten erkannte er nicht an. 
Unterschrieben habe er sie, aber das beweise nichts. 

Von deu iibrigen Kranken hielt er sich etwas feme und' sass mit 
murrischem Gesichtsausdrucke in den Ecken herum. Auch dem Wartepersonal 
gegenuber beobachtete er eine wurdige Zuruokhaltung. Die Stimmung war 
leicht gedruokt. Manchmal gab er iiberhaupt keine' Antwort, sondern starrte 
den Fragenden mit ungewissem Gesichtsausdrucke an. Ab und zu klagte er 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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auch iiber Kopfschmerzen. Irgend welche anfallsartige Erscheinungen oder 
Storungen des Bewusstseins waren nicht wahrzanehmen. 

Bei den Untersuchongen nahm er sich zu den Antworten sehr lange 
Zeit nnd gab vorsichtig und mit lauernden Blicken Antwort. Haufig wollte er 
die einfachsten Fragen nioht verstehen oder fasste sie falsch auf. Dabei stellte 
sicb immer wieder heraus, dass er ganz genau wusste, nm was es sich handelte. 
Auch sonst hatte er das unverkennbare Bestreben, um die Sache herumzureden. 
In den Zwischenpausen des Gespraches entquollen bestandig tiefe Seufzer 
seiner Brust. Ermiidungserscheinungen waren am Ende der Unterredung nioht 
festznstellen. Die korperliohe Untersuchung ergab nicht die geringste Ab- 
weichung von der Norm. Bis zum 10. Jahre wollte er Bettnasser gewesen sein. 
Spater habe er lange an einem chronischen Husten und Rheumatismus gelitten, 
von dem ein schwerer Herzfehler zuriiokgeblieben sei. Dazu sei Asthma ge- 
kommen und schliesslioh habe sich eine furchterliche Ichias dazu gesellt. Er 
sei uberaus sohwachlich gewesen. Im vergangenen Jahre sei ihm eine Kiste 
auf den Rucken gefallen. Auch habe er sich einmal gegen den Arm gestossen, 
sodass er jetzt noch dauernd die entsetzlichsten Scbmerzen habe. Immer habe 
er sich von der Welt zuruckgezogen. Trotzdem habe er die wahnsinnigsten 
Kopfschmerzen gehabt, mitunter auch solche Stiche in der Seite, dass es 
geradezu eigentumlich gewesen sei. Jeden Witterungswechsel habe er in seinen 
Lungenflugeln gespurt. Die Stimmung sei bei ihm immer bauptsachlioh 
geradezu niedergeschlagen gewesen. Immer habe er sich die wustesten Ge- 
danken gemacht wegen seines Magens, der infolge seiner so schlechten Zahne 
ihm jahrelang die peinlichste Last gemacht habe. So habe der Schlaf ihn oft 
geflohen, da seine Nerven so uberaus gelitten hatten und er mit seiner Ver- 
dauung so furchterlich schlecht bestellt gewesen sei. 

Trotzdem gesteht er schliesslioh ein, dass er eine gesellige Natur gewesen 
sei. Er war in einem Turn-, Gesang- und Theater-Verein und hatte seinen 
Stammtisoh. Ins Feld sei er nicht gekommen, wahrscheinlich weil er so furcht- 
bar krank gewesen sei. Wahrend des ganzen Dienstes, der ihm unmassig auf 
die Nerven gegangen sei, sei er immer so hin- und hergeschwankt. 

Weshalb er hierher gebracht worden sei, konne er sich nicht denken. 
Mit dem Geriohte habe er gar nichts zu tun, er sei noch nie gerichtlich ver- 
nommen worden, noch nie habe er etwas untersohrieben. Als ihm dann 
energisch erdffnet wird, dass er genau wisse, um was es sich handele, sieht er 
den Arzt langere Zeit uberlegend an und erklart dann schliesslioh kleinlaut: 
^a, daruber habe ich eine ganze Akte. u 

Schliesslioh stellt sich dann heraus, dass er iiber alle Einzelheiten genau 
Bescheid weiss. Zuletzt sei er jron Ve* fortgegangen, weshalb, kdnne er nicht 
sagen. Mittags um 4 Uhr sei er abgefahren, da sei gerade ein Personenzug 
losgegangen. In Ha. habe er sich nicht aufgehalten und sei weitergefahren. 
Er habe Dmwege machen miissen, weil die Bahn gar nicht gefahren sei. So 
sei er nach Oberhausen gekommen, von da waiter nach Coin, von Coin nach 
Bonn. Von Bonn sei er wieder zuriickgefahren nach Oberhausen, von da nach 
Hamm und da dort kein Anschluss war, sei er wieder nach C51n gefahren. 


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Von Coin sei er nach Koblenz gereist, von da nach Bonn, von Bonn wieder 
zurbck nach Koblenz, dann wieder nach Oberhausen, von da nach Ldhne und 
schliesslich sei er fiber Osnabriick nach' Bremen und dann zuriick nach Munster 
gefahren. 

Dazu habe er zwei Tage gebraucht. Er sei dabei immer in Uniform ge- 
wesen und nur im Besitze einer Bahnsteigkarte gewesen. In Munster, wo er 
genau Bescheid gewusst habe, sei er dann auf der letzten Seitentreppe herunter- 
gegangen. Nachts sei er immer durchgefahren. Gegessen habe er nur einmal 
auf dem Bahnhofe in Oberhausen beim „Ro.ten Kreuz.“ In Munster sei er dann 
nach Hause gegangen und habe sich zu Bette gelegt. Am nachsten Tage sei 
er spazieren gegangen. An diesem Tage habe man ihn abgeholt und ins 
Lazarett gesteckt. Er sei nur weggegangen, weil man ihm den Urlaub immer 
abgeschlagen babe. Auch habe er nichts zu essen gehabt. Er sei so die Kreuz 
und Quer gefahren, weil er nicht anders gekonnt habe. Die Zfige seien alio 
nicht „so u gefahren, und so habe er keinen Anschluss bekommen konnen. 
Krank sei er dabei insofern gewesen, als er sich schlecht gefiihlt habe. Sonst 
aber konne er sich an die Einzelheiten der Fahrt ganz genau erinnern. 

Nachdem Po., der alle mSglichen korperliclien Krankheiten zur 
Erh&rtung seiner geistigen und k5rperlichen Leistungsunf&higkeit vor- 
geffihrt und das ganz ausgesprochene Bestreben verraten hatte, sich 
kr&nker hinzustellen als er in Wirklichkeit war, zunachst versucht 
hatte, das gauze gegen ihn schwebende Verfahren in den Mantel ernes 
totalen Erinnerungsausfalles zu hiillen, sucht er spater seine Entfernung 
von der Truppe plfjtzlich als ein so sinnloses Hin- und Herfahren hin¬ 
zustellen, dass daraus oline weiteres ein krankhafter Geisteszustand hatte 
gefolgert werden konnen. Wahrend er fruher mit Erinnerungsausfallen 
zu wirken versuchte, wollte er jetzt genau Bescheid wissen und fand 
sogaij nocli einen Beweggrund fur sein Handeln. Die Durchfuhrung 
des Reiseprogramms, wle er es abgewickelt haben wollte, war an und 
fur sich ganz unmoglich. 

In der Hauptverhandlung, in der durch Zeugen festgestellt wurde, 
dass er in der ganzen Zeit in Mu. gewesen war und sich durchaus 
geordnet benommen hatte, verzichtete er auf den Schutz seiner geistigen 
Storungen und nahm die Strafe widerstandslos an. 

Fall 17 . Trainfahrer Otto EL, Automobilfabrer, 32 J., 8. 1. 1917 ent- 
fernte er sich aus seinem Quartier in Ha. 9 Tage spater U*af ihn ein anderer 
Fabrer auf der Strasse und veranlasste ihn, zur Truppe zuriickzukehren. 8. 2. 
entfemte er sich wiederura, fuhr nach Br. und wurde nach 10 Tagen im Bette, 
angebiich schwer krank angetroffen. Langere Lazarettbeobachtung. 

Als er aus dem lteservelazarett zu seiner Truppe geschickt wurde, fuhr 
er nicht nach Ha., sondern nach Br. und hielt sich dort 5 Wochen auf. Er 
wollte in unbewusstem Zustande gehandelt haben. 


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Bei seiner Vorfiihrung vor dem Gerichtsoffizier „spielte er den vollkommen 
Gestdrten u . Er behielt trotz des Befehls, militarische Haltung anzunehmen, 
die Hande auf dem Riicken, auf alle an ihn geriohteten Fragen erklarte er: 
„ich will meine Kartoffeln, mein Pferd und meinen Wagen wiederhaben tt . Da- 
bei schlug er mit der Faust auf den Tisch und lief im Zimmer herum. Da 
Eh „offenbar simulierte“, wurde er festgenommen. 

Spater gab er an, er wisse nocb, dass er in II. entlassen worden und in 
einen Zug gestiegen sei. Dann musse* er sich fiber irgend etwas erschreckt 
haben. Von dem Augenblicko an wisse er niclits mehr. Erst seit Beginn dor 
Vernehmung sei er wieder beiBewusstsein. Er sei inFrankreich versohiittet 
worden, seitdem habe er haufig Zustande, in denen ihm jedes Bewusstsein 
fehle. 

Anstaltsbeobachtung. Bei der Aufnahme war er vollkommen orien- 
tiert. Er batte u. A. aus freien Stucken angegeben, seine Frau habe am nach- 
sten Tage Geburtstag und man moge sie doch zum Besuohe zulassen. Er gab 
dem Personal an, er sei friiher in II. gewesen, wo man sein Bein massiert habe, 
das steif gewesen sei. Von dort sei er zu seiner Truppe entlassen worden, 
habe sich aber dort nicht gemeldet. 

Dem Arzte erzahlte er, in der Champagne sei ihm ein Stuck Eisen auf 
den Kopf gefallen. Einmal sei er bestraft worden, da solle er irgend etwas 
begangen haben, was ihm spater als Strassenraub ausgelegt worden sei. 

Anfangs 1915 sei er nach Frankreich gekommen, wohin wisse er nicht, 
konne die Dinger ja doch nicht behalten. Spater habe er in Russland bei der 
grossen Offensive gestanden. Einmal Darchschuss durch das Bein. Wann er 
in der Champagne gewesen sei, konne er nicht sagen, da miisse er mal nach- 
fragen. Ob er nach seiner Verletzung in ein Lazarett gekommen sei, sei ihm 
entfallen. Wann er nach der Heimat gekommen sei, konne er nicht angeben, 
er wisse nur, dass er plotzlich in Br. in einem Lazarette gelegen habe. Wie 
lange, sei ihm unbekannt „Sie miissen danach meine Frau fragen a . Dann sei 
er in eine Nervenanstalt gekommen. Alle Einzelheiten seien ihm ganz aus dem 
Gedachtnis entschwunden. Wie er von dort fortgekommen sei, das sei ihm 
ganzlich unklar, obgleich er garnichts anderes getan habe, als dariiber nach- 
zudenkerv Er sei zu sich gekommen, als er in einem vergittorten Loohe ge- 
sessen habe. Das sei nun der Dank dafur, dass er das viele Blut fiir das Vater- 
land vergossen babe. Auf die Frage, ob er nicht wisse, dass er von der Truppe 
fortgelaufen sei, erklarte er mit hohlem Pathos, er sei kein Fahnenfliichtling. 
Er wisse, dass er einmal vor dem Gerichtsoffizier gewesen sei. Schliesslich 
babe man ihn hierher in einem Kutschwagen gefahren. 

Bei der ganzen Unterhaltung hatte er iiberaus sondierend und abwagend, 
dabei vcrdrossen und miirrisck geantwortet, obgleich er in der vorsichtigsten 
und liebevollsten Weise befragt wurde. 

Jetzt erklarte er auf die Frage, weshalb er denn in der Anstalt sei: „Wie 
kommen Sie dazu, mich zu fragen, sind Sio Staatsanwalt“. Als ihm das vet- 
wiesen wurde, erging er sich in freche Redensarten. Dem Befehle zu schweigen, 
folgte er einem Augenblick, schlug dann aber mit der Faust auf den Tisch und 


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begann wieder heftig zu schimpfen. Als der Arzt ihm befahl das Zimmer zu 
verlassen, ging er mit geballten Fausten auf ihn zu. Als er kraftiger ange- 
schnauzt wurde, sah er sich den Arzt einen Augenblick an, und verliess das 
Zimmer. Den anderen Kranken erzahlte er triumphierend, wie er es dem Arzte 
gegeben habe, am anderen Morgen wollte er nichts mehr davon wissen. 

Meist erschien er murrisob und verdrossen. Von selbst spraoh er wenig. 
Wenn er angeredet wurde, erwies er sich als ein iritelligenter Mensch. Im all- 
gemeinen war er sehr anspruchsvoll. Dem Personal leistete er bestandig pas- 
siven Widerstand, die anderen Kranken hetzte er auf, als fanatischer Anhanger 
Ledebur’s schimpfte er bestandig uber Staat und Militar. Die einzigen Spon- 
tanausserungen, die er dem Wartepersonal machte, bestanden darin, dass er 
wiederbolt iiber seine lastigen „Dammerzustande tt klagte. Keine anfallsartigen 
Erscheinungen. 

Nach abgescblossener Beobachtung wurde er am 10. 8. 17 vernommen. 
Bei dieser Vernehmung machte er durchaus zutreffendeAngaben und fielinkeiner 
Weise auf. Nach der Vernehmung entwich er aus dem Militargerichtsgebaude. 

Am 24. 10. 17 wurde er in He. im Reservelazarett abends im Dunkeln in 
der Nabe des Hauseingangs aufgefunden. Er gab keine Antworten und ^stiess 
mit Handen und Fiissen um sich a . Nach einiger Zeit gab er Antworten, aber 
immer ohne jeden Zusammenhang mit der gestellten Frage. Spater wiederholte 
er auf alle an ihn gestellten Fragen, er wolle zu den FranzoseD, die kamen 
sonst ins Land und daran sei sein Fortbleiben schuld. ^Ileist sass er starr im 
Bett und schien sich nicht um seine Umgebung zu kiimmern. 

Auf Befragen erzahlte er, er habe vor 2 Jahren in Frankreich gegen 
Schwarze gekampft und eine Kopfverletzung durch Messerstich davongetragen 
(keine Narbe). Was seitdem mit ihm geschehen sei, konne er nicht 
sagen. 

Diagnose: Epilepsie mit Verdacht auf Dammerzustand. In der Lazarett- 
abteilung taute er bald auf. Im Verkehr mit den tibrigen Kranken vollkommen 
geordnet. Sobald der Arzt kam, blieb er andauernd wie ratios liegen. Ueber 
seine Vorgeschiohte machte er verworrene Angaben. Was in den letzten Monaten 
mit ihm geschehen war, wollte er nicht wissen. Der Gesichtsausdruck war oft 
lauernd und beobachtend. Keine krampfiihnlicben Zustande. In der Irrenab- 
teilung Lu. machte er einige Angaben iiber seine Vorgeschiohte. Er war be- 
strebt, alles, was mit seiner Krankheit zusammenhing, moglichst 
unklar darzustellen. Diagnose: Hysteric. 

In La. war er ziemlick murrisch und zuriickhaltend. Dem Wartepersonal 
gegeniiber erzahlte er, er habe fiir die ganze Zeit keine Erinnerung. Als er 
dann nach dem allgemeinen Aufenthaltssaale verlegt wurde, war er strahlender 
Laune, unterhielt sich lebhaft und fiihrte das grosste Wort. Dabei las er die 
Zeitung und spielte fleissig und mit Erfolg Skat. Keine Stimmungssckwankung. 
Keine Reizbarkeit. In Gegenwart des Arztes senkte sioh eine diistere Schwer- 
mutauf ihn herab, die sofort verschwunden war, sobald jener das Zimmer yer- 
lassen hatte. Schlaf und Appetit ausgezeichnet. Keine Anfallserscheinungen. 
Naohdem er eine mehrmonatige Untorsuchungshaft ohne Storung durchgemacht 


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und sich in der Hauptverhandluug sehr eingehend auf die Dammerzustande 
berufen hatte, wurde er zu 9 Monaten Gefangnis rerurteilt. 

Bei der ersten Beobacbtuug hat El. olme jede Frage einen Er* 
regungszustand in ahnlicher Weise vorzufuhren versucht, wie er ihn 
nach der Entweichung zur Erhartung seiner krankhaften Veranlagung dem 
Gerichtsoffizier vorgespielt hatte. Die Tatsache, dass er, als er die Sach- 
lage uberschaute, sich zu beherrschen wusste, sein ganzes Verhalten bei 
diesem kunstlichen Erregungsznstande und die Art und Weise, wie er 
nachher daruber sprach, beweisen am besten, dass dieser Zustand nicht 
emst genommen zu werden brauchte. 

Beim zweiten Male hat er entschieden dazugelernt. Yorher waren 
bei ihm nie nervbse Ersclieinungon, geschweige denn Krampfe aufge- 
treten. Jetzt befallt ihn der Anfall glucklich Abends in der Dunkel- 
heit, nachdem er am Ende seines Dammerzustandes ausgerechnet an 
der Tfire eines ihm unbekannten Lazarettes gelandet und arztliche Be- 
obachtung nicht zu erwarten ist. Sonst kommt in den Lazaretten nie 
ein Anfall zur Beobachtung, so dass die Diagnose, die zuerst auf Grand 
seiner Angaben auf Epilepsie gestellt worden war, nur auf Grand des 
korperlichen Befundes zur Hysterie uberging. -Nachdem er einen Ver- 
wirrtbeitszustand durchgemacht hat, der zum mindesten sehr anfechtbar 
erscheinen muss, schSlt sich eine Amnesie heraus, die sich zunachst 
anf 2 Jabre erstrecken soli und schliesslich auf die letzten Monate zu- 
sammenschrumpft. Durch das sonstige Verhalten El.’s wurde sie gerade 
nicht glaubhafter und wenn man dem langen D&mmerzustand nicht die 
Echtheit zuerkennen wollte, so war das sicherlich keine zu weitgehende 
Skepsis. Seitdem ist er auch, bis jetzt wenigstens, nicht mehr straf- 
bar geworden und scheint vorl&ufig seinen Kr&mpfen und D&mmerzu* 
standen Yalet gesagt zu haben. 

Die bier angefuhrten Falle stellen nur einen geringen Teil der hier 
beobachteten angeblichen Dammerzustande dar, denen der Glaube ver- 
sagt werden musste. 

Es liegt in der Natur dieser Zustande, dass man sich nicht immer- 
zu einer sicheren Entscheidung durchringen kann. Es ist selbstverst&nd- 
lich, dass man hier oft dem Grundsatze des in dubio pro reo seine Be- 
deutung znkommen lassen muss. 

Die Yorfiihrung anderer Psychoseri erfolgte mal seltener und in 
den vereinzelten Fallen, die hier in Betracht kommen, handelte es sich 
meist am wenig scbarf ausgepragte Krankheitsbilder. Glucklicherweise 
ist die Kenntnis der psychiscben Krankheiten noch nicht so sehr ins 
Yolk gedrungen, dass das Repertoire der Simulanten eine zu stbrende 
VieUeitigkeit erlangen kann. 

Arehiv f. Pejchiatrie. Bd. 60. Heft Q/Z. 44 


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Dr. Monkemoller, 

Fall 18 . Ulan Heinrich Ko., Schreiner. Lernte auf der Schnle gut. 
War immer leicht empfindlich. Potus, Lues, Trauma negiert. Wahrend seiner 
aktiven Dienstzeit 1910 erkrankte er haufig an alien mdglichen korperlichen 
Krankheiten. Fiihrung sehr schlecht. Als er sich fur einenTag von derTruppe 
entfernt hatte, wurde er auf seinen Geisteszustand beobachtet. Er wurde zwar 
fur zurechnungsfahig, spater aber fiir dienstunfahig erklart. Nach Ansicbt der 
Polizei war er allgemein dafiir bekannt, dass er sich systematisch urn 
die Arbeit herumdriicke. ' 

Mit Kriegsausbruch trat er kriegsfreiwillig ein. September 1915 wegen 
angeblicher Bewusstseinsstorung in La. Negativer Befund. 

Januar 1916 schoss er sich eineKugel in dieBrust, nachdem er sich ohne 
Urlaub entfernt hatte, weil er angeblich mit Vorgesetzten Reibereien gehabt 
hatte. Wahrend der langen Lazarettbehandlung war er korperlich binfallig, 
nervos, unzufrieden. 

13. 11. 1910 entfernte er sioh von der Truppe, hielt sich zeitweise bei 
einer Freundin seiner Frau auf, mit der er ein Vcrhaltnis hatte, schrieb von 
Flensburg und Frankfurt mebrere Karten an seine Frau und wurde 
schliesslich in Frankfurt festgestellt, wo er sich bei seiner Mutter aufhielt. 
Sohliesslich telegrapbierte er seinen Angehorigen aus Wurzburg, er werde 
in der naohsten Nacht in Hannover eintreffen. Hier verhattet. 

Er erklarte, sich entfernt zu haben, weil er nicht ins Feld gekommen sei. 

Anstaltsbeobaohtung. Sehr redselig, mischt sich in alia Gesprache 
und spielt den erfahrenen Weltmann. Keine Intelligenzstorung. Ausgezeichnetes 
Gedachtnis. 

Seine Entfernung entschuldigte er mit seiner Nervenkrankheit. Ein 
Sergeant habe ihn so scbikaniert, dass er denSelbstmordversuch gemacht habe. 
Am Tage vor seiner Entfernung habe er seinen Dienst getan, ohne dass etwas 
Besonderes vorgekommen sei. Am anderen Morgen habe er sich plbtzlich im 
Zuge nach Fr. angefunden. 

Die Einzelheiten der folgenden Zeit gab er ganz genau an. Er habe 
immer versucht, an die Front zu kommen, es sei ihm aber nicht gelungen. 
Daranf habe er sich selbst gestellt. 

Das Gutachten billigte ihm eine starke Nervenschwache zu. Bei der Ent¬ 
fernung von der Truppe konne er sich hochstens im Anfange in einem Dammer- 
zustande befunden haben. 

Verurteilung zu 7 Monaten Gefangnis. Aus dem Gefangnisse wurde er 
nach Bochum in ein Lazarett gesohickt, in dem er 5 Monate arbeitete. Dann 
wieder zu seiner Ersatzeskadron. 

Schliesslich entfernte er sich von derTruppe, nachdem er zusammen mit 
einem Sergeanten Unterschlagungen begangen hatte. Bei der Verhaftung fand 
man viele Urlaubsscheine, die er von einem Unteroffizier abgestempelt gekauft 
haben wollte. Er selbst hatte die Unterschrift des Rittmeisters vollzogen und 
eine ganze Menge verschiedener Daten ausgefullt, urn die entspreohenden Brot- 
marken bekommen zu konnen. Er gab an, er habe zu seiner Familie gewolli. 
la Gemeinschaft mit dem Sergeanten beging er weiterhin mehrere Betriigereien. 


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Ende September entfernte er sich von neuem mit geHUschtem Urlaubs- 
sohein. Ausserdem hatte er sicb Sergeantentressen aufgenaht. In Hildes- 
heim wobnte er 5 Tage in einem Hotel. Mit einem Madchen, mit dem er sich 
verlobte, fubr er zu deren Eltern. Dort blieb er 14Tage und beschaftigte sich 
mit Feldarbeiten. Spater trieb er sich in Braunschweig mehrere Wochen 
herum and beging mehrere Diebstahle. Schliesslich wurde erin einem Backer¬ 
laden verbaftet, als er gerade einen Diebstahl begangen hatte. 

In der Untersuchungshaft schrieb er an seine „Braut“ einen geordneten 
Brief, in dem er mitteilte, er sei in (Jntersuchung wegen unerlaubterEntfernnng 
und Diebstahls. Man habe ihn zu allerhand Schlechtigkeiten benutzt und 
nachher im Stiche gelassen. 

Jetzt erschienen ihm die grauenhaftesten Bilder. „Weisst du was davon 
oder hast du mal gelesen, ich hatte jemand umgebraoht? Mir kommt es wirk- 
lich bald so vor. Jede Nacht erscheint mir eine Wirtschaft mit einem toton 
Manne, dem Wirte. w 

Da in der letzten Zeit einWirt ermordet worden war, wurde er daraufhin 
vernommen. Er habe in der Wirtschaft verkehrt. Es sei leicht moglich, dass 
er am Wirt einen Mord begangen habe. 

Zunachst beschrieb er mit yerbluffender Genauigkeit eine ganze Menge 
von Schmuckgegenstanden, die bei dem Raubmorde gestohlen worden waren. 
Er habe diese Gegenstande wahrend seines Aufenthaltes in Br. versetzt. Die 
Tat habe er zusammen mit zwei Leuten veriibt, die er genau beschrieb. Er 
konne nicht abstreiten, dass er den Wirt ermordet habe, es aber auch nioht 
zugeben. Da er Kopfschmerzen hatte, gaben ihm die Spiessgesellen mehrere 
Kognaks und versch each ten duroh hypnotischeStriche dieSchmerzen. 
Was dann passiert sei, konne er nicht genau sagen. Als er wieder zu sich ge- 
kommen sei, sei er mit seinen beiden Gefahrten in einem Kaffee gewesen. Sie 
hatten ihm 600M. gegeben und gesagt, dass er sioh das redlich verdient habe. 
Er habe sich gewundert, dass seine Hande so rein gewaschen waren und einen 
so scharfen Moschusgeruch hatten. Spater schilderte er dann noch, wie er 
einen Wortwechsel mit dem Wirte gehabt habe. Dann konne er sich nur ent- 
sinnen, dass er den Wirt habe im Blute liegen sehen. 

Spater sohob er die Schuld auf eine Witwe, mit der er schlecht stand. 
Er habe den Wirt erst durch einen provozierten Streit in ein Handgemenge 
verwiokelt und dann erstochen. 

Als ihm die Mordtaten der letzten Zeit vorgehalten werden, gestand er 
auch noch einen Mord an einer Verkauferin ein und beschrieb auch diesen mit 
alien Einzelheiten. Auch habe er vor 9 Wochen noch^ ein Madchen ermordet, 
mit dem er verkehrt habe. Schliesslich gab er noch ein Madchen zu, das er 
vor einigen Jahren in Br. totgeschlagen. Vorher habe er mit ihr geschlechtlich 
verkehrt und als sie gesagt habe, dass sie schwanger sei, habe er sie einfach 
erwiirgt. Ausserdem konnten in Flandern noch zwei weitereFalle passiert sein, 
in denen er Madchen ermordet habe. 

In einer Reihe voii weiteren Vernehmungen iiber diese Mordtaten machte 
er imxner genaue Angaben. Dabei beteuerte er, es handele sich bei ihm nicht 


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um Einbildung. Nach den ausserordentlich umfangreichen Nachforschungen 
war er an diesen Morden gar nicht beteiligt. 

Mittlerweiie beging Ko. am 14. 12. 1917 einen Selbstmordyersuch durch 
Erhangen. 

Nach abgeschlossenerBeobaohtung, die sich auch darauf erstrecken sollte, 
ob er simnliere und durch die Verlegung nach La. eine Ent- 
weichung ermoglichen wollte, gab der Untersuchungsgefangene, der mit 
Ko. zusamtnen geschlafen hatte, an, dass dieser nach seiner festen Ueber- 
zengnng simuliere. 

Er hatte verschiedene Male gesagt, er werde schon dafiir sorgen, 
dass er nach La. komme und wenn er jetzt zum 3. Male dort beobachtet 
werde, sei es ganz sicher, dass er auf Grund des § 51, den er wortlich an- 
fiihrte, freigesprochen und was die Hauptsache sei, ganz vom Militar entlassen 
werde. Der Selbstmordyersuch sei offenbar simuliert Worden. Am Tage nach 
dem Selbstmorde hatte Ko. ausfiihrlich besprochen, wie man es am besten an- 
fange, um nach La. zu kommen. Dabei war besonders vonSelbstmordversuchen 
die Rede gewesen, die das sicherste Mittel seien. 

In der darauf folgenden Nacht stieg Ko. au§_ dem Bette, befestigte eine 
Verbandbinde am Heizrohr, legte sie um den Hals und setzte sich auf einen 
Schemel. „Darauf fing er an, mit dem Schemel hin- und herzureiben, offenbar 
um mich aus dem Schlaf zu wecken, damit ich dann zur Hand sein sollte. u 
Schliesslich warf er den Schemel mit lautem Gepolter in die Zelle, indem er 
sich an die Schlinge hing und die Zunge herausstreckte. „Dabei kniete er aber 
auf den Knien und hielt sich sogar fest. u Er wurde von den anderen Ge- 
fangenen sofort losgemacht. 

Anstaltsbeobachtung. Vor seiner Ueberfiihrung steckte er dem 
Transporteur noch einen Brief an seine Braut zu. In diesem Briefe schrieb er 
ganz geordnet, gab ihr gute Ratschlage und bat, ihn in La. zu besuchen. 
Dabei besohrieb er diese Besuchsgelegenheit auf das Genaueste. Irgend eine 
Andeutung fur eine Depression oder Wahnideen ist in diesem Briefe nicht vor- 
handen. 

Anstaltsbeobachtung. Bei der Aufnahme ruhig und orientiert, nicht 
gehemmt, nicht niedergeschlagen. Keine Strangulationsmarke. Auch wahrend 
der spaterenBeobachtung ruhiger und gleichmassigerStimmung, meist ziemlich 
ernst, aber ohne jede Angst oder Niedergeschlagenheit. Er schlief ganz gut. 
Manchmal lag er waoh, war aber ganz ruhig, nicht angstlich, traurig, schreck- 
haft, kurzum er liess in nichts erkennen, dass er unter dem Einflusse von 
Sinnestauschungen gestanden hatte: er fiihrte keine Selbstgesprache, sab nicht 
in die Eoken, sprach mit derNachtwache ohne jede Spur vonAffekt und machte 
keine abwehrenden Bewegungen. Manchmal erzahlte er in ganz gleichgultigea 
Tone, der Geist sei dageweseh, schlief aber hinterher ganz ruhig ein. Sobald 
er in das Zimmer zu den iibrigen Kranken kam, wurde er sofort sehr guter 
Stimmung und unterhalt sich lebhaft. 

In den Unterhaltungen gab er prompt Auskunft, ohne im geringsten ge¬ 
hemmt oder von seinen Gedanken in Anspruch genommen zu sein. Er fasste 


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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw. 


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glatt auf, sein Gedachtnis war geradezu glanzend, seine Urteilsfahigkeit tadel- 
los. Stimmung im allgemeinen gehalten. Nur als er auf seine angeblichen 
Mordtaten kam, wurde er sehr aufgekratzt. 

Schon bei der ersten Entweichung habe er unter dem Einflusse der 
qualendsten Erscheinungen gestanden, er habe es nur Keinem gesagt. Beim 
zweiten Male sei es so schlimm geworden, dass er sioh gar keinen Rat gewusst 
habe, er sei geradezu yerfolgt worden. 

Nachdem er mit dem Sergeanten die gestohlenen Gegenstande versetzt 
habe, habe er stark gezecht. In der Nacht darauf habe es in ihm so herum- 
gemacht wegen des Mordes. Da seien ihm der Wirt H. und die Warterin G. 
im Traum erschienen. Zuerst habe er es nur fur einen Traum gehalten, es sei 
aber immer sohlimmer geworden. Von den beiden Mordtaten habe er nichts In 
der Zeitung gelesen, da sei er gerade in Bochum gewesen. Wenn er zuletzt 
ruhig gesessen habe, seien ihm die Bilder erschienen, gesprochen hatten 
sie nichts. 

Schliesslioh habe er sich gesagt: „Du bist ein Morder, du hast es getan, 
auch bist du schon in La. gewesen.“ Da er ja doch unter alien Umstanden 
geschnappt werden wurde, habe er beschlossen, das Leben noch einmal 
ordentlich zu geniessen. Deshalb habe er sich auch die Sergeanten- 
uniform angezogen, damit er bei den Weibern einen tieferen Eindruck machen 
kdnne. Die Mordgedanken hatten ihn nie verlassen und besonders in der Haft 
•habe er besonders gut dariiber nachdenken miissen. Da habe er gedacht. er 
mfisse sein Gewissen erleichtern und an eine Freundin geschrieben. Er habe 
gewusst, dass die Briefe nachgesehen wiirden und da habe der Cnter- 
suchungsfiihrer es erfahren miissen. Der habe ihm gesagt, das Leugnen 
helfe ihm doch nichts, er solle nur alles eingestehen. Wie er dazu 
gekommen sei, die Sache in alien Einzelheiten zu erzahlen, kdnne er nicht 
sagen. Er sei immer gefragt worden und bei den meisten Fragen habe er nur 
ja oder nein zu sagen gebraucht. Im fibrigen aber habe er sich dieEinzelheiten 
alia ausgedacht und das habe ihm immer mehrSpass gemacht. Er habe schon 
immer ein ausgezeiohnetes Gedachtnis und eine sehr starke Fhantasie gehabt 
und seine Mutter habe ihm prophezeit, er werde noch einmal an der Phantasie 
zugrunde gehen. So habe er die Morde erzahlt, die er sich habe zuschreiben 
mussen. Wie er dazu gekommen sei, spater noch die anderen Mordtaten anzu- 
geben, konne er nicht sagen. Deren Geister habe er nicht gesehen. Der Unter- 
suchungsfuhrer habe immer nur gefragt und sei so ausserordentlioh erfreut ge¬ 
wesen fiber das Ergebnis der Untersuchung und er habe dann nicht den Spass 
verderben wollen. Schliesslich habe man nachgewiesen, dass er die Taten 
nicht begangen haben kdnne. Trotzdem musse etwas an der Sache sein, denn 
die beiden Geister erschienen noch jeden Abend an seinem Bette und machten 
ihm Angst. Wenn er jetzt noch einmal in dasGefangnis kommen werde, werde 
er eine furchtbare Gewalttat begehen. 

In der Hauptverhandlung stellte sich heraus (nachdem er wieder mehrere 
Monate in Untersuchungshaft gewesen war, ohne dass die geringsten Zeichen 
einer Haftpsychose aufgetreten waren), dass er als Rentenempfanger fiberhaupt 


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Dr. Monkemoller, 


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nicht mebr zum Militardienste verpflichtet gewesen und infolgedessen auch 
nicht imstande gewesen war, sich seiner Dienstpflicbt zu entziehen. Das Ver- 
fahren wurde daher vorlaufig eingestellt. 

In der Verbandlung War Ko. sehr aufgeraumt, kam mit seinen Geistern 
nicht mehr herans und wollte auch von den Selbstbezichtigungon nichts mehr 
wissen. 

Wenngleich Ko. wieder ein ausgesprochener Psychopath war, dem 
eine recht betriichtlicbe Neurasthenie zugute gehalten werden musste 
und durch einen ernstlichen Selbstmordversuch dargetan hatte, dass mit 
seinen Affektentladungen nicht zu spassen war, verfugte er fiber eine 
rdcht erhebliche Intelligenz und musste als ein gerisseuer Geselle be- 
zeichnet werden, dem es zuzutrauen war, dass er mit seiner Mitwelt 
gelegeutlich gerne etwas Theater spielte. 

So hatte er schon durch den ersten „Dammerzusland u , in dem er 
ohne jedes Vorbild in seiner Vergangenheit gleich fur mehrere Monate 
seine Erinerung verleugnete, gezeigt, dass man seine Angaben nur mit 
grosser Vorsicht aufnehmen durfte. Der spfitere Selbstentleibungsver- 
such konnte nur als Selbstmordattrappe bezeichnet werden. 

Gewiss mfissen die Aussagen von Mitgefangenen ja immer nur mit 
grosser Vorsicht bewertet werden. Man ist bei ihneu nie sicher, dass 
sie nicht aus egoistischen Grfinden ihre Mitgefangenen denunzieren l ). 
Aber dieser Selbstmordversuch war doch nur das Schlussglied in einer 
Kette von Bemfihungen des Angeklagten, ihm wieder die Beobachtung 
in der Irrenanstalt zu erwirken, und eine Reihe von ahnlichen Selbst- 
mordversuchen bei Einlieferungen aus dem Militargeffingnis in der nftch- 
sten Zeit bewies, dass die Bedeutung des Suizids den dortigen Inter- 
essenten kein Geheimnis geblieben war. 

Wichtiger waren die Selbstbezicbtigungen des Mannes, die ihm zu 
guter Letzt denn auch in den Hafen der Irrenanstalt einlaufen Jiesseu. 
Auch sie waren sicherlich nicht ganz auf normalem Boden erwachsen. 
In erster Linie entspringen sie seinem Bestreben, sich interessant zu 
machen, — wusste er doch genau, dass ihm nichts Ernstliches geschehen 
konnte. Dazu kam seine Freude, den Untersuchungsrichter, mit dem 
ihn keine schwfirmerische Zuneigung verband, so restlos aufsitzen zu 
sehen. Vor allem aber bezweckten die in seinem Schreiben so osten- 
tativ geHusserten Sinnest&uschungen, ihm wieder die niihere Beobachtung 
seines Geisteszustandes zu erwirken. Er erreichte es denn auch zu guter 
Letzt, dass man seine Selbstbezichtigungen ais Teilerscheinung eines 


1) Klein, Ueber psychische Storungen in der Untersuchungshaft. Zeit- 
schriftf. Medizinalbeamte. 1917. Nr. 13 und 14. 


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Die Simulation psychischer Krankbeitszustande usw. 


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melancbolischen Symptomenkomplexes auffasste, dem er sich auch in 
seinen Schilderungeo zu nahern versuchte. 

Sein ganzes Verhalten zur Zeit der Straftaten bekundete auf das 
uuzweideutigste, dass bei ihm weder von Angst, noch von Depression 
erustlich die Rede gewesen sein konnte, und auch zur Zeit der Beob- 
achtung lag fur das Vorhandensein von Sinnest&uschungen, und zwar 
solcher Art, dass sie sein Handeln eingreifend hatten beeinflussen sollen, 
nicht der geringste Anhaltspunkt vor. Als sich ein anderer Ausweg 
zu 5ffnen schien, der ihn aus der Strafe und dem Milit&rdienste her- 
ausfuhren konnte, verzichtete er sofort auf die ganze Krankheit und 
Hess sich auch die Haft nicht im geringsten mehr anfechten. 

Pall 19 . Pionier Theodor Fe., Arbeiter, 23 Jahre. Dient seit dem 
15. 6. 1915, nahm an Schlachten im Westen und Osten teil. Keine Lazarett- 
behandlung. Puhrung selir schlecht, bestraft. 

Wahrend er fruher in psychischer Beziehung nicht aufgefallen war, wurde 
er 1917 der Sanitatskompagnie in 0. zur Beobachtung uberwiesen. Er gab 
jetzt auf alle Fragen die Antwort: „ weiss ich nicht w , erinnerte sich angeblich 
an kurz vorhergegangene Vorfalle nicht und bekam auf die Aufforderung des 
Feldwebels, stramme Haltung anzunehmen, einen Wutanfall, an den er sich 
nach 5 Minuten nicht mehr entsinnen wollte. Schliesslioh kam er 
vom Urlaub mit 2 Tagen Verspatung zuriiok. 

Seine Mutter sei nervos, ein Bruder geistesschwach. Auf der Schnle habe 
er schlecht gelernt. Aus seiner Vorgeschichte gab er eine Menge von Daten 
an, die fur seine geistige Minderwertigkeit sprechen sollten. 

Er erschien stumpf und interesselos und musste oft energisch angeregt 
werden. Oertlich und zeitlich wollte er vollkommen unorientiert sein. Bei der 
Intelligenzprufung beantwortete er alle, auch die einfachsten Fragen, mit: 
„Das weiss ich nicht 4 *. 

Diagnose: Imbezillitat. Auf die Nervenstation verlegt, gab er seine mili- 
tarische Vorgeschichte ganz genau an. Als Minenwerfer habe er 5 Rohr- 
krepierer mitgemacht. Seitdem konne er den Dienst nicht vertragen und 
habe Angst vor dem Abschuss. Bei der Einlieferung in das Lazarett 
0. sei er besinnungslos gewesen. Er leide jetzt an Kopfschmerzen und 
Schwindel. Wie in 0. war auch hier der korperliohe Befund vollkommen 
negativ. Bei der Intelligenzprufung gab er diesmal rechtr gute 
Antworten. Er klagte, dass er mehrere Tage so angstlich sei. Die ihm ge- 
wahrte Freiheit benutzte er nur mit gleiohgesinnten Kameraden dazu, um in 
Wirtschaften Krach zu sohlagen. Auf Befragen wollte er von diesen 
Vorgangen nie auch nur das Geringste wissen. Auf die geschlossene 
Abteilung verlegt, benahm er sich sofort korrekt und ordentlich. 
lrgendwelche psychotische Erscheinungen wurden nicht beobachtet Er spielte 
Karlen, las Zeitungen und unterhielt sich lebhaft. 

Die Diagnose „Imbezillitat u konnte nach zweimonatiger Beobachtung 
nicht gehalten werden. Wahrscheinlich handele es sich urn eine Hysterie, 


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Dr. Monkemoller, 

im Anschluss an die seelischen Ersohdtternngen anlasslich der Rohrkre- 
pierer. Yon irgend einer Stoning des korperliohen odor geistigen Gesund- 
heitszustandes war bei der Kompagnie nicht das Geringste bemerkt worden. 
Eine Dienstbeschadigung sei ausgeschlossen, auch die 5 Rohrkrepierer 
k&men nicht in Betracht, da Fe. solche gar nicht mitgemacht habe. Fe. sei 
eiu sfchr kraftigerund energischer, aber vollkommen verstockter Bursche, 
der lediglioh unberechtigte Rentenanspruche heransschlagen 
wolle. Auf der Nervenstation fiel Fe. in keiner Weiseauf und machte bei der 
Intelligenzprufung ausgezeichnete Angaben. Auch hier wurde eine Hysterie 
massigen Grades angenommen. 

Eine Woche nach der Entlassung von dem Lazarett entfernte er sich von 
der Truppe. Im Eisenbahnzuge festgehalten, gab er an, er sei von seinem Er- 
satzteil nach der Westfront geschiokt und von da zuruckbeordert worden. Spater 
vervollstandigte er seine Aussage mit vielen Einzelheiten. Tatsachlich hatte 
er sich bei seiner alten Kompagnie gestellt. Als ihm gesagt wurde, er sei un- 
berechtigt hergekommen, nahm er eine drohendeHaltung an, darauf verschwand 
er. In der Haft bedrohte er einmal den Gefangenenunteroffizier. 

Der hinzugerufene Arzt stellte keine Krankheitserscheinungen fest. 

Als er an demselben Tage in eine andere Ztlle verlegt werden sollte, 
erklarte er, er werde Gewalttatigkeiten bzw. Selbstmord begehen, 
da jede Freiheitsbeschrankung in Einzelhaft ihn in einen so aufgeregten Zu- 
stand versetzte, dass er nicht mehr Herr seiner selbst sei. 

Bald darauf wurde er zu einer Minenwerferabteilung versetzt. Hier ver- 
weigerte er bald seinem Feldwebel den Gehorsam und musste nach einem 
Handgomenge in die Zelle gelegt werden. 

Bei seiner Yernehmung wollte er die Richtigkeit seiner Stammrolle und 
seines Strafverzeichnisses nicht anerkennen, da er sich nicht darauf besinnen 
konne. Auoh von der Straftat wollte er nichts wissen. Er habe monatelang 
wegen seines Nervenleidens im Lazarett gelegen. 

Darauf machte er in der Zelle einen Selbstmordversuoh durch Erhangen 
mit einer ganz dunnen Schnur, nachdem er kurz vorher in der Zelle ungeheuren 
Larm gemacht hatte. Das Festungslazarett bezeichnete ihn als Simulanten. 
Ein psychiatrischer Gutachter fuhrte die Reizbarkeit auf eine Hysterie massigen 
Grades zuruck. Der Wutanfall und der Yersuch, sich zu erhangen, seien die 
Reaktion eines Hysterischen, der unbedingt der Strafe entgehen wolle. 
Der Selbstmordversuoh sei nicht ernstlich gemeint gewesen. Fur den Angriff 
auf den Feldwebel sei ein hysterischer Dammerzustand nicht anzunehmen. 
„Es liegt eine krankhaft gesteigerte Reaktion vor, so dass er milder beurteilt 
werden mfisse, dooh nicht der § 51 vor. w 

Am 12. April 1918 entfernte er sich wieder von der Truppe. Am 15. Juni 
d. Js. wurde er in Mannheim verhaftet, nachdem er langere Zeit bei seinen 
Angehorigen gewesen war und in einer Fabrik gearbeitet hatte. Er nahm an 
mehreren Einbriiohen teil. Verhaftet erzahlte er sofort ungefragt, er werde seit 
langerer Zeit von einem Geiste heimgesucht, der genau so gross sei wie er 
und genau so aussehe. Dieser sage ihm jedesmal etwas, was er zu tun habe. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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So babe er ihm auoh erklart, dass er dem Tode verfallen sei, wenn er in Un. 
bleibe. Er habe ihm befohlen, fortzugehen und nicbt wieder zuruckzukehren. 
So sei er denn nacb seiner Heimat gefahren und habe sich dort unangemeldet 
aufgehalten, indem er oft seine Wohnung gewechselt und burgerliche Kleidung 
getragen habe. Auch habe er in einer Holzfabrik gearbeitet. Von den Ein- 
brdchen sei ihm nichts bekannt. 

Anstaltsbeobachtung. Von erblicher Belastung wollte erjetzt nichts 
wissen. Ebenso wollte er noch nie Krampfe durchgemacht haben. 
In der Schule sei es mit dem Lernen ganz leidlich gegangen. Ebenso wollte 
er friiher nie an Kopfschmerzen gelitten haben und wusste auch von den son- 
stigen nervosen Beschwerden nichts zu berichten. Nur einmal sei in seiner 
Nahe eine Granate krepiert. 

Er blieb trotz Verhaltens entschieden dabei, dass er nur einmal von der 
Truppe fortgegangen sei. 

fllch muss jetzt als weg, wenn ich nicht wegmache, bin ich dem Tode ver¬ 
fallen. Jede Nacht kommt ein Geist, der sagt mir alles, was ich zu machen 
habe“. Als er den Geist beschreiben soil, sucht er langere Zeit und sagt dann 
stockend: „Der sieht aus wie ich, der ist so wie ich. Seine Stimme ist gerade 
so tief wie meine und klingt auch gerade so. Der Geist kommt immer mit 
einem Uesser in der Hand und hat mich auch einmal wirklich am Halse gekriegt 
und gewurgt zu Hause, so dass ich aus dem Bette gestiegen bin. u Seine 
Mutter sei gleich gekommen und habe gesehen, dass er am Halse 
gewurgt sei. Auch in der vergangenen Nacht sei er dagewesen, habe ihn 
fortwahrend in seinem Bette geschiittelt und gerufen: „Du musst aufstehen u . 
Er sei auch aufgestanden 14 . (Tatsachlich hatte er die ganze Nacht duroh- 
geschlafen.) Er sei also von U. mit der Bahn fortgefahren, Geld habe er 
gar keins bei sich gehabt, auch keine Fahrkarte. In Hannover sei er umgestie- 
gen, in Lehrte habe er zufallig einen Mann aus seinem Orte getroffen, und der 
habe ihn mit in seine Heimat genommen. Als nach einigen Tagen das Gesprach 
fortgesetzt wird, hat er ganz vergessen, dass er von diesem Manne erzahlt 
habe. Als er nach dessen Namen gefragt wird, ist er sehr verlegen und kann 
ihn nicht nennen. Er kenne ihn aber sehr gut und habe noch mit ihm zu- 
sammen in Mannheim verkehrt. Bezahlt habe der fur ihn niohts, das sei ja auch 
gar nicht notig gewesen, er habe ja selbst Geld gehabt und auch eine Fahrkarte. 
Ein paar Mai sei er aus dem Zuge aus und wieder eingestiegen, erst in Han¬ 
nover, dann ein Stuck weiter so nach Karlsruhe und dann habe der Schnellzug 
in Versheim gehalten und er sei weiter nach Mannheim gefahren. Seine dortigen 
Wohnungen gibt er ricbtig an, desgleichen seine Arbeitsgelegenheiten und 
samtliche Komplizen. Taglioh habe er 7 M. verdient. Er habe Zivil getragen, 
das er sich von der Kompagnie habe nach Hause schicken lassen. 

Zur Truppe habe er nicht zuriickkehren wollen, dann ware er ja dem 
Tode verfallen gewpsen. Denn wenn er in der Kompagnie sei, stehe der Mann 
mit dem Messer vor ihm und sage: n Theodor, abfahren oder tot! u Er muss 
sehr lange nachdenken, bis er angeben kann, wie der Mann spricht. Von den 
Diebstahlen wollte er nicht das Mindeste wissen. 


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Trotz nachdriicklichen Vorhaltens bleibt er dabei, dass er mit einem 
Feldwebel nie auch nur das geringste za tan gehabt habe. Nie sei eine An- 
klage gegen ihn erhoben worden, geschweige denn, <lass er jemals iiber diese 
Sache vernommen worden ware. 

Abgosehen von einem leichten Lidflattern war der korperliche Befund 
vollkommen negativ. Bei Augenfussschluss fallt er sofort steil naoh ruckwarts. 
Er hatte sich vorsichtig so gestellt, dass gerade hinter ihm ein Sessel stand, 
in den er mit einem leichten Wehlaut hinsank. Mit den anderen Kranken 
unterhielt er sich zunachst wenig, dem Personal gegendber war er vorsichtig 
in seinen Aeusserungen. 

Der Schlaf war vollkommen ungestort. Nur an den beiden Tagen, 
an denen bei den Untersuohungen von dem schwarzen Manne die Rede war, 
sagte er der Nachtwache je einmal, eben sei der Mann wieder dagewesen. Das 
brachte er aber vollkommen affektlos ohne jede Spur von Angst vor, und 
schlief, naohdem er diese Mitteilang abgegeben hatte, sofort wieder ein. 

Noch weniger liess er bei Tage erkennen, dass er unter dem Einflusse 
von Sinnestauschungen gestanden hatte. Nie war er angstlidh, nie erregt, nie 
verstimmt. Anfallsa*tige Storungen waren bei ihm nicht nachzuweisen. Bei 
den Untersuchangen sass er mit ausserst einfaltiger Miene da und antwortete 
stotternd im Tone und der Sprechweise eines kleinen Kindes. Bei alien Fragen 
gab er sich zuerst den Anschein, als habe er nicht verstanden. Dabei liess 
sich aber immer wieder feststellen, dass er genau wusste, am was sich handelte. 
Deber seine Vorgeschichte wie uber alles, was er wissen wollte, wusste er 
genau Bescheid. 

Nachdem bei ihm auf Grund seines Verhaltens, das mit seiner Vor¬ 
geschichte und seinem sonstigen Benehmen im auffallendsten Gegen- 
satze stand, eine Imbezillit&t angenommen worden war, die aber sehr 
bald wieder fallen gelassen werden muss, wird ihm auf Grund seiner 
Angaben, die sich in keiner Weise mit seinen sp&teren Aussagen decken, 
eine Hysterie zuerkanut. Man glaubte sie ihm gbnnen zu mussen, weil 
er fruher an Anf&llen gelitten haben wollte, die er sp&ter in der Ver- 
senkung verschwinden liess und von denen nie das Geringste beobacbtet 
worden war. Auch hatte er sich eine Aetiologie dafur geschaffen, die 
er sp&ter wieder ganz fallen liess und von denen die Truppe nichts 
wusste. Obgleich auch der objektive Befund vollkommeu negativ war, 
erkaunte man ihm auch spater diese Krankheit zu, wenn man auch 
nur einen leichten Grad annahm. Wenn man ihn als Psychopathen 
bezeichnen wollte, kam man damit der Wirklichkeit sicher sehr nahe. 

Auf Grund seiner Hysterie leistet er sich eine Amnesie fur seine 
Straftaten, die er gelegentlich zuriicknimmt und nach Bedarf auch auf 
die sp&teren Yernehmungen und alles, was ihm unbequem ist, ausdehnt. 
Selbst wenn man sie ihm geglaubt hatte, vor seinen Halluzinationen 
durfte die Skepsis nicht Halt machen. 


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Die Simulation psyohischer Krankbeitszustande usw. 691 

Nachdem er bis dahin nie etwas davon ge&ussert hatte, fuhrt er 
selbst sie sofort ins Gefecht, als eine neue Vernehmung uber ihn ergeht, 
nachdem sie ihn wfihrend seiner Entferuung von der Truppe nicht davon 
abgehalten hatte, ordentlich zu arbeiten und seW Angst in zahlreiche 
Einbrfiche ausstromen zu lassen. Dabei lfisst er sich selbst erscheinen, 
hurt seine eigene Stimme und schildert das Phantasma auch sonst in 
wenig glaubhafter Weise, iudem er sich immer wieder in neue Wider- 
spruche verwickelt. Auch sein sonstiges Yerhalten lasst keinen Ruck- 
schluss darauf zu, dass er tatsachlich im Banne von Sinnest&uschuugen 
gestanden h&tte. Was er ausgerechnet am Tage, an dem bei der Unter- 
suchung davon die Rede ist, vorffihrt, ist so farblos und unecht, dass 
der Verdacht zur Gewissheit werden musste, dass er das, was er sonst 
schon an Vortftuschung geleistet hatte, auch auf dieses Gebiet fiber- 
tragen wollte. 

Was die frfihere Begutachtung von seinem Selbstmordversuche 
gesagt hatte, erschien nach seinem spfiteren Verhalten durchaus glaub- 
haft. Auch die Militfirgerichte sehen in der Regel in den Selbst- 
mordversuchen der Angeklagten ein Symptom, das fur die Ernst- 
haftigkeit der vorgefuhrten Krankheit spreche. Nuu soil ja naturlich 
nicht geleugnet werden, dass sie nicht selten aus krankhaften Beweg- 
grfinden hervorgehen nnd als schwerwiegende Krankheitssymptome 
gewertet werden mfissen. Aber es darf auch nicht vergessen werden, 
dass sie aus normalen Beweggrunden entspringen kfinnen. Sie kfinnen 
in der Furcht vor der Strafe ihren Drsprung haben, bei ethisch hfiher 
stehenden Personen in der Erkenutnis, was sie durch ihren Sundenfall 
/verwirkt haben und was ihnen bevorsteht. Nicht minder aber ist zu 
beachten, dass Personen, die darauf ausgehen, ihre geistige Unzul&ng- 
lichkeit zu erweisen und ihrem sonstigen Rustzeug nicht mehr trauen, 
hierdurch ihrer Krankheit besonders kraftige Licbter aufsetzen wollen. 
Dann wird der Selbstmordversuch zur Selbstmordattrappe. Nach unseren 
Erfahrungen haben sich diese Versuche fraglos geh&uft. Wie diese 
Selbstmordversuche durch psycbische Infektion ausgelflst werden kOnnen. 
so wirkt auch ihre Vorspiegelung in den Milit&ranstalten manchmal 
geradezu ansteckend. 

Sehr oft werden gewichtige Zweifel durch das Affektierte und 
Kunstliche erweckt, das meist diesen Zustanden eigen ist. Meist werden 
die nStigen Vorsichtsmassregeln getroffen, uin zu verhuteu, dass die 
Komftdie bis zum letzten Eude dnrchgefuhrt wird und wenn sie nicht 
gerade dann gemacht werden, wenn Warter, Aerzte oder Mitgefangene 
in n&chster Nahe sind oder ihr Erscheinen in allernkchster Zeit zu 
erwarten ist, so wird durch den n5tigen Larm das Erscheinen nach 


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Dr. Monkemoller, 


Mdglichkeit beschleunigt. Andere Gefangene werden darauf aufmerksam 
gemacht, dass irgend etwas zu erwarten ist. Oder man l&sst in Briefen, 
die an Angehorige gehen sollen, durchfliessen, was im Schilde gefuhrt 
wird. Die Art der Ausffihrung lfisst oft erkennen, dass diese Versuche 
nicht ernstlich gemeint waren, und die Wahl der Mittel l&sst es als 
unm5glich erscheinen, dass der Plan gelingt. Dem theaterhaften Cha- 
rakter derartiger fingierter Selbstmordversuche tut es auch keinen Ab- 
brucb, dass sie manchmal glucken und damit fiber den Willen der 
Tater hinausgehen. 

Ebensowenig aber darf aus dem Auge gelassen werden, dass solche 
Selbstmordversuche nur aus dem Bestreben von Hysterikern und ihren 
sinnverwandten Psychopathen hervorgehen kfinnen, sich zum Mittelpunkt 
des Interesses zu machen und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, 
obgleich bei ilinen tiefergehende und die Unzurechnungsffihigkeit be- 
dingende Stfirungen nicht in Rechnung gesetzt zu werden brauchen. 

Manchen derartigen Selbstmordversuchen liegen allerdings, obgleich 
ihnen &usserlich ein theatralischer Anstrich anhaftet, doch durchaus 
ernsthafte Absichten zu Grunde. 

Sie verlangen jedenfalls unter alien Dmstfinden eine ernsthafte 
Prfifung des Gesamtzustandes und eine Wurdigung alter Nebenumstknde, 
die eine Beurteilung dieses zweifelhaften Symptoms zu sichem vermfigen. 

Fall 20 . Ersatzreservist Adolf Ad., Mechaniker, 27 Jahre, 1915 ein- 
gezogen. Wiederholt im Felde wegen Trippers und Blasenschwache mehrfach 
in Lazarettbehandlung. Frfiher dreimal wegen Unterschlagung bestraft. 

Januar 1917 fuhr er nach H. und arbeitete unter seinem richtigen Namen 
in Zivilkleidern. 

Januar 1918 fluohtete er, als er verhaftet werden sollte,nach Br. 23. 3. 
Verhaftung. Er entwich und stellte sich selbst bei seiner Truppe. 

Er gab die Tat zu, von einer geistigen Erkrankung ausserte er niohts. 
Dagegen erklarte er 12.6., erleide an Angstzustanden und Zwangsvorstellungen 
und konne sich der Einzelheiten nicht mehr erinnern. Aus dem Militararrest- 
hause versuchte er zusammen mit anderen Gefangenen zu entweichen.. Fruher 
hatte er angegeben, or leide seit dem 8. Lebensjahre an Blasenschwache. In 
geistiger Beziehung war er aufgefallen. 

Anstaltsbeobaohtung. Stets ruhig und geordnet, gab prompt Aus- 
kunft. Irgend eine Trubung des Bewusstseins wurde bei ihm nie beobachtet 
Hit dem Personal wie den anderen Kranken unterhielt er sich lebhaft und an- 
geregt. Zeigte Interesse fiir alles und beschaftigte sich mit Lesen. Zuweilen 
klagte er fiber Kopfschmerzen und Langeweile. Die Stimmung war ganz zu- 
frieden. Niemals wurden sonst Yerstimmungen oder Angstzustande auch nur 
andeutungsweise wahrgenommen. Bei den Untersuohungen fiel er in keiner 
Weise auf. Er druckte sioh sehr gewandt aus. Im allgemeinen erschien er sehr 


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Die Simulation psychificher Krankheitszustande usw. 


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gerissen und zielbewusst. Abgesehen von Kopfschmerzen klagte er fiber un- 
ruhigen Schlaf, es wurde aber nie das geringste bemerkt, vor allem auoh nicht 
von schreckhaftem Auffahren aus dem Schlafe, wie er das haufig haben wollte. 

Normale korperliche und geistige Entwickelung, keine Krampfanfalle. 
Arbeitete regelmassig und verdiente sehr gut. Angeblich litt er seit seinem 
15. Lebensjahre an Zustanden, in denen er nicht recht Luft bekommen konne. 
Es sei ihm dann alles so, als ob die Lunge zu klein und die Brust zu eng sei. 
Diese Zustande seien zeitweise so schlimm gewesen, dass er die Arbeit ganz 
babe aussetzen mfissen. Juni 1916 sei er verschfittet gewesen (nicht bestatigt). 
Seitdem habe er ganz besonders schlimme Kopfschmerzen. Was wahrend dieser 
Zeit mit ihm geschehen sei, wisse er nicht. Es mfisse etwas Schreckliches ge¬ 
wesen sein, etwas mit Leichen. Denn seitdem habe er immer sohreckliche 
Bilder vor den Augen. Dauernd habe er ein gewisses angstliches Geffihl in 
der Brust und einen Druck in derHerzgegend. Er leide an angstlichenTraumen, 
als ob Leichen naoh ihm griffen. 

Damals habe er das Geffihl gehabt, als ob in ihm etwas sei, was nicht in 
hineingehore, als ob ein fremder Mensch fiber ihn herrsche. Es sei ein sugge- 
stiver Zwang, der ihn zu Handiungen treibe, die er eigentlich garnicht wolle. 
Er mfisse damals bei der Entfernung in einem bewusstlosen Zustande gewesen 
sein. Seitdem seien auch die Blasenbeschwerden sohlimmer geworden, er leide 
an unwillkfirliohem Urinabgange, besonders wenn er Leichen sehe. Auch nach 
seiner Rfickkehr zur Ersatztruppe Januar 1917 sei er noch sehr unruhig und 
aufgeregt gewesen sei, habe Nachts nicht schlafen konnen und sei immer her- 
umgelaufen, so dass die Kameraden ihn mit Schlagen bedroht hatten. Er habe 
sich daher eine Wohnung in der Stadt genommen und tagsfiber seinen Dienst 
getan, wahrend er Nachts gearbeitet habe. Er habe lange Zeit nur eine halbe 
Stunde taglich geschlafen, da er gar keine Ruhe gefunden habe. 

Wie er zu der Entfernung von der Truppe gekommen sei, wisse er nicht 
mehr, er mfisse damals 14 Tage hindurch in einem bewusstlosen Zustande ge¬ 
wesen sein und sich wahrend dieser Tage in Be. aufgeh^lten haben. Als er 
wieder zur Besinnung gekommen sei, sei er in seiner Wohnung in Ha. gewesen. 
Auf die Frage, weshalb er naoh Ablauf des angeblichen Dammerzustandes nicht 
bei der Truppe gemeldet habe, erklart er, er habe zwar mehrere Male dazu 
den Wunsch gehabt, sich zu melden und sei auoh in dieser Zeit 7—8mal zur 
Kaserne gegangen, urn sich zu melden, es sei ihm aber nicht geglfickt. Er sei 
jedesmal angstlich geworden und habe an der Tfire sofort die schreckhaftesten 
Bilder gesehen. Es sei ihm so gewesen, als ob ihn jemand direkt zurfickdrange, 
als ob ihm die innere Stimme ges^gt habe, er dfirfe nieht dorthin gehen. Das 
sei keine richtige Stimme gewesen, sondern vielmehr ein angstliches Geffihl, 
das ihn zurfickgehalten habe. 

In der Zwischenzeit habe er regelmassig gearbeitet und 12 Mark wochent- 
lich verdient. In dieser Zeit habe er sich sehr wohl geffihlt und garnicht an 
seine Fahnenflacht gedacht, aber die innere Stimme habe sich dann bei ihm 
sofort wieder eingestellt. Er habe nur das Geffihl gehabt, dass er von einem 
fremden Willen geleitet werde. Schliesslich habe er es garnioht mehr aushalten 


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konnen und seiner Brant gesagt, sie solle ihn zur Trnppe zuruckbringen. 
Weshalb er das seiner Braut nicht friiher gesagt babe, konne er nioht sagen, 
es miisse ihn wobl etwas abgebalten baben. Es feble ihm uberhaupt fur so 
viele Vorgange aus dieser Zeit ganz die Erinneruhg. Dabei verwiokelte er sich 
in zahllose Widerspriiche. Auch fur die Tatsache, dass er erst so spat auf 
seine krankbafte Geistestatigkeit bingewiesen babe, macht erdiewidersprechend- 
sten Angaben. 

Obgleich sich Beweise daffir uicht finden Hessen, konnte roan Ad. 
zugestehen, dass er Neurastheniker war. Ueber ein nicbt allzuhohes 
Mass von Neuro- und vielleicht auch Psycbopathie erbob sich die minder- 
wertige Veranlagung aber nicht. Wabrend der Entfernung von der 
Truppe, die fiber ein Jahr dauerte, bei der er sich als gut bezahlter 
Arbeiter durch das Leben schlug und sich recht zielbewusst benahm, 
will er sich viele Wochen lang in einem Dfimmerzustande befnnden 
haben, der aus der Veranlagung des Kranken nicht zu erklfiren ist und 
in seinem Vorleben kein Vorbild hat. Sie scnkte sich nur auf ihn 
herab, wenn er etwas Strafbares begangen hatte. 

Anders wie andere D&mmerer sucht er sein Fortbleiben von der 
Truppe durch die suggestive Kraft krankhafter Empfindungen zu er¬ 
klfiren, die nocb am ersten als Zwangsvorstellungen gedeutet werden 
konnten. Sie stellen sich bei ihm auch nur dann ein,* wenn er sich 
zur Trnppe zuruckmelden will, wfibrend er zwischendurch Monate lang 
von diesen Zustfinden nicht geplagt wurde. Nie hatte er seiner Um- 
gebung von den befingstigenden Zustfinden erzfihlt. Als ihm der Boden 
in Ha. zu heiss wird, macht er sich sofort aus dem Staube, nach seiner 
Verhaftung entweicbt er sofort und aus der Untersuchungshaft versucht 
er auszubrechen, was sicherlich nicht daffir sprach, dass ihm daran ge- 
legen gewesen wfire, bei der Truppe zu bleiben. Im Gegensatze zu den 
farbigen Schilderungen dieser Zustfinde, die ihm hier zu Gebote standen 
hatte er in seinen zahlreichen gerichtlichen Vernebmungen daffir kein 
Wort gefunden. 

Ein Nachurteil fiber die in der Literatur niedergelegten Ffille von 
Simulation bleibt immer schwierig und ist oft unmoglich. Schon da- 
durch wird die Beurteilung erschwert, dass die Ffille aus fiusseren 
Grfinden in starker Verkfirzung und unter VerzichJ; auf bedeutungsvolle 
Einzelheiten wiedergegeben werden mfissen. Dann aber ist es unmog¬ 
lich, die Ffille objektiv wiederzngeben. Auch dort, wo man das nocb 
zu sein glaubt, schieben sich oft Urteile ein, die sich auf die subjektive 
Anscbauung des Beobachters grfinden. Der Subjektivismus des Beob- 
achters kann aber gar nicht ausgeschaltet werden, wenn er fiberhaupt 
zu einer Entscheidung kommen will. 


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Die Simulation psyohischer Krankheitszustande usw. 



Einzelne der angeffihrten Falle babeu denn auch zum Teil eine 
verscbiedenartige Beurteilung erfahren. Das hfingt in erster Linie von 
der Stellung ab, die die versckiedenen Gutachter zu psychiatrisch- 
forensischen Fragen fiberhaupt und zur Frage der Simulation im Be- 
sonderen einnehmen. Gerade im Kriege sind ja viele Militfirarzte ge- 
zwungen, zu diesen schwierigen Fragen Stellung zu nehmen, obgleich 
sie sich durch ihre Vorbildung dazu nicht berufen fuhleu und im 
Frieden zweifellos gerne dicjsem Amte entsagen wiirden. Auch dadurck, 
dass die Ffille in verschiedenen Stadien zur Untersuchung kommen und 
das Material, das zur Vcrffigung gestellt werden kann, recht verschieden 
ist, wird die MOglichkeit stark beeinflusst, zu einem abschliessenden 
Drteile zu kommen. Die Vorteile einer langercu sachgem&ssen Beob- 
acbtung dfirfen hierbei nicht zu gering veranschlagt werden. 

Auch jetzt halte ich es fur durchaus mdglich und verst&ndlich, 
dass zu mancheu Fallen andere Gutachter nicht dieselbe Stellung ein¬ 
nehmen wiirden. Die Uebergange sind hier zu fliessend. Die Versucbe, 
diese sprdden Fragen restlos im allgemeinen befriedigend zu beantworten, 
werden immer daran scheitern, dass der Subjektivismus nicht ausge- 
scbaltet werden kann. Die grundsatzlicbe Stellungnahme zu dieser Frage 
wird immer recht verschieden bleiben. 

Es hat wenig Zweck, fiber diese Fragen zu streiten. Denn objektive 
Tatsachen, durch die sich die Gegner fiberzeugen liessen, sind auf diesem 
Gebiete nach keiner Seite hin beizubringen. Es muss sich jeder seine 
Grundsfitze in der Beurteilung zwischen den beiden Estremen bilden. 

Jedenfalls ist Tintemann 1 ) durchaus zuzustimmen, wenn er sich 
zu der Auffassung bekannte, dass die Simulationsfrage an dem Dogma 
- kranke, dass, wer Simulation dingnostiziere, nicht diagnostizieren kdnne. 

Ich halte es auch ffir sicher, dass die Anschauungen Birn- 
baum’s 2 ), der wohl als der entschiedenste Verneiner der bewussten 
Simulation angesehen werdeu muss, in der Praxis keine feste Stfitze 
haben. Er nimmt ja bei derartigen Versuchen nicht einen bis ins 
Einzelne gehenden klaren Plan, sondern nur einen unklaren instinktiven 
Drang an. Alles, was fiber die Simulationsabsicht hinausgehe, sei 
Krankheitsvorgang. Es komme ein pathologischer Vorgang zustande, 
fiber den die Person nicht mehr die Herrschaft habe. Es bestehe eine 
psychogene Simulationspsychose. 


1) Tintemann, Unzulangliche im Kriegsdienst. Allgem. Zeitschr. fur 
Psych. 1917. Bd. 73. H. 1. 

2) Birnbaum, Zur Simulation geistiger Storungen. Arch. f. Krim. 
Bd. 60. H. lu. 2. 


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696 Dr. Mdnkemoller, 

Es kann ohne jede Frage zugestanden werden, dass diese Anscbau- 
ungen in mancben Fallen zu Recht bestehen und ich babe sie mir schon 
gelegentlich zu eigen gemacht. Nur muss man sich daruber nicht im 
Unklaren bleiben, dass wir einen Beweis daffir ebensowenig beizubringen 
vermfigen, wie wir das bewusste Handeln in der Simulation zu beweisen 
imstande sind. 

Fur weit mehrere der bier beobacbteten und fur eine Anzahl der 
nach Drucklegung dieser Arbeit zur Reobacbtung gelangten Falle kann 
ich micb nach dem praktischen Verlaufe unmoglich zu der Meinung 
bekebren, dass diese Auffassung anerkannt werden kann. Vor allem 
hat sich in nicht wenigen Fallen die Tatsacbe feststellen lassen, dass 
die Vertreter dieser Tauschungsversuche durchaus die Herrschaft fiber 
ihre Betatigung batten und sie im gegebenen Augenblicke fallen lassen 
konnten. 

Ich ffirchte, dass man, wenn man diese Auffassung unterschiedslos 
walten lassen will, einer auf die Spitze getriebenen Theoretisiererei zum 
Opfer fallen wfirde. Aucb wenn diese Wertung der simulatorischen Be¬ 
tatigung in forensischer Beziehung eine sehr angenehme Erleicbterung 
mit sich bringen wfirde, wfirde dadurch die Wfirdigung des Einzelfalls, 
auf die es hier immer ganz besonders ankommen muss, geschfidigt 
werden. Auch wenn man das psychiatrisch-forensische Material der 
letzten Eriegsjahre mit noch so nuchternem Blicke fiberschaut, wird 
man sich der Ansicbt nicht verschliessen kOnnen, dass sich hier eine 
recht beach tens werte Menge von unbewusster und bewusster Simulation 
zusammendrfingt, die eine ernste Wfirdigung verlangt und auf die Zu- 
erkennung der Uuzurechnungsffihigkeit nicht ohne Weiteres Ansprucb 
erheben darf. 

Wenn man sich die Falle, in denen den vorgeffihrten Krankheits- 
erscheinungen die Echtheit nicht zuerkannt werden kann, bei Licbt an- 
sieht, werden wir immer wieder die alte Erfahrung machen, dass wir 
es nicht mit der Blfite geistiger Gesundheit zu tun baben. Unsere 
Delinquenten entpuppen sich immer wieder in der einen oder anderen 
Form als Psychopathen. An und fur sich kann man das von vornherein 
gar nicht anders erwarten. Im Gegenteil, man mfisste sehr erstaunt 
sein, hinter einem Simulanten einen voll normalen Menschen zu ent- 
decken. Wenn sich Jemand, der kriminell geworden ist, ganz abge- 
sehen davon, dass er sich fiberha'upt auf die Babn des Verbrechens 
herabdrangen lasst, dazu hergibt, sich in den Mantel der Geisteskrank- 
heit zu hullen oder ihr wenigstens einige Attribute zu entlehnen, so 
spricht das unter alien Umstanden ffir eine Denkungsart, die aus dem 
Regelrechten herausfallt. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


697 


Die Aussonderung der Krankheitserscheinungen, die nickt als echt 
anerkannt werden konnen, hat aber praktisch einen reckt wesentlichen 
Zweck and muss unter alien Urastanden erfolgen, weil das, was von 
Psychopathic zurfickbleibt, in der Regel nicht ausreicht, um die Unzu- 
rechnungsf&higkeit zu begrfinden. 

Auch wenn man verhindert, dass den Simulanten and Aggravanten 
der voile Lohn ihrer Bemfihungen erblfiht, erreichen sie durch ihre 
Vortauschung immerhin, dass sie psycbiatrisch beobachtet und begut- 
achtet werden. Und dieser Erfolg verhilft ihnen zu einer prozessual 
weit besseren Lage als ihren Unglficksgenossen, die der Hilfe des Psy¬ 
chiaters entbehren mfissen, wenn sie durch das Fegfeaer des Strafver- 
fahrens wandeln. 

Denn diese Untersuchung legt den psychopathischen Kern frei und 
erzielt dadurch bei der Stralzumessnng recht oft eine grfissere Milde in 
der Bearteilung. 

Wenn uns einmal die verminderte Zurechnungsf&higkeit bescheert 
sein wird, werden unsere Simulanten wahrscheinlich dank ihrer Be¬ 
muhungen oft in diesem Hafen landen kdnnen. 

Dabei besteht eine sehr grosse Wahrscheinlichkeit, dass spater 
manche Begutachter bei der Schwierigkeit, eine haarscharfe Grenze 
zwiscben den tats&chlich bestehenden gcistigen Ausfallserscheinungen 
und den aufgepfropften vorgetSuschten Symptomen zu ziehen, ihr Ge- 
wissen damit zu beruhigen glauben, dass sie auf diese geminderte Zu- 
recbnungsfahigkeit abkommen. Das bleibt allerdings ein schwachlicher 
Kompromiss, der dem Simulanten zum Dank fur seine Tauschungs- 
bestrebungen noch eine zweite Moglicbkeit verschafft, seine Lage zu 
verbessern. 

Dadurch gewinnen sie fraglos einen Vorsprung vor jenen, die be- 
scheiden und friedlich das Urteil fiber sich ergehen lassen, obgleich 
man auch bei ihuen nicht selten die mildemden Umst&nde hatte nach- 
weisen kfinnen, die unentdeckt auf dem Grunde so vieler Delinquenten 
schlnmmern. Es braucht kaum daran erinnert zu werden, dass, wenn 
man sich die Mfibe geben wfirde, bei unseren geisteskranken Verbrechern 
auf derartige Zfige zu fahnden, man meist eine recht grosse Ausbeute 
machen wfirde, auch ohne dass die Anwendung des § 51 dabei in Frago 
kfime. 

Es uuterliegt aber keinem Zweifel, dass dieser krankhaften Grund- 
lage eine ubertrieben hohe Wertung zuteil werden wird, wenn die vor- 
geUuschten Symptome die Uebersicht fiber das Bild erschweren. Da 
man den Grnndsatz des In dubio pro reo hier sehr gerne walten lassen 
wird, so kann der Angeklagte leichter dazu gelangen, sich die Vorteile 

Arefciv t PqreUatrie. Ed. SO. Heft 2/3. 45 


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Dr. Monkemoller, 


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des § 51 zu erringen, die ihm sonst versagt worden w&ren. Stellt man 
sich nun noch auf den Standpunkt, dass diese Tauschungsversuche nicht 
viel zu bedeuten baben, oder sieht man sogar noch in ihnen den Aus- 
fluss geistiger Krankheit, dann baben die Simulanten ein doppelt er- 
strebenswertes Ziel. 

Die Simulationsfrage wird daher immer eine hobe Bedeutung 
beanspruchen mussen. Die Veroffentlichung einschl&giger Falle bleibt 
von nicht geringem Werte, ebenso wie man versucben muss, ihr 
weiteres Schicksal im Auge zu behalten. Man wird sich nacb beiden 
Seiten hin mancbmal fiber einen unerwarteten Ausgang nicht zu wundern 
braucben und wenn man sich auf seiue psychiatrische Unfehlbarkeit 
allzuviel einbildet, wird man gerade hier auf herbe Euttiuschungen ge- 
fasst sein mussen. Die Nacbforscbungen fiber das weitere Ergehen 
unserer Simulanten werden bei militarischen Delinquenten mancbmal 
dadurch erleicbtert, dass sie bei demselben Truppenteil bleiben, so dass 
sie, wbnn sie wieder strafffillig werden, demselben Milit&rgericht und 
dann auch hfiufig demselben Beobacbter zufallen. Sehr oft allerdings 
baben die Truppenteile keine glubende Neigung fur diese undankbaren 
Elemente und sucben sie nach Mfiglichkeit einem anderen Truppenteile 
aufzuhangen. Die grosse Zahl der Formationen, denen ein Soldat 
w&hrend des Krieges angehOrt hat, erlaubt in mancben Fallen geradezu 
einen Rfickscbluss auf seine geistige Minderwertigkeit. Immerhin sollte 
man auch hier versucben, ihr Schicksal wenigstens in besonders be- 
merkenswerten Fallen nicht aus dem Auge zu verlieren. 

Es fragt sich nur, ob man gerade bei militfirischen Delinquenten 
das Gericbt davon in Eenntnis setzen soil, dass ein derartiger Tfiuschungs- 
versuch stattgefunden hat, oder ob man sich mit dem Urteile begnugt, 
das man selbst vom Geisteszustande nach Abzug dieser angeflickten 
Krankheitssymptome gewonnen hat. Man muss sich darfiber klar sein, 
dass man damit die Gesinnung der Richter gegen den Angeklagten ver- 
schfirft und dass man auch auf sein sp&teres militfirisches Schicksal 
einen ungfinstigen Einfluss ausfibt. Man wird sogar in F&llen, in denen 
man auf Grund der tats&chlich bestebenden krankhaften Abweichungen 
von der Norm eine mildere Beurteilung auempfiehlt, trotzdem nicht er- 
reichen, dass ein minder schwerer Fall angenommen wird, da sich die 
Angeklagten durch ibre T&uschungsabsichten bei der Beurteilung durch 
den Richter selbst im Lichte stehen. 

Trotzdem aber halte ich es gerade im Interesse der Aufrecht- 
erhaltung der Disziplin in vielen Fallen ffir durchaus angebracht, dass 
Delinquenten, bei denen eine Tauschungsabsicht nachgewiesen ist, nach* 
drficklich vor Augen geffihrt wird, dass man ihnen nicht alles glaubt. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande nsw. 


699 


Sie selber verlieren dann die Lust, spilter in ahnlichen Fallen ihre 
Lage in ungebuhrlicher Weise verbessern zu wollen. Auch bei ihren 
Kameraden, die Von abnlichen Gelusten geplagt werden, wird die 
Neigung ausgerottet, die Nachsicht des Psychiaters in ahnlicher Weise 
auf die Probe zu stellen. 1st dem Gericht bekannt, dass der Gutacbter 
nicht gesonnen ist, alles fur bare Munze zu nehmen, was ihm derartige 
forensische Schauspieler aufzutischen wagen, dann wird dieser in anderen 
Fallen um so leichter Glauben finden, in denen er Kranken, deren an- 
scheinend affektiertes and gekdnstelt erscheinendes Gebahren denVer- 
dacht einer Tauscliung unbegrundeter Weise nahelegt, zur Freisprechung 
verhelfen will. 

Damit kommen wir zu der Frage, wie sich der Gutachter zu 
dem ansschliesslich militarischen Delikte der Simulation zu 
stellen hat. 

Es ist im § 83 des Milit&rstrafgesetzbuches entbalten: 

„Wer in der Absicht, sich der Erfullung seiner gesetzlichen oder von 
ibm ubernommenen Verpflichtung zum Dienste ganz oder teilweise zu 
entzieben, ein auf T&uschung berechnetes Mittel anwendet, wird mit 
Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren bestraft; zugleicb kann auf Versetzung 
in die zweite Klasse des Soldatenstandes erkannt werden. 

Dieselbe Strafvorschrift findet auf Teilnahme Anwendung.“ 

Wahrend dieser Paragraph fur die aktiven Soldaten, die Uebungs- 
mannschaften und Personen des Beurlaubtenstandes gilt, kommt fur 
Personen, die noch in keinem MilitSrverhaltnis stehen, also vor erfolgter 
Aushebung, fur die Mannschaften der Reserve und Landwehr, soweit 
sie nicht zur Uebung eingezogen sind, § 143 des Deutschen Strafgesetz- 
buebes in Betracht: 

„Wer in der Absicht, sich der Erfullung der Wehrpflicht ganz oder 
teilweise zu entzieben, auf Tauschung berechnete Mittel anwendet, 
wird mit Gef&ngnis bestraft; auch kann auf Verlust der burgerlichen 
Ehrenrechte erkannt werden. 

Dieselbe Strafvorschrift findet auch auf den Teilnehmer Anwendung. M 

Nach Koppmann’s Kommentar zum Militarstrafgesetzbuch und 
nacb den Entscheidnngen des Reichsmilitargerichtes kommt fur die Be* 
urteilung der Simulation noch folgendes in Betracht. 

Der Paragraph, der im wesentlichen der Vort&uschung kOrperlicher 
Krankheitserscheinungen entgegenwirken soil, verlangt nicht, dass ein 
krankhafter Zustand oder gar wirkliche Dienstunbrauchbarkeit hervor- 
gerufen wird. Nach einer Reichsmilitargerichtsentscheidung will der 
Simulant sich nicht wirklich untauglich machen, er will nicht eine 
Erankheit, die seine Befreiung vom Milit&rdienst zur Folge haben muss, 

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700 


Dr. Monkemdller, 

hervorbringen, er will lediglich die betreffeDden Behorden, Aerate, 
Kommis8ionen usw. mit einer kfinstlich hervorgerufenen oder geltend 
gemachten Krankheitserscheinung tfiuschen und diese dadurch in den 
Irrtum versetzen, als sei er wirklich dienstunf&hig. 

Fur die Vortauschung psychischer Krankheiten braucht ja sowieso 
nicht damit gerechnet zu werden, dass durcb die langere Vorfuhruog 
psychischer Rrankheitserscheinungen tats&chlich eine geistige Stfirung 
ausgelost werden kfinne, wenn man nicht die Simulation als Simulations- 
psychose auffasst. Diese Absicht wurde frfiher nicht selten mit der 
Begrundung vertreten, dass die Schwierigkeit, solche Erscheinungen 
linger mit Erfolg darzustellen, einon derart ungiinstigen Einfluss auf 
den Simulanten auszufiben vermoge, dass er tats&chlich in Geistes- 
krankheit verfallen k&nne. Bei niherer Betrachtung der einschligigen 
Fille in der Literatur wird man allerdings mit viel grosserem Rechte 
zu der Anschauung gelangen, dass es sich hierbei um die Verkennung 
tatsachlich vorhandener Rrankheitserscheinungen und die irrtumlicbe 
Annahme einer Simulation gebandelt hatte. 

Blosses lugenhaftes Vorbringen genugt nicht, „so lange nichts vor- 
gebracht wird, um die Behauptung glaubbaft zu machen“, wohl aber 
dann, wenn die Absicht besteht, dadurch Aerzte, Vorgesetzte und Richter 
fiber den wahren Zustand irrezufuhren. Das trifFt wieder ffir die Ver- 
treter der Simulation psychischer Rrankhciten so gut wie ausnabmslos 
zu: je nach dem Masse ihrer geistigen Krafte und psychiatrischer Er- 
fabrungen versuchen sie alle, ihre Bescb werden glaubhaft erscheinen 
zu lassen. 

Es ist auch fur den Tatbestand nicht erforderlich, dass der Titer 
, versucht, das Leiden in seiner iusseren Erscheinung darzustellen. Es genugt 
das dauernde Vorschfitzen subjektiver Beschwerden. Die Vorffihrung von 
Erregungszustinden, Tobsuchtsanfillen und Rrimpfen bleibt ihm erspart. 

Besonders wichtig aber ist, dass es vollstindig gleichgfiltig ist, ob 
durch die strafbare Handlung Vorgesetzte wirklich getiuscbt worden sind. 

Dass der Versuch der Vollendung rechtlich ganz gleicb steht, 
ist gleichfalls von Bedeutung. ** 

Es ist auch gerade ffir die Frage der Simulation psychischer Rrank- 
beit sehr wesentlich, dass die Uebertreibung vorhandener Krank- 
heitserscheinungen gerade so gut den Simulationsparagraphen er- 
ffillt, wie die Vortiuschung eines Rrankheitsprozesses ohne greifbare 
Grundlage.' Auch auf die Debertreibungsversuche von Personen steht 
Strafe, bei denen emzelne psychische Rrankheitserscheinungen anerkannt 
werden mfissen, wofern diese nicht an und ffir sicb die Unzurechnungs- 
fihigkeit bedingen. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


701 


Die Zahl der F&lle, in denen wegen angeblicher Vortiuschung von 
psychischen Krankheiten ein Strafverfahren wegen § 83 R.M.St.G. durch- 
geffihrt wurde, ist sehr gering. 

In den Jabren 1905 bis 1909 schwankte beim dentschen Heere die 
Zahl der wegen Simulation und der ihr sebr nahestehenden Selbst- 
verstfimmelung zwischen 24—39 jbhrlich bei einer Gesamtziffer der 
Verurteilungen zwischen 11500—12800. Dabei tritt hinter der Simu¬ 
lation von kOrperlichen Krankheiten die Vortbuschung von psychischen 
Krankheiten ganz gewaltig zurfick. 

Bennecke 1 ) fand unter den 42 Fallen von Simulation, die er den 
einschlagigen sSchsischen Militargerichtsakten von 1890—1900 entnahm, 
nur zwei Falle von Vortauschung von Geisteskrankheiten. Das Verfabren 
endete haufiger mit Freisprechung, vielleicht, wie- Bennecke meint, weil 
dem Gericht die Unsicberbeit des Rechtsbodens ffihlbarer geworden ist, 
hauptsachlich aber wegen der Aenderung des arztlichen Standpunktes, 
der anf Grand der Fortschritte der Wissenschaft seltener Simulation 
annimmt als frfiher. 

Von 88 militarforensischen Fallen, fiber die ich frfiher berichtet 
habe 2 ), ist nur einmal ein Verfabren wegen Simulation erfiffnet worden. 

Dnter den mir jetzt zur Verffigung stehenden Fallen wurde nur 
funfmal das Verfahren wegen Simulation eingeleitet. Darunter sind mir 
noch zwei Falle von anderen Beobachtern zur Verffigung gestellt worden. 
Nur in einem Falle wurde die Frage bejabt. 

Fall 21 . Musketier Franz Schw., Drecbsler. 5.2. 1915 beim Jager- 
bataillon in All. eingestellt. Am 10. 3. als dienstuntauglich entlassen. 30. 5. 
in Sa. wieder eingestellt, tat er meist Waohtdienst und meldete sich spater 
krank. 20. 5. 16 wurde er wegen chroniscber Herzmuskelerkrankung abermals 
entlassen. 17. 10. in Ko. zum dritten Male eingestellt. Bereits am ersten 
Tage meldete er sich wegen Herzbeschwerden krank und wiederbolte diese 
Krankmeldung 30mal. Der Bataillonsarzt, der ihn stets auf seine Beschwerden 
untersucbte, konnte keinen Anhaltspunkt fur diese Klagen finden, ebensowenig 
eine kommissarisobe Untersuobung. Vom Reservelazarett Ko. der medizinischen 
Klinik in L. fiberwiesen, wurde er nach 7 wochiger Beobachtung als 
dienstfahig zur Truppe 'entlassen. In dem von den Autoritaten der medizi- 
niscben Klinik in L. unterzeicbneten Gutacbten wurde erklart, dass bei dem 
Angeklagten kein Herzleiden festzustellen sei. 


1) Bennecke, a. a. 0. S. 203. 

2) Monkemoller, Zur Kasuistik der forensiscben Psychiatrie in der 
Armee. Viertoljahrsschr.f.gerichtl.Med. 3.Folge. H.l. Bd.38. — Zur forensi¬ 
scben Beurteilung Marineangeboriger. Arch. f. Psych. Bd. 46. H. 1 u. 2. — 
Die erworbenen Geistesstorungen des Soldatenstandes. Ebendas. BcL 50. H. 1. 


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702 


Dr. Monkemoiler, 


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Am Tage nach seiner Entlassang aus L. meldete er sich wieder krank, 
machte aber auf Befehl seines Kompagniefuhrers den Dienst mit. Anf dem 
Ruckwege fiel er urn und wurde, da er angab, nicht gehen zu konnen, auf 
einem Schlitten in die Revierstube gebracht. Hier lag er eine balbe Stunde 
anscheinend ohnmachtig. Sein Pals war normal. Als der Sanitatsunteroffizier 
ihm Ammoniak zu rieohen gab, schreckte er sichtlich zasammen and verdrehte 
die Augen. wenn die Aagenlider geoffnet wurden. Als sein Hauptmann die 
Revierstube betrat, zuckte er zwar auf dessen Anrufen deutlich zasammen, war 
aber weder durch Rufen noch durch Schiitteln zum Erwachen zu bringen. 

Kaum hatte jener die Stube verlassen, als er aufsprang, seine Saehen 
nahm und hinter ihm herging. Ohne gestdtzt zu werden, begab er sich in die 
Mannschaftsstube und setzte sich auf sein Bett. Naohdem er etwas gegessen 
hatte, machte er S / A Stunden lang den Pechtdienst ohne Schwierigkeit mit. 

Am 25* 1. wollte er sich wieder krank melden, machte aber auf Befehl 
des Hauptmanns den Exerzierdienst */ 4 Stunden lang ohne alle Schwierigkeiten 
mit, wurde dann zuruckgefuhrt und unter Hinweis auf die Strafbestimmungen 
wegen Simulation vom Bataillonskommandeur ausdrdcklich verwarnt. 

Im Dienste war er iiberaus nachlassig. Beim Griffeftloppen nahm er die 
Hand vom ersten Grille ab mit dem Zeichen der hochsten Ermudung berunter. 
Als aber eines Tages der Hauptmann die Ehrenbezeugungen der Rekruten 
daratifhin besichtigte, ob den Leuten die Erlaubnis zum Verlassen der Kaserne 
gegeben werden konnen, ging er in lebhaftem Schritte und nahm die Hand von 
der Miitze schneidig und flott herunter. 

Wurde ihm seine Sohlappheit und Nachlassigkeit vorgeworfen, so be- 
hauptete er stets, er konne nicht besser. „Ich kann nicht, ich bin totsterbens- 
krank. w 

Seine Yorgesetzten hatten die Auffassung, dass Schw. etwa vorhandene 
Besohwerden stark iibertreibe, urn seine Entlassang durchzusetzen. 

Als der Bataillonsarzt ihn eines Tages faradisierte, schaltete er, ohne 
dass jener es merkte, den Strom aus und legte lediglich einen nassen Watte- 
bausch an. Schw. geberdete sich daraufhin genau so, wie wenn der Strom 
eingeschaltet ware, schrie, tobte und trat mit den Fussen aus. Er konne tat- 
sachlioh keinen Dienst tun,seiwirklioh bewusstlos gewesen, habe nioht bemerkt, 
dass der Hauptmann in die Stube getreten sei und nur mit Unterstfitzung 
mehrerer Leute auf seine Stube gehen konnen. Anklage wegen Simulation. 

Auch in der Hauptverhandlung behauptete er, er sei krank und musse 
sterben. Dabei war er in der Lage, der ganzen Verhandlung stehend, ohne 
jede Erschopfung beizuwohnen. 

Das Gericht nahm eine Simulation an. Er habe alle seine Uebertretungen 
und Vortauschungen in der Absicht unternommen, sich dem Dienste zu ent- 
ziehen. Gegen eine Gefangnisstrafe von 2 Jahren legte er Berufung ein. Dabei 
wurde die Frage nach seiner Zurechnungsfahigkeit aufgeworfen. Einmal hatte 
er gosagt, er habe Angstgefuhle und konne es nioht in der Stube aushalten. 
Ein anderes Mai hatte er behauptet, er habe das Gefuhl, er werde sterben, 
wenn er noch mehr Dienst mitmacbe. Er fiihle sich korperlich ruiniert. Zahl 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 703 

reiche Zeugenaussagen liessen ihn als geistig gesunden Menschen er- 
scheinen. 

Nach den Beobaohtungen in Go. verffigte er fiber eine auffallend gate 
lntelligenz and gab fiber sein Vorleben, die ihm zur Last gelegten Straftaten, 
sowie deren etwaigen Folgen gate Auskunft. 

Vorgeschichte und korperlicher Befund waren negativ. Immer wieder 
behauptete er, dass er herzleidend sei. Wenn man ihn darauf hinwies, dass 
keine arztliche Untersuchung ein Herzleiden zu linden vermoge, bemerkte er, 
dass dann eben die arztliche Praxis nicht so weit sei. Er beschwerte sich, dass 
er nicht behandelt werde, man wolle ihn ermorden. Wenn man ihn fragte, 
wie es komme, dass er zu Hause trotz seines Herzfehlers immer gearbeitet 
habe, behauptete er, das sei auch leichte Arbeit gewesen. 

Auf der Abteilong war er norgelich, reizbar, argwohnisch. Naohts wollte 
er nie schlafen, wahrend die Beobaohtung feststellte, dass er immer fest durch- 
sohlief. Sobald man auf den Militardienst kam, wurde er sofort gereizt und 
ausfallend. Dauernd war er verstimmt und verdrossen. 

Am Ende der Beobachtung bekam er nachts urn 4 Uhr einen Anfall, der 
hysterischen Charakter trug. Als er am Uorgen nach seinem Befinden gefragt 
wurde, wusste er sofort, um was es sich handelte. 

Ganz schlimm sei es gewesen, naohdem er in Er. in der Untersuchungs- 
haft gesessen habe. Er sei ganz verzweifelft geworden. 

Bei seinen Klagen kam er immer wieder darauf zurfick, dass er von einem 
Zivilarzte fur krank erklartworden sei, und wies die Behauptung aller Militar- 
arzte und Professoren mit grosser Entschiedenheit zurfick. Auch jetzt nehme 
die Krankheit alia Tage zu. Er habe immer Schmerzen, immer Angstgeffihl. 
Das kame von den erkrankten Herzmuskeln. 

In seinem Gutachten betonte Schultze, mit welcher unerschfitterlichen 
Sicherheit Schw. seine Behanptungen wiederhole. Dabei maohe er, wenigstens 
zeitweilig, einen gedrfickten Eindruck und scheme ganz verzweifelt zu sein. 

Bei dieser Sachlage konne ihm keine Simulation vorgeworfen warden. 
Denn keiner konne zweifelsfrei dartun, dass Sohw. sicher nioht glaube, an 
einem Herzleiden erkrankt zu sein, was begrifflich zurAnnahme der Simulation 
gehore. 

Dass er, objektiv betrachtet, seine Herzstorung fibertreibe, stehe fest, ob 
auch subjektiv, sei freilich schwer zu unterscheiden. Jetzt sei es bedenklich, 
eine Uebertreibung anzunehmen und frfiher sei es immerhin fraglich gewesen. 

Damals konne er aber nicht diese depressive Verstimmung gezeigt haben 
wie jetzt, die den vielen Aerzten nicht habe entgehen konnen. Diese Depression 
habe sioh seitdem entwiokelt, wahrscheinlich unter dem Einflusse der Haft. 

Aucb jetzt kfinne kein Mensch, nicht einmal der Fachmann, entscheiden, 
ob das depressive Verhalten, das er jetzt zeige, echt sei und ob es nur als eine 
psyohologische Reaktion auf die etwaige Bestrafung anzusehen sei, Oder um 
etwas rein Pathologisches. Ueber die Echtheit des Leidens kdnnten nur der 
Eindruck, die Glaubwfirdigkeit des Uannes und zuletzt auch die psychiatrische 
Ansicht entscheiden. Gewiss mahne dasVerhalten bei der Truppe zur Vorsioht. 


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Dr. Monkemoller, 


Dass er diese Depression jetzt ubertreibe, glaube Schw. nicht. Anderer- 
seits moge es auch sein, dass er bei seinem jetzigen Verhalten ubertreibe, nicht 
nur auf dem Boden der bei ihm bestehenden gemutlicben Verstimmung, 
sondern viejleicht auch bewusst, da er bestrebt sei, sich immer mehr als den 
herzkrankenKriegsunbrauchbaren und den durch den Heeresdienst Geschadigten 
aufzuspielen. 

In der Hauptverhandlung betonte Schuitze, dass die Unterschoidung 
zwischen Simulation auf der einen, seelischen oder psychogenen Storungenauf 
der anderen Seite fur den Fachmann kaum zu treffen sei. Er sei iiberzeugt, 
dass Schw. an Depression leide und infolgedessen Beschwerden habe, diese 
aber sicher ubertreibe. 

Aus dienstlichen Griinden wiirde er ihn verurteilen, allerdings unter 
Zubilligung milderner Umstande. 

Schw. wurde wegen Uangels an Beweisen freigesprochen. Das Gericht 
nahm die Moglichkeit einer Uebertreibung auf hypochondrischer Grundlage an, 
ohne zu der Frage Stellung zu nehmen, ob die Uebertreibung bewusst oder 
unbewusst sei. 

Fall 22 . Sanitatsunteroffizier Georg Wi. 

Wi. war schwachlich und machte mehrereLungenentziindungen durch. 

Auf der Schule lernte er schlecht, arbeitete dann bei seinen Eltern als 
Knecht und verdiente nur wenigLohn. Spater Kellnerlehrling in verschiedenen 
Wirtschaften, lief einige Male fort. Als eine Liebschaft in die Bruche ging, 
sass er mehrere Tage zu Hause. Schliesslich fing er eine Wirtschaft an, die 
er nach 3 /* Jahren wieder aufgeben musste. 

1. 8. 14 eingezogen. Sehr bald Verwundang an der Hand, lm Lazareit 
keine nervosen Erscheinungen. Wurde jetzt sehr bald Sanitatsunteroffizier. 
Bei Gelegenheit einer Influenza wird fiber Klagen von Schwindelgefiihl be- 
richtet. Zum Truppenteil zuriickgekehrt, wurde er in einem Reservelazarett 
als Schreiber benutzt. 

Am 4. 11.17 sollte er wieder ins Feld. Er liess sich vom Dienste be- 
freien and fuhr ohne Urlaab nach Ha. Von hier aus teilte seine Frau dem 
Sanitatsunteroffizier H. mit, dass Wi. ohnmaohtig geworden sei. Einige 
Minuten sei er ohne Besinnung gewesen. Er sollte am nachsten Morgen wieder 
zuriickkehren. In den nachsten Tagen fiihlte er sich angeblich sehr schlecht 
Am 5. 11. sollte er seine Sachen zum Transporte empfangen. Darauf meldete 
er sioh krank. Man glaubte, dass er sich vom Transporte drficken wolle. 
Im Revier behauptete er, er habe einen „Anfall w gehabt. Stabsarzt Dr. M. 
konnte nichts finden und schickte ihn da zu einem Nervenarzte, der gleichfalls 
nichts finden konnte. 

Am Nachmittage bekam er angeblich ein unsicheres Gefiihl in den Beinen 
und stolperte. Am nachsten Morgen hatte er wieder Sohmerzen im Knie und 
meldete sich auf der Revierstube krank. Der Arzt stellte einen leichten Erguss 
in das Kniegelenk fest und behandelte ihn nur 6 Tage. 

Dem Sanitatsunteroffizier sagte Wi., wenn das nicht geschehen ware, 
ware etwas anderes gekommen. 


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Die Simulation psyohischer Krankheitszustande usw. 


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Als ihm am 30.11. gesagt wurde, er miisse am Nachmittag reisen, ver- 
langte er, dem Arzte vorgefuhrt zu werden. Er wurde fur k. v, erklart. Nun 
ging er wieder nach Hause, packte einen Teil seiner Sachen und fuhr nach H., 
kam aber am Nachmittage wieder. Als er sich beim Packen buckte, bekam er 
angeblich einen Schwindelanfall. Als er wieder zu sich kam, fuhlte er sich so 
schwach, dass er das Bett hiiten musste. Nach seiner Angabe sollte die Wirtin 
diesen Anfall beobachtet haben. Diese hingegen sagte aus, er habe nur neben 
seinem Tornister gekniet und gesagt, ihm sei so schlecht. Spater sagte er, er 
habe einen Schwindelanfall von 2 Minuten gehabt, sei nicht umgefallen, auch 
nioht ohnmachtig geworden. 

Nach seiner Angabe ist er dann im Bette eingeschlafen und wurde spater 
von dem Unteroffizier Ci. geweckt. Dieser hat ihn nicht schlafend betroffen 
und an ihm nichts Auffalliges festgestollt. Wi. blieb im Bette liegen. Als er 
am nachstenTage in Begleitung des Unteroffiziers Li. zur Kaseme ging, suchte 
er diesen zu der Aussage zu bestimmen, er habe gesehen, dass er beim 
Ankleiden ohnmachtig geworden sei. 

Bei der Vernehmung durch den Hauptmann schwankte er plotzlich und 
bat, sich am Tische stiitzen zu diirfen. Dem Feldwebel und den Unteroffizteren 
gegemiber klagte er oft fiber Schwindelanfalle, ohne dass sie objektiy etwas 
wahrzunehmen yermochten. Sie gaben an, Wi. habe immer dann von solchen 
Anfallen gesprochen, wenn etwas Besonderes zu erwarton war, so dass man 
ailgemein annahm, dass er sich nur verstelle. 

Anstaltsbeobachtung. Ueber seine Vorgeschichte gab er nnter An- 
derem an, er habe schon als Schuljunge wiederholt Schwindelanfalle gehabt. 
Einmal habe er bei seiner Tante auf dem Sofa gelegen. Beim Militar sei er 
dann noch einmal beim Exerzieren bewusstlos umgefallen. Als er wieder zu 
sich gekommen sei, habe er auf seinem Bette gelegen und ein Unteroffizier 
habe ihm Fleischbriibe eingeflosst (?). Bei einer fruheren Vernehmung hatte 
er angegeben, der Zustand habe eine Stunde gedauert. Vier Monate spater 
habe er einen ahnlichen Anfall gehabt. Da sei er am Abend urn 8 Uhr mit 
einem Eimer auf der Treppe zusammengebrochen. 

Wahrend er in einer Besohwerdeschrift gegen den Stabsarzt behauptet 
hatte, er habe nach seiner Militarzeit haufig Anfalle gehabt, gab er jetzt 
an, or habe nur einen solchen gehabt. Als er wieder zu sich gekommen sei, 
habe er auf dem Sofa gesessen. Er wisse ganz genau, dass er sich vorher auf 
den Stuhl gesetzt habe. Dieser Anfall wurde bestatigt. Am Tage nach der 
korperlichen Untersuchung, die einzelne nervose Symptome ergab, klagte er 
fiber Schmerzen im Riicken, die angeblich von dem Nadelstechen herruhren 
sollten. Er sprach yon einer Riiokenmarkserkrankung. 

Die Herztatigzeit war moist beschleunigt und stieg nach leichten Kor- 
peranstrengungen auf 120. Wahrend der Beobachtung hatte er mehrere 
Schwindelanfalle, bei denen er blass und der Puls schwach und unregelmassig 
wurde. 

Die Erhebnng der Anklage wegen Simulation grundete sich auf 
das geh&ufte Auftreten der Anffille zu einer Zeit, in der es sich darum 


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706 Dr. Monkemoller, 

handelte, dass Wi. an die Front komraen sollte, sowie daranf, dass er 
dunkle Andeutungen fiber sein kfinftiges Verhalten machte und den 
Unteroffizier zu einer falschen Aussage zu bestimmen suchte. 

Dass es mit alien Anf&llen, fiber die er sowieso w?idersprechende 
Angaben gemacht hatte, nicbt ganz richtig gewesen sein mag, konnte 
mit gutem Rechte angenommen werden. Aber berficksichtigt musste 
bei ihm werden, dass er ohne jeden Zweifel eine psychopathische Per- 
sfinlichkeit war, wie er das dnrch seine zerfahrene Lebensfuhrung und 
seine fiberstarke Reaktion auf Sussere Einflusse zur Genfige bewiesen 
hatte. Er war eine weichliche Natnr und hatte schon in seiner Kind- 
heit und sp&ter an Anf&llen gelitten, die bei seiner ganzen Eigenart 
nichts Auffalliges darboten und bei denen es nicht stutzig zu machen 
brauchte, dass sich diese Anf&lle gerade dann einstellten, wenn fiussere 
ungfinstigo Einflusse auf ihn einwirkten und vor allem, wenn er unter 
dem Drucke der Anwesenheit von Vorgesetzten stand. 

Aber selbst wenn man alle die in Frage kommenden Anf&lle als 
simuliert ansehen wollte, man w&re nicht in der Lage gewesen, ihm 
nachzuweisen, dass er bewusst simuliert hatte. Und darfiber hinaus 
musste er nach seinen Erfahrungen wissen, dass diese Anf&lle so leich- 
ter Natur waren, dass sie ihn nie von der Dienstf&higkeit entbunden 
h&tten. 

Fall 23 . Gefreiter Ernst Ma., 32 Jahre. Normale Entwicklung. Leicht 
erregbar und aufbrausend. 1901—1903 diente er aktiv beim 2. Garderegiment 
zu Fuss, wurde Gefreiter und machte spater zwei Uebungen mit. 

Bei der Mobilmachung eingezogen wurde er am 9. 8. 1914 wegen Epi- 
lepsie vom Stabsarzt fur vollig dienstuntauglich erklart. Erhebnngen beim 
Magistrat seiner Heimatstadt: Drei Personen batten krampfahnlicbe Zustande 
bei ihm beobacbtet. Der Magistrat erklarte, dass er selbst wie die moisten 
Einwobner, Ma. fur einen durobaus gesunden und kraftigen Mann halte, der 
seine Anfalle simuliere, urn nicht zum Heeresdienste eingezogen zu 
werden. 

Im Marz 1916 wurde er durcb einen Arzt des Bezirkskommandos Go. 
untersucht und gleicbzeitig der Nervenklinik in Go. fiberwiesen. 

Der dort erbobene neurologische Befund war negativ. Ein Anfall wurde 
nicbt beobacbtet. Nach dem allgemeinen Eindruck des Ma. wurden die 
Anfalle fur hysteriscb erachtet. 

Der Magistrat blieb bei seiner Behauptung, dass Simulation vorliege. 
Vor dem Kriege babe Ma. nie geaussert, dass er an Krampfen leide. Auf alien 
Arbeitsstellen, in denen er die schwersten Arbeiten zu verrichten gebabt habe, 
babe er niemals Anfalle bekommen. Einen Unfall habe er nicht erlitten. An- 
dererseits bestatigten mehrere Arbeiter, dass er einmal durch eine Luke ge- 
fallen sei. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 707 

1916 bei der Truppe wieder als versucbsweise dienstfahig eingestellt 
bekam er einige krampfahnliche Anfalle, unter Anderem einen in der Revier- 
stube, der von einem Assistenzarzte beobachtet wurde. Dieser stellte fest, 
dass es sich nicht urn Epilepsie handele, und glaubte auch naob dem ganzen 
Verlanfe und den Erscheinungen des Anfalls Hysteric aussohliessen zu 
mussen. Da Ma., nachdem ihm Wasser ins Gesicht gegossen worden war, 
sofort zu sich gekommen war, nahm er mit Bestimmtheit an, dass der Unfall 
in seinem ganzen Unfange simuliert worden sei. Gleichzeitig spraoh er don 
Verdacht aus, dass Ma. uberhaupt epileptiscbe Anfalle vortausche, 
um sich der Dienstpflicht zu entziebep. 

Ein unter anderen Zeugen zugezogener Sanitatsgefreiter, der im Zivil- 
berufe Masseup war, nahm auch an, dass der fragliche Anfall nicht epileptisch 
gewesen, sondem simuliert sei. 

Darauf wurde vom Kriegsgerichte ein Verfahren wegen Vortau- 
schung eines nicht bestehenden Leidens eingeleitet. ^ 

Anstaltsbeobachtung. Ma. verhielt sich stets ruhig und geordnet, 
hielt sich mehr fur sich allein und las sehr viel. Im Verkehre mit dem Per¬ 
sonal und den ubrigen Kranken war er freundlioh, dooh bestand bei ihrp eine 
stark gesteigerte Reizbarkeit. Zeitweise traten bei ihm auch deutliche Stim- 
mungssohwankungen auf. Danu klagte er iiber Kopfschmerzen, Schwindelge- 
fdhl und iibet aufstoigendes Angst- und Beklemmungsgefiihl in der Brust. 
Deshalb legte er sich selbst auch ofters zu Bett. 

Mehrere Male hatte er Schwindelanfalle, die aber wegen ihrer kurzen 
Dauer arztlich nie beobachtet werden konnten. Er klagte einige Zeit vorher 
fiber angstliche Unruhe mit Umschnurungsgefiihl in der Brust und der Kehle, 
Plimmern, Schuppen- und Perlbildung vor den Augen, legte sich dann selbst 
bin und schwitzte stark, Zuckungen wurden dabei nicht beobachtet. Nachher 
legte er sich immer mit dem Zeichen starker Ermattung ins Bett. 

Nachdem er starke Salzdosen bekommen hatte, erhielt er nuchtem drei 
Flaschen Bier und 300 g Rum in ungefahr einer halben Stunde. Krampf¬ 
ahnliche Zustande, Schwindelerscheinungen oder eine Veranderung des Be- 
wusstseinszustandes und des psychischen Verhaltens wurden dadurch nicht 
erzielt. 

Bei den Untersuchungen war er immer klar und geordnet, dabei aber 
stark gereizt und suchte in keiner Weise sich durch auffallende Hoflichkeit das 
Wohlwollen des Gutachters zu erhalten. 

Will immer leicht erregt und aufbrausend gewesen sein. Seit ihm ein Ast 
auf den Kopf gefallen sei, leide er haufig an Kopfsohmerzen, Schwindelgefiihl 
und Atemnot, besonders beim Biicken. Eine Rente bezog er nicht. 

Vier Monate nachher bekam er zum ersten Male einen Krampfanfall und 
zwar auf einem Tanzvergniigen im Anschlusse an eine Aufregung. Seitdem 
batten sich die Anfalle alle 4 Wochen wiederholt, meist im Anschlusse an 
Aufregungen. Die Anfalle beschrieb er sehr anschaulich mit alien Einzelheiten. 
Vor 5 Jahren sei er einmal in einem solchen anfallsartigen Zustande an einem 
Sonntagsmorgen von Hause fortgegangen und nachher von einer Frau im Holze 


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anfgefonden worden. Im November 1915 habe er dann einen zweiten Unfall 
erlitten. Er sei 10 m hoch duroh ein Luke abgestiirzt. 

Seitdem seien die Anfalle haufiger und schwerer und auch in der Pabrik 
mehrere Hale aufgetreten. 

Korperlicher Befund. Narbe am Knie. Schadel ist druck- und klopf- 
empfindlich. Puls stark beschleunigt. Zunge zittert stark. Massiges Hande- 
zittern. Die Sehnenreflexe sind gesteigert. Starke Schweissbildung. Bei 
Augenfusssohluss deutliches Schwanken und Lidflattern. Gesichtsfeld leicht 
eingeengt. 

Durch Zeugen war festgestellt worden, dass er tats&chlich einen 
Unfall erlitten und Erscheinungen dargeboten hatte, die als Schwindel- 
zusULnde oder krampfartige Anfalle aufgefasst werden konnten. Da auch 
bei der Beobachtung Scbwindelanfalle festgestellt wurden, musste die 
Mflglichkeit unter alien Umstanden zugegeben werden, dass auch die 
angezweifelten Anfalle ecbt gewesen seien. 

Fall 24 . Wehrmann August Br., Landm&nn, 35 Jahre alt. Haufig vor- 
bestraty. 

Am 7. Mobilmachungstage eingezogen, wurde er Mitte September 1914 
wegen Herzfehlers entlassen. 

Am 15.5.1915 wurde er eingezogen und einem Landsturmbataillon iiber- 
wiesen. 

Am 2. 10. wurde er wegen asthmatischer Beschwerden in das Lazareit 
fiir Bewachungsmannschaften in So. aufgenommen. Da dem dortigen Stabs- 
arzte die Klagen in keinem Verhaltnisse zu den nachweisbaren krankhaften 
Veranderungcn standen, wurden Nachforschungen in der Heimat angestellt. 

Zu Hause war von einem Herzleiden des Br. nichts nachzuweisen. Nach 
der Aussage seiner Frau war er nur dann etwas herzleidend, wenn er zuviel 
geistige Getranke zu sich genommen habe. Er sei fahig, eine Krankheit vor- 
zutauschen und habe in seinem angetrunkenen Zustande oft seine Frau miss- 
handelt. Mehrere Male hatte er eine Narbe im Gesichtc als von einer Mensur 
— herriihrend bezeichnet. Auch die neben Br. liegenden Kranken gaben aus 
freien Stricken an, dass Br. es immer liebe, seine Beschwerden nur dann zum 
Ausdruck zu bringen, wenn ein Arzt zugegen sei. DerOberstabsarzt bezeichnete 
ihn als einen schabigen Charakter. Die Zeugen — Sanitatsgefreite — be- 
kundeten, dass er nur dann anfange zu stohnen, wenn der Arzt kam. Der 
Gemeindevorsteher und ein benachbarter Schlachtermeister bezeugten, dass sie 
nie an ihm ein korperliches Leiden bemerkt hatten. Der Gemeindevorsteher 
hielt ihn fiir besohrankt, der Nachbar fiir sehr schlau. Die Ehefrau gab jotzt 
an, dass er zuweilen fiber Herzklopfen geklagt habe, wenn er anstrengend ge- 
arbeitet habe oder schnell gegangen sei. An eine Simulation glaube sie nicht, 
ein regelmassigerTrinker sei er auch nicht gewesen, sondern habe nur anfalls- 
weise getrunken. Fur beschrankt hielt sie ihn nicht. Br. berief sich auf das 
Zeugnis der Militararzte in Br. und die Passnotiz, nach der er dauernd feld- 
dienstunfahig sei, sowie auf das Zeugnis zweier Aerzte, die er zwischendurch 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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wegen Asthmas konsultiert hatte. Darauf wnrde eineAnklage wegen Simulation 
erhoben. Als seine Bruder und Schwager ins Feld riickten, erklarte er: „ehe 
ich ins Feld gehe, stelle ich erst noch etwas an“. 

Lazarettbeobachtung. Bei der Aufnahme ausserte Br. keine Be- 
schwerden. Er wollte sich an nichts mehr erinnern konnen, wusste nicht, wo 
er zuletzt gewesen war, kannte weder sein Alter noch das seiner Frau und 
Kinder, nicht den Namen seines Truppenteiis, fand sich nicht in der Zeit zu- 
recht und konnte dieJahreszahl nicht richtig angeben. JedeFrage beantwortete 
er mit: „das weiss ich nicht u . Dio einfachsten Rechenexempel loste er falsch. 
Dabei erschien er angstlicb und schuchtern, sah mit starren Augen um sich 
und zockte hin und wieder zusammen. Dann war er wieder sehr albern und 
kindisch, verzog dasGesicht zumGrinsen, warf ganz zusammenhangsloseWorter 
hin, sprang im Krankensaale herum, tat so, als ob er Kegeln schiebe und be- 
hauptete auch, auf einerKegelbahn zu sein. Mit auf demRiicken verschlossenen 
Armen, den Kopf nach unten geneigt raste er auf dem Vorplatze herum. 
Spater sprach er ofters leise yor sich hin, zupfte fortgesetzt an seinem Rocke 
und legte sich auf den Fussboden hin, indem er Schwimmbewegungen machte. 
Dabei tat er immer vollkommeu unorientiert und wollte sich an nicbts erinnern. 

Mit einem Male, anscheinend weil ihm die Sache langweilig geworden 
war, wusste er plotzlich sehr gut Bescheid, die Erinnerung war gut, er war 
genau orientiert und 15ste die gestcllten Reohenaufgaben ganz richtig. 

Zuletzt klagte er viei fiber Herzklopfen und Stiche in der Herzgegend. 

Eines Nachmittags verschwand er aus dem Lazarett und kam erst in der 
Nacht zuruck. Er hatte sich von einem Frauenzimmer mitnehmen lassen und 
mit ihr den Beischlaf vollzogen. Mit grossem Stolze erzahlte er, dass er 
12 Nummern geschafft habe. 

Der korperliohe Befund bot koine Unterlage fur das Vorhandensein einer 
der bekannten Asthmasymptome. Das Endergebnis war, dass es sich um einen 
entarteten, minderwertigen, hysterischen, auf Grund des Alkoholmissbrauches 
entarteten Menschen handle. Seine subjektiven Klagen hatten infolge der bei 
ihm bestehenden nervosen Erscheinungen eine gewisse Berechtigung, ausge- 
schlossen sei nicht, dass infolge des reichlichen Alkoholgenusses eineEntartung 
des Herzens bestehe. Wenn man ihm auch nicht den Vorwurf der Simulation 
machen konne, sei doch eine starke Uebertreibung nicht von der Hand zu weisen, 
die in seiner Personliohkeit ihre Erklarung finde. Dagegen sei er fur die ihm 
zur Last gelegten Handlungen als verantwortlich anzusehen. 

Anstaltsbeobachtung. Korperlicher Befund: Massiges Lidflattern, 
Zungenzittern. Gang etwas unsioher. Starkes Handezittern. Bei Augenfuss- 
schluss Lidflattern und deutliches Sohwanken. Bauohdeckenreflex fehit. Nach- 
roten der Haut. Lebhafte Schweissabsonderung. Atmung dauernd stark be- 
sohleunigt, nach leichten Anstrengungen noch waiter gesteigert, pfeifend und 
auf die Entfernung horbar. Schon bei kurzen Spaziergangen lautes Pfeifen, 
dabei schwere Zyanose. 

Naoh den Untersuchungen des Spezialisten fur Herzkrankheiten Dr. B. 
bat das Herz Entenform und reioht links fast bis zur Mamillarlinie. Der Puls 


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ist sehr klein, weich, beschleunigt, der Blutdruck ist herabgesetzt. DasElektro- 
kardiogramm zeigt grosse Unregelmassigkeiten in der Herztatigkeit, und zwar 
Schwankungen, die toils positive, teils negative Phasen annehmen- Wahrend 
der Beobachtung war er dauernd hocbgradig angstlich verstimmt, stobnte and 
jammerte und klagte in zaweilen offenbar dbertriebener Weise iiber Sticbe nnd 
Schmerzen in der Herzgegend, Angst- nnd Beklemmungsgefuhl. Er habe oft 
dasEmpfinden, dass er keineLuft bekommen konne, nnd wisse mancbmal nicht, 
was er vor innerer Aufregung machen solle. 

Auch wenn er sich niobt beobachtet wusste, zeigte er einen angstlich 
gespannten Gesichtsausdruck, starrte meist mit weit aufgerissenen Augen, die 
Stirn in tiefe Falten gelegt, vor sich hin und macbte dann einen hilflosen nnd 
verstorten Eindruck. Um die Vorgange in seiner Umgebung kiimmerte er sich 
gar nicht, an derUnterhaltung nahm er nicht teil, sprach uberhanpt nnr selten, 
sondern brutete stumpf und teilnahmslos vor sich hin oder wanderte planlos 
im Zimmer umher, ohne zur Ruhe kommen zu kdnnen. 

Sobald ihn jemand beruhrte, fuhr er in iibertrieben schreckhafter Weise 
zusammen, tat dann ganz verstort nnd konnte anscheinend vor lauterErregung 
gar kein Wort hervorbringen. Ab und zu verlangte er in stereotyper, kind- 
lich bitten der Weise, nach Hause entlassen zu werden. Fur alle Einwande und 
Belehrungen iiber seinen Zustand blieb er vollkommen taub. 

Anch bei den Untersuchnngen war er zu keiner Spontanansserung zu be- 
wegen. Er starrte geistlos vor sich hin, spielte an seinen Kleidern, alle Ant- 
worten mussten aus ihm herausgeholt werden. Nur anfangs vermochte er zu 
folgen, dann versagte er zusehends mehr und mehr, zuletzt gab er auf die ein- 
fachsten Fragen, die er unbedingt wissen musste, keine zntreffende Antwort 
mehr. Oertlich und zeitlich war er orientiert. Auffassungsvermogen und Ge- 
dankenablauf waren verlangsamt. 

Yoriibergehend war er freier, doch nach knrzer Zeit zeigte sich immer 
wieder die angstliche Unruhe und Verstimmung. 

Dass eine kflrperliche Erkrankung vorlag, konnte einwandsfrei fest- 
gestellt werden. Die chronische Herzmuskelerkrankung, die jedenfalls 
auf den Alkoholmissbrauch zuruckzufuhren war, erkl&rte zwangslos die 
Beschwerden, die er ge&ussert hatte. Ebenso liess sich eine ausgespro- 
chene psychische Erkrankung feststellen. Neben einer psychischen Hem- 
mung bestanden Angstliche VerstimmungszustAnde, die ebenfalls auf die 
Grnndlage des Alkoholisraus zuruckzufuhren waren. 

Wenp Br. gelegentlich den Eindruck erweckte, dass er seine Be¬ 
schwerden ubertreibe, so ist das garnichts besonderes bei Angstlicben 
und neurasthenischen Kranken. 

Fur die Zeit der Beobachtung in La. liess sich also Simulation 
und sogar bewusste Uebertreibung ohne weiteres ausschliessen. Sie 
liess sich auch fur die Vorg&nge im Lazarett nicht halten. 

Nach den Akten hatte er ja vorher an asthmatischen AnfAllen ge- 


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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw. 711 

litten and da die Grundlage des Asthmas, die Herzerkrankung sich in 
der seitdem verstrichenen Zeit nicht entwickelt haben konnte, waren 
diese Anffille schon oereits erklfirt. Und da derartige Zust&rde ja durch 
psychische Erregungen, zu denen auch der Besuch des Arztes gerechnet 
werden moss, ausgeldst verstfirkt und werden kfinnen, erklfirt sich das 
Verhalten dem Arzte gegenuber zwanglos ohne Inanspruchnahme der 
Simulation. 

Der Angeklagte wurde wegen Simulation freigesprochen. Nach 
einem Vierteljahre wurde er wegen Vornahme unzuchtiger Handlungen 
verhaftet, nochmals beobachtet fur geisteskraok erklfirt und einer Irren- 
anstalt fiberwiesen. 

Fall 25 . Landsturmmann August To., Werkfuhrer, 38 Jahre alt. Am 
16.11. 1917 an die Front gekommen, meldete er sich am 24.11. zusammen 
mit einem anderen Landwehrmann krank, wurde aber dienstfahig geschrieben. 

Am 27. 11. wurde er auf dem Hauptbahnhofe Ha. festgenommen und 
einem Lazarett als Geisteskranker uberwiesen, das ibn sofort nach La. weiter- 
schiokte. Bei der Aufnahme erschien er vollkommen benommen. Er sohien 
auf den Fiissen vollkommen unsicber zu sein und schwankte bin und her. Die 
Augen riss er weit auf und brach oft in ein tierisohes Lacben aus. Die meisten 
Fragen musste man ihm wiederbolen. Oefters rieb er sich die Stirne. 

Seine Vorgesohichte liess er sich ohne grosses Widerstreben herausbolen, 
seine Personalien gab er prompt an. Keine erbliche Belastung. Er besuchte 
die Volksschule und war angeblich ein schwacher Schfiler. Spater wurde er 
Kutscher nnd war zunaohst im Ha. in Stellung. 1901 heiratete er, er hat ein 
Kind, das es immer an den Augen hatte (tatsachlich eine reoht ausgewacbsene 
Tochter). Seit Jahren leide er an Syphilis. Noch in diesem Jahre sei er des- 
halb behandelt worden. Er wollte noch nie gerichtlich bestraft sein. Aus Ver- 
sehen wurde zunaohst ein falscher Auszug aus dem Strafregister geliefert, nach 
dem er tatsachlich unbestraft sein sollte. Am 5. 9. 16 sei er als Landsturm¬ 
mann eingezogen worden und babe in Frankreich in derNahe der Combres-Hobe 
gestanden. Weshalb er in die Heimat gekommen sei, konne er nicht sagen. Ge- 
stern habe man ihn auf einem Transport nach Hause gesohickt. Korperlicher 
Befund negatir. Er machte nun zunaohst dauernd einen schlafrigen nnd be- 
nommenen Eindruck. Ab und zu fragte er den Arzt in kindlicher Weise, ob 
er dann auch bald nach Hause komme. Dabei schrieb er einmal an seine Frau 
einen ganz einwandfreien Brief, den er durobzusohmuggeln versuchte. Am 
gleiohen Tage riss er sioh den Verband vom Fusse und verlangte grinsend, 
dass ihm das Bein abgeschnitten werde. Fragte man ihn irgend etwas, so gab 
er immer riohtig, wenn auch sehr umstandlich Antwort, indem er die Stirne 
rieb nnd blode lachte. Oertlich und zeitlioh war er orientiert. Im Tagesraum 
sass er bei dem ubrigen Kranken nnd unterhielt sich mit ihnen sachgemass, 
wenn auch affektlos. Das rechte Bein, an dem sich einige abgeheilte syphili- 
tische Geschwnre befanden, legte er immer auf einen Stuhl. Erst Anfang De¬ 
cember wurde bekannt, dass gegen ihn ein gerichtliches Verfahren sohwebe. 


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Dr. Monkemoiler, 


1m burgerlichen Leben 14mal bis za 8 Jahren Gefangnis wegen Diebstahls, 
Uebertretung, Botrugs, Korperverletzung, Sachbesohadigung, Hausfriedensbruchs 
und Zuhalterei bestraft. Wahrend seiner aktiven Dienstzeit war er in die zweite 
Klasse des Soldatenstandes versetzt worden. Mehrfach disziplin&risch bestraft, 
weil er sioh unter Vortauschung von Krankheiten immer wieder 
krank meldete und vom Dienste zu driicken vermochte. Fiihrung 
schlecht. 

Bei der Ueberfiihrung ins Feld war vom Ersatztrappenteil ganz besonders 
auf ihn hingewiesen worden. Er hatte wieder auf alle mogliche Art and Weise 
versucht, sich der Heraussendung ins Feld zu entziehen, indem er fortwahrend 
neue Krankheiten vortauschte. Trotz griindlichster Untersuchung war bei ihm 
nie etwas Positives nachzuweisen. Das Bataillon vermutete, dass er auch dort 
durch ahnliche Mittel versuchen werde, sich um den Dienst herumzudrucken. 
Bei der Untersuchung im Felde am Tage seiner Entweichung war nichts fest- 
zustellen gewesen. Nach den Angaben des andereD Landsturmmannes (der 
eine Augenkrankheit simulierte und spater ein voiles Gestandnis ablegte) waren 
sie von der Truppe naoh Metz gefahren, wo sie sich trennten. To., der in 
keiner Weise aufgefallen war, fuhr allein weiter. 

Als Te. der Inhalt der Akten vorgehalten wurde, leugnete er, sich von 
der Truppe entfernt zu haben. Auch sei er nie bestraft worden. Er konne 
sich noch so dunkel erinnern, dass er einmalSoidat zweiter Klasse geworden sei. 

Dabei nahm er dem Arzte die Akten aus der Hand und sagte in kindlich 
sohmollendem Tone: „Die habe ich nioht geschrieben a . Dann zeigte er auf 
eine andere Akte: n Da liegt wohl auch nooh was u . Als ihm vorgehalten wurde, 
dass er aus derStellung weggegangen sei, meinte er kopfschiittelnd: „Ich wohne 
Wagnerstrasse 4 a . Dabei versuchte er in naiv trotziger Weise das Gesprach 
auf andere Dinge zu lenken. Zwischendurch wickelte er sich den Verband ab, 
hielt das Bein und sagte mit wichtiger Miene auf den Instrumententisch zeigend: 
„Das sieht ja beinahe aus wie ein Tisch a . Spater lag er meist auf einem Sessel 
bequem hingeflegelt ohne aufzustehen, wenn der Arzt kam, dem gegenuber er 
eine plumpe Zutraulichkeit zeigte. Stets benahm er sich vollig unmilitarisch. 
Er lief mit offenem Waffenrocke herum. Gelegentlich klagte er zutraulich, 
seine Kloten oder sein Pint taten ihm so weh. Auf einem Urlaub benahm er 
sich ganz geordnet. Stets gab er mit gleichmutigem Gesicht zur Antwort: 
„Das weiss ioh nicht a . Jetzt wollte er nicht wissen, wann er zum Miiitarge- 
kommen sei, ob und wo er im Felde gestanden habe und wie er von der Front 
hierher gekommen sei. Nach seiner Wohnung gefragt, aus der er eben ge- 
kommen war, suchte er lange, nannte die Strasse richtig und liess dann einige 
Tranen rinnen. Zwischen seine Antworten flocht er unter albernem Grinsen 
alle mogliche Bemerkungen ein, die nicht zur Sache gehorten. Wie lange er 
in La. sei, konne er nicht sagen. Es miisse ihn wohl Jemand im Wagon her- 
gebracht haben. Zwischenduroh stand er auf und sagte: „Jetzt kann ich ja 
wohl wieder fortgehen?“ Wie er glaube, sei er seit dem 5. November beim 
Militar, das wisse seine Frau ganz genau. Ueber seine aktive Dienstzeit machte 
er ganz genaue Angaben. DieFrage, ob er nichtSoldat zweiter Klasse geworden 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


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sei, verneint er entrusted In Zivil sei er einmal mifc einer Kleinigkeit bestraft 
worden. Dabei fragte er sofort wieder, ob er jetzt gehen konne. 

Nach langeren Verhandlungen gibt er dann zu, jetzt in Ha. eingestellt 
worden zu sein. Dann habe ihn irgend einer in einem Zuge bingebracht, wo- 
hin, wisse er nicht, das sei in Dingsda gewesen. Auf energische Frage weiss 
er pldtzlich genau, dass er nacb Koblenz gebracbt worden sei. Beim Arzte 
sei er wegen seiner kaputen Beine gewesen. Auf Anschnauzen fallt ihm ein, 
er habe in Frankreioh in der Nahe von Vi. gestanden. Er sei wobl ein balbes 
Jahr dort geblieben, Gefechte habe er nicht mitgemacht, ^docb, halt, warten 
Sie, eins habe ich doch mitgemacht u . „Die werden mich wohl von dort fort- 
gescbickt haben. u Dann sei er auf der Bahn gewesen, es war ein ganzer Zug 
voll. Wie er gefahren sei wisse, er nicht: „Soll ich Ihnen einmal mein Bein 
zeigen, Herr Doktor? u Er konne auch nicht zuriickdenken, wie er in die An- 
stalt gekommen sei. Einer von den Wartern habe ja gesagt, er sei ja hier 
wegen seines kaputen Beines. Im Kopfe sei er ganz riohtig, er habe wohl 
l manchmal im Kopfe so was wie Schmerzen, aber der Herr Warter sage, das 
kame von Rheumatismus. Ueber seine Familien- und Berufsangelegenheiten 
war er in jeder Beziehung unterrichtet. Dabei war seine Auffassung ungestort, 
der Gedankenablauf nicht verlangsamt, sein Gedachtnis liess keine Liicken er- 
kennen, auch im Verkehr mit dem Warterpersonal hatte er fiir alle Gesprachs- 
themata, die in seine Verhaltnisse hineinpassten, ein sachgemasses Urteil. So- 
bald man aber wieder auf seine militarischen Verhaltnisse und vor allem auf 
seine Delikte kam, wich er sofort aus. Alle Warter und Kranken seiner Ab- 
teilung kannte er mit Namen, die meisten auch mit Vornamen. Bei der korper- 
lichen Dntersuchung vermied er es diesmal hartnackig, den Arzt anzusehen, 
sondem stierte nach oben. Beim Stehen mit gesohlossenen Augen und Fiissen 
schwankte er plump hin und her. Wahrend der Untersuchung zitterte er grob- 
schlagig mit der linken Hand, was sonst nie beobachtet worden war. Beim 
Beklopfen des Schadels wollte er die heftigsten Schmerzen auch dann emp- 
flnden, wenn der Hammer den Schadel garnicht beruhrt hatte. Bei der Gefuhls- 
prufung bezeichnete er die Nadelspitze als stumpf und den kirschkerngrossen 
Nadelknopf als spitz. Bei der Priifung der Kniereflexe schlug er mehrere Male 
vor. Das Gutaohten nahm an, dass die meisten Krankheitserscheinungen nicht 
als echt angenommen werden konnten. 

In der Hauptverhandlung erschien er viel kindiscber, als er sich sonst 
dargestellt hatte. Die einfachsten Fragen beantwortete er nicht, sondem 
grinste nnr blode und erklarte schliesslich: „ich bin jetzt in der Schule, der 
Leutnant hat gesagt, ich branchte mich jeden Tag nur einmal zu melden. 
Mahlzeit! Er schien dann der Verhandlung gar nicht zu folgen. Und als 
sein Mitsohuldiger gegen ihn aussagte, warf er ihm einen giftspriihenden Blick 
zu. Als ihm 5 Jahre Gefangnis zuerkannt wurden, schien er ganzlich unberiihrt 
davon zu bleiben. 

Im Arrestlokal hatte er am ersten Tage seiner Entlassung aus La. einen 
schwer verblodeten Eindruck gemacht. Sofort nasste er ein, beim Sprechen 
sohwankte er bestandig hin und her, riss den Mund auf und grimassierte. 

Archly f. PsjehUtrie. Bd. 60. Heft 2/3. 40 


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714 


Dr. Monkemoller, 


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N&ohdem er eine Zeitlang sein Essen nicht gebolt hatte, wurde ibm energisoh 
gesagt, wenn er die Dammheiten nicht lasse, werde er dafur bestraft werden. 
Darauf gab er sofort das Schwanken auf, stellte sicb ordnungsmassig in die 
Reihe and liess sicb sein Essen geben. Sonst kam er prompt alien Auf- 
fordernngen nach. 

Mehrere Tage nach seiner Vernrteilang unterbielt er sich lebhaft mit 
einem anderen Soldaten, der in seiner- Zelle lag, und sagte diesem, er sei nur 
3Tage von der Front weg gewesen und habe dafur 5 Jahre Gefangnis bekommen, 
das sei doch gar kein Verhaltnis. Dann liess er sioh vorfuhren und legte in 
vorschriftsmassiger Weise gegen das Urteil Berufung ein. Mit seiner Frau 
unterhielt er sich geordnet. Mehrere Male tuschelte er mit ihr leise und eifrig, 
so dass ihm das untersagt werden musste. Da er immer unmanierlicher wurde, 
wurde er am 11.8. 1917 wieder nach La. gebracht. Jetzt musste er aus- 
gezogen und vollstandig besorgt werden. Dabei weinte er heftig, taumelto 
hin und her, klammerte sich an den Arzt an, und klagte: „Tun*sie mir doch 
nichts, sie wollen mich ja schlagen 44 . Er blieb nun ruhig im Bette liegen, 
schien nichts zu sehen und zu horen und reagierte nicht auf Anreden. Nur 
zeitweise liess er ein gewaltiges Jammern horen. Wenn er sich nicht beob- 
achtet glaubte, sah er frei und interessiert um sich. Sehr oft nasste er ein 
und verunreinigte sich mit Kot. 

Einige Tage, nachdem er auf eine andere Abteilung verlegt worden war, 
sah er mal freier und interessierter um sich. Er ging auch selbstandig auf das 
Klosett und hatte es sofort gefunden, obgleich er durch zwei Zimmer und 
einen Gang durchgehen mqsste. Dabei taumelte er immer wie ein schwer Ge- 
lahmter. Wenn er ass, war sein Gesichtsausdruck vollkommen frei. Redete 
man ihn dagegen an, so sah er sofort sehr blode aus, steckte den Finger in 
den Mund und gab keine Antwort. 

Am 23. 8. ging er wieder im-Hemde nach dem Klosett, das im ersten 
Stookwerk lag, verschloss die Tiire hinter sioh und kletterte mit grosser Ge- 
wandtheit aus dem Fenster am Blitzableiter zur ebenen Erde. Sofort aaf- 
genommene Nachforschungen blieben erfolglos. 

Einige Tage nachher teilte ein sehr zuverlassiger Kranker mit, To. habe 
sich oft mit ihm unterhalten. Dabei habe er immer ganz verstandig gesprocben. 
Einige Tage vor seiner Eentwiohung hatte er ihn um Rat gefragt, wie er sich 
eigentlich verhalten solle. Ob er sich weiter verstellen oder die richtigen 
Antworten geben oder gar nichts sagen oder ausriicken solle. Er habe langst 
eingesehcn, dass der Direktor ihm nicht glaube und dass er seine Strafe ganz 
abmachen rniisse. Wenn er ausriicken werde, werde er sioh seine Kleider in 
der Nahe der Anstalt besorgen lassen. In Ha. werde er schon von einem 
anderen Zuchthausler andere Papiere bekommen, dann wolle er nach Le. 
fahren, wo ein Yerwandter von ihm wohne und eine Wirtschaft betreibe. In 
Le. konne man ganz ruhig unangemeldet wohnen. Er wisse genau, was er in 
der Untersuchungshaft getan habe. Auch dort habe er sich nur verstellt, sich 
mit Absicht nass gemacht, die Kleider beschmutfct und die Wasohsohalen 
fallen lassen. 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 


715 


Der andere Kranke hielt ihn fur einen zielbewussten Simulanten. 

Am 21. 3.1918 wurde To. in Ha. festgenommen. Er hatte zusammen 
mit einem anderen Fahnenfliichtigen mehrere schwere raffinierte Einbruchs- 
diebstahle veriibt. Spater hatte er einen Eilboten beauftragt, die Sachen aus 
dem Hause, in dem er sie zunaohst aufgestapelt hatte, abzuholen und zu einem 
Hehler zu besorgen. Vorher hatte er mit der Wirtin des Hauses ganz genau 
Verabredungen getroffen. Als er festgenommen wurde, gab er einen falschen 
Namen an. 

Auf Vorhalt gab er schliesslich seinen riohtigen Namen an. Naoh zwei 
Tagen erklarte er, er wolle nun sagen, dass er Soldat gewesen sei und zum 
lnfanterieregiment 73 gehbre. Am 27. 3. gab er an, er sei lange im Vereins- 
lazarett La. gewesen, sei aber nioht yon dort entsprungjen, habe auch keinerlei 
Diebstahle begangen. Wo er festgenommen worden sei, konne er nioht sagen, 
in dem Hause, wo er verhaftet worden sei, sei er noch nie gewesen. 

In der Vernehmung schwankte er wieder hin and her und gab schliess¬ 
lich ganz yerwirrte Antworten. Als er vorher zum Verhore geftihrt worden 
war, war der Gang vollkommen normal gewesen. 

Bei der Festnahme hatte er sich „durchaus nicht wie ein Geisteskranker w 
benommen. Erst einige Stunden nach der Festnahme begann er zu schwanken: 
„er simulierte offenbar k< . In seiner alten Arbeitsstelle waren auch nie die 
geringsten Spuren von Geisteskrankheit und Gedachtnisschwache bemerkt 
worden. 

Bei der Aufnahme Im Militararresthaus tanmelte er hin und her. Seine 
Zelle beschmutzte er mit Kot, Essen nahm er nur in den ersten Tagen zu sich, 
Befehle fuhrte er nicht aus und auf Fragen antwortete er nicht. Am 4. 4. 
wurde er wieder nach La. gebracht, Auf der Fahrt dahin liess er seinen Kot 
in die Hosen, holte ihn heraus und beschmierte sich damit. Taumelnden 
Ganges kam er hereingestolpert. Bei Anreden schwankte er hin und her, stierte 
blode vor sich hin und antwortete lallend wirres Zeug. Als'er gebadet werden 
sollte, steigerte sich das Schwanken noch mehr und er griff Hilfe suohend um 
sich. Als der Warter ihm sagte, er solle mal ruhig fallen, blieb er stehen. 
Spater ass er, indem er dabei ausserordentlioh stark zitterte. 

Nun blieb er ruhig und teilnahmslos im Bette liegen, starrte mit blddem 
Gesichtsausdruoke vor sich hin und gab auf Befragen abgerissene und ganz 
sinnlose Antworten. Da er dauernd einnasste und einschmutzte, wurde er in 
ein Torfmullbett gelegt. Bei jeder Visite zeigte er vorwurfsvoll und bittend 
auf den Torf und sagte mit bittender Stimme: „Scheisse u oder „bitte eine 
andere Kiste“. Als ihm eroffnet wurde, dass er ein anderes Bett bekommen 
werde, wenn er sich sauber halte, wurde das Einnassen geringer, er bediente 
sich mit vielem Anstande einer Ente und hielt sich zuletzt ganz sauber. Wenn 
er zu den Untersuchungen in das erste Stockwerk gefuhrt wurde, ging er die 
Treppe herauf und herunter ohne jedes Schwanken und ohne das Gelander 
anzufassen. Sobald er das Untersuohungszimmer betrat, begann wieder das 
alte Schwanken. Dann sass er breitbeinig auf dem Stuhle, stierte wehmutig 
auf den Arzt und spielte geheimnisvoll an seinem mannlichen Gliede. 

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716 


Dr. Monkemoller, 


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Schliesslich wurde ihm wohlwollend und ernst gesagt, er moge doch die 
Simulation lassen, da es ihm doch nicht geglaubt und er nur noch dazu wegen 
Simulation bestraft werden wurde. Wahrend er bis dahin noch den alten 
Gesichtsausdruck zur Schau getragen hatte, wurde jetzt plotzlich sein Gesicht 
ernst und belebt, das Zittern horte auf, beim Aufstehen schwankte er nicht 
mehr, er sah sehr nachdenklich aus. Er kampfte langere Zeit mit einem Ent- 
schlusse, kam damit aber nicht zustande. Als er dann das Zimmer verlassen 
sollte, blieb er noch einmal steheu, kam ein paar Schritte zuruck und wollte 
etwas sagen, kam aber nicht dazu. 

Nachdem er in das Arresthaus zuriickgebracht worden war, fing er vom 
ersten Augenblick an, wieder einzunassen und einzuschmutzen. Aufforderungen 
kam er nicht nach, sohwankend lief er in seiner Zelle herum oder doste auf 
seiner Pritsche vor sich hin. 

Yom ersten Tage ab setzte er mit der Nahrungsaufnahme aus. Darauf 
wurde er im Reservelazarett mit der Schlundsonde gefttttert. Schon nach dem 
ersten Male fing er an zu essen. In der Arrestanstalt schmutzte er wieder be- 
standig ein. Darauf hatte einer der wachthabenden Unteroffiziere, der ihn 
von friiher als einen durchaus gesunden, wenn auoh moralisch minder- 
wertigen Menschen kannte, mit ihm eine eingehende Unterredung. Jetzt begann 
To. in sich zu gehen und nach einigem Ueberlegen erklarte er, er sehe nun 
ein, dass er die Sache nicht langer durchfiihren konne und dass er sie jetzt 
aufsteoken mochte. 

Die grosse Schwierigkeit sei nur die, dass er, der gestern 
noch ganz verriickt gewesen sein wolle, jetzt pldtzlich ganz nor¬ 
mal sein solle. 

Von da war er im Arrestlokal vollkommen ruhig und geordnet. Er gab 
das Schwanken auf, zitterte nicht mehr und gab, wenn auch kurz, so doch 
zutreffend Antwort. Dabei schmutzte er nicht mehr ein, ass manierlich und 
hielt seine Zelle in tadelloser Ordnung. Allen Aufforderungen kam er prompt 
nach und fugte sich glatt der Hausordnung. 

In der Berufungsverhandlung erschien er auch ganz geordnet und gab 
seine Personalien prompt an. Als ihm erklart wurde, die Verhandlung solle 
verschoben werden, bis eine zweite gegen ihn erhobene Anklage wegen Simu¬ 
lation usw. erledigt sei, erklarte er sich damit einverstanden und begab sioh 
ruhig wieder in den Arrest. Nachdem er sich 2 Monate tadellos und unauf- 
fallig gefuhrt hatte, entwich er zwei Tage vor der Hauptverhandlung mit 
einem Genossen aus dem Festungsgefangnis, obgleioh besonders auf ihn 
geachtet wurde. 

Nach einiger Zeit wurde er wieder verhaftet. Sofort machte er wieder 
einen so verblodeten und verwirrten Eindruck, dass er am 2. 11. von neuem 
nach Langenhagen gebracht wurde. 

Wieder bot er das alte Bild eines vollstandig dementen und verwirrten 
Mannes. Er ausserte Verfolgungsideen, schien sehr angstlich zu sein und 
machte mehrere Strangulationsversuche. Zu fixieren war er uberhaupt nichi. 
Er plapperte bestandig in unzusammenhangender Weise vor sich hin. 


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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande nsw. 


717 


Am 9.11. erschien gelegentlich des Putsches eine Abteilung des Soldaten- 
rates und setzte die ‘Befreiung der far gesund gehaltenen Beobacbtungskranken 
durch. To., der die Sachlage zunachst nicht uberschaute und annahm, dass 
er wieder in Haft gebracht werden sollte, setzte sein Treiben in noch verstark- 
tem Masse fort. Erst als ihm der Yorgang verstandlich wurde, fiel in dem- 
selben Augenblicke die Geisteskrankheit von ihm ab. 

Er war vollkommen geordnet und machte einen sehr intelligenten 
Eindruck. 

Schliesslich gab er mit grosstem Behagen zu, dass er wahrend der ganzen 
Zeit mit vollster Absicht simuliert habe, und gab seine Simulationskunststiicke 
in alien Einzelheiten an. Auf die Dauer sei es ja sehr anstrengend gewesen, 
als einziger Gesunder zwisohen lauter Geisteskranken den Verruckten zu 
spielen. Aber wenn es sich um 5 Jahre Gefangnis handele, sei das doch der 
Muhe wert. 

Bemerkenswert ist bei To., der nach seiner Vorgeschichte kein 
Ausbund tod normaler Gesinnung erscheinen mochte, die ausserordent- 
licbe Ausdauer und Ziihigkeit, mit der er an seinen Simulationsbe- 
strebungen festhielt, wobei er sich der heroischsten Mittel bediente, 
wenn auch die Nahrungsverweigerung leichter durchzufiihren ist, ala 
das dem Laien und Richter in der Regel scheint, sobald einmal die 
ersten Tage uberwunden sind. Er bat lange mit Erfolg die schwierige 
Rolle eines organiscb Geisteskranken durchgefuhrt. Da bei ihm eine 
Bchwere Syphilis vorlag, hatte man ihm eine beginnende Paralyse zu 
Gute gehalten und erst das dauernde Fehlen aller kbrperlichen Sym¬ 
ptoms im Vereine mit seiner Vorgeschichte, seinem Verhalten und seinen 
rerschiedenen Gestandnissen liessen es als nbtig erscheinen, seine Simu- 
lationsbestrebungen aus dem Reiche des Bewussten herauszufuhren. 
Bemerkenswert ist jedenfalls die eigenartige Heilung seiner Simulations- 
psychose. 

Die Uartn&ckigkeit, mit der er die auf die Dauer recht unbequeme 
Simulation durchgefuhrt hatte, erfuhr die verschiedenartigste Wertung, 
die in solchen Fallen auch der Psychiater je nach seiner Stellung zur 
Simulationsfrage diesem Verhalten angedeihen lasst. Der Vertreter der 
Anklage folgerte darans, dass jemandem, der so lange und systematisch 
diesem muhseligen Theaterspiel obliege, eine reeht betrachtliche Willens- 
kraft und Zielbewusstsein zuerkannt werden musse. Der Verteidiger 
berief sich mit ebenso tiefer Ueberzeugung darauf, dass nur ein Mann, 
der aus dem Normalen stark herausfalle,. sich zu einem derart wider- 
lichen und auf 'die Dauer anstrengendem Verhalten hergeben kdnne. 
Wie gewOhnlich liegt die Wahrheit in der Mitte. 

Die allgemeine Stellungsnabme zur Simulation, wenn sie selbst 
als Delikt gilt, steht auf einem erheblich anderen Standpunkte als die 


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718 Dr. Monkemoller, 

Simulation, weun sie nur als Nebenerscheinung in einem sonstigen 
Strafverfahren auftritt. 

Im letzteren Falle gonnt man sie dem Tttter gewissermassen als 
gates Recht und als Mittel in seiner Abwehr der drohenden Bestrafung. 
Der Richter lUsst sich daruber hinaus bei der Strafzumessung vielleicht 
nur insoferu beeinflussen, als die Neigung einen minder „schweren Fall" 
anzunebmen, von seiner Stellungsnahme zur Simulation beeinflusst wird. 

Im ersteren Falle aber kommen zun&chst einmal sehr erhebliche 
Strafen in Betracbt. Und dann draogt sich bier die Schwierigkeit der 
Entscheidung ein, ob der T&ter simuliert bat in der Absicbt, sich der 
Erfullung seiner Dienstpfiicht ganz oder teilweise zu entziehen. 

Das ist ja nun auf den ersten Blick eine Feststellung, die lediglich 
der Richter zu treffen bat und die den Psychiater gar nichts angebt. 
Aber zum Ersatze dafur wird ihm vom Richter fast immer die Beant- 
wortung der Frage zugeschoben werden, ob der Tfiter bewusst oder 
unbewusst simuliert hat. Das ist eine Frage, die bei der Abmessung 
der Zurechnungsfahigkeit nicht entfernt in diesem Masse gewurdigt zu 
werden braucht, und der man sicher nicht ungern aus dem Wege geht, 
weil gerade bei den Krankheitsformen, die hier am moisten in Betracht 
kommen, die Grenzen vollkommen verschwimmen. Und ob jemand be¬ 
wusst gehandelt hat, lasst sich eigentlich nie mit Sicherheit sagen. 
Man befindet sich sofort wieder auf dem Boden der Vermutung und 
der subjektiven Anschauung. 

Dann aber muss man sich vor Augen halten, dass man, wenn man 
zugibt, dass der T&ter simuliert hat, in gewissem Grade nebenher auch 
die Frage mitbeantwortet, ob er das in der Absicht der Entziehong 
vom Dienste getan hat, falls noch sonstige Anzeichen vorliegen, die 
dafur sprechen, dass er sich mit dieser Absicht getragen hat, vor allem 
wenn kein sonstiger Grund vorliegt, der den Entschluss zur Simulation 
erklarlich machen konnte. Yergleicht man die Falle, in denen diese 
Frage gestellt worden ist, so wird man nicht verkennen kbnnen, dass 
auch Vortauschungs- und Oebertreibungsversucbe gemacht worden siud, 
in denen sonstige forensische Beweggrunde ganz zuriicktreten. Die 
Absicht, der Dienstpfiicht ledig zu werden, schimmerte auch hier oft 
deutlich durch. Oft ware man hier weit mehr berechtigt gewesen, die 
Frage der Simulation in diesem Sinne zu bejahen, als in den wenigen 
Fallen, in denen sie tatsachlich gestellt wurde. 

Man kann deshalb unschwer die Scheu der meisten Richter ver- 
stehen, schon bei anscheinend vorgeschutzten kbrperlichen Krank- 
heitserscheinungen diese Frage anzuschneiden, geschweige denn bei 
geistigen. Dazu ist den meisten Richtern mit der Zeit bekannt gewor- 


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Die Simulation psychischer Krankheitszustande uSw. 719 

den, wie schwer die Feststellung der Simulation ist, welcbe Be- 
deutung die subjektiven Anscbauungen die Begutachter bier haben, 
und wie es gelegentlich zwischen den verschiedenen Gutachtem zu 
Widersprfichen in der Beurteilung kommt. Dazu sind die Simulanten 
erfahrungsgem&ss sehr selten zu einem Gestandnisse zu bringen. 

Die Unsicherheit auf diesem Gebiete, die den Vertreter der An- 
klage davon abhalt, allzu reichlich Strafantrfige in dieser Richtung bin 
zu stellen, mag es auch sein, die den Richter veranlasst, nur selten 
deshalb sebr strenge Strafen zu verhEngen, wie das Bennecke 1 ) fest- 
stellt, obgleich die Simulation an und fur sich gewiss nioht ein Ver- 
geben ist, das gerade iu militarischer Beziehung eine allzugrosse Nach- 
sicht hinaufzubeschwdren geeignet ist. 

Auch der Richter hat in den meisten Fallen die Erfahrung gemacht, 
dass die Simulation, ebenso wie bei Selbstverstflmmelung, die mit ihr 
ja eine sebr nahe Verwandtschaft hat, fast ausnahmslos auf einem 
Geistesboden erwachst, der nicht als normal bezeicbnet warden kann. 

Fur den Psychiater liegen die praktischen Nutzanwendungen, 
die aus alle dem hervorgehen, noch deutlicher auf der Hand. 

Selbstverstandlich ist es, dass man alle Mfiglichkeiten, den Tat- 
sachen auf den Grund zu kommen — moglichst lange und sorgfaltige 
Beobacbtung, die Erhebung einer mdglichst genauen Vorgeschichte, 
die Benutzung aller erreichbaren Akten und Zeugenaussagen — er- 
schdpfend ausnutzt. 

Nicht genug kann betont werden, dass man sich gerade hierbei 
nicht von einer vorgefassten Meinung leiten lassen darf und die sub- 
jektive Auffassung. nach Moglichkeit zurfickzudr&ngen muss. 

Die Vorsicht, die man bier walten lassen muss, steigert sich noch, 
wenn direkt die Frage nach der Simulation gestellt wird. Ist einmal, 
abgesehen von den vorget&uschten Erscheinungen, eine Krankheit nach- 
gewiesen, die fiber das Mass der gewfibnlichen Psychopathie hinausgeht, 
ist festgestellt, dass cin bemerkenswerter Grund von angeborenem Schwach- 
sinn vorliegt,* dass eine Hysterie nicht nur in Einzelsymptomen erkenn- 
bar ist, dann wird man sich im allgemeinen unbedingt davor hfiten 
mfisseu, die Simulationsfrage zu bejaben, auch wenn man im Innersten 
noch so fest davon fiberzeugt ist, dass der T&ter im erheblicben Masse 
sich der Uebertreibung und Vortfiuschung schuldig gemacht hat und 
wenn man auch die Frage der Zurechnungsf&higkeit unbedenklicb bejabt. 

So weit allerdings darf diese Rficksichtnabme nicht ffihren, dass 
man sich durch die Schwierigkeit der Beurteilung dazu bewegen lfisst, 


1) Bennecke, a. a. o. S. 204. 


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720 Dr. Monkemoller, Die Simulation psyohischer Krankheitszustande usw. 

die Frage zu verneinen, wenn man die geistige Gesundheit anerkennen 
muss. Geht der Widerwille, die Simulation uberhaupt anzuerkennen, 
so weit, dann schafft nach alien Erfabrungen, die icb gemacht habe, 
das Haltmachen vor den tats&chlichen Verh&ltnissen eine Rechtsschadi- 
gung, die auch in praktischer Beziehung unbequeme Folgen haben kfinnte. 

Jedenfalls ist es sehr angebracbt, dass man den Richter fiber das 
Wesen der Simulation und die Scbwierigkeiten in der Beurteilung auf- 
klfirt, damit nach beiden Seiten hin den Vertretem der Simulation ibr 
Recht zu Teil wird. 




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XXIV. 

Aus der psychiatrischen and Nervenklinik der Charite in Berlin. 

Einige Schlussfolgerungen aus der psychiatrischen 
Krankenbewegung wahrend des Krieges 1 ). 

Von 

K. Bonhoeffer. 

Jetzt, wo wir am-Ende des Krieges steben und 4 Kriegsjahre uber- 
blicken, ist der Zeitpunkt gekommen, den Einfluss des Krieges auf die 
psychiatrische Krankenbewegung zu studieren. Was uns dabei inter- 
essiert, ist die Frage, deren Beantwortung schon bei fruheren Kriegen 
grosse Schwierigkeiten machte und keine sichere Losung fand, ob sick 
eine Zunahme, Abnahme oder em Gleichbleiben der Geisteskrankheiten 
wahrend des Krieges feststellen iasst und welche Schlussfolgerungen 
auf die atiologische Bedeutung der den Krieg begleitenden Schadigungen 
fur den Ausbruch der Geisteskrankheiten sich ziehen lassen. Es ist 
klar, dass bei einer solchen Untersuchung die grQsste Vorsicht geboten 
ist, weil wahrend des Krieges eine ganze Anzahl ausserer von den Ur- 
sachen der Geisteskrankheiten unabhangiger Umstande auf die Kranken¬ 
bewegung der Kliniken und Anstalten von Einfluss gewesen ist. 

Kaum eine wesentliche Fdrderung unserer Fragestellung wird man 
▼on einer Gesamtzahlung der Geisteskranken erwarten diirfen. Wenn 
wir hdren, dass vom Jahre 1913 zum Jahre 1917 die Zahl der Manner 
in den 5ffentlichen Anstalten Preussens von 21509 auf 22 263, also um 
3,6 pCt. gestiegen ist, wahrend die Zahl der Frauen von 14227 auf 
11489, also um 19 pCt. gesunken ist, so ware es verfehlt, daraus 
Schlussfolgerungen derart zu ziehen, dass die Kriegserlebnisse auf die 
mannliche BevOlkerung psychosenfSrdernd, auf die Frauen entgegen- 
gesetzt gewirkt haben. Dass das falsch ist, ergibt sich aus der Zahlung 
der grflsseren Privatanstalten, wo die M&nneraufnahmen von 3732 im 

1) Vortrag in der Februarsitzung 1919 der Berliner Gesellschaft fur Psy- 
•biatrie und Nervenkrankheiten. 


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722 


K. Bonhoeffer, 


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Jahre 1917 auf 2808, also um 23 pCt. lieruntergegangen sind, wahrend 
die Frauen in dem Vergleichsjahr von 2985 auf 3149 gestiegen sind, 
demnach eine Zunahme um 6 pCt. erfahren baben, also das umgekehrte 
Verh&ltnis wie in den bffentlichen Anstalten 1 ). 

Es ist klar, dass bier die besondere Gestaltung ausserer Verhaltnisse 
eine entscheidende Rolle gespielt hat. Dadurch, dass zahlreiche An- 
staltsbetriebe durcb die Einricbtung als milit&rische Nervenlazarette eine 
Umstellung erfahren baben, wurden mancherortsAufnahmebeschrankungen 
fiir die burgerlicbe Bevblkerung nQtig. Das betraf in besonderem Masse 
wohl die Frauenaufnahmen. Das mag eine gewisse Abwanderung der 
letzteren in die Privatanstalten zur Folge gebabt haben, die vielleicht 
noch durch die giinstige Gestaltung der Lohnverhaltnisse wahrend des 
Erieges eine FCrderung erfahren hat. Auch die guten Erwerbsmoglich- 
keiten mogen auf den Anstaltszugang von Einfluss gewesen sein, inso- 
fern manche minder Konkurrenzfahige wahrend des Erieges im Er- 
werbsleben geblieben sind, die sonst vielleicht^in die Anstalten ab- 
geschoben worden waren. Bei der Zunahme der Manner und der Ab- 
nahme der Frauen in den oflentliehen Anstalten mag die Neigung der 
Heeresverwaltuog, zunachst die offeutlichen Irrenanstalten zu belegen, 
Bedeutung gewonnen baben. Es kommen noch manche anderen aussereu 
Umstande, die die Erankenbewegung beeinflusst haben, hinzu, auf die 
ich nicht eingehen will. Auf dem Wege solcher allgemeinen Massen- 
zahlung sind fruchtbare Ergebnisse fiir unsere spezielle Frage nicht zu 
erwarten. Mehr hatte man sich versprechen, wenn eine alle Anstalten 
umfassende, die einzelnen Erankheitskategorien differenzie- 
rende Zahlung gemacht wurde, in der zum Ausdruck kame, in 
welchem Prozentverhaltnis die einzelnen Erkrankungen vor dem 
Eriege und wahrend desselben aufgetreten sind und in der fur 
jede Anstalt gleichzeitig auch die ausseren Ursachen fur Aenderungen 
der Erankenbewegung aufgefuhrt und in ihrem Einfluss abgewogen 
wurden. Solche Zahlungen der hauptsachlichsten Erankheitsformen 
sind in gr&sserem Dmfang bis jetzt meines Wissens nicht gemacht 
worden, nur fur den Alkoholismus liegen sie aus einzelnen Eliniken 
und neuerdings auf Veranlassung des Ministerium des Inneren fur 
Preussen vor. 

Ich lege Ihnen eine prozentuale Berechnung aus der Charite vor. 
Der Bearbeitung eines solchen kleinen Materials haften natiirlich die 
Mangel kleinerer Zahlen fur jede Statistik an, andererseits bietet ein 


l) Die Zahlen verdanke Herrn Kollegen Beninde, vortragendem Rat im 
Ministerium des Innern. 


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Einige Schlussfolgerungen aus der psychiatrischen Krankenbewegang usw. 723 

solcbes Material vielleicht den Vorteil sorgfaltiger und einheitlicber 
Diagnosestellung. Hinsichtlich der Susseren die Krankenbewegung be- 
einflussenden Faktoren liegen die Verhaltnisse der Charite uicbt un- 
gunstig, weil die ausseren Umstfinde der Aufnahmeverhaltnisse sich 
nicht wesentlich gegen die Friedenszeit ver'indert kaben. Wir batten 
uns zwar der MilitSrverwaltung fur die Aufnahme erkrankter Soldaten 
znr Verfiigung gestellt, hatten uns aber die Freiheit, aufzunehmen and 
abzulehnen, vorbehalten. Dadurcb waren die fiir die Aufnahme geltenden 
Gesichtspunkte nicbt wesentlich verandert. Die Frauenabteilung batte 
allerdings eine Aenderung erfahren, insofern eine Abteilung fur him- 
und nervenverletzte Soldaten abgesondert wurde. Dadurch ist die 
absolute Zahl der zur Aufnahme gelangendeu Frauen gegenuber der 
Friedenszeit herabgesetzt und dementsprechend die Prozentberecknung 
grosseren Zufalligkeitsschwankungen ausgesetzt worden. Man kann bei 
unserer Zusammenstellung den Einwand machen, dass die Aufnahmen 
der Klinik nicht den naturlichen aus der Bevblkerung sich ergebenden 
Zuwachs an psychischen Erkrankungen darstellen, sondern im gewissen 
Sinne eine Auswahl fur die Zwecke der Klinik. Es ist aber zu be- 
merken, dass gerade die akuten psyfchotischen Falle, also diejenigen, 
die fur die Frage der Kriegsatiologie vorwiegend in Betracht kommen, 
so gut wie ausnahmslos aufgenommen worden sind. Abweisungen in 
starkerem Umfang fanden hdchstens bei alten Fallen, besonders auch 
bei alten fortgeschrittenen Paralysen statt. Doch war dieser Brauch in 
den Friedensjahren ebenso gewesen, so dass die Verhaltnisse in dieser 
Hinsicht nicht geandert sind. 

Die Tabelle geht vom Jahre 1913 aus. Es ware erwunscht ge¬ 
wesen, den Kriegsjahren auch mehrere Friedensjahre entgegenstellen 
zu kbnnen. Das war aber untunlich, weil die Verschiedenheit der klassi- 
fikatorischen Betrachtungsweise meines Vorgangers und der jetzt ge- 
bandhabten eine einheitlicbe Verwertung des Materials vor dem 
Jahre 1913 wenigstens hinsichtlich der endogenen Zustande schwierig 
gestaltet hatte. 

Ich babe micb bei der tabellariscben Uebersicht auf die hauptsach- 
lichsten Erkrankungen beschrankt. Nicht aufgefuhrt sind die Epilepsie, 
die nicht schizophrenen paranoischen und paranoiden Prozesse, diesympto- 
matischen, die arteriosklerotischen, senilen, luischen Psychosen, die 
sonstigen organischen Prozesse, die Rcntenbegutachtungen, die foren- 
sischen und anderen Begutachtungen, die unklaren Falle. Die relatir 
kleinen Zahlen, in denen ein Teil dieser Erkrankungen auftrat, liess 
doch keine sicheren Schlussfolgerungen zu und bei den anderen inter- 
essierte der Zusammenhang mit dem Kriege nicht. Die Epilepsie babe 


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724 


K. Bonhoeffer, 


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ich an anderer Stelle schon besprochen 1 ). Es ist klar, dass nur grSbere 
VerSnderungen in der Aufnahmeziffer Scblnssfolgerung enzulassen. 



Schizo¬ 

phrenic 

Manisch- 

depressive 

Erkran¬ 

kungen 

Progressive 

Paralyse 

Hysterie, 

Psycho¬ 

pathic 

Alkoholis- 

raus 

Morphinis¬ 

ms, 

Kokainismus 


M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

1913 

7,9 

18,2 

2,0 

6,0 

13,5 

6,25 

12,0 

15,0 

12,4 

3,7 

0,24 

0,53 

1914 

9,5 

16,0 

1,2 

7,9 

12,3 

6,09 

16,6 

21,0 

11,6 

3,3 

0,25 

0,22 

1915 

8,8 

16,0 

1,6 

8,5 

6,0 

4,6 

36,0 

15,7 

8,9 

1,9 

1,06 

0 

1916 

8,0 

13,0 

2,2 

11,9 

9,2 

3,0 

26,0 

12,0 

3,2 

0 

0,75 

2,4 

1917 

7,9 

16,0 

1,2 

4,3 

8,1 

4,8 

25,4 

20,0 

1,8 

0,5 

0,9 

0 


Bei der Schizophrenie sehen Sie, dass nur geringfiigige Schwan- 
kungen sowohl bei Miionern wie bei Frauen sich ergeben. Ich habe 
diese Tabelle schon im vergangenen Jahre einmal in dieser Geseilschaft 
bis zum Jabre 1916 reichend vorgelegt. Auch das Jabr 1917 hat sich 
in demselben Rahmen gehalten, es bat sich zuf&llig sogar genau die- 
selbe Prozentzahl wie im Jabre 1913 ergeben. 

Bei den manisch-depressiven Erkrankungen sind auf der 
M&nnerseite die Zahlen ziemlich gleich geblieben, jedenfalis ist von 
einer ausgesprochenen Zunahme oder einem Ruckgang der Erkrankungen 
nicht die Rede. Bemerkenswert ist die geringe absolute Zahl, in der 
wir die manisch-depressiven Erkrankungen bei den M&nnern uberhaupt 
auftreten sehen. Das zeigt sich auch darin, dass wahrend in Friedens- 
zeit das Verhaltnis der Aufnahmen von Manisch-depressiven zu Schizo- 
phrenen etwa 1 zu 4 ist, es wShrend der Mebrzahl der Kriegsjahre 
sich wie 1 zu 5 Oder 1 zu 6 verh&lt, und wahrend im allgemeinen 
die manisch-depressiven Erkrankungen bei Frauen im Durchschnitt etwa 
2 bis 3 mal so haufig als bei Mann era in dem Anstaltsmaterial sich 
finden, hat sich auch dieses Verhaltnis in demselben Sinne verschoben, 
dass die manisch-depressiven Miinneraufnahmen nur 1 j t bis 1 / 8 der 
Frauen betragen. Ich mochte mieh enthalten, daraus irgend welche 
Schlussfolgerungen zu ziehen, insbesondere nicht die, dass die manisch- 
depressiven Erkrankungen hier uberhaupt seltener wSren. Was ich 
sonst in Poliklinik und in der Bevolkerung sehe, spricht durchaus nicht 
in diesem Sinne. 

Auch bei der progressiven Paralyse liegen die Verhaltnisse 
so, dass jedenfalis von einer Zunahme der Paralyse in unserem Material 
nicht gesprochen werden kann. 

1) Diese Monatschrift. 1915. 38. Bd. 


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Einige Schlussfolgerungen aus der psychiatrisohen Krankenbewegung usw. 725 

Ausgesprochene Zunahmen seben wir bei der psychopathischen 
Eonstitution, und zwar auf der Minnerseite. Wir sehen ein An- 
steigen yon 12 auf 25 pCt., im Jahre 1915 sogar auf 36 pCt. Es bedarf 
das keiner weiteren Erklining. Bald nach Kriegsbeginn wurde es ersicht- 
licb, dass fur diese Eategorie der psychisch Labilen der Krieg ein 
ausserordentlich anfallfdrderndes Agens geworden ist. 

Als Gegenstuck sehen wir, wie der Alkoholismus von 12 pCt. 
auf 1,8 pCt. im Jahre 1917 zuruckgegaugen ist, und zwar ergibt sich 
deutlich ein vom Jahre 1916 ab besonders sicb steigernder Riickgang. 
Im Jahre 1918 wird der Prozentsatz noch niedriger, er ist auf 0,6 
heruntergegangen. Wie die Statistiken von anderwarts lehren und eine 
Erhebung innerhalb Preussens, die wie ich annehme, bald bekannt ge- 
geben werden wird, zeigt, bandelt es sich um eine durch das ganze 
Reich gebende Erscheinung. Durch die Freundlichkeit des General- 
sekretars des Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getranke, Herrn 
Prof. Gonser, habe ich aus einer grossen Anzahl von Alkoholfursorge- 
stellen des Reichs Berichte fiber den Alkoholismus wahrend des Krieges 
bekommen. Die Jabreszuginge dieser Ffirsorgestellen, die zusammen 
vor dem Erieg etwas mebr als 6000 betrugen, sind auf etwa 500, also 
nm etwa 90 pCt. zuruckgegangen. Das entspricht ziemlich genau den 
Zahlen, die die Erankenhausstatistik ergibt. 

Von Einzelheiten, die sich aus dieser Enquete ergeben, ist bemer- 
kenswert, dass Suddeutschland an der Abnahme etwas weniger Teil zu 
nehmen scheint. Es erkl&rt sich das wohl daraus, dass der in Sud¬ 
deutschland fibliche Weinkonsum weniger stark durch die Eriegsver- 
h&ltnisse beeinflusst worden ist, und dass die dort haufigen, kleinen Haus- 
brennereien fur Fruchtschn&pse gesetzlich weniger leicht fassbar sind. 
Ein zweiter Punkt ist, dass der Ruckgang des weiblichen Alkoholismus 
nicht ganz Schritt halt mit dem m&nnlichen, Das war eigentlich zu 
erwarten. Es ist eine alte Erfahrung, dass Frauen, wenn sie zum Alko¬ 
holismus gelangen, schwerere Formen zu zeigen pflegen. Sie koramen 
weniger aus sozialen, als aus Grunden der endogenen psychopathischen 
Anlage zum Alkoholismus. Dazu kommt nun in den Eriegszeiten das 
Hereinwachsen der Frauen in die m&nnlichen Arbeits- und damit auch 
Trinkgewohnheiten und dazu die geringere Toleranz der Frau gegen 
Alkoholika. 

Das Verschwinden des Alkoholismus ist auch noch in anderer Rich- 
tung von atiologischem Interesse. Es ist eine sehr vielen Psychiateru 
noch gelaufige Vorstellung, dass dem Alkoholismus auch abgesehen von 
seiner atiologischen Bedeutung fur die alkobolistischen Geistesstorungen 
im engeren Sinne eine erhebliche auslosende Bedeutung auch fur die 


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726 


K. Bonhoeffer, 


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Entwicklung anderer Geistesstfirungen zukomme. Die Siemerling’sche 
. Schule, speziell E. Meyer ist bekanntlick der Ansicht, dass der chro- 
niscbe Alkoholmissbraucb jede Form geistiger Stfirung bervorrufen 
kann. Yon Kraepelin und von den Franzosen ist versucht worden, 
Grfinde daffir geltend zu machen, dass bei der Entwicklung der 
progressiven Paralyse deni chroniscben Alkobolismus eine auxili&re Be- 
deutung zukommt. Ware das ricbtig, so ware zu erwarten, dass sich 
das jetzt, wo wir seit einigen Jahren in der Anamnese kaum mehr 
etwas von Alkobolismus bfiren, in einem Rfickgang auch der nicbt 
alkobolistiscb psychischen Erkrankungen anssprache. In meinem Mate¬ 
rial ist davon nicbts zu bemerken. Oebmig weist in seinem Dresdener 
Material darauf hin, dass die alkoholistiscben Anamnesen bei semen 
Geisteskranken von 310 vor dem Krieg auf 54 im Jahre 1917 zurfick- 
gegangen sind, wall rend in der Aufnahmezahl der Geisteskranken sich 
keine entsprechende Aenderung gezeigt babe. Sicherer wird sicb fiber 
diese Frage urteilen lassen, wenn wir das Gluck haben, nocb einige 
Jahre alkobolismusfrei zu sein, weil dann auch der Einwand nicbt 
mehr gemacbt werden kann, dass der frfihere Alkoholismus noch 
nacbwirkt. 

Auch die Frage der chroniscb paranoiden A Ikoho I psychosen, deren 
Existenz besonders von Kraepelin betont worden ist, wird jetzt viel- 
leicht einer KlSrung entgegenzuffihren seiu. Wenn es ricbtig ist, wie 
icb annehme, dass bei diesen sogenannten chronischen Alkoholpsychosen 
der Alkoholismus nur eine Begleiterscheinung darstellt, die der ersten 
Krankheitspbase vielleicht eine besondere F&rbung gibt, wahrend das 
Wesentlicbe das endogene Moment ist, so werden diese Krankheitsfalle 
auch jetzt noch unabhangig vom Alkoholabusus zur Beobachtung kommen 
mfissen. Klarbeit fiber diese Punkte zu bekommen, ist im Interesse 
einer scbarferen atiologischen Gruppierung der einzelnen Geisteskrank- 
heiten durchaus geboten, und es ist zu boffen, dass uns die Zeit der 
Zwangsnfichternheit das ermoglicbt. 

Zum Schluss habe icb noch die Tabcllen des Morphinisms und 
Kokainismus aulgefuhrt. Die Tatsache, dass es sich bei der Abnahme 
des Alkoholismus nicht um selbstgewahlte Euthaltsamkeit, sondern 
urn eine Zwangsnfichternheit handelt, lfisst daran denken, dass das 
narkotische Streben in dieser einer Stimmungshebung so sehr bedfirf- 
tigen Zeit andere Wege sucht. Aus der Mitteilung der Alkoholfur- 
sorgestellen und auch aus eigenem Erfahren wissen wir, dass die 
Nachfrage nach Hoffmannstropfen, Baldriantinktur und fibnbchem erheb- 
lich gestiegen, dass der Genuss von vergfilltem Spiritus sehr zugenommen 
hat. Eine wesentlicbe Bedeutung kommt dieser Quelle des Alkoholis- 


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Einige Schlussfolgerungen aus der psychiatrischenKrankenbewegang usw. 727 

mus aber kaum zu. Von besonderem Interesse war es zu erfahren, ob, 
etwa das Morpbium oder Kokain in st&rkerem Grade an Stelle des 
Alkohols getreten sei. Tats&cblich besteht ohne Zweifcl eine Zunabme 
des Morphinismus. Wahrend 1913 der Prozentsatz der Morpbinisten 
and Eokainisten zusammen 0,24 ansmachte, betrug er dio folgenden 
Jahre das 2 bis 3 and noch mehrfache. Der Anteil bleibt aber auch 
im Jahre 1917 noch unter 1 pCt. 1m Jahre 1918 ist es jetzt so, dass 
die Zahl der Morphinistenaufnahmen die der Alkoholisten ganz er- 
heblich ubersteigt. Wir baben unter den Aufnahmen der Mannerab- 
teilung 0,6 pCt. Alkoholisten und 2 pCt. Morpbium-, bzw. Kokain- 
suchtige, bei den Frauen Alkobolistinnen 0 pCt. und Morphinistinnen 
4 pCt. 

Die Nacbfrage bei einigen sich mit Morpbium- und Kokainent- 
ziehungen beschaftigenden Sanatorien ergab eine Bestatigung dieser 
Beobachtung. Eine wesentliche Steigerung, vor allem der Morpbinisten, 
wird berichtet. 

Dm einen Ersatz des Alkoholisraus durch diese Intoxikationen handelt 
es sich aber nicht. Das ergxbt die Durchsicht der Krankengeschichten, die 
in keinem Fall die Abldsung des Alkohols durch Morphium oder Kokain 
zeigt. Die wesentliche Ursache fur die Zunahme liegt in der vermehr- 
ten Anwendung des Morphiums, die der Krieg mit sich gebracht hat. 
Schwestern, Offiziere, Soldaten sind es vor allem, die den Kreis der 
Konsumenten bildem Es mag auch sein, dass die Unzulanglichkeit 
und Einfdrmigkeit der Ernahrung, wie sie auch die Neigung zum Tabak- 
gebraucH gesteigert hat, das Loskommen von dem urspriinglich arztlich 
verordneten Morpbium erschwert bat. 

Dnsere Prozentberecbnung gibt mit bemerkenswerter Anschaulich- 
keit das Wesentliche der psychiatrischen Kriegserfahrungen wieder. Nur 
die psychopathischen Konstitutionen einschliesslich der Hysterie und von 
den Intoxikationspsychosen der Alkobolismus und Morphinismus zeigen 
in ihrem zahlenmassigen Auftreten eine ins Auge fallende Aenderung. 
Die Drsachen dafur liegen in den uns bekannten Kriegsverbaltnissen. 
Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankungen und progressive Paralyse 
sind in ihrem Haufigkeitsverhaltnis kaum verandert. Der Schluss, den 
meines Erachtens auch die Individualbeobachtung ergibt, -dass bei diesem 
letzteren die Kriegsverhaltnisse einen irgend welcben ausscblaggebenden 
Einfluss nicht ausgeubt baben, drangt sich auf. Er wird noch zwingender 
werden, wenn auch andernorts ahnliche Untersuchungen in grdsserem 
Dmfang dieses Ergebnis bestatigen. Dass Kriegserlebnisse, wie Unter- 
ernahrung, ErschOpfung und Emotionen keinen nachweisbaren Einfluss 
auf den Ausbruch dieser Psychosen ausuben, ist nicht nur von der 


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728 Bonhoeffer, Einige Schlussfolgerungen a. d. psychiatr. Krankenbeweg. usw. 

bislier fast ausschiiesslich betrachteten praktischen Seite der Dienst- 
besch&digungsfrage aus wichtig. Hier, kann man sagen, ist es schliess- 
lich gleichgultig, ob der Milit&rfiskus oder die Gemeinde die Geistes- 
kranken versorgt. Je schSrfer aber die Bedeatungslosigkeit der ge- 
nannten exogenen Faktoren sich allm&hlich hervorhebt, am so ein- 
dringlicher wird die Stiologische Forschung sich der Aufkl&rang der 
inneren somatischea Entstehungsbedingungen dieser Psychoseo zaweoden 
mussen. 


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XXV. 


Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Konigs 
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer). 

Zwei Fiille von Haarausfall nach Kopfschuss- 

verletzung. 

Von 

Franz Pfabel, 

approb. Arzt 


Es ist wohl allgemein anerkannt, dass man fur diejenigen Alopezien 
beim Menschen, deren Aetiologie unbekannt ist, nicht eine einheitliche 
Krankheitsursache annehmen kann. Wahrscheinlich ist es, dass es unter 
diesen eine Alopezie (und zwar eine Alopecia areata) gibt, die einen 
parasit&ren Ursprung hat. Trennt man aber diese F&lle ab, so findet 
man in der Literatur die verschiedensten Theorien zur Erkl&rung der 
Entstehung der ubrigen Alopezien. Zwei eigenartige F&lle von Alopezie 
nach Kopfschussverletzung, die ich aus der hiesigen Rlinik mitteilen 
mOchte, geben Veranlassung, auch auf die Entstebungsbedingungen der 
Alopezien allgemein einzugehen *)• 

Fall 1. 26jahriger Trainfahrer W., im jfrvilberuf Maler, unverheiratet. 
Mutter uud Vater des Pat. sollen nervos gewesen sein. Eine Schwester der 
Mutter befindet sich in einer Nerrenheilanstalt. In der Sehule hat W. gut ge- 
lemt, im Alkoholgenuss ist er massig gewesen. Keine Gesohlechtskrankheiten. 
1910 will er 3 Monate an teiner Bleivergiftung krank gelegen haben. Am 
17. 8. 1914 trat er als Kriegsfreiwilliger ins Beer ein und riickte anfangs des 
Jahres 1915 ins Feld. Am 3. 11. 1916 wurde er durch Minensplitter an der 
rechten Kopfseite und am linken Fusse verwundet. Er will etwa 3 Stunden 
nach der Verwundung bewusslos gewesen sein. Blutaustritt aus Nase und 
Mund hat er nicht bemerkt, jedoch hat er mehrmals erbrochen. Lahmungs- 
ersoheinungen haben nie bestanden. Am 13.11. wurde eine Revision derKopf- 
wunde vorgenommen. In den ersten Woohen nach der Verwundung 
begannen dem Pat. die Haare auszugehen. Es traten kreisformige, 
kahle Stellen auf, die aUmahlich konfluierten. Nach 6 Wochen war der Kopf 
vollig kahl. In weiteren 6 Wochen verlor W. auch die Barthaare und die 
ubrigen Haare des Korpers. Nur in den Achselhohlen blieben wenige Haare 
stehen. In den naohsten Monaten traten am Bauch und am Riioken weisse 
Flecken auf. Wahrend dieser ganzen Zeit bestanden dumpfe Kopfschmerzen, 


1) cf. Demonstration der Falle im Ver. f. wissensch. Heilkunde durch 
A. Pelz. Deutsche med. Woohenschr. 1918. Nr. 29. 

▲rehiv t. Psyebiatrie. Bd. 60. Heft 2/3. ±~ 


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Franz Pfabel, 


die zeitweise exazerbierten, nnd ein Zncken von derWnnde nach der Stirne za. 
Am 1.2.1917 wnrde er za seinem Ersatztrappenteil entlassen nnd tat leichten 
Dienst bis znm Beginn des Jahres 1918. Nach mehrmaliger Untersnchnng anf 
der Kopfsohnssstation des Festnngsbilfslazaretts I in Kdnigsberg i. Pr. wnrde 
er am 26. 2. in die Psychiatriscbe and Nervenklinik aafgenommen. 

Befund vom 26. 2. Gat entwickelter Mann. Hor- and Sehfahigkeit 
normal. Keine Geschmacks- and Geraohsstdrangen. Organe der Brast- und 
Leibeshohle ohne krankhaften Befund. Pals regelmassig, 72 in der Minute. 
Hoden von normaler Grosse, in richtiger Lage. Vor nnd fiber dem rechten Ohr 
befindet sich eine 4 om lange, verschiebliche, etwas drnckempfindliche Narbe. 
Eine Rontgenaufnahme des Scbadels lasst keine Knochenverletzang erkennen. 
Yollkommenes Fehlen der Haare anf dem Kopf, der Aagenbranen, der Bart- 
haare in Kinn-, Wangen- and Lippengegend. Aach am ganzen fibrigen Korper, 
anf der Brast und in der Sohamgegend fehlen die Haare, nar in den Achsel- 
hohlen fin den sich einzelne, blonde, lange Haare. Aaf dem Kopf sieht man 
fleckweise ganz feine weisse Lanngohaare, ebenso in der Branengegend. Sonst 
zeigt die Haut des Kopfes normaleBeschaffenheit. In der rechtenLeistengegend 
befindet sich ein 8 cm langer, 3 cm breiter weisser Vitiligofleck mit konvexem 
Rand, ausserdem 4 kleinere Flecke von anregelmassiger Form. In der linken 
Leistengegend sieht man einen fast rnnden weissen Fleck, angefahr von 5Mark- 
stfickgrosse. In der Umgebang 5 kleinere, etwa ovale Flecke. Die Vorderseite 
des Hodensackes wird von einem grossen, weissen Fleok eingenommen. In der 
Kreazbeingegend befindet sich ein weiterer ovaler weisser Fleck, der 10 cm 
lang, 2 cm breit ist, darfiber mehrere kleinere unregelmassige Flecke. Die 
Umgebang der Flecken ist etwas pigmentreicher als die fibrige Haut. Sonst 
zeigt die Haut an den Vitiligoflecken normale Beschaffenheit. An dem linken 
inneren Fassknochel befindet sich eine kleine verschiebliche Narbe. 

DieUntersachang desNervensystems ergibt: Pupillen reagieren auf Lioht- 
einfall and Konvergenz, die Augenbewegangen sind frei, der Konjnnktival- and 
Kornealreflex ist vorhanden, ebenso der Rachenreflox. Die Hirnnerven sind 
samtlich intakt. Die Reflexe der oberen Extremitaten sind vorhanden. Knie- 
sehnenreflex and Achillessehnenreflex sind lebhaft. Kein Fassklonas, kein 
Babinski. Abdominal- and Kremasterreflex sind vorhanden. Die Motilitat der 
Arme nnd Beine ist frei. Jedoch besteht eine allgemeine Kraftlosigkeit der 
Maskelleistang. Romberg negativ. Berfihrangs-, Schmerz-, Temperatar- nnd 
Tiefensensibilitat ist am ganzen Korper ohne Abweiohung von der Norm. 

Das geschlechtliche Verlangen soli seit der Verwundung erheblich ab- 
gesohwacht sein. Zuweilen Erektionen morgens, Pollationen alle 14 Tage bis 
3 Wochen. Fast daaernd dampfe Kopfschmerzen, die zeitweise exazerbieren, 
ofters Stechen am die Angen heram. Zuckangen von der Wnnde aas nach der 
Stirn werden empfanden. Im psychischen Verhalten keine auffalligen Er- 
scheinnngen. 

Fall 2 . Flieger Sm., im Zivilberaf Sohlosser. Will auf der Schale gut 
gelernt haben. 1912 soli er an einem Langenspitzenkatarrh gelitten haben. 


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Zwei Falle von Haaransfall nach Kopfschussverletzung. 731 

Potas and venerische Krankheiten warden negiert. Im November 1915 wnrde 
er eingezogen. Ab Januar 1916 lag er 2 Monate wegen eines Kehlkopfkatarrhs 
im Lazarett. April kam er ins Feld nnd wnrde im September durch einen 
Granatsplitter an der Stirne verwnndet. Er will 12Tage nach derVerwnndnng 
bewosstlos gewesen sein. Keine Sprachstornngen, keine Lahmungen traten anf, 
nor zeitweise Schwindelgefuhl und Kopfschmerzen. Nach 2 Uonaten wnrde er 
ans der Lazarettbehandlung entlassen nnd im Jannar 1917 zn den Fliegern 
versetzt. Im September bemerkte er ein tanbes Gefhhl in der Stirngegend, 
dfters litt er nnter Kopfschmerzen. Die Kopfhaare begannen ihm allmahlich 
strichweise ansznfallen. Am 12. 12. meldete er sich krank nnd kam zunaohst 
in ein Kriegslazarett in Mitan, dann nach Liban. Er wnrde dort mit Elektri- 
sieren des Kopfes nnd wegen seiner Sohlaflosigkeit mitSchlafmitteln behandelt. 
Hit Lazarettzng kam er in die hiesige psychiatrische nnd Nervenklinik. 

Befnnd vom 12. 2. 1918. 1,65 m grosser Mann von kraftigem Korperbau, 
got ansgebildeter Mnsknlatnr nnd genhgendem Fettpolster. In der Medianebene 
der Stirn befindet sich eine 5 cm lange, got verheilte, blasse, verschiebliche 
Narbe. Einige Zahne in Ober- und Untorkiefer sind karios. An den seitlichen 
nnd hinteren Partien des behaarten Kopfes befinden sich 7 langliche, kahle 
Stellen. Sie haben fast alle eine nngefahr ovale Form, einige sind fast streifen- 
formig. Der Uebergang in die behaarten Stellen ist ein allmahliober. Die 
Hant zeigt an den kahlen Stellen normales Aussehen und normale Spannnng. 
An den Organen der Brust- nnd Lejbeshohle lassen sich keine krankhaften 
Erscheinnngen nachweisen. Hoden von normaler Grosse, in richtiger Lage. 

DieUntersnohnng desNervensystems ergibt: Pnpillen mittelweit, reagieren 
anf Lichteinfall nnd Konvergenz gut. Lidflattern. Konjunktival- nnd Korneal- 
reflex vorhanden, dbenso der Raohenreflex. Reflexe der oberen Extremitaten 
prompt anslosbar. Kniesehnen- nnd Achillessehnenreflex sehr lebhaft. Ab¬ 
dominal* nnd Kremasterreflex vorhanden. Kein Patellar- nnd Fnssklonns. 
Babinski nnd Oppenheim nicht vorhanden. Starkes vasomotorisohes Nachroten. 
Motilitat der Extremitaten frei. Keine Ataxie, kein Tremor. Bei Lidfnsssohlnss 
psychogenes Schwanken. Sensibilitat intakt. 

Kopfschmerzen werden geklagt. Libido soli wesentlich nachgelassen 
haben. Keine morgendlichen Erektionen. (Beim Koitns habe der Samen 
keinen Drock.) 

Wenn wir die angefuhrten Falle in vorhandene Einteilungen von 
Alopezien einzufugen suchen, kOnnen wir zunSchst mit ziemlicher Sicher- 
heit sagen, dass das Trauma, also hier die Kopfschussverletzung. 
mit der Alopezie in Zusammenh'ang gebracht werden muss, 
Beim ersten Fall begann die Alopezie unmittelbar nach dem Trauma 
aufzutreten, beim zweiten allerdings erst nach ungefahr einem Jahr. 
Trotzdem werden wir auch diesen Fall nnter die traumatischen Alope¬ 
zien rechnen mussen, denn das Krankheitsbild stimmt ganz mit dem 
einer traumatischen neurotischen Alopezie uberein, wie wir es unten 
beschreiben werden. Nach dem geschilderten Krankheitsverlaufe mussen 

47 * 


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732 


Franz Pfabel, 


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wir das Trauma fur ziemlich erheblich balten. Es wird in beiden 
Fallen eine Gehirnerschutterung vorgelegen haben. Micheisan gab als 
erster eine gute Einteilung der Alopezien. Er trennte von der Alopecia 
areata die Alopecia neurotica ab und bracbte diese letzjere in folgendes 
Schema: 

Neurotische Alopezien 

1. nach traumatischen Affektioneu des Zerebrums oder des peri- 
pheren Nervensystems, 

2. nach inneren Erkrankungen des Nervensystems. 

Die Alopecia areata kann man nach dem klinischen Bilde von der 
Alopecia neurotica abtrennen. Pohlmann beschreibt in seinen „Bei- 
tragen zur Aetiologie der Alopecia arpata“ eingebend das Bild der 
Alopecia areata. Er versteht unter Alopecia areata diejenige Form des 
Haarausfalls, bei der inmitten der behaarten Regionen kreisfdrmige, 
scharf konturierte, blasse, glatte, haarlose Scheiben auftreten, die lange 
isoliert bleiben kdnnen, meistens aber durch fortdauernde Randver- 
grdsserungen und das sprungweise Auftreten neuer Flecken zur Kon- 
fluenz gelangen und so gelegentlich zu mehr oder minder allgemeiner 
Kablheit fuhren. Die Kopfhaut an und fur sich bleibt bei der Alopecia 
areata absolut normal. Sekundare Krankbeitsprodukte wie Scbuppen, 
Krusten, Blaschen, Follikulitiden oder Narben fehlen vollst&ndig. Cha- 
rakteristisch ist ferner, dass, so lange die Erkrankung fortschreitet, die 
Haare der dem kahlen Fleck unmittelbar angrenzenden Zone gelockert 
sind und durch leisesten Zug ohne abzubrechen epiliert werden k5nnen. 
Die Haare selbst sind meist normal, gelegentlich findet man glatte, 
nach der Wurzel zu diinner werdende, Ausrufungszeichen ahnliche Haar- 
stiimpfe, welche den Rand der kahlen Flecke umsaumen. Berucksichtigt 
man weiter den launenhaften Verlauf, die oft sprungweise und uber- 
raschende Zeilung der Afifektion, den negativen histologiscben und 
bakteriologischen Befund, so kann man die Alopecia areata als Krank- 
heitsbild sui generis von fast alien anderen mit Alopezien einhergehen- 
den Erkrankungen trennen. 1m Gegensatz hierzu findet man bei der 
Alopecia neurotica unregelm&ssige (strichformige, dreieckige, landkarten- 
fdrmige) kahle Stellen. Der Uebergang in die behaarten Stellen ist 
ein ganz allm&hlicher. Michelson erwkhnt ausserdem noch als cha- 
rakteristisch den azyklischen Verlauf, das Vorkommen von Lanugohaaren, 
die nicht seltene Kombination mit Verf&rbung der gesund gebliebenen 
Haarbezirke. 

Vergleichen wir unsem zweiten Fall mit diesen Krankheitsbildem, 
so ist es unschwer zu erkennen, dass er unter die neurotischen Alopezien 
eingereiht werden muss. Denn wir linden hier unregelm&ssige, raanch- 


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Zwei Faile von Haarausfall nach Kopfschussverletzung. 733 

mal strichformige, kahle Stellen, allmfihlichen Uebergang zu den be- 
haarten Zonen. Nach der Michelson’schen Einteilung wfirde also 
dieser Fall unter „die neurotischen Alopezien nach traumatischen 
Affektionen des Zerebrums" einzureihen sein. ■ 

Die Michelson’sche Einteilung der neurotischen Alopezien ist aber 
nicht vollstfindig. Joseph hat in seinem Lehrbuch der Haarkrankheiten 
eine dritte Kategorie hinzugeffigt, in die er die im Anschluss an Ge- 
mfitserregungen auftretenden Alopezien einreibt. Rock hat in seinem 
„Beitrag zur Kenntnis der Alopecia neurotica 11 12 solcher Faile zu- 
sammengestellt und einen 13. neu beschrieben, in denen Alopezien nach 
Schreck Oder anderen Gemutserschutterungen auftraten. Ausser den 
wahrecheinlich parasitaren Alopezien, die immer als kreisffirmige auf- 
treten, gibt es noch eine Art von Alopecia areata, die ohne besondere 
Veranlassung bei sonst gesunden Menschen. auftritt und deren Ent- 
stebungsursache vfillig unbekannt ist. 

Ueberseben wir noch einmal die Einteilung, so gibt es also: 

1. eine Alopecia areata unbekannten Ursprungs, 

II. eine Alopecia areata, wahrscheinlich parasitaren Ursprungs, 

III. eine Alopecia neurotica 

1. nach traumatischen Affektionen des Zerebrums und der 
peripheren Nerven, 

2. nacb inneren Erkrankungen des Nervensystems, 

8. nach Gemutserschutterungen. 

Diese Einteilung, die zwar nichts Naheres fiber die pathologiseh- 
histologischen VorgSnge bei der Entstehung aussagt, ware doch einiger- 
massen befriedigend, wenn es nun nicbt Faile von neurotischen Alopezien 
gibe, die das Symptomenbild einer typischen Alopecia areata zeigen. 
Einen charakteristischen Fall hat Pfihlmann beobachtet. Nach einer 
vdlligen Erscbfipfung in einem Schneesturm bei einer Bergbesteigung 
bekam ein 34jahriger Maler vom 5. Tage ab Ausfall und stellenweises 
Ergrauen der Kopf- und Barthaare. Sftmtliche haarlose Flecke im 
Kopf- und Bartbaar waren von rundlicber Form und scharf begrenzt. 
Die Haut selbst war blass, glatt, frei von alien entzfindlichen Verfinde- 
rungen Oder irgend welchen Auflagerungen. Die Sensibilit&t war intakt. 
Die Haare in der Umgebung der kablen Flecke waren zum Teil ergraut, 
folgten leisem Pinzettenzug, ohne abzubrechen. Sie zeigten filters die 
Form des Ausrufungszeichens, anderweitige anatomische Veranderungen 
des Haares konnten bei fifters ausgeffibrter mikroskopischer Untersuchung 
nicht festgestellt werden. Die ganze Affektion, sowobl der kreisffirmige 
Haarausfall wie das Ergrauen war stets streng halbseitig, nur auf die 
rechte Kopfhfilfte beschrfinkt. Das Symptomenbild ist hier also das 


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734 


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Franz Pfabel, 

einer typischen Alopecia areata. Die Art dee Entstehens, vielleicht 
auch das Auftreten grauer Haare in der Umgebung der Flecke sprecben 
fur eine Alopecia neurotica. Pdhlmann hilft sicb, indem er das Leiden 
„Alopecia areata neurotica 11 nennt. Einen weiteren Fall hatPohlmann 
1915 verdffentlicht. Nach einer Schussverletzung des Armes traten 
kreisfdrmige, kahle Stellen auf dem Kopfe auf. 

Auch unsern ersten Fall muss man als Alopecia areata neurotica 
bezeichnen. Wahrend unserer Beobachtung bat zwar kein kreisformiger 
Haarausfall bestanden, Patient gab jedoch mit Sicherheit an, dass zu- 
n&chst kreisfdrmige Herde bestanden, die sp&ter konfluierten. Es handelt 
sich also um eine Alopecia areata neurotica nach Trauma. (Pdhlmann 
schlug vor, mit der Diagnose Alopecia traumatica alle diejenigen Fille 
zu belegen, bei denen im Anschluss an ein bekanntes Trauma Haaraus¬ 
fall gleichviel welcher Art sich eingestellt hat; dagegen die Diagnose 
Alopecia neurotica fur die F&lle zu reservieren, bei denen Haarausfall 
im Gefolge lokaler oder allgemeiner Nervenleiden oder bei besonders 
disponierten Personen nach einem psychischen Shock eingetreten ist. 
Wir halten es fur zweckmMssig, im Sinne der Michelson’schen Ein- 
teilung die Bezeichnung Alopecia neurotica als zusammenfassenden Be- 
griff zu gebrauchen, von der die Alopecia traumatica eine Unterab- 
teilung ist.) 

Wir seben aus diesen Fallen, dass es unzulAnglicb ist, bei der 
Einteilung auf das klinische Symptomenbild einen so ausscblaggeben- 
den Wert zu legen. Die Einteilung muss auf den pathologisch-histo- 
logLschen VorgSngen bei der Entstehung des Krankheitsbildee sich auf- 
bauen. Die verschiedensten Autoren haben sicb schon um die Er- 
forscbung dieser Vorg&nge berauht. Durch experimentelle oder mikro- 
skopisch-histologische Untersuchungen ist man nicht vorw&rts gekommen 
und es ist bei Hypotbesen geblieben, die s&mtlich nicht unangefocbten 
sind. Nur die Hypothese, die fur gewisse kreisfdrmige Alopezien eine 
parasit&re Entstehung annimmt, ist wohl, wie ich schon anfangs er- 
w&hnte, fast allgemein anerkannt. Man glaubt n&mlich, die F&lle von 
Alopecia areata, wo dieselbe in Epidemien auftritt, nur durch die An- 
nahme einer mittelbaren oder unmittelbaren Uebertragung eines Kon- 
tagiums erklaren zu kdnnen. Die bekannteste Epidemic ist wohl eine 
im Jahre 1904 von Th. Mayer beschriebene, die unter der Schutzmann- 
scbaft Berlins um sich griff. Von 35 Polizeimannschaften eines Reviers 
erkrankten 12, die s&mtlich demselben Wacbbezirk angehdrten. Sie 
benutzten in ihrem Wachlokal nacheinander dieselben Betten. Die 
einzige befriedigende Erklirung ist hier die Uebertragung eines Ron- 
tagiums, dessen Entwickelung und Infektiosit&t vielleicht durch die 


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Original fro-m 

CORNELL UNIVER5WY - 



Zwei Palle von Haarausfall nach Kopfschussverletzung. 735 

Bettw&rme begunstigt wurde. Aber auch hier ban del t es sich nor um 
eine Hypothese, denn der Pilzbefund und das Tierexperiment fehlen. 

Von den weiteren Hypothesen, die zur Erklarung der Alopezien 
aufgestellt sind, ware zun&chst eine altere und zwar die „tropho- 
neurotische Theorie“ zu erwahnen, die bereits von Barensprung 
verfocbten wurde. Als Stutze dieser Theorie wird das Experiment 
Joseph’s angefuhrt. Joseph schnitt das zweite Spinalganglion bei 
Katzen aus und erzielte dadurcb herdfbrmige Alopezien an bestimmten 
Stellen des Kopfes. Joseph selbst trat unter Bezugnahme auf dies 
Experiment fur die trophoneurotische Natur der Alopecia areata ein. 
Er nahm an, dass durcb sein Experiment die Existenz bestimmter 
trophischer Fasern erwiesen sei, durch deren Zerstorung der Haarausfall 
eintrete. Kflster prufte das Joseph’sche Experiment nacb und konnte 
es bestatigen, jedoch tritt der Haarausfall durcbaus nicht regelm&ssig 
adf und wird durch Scheuern der Katzen an den Kafigwanden begunstigt. 
K os ter glaubte, dass es zur Erklarung durchaus nicht n&tig sei, die 
Existenz bestimmter trophischer Nervenfasern anzunehmen. Die Stbrungen 
lassen sich nach seiner Meinung in befriedigender Weise erklaren, wenn 
man den sensiblen Nervenfasern eine allgemein trophische Funktion zu- 
schreibt. Wenn gewisse Hautstellen nicht mehr unter dem Einflusse 
der ihre voile Lebensenergie und Sensibilitat aufrechterhaltenden Nerven 
stehen, so sind sie widerstandsloser gegen Traumen geworden und bei 
sonst ganz bedeutungslosen Reizen k&nnen sich „trophische“ Stdrungen 
entwickeln. Eine Anzabl von Alopezien ist nun sicher auf dieselbe Art 
entstanden wie im Joseph’scben Experiment, durch Nervenverletzungen. 
Ich will nur 2 Beispiele anfubren: Re my schildert einen Fall, in dem 
nach Resektion eines 1 cm langen Stuckes des Nervus frontalis sich 
Haarausfall einstellte. Pantoppidan sah kreisfdrmigen Haarausfall 
nach Exstirpation eines Drusentumors in der Karotisgegend, der obere 
Zervikalnerv war bei der Operation verletzt worden. 

Jedoch ist das nur ein kleiner Teil der Alopezien, die man auf 
diese Weise erklaren kann, eben diejenigen, die nach Verletzung eines 
peripheren Nerven auftreten. 

Pbhlmann und auch Rock glaubeta, dass man auch bei Alopezien, 
die nach Commotio cerebri auftreten, anatomische Veranderungen im 
Zentralnervensystem als ursachliches Moment annehmen muss. Stutzen 
wollen sie diese Annahme dadurcb, dass Schmaus und Skagliosi 
tatsachlich bei Erschutterung des Gehirns und des Ruckenmarks mikro- 
skopiscb nachweisbare Schadigungen des Gehirns nachweisen konnten. 
Sind Kdster’s Anscbauungen richtig, dass es keine besondere trophi- 
schen Nervenfasern gibt, sondern dass der Haarausfall durch Verletzung 


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CORNELL UNfVERSSTV 



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Franz Pfabel, 


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der sensiblen Nerven (oder hier Nervenzentren) hervorgerufen wird, 60 
miissten sich in alien diesen Fallen von Haarausfall nach Commotio 
cerebri entsprechende Stdrnngen der Sensibilitat nachweisen lassen. In 
unsern beiden Fallen ist davon aber nickts nachweisbar. Nock mekr 
sprecken gegen diese Anffassung Fade von Ergrauen der Haare und 
Pigmentschwund der Haut nach Commotio cerebri, die Goldscbeider 
1917 ver5ffentlicht hat. In einem Fall waren als Folgen ciner Gehim- 
erschutterang neben Herabsetzung des GeruchsvermSgens und anderen 
Erscheinungen die Sensibilitat der recbten Gesichts- und KOrperh&lfte 
herabgesetzt. Dennoch fand sich das Ergrauen der Haare und der 
Pigmentschwund vdllig symmetrisch auf beiden KOrperhalften. 

Goldmann sucht diesen und einige andere Falle nun auch nicht 
durck die StSrung sensibler Zentren, sondern durch die Lasion des 
Va8omotorenzentrums im verlangerten Hark und des Sympathikus 
zu erklaren. Gegen diese Ansckaunng spricbt aber, dass im Tier-, 
experiment nach Lasion des Vasomotorenzentrams tiefer gelegene Zentren 
im Ruckenmark die Funktion ubernehmen. Aber vielleicht liegt dock 
dieser Anschauung etwas Richtiges zugrunde, nur dass wobl die aus- 
giebigere Wirkung auf das sympathische Nervensystem durch 
Beeinflussung der inneren Sekretion und zwar der Hypophysen- 
sekretion durch das Trauma hervorgerufen wird. Wir kommen spater 
hierauf zuruck. 

Kurz wollen wir noch Jaquet’s Theorie zur Erklarung der Alopecia 
areata anfuhren. Er will den meisten Fallen einen Reizzustand der 
Zahne zugrunde legen. Nach Head’s Zahnschema gehort aber zu 
jedem Zakn eine bestimmte Empfindlichkeitszone. Auf diese ent¬ 
sprechende Zone musste bei Erkrankung eines Zahnes der Haarausfall 
besckrankt sein. Dies ist aber nach Bettmann’s Beobachtungen durch- 
aus nicht der FalL Pohlmann meint, dass gegen Jaquet’s Theorie 
auch der Umstand spricht, dass im Verhaltnis zu der grossen Zahl von 
Zahnerkranknngen doch die Alopecia areata selten vorkommt. 

Alle diese Hypothesen beziehen sich auf Nummer 1 der Michel- 
son-Joseph’schen Einteilung „nenrotische Alopezien nach tranmatisclien 
Affektionen des Gehirns oder der peripheren Nerven.“ Fur die Alo- 
zepien nach Gemutserregungen stellt Pfihlmann in Uebereinstimmung 
mit Wecbselmann folgende Hypothese auf: Er glaubt, dass kaum 
anatomische Ver&nderungen im Zentralnervensystem in solchen Fallen 
anzunehmen sind.'j Der Schreck bewirkt aber vasomotorische St6- 
rungen und zwar eine spastische Kontraktion der kleineren Arterien, 
die auch fur das Gefuhl sich durch blitzartig auftretende Par&sthesien 
bemerkbar macht. Eine solche, wenn auch vorubergehende Arterien- 


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Zwei Falls von Haar&usfall nach Kopfschussverleizung. 


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kontraktion soil nun den Stoffwechsel des Haares stfiren und den Haar- 
ausfall [bewirken, zumal da das Haar nur durch wenige rait voller 
Lebensenergie erfullte Zellen mit dem Edrper verbunden ist. Auch sei 
es ja bekannt, dass das Haar fiberhaupt sebr empfindlich gegen Anfimie 
sei, da ein einmaliger grfisserer Blutverlust (Menorrhagie, Abort, Partus) 
bHufig Haarausfall nach sich ziehe. Der Haarausfall ist also nach dieser 
Hypothese eine Folge der Anfimie, die durch Kontraktion der kleinern 
Geffisse infolge des psychischen Traumas entsteht. Diese Kontraktion 
muss aber doch durch eine Reizung der Geffissnerven hervorgerufen 
sein. Und zwar muss doch das psycbische Trauma an einer zentralen 
Stelle eipwirken, von der der Reiz weitergeleitet wird. Wir sehen, dass 
diese Hypothese Berfihrungspunkte mit der Anschauung Goldmann’s 
hat. Nur kann Goldmann nach den Gehirnerschfitterungen anato- 
mische Verfinderungen annehmen, wfihrend bei dem Haarausfall nach 
Gemfitserregungen Rock, unserer Meinung nach mit Recht, einwendet, 
dass sich in dem Tatsachenmaterial der Pathologic hierfur keine Analogic 
finden dfirfte, da ja das die Alopezie ausldsende Trauma gegenfiber der 
Dauer der bleibendeu Haarlosigkeit verschwindend kurz ware. Noch 
einen Einwand kann man erheben. Der Haarausfall tritt in alien Fallen 
erst einige Tage nach der Gemfitserregung auf, wenn das psychische 
Trauma schou langst vorfiber ist. Poblmann sucht diesen Einwand 
in seiner Arbeit vom Jahre 1915 dadurcb zu entkraften, dass er sagt, 
es kSnne sich um einen ahnlichen Vorgang handeln, wie Kreibich ibn 
als Spfitreflex beschrieben habe. 

Buschke und nach ihm Bettmann ist es gelungen, durch Ver- 
fattening von Thallium beziehungsweise Abrin bei Tieren areata- 
abnliche Alopezien hervorzurufen. Bettmann stellte sogar aufbauend 
auf diese Versuche eine Intoxikationstheorie der Alopecia areata beim 
MetfSchen auf. Buschke glaubte dagegen, dass man auf diese Versuche 
noch keine Theorie der Alopezie grfinden kbnne. Pohlmann konnte 
durch Nachuntersuchungen die Resultate dieser Autoren bestatigen. 
Durch spektralanalytische Untersuchungen der einzelnen Orgaue suchte 
er Anhaltspunkte fiber die Verteilung des Medikaments im TierkOrper 
zu gewinnen, fand aber Thallium ausschliesslich in den Nieren. 

Die Beobachtung, dass gewisse StOrungen der Hypophysen- 
funktion mit Haarausfall verbunden sind, legte es nahe, auch bei 
unsern oben beschriebenen Fallen an eine Beeinflussung der Funktion 
der Hypophyse durch das Trauma zu denken. Es ist bekannt, dass 
man den Vorderlappen und den Mittellappen der Hypophyse als Drfisen 
mit innerer Sekretion anspricbt, von denen jede ihr besonderes Hormon 
sezerniert. Biedl berichtet fiber eine grosse Auzahl von eigenen und 


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738 


Franz Pfabel, 


fremden Tierversuchen, bei denen Teile des Vorderdriisenlappens entfernt 
wurden. Es fanden sicli als Folge der Exstirpation neben Fettanh&u- 
fungen und Verfettung der inneren Organe, Zuruckbleiben im Wachstum, 
Anomalie und Fehlen der Behaarong, Hypoplasie der Genitalien. Biedl 
meint, dass mit Sicherheit nur die Wachstumshemmung (darunter sind 
auch die Anomalien der Behaarong verstanden) mit dem Fehlen des 
Vordcrlappengewebes in Zusammenhaug gebracht werden kann, obwohl 
man zun&chst geneigt ware, den ganzen Symptomenkomplex anf den 
Ausfall des Vorderlappens zu beziehen. 

Wir wolletf jetzt sehen, bei welcher Art von Hypophysen- 
erkrankungen des Menschen Haarausfall vorkommt. Zuu&cbst ist 
bei Fallen von Zwergwucbs, die auf Hypophysencrkrankungen beruhen, 
Storungen des Haarwuchses eine gewOhnliche Begleiterscbeinung. Einen 
instruktiven Fall zeigte Spriuzel in der Gesellschaft der Aerzte in 
Wien. Ein 17jahriger, intelligenter jnnger Mann, der im 3. Lebens- 
jahre einen Sturz erlitten batte, bdrte vom 5. Lebensjahre auf zu 
wachsen. Er zeigte eine Kdrperl&nge von 106 cm and proportionierten, 
kindlichen ROrperbau. Die Turkensattelgrube erschien r&ntgenologisch 
vergrdssert. Neben Vermehrnng der Urinmenge auf 3500—4000 ccm 
und Dekoloration der Papille im ophthalmoskopischen Bild bei normaler 
Sehsch&rfe zeigte sich vSlliges Fehlen der Behaarung am ganzen R5rper. 
Die Haut war auffallend trocken, die Schweisssekretion feblte. Biedl 
fasst den Fall so auf, dass ein im Anschluss an das Trauma im Turken- 
sattel entstandener Tumor mit geringer Wacbstumstendenz durch seinen 
Druck eine starke Funktionseinschr&nkung des Hypophysenvorderlappens 
und auf diese Weise die WachstumsstOrung und das Fehlen der Be¬ 
haarung bedingt habe. Das Symptom der Polyurie weise darauf hin, 
dass gleichzeitig eine Deberfunktion des Mittellappens bestehe. Zwei 
weitere Falle von Zwergwucbs fuhrt Biedl an, bei denen klinische 
Zeicben eines Hypophysentumors (bitemporale Hemianopsie, beiderseitige 
Optikusatrophie) bestanden. Auch in diesen beiden Fallen war der 
Rtirper unbehaart. Es gibt aber auch Falle von Hypophysentumor ohne 
Zwergenwuchs, bei denen ebenfalls Haarausfall eintritt. Einen solchen 
beschreibt Schloffer. Im Jabre 1900 begann das Leiden im 23. Le¬ 
bensjahre mit anhaltenden Eopfschmerzen. Im Jahre darauf begannen 
die Kopfhaare auszugehen, spater die Haare am ubrigen KSrper. Die 
Potenz litt im Verlauf der Krankheit; zuerst fehlte die Libido sexualis, 
seit 1906 auch die Erektion. Eine allgemeine Kraftlosigkeit der 
Muskelleistung entstand allmahlich. Im Jahre 1907 nahm Sohloffer 
wegen des Eintritts einer bitemporalen Hemianopsie und wegen der 
starken Eopfschmerzen eine Operation vor. Ein Toil des Tumors wurde 


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Zwei Falle von Haarausfall nach Kopfschussverletzong. 


739 


entfernt und erwies sich als Adenom. Nach wesentlicher Besserung des 
Zustandes, vor allem AufhSren der Kopfschmerzen, kam der Patient 
pldtzlich nach 2 1 j 2 Monaten zum Exitus. Die Sektion zeigte einen 
grossen Tumor der Hypophyse, der in das Gebiet des Foramen Monroi 
and darch das Genu corporis callosi gedrungen war und dadurch zu 
chronischem Hydrocephalus internus gefubrt batte. Ausserdem bestand 
AnSmie nnd Oedem des Gehirns, Hypoplasie der Hoden. Wir miissen 
annehmen, dass es sich in diesem Fall um einen Hypophysentumor 
handelte, der vom Vorderlappen ausging. Die Zellen des Tumors 
werden nicht spezifisck sezerniert, sondern die Funktion des Vorder- 
lappens gest6rt haben, denn bei Hyperfunktion des Vorderlappens in- 
folge spezifiscber Sekretion eines Vorderlappentumors kommt es zu 
Akromegalie, die meist von Hypertrichosis begleitet ist. 

Aus den Tierexperimenten und den Erscheinungen bei Hypophysen- 
erkrankungen des Menschen, kann man also mit einiger Sicherbeit 
schliessen, dass die Funktion des Vorderdrusenlappens der 
Hypophyse wie fiberhaupt zum Wachstum des Kdrpers auch in 
inniger Beziehung zum Haarwuchs steht. Und zwar kommt es 
bei einer Hyposekretion des Hormons zur Hemmung des Haarwuchses, 
bei Hypersekretion zu Hypertrichosis. 

Kommen wir nun auf nnsere Falle zurfick, so sehen wir, dass 
unser erster Fall verscbiedene Beziehungen zu dem von Schloffer 
beschriebenen Fall hat. In Schloffer’s und in unserem Fall findet 
sich das fast v5llige Feblen der Behaarung, die Rraftlosigkeit der 
Muskelleistung und das Fehlen der Libido sexualis. Es fehlen aber in 
nnserm Fall die durch den Tumor als Fremdkdrper bedingten Erschei¬ 
nungen, so die Hemianopsie. 

Vielleicht kOnnen wir aber auch in unserm Falle eine Schadigung der 
Funktion des Hypopbysenvorderlappens annehmen. Es mag diese 
Anffassung auf den ersten Blick gesucht erscheinen, doch gibt es einen 
ahnlichen Vorgang in der Pathologie, bei dem durch ein Trauma eine 
Stdrung der innerenSekretion hervorgerufen wird. Esistdies dieGlykosurie 
nach Zuckerstich. Durch den Zuckerstich wird nach Kahn ein zentraler 
Reiz ausgeldst, der auf dem Wege des syropathischen Nervensystems eine 
abnorme Adrenalinsek retion in der M arksubstanz der Nebennieren hervorruft. 
Durch den Ueberschuss an Adrenalin, der ins Blut gelangt, steigt der 
Znckertonus d. h. die Konzentration des Zuckers im Blute und ffihrt 
zur Hyperglykamie, welche von einer Glykosurie gefolgt ist. Aber noch 
weiter geht die Analogic. Es ist zum Auftreten der Glykosurie nicht 
eine experimenteiie Verletzung am Boden des vierten Ventrikels ndtig, 
auch nach Gehirntraumen tritt afters Glykosurie auf. 


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740 Franz Pfabel, 

Der Unterschied besteht nur darin, dass hier der Reiz ausl&send 
auf die innere Sekretion wirkt, wahrend er in unserm Falle bemmend 
wirken musste. Vielleicht druckt sich liierin ein Antagonismus des 
sympathischen und parasympathischen Nervensystems aus, der Art, dass 
in unserem Falle das parasympathische Nervensystem geschadigt war. 

Wir seheo, dass wir uns hier Goldmann’s Anschauung tojd der 
Entstehung des Haarausfalls durch Lesion des sympathischen (resp. 
parasympathischen) Nervensystems nfihern, nor dass wir noch eiue Be- 
einflussung der inneren Sekretion des Vorderlappens der Hypophyse 
als Zwischenglied annehmen. 

Fur welche Arten von Haarausfall konnen wir nun die Storung 
der Fnnktion des Hypophysenvorderlappens als Entstehungs* 
ursache annehmen? 

Zunfichst mfissen wir an die Haarausffille nach traumatischen 
Affektionen des Gehirns, wie in unseren Fallen, denken. Aber auch 
bei den Alopezien nach Gemfitserregungsn kann man sich eine StQrung 
der Hypophysenfunktion auf dem Wege des sympathischen resp. para¬ 
sympathischen Nervensystems vorstellen und vielleicht kGnnen auch 
manche kreisfdrmige Alopezien unbekannten Ursprungs auf Hypo- 
physenstdrangen zurfickgeffihrt werden 1 ). 


Literatnrverzeichnis. 

1. Bettm&nn, Ueber Beziehungen der Alopecia areata zu dentalen Rei- 
zungen. Arch. f. Derm. u. Syph. 1904. Bd. 70. 

2. Biedl, Innere Sekretion. Ihre physiologisohe Grundlage und ihre Bedeu- 
tung fur die Pathologie. 1913. 2. Aufl. 

3. Buschke: a) Weitere Beobachtungen fiber die physiologischen Wirkungen 
des Thalliums. Deutsche med. Woohenschr. 1911. b) Klinische und ex- 
perimentelle Beobachtungen fiber Alopecia congenita. Arch. f. Derm. u. Syph. 
1911. Bd. 118. 

4. Goldmann, Pigmentveranderungen der Haut und Haare und Alopezie 
infolge von Verletzungen des Zentralnervensystems. Dermat. Zeitschr. 
1917. Bd. 24. 

5. Jaquet, Akromegalie mit Alopecia areata. Berl. klin. Wochenschr. 1911. 

6 . Joseph, Lehrbuch der Haarkrankheiten. 1911. 

7. Foster, Zur Physiologie der Spinalganglien und der trophisohen Nerven, 
sowie zur Pathogenese der Tabes dorsalis. Monographic. Leipzig 1904. 

1) Nach Abschluss meiner Arbeit wurde mir der Aufsatz von Spiegler, 

Ueber einen Fall von Alopecia universalis trophoneurotica nach Granatshok 

(Wiener klin. Woohenschr. 1918. Nr. 40) bekannt, auf den ioh daher nur hin- 

weisen kann. 


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Zwei F&Ue Ton Haaransfall nach Kopfsohussverletzung. 


741 


8 . Lesser, Lehrbuoh der Haat- and Gesohlechtskrankheiten. 13. erweiterte 
Aufl. 1914. 

9. Mayer, Znr Uebertragung der Alopecia areata. Derm. Zeitsohr. Bd. 13. 

10. Nobl, Stndien znr Aetiologie der Alopecia areata. Wiener mod. Wochen- 
schrift. 1911. 

11. Pdhlmann, a) Beitrage znr Aetiologie der Alopecia areata mit experimen- 
tellen Untersuohnngen fiber die Thallinmalopezie. b) Alopacia areata neu- 
rotica naoh Schussverletzung. Munch, med. Wochenschr. 1915. 

12. Rock, Beitrag znr Eenntnis der Alopecia neurotica. Derm. Zeitsohr. 
1913. Bd. 56. 

13. Sobloffer, Alopezie bei Hypophysistumor. Wiener klin. Wochensohr. 
1907. 

14. Sprecher, Neuer Beitrag znm Studinm der Alopecia tranmatica. Arch, 
f. Derm. u. Syph. 1909. Bd. 94. 

15. Tigerstedt, Lehrbuch der Physiologic des Mensohen. 3. Aufl. 1905. 

16. Vignolo Lutati, Ueber die experimentellen Alopozien durchAbrin. Arolu 
f. Derm. u. Syph. 1912. Bd. 111. 

17. Wechselmann, Ueber traumatische Alopezien. Deutsche med. Wochen- 
sohrift. 1908. Nr. 46. 

Zitiert nach Pdhlmann: 

1. Jaquet, La pelade dentaire. Annal. de derm, et syphil. 1902. 

2. Joseph: a) Zur Aetiologie der Alopecia areata. Zentralbl. f. med. Wissen- 
sohaft. 1886. b) Ueber Nervenlasion und Haarausfall mit Bezug auf die 
Alopecia areata. Virch. Arch. Bd. 116. 

3. Pantoppidan, Bin Fall Ton Alopecia areata nach Operation am Halse. 
Monatsh. f. prakt. Derm. 1889. 

Zitiert nach Rock: 

1. Michelson in Ziemssen’s „Hautkrankheiten u . Bd. 2. S. 139. 

Zitiert nach Biedl: 

1. Sprinzel, Demonstration eines Falles Ton Hypophysentumor mit Zwerg- 
wuohs. Wiener klin. Wochenschr. 1912. 

2. Kahn, Zuckerstioh und Nebennieren. Pfliiger’s Arch. f. d. ges. Physiol. 
1911. Bd. 140. 


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XXVI. 


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Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten. 

Ein Gutachten 
von 

Ernst Schultze (Gottingen). 

Vor einiger Zeit wurde ich von einer Regierung um die Erstattung 
eines Gutacbtens darfiber ersucht, ob eine in ibrem Bezirk liegende 
Privatirrenanstalt gewerbesteuerpflichtig sei Oder nicht. Nur selten wird 
ein Psychiater fiber diese Rechtsfrage ein Gutachten zu erstatten haben. 
Aber nicht das veranlasst mich, das Gutachten mit nur unwesentiiohen 
Aenderungen zu verfiffentlichen, sondern vielmehr der Umstand, dass 
ich gezwungen war, mich fiber einige grunds&tzliche Fragen aus der 
praktischen Irrenheilkunde oder, richtiger gesagt, der Anstaltspflege 
auszulassen. Von unmittelbarem Interesse sind sie in erster Linie ffir 
den Besitzer oder Leiter von Privatirrenanstalten. Max Edel hat vor 
kurzem in seinem Aufsatz fiber „Sanatorien und Umsatzsteuer" in der 
Psych.-Neurol. Wochenschr. XX. Jahrg. 1918. Nr. 85/36 auf mein Gut¬ 
achten bezug genommen und dessen VerOffentlichung, um die ich von 
vielen Seiten gebeten wurde, in Aussicht gestellt. 

Der Tatbestand ist sehr einfach. 

Die Privatirrenanstalt X., die zwei Irrenilrzten gehfirt und von 
ihnen geleitet wird, wurde zur Gewerbesteuer berangezogen. Sie legten 
gegen die zu ihren Ungunsten ausgefallene Berufungsentscheidung der 
Regierung Beschwerde bei dem Oberverwaltungsgericht ein, dessen 6. Senat 
in seiner Sitzung am 1. XII. 1915 sich eingehend mit den in der Be¬ 
schwerde enthaltenen Punkten befasste. Auf diese Entscheidung braucbe 
ich nicht des Genaueren einzugehen; alles NOtige ergibt sich aus meinem 
Gutachten. Nur einen mehr formalen Punkt mocbte ich hervorheben. 
Auch nach dieser Entscheidung hat nicht der Arzt oder Dntemehmer 
der Anstalt den Gegenbeweis daffir zu erbringen, dass dem Anstalts- 
betriebe der gewerbliche Charakter fehlt; vielmehr haben die Veran- 
lagnngsbebOrden hier wie uberal 1 die tats&chlichen und rechtlichen 


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Die Gewerbesteuerpflioht der Privatirrenanstalten. 


743 


Voraussetzungen der bestrittenen Steuerpflicht festzustellen. Naturlich 
liegt es im Interesse der Aerzte, selbst auf die massgebenden Umstande 
hinzuweisen; jedenfalls haben sie diejenigen wesentlichen Tatsachen 
geltend zu machen und nOtigenfalls zu beweisen, die sich der Kenntnis 
der Verwaltungsbehdrden auch bei sorgfal tiger Ausubung der Ermitte- 
lungspflicht entziehen 1 ). 

Icb lasse daa Gutachten folgen: 

Auf Ersuchen der Kdniglichen Regierung zu . . . erstatte ich in 
Sachen betreffend die Beschwerde der Inhaber des Sanatoriums in X. 
wegen der Veranlagung zur Gewerbesteuer fur das Steueijahr 1914 das 
von mir erbetene Gutachten. Dieses hat vor allem die AusfUhrungen 
der Entscheidung des Sechsten Senats des KSnigl. Preussischen Ober- 
verwaltungsgericbts vom 1. Dezember 1915 zu berucksichtigen. 

Zur Erstattung des Gutachtens babe ich nicht nur die mir zur Ver- 
fugung stehende juristische und mediziDische Literatur benutzt, sondern 
auch die Antworten, die ich auf die uberwiegende Mehrzahl meiner an 
etwa 80 deutsche, vor allem preussische Privatanstalten gerichteten 
Anfragen erhalten habe 2 ). 

Es erscheint mir ratsam, das Gutachten in 3 Abscbnitten zu erstatten. 

I. 1st eine Privatirrenanstalt, deren Besitzer gleicbzeitig der 
leitende Arzt der Anstalt 1st, schlechtweg und insbesondere 
die in X. gewerbesteuerpflichtig? 

II. 1st die Yereinigung der beiden Aerzte nur aus der Absicht 
der Gewinnerhohung zu erkl&ren? 

III. Was kOnnen die Inhaber der Anstalt fur ibre Srztlicbe Tatig- 
keit an der Hand der arztlichen Gebuhrentaxe berechnen? 

I. 

A. Der Irrenarzt ist nur selten in der Lage, Geisteskranke in 
ibrer Wohnung Oder in seiner Sprechstunde zu behandeln. Naturgemass 
kOnnen dies nur ruhige und lenksame Kranke sein, die keiner beson- 
deren Aufsicbt bedurfen. Die Mehrzahl der Geisteskranken bedarf aber 
zu ihrem eigenen Schutze oder mit Rucksicht auf andere einer Ueber- 
wachung, deren Dauer und Strenge von Fall zu Fall abgestuft werden 
muss; sie muss also in einer geschlossenen Anstalt verpflegt werden, 
da fur sie ein offenes Sanatorium nicht ausreicht. Die AngehOrigen 

1 ) Fuisting, Kommentar zu den Gewerbesteuergesetzen. 3. Anil. 
1906. S. 75. 

2) Auf diesem Wege erhielt ich Kenntnis von einer Reihe oberstgerioht- 
licher Entscheidungen, die bisher nicht verSffentlicht sind. Auoh solohe Ent- 
soheidungen habe ich in meinem Gutachten ohne Angabe der Quelle verwertet. 


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744 


Ernst Schaltze, 


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der Kranken, soweit sie den besseren Standen angehoren, habdn vielfacb 
Bedenken, ihre Verwandten einer offentlichen Anstalt zu ubergeben. 
Sei es mit Rucksicbt auf das Gerede in der Welt, sei es, weil sie 
glauben, die Aufnabme in eine Privatanstalt werde weqjger bekannt, 
sei es, weil sie auf grosseren Komfort, bessere Verpflegung, die Gew&h- 
rung umfangreicber Wohnung, die MSglichkeit, auch Familienmitglieder 
anfzunehmen, grossen Wert legen, sei es scbliesslich, weil ibnen an 
einer ausgietftgeren, individuelleren arztlichen Behandlung, als eine 
offentliche Anstalt bieten kann, gelegen ist. 

Selbstverst&ndlich ist nur der Irrenarzt zur Behandlung yon Geistes- 
kranken bernfen. Aber er kann diese aus den oben angefuhrten Grunden 
in der uberwiegenden Mehrzahl nur bebandeln, indem er sie in einer 
Anstalt unterbringt. Zur Sicherung einer sachgemassen Behandlung ist 
es aber weiter erforderlich, dass der Irrenarzt Herr in der Anstalt ist. 
Somit stellt die Irrenanstalt das zur Behandlung der Geisteskranken 
unerl&sslich notwendige Instrument dar, und der Irrenarzt ohne sie 
wire ebenso ubel dran wie der Chirurg ohne das Messer. 

Schon die Unterbringung in der Anstalt an und fur sich kann oft 
genug ein Heilmittel sein, indem sie die Reize der Aussenwelt dem 
Kranken fernhalt, und des Hinzutretens besonderer arztlicher Behand¬ 
lung bedarf es in diesem Falle nicht. In andern Fallen wieder kommt 
es mehr auf den engsten Anschluss des Kranken an den Arzt an; der 
Kranke wird geradezu Mitglied seiner Familie und findet so seine Ge- 
nesung. In der Mehrzahl der Falle gehen diese beiden Wirkungen, die 
Entziehung. der Freiheit und die Beeinflussung durch den Arzt, Hand 
in Hand. 

Freilich darf nicht verkannt werden, dass nicbt jedes Haus schlecht- 
weg sich fur die Aufnahme von Geisteskranken eignet. Hinsicbtlich 
seines Baues und seiner Einrichtung muss es bestimmten Anfordemngen 
genugen, die nur der Sachverstandige beurteilen kann. Vor alien Dingen 
muss eine Gewahr dafur geleistet werden, dass der Kranke weder sich 
noch andere beschadigen, dass er immer hinreichend beaufsicbtigt 
werden kann. Hierzu kommen noch Vonichtungen, um im Notfalle 
einen Kranken zu isolieren (Zellen), ihn langere Zeit unter Aufsicht und 
Vermeidung einer Abnahme der Wassertemperatur zu baden (Dauerbader) 
usw. Einer besonderen Einrichtung bedurfen naturlich einzelne Fenster, 
die, sofern sie nicht vergittert sind, nicht you jedem ohne weiteres zu 
Offnen Oder zu zerstdren sind, sowie die Verschlusse an den Turen. 

Daraus ergibt sicb, dass ein Gebaude, das fur die Unterbringung 
yon Geisteskranken bestimmt und geeignet ist, fur andere Zwecke kaum 
benutzt werden kann. 


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Die Gewerbesteaerpflicht der Privatirren&nstalten. 745 

Weiter muss berucksichtigt werden, dass die £eh and lung der Geistes- 
kranken in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht hat. 
Diesen Fortschritten muss auch der Anstaltsbau gerecht werden. An- 
stalten, die vor einigen Jahrzehnten gebaut sind, sind heute nicht nur 
veraltet, sondern uberhaupt nicht mehr zu gebrauchen. Hinsichtlich des 
Baus von Irrenanstalten haben sich grundsUtzliche Anscbauungen geSndert, 
und wahrend beispielsweise fruher die Isolierung unruhiger Geistes- 
kranker an der Tagesordnung war, wird sie heute vielfach geradezu 
verpOnt und durch ihre Unterbringung auf WachsSlen ersetzt. 

Aber nicht nur der Bau des Krankenhauses und alle seine tech- 
nischen Ginrichtungen mussen bestimmten gesundheitspolizeilichen An- 
forderungen genugen, bevor die nach der Gewerbeordnung notwendige 
Konzession erteilt wird, sondern auch die Kuche und deren Betrieb muss 
in jeder Beziehung dem Arzte unterstellt sein, soli die Irrenanstalt ihren 
Zweck erfullen. Denn nor so wird die Sicherheit geschaffen, dass der 
Kranke die Nahrung erhalt, deren er bedarf; auch bei Geisteskranken 
spielt die Frage der zweckmEssigen Ern&hrung eine grosse Rolle. 

Danach bilden die Unterbringung der Kranken, ihre Verpflegung 
and arztliche Behandlung ein einheitliches Ganze, das nicbt auseinander 
gerissen werden kann. Der wirtschaftliche und der arztliche Betrieb 
ipnss grundsatzlich einheitlich sein. 

Es bedurfte langerer K&mpfe, ehe dieser Grundsatz fur die Offent- 
lichen Irrenanstalten dadurcb seine Anerkennung fand, dass der allein 
verantwortlicbe Leiter der Irrenanstalt ein Arzt ist. Heute werden 
woj^l alle offentlichen Irrenanstalten, von nur wenigen Ausnahmen ab- 
gesehen, von einem Arzte geleitet, dem der oberste Verwaltungsbeamte, 
auch wenn er in seinem Bereich v&llig selbstandig ist, untergeordnet 
ist. Der ganze Anstaltsbetrieb soil eben in den Dienst des Arztes ge- 
stellt werden. 

Fiir die Privatirrenanstalten besteht die Preussische aligemeine 
Anweisung vom 26. Marz 1901, die ausdrucklich vorschreibt, dass sie, 
soweit es sich nicht um wirtschaftliche und BQroangelegenheiten handelt, 
„von einem in der Psychiatrie bewanderten Arzt geleitet werden“ 
mussen; der Leiter der Anstalt, gleichgultig ob er gleichzeitig Anstalts- 
besitzer ist oder von diesem angestellt wird, muss, wie es weiter heisst, 
nach seiner Approbation fur gewOhnlich mindestens zwei Jahre in einer 
grOsseren Offentlichen, nicht nur fur Unheilbare bestimmten Irrenanstalt 
oder in einer psychiatrischen Universitatsklinik tatig gewesen sein. 

§ 20 der genannten Anweisung schreibt ganz genau vor, welche 
Obliegenheiten dem leitenden Arzt zu ubertragen sind. Dabei handelt 
es sich nicht allein um die Krankenpflege, die Anstellung und Aus- 

Areb.iT f. Psychiatrie. Bd. 60. Heft 2/3. 43 


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Ernst Schultze, 


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bildung des Pflegepersonals, die Ffihrung der Erankengeschichten (§ 21) 
sowie bestimmter Bucher and Listen, sondern auch urn die Anord- 
nung der Kost, die Beantwortung aller schriftlichen und mfindlichen 
Anfragen von Behfirden und Anverwandten, soweit sie sich auf den 
Zustand der Kraoken, ihre Behandlung, Aussichten auf Entlassung oder 
Geuesung usw. beziehen. Der firztliche Leiter muss in der Anstalt 
wohnen, sofern sie heilbare Eranke aufnimmt. 

Der spezifische Charakter der Irrenanstalt ergibt sich auch daraus, 
dass wohl kaum jemand ganz aus freien Stricken, insbesondere ohne 
firztlichen Rat, eine geschlossene Anstalt aufsucht, es sei denn, dass 
er die bestimmte Absicbt bat, ein Gesundbeits- oder Erankheitsattest 
zu erlangen. Eeiner will mit einer Irrenanstalt etwas zu tun haben r 
und das gilt auch dann, wenn sie die euphemistische Bezeichnung 
„Sanatorium u ffihrt. 

Tatsficlilich darf in die Privatirrenanstalt niemand ohne Erfiillung 
bestimmter Vorschriften, fiber die ebenfalls die erwfihnte Ministerial- 
anweisung Aufscbluss gibt, aufgenommen werden. Ja, sogar bei der 
Aufnahme von Eranken, die „freiwillig u in die Irrenanstalt eintreten, 
bedarf es bestimmter FOrmlichkeiten. Die Genehmigung zur Aufnahme 
freiwillig Eintretender wird von dem Regierungsprfisidenten unter dem 
Vorbebalt jederzeitigen Widerrufs auf besonderen Antrag erteilt. 

Unter den Aufnahmevorschriften spielen gerade die firztlichen Zeug- 
nisse eine besondere Rolle. Das ergibt sich daraus, dass nicht nur zu 
jeder Aufnahme ein firztliches Zeugnis notwendig ist, sondern zu 6einer 
Ausstellung nur der Ereisarzt oder der firztliche Leiter einer fiffent- 
lichen Irrenanstalt oder einer psychiatrischen Universitfitsklinik berufen 
ist; es muss mit anderen Worten eine gewisse Gewfihr ffir die fachliche 
Ausbildung des Arztes, der die Aufnahme der Eranken in die Privat- ^ 
irrenanstalt ermfiglicbt, gegeben werden. Das Aufnabmeattest muss 
ausdrficklich nicht nur eine geistige Stfirung, sondern eine durch sie 
bedingte Anstaltspflegebedfirftigkeit bescbeinigen. Der Anstaltsleiter, 
der jemanden ohne ein derartiges Attest aufnimmt, wurde sich grfissten 
Unannehmlichkeiten aussetzen. 

Jede Privatirrenanstalt in Preussen muss jfihrlich zweimal von dem 
zustfindigen Ereisarzt revidiert werden. Ebenso findet seit 1896 jfihr- 
lich eine Besichtigung der Privatanstalten durch eine Besuchskommission 
statt. Wenn auch an dieser ein hdherer Verwaltnngsbeamter, vielleicht 
auch der zustfindige Landrat, teilnimmt, so fiberwiegt doch in ibr das 
firztliche Element; denn zu ihr gehOrt noch der Regierungs- und Medi- 
zinalrat der zustfindigen Regierung, der zustfindige Ereisarzt und der 
Direktor einer fiffentlichen Irrenanstalt. 


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Die Gewerbesteuerpflioht der Privatirrenanstalten. 


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Wie sich daraus aufs deutlichste ergibt, haben die BehSrden den 
Aerzten einen so erheblichen Einfluss auf den Bau, die Einrichtung und 
den Betrieb einer Irrenanstalt ausdrdcklich zugewiesen, dass unbedenk- 
lich die Irrenanstalt einem Heilmittel gleicbgestellt werden kann. 

Es mag auch darauf bingewiesen werden, dass fur den Rnf einer 
Privatirrenanstalt nicht sowohl ihre landschaftliche Lage, die Bequem- 
lichkeit, sie zu erreichen, ihre Ausstattung oder die Gfite des Essens 
massgebend sind, als vielmehr die persOnlichen Eigenschaften des Arztes, 
nicht nur in wissenscbaftlicher, sondern auch in rein menschlicher Be- 
ziehung. Das Ansehen, das er bei seinen Kollegen geniesst, das Zu- 
trauen, das er sich bei seinen Eranken und derfen Familien erworben 
hat, bestimmen in viel grOsserem Masse die Frequenz der Anstalt. 

Der Chirurge kann beute ohne ein Rontgenlaboratorium nicht aus- 
kommen. Seine Einrichtung und Unterhaltung ist sehr kostspielig. 
Dass diese Unkosten von den Patienten getragen werden, ist selbst : 
▼erst&ndlich. Ein Rontgenlaboratorium kSnnte auch von einem Nicht* 
arzt beschaffen, geleitet und dem Publikum gegen Entgelt zur Verfugung 
gestellt werden. In diesem Falle wfirde das Rontgeninstitut zweifellos 
gewerbesteuerpflichtig sein. Ich habe aber noch nicht gehfirt. dass der 
Chirurge hinsichtlich seiner Rfintgeneinrichtung zur Gewerbesteuer heran- 
gezogen 'wird, w&hrend wohl jeder Anstaltsbesitzer dies einmal erfahren 
hat. Der Unterschied ist wohl darin begrundet, dass das Rfintgen- 
laboratorium etwas neues und ungewfihnliches ist, w&hrend die Privat* 
irrenanstalt oder das Sanatorium vom Publikum mehr oder weniger mit 
einem Hotel auf eine Stufe gestellt wird. 

Aus diesen Darlegungen ergibt sich, dass die Privatanstalt eine 
Einrichtung ist, deren Eigenschaften bis in alle Einzelheiten vom Arzte 
vorgeschrieben und dauernd geprfift werden mfissen, soli sie ihrem Zweck 
dienen, und dass auch bei dem Betriebe der Anstalt fortlaufend der 
Irztliche Zweck obwalten, sowie eine 6tetige Srztliche Kontrolle statt- 
finderi muss. Die Anstalt bildet somit einen wesentlichen oder vielmehr 
notwendigen Bestandteil der Behandlung der Geisteskranken, ohne die 
der Psychiater nicht auskommen kaon. 

Somit gehOren die Einrichtungen und der Betrieb einer Privat¬ 
irrenanstalt vom krztlichen Standpunkte aus unmittelbar zur psy- 
ehiatrischen Tberapie. 

Was im allgemeinen fiber den Betrieb einer Privatirrenanstalt ge- 
sagt ist, gilt insbesondere von der in X. gelegenen. Die beiden Aerzte 
sind Besitzer der Anstalt. Beide sind Fachleute; der eine von ihnen 
war l&ngere Zeit Dozent an einer Universit&t und erhielt den Professor- 
titel. Beide widmen fast ausschliesslich ihre Tfitigkeit der Anstalt, 

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Ernst Schultze, 

und ohne weiteres glaube ich, auch aus sach lichen Erwagungen, dass 
die Praxis, die sie ausserhalb der Anstalt treiben, nicht erheblich 
sein kann. 

B. Eine andere Frage ist die, wie vom rechtlichen Standpunkt 
die Einrichtungen und der Betrieb einer Privatirrenanstalt zu beur- 
teilen sind. 

Icb verwerte fur die Beantwortung dieser Frage vor allem die 
Entscheidungen des preussischen Oberverwaltungsgerichts, dann die der 
entsprecbenden Gericbte der anderen Bundesstaaten, des Kammergerichts 
sowie Reichsgericbts, die sich entweder fiber die Heranziehung des 
Anstaltsbesitzers zur Gewerbesteuer oder fiber die Krankenversicherungs- 
pflicht der in den Privatanstalten beschfiftigten Personen oder fiber die 
Frage auslassen, ob der Arzt, der eine Privatanstalt besitzt, seine Firma 
in das Handelsregister eintragen iassen muss. 

Frfiher hat das Oberverwaltungsgericht [11. 10. 1894 x )] den Stand¬ 
punkt vertreten: „Der Betrieb einer Privatkranken-, Irren- oder Ent- 
bindungsanstalt erscheint regelmfissig als Gewerbebetrieb. Nur dann, 
wenn eine solche Anstalt von einem Arzte unterhalten und geleitet 
wird, kann unter besonderen, von diesem nachzuweisenden Umstfinden, 
welche das Ueberwiegen von Erwerbszwecken ausschliessen, ein nicht 
gewerbliches Unternebmen angenommen werden. Liegt Gewerbebetrieb 
durch einen Arzt vor, so erscheint die Ausfibung des firztlichen Berufes 
durch denselben innerhalb des Anstaltsbetriebes als Tatigkeit im Ge- 
werbebetriebe, so dass eine Aussonderung des Ertrages dieser Tatigkeit 
als steuerfreien Teils aus dem gesamten Ertrage des Unternehmens nicht 
zuzulassen ist“. 

Im Anschluss an diese Entscheidung wurden viele Anstalten, soweit 
ich aus den mir gewordenen Zuschriften enlnebmen kann, ohne weiteres 
zur Gewerbesteuer veranlagt. 

Indes erhoben zahlreiche Aerzte Einspruch, und das Oberverwaltungs¬ 
gericht hat in der Folgezeit den obigenGrundsatz wesentlich eingescbrankt 
oder gar aufgegeben. 

Vor allem gilt das von einer massgebend gewordenen Entscheidung 
des 6. Senats des Oberverwaltungsgerichts vom 5. 5. 1898 1 2 ). Diese 
Entscheidung bezeichnet als Gewerbe im Sinne des Gewerbesteuergesetzes 
„jede mit der Absicht auf Gewinnerzielung untemomnfene, selbstfindige, 
berufsmfissige und erlaubte Tatigkeit, welche sich als Beteiligung am 


1) Entscheidungen des Preussischen Oberverwaltungsgerichts in St&ats- 
steuersaohen. 1895. Bd. 3. S. 250. 

2) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts. 1899. Bd. 7. S. 418ff. 


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Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten. 749 

allgemeinen wirtschaftlichen Verkebr darstellt“. Ein „wesentlich ent- 
scheidendes subjektives Merkmal 11 ist „der Gewinnzweck u , „also die 
Absicht des Untemehmers, aus dem Betriebe, aus der Tatigkeit, die 
den Gegenstand des Unternehmens bildet, Gewinn zu ziehen“. Die Ge- 
winnerzielung mass den Bauptzweck der Tatigkeit bilden und nicht 
nur beilaufig add nebensacblicb bezweckt werden. „Dient die Tatigkeit 
anderweitigen Zwecken, insbesondere nur als Mittel fur die Erzielung 
von Gewinn aus einer anderen Erwerbstatigkeit, so ist sie kein Ge¬ 
genstand eines besonderen Gewerbebetriebes u . Unterhalt ein Arzt eine 
Elinik lediglicb zum Zwecke der Ausubung seines arztiichen 
Berufes, ist die Unterbaltung der Klinik nicht als eine besondere Er¬ 
werbstatigkeit anzosehen, oder dient sie als Mittel fur seine eigene 
FortbHdung, zu Lehr- oder wissenscbaftlichen Zwecken, ohne die Ab¬ 
sicht, aus dem Betriebe einen besonderen Gewinn zu erzielen, so ist 
die Unterbaltung der Klinik kein Gewerbeunternebmen. Es fehlt die 
fur den Gewerbebegriff unerlassliche Absicht, gerade aus dieser Tatigkeit 
Gewinn zu erzielen. Die Klinik ist „nur als ein Mittel zur Ausubung 
der arztiichen Tatigkeit, nicht aber als eine besondere Erwerbstatigkeit 
und demgemass nicht als Gewerbe anzusehen“. Fehlt die Absicht, aus 
dem Betriebe der Anstalt als solcber, aus der Unterbringung und Ver- 
pflegung und aus dem dkonomiscben Betriebe Gewinn zu erzielen, liegt 
kein Gewerbebetrieb vor. Der Betrieb der Anstalt ist dann nicht Selbst- 
zweck, sondern ordnet sich der Ausubung der eigenen arztiichen Tatig¬ 
keit unter. 

In demselben Sinne hat sich das Oberverwaltungsgericht in seiner 
Entscheidung vom 3. 4. 1902, sowie das Kammergericht unterm 
30. 6. 1903 ausgelassen: fQr die Beurteilung der Steuerpflichtigkeit ist 
allein der Zweck des Unternehmens massgebend. 

Einen ahnlichen Standpunkt nimmt der Wurttembergische Ver- 
waltungsgerichtshof in einem Urteil vom 29. Oktober 1903 ein. Danach 
wird dem Anstaltsbesitzer zugegeben, „dass es ihm bei dem fraglicben 
Betriebe lediglich um die Ausubung des arztiichen Berufes zu tun sei, 
dass er mit diesem Betrieb ausschliesslich durch Verwertung seiner 
arztiichen Kenntnisse und Erfahrungen ein seiner beruflichen Ausbildung 
entsprechendes Einkommen zu erzielen suche, dass die neben der arzt¬ 
iichen Behandlung hergehendeBeherbergung und Verkostigung der Kranken 
keine selbstandige wirtschaftliche Bedeutung habe, sondern mit der Er- 
mGglichung der durcbgreifenden Beaufsichtigung der Kranken und der 
Regelung ihrer Diat' und Beschaftigung auch dem ausschliesslich ver- 
folgten Heilzweck diene, ein weiteres Mittel fur diesen Heilzweck 
bilde und sich so demselben vollstandig unterordne. Der Betrieb des 


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Ernst Schultze, 


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Beschwerdefuhrers wird vollst&ndig beherrscht von der berufsm&ssigen 
arztlichen Tatigkeit, diese Tatigkeit ist wirtschaftlich und steuerlich die 
Hauptsache, die Hauptqaelle, aus welcher das gesamte im Betrieb 
erzielte Einkommeu fliesst; im Vergleich hiermit erscheint die an sich 
einen gewerblicben Charakter tragende Verpflegung der Kranken ais 
ein Akzessorium, als eine untergeordnete Nebensacbe, welche 
auch in steaerlicher Hinsicbt das Schicksal der Haaptsacbe zu teilen hat u . 

Der Anstaltsbetrieb ordnet sicb in den gedachten Fallen der arzt- 
licben Tatigkeit vdllig unter. 

Die gewerbliche Tatigkeit des Anstaltsbetriebes und die beruiliche 
des Arztes ist auf das engste miteinander verknupft, so dass eine rein- 
liche Scheidung weder praktisch nocb rechnerisch kaum mdglicb ist. 
Daber wird aucb mit Recbt die Notwendigkeit einer einheitlicben Auf- 
fassung des Anstaltsbetriebes hinsicbtlich der Gewerbesteuerpflicht be- 
tont, wenn es auch nicht immer so klar ausgesprochen ist, wie in der 
eben erwahnten Entscbeidung des ^iurttembergischen Oberverwaltungs- 
gerichtshofes. Es kann mit dem Reichsgericht [17. 5. 1007 l 2 )] dem 
Berufungsgericbt nicht „zugegeben werden, dass allein scbon dadurcb, 
dass die auf Gewinnerzielung gericbtete arztliche Tatigkeit der Elager 
die Unterhaltung der Anstalt erfordert, der Anstaltsbetrieb mit zur 
Grundlage des auf Erwerb abzielenden Berufs der Elager wird, und 
dass es, weil der Betrieb der Anstalt und die Ausubung der Heilkunde 
fur die Frage der Gewinnerzielung untrennbare Faktoren sind, genugt, 
wenn nur die Heilkunde mit Gewinnabsicht ausgeubt wird u . 

Eine Gewerbesteuerpflicbt liegt aber naturlicb dann vor, wenn der 
Betrieb der Anstalt selbstandiges Mittel zur Erzielung einer dauernden 
Einnabmequelle ist. ,,lst der Betrieb einer Erankenheilanstalt Selbst- 
zweck, hat also der Arzt die Absicht, gejade aus der Gewahrung von 
Aufenthalt und Unterhalt gegen Entgelt Gewinn zu ziehen, und stellt 
die arztliche Tatigkeit sich nur als ein, wenn aucb wesentliches, Glied 
in der Eette derjenigen Einrichtungen dar, welche in ihrer Zusammen- 
fassung als Anstaltsbetrieb Gewinn abwerfen sollen, so muss das Vor- 
bandensein eines gewerblicben Unternehmens anerkannt werden“ [Eammer- 
gericbt 14. 1. 1901*)]. In ahnlicber Weise hat das Eammergericht 
. sich dabin ausgelassen: „Bildet aber nicht die Ausubung des arztlichen 
Berufes des Anstaltsunternehmers und der dadurcb erzielte Gewinn, 
sondern die Gewahrung von Aufenthalt und Unterhalt und die bierans 
erwachsende Einnahme den Hauptzweck des Anstaltsbetriebes, werden 


1) Juristische Wochensohrift. 1907. S. 492. 

2) Das Recht. 1901. S. 203. Entsch. 647. 


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Die Gewerbesteuerpflioht der Privatirrenanstalten. 751 

namentiich die Eranken in der Hauptsache nicht von dem Inbaber der 
Anstalt, sondern von andern, z. B. den von ihm angestellten Aerzten, 
den Hausarzten der Eranken oder angesehenen Spezial3rzten arztlich 
bebandelt, so ist ein gewerbliches Unternehmen im Sinne des § 2 H.G.B. 
vorhanden“ [Kammergericht 9.11.1903 1 )]. 

„Es kann dem Berafongsgericht nicht zugegeben werden, dass all ein 
schon dadurch, dass die auf Gewinnerzielung gerichtete arztliche Tatig- 
keit der Elager die Unterhaltung der Anstalt erfordert, der Anstalts- 
betrieb mit z«r Grundlage des auf Erwerb abzielenden Berufs der Elager 
wird, and dass es, weil der Betrieb der Anstalt und die Ausubung der 
Heilkunde fur die Frage der Gewinnerzielung untrennbare Faktoren sind, 
genfigt, wenn uur die Heilkunde mit Gewinnabsicht ausgeubt wird. 
Nur wenn die Anstalt als ein selbstandiges Mittel zur Erzielung einer 
dauernden Einnahmequelle vom Arzte gebalten wird, macht sie ibn zum 
Gewerbetreibenden [Reichsgericbt 17.5.1907 2 3 )]. 

Mit ahnlicben Erwagungen hat das sacbsische Oberverwaltungs- 
gericht mit seinem Urteil vom 12. Marz 1910 in der Unterhaltung einer 
Frauenklinik durch einen Frauenarzt eiuen Gewerbebetrieb bestritten; 
die Elinik ist „als ZubehSr der spezialarztlichen Tatigkeit des Beklagten 
zu betrachten, da ohne eine solche nicht sachgemass operiert und 
,nachbehandelt‘ werden k0nne“ 8 ). 

Dasselbe Gericht hatte bereits in seinem Urteil vom 31. Mai 1902 4 ) 
betont, dass Aerzte die namentiich in grOsseren Stadten bestehenden 
spezialarztlichen Privatkliniken regelmissig nicht deshalb einrichten, „um 
sich durch Gewahrung von Wohnung und Bekdstigung an die darin auf- 
genommenen Eranken eine selbstandige Einnahmequelle neben ihrer 
sonstigen Berufstatigkeit zu verschaffen. Sie bilden vielmehr ihrem 
Wesen und bestimmungsgem&ssen Zwecke nach lediglich ein Mittel zur 
sachgemasseu Ausubung der Heilkunde. Der Arzt nimmt dort die- 
jenigen seiner Eranken auf, deren erfolgreicbe Behandlung in ihrer 
eignen Wohnung aus sachlicben Grunden uudurchfuhrbar oder doch 
wenigstens unzweckmassig und schwierig sein wurde. Bei diesem 
innigen Zusammenhange, in dem die Ausubung der arztlichen Praxis 
mit dem Betriebe der Privatkliniken steht, — und hierin liegt das 
eharakteristische Unterscheidungsmerkmal gegenuber den eigentlichen 
Privatkrankenanstalten, deren wirtschaftlicher Betrieb Selbstzweck ist, 


1) Das Recbt. 1904. S. 10. 

2) Juristische Wochensohrift. 1907. S. 492. 

3) Zeitschrift fur Medizinalbeamte 1911, Reohtsprechung S. 208. 

4) Zeitschrift fur Medizinalbeamte 1903, Rechtsprechung S. 3. 


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Ernst Schnltze, 


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wAhrend die Arztliche Behandlung nur einen Teil der nicbt einmal on- 
bedingt vom Unternehraer persSnlich zu gewAhrenden Arbeitsleistungen 
darstellt — erscheint es ausgeschlossen, die Privatkliniken als selbst- 
standige wirtschaftliche Unternehmungen zu bebandeln. Sie stellen 
vielmehr nur eine besondere Form der Ausubung des Arztlichen Berufs 
dar. Wenn aber die Tatigkeit des Arztes als solcha nicht als eine 
gewerbliche im Sinne von § 8 des Handels und Gewerbekammergesetzes 
angeseben werden kann, wie das die Gewerbekammer selbst annimmt, 
so folgt hieraus ohne weiteres, dass die KlAger wegen des Betriebes 
ihrer Privatkliniken nicht zu BeitrAgen fur die Gewerbekammer heran- 
gezogen werden durfen.“ 

1st der krztliche Gesichtspunkt der durchschlagende, so ist von einer 
Gewerbesteuer abzusehen. Dieser Gesichtspunkt ist von soldier Be- 
deutung, dass das Mass und die Art der rein Arztlichen Tatigkeit des 
Besitzers nicht uber die Gewerbesteuerpflicht entscheidet. Auch wenn 
er sich vorwiegend den VerwaltungsgeschAften widmet, die doch auch 
eine ausgesprochen Arztlicbe FArbung, wie immer wieder betont werden 
muss, tragen, oder wenn er zu seiner Unterstutzung Aerzte anstellt, 
behAlt der Betrieb einer Privatheilanstalt sicher den Charakter einer 
Arztlichen Tatigkeit [Eammergericht 9. 11. 1903 *)]. 

Eine mir vorliegende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 
3. 11. 1904 fuhrt aus: „Wenn beispielsweise ein Arzt, der eine Privat- 
krankenanstalt zweifellos nur zum Zwecke der Ausubung seines arzt- 
lichen Berufes begrundet und betrieben hat, durch Alter, Kraqkheit 
oder andere Umstande gezwungen wird, seine eigene arztliche Tatigkeit 
einzuscbrSnken und die Leitung der Anstalt, sowie die Bebandlung der 
Kranken in mehr oder minder grossem Umfange den zu seiner Hilfe 
angenommenen Aerzten zu ubertragen, so wird dadurch noch nicht seine 
Gewerbesteuerpflicbt begrundet, so lange nur der Zweck der Anstalt, 
die Ausubung des arztlichen Berufes seitens des Besitzers, unverAndert 
bleibt.“ „Auf das Mass seiner Arztlichen Tatigkeit 44 kommt es nicbt an. 

Wurde freilich die Arztliche Behandlung der aufgenommenen 
Kranken vollig oder in der Hauptsache fremden oder angestellten 
Aerzten uberlassen und wurde sich der Anstaltsbesitzer vorwiegend mit 
der finanziellen Ausbeutung des Betriebes befassen, so wurde der An- 
staltsbetrieb fur den Anstaltsinhaber Selbstzweck, eine „selbstAndige 
berufsmassige Tatigkeit zur Gewinnerzielung aus dem Okonomischen 
fietriebe der Anstalt wie bei nicht Arztlichen Anstaltsbesitzern. u Ein 
Mittel zur Ausubung der Arztlichen Tatigkeit ist die Anstalt dann fur 


1) Das Recht 1904, S. 10. 


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Die Gewerbesteuerpflicbt der Priyatirrenanstalten. 


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andere, n&mlich die fremden Oder angestellten Aerzte (Oberverwaltungs- 
gericht 14. 1. 1914). 

Das Oberverwaltungsgericht hat den Betrieb einer Badeanstalt oder 
einer zur Aufnahme von Badeg&sten bestimmten Pension durch einen 
Arzt als gewerbesteuerpflichtig angesehen, weil sie nach den Unter- 
lagen im wesentlichen offenbar der Unterkunft der Badeg&ste ebenso 
dienen soli, wie ahnliche Unternebmungen nichtSrztlicher Personen. 
„Dass es sich bei jener Anstalt regelm&ssig oder haupts&chlich am die 
Aufnahme solcber Badeg&ste handelte, die einer anhaltenden Kranken- 
wartung und Pflege bedurften, ist aus dem Inhalt der Verhandlungen 
nicht zu entnehmen** 1 ). 

Die Ausubung des &rztlichen Berufes ist nach § 4, Z. 7 des Ge- 
werbesteuergesetzes vom 24. Juni 1891 — wenigstens fur die in Deutsch¬ 
land approbierten Aerzte 2 3 ) — ausdrucklich als gewerbesteuerfrei erklirt, 
wie denn auch „nach dem allgemeinen Sprachgebrauche die Berufs- 
t&tigkeit des Arztes nicht ein Gewerbe darstellt“ [Kammergericbt 
14. 1. 1901®)]. Sie darf auf Gewinnerzielung, natiirlich auch dauernd, 
gerichtet sein und ist es auch in der Regel. Die Ausubung des &rzt- 
lichen Berufes stebt, obgleich sie in Erwerbsabsicht stattflndet, wegen 
des dabei obwaltenden hOheren wissenschaftlichen und sittlichen Inter- 
esses ausserhalb des materiellen Gewerbebetriebes. Dadurch, dass die 
Ausubung der Heilkunde, soweit dies im Offentlichen Interesse geboten 
ist, durch die Gewerbeordnung geregelt ist, wird die Srztliche Berufs- 
t&tigkeit nicht schlechthin als ein Gewerbe charakterisiert. Die Ge¬ 
werbeordnung befasst sich mit der Ausubung der &rztlichen T&tigkeit 
nur nach ihrer gewerbe-polizeilichen Seite, ohne dass dadurch die auf 
wissenschaftlicber Grundlage beruhende Berufst&tigkeit der approbierten 
Aerzte selbst zum Gewerbe gemacht wird 4 ). 

Darum darf der Betrieb einer Anstalt nicht deshalb als Gewerbe 
angesehen werden, weil er Gewinn abwirft, wie ubereinstimmend und 
ausdrucklich von den obersten Gerichten hervorgehoben wird. „Benutzt 

1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Bd. XIII. 1906. S. 426. 

2) O.V.G. 18. 4. 1907. Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte, 
Bd. XIII, S. 388. R.G. 17. 5. 1907. Jurist. Wochenschr. 1907. S. 491. 

3) Das Reoht. 1901, S. 203. Entsch. 647. Vergl. Entsoh. des Preuss. 
Oberverw.-Gerichts 5. 3. 1894. Entscheidungen des O.V.G. Bd. II. S. 448. 
Bd. IV. S. 431. 

4) Vergl. Urteil des Reichsgerichts vom 6. 3. 1902. Juristisohe Wochen- 
schrift 1902. Beilage, S. 227. Reichsgericht 4. 10. 1906, Reichsgericht 17. 5. 
1907, DentscheJuristenzeitung 1907. Nr. 1, Spruchbeilage, Juristisohe Wochen- 
schrift 1907. S. 492. 


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Ernst Schultze, 


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.... der einzelne Arzt seine Anstalt zur Erzieiung eines Gewinns aus 
der Verpflegung der Kranken, so bleibt sie dock ein notwendiges Mittei 
zur Ausubung seines Erztiichen Berufes und behalt dementsprechend 
die Eigenschaft einer ZubehOrung wenigstens so lange, als nicht der Ge- 
winn aus ihr die Hauptsache fur den Erwerb des betreffenden Arztes ist 1 ). 

Der Anstaltsbetrieb ist und bleibt eben unter den oben angefuhrten 
Voraussetzungen dock nur ein Teil der Srztlichen Tatigkeit. Es ist 
daker nickt mehr als sinngem&ss, wenn das Oberverwaltungsgericht in 
Durckfuhrung dieses Grundsatzes die Privatanstalten, sofern ikr Besitzer 
sie zur Ausubung seiner krztlichen Tatigkeit benutzt, von der Zahlung 
der Gewerbeiteuer selbst dann befreit, wenn sie einen sebr erheblichen, 
in arztlicken Ereisen sonst ganz ungewdhnlicken Jabresgewinn aufweisen. 

Die Hdhe des Ertrages aus dem Betriebe der Anstalt spricht nicht 
gegen die Richtigkeit der Behauptung des Anstaltsbesitzers, dass die 
Anstalt lediglich der Ausubung seines Arztberufes dient, sagt eine Ent- 
scheidung des Oberverwaltungsgerickts vom 3. 11. 1904. 

Dieselbe Ansicht vertritt das Kammergericht unterm 9.11.1903 2 ); eine 
gewerbliche Tatigkeit stellt der Betrieb einer Anstalt selbst dann nicht 
vor, wenn sie einen erheblichen Gewinn abwirft Oder wenn die Kranken 
nicht ausschliesslich durch den Inhaber, sondorn auch durck andere von 
ihm angestellte Aerzte bekandelt werden. 

In Uebereinstimmung mit dieser Entsckeidung ist in verscliiedenen, 
mir bekannt gewordenen Fallen trotz der grossen Anzabl der angestellen 
Aerzte — sie betrug bis zu 8 — die Gewerbesteuerpflicht der betreffenden 
Anstalt verneint worden, wenn sie auch einige 100 Kranke verpflegt; 
denn der Besitzer leitet sie, wurde ausgefukrt, in arztlicker Bezieliung 3 ). 

In demselben Sinne lasst sich auch das sacksiscbe Oberverwaltungs¬ 
gericht aus. 

,,Wenn . . . der arztlicke Beruf selbst kein Gewerbe ist, so kann 
er nicht dadurch zu einem solchen werden, dass zu seiner sacbgem&ssen 
Ausubung gewisse Einricbtungen erforderlich sind, die sich der Arzt, 
wenn sie ihm nicht von dritter Seite zur Verfugung gestellt werden 
(zum Beispiel in Krankenhausern), selbst beschaffen muss. 11 Die Ein- 
richtung einer chirurgischen Klinik wird nicht als Selbstzweck, sondem 
als das notwendige Mittei zur sachgeroassen Ausubung des arztlicben 
Berufes angesehen. „Hieraus folgt weiter, dass es fur die rechtlicbe 

1) Sachs. O.V.G. 12. 3. 1910. Zeitschr. fur Med.-Beamte 1911. Becht- 
sprechung 208. 

2) Das Recht. 1904. S. 10. 

3) Vergl. Entscheidung des Preuss. O.V.G. vom 13. 3. 1899. Entschei- 
dungen Bd. VII, S. 431, Anmerkung. 


Gen 'gle 


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- CORNELb UNI VERSITf' 



Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten. 


755 


Beurteilung an sich belanglos ist, ob sich der Betrieb der Klinik im 
tats&chlichen Erfolge gewinnbringend gestaltet oder nicht. Denn selbst, 
wenn die hierdurch erzielten Ginnahmen einen Ueberschuss fiber dje 
Unterhaltungskosten liefern wfirden, kOnnte dieser nur als ein Teil des 
aus der gesamten Srztlichen Tfitigkeit herrfihrenden Ginkommens auf- 
.gefasst werden. u Die Privatklinik ist eben kein „in erster Linie wirt- 
scbaftlichen Interessen dienendes Unternehmen" x ). 

Aach spfiter hat das s&chsische Oberverwaltungsgericht (12. 3.1910) 
sich dahin ausgelassen, die Kliuik behalte ihre Gigenschaft als not- 
wendiges Mittel zur Ausfibung des Srztlichen Berufes so lange, als nicht 
der Gewinn aus ihr die Hauptsacbe ffir den Grwerb des betreffenden 
Arztes ist 1 2 ). 

„Insbesondere ist dem Umstande, dass mit dem Betriebe einer 
solchen Anstalt“ — es handelt sich am ein heilgymnastisches Institut, 
dessen Betrieb n als Mittel zum Zwecke der Ausfibung der Srztlichen 
TStigkeit dient“ — „auch ein Gewinn erstrebt und erzielt wird, an sich 
allein eine ffir die Annabme eines Gewerbebetriebes entscheidende Be- 
deutung nicht beigelegt worden“ 3 ). 

Ganz entsprecbend hat das Oberverwaltungsgericht in einer anderen 
Gntscheidung vom 3. 10. 1901 4 ) betont: „Die im § 4 Nr. 7 des Ge- 
werbesteuergesetzes ffir die Ausfibung einer unterrichtenden oder er- 
ziehenden T&tigkeit ausgesprochene Ausnahme von der Gewerbesteuer- 
pflicht beruht keineswegs auf der Unteratellung, dass eine solcbe Tatig- 
keit nicht auf Gewinn oder doch nur auf einen verhaltnismSssig dfirftigen 
Gewinn gerichtet sei. Vielmehr soil die Befreiung ohne Rficksicht auf 
die Hdhe des erzielten Gewinns erfolgen." Daher verlangte das Ober¬ 
verwaltungsgericht zur Gntscheidung der Frage der Steuerpflichtigkeit 

1) Gntscheidung des sachsischen O.V.G. vom 13.11. 1907. Zeitschr. 
ffir Medizinalbeamte. 1908, Rechtsprechung, S. 70. 

2) Unlangst hat das Reichsgericht unter dem 8. 11. 1918 (Das Recht. 
1919. Entsch. Nr. 147) entschieden, dass der Arzt, der Unternehmer einerPrivat- 
krankenanstalt ist, als Gewerbetreibender dann anznsehen ist, wenn dieAnstalt 
als ein selbstandiges Mittel zur Erzielang einer dauernden Einnahmequolle vom 
Arzt gehalten wird. Der Arzt wird aber nicht schon dad arch Gewerbetreibender, 
dass die auf Gewinnerzielung gerichtete arztliche Tatigkeit, die an sich keinen 
Gewerbebetrieb im Sinne der Gewerbeordnung bildet, die Unterhaltung einer 
Anstalt erforderlich macht, wie z. B. die Klinik eines Chirurgen, in welcher 
die Kranken lediglich zur Durohfuhrung operativer Eingriffe ffir eine gewisse 
Zeit aufgenommen werden. 

3) Entsch. des O.V.G. 3. 12. 1903, Entsch. des O.V.G. Bd. XI. 1904. 
S. 401. 

4) Entsch. des O.V.G. Bd. X. 1903. S. 400. 


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CORNELL UNfVERSITV 



756 


Ernst Schultzs, 


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eine Prufung, „ob die Aufnahme der Pensionarinnen in die Anstalt 
zum Zwecke ihrer Unterrichtung, Erziehung und Beaufsichtigung, Oder 
aus anderen und welchen Grunden erfolge“. Ebensowenig ist der Lehrer, 
der durch Halten von Pension Siren Gewinn erzielt, gewerbesteuerpflicbtig, 
da „seine erziebende Tatigkeit die Quelle 11 des Gewinns ist ul ). 

II. 

Die Regierung hat in ihrer von dem Oberverwaltungsgericht zu- 
ruckgewiesenen Entscheidung betont: „Diese Vereiuigung der beiden 
Aerzte kann nur aus der Absicht der Gewinnerhdhung, also der Ge- 
winnerzielung heraus erklart werden, da ein jeder von ihnen auf ein - 
facherem Wege ein derartiges Sanatorium allein betreiben konnte, 
wenn es sich fur ihn nur darum handein wtirde, Material fflr die Aus- 
ubung seiner arztlichen Tatigkeit zu bekommen. Die Vereinigung der 
beiden Aerzte in dem gemeinsamen Betriebe der Sanatorien ist offen- 
bar nur aus rein wirtschaftlichen Grunden in der Absicht einer Ge- 
winnerzielung erfolgt. Die arztliche Praxis hatte ein jeder von den 
beiden Anstaltsbesitzern allein ebensogut ausuben konnen, wie auch ein 
jeder von ihnen neben der Sanatorien praxis eine, wenn auch wenig um- 
fangreiche besondere arztliche Praxis ausubt M . 

Wie ich schon oben betonte, ist dieFrage derGewinnerzielungschlecht- 
weg fur die Entscheidung der Frage der Gewerbesteuerpflicht belanglos. 
Auch der praktische Arzt oder der Spezialarzt, der seiner Praxis nach- 
geht, will fur gewdhnlich Gewinn erzielen, ohne dass er deshalb der 
Gewerbesteuer unterliegt. Ausschlaggebend darf allein die Frage sein, 
ob der Anstaltsbetrieb als selbstandige und dauernde Einnahmequelle 
anzusehcn ist, dem gegenuber die rein arztliche Tatigkeit in den Hinter- 
grund tritt. Aus meinen obigen Ausfuhrungen ergibt sich aber, dass 
der Anstaltsbetrieb der arztlichen Tatigkeit in einer zeit- und sachge* 
mass geleiteten Irrenanstalt untergeordnet ist, sofern der Anstaltsbesitzer 
auch der leitende Arzt ist. 

Mir ist nicht recht ersichtlich, warum gerade die Vereinigung 
zweier Aerzte die Berechtigung zur Annahme der Gewerbesteuerpflicht 
dartun soil. 

Das alte Sanatorium, von dem das Unternehmen in X. seinen Ausgang 
genommen hat, erwies sich bald als zu klein und nicht mehr zeitgemass; 
es bedurfte eines zeitgemassen Neubaues, um alien Nachfragen gerecht 
werden zu kbnnen. 


1) Entsch. des O.V.G. vom 29.2. 1896. Entscheidungen des Oberver- 
waltungsgeriohts. Bd. V, S. 391. 


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Die Gewerbesteuerpilicht der Privatirrenanstalten. 


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Die VereinigUDg mehrerer, von einander getrennter Geb&ude zu 
einer Anstalt bat den grossen Vorteil, dass die Kranken, je nach ihrem 
sozialen Verbalten, leichter, zweckm&ssiger und sachdienlicher verteilt 
werden kOnnen. Von vornherein ist die Trennung eines offenen Sana- 
toriums von einer geschlossenen Anstalt gegeben. Dazu kommt unter 
Umst&nden noch, wie in X., ein Geb&ude, das binsichtlich seines Cha- 
rakters weder das eine noch das andere ist,- sondem ein Zwischending 
darstellt. 

Soilte wirklich ein Einzelner die erforderlichen Mittel haben, um 
eine grdssere Privatanstalt zu grunden oder kaufiich zu ubernehmen, 
so wurde es mebr als fraglicb sein, ob er dann die Last, den Aerger 
und die Unannehmlicbkeiten, die der Betrieb einer Privatanstalt mit 
sicb bringt, auf sich nehmen wurde! In der Regel wird ein Einzelner 
nicht uber die notwendigen Rapitalien verfugen. Er kann sich diese 
naturlich auf rein gesch&ftlichem Wege beschaffen; 'aber sehr viel vor- 
teilhafter ist die Gewinnung eines fachm&nnischen Mitarbeiters oder, 
kaufm&nnisch gesprocben, Teilhabers, der ebenfalls Geldmittel einschiesst. 

Nach der Preussischen Ministerialanweisung vom 26. 8.1901 §19 Z.3 
muss, mindestens ein psychiatrisch vorgebildeter Arzt in der Irrenanstalt 
wohnen, wenn sie heilbare Rranke aufnimmt; der leitende Arzt darf 
mit anderen Worten, wenn er der einzige Arzt der Anstalt ist, die An¬ 
stalt jedenfalls nicht fur l&ngere Zeit verlassen, und er wSre somit das 
ganze Jahr an die Anstalt gebunden, wenn er keinen Vertreter stellen 
kann. Sind aber zwei Aerzte in ihrer eigenen Anstalt als leitende 
Aerzte tatig, so ist die GewShr geschaffen, dass jeden Augenblick ein 
vollwertiger Ersatz vorhanden ist. Eines solchen bedarf es naturlich 
fur den Fall eines l&ugeren Urlaubs oder einer schweren Erkrankung. 
Dem Anstaltsleiter, der allein auf sicb angewiesen ist, wurde es schwer 
fallen, einen Arzt mit geeigneter Vorbildung, zudem in kurzer Zeit 
als Vertreter zu gewinnen. Seine Anstellung, auch fur einen kurzen 
Zeitraum, wurde ihm erhebliche Kosten verursacben. Aber auch wenn 
ich hiervon absehe, muss bervorgehoben werden, dass in einer Privat- 
irrenanstalt die Verbindung zwischen Kranken und Arzt so innig oder 
so pers5nlich ist, wie man sich nur denken kann. Dieses Verh&ltnis 
wurde durch die Einschiebung eines nicht standig angestellten, meist 
jungeren, wenn auch vieileicht spezialistisch ausgebildeten Arztes, der 
sich zudem in den neuen Betrieb erst einleben muss, gef&brdet. Nicht 
nur der Kranke selbst, sondem auch seine AngebSrigen wiirden dagegen 
Bedenken haben. 

Die Notwendigkeit, fur eine st&ndige &rztliche Stellvertretung in 
einer grOsseren Privatanstalt Sorge zu tragen, ist im Vergleicb zu einem 


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Ernst Schultze, 

Sanatorium sebr viol dringlicher, weil die Geisteskranken der arztlichen 
Beratung und Ueberwachung viel mehr bedurfen als Nervenkranke — 
man denke nur an den Fall einer ausgesprochenen Selbstmordneigung 
oder tobsuchtigen Erregung — und weil die Irrenanstalt .das gauze 
Jahr hindurcli im Betriebe sein muss, w&hrend viele Sanatorien, vor 
allem solche, die mebr zur Erholung bestimmt sind, nur im Sommer 
geOffnet sind. 

Das waren zweifellos die Erwagungen, die in X. fur die Vereini- 
gung der beiden Psychiater zum gemeinsamen Betrieb der Privatanstalt 
massgebend waren. 

Ob uuter Verzicht auf die eben gescbilderten Vorteile dieser Vereini- 
gung der Betrieb desselben Untemehmens billiger durcb Anstellung eines 
Assistenzarztes gesichert werden konute, ist meines Erachtens fur die 
Frage der Gewerbesteuerpflicht belanglos, unterliegt viel mehr lediglich 
dem Ermessen der beteiligten Aerzte. Dabei darf auf keinen Fall uber- 
sehen werden, dass die Vereiniguug zweier Aerzte in gleichwertiger 
Stellung auch ihre Nachteile bat. Gerade diese sind daran Schuld, 
dass verhaltnismassig selten eine Irrenanstalt von mehreren gleichbe- 
rechtigten Aerzten als Besitzern betrieben wird. 

Es ist gewiss nicht erforderlich, dass eine Privatirrenanstalt von 
einem Arzt errichtet und betrieben wird. Die Reichsgewerbeordnung 
sieht in ihrem § 30 diese M5glichkeit ausdrucklich vor, indem sie vor- 
scbreibt, welche Bedingungen der Unternehmer bei Erteiluog der Kon- 
zession erfullen muss. Aber daraus darf noch nicht der Schluss gezogen 
werden, dass dasselbe Unternehmen, wenn es von einem Arzte and 
nicht von einem Laien betrieben wird, deshalb den Charakter eines 
Gewerbebetriebes beibehalt, auch wenn das Unternehmen der arztlichen 
Tatigkeit vfillig untergeordnet wird. Dasselbe gilt fur den Fall, dass 
zwei Aerzte eine Anstalt besitzen. 

Fur die Frage der Gewerbesteuerpflicht kann es auch belanglos 
sein, wie die Arbeit unter beide Aerzten verteilt wird. Die Trennnng 
kann so erfolgen, dass der eine Arzt nur die arztlichen Leistungen uber- 
nimmt, der andere sich lediglich dem Anstaltsbetrieb widmet; da aber 
der Anstaltsbetrieb der Ausubung des arztlichen Berufes untergeordnet 
sein muss und somit eine ausgesprochen arztliche F&rbung tragt, ist 
auch diese Tatigkeit als eine arztliche anzusehen. 

Die MOglichkeit einer derartigen „sachlichen Teilung der Arbeit u 
sieht die hier vorliegeude Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 
1. Dezember 1915 ausdrucklich vor. „Der eine Arzt widmet sich bei- 
spielsweise dem sogenannten Ordinieren, der andere mehr der Verwal* 
tung, namentlich der Sorge dafur, dass die Anstaltseinrichtungen und 


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Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten. 


759 


der Betrieb den arztlichen Anforderungen entsprechen, dass die Pfleger 
ansgebildet und uberwacht, dass die Anstait in jeder Hinsicht mfiglichst 
jedem Kranken die gfinstigsten Lebeus- und Heilbedingungen bietet. 
Auch in dieser Tatigkeit kann die Ausubung der arztlichen Tatigkeit 
nnd in der Anstalt ein Werkzeug fur diese besondere Art von Berufs- 
ausfibung gefunden werden“. 

„Dass der Arzt seine gesamte arztliche Tatigkeit nur in der An* 
stalt und fur sie ausuben musse und dass diese, um gewerbesteuerfrei 
zu sein, die voile Ausubung etwa seines arztlichen Berufes ermfiglichen 
musse, ist nirgendwo ausgesprochen und rechtsirrig“, bemerkt ausdruck- 
lich das Oberverwaltungsgericht in einer inir vorliegenden Entscheidung 
vom 14. Januar 1914; denn es „mfissen die gesamten Einrichtungen, 
wenn sie ibrem Zweck entsprechen sollen, erfahrungsgemfiss nach firzt- 
lichen Grundsfitzen getroffen sein. Sie mfissen den Kranken die gun¬ 
stigsten Lebensbedinguugen bieten; welche das sind, kann nur der Arzt 
benrteilen. Sie milssen zugleich verhfiten, dass die Geisteskranken sich 
oder andere scbadigen 1 *. Mit diesen Ausffihrungen wurde die Ansicht 
der betreffenden Regierung zuruckgewiesen, die daraus, dass der eine 
der beiden arztlichen Anstaltsbesitzer in der Hauptsache die Verwal- 
tnngsangelegenheiten leitet und die Wirtschaftsffihrung uberwacht, auf 
einen gewerblichen Charakter des Anstaltsbetriebes schliesst. 

Ueber die Beurteilung der Tatigkeit der beiden Aerzte kann dann 
kein Zweifel sein, wenn beide sich der Behandlung der Kranken und 
der Leitung des damit unmittelbar verknQpften Anstaltsbetriebes gleich- 
massig widmen, wie es in X. der Fall ist. 


III. 

Fur die Entscheidung fiber die Gewerbesteuerpflicht hat das Ober¬ 
verwaltungsgericht eine ausschlaggebende Bedeutung der Frage bei¬ 
ge] egt, ob die Absicht besteht, den Kranken Aufenthalt und Dnterhalt 
gegen Entgelt lediglich aus Gewinnabsichten zu gewahren. Diese Frage 
kann im Einzelfalle, da die Vermutung weder ffir die eine noch die 
andere Annahine spricht, nur unter Prflfung der konkreten Verhaltnisse 
beantwortet werden. 

Das Oberverwaltungsgericht hat daher in seiner vorliegenden Ent¬ 
scheidung vom 1. Dezember 1915 „die Anhfirung eines mit den Ver- 
haltnissen der Heilanstalt vertrauten oder bekannt zu machenden Sach- 
kundigen u gefordert, der sich insbesondere auch fiber die „Verteilung 
der geforderten Tagessfttze auf Verpflegung und arztliche Tatigkeit 
innerhalb der unter fihnlichen Verhaltnissen fiblichen beziehungsweise 
durch die arztliche Gebfihrentaxe festgesetzten Grenzen“ auslasst. 


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760 Ernst Schultze, 

Das Oberverwaltungsgericht hat damit eine Forderung gestellt, die 
es bereits in seiner fruheren Entscheidung vom 5. 6. 1898 erhoben 
hat 1 ). Die’Fuhrung diesesNachweises, dass aus demAnstaltsbetriebe selber 
kein besonderer Gewinn erstrebt wird, wird erleichtert, „wenn die arzt- 
lichen Unternehmer von Privatkrankenanstalten, wie es vielfach geschieht, 
die Vergutung fur die arztliche Tatigkeit einerseits und fur die Ge- 
w&hrung von Unterhalt in der Anstalt andererseits getrennt berecbnen 
und fiber- Beides gesondert Buch ffibren; alsdann kfinnen sie unschwer 
beweisen, dass sie tatsachlich erhebliche Ueberschfisse nicbt erzielt 
haben oder mit Rficksicht auf die H5he der Unkosten im Verh&ltnis 
zu den Pensionssatzen uberhaupt nicht zu erzielen verm5gen“. 

Ich mOchte hiuzufugen, dass der Kgl. Wfirttembergische Verwal- 
tungsgerichtshof in einer Entscheidung vom 29. Oktober 1903, in der er 
ebenfalls die Gewerbesteuerpflicht der Privatanstalten verneint, die „Unter- 
scheiduug, wieviel von der Gesamtvergutung auf die arztlichen und wie- 
viel auf die sonstigen Leistungen entfallt“, als bedeutungslos bezeichnet. 

„Im Hinblick auf diese einheitliche Gestaltuug des Betriebes 
des Beschwerdefuhrers und des daraus fliessenden Einkommens muss 
dieser Betrieb auch einer einheitlichen umfassenden Besteuerung 
unterstellt werden: es ist nicht angangig, durch kiinstliche, mit der 
Wirklichkeit in Widerspruch stebende Annahmen den einheitlichen 
Wirtschaftsbetrieb in zwei steuerlich besonders zu behandelnde Betriebe 
zu spalten und fur diese gesonderte Betriebe'zwei selbstandige unter 
verschiedenen steuerlichen Gesichtspunkten stehende Gewinne willkur- 
lich zu konstruieren 11 . 

Tatsachlich wird wohl kaum in einer einzigen Privatirrenanstalt 
die arztliche Leistung in jedem Einzelfalle — und gar noch nacb der 
Gebfihrenordnung! — in RechnUng gestellt. Ich wfirde auch die 
schwersten Bedenken grundsatzlicher Art gegen eiu derartiges Vorgehen 
haben, ganz abgesehen davon, dass hierdurch nur Schwierigkeiten, 
Unzutraglichkeiten und Misshelligkeiten entstehen. Die arztliche Leistung 
ist eben keine Ware, die man gewissermassen mit dem Meter messen 
kann! Der Patient wurde das Gefuhl rticlit los werden, dass die firzt- 
licbe Bemuhung nur nach der Zeit bezahlt werden musse, und anderer¬ 
seits muss sich der Arzt auch gegen den Yerdacht scbutzen, sich bci 
der Behandlung von Kranken lediglich von materiellen Gesichtspunkten 
leiten zu lassen. 

Bei eiuer derartigen Kostenberechnung wurde, das kann man mit 
Sicherheit erwarten, geradezu um die Kosten fur die arztliche Behand- 


1) Entscheidungen des O.V.G. 1899, Bd. 7, S. 428. 


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Die Gewerbesteuerpflicht der Priratirrenanstalten. 


761 


long gefeilscht werden und zwar im Hiublick oder gar unter dem aus- 
drficklichen Hinweis darauf, dass die Ausfibung der arztlichen Tfitigkeit 
dem arztlichen Anstaltsbesitzer keine' unmittelbaren Unkosten oder 
Auslagen verursacht. 

In nur wenigen Anstalten wird nach den Prospekten ein besonderes 
HoDorar fur die arztlichen Leistungen ausser den Kosten fur Wohnung 
und Bekfistigung vereinbart. Fur gewOhnlich wird die arztliche Be- 
handlung, die Wohnung und Verpflegung als ein einheitliches Ganze 
angesehen und in einer Gesamtsumme in Rechnung gestellt; nur insofern 
wird hier und da ein Unterschied gemacht, als sich der Anataltsleiter 
das Recht vorbehalt, einen hOheren Pensionspreis zu berechnen, falls 
besondere Anforderungen von Seiten des Kranken — und das gilt aucb 
in arztlicher Beziehung — gestellt werden. 

Daher geht es meines Eracbtens auch nicht an, gerade daraus, wie 
es im vorliegenden Falle seitens der Regierung geschehen ist, die Ab- 
sicbt der Gewinnerzielung aus dem Anstaltsbetriebe zu erschliessen, dass 
eine gesonderte Berechnung des arztlichen Honorars und der Pensions- 
einnahmen nicht stattfindet. Ein sehr gewichtiger Beweisgrund fur die 
Gewerbesteuerpflicht des Sanatoriums konnte dann durch ein einfaches 
finanztechniscbes Manover leicht beseitigt werden; tatsachlich soli aber 
doch nur auf Grund sachlicher Erwagungen, nicht im Hinblick auf die 
Art der Bficberffihrung fiber die vorliegende Frage entscbieden werden. 
Da nach mehrfachen Entscheidungen 1 ) die Privatanstalten nicht ver- 
pflichtet sind, ihre Firma in das Handelsregister eintragen zu lassen, sind 
sie zu einer kaufmfinnischen Bucbfuhrung nicht angehalten. Aus der 
Unmfiglichkeit, auf Grund der eingereichten Bilanz ein klares Bild „uber 
die HChe des er?ielten gewerblichen Ertrages aus der arztlichen Tfitigkeit 
in Verbindung mit dem Betriebe des Sanatoriums 11 zu erhalten, ’darf und 
kann somit kein Rfickschluss auf die Steuerpflichtigkeit gezogen werden. 

Der hier vom Oberverwaltungsgericht gestellten Aufgabe gerecht 
zu werden, ist nicht nur roisslich, sondern auch schwer. Ich kann eine 
Ldsung der Aufgabe nur darin sehen, dass ich dem Nichtfacbmann aus- 
einandersetze, worin die rein arztliche Tatigkeit des Anstaltsleiters einer 
Irrenanstalt besteht. Ich ffige in Klammern die Mindestgebfihr hinzu, die 
dem Arzt nach der arztlichenGebfihrenordnung ffir Preussen vom 15.5.1896 
und ihren Ergfinzungen vom 13. 3. 1906 und 23. 5. 1914 zusteht. 

Man kann erwarten, dass durchschnittlich jeder Kranke von dem 
Anstaltsarzt tfiglich mindestens zweimal besucht wird. Der Besuch 


1) Kammergericht 14. 1. 1901, vgl. Kammergericht 9. 11. 1903. Aerztl. 
Saohverstandigenzeitung 1905, S. 92. 

Archiv f. Pflyebiatrie. Bd.flO. Heft 9/3. 49 


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Ernst Sohultze, 


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dauert naturlich nicht immer gleicb Iange. Bei dem einen Kranken 
genugt oin H&ndedruck, ein kurzes Wort, wAhrend der andere Kranke 
bei jeder Gelegenheit Wert darauf legt, mindestens 1 / i , 1 / 2 Stunde oder 
noch linger sich mit dem Arzt zu unterhalten. Da der Arzt in der 
Anstalt wohnen moss, wird es sich am eine „Beratung eines Kranken 
in der WohDung des Arztes” (11 A. Z. 8 1 Mark) bandeln. In X liegen 
aber die beiden Sanatorien getrennt. In jedem Sanatorium wohnt ein 
Arzt. Vertritt ein Arzt den anderen, so wurde fQr die Besncbe in der 
nicht zur Wohnung gehOrigen Anstalt, also „den Besuch des Antes bei 
dem Kranken”, eine hohere Gebuhr zu berechnen sein, wenn auch die 
Mindestgebuhr (II A. Z. 2 1 Mk.) dieselbe ist. Die Mindestgebuhr darf 
erboht werden, wenn eine besonders eingehende Untersuchung (Augen- 
spiegel, Mikroskop) vorgenommen wird (Z. 5 2 Mk.) oder wenn der 
Besuch auf „Verlangen der Kranken” sofort gemacht wird (Z. 11). 

Vielfach genugen aber nicht zwei Besuche t&glicb, vor allem nicht 
bei Augstzustinden oder Erregungszust&nden. Damit kime die Berech- 
nung einer grOsseren Zahl in Betracht, die nacb der Gebuhrenordnung 
gerechtfertigt ist, weil sie „nach der Beschaffenheit des Falles geboten 
sind” (Z. 8). 

Die Einrichtung von Wachabteilungen beseitigt nicht die Notwendig- 
keit, die Kranken auch nachts unter UmstSnden aufzusuchen; hierfur 
kommt (Z. 10) das Zwei- bis Dteifache der Gebuhr fur Besucbe oder 
Beratungen am Tage in betracht. 

Die T&tigkeit des Anstaltsleiters, soweit sie bisher geschildert ist, 
stellt das dar, was durchschnittlich jedem Kranken gew&hrt wird. 
Beim Hinzutritt einer rein kOrperlichen Erkrankung wird der Arzt er- 
heblich^mehr in Anspruch genommen werden.' 

Aber auch die Eigenart der psychisehen Stdrungen macht vielfach 
besondere Eingriffe notwendig. Dem Kranken muss ein Betaubungs- 
mittel, unter Umst&nden, wie bei melancholischen Kranken, die sich 
weigern, die Arznei zu nehmen, wochen- oder gar monatelang, Tag fur 
Tag, mehrmals (vgl. Z. 42) eingespritzt (Z. 87 1 Mk.) oder ein Heilmittel 
intravends einverleibt werden wie z. B. Salvarsan. (Z. 37 b 5 Mk.) Bei 
andern Kranken sind zeitraubende elektro-diagnostische Untersuchungen 
oder elektrische Behandlungen (Z. 36 2 Mk.) erforderlich. 

Unter Umstanden muss die Hypnose, die fur den Arzt sehr zeit- 
raubend und anstrengend ist und fur die iu der Gebuhrenordnung eine 
besondere Taxe nicht angegeben ist, angewandt werden. Die Psycho¬ 
analyse, die noch mehr Zeit beanspriicht und oft stattfinden muss, soli 
sie den von manchen gepriesenen Erfolg haben, brauche ich nicht zn 
berucksichtigeu, da sie — glucklicherweise! — nicht iu den Heilplan 


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Die Gewerbestenerpflicht der Privatirrenanstalten. 


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der Anstalt in X. aufgenommen ist. Bei nahrungsverweigemden Eranken 
1st Sondenernahrung erforderlich. Bei sehr erregten Oder kfirperlich 
schwacben Eranken muss der Anstaltsleiter das Bad leiten, das dem 
Eranken gegeben wird (Z. 32 2 Mk.). Zar Feststellang der Natur der 
Erkrankung ist heute in einer grossen Zahl von Fallen die Untersuchung 
des Blutes und des Liquors notwendig. Natiirlich muss hierzu das Blut 
dem Eranken entnommen oder die Punktion vorgenommen werden; 
beides bedeutet einen, wenn auch nicht gerade erheblichen, operativen 
Eingriff (vgl. Aderlass nach Z. 48 2 Mk.). Die Untersuchung des Blutes 
und des Liquors ist umstandlick und schwierig, so dass fur sie eine 
besondere Entschadigung, fiber deren Hfibe die Gebfihrenordnung keine 
Bestimmuog enthalt, zweifellos gerechtfertigt ist. Dass die Untersuchung 
des Harns, mindestens bei der Aufnahme jedes Eranken, gemacht wird, 
halts ich ffir selbstverstfindlich. Sie muss bei dem Verdacht oder dem 
Vorliegen von Stoffwechselstfirungen wiederholt, unter Umstfinden tag]ich 
vorgenommen oder gar quantitativ ausgeffihrt werden. 

Ich habe bisher die firztliche Tatigkeit im engeren Since berfick- 
sichtigt, wenn ich noch erwfihne, dass der Anstaltsleiter, vor allem 
wenn die Anstalt auf dem Lande gelegen ist, des Oftern auf eine „mfind- 
liche Beratschlagung zweier oder mehrerer Aerzte“, z. B. mit einem Fach- 
arzte fur innere Medizin oder Chirurgie (Z. 12 5 Mk. ffir jeden Arzt) 
angewiesen ist. 

Die arztliche Tatigkeit des Arztes einer Privatirrenanstalt ist aber 
sehr viel umfangreicher. Bei der Aufnahme und bei der Entlassung 
des Eranken ist einer grossen Zahl von Behfirden zu berichten. Die 
zustandige Staatsanwaltschaft fragt in bestimmten Zwischenraumen nach 
dem Befinden des in der Anstalt untergebrachten Geisteskranken und 
der Notwendigkeit seiner Entmfindigung. Diese Frage vermag nur der 
Arzt zu beantworten, und die Antwort stellt zum mindesten wieder 
eine kurze Bescheinigung fiber den Erankheitszustand (Z. 24 a 2 Mk.) 
dar, wenn nicht gar ein ausffihrlicher Erankheitsbericbt (Z. 24 b 3 Mk.) 
notwendig ist; dasselbe gilt auch dann, wenn der Anstaltsleiter die 
Stellung eines Pflegers ffir den Eranken anregt, beffirwortet oder ab- 
lebnt oder wenn er Behfirden gegenfiber, insbesondere der Ortspolizei- 
behfirde des zukfinftigen Aufenthaltsorts, seine Bedenken gegen eine 
Entlassung des Eranken aos der Anstalt zum Ausdruck bringen will. 
Begrfindete Gutachten babe ich nicht erwahnt, weil diese wohl immer 
besonders von den sie einfordernden Behfirden entschadigt werden. 

Bisher babe ich noch nicht den mfindlichen und schriftlichen Ver- 
kebr mit den Angehorigen des Eranken erwahnt. Wohl jeder Irrenarzt 
wird mir darin beipflichten, dass es in nicht wenigen Fallen scbwieriger 

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764 Ernst Schultzs, 

ist, mit den AngehOrigen des Kranken als mit diesem selbst auszukommen. 
Man kdnnte geradezu von einer Behandlung der Verwandteu reden! 
Viele Verwandteu bringen dem Anstaltsleiter, sei es aus sicb, sei es 
infolge fibernommener krankbafter Vorstellungen des Anstaitskranken, 
Misstrauen entgegen. Jeder AngehOrige glaubt, fiber Geisteskrankheiten, 
auf jeden Fall fiber das bei seinem Angehdrigen vorliegende Leiden, 
besser untevrichtet zu sein, als der Facbmann. Auch der Fernsprecher 
(vgl. Z. 5 a) wird in den Dienst einer Privatirrenanstalt gestellt; so kann 
man in Prospekten schon der Bemerkung begegnen, telephoniscbe Aus- 
kunft werde, wenn fiberhaupt, nur zu den and den Zeiten erteiit. 

Nimmt der Arzt die Mahlzeiten gemeinsam mit den Kranken ein, 
wie es auch in X. der Fall ist, so hat er nicht einmal w&hrend der 
Mablzeit seine Ruhe, sondern muss auch dann noch beruflich tfitig sein. 

Ich bin mir sehr wobl bewusst, dass nicht jede der von mir er- 
wahnten Moglichkeiten, so h&ufig sie in der Anstalt auch zutreffen, in 
jedem Einzelfalle in Betracht kommen. Gewis wird der schon seit 
Jahren erkrankte ruhige Irre weniger firztlicber Pflege bedfirfen, als 
der akut Erkrankte oder der Erregte. Aber ich muss doch dem Miss- 
verstfindnis entgegentreten, als ob bei alten unheilbaren Kranken ledig- 
lich eine Bewahrung in Betracht kommt, also eine T&tigkeit, die auch 
der Nicht-Arzt ausfiben kfinnte; vielmehr ist auch hier eine korperliche 
und psycbische Behandlung Oder doch zum mindesten Ueberwachung 
notwendig, soil der Kranke nicht verkommen. 

Das Mindestmass firztlicher Leistung, das jedem Anstaitskranken zn 
teil wird, ist der ein- bis zweimaligeBesucb amTage, und man kann getrost 
annohmen, dass hierzu noch sicher im Laufe des Tages eine weitere 
Leistung hinzukommt, die natfirlich in jedem Einzelfalle verschieden ist 

Ich habe oben nur die Mindestsfitze angeffihrt. Die Mindestsatze 
sollen aber nach der Gebfihrenordnung bei nachweisbar Unbemittelten 
(I § 2) Anwendung linden. Solche konnen aber in X. nicht aufgenommen 
werden. Im Gegenteil, es handelt sich bier durchschnittlich um Kranke, 
die den besseren St&nden angehfiren — das ergibt sich schon aus dem 
Pensionssatz, der t&glich durchschnittlich 8—12 Mark betr&gt —, und 
die Gebfihrenordnung gestattet im § 8 ausdrficklich, die HOhe der Ge- 
bfihr nach der Vermogenslage des Zahlungspflichtigen zu bemessen. 

Eine hOhere Gebfihr ffir die firztlichen Leistungen zu berechnen ist 
auch deshalb zulfissig, wei) die beiden Besitzer Spezialarzte sind; sie 
waren es schon, bevor sie in den Anstaltsbetrieb eintraten — fur den 
leitenden Arzt einer Privatirrenanstalt ist ja eine zweij&hrige spezialisti- 
sche Ausbildung ohnehin erforderlich — und sind es im Laufe ibrer 
bisherigen Anstaltstfitigkeit noch mehr geworden. 


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Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten. 765 

Ihre T&tigkeit, die „eine besondere Form der Ausubung des arzt- 
lichen Berufes“ darstellt 1 ), unterscheidet sich von der anderer Aerzte 
vor allem auch dadnrch, dass sie Tag fur Tag — gewissermassen in , 
ihrem eigenen Hause — Sprechstunde fur eine grfissere Zahl von Kranken 
und zwar vielfach diesel ben Kranken halten. Es ware aber unberechtigt, 
daraus die Forderung einer geringeren Gebiikr herzuleiten. Man kann 
es dem Arzte nicht zumuten, dass er, kaufmannisch gesprochen, Rabatt 
gibt; es bandelt sich bier urn einen grundsatzlichen Unterschied, der 
ohne weiteres einleucbtet. 

Die Gebfihrenordnung sieht ubrigens eine Ermassigung auch nur 
dann vor, wenn „mehrere zu einer Familie gehOrende und in derselben 
Wobnnng befindliche Kranke gleichzeitig zu behandeln" sind (Z. 9). 

Die Unzalassigkeit einer Ausdehnung dieser Pflicht iiber den im Gesetz 
ausdrucklich vorgeschriebenen Rabmen hat das Landgericht Munster i. W. 
am 9. Mai 1912 ausdrucklich verneint 2 ); danach kann bei gleichzeitiger 
Bebandlnng mehrerer einer und derselben Krankenkasse angehfirenden 
Mitglieder in einera Krankenhause das voile Besuchshonorar bei jedem 
Kranken berechnet werdeu. Aber auch abgesehen davon trifft die obige 
Vorschrift fiber Erm&ssigung bei Massenbehandlung nur auf die firzt- 
lichen Besuche zu, nicht aber auf die Beratungen in der Wohnung des 
Arztes. nm die es sich vorzugsweise bei einer Privatirrenanstalt handelt. 

Soil ich auf Grand meiner Ausffihrungen schatzen, wieviel die 
Anstaltsbesitzer in X. fur ihre krztliche Bemfihung t&glich ffir jeden 
Kranken dnrcbschnittlich berechnen dfirfen, so wfirde ich sicher 3—5 Mk. 
angeben. 

Es muss berficksichtigt werden, dass auch in X., wie in jeder 
grdsseren Privatanstalt, einzelne Kranke zu einem billigeren Satz verpflegt 
werden, der oft die baren Auslagen nicht deckt; dass der besser situierte 
Kranke durch eine hflhere Zahlung den Ausfall ausgleicht, erscheint 
gewiss nicht unbillig. Daraus allein darf nicht ohne weiteres eine Ge- 
winnabsicht des Anstaltsleiters entnommen werden, wie ausdrucklich die 
scbon mehrfach angezogene Entscheidung des Preussischen Ober- 
verwaltungsgerichts vom 5. Mai 1898*) betont. Massgebend ffir die 
Absicht der Gewinnerzielung ist eben nur das j&hrliche geldliche 
Schlussergebnis. 

Dass die Ausfibung des irztlichen Berufes durch die Verbindung 
mit dem Anstaltsbetriebe vielfach einen grdsseren Gewinn abwirft als 

1) Entscheidung des sachsischenOberverwaltungsgerichts vom 31.5.1902. 
Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1902. Reohtsprechung S. 3. 

2) Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1912. Rechtsprechung S. 21. 

3) Entscheidungen. Bd. 7. S. 429. 


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766 


Ernst Schultze, 


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ohne solche, gebe ich ohne weiteres zu. Aber damit allein darf nicht 
die Gewerbesteuerpfiichtigkeit begrundet werden, wie es bereits eine 
altere Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 1894 >) 
getan bat. 

Das Oberverwaltangsgericht hatte geradezu „wegen der HObe des 
Anlage- und Betriebskapitals and der Grosse der Anstalt, sowie der 
von der Anstalt an die Patienten gew&hrten Leistungen and des 
j&hrlichen Umsatzes“ den Betrieb der Anstalt als einen Gewerbe- 
betrieb angeseben, and eine Ausscheidung der Honorare fur die Arzt- 
liche Behandlung von dem Ertrage des Gewerbebetriebes als unznl&ssig 
bezeichnet. 

Ich babe mit Absicbt in meinen Anfragen, die ich an die Privat- 
anstalten gerichtet habe, eine Aoskunft auch daruber erbeten, welcher 
Betrag wohl fur die Behandlung jedes Kranken fur den Tag berechnet 
werden durfte. 

Viele Fachkollegen fubiten sich dazu ausser stande, weil ihnen 
eine reinliche Scheidung zwischen Verpflegungskosten nnd Gebuhren fur 
arztliche Leistungen unmdglich erscbien. 

Andere wieder berechneten ibr arztliches Einkommen aus dem tat- 
s&chlichen Ueberschuss, den sie bei dem Anstaltsbetrieb nach Abzog 
aller Ausgaben, Abgaben and Unkosten am Ende des Rechnungsjahres 
erzielen; das ist meines Erachtens nicht zul&ssig, da es sich hier am 
ein BilanzmanOver handelt. 

Einzelne Aerzte gaben an, dass ein bestimmter Prozentsatz des 
Pensionsgeldes fur ftrztliche Bemuhungen anzusehen sei; er schwankte 
zwischen 15 und 30 pCt. 

Eine vierte Gruppe von Aerzten gab mir bestimmte Zahlen an. 
Zwei Mark war die Mindestsumme, die fur den Eopf und Tag berechnet 
wird, and dabei bandelt es sich meist am Sanatorien, in denen der 
Arzt eine weniger anstrengende and verantwortlicbe, man darf auch 
ruhig sagen, weniger gefahrvolle T&tigkeit ausubt, als in der ge- 
schlossenen Anstalt. Die Mehrzahl beziffert die zu beanspruchende 
Mindestsumme aaf drei Mark t&glich. Viele verlangen auch mehr. Ein 
Anstaltsbesitzer nimmt Bezug auf ein Gutachten, das aber diese Prage 
vier in weiten Kreisen bekannte Rliniker erstattet hatten; nach diesem 
Gutachten sollen dem Arzt t&glich 5 Mark fur die Behandlung jedes 
Kranken zugebilligt werden. 

Einige Anstaltsbesitzer wiesen darauf bin, dass die Leiter einzelner 
Sffentlichen Krankenh&user berechtigt sind, die Behandlung von Kranken 


1) Entsoheidungen. 1895. Bd. 3. S. 254. 


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Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten. 767 

besserer Strode zu berechnen; nach den mir gemachten Mitteilungen 
betragt diese Gebuhr fur die I. Elasse — und nur diese k&me nach 
dem Charakter der Anstalt in X. in Betracht — mindestens drei Mark 
taglich. Der Besitzer einer bayriscben Privatirrenanstalt scbreibt mir, 
dass ihm die Anrechnung einer Gebuhr in dieser H5he schon vor Jahr 
und Tag seitens seiner Steuerbehfirde zugebilligt sei. 

Ich bin uberzeugt, dass der Jahresabschluss mancher Privatanstalten 
bei Zugrundelegung dieser Gebuhr fur arztliche Tatigkeit eiue Unter- 
bilanz aufweisen wurde. Das wurde naturlicb nicbt beweisen, dass die 
arztliche Tatigkeit von mir geldiich zu hoch bewertet wird. Es geht 
vielmehr aus diesem rechnerischen Abschluss nur hervor, dass der 
Anstaltsbetrieb an sich keinen Gewinn bringt. Mehrere Privatanstalts- 
besitzer, die eine eingehende und kaufmannische Buchfuhrung haben, 
gaben mir in glaubbafter Weise an, dass sie froh seien, wenn der An¬ 
staltsbetrieb eine 4—5 prozentige Verzinsung abwerfe. 

Der Besitzer einer sehr angesehenen grSsseren Privatanstalt schrieb 
mir, dass der Reingewinn, auf Arztkosten berechnet, 95 Pfennig fur 
den Kopf und den Tag ergebe. Da in dieser Anstalt nur Rranke der 
besseren Stande verpflegt werden und ihnen, wie allgemein bekannt ist, 
eine sehr ausgiebige und persSnliche BehandluDg zuteil wird, pflichte 
ich ohne weiteres dem Anstaltsbesitzer bei, wenn er meint, diese Be- 
zablung sei mehr als karglich. Diese Angabe, der ich wegen der jedem 
bekannten Zuverlassigkeit des Anstaltsbesitzers besonderen Wert bei- 
messe, teile ich nur mit, weil sie lehrt, dass tatsacblich der reine An¬ 
staltsbetrieb nicht immer Gewinn abwirft. 

IV. 

Ich gebe somit mein Gutacbten dahin ab: 

1. Das Sanatorium X. ist nicht als ein Unternehmen anzusehen, 
das der Gewerbesteuerpflicht unterliegt; denn der Anstalts¬ 
betrieb ist der arztlichen Tatigkeit nach jeder Richtung unter- 
geordnet. 

2. Die Vereinigung der beiden Aerzte ist nicht in der Absicht 
der Gewinnerhfihnng erfolgt, sondern bedingt oder fast geboten 
durch uberwiegend arztliche Erwagungen und Rucksichten. 

3. In einer Anstalt von dem Charakter der Anstalt in X. ist 
eine Gebuhr vou 3—5 Mark fur den Tag und den Kopf, soweit 
arztlicbe Leistungen in Betracht kommen, aucb unter Zugrunde¬ 
legung der Bestimmungen der Preussischen Gebuhrenordnung 
gerechtfertigt. 


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768 Ernst Schultze, Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten. 

Auf mein Gntachten hin hob die Regierung die VeranlagnDg der 
Privatanstalt zur Gewerbesteuer auf. Zahlenm&ssig konnte nacbgewiesen 
werden, dass ein besonderer, die Gewerbesteuer begriindender Gewinn 
nicbt erzielt wird. Nur der geringste von mir vorgeschlagene Tages- 
satz von 3 Mark der Berechnung der krztlichen Gebuhren zugrunde 
gelegt, wird das im Anstaltsbetriebe steckende Kapitai der Inhaber 
verzinst, — wird, wie ich noch hinzufugen mOdite, anch noch ein an- 
gemessener Betrag fur die Abnutzung der betreffenden Geb&udeteile und 
ihres Inventars unter den Unkosten in Ausgabe gestellt (vergl. Ent- 
scheidung des O.Y.G. vom 5. Mai 1898 Bd. 7 S. 429) — so ergab sich, 
dass in einem Jahre uberhaupt keiner, in zwei Jahren nur ein un- 
erbeblicher wirtscbaftlicber Reinertrag erzielt wurde. Dieser Ertrag 
wurde vor allem mit Rucksicht auf das aufgewandte Risiko und die 
wirtschaftliche Tuchtigkeit der beiden Anstalts&rzte als gering angesehen. 
Alles das berechtigt nicht zu der Annahme, „dass der ganze Anstalts- 
betrieb von dem Inhaber zum Zwecke des Erwerbs aus der Wirtscbaft 
betrieben wird“. Auch den anderen Ausfuhrungen meines Gulacbtens 
schloss sich die Regierung an. 


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XX vu. 


Ueber eigenartige Einschliisse in den Ganglien- 
zellen (Corpora amylacea) bei einem Falle yon 
Myoklonus-Epilepsie. 

Vorlaufige Mitteilung. 

Von 

A. Westphal. 

(Hierzu Tafeln VIII—X.) 

Im Jahre 1911 hat Lafora 1 ) eine ganz eigenartige Bildung von 
besonderen Korperchen in den Ganglienzellen des Zentralnervensystems 
bei einem Falle von Myoklonus-Epilepsie beschrieben und dieselben als 
„AmyloidkSrperchen“ bezeichnet. Die K5rperchen liegen nach der Be- 
sehreibong Lafora’s im Innern der Ganglienzellen, teils in Einzahl, 
toils in Mehrzahl. Der Kern liegt bei diesen Ganglienzellen zum Toil 
exzentrisch und erscheint durch die Kbrperchen gedruckt. Die proto- 
plasmatischen Fortsatze der Ganglienzellen sind zum Teil geschwundeu, 
so dass dieselben rundlieb erscheinen. Seltener liegen die Korperchen 
in den protoplasmatischen Fortsatzen der Ganglienzellen. Derartig ver- 
anderte Zellen fanden sicb am sparlichsten unter den Betz’schen 
Zellen des Zentralnen'ensystems, am zahlreichsten unter den Ganglien- 
zellen der II., III. und IV. Scbicht der Hirnrinde, besonders in der Cal- 
carinagegend, den Vierhugeln, dem Sehhugel, der Oblongata und dem 
Hinterhorn des Rfickenmarkes, wahrend die Vorderhdrner keine der- 
artigen Ver&nderungen zeigten. 

Die Amyloidkdrperchen sind rund, besitzen gewOhnlich einige 
Schichten, welcbe manchmal radiare Streifung zeigen. Sie geben fast 
immer die charakteristischen Reaktionen der amyloiden Substanz. In 
ihrer Mitte finden sich oft nadelfOrmige Kristalle. Manchmal nehmen 


1) Ueber das Vorkommen amyloider Korperchen im Innern der Ganglien¬ 
zellen, zugleich ein Beitrag znm Studium der amyloiden Substanz im Nerven- 
system. Virch. Arch. Bd. 205, und Beitrag zur Histopathologic der myokloni- 
schen Epilepsie. (Bearbeitung des klinischen Teiles von B. Gluck.) Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. €. 


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770 


A. Westphal, 


die Schichten verschiedene kontrastierende FArbungen an. Die Neuro- 
fibrillen zeigen das vorgeschrittene Stadium der Zerstdrung. 

Eiuige freiliegende Korperchen sind von einer Gliahulle umgeben. 
Lafora macht keinen Versuch diese „Amyloidk5rperchen“ von den 
Corpora amylacea zu trennen, er bezeichnet ihr Auftreten in den Ganglien- 
zelten als „amyloide Degeneration 14 derselben und erklArt sich ihre Bil- 
dung durcb eine lokale Abscheidung amyloider Substanz, welche mbglicher- 
weise aus dem gestorten Stoffwecbsei in den Ganglienzellon hervorgehe. 
Gegen diesen Befund und seine Deutung wendet sich Sturmer 1 ) in 
seiner grossen, den heutigen Standpnnkt unserer Kenntnisse uber die 
Corpora amylacea des Zentralnervensystems wiedergebenden Arbeit, in 
welcher er hervorhebt, dass eine direkte Entstehung der Corpora amy¬ 
lacea aus Ganglienzellen noch nicht nachgewiesen, aber auch nicht an- 
zunebmen sei, und dass es sebr zweifelhaft sei, ob es je gelingen wird, 
eine Entstehung der Corpora amylacea aus spezifischer Nervensubstanz 
zu beweisen, in einer absprecbenden Kritik, „die Abbildungen Lafora’s 
ermangelten jeder Wahrscheinlichkeit, selbst fur den Fall, dass sie 
ganz schematiscb gehalten sein sollen“. Das atypische Vorkommen in 
den Ganglienzellen und das andersartige morphologische und tinktorielle 
Verhalten wiesen darauf hin, dass es sich in dem Falle Lafora’s wohl 
schwerlich um richtige Corpora amylacea handeln durfte. Es sei falsch 
aus dem sebr zweifelbaften Befund dieser sogenannten AmyloidkSrper- 
chen auf eine „amyloide Degeneration 14 der Ganglienzellen zu schliessen. 

Der Befund von Lafora war bisher in seiner Art der Ein- 
zigste. Vor Eurzem konnte ich nun bei einem auch in klinischer Hin- 
sicht bemerkenswerte Erscheinungen darbietenden Fall von Myoklonus- 
Epilepsie eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen konstatieren, 
deren IdeutitAt mit den von Lafora beschriebenen nicht-zweifelhaft ist. 
Da mir die Feststellung dieser Tatsache von allgemeinerem Interesse 
zu sein scheint, halte ich eine vorlAufige, sich auf eine Schilderang des 
klinischen Verlaufs des Falles und des Befundes an den Ganglienzellen 
beschrAnkende, von einer Wiedergabe der anatomischen VerAnderungen 
in ihrer Gesamtheit zunAchst noch absehenden Mitteilung fur angebracht, 
wAhrend die ausfuhrliche VerOffentlichung einer spAteren Arbeit vor- 
behalten bleibt. 

Krankengeschiohte. Adele N., 18 Jahre alt, wurde am 31. 7. 1917 
in die Bonner Provinzial-Heilanstalt aufgenommen. Ihre Eltern, Geschwister- 
kinder, leben und sind gesund, ebenso die beiden Bruder und eine Schwester 

1) Die Corpora amylacea des Zentralnervensystems. Histologische und 
histopathologisoheArbeiten uber dieGrosshirnrinde, herausgegeben von F.Nissl 
und A. Alzheimer. 1913. Bd.5. H.3. (MitausfubrliohemLiteraturverzeiobnis.) 


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Ueber eigenartige Einscbliisse in den Ganglienzellen usw. 


771 


der Patientin. Keine Nerven- Oder Geisteskrankheiten in der Familie, insbe- 
sondere auch nichts von Epilepsie bckannt. Im Alter von 10 Jahren 
Scharlach. In Anschluss an diesen ein Anfall mit Bewusstlosigkeit von 
einer Stnnde Daner. Danach anscheinend gesund, besuchte das Madchen- 
gymnasium, lernte sehr gut, bis sich allmahlich Zuckungen in den 
Armen einstellten, die fur „nervos“ gebalten wurden and zunachst keine 
weitere Beachtung fanden, obwobl dieselben bald so stark vurden, dass ihr 
beim Essen mitunter der Loffel aus der Hand fiel. November 1915 fiel Pat. bei 
einem Schulansflug auf das Kimr, .soil sich Tiber das iliessende Blut sehr er- 
schreckt baben, besuchte aber weiter die Schule und soil keine auffallenderen 
Veranderungen dargeboten haben. VierzehnTagenach demUnfall schwerer epi- 
leptischer Anfall von 1 / 2 —1 Stunde Dauer. Seitdem haufige Wieder- 
holung der Anfalle, die auf den Unfall zuruokgefiihrt wurden. Nach den 
Anf&llen war Pat. haufig kurze Zeit verwirrt, brach in krampfhaftes Weinen 
oder Lachen aus. Die in den anfallsfreien Zeiten auftretenden 
Zuckungenio den Handen wurden starker und ergriffen auch die 
unteren Extremitaten. Der Gang wurde schwankend und unsicher. Es 
stellten sich jetzt auch Veranderungen in dem psychischen Verhalten 
der Pat. ein. Sie wurde sehr schreckhaft, leioht ermiidbar, ihre Interessen 
liessen nach, sie fing an stumpf und gleichgiiltig zu werden. Die Sprache 
wurde stockend und unsicher. Am 11. 5. 1916 erfolgte die Aufnahme in die 
Lindenburg zu K61n. 

Aus dem uns freundliohst uberlassenen Krankenjournal ist Folgeudes 
bervorzuheben: Es werden sehr haufige, mitunter in Serien verlaufende schwere 
epileptisohe Anfalle beob^chtet. Ausserhalb der Anfalle bestehen ^eigenartige 
Zuckungen, bei Intentionen sich verstarkend“. Pat. wurde immer apathischer, 
die Sprache immer unverstandlicber. Sie erkannte ihre Umgebung nioht mehr, 
hatte Lichterscheinungen vor den Augen, behauptete andauend „14“ Streifen 
zu sehen. Am 31. 8. wurde konstatiert, dass die sonst gut reagierenden Pupil* 
len, unabhangig von den Anfallen beiderseits sehr weit waren und dass die 
linke Pupille vollstandig liohtstarr war, die rechte nur wenig 
reagierte. Naoh kurzer Zeit wurde wieder prompte Lichtreaktion 
der mittelweiten Pupillen festgestellt. Zu gleicher Zeit fiel auf, dass 
Pat. nioht mehr fixierte „offenbar ohne jedes Sehvermdgen war“, bei 
normalem Augenspiegelbefund. Zeitweilig schien sie auch fastvollig 
taub zu sein. Diese Storungen des Gesiohts- und Gehbrsinns 
waren auch in der Folgezeit, aber\n geringerem Grade zu beob- 
achten. Sehr wechselnd war das Verhalten der Sehnen* und Haut* 
reflexe. Fuss- und Patellarklonus waren bald vorhanden, bald nicht nach* 
weisbar, ebenso waren Babinski undOppenheim mitunter deutlich nachweisbar, 
mitunter nicht oder in nicht ganz sicherer Weiee zu konstatieren. Die Bauoh* 
deckenreflexe waren vorhanden. Die Sensibililt&t wies keine Storungen auf. 
Keine Lahmungserscheinungen an den Extremitaten. Wassermann im Blute 
negativ. Bei Lumbalpunktion kein erhohter Druok, Liquor fliesst tropfenweise 
ab, ganz klar. Nonne negativ, keine Zellvermehrung. 


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772 


A. Westphal, 


t 


Da die epileptischen Anfalle, trotz aller angewandten Mittel (Brom, Epi- 
leptol u. a.) an Haufigkeit und Schwere zunahmen, die Pat. benommen wurde, 
nicht mehr schluckte und unter sich liess, wurde im September 1916 der Ver- 
sucb eines operatiyen Eingriffs durch Eroffnung der Schadelhdhle in der linken 
Scheitelgegend (Geh. Hat Tilmann) gemacht. ^Das Gehirn quoll formlich 
aus der Oeffnung des Schadels heraus und stand offenbar unter sehr starkem 
Druck. Ein Stich in die weichen Hirnhaute veranlasste ein allmahliches Ab- 
fliessen der Flussigkeit und Sinken des Niveaus des Gehirns“. Nach der Ope¬ 
ration trat zunachst Besserung der Anfalle und des psyohischen Verhaltens 
auf. Pat. antwortete wieder, wenn auch miihsam und mit stockender Sprache. 
Bald aber stellen sich wieder sohwere, oft in Serien verlaufende epileptische 
Anfalle ein, die Zuokungen ausserhalb der Anfalle nahmen an Intensitat zu, 
und in psyohischer Hinsicht trat eine immer deutlicher werdende Demenz her- 
vor. Dieser Zustand hielt im ganzen unverandert bis zu ihrer Ueberfuhrung 
nach Bonn am 31. 12. 1917 an. 

Hier ergab die Untersuchung folgendes: Patientin ist ein schwachlich 
gebautes junges Madchen. In der linken Parietalgegend eine von dev Trepanation 
herriihrende, nicht empfindliche Operationsnarbe. Die auffallendste Er- 
scheinung bieten kurze,blitzartige Zuckungen einzelner Muskeln, 
die in erster Linie die Extremitaten betreffen. Fast andauernd sind 
die Zuckungen im U. quadrioeps femoris beiderseits siohtbar, auch die Exten- 
soren und Flexoren der Hand und der Zehen sind lebhaft beteiligt. Mitunter 
greifen die Zuokungen auch auf Muskeln des Rumpfes iiber und fiihren zu 
einer krampfartigen Verziehung des Korpers nach hinten heruber. Im Fazialis- 
gebiet sind bald kurze klonisohe Zuokungen urn die Mundwinkel herum, bald 
ein mehr fibrillares Wogen zu beobachten, wahrend die anderen Fazialisaste 
frei sind. Die Zunge nimmt nioht an den Zuckungen teil. Die myoklonischen 
Zuckungen an den Extremitaten sind arhythmisch, nur mitunter auf beiden 
Seiten synchron und von sehr wechselnder Intensitat. Am deutliohsten treten 
sie beim Liegen der Patientin in die Erscheinung, haben aber keinen starkeren 
lokomotorischen Efifekt zur Folge, der sich in der Regel auf leichte Beugungen 
und Streckungen der Finger und Zehen beschrankt, wahrend in den grossen 
Gelenken keine Bewegungen erfolgen. Mitunter wird durch das regellose Her- 
vorspringen einzelner Muskeln ein „Sehnenhupfen a bedingt, ahnlich dem Ver- 
halten bei hochfiebernden Kranken. Der Gang der Patientin ist nicht ohne 
Unterstiitzung moglich, er erscheint weniger durch die Muskel- 
zuokungen, wie durch ein starkes Taumeln gestort. Intendierte Be¬ 
wegungen mit den Armen sind.durch die sich einmischenden Muskelzuckungen 
behindert. Die Kranke vermag nicht allein zu essen, muss gefuttert warden. 
Die grobe Kraft der Extremitaten ist sehr gering, ohne dass sich eigentliche 
Lahmungserscheinungen nachweisen lassen. Keine Sensibilitatsstorungen, die 
Bauchdeckenreflexe sind erhalten. Die Patellarreflexe sind gesteigert, mitunter 
Fussklonus hervorzurufen, beiderseits Babinski naohweisbar, kein Oppenheim. 
Die Pupillen gleiohweit. Lichtreaktion links aufgehoben, rechts trage und 
wenig ausgiebig. Augenhintergrund ohne Besonderheiten. Die Sprache ist ab- 


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Ueber eigenartige Einsohliisse in den Ganglienzellen usw. 


773 


gerissen, mitunter deutlich skandierend, dabei verwasohen. Schwierigere Worte 
warden nur mfihsam and unter sichtlicher Anstrengang herausgebracht, wobei 
die Zucknngen um den Mund herum an Starke zunehmen. Psychiscb macht 
Patientin einen euphoriscb dementen, leicht benommenen Ein - 
druck. Alle Antworten erfolgen mit grosser Langsamkeit, die weniger aaf 
der Spraohstorung, als auf einer Erschwerang der Auffassang zu beruhen 
scheint Die auffallendste Erscheinang aaf psychischem Gebiete ist die boch- 
gradige Ermfidbarkeit, die sich durch das schnelle Versagen bei Wieder- 
holnngen aucb der leiohtesten Aufgaben dokumentiert; wahrend man bei der 
ersten Frage noch mitunter eine leidlicb richtige Antwort erhalt, sind die fol- 
genden Antworten schon unsinnig Oder die Patientin verstummt vollig. Es 
lasst sich nur durch haufige Wiederhoiung der Prfifungen feststeilen, dass 
Ged&chtnis und Merkfabigkeit erheblich gelitten haben, und dass die Kennt- 
nisse fiir ihren Bildungsgang sehr dfirftige sind. Wassermann im Blut negativ, 
im Liquor (ausgewertet bis 2,0) negativ. Nonne-Apelt negativ. Keine Pleozytose 
(6 Lymphozyten in 1 ccm.) 

Aus dem weiteren Krankheitsverlauf ist zunachst das haufige Auf- 
treten von epileptischen Anfallen in verschieden langen Intervallen her- 
vorzubeben. Wahrend zeitweilig taglich mehrore Anfalle beobachtet werden, 
ist Patientin mitunter wochenlang frei von Anfallen. Die andauernd be- 
stehenden myoklonischen Zuckungen werden durch dies© Anfalle in 
der Art ihres Auftretens nicht beeinflasst, dagegen haben psyohische Er- 
r eg ungen der verschiedensten Art eine wesentliche Steigeruag der Muskel- 
zuckungen zur Folge. Die Haut- und Sehnenreflexe zeigen ein sehr 
wechselndes Verhalten. Babinski und Oppenheim sind bald deutlioh vor- 
handen, bald nicht nachweisbar, ohne dass sich ein Zusammenhang dieser Er- 
scheinungen mit vorhergegangenen epileptischen Anf&llen nachweisen liesse. 
Bald ist Fussklonus vorhanden, bald nicht hervorzurufen. Sehr auffallende 
Erscheinungen sind an den Pupillen zu konstatieren und veranlassten 
mich zu systematischen, wahrend des gesamten Krankenhausaufenthaltes der 
Patientin fortgesetzten UntersuchungeD, deren Gesamtresultat folgendes ist: 
Mitunter zeigen beide Pupillen keine Storung der Lichtreaktion, 
mitunter sind beide starr auf Lichteinfall. Haufiger ist die Pupille 
einer Seite lichtstarr, wahrend die der and ere n Seite auf Licht rea- 
giert, mitunter prompt, mitunter auch trage, wobei zwischen links 
und rechts ein ganz unregelmassiger Wechsel stattfindet. Nicht 
selten reagiert eine Pupille noch bei der ersten Belichtung, wahrend sie bei der 
zweiten starr erscheint. Verziehungen der Pupillen sind hierbei nioht zu 
konstatieren. Es kann einigemal festgestellt werden, dass die lichtstarren, 
mittelweiten Pupillen sich auch bei Konvergenz nicht verengern, wahrend mit¬ 
unter bei Konvergenz eine Verengerung eintritt. Die Versuche zur Priifung der 
Konvergenzreaktion werden durch die Unfahigkeit der Patientin zu fixieren 
sehr erschwert. Das ganze Verhalten der Patientin erweckt den Eindruok, dass 
eine fortschreitende Abnahme des Sehvermogens besteht, fiber die 
aber boi ihrer grossen Ermudbarkeit bei alien Sehprfifungen ein sicheres Urteil 


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774 


A. Westphal, 


nicht zu gewinnen ist. Lesen and Schreiben zuerst nooh, wenn auch unvoll- 
kommen erhalten, ist spater nicht mehr moglich. Der Gehorssinn lasst zur 
Zeit unserer Beobachtung keine auffallenden Storungen erkennen. Psychisoh 
tritt ein eupborisch dementes Verhalten immer deutlioher zu Tage, wird aber 
mitnnter duroh karze freiere Zeiten unterbrochen, in denen die Kranke hin 
and wieder einige iiberraschend prompte and richtige Antworten gibt, am dann 
sofort wieder in ihren fruheren Zustand zu versinken. Zeitweilig bestehen 
Gesichtshallazinationen; Patientin erzahlt von drohenden Gestalten, die 
an ibr Bett herantreten. August 1918 treten besonders schwere epileptiscbe 
Anfalle von mitunter stundenlanger Dauer auf. Im September wird beobacbtet, 
dass die myoklonischen Zuckungen eine ausserordentliche Stei- 
gerung bei der leisesten Beriihrung der Patientin, einem leichten 
Anblasen der Haat erfabren, die gesamte Korpermuskulatur ergreifen and 
so heftig sind, dass die Kranke, nicht gehalten, darch die Zackangen aus dem 
Bett gescbleadert werden wurde. Starke Schweisse treten aaf. Patientin wird 
immer stampfer, die Sprache ist kaum noch verstandlich and anter zaneh- 
menden StSrungen des Schlaokens tritt am 3. Oktober 1918 Exitus ein. 

Die wesentlichen Symptome dieses Krankheitsfalles, myoklonische 
Muskelzuckungen, epileptische Anfalle und progressive zur 
Demenz fuhrende psychische StSrungen weisen auf Beziehungen 
desselben zu der von Lundborg bescbriebenen Form der myoklonischen 
Erkrankung hin, anterscbeiden sich aber von derselben durch das Fehlen 
jeder nachweisbaren hereditaren Veranlagung, die fur den Lundborg- 
schen Typus als ein wesentliches Merkmal bezeichnet werden muss. Die 
„myoklonische Reaktion" Lundborg’s tritt uns in der letzten Zeit 
des Leidens in der uberaus heftigen Steigerung der Zuckungen auf die 
geringfttgigsten sensiblen Reize deutlicb entgegen. Was die spastischen 
Phanotnene anbetriflt, zeigt auch dieser Fall wieder, dass Babinski’s und 
Oppenheim’s Zeichen zu den haufiger bei der Myoklonie vorkommenden 
Erscheioungen gehoren, ein Umstand, auf den ich 1 ) vor kurzem bei der 
Schilderung zweier Falle von familiarer Myoklonie hingewiesen babe. In 
der Inkonstanz dieser Symptome steht die vorliegende Beobachtung den 
von Recktenwald verCffentlichten Fallen von familiarer Myoklonie nahe. 
Bemerkenswert erscheint die schwere Sprachstbrung in der vor- 
liegenden Beobachtung, die wohl nicht allein auf die myoklonischen 
Zuckungen in der Mundmuskulatur zuruckgefuhrt werden kann. Eine 
sehr auffallende Erscheinung in unserer Beobachtung bietet das Ver¬ 
halten derPupillen. Die wabrend einer langen Beobachtungs- 
zeit audauernd zu konstatierende Tatsache, dass die Pupillen 


1) Ueber familiars Myoklonie und uber Beziehungen derselben zur 
Dystrophia adiposo genitalis. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1918. Bd.58. 


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Ueber eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen usw. 775 

einen fortwihrenden Wecbsel zwischen erhaltener and auf- 
gebobener Licbtreaktion bald einseitig bald doppelseitig 
zeigen, muss als ein ganz ungewdhnliches Verhalten be- 
zeichoet werden. Die Erscheinungen erinuern an die bei manchen 
Fallen von katatonischem Stupor zu beobachtenden Pupillen- 
phfinomene, unterscheiden sich aber von diesen in der Regel schnell 
vorubergehenden Beeintrachtigungen der Lichtreaktion, durcb die auf- 
fallende Konstanz der StOrung, auch lassen die Pupillen die fur die 
katatonische Pupillenstarre bis zu einem gewissen Grade charakteri- 
stiscben Formver£nderungen vermissen. Der Umstand, dass die Pupillen 
bei der Konvergenz bald starr bleiben, bald sich verengern, weist 
in Verbindung mit analogen Erfabrungen bei der „katatoniscben 
Pupillenstarre 14 darauf bin, dass wir es mit einer vorubergehenden 
absoluten Starre zu tun baben, bei welcher der an Starke uber- 
wiegende Konvergenzimpuls mitunter zu einer Verengerung der Pupillen 
fuhrt, wahrend dieselben auf Licht noch nicht reagieren. Von weiteren 
Symptomen, deren Deutung zurzeit nocb nicht mdglich erscheint, 
hebe ich die vorubergehenden, in einem fruheren Krankheitsstadium 
beobachteten Symptome von anscheinend vOlliger Amaurose und 
Taubheit, sowie die spateren Erscheinungen von Amblyopie hervor. 
Die Auffassung dieser Symptome als psychogen bedingter ist besonders 
mit Hinsicht auf die wesentliche Rolle, welche hysterische Ueber- 
lagerungen in den von mir (1. c.) vor kurzem verOffentlicbten Fallen 
von Myoklonie spielen, naheliegend. In dem vorliegenden Falle aber 
fehlen alle weiteren Hinweise auf eine komplizierende Hysterie vbllig, 
und die Art der SehstOrung machte durchaus nicht den Eindruck einer 
auf psychogener Grundlage beruhenden Erscheinung, so' dass wir nacb 
anderen Ursachen fur dieselbe suchen mussen. 

Anatomische Untersuohung 1 ). Die Sektion des Gehirns ergab mit 
Ausnahme eines starken Hydrocephalus externus keine Abweichungen von der 
Norm. An den inneren Organen fand sich nichts Pathologisches. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung der Hirnrinde fallen zunachst 
eigenartige Einschliisse in den Ganglienzellen auf. Es handelt sich urn ganz 
eigentumliche kugelige Gebilde, welche sich in zahlreiohen 
Ganglienzellen der Hirnrinde, besonders der tieferen Rindenschichten, 
finden. Sie kommen in alien bisher untersuchten Rindenteilen vor und sind 
am zahlreichsten in der hinteren and vorderen Zentralwindung vorhanden, mit 
Ausnahme der Betz’scben Riesenpyramidenzellen, in denen sie nur in vor- 
einzelten Zellen nachweisbar sind. Die Veranderungen treten am besten in 

1) Bei derBearbeitung des anatomischen Materials hat mich Herr Dr. Sioli 
in sehr dankenswerter Weise unterstutzt. 


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776 


A. Westphal, 


den nach dem Nissl’schen Prinzip mit Toluidinblau gefarbten Schnitten des 
Alkoholmaterials hervor. Dies© Darstellungsweise wird der folgenden Be- 
schreibang zunachst zugrunde gelegt: die runden kugeligen Korperchen grenzen 
sich scharf von der (Jmgebung ab, lassen jedoch nie eine Membran erkennen. 
In der grossen Mehrzahl der erkrankten Zellen verdrangen die kugeligen 
Gebilde den Kern, so dass derselbe, haufig in der Form verandert, ex- 
zentrisch an der Peripherie der Zelle liegt, in anderen Zellen liegen die 
Korperchen im Protoplasma, ohne die Gestalt der Zellen wesentlich zu ver- 
andern oder den Item zu verdrangen. In vereinzelten Exemplaren sind die 
Korperchen auoh in den Zellfortsatzen vorhanden (Fig. 7, Taf. VIII, 
Fig. 14, Taf.IX, Fig. 16, Taf.X). Die Grosse derkugeligen Korperchen 
ist eine sehr verschiedene, wie aus den farbigen, bei derselben Vergrdsserung 
angefertigten Abbildungen hervorgeht. Sie liegen teils vereinzelt, teils 
zn mehreren, bis zu 7 Exemplaren (Fig. 8, Taf. VIII) in den Zellen und 
bilden mitunter ein die ganze Zelle ausfiillendes, von sparlichen Protoplasma- 
resten derselben umgebenes Konglomerat. Man kann im allgemeinen belle 
und dunkle Korperchen unterscheidon. Erstere stellen kreisformige Auf- 
hellungen des Zellprotoplasmas von mitunter leicht opakem Farbenton dar, 
lassen keine konzentrische Schichtung (Fig. 2a, Taf. VIII), nur mitunter ein 
punktformiges, etwas dunkler gefarbtes Zentrum (Fig. 2b, Taf. VIII) erkennen. 
Die grossere Anzahl der kugeligen Gebilde besitzt ein homogen basisch 
blau gefarbtes Zentrum und um dieses herum ein- oder mehr- 
schiohtige, sich durch Differenzen in der Farbbarkeit unter- 
scheidende Hofe (Figg.3,9,10, Taf.VIII). In den gleichen Zellen kommen 
beideArten von Korperchen nebeneinander vor (Fig. 14,Taf. IX). Dass zwischen 
hellen und dunklenKorperchen in den einzelnenZellen die verschiedensten 
Uebergange vorhanden sind, geht aus den Abbildungen deutlich hervor. 
Eine Anzahl von Korperchen lasst eine feine radiareStreifung erkennen (Fig.l, 
Taf. VIII), die mitunter zu zierlichen fazettierten Bildungen (Fig. 4, Taf. VIII) 
fuhrt. Bei einigen der fraglichen Gebilde hat der Rand ein gezahntes, zackiges 
Aussehen (Fig. 6, Taf. VIII). Das Protoplasma der diese Korperchen ein- 
schliessenden Zellen zeigt, soweit es nicht vollig von derselben zerstort ist, die 
verschiedensten Grade der Tigrolyse, zuweilen mit vakuolenartigen 
Bildungen (vergl. die Abbildungen). Die Form der Zellen mit Ein- 
schlussen lasst die mannigfachsten Formveranderungen, Ab- 
rundungen, flaschenformige Bildungen, sack- oder buckelartige Auftreibungen 
erkennen, dcren Mannigfaltigkeit die Abbildungen zeigen. Mitunter sind die 
Veranderungen der Zellform und die Deformitaten des Kerns derartig, dass der 
Gharakter derZelle, obGlia- oderGanglienzelle, nicht mehr sicher zu erkennen 
ist, doch ist keine Zelle mit Zelleinschluss mit einiger Sicherheit 
als Gliazelle zu identifizieren. Vereinzelt finden sich die gleichen 
Kdrperohen, geschichtete und ungeschichtete, grossere und kleinere, helle und 
dunkle frei im Gewebe liegend (Figg. 4, 5a, Taf. VIII) ohne naohweis- 
baren Zusammenhang mit Zellen, wahrend bei anderen entsprechenden 
Gebilden der Kern und ein zartester umgebender Protoplasmasaum (Fig. 5b 


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Ueber eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen usw. 


777 


nnd o, Taf. VIII) oder ein Zellfortsatz (Fig. 5c, Taf. VIII) erkennen lasst, dass 
die Korperchen in kleinen zelligen Elementen eingeschlossen sind. 

Bei der Farbung nach van Gieson sind die K5rpercben im Allgemeinen 
rosa, mit einem Stioh ins gelbliche gefarbt. Fig. 12, Taf. VIII zeigt ein solohes 
Gebilde, welches den ganzen Zellleib einnimmt, dem der ganz nach aussen 
gedrangte Kern kappenformig aufsitzt. Manche der Korperchen lassen ein 
kreisformiges, helleres, gelblich gefarbtes Zentrum erkennen (Fig. 13,Taf.VUl). 

Bei der Bielschowsky-Farbung der Neurofibrillen sieht man, dass 
die got erbaltenen, intensiv schwarz gefarbten Anssenfibrillen das in der Zelle 
liegende Gebilde umziehen und auch in den Fortsatzen schwarz gefarbt anf 
weite Strecken zu verfolgen sind. (Fig. 15, Taf. IX.) Die in einem Fortsatz 
liegendeu Korperchen warden ebenfalls von schwarz gefarbten Fibrillen um- 
zogen, die dann wieder, zn einem Stammchen yereinigt, weiterziehen. (Fig. 16, 
Taf. X.) Allgemeinere Veranderungen im Fibrillenbild der die 
KSrperchen einschliessenden Zeilen lassen sich also nichtfest- 
stellen. Die in yielen Ganglienzellen und yereinzelt in ibren Fortsatzen 
liegenden kngeligen Gebilde sind teils hell, strukturlos (Fig. 16, Taf. X), teils 
zeigen sie eine drusige Struktur, und zwar handelt es sich hierbei entweder 
um ein dunkles Zentrum, welches aus einer drusig gestalteten Anhaufung 
kleiner Kldmpchen von nicht ganz scharferBegrenzung besteht (Fig. 15, Taf. IX) 
oder es sind derartig kleine Kliimpchen in einer peripberen Schicht, drusen- 
artig um ein helleres Zentrum angeordnet. (Fig. 17, Taf. X.) 

Bei der Fettfarbung mit Scharlaoh (R. Michaelis) lassen die 
kngeligen Zelleinschliisse an keiner Stella Fettreaktionen erkennen. 

Bei der Farbung mit H&matoxylin farben sich Teile der kugeligen Ge¬ 
bilde sehr intensiv blau. 

Mit Best’schem Karmin und Neutralrot farben sie sich in ihrem ganzen 
Umfang sehr stark rot. 

Mit Methyl violett, Th ion in und Jodgrfin farben sie sich in gleicher 
Weise wie das Gmndgewebe. 

Bei der Farbung mit Lugol’scher Losung farbt sich der zentrale Tail 
▼ieler Korperchen dunkelbraun, der periphere Te\\ hellgelblich (Fig. 5d, 
Taf. VIII). Bei Farbung mit verdunnter Lugol’scher Losung tritt die gleiche 
dunkelbraune Farbung des Zentrums ein, bei einigen eine dunkelviolette Far¬ 
bung, wahrend der periphere Teil bei einigen hellfiolett wird. Nachbehand- 
lung der Scbnitte mit Schwefelsaure verst&rkt den violetten Farbenton etwas. 

Farbung mit May-Grunwald’schem Farbgemisch und Mann’scher 
Ldsung lasst im Innern einiger der Korperchen ganz kleine, stark gefarbte 
Punkte hervortreten. 

Diese Untersuchungen ergeben, dass es sich bei den 
fraglichen, in den Ganglienzellen gelegenen KQrperchen um 
Gebilde handelt, die nach Form, Gr6sse, Struktur und den 
FArbbarkeitsverhaltnissen dem Verhalten von Corpora amyla- 
cea entsprechen. Was die viel diskutierte Frage nach der konzen- 

ArebiT f. Psychiatric. Bd. 60. Heft 2/3. N 50 


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778 


A. Westphal, 


trischen Schichtung dieser KOrperchen betrifft, welche Redlich 1 ) nur 
selten fand, w&hrend Sturmer (1. c.) an der konzentrischen Schichtung 
als Eigenschaft der Corpora amylacea nnbedingt festhalt, sehen wir bei 
den, von uns in den Ganglienzellen nacbgewiesenen KOrperchen alle 
Ueberginge von Gebilden mit deutlich konzentrischer Schichtung bis 
zu selteneren Exemplaren, die eine Schichtung nicht erkennen lassen. 
In der fiber wiegendeu Mehrzahl der KOrperchen erblicken wir aber mit 
Sturmer „in der Unterscheidung zweier verschiedenen Partien, eines 
Kernes und einer Schale, den Beweis fur ibre konzentrische Schichtung”. 
Es kann bei Vergleich der Scbilderung und den allerdings schematiscb 
gehaltenen Abbiidungen Lafora’s mit unseren Pr&paraten kein Zweifel 
bestehen, dass'die von diesem Autor in den Ganglienzellen bescbriebenen 
KOrperchen mit den von mir gefundenen identisch sind. Der Umstand, 
dass wir die kleinen kristallinischen Bildungen im Zentrum mancher 
der KOrperchen, die Lafora beschreibt, bei unserem Falle nicht nacb- 
weisen konnten, kann als eine wesentliche Differenz wohl nicht be- 
trachtet werden. 

Somit ist in zwei Fallen der Nachweis gebracht, dass in 
den Ganglienzellen Einschlfisse von Gebilden vorkommen. 
die nach dem heutigen Standpunkt unserer Kenntnisse von 
den Corpora amylacea nicht zu trennen sind, und dass 
Stunner’s Kritik der Lafora’schen Befunde „als jeder Wahrscheinlicb- 
keit ermangelnd” nicht den Tatsachen entspricht. Die Form der Ge- 
bilde mit ihrer konzentrischen Schichtung, ihre braunviolette Farbung 
mit Jod, die Best’sche und die Neutralrotfarbung und ibre Darstellung 
im Bielschowsky-Praparate lassen es als ausgeschlossen erscheinen, dass 
es sich urn Kunstprodukte, Myelintropfen oder Aehnliches, handelt. 

Anschliessen mfissen wir uns aber auf Grund des Ergeb- 
nisses unserer Farbreaktionen der Ansicht Sttlrmer’s, dass 
es nicht richtig sei, aus dem Befund der von Lafora als 
„AmyloidkOrperchen“ bezeichneten Corpora amylacea auf 
eine „amyloide Degeneration” der Ganglienzellen zu schliessen, 
wie es Lafora tut. Auch abgesehen von dem ganz ungewOhnlichen 
Ort des Auftretens der Corpora amylacea in den Ganglienzellen, 
w ah rend sie ausserhalb derselben nur vereinzelt vorhanden sind, moss 
in unserer Beobachtung der Befund von sehr zahlreichen der- 
artigen KOrperchen bei einer jugendlichen Person an und fur 
sich als ein auffallender bezeichnet werden, da ja bekanntlich 


1) Die AmyloidkOrperchen des Nervensystems. Jabrb. f. Psych. 1891. 
Bd. 10. H. 1. 


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Ueber eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen usw. 


779 


die Corpora amylacea in grosser Menge ganz vorwiegend in hbheren 
Altersstufen zur Beobachtung kommen, w&hrend sie im jugendlichen 
Alter fehlen odor nur in sehr sp&rlicher Anzahl vorhanden sind. 

Es ist bier nicbt die Stelle, auf die verschiedenen Theorien uber 
die Entstehang der Corpora amylacea als eines Produktes der Glia, der 
Markscheiden Oder der Acbsenzylinder des Naheren einzugehen, zumal 
es heute „wohl ausser Zweifel ist, dass die Corpora amylacea. 
nur ein allgemeines patbologiscbes Stoffwechselprodukt des 
gesamten zentralen Jiervensystems sein konnen“ (Stunner) 
Unter diesem Gesicbtspunkt betrachtet, kann das Auftreten der Corpora 
amylacea in den Ganglienzellen der Grossbirnrinde 1 ), wenn auch zur- 
zeit unsere Kenntnisse nicbt ausreichen, um nur eine Vorsteilung uber 
ibre Entstebungsweise an dieser Stelle zu bilden. nicbt a priori als 
„etw'as ganz Unwabrscheinlicbes u bezeichnet werden, hat ja das Studium 
der mikrochemischen Veranderungen der Ganglienzellen des Zentral- 
nervcnsystems uns in dem Verbalten der Ganglienzellen bei der amau- 
rotischen Idiotie gezeigt, dass sich bestimmte, eigenartige Abbau- 
produkte in denselben anhaufen und zu den sonderbarsten Form- 
veranderuugen der Zellen und ibrer Fortsatze fubren kdnnen. Die 
Eigenart der fur die amaurotiscbe Idiotie charakteristischen Zellveran- 
derungen lasst daran denken, dass vielleicht auch bei anderen Gehirn- 
erkrankungen abnliche Beziehungen bestimmter Abbauprodukte zu- den 
Ganglienzellen bestehen kdnnten, und dass die bei der Myokionus-Epi- 
lepsie gefundenen Zelleinscblusse auf Abbauvorgangen beruben, die mit 
den dieser Erkrankung vielleicht zugrunde liegenden, freilich noch durch- 
aus bypothetischen StoffwechselstCrungen (Autointoxikationstheorie 
Lundsborg’s) in Zusammenbang stehen. 

Wenn es auch als eine sehr auffallende Tatsache be¬ 
zeichnet werden muss, dass sich bei einer so seltenen Erkran¬ 
kung wie der Myoklonus-Epilepsie in zwei Fallen das bisher 
noch nicht beobachtete Vorkommen von Corpora amylacea 
in den Ganglienzellen hat feststellen Iassen, so ist es doch 
nicht erlaubt, aus diesen Befunden allgemeinere Schlusse 
irgendwelcher Art zu ziehen, zumal die frQheren Untersuchungen 
der Ganglienzellen bei der Myoklonie (Fr. Scbultze, Hunt) ein nega- 

1) Es ist in dieser Beziehung eine Bemerkung Barfurth’s (Rostock) im 
Anschluss an einen Vortrag von Winterstein „Ueber den Stoffwechsel der 
nervosen Zentralorgane“ (Ref. Neurol. Zentralbl., 1919, Nr. 2) von Interesse, 
dass „schon der Physiologe E. Pfluger in seinen Vorlesungen die graue Sub- 
stanz des Zentralnervensystems als die am sohnellsten zersetzbare im Orga- 
nismus cbarakterisiert habe“. 

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780 


A. Westphal, 


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tives Resultat gehabt haben, und die Befunde an den Ganglienzellen 
aus neuerer Zeit bei Fallen von Myoklonus-Epiiepsie (Clark und Prout, 
Mott, Volland, F. Sioli) zwar Veranderungen, aber nicbt charakte- 
ristischer Art ergeben haben. 

Es sei mir zum Scbluss gestattet, auf einige Eigentumlichkeiten 
des kliniscben Verlaufs in meinem Fall und dem vou Lafora- 
Gluck kurz hinzuweisen. In beiden Fallen haben sich den bekannten 
Symptomen der Myoklonus-Epiiepsie dem Krankheitsbilde nicbt zn- 
gehOrige Symptome auf optiscbem und akustischem Gebiete 
zugesellt. Es handelt sich in beiden Fallen um eine Abnabme des 
Seb- und HOrvermOgens, die in meiner Beobachtung von sehr wech- 
selnder Intensitat war und einen objektiven Befund vermissen liess. In 
dem Lafora-Gluck’scben Falle bestand ausserdem eine Stauungs- 
papille 1 ), wahrend in unserer Beobachtung ein sehr auffallender Wechsel 
in dem Verhalten der Lichtreaktion der Pupillen zu konstatieren war. 
Fur die Auffassung der Sehstdrang ist es vielleicht bemerkenswert, dass 
in der Lafora-Gluck’schen Beobachtung die charakteristischen Ver- 
anderungen an den Ganglienzellen in der Calcarinarinde weit aus- 
gedehnter waren als an iigendeinem anderen Abschnitt der Gehirorinde. 
Derartige Befunde lassen die Frage aufwerfen, ob sich nicbt aus den 
verschiedenen unter dem Sammelnamen „Myoklonus-Epilepsie“ zusammen- 
gefassten Krankheitsgruppen, deren Trennung in manchen Fallen zur- 
zeit noch eine mehr oder weniger willkurliche ist, auf Grand typischer 
anatomischer Befunde fester umgrenzte Erankbeitsformen zusammen- 
fassen lassen, in ahnlicher Weise, wie es gelungen ist, aus der an- 
seheinenden GleichfOrmigkeit der Idiotieformen die wohlcharakterisierten 
Krankheit8bilder der amaurotischen Idiotie abzusondern? Dass der¬ 
artige Erwagungen zunachst nur aus dem Grunde Berechtigung haben, 
um die Aufmerksamkeit bei weiteren Untersuchungen auf die angeregten 
Fragen zu lenken, braucht kaum besonders bervorgehoben zu warden. 


1) Wegen dieser komplizierenden Befunde bat wohl auch Oppenheim 
(Lebrbucb) den Lafora-Gluek’sohen Fall nicht ohne weiteres der Myoklonie 
zugerechnet. 


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Ueber eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen osw. 


781 


, ErklSrong der Abbildnngen (Tafeln VIII—X). 

Tafel VIII. 

[Fig. 1 bis Fig. 11. (Toluidinblaufarbung nacb Nissl.) Zeiss bomogen Immer¬ 
sion 2 mm. Kompens. Okular 4.] 

Fig. 1. Ganglienzelle (Zentralwindung), mehfere Corpora amylacea im 
Innern entbaltend. Das Korperchen mit intensir blau gefarbtem Zentrum lasst 
radiare Streifnng des ansseren Ringes erkennen. Kern an die Peripherie der 
Zelle gedrangt. 

Fig. 2. Zwei kleinere Ganglienzellen a and b (Zentralwindung), jede ein 
belles Corpus amylaceum im Innern entbaltend, die Zelle b mit im Zentrum 
des Korperchens gelegenem blauen Punkt. Zelle a lasst keinen Kern erkennen, 
in Zelle b liegt er ganz exzentrisch an der Peripherie der Zelle. Die abgerun- 
dete Zelle lasst koine Fortsatze erkennen. 

Fig. 3. Ganglienzelle (Zentralwindung), mebrere kleine nnd ein grosseres 
Corpus amylaceum entbaltend, letzteres mit intensir blau gefarbtem Zentrum. 
Bucklige Auftreibungen des Zellleibes durch die Korperchen. Tigrolyse. 

Fig. 4. Corpus amylacenm freiliegend (Zentralwindung). Die ausge- 
sprocben radiare Streifnng bedingt zierliche Fazettierung des Korperchens. 

Fig. 5. Bei a. Drei freiliegende Corpora amylacea (Zentralwindung). Die 
bei b nnd c abgebildeten Korperchen sind in kleine zellige Elemente einge- 
schlossen. Bei d mebrere Corpora amylacea mit braun gefarbtem Zentrum. (Be- 
bandlung mit Lugol’scher Losung.) 

Fig. 6. (Zentralwindung.) Grosses helles Corpus amylaceum mft dunk- 
lerem Zentrum und eigenartig gezaoktemRand, in stark reranderterZelle liegend. 

Fig. 7. Ganglienzelle (Zentralwindung), mit mehreren Corpora amylaoea 
im Innern und einem Korperohen in dem Zellfortsatz liegend. Kern an die 
Peripherie der Zelle gedrangt. Tigrolyse. 

Fig. 8. Ganglienzelle (Zentralwindung). Eine grossere Anzahl ron Cor¬ 
pora amylacea im Innern der stark veranderten, abgerundeten Zelle liegend. 

Fig. 9. Ganglienzelle (Frontalwindung) mit gesohiohtetem Corpus amy¬ 
laceum im Innern. Zelle flaschenformig deformiert. Kern an der Spitze der 
Zelle liegend. Tigrolyse. 

Fig. 10. (Zentralwindung.) a und b birnformig gestaltete Ganglienzellen 
mit je einem zentral gelegenen Corpus amylaceum, der Kern an der Peripherie 
der Zellen liegend. Tigrolyse. In Zelle a vakuolenartige Bildung. 

Fig. 11. Ganglienzelle (Zentralwindung) mit einem grosseren geschich- 
teten Corpus amylaceum und zwei kleineren Korperchen im Innern. Tigrolyse 
der stark deformierten Zelle. 

[Fig. 12 n. 13. (Farbung nach van Gieson.) Zeiss homogene Immersion 2mm. 

Kompens. Okular 4.] 

Fig. 12. Grosses gelbrosa gefarbtes Corpus amylaceum, die Ganglienzelle 
(Zentralwindung) ganz ansfdllend. Kern der kreisrunden Zelle kappenformig 
aufsitzend. 


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782 A. Westphal, Ueber eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen nsv. 

Pig. 13. Grosses rosa gefarbtes Corpus amylaceum mit kreisformigem 
gelblich gefarbtem Zentrnm, die Ganglienzelle (Frontalwindong) fast ganz aus- 
fullend. Kern der abgerundeten Zelle peripherisch anfsitzend. 

Tafel IX. 

Fig. 14 (Mikrophotographie nach einem mit Toluidinblan gefarbtem Pra- 
parat). Vergr. 600. Ganglienzelle mit zahlreiohen sich durch ihre Farbungs- 
eigensohaften unterscheidenden hellen nnd dunklen Corpora amylacea im Innern 
nnd einem kngeligen hellen Kdrperchen im Fortsatz liegend. Der Kern liegt 
deformiert in der Spitzengegend der Zelle. 

Fig. 15 (Mikrophotographie nach einem Bielschowskypr&parat.) Vergr. 700. 
Grosses Corpus amylacenm mit dunkel gefarbtem drnsigem Zentrnm in der 
Ganglienzelle liegend. Das Kdrperchen wird von schwarz gefarbten Fibril len 
nmzogen, die sich weiter in den Fortsatzen verfolgen lessen. 

Tafel X. 

Fig. 16 (Mikrophotographie nach einem Bielschowskypraparat.) Vergr. 700. 
Helles „strukturloses“ Corpus amylaceum in einem Ganglienzellenfortsatz 
liegend. Schwarz gefarbte Neurofibrillen umziehen das Korperchen und lessen 
sioh nach Vereinigung zu einem schwarzen Stammchen weiter verfolgen. 

Fig. 17 (Mikrophotographie nach einem Bielsohowskypraparat.) Vergr.700. 
Corpus amylaceum in einer Ganglienzelle liegend. Das Kdrperchen lasst ein 
helleres Zentrum nnd einen dunkel geiarbten peripherischen Toil von drnsiger 
Struktur erkennen. ^ 


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xxvm. 


Aus der Klinik fiir psychisch and Nervenkranke der Universitat Bonn 
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Westphal). 

Ueber die manisch-depressive Anlage und einlge 

ihrer Ausliiufer. 

I. TeU. 

Von 

Prof. Dr. A. U. Hiibner, 

Obererzt der Klinik. 


Vorwort. 

Bei den wissenschaftlichen Abenden, welche nnser Jubilar in der 
Anstalt Herzberge seiner Zeit veranstaltete, wies er uns immer von 
neuem auf die Notwendigkeit einer genaneren Erforschung der Zust&nde 
hin, welche wir in dem Begriff der Psychopathicn zusammenzufassen 
pflegen. 

Wie fruchtbringend seine Anregungen waren, zeigen die Arbeiten 
von Birnbaum, der sich sowohl urn die Erforscbnng einzelner Sym¬ 
ptoms sebr verdient gemacht hat, wie er anch versucbte, Typen ans der 
grossen Masse der Degenerativen berauszusch&len. 

An jene 14 Jahre zurfickliegenden Anregungen knfipft die vor- 
liegende Studie an. Sie stelit einen Versuch dar, gewisse symptomato- 
logisch und itiologisch zasammengehfirende „abnorme Charaktere" kurz 
zu skizzieren und ausserdem zu zfeigen, dass es bizarre Persfinlichkeiten 
gibt, die, lediglich als Zustandsbild betrachtet, manchen schweren Ver- 
blfidungsprozessen zu gleichen scheinen. Erst ihre symptomatologische 
Zergliederung und die Verfolgung ihrer Lebensschicksale lehrt uns, dass 
keine progressive Verblddung vorliegt, sondern dass es sich am die 
Entwickelung einer manisch-depressiven Anlage handelt. 

Einleitung. 

Das eingehende Studium des manisch-depressiven Irreseins, insbe- 
sondere die Verfolgung der Lebenslaufe Zirkul&rer, zeigte uns, dass es 
neben den in gut abgrenzbaren Phasen verlaufenden F&lle andere gibt, 
deren Verlauf ein protrahierterer ist. Ein Teil von ihnen heilt fiber- 


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784 


Dr. A. H. Hubner, 


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haupt nicht aus. Es bildet sich vielmehr ein Zustand chronischer 
Manie (Nitsche, Specht) oder Melancholic (Dreyfus, Hubner) aus, 
der noch alle wesentlichen Symptome des an fangs vorhandenen Zustands- 
bildes aufweist, aber in milder Form, mehr skizzenhaft. 

Eine zweite Erfahrung, die bei Verfolgung der Lebensl&ufe Zirku- 
larer gewonnen wurde, besagte, dass zum mindesten ein Teil der Kranken 
ausserhalb der schweren Attacken, in den sogenannten „freien Zeiten u , 
nicht ganz gesnnd ist, vielmehr Krankheitszeichen bietet, die in das 
Gebiet der allgemeinen Entartung hineingerecbnet werden, in Wirklich- 
keit aber grossenteils Einzelfftden aus dem Kn&uel der Symptome des 
ausgepragten manisch-depressiveu Zustandsbildes darstellen. 

Einen Schritt weitergehend stiess man dann auf die milderen Formen 
des manisch-depressiven Irreseins, wie sie uns Wilmanns, Hecker, 
ROmheld u. a. kennen gelehrt baben, und als man diese Zyklothymien 
nach der gesunden Seite hin weiter verfolgte, da traf man scbliesslich 
auf den Begriff der manisch-depressiven Anlage (Kraepelin, Bon- 
hoeffer), die nicht allein bei sicber Zirkul&ren gefunden wurde, sondern 
auch bei PersOnlichkeiten, die das Grenzgebiet der Entartungszust&nde 
niemals uberschritten, also nie geisteskrank im engeren Sinne wurdea. 

Die Renntnis dieser abnormen PersOnlichkeiten ist trotz vieler Arbeit 
(Kraepelin, Reis u. a.) eine unvolikommene. Wesentlich gefOrdert 
wurde sie durch die Aufdeckung der engen Beziehungen zwischen den 
Zwangsvorstellungen und der manisch-depressiven Anlage (Bonhoeffer, 
Heilbronner, Stoecker, Schneider, Verf.). Es bedarf aber noch 
weiteren Studiums und zwar nach verschiedenen Richtungen: 

1. mussen die von Kraepelin u. a. gegebenen Beschreibungen der 
Grundzust&nde erg&nzt werden, 

2. ist die Frage der Beziehungen zwischen den Zwangsvorstellungen 
und der manisch-depressiven Anlage zu erOrtern, 

3. bedarf es einer Abgrenzung einiger Ausllufer der manisch-depres¬ 
siven Anlage von der Dementia praecox, 

4. sind die Beziehungen zwischen den reaktiven Psychoneurosen 
und den zirkul&ren Zust&ndeu zu prufen, schliesslich ist 

5. gewisser Zusammenh&nge zwischen epileptischen Symptoraen- 
komplexen und der Zyklothymie zu gedenken, und 

6. sind die paranoiden Phasen des zirkul&ren Irreseins zu be- 
sprechen. 

Mit dem ersten dieser 6 Punkte besch&ftigt sich die vorliegende 
Arbeit. 

Es scheint, als ob das den einzelnen Autoren zur Verfugung stehende 
Material qualitativ und quantitativ sehr verschieden ist, und auch die 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaafer. 785 

Methodeo, mit denen man an die Ldsung der erw&hnten Fragen heran- 
trat, waren teilweise unzureichend. 

Es bedarf, urn einen wirklichen Ueberblick zu bekommen, eines 
grossen Materiales, gewonnen durch Untersuchung ganzer Familien. 
Namentlich die nicht anstaltspflegebedfirftigen Familienmitglieder ver- 
dienen besondere Berficksichtigung. 

Sehr geeignet sind z. B. die orthodox-jfidischen Familien, in denen 
ich Ofters die hier zu besprechenden Zust&nde fand 1 ). H&ufig sah ich 
sie auch in der rheinischen LandbevClkerung and zwar seltener unter 
den klinischen Eranken, als in der Privatsprechstunde und Ambulanz, 
denn viele von den Patienten kommen mit kflrperlichen Allgemeinbe- 
schwerden zum Arzte und erst eine genauere Analyse zeigt, dass nicht 
neurasthenische oder hysterische, sondern manisch-depressive Erschei- 
nungen, wenn auch in feinster Andeutung, den Kern des Erankheits- 
zustandes bilden. 

Was die Forschungsmethode anlangt, so muss man sich von dem 
Fehler, an dem unsere Erblichkeitsforschung lange gekrankt hat, frei 
halten, n&mlich von der allzu hohen Bewertung kurzer Urteile der An- 
gehfirigen fiber den Geisteszustand ihrer Verwandten. Man muss jedes 
einzelne Familienmitgiied selbst untersuchen, einen Lebenslauf von ihm 
erfragen und dann seine Angaben durch Vernehmung Verwandter und 
Uobeteiligter erg&nzen. Nur so gelingt es, ein wirkliches Bild davon 
zu erhalten, in welchem Umfange Zeichen der manisch-depressiven An¬ 
lage innerhalb einer Familie sich finden. 

Besonders wertvoll ist es, wenn man die einzelnen Glieder einer 
solchen Familie beobachten kann. Man kann dann gerade auch bei 
den scheinbar Gesunden manches entdecken, was uns lehrt, dass nicht 
nur die Erankheitsanlage im Groben vererbt wird, sondern dass sogar 
einzelne Zfige sich bei alien Familienmitgliedern wiederfindeu. 

An die klinische Betrachtung. des Einzelnen muss man unter 
den Gesichtspunkten herantreten, die Eraepelin uns gelehrt hat, nfim- 
lich unter Berficksichtigung der Tatsacbe, dass das rein manische und 
rein melancholische Zustandsbild bestimmte Eardinalsymptome, Depres¬ 
sion, motoriscbe und sprachliche Hemmung usw. einerseits — Exaltation, 
Rede- und Bewegungsdrang usw. andererseits aufweist, dass diese Sym¬ 
ptoms koordiniert sind und dass Zeichen der einen Gruppe sich im 
Einzelfalle mit solchen der anderen so weitgehend vermischen kOnnen, 
dass nur eine genaue Analyse, verbunden mit der Betrachtung des Ge- 


1) Weil dort viel Yerwandteneben geschlossen werden, die manisch- 
depressive Anlage im fibrigen dort besonders haafig vorkommt. 


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786 Dr. A. H. Hiibner, 

samtverlaufes die Zugehdrigkeit zur manisch-depressiven Anlage er- 
kennen l&sst. 

1. Die manisch-depressive Anlage. 

Allgemeine Hinweise darauf, dass das manisch-depressive Irresein 
einer angeborenen Anlage ent&pringt, finden sich in der Literatnr schon 
sehr frfih. Falret und Morel haben einige hierauf bezfigliche Ausffih- 
rungen gemacht. In Magnan’s Forscbungeu fiber die Folie des here- 
ditaires Deg4n6r6s sind zahlreiche klinische Tatsacben enthalten, welche 
in diesem Sinne zu ve|rwerten sind, und je mehr wir uns der Gegen- 
wart n&hern, desto h&ufiger begegnet uns die Grkeuntnis, dass die sp&ter 
Manisch-depressiven schon von Jugend auf krankhafte Abweichungen 
von der Norm bieten. (Rybakoff, Hecker, Weygandt, Dubois, 
Hartenberg u. a.). 

Thalbitzer hat aber Recbt, wenn er sagt, dass nur einzelne Au- 
toren die Gleichartigkeit der Symptome, welche die degenerative 
Anlage bilden, unit denjenigen des voll entwickelten Krankheitsbildes 
klar erkannt batten. 

In exakterWeise nahm iReiss ffir die konstitutionelle Verstimmung 
das Problem in Angriff. Gr wies an der Hand zahlreicher Krankheitsge- 
schichten nach, dass sie ein Vorl&ufer des manisch-depressiven Irreseins 
ist. Specht, Siefert, Nietzsche u. a. zeigten, dass es chronisch- 
manische und melancholiscbe Zust&nde gibt. 

Die ausfuhrlichsten Darstellungen der in Betracht kommenden Zu- 
stande verdanken wir Kraepelin, Wilmanns, Birnbaum undStranski. 
Alle diese Forscher stimmen in der Beschreibung der depressiven und 
manischen Anlage fiberein, auch auf das Vorkommen der zyklothymen 
Veranlagung wird von ihneu hingewiesen und der reizbaren Personlich- 
keiten gedacht. Verh&ltnismflssig kurz werden die Mischzust&nde be- 
rfihrt, obwohl auch die, wenigstens bei unserem Krankenmaterial, ein 
zi^mlich grosses Kontingent aller vorkommenden Spielarten bilden. 

In Grgfinzung dieser Darstellungen wollen die nachstehenden Aus- 
fubrungen eine mit Lebensl&ufen belegte Beschreibung derjenigen Modi- 
fikationen der manisch-depressiven Anlage geben, die uns im Laufe der 
letztea Jahre begegnet sind. 

a) Die konstitutionelle Erregung. 

Die Frage, ob es fiberhaupt eine reine, lediglich aus manischen 
Symptomen zusammengesetzte Charakteranlage gibt, ist von verschiedenen 
Forschem bestritten worden, obwohl uns Hoche, Sieffert, Specht, 
Nitsche, Rehm, Ritterhaus u. a. mit solchen Fallen bekannt ge¬ 
macht haben. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Ausl&ufer. 787 

Richtig ist, dass es verhAltnismAssig wenig Beobachtungen gibt, 
die ganz frei von grOberen depressiven Beimischungen sind. Dass solcbe 
PereSnlichkeiten aber jahrzehntelang ungef&hr das gleiche Bild bieten 
kdnnen, hoffe ich sogleich beweisen zu kdnnen. 

Ehe ich fiber meine Beobachtungen selbst berichte, ist noch eine 
Yorbemerkung zn machen. 

Es war oben davon die Rede, man mfisse davon ausgehen, dass 
die vorbandenen manischen und depressiven Symptome koordiniert seien. 
Znm vollen Yerst&ndnis der tatsfich lichen Verhfiltnisse ist aber noch 
ein Weiteres hinzuzuffigen. Es entstehen verschieden aussehende Typen 
der gleichen Spezies (z. B. der manischen Anlage) dadurch, dass zwar 
die wichtigsten Symptome der Manie andeutungsweise im Charakterbild 
vertreten sind, aber in angleicher St&rke. Wie in einer schweren 
Manie die Einzelkomponenten des Zustandsbildes in ihrer Gradentwick- 
inng nicht in gleicher Starke zor Auspragnng zu kommen braucben 
(Stransky), so braucht das auch bei der manischen Anlage nicht der 
Fall zu sein. Es kdnnen einzelne Symptome dominieren andere nur 
angedeutet sein, und dadurch kommen Persdnlichkeiten zustande, die 
— wenigstens auf den erslen Blick — grundverscbieden zu sein scheinen, 
wabrend sie in Wirklichkeit alle der manischen Anlage zuzurechnen sind. 

Was ich meine, warden einige Erankheitsgeschichten am besteo 
illustrieren. 

Die Selbstbewusst-reizbaren. 

Familie C. (27a Jahr persdnlich beobachtet. Aus der Zeit vorher 
liegen arztliche Atteste, Briefe and persdnlicbe Mitteilungen von ffinf 
Verwandten, darunter der Mutter, vor). 

Yater, ehemaliger Offizier, scbwankte in den letzten zwanzig Jahren 
seines Lebens fast standig zwisohen ausgepragteren melancholischon und 
leicbteren manischen Zustanden bin und her. Wabrend der. Depressionen sehr 
menschenscheu. In den hypomanischen Zeiten sehr erotisch und reizbar. Auch 
in den kurzen freien Zeiten und wahrend der Melancholion tyrannisch gegen 
die Umgebung. In der Familie der Mutter warden zyklothyme (z. B. regel- 
massige menstruelle Yerstimmungen bei einer Niohte) und andere degenerative 
Zustande (Morpbinismus auf endogcner Basis) beobachtet. 

C., jetzt 32 Jahre alt, ist zweiter Sohn des eben Bescbriebenen. Er kam 
als Kind mit den Hauslehrern nicht aus, weohselte mehrfach die Schule. Bei 
guter Intelligenz verspatet das Einjahrige erreicht, weil er fur Sohulwissen 
nicht zu interessieren war und jede ernste Arbeit verabscheute. Ausserdem 
ffiblte er sich von Jugend auf seiner Umgebung iiberlegen, kritisierte seine 
Lehrer scharf und behandelte die meisten Menschen sehr von oben herab. Seine 
eigenen Fahigkeiten und Leistungen schatzte er schon sehr fruh ausserordent- 
lich hoch ein. 


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Dr. A. H. Hiibner, 


N&chdem er das Einjahrigenoxamen bestanden hatte, erhielt or das Geld 
zu einer Reise nach Suddeutschland. Er reiste ab, Hess dann einige Zeit nichts 
von sioh horen und scbrieb schliesslich aus Venedig. Von dort ging er, wieder 
gegen den Willen der Eltern, nach Montecarlo, wo er mit Gluck spielte. Hit 
dem gewonnenen Gelde reiste er 14 Tage weiter, dann kehrte er ohne nennens- 
werte Baarmittel zuruck. Fur die Vorwurfe, die ihm gemacht warden, zeigte 
er sich einsichtslos. 

Er sollte Landwirt werden, am spater ein eigenes Gut zu bewirtschaften. 
Hatte in drei Jahren 3 Lehrstellen. Die beiden ersten verliess er wegen Diffe- 
renzen mit den Gutsleuten. Auch auf der dritten biieb er nur kurze Zeit. Die 
Lehijahre wareh haufig darch Reisen unterbrochen. 

Nach Beendigang der Lehrzeit landwirtsohaftliche Hochschule. Besaohte 
nar zwei Tage lang die Kollegion, dann ging er nicht mehr hin, schimpfte auf 
die akad. Lehrer. Ritt wahrend des Semesters ein wertvolles Pferd, das er 
von der Mutter gesohenkt bekpmmen hatte, zuschanden. Fiel auoh in der 
Oeffentlichkeit darch allerlei Extravaganzen auf. So ritt er z. B. ohne Hat, 
nur mit Hemd, Hose und Stiefel bekieidet, in den belebtesten Strassen der 
Stadt spazieren. Einmal ritt er eine ziemlich hohe, nur fur Fussganger be- 
stimmte Treppe herauf. Auoh in Gesellschaft fiel er duroh die Art seines Auf- 
tretens, namentlich darch anmassendes Benehmen und Erzahlung pseudologi- 
soher Geschichten auf. 

Einmal ersohien er uneingeladen auf einer Hoffestlichkeit in blauer Jack© 
und weissen Hosen. 

Nach etwa dreimonatigem Studium ging er „zu weiterer Information in 
landwirtschaftlichen Fragen w nach Argentinien. Dort beabsichtigte er aact, 
auf einer Farm Stellung anzunehmen, urn weiter zu lernen. In Argentinien 
angekommen, riistete er statt dessen eine Expedition aus, mit der er fiber die 
Kordilleren bis nach Valparaiso herunterritt. Angebotene Stellungen lehnte 
er ab. Die Farmen sah er sich in 1—2 tagigen Aufenthalten nur sehr *>ber- 
flachlich an. Als grosstes Erlebnis dieser muhevollen und kostspieligen Reise 
beschrieb er einen Sektabend auf einer einsamen Farm mit einigen Pferdehfitern. 

Wie nachher bekannt wurde, ist er in Sfidamerika als Vertreter einer 
weltbekannten deutsohen Firma aufgetreten. Er hat fiberall erzahlt, er babe 
den Auftrag, fur 5 Millionen Landereien zu kaufen. 

In dieser Zeit nun trat er in seinen Briefen an die Eltern mit mehreren 
abenteaerlichen Projekten hervor. So verlangte er einmal hohe Geldbetrage, 
weil er sioh an der Ausbeutung grosser Erzfelder beteiligen wollte. Dann 
wollte er eine Schiffsgesellschaft grunden, deren Sohiffe die Strecke Deutsch- 
land-Sfidamerika urn drei Tage rascher zurficklegten, als die Dampfer des 
Norddeutschen Lloyd. Einmal hatte er in einer Bar gehdrt, es sollte in einer 
noch nicht erschlossenen Gegend eine Bahn gebaut werden. Sofort wollte er 
grosse Landereien, die an der angeblich projektierten Strecke lagen, aufkaufen, 
ohne irgendwelche ernstlichen Informationen eingeholt zu haben. 

Nachdem er nach Europa zuruckgekehrt war, reiste er hier eine Zeitlang 
umher, ritt in England Jagden, lernte in Frankreich fliegen, ging auch mehr- 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaufer. 789 

fach nach Oesterreioh-Ungarn, Rumanian und Norwegen. Schliesslicb — etwa 
1913 — siedelte er fur einige Zeit nach Nordamerika fiber. Hier trat er wieder 
als Grandseigneur auf, brauchte mehr, als er hatte, musste in den Luxushotels, 
in denen er abstieg, mebrfach beim Personal Anleihen maoben. Eines Tages 
teilte er den Angehorigen mit, er sei im Begriff, eine vorzfigliche Stella in 
Canada anzutreten. Bald ergab sich, dass es sich um einen Posten als Grenz- 
sohutzmann handelte. 

Die Raise nach Canada endete damit, dass er yon der Familie ausgelost 
nnd nach Europa zurfickgeholt werden musste. Man brachte ihn nun in eine 
Priyatanstalt, wo er beobaohtet werden sollte. (Dortige Diagnose Psychopathic.) 

Die ihm gewahrte freie Bewegung missbrauchte er zn Trinkgelagen, ffigte 
sich in die Hausordnung nicht ein, und zeigte sich bei Vorhaltungen vollig 
uneinsichtig. Mach einer erregten Unterredung mit dem Anstaltsleiter ent- 
fernte er sich. 

Er fibernahm dann in einer Fabrik ffir Flugzeugmotoren, in der Offiziere 
mit den Bestandteilen des Motors bekannt gemacht warden, die Stelle des 
Erklarers und versah diesen Posten (unentgeltlicb) etwa 8 Monate lang. 
Wahrend dieser Zeit verfasste er, um der Familie seine fiberragenden Fabig- 
keitcn darzutun, eine Abhandlung fiber das Flugzeugwesen. Als dieselbe 
einem Fachmann vorgelegt wurde, erklarte der, es handle sich um fast wort- 
liche Abschriften aus Werken bekannter Aviatiker. 

Die acht Monate in der Motorenfabrik sind wohl die ruhigsten in seinem 
Leben fiberhaupt. Mach dem Austritt aus der Fabrik nahm die Unrube und 
Unstetheit wieder zu. Zu Beginn des Feldzuges tat er bei einer Fliegerabteilung 
Dienst, verlangte dort ernstlicb, gleich als Offizier angestellt zu werden, kfin- 
digte seinen Vertrag sofort, als seinem Wunsche nicht entsprochen wurde. 
Die Truppe war froh, als sie ihn los war. 

Wahrend des ganzen Krieges reiste er unstet, toils in Deutschland, teils 
in rerbfindeten Landern und der Schweiz umher, stellte sich dem roten Kreuz, 
dem Spionageabwehrdienst und der Diplomatic zu Verffigung, ohne dass man 
ihn gebrauchen konnte. Fast standig erwog er irgendwelche phantastischen 
Projekte, suchte von den nachsten Angehdrigen moglichst vielGeld zu erlangen, 
kam mit dem, was er erbielt, nie aus. Er ist wahrend der letzten vier Jahre 
wohl nie langer, als 4—6 Wochen an einem Ort gewesen. 

Vor etwa einem Jahre heiratete er. Wahrend der ersten 4—5 Monate 
seiner Ehe scheint er etwas ruhiger gewesen zu sein, dann nahm die Un¬ 
stetheit wieder zu. 

Ich selbst habe ihn im Jahre 1916 kennen gelernt, seitdem mehrfach 
wieder gesehen. 

Die wesentlichsten Eigenschaften, welche bei den persdnlichen 
Untersuohungen hervortraten, waren eine zeitweise geradezu ungeheuerliche 
Selbstfiborschatzung, grosse Ruhelosigkeit, Neigung zum Planeschmieden, 
meist gehobene, nicht selten gereizte Stimmung und sprunghaftes Denken. 

Diese Symptoms erfuhren mehrfach ffir einige Wochen eine Verstarkunjr 
und waren dann mit ausgesprochener Ideenflucht verbunden, so dass der Kranko 


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790 


Dr. A. H. Hubner, 


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das Bild einer leichten Manie bot. Depressionen sind nicht beobachtet worden. 
Wohl aber zweimal mehrmonatige Zeiten, in denen der Pat. etwas sesshafter 
und ruhiger war. 

Die danernd gehobene Stimmiuig, zeigte sioh z. B. in der Art, wie er 
von dem Tode seines Vaters sprach, oder wenn von der geistigen Storung 
seines Bruders die Rede war. Ueber beides ausserte er sioh in soherzhaften 
Redewendungen. 

Wenn seine Wiinsohe nicht bedingnngslos 'erfdllt wurden, dann wnrde er 
gereizt und erregt, schimpfte laut auf seine Verwandten, ohne Rucksicht 
darauf, dass die Verhandlungen mit ihm z. T. in ersten Hotels stattfanden. 
Er weinte dazwischen auch einmal aus Wut, um kurz darauf iiber einen Scherz 
herzhaft zu lachen. 

Seine Selbstiiberschatzung ist duroh Beispielo oben bereits aus- 
reichend belegt. Er steht auf dem Standpunkt, dass er alias, auch ohne Lehr- 
zeit gleich versteht. An ihn diirfe man nioht den Massstab fur Durohsohnitts- 
mensohen legen. Es sei unanstandig, fur Geld zu arbeiten. Er allein sei 
Kavalier, die anderen Menschen, namentlich seine Verwandten, seien alle 
„Piefkes. tt Deshalb miissten die Angehorigen auoh unbegrenzte Mittel zur 
Verfugung stellen. (Die Familie gehort zu den reichsten Deutschlands.) Was 
Focker mit seinen Eindeokern jetzt in die Wirkliohkeit umgesetzt habe, babe 
er schon vor Jahren gepredigt. BISriot habe ihm schon gesagt, dass er za den 
Mensohen gehore, die nioht auf dem regularen Wege zu lernen branch ten. 
Deshalb konne er (C) auch nicht anerkennen, dass gewohnliohe Uenschen das 
Recht hatten, fiber ihn zu urteilen. Er hatte langst eine hervorragende Stelle, 
wenn seine Angehorigen ihm nioht hinderlich gewesen waren usw. 

Dass C. in unsteter iiberhasteter Weise von einem Ort zum andem 
zog, ist oben bereits beschrieben. Auch sonst im Leben suchte er jeden 
Gedanken, der ihm durch den Kopf ging, in die Tat umzusetzen. So kam 
es, dass er in den letzten Jahren Holzhandler, Flieger, Diplomat, Kavaliers- 
spion, Landwirt, Offizier und nooh verschiedenes andere werden wollte, mehr- 
fach zweifelhaften Existenzen in die Hande fiel und auch stark ausgebeutet 
wurde. 

Sein Denken zeigte, namentlich zu Zeiten deutlicherer Erregung deutliche 
Ideenflucht. Er kam vom Hundertste ins Tausendste. Hatte er z. B. in 
einer bestimmten Absioht einen Besuch gemacht, so kam es vor, dass er un- 
verrichteter Saohe wieder fortging, weil er schon beim Eintritt in das Zimmer 
von der Hauptsache abgelenkt wurde. 

Dass er in Gesellsohaft sehr viel sprach, lebhaft gestikulierte und liberal], 
wohin er kam, aufzufallen suchte, ist oben bereits angedeutet.. 

Von der Umgebung wurde er zunachst immer als ein heiterer, wenn auch 
etwas oberflaehlicher Hensch angesehen, bis er sioh nach einigen Tagen oder 
Woohen durch seine Selbstiiberschatzung und Geschwatzigkeit unmoglich 
machte. 

In sexueller Beziohung soile er naoh den Angaben verschiedenerBekannter 
wust gelebt haben. 


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Ueber die manisoh-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 791 

Angesichts des eben beschriebenen Lebenslaufes sind verschiedene 
Fragen aulzuwerfen. Zun&chst die eine, ob uberhaupt eine manische 
Anlage vorliegt. 

Die Antwort hierauf ist leicht. Sie muss wohl restlos bejabend lauten. 
Wir konnen bei dem jetzt 32jahrigen Msnne alle wesentlichen Symptome 
der Manie nachweisen. Die Stimmung ist gehoben, oft gereizt. Es 
besteht eine betrachtliche Ueberscb&tzung der eigenen PersOnlichkeit. 
Der Kranke ist eitel, selbstgef&llig, halt sich fur kluger und leistungs- 
fahiger, als andere Menscben. Es bestebt Ablenkbarkeit der Aufmerk- 
samkeit, das Interesse eilt von einem Gegenstande zum anderen. Unstet 
ieist der Kranke umher, findet nirgends Ruhe, macbt standig neue 
Projekte, ohne auch nur eines zu Ende zu bringen. Sein Denken ist 
oberfiacblicb und sprungbaft. Erlebtes und Gelesenes gibt er ungenau 
wieder. 

Mit anderen Worten: Es besteht Hyperthymie, Rec^e- und Be- 
wegungsdrang, Selbstiiberschatzung, Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit, 
Ungenauigkeit der Reproduktion, kurz, wir finden in mebr oder 
minder ausgepragten Andeutungen lauter Symptome, wie sie 
die reine Manie darbietet. 

Trotz eifrigen Nachforschens — der Patient hat schon seit Jahren 
die Psychiater beschaftigt; ich selbst verfolge ihn mehr als 2 Jahre — 
habe ich eigentliche Depressionen nicht nachweisen konnen. Wohl hatte 
er zweimal mehrmonatige Phasen, wo er weniger lebhaft war, als vorher 
und nachher. Es handelte sich aber auch da nicht urn Depressionen, 
soudern nur um ein Abblassen der manischen Krankheitszeichen, die 
nie ganz fehlten. 

H&ufiger beobachtet wurden Steigerungen der manischen Anlage 
bis zur ausgesprocbenen Manie. 

Diejenigen Symptome, welche der PersOnlichkeit ihre Besonder- 
heit verliehen, waren die Selbstuberschatzung und die Empfindlichkeit 
und Reizbarkeit, sowie die Neigung, die Umgebung zu tyrannisieren. 
Es ist nun ausserordentlich interessant, dass an der Hand von Briefen 
und den Mitteilungen der AngehOrigen festgestellt werden konnte, dass 
gerade diese Eigenscbaften auch seinen zirkul&ren Vater ausgezeichnet 
haben, und diesen selbst zur Zeit der Depressionen nie ganz verliessen. 
Und es verdient weiter hier erw&hnt zu werden, dass auch ein jetzt 
etwa achtj&briger Neffe (Sohn einer Schwester) des C., den ich gleich- 
falls einige Tage beobachten konnte, die n&mlichen Eigenscbaften zeigt 
und deswegen den Eltern schon viel Schwierigkeiten bereitet hat. 

Bei C. selbst sind die manischen Symptome nicht etwa erst all- 
m&hlich oder im Beginn der Pubert&t hervorgetreten, sondern sie waren 


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792 


Dr. A. H. Habner, 


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vorbanden, solange die Mutter denken kanu. Das, ist durch Mitteilung 
zahlreicher Einzelzuge ausreicbend begrundet worden. (Vergl. den 
Lebenslauf.) 

Es handelt sich also bei C. nicht urn eine Manie, die eines Tages 
einsetzte 1 2 ) und dann, abgesehen von den erw&hnten Schwankungen 
chronisch wurde, sondern um eine von Jugend auf bestehende 
Charakteranlage, die sich aus manischen Zugen zusammen- 
setzt. 

Gerade die letzterw&hnte Tatsache mochte ich im Hinblick anf die 
Ausfuhrungen einzelner Autoren besonders unterstreichen, welche an- 
nehmen, dass die in der Kindbeit Zirkul&rer vorkommenden psyghischeu 
Abweichungen nicht spezifischer Natur sind. 

Interessant ist, dass der Patient von zwei namhaften Psychiatem 
als ein schlecht erzogener Psychopath angesehen wurde. Es wurden 
infolgedessen mehrfach Erziehungs- und Beschaftigungsversuche unter- 
nommen, die aber missgluckten und die vdllige Unbeeinflussbarkeit des 
C. zeigten, ein Dmstand, der wohl auch dafur spricht, dass bier eine 
besondere Form der Psychopathie vorliegt*). 

Die rein Eupborischen. 

Diesem menschiich unsympathischen, sozial gefahrlichen und fur 
die Allgemeinheit wenig wertvollen Typus der manischen Anlage stebt 
ein anderer gegenuber, dessen Selbstbewusstsein weniger stark ausge- 
pr&gt ist, dessen Tatigkeitsdrang die Unstetheit fast ganz vermissen lasst 
und wirkliche Werte schafft, bei dem schliesslich die Reizbarkeit und 
das ablehnende Verhalten gegenuber anderen Menschen fehlt und durch 
Menschenliebe, Hilfsbereitschaft und Aufopferungsfahigkeit ersetzt ist. 
Dass trotzdem' klinisch eine manische Anlage vorliegt, wird aus dem 
Lebenslaufe deutlich hervorgehen. 

Familie A. (etwa 18 Jabre selbst beobaebtet). 

Grossvater Einsiedler. Sehr musikalisch. Soil periodenweise getrunken 
haben. 

Eine Schwester des Vaters beging Selbstmord aus unbekannter 
Ursacbe. 

Ein Bruder des Vaters bedeutender Kiinstler, der Ende der Zwanziger 
zogellos lebte (z. B. in einem Jabr drei unebelicbe Kinder batte), viel trank, 
allmahlich in seinen Leistungen erbeblich zuruckging. Er starb mit 48 Jahren 


1) v. Brero und Lackmann haben 12> und 13jahrige Manisoh-De- 
pressive bescbrieben. 

2) Hinzugefiigt sei, dass von einem dritten Psychiater die Diagnose „ma- 
nische Anlage' 1 auch gestellt worden ist. 


Go^ 'gle 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 793 

an Magenkrebs. Hat die letzten Jahre seines Lebens gedriiokt und ganz zuruck- 
gezogen unter armlichen Verbaltnissen vegetiert. 

Anderer Bruder des Vaters menschenscheu, entschlusslos. Konnte 
trotz guter Berufskenntnisse nie dazu gebracht warden, sein Heimatstadtchen 
zu verlassen. Heiratete unter seinem Stand. Eine Tochter desselben soli ma¬ 
tt isch sein. 

Der Vater des A. bat sich aus relatir kleinen Verhaltnissen herauf- 
gearbeitet. War immer von morgens bis abends tatig. Hatte periodisohe Stim- 
mungsscbwankungen, sowohl ganz leichte Depressionen (mit Menscbenscheu), 
wie Hyperthymien. Schmiedete viel Plane, von denen nur ein Teil zur Aus- 
fiihrung kam. Sehr musikalisch. Hat vielen Henschen im stillen Wobltaten 
erwiesen. Besitzt ein fiir seine Verbaltnisse ansebnliches Vermogen. Im Alter 
bypochondrische Klagen. 

A. (jetzt 40 Jahre alt). Mit 4 Jahren Scharlacb, dabei delirioser Zustand. 
Friibzeitiges Erwachen des Geschlechtstriebes mit 6 Jahren. In der Schule un- 
gieiche Leistungen mit Ueberwiegen der guten. Mit etwa 10 Jahren leichte 
14tagige Erregung. Wahrend derselben machte er mehrere Gedichte, die sehr 
gut beurteilt wurden. Mit 16 Jahren wieder leichte Erregung, bei der er z. B. 
dadurch auffiel, dass er einen Schulaufsatz in Versen machte. Ein halbes Jahr 
spater absolute Unzulanglichkeit der Leistungen, deshalb nioht versetzt. Be- 
steht trotzdem das Abiturientenexamen mit 17^2 Jahren. 

Schon beim Schuleintritt „gelegentUoh“ innere Unsicherheit und unbe- 
grcindete Angst vor dem Lehrer. Spater in den „besten u Zeiten Gefiihl abso- 
luten Wohlbefindens und innere Sicherheit mit „rauschartigem Schaffensdrang“, 
wo „alles gelang“. Dazwischen vereinzelt Zeiten von innerer Hemmung, wah¬ 
rend deren er sich mit der Erledigung einfacher Hinge „abqualte u , das Vielfache 
der Zeit brauchte, die er sonst dazu notig hatte, und oft sogar nicht einmal 
den Entschluss fassen konnte, an eine Saohe heranzugehen. Dann auch 
menschensoheu, still, mitunter sogar misstrauisch. 

Wahrend der Studienzeit (Mediziner) sehr unregel massiger Kollegbesuch. 
Reichlicher Alkoholgenuss. „Quartalsarbeiter a (Hoche). Wenn er arbeitete, 
geschab es meist mit gutem Erfolg. Staatsexamen rechtzeitig bestanden. 

Die ersten Assistentenjahre stellten eine Fortsetzung der Studienzeit dar, 
dann ruhiger, arbeitsamer. Jetzt beamteter Arzt. 

Wahrend mehrjahriger Beobachtungszeit wurde festgestellt, dass korper- 
lich keine besonderen Krankheiten bestanden. 

Psychisch war A. meist heiterer Stimmung, energisch, im allgemeinen ein 
guter Organisator in seiner amtliohen Tatigkeit. 

Seine Leistungsfahigkeit war keine ganz gleichmassige. Wenn er auch 
die wichtigsten dienstlichen Obliegenheiten im allgemeinen regelmassig er- 
ledigte, so gab es Zeiten, in denen das langsamer geschah und dem Patienten 
raehr Miihe machte. Dabei auch leichte Depression. Zu andoren Zeiten arbeitete 
er alles Liegengebliebene auf einmal auf. Meist geschah das sacbgemass. Es 
kamen aber auch kurzdauernde Pbasen vor, in denen die Arbeit fliichtig und 
ungenau war und zwar sehr vieles erledigt wurde, aber schlecht. In diesen 

Arehir f. Psychiatrie. Bd. 60 Heft 2/S 51 


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794 


Dr. A. H. Habner, 


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Zeiten bestand auch Neigong zu obszdnen Reden and gesellschaftliohen Ver¬ 
st ossen, eine gewisse Unruhe and schleohter Schlaf. Dabei etwas gesteigertes 
Selbstbewusstsein. Zasammenstosse mit anderen Personen in aod aasser Dienst 
sind sehr selten, obwohl er Widerspraob nioht gat vertrigt. 

Allgemein gilt A. als heiterer, witziger, sehr gatmutiger, stets hilfsbereiter 
Optimist, der im stillen aach yiel wohl tat and aaf seine Kranken einen guten 
, Einflass aasubt. Dass er zeitweise innere Hemmungen zu dberwinden hat, 
merkt ihm nur seine naohste Umgebung an. Er ist dialektisch gewandt, seine 
Ausfdhrangen vor Goricht and bei ahnlichen Gelegenheiten sind nor zu den 
Zeiten, in denen er sich entweder in der Exaltation oder in der Hemmang be- 
findet, nicbt klar. Er ist vom Uorgen bis zum Abend beschaftigt, liest riel 
wissenschaftliohe und belietristiscbe Literatar, masiziert, bet&tigt sich gesell- 
schaftlich gern and ist freigebig, ohne dber seine Verhaltnisse zu leben. Manche 
von den Planen, die er gesohmiedet hat, liessen sich nicht verwirklichen, im 
allgemeinen ist es bei A. aber doch so, dass er aaf frahere Plane za gegebener 
Zeit zuriickkommt and sie dann za fordern sacht. 

A. ist aach literarisch tatig. Seine Prodoktionen werden grdsstenteils 
gdnstig beurteilt. In einigen yon ihnen, die er „im Sobaffensransch“ yollendete, 
ist eine gewisse Fluchtigkeit nioht za yerkennen. Schliesslich ist zar Vervoll- 
standigang des Krankheitsbildes noch za erwahnen, dass der Patient aach 
einzelne leiohte Zwangsyorstellangen hat. 

Wenn er sioh vor dem Verlassen des Zimmers eine Zigarre anzundet and 
dann fortgeht, mass er zaruokkehren, um festzastellen, ob das Zandholz 
gat gel&scht ist. Den riohtigen Verschlass der Haastdr, das Einstecken eines 
Briefes in den Briefkasten und Ehnliches mass er zwangsmassig naohprdfen 
(Kontrollierzwang). 

Wie man auf den ersten Blick erkennen kann, ist der eben geschil- 
derte kein ganz reiner Fall von manischer Anlage, weil sich mehrere 
leichte Depressionen zwischen die manischen Symptomenkomplexe ein- 
geschoben haben und ausserdem neben den manischen auch noch einzelne 
depressive Erscheinungen, wie zeitweilige innere Unsicherheit, besteben. 
Dazu kommen die Zwangsvorstellungen. 

Dass dieser im ubrigen sehr viel mildere Fall, als der zueret be- 
scbriebene, uberhaupt in das hier erdrterte Eapitel hineingehdrt, ergibt 
sich aus der gleichartigen Belastung, dem Yorhandensein von gehobener 
Stimmung, dem Bet&tigungsdrang, dem PlJLneschmieden, der zu gewissen 
Zeiten bestehenden Erleichterung des Denkprozesses und den Schwan- 
kungen im Befinden des Patienten, die recht charakteristisch sind. Dass 
diese Schwankungen endogener Natur sind, durch iussere Drsachen nicht 
ausgeldst wurden, sei ausdrucklich betont. Der Kranke selbst bebt ihre 
Unabh&ngigkeit vom Milieu besonders hervor. DafQr spricht im ubrigen 
auch die gleicbartige symptomatologische Zusammensetzung der einzelnen 
Pbasen, d. h. der Umstand, dass in den Depressionen immer wieder die 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaafer. 795 

bekannten depressiven, in den Exaltationen die manischen Symptomen- 
komplexe anftreten. 

Wenn ich diesen Fall dem erstbeschriebenen gegenuberstelle, so 
geschieht das aus verscbiedenen Grunden. Einmal ist bei ibm die Reiz- 
barkeit nur angedeutet, statt dessen treten altrnistiscbe Gefuhle stark 
hervor. Zweitens ist der Denkprozess nicht so stark gestfirt, wie bei C., 
ein Umstand, der bewirkt, dass A. nicbt nnr sozial branchbar ist, sondern 
sogar den Durchschnitt fiberragt. 

Wir haben also hier einen direkt wertvollen Typ der manischen 
Anlage, wie er uns ubrigens in Gelehrten- and Kfinstlerkreisen nicbt 
selten begegnet. 

Ein weiterer Grand, der mich veranlasste, den Fall A. zu beschrei- 
ben, war folgender: 

Wir haben hier einen psycbiatriscb vorgebildeten Arzt, der gerade 
aoch fiber die Aendernngen, die sein Denken in den einzelnen Pbasen 
erleidet, gut Ausknnft geben kann. Ich habe deshalb mit ihm fiber 
die Frage der Ideenflucht ausffibrlich gesprochen. Was er dabei 
angab, scheint mir geeignet, manche strittigen Fragen zn klfiren. 

Der Fall A. gibt mir somit Veranlassung, anf das Problem der 
Ideenflucht n&her einzugehen. 

Wer die Literatar der letzten 20 Jahre fiber die Ideenflucht ver- 
folgt, der weiss, dass nicht so sehr die Bestimmung des Begnffes selbst 
Gegenstand der Kontroverse ist, als vielmehr das Problem: Wie entstebt 
die Ideenflucht? 

Man hat die Antwort anf verschiedenen Wegen gesucht. Aschaffen- 
burg, Isserlin u. a. haben experimentell-psychologische Methoden 
herangezogen. Auf psychologische Ueberlegungen hat Liepmann 
eine Lfisuhg gestfitzt, w&hrend Heilbronner, Kraepelin, Stranski 
u. a. ihren Schlussfolgerungen rein klinische Erw&gungen zu Grunde 
legten. 

Aschaffenburg (1904) sagt: Die Ideenflucht ist eine Teilerscbei- 
nung der allgemeinen Erleichterung der psychomotorischen VorgSnge. 
Sie ist vor allem eine StOrung des begrifflichen Denkens. Der Gesunde 
wird in seinen Vorstellnngen durch deren Inhalt bestimmt; alles, was 
an Nebeneindrficken auftauscht, wird unterdruckt. Der Manische da- 
gegen verliert sich in Abschweifungen, weil ihn die Zuf&liiakeit einer 
lockeren Gedankenverbindung, einer sprachlichen Reminiszenz oder einer 
Klang&hnlicbkeit ebenso leicht zur Assoziation ffihrt, wie die Zielvor- 
stellung. 

Zn dieser Ansicht ist A. auf Grand von Assoziationsexperimenteu 
gekommen, die er an Manischen and Gesunden angestellt hatte. 

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Dr. A. H. Hiibner, 

„Zwingen wir den Normalen“, so sagt er an einer Stelle, „jede 
Vorstellung wabllos niederzuschreiben oder auszusprechen, wie bei un- 
seren Versuchen mit der fortlaufenden Methode, so gleicbt das Ergebnis 
der Rede des Hyporoauischen aufs genaueste“. Diese Aebnlichkeit be- 
recbtigt zu der Annabme, dass die wahllose Umsetzung des Denkens in 
die Spracbe bei dem Zustandekommen der Ideenflucht von der grOssten 
Bedeutung ist“. 

In einem vier Jahre sp&ter gebaltenen Vortrage modifizierte A. 
seine Ansicbt dann insofern, als er der Ablenkbarkeit mehr Wert bei- 
niass. Er fasste sich dahin zusammen, dass Zusammentreffen von psv- 
cbomotoriscber Erregung und erbdhter Ablenkbarkeit das Symptom der 
Ideenflucht hervorbrichte 1 ). 

Ausser Ascbaffenburg hat sicb Liepmann eingehend mit der 
Frage der Ideenflucht bescbaftigt. Er gebt von einer Analyse des ge- 
ordneten Denkens aus und sagt: 

Beim georylneten Denken entsteht ein System von Vorstellongen 
verscbiedener Wertigkeit (S. 81). Eine Anzabl aufeinander folgender 
Einzelglieder wird durch den Inhalt einer voraufgegangeuen Vorstellung 
verknupft. Diese ietztere nennt er Obervorstellung. Mehrere Obervor- 
stellungen konnen durch eine weitere Obervorstellung noch bOheren 
Grades verbunden sein usw. 

Bei der Ideenflucht nun ist die Wirksamkeit der Obervorstetlungen 
exzessiv abgeschwacht oder ganz aufgehoben. 

Das, was nach L. die hOhere Wertigkeit einer Vorstellung bedingt 
und sie zur Obervorstellung macht, ist die Aufmerksamkeit. 

„Sowohl die Ablenkbarkeit durch Sinneseindrucke, welche der 
Ideenfluchtige zeigt, wie das fortw&hrende Erliegen unter den Anreiz 
des gewohnheitsmassig Verknupften und Aehnlichen haben ihre gemein- 
same Wurzel in einer schweren StOrung der Aufmerksamkeit, namlich 
dem hbchsten Grade von Unbestandigkeit derselben, bei grosser Energie 
derselben“. In der Ideenflucht reisst jedes assoziativ oder sensugen 
Geweckte die Aufmerksamkeit an sich. 

Auch Heilbronner hat sich — von klinischen Gesichtspunkten 
ausgehend— gegen die urspriingliche Ansicht Aschaffenburg’s aus- 
gesprochen, dass die Ideefiucht Teilerscheinung einer allgemein psycho- 
motorischen Erregung sei. Er erklSrt das Symptom aus der Erleichte- 
rung der assoziativen Leistungen. In Anlehnung an Wernicke’s Ge- 
dankengSnge uber die uberwertigen Vorstellungen meint er, die Erleich- 


1) Aebnlich spricbt er sich in seinem Handbuch der Psyohiatrie aus (s. 
Allg. Symptomatologie). 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 797 

terung der assoziativen Leistungen bedinge eine „Nivellierung der Vor- 
stellungen“, weil der die Deberwertigkeit bestimmter Bahnen bedingende 
Unterscbied der Erregbarkeit aufhdre; dadurch werde naturgem&ss der 
geerdnete Zusammenhang des Denkens gestort und es komme zur Ideen- 
flucht (283). 

Uebereiustimmung herrscht bei den zitierten und meisten anderen 
Forschern (z. B. Burake) daruber, dass die Ideenflucht eine Stdrung 
des Denkens ist, bei der die „Leitmotive“ l ) ihre dominierende Rolle 
verlieren, so dass nebensachliche Vorsteliungen, Einfalle und Sinnesein- 
drucke an ihre Stelle treten k5nnen. 

Strittig sind dagegen folgende Fragen: 

1. Besteht uberhaupt eine Beschleunigung des Gedankenablaufes und 
hat dieselbe eine prinzipielle Bedeutung fur das Symptom? 

2. Sind die Produkte, welche normale Menscben beim Reihen- 
sprechen und vor dem Einschlafen vorbringen, wirkliche Ideenflucht? 

3. Wodurch kommt die „Nivellierung der Vorsteliungen“ (Wer¬ 
nicke, Storch) bei der Manie zu Stande? 

4. Ist das, was Liepmann die „Energie der Aufmerksamkeit” 
nennt, lediglich eine Funktion der Aufmerksamkeit? 

5. Wie ist die Ideenflucht bei Hemmung zu erkl&ren? 

Man kann an die Ldsung dieser Fragen, wie sich aus der Literatur 
ergibt, auf verschiedenen Wegen herantreten. Der zuverlfissigste, weil 
naturlichste, scheint mir eine Verbindung von objektivor Beobachtung 
der Kranken verbunden mit Festlegung der Angaben des Patienten, was 
und wie er denkt. Ich meine damit, dass man solche Kranke, die ge- 
nugend psychiatrische and psychologische Erfahrungen haben, uber ihre 
inneren Erlebnisse sprechen lasst und sie veranlasst, sich selbst zu 
analysieren, ohne sie zu viel zu fragen (denn jede Beeinflussung des 
Denkens soli moglichst vermiedeu werden). Notwendig ist dabei weiter, 
dass man mit dem Kranken nicht nach, sondern wahrend des Zustandes 
selbst 8pricbt, denh es ist auch einem gebildeten psychologisch gescbulten 
Menscben nicht moglick, zu einer Zeit, wo er depressiv und leicbt ge- 
bemmt ist, uber eine htperthyme Phase brauchbare Auskunft zu geben. 

Einleuchtend ist, dass gerade die leichtesten Falle zu einer der- 
artigen Materialsammlung am geeignetsten sind. Ich habe desbalb den 
Fall A. nach dieser Ricbtung hin genauer untersucht, kann ausserdem 
hinzufngen, dass ich noch zwei andere Aerzte, darunter einen psychia- 
trisch gebildeten, in gleicher Weise explorioren und beobachten konnte. 


1) Dieser ans der Musikwissenschaft entlebnte Begriff umgebt die von 
Storch gegen Liepmann’s „Obervorstellnngen“ erhobenen Einwande. 


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Dr. A. H. Hubner, 

A., dessen Angaben mit denen der anderen Herren fibereinstimmten, 
berichtete folgendes: 

„Wenn die Zeit beginat, wo ich fiber dem Strich bio, daoo emp- 
finde ich zun&chst ein vorher in dem Masse oicht vorhandenes Gesund- 
heits- und Kraftgeffihl. Mein Selbstvertraaen und meine Selbstein- 
schitzung erfahren eine Steigerung. Auch in ungewohnten and schwie- 
rigen Situationen habe ich das Geffihl absoluter Sicherheit. Ich em- 
pfinde das Verlangen zu schaffen und mache mich sofort an irgend eine 
deijenigen Arbeiten oder wissenscbaftlichen Probleme heran, mit denen 
ich vorher nicht zurecht gekommen war. Jetzt geht es mit der Arbeit 
besser. Das Denken f&llt mir leichter. Bei jedem Problem stellen sich 
ganze Eomplexe von Yorstellungen und neue Gedankenverbindungen ein, 
so dass ich die Lfisung auch schwieriger Fragen „in einer Sitzung“ finde. 

Es sind mehr Gedanken, die sich einstellen. Ich entdecke an 
meiner gewohnten Umgebung manche Dinge, an deoen ich vorher acht- 
los vorfiber gegangen bin. Auch neue Ideen, Wfinsche und Plane 
tauchen auf. Dmgekehrt fibersehe ich manchmal Wichtiges. 

Eine Beschleunigung des Denkens besteht insofern, als ich selbst- 
redend rascher denke, wie in den Zeiten der Hemmung. 

Die Gedanken tauchen ohne mein Zutun auf. Sie wechseln mit 
der Art meiner T&tigkeit; immer entdecke ich aber ein Plus gegenfiber 
der ruhigeren Zeit. 

Die Tatsache, dass sich so viele Gedanken einstellen, bereitet mir 
Freude. Ich empfinde sie nie unangenehm, selbst dann kaum, wenn 
dieses Denken etwas Zwangsmhssiges bekommt und nicht unterdrfickt 
werden kann. 

Das Durchdenken einer bestimmten Gedankenreihe gelingt mir in 
diesem Zustande — namentlich unter Zuhilfenahme der Schrift, die 
arretierend wirkt — noch gut. Dass aber eine Aufmerksamkeitsstfirung 
schon in diesem leichten Zustande vorhanden ist, geht aus folgenden 
Tatsachen hervor: 1. besteht bereits eine gewisse Neigung zu Seiten- 
sprfingen im Denken, 2. ist die Disposition des Gedachten nicht mehr 
straff und nicht immer klar. Es kfinnen sich unter Anderem auch schon 
grfibere logische Fehler einschleicben, 3. ich vergessse mi tun ter die 
Fragestellung ganz oder teilweise, oder den Punkt, au dem ich den 
Denkakt unterbrechen muss, wenn ich plfitzlich angesprochen und aus 
meinen Gedanken herausgerissen werde, zum mindesten ist aber 4. die 
Rfickkehr zu dem Punkte, wo ich den Denkakt unterbrechen musste, 
schwerer, als in ruhigen Zeiten, und mit momentanen Unlustgeffihlen 
verbunden, weil ich mit meinem Denken und Ffihlen bei den Dingen 
bin, derentwegen die Dnterbrechung der Arbeit erfolgte. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Ausl&ufer. 799 

Vielleicht 1st auch noclx etwas Weiteres erw&bneoswert: 

In den rnbigen Zeiten, wo ich Schritt fur Schritt „vorw&rtsdenke“, 
bis ich ein Ziel erreicht habe, werden mir neben den Anfangs- and 
Endgliedem einer Gedankenreihe auch die Mittelglieder voll bewusst, 
weil jedes von ihnen schrittweise erreicht wird. Schon im Beginn der 
lebhaften Zeit konnen Zwischenglieder ganz ausfallen, sie kommen mir 
wenigstens nicht mehr zum Bewusstsein, so dass zwar ein brauchbares 
Endglied einer Reihe erreicht wird, das Leitmotiv also seine Herrschaft 
noch nicht ganz verloren hat, und doch ist nicht mehr in Schritten, 
sondern in Sprungen gedacht worden. 

In diesem Stadium ist eine eigentliche Ideenflucht noch nicht vor- 
handen. Dagegen macht sich bereits ein Drang bemerkbar, auch in 
rein sachlichen Ausfuhrungen Bonmots, Epitheta ornantia u. Aehnl. 1 ) 
einzuflechten. Nebens&chliche Episoden werden mitunter auch schon 
weiter ausgesponnen, als ndtig, kurz es zeigt sich, dass die „Obervorstel- 
lungen“ nicht mehr uneingeschr&nkt dominieren. Es lockert sich die 
Disposition der Rede. 

In dem, was ich „ Rausch “ nenne, ist die ZaRl der auftaucbenden 
Gedanken erheblich vermehrt. Sehr bald nach Beginn einer Gedanken¬ 
reihe erfolgt die Ablenkung auf ein Nebengeleise. Die Beschreibung 
der Nebens&chlichkeiten kann denselben Umfang erbalten wie die ;Haupt- 
sache. Nicht immer wird eine Zielvorstellung erreicht. Das Abweichen 
vom Ausgangspunkt wird vor alien Dingen nicht immer gemerkt. In 
die Rede hineingeflochten sind Witze — z. T. solche mit durftiger 
Pointe —, Hauptworten werden unndtige Adjektiva beigelegt, die Ge- 
samtdarstellung entha.lt Uebertreibungen, unberechtigte Verallgemeine- 
rungen, gelegentlich auch direkte Entgleisungen. 

Ich bin mir dabei oft wohl bewusst, dass die Witze und Ueber- 
treibungen in ernsthafte Ausfuhrungen nicht hineingehOreu. Mitunter 
kommt mir sogar, ehe ich sie ausspreche, blitzartig der Gedanke, es 
sei besser, dies Oder jenes nicht vorzubringen; und doch kommt es 
heraus! Ich kann es nur ausnahmsweise unterdrucken. Es dr&ngt 
micb oft geradezu, trotz der fluchtig auftauchenden Gegenvorstellungen 
eine kleine Bosheit auszusprecben oder direkte gesellschaftliche Un- 
geschicklichkeiten zu begehen,' lediglicb wenn dabei ein Witz in die 
Rede eingeflocbten werden kann, der meiner inneren Stimmungslage 
entspricht, ohne dass ich deshalb einen anderen kr&nken will. 

Auch Augenblickseindrucke und Ein&lle werden dem Redestrom 
eingefugt, oder stellen den Ausgangspunkt neuer Gedankeng&nge dar, 


1) Aber koine Reime. 


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Dr. A. H. Hfibner, 

die alle ihre F&rbung durch die heitere Stimmung bekommen, welche 
mich beseelt. 

Dabei vermag ich nur einen kleinen Teil dessen, was mir durch 
den Kopf geht, uberhaupt auszusprecben. Die Gedanken fliegen viel 
schneller, ala ich reden kann. Nur so ist es uberhaupt mfiglich, dass, 
wShreud ich rasch uud fliessend spreche, in meinem Innern noch ein 
„Kampf der Motive” fiber Einzelheiten meiner Rede stattfinden kann. 

Dazu kommt schliesslich noch Eines. 

Wfthrend ich in gesunden Tagen alles, was ich zu einer Sache zu 
sagen weiss, kurz vorbringe und dann schweige, ffillt mir das in den 
als „ Rausch “ bezeicbneten Zeiten schwer. Ich kann schlecht aufhOren. 
Und wenn ich zufallig unterbrochen werde, dann laufen wenigstens die 
Gedanken weiter.” 

Soweit geht der Bericht des Dr. A. Hinzuzuffigen habe ich noch, 
dass ich bei ihm kaum je Elangassoziationen, Reime oder fihnliches 
beobachtet habe. Diese treten h&ufiger wohl erst in den ausgepr&gten 
Fallen von Ideenflucht auf. 

Wenden wir uns nun der Beantwortung unserer oben gestellten 
Fragen zu, so wfirde zunficbst zu erfirtern sein, ob eine Beschleunigung 
des Gedankenablaufes besteht. 

Eine solche objektir im Vergleich zu den Durchschnittswerten Ge- 
sunder festzustellen, das halte ich ffir fast unmfiglich. 

So dagegen, wie Dr. A. es tneint, mfissen wir eine Beschleunigung 
annebmen. Seiner Ansicht nach kann man von einer solchen dann 
sprechen, wenn die Leistungen zur Zeit des Bestehens der ideenflucht 
mit denen ruhigerer oder gar depressiver Phasen verglicben werden. 

A. hat von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet subjektiv eine 
Beschleunigung des Gedankenablaufes empfunden. 

Wenn wir hinzunehmen, dass er in den Zeiten der Hyperthvniie 
nur einen kleinen Teil dessen auszusprechen vermag, was er denkt, so 
findet seine Ansicht eine weitere Stfitze. 

Auf die Rolle, welche diese Beschleunigung ffir die Frage der 
Ideenflucht spielt, wird weiter unten n&her einzugehen sein. — 

Das wichtigste Problem, welches wir hier zu besprechen haben. ist 
das der Genese der Ideenflucht. 

Uebereinstimmung herrscht jetzt wohl darin, dass der Aufmerksam- 
keitsstdrung dabei eine hervorragende Rolle zukommt. Audi Aschaffen- 
burg hat das in seinem Kfilner Vortrage und in seinem Handbucb zu- 
gegeben und Bumke hat es erst vor Kurzem in bestimmter Form nus- 
gesprocben und begrfindet. Ueber diesen Punkt ist also kaum mebr zu 
diskutieren. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 801 

Dagegeu mass man meiner Ansicbt nach zwei weitere Fragen auf- 
werfen, namlich 1 . die, durch welche Faktoren wird die Onbestandigkeit 
der Anfmerksamkeit bestimmt uud 2. die, ob das, was als „Energie der 
Aufmerksamkeit 11 bezeichnet worden ist, lediglich eine Funktion der 
Anfmerksamkeit darstellt. 

Liepmann, welcher uns die beiden Eigenschaften der Aufmerksam- 
keit, die BesUndigkeit und Energie gezeigt hat, sagt, die UnbestEndig- 
keit der Aufmerksamkeit bei der Ideenflucht sei daran zu erkennen, 
dass die einander im Aufmerksamkeitsfelde sich folgenden Vorstellungen 
nicht durch Obervorstellungen ausgewEhlt und verbunden sind, sondern 
dass lediglich die vorhergehende mit der n&chsten durch assoziative 
Verknupfung in Beziehung steht, oder ein interkurrenter Sinneseindruck 
sich zusammenhanglos anfugt. 

Wodurch wird nun die Bildung von Obervorstellungen bei der 
Manie beeintr&chtigt oder ganz unmdglich gemacht? 

Es gibt dafur, wie ich glaube, verschiedene Griinde: 

Einmal wirkt die zum mindesten subjektiv als solche empfundene 
Beschleunigung des Yorstellungsablaufes hindernd. 

Sehr friih, d. h. schon in den Anfangsstadien der Ideenflucht, stellt 
sich auch bereits ein Plus an Gedanken gegenuber den ruhigen Zeiten 
ein, das gleichfalls der Selektion der Vorstellungen ungunstig ist. 

Hinzu kommt weiter, dass der Gesunde wohl imstande ist, will- 
kurlich eine Gedankenreihe abzubrechen. Der Ideenfluchtige kann das 
nicht ohne weiteres. Er muss weiter denken. Er steht manchmal 
geradezu unter einem Denkzwange. 

Diese drei Erscheinungen gehbren in das Gebiet der psycbomotori- 
schen Erregung und Aschaffenburg hat, wie ich glaube, Recht, wenn er 
in ihnen ein Hindernis fur die Bildnng von Obervorstellungen erblickt. 

Ich bin mir dabei wohl bewusst, dass die drei Erscheinungen in 
verschiedener Starke auftreten kdnnen. Wir sehen aber doch, dass sie 
selbst in den Vorstadien der eigentlichen Ideenflucht bereits subjektiv 
vom Kranken empfunden werden. Und auf das Subjektive kommt es 
meiner Ansicbt nach in erster Linie an. 

Wir haben damit den einen Teil der VorgSnge kurz gestreift, die 
beim Zustandekommen der Ideenflucht sich abspielen. Wir kennen jetzt 
einige Faktoren, die die Bildung der Obervorstellungen beeintrEchtigen. 
Das ist etwas Negatives. Es ist nun aber bei dem Zustandekommen 
des Symptoms noch ein positiver Faktor wirksam, den Liepmann 
unter den Begriff, der Energie der Aufmerksamkeit subsummiert. 

Es ist meiner Ansicbt nach, wenigstens fur die leichteren FElle 
nicht richtig, zu sagen, dass die Anknupfungen and Abschweifungci 


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Dr. A. H. Hvjbner, 


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des Ideenfluchtigen wahllos erfolgen. Dem Eranken kommt dabei 
doch eine aktive Roll® zu. Er wahlt aus, eowohl aus den Gedanken, 
die ihm durch den Eopf gehen, wie aus den Erlebnissen in seiner 
Umgebung. 

Er entdeckt an seinem Gegenuber z. 8. nicht, dass derselbe gerade 
gewachsen ist, wie viele Andere, einen Schnurrbart tr&gt, wie viele 
Andere und Aehnl. mebr, sondern ihm fallt die Warze auf der Nase, 
der Fleck* im Rock, die Glatze, die schiefen Absatze usw. auf. Und an 
diese Besonderheiten knupft er an. 

Es sind also nicht die durch die Ausgangsideen oder Zielvorstellungen 
bedingten Leiimotive, die seinem Denken die Richtung geben, sondern 
andere Obervorstellungen, die er sich selbst unter dem Einfluss seiner 
krankhaft veranderten Stimmung bildet. 

Dazu kommen uun pathologische Einfalle, d. h. um mit 
Reich und in Anlehnang an Bonhoeffer und Cl. Neisser zu sprechen, 
unvermittelt, bezw. nicht bewusst vermittelt, dabei plOtzlich auftretende 
und meist auch plOtzlich wieder verschwindende Vorstellungskreise. Sie 
stellen das intrapsychische Analogon zu den sensugen vermittelten 
Unterbrechungen der ideenfluchtigen Vorstellungsreihen dar. 

Diese Einfalle haben — vieJleicht nur infolge ihres Mangels an 
erkennbaren Beziehungen zu dem ubrigen Vorstellungsinhalt und infolge 
der Pldtzlichkeit ihres Auftretens — besondere Anziehungskraft fur den 
Maniakus und infolgedessen flicht er sie, ebenso wie Sinneseindrucke? 
die fur ihn besonders auffallend sind oder seiner Stimmung entsprechen, 
in seine Reden ein. 

Gerade diese Verhaltnisse hat Dr. A. uns recht deutlich geschildert. 
Er muss trotz auftauchender Gegenvorstellungen Bosheiten sagen, in 
ernste Ausfuhrungen Witze hineinbringen, Taktlosigkeiten begehen, Auf- 
falligkeiten an seinem Gegenuber lacberlich machen usw. Denn diese 
Dinge sind seine Oberrorstellungen. 

Man sollte deshalb den ganzen Vorgang besser so beschreiben, 
dass man sagte, die beim Normalen wirksamen Obervorstellungen, 
welche ihm das schrittweise Vorwartsdenken ermOglichen, verlieren an 
Wertigkeit. Statt ihrer drSngen sich andere, der Stimmungslage des 
Mauischen entsprechende Obervorstellungen, Sinneseindrucke und Einfalle 
vor und leiten das Denken des Eranken auf Nebengeleise. 

Wenn diese Erklarung richtig ist, dann wird nur der, der die Be- 
griffe „Unbestandigkeit und Energie der Aufmerksamkeit 11 sehr weit 
fasst, mit ihnen allein den ganzen Vorgang erklaren kOnnen. Gerade 
das krankhafte Prinzip, nach dem der Manische seine yiel kurzlebigeren 
Obervorstellungen auswahlt, lasst sich weder in dem Begriff der Un- 


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Ueber die man isch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 803 

best&ndigkeit, noch in dem der Energie der Aufmerksamkeit ganz unter- 
bringen. Noch weniger die pathologischen Einfalle. 

Was schliesslich den Inhalt des ideenfifichtigen Denkens im all- 
gemeinen anlangt, so ist auch der nicht in dem Masse von Zuf&lligkeiten 
abh&ngig, wie das mancbmal dargestellt wird. Dr. A. bat uns fiber 
diesen Punkt gleichfalls wertvolle Mitteilungen gemacht. Wir hfiren, 
dass er auch in ruhigen Zeiten manche Redensarten filters gebraucbt, 
dass er gewfihnt ist, auf bestimmte Eigenheiten bei anderen Personen 
besonders zu achten, and dass gerade diese in seinen ideenfiuchtigen 
Aenssernngen eine grosse Rolle spielen. Er berichtet uns ferner, dass 
die Art, in den „Rauschzustfinden U1 ) zu reden, nur eine Uebertreibung 
oder Karrikierung deijenigen der ruhigen Zeiten ist. 

Wir seben also, dass auch das ideenfificbtige Denken innerlich 
starker gebnnden ist, als man nach manchen Darstellungen annehmen 
sollte, dass es jedenfalls aber nicht richtig ist, zu behaupten, der Ideen- 
flfichtige schweife wahllos ab. Wenn wir dieser Feststellung bei ge- 
eigneten Kranken in Zukunft weiter nachgehen, insbesondere ihre 
individuellen Eigentfimlichkeiten in ruhigen Zeiten genauer studieren, 
dann werden wir vielleicht auch befriedigende Erkl&rungen fur einzelne 
Erecheinungen, wie die Klangassoziationen, dasVorbringen l&ngererReihen, 
die rhythmische Gliederung, die Reime und fihnliches mehr linden. 

Wir haben oben die weitere Frage aufgeworfen, ob die Produkte, 
welehe normale Menschen beim Reihensprechen und vor dem 
Einschlafen vorbringen, wirkliche Ideenflucht sind. 

Es gibt einzelne Autoren (z. B. Ascbaffenburg, Heilbronner), 
die das meinen. Stransky hat die Erfahrung nicht best&tigen kfinnen 
und Aschaffenburg hat seine abweicbenden Ergebnisse durch die 
Verschiedenheit der Versuchsanordnung zu erklSren gesucht, wie ich 
glaube teilweise mit Recht, aber doch nicht ganz. 

Es kommt bei derartigen Versuchen doch aucb, um nur einen Punkt 
hervorzuheben, sebr auf das zugerufene Reizwort an. Man kann bei 
einzelnen Reizworten Reihen erhalten, die genau so gut von Ober- 
vorstellungen beeinfluisst sind wie jedes andere normale Denken. 

Ich habe z. B. einem jongen Mfidchen bei einem Versuch ihren 
eigenen Namen als Reizwort zugerufen. Sie assoziierte: Stelle, Zukunft, 
Mutter, Schwester, Geld, Erankheit, Leben, Heirat, unmfiglich usw. 

In dieser Reihe feblt auf den ersten Blick die gemeinsame Ober- 
vorstellung. Wohl aber kfinnen verschiedene Worte zu den folgenden 


1) Ich branchewohl nicht besonders zu betonen, dass dieRauschzustande, 
von denen Dr. A. spricht, mit Alkoholmissbrauch niohts zu tun haben. 


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Dr. A. H. Hubner, 


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in Beziehung gebracht werden (z. B. Stelle-Zukunft, Mutter-Sch wester, 
Kraukheit Leben, Heirat-unmdglicb). 

Wenn man aber erfahrt, dass die Versucbsperson zu jener Zeit 
Gefahr lief, wegen eines Spitzenkatarrbs ibre Stellung za verlieren, 
durch die sie Mutter und Scbwester ern&hrte, dann erkennt man, dass 
die ganze Reibe von einer Obervorstellung beberrscht wird und niehts 
Ideenfluchtiges enthalt. 

Bei einem anderen Versuch mit einer anderen Versuchsperson er- 
hielt icb auf das Reizwort Scbimborasso die Antwort: Berg, Baum, 
Zaun, Pferd, Zaum, Schiene, Englander, Strassenbahn, Huhn, Sirene. 

Diese Mischung sinnloser Worte mit vereinzelten Klangassoziationen 
stellte sich bei naherer Erklarung auch als durch eine Obervorstellung 
hervorgerufen heraus. Die Versucbsperson wusste vom Scbimborasso 
nicbts weiter, als dass es ein Berg ist. Um eine Reibe herausbringen 
zu kdnnen, fugte sie dem Worto Berg alles an, was sie im Moment 
durch das Fenster wahrnahm. 

Was ich mit diesen Beispielen sagen will, ist folgendes: Auch bei 
fortlaufenden Assoziationen wird, gleichgultig, ob ein genugender Sch&tz 
von Begriffen vorhanden ist oder nicbt, von normalen Versucbspersonen 
unter dem Einfluss von normalen Obervorstellungen assoziiert. Wenu 
dann einzelne Reihen 1 ) den Eindruck des Ideenfluchtigen erwecken oder 
der Spracbverwirrtheit gleichen, so sind sie deshalb mit diesen beiden 
Begriffen keineswegs zu identifizieren. Es handelt sich vielmehr nor 
um ausserliche Aebnlichkeiten, wovon man sich leicht uberzeugen 
kann, wenn es moglich ist, von der Versucbsperson die Entstehung der 
Reibe zu erfragen. 

Ideenfluchtig ist eine Reihe nicht schon dann, wenn jedes folgende 
Glied nur zu dem vorhergehenden in Beziehung zu stehen scheint, sondem 
erst dann, wenn gleichzeitig eine die Reihe beherrschende Obervor¬ 
stellung fehlt. — 

Noch weniger, wie beim fortlaufenden Assoziieren, handelt es sich 
meiner Ansicht nacb bei den Vorgangeu vor dem Einschlafen 
um Ideenflucbt. Ich babe bei mir selbst, so oft ich darauf geachtet babe, 
nie ideenfluchtige Reiben beobachtet, wohl aber ein regelloses Auf- 
tauchen und Wiederverschwinden von Vorstellungen. — 

Wir sind mit den bisberigen Ausfubrungen kurz auf die Punkte 1, 
2, 3 und 4 eingegangen und haben nocb einige Bemerkungen fiber die 
Ideenflucbt bei Hemmung binzuzufugen. 

Rraepelin, Heilbronner u. a. haben sich dabin ausgesprochen. 


1) Dass ideenfluchtige Reihen regelmassig entstehen, bestreite ich. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 805 

dass es sich dabei nicht um eine Hemmung des Den kens, sondern des 
Sprechens handelt. Das trifft fur einen Teil der F&lle auch sicher zu. 

Es gibt aber daneben wobl aucli andere, bei denen neben der 
Hemmung Ablenkbarkeit und die eigenartige, oben n&ker geschildeite 
Auswahl der Obervorstellungen nebeneinander bestehen, so dass man 
dann von ideenfluchtiger Denkhemmung 1 ) sprechen kann. 

Diese Falle zeigen meiner Ansicht deutlich, dass man bei dem 
Begriff der Ideenflucht auf das, was ich oben als den „positiven Faktor w 
besclirieben habe, besonderes Gewicht legen muss. 

Die Verscbrobenen. 

W., jetzt 62 Jahre alt (geb. 1856). Begabtes Kind, unbestandig und fahrig, 
zeitweise heftig. Misshandelt die Eltern und Sohwestern. Sept. 1890 in eine 
Anstalt, damals unruhig, ezaitiertes Wesen, erhohte Reizbarkeit, grosse Un- 
zufriedenheit mitallem, Neigung zu Tatlichkeiten, ideenfluchtig, Grossenideen. 

Alle diese Erscheinungen verloren mit den Jabren an Scbwere, so dass 
er im Jahre 1899 nach Hause genommen werden konnte. Dort lief er viel und 
unruhig hin und her, verschenkte und verlegte alles, schimpfte fiber seinen 
friiheren Aufenthalt, weokte morgens sehr fruh die Angehorigen und hielt ibnen 
lange Reden. Deshalb naoh B. in die Anstalt. Seitdem unverandert. Verf. 
hat ihn im ganzen etwa 12 Jahre beobachtet* teils in der Anstalt selbst, zum 
Teil auch wahrend mehrmonatiger Beurlaubungen. Das Bild war mit kurzen 
Unterbrechungen immer das gleiche. Pat. war moist freundiich und heiter, er 
erging sich in einer haufig mit geschraubten Redensarten durchsetzten Sprech- 
weise. So pflegte er z. B., wenn von seiner Ausbildung die Rede war, regel- 
massig zu sagen: „Die Zeit kommt nicht wieder, das ist das Schlimme, sonst 
liessen sich manche Febler korrigieren. Die ganze propadeutische Grundiage 
und Philosophic ist in den Sumpf geraten. Das klassische Altertum und die 
Neuzeit mit ihren Erfindungen (Pat. war Techniker), die sind nur fur tiefer- 
blickendeGeister erschaffen, nicht fur Sonntagskincjer, die alles von der loichten 
Seite nehmen. Alles ist fortgesohritten, nur der remanete Magnetismus und 
die alten Bocke bleiben ubrig. a Er will noch einmal aufs Gymnasium gehen 
und das Abiturientenexamen macben, nm „mit diesem unanfechtbaren Doku- 
ment u sich ein „neues Planetensystem u zu grunden. 

Auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortete er haufig: Es gehe ihm 
„approximativ w wohl. Andere Ausdriicke, wie „nolens, coblenz u , flocht er oft in 
seine Rede ein. 

Auf der Abteilung entging ihm kein wichtiges Geschehnis. Er unter- 
suchte auch alle Ecken, beobaohtete das, was Pfleger und Kranke taten, und 
machte seine jeweiligen Beobachtungen zum Gegenstand langer Erorterungen, 
die er mit philosophischeu, physikalischen und mathematischen Ausdriicken 
verbriimte. 


1) Siehe auch die Arbeit von Pfersdorf. 


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Dr. A. H. Hiibner, 

Auffallend ist dabei, dass er seine Mitmenschen sehr gnt beobaohtet, an 
Aerzten, Pflegern, Kranken, seinen Angehorigen, dem Zeitungsinhalt, semen 
Erlebnissen auf der Strasse, das Hervorstechendste richtig herausfindet 1 ), nicht 
selten bewusst kleine Schwachen des einen oder andern ans Licht zieht und 
in Gegenwart Premder in seiner mit witzigen und ubertriebenen Ausdrticken 
gespickten Rede geisselt. Auf den ersten Bliok erinnerten seine sprachliohen 
Aeusserungen nicht ganz selten an diejenigen mancher Katatoniker, wenn man 
sich aber die Mfihe nahm, sich die Gedankengange des Pat naher erklaren zu 
lassen, dann zeigte sich, dass seine Aeusserungen nicht sinnlos waren, sondern 
eine toils scherzhafte, toils karrikierte Einkleidung von an sich vernunftigen 
Gedanken darstellten, die auf aktuelle Erlebnisse Bezng nahmen. 

Von Katatonikern unterschied er sich auch dadurch, dass er standig den 
Drang, sich zu beschaftigen, hatte und auch regelmassig in einer der Werk- 
statten mitarbeitete. 

Ftir die Art seines Denkens und Handelns seien noch folgende Beispiele 
hinzugefugt: 

Es war ibm immer sehr unangenehm, dass er der Anstaltsordnung ent- 
sprechend verbaltnismassig fruh aufstehen musste. Urn grbssereMilde in diesem 
Punkte zu erzwingen, stellte er sich wocben- und inonatelang neben die Schlaf- 
zimmerturen zweier Assistenzarzte, dieauf jener Abteilungwohnten,und sohimpfte 
laut auf das Fruh&ufstehen, fugte hinzu, dass, wenn er nicht langer schlafen 
ddrfe, die Kerls das auch nicht brauchten. Er erging sich dann so lange in 
lauten Scbimpfreden, bis er seinen Zweck, die beiden Aerzle rorzeitig aus dem 
Bett zu treiben, erreicht hatte. 

Von denjenigen Kranken und Pflegern, welche auf der Abteilung eine 
Rolle zu spielen suchten oder das grosse Wort fuhren wollten, pflegte er sich 
offers, namentlich wenn Aerzte dabei waren, in ganz iibertrieben tiefer Weise 
zu verbeugen, und fugte dann einige Redensarten hinzu, in denen er die 
Herrschsucht und Geschwollenheit der Betreffenden periiflierte. 

Besonders unangenehm waren ihm frommelnde Menschen. Es gab auf 
der Abteilung mehrere Personen, deren aussere Glaubensbetatigung in einem 
gewissen Missverhaltnis zu manchen ihrer Handlungen stand. Ftir deren Ver- 
halten hatte er stets eine sehr feine Witterung und geisselte das, wenn er irgend 
etwas Boses entdeckte, erbarmungslos. 

Mitunter erweokten seine Reden und sein Handeln ganz den Eindruck 
eines Klowns. Da er infolgedessen offers von anderen Kranken geneckt wurde, 
kam er gelegentlich mit ihnen in Zwistigkeiten, bei denen er schimpfte, hie 
und da auch einmal tatlich wurde, haufiger aber in witziger, recht geschickter 
Weise seine Gegner abfiihrte. 

Von Zeit zu Zeit kam er mit Verbesserungsvorschlagen bezuglich der 
Anstaltseinrichtungen usw. Seine Anregungen waren nicht immer zweckmassig. 

1) So nannte er z. B. einen sehr frommen, etwas selbstbewussten Pfleger 
stets n Simon Potrus u , weil dessen Familienname Simon war. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Ausl&ufer. 807 

In mindestens mehrmonatigen Abstanden wurde er far einige Tage oder 
Wocben leicht erregt, lief dann z. B. von einem Obrenarzt znm andern, nm 
sich sein altes Obrenleiden „kritisch beleuchten“ zn lassen, wie er es aus- 
druckte, bielt den betreffenden Kollegen jedesmal lange Reden nnd batte 
offenbar selbst Prende daran, wenn er Heiterkeit erregte. Gerade das merkte 
man ihm ubrigens offers auch in den rubigen Zeiten an. 

In den Perioden leichter Unruhe pflegte er ferner Rechtsanwalte und das 
Vormundsohaftsgericht aufzusuohen, am seineWiederbemiindigung za betreiben. 
Er ging dann auch zu bekannten und fremden Aerzten, um sich Attests zu be- 
sorgen, berubigte sich aber rascb vieder, wenn er nichts erreichte. In diesen 
Zeiten batte er auch hanfig Streitigkeiten mit seiner Umgebung, besonders mit 
den Verwandten, and er kam dann nicbt selten auch mit allerlei Planen bezuglich 
der Zukunft. Wahrend er sich in den ruhigeren Zeiten eine selbstandige 
Lebensfubrung nioht zutraute, sich wenigstens mit dem Anstaltsaufenthalt bei 
freiem Ausgang durcbaus abfand, behauptete er dann plotzlicb, er wolle ein 
neuesLeben anfangen, beiraten, sich einenBeruf schaffen, noobmals zu studieren 
anfangen und ahnliohes. Um diese Zeiten hatte er zweifellos ein gesteigertes 
Selbstbe wusstsein. 

Der Fall W. ist insofern schwierig, als er zu differentialdiagnosti- 
scben Erw&gungen gegenuber der Dementia praecox Anlass gibt. Wir 
haben zu erflrtern, welche Grunde gegen die Annahme einer Schizo- 
phrenie sprechen. Meiner Ansicht nach sind es folgende: 

1. Znn&cbst sind die krankhaften Abweicbungen, welche W. zu einer 
abnormen PersBnlichkeit machen, angeboren. Schon in der Jugend zeigte er 
sich unbest&ndig und fab rig. Auch die Reizbarkeit bestand bereits damals. 

2. Bei der Schizophrenie linden wir meist ein deutlich aus dem 
bisherigen Lebenslauf sich heraushebendes Anfangsstadium der Psychose. 
Ein solches feblt vollst&ndig. Die mehrfach verzeichneten Zeiten, in 
denen der Patient erregt war, sind einem solchen Initialstadium eben- 
sowenig gleichzusetzen, wie etwa den einzelnen n Scbuben u , die wir bei 
manehen Eatatonien beobachten. 

3. Da eine progrediente Abnahme der psychischen Funktionen, ins- 
besondere eine Verddung des Gefuhlslebens nicbt nachzuweisen ist, so 
kommt eine Dementia simplex (Diem, Pick, Kraepelin) auch nicht 
in Betracht. 

4. Die Zeiten der Erregung bringen keine wesentlich neuen Sym¬ 
ptoms, sondern lassen lediglich eine quantitative Steigerung der bereits 
▼orhandenen erkennen. 

5. Was mehrere der behandelnden Aerzte in erster Lioie an eine 
Schizophrenie denken liess, waren die eckigen, grotesken Bewegungen 
des Patienten und seine eigentumliche Art zu reden. Mit diesen beiden 
Symptomen mussen wir ons noch besonders bescbAftigen. 


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Dr. A. H. Hiibner, 


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Wie schou bei der Darstellung der Krankheitsgeschichte gesagt 
wurde, bandelt es sich bei den Bewegungen um eine Uebertreibung 
von an sich vernunftigen Reaktionetx Der normale Mensch, der eine 
Respektsperson begriisst, bringt die Bewertung, die er derselben znteil 
werden lasst, in der Form seines Grusses zum Ausdruck. W. begriisst 
die fur ibn in Betracht kommenden Respektspersoneu, die Aerzte, 
achtungsvoll, aber nicht ubertrieben. Dagegen die Gernegrosse auf der 
Abteilung, diejenigen, die zu Unrecht dominieren wolien, sucht er sich 
heraus und ihnen erweist er eine offensicbtlich ubertriebene Ehrfurcht, uni 
sie zu verspotten. Was er tut, ist ubertrieben, aber nicht unmotiviert 
Oder sinnlos. Insofern unterscheidet sich sein Handeln von dem des 
Schizophrenen und erinnert an das des „dummen August" im Zirktas. 

Dasselbe gilt von seinen Reden. Er geht zum Ohrenarzt, nicht? 
um sich sein Obr untersuchen zu lassen, sondern er lasst es „kritisch 
beleuchten". Er verschmaht den nuchternen, rein sachlichen Ausdruck 
fur den Vorgang und wendet statt dessen. einen anderen, an sich sinn- 
vollen an, der aber eine Uebertreibung darstellt. 

6. Alles das gescbieht, weil er standig heiterer Stimmung ist, und 
durch nichts — z. B. auch nicht durch den jahrzehntelangen Anstalts- 
aufenthait — aus derselben berausgerissen werden kann. Er sieht 
alle3, was ihm begegnet, mit den Augen des lachenden Philosophen an. 

7. Schliesslich ist noch ein Punkt wichtig. W. hat uie das Inter- 
esse an seiner Umgebung, der Aussenwelt, den Zeitereignisseu verloren. 
Er liest Zeitungen und verarbeitet das Gelesene. Wenn er auch nicht 
den Wunsch aussert, einen Platz im Leben auszufullen, so ist er anderer- 
seits docb auch nicht untatig, beschaftigt sich innerhalb der Anstalt — 
soweit das seine Unbestaudigkeit zulasst — seinen Kraften und Fahig- 
keiten entsprechend und hat ein durchaus richtiges Urteil fur die 
Grenzen seines Rdnnens. 

So stellt er das, was man ein „OrigiDal“ nennt, dar, d. h. einen 
Menschen, der nicht etwa schwachsinnig oder verblddet ist, sondern 
nur durch gewisse Verscbrobenheiten in Kleidung, Reden und Handeln 
auffallt, verbaltnismassig gut beobachtet, keineswegs interesselos ist. 
sich aber zu wirklich wertvollen Leistungen nicht aufraffen kann. Der 
im ubrigen alles, was ihm begegnet, durch die rosige Brille betrachtet. 

Dass man diese Falle von der Dementia praecox aussondern muss, 
ist wohl nicht fcu bestreiten. Ich glaube aber weiter, dass der vor- 
liegende Fall als ein Ausfluss der manisch-depressiven Anlage anzn- 
sprechen ist, denn wir linden bei ihm eine von ausseren Einflussen wenig 
oder gar nicht abhangige Heiterkeit. Der Kranke knupft an Erlebnisse 
und Sinneseitidrucke aus seiner Umgebung oft an. Gelegentlich kommt 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 809 

ee zu Klangassoziationen (nolens-coblenz). Br ist sprunghaft im Denken, 
macbt Witze und neigt zu Uebertreibungen in seinen Reden. 

AIs besonders wichtig ist weiter des Omstandes zu gedenken, dass 
sich tod Zeit zu Zeit, ohne erkennbare ftussere Orsachen, bei ihm Zu- 
st&nde leichter Erregung einstellten, w Eh rend deren er reizbar gegen 
die Umgebang war, wegen eines alten Ohrenleidens vom einem Arzte 
zum anderen lief, seine Wiederbemundigung betreiben wollte, Heirats- 
gedanken Susserte und sich sogar die F&higkeit zntraute, einen Beruf 
auszuuben. 

Gerade diese, nicht exogen bedingteu Phasen, so kurz sie auch 
sein mOgen, sprecben sehr zugunsten der Annabme einer maniseh- 
depressiven Anlage 1 ). 

Ueber die Erblich keitsverhaltnisse vermag ich leider bei W. nichts 
zu sagen. Ich weiss von seinem Vater nur, dass der ein hervorragender 
Uathematiker war, der kOrperlich durch ungewOhnliche H&sslichkeit auf- 
fiel und zu den beruchtigsten Homosexuellen gehbrte. 

' Wenn wir somit zu dem Schluss kommen, dass auch hier ein in 
den Bereich der manisch-depressiven Anlage gehbriger Fall vorliegt, 
so mussen wir weiter feststellen, was ihn von den beiden bisher be- 
schriebenen Typen unterscbeidet. Das ist meiner Ansicbt nacb die 
Denkstbrung mit ihren Begleiterscheinungen. Die Art, wie W. denkt 
und spricht, zeigt viele Uebereinstimmungen mit dem, was wir uber die 
Tor- und Anfangsstadien der Ideenflucht weiter oben erfahren haben. 
Es sei nur an die Uebertreibungen, die Verwendung bestimmter Kraft- 
ausdrucke, die gelegentlichen Klangassoziationen, die charakteristische 
Verarbeitung Susserer Eindrucke erinnert. 

Diese Art zu denken und zu sprecben gibt der Personlichkeit ihr 
eigenartiges GeprSge. Sie springt mehr in die Augen, als die zweifellos 
daneben vorhandenen affektiven und psychomotorischen Storungen. 

Querulanten. 

X. Y., Geistlicber, 32 Jahre alt. Vater reizbarer Sonderling, mit Nei- 
gung zu Depressionen. Sehr fromm, sehr ehrgeizig und empfindlicb. Hat 
leicbt zyklothyme Schwankungen. (Letzteres Angabe seines Sohnes.) In der 
Familie viel Zwistigkeiten. 

Ueber zwei Briider des X. wird in dem Abscbnitt paranoide Falle zu 
bericbten sein. 

X. selbst ist in Internaten erzogen. Er zeigte Dnrohschnittsbegabung, 
kam aber fruhzeitig wegen seiner Reizbarkeit und Empfindlicbkeit mit seiner 
Umgebang in Konflikt. Hetzte gegen Mitarbeiter und Vorgesetzte. Wurde 

1) Naohtrag: Gegenwartig (Februar 1919) ist er leioht depressiv! 

Arehlr f. PsyohUtrie. Bd. 60. Heft 2/Z. 52 


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Dr. A. H. Hiibner, 


Ordensgeistlicher. Fuhlte sioh im Xloster von seinen Vorgesetzten zuruck~ 
gesetzt, intriguierte gegen seine Mitbruder und hetzte gegen die Oberen. 
Gleicbzeitig begann er fur sich selbst allerlei Yergunstigungen zu fordern. 
Wenn dieselben ihm nicht gewahrt warden, tat er, was ihm beliebte, odor 
kampfte mit grosster Energie so lange, bis er das Gewiinschte erreichte. 
Queruliert jetzt gegen fast alles, was seine Vorgesetzten bestimmen. 

Yor 5 Jahren Klagen iiber nervose Storungen (Sohlaflosigkeit, innere 
Unruhe, Gefiihl der Leistungsunfahigkeit, Reizbarkeit.) Deshalb in ein Sana¬ 
torium geschickt, fiel er dorch Ruhelosigkeit, unstetes Wesen, Neigung alles 
zu beobaobten und die anderen Kranken durch Ratschlage und Tadel zu be- 
lastigen, durcb Uebertretungen der Hausordnung, Differenzen mit dem behan- 
delnden Arzt, naoh einer Mitteilung aucb duroh erotisches Gebaren auf. 

Zur Rede gestellt, bestritt er stets Inkorrektheiten begangen zu haben. 
Da er in dem Sanatorium storend wirkte, erfolgte seine Entlassung. Er wurde 
nun in mebreren Klostern untergebracht, immer mit dem gleichen Erfolge. Er 
hetzte alle Insassen gegeneinander auf, bracbte infolge seiner Ruhelosigkeit 
den ganzen Betrieb in Unordnung, war einsichtslos, wenn ibm vorgehalten 
wurde, dass sein Verhalten storend wirkte, und bezichtigte andere der Inkorre#- 
beit. Ueber die Interna der Kloster, in denen er untergebraobt war, teilte er 
Fremden Wahres und Erfundenes mit, fiel auoh sonst in der Oeffentliohkeit 
auf und kam zu Beginn des Krieges sogar in den Yerdacht der Spionage. 
Deshalb erfolgte Anstaltsinternierung. 

In der Anstalt erregt, benutzt mebrere gewahrte Ausgange dazu, urn in 
der Stadt unter falsohen Angaben Einkaufe zu machen, die er nicht bezahlen 
kann, fiigt sich nicht in die Hausordnung, schlaft sehr wenig. Verlangt unter 
Drohungen seine Entlassung, behauptet, seine Oberen hatten ihn auf Grand 
falscher Angaben verschiedenerPersonliohkeiten durch die Internierung fur ewig 
unsohadlich machen wollen. Stellt Skandalprozesse in Aussicht. 

Naoh einigen Wochen ruhiger. Wird entlassen. Geht sofort in eine 
andere psych. Anstalt, urn sich auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen. 

Dann beginnt er mit grosster Betriebsamkeit der ganzen Angelegenheit 
nochmals nachzugehen, holt uberall eidesstattliche Yersicherungen, arztliche 
Atteste usw. ein, geht gegen die Aerzte vor, welche das Internierungsattest 
ausgestellt haben, sammelt das ganze Material, lasst es einbinden und mehrere 
Ezemplare davon herstellen, mit denen er bei den verschiedensten weltlichen 
und kirchlichen Behorden umherzieht. Er reicht auch Klagen bei arztlichen 
Ehrengerichten und seinen kirchLichen Behorden ein, sucht Abgeordnete far 
seine Sache zu interessieren, reist viel herum und beschwort immer neue 
Konflikte mit seiner vorgesetzten Behorde herauf. 

Bemerkenswert ist dabei, dass seinYerhalten periodisoh weohselt. 
Ohne aussere Yeranlassung — also nicht etwa durch Komplik&tionen bedingt, 
die in seiner Saohe neu eingetreten waren — setzt plotzlich eine grosse Be¬ 
triebsamkeit ein, wahrend deren er viel redet, schreibt, queruliert, mit seinen 
Vorgesetzten anbindet, unter falschen Angaben neue Freunde fur seine Saohe 
zu gewinnen sucht, ausgesproohenen Rededrang mit Neigung zum Abspringen 


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Ueber die manisoh-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 811 

aafweist, wenig schlaft and dber Nervositat klagt, die er aaf seine Kampfe 
zuruckfuhrt. In diesen Zeiten erfahrt auoh sein sonst scbon recht ausgepragtes 
Selbstgefdhl eine deatlicbe Steigerang. Die Stimmang ist gereizt. Er ist fort- 
wahrend in Bewegang, zeigt sicb anbelehrbar, so dass in standenlangen Aus- 
einandersetzangen nicbts weiter erreicht wird, als dass er vordbergebend 
xagibt, er babe in dieser Oder jener Frage nnrichtig gehandelt. Trotzdem tat 
er schon am naobsten Tage wieder das, was er selbst am Tage vorher als on- 
richtig bezeichnet bat. 

Diesen Zeiten der Erregang — in der letzten mir bekannten bat er seine 
Dokomente sogar dracken lassen — steben andere gegendber, in denen er 
wesentlich rnbiger and einsicbtiger ist, allerdings aach da seine Angelegenheit 
weiter betreibt. Verf. bat ibn in diesen Pbasen doch mehrere Male so weit 
gebracht, dass er ernstlich erwog, ob es nicbt zweokmassiger ware, wenn er 
seine Prozesse abbrache. 

Weder fur den Eintritt der erregten Phasen, nocb far die Rdokkebr der 
rabigeren lassen sich exogene Ursacben linden. Er selbst bann die plotzlich 
einsetzende Betriebsamkeit aach nicht motivieren. Aasgesprocbene Ideenflucht 
besteht bei X. nicht, wohl aber Andeutungen davon. Er sprioht riel and 
rasch, stellt alles im Sinne seiner Ansohaaungen dar, sucht sicb aas den 
Anschauungen anderer in den Zeiten der Erregang in erster Linie das beraus, 
was seiner queralatorischen Gereiztheit am moisten entspricbt. Eine gewisse 
Ablenkbarkeit tritt aach bervor. 

Korperlich bietet er ansser einer auffallend boben Stimme nichts Bc- 
sonderes. 

Der Mann, den icb soeben geschildert babe, ist ein Querulant. 
Warum aber gehdrt er nan anter den Begriff der manisch-depressiven 
Anlage? 

Dass direkte Belastung im Sinne des zirkularen Irreseins vorliegt, 
ist in der Krankheitsgeschichte bereits gesagt. 

Ein zweiter Grand liegt darin, dass er periodisch, ohne exogene 
Drsachen auftretende Erregungszust&nde bekommt, die den Cbarakter 
einer leichteren Manie tragen. Die wesentlichsten Symptoms aber, 
welche er zu diesen Zeiten bietet, linden sich auch — in abgeschw&chter 
Form — dann, wenn er rahiger ist. Es handelt sich um Reizbarkeit, 
Misstraaen, Empfindlichkeit, eine gewisse Unstetheit, Selbstubersch&tzung, 
Weitschweifigkeit im Reden, Neigung viel za reden, Unf&higkeit sich 
dem Elosterleben einzuordnen, Sprunghaftigkeit im Denken, Sfteren 
Wecbsel der Zaknnftspl&ne. Er fangt, das sei noch hinzugefugt, 
von Zeit za Zeit auch wissenscbaffliche Studien an, bringt aber seine 
Ansbildang nie zam Abschluss and ist noch weniger in der Lage, selbst- 
st&ndig zu arbeiten. 

Aach hier haben wir also einen im Sinne des manisch-depressiven 
Irreseins Belasteten vor uns, der von Jugend aaf gewisse Symptome der 

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812 


Dr. A. H. Hiibner, 


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Manie als Charaktereigenschaften zeigt. Diese Charaktereigenschaften 
steigern sich von Zeit zu Zeit zu richtigen maniscben Phasen, in denen 
der Patient als geisteskrank im engeren Sinne zu bezeichnen ist. Nach 
Abklingen derselben ist er ein „unangenehmer, anspruchsvoller Unter- 
gebener.“ „Besserwissei', u „unrubigerGeist,“„sich uberhebender, disziplin- 
loser Psychopath,“ der im ubrigen aber eine ganze Reibe von Attesten 
von Aerzten nnd Laien bat, die seine „geistige Gesundbeit, ja sogar 
seine ungewobnlicbe GeistesschErfe u bezeugen. 

Depressionen babe icb bei ihm nicht nacbweisen konnen, wohl 
aber bei seinem Bruder. 

Dasjenige, was den X. besonders kcnnzeichnet, ist sein Misstrauen 
and seine Empfindlicbkeit, die sich mit boher Selbsteinschfitzung der 
eigenen PersSnlichkeit verbinden. Diese Eigenscbaften charakterisieren 
auch seinen Vater und bei zweien seiner Bruder spielen gerade die 
gleichen Symptome eine wichtige Rolle. 

Man sieht also, dass die beredit&ren Beziebungen zwischen 
dem Vater und dem Sohne sich nicht auf die Vererbung der 
manisch-depressiven Krankheitsdisposition im allgemeinen 
beschranken, sondern dass wesentlichste Eigenscbaften der 
Gesamtpersbnlicbkeit sich bei alien von mir persOnlich 
untersuchten Gliedern der Familie finden. 

Diese Eigenschaften beeinflussen ubrigens das Zusammenleben der 
Beteiligten in hobem Masse. Auf die Dauer vertrigt sich keiner mit 
dem anderen. Einmal nimmt der Vater uneingeschr£nkt Partei fur 
seinen Sobn, bezahlt Recbtsanw&lte und Reisen zur Durchfechtung der 
verschiedenen Streitigkeiten, wendet sich selbst an die hbchsten Instanzen, 
um seinen Sohn in seinen K&mpfen zu unterstutzen. Zu anderen Zeiten 
redressiert er alle getroffenen Massnahmen, heisst die Entscheidungen 
der Behbrden gut, erklUrt den Sohn selbst fur geisteskrank, verweigert 
ihm jede finanzielle Unterstutzung und wirft ibn aus dem Hause heraus. 
So schwanken die Beziehungen beider zwischen innigstem Einvernebmen 
uud bitterster Feindschaft, ohne dass fur diesen Wechsel sachliche 
Grunde zu finden siud. 

Das Gleiche trifft fur die Bruder untereinander zn. 

Das, was alle diese Personlichkeiten sowohl vom Gesunden, wie 
vom Paranoiker unterscheidet, ist der Mangel an Konsequenz im Denken 
und Handeln. Die Labilit&t des Urteils und Handelns ist bei ihnen 
nicht — wie etwa beim Hysteriker — durch Aenderungen der Lage 
oder sonstige exogene Faktoren bedingt, sondern sie ist lediglich der 
Ausdruck endogener Schwankungen, wie wir sie bei dem manisch- 
depressiven Irresein kennen. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 813 


Die ethisch Depravierten. 

Es gibt Psychopathen, bei denen als hervorragendstes Symptom die 
ethische Depravation bezeichnet wird. Frei von alien Gefublsregungen 
ton und lassen sie nur das, was ihnen gefallt. lbre Einordnung in 
ein bestimmtes Milieu begegnet grosseu Schwierigkeiten. Viele von 
ibnen werden kriminell. Trotz guter Begabung konnen sie im Leben 
nirgends dauernd Fuss fassen. 

Die moisten von diesen fruher als Moral insanity bezeicbneten 
Fallen gehOren nicht in das Gebiet der manisch-depressiven Anlage. 
Dass aber einzelne von ihnen vielleicht doch hierher zu rechnen sind, 
an diese MSglichkeit lassen die folgenden Falle denken: 

Beide Eltern von jeher bypochondrisch und total versohroben. Mutter 
in den letzten Jahren senil-dement. (Durch Ermittelungen festgestellt.) 

Aelteste Tochter, jetzt 42 J. alt, Lebrerin (in diesem Jahr unter- 
sucbt). Musste wegen einer Melanoholie pensioniert werden. Die letztere 
war gekennzeichnet durch Depression, objektive und subjektive Hemmung, 
subjektives Insuffizienzgefuhl, innere Leere, Skrupeln, zeitweilige Selbstvor- 
wurfe, Schlafstdrungen, verminderte Nahrungsaufnahme, innere Unruhe und 
Prakordialangst, Neigung zum Weinen. Auoh Suizidgedanken baben voriiber- 
gehend bestanden. Dauer etwa 5? Jahre. Die Melancholic babe ich selbst 
festgestellt. Ueber das sonstige Vorleben der Krankon weiss ich nichts 
Naheres. 

Zweite Tochter, 38 J. alt, Privatsekretarin, jetzt verheiratet. (Seit 
7 Jahren von mir verfolgt.) 

Intelligentes Kind. Sehr gut gelernt. Yon jeher liigenhaft. Stahl schon 
als kleines Madcben. Gegen Belehrungen, Ermahnungen und Schlage refraktar. 
Immer, selbst in grosster Bedrangnis, heiter. 

Nach der Sohulzeit Handelsschule. Franzosisch und Englisch, Schreib- 
maschine, Stenographic. Zur Yervollkommnung in Sprachen nahm sie Stel- 
lung in der Schweiz an. Dort Gonorrhoe und Lues. Abort. Adnexoperation. 

Nach Ausheilung Ruckkehr nach Deutschland. Nimmt Stellung bei einer 
grossen Fima als Privatsekretarin des Chefs, mit dem sie sofort einVerhaltnis 
beginnt. Yon ihm weiss sie fortwahrend Geld herauszuholen, das sie fur 
allerlei Nichtigkeiten ausgibt. Ijlelugt und betrugt den Chef ohne Reue. 1st 
immer heiter. Einmal geht sie, urn einen langeren Urlaub zu erhalten, zum 
Kassenarzt, lugt demselben ein Heer von Symptomen vor und erhalt auf 
Grund eines Attestes die Erlaubnis zu einer Erholungsreise. Unterwegs geht 
ihr das Geld aus. Infolgedessen lasst sie sich in ein Krankenhaus aufnehmen, 
erbittet unter Beifugung eines neuen arztlichen Attestes eine grossere Summe 
Geld von ihrem Liebhaber, verlasst nach Eintreffen des Geldes sofort das 
Krankenhaus, um mit einem Anderen zusammen zu leben. Lasst sich noch 
mehrmals Geld nachschicken, bis der ganze Schwindel herauskommt. Kehrt 


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Dr. A. H. Hdbner, 


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in ihre Stellung zuriick, als wenn nichts geschehen ware. Gesteht die Be- 
triigereien lachend ein, bringt ihren Liebhaber dazu, dass er sie waiter behalt. 

Um nicht durch Schwangerungen in nnangenehme Lage zu kommen, 
heiratet sie einen wenig bemittelten, aber ordentlichen Uann. Bleibt gleich- 
zeitig bei ihrem bisherigen Liebhaber in Stellung and setzt das Verhaltnis mit 
ihm fort. 

Spricht mit Behagen davdfc, wie vorzuglich sie alias inszeniert habe. 
Daneben auch noch andere Seitenspriinge „naoh BedarP*. 

So geht alles einige Jahre. Zu Beginn des Krieges wird der Uann ein- 
gezogen. Sie selbst bleibt bei ihrem Liebhaber, halt sich aber auch noch 
andere daneben, und zwar mit Vorliebe reiche, die ihren Tribut entriehten 
mvissen. 

1916 verlasst sie plotzlioh ohne Grund ihre Stellung, kommt nach Bonn. 
Hier traurig, menschensoheu. Motiviert den Angehorigen gegenuber ihr Ver- 
halten nioht. Sitzt untatig zu Hause herum. Kommt sohliesslich zum Verf. 
Der solle ihr helfen. Sie sei ein schlechter Mensch, verdiene nicht zu. leben. 
Habe alle Menschen betrogen. Ihre Schlechtigkeit stinke gen Himmel. Sie sei 
eine Bestie, wolle sioh das Leben nehmen usw. Dabei schwer deprimiert, 
grosse innere Unruhe, fast vollige Schlaflosigkeit, sehf geringe Nahrungsauf- 
nahme. Unfahigkeit, sich zu beschaftigen. Denken und Handeln verlangsamt. 
Entsohlusslosigkeit. 

Naoh etwa 4 Monaten — ohne Anstaltsaufnahme — allmahliche Basse- 
rung, so dass sie zwei Monate spater wieder berufsfahig ist. Fangt dann hier 
wieder Verhaltnisse an, macht sich aber zeitweise Vorwiirfe, dass sie ihren 
Mann betruge. Grubelt jetzt mehr uber sich nach, warum sie so sei usw.; hat 
das Bedfirfnis, sich von Zeit zu Zeit beim Arzt auszusprechen. Mitte 1917 
Riickkehr in die alte Stellung zu ihrem fruheren Verhaltnis. Gleicbzeitig ver- 
sucht sie auch die Versetzung ihres Mannes, der nur garnisondienstfahig war, 
an den Ort ihrer Tatigkeit zu betreiben. Dies gelingt ihr. Daraufhin lebt sie 
in der alien Weise weiter. 

Dritte Tochter 1 ), starb, 32 Jahre alt, 1918 an Grippe. Telephonistin 
und Telegraphistin. Klug, sehr belesen, gute Umgangsformen, dabei aber 
genau so raffiniert, wie ihre zweite Schwester. Erzahlt sans g§ne bei der 
ersten Konsultation die grossten Intimitaten aus ihrem Vorleben. 

Hat ungefahr nach den gleichen Grundsatzen gelebt, wie die andere 
Schwester. Heiratete z. B. einen ihr gleichgiiltigen Mann, weil er Geld hatte. 
Als er das verlor, verliess sie ihn sofort und liess sich scheiden. In einer 
Stelle hatte sie eine unbequeme Nebenbuhlerin. Ihrer entledigte sie sich da- 
durch, dass sie ein Verhaltnis mit dem zustandigen Vorgesetzten anfing und 
diesen veranlasste, jene Dame zu entlassen. Nachdem sie ihr Ziel erreicht 
hatte, brach sie das Verhaltnis sofort ab. 

Von alien diesen Dingen erzahlt sie in heiterer Weise, persifliert sioh 
selbst, sucht nichts zubesohonigen. Keineldeenflucht. SelbstbewusstesAuftreten. 


1) Kurz vor dem Tode einige Male gesprochen. 


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' Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Aasl&ufer. 815 

Aasgesprochene Depressionen oder Manieren waren nicht nachzaweisen. 
Zeitweise ist sie skrupulos. Macht sich dann Gedanken dariiber, dass sie so 
gehandelt hat. 

Nebenher hypocbondrisch. Hegt bei jedem Symptom, das sie an sich 
beobachtet, gleich die sohlimmsten Beffirchtungen. 

Eeine hysterisohen Stigmata. 

Vierte Tochter, Lehrerin. Jetzt 26 Jahre alt. (Seit 1Jahren in 
Beobachtang.) 

Sohalleistnngen gut. Sehr verlogen. Stiehlt als Kind. Ueber die Seminar- 
zeit ist niohts Nachteiliges bekannt geworden. Als Lehrerin gate Erfolge, aber 
Tiel Differenzen mit Amtsgenossen. Kommt vertretangsweise an eine Knaben- 
schule. Dort Verhaltnis mit einem 15jahrigen Schuler and einem jangen 
Geistlichen. Nachdem die Sacbe heraasgekommen war, Entlassang. Davon 
vfillig unberfihrt. Lasst sich jetzt von Herren aushalten. Uacht auch fitters 
grfissere Sohulden, derentwegen sie bereits frachtlos gepfandet worden ist. 
Gibt daneben Privatstunden. 

Immer gleich gater Stimmang. Erzahlt Ton ihren friiheren Erlebnissen 
ohne Sohea and mit sichtlichem Vergnugen. 

Berichtet, dass sie 3mal fur etwa 2—3 Monate „nervfis“ gewesen sei. 
Sie habe Kopfschmerzen gehabt, nicht geschlafen, keine Freude am Leben ge- 
habt. Zur Arbeit habe sie sich nicht zwingen kfinnen, sondern habe wahrend 
der ganzen Zeit zuhause herumgesessen. Sie sei damals direkt menschensohea 
gewesen and habe sich innerlich ansicher gefdhlt. Keine Selbstvorwiirfe. Kein 
Kleinheitswabn. Prakordialangst. 

Wahrend der letztbeschriebenen Zustande hat Ref. sie nicht gesehen. 
Bei einer kfirperlichen Untersuchung vor etwa 6 Monaten keine hysterischen 
Symptome. 

Das, was die drei jiingeren Tfichter der Familie St. auszeichnet 
(fiber die alteste weiss ich nicht mehr als oben angegeben), ist ihre 
ethische Depravation. 

Bei guter intelligenz besitzen sie ein stark ausgeprfigtes Selbst- 
bewnsstsein. Ethische Geffible und Moralbegriffe fehlen ihnen ganz 
and so spielen sie mit ihrem eigenen Schicksa), ebenso wie mit dem 
Anderer, ohne an die Folgen zu denken. Sind sie durch ihr Handeln 
in Schwierigkeiten geraten, so beeinflusst auch das ihr psychisches Be- 
finden nicht wesentlich. Sie empfinden keine Reue and werden durch 
Misserfolge nicht belehrt. Ihre heitere Grandstimmung erleidet dadurch 
keine Aenderung. 

Wenn man alles das zasammenfasst, so glaubt man klassische Ffille 
von Moral insanity vor sich zn haben. 

Nan kommen aber zu diesen Symptomen sichere melancholische. 
Bei der filtesten Schwester habe ich selbst eine Melancholie festgestellt. 
Auch bei der zweiten trat plfitzlich eine mehrmonatige Melancholie 


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816 


Dr. A. H. Hiibner, 


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auf. Die dritte war zeitweise skrupulOs and machte sich dann Ge- 
danken, dass sie ein solches Abenteuerleben fuhrte. Dnd bei der vierten 
sind kurz dauernde Zustande beobachtet wordeo, die den mildereo 
Formen der Melancholic gleichen, soweit man das aus den Beschreibun- 
gen schliessen kann. 

' Depressive Symptome haben also alle vier zu irgend einer Zeit 
ihres Lebens geboten and dieser Umstand lfisst an ihre ZugehOrigkeit 
zur manisch-depressiven Anlage denken. Hinzu kommt, dass hysterische 
Stigmata bei keiner von den vier Schwestern nachzaweisen waren. 

Andererseits muss man zugeben, dass der Komplex von Symptomen, 
der bei den drei genauer Studierten die „Anlage" ansmacht, an mani- 
schen Zugen nur die heitere Lebensauffassung, ein deutlich ausgeprftgtes 
Selbstbewusstsein, die sexuelle BetStigung, and die Beeintr&chtigang 
der ethischen Gefuhle enthielt. DenkstOrungen im Sinne der Ideenflucht 
waren, soweit ich das feststellen konnte, nicht vorhanden. 

Ich mOchte die Zngehdrigkeit der Familie St. zur manisch-depressi¬ 
ven Anlage deshalb auch nur mit Vorbehalt behaupten. 

Kurz hingewiesen sei im ubrigen wieder auf die Gleichartigkeit der 
Charakterstruktur bei den drei jungeren Schwestern. — 

Wir haben damit die wichtigsten manischen Anlagen, welche 
mir begegnet sind, besprochen. 

Gin fluchtiger Ruckblick lehrt uns, dass es tatskchlich ganz reine 
Falle gibt, die nie depressiv werden. Gewissen endogen bedingten 
Schwankungen sind aber auch die unterworfen. Nur die geringe Starke 
des Ausschlags nach der entgegengesetzten Seite unterscheidet sie von 
den mit depressiven Symptomen vermiscbten Fallen. 

Die Aufstellung eines Begriffes, wie des der manischen Anlage, 
birgt die Gefahr in sich, dass er missbraucht wird, wenn eine scbarfe 
Abgrenzung nicht mOglich ist (vgl. Bumke). Darum mdchte ich aus- 
drucklich nochmals betonen, dass nicht allein der Besitz eines heiteren 
Temperaments und einige aus der euphorischen Stimmung resultierende 
Handlungen genugen, die ZugehOrigkeit zur manischen Anlage zu be- 
grunden, sondern dass dazu erforderlich sind Komplexe psychischer 
Eigenschaften, die verstarkt eine Manie ausmachen. 

Sehr wichtig ist dabei die Erfahrnng, welche wir im Verlaufe 
unserer bisherigen Betrachtungen fast durchgangig gemacht haben, dasB 
schon bei der manischen Anlage Andeutungen jener StOrungen des 
Denkens sich finden, die wichtige Bestandteile des ausgeprSgten mani¬ 
schen Zustandsbildes darstellen, namlich der Ablenkbarkeit, der Nei- 
gung zu Witzen, des Auftretens von „ Ein fallen" und des sprunghaften 
Denkens. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 817 

Anch der Nachweis wiederholt aufgetretener endogener Schwan- 
kungen des psychischen Zustandes ist geeignet, die Diagnose zu stutzen. — 

Ein Wort schliesslich noch fiber die Bedeatung der manischen An¬ 
lage ffir die Produktivit&t auf wissenschaftlichem and kfinst- 
lerischem Gebiete. 

Ich habe gerade auch fiber diesen Punkt mit denjenigen meiner 
Falle, die daffir geeignet waren, gesprochen. Sie gaben fibereinstimmend 
an, dass die wiohtigste Hilfe bei wissenschaftlichen und kfinstlerischen 
Leistungen die „Einfalle u seien. Sie bringen die wirklich neuen Gedanken. 

Nach ihnen kommt der Gedankenreichtum, von dem Dr. A. sprach. 
Sein Einsetzen bewirkt, dass Probleme, auf deren Ldsung der Betreffende 
viel Mfihe und Zeit verwandt hat, ibm mit einem Male gekl&rt erscheinen, 
ohne dass er Schritt ffir Schritt vorwfirts zu denken braucht. 

Das Hindernis der Ablenkbarkeit wird dadurch fiberwunden, dass 
bei den hier gemeinten PersOnlichkeiten eine gewisse Neigung besteht, 
gelegentlich — wenn auch nach langer Zeit (z. B. in der n&chsten 
hyperthymen Phase) — auf ungeldste Fragen zurfickzukommen. So 
wird manches zwar langsamer vollendet, als von anderen Menschen, 
aber es reift doch. 

Dass die manische Anlage die Gefahr ungleichwertiger Produktionen 
in sich birgt, ist in Anbetracht der Denkstorungen leicht erklfirlich. 
Auch die Wahrscheinlichkeit, dass Denkfehler sich einschleichen, ist 
bei unseren Persdnlichkeiten grosser, als bei anderen geistig produ- 
zierenden Menschen. Trotzdem kdnnen auch schwierige mathematische 
Probleme geldst werden. 

Es war mir besonders interessant, zuffillig feststellen zu kdnnen, 
dass zwei von den bedeutenderen Mathematikern des verflossenen Jahr- 
hunderts eine manisch-depressive Anlage gehabt haben mfissen. — 

Auf eine ffir die praktische Behandlung dieser Falle wichtige 
Tatsache mochte ich noch eingehen. 

Es ist oben auf die Verschlimmerungen, welche die Anlage zeit- 
weise erf&hrt, hingewiesen worden. Wfthrend derselben kann u. U. 
Anstaltspflege ndtig sein. Da die Zust&nde vom Laien schwer als geistige 
Stdrangen erkannt werden, wird leicht einmal der Vorwurf unberechtigter 
Internierung gegen Anstalten und Aerzten erhoben. Eomplizierend 
kommt hinzu, dass die Verstimmungen von nur kurzer Dauer zu sein 
brauchen, so dass dann, wenn die Angelegenheit in der Oeffentlichkeit 
besprochen wird, der Pat. Ifingst wieder in seinen alten Zustand zurfick- 
gekebrt ist. 

Die nacbuntersuchenden Psychiater kdnnen dann nur eine „Psycho- 
pathie“ feststellen. 


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Dr. A. H. Hubner, 


Nach meinen Erfahrungen liegt in solchen Fallen nicbt selten eine 
manische Anlage vor, die sich vorubergehend zu einer richtigen Uanie 
ausgewachsen batte. 

Wie haufig im ubrigen diese Zustande verkannt werden, bewtfist 
am beaten der Umstand, dass die in Betracht kommenden Kranken fast 
regelmissig mebrere arztliche Attests vorlegen kOnnen, in denen ihnen 
geistige Gesundheit, oder sogar besondere Scharfe des Denkens nnd 
abnliches bescheinigt wird. Ich kann weiter kinzufugen, dass einer 
meiner F&lle in einer Versammlung von Fachgenossen einen Vortrag 
gehalten hat, bei dem er sich sehr auffallig benahm, ohne dass die 
Diagnose Hypomanie von den Herren, mit denen ich nachher sprach, 
gestelit worden ware. 

b) Die depressive Anlage. 

Unter dem Namen der konstitutionellen Verstimmung bat Kraepelin 
eine CharakterveranlaguDg beschrieben, die gekennzeichnet ist dorch 
eine andanernd trube Gefuhlsbetonung aller Lebenserfabrungen. Daneben 
verspuren die Kranken oft „ inn ere Hindernisse" bei Bewaltigung geistiger 
Leistungen. Sie zeigen Neigung zu hypocbondrischen Grubeleien, sind 
besonders empfanglicb fur die Sorgen, Muhsale und Enttauschungen 
des Lebens und werden oft von einem Schuldgefuhl gepeinigt, als hatten 
sie sich etwas vorzuwerfen. 

Ihr Gefuhlsleben wird von einer weichlichen Empfindlichkeit be- 
herrscht. Sie besitzen oft ausgepragte kunstlerische und scbSngeistige 
Neigungen und Fahigkeiten. 

Haufig sind sie angstlich, menschensckeu, unselbstandig, unsiclier 
im Auftreten, umstandlich im Handeln, wenig verantwortungsfreudig 
und schwer von Entschluss. Auch Selbstmordneigung wird beobachtet 

Dazu kommen die verschiedensten nervOsen Beschwerden wie Herz- 
beklemmungen, Kopfscbmerzen, SchlafstQrungen, Magenerscheinungen, 
Darmbeschwerden u. a. m. 

Diese Konstitution sieht Kraepelin als einen Grundzustahd des 
maniscb-depressiven Irreseins an. Er fugt aber gleichzeitig hinzu, dass 
nicht alle Formen depressiver Veranlagung im gleichen Sinne zu deuten 
seien. Namentlicb die Falle mit mehr umgrenzten Angstzustanden und 
Befurchtungen gehdrten nicht hierber, dagegen seien wahrscheinlich 
gewisse weicbe, sanfte, ein wenig zur Schwermut geneigte Naturen hinein- 
zurechnen, die mit guter Verstandesbegabung, gewinnender, anschmiegen- 
der Liebenswurdigkeit und grosser Herzensgute, Aengstlich^eit, peinliche 
Gewissenhaftigkeit und Maugel an Selbstvertrauen verbinden, von jeder 
rauben Beruhrung mit dem Leben zuriickschrecken, sich leicht Sorgen 


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CORNELL UNiVERSIPf 



Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaafer. 819 

machen and wohl zu dalden, ja sich zu opfern, aber nicht zu kampfen 
verstehen. 

- Reiss, der in seinen schdnen Untersnchungen fiber den Zusammen- 
bang von Veranlagung and Psychose von der konstitutionellen Ver- 
stimmung ausgeht, best&tigt zun&chst die Richtigkeit der Bescbreibong 
Kraepelin’s. 

Er erg&nzt sie dahin, dass die Kraepelin’schen Ffille sich durcb 
eine langsam ansteigende, lang hingestreckte, und trfige verlaufende 
Affektkurve (Gaupp) aaszeichueten and enge Beziehungen zu den 
Zwangszust&nden bfiten. 

In einer zweiten Gruppe fasst Reiss dann solcbe Kranke zusammen, 
die sich durch raschen und unvermittelten Ablauf aller affektiven Vor- 
gfinge aoszeichnen. Er meint damit Menschen, die im allgem einen 
depressiv veranlagt sind und anf jede Kleinigkeit mit einem zwar 
karzen, aber intensiven Stimmungsausschlag reagieren. Die Summe 
dieser sich rascb folgenden Einzelausschl&ge tfiuschl eine dauernde 
Yerstimmong vor. 

Bei dieser Gruppe finden sich Zwaugsvorstellungen, Grfibelzwang, 
Selbstqualereien, Yersfindigungsideen und alle die anderen, oben er- 
wahnten Erscheinungen nicht. Der Eranke vermag sich wenigstens vor- 
ubergehend dem Genuss des Augenblicks voll hinzugeben bis die nachste 
betrfibende Erfahrung eine neue Yerstimmung auslost. 

In zwei Punkten nur stimmen die Angehdrigen dieser zweiten Gruppe 
mit denen der ersten fiberein, n&mlich in der fibergrossen Empfindlich- 
keit gegen Erfinkungen und Zurficksetzungen and in der Neigung sich 
mit der eigenen Person zu besch&ftigen. Wfihrend aber bei der ersten 
Gruppe die Gedanken sich vorwiegend um die eigene Unzulanglichkeit 
drehen, sind es bei der anderen kdrperliche Missempfindungen, die dem 
Gesamtbilde einen hypochondrischen Anstricb verleihen. 

Die zweite Gruppe stellt nach Reiss einen zu psychogenen Reak- 
tionen neigenden Typus dar. R. meint nun, dass man diese beiden 
Gruppen zwar theoretisch scheiden mfisse, dass ihre Abgrenzung im 
konkreten Falle aber ausserordentlich schwierig sei. 

An fihnliche Verhftltnisse, wie Reiss, scheint Rybakoff, dessen 
Arbeit mir nur im Referat zugfinglich ist, gedacht zu haben. Er be- 
schreibt eine Zyklophrenie, deren Dnterformen z. T. in die hier bespro- 
chenen Eonstitutionsanomalien, zum anderen Teil in die leichteren Formen 
des manisch-depressiven Irreseins hineingehoren, wie sicb aus seiner Ein- 
teiiung der Zyklophrenie ergibt. Jedenfalls hat auch dieser Autor der 
engen Beziehungen zwischen Individuality und Psychose besonderS 
gedacht. 


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CORNELL UNfVERSSTY 



820 


Dr. A. H. Hiibner, 


Einen dem hier vertreteuen in mancher Beziehung nahestehenden 
Standpunkt nehmen Rodiet und Masselon ein. Sie fuhren aus, dass 
ihrer Ansicht nach jede Melancholie auf prSdisponiertem Boden entstehe. 
Die Individualit&ten, aus denen sich das ausgepr&gte Rrankheitsbild 
entwickele, seien in drei Gruppen zu teilen, die man etwa 1. als Kon- 
stitutionell depressiv, 2. Zyklothymische und 3. Degenerative mit obses- 
siven Zustanden und periodischen Schwankungen bezeichnen k5nne. 

Wenn ich im Folgenden, zun&chst obne auf bestimmte Streitfragen 
einzugehen, einige Typen beschreibe, die mir h&ufiger begegnet sind, 
so kann ich selbstverst&ndlich auf VollstSndigkeit keinen Anspruch 
machen. Die Kranken, deren Geschichte ich hier bringe, sind ausnahms- 
los in die erste Gruppe von Reiss einzureihen, d. h. sie sind Spiel- 
arten dessen, wasKraepelin als konstitutionelle Verstimmung beschreibt. 
Auf die anderen F&lle einzugehen, behalte ich mir fur ein sp&teres 
Kapitel vor. 

Ich betone wieder ausdrucklich, dass die gegebene Einteilung zu¬ 
n&chst nur bezweckt, zu zeigen, wie verschieden sich die Menschen, 
welche mit den gleichen Komplexen psychischer Eigenschaften ausge- 
stattet sind, im Leben prasentieren konnen, sobald einzelne Symptome 
starker hervortreten, als die anderen. Daneben iiegt mir aber auch 
daran, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass doch verh&ltnis- 
m&ssig oft solche dominierenden Symptome die Familieneigentum- 
lichkeit bilden und selbst in den ausgesprochenen manischen oder 
melancholischen Phasen nicht verschwinden, im Gegenteil mitunter in 
diesen schweren Attacken sogar deutlicher hervortreten. 

a) Die einfache depressive Verstimmung. 

Familie B. (Mutter und Tochter 2 1 / 2 Jahre beobachtet. Vater einmal 
untersucht.) 

Mutter stille, durch viel Ungluck in der Familie vorzeitig gealterte Frau, 
die auf Aufregungen und korperliche Anstrengungen mit Kopfsohmerzen, Mudig- 
keitsgefiihl, Scblaflosigkeit und ahnliche Erscheinungen reagiert. Ein Bruder 
der Mutter Epileptiker mit Krampfen, petit mal, Dammerzustanden und aus- 
gesprochenem Schwachsinn. 

Der Vater (geb. 1860) ist in der Jugend ein gutbegabter, stiller, etwas 
empfindsamer Mensch gewesen. Das Lernen fiel ihm nioht leicht. Er war 
grublerisch veranlagt, neigte zu triiber Lebensauffassung. 

Wurde Realschullehrer. In den Jahren derBerufstatigkeit selbstbewusster. 

1906 „allgemeine Nervositat“ and Aengstlichkeit. Pat. wurde reizbar und 
empfindlich, appetit- und schlaflos. Er unternahm alle moglichen Karen, 
ohne Besserang zu finden. Schliesslich stellten sioh religiose Skrupel ein, mit 
denen sich eine melancholische Verstimmung verband. Deshalb am 13. 3. 06 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 821 

in die Prov.-Heilanstalt B. Hier bot der Pat. das Bild einer ausgepragten 
Melancholic, die durch das zeitweilige Auftreten von vielen Halluzinationen 
sich auszeichnete. Bis Ende Oktober 1908 trat Besserung ein, sodass Pat. ver- 
suchsweise entlassen werden konnte. Zu Hanse setzte einige Tage spater eine 
lebhafte Erregung ein, die bewirkte, dass er wieder in einer Anstalt unterge- 
bracht werden mnsste. Seit April 1913 ist er wieder in B. Hier wurde folgen- 
der Verlauf beobachtet: 

April 1913 bis Ende Mai 1914 Depression mit vereinzeiten Sinnestau- 
schungen and Verfolgungsideen. Jani 1914 bis Marz 1915 viel Halluzinationen 
and lllnsionen, kein charakteristischer Affekt. Juli 1915 Erregang mit Beein- 
trachtigungsideen. Oktober 1915 ansgesprochene manischo Erregung mit Rede- 
drang usw. Viel Grossenideen. Der Zustand hielt an bis Anfang 1917. Dann 
wechselndes Verhalten. Mehreren Tagen, an denen er ganz ruhig, klar und 
geordnet ist, folgen andere, an denen er die Personen seiner Umgebung mit 
anderen Namen bezeichnet, sehr erregt ist und sogar mit Kot und Urin sohmiert. 
Mitunter bedient Pat. sich einer besonderen Sprache. Gelegentlich sonderbare 
Haltungen, an den ruhigen Tagen schreibt er inhaltlich gute, zusammenhan- 
gende Briefe, macht auch ganz brauchbare Gedichte. 

Anfang 1918 zunehmende Erregung. Unter dem Einfluss von Sinnes- 
tauscbungen aggressiv, beschimpft und schlagt die Frau. Nimmt die von ihr 
mitgebrachten Geschenke nicht an. Fiihlt sich von ihr und anderen beein- 
trachtigt. Dabei ideenfliichtig. Ruhige Tage selten. 

Tochter. Jetzt 20 Jahre alt. Von Jugend auf still und zuriickhaltend. 
Ging nur im Familienkreise aus sich heraus. Empfindlich gegen Tadel. Bei 
ziemlioh guter Begabung fiel ihr das Lernen schwer. Griiblerisoh. Dachte 
oft iiber Dinge nach, die anderen jungen Madchen fern lagen. Neigung zu 
truber Lebensauffassung. Aeusserte bisweilen allerlei grundlose Befiirohtungen. 

Mitte 1916 fielen zwei Briider im Felde. Angeblich im Anschluss daran 
wurde sie stiller, traurig, gehemmt. Sie sprach weniger, hatte Angst und 
Druokgefuhl auf der Brust, schlief schlecht, ass wenig, nahm an Korpergewicht 
ab. Gelegentlicbe Selbstvorwiirfe, starkes Insuffizienzgefiihl. Hat das Bedtirf- 
nis, sich noch mehr als friiher an die Mutter anzulehnen. Will nicht, dass 
Massnahmen zu ihrer Heilung getroffen werden. Es habe keinen Zweck. Sie 
werde doch nicht wieder gut. Subjektive und objektive Hemmung. Einige 
Male Selbstmordgedanken. 

Nach sechsmonatigem Bestehen der Krankheit auf Rat desVerf.’s mit der 
Mutter aufs Land. Dort allmahliche Besserung. Nach 8 Wochen Riickkehr 
nach B. Auf der Riickfahrt in der Eisenbahn Erregungszustand. Will an einem 
Kreuzungspunkt nicht umsteigen, ruft laut urn Hilfe, die Mutter wolle sie um- 
bringen, wehrt sich gegen die Verbringung in den anderen Zug, so dass die 
Fahrt unterbrochen werden muss. Am nachsten Tage Riickkehr nach Bonn. 
Hier Beeintrachtigungsideen gegen die Mutter, viel Halluzinationen (teilweise 
im Sinne der Verfolgung), heitere, meist auch etwas gereizte Stimmung. Ideen- 
flucht. pOngeniertes Benehmen. tt In der Anstalt (17.1.17), wohin die Pat. zu- 
nachst gebracht wird, Vergiftungsideen (mit Geruchs-, Gehors- und Gesichts- 


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822 


Dr. A. H. Hiibner, 

tauschungen), nimmt zogernd Nahrung. Einige Male ansauber mit Urin. 
Rasches Abklingen der Erregung, auch jetzt noch glaubt sie, dass die Matter 
ihr nicht wobl will. Hort bassliche Dinge, die ibr zagerafen werden. 

1. 3.18 versuchsweise naoh Hause entlassen, die Erregong nimmt sofort 
wieder zu. Pat. glaabt sicb besonders von der abgottiscb geliebten Matter be- 
eintrachtigt. Bedroht, besohimpft and schl&gt dieselbe. Nimmt einmal eine 
Axt and will aaf die Matter losgehen. Als Ref. gerafen wird manisches Zu- 
standsbild mit Uallazinationen. Pat. ist gereizt, sprioht fortwahrend, schimpft, 
maoht dazwischen Witze, ist abspringend, macht Verse. Deatliche motorische 
Unrabe, ungeniertes Benebmen. Hallaziniert offenbar. Als tod der Matter 
gesprocben wird, zanebmende Erregung. Scbreit, raft ibr Schimpfworte za. 
Will aggressiv werden. 

Deshalb erneut in eine Anstalt, wo nacb 3 Monaten Beruhignng eintritt. 

Nach der Riiokkebr in die Familie Erankheitseinsicht. An fangs nooh 
Stimmangsschwankungen. Jetzt wieder still, beschaftigt sicb im Hause, trube 
Lebensauffassung, Hang zur Traurigkeit, leicbte Hemmung. 

Vater und Tochter B. stellen vor dem Auftreten der ersten schweren 
Phase die reinsten Typen konstitutioueller Verstimmung dar, die es 
wohl gibt. Das Wesentlichste und Hervorragendste ist die depressive 
Lebensauffassung und eine stille Traurigkeit. Nebenher in nur geringer 
AusprSgung finden wir eine leichte Erschwerung des Denkens, Neigung 
zum Grubeln, Empfindlichkeit, und gelegentlich werden auch Befurch- 
tungen ge&ussert. 

Insofern sind beide Kranke einfach zu deuten. Wichtig sind nan 
die beiden Pat. fur die Frage des Vererbungsproblems. 

Nicht nur die Anlage ist bei beiden die gleiche, sondern auch der 
Verlauf der geistigen Stoning, und namentlich finden wir bei beiden 
gewisse symptomatologische Besonderheiten, die das klinische Krank- 
heitsbild atypisch macben. 

Bei Vater und Tochter beginnt die Psychose mit einer Melancholie. 
Sebr fruh zeigen sich verhaltnism&ssig viel Halluzinationen. Als dann 
der manisch-depressive Mischzustand einsetzt, spielen die Halluzinationen 
eine noch gr&ssere Rolle. Sie richten sich bei beiden gegen die in 
ruhigen Zeiten heissgeliebte Mutter. 

Wahrend der Erregungen bei beiden Neigung zum Versemacben, 
baufige Angriffe auf die Umgebung, vorubergebende Unsauberkeit mit 
Eot und Urin. 

Dabei im ubrigen das unverkennbare Bild eines manisch-depessiven 
Mischzustandes mit vorwiegend manischen Symptomen. 

Man sieht also bier dasselbe Rrankheitsbild mit den gleichen aty- 
pischen Beimischungen bei Vater und Tochter auftreten. Beim Vater 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 823 

besteht es jetzt schon fiber 10 Jahre mit gewissen Schwankungen. Die 
Tochter ist genesen. 

Die Vererbung erstreckt sich bier also nicht nur auf die Erank- 
heitsform im allgemeinen, sondera sie erstreckt sich sogar 1 ) auf die 
klinischen Besonderheiten and den Verlauf! Denn sie entwickelte sich 
aits einer depressiven Anlage heraus. Dabei muss ich ausdrficklich 
hinzuffigen, dass die Tochter den Vater in den Zeiten der Krankheit 
nur dann ganz selten einmal geseben hat, wenn er ruhig war. Jahre- 
lang fiberhaupt nicht. 

Exogene Faktoren, welche das Auftreten so gleichartiger Erank- 
heitsbilder zu erklfiren verm5chten, babe ich nicht nachweisen kOnnen, 
man wird deshalb nicht umhin kommen, alles, was bei beiden an gleich- 
artigen klinischen Erscheinungen aufgetreten ist, auch als den Ausfluss 
der PersOnlichkeit anzusehen. 

Mit anderen Worten gesagt: Es liegt nahe anzunehmen, dass nicht 
allein die Krankheitsform, sondern auch symptomatologische Besonder¬ 
heiten in der PersOnlichkeit „praformiert“ wareD. 

Diese Feststellung, der wir im Verlaufe unserer Ausffihrungen bereits 
begegnet sind, die uns auch bei sp&teren Beobachtungen noch begegnen 
wird, best&tigt nicht nur manche Erfahrungen von Reiss, sie lehrt 
sogar, dass die Uebereinstimmungen noch weiter gehen kOnnen, als 
dieser Autor meinte. 

Jaspers hat in seiner Psychopathologie unter Hinweis auf die 
mehrfach erw&hnten Studien von Reiss gesagt, man mfisse Antwort auf 
drei Fragen suchen: 1. Gibt es aufzeigbare Krankheitsformen, die sich 
nur gleicbartig vererben? 2. Innerhalb welcher abgrenzbaren Ereise 
findet eine transformierende Yererbung statt in dem Sinne, dass ein 
Erankheitsbild das andere als Aequivalent gleicbsam ersetzen kann? 
3. Oder gibt es etwas Derartiges fiberhaupt nicht? 

Wenn wir die Literatur von Sioli’s erster Arbeit bis heute ver- 
folgen und wenn wir insbesondere solche Erfahrungen, wie sie uns die 
Familien C., B., V., A. und H. bieten, mit bdrficksichtigen, dann muss 
man als feststehend fur das manisch-depressive Irresein ansehen, dass 
es sich gleichartig vererbt. Innerhalb des manisch-depressiven Irre- 
seins ist eine transformierende Yererbung in dem Sinne mOglich, dass, 
statt einer Melancholic, eine Manie oder ein Mischzustand auftritt. 
Das HSufigere scheint aber auch da die Gleichartigkeit der Yererbung 
xu sein. 


1) Das Gleiche hat Reiss anscheinend auch beobachtet (vgl. l.c. S.258). 


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Dr. A. H. Hiibner, 


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Gegen diese Behauptung hat man die gelegentiich gemachte Er- 
fahrung ins Feld geffibrt, dass von manisch-depressiven Eltern Kinder 
abstammen, die schwachsinnig sind oder an Dementia praecox leiden 
und ahnliches. Darauf ist folgendes zu erwidern: 

. 1. In einem Teil dieser F&lle handelt es sich meiner Ueberzeugung 

nach um Fehldiagnosen. Ich werde weiter unten selbst Beobachtungen 
bringen, die zeigen, wie schwer die Differentialdiagnose sein kann. 

2. Man darf die s&mtlieheu in einer Generation vorkommenden 
seelischen Abweichungen nicht ohne weiteres auf die manisch-depressive 
Belastung durch eines der Eltern beziehen, sondern muss den Ursprong 
der vom Typus der gleichartigen Vererbung abweichenden Krankheits- 
form an der Hand des Stammbaums suchen. Man wird dann nicbt 
selten finden, dass die scbeinbare Abweichung von der Regel bis tief 
in eine angebeiratete Familie zurfickzuverfolgen ist, also ursichlich auf 
die manisch-depressive Belastung gar nicht zurfickzuffihren ist, sondern 
neben und unabh&ngig von ihr besteht (vgl. Fainilie N. und Ho.). 

Es ist das grosse Verdienst von Sommer, Strohmeyer, Riidin, 
Berze u. a., auf die Notwendigkeit der Ermittelung von Familienstamm- 
b&umen hingewiesen zu haben. Leider sind solche nur selten in der 
wfinschenswerten Vollst&ndigkeit zu erbalten und man wird sich deshalb 
oft damit begnugen mfissen, alle erreichbaren lebenden Familien- 
mitglieder in ihrem Lebensgang zu verfolgen. Es genfigt im allgemeinen 
nicht, eine oder einige Untersuchungen vorzunehmen. Man darf die 
einzelnen Personen vielmehr nicbt aus den Augen verlieren, wenn kleine 
endogene Schwankungen der Stimmung, das passagere Auftreten von 
Zwangserscheinungen, die unten noch naher zu besprechende Storung 
de6 Denkens und ahnliches nicht unbemerkt bleiben sollen. 

Noch ein Punkt ist bei Besprechung der Familie B. zu erdrtern, 
namlich die Frage, wie weit sowohl die manisch-depressive Aulage, wie 
auch die ausgesprochenen Phasen des manisch-depressiven Irreseins 
durch exogene Momente beeinflussbar sind. 

Diese Frage hat gerade w&hrend des Krieges, wo es sich darum 
handelte, fiber die Berechtigung materieller Entschfidigungsansprucbe zu 
entscheiden, viel Schwierigkeiten bereitet und sie ist sehr verschieden 
beantwortet worden. Im allgemeinen hat jedenfalls die Neigung zuge- 
nommen, den exogenen Faktoren einen allzu grossen Einfluss auf die 
Entstehung und den Verlauf unserer Erkrankung abzusprechen. 

Je linger man sich gerade mit den hier besprochenen Zustanden 
beschfiftigt, desto mehr kommt man zu der Ansicht, dass fiussere Ein- 
flflsse von sehr untergeordneter Bedeutung sind. Man ist — das wird 
jetzt auch allgemein anerkannt — bei der Annahme von urs&chlichen 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 825 

Zusammenhangen friiher docb allzu handwerksmdssig vorgegangen und 
hat sich biaweilen ledigiich mit dem mehr oder minder exakten Nach- 
weis eines zeitlichen Zusammenhanges zwischen dem angeschuldigten 
Erlebnie und der Verschlimmernng des Zustandes begnugt. Wie vor- 
sicbtig man aber dabei sein mass, das kann man sich gerade an unseren 
Fallen klar machen. 

Yon Frl. B. wird behaaptet, dass sich bei ibr im Anschluss an 
den Tod der Briider allm&hlich die depressive Anlage zn einer Depression 
gesteigert babe. 

Klinisch war die Depression, als ich sie feststellte, eine echte 
Melancholic. Der Inhalt der Psychose wurde von dem traurigen Ge- 
schehnis, welches sie ausgeldst haben sollte, nicht im geringsten beein- 
flusst. Die Patientin fuhlte sich in erster Linie krank und dachte an 
sich and ihren Zustand, weniger ait-die Briider. 

Noch unverstandlicher ist der Zusammenhang zwischen der Ruck- 
reise aus der Sommerfrische und dem Dmschlag in die Manie. Das 
zeitliche Zusammentreffen ist nicht zu leugnen. Das Auftreten von 
Sinnestauschungen und Beeintrachtigungsideen nicht zu verstehen. 

Betrachten wir nun den Krankheitsverlauf beim Vater. Da hat sich 
die einleitende Depression-ohne ausseren Anlass ausgebildet. Die Exazer- 
bationen in dem spateren Verlauf steliten sich zwar einige Male im 
Anschluss an einen Ortswechsel ein; noch viel haufiger aber ohne exo¬ 
gene Beeinflossung. 

Man muss bei dem Vater B. geradezu sagen, dass die Reaktion des 
Kranken auf die Anstaltsbntlassung mit einer Verschlimmernng psycho¬ 
logist nicht verstandlich ist. B. kam nach Hause zu seiner Familie, 
die er liebte, nach der er sich in der Anstalt, wie aus seinen Briefen her- 
vorgeht, auch gesehnt batte, und es stellen sich nun Erregungszustande 
und Beeintrachtigangsideen ein, die sich gegen die Ehefrau richten. 

Wie ganz anders, wie viel durchsichtiger und psychologisch ver- 
standlicber ist dagegen die Wirkung exogener Faktoren bei den psycho- 
genen Erkrankungen. Da sehen wir nicht nur den zeitlichen Zusammen¬ 
hang, sondem kdnnen auch feststellen, dass der Eranke sich mit dem 
oder den inkriminierten Erlebnissen wahrend der geistigen Stdrung be- 
schaftigt. 

Es gibt zwischen den reaktiven Psychosen und unseren Fallen noch 
zwei weitere Unterschiede, namlich: 

1. gilt fur die reaktiven Erkrankungen mit gewissen Einschran- 
kungen der Satz: Cessante causa, cessat effectus. Fur die manisch- 
depressive Anlage und das manisch-depressive lrresein trifft dieser Satz 
nicht zu; 

▲rehir f. Psjehi&trie. Bd. 60. Heft 2/3. 53 


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Dr. A. H. Hiibner, 


2. sind bei den psycbogenen StOrungen die 6chwersten Symptome 
im Anfang zu finden, und es erfolgt dann eine bald raschere, bald lang- 
samere Ldsung. Bei den Manisch-depressiven ist das h&ufig umgekehrt, 
jedenfalls l£sst sich die eben gegebene Regel nicht anwenden. 

So ergibt sich denn, dass bei den von uns als manisch-depressive 
Anlage beschriebenen Fallen exogene Faktoren kaum eine Rolle spielen. 
Manche von den angeschuldigten Erlebnissen sind nicht Ursache, sondern 
bereits erste Symptome einer Bxazerbation. So entschuldigte der Fall C. 
sein Benehmen der Mutter gegenuber z. B. einmal damit, sie habe ihn 
durch Verweigerung von Geld gereizt. Deswegen sei er zornig geworden 
und babe ihr in der Oeffentlichkeit Szenen gemacbt. In Wirklichkeit 
lagen aber die Verhaltuisse so, dass er das Geld zu einer Zeit forderte, 
in der er bereits durch Vielgeschaftigkeit, vermehrtes Planeschmieden, 
grfissere Unruhe usw. aufgefallen war. Seine manische Anlage war also 
schon vorher exazerbiert. 

Man wird nun sagen, dass selbst bei Berucksichtigung aller von 
mir aufgezahlter Faktoren nocb Falle ubrig bleiben, in denen nacb 
einem bestimmten Erlebnis die manisch-depressive Anlage deutlicher 
hervortritt, als vorher. 

Diese Tatsache besteht zu recht. Das muss zugegeben werden. 
Es feblt aber auch nicht an Erkl&rungen fur die Erscheinung. lch 
habe an zwei MOglichkeiten gedacht. 

Es kommt erstens vor, dass eine solche Anlage, ohne dass eine 
wirkliche Verschlimmerung eingetreten ist, starker hervortritt, weil die 
ausseren Verhaltnisse ungunstiger geworden sind. Zweitens muss man 
daran denken, dass psycbogene Beimiscbungen das Erankbeitsbild farben. 

Was ich damit meine, kann ich am einfachsten an einem Bei- 
spiel zeigen: 

M. (geb. 1876), Rechtsanwalt. Seit Mitte 1917 beobachtet. 

Grossvater hochgradig nervos. Mutter sebr affekterregbar, h&tte zeitweise 
extreme Gerauschfqroht, so dass sie die Fenster des Schlafzimmers polstern 
liess. Vater Philanthrop, weltabgewandt. 

M. selbst stark depressiv veranlagt. Neigung zu Befurchtungen, Insuffi- 
zienzgefuhl, arbeitete zu jedem Examen bis zur Erschopfung. 

1912 Depression mit schwerem Krankheitsgefuhl, Furcht, geisteskrank zu 
werden, lnsuffizienzgefiihl, subjektiver und objektiver Hemmung, Gefuhl, dass 
das Gedachtnis scbwande,Selbstvorwurfe, Suizidgedanken. Nach einer grosseren 
Ausspannung Besserung. 

1914 wurde Pat. auf der Sommerreise durch die Mobilmachung uber- 
rasoht. Auf der Ruckreise auf einem Bahnhof erregt, weint laut. Die Familie 
mvisse zugrunde gehen und verbungem. Pat. lasst zu Hause allerlei Nahrungs- 
mittel einkaufen, um die Seinen vor dem flunge^tode zu bewahren. Schafft 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaafer. 827 

andererseits die Zeitongen ab, weil er fdi derartige Aasgaben kein Qeld zu 
haben behanptet, was nicht zutrifft. 

Yon da ab wahrend des ganzen Krieges deprimiert, weint bisweilen, 
skrapnlos. Weiss nicbt, ob er dem Berafe noch nachgehen darf, sei doch krank. 
Fdrobtet standig etwas falsoh zu maohen. Glaabt, dass die Kollegen and 
Richter ihm seinen Zastand ansehen. Maoht sich Gedanken fiber eine eventnelle 
Einziehung. Er wfirde die Vorgesetzten nicht richtig grfissen, Befehle ver- 
gessen oder nicht richtig aasffihren and dann eingesperrt werden. Er wird 
schliesslich als Schreiber eingestellt and hat einige Joarnale fiber verliehene 
Auszeichnungen zu ffihren. Obwohl die Tagesarbeit in 3 Stunden zu leisten 
ist, geht er 1—2 Stunden vor Dienstanfang auf die Schreibstabe, schlaft naohts 
nioht, weil er sich fiber seine dienstliohen Pflichten viele Sorgen macht. 
Scblechte Nahrungsaufnahme. Ist froh, dass er seine Tatigkeit als Anwalt 
nicht aaszufiben braacht. Daneben zu Haase Neigang za Affektaasbrfichen 
gegenfiber der Familie bei geringen Anlassen. 

Wabrend der Revolationstage and nach dem Einzag der feindlichen Be- 
satznng Exazerbation. 

Nachdem sich die Verhfiltnisse konsolidiert haben, ruhiger, aber 
die Anlage zur Depression und die Neigung zur Skrupulositfit be- 
steben fort. 

M., der bereits frfiher eine sicher endogene Depression gehabt hat 
und zweifellos auch eine depressive Anlage aofweist, daneben aber (in- 
folge der Belastung von seiten der Mutter?) zu heftigen Affektentladungen 
neigt, findet in den durch den Krieg bedingten Verhfiltnissen eine Quelle 
zu vermehrten Skrupeln. Es ist mehr Grund zu trfiben Gedanken 
vorhanden, und er kann sich vor allem der verfinderten Lage 
nicht anpassen. Deshalb scheint er krfinker, ohne es zu sein. In 
seinen Gedankeng&ngen spielt auch das jeweils Aktuelle eine grosse Rolle. 

Daneben linden wir seine Neigung zu Affektreaktionen gesteigert, 
dieselbe machte sich zu Beginn des Erieges am st&rksten bemerkbar. 

Mit der Besserung der fiusseren Lage findert sich aach sein 
Verhalten. ' 

Hier linden wir also die beiden oben erwfihnten Faktoren neben- 
einander, nfimlich 1. den.Kampf des depresdlv veranlagten, wenig an- 
passungsffihigen Patienten mit einer neuen, unbequemen Situation und 
2. die psychogenen Beimischungen. 

Der eben gefiusserten Ansicht stehen scheinbar zwei Gruppen von 
Fallen entgegen, namlich 1. die Depressionen nach UnfalleD, wie ich 
sie in meinem Buche fiber den SelbstmoFd beschrieben habe. 

Wenn ich filr jene Beobachtungen damals den Begriff der Melan- 
cholie beibehielt, so geschah es, weil die Gutachter, welche die Akten 
hearbeitet hatten, sie als solche bezeichnet hatten. Meiner Ansicht nach 

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Dr. A. H. Hiibner, 


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handelte es sich in Wirklichkeit um reaktive Depressionen. Schon der 
Umstand, dass sich inhaltlich die Psychose ganz mit dem auslbsenden 
Erlebnis beschaftigte, spricht dafur. 

Ich babe dann im vorigen Jahre zwei atypische Schreckpsychosen 
beschrieben, in denen auf einen Affektshock sich Geistesstdrungen von 
sicher reaktivem Charakter entwickelten. Spater stellten sich dann 
Symptome ein, die als manisch bzw. depressiv angesprocben werden 
mussten. 

Beide Eranke habe ich weiter verfolgen kSnnen und es zeigte sich, 
dass bei ihnen eine Neigung zu psychogenen Reaktionen neben der 
manisch-depressiven Anlage bestand. Die 1. c. auf S. 379 beschriebene 
junge Dame hat inzwischen sowohl hysterische Symptomenkomplexe wie 
mehrere kurze melancholische Depressionen gehabt, die ietzteren waren 
sicher endogen (die Belastung dazu ruhrte von der Mutter her), die 
ersteren exogen bedingt (die Belastung stammte aus der vater lichen 
Familie). Beide waren dnabhangig voneinander, so dass ich auch fur die 
anf&ngliche StQrung an ein zuf&lliges Zusammentreffen denken mCchte. 

Wie leicht man sich bezuglich der exogenen AuslOsbarkeit von 
Psychosen tauschen kann, zeigen am besten unsere Eriegserfahrungen. 
Es gab am Anfang des Erieges eine ganze Reihe von Autoren (z. B. Verf.), 
die glaubten, dass die Eriegsereignisse manische und depressive Zustande 
in grosser Zahl ausgeldst hatten. Wie sich spater herausstellte, traf 
das nicht zu. Die auch bei nns in Bonn anfangs beobachtete Haufung 
von zirkularen Erkrankungen war offenbar eine zufailige 1 ) gewesen. 
Schon vom zweiten Eriegsjahre ab gehbrten Manien und Melancholien 
zu den Seltenheiten, obwohl um diese Zeit die Leiden sowohl fur die 
Zivilbevblkerung, wie fur die Heeresangehorigen eigentlich erst begannen. 

Ich muss es mir versagen, auf die 2. Gruppe konstitutioneller Ver- 
stimmungen von Reiss an dieser Stelle, wie es wunschenswert ware, 
einzugehen, und mbchte mir das fur spater %orbehalten. 

Nur darauf mOchte ich nochmals hinweisen, weil es fur das Erb- 
lichkeitsproblem wichtig ist, dass sich, wie ich ja schon zeigen konnte, 
die verschiedene Herkunft der manisch-depressiven Anlage und der 
Neigung zu lebhaften Affektreaktionen in manchen Fallen an der Hand 
des Stammbaumes nachweisen Jasst. 

p) Die Skrupulositat. 

Haben wir uns soeben mit der einfachen depressiven Verstimmung 
und einigen im Anschluss daran zu erdrternden allgem einen Fragen be- 

1) Vgl. auch Bonhoeffer, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1916. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 829 

i 

sch&ftigt, so mussen wir uns jetzt einer anderen Variation, der „Skrupu- 
losit&t u , zuwenden. 

Auch da mOchte ich ein Beispiel voranstellen. 

E. G., Studentin der Philos., 29 J. alt. (2 Jahre beobachtet.) 

Vorfahren des Vaters sehr religios. Etnpfindliche Naturen. Neigung 
zu trhber Lebensauffassung. 

Vater: Maschinenfabrikant, zeigt grosste Neigung zu hypochondrischen 
Gedanken. Beobaohtet sich und die Familie sehr genau, lasst sofort mehrere 
Aerzte kommen, wenn er etwas gefunden zu haben glaubt. 

Neigung zu trauriger Lebensauffassung. Macht sich auch viel Gedanken 
fiber Dinge, die mit der Gesundbeit nichts zu tun haben. Lebt ganz als Ein- 
siedler. Reist nioht, weil er Menschen nicht sehen kann und Gerausche 
furchtet (z. B. das Zuschlagen der Abteilturen auf der Eisenbahn). 

In seinem Fach sehr tiiohtig. Hat selbst mehrere Erfindungen gemacht, 
die ihm viel Geld eingebracht haben. Neben der Konstruktion von Werk- 
zeugmaschinen beschaftigt er sich mit Astronomie, der er seine freie Zeit 
widmet. 

Der Tochter ist aufgefallen, dass in dem Befinden des Vaters Schwan- 
kungen auftreten, fur die sich aussere Anlasse nicht linden lassen. 

Die Mutter, die ich selbst gesprochen habe, ist eine ruhige, klar 
denkende Frau von guten Formen und gesundem Urteil. Auch die Tochter 
halt ihre Mutter fur gesund. 

Frl. G. selbst gibt an, dass sie ebenso wie der Vater bezuglich ihrer 
Gesundheit von Jugend -auf sehr' angstlich gewesen sei. Sie habe von jeher 
bei allem gleich immer an das Schlimmste gedacht. 

Schon in den ersten Schuljahren trat bei ihr die Neigung zu depressiver 
Lebensauffassung und Grubeleien hervor. Sie pflegte deshalb von ihrem 
10. Lebensjahre ab der Mutter abends vor dem Schlafengehen mindestens eine 
Yiertelstunde lang alles zu erzahlen, was sie im Laufe des Tages Unrechtes 
gedacht und getan hatte. Sie machte sich fiber das Geschehene Vorwiirfe und 
Skrupeln, aber nicht allein iiber Dinge, die sie wirklich ausgefuhrt hatte, son- 
dera auch iiber solche, von denen sie nicht genau wusste, dass sie sie getan 
hatte. So bestand z. B. in der Schule die Bestimmung, dass die Schulerinnen 
vor Eintritt der Lehrerin nicht sprechen durften. Abends wusste die Pat. oft 
nicht, ob sie das Gebot iibertreten hatte. Trotzdem konnte sie von dem Ge¬ 
danken nicht loskommen, dass sie sich vergangen hatte. 

Sie lernte in der Schule leicht und kam gut mit, doch fagte die Pat. 
ungefragt hinzu, dass ihre Leistungsfahigkeit „periodisch ausserordentlich 
schwankte u . Zum Abiturientenexamen bereitete sie sich privatim vor, musste 
mehrere Male fur einige Wochen ihre Arbeit unterbreohen, weil sie sich „nervos u 
fuhlte, und bestand das Examen trotzdem naoh 2 Jahren. 

Kdrperlioh fuhlt sie sich von Jugend auf sehr wenig leistungsfahig, ob- 
wohl ihr bisher alle Aerzte gesagt haben, sie sei organiscb gesund. — Solange 
ich selbst die Pat. kenne, bot sie folgendes: x 


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Dr. A. H. Hfibner, 


Sie erschien in nicht ganz gleichen Abstanden mit Klagen fiber Kopf- 
drnck, Erschwerung des Denkens, Unfahigkeit zn geistiger and kdrperlicher 
Arbeit, Mattigkeitsgefuhl, Gedachtnisschwaohe und Schlafstorungen. 

Ueber diese Erscheinnngen machte sie sicb dann grosse Sorgen, liess 
sicb immer von neuem versichem, dass das nichts Scblimmes sei, erwog in 
skropuloser Weise, ob sie das Stadiam nicbt aufgeben solle, da sie docb so 
insnffizient sei. Einige Male bestand ancb Angstgeffihl and Herzdrack. Die 
Pat. maohte einen gedrfickten, mfiden Eindrack, sah blass aus, hatte eine 
massige Tacbykardie. Ohne dass man schon von Hemmnng reden konnte, varen 
ibre Bewegungen and ihrSprecben langsamer, als in den besseren Zeiten. 

Nach einigen Wooben verringerten sich die pnbjektiven Bescbwerden oder 
scbwanden ganz, die Stimmung wurde zaversichtlicber and die Eranke konnte 
wieder arbeiten. Ein gewisses Gefuhl der Insaffizienz, die Neigang za Skru- 
peln and ein „Sfindengeffihl u warde sie aber nie los. Sie qnalte sioh sogar 
mit diesen Dingen innerlich viel, namentlich dann, wenn sie sioh za nie* 
mandem darfiber ansspreohen konnte. Einmal erschien sie z. B. erregt and 
bat, „sie auf Homosexualitat za antersachen u . Sie batte darfiber gelesen and 
es vtar ihr aafgefallen, dass sie bisber fast nar Freandscbaften mit Madchen 
gehabt hatte (ibre Eltern pflegten keinen gesellschaftlichen Verkehr und sie 
lebte in einer kleinen Stadt). Dies genfigte ihr, am sich fur homosexuell 
za halten and es bedarfte mehrerer langerer Unterredungen, um sie davon 
abzabringen. 

Ueber das n Sundengeffihl u berichtet sie folgendes: 

Nach harmlosen Freuden stellt sich bei ihr ein Geffihl ein, als hatte sie 
ein Unrecht begangen, and sie muss sich dann Vorwfirfe machen. Wenn sie 
z. B. jemanden besuchen will, den sie gern hat, dann front sie sich vorher 
and gerat direkt in einen Spannnngszastand. Nach Beendigung des Besuches 
beschaftigt sie sich mit dem Erlebnis so intensiv, dass sie sohlecht schlaft 
and am Morgen mit einem „Katergeffihi“ aufwacht, einem Geffihl, „als wenn 
sie sich fibernommen hatte u , and dann macht sie sioh Vorwfirfe, dass sie mit 
Monschen, die so aaf sie wirken, fiberhanpt verkehrt. 

Das Geffihl der Insaffizienz kommt bei ihr dauernd darin znm Aasdrack, 
dass sie etwas Hastiges and Unsicheres in ihren Bewegungen hat und standig 
beobachtet, ob ihre Unsicherheit von der Umgebang bemerkt and ob ihr Ver* 
halten beobachtet wird. 

Schliesslich hat sie noch etwas, was sie die „innere Stimme u nennt. 
Wenn sie sich Vorwfirfe macht, weil sie dies oder jenes getan oder nnterlassen 
bat, dann beschaftigen sie diese Vorwfirfe so lebhaft, dass sie ihre Gedanken 
fast hort. Sie ist sioh vollkommen klar darfiber, dass nicht etwa wirkliche 
Stimmen ertonen, weiss, dass es sioh am ihre eigenen Gedanken handelt, and 
will damit nar zam Aasdrack bringen, welohe bohe Bedeatang and Intensitat 
diese Gedanken fur sie haben. 

Diese innere Stimme maoht sioh za den Zeiten, in denen sie sich 
schlechter ffihlt, mehr bemerkbar, als za anderen. Eine Abhangigkeit der 
Schwanknngen von exogenen Faktoren habe ich nicht nachweisen konnen. 


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Ueber die m&nisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 831 

Zur VervollstSndigung ist noch hinzazafiigen, dass die G. trotz ihrer 
Jagend and ihres Reichtums sehr einfach and zurfickgezogen lebt, wenig Ver- 
kebr hat und mit peinlicher Gewissenhaftigkeit ihren selbstubernommenen 
Pflichten nachgeht, d. h. sie besucht ihre Vorlesungen, sohreibt eifrig mit and 
arbeitet das Besprochene so gewissenhaft darcb, wie ein Schdler die auf- 
gegebene Lektion, obwohl sie lediglich aus wissenschaftlichem Interesse stu- 
diert, nicht etwa am sp&ter eine Stelle anzunehmen. 

Das hervorstechendste Merkmal der Persfinlichkeit des Frl. G. ist 
ihre Skrupulositat. Es kann ihr begegnen, was es sei, immer hat sie 
ein Geffihl der Unsicherheit. Sie muss nachgrfibeln, ob ihr Verhalten 
richtig war, angstigt uud sorgt sich, hat nach den harmlosesten Freuden 
ein „Siindengefuhl“ und macht sich oft sogar fiber Dinge Yorwfirfe, 
von denen sie nicht einmal bestimmt weiss, ob sie sie fiberhaupt aus- 
geffibrt hat. 

In den ausgesprochensten Fallen, die ich gesehen habe, ging die 
Stfirung so weit, dass die Kranken jede Kleinigkeit zu einer Haupt- 
und Staatsaktion machten. Eine meiner Pat. befragte ihren Mann vor 
jeder Gesellschaft fiber das anzuziehende Kleid, die Frisur, ob sie diese 
oder jene Handschuhe nehmen sollte, welcher Schmuck in Betracht 
kfime und ahnl. mehr. Sie begnfigte sich nicht damit, einmal alles zu 
uberlegen und dann entsprechend zu handeln, sondern kam immer 
wieder mit den gleichen Fragen, machte selbst Bedenken geltend, die 
immer von neuem widerlegt werden mussten, brauchte infolgedessen zu 
ibrer Toilette viel mehr Zeit, als andere Frauen, und brachte auf diese 
Weise ihre gesamte Dmgebung fast zur Verzweiflung. 

Dass dieser Typ hierher gehfirt, ergibt sich aus der Art der Be- 
lastung und den eiidogenen Scbwankungen, die bei meinen Fallen nie 
fehlten. Nicht selten verbinden sich die Skrupeln mit ausgesprocbenen 
melancholischen Yerstimmungen, wfihrend sie zur Zeit der leichten 
Exaltationen weniger hervortreten, zum mindesten aber leichter fiber- 
wunden werden. 

Sie entsteben aus einem Gefuhl innerer Unsicherheit, der Neigung 
zum Klebenbleiben an jedem einzelnen Gedanken und aus betrfichtlicher 
Entschlusslosigkeit. 

Infolge der Skrupulositat, die sich namentlich in ungewobnten 
Situationen bemerkbar macht, sagen oder tun diese Kranken nicht selten 
etwas, was sie in Zeiten, wo sie zu wirklicher, d. b. ungehinderter 
Ueberlegnng ffihig sind, nie tan wfirden. Ihre Entschlfisse und ihr 
ganzes Handeln ist — wenigstens in den ausgeprfigtesten Fallen — 
mehr Zufallsprodukt. Es entbehrt der Konsequenz. Denn, wenn die 
Kranken auch gewisse GrnndsStze haben, so hindert sie die Skrupulositat 


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Dr. A. H. Hiibner, 


oft daran, diese Prinzipien zur Anwendang zu bringen and sie handeln 
ihnen entgegen, wenn sie nicht die erforderlicbe Zeit habeD, sich zu 
ihnen durchzuringen. — 

Wenn ich diese Variation besonders schildere, so geschieht es ein- 
mal der Skrapeln wegen, dann aber auch, weil wir hier besonders 
deutlich eine DenkstOrung kennen lernen, die charakteristisch fur die 
konstitutionelle Verstimmung ist. Wir werden weiter unten darauf 
n&her einzugehen haben. 

Ausserdem stellen diese Falle den Uebergang zu den reinen Zwangs- 
vorstellungskrauken dar, die ja auch eine besondere Gruppe der manisch- 
depressiven Anlage bilden. 

y) Hemmungszustande. 

Scbon das Beispiel, welches bei der Skrupulositat gebracht wurde, 
wies neben den Skrupeln ein anderes Phanomen, wenn auch nicht als 
dominierend, auf, namlich gewisse Hemmungserscheinungen. 

Gs gibt nun Menschen, bei denen dieses Symptom so stark in den 
Vordergrund treten kann, dass es der Gesamtpersbnlicbkeit den Stempel 
aufdruckt und oft zu Fehldiagnosen Anlass gibt. 

Die schwersten Falle dieser Gruppe, die ich gesehen babe, sind 
als alte Katatoniker, einer auch als ein besonders abgefeimter Simulant 
angesehen worden, und man muss zugeben, dass bei Betrachtung ledig- 
lich des Zustandsbildes, ohne Kenntnis der Gntwicklung des Kraokheits- 
bildes, man leicht zu einem Fehlurteil kommen kann. Die folgenden 
Beispiele werden das zeigen. 

Familie Ba. (Tochter 6 Monate in Beobachtung). 

Vater tot, psychisch anscheinend o. B. 

Matter nach Angaben der Toohter mit 40 Jahren Depression. Sie wurde 
angstlioh, schlief sehr schlecht, ass wenig, furchtete, dass ihr etwas passieren 
wurde. Innere Dnrahe, Selbstvorwurfe und sohr ausgesprochene Platzangst. 
Naoh etwa 2 Jahren heilte die Krankheit aus. 

Frl. H., jetzt 24Jahre alt, stud, phil., war als kleines Kind sehr lebhaft, 
spater sehr still. In den ersten Schuljahren gate Leistungen. Seit dem 
12. Lebensjahre verandert. Damals wurde sie „bleichsuchtig t( , konnte in der 
Schule nicht aufpassen, batte Kopfsohmerzen. Aufgaben, die sie zu Hause gut 
gelernt hatte, konnte sie in der Klasse nicht, weil das Gedachtnis versagte. 
Deshalb schlechte Schulerfolge. 

Im 16. Lebensjahre, wahrend eines Winters, besseres Befinden. Das Ge¬ 
dachtnis wurde zuverlassiger, sie bekam grossere Beweglichkeit, fuhlte sich 
innerlioh sicherer. Die Schulzeugnisse warden besser. 

Im folgenden Jahr in Pension (Kloster im Ausland). Dort starkes An- 
lehnungsbediirfnis. Gelegentliche Befurchtungen, dass sie nioht stark genug 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 833 

sei, dem Leben die Stirn za bieten, dass sie zur Ebe nicht geeignet sei usw. 
Wollte deshalb Nonne werden. Ein personlicher Zwist mit einer Schwester 
verleidete ihr jedoch das Klosterleben. Deshalb ins Elternhaus zuriick. Sie 
bescbloss, Sprachlebrerin zu werden. Wahrend der Vorbereitungen Versagen 
des Gedachtnisses, Sinken der Energie, Schw&chegefuhl. Sie musste sioh zu 
allem zwingen, glaubte, dass der Kopf „wie leer w war, vernaohlassigte sioh 
auch etwas im Aeusseren. Trotzdem legte sie nacheinander das franzosisohe 
and englische Sprachexamen ab. Zum Besuch der Handelshochscbale konnte 
sie sioh aber auf die Dauer nicht zwingen, weil ihr das ganze Stadium zu 
nuohtern war. 

Um diese Zeit litt sie auch noch immer unter der Enttauschung, die ihr 
die Klosterschwester bereitet hatte. Sie hatte dieselbe schwarmerisch geliebt. 

Vor 3 Jahren Besserung. Infolgedessen Vorbereitung zum Abiturienten- 
examen. Einige Monate nach Bestehen desselben erneutes Auftreten der Ge- 
dachtnis- und Denkhemmung. Anfangs konnte sie noch Kolleg horen und mit- 
arbeiten, spater ging das nur noch selten. DieAugen und der Kopf schmerzten 
ihr, sie hatte das Gefiihl der Leistungsunfahigkeit, das Interesse an der Sache 
schwand, sie arbeitete auchwenig,warde traurig und zog sich von den nachsten 
Angehorigen zuriick. 

Objektiv: Kleines, scheues, sanftes Madchen mit traurigem Gesichtsaus- 
druck. Dnsioherheit in Blick und Haltung. Langsame Antworten und Be- 
wegungen. Gute Intelligenz. Deutliches Insuffizienzgefuhl. Klagen iiber 
korperliche Beschwerden. Blasses Aussehon. Tachykardie. 

Der Fall bietet, zusammengefasst, folgendes: 

Gleichartige Belastung von seiten der Mutter. Bei der Pat. in den 
ersten Lebensjahren heiteres, spliter depressives Temperament, das im 
16. Jahre pur fur kurze Zeit eine Besserung erfuhr. 

Vom 12.—16. Jahre Hemmung des Gedachtnisses, Erschwerung des 
Denkens, schlechtere Schulerfolge. 

Vom 17. Lebensjahr bis zur Gegenwart mit kurzer Dnterbrechung 
GedflchtnisschwAche, Energie!osigkeit, k5rperliches Schwachegefiihl, Ge- 
fuhl der Leistungsunfahigkeit, Abnahme de5 Interesses fur den zukiinftigen 
Beruf, Neigung zum Einsiedlerleben, leichte Verstimmung, Langsamkeit 
im Denken und Handeln. 

Es ist also in diesem Falle die HemfPung der psychischen 
Funktionen, welche seit Jahren die GesamtpersOnlichkeit kennzeichnet. 
Dabei wird die Zugehdrigkeit zur manisch-depressiven Anlage durch 
die gleichartige Belastung und die charakteristischen endogenen 
Schwankungen einwandsfrei bewiesen. 

In vieler Beziehung erinnert der Fall an die Beschreibung, die 
Kraepelin von gewissen schwarmerisch veranlagten, wenig leistungs- 
fahigen und energielosen Menschen gegeben hat, die, wie er hinzufugt, 
wohl zu dulden, aber nicht zu kampfen verstehen. — 


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Bei Familie Ha. hielt sich die Hemmung in m&ssigen Grenzen, so 
dass die Pat. zwar in ihrer Leistungsf&higkeit dadurch beeintr&chtigt 
war, aber doch nicht als geistesgestOrt im engeren Sinne angesehen 
werden konnte. Es gibt F&lle, bei denen die Hemmungen viel weiter 
gehen. Welche Grade dabei erreicht werden k5nnen, lehrt die folgende 
Beobachtung. Ich habe die Kranke in einer Eheanfechtungssacke begat- 
aclitet. Die Mitteilungen fiber den Verlauf verdanke ich der Dr. Hertz- 
schen Anstalt in Bonn. 

Frau E., geb. 1875. 

Vater nervos. Hat als Bauunternehmer viel Geld yerdient. Wurde spater 
Trinker. 

Frau E. selbst war immer still, ofnst veranlagt, freundlich. Gute Schul- 
erfolge, sehr musikalisob. 

Der Mann, welcher einige Jahre im Hause verkehrte, ehe er die Pat. 
heiratete, berichtete, ihm sei schon damals aufgefallen, dass seine spatere 
Frau „apathisch u war, sich an der Unterhaltung wenig beteiligte. Sie musste, 
wenn er zum Besuch kam, oft yon der Mutter erst ins Zimmer hereingeholt 
werden, manchmal erschien sie iiberhaupt nicht. Er bemerkte auch, dass die 
Mutter ihre Tochter erst fertig anzog, bevor sie sie dem Bewerber zufuhrte, 
weil die E. selbst sich dazu nicht aufraffen konnte. 

Nach der Verheiratung uberliess die Pat. den Haushalt dem Madchen, 
kiimmerte sich um nichts, brauchte sehr yiel Zeit zum Anziehen, konnte nie 
fertig werden, zeigte in allem eine enorme Langsamkeit. Zu den offiziellen 
Besuohen (Mann: Gymnasial-Oberlehrer) war sie nicht zu bewegen. Spazier- 
gange vermied sie. Zu Unterhaltungen war sie selten geneigt. Dabei angst- 
liches Wesen. Furchtete sich, allein in ein Zimmer zu gehen, konnte kein 
Messer sehen, angstigte sich davor, ohne dass sie zu sagen vermochte, warum. 
Ein inzwischen geborenes Kind versorgte sie nicht. 

Anfang 1915 in ein Sanatorium gebracht, wurde sie erregt, versuchte zum 
Fenster herauszuspringen. Wiederholte von Zeit zu Zeit immer dieselben 
Fragen: Ob sie nooh gerade und ganz sei, ob etwas passiert sei, ob ihr jemand 
etwas tue. 

In der Folgezeit blieb sie angstlich, wollte nicht allein sein. Sie wosch 
sich zwar, machte sich das Haar aber nioht, brauchte zum Ankleiden die Zeit 
vom Morgen bis Mittag. Sfe ass nur auf Drangen, und dann auch sehr 
langsam. Der Schlaf war schlecht. Es bestand ausgesproohenes Krankheits- 
gefuhl. 

Am 28. 2. 1917 kam sie in* die Hertz’sche Anstalt. Dort stark gehemmt. 
Anfangs gab sie noch vereinzelt mit leiser Stimme Antwort. Spater setzte sie 
wohl zum Sprechen an, braohte aber kaum ein Wort mehr heraus. Nur ab und 
zu beantwortet sie Fragen durch Kopfnicken oder Sohiitteln. 

Einmal, an einem etwas freieren Tage, gab sie an, sie musse so yiel an 
die Fragen, die sie von Zeit zu Zeit wiederhole, denken, dadurch sei sie so ge¬ 
hemmt, dass sie nichts tun konne. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 835 

Wenn der Arzt das Zimmer betrat, lachelte sie verbindlich, nahm auoh 
die gebotene Hand. Konnte sie dann auf die Fragen des Arztes nichts heraus- 
bringen, dann kamen Tranen. 

Besuch der Angehorigen bereitete ihr Freude. 

Dass es sicb nicht etwa urn Zwangsvorstellungen, sondern am wirkliohe 
Hemmnng handelt, ging aus einzelnen Beobachtungen hervor. Wenn sie sich 
die Zahne reinigen sollte, brauchte sie eine gewisse Zeit, ehe sie die Zahnbdrste 
in die Hand nahm. Dann hielt sie dieselbe ratios in der Hand, tanchte sie 
erst naob einiger Zeit ins Wasser, brachte sie aber auch da zunaohst nicht 
wieder heraus, sondern brauchte dazu, wie zu den iibrigen noch erforderlichen 
Bewegnngen mehrere Minuten. 

Man sah ihr haufig an, dass sie energische Anstrengungen machte, die 
Hemmung zu iiberwinden. Das gelang ihr aber nur selten und dann auch iiur 
unvollkommen. 

In ungefahr dem gleichen Zustande wurde die Pat. im Januar 1917 nach 
Hause entlassen. Wahrend des Aufenthaltes in der Anstalt hat das Befinden 
ganz leichte endogene Schwankungen gezeigt, so dass sie manchmal einzelne 
Worte oder Satze herauszubringen vermochte, mehr aber nicht. 

Nie Katalepsie. Kein Grimassieren, koine Manieren, wie iiberhaupt nichts 
Schizophrenes. 

Hier haben wir eine progressive, sich ganz langsam entwickelnde 
Hemmung des Kedens und Handelns bis fast an die Grenze des Stupors. 

Dass nicht etwa eine Katatonie vorlag, ist meiner Ansicht nach aus 
dem Fehlen katatoner Symptome, ferner daraus, dass die Patientin unter 
den Zust&nden sebr litt und keine Ver&nderung der Persdnlichkeit im 
Sinne der Schizophrenie zeigte, zu schliessen. Sie war nichts weniger 
als gemutsstumpf. 

Um Zwangsvorstellungen allein kann es sich nicht gehandelt haben, 
denn die Hemmung &usserte sich immer und uberall, nicht bloss in be- 
stimmten Situationen. Das Vorliegen von Zwangsvorstellungen, die ihr 
Verhalten hatteo erkl&ren kbnnen, hat die Patientin auch durch Kopf- 
schutteln verneint. 

Fur die Diagnose wichtig ist: 1. dass eine depressive Anlage vor- 
handen war, aus der sich das Ganze entwickelte, 2. haben voruber- 
gehend Phobien bestanden (Furcht vor Messern), 3. finden wir die be- 
kannten endogenen Schwankungen. Dazu kommt 4. der depressive Affekt 
und die mehrfach ge£usserten Selbstmordgedanken. 

Ich habe einen ganz &hnlich verlaufenen, wenn auch nicht ganz so 
schweren Fall im Eheanfechtungsverfahren begutachtet (Frau von 
28 Jahren), in dem die Hemmung durch mehrere kurze hypomaniscbe 
Phasen unterbrochen wurde. In einer derselben liess die Patientin in 
Abwesenheit des Mannes das Haus umbauen. Sonst pflegte sie einen 


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Dr. A. H. Hdbner, 


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wutenden Hausputz zu beginnen, der regelmassig mit einem Wechsel 
des gesamten Personals endete. Da war die Zugehorigkeit zur manisch- 
depressiven Anlage noch deutlicher. 

Ich habe noch drei Falle gesehen, die zwar im ausseren Anblick 
ahnlich waren, wie der eben beschriebene, aber doch wohl anders zu 
deuten sind. Alle drei waren Landleute, die aus ihrem Dorfe nnr zur 
Erffillung ihrer militarischen Dienstpflicht herausgekotnmen waren. 

Es waren Menschen, die in der Jugend zwar langsam arbeiteten 
und langsam dachten, sich in ihrem engen Wirkungskreis aber wohl 
fuhlten und dann auch frohlich sein konnten. In der Familie des einen 
waren hysterische Storungen mehrfach vorgekommen. Diejenige des 
zweiten stand in schlechtem Ruf, namentlich wurde ihr Neigung zu 
Diebereien vorgeworfen. Von den Angehdrigen des Dritten konnte ich 
nichts Naheres in Erfabrung briugen.' 

Zwei von ihnen wurden zum Militar eingezogen, der Dritte musste 
die Heimat aus anderen Grunden verlassen. Bei alien Dreien ging nun 
die Krankheit folgendermaassen weiter: 

Einige Wochen nach dem Verlassen des Heimatdorfes trube Stim- 
roung. Neigung zum Weinen. Dann plbtzlicher Erregungszustand mit 
nachfolgendem Stupor, der sich in mehreren Mona ten loste. Inzwischen 
war die Entlassung nach Hause erfolgt. 

Dort nahmen sie ihre alte Beschaftigung wieder auf. Sie arbeiteten 
langsam und umstandlich, zeigten eine extreme Menschenscheu, so dass 
sie, sobald ein Fremder auf den Hof kam, alles stehen und liegen 
Hessen und sich im Hause oder in der Scheune versteckten. 

Sie verliessen freiwillig den Hof fiberhaupt nicht, antworteten auf 
Anreden den Dorfbewohnern nicht. Mit deh zum eigenen Hof gehfirigen 
Personen verkehrten sie in vernunftiger Weise, wie auch ihre Arbeits- 
leistungen denen anderer Landarbeiter im grossen und ganzen ent- 
sprachen. 

Nur fiber grosse Reizbarkeit wurde von den Verwandten und An- 
gestellten der Patienten geklagt. 

Dieses Bild finderte sich sofort, wenn sie den Hof aus irgendeinem 
Grande verlassen mussten. Zun&chst mussten sie zum Bahnhof ge- 
schoben oder gefahren werden. Sie sprachen unterwegs mit niemandem. 
Einen der drei Falle habe ich in Bonn bei der Ankunft zufallig beob- 
achten kfinnen, ohne dass ich wusste, dass es sich urn eine klinische 
Aufnahme handelte. Er wurde von seinem Bruder wie ein negati- 
vistischef Katatoniker die Strassen entlang bis zur Rlinik geschoben, 
wobei er auch einen gewissen Widerstand leistete. Das Aeussere war 
durch die Reise schmutzig, der Hut sass schief auf dem Eopf, sein Be- 

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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ibrer Anslaufer. 837 

durfnis batte der Patient unterwegs in die Hose gemacbt (die Reise 
ging tod der Eifel bis Bonn). Im Sprechzimmer antwortete er nicht, 
befoigte keinerlei Aufforderungen, bewegte sicb auch spontan nicht und 
reagierte auf Nadelstiche gar nicbt Auf der Abteilung ass er nicht, 
starrte vor sich bin, sprach mit niemandem, musste mit Gewalt ins 
Bett gebracht werden. 

Dieser Mann war in seinem Dorfe, da er Milit&rrente bezog, fur 
einen grossen Simulanten gehalteu worden. 

Der zweite Fall, aus der Umgegend von Bonn stammend, war un- 
gef&hr so, wie der eben beschriebene, nur war er nicht so unsauber. 
Bei ihra kam Rentensncht oder Furcht vor der Einzieliung nicht in Be* 
tracht, denn er war bereits definitiv entlassen. Trotzdem das gleiche 
Bild: Ausserhalb des elterlicben GehOftes wie ein katatonischer Stupor, 
in gewohnter Umgebung ein fleissiger Arbeiter, der sich nur wegen 
Kopfschraerzen von Zeit zu Zeit fur halbe Tage ins Bett legeu musste. 

Dass die eben kurz gescbilderten beiden Falle — der dritte stimmte 
mit ihnen iiberein — ganz ungewOhnlich sind, wird obne weiteres zu- 
gegeben werden. 

Els fragt sich zun&chst, wie'sind sie klinisch zu rubrizieren? 

Von Frau E. unterscheiden sie sich dadurcb, dass es sich nicht 
urn eine endogene Fortentwicklung eioer angeborenen Anlage handelt. 

Die Erkrankung ist vielmehr im direkten Anschluss an das erst- 
malige Verlassen der viterlichen Scholle entstanden. Die ersten Sym- 
ptome wie uberhaupt der Verlauif in den ersten Monaten, den ich nur 
aus Akten bzw. Angaben von Verwandten kenne, erinnert am meisten 
an denjenigen reaktiver Psychosen. 

Schliesslich sehen wir dann, dass eine extreme Menschenscbeu 
zuruckbleibt und der Patient, wenn er aus der gewohnten Umgebung 
des elterlichen Hauses herausgeholt wird, vdllig ablehnend wird, nicht 
spricht, nichts isst und sich vernachlAssigt, wtlhrend er zu Hause zwar 
reizbar ist und allerlei (neurotiscbe?) Beschwerden hat, aber doch selb- 
st&ndig arbeitet und Brauchbares leistet. 

Mit den manisch-depressiven Zust&nden ist dieser Krankheits- 
verlauf um so weniger zu identifizieren, als bei alien drei Patienten 
weder cbarakteristische, manischo noch depressive Zustandsbilder nach- 
znweisen waren. 

Als Falle von Katatonie kann man sie wohl auch nicht ansprechen, 
denn bei dem Manne aus der Nahe von Bonn wurden dann die VerhAlt- 
nisse so liegen, dass er an einem Tage, wo er den Arzt besucbte, von 
morgens 6—10 Uhr fleissig arbeitete, von 10—2 Uhr das Bild eines kata* 
tonen Stupors bot und dann, nach Hause zuruckgekehrt, wieder arbeitete. 


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Zu Hause war er ein gereizter Menscb, hatte viel Kopfschmerzen, 
tat aber seine Arbeit, ohne Negativismus oder irgendwelche groben 
Hemmungserscheinungen. Auch impulsive Handlungen, Halluzinationen, 
Katalepsie usw. fehlten. 

Ich glaube, dass man diese F&lle doch wohl zu den reaktiven wird 
rechnen mussen. Bei ihrer Entstehung spielt wahrsckeinlich der Heim- 
wehkomplex eine grosse Rolle. 

Auch das Vorkommen subjektiver Beschwerden, wie wir sie von 
Neurotikern klagen hOren, spricht in gleichem Sinne. Schliesslich ist 
auf die weitgehende AbhSugigkeit des Zustandes von der Umgebung 
besonders hinzuweisen. 


d) Der Kleinmut. 

Zu den wichtigeren Symptomen der Melancbolie geh&rt das Gefuhl 
der Insuffizienz, die innere Unsicherheit und der Kleinheitswahn. Alle 
drei sind psychologisch miteinander nabe verwandt. 

Andeutungen dieser Erscheinungen kOnnen sich nun innerbalb der 
depressiven Anlage als Charaktereigentumlichkeiten zeigen und sie ver- 
leihen dann der betroffenen Persdnlicbkeit eine so ausgepr&gte Eigenart, 
dass man von einer besonderen Variation der depressiven Anlage zu 
sprechen berechtigt ist. 

Wn., jetzt 62 Jabre alt. Jurist. (Dem Ref. seit 10 Jabren bekannt.) 
Ueber Erblichkeit konnte nichts erfragt werden. Eine Tochter des Pat. soli 
zirkular sein. 

Wn. selbst hat sich aus kleinen Verhaltnissen emporgearbeitet. War von 
Jogend auf angstlich und aufgeregt. Literarisch ist er mit Erfolg tatig ge- 
wesen, bat aucb als Jurist ein sicheres Brot, ist aber nicht reich geworden. 

Im Jahre 1917 hat er eine Melancholic von etwa 10 monatiger Dauer 
durchgemacht. 

So lange ich den Pat. konne, bot er mit Ausnahme der Zeit der Melancbolie 
immer dasselbe Bild: 

Er war ein kleiner, durftig und etwas nnordentlich gekleideter Mann mit 
eckigen Bewegungen, dem man die innere Unsicherheit schon vom Gesicht 
ablesen konnte. Jeden, der sein Amtszimmer betrat, begrusste er mit tiefen 
Bucklingen, war peinlichst bemiiht, die riohtigen Titel bei der Anrede zu 
brauchen, Hess auf der Strasse seine Begleiter stets rechts neben sich gehen 
und erschien aucb dann begliiokt, wenn er von Lenten, die weniger waren als 
er selbst, angeredet wurde. 

Er widersprach fast nie, stimmte anderen in der Unterhaltung auch dann 
meist zu, wenn sie Unsinn redeten, und ausserte nur selten eine eigene Meinung. 

Auf andere nabm er uber Gebiihr Riicksicht, auf sich selbst nie. Es fiel 
ibm sehr scbwer, im Beruf sowohl, wie im Privatleben, fremden Menschen 
Wunsobe abzuschlagen, mocbten sie auch noch so unberechtigt sein. Takt- 


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Ueber die manisoh-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaafer. 839 

losigkeiten gegenuber war er wehrlos. Er ist von vielen Menschen ausgenutzt 
worden, wahrend er far sich selbst schwer bitten oder gar fordern konnte. So 
hat er riel Gates getan, aber nur wenig Gates erfahren. 

Es bebass ein umfangreiohes Wissen, war sioher kliiger als die Mehrzahl 
seiner Amtsgenossen, and urteilte treffend, so lange er anbeeinflasst war. So- 
bald aber jemand energisch and bestimmt aaf ihn einredete, dann wurde er 
sehr leioht schwankend und es gelang nicht selten, ihn za einer seiner arsprdng- 
lichen Ansicht entgegengesetzten Meinung za bekehren. 

Seine Stimmung war leicht gedriickt. Er sachte dieselbe nach anssen 
fain moistens za rerbergen. Wer ihn naher kannte, dem entging die Depression 
aber nicht. 

Korperlich hatte er einen Herzfehler. 

Nach den Mitteilangen von Stadien- and Amtsgenossen hat Wn. von 
Jugend aaf das gleiche Verhalten gezeigt. 

Der Nachweis der Zugehorigkeit des Falles zur manisch-depressiven 
Anlage ist durch die von mir selbst beobachtete Melancholic erbracht. 
Der Umstand, dass eine Tochter des Pat. zirkul&r sein soil, kann diese 
Annahme nor wahrscheinlicher machen. 

Das Wesentliche an der PeraOnlichkeit des Wn. besteht in einer 
Unterschatzung des eigenen Wertes, innerer Unsicherheit and einem 
deutliclien Insuffizienzgefuhl. Diese Erscheinungen bewirken, dass er 
den onbedentendsten Menschen gegenuber sehr devot ist, im Urteile 
leicht beeinflusst werden kann und im Leben nicht die Erfolge zu ver- 
zeichnen hat, die seinen Kenntnissen entsprechen. 

Dass diese Erscheinungen mildere Formen einiger Symptome der 
Melancbolie sind, babe ich schon oben gesagt. In unserem Falle trat 
diese Tatsache besonders deutlich hervor, als die Anlage sich zu einer 
ausgesprochenen melancholischen Krankheitsphase steigerte. Da waren 
es wieder die gleichen Krankheitszeichen, die dem klinischen Bilde seine 
besondere Farbung gaben. 

Ich mdchte das Kapitel der depressiven Anlage nicht schliessen, 
ohne nochmals kurz auf die DenkstOrungen einzugehen, die ihr 
eigen sind. 

Waren wir bei der Ideenflucht und ihren Vorstadien im Zweifel, 
ob eine Beschleunigung des Yorstellangsablaufes anzunehmen ist, so sind 
die Bedenken dagegen, dass bei der Depression eine Verlangsamung des 
Denkens eintritt, geringer. Bei den scbweren Melancbolien konnen wir 
uns davon ohne Zeitmessung iiberzeugen und die depressiv Veranlagten 
klagen uns oft, dass das Denken langsamer gehe und ihnen schwer 
falle. ' 

Der Ablenkbarkeit bei den maniscben Zustanden steht ein Kleben- 
bleiben an einzelnen Vorstellungen und Gedanken bei der depressiven 


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Dr. A. H. Hiibner, 


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Anlage gegenuber. Und w&hrend schon der leicht Maniscbe durcb aussere 
Eindrucke tuid die reichlicli ihm zufliessenden Gedanken vom Haupt- 
wege in Seitenpfade bineingefuhrt wird, kann beim Depressiven auch 
durch selir aufdringlicbe Eindrucke die Aufmerksamkeit nicht gefesseit 
werden, ihn beherrscht zn stark der Gedanke an die eigene Person 
und an seinen krankhaften Zustand. 

Der Depressive bildet zwar Obervorstellungen, aber nur sp&rlich 1 ), 
weil die Verwertung des Erfahrungsschatzes behindert ist, und er kann 
sich von der einzelnen Vorstellung viel schwerer abldsen, wie der Ge- 
sunde und der Manische. Es fehlt ihm auch — von den bekannten 
Ausnahmen abgesehen — das Plus an Gedanken 2 ), von dem nns der 
Maniakus bericbtet. Zum Teil aus diesem Grunde gewinnt die einzelne 
Vorstellung bei ibm eine erlidhte Wertigkeit. 

Bei der Auswahl der Obervorstellungen werden vom Depressiven 
solche bevorzugt, die den eigeuen Zustand betreffen. Patbologische 
Einfalle werden kaum jemals beobachtet, sein Ideenkreis ist ein viei 
engerer, wie bei seinem beweglicheren Gegenstuck. 

Alles in allem ist also das Denken des Depressiven in derselben 
Weise gestdrt wie sein Handeln. Es stellt das Negativ zu dem Positiv 
dar, das uns der Hyperthyme bietet. 

Icb babe diese an sicb bekannten Tatsacben hier absicbtlicb nock 
einmal zusammengestellt, weil ich den Eindruck habe, dass bei den 
differentialdiagnostischen Erwagungen mancber Autoren gerade diese 
Denkstdrung zu wenig berucksichtigt wird. 

Manisch oder melancholiscb veranlagt ist nicht ein Hensch, der 
konstitutionell beiter bzw. traurig ist, sondern wir mussen bei ihm zum 
mindesten andeutungsweise die Denkstdrungen Qnden, von denen soeben 
die Rede war. Nicht die affektive Stdrung allein ist das Wesentliche, 
neben ibr und mit ibr vdllig gleicbberechtigt stebt vielmehr die 
Denkstorung uud das motorische Verhalten. 

Diese Denkstdrungen spielen meiner Ansicht nach fur das Ver- 
standnis der Beziebungen zwischen manisch-depressiver Anlage und den 
Zwangsvorstellungen eine ganz hervorragende Rolle. Wir werden darauf 
in einem besonderen Abscbnitt noch zuruckzukommen haben. 

Sie geben uns auch die Mdglichkeit, eine Abgrenzung des manisch- 
depressiven Irreseins von der cbronischen Paranoia vorzunehmen, wie 
gleichfalls in dem zweiten Teil dieser Arbeit erdrtert werden soli. 


1) Einer unserer Kranken sagte: „Man findet die Zusammenhiinge nicht 
mehr so.“ 

2) Derselbe Kranke ausserte: „Es fallt einem nichts mehr ein. u 


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CORNELL UNfVERSSTV 



Ueber die m&nisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 841 

Schliesslich werden wir sie auch bei der Unterscheidung der zirku- 
laren Psychosen von den reaktiven Zustanden und der Dementia praecox 
als wichtiges Hilfsmittel kennen lernen. 

c) Mischzust&nde. 

Bei der Darstellung der Grundzustande bringt Kraepelin als 
vierte Form die zyklotbyme Veranlagung und er beschreibt als solche 
jene Personlichkeiten, die durcb ein mebr oder minder regelmassiges 
Hin- und Herschwanken zwischen den beiden Polen Erregung und De¬ 
pression gekennzeicbnet sind. 

Wilmanns betont in seiner Beschreibung besonders, dass Ver- 
mischungen von manischen und depressiven StOrungen hSufig vorkommen 
und dem Anfall voriibergehend oder langere Zeit hindurch eiue besondere 
Farbung geben kfinnen. 

Ausfuhrlicher hat sich mit den zirkularen Erkrankungen Reiss 
beschaftigt. Er beschrieb vorwiegend die zyklothymischen Verlaufs- 
formen. Unter seinen Beispielen finden iich aber mancbe, die Misch- 
formen im Sinne Kraepelin’s und Weygandt’s darstellen. 

Wie bei den ausgepragten Erankheitsbildern die Mischzustande 
sehr komplizierte Verbindungen von manischen und depressiven Sym- 
ptomen darstellen, so dass bisher nur die Abgrenzung vereinzelter, 
haufiger vorkommender Zustandsbilder gel ungen ist — ich verweise auf 
die Arbeiten von Weygandt und Stransky —, so gelingt es bei der 
zyklotbymen Veranlagung dem Einzelnen auch nicht, alle wichtigeren 
Typen zur Darstellung zu bringen. Ich beschranke mich deshalb auf 
die Beschreibung derjenigen, die in einer gewissen Beziehung zu den 
fruher angefuhrten Fallen stehen, bin mir dabei aber der Unvollstandig- 
keit dieses Abschnittes besonders bewusst. 

Ich mochte folgende vier Typen bringen: 

1. solche Personen, die nacheinander manische und melancholische 
Symptomenkomplexe als Persbnlichkeitsinhalt darbieten. Ich nenne sie 
die Alternierenden; 

2. solche, die mehr manische als depressive Symptome im Zustands- 
bild aufweisen; 

3. diejenigen, bei denen die depressiven Symptome uberwiegen und 

4. periodisch Paranoide. 

Dass diese Gruppierung eine kunstliche ist, weiss jeder, der solche 
krankhaften Personlichkeiten geseben hat. Sie erhalt eine gewisse Be- 
recbtignng nur dadurch, dass sie uns gestattet, einen tieferen Einblick 
in die Vererbungsverbaltnisse zu gewinnen. 

Archir f. Psjehi&trie. Bd. 60. Heft 3/3. 54 


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Mehrero Kinder, davon eine 
Tochter depressive Anlage 


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Ueber die manisoh-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaafer. 843 


1. Die alternierenden Formen. 

In Analogic za der ansgeprSgten periodischen Manie und Melan¬ 
cholic sowie dem zirkularen Irresein gibt es bei einzelnen Personen 
Sehwanknngen des Charakters, die milder sind, nie den Eindruck einer 
wirklichen GeistesstQrung erwecken und sich dabei docb nnr graduell 
▼on den schweren Formen unterscheiden. Einen solchen Typus bildet 
die Familie M. R., deren Stammbaum ich nebenstehend wiedergebe. 

Znr Erlauterung des Stammbaumes habe ich folgendes hinzuzufugen: 

Die als cyclothym bezeichneten Personen sind — von kleinen 
Schattierungen abgesehen — dadurch gekennzeicbnet, dass depressive 
und ganz leichte manische Zustande bei ihnen wechseln. Wahrend der 
depressiven objektiv geringe kflrperliche Leistungsfahigkeit, standiges 
Mudigkeits- and Schwachegefuhl, schlechter Schlaf, grosse Empfindlich- 
keit anderen gegenuber, Lebensmudigkeit, manchmal Denkerschwerung, 
Gefuhl innerer Unsicherheit, Skrupeln, Menschenscheu. 

In den hyperthymen Zeiten leicbte motoriscbe Unruhe, sehr rege 
gesellschaftliche Bet&tignng. Sie geben dann eine Reibe Gesellscbaften 
hintereinander und besuchen solche gem. Im Hause wird grosses Reine- 
machen inszeniert, wobei sie selbst sich mit ungewobnten Kraften be- 
teiligen. Es bestebt Neigung zu kleinen Intriguen und Hetzereien, die 
zu Auseinaodersetzungen mit dem Personal fuhren. Gelegentlicb- werden 
unzweckm&ssige und unnOtige Einkaufe gemacbt. Mancbes, was ihnen 
in den depressiven Zeiterf gleicbgultig ist, wird jetzt als begehrenswert 
angeseben. Eine der in Betracht kommenden Personen drkngt sich 
dann auch gern an HSherstehende heran. Es besteht Neigung zum 
Flirten, Dnternehmungslust, Freude am Reisen. 

Bei einigen weiblichen Mitgliedern sind daneben anch hysterische 
Symptoms, wie vereinzelte Anfalle, psycbogene Darmspasmen (bei Tante 
und Nichte), beobachtet worden, bei 2 d auch Uterusblutungen mit 
gleichzeitigen Anfallen, die beide sofort sistierteo, als die Pat. aus 
einer nnangenehmen Situation, in der sie sich befand, befreit wurde. 

Bemerkenswert ist, dass im Fruhjahr und Herbst, manchmal aller- 
dings auch ausserhalb die6er Zeiten, bei zwei von den Frauen sich deut- 
lichere Depressionen, einzustellen pflegen. 

Bei einer von diesen beiden treten in den Depressionen, aber auch 
ansserhalb derselben, Gedanken an den Tod von Jahr zu Jahr starker 
hervor. Es ist bei diesen beiden auch eine gewisse Progression, oder 
richtiger ausgedruckt, eine mit den Jahren zunehmende Verstarkung der 
pathologischen Charaktereigenschaften zu bemerken, ebenso bei 2 d, 
die eimnal eine schwere Melancholie gehabt hat. (Pat. ist jetzt 31 J. alt). 

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Dr. A. H. Hiibner, 

Besonders interessant war es, ao Hand direkter Beobachtung and 
der vorhandenen Familienbilder der Frage nachzugehen, wie weit RCrper- 
bau und Gesicbtszuge einerseits, psychiscbe Eigenschaften andererseits 
von jedem der Eltern vererbt waren. 

Es zeigte sick z. B., dass 2 a das Temperament vom Vater, die 
Neigung zur Adipositas. das breite Becken and einzelne charakteristische 
Bewegungen von der Matter batte. 2 c entsprach in psychischer Be- 
ziehung fast ganz der Mutter, der Rnochenbau gleichfalls. Es fehlte 
die Adipositas. In den Gesichtszugen waren deutliche Uebereinstim- 
mangen mit denen des Vaters zu erkennen. 

2 e batte das Temperament vom Vater, den Rnochenbau und die 
Neigung zar Adipositas von der Mutter, die Gesichtszuge teilweise vom 
Vater. 

2 a und e batten musikalische Neigungen und die Befahigung dazu 
vom Vater ererbt. 

In dem Zweig 5 ist die Debilit&t aus der Aszendenz des Vaters in 
die Familie gekommen. Beide Sohne baben ROrperbau und eine ganz 
cbarakteristiscbe Besonderbeit der Rdrperhaltung von ihm geerbt. Da¬ 
zu linden sicb bei 5 b zyklotbyme Pbasen durch Vererbung von der 
Mutter. 

Interessant ist ferner, wie sich die verschiedenen psychischen An- 
lagen der Eltern bei 2 weiter vererben. Zwei TOcbter entsprecheu 
dem Vater, zwei der Mutter, die funfie hat ein maniscbes Temperament. 
Die Tdchter dieser ietzteren zeigen gleichfalls zur Halfte ein manisches 
Temperament. 

Schliesslicb ist aucb noch auf eine kOrperliche Erscbeinung binzu- 
weisen, nUmlich auf das regelmUssige Auftreten einer Albuminurie nach 
k5rperlichen Anstrengungen bei 2 b und 5 b. — 

Zu den alternierenden Formen gehoren anch Fftlle, in denen w ah rend 
der Depression eine Reihe korperlicher Bescbwerden im Vordergrunde 
steben, dass sie die psychischen Symptome fast ganz verdecken. Die 
endogene Entstehung, das Rezidivieren, das Auftreten hyperthymer 
Phasen und auch die gleicbartige Belastung fubren die Diagnose auf den 
richtigeu Weg. 

Besonders erw&hnen muss ich weiter noch zwei Frauen (25 und 
62 Jabre alt), bei denen sicb in den Depressionen ausserordentlich Starke, 
die Rranken sebr bel&stigende Sensationen in den Genitaiien einstellten, 
die zu haufigem Orgasmus fubrten, die die Pat. aucb zu onanistischen 
Manipulationen veranlassten und gleicbzeitig Befurchtungen bei ihnen 
erweckten, dass ibnen die Ietzteren schaden kOnnteu. 

Eines zeicbnet die Vertreter dieser Gruppe von Miscbformen ganz 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 845 

besonders aus, sie kommen im praktisclien Leben schlecht zurecht. Ihre 
Ongleichmfissigkeit bewirkt, dass sie minderwertige, unzuverlassige 
Arbeiter sind. Die wfihrend der hyperthymen Phasen bestehende Nei- 
gung, sich fiber erlassene Vorschriften hinwegzusetzen und einmal ge- 
trofFene Anordnungen grundlos umzustossen, macht sie zu unangenehmen 
Vorgesetzten und schwierigen Untergebenen, letzteres besonders dann, 
wenn wfihrend der Hyperthymie starke Selbstfiberschfitzung sich mit 
Neigung zum Querulieren und Intriguieren verbindet 

In mancben Stellungen, z. B. als Richter sind diese Kranken ge- 
radezu unmfiglich, weil sie, wie obeu ausgeffihrt wurde, kein selbst- 
st&ndiges Urteil haben, leicht beeinflussbar sind, heute die Parteien un- 
verdient schlecht behandeln und wenige Wochen spfiter ein Spielball 
in den Hfinden der Parteivertreter sind. 

2. Ffille mit uberwiegend manischen Symptomen. 

In der ersten Gruppe hatten wir Formen besprochen, die dadurch 
ausgezeichnet waren, dass nacheinander dys- und hyperthyme Zustfinde 
— wenn auch nicht in regelmfissigem Wechsel — sich ablfisten. Wir 
haben nur diejenigen Ffille zu besprechen, in denen die hyperthymen 
Symptome im Zustandsbilde fiberwiegen. 

Auch dabei werden wir Gelegenheit haben, auf das Erblichkeits- 
problem einzugehen. 

P., jetzt 35 J. alt, Bruder von C. (s. Man. Anlage). Korperlich schwach- 
lich. Zunachst in der geistigen Entwicklung nicht beeintrachtigt. Galt in 
der Schule als liebenswurdiger und durchschnittsbegabter Schuler von guter 
Erziehung. 

1898 schwere Lungenentzundung. Einige Zeit skater stellten sich An- 
zeichen psychischer Erschopfung ein. Er begann nachlassig zu werden, seine 
Leistungen liessen nach. Oft trat ein eigentumliches Lacheln auf. Sein Wesen 
wurde angeblioh zerfahren. Alle Versuche, ihn fiber das Einjabrige hinaus- 
zubringen, misslangen. P. schlief „unnaturlich a viel und hatte fur den Unter- 
richt keine Interesse. 

Allmahlich erregt. Lief zu Hause nackt hermn, ohne Rucksicht auf 
das Personal zu nehmen. Schlug die Mutter. Deshalb 1908 voriibergehend 
Anstalt. Hier wechselnd. Machte viele Plane, die er alle wieder fallen Hess. 
Wollte sich fur einen Beruf vorbereiten. Seine Arbeit machte aber den Eindruck 
des Spielens. Starke Selbstfiberschfitzung. Hielt sich fur einen bedeutenden 
Mann mit grosser Zukunff. Wollte grosser Sohauspieler werden, abet nur in 
Stricken auftreten, die er selbst geschrieben hatte. Die Religion erklarte er 
w obne Weiteres ffirUnsinn a . Goethe’sFaust war „nichts wieBlodsinn u . „Der 
Kerl simpelt nur fiber Dinge, die jeder vernfinftige Mensch in seinem Katechis- 
xnus lesen kann.“ 


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Dr. A. H. Hfibner, 


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In seinem Aeusseren fibertrieben elegant, badete 4mal taglich, kleidete 
sich auflallig, kaufte die teuerste Kosmetika in Mas sen, yersohleuderte grosse 
Sammen. Wollte sein ganzes Vermogen mogliohst rasch ausgeben, am sioh _ 
dann aus eigenen Kraften eine Existenz zu schaffen. 

Dabei ausgesprochene Schmutzfurcht. Berieoht alles, ob es stinkig ist, 
will in bestimmten Wannen nioht baden. Ffirchtet sich aas Angst vor Schmatz, 
anderen Menschen die Hand za geben. Hat er das getan, dann wascht er sich 
oft die Hande. Schimpft auf Lehrer, Eltern, Erzieher in sehr despektierlicben 
Ausdrficken. Treibt sich mit Halbweltdamen offentlich umher. 

Naoh Abflanen der Erregung bleibt folgender Zustand zurdck, in dem er 
sioh seit Jahren befindet. 

P. zieht ruhelos von Ort zn Ort. Dabei bevorzugt er einsam gelegene 
Gebirgsorte besonders, geht aber gelegentlich auoh in erstklassige Hotels, meidet 
allerdings stets die Gesellschaft, welche er dort findet. Mit Vorliebe freundet 
er sich mit Holzknechten, Bauern und ahnlichen Personlichkeiten an, denen 
er gelegentlich auoh bei der Arbeit hilft. Bekleidet geht er, ohne Rdcksicht 
auf die Umgebnng mit ganz kurzen Hosen und einem Hemd, wozu im Winter 
ein grfiner Hut, Strfimpfe, ein Stock und Nagelschuhe kommen. 

Hohe Selbsteinschatznng, grosse Empfindlichkeit. Gegen Bediente fast 
stets hochfahrend. Politisch ultra-radikal. Gegen Behorden sehr erbitten. 
Alles, was ihm nioht passt, belegt er mit den grobsten Ausdrficken. 

Nimmt Luft-, Wasser- und Sonnenbader, wo es ihm gefallt. Stossen sich 
Passanten an seinem unbekleideten Zustand, dann schimpft er in grober Weise. 
Vor 1 1 / 2 Jahren lief er einem Gendarm der in deswegen aufgesohrieben hatte, 
dnrch das ganze Dorf nach, ihm das blanks Gesass hinhaltend. 

Abspringend im Denken. Wechselnd im Urteil. 

Koine Stereotypien, koine Katalepsie, keine Zerfahrenbeit im Denken. 
Grimassen und Manieren fehlen. 

Hypochondrisch veranlagt. Die besondere Kleidung tragt er aus gesund- 
heitliohen Grfinden, hat in yerschiedenen Gegenden Sfiddeutschlands Block- 
hiitten, in denen er wohnt, wenn er dorthin kommt. Trainiert sioh systematisch. 
Lebt sehr massig. Meidet Alkohol und Frauen ganz. 

Dabei skrupulos. Denkt viel fiber religiose Fragen nach. Steht mit 
mehreren Geistlichen in Korrespondenz, denen er seine Gewissensskrnpel aus- 
einandersetzt. Geht sehr oft beichten. In pekuniarer Beziehung sehr sparsam. 

Die Matter ignoriert er seit Jahren, weil sie ihm einige Male den Willen 
nicht getan hat. Die Berater der Mutter erklart er ffir „finstere Genossen a , 
weil sie ihm nicht bedingungslos zustimmen. 

Es ist interessant, den P. mit seinem Bruder C. zu vergleichen. 

' W ah rend letzterer sein Lebenlang ausgesprochen hyperthym war, finden 
wir in der ersten Jugend bei P. nichts Besonderes. Mit 14 Jahren setxt 
dann ein Zustand ein, gekennzeichnet durch zunehmende Selbstuber- 
schatzuog, Unruhe, Plfinemachen, Hang zu Aeusserlichkeiten und Ab- 
lenkbarkeit, der sich vorfibergehend zu einer richtigen Manie auswfichst. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ibrer Auslaufer. 847 

um dann einem Nebeneinander von manischen, depressiven and hypo- 
chondrischen Erscbeiaungen Platz zu machen, der sich als Dauerzustaad 
etabliert. 

Wir haben motorische Unruhe, die sich darcb ein fortw&hrendes 
Umberwandern mit h&ufigem Wechsel des Wohnsitzes zu erkennen gibt, 
hohe Selbstubersch&tzung, heitere Stimmung verbunden mit grosser Reiz- 
barkeit, Neigung zu masslosem Schimpfen, abspringendes Denken einer- 
seixs, Skrupulosit&t, licherliche Sparsamkeit, Menscbenscbeu andererseits. 
Dazu kommt noch die hypocbondrische Komponente seines Wesens, die 
den Patienten veranlasst, tats&chlich die verschiedensten Liegekuren zu 
machen und Luft-, Sonnen- und Wasserb&der zu nehmen, zu deren Aus- 
fubrung er meilenweit lauft. 

Es liegt also jetzt ein Nebeneinander von manisehen, depressiven 
und hypochondrischen Symptomen vor. 

Eine Schizophrenie kommt deshalb nicbt in Betracht, weil die Per- 
sdnlichkeit des P. im Sinne einer Dementia praecox nicht verandert ist, 
katatone Erscheinungen ganz fehlen, dcr Pat. ausserdem jede seiner Hand- 
lungen zu motivieren vermag, wenn auch in seiner etwas verschrobenen 
Weise. 

Im Sinne nnserer oben angegebenen Diagnose spricht auch die 
gleichartige Belastung und der Umstand, dass die Persdnlichkeit des 
Binders in vieler Beziehung derjenigen des P. gleicht. 

Es handelt sich also wirklich um eine Persdnlichkeit, deren wich- 
tigste Eigenschaften aus nebeneinander bestebenden manischen und de¬ 
pressiven Symptomen zusammengesetzt ist. 

Im Gegensatz zu dem Bruder C. bat P. im Laufe seines Lebens 
erbebliche Wandlungen durchgemacht. Er hat aber mit C. und dem 
Vater dauernd verschiedene Zuge, z. B. die Reizbarkeit und hohe Selbst- 
einschatzung gemeinsam. 

Von der Mutter haben P. und C. psychisch nichts Hervorstechendes. 
Dagegen gleicht die Statur und Gesichtsbildung beider der Mutter auf- 
fallend, wahrend eine bisher nicht erwahnte Tochter kdrperlich vorwie- 
gend dem Vater, psychisch der Mutter gleicht. — 

Erheblich wechselvoller und verwickelter, als in dem Falle P. ge- 
staltet sich das Charakterbild bei einem Zweige der nun zu besprechen- 
den Familie Ho. 

A. Ha., Prof, der Medizin an einer Universitat (1771—1832). Heitere, 
lebensfrohe Natur, beliebter Arzt. Den eigenen Angehorigen gegenuber strong 
bis zur Grausamkeit. Bei seinen Strafen ging er geradeza raffiniert vor. Eine 
Tochter, die spatere vereheliohte Ho., tat er naoh einem hauslichen Streit zu 
einem armen Schuster. 


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Dr. A. H. Hiibner, 


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Ha. war zweimal verheiratet. Aus der ersten Ehe stammtWilhelmine Ho. 
Ueber deren Deszendenz ist Folgendes bekannt: 

5 Kinder starben in fruher Jugend, daranter litt eins an Hydrozephalus. 
Der sechste Sohn starb als Soldat. Ueber die dbrigen Kinder gibt der nach- 
stebende Stammbaum Aaskunft. 

Wilhelmine Ho. 


7. Madchen. 8. Madchen. 9. Madchen. 10. Sohn. 11. Sohn. 

Nervos, Konnte im Leben Nervos, Nervos, Zirkular 

weinerlich, nicht fertig werd. empfmdlich, wehleidig. In der Anstalt 

iibelnehmerisch. Misstrauiscb. heiter. gestorben. 


a) Sohn (Gym.-Prof). b) Sohn. c) Sohn. 

Cyclothyme. Vagan t. Examensangst. 

Ethisch J&hzornig, nervos. 
| minderwertig. 


a) Sohn. ft) Tochter. y) Sohn. 

Zwangsvorstellung. Begabt, unliebens- Leicht schwachsinnig. 

Cycloth. wiirdig, nervos. Zwangsvorstellung. 

(Von dieser Grnppe habe iob a, a, y personlich antersuoht, von 11 die 
Krankenakten eingesehen.) 

Ueber Wilhelmine Ho. selbst wird berichtot, dass sie stets weinerlich ge- 
wesen ist, und in einen Depressionszustand, in dem sie „Basse tun wollte u , 
verfiel, als ihr jungster Sohn in die Irrenanstalt gebracht wurde. 

Die Deszendenten des A. Ha. aus zweiter Ehe boten folgendes 


1. Sohn. 2. Sohn. 

t an Herzschlag. Ueberbegabt. Erreicht 
Naheres unbekannt. trotzdem im Leben nichts. 


1. Sohn. 2. Sohn. 3. Sohn. 4. Sohn. 

Musikalisch, unstet. Viel gereist, nichts Nichts Naheres be- Wunderliche Ehe, 
Endet inAustralien. erreicht. f durch kannt. 

Selbstmord. 

5. Sohn. 6. Sohn. 7. Sohn. 8. Sohn. 

Nervos. Wunderlich. Nervos. + durch Naheres unbekannt 

Deserteur in Slid-. Selbstmord. 

amerika f. 

Wenn ich die Familie Ha. hier erw&hne, so geschieht es, weil der 
Zweig a, mit den Deszendenten a—y auch in dies Kapitel gehort. 

Der Vatek leidet seit Jahren an Zwangsvorstellungen und Depressionen. 
Von Zeit zu Zeit werden diese letzteren durch hypomanische Zustande unter- 
brochen. Als ich ihn zuletzt sah, war er hyperthym und hatte daneben 
Zwangsvorstellungen. 


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CJeber die.manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 849 

Der alteste Sohn (d) ist Student der Kunstgeschichte will Maler wer- 
den. 22 Jahre alt. 

Er zeigt deutlich gesteigertes Selbstgefiihl, posiert etwas, hat andere Men- 
schen, auch hoherstehenden gegeniiber etwas wohlwollend Herablassendes. 
Namentlich den Frauen fiihlt er sich sehr uberlegen. 

Er beschreibt selbst, dass er meist — aber nicht standig — einen grossen 
Ideenreiohtum besitze und dass in seinem Denken einGedanke den anderen jage. 
Er habe auch beobachtet, dass, wenn er zu einem Bilde raehrere Skizzen ent- 
werfe, die erste der zweiten, diese der dritten, die dritte der vierten in vieler 
Beziehung gleiche. Wenn man aber die erste und vierte nebeneinander halte, 
dann finde man wenig oder gar niohts Uebereinstimmendes. 

Neben diesen eindeutig manischen Zugen klagt er andererseits dariiber, 
dass er an allem zweifeln musse, was er beginne. Er musse jedeSaohe mehrere 
Male anfangen. 

Standig verspiire er eine so grosse Miidigkeit und musse so viel schlafen, 
dass er erst um 12 Uhr aufstehe. Das Entsetzliohste seien iiberhaupt die 
Morgen stunden. 

Gesellschaft sei ihm im allgemeinen entsetzlich. Manchmal habe er go- 
radezu einen Menschenhass. Wenn er sich mit einem Menschen angefreundet 
habe, dann verkehre er anfangs mit ihm ziemlich viel. Bald stellten sich aber 
negative Gefuhlstone ein, und dann sei es vorbei. 

Alle die bisher geschilderten Erscheinungen bestanden nebeneinander. 
Bald trate die eine, bald die andere mehr hervor. Daneben habe er Zeiten, 
in denen eine „Hausse in der Produktivitat tt bestande, umgekehrt beherrsche 
ihn manchmal das Gefuhl absoluter Sterilitat. Er konne dann uberhaupt 
nichts tun. 

Der jiingste Sohn hat spat sprechen gelernt und ist debil. Die Ver- 
erbuDg der Debilitat stammt (wie der Yater spontan berichtet) aus der Familie 
der Mutter. Korperlich bietet er einige Tics im Gesicht. 

Psychisch finden $ich neben der Debilitat Zwangsvorstellungen. Pat. 
muss alle Papierschnitzel, Zwirnsfaden usw., die er liegen sieht, aufheben. 

Wenn er telephonieren soil,, wird er so aufgeregt, dass er nicht ordent- 
lioh sprechen kann und auch nicht versteht, was der andere Teilnehmer sagt. 
Fur die Schule arbeitet er sehr fleissig, trotzdem kommt es vor, dass er gut 
vorbereitete Aufgaben am nachsten Tage nicht vortragen kann, weil er seine 
„Gedanken nicht zu ordnen u vermag. Er wird dann unsicher, dass er zittert 
und bebt. Auf experimentell-psychologischem Wege hat einer seiner Lehrer 
bei ihm auch eine erhohte Ablenkbarkeit festgestellt. 

Es gibt ferner Zeiten* wo er das Gefuhl hat, dass er nicht zurecht kom- 
men kann. 

Diesen Angaben, welche der Vater bestatigt, entspricht auch das scheue 
Wesen des Kranken. Er tritt unsicher auf und macht einen angstlichen und 
traurigen Eindruok. * 

Was zun&chst das rein Klinische angeht, so ist am interessantesten 
der Alteste Sohn des a, weil er ganz verwickelte Verhaltnisse darbietet. 


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Dr. A. H. Hubner, 

Wir haben neben- und durcheinander: Gesteigertes Selbstgefuhl, 
Neigung zum Posieren, Deberproduktion an Gedanken and Andeutungen 
von Ideenflacbt, Zweifelsucht, Erschwerung des Arbeitens, Mudigkeits- 
gefuhl, Menschenscheu, Zwangsvorstellungen. 

Diese Symptome treten in dem Cbarakterbilde des Patienten so 
verschiedenartig und wechselnd hervor, dass der Kranke sich dem Be- 
obachter alle Augenblicke anders prasentiert und v511ig unberechenbar 
in seinen Entschlussen ist, der Familie auch nicht geringe Schwierig- 
keiten bereitet. 

Es handelt sich also aucb hier urn ein Nebeneinanderbestehen von 
manischen und dysthymischen Symptomen, also um einen Mischzustand, 
der, wie wir weiter gesehen haben, periodenweise durch mehrwdchige 
Phasen rein depressiver oder hypertbymischer Art ersetzt werden kann, 
so dass wir als Charakteranlage bei demselben Individuum alle 
drei Gruppen von manisch-depressiven Komplexen linden, die man ge- 
wdhnlich unterscheidet. 

Bei diesen Fallen ist also das, was wir Charakter nennen, nichts 
Stabiles, Dauerndes, sondern es wechselt, z. T. sogar kaleidoskopartig 
und zwar nach Gesetzen, die wir nicht kennen, von denen wir nur eins 
wissen, namlich, dass aussere Erlebnis.se keinen Einfluss auf diesen 
Wechsel haben. 

Icb habe diese Mischformen unter Kunstlern, Schauspielern und 
Dichtern, sowohl den ernst zu nehmenden, wie denen, die sich un- 
berecbtigter Weise so nennen, Ofters gefunden. Es sind die typischen 
Bohemenaturen. — 

Bezuglich des anderen Sohnes ist nur eines an dieser Stelle zn 
sagen, namlich, dass die Debilitat aus Vererbung von einer Seitenlinie 
herruhren soil. Dass er im ubrigen sichere manisch-depressive Symptome 
hat, bedarf angesichts des subjektiven Insuffizienzgefuhles, der zeit- 
weiligen Ablenkbarkeit, der Aengstlichkeit, der dfteren Erschwerung 
seiner Denktatigkeit und der Zwangsvorstellungen keiner weiteren 
Begrundung. 

Wir wissen von der anderen Linie zwar nicht viel positive Tat-' 
sachen und doch ist das, was wir ermitteln konnten, wenn wir die 
ganze Familie betrachten, nichts weniger als belanglos. 

Von 8 Geschwister enden 2 durch Selbstmord, swei weitere sind 
durch die Unstetheit ihrer Lebensfuhrung, die sie bis in uberseeische 
Lander fuhrte, aufgefallen. Auch der Dmstand, dass trotz guter Be- 
gabung die meisten Mitglieder dieses Zweiges im Leben nichts erreicht 
haben, ist erwahnenswert. Die sechs Kinder jenes Zweiges, von denen 
wir uberhaupt Nachrichten haben, bieten demnach irgendwelche Be- 


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-€ORrNEtL UMIVER^-- 



Ueber die manisch-depressive Anlage und eitfige ihrer Auslaufer. 851 

sonderheiten, von denen die Selbstmordneigung und das unruhige Herum- 
ziehen besonders wichtig sind. 

3. F&lle mit mehr depressiven als manischen Erscheinungen. 

Schon in der Familie Ho. waren depressive Beimischungen deutlicher 
als in dem Falle P. Es gibt nun ganze Familien, in denen die dysthymen 
Erscheinungen dominieren. Von ihnen soil in diesem Abschnitt die 
Rede sein. 

Familie Ko. 

Vater Ko. Typus des Kleinmiitigen. Mutter o. B. 


1. Tocbter. 
Stottert, depressiv, 
unsicher, hypochon- 
drisch. 


2. Tochter. 
Hat drei schwere 
Attacken halluzi- 
natorischer Ver- 
wirrtbeit gehabt. 
Aeussere Anlasse 
fehlten. 


3. Tochter. 
Mischzustand mit 
Skrupeln u. hypo- 
chondrischen Er¬ 
scheinungen. 


4. Tochter. 
Depressiv, stottert. 
Anfallsweise auftre- 
tende psychasthe- 
nische Komplexe. 


5. Sohn. 6. Tochter. 7. u. 8. 

Hyperthym. Hyperthym. Leicht hyperthym. 

In dieser Familie ist zun&ckst bemerkenswert, dass die jungsten 
Mitglieder alle eine heitere Stimmungslage aufweisen. Bei den beiden 
jungsten (jetzt 10 und 12 Jahre alt) kann man diese Affektlage noch 
nicht deutlich als zu unserer Veranlagung gehOrig erkennen. 

Bei der unter 6 verzeichneten Tochter habe ich die charakteristische 


Weiterentwickelung selbst beobachten konnen. Ich habe sie noch als heiteres 
Kind gesehen, das niohts waiter, als eine harmlose Frohlichkeit bot. Mit etwa 
15 Jahren begann, rasch fortschreitend, die korperliche Entwickelung, ins- 
besondere das Einsetzen der ersten Menses, die Entwicklung der sekundaren 
Geschleohtsmerkmale (Becken, Mammae). Gleichzeitig zunehmende Lebhaftig- 
keit Pat, war zu Hause nicht zu halten, lief viel umher, besuchte Freundinnen, 
putzte sich, war zur Hausarbeit nicht zu bewegen, log, intriguierte unter den 
Geschwistern, verleumdete die Familie, gab unnotig Geld aus. Dabei allerlei 
korperliche Beschwerden. 

Ein ausserer Anlass fur diese Aenderung der Persdnlichkeit war nicht 
zu ermitteln. 

Etwa 2 Jahre spater zunehmende Unsicherheit. Skrupulos, angstlich, 
allerlei korperliche Beschwerden wie Hautjuoken, Schwitzen, Kopfdruck. In 
diesem Zustando befindet sie sich jetzt seit 4 Jahren. 

Die unter 4 erwahnte Tochter ist, solange ich sie kenne, depressiv, 
im Arbeiten nicht behindert, mitunter aber skrupulds. Sie hat vor dem Kriege 
eine Zeit von etwa 8 Monaten durchgemacht, in der sie traurig angstlich war, 
an Gewicht stark abnahm, schlecht schlief, sich zum Essen nicht zwingen 
konnte; dasselbe widerstand ihr geradezu. Dazu schwitzte sie auffallend viel 
und klagte fiber Hautjuoken, ohne einen Ausschlag zu haben, Nach Abklingen 
dieser Phase nahm sie an Korpergewicht wesentlich zu, das Becken wurde 


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Dr. A. H. Hiibner, 

breiter, es trat eine gewisse Adipositas ein. Seit dieser Zeit ist sie meiner 
Meinung riach auch etwas beweglicher. Das zeigt sich besonders daran, dass 
sie in der letzten Stellung nicht mehr so viel innere und aussere Sohwierig- 
keiten zu uberwinden hatte, wie in den friiheren. 

Nr. 3 ist der interessanteste Fall der ganzen Familie. 

Korperlich hat sie Zeichen von Rachitis. Im Alter von 18 Jahren bekam 
sie nach einem Schreck einen Anfall, der sich spater noch in Abstanden von 
2 Jahren wiederholte. Daneben gelegentlich Schwindel- und Globusgefuhl. 
Viel Wachtraumereien z. T. erotischen Inhalts. Seit dem 17. Lebensjahr hat 
sie Hautjucken, das durch keines der bisher angewandten Mittel zu bekampfen 
war, in seiner Starke im iibrigen erheblich wechselte. 

Psychisch war die Pat. immer ein Sorgenkind. Sie lernte schwer. war 
ungewohnlicb unselbstandig. Im Haushalt war sie — was bei der schlechten 
wirtschaftlichen Lage der Eltern doppelt ins Gewicht fiel — eine mindere 
Arbeitskraft, musste meist beaufsichtigt werden. Selbstandig konnte man ihr 
nicht viel uberlassen, einmal deshalb nicht, weil sie sehr umstandlich war, 
bei jeder kleinen Verrichtung zehnmal und mehr fragte und sich Anweisungen 
geben liess, ehe sie sie ausfuhrte, zum anderen aber deshalb, weil sie plotzlich 
umschlug, nichts tat,ruhelos umherlief,Freundinnen besuchte, erotische Bucher 
las, fur nichts dauernd zu interessieren war, einmal in einer kurzen Phase 
dieser Art auch eine — platonische — Liebsohaft mit einem notorisch Geistes- 
kranken begann. Auch in diesen Zustanden der Erregung war sie skrupulos. 

1914 Depression mit Selbstmordversuch. Sei doch zu nichts nutze. Die 
Familie habe nur Nachteile durch sie, konne sie auch gar nicht gut leiden. 
Gehemmt. 

Nach 3 Monaten Mischzustand. Einige Tage heiter, unruhig, kummert 
sich urn alles, beobachtet alles. Intriguiert und hetzt. Dann Umsohlagen in 
Depression mit Hemmung. Viel Skrupeln. Fragt beim Anziehen, wie sie es 
machen soli, kommt dem Arzt und dem Pflegepersonal zwanzigmal binterein- 
ander mit denselben Fragen. Appetit- und Schlaflosigkeit, Schmerzen im Leib. 

Diese Phasen losen sich gegenseitig in 2—8tagigen Abstanden ab. Da- 
zwischen kurz dauernde Zeiten, wo sie motorisch unruhig, aber deprimiert war 
und sich Selbstvorwiirfe machto oder mit einer geradezu zwangsmassigen Un- 
ruhe alles, was ihr begegnete, immer wieder besprach und das gesamte Per¬ 
sonal mit den lacherliohsten Fragen qualte. Dabei bestand ausgesprochene 
Neigung zu hypochondrischen Befurchtungen. 

Ihre Verwendbarkeit war infolgedessen nur eine relativ geringe. Sie ist 
einige Male als Warteriq kleiner Kinder bescbaftigt worden, musste die Stellen 
aber aufgeben, wenn langer dauernde Dysthymien einsetzten. 

Auch hier haben wir wieder eine Familie mit manisch-depressiver 
Anlage, die sich in den verschiedensten Formen zeigt. 

Dasjenige Familienglied, welches ich am besten und l&ngsten be- 
obachten konnte, zeigt nun diejenigen Erscheinungen, dio wir gerade 
in diesem Abschnitt besonders besprechen wollen. 


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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaufer. 853 

Die Grundstimmung ist eine depressive. Neben ihr besteben raeist 
Skrapeln, innere Unsicherheit, Umstandlichkeit und Langsamkeit bei 
der Ausfuhrung eiafacbster Verrichtungen. 

Daneben finden wir Zeiten, wo manische und depressive Zust&nde 
alternieren und zwar in ganz kurzen, nur Tage wabrenden Abst&uden 
und scbliesslicb haben wir ein Nebeneinandervorkommen von depressiven 
Symptomen und motorischer LJnruhe, verbunden mit Rededrang. 

Auf die neben und unabhangig von diesen manisch-depressiven 
Symptomen bestebenden bysterischen Erscbeinungen sei bier nebenbei 
bingewiesen. Ich betrachte sie als zufallige Beimiscbungen, die auf 
ein afFektbetontes Gescbebnis im 18. Lebensjahr zuruckzufQbren sind. 

Die hypocbondriscben Elagen sind dagegen mit den eben erwahnteu 
psychogenen Erscbeinungen nicbt zu identifizieren, gehOren vielmehr in 
diesem Falle, ebenso wie bei der 4. Tochter, zum manisch-depressiven 
Symptomenkomplex. 

Bei der eben genannten 4. Tocbter stellen die hypocbondrisch- 
asthenischen Beschwerden, die mit eigenlumlicben korperlichen Sym¬ 
ptomen vergesellscbaftet waren (z. B. die periodische abnorme Schweiss- 
sekretion), geradezu somatische Aequivalente der Melancholic dar, die 
in ibrer Bedeutung einer dys- oder hyperthymen Phase gleicbzusetzen 
sind. Dubois u. a. haben abnliche Beobachtungen bescbrieben. 

Was nun die Erblichkeitsfrage anlangt, so zeigt die Familie Ko., 
dass fast alle vorkommenden Schattierungen des Maniscb-Depressiven 
bei ihr vertreten sind. Besonders hinweisen muss ich dabei auf die 
zweite Tochter, die nach den Krankengeschicbten (selbst babe ich sie 
nicbt untersucht) drei Phascn „halluzinatorischer Verwirrtheit" durch- 
gemacht hat, bei denen exogene Schadlichkeiten nicbt in Betracht kamen. 

Nicht weniger interessant ist die Feststellung, dass je alter die 
einzelnen Mitglieder der Familie wurden, desto mehr sicb die Charakter- 
veranlagung dem Depressiven zuwandte. 

Das Vorkoramen bypocbondrisch-asthenischer Symptomenkomplexe, 
die Skrupeln, die Art der kOrperlicben Entwickelung, alles das deutet 
darauf hin, dass bier auch wieder nicht nur die Krankheitsform iro 
allgemeinen, sondern eiuzelne besondere Symptome oder Symptomen- 
gruppen sich fortgeerbt haben. 

Die mehr somatischen Erscbeinungen, denen wir nicht allein bei 
der Familie Ko. begegnet sind, sondern auch sonst im Verlaufe unserer 
Betrachtungen, legen uns immer wieder den Gedanken nahe, nach den 
Ursachen, die sie hervorrufen, zu suchen. Ich mocbte mich hier damit 
begnugen, darauf hinzuweisen, dass wir bei den Erkrankungen gewisser 
Druseu abnliche Erscheiuungen beobacbten (die abnorme Schweiss- 


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Dr. A. H. Hiibner, 

sekretion z. B. bei Erkrankungen der Schilddriise). Es wird notwendig 
sein, diesen kSrperlichen Abweichungen in Zukunft mehr Aufmerksam- 
keit zn schenken und ihre Beziehnngen zur inneren Sekretion zu prufen. 
Vielleicbt gelingt es auf diesem Wege, dem maniscE depressiven Irresein 
eine Ahnliche pr&zise Umgrenzung zu geben, wie wir sie fur die Para¬ 
lyse durch die pathologische Anatomie und die Atiologischen Unter- 
suchungen gefunden baben. 


4. Die Paranoiden. 

In dem Eapitel manische Anlage babe icb einen manischen Queru- 
lanten gescbildert. Bei Besprechang seiner Vorgeschichte ist bereits 
erwAhnt, dass zwei seiner Bruder gleichfalls zirkul&r seien und Neigung 
zu zeitweiliger paranoider Verarbeitung ihrer Erlebnisse zeigten. Da 
diese beiden Fille Mischzustande darstellen, mochte icb sie an dieser 
Stelle beschreiben. 

Z. Y., Geistlicher, 29Jahre (1 */ 2 Jahr beobachtet). War angeblich bis 
zum Jahre 1905 gesnnd. Damals begann eine Veranderung mit ihm. Es setzte 
ein Druck im Kopf ein, er mnsste riel griibeln, wurde reizbar und fublte sicb 
nicbt verstanden. „Deshalb“ wochen- und monatelang verstimmt. Er ging 
dann zu seinen Vorgesetzten, qualte dieselbon mit alien moglichen Fragen: 
Ob er bei seiner sobwacben Konstitution uberhaupt in der Lage sei, bestimmte 
Wissenscbaften zu betreiben, ob er fiber dies oder jenes religiose Problem 
riobtig denke, ob er sich bei seiner seelsorgeriscben Tatigkeit richtig verhalten 
babe und abnliohes. Mit solcben Fragen suobte er die Oberen dann haufig 
auf, gab sicb mit einer Antwort nioht zufrieden, sondera fing von derselben 
Sacbe obne Rucksicbt auf Zeit und Ort immer-.wieder an. 

Seine Leistungsfahigkeit nabm ab, er hatte subjektiv das Gefuhl grosser 
Sterilitat, musste viel ruhen, schlief schlecht und machte siob wegen seiner 
Gesundbeit viel Sorgen. Heine Selbstvorwiirfe. Dagegen Gefuhl der Abnabme 
des Gedachtnisses, Appetitlosigkeit, innere Leere, Verlangsamung des Denkens, 
Entsohlusslosigkeit. \ 

Zu Zeiten anderte sich das Verhalten des Pat. nun. Er wurde dann, 

, wie er es selbst ausdruckte, „wie sein Bruder“, d. h. er fuhlte sich von seiner 
Umgebung „nioht verstanden", wurde misstrauiscb, glaubte, die Bruder und 
Vorgesetzten spotteten uber ibn. Er beobachtete seine Umgebung scbarf, zog 
aus bestimmten Vorkommnissen den Schluss, dass uber ibn gesprocben wurde, 
dass man ibn fur krank hielt und ihm Scbwierigkeiten in den Weg legen 
wollte, wurde unruhig. Er ging dann zu seinen Vorgesetzten, verlangte, dass 
Abhilfe geschaffen wurde, beschwerte sich uber bestimmte Personen und brachte 
so Unfrieden in das Haus. 

Nach einigen Wochen bekam er Krankheitseinsicht. Immer wieder stellte 
sich aber der alte Zustand ein, obne dass ein ausserer Anlass vorhanden 
gewesen ware. 


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Ueber die manisoh-depressive Anlage and einige ihrer Ausl&ufer. 855 

In dem Falle Z. sehen wir zwei Zustandsbilder auf endogener 
Grundlage iromer wiederkehren: 

1. Depressionen mit Hemmnng, Entschlusslosigkeit, objektiver und 
sabjektiver Insuffizienz, schleclitem Sch’laf, Appetitlosigkeit. 

2. Vermehrte innere Unrube, Misstrauen, Neigang, die Vorg&nge 
der Umgebang im Si one seines Misstraaens umzudeuten, Neigung zum 
Qaerulieren und zu aggressivem Vorgehen gegen seinen vermeintlichen 
Widersacber. 

In beiden Zustinden wnrde der Patient von seiner Umgebung nicht 
direkt fur geisteskrank gebalten, man nabm vielmehr an, dass es sicb 
am Schwankungen des Charakters handelte. Diese Ansicht ist auch 
zutreffend. 

Fflr unsere Zwecke ergibt sich nun, dass die nnter 1 genannten 
Erscheinungen den depressiven Zustanden gleicben, wahrend die unter 
2 erwahnten mit der Hypertbymie das Vorhandensein einer, wenn auch, 
nicbt sehr ausgepragten, motorischen Unrube, vielleicht auch eine ge- 
wisse Reizbarkeit, vor allem die Neigung zu periodischem Auftreten ge- 
meinsam haben. 

In der zweiten Gruppe nun linden wir neben dem bisher erwahnten 
maniscben Eomplex paranoide Symptome, d. h. der Patient beobachtet 
seine Umgebung misstrauisch, entdeckt allerlei in ibr, was er auf sich 
bezieht, ffihlt sich geradezu verfolgt and zieht aus diesen Vorstellungen 
die Eonsequenz der Abwehr. 

Derartige Falle sind als periodische Paranoia wiederholt beschrieben 
worden. Ich erinnere aus den letzteu Jahren an die Arbeiten von 
Eleist, Thomsen, Birnbaum, P. Schroeder. 

Ihre ZugehOrigkeit zum manisch depressiren Irresein ist von ver- 
sehiedenen Autoren bereits anerkannt. Auch in unserem Falle treten 
die engen Beziehungen zum manisch-depressiven Irresein in Gestalt der 
gleichartigen Belastung einerseits, der endogenen Schwankungen sowie 
des Auftretens manischer und depressiver Phasen andererseits deutlich 
hervor. 

Interessant ist nun vom Standpunkt der Vererbungslehre aus, dass 
ein dritter Bruder bis fast in die kleinsten Einzelheiten hinein die 
gleiche Erankbeitsgeschicbte hat, wie die eben beschriebene. 

Es bestehen also bei drei Brudern die gleicben paranoiden Eomplexe, 
anscheinend vererbt vom Vater aus, und machen sich bei zweien peri- 
odisch, beim dritten dauernd bemerkbar. 

Leider ist unser Stammbaum nicht weiter zuruckzuverfolgen. Es 
ware sehr interessant festzustellen, wie diese paranoische Beigabe in 
die Familie hineingekommen ist, ob sie von jeher mit den manisch- 


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Dr. A. H. Hfibner, 

depressiven Symptomen eng verbunden war, oder diese nur begleitet, 
ohne atiologisch mit ihnen zusammenzugehoren. 

Nach dieser Kichtung bin verdienten alle solche F&lle genauer 
durchforscht zu werden. Es bedarf dazu aber eines umfangreichen 
Materials an Stammb&umen, das uns heute noch ganz feblt, dabei auch 
nur sehr schwer zu beschaffen ist. 

Schluss. 

Oer Zweck dieses ersten Teiles meiner Ausfiihrungen war einmal 
der, zu zeigen, vdass das, was wir manisch-depressive Anlage nennen, 
sehr vielgestaltig ist und dass infolgedessen die Menschen, welche diese 
Aulage besitzen, sehr verschieden aussehen. — 

In zweiter Linie wollte ich auf die Notwendigkeit einer ausgiebigeren 
Familienforscbung hinweisen. 

Scbon das wenige Material, welches in dieser Arbeit gebracht 
worden ist, legt den Gedanken nabe, dass beim manisch-depressiven 
Irresein nicht nur die Anlage zur Krankheit im allgemeinen vererbt 
wird, sondern dass man bei einem Teil der Deszendenten auch spezielle 
Einzelheiten findet, die dem klinischen Bilde des Aszendenten sein be- 
sonderes Geprage verliehen batten. 

Ich habe Stammbfiume ermittelt, in denen bei einzelnen Generationen 
die Art der Vererbung sehr an das Mendei’sche Gesetz erinnerte. Leider 
war das nur in einzelnen. Generationen der Fall und mir fehlten zu- 
verl&ssige Mitteilungen fiber die Voreltern, die das abweichende Ver- 
balten der fibrigen Familienmitglieder bezuglich der Vererbung hitten 
erklfiren kounen, so dass diese Stammb&ume, die grossenteils auf jahre- 
langer Beobachtung oder auf guten Anstaltskrankengeschichten beruhen, 
noch viele Fragen ungelost lassen, weil sie nicht weit genug in die 
Vergangenheit zurfickreichen. 

Diese Tatsache sollte die Familienforschung gerade in solchen 
Aerztefamilien, in denen die manisch depressive Anlage heimisch ist, 
anregen. Es sollten vor alien Dingen aber auch die Chroniken und 
Familienpapiere alter Geschlechter nach dieser Richtung hin genauer 
durchforscht werden. Ich glaube, dass dabei manches Wertvolle heraus- 
kommen wfirde. — 

So hat denn mein Versuch einer Schilderung der hhufiger vor- 
kommenden Typen in erster Linie gezeigt, wie wenig wir von alien 
diesen Problemen wissen, und wie fiberall nur neue Zweifel und Fragen 
auftanchen, zu deren Lfisung es uns an Material fehlt. 

Ein positives Ergebnis haben diese Untersuchungen aber doch 
wo hi gehabt, n&mlich das, dass alle die hier geschilderten Anlage- 


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Ueber die manisoh-depressire Anlage and einige ihrer Auslaafer. 857 

varialionen and die aasgesprochenen Phasea des manisch-depressiven 
Irreseins htiologisch durcbaus zusammen gehoren. Jeder Yersuch einer 
Trennung moss gerade bei Kenntnis der engen Beziehungen zwischen 
Anlage and ausgesprocbener Psychose, namentlich bei Berucksichtigung 
der zahlreichen Ueberg&nge als kunstlich, als eine Vergewaltigung der 
klinischen Tatsachen angeseben werden. 

Notwendig ist dabei nur, dass wir das M anisch-Depressive nicht 
als eine Stimmungsanomalie allein ansehen, sondern als einen Komplex 
von Krankbeitszeichen, in dem die Stfirungen des Denkens and Handelns 
eine ebenso grosse Rolle spielen als die Yerstimmung. 


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XXIX. 

Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Konigs- 
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer). 

Ueber die Abnahme des Alkoholismus an der 
psychiatrischen und Nervenklinik zu Kbnigs- 
berg i. Pr. wdhrend des Krieges. 

Von 

Curt Fiirst, 

approb. Arzt. 


Im Jahre 1917 berichtet Bonhoeffer in den Monatsheften fur 
Psychiatric und Neurologic Bd. 51, Heft 6 fiber die Abnahme von 
Zug&ngen an alkoholischen Erkrankungen an der Charity wfihrend 
des Krieges. Am Schlusse seiner Arbeit erklfirt er es fflr wunschens- 
wert, wenn auch von anderer Seite fiber diesen Gegenstand Erfahrungen 
bekannt gegeben wfirden. Im Folgenden soil fiber die Beobachtungen 
an der Kdnigsberger Klinik berichtet werden. 

Tabelle I gibt eine Uebersicht fiber die Alkoholerkrankungen 
der Jahre 1904—1917. Um eine genaue Statistik fiber das Steigen 
bezw. Fallen des Alkoholismus wfihrend des Krieges zu erreichen, habe 
ich von vomberein mit dem 1. August 1904 begonnen, so dass das 
erste Jahr vom 1. August 1904 bis 1. August 1905 lauft. Die ersten 
elf Spalten geben die Zahl der fiberhaupt wegen Alkoholerkrankungen 
Aofgenommenen nebst den Unterklassen an, getrennt fur Manner und 
Frauen. Die Spalte 12 gibt die Gesamtaufnahmen fiberhaupt an, die 
Spalte 13 den Prozentsatz der Alkoholisten im Vergleich zu den Gesamt¬ 
aufnahmen; Spalte 14 gibt den Prozentsatz der Deliranten und Spalte 15 
den der pathologischen Rauschzustande und Alkoholreaktionen innerhalb 
der Alkoholistenaufnahmen an; alles getrennt fur M&nner und Frauen. 
Es sind in der Statistik s&mtliche Krankheiten enthalten, bei denen 
sich in den Krankengeschichten der Vermerk „Alkohol“ fand, ganz ab- 
gesehen davon, ob die Hauptkrankbeit Epilepsie, Paralyse, ImbezillitSt usw. 
war. Voraussetzung war, dass ausgesprochene alkoholistische Stfirungen 
▼orlagen. 

In der Statistik macht sich sowohl bei Mfinnern als auch bei Frauen 
bereits vor dem Kriege ein deutlicbes Sinken bemerkbar und ganz be- 
aonders offensichtlich im Zusammenhange mit der erbfihten Alkohol- 
besteuerang im Jahre 1910. Wfthrend noch im Jahre 1909/10 der 


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862 


Curt Furst, 


T»- 


Jabr 

Delirium 

tremens 

Alkohol. 1 

Halluzinose 

d 

o 

i~> 

o 

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o 

o 

< 

Alkohol. 

Paranoia 

Patholog. 

Rausch 

Dipsomanie 

Korsakow 

Delirium 

Korsakow 


1. 8—1. 8. 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

1904—1905 

9 

3 

1 

_ 

27 

8 

5 

_ 

1 

_ 

_ 

_ 

2 

_ 

2 

_ 


1905—1906 

17 

— 

2 

— 

35 

4 

7 

2 

1 

— 

1 

— 

2 

— 

— 

— 


1906—1907* 

23 

— 

— 

— 

45 

10 

4 

— 

3 

— 

— 

— 

2 

— 

— 

— 


1907—1908 j- 

4 

3 

1 

— 

63 

23 

5 

4 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


1908-1909 * 

ii 

1 

_ 

— 

59 

16 

5 

— 

— 

— 

— 

— 

2 

— 

— 

— 


1909—1910 

4 

— 

— 

— 

75 

13 

3 

2 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

-• 

— 


1910—1911 v? 

3 

— 

— 

— 

51 

2 

2 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

i 

— 

— 


1911—1912 ■ ■ 

6 

1 

2 

1 

51 

6 

3 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


1912—1913 : 

8 

2 

3 

— 

53 

5 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


1913—1914 

13 

— 

1 1 

— 

70 

10 

2 

1 

6 

— 

— 

— 

3 

1 

1 

— 


1914-1915 

18 

— 

2 

1 

115 

— 

16 

— 

22 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

— 


1915—1916 

10 

1 

6 

— 

77 

— 

3 

— 

22 


— 

i - 

— 

1 

— 

— 


1916—1917 

4 

— 

7 | 

— 

32 

— 

1 

— 

11 

— 

— 


— 

— 

— 

— 



Prozentsatz der Alkoholistenaufnahmen bei den Mannern 26,42 pCt. und 
bei den Frauen 5,79 pCt. betrug, stellte er sich im Jalire 1910/11 nur 
auf 16,15 pCt. bei den Mannern. bei den Frauen nur auf 1,28 pCt. 
Das bedeutet ein Sinken bei den Mannern um 38,78 pCt., bei den Frauen 
uni 77,89 pCt. In dem darauffolgenden Jabre macht sich zwar wieder 
ein kleiner Anstieg bemerkbar, um mit den nachsten Jahren einem 
stetigen Sinken Platz zu machen. 

Das starkere Steigen der Gesamtaufnahmenziffer im Jahre 1913 
erklart sich daher, dass in diesem Jahre die neue Rliuik mit den 
erheblich vermehrten Raumen eroffnet wurde, wahrend sie bis dahin in 
den Raumen des alten stadtischen Krankenbauses untergebracht war. 

Die relativ viel hohere Aufnahmeziffer der Alkobolkrankheiten mit 
Ausbruch des Krieges findet ihre Erklarung darin, dass ganz Ostpreussen 
durch den Russeneinfall gefahrdet war und s&mtliche Ersatzbataillone 
des I. Armeekorps in Konigsberg und Omgegend untergebracht waren. 
Ebenso kamen die Psychosen aus den Armeekorps, welche in Ostpreussen 
kiimpften, grosstenteils in der hiesigen Elinik zur Aufnahme. Erst im 
Jahre 1916 wurden die Ersatztruppenteile an ihre alten Standorte 
zuruckverlegt. Trotzdem betragt die Zahl der in der Garnisou Konigs¬ 
berg befindlichen Heeresangehorigen immer noch das drei- bis vierfache 
der Friedenszeit; in der Hauptsache ja gerade derjenigen Altersklassen, 
die vorzugsweise dem Alkoholismus verfallen. Trotzdem nun die Gesamt- 
aufnahme sich von dem Jahre 1914/15 bis 1916/17 an um 1400 bewegt, 


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CORNELL UNIVERSITY 





Ueber die Abnahme des Alkoholismus usw. 


863 


belle I. 



Alkohol. 

Epilepsie 

Alkohol. 

Paralyse 

Zu- 

saramen 

Gesamt- 

auf- 

nahmen 

Prozentsatz 
der Alko- 
holisten 

Prozentsatz 
derDeliranten 
innerhalb der 
Alkoholisten- 
aufnahmen 

Prozentsatz 
der patholog. 
Rauschzust. 
innerhalb der 
Alkoholisten- 
aufnahmen 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

M. 

F. 


1 

_ 

2 

_ 

50 

11 

230 

198 

21,74 

5,56 

18,0 

27,27 

2,60 

_ 


, 1 

— 

1 

— 

67 

6 

247 

210 

27,13 

4,29 

25,39 

— 

1,49 

— 


4 

— 

1 

1 

82 

11 

267 

198 

30,71 

5,56 

28,05 

— 

3,70 

— 


5 

— 

1 

— 

79 

30 

271 

230 

29,15 

13,04 

5,19 

10,0 

— 

— 


5 

— 

— 

— 

82 

17 

293 

229 

27,99 

7,42 

13,41 

5,88 

— 

— 


1 

— 

— 

— 

84 

15 

318 

259 

26,42 

5,79 

4,76 

— 

— 

— 


— 

— 

— 

— 

97 

3 

353 

234 

16,15 

1,28 

5,26 

— 

— 

— 


4 

1 

— 

— 

66 

9 

365 

242 

18,08 

3,72 

9,09 

11,11 

— 

— 


1 

— 

— 

1 

66 

8 

400 

302 

16,50 

2,65 

12,12 

25,0 

— 

— 


5 

— 

— 

— 

101 

11 

603 

487 

16,75 

2,26 

13,86 

— 

5,94 

— 


6 

— 

— 

— 

180 

2 

1425 

213 

12,03 

0,94 

10,0 

— 

12,22 

— 


2 

— 

— 

— 

120 

1 

1525 

309 

7,87 

0,32 

8,33 

— 

18,33 

— 


— 

— 

— 

— 

55 

— 

1386 

— 

3,97 

— 

7,27 

— 

20,0 

— 


so ist die Ziffer der Alkoholkrankheiten doch von 180 auf 55 gesunken, 
von 12,03 pCt. auf 3,97 pCt., d. h. um 75,31 pCt; gegen das letzte 
Friedensjahr sogar von 16,75 pCt. auf 3,97 pCt., d. k. um 76,38 pCt. 
Mit Ausbruck des Krieges wurde die Klinik in der Hauptsacke der 
Militarverwaltung zur Verfiigung gestellt und Zivil nur in seitenen Fallen 
aufgenommen. 

Tabelle II gibt nun eine Uebersicht fiber die Alkoholerkrankungen 
wahrend der Kriegsjahre, getrennt nach Militar- und Zivilaufnahmen. 
Auch hier macbt sich unter den Militarpersonen deutlick eiu Sinken 
der Alkoholerkrankungen bemerkbar, schon im zweiten Kriegsjahre von 
11,89 pCt. auf 7,70 pCt., im dritten sogar auf 3,38 pCt., d. h. um 
71,57 pCt. gegen die Zififer der Alkoholerkrankungen des ersten Kriegs- 
jahres. Die relativ kohen Aufnakmeziffern erklfiren sich daraus, dass 
fast alle forensischen Falle der Ersatzbataillone von Konigsberg und 
Umgebung der Klinik zur Begutacktung fiberwiesen wurden. Aus diesem 
Grunde stellt sick auch die Zakl der pathologischen Rauschzustande so 
hoch. Auf die einzelnen Erkrankungen gehe ick spater naker ein. 

Das relative Steigen der Alkoholerkrankungen unter den Zivilisten 
erklfirt ja hinreichend das Steigen der Gesamtaufnahmeziffer um daa 
Doppelte; trotzdem macht sich absolut prozentual auch deutlich ein 
Sinken von 10,85 pCt. auf 6,46 pCt., d. h. um 40,5 pCt. bemerkbar. 

Bei dem Forschen nach den Grfinden, die zum Alkoholismus geffihrt 
haben, fand sich ffir 1913/14 als kochste Ziffer Vererbung mit nach- 


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864 


Curt Furst, 


T»- 


Jahr 

Delirium 

tremens 

Alkohol. 

Halluzinose 

Alcoh. chron. 

Alkohol. 

Paranoia 

Dipsomanie 

* 

o 

r* 

a 

2 

o 

Alkohol. 

Epilepsie 


Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 

1914—1915 

17 

1 

2 


104 

11 

14 

2 

1 




6 



1915—1916 

8 

2 

5 

1 

63 

14 

2 

1 

— 

— 

— 

— 

1 

1 


1916—1917 

1 

3 

7 

— 

19 

13 

— 

1 


— 

— 

— 

— 

— 



gewiesenen 30 Fallen = 29,71 pCt. In den meisten Fallen war der 
Vater Trinker gewesen, in zwei Fallen die Mutter, in einigen waren 
Vater oder Mutter oder beide Eltern nervenleidend, oline ausgesprochene 
Trunksucht; an zweiter Stelle steht Verfiikrung, d. h. die „Gemutlicbkeit 
der Gesellschaft 11 oder das schlechte Beispiel der Arbeitsgenossen. Hier 
betrug die Zakl der Falle 9 = 8,92 pCt. An dritter Stelle kommt 
Beruf: Gastwirt, Bierfahrer usw. mit 7 Fallen = 6,94 pCt., dann psycko- 
pathiscke Veranlagung mit ebenfalls 7 Fallen = 6,94 pCt., hausliche 
Sorgen mit 4 Fallen = 3,96 pCt. Dabei sind nicht die Falle mit- 
gerechnet, in denen der Alkoholismus Anlass zu hauslicken Sorgen 
gab. In den anderen Fallen lasst sicb eine Veranlagung oder aussere 
Einwirkung nicht nachweisen. 

Dnter den chronischen Alkoholisten fanden sich 18mal Eifersuchts- 
wahn, bei anderen Fallen meist voriibergehende Wahnideen: „man 
spracb iiber sie“, „wollte sie totschiessen“ usw. Nur in einem Falle 
fuhlte sich der Kranke durch Rbntgenstrahlen beeintrachtigt. In einem 
Falle bandelte es sich um einen Exhibitionisten. Von den pathologischen 
Rauschzustanden beruhten 5 auf chronischem Alkoholismus, nur einer 
hatte erst seit den letzten 14 Tagen in Gesellschaft getrunken. Sein 
Leumund war fruher gut. 

Dnter samtlichen Fallen war die Merkfahigkeit 17mal gestOrt 
= 16,83 pCt. und zwar moistens so, dass die Patienten nach zwei bis 
drei Fragen sich nicht erinnern konnten, eine Aufforderung, die Zahl 
zu merken, erhalten zu haben. 

1914/16 lasst sich Vererbung in 32 Fallen, d. h. in 17,78 pCt. 1 ) 
nachweisen; Verfuhrung durch schlechtes Beispiel in 9 Fallen = 6 pCt., 
Beruf in 5 Fallen = 2,87 pCt. Nachgewiesene psychopathische Ver- 

1) Ganz genau sind diese Zahlen nicht, da bei Militarpersonen die 
anamnestischen Angaben wenig sicher sind. 


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Ueber die Abnahme des Alkoholismus usw. 


865 


belle II. 



Patholog. 

Rausch 

Gesamt- 

aufnahmen 

Alkoholisten-t 

aufnahmen 

Prozentsatz 
der Alko- 
holisten 

Prozentsatz 
derDeliranten 
innerh&lb der 
Alkohoiisten- 
aufnahmen 

Prozentsatz 
der patholog. 
Rauschzust. 
innerhalb der 
Alkoholisten- 
aufnabmen 


Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 

Mil. 

Ziv. 


22 


1896 

129 

166 

14 

11,89 

10,85 

10,24 

7,14 

13,25 



22 

— 

1311 

214 

101 

19 

7,70 

8,87 

7,92 

10,53 

21,78 

— 


11 

— 

1123 

263 

38 

17 

3,38 

6,46 

2,63 

17,65 

28,95 

— 


anlagung fand sich in 18 Fallen = 18 pCt., von denen 3 auf Grand 
eines in der Jugend erlittenen schweren Dnfalles berubten. In 6 Fallen, 
3,33 pCt., wurden die • Anstrengnngen der Bahnfahrt und die des Feld- 
zuges als Grand zu der allerdings auf jahrelangem Alkoholismus be- 
rahenden akuten Erkrankung angegeben. Es handelte sich in der 
grdsseren Mehrzahl um strafbare Handlungen, die zur Aufnabme fuhrten. 
Entweder AufsHssigkeit gegen Vorgesetzte, Achtungsverletzung, plOtz- 
liches Entfernen von der Trappe, Zanksucht mit Korperverletzung von 
Kameraden, selbstandige militarische Massnahmen, die zur Gefahrdung 
der Gesamtheit fuhren konnten. In 4 Fallen scbossen die Kranken 
plGtzlich auf Russen, die sie zu seben glaubten, einmal auf Russen in 
preussischer Uniform. Ein Patient, der sicb tagelang betranken bei 
Bauersleuten herumgetrieben hatte, behauptete dauernd fest, er sei von 
KGnigsberg in einem Automobil bis tief nach Russland binein entfuhrt 
worden und sei dann von Moskau aus entflohen. Wegen seines eigen- 
artigen Gebarens wurde er als Spion in Ostpreussen verhaftet. In 
2 Fallen fublten sich die betreffeuden Patienten wegen Spionage verfolgt, 
sollen auch ein entsprecbendes Gebaren zur Schau getragen haben. 
Ein Patient behauptete, dass „die ja bekannten franzdsischen Ringe 
seine Mutter beeintrachtigten und sie schliesslich zu Tode hetzen 
wurden“, ein anderer glaubte am Tode einiger Schuld zu sein, weil er 
Wasser mit Cholerabazillen veigiftot habe. Es sind im ganzen 10 Falle 
unter 180, die deutlich durch die Kriogsvorgange beeinflusst sind. Ich 
komme auf diese spater noch zu sprecben. A He Kranken konnten sich 
angeblich nicht auf die Vorgange besinnen, die zu ihrer Verhaftung 
gefuhrt hatten. Bemerkenswert war ein Fall von Dipsomanie. Der 
Kranke suchte sich uberall nnd auf jede mSglicbe Art Alkohol zu ver- 
schaffen und zwar den schlechtesten, den er erbalten konnte, Fusel 
jeglicher Art, Betriebsstoff, Spiritus unter Verzicht auf Bier und Wein, 
was fhr ibn leicht erreichbar war. Ein anderer Kranker gab an, ao 


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866 


Cart Fiirst, 


\ 


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Trinkanf&llen zu leiden. Es g9.be Wochen and Monate, wo er alkoholfrei 
lebe, dann stelle sich aber ein unbezahmbarer Drang nach Alkohol ein, 
so dass er aus der Trunkenheit nicht mehr herauskame. Die Ver lei tang 
zum Trinken sieht er in dem Trinkzwang in studentischen Verbindungen. 

Nur ein Patient gab an, dass die Aufregungen des Feldzuges und 
die Sorgen, die der Erieg mit sich brachte, ibn dazu gebracht hAtten, 
sich starker dem Alkohol zu ergeben. 

Eifersuchtswahn fand sich in 6 Fallen. 

Unter den pathologischen Rauschzustanden bernhten 10 auf c-hro- 
nischem Alkoholismns, in den anderen 12 Fallen handelte es sich 
grOsstenteils urn Intoleranz bei nicht eigentlichen Trinkern, indem auch 
nach Zengenaussagen nur 2—3 Glas Bier, sogar nur der Rum, der in 
den Abendtee hineingetan wurde, zu einem Rauschzustand fuhrten. la 
3 Fallen von diesen 12 waren es durch Kopfschuss Verletzte, in 5 Leute, 
die in ihrer Jugend schwere Unfalle mit Schadelverletzungen erlitten 
batten und „seit der Zeit immer erregt waren und gar nichts mehr 
▼ertrugen 44 , deren Leumund durch Nachforschen aber als einwandsfrei 
festgestellt wurde. In den ubrigen Fallen waren es Rauschzustande 
nach einmaliger starkerer Unmassigkeit, wie sie in Friedenszeiten ja 
taglich vorkommen, ohne zur Aufnahme zu gelangen. Bei diesen 
handelte es sich eben um Vergeben, die sie sich in ihrem Rausch zu 
Schulden kommen liessen. 

Intoleranz bei chronischem Alkoholismus als Folge von in der 
Jugend erlittenen Unfallen fand sich bei 19 Kranken = 10,56 pCt., 
davon 11 Schadelverletzungen. Hausliche Sorgen gaben 2 mal = 1,11 pCt 
den Anstoss zum Alkoholismus. Die Merkfahigkeit war bei 12 Patienten 
scbwer gestSrt = 6,67 pCt. 

Im Jahre 1915/1916 lasst sich Vererbung in 25 Fallen, d. h. 
20,83 pCt. nachweisen, darunter waren nur 2, in denen bei den Eltern 
rein nervdse Leiden ohne Alkoholismus angegeben wurden, dagegen 4, 
in denen auch bereits die Bruder Trinker waren. Verfuhrung lasst sich 
in 6 Fallen nachweisen = 5 pCt., in denen 3 allein auf den Trink- 
zwang in studentischen Verbindungen zuruckgefuhrt werden; hausliche 
Sorgen und Todesfalle sind in 3 Fallen = 2,5 pCt. der Grand zum 
Alkoholismus, und 4 Kranke = 3,33 pCt. fubren ihre Erregtheit und 
die damit verbundenen Verfehlungen auf die Ueberanstrengungen des 
Feldzuges zuruck. Die letztgenannten Kranken trinken allerdings auch 
schon seit Jahren, nur scbien die Ueberanstrengung Erscheinungen her- 
▼orgerufen zu haben, die eine Aufnahme in der Klinik notwendig machten. 

Um Psychopathen handelte es sich in 20 Fallen = 16,67 pCt., 
▼on denen 8 in der Jugend schwere Unfalle, hauptsachlich Schadel- 


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Ueber die Abnahme des Alkoholismas usw. 


867 


verletzungen erlitten batten. Beruf als Grand zum Alkoholismas wards 
2mal = 1,67 pCt. angegeben. 6 Kranke ausserten Selbstmordideen 
and hatten versucht, sich die Pulsadern oder den Hals zu durchschneiden. 
Sie fdhlten sich verfolgt and „wollten lieber aaf diese Art sterben, als 
von den eigenen Kameraden erschossen werden zu mussen". 2 gaben 
an, deshalb so viet Alkohol zu trinken, weil sie damit ihren Schmerz 
— es handelte sich jim Neuritis — betiuben kQnnten. 

Eiu Eranker, ein Maurer, machte die Angabe, dass er nur immer 
dann „ordentlicb trinke“, wenn er seiner Frau durchbrennen kdnnte, 
die Gelegenheit benutzte er dann gleich, um mebrere Tage von Hause 
fortzubleiben, mit immer wieder neuen Bekannteu eine „Bierreise“ zu 
machen, bis er dann auf irgend einem Felde von der Gendarmerie auf- 
gegriffen und seiner Frau zugefuhrt wurde. i 

Ein 54jahriger Pfarrer litt infolge fruheren jahrelangen Alkoholismus 
an starken sexuellen Erregungen. „Er kusse ganz besonders gern junge 
Madchen von etwa 20 Jahren.“ Er stellte sich auf der Strasse vor ein 
Fenster, binter dem 2 junge Frauen arbeiteten und begebrte unter L&rmen 
Einlass, indent er sie mit nicht misszuverstehenden Gesten zum Beischlaf 
aufforderte. Erst durch Polizeigewalt konnte er entfernt werden. 

Ein Eranker betrank sich regelmassig, „wenn er Geld hatte u . 

Rassen waren bei 4 Eranken, Spionage bei einem der Inhalt der 
Wahnideen. 

In den anderen Fallen handelt es sich um Verfolgungs- und Beein- 
trachtigungsideen, Beleidigungen, Schiessen obne Befehl, Widersetzlich- ~- 
keit, Entfernung von der Truppe; 3 mal bestand Eifersuchtswabn. Die 
meisten der Eranken waren bereits sehr oft vorbestraft. Auch bier 
waren es unter den chronischen Alkoholisten hauptsachlich forensische 
Falle, die zur Begutachtung der Elinik uberwiesen waren. Unter den 
pathologischen Rauschzustanden, 22 = 13,33 pCt., waren 8 auf chro¬ 
nischen Alkoholismus zuruckzufuhren, die Qbrigen 14 waren durch ein- 
maligen ubermasigen Alkoholgenuss bei sonst nuchternen Menschen 
bervorgerufen. Bei 4 davon fand sich Intoleranz infolge angeborener 
Imbezillitat, bei 2 infolge Neurasthenic und bei 4 infolge Unfallen mit 
Eopfverletzungen. Bei alien 14 war psychopathische Veranlagung nach- 
zuweisen, sie konnten ausserdem alle „nicbt viel vertragen“. 

Alkoholismus als Folge von in der Jugend erlittenen Unfallen, 
davon 8 mal Schadelverletzungen, wurde 12 mal angegeben, = 10 pCt. 

Die Merkfahigkeit war in 17 Fallen aufgeboben und in 6 stark 
reduziert, im ganzen 16,67 pCt. 

Im Jahre 1916/17 fand sich Vererbung, in samtlichen Fallen Potus 
des Vaters, 10 mal, d. h. 18,18 pCt.; Verfuhrung durch schlechte Ge- 


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868 


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Curt Fiirst, 

sellschaft 2mal = 3,64 pCt.; Beruf (alle 4 Kranke wareu Brauerei- 
angestellte) 4 mal = 7,24 pCt. H&usliche Sorgen iafolge Todesfalls 
1 mal = 0,91 pCt. Aueh in diesem Jahre kam weit uber die H&lfte 
der Eranken infolge von Vergehen zur Aufnahme; es handelte sich um 
diesel ben Delikte wie in den Vorjahren. Eifersuchts'wahn fand sich nnr 
1 mal; 1 Eranker fuhlte sich von Russen verfolgt, die auf ihn schossen, 
nnd 1 Eranker hflrte dauernd Stimmen, die vom Erieg erzahlten. 
Selbstmordideen wurden nur in einem Falle ge&ussert. Psychopathische 
Veranlagung fand sich in 10 Fallen = 18,18 pCt. 

Unter den pathologischen RauschzustUnden, es waren 11, basierten 
6 auf chronischem Alkoholismus, aber man lidrte immer wieder von 
den Eranken, „sie konnten eben in letzter Zeit nichts mehr vertragen 
und wurden schon nach einigen Glas Bier erregt“. Die anderen 5 be- 
rubten auf Iutoleranz, bei 3 infolge psychopathiscber Veranlagung, bei 
einem infolge StirnhOhlenoperation und bei einem infolge einer fruher 
erlittenen Schadelverletzung. Nach Erkundigungen waren es sonst 
nuchterne Leute. Alkoholismus als Folge von in der Jugend erlittenen 
Unfallen, Schadelverletzungen fand sich 6 mal = 9,09 pCt. 

Die Merkfahigkeit war bei 6 Eranken aufgehoben, bei 2 stark 
reduziert, das sind 13,64 pCt. 


Tabelle III. 


Jahr 

a Vererbung 

it 

§*t 

n 

cn © 

Pi 

pCt. 

\ © 

a 

a 

& 

pCt. 

bfi 

a 

2 

2 

© i 

> 1 
pCt. 

1 

© 

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pCt. 

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0 cl 1 
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a 

© 3 

D 3) 
pCt. 

© 

S? 

© 

CO 

pCt. 

*0 Heine Ursache 
r* festzustellen 

1913—1914 

29,71 

6,94 


8,92 

6,94 


3,96 

43,53 

1914—1915 

17,78 

18,0 

10,56 

5,0 

2,87 

3,33 

7,11 

41,35 

1915—1916 

20,83 

16,67 

10,9 

5,0 

1,67 

3,33 

2,5 

40,0 

1916—1917 

18,18 

18,18 

9,09 

3,64 

7,24 

3,33 

0,91 

39,43 


Die Tabelle III gibt einen Ueberblick uber dieUrsachen, die 
sum Alkoholismus gefhhrt haben, fur die Jahre 1913/14 bis 
1916/17. Bemerkenswert ist dabei das starke Steigen der psycho- 
pathischen Veranlagungen, das in engstem Zusammenhange mit dem 
Steigen der pathologischen Rauschzust&nde steht. Es bestatigt die An- 
sicht Bonhoeffer’s, dass in dem Steigen der Aufnahmen wegen patho- 
logischer RauschzustSnde n das auch sonst zu bemerkende Manifestwerden 
der psychopathischen Eonstitutionen im Gefolge der Eriegsverhaltnisse 
zum Ausdrnck komme u . 

Einen verhaltnismassig hohen Prozentsatz nehmen auch die Unf&lle 


Gck 'gle 


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CORNELL UNIVERSITY 



Ueber die Abnahme des Alkoholismus usw. 


869 


ein, die ja in der Hauptsache Schfidelverletzungen sind, ein Beweis 
dafur, dass gerade diese Leute leicht dem Alkoholismus verfallen, viel 
mehr den Schadignngen des Alkobols ausgesetzt sind, und infolge ihrer 
Intoleranz sich sehr bald zu strafbaren Handlungen hinreissen lassen. 
Bei ihnen fand sich in alien Fallen vollstandige Unbesinnlichkeit auf 
die Vorgange, die zur Yerhaftung ffihrten. 

Ich komme jetzt noch einmal auf die Falle zuruck, in deren Ideen 
die Eriegsverhaltnisse eine Rolle spielen, d. h. die im Zusammenhange 
mit Russen, Franzosen und Spionage stehen. Es sind im ganzen 
17 = 4,8 pCt. Nach Ansicht mancher soil sich Alkoholismus nur bei 
Psychopatben und haltlosen Menschen linden, kurz, es soil nur geborene 
Trinker geben. Bei Psychopatben bilden in der Regel die affektbetonten 
Erlebnisse den Inhalt der Trugwahrnehmungen und Wahnvorstellungen. 
Es miissten daher eigentlich nach obiger Ansicht unter den chroniscben 
Alkoholisten die Ideen, welche in direktem Zusammenhange mit den 
Eriegsereignissen stehen, einen grOsseren Prozentsatz ausmachen. In 
der Tat betragt der Prozentsatz nur 4,8 pCt. Die Nichtbeeinflussung 
des Gedankeninhalts bei Alkoholisten durch die Eriegsereignisse ent- 
spricht einer gleichen Beobachtung bei nicht alkoholischen Dfimmer- 
zustanden und Haftpsychosen, die in letzter Zeit zur Aufnahme kameu. 
Auch bei diesen kam die Affektbetonung nicht zum Ausdruck. 

Ein sicheres Urteil daruber, ob nur diejenigen Trinker werden, die, 
um es kurz zu fassen, zum Trinker geboren sind, iasst sich deshalb 
nicht abgeben, weil sich das Verbaltnis des endogenen zum exogenen 
Faktor in bezag auf den Alkoholismus gegenfiber den Friedenszeiten 
vollkommen verschoben hat. Er ist ja auf ein Geringes eingeschrankt. 
Es ist daher gar nicht zu entscheiden, was aus den vielen Psychopathen, 
die wir zu beobachten jetzt Gelegenheit hatten, bei gewOhnlichen 
Trinkverhaltnissen geworden ware. 

Unter den alkoholistischen Frauen — es sind von 1918/14 bis 
1916/17 im ganzen 13 — fand sich Vorerbung 2 mal = 16,38 pCt., 
Verfuhrung und Sorgen je 1 mal = 7,69 pCt. Bemerkentwert ist nur, 
dass die Merkfahigkeit in 5 Fallen = 38,46 pCt. stark reduziert war 
imd die Halfte der Frauen bereits fiber 63 Jahre alt war. Von ihnen 
wurde als Getrfink ganz besonders Eognak bevorzugt, wfihrend ja bei 
den Mannern Bier und Schnaps die Hauptrolle spielten. 

Die folgende Tabelle IV gibt eine Zusammenstellung aus 
den Verfiffentlichungen der Autoren, die das gleiche Eapitel be- 
arbeitet haben. Bonhoeffer-Berlin (B) 1 ), Oehmig-Dresden (Oe). 

1) Die Abkurzungen hinter den Namen bedeuten die Abkurzungen ffir die 
Namen der Autoren in den einzelnen Rubriken. 


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CORNELL UNfVERSSTV 



870 


Curt Furst, 


Ta- 


Jahr 

Prozensatz der Alkoholistenaufnahmen 

Prozentsatz der Deli- 
Alkoholisten- 



















Manner 



F 

r a u e n 



Manner 




B. 

Oe. 

W. 

R. 

F. 

B. 

Oe. 

w. 

1 R ' 

F. 

B. 

Oe. 

W. 

R. 

F. 


1904 




26,1 





38,3 





30,3 



1905 

— 

— 

— 

20,3 

21,7 

— 

— 

— 

2,5 

5.56 

— 

— 

— 

30,8 

18,0 


1906 

— 

— 

— 

21,0 

27,1 

— 

— 

— 

3,0 

4,3 

— 

— 

— 

39,8 

25,4 


1907 

20,6 

— 

62,5 

27,2 

30,7 

3,2 

— 

12,5 

2,2 

5,6 

47,3 

— 

10,5 

34,8 

28,1 


1908 

17,8 

38,4 

59,4 

25,1 

29,2 

2,7 

5,7 

9,1 

3,3 

13,0 

35,3 

19,9 

11,2 

31,0 

5,2 


1909 

18,9 

37,5 

61,4 

22,5 

28,0 

2,1 

5,4 

17,4 

2,6 

7,4 

34,7 

21,8 

9,6 

21,1 

13,4 


1910 

18,6 

31,2 

56,8 

18,2 

26,4 

3,1 

7,1 

8,6 

1,7 

5,8 

22,3 

14,5 

5,3 

21,3 

4,S 


1911 

16,8 

39,0 

54,1 

18,3 

16,2, 

2,1 

6,3 

11,5 

2,7 

1,3 

29,5 

21,9 

8,4 

11,0 

5,3 


1912 

13,7 

40,8 

55,4 

19,0 18,1; 

2,6 

3,9 

11,4 

2,6 

3,7 

25,8 

14,2 

6,7 

18,4 

9,1 


1913 

12,3 

33,2 

53,7 

17,7 

16,5 

2,9 

7,1 

8,1 

3,0 

2,7 

27,0 

20,2 

5,8 

14,2 

12,1 


1914 

14,0 

— 

53,1 

— 

— 

2,8 


— 

— 

— 

28,0 

— 

5.2, 





6,4 

36,8 

38,4 

15,6 

16,8 

1,4 

4,8 

6,5 

1,9 

2,3 

29,0 

21,5 

11,5 | 

17,7 

13,9 


1915 

7,2 

25,8 

29,6 

11,0 

12,0 

1,3 

4,4 

5,1 

1,1 

0,9 

25,5 

21,0 

6,0 

22,4 

10,0 


1916 

3,3 

11,9 

23,3 

7,2 

7,9 

0 

1,7 

3,1 

1,0 

0,3 

9,0 

24,5 

3.0| 

18,3 

3,3 


1917 

— 

2,5 

7,3 

0,6 

4,0 

— 

0,9 

2,4 

0,3 

0 


9,1 

5,2 


7,3 



Weich brod t-Frankfurt a. M. (W), Robert-Kiel (R). Es sind die 
Prozentsatze: erstens der Alkoholistenaufnahmen im Vergleich zu den 
Gesamtaufnahmen, zweitens die der Deliranten 1 ) und drittens die der 
pathologischen Rauschzustande iunerhalb der Alkoholistenaufnahmen, 
getrennt fur Manner und Frauen. Der bessereu Uebersicht halber sind 
die vom Verfasser gefundenen Zahlen unter F. hinzugesetzt, jedoch so, 
dass das Jabr 1904/05 init seinen 7 Monaten im Jahre 1905 unter 
1905, 1905/06 unter 1906 usw. gesetzt ist. Bemerkenswert an der 
Tabelle ist, dass sich die Zahlen der Alkoholistenaufnahmen bei Weich- 
brodt und Oehmig ganz besonders hoch, bei Weichbrodt auf 
das vier- bis fiinffache gegen Bonhoeffer und das zwei- bis drei- 
fache gegen Robert und Verfasser stellen. Bei Bonhoeffer da- 
gegen ist die Zahl der Deliranten urn* das doppelte bis dreifache 
grosser als bei Weichbrodt, Robert und Verfasser. Ein besonderer 
Grund hierfur ist aus den Veroffentlichungen nicbt zu ersehen. Wenn 
bei alien gleichzeitig im ersten Kriegsjahr der Prozentsatz der Deliranten 
steigt, so ist das wohl in der Hauptsache auf die ausserordentlich 
grossen ungewohnten Strapazen gerade im Anfange des Feldzuges, die 
Anstrengungen der Iangen Bahnfahrten und die mit den Kriegsereignissen 


1) Die Prozentsatze der Deliranten und pathologischen Rauschzustande, 
veroflfentlicht von Oehmig und Weichbrodt, habe ich aus den angegebenen 
Zahlen berechnet. 


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Ueber die Abnahme des Alkoholismus usw. 


871 


belle IV. 



ranten innerhalb der 
aufnahmen 



Prozentsatz der pathologischen Rauschzustande 
innerhalb der Alkoholistenaufnahmen 



Frauen 



Manner 



F 

r a u e n 



B. 

Oe. 

W. 

B. 

F. 

B. 

Oe. 

W. 

R. 

F, 

B. 

Oe. 

w. 

R. 

F. 


■ 

_ 

- 

_ 

_ 

_ 

_ 

_ 

7,0 

_ 

. 

13,1 

_ 

. 

. _ 


— 

— 

— 

— 

27,3 

— 

— 

— 

6,4 

2,0 

— 

— 

— 

— 

— 


— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

3.9 

1,5 

— 

— 

— 


— 


20 

— 

11,4 

20,0 

— 

— 

— 

— 

3,4 

3,3 

3,7 

— 

— 

2,3 


— 


50 

17,4 

— 

10,0 

— 

7,4 

3,8 

10,2 


— 

13,1 

3,3 

— 

— 


25 


6,7 

10,0 

5,9 

— 

6,4 

3,0 

6,4 

— 

_ 

8,0 

1,7 

— 

— 


13 

2,9 


— 

— 

— 

11,8 

1,8 

4,4 

— 

— 

5,7 


— 

— 


25 

3,3 

— 

— 

— 

— 

17,2 

18,5 

5,8 

2,7 

— 

— 

26,7 

8,6 

— 

— 


10 

4,4 

23,5 

15,4 

16,7 

IM 

12 

1,2 

5,3 

— 

— 

26,1 

1,9 

— 

— 


19 

1,9 

26,7 

25,0 

13 

14,2 

0,5 

3,1 

! — 

— 

14,7 

— 

— 

— 


— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1,4 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


— 

4,2 

— 

— 

— 

16 

18,7 

4,6 

3,0 

— 

— 

25,0 

— 

— 

— 


— 

25,0 

— 

33,3 

— 

30 

19,4 

2,6 

3,8 

6,0 

— 

15,0 

— 

— 

— 


— 

— 

— 

— 

— 

40 

20,8 

— 

1,5 

12,2 

— 

6,7 

— 

— 

— 


— 

— 

— 

25,0 

— 

— 

54,6 

— 


18,3 

— 



— 

— 


verbundenen Aufregungen zuruckzufiihren; dazu kommt noch die zwangs- 
weise Alkoholabstinenz 1 ). Die hiesigen Falle waren besonders schwer. 
Im Vordergrunde standen schwere Bewusstseinsstflrungen, nachher in 
den meisten Fallen Amnesie, motorische Erregung, eine Beobachtung, 
die sich bei Wollenberg 2 ) bestatigt findet. Bei den meisten Deliranten 
finden sich hier allerdings unter anderem die ckarakteristischen Tier- 
halluzinationen. Drei endeten einige Stunden nach der Aufnahme 
tOdlicb. 

Das spatere Sinken fuhrt Birnbaum auf die entgiftenden Eiuflusse 
im Feld zuriick, korperliche Anstrengung und Aufenthalt in frischer Luft. 

Bei Oehmi g und Robert bleibtnoch 1916 die hohe Ziffer bestehen, 
w&hrend sie bei Bonhoeffer, Weichbrodt und Verfasser deutlich ab- 
nimmt. Beach tenswert ist, dass sowohl bei Bonhoeffer wie bei Oehmig 
und Verfasser der Prozentsatz der pathologischen Rauschzustande auf das 
vier- bis sechsfache der Friedensjahre steigt, was sich bei Bonhoeffer wie 
Verfasser mit der zahlreichen Zuweisung forensischer F&lle aus dem Heere 
erklart. Zwar behauptet Oehmig in seiner Arbeit, dass die Zahl der 
pathologischen Rauschzustande bei Bonhoeffer im Gegensatz zu ihm 

1) Birnbaum, Sammelber. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 
Heft 5, Jahrg. 1915. 

2) Birnbaum, Sammelber. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 
Heft 5, Jahrg. 1915. 


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r 


872 Cart Fiirst, 

eine wesentliche Steigerung bringt. Prozentual steigt jedoch auch bei 
ihm die Zahl, 1917 sogar auf 54. Da nun die Dresdener Anstalt keine 
Soldaten aufnakra, die forensischen Falle aus dem Heere also fortfallen, 
so findet sich auch bier die Ansicht Bonhoeffer’s bestatigt, n dass 
hierin das auch sonst zu bemerkende Manifestwerden der psychopathischen 
Konstitution im Gefolge der Kriegsverhaltnisse zum Ausdruck kommt. u 


T a b e 11 e V. 



1. Grafenberg 

2. Acht 
rhcinische 





b) Alkohol¬ 




Jahr 

a) Alko¬ 
holisten¬ 
aufnahmen 

psychosen 
u. Rausch- 
zustande 

1. 10. bis 
1. 10. 

c) Deli¬ 
ranten 

Heil- und 
Pflege¬ 
anstalten 
1. 10. bis 
1.10. 

3. Stadtische Heil- 
anstalt Breslau 


pCt. 

Manner 

pCt. 

Manner 

pCt. 

Manner 

pCt. 

Manner 

pCt. 

Manner 

pCt. 

Frauen 

1912-1913 

25,5 

17,0 

7,3 

7,0 

26,2 

5,9 

1913—1914 

24,4 

17,5 

5,9 

7,6 

30,7 

3,8 

1914—1915 

15,2 

12,6 

4,9 

6,1 

18,3 

0,9 

1915-1916 

9,5 

2,8 

0,3 

2,7 

8,3 

1,4 


1.8.16 bis 


1.8.16 bis 





31.1.17 


31.1.17 




1916-1917 

7,7 

2,1 

0,3 

2,5 

— 

— 


Es folgt dann in Tabelle V eine Zusammenstellung aus einer 
Arbeit Peretti’s-Diisseldorf. 1. Aus der Heil-und Pflegeanstalt Grafen- 
berg: a) Prozentsatz der Alkoholistenaufnahmen, b) Alkoholpsychosen 
und Rauschzustande, c) Prozentsatz der Deliranten; 2. Aus den acht 
rheinischen Heil- und Pflegeanstalten und 3. aus der stadtischen Heil- 
anstalt Breslau. Aus den beiden ersten ist nur der Prozentsatz der 
Manner veroffentlicht, aus den letzten auch der der Frauen. In alien 
Tabellen kocamt augenfallig das ganz bedeutende Sinken der Alkohol- 
erkrankungen auf den im allgemeinen 3. bis 4. Teil gegen das letzte 
Friedensjakr, bei einigeu sogar 12. bis 15. Teil, zum Ausdruck. 

Im folgenden gebe icli Berichte fiber Alkoholpsychosen wfihrend 
des Krieges, die ich den Sammelreferaten von Birnbaum entnommen habe. 

Gerver berichtet fiber ein Sinken der Alkoholpsychosen im 
russischen Heere auf 1 pCt., was auf die strikte Durchfuhrung des 
Alkoholverbotes zuruckzufuhren sein soil. 

Kruse berichtet aus Trinkerheilstatten von einer sofortigen Ab- 
nahme, ja gfinzlichen Stockung der Aufnahmen im Anfange des Krieges. 
Die wenigen spfiteren Aufnahmen betrafen zum Teil solche Falle, wo 


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Ueber die Abnahme des Alkoholismus usw. 


873 


die Kriegswirkungen den schon vorher Gefalirdeten — Zivilisten und 
Militarpersonen — den letzten Halt genommen batten. 

Im Gegensatz zu den Beobachtungen obiger Autoren stellt Weichsel- 
baum eine Zunahme der Alkoholphychosen fest. Die Soldaten seien 
nach seiner Ansicbt zum Dauertrinken gekommen, wObei der moderne 
Artilleriekampf mit seinen Erschutterungen des Nervensystems die An- 
reiznng zu Berohigungsmitteln abgab. 

Hiibuer erw&hnt Kriegsteilnehmer verschiedener Chargen, zum 
Teil jugendliche Soldaten, die unter dem Einfluss der Schiitzengraben- 
neurastbenie dermassen ins Trinken gekommen waren, dass sie nicht 
mehr zu gebranchen waren und entlassen werden mussten. 

In dem Jahresbericht der Berliner Auskunft- und Fiirsorgestellen 
Alkoholkranker wird als Kriegsfolge eine Zunahme trunksuchtiger Frauen 
bemerkt, sowie solche des Trinkens von Brennspiritus mit Essigessenzen 
in gewissen Berliner Bezirken. 

Auch Levy-Suhl berichtet, dass an der Front unter den Psychosen 
die alkoholistischen in verschiedenen Formen den 4. Teil ausmachten. 

Ballei erkl&rt die 14,3 pCt. Alkoholisten uoch 1916/17 vor allem 
aus dem Altersanfbau und der Trinkgelegenheit der Garnison. 

Birnbaum stellt dagegen auch bei vielen anderen Autoren schon 
1916 ein Abnehmen von Dauer unter den chronischen Alkoholisten fest. 

Als Erkl&rung fur die Senkung der Alkoholkurve wird 
von R5mer fast ausschliesslich, von Oehmig teilweise das Fehlen der 
zum Heeresdienst einberufenen Jahresklassen in Betracht gezogen, die 
in Friedenszeiten vorzugsweise erkranken. Rbmer 1 ) sagt in einem 
Referat: Aus den Kurven ist zu ersehen, dass der Ruckgang der Zahlen 
der Aufnahmeziffern nur auf Rechnung derjenigen Alterskategorien 
kommt, von denen die Mehrzahl im Felde abwesend ist, dass dagegen 
bei den ubrigeu Altersklassen eine Abnabme des Alkoholismus weder 
unter dem Einfluss des Ernstes der Zeit noch unter der Abkurzung der 
Polizeistunde nachzuweisen ist. 

Die Garnison und Festung KOuigsberg mit ihren zahlreichen Schank- 
statten, Destillationen, Restaurants, Stehbierhallen, Bierkellern bietet 
doch gewiss eine reichliche Gelegenheit zum Genuss von Alkohol. In 
dieser Garnison nun halten sich dieselben HeeresangehOrigen zusammen- 
gedrangt auf, die ins Feld gehen, die aus dem Felde kommen und eine 
grosse Anzahl, die nur zum Garnisondienst berangezogen werden kdnnen. 
Somit haben wir bier ein genaues Abbild der Angehorigen des Feld- 
heeres, die sicber, aus dem Felde gekommen, die vermehrte Gelegenheit 


1) Berl. klin. Wochenschrift. 1915. 33. Ref. 

ArehiT f. Psychiatric. Bd. 60. Heft S/3. 5g 


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874 


Curt Fiirst, 

zum Genusse von Alkohol wabrnehraen. Wenn nun in der hiesigen 
Klinik trotz der Aufnahmen von grosstenteils HeeresangehSrigen die 
Alkoholkurve sinkt, so wird man wobl den von Romer ausschliesslich 
geausserten Faktor mit Sicherheit ausscbliessen konnen, ganz abgeseben 
davon, dass der Alkoholismus bei den Frauen auf Null gesunken ist, 
Ein weiterer Beweis hierfiir ist die folgende Tabelle VI, welche zeigt, 
dass die grOsste Zalil der Aufnahmen unter 40 Jabren liegt. Hiervon 
bilden das vier- bis funfTache Militiirpersonen. Auch die Zahl der 
Aufnahmen uber 45 Jahren ist gegeu das letzte Friedensjahr bedeutend, 
fast urn den vierten Teil gesunken. Bei Peretti fiudet sich eine Be- 
statigung dieser Wahrnelimung, wie die Tabelle zeigt. 


T a b e 11 e VI. 


Jahr 

Alko- 

holisten- 

aufnahmen 

uber 

45 Jahre 

Zusammen 

Alko- 

holisten* 

aufnahmen 

unter 

45 Jahre 

Zusammen 

Deliranten 

Peretti, 

Grafenberg: 

Alko- 

holisten- 

aufnahmen 

unter 

45 Jahre 

iiber 

45 Jahre 

45 Jahre 

unter 
45 Jahre 

Mil. 

Zivil 

Mil. 

Zivil 

Mil. 

Zivil 

Mil. 

Zivil 

1913-1914 


27 

27 


74 

74 


9 ; 

_ 

4 

42 

73 

1914-1915 

S 

4 

12 

158 

10 

168 

16 

1 

i 

— 

20 

42 

1915-1916 

6 

9 

15 

97 

8 

105 

8 

1 

1 

— 

17 v 

42 

1916-1917 

0 

8 

8 

38 

9 

47 

1 

1 | 

—* 

2 

10 

14 


Auch ein Sinken infolge vermehrter Arbeitsmbglichkeit mochte ich 
von der Hand weiseu, da ja niemand am Abend mehr Zeit hat, als der 
Soldat, und gerade in der N&he der Kasernen die Schankstatten sich haufen. 

In der Hauptsache ist das Sinken wohl in der Beschrankung 
der Gelegenheit zu suchen und dann in der abnormen Verteuerung 
des Alkobols. Auf den Bahnhofen besteht teilweise Alkoholverbot, 
in vielen Stadten war der Ausschank von Alkohol bis 4, ja bis 6 Uhr 
nacbmittags verboten, desgleichen nacb 10 Uhr abends. Verschiedent- 
licli durfte Alkohol an Militarpersonen gar nicht abgegeben werden. 
In zweiter Liuie kommt die Schwierigkeit in der Beschaflfung von 
Alkohol und die damit verbundene Teuerung in Betracht. Kostet doch 
ein Korn, von dem man in Friedenszeiten zwei fur etwa 15 Pfennige 
erhielt, jetzt 60—60 Pfennige, ein LikOr, fruher 10—15 Pfennige, jetzt 
1,25 Mark; ein Glas Bier, fruher 5—10 Pfennige, kosret jetzt 25 bis 
SO Pfennige, ein Glas Wein, fruher 40 Pfennige, jetzt 2,20—-2,50 Mark. 
Auf Nachfrage erhalt man bei den Verkaufern die Antwort, dass die 


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Ueber die Abnahme des Alkoholismas usw. 


875 


Leate wieder herausgebeu, da es ihnen zu teuer ist. Weiter kommt 
hinzu, dass s&mtlicbe Getr&nke nor noch etwa den dritten Teil und 
Docb weniger des Alkobolgebaltes baben gegenuber dem der Friedens- 
zeiten. Das Ausschlaggebende ist meiner Ansicht nach die hoch- 
gradige Teuerung. Wenn TeueruDg auch sonst als ein Uebel empfunden 
wird, so kann man nur sagen, dass sie auf diesem Gebiete ein Segen 
ist, einer der wenigeu, die uni der Krieg gebracht hat. Es wird ja 
wieder eine Zeit kommen, in der infolge der Freigabe und Verbilligung 
<ler Kohstoffe der Alkobol reichlicher fliessen und damit eine Ver- • 
billigung der alkoholischen Getr&nke herbeigefuhrt werden wird. 

Es ist daher unbedingt erforderlich, ebe es zu spat ist, dass der 
Staat im Interesse der eigenen Erhaltung und zur Entlastung der All- 
gemeinheit bier die Steuerschraube anzieht, indem er unter Beibehaltung 
der jetzigen Preise den Differenzbetrag als Steuer einzieht. Schaden 
tut er damit niemand. Wenn man sieht, welche Schaden der Alkohol 
hervorruft, wie er die Grundfeste des Staates, das Familienleben, zer- 
ruttet, Zank und Streit unter die Ehegatten sat und damit im engsten 
Zusammenkang die Kinder der Vernachl&ssigung und Verwahrlosung 
anheimfallen und dem Alkoholismus zug&nglich gemacht werden, wie 
er zu Roheitsverbrechen und zur Gefahrdung der Aligemeinheit und 
schliesslich zu jahrelangem Siechtum fuhrt, so wurde sich hier der 
Staat einen Nutzen von unubersehbaren Folgen schaffen. Den Werde- 
gang eines Alkoholisten gibt, gerade durch seine Kurze erschiitternd, 
unter der Rubrik „Stand“ eines uuserer Diagnosenbucher wieder. Man 
liest bier „Lehrer, Maschinenschreiber, Gelegenheitsarbeiter“. Da bedarf 
es wobl weiter keiner Worte mehr. Gerade in der heutigen Zeit, wo 
so viel fur Jugendpflege, Pflege des Familienlebens getan wird, wo die 
Eltern angehalten werden sollen, mehr ihren Kindern zu leben, ist es 
unumg&nglich nOtig, dem Alkoholismus, als dem, man kSnnte sagen, 
grOssten Uebel auf diesem Gebiete durch die Massnahmen Einhalt zu 
tun, die als eine absichtslose Notwendigkeit fast spielend erreicht baben, 

-■ was jahrelanger Kampf und Aufkl&rung nicht erreichen konnten. Diese 
Steuer wurden die Mussiggbnger und gerade diejenigen erfassen, die 
sich auch sonst etwas leisten konnen, so dass man den Alkohol schliess¬ 
lich als Luxusgegenstand betracbten kOnnte. Da er selbst in mEssigen 
Mengen genossen schadet, zum Leben absolut nicht notwendig ist, so 
ist dem kleinen Manne nur damit gedient, wenn er fur ihn nicht 
erreichbar ist. Er bringt dann eben das Geld, das er sonst zum grossen 
Teile in den Schankst&tten vergeudet, den Seinen und schenkt so dem 
Staate wieder gesunde und leistungsf&hige Kinder. Was der Staat 
•dadurch an Einkommen aus den Branntweinbrennereien, Brauereien usw. 

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876 Cart Fiirst, Ueber die Abn&hme des Alkoholismus usw. 

verlastig geht, das wird ihm so, man kSnnte fast sagen, hundertfacb 
ersetzt, indem die Volksgesundheit erhalten und gest&rkt wird, die- 
Arbeitskraft und Leistuugsfehigkeit des einzelnen und damit seine 
Steuerkraft erhOht wird. Schliesslich steben obi gem Aosfall die Brspar- 
nisse an Trinkerheilstatten, frubzeitiger Invalidenrente und an Onter- 
stutzung von infolge Alkoholismas des Ernfihrers verelendeteu Familien 
gegeDiiber. MOge auch der Staat von diesem Staodpunkte aus kr&ftig 
den Eampf gegen den Alkoholismus aufnehmen uud mOge er damit 
diese Segnung des Erieges, die ibm fast in den Scboss gefallen ist, 
hinuberretten in Friedenszeiten, zar Er&ftigung und zum Wiederaufbau 
unseres deutschen Vaterlandes. 


Literaturverzeichnis. 

Bonboeffer, Ueber die Abnahme des Alkoholismas wahrend des Erieges. 

Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. 41. 

Peretti, Ueber den Rdckgang der Alkoholistenaufnahmen in den Anstalten 
seit dem Kriegsbeginn. Berliner klin. Wochensohr. 1918. Nr. 9. S. 211, 
Oehmig, Weiteres fiber die Abnabme des Alkoholismas wahrend des Erieges. 

Monatsschr. f. Psycb. a. Neurol. Bd. 43. 

Weichbrodt, Ueber die Abnahme des Alkoholismas wahrend des Erieges. 

Monatsschr. f. Psych, a. Nearol. Bd. 42. 

Robert, Inaagaral-Dissertation. Ueber die Abnahme des Alkoholismus wahrend 
des Erieges an der Koniglichen psychiatrischen and Nervenklinik za Kiel. 


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XXX. 

Aos der psychiatrischen und Nervenklinik zu Kiel. 

Beitrag zur Verantwortliclikeit des Irrenarztes. 

Von 

E. Siemerling. 


Vielfachen an mich ergangenen Aufforderungen Folge leistend, gebe 
ich nachstehend die Darstellung fiber einen Fall von Wochenbettpsychose 
auf psychopathischer Grundlage, in dessen Verlauf es im Anschluss an 
^ine Kfirperverletzung, welche die Patientin sich durch Sprung aus dem 
Fenster zugezogen hatte, zu einer Klage auf Schadenersatz gekommen ist. 

Frau S. ist zweimal in der Nervenklinik behandelt worden. 


1. Aufnahme. Frau S., Rodakteursehefrau, 20 J. alt, aufgen. 8. 11. 
1903, entl. 16. 12. 1903. 


, den 7. 11. 1903. 


Attest. 

Die Direktion der Universitats-Nervenklinik zu Kiel bitte ich, die Ehe- 
frau des Redakteurs Herm S. aus I. aufuehmen zu wollen, weil sie an einer 
puerperalen Psychose erkrankt ist. 

Die Krankheit begann am letzten Montag, 2. 11., und zwar im An¬ 
schluss an eine grossere Aufregung, in welche sie versetzt wurde dadurch, 
dass sie am Sonntag vorher mehr Besuch empfangen und bewirten musste. 
Die ersten 3 Woohen des Puerperiums verliefen ungestfirt. Anamnestisch 
ist noch zu bemerken, dass eine Urgrossmutter der Kranken geisteskrank 
gestorben ist, die Mutter auch „nervos u ist, und dass die Kranke geistig 
stets angestrengt gearbeitet hat. Sohwangersohaft normal verlaufen, die 
Kranke stillte ihr Kind selbst, ich habe das Kind jetzt entwohnen lassen. 

Die Krankheit ausserte sich zunachst in Halluzinationen, sie glaubte, 
die Menschen reden schlecht yon ihr oder wollen ihr nicht wohl und ihr 
Mann schutze sie nicht vor den Lenten. Zunachst eruierten sich ihre Vor- 
stellungen gegen die Warterin, welche sie beschuldigte, dass sie ihr Kind 
nicht genfigend pflege, und dass sie im Schlafe allerlei Ungunstiges fiber 
sie gesprochen habe. Ich liess am nachsten Tage die Warterin nicht mehr 
zu ihr, und nur den Mann im Zimmer bleiben, ohne wesentlichen Erfolg. 
Depressionen, wo sie mit leeren Blicken vor sich hinstarrt und vielfach auf- 
stohnt, wechseln mit aufgeregten Szenen, wo sie ruhelos im Zimmer herum- 


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E. Siemerling, 


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wandert, Nahrungsaufnahme nahezu vollig verweigert and aach nicbt in> 
Bette za halten ist. Letzte Nacht bat sie gat geschlafen, war bente Morgea 
ruhig, aber vollig apathisch, beute Abend jedooh wieder aufgeregt. Da es 
bier an geeigneter Pflege mangelt and eine Heilang in einer Nervenheil- 
anstalt mehr Aussicht aaf Erfolg entspricht, babe icb die Ueberfdhrang 
dorthin angeordnet. gez. Dr. med. H. 

Anamnese: Abgegeben vom Manne am 9. 11. 1903. Ref. ist seit 

l x / 4 Jabr mit Pat. verheiratet; Mutter and Vater nervOs; Urgrossmutter litt 

an Schwermat. Kein Trauma, keine Infektion, kein Potus. Pat. war vor ihrer 

Verbeiratung in Hamburg aaf der Handelsakademie, war bier wegen Nervositat 

in arztlicber Bebandlang. Wabrend der Ebe sonst nichts Auffalliges bemerkt, 

war geistig ausserordentlioh entwickelt; mit den Verwandten, auch mit den 

Eltem kam es oft zu Streitigfeeiten, mit dem Manne nie. Hatte Pat. eine 

Kleinigkeit nicht ricbtig gemaobt, so konnte sie sioh Tage lang daruber au/- 

regen, ihr Mann konnte boss daruber sein. Von friiheren ernstliohen Krank- 

heiten ist Ref. nichts bekannt. Am 12. v. Mts. zum ersten Mai entbunden; 

Entbindang war leicht, kein starker Blutverlast; Pat. nahrte das Kind selbst. 

Wochenbett verlief normal; kein Fieber. Nach 10 Tagen stand Pat. aaf; be- 

schaftigte sich mit leiohten hauslicben Arbeiten, zeigte kein abnormes Ver- 

halten. Am 1. d. Mts. erwartete Pat. Besach von einer Freandin; dieselbe 

• * 

.traf anstatt, wie verabredet, am Nacbmittage, scbon gleich nach dem Mittag- 
essen ein; Pat. warde sehr erregt, dass sie dem Besach kein Mittagessen mebr 
anbieten konnte, and zeigte von da ab ein aussergewohnliches Verhalten; 
weinte viel, kdmmerte sich urn ihren Besach wenig; aaf einem am Nacbmit- 
tage gemeinsam unternommenen Spaziergang musste Pat. sich sehr oft aus- 
rahen, verlangte schliesslicb, sie wollte mit ihrem Mann allein weitergehen. 
Gegen Abend beruhigte sich Pat. wieder. Am nachsten Morgen sehr erregt; 
hatte die Vorstellung, die Warterin habe sie schlecht behandelt, sei schroff 
gegen sie gewesen; aaf Zureden des Mannes trat wieder Beruhigung ein; Pat. 
blieb dann einige Zeit sich selbst dberlassen; als nach ungefahr einer Stands 
die Warterin wieder ins Zimmer kam, fand sie Pat. und das Kind ausgezogen 
auf dem Bett liegend, die Augen geschlossen. Pat. rief: Wo ist mein Mann? 
Wo ist mein Junge? Mein Mann soil kommen usw. Nach ungefahr 2—3 Stun- 
den schlug Pat. die Augen wieder aaf, sprach mit der Umgebung geordnet, 
war nur etwas angstlich; schien sonst normal zu sein; verhielt sich den Tag 
iiber and die folgende Nacht ruhig. Auch am folgendenTage (Dienstag) zeigte 
Pat. nichts Auffalliges. In der Nacht vom Dienstag auf Mittwooh trat dann 
grosse Unruhe ein; Pat. stand oft auf, ging an das Bett des Kindes, an das 
des Mannes, in der Stubs umher usw., sprach nicht dabei; von Sinnestau- 
schangen hat Ref. nichts bemerkt. Am nachsten Morgen schien Pat. dem 
Manne nicht mehr ganz normal zu sein; sie hatte die Idee, die Warterin mache 
sie schlecht, verbreite das Gerdcht, sie k5nne ihr Kind nicht ordentlich 
pflegen, verstande es nicht. Beunruhigte sioh, sie konne ihrem Kind nicht ge- 
nugend Nahrung geben. Sprach bei der Unterhaltang nar aber dieses Thema. 


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Pat. wurde von dieser Zeit an teilnahmlos gegen ibre gauze Umgebung, be¬ 
ach tete auch ihr Kind nicht mehr; ging am Wagen voruber, ohne sich um das 
Kind za kummern, schien es vollstandig vergessen zu haben. Redete die Um¬ 
gebung nur mit Namen an, spracb sonst nicht. Auch mit dem Manne sprach 
sie fast gar nicht, schien ihn auch zeitweise nicht zu kennen. Aeusserte die 
Idee, sie wurde Ton den Lenten schlecht gemacht, ihr Mann nahme sie nicht 
gehorig in Schutz, begunstige ihre Verfolger. Sagte zu ihrer Mutter, sie solle 
ihrem Manne nicht trauen, der habe die ganze Familie ungliicklich gemacht. 
Stand nachts auf, schien Jemand im Zimmer zu sehen, rief: „Was wollen Sie 
hier? u Glaubte einmal, der Arzt stande hinter der Tur, der Mann wolle es ihr 
nur nicht sagen. Wurde zuweilen sehr abweisend, schlug einmal dem Manne 
eine Tasse Milch aus der Hand, sagte, es sei etwas dazwischen. — Pat. nahm 
sehr wenig Nahrung; drehte meist, ohne etwas zu sagen, den Kopf ab; bei 
wiederholten Versuchen gelang es zuweilen, ihr etwas fliissige Nahrung ein- 
zuflossen. Nachte meist sehr unruhig; Schlafmittel, speziell Morphium, blieben 
ohne Wirkung. Verdauung war bis Freitag gut, seit dieser Zeit keinen Stuhl- 
gang gehabt. Menses waren fruher stets in Ordnung. Wahrend derSohwanger- 
schaft traum te Pat. oft sehr iebhaft; glaubte sich in den Traumen verfolgt, 
stand dabei auf, sprach im Traum, antwortete im Traum dem Manne auf 
Fragen, war beim Erwachen dann die letzte Zeit sehr unruhig. 

Selbstmordideen hat Pat. nie geaussert. 

Anamnese: Abgegeben von der Mutter am 9. 11. Pat. fruher nie 
emstlich krank gewesen. Mit 17 Jahren zum ersten Male menstruiert; Menses 
regelmassig, haufig starker Blutverlust. In der Schule gut gelernt, war sehr 
ehrgeizig; konnte keinen Tad el vertragen; wurde gelegentlich eines unbedeu- 
tenden erhaltenen Tadels einmal in der Schule ohnmachtig; wusste mehrere 
Stunden nicht, wo sie war. Spater bekam Pat. ofter aus geringen Anlassen, 
infolgeAergers meistens, Anfalle, in denen sie sich auf die Erde warf, mit den 
Handen um sich schlug und die Umgebung nicht zu kennen schien; horte, 
was gesprochen wurde. Wahrend der Ehe hat Pat. solche Anfalle nicht ge¬ 
habt. Wahrend Pat. im Elternhause leicht erregt und schwer zu lenken war, 
hat sie wahrend der Verheiratung nichts derartiges gezeigt. 

9. 11. Wurde gestern Abend ll 1 ^ Uhr vom Manne gebracht; lasst sich 
mit geringem Widerstreben auf die Abteilung bringen; gibt z. B. keine Ant- 
wort. Halt sich wahrend der Nacht ruhig im Bett, schlaft nicht. Hat heute 
Morgen 1 Becher Miloh getrunken. 1st sehr abweisend und widerstrebend, gibt 
auf Aufforderung nicht die Hand, zeigt nicht die Zunge. Gibt auf Fragen, 
auch auf energisches Zureden, keine Antwort. Als sie auf dem Wege zum 
Klosett die Rapportbiicher auf dem Tisch liegen sah, sagte sie: „Das hab ich 
doch nicht geschrieben u . Sonst bisher keine sprachliche Aeusserung. Der Ge- 
sichtsausdruck ist meist matt und gleichgultig, zuweilen nimmt er einen 
angstlichen Charakter an; sie sitzt ruhig im Bett, nestelt mit den Handen am 
Bettzeug herum oder fasst an die Bettlehne. Auch die Beine warden zuweilen 
unruhig hin und herbewegt. Passiven Bewegungen setzt sie uberall energischen 


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880 E. Siemerling, 

Widerstand entgegen. Nimmt an den Vorgangen der Umgebnng anscheinend 
gar kein Interesse. 

Status som. am 9. 11. Grosse and Gewicht konnte wegen heftigen 
Straubens nicht festgestellt werden. Temperatur 37,1°. Pupillen etwas fiber 
mittelweit, gleich, rund. Reaktion auf Licht vorhanden. Konvergenzreaktion 
and Aagenbewegungen nicht genaa za prufen. Fazialis symmetrisch. Zunge 
wird nicht gezeigt. Racheninspektion nicht zagelassen. Reflexe der oberen 
Extremitaten wegen heftigen Spannens nicht auszulosen. Abdominal- and 
Patellarreflexe vorhanden. Fusssohlenreflex vorhanden (Zehen plantarwarts). 
Sensibilitat nicht za prufen. Leichtes vasomotorisches Nachroten. Patientin 
ist von mittlerer Grosse, von etwas grazilem Korperbau. Maskulatar and Fett- 
polster etwas schwach entwickelt. Mammae nooh geschwellt; auf Druok ent- 
leert sich beiderseits milchige Fldssigkeit. Lungen, soweit bei dem heftigen 
Strauben festzustellen ist, ohne path. Befand. Herztone leise. Pals etwa 120, 
etwas klein, regelmassig. Abdomen nicht genauer zu untersucben. Urin: Re¬ 
aktion schwer. Eiweiss: Leichte Triibung, keine Zylinder. Kein Zucker. 
Pat. hat wahrend der Untersuchung nur einmal geaussert: ^Lassen Sie mich 
doch los a . Als Ref. weggeht, ruft sie ihm angstlich nach: ^Lassen Sie mich 
doch heraus 44 . 

10. 11. War gestern im 3 stundigen Dauerbad ruhig, wenig gegessen; 
hat gar nicht geschlafen; fast die ganze Nacht aufrecht im Bett gesessen, da- 
bei vollkommen ruhig. Heute morgen sitzt Pat. in hookender Stellung im 
Bett, zupft mit den Handen an der Bettdecke herum oder greift nach der Bett- 
lehne. Blickt mit zaweilen etwas angstlichem Gesicbtsdruck im Zimmer 
herum; es macht den Eindruck, als ob sie etwas sagen wollte, aber nur selten 
kommt es zu spontanen Aeusserungen, wie z. B.: „Was habt Ihr mir getan? u 
Pat. gibt auf Aufforderung nicht die Hand; setzt passiven Bewegungen hef¬ 
tigen Widerstand entgegen. Auf Befragen gibt Pat. keine Antwort. 

14. 11. Verlasst heute mehrmals das Bett and drangt aas der Tur; lasst 
sich leicht wieder zuruckfiihren. Seit gestern Menses. 

16. 11. Heute nmorgen nicht mehr so widerstrebend; gibt bei der Visite 
die Hand. Half beim Bettmachen. Nimmt etwas besser Nahrung. ^och keine 
sprachlichen Aeusserungen. 

17. 11. Pat. isst seit gestern bei alien Mahlzeiten von selbst ausreichend. 
Scheint auf die Umgebung etwas mehr zu achten. 

(Krank?) „Nein 44 . 

Spontan: Ich will aufstehen. 

(Wie lange hier?) ^Das weiss ich nicht 44 . 

Menses voriiber. Die am 16. 11. wegen einer im Verein mit der Blutung 
eingetretenen abendlichenTemperatursteigerung vorgenommene gynakologische 
Untersuchung ergab ganz normalen Genitalbefund. 

17. 11. Versinkt nach kurzer Zeit wieder und antwortet nicht weiter. 
Wird im L&ufe der Exploration wieder teilnahmloser; sagt spontan: „Lassen 
Sie mich doch weggehen 44 . 

19. 11. Pat. gibt heute, wenn auch zogernd, so doch auf die meisten 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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Fragen Antwort. Weiss nicht, wie lange sie hier ist; weiss aber, wer sie 
hergebracht hat. Fragt angstlich, wo ihr Mann ist; als ihr gesagt wird: zu¬ 
hause, fragt sie: „Wo zuhause? w 

Als Pat. gesagt wird, sie sei in der Nervenklinik: „Das glanben Sie 
wohl selbst nicht, ich kenne solche Anstalt nioht M . 

(Krank?) ,,Nein, ich war nicht krank; ich fuhle mioh ganz gut; ich 
mochte gem nach Hause u . 

(Nicht Brief nach Hause schreiben?) „Ja, wo soil ich hinschreiben? 44 

(Wie alt ist Ihr Kind8) „Am 12. 10. geboren 44 (richtig). 

(Monat?) „November u . 

(Datum?) „Weiss ich nicht 44 . 

Macht im ganzen noch einen miiden Eindruok, bringt die Antworten 
miihsam hervor, *gibt auf Aufforderung die Hand. Bei passiven Bewegungen 
noch etwas widerstrebend. 

20.11. Gibt heute auf die meisten Fragen, wenn auch immer noch etwas 
zogemd, Auskunft, ist aber im ganzen etwas abweisend. Yerlangt energisch, 
aufstehen zu diirfen. Weiss, dass sie den Arzt am Abend ihrer Aufnahme ge- 
sehen hat, weiss aber nicht, wo sie sich befindet. Sagt wahrend der Unter- 
haltung ofter znm Arzt: „Das haben Sie gestem ja auch schon zu mir gesagt 14 
und ahnliches. 

Spontan: „Warum haben Sie mir meinen Ring abgezogen? 14 

Auf Vorhalt, dass sich Pat. in Kiel befindet: „Dass wir hier in Kiel 
sind und wo wir sind, ist mir noch etwas unklar 44 . 

21. 11. Zur Villa verlegt. 

22. 11. Heute Besuoh des Mannes. Sie erkundigt sich mit Interesse naoh 
ihren Angehorigen, fragt nach ihrem Kinde. Erkundigt sich zweifelnd bei 
ihrem Manne, ob das hier auch Aerzte seien und ob sie sich wirklioh in einer 
Klinik befinde; es sei ihr so vorgekommen, als ob sie in eine Mordergrube ge- 
raten sei. 

22. 11. Unterhalt sich in durchaus geordneter Weise mit dem Arzt, ist 
in keiner Weise abweisend oder widerstrebend. Sagt auf Befragen, sie sei jetzt 
vollkommen uberzeugt, dass sie sich in einer Kieler Klinik befinde, und dass 
sie es mit richtigen Aerzten zu tun habe. Anfangs sei ihr hier alles so merk- 
wurdig vorgekommen; sie habe gar nicht gewusst, wo wie war; habe ge- 
glaubt, alle sollten umgebracht werden; zuhause habe sie geglaubt, Dr. Han- 
sing wolle sie und ihre Familie umbringen; dariiber sei sie angstlich und 
aufgeregt geworden. Stimmen habe sie zuhause nicht gehort; hier habe 
sie ihre Angehorigen rufen horen. Pat. nimmt gut Nahrung und schlaft ohne 
Mittel. 

26. 11. Aromat. Eisentinktur 3mal tgl. 1 Essloflfel. Geht sehr gut. Halt 
sich vollkommen geordnet. Mochte gerne aufstehen. Aus den Mammae entleert 
sich keine Milch mehr. 

30. 11. Pat. steht jetzt nachmittags einige Stunden auf, ist vollkommen 
geordnet, hat nur in ihrem ganzen Wesen etwas Albernes an sich. Ermiidet 
noch ziemlich schnell. 


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882 


E. Siemerling, 


6. 12. Steht jetzt den ganzen Tag auf, beschaftigt sich mit Lesen, Brief- 
schreiben und Handarbeiten, ist sebr guter Dinge, mochte gerne bald nach 
Hause. Sieht ein, dass sie krank war; glaubt, es sei durch Ueberanstrengung 
gekommen; spricht dardber ganz ruhig und geordnet. 

11. 12. Geht sehr gut. Ist gleichmassiger Stimmung. Geht mit den 
anderen Damen spazieren usw. 

16. 12. Pat. ist in letzter Zeit dauernd vollkommen geordnet, beschaftigt 
sich mit Handarbeiten, hat voile Krankheitseinsicht. Wird vom Manne nach 
Hause abgeholt. 

2. Aufnahme: 12. 11. 1905. Entlassung: 8. 3. 1906. 

Anamnese: Abgegeben vom Manne am 12. 11. 1905: Nach der Ent¬ 
lassung noch ziemlich erregt. Bekam ab und zu traurige Stimmungen. 
Hatte viel mit dem Weihnachtsfest zu tun. Spater immer guter lustiger 
Stimmung. Februar-Marz 1904 allein nach Hamburg gereist. Bekam einen 
ihrer Anfalle. Lag 2 Stunden besinnungslos. Hatte Streit mit dem Bruder. 
Wird erregt, legt sich hin mit geschlossenen Augen, ruft nach Mann und Kind. 
Am nachsten Tag wieder gut, machte eine Kaffeegesellschaft mit. Mai 1904: 
Influenza. Hatte wahrend derselben apathischen Zustand. Vollig teilnahmlos. 
Alles zitterte an ihr. Schlief schleoht. Ging nach 4 Tagen wieder vordber. 
Dann wieder ganz gesund. Vor Wochen Partus II. Gesunder Junge, 
normals Geburt, leicht, keine starke Blutung, Wochenbett normal. Stillte das 
Kind selbst bis heute, hatte anfangs viel Milch, dann wenig. 4. 11. Besuch 
von der Mutter. Schlief schlecht. 6. 11. Abreise der Mutter. Pat. nachts 
sehr unruhig, „wdhlte a . Phantasiert nicht. Hat traurige Stimmungen. Sagt, 
sei schlechte Frau, mache den Ihren Kummer, tue nichts. Isst noch ganz gut. 
Stuhlgang schlecht. Keine Suizidgedanken. Untcrwegs unruhig. Versuch, 
aus dem Zug herauszuspringen. Ref. meint, es seien dieselben Sym¬ 
ptoms wie vor 2Jahren, nur milder. Heute weinen und ausnehmend traurig. 
Behauptet, sie sei ganz gesund. 

12. 11. Wird gegen 8 Uhr abends von ihrem Mann per Droschke ge- 
bracht. Geht ruhig auf die Abteilung. Zu Bett gebracht, verlangt sie fort- 
wahrend nach Hause, beruhigt sich jedoch bald. Schlaft auf Schlafmittel ziem¬ 
lich gut. 

12. 11. Graziler Knochenbau. Schwachliche Muskulatur. Leidlich guter 
Emahrungszustand. Grosser 1,51 m. Gewicht: kg. Temperatur: 37,8. 

Macht alle Augenblicke Anstalten, das Aerztezimmer zu verlassen. Behauptet, 
man habe sie nur zum Narren. Nach der Entlassung hier babe sie sich ganz 
wohl gefdhl gefdhlt, sei auch ganz lustig gewesen. Auf Befragen, seit wann 
sie so traurig sei, sagt sie nach langerem Zogern, sie sei ganz gesund, sie 
mochte aufstehen, sie mochte nach Hause. Weint. Gibt zu, traurige Gedanken 
gehabt zu haben. Oertlich und zeitlich gut orientiert. Gedruckter, weinerlicher 
Stimmung. Hat in ihrem ganzen Wesen etwas Starres, sitzt wie traumhaft da. 
Beantwortet die meisten an sie gerichteten Fragen entweder nicht oder nur ganz 
kurz mit leiser Stimme. Verhalt sich der Untersuchung gegenuber ablebnend. 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 883 

Popillen unter mittelweit, gleich, rund. R. L. -}-• R. C. A. B. frei 
Zunge wird nicht herausgestreckt. Reflexe der oberen Extremitaten lebhaft. 
Patellarreflexe lebhaft. Zehen plantar. Gang sicher. Sprache, soweit zu 
prufen, ohne Storung. Puls 80, regelmassig von mittlerer Spannung und 
Fullung. Herztone leise, rein. Eingehende Untersuchung unmoglich, da 
von Patient abgelehnt. Urin: — Ei weiss, — Zucker. Zunge gerade, gering 
belegt. (Wie geht’s im Kopf?) „Gut u . (Wie ist es seit damals gegangen?) 
„Ganz gut u . Antwortet nur sehr langsam, manchmal gar nicht. Isst mittags 
fast gar nichts. Verlangt nachmittags ein Buoh zu lesen. 

13. —14. 11. In der Nacht auf Schlafmittel ruhig geschlafen. 

14. 11. Noch immer leicht gedriickter Stimmung. Liegt ruhig zu Bett. 
Hat noch immer in ihrem Aeusseren etwas Traumhaftes. Isst etwas besser. 
Tagliche Bader. 

14. —15. 11. In der Nacht auf Schlafmittel gut geschlafen. 

15. 11. Erscheint heute etwas freier. Fragt, ob sie nicht nach Villa ober 
verlegt werden konne. Noch immer blutigen Ausfluss. Nach Villa II, zwisohen 
5 und 6 Uhr abends. Freut sioh, wieder in Villa II zu sein. Liegt ruhig zu Bett. 

16. 11. Geht morgens nach dem Klosett. Springt durch das Klosett- 
fenster auf den Hof. Schlagt mit dem Gesass auf den Rasen auf. Als der 
Arzt kommt, liegt Pat. blass im Bett, fast pulslos, nicht bewusstlos. Auf 
Kampfereinspritzung (0,2) und Darreichung von Wein Puls etwas besser. Auf 
dem Dorsum manus links Schwellung und blaurote Verfarbung (Blutergass). 
Am Gesass oberflachliche Hautabschiirfung. Frisches Blut. Auch in derWasche 
frisches Blut. Pat. klagt fiber heftige Schmerzen in der Lendenwirbelsaule. 
Irgendwelche Verletzung an Sohadel, an don langen Rohrenknochen, an den 
Rippen picht nachzuweisen. Die Untersuchung (Dr. Nosske) ergibt eine 
Fraktur des Processus spinosus des III. Lendenwirbels. Deutliche Krepitation 
an der Stelle nachweisbar, leichte Prominenz. Das reohte Bein wird aktiv 
etwas bewegt, ebenso der Fuss und die Zehen. Bewegungen im linken Bein 
nur minimal moglich, ebenso im Fuss. Besser die Bewegung der Zehen. Bei- 
derseits kein Patellarreflex zu erzielen. Zehen schwach plantar. Koine Sensi- 
bilitatsstorung. Nach Baracke 1. Ganz flach gelegt. Klagt andauernd uber 
Schmerzen im Rucken, bittet um Schlafmittel. Erhalt mittags 6 Par. Schlaft 
darauf nur wenig. Puls abends regelmassig, kraftig, frequent. Bis abends 
noch kein Wasser gelassen, kein Stuhlgang. Aeussert am Abend auf Be- 
fragen, sie habemicht mehr leben wollen, weil sie nicht mehr wert 
§ei zu leben. Sei nicht gut zu ihrem Mann gewesen. Abends Mor- 
phium 0,005. Spater noolimals Schlafmittel: 6 Pa. Lasst in der Nacht den 
Arzt rufen, weil sie vor Schmerzen nicht schlafen konne. Erhalt nochmals 
0,3 Veronal. 

17. 11. Kein Urin. Kein Stuhlgang. Klagt immer noch uber Schmerzen 
in der Wirbelsaule, die allerdings geringer sein sollen als gestern. Das rechte 
Bein wird wenig bewegt, das linke Bein fast gar nicht. Linker Fuss und Zehen 
gut beweglich. Sensibilitat ohne Stbrung. Kein Babinski. Fragt den Arzt, 
ob ein Bein abgenommen werden musse. Dann wieder, sie werde wohl nicht 


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884 


E. Siemerling, 


besser werden, sie werde wohl ein Eriippel. Betont, sie mochte wieder gesund 
werden. Morphium 0,0075. Urin per Katheter entfernt. Menge: 1000. Spez. 
Gewicht: 1032. Auf Kocbprobe starker Eiweissniederschlag. 3 proUille nach 
Esbach. Kein Blut. Indoxyl-}-- Auf Glyzerinklystier Stuhlgang abends ins 
Bett. Nacb Untersuchung von Dr. Nosske keine Krepitation mehr nachweis- 
bar. Konsolidierung hat begonnen. 

17. —18. 11. Auf 8 Pa. mit Unterbrechung geschlafen. 

18. 11. Keine Schmerzen in der Wirbelsaule mehr. Klagt tiber kolik- 
artige Magenschmerzen. Sei gestern vom Weintrinken benebelt gewesen. 
Wiinscht dunkles Bier. Psychisch freier. Fragt, ob ihr Mann geschrieben habe. 
Schreibt an ihren Mann einige Zeilen. Kummert sich um dieVorgange in ihrer 
Umgebung. Beinmasse: 10 cm oberhalb des oberen Patellarrandes rechts 
39 cm, links 39 cm. 10 cm. untorhalb des unteren Patellarrandes rechts 
28,5 cm, links 28,3 cm. Motilitat, Sensibilitat und Reflexe der Beine unver- 
andert. Parasthesien: Kribbeln, taubes Gefiihl in den Beinen. Urin per 
Katheter entleert. 350 Menge. 1030 spez. Gewicht. Sauer. 0. i. 0 Sangues. 
Albumen: < */ 4 pM. Kein Zylinder. Pulsjnoch immer frequent. Stuhl an- 
gehalten. 

18. —19. 11. In dor Nacht trotz 0,75 Veronal schlecht geschlafen. 

19. 11. Klagt fiber Schmerzen in den Kniekehlen. Watteunterlagen fur 
Knie. Elektrischer Thermophor auf Blase. Gegen Mittag Urin spontan ins 
Bett. Beine konnen beiderseits von der Unterlage nicht erhoben werden. Fusse 
und Zehen werden beiderseits etwas bewegt. Keine Sensibilitatsstorung. Lage- 
wahrnehmung intakt. Pateilarreflex beiderseits 0. Kein Babinski. 

22. 11. Psychisch freier. Keine Schmerzen. Deutlich fiihibarer Gibbus 
an der Frakturstelle. DurchWattepolster Gijbbus etwas hohl gelagert. Leichter 
seroser Erguss im linken Kniegelenk. (Patella tanzt.) Beide Beine konnen 
von der Unterlage nicht erhoben werden, auch nicht im Knie gebeugt werden. 
Bei extremen intendierten Bowegungen erfolgen leichte Bewegungen durch 
Beckenversohiebung. Patellarreflexe 0. Abdominalreflexe 0. Kein Babinski. 
Keine Sensibilitatsstorung. Geringe Bewegungen in beiden Fiissen und Zehen 
beiderseits moglich. Keine Parasthesien. Urinlassen spontan. Im Urin nur 
noch Spuren Albumen. Keine Zylinder. 

24. 11. Schlaf trotz Schlafmittel vielfach unterbrochen. Geringer seroser 
Erguss auch im rechten Kniegelenk. Befund sonst unverandert. Beschaftigt 
sich mit Lesen. 

29. 11. Psychisch freier, gate Stimmung. Fiisse konnen beiderseits aktiv 
besser bewegt werden, rechts mehr als links. Auch eine leichte Bewegung im 
rechten Knie sichtbar. Auf Aufforderung, die Beine anzuziehen, deutlich sicht- 
bare Kontraktion der Adduktoren des Oberschenkels. Keine Patellarreflexe. 
Kein Babinski. Die Riickenlage im Bett durch Hohllagerung des Gibbus durch 
Wattepolsterung zunachst noch beibehalten. Urin zeigt nur noch geringe Opa- 
leszenz. Schlaf auf Schlafmittel etwas besser. 

1. 12. Mitunter leicht gedriicktor Stimmung, macht sich Gedanken, dass 
ihr Leiden noch lange dauere und sie Weihnachten noch hier verleben musse. 


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2. 12. Beinmasse: 10 cm oberhalb des oberen Patellarandes rechts 
39,5 cm, links 38,5 cm. 10 cm unterhalb des unteren Patellarrandes rechts 
30,0 cm, links 30,2. 

10. 12. Psychisch andauernd frei. Guter Stimmung. Appetit gut, mit- 
unter bekomme sie naoh dem Essen Magenschmerzen. Urinfunktion in Ord- 
nung, Urin eiweissfrei. Stuhlgang trage, durch Califig und Glyzerinklystiere 
geregelt. Haut der Beine etwas trocken. Beiderseits noch leichter seroser Er- 
gnss im Kniegelenk. Die Beine erscheinen in toto leicht odematos; Oedem 
nicht direkt nacbweisbar. Die Motilitat insofern etwas besser als das rechte 
Knie minimal gebeugt warden kann, so dass man mit der Hand zwischen Un- 
terlage and Kniekehle hindurch kann. Das rechte Bein kann in toto ange- 
spannt and soweit gehoben werden, dass gerade ein Finger zwischen Unterlage 
and Ferse hindarch kann. Das linke Bein kann von der Unterlage nicht auf- 
gehoben werden; man sieht links deutliche Kontraktion der Adduktoren des 
Oberschenkels. Beide Fusse and samtliche Zehen werden gat bewegt, rechts 
noch besser als links. Patellarreflex beiderseits auch bei Jendrassik 0. Sen- 
sibilitat ohne Storung. Kein Babinski. 

17. 12. Psychisch freier. Pat. ist imstande, das rechte Bein ungefahr 
10 cm von der Unterlage emporzuheben, das linke etwas weniger. Patellar- 
reflex fehlt. 

19. 12. Leichtes Oedem am rechten Unterschenkel. Heute Bewegungs- 
fahigkeit in den Beinen etwas schlechter als die Tage vorher. 

21. 12. Bewegungsfahigkeit wieder besser. 

27. 12. Rechtes Bein kann gestreckt etwa 15 cm von der Unterlage ge¬ 
hoben werden, es kann im Knie gebeugt werden and beim Beklopfen der 
Patellarsehne ist eine Kontraktion des Quadrizeps zu fiihlen. Das linke Bein 
kann aktiv von der Unterlage nicht erhoben werden, nur ein leichtes Anziehen 
and geringe Beugung im Knie ist moglich. Bewegung im Fassgelenk rechts 
ganz frei, links nur noch wenig beschrankt. Passiv kann das linke Bein im 
Knie bewegt werden, ohne dass besondere Schmerzen geaussert werden. 

30. 12. Patellarreflexe noch nicht auszulosen. 

31. 12. Beinmasse: 10 cm oberhalb des oberen Patellarrandes rechts 
37,7 om, links 36,7 cm; 10 cm unterhalb des unteren Patellarrajides rechts 
29,3 cm, links 29,7 cm. Rechtes Bein bis 25 cm von der Unterlage erhoben. 

2. 1. 1906. Patellarreflex rechts angedeutet. 

8. 1. Von heute ab regelmassig Bad, Faradisieren. Faradische und 
galvanische Untersuchung der Uuskeln and Nerven beider Beine ergibt normale 
Zuckungsformel, aber quantitative Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit. 

17. 1. In den letzten Tagen war Baden und Faradisieren wegen der 
Menses abgesetzt. Als der Arzt vorsichtig naoh der Ursache ihres Suizid- 
versuohes hier fragen will, weint sie and sagt, sie wolle nicht dartiber sprechen. 
Gesprachsweise aussert sie der Schwester Gerda gegeniiber folgendes: sie habe 
sich hier unten in der Baracke I schon sphr wohl gefiihlt and keinerlei Selbst- 
mordgedanken gehabt. Als sie nach Villa 11 verlegt wurde, habe sie sich zu- 
nachst gleich geangstigt vor einer Mitpatientin (Frau Dr. W.). Da sei ihr mit 


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E. Siemerling, 


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einem Ual der Gedanke gekommen, sich mit einem Messer das Leben zu nehmen. 
Sie hatte es aber nicht ausfuhren konnen, weil zu viel Mensehen im Zimmer 
waren. In der Nacht vom 15./16. ohne triibe Gedanken gesohlafen. Am 
16. morgens sei ihr auch gut gewesen, ging urn 9 Ubr aufs Klosett ohne 
Selbstmordgedanken. Hier offnete sie das Fenster, urn hinauszusehen. Da kam 
ihr plotzlich der Gedanke, sie miisse sterben, es konne sie doch kein Mensch 
leiden, stieg aufs Klosett, dann aufs Fenster und sturzte sich hinaus. Von da 
an wisse sie nichts mehr, bis sie sich in ihrem Bett wiederfand. 

22. 1. Allmahliche Zunahme der Bewegungsfahigkeit auch des linken 
Beins. Patellarreflex nur rechts auszulosen. Schmerzen im oberen Drittel des 
Ischiadikus beiderseits bei passiven Bewegungen. Seit gestern von Dr. Nosske 
Hoherlegen des Kopfes angeordnet. Hat gestern eine kurze Zeit aufrecht im 
Bett gesessen, mit Heraushangen der Beine. Wirbelsaule dicht unterhalb des 
Gibbus druckempfindlich. 1st sehr lustig, soherzt viel mit den Oberinnen und 
ihrer Mitpatientin. 

27. 1. Richtet sich heote allein auf und sitzt seitlich im Bett mit heraus- 
hangenden Beinen. Stutzkorsett angemessen (Dr. Nosske). Geht im Zimmer 
einige Schritte auf und ab, an beiden Seiten unterstiitzt. 1st sehr erfreut 
dariiber. 

30. 1. Patellarreflex schwer auszulosen. 

1. 2. Taglich kurze Gohversuche mit Unterstiitzung an beiden Seiten. 

6. 2. Beinmasse: 10 cm oberhalb des oberen Patellarrandes rechts 40 cm, 
links 39,5 cm; 10 cm unterhalb des unteren Patellarrandes rechts 29,3 cm, 
links 29,8 cm. 

9. 2. In den letzten Tagen Patellarreflex links nicht auszulosen, auch 
bei Jendrassik nicht. Macht Gehiibungen am Gehapparat. Geht auch einige 
Schritte allein. Linker Fuss stark nach auswarts gesetzt. Linkes Bein wird 
geschont. Bei extremen Bougungen (passiven) des gestreckten Beines beider¬ 
seits Sohmerzen im Verlauf des obersten Drittels des Ischiadikus. Psychisch 
sehr heiter, ausgelassen, lacht viel, macht Witze und Spasse. Appetit gut. 
Schlaf ohne Schlafmittel gut. 

10. 2. Nach Villa II. 

16. 2. Muss wegen Menses zu Bett bleiben, weint deshalb. Nachher bei 
Besuch vergniigt, feiert Geburtstag, lacht viel. Am recbten Oberschenkel starke 
Herabsetzung des Schmerzgefuhls. Tastgefuhl stellenweise fast aufgehoben. 
Parese links starker. Links an den Lendenwirbeln fuhlt man einen st&rken 
Kallus, der druckempfindlich sein soil. Galvanisch findet sich an den Unter- 
extremitaten uberall gate Zuckung. Quadrizeps links 5, rechts 4 MA., Nervus 
peroneus links 1, rechts 1 MA., Muse, peroneus links 2, rechts 2 MA., Muse, 
tibialis anticus links 3, rechts 2 MA., Nervus tibialis links 2, rechts 3 MA., 
Gastroknemius links 2, rechts 2 MA. Pat. kann am Gehapparat ganz gut gehen, 
schont noch das linke Bein. 

23. 2. Auffallend heiter, lacht sehr viel. Sagt, sie konne nachts nicht 
schlafen, bittet urn Schlafpulver. Macht alberne Gedichte. 

2. 3. Nachte wechselnd. Stimmung sehr heiter. Gang zunehmend besser. 


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6. 3. Patellarreflex reohts deutlich, links nicht sicher. Beide Beine aktiv 
bis znm rechten Winkel erhoben. Beim Gehen im Korsett kein Fuss geschleppt. 
Vorderflache des rechten Oberschenkels analgisch und stark hypasthetisch. 
Kein Babinski. Wirbelsaule im Lendenteil noch leicht druckempfindlioh. 
Pat. ist heiter und hat keine Klagen, ausser dass das Korsett sie behindert. 
Will nachts immer noch Sohlafpulver am Bett hingestellt haben. Drangt auf 
Entlassung. Voile Krankheitseinsioht. 

8. 3. Vom Mann abgeholt, „geheilt u entlassen. Sagt beim Fortgehen, 
•sie habe Ausfluss, ob das nicht behandelt werden musse? Vorher nie geklagt. 

Am 5. 12. 1907 erhob der Redakteur C. S. Klage gegen den Fiskus 
auf Zahlung von 6110,79 M. nebst 4 pCt. Zinsen seit Klagezustellung. 

Es wurde am 30. 3. 1908 beschlossen, Beweis zu erheben dariiber, ob 
der Gesundheitszustand der Ehefrau des Klagers, Frau Agathe S. in I., die am 
12. 11. 1905 wegen einer infolge einer Entbindung eingetretenen tvaurigen Ver- 
stimmung in die Nervenklinik der Kieler Universitat aufgenommen wurde, am 
14. 11. 1905 ein derartiger war, dass man es nicht fur gefahriioh erachten 
konnte, sie aus der Ueberwachungsstation in das offene Haus zu uberfiihren, 
oder damals noch, namentlioh mit Riicksicht darauf, dass Frau S. am 12. 11. 
auf der Fahrt naoh Kiel einen Versuch gemacht hatte, aus dem Eisenbahnzuge 
zu springen, die Gefahr nahe lag, dass sie Selbstmord veruben konne. 

Es fanden die Vernehmungen der Aerzte statt. 

Dr. Flatau gab bei seiner Vernehmung am 14. 5. 1908 folgendes an: 
Soweit ich mich noch erinnern kann, war der Zustand der Frau S. am 
14. 11. 1905 ein derartiger, dass man es wagen konnte, sie aus der Deber- 
wachungsstation in das offene Haus zu uberfiihren. Der Zustand muss ein der¬ 
artiger gewesen sein, weil sonst diese Verlegung von Herrn Geh.-Rat Siemer- 
ling nicht angeordnet worden ware. Der Ehemann, also Klager, hatte, wie ich 
mich erinnere, auf die Verlegung nach dem olTenen Hause mit der eleganteren 
Einrichtung, angenehmerenUmgebung und freieren Behandlung gedrangt. Doch 
ware dieser Punkt fur die Verlegung allein nie bestimmend oder gar ausschlag- 
gebend gewesen; geschweige denn, wenn man einen Selbstmordversuch der 
Kranken noch geargwohnt hatte. Als Beweis dafiir, wie sorgfaltig man an der 
Kieler Klinik bei der Verlegung von Patienten aus der Wachabteilung nach dem 
offenen Hause verfuhr, fiihre ich an, dass derartige Verlegungen nur von dem 
Direktor oder Oberarzt der Klinik angeordnet wurden. Der Stationsarzt der in 
der 2. Etage gelegenen offenen Abteilung fur Kranke 1. und 2. Klasse war der 
Oberarzt, also der erfahrenste der Assistenten, der seinerseits jederzeit, wenn 
notwendig, Kranke wieder nach der Wachabteilung zuriickverlegte. Der Ver- 
such der Frau, aus dem Eisenbahnzuge zu springen, braucht nicht unbedingt 
in selbstmorderischer Absicht untornommen worden zu sein, ob er nicht viel- 
mehr aus der Angst und dem Widerwillen heraus, wieder nach der Klinik ver- 
bracht zu werden, entstanden sein mag, vermag ich heute nicht mehranzugeben, 
da mir die Einzelheiten der Vorgeschichte der letzten Erkrankung aus dem Ge- 
dachtnis entschwunden sind. 

Ich will nicht unterlassen zu erwahnen, dass ich am 22. 8. 1906, an 


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E. Siemerling, 


welchem Tage ich in I. vor der Strafkammer des Amtsgerichts als Sack- 
verstandiger in einem Brandstiftungsprozess zu tnn hatte, den Klager und 
dessen Gattin in ihrem Hans besuchte. Ich fand Frau S. ganz wohl aussehend, 
in allerbester vergndgtester Stimmung, ioh sah sie per Rad nach Hause kommen 
Tom Schwimmen oder Baden. Beide Ehegatten sprachen sich ganz befriedigt 
fiber den damaligen Gesundheitszustand der Frau S. aus. 

Bei der Vernehmung am 27. 6. 1908 gab Geh.-Rat Siemerling an: 
Die Ehefrau des Klagers war bereits im Jahre 1903 in der Nervetaklinik unter- 
gebracht, aus Anlass einer angstltchen Verstimmung, die sich auch d&mals an 
das Wochenbett angeschlossen hatte. Sie erholte sich aber damals sehr schnell, 
so dass sie schon nach kurzer Zeit als gebeilt entlassen werden konnte. Am 
7. 11. 1905 war dann der Klager personlich bei mir behufs Besprechung wegen 
der abermaligen Aufnahme seiner Ehefrau in die Anstalt. Er teilte mir ent- 
weder damals oder am 12. 11., als er mir seine Frau selber brachte, mit, dass 
seine Frau in der Zwischenzcit geistig durchaus normal gewesen sei, abgesehen 
davon, dass ab und zu traurige Verstimmungen eingetreten seien. Die jetzige 
Gemutskrankheit habe sich wiederum an das Wochenbett angeschlossen, sei 
aber weniger schlimm („milder“) als das vorige Ual. Er erwahnte, als er seine 
Frau herbrachte, auoh noch, dass dieselbe auch keine Selbstmordideen an den 
Tag gelegt habe, abgesehen davon, dass sie wahrend der Herlahrt aus dem 
Eisenbahnzuge habe herausspringen wollen. Ich meine auch, kann mich dessen 
aber nicht bestimmt entsinnen, dass er damals denWunsch geaussert hat, seine 
Frau mochte sobald als moglioh aus derUeberwachungsstation in die sogenannte 
Villa gebracht werden. Die Ueberwachungsstation besteht aus 2 Salen, einer 
Anzahl anschliessender Zimmer und Nebenraumen. Sie liegt zu ebener Erde 
und die Fenster sind so eingerichtet, dass ein Entweichen aus denselben nur 
mit erheblicher Kraftanstrengung moglich ist. Die sogenannte Villa (das offene 
Haus) ist ein hiervon getrennt liegendes Gebaude, in welchem die Kranken- 
zimmer far die Kranken 1. und 2. Klasse samtlich eine Treppe hocli liegen. 
Hier befinden sich gewohnliche Fenster ohne besondere Schutzvorrichtungen.* 
Die Frau S. wurde zunaohst in der Ueberwachungsstation untergebracht und, 
wie ich annehme, anfanglich in einem der erwahnten Sale. Dann aber kam sie 
in eines der zu der Ueberwachungsstation gehorenden einzelnen Zimmer. Ihr 
Befinden besserte sich wiederum sehr schnell. Sie wurde sehr bald ruhig und 
zeigte insbesondere keine Anzeichen, die auf Selbstmordideen hindeuteten. Zu- 
gleich drangte sie sehr darauf, aus der Ueberwachungsstation in die sogenannte 
Villa fiberffihrt zu werden, weil die Raume dort angenehmer sind als in der 
Ueberwachungsstation, auch die ganzeUmgebung dort ruhiger ist. Insbesondere 
ist auch in den Einzelzimmern der Ueberwachungsstation vielfach Gescbrei von 
anderen Patienten zu horen, was in der sogenannten Villa wegfallt. 

Am 15. 11. (nicht 14.) ausserte die Frau S., die sich damals jedenfalls 
bereits in einem Einzelzimmer befand, bei der Visite personlich zu mir den 
Wunsch, in die obere Villa verlegt zu werden. Mit Rucksicht auf die erwahnte 
Besserung ihres Zustandes hegte ich kein Bedenken, diesem Wunsche statt- 
zugeben und es erfolgte darauf auf meine Anordnung am spateren Nachmitt&g 


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■dieses Tages die Ueberfuhrung der Frau in die Villa. Sie war insbesondere an 
•diesem Morgen durcbaus ruhig gewesen. Sie ausserte nach den rorhandenen 
Aufzeicbnungen auoh noch ibre Freude dariiber, wieder in der Villa zu sein. 

Moglich ist, dass der Klager bei der erwahnten Gelegenheit lediglich den 
Wunsch ausgesproohen batte, dass seine Frau moglichst bald aus dem all- 
gemeinen Saal in ein besonderes Zimmer, nioht speziell in die sogenannte Villa, 
gebracht werden moge. Es ist mir auch nicht bestimmt erinnerlich, ob er, als 
er seine Frau brachte, mit mir personlioh oder mit Dr. F. gesprocben hat. Er 
ist alsbald wieder abgereist und wird keine Kenntnis davon erlangt haben, wie 
seine Frau demnachst, vor ibrer Ueberfuhrung in die Villa, in ein Einzelzimmer 
der Ueberwachungsstation gebraoht war. Die Angehorigen der Kranken aussern 
in der Regel den Wunsch, dass die Kranken baldtunliohst aus dem allgemeinen 
Saale in ein besonderes Zimmer, und, wenn sie die Verhaltnisse naher kennen, 
auch, dass sie baldmoglichst in die sogenannte Villa gebracht werden. 

Zur Zeit der Anordnung der Ueberfuhrung der Frau S. in die Villa hielt 
ich die Gefahr eines Selbstmordrersucbes fur ausgeschlosson. 

Unter dem 10.Mai 1908 erstattet Geh.Rat Flechsig-Leipzig folgendes 

Gutachten. 

In Sachen des Redakteurs S. 

gegen den KOniglich Preussischen Fiskus Universitat Kiel erstatte 
ich auf Grundlage des Aktenmaterials ein Gutachten, indem ich mich 
dariiber ftussere, „ob der Gesundheitszustand der Ehefrau des Kl&gers, 
die am 12. November 1905 wegen einer infolge einer Entbindung ein- 
getretenen traurigen Verstimmung in die Nervenklinik der Kieler Uni- 
wersitfit aufgenommen wurde, am 14. November 1905 ein derartiger war, 
dass man es nicht fur gefahrlich erachten konnte, sie aus der Ueber¬ 
wachungsstation in das offene Haus zu uberfuhren, oder ob damals noch 
namentlich mit Rucksicht darauf, dass Frau S. am 12. November auf 
der Fahrt nach Kiel einen Versuch gemacht, aus dem Eisenbahnzuge 
zu springen, die Gefahr nahe lag, dass sie einen Selbstmord veruben 
k5nne w (A.-Bl. 25). 

In der Klage wird geitend gemacht, dass die Ehefrau des Klagers 
im Jahre 1903 nach einer Entbindung von einer melancholischen Ver¬ 
stimmung befallen wurde und einige Zeit als vorubergehend geisteskrank 
in der Kdniglichen psychiatrischen und Nervenklinik zu Kiel behandelt 
-wurde. Am 11. Novembar 1905 wurde sie neuerlich vom Klager der 
Klinik mit der Dr. F. gegenuber gemachten Angabe zugefuhrt, dass die 
Kranke auf der Fahrt nach Kiel wiederholt versucht habe, sich aus 
dem Eisenbahnzuge zu sturzen. Am nAchsten Tage habe der Klager 
fiber diesen Punkt noch mit Prof. Siemerling gesprochen, der ihm 
xnitteilte, dass bei der Patientin ein Anfall von Schwermut vorliege, der 

Arehir f. Psychiatrie. Bd. 60. Heft 2/3. 57 


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E. Siemerling, 


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anscheinend nar leicbt sei and in 2—3 Wochen geboben sein werde. Am 
dritten Tag nach der Aufnahme sturzte sich Frau S. aus dem Fenster 
eines Klosetts und zog sich dadurcb einen Bruch der Wirbels&ule zu. Fur 
die Folgeu dieser Tat machte der KlUger deh Kflniglich Preussischen Fiskus 
verantwortlicb, da er in der Cnterbringung seiner Frau in einem offenen 
Hause ein Yerschulden der Beamten der Klinik erblickte (A.-Bl. 1—16). 

Seitens des Beklagten wird erklart, dass ein Yerschulden desbalb 
nicht anzunehmen sei, weil Frau S. in die modernen Anforderungen 
entsprechend eingerichtete offene Abteilung erst dann uberfuhrt wurde r 
nachdem sie sich beruhigt hatte und nach gewissenhafter sachverstan- 
diger Ueberzeugung der Aerzte kein Bedenken gegen die vom Klager 
selbst gewunschte Verlegung vorlag (A.-Bl. 11—13). 

Aus dem Berichte des Direktors der Klinik ist zu entnehmen,. 
dass Frau S. zum ersten Mai wegen angstlicher Erregung mit Sinnes- 
tauscbungen in Bebandlung der Klinik stand, sich schon 12 Tage nach 
der Aufnahme soweit beruhigt hatte, dass sie in die offene Abteilung 
verlegt werden konnte und am 16. Dezember 1903 als geheilt entlassen 
werden konnte. Nach ihrer Entlassung habe sie wiederholt an An fallen 
trauriger Verstimmung gelitten, die jedoch immer rasch voruber gingen. 
Bei der Aufnahme habe der Ehemann ausdrucklich erklart, die Syra- 
ptome seien milder wie bei der ersten Erkrankung, die Patientin habe 
zu Hause keine Selbstmordabsichten geaussert und nur unter- 
wegs den Versuch gemacht, aus dem Zuge zu springen. In der Klinik 
habe Frau S. sich rasch wieder beruhigt und am 14. November einen 
so freien Eindruck gemacht, dass kein Bedenken gegen ibre Verlegung 
nach dem offenen Hause vorlag. Am Abend desselben Tages erschien si& 
ruhig und zufrieden und zeigte keine Spur angstlicher Verstimmung, auch 
die Nacht verlief ruhig. Der Sprung aus dem Fenster sei in einem 
momentanen Anfalle von Angst geschehen, wie er spater nicht mehr 
auftrat (A.-Bl. 14—16). 

Dr.Flatau gibt bei seinerVernebmung an, dass derZustand derFrauS. 
am 14. November ein derartiger war, dass man es „wagen u konnte, sie 
aus der Ueberwachungsstation ins offene Haus zu fuhren; zum Beweise 
beruft er sich auf Prof. Siemerling, auf dessen Anordnung die Ver¬ 
legung geschah; auch weist er daraufhin, dass der Versuch von Frau S., 
auf der Fahrt aus dem Eisenbahnzuge zu springen, nicht in selbst- 
mOrderischer Absicht geschehen sein musste, er kdnnte wohl auch aus 
Angst und Widerwillen, nach der Klinik gebracht zu werden, unter- 
nommen worden sein (A.-Bl. 31). 

Prof. Siemerling erklart auch bei seiner Vemehmung als Zeuge 
(Bl. 38 fg.), dass das Befinden von Frau S. sich bei ihrem zweiten Auf- 


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enthalt in der Klinik sehr schnell besserte. Sie wurde sehr bald ruhig 
und zeigte insbesondere durchaus keine Anzeichen, die anf Selbstmord- 
ideen hindeuteten. Die Patientin babe sehr darauf gedr&ngt, aus der 
Deberwaehungsstation in die Villa uberfuhrt zu werden, weil die R&ume 
dort angenehmer sind, als in der Ueberw.achungsstation und die Um- 
gebung dort rnhiger ist. Frau S. war am Tage der Ueberfuhrung durch¬ 
aus ruhig, so dass er keine Bedenken trug, sie in die Villa zu verlegen, 
woruber sie Freude Susserte. Er babe zur Zeit der Anordnung der 
Ueberfnhrung von Frau S. in die Villa die Gefahr eines Selbstmord- 
versuches fur ausgeschlossen gehalten (A.-BI. 38—41). 

Aus der w&hrend des zweiten Aufenthalts von Frau S. iu der Rieler 
Klinik gefubrten Krankengescbichte ist zu entnehmen, dass sie Februar 
bis M&rz 1904 allein nach Hamburg gereist war, wo sie einen ihrer 
Anfalle bekam. Sie lag 2 Stunden besinnungslos, nachdem sie einen 
Streit mit dem Bruder gehabt hatte; sie legte sich mit gescblossenen 
Augen hin und rief nach dem Mann und Kind. Am n&chsten Tage 
erschien sie wieder gut und machte eine Kaffeegesellschaft mit. Die 
Geburt erfolgte 3 x /2 Wochen vor der zweiten Aufnahme; sie war normal 
Patientin stilite selbst. Bei der Aufnahme am 12. November 1905 ging 
sie ruhig auf die Abteilung; zu Bett gebracht verlangte sie fortw&hrend 
nach Hause, beruhigte sich jedoch bald. Am 13. November machte die 
Kranke w&brend der Untersucbung alle Augenblicke Anstalten, das 
Zimmer zu verlassen, und behauptete, man halte sie bloss zum Narren. 
Sie ausserte ganz gesund zu sein, wollte aufstehen und nach Hause 
gehen, weinte dabei. Oertlich und zeitlich erschien sie gut orientiert, 
war gedruckter Stimmung, hatte in ihrem Wesen etwas Starres, sass 
traumbaft da. Auf Fragen antwortete sie entweder gar nichts Oder nur 
ganz knrz, mit leiser Stimme, ablehnend. Am 14. November lag sie 
ruhig im Bett, erschien noch immer gedruckter Stimmung, hatte in 
ihrem Wesen noch etwas Traumhaftes. Am 14. November erschien sie 
freier, am selben Tage wurde sie in die Villa verlegt, woruber sie sich 
freute. Am 16. November sprang sie morgens aus dem Klosett auf 
den Hof. 

Bezuglich ihres Seelenzustandes unmittelbar vor dem Selbstmord- 
versuch ausserte Frau S. nach der Krankengeschichte (Bl. 50 b) wohl 
einem Arzt gegenuber: „sie habe nicht mehr leben wollen, weil sie 
nicht mehr wert sei zu leben; sie sei nicht gut zu ihrem Mann gewesen“. 
Spater ausserte sie angeblich (Bl. 54) zu einer Kralikenschwester, dass 
sie sich schon auf der Baracke sehr wohl fublte und keinerlei Selbst- 
mordgedanken hatte. Als sie auf die Villa verlegt wurde, habe sie 
sich gleich vor einer Mitpatientin geangstigt; da sei ihr mit einem Male 

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£. Siemerling, 


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der Gedanke gekommen, sich mit einem Messer das Leben zu nehmen, 
was sie aber in der Umgebung anderer nicbt ausfuhren konnte. In der 
Nacht vom 15. auf den 16. habe sie oline trube Gedanken geschlafen, 
auch am 16. morgens sei ihr gut gewesen, ebenso sei sie ohne Selbst- 
mordgedanken ins Elosett gegangen, als sie aber dort das Fenster 
flffnete, kam ihr pldtzlich der Gedanke „sie masse sterben, es kOnne sie 
ja doch kein Mensch leiden". 

Aus einem Zeugnisse des Dr. H. aus I. far die erste Aufnabme in 
die Elinik entnebmen wir, dass die Urgrossmutter geisteskrank war and 
ihre Matter nervOs ist. Ferner berichtet dieses Zeugnis, dass die erste 
Erkrankung im Jahre 1903 ganz akut im Anschluss an eine Aufregang 
aaftrat. Die Eranke halluzinierte, glaubte, dass die Leute schlecht 
von ihr redeten, ausserte Beeintrachtigungsideen gegen die Warterin. 
Sie war zeitweilig gehemmt, dann wieder erregt, wanderte ruhelos 
herom. 

Nach Angabe des Mannes bei der ersten Aufnahme war auch der 
Vater der Patientin nervOs. Vor der Verheiratang stand sie, als sie 
noch auf der Handelsakademie studierte, wegen Nervositat in arztlicher 
Behandlung. Sie war geistig ausserordentlich entwickelt. Mit Eltern 
und Verwandten hatte sie oft Streitigkeiten. Wahrend der ersten 
Schwangerschaft traumte Patientin oft sehr lebhaft, glaubte sich im 
Traum verfolgt, stand dabei auf, sprach und beantwortete dem Manne 
aus dem Schlafe Fragen. Beim Erwachen war sie sehr unruhig. Die 
Matter der Frau S. erzahlte, dass sie in der Schule sehr ehrgeizig war, 
keinen Tadel vertragen konnte und einmal gelegentlich eines unbedeu- 
tenden Tadels in der Schule ohnmachtig wurde und dadurch einige 
Stunden nicht wusste, wo sie sich befand. Spater bekam sie Offers aus 
geringen Anlassen moistens infolge Aergers Anfalle, in denen sie sich 
auf die Erde warf, mit den Handen um sich schlug, die Umgebung 
scheinbar nicht erkannte, aber hOrte, was gesprochen wurde. 

Yon einem Selbstmord in der Familie der Frau S. ist nirgends 
etwas erwahnt, so dass eine angeborene familiare Anlage zum Selbst¬ 
mord, angeborene Schwache des Selbsterhaltungstriebes nicht ange- 
nommen werden kann. Im Anfang ihres ersten Aufenthaltes in der 
Elinik erschien Frau S. verwirrt, ratios, etwas angstlich, zeitweilig war 
sie erregt, drftngte fort und neigte zur Bildung von Wahnideen, die 
eine gewisse pbantastische Farbung batten. Melancholisohe Wahnvor- 
stellungen, lebhafte Angstaffekte und Selbstmordneigung traten in der 
damaligen Beobachtung uberhaupt nicht hervor. Die Eranke gewann 
allmahlich im Verlaufe von 14 Tagen die Orientierung und konnte nach 
5 Wochen als geheilt entlassen werden. 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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Gin Urteil fiber die Zul&ssigkeit der Behandlungsweise, welche 
Frau S. in der Nervenklinik zu Kliel w&hrend ihres zweiten Aufent- 
haltes erfuhr, kann sich nur auf eine genaue Eenntnis der hier vor- 
handenen Krankheit grunden; tats&chlich kennen wir ja Erankheits- 
zust&nde, bei denen das Ausserachtassen strengster Ueberwacbung des 
PatieDten geradezu als Eunstfehler angesehen werden muss. Beziehungen 
zu derartigen Erankheitsbildern sind nicht uur durch den von Frau S. 
begangenen Selbstmord gegeben, sondem scheinen nhmentlich nach den 
Yom Elfiger besonders betonten Momenten vorzuliegen. Das in den 
Akten enthaltene, oben angeffihrte Tatsachenmaterial ist umfassend 
genug, nm einen Einblick in das Wesen der von Frau S. 1905 durch- 
gemachten Geisteskrankheit zu gestatten. Zur Cbarakterisierung ist es 
notwendig, zunSchst eine Skizze der GesamtpersOnlickkeit und ihrer 
psycho pat hi schen Zust&nde zu entwerfen. 

Frau S. ist erblich belastet; ibre Urgrossmutter war geisteskrank, 
beide sftern nervfis. Intellektuell scbeint sie sebr gut veranlagt, da sie 
-eine hfihere Fachschule besuchte und nach Angabe des Mannes geistig 
ausserordentlich entwickelt war. Freilich dfirfte die geistige Entwick- 
lung auf Eosten der kOrperlichen und nervfisen erfolgt sein, denn 
wir hOren, dass sie schon wfihrend ihrer Studien auf der Handels- 
akademie wegen Nervositat in firztlicher Behandlung stand. Psycho- 
pathiscbe Zfige lassen sich fibrigens schon bis in die Eindheit ver- 
foigen; denn wie die Mutter angab, konnte das ehrgeizige M&dchen 
keinen Tadel vertragen und fiel einmal, als man sie wegen einer gering- 
fugigen Sache tadelte, in Ohnmacht. Auch traten die Anf&lle, von 
denen wir beim vollentwickelten Individuum hdren, schon in der Jugend 
auf; denn nach Angabe der Mutter warf sie sich, durch geringffigige 
Anlfisse geftrgert, zur Erde, schlug mit den Hfinden um sich herum, 
erkannte scheinbar die Umgebung nicht, hdrte aber, was gesprochen 
wurde. Dass deraitige Affekt&usserungen, die ganz das Geprfige hyste- 
rischer Anffille zeigen, keine ihre Heftigkeit entsprecbende Nachhaltig- 
keit hatten, kfinnen wir aus der Angabe entnehmen, dass sie einmal 
schon am folgenden Tage nach einem solche Anfalle, der 1904 im An¬ 
schluss an einen Streit mit dem Bruder auftrat, wieder heiter erschien 
and eine Eafifeegesellschaft mitmachte. Dass ein so veranlagtes Indi¬ 
viduum in den Generationsphasen psychischen Schwankungen im be- 
sonderen Masse ausgesetzt ist, linden wir ohne weiteres begreiflich. Ein 
' neuer psychopathischer Zug offenbart sich in der ersten Schwangerschaft, 
nfimlich die Neigung, in somnambule Zustfinde zu verfailen. Frau S. 
trfiumte damals sehr lebhaft, sprach im Traume und antwortete aus dem 
8chlafe heraus auf Fragen ihres Mannes. Bezeichnenderweise bildet ffir 


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E. Siemerling, 


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die erste Psychose, die nacb der ersten Geburt auftrat, eine Aufregung 
das auslftsende Moment. Auch die zweite Psychose, in der die ver- 
h&ngnisvolle Tat unternommen wurde, trat nacb einer Geburt und viel- 
leicbt nach einer leicbteren Gemutsbewegung (Abreise der Mutter?) anf. 

Aus dieser Schilderung geht klar hervor, dass Frau S. eine degene- 
rativ veranlagte psycbopathische PersOnlichkeit ist, die dazu neigt, in 
abnorme Bewusstseinszust&nde zu verfallen. Fast aus alien den er- 
w&hnten abnormen Zugen tritt uns ein fur eine derartige Anlage 
cbarakteristisches Grundmoment entgegen, nSmlich eine abnorme Ein- 
drncksfAhigkeit des Individuums. Scbon in der Jugend reagierte 
Frau S. auf gewisse EindrQcke in ganz ungewOhnlicher, wenn auch 
keineswegs nacbhaltiger Weise; verh&ltnismSssig unbedeutende Ursachen 
fuhrten bei ihr zu abnormen, ins Masslose gesteigerten Wirkungen. 
Geht man im besonderen auf die von ihr durchgemachten Psychosen 
ein, so findet man zunachst bei der ersten eine gewisse Anzahl von 
Symptomen: Halluzinationen, Erregungs-, aber auch Hemmungszust&nde, 
Angstaffekte, Wahnideen, insbesondere Beeintr&chtigungsvorstellungen, 
Storung der Auffassung (Personen usw.); diese Erscbeinungen lOsen sich 
einander vie! ab, ohne dass eine derselben dauernd das Rrankheitsbild 
beberrschte. Es handelt sich um einen Krankheitszustand, wie wir ihn 
nur bei belasteten, der Anlage nach psychopathischen Individuen zu 
sehen gewohnt sind. Die zweite Attacke ist einfacher; Beeintr&chtigungs- 
ideen treten allenthalben hervor, Andeutungen melancholischer Selbst- 
anklagen werden in der Klinik nicht beobachtet. Dass sie vor der 
zweiten Zufuhrung einmal zu Hause ge&ussert hatte, sie sei eine 
schlechte Frau, mache den Ibrigen nur Rummer, tue nichts (Bl. 48 d. A.), 
weist ja auf vorubergehcndes Auftauchen melancholischer Ideen hin, 
tr&gt aber doch zu sehr einen episodiscben Charakter, als dass man den 
Gesamtzustand danach benennen bzw. auffassen kSnnte. Mit Sicherbeit 
lfisst sich bezuglich beider Geisteskrankheiten Frau S. sagen, dass sie 
nicht zu jcnen gehOrten, denen eine hartn&ckige, andauernde Ten- 
denz zum Selbstmorde wie bei Melancholic eigen ist und insofern 
eine unterbrochene Ueberwachung des Rranken unbedingt zur Pflicht 
machen. Wohl aber bestand eine gewisse Gefahr mit Rucksicht auf 
ihre abnorme Eindrucksf&higkeit (plOtzlich ausgelOste heftige Affekte), 
wobei zu erw&gen war, dass dieser Zug in dem besonderen Zustande, 
in dem sie sich damals befand, noch mehr Geltung gewinnen konnte. 
Die Rranke neigte ihrer ganzen Ronstitution nach zu Affekt- 
handlungen. Wir finden es daber begreiflich, dass die Aerzte der Rieler 
Rlinik die Angabe des Mannes, seine Frau habe sich auf der Fahrt aus 
dem Eisenbahnzuge sturzen wollen, anders auffassten, als wie sie nach 


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Ansicht des K lagers hatte bewertet werden sollen. Bei einer an Melan¬ 
cholia leidenden Kranken hatte eine derartige Tat als Beweis fur einen 
dauernden Selbstmorddrang aufgefasst werden mussen und zu ent- 
sprechender Vorsicht veranlasst. Bei Frau S. konnte sie als Ausdruck 
eines momentanen durch irgendeinen unliebsamen Eindruck (bevor- 
stehende Internierung) ausgelfisten Affekt angesehen werden. Ein der- 
artiger Gedanke diirfte Dr. Flatau vorgeschwebt baben, als er bei 
seiner Vernehmung bemerkte, dass der Versuch von Frau S. bei der 
Fahrt wohl aus Angst und Widerwillen vor der Rlinik geschehen sein 
konnte. Wir kdnnen ibm aber naturlich nicht recht geben, wenn er 
daraus folgert, dass der Versuch darum nicht in selbstmbrderischer Ab- 
sicht geschehen sein musse, da sich ja beides nicht ausschliesst. Wie 
gestaltete sich nun die Wahrscheinlichkeit fur einen Selbstmordversuch 
zur Zeit der Verlegung der Frau S. in das offene Haus? 

Wir entnehmen der Rrankengeschicbte (und Prof. Siemerling gibt 
dasselbe bei seiner Vernehmung an), dass der Zustand der Rranken nach 
Einlieferung in die Rlinik sich rasch gebessert hatte, dass die Patientin 
ruhiger und freier geworden war. Sie verlangte selbst in die Villa 
uberfuhrt zu werden, weil es dort angenehmer sei als auf der Wach- 
station. Diese Angabe allein musste die Diagnose Melancholie wider- 
legen, da derartige Rranke auf ihre eigene Annehmlichkeit absolut nicht 
bedacht sind, sich vielmehr das schlechteste wunschen. Die Annahme 
aber, dass Fran S., als sie den Wunsch aussprach nach der offenen 
Villa verlegt zu werden, nur dissimulierte, also von vornherein den 
festen Plan, sich das Leben zu nehmen, hatte und die Aerzte mit jenem 
Wunsch nur zu t&uschen versuchte, bis sie eine gunstige Gelegenheit 
zum Seibstmord gefunden hsttte, ist besonders nach der von ihr sp&ter 
der Rrankenscbwester gegebenen Motivierung (die Richtigkeit derselben 
vorausgesetzt) hOchst unwahrscheinlich. Die Aerzte hatten tats&chlich 
keinen rechten Anlass, in ihre Angaben Zweifel zu setzen, und konnten 
sich sagen, dass bei dem ursprunglichen Widerwillen der Patientin gegen 
die Rlinik ein derartiges Entgegerikommen und eine Erfullung ihrer 
Wunsche den Rrankheitszustand gunstig beeinflussen wurde, worauf ja 
schliesslicb auch der Umstand hinwies, dass sie die Verlegung in die 
Villa freudig empfand. Die Ausfuhrung des Selbstmordversuches ist ein 
neues Faktum und hat ihre besondere Ursache, die erst nach der Ver¬ 
legung in die offene Abteilung sich geltend machte. Eine derartige 
Tat war nach dem Gesamttatbestande vor der Verlegung in die Villa 
gewiss nicht auszuschliessen, aber nicht gerade wahrscheinlich 
und, urn es nochmals zu betonen, durch das Rrankheitsbild nicht unbe- 
dingt nahegelegt. In der Rrankengeschichte ist nichts von Pr&kordial- 


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E. Siemerling, 


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angst, heftigen Selbstvorwurfen u. dgl. bemerkt, wie sie gewOhnlich bei 
selbstmordsuchtigen Melancholikem sich linden. In der Klinik hat 
sie also hOchstwahrscheinlich diese Symptome nicht gezeigt, wie ja auch 
die bei der ersten Erkrankung beobacbteten Einzelerscheinungen Melan¬ 
cholic ausgeschlossen und zur Bildung von Selbstmordideen nicht ge- 
fdhrt hatten. HOchstwahrscheinlich hat Frau S. morgens auf dem 
Klosett einen plOtzlichen Angstanfall gehabt, sie hat sich aber zu 
schwankend daruber ge&ussert, als dass man ein vOllig klares Bild ge- 
winnen kOnnte. Ihre Aeusserungen geben zu mannigfachen Zweifeln 
Anlass. Es gibt nur ausserst wenig Menschen bzw. Geisteskranke, 
welche sich umbringen, weil ihnen der Gedanke kommt, es kOnne sie- 
kein Mensch leiden. 

Also auch wenn die Aerzte gewusst batten, dass Frau S. dieser 
Gedanke kommen werde, hatten sie daraus scbwerlich den Schluss ge- 
zogen, dass sie sich desbalb umbringen wurde. Nun 1st es aber eine 
heute durchaus gelaufige wissenschaftliche Anschauung, mit Rucksicht 
auf das Wohlbefinden der Eranken und den Einfluss ihrer Umgebung 
auf ibr Geistesleben nicht summarisch jede MGglichkeit des Selbstmordes 
auszuschliessen, sondern nur da die lastige permanente Ueberwachung 
anzuwenden, wo eine grOssere Wahrscheinlichkeit fur die Neigung, 
wirklich zum Selbstmord zu schreiten, spricht. Eine grOssere 
Wahrscheinlichkeit war aber bei Frau S. nach dem heutigen Stande der 
medizinischen Wissenschaft zur Zeit ihrer Verlegung nach der Villa nicht 
notwendigerweise anzunehmen. Wollte man hiergegen einwenden, dass 
die Krankheit noch zu frisch war, als dass man den Versnch zu freier 
Behandlung hatte wagen durfen, so ist darauf binzuweisen, dass die 
Kranke sich frtiher haufig schon einen Tag nach schweren hysterischen 
Erregungszustanden wieder dauernd beruhigt batte. Auch eine oder 
zwei Wochen spater wtirde das Vorkommen eines Selbstmordversuches 
nicht mit Sicherheit auszuschliessen gewesen sein. Frau S. gebOrt zu 
den Naturen, welche auch in relativ gesunden Tagen vor einem 
plOtzlichen Impuls zum Selbstmord nicht ganz sicher sind 
und von denen der Arzt, solange Qberhaupt keine Neigung zu Be- 
wusstseinstrubungen infolge von Affekt besteht, niemals mit Sicherheit 
sagen kann: „Jetzt ist die Gefahr eines Selbstmordversuches voruber“. 
Dieser Zeitpunkt ist tats&chlich uberbaupt nicht mit Sicherheit zu be- 
stimmen. Derartige Naturen unternehmen durchschnittlich in ange- 
nehmerer Umgebung weniger Ieicht einen Selbstmord als in Situa- 
tionen, welche sie aufregen. Die Verlegung in die offene Villa musste 
auch insofern ins Auge gefasst werden. 

Ich fasse mein Gutachten dahin zusammen, dass der Gesnndheits- 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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zustand von Frau S. zur Zeit ihrer Verlegung kein derartiger war, 
dass man es unbedingt als gefahrlich eracbteu musste, sie aus der 
Ueberwachungsstation in das offene Haus zu uberfuhreu. Ein zuver- 
lissiges Wartepersonal vorausgesetzt, kann die Bebandlung derartiger 
Krauker in einer offenen Abteilung kaum prinzipiellen Bedenken unter- 
liegen. 

gez. Prof. Dr. Flechsig, 
KOniglich Sachsischer Geheimrat. 

Unter dem 27. 9. 1909 erging der Beweisbeschluss: 

Es soli weiter Beweis daruber erhoben werden, ob unter Beruck- 
sichtigung der Erankengeschichten von 1903 — Bl. 73 — und von 1905 
— Bl. 48 H —, sowie der Zeugenaussagen des Dr. Flatau — Bl. 31 f — 
und des Geheimrats Siemerling — Bl. 38 H — der Gesundheits- 
zustand der Ehefrau des K lagers, die am 12. 11. 1905 wegen einer 
infolge einer Entbindung eingetretenen traurigen Verstimmung in die 
Nervenklinik der Universitat zu Kiel aufgenommen war, am 14. 11. 
vom Standpunkt des Arztes als ein derartiger erscheinen musste, dass 
keine begrundeten Bedenken mehr vorlagen, sie von der Ueberwachungs¬ 
station in das offene Haus zu uberfuhren und ob, insbesondere auch 
mit Rucksicht darauf, dass die Ebefrau des Klagers am 12. 11. auf der 
Fahrt nach Kiel einen Versuch gemacht hatte, aus dem Eisenbahnzuge 
zu springen, trotz des kurzen Aufenthalts der Ehefrau des Riggers in 
der Nervenklinik von den Aerzten nach Lage der Sache nicht mit 
einer Gefahr, dass sie Selbstmord veruben konne, gerechnet werden 
musste, durch Vernehmnng eines weiteren gericbtlichen Sachverst&ndigen, 
dessen Auswahl und Ernennung dem Berichterstatter ubertragen wird. 

Unter dem 30. 11. 1909 erstattete Physikus Dr. Erman in Hamburg 
folgendes Gutachten: 

In der Elagesache des Redakteurs E. S. zu I. wider den Kdniglich 
Preussischen Fiskus Universitat Kiel, vertreten durch den Universitats- 
kurator in Kiel, beehre ich mich in Verfolg des Beweisbeschlusses vom 
27. 9. d. Js. der Zivilkammer H des ESniglichen Landgerichtes zu Kiel 
das Folgende zu berichten. 

Ich beantworte die unter Beweis gestellten Fragen dahin: 

1. dass unter Berucksichtigung der Erankengeschichten (Blatt 48 
und 73 der Akten) sowie der Zeugenaussagen (Blatt 31 und 
38 fT.) dm* Gesundheitszustand der Ebefrau des Klagers, die 
am 12. 11. 1905 wegen einer infolge einer Entbindung ein¬ 
getretenen traurigen Verstimmung in die Nervenklinik der 


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£. Siemerling, 


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Universit&t zu Kiel aufgenommen war, am 15. 11. vom Stand- 
punkt des Arztes aus als ein derartiger erscheinen musste, 
dass begrfindete Bedenken vorlagon, sie von der Ueberwachungs- 
station in das offene Haus zu fiberffihren, 

2. dass insbesondere auch mit Rficksicht darauf, dass die Ehefraa 
des Kl&gers am 12. 11. anf der Fahrt nach Kiel einen Versuch 
gemacht batte, aus dem Eisenbahnzuge zu springen, bei dem 
kurzen Aufenthalte der Ebefrau des Klagers in der Nerven- 
klinik von den Aerzten nach Lage der Sache noch mit einer 
Gefahr, dass sie Selbstmord verfiben kfinne, gerechnet werden 
musste. ^ 

Ich stfitze diese meine Meinung durch die folgenden Darlegungen 
des AkteDinbaltes. 

Frau S, war melancholiscli verstimmt, als sie am 12. 11. zum 
zweiten Male als Kranke in die Kieler Anstalt vom Ehemann eingebracht 
wurde. (In der Aussage des Herm Prof. Dr. Siemerling — Blatt38 — 
wird ihr Zustand „&ngstlicbe Verstimmung“ genannt; und in dem Briefe, 
den Herr Professor Siemerling an Herrn Dr. Krfiger am 29. 11. 
richtete — Seite 25 der Akte der Aufnabme der Frau S. — heisst es: 
„Bei Frau A. S. bandelt es sich urn eine im Wochenbett aufgetretene 
melancholische Verstimmung“). 

Ueber die von dem Ehemann S. bei der Zufuhrung der Kranken 
in der Kieler Klinik gegebenen anamnestischen Daten verzeichnet die 
Krankengeschichte (Blatt 48/49) das Nachstehende: 

Seine Frau sei vor 3 1 / 2 Wochen in regelmfissiger Weise von ihrem 
zweiten Kinde entbunden worden und habe ein normales Wochenbett 
gehabt. Nachdem ihre Mutter am 4. 11. zum Besuch eingetroffen war, 
habe sie schlecht geschlafen. Nach der Abreise der Mutter am 6. 11. 
sei seine Frau Nachts sehr unruhig gewesen, habe im Bett „gewuhlt“. 

Sie phantasiere nicht, h&tte (aber) traurige Stimmungen. Sagte, dass 
sie schlechte Frau sei — sie mache den Ihren Kummer — tue nicbts. 

Suizidgedanken babe sie nicht gefiussert. Unterwegs im Zug habe 
sie den Versuch gemacht, aus dem Zug heraus zu springen. Heute 
weine sie und sei ausnebmend traurig. 

Nach seiner Ansicht seien die Symptome der jetzigen Krankheit 
seiner Frau dieselben wie vor 2 Jabren, nur milder. 

Dass dieses Urteil des Mannes fiber die gleichartige Form der 
Erkrankung seiner Frau in 1905 und 1903 ein zntreffendes war, ist aus 
den Daten der in 1903 geffihrten und als Anlage zu Blatt 75 der Akte 
vorliegenden Krankengeschichte zu ersehen. Zur Kennzeicbnung der 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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damaligen angstlicben Verstimmung der Frau S., ihrer Erscheinungs- 
weise und ihrer tieferen Bedeutung sei folgendes aus der genannten 
Erankengeschichte hier referiert: 

In dem Begleitschreiben vom 9. 11. 1903, welches der Dr. tned. H. 
damals an die pirektion der Universitfitsklinik bei der Aufnahme der 
Kranken richtete, heisst es: Frau S. ist an einer puerperalen Psychose 
erkrankt. Die Krankheit begann am letzten Montag, dem 2. 11. Die 
Erankheit fiusserte sich zunachst in Halluzinationen; sie glaubte, die 
Menschen reden schlecht von ihr oder wollen ihr nicht wobl und ihr 
Mann schfitze sie nicht vor den Leuten. 

Depressionen wo sie mit leeren Blicken vor sich hinstarrte, 
wdchselten mit aufgeregten Szenen, wo sie ruhelos im Zimmer umber 
wandere. Nahrungsaufnahme wurde nahezu vfillig verweigert und Frau 
S. sei auch nicht im Bett zu halten. 

Der Ehemann seinerseits berichtete fiber das Yerhalten seiner Frau 
vor der Biniieferung in die Elinik folgendes: 

Seine Frau habe gefiussert: Die Warterin mache sie schlecht; 
dieselbe verbreite das Gerficht, sie konne ihr Kind nicht ordentlich 
pfiegen; vers tan de es nicht. Sie habe auch die Idee gefiussert, sie 
werde von den Leuten schlecht gemacht, ihr Mann nehme sie nicht 
gehfirig in Schutz, begfinstige ihre Verfolger. 

Sie sei zuweilen sehr abweisend gewesen und teilnahmslos gegen 
ihre ganze Umgebung. Sie hfitte sehr wenig Nahrung genommen; hfitte 
meist ohne etwas zu sagen den Eopf abgedreht; bei wiederholten Ver- 
suchen sei es zuweilen geiungen, ihr etwas flfissige Nahrung einzuflfissen. 
Die Nachte seien meist sehr unruhig gewesen. Schlafmittel speziell 
Morphium seien ohne jede Wirkung geblieben. 

Der damalige Krankheitszustand der Fran S., der bei ihrer Ein- 
lieferung am 9. November sich in einem abweisenden und widerstreben- 
den Benehmen und durch Nichtsprechen und Nichtantwortgebcn mani- 
festierte und von einem matten und gleichgfiltigen und zuweilen angst¬ 
lichen Gesichtsausdruck begleitet war, hielt unter allmfihlichem Nachlass 
der Symptome etwa 12 Tage an. 

Am 21. 11. wurde Frau S. zur Villa verlegt und nach einem am 
22. 11. dort empfangenen Besuch ihres Mannes wurde sie teilnehmend 
und erwachte zur Erkenntnis und zur richtigen Beurteilung ihrer Um¬ 
gebung. Die Eintragung der Erankengeschichte vom 22. 11. berichtet 
hierfiber: Erkundigt sich zweifeld bei ihrem Manne, ob das hier auch 
Aerzte seien und ob sie sich wirklich in einer Elinik befinde; es sei 
ihr so vorgekommen, als ob sie in eine MSrdergrube geraten sei. 

Von da ab (23. 11. 1903) nahm die Rekonvaleszenz, d. h. das 


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900 E. Siemerling, 

Erwachen der Vernunft und die Rfickkehr zu einem geordneten Verhalten, 
so raschen und guten Fortgang, dass Frau S. schou am 16. 12. 1903 
aus der Anstalt entlassen werden konnte. 

Sebr bemerkenswert 1st das, was Frau S. laut Kraukengeschichte 
fiber ihre Angstempfindongen und fiber ibre irren Gedanken in den 
ersten Wochen ihrer Krankheit auf Befragen am 23. 11. 1903 ver- 
lauten Hess: 

Sie sei — fiusserte sie damals — jetzt vollkommen fiberzeugt, 
dass sie sich in einer Kieler Elinik befinde und dass sie es mit richtigen 
Aerzten zu tun babe. Anfangs sei ihr hier alles so merkwfirdig vor- 
gekommen, sie habe gar nicht gewusst, wo sie war; babe geglaubt, alle 
sollten umgebracht werden; zu Hause habe sie geglaubt, Dr. H. 
wolle sie und ihre Familie umbringen; darfiber sei sie fingstlich und 
aufgeregt geworden. Stimmen habe sie zu Hause nicht gehdrt; hier 
habe sie ihre Angehdrigen rufen hOren. 

Wenn Frau S. diese vermutlich zutreffenden Mitteilungen nicht 
gemacht hfitle, wfirde man aus ihrem Verhalten und aus ihren Aeusse- 
rungen, wie solche in der Erankengeschichte vom 9.—20. 11. aufge- 
zeichnet sind — niemals auf diese Art und Starke ihrer qualvollen 
wahnhaften Vorstellung geschlossen haben. 

In ihrem Gesichtsausdruck und in ihrer Haltung lassen Eranke, 
wie Frau S., den sie beherrschenden traurigen Affekt zur Genfige er- 
kennen, aber der Inhalt ihrer traurigen und ihr gesundes Selbstbewusst- 
sein veruichtenden Gedanken bleibt dem Arzte verborgen, so lange der 
Eranke sie demselben nicht durch Worte verrfit. 

Deshalb sind und bleiben melancholisch verstimmte Personen, die 
nicht mehr Rede und Antwort stehen, in ihrem Verhalten schwer zu 
berechnende und wegen ihrer durch den traurigen Affekt des bfteren 
hervorgerufenen impulsiven Handlungen unsichere und einer genauen 
Ueberwachung bedurftige Anstaltskranke. 

Wer die ’Aufzeichnung der Erankengeschichte der Frau S. fiber 
ihren zweiteu Aufenthalt in der Eieler Anstalt nachliest (S. 48/49 der 
Akte) wird ohne weiteres erkennen, dass Frau S. in den Tagen vom 
12.—15. 11. nichts gefiussert hat, was ihren am 16. 11. dann verfibten 
Selbstmordversuch fiberall angedeutet batte. 

Sie sprach sich fiber den Inhalt ihrer traurigen Gedanken im Jahre 
1906 ebensowenig aus, wie im Jahre 1903. 

Am 13. 11. gab sie nur zu, traurige Gedanken gehabt zu haben. 

An diesem Tage wird in der Erankengeschichte ihr Wesen so 
charakterisiert: Sie hat in ihrem ganzen Wesen etwas Starres, sitzt 
wie traumhaft da. 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


901 


Beantwortet die meistea an sie gerichteten Fragen entweder nieht 
oder nur ganz kurz mit leiser Stimme. Verh&lt sicb der Untersuchung 
gegenuber ablehnend. 

Am 14.11. heisst es in der Krankengeschichte: Hat immer noch 
in ihrem Aeusseren etwas Traumhaftes. 

Am 15. 11. lantet die Gintragung: Erscheint etwas freier. 

Sie fragt an, ob sie nicht nach Villa oben verlegt werden k5nne. 

Zwischen 5 und 6 Uhr wird sie dann nach Villa II verlegt und 
freut sich, wieder in Villa II zn sein. Liegt rohig im Bett. 

Am 16.11. geht Frau S. dann morgens nach dem Elosett, springt 
durch das Klosettfenster auf den Hof and schl&gt mit dem Gesass aof 
den Rasen auf 

Der bei dem Sturz erlittene Bruch des Domfortsatzes eines Lenden- 
wirbels und eine Blutung in die Ruckenwirbelhohle zieht ein l&ngeres 
Krankenlager nach sich, das glucklicherweise mit Herstellung endigt. 

Ueber das Motiv ihres Sprunges aus dem Fenster befragt, Susserte 
Frau S. am Abend ihres Unfalltages (S. 50 der Akte): Sie habe nicht 
mehr leben wollen, weil sie nicht mehr wert sei, zu leben. Sie sei 
nicht gut zu ihrem Mann gewesen. 

Wenn man berucksichtigt, dass Frau S. vor ihrer Aufnahme in die 
Kieler Elinik laut Bekundung des Mannes „traurige Stimmungen zu 
Hause in der Zeit vom 6.—12. 11. hatte und in denselben schon kusserte, 
dass sie eine scblechte Frau sei, dass sie den' lhrigen Eummer mache, 
dass sie nichts tue“, so wird das von ihr angegebene Motiv fur ihren 
Selbstmordversuch nicht wohl anzuzweifeln sein. 

War der Selbstmordversuch von ihr zu erwarten? 

Mit Bestimmtheit ganz gewiss nicht; er hatte ausbleiben kSnneu, 
so gut wie er im Jahre 1903 bei der Eranken ausgeblieben ist und 
bei der grossen Mehrzahl ahnlich erkrankter Personen auch glucklicher¬ 
weise ausbleibt. 

Eonnte und musste an sein mogliches Gintreten gedacht, seine 
tunliche Verhinderung, sei es durch Bewachung der Eranken, sei es 
durch ihre weitere Verpflegung in einem gesicherten Raum, im Auge 
behalten werden? 

Ja, allgemein aus dem Grunde, dass bei derartigen melancholischen 
Eranken ein unvermuteter Selbstmordversuch immer in der Mdglichkeit 
liegt und im besonderen bei der Frau S. deshalb, weil sie kurz zuvor, 
n&mlich am 12. 11. bereits den Versuch gemacht hatte, aus dem fahren- 
den Gisenbahnzuge zu springen. 

Dass dieser Versuch der Frau S., aus dem Zuge zu springen, nicht 
unbedingt in selbstmbrderischer Absicbt geschehen zu sein brauche, dass 


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G. Siemerling, 


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er vielleicht der Augst und dem Widerwillen der Frau, in die Kieier 
Anstalt gebracht zu werden, entsprungen sei, hat der Zeuge Herr 
Dr. Flatau (S. 32) hervorgehoben. Diese Anschauung ist nacb der 
weiteren Entwicklung des Falles der Frau S. nicht recht wahrscheiolich, 
aber sie ist gewiss baltbarer als jene im Eingang seines Berichtes von 
Herrn Dr. F. formulierte ErklSrung, dass der Zustand der Frau S. bei 
der Verleguug notwendig kein gefabrdrohender (eiue nfthere Selbstmord- 
gefabr in sicli tragender) gewesen sein kOune, weil andernfalls die Ver- 
legung der Kranken von Herrn Geheimrat Prof. Dr. Siemerling nicht 
angeordnet worden sein wiirde. 

Aber wenn auch zugegeben ist, dass in 1905 Unklarbeit fiber das 
wirkliche Motiv des versuchten Entspringens der Frau S. im Sinne des 
Herrn Dr. Flatau unter den behandelnden Aerzten der Kieier Anstalt 
vielleicht geherrscht hat und herrschen konnte, so verlaugte es dennoch 
die notwendige Vorsicbt bei der Unterbringung und bei der Beaufsicb- 
tigung der Kranken jenen Versuch als einen mfiglichen Selbstmord- 
versuch zu berficksichtigen. 

Dass solche Berucksichtigung'des quaest. von dem Ebemann S. rappor- 
tierten Vorfalles eine ausreicbeude im Sinne der zur Begutachtung 
gestellten 2. Frage nicht gewesen ist, gilt mir als sicher. 

Der Aufenthalt der Frau S. in der Klinik war auch andererseits 
noch zu kurz und ihr geistiger Krankheitszustand hatte sich in den 
ersten vier Tagen noch zu wenig ge&ndert, um zur Zeit der Verlegung 
in das offene Haus die Gefahr eines Selbstmordversuches nicht mehr 
als naheliegend ausschliessen zu kfinnen. 

Die am 15. November in die Krankengeschichte eingetragene Be- 
merkung: „Erscheint etw as freier“ begrfindet die erheblichsten 
Zweifel an der angenommenen ausreichenden Rfickbildung der gemfits- 
kranken Verfassung der Frau S. und macht den vor ihr am 16. No¬ 
vember ausgeffihrten abrupten Selbstmordversuch auch verst&ndlich. 

Selbstmordversuche von Kranken werden auch in den mit alien 
erdenklichen Schutzmitteln eingerichtetcn Irrenanstalten immer einmal 
vorkommen, aber wenn es richtig ist, dass die Fenster der Villa, in 
der Frau S. am 15. November abends verlegt wurde, vfillig ungesichert 
waren, so passte solche Unterbringung ffir den Zustand der Frau S. 
nicht. Eine offeue Behandlung von Geisteskranken ist schfin und gut, 
aber sie muss sich in Grenzen halten; sie darf beispielsweise nicht 
kranken Personen, welche durch innerliche Angst und Verzweiflung und 
durch selbstqufilende Selbstvorwfirfe zum Selbstmord instigiert werden, 
Aufenthaltsrfiume anweisen, in denen unversicherte Fenster ihnen ein 
Hiuaussturzen gestatten. 


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Beitrag zur Verantwortliohkeit des Irrenarztes. 


903 


Die Gefahr, welche aus dem Nichtgesichertsein der Fenster in den 
Villen oder Villa der Kieler Anstalt fur manche der dort behandelten 
Eranken resultieren kann, wird in der Akte S. bereits durch einen 
weiteren erfolgreichen Selbstmordversuch eines Patienten illustriert, und 
wenn der Unterzeichnete ricbtig informiert ist, so bat vor wenigen 
Monaten in der Kieler Anstalt eine einer Altonaer Familie gehOrige 
geisteskranke Dame ebenfalls durch Sturz aus dem Fenster ihrem Leben 
ein Ende gemacht. gez. Dr. Erin an, Physikus. 

Naclistehende Erwiderung erfolgte unter dem 23. De- 
zember 1909: 

Nach diesseitiger AufFassung erscheint es zweifelhaft, ob Herr 
Dr. Friedrich Bessel Erman als Physikus genugende praktische 
psychiatrische Erfabrungen besitzt, urn die Erfordernisse eines Anstalts- 
betriebs richtig zu wurdigen. Seine Ausfiihrungen sind zu allgemein 
theoretischer Art, um sie ohne weiteres auf die in Betracht kommenden 
Verhaltnisse anwenden zu lassen. Insbesondere ist seiner Behauptung 
zu widersprechen, dass jede deprimierte Patientiu, auch wenn sie freier 
geworden ist, ein .fur allemal unter dauernder Ueberwaehung in 
gesicherten R&umen gehalten werden musste. 

Unter Aufsteilung dieser hochst anfechtbaren Behauptung und mit 
dem ebenso viel zu allgemein gebaltenen Satze, dass „bei derartigen 
melancholischen Eranken ein uuvermuteter Selbstmordversuch immer in 
der MOglichkeit liegt“, sucht Herr Dr. Erman zu beweisen, dass am 
15. November 1905 an ein „m6gliches“ Eintreten eines Selbstmord- 
versuches bei Frau S. „gedacht werden konnte und musste" — nicht 
einfach ,,musste,“ wie es im Eingang seines Gutachtens bei Beantwortung 
der unter Beweis gestellten Fragen lautete. — 

Zu den Hauptfortschritten der modernen Psychiatrie geb6rt das 
Bestreben, die Behandlung Geisteskranker im Interesse ihrer Heilung 
mOglichst frei und ihrer Individualit&t angemessen zu gestalten. Gerade 
bei Frau S. hatte sicb w&hrend ihres ersten Aufenthaltes in der Klinik 
dieses Prinzip gl£nzend bewahrt. Freilich scheint Dr. Erman nach 
seinen Ausfuhrungen dieser freieren Richtung weqig freundlich gegen- 
nberzustehen. Soweit ich mich entsinne, haben auch bereits vor Jahren 
hinsichtlich der Beurteilung seelischer Zustande grundsatzliche Meinungs- 
verschiedenheiten zwischen ihm und der Direktion biesiger Klinik sich 
herausgestellt, indem Herr Dr. Erman zwangsweise Unterbringung und 
Ueberwaehung einer Dame in geschlossener Anstalt fttr geboten erachtete, 
bei der bei Beobachtung in der Klinik das Bestehen einer Geisteskrank- 
heit uberhaupt ausgeschlossen wurde. gez. Siemerling. 


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904 E. Siemerling, 

' Am 23. 2. 1910 wurde das nachstehende Zwiscbenurteil verkiindet. 

Im Namen des Konigs! 

In Sachen des Redaktenrs E. S. 

— Prozessbevollmachtigte: R.-A. Stobbe and Dr. Hennings in Kiel — 

gegen den 

Koniglich Preussischen Fiskns Universitat Kiel, vertreten darch den 
Universitatskarator in Kiel, 

Beklagten, 

— Prozessbevollmachtigte: R.-A. J. R. Niese and Jessen in Kiel — 
wegen Schadenersatzes 

hat die II. Zivilkammer des Koniglichen Landgerichts in Kiel aaf die miind- 
liche Verhandlung vom 23.2.1910 nnter Mitwirkang des Landgerichtsdirektors 
Geh. Justizrats Sander, des Landricbters Dr. Matthiessen and des Ge- 
richtsassessors Haan far Recbt erkannt: 

Der Klaganspruch ist dem Grande nach gereohtfertigt. 

Tatbestand. 

Die Ehefraa des Klagers, welche mit ihrem Ehemann in gesetzlichem 
Gdterreobt lebt, wurde im Jahre 1903 nach der Entbindung von einer melan- 
cholisohen Verstimmung befallen und aaf einige Zeit als vordbergehend geistos- 
krank in der Koniglichen Psychiatrischen and Nervenklinik in Kiel arztlich 
behandelt. 

Am 12. 11. brachte der Klager seine Frau, bei weloher nach der einige 
Wochen vorher erfolgten zweiten Entbindung ein Ruckfall in dasselbe Leiden 
erfolgt war, wiederum dorthin. Sie wurde zuerst in die sog. Ueberwaohungs- 
station untergebracht, aber bereits am 15. 11. 1905 auf Anordnung des Vor- 
stehers der Nervenklinik, Geh. Uedizinalrats Prof. Dr. Siemerling, in die 
sog. Villa, eine offene Station, dberfuhrt. 

Hier machte die Ehefrau des Klagers am folgenden Horgen, am 16. 11., 
einen Selbstmordversuch, indem sie sich aus dem Klosettfenster stdrzle, wobei 
sie sich einen Brach der Lendenwirbelsaule zuzog. 

Diese Tatsachon sind nnter den Parteien ausser Streit. 

Der Klager macht fur die Folgen dieses Unfalls den Beklagten verant- 
wortlich and fragt vor: 

Schon am 12.11.1905, als er seine Fran nach Kiel gebracht habe, habe 
letztere mehrfach versucht, sich in selbstmorderischer Absicht aus dem Zuge 
za sturzen. Er habe dieses bei der Einlieferang sofort dem Assistenzart Dr. 
Flatau mitgeteilt, welcher es in den Krankheitsbericht diktiert habe. Er habe 
weiter gefragt, ob es notig sei, dass seine Frau in den allgemeinen Kranbeu- 
saal untergebracht werde, sie habe dort das letzte Hal able Eindrdcke gehabt, 
woraaf Dr. Flataa erwidert habe, das sei nicht za vermeiden, die Kranke 
masse zanachst aaf die Beobachtangsstation, wo stets Wache sei. Am 
nachsten Tage sei Geheimrat Siemerling in einer Anssprache mit ihm auf 
beide Punkte zuriickgekommen. Er habe bemerkt, es sei ihm interessant, zu 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


905 


horen, dass Frau S. versucht habe, sich aas dem Eisenbahnzuge za stiirzen, 
er bedauere, dass sie zunaohst auf die Beobachtungsstation gebracht werden 
miisse, sobald ihr Zustand es erlaube, werde er ibr ein besonderes Zimmer 
anweisen; es liege eine Anwandlung von Schwermut vor, die anscheinend nur 
leicht, nnd in 2—3 Wochen gehoben sein werde. Unter diesen Umstanden sei 
ein Verschulden der Anstaltsbeamten darin zn erblicken, dass die Schwer- 
mutige, die soeben Selbstmord versucht gebabt habe, schon nach 3Wochen in 
die offene Station und noch dazu in die erste Etage gebracht worden sei, zu- 
mal letztere auf einem so hohen Unterhause ruhe, dass sie die gewohnliohe 
Hohe eines zweiten Stockwerks erreiche. Es hatten auch in dem Erdgeschoss 
Zimmer zur Verfiigung gestanden. Die Gefahr, dass die Kranke abermals 
einen Selbstmordversuch machen werde, habe noch sehr nahe gelegen. Auch 
sei ein Verschnlden darin zu erblicken, dass die Klinik nicht mit den ge- 
brauchlichsten Einrichtungen versehen sei, welche geeignet seien, derartige 
Unfalle zu verhiiten. Es sei durchaus geboten, die Raume, in denen derartige 
Kranke sich aufhielten, insbesondere die Klosetts usw. mit Fenstern zn ver¬ 
sehen, welche ein Herausspringen nicht zuliessen. Derartige Einrichtungen 
seien anderswo auch langst eingefuhrt. Fur die Kieler Klinik habe hierzu um 
so mehr Grand vorgelegen, weil hier in den letzten Jahren wiederholt Kranke 
aus dem Fens ter gesprun^en seien. Infolge Bruchs der Wirbelsaule und eines 
Blutergusses in das Riickenmark sei bei seiner Frau eine Totallahmung alter 
Korperteile mit Ausnahme des Kopfes, des Halses, der Arine und der Hande 
eingetreten, die monatelang gedauert habe. Bis in den Marz 1906 habe die 
Gefahr einer dauemden Lahmung der Beine und einer Verkruppelung des 
Ruckgrats bestanden. Am 8. 3. 1906 sei seine Frau aus der Klinik entlassen 
worden, dooh habe sie nur wenige Schritte gehen konnen und sonst gefahren x 
werden miissen. Die Folge sei eine monatelange Kur gewesen, bestehend aus 
taglichen Badern und Massage. Auch habe sie bis Anfang September 1906 
einen Stutzapparat tragen miissen. Noch jetzt seien die Folgen des Unfalls 
nicht vollig beseitigt. Er verlange daber von dem Beklagten Ersatz der ihm 
infolge des Unfalls erwachsenen, in der hiermit in bezug genommcnen Auf- 
stellung Bl. 6 und 7 der Akten berechneten Unkosten zum Gesamtbetrage von 
2410,79 M., ferner fordere er fur seine Frau zunachst einmal vom 1. 9. 1906 
bis 31. 12. 1908 eine jahrlicbe Rente von 300 M., zusammen also 700 M. 
Seine Frau sei seit dem Unfall sehr viel nervoser als fruher und korperlich 
viel hinfalliger. Bei jeder hauslichen Verriohtung bekomme sie so starke 
Ruckenschmerzen, dass sie bald davon abstehen miisse. Auch konne sie wegen 
der Sohwache keine grosseren Entfernungen zuriicklegen. Dazu kamen haufige 
Krampfe in den Beinen, sowie dauernde Taubheit in den Gefiihlsnerven im 
rechten Obersohenkel. Infolge dieser Umst&nde konne sie den Hausstand nicht 
mehr wie fruher selbstandig versehen, musse vielmehr alle Arbeiten, die sie 
sonst getan habe, dem Personal iiberlassen. Auch werde sie jahrlich zur Kraf- 
tigung eines Badeaufentbalts bedurfen, damit sie nicht im Winter ganz zu- 
sammenklappe. Schliesslich habe sie bis Ende 1907 an Kopfschmerzen und 
Haarausfall gelitten, auch habe ihre Sehkraft gelitten. Unter diesen Umstan- 

Arehir f. Psjohi*trie. Bd. 60. Heft 2/3. 5 g 


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906 


E. Siemerling, 


den sei eine Rente von 300 M. ein sebr massiger Ersatz fiir die eingetretenen 
Bediirfnisse. Endlich fordere er and seine Fran anf Grand des § 847 des 
B.G.B. wegen desjenigen Schadens, der nicht Vermogensschaden sei, insbe- 
sondere als Schmerzensgeld einen Betrag von 3000 M. 

Der Klager beantragt daber, 

den Beklagten kostenpflicbtig zu verurteilen, an den Klager 
6110,79 11. nebst 4 pOt. p.- a. Zinsen seit Klagezustellung zu 
zablen and das Orteil gegen Sicberheitsleistang far vorlaafig 
vollstreckbar za erklaren. 

Der Beklagte beantragt, 

die Klage abzuweisen, das Urteil — eventuell gegen Sicherheits- 
leistung — far vorlaafig vollstreckbar za erklaren, im Falle der 
Verarteilung dem Beklagten nachzalassen, durcb Sicberbeitsstel- 
lung die Vollstreokung abzawenden. 

Er bestreitet nicht, dass die Ehefraa des Klagers am 12. 11. 1905 anf 
der Fahrt naoh Kiel versacht habe, sioh in selbstmorderischer Absicht aus dem 
Zage za sturzen, tragt aber weiter vor: In der Klinik habe sich Fran S. rasch 
wieder berabigt and schon am 14. 11. einen so freien Eindrack gemaoht, dass 
keine Bedenken mehr vorgelegen haben, ihrem and des Klagers Drangen nach- 
zugeben and sie, wie das erste Mai im Jahre 1903, aus der Ueberwachangs- 
station naob dem offenen Haase za verlegen. Hier lagen die Zimmer 1. and 
2. Klasse eine Treppe hoch, die Zimmer 3. Klasse im Erdgesohoss. Nach der 
Verlegang sei Fraa S. manter and zafrieden erschienen uud habe aach abends 
nach der Visite keine Spar von angstlicher Verstimmung mebr gezeigt. Die 
Erregang sei soheinbar wieder abgelaafen gewesen. Aach die Nacht sei ruhig 
verlanfen. Am folgenden Morgen friih sei sie dann plotzlicb aus dem Fenster 
des Klosetts gesprangen. Spater habe sie angegeben, sie habe in einem mo- 
mentanen Anfalle von Angst gehandelt. Weitere derartige Anfalle seien nie- 
mals beobachtet worden. Besondere Schutzvorrichtungen an den Fenstern 
seien in alien Raamen der Ueberwaohangsstation vorhanden, wahrend sie in 
der offenen Station iiberall fehlten, am in den Patienten das der Heilang dien- 
liche Gefuhl volliger Freibeit hervorzarafen. Irgend ein Verschalden der Aerzte 
sei nicht ersichtlicb, insbesondere nicht dargetan, dass sie sohnldhaft der 
Kranken eine Behandlung batten za toil werden lessen, die nach deu Grand- 
satzen der arztlichen Wissensohaft and Erfahrang nicht gerecbtfertigt gewesen 
sei. — Dass Fran S. infolge des Brachs der Wirbelsaule langere Zeit in arzt- 
licher Behandlung gelegen, and dass ihr and dem Klager infolgedessen ein 
Vermogensschaden erwachsen sei, werde nicht bestritten. Bemangelt werde 
aber die Hohe des verlangten Sohadenersatzes and die Angemessenheit der 
Rente and des Sohmerzensgoldes. 

Der Klager widerspricht diesen An- and Aasfiihrangen. 

Darch Beschlass des Gerichts ist die Verhandlung zanachst anf den 
Grund des Ansprachs besohrankt worden. 

In Gemiissheit der Beweisbesohlasse vom 30. 3. 1908 and vom 27. 9. 
1909 sind der Direktor der Psychiatrischen and Nervenklinik der Universitit 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. ■ 


907 


Leipzig, Geheimrat Prof. Dr. Flechsig daselbst, und der Physikus Dr. Er- 
man in Hamburg eidlich als Sachverstandige vernommen worden. 

Ihre schriftlichen Gatachten finden sich Bl. 90—100 und Bl. 130—134 
der Akten und werden hier in Bezug genommen. 

Ferner sind naoh dem Beschlusse vom 30. 8. 1908 der Geheimrat Prof. 
Dr. Siemerling in Kiel und der Anstalts&rzt Dr. Flatau, jetzt Dresden, als 
Zeugen vernommen worden, auf deren eidliche Aussagen in den gerichtlichen 
Protokollen vom 14. 5. 1908 — Bl. 31 f. — und vom 27. 6. 1908 — Bl. 38ff. 
— hier ebenfalls verwiesen wird. 

Das Ergebnis der Beweisanfnahme ist von den Parteien vorgetragen, ins- 
besondere auch die Krankengeschiohte der Frau S. aus den Jahren 1903 und 
1905 — Bl. 73, Bl. 48ff. — zum Gegenstande der Verhandlung gemacht 
worden. 

Der Beklagte bemangelt das Gutachten des Dr. Erman, dessen Ausfiih- 
rungen zu theoretischer Art seien. Es bestunden Zweifel, ob dieser Sachver¬ 
standige geniigende praktisohe psychiatrische Erfahrungen besitze. Im ein- 
zelnen tragt er den Inhalt des Schriftsatzes vom 11.2.1910 vor — Bl. 137 f.—, 
auf den verwiesen wird, und beantragt, als weitere Sachverstandige den Geh._ 
Medizinalrat Prof. Dr. Cramer in Gottingen und den Direktor der stadtischen 
Irrenanstalt in Lichtenberg bei Berlin, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Mo el i, 
zu horen. 

Der Klager halt weiteren Sachverstandigenbeweis nioht fiir erforderlich 
und die Bemangelung des Gutachtens des Dr. Erman fur verfehlt. Eventuell 
beantragt er, ohrip Yernehmung anderer Gutachter ein Obergutachten von der 
wissenschaftliohen Deputation fur das Medizinalwesen in Berlin einzuholen. 

Entscheidungsgrunde. 

Mit der Klage macht der Klager sowobl eigene Anspruche wie solcbe 
seiner Ehefrau geltend.' Letztere Anspruohe kann er, da die Ehegatten un- 
streitig nach gesetzlichem Guterrecht leben, gemass § 1380 des B.G.B. in 
eigenem Namen gerichtlich geltend machen. 

Die rechtliche Beurteilung ist aber hinsichtlich der verschiedenen geltend 
gemachten Anspruche eine verschiedene. 

1. Soweit der Klager eigene Sohadenersatzanspriiche erhebt, sind diese 
aus einem zwischen ihm und dem Beklagten geschlossenen Vertragsverbaltnis 
rechtlich begrundet. Der Klager hat seine Ehefrau am 12. 11. 1905 in die 
staatliche psychiatrische und Nervenklinik zur arztlichen Behandlung und 
Pflege gegen Entgelt gebracht und damit mit dem Beklagten einen Dienstver- 
trag im Sinne des § 611 des B. G. B. geschlossen. Zu den Pflichten, die der 
Beklagte durch diesen Vertrag iibernommen hat, gehorte ausser der arztlichen 
Behandlung auch die erforderliche Beaufsichtigung und Ueberwachung der 
Kranken. Er hatte insbesondere auch die nach Lage des Falles erforderlichen 
Massnahmen zu treffen, urn korperliche Verletzungen der Kranken in der An- 
stalt sei es durch Angriffe Dritter oder durch eigene Selbstentleibungsversuche 
zu verhuten. Dem Beklagten lag es nach dem Vertrage ob, die Ehefrau des 

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908 


E. Siemerling, 


Klagers in korperlich unversehrtem Zustande wieder aus dor Klinik zu ent- 
lassen. , Diese ihm nach dem Vertrage obliegende Leistung ist durch den 
Selbstmordversuoh der Ehefrau des Klagers unmoglich geworden. Die Ehefran 
des Klagers hat, wahrend sie der Ueberwaohungspflicht des Beklagten unter- 
stand, sich schwere korperliche Schadigungen zugezogen. Nach der Beweis- 
regel des § 282 des B. 6. B. ist es daher Sache des Beklagten, zu beweisen, 
dass die Unmoglichkeit, die Ebefran des Klagers ohne diese Schadigungen zu 
entlassen, nicht die Folge eines von ihm zn vertretenden Umstandes ist. Hit 
anderen Worten hat also der Beklagte gegeniiber der Schadensersatzanforderung 
des Klagers wegen nicht gehoriger Erfiillung des Vertrages den Naohweis zu 
fiihren, dass der Selbstmordversuch der Ehefrau des Klagers nicht durch ein 
schuldhaftes Handeln seiner Aerzte oder seines Wachpersonals, fur welches der 
Beklagte gemass § 278 des B. G. B. in vollem Umfange aufzukommen hat, er- 
moglioht worden ist. Er hat insbesondere zu beweisen, dass die Ueberfuhrung 
der Kranken in die offene Station trotz ihres einige Tage vorher auf der Raise 
gemachten Selbstmordversuches vom arztlichen Standpunkt aus keinen be- 
grundeten Bedenken mehr unterlag, und dass mit einem erneuten Selbstmord- 
versuch bei Anwendung pflichtgemasser Vorsicht und Sorgfalt nicht mehr zn 
rechnen war. 

II/ Anders liegt jedoch die Sache, soweit der Klager weitere Anspruche 
far seine Ehefrau, also fremde Anspruche geltend macht. Seine Ehefrau stand 
zu dem Beklagten in keinem Vertragsverhaltnis. Sie kann daher Anspruche 
nur auf ausserkontraktliches Verschulden des Beklagten oder seiner Vertreter 
grunden. Nach den §§ 31, 89, Absatz 1 des B. G. B. ist der Staat fur den 
Schaden verantwortlich, den ein verfassungsmassig berufener Vertreter durch 
eine in Ausfiihrung der ihm zustehenden Verrichtungen begangene, zum Scha- 
denersatze verpflichtende Handlung einem Dritten zufugt. Im vorliegenden 
Falle sieht der Klager die zum Schadenersatz verpflichtende Handlung in einer 
angeblich schuldhaften Anordnung des Vorstehers der Nervenklinik, die Ehe¬ 
frau des Klagers schon so kurze Zeit nach ihrer Einlieferung in die offene Villa 
zu iiberfuhren. 

Diese Anordnung ist unstreitig von dem Vorsteher der staatlichen An- 
stalt, Geheimrat Dr.Siemerling, selbst getroffen worden. Es fragt sich daher, 
ob dieser als ein verfassungsmassig berufener Vertreter des Beklagten anzu- 
sehen ist, fur welchen der Beklagte nach den §§ 31, 89, Abs. 1 des B. G. B. 
zu haften hat. Diese Frage muss bejaht werden. Das rechtliche Merkmal, dass 
die „verfassungsmassig berufenen Vertreter 14 des Staates von den sonstigen 
Angestellten unterscheidet, ist ihre Berufung zur Tatigkeit innerhalb eines Ge- 
sohaftsbereiches durch die die Verwaltungsorganisation regelnden Bestim- 
mungen. (Vgl. R. G. Bd. 53. S. 276.) 

Zum Begriff des verfassungsmassig berufenen Vertreters ist nicht erfor- 
derlich, dass die Person in alien Beziehungen zur Vertretung der juristischen 
Person berufen ist; es geniigt, wenn sie auch nur in einer oder einzelnen Be¬ 
ziehungen die juristische Person im Wille vertritt. (Vergl. 0. L. G. Bd. 5. 
S. 376.) 


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Beitrag zur Verantwortiichkeit des Irrenarztes. 


909 


Das trifft auf den Vorsteher einer staatlichen Heilanstalt zu. Einem 
solchen ist innerhalb eines bestimmten Geschaftskreises eine selbstandige 
leitende Stellung eingeraumt und er ist insoweit verfassungsmassig bemfener 
Vertreter des Staates. 

Vgl. ebenso speziell far den Leiter einer staatlichen Irrenanstalt 0. B. G. 
Stuttgart im „Recht u . 1905. S. 563. 

Danach wiirde eine Haftung des Beklagten fur ein Verschulden des Ge- 
heimrats Siemerling im vorliegenden Falle gegeben sein, wenn dnrch ein 
solohes der Ehefran des Klagers ein Schaden erwachsen ist. Dass letztere den 
fraglichen Selbstmordversuch am 16. 11. 1905 nicht hatte vornohmen konnen, 
wenn sie noch liber diesen Zeitpankt hinaus in der Ueberwachungsstation zu- 
ruckgehalten ware, ist ohne weiteres anznnehmen. Der Selbstentleibungsver- 
snch ist erst dnrch die Ueberfiihrung in die freie Station ermoglicht worden. 
Fur die Frage des Verschuldens liegt fur die hier in Betracht kommenden 
ausserkontraktlichen Anspriiche die Verteilung der Beweislast aber anders. 
Hier muss der Klager ein Verschulden des Anstaltsleiters nachweisen, also 
insbesondere den Beweis erbringen, dass die Ueberfiihrung der Kranken in die 
offene Station am 15. 11. 1905 vom arztliohen Standpunkt aus nooh begriin- 
deten Bedenken unterlag und dass mit einem emeuten Selbstmordversuch der 
Kranken noch gerechnet werden musste. 

Die ansserordentlichen Anspriiche, die der Klager fur seine Frau erhebt, 
namlich auch eine Geldrente als Scbadensersatz fur die Vermehrung ihrer Be- 
durfnisse and auf ein angemessenes Schmerzensgeld, sind naoh den §§ 843, 
847 des B. G. B. an sioh begriindet. 

Abgesehen von der fruhen Ueberfiihrung seinerEhefrau in die sogenannte 
offene Station, hat der Klager dem Beklagten nooh zum Vorwurf gemaoht, dass 
es in dieser offenen Station an den notigenVorrichtungen gefehlt habe, um den 
von seiner Frau ausgefiihrten Selbstmordversuch unmoglich zu machen. Hierin 
kann aber ein Verschulden nicht gefunden werden. Im Gegensatz zu der Ueber- 
waohungsstation soli gerade die offene Station den Kranken den Eindruck 
volliger Freiheit gewahren. Sie sollen nicht duroh Sicherheitsvorkehrungen 
irgendwelcher Art an ihre Krankheit erinnert werden und sich irgendwie in 
der Freiheit ihres Handeln beschrankt fiihlen. Umsomehr muss aber verlangt 
werden, dass Kranke in diese freie Station erst uberfiihrt werden, wenn ihr 
Zust&nd die ndtigen Garantien dafur bietet, dass sie von der ihnen eingeraum- 
ten Freiheit einen verniinftigen Gebrauch machen werden. 

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme muss aber alserwiesen angesehen 
werden, dass bei der Ueberfuhrang der Ehefrau des Klagers in die offene 
Station seitens des Anstaltsleiters nicht mit der geniigenden Sorgfalt und Vor- 
sicht zu Werke gegangen ist. Die Gutachten der beiden vernommenen Saoh- 
verstandigen weichen zwar in der Beurteilung des Grades des Verschuldens 
von einander ab. Zu der Feststeilung, dass dem Anstaltsleiter aber uberhaupt 
keine Fahrlassigkeit zur Last gelegt werden kbnne, kommt auoh der Sach- 
verstandige Dr. Flechsig nicht. Danach ersoheint es jedenfalls als aus- 
geschlossen, den dem Beklagten gegeniiber dem eigenen Anspruche des 


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910 


E. Siemerling, 


Klagers aus dem Vertragsverhaltnis gemass § 282 des B. G. B. obliegenden 
Exkulpationsbeweis als erbracht anzasehen. Es ist aber auch sogar der im 
iibrigen dem Klager obliegende Beweis des Verscbuldens als gefuhrt zu 
erachten. 

Der Sachyerstandige Dr. Flechsig fdhrt aus, dass die Ehefrau des 
Klagers erbeblich belastet gewesen sei und dass sie nach ihrer nervdsen Ver- 
anlagung, insbesondere in den Generationsphasen, psycbischen Schwankungen 
im besonderen Masse ausgesetzt sei. Sie habe ihrer ganzen Konstitution nach 
zu Affekthandlungen geneigt. Wenn ihre beiden Geisteskrankheiten im Jahre 
1903 und 1905 auch nicht zu jenen gehorten, denen eine hartnackige Tendenz 
zum Selbstmorde wie bei Melancholie eigen sei, so habe doch eine gewisse 
Gefahr mit Riicksioht auf ihre abnorme Eindrucksfahigkeit bestanden, wobei 
zu erwagen gewesen sei, dass dieser Zug in dem besonderen Zustande, in dem 
sie sich damals befunden habe, noch mehr Geltung habe gewinnen kdnnen. Der 
Versuch der Ehefrau desKlagers, sich wah rend der Eisenbahnfahrt aus dem Wagen 
zu stiirzen, habe bei einer an Melancholie leidenden Kranken als ein Beweis 
far einen dauernden Selbstmorddrang aufgefasst werden miissen. Bei Frau S. 
habe er als Ausdruck eines momentanen duroh irgend einen unliebsamen Ein- 
druck (bevorstehende Internierung) ausgelosten Affektes angesehen werden 
konnen. Ein Selbstmordversuch sei naoh dem Gesamttatbestande vor der 
Verlegung in die Villa gewiss nicht auszuschliessen gewesen, sei aber 
nicht gerade wahrscheinlioh und durch das Krankheitsbild nicht unbedingt 
nahe gelegt gewesen. Eine grossere Wahrscbeinlichkeit fur einen Selbst- 
mordversuch sei nicht notwendiger Weise anzunehmen gowesen. 

Bestimmter lasst sich das Gutachten des Sachverstandigen Dr. Erman 
aus. Dieser Sachyerstandige fuhrt aus, dass mit Bestimmtheit ganz gewiss 
ein Selbstmordyersuch von der Ehefrau des Klagers bei ihrer Verlegung in die 
offene Station nicht zu erwarten gewesen sei. An sein mogliches Eintreten 
habe aber gedacht werden miissen, insbesondere mit Rucksicht auf den Ver- 
suoh der Kranken, am 12. November 1905 aus dem fahrenden Eisenbahnzuge 
zu springen. Wenn auch Unklarheit dariiber geherrscht haben konne, ob dieser 
Versuch gerade als Selbstmordversuch aufzufassen gewesen sei, so habe 
dennoch die notwendige Vorsicht bei der Unterbringung und bei der Beauf- 
sichtigung der Kranken verlangt, jenen Versuch als einen moglichen Selbst¬ 
mordyersuch zu beriicksichtigen. Der Aufenthalt der Frau S. in der Klinik 
sei nooh zu kurz gewesen und ihr geistiger Krankheitszustand habe sich in 
den ersten 4 Tagen noch ,zu wenig gehndert gehabt, um zur Zeit der Ver¬ 
legung in das offene Haus die Gefahr eines Selbstmordversuches als nicht 
mehr naholiegend ausschliessen zu konnen. Die am 15. November in die 
Krankengeschichte eingetragene Bemerkung: „Ersoheint etwas freier 44 be- 
grunde die erheblichsten Zweifel an der angenommenen ausreichenden Ruck- 
bildung der gemiitskranken Verfassung der Frau S. und mache den von ihr 
am 16. November ausgefuhrten abrupten Selbstmordversuch auch verstandlicb. 

Nach diesem Gutachten, das von dem Gericht fur durchaus uberzeugend 
erachtet wird, ist zweifellos eine sohuldhafte Ausserachtlassung der durch die 


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Beitrag zar Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


911 


arztliche Wissenschaft und Erfahrung gebotenen Vorsicht festzustellen. Dies© 
Feststellung ist aber auch auf Grand des Gutachtens des Sachverstandigen 
Dr. Flechsig zu treffen. Der Sinn seiner Ausfuhrungen geht doch nor dahin, 
dass dem Anstaltsleiter eine grobe Fahrlassigkeit nicht zur Last gelegt werden 
konne, dass aber auch nach seiner Ueberzeugung die fruhe Ueberfuhrung der 
Frau S. in die offene Station zum mindesten ein sehr gewagtes Experiment 
war, dass mit einem Selbstmordversuch immer nooh gereohnet werden konnte 
und es vorsichtiger gewesen ware, erst eine weitere Riickbildung der Krankheit 
in der Ueberwachungsstation abzuwarten. Die Sohadenersatzpflicht des Be* 
klagten setzt aber keineswegs eine grobe Fahrlassigkeit voraus. Sie ist yiel- 
mehr schon begrandet, wenn uberhaupt ein Verschulden des Anstaltsvorstehers 
und sei es auch nur ein geringes, festgestellt werden kann. Ein solches Ver¬ 
schulden ist aber auf Grand beider Gutachten als erwiesen anzunehmen. 
Bei Unterbringung der Kranken in der offenen Station am 15. November 1905 
ist nicht hinreichend beracksichtigt worden, dass der Versuoh der Frau S., 
sich aus dem Zdge zu sturzen, in selbstmorderischer Absicht vorgenommen 
sein konnte und deshalb die Gefahr eines emeuten Selbstmordversuches durch 
den Verlauf der Krankheit in den folgenden drei Tagen noch nioht mit hin- 
reiohenderSicherheit als aufgehoben angesehen werden durfte. Die erforderliche 
Vorsicht ist daher ausser Acht gelassen worden. 

Sonach erscheint der Sohadenersatzanspruch in alien Teilen dem Grande 
nach gerechtfertigt. 

Da der Anspruoh auch dem Betrage nach streitig war, ersohien es gemass 
§ 304 der Z. P. 0. angezeigt, wie geschehen, fiber den Grand vorab zu 
entscheiden. 

gez. Sander. Matthiessen. Haan. 

Es wurde Berufung beim Oberlandesgericht eingelegt. 

Nach dem Gerichtsbeschluss vom 28. Juni 1910 soil Beweis erhoben 
werden, ob die Ueberfuhrung der Ehefrau des Klagers aus der Ueberwachungs¬ 
station in die offene Station der Kieler Nervenklinik am 15. November 1905 
vom arztlichen Standpunkle aus keinem begriindeten Bedenken unterlag. 

Unter Beriicksichtigung der Tatsachen, dass die Fenster der offenen 
Station ohne besondere Sicherungen sind, dass eine standige Bewachung der 
Kranken, insbesondere auf dem Klosett nioht stattfand und dass dem die Ueber- 
fuhrang anordnenden Arzte bekannt war, dass die Kranke am 12. November 
1905 auf der Fahrt nach Kiel versucht hatte, sich aus demEisenbahnabteil zu 
sturzen. 

Durch Einziehung eines Obergutachtens der K5niglichen Wissenschaft- 
lichen Deputation fiir das Medizinalwesen in Berlin. 

Das Uinisterium der geistlichen, Unterrichts- und Hedizinalangelegen- 
heiten stellte am 26. September 1910 anheim, zunachst ein Gutachten des 
Uedizinalkollegiums der Provinz Westfalen einzuholen. 


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E. Siemerling, 


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Dieses erstattete unter dem 13. Januar 1911 folgendes 

Gutacbten. 

Dem KQniglichen Oberlandesgericht 2. Zivilsenat erstatten wir unter 
Bezognabme auf das urschriftliche Schreiben vom 5. Oktober v. Js. and 
unter Ruokgahe von 2 Bd. Akten das von uns erforderte Obergutachten 
darfiber, 

„ob die Ueberfuhrung der Ehefrau S. aus der Ueberwachungs- 
station in die offene Station vom arztlicken Standpiinkte aus 
keinen begrundeten Bedenken unterlag unter Berucksicbtigong 
der Tatsachen, dass die Fenster der offenen Station ohne be- 
sondere Sicherungen sind, dass einc stAndige Deberwachung 
der Eranken, iusbesondere auf dem Klosett nicht stattfand und 
dass dem die Ueberfdkrung anordnenden Arzte bekannt war. 
dass die Kranke am 11. November 1905 auf der Fahrt nacli 
Riel versucht hatte, sbch aus dem Eisenbahnabteil zu sturzen ■' 
im Nacbfolgenden ergebenst. 

Geschicktserzaklung. 

Der Redaktenr E. S. in I. reicbte am 5. 12. 1907 aus Aulass eines 
seitens seiner Frau in der Kieler Nerveuklinik erlittenen Unfalls bei 
dem E&niglichen Landgerichte die Elage gegen den preussischen Fiskus, 
vertreten durch den Universit&tskurator in Kiel ein mit dem Antrage, 
diesen kostenpflichtig zu verurteilen. Als Begrundungi fur seine Elage 
fuhrte er an, dass seine Frau, die im Jahre 1903 nach eiuer Entbindung 
wegen einer melancholischen Verstimmung als vorubergehend geisteskrank 
in der Roniglichen psychiatrischen nnd Nerveuklinik behandelt sei, von 
ihm am 11. 11. 1905 der Anstalt wicderum babe zugefuhrt werden 
mussen. Dem Assistenzarzt Dr. Flatau habe er mitgeteilt, dass seine 
Frau auf der Fahrt wiederholt versucht habe, sich aus dem Zuge zu 
sturzen und habe er diesen auch befragt, ob seine Frau notwendig in 
den allgemeinen Erankensaal untergebracht werden musse, da sie dort 
fruher uble Eindrucke gehabt habe. Am folgenden Tage habe er dar- 
uber auch mit dem Professor Dr. Siemerling gesprochen, der ihm 
angegeben habe, dass bei der Patientin eine Anwandlung von Schwer- 
mut vorliege, die anscheinend nur leicht sei und in 2—3 Wochen 
wieder gehoben sein werde. Professor Dr. Siemerling habe auch be- 
merkt, es sei ihm interessant zu horen, dass Frau S. versucht habe, 
sich aus dem Zuge zu sturzen und er bedaure, dass sie zun&chst auf 
die Beobacbtung8station gebracht werden musse, dass er ihr aber, sobald 
ihr Zustand es erlaube, ein besonderes Zimmer anweisen werde. Zwei 
Tage spiter sei seine Frau dann in das erste Stockwerk der Frauenvilla 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 913 

gebracht, obwohl im Parterre Zimmer vorhanden waren, aber bereits 
am folgenden Tage babe sie sich aus dem Klosettfeuster gesturzt und 
die Wirbels&ule gebrochea. Fur die Folgen des Unfalles machte der 
Klager den KSniglich Preussischen Fiskus bezw. die Universitat Kiel 
verantwortlich: ein Verschulden der Anstaltsbeamten sei darin zu er- 
blicken, dass die Schwermiitige, die soeben Selbstmord versucht habe, 
in die offene Villa nnd in den ersten Stock gebracht wurde, sodann 
aber ein Verschulden darin zn finden, dass die Klinik nicht mit den 
gebrauchlichen geeigneten Einrichtungen versehen sei, derartige Unfalle 
zn verbindern, da es geboten sei, R&ume, in denen sich derartige Kranke 
ohne Anfsicht aufhalten, insbesondere Klosetts usw. mit Fenstern zu 
versehen, welche ein Herausspringen nicht zulassen. 

Hiergegen nahm der Beklagte Stellung, indem er hervorhob, dass 
die psycbiatrische Klinik in alien ihren Einrichtungen den Grunds&tzen 
der modernen Psychiatric entspreche, indem die Ueberwachongsstation 
mit alien Schutzvorrichtungen versehen sei, in der Abteilung fur ruhige 
Kranke jedoch derartige Massnahmen aus guten Grunden vermieden 
seien. Ein Verschuldeu der Beamten liege ebenfalls nicht vor, da die 
Fran S. erst nach eingetretener Beruhigung in die Abteilung fur rubige 
Kranke uberfuhrt sei und da nach der gewissenhaften sachverstandigen 
Ueberzeugung der Aerzte kein Bedenken mehr vorlag, dem Drftngen, 
sie von der Ueberwachungsstation in das offene Haus zn verlegen, 
nachzugeben. Fur die Aerzte habe durchaus keine Veranlassung zn der 
Befurchtung der Wiederholung eines Selbstmordversuches vorgelegen, 
da die Patientin sich beruhigt hatte. 

Nach dem Berichte des Direktors der KQniglicheu psychiatrischen 
Klinik Professor Dr. Siemerling ist die Frau S. am 8. 11. 1903 das 
erste Mai in die Klinik aufgenommen: sie litt damals (nach ihrem 
ersten Wocheabett w&hrend des Stillens erkrankt) an einer Sngstlichen 
Erregung mit Sinnestauschungen, beruhigte sich bald, so dass sie am 
20. oder 21. 11. (Bl. 72) nach der offenen Abteilung verlegt und am 
16. 12. als geheilt entlassen werden konnte. Selbstmordideen hatte sie 
niemals geaussert.. Nach ihrer Entlassung soli sie wiederholt an leicbteren 
Anfailen trauriger Verstimmung gelitten haben, die jedoch immer rasch 
voruber gingen. 

Am 12. 11. 1905 wurde sie wieder zur Klinik gebracht, nachdem 
sie im Anschluss an ihre zweite Entbindung ungefahr die gleichen 
Symptome wie bei der ersten Aufnahme geboten hatte. Der Ehemann 
habe ausdrucklich erklart, die Symptome seien milder wie bei der ersten 
Erkrankung gewesen, sie habe zu Hause keine Selbstmordideen geaussert, 
nur unterwegs habe sie den Versucb gemacbt, aus dem Zuge zu springeu. 


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E. Siemerling, 


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In der Elinik habe sicb die Frau S. rascb wieder beruhigt und am 
14. 11. eineu so freien Eindruck gemacbt, dass kein Bedenken vorlag, 
ihrena und des Ebemanns Dr&ngen nacbzugeben und sie, wie das erste 
Mai, aus der Ueberwachungsstation nach dem offenen Hause zu verlegen, 
in dem die -Zimmer 1. and 2. Elasse eine Treppe hoch liegen. Nach 
der Yerlegung sei die Frau S. munter und zufrieden gewesen, habe 
keine Spur von angstlicber Verstimmung gezeigt, am folgenden Morgen 
fruh sei sie dann plotzlick aus dem Fenster des Elosetts gesprungen 
— wie spater angegeben in einem momentanen Anfalle von Angst — 
und habe sicb einen Bruch der Lendenwirbels&ule zugezogen. Scbutz- 
einrichtungen fehlten im offenen Hause im Klosett so wie an sftmtlicben 
Fenstern, da sie hier wenig Zweck hatteo, da keine dauernde Ueber- 
wachung statthabe, die Eranken sicb daber, wenn sie selbstmordsuchtig 
seien, auch sonst beschadigen konnten. 

Der am 14. 5. 1908 vernommene Dr. Flatau gab an, dass der 
Zustand der Frau S. am 14. 11. 1905 ein derartiger war, dass man 
die Deberfuhrung aus der Ueberwachungsstation in das offene Haus 
wagen konnte, andernfalls ware diese Yerlegung vom Geheimrat Professor 
Dr. Siemerling nicbt angeordnet worden. Ein Selbstmordversuch der 
Eranken sei weder verargwShnt noch erwartet: der friihere Versuch der 
Frau S., aus dem Eisenbahnzuge zn springen, brauche nicht unbedingt 
in selbstmbrderischer Absicht unternommen worden zu sein, kOnne auch 
aus der Angst und dem Widerwillen, wieder nach der Elinik gebracht 
zu werden, entstandeu sein. 

Der Geheimrat Professor Dr. Siemerling bekundet bei seiner 
Vernehmung am 27. 6. 1908, dass der Ehemann S. ihm erkl&rt babe, 
dass seine Frau in der Zwiscbenzeit (seit dem 16. 12. 1903) geistig 
gesund gewesen sei, abgesehen von einigen ab und zu eingetretenen 
Verstimmungen. Die jetzige Gemutserkrankuug, infolge deren Fran S. 
am 12. 11. 1905 wieder aufgenommen sei, habe sich wiederum an das 
Wochenbett angeschlossen, sei aber weniger schlimm (milder) als das 
vorige Mai. Selbstmordideen habe sie nicht an den Tag gelegt, ab¬ 
gesehen davon, dass sie wahrend der Herfahrt aus dem Eisenbahnzuge 
habe herausspringen wollen. Frau S. sei zun&chst in der Ueberwachungs¬ 
station und zwar in einem Saale untergebracht, dann aber in eins der 
zur Ueberwachungsstation gehOrigen einzelnen Zimmer gebracht. Ihr 
Befinden habe sich wiederum sehr schnell gebessert und habe sie 
durchaus keine Anzeichen gezeigt, die auf Selbstmordideen hindeuteten. 
Sie habe sehr darauf gedrangt, in die Yilla iiberfuhrt zu werden, weil 
die R&uine dort angenehmer sind, auch die ganze Umgebung ruhiger 
ist als in der Ueberwachungsstation. Am 15. 11. babe die Fran S., 


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Beitrag zur Verantwortlichbeit des Irrenarztes. 


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„die sich damals jedenfalls bereits in einem Einzelzimmer befand“, ihm 
bei der Visite personlich den Wunsch ge&ussert, in die obere Villa 
verlegt zu werden nnd habe er mit Rucksicht auf die eingetretene 
Besserung — „sie war insbesondere an diesem Morgen durchaus rnbig 
gewesen“ — kein Bedenken gehabt, diesem Wunsche nachzugeben. Auf 
seine Anordnung hin babe am Nacbmittag dieses Tages die Verlegung 
dann stattgefunden, woruber die Frau S. sich gefreut habe. Zur Zeit 
der Anordnung der Ueberfnhrung der Frau S. in die Villa babe er die 
Gefahr eines Selbstmordversucbes fur ausgeschlossen angesehen. 

Aus einem am 16. 11. 1905, am Tage des Ungliicksfalles, vom 
Professor Dr. Siemerling an den Ebemann der Frau S. gerichteten 
Briefe heben wir u. a. folgendes hervor: 

„Die Kranke hatte sich hier dauemd ruhig gehalten, keinerlei 
Erscheinungen von Angst oder Traurigkeit gezeigt, gut gegessen 
und geschlafen, so dass ibrem wiederbolten dringenden Bitten, 
aus dem Wachsaal nach der Villa verlegt zu werden, gestern 
nachgegeben wurde. Sie war sehr erfreut daruber, scblief die 
Nacht gut und trug auch heute Morgen ein vollkommen ruhiges 
und geordnetes Wesen zur Scbau. Gegen 3 / i 9 Uhr begab sie 
sich, als die Pflegerin gerade mit einer anderen Patientin be- 
sch&ftigt war, auf das Klosett und sprang einen Stock hoch 

aus dem Fenster.Auf Fragen nach dem Grande ihrer 

Tat antwortete die Kranke hur, sie sei schlecht und babe 
Schuld“ .... 

In einem am 17. 11. 1905 geschriebenen Briefe wird u. a. an- 
gegeben: 

.... die Kranke verh&It sich ruhig, ist vfillig klar, aber 
leicht gedruckter Stimmung; sie hat selbst den Wunsch wieder 
gesund zu werden, w&hrend sie noch gestern als Grand fur 
den Sprung angab, sie sei nicht wert zu leben, sei ibrem 
Manne und Kinde zu wenig gewesen. 

Professor Dr. Siemerling bezeichnet in seinem an den Dr. Kr. 
zu I. gerichteten Brief vom 29. 11. 1905 die Erkrankungsform der 
Frau S. als „melancholische Verstimmung 11 . 

Aus der Krankengeschichte ist hervorzuheben, dass Frau S. nach 
ihrer am 16. 12. 1903 erfolgten Entlassung aus der Klinik noch ziem- 
lich erregt war, ab und zu traurige Stimmungen bekam, sp&ter jedoch 
immer guter und lustiger Dinge war. W&hrend eines Aufenthaltes in 
Hamburg von Februar bis M&rz 1904 bekam sie nach einem Streit mit 
ihrem Brader einen ihrer Anf&lle, lag 2 Stunden besinnungslos, war 


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E. Siemerling, 


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leicht erregt, legte sich bin mit gesclilossenen Augen; am folgeuden 
Tage wieder gutes Befinden, roachte eine Kaffeegesellschaft mit. — 
Wahrend einer Influenza im Mai 1904 zeigte sie einen 4 Tage an- 
haltenden apathischen Zustand, „alles zitterte an ihr“, dann wieder 
ganz gesund. Gegen Mitte Oktober 1905 erfolgte die 2. Niederkunft 
normal, leicht: Frau S. stillte selbst. Nach einem Besuche der Mutter 
schlief sie vom 4./5. 11. schlecht, vom G./7. 11. war sie nachts sehr 
unruhig, wuhlte, hatte traurige Stimmungen, sagte, sie sei eine schlechte 
Frau, machte den Ihrigen Kummer, tue nichts, keine Suizidalgedanken. 
Am 11. 11. „heute Weinen und ausnehmend traurig“. Auf der Reise 
nach Kiel Versuch aus dem Zuge zu springen. Am 12. 11. wurde sie 
abends gegen 8 Dhr von ihrem Manne zur Klinik gebracbt, verlangte, 
zu Bett gebracht, fortw&hrend nach Hause, beruhigte sich jedoch bald, 
schlaft auf Schlafmittel gut. 

Am 13. 11. ist angegeben: Macht alle Augenblicke Anstalten, das 
Aerztezimmer zu verlassen. Behauptet, man habe sie zum Narren . . . 
Sie gibt zu, traurige Gedanken gehabt zu haben. Oertlich und zeitlich 
gut orientiert. Bedruckte weinerliche Stimmung. Hat in ihrem ganzen 
Wesen etwas Starres, sitzt wie traumhaft da. Beantwortet die meisten 
an sie gerichteten Fragen entweder nicht oder nur ganz kurz mit leiser 
Stimme. Eingehende Untersuchung unmdglich, da von Patientin ab- 
gelehnt. 

Vom 13./14. 11.: Auf Schlafmittel ruhig geschlafen. 

Am 14. 11.: Noch immer leicht gedruckter Stimmung. Liegt ruhig 
zu Bett. Hat noch immer in ihrem Aeusseren etwas Traumhaftes. Isst 
etwas besser. Tigliche Bader. 

Vom 14./15. 11.: Auf Schlafmittel gut geschlafen. 

Am 15. 11.: Erscheint heute etwas freier. Fragt, ob sie nicht 
nach Villa oben verlegt werden kdnne. — Nach Villa II zwischen 
5—6 Uhr abends. Freut sich, wieder in der Villa zu sein. Liegt ruhig 
zu Bett. 

Am 16. 11.: Geht morgens nach dem Klosett. Springt durch das 
Klosettfenster auf den Hof .... Aeussert am Abend auf Befragen, sie 
babe nicht mehr leben wollen, weil sie nicht mehr wert sei zu leben. 
Sei nicht gut zu ihrem Mann gewesen. 

Am 18. 11.: Psycbisch freier. Fragt, ob ihr Mann geschrieben 
habe; schreibt ihrem Manu einige Zeilen. Kummert sich um die Vor- 
gSnge in ihrer Hmgebung. 

Am 1. 12.: Mitunter leicht gedruckter Stimmung, macht sich Ge¬ 
danken, dass ihr Leiden noch lange dauere. 

Am 17. 1. 1906: Als der Arzt vorsichtig nach der Ursache ihres 


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Beitrag zur Verantwortliohkeit des Irrenarztes. 917 

Suizidversuches fragen will, weint sie and sagt, sie wolle nicht darfiber 
sprechen. 

Gesprachsweise aussert sie der Schwester Gerda gegenfiber, sie 
habe sich hier unten in Baracke I scbon sehr wohl geffihlt and keinerlei 
Selbstmordgedapken gebabt. Als sie nach Villa II verlegt wurde, habe 
sie sich zun&chst gleich geftngstigt vor einer Mitpatientin. Da sei ihr 
mit einem Male der Gedanke gekommen, sich mit einem Messer das 
Leben zu nehmen. Sie hatte es aber nicht ausffihren kdnnen, weil zu 
viel Menschen im Zimmer waren. In der Nacht vom 15./16. 11. 1905 
habe sie ohne trfibe Gedanken geschlafen. Am 16. 11. morgens sei 
ibr auch wieder gut gewesen, sie ging urn 9 Uhr anfs Rlosett ohne 
Seibstmordgedanken. Hier fiffnete sie das Fenster, urn hinaoszusehen. 
Da kam ihr plfitzlich der Gedanke, sie mfisse sterben, es kfinne sie 
doch kein. Menscb leiden; stieg aufs Elosett, dann aufs Fenster und 
sturzte sich hinaas. Von da ab wisse sie nicbts, bis sie sich in ihrem 
Bett wieder fand. 

Am 9. 2. 1906: Psychisch sehr heiter, ausgelassen, lacht viel, 
macht Witze and Spfisse. 

Am 8. 3.: Geheilt entlassen. 

Hinsichtlich der ersten Erkrankang im Jahre 1903 ergibt in sich 
inbezug auf die allgemeine Anamnese, dass Vater und Mutter der Frau S. 
nervfis waren, eine Urgrossmutter an Schwermut gelitten hat. In der 
Schule hat sie gut gelernt, war sebr ehrgeizig, konnte keinen Tadel 
vertragen, wurde gelegentlich wegen eines geringen Tadels ohnmachtig. 
Spfiter bekam sie haufig aus geringffigigen Anlassen, moistens infolge 
Aergers, Anfalle, in denen sie sich auf den Boden warf, mit den Handen 
um sich schlug, die Umgebung scheinbar nicht kannte, hfirte, was 
gesprochen wurde. Vor ihrer Verheiratung war sie wegen ihrer Nervosit&t 
in Hamburg in arztlicher Behandlung. Im Elternhaus leicht erregt und 
schwer zu lenken, mit Verwandten kam sie oft in Streitigkeiten, konnte 
sich wegen Kleinigkeiten tagelang aufregen. W ah rend der Ehe sonst 
nichts Auffalliges. 

Bl. 73. Am 12. 10. 1903 erstmalige Niederkunft, Entbindung leicht. 
Am 1. 11. 1903 infolge des erwarteten Besuches einer Freundin nach- 
mittags sehr erregt, weinte dann viel, kfimmerte sich um ihren Besuch 
wenig. Gegen Abend Berubigung. Am folgenden Morgen sehr erregt, 
die W&rterin habe sie schlecht behandelt, sei schroff gegen sie gewesen. 
In der Nacht vom 3.—4. November grosse Onruhe, stand oft auf, ging 
umber, sprach nicht dabei; schien am 4. Morgens dem Manne nicht 
raehr normal zu sein; hatte die Idee, die Warterin macbe sie schlecht, 
beunruhigte sich, sie kfinne dem Kinde nicht genug Nahrung geben, 


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E. Siemerling, 


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Wurde teilnahmslos gegen ihre ganze Umgebung, beachtete auch ihr 
Kind nicht mehr. Auch mit ihrem Manne sprach sie fast garnicht, 
schien ihn'auch zeitweise nicht zu kennen. Aeusserte, sie werde von 
den Leuten schlecht gemacht, ihr Mann begunstige ihre Verfolger. 
Nahm sehr wenigNahrung, NEchte selir unruhig. Wah rend der Schwanger- 
schaft trEumte sie oft sehr lebhaft, giaubte sich in den TrEumen ver- 
folgt, stand dabei auf, sprach im Traum, antwortete im Traume dem 
Manne auf Frageo. Selbstmordideen hat sie nie ge&ussert. Am 8.11.1903 
wurde sie gegen 11 7 a Uhr der psycbiatrischen Klinik zu Kiel ubergeben, 
aus der sie am 16.11. 1903 wieder entlassen wurde. Aus der Kranken- 
geschichte ist zu entnehmen, dass Frau S. bei der Aufnahme auf Be- 
fragen keine Antwort gab, wEhrend der Nacht nicht schlief, aber sich 
ruhig verhielt. Es ist dann weiter verzeichnet: 

Am 9. 11. Sehr abweisend und widerstrebend, gibt nicht die Hand, 
zeigt nicht die Zunge. Gibt auch anf energisches Zureden keine Ant¬ 
wort Der Gesichtsausdruck meist matt und gleichgiiltig, zuweilen nimmt 
er einen Engstlicben Charakter an, sie sitzt ruhig im Bett, nestelt mit 
den Handen an dem Bettzeug herum oder fasst an die Bettlehne. Passiven 
Bewegungen setzt sie uberall energischen Widerstand entgegen. Nimmt 
an den VorgEngen in ihrer Umgebung anscheinend gar kein Interesse. 

Am 10. 11. Hat garnicht geschlafen, fast die ganze Nacht aufrecht 
im Bett gesessen, dabei vollkommen ruhig. Heute Morgen sitzt sie in 
hockender Stellung im Bette, zupft mit den Handen an der Bettdecke. 
Blickt zuweilen mit etwas Engstlichem Gesichtsausdruck im Zimmer 
herum. Gibt auf Aufforderung die Hand, auf Befragen keine Antwort 

Am 14. 11. Verlasst heute mehrmals das Bett und dr&ngt nach der 
Tur, l&sst sich leicht wieder zuruckfuhren. 

Am 15.11. Heute Morgen scheint sie nicht mehr so widerstrebend, 
gibt bei der Visite die. Hand. Noch keine sprachlichen Aeusserungen. 

Am 17. 11. Scheint anf die Umgebung etwas mehr zu achten. 

Am 19. 11. Gibt heute wenn auch zdgernd, doch auf die meisten 
Fragen Antwort. Weiss nicht, wo sie hier ist. [Macht im Ganzen noch 
einen miiden Eindruck. Bringt die Antworten muhsam hervor. Bei 
passiven Bewegungen nicht mehr so widerstrebend. 

Am 20. 11. Gibt heute auf die meisten Fragen, wenn auch immer 
noch etwas zdgernd, Auskunft, ist aber im Ganzen etwas abweisend. 
Verlangt energisch aufstehen zu durfen, weiss aber nicht, wo sie ist, 
„dass wir hier in Kiel sind und wo wir sind, ist, mir noch etwas un- 
klar“. 

Am 21.11. Zur Villa verlegt. 

Am 22. 11. Heate Besuch des Maunes. Erkundigt sich mit Interesse 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


919 


nach ihren AngehOrigen, fragt nach ihrem Kiude. Erkundigt sich zweifelnd 
bei ihrem Manne, ob das hier auch Aerzte seien und ob sie sich wirk- 
lich in einer Elinik befinde, es sei ihr so vorgekommeo, als ob sie in 
eine Mordergrube geraten sei. 

Am 23. 11. Unterhalt sich in durchaus geordneter Weise mit dem 
Arzte, ist in keiner Weise abweisend oder widerstrebend. Sagt auf 
Befragen, sie sei jetzt vollkommen uberzeugt, dass sie sich in einer 
Eieler Elinik befinde, und dass sie es mit richtigen Aerzten zu tun habe. 
Stimmen habe sie zu Hause nicht gehbrt, hier habe sie ihre AugehSrigen 
rufen hdren. 

Am 16.12. 1st in letzter Zeit dauernd vollkommen geordnet^ hat 
voile Erankheitseiusicht. Wird heute noch abgeholt. 

In der Sitzung der II. Zivilkammer des KSniglichen Landgerichts 
zu Eiel vom 4. 2. 1909 wurde dann beschlossen, den Prof. Dr. Flechsig 
zu Leipzig um ein Gutachten daruber zu ersucben: 

„ob der Geisteszustand der Ehefrau S. in I., die am 12. 11.1905 
wegen einer infolge Entbindung eingetretenen traurigen Ver- 
stimmung in die Nervenklinik der Eieler Universitht aufge- 
nommen wurde, am 14. 11. 1904 („am 16. 11. 1906“) ein der- 
artiger war, dass man es nicht fur gef&hrlich erachten konnte, 
sie aus der Ueberwachungsstation in das offene Haus zu uber- 
fuhren oder ob damals noch namentlich mit Rucksicht darauf, 
dass Frau S. am 12. 11. auf der Fahrt nach Eiel einen Ver- 
such gemacht hatte, aus dem Eisenbabnzuge zu springen, 
die Gefahr nahelag, dass sie einen Selbstmordversuch veruben 
k6nne“. 

Diesem Ersucben entsprach der Geh. Rat Prof. Dr. Flechsig 
in einem am 10. 6.1909 erstatteten ausfuhrlichem Gutachten, auf dessen 
Ausfuhrung wir verweisen, und in dem er zu dem Schluss kommt: 

„dass der Gesundheitszustand von Frau S. zur Zeit ihrer Ver- 
legung kein derartiger war, dass man es unbedingt als ge- 
fahrlich erachten musste, sie aus der Ueberwachungsstation in 
ein offenes Haus zu uberfubren. Ein zuverlSssiges Warteper- 
sonal vorausgesetzt kann die Behandlung derartiger Eranken 
in einer offenen Abteilung kaum prinzipiellen Bedenken unter- 
liegen“. 

In der Sitzung der II. Zivilkammer des ESniglichen Landgerichts 
zu Eiel vom 27.9.1909 wurde dann weiterhin beschlossen, Beweis daruber 
zu erheben. 

„ob unter Berucksichtigung der Erankengeschichten von 1903 
und 1906 sowie der Zeugenaussagen des Dr. Flatau und des 


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920 E. Siemerling, 

Geh.-Rats Dr. Siemerling der Gesundbeitszustand der Frau S., 
die am 12. 11. 1906 wegen einer infolge einer Entbinduog 
eingetretenen traurigen Verstimmung in die Nervenklinik der 
Kieler Universitat aufgenomraen wurde, am 14.—15. 11. 1905 
vom Standpunkte des Arztes aus als ein derartiger erscheinen 
musste, dass keine begriindeten Bedenken mehr vorlagen, sie 
von der Ueberwachungsstation in das offene Haus zu uberfuhren, 
und ob, insbesondere auch mit Rucksicht darauf, dass die 
Ebefrau S. am 12. 11.1905 auf der Fabrt nach Riel einen 
Versucb gemacbt hatte, aus dem Eisenbabnzuge zu springen, 
trotz des kurzen Aufentbalts der Ehefrau S. in der Nerven- 
kiinik von den Aerzten nacb Lage der Sache nicht mehr mit 
einer Gefahr, dass sie Selbstmord veruben kdnne, gerechnet 
werden musste“. 

Der in der Sitzung vom 21. 10. 1909 zum Beweissatze dieses 
Bescblusses zum S&chverstandigen ernannte Physikus Dr. Erman in 
Hamburg kam in seinem am 30. 11. 1909 erstattenen Gutachten zu 
dem Schlass: 

„dass I. der Gesundbeitszustand der Frau S. am 15. 11. 1905 
vom Standpunkte des Arztes aus als ein derartiger erscheinen 
musste, dass begrundete Bedenken vorlagen, sie von der Oeber- 
• wachungsstation in das offene Haas zu uberfuhren, und 
dass 11. insbesondere auch mit Rucksicht darauf, dass die 
Ehefrau S. am 12. 11. 1905 auf der Fabrt nach Kiel einen 
Versucb gemacht hatte, aus dem Eisenbahnzuge zu springen, 
bei kurzem Aufentbalt der pp. in der Nervenklinik von den 
Aerzten nach Lage der Sache noch mit einer Gefahr, da® 
sie Selbstmord veruben konne, gerechnet werden musste 11 . 

Darauf bin wurde, indem wir auf die Ausfubrungen des Dr. Erman 
sowie auf die Gegenerklarung des Prof. Dr. Siemerling vom 23.12.1909 
verweisen, in der Sitzung der II. Zivilkammer des K&niglichen Land- 
gerichts zu Kiel vom 23.2. 1910 das Zwischenurteil verkundet. 

Der Klageanspruch ist dem Gruude nach gerechtfertigt. 

Gegen dieses Urteil wurde seitens des KOniglicb Preussiscben Fiskus 
Universitat Kiel am 16. 4. 1910 Berufung eingelegt mit dem Antrag, 
unter Abandoning des angefochtenen Urteils die Frage abzuweisen und 
das Urteil hinsicbtlich der Kosten fur vorlaufig vollstreckbar zu erkl&ren. 

Nach der am 22. 4. 1910 erfolgten Begrundung dieses Antrags und 
der am 10. 6. 1910 erfolgten Gegenerklarung des Berufungsbeklagten 
wurde vom KOniglichen Oberlandesgericht zu Kiel in der Sitzung vom 
4. 10. 1910 beschlossen, das Medizinalkollegium der Provinz Westfalen 


Go §le 


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CORNELL UNIVERSITT - 



Beitrag zur Yerantwortliohkeit des irrenarztes. 


921 


um ein Obergutachteu daruber zu ersuchen: „ob die Ueberfiihruug der 
Frau S. aus der Ueberwachungsstation in die offene Station der Kieler 
Nervenklinik am 15. 11. 1905 vom &rztlichen Standpunkte aus keinen 
begrundeten Bedenken unterlag unter Beriicksicktigung der Tatsachen, 
dass die Fenster der offenen Station ohne besondere Sicberungen sind. 
dass eine standige Ueberwachung der Kranken insbesondere auf dem 
Klosett nicbt stattfand und dass dem die Ueberfiibrung anordnenden 
Arzte bekannt war, dass die Kranke am 11 . 11. 1905 (12. 11.?) auf der 
Fabrt nacb Kiel versncht batte, sicb aus dem Eiscnbabnabteil zu 
stiirzen“. 

Gutachten. 

Nacb den in den Akten erhaltenen Angabeu ist die Frau S., deren 
Eltern als nerv6s und deren eine Urgrossmutter als geisteskrank be- 
zeicbnet werden, als neuropatbisch belastet anzusehen: als Zeichen 
dieser Belastung sind die schon in friiher Jugend bei ihr nachweisbare 
leicbte Reizempfindiichkeit, pldtzlicber Wechsel der Stimmung, die in- 
folge geringen ausseren Anlasses sicb einstellenden Anfalle, in denen 
sie sicb auf die Erde warf und mit den Hauden um sicb schlug, sowie 
ibre spatere Nervosit&t, wegen deren sie wahrend ihres Studiums auf 
der Handelsakademie zu Hamburg iirztlich bebandelt wurde, anzufiihren. 
Nach ihrer Verbeiratuug soil ihre Gemutsstimmung eine gleichmassigere 
geworden sein, aber wahrend der ersten Scbwangerschaft machteu sicb 
Zeicben bemerkbar, die ihre nervose Konstitution wieder erkennen lasseu, 
indem sie damals im Jahre 1903 in lebbaften Traumen sicb verfolgt 
glaubte, dabei aufstand und im Traume auch ihrem Manne auf Fragen 
Antwort gab. Drei Wocben nach ihrer ersten Niederkunft, wahrend des 
Laktationsgeschafts, wurde Frau S. iufolge eines sonst unbedeutcnden 
ausseren Vorganges plotzlich erregt, bfekundete sehr bald Beeintrach- 
tigungsvorstellungen und verfiel dann in ein Depressionsstadium, das 
ihre Ueberfuhrung in die psychiatrische Klinik zu Kiel am 8. 11. 1903 
erforderlicb machte. Der Krankheitszustaud mit seinen allgemeinen 
Hemmungsvorgangen, sowobl auf dem psychischen wie motorischen 
Gebiet, verbunden mit sichtlichen Angstvorstellungen, nahm einen 
gunstigen Yerlauf, indem die Frau S. bereits nacb 14 Tagen, am 
21. 11. 1903, wenngleicb noch unorientiert und in depressiven Wahn- 
vorstellungen befangen, von der Ueberwachungsabteilung in die offene 
Villa verlegt und dann unter scknell zunebmender Erholung nacb Yer¬ 
lauf von weiteren 3^2 Wocben, am 16. 12. 1903, nach Hause abgebolt 
wergen konnte. Nervdse Missstimmungen machten sicb nacb der Ent- 
lassung jedoch zun&chst nocb weiter bemerkbar, und wie scbwaukend 
ihr Verhalten, wie reizempfindlich sie nocb war, ergibt sich aus den 

Arehir f. Payehiatrie. Bd. 60. Heft 2/3. 59 


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922 E. Siemerling, 

in der Geschichtserzahlung angefuhrten, im Jahre 1904 stattgehabten 
Vorg&ngen. 

Etwa 3 Wochen nach ibrer zweiten, im Oktober 1905 erfolgten 
Niederkunft, w&hrend der Laktationszeit and im Anschluss an eine 
leichte Gemutsaufregung (Besuch and Abreise der Matter) zeigte Frau S. 
am 7. 11. 1905 wiederum eine depressive Gemutsverstimmung, sie machte 
sich Selbstvorwurfe und warde dann von ihrem Manne am 12. 11. abends 
der psychiatriscben Klinik wieder zugefuhrt. Der gesamte Krankheits- 
zustand, der von Prof. Dr. Siemerling als „eine melaucholische Ver- 
stimmung" bezeichnet worden ist, lasst nach den in der Kfankengeschichte 
enthaltenen Aofzeichnangen den Grundzug d$r Depression deatlich er- 
kennen, hatte jedoch bei dem Fehlen erheblicher Hemmungserscbeinungen 
einen bedeutend milderen Charakter als die im Jahre 1903 dberstandene 
Psychose und liess die Annahme einer gunstigen Prognose am so mehr 
als berecbtigt erscheinen, als die gleichfalls im Anschluss an das 
Wochenbett w&hrend der Laktation entstandene erstmalige Erkrankung 
trotz ibrer schweren Symptome einen verh&ltnism&ssig schnellen, gaten 
Verlauf genommen hatte. Da die Depression am 15. 11. zu weichen 
schien, indem in der Erankengeschichte an diesem Tage „erscheint 
heute etwas freier u verzeichnet ist, und da Frau S. am Morgen dieses 
Tages auch „durchaus ruhig“ sich verhalten hatte, so traf Professor 
Dr. Siemerling die Anordnung, die Frau' S. ihrem Wunsche ent- 
sprechend am 15. 11. nachmittags in die Villa zu verlegen; bier sturzte 
sie sich am folgenden Morgen gegen 9 Uhr aus dem Fenster des Klosett- 
raoms und zog sich einen Bruch der Wirbels&ule zu. 

Dies vorausgeschickt bleibt nunmehr die Frage zu beantworten, ob 
die Verlegung der Frau S., die auf der Fabrt nach Kiel am 12. 11. 
versucht hatte, sich aus dem Zuge zu sturzen, in die offene Station, in 
der die Fenster ohne Sicherungen sind and auch eine best&ndige Deber- 
wachung, insbesondere auf dem Klosett nicht stattfand, vom Srztlichen 
Standpunkt aus keinen begrundeten Bedenken unterlag. 

Bei der Erdrterung dieser Frage muss zun&chst die wissenschaftlich 
allgemein anerkannte Tatsache angefuhrt werden, dass an depressiven 
Stimmungen und Vorstellungen leidende Kranke Hrztlicherseits besonderer 
Vorsichts- und Aufsicbtsmassnahmen bedurfen, da derartige Kranke 
infolge plQtzlich eintretender Angstzust&nde sehr leicht triebartig zu 
gef&hrlichen, sich sch&digenden Handlungen schreiten kCnnen. Hiernach 
wutde die Verlegung urn so mehr als bedenklich beurteilt werden 
mussen, als die Frau S. wenige Stunden vor der Anstaltsaufnahme sich 
aus dem Eisenbahnzuge zu sturzen versucht, erst 3 Tage auf der Wach- 
abteilung sich befunden, alln&chtlich noch ein Schlafpulver erhalten und 


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Beitrag zor Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 923 

am 15. 11. aach ihre depressive StimmuDg noch nicht ganz verloren 
hatte, wobei wir es bei dem Fehlen einer darauf bezuglichen Aeusserung 
der Frau S. dahingestellt sein lassen, ob sie bei ibrem Versuche im 
Babuzuge einen Selbstmord Oder nur eine EntweichuDg beabsicbtigte. 
Die Verlegung wfirde auch als bedenklich angeseben werden mussen, 
wenn das Pflegepersonal nicht auf besondere Beachtung der in ibrem 
Verhalten noch unsicheren und verdachtigen kranken Frau S. geschult 
gewesen wire. 

So sehr berechtigt und dringlich derartige Vorsichtsmassnahmen 
gerade bei Kranken mit depressiver Stimmung nach &rztlicber Erfahrung 
im allgemeinen auch erscbeinen, so wird man andererseits doch auch 
hervorheben mussen, dass die Behandlungsweise der depressiven Kranken 
ebensowenig wie die anderer Kranker nach einer Schablone erfolgen 
kann, dass sie vielmebr individualisieren und je nacb der Eigenart des 
jedesmaligen Erkrankungsfalles sich richten muss. Die Erfahrungen, 
die bei der erstmaligen Erkrankung, w&tyrend deren die Frau S. nach 
einem 14 t&gigen Anstaltsaufenthalte noch vOllig unorientiert und noch 
nicht frei von psychischen Hemmungserscbeinungen, in die offene Villa 
verlegt wurde, gemacht waren, hatten mit dieser Yerlegung einen uber- 
aus gunstigen Erfolg gezeitigt, so dass man Srztlicherseits bei der 
zweitmaligen Erkrankung von einer mOglichst baldigen Yerlegung in 
die Villa um so mehr einen gunstigen Erfolg auf das psychische Ver¬ 
halten anzunehmen berechtigt war, als der Charakter der Erkrankung 
gegenuber dem der ersten Erkrankung ein erheblich milderer war. Die 
Yerlegung konnte auch um so weniger bedenklich erscheinen, als Frau 
S. weder in ihren fruheren Jabren noch auch w ah rend ihres erstmaligen 
Anstaltsaufenthalts sowie in den 3 Tagen ihres zweitmaligen Anstalts- 
aufentbalts jemals Selbstmordideen bekundet hatte und' nach ihrem 
erfolglosen Yersuch w&hrend der Eisenbahnfabrt als von dahingehenden 
Vorstellungen entlastet angesehen werden konnte. 

Yom Arztlichen Stand punk te aus musste aber einer mOglichst baldigen 
Yerlegung der Frau S. in die offene Villa auch desbalb eine grosse 
Bedeutung zugemessen werden, als es darauf ankam, die Kranke, die 
w&hrend ihrer erstmaligen Unterbringung auf der Aufnahmeabteilung 
im Jahre 1903 unangenehme Eindrucke in sich aufgenommen hatte, bei 
dem zweitmaligen Aufenthalte so schnell als tunlich der MOglichkeit 
zu entziehen, ungunstige Vorstellungsbilder wieder zu empfangen, sie 
vor etwaigem Wiederauftauchen der letzteren zu schutzen und durch 
vollst&ndig ver&nderte Dmgebung sie von alien Reizen, die sie treffen 
konnten, zu befreien. Die Gelegenheit hierzu war in der offenen Villa 
gegeben, die nach ihrer gesamten Einrichtung um so mehr auf eine 

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E. Siemerling, 


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> 

weitere Entlastung der fur Sussere Eindrucke sehr empfanglichen Frau 
S. wirken konnte, als diese Verlegung dem eigeuen Wunschen und 
Sehuen der Kranken entsprach und auch tatsachlicli zimUchst einen 
giinstigen Einfluss anscheinend ausgeubt hatte. Ohne Aufsicbt war sie 
w&hrend ihres Aufenthalts in der Villa nicht, und wenn sie am 16. 11. 
vormittags infolge eines pldtzlich eintretenden, vorher nicht vorhaudeuen 
oder doch nicht bemerkbaren Angstzustandes den Sprung aos dem 
gebffneten Klosettfenster vollziehen konnte. so war dies in dem Begleit- 
umstande begrundet, dass die Pflegerin, wie Prof. Dr. Siemerling in 
seinem am 16. 11. geschriebenen Briefe hervorhebt, zu der Zeit, als die 
Frau S. sich zum Klosett begab, ihre Aufmerksamkeit gerade einer 
anderen Kranken zuwenden musste. 

In dem vorliegenden Falle ware es zwar besser gewesen, wenn das 
Fenster auf dem Klosett ein Durchlassen des Korpers nicht ermoglicht 
h&tte, aber dann war die Vornahme einer sch&digenden Tat immerhin 
noch auf andere Weise nicht ausgeschlossen, denn Unglucksfalle ahn- 
licher Art konuen sich auch in den bestgeleiteten und besteingericbteten 
Anstalten ereignen, wie auch Selbstsch&digungen und Selbstmorde schon 
auf Wachabteilungen vorgekomroen sind, trotz standiger. bei Tag und 
Nacht stattfindender Beaufsichtigung. Gitter und Eisenstangen, undurch- 
steigbare Fenstereinrichtungen usw. schutzen die Anstalten und deren 
Kranke nicht vor Dnglucksfallen, und wenn die heutige Behandlung der 
Geisteskraoken von derartigen Einrichtungen soweit wie eben moglich 
Abstand genommen bat, auch direkte Zwangsmassnahmen in der Be¬ 
handlung der Kranken zu meiden sucht, indem der fruhere mechanische 
Zwang durch grossere dem Kranken zugewandte Aufsicht und intensivere 
Beobachtung ersetzt wird, so geschieht dies im Interesse der Kranken 
selbst, da die Erfahrung gezeigt hat, dass Zwangsmassnahmen fur eiue 
nutzbringende Behandlung der Kranken meist nachteiiig sind, und dass 
bei der freieren Behandlungsart viel weniger Unglucksfalle in den An¬ 
stalten sich ereignen, als in fruheren Zeiten, wo man durch bauliche 
Schutzmassregeln der verschiedensten Art, durch vergitterte Fenster usw. 
den Kranken vor Selbstsch&digungen undEntweichungen zu schutzen suchte. 

Nach den vorstebenden Ausfuhrungen geben wir auf Grund des 
Akteninhalts unser Gutachten dahin ab, dass die Ueberfuhrung der 
Frau S. aus der Ueberwachungsstation in die offene Station der Kieler 
Nervenklinik am 16. 11. 1905 nach dem Krankheitszustande der Frau S. 
sowie nach den Einrichtungen der Villa nicht frei von begrundeten 
Bedenken war, dass diese Ueberfuhrung jedoch bei sonst zuverl&ssigem 
und gut geschultem Pflegepersonal vom Srztlichen Standpunkte aus zu- 
lassig erscheinen konnte und grunds&tzlichen Bedenken kaum unterlag. 

gez. von der Recke. 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


925 


Am 27. 6. 1911 wurde folgender Beschluss verkiindet: 

I. Es soli dariiber Beweis erhoben werden, 

1. ob am 15. und 16. 11. 1905 in der Villa 11 der Koniglichen Psychi- 
airischen und Nervenklinik in Kiel, d. h. in dem ersten Stock der Villa, in 
der die Kranken I. und II. Klasse liegen, abgesehen von einigen Privat- 
pttegerinnen fiir die Kranken I. Klasse, nur 2 Pflegerinnen, namens Auguste 
und Liesbeth, vorbanden waren, ob diese samtliche Raume in Ordnung zu 
halten, die Betterv zu machen, das Essen einzurichten und zu servieren, den 
Tisch zu decken, den Kranken die verordneten Medizinen und Bader zu ver- 
abfolgenund deshalb keine Zeit hatten, die einzelnen Kranken zu beobachten, 
und ob von den genannten beiden Pflegerinnen die Pflegerin Liesbeth aus- 
schliesslich zur Pflege einer bestimmten Kranken bestellt war, 

Oder ob an den genannten Tagen in der Villa II 6 Pflegerinnen Dienst 
hatten, von denen die Pflegerin A. Dietz die Aufsicht tiber die ganze Station, 
die Pflegerin L. Geier die Ordnung in der Spiile hatte, wahrend die iibrigen 
4, namlich L. Sieck, E. Wilhelmi, J. Swensen und M. Nowack unter Anleitung 
der Stationspflegerin fur die Krankenpflege auf die einzelnen Zimmer naoh 
Bedarf verteilt waren und ob die Oberin besonders fiir die Kranken in der 
Villa II die Krankenschwester Garda Ehneroth beigegeben war, 

ob in der Nacht vom 15. zum 16. 11. die 3 Pflegerinnen Sieck, Geier 
und Wilhelmi Nacbtdienst in der Villa II gehabt haben, wahrend die Oberin 
ebenfalls dort geschlafen hat, 

ob Mitte November 1905 die Villa II mit 11 bis 12 Kranken belegt war, so 
dass am Tage auf je 2 Kranke eine Pflegerin kam, 

durch Vernehmung 

a) des Geheimrats Prof. Dr. Siemerling in Kiel 

b) der vom Beklagten noch zu benennenden Oberin 

c) des Frauleins Lolly in Wyk a. F. 

d) der Schwester Gerda Ehneroth in Stockholm, Vestmanpagaten 50 II 
als Zeugen, zu a von beiden Parteien, zu c und d vom Klager benannt; 

2. ob alle Pflegerinnen sofoft nach ihrem Eintritt mit den Bestimmungen 
der Berufsordnung bekannt gemacht und regelmassig von einem Assistenzarzt 
in der Krankenpflege unterrichtet, besonders in derBeobachtung, Ueberwaohung 
und Pflege der Kranken ausgebildet werden, auch ihre Beobachtungen ifber 
jede Kranke in Form eines Berichts niederschreiben miissen, 

ob in den Dienst der Psychiatrischen Klinik in Kiel eingetreten waren 
die Schwester Ehneroth am 1. 6. 1905, 

„ Pflegerin Dietz am 15. 6. 1903, 

„ „ Wilhelmi am 2.7. 1905, 

„ „ Geier am 17. 10.1905, 

„ „ Sieok am 15.6. 1905, 

„ „ Nowack am 2. 7. 1905, 

„ „ Swensen am 8.9. 1905, 

ob sie bereits vor ihrem Eintritt in der Beobachtung und Pflege der Kranken 
ausgebildet und zuverlassig waren, 


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E. Siemerling, 


duroh Vernehmung 

a) des Geheimrats Prof. Dr. Siemerling 

b) der von dem Beklagten zu benennenden Oberin 

and darch Vorlegang der ^kkten der Klinik dber die Pflegerinnen. 

II. Sodann soil das Konigliche Medizinalkollegiam in Monster urn ein 
Gatachten dardber ersncht werden, ob nach dem Ergebnis der Beweisanfnahmen 
mit Rdcksicbt auf die Zaverlassigkeit, gate Schalang and Zahl des Pflege- 
personals die Ueberfdhrang der Fraa S. in die offene Station der Xieler Nerven- 
klinik am 15. 11. vom arztlichen Standpunkt aus keinem Bedenken anterlag. 

Die 34jahrige Toni Lolly gab bei ihrer Vernehmung am 18. 10. 1911 
in Wyk folgendes an: 

Ich bin etwa Mitte November naoh Kiel in die Klinik zu Prof.Siemerling 
gekommen and zwar habe ich im ersten Stock der sogenannten Damen -Villa 
gewohnt. Ich bin im ganzen 4 Monate daselbst gewesen; wahrend der ersten 
3 Wochen etwa habe ich fortwahrend im Bett gelegen. Ich weiss, dass der 
Unfall der Klagerin einige Tage vor meiner Ankunft sich ereignet hatte. 
Wieviel Pflegerinnen im einzelnen far den oberen Stock der Damen-Villa zor 
Verfugang standen, kann ich genau nicht angeben. Wahrend der ganzen Zeit 
ist die Oberpflegerin Auguste Dietz dort gewesen, wahrend die iibrigen Pflege¬ 
rinnen dort gewechselt haben. Ein Fraalein Kaufmann and spater auoh eine 
Frau Dumas batten Privatpflpgerinnen. Ich meine, dass die Pflegerin Liesbeth 
bei Fraalein Kaafmann war. Die Pflegerinnen batten far das Essen and far 
das Ordnen der Betten, fur das Verabreichen der Medizin zu sorgen. Ich 
erhielt elektrische Bader in einer Baracke. Dazu begleitete mich eine Pflegerin, 
wahrend eine andere Pflegerin, die in der Baracke war, das Bad in Ordnung 
maohte. Andere Frauen, die Zimmer Oder Betten in Ordnung machten, habe 
ich nicht gesehen. Ieh habe ebenso wie die Damen, mit denen ich zasammeo 
lag, mein Bett selbst gemaoht and auch die Wascbgeschirre gereinigt, weil 
letzteres sonst nicht ordentlich gemaoht wurde. Als ich naohher nicht mehr 
im Bett lag, habe ich wohl mal in der Kuche mehrere Pflegerinnen gesehen, 
es konnen dies aber hdchstens 5 gewesen seiu mit den Privatpflegerinnen. Ich 
erinnere mich, dass eine Pflegerin Lotte and anch eine Pflegerin Martha zu 
Zeiten da war, die Krankenschwester oder Nachtwache Ehneroth dagegen, ass, 
soviel ioh erinnere, nor in dem oberen Stock der Damen-Villa. Sonst meine 
ich nicht, dass sie irgend welche Tatigkeit dort ausdbte. 

Wie bereits hervorgehoben, kann ich genauere Angaben dber die Zahl 
der Pflegerinnen, die za gleicher Zeit im oberen Stock beschaftigt waren, nicht 
machen. Naoh meiner Erinnerung war die Aagnste Dietz immer da, ferner 
die Liesbeth, die aber aassohliesslioh far Friiulein Kaafmann zu sorgen hatte, 
eine Pflegerin fur die Frau Dumas, dann vermute ich, dass noch eine in der 
Spule tatig war, die sich aber wohl nicht am die Kranken kummerte. 

Naoh meiner Erinnerung war die Martha bis reichlich nach Weihnachten 
als Privatpflegerin bei Fraa Dr. Dumas. Nachher kam eine Lotte. 

Was den Nachtdienst anbetrifft, so schlief die Oberin stets im ersten 
Stock der Damen-Villa, wahrend einer Krankheit der Frau Damas hat anch 


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Beitrag zar Ver&ntwortlichkeit des Irrenarztes. 


927 


eine Pflegerin (Lotte) in einem Bett anf dem Korridor geschlafen. Perner hat 
die Priyatpflegerin von Fraulein Kaufmann, jedenfalls zeitweise, bei derselben 
geschlafen. 

Wie stark die Belegnng zar Zeit meiner Ankanft war, kann ich nicht 
sagen, zumal ich ja bestandig im Bett lag. Ich meine aber aus Gesprachen 
gehort zu haben, dass die Station ganz besetzt war. 

Die am 28.12. 1911 in Stockholm vemommene Oberin Gerda Ehneroth 
gibt an: 

Im November 1905 ist die Zeugin mit einer anderen Krankenpflegerin 
namens Magdalene Erhardt als Vorsteherin bei den in der Villa II bei der 
Kgl. Psychiatrischen und Nervenklinik in Kiel eingerichteten Abteilungen fur 
weibliehe Patienten angestellt gewesen und hat in soloher Eigenschaft ab- 
wechselnd mit Magdalene Erhardt die Aufsicht fiber die in die genannte 
Abteilung aufgenommenen Patienten ausgeiibt. Nach dem, was Zeugin sich 
erinnert, hatte eines Morgens im genannten Monat — den Tag konnte Zeugin 
jetzt nicht naher angeben — Frau A. S., die damals in die Klinik aufgenommen 
war, den Versuch gemacht, sich das Leben zu nehmen dadurch, dass sie sich 
aus einem Klosettfenster stiirzte. Abgesehen von einigen Privatpflegerinnen, 
deren Zahl Zeugin jetzt nicht angeben konnte, hatten, soweit Zeugin erinnert, 
zur fraglichen Zeit in dem ersten Stockwerk der Villa nur 2 Pflegerinnen 
Dienst getan, von denen eine namens Auguste Dietz die Aufsicht uber die 
ganze Station hatte. Den Namen der 2. Pflegerin hatte Zeugin nunmehr ver- 
gessen. Diese beiden Pflegerinnen, von denen, soweit Zeugin nun erinnert, 
koine bestellt war, urn eine bestimmte Patientin zu warten, hatten zur Obliegen- 
heit gehabt, die samtliohen Raume in Ordnung zu hatten, dieBetten zu machen, 
die Patienten zu bedienen, mit dem Essen und ihnen die vorgeschriebenen 
Arzneien und Bader zu geben, dagegen aber nicht den Patienten $peise zuzu- 
bereiten. Die Arbeiten, die solchergestalt den fraglichen beiden Pflegerinnen 
oblagen, hatten indessen Ansicht der Zeugin nioht den Umfang, dass diese 
gehindert warden, die Aufsicht uber die betreffenden Patienten auszufiben, da 
ein Teil der Patienten, fiie sich gewalttatigen Gemiits zeigten, von Privat¬ 
pflegerinnen gewartet warden. 

Ob zu der Zeit oder nachst vor dem Selbstmordversuoh der Frau S. einige 
Pflegerinnen mit Namen L. Geier, L. Sieck, E. Wilhelmi, J. Swensen und 
M. Nowack in der Villa II Dienst taten, konnte Zeugin nunmehr naoh Verlauf 
so langer Zeit sich nicht erinnern, noch weniger, wie dann das Verhaltnis war, 
wonach die Arbeiten unter diese Pflegerinnen verteilt waren. Die Nacht nachst 
dem gedachten Selbstmordversuch hatte die Zeugin in der Villa zugebracht 
und in der fraglichen Nacht hatte Magdalene Erhardt ihre Schlafstelle in 
derselben Etage gehabt. Welche Pflegerinnen in der zuletzt gedachten Nacht 
im Dienst waren oder sonst — neben der Zeugin und Magdalene Erhardt — 
dieNacht in der Villa zubrachten, konnte Zeugin jetzt sich nicht erinnern. Ebenso 
wenig erinnert sich Zeugin, wieviele Patienten Mitte November in die Villa II 
aufgenommen waren. Ueber Weiteres, als Zeugin nun ausgesagt hatte, konnte 
sie in dieser Sache keine Auskunft geben. 


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928 


E. Siemerling, 


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Der als Zeuge am 24. 2. 1912 vernommene Geheimrat Siemorling be- 
richtet: Der Zeuge uberreichte den Plan des 1. Stocks der Franenvilla, der 
sogenannten Villa II. Der Klager erkannte diese Zeichnung als richtig an. Der 
Zeuge erklarte darauf: Am 15. und 16. 11. 1905 waren in der Villa II, d. h. im 
1. Stock der Frauenvilla, 12 bis 13 kranke Damen mit Frau S. Frau S. schlief 
in der Nacht in dem ersten Zimmer links von der Veranda, in dem ausser ihr 
noch 2 Kranke schliefen.' In dieser Villa hatten Tagesdienst die Pflegerinnen 
Auguste Dietz, Geyer, Sieck, Wilhelmi, Svensen und Nowack. Von diesen 
waren die 4 letzten besonders zur Beaufsichtigung je einer bestimmten Dame 
bestellt. Indessen bedurften diese Damen, mit Ausnabme der Frau E., die die 
Pflegerin Nowack zu beaufsichtigen hatte, einer dauernden Aufsicht aber nicbt, 
so dass die Pflegerinnen Sieck, Wilhelmi und Svensen sich auch den anderen 
Kranken auf der Station widinen konnten. Ich iiberreiche eine Liste der damals 
in der Villa II befindlichen Kranken, ausser Frau S., in der sich auch kurze 
Notizen der Pflegerinnen liber ihr Verhalten befinden, aus denen zu entnehmen 
ist, wie weit sie der Aufsicht und der Pflege bedurften. Diese Liste 1st eine 
wortliche Abschrift aus den Borichten der Aerzte und Pflegerinnen. Die 
Pflegerinnen hatten die Raume in Ordnung zu halten, die Betten zu machen. 
das Essen zu servieren und erforderlichenfalls aufzuwarmeu, die Tische zn 
decken, den Kranken verordnete Medizin und Bader zu verabfolgen, hin und 
wieder auch in der Spiile eine kleinere Speise, wie z. K ein gekochtes Ei, her- 
zustellen. Meines Erachtens lasst ihnen diese Tatigkeit genfigend Zeit zur Be¬ 
aufsichtigung der Kranken. Die Oberaufsioht fiber die Kranken hatten 2 Ober- 
schwestern, Fraulein Ehrhardt und Fraulein Ehneroth, d. h. Tiber die samtlichen 
kranken Frauen in der ganzen Anstalt. Diese besuohten die einzelnen Raume 
und Kranken je nach Bedarf und begleiteten mich sowie den Assistenzam 
bei den taglichen Besuchen in den verschiedenen Raumen. Die anderen 
6 Pflegerinnen hielten sich dagegen standig in der Villa II auf, sofern sie 
nicht eine Kranke auf dem Spaziergange begleiteten. Jede Pflegerin erbalt ein- 
oder zweimal wochentlioh Urlaub fur den Nachmittag, jedoch tritt far sie ein 
Ersatz ein, soweit dies notwendig ist. Am 15. 11. hatte keine Pflegerin von 
der Villa II Urlaub, am 16. 11. Fraulein Dietz, wie ioh aus meinen Buchera 
entnehme. 

Die Tiiren in der Villa sind nicht verschlossen und stehen haufig auf. In 
der Nacht schlief auf der Villa II die Oberin und ausserdem 3 Pflegerinnen; wo 
sie schliefen, richtete sich nach den Umstanden. In der Regel schlief eine 
Pflegerin in dem mit 3 Kranken belegten Zimmer oder in dem grossen Schlaf- 
saal hinten, die zweite in dem nach diesem Schlafsaal fiihrenden Flur und die 
dritte bei einer Kranken. Die Oberin schlief in dem Zimmer neben dem ge- 
nannten Flur. Das Verzeichnis fiber den Nachtdienst der g^nannten Pflegerinnen 
Bl. 73 d. A. ist vollig richtig. Es hatten danach also in der Nacht vom 
15. zum 16. 11. die Pflegerinnen Sieck, Geyer und Wilhelmi geschlafen, ausser 
der Oberin. Ein eigentliches Wachen fand unter gewohnlichen Umstanden 
nicht statt, weil die Damen auf der dortigen Abteilung eine regelmassige Be- 
wachung nicht notig hatten. 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


929 


Ich iiberreiche kurze Notizen iiber die einzelnen Pflegerinnen, die aus 
ihren Personalakten entnommen sind. Ich iiberreiohe auch diese Personal- 
akten. Die Pflegerinnen erhalten sofort naoh ihrem Eintritt ein Exemplar der 
Berufsordnung zu ihrer Verftigung, aus der sich ihre Pflichten, insbesondere 
auch den Kranken gegeniiber, ergibt. Naoh 8—14 tagiger Tatigkeit in der An- 
stalt nebmen sie an dem Unterricht teil, den ein Assistenzarzt wochentlich 
1—2mal uber die Pflege und Bewachung der Nervenkranken erteilt, und in 
dem auch insbesondere die Berufsordnung erklart wird. Sie mussen ihre 
Beobachtungen uber die einzelnen Kranken taglich als Unterlage fur den Arzt 
notieren. 

Ich iiberreiche die iiber Frau S. aufgenommenen Pflegerberichte. Ueber 
diejenigen Kranken, die eine spezielle Pflegerin hatten, berichtete diese, iiber 
die anderen Kranken war eine bestimmte Pflegerin zur Abgabe des Berichts 
nicht vorhanden. In der Regel berichtete die Stationspflegerin. 

Ich iiberreiche mit Zustimmung des Herrn S. neun Pflegerinnenberichte 
und einen vom Arzt angeordneten Stundenplan. 

Auf Befragen des Klagers: 

Das Oeffnen eines Fensters in einem Krankenzimmer, welches in 
gewohnlicher Weise geschieht, wird im Nebenzimmer kaum gebort 
.werden konnen, soweit ich annehme. Ob es im Tagesraum gehort 
wird, mit dem die Zimmer durch eine Tiir verbunden sind, weiss 
ich nicht. 

In welchem Raum in der Villa II die Pflegerinnen sich am Tage auf- 
hielten, richtete sich naoh den Umstanden. Eine Vorschrift, dass regelmassig 
sich eine Pflegerin im Tagesraum aufhalten muss und dass die Tiir zur Spiile " 
offenbleiben muss, besteht nicht. 

Als Pflegerinnen werden nur Madchen mit guten Zeugnissen angenommen. 
Und es gibt keine bestimmte Reihenfolge der Raume, in denen sie nacheinander 
beschaftigt werden. In der Kegel kommen sie zunachst in den Wachraum, in 
dem sich die neu aufgenommenen Kranken befinden, indessen kann es auch 
vorkommen, dass sie gleich in der Villa II beschaftigt werden. Es liegt in der 
Natur der Saohe, dass die Oberinnen besonders diese neuen Pflegerinnen be- 
achten und mir dann nach einiger Zeit iiber ihre Tatigkeit berichten. Die 
Schwester Eheneroth hatte neben anderen Tatigkeiten auch zu massieren, ich 
weiss jedoch nicht, wie weit sie mit dieser Tatigkeit gerade Mitte November in 
Anspruch genommen war. 

Die Zeugin Oberin Ehrhardt gibt an: Wieviel Kranke am 15. und 
16. 11. 1905 in der Villa II lagen, weiss ich nicht. Ich weiss auch nicht mehr, 
welche Pflegerinnen damals dort beschaftigt waren. Fraulein Dietz und 
Fraulein Wilhelmi haben mir jedoch auf Befragen erklart, dass damals aus- 
nabmsweise viele Pflegerinnen in der Villa II tatig waren. Einzelne von ihnen 
hatten einzelne Kranke besonders zu pflegen. Ich weiss jedoch nicht mehr, 
inwieweit diese besondere Pflege ihre Tatigkeit in Anspruoh nahm. Gewohn- 
lich haben solche Pflegerinnen noch Zoit genug, auch bei der Beobachtung 
und Pflege der anderen Kranken zu helfen und sind auoh dazu verpflichtet. 


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930 


E. Siemerling, 


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Die Pflegerinnen haben die Raume in Ordnung zu halten, Betten zu machen, 
das Essen den Kranken zu bringen, nachdem es aus der allgemeinen Kfiche in 
die Spfile gebracht war, den Tisch zu decken und den Kranken Medizin and 
Bader zu verabfolgen. Diese Arbeiten liessen den Pflegerinnen meines Er- 
achtens aber genfigend Zeit, um die Kranken sonst zu beobachten. Sie halten 
sich den Tag fiber standig in der Villa auf und es kommt nur selten vor, dass 
sie eine Kranke auf dem Spazierwege begleiten. Jede Pflegerin erhalt durch- 
scbnittlich wochentlich einen Nachmittag Urlaub. Indessen wird an ihre Stelle 
eine andere Pflegerin in die Villa hineingelegt, wenn es erforderlich ist. Ein 
bestimmter Raum, in dem sie sich tagsuber aufhalten mfissen, ist ihnen nicht 
angewiesen, sie halten sich eben da auf, wo sie nbtig sind, vielfach auch in 
dem Tageraum. Ob die Tfiren zu den einzelnen Zimmern offenstehen, das 
hangt yon den einzelnen Kranken ab. Es kommt aber auch vor, dass der Arzt 
das Offenstehen der Tfiren anordnet, um eine bessere Beobachtung der Kranken 
herbeizuffihren. In der Nacht findet ein eigentlicher Waohdienst in der Villa 11 
nicbt statt. Ich schlafe jcdoch regelmassig dort, und zwar in dem neben der 
Treppe belegenen Zimme.r. Gewohnlich schlaft mindestens noch eine andere 
Pflegerin in der Villa und es Hangt von den Umstanden ab, wo sie ihr Bett 
aufstellt. Die fibrigen schlafen anderswo. In der Nacht vom 15. zum 16.11.1905 
schliefen nach den Bfichern ausser mir die Pflegerinnen Sieck, Geyer und 
Wilhelmi noch in der Villa. Wo, weiss ich aus eigener Wissenschaft nicht 
mehr. Fraulein Dietz und Fraulein Wilhelmi sagten mir jedoch, die eine hatte 
auf dem Flur neben meinem Schlafzimmer, die zweite in dem Zimmer fur 
3 Kranke Oder in dem hinteren Schlafsaal und die dritte bei einer Kranken ge- 
schlafen. Aus welcher Veranlassung damals die 3 Pflegerinnen in der Villa 
schliefen, insbesondere ob dies auf arztliche Anordnung gesohehen ist, weiss 
ich nicht. Die Pflegerin, die bei der Kranken schlief, wird es jedenfalls auf 
arztliche Anordnung getan haben. 

Es werden nur solche Madchen als Pflegerinnen angenommen, die gute 
Zeugnisse aufweisen konnen, und sie erhalten sofort ein Exemplar der Berufs- 
ordnung, aus der sie sich fiber ihre Pflichten unterrichten mfissen. Kurze Zeit 
nach Beginn ihrer Tatigkeit nehmen sie auch an dem Unterrioht teil, der 
wochentlich 1- oder 2mal von einem Assistenzarzt in der Krankenpflege und 
Ueberwachung der Kranken erteilt wird. Die Pflegerinnen haben auch taglich 
morgens und abends fiber ihre Beobachtungen bei den Kranken zu berichten, 
und zwar tut dies bei denjenigen Kranken, denen eine bestimmte Pflegerin zu- 
gewiesen ist, diese, bei den anderen die sogenannte Stationspflegerin. Die 
Pflegerinnen werden zuerst in dem sogenannten Wachsaal beschaftigt und 
kommen erst spater in die Villa II. Ich kann mich nicht erinnern, dass eine 
Pflegerin gleich nach ihrem Eintritt in die Villa II gekommon ist, ich glaube 
es auch nicht. 

Wann die einzelnen im Beweisbeschluss benannten Pflegerinnen in den 
Dienst der Klinik eingetreten sind, weiss ich nicht mehr, es muss sich dies aus 
den Person&lakten ergeben. Die Ehneroth, Dietz und Wilhelmi waren bereits 
in der Krankenpflege ausgebildet, als sie zu uns kamen, ob auoh die fibrigen, 


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Beitrag zar Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 931 

weiss ich nicht mehr. Soweit ich mich erinnere, habe ich irgendwelche 
Unzuverlassigbeiten bei ihnen nicht bemerkt. Der Svensen kann ioh mich 
allerdings nor sehr wenig erinnern, weil sie nor kurz bei nns war. 

Die Villa II ist eingerichtet far hochstens 12, 13 Kranke. RegelmSssig 
sind dort 2 Pflegerinnen standig beschaftigt, andere Pflegerinnen nur, wenn 
einer Kranken eine besondere Pflegerin zugewiesen wird. Sollten die beiden 
standigen Pflegerinnen mit der Arbeit nicht fertig werden, dann schicke ich 
ihnen noch eine oder zwei Pflegerinnen zar Hilfe. Seit wann die 6 Pflegerinnen 
in der Villa tatig waren and wie lange dort ihre. Tatigkeit in Aassicht ge- 
nommen war, weiss ich nicht. 

Das EOnigliche Medizinalkollegium zu Munster erstattete unter dem 
2. 4. 1912 folgendes 

Gutacb^ten. 

Dem Kfiniglichen Oberlandesgerichte ubersenden wir in Erledigung 
des gefilligen orschriftlichen Schreibens vom 16. 3. d. J. das durch 
Beweisbeschluss vom 27. 6. 1911 (Bd. J1 Bl. 4 Nr. II) das von nns er- 
forderte Gutachten 

„ob nacb dem Ergebnis der Beweisaufnahme mit Racksicbt 
auf die Zuverlflssigkeit, gute Schulung und Zahl des Pflege- 
personals die Oeberfuhrung von Frau S. in die offene Station 
der Eieler Nervenklinik • am 15. 11. 1905 vom flrztlichen Stand- 
punkte aus keinem Bedenken unterlag“ 
im nachfolgenden unter ftuckgabe von Bd.-Akten und Anlagen ergebenst. 

Geschichtserz&hlung. 

Am 12. 11. 1905 musste die Frau S. aus I., die wegen akuter nacb 
der Entbindung aufgetretener geistiger Erkrankung (Melancholie) vom 
8. bis 16. 11. 1903 in der Koniglichen psychiatrischen und Nervenklinik 
in Kiel sich befunden hatte, wiederum wegen einer melancbolischen Ver- 
stimmang, die sich an das zweite Wochenbett angeschlossen hatte, der 
psychiatrischen Klinik zugefuhrt werden. Wahrend der Fahrt hatte sie 
Versuche gemacht, sich aus dem Zuge zu sturzen, und wurde sie dann, 
in Kiel abends angelangt, zunachat auf den allgemeinen Wachsaal (Be- 
obacbtungsstation) der psychiatrischen Klinik untergebracht. Von diesem 
Wachsaal wurde sie am 15. 11. nachmittags ihrem eigenen Wunscke 
entsprechend, zumal sie nach der Angabe des Prof. Dr. Siemerling 
„insbesondere am Morgen dieses Tages durchaus ruhig gewesen war u 
(in der Krankengeschichte ist angegeben: „erscheint heute etwas freier u ), 
in die Villa II verlegt. In dieser Villa, die im I. Stock fur ruhige 
Kranke I. und II. Klasse bestimmt ist, sind besondere Schutzvorrich- 
tungen fur die Kranken nicht getroffen. Am 16. 11. 1905 morgens 
gegen */ 4 9 Uhr begab sie sich, als die Pflegerin nach Angabe des Pro- 




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E. Siemerling, 


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lessor Dr. Siemerling gerade mit einer anderen Patientin besch&ftigt 
war, auf das Klosett, stfirzte sich aus dem Fenster daselbst und zog 
sich durch den Sturz einen Bruch eines Lendenwirbels zu, ihre Tat 
spater damit begrundend, „sie sei schlecht and habe Schuld“, „sie sei 
nicht wert zu leben, sei ihrem Mann und Kinde zu wenig gewesen“. 
In Erganzung der in unserem Obergutachten vom 13. 1. 1911 enthaltenen 
Angaben heben wir aus den nunmehr uns vorgelegten Aufzeichnungen, 
wie sie die Pflegerinnen der Beobachtungsstation fiber die daselbst unter- 
gebrachten Kranken zu machen haben, folgende fiber das Verhalten der 
Frau S. gemachten Angaben bervor: 

13. 11. 1905: Patientin liegt ruhig zu Bett, spricht wenig, ist sehr 
verstimmt, weinte morgens viel, wenig gegessen. Gut gescblafen. 

14. 11.: Patientin liegt ruhig zu Bett, fragt oft, ob sie nicht bald 
wieder nach Hause kommt, spricht sonst sehr wenig. Gut geschlafen. 

15. 11.: Patientin liegt ruhig zu Bett, spricht sehr wenig, ist abends 
nach Villa II verlegt. Gut geschlafen. 

16. 11.: Patientin versuchte morgens zu entfliehen, ging in das 
Klosett und sprang aus dem Fenster, wurde nach der Baracke verlegt. 

Nach den von dem Geheiwrat Dr. Siemerling bei seiner am 
24. 2. d. J. gerichtlichen Vernehmung gemachten Angaben waren am 
15. und 16. 11. 1905 in der Villa II, d. h. im ersten Stock der Frauen- 
villa 12—13 kranke Damen mit Frau S., die in der Nacht mit noch 
zwei Kranken zusammen in dem ersten Zimmer links von der Veranda 
schlief. „In dieser Villa hatten Tagesdienst die Pflegerinnen Dietz, 
Sieck, Wilhelmi, Swensen und Notoack, von denen die vier letzteren 
besonders zur Beaufsichtigung je einer bestimmten Dame bestellt waren. 
Indessen bedurften diese Damen mit Ausnahme der Frau E., die die 
Pflegerin Nowack zu beaufsichtigen hatte, einer dauernden Pflege oder 
Aufsicht nicht, so dass die Pflegerinnen Sieck, Wilhelmi und Swensen 
sich auch den anderen Kranken auf der Station widmen konnten. lch 
ubergebe eine Liste der damals in der Villa II befindlichen Kranken 
ausser Frau S. . . .; diese Liste ist eine wdrtliche Abschrift aus den 
Berichten der Aerzte und Pflegerinnen. Diese Pflegerinnen hatten die 
R&ume in Ordnung zu haltcn, die Betten zu machen, das Essen zu ser- 
vieren und erfc/rderlichenfalls aufzuwarmen, die Tische zu decken, den 
Kranken verordnete Medizin und Bader zu verabfolgen, hin und wieder 
auch in der Spfile eine kleine Speise, wie z. B. ein gekochtes Ei her- 
zustellen. Meines Erachtens lfisst ihnen diese Tfitigkeit genugend Zeit 
zur Beaufsichtigung der Kranken. Die Oberaufsicht fiber die Kranken 
hatten zwei Oberschwestern, Frl. Ehrhardt und Frl. Ehneroth, d. h. fiber 
die s&mtlichen kranken Frauen in der ganzen Anstalt . . . 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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Die Tiiren in der Villa II sind nicht verschlossen und stehen h&ufig 
auf. In der Nacht schlief anf der Villa II die Oberin und ausserdem 
drei Pflegerinnen; wo sie schliefen, ricbtete sich nach den Umst&nden. 
In der Regel schlief eine Pflegerin in dem mit drei Eranken belegten 
Zimmer oder in dem grossen Schlafsaal hinten. Die zweite in dem nach 
diesem Schlafsaal fdhrenden Flur und die dritte bei einer Krankeu. 
Die Oberin schlief in dem Zimmer neben dem genannten Flur. Es 
batten in der Nacht vom 15. zum 16. 11. die Pflegerinnen Sieck, Geier 
und Wilhelmi geschlafen ausser der Oberin. Ein eigentliches Wachen 
fand unter gewdhnlichen Umstanden nicht statt, weil die Damen auf 
der dortigen Abteilung eine regelm&ssige Bewachung nicht ndtig batten. 

Die Pflegerinnen erhalten sofort nach ihrem Eintritt ein Exemplar 
der Berufsordnung zu ihrer Verfugung, aus der sich ihre Pflichten ins- 
besondere auch den Kranken gegenuber ergeben. Nach etwa 8—14 tagiger 
Tatigkeit in der Anstalt nehmen sie an dem Unterrichte teil, den ein 
Assistenzarzt wdchentlich 1—2 mal fiber die Pflege uud Bewachung der 
Nervenkranken erteilt und in denen besonders auch die Berufsordnung 
erkl&rt wird. Sie mfissen ihre Beobachtungen uber die einzelnen 
Kranken t&glicli als Unterlage fur den Arzt notieren ... In welchem 
Raume in der Villa II die Pflegerinnen sich am Tage aufhielten, ricbtete 
sich nach den Umstauden. Eine Vorschrift, dass regelmassig sich eine 
Pflegerin im Tagesraum aufhalten, und dass die Tfir zur Spfile offen- 
bleiben muss, besteht nicht.“ 

Die Oberin in der Nervenklinik Alagdalene Ehrhardt sagt bei ihrer 
Vernehmung, gebort zu haben, dass am 15. und 16. 11. 1905 ausnahms- 
weise viele Pflegerinnen in der Villa II tatig waren, von denen jedoch 
einzelne bestimmte Kranke besonders zu pflegen hatten. Inwieweit diese 
besondere Pflege ihre Tatigkeit in Anspruch nahm, wisse sie nicht mehr, 
aber gew5hnlich batten diese Pflegerinnen noch Zeit genug gehabt, auch 
bei dor Beobachtung und Pflege der anderen Eranken zu helfen und 
seien dazu auch verpflichtet. Sie halten sich den Tag uber standig in 
der Villa auf, im Falle eines Urlaubs wird eine andere Pflegerin an die 
Stelle der Beurlaubten in die Villa hineingelegt, wenn es erforderlich 
ist. Ein bestimmter Raum, in dem sie sich Tags fiber aufhalten mussen, 
ist ihnen nicht angewiesen, sie halten sich eben da auf, wo sie ndtig 
sind, vielfach auch in dem Tagesraum. Ob die Tiiren zu den einzelnen 
Zimmern offen stehen, das hangt yon den einzelnen Kranken ab. Es 
kommt aber auch vor, dass der Arzt das Offenstehen der Tiiren an- 
ordnet, um eine bessere Beobachtung der Kranken herbeizufiihren. In 
der Nacht findet ein eigentlicher Wachdienst in der Villa II nicht statt. 
Ich schlafe jedoch regelmassig dort. GewOhnlich schl&ft mindestens 


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E. Siemerling, 


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nocb eine andere Pflegerin in der Villa und es hfingt von den Dm- 
standen ab, wo sie ihr Bett aofstellt. Die fibrigen scblafen anderswo. 
In der Nacbt vom 15. zum 16. 11. schliefen nach den Bfichern ausser 
mir die Pflegerinnen Sieck, Geier und Wilhelmi nocb in der Villa. Nach 
Angabe der Pflegerinnen Dietz und Wilhelmi hat die eine auf dem Flur 
neben dem Schlafzimmer der Ehrhardt, die zweite in dem Zimmer fur 
drei Kranke Oder in dem binteren Schlafsaal und die dritte bei einer 
Kranken geschlafen. Aus welcber Veranlassung damals die drei Pflege¬ 
rinnen in der Villa schliefen, 'insbesondere ob dies auf firztliche An-, 
ordnung geschehen ist, weiss die Zeugin nicht, doch werde die Pflegerin, 
die bei der Kranken schlief, es jedenfalls auf Srztliche Anordnung getan 
baben. — Hinsichtlich der Beschaftigung und Ausbildung der Pflege¬ 
rinnen aussert sich die Zeugin gerade so wie Gebeimrat Siemer¬ 
ling. — „Die Villa II ist eingerichtet fur hdchstens 12, 13 Kranke. 
RegelmSssig sind dort zwei Pflegerinnen st&ndig beschfiftigt, andere 
Pflegerinnen nur, wenn einer Kranken eine besondere Pflegerin zuge- 
wiesen wird. Sollten die beiden stfindigen Pflegerinnen mit der Arbeit 
nicht fertig werden, dann schicke ich jenen noch eine oder zwei Pflege¬ 
rinnen zur Hilfe. Seit wann die sechs Pflegerinnen in der Villa II t&tig 
waren . . weiss ich nicht." 

Die Oberin Gerda Ehneroth, von Beruf Krankenpflegerin, trat im 
Juni 1905 als Pflegerin in der psychiatrischen und Nervenklinik ein 
und ist seit November 1905 Vorsteberin in den bei der psychiatrischen 
und Nervenklinik eingerichteten Abteilungen fur weibliche Patienten 
angestellt gewesen in dieser ihrer Tatigkeit abwechselnd mit Frl. Ebr- 
bardt. Bei ihrer am 28. 12. vor dem Staatsgerichte Stockholm erfolgten 
gerichtlichen Vemehmung gibt sie an, sich zu erinnern, dass die Frau S. 
eines Morgens im Monat November 1905 den Versuch gemacht habe, 
sich das Leben zu nehmen. Das Protokoll sagt ferner weiter: „Abge- 
sehen von einigen Privatpflegerinnen, deren Zahl sie nicht angeben 
konnte, hatten, soweit Zeugin sich erinnert, zur fraglicben Zeit in dem 
ersten Stockwerk der Villa nur zwei Pflegerinnen Dienst getan, von 
denen die eine, Auguste Dietz, die Aufsicht fiber die ganze Station 
hatte, den Namen der zweiten Pflegerin hatte Zeugin nunmebr ver- 
gessen. Diese beiden Pflegerinnen, von denen, soweit Zeugin sich nunmehr 
erinnert, keine bestellt war, um eine bestimmte Patientin zu warten, 
batten zur Obliegenheit gebabt, die sfimtlichen Rfiume in Ordnung zu 
balten, die Betten zu machen, die Patienten zu bedienen mit dem Essen 
und ihnen die vorgeschriebenen Arzneien und Bader zu geben, dagegen 
aber nicht, den Patienten Speise zuzubereiten. Die Arbeiten, die solcber- 
gestalt den fraglichen beiden Pflegerinnen oblagen, hatten indessen nach 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


935 


Ansicht der Zeugen nicht den Umfang, dass diese gebindert wurdeu, 
die Aufsicht fiber die betreffenden Patienten auszufiben, da ein Teil der 
Patienten, die sich gewalttfitigen Gemfits zeigten, von Privatpflegerinnen 
gewartet wurden . . 


Gutacbten. 

In den uns vorgelegten Akten und Beiheften ist keine Angabe vor- 
banden, die die Annabme rechtfertigen kfionte, dass die allgemeine 
Scbulang des Pflegepersonals in der psycbiatrischen und Nervenklinik 
zu Kiel nicht in ausreichender Weise erfolgte, da seine Ausbildnng nicht 
nur praktisch auf den Krankenabteilungen sondern auch alsbald nach 
dem Eintritt theoretisch durch einen besonderen von einem Arzte der 
Klinik geleiteten Unterricht stattfindet. Von den 6 Pflegerinnen, die 
die am 15. und 16. 11. 1905 tagsfiber in der Villa II anwesend waren, 
waren 4 schon vor ihrem Eintritt in den Dienst der Klinik in anderen 
Krankenh&usern, von diesen wieder 3 auch in der Irrenpflege tfitig ge- 
wesen und es liegt kein Grand vor, ihre Zuverlftssigkeit zu bezweifeln. 
Zwei Pflegerinnen, Louise Sieck und Maria Geier, deren Eintritt in den 
Dienst der Klinik am 15. 6. bezw. 17. 10. 1905 erfolgt war, waren als 
solche auf Grand ihrer guten Zeugnisse, die sie in ihren frfiberen Dienst- 
stellungen erworben hatten, angenommen, batten sich aber vor ihrem 
Eintritt in der Kranken- Oder Irrenpflege noch nicht besch&ftigt, was 
wir nach Lage der Sache insbesondere von der Maria Geier hervorheben 
mfissen, da diese am 16. 11. erst 4 Wochen in einer ihr somit noch 
neuen unbekannten T&tigkeit sich befand und erst in der Ausbildung 
zur Pflegerin begriffen war. Ibre dadurcb bedingte Dnkenntnis mit den 
Scbwierigkeiten ihrer veranwortlichen Stellung wurde in Berficksichti- 
gung der grossen Aozahl von Pflegerinnen, die tagsfiber in der Villa II 
vorhanden waren, firztlicherseits wohl als belanglos angesehen werden 
kfinnen, wenn die vorhandenen 6 Pflegerinnen ein gleiches gemeinsames 
Ziel in der Beaufsichtigung der 12 oder 13 kranken Damen gehabt 
batten und dadurch eine gleichmfissige Verteilnng auf diese mfiglich 
gewesen wire, da die Hilfspflegerin Geier dann den anderen 5 Pflege- 
,rinnen als Hilfe oder Stfitze in der Verrichtung einfacher Abteilungs- 
arbeiten gedient haben wurde. Tats&chlich waren jedoch 4 Pflegerinnen 
(Wilhelmi, Sieck, Nowack und Swensen) als Privatpflegerinnen ffir je 
vier Kranke in Ansprach genommen und mfisste auf ihre Dienste, wenn 
ihre Aufmerksamkeit von der Erffillung der ihnen fibertragenen Pfficht, 
von der sorgsamen Beobachtung and Beaufsichtigung der ihnen aus 
irgend einem Grand besonders zugewiesenen Kranken nicht abgelenkt 
werden sollte, ffir die gleicbzeitige Erledigung einer anderen veranwor- 


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£. Siemerling, 


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tungsTollen T&tigkeit verzicbtet werden. Wir sagen „aus irgend eiueui 
Grunde“: entweder waren sie als Privatpflegerinnen aus irzlichenGr unden 
je einer Kranken zugewiesen wegen deren schwereu Erkrankung, dann 
durften sie auch im lnteresse dieser Kranken ihren Beobachtungsplatz ohne 
AblSsung oder Stellvertretung nicht verlassen, oder sie waren als Privat- 
pflegerin eiuer Kranken zugewiesen auf Wunsch von deren Augehdrigen 
gegen besondere Gntschadigung. In diesem Falie konnte und dnrfte 
die Anspruchnahme fur eine anderweite, auf andere Kranke sicb er- 
streckende Dionstleistung n,ur unter erfolgter Zustiinmung der Angehorigen 
der betr. Kranken stattfinden, da diese wegen der von ihnen ubernommeue 
Zablungsleistungen auch die voile Diensttatigkeit der Privatpfiegerin 
fur die betreffende Kranke wunschen und beausprucben. Jedenfalls 
entzog es sich einer vorhergehenden naberen Bestimmung, wann und 
wie lange eine der Privatpflegerinneu die besondere Beaufsichtigung der 
einzelnen ihr zugewiesenen Kranken unterlassen und ibre Aufmerksam- 
keit auch der Beobacbtung anderer Kranken zuwenden k5nne. 

In der Villa II waren nach Augabe der beiden Oberinuen Ebrbardt 
und Ghueroth fur 12 oder 15 Kranke -regelm&ssig 2 Pflegerinnen be- 
schaftigt, andere Pflegerinnen nur, wenn einer Kranken eine besondere 
Pflegeriu zugewiesen wird. Die Oberin Ebrbardt gibt auch an, dass 
sie beiden st&ndigen Pflegerinnen, wenn sie mit der Arbeit nicht fertig 
werden konnten, noch eine oder zwei Pflegerinnen zur Hilfe schickte. 
Auch wir bezweifeln nicht, dass zwei ausgebildete Pflegerinnen fur 4 
einzelne Kranke im Stande sina, bei ricbtiger gleichm&ssiger Verteilung 
die Arbeiten in Villa 11 inkl. Beaufsichtigung von 9 Kranken erledigen 
zu konnen, in der Voraussetzung, dass unter dieseu 9 Kranken nicht 
eine Kranke sich befindet, deren Krankheitszustand noch zu Befurch- 
tungen Anlass gebeu kaun und somit noch einer bestimmten und ge- 
regelten Beaufsichtigung bedarf, und hier erhebt sich die Frage, ob 
durch die am 15. 11. 1905 erfolgte Verlegung der Frau S. von der Be- 
obachtungsstation in die Villa II den beiden Pflegerinnen neue und be¬ 
sondere Pflichten erwuchsen. 

Die Frau S. bedurfte nach ilirem Krankheitszustande, wie solcber 
aus den arztlichen sowie auch aus den Aufzeichnungeu der betreffenden 
Pflegerin in der Beobachtungsstation sich ergibt, bei ihrer Verlegung 
in die Villa II noch der besonderen Berucksichtigung und Beaufsichti¬ 
gung; ihr Verhalten am 12. 11. nachmittags, einige Stunden vor der 
Aufnahme in die psychiatrische Klinik, die erst dreit&gige arztliche 
Beobachtung, die am 14. 11 . wiederholt geausserte Frage, ob sie nicht 
bald wieder nach Hause komme, die am 15. 11. noch sichtlich vor- 
handene depressive Stimmung, der noch bestehende Mangel an natur- 


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Beitr&g zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 937 

lichem Schlaf liessen Befurchtungeu fur die Zukanft uiclit ausschliessen, 
wenn auch die Annahme eines bereits begonneaen Rekonvaleszenzstadiums 
bei ihr nicht unbegrundet war. Vom arztlichen Standpunkt musste es 
daher als mehr wie zweckmassig angesehen werden, das Pflegepersonai 
bezw. eine bestimmte Pflegerin in der Villa 11 auf die in ihrem Ver- 
haiten nock unsichere, in ihrer Stinimung wechselnde, psychisck nocli 
nicht freie,. bei dem etwaigen Rintritt vort AngstzustSnden zu Befurch- 
tungen Anlass gebeude Frau S. besonders aufmerksam zu macben und 
mit deren ausreickenden Bcobachtung zu bctrauen. Ob und inwieweit 
der geistige und kdrperliche Zustand der mit ikr in einem gemeinsamen 
Zimmer gebetteten beiden Kranken eine begrundfete Hoffnung auf eine 
Mitbeaufsichtigung der Frau S. aufkommen liess, entzieht sick der dies- 
seitigen Beurteilung. Bei derartig Erkrankten wie Frau S. muss das 
Pflegepersonai, das bei der Verlegung einer Kranken von einer Abtei- 
lung auf eine andere sich ilndert, auf die Bedenken und Befurchtungen 
hingewiesen werden, zu denen der Krankheitszustand nnd das Zustauds- 
bild der Kranken nock Anlass geben. und wollen wir hervorheben, dass 
die P. Geier in Berucksicktigung ihrer erst kurzen und geringen Krfak- 
rung in der Krankenpflege zu einer sorgsamen, ausreickenden und ver- 
antwortlichen Beobacbtung der Frau S. noch nicht als geeignet angesehen 
werden kounte, wabrend die Pflegerin Dietz nack ihrer bereits langereu 
Erfahrung in der Irrenpflege ein voiles Vertrauen verdiente. Wir durfen 
dabei aber auch nickt unerwahnt lassen. dass die Frau S. die bedauerns- 
werte Tat gerade wabrend einer Zeit — morgens 3 ,\9 Uhr — vorge- 
nommcn bat, wo das Pflegepersonai durch die Erledigung der Morgeu- 
arbeiten mit Arbeiten flberhiiuft nnd dessen Aufmerksamkeit durch die 
Fertigatellung der letzteren besonders in Anspruch genommen war. 

Nack den vorstekenden Ausfuhrungen geben wir uuser Gul- 
acbten dahui ab, dass bei Berucksichtigung des in Villa II 
am 15. 11. 1905 anwesenden Pflegepcrsonals die Ueberfuhruiig 
der Frau S. in die offeue Station der Kieler Nerveuklinik vom 
Arztlichen Standpunkt aus zu Bedenken Anlass bot, wenn nicht 
dem Pflegepersonai genauere Anweisung zu deren besonderen 
Beaufsichtigung und Beobachtung gegeben sein sollte. 

L'ntereckrift. 

der wissensckaft- 

gericktet an den 

60 


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gez. 

Unter dem 11. 6. 1912 wurde ein Gutacbten von 
lichen Deputation eingefordert. 

In einer scbriftlichen Erwideruug vom 6. 5. 1912, 
Universit&tskurator fubrt Siemerling Folgendes aus: 

ArtliiT f. Pajobiatne. Bd. 60. Heft 2/3. 


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£. Siemerling, 


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Das Gutachten des Medizinalkollegiums geht yon nicht zutreffenden 
Voraussetzungen aus. Wenn die Ueberfu^rung der Frau S. in die 
offeoe Station der Villa vom Hrztlicfaen Standpunkt aus zu Bedenken 
Anlass geboten hatte, wire Frau S. fiberhaupt nicht von mir verlegt 
worden. Ich glaube micb genau zu entsinnen, dass ich die Verlegung 
erst nach reiflicher Ueberlegung unter Wfirdigung aller in Betracht 
kommenden Momente des Erankheitszustandes, der mir von der ersten 
Aufnahme her besonders gut bekannt war, angeordnet babe. Der 
weitere Verlauf hat gezeigt, dass ein Irrtum meinerseits vorgelegen bat. 
Die offene Abteilung bier in der Elinik ist naturgem&ss gar nicht daza 
da, um derartige Unglucksfalle zu verhfiten. 

Hatte bei mir die Beffirchtung bestanden, dass die Frau S. fur die Ver¬ 
legung noch nicht ganz geeignet ware, ware die Ueberfuhrung unterblieben. 

Die Einrichtungen in der Villa und das Personal dort konnte ich 
als ausreichend erachten, um die Verlegung im therapeutischen Interesse 
vorzunebmen. 

Es ist nicht richtig, wie im Gutachten ausgeffihrt ist, dass die 
4 Pflegerinnen (Wilhelmi, Sieck, Nowack und Swensen) als Privat- 
pflegerinnen fur je 4 Eranke in Anspruch genommen waren und auf 
ihre Dienste fur die gleichzeitige Erledigung einer anderen verant- 
wortungsvollen Tatigkeit yerzichtet werden musste. In der Vernehmung 
habe ich ausgeffihrt, dass die 4 Damen, mit Ausnabme der Frau E., 
die die Pflegerin Nowack zu beaufsichtigeu hatte, einer dauernden Auf- 
sicht oder Pflege nicht bedurften, so dass die Pflegerinnen Sieck, 
Wilhelmi und Swensen sich auch den anderen Eranken auf der Station 
widmen konnten. Die Pflegerin Wilhelmi z. B. weiss anzugeben, dass 
sie dieses auch wirklich getan hat. 

Es geht aus den beigefugten Abschriften der Berichte fiber die 
einzeluen Eranken hervor, dass 3 der Damen keineswegs st&ndig ihre 
Pflegerin braucbten. Es war auch ausdrucklich angeordnet, dass diese 
Pflegerinnen sich an dem fibrigen Dienst beteiligten. 

Die Ansichten, wie sie das Medizinalkollegium bezfiglich der Privat- 
pflege vertritt, treffen auf die hier in der Elinik bestehenden Ein¬ 
richtungen nicht zu. Wird auf Wunsch der Angehfirigen bei schwerer 
Erkrankung einer Elassenpatientin eine dauernde Aufsicht fur diese 
Eranke allein eingerichtet, dann wird nicht eine Pflegerin dazu bestimmt, 
sondern es werden 2 genommen, da ich es fur ausgeschlossen erachte, 
dass eine Pflegerin allein l&ngere Zeit, nicht einmal fur die Dauer eines 
Tages, eine solche Beaufsichtigung leisten kann. 

Wollen oder kfinnen die Angehfirigen diese Eosten nicbt tragen, 
dann lehne ich die Bewachung durch nur eine Pflegerin im Zimmer 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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allein ab. Die drei Damen L., K., P. batten ihre besondere Pflegerin 
in erster Linie aua gesellschaftlichen Grunden. Es wird in solchen 
Fallen den Angehorigeu auch bekannt gegeben, dass die Pflegerin nicht 
ganz ausschliesslich zur alleinigen Verfugung der Eranken steht, sondern 
zu den fibrigen Dienstleistungen mit beran gezogen wird. Das Befinden 
der Damen L., E. und P. war in den Tagen des 15. und 16. Novembers 
1905 ein solches, dass die Pflegerinnen, die ihnen zugeteilt waren, 
Zeit genug hatten, den ubrigen Dienst mit zu versehen. Ich verweise 
auf die eingereicbte Liste. 

Das Medizinalkoilegium geht also bei seinen Schlnssfolgerungen 
von nicht zutreffenden Voraussetzungen aus, nicht 2 Pflegerinnen waren 
zur Verfugung, sondern 5. 

Es ist keineswegs richtig, wie das Medizinalkoilegium annimmt, 
dass es sicb einer vorhergehenden naheren Bestimmung entzog, wann 
und wie lange eine der Privatpflegerinnen die besondere Beaufsicbtigung 
der einzelnen ihr zugewiesenen Eranken unterlassen und ihre Aufmerk- 
samkeit auch der Beobacbtung anderer Eranker zuwenden konnte. Es 
war den Pflegerinnen sehr wohl bekannt und sie waren auch in diesem 
Sinne belehrt, dass sie an anderen dienstlichen Verrichtungen sicb 
beteiligen mussten. Es ist ausdrficklich hervorzuheben, dass bei dreien 
der Damen nicht so sehr die besondere Beaufsichtigung, sondern fiber- 
wiegend gesellschaftliche Grfinde in Frage kamen, welcbe zur Stellung 
einer Privatpflegerin geffihrt hatten. 

Das unter dem 17. Juli 1912 erstattete Gutachten lautet: 

Eucr Exzellenz 

erstatten wir hierunter in Sachen Staatsfiskus gegen S. unter Rfickgabe 
der Akten (2. B. 18 Hefte und 16 Schriftstficke) ehrerbietigst das er- 
forderte Gutachten fiber die an uns gerichtete Frage, ob die Ueber- 
ffihrung der Ehefrau des Elfigers aus der Ueberwachungsstation in die 
offene Station der Eieler Nervenklinik vom 15. November 1905 vom 
firztlichen Standpunkt aus keinem Bedenken nnterlag, unter Berficksich- 
tigung der Umst&nde, die sich aus der Beweisanfnahme und den An- 
lagen hinsichtlich der Sicherung und Ueberwachung der Eranken in den 
offenen Stationen und der Zuverlfissigkeit, Schulung nnd Zahl der 
Pflegepersonen ergeben. 

Der Sachverhalt ist folgender: Die in Frage kommende Patientin, 
Fran S., ist zweimal in der Eieler Nervenklinik in Behandlung gewesen. 
Das erste Mai vom 8. November 1908 bis 16. Dezember 1903, wo sie 
geheilt entlassen worden ist. Es hatte sich um eine mit Sinnes- 
t&uschungen einbergehende fingstliche d&mmerznstandartige Erregung 

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E. Siemerling, 


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gehandelt, die bald abklang, so dass die Kranke 12 oder 13 Tage nacb 
ibrer Aufnahrae in die offene Abteilung verlegt werden konnte. 

Selbstmordideen soil sie wahrend dieser Erkrankung nicbt ge&ussert 
haben (Bericbt des Direktors der Elinik). Der Kieler Krankengeschichte 
ist folgendes aus der Zwischenanamnese zu entnehmen: Nach der Ent- 
lassung zeigte die Patientin ab und zo traurige Stimmungen, sp&terhin 
war sie immer guter Stimmung. In der Folgezeit hatte sie im Jabre 
1904 zweimal kurz dauernde Aniaile. Der erste wird folgendermassen 
geschildert: Lag 2 Stunden besinnungslos, batte Streit mit dem Bruder. 
wird erregt, iegt sich hin mit gescblossenen Augen, ruft nach Mann und 
Kind. Am nachsten Tag wieder gut, macht eine Kaffeegesellscbaft mit. 

Zirka 2 Monate sp&ter, Mai 1904, Influenza. Hatte wahrend der- 
selben einen apathischen Zustand, vollig teilnahmslos. Alles zitterte 
an ibr. Schlaf war scblecht. Der Zustand ging nach 4 Tagen voruber. 
dann wieder ganz gesund. 

Die zweite Aufnahme in die Kieler Klinik erfolgte am 12. November 
1905, nachdem sie 3*/ 2 Wochen zuvor eine normale Geburt durch- 
gemacht und bis zum Tage der Aufnahme ihr Kind gestillt hatte. Am 
6. November wurde die Patientin anschliessend an die Abreise ihrer 
Mutter nachts sehr unruhig, hatte traurige Stimmungen, sagte, sie sei 
eine schlechte Frau, sie machc den Ihrigen Kummer uud tue nicbt*. 
Sie ass gut, hatte angehaltenen Stuhl. Suizidgedanken hatte die Kranke 
zu Hause nicht ge&ussert, dagegen ist notiert: Unterwegs im Zug, Yer- 
such aus dem Zuge zu springen. Der Mann macht bei der Aufnahme 
die Angabe, es seien dieselben Symptome wie vor 2 Jahren, nur milder. 

Nach der Aufnahme in die Klinik ist notiert: Wird gegen Abend 
8 Uhr von ihrem Mann zur Klinik gebracht. Geht ruhig auf die Ab¬ 
teilung. Zu Bett gebracht, verlangt sie fort wahrend nach Hause. 
beruhigt sich jedoch bald, schlaft auf Schlaimittel ziemlich gut. 

Am 2. Tag ist notiert: Macht alle Augenblicke Anstalteu, das 
Aerztezimmer — wohl bei der Untersuchung — zu verlassen. Behauptet. 
man lialte sie nur zum Narren. Auf Befragen sagt sie, sie sei ganz 
gesund, sie mdchte aufstehen und wolle nach Hause. Gibt zu, traurige 
Gedanken gehabt zu haben, ist gedruckter uud weiuerlicher Stimmung. 
Hat im ganzen Wesen etwas Starres, sitzt wie traumhaft da, beaut- 
wortet die meisten an sie gerichteten Fragen entweder nicht oder nur 
ganz kurz mit leiser Stimme, verh&lt sich gegen die Untersuchung ab- 
lehnend. Sie antwortet langsam, manchmal gar nicht. Isst mittags 
nichts, verlangt nacbmittags ein Buch zu lesen. 

Am 14. heisst es: Immer noch leicht gedruckter Stimmuug, liegt 
ruhig zu Bett, bat noch immer in ihrem Aeusseren etwas Traumhaftes. 
Isst aber besser. 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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Am 15: Erscheint heate etwas freier. Fragt, ob sie nicht nach 
der Villa verlegt werden kOnne. Wird uachmittags dorthin verlegt, 
gibt 'ihrer Freude Ausdruck fiber die Verlegung und liegt dort ruhig 
zu Bett. 

Am 16. gebt sie nach dem Klosett und springt durch das Klosett- 
fenster aus dem ersten Stock auf den Hof und zieht sich dabei ein^u 
Wirbelbruch uud eine Paraparese der Beine mit BlasenlEhmung zu. 

Ueber das Motiv Eussert sie sicb am Abend der Tat, siehabe nicht 
mehr leben wollen, weil sie nicht mehr wert sei zu leben. Sie sei 
nicht gut zu ihrem Mann gewesen. SpEterhin Eussert sie gesprEchs- 
weise, sie habe sich in der Bnracke schon stets wohl geffihlt und 
keinerlei Selbstmordgedanken gehabt. AIs sie nacb der Villa — offene 
Abteilung — verlegt wurde, habe sie sich zunftchst gleich geEngstigt 
vor einer Mitpatientin. Da sei ihr mit einem Male der Gedanke ge- 
kommen, sich das Leben zu nehmen. Sie hEtte cs aber nicht aus- 

ffihren kfinnen, weil zu viel Menschen im Zimmer waren. Sie habe 

* 

dann in der Nacht vom 15. zum 16. November ohne trfibe Gedankeu 
geschlafen und auch morgens sei ihr gut gewesen, auch auf das Klosett 
sei sie noch obne Selbstmordgedanken gegangen. Hier habe sie das 
Fenster gefiffnet, um binauszusehen. Da sei ihr pldtzlich der Gedanke 
gokommen, sie musse sterben, es kfinne sie docb kein Mensch leiden. 

Am 8. 3. 1906 wurde die Patientin von der Psycbose geheilt ent- 
lassen. Die Rfickenmarkserscheinungen gingen allmEhlich zurfick und 
Dr. Flatau berichtet, dass er sie bei einem spEteren Besuch in bester 
Stimmung auf dem Rade vom Schwimmen oder Baden nach Hause ge- 
kommen, angetroffen habe. 

Im Januar 1908 erhob der Gatte der Frau S. Klage auf Scha- 
denersatz ffir die Folgen des Unfalls. Es sei ein Verschulden der An- 
staltsbeamten darin zu erblicken, dass die Kranke nach wenigen Tagen 
in die offene Abteilung fiberffihrt worden sei. 

Die als Zeugen vernommenen Dr. Flatau und Geheimrat Siemer- 
ling gaben beide an, dass sie bei der Verlegung im Hinblick auf die 
stattgehabte Besserung die Gefahr eines Selbstmordversuches fur aus- 
geschlossen hielten. Die Verlegung ist auf Anordnung des Leiters der 
Klinik selbst erfolgt. 

Die in der Angelegenheit gehorten SachverstEndigen komraen zu 
keinem einheitlichen Urteil. 

Der Leiter der psychiatrischenKlinik in Leipzig, Geheimrat Flechsig, 
fasst sein Gutachten dahin zusammen, dass der Zustand der Frau S. 
zur Zeit der Verlegung kein derartiger war, dass man es unbedingt als 
gefahrlich erachten musste, sie aus der Ueberwachungsstation in ein 
offenes Haus zu fiberffihren. Ein zuverlEssiges Wartepersonal voraus- 


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E. SiemerliDg, 


gesetzt, kdnne die Behandlung derartiger Patienten in einer offenen 
Abteilung kaum prinzipiellen Bedenken unterliegen. 

Der Physikus Dr. Erman in Hamburg kommt zu dent Resnltat, 
dass der Gesundheitszustaod der Ehefrau des El&gers am 15. 11. 1905 
als ein derartiger erscheinen musste, dass begrundete Bedenken vor- 
l^gen, sie von der Ueberwachun gestation in das offene Haus zu uber- 
fubren. Nach seiner Ansicht musste die Kranke in einem gesicherten 
Raum oder unter Ueberwacbung gehalten werden, aus dem allgemeinen 
Grunde, weil bei derartigen melancbolischen Kranken ein unvermuteter 
Selbstmordversuch immer in der M5glicbkeit liege, und zweitens, weil 
Frau S. wenige Tage zuvor den Versuch gemacht babe, aus dem fah- 
renden Eisenbahnznge zu springen. Der Aufenthalt der Frau S. in 
der Klinik sei noch zu kurz gewesen, ihr geistiger Zustand babe sich 
in den ersten vier Tagen des Aufenthaltes noch zu wenig ge&ndert, am 
die Gefahr des Selbstmordversuches als nicbt mebr naheliegend aus- 
schliessen zu kdnnen. , 

Die Differenzen dieser Gutachten gab Veranlassung, das Votum des 
Medizinal-Eollegiums der Provinz Westfalen anzurnfen. Diese gab sein 
Gutachten dahin ab, dass die Ueberfuhrung der Frau S. aus der Ueber- 
wachungsstation in die offene Station der Eieler Elinik nach dem Erank- 
heitszustand der Frau S., sowie nach den Einrichtungen der Villa nicht 
frei von begrundeten Bedenken war, dass diese Ueberfuhrung jedoch 
bei sonst zuverlfissigera und gut geschultem Pflegepersonal vom first- 
lichen Standpunkt aus zulfissig erscheinen konnte und grunds&tzlichen 
Bedenken kaum unterlag. Insofern in diesem Gutachten die Unbedenk- 
lichkeit der Ueberfuhrung in die offene Station von der Zuverlfissigkeit 
und Schulung des Pflegepersonals abhfingig gemacht werde, warden 
zunfichst gerichtliche Erhebungen nach dieser Richtung angestellt Das 
Ergebnis dieser Feststellungen fuhrte das Uedizinal-Eollegium in einem 
zweiten Gutachten zu dem Schlusse, dass bei der Berucksichtigung des 
in der Villa II anwesenden Pflegepersonals die Ueberfuhrung der FrauS. 
in die offene Station der Eieler Nervenklinik vom firztlichen Standpunkt 
aus zu Bedenken Anlass bot, wenn nicht dem Pflegepersonal genauere 
Anweisung zu deren besonderen Beaufsichtigung und Beobachtung ge- 
geben sein sollte. 

Gegen dieses Gutachten machte der Leiter der Eieler Elinik gel- 
tend, dass das Gutachten des Medizinal-Eollegiums von nicht zutreffen- 
den Voraussetzungen ausgehe. Die Verlegung nach der offenen Abtrei- 
lung sei angeordnet worden, weil eine Suizidgefalir nicht fur vorliegend 
erachtet worden sei. Hfitten Bedenken bestanden, so h&tte eine Ver¬ 
legung in die offene Abteilung uberhaupt nicht stattfinden durfen. 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des lrrenarztes. 


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Gutachten. 

Die von dem Medizinal-Kollegium diskutierte Frage, ob das Per¬ 
sonal auf der offenen Abteilang hinsichtlich der Selbstmordverhutung 
die ndtige Sicherheit gew&hrte, kann ausser Betracht gelassen werden, 
nachdem seitens des Direktors der Eieler Elinik ausdrucklich darauf 
hingewiesen worden ist, dass, wenn die Kranke suizidverd&chtig war, 
eine Verlegung nach der offenen Station uberhaupt nicht in Frage kom- 
men konnte. Es handelt sich also lediglich darum, ob der klinische 
Direktor in Erw&gung der ihm bekannten Yorg&nge berechtigt war, bei 
der Eranken S. eine Suizidgefahr fur nicbt bestehend zu halten. 

Der klinische Sachverhalt ergibt, dass bei Frau S. periodische 
psychotische Zust&nde mit depressiver Affektlage bestanden haben. Mit 
Recht wird von dem ersten Begutachter, Geheimrat Flecbsig, darauf 
hingewiesen, dass es sich bei der Erkrankung der Frau S. nicht um 
eine Erkrankung von gleichmassig melancholischem Charakter gehandelt 
babe. Es tritt in den verschiedenen Erankheitszustanden der Frau S. 
eine ausgesprochene Beeinfiussbarkeit durch ttussere Momente, vor 
allem affektiver Art hervor. Dieser Dmstand, dann die traumbafte Be- 
wusstseinslage wShrend der DepressionszustSnde und das Auftreten von 
Ohnmachten und Delirien anschliessend an einen Wortwechsel mit dem 
Bruder, weist auf eine psychogene-hysterische Eomponente hin. Bei 
dem Ausbruch der ersten, wie der zweiten Erkrankung scheinen neben 
dem puerperalen Prozess noch affektive Momente, Besuch einer Ver- 
w and ten, Abreise der Mutter von ausldsender Bedeutung gewesen zu 
sein. Auch die Aufhellung des ersten in dar Eieler Elinik durchge- 
macbten traumbaften Zustandes schliesst sich an Aenderungen iusserer 
Verb&ltnisse, die Verlegung nach der Villa und insbesondere den Besuch 
des Mannes an. 

Diese Feststellungen sirid wichtig, weil sie zeigen, dass eine sche- 
matische Behandlung des Falles nach dem Schulbilde der Melancholie, 
wie sie in dem Gutachten des Hamburger Ereisphysikus Herrn Dr. Erman 
zum Ausdruck kommt, nicht geboten war. Nach dem, was der klinische 
Direktor aos der Vorgeschichte seiner Patientin und seinen fruheren 
Erfabrungen an ihr wusste, war es wohl gerechtfertigt, wenn er beson- 
deren Wert darauf legte, mOglichst bald durch ihre Milieuver&nderung 
eine gunstige Einwirkung auf den Erankheitszustand auszuuben. 

Ohne die Angabe des Mannes, dass die Frau bei der Fahrt nach 
Eiel aus dem Coupe zu springen versucht habe, wurden in den ana- 
innestischen Daten keine Anbaltspunkte dafur zu gewinnen gewesen sein, 
an der Zweckmassigkeit der Massnahme der Verlegung zu zweifeln. 
Weder wahrend der fruheren Erkrankung, Doch w&hrend der krank- 
haften Zust&nde, welche die Eranke zu Hause durchgeraacht hatte, sind 


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E. Siemerling, 


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Suizidabsichten ausweislich der Akten in Erscheinung getretcn. Ancb 
eine famili&re, heredit&re, suizidialc Tendenz febit, wie mit Recbt in 
<iem Gntachten der Leipziger Klinik bervorgehoben wird. 

Die Frage, ob in der Angabe des Manues, dass seine Frau aus dem 
Zuge zu springen versucbt babe, ein zwingendcs Moment erbiickt werden 
musste, die Verlegung ins offene Haus so karze Zeit nach der Einliefe- 
rung zn unterlassen, wfirde vielieicbt zu bejahen sein, wenn es sich urn 
den erstmaligen Aufenthalt in der Klinik gehandelt hfitte. So aber 
standen dem Reiter der Klinik die Erfahrungen fiber der Verlauf der letzten 
Erkrankung zur Seite und wenn es sicb auch als irrtumlich erwies, so 
konnte er doch nach Antezedentien des Falles mit einem gewissen Recbt 
zu der firztlichen Ueberzeugung gelangen, dass der Vorfall w Ahrend der 
Eiseobabnfabrt lediglich als eine durch die besondere Situation der Ver¬ 
legung nach der Klinik bedingte episodische, psychogene Steigerung 
der Erregung aufzufassen sei und dass eine Suizidgefahr, nacbdem die 
Kranke in die gleicbmfissige Dmgebupg der Klinik rerbracht und tat- 
sachlich eine gewisse Aufliellung des traumhaften Zustandes eingetrcten 
war, nicht vorlag. 

Wir geben deshalb unser Gutachten dahin ab, dass nach den be- 
sonderen UmstUnden und bei der besouderen Art der bei Frau S. vor- 
liegenden Erkrankung der Massnahme der Verlegung nach der offenen 
Station, obwobl der Erfolg der Erwartung nicht entsprach, nach der 
klinischen Erfahrung die Arztliche Berechtigung nicht abgesprocben 
werden kann. 

gez. Kirchner, Dr. v. Olshausen, Rubner, Moeli, Heubner, 
gez. Ohrt, Kraus, Gaffky, Bier, v. Scbjerning, 
gez. Dr. Saenger, Dr. Krohne, Bonhoeffer. 

Am 29. 10. 1912 warde folgendes Urteil verkfindet: 

Im Namen des Konigs! 

In Sachen des Koniglich Preussisoben Staatsfiskns, vertreten durch den 
Kurator der Universitat Kiel, 

Beklagten und Bcrufungsklagers, 

— Prozessbevollmachtigte: Recbtsanwalte Justizrat Dr. Abraham nnd 

Dr. Kahler in Kiel — 
gegen den 

Redakteur E. S. in 1., 

Klager und Berufungsbeklagten, 

— Prozessbevollmachtigter: Reohtsanwalt Dr. Stahmer in Kiel — 
wegen Sobadenersatzes 

hat der II. Zirilsenat des Koniglichen Oberlandesgeriohts in Kiel auf die 
mundliche Verhandlung vom 29. 10. 1912 unter Mitwirkung des Senatsprasi- 


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Beitrag zul* Verantwortlicbkeit des Irrenarztes. 


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denten, Goh. Oberjustizrates Schmid, der Oberlandesgerichtsrate Geh. Justiz- 
rates Dr. Brandt, Dr. Marwitz und Lohmann, sowie des Landrichters 
Frormann fur Reoht erkannt: 

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Koniglichen Land- 
gerichts, II. Zivilkammer in Kiel, vom 23. 2. 1910 dabin abgeandert: 

Die Klage wird abgewiesen. 

Der Klager hat die Kosten des Rechtsstreites zu tragen. 

Das Urteil ist vorlaufig vollstreckbar, doch wird dem Klager nach- 
gelassen, die Zwangsvollstreckung durch Hinterlegnng yon 450 M. abzu- 
wenden. 

Tatbestand. 


Der Beklagte hat gegen das vorbezeichnete Urteil Berufung eingelegt 
und beantragt, v 

die Klage abzuweisen. 

Er hat den Inhalt des angefochtenen Urteils nebst den darin in Bezug 
genommenen Beweisverhandlungen und der Krankheitsgeschichte der Frau S. 
yorgetragen. Er hat die Wiirdigung der rechtlichen und tatsachlichen Ver- 
haltnisse durch das Landgericht als unrichtig bezeichnet und hat geltend ge- 
maoht, dass zwischen Dr. Erman und dem Professor Siemerling hinsicht- 
lioh der Beurteilung seelischer Zustande grundsatzliohe Meinungsverschieden- 
heiten bestanden. So babe Dr. Erman im Jahre 1902 besoheinigt, dass eine 
Frau Walkboff aus Hamburg geisteskrank sei, wahrend ihre Untersucbung 
in der Kieler Nervenklinik, in der sie sich vom 25. 11. bis 21. 12. 1912 be- 
funden habe, weder Geisteskrankheit noch Geistesschwache ergeben habe. 

Der Beklagte hat ferner bestritten, dass der Leiter der Nervenklinik oder 
deren sonstige Angestellte seine verfassungsmassig berufenen Vertreter seien, 
hat aber erklart, er wolle nicbt bestreiten, dass der erstere belugt sei, selbst- 
standig Kranke in die Anstalt aufzunehmen und die Verpflegungskosten fest- 
zusetzen. Er ist endlich der Ansicht, dass der Leiter der Klinik, soweit fur 
die Behandlung der Frau S. seine Beziehungen zum Beklagten in Frage stiin- 
den, in Ausiibung der offentlichen Gewalt gchandelt habe. Dass Beklagter bei 
der Auswahl der behandelnden Aerzte die erforderliche Sorgfalt beobachtet 
habe, konne nicht zweifelhaft sein. 

Der Klager hat beantragt, 

die Berufung zuriiokzuweisen und eventuell ihm naobzulassen, 
die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung abzuwenden. 

Er halt die Ausfiihrung des angefochtenen Urteils fur zutreffend und hat 
den Inhalt seines Schriftsatzes vom 10. 6. 1910 (Bl. 171 d. A.) yorgetragen. 


28. 6. 1910 

Gemass dem Beweisbeschluss vom-—- 

4. 10. 


(Bl. 175, 184 R.) hat 


das Konigliche Medizinalkollegium in Munster auf Grund der Akten ein aus- 
fdhrlich begriindetes Gutachten dahin abgegeben, dass die Ueberfuhrung der 
Frau S. in die offene Station am 15. 11. 1905 nach ihrem Krankheitszustande 
sowie nach den Einrichtungen der Villa nicht frei von begrundeten Bedenken 


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E. Siemerling, 


geweseu sei, dass diese Ueberfiihrung jedoch bei sonst zuverlassigem and gut 
geschultem Pilegeperson&l vom arztlichen Standpunkt aus habe zulassig er- 
scheinen konnen. 

Der Klager hat dieses Qutaohten bemangelt und hat angegeben, welches 
Pflegepersonal im November 1905 in der Villa vorhanden war und welche Auf- 
gaben dieses zu verrichten hatte. Auch hat er an einer Zeichnung die Lage 
der einzelnen Raume in der Villa erlautert. Es wird deswegen auf den vor- 
getragenen Inhalt des Schriftsatzes vom 3. 3. 1911 und auf die ZeichnuDg 
Bl. 104 verwiesen. Der Beklagte hat die Behauptungen iiber das Pflegepersonal 
bestritten and davon abweichende Angaben gemacht, auf die wiederum der 
Klager erwidert hat. Es wird wegen der beiderseitigen Behauptungen in dieser 
Beziehung auf die vorgetragenen Schriftsatze vom 23. 3., 2. und 15. 6. 1911 
Bezug genommen. 

Gemass dem Beweisbesohluss vom 27. 6. 1911 warden die darin be- 
nannten Zeugen vernommen und es wird aaf ihre vorgetragenen Aussagen 
verwiesen. Es warde ein ferneres Gatachten des Medizinalkollegiams in 
Munster eingeholt, das dahin ging, bei Beruoksichtigung des vorh&ndenen 
Pflegepersonals bote die Ueberfdhrung der Fr&u S. in die offene Anstalt zu 
Bedenken Anlass, wenn nicht dem Pflegepersonal genauereAnweisung zu deren 
besonderen Beaufsichtigung und Beobachtung gegeben worden sei. 

Der Beklagte hat dieses Gutachten bemangelt und geltend gemacht, dass 
die Ueberfiihrung der Frau S. in die offene Station von Prof. Siemerling 
iiberhaupt nicht angeordnet worden ware, wenn diese Ueberfiihrung vom arxt- 
lichen Standpunkt aus zu Bedenken Anlass geboten hatte. Er hat auch im 
iibrigen die Aeusserung des Prof. Siemerling vom 6. 5. 1912 vorgetragen. 

Es wurde sodann nach dem Beweisbesohluss vom 11. 6. 1912 ein Ober- 
gutachten der Koniglichen Wissenschaftlichen Deputation fur das Medizinal- 
wesen eingeholt. , Auf den vorgetragenen Inhalt dieses Gutachtens und der 
beiden Gutachten des K5nigliohen Medizinalkollegiams wird verwiesen. 

Der Klager hat das Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation be¬ 
mangelt und dazu den Inbalt seines Schriftsatzes vom 22. 10. 1912 vorge¬ 
tragen. Er hat es ferner fur unzuiassig erklart, dass die Wissenschaftliche 
Deputation die Aeusserung des Prof. Siemerling vom 6. 5. 1912 berucksich- 
tigt hat. 

Griinde. 

Da nach der eigenen Erklarung des Beklagten der Leiter der Kieler 
Nervenanstalt kraft seiner Stellung befugt ist, selbstandig uber die Aufnahme 
von Kranken zu entscheiden und die Verpflegungskosten festzusetzen, so ist er 
der verfassungsmassig berufene Vertreter des Beklagten bei der Aufnahme und 
Behandlung der Kranken. Es handelt sich dabei urn eine Tatigkeit, die auf 
privatreohtlichem Gebiete liegt und bei der eine Ausiibang der offentlichen 
Gewalt nicht in Frage kommt. Der Beklagte haftet demnach fur ein Verschul- 
den des Geheimrats Siemerling bei der Behandlung der Frau S. nicht nor 
nach § 278 B.G.B., soweit der Schadensersatzanspruch auf mangelh&fte Er- 
fullung des mit dem Klager abgeschlossenen Vertrages gestutzt wird, sondera 


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Beitrag zar Verantwortlichkeit des lrrenarztes. 947 

auch nach §§ 31, 89 B.G.B., soweit der Schaden ausserhalb des Vertrages 
verursacht ist. 

Es kann jedoch dahingestellt bleiben, inwieweit dio erhobenen Anspruehe 
vertraglicher and inwieweit sie ausservertraglicher Natur sind, ebenso welche 
Partei die Beweislast fur das behauptete Versohulden trifft, denn es muss auf 
Grand des Gatachtens der Wissenschaftlichen Deputation angenommen werden, 
dass Prof. Siemerling nicht schuldhaft gehandelt hat, als er Frau S. in die , 
offene Anstalt verlegen liess. Dieses Gutachten berucksichtigt die Vorgeschichte 
der Frau S. und die Erfahrungen, die bei ihren friiheren krankhaften Zustan- 
den gemacht wurden, und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass nach den be- 
sonderen Umstanden und bei der besonderen Art der bei Frau S. vorliegenden 
Krankheit ihrer Verlegung naoh der offenen Station nach der klinischen Er- 
fahrung die arztliche Berechtigung nicht abgesproohen werden k5nne. Die 
Mitglieder der Wissenschaftlichen Deputation sind allerdings nicht samtlich 
Psychiater, aber sie sind Autoritaten der medizinischen Wissenschaft und es 
kann keinem Zweifel unterliegen, dass sie, auch soweit sie nicht Psychiater 
sind, die Fahigkeit besitzen, die Richtung eines Gutaohtens fiber die ihnen 
hier vorgelegte Frage zu beurteilen. Mit Unrecht wirft auch der Klager dem 
Gutachten vor, dass es die Mangelhaftigkeit der Anlage der Anstalt selbst 
unberuoksichtigt gelassen hat. Die Wissenschaftliche Deputation hat das Gut¬ 
achten mit Rucksicht auf den Sachverhalt erstattet, der sich ihr aus denAkten 
ergab, und es ist selbstverstandlich, dass sie dabei auch die Beschaffenheit 
der Villa, in die Frau S. verlegt wurde, berucksichtigt hat, insbesondere da in 
dem am Anfang des Gutachtens wiedergegebenen Beweisbeschluss die Beriick- 
sichtigung der Anlagen hinsichtlioh der Sicherung und Deberwachung der 
Kranken besonders gefordert ist. Ihr Gutachten kann deshalb -nur dahin ver- 
standen worden, dass der Verlegung der Frau S. in die offene Anstalt, so wie 
sie am 15. 11. 1905 war, die arztliche Berechtigung nicht abgesprocben 
werden k6nne. 

Unbegrundet ist auch der weitere vom Klager gemachte Vorwurf, dass 
das Gutachten die Mangelhaftigkeit des vorhandenen Pflegepersonals nicht be¬ 
rucksichtigt. Denn es geht davon aus, dass die Verlegung der Frau S. in die 
offene Anstalt uberhaupt nicht in Frage gekommen ware, wenn ein Selbst- 
mordverdacht vorgelegen hatte, und untersucht deshalb nur die Frage, ob 
Prof. Siemerling berechtigt war, eine Selbstmordgefahr fur nicht bestehend 
zu halten. Dazu war die Wissenschaftliche Deputation auch durchaus berech¬ 
tigt, da Geheimrat Siemerling in seinem eidlichen Zeugnis vom 27. 6. 1908 
ausgesagt hat, er hatte bei der Ueberfuhrung der Frau S. die Gefahr eines 
Selbstmordversuchs fur ausgeschlossen gehalten. Fur die im Gutachten beant- 
wortete Frage aber war die Beschaffenheit des Pflegepersonals offenbar un- 
erheblich. 

Geheimrat Siemerling hat sich, wie sein eidliches Zeugnis vom 27. 6. 
1908 ergibt, bei der Ueberfuhrung der Prau S. in die Villa von denselben Ge- 
sichtspunkteft leiten lassen, wie die Wissenschaftliche Deputation. Man kann 
deshalb mit Rucksicht auf den spateren Ausgang wohl sagen, dass er sich 


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E. Siemerling, 


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damals in einem Irrtum befunden hat, nicht aber, dass er bei seiner Anord- 
nnng nicht alle Umstande sorgfaltig erwogen und deshalb schnldhaft ge- 
handelt hat. Dass er dabei den Versuch der Frau S., sich auf der Fahrt 
nach Kiel ans dem Eisenbahnwagen zu stiirzen, beruoksichtigt hat, ergibt 
sein Zeugnis. 

Hiernaoh hat Prof. Dr. Siemerling die ihm obliegende Verpflichtung 
zur sachgemassen arztlichen Behandlung der Fran S. erfullt und die Klage 
war deshalb unbegriindet, mag sie auf den Vertrag oder auf vertragliches Ver- 
schulden gestiitzt sein. 

gez. Schmidt. Brandt. Marwitz. 
gez. Lohmann. Frormann. 

Auf die eingelegte Berufung entschied am 18. 3. 1913 das Reichs- 
gerich t: 

Im Namen des Reiohs! 

In Sachen des Redakteurs E. S. in I., Klagers und Revisionsklagers, 

— Prozessbevollmachtigter: Rechtsanwalt Justizrat Dr. Bitter in Leipzig — 

wider 

den Preussiscben Fikus, Beklagten und Revisionsbeklagten, 
vertreten durch den Kurator der Universitat Kiel, 

— Prozessbevollmachtigter: RechtsanwaltGeh.Justizrat Boyens in Leipzig, — 
hat das Reichsgericht, III. Zivilsenat, auf die rniindliche Verhandlung vom 
18. 3. 1913, unter Mitwirkung: des Prasidenten Meyn, der Reichsgericbts- 
rate v. Romeick, Dr. Strecker, Mansfeld, sowie der Oberlandesgericbts- 
rate Kress, Oegg und Dr. Gunkel, fur Reoht erkannt: 

Das Urteil des II. Zivilsenats des Konigiich Preussischen Oberlandes- 
gerichts zu Kiel vom 29. 10. 1912 wird aufgehoben und die Sache zur ander- 
weitigen Verhandlung und Entscheidung an den I. Zivilsenat des Berufungs- 
gerichts zuruckverwiesen. 

Die Entscheidung fiber die Kosten der Rcvisionsinstanz wird dem 
Endurteil vorbehalten. 

Von Rechts wegen. 

Tatbestand. 

1m Jahre 1903 war die Ehefrau des Klagers an „melancholischer Ver- 
stimmung w erkrankt und in der psychiatrischen Klinik der Universitat Kiel 
untergebraoht, von wo sie als geheilt entlassen wurde. Am 12. 11. 1905 braohte 
der Klager sie wiederum in die Klinik. Unterwegs versuchte sie aus dem 
Eisenbahnzug zu springen, der Leiter der Klinik, Prof. Siemerling, erhielt 
hiervon Kenntnis. Sie wurde zunachst in der Beobachtungsstation, aber scbon 
am 15. 11. auf Anordnung jenes Leiters in der o&enen Station, der sog. Villa, 
untergebracht. Hier machte sie am Morgen des 16. 11. einen Selbstmord- 
versuch. Sie sprang aus dem Fenster des im Obergeschoss befindlichen Klosetts 
und verletzte sich schwer. Der Klager findet ein Verschulden darin, dass die 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 949 

Kranke schon am 15. 11. in die offene Station verlegt und dass diese nichtmit 
den gehorigen Sicherheitseinrichtungen versehen sei, und verlangt Schaden- 
ersatz. Das Landgericbt hat den Klageansprnoh dem Grunde nach fur be- 
reohtigt erklart, das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Gegen das in 
der Entscheidung naher bezeichnete Berufungsurteil bat der Klager Revision 
eingelegt. Er hat den Sachverhalt vorgetragen, die oberlandesgerichtlichen 
Entscheidungsgrunde verlesen und die Revision mit den Ausfiihrungen seines 
Schriftsatzes vom 20. 1. 1913 begriindet. Sein Antrag geht dahin, 

das angefochtene Urteil aufzuheben und nach seinem Berufungs- 
antrage zu erkennen, im Falle der Zuruckweisung die Sacbe an 
einen anderen Senat des Berufungsgerichts zuriiokzuverweisen. 

Der Beklagte beantragt, die Revision zuriickzuweisen. 

Entscheidungsgrunde. 

Die Revision ist begriindet. 

1. Der Klager nimmt den Beklagten zunachst wegon Verschuldens des 
Leiters der Klinik als eines verfassungsmassig berufenen Vertreters auf Ersatz 
des duroh dies Verschulden entstandenen Schadens in Anspruch. Das Ver- 
schulden findet er in der Anordnung, dass die erst am 12. 11. 1905 in der 
Beobachtungsstation aufgenommene Kranke schon am 15. 11. in die Villa ver¬ 
legt sei, obwohl deren Einrichtungen, wie dem Leiter der Klinik bekannt ge- 
wesen 1st, nicht danach angetan gewesen seien, die Gefahr der Kranken fur 
Leib und Leben auszuschliessen. Ob ein Verschulden vorliegt, ist eine vom 
Richter zu entscheidende Rechtsfrage. Die von dem Berufungsgericht getroffene 
Entscheidung lasst nach ihrer Begriindung Raura fur die Vermutung, dass ihr 
eine rechtsirrtumliche Auffassung des Begriffs der Fahrlassigkeit zugrunde 
liege. Jedenfalls hat das Berufungsgericht bei Verneinung der Rechtsfrage 
nicht den gesamten zur Begriindung der Verschuldensbehauptung vorgebrachten 
Streitstoff gewiirdigt. Es entnimrat die tatsachlichen Unterlagen fiir diese Ver¬ 
neinung lediglich deYn Gutachten der wissenschaftlichen Deputation fiir das 
Medizinalwesen, ohne zu beachten, dass dieses Gatachten das Klagevorbringen 
und das Ergebnis der vorangegangenen Beweisaufnahme nicht erschopfend 
verwertet. Diese Verschuldensfrage hatte einer weiteren Erklarung durch das 
Oberlandesgericht bedurft. Mit Recht vermisst die Revision in dem fiir die 
Berufungsentscheidung massgebend gewordenen Obergutachten ein geniigendes 
Eingehen auf den Inhalt der iibrigen Gutachten, namentlich das Gutachten 
des Medizinalkollegiums in Munster. Wenn das Obergutachten die Moglichkeit 
eines zum Selbstmordversuohe fuhrenden plotzlichen Stimmungswechsels, den 
nach dem vorgetragenen Krankenberiohte noch am 13. und 14. 11. bei der 
Kranken vorhandenen traumhaften Zustand, ihre eigenen, im Krankenberiohte 
dargestellten Angaben iiber ihre Gedanken, schon am 15. — nach derVerlegung 
in die Villa — Selbstmord zu veriiben, fur das Bestehen eines Selbstmord- 
verdachtes nicht in Betracht zieht, so durfte doch das Berufungsgericht bei 
Beurteilung der Verschuldensfrage diese Tatumstande nicht unerwogen lessen. 


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E. Siemerling, 


Dagegen geht der Revisionsangriff fehl, es seien die Bebauptungen fiber 
die Geeignetheit der Deputation fur Abgabe des Obergutachtens nictft genugend 
gewfirdigt. Die Tauglichkeit eines Sachverstandigen fur die Erstattung von 
Gutaohten einer bestimmten Art ist Sache der dem Tatsacbenrichter zustehen- 
den, einer Nachprufung im Revisionsverfahren nicht unterliegenden Beweis- 
wurdigung. Diese ist im vorliegenden Falle insoweit ausreichend begrundet. 

Mit Recbt aber macbt die Revision geltend, das Obergutacbten und danach 
der fiber die Frage des Verscbuldens urteilende Berufungsrichter liessen ausser 
acht, dass ffir ein Verschulden des Klinikieiters nacb dem Klagvorbringen 
nicht nur in Betraoht komme, ob er obne Fahrlassigkeit annehmen konnte, die 
Ehefrau des Klagers sei nicht mehr selbstmordverdachtig, sondern auch, ob er 
mit der Moglichkeit eines Irrtums hatte rechnen mfissen. Die Ausffibrungen 
des Oberlandesgerichts lassen die Prfifung vermissen, ob der Leiter der Klinik, 
auch wenn er sie nicht mehr ffir selbstmordverdachtig hielt und zu halten 
brauchte, nicht dennoohVorsichtsmassregeln zu treffen verpflicbtet war, nament- 
lich mit Rficksicht auf die behaupteten, ihm bekannten Mangel in der Ein- 
richtung der Villa. Die Feststellung fibrigens, dass der Prof. Siemerling 
bei der Ueberffihrung der Kranken sich von der Ueberzeugung habe leiten 
lassen, es bestehe keine Selbstmordgefahr mehr, ist nicht zu beanstanden. Sie 
beruht auf seinem eidliohen Zeugnis, wonach er zur Zeit seiner Anordnung die 
Gefahr eines Selbstmordversuches fur ausgeschlossen gehalten haben will. Nur 
auf diese Aussage stfitzt das Berufungsgericht seine Feststellung; ob das 
Gutachten auch die Aeusserung Siemerling’s gegenfiber dem Universitats- 
kurator berficksichtigt, ist daher ohne Bedeutung. 

Ob der Prof. Siemerling ohne Verletzung der imVerkehr erforderlichen 
Sorgfalt zu jener Ueberzeugung gelangen konnte, das ist die zu entscheidende 
Frage. Fur sie war von Wichtigkeit, was der Klager fiber frfihere Selbstmord- 
versuche seiner Ehefrau unter Beweisangebot und fiber die Kenntnis des Klinik- 
loiters von ihnen behauptet hatte. 

So spraoh doch vor allem der Vorfall in der Eisenbahn, mag er auch der 
Erregung fiber die Fortschaffuug von Hause in die Klinik zuzuschreiben sein, 
ffir das Selbstmordvorhaben. Er hatte am 12. 11. stattgefunden, am 15. 11. 
schon, nachdem inzwischen steteUeberwaohung in der Beobachtungsstation die 
Wiederholung der Ausfuhrung solchenVorhabens ausgeschlossen hatte, erfolgte 
die Verlegung in die offerie Station. Das aus der Kfirze dieser Zwischenzeit 
sicb ergebende Bedenken musste das Berufungsgericht zu einer umfassenden 
Aufklarung bestimmen. 

Ob die Kranke ein- oder zweimal versucht hatte, aus dem Zuge zu 
springen, war selbst bei der Auffassung des Obergutachtens von der Bedeutung 
des Vorfalles in der Eisenbahn nicht gleichgultig. Der zweimalige Versuob 
verrat eine besondere Energie des Selbstvemichtungswillens. Zwar nicht fur 
den zweimaligen Versuch, aber ffir die Mitteilung davon an den Leiter der 
Klinik ist Beweis — durch dessen Zeugnis — angetreten, er ware zu erheben 
gewesen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass so gut wie die Erregung fiber die 
Fortschaffung in die Klinik zu so energischer Betatigung des Seibstmord- 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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willens im Eisenbahnzuge, so die Erregung uber die Festhaltung in der 
Klinik zum*Selbstmordversuche dort fiihren konnte und dass die Feststellung 
zweimaligen Versuchs anch geeignet ware, eine andere Auffassung auch bei 
der saohverstandigen Deputation zu begriinden. Diese verwertet zwar gegen 
das Bestehen der Selbstmordgefahr die Verbringnng in die gleichmassige Um- 
gebung der Klinik — wovor sich iibrigens anf der Reise gerade die Kranke 
gefurchtet haben soli — nnd den Eintritt einer „gewissen u Aufhellung des 
traumhaften Zustandes. Es steht aber dahin, ob sie diesen Umstanden gegen- 
dber jener Selbstmordenergie dieselbe entscheidende Bedeutnng wiirde boi- 
gemessen haben. 

Unrich tig ist in dem vorgetragenen Schriftsatze vom 22. 10. 1912 be- 
merkt, das Gntachten der Wissenschaftlichen Deputation ubersehe, dass der 
Kl&ger seinerzeit der Anstaltsleitung auch mitgeteilt habe, seine Frau habe bei 
ihrer ersten Erkrankung (1903) verschiedontlich versucht, zuhause aus dem 
Fenster zu springen. Das Gutachten ubersieht es nicht, ,denn vor seiner Er- 
stattung war die Behauptung, soweit die Akten ergeben, noch niemals aufge- 
stellt. AUein die Revision riigt auch nicht, dass das Gutachten die Behaup¬ 
tung ubersehe, sondern dass das Berufungsgericht die nach Massgabe des 
Schrifts&tzes aufgestellte Behauptung nicht gewurdigt hat. Die Behauptung 
konnte jedenfalls nicht ohne weiteres als unerheblich behandelt werden. Das 
Obergutachten begrundet seine Verneinung der Selbstmordgefahr u. a. mit der 
Erwagung, dass weder bei der fruheren Erkrankung, noch wahrend der krank- 
haften Zustande, welche die Ehefrau des Klagers zuhause durobgemacht hatte, 
Selbstmordabsichten in Erscheinung getreten seien. Nun hat der Professor 
Siemerling eidlich als Zeuge bekundet, der KISger habe — abgesehen von 
dem Eisenbahnvorfalle — bei der Einlieferung 1905 erwahnt, dass seine Frau 
„auch keine Selbstmordideen an den Tag gelegt u habe. Damit ist aber noch 
nicht widerlegt. dass sie 1903 solchen Gedanken gehabt, und dass der Klager 
1903 dem Anstaltsleiter davon Mitteilung gemacht hat. Jedenfalls hat in 
dieser Hinsicht das Berufungsgericht keinerlei Feststellungen getroffen. War 
aber die Behauptung erheblicb, so hatte auf Bezeichnung der Beweismittel 
hingewirkt werden mussen. Die auf Verletzong des § 139 der Zivilprozessord- 
nung gestutzte Revisionsruge ist begrundet. Welcher Wert dem etwaigen Be- 
weisergebnis gegeniiber auf die aus dem Krankheitsberiohte von 1903 ersicht- 
lichen derzeitigen eigenen Angaben des Klagers zu legen ist, wird das Be- 
rufungsgeriobt zu prufen haben. 

II. Der Klageanspruch stutzt sich aber nicht nur auf ein bei der Anord- 
nung der Ueberfiihrung begangenes Versehen des Anstaltsleiters, sondern auch 
daranf, dass der Schaden verursacht sei durch die auf ein Verschulden ver- 
fassungsmassig berufener Vertreter des Beklagten zunickzufuhrende Mangel- 
haftigkeit in den Einrichtungen der Villa. Zutreffend macht die Revision gel- 
tend, dass das Berufungsgericht diesen mit Beweiserbieten vertretenen Klage- 
grund ub^rhaupt nioht berucksichtigt. Es ist geeignet, ganz unabhangig von 
einem den Anstaltsleiter bei einer Anordnung etwa treffenden Verschulden, 
den Klageanspruch zu begriinden. 


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E. Siemerling, 


Auch wenn der Anstaltsleiter ohne Fahrlassigkeit den Selbstmordverdacht 
bei den Anstaltskranken fur vollig ausgeschlossen halt and halten darf, so 
mass doch immerhin mit der Moglichkoit eines Irrtams gerechnet werden. Auf 
diese Moglichkeit hin werden, soweit es sich mit dem Heilzwecke vereinigen 
lasst, die Einrichtungen der offenen Station mit den erforderlichenSicherheits- 
vorkehrungen versehen sein miissen. Der Beklagte nimmt die zum Teil hilf- 
losen, in ihrer Einsicht und freien Willensbestimmung beeintrachtigten, oft- 
mals nach Stimmungeu und Anwandlungen unberechenbaren Kranken zor Be- 
wachung und Heilung in seine Anstalt auf. Er ist dafiir verantwortlich, dass 
sie dort gegen Gefahren fur Leben and Gesundheit, auch fiir die Gefahr der 
Selbstbesohadigung soweit gescbiitzt werden, als die zur Erreichung des Heil- 
zwecks zu treffenden Massnahmen es zalassen. Es fragt sich, waram es in der 
offenen Station, in der die Ehefrau des Klagers untergebracht wurde, an den 
geeigneten Sicherheitsvorkehrungen gefehlt hat. Wenn es richtig ist, dass 
gerade in den Klosetts sich am haufigsten Selbstmordversuche ereignen, so ist 
nicht einzusehen, weshalb die Fenster des Klosetts im Obergeschoss nicht — 
etwa als Drehfenster — so eingerichtet waren, dass das Hindarchschldpfen 
einer Person nicht geschehen konnte. Auch ist nicht ersichtlicb, welche Om- 
stande der Anwendung der ausseren Vorsicht^ gerade auch in Ansehung der 
Ueberwachung der Kranken beim Aufsuchen des Klosetts, binderten. Regel- 
massig liegt die Annabme eines Verschuldens nahe, wenn Sicherheitsmass- 
regeln unterbleiben, obwohl ihre Anwendung mogiich ist. 

Nach diesen Richtungen hin bedarf das Parteivorbringen der eingehen- 
den Prufung durch das Berufungsgericht. Je nach deren Ausfall wird sich 
ergeben, ob der Beklagte selbst dann scbadensersatzpflichtig ist, wenn die An- 
ordnung der Ufeberfuhrung in die offene Station znm 15. II. als schuldh&ft 
nicht angesprochen zu werden braucht. 

gez. Meyn. Romeick. Strecker. Mansfeld. 

Kress. Oegg. Gunkel. 

Das Urteil ist in der offentlichen Sitzung vom 22. 4. 1913 verkiindet und 
in das am 8. 5. 1913 ausgehangte Verzeichnis eingetragen. 

gez. Beyer, 

Gerichtsschteiber. 

Unter dem 14. 7, 1913 erging folgender Beweisbeschluss: 

I. Es soli Beweis erhoben worden 
A. auf Ansteben des Klagers 

1. daruber, dass der Klager, als er am 12. 11. 1905 seine Ehefrau 
in die Konigliche Psychiatrische und Nerrenklinik in Kiel braohte. 
dem Zeugen mitgeteilt hat, sie habe bei der Eisenbahnf&hrt nach 
Kiel zweimal versucht, aus dem Zuge zu springen; 

2. dass der Klager, als er im Jahre 1903 seine Ehefrau bei ihrer 
ersten Erkrankung der Nervenklinik zufuhrte, dem Zeugen als 
Anstaltsleiter mitgeteilt hat, dass seine Ehefrau verschiedentiich 
versucht habe, zuhause aus dem Fenster zu springen, 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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durch das Zeugnis des Prof. Dr. Siemerling in Kiel, 

3. dariiber, dass in anderen, modern eingerichteten Nemnanstalten 
Penster in vollig unauffalliger Weise angebracht sind, welche ein 
Herausspringen unmoglich machen, 

durch das Zeugnis des Anstaltsleiters Dr. Lien an in Hamburg; 

B. aufAnstehen des Beklagten 

dariiber, dass besondere Sicherungsvorkehrungen in der sog. 
offenen Station nicht getroffen, insbesondere die Fenster nicht so 
eingerichtet werden konnten, dass ein Herausschlnpfen unmog- 
lich war, weil die Kranken nioht an die Art ihrer Krankheit er« 
innert werden sollen und zur Porderung des Heilzweckes erfor- 
derlich erschien, alles Auffallige in der Umgebung der in der 
offenen Station untergebrachten Kranken zu vermeiden, dass aus 
demselben Grunde (bzw. weshalb?) davon abgesehen wurde, die 
Kranken beim Aufsuchen des Klosetts zu iiberwachen, 
durch das Zeugnis des Prof. Dr. Siemerling in Kiel. 

Bei seiner am 16. 12. 1913 stattgehabten Vernehmung gab Dr. Glasow, 
der 1905 Assistenzarzt in der Nervenklinik gewesen war, an, er konne sich 
nicht mehr darauf besinnen, was Klager damals iiber seine Frau gesagt habe. 

Dr. Lienau gab bei seiner Vernehmung am 23. 11. 1913 in Hamburg 
folgendes an: 

Meine Anstalt zerfallt in eine gesohlossene und eine offene Abteilung. 
In der geschlossenen Abteilung sind die Penster so verscblossen, dass es fur 
einen Kranken unmoglich ist, sich aus dem Penster zu stiirzen. In der offenen 
Abteilung sind dagegen irgendwelohe Sicherheitsmassregeln fur diesen Fall 
nicht getroffen. Die Fenster lassen sich leioht offnen. Soweit es sich urn Dreh- 
fenster handelt, sind die Zwischenraume zwisohen dem Drebpfosten und der 
Verkleidung der Fensteroffnungen derartig breit, dass ein Mensch ohne Muhe 
hindurchkommen kann. Die offene Abteilung macht durchaus den Eindruck 
eines Hotels. Grossere Sicherheitsmassregeln als in einem solchen sind 
nicht getroffen. Allerdings befindet sich die offene Abteilung im Hooh- 
parterre. 

In der geschlossenen Abteilung ist das grosse Mittelfenster — aus 
dickem Glas — fest verriegelt, so dass ein Oeffnen desselben unmoglich ist. 
Seitwarts befinden sich Drehflugel, die jedooh ein Hinausspringen nicht er- 
moglichen. Die Kranken empfinden jedoch sehr bald, weshalb die Fenster der¬ 
artig eingerichtet sind und regen sich dariiber auf. Deswegen werden diese 
Fenster in der offenen Abteilung vermieden. 

Zeuge Geh. Med.-Rat Siemerling gab bei seiner Vernehmung ain 
10. 1. 1914 an: Zum Beweisthema A 1 und 2 weiss ich aus eigener Erfahrqng 
nichts. Ich kann nur Bezug nehmen auf die Krankheitsgeschichte, die fur die 
in Betracht kommenden Jahre 1905 und 1903 von den damaligen Assistenz- 
arzten sehr eingehend aufgenommen worden ist. Ich uberreiche diese Krank¬ 
heitsgeschichte fur die in Betraoht kommende Zeit in beglaubigter Abschrift. 

ArohiY f. Psychifttrie. Bd. CO. Heft 2/3. 01 


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E. Siemerling, 


Als Assistenzarzt im November 1905 war Dr. Flatau tatig. Ich entsinne mich 
bezuglich des Jahres 1905 noch personlich, dass ich nicht den Eindruck hatte, 
dass die Patientin selbstmorderische Absichten hegte. 

Zur Klarstellung bebe ich hervor, dass die Krankheitsvorgeschichte nicht 
von mir, sondern von den Assistenzarzten, and zwar fur 1905 von Dr. Flat&a 
und 1903 von Dr. Glasow herriihrt. 

Zu B. des Beweisbesohlusses: Bei der Behandlang der Geisteskranken ist 
man jetzt im allgemeinen dazu iibergegangen, offene Stationen zu erriohten und 
dort die Kranken, soweit es mit ihrem Zustand vereinbar ist, unterzubringen, 
damit sie die Empfindung haben, nicht unter einem Zwange zu stehen und weii 
hieraus eine Forderung des Heilzweckes zu erwarten ist. Aus demselben 
Grunde wird auch alles Auffallige in der Umgebung der in der offenen Station 
untergebraohten Kranken vermieden. Es werden keine besonderen Sicherungs- 
vorkehrungen getroffen, insbesondere die Fenster so eingerichtet, dass sie ein- 
fach geoffnet werden konnen. Worden besondere Vorkehrungen getroffen, so 
wiirde das die Kranken angstigen und ihrer Heilung abtraglich sein. Aus dem¬ 
selben Grunde wird auch in den Anstalten, insbesondere der meiner Leitung 
unterstellten, davon abgesehen, die Kranken standig zu uberwachen, ins¬ 
besondere auch sie beim Aufsuchen des Klosetts zu uberwachen. 

Aus demselben Grunde sieht man auch davon ab, Sicherungsvorkehrungen 
an den Fenstern etwa in der Weise anzubringen, dass diese sich in horizontalar 
Lage offnen lassen. Weil namlich die Kranken misstrauisch und erkennen 
wiirden, dass die Einriohtung vom Normalen abweicht. 

Der streitige Fall hat in unserer Anstalt keine Veranlassung dazu ge- 
geben, irgendeine Aenderung in der Lage oder Einrichtung der offenen Station 
vorzunehmen. 

Unsere Anstalt ist nach dem Muster der Hallenser Anstalt gebaut. Auch 
dort ist die offene Station zum Teil im ersten Stockwerk untergebracht. Ich 
habe kein Bedenken daraus entnommen, die in gleicher Weise eingerichtete An¬ 
stalt zu ubernehmen. Dass die Gefahr eines Unfalls dadurch abgeschwacht 
wird, dass die offene Station im Parterre eingerichtet ist, versteht sioh wobl 
von selbst. Das Parterre in unserer Anstalt ist richtiger gesagt Hochparterre. 
Darunter belegen sind noch Wohnraume, in welchen Dienstpersonal unter¬ 
gebracht ist. 

Ich fuge noch hinzu, dass in England die Anstalten, wie ich mich durch 
Augenschein uberzeugt habe, gerade so eingerichtet sind, insbesondere offene 
Stationen auch im ersten Stock haben. Ebenso habe ich eine rheinische Privat- 
anstalt besichtigt, in welcher die Einrichtung dieselbe ist. Fernet ist mir be- 
kannt, dass auch offentliche Anstalten die offene Station zum Teil im ersten 
Stockwerk haben. 

Am 5. 3. 1914 erging folgender Beweisbeschluss: Die KgL Wissen- 
schaftliohe Deputation fur das Medizinalwesen in Berlin soli ersucht werden, 
mit Rucksicht auf die im Urteil des Reichsgeriohts vom 18. 3. 1913 (BI.I1I J.a) 
erhobenen Ausstellungen, insbesondere unter naherer Berucksiohtigung des In¬ 
halts der ubrigen Gutaohten, ein Gutachten daruber zu erstatten: 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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1. ob im Hinblick auf die besonderen Umstande des Falles, insbesondere 
den ans der Krankheitsgeschiobte ersichtlichen Zustand der Frau S., es als ein 
Verstoss gegen die anerkannten Grundsatze der arztlichen Wissenschaft an- 
zusehen ist, dass Prof. Dr. Siemerling am 15. 11. 1905 ihre Ueberffihrung 
in die offene Station angeordnet hat, ohne far eine besondere Beaafsichtigung 
Sorge zu tragen; 

2. ob die Beschaffenheit der offenen Station, insbesondere mit Rficksicht 
darauf, dass sie im ersten Stock eingeriohtet war and besondere Anweisangen 
far die Beobachtong und Bewaohung der Kranken nicbt getroffen waren, den 
Anfordernngen entspricht, welche an die Unterbringung einer Kranken von der 
Art der Frau S. zu stellen sind. 

Die wissenschaftliche Deputation erstattete unter dem 14.6.1914 folgendes 
Gutachten: * 

Gutachten 1 ). 

Eurer Exzellenz erstatten wir hierunter in Sachen Staatsfiskus gegen 
S. das erforderte Erganzungsgutachten fiber die Frage 

1. ob im Hinblick auf die besonderen Umst&nde des Falles ins¬ 
besondere dem aus der Krankengcschickte ersichtlichen Zustand der 
Frau S. es als ein Verstoss gegen die anerkannten Grundsatze der 
arztlichen Wissenschaft anzusehen ist, das Professor Dr. Siemerling 
am 15. 11. ibre Ueberffihrung in die offene Station angeordnet hat, 
ohne ffir besondere Beaufsichtigung zu sorgen; 

. 2. ob die Beschaffenheit der offenen Station insbesondere mit 
Rficksicht darauf, dass sie im ersten Stock eingerichtet war und 
besondere Anweisung ffir die Bewachung und Beobachtung der Kranken 
nicht getroffen waren, den Anforderungeu entspricht, welche an die 
Unterbringung von Kranken von (fer Art der Frau S. zu stellen sind. 

Wir haben uns am 12. 7. 1912 in derselben Sache gutachtlich 
dahin gefiussert, dass nach den besonderen Urns tan den und bei der Art 
der bei Frau S. voriiegenden Erkrankung, der Massnahme der Verlegung 
nach der offenen Station, obwohl der Erfolg der Erwartung nicht ent- 
spracb, nach der klinischen Erfahrung die arztliche Berechtigung nicht 
abgesprochen werden kann. 

Im einzelnen wird auf den Inhalt dieses Gutachtens verwiesen. 
Gegen die daraufhin von dem Oberlandesgericht als Berufungsinstanz 
erfolgte Abweisung der Klage wurde Revision eingelegt. Vom Reich s- 
gericht wurde die Revision ffir begrfindet erkl&rt, das Urteil des Ober- 
landesgerichtes aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung 
und Entscheidung an den I. Zivilsenat zurfickverwiesen. Die Ent- 


1) Dieses Gutachten ist veroffentlicht in Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 
5. Folge. Bd. 49. H. 2. 


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£. Siemerling, 


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scheidungsgrunde des Reichsgerichts vermissen in unserem Gutachten 
ein genfigendes Eingeben auf den In bait der fibrigen Gutachten, nament- 
licb der Gutachten des Medizinalkollegiums. Das Obergutachten lasse 
ausser acht, dass fur ein Verschulden des Eliniksleiters nach dem 
Klagvorbringen nicht nur in Betracbt komme, ob er ohne Fabrlfissigkeit 
annehmen konnte, die Ehefrau des KlSgers sei nicht mehr selbstmord- 
verd&chtig, sondem auch ob er mit der MOglichkeit eines Irrtums babe 
rechnen mussen. In den Ausffihrungen des Oberlandesgerichtes werde 
die Prfifung vermisst, ob der Leiter der Klinik, wenn er die Kranke 
nicbt mehr fur selbstmordverdachtig hielt und zu halten brauchte, nicht 
dennoch Vorsichtsmassregeln zu treffen verpflichtet war, namentlich mit 
Rficksicbt auf die behaupteten, ihm bekanhteu Mangel in der Ein- 
richtung der Villa. 

Die Feststellung, dass Professor Siemerling bei der Ueberffihruug 
der Eranken sich von der Ueberzeugung babe lei ten lassen, es bestehe 
keine Selbstmordgefahr mebr, sei nicbt zu beanstanden. Zu entscheiden 
sei aber die Frage, ob Professor Siemerling obne Verletzung der im 
Verkehr erforderlichen Sorgfalt zu jener Ueberzeugung gelangen konnte. 
Es habe doch vor allem der Vorfall in der Eisenbahn, mfige er auch 
der Erregung fiber die Fortschaffung von Hause in die Klinik eut- 
sprungen sein, ffir das Selbstmordvorhaben gesprochen. Dieser habe 
am 12. 11. stattgekabt and am 15. scbon, nachdem inzwischen stete 
Ueberwacbung in der Beobachtungsstation die Wiederholung der Aus- 
ffihrung solchen Vorhabens ausgescblossen habe, sei die Verlegung in 
die offene Station erfolgt. Das aus der Kfirze dieser Zwischenzeit sich 
ergebende Bedenken hat to das Berufungsgericht zu einer umfassenden 
Aufkl&rung bestimmen mussen. Ob die Kranke ein- oder zweimal ver- 
sucht habe, aus dem Zuge zu springen, sei selbst bei, der Auffassung 
des Obergutachtens von der Bedeutung des Vorfalles in der Eisenbahn 
nicht gleichgiltig. Der zweimalige Versuch verrate eine besondere 
Energie des Selbstvernichtungswillens. Es hatte damals der Beweis 
daffir angetreten werden sollen, dass dem Leiter der Klinik von einem 
solchen zweimaligen Versuche — wie ibn der Kl&ger behauptet — 
Mitteilung gemacht worden sei. Es sei nicht ausgeschlossen, dass so 
gut wie die Erregung fiber die Fortschaffung in die Klinik zu so 
energiscber Betfitigung des Selbstmordwiilens im Eisenbahnzuge, so die 
Erregung fiber die Festhaltung in der Klinik zum Selbstmordversuche 
dort habe ffihren kfinnen und dass die Feststellung zweimaligen Ver- 
suchs auch geeignet sein kOnnte, eine andere Auffassung auch bei der 
sachverst&ndigen Deputation zu begrfinden. Diese verwerte zwar gegen 
das Bestehen der Selbstmordgefahr die Verbringung in die gleichmfissige 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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Uragebung der Elinik — wovor sich ubrigens die Kranke auf der Eeise 
gefurchtet baben solle — und den Eintritt einer „gewissen“ Aufhellung 
des traumhaften Znstandes. Es stebe aber dahin, ob sie diesen Dm* 
st&nden gegenuber jener Selbstmordenergie dieselbe entsclieidende Be- 
deutung wiirde beigemessen baben. 

Das Obergutachten begrunde seine Verneinung der Selbstmordgefahr 
u. a. mit der Erw&gung, dass weder w&hrend der fruheren Erkrankung, 
noch w&hrend der krankhaften Zust&nde, welche die Ehefrau des Kl&gers 
zu Hause durchgemacht habe, Selbstmordabsicbten in Erscheinung 
getreten seien. 

Es h&tte deshalb von seiten des Berufnngsrichters zu der neuer- 
lichen Behauptung des Kl&gers, Frau S. habe seinerzeit bei ihrer ersten 
Erkrankung verscbiedentlich versucbt, zu Hause aus dem Fenster 24 
springen, auf Bezeichnung der Beweismittel hingewirkt werden mussen. 
In zweiter Linie stiltzt sich der Klaganspruch mit Recht darauf, dass 
die Einrichtungen der Villa mangelhaft seien. Der Anstaltsleiter habe 
mit der Mdglichkeit des Irrtums rechnen mussen. Auf diese MCglich- 
keit bin wurden, soweit es sich mit den Heilzwecken vereinigen lasse, 
die Einrichtungen der Villa mit den erforderlichen Sicherheitsvor- 
kebrungen zu versehen sein. Der Beklagte nehme die zum Teil hilf- 
losen, in ihrer Einsicht und freien Willensbestimmung beeintr&chtigten, 
oftmals nach Stimmungen und Anwandlungen unberechenbaren Eranken 
zur Bewachung und Heilung in seine Anstalt auf. Er sei dafur ver- 
antwortlich, dass sie dort gegen Gefahren fur Leben und Gesundheit, 
auch gegen die Gefahr der Selbstbescb&digung soweit gescbutzt werden, 
als die zur Erreichuug des Heilzweckes zutreffenden Massnahmen es 
zulassen. Es frage sich, warum es in der offenen Station, in der die 
Ehefrau des Klagers untergebracht wurde, an den geeigneten Sicherbeits- , 
vorkehrungen gefehlt habe. Wenn es richtig sei, dass gerade in den 
Klosetts sich am h&ufigsten Selbstmordversuche ereignen, so sei nicht 
einzusehen, weshalb die Fenster der Elosetts im Obergeschoss niche 
— etwa als Drehfenster — so eingerichtet seien, dass das Hindurcli- 
schlupfen einer Person niebt geschehen konne. Auch sei nicht ersicht- 
lich, welche Umst&nde die Anwenduug der aussersten Vorsicht, gerade 
in Ansehung der Ueberwacbung der Eranken beim Aufsuchen des 
Klosetts hinderten. Regelmassig liege die Annahme eines Verschuldens' 
vor, wenn Sicherheitsmassregeln unterbleiben, obwohl ihre Anwendung 
indglich sei. 

Nach diesen Ricbtungen bedurfe dak Parteivorbringen der eiu- 
gehenden Prufung durch das Berufungsgericht. Je nach deren Ausfali 
werde sich ergeben, ob der Beklagte selbst dann noch schadenersatz- 


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E. Siemerling, 


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pflichtig 8ei, wenn die Anordnung der Ueberfuhrung in die offene Station 
znm 15.11. als scbuldhaft nicht angesprochen zu werden brancbe. 
In dem neuen Berufungsverfahren wurde entsprechend den Entscbeidungs- 
grfinden des Reichsgerichts Beweis erhoben, 

A. 1. darfiber, dass der Kltlger, als er am 12. 11.1905 seine Ehefrau in 
die KOnigliche psycbiatrische und Nervenklinik in Kiel brachte, dem 
Zengen mitgeteilt hat, sie babe bei der Eisenbahnfabrt nach Kiel 
zweimal versucht, aus dem Zuge zu springen; 

2. dass der Kl&ger, als er im Jahre 1903 seine Ehefrau bei ihrer 
ersten Erkranknng der Nervenklinik zufiihrte, dem Zengen als Anstabs- 
leiter mitgeteilt hat, dass seine Frau verschiedentlich versucht babe, 
zu Hause aus dem Fenster zu springen; 

3. daruber, dass in andern modern eingerichteten Nervenanstalteu 
Fenster in vOliig unaufffilliger Weise angebracbt sind, welche ein 
Herausspringen unmOglich machen; 

B. daruber, dass besondere Sicheruhgsvorkebrungen in der sogeu. 
offenen Station nicbt getroffen, insbesondere die Fenster nicht so ein- 
gerichtet werden konnten, dass ein Herausschlfipfen unmOglich war, 
weil die Kranke nicht an der Art ihrer Erkrankung erinnert werden 
solle und es zur Forderung der Heilzwecke erforderlicb erschien, alles 
Auffallige in der Umgebung der in der offenen Station untergebrachten 
Kranken zu vermeiden, dass aus demselben Grande — beziehungsweise 
weshalb — davon abgeseben wurde, die Kranke beim Aufsuchen des 
Klosetts zu uberwachen. Die zu 1. und 2. vernommenen Zengen 
Dr. Glasow und Professor Siemerling konnten aus eigener Erinnerung 
fiber die neuerlichen von S. aufgestellten Behauptungen nichts angeben. 
Professor Siemerling fiberreichte die beglaubigte Abschrift der 
Krankengeschichte fiber die beiden Aufenthalte der Frau S. in der 
Klinik nebst den von dem Mano, der Mutter der Patientin und dem 
einweisenden Arzte gegebenen anamnestischen Daten. 

Diese Krankengeschichte hat uus schon bei der ersten Begutachtung 
vorgelegen. Es ergibt sich aus der nach den Angaben S. nieder- 
geschriebenen Anamnese nichts fiber einen zweimaligen Versuch aus 
dem Zuge zu springen. Der in Betracht kommende Schlusspassus der 
Anamnese des Mannes sei hier nochmals wiederholt: „Isst noch ganz 
gut. Stublgang schlecht. Keine Suizidgedanken. Unterwegs unruhig, 
Versuch aus dem Zuge herauszuspringen. Ref. meint, es seien dieselben 
Symptome, wie vor zwei Jahren, nur milder. Heute Weinen und aus- 
nehmend traurig. Behauptet, sie sei ganz gesund u . 

Was die von dem Gatten S. behauptete Su izidgeffih rlichkeit seiner 
Frau wfihrend der ersten Erkrankung im Jahre 1903 und die Mitteilung 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


959 


davon an die Aerzte der Kieler Klinik anlangt, so findet sich in dem 
ausffihrlichen Aufnahmeattest des Dr. med. H. kein Hinweis daranf. 
Er begrflndet die Aufnahmebedfirftigkeit der Frau S. lediglich damit, 
dass es zu Hause an geeigneter Pflege mangele and eine Heilung in 
einer Nervenheilanstalt mebr Erfolg verspreche. Die recht ausffibrliche 
Anamnese des Mannes, die ein anschauliches Biid von dem Verhalten 
der Kranken bei ihrer ersten Erkrankung gibt, erw&hnt, dass die 
Kranke zuweilen sehr abweisend gewesen sei, dass sie dem Mann ein- 
mal eine Tasse ans der Hand gescblagen habe, dass die N&chte meist 
sehr unrobig gewesen seien; es ist aber nirgends ein Versuch, aus dem 
Fenster zu springen, erwahnt. Es heisst vielmehr ausdrucklich, Selbst- 
mordideen hat Patientin nie gefiussert. Auch die von der Matter im 
Jahre 1903 gegebene Anamnese enth&lt nichts fiber Suizidabsichten; 
dagegen macbte sie eine im Hinblick auf die in unserem frfiheren Gut- 
acbten zum Ausdruck gebrachte Aeusserung wichtige Angabe, dass ihre 
Tochter frfiher aus geringen Anlfissen meistens infolge Aergers Anffille 
bekommen habe, in denen sie sich auf die Erde warf, mit den Hfinden 
urn sich scblug und die Umgebung scheinbar nicht kannte. 

Auch die Krankengeschichte des damaligen Aufenthaltes enthalt 
keinen Hinweis anf Suizidabsichten der Kranken. Die Patientin berichtet 
in ihrer retrospektiven Betrachtung der Erkrankungszeit w&hrend der 
Rekonvaleszenz wohl davon, dass ihr alles merkwfirdig vorgekommen 
sei, dass sie geglaubt habe, alle sollten nmgebracht werden und fihn- 
liches, aber nichts davon, dass sie selbst in irgend einer Weise Hand 
an sich habe legen wollen. 

Es sei aus der Krankengeschichte von 1903 noch bervorgehoben, 
dass die Kranke am Tage vor der Verlegung nach der Villa und auch 
nach der Verlegung noch nicbt zu einer sicheren Orientierung fiber die 
Personen ihrer Umgebung und fiber den Ort ihres Aufenthalts ge- 
iangt war. 

Zu der 3. Frage des Beweisbeschlusses fiussert sich Dr. Lienau 
als Zeuge dahin, dass seine Anstalt in eine geschlossene und eine offene 
zerfalle. In der geschlossenen Abteilung seien die Fenster so ver- 
schlossen, dass es ffir einen Kranken unmfiglicb sei, sich aus dem 
Fenster zu stfirzen. In der offenen Abteilnng seien Massregeln ffir 
dieseri Fall nicht getroffen. Die Fenster lassen sich leicht fiffnen,. die 
offene Abteilung mache durchaus den Eindruck eines Hotels. Grfissere' 
Sicherheitsmassregeln als in einem solchen seien nicht getroffen. Aller- 
dings befinde sich die offene Abteilung im Hochparterre. Drehfenster- 
flugel wfirden auf der offenen Abteilung vermieden, weil die Kranken 
bald den Zweck bemerkten und sich darfiber erregten. 


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E. Siemerling, 


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Zu B. des Beweisbeschlusses bemerkt der als Zeage vernommene 
Professor Dr. Siemerling, dass man bei der Behandlung Gemfits- 
kranker allgemein da*u ubergegangen sei, offene Stationen zu errichten, 
und die Kranken, soweit es mit ihrem Zustande vereinbar sei, dort 
unterzubringen, damit sie die Empfindung haben, nicht unter einem 
Zwange zu stebeu uud weil hieraus eine Ffirderung des Heilzweckes 
zu erwarten sei. Sicherheitsmassregeln werden aus demselben Grunde 
vermieden, auch von einer Ueberwachung beim Aufsucben des Klosetts 
werde abgesehen. Es solle in der offenen Abteilung vermieden werden, 
dass die Kranken misstrauisch und angstlicb gemacht wfirden. Dass 
die offene Abteilung im ersten Stock untergebracht sei, teile sie mit 
anderen Offentlichen und privaten Anstalten. 

Gutach ten. 

Zu Frage 1. Die vom Berufungsgericht anges tell ten neuen Er- 
hebungen haben die in Beweis gestellte Behauptung, dass die Frau S. 
auf der Fahrt nach Kiel zweimal versucbt habe, aus dem Zuge zu 
springen, dass vor der ersten Erkrankung die Kranke mehrmals aus dem 
Fenster zu springen versucht habe, nicht bestatigt. 

Was zun&chst die Krankengeschichte der Klinik uber die erste Er¬ 
krankung anlangt, so enthfilt der Teil, welcher die Angaben des Kl&gers, 
der Mutter der Patientin und des eiuweisenden Arztes wiedergibt, unter 
den zahlreichen Einzelheiten, die er bringt, nichts von den Versuchen, 
aus dem Fenster zu springen oder anderen ahnlich zu bewcrtenden Vor- 
gfingen. Die Notiz „Selbstmordideen hat Patientin nie geaussert“ spricht 
mit grosser Wabrscheinlichkeit daffir, dass in dieser Kichtung gefragt 
worden ist, und es ist bei der im fibrigen sach vers tan dig und eingeheod 
aufgenommenen Anamnese anzunehmen, dass, wenn so wichtige Punkte, 
wie Selbstmordversuche durch Sturz aus dem Fenster erw&hnt worden 
wfiren, diese aucb zur Registrierung gekommen waren. 

Wie die Anamnese, so enthalt auch die Krankengeschichte des ersten 
Aufenthaltes keiuen Hinweis auf Selbstbeschfidigungsversuche oder auf 
Selbstmordabsichten der Kranken. 

Auch die katamnestischenAngaben der Patientin in derRekonvaleszenz 
enthalten nichts davon, dass sie suizidale Gedanken w&hrend der Er¬ 
krankung gehabt hatte. 

Bemerkenswert ist, dass der psych ische Zustand der Kranken auch 
zur Zeit der damaligen Verlegung auf die offene Villa noch keineswegs 
vdllig frei war, da sie noch nicht zu einer sicheren Orientierung fiber 
Ort und Person gelangt war. 

Die eigentliche Rekonvaleszenz stellte sich damals, wie wir schon 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


961 


in unserom fruheren Gutachten ausgefuhrt haben, im Anschluss an die 
Verlegung und den Besuch des Mannes ein. Auch fur die zweite auf- 
gestellte Behauptung, dass die Frau S. auf der Fahrt zweimal versucht 
babe, aus dem Zuge zu springen, 1st durch die Vernehmung kein Beweis 
erbracht worden. Die den Bericlit des KlSgers wiedergebende Anamnese 
entha.lt wieder die Notiz, dass zu Hause keine Suizidideen geSussert 
worden sind, dass die Kranke nnterwegs unruhig geworden sei und aus 
dem Zug herauszuspringen versucht habe; ein zweimaliger Versuch wild 
nicht erw&bnt. Der Tenor der Anamnese, die wohl wie ublich die 
Aensserungen des Referenten chronologisch wiedergibt und direkt binter 
„uuterwegs unruhig, Versuch aus dem Zuge zu springen“ fortf&hrt, 
„Ref. meint, es seien dieselben Symptome wie vor zwei Jahren, nur 
milder 14 , scheint darauf hinzuweisen, dass der KlSger damals bei der 
Angabe der Anamnese diesem Vorfall eine weniger erhebliche Bedeutung 
beigelegt hat, als spater. 

Fur den Leiter der Klinik lag die Beurteilung des Zustandes der 
Frau S. zur Zeit der Verlegung in die Villa also unter Zugrundelegung 
der Krankengescbichte folgendermassen: Bs war ihm bekannt, dass 
Frau S. unter ganz Shnlichen Erscheinungen zwei Jahre zuvor erkrankt, 
von dieser Erkrankung auf der offenen Villa genesen war, nachdem sie 
zuvor etwa 11—12 Tage auf der Wachstation seiner Klinik gelegen 
hatte. Die Genesung war damals sehr schnell anschliessend an die 
Verlegung und den Besuch des Mannes eingetreten. Suizidale Tendenzen 
hatten damals keine Rolle gespielt. Auch in der Zwischenzeit hatten 
bei den leichteren Anfalien trauriger Verstimmung zu Hause keine 
Selbstmordtendenzen bestanden, ebensowenig im Beginn der zweiten 
Erkrankung. Nach der Schilderung war das Bild zur Zeit der zweiten 
Erkrankung im wesentliclien dasselbe wie damals. Es bestand fur ihu, 
als die Kranke um Verlegung nach der Villa bat, die Frage: 1st nach 
dem Bericht des Mannes, dass die Frau unterwegs auf der Fahrt nach 
Kiel aus dem Zuge springen wollte, ein l&nger dauerndes Bleiben auf 
der Wachstation erforderlich wegen der darin zum Ausdruck kommenden 
Selbstmordtendenz? oder war er berechtigt, den bei der Kraokeu be- 
w&hrten Heilfaktor der Verlegung nach der offenen Villa schon jetzt 
eintreten zu lassen? Zu dieser Frage ist zun&chst folgeudes zu sagen. 
Wir haben schon in unserem fruheren Gutachten darauf hingewiesen, 
dass es sich bei der Erkrankung der Frau S. nicht um ein Schulbild 
der Melancholie gehandelt hat und dass die Beweisfuhrung des Kreis- 
physikus Dr. Erman nicht als zwingend erachtet werden kann, der 
eine Bewachung der Krankeu, beziehungsweise ein Verbleiben in einern 
gesicherten Raum als notwendig erachtete, 1. weil ein unvermuteter 


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962 B. Siemerling, 

Selbstmordversuch bei derartigen Kranken immer in der Mbglichkeit 
liege und 2. im besonderen bei Frau S., weil sie kurz zuvor, n&mlich 
am 12. 11. bereits den Vereuch gemacht babe, aus dem fahrenden 
Eisenbahnzug zu springen. 

Demgegenuber ist auf die Tatsache, die jedem psycbiatrisch Er- 
fahrenen bekaunt ist, hinzuweisen, dass die Mehrzahl melancholiscber 
Depressionen und zwar aucb solcher mit Suizidideen de facto in offenen 
Sanatorien bebandelt wird, und dass es in sebr vielen Fallen eine 
erbebliche Scb&digung des Gesundheitszustandes bedeuten wurde, wenn 
solche besonnenen depressiv Erkrankten einer geschlossenen Anstalt 
uberwiesen wurden. Ein Schematismus derart, dass jeder depressiv 
Erkrankte, der gelegentlich Suizidideen hat, sofort scharf uberwacht 
oder einer geschlossenen Anstalt uberwiesen werden musste, wurde 
therapeutisch verfehlt und eine undurchfuhrbare Grausamkeit sein. Es 
ist Sache der sachverst&ndigen Beurteilung, im Einzelfall die Suizid- 
gefahr und die Notwendigkeit der Behandlung in der geschlossenen 
Anstalt abzusch&tzen. Auch die Tatsache, dass eine Kranke einige Tage 
zuvor einen Yersuch aus dem fahrenden Eisenbahnzug zu springen ge¬ 
macht, erlaubt an sich nicht bierin ohne weiteres den Ausdruck be- 
wusster und dauernder Selbstmordabsicht zu sehen und die Frage von 
vornherein im Sinne der Notwendigkeit entsprechender Ueberwachung 
zu beantworten. Der Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung ist 
eine von den Angehdrigen, wie von den urteilsfehigen Patienten so 
schwer empfundene Massnahme, dass der Klinikleiter schon aus diesen 
Grunden zu der sorgf&Itigsten Prufung der Notwendigkeit des Aufenthalts 
verpflichtet ist. Es ware psycbiatrisch als ein oberflachliches Yorgehen 
zu verurteilen, lediglich deshalb, weil vor drei Tagen unter ausserlich 
wesentlich anders liegenden Umstanden ein vielleicbt als Selbstmord¬ 
absicht aufzufassender Yorfall sich abgespielt hat, sich dieser Prufung 
zu entzieben. — Wir haben in unserem fruheren Gutachten schon darauf 
hingewiesen, dass bei Frau S. die Yerhaltnisse tats&chlich insofern 
besonders lagen, und eine solche Prufung besonders nahelegten, weil 
eine psychogene hysterische Komponente in dem Krankbeitsbilde un- 
verkennbar ist. Dieser hysterische Einschlag ergibt sich aus der schon 
in unserem fruheren Gutachten erwahnten Neigung der Patientin, auf 
affektive Erlebnisse, z. B. einen Wortwechsel mit dem Bruder, mit 
ohnmachtsartigen Anfallen und Delirien zu reagieren. Es ergibt sich 
weiter aus der Angabe der Mutter der Frau S., dass die Patientin aus 
geringen Anlassen infolge Aergers AnfSlle bekam, in denen sie sich zur 
Erde warf, urn sich schlug, die Umgebnng nicht zu kennen schien, dabei 
aber hOrte, was gesprochen wurde. Weiter spricht fflr einen solchen 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


963 


hysterischen Einschlag die eigenartige traumbafte Benommenbeit, wie 
die ausgesprocbene Beeinflussbarkeit der Kranken wSLhrend ihrer beiden 
Depressionszust&nde. Die Aufhellong der ersten in der Kieler Klinik 
durchgemachten Erkrankung schliesst sich an die Verlegung nach der 
Villa and an den Besuch des Mannes an; bei dem Ausbruch der ersten 
Erkrankung, wie auch bei der zweiten, sind affektive Momente, Besuch 
einer Verwandten, Abreise der Mutter von Einfluss auf die Gestaltung 
der Erkrankung. 

Das Vorhandensein eines solchen hysterischen Temperamentes ist 
fur die praktiscbe Beurteilung des Falles in dreifacher Hinsicbt wichtig. 

1. lag darin fur den behandelnden Arzt ein Hinweis fur die Beurteilung 
der Affektintensitat der Depression. Der hysterische Affekt pflegt, wie 
sich eben aus der Beeinflussbarkeit durch aussere Umst&nde ergibt, kein 
nachhaltiger und kein sebr tiefgehender zu sein. Die Suizidgefahr 
spielt bier erfahrungsgemass eine gauz untergeordnete Rolle, ja es kann 
sogar therapeutisch geboten sein, Suizidausserungen zu ignorieren. 

2. Das Vorhandensein hysterischer Symptoms konnte mit Recht zu der 
Auffassung fubren, wie wir in unserem Gutachten schon ausfuhrten, in 
dem Versuch aus dem Zuge zu springen, eine psychogene paroxysmale 
Steigerung zu sehen, der fur die Dauerbeurteilung des Falles keine 
wesentliche Bedeutung zukam. 3. machte es das Vorliegen hysterischer 
Symptome und der Nachweis der Abhangigkeit der Intensitat der 
Rrankheitserscheinungen von der Umgebung dem Arzte besonders zur 
Pflicht, einer in dieser Hinsicht gunstigen Gestaltung der ausseren Um¬ 
gebung seine Aufmerksamkeit zu widmen. 

Die Beriicksichtigung dieser drei Punkte konnte unseres Erachtens 
den Kiinikleiter bei Erwagung der Verlegungsfrage mit Recht zu der 
Entscheidung bringen, die Verlegung nach der offenen Station vorzu- 
nehmen, umsomehr, als er bei der ersten Erkrankung den therapeutisch 
gunstigen Einfluss beobachtet batte. Eine Suizidgefahr hielt er nieht 
fur vorliegend, da er berechtigt war, in dem Vorfall im Zug eine 
paroxysmale hysteTische Affektreaktion auf die mit der Verlegung nach 
der Klinik verbundene Erregung zu erblicken, und weil der Verlauf 
der frilheren Erkrankung und der in der Zwischenzeit sich abspielenden 
leichten psychiscben StOrungen keine Anhaltspunkte fur Suizidneigung 
bo ten. Das sich aus der Kurze der Zwischenzeit zwischen dem Vorfall 
auf der Reise und der Verlegung ergebende Bedenken, auf das die 
Reichsgericbtsentscheidung hinweist, braucbt fur den Kiinikleiter nicht 
zwingend zu sein. Er konnte sich auf die Kenntnis des fruheren Vert 
laufes, seine damaligen, wie der Erfolg zeigte, zutreffende Beurteilung 
des Falles und auf die anerkannte klinische Erfahrung beziehen, dass 


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E. Siemerling, 


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im allgetneinen derartige hysterisch-depressive Erkrankungen in ihrem 
Grundcharakter bei wiederholtem Auftreten sich nicbt Andern, wenigstens 
nicht in der Altersphase, in der sich die Kranke befand. 

Gegenuber dem weiteren Einwand des Reichsgerichts, der Rlinik- 
leiter hatte sich sagen mussen, dass ebenso wie die Erregung iiber die 
Fortschaffung in die Klinik, auch die Festhaltung in der Rlinik sum 
Selbstmord fuhren konnte, ist zu bemerken, dass das Yerhalten der 
Kranken in der Rlinik zu einer solchen Auffassung keine Veranlassung 
gab. Es unterschied sich symptomatologisch nicht von dem Verhalten 
bei der fruheren Erkrankung. Auch ist fur die Auffassung des Klinik- 
leiters auf die Erfahrung zu verweisen, dass ganz ausserordentlich haufig 
gerade bei solchen hysterisch-psychopathisch veranlagten Individuen mit 
der Vollendung der Einlieferung in die Rlinik die vorher bestehende 
Angst und Abwehrreaktion schnell abklingt. Es ist deshalb auch kein 
Widerspruch, wie die Reichsgerichtsentsoheidung zu glauben scheint, 
wenn in unserem Gutachteu von einera beruhigenden Einfluss des Auf- 
enthalts in der Klinik die Rede ist, obwobl sich die Rranke auf der 
Reise gerade vor der Verbringung dahin gefurchtet haben sollte. In 
unserem friiberen Gutachten habeu wir fur die Berechtigung des Klinik- 
leiters zu seiner Massnahme noch den F-intritt einer gewissen Aufhelluug 
des traumhaften Zustandes angefuhrt. Weun in der Rritik der Reichs- 
gerichtsentscheidnng, dass das Wort „gewissen u in Anfuhrungszeichen 
gesetzt wird, zum Ausdruck gebracht werden soil, dass es eben doch 
noch keine vollstandige Aufhelluug gewesen ist, so sei darauf hinge- 
wiesen, dass auch bei der ersten Verlegung auf die Villa die Orien- 
tierung der Kranken nocb beirrt war, und dass diese mit der hysteri- 
* schen Grundverfassung in Zusammenhang stehende Bewusstseinstrubung 
gerade ein Symptom war, dessen Beseitigung durch die von der Patientin 
gewunschtc Verleguug auf die Villa mit Recht erwartet werden konnte. 

Zu der Frage, ob der Leiter der Klinik, auch wenn er die Rranke 
nicht mehr fur selbstmordverdachtig bielt und nicht mehr zu halten 
brauchte, nicht dennoch Vorsichtsmassregein zu treffen verpflichtet war, 
ist folgendes zu sagen. 

Da Prof. Siemerling nach seiner Aussage die Kranke nicht mehr 
fur selbstmord verd&chtig hielt und unseres Erachtens nach Lage der 
ihm zur Verfugung stehenden Daten berechtigt war, sie nicht mehr fur 
selbstmordverdachtig zu halten, so lasst sich die Frage dahin formu- 
lieren, ob er befugt war, die Mbglichkeit eines Irrtums fur so unwahr- 
scheinlich zu halten, dass er bei Verlegnng auf die offene Station auf 
Sicherheitsmassregeln verzichten durfte. Von dem Medizinalkollegium 
ist diese Frage verneint worden im Hinblick auf die VorgJUige vor der 


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Beitrag zur Verantwortlicbkeit des Irrenarztes. 


965 


Aufnahme, auf die erst dreit&gige Beobachtung, die am 15. jioch vor- 
handene depressive Stimmaog und den nocb bestehenden Mangel an 
naturlichem Schlaf. Das Medizinalkol legium l&sst dabei ausser Be- 
tracht, dass fur den klinischen Direktor zu der dreitagigen Beobachtung 
die Kenntnis der fruheren Erkrankung und das ihm bekannt gewordene 
Verhalten der Patientin in der Zwischenzeit binzukam, und beachtet 
weiterhin uberhaupt nicht die hysterische Komponente in dem Zustands- 
bilde der Kranken. Gerade diese Komponente liess eine andere Beur- 
teilung der depressiven Stimmung und der Schlafstflrung zu und be- 
rechtigte den Prof. Siemerling ans den mehrfach angefubrten Grunden, 
den depressiven Symptomenkomplex den ubrigen Bebandlung er- 
fordernden krankhaften Erscheinungen unterzuordnen. Er durfte des- 
halb die Mdglichkeit eines Irrtums fur sehr gering balten. Mit einer 
gewissen Mdglichkeit des Irrtums fiber den psychiscben Zustand ist a tier 
bei der Unzul&nglichkeit menschlicher Erkenntnis selbstverstandlich 
immer zu rcchnen. Es kann aber nicht die Aufgabe sein, dieses Be- 
wnsstsein der Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnis an die Spitze 
der arztlichen Massnahmen zu stellen. Ein erfolgreiches arztliches* 
Handein ist in manchen Fallen in der Psychiatrie ebensowenig ohne ein 
gewisses Wagnis denkbar wie in der Cbirurgie. Die Mdglichkeit eines 
Irrtums in der Beurteilung der Selbstmordgefahr muss unter Umstandeu 
zuruckgestellt werden durfen gegenuber den Erwartungen, die in thera- 
peutischer Hinsicht von einer arztlichen Massnabme gehegt werden. 
Gerade bei Erkrankungen, bei denen psychische Einflusse fur den Ver- 
lauf einschneidende Bedeutung haben, also uberall wo hysterische und 
andere psychogene Einschlage vorhanden sind, stellt die Behandlung 
nicht selten den Klinikleiter vor ein gewisses Risiko. Der ungunstige 
Einfluss, den der Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung oder uber¬ 
haupt das Bewusstsein einer besonderen Ueberwachting auf die Erkran¬ 
kung ausuben kann, kann fur den Arzt die Ndtigung erhalten, fruh- 
zeitiger, als er sonst vielleicht tate, die Verlegung auf die offene un- 
uberwachte Abteilung vorzunehmen. Es unterliegt keinem Zweifel, 
dass eine solche Eutscbeidung nur von einem Psychiater, dem eine 
grosse Erfahrung auf dem Spezialgebiet zur Seite steht, getroffen werden 
kann. Es ist deshalb mit Recht fiblich, dass in den psychiatrischen 
Kliniken die Verlegung von der geschlossenen nach der offenen Ab¬ 
teilung nur von dem Direktor selbst oder dem Oberarzt in seiner Ver- 
tretung angeordnet wird. Dieser Forderung ist hier entsprochen worden. 
Der Direktor selbst bat die Verlegung angeordnet, wie die Zeugenaus- 
sagen ergeben. Es muss darauf hingewiesen werden, dass es einen 
(Jnterschied bedeutet, ob ein in jahrzehntelanger spezialistischer Erfah- 


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E. Siemerling, 


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rang erprobter Kliuikleiter eine solche Anordnung trifft oder ein Arzt 
mit geringer Spezialerfahrung. Dem ersteren wird, wenn Fahrl&ssigkeit 
auszuschl lessen ist — and diese darf nach der sorgf&ltigen Fuhrung 
der Krankengeschichte hier ausgeschlossen werden — eine Berncksichti- 
gung von vielfaltigen Erfabrungen von vornherein zuzuerkennen sein, 
welche dem weniger Sachverstandigen abgeben. Es liegt hier nicht 
anders als in der Chirurgie. Eine misslungene Operation, die von der 
Hand eines Fachchirurgen ausgefuhrt, berechtigt sein kann, kann, wenn 
vou einem nicht oder weniger Sachverstandigen ausgefuhrt ein Ver- 
scbulden bedeuten, wenn der Operateur sich sagen musste, dass die 
technischen Anforderungen fiber seine Erfabrungen hinausgehen. 

' Im vorliegenden Falle durfte der Direktor der Rlinik auf Grand 
der Spezialkenntnis des Fades und der langj&hrigen kliniscben Er- 
fahrang, die ihm in der Behandlung soicher Falle zur Seite stand, die 
Mfiglichkeit eines Irrtams hirisichtlich der Selbstmordgefahr far so 
geringffigig halten gegenfiber den Vorteilen, die er von der offenen Be¬ 
handlung erwartete, dass er sie vernachlfissigen durfte. Die Anordnung 
einer Sonderbewachung auf der offenen Station wfirde gerade den Heil- 
erfolg, der bei der von psychogeneu Einflfissen abhfingigen Kranken 
durch die Verlegung auf die offene Station erzielt werden sollte, in 
Zweifel gesetzt haben. Der Kliuikleiter durfte sich bei seiner Beur- 
teilung des Falles mit der Beaufsichtigung begnfigen, wie sie auf einer 
solchen Station durch das Zusammenliegen mit einer anderen Kranken, 
durch das auf der Station vorhandene Pflegepersonal und die firztlichen 
Besuche gegeben ist. 

2. Die Frage, ob die Beschaffenheit der offenen Station, mit Ruck- 
sicht darauf, dass sie im ersten Stock eingerichtet war und besondeny 
Anweisungen fur die Bewachung und Beobachtung der Kranken nicht 
getroffen wurden, den Anforderaugen entspricht, welche an die Unter- 
briugung von Kranken von der Art der Frau S. zu stellen sind, 1st 
dahin zu beantworten, dass die offene Station zur Behandlung selbst- 
mordverdfichtiger Kranker an sich fiberhaupt nicht in Betracht kommen 
soil. Es ist darin der Aeusserung des Prof. Siemerling, wie wir schon 
in uuserem frfiheren Gutacliten sagten, zuzustimmen, dass er, wenn er 
bei der Kranken mit der Mfiglichkeit eines Suizids hfitte rechnen mfissen, 
sie fiberhaupt nicht auf die offene Station legen durfte. Weil wir diese 
Ansicht vertreten, lag ffir uns kein Grand vor, in eine Prufung der 
vom Medizinalkollegium diskutierten Frage einzutreten, ob das Warte- 
personal und die Sicherungsvorrichtungen eine ausreichende Ueber- 
wachung der offenen Station gewahrleisteten. Die Grfinde, aus denen 
Professor Siemerling mit der Mfiglichkeit eines Suizids uud eines 


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Beitrag zur Verantvortlichkeit des Irrenarztes. 967 

Irrtums seiner Beurteilung nicht zu rechnen brauchte, sind oben dar- 
gelegt. 

Die Frage, ob lediglich auf die allgemeine Mfiglichkeit bin, dass 
Irrtfimer in der Beurteilung der Suizidgeffihrlichkeit von Kranken mfig- 
lich sind, die Ginrichtung der offenen Station rait Sicberungsvorkeh- 
rungen zu versehen seien, ist in Betracbtung der Heilzwecke der offenen 
Station zu verneinen. Die Grfindung offener Stationen an psycbiatrischen 
Kliniken und Heilanstalten ist ein notwendiges Ergebnis der therapeuti- 
schen Grfahrungen fiber die Bedeutung der Zwangsmassregeln in der 
Bebandlung psychischer Erkrankungen. Es kann als ein durch die Er- 
fahrungen des letzten Jahrhunderts gesicherter Satz gelten, dass mit 
der zunehmenden Beseitigung der Zwangsmassregeln aus der Tberapie 
der Geisteskrankkeiten die Heilerfolge binsichtlich der Heilung und 
Sozialisierung Geisteskranker besser geworden sind. Es bat sick not- 
wendig erwiesen, in einzelnen Fallen von psychischer Erkranknng von 
einer geschlossenen Behandlung im Interesse der Heilung fiberbaupt 
abzusehen. Es gibt Eranke, bei denen unter dem Einfluss der ge¬ 
schlossenen Behandlung und dauernden Ueberwachung die Neigung zu 
Fluchtversuchen, zu Selbstbesck&digungen und Suizidversuchen geradezu 
hervorgerufen wird. Weiterbin gibt es eine grosse Anzabl psychischer 
Erkrankungszust&nde, fur welche zwar eine psychiatrische Behandlung 
geboten, aber der Aufentbalt in der geschlossenen Anstalt nicbt er- 
forderlich, ja unter UmstSndeu als direkt schadlich kontraindiziert ist. 
Es gehfirt hierher die grosse Zahl der sogenannteu Grenzzustfinde, 
Zwangsneurosen, leichte manisch-depressive Zustfinde, hysterische und 
andere psychopathische Konstitutioneu. Bei alien solchen Kranken ist 
unter Umstfinden mit dem episodischen Auftreten ausgesprochener 
psychischer Stfirungen zu rechnen. Die Mebrzabl dieser Kranken wfirde 
ebenso wie ihre Angehfirigen zur Einleitung der notwendigen Behandlung 
sich nicht bestimmen lassen, wenn jiur die geschlossene Abteilung fur 
die Behandlung in Betracht kfime. 

Die offenen Stationen haben sich auch als notwendig erwiesen ffir 
manche in der Rekonvaleszenz befiudliche psychische Kranke. Gerade 
ibre Behandlung zeigt h&ufig den Wert der offenen Station augenf&Uig, 
wenn eine Rekonvaleszenz, die unter dem Einfluss des geschlossenen 
Regimes nicht vorwarts gehen will, durob Verlegung auf die offebe 
Station rascbe Fortschritte macht. 

Bei dem ausseren Ausbau der offenen Stationen ist, auch das hat 
die Erfahrung gelehrt, an die Spitze zu stellen die grosse Empfindlichkeit 
des Publikums gegen alles, was nach Freiheitsbeschrfinkung oder Geistes- 
krankenbehandlung aussieht. Gerade bei den bier in Betracht kommenden 


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E. Siemerling, 


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Kranken und hftnfig aacli bei ihren Angehorigeu pflegt aus psycho- 
logisch einleuchtendea Grunden diese Empfindlichkoit besonders stark 
entwickelt zu sein. Nur eine den gewobnten and natfirlichen Wobn- 
verh&ltnissen entsprechende Unterbringung ist geeignet, gesundheits- 
9chSdigende Erregungen zu vermeiden und die therapeutischen Inter- 
essen zu f5rdern. Es ist deshalb allerorten, wo offene Stationen ein- 
gerichtet sind, mit Recht da von abgesehen worden, Tur- und Fenster- 
verschlusse mit besonderer Sicberung und offene nicht verschliessbare 
Klosettraume anzulegen. 

Es ist kein Zweifel, dass durch die Einrichtung der offenen Stationen 
fur die Aerzte eine orhebliche Erschwerung und eine Vermehrung der 
Verautwortlichkeit erwachsen ist gegenfiber der Zeit, wo man die 
psychiscb Kranken mehr oder weniger wahllos auf der geschlossenen 
Abteilung hielt. Der Arzt muss cine sehr viel eingehendere Kenntnis 
der einzelnen Patienten habeu, um ein Urteil fiber die Verlegungsfahig- 
keit zu haben. Dass diese Notigung zu cingebender Kenntnisnahme 
von dem Geisteszustande rfickwirkend von gunstigem Einfiuss ffir die 
therapeutischen Massnahmen ist, ist selbstverstfindlich. Tatsfichlicb ist 
keineswegs etwa eine Zunahme der Selbstmorde oder Selbstmordversucbe 
in den mit solchen offenen Abteilungen versehenen Heilanstalten zu 
verzeichnen. Es wfirde sonst nicht die Ansicht aller sachverstandigen 
Kreise einheitlich dabin gehen, dass eine Beibehaltung der offenen 
Stationen unbedingtes ■ Erforderuis einer sachgemassen psychiatrischen 
Therapie ist. 

Die Erfahrung, dass eine Zunahme der Selbstmorde in den psychi¬ 
atrischen' Kliniken und von Psychiatern geleiteten Anstalten trotz der 
freien Bebandlung nicbt zu verzeichnen ist, ist wichtig im Hinblick auf 
die in Laienkreisen und auch in der Reichsgerichtsbegrfiudung znm 
Ausdruck kommende Anschauung von der Unbercchenbarkeit psychischer 
Kranker. Gewiss kommen bei Geisteskranken auch dem Psychiater 
unerwartetc Stimmuugsschwankungen, unberechnete lmpulsivhandlungeu 
vor, — der vorliegende Fall ist ja gerade ein Beispiel daffir — aber 
es ist durchaus die Regel, dass die psych iatriscbe Erfahrung und die 
Analyse der im Einzelfall vorliegenden Krankheitssymptome die Vcr- 
laufsprognose, soweit die Frage, ob offene oder geschlossene Bebandlung 
indiziert ist, in Betracht kommt, richtig stellen lfisst. Die Unberechen- 
barkeit der psychiscb Kranken ist mit dem zunehmenden Fortschreiten 
der Kenntnis der Klinik der Geisteskranken geringer geworden, und sic 
ist — das zeigen die Erfabrungen — zur Zeit keineswegs so erheblich. 
dass die Behandlung in offenen Abteilungen als verfrflhter und gefSbr- 
licher Versuch zu bezeichnen wfire. Es wfire im Interesse der weiteren 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 969 

Entwicklung der psycbiatrischen Therapie bedauerlicb, wenn vereinzelte 
ans der Unvollkommenheit menschlicber Erkenntnis hervorgegangene 
Dnglficksfalle dazu ffihren wfirden, eine erprobte Behandlungsweise durch 
eine den tatsfich lichen Verh&ltnissen nicbt gerecht werdende Prononzierung 
des Sicberheitsstandpunktes gegenuber'dem Heilzweck zn behindern. 

Es ist auch gegenuber dem Bedenken, dass die offene Abteilung 
im ersten Stock eingerichtet ist, dass das Klosettfenster wenigstens 
hatte so eingerichtet werden sollen, dass ein Durchschlfipfen einer 
Person hatte verhindert werden kOnnen, der Standponkt der klinischen 
Erfahrnng geltend zu machen, dass wirkliche Sicherungsmassrcgeln auf 
die offene Abteilung nicbt gehfiren, weil diese sonst ihren Zweck ver- 
fehlt and dass halbe Sicherungen nicbts nfitzen. Wird tats&chlich in- 
folge eines arztlichen Irrtums oder einer Fabrlassigkeit ein suizidgef&hr- 
licber Eranker auf die offene Station verlegt, so kann er sicb beim 
Sprang ans dem offenen Parterrefenster allerdings weniger leicht eine 
schwere Scbadiguug zuffigen, als wenn er aus dem ersten Stock heraus- 
springt, aber er wird andererseits auf der offenen Abteilung zahlreiche 
andere Moglicbkeiten, sein Leben zu gefahrden, linden. Dasselbe gilt 
▼on dem Klosettfenster. Ist das Fenster verschlossen, so bleibt dem 
Kranken, indem ihm der Impuls erwacht, die Erhangungsmoglichkeit 
im Elosett, es bleiben ibm die vielen nicht verschlossenen Fenster und 
yieles andere. 

Halbe Sicherungen baben, abgesehen davon, dass sie leicht den 
notwendigen Eindruck der freien Behandlung wieder zerstoren kOnnen, 
erfahrungsgemass das Bedenken, dass sie geeignet sind, falscben Vor- 
stellungen fiber die Selbstmordsicberung auf einer gewissen Laxbeit in 
der Auswabl der ffir die offene Station geeigneten Kranken Raum zu 
geben, wfihrend es gerade von besonderer Wichtigkeit ist, dass ffir den 
Arzt bei der Auswabl der Kranken keine Onklarheit darfiber besteht, 
dass durch die baulichen Verhfiltnisse der offenen Station eine Sicherung 
gegen Selbstmord oder Selbstbeschadigung nicht gegeben ist und nicht 
gegeben sein soli. 

Wir geben deshalb unser Obergutachten dahin ab, 

1. dass es im Hinblick auf die besonderen Umstande des Falles, 
insbesondere den aus der Krankengeschichte ersichtlichen Zustand der 
Frau S. nicbt als Verstoss gegen die anerkannten Grandsatze der 
firztlichen Wissenschaft anzusehen ist, dass Professor Dr. Siemerling 
am 15. November ihre Ueberffihrung in die offene Station angeordnet 
hat, ohne ffir besondere Beaufsichtigung zu sorgen, 

. 2. dass die Beschaffenheit der offenen Station auch im Hinblick 
darauf, dass sie im ersten Stock eingerichtet ist und besondere An- 

ArehiY f. Psychiatric. Bd. 60. Heft 2/3. 02 


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E. Siemerling, 


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weisungen fiir die Bewachiing nicht getroffen waren, den Anforderungen 
entspricht, welche an die Unterbringung von Kranken von der Art, wie 
sie der kliniscbe Direktor — allerdings irrtumlich — bei der Fran S. 
als vorliegend erachten durfte, zu stellen Bind. 

gez. Kirchner, Rubner, Moeli, Orth, Kraus, Bumm, Bier, 
Heffter, Dr. Saenger, Krohne, Strassmann, Bonhoeffer, 
Ilildebrand, Loeffler. 

Am 29. 10. 1914 wurde folgendes Drteil verkundet: 

Im Namen des KOnigs! 

In Sachen des Kbuigiich Preussiscben Staatsfiskus, vertreten durcb 
den Kurator der Universit&t Kiel, 

Beklagten und Berufungskl&gers, 

— ProzessbevollmSchtigte: Justizrat Dr. Abraham und Dr. Kohler 

. in Kiel — 
gegen den 

Redakteur E. S. in I. 

KlSLger und Beruiungsbeklagten, 

— Prozessbevollmachtigter: Rechtsanwalt Dr. Stahmer in Kiel — 

wegen Schadenersatzes 

hat der erste Zivilsenat des Kdniglicben Oberlandesgerichts in Kiel auf 
die mundliche Verhandlung vom 22.10. 1914 unter Mitwirkung des 
Oberlandesgerichtspr&sidenten Wirklichen Geheimen Oberjustizrat* 
Kirchner und der OberlandesgerichtsrSte Luders, LOhmann, Dr. 
Kirschstein, Dr. Bruck fur Recht erkannt: 

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil der zweiten Zivil- 
kammer des Kbniglichen Landgerichts in Kiel vom 23. 2. 1910 dahin 
abge&ndert: 

Der Kl&ger wird mit der erbobenen Klage abgewiesen und verur- 
teilt, die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. 

Dies Urteil ist vorl&ufig vollstreckbar, jedoch wird .dem Kl&ger 
nacbgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung von 
1200 M. — eintausendzweihundert Mark — abzuwenden. 

Tatbestand. 

Die Ehefrau des Kl&gers wurde am 12. 11. 1905, weil sie voruber- 
gehend geisteskrank war, in die KOnigliche Psychiatrische Nervenklinik 
der Universit&t Kiel gebracht, wo sie bereits im Jabre 1903 behandelt 
war. Sie hat hier am 16. 11. 1905 morgens einen Selbstmordversuch 
gemacht, indem sie sich aus dem Fenster des Klosetts auf der im 
ersten Stockwerk der sogenannten Villa befindlichen offenen Station 


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Beitrag zur Yerantwortlichkeit des Irrenarztes. 


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fainausatfirzte, wodurch sie schwere Verletzungen sich zuzog. Der Ehe- 
mann der Yerletzten nimmt den Preussischen Staatsfiskus fur die Folgen 
der entstandenen Verletzung in Ansprach, indem er behauptet, es liege 
■ein Verschulden des Anstaltsleiters, des Geh. Med.-Rats Prof. Dr.Siemer- 
ling vor, der die Kranke nicht habe auf die offene Station legen dfirfen, 
und es liege eine mangelhafte Einrichtung dieser zum Aufenthalt von 
Geisteskranken bestimmten Rfiumlichkeiten vor, insbesondere indem nicht 
einmal im Klosett die Fenster so eingerichtet seien, dass ein Hinaus- 
stfirzen unmOglich sei. 

In erster Instanz ist die Klage dem Grande nach fur berechtigt 
erklart worden. Gegen dies am 23. 3. 1910 zngestellte Drteil ist durch 
einen am 16. 4. 1910 beim Oberlandesgericht eingereichten Schriftsatz 
Berufung eingelegt. Hierauf ist in der zweiten Instanz in Abfinderung 
des angefochtenen Urteils die Klage abgewiesen worden, dieses Urteil 
ist aber im Wege der Revision vom Reicbsgericbt anfgehoben und die 
Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidong an den jetzt 
erkennenden Senat des Berufungsgerichts zuruckverwiesen. 

In der weiteren Verhandlung hat der Beklagte beantragt, die Klage 
abznweisen, wfihrend vom Klager der Antrag gestellt ist, die Berufung 
zuruckzuweisen und fur den Fall der Zur tick weisung der Berufung dem 
Klager nachzulassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung 
abzuweisen. 

Das angefochtene Urteil nebst der Krankengeschichte von 1903 
und 1905 (Blatt 73 und Blatt 48—65, Band I) und dem Krankheits- 
attest des Dr. H. vom 7. 11. 1903 sowie der erstinstanzlichen Beweis- 
aufnahme ist vorgetragen und wird hierauf verwiesen. 

Der Beklagte hat erklart, es werde bestritten, dass der Leiter 
der Klinik verfassungsm&ssig berufener Yertreter des Fiskus sei, es solle 
aber nicht bestritten werden, dass er berechtigt sei, selbstandig fiber 
die Aufnahme und Entlassung der Kranken zu entscheiden und die 
Yerpflegungskosten festzusetzen. Bei der Auswahl der behandelnden 
Aerzte sei die erforderliche Sorgfalt angewendet. 

Yom Anstaltsleiter sei im vollen Umfange die erforderliche Sorg¬ 
falt angewendet, auch sei die Anstalt sachgemfiss nnd entsprechend 
den Vorschriften wie den Ergebnissen der Praxis und der Wissenschaft 
gemiss eingerichtet, sodass keinerlei Verschulden vorliege. Wenn die 
Ueberffihrung der Frau S. in die offene Station vom firztlichen Stand- 
punkt aus zu Bedenken Anlass gegeben hfitte, so wire sie fiberhaupt 
nicht veranlasst worden. 

Das Pilegepersonal sei vOUig ausreichend und durchaus zuverl&ssig 
gewesen. Dass demselben besondere Anweisung zu einer speziellen Be- 

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E. Siemerling, 


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aufsichtigung der Frau S. in der offenen Station gegeben sein, kOnne- 
nicht behauptet werden. Im ubrigen sind hinsichtlich dee Pflegeper- 
sonals die in den Schriftsatzen vom 23. 3. und 15. 6. 1911 enthaltenen 
Behanptungen aufgestellt und die in den beiden uberreichten Ueber- 
sichten (I. 73) enthaltenen Angaben gemacht; hierauf wird verwiesen. 

Vom Elager sind die Ausfuhrungen des erstinstanzlichen Urteils 
fur zutreffend erachtet. Seine Frau habe zur Zeit des Selbstmordver- 
suchs einer sorgfaltigen Ueberwachung durch ein gut geschultes und 
instruiertes Pflegepersonal bedurft, wie sich dies aus dem Gutachten 
von Prof. Flechsig, von Dr. Erman und des Medizinalkollegiums in 
Munster ergebe. Demgegenuber sei der Wissenschaftlichen Deputation 
die geringere Autoritat beizumessen. Diese bestehe aus Vertretern aller 
Zweige der medizinischen Wissenschaft und aus Verwaltungsbeamten 
und es k5nne daher im vorliegcnden Fall nur der psychiatrische Re¬ 
ferent in Betracht kommen. Dagegen gehSrten dem Medizinalkollegium 
in Munster der Direktor der dortigen Provinzial-Irrenanstalt, ein prak- 
tischer Arzt, ein Geheimer Regierangs- und Medizinalrat und der Kreis- 
arzt, der zugleich Medizinalassessor sei, an; Flechsig sei eine aner- 
kannte Autoritat auf dem Gebiete der Psychiatric und Dr. Erman ein 
angesebener Gerichtsarzt. 

Wenn Frau S. nicht mehr als suizidverdachtig angesehen sei, so 
batte doch die Mdglichkeit eines Ruckfalls und insbesondere eines 
Irrtums berucksichtigt werden mussen und man habe daher nicht jede 
Vorsicht ausser Acht lassen diirfen. Zu einer solchen Vorsicht habe 
auch eine vertragsmassige Pflicht vorgelegen gegenuber dem Klager, 
der sie in die Anstalt gebracbt habe, weil er sie zu Hause nicht habe 
uberwackeu kSnnen. Prof. Siemerling habe Frau S. sicher nicht in 
dem Bewasstaein in die Villa gelegt, dass dort auf Ueberwachung nicht 
zu rechnen sei, sondern in der irrtumlichen Annahme, dass die Ueber¬ 
wachung dort eine ausreichende sei. 

Das Pflegepersonal sei nicht ausreichend gewesen, insbesondere sei 
auch eine besondere Beobachtung der Frau S. nicht angeordnet. Hin¬ 
sichtlich des Pflegepersonals sind die im klagerischen Schriftsatz vom 
2. 6. 1911 aufgefuhrten Behauptungen vorgetragen sowie die Skizze 
(Blatt 204) vorgelegt; hierauf wird verwiesen. 

Der Klager habe bei der Aufnahme im Jahre 1905 dem Ante 
Dr. Flatau gegenuber erklart, seine Frau habe auf der Fahrt nach 
Kiel zweimal versucht, aus dem Zuge zu springen, und zwar einmal 
durch Oeffnen der Tiir, und dann durch den Versuch, in das Klosett 
zu fluchten, mit der offenbaren Absicht, dort den Versuch zu erneuern. 
Ausserdem habe der Klager gelegentlich der ersten Einlieferung seiner 


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Beitrag zur Verantwortliohkeit des Irrenarztes. 


973 


Frau im Jahre 1903 dem aufnehmenden Arzte Dr. Glasow berichtet, 
seine Frau sei w&hrend der N&chte h&ufig plOtzlich nach dem Fenster 
gelaufen, und er babe die Fenster mit Tischen verbarrikadiert aus Be- 
sorgnis, sie werde zum Fenster hinausspringen. Auch werde behauptet, 
dass die Aerzte hiervon dem Prof. Siemerling Mitteilung gemacht 
haben. Ueber diese Angaben werde dem Beklagten der Eid zuge- 
schoben, soweit nicht dem El&ger der ricbterliche Eid anvertraut werde, 
warum in erster Linie gebeten werde. 

Auch sei die Anlage selbst mangelhaft; der Febler best&nde vor 
allem darin, dass sich die R&umlicbkeiten ein Stockwerk hoch fiber 
einem hochgelegenen Erdgeschoss beffinden und dass das Fenster im 
Elosett ungesichert und so gross sei, dass ein Hinausspringen mfig- 
lich sei. In der einsamen Klosettzelie sei ein weitgeOffnetes Fenster 
geeignet, geradezu zu einer selbstmfirderischen Affektbandlung anzu- 
reizen. 

Da die moisten Klosetts nur schmale oder hochgelegene Fenster 
oder nar LuftkJappen haben, so konne es die Patienten nicht beunrubigen, 
wenn sie auf der Anstalt im Elosett kein weitgeOffnetes Fenster vor- 
f&nden. 

Ein Mangel der Anstalt liege auch darin, dass nur die Wahl zwischen 
dem Wachsaal mit alien seinen abschreckenden Erscheinungen und der 
offenen Abteilung im oberen Stock bestehe. Habe man in der geschlos- 
senen Abteilung keine anderen geeigneten R&ume, so dfirfe man keine 
Patienten aufnebmen, die gerade aus dem Grunde hineingebracht seien, 
weil man sie zu Hause nicht genug uberwachen konne. 

Die kl&gerische Ehefrau sei nocb nicht wieder vollst&ndig geheilt, 
sie leide seit dem Sturz an periodischen L&hraungserscheinungeu in den 
Beinen, Beweis: Gutacbten Sachverst&ndiger. 

Der Beklagte hat bestritten, dass 1903 von Selbstmordabsichten 
der Frau S. etwas mitgeteilt und dass vom Kl&ger angegeben sei, seine 
Frau habe auf der Fahrt nach Eiel zweimal versucht, aus dem Zuge 
zu springen und erklart, dass es auf den zugeschobenen Eid nicht an- 
kommen werde, eventuell werde eine Erklarung hieruber, die oltne 
n&here Instruktion nicht erfolgen kOnne, bis zur Auffordernng zur Er- 
kl&rung durch das Gericht vorbehalten. 

Die Einrichtungen der Klinik entspr&chen in jeder Beziehung den 
modernen Anforderungen, seien auch so eingerichtet, dass man in jeder 
Beziehung der verschiedenen Eigenart der Eranken bei der Behandlung 
gerecht werde. 

Die abweichenden Behauptungen der Gegenseite sind vom Beklagten 
bestritten. 


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E. Siemerling, 


Die zweitinstanzliche Beweisaufnahme, wie sie sich aus den Proto- 
kollen vom 18. 10. 1911 und 28. 12. 1911 (Bd. 2, Blatt 30), 24. 2. 1912, 
23. 10. und 16. 12. 1913 und 10. 1. 1914, sowie aus den zweimaligen 
Gutachten des Medizinalkollegiums in Munster und derWissenschaftlicben 
Deputation fur das Medizinalwesen in Berlin ergibt, 1st vorgetragen und 
wird hierauf verwiesen. 

Der El&ger hat noch ausgefubrt, das Gutachten der Wissenschaft- 
lichen Deputation beruhe auf einem fundamentalen Fehler, indem es 
als wesentlichen Faktor in Prof. Siemerling’s Erw&gungen die fur ihn 
gar nicht existierende „hysterische Eomponente u einstelle, die erst bei 
der Beweisaufnahme 1913/14 entdeckt sei. Ausserdem operiere das 
Gutachten mit einer unzutreffenden Parallele, indem es sage, dass ProL 
Siemerling davon habe ausgehen kSnnen, die Entwicklung des Falles 
sei derjenigen des Jahres 1903 entsprechend. TatsScblich habe Prof. 
Siemerling 1903 den Fall anders beurteilt, er habe die Patientin 
damals erst nach 12 Tagen in die ofifene Anstalt gelegt. 

Yom Beklagten wird die Richtigkeit dieser Ausfuhrungen be- 
stritten. 


Grunde. 

Die formell zulassige Berufung ist sacblicb begrundet. 

Der Klaganspruch ist darauf gestutzt, dass Prof. Dr. Siemerling, 
der Leiter der Elinik, schuldhaft gehandelt hat, als er am 15. 11. 1905 
die Ueberfuhrung der Frau S. in die offene Station anordnete, und ferner, 
dass die offene Station mangelbaft fur den Aufenthalt Geisteskranker 
eingerichtet sei, und hierdurch eine Haftung des Staates wegen schuld- 
hafter Dnterlassung gegeben sei. 

Der Prof. Siemerling ist, wie unstreitig ist, als Anstaltsleiter zur 
Aufnahme und Entlassung der Eranken, sowie zur Festsetzung der Ver- 
pflegungskoBten selbstftndig befugt. Er ist hiernach berufen, durch die 
ihm ubertragenen Obliegenheiten den Staat, der die Elinik betreibt, 
Eigentumer der Anstaltsr&ume ist, und den Anstaltsleiter wie die ubrigen 
Beamten angestellt hat, auf Grand der massgebenden Vorschriften der 
Verwaltungsorganisation bei der Aufnahme und Behandlung der Eranken 
zu vertreten. Der Staat haftet daher fur ein Verschulden des Prof. 
Siemerling nicht nur soweit der Elagansprach auf mangelhafte Ver- 
tragserfullung (ein zwischen den Parteien abgeschlossener Dienstvertrag) 
gestutzt wird gemSLss § 278, sondern aucb insoweit ausservertragliches 
Verschulden in Frage kommt, auf Grand der §§ 31, 89 B.G.B. 

Die Frage der Beweislast, die hiernach yerschieden sein kann, mag 
hier dahingestellt bleiben, es erubrigt sich, wenn durch die stattgehabte 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 975 

Beweisaufnahme ein ursachliches Verschulden festgestellt ist oder sich 
das Nichtvorhandensein eines Verschuldens ergeben hat. 

Es fragt sich zun&chst, ob Prof. Siemerling ein Verschulden — 
es kann sich hier nur nm Fahrl&ssigkeit handeln — zur Last fallt, 
indem er Frau S. am 15. 11. 1905 auf die offene Station, in die soge- 
nannte Villa verlegte. 

Die Ueberfuhrung der Kranken, die wahrend der ersten Tage sich 
in der Ueberwachungsstation befand, in die offene Station war eine 
wichtige Anordnung, sie ist dementsprechend von dem Anstaltsleiter 
selbst vorgenommen, und zwar in Uebereinstimmung mit dem Wunsche 
der Frau S., die bereits 2 Jahre vorher einige Wochen in der Anstalt 
war, und bei der sich damals die Ueberfuhrung in die offene Station 
als sehr vorteilhaft fur den Heilungsprozess erwies. Bei diesem ersten 
Aufenthalt der Kranken in der Anstalt sind irgendwelche Neigungen 
zum Selbstmord (sog. Suizidgedanken) nicht hervorgetreten. Aucb in 
dem arztlichen Antrag auf Ueberweisung, der vom Hausarzte verfasst 
ist und den Krankheitszustand eingehend schildert, ist derartiges nicht 
erwahnt, und bei der Aufnahme in die Anstalt selbst wird in der 
Krankengeschichte als Angabe des Ehemannes, also des jetzigen Klagers, 
berichtet: „Suizidgedanken hat Patientin nie geSussert. 1 * Nun wird vom 
Klager behauptet, er babe dem aufnehmenden Arzte Dr. Glasow gegen- 
uber, von dem die Krankengeschichte stammt, bei der Aufnahme von 
Selbstmordversuchen gesprochen, die die Kranke zu Hause vorgenommen 
habe, und Dr. Glasow babe dies dann auch dem Anstaltsleiter mit- 
geteilt. Dr. Glasow weiss hieruber nicbts melir zu bekunden, es ist 
erkl&rlicb, dass er sich nach 10 Jahren eines solchen Vorganges nicht 
mehr entsinnt. Vom Klager ist hieruber dem Beklagten der Eid zuge- 
scboben, das Gericht erachtet aber die Eideszuschiebung als unzulassig. 
Schon der Umstand, dass in der eingehenden Dars tel lung des Dr. H. 
von solchen, doch sehr- wesentlichen Tatumstanden nichts gesagt ist, 
lasst die Behauptung als hdchst unwahrscheinlicb erscheinen. Es kommt 
aber hinzu, dass in der eingehenden ErOrterung bei der Aufnahme mit 
dem Ehemann, wie die vorliegende Krankengeschichte ergibt, uber die 
Frage des Vorliegens selbstmSrderischer Gedanken gesprochen ist und 
dazu klar und unzweideutig als Ergebnis vermerkt ist, dass Selbstmord- 
ideen nicht geaussert sind. Es scheint ausgeschlossen, dass hier bei 
einem solchen wichtigen Punkte eine unrichtige Beurkundung vorliegt 
und das Gericht hat daher keine Bedenken, die klagerische Behauptung 
als widerlegt anzusehen. Zur Vervollstandigung sei auch nocb darauf 
hingewiesen, dass der Klager in diesem Prozess erst in zweiter Instanz 
in dem nach Erstattung des ersten Gutachtens der Wissenschaftlichen 


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£. Siemerling, 


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Deputation eingereichten Scbriftsatz vom 22. 10. 1912 mit einer der- 
artigen Behauptung gekommen ist. Es kaun daber unerfirtert bleiben, 
ob fiberall die Eideszuschiebung rechtlich zul&ssig ist, denn der Assistenz- 
arzt Dr. Glasow, dem der Klfiger die Mitteilung gemacht babeu soil, 
war nicbt Vertreter des Fiskus im Sinne des § 445 Z.P.O. und beim 
Mangel eines Beweises hierfur schwebt die weitere Behauptung, dass 
Dr. Qlasow diese Mitteilung an den Anstaltsleiter weitergegeben babe, 
vfillig in der Luft, abgesehen davon, wieviel durch solcbe im Jahre 
1903 gemacbte Mitteilung fur die allein wesentliche Kenntnis dieser 
Tatsache im November 1905 erwiesen ist, also nach einem Zeitraum 
von 2 Jabren, in dem dem Anstaltsleiter ausserordentlich viele Kranken- 
geschichten erzfihlt worden sind, so dass er sich der Einzelheiten, soweit 
sie nicht scbriftlicb niedergelegt sind, schwerlicb entsinnen konnte. 

Auch in der Anamnese des zweiten Falles (November 1905) heisst 
es: „Reine Suizidgedanken 44 , es ist aber hinzugesetzt: „Unterwegs un- 
ruhig. Versuch aus dem Zuge zu springen 44 . Wenn jetzt der Klager, 
auf dessen Angaben bin dies damals aufgenommen ist, behauptet, er 
habe bei der Aufnahme von 1905 mitgeteilt, dass seine Frau w&hrend 
der Eisenbahnfahrt zweimal versucht habe hinauszuspringen, so bietet 
die Niederschrift hierfur keinen Anhalt, widerlegt es aber doch nicht. 
Professor Siemerling, wie der ebenfalls hier als Zeuge vernommene 
Dr. Glasow wissen fiber die Frage nichts zu sagen. Das Berufungs- 
gericht ist bei Prfifung der Sacblage zu der Ueberzeugung gelangt, dass 
es unwesentlich fur die Beurteilung des Falles ist, ob der Kl&ger bei 
der Aufnahme seiner Frau von einem ein- oder zweimaligen Versuch 
der Kranken, sicb aus dem Zuge zu stfirzen, gesprochen hat. Einmal 
behauptet er selbst gesagt zu haben, sie habe das erste Mai versucht, 
durch Oeffnen der Tfir aus dem Zuge zu springen and sodann versucht, 
nach dem Klosett zu flfichten, in der offenbaren Absicht, dort den Ver¬ 
such zu erneuern. Diese Schilderung l&sst einen sicheren Schluss darauf, 
ob die Rranke bei dem Versuch ins Klosett zu kommen. tatsfichlich 
eine Selbstmordabsicht verfolgt hat, nicht zu. Angeuommen aber man 
will hierin auch einen Selbstmordversuch sehen, so ist nicht abzusehen, 
wie der Dmstand, dass sie auf derselben Fahrt zweimal kurz nacbein- 
ander sich hinauszustfirzen versucht, einen Beweis ffir die Ernstlichkeit 
und Energie der Selbstmordabsicht bieten sollte, denn beide Versuche 
unter denselben Verhfiltnissen und Eindrficken — Reise nach Kiel zor 
Ueberfuhrung in die Anstalt — vorgekommen, also als Ausfluss desselben 
Affekts zu betrachten. Der Normierung des Eides ffir den Vertreter dez 
Beklagten wfirden im fibrigen auch hier die oben erfirterten Bedenken 
entgegenstehen. 


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Beitrag zur Verantwortlicbkeit des Irrenarztes. 


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Die M5glichkeit eines pldtzlichen unerwarteten Stimmuugswechseis 
ist an sich nicht in Abrede zu stellen, zumal nach dem Krankenbericht 
vom 14. und 15. 11. die Aengstlichkeit und Depression der Fran S. 
noch keineswegs vOllig gehoben war. Allein es erscheint die Aussage 
von Professor Dr. SiemerliDg unbedenklicb glaubwurdig, dass er ernst- 
iich die Frage erwogen liat, ob nocb Selbstmordgedanken vorhanden 
oder zn befurchten seien, und dass er auf Grand sorgsamer ErwSgung 
unter Berucksichtigung aller Umstande zur Verneinung gekommen ist. 
Hierin kann in Uebereinstimmung mit den gutachtlichen Ausfubrungen 
der Wissenschaftlichen Deputation eine Fahrlassigkeit, also ein Ausser- 
achtlassen der im Verkehr erforderlicben, einem Anstaltsleiter obliegen- 
den Sorgfalt nicbt gefunden werden. Professor Siemerling wusste, 
dass vor zwei Jahren gerade die Verlegung in die Villa als ein sehr 
wesentlicher Heilfaktor gewirkt hatte und er ging von der in der psy- 
chiatrischen Wissenschaft vielfach vertretenen und in der Praxis in 
vielen Anstalten praktisch zur Anwendung gebrachten Ansicht aus, dass 
die Behandlung aller dazu geeigneter Kranker in der offenen Station 
zn empfehlen sei und das Beste fur die FOrderung des Gesundungs- 
prozesses verspreche. Die Wissenschaftliche Deputation weist in aus- 
fuhrlicher Begrundung darauf hin, dass man es bei Frau S. nicbt mit 
einem Schulbild der Melancholic zu tun hatte, und dass auch bei me- 
lancholischen Depressionen eine Behandlung in offenen Stationen in 
vielen Fallen und durchaus angezeigt erscheint. Es wird darauf hin- 
gewiesen, dass bei Frau S. ein hysterischer Einschlag — eine psycho¬ 
gene hysterische Komponente, wie das Gutachten sich ausdriickt — 
unverkennbar vorlag und daraus weiter gefolgert, dass die Affektinten- 
sitat der Depression bei der Kranken rasch abklingt, dass der Versuch, 
sich aus dem Zuge zu sturzen, als Steigerang des Aflfektes ohne Dauer- 
bedeutung ist, und dass gerade die Abhangigkeit der Affekterscheinungen 
von der Umgebung den Arzt veranlassen musste, eine mdglichst gunstige 
und der Kranken zusagende Gestaltung der ausseren Umgebung herbei- 
zufuhren. Ganz ahnlich spricht auch scbon Professor Flechsig in 
seinem Gutachten von hysteriscben Anfallen, denen die Frau S. ausge- 
war, von ihrer Neigung zu Affekthandlungen und meint, dass die Dia¬ 
gnose auf Melancholie nicht haltbar sei. 

Wenn der Klager meint, dass das hier betonte hysterische Tem¬ 
perament erst durch die neuerliche Beweiserhebung „entdeckt w sei und 
fur Professor Siemerling obne jede Bedeutung war, so ist dies vOllig 
unhaltbar. Das Krankheitsbild ist durch die Beweisaufnahme in dieser 
Richtung in keiner Weise verschoben. Dem Anstaltsleiter standen die 
wesentlichen Unterlagdn, die jetzt fur die Beurteilung des Falles heran- 


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E. Siemerling, 


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gezogen werdeta, auch schon 1905 zu Gebote, soweit es sich nicht um 
zeitlich sp&tere Ereignisse handelte, sie ergeben sich aus der Kranken- 
geschichte, den ihm gemachten Mitteilungen und der eigenen Beobach- 
tung der Kranken. Also die Art des Krankheitsbildes war dem Pro¬ 
fessor Siemerling vOllig. bekannt und er ist auf Grand dieser Er- 
kenntnis zu demselben Ergebnis gelangt, welches die Wissenschaftlicbe 
Deputation unter genauer Bezeichnung der hierfur sprecheoden Momenta 
als richtig bezeichnet. 

Wenn ferner vom Kl&ger hervorgehobeir wird, dass hierbei von 
einer unrichtigen Parallele ausgegangen sei, indem immer auf die Ueber- 
fuhrung in die offene Station im Jahre 1903 und deren gunstigen Erfolg 
hingewiesen, dabei aber fibersehen werde, dass die Ueberfuhrung erst 
nach 12—13t£giger Beobachtung in der Ueberwachungsstation erfolgt 
sei, jetzt aber schon nach 3 Tagen, so kann auch dies als zntreffend 
nicht anerkannt werden. Der zweifellos vorhandene bedeutende Zeit- 
unterschied ist nicht verkannt w'orden, im iibrigen liegen aber beide 
Falle ausserordentlich ahnlicb, wie denn anch der Klager bei der Auf- 
nahme seiner Frau 1905 meint, es seien diesel ben Symptome wie vor 
2 Jahren, nur milder. Die Erfahrung, dass die Verlegung in die Villa 
so guten Erfolg gehabt hatte, lag vor und konnte somit den Anstalts- 
leiter wohl berechtigen, jetzt schon bei' kurzerer Beobachtungsdauer zu 
diesem Mittel zu greifen. Es ist richtig, dass die Kranke damals keines- 
wegs schon frei von beangstigenden Eindrucken war, sie war aber auch 
1903, als sie in die offene Station kam, noch nicht ordentlich orientiert 
fiber ihre Lage, wie der Krankenbericht vom 20. 11. 1903 (am 20. 11. 
erfolgte die Verlegung) ergibt, sie war also damals noch keineswegs 
klar. Im Jahre 1905 hatte sich, wie Professor Siemerling bekundet 
hat, ihr Krankheitszustand wiederum sehr schnell gebessert, sie war 
sehr bald ruhig geworden und hatte insbesondere keine Anzeichen, die auf 
Selbstmordideen hindenteten, gezeigt. Der Krankenbericht vom 15. 11. 
1905 besagt, dass sie „etwas freier“ erscheine. Es lag also aile Ver- 
anlassung vor, den Gesundungsprozess weiter zu fOrdern und hierzu 
erschien die Verlegung in die offene Station als das geeignete Mittel. 
Es ist also keineswegs richtig, dass der Vergleich mit 1903, wie der 
Kl&ger meint, zu einem entgegengesetzten Schluss habe fuhren mfissen. 
Die Angaben der Kranken, die am Tage nach dem Unfall ge&nssert sind 
und dahin gehen, sie habe nicht leben wollen, weil sie nicht wert sei, 
zu leben, besagen daruber, wodurch sie zur Ausfuhrang des SelbBtmord- 
versuchs veranlasst ist, ffir die hier intereasierende Frage nicht und die Er- 
zfihlung derSchwester Gerda gegenuber ist erst im Januar 1906, also lange 
nachber erfolgt; es bandelt sich nur um eine gelegentliche Aeusserung, 


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Beitrag znr Verantwortliohkeit des Irren&rztes. 


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dem Arzt gegenuber hat sie damals jedei Auskunft verweigert. Gibt 
ihre ErzShlung, was nicht nachprufbar ist, das Stimmungsbild der 
Kranken vom 15.—16. 11. richtig wieder, so beweist dies — wie es 
schon der Unfall vom 16. 11. selbst tut —, dass in der arztlichen Be- 
urteilung der Kranken ein Irrtum obgewaltet hat und sie tats&chlich 
nach der Aufnahme in die Anstalt wie insbesondere nach der Yerlegimg 
in die Villa noch Selbstmordgedanken zuganglich war, die bei gunstiger 
Gelegenheit so fort im Affekt zur Ausfuhrung gebracht wurden. Keines- 
wegs erfolgt aber hieraus etwas dafur, dass sie sich andauernd mit 
solchen Gedanken getragen, etwa gerade aus diesem Griinde gewunscht 
hat, in die Villa uberzusiedeln, sie hat, wie sie angibt, in der Nacht 
vom 15. auf 16. 11. ohne triibe Gedanken gescblafen und ihr ist am 
nSchsten Vormittag, als sie auf dem Klosett das Fenster OfFnete, um 
hinauszusehen, plOtzlicb der Gedanke gekommen, sie musse sterben, 
es k5nne sie doch kein Menscb leiden. 

Die MOglichkeit eines solchen Irrtums des Arztes wird vod keiner 
Seite in Abrede gestellt, sie beruht in der Unzul&nglichkeit der mensch- 
lichen Erkenntnis, die besonders bei der Beurteilung der Seelenvorg&nge 
eines anderen und zumal eines geistig erkrankten Individuums nicht 
verkannt werden kann. Allein Professor Siemerling betont bereits, 
dass derartige MOglichkeiten nicht {lie Behandlung Geisteskranker be- 
herrschen durfen, sonst wurde man aus dem strengen Ueberwachungs- 
stadium, wo die Gefahr einer Selbstbeschadigung durch die Einrichtung 
der R&ume und die fortgesetzte Ueberwachung mOglichst ausgeschlossen 
wird, nicht herauskommen, sondern dass man mit der Erfahrung zu 
rechnen babe, dass die freiere Behandlung der Kranken ganz wesentlich 
zu ihrer Gesundheit beitragt und dass die Gefahr dorartiger durch das 
Fehlen einer strengen Ueberwachung und Abgeschlossenheit begunstigten 
Selbstmordgedanken nicht grosser ist, als bei der geschlossenen Stations- 
behandlung, da das Gefuhl der Freibeit zur Kraftigung und Gesundung 
und damit zum Widerstand gegen derartige krankhafte Anwandlungen 
erheblich beitragt. 

Wahrend das Medizinalkollegium in Munster die Frage vemeint, 
dass der Anstaltsleiter bei der Unterbringung der Frau S. auf die offene 
Station auf Sicherungsmassregeln verzichten konnte und zwar mit 
Rucksicht auf das Krankheitsbild aus der Zeit vom 12.—15. November, 
betont die Wissenschaftliche Deputation mit Recht, dass die Erkenntnis der 
vor der Aufnahme liegenden Vorg&nge und die Eigenart der krankhaften 
Veranlagung hinzukommt, deren Gesamtkenntnis dem klinischen Leiter 
auf Grand seiner langjahrigen Erfahrungen berecbtigte, die MOglichkeit 
eines Irrtums fur so gering zu halten, dass diese entfernte MOglichkeit 


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E. Siemerling, 


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gegenuber den Vorteilen, die in therapeutischer Beziehang von dem 
Aufenthalt in der offenen Station verwertet werden durften, zuruck- 
treten durfte und musste. Eine Sonderbewachung auf der offenen 
Station, wie sie das Medizinalkollegium in Munster fur erforderlich 
erachtet, wurde gerade den Heilerfolg bei den von psychischen Ein- 
flussen abh&ngigen Kranken wieder vOllig in Frage stellen und so durfte 
der Arzt sich auf das durch die Ueberfuhrung gesteigerte Wohlbefinden 
der Kranken und auf die sich aus dem Zusammensein mit anderen 
Personen, durch das Pflegepersonal und die firztlicben Besuche ergebende 
Beaufsichtigung verlassen. 

Nun wird zwar unter Berufung auf die ubrigen Gutachten die 
Richtigkeit des von der Wissenscbaftlicheu Deputation erstatteten 
Gutachtens vom K lager beanstandet und besonders hervorgehoben, daas 
sich aus der Zusammensetzung dieses Kollegiums fur dessen Gutachten 
eine geringere Autoritat ergebe als fur die anderen. Wenn es auch 
richtig ist, dass die Mehrzahl der Mitglieder der Wissenschaftlichen 
Deputation keine Psychiater sind, so besteht doch kein Zweifel, dass 
sie s&mtlich die F&higkeit besitzen, die Richtigkeit eines Gutachtens 
fiber die ihnen hier vorgelegte Frage zu beurteilen. Es besteht daber 
kein Bedenken, dem von der Wissenschaftlichen Deputation erstatteten 
Gutachten, das sich in Veranlassung der vom Reichsgericht angeregten 
Zweifel und Bedenken erneut sehr eingehendmit den in Betracht kom- 
menden Fragen befasst hat und seine Ansicht in uberzeugender Weise 
begrundet bat, zu folgen. In wesentlichen Punkten stimmt das Gut¬ 
achten mit den Ausfuhrungen des Geheimrats Flechsig uberein, der 
aber weniger weit geht und meint, dass das Krankheitsbild die Ver- 
legung, ein zuverlassiges Wartepersonal vorausgesetzt, nicht unbedingt 
als gefahrlich erscheinen liess. Wenn der SachverstAndige Dr. Erman 
zu einer strikten Vemeinung der Frage kommt, ob die geschehene 
Verlegung der Frau S. in die offene Station vom arztlichen Standpunkt 
aus zul&ssig war, so ist bervorzubeben, dass dieser allzu einseitig 
Gewicht darauf legt, dass die Krankheit sich als melancholische Ver- 
stimmung ausserte und diese depressive Stbrung noch nicht genugend 
beseitigt war, ohne die ubrigen -Begleitumst&nde und ErwSgungen, die 
fur den dirigierenden Arzt entscheidend waren, genugend zu wurdigen. 
Dagegen betont bereits das Medizinalkollegium die neuropsychopatbische 
Belastung und die nervbse Konstitution der Kranken erklart, dass unter 
den obwaltenden Umst&nden zwar eine Verlegung auf die offene Station 
-fiicht frei von Bedenken sei, aber doch im Interesse der Kranken fur 
zulassig erscheinen kdnne. Das Medizinalkollegium schrinkt dies aber 
dahin ein, dass ein ausreicbendes, gut geschultes Pflegepersonal vor- 



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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 981 

handen sein musse, es entnimmt aus der Beweisaufnahme, dass solches 
vorhanden war, meint aber, dass ferner erforderlich sei, dass das 
Personal mit Rucksicht auf den Krankheitsznstand der Frau S. nock 
besonders mit einer ausreichenden Beobachtung und Beaufsichtigung 
dieser Eranken unter Hinweis auf die voriiegenden Befiirchtungen zu 
beauftragen gewesen sei. Eine derartige Anweisung ist, wie der Be- 
klagte selbst angibt, nicht gegeben worden, sie war aber auch nach 
der auf das Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation gestiltzten 
Ueberzeugung des Gerichts, wie bereits erortert ist, nicht erforderlich. 
Wesentlich ist in dieser Beziehung vor allem der Punkt, dass Professor 
Siemerling zur Zeit der Verlegung die Gefahr eines Selbstroord- 
versuchs fur ausgeschiossen hielt und daber ihren Aufenthaft in der 
offenen Station fur zulassig und fur die Fbrderung des Gesundungs- 
prozesses fur geboten hielt. 

Es erscbeint daher auch bei erneuter Prufung und unter Beruck- 
sicbtigung der vom Reichsgericht aufgeworfenen Frage in Ueberein- 
stimmung mit dem Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation din 
Annahme berechtigt, dass dem Anstaltsleiter bei der Verlegung dor 
Frau S. in die Villa eine Fahri&ssigkeit nicht zur Last fallt. Hierbei 
ist auch noch darauf hinzuweisen, dass hinreickendes Pflegepersonal vor¬ 
handen war, wenn man mit Professor Siemerling davon ausgeht, dass 
eine besondere Bewachung der Frau S. durch eine Whrterin nicht 
erforderlich war. Uebrigens hatte eine solche Beaufsichtigung die Tat 
nicht bindern konnen, da die Kranke auf dem Klosett allein war, wenn 
ihr nicht etwa die Warterin auch dorthin gefolgt wire, worin aber eine 
derartige starke Art der Bewachung zu finden ware, dass dadurch der 
Eranken geradezu das Gefiihl der Freiheitsbeschrankung aufgedr&ngt 
und der beabsiclitigte Heilerfolg auf das erustlichste gefahrdet wurde. 

Es erbebt sick aber noch die zweite Frage, ob die offene Station 
etwa* mangelhaft eingerichtet war und durch diese Mangel die Aus- 
fuhrung der Tat ermoglicht ist. Ist in der Einrichtung, wie sie die 
Sicherheit der sich dort aufhaltenden Geisteskranken nach den Erfah- 
rungen der Praxis und der Erkenntnis der Wissenschaft fordert, etwas 
vernachlassigt, das fur den eingetretenen Unfall ursachlich war, so lag 
ein Verschulden der verfassungsmassig berufenen Vertreter des Fiskus 
vor, die dafur zu sorgen hatten, dass die zur Aufnahme gemutskranker 
Personen bestimmte Anstalt sicb in ordnungsmassigem Zustande 
befand. 

Ist man Anhanger einer im wesentlichen geschlossenen Anstalts- 
behandlung Geisteskranker in alien Stadien des Erankheitsverlaufes, 
so war die Einrichtung der Villa naturgemass unzureichend. Allein 


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E. Siemerling, 


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die Wissenschaftliche Deputation fuhrt aus und befindet sich damit nicbt 
nur mit Prof. Siemerling und vielen Stimmen der Literatur iro Ein- 
klang, sondern auch anscheinend im wesentlichen mit den Ansichten 
des Geheimrats Flechsig und des Medizinalkollegiums in Munster, 
dass die geschlossene Anstaltspfiege in vielen Fallen vOlIig versagt und 
es sich als notwendig herausgestellt hat, fur manche Falle psychischer 
Erkrankung und besonders fur Behandlung in der Rekonvaleszenz hier- 
von abzusehen, da hierdurch die Heilung beeintr&chtigt, ja sogar haufig 
geradezu gehindert wird. Charakteristisch ist, dass im rorliegenden 
Fall die Eranke selbst, wie dies nach der Bekundung des Prof. Siemer¬ 
ling iiberaus haufig geschieht, auf die Verlegung auf die offene Station 
gedrhngt hat und zwar augenscheinlich nicht etwa weil sie dort leichter 
eine Gelegenheit zum Selbstmord finden werde, sondern weil ihr dort 
der Aufenthalt in jeder Beziehung angenehmer und zusagender erschien. 
Selbstverstandlich konnte dies die Eutschliessung des Austaltsleiters 
nur insofern beeinflussen, als er sah, dass auch die Kranke sich aus 
der Veranderung Gutes versprach und er hiervon eine giinstige Ein- 
wirkuug auf das psycbische Befinden der Kranken erwarten durfte. 
Es heisst denn auch in der Krankengeschichte: „Freute sich, wieder in 
Villa II zu sein u . Die Wissenschaftliche Deputation betont, dass aus 
den angefuhrten Grunden allgemein davon abgesehen wird, in der 
offenen Station besondere Tur- und Fensterverschlusse und offene nicht 
verschliessbare Klosettraume anzulegen, es wird hervorgehoben, dass 
trotz der freien Behandlung eine Zunahme der Selbstmorde in den 
psychiatrischen Kliniken erfahrungsgemass nicht zu verzeichnen ist und 
dass die Unberechenbarkeit der psychisch Erkrankten, wenn auch un- 
erwartete Stimmungsschwankuugen vorkommen konnen, mit der fort- 
schreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis geringer geworden ist, so dass 
keineswegs die Aufnabme in derartige offene Anstalten als unzul&ssig 
angesehen werdeu kann. Mit halben Sicherungsmassregeln ist nichts 
getan, sie nutzen nicht der Wohlfahrt der Kranken, denen immer in 
j offenen Stationen vielfach Gelegenheit bleibt, eineu unerwarteter Weise 
erwachenden Selbstmordgedanken zur Ausfuhrung zu bringen, sondern 
sie gefahrden den regelm&ssig misstrauischen Kranken gegenuber den 
verfolgten Heilzweck in erheblicbem Masse, wenn sie ihn gar nicbt ver- 
eiteln. In der Villa befand sich die erste und zweite Klasse im oberen 
Stockwerk und es war im Klosett ein grosses, frei zu Cffnendes Fenster 
vorhanden. Diese Umst&nde waren weseutlich zur Ausfuhrung der Tat 
und die Schwere der eingetretenen Folgen und hierin sieht der Kl&ger 
die Mangelhaftigkeit der Einrichtung. Allein es wird nicht nur von 
Prof. Siemerling bekundet, dass solche Einrichtungen sich in vielen 



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Beitrag zur Verantwortliohkeit des Irrenarztes. 


983 


derartigen mustergultigen Anstalten linden, sondern aucli die Wissen- 
schaftliche Deputation erkl&rt, dass hiergegen nicbts einzuwenden sei, 
dass dies eben die Folgen des Systems sind, dessen Zweckm&ssigkeit 
in der Praxis erprobt und in der Wissenschaft anerkannt ist, woran 
auch derartige Einzelerscheinungen, so bedauerlich sie sind, nichts 
indern kounen. Die offene Station soli in dem Kranken den Eindrnck 
erwecken, als ob er von jeder Ueberwachung und jedem Zwange frei 
sei, und leistet gerade hierdurch fur die erstrebte Gesundung der sich 
dort aufhaltenden Kranken, deren Auswahl naturgem&ss mit grdsster 
Sorgfalt vorgenommen werden mass, die besten Dienste, so dass, trotz 
solcher Einzelfalle, die Beibehaltung derartiger offener Stationen ein 
unbedingtes Erfordernis sachgem&sser therapeutischer Behandlung Geistes- 
kranker ist. 

Das Berufungsgericht kommt auf Grund der vorstehenden Erwftgun- 
gen zu der Ueberzeugung, dass eine unzweckm&ssige oder mangelhafte 
Einrichtung der Anstaltsr&ume, die dem Beklagten zur Last zu legen 
waren, nicht vorliegt. 

Es ergibt sich hieraus, da der Klageansprucb sicb in beiden Rich- 
tungen als unbegrundet berausgestellt bat, in Stattgebung der Berufang 
Abweisung der Klage. 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91, die Vollstreckbarkeitser- 
aus §§ 708, 713 der Zivilprozessordnung. 

gez. Kircbner, Liiders, Ldhmanu, Kirscbstein, 
gez. Bruck. 

Das war der Ausgang dieses 7 Jahre w&hreuden Prozesses, der viel 
Lehrreicbes enthalt: Von. vorn herein habe ich micb auf den Stand- 
punkt gestellt und diesen auch in den entsprechenden Vemehmungen 
zum Ausdruck gebracht, dass die Verlegung in die offene Abteilung 
ohne besondere Beaufsichtigung nur fur solche Patienten in Frage kommt, 
bei denen nach Lage der ganzen Sache ein Verdacht auf Selbstmord 
oder Selbstbescbadigung ausgeschlossen ist. Auf Grund der allgemeinen 
Erfabrung fiber die oft sehr aufffillige Abhangigkeit mancher psychiscben 
Symptome von ausseren Eindrucken und ibrer starken Beeinflussbarkeit 
durch diese und auf Grund der besonderen Kenntnis des Falles, die 
mir durch die frfihere Behandlung noch erleichtert wurde, erteilte ich 
nach Erwagung aller in Betracht kommenden Momente die Anordnung, 
Frau S. in die offene Abteilung zu verlegen. Die starke Abhangigkeit 
des psychischen Verhaltens von ausseren Einflussen war schon das erste 
Mai aus der Anamnese und bei der Beobachtung deutlich geworden. 
Ohne weiteres habe ich stets zugegeben, dass ich mich in diesem Falle 


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E. Siemerling, 


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geirrt babe, der Erfolg erzielte nicht die -beabsichtigte Wirkung. Bei 
dieser Sachlage erschien eine schnelle Beendigung des Prozesses nicht 
aussichtslos, aber die weitere Verhandlung belehrte eines Anderen. 

Von meinen personlichen Empfindungen w&brend des Verlanfs der 
Yerhandlungen brauche ich hier kein Wort zu verlieren, jeder mit 
seinem Beruf vertraute Arzt weiss, welche Bedeutung den Begriffen 
„Fahrlfissigkeit“ und „Verschulden“ inne wohnt, ja, man wird ohne 
weiteres voraussetzen kfinnen, dass bei dem Leiter einer Klinik das 
VerstSndnis fur diese Begrifife ganz besonders entwickelt ist. Aber man 
hiite sich, in solchen Erwfigungen einen Schutz vor etwaiger Klage 
suchen zu wollen. Die Haftung des Arztes fur die dem Patienten durch 
schuldhaite Behandiung zugefugten Schfidigungen ist in alien Rechten 
anerkannt und zwar hat der Arzt dabei einzustehen nicht bios fur 
Vorsatz, was sich von selbst versteht, sondern auch fur Fahrlfissigkeit. 
Verschiedene Abhandlungen von juristischer Seite — ich nenne uur 
E. Rabel, E. Ziteimann, Ebermayer, M. Rumelin — belehren in 
eingehender Weise fiber die Haftpflicht des Arztes. 

' Der mitgeteilte Fall illustriert die Verantwortlichkeit, welche dem 
Arzt bei seinen Verordnungen obliegt, in ihrer ganzen Schwere und 
lfisst die dem Irrenarzt obliegende Pfiicht ffir Beaufsichtigung and 
Bewachung der ihm anvertrauten Kranken Sorge zu tragen in ihrer 
ganzen Bedeutung hervortreten. 

Gelegentlich eines besonderen Falles — ein ausserhalb der Klinik 
beschfiftigter Kranker ffigte einem Schutzmann eine geringe Verletzung 
zu — beschfiftigt sich Aschaffenburg mit der Verantwortlichkeit des 
Irrenarztes, erwfibut auch die Aufmerksamkeit fiber selbstmordsuchtlge 
Kranke als einer gesetzlich verlangten Aufmerksamkeit. Gamier be- 
spricht die zivilrechtliche Verantwortlichkeit der Irrenanstaltsdirektoren 
in Frankreich ffir den Schaden, der von den Anstaltsinsassen angerichtet 
wird. Im wesentlichen bandelt es sich darum, ob der Anstaltsdirektor 
als ein Auftraggeber im Sinne des betreffenden Paragraphen dem Wftrter 
gegenfiber angesehen werden soil oder nicht, weil sich im ersteren Falle 
auch eine Verantwortlichkeit ffir den Direktor ergeben wfirde, wenn ein 
durch Unachtsamkeit eines Wfirters entwicbener Geisteskranker Jemandem 
einen Schaden zuffigt. 

Mit der Verantwortlichkeit des Irrenarztes in Fallen von Selbstmord 
beschaftigt sich Christian. Ein Melancboliker mit Verfolgungsideen, 
der schon einmal 1881 krank war, nach 7 Mona ten gesund wurde, 
erkrankte 1891 von neuem, genas nach 10 Monaten. 1898 dritter An- 
fall, schwerer als die frfiheren. Bei seiner Aufnahme in Charenton sehr 
augstlich. Bei einem Spaziergang warf er sich unter das Rad eines 


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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 


985 


mit Holz beladenen Wagens, sofortiger Tod. Vorher batte er keine 
Selbstmordgedanken geaussert. Die Tat wird als eine plotzliche im¬ 
pulsive Handlung angesehen. Die gerichtlicbe Klage auf Schadenersatz 
wurde abgewiesen. Christian teilfc das Urteil in einem weiteren Falle 
mit (Le Temps, 30. mars 1900). Hier batte das junge Madchen die 
Pflegerin zuruckgestossen, sich im Rlosett eingeriegelt und am Fenster- 
kreuz erh&ngt. 

Der Arzt wurde zu 10000 Frank verurteilt. Im Urteil wird hervor- 
gehoben, dass der Yater des jungen Madchens den Arzt auf das Ge- 
fahrliche des Klosettverschlusses hingewiesen babe. 

Reichel teilt einen Fall mit von Selbstmordversuck einer Patientin, 
in dem der Arzt zur Schadenersatspflicht verurteilt wurde. Klagerin 
war gemiitskrank und litt an Lebensuberdruss. Ihre Mutter verbrachte 
sie deshalb 1909 in die Nervenheilanstalt des Beklagten. Man bewachte 
sie sorgfaltig. Im April 1910 hatte sich ihr Zustand anscheinend ge- 
bessert. Man gestattete ihr, eines Tages allein in den Garten zu gehen. 
Sie benutzte den unbewachten Augenblick, sturzte sich in Suizidabsicht 
vom Treppengelander des 2. Stockwerkes auf den unteren Hausflur, erlitt 
dadurch mehrere Schenkelbriicbe und trug dauernde Verunstaltung davon. 

Klage auf 60000 Kr. Schmerzensgeld und sonstigen Schadenersatz. 
Zivillandesgericht Wien wies ohne Beweiserhebung ab. Auf Berufung 
erfolgte Aufhebung und Zuruckverweisung in die erste Instanz. — Gut- 
achten des Prof. Wagner von Jauregg-Wien: Selbstmorde zu verhuten 
ist Hauptaufgabe der Anstalt, sie absolut auszuschliessen, ein Ding der 
UnmOglichkeit. Das Raffinement der Selbstmordlustigen ist enorm. 
VOllig sicbere Gewahr wurde nur dauernde Narkose gew&bren, die 
naturlich sinnlos ware. Man muss sich also auf mOglichst genaue 
Bewachung bescbranken. In Bezug auf die Intensitat dieser Ueber- 
wachung einen Unterschied zwischen freiwillig und zwangsweise inter- 
nierten Patienten zu raachen (wie Beklagter meinte) ist unangangig. 
— Prof. Elz holz -Wien begutachtete im gleichen Sinn. — Darauf 
Verurteilung- dem Grunde nach (unter Vorbehalt der Bezifferung des 
Scbadens). Grunde: Das Personal des Beklagten, fur dessen Verhalten 
Beklagter einzustehen hat, hat schuldhaft gehandelt. Vorubergehende 
oder anscheinende Besserung schloss die Pflicht fortgesetzter Ueber- 
wachung nicht aus. Klagerin hatte ibr Zimmer nur in Begleitnng von 
Wartepersonal verlassen durfen. Eigenes Mitverscbulden der Klagerin 
ist ansgeschlossen, da sie zurechnungsunfahig war. — Berufung verworfen 
durch Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom Oktober 1916. 

In welchem Umfange derartige Schadenersatzanspriiche gegen Aerzte 
geltend gemacht werden, habe ich aus der mir zuganglichen Literatur 

Arehiv f. PsychUtrie. Bd.60. Heft 3/3. gg 


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E. Siemerling, 


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nicht entnehmen kdnnen. Ich bin fiberzeugt, dass die meisten derartigen 
Prozesse nicht zur Offentlichen Kenntnis gelangen. 

Die Verhinderung der Suizidaltendenz psychiscb Oder nervOs Kranker 
gehort mit zu den hochwichtigsten and vornehmsten Aufgaben des 
Arztes. Ueberblirkt man die Anachauungen der Autoren, welche sich 
mit dieser Frage besch&ftigt haben, so geht aus alien' Auslassungen 
hervor, dass wir die Frage, ob Suizidien immer zu vermeiden sind, mit 
einem Nein beantworten mfissen. Selbst die beste psychiatriscbe An- 
stalt gewfihrt keine absolute Garantie fur die Verhutnug von Selbst- 
morden und Selbstverstiimmelungen von Geisteskranken. Es ist heute 
derselbe Standpunkt, wie er bereits in einer interessanten Diskussioo 
anl&sslich eines Vortrags von Edel fiber das Suizidium in Irrenanstalteo 
in der Versammlung des psyckiatrischen Vereins zu Berlin am 28. 6.1889 
zum Ausdruck kommt. Es ist ein ideates, leider bisher nicht erreichtes 
Ziel, was Placzek vorschwebt, wenn er im Eapitel 3 seines Buches 
„Selbstmordverdacht und Selbstmordverhfitung w schreibt: „Gem gebe 
ich zu, dass, so lange Menschen die Obhut fukreu, trotz sorgsamster 
Anstaltsdisziplin infolge menschlicher Schwfiche kein absoluter Scbutz 
gegeben ist, die Selbstmordabsicbten nicht immer zu vereiteln sein 
worden. ~ Es muss aber bei der bewundernswerten Aufw&rtsentwicklung 
unseres Irrenanstaltswesens der Hfihepunkt kommen, wo ein suizidaler 
Kranker in der Anstalt auch wirklich geborgen ist, der Arzt nicht mehr 
mit suizidalen Zwischenf&llen zu rechnen braucht 11 . 

Es liegt in der Natur der vielgestaltigen komplizierten Verhaltnisse, 
welche beim Zustandekommen eines Selbstmordes in Aktion treten, dass 
eine rechtzeitige Unterdrfickung nicht immer mfiglich ist. Von ver- 
schiedenen Autoren werden auch eingehende Hiuweise gegeben auf die 
mehr odor weniger stark entwickelte Selbstmordneigung bei den einzelnen 
Formen der Stfirungen, vor alien werden auch die Affekthandlungen 
der Hysterischen betont, die zuweilen so impulsives Geprfige haben, 
dass ein vielleicht gar nicht beabsichtigter Effekt zustandekommt. Jeder 
mit diesen Kranken vertraute Arzt wird Beispiele aus eigener Erfahrung 
anffihren kfinnen. Der vorliegende Fall ist ein ganz besonders beredtes 
Beispiel ffir die grosse praktische und therapeutische Bedeutung, 
welche dem Einschlag einer hysterischen Komponente im Krankheits- 
bilde zukommt. 

Was die Hfiufigkeit der Selbstmorde in den Anstalten betrifft, so 
differieren darfiber, wie es begreiflich ist, die Angaben. Nach der Mit- 
teilung von EdqJ in dem erw&hnten Vortrag (1889) variiOrt die Zahl 
der Selbstmorde in einigen Anstalten (Kdnigslutter, Erlangen, Winnethal, 
Heppenheim) von 2 bis 7 auf 1000 Kranke. Die Verschiedenheiten 


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Beitrag zur Verantwortlicbkeit des Irrenarztes. 987 

werden sich ungezwungen aus den Ortlichen Umstanden erklaren lassen: 
je mehr frische Kranke eine Anstalt aufnimmt, desto intensiver wird 
sich bei akut Erkrankten der Selbstmordtrieb Sussern and zur Geltung 
bringen. Ed el verzeichnete in seiner Anstalt in den Jahren 1885—1890 
auf 1200 Kranke 4 Selbstmorde. 

Nach einer Zusammenstellung von Wickel ans Irrenanstalts- 
berichten 1911—1913 sind auf<50—60000 Kranke 38 Selbstmorde ge- 
kommen, also 0,63—0,76 auf Tausend. 

Nach einer Zusammenstellung von Grunau sind in den Jahren 1875 
bis 1900 in den dffentlichen Anstalten Preussens 865189 (462133 m., 
403056 w.) Falle verpflegt worden, in den Privatanstalten sind in 
derselben Zeit 160667 m&nnliche und 118733 weibliche Verpflegungs- 
falle vorgekommen. Bei alien Verpflegungsfallen zusammen 1115828 
(602673 m., 513155 w.) kommen auf 100 mannliche 85,15 weibliche. 
Geendet durch Selbstmord haben in den Anstalten 448 (303 m., 145 w.), 
das sind 0,40 auf Tausend. Beachtenswert ist, dass diese Zahl weit onter 
dem Durchschnitt zurfickbleibt, wie er sich fur die ganze BevSlkerung 
in Preussen berechnet, namlich fur den Selbstmord auf 0,8 pM. 

Nach einer Zusammenstellung von Benham aus den Irrenanstalten 
in England und Wales wahrend der 12 Jahre von 1890—1902 waren 
201 Selbstmordfalle (126 M., 75 Fr.) bei 788000 Kranken zu ver- 
zeichnen. In Anstalten 135 Selbstmordfalle, darunter 51 Falle, in denen 
ein schuldhaftes Versehen nachgewiesen wurde. 

In der Kieler Klinik fallen auf 18984 Aufnahmen (11881 m., 
7103 w.) in den Jahren 1902—1918 9 Selbstmorde, also 0,47 auf 
Tausend. Der letzte Fall ereignete sich bei den Frauen 1914, bei den 
Mannern 1915. 

Im Eidzelnen mag ja die Haufigkeit der Selbstmorde in den An¬ 
stalten Verschiedenheiten aufweisen, im Ganzen lehrt die Statistik, dass 
die Selbstmordfalle in den Anstalten nicht zu-, sondem abgenommen 
haben und das zu einer Zeit, in der sich die Behandlung der Kranken 
immer freier entwickelt hat. 

Ed el erwahnt in seinem Vortrage, dass in mehreren Fallen ein 
gerichtlichea Verfahren gegen ihn eingeleitet worden ist. Auch 
Jastrowitz berichtet fiber ein solches Verfahren in zwei Fallen, er 
vertritt die Anschauung, dass die Erhebung derartiger Klagen in Privat¬ 
anstalten haufiger als in offentlichen statthat. Zur Beurteilung, ob diese 
Auffassung auch jetzt noch zutreffend ist, fehlen mir die Unterlagen. 

Es ist zu begrfissen, dass in unserem Falle das Gericht den mittel- 
alterlichen Standpunkt abgewiesen hat, den Erman in seinem Gutachten 
vertritt. Es gereicht mir zur Genugtuung, dass das Gericht der freien 

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E. Siemerling, 


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Behandlung der Kranken Toll and ganz bat Gerechtigkeit widerfahren 
lassen. Bei genauerer Prufung aller einschl&gigen Verh&ltnisse habe 
ich mich auch nicht entschliessen konnen, bei den baulicben Einrichtun- 
gen der Elinik etnas zu hndern. Das Bestreben ist unablassig darauf ge- 
richtet, ein moglichst zuverlassiges und gescbultes Personal heranznziehen. 

Die unverkennbaren Wohltaten der freien Behandlung m5cbte ich 
auf keinen Fall entbehren und ich befinde mich da in Uebereinstimmung 
mit alien Aerzten, welche zu dieser Frage Stellung genommeu haben. 
Die Forderung ist und bleibt, der Eigenart der Kranken gerecht zu 
werden und ihnen das Mass von Freibeit zu gewhhren, das ihr Zustand 
vertrhgt und das ihnen zur Wiederherstellung der Gesundheit er- 
forderlich ist. 

Ich gebe Gross vollkommen Recht, wenn er es nicht fur angebracht 
h&lt, den gesamten Anstaltsbetrieb nur vom Standpunkt der Selbstmord- 
und EntweichungsmSglichkeiten zu betrachten. „Dadurch erbalt dieser 
Betrieb leicht etwas Misstrauisches und ArgwOhnisches, Unfreies und 
Verantwortnngsscheues, welches im Ganzen genommen dem Wohle der 
Kranken mehr schaden kann, als ein gelegentliches, auch sonst nicht 
mit absoluter Sicherheit vermeidbares Ungluck." 

Ich ziehe das Gefuhl der grOsseren Verantwortlichkeit, wie es mit 
der freien Behandlung der Kranken verknupft ist, dem Bewusstsein vor, 
sie durch allzu strenge Bewachung in ihrer Gesundheit und in ihrer 
Heilung zu schadigen. 


Literaturverzeichnis. 

1. Aschaffenburg, Ueber die Verantwortliohkeit des Irrenarztes. Zeitschr. 
f. Psych. Bd. 26. S. 72. u. 249. (Disk). 

2. Becker, Die sozial-arztlichen Aufgaben in der Irrentherapie. Berlin. 

3. Becker, Werner, Gewaltsame Todesarten in Irrenanstalten. Medico. 
1911. 1 u. 8. m. 

4. Benham, Harry A., Some remarks on suicide in Public Asylums. The 

Journ. of Ment. Sc. 1903. XLIX. p. 447. •> 

5. Gbomse, Irene, Zur Pflege Suizid-Verdachtiger. Zeitschr. f. Krankenpfl. 
1909. Dez. S. 344 u. 359. 

6. Christian, J., Responsabilit4 des directeurs et m6decins des 6tablisse- 
ments d’ali^n6s en cas suicide de l’un de leurs pensionaires. Ann. m4d. 
psych. Vol. 58. p. 435. 

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Rev. de Psych. 1907. p. 5. T. XI. No. 6. p. 245. 

8. Ebermayer, Zivil- und strafrechtliche Haftung des Arztes fur Kunstfehler. 
Diaguostische und therapeutisohe Irrtumer und deren Verhutung. Leipzig 
1908. H. 4. G. Thieme. 


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Beitrag zur Vevantwortlichkeit des Irrenarzles. 


989 


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f. Psych. 1891. Bd. 47. S. 422. 

10. Frohlioh, Zur Prophylaxe des Selbstmordes. Der Amtsarzt. 1914. Nr. 5. 
S. 140. 

11. Gamier, Paul, Slmiologie et traitement des idles de suicide. Gaz. des 
hdp. 1900. No. 118. 

12. Gamier, S., L’article 1384. De Code civil et la responsabilitl des direc- 
teurs mid. d’asyles d’alilnls. Ann. mid. psych. 1899. No. 3. Nov. et Dec. 

13. Gross, A., Allgemeine Therapie der Psychosen. Handb. d. Psych. AU- 
gemeiner Teil. Abt. 4. S. 104. 

14. Grnhle, H. W., Die sozialen Aufgaben des Psychiaters. Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol, u. Psych. Bd. 13. S. 287. 

15. Gmnau, Ueber Frequenz, Heilerfolge und Sterblichkeit in den offentlichen 
preussisohen Irrenanstalten von 1895—1900. Halle. Marhold. 1905. 

16. Hasse, Ueber Selbstmord in Irrenanstalten. Zeitschr. f. Psych. Bd. 41. 
S. 297. 

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kranken in die Irrenanstalt. Halle. Marhold. Alt’sohe Sammlung. 

18. Mackowitsch, G., Die psychische Analyse des Selbstmordes und Selbst- 
mordversuches bei verschiedenen Psychosen. J. D. Jena 1913. 

19. Navrat, Der Selbstmord, eine sozial-arztliche Studie. Wien. klin. Rund¬ 
schau. 1907. Nr. 3-17. S. 39, 55, 267. 

20. Placzek, Selbstmordverdacht und Selbstmordverhiitung. Leipzig 1919. 
Verlag von G. Thieme. 

21. Prosoroff, L., Suicidia der Geisteskranken in Krankenhausern. Psyoh. 
d. Gegenwart. 1911. S. 377. 

22. Rabel, Ernst, Die Haftpflicht des Arztes. Leipzig 1904. Verband der 
Aerzte Deutschlands zur Wahrung ihres wissenscbaftlicben Intresses. Ver- 
difentliohung Nr. 10. 

23. Reichel, H., Selbstmordversuch einer Anstaltspatientin; Haftpflicht des 
Anstaltsinhabers. Aerztl. Sachverst.-Ztg. 1917. Bd. 23. S. 30. 

24. Riimelin, Max, DasVerschulden in Straf- und Zivilrecht. Tubingen 1909. 
Mohr (P. Siebeck). — Haftungim klinisohen Betrieb. Tubingen 1913. Mohr 
(P. Siebeck). 

25. Unger, Max, Der Seblstmord in der Beurteilung des geltenden Deutschen 
Burgerlichen Rechts. Berlin 1913. Verlag Carl Hegemann. 

26. Viellon, Suicide et folie. Annales mldico-psyohol. 1913. Vol. 17. p. 28, 
55, 239. (Anf. in Bd. 16). 

27. Wickel, Karl, Die Art des Selbstmordes von Geisteskranken in Irrenan¬ 
stalten. Die Irrenpflege. 1913. Nr. 6. S. 135. 

28. Zitelmann, Ernst, Die Haftung des Arztes aus arztlicher Behandlung 
(aus der D. M. W.). Leipzig 1908. G. Thieme. 


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Druck tod L. 8chamacher in Berlin N.4. 


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Fig. 2. 


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Lichtdruck r4*inert-Htnniq Berlin S.42. 

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Lkhidruck tfeinert-hennig Berlin 5.42. 


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LkHtdruck Mefnert'-i^tunlfl, 5, 4? 

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Arcniv /. rsycniatrie. bU. bd. 



Fig. I. 



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60. Bd 



Fig. 1. 



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Fig- >. 



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Taf. IX. 



Fig. 14. 



Fig. >5. 


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Archiv f. Psychiatrie. 60. Bd 





Inhalt des I. Heftes, 


I. Aus der psychiatrischen Universitatsklinik Frankfurt a. M. (Di- 
rcktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sioli). 

Walther Riese, Dr.: Riickenmarksverlinderungen eines 


Paralytikers. (Hierzu Tafeln I und II.) 


1 


II. Aus der Kgl. Psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat 
Konigsberg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Mey er) 
u dem I\gl. Festungshilfslazarett I (Chefarzt: Oberstabsarzt 
Dr. Eekermann). 

Frieda Reirlmiann; Dr.med. und Eduard Reichan, Taubstummen- 
lehrer: Zur Ucbungsbehand!ung der Aphasien ... 8 

III. Aus dem pathologischen Inst, der Yereinigten Friedrichs-Universitat 

Halle-Wittenberg (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ben eke). 
Neste, Dr., Die Beziehungen des Status thy mico-lym- 
phaticus zuin Selbstinord von Soldaten. 43 

IV. Harry Marcuse, Dr. (Ilerzberge), Stabsarzt d. R., zurzeit im Felde: 

Aufsiitze zur energetischen Psychologie. (Schluss.) . 7ft 
V. H&rald Siebert, Dr., Nervenarzt und leiteudem Arzt der psy¬ 
chiatrischen Abteilungam Stadtkrankenhaus in Libau: Ilyste- 

rischc'Dam merzustiinde. 

VI. Ernst Herzig. Dr. (Wicn-Steinhof): Ueber Krankheitsein- 



siclit. 

VII. S. Galaut, Dr. (Bern-Belp): Suggestion und psychische 
Infektion . ;. 


VIII. Friederich Kanngiesser: Zur Pathographie des Immanuel 


Kant 


IX. W. Heinicke, Medizinalrat Dr., Sachsische Heil- und Pflegeanstalt 
Waldheim, friiher leitender Arzt der Nervenstation des Res.- 
Lazaretts I Bautzen: Zur Kasuistik kriegshysterischer 


Stdrungen 


X. Albert Knapp, Dr., fr. Direktor und Privatdozent, z. Z. Komman- 

danturarzt: Spraehstorungen bei Epilepsie .... 22ft 
XI. Aus der psychiatrischen Nervenklinik Rostock-Gehlsheim (Direktor: 

Prof. Dr. Klcist). 

Gottfried Ewald, Dr. med., Assistcnt der psychiatrischen und 
Nervenklinik Rostock-Gehlsheim: Untersuchungen fiber 
fermentative Vorgange im Verlaufe der endogenen 
Verblodungsprozesse vermittels des Abderhalden- 
schen Di alysierverfahrens, und iiberdie diffential- 
diagnostische und forensische Vcrwertbarkcit der 

Methode in der Psychiatrie. 24ft' 

XII. J. Raecke, Prof. Dr. (Frankfurt a. M.): Zur Abwehr .... 282 

XIII. 21. Versammlung (K riegstagung) mitteldeutscher Psy¬ 
chiater und Neurologen in Leipzig am 27. Oktober 


1918. (Offizieller Bericht.) 


XIV. 43. Wanderversammlung der Slidwestdeutschen Neu¬ 
rologen und Irrenarzte am 25. und 26. Mai 1918 in 


Baden-Baden 


XV. Ludwig Edingerf • 

XVI. Korbinian Brodman + 


XVII. Referatc.. . . ..357 

Einsendungen werden an die Adresse des Herrn Geh. Med.-Rat 
Prof. Dr. Siemerling in Kiel (Nieraannsireg 147) direkt Oder an die 
Verlagsbuchhandlung erbeten. 


Druck von L. Schumacher hi Berlin N. 4. 



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/ 

/ 


a 



AIICHIV 

FUR 

PSYCHIATRIE 


UND 

NERVENKRANKHEITEN. 


BERLIN 1919. 

VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD. 

NW. VNTER DEN LINDEN 68. 


Go gle 





Verlag von August Hirschwald in Berlin NW. 7. 

(Durch alle Buchhandlungen zu bezieheu.) 



Soeben erschien: 

Grundriss der psychiatrischen Diagnostik 

nebst einem Anhang entbaltend die fiir den Psychiater wichtigsten Gesetzcs- 
bestimmungen und eine Uebersicht der gebraucblichsten Schlafmittel 

von Prof. Dr. J. Raecke. 

* ■ 

Siebente, umgearbeitete und verbesserteAufl. 1919. 8. Mit 14 Textfiguren. Gebd. 7 IL 

Tafeln der spinalen Sensibilitatsbezirke der Haut 

von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Goldscheider. 
gr. 8. 8 S. und 20 Doppelschemata. 1918. 1 M. 60 Pf. 

Klinik der Nerrenkranldieiten. 

Ein Lehrbuch fiir Aerzte und Studierende. 

Mit Vorwort von Prof. Dr. G. Klemperer von Dr. Leo Jacobsohn. 

1913. gr. 8. Mit 367 Textfiguren und 4 Tafeln in Farbendruck. 19 M. Gebd. 21 M. 

X^elii*l>u.cli der Blutkrankheiteu 

fiir Aerzte und Studierende. 

Von Dr. Hans Hirsolifeld. 

1918. gr. 8. Mit 7 chroinolitographischen Tafeln und 37 Textfiguren. Gebd. 32 M. 

Handbuch 

der allgemeinen und speziellen Arzneiverordnungslehre. 

Auf Grundlage des Deutschen Arzneibuches 5. Ausgabe und der neuesten auslandischeo 
Pharmakopoen bcarbeitet von Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. A. Heffter. 

Mit einem Beitrag von Prof. Dr. E. Friedberger. 

Vierzehnte, ganzlich umgearbeitete Auflage. 1911. gr. 8. Gebd. 18 M. 

HANDBUCH DER &ERICHTLICHEN MEDIZIN. . 

HERAUSGEGEBEN VON DR. A. SCHMIDTMANN, 

PROF., WIRKL. GEH. OBER-MEDIZINAL- UND VORTBAGENDER BAT etc. 


Dr. WACHHOLZ, 

PROF. IN KRAKAU, 


Db. PUPPE, 

PBOF. IN KONIGBBEBG. 


UNTER MITWIRKUNG VON 
Db. IIABERDA, Db. KOCKEL, 

PBOF. IN WIEN, PBOF. IN LEIPZIG, 

Db. ZIEMKE, Db. UNGAR, 

PBOF. IN KIEL, GEH. MED.-RAT, PROF. IN BONN. 

NEUNTE AUFLAGE DES CASPER-LIMAN’SCHEN HANDBUCHES. 


Db. SIEMERLING, 

GEH. MED.-BAT, PBOF. IN KIEL. 


1. Bd.: Allgeraeiner Teil (Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sch midt mann). Spezieller Toil: 
Streitige geschlechtliche Verhaltoisse (Prof. Dr. A. Haberda). Die nicht todlichen 
Verlctzungen. Die gewaltsamen Todesarten (Prof. Dr. Kockel). Tod durch Ver- 
giftung (Prof. Dr. Wachholz). gr. 8. 1905. Mit 40 Textfiguren. 24 M. 

II. Bd.: Tod durch Trauma (Prof. Dr. Puppe). Tod durch gewaltsame Erstickung 
(Prof. Dr. Ziemke). Kindesraord (Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ungar). Mit Gesamt- 
Registcr des Werkes. gr. 8. 1907. Mit 63 Textfiguren. 15 M. 

III. Bd.: Streitige geistige Krankheit bearbeitet von Geh. Med.-Rat Prof. 

Dr. Siemerling. gr. 8. 1906. 16 M. 





















Inlialt dcs II. und III. Heftes. 


Stitt 

XVIII. A. Westphal (Bonn): Uober doppelseitigo Athetose und 
verwandteKrankhoitszustande („stri ares Syndrom 4 *). 

Ein Beitrag zur Lchre von den Linsenkernerkrankungen. (Mit 

17 Textfiguren.).361 

XIX. Aus dcr Provinzial-Hoil- und Pflcgeanstalt Bonn. (Direktor: Geh. 

Rat Prof. Dr. Westphal.) 

P. Sioli, Dr.t Die Spirochaete pallida boi dor progressi- 
ven Paralyse. (Hierzu Tafeln III—VII.).401 

XX. E. Meyer (Konigsberg i. Pr.): Einwirkung ausseror Ereig- 

nisse auf psychogene Damraorzustande.46.5 

XXI. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Konigs¬ 

berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer.) 

Max Kastan, Priv.-Doz. Dr., I. Assistent der Klinik: Beitrag 
zur Kenntnis der mit Erhohung der Rigiditat der 
Muskeln einhergehenden erworbonen Krankheiten 
des Nervcnsystcms (Pseudosklcroso). (Mit 7 Textfig.) 477 

XXII. J. Raecke, Prof. Dr. (Frankfurt a. M.):.Uebcr Aggravation 


und Simulation geistiger Storung.521 

XXIII. Monkemoller, Dr. (Langenhagen): Die Simulation psychi- 
scher Ivrankhcitszustando in mi 1 itarforensischer 
Boziohung.604 


XXIV. Aus der psychiatrischen und Norvenklinik der Charity in Berlin. 

K. Bonhoelfer: Einige Schlussfolgerungen aus dcr psy¬ 
chiatrischen Krankenbewegung wjih rend dosKrieges 721 
XXV. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Konigs¬ 
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Moyer.) 

Franz Pfabel, approb. Arzt: Zwei hull© von Raarausfall 


nach Kopfschussverletzung.729 

XXVI. Ernst Scliultze (Gottingen): Die Geverbesteuerpflich t der 

Privatirrenanstalten. Ein Gutachten . ..742 

/ XXVII. A. Westphal: Ueber eigonartige Einscbliisse in den 

Ganglienzellen (Corpora amylacea) bei einem Falle 
von Myoklonus-Epilepsie. Vorlaufige Mitteilung. (Hierzu 

Tafeln VIII—X.).769 

XXVIII. Aus der Klinik ftir psychisch und Nervonkranke der Universitat 
Bonn. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Westphal.) 

A. H. Hiibner, Prof. Dr., Oberarzt der Klinik: Ueber die 
manisch-depressive Anlage und einige ihrer Aus- 
laufer. I. Teil.. ..783 


XXIX. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik dor Universitat Konigs¬ 
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer.) 

Cart Fiirst, approb. Arzt: Ueber dio Abnahme des Alko- 
holismus an der psychiatrischen und Nervenklinik 
zu Konigsberg i. Pr. wahrend des Krieges .... 861 

XXX. Aus dec psychiatrischen und Nervonklinik zu Kiel. 

E. Siemerling: Beitrag zur Verantwortlichkeit des 
Irrenarztos. 877 


Einsendungen nerden an die Adregse des Herrn Geh. Med.-Rat 
Prof. Dr. Siemerling in Kiel (Niemannsweg 147) direkt odor an dU 
Yerlagsbnchhandlnng erbeten. 


Druck. ?on L. Schuinnrhor in Berlin N. i. 















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