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Cornell Umoetaih* Hibrats
Strata. 53 «n flork
bought with the income of the
SAGE ENDOWMENT FUND
THE GIFT OF
henry W. SAGE
1891
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The date shows when this volume w*e t#* lro u.
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CORNELL UNIVERSITY LIBRARY
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3 1924 106 280 773
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BOUGHT WITH THE INCOME OF THE
SAGE ENDOWMENT FUND
THE GIFT OF
HENRY W. SAGE
1891
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3 1924 106 280 773
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AK 0 H 1 V
FDR
PSYCHIATRIE
UND
NERVENKUANKHEITEN.
Du. <i. ANTON,
Professor in Halle.
Du. A. HOl'HE.
l'r-;f**s>A*r-in Freiburg i.B
L)u. J. RAECKE,
!‘i ofo^or in Frankfurt a.M.
I1ERAUSGEGEBEN
VON
Oh. 0, BJXSWAXGER.
Professor in Jena.
I)u. E. MEYER,
Professor in KUnigsberg.
Dr. E. S1HULTZE.
Professor in Gottingen.
Du. K. BONHOEKKER,
Professor in Berlin.
Du. <. JIOELJ.
Professor in Berlin.
Du. E. SIEMERLINB.
Professor in Kiel.
Du. A. WESTPHAL, Du. K. WOUENBEBti,
Professor in Bonn. Professor in Marburg.
\
REDIG1ERT VON E. SIEMEKLING.
0O. HAND.
MIT I BILDN1S I NI* 10 TAFKLN
BERLIN l!Ui>.
VKRLAG VON AUGUST HIKSCHWALk
MV. L'NTKR PKN LINDEN fiS.
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ARCHiy
FOR
PSYCHIATRIE
UND
/
NERVEN KRANKHEITEN.
l)u. 6. ANTON, Dk. 0. BINSWANOBR,
Profeasor In Haile. Professor in Jena.
Dk. A. HOCHE,
Profcsaor In Freiburg 1. tt.
Dr. J. RAECKE,
Professor In Frankfurt a. M.
HERAU SG EGEBEN
▼on
Dr. E. MEYER,
Professor in Kfinigsberg.
Dr. E. SCHULTZE,
Professor in Gottingen.
Dr. K. B0NH0EFFER,
Profossor in Berlin.
Dr. C. MOELI,
Professor in Berlin.
Dk. E. S1EMERLING,
Professor in Kiel.
Dr. A. WESTPHAL, Dr. R. W0LLENBER6,
Professor in Bonn. Professor in Marburg.
REDIGIERT VON E. SIEMERLING.
60. BAND. S./3. HEFT.
Festschrift,
Herrn Geh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. C. Moell gewidmet
MIT 1 B1LDNI8 UND 8 TAFBLN.
BERLIN 1919.
VERLAG VON AUGUST fflRSCHWALD.
NW. UNTER DEN LINDEN 08.
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Festschrift
Herrn
Qeh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. C. Moeli
zu seinem »
70. Geburtstage
gewidmet von
seinen Freunden, Schulern und Verehrern.
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C. Moeli
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Hochverehrter Herr Geheimrat!
Zu Ibrem 70. Geburtstag haben sich die Freunde, Schuler und
Verebrer vereinigt, urn Ihnen in Gestalt einer Festschrift die herzlichen
Wunsche ram Ausdruck zu bringen, die uns alle beseelen.
Wenn Sie am hentigen Tage auf die Jahrzehnte freudigen nnd
unermudlichen Schaffens zuruckblicken, die hinter Ihnen liegen, so
werden Sie mit Befriedigung feststellen kSnnen, dass Ihre klinischen
und anatomischen Arbeiten eine wesentliche nnd dauernde Bereicherung
unserer diagnostischen und symptomatologischen Kenntnisse bilden.
Dass die gerichtliche Psychiatric heute eine wfirdige Schwester der
anatomischen und klinischen Forschung und eine selbst&ndige Teil-
disziplin unserer Wissenschaft geworden ist — dass der Sachverstandige
vor Gericht die seiner Bedeutung entsprechende Stellung einnimmt —,
dass insbesondere der Jurist und Mediziner sich sowohl im Gericbts-
saal, wie auch bei wissenschaftlichen Diskussionen besser verstehen
gelernt haben und getneinsam an dem grossen Problem der Ver-
brechensbek&mpfung arbeiten —, auch dazu haben Sie als Vork&mpfer
in Wort und Schrift beigetragen, und wo fiber diese Fragen ein Meinungs-
austausch stattfand, insbesondere damals, als es gait, an die bestehenden
Gesetze die bessernde Hand anzulegen, da waren wiederum Sie es, der
seine reicben Erfahrungen .in den Dienst der Sache stellte und dabei
das Erreichbare vom Wunschenswerten weise zu trennen wusste.
So haben Sie Ihr Leben iang unserer Wissenschaft gedient, als
Foracher und akdderoiscber Lehrer sowohl, wie- dadurcb, dass Sie das
Verst&ndnis fur psychiatrisches Denken und fur die sozialen Seiten
unserer Wissenschaft in der Oeffentlichkeit uncrmudlich fOrderten.
Es war selbstverst&ndlich, dass die Selbstverwaltungsbehbrde und
der Preussische Staat sich Ihre wertvoile Arbeitskraft sicherton. Sie
warden Direktor der Anstalt Herzberge, Referent fur die psychiatrischen
Fragen im Ministerium des Innern, und viele Provinzialverb&ndo und
SUtdte holten ihren Rat bei der Errichtung neuer Anstalten ein.
Die schdnste Anerkennung lhrer Fachgenossen aber wurde Ihnen
dadurcb zuteil, dass der Deutsche Verein fur Psychiatric Sie vor mehr
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als 15 Jahren zu seinero Vorsitzenden ernannte, und dass seitdem dieses
wichtige Amt in Ihren Handen blieb.
Wir, die Ihnen als Freunde oder Schfiler n&her treten durften,
wissen, dass Sie, ohne Worte zu machen, geholfen haben, wo es not
tat, dass Sie uns als Lehrer viel Anregongen zuteil werden liessen, die
fur unser gesamtes weiteres wissenschaftlicbes Denken richtunggebend
waren, und dass Sie als Vorgesetzter Ihren Untergebenen stets das
gr5sste Wohlwollen entgegengebracht haben.
Fur alles das mSchten wir Ihnen durch diese Festschrift danken
und zwei Wunsche hinzufugen, namlich einmal den, dass in der zu-
kunftigen Irrengesetzgebung die Gedanken verwirklicht werden mOgen,
die Sie seit vielen Jahren vertreten haben. Das wurde eine KrOnung
Ihres Lebenswerkes bedeuten.
Unser zweiter Wunsch gebt dabin, dass Ihnen noch viele Jahre
frOhlicher wissenscbaftlicher Arbeit an der Seite Ihrer treuen Lebens-
gef2.hrtin beschert sein mogen.
Bonn, im April 1919.
A. Htibner.
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Inhalt.
Heft I. (Ausgegeben im Marz 1919.) 8eiu
I. Aus der psychiatrischen Universitatsklinik Frankfurt a. M. (Di-
rektor: Geh. Med.-Eat Prof. Dr. Sioli).
Walther Riese, Dr.: RiickenmarksTeranderungen eines
Paralytikers. (Hierzu Tafeln I und II.). 1
II. Aus der Kgl. Psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat
Konigsberg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Meyer)
u dem Kgl. Festungshilfslazarett I (Chefarzt: Oberstabsarzt
Dr. Eckermann).
Frieda Reiehmann, Dr.med. und Eduard Reichan, Taubstummen-
lehrer: Zur Uebungsbehandlung der Aphasien ... 8
III. Aus dem patholegisehen Institut der Yereinigten Friedrichs*
Universitat Halle-Wittenberg (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof.
Dr. Beneke).
Neste, Dr., Die Beziehungen des Status thy raico-ly m -
phaticus zum Selbstmord von Soldaten.43
IV. Harry Marease, Dr. (Herzberge), Stabsarzt d. R., zurzeit im Felde:
Aufsatze zur energetischen Psychologie. (Sohluss.) . 72
V. Harald Siebert, Dr., Norvenarzt und leitendem Arzt der psy¬
chiatrischen Abteilung am Stadtkrankenhaus in Libau: Hyste -
rische Dammerzustande.153
VI. Ernst Herxig, Dr. (Wien-Steinhof): Ueber Krankheitsein-
sioht.180
VII. 8 . tialant, Dr. (Bern-Belp): Suggestion und psychische
Infektion . ;.208
VIII. Friederick Kaangiesser: Zur Pathographie des rmmanucl
Kant.219
IX. W. Heinieke, Medizinalrat Dr., Sachsische Hoil- und Pflegeanstalt
Waldheim, friiber lcitendcr Arzt der Nervenstation des Rcs.-
Lazaretts I Bautzen: Zur Kasuistik kriegshysteriscbcr
Storungen.223
X. Albert Knapp, Dr., fr. Direktor und Privatdozent, z. Z. Komman-
danturarzt: Sprachstdrungcn bei Epilepsic 220
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X
lohalt.
8eile
XI. Aus der psychiatrischen Nervenklinik Rostock-Gehlshcim (Direktor:
Prof. Dr. Kleist).
Gottfried Ewald, Dr. med., Assistent der psychiatrischen und
Nervenklinik Rostock-Gehlsheim: Untersuchungen liber
fermentative Vorgange im Verlaufo der endogenen
Verblbdungsprozesse vermittcls des Abdorhalden-
schen Di aly sicrv erf ahrens, und liber die diffential-
diagnostische und forensische Vcrwertbarkeit der
Methode in der Psychiatric.248
X1L. J. Raecke, Prof. Dr. (Frankfurt a. M.): Zur Abwohr .... 282
XIII. 21. Versammlung (K riegstagung) mitteldeutscher Psy¬
chiater und Neurologen in Leipzig am 27. Oktobcr
1918. (Offizieller Bericht.).287
XIV. 43. Wanderversammlung der Siidwestdeutschen Neu¬
rologen und Irrenarztc am 25. und 26. Mai 1918 in
Baden-Baden.307
XV. Ludwig EdingerV.351
XVI. Korbinian Brodman +.354
XVII. Referate: M. Reichardt, Allgcmeine und spezielle Psychiatrie.
— H. Schrottcnbach, Studien liber den Hirnprolaps. —
E. Kraepelin, Hundert Jahre Psychiatrie. — K. Marbo,
Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. —
L. Kaplan, Hypnotismus. — P. Schilder, Wahn und Er-
kenntnis. — S. Hens, Phantasiepriifung. — C. v. Econo mo,
Encephalitis lethargica. — R. Gaupppsychologic des Kindes.
— R. Becker, Die jiidische Nervositat. — G. Schlomer, Leit-
faden der klinischen Psychiatrie. — Arbeiten aus der psychiatri¬
schen Klinik inWiirzburg. — A. Wimmer, Psykiatrisk-Neuro-
logiske Undersogelsesraetoder. — Zeitschrift fur Militarrecht . 357
Heft II und III. (Ausgegeben im Mai 1919.)
Festschrift, Herrn Geh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. C. Moeli gewidmet.
XVIII. A. Westphal (Bonn): Ueber doppelseitige Athetose und
verwandteKrankheitszustande(„striares Syndrom").
Ein Beitrag zur Lehre von den Linsenkernerkrankungen. (Mit
17 Textfiguren.).361
XIX. Aus der Provinzial-IIeil- und Pflegeanstalt Bonn. (Direktor: Geh.
Rat Prof. Dr. Westphal.)
F. Sioli, Dr.: Die Spirochaete pallida bei der progressi-
ven Paralyse. (Hierzu Tafeln III—VII.).401
XX. E. Meyer (Konigsborg i. Pr.): Einwirkung ausserer Ereig-
nisse auf psychogene Dammerzustande.465
XXL Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitiit Konigs-
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Mod.-Rat Prof. Dr. Meyer.)
Max Kastan, Priv.-Doz. Dr., I. Assistent der Klinik: Beitrag
zurKenntnis der mitErhohung derRigiditat der
Muskeln einhergehenden erworbenen Krankheiten
des Nervensystcms (Pseudosklerose). (Mit 7 Textfig.) 477
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Inhalt.
XI
Seitft
XXII. J. Raecke, Prof. Dr. (Frankfurt a. M.): Ueber Aggravation
und Simulation geistiger Stbrung.521
XX111. MtinkenSller, Dr. (Langenhagen): Die Simulation psychi-
scher Krankheitszustande in militarforensischer
Beziehung.604
XXIV. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Charite in Berlin.
K. Benhoeffer: Einigo Schlussfolgerungen aus der psy¬
chiatrischen Kran ken be wegungw lib rend desKrieges 721
XXV. Aus der psychiatrischen und Nerfenklinik der Universitat Konigs-
berg i. Pr. (l)irektor: lieh. Med.*liat Prof. Dr. Meyer.)
FriBZ Pfabel, approb. Arzt: Zwei Falle von Haarausfall
nach Kopfsellussveilctzung.729
XXVI. Ernst Sebttltze (Gottingen): Die Gewerbesteuerpflicht der
Privatirrenansta lten. Ein Gutachten.742
XXVII. A. Westpkal: Ueber cigenartige Einschliisse in den
Ganglienzellen (Corpora amylacea) bei einem Falle
von Myoklonus-Epi 1 cpsie. Vorlaufigc Mitteilung. (Hierzu
Tafeln VIII—X.).769
XXYUI. Aus der Klinik fiir psychisch und Xcrvcnkranke der Universitat
Bonn. (Direktor: Geb. Med.-Rat Prof. Dr. A. Westphal.)
A. 11. Htthner, Prof. Dr., Oberarzt der Klinik: Ueber dio
manisch-dcpressive Anlage und einige ihrer A u s -
laufer. I. Teil. . 783
XXIX. Aus der psychiatrischen und Ncrvcnklinik der Universitat Kdnigs-
berg i. Pr. (Direktor: Gch. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer.)
('art Fiirst. approb. Arzt: Ueber die Abnahme des Alko-
holismus an der psychiatrischen und Nervenklinik
zu Konigsbcrg i. Pr. wahrend des Krieges .... 861
XXX. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik zu Kiel.
E. Sieaerling: Beitrag zur Verantwortlichkeit des
Irrenarztes..877
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I.
Aus der psychiatrischen Universitatsklinik Frankfurt a. M.
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sioli).
RlickenmarksyerUnderungen elites Paralytikers.
Yon
Dr. Walther Riese.
(Hierzn Tafeln I und n.)
Die Eltern des Kranken, um den es sich handelt, sind nach den Angaben
der Fran im hoben Alter gestorben. Geschwister bat er nicht. Seit 1909 ist
•r verheiratet, aus der Ehe ist kein Kind hervorgegangen. Er ist jetzt 43 Jahre
alt Geschlechtskrankheit vor der Ehe wird zugegeben. Anfangs besteht ein
gedeihliches Zusammenleben mit der Frau; bald fangt der Mann an zu trinken,
wird roh und gewalttatig, bedroht die Frau, sucht Bordello auf, begeht schliess-
lich ganz sinnlose Handlungen: nimmt die Fenstersobeiben heraus, steckt vor
dem Ofen Holz an, weil es ihn friert, zerkleinert immer Holz.
Er ist Kriegsteilnebmer gewesen. Wegen eines Augenleidens schwebt
ein Entlassungsverfahren. Er wird am 18. 2. 1917 in zweifellos angetrunkenem
Zustande durch die Rettungswache aus der Wohnungin die Klinik eingeliefert;
bei der Aufnahme begrusst er den Arzt in euphorischer Weise mit iallender
Sprache mit den Worten: „Ich begriisse Sie im Namen des deutschen Reiches ! w
Er riecht stark nach Alkohol. Kurze Zeit nach der Aufnahme wird eine Ex¬
ploration des Kranken vorgenommen, wahrend welcher er u. a. folgendes
produziert: „Mein Grossvater war ein Raubritter. Die ganzen Schlosser hat
er kaput gemacbt, und wenn jemand Geld haben wollte, hat er ihm mit Salz
in den Arsch gesobossen, dass er 14Tage.im kalten Wasser sitzen musste. . .
Ich babe heute 20 Kognak und ein Scbdppchen Bier getrunken, und 10 Zigarren,
dann habe ioh in meinem Lokal (Pat. ist Ton Beruf Gastwirt) den Ofen an-
gemacbt, habe einen Gummischlauch genommen und habe die Wande, die
Bilder und den Boden nass gemacht, dann habe ich einen Schrubber ge-
Dommen . . • und sauber geputzt . . . Meine Frau ist narrisch geworden, weil
ich in der Ankergasse eine Berlinerin geTogelt habe und habe die goldene Uhr
und zwei 20 Markstucke in Nr. 4 dem Madchen gesohenkt. Ioh habe sie dafiir
Ton hinten und von Torne gevogelt. Wie ich heimgekommen bin, habe ich es
der Frau erzahlt, und da ist die Frau hingegangen, und meine Frau hat
5 Mark bezahlen mussen, weil icb in den Hausgang gepisst habe . . . w
Arch!? f. Piyehiitrfc. Bd. SO. Heft 1. \
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2
Dr. Walther Riese,
An beiden Augen besteht eine Trdbung im Papill&rbereich and Kolobom;
die Beweglichkeit der Iris ist beiderseits aafgehoben; Patellarreflexe sind
beiderseits von normaler Starke, Aohillessehnenreflexe nicht anszuldson. Zange
wird gerade herausgestreckt und zeigt leiohtes Zittern, ebenso die gespreizten
Finger. Bei offenen Augen ist der Gang etwas schleudernd, bei geschlossenen
Augen unsicher. Sensibilitat am Korperstamm und an den Armen int&kt,
an den Beinen ist das Unterscheidungsvermogen fur spitz und stumpf auf-
gehoben, die Schmerzempfindung stark herabgesetzt.
Da auch nach Abklingen des akuten Alkoholrausohes der ethische Defekt,
eine erhebliche Urteilsschwache nnd deutliche artikulatorisohe Sprachstorung
und Schriftstorungen bestehen bleiben, lenkt sich der Verdacht auf progressive
Paralyse. Tatsachlich ist die Wassermann’sche Reaktion sowohl im Blut wie
im Liquor positiv, ausserdem besteht im Liquor erhohter Eiweissgehalt und
eine massige Lymphozytose.
Der weitere Verlauf der Erkrankung gestaltet sich folgendermassen:
Er ist meist unruhig und erregt, neigt zu Gewalttatigkeiten gegen das Pflege-
personal, lasst Kot und Urin unter sich, entweicht einmal aus der Klinik,
wird aber am nachsten Tage von der Rettungswache in angstlich-verwirrtem
Zustande wiedergebracht und schliesslich gegen arztlichen Rat am 16. 5. 1917
von der Frau abgeholt. Am 2. 6. schon muss ihn die Frau wiederbringen,
weil er zu Hause dauernd erregt ist, Feuer ansteckt, alles aufbricht. Jetzt
beginnt er sichtlich zu verfallen, die motorische Erregung aber besteht fort
bis kurz vor dem am 25. 7. erfolgenden Exitus letalis.
Der Sektionsbefund am Gehirn ergibt makroskopisch den fur
Paralyse gew5linlichen Befund: Die Pia ist getrubt und verdickt, die
Hirnwindungen sind abgeplattet und verschm&lert. Beim Heransnebmen
des Gehirns entleert sich reichlich Flussigkeit. Histologisch offenbart
sich die Verdickung der Pia als m&cktige Zell infiltration, namentlich
auch der Gefasse; Plasmazellen und Lymphozyten beherrschen das Bild.
Auch in der Rinde wird die charakteristische Gef&ssiufiltration nicht
vermisst, daneben trifft man auf Endothelkernwucherungen, progressive
Gliawucherungen, chronische Ganglienzellerkrankung, degenerierte
Plasmazellen, St&bchenzellen, diffusen Markfaserschwund. Auf diese
Weise wird also die schon intra vitam gesteilte Diagnose bestfitigt.
Im Riickenmark finden sich auf Markscheidenbildern folgende Ver-
anderungen: Lichtungen im Bereiche der Hinterstr&nge, namentlich zu
beiden Seiten des Sulcus long. post, und lings der ganzen Peripherie
des Ruckenmarkes bis an die Fissura long ant. heran; stellenweise auch
Andeutung von Degenerationen der Vordcrstringe und Pyramidenbahnen.
Diese Erscheinnng kehrt mit geringen und nebens&chlichen Variationen
auf verschiedenen Hfihenbildem wieder. Abgesehen nun und vOIlig
unabhangig von diesen bei der Paralyse l&ngst beschriebenen und nicht
ungewdhnlichen Yer&nderungen ausgesprochen systematischen Charakters
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Ruckenmarksveranderungen eines Paralytikers.
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treten auf drei Pr¶ten, die dem Brastmark entstammen, plOtzlich
Herde auf, die vOllig entf&rbt, tod der Omgebung scharf abgegrenzt
sind, fast ansscbliesslich die weisse Substanz befallen and ohne jede
Beziehang zur Gliederung derselben zu stehen scheinen. (Fig. 1, Taf. I.)
Sie baben die mannigfaltigste Gestalt: oval, keilfbrmig, vom Rande aos
hineinragend, bohnen- Oder nierenfOrmig, bei schwacher VergrOsserung
scheint die Markhalle am Rande der Herde wie abgeschnitten; aber bei
stlrkerer VergrOsserung kann man feststellen, dass der (Jebergang der
gefirbten in die ungef&rbte Substanz mehr allm&hlich stattfindet, unter
BrOekelnng nnd Klumpnng des Myelins; vereinzelt erblickt man auch
noch in den ungef&rbten Herden Reste stehengebliebener, gef&rbter
Markhullen (Fig. 2, 3, Taf. I.)
Elektivf&rbungen dieser Herde in anderer Richtung namentlich die
in diesem Falle so wichtige Darstellnng der Axenzylinder haben leider
nicht vorgenommen werden kOnnen, da sich diese drei marklosen Herde
gleich im ersten Block gefunden haben, der in Bearbeitung genommen
werden ist and zun&chst nnr mit der Spielmeyer’schen Methode auf
Markfasern hat gef&rbt werden sollen. Trotz intensiveu Suchens haben
in anderen Teilen des Zentralnervensystems keine derartigen fleck-
fOrmigen Herde mehr ausfindig gemacht werden kOnnen. Bei der Deutung
dieses merkw&rdigen Befundes kann es sich also im Hinblick auf die
Einseitigkeit des histologischen Bildes nur urn eine Wahrscheinlichkeits-
diagnose handeln. FleckfOrmiger Schwund von Markfasern im Rucken-
mark ist an sich wohl schon lange bekannt. Jedenfalls weiss Haenel 1 )
scbon auf Arbeiten aus der SLlteren Literatur hinzuweisen, in denen fleck -
weise auftretende, syBtemlose Degenerationen der Markfasern beschrieben
werden. Von den Befunden der zitierten Autoren scheint sich aber nur
der von BTasch 2 ) mitgeteilte, unter dem Bilde der tabischen Paralyse
verlaufende Fall von Syphilis des Zentralnervensystems mit Sicherheit
auf einen Fall von progressiver Paralyse zu beziehen. Haenel’s
eigene Beobachtung betrifft einen Fall, in welchem sich neben einer
syphilitischen Meningitis der Gehimbasis und des Ruckenmarks, neben
ausgebreitetem Faserschwund und einer Gliomatose der Grosshirnrinde,
so wie michtigen Gpendymgrannlationen in alien Ventrikeln in der
Medalla oblongata und im Rflckenmark zahlreiche berdfOrmige, den
Systemen nirgends entsprecbonde Faserdegenerationen und Bildung von
sklerotischen unregelmSssigen kernarmen Plaques gefunden haben.
1) Beitrag zur Kenntnis der Syphilis des Zentralnervensystems. Aroh.
f. Psycb. 1900. 33. Bd.
2) Neurol. Zentralbl. 1891. Nr. 16.
1*
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4
Dr. Walther Riese,
Es ist daher naheliegend, deD herdfOrmigen Markfaserschwnnd der
mitgeteiltea Beobachtung in Zasammenhang zu bringen mit Befundon,
die von Spielmeyer 1 ) im Ruckenmark eines Falles von sicherer
progressiver Paralyse erhoben worden und von ihm als ungemein selten
bezeichnet worden sind; im Gegensatz zu analogen Rindenherden, dem
von ihm bezeichneten „kortikalen Markfrass", in dem er sogar anf
Grand der Haufigkeit seines Vorkommens u. a. ein wichtiges, ana-
tomisches Charakteristikum der progressiven Paralyse erblicken will.
Dieser kortikale Markfrass hat sich, wie schon betont, in der Rinde
nnseres mitgeteilten Falles nirgendwo erheben lassen; vielmehr gestaltet
sich der zerebrale Markfaserausfall in unserem Falle nur nacb dem bei
Paralyse gewOhnlichen Bilde des diffusen, gleichm&ssigen Schwundes.
Die Markscbeidenbilder im Ruckenmark indes scheinen eine vollige
Identifizierang mit dem Spielmeyer’scben Fade zuzulassen; aach hier
die gleichen Charakteristika der Herde wie bei Spielmeyer: regellos,
von Fasersystemen unabh&ngig, scbarf begrenzt, „die an die Herdgrenze
heranziehenden Fasern erscbeinen wie abgeschnitten u ; sekund&re
Degenerationen treten im Geiolge der Herde nicht auf, das Querschnitts-
bild des Ruckenmarks wird nirgends im Sinne einer solchen sekund&ren
Degeneration ver&ndert gefunden. Aach andere, in den verschiedensten
HOhen vorgenommene, spezifiscbe Farbungen lassen in der Substanz des
Ruckenmarks keine Veranderungen entdecken, die mit den fleckfCnnigen
Herden in urs&chlichen Zusammenhang gebracht werden kdnnten.
Die zweite Reihe von pathologischen Veranderungen des Rucken¬
marks, die unser Fall bietet, spielt sich am mesodermalen Gewebe ab,
d. h. an der Pia und der Wand der Blutgefasse. Die Pia weist allseitig
eine recht erbebliche Verdickung auf, die sich bei genauerer Analyse
als zeliiger und bindegewebiger Natur erweist. Der zellige Anteil wird
durch eine Infiltration von morphologischen Elementen dargestellt, die
sich bei spezifischen Farbungen als Lymphozyten und Plamazellen offen-
baren. Neben diesen meningitiscben Veranderungen und unabhangig
von ihnen treten zellige Infiltrate auf, die an gummbse Bildungen er-
innern. Diese zelligen Infiltrate der Pia scheinen zwei Typen zu
folgen: einmal besteht eine mebr diffuse, gleichmassige Durchsetzung
der weichen Haut des Ruckenmarks mit Zellen lymphozytarer Natur.
Andererseits kdnnen Bilder beobachtet werden, bei denen man von aus-
gesprochen umschriebenen, scbarf begrenzten Infiltrationen zu sprechen
gezwungen ist. Auf diese Weise kommen allerhand Variationen zu-
1) Ueber einige anatomischeAehnlichkeiten zwischen progressiver Paralyse
und multipler Sklerose. Orig. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 1910.
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Rfickenmarksreranderungen eines Paralytikers.
5
staude: perivaskulfire Infiltrate, herdfOrmige irgendwo in der Pia, herd-
formige Zellwucherungen in einer Wurzel von nicht ganz gleichm&ssigem
Charakter dergestalt, dass die etwa kreisfOrmige Wurzel nur auf der einen
Hfilfte von einer nennenswerten Infiltration durchsetzt ist, wahrend im
dbrigen der Peripherie entlang ein Saum von Zellen gewnchert ist;
lnfiitrationen, die sich mitten in der Achse einer Wurzel ausgebildet
baben; iehrreich und interessant sind auch jene Bilder endlich, bei denen
ein scharf gegen die Umgebung abgesetztes, zelliges Infiltrat eine Wandung
des Geffisses geradezu in das Lumen vorbuchtet. (Fig. 4—6, Taf. I u. II.)
Kiesenzeilen haben sich nirgends gefunden. Was die Verfinderung der
Gefisse anbetrifft, so darf mit vollem Rechte von einer Endarteriitis
obliterans gesprochen werden, jener Erkrankung mittlerer und grosser
arterieller Geffisse, die von Heubner zuerst beschrieben, und von ihm
— wenn auch nicht mit vollem Rechte — als charakteristisch fur den
syphilogenen Charakter der jeweiligeu Erkrankung bezeicbnet worden
ist. Jedenfalls sind wir imstande, an unserem Falle -die typiscben und
charakteristiscben Verfinderungen solcher erkrankten Gefasse nach-
zuweisen. In alien Hdhen des Ruckenmarks haben sich diese Gefass-
verfinderungen ausfindig machen lassen. Sie bestehen in einer Wucherung
der Intima, die stellenweise von einer solchen M&chtigkeit ist, dass es
fast zu volliger Verlegung des Lumens, zu einem Gefassverschluss ge-
kommen ist. Daneben besteht jene Aufsplitterung der Membrana elastica
iu mehrere Lamellen, die den Weigert’schen Resorzin-Fuchsin-Praparaten
ein so charakteristisches Geprage gibt. Die Intimawucherung ist ubrigens
nicht stets gleichmassig, oft vielmehr lassen Querschnittsbilder der
erkrankten Gefasse deutlich erkennen, dass eine Seite der Gefasswandung
von der Verdickung bevorzugt ist.
Wie sind nun die erhobenen Befunde zu bewerten?
Diffuse lnfiitrationen der Meningen und der adventitiellen Lyraph-
ravt<e mit Plasmazellen und lymphozytaren Elementen gehdren auch
im paralytischen Ruckenmark zu charakteristischen, wenn auch im
Gegensatz zum Grosshirn keineswegs haufigen Befunden (Schroeder,
K. Meyer). In solchen lnfiitrationen kann zun&cbst ebensowenig wie
in unseren diffusen und herdffirmigen Infiltraten an sich schon etwas
spezifisches erblickt werden. In diesem Zusammenhange darf vielleicht
auch erwahnt werden, dass sich in unserem Falle weder im Dunkelfeld
nocb im Schnittpraparat von Hirn und Ruckenmark, die nach Jahnel’s 1 )
Methode gefarbt worden sind, Spirochaten gefunden haben. Wenn man
1) Studien fiber die progressive Paralyse. Arch. f. Psych. Bd. 56. H. 3.
bd. 57. H. 2 u. 3.
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6
Dr. Walther Riese,
sich nun aber vor Augen halt, dass jene Infiltrationon der spinalen Pia zur
Beobachtung gelangt sind bei einem Fall, dessen klinischer Yerlauf,
sowie kOrperlicbe und psychische Symptome, dessen anatomische Hirn-
verfinderung keinen Zweifel an dem paralytiscben Charakter der Er-
krankung aufkommen lassen, so wird man jene spinalen Infiltrationen
in Zusammenhang mit den arteriitischen Veranderungen unschwer als
spezifiscb luische deuten dfirfen. Ueber das Vorkommen solcher gum m 5s-
luischen Veranderungen im Rfickenmark von Paralytikern hat meioes
Wissens bisher nur 0. Fischer 1 ) berichtet, der Prfiparate hierher-
gebOriger Falle hat demonstrieren kOnnen. Bei der systematischen Unter-
suchung von 14 Rhckenmarken haben sich in 4 Fallen Verandernngen
linden lassen, die Fischer nicht zfigert, als gummOse zu bezeichnen
und sie in Parallels zu setzen zu den milliaren Gum men Straeussler’s,
die in etwa 4 pCt. der paralytischen Gehirne vorkommen.
Bndlich sei noch einer merkwfirdigen Veranderung gedacht, die
sich nur an einer einzigen Stelle des unteren Brustmarkes im Nissl-
schen Zelipraparat gefunden hat, und deren Deutung durch das Febien
von Serienschnitten erschwert ist. Mitten im Lumen eines pialen Ge-
ffisses von mittlerem Kaliber, das im Querschnitt getroffen ist, Liegt
ein rundliches Gebilde von jener blassblauen Farbe, mit der sich der
Dntergrund des ganzen Pr¶tes tingiert hat, mit reichlichen, dunkel-
gefarbten, vorwiegend l&nglichen Kerneu, ein Gebilde, das allseitig von
der Gefasswaod abzugrenzen ist und selbst im Innern eineu lnmenartigen
Spalt besitzt. (Fig. 7, Taf. II.) Diese Neubildung imponiert zunachst als
thrombusartiger oder mit Thrombenbildung in Zusammenhang stehender
Korper, und mit Bestimmtheit darf man eine derartige Anuahme an der
Hand eines einzigen Praparates wobl kaum zuriickweisen. Indessen
hat Cerletti 2 ) bei seinen Studien fiber scheinbare intrava^ale Gefass-
neubildung ahnliche Bilder gesehen und andere Erklarungsmfiglichkeiten
aufgezeigt. Er bringt sie in Zusammenhang mit einer Losl5sung der
Endothelwand, deren Entstehungsmechanismus auf Grund krankhafter.
agonaler, kadaverdser Vorgange und der von den Fixierungsflussigkeiten
ausgefibten Wirkung allerdings unentschieden bleiben muss. Daneben
hat aber Cerletti ahnliche Bildungen offenbar anderer Genese beob-
achtet, deren Deutung weitaus sebwieriger ist als in Fallen von Los-
lOsung der Endothelwand; oft lasst sich selbst durch Untersuchung von
Serienschnitten eine befriedigende Erklarung nicht geben. Dahin gehOrt
auch eine Beobachtung, die mit unserer eigenen (nach Cerletti's
1) Allgem. Zeitschr. f. Psych. 1914.
2) Histologische nnd histopathologische Arbeiten. Jena 1911.
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Ruckenmarksveranderungen eines Paraiytikers.
7
Photograpbie) eine auff&llige Aehnlichkeit zu besitzen scheint, und die
Cerletti dorcb Einstfilpung (Invagination) desGef&sses in einen weiteren
Toil desselben Gef&sses bis zu einem gewissen Grade erklaren zu kdnnen
glanbt.
Wirft man endlich fiber die wichtigsten Befunde, die dieser Pall
zu erheben gestattet, einen zusammenfassenden Deberblick, so bietet
er folgendes:
1. fleckfOrmigen Markfaserschwund im paralytischen Rfickenmark;
2. gummOse Neubildungen in der Pia; endarteriitische Ver-
finderungen,
3. wahrscheinlich sogenannte scheinbare intravasale GefSLssneu-
. bildung.
Es tauebt die Frage auf: bestehen Beziebungeu zwischen den fleck-
fSrmigen marklosen Herden einerseits und den tertiSr-luetischen oder
endarteriitischen Verfinderongen andererseits? Insbesondere ist zu er-
wigen. ob sich zwischen Gef&ssverfinderungen und fleckfQrmigem Mark¬
faserschwund eine kausale Brficke schlagen l&sst. Es ist nicht ein-
zusehen, warum derartige ursSchliche Beziehnngen nicht statthaben
sollten. Die Spielmeyer’sche Beobachtung l&sst sicb in dieser Hinsicht
nicht als Vergleichsobjekt heranziehen, da bei ihr endarteriitische und
terti&r-luetische Ver&nderungen vermisst werden.
Allerdings ist aucb denkbar, dass bei der progressiven Paralyse
fleckffirmige Markausf&lle verschiedener Genese auftreten.
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II.
Aus der Kgl. Psychiatrischen a. Nervenklinik der Universitat Konigs-
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Meyer) u. dem Kgl.
Festungshilfslazarett I (Chefarzt: Oberstabsarzt Dr. Eckermann).
Zur Uebungsbehandlung der Aphasien.
Von
Dr. med. Frieda Reichmann und Taubstummenlelirer Eduard Reichau 1 ).
Froschels weist in einer seiner Arbeiten fiber die Behandlung der
Aphasien 1 ) auf die grosse Bedeutung hin, welche der Therapie der
Sprachstfirungen ffir ihre tbeoretische Erkenntnis zukomme. Unter diesem
Gesichtspuukt bringen wir im Folgenden einige Erfahrungen aus unserer
Uebungsschule ffir sprachgesch&digte Hirn/erletzte mit den theoretischen
Ueberlegungen und Problemstellungen, zu welchen sie uns anregen.
Jedem Untersucher sind die Besserungen zentraler Ausfallserscbei-
nungen, insbesondere apbasiscber Symptome bekannt, welcbe bei fiber-
haupt riickbildungsfaliigen Fallen scbon nach eingebenden klinischen
und psychologiscben Untersuchungen beobachtet werden kfinnen. Die \
Untersucbung wirkt hier als Uebungsbehandlung. ‘Von dieser Erfabrung
ausgehend, bat schon Broca die Hoffnung auf eine Heilbarkeit der
motorischen Aphasien durch padagogische Behandlung ausgesprochen;
auch sind von den altereu Autoren verschiedentlich fibungstherapeutische
Versuche gemacht worden.
Eine bewusste „heil padagogische Psychotherapie" der aphasischen
Symptome 2 ) ist jedoch im Frieden nur von wenigen Autoren angeregt
und durchgeffihrt worden, in Deutschland zuerst 1877 von Kussmaul 3 4 ),
1) Die Arbeit ist im Marz 1918 abgeschlossen and im Mai 1918 eingesandt
worden. Die seither erschieneneLiteratur konnte alsonichtberficksichtigtwerden.
2) Ueber die Behandlung der Aphasie. Arob. f. Psych. Bd. 53.
3) Hartmann, Uebnngsschulen ffir Gehirnkruppel. Mfinchener med.
Wochenschr. 1915. Nr. 23. 1916. Nr. 12.
4) Die Storangen der Sprache. 1877.
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' Zur Uebungsbehandlung der Aphasien.
9
der methodologische Uebungen von Lauten, Silben, WOrtern und S&tzen
unter Beachtung.der Mundstellung des Lebrers fordert, also dem Grund-
gedaukeu uach scbon die aacb heate in der Aphasiebehandlung ange-
wandte optiscb-taktile Methode des Taubstummenunterrichtes, von der
waiter unten eingebender die Rede sein soil 1 ). (Unbewosst haben in
Taubstummenanstalten wohl scbon lange vorher neben Tanbstummen
„H5rsturame u , d. b. also aphasische Kinder, auf optisch-taktilem Wege
sprechen gelernt.) Eine Erweiteruog der Kussmaul’schen Vorschlftge
findet sich bei Oppenbeim 2 3 ) and Nemann 8 9 ); sie fordern eine Indivi-
doalisiemng des systematischen Spracb- and Schreibunterrichts je nach
den Innervationswegen und Sinneseindrucken, fur welche die Sprach-
zentren des betreffenden Kranken nocb ansprechbar sind. Auf die Be-
deutung des Scbreibuuterrichts bei der Bebandlung der SprachstOrungen
weist spAter Stadelmann besondera bi 5 6 n 4 ).
Grundlegende methodologische Bereicberung bedeutet die dann ein-
setzende Mitarbeit neurologisch gescbulter Logop&den, vor allem Gutz-
mannV), sp&ter Frdschels’*) und Liebmann’s 7 ). Beide Autoren
ziehen die optiscb-taktile Metbodik des Tanbstummenunterrichts in vollem
Umfang znr Behandlung der motorischen Apbasien beran. Gutzmann
lasst ferner als erster linksh&ndige Schreibubungen auafflhren, ebenso
wie sp&ter Berkhan 8 ), Fr&nkel 0 ), Bernhardt 10 ), Dejfirine 11 ),
Frdschels.
1) Die von Kussmaul zitierten auslandischen Autoren Trousseau,
Ramskill, ferner die bei Oppenheim zitierten einschlagigen Arbeiten von
Danjou, F4r4, Thomas und Roux, Mills u. a. konnten nioht berucksichtigt
werden, da uns die einschlagige Literatur gegenwartig nicht zuganglich ist.
2) Lehrbuch der Nervenbrankheiten.
3) Dissertation. 1884.
4) Therap. Mon.-Hefte. 1903. S. 251 ff.
5) a)Lehrb.d.Sprachhlk.Berlin 1912. b)Penzoldt-Stintzing’sHand-
boob. 5. c) Zeitschr. f. physik. Tberapie. 8. d) Arch. f. Psych. 20. 28. S. 354.
e) Mon. f. ges. Sprachheilk. f) Zur Behandlung der Aphasie. Kongr. f. innere
Med. Wiesbaden 1907. g) Berliner klin. Wochenschr. 1901. S. 28. 1916. Nr. 7.
6) Froschels u. Siemon, Erfahrungen fur die Ohrenheilkunde. 1911.
Lehrb. d. Sprachheilk. Wien u. Leipzig 1913; Arch. f. Psych. Bd. 53. Bd.56;
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1915; Wiener med. Wochenschr. 1915;
Zentralbi. f. d. ges. Tberapie. 1916.
7) Int. med. Mon.-Hefte. 1913.
8) Ueber Storungen der Spraohe und der Schriftsprache. 1899.
9) Arch. f. Psych. 1908. Bd. 43.
10) Virch. Arob. 1906.
11) Rev. near. 1908.
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10 Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reichau,
Goldscheider 1 ) und scin Schuler Bonge 2 3 ) bringen 1894 und 97
einige weitere Anregungen, wie die Bevorzugung des scbwierigeren sinn-
losen Sprachubungsmaterials vor dem sinnvollen, um eine begriffliche
Ablenkung des Lernenden zu Gunsten der Konzentration auf den rein
artikulatorisclien und lautlichen Wert des Uebungsstoffe9 zu erzielen.
Einen eingebenden kasuistiscben Beitrag zur Uebungsbehandlung der
Aphasien verdanken wir Mohr 1899®). Froment und Monod 4 ) lebnen
die optiscb-taktile Methods ab und versuchen die Sprache auf dem
Wege fiber das Lautklangbildzentrum zu erwecken, ohne die Aufmerk-
samkeit auf d^e artikulatorische Komponente zu lenken. Froschels
und Pick 5 6 ) habeu sich wiederholt rait dieser Methode auseindergesetzt:
wir kommen darauf spater zurfick.
Alle bisher genannten Arbeiten bezieheu sich fast ausscbliesslich
auf motorische Aphasien. Fur die sensorischen Sprachstfirungen gait
nach den Friedenserfahrungen der Grundsatz, dass sie im allgem einen
leichter spontan ruckbildungsfahig, aber der Uebungsbehandlung weniger
zuganglich seien als die motorischen. Scbon Bastian, spater Heil-
bronner 8 ) u. a. weisen allerdings darauf bin, dass die scheinbare spon-
tane Besserung der sensorischen Aphasien unter dem Einfluss des Unter-
richts geschehe, welcher — wie wir schon weiter oben erwalluten —
durch wiederholte Untersuchungen unwillkfirlich erteilt wird. Auch wir
selbst hielten in der ersten Zeit unserer ubuugstherapeutischen Versucbe
an dieser Auffassung fest.
Nur Gutzmann, Goldscheider und Frfischels 7 ) berichten
kurz fiber systematische Behandlungsversuche ihrer Friodensffille von sen-
sorischer Aphasie.
Gutzmann und Goldscheider empfehlen Verwertung des Ab-
lesens vom Munde und des Scbriftbildes (event, phonetische Bilder-
fibeln), FrOschels einfache Worterbucher mit Bildern.
Erst die Kriegsliteratur fiber Sprachfibungsbehandlung berficksichtigt
die sensorischen Aphasien baufiger. Die heilpadagogische Bcbandlung
erfubr ja bekanntlich in den Uebungsschulen der IJirnverletzten-Lazarette
durch die gemeinsame Arbeit von Aerzten und Padagogen an der grossen
Zahl jugendlicher Spracbgestorter mit rfistigen Gehirnen eine viel grdssere
1) Berl. klin. Wocbenschr. 1891. Handb. d. pbysikal. Therapie.
2) Dissert. 1897. Berlin. J. Schade.
3) Aroh. f. Psych. Bd. 39.
4) Lyon m66. 1914.
5) Arch. f. Psych. Bd. 56. S. 810.
6) a. a. 0.
7) Berl. klin. Wochenschr. 1917. Nr. 29. Arch. f. Psyoh. Bd. 58.
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Zur UebungsbehandluDg der Aphasien.
11
Bedeutung, als sie der Therapie der Friedensaphasien Alterer Individuen
mit zerebralen Allgemeinsch&digungeu ziikommen koonte. Poppel¬
reuter, Hartmann, Gutzmann, Goldstein, Frdschels, Aschafr
fen burg, Reichmann haben darnber wiederholt berichtet.
Yon den ersten Mitteilungen aus der Debungsschule Poppelreu-
ter’a 1 ), in welcber die verloren gegangenen Sprachelemente motorisch
und sensorisch Aphasiscber „wie Vokabeln einer fremden Sprache u mit
Hilfe der Bild-, Schreib- and Leseeinpr&gung wieder erlernt werden
so 11 ten, bis zu den Anregungen Goldstein’s and Poppelreuter’s
auf der Tagnng der dentscben Vereinigung fur Kruppelfiirsorge im
Februar 1916 2 ) und zur Einrichtung der siebenklassigen Uebungsscbule
dee KOlner Kopfschussverletztenlazaretts mit ihren 12 Lehrkrftften 3 ) bat
die Uebungsbebandlnng der Aphasien im Kriege eine weitgebende Ent-
viekelung durcbgemacbt. Heute bebandelt Poppelreuter die motorischen,
sensorischen und psychogen geschadigten Spracbkranken in getrennten
Klassen. Bei den motorischen Aphasien stehen Lautbildungsubungen,
Nachsprechen, Rezitieren, bei den sensoriscbeu Sprachstorungen ein-
gehender Anscbauungsunterricht im Vordergrunde der Behandlung.
Die Forderung getrennten und je nach der Art der sorgf&Itig ana-
lysierteu Sprachdefekte individualisierten Unterricbts ist jetzt Allge-
meingut der Hirnverletztenschulen. Goldstein 4 ) trennt von den scbweren
motorischen Aphasien, die er wie Gutzmann und Poppelreuter be-
handelt sehen will, leicbtere, bei denen Schnelligkeit und prompter
Ablauf durcb rasches Reihen- und Nachsprechen geubt werden sollen.
Wortarmut und Agrammatism us sollen durcb Lesen, NacherzUhlen und
Bilderbescbreiben, sensorische StOrungeu durch systematiscbe Unterhal-
tungen gebessert werden, welche nach inhaltlichen Schwierigkeiten ge-
ordnet sind. Auf die weitgehende Heranziehung etwa erhaltener Schreib-
und Lesefahigkeit wird in Uebereinstimmung mit den Ulteren Autoren
hingewiesen Auf diese, wie uberhanpt auf die Mitverwertung aller
erhaltenen Restfuuktionen und aller Wege, auf welchen die jetzt ge
1) Erf. und Anregung zu einer Kopfschuss-Invalidenfiirsorge. Neuwied
und Leipzig. Houser’s Verlag. — Miinohener med. Wochensohr. 1915. Nr. 14.
Arob. f. Psycb. Bd. 56. (Wandervers. sddwestdeutscher Neurol.)
2) Zeitscbr. f. Kruppelfiirs. 1916.
3) Psych. Sch&digungen im Kriege 1914/16. Bd. 1. Leipzig, Leop. Voss.
Vergl. dazu ferner Volk, Padag. Ztg. 1916. Nr. 3.
4 ) Fortschr. d. Med. 1915/16. Nr. 22. — Miinchener med. Woohenschr.
1916 . Nr. 23. — Zeitscbr. f. Arztl. Fortbild. 1916. — Jahresber. f. Neur. u.
Psyeb. Bd. 19.
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12
Dr. Frieda Reichmann and Edaard Reich&u,
sch&digten Funktionen physiologischerweise erworben wurden, legt
Aschaffenburg 5 ) besonderen Wert.
In gleicher Weise wie die letztgenannten Autoren handhaben auch
wir die Debnngsbebandlung unserer sprachgesch&d igten Hirnverletzten.
A. Behandlnng der motorischen Aphasien.
Bei der Behandlung der naotorischen Aphasien unterscheiden wir
nach tberapeutiscben Gesichtspunkten drei Gruppen; dabei handelt es
sich nicht urn verschiedene Aphasieformen, sondern lediglicb um ver-
schiedene Stadien der Ruckbildung.
1. To tale motorische Aphasien behandeln auch wir mit der
optisch-taktilen Methode. Diese berubt bekanntlich darauf, dass die
Sprache beim Ausfall der zentralen oder peripheren akustiscben An-
sprechbarkeit (Aphasie, Taubstummheit) der Sprachzentren mit Hilfe
optischer und taktiler Lautbilduugseindrucke neu entwickelt wird. Man
zeigt dem Patienten die fur jeden Laut charakteristische Mundstellung
und lasst ihn die von der Sprechluft erzeugten Vibrationeu mit der vor-
gelegten Hand am Kehlkopf bezw. vor dem Munde oder vor der Nase
fuhlen.
Der Patient wird nun aufgefordert, mit Hilfe eines Spiegels und
der vor den eigenen Mund gehaltenen Hand die aufgenommenen opti-
schen und taktilen Lauteindriicke unter stSndiger Eontrolle und Hilfe
des Lehrers so lange nachzuahmen, bis es ihm gelingt, den Laut zu
bilden. Schliesslich muss er bei jedem Laut genau wissen, wie er die •
Sprachwerkzeuge einzustellen und den Luftstrom zu leiten hat. Durch
diese Lautbildungsversucbe werden dem Patienten selbst Artikulations-
bzw. Innervationsgefuhle im gesamten Sprachapparat bewusst gemacht, die
beim normalen, akustisch sprechenden Individuum in der Regel rein reflek-
torische sind. Und diese Umbildung des von aussen zugefuhrten opti-
schen oder taktilen Lauteindrucks zum eigenen kinasthetischen Eindruck
ist sicber die zweite bedeutsame Komponente der optisch-taktilen Sprach-
bildungsmethode; denn nicht die bei der ersten Lautentnicklung an den
Artikulationsorganen des Lehrers gewonnenen Tasteindrucke oder am
Munde des Lehrers und im Spiegel empfangenen optischen Wahrneh-
mungen sind es letzten Endes, die der Patient schliesslich beim Sprechen
verwendet; sondern die kinasthetischen Erinnerungsbilder, die sich mit
jedem neu erlernten Laut verbinden, bilden die eigentliche Stutze der
1) Samml. zwangl. Abh. a. d. Geb. d. Nerven- a. Geisteshrankh. 11.Bd.
H. 6. Halle 1916. Karl Marhold.
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Zur Uebnngsbehandlnng der Apbasien.
13
auf optisch-taktilem Wege erworbenen Spracbe, wie etwa die akustischen
Engramme bei normal sprechenden auditiv veranlagten Individuen.
Aufbauend auf die so entwickelten Laute werden dann Silben,
Worte und S&tze gebildet, bis der Kranke wieder in den Besitz der
Spracbe gelangt ist.
Neben der Artikulation erfordern spater die normale, sowie die stofif-
liebe Seite der Spracbbildung grdsste Aufmerksamkeit; mehr wohl die
formale, da ja bekanntlich die Anwendung von Formworten bei Moto-
riseb-aphasiseben in der Regel auch dann nocb gestflrt ist, wenn sich
die Sprachfahigkeit far selbstandige sinnvolle Worte schon leidlich resti-
tuiert bat.
II. Auch bei niebt totaler motorischer Aphasie, sondern
partiell restitoierten oder transkortikalen Formen, deren spontane Ruck-
bildong aosbleibt, fuhrten wir eine optisch-taktile Entwicklung aller
Einiellaute durcb.
Entgegen der Ansicht von Froment und Uonod (siehe oben)
nehmen wir also wie FrOschels an, dass die erhaltenen spraebliehen
Erinnerongen bei solchen Kranken nicht stark genug sind, um durch
bloeses Vor- und Nachsprecben wieder zum vollen Anklingen gebraebt
zu werden. Sondern die spraebliehen Engramme bedurfen, um zu voller
Deutlicbkeit zu gelangen „des artikulatonschen Romplements u . Wir
wenden deebalb heute bei alien Fallen von motorischer Aphasie prin-
zipiell die optisch taktile Methode an.
Die ersten motoriseben Apbasien unserer Debungsschule teilten wir
naeh Pick’s vermittelndem Standpunkt in akustisch (d. h. auf dem
Wege des Vor- und Nachsprechens) behandlungsfahige Fa lie, bei welchen
die „Einstellung des akustischen auf den motorischen Apparat“ noch
erbalten war, und in solcbe mit gestdrtem akustisch-motorischem Mecha-
nismus, die nur optisch-taktiler Behandlung zug&nglich sind. In der
Praxis ergab sich uns aber bald die Erfahrung, dass in alien Fallen,
wo noch AuBfallserscheinungen des zentrafen sprachlicben Exekutivappa-
rates best an den, auch seine Abstimmung auf den akustisch perzipierten
Sprachanteii in irgend einer Form gestdrt war, zum raindesten keine voll-
kommene Prizision und Sicherheit aufwies. Es fehlte deshalb die Merk-
fihigkeit fur die im Wege der Vor- und Nachsprechens erlernten Laute,
Worte oder Silben, so dass spracbliche Elemente, die in einer bestimmten
Lautverbindung auf akustischen Wege eingeiibt und richtig nacbge-
bildet werden konnten, in jeder neuen Verbindung wieder neu erlemt
werden mussten. Dadurch werden sehr haufige ermudende ubungsthera-
peutische Wiederholungen notwendig, die vom Eranken gleichwohl immer
wieder als Neuerwerbungen empfunden wurden. Der sebeinbare thera-
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14 Dr. Frieda Reiobmann and Eduard Reichaa,
peutische Umweg uber die optisch-taktile Methode ffihrt deshalb schliess-
lich docb schneller und sicherer zam Ziele, als die theoretisch anschei-
nend einfachere akustiscbe Methode.
Oft gelingt es z. B. auf diese Weise Kranke, die auf dem Wege .
des Vor- und Nachsprechens, Schreibens und Lesens usw. keine Fort-
schritte im Spontansprechen gemacht haben, dahin zu ffihren, dass sie
Worte, die mit einem bereits optisch-taktil entwickelten Laut beginnen,
spontan sprechen kfinnen, auch wenn die fibrigen Laute des Wortes
noch nicht optisch-taktil erlernt sind. Obne diese optisch-taktile Stfitze
konnten sie die gleichen Worte zwar nachsprechen, aber auch nach
wochenlanger Uebung nicht selbst&ndig bildon. Dies Verhalten erinnert
an das bei einzelnen Aphasieformen mit erhaltenem Reibensprechen bei
gegebenem Anfangsgliede. Der Kranke kann die Reihe (hier das Wort),
deren Einzelglieder er nicht zu bilden vermag, als Ganzes sprechen,
wenn ihm das Anfangsglied (hier der erste Laut) gegeben ist.
In schweren Fallen motorischer Aphasie wird es sich nicht nur um
eine Wiedererweckung vorhandener sprachlicher Engramme, sondern um
eine vollst&ndige sprachliche Neuentwicklung bandeln; das beweist einer
unserer Falle, der als Gesunder einen bestimmten Dialekt (ostpreussisch
Platt) sprach, durch Uebungsbehandlung die dialektfreie Schriftsprache
vollstfindig wieder eriernte und dann nicht mehr im Stande war, den
ihm doch vorber vertrauteren Dialekt zu sprechen.
A. G., Fusilier, 21 Jahre alt, Landarbeiter.
18.4. 1916. Kopfschussverletzung. Hemiparese reohts. Sprachrerlust.
5. 9. 1916. Aufnahme auf der Station fur Kopfschussrerletzte Festungs-
l&zarett I, Konigsberg i. P.
Befund bei der Aufnahme:
Spontansprache: —.
Reihensprechen: —.
Gegenstande bezeichnen: —.
Gegenstande erkennen: -J-.
Nachsprechen: (Papa) „P — h — a — p — h — a“. (Garten) „ter
— ter“. (Gartenhaus) „tero — ter u spricht nicht weiter, doch empfindot er
selbst, dass er eine Silbe zu wenig rhythmisiert habe. Abmt weiter© vor-
gesprochene Worte dem Stimmfall und der Silbenzahl nach richtig nach, be-
merkt selbst, dass er sie falsch ausspricht.
Lesen:
Lautlesen: —.
Leiselesen: -j-(Kommt schriftlich an ihn gerichteten Aufforderungen
nach).
Buchstaben erkennen: -j-.
Worte aus Buchstaben zusammensetzen:
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Zur Uebungsbehandlung der Apbasien.
15
Schreiben:
Spontanschrift: (Tag der Verwundung?) 18. A (sucht ratios,
obvohl er den Mon&t genau weiss). (Datum ?) 6. Sete—Sep¬
tember.
Diktat: (Die Sonne sobeint). „Die Sonne schn schn warm u . (Meine
Miihle). Das Mein Muhti.
Abschrift: + •
Sprachverstandn is: Voliig int&kt.
Einleitung der Uebungsbehandlung nach optisch-taktiler Methode.
15. 9. 1916. Patient spricht die Laute a, o, u, au } e f i, ei — p, b, m
und die sinnvollen Lautverbindangen. Papa, Hama und ab.
10. 11. 1916. Spricht alle Laute und einfacbe Lautverbindungen (Yokale
vor und nach Konson&nten ta to tu — at ot ut) und einfache Satzchen, z. B.
Ich bitte. lch danke. Ich gebe usw.
18. 1. 1917. Patient liest, spricht und schreibt langere Satzchen, z. B.:
Ich bitte urn das Heft. Ich hole das Buch. Heute ist Montag usw.
23. 3. 1917. Gebraucht die erlernten Worte zunehmend in der Umgangs-
sprache. Besohreibt ohne Hilfe schriftlich und mundlich Bilder, z. B. „Das
ist eine Bauernstube. Der Tisch steht. Der Stuhl steht am Tisch. Der Mann
isst die Suppe. Die Frau steht am Tisch. DieBilder hangen an der Wand. u usw.
8.5.1917. Weitere Besserung der Sprafchstorung. Langsam artikulierend
kann er fast alle Worte bilden. Beim Schreiben haufig Pehler bei Worten,
die artikulatorische Schwierigkeiten verursachen, z. B. Spontanschrift:
,,loh war spasieren. Ich gehe am Prengl (Pregel). Das Wetter ist mind (mild)
nsw. (Es treten also Verwechselungen von homogenen Lauten auf, z. B. ng
= g — n = 1). Diktat: n Ich habe einSn Halter und eine Feder. Ich tauohe
die Fedor in Tinte. Ich schreibe. Der Halter ist aus Holz. Die Feder ist
aus Eisen u .
14. 8. 1917, Sprach- und Schreibstorung bessern sich weiterhin. Patient
ist irostande, Erlebtes schriftlich und mundlich in kleinen Satzen zum Aus-
druck zu bringen. Besohreibt z. B. einen an die See gemachten Ausflug selbst-
standig mundlich und schriftlich: Nach Neukuhren. Wir waren Sonnabend
in Neukuhren. Wir farhen (fuhren) im Eisenbahnzuge. Der Zuge war voll.
Das Wetter war schon warm. Eine Stande furhen wir im Zuge. Wir gingen
in das Kurhaus. Die Schwersten (Schwestern) teilten das Brot aus. Wir haben
Salat gegessen nsw.
2. 11. 1917. Weitere gnte Fortschritte im Gebrauch der Laut- and
Sohriftsprache. Schreibt z. B. frei, ohne Nachhilte, indem er sich Wort far
Wort vorsprioht:
Naoh der Verwundnng.
Ioh wurde am 18. April 1918 verwundet morgens um 4 bis 5 Uhr. Ich
wnrde besinnonslos. Ich weiss nicht, ein Granatstuok oder Geschoss ver-
wnndet am Kopf. Sie haben mich verbnnden im Graben. Das Spreohen war
auoh weg. Ioh habe nichts gemerkt, das ioh gelahmt war. Sie haben in das
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16
Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reicbau,
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Feldlazarett in Weissensee gescbafft. In Weissensee habe ich gelernt geben.
Nach 4 Monate haben sie nach Ponewisch (Ponewiez) geschafft. Ich war
3 Wochen da. In Brauns^erg war 4 Wochen. Am 3. September war ich in
Konigsberg. Dor Unteroffier R. hat mich sprechen gelernt. Ioh konnte nicht#
spreohen. Ich musste die Silben lernen. Fruher habe 5 bis 10 Minuten ge-
lernen und ich war mude. Heute ist nicht schwer. Die Satze sind auch schwer,
aber ich will gut sprechen lernen. Es ist langsam aber sicher. Das Beine und
der Arm ist auch besser. Am Tage haben 2 mahl Trunen. Das istschdn“.
1. 12. 1917. Patient gibt an, dass er im Zivilleben platt gesprochen
habe, jetzt aber nur das neu entwickelte Hochdeutsch konne. Fiihlt sich da-
durch behindert im Verkohr mit seinen Landsleuten. Nur mit einer viel grosseren
Muhe als der beim hochdeutschen Spontansprechen vermag er wenige platt-
deutsche Worte zu bilden, jedoch immer mit den reinen Lauten des Hoch¬
deutschen, nioht mit den eigentlicen plattdeutschen Uitlauten z. B. fur „Et
gait goat u gelingt nur u Es gait got u (Es geht gut).
Gute Fortschritte in der Spontansprache, wenn auch noch immer unter
uberlegter Bildung der Einzel- besonders der Anfangslaute des Wortes. Fehler
nur noch bei Formworten, Hilfszeitworten, Artikeln. Erkennt die Fehler selbst
und korrigiert sie.
15. 2. 1918. Die Spraohe hat sich weiterhin mechanisiert, so dass er
bewusst der optisch-taktilen Stutze immer weniger bedarf. Es werden Uebungen
mit inhaltlich und formell schwierigen Stoffen yorgenommen (geschichtliche
und erdkundliche Stoffe). Da er die hoohdeutsche Laut- und Schriftsprache
fast vollstandig beherrscht, werden Uebungen zur Wiedererlernung des ost-
preussisohen Platt yorgenommen, (dessen er zur Verstandigung mit der Heim&t-
bevolkerung bedarf). Nach Neuentwicklelung der Mischlaute macht Patient
gute Forschritte.
Es handelt sich hier also um einen Landarbeiter mit totaler Wort-
stummheit, der durch 18monatige optisch-taktile Uebungsbehandlung
yollstandig schriftdeutsch sprechen lernte, dann aber zu seinem eigenen
Erstaunen bemerkte, dass er nun doch nicht imstande war, sich mit
seinen Angeh5rigen zu verstandigen; denn da er nur diejenigen reinen
Laute der deutsehen Schriftsprache bilden konnte, die er durch die
optisch-taktile Behandlung erlernt hatte, ist er nicht mehr imstande,
der sich ihm fruher yertrauteren plattdeutschen Umgangssprache mit
ihren bei der Uebungsbehandlung nicht berucksichtigten eigentumlichen
Mischlauten zu bedienen. Er findet zwar in der Regel die richtigen
plattdeutschen Ausdrucke, vermag sie aber nur mit den reinen Lauten
der hochdeutschen Spracho nachzubilden.
Stein 1 ) hat bei einem Aphatiker, den er auf schriftrumanischer
Basis optisch-taktil behandelte, die umgekehrte Beobachtung machen
1) Stein, Monatsschr. f. Ohrenheilk. 1917. 1. u. 2. H.
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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien.
17
konneu: der Kranke sprach wfihrend der Behandlung und nach der
Heilung vollstAndig auf der alten heimatlicben Artikulationsbasis, d. h.
dialektrumAmisch. Wenn Stein darin verallgemeinernd einen Beweis
dafur erblicken will, dass durcb dip Uebungsbehandlung der Aphasien
prinzipiell keine sprachlicheu Neuentwicklungen, sondern nur „gewisse
neue Bahnungen“ geschaffen werden, so ist dem entgegenzuhalten, dass
sein Fall zur Entscheidung dieser Frage nicht geeignet ist, weil er
keinen totalen Sprachverlust erlitten hatte, sondern „zahlreiche Silben
gleicb anfangs korrpkt nachsprach", eine Neuentwicklung der Sprache
bei ihm also gar nicht in Betracbt kommen konnte.
B. Behandlung der sensorischen Aphasien.
Auch zur Behebung der sensorischen 'Aphasien bedienen wir uns
der kombinierten optischen und taktilen Methode, w&hrend andere
Autoren die sensorischen Aphasien vorwiegend durch Ablesen zu heilen
suchten uud dadurch der optischen Komponente, unserer Auffassung
uach, eine nicht ungefAhrliche Rolle bei der Wiedererlangung der Sprache
und des SpracbverstAndnisses zuwiesen.
Cnseres Erachtens sollen dieselben kinasthetischen Erinnerungs-
bilder, die bei der Behandlung der motorischen Apbasie die eigentliche
Stutze der expressiveu Sprache bilden, bei sensorischen Aphasien als
Grundlage des wiederkehrenden Sprachverstandnisses dienen. Als Grund-
prinzip der Uebungsbehandlung muss gelten, dass die optiscbe Kompo¬
nente der optiscb-taktilen Lautentwicklung als solche nur ein Mittel zur
Bilduog fester kin&sthetischer Engramme mit enger assoziativer Bindung
an den perzeptiven Spracbanteil sein soli, d. h., dass der Kranke zwar
zur Einubung der Sprache der optischen Stutze (des Ablesens vom
Hunde des Lehrers) bedarf, sie aber spftter, nach Festigung der neu-
erworbenen zerebralen Erinnerungsbilder, vOllig entbehren kann. Nur
auf diese Weise wird er in Bezug auf den Gebrauch der Laut- und Schrift-
sprache wieder unabhAngig von zweiten Personen; er stutzt sich allein
auf sein eigenes Artikulationsgefuhl, wAhrend fur die nach Gutzmann
und Frftschels nur mit Ablesen behandelten sensorischen Aphasien die
Gefabr besteht, dass sie wie der Taubstumme auf optische Eiudrucke
beim SprachverstAndnis angewiesen bleiben. Wir legen demnach den
Hauptwert auf die taktile Komponente deroptisch-taktilenLautentwicklung.
Schon die Erfahrungen bei normalen Individuen weisen ja darauf
hin. dass den Artikulationsgefuhlen und kinasthetischen Erinnerungs-
bildern eine grosse Bedeutung zur Unterstutzung des SprachverstAnd-
nisses zukommt. Sprachungewandte Individuen lesen und schreiben be-
kanntlich mit dauernder Uitartikulation. Auch bei gebildeten Personen
f Psyehi«tri«. Bd. 60. Heft 1. 2
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18
Dr. Frieda Reiohmann und Eduard Reichau,
konnte Frau Woyczoikowska 1 ) nachweisen, dass feine Zungenbewe-
gungen das Denken und das B5ren von Worten begloiten, und Exner
beschreibt im „Entwurf zu einer pbysiologischen Erkl&rung der psychi-
schen Erscheinungen" 2 ), „wie ihm das Klangbild eines Wortes innerlich zer-
rinne, wenn er sich zwinge, die entsprechenden artikulatorischen Vor-
stellungen zu bannen M .
Von Schauspielern und Rednern ist bekannt, dass sie sich bei der
Einubung von Memorierstoffen teils bewusst, tells unbewusst, der arti¬
kulatorischen Stutze bedienen.
Auch in pathologischen Fallen ist die Zusammenarbeit des Artiku-
lationsgefuhls mit sprachlichen, bzw. Lese- oder Schreibleistungen wieder-
holt beobachtet worden. So beschreibt Kleist einen Fall, der nur
unter Mitbewegung der Lipp4n lesen* konnte. Gab man ihm den Auf-
trag, die Zunge herauszustrecken, um ihn am Mitartikulieren zu hindern,
so konnte man ihm das Lesen anfangs unmflglich machen.
1m Folgenden bringen wir Protokolle von einigen in unserer
Debungschule mit optisch-taktiler Methode behandelten sensorisch Apha-
sischen und berucksichtigen dabei besonders die Bedeutung des Artiku-
lationsgefuhls fur das Sprachverstandnis.
H. V., Grenadier (Zapfer), 25 Jahre alt.
12. 8. 1915. Aufnahme im Festungshilfslazarett V zu Konigsberg i. Pr.
Laut dortigem Krankenblatt bestanden bei der Aufnahme Bewusstlosigkeit,
Krampfe. Spastisohe Hemiparese rechts, Druckpuls. In der Zerebrospinal-
flussigkeit Blut, Ueningokokken.
30. d. Wird naoh Heilung der Meningitis wegen Resten einer rechts-
seitigen Lahmung und Sprachstbrung nach der Dniversitats-Nervenklinik uber-
wiesen.
Aus der dortigen Krankengesohichte geht hervor, dass eine rechtsseitige
Hemiparesebestand und eine schwere sensorische und motorisoheSpraohstorung.
Gibt auf alle Frage immer wieder unter lebhaften Gestikulationen mit dem
Kopf denselben oft wiederholten kurzen Laut zur Antwort, elwa „te—be—te u .
Aufforderungen warden nur ganz vereinzelt anfgefasst.
6. 4. 1916. Aufnahme auf der Station fur Kopfschussverletzte Festungs-
Hilfslazarett I, Konigsberg i. Pr.
Korperlicher Befund: Innere Organe, Herz, Lunge, Bauohorgane o. B.
Nervensystem: Pupillen gleich, mittelweit L. R. -f- C. R. -|-. Augen-
bewegungen frei. Zunge weicht stark naoh rechts ab, der linke Maud-'
winkel hangt herab. Spastische Hemiparese im rechten Arm und Bein von
zerebralem Pradilektionstyp.
1) Psychol. Rev. 1913.
2) Leipzig u. Wien. 1894.
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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien.
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Spontansprache fallt vollstandig aus, nur die in der Nervenklinik
geubten Worte „Papa, Mama, Anna, Marie u kann er nndentlich sprechen.
Reihensprechen: Zahlen — Tage —.
Gegenstande bezeichnen: —.
Gegenstande erkennen: Gegenstande des taglichen Lebens werden
richtig erkannt, seltener gebrauchte nieht.
Naohsprechen: Nor einzelne genbte Lante, Silben nnd Worte werden
nachgesproohen, kein Unterschied zwischen sinnvollen and sinnlosen Worten.
Lesen: Gelingt weder leise, noch laut.
Bnehstaben erkennen: Genbte Bnchstaben werden erkannt.
Worte aus Bnchstaben znsammensetzen: —.
Schreiben: 1
a) Spontanschrift: — ausser Name nnd Beruf (schreibt „Schan-
ken u soil heissen „Schanker“).
b) Diktat: —.
o) Abschrift -}“• Wortweise langsam.
Sprachverstandnis: Znm Toil aufgehoben. Kommt ganz einfachen
Auffordernngen nach, schwereren aber nicht, z. B. versteht er den Befehl
„linke Hand ans rechte Ohr u nicht.
Zahlen verstandnis fehlt vollstandig.
11. 4. Beginn der Uebnngsbehandlnng im Sprechen, Schreiben nnd Lesen
nach optisch-taktiler Methode zur Behebnng der motorischen Aphasie.
15. 5. Pat. maoht sehr geringe Fortschritte, besonders infolge rednzierter
Merkfihigkeit.
23. 7. Spricht ein- nnd mehrsilbige Worte, selbst solche mit Kpnso-
Bantenanhaufangen nach. Verwertung in der Spontansprache noch sehr gering.
11. 11. Mit der Hebung seiner sprachlichen Ansdrnoksfahigkeit tritt die
sensorische Komponente seiner Sprachstbrung noch deutlioher hervor. Yer-
bindet z.B. mit schriftlich nnd miindlich ihm vorgelegten Farbenbezeichnungen
nnd Zahlen in Worten keinen Begriff, obwohl er mit Ziffern grosse Reohen-
operationne ausfuhren kann. Hemiparese rechts so weit gebessert, dass Pat.
sehon rechtshandig zu sohreiben beginnt.
25. 2. 1917. Sehr langsame Fortschritte im Sprechen, Sohreiben nnd
Leeen. Unterricht muss ausgesetzt werden wegen anfallsweise auftretender
epileptiformer Znckungen im rechten Arm und Bein. Dabei Reduktion des
kdrperlicben Allgemeinzustandes.
16. 8. Seit mehreren Wochen keine Reizerscheinungen mehr. Benntzt
die erlernten Worte jetzt zunehmend in der Spontansprache und versucht sioh
selbst zu rerstandigen. Spricht z. B.: „Es geht gut u — n Ich bitte um das
Buch u usw.
K 8 werden jetzt Uebungen zum Wiedererwerb des Zahlenverstllnd-
OM68 vorgenommen. Die Debung geschieht in der Weise, dass die
Zahlen im Zahlenranm Ton 1—10 als Ziffern, gesehriebene Worte und
BLlder nebeneinander gestellt (z. B. Ill; 3; drei) und optisch-taktil
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Dr. Frieda Reichmann and Eduard Reich&u,
sprachlich entwickelt werdeo. Dauach folgen Uebungen im richtigen
Auffassen der Zahlworte. Patient muss gesprochene Zablen als Zahl-
worte, Ziffern oder bildlich aufschreiben oder aus einer Anzahl ihm
vorgelegter ricbtig heraussuchen. Dabei stutzt er sich vollst&ndig auf
Artikulationsgefiihle bezw. kinasthetiscke Erinnerungsbilder, wie sich
aus folgenden, wiederholt vorgenommenen Versuchen ergibt.
Patient soil oft geubte vorgesprochene Zahlen aus einer Zahlen-
reihe heraussuchen:
z. B. a) Patient wird aufgefordert, b) Patient artikuiiert die vorge-
die vorgesprochene Zabl nicht sprochene Zahl rait.
mitzuartikulieren. Zunge und
Lippen werden kontrolliert.
(7) zeigt
8
4* (nach 2maliger Artikulation).
(9)
10
+
(3)
'
4-
nach 3maliger Artikul. „9 U kor-
rigiert selbst, artikul. nochmals,
dann -|~-
(6)
V*
+
+
(8)
11
7
+
(5)
11
+
+
(2)
r
1
+
(9)
ii
6
+
(3)
V
—
+
Mund
des Vorsprechenden wird nicht beobachtet.
c) Optisch-taktile Uebungsversuche mit mehrstelligen Zahlen.
1. Bei tonvollem Vorsprechen. (Patient liest vom Munde ab und
artikuiiert mit.) (14) -f- (19) 90 (13) -|- (17) -f- (12) +•
2. Bei tonlosem Vorsprechen (Patient lieet vom Munde ab und
artikuiiert mit.) (16) + (19) 90 (13) 30 (17) -| r (12) +•
3. Nacbsprechen obne Ablesen: (Untersucher verdeckt den Mund.)
(16) + (19) 90 - 19 (13) 30 (17)-„z“ (sucht) „sie“ — —
„sieb“ (17) „siezehn“ (scheint nicht zu wissen, was er gesprocben,
spricht immer undeutlicher, scbreibt) „sechszehn K (a. V.) ,-16“. Bei
Ablesen vom Munde prompt -|-.
25. 8. Die Uebungsbehandlung wird weiter im beschriebenen Sinn*
fortgesetzt.
28. 12. Spontansprache: „Bitte am TJlaub“ (Urlaub) Stadt (a. B.
zu welchem Zwecke) „kaufen — Messe“ (Messer). 1st imstande, sich mit den
wesentliobsten sinngebenden Worten verstandlich zu machen, allerdings miih-
sam, unter haufigem Besinnen sowohl auf das Wort, dem Begriff als dem Arti-
kulationsgefuhl naoh. Probiert die Bewegungen mit dem Munde aus.
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Zur Uebnngsbehandlung der Aphasien.
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Reihensprechen: Zablen: -|-, Tage: -J-, Mon&te: -f-.
Oegenstande bezeichnen: (Apfel) —, (Scbtassel) -j-, (Zahnbfirste)
Bn—B6 —. Zahnputzen. (Streichholzschachtel) (Kucben) Tott (soil Torte
beissen). (Messer) (Zange) -}-, (Trompete) Tro—Tro—Trompete, etwas
undentlich. Zur Wiederholung aufgefordert, „Trommel“. Weiterhin tritt eine
dautliche Neigung zur Perseveration ein.
Alle Oegenstande werden ricbtig erkannt, auoh ihre Benutzung ist be-
kannt. Artikulatorisch schwierige vennag er nur mit Sobwierigkeiten zu be-
zeiohnen.
Gegenstande erkennen: (Fiscb) -j-, (Sichel) -|-> (Blumenstrauss)
-f-, (Kirscben)
Nachsprecben:
a) Sinnvolle Worte: (Nachsprecben) „nach“ — „naoh u — (pro-
biert) „spr u — „naohspreohen u , (Qartenhaus) Ga—ten—bans,
(Konstantinopel) Kon—stan—ti—no—pel. (Dampfschiff) -J- (un-
deutlich).
b) Sinnlose Worte: (Bakairi) 'Ba—Baka — Ba—ka—iri. (Eu¬
terpe) Kein wesentlicher Unterschied zwischen Sinnvollem
und Sinnlosem, Artikulation von Sobwierigerem und Leicbterem.
Lesen: (Eleines Lesestfick aus der Fibel) „Wir reise (reisen) ab. Mutter
und Rosa eila—eila—eilen zum Zuge. Wa (Wo) steigpn wir ein, wann fahre
(fahren) wir ab, so fragen in (die) Madchen u .
Nach dem Inhalt des Gelesenen gefragt, sagt er, er wisse nioht, was er
gelesen babe.
Aufgefordert, nooh einmal zu lesen, liest er etwas deutlicher, naob dem
Inhalt gefragt, artikuliert er sioh den Satz leise vor, sagt dann: „Mutter reisen
zum Zuge u . (Zeigt den Zug auf einem Bilde.) A. B. nach dem weiteren In¬
halt: „Der Mann, Mutter und zwei Madohen u . (Was machten sie?) „Zum
Zuge u . (Was wollen sie?) „Der Mutter rascb nach u .
Buchstaben erkennen:
Worte aus Buchstaben zusammensetzen: -j-.
Scbreiben:
a) Spontanschrift: (A. B. fiber im Zimmer befindliche Gegen¬
stande etwas aufzuschreiben.) „Der Tisch steht. Die Stuhl steht.
Das Bett liegt“. Vor Beginn eines jeden Satzes besinnt er sich
sehr lange, dann sohreibt er ihn als Ganzes nieder.
b) Diktat: (Ein Knabe kam.) „Der Knabe gehen u . (Artikuliert
n Der Knabe kam a , besinnt sich lange, schreibt scbliesslich wie
oben und artikuliert dabei ricbtig „kam u .
c) Abschrift: -J-.
Sprachverstandnis: (Aufforderungen befolgen). (Zur Tfir geben,
offnen, schliessen, zurfickkommen): -J- (Linkes Knie zeigen): -|~, (sagt dabei
selbst „linke Knie u . Bei „Kn“ muss er langere Zeit artikulatoriscb suchen).
(Mit der linken Hand den obersten Knopf vom Rook aufmachen.) Arti¬
kuliert „Linke Hand zwei — auf—auf — aufmachen 1 *. Pahrt ricbtig mit der
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Dr. Frieda Reichmann and Edaard Reiehau,
linken Hand an den Knopf, offnet ihn and offnet dann den zweiten Knopf der
Unteijacke. Dabei fragend and ansicher. Den Begriff n aafmachen a verstand
er offenbar erst, nachdem er ihn nachartikalierte.
8. 1. 1918. Da Pat. noch nicht imst&nde ist, eine selbstandige Existent
za fuhren, so soli er, am der trotz regelmassiger Ausgange and Arbeitstberapie
darch das eintonige Lazarettleben drobenden Gefahr der Entfremdang von
einer selbstandigen bdrgerlichen Existenz vorzubeugen, auf l / 2 Jahr nach
Haase entlassen werden. Die Angehorigen and Pat. selbst warden mit ge-
naaen Anweisangen fiber Weiterdbang versehen. Spatere Wiederaafnahme
vorgesehen.
E. B., Leut. der Res., Lehrer, 29 Jahre ait.
3. 6. 1916. Kopfschassverletzung, rechtsseitige Hemiparese, partielle
sonsorische and motorischo Aphasie.
23. 11. Aafnahme auf der Station far Kopfsohassverletzte. (Ueber Be-
fand bei der Aafnahme and Uebungsbehandlung der motorischen Aphasie siehe
Reiohmann, Arch. f. Psych. Bd. 58. S. 120.)
Die weitere Priifung ergibt, dass er sinngebende Worte (Haupt-, Zeit-
und Eigenschaftsworte) miindlich und schriftlioh einzeln versteht und wieder-
gibt and in der Spontansprache sinngemass anwendet. Formworte fasst er nor
im Zasammenhang auf. (Ruft man ihm z. B. „ist a zu, so fasst er es iqhalt-
lich nicht auf, im Zusammenhaug „Das ist ein Tisch u versteht er es richtig,
and vermag es nan sinngemass anzuwenden.
Zahlworte'Spricht er nach, zunachst ohne sie zu verstehen. Hit Ziffern
fdhrt er schriftlich alle Rechenoperationen richtig aus, selbst Braohrechnung.
Die sensorische Komponente der Sprachstorung wird auf optisch-taktiiem
Wege iibungstherapeutisch zu beeinfiussen versucht, besonders auch das mfind-
liche Zahlenverstandnis. Die Zahlen von 1—10 werden in der Weise geubt,
dass siealsBild,Ziffer and Wort nebeneinandergestellt andoptisch-taktil sprach-
lich entwickelt werden. (Pat. muss Bild, Ziffer oder Wort riohtig aussprechen.)
Danach folgen Uebungen im richtigen Auffassen der Zahlworte. Pat. mass
ihm zugerufene Zahlworte richtig identifizieren lernen, sie als Bild, Zifier oder
Wort schriftlich darstellen. Dabei stiitzt er sich vollstandig auf Artikalations-
gefdhle, bezw. kinasthetische Erinnerungsbilder.
Zur Untersuchung des Zusammenhanges zwischen Zahlen-
sprechen auf optisch-taktiler Basis und Zablenverst&ndnis,
werden folgende Versuclie wiederholt vorgenommen:
a) Lehrer artikuliert langsam sichtbar tonvoll vor, Patient artiku-
liert laut mit und nach:
(3 -|- 4 ) (prompt) 7
(4 + 2) 2 + 4 ist 7 ... 6
(2 + 5) 2 + 5 „ 7
(2 + 6 ) 2 + 6 „ 8
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Zur Uebungsbehandlnng der Aphasien.
23
(4 + 2) 4 + 2 ist 6
(13 + 6) 13 + 6 „ 19
(14 + 6) 14 + 6 „ 19
(12 + 4) 12 + 4 „ 16
(33 + 42) 33 + 42„ 6 ... 5 ... 76.
(35 + 62) 34 + ? (erst nach mehrmaliger Vorartiku-
lation verstanden) 34 + 52 ist-86.
b) Lehrer artikuliert langsam, tonvoll bei verdecktem Monde vor.
Patient artikuliert leiBe mit und spricht dann:
( 3 + 4) ist 7 3 + 4
(13 + 5) „ 18 13 + 6
(14 + 6) „ 20 14 + 6
(12 + 6) „ 18 12 + 6.
e) Lehrer artikuliert langsam, sichtbar, tonvoll vor; Patient wird
angehalten, nicht mitzuartikulieren.
( 2 + 6) 2 + 6 ist 8
(16 + 4).20
(16 + 3).19 ... 15 + 4 ist 19
(17 + 2.17+.17 + 3 ist 19
(14 + 6) 14 + 5 ist 19
(12 + 6) 12 + 6 ist 18.
Trotzdem Patient mehrmals angehalten wurde, nicht mitzuartiku¬
lieren, war leise Mitartikulation — geringe Bewegung der Artikulations-
organe — nicht auszuschliessen.
d) Lehrer artikuliert schnell sichtbar, tonvoll vor; dem Patienten wird
fiber sein Verhalten keine Anweisung gegeben.
(6 + 2) 6 -J-2? 6 + 2 ist 7
( 1 + 6) 2 + 6 ist 8
( 5 + 3) 3.+
(6 + 4) .
(12 + 6) 12++12 + —
(13 + 6) 13 + 3 ist 16
(32 + 43) lehnt ab, bedeutet, es sei zu schnell. Anfgabe wieder-
holt (82 + 43). Ach Gott.. . (ungeduldig.) 34 +.Wiederholt
(32 + 43) 6 — 6 und 66.
Zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Artiku-
lationsgefQhl und Sprachverst&ndnis werden folgende Versuche
vorgeoommen:
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Dr. Frieda Reichm&nn und Eduard Reichau,
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Patient soli einen Satz bilden, der ein vorgesprocbenes Umstands-
wort oder Tatigkeitswort in einer nicht gel&ufigen Form enth<.
1. (wegen) a) Patient artikuliert nicbt mit, gibt zu verstehen,
er habe den Sinn des Wortes nicht aufgefasst. KOnne keinen Satz
bilden.
b) Patient artikuliert mit, fasst sofort das Wort auf und bildet
dann den Satz: „Wegen des Besuches waren wir nicht nach Hause ge-
gangen".
2. (trotzdem) a) Patient macht gar keinen Versuch zu artiku-
lieren, da er nichts aufgefasst hat.
b) Aufgefordert, zu artikulieren, sagt er „zumal". Nochmals ror-
gesprocben „trotz“ „tr“. Bildet dann: „das Wetter ist regnerisch, den-
noch wollen wir nach Hause gehen“. Auf Vorhalt, ob „dennoeb A
ricbtig, sagt er „zumal‘‘.
„Trotzdem“ wird jetzt deutlich vorartikuliert, er versucht nachzu-
artikulieren, was nicht gelingt. Versucht zu schreiben, auch das ge-
lingt nicht. Sagt, er wisse den BegrifT ungef&hr scbreibeu, kOnne er
das Wort nicht.
Es wird allein „trotz“ vorgesprochen; darauf schreibt er prompt
„trotzdem“ und bildet folgenden Satz: „das Wetter ist regnerisch, trotz¬
dem will ich spazieren gehen“.
3. (Geliefert) a) Patient artikuliert nicht mit, kann auch keinen
Satz bilden.
b) Patient artikuliert mit und bildet den Satz: „Die Ware ist
geliefert".
Weiterbehandlung wie bisher. Gute Fortschritte. Ueber den jetzigen
Zustand gibt folgendes Protokoll Auskunft:
22.2.1918. Spontansprache: Beschreibung eines Bildes: „Es ist
Fruhling. Die — Der Mann pilugt den Acker. Der — Ein Pferd zieht den
Wagen — den Pflug. Dann wird geeggt und gesat".
(Auf Befragen, woran er sehe, dass Fruhling sei) „der Mann pflugt den
Acker".
(Was unternehmen Sie nachmittags?) „Nachmittags wird massiert und
spazieren gegangen". (Wohin?) „Steindamm und Tiergarten u .
(Wofiir haben Sie E. K. I. bekommen?) „2. Jnni war der Sturm Ton
Damlonp. Morgens war — hatte orntlich geschossen und dann der Sturm und
ich war verwundet".
(Sie sind etwas verstimmt. Warum?) Vormittag war Magenschmerzen".
Fasst also samtliche, auch inbaltlich garnicht imZusammenhang stehende,
rasch aufeinander folgende Fragon, ricbtig auf und beantwortet sie sinn-
gemass.
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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien.
25
Gegenstande im Bild erkennen
(aos 18 Bildern ein genanntes
heranssnchen):
(Tintenfasa) -j-
(Kreisel) -|-
(Hut) +
(Sobrank) -|-
(Schwert) +
Gegenstande im Bild benennen:
(Wolf) +
(Gewehr) -f-
(Weihnachtstanne) Weihnachten
anf Vorhalt -j-
(Yacht) Segler
(Geige) +
(Tulpe) +
Lantieren und Worte ans einer Reibe ungeordneter Bucbstaben zu-
sammensetzen
Lesen: Gedruckte Texte von mittlerer Schwierigkeit werden mit geringen
Fehlern (z. B. Obst statt Aepfel, was er dann selbst korrigiert, eilends statt
eilig) nnd mit einer gewissenSpracberschwerung bei artikulatorisch schwierigen
Worten, z. B. Pfirsiobe, leidlicb fliessend gelesen und sowobl bei lautem wie
leisem Lesen vollig aufgefasst. Gate vollinbaltliche Wiedergabe: z.B. „Wilhelm
stand in dem Garten". (Gibt dnrcb ein Zeicben zu verstehen, dass „Pfirsische u
zn scbwer. Soil dafur nach Uebereinknnft „Aepfel sagen.) Der — der — Nach-
bar — der Naohbar scbenkte den Wilhelm die Aepfel. Eilig lauft er davon
nnd lanft naeb Hanse u . (anf Befragen, was er dacbte) „Der Wilbelm —
scbmeckt schon". „Der Wilbelm ging nacb Haase, nnd 2 Briider waren krank.
Die Gescbwister scbenkte die Aepfel nnd war sehr froh".
Schreiben. a) Spontanschrift: „Am Sonntag gehe ich meistens
nacb Hause. Nach Kaffee kommen die Verwandten zum Besuch, oder wir
gehen zum Besnob. Wir spreohen vom Krieg, von Wetter nnd andere Sachen.
Anoh geben wir nacb dem Theater. Es gibt zwei Theaters in Konigsberg.
Das Luisentheater ist anf die (den) Hufen, and das Neue Schauspielhans ist
in der Passage. Das Stadttheater wird Herbst 1918 geoffnet, weil jetzt ein
Lazarett ist. usw. (-}-)
b) Diktat: „Ein Fucbs kam in der Nacht ans dem Walde in einen Hof.
Da alls Lento scbliefen, hdrte und sab den Fuchs niemand. Er sohlich sich
in den Gansestall, biss eine Gans tot and trag sie fort in den Wald".
c) Absohreiben: fliessend mit vollem Verstandnis.
Es bandelt sich hier um 2 Kranke mit gemiscbter sensorischer upd
motorischer Aphasie. Bei beiden wurde aus den weiter oben ge-
schilderten Grunden eine beilpadagogische Bebandlung nach der optisch-
taktilen Metbode erfolgreich eingeleitet. Dass in der Tat der oben
angenommeneZusammenhang zwiscben optisch-tktailer Sprach-
entwicklnng, KinSsthesie der Artikulationsorgane nnd Wortver-
st&ndnis besteht, glauben wir an dem Verhalten dieser beiden Kranken
zu neuerlernten perzeptiven Sprachkomponenteu nachweisen zn kOnnen.
Beide Kranken vermOgen Zahlworte ungeubt nicht aufzufassen. Nach
optiscb-taktiler Einubnng vermogen sie dann'Zahlen aufzufassen
nnd leicbte Rechenanfgaben zu idsen, wenn sie mitartikulieren,
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26 Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reichau,
d. h. sich auf das Artikulationsgefiihl stutzen kbnnen. Fillt
die Mitartikulation weg, so wird sofort die Zahl der Fehl-
leistungen eine erheblicb grOssere.
Vom ersten Patienten werden aus einer Reibe von Ziffern 9 vor-
gesprochene Zahlworte bei Mitartikulation fehlerlos, nur 2 mal unsicher,
ohne Mitartikulation 6 mal falsch identifiziert.
Der zweite, weniger schwer geschadigte und iu der Besserung
schon weiter vorgescbrittene Eranke, l5st bei Mitartikulation unter 11
einfacben Recbenaufgaben nur 2 unsicher, alle anderen fehlerlos. Bei
fehlender Mitartikulation bleiben von 7 Aufgaben gleicher Schwierigkeit
3 ungelost, 4 werden feblerbaft geldst.
Die Aufgabe, einfache Satzchen mit einem bestimmten vorge-
sprochenen, ihm wenig vertrauten Wort (wegen, trotzdem, geliefert)
zu bilden, gelingt nur bei Mitartikulation, und zwar dann prompt.
Ohne Mitartikulation fasst er das Wort gamicht auf.
Bei den Aufgaben mit wiederholt geubten Zahlen sind beide Patienten
vom Ablesen bereits vollst&ndig unabh&ngig, wie die mitgeteilten Ver-
suclie mit dem 2. Patienten beweisen. Es ergibt sich, dass im Auf-
fassen und L5sen von Aufgaben kein Unterschied besteht, gleichviel,
ob die Aufgaben bei verdecktem Oder sichtbarem Munde vorgesprochen
werden. Bei weniger geubten Zahlen ist der erste Kranke neben der
taktilen noch auf die optische Stutae angewiesen.
Soil er wenig geubte Zahlenworte ohne Ablesen nachsprechen,
so treten Verwecbselungen mit artikulatorisch ahnlichen Zahlenworten
auf (13 = 30; 19 = 90). Das Ziel der weiteren Behandlung muss
sein, auch diesen Kranken vom Ablesen uuabh&ngig zu machen.
Wir haben schon weiter oben darauf hingewiesen, dass neben der
optisch-taktilen Methode die bei jedem Kranken erhaltenen sprachlichen
Funktionen ubungstherapeutisch mitverwertet werden mussen. Auch
bei den eben beschriebenen Eranken ist auf eine gemeinsame Behand¬
lung von Sprach-, Lese- und Schreibstbrung und gegenseitige Unter-
stutzung durch jede der auf den drei Gebieten erhaltenen Funktionen Wert
gelegt worden.
Im folgenden bringen wir einen Fall, iu dem es uns besonders
deutlich gelang, eine Beziehung zwischen den durch die optisch-taktile
Methode gewonnenen kin&sthetischen Eindrucke und den noch erhaltenen
Schriftbildern herzustellen und diese gemeinsam zur Wiedererlernung der
Sprache zu verwenden.
A. L., Hptm. d. Res., 45 Jahre (Reg.-Baurat).
27. 6. 1916. Apoplexie, Hemiplegia rechts, sensorische Aphasie.
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Zur Uebangsbehandlang der Aphasien.
27
26. 1. 1917. Beginn der ambulanten Uebangsbehandlong anf der Station
fur Kopfschussverletzte Festnngs Hilfslazarett I Konigsberg.
Befnnd bei der Aufnahme:
Spontansprache: Versucht Fragen in ganzen Satzen zn beantworten,
bringt aber unter grosser Erregung nur einzelne Worte, dazwischen sinnlose
Silben, horror; z. B. (a. B. seit wann die Spraohstorang?) Wenn — ioh ging
— dans — dano — dann — es wurde mir — weg — dann fing es an.
Reihensprechen: (Monate) Januar bis April gelingt, weiterhin nioht.
Zahlen -f-.
Gegenstande erkennen: darchweg -f-.
Gegenstande bezeiohnen: Gegenstande des taglichen Lebens werden
nur mit grosser Sohwierigkeit naoh mehrmaligem Versnoh richtig bezeichnet.
(Trommel)-„na das ist — ioh — ein namlioh — am Gottes Willen —
na, man weiss — Prommel-Trommel u (sehr nndentlich). (Kaffeemuhle)
„Kaffee — ist Kaffee — buh — biihle u . (Beruhrt dabei das Buch mehrmals,
sehr erregt, bis er schliesslich das Wort findet) -|~.
Naohsprechen: (Sonnenschein) „Sonnen — Sonnensoh — Sonnen-
schein u . (Konstantinopel) Lacht rerlegen, sagt / n das ist zn riel**. Als ab-
gelenkt, „Icb wills rersuchen". Versncht einzelne Silben heranszobringen,
sagt „Sohnee u (Erinnerang an vorher Besprochenes). Anf Vorsagen der ersten
Silbe fliessend das ganze Wort.
Lesen: Einzelne Worte werden richtig herausgefunden and ihrer klang-
liehen Wirkung nnd Silbenzahl naoh ungefahr wiedergegeben. Ein Untersohied
zwisohes lautem and leisem Lesen besteht nicht.
Bach'staben erkennen: -}-.
Worte aas Baohstaben zusammensetzen: (Kind) -|- (Wald) -f-
Sagt: „Ja, das kann ich — wenns nachher so bleibt u .
Sohreiben: a) Spontansohrift: (Name?) -j- (Wie lange im Felde?)
„Dor Feld gross* 4 .
b) Diktat: —.
c) Abschrift: -j-.
Spraohrerstandnis: Die Aaffassnng an ihn gerichteter Fragen ist
nieht intakt, was er daroh den Gebraaoh reihenartig erhaltener Redewendongen
so rerdecken sacht, z. B. sagt er, als ron der Weiterbehandlnng die Rede ist:
j.Nein, ach Gott, ich bitte Sie — ioh rie — ra — Furcht“. Dabei stellt sich
spater heraus, dass er sich gern der Uebnngsbehandlang anterziehen moohte.
20. 4. 1917. Uebangsbehandlung nach optisch-taktiler Methode. Sehr
geringe Fortschritte, da Patient immer akastisoh za arbeiten versncht and
optiseh-taktile Methode ablehnt.
23. 7.1917. Arbeitet jetzt etwas nach optisch-taktiler Methode.
Spontansprache: Wenig gebessert.
Lesen: Einzelworte werden gat gelesen. Beim fortlaafenden Textlesen
rielfacb Fehler im gleichen Sinne wie bei der Spontansprache. Liest einzelne
als Ganzes erhaltene Wortbilder, ohne za laatieren, nnd kombiniert aus diesen
z. T. mit Hilfe erhaltener Redensarten falsohlich den Sinn des ganzen Textes.
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28
Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reichau,
Sohreiben: a) Spontansohrift: Wiedergabe eines mehrmals be-
sprochenen Textes: „Ich habe die Tafel. Die Tafel ist eckig. Die Wandtafel
ist auch eckig. Die Tafel ist voll. Der Griffel ist spitz. Der Rahmen ist aus
Holz. Die Tafel ist schwarz u .
b) Diktat: Das (bosen) boseWetter ist (yon — yon) voruber. Der Donner
(ran) rollte so (n n) laut. Der Regen (kaltschte) klatschte an die Scheiben k .
5.9.1917. Spontansprache etwas gebessert. Konkrete Haupt-, Eigen-
sohafts- und Zeitworte in der Grundform werden meist richtig aufgefasst,
Formworte usw. noch nicht. Miindlicbe Beschreibung eines besprocbenen
Bildes: Da ist ein Garten. Da ist die — die Baume. Da ist — die Aepfel.
Der Baum ist scbon. Der Mann ist — sind. Der Mann pfluckt Aepfel.
Unter ubungstherapeutischer Mitverwertung der mecha-
nischen Lesef&higkeit, die als solche bei L. gut erhalten ist, werden
zur Besserung der Sprachauffassung folgende Uebungen vorgenommen:
Patient muss Worte, die ihm vorgesprochen werden, aus einem
gegebenen Text heraussuchen. Er artikuliert dabei besonders scharf
die Anfangssilbe des vorgesprochenen Wortes nacb und geht leise
artikulierend den ganzen Text Wort fur Wort durch, bis er das vor-
gesprochene Wort findet.
Aus 5 Zeilen eines leichten zusammenhangenden Textes in deutscher
Normaldruckschrift werden herausgesucht:
1. Formworte: „Einst w (Artikuliert dauernd leise t mit, sucht
die Zeilen Wort fur Wort durch, geht iiber das gesucbte Wort hinweg.
Geht die Zeilen unter lantern Mitartikulieren nochmals durch), dann
(Zeit 2 Min.), „durch w (Artikuliert „d — d w ) schliesslich (Zeit 7 Sek.)
„gar“ ebenso (Zeit 8 Sek.), „zu“ ebenso (Zeit 15 4 / 5 Sek.).
2. Sinngebende Hauptworte, Eigenschaftsworte und Zeit¬
worte in der Grundform:
„Ameisen u (ohne Artikulation und wortweises Suchen) prompt -\-
(Zeit: 2 Vb Sek.), „Lowe“ ebenso (Zeit: 3 Sek.), „Hase u ebenso (Zeit:
3 Sek.), „sch5n u ebenso (Zeit: 4 Sek.), „laufen w ebenso (Zeit: 5 Sek.).
Zur Kontrolle des inhaltlichen Verst&ndnisses fur die aufgesuchten
Worte muss er selbstandig kleine Satzcheu mit diesen bilden.
Aus diesen Untersucbungen ergibt sich, dass der Patient, der an
einer in der Riickbildung begriffenen sensorischen Aphasie leidet, sinn¬
gebende Worte (Haupt-, Eigenschafts- und Zeitworte in gel&ufigen Formen, k
besonders der Grundform) als einheitliches Schriftbild ohne weiteres
formell und inhaltlich aufzufassen und den richtigen Begriff damit zu
yerbinden vermag, wkhrend er ^orte ohne selbstandigen Sinn z. B.
Formworte (oder andere weniger gebrauchte Wortformen) nur dann im
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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien.
29
Schriftbild zu identifizieren vermag, wenn er sie immer wieder artikulierend
laagsam aufsucht. Dass ein erheblicher Unterscbied beim Aufsuchen
sinngebeader Worte und Formworte besteht, geht schon aus den beiden
vorgenommenen Zeitmessungen hervor, indem das Aufsuchen des laut-
klanglich erfassten sinngebeuden Wortes erheblich rascher vor sich geht,
als dasjenige des Form wortes.
Die Identifikation der Formworte erstreckt sich zun&chst lediglich
auf eine Debertragung von der artikulatorischen auf die schriftliche
Lantverbindung, obne dass der Wortinhalt aufgefasst wird. Erst wenn
Patient wiederholt das artiknlatoriBche und schriftlich e Lantbild
sn einander in Beziebung setzt, gelingt es ibm auf diesem
doppelten Wege, den zu dem betreffenden Wort gehfirigen Begriff zum
Anklingen zu bringen. Dass er dabei in' der Tat auf die doppelte
kinflsthetbische und Schriftbildstiitze angewiesen ist, geht daraus hervor,
dass er ein Zeichen seines Wortverst&ndnisses bei alien Formworten
erst dann gibt, wenn er die betreffenden Worte wiederholt artikuliert
und gelesen hat Als objektiven Beweis fur die nun erfolgte richtige
Auffassung fubren wir an, dass er jetzt erst imstande ist, sie sinogemSss
in von ihm selbst gebildeten S&tzen zu verwerten.
Zentrale Vorg&nge bei der Rnckbildung aphasischer Symptome.
Dem Uebungstherapeuten, welcher diese und ahnliche Behandlungs-
erfolge beobachtet, dr&ngt sich die Frage auf, wie diese Ruckbildung
zerebraler Symptome nach ZerstOrung nicht restitutionsf&higen Nerven-
gewebes anatomisch zn orklaren sei.
Die Ruckbildung sensorischer Aphasien wird schon seit Wernicke
betont und als Folge eines Ersatzes des linken durch das rechte Klang-
zentrum erklart. [Pick 1 ), Freund 2 ), Niessl von Mayendorf 3 ),
Fille von Randers, Touche, Lannois, Roster, Spiller 4 5 6 )]. Ana-
tomische Belege fur diese Auffassung bringen Quensel 8 ), Entzian 8 ),
und Niessl von Mayendorf. Dieser bezeichnet als Voraussetzung
des vikariiierenden Eintretens der rechten fur die linke Hemisphere
1) Arch. f. Psych. Bd. 28. Bd. 37. Fortschr. d. Psych. (Marbe) 1915. —
Zeitschrift d. ges. Psych, u. Neurol. Bd. 30.
2) 76. Vers. Deutsoher Naturforscher und Aerzte. Ref. Neurol. Zentralbl.
1904. Nr. 23.
3) Die aphasischen Symptome und ihre kortikale Lokalisation. Leipzig
1911. Deutsche Ztschr. f. Nervenhlk. Bd. 35. Jhb. f. Psych, u. Neurol. Bd.28.
4) Zitiert nach Quensel.
5) Deutsche Ztschr. f. Nervenhlk. Bd. 35.
6) Dissertation. Jena 1899. 4
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Dr. Frieda Reiohmann und Eduard Reichau,
in pathologischen Fallen die schon physiologischerweise bestebende
Zusammenarbeit beider Himhalften, die er durch folgende Ueberlegungen
fur bewiesen halt: Die Uebertragung akustischer Reize geschehe in
gleicher Weise durch den linken und rechten Kochleanerven auf das
jedem von ihnen zugehdrige zentrale Ausbreitungsgebiet; daraus ergibt
sich, dass sich auch die assoziative Verarbeitung, die Wortwahrnehmung
und Wortreproduktion, schliesslich der ganze zentrale Sprachvorgang
in beiden Hemispbaren abspiele.
Eine Restitution des Sprachverstandnisses gilt detnnach nur dann
als aussichtslos, wenn die beiderseitigen Schlafenwindungen erkrankt
sind. Nach Quensel’s Zusammensteilung fanden sich unter 55 Fallen
von ungeheilter Worttaubheit, 24 mit doppelseitigen Herden 1 ).
Fur die motorischen Aphasien hingegen stellt Heilbronner 2 )
noch 1894 die Restitutionsmdglichkeit iib.erhaupt in Frage und fordert
Untersucbungen daruber, ob „wirklich motorisch Aphasiscbe wieder
sum Sprechen gelangen wurden, wenn ihr motorisches Sprachzentrum,
eventuell die analogen Partien der rechten Hemispbaren, durch systems-
tischen Unterricht geubt wurden“. Auch Bonhoeffer 3 ) vertritt noch
1902 die Auffassung, dass die Mehrzahl der motorischen Aphasien, die
durch Zerstftrungen des Broca’schen Zentrums entstehen, stationSr bleibe.
Dass die Erscheinungen der motorischen Aphasie sich schwerer und
langsamer zuruckbilden als diejenigen der sensorischen betont auch
Pick als allgcmein bekannte Beobacbtung. Eine Erklarungsmoglich-
keit sieht er ausser der oben zitierten Niessl’schen Auffassung in der
Tatsache, dass das Wortverstandnis eine phylogenetisch altere und mehr
automatische Funktion sei, als die spater erworbene und stets mit einem
Willkurakt verbundene Funktion des Sprechens. Die Restitution des
jiingeren und seiner Natur noch weniger mechanisierbaren motorischen
Sprachmechanismus, gegebenenfalls seine Debernahme durch das der
Broca’schen Stelle entsprechende wenig vorgeschulte rechtshirnige
Zentrum, sei schwieriger als diejenige des Sprachverstandnisses durch
den rechten Schlafenlappen, der durch die doppelte Akustikusausstrahlung
fur.die.se Ersatzfunktion besser vorgebildet ist.
Wie weitgehend aber auch alle Formen der motorischen Aphasien
ruckbildungsfahig sind, haben die Erfahrungen der Sprachubuugs-
therapeuten (Gutzmann, Frdschels), insbesondere diejenigen der
1) Vgl. hierzu Liepm&nn und Pappenheim. Ztscbr. f. Neurol, u.
Psych. Bd. 27.
2) Arch. f. Psych. Bd. 34.
3) Mon. f. Psych, u. Neurol. Bd. 35. H. 2. — Aroh. f. Psych. Bd. 37*
H. 2 u. 3.
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Zur Uebangsbehandlnng der Aphasien.
31
Hirnverletxtenschulen im Kriege, wie wir sahen, inzwischen bewiesen,
so dass tod Monakow’s Auffassung, dass die aphasischen Symptome
im Prinsip eine heilbare StOrung darstellen, aucb fur die motorischen
Aphasien erfolgreich in die Praxis ubernommen werden kann.
Die Frage nach deni anatomisch-fnnktionellen Weg, auf welchem
die Restitution der motorischen Aphasien — sei es spontan, sei es durcb
Uebungsbehandlung — zustande kommt, gehOrt jedoch noch zu den
Tielumstrittenen Problemen der modernen Neurologie.
Ein Teil der Autoren nimmt an, dass die Heilung der aphasischen
Symptome in mehr minder hohem Masse von der Lokalisation des aus-
Itoenden Traumas innerhalb des gesamten Sprachgebietes abhangt, so
Bonhoeffer 1 ) und Mingazzini 2 3 ), der an Hand klinischen und anato-
mischen Beweismaterials nur Aphatiker fur heiibar halt, deren linke
Regio supra- und praelenticularis intakt ist; andere, vor allem von
Monakow*), erkl&ren die Ruckbildung frischer Aphasien mit der
Aufbebung der durcb das ansldsende Trauma gesetzten Diaschisiswirkung,
die langsamere Heilung Ulterer Falle als Ausgleich durch die Tatigkeit
benachbarter Rindengebiete, die vorher als Hilfszentren tatig waren,
oder durch das kompensierende Eintreten der direkten kortiko-bulbaren
Babnen fflr die ausfallenden „pbasiscb-motorischen u .
Auf die Abhangigkeit der Reparabilitat der motorischen Aphasien
von dem mehr kortikalen oder tiefen Sitz des Krankheitsberdes wird
anch von verschiedenen Autoren hingewiesen; z. B. nimmt Liepmann 4 )
an, dass die Mdglichkeiten der Wiederherstellung um so geringere sind,
„je mehr die Lasion ins Mark dringt, je mehr also St&bkranz, innere
Kapsel, Assoziations- und Kommissurenfasern mitbetroffen sind“. —
Quensel*) misst der Erhaltung des Balkens besondere Bedeutung fur
die Rfickbildung bei.
Die Richtigkeit der letztgenannten Anscbauungen ware Vorbedingung
fQr denjenigen Erklarungsversnch, welcher die meisten Anbanger zablt,
die Hypothese Ton der Ruckbildung motorischer Aphasien durcb Tikari-
ierendes Eintreten der rechten Hemisphare fur die zerstfrten links-
birnigen Zentren. Deon VoraussetzuOg der vikariierenden Leistungsf&higkeit
1) Mitteilnngen a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1902. Bd. 10.
2) Ges. Deutscher Natnrforscber u. Aerzte 1901 — Fol. nenrobiol. 1913.
Bd. 7. — Arch. f. Psych. Bd. 54.
3) Die Lokalisation im Grosshirn. Bergmann, Wiesbaden. — Neurol.
Zentralbl. 1906. Bd. 25. — Dentsohe med. Wochenschr. 1909. — Neurol.
Zentralbl. 1909. Bd. 28. — Ergebn. d. Physiol. 13. Jhrg. 1913.
4 ) Neurol. Zentralbl. 1909.
b) A. a. 0.
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32
Dr. Frieda Reichmann and Edoard Reichau,
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rechtshirniger Zentren ware ein Weg, der vom linken Spracbgebiet
Impulse in die rechte Hemisphare ubertragt. Dieser ware in den zum
Teil durch den Balken verlaufenden Assoziations- und Kommissuren-
fasem gegeben.
Die Vikariierungshypothese wird bekanntlich von v. Monakow 1 )
mit der Begrundung abgelebnt, dass er die Dmwertung bestimmter
Partien des hochdifferenzierten Zentralnervensystems im Dienste von
Funktionen, an deren Ausubung sie vorher nicht beteiligt waren, far
nicht vereinbar mit den Gesetzen des Ablaufs zentralnervosen Geschehens
halte; und eine solche stellt ihm das vikariierende Eintreten der rechten
Spracbzentren bei den linksberdig bedingten Aphasien da. Diese gegen
die Vikariierungsbypothese geltend gemachten Grunde werden aber durch
dieArbeiten Liejpmann’s 2 3 ), Quensers 8 ), Mingazzini’s 8 ), Niessl’s 8 ),
Rothmann’s 4 ) und Heilbronner’s 5 ) u. a. entkraftet. Nach ihnen
kommt der linken Hemisphare zwar eine deutliche PrSponderanz, nicht
aber eine funktionelle Alleinberrschaft fur die hbheren psychischeu
Leistungen zu, so dass im Falle ihres vikariierenden Eintretens fur die
linke nicht die Notwendigkeit eiues Neuerwerbs, sondern lediglich die
Steigerung einer im Prinzip schon vorher bestehenden LeistungsmOglich-
keit gegeben ist. Als Beweis fur diese Auffassung kdnnen wiederholt
beschriebene Beobachtungen herangezogen werden, in welchen Dauer-
herde der linkshimigen Spracbzentren nur ganz vorubergehende oder
gar keine aphasischen Symptome machten. Ein besonders charakte-
ristisches Beispiel fur diese im Sinne der Lokalisationstheorie sogenannten
negativen Falle konnte Bonhoeffer 8 ) klinisch und anatomisch beob-
achten. Es handelt sich um einen Patienten mit dem typischen klinischen
Krankheitsbilde der Broca’schen Aphasie, der bei intaktem Broca’schen
Zentrum eine „alte Erweichung links durch Verschluss der Arteria
cerebri ant. mit Vernichtung des Balkens bis fast zum Splenium, der
vorderen Vierfunftel der ersten Frontal- und der vorderen Zweifunftel
1) Die Lokalisation im Grossbirn . . . Bcrgmann, Wiesbaden. — Neurol.
Zentralbl. 1906. Bd. 25. — Deutsche med. Wochenschr. 1909. — Neurol.
Zentralbl. 1909. Bd. 28. — Ergebn. d. Physiol. 13. Jahrg. 1913.
2) Liepmann, Mon. f. Psych, u. Neurol. 1905 u. 1906. — Miinchener
med. Wochenschr. 1905. Nr. 48. — Deutsche med. Wochenschr. 1905. —
3 Aufsatze a. d. Apraziegebiet. Berlin 1908. — Liepmann u. Pappenheim,
Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. 27. — Liepmann u. Quensel, Mon.
f. Psych, u. Neurol. Bd. 26. — Berliner Klin. 1907.
3) A. a. 0.
4) .Ztschr. f. klin. Med. Bd. 60.
5) Lewandowsky’s Handb. Bd. 1. — Arch. f. Psych. 1908. Bd. 43.
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Zur Debangsbehandlang der Aphasien.
33
der zweiten Frontalwindung“ zeigte, f ein Beweis fur das Bestehen eines
„doppelten Weges von der linken Sprachregion erstens durch die linke
inn ere Kapsel and zweitens fiber den Balken und die rechte Hemi-
spbire“ und damit fiberhaupt ffir die Mitbeteilung der rechten Hirnhelfte
an den spracblichen Funktionen.
Niessl von Mayendorf, Weber u. a. geben sogar so weit, die
Priponderauz der linken Hemisphere nur ffir eine sekundfire „durch den
Mehrgebrauch der in der linken Grosshirnrinde vorwiegend projizierten
rechten oberen Extremist" anzuseben. Weber bezieht sie hauptsfichlich
auf die grOssere Gebahntheit linkshirniger Zentren durch das rechts-
.seitige Schreiben. Gegen diese Auffassung und im Sinne einer Zusammen-
arbeit beider Hirnhalften bei primSrem, nicht sekund&rem
l eberwiegen der linken sprechen die Beobachtungen Rothmann’s 1 ):
Bei gcsunden Individuen kommt nach seinen Erfahrungen jeder Uebungs-
erfolg, welcher Arm auch gefibt wird, der fiberwiegenden Hemisphere,
d. h. bei Rechtshendern der linken, bei Linkshfindern der rechten
Hirnhelfte, zu gute. Auch Liepmann 2 ) widerlegt die Annahme
der erworbenen Prfiponderanz der linken Hirnhelfte mit dem Hinweis
auf die auch bei Kindern in vorschulpflichtigem Alter beobachteten
Aphasien nach linkshirnigen Herden und auf die auch bei analphabe-
tiscben BevOlkerungsschichten nachweisbare Mebrwertigkeit der linken
Hemisphere bzw. der rechten Hand.
Dass aber in der Tat ein Znsammenhang zwischen den Leistungen
der Extremiteten und den sprachlichen Funktionen fiberhaupt, zwischen
dem Ueberwiegen einer Hand, der ihr zugehorigen kontralateralen Hirn¬
helfte und den bier deponierten hSheren psychiscben Leistungen be-
steht, ist eine allgemein anerkannte Tatsache, die schon allein in dem
limstandc ibre Best&tigung findet, dass Aphasien nur bei Rechtsh&ndero
in der Regel linksherdig bedingt sind, bei Linkshfindern aber in der
bei ihnen funktionell mehrwertigen rechten Hemisphere lokalisiert sind.
Auch die ErfahruDgen bei Linkshfindern sprechen in dieser Richtung,
z. B. die von Stier 3 ) und Gutzmann 4 ) festgestellten Beziebungen
zwischen Linkshfindigkeit und Sprachstfirungen.
Erkennen wir diesen Zusammenhang an, so durfen wir zur Unter-
suchung der Frage des Vikariierens der Sprachleistungen auch die
F.rfahrungen bezfiglich des Verhaltens der Extremiteten heranziehen.
1) Diskussion d. Berl. Ges. f. Psych, u. Nervenkrankh. Ref. Neurol. Zen-
tralbl. 1911. Bd. 30.
2) Deutsche med. Wochenschr. 1911. Nr. 27 u. 28.
3) Mon. f. Psych, u. Neurol. Bd. 25. S. 408.
4) a. a. 0.
Arebit f. Pajchistrie. Bd. 60. Heft 1. 3
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34 Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reicbau,
Liepmann 3 4 ) konnte nachweisen, dass Herde der einen Hemisphere
neben Lahmungen der kontralateralen Seite homolaterale Dyspraxien
hervorrufen kSnnen. In diesem Sinne sprechen auch die an Rraoken
und Gesunden gewonnenen Ergebnisse bei linkshandigen Schreibversucheu
[Treite 2 l 1 )]. Fehlt die willkurliche Korrektur, so schreibt der geubte
Rechtser bei den ersten linkshandigen Versuchen Spiegelschrift. Wenn
wir hieraus auch nicht so weitgehende Schlusse wie Erlenmeyer*)
ziehen raSchten, der in jeder Hemisphere ein Zentrum annimmt, das die
Bewegungen beider Extremitaten nach der kontralateralen Seite innerviert,
so sehen wir doch darin einen Beweis fur die Zusammenarbeit beider
Hemispharen, und zwar nach Goldscbeider 3 ) in dem Sinne, dass beim
Einuben der rechten Hand und ihrer zugehSrigen linkshirnigen motoriscben
Zentren fur die Innervationsfolge des Schreibens die rechtshirnigen
Zentren gleichsinnig fur die linke Hand eingeubt werden. Wenn also
an den scheinbar an eine Hemisph&re gebundenen hoheren psychischen
Leistungen trotz der primaren Praponderanz der linken Hirahalfte
beide Hemispharen beteiligt sind, so ist auch unter Berucksichtigong
von v. Monakow’s Einwknden zunachst theoretisch die Moglichkeit
des vikariierenden Eintretens der gesunden rechten fur die erkrankte
linke Heroisphare gegeben.
Hierfur finden sich einige anatomische Belege in den Sektions-
befunden von Liepmann, ferner in zwei von Kussmaul*) angefuhrten
Fallen: einem infolge in fruhester Jugend erworbenen Defektes der
linken Urwindung rechts gelahmten Rranken, der sprechen und lesen
lernte, und einer seit der Kindheit rechts gelahmten 70jahrigen Frau,
deren Sektion eine fast ganz in eine Blase verwandelte linke Hemi-
sphare ergab, und die doch „ordentlich“ sprechen konnte.
Auch Oppenheim 5 ) teilt einen Fall von im 17. Lebensjahre wegen
Verlustes der rechten Hand erworbener Linkshandigkeit mit, der im
69. Jahre an „gemiscbter Aphasie, absoluter Agrapbie und Alexie u ,
linksseitiger motorischer und sensibler Hemiparese mit Reizerscheinungen
in der linken oberen Extremitat und linksseitiger homonymer Hemianopsie
erkrankte. Als Ursache ergab sich bei der Sektion ein fast faust-
grosses Sarkom des Thalamus, Linsenkerns und der rechten inneren
Kapsel bis an die Insel und die Marksubstanz des Schlafenlappens
1) Ztschr. f. Nervenhlk. 1893. Bd. 4.
2) Die Schrift. Stuttgart 1879.
3) Berliner klin. Wochenschr. 1891.
4) a. a. 0.
5) Arch. f. Psych. Bd. 21 u. 22.— Berliner klin. Wochenschr. 1890. Nr.2.
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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien.
35
hineinreichend. „Das ubrige Gebirn ist vollst&ndig intakt, namentlich
lisst sich in der linken Hemisphere keinerlei Ver&nderung auffinden 11 .
Mit Recht verlangen allerdings Rothmann and Liepmann, dass
solche Fille mit grOss ter Vorsicbt bewertet und analysiert werden, ehe
sie wirklich als beweiskrSftig far die Uebernahme physiologischerweise
linksbirniger Leistungen durcb die rechte Hemisphere angesehen werden
durfen.
Handelt es sich am Tumoren, so ist die MOglichkeit einer Fernwirkang
anf die kontralaterale Hemisphere, auch bei fehlenden anatomischen
Verinderungen, nicht aaszuschliesseu. Ferner muss differentialdiagnostisch
an iatente LinkshSndigkeit gedacht werden, auf dereu heufiges Vor-
kommen Stier 1 2 ) hinweist, sowie an angeborene rechtshirnige Sprach-
lokalisation, sogenannte „Rechtshirnigkeit bei Rechtsbendern u , wie sie
von Lewandowsky 3 ) and Mendel 3 ) beschrieben wurde. Schliesslich
ist noch — allerdings nur im Since eiues ultimum refugium — das
Fehlen bzw. die mangelhafte Entwicklung der Pyramidenkreuzung zu
berucksichtigen, wie sie in einem Falle von Charcot and Pitres 4 5 )
beechrieben worden ist (zit. nach Mendel).
Aber selbst bei vorsichtigster Bewertung alles heraogezogenen
Materials bleibt auf Grand der vorangegangenen Ueberlegangen die
MOglichkeit des vikariierenden Eintretens der recbten Hemisphere fur
die erkrankte linke sehr wahrscheinlich.
Setzen wir dieses voraus, and gehen wir ferner davon aus, dass die
Zentralstetten der Extremitetenfunktionen mit denjenigen der sprachlichen
in engem Zusammenhang stehen, eine Annahme, deren Berechtigung wir
weiter oben nachwiesen, so ist der Gedanke naheliegend, dass das
Eintreten der recbten fur die linke Hirnheifte zur Ruckbildung aphasischer
StOrungen auch durch vikariierendes Eintreten der linken Hand fur die
rechte ubbar sein muss; and zwar were auf Grand dieser theoretischen
Erwfcgungen wegen des engen Zusammenbanges zwischen Schreib-
leistung and mundlicber Sprache auch bei nicht agraphischen Aphatikeru
von linkshendigen Scbreibubungen ein guter Erfolg zu erwarten.
Scbon Broca, spiter Heilbronner fassen deshalb, wie wir weiter oben
sahen, diese MOglichkeit ins Auge; Berkhahn, Clarus, Bernhardt 4 )
sehlugen entsprechende therapeutiscbe Yersuche vor. Gutzmann,
Prosebels und Goldstein 3 ) haben mit linkshendigen Schreibubungen
1) Mon. f. Psych, u. Neurol. 1909. Bd. 25.
2) Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. 4. H. 2.
3) Neurol. Zentralbl. 1912. 1914.
4 ) Ref. Nearol. Zentralbl. 1895. S. 169.
5) a. a. 0.
3*
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36 Dr. Frieda Reichmann und Eduard Reichau,
auch bei nicbt gelehmten Sprachkranken die Ruckbildung apliasischer
Symptome erfolgreich unterstutzt.
Als Resultat des eiuschlagigen Literaturstudiums ergebeu sich dem-
nach folgende Anschauungen, die bei dcr Behandlung zerebraler Sprach-
kraokheiteu Beriicksichtigung verdienen:
1. Die hflheren psychischen Funktionen, insbesondere die Sprache,
sind Leistungen beider Grosshirnhemisphftren, in der Weise, dass dem
linken Grosshirn (bei Rechtshandern) die Fiihrung, dem rechten eine
gewisse Mitbeteiligung zufUllt.
2. DieRiickbildung psychischer Ausfallserscheinungen z.B.aphasischer
Symptome infolge Erkrankung der fuhrenden Hemisphere ist deshalb da-
durch denkbar, dass die andere Hirnh&lfte vikariierend zu f fuhrenden wird.
3. Zwischen den sprachlichen Leistungen und den Funktionen der
oberen Extremitaten besteht ein zentraler lokalisatorischer Zusammen-
hang.
4. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass das vikariierende Eintreten
der gesunden fur die erkrankte Hemisphere durch Uebungen der kontra-
lateralen Extremitat unterstutzt werden kann (linkshandige Schreib-
iibungen bei SprachstOrungen infolge rechtshirniger Herde).
Bei der Beurteilung der Erfolge linkshendiger Schreibubungen muss
allerdings beriicksichtigt werden, dass die Besserungen Folge der an
sich intensiveren Bescbaftigung mit dem Kranken sein konnen. Auch
k5nnen sie, da, wie wir seit Liepmann wisseu, die linke Hemisphere
auch an den Leistungen der gleichseitigen Extremitat beteiligt ist,
Restitutionsvorg&nge in dieser unterstutzen und dadurch — nicht durch
Unterstiitzung des rechtshirnigen Vikariats — zur Riickbildung der
SprachstOrungen beitragen; kurz. die durch linkhendige Schreibubungen
erzielte vikariierende Wirksamkeit der rechten Hemisphere ist auf Grand
aller vorangegangenen Ueberlegungen zwar sehr wohl denkbar, bleibt
aber bisher noch imraer eine zwar sehr plausible, aber nicht bewiesene
Annabme, fur deren Richtigkeit ein klinischer und anatomischer Beweis
ausserordentlich schwer zu erbringen ist; insbesondere kommt alien
nicht-sezierten Fellen, wie Liepmann mit Recht hervorhebt, besten-
falls die Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsbeweisen zu.
Wenn wir trotzdem im Folgenden diesbezugliche Erfahrungen aus
unserer Uebungsschule mitteilen, so sind wir uns sehr wohl bewusst,
dass auch diese anatomisch nicht gestiitzten Beobachtungen keinen An-
spruch auf bindende Beweiskraft liaben. Bei dem geringen bisher
verdffentlichten sicher verwertbaren einschlegigen Material halten wir
uns aber doch fur berechtigt, Beobachtungen an unseren Kranken mit-
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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien.
37
zuteiien, die, zunachst ohne jede theoretische Voreingenommenheit ge-
sammelt, nos auch unter Berucksichtigung aller oben gel tend gemachten
Einwinde, fur das vikariierende Eintreten der rechten fur die
erkraukte linke Hemisphere und fur deren Uebbarkeit durch
linksh&ndige Schreibubungen zu sprechen scheinen.
Unsere Hauptbeobachtungen bezieheu sich auf den weiter oben
S. 18 ff. geschilderten Kranken. Dieser wurde, nachdem sich die recbts-
seitige Hemiparese zuruckgebildet hatte, aufgefordert, wieder rechts-
bandig zu scnreiben, wahrend er bis dahin linkshSndige Schreibubungen
gemacht batte. Dieser Auffassung widersetzt sich der sonst willige
Patient immer wieder. (Eine gieiche Mitteilung macht Draesecke 1 ) von
einem seiner Patienten). Auf Vorhalt sagt er „Danken fehlen“ (Gedanken
fehlen) und gibt immer wieder zu verstehen, er glaube rechtshandig
Geschriebenes schwerer einpragen und schlechter merken zu kOnnen,
ale das mit der linken Hand Geschriebene. Patient ist nicht anders
als vorubergehend zum Rechtsschreiben zu bewegen. Es werden darauf-
bin Merkfabigkeitsprufungen mit rechtshandig und linkshandig ge-
scbriebenen Worten vorgenommen:
Abscbrift von 8 begrifflich Schriftlicbe Wiedergabe nach
bekannten Worten.
60 Sekunden.
. Tisch
Rechtshandig:
Tisch
Tur
Tur
Ast
Buch
Hund
(Lange Pause) sagt: ich
Scbrank
nicht, schliesslich
Tafel
Tafel
Buch
Scfauh
Bild
Linkshandig:
Biid
Uhr
Uhr
Blatt
Blatt
Hahn
Hahn
Licht
Licht
Tafel
Strumpf
Tuch
Tuch
Strumpf
1) Die Kriegsbescbadigten-Fiiisorge. 1. Jahrg. Nr. 12—13.
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38
Dr. Frieda Reichmann and Edaard Reichaa,
Von 8 begrifflich bekannten rechtsh&ndig abgeschriebenen artiku-
latorisch einfachen Hauptworten reproduziert Patient also nach 60 Se-
knnden die beiden ersten in richtiger Reihenfolge, dann imter grossen
Schwierigkeiten noch 2 einzelne weitere Worte; bei linksh&ndigem
Sebreiben erfolgt prompte Wiedergabe der 5 ersten Worte in richtiger
Folge, dann zweier weiterer richtiger Worte mit einer Umsteilung; nor
1 Wort feblt.
Abschrift begrifflich nickt Schriftliche Wiedergabe nach
bekannter Worte. 60 Sekunden.
Rechtsh&ndig:
Apotheke
Preisliste
Universitftt
Vorwort
Aporthort
Alkohol
Linksh&ndig:
Alkohol
Verzeichnis
Verzeichnis
Medikament
Nachschrift
Nachschrift
Von 4 rechtsh&ndig abgeschriebenen begrifflich nicht bekannten
artikulatorisch schwierigen mehrsilbigen Substantiven wird also rechts
nur eine Wortverstummelung reproduziert, links werden bei gleicher
Versuchsanordnung 3 von 4 Worten richtig wiedergegeben, 1 aus-
gelassen.
Ans diesen wiederholt bei dem Kranken ausgefuhrten Untersachnngen
ergibt sich, dass die sprachliche Merkf&higkeit fur links-
h&ndig Geschriebenes bei ihm eine bessere ist, als die fur
Worte, die mit der rechten Hand niedergeschrieben wurden.
Die gleiche Erfahrung konnten wir bei einem auderen Kranken
machen. Es handclt sich um einen Fall von schwerer motorischer
Aphasie, der sich auch, nachdem er die einzelnen sprachlichen Elemente
wiedererlernt hatte, der Spontansprache nur ganz unznreichend bedienen
konnte wegen einer schweren StOrung der Merkf&higkeit.
Auf Grand der Erfahrungen an dem eben genannten Fade
wurden nun aucb diesem Kranken zun&chst versuchsweise linksh&ndige
Schreibiibungen aufgetragen, die von dem gebildeten Patienten selbst
als zwecklos angesehen' und nur sehr widerwillig ausgefuhrt wurden.
Nach 6—8 Wochen trat eine entschiedene Besserang der Merk¬
f&higkeit hervor, die von dem Patienten subjektiv sehr lebhaft emp¬
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Zur Uebungsbehandlnng der Aphasien.
39
funden wird und aach objektiv deutlich zum Ausdruck kommt. Als
Jlassstab dienen uds Vergleiche zwischen der Niederschrift einfacher
gelesener Stoffe vor Beginn der linksh&udigen Uebungen und 6— 8 Wochen
aach deren Beginn. (Systematiscbe Merkf&higkeits- und Ged&chtnis-
prdfuugen aind leider bei dem Patienten nicht durcbgefuhrt worden.)
19. 5. 1916. Preie schriftliohe Wiedergabe von Erlebtem, das mehrmals
besprochen wnrde.
„Das Konzert. Gestern batten wir im Garten Konzert. Es spielte eine
Kegiments-Kapelle and zwar Pionier-Bataillon Nr. 18. Der Inbalt der Stucke
war mir nicht bekannt u .
Die hier angefuhrten schriftlichen entsprechen im Prinzip den jeweiligen
mdndlichen Leistungen.
Erlebtes gibt Patient also schon leidlich gut schriftlich wieder,
ebenso bildlich dargestellte Stoffe. Schriftliche Wiedergabe fliessend
gelesener und beim Lesen inhaltiich'aufgefasster Stoffe ist ihm jedoch
unmdglich.
28. 10. 1916. Spontaoscbrift. Besohreibung eines Bildes.
„Der Marktplatz. Der Marktplatz ist in einer Stadt. Grosse sohone
Haaser stehen dort. Ein kleines Madchen kauft Aepfel. Die Gemiise- and
Fischfraa warten auf Kanden. Die Schuhmacherfrau bietet ihre Waren ver-
geblich an. Die Trodlerfrau setzt eine Menge Waren ab. Eine Elektrische
Bahn fahrt dort u .
13. 12. 1916. Auch mehrmals gelesene Stoffe kann Patient noch
turner nicht schriftlich wiedergeben. Beginn der linksh&ndigen
Schreibubungen.
16. 2. 1917. Wiedergabe eines zweimal gelesenen Textes. Spontan-
schrift. „Vom Zaunkonig 14 . n Der Zaunkonig bleibt auch im Winter bei uns,
Wenn andere Vogel traurig dasitzen, und selbst die Spatzen unter der Dach-
luke traurig sitzen, so findet der Zaunkonig immer noch was zu Fressen. Der
Zaunkonig frisst die Schmetterlingseier ab. Den Vogeln singt er ein Trostlied
and den rerhungerten Hasen a .
Wiedergabe eines zweimal gelesenen Textes:
29. 8. 1917. Spontanschrift. n Deutsche Arbeit 44 . „Ein Hamburger Kauf-
mann brachte sicb einen Herrensohreibtisoh fur 5000 Franks, den er auf der
ersten Pariser Weltausstellung erworben batte, naoh Hamburg mit. (E) Der
Schreibtisch war mit alien Schikanen ausgestattet, hatte schmiedeeiserne Unter-
iagen und batte ein Wandschrankchen fur Pretiosen. Da besuchte ihn ein
Hamburger Schlossermeister. Der Kaufmann nahm an, dass der Schreibtiscb in
Paris angefertigt worden ware. Der Kaufmann zeigte den Tisch dem Schlosser-
taeister und raachte ihn auf alle Vorzuge aufmerksam. Der Schlossermeister
fragte den Kaufmann, ob er nicht die Platte des Tisches abschrauben kdnnte.
L»er Kaufmann gab seine Einwilligung hierzu. Der Schlossermeister enthielt
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Dr. Frieda Heichmann and Eduard Reichau,
sich yorlaufig jedes Urteils. Plotzlich sagte der Schlossermeister zu dem Kauf-
mann, dass seine eigene Firma obenstande and dass das Schloss in des
Schlossermeisters eigener Werkstatte angefertigt ware. Aach der Tisch war in
einer Hamburger Tischlerei hergestellt. Der Tischlermeister and der Schlosser¬
meister batten fur den Tisch eine hohe Bezahlung, die jedoch an 5000 Franken
nicht heranreichte. So machen die Franzosen ibre Geschafte".
Der Kranke, der trotz lOmonatigerUebungsbehandlung am 13.12.1910
noch unfahig war, mit VerstSudnis gelesene Stoffe scbriftlich wieder-
zugeben, w ah rend er Selbsterlebtes und bildlich Dargestelltes schrift-
lich reproduzieren konnte, vermag also nach secbs- bis achtwbchiger
linkshandiger Uebungsbehandlung (am 16. 2. 1917), zunachst
leichtere gelesene Stoffe and kurze Zeit darauf selbst komplizierte
Lesestucke gewandt schriftlich und mundlich wiederzugeben.
Dass cs sich hier etwa urn eine pldtzliche Besserung handeln
kSnnte, die auch ohue linkshandiges Schreiben im Verlauf der Uebungs-
bebandlung eingetreten ware, ist nicbt anzunehmen, denn Pat. raachte
scbon vorher, wahrend eines 10 Monate langen Unterrichts gute Fort-
schritte im Wiedererwerb der sprachlichen Funktionen, gewann aber mit
Hilfe rechtshandiger Uebungen nicht die genugende sprachliche Merk-
fahigkeit zur mundlichen oder schriftlichen Wiedergabe gelesener
Stoffe, wie sie ihm nach Einsetzen der Linksschreibubung plotzlich
gelingt.
Wir glauben demnach, diese beiden Uebungserfolge nicht anders
auffassen zu konnen, denn als Unterstutzung des Wiederaufbaues
der sprachlichen Merkfahigkeit durch linkshandige Schreib-
iibungen. Die MOglichkeit, dass diese im Sinne einer Unterstutzung
der Ruckbildung linksbirniger Leistungen gewirkt habenkbnnten, ist aller-
dings, da die linke Hemisphare auch an der Innervation der gleichzeitigen
Extremitaten beteiligt ist, mit Sicherheit nicht auszuschliessen. (Vgl.
Rothmann, Arch. f. Psych., 1908, Nr. 43, Diskussion in der Berliner
Gesellschaft fur Psychiatric und Nervenkrankheiten.) Immerhin er-
scheint es hochst unwahrscheinlich, dass eine etwa bestehende Tendenz
zur Restitution linkshirniger Zentren nach so langer Uebungsbehandlung
erst durch die linksbandigen Schreibiibungen eine so plotzliche Unter¬
stutzung erfahren sollte, zumal die Impulse, die die linke Extremilat
von der homolateralen Hemisphare empfangt, doch gegenuber der kon-
tralateralen relativ geringe sind und demgemass auch umgekehrt ihrer
Einwirkung auf die homolaterale Hemisphare keine allzu grosse Bedentung
beigemessen werden darf. Es erscheint uns deshalb wahrscheinlich, dass
unsere Beobacbtungen im Sinne einer vikariierenden Uebernahme der
Fuhrung durch die rechte Hemisphare fur die physiologischerweise uber-
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Zur Uebungsbehandlung der Aphasien. 41
\
geordnete linke beim zentralen Sprachmechanismus gcdeutet werden
dor fen.
Al8 interessant in dieser Richtung, wenn aucb selbstverstandlich
nicht beweiskrfiftig, diirfen vielleicht auch die Angaben eines Aphatikers
(Hemiparese rechts, rechtsseitige Jackson’sche Anf&lle) mit Schuss-
verletzung des linken Stirn- und Schlafenlappens angeffilirt werden,
der im Laufe der Uebungsbehandlung angab, bei lfingerer Uebung oder
sonstigei geistiger Anspannung, Scbmerzen in den korrespondierenden
reehtshirnigen Partien zu empfinden. Anhaltspunkte fur eine lokale
rochtshirnige Schadigung bestanden nicht. Im Bereich der Schuss-
verletzang in der linken Hemisphere fanden sich bei wiederhoit not-
wendigen operativen Eiugriffen multiple Geschoss- und Enochensplitterchen
and eine etwa pflaumengrosse Zyste, fiber deren genaueren Sitz sich im
chirurgischen Krankenblatt keine n&heren Angaben finden. Heine Zeichen
einer difTusen zerebralen Storung, keine Drucksteigerung.
Angeregt durch diese Erfahrungen und durch die oben zitierten
Mitteilungen aus der Literatur, baben wir neuerdings linkshandige
fibungstberapeutische Versuche an zwei aphasiscben Hilfsschulkindern
vorgenommen. Obwohl beide schon frfiher mit grosser Hingabe unter-
riehtet und individuell berucksichtigt wurden, konnte w&hrend der mehr-
jlhrigen Schulzeit keine nennenswerte Beeinflussuug des psychischen
Allgemeinsustandes erzielt werden. Bei dem einen Kinde ist jetzt nach
2 monatiger optisch-taktiler und linkshindiger Uebungsbehandlung eine
so auffallende Hebung des psychischen Gesamtzustandes eingetreten,
dass uns die Angebfirigen des Kindes, die die Einleitung einer neuen
Bebandlung nur mit grossem Widerstreben zuliessen, spontan von seinem
verftnderten Verhalten im Hause Mitteilung machten.
Ueber das Ergebnis unsererer weiteren Beobachtung an diesen
Kioderu, die jetzt noch zu kurzdauernd und daher noch -zu unsicher
fur weitere Verwertung sind, werden wir spfiter berichten.
V.
Zusammenfassend bezeicbnen wir folgende Erfahrungen an heil-
pfidagogisch behandelten Aphasien als Ergebnis unserer Beobachtungen:
1. Die optisch-taktile Methode ffihrt auch bei partiellen
motorischen Aphasien zu guten Heilerfolgen.
2. Sensorische Aphasieen kfinnen ebenso wie motorische
Sprachstfirungen erfnlgreich nach der optisch-taktilen
Methode behandelt werden. Die auf diesem Wege
erzeugten zerebralen kinSstbetischen Erinnerungsbilder unter-
stutzen die Rfickbildung perzeptiver Sprachstfirungen ebenso
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42 Dr. P. Reichmann a. E. Reich&u, Zur Uebungsbehandlung der Aphasien.
wirksam wie die Heiiung von Erkrankungen des expressiven
Sprachapparates . l )
3. Dnsere Beobachtungen bilden einen Beweis fur die Uebbarkeit
der sprachlichen Merkfahigkeit Aphasiscber durch
linksh&ndige Schreibubungen. Diese sehen wir als neue
Wahrscheinlichkeitsstutze fur die Hypothese an, dass rechts-
hirnige Zentren vikariierend fur die geschadigten linken die
Fuhrung des zentralen Sprachmechanismus ubernehmen k5nnen.
1) Meine (Reichmann) inzwischen in der Hirnverletztenschule Frank¬
furt a. M. (Goldstein) gesammelten Erfahrungen veranlassen mich jedoch dar-
auf hinzQweisen, dass die guten therapeutischen Moglichkeiten der optisch-
taktilen Methode uns nicht verleiten diirfen, sie kritiklos bei alien Aphasischen
anzuwenden; neue Methoden und Kombinationen alter und neuer Methoden
sind inzwischen gefunden und erprobt worden, und mtissen, von Fall zu Fall
sorgfaltig individualisierend, therapeutisch mit in Betracht gezogen warden.
(Vgl. Goldstein, Die Behandlung, Begutaehtung und Fursorge Hirnverletzter.
C. F. W. Vogel. Leipzig 1918.)
III.
Aus dem pathologischen Institut der vereinigten Friedrichs-Universitat
Halle-Wittenberg (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Beneke).
Die Beziehungen des Status thymico-lympliaticus
zum Selbstmord yon Soldaten.
Von
Dr. Neste.
Die vorliegende Arbeit enth< einen Beitrag zur klinischen Bewer-
tung and Beacbtung der Beziehungen des sogenannten Status thymico¬
lymphaticus. bestehend aus einer Thymus- und Lymphdrusen-Hyperplasie
oinerseits und einer mehr oder weniger ausgebildeten Atrophie der
Nebennieren andererseits, zum Nervensystem und einer daraus sich er-
gebenden Predisposition zum Selbstmord.
Kntwicklungsgeschichtliche Wechselbeziehungen zwiseben Neben¬
nieren and Thymusdruse einerseits, dem Zentralnervensystem anderer¬
seits, sind seit langer Zeit bekannt. In den moisten der beschriebenen
Fille handclt cs sich um Missbildung des Gehirns, Hemizephalie, An-
enzcphalie, Synzephalie, Zykiopie, Akranio, Hydrozephaius, bei denen
sich eine Hyperplasie des thymiko-lymphatischen Apparates und eine
Hypoplasic des Nebennierengewebes und zwar vorwiegend ihres inter-
renalen und ebromaffinen Systems vorfand. Vor allem die Beziehungen
der Nebennieren zum Zentralnervensystem sind der Gegenstand
ciugehendcr Untersucbungeu gewesen. Die Kenntnis der Tatsache der
Nebennierenbypoplasie bei Azephalie geht schon auf Morgagni zurfick;
spatere Forscher (die beiden Meckel, Vetter, Rayer u. a.) haben sie
vielfach best&tigt. Ueber 17 F&lle von Hemizephalie mit Hypo- oder
Aplasie der Nebennieren berichtete dann Lomer (1), und lenkte hier-
durch von neuem die Aufmerksamkeit auf diese merkwurdige Kombi-
nation. Gleich daranf verOffentlichtc Weigert (2) ahnliche Erfahrungen;
<*r hielt es fur wahrscheinlich, dass die Defektbildung des Zentralnerven-
systems, etwa uoter Vcrmittlung des Sympathikus, die Hypoplasie der
Nebennieren (— eine vOllige Aplasie fand er in keinem Fhlle —) ver-
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44
Dr. Neste,
anlasste, und betonte, dass diese Hypoplasie die Rindensubstanz min-
destens ebenso sehr betreffe wie die Marksubstanz.
Sehr eiDgehend ist den Beziehungen zwischen Nebennieren and
Nervensystem Zander (3) nachgegangen. Er praparierte die Neben¬
nieren und bestimmte ihr Gewicht und Grosse bei 42 Hemizephalen,
8 Hydrozephalen, 8 Hydrozephalozelen, 4 Zyklopen und 3 Synzephaien.
%
Bei keinem Hemizephalug hat er normal grosse Nebennieren gesehen, so
dass er als das Ergebnis seiner Untersuchungen ansieht, dass bei Hemizephalen
die Nebennieren immor verkleinert sind.
Bei den 8 Hydrozephalen der Konigsberger Sammlung fand er die Neben¬
nieren normal gross, wahrend sich bei den Hydrozephalozelen eine Aplasie der
Nebennieren vorfand, so dass sich der Schluss ergab, dass die Nebennieren nicht
nur bei volligem Hirnmangel, wie bei den 42 Hemizephalen, verkleinert sind,
sondern auch bei solchen Friichten, bei welchen nur die vordere Halfte der
Grosshirnhemisphare fehlt, selbst wenn die iibrigen Teile des Gehirns mehr
oder weniger vollstandig sind. Die Zerstorung der hinteren Partie des Gross-
hirns bedingt umgekehrt keine Verkleinerung der Nebennieren, wenn die vor-
deren Abschnitte normal gestaltet sind. Anch bei den 4 Zyklopen fanden sich
die Nebennieren kleiner als bei entsprechend ausgebildeten normalen Friichten.
Bei den 3 Synzephaien waren die Nebennieren nicht verkleinert.
Zander fasst den Zusammenhang zwischen dem Grosshirn und den
Nebennieren so auf, dass das Wachstum der Nebennieren nur dann in
normaler Weise vor sich gehen kann, wenn das Gehirn intakt ist. Ist
die Nebenniere bereits vollstandig entwickelt. so wird sie sich nicht ver-
kleinern, wenn das Gehirn zugrunde geht. Tritt aber die Zerstorung
des Gehirns in einer Periode auf, wo die Nebennieren noch in der Aus-
bildung begriffen sind, so wird in der Entwicklung der Nebennieren ein
Halt eintreten, oder doch eine Verlangsamung ih^es Wachstums.
Zander halt also wie Weigert die Hirnmissbildung fur ausschlag-
gebend fur die mangelhafte Entwicklung der Nebennieren.
In direktem Gegensatz dazu stellt sich Alexander (4). An die kritische
Wiirdigung der Zander’schen Arbeit anschliessend, fiihrt er aus: „Nicht das
Gehirn hat Einduss auf das Wachstum der Nebennieren, sondern die Neben¬
nieren haben Einfluss auf die Entwicklung des Zentralnervensystems. Es ist
ganz klar, dass natiirlich selbst bei richtiger Funktion der Nebennieren andere
Schadlichkeiten auf den Schadel und das Gehirn wirken und zur Vernichtung
der urspriinglich normal angelegten Teile fiihren konnen. Damit erklaren sich
auch die Falle, wo bei intakten Nebennieren Hydrozephalie gefunden wurde
und ebenso auch, dass manchmal Hemizephali ganz normale Nebennieren —
wenn auch selten — haben. „Eins ist festzuhalten: In der ganzen Literatur,
die hier in Frage kommt, habe ich nicht Falle gefunden, bei denen Mangel
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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 45
oder Aplasie der Nebennieren mit gut entwickeltem Gehirn und Ruckenmark
zusammenfiel, nur solche, wo bei intakten Nebennieren Veranderungen oder
Missbildungon im Zentralnervensystem vorlagen. Folglioh scbeint mir meine
Erklarung hierfur besser zu passen: Veranderungen, Zerstorungen im Gehirn
und Nervensystem konnen eben durch versohiedene Einfliisse bedingt sein.
Einer derselben ist gegeben durch den Ausfall der Funktion der Nebennieren,
und daher fiudet man bei Aplasie oder beim Fehlen derselben stets Abnormi-
taten im nervosen Zentralapparat“. Auch die Ansicht von Weigert, dass ein
solohes Organ, wie die Nebennieren, so wichtige Teile wie Him und Schadel
in ibrem Wachstum nioht beeinflussen konne, erkennt Alexander nicht an.
,,Wenn wir bedenken 11 , fahrt er fort, „dass wir es mit einer Druse zu tun
haben u , — Alexander hat dies in seiner Arbeit immer wieder betont — „und
wenn wir erwagen, dass im Korper Driisen im Laufe eines Tages Produkte in
einer Masse liefem konnen, die im Verbaltnis znr Driisensubstanz sehr gross
genannt werden muss (liefern doch zum Beispiel die Speicheldruseen in
24 Stunden bis 2000 g Speichel), so konnen wir uns wohl erklaren, dass ein
Organ, wie die Nebenniere, durch Eingreifen in den intermediaren Stoffwechsel
selbst ungleich grossere Organe des Korpers beeinflussen kann“.
Dass diese Ausfuhrungen Alexander’s nicbt bloss Hypothesen
siud, sondern eine tatsSchliche Berechtigung haben, geht ans seinen
chemiscben Untersuchungen hervor, die den Nachweis von Lezithin in
den Nebennieren brachten und zwar in solchen prozentualen Mengen,
wie sie im ganzen Organismus nur noch im Nervenapparat, vor allem
in der grauen Substauz, vorkommen. Sie werden fernerhin noch ge-
stutzt durch die Untersuehungscrgebuisse Tizzoni’s, der nachwies, dass
bei Exstirpation der Nebennieren sich Veranderungen im Gross- und
Kleinhirn, im Ruckenmark und in den peripheren Nerven einstellen,
vorwiegend immer in der grauen Substanz nnd in der Pia mater.
Bemerkenswert ist auch der histologische Versuch Czerny’s (5),
der bei o Hydrozephaien eine Nebennierenatrophie fand. Berliner Blau,
welches er in die Hirnventrikcl junger Ratten injizierte, wurde zuerst
in einem Lympbgef&ss sichtbar, welches einen Gang zu den Nebennieren
abgibt. Ferner drang der Farbstoff auf dem Lymphwege ganz auffallend
reichlich in die Nebennieren ein.
Ich babe oben bereits erwahnt, dass an dieser Ilypoplasie des
Nebennierengewebes die Rinde (Interrenalsystem) in ausgeprSgtem Masse
teilnimmt. Diese Ansicht ist schon von Weigert vertreten. Meyer (6)
berichtet uber seine Untersuchungen mit den Worten: „das, was raor-
phologisch die Nebennieren der Anenzephalen von anderen unterscheidet,
ist in alien Fallen der Mangel oder die geringe Ausbildung in den
inneren Schichten der Zona fasciculata und der reticularis bei meist
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46
Dr. Neste,
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gut erbaltener und fettreicher Zona glomerulosa mit angrenzonder Partie
der Zoua fasciculata, in etwa der Halfte der Falle ein byperplastisches
und weit differenziertes Mark.
Aucb in anderer Hinsicbt sind die Untcrsuchungen Meyer’s inter-
essant. Er untersuchte 2 Anenzephalen im zweiten und funften Fotal-
monat — wesentlich junger also als diesonst beschriebenen Falle — und
konnte bei diesen keine Abnorraitat der Nebennieren feststellen. Aus
seinen Fallen geht hervor, dass bei Hemizephalie und Anenzepbalie
nicht nur das Nebennierengewebe normal sein, sondern auch bis in
den 5. Fotalmonat normal erbalten bleiben kano, dass also eine
sekundare Atrophie durch einen vorlaufig unbekannten Ein-
flnss eintritt. Dass diese mit der Gehirnmissbildung zusammenhangt,
scheint Meyer unabweislich; die Vcrschiedenheit der Gehirnmissbil-
dungen deute ferner darauf bin, dass nicht in einer dritten gemeinsamen
Ursache die Fehler begrundet seien, sondern dass die Stdrungen der
Nebennieren direkt mit denen des Gehirns zusammenh&ngen. Auch
Meyer sicht die Hirnmissbildungen als das Prim&re an, ist also der-
selben Ansicht wie Weigdrt und Zander.
Wiesel(7) wies nacb, dass auch Unterentwicklungen im Gebiete
des chromaffinen Systems vorkommen, meist in Gesellschaft mit ander-
weitigen Anomalien.
So steben also zwei Anscbauungen: die eine, welcke die Missbildung
des Gehirns als ausscblaggebend fur die mangelbafte Entwicklung der
Nebennieren, die andere, welche die hypoplastische Anlage der Neben¬
nieren fur die Hirnmissbildung verantwortlich gemacht haben will, sich
gegeniiber. Das Prim&re und Sekundare ist vorl&ufig nicht gekl&rt,
aber jedenfalls sprecben viele Bcobacbtungen fur die Tatsache, dass
die morphologische Entwicklung beider Organe bestimmte quantitatir
nachweisbare Bezieliungen hat. Die einfachste Auffassung wurde
wohl, nach Beneke’s Vorstellung, dahin lauten, dass der Ver-
brauch bestimmter Mengen einer fur das Zentralnervensystem
notwendigen Substanz, etwa des Lezithins, durch die physio-
logische Produktion der Nebennieren gewahrleistet wird,
und dass demgemiss die letzteren einer funktionellen Atrophie
unterliegen, falls eine Defektbildung der Hirnmasse die An-
forderungen an die Nebennieren herabsetzt. Hieraus wurde
sich dann ergeben, dass die „normale u GrSsse der Neben¬
nieren einem bestimmten Stoftwechsel innerhalb des Zentral-
nervensystems entsprecben wurde, und dass Schwankungen
dieser Korrelation auch im postfdtalen Leben quantitativen
Ausdruck finden kdnnen.
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Beziebungen des Status thymico-lympbaticus zum Selbstmord von Soldaten. 47
Ueber die Beziehongeu der Thymusdruse oder des Status thymico¬
lymphaticus zum Zeutralnervensystem ist entwicklungsgeschichtlich
weniger bekaunt geworden. Drei franzdsische Autoren (We ns low,
Borneville, Katz) beschrieben Gntwicklungshemmuugen des Gebirns
bei Anomalie der Thymusdruse. Gelegentlich einer Besprechung fiber
den noch spfiter zu erwahnenden Status thymicus bericbtet Anton (32)
fiber drei Sektionsfalle, bei denen neben einer grossen Thymusdruse
gleichzeitig eine Hypertrophic des Gebirns nachweisbar war. „Es ist
schon Rokitansky bekannt“, fuhrt Anton aus, „dass Hypertrophic
des Gehirns, vielleicht besser gesagt, relative Hypertrophie des Gehirns
plfitzlichen Tod herbeifuhren kann. Gs ist Tatsache, dass die Hyper¬
trophie des Gehirns, besonders bei Kindern h&ufig fibersehen wird, sinte-
mal die Gehirnwfigungen nicht regular vorgenommen werden. In der
Tabelle von Gehirngewichten, welche Marchand verfiffentlicht, finden
sich solche hohe Gehirngewichte auch boi Kindern, ebenso findet in der
Publikation von Neusser fiber den Status thymico-lymphaticus die Tat¬
sache der Gehirnhypertrophie eingehende Beachtung.
n P)fitzliche Todesfille ereigen sich auch bei Hydrocephalus internus;
es sind also bereits hinreichend Tatsachen vorhanden, weiche das gleich-
zeitige Vorhandensein von vergrfisserter Tbymusdrfise und Gehirnhyper-
tropbie illustrieren".
Experimentell sind die innigen Beziehungen zwischen Thymus und
Nervensystem von Klose und Vogt(13) eingehend studiert worden. Sie
haben nachweisen kfinnen, dass beide Organe, ebenso wie Nebennieren
und Nervensystem, in enger Wechselwirkung stehen. Die Aenderungen
bestehen im motorischen Verhalten der thymusexstirpierten Tiere, in
einem Trig- und Plumpwerden der Bewegung — infantiler Bewegungs-
eharakter — infolge Verblfidung der Tiere. Weiterbin stellen sich Er-
mudungserscheinungen und leichte Paresen und endlich koordinatorische
Stfirungen ein. Die Sensibilitfit bleibt lange Zeit intakt, spfiter stumpft
sie sich ab und die Schmerzempfindlichkeit geht verloren. Auch die
Sinnesfunktionen nehmen an Sicherheit recht erheblich ab, am auffallend-
sten der Geruchssinn. Die Hautreflexe sind erst erhfiht, spfiter herab-
gesetzt, die Sehnenreflexe schon wfihrend des Latenzstadiums erhfiht,
werden dann spfiter noch lebhafter; in manchen Fallen zeigen sie
schliesslich ein Absinken. Die elektrische Grregbarkeit ist erhfiht
Basch (11) stellte nach der Thymusexstirpation Krampfanffille, bald
von tonischem, bald von klonischem Charakter fest, eine Beobachtung,
die von Klose und Vogt nicht gemacht werden konnte. Nach ihm
wird das Krankheitsbild der thymusexstirpierten Tiere sehr wesentlich
in alien Zfigen durch eine schwere psychische Verfinderung bestimmt
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48
Dr. Neste,
Gehen aus derartigen experimentellen Befunden deutliche Beziehungen
zwischen den funktionellen Leistungen der Thymusdruse und denen
der verschiedenen Abschnitte des Zentralnervensystems hervor, so lassen
sich solche wohl auch aus den eigenartigen klinischen Erfahrungen
uber den sogenannten „Thymustod“ herauslesen. Auf die Einzelheiten
dieser so viel diskutierten Erklarung einzugehen, wurde hier zu weit
fuhren. Ich begnuge mich mit dem Hinweis, dass die Auffassung man-
cher Autoreu, dass diese unter Krampfen erfolgende j&he Todesart eine
Folge mechanischeu Druckes der vergrosserten Thymusdruse auf die
Trachea sei, zwar fur mapche FSlle des frubesten Kindesalters aus-
reichend bewiesen erscheint [so z. B. in den von Flugge(lO) mitge-
teilten Beobachtungen Beneke’s; vgl. auch 26 u. 27], dass aber fur die
meisten F&lle, namentlich die pldtzlichen Todesf&lle bei Erwachseneu,
an eine toxische Eiuwirkung gedacht werden muss. Fur solche Fille
gilt offenbar die von Paltauf (14) geschaffeue und von Bartel u. a.
weiter ausgefuhrte Lehre vom „Status thymico-lymphaticus u , als einer
„Konstitution8anomalie“, welche Paltauf mitfolgenden Worten definierte:
„Blasse der Haut, wohlentwickelterPanniculus adiposus, Hyperplasie der
verschiedenen Teile des lymphatisohenApparates, der Lymphdriisen des Halses,
der Axilla, des Mesenteriums; die Follikel des Nasen- und Rachenraumes, der
Darmwandungen, des Zungengrundes und derMilz stark vergr5ssert, dioThymus
iibennassig gross. Diese Befunde fuhren uns dahin, einen allgemein krank-
haften Zustand des Korpers anzunehmen, der durch die Bezeichnung lympha-
tische Konstitution am ehesten gekennzeichnet wird. Die hyperplastische und
abnorm laag erhaltene Thymusdruse ist nicht die Ursache des Todes, sondern
nnr ein Teilsymptom jener allgemeinen Ernahruugsstorungen, die des weiteren
durch die Vergrosserung der Lymphdriisen undTonsillen charakterisiert wird“.
Bei solchen Individuen, die Russerlich vollkommen gesund erscheinen,
geniigt eine geringe Yeranlassung (korperliche Anstrengung, Baden,
psychische Erregungen, beginnende Chloroformnarkose u. a.), um den
Tod herbeizufiihren.
Die zunehmende Erfahrung hat mehr und mehr gelehrt, dass eine
grdssere Empfiudl ichkeit solcher Individuen gegenuber Scha-
digungen aller ATt besteht. Schou altere Aerzte haben in diesem
Korperzustande eine Anlage oder Disposition zu gewissen Infektions-
krankheiten, insbesondere zu Tuberkulose erblickt; Bartel (15) aussert
sich in ahnlichem Sinne. Die grossere Vulnerabilitat dieser Individuen
gelangt schou darin zum Ausdruck, dass die grdssere Halfte derselben
in einer fruhen Altersperiode (14.—25. Lebensjahr) zumeist an Infek-
tionskrankheiten, namentlich an Tuberkulose, weiter an Nephritis, Eklamp-
sie, Diabetes zugrunde geht.
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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 49
Fur diese F&lle von Status tbymicus ist nun das gleichzeitige Zu-
sammentreffen von Thymushyperplasie und Nebennierenatrophie von
Wiese l (8) zuerst angegeben worden. Diese so cbarakteristische Kom-
bination raft sofort die Eriunerung an die eingangs mitgeteilten eut-
wicklungsgeschichtiichen Beziebungen der Nebennieren zu dem Zentral-
nervensystem wach.
Leber die Frage, was beim Status thymicus das Ausscklaggebende
ist. ob die Hyperplasie der Thymus, oder die Hypoplasie der Neben¬
nieren, besteht keine einheitliche Auffassung. Biedl (28) h3.lt die
Thymus in Abhangigkeit von anderen endokrinen Organen, die auf die*
selbe teiis im Sinne einer Hemmung (Tbvmusdepressoren), teils im Sinne
einer Steigerung ibrer Aktivit&t (Tbymusexzitatoren) wirken. Zu den
letzteren waren in erster Reihe die Schilddriise, die Epithelkdrper-
chen, und nachWiesel die Nebennierenrinde zu recbnen, w ah rend eine
tbymusdepressorische Wirkung vor allem den Keimdrusen zukommt.
Nach W iesel hat auch das Adrenalsystem Einfluss auf die Thymus im
Sinne einer Depression. Er weist auf den Parallelismus zwischen phy-
siologischer Involution des Nebcnnierensystems und der physiologischen
Involution der Thymus und auf den Antagonismus zwischen Adrenalin
und Thymusextrakt bin. Durch starke Verminderuug des thymusdepres-
sorischen Adrenalius kann es zu einem Ausbleiben der physiologischen
Involution der Thymus komraen, falls die Erkrankung noch vor der
Pubertat cinsetzt, oder aber die Thymus kann durch den Wegfall der
hemmenden Substauz noch spater zu einer Tatigkeit erwachen. Hierher
gehfirt auch die auffallige Thymushyperplasie in vielen Fallen von Mor¬
bus Addison [vgl. Wiesel’s Zusammenstellung (8)]. Auch Beneke(25)
hat gelegentlich eiuer Ausfuhrung uber seine bei Kriegsteilnehmern ge-
machten Beobachtungen uber Status thymicus und Nebennierenatrophie
diese Frage kurz gestreift. Er fuhrt aus:
„lch bezeichne als ^Status thymicus 41 Falle mit ausgepragt parenchyma-
loser, vergrosserter Thymusdrnse und entsprechenden Hyperplasien des Folli-
kalarapparates, wobei ich ebenso wie Sohridde die Hypertrophie der Zungen-
balgdrdsen ganz besonders auffallig und regelmassig finde, andererseits mit
Atropbie der Nebennieren. Die Schmalheit der Nebennieren, vorwiegend der
Kinde, aber nicht selten auch desMarkes, welche das ganze Organ in schweren
Fallen fast papierdiinn erscheinen lasst, scheint mir noch bedeutungsvoller,
als der Zustand der Thymusdruse selbst. Ich babe den Eindruck, als ob die
Nebennierenatrophie, wie es ja auch in dcr Literatur vielfach angenommen
wird, den ganzen Prozess, den ich nicht als eine angeborene Konstitutions-
anomalie, sondern als eine erworbene schwankende Stoffwechselsto-
rung auffasse, einleiten und in vielen Fallen bis zur starken Thymushyper-
Archit f. Psych itim. Bd. CO. Heft 1. 4
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50
Dr. Neste,
plasie treiben konne. Ich habe deshalb auch die Zahl der Falle mit Neben-
nierenatrophie zusammengestellt. Unter 240 Sektionen von Soldaten fan den
sich 56 Falle (23,3 pCt.) mit Nebennierenatrophie, davon 28 mit Thymushyper-
plasie; sehr schwere Atropbie zeigten 19 Falle (7,9 pCt.), schwere 14 Falle.
(5,8 pCt.), beide zusammen also 13,7 pCt. aller Sektionen; in 23 Fallen
(9,5pCt.) war die Atrophie meistens deutlich erkennbar. Diese Zahlen scheinen
mir darauf binzuweisen, dass dieVorgange des Stoffwechsels, welche die Grosse
der Nebennieren bedingen, vorwiegend des Cholestearinfettstoffwechsels, bei
den Soldaten besonders beeinflasst wurden — ich kann einstweilen kaum die
Frage andeuten, ob es sich dabei urn Folgen der Tatigkeit, der Muskelanstren-
gung, der nervosen Erregung, oder infolge der Ernahrung im allgemeinen,
oder nor um- Folgen der todlichen Erkrankungen handelt. Dass die letzteren.
Sepsis oder ahnliches, nicht allein massgebend sein konnen — wenn sie auch
manchmal eine rapide Abnahme der Lipoide veranlassen, — geht schon aus
dem Vorkommen der sohwersten Atrophien bei plotzlichen Todesfallen hervor.
Offenbar handelt es sich auch keinesfalls allein um Abnahme der Lipoidablage-
rungen und dadurch bedingte relative Schmalheit der Rinde, sondern um einen
wirklichen Zellenschwund, starke Verkurzung der Zona fasciculata und wie ich
wiederholt beobachtete, fast vollkommenes Fehlen der Regenerationszone der
Nebennieren, der Zona glomerulosa. — Demgegeniiber scheint mir dieThymus-
hyperplasie, wie die Hyperplasie des Follikularapparates im wesentlichen eine
Steigerung des Nukleinstoffwechsels (Ueberschwemmung des Korpers
mit nukleinreichen Zellen) zu verfolgen, wobei natiirlich die Produktion ander-
weitiger Hormone parallel laufen kann u .
Die Frage, ob die Nebennierenatrophie die Thymushyperplasie ver-
anlasst hat, oder umgekehrt, erscheint vorlfiufig noch ebensowenig, wie
die zweite, welches von diesen beiden Organen die Alteration im Ge-
samtorganismus hervorruft, erklart.
Eine eigentiimliche Beleuchtung erffihrt die Lehre vom Status thy-
micus durch die neuerdings bei Selbstmfirderleichen gemachten fiber-
raschenden Befunde. Bei einem auffallend hohen Prozentsatz
der Selbstmorder unter den Soldaten fand sich ebenfalls ein
mehr oder weniger ausgepr>er Status thymicus mit Neben¬
nierenatrophie. Man ist damit der Frage, ob der Selbstmord etwa
pathologisch-anatomische Grundlagen habe, einer Frage, die schon immer
Pathologen und Psychiater beschfiftigte und auch eine recht grosse
praktische Bedeutung hat, erheblich n&her getreten. Besonders von den
Psychiatern ist die Frage vielfach aufgeworfen worden, indem man den
Selbstmord als die Reaktion einer erkrankten Psyche ansah. In der
Literatur sind zahlreiche Beobachtungen fiber jene Beziehungen bekannt
geworden. Die letzte grossere Zusammenstellung bis zum Jahre 1912
publizierte Miloslavich (22), der ich lolgende Ausfuhrungen entnehrae:
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Beziehungap des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord you Soldaten. 51
Die erste umfassendere Darstellung fiber Beobachtungen an Selbstmorder-
leichen verdanken wir Heller (23), weloher im Jabre 1900 fiber 300 Sektions-
falle von Selbstmordern berichtet. Heller betont in seinen Fallen die grosse
Zahl von aktiten Krankheiten, welcbe Erfahrungen er sonst nicht in der Lite-
ratur erwahnt fand. Er registries ferner: „Veranderungen des Zentralnerven-
systems and seiner Hfillen in mannigfaohen Kombinationen: Hyperostosen,
Sklerosen des Schadels, Hamorrhagien, Erweichungsherde des Gehirns usw.,
Missbildungen, Tumorbildungen. Bei Frauen Zustande von Graviditat, Status
post partum und Menstruationen als physiologische Zustande, welcbe zu ab-
abnonnem psychischem Verhalten in bohem Masse disponieren. Mancherlei
Veranderungen werden von ibm auf Alkoholismus bezogen, der gleichfalls mit
unter den letzten Ursacben des Selbstmordes angeffihrt erscheint. Nur in
8 pCt. seiner Falle ist verxnerkt, dass patbologische Befunde nicbt vorhanden
waren. Beziiglich der Beurteilung der Selbstmordfrage meint er: So durfte
scharf zu unterschoiden sein zwischen dem letzten Anlasse zur Tat, und der
eigentlicben, die abnorme Reaktion bringenden Ursache. Die letztere ist das
wescntliche, der erstere ist in seiner Art bedeutungslos, statt des einen hatte
ebenso gut ein ganz anderes, verhaltnismassig wenig bedeutendes Ereignis den
gleicben Erfolg herbeiffihren konnen u . So sind auch nach seiner Meinung
statistiscbe Angaben fiber die Veranlassungen der Selbstmorde von sehr ge-
ringem Werte und mfisse es deshalb prinzipiell verlangt werden, dass die Sek-
tion aller dem Anscbein nach durch Selbstmord Umgekommenen stattfande, da
durch die Sektion patbologische Zustande aufgedeckt werden konnen, welohe
zu vorubergebenden geistigen Storungen oder dauernder Beeintracbtigung der
Zurechnungsfahigkeit erfahrungsgemass die Grundlagen geben. (Von einem
Status thymicus erwahnt Heller nicbts in seinen Beobachtungen; es liegt nabe
anzunehmen, dass er auf diesen damals nocb nicht genauer bekannten und
definierten Zustand noch nicht geachtet hat.)
Ollendorf (18), auf der Arbeit von Heller fussend, berichtete im Jahre
1905 fiber 362 Selbstmordlalle, die eine fast vollinhaltlicbe Bestatigung der
Heller’schen Befunde darstellen. Akut fieberhafte Krankheiten verzeichnet
er in 65 Fallen (17,96 pCt.), worunter sich 34 Falle (9,39 pCt.) von frischer
Milzschwellung befinden.
Auch Ollendorf schenkt dem Statustbymico-lymphatious offenbar keine
besondere Beachtung, denn in seinen Fallen findet man nur 3Mai eine Schwel-
lung des lymphatischen Apparates, ferner in 4 Fallen eine persistierende Thy¬
mus, die letztere einmal in Kombination mit der Schwellung des lymphatischen
Rachenringes erwahnt.
Im Jahre 1906 haben sodann Bartel mit Stein (17) gelegentlich der
Wiedergabe histologischerUntersuchungen fiber den Status thymico-lymphaticus
drei Falle von Selbstmfirdern vermerkt, welohe einen ausgepragten Grad von
Lymphatismus mit fibergrosser Thymus aufwiesen.
Fall 1. 18jahriger Mann (Kopfschuss 13. 3.1905). Status thymico-
lymphatious. Thymus 30,6 g. Enge des arteriellen Systems.
4*
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52
Dr. Neste,
Fall 2. 19jahriges Madchen, 4. 12. 1904 (Vergiftung mit 100 bitteren
Mandeln). Status tbymico-lymphaticus, Thymus 18 g.
Fall 3. 20jahriges Madchen, 4. 12. 1904 (Sturz aus der Hohe.) Status
tbymici-lymphaticus (Thymus 29,5 g). Enge des arteriellen Systems.
Die Zahl der Falle war zu klein, urn damals daraus irgendwelche posi-
tiven Schlussfolgerungen zu ziehen, wohl aber gaben die Fade Veranlassuag
zu einer spater zu erorternden ausfuhrlicheren Mitteilung Bartel’s.
Das Jahr 1909 bringt uns eine grossere Abhandlung von Brosch (16),
welche spezied die Frage der militarischen Selbstmorder zum Ziel hat.
Soweit er Veranderungen pathologisch-anatomischer Natur beschreibt,
findet er sich vielfach in Uebereinstimmung mit Heller. Speziell den Resi-
duen akuter Entziindungen, sowie Atrophien und Hypertrophien und mannig-
fachen Bildungsanomalien, erscheint ein besonderes Augenmerk zugewendet.
Ein grosses Gewicht wird ferner auf den ^Status digestionis a gelegt. Im An-
hang wird erwahnt, dass Veranderungen am lymphatischen Apparate bei Seibst-
mordern ziemlich reichlich beobachtet wiirden. Es wird diesbezuglich ferner
bemerkt, dass die Untersuchungen schon fast abgeschlossen waren, als die
Aufmerksamkeit auf diese Verhaltnisse gelenkt wurde. So ergab sich an Fallen
spaterer Untersuchungsreihen eine oft ungewohnliche Grosse der Thymus und
auch das Bild des Status lymphaticus. Hierzu bemerkt Brosch: „Da aber
im vorliegenden Material nicht systematisch auf diese Veranderungen geachtet
wurde, konnen daruber auch keine prazisen Zahlen angegeben werden und
bleiben dieselben einer spateren Publikation vorbehalten a .
So viel jedoch ist trotzdem zu ersehen, dass Status lymphaticus bei seinen
Selbstmordfallen ziemlich haufig war. Bald nach Brosch veroffentliohte
Bartel (15) im Anschluss an jene oben erwahnten drei Falle in einer grossen
Arbeit seine Beobachtungen an 126 Selbstmorderobduktionen. Das Hauptge-
wicht wird diesmal von ihm auf das Vorhandensein eines Status thymico-lym-
phaticus bezw. lymphaticus gelegt. Er zeigt, indem er sein Material je nach
der Genauigkeit der Sektion mit Beachtung der verschiedenen Befunde in
Gruppen teilt, wie das Bild des Selbstmorders auf dem Sektionstische bei zu-
nehmender Aufmerksamkeit auf „scheinbar zufallige und unbedeutende Neben-
befunde u ein bestimmtes Geprage zeigt. Dies gilt in erster Linie fur den Lym-
phatismus, der, wie Miloslavich betont, „mit Fug undRecht als ein sicheres
und pragnantes Signum einer „Konstitutionsanomalie u zu betrachten ist.
Unter 52 Fallen seiner Gruppe 2 und 3 vermerkt Bartel in 63 pCt. einen
Status tbymico-lymphaticus, in 20 pCt. Teilsymptome einer solchen Korper-
besehaffenheit. Bartel bemert hierzu: „Wenn solchergestalt in 18 pCt. der
Falle Angaben negativ erscheinen, so darf nicht vergessen werden, dass in
Gruppe 2 die Protokollierung keine entsprechend sorgfaltige war a . Tatsach-
lich erwies sich in Gruppe 3, welche 26 auf das Genaueste protokollierte Falle
umfasste, dass der Lymphatismus moistens hohen Grades, mit und ohne Thy¬
mus persistens, bei Selbstmordern namentlich der jiingeren Jahrzehnte ein fast
konstanter Befund ist. Bartel stellt sodann, ohne jedoch ein Dogma damit
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Beziehungen des Status tbymico-lymphatious zum Selbstmord von Soldaten. 53
zu verkunden, als allgemeine Regel im Obduktionsbefunde bei Fallen von
Selbstmord folgende Satze auf: „Es stellt sich hiermit der Selbstmord vor-
wiegend als eine Erscheinnng des jugendlichen Alters, wahrend und nach der
Pubertatszeit dar, ohne dass sich hierbei eine besondere Pravalenz des einen
oder anderenGesohlechts ergeben wiirde. Oft fiber ihr Alter entwiokelt, sind es
sefar oft fibermittelgrosse Individuen mit zumeist kraftigem Knochenbau, wobei
die zum Teil sehr hoch gewachsenen Individuen gelegentlich Anzeichen von
Rachitis erkennen lassen. Bei gut, ja oft fiberreich entwickeltem Fettpolster
sind auch die inneren Organe gut entwickelt und zeigt namentlich das Gehirn
hohe Gewichtszahlen, so dass gelegentlich direkt von einer Hypertrophic der
inneTen Organe gesprochen werden kann. Wie die grossen parenobymatosen
Organe ist auoh das lymphatische Gewebe stark entwickelt. Es ist gelegent¬
lich an einzelnenStellen, nicht allenthalben, namentlich beiindividuen jungerer
Altersstufen hyperplastisoh, so dass in vielen Fallen geringere oder hohere
Grade von Lymphatismus konstatiert werden konnen. Gleichzeitig zeigt oft
auch die Thymus eine starke und fur das Alter eine fiberstarke Entwicklung,
so dass sehr oft die Diagnose eines Status thymico-Jymphaticus gereohtfertigt
crscheint. In einem gewissen Gegensatz zu diesen Beobachtungen steht die
Entwicklung des arteriellen Systems. Bis auf einzelne Falle der hohenAlters-
stufen ist die Aorta fiber den Klappen von oft bedeutend geringerer Weite als
die Pulmonalis und besteht des ofteren eine Aorta angusta. Die Gefasswand
ist meist zart, zeigt ofters geringgradige fleckweise Degeneration der Intima,
sehr selten ein auch nur einigermassen entwickeltes Atherom. Das Herz zeigt
in H5he und Dioke weohselnde Verhaltnisse. Bezuglich der inneren Organe
weise ich noch erganzend bin auf fast durchaus immer vorhandene starke Ent¬
wicklung der Appendix, auf Befunde eines Etat mamellon£ des Magens und
der kolloiden Entartung der Thyreoidea. Genitale beim Mann meist gut ent¬
wickelt; zeigt beim weiblioben Selbstmorder ein paralleles grosses, mitFollikel-
zysten durchsetztes Ovarium. Allgemein als krankhaft angesehene Prozesse —
abgesehen von den durch die Art des Selbsmordes bedingten Veranderungen
und Folgekrankheiten — gehoren zu den relativ selteneren Befunden. Zum
Schluss wird betont, dass, wenn auch durch diese Befunde die Selbstmordfrage
noch keineswegs gelost erscheine, doch ein Fingerzeig vorhanden sei, fiber die
bisherige Art und Weise der Sektionen bei Selbstmordern hinaus genau auf
Momenta zu achten, welche fur eine konstitutionelle Anomaly zu sprechen
geeignet sind; dabei mfisse man, wie den mannigfachen Bildungsfehlern, auch
dem ganz haufigen Befunde des Status thymico-lymphaticus das Interesse zu-
wenden.
Die nachste Zusammenstellung liefert Egglhuber (24), der aber wieder
dem Status thymico-lymphaticus kein besonderes Augenmerk zuwendet.
Er erwahnt drei Mai die Persistenz der Thymus, die in einem Falle mit
lymphatischer Hyperplasie verbunden war, und bemerkt hierzu: „Dem Status
ihymico-lymphaticus wird von manoher Seite eine Beziehung zur Entstehung
von Gei4tesgestortheit zugeschrieben. Wir wissen von diesen Verbaltnissen
wenig Sicheres. u Sonst sind in den Aufzeiohnungen Egglhuber’s zablreiche
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Dr. Neste,
Beobachtungen derart, wie sie seit Heller bekannt sind und auch von Broscb
and Bartel gesehen warden, vermerkt. Egglhuber meint, diese Befunde
miissen, wo die Sektion sonst nichts ergibt, als Verlegenheitsursache dienen,
and es komme ihnen, besonders wenn sie nicht auffallend sind, keine Be-
weiskraft zu.
Als Fortsetzung der Arbeit von Broscb verSffentlicbt Miloslavich
selbst im Jahre 1912 eine Statistik iiber Selbstmordf&lle. Er teilt
dieselbe in 6 Gruppen ein:
Gruppe 1: Status thymioo-lymphaticus: Ausgesprochene Schwellung des
gesamten lymphatisohen Apparates mit iibergrosser Thymus.
Gruppe 2: Status lymphaticus: Schwellung des gesamten lymphatisohen
Apparates ohne Bestehen einer Thymushyperplasie oder mit einem Thymus-
fettkorper.
Gruppe 3: Status thymicus: Uebergrosse, zuweilen zw^ilappige Thymus
ohne anscheinend sichtbare Beteiligung des lymphatisohen Apparates.
Gruppe 4: Teilsymptome eines Lymphatismus: Partielle Schwellung des
lymphatischen Apparates (wie Darmmesenterialdriisen,Milz, Zungengrund usw.).
Gruppe 5 : Negative Falle.
Als Ergebnis finden sich Anzeichen einer lymphatischen Konstitution in
80 pCt. aller Falle (88 von 110) und zwar:
Gruppe 1: Status thymico-lympbaticus in 52 Fallen = 47 pCt.
Gruppe 2: Status lymphaticus in 23 Fallen = 21 pCt.
Gruppe 3: Status thymicus in 9 Fallen = 8,5 pCt.
Gruppe 4: Teilsymptome in 4 Fallen = 3,5 pCt.
Gruppe 5: Negative Angaben in 22 Fallen = 20 pCt.
Es findet sich in diesen Befunden eine weitgehende Uebereinstimmung
mit den Beobachtungen Bartel’s: Die Tatsache, dass bei der iiberwiegenden
Mehrzahl der Selbstmorder ein Status thymico-lymphaticus oder Teilsymptome
desselbenzukonstatierenist,istnichtzuleugnen. Ferner auch die Tatsache, welche
auohMiloslavich bestatigen konnte, dass dieser Status haufiger in der Jugend
anzutreffen ist, wie in spateren Jahrzehnten, und der Selbstmord ebenfalls Indi-
viduen der ersten Jahrzehntebetrifft. Seine Abhandlung resumiert Miloslavich
mit folgenden Worten: „Wenn seinerzeit Heller auf Grund seiner Beobach¬
tungen die genaue Obduktion der Leichen von Selbstmordern als ein auf ver-
schiedenen sozialen Momenten basierendes Erfordernis bezeichnete, so mochte
ich mich diesem Standpunkte auch nach den von mir mitgeteilten Befunden
voll und ganz anschliessen. Dabei mochte ich mit Bartel auf die besondere
Bedeutung der so iiberaus haufigen Beobachtungen eines zumeist sehr ausge-
sproohenen Status thymioo-lymphaticus hinweisen, welche Konstatierung man
bei keiner Sektion von Selbstmordern unterlassen sollte. Es hat ja gerade die
Frage der besonderen Leibesbeschaffenheit der Selbstmorder nicht nur ihre Be¬
deutung. fur den betreffenden Fall an sich, sondern auch fur die so oft zur
Diskussion gestellte Frage der auslosenden Mitschuld dritter Personen an der
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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 55
eingetretenen Katastrophe, welche Frage besonders im militarischen Milieu eine
bedeutende Rolle spielt.“
Die Ergebnisse der klinisch-psychiatrischen Beobachtungen stellt
Piles (31) in einem Sammelreferat zusammen. Er ffibrt Statistiken
der verschiedenen Autoren fiber die Prfivalenz des m&nnlichen und weib-
lichen Gescblechts zum Selbstmord an, verteilt auf die einzelnen Lander,
sodann Zusammenstellungen der einzelnen Altersklassen. Auch er kommt
zum Schluss, dass der Selbstmord vorwiegend eine Erscheinung der drei
ersten Lebensjahrzehnte sei. In seinen weiteren Ausffihrungen, die- eine
Tabelle fiber die einzelnen Todesarten bringen, sowie Beziehungen von
Menstruation und Geisteskrankheiten zum Selbstmord, interessiert uns,
dass auch er in 3 Fallen einen Status thymicus erwahnt.
Mit den zuletzt referierten Angaben der Wiener Autoren steben nun
die Befnnde, welche Herr Geheimrat Beneke in seiner Tfitigkeit als
fachfirztlicher Beirat wfihrend des Krieges erheben konnte, und welche
«*r mir zur Verfiffentlicbnng fiberwiesen hat, in erfreulicher Ueberein-
stimmung, insofern bei der fiberwiegenden Mehrzahl der Sol-
da tense lbs tmor der ein Status thymico-lymphaticus konstatiert
werden konnte. Es handelt sich am 16 Fftlle, von denen 8 einen
ausgesprochenen, 4 einen weniger deutlichen Status thymico-lymphaticus
zeigen, 4 Falle waren negativ. Die ausffihrlichen Sektionsberichte und
Epikrisen der 8 positiven Falle nebst den entsprechenden anamnesti-
schen Angaben, soweit solche zu erlangen waren, will ich hier folgen
lassen:
Fall 1. Paul Sch., Kanonier, 19 Jabre.
Sektionsdiagnose: Selbstmord duroh Erhangen. Schwerer Status
thymicus.
Angaben aus dem Leben (einem Briefs der Schwester entnommen):
Ais Kind war Scb. sehr artig und gehorsam; mit 9 Jahren Lungenentziindung,
m<t 15 .labren Typhus (16 Wocben krank gewesen). Als Bursche war er sehr
fleissig und sparsam. Als er zum Militar eingezogen war, zeigte er gedruckte
Stimmung, ausserte mehrmals, er konne das Soldatenleben nicht ertragen. Auf
mr-brfaohe Fragen seiner Sobwester, was ihm eigentlicb fehle, sagte er, er
wisse nicht, was ibm fehle, er babe eine solche Angst, die er nicht wieder los
werden konnte. Erregt war er sehr leicht.
Sektionsberioht: Am 12.5. 1916. Selbstmord durch Erhangen. Sek-
tioo am 16. 5. Ilochgradig entwickelte Faulnis, sehr starke Entstellung des
tiesiebts, welches tiefblaurot und schwarzgrun erscheint, sowie des uberall
durch Gas aufgetriebenen Korpers. Untersetzter, kraftiger K or per, stark ent-
wi.'keltes Fettgewebe, prall. Strangulationsmarke am Halse nicht deutlioh.
I>a die Beerdigung unmittelbar bevorstand, konnte nur eine unrollkommene
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Sektion vorgenommen werden. Dieselbe ergab starke Blutfiberffillung des Her¬
zens und der Lnngen sowie der Banchorgane. Die Thymusdruse ist rela-
tiv weich, gross, dunkelrot, parenchymatos. Nebennieren auf-
falligklein,schmal, nurhierunddakleine Fettberde inderRinde,
welche im fibrigen dunkelbraun erscheint, sehr schmales Mark von grauer
Farbe.
Epikrise: Aus dem Sektionsbericht geht unzweifelhaft die Ver-
grosserung der Thymusdruse sowie die Nebeunierenatrophie hervor. Die
anamnestischen Aussagen der Schwester schildern den Sch. als einen
in letzter Zeit sehr nervosen Menschen, auf den das Soldatenleben eine
sehr starke depressive Wirkung ausQbte, die sicherlich in der durch
den Status thymicus bedingten Alteration seiner Psyche ihre Begrun-
dung findet.
Fall 2. Willi M., 30 Jahre, Flieger.
Sektionsdiagnose: Selbstmord durch Erhangung (breite Strangrinne).
Allgemeine akute Stauung. Status thymicus (Nebennierenhyperplasie, Hyper¬
trophic der Zungenbalgdrfisen).
Bericht des Arztes: Am 1. Januar 1917 abends zwischen 7 und 7Uhr
30 Min. wurde der diensthabende Sanitatsunteroffizier zur Stube 9 im Revier
derFliegerkompagnie gerufen,dort soi ein Mann wahnsinnig geworden. Als der
Sanitatsunteroffizier in die Baracke kam, fand er M. vor, der von 2 Kameraden
festgehalten wurde. M. zitterte am ganzen Korper, die H&nde krampften sich
auf und zu, die Augen waren ganz geistesabwesend, irrten bin und her,
Schweiss stand ihm auf derStirn. M.machte vollkommen einen geistesgestorten
Eindruck. — Seine Kameraden auf der Stube maohten folgende Angaben: M.
habe die letzten lOTage seinen Kameraden gegenfiber fiber starke Kopfschmerzen
geklagt und habe die ganzen Nachte nicht geschlafen. Er hatte sich krank
gemeldet und da leichte Temperaturerhohung da war, Bettruhe erhalten. Der
Vater von M. sei Sylvester 1915 wahnsinnig geworden und 8 Wochen in einer
Anstalt gewesen. Am 1. Januar 1917 gegen 7 Uhr abends war M. mit seinem
Freunde dem Flieger W. in ein benachbartes Dorfwirtshaus gegangen. Er
habe dort nur ein Glas Bier getrunken, sei aber gleich wieder weggegangen,
weil er so starke Kopfschmerzen gehabt hatte, er wolle ein wenig Luft schnap-
pen. Um 7 l / A Uhr sei er wieder auf die Mannschaftsstube gekommen, habe
sich ganzlich erschopft und schwer atmend, angezogen und mit Mantel und
Koppel auf den Schemel gesetzt. Die Kameraden glaubten, dass ihm schlecht
ware, banden ihm das Koppel ab, zogen ihm den Mantel aus und gaben ihm
etwas Kaffee zu trinken. M. blieb auf dem Stuhl sitzen. Mit einem Mai erhob
er sich, zog sein Seitengewehr aus der Scheide, hielt es ganz lose in der Hand.
DieSpitzewar dabei eher nach seiner Brust als nach den Kameraden hingeneigt.
Ein Kamerad nahm ihm das Seitengewehr aus der Hand und zwei andere
hielten ihn, der jetzt ganz schwach und vollig irre schien. Es wurde nach
dem Sanitatsunteroffizier geschickt. M. hatte kein einziges Wort gesprochen
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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 57
auch nicht auf gutes kameradschaftliches Zureden. Nur als ihm der Kamerad
zum zweiten Male Kaffee reicben wollte, sagte er: „Wilbelm, nun willst Du
mir auch Gift geben! u Dem Sanitatsunteroffizier sagte er kein Wort und gab
keine Antwort. Der Sanitatsunteroffizier ordnete deshalb seine Ueberffihrung
mit Krankenautomobil in das Lazarett an.
Daten aus der Krankengeschichte: Wegen Tobsuchtsanfall im
Lazarett zur Beobachtung aufgenommen, maoht M. den Eindruck eines Betrun-
kenen. Nach durcbgescblafener Nacht anscheinend ganz normal, nur Kopf-
schmerz. In der darauf folgenden Nacht entwich M. und wurde in der Scheune
eines benachbarten Dorfes erhangt aufgefunden.
Sektionsbefund: 170 cm gross, massig kraftig gebaut. Haut am Kopf
massig stark zyanotisch. Unter cfemKinn eine breite Strangulationsmarke, fiber-
wiegend auf der rechten Halsseite; sie zeigt keine deutlichen Abdrficke, wie
von gedrehtem Strick, sondern erscheint mehr als platte bis 3 cm breite Ein-
trocknung. Unter derselben zeigt das Binde- und Muskelgewebe keine Blu-
tungen oder sonstige Verletzungen; aucb die Karotiden sind beiderseits nor¬
mal. An beiden Beinen oberfialb und unterhalb der Knie leichte Abschfirfung,
untar welchen ungemein starke, pr&ll sohwarzrote Kontusionsblutungen liegen.
mebrere finden sich auch ohne oberflachliche Abschfirfungen. Auch am Kinn
eine kleine subkutane Blutung. — Fettgewebe massig entwickelt, Muskulatur
kraftig, dunkelrot.
Schadel dfinn, hart, fest, fast keine Diploe, blutreich. Dura und Pia
sehr blutreich, letztere feucht. Gehirn prall, blntreich, etwas feucht, fest.
Yentriket ohne Besonderheiten. Keine Htfrderkrankungen.
Thymus im oberen Teil deutlich parenchymatos, dieser Ab-
schnitt wiegt 3 g; wo der untere Abschnitt liegen sollte, findet sich nur ein
grosser Fettballen, dessen Natur als Thymus nicht sicher erkennbar ist.
Herzbeutel normal. Herz360g, normal proportioniert, fest, kraftig,
dunkelgraurote Muskulatur. Alle Lumina sind mit flfissigem dunklem Blute
geffillt. Klappen ohne Besonderheiten.
Aorta 60mm, glatt, Pulmonalis 62mm, keine Ekchymosen.
Lungen frei beweglich, blutreich, sonst ohne Besonderheiten. Luftwege
ohne Besonderheiten. Am Kehlkopf und Zungenbein keine Verletzungen. Thy-
reoidea normal gross, blutreich.
Zungenbalgdrfisen und Tonsillensehr gross, sohr prall, Oeso¬
phagus ohne Besonderheiten.
Milz mittelgross, blutreich, Follikel nicht besonders hervortretend.
Beide Nebennieren je4g, gross und breit, aber auflallig platt, scharfe
Rander, Mark sehr stark reduziert, Rinde dfinn, halb gelb, halb braun.
Beide Nieren je 120 g, sehr blutreich, prall, sonst ohne Besonderheiten.
Blasse Genitaiien ohne Besonderheiten, Hoden je 32 g.
Leber gross, prall, blutreich.
Magen und Darm ohne Besonderheiten. Keine Follikularhypertrophie.
Im ganzen Dickdarm sehr dfinnbreiiger Kot. Alle nach unten liegenden Darm-
teile sehr hochgradig hyperamisch (Senkung).
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Gpikrise: Auch hier handelt es sich um einen Mann mit hoher
Labilit&t des Nerveosystems, welche zweifellos in dem bei der Sektion
gefundenen Bunde von Hypoplasie der Nebennieren einerseits, der Hyper-
plasie der Zungenbalgdrusen und der Thymusdruse andererseits, die
wohl sicher einen pathologischen Einfluss auf den Organismus ausubten,
ihre Ursacbe hat. Die Angaben iiber die letzten Lebenstage deuten auf
schwere geistige St5rung. Sehr bemerkenswert ist die anscheinend vor-
handene Heredity der letzten.
Fall 3 . Johann B., 26 Jahre, Musketier.
Sektionsdiagnose: Hirnschussverletzung (Suicidium)mit ausgedehnter
Schadelzertriimmerung.. Lungenhyperamie. Nebennierenschwund. Geringe
Hautexkoriationen.
Daten aus der Krankengeschichte: Kam am 20. 9. 1916 mit dem
Lazarettzug in Naumburg an, nachdem er angeblich am 13. 9. im Schiitzen-
graben verschuttet worden war. Aeusserte seit lingerer Zeit, sohon vor der
Verschdttung, Selbstmordabsiohten, weil er das Leben an der Front nicht mehr
ertragen konne. Angeblioh sohwerhorig. Ohrenlaufen nach der Verschuttung.
Erschoss sich mit Revolver am 21. 9. ira Garten des Reservelazaretts.
Sektionsbefund: 180 cm lang, sehr kraftig gebaut, starke Zyanose,
Fettgewebe kraftig entwickelt, Muskulatur sehr stark, steif. An der oberen
Brust und vorderen Halshaut eine Anzahl kleiner verschorfter, sehr oberflach-
licher Exkoriationen. Keine Einsprengungen. Die iibrige Haut des Korpers
zeigt keine Verletzungen ausser der rechten Schlafe. Hier findet sich eine etwa
2 cm lange, fetzige, klaffende Platzwunde, deren Umgebung teils von Kohle
geschwarzt, teils blutbeschmutzt ist. Aus dem linken Ohr und beiden Nasen-
lochern entleert sich Blut. Die Gegend des linken oberen Augeniides ist etwas
blaulicb.
Unter der Kopfwunde ist die Haut etwas aufgehoben und in einem Um-
kreis von mehr als Fiinfmarkstiickgrosse mit Kohle impragniert. Weiterhin ist
die Subkutis hier in Ueberhandtellergrosse sehr stark hamorrhagisch infiltriert.
Als Quelle dieser Blutung ist eine grosse zerrissene Temporalvene anzusehen.
Dicht unter der Hautwunde sitzt in der Galea ein plattes, sehr diinnes, etwa
7 mm grosses Bleifragment, mit scharfen Schlifflinien der glanzenden Ober-
flache. Das Schlafenbein zeigt in der Nahe der Linea semicircul. eine kreis-
formige Oeffnung etwa 8 mm breit. Der Wundrand der Tabula ext. ist sehr
scharf, an der Innenflache ist ein Stuck genau kreisformig in einem Umfang
von etwa 3 cm abgesplittert. Die Dura ist in funfmarkstiickgrossem Umfang
vom Schadel gelost. Zwisohen beiden liegt viel Kohlenstaub fest in dem Binde-
gewebe; auch die Knochenwundflache ist iiberall schiefergrau. Die Dura zeigt
einen etwa 2 cm langen Riss, aus welchem die Hirnmasse vorquillt. Unter
ihm beginnt ein mindestens 2Finger breiter, zerfetzter Schusskanal, in welchem
zahlreiche Enochensplitter und ein kleines Bleistiick liegen, einige sind weit
in die anstossende Hirnsubstanz versprengt. Der Kanal zieht sich sehr
oberflachlioh durch das rechte Zentralhirn unter zunehmenderVerschmalerung,
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Beziehungen des Status tbymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 59
durchbricht mehrere Sulci und zuletzt die Falx cerebri dicht unter dem Sinus.
Dunn geht er links durch die Rinde der vorderen Zentralwindung, iiber welcher
die Dura einen 1cm langen Kiss aufweist; hier ist wiederum im Subduralraum
reichlich Koble der Dura eingelagert. Weiterhin geht der Schusskanai fast
bogenformig durch die oberflachlichen Teile des linken Parietalhirns und endet
unmittelbar iiber dem Felsenbein, als schmaler blutinfiltrierter Gang. Hier
liegt eine grosse, zum Teil abgeschliffene und stark verbogene Revolverkugel
in der Hirnrinde. Alle Piateile um den Kanal herum sind erheblioh in weitem
Umfange hamorrhagisch infiltriert. An der Hirnbasis fast gar kein Blut. Ge-
hirn im allgemeinen von normaler Festigkeit und Form. Nur am rechten
Schlafenlappen findet sicb vorn unten eine tiefe keilformige Einsenkung (Sul-
kus), welcher ein besonders hoher Zacken des Schadels, entsprechend einer
Kammhobe zwischen tiefen Impressiones digitatae, entspricht. Hirnventrikel
normal, blutfrei.
Von der Wunde des reohten Schlafenbeines zieht sioh ein mehrfach ver-
astelter Sprung durch die rechte Orbitaldecke am Siebbein und weiter durch
die ganze linke Orbitaldecke. Diese bildet mehrere grosse, durch Spriinge von
einander getrennte, aber sonst nicht dislozierte Splitter. Ein weiterer grosser
Sprung zieht sich von dem Einschuss aus horizontal durch das Siebbein bis
ienseits der linken Stirnbohle. Auch an der linken Felsenbeinpyramide findet
sich vorn aussen^ein zarter Sprung. Unter diesem zeigt sioh das Felsenbein
und die Trommelhohle stark von Blut durchsetzt; Eiterung fehlt vollig. Das
rechte Mittelohr ist ganz normal. Die Siebbeinzellen und die Keilbeinhfihle
sind stark mit Blut gefullt, ebenso das Bindegewebe der linken Orbita. In
alien diesen Hohlen findet sich kein weiteres Geschoss mehr. Vor dem grossen
Stirnbeinsprung ist die Galea sehr stark hamorrhagisch infiltriert.
Herz normal gross, fest zusammengezogen, steif.
Lungen hochgradig hyperamisch, geblaht, sonst normal.
Thymus mittelgross, nicht besonders prall, blutreich.
Abdominalorgane uberall blutreich, sonst ohne Besonderheiten. Nur die
Nebenieren sind auffallend schmal und platt, hellgelbe, scharf be-
*renzte Rinde, schmales graues Mark.
Die Sektion musste wegenZeitmangels abgebrochen werden.
Epikrise: Die schon h&ufiger ge&usserten Solbstmordabsichteu
deuten auf eine anormale Beschaffenheit des psychischen Gleichge-
wichtes hin. Die auffallende Schmalheit und Plattheit der Nebennieren
diirfte wohl in direkter Beziehung dazu stehen. Die Entwicklung der
Thymusdruse erschien nicht uberm&ssig, doch ist auch im Hinblick auf
die Starke der allgemeinen Fettentwicklung der vorgefundene Zustand
jedenfalls eher im Sinue eines positiven Status thymicus aufzufasseu.
Bemerkenswert sind die interessanten Befunde der Schftdel- und Gehirn-
schusswonde.
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Dr. Neste,
Fall 4 . Richard H., 21 Jahre, Musketier.
Sektionsdiagnose: Vergiftung durch Kresol (Selbstmord). Erstickung
durch Larynxodem? Starke Entziindung und oberflachliche Veratzung des Oeso¬
phagus, Magens, Duodenums, Jejunums. Lungen-, Leber-, Nierenhyperamie,
Tracheitis. Bronchitis acuta. Schadelusur und Ausweitung. Hochgradiger
Status thymico-lymphaticus mit Nebennierenatrophie.
Vorgeschic hie: War als Rekrut seit Juni 1915 im Dienst. Seit einiger
Zeit in arztlicber Behandlung, machte den Eindruck von Jmbeziilitat,
zeitweise lappisches Wesen. Kopfschmerzen. In der letzten Zeit angeb-
lich Selbstmordgedankon (suchte sicb eine Pistole zu verschaffen). Heute friih
trank H. in einem unbewachten Augenblick eine Flasche Kresolseifenlosung
aus. Alsbaid Brechen, anhaltende sofortige Ausspiilung des Magens mit HC1-
Losung, eine Stunde nach der Aufnahme des Kresols Exitus.
Sektionsbefund: Gross, kraftig gebaut, Haut prall, sehr starke Blut-
senkung. Massige Zyanose des Gesichts, Fettgewebe sehr kraftig, prall, hell-
gelb. Starke Muskulatur, ausgepragte Starre. Aus alien angeschnittenen
Hauptvenen stromt dunkles, flussiges Blut, aus den Halsvenon ganz besonders
grosse Mengen. — Thorax normal.
Thymus liegt, ungewohnlich gross, inzwei langen,hellgrau-
roten Lappen dem Herzbeutel seitlich an, reicht bis fast zur
Schilddriise; diese ist klein, prall, tiefrot, trocken, ohne Kolloid.
Herzbeutel ohne Besonderheitpn, Herz gross, prall, steif, mit dunklem,
fliissigem Blut gefiillt, namentlich der rechte Ventrikel. Muskulatur steif. hell-
graurot, sehr kraftig. Aorta ausgepragt eng, von guter Fcstigkeit.
Lungen frei beweglich, glatte Pleuren, Lungengewebe Stark blutreich,
trocken, Bronchi links normal, rechts mit zahem Schleim gefiillt, miissig ge-
rotet. Die Schnittflache riecht etwas nach Karbol.
Trachea stark gerotet, reichlich zaher Schleim. Larynx erbeblich diffus
gerdtet, falsche Stimmbander leicht odematos, die Schleimhaut der Epiglottis
und ihrer Umgebung sehr hochgradig odematos, in ganzer Ausdehnung mit
sehr zahem, reichlichem, klarem Schleim fest bedeckt. Keine Weissfarbung.
Zungenbalgdriisen ganz ungewohnlich dick und reichlich prall,
weissgrau. Tonsillen desgleichen sehr gross, Zungen und Mund-
hohlenschleimbaut wenig veriindert, schleimbedeckt.
Oesophagusschleimhaut in ganzer Lange trocken. faltig, weissrdtlioh.
lederartig. Keine Membranen oder Veratzungen der tieferen Lagen.
Peritoneum normal.
Milz mittelgross, schlaff, stark gelappt, weich, dunkelrotgrau. Schnitt¬
flache einsinkend, briichig, Follikel nicht hervortretend.
Nebennieren ausgepragt atrophisch, schmal, hellgraugel b.
Nieren ziemlich klein, prall, fest, tiefrot, Rinde leicht getriibt. Im Nieren-
becken rechts dunkelrotliche triibe Flussigkeit.
Blase prall gefiillt mit nicht nach Karbol riechendem, hellgelbem
klarem Ham.
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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 61
Prostata ohne Besonderheiten. Samenblasen leer, normal gross, Hoden
gross, sehr bellgelbgrau, weich, leicht auffaserbar, Penis sehr gross, biutreich.
Leber prall, dunkelrotbraun, ohne Herderkrankungen. Leichtes Oedem
am Ligamentum coronarium. Stark hervortretende Glisson’sche Kapsel der
Portalgefasse.
Magen sehr gross, weit, prall gefullt mit IV 2 Liter einer intensiv nach
Karbol riechenden weissgrauen Flussigkeit, in welcher reichliche grobe Nah-
rungsstiicke, darunter lange, pralle, harte Wiirstchenschalenstucke schwimmen.
Schleimhaut iiberall intensiv gerotet, weich, vielfach auch leicht weisslich, ge-
quollen, mit reichlichem Schleim bedeckt, keine. Membranen, sehr Starke
Entwicklung der Follikel.
Im Duodenum und Jejunum reichliche Uengen derselben weissgrauen,
stark nach Kresol riechenden Flussigkeit. Schleimhaut schlaff, leicht infiltriert,
rotlich oder dick weisslich triib belegt. Keine Blutungen. Erst im unteren
Ueum hort der Kresolgeruch auf. Hier ist die Schleimhaut trocken, mit gallert-
artigem Kotbrei bedeckt. Sie zeigt reichliche Follikelbildung. Peyer-
Haufen treten nioht besonders auffallig hervor. Dickdarm enthalt reichlich
trocknen, broiigen Kot, uberall sehr reichliche Solitarfollikel. Retro-
peritoneallymphdriisen nicht auffallig. Wirbeikorper normal.
Sc had el diinn, vorn schraal, in den hinteren Abschnitten breiter. Innen-
flache zeigt unregelmassigeImpressiones sehr deutlicb, sie ist viefach etwas
rauh, poros, rotlich. Dura diinn, gespannt. Pia leicht odematos. Gehirn
riecht deutlich nach Karbol, gross, prall, feucbt, massig biutreich, normale
Zeichnung und Formen aller Teile. Ventrikel massig weit, klare Flussigkeit.
Nirgends Herderkrankungen. Tela und Plexus normal. Hypophysis etwas gross.
Epiphysis normal. Knochen der Schadelbasis auffallend diinn.
Epikrise: Die Eigentumlichkeiten des Status thymico-lymphaticus
sind ausserordentlich gut ausgeprfigt, ausserdem lautet die Sektions-
diagnose auf Sch&delusur und Ausweitung. Dies deutet auf eine Ge-
hirnbypertrophie hin, die in Korrelation mit dem Status thymicus, vor
allem mit der ausgepragten Nebennierenatrophie steheu durfte. (Es ist
dies ein analoger Fall, wie die anfanglich von Alexander und Anton
erwfthnten.) Die laut der anamnestischen Angaben bestehende Imbe-
zillitat und das lappische Wesen durften wohl der klinische Ausdruck
dieser Anomalie gewesen sein.
Fall 5 . Friedrich F., Alter? Landsturmrekrut.
Sektionsdiagnose: Selbstmord durch Erhangung. Soharfe Strang-
nnue. Status thymicus. Rachitische Kyphoskoliose. Chronische Bronchitis.
Rechtsseitige Herzhypertrophie. Massige chronische Stauungsinduration der
Nieren.
Sektionsbefund: 168 cm lang, Schadel sehr breit, rund, Okzipit&l-
gegend platt. Brustwirbelsaule erheblich kyphoskoliotisch. Hant prall, sehr
tief zyanotiscb. Fettgewebe gut entwickelt. Muskulatur sehr stark, tiefrot,
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Dr. Neste,
sehr bedeutende Starre (Exitus etwa 10 Stunden a. m.). Hiinde durch einen
zerrissenen Hosentrager zusammengebunden.
Am Halse dicht unter dem Kinn eine sehr tief einschneidende schmale
Doppelstrangrinne mit Schnurabdriicken. Unter derselben ist das Bindegewebe
dicht zusammengepresst, trocken, keine Blutungen.
Schad el sehr blutreich, dick, rachitische Form. Dura and Pia hoch-
gradig hyperamisch. Gehirn desgleichen, sonst ohne Besonderheiten, nur sehr
schwer; kein Hydrozephalus.
Thymus fast vollkommen paienchymatos, rotgrau, 28 g. Herz-
beutel ohne Besonderheiten. Herz gross, 410 g, sehr prall, sehr fest, dunkei-
rotbraun, steif, in alien Hohlen mit schwarzrotem fliissigem Blut gefiillt, wel¬
ches auch nach langer Beriihrung mit der Tischplatte nicht gerinnt. Hechter
Ventrikel erheblich hypertrophisch, nicht dilatiert. Aorta 62, Pulmonalis
67 mm, beide glatt, keine Ekchymosen.
Lungen hochgradig hyperamisch. Schleimhaut der Bronchi dick, dunkel-
rot, mit reichlichem, zahem Schleim und Eiter bedeckt. Trachea o. B. Am Kehi-
kopfzeigtdaslinkeSchildknorpelhorn eine alte, anscheinend verheiiteAbknickung
der Knorpelspitze, das rechte eine starke Kriimmung der entprechenden Stelle.
Zungenbalgdriisen prall, massig gross. Tonsillen nicht gross, fest,
mit knorpliger Basis.
Thyreoidea blutreich; starke Zyanose aller inneren Teile am Halse.
Milz gross, prall, etwas fest, in tiefroter, feuchter Pulpa treten
massenhafte Follikel hervor.
Nebennieren, linke 6, rechte 7 g, beide etwas platt, scharfe, gelbe
undbrauneZone, beidegleichbreit. Mark scharfbegrenzt, grau, in den Flugeln
sehr reduziert.
Nieren, linke 70, rechte 140 g, beide hart, prall, tiefrot, keine Herd-
erkrankungen. Blase und Genitalien ohne Besonderheiten, Hoden sehr gross,
prall, hellgraurot, linker 28, rechter 30 g.
Leber sehr gross, prall, sehr blutreich, keine eigentliche Staunngs-
zeiohnung.
Magenschleimhaut faltig, dick, lederartig fest, meist tiefrot, keine
Blutungen.
Darm ohne Besonderheiten. 1m Ileum reioblich ziemlich grosse
Solitarfollike 1, Peyerhaufen nicht auffallig.
Epikrise: Anamnestische Angaben von irgend einer Seite fehlen.
Der Status thymicus ist sehr ausgepragt und steht wohl in irgend einer
Beziehung zum Selbstmord.
Fall 6. Ernst R., 28 Jahre, Landsturmrekrut.
Sektionsdiagnose: Erstickung durchKompression des Larynx undAuf-
wartstreiben der Zunge. Status thymico-lymphaticus. Leichte Hypo¬
plasia der Genitalien.
Nahm sich im Gefangnis dasLeben, indem er seinen Hals unter das B&nk-
eisen der schweren Holzpritsche legte.
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Beziehungen des Status ihymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 63
Vorgesohichte: R. war Lehrer und wurde von seinem vorgesetzten
Schulinspektor, dem Ortspfarrer, als ein sehr fleissiger und strebsamer Mensch
geschildert, der zudem in gliickliohen ausseren Verhaltnissen lebte. Bei dem
geringsten Genuss von Alkohol jedocb fing er an zu querulieren, Handel und
Streit zu suchen. Am anderen Tage wusste er nichts mehr davon. So kam er
auch als Soldat — er hatte sich iibrigens wabrend der Dienstzeit sehr gut ge-
fuhrt — nach sehr geringem Alkoholgenuss mit seinem Unteroffizier in Streit
und wurde sebr ausfallend gegen ihn. Der Unteroffizier redete ihm gut zu,
jedocb ohne Erfolg, er erbielt darauf wegen Widerstands gegen Vorgesetzte
Zachthausstrafe. Der Selbstmord erfolgte in der Arrestzelle, angeblich nach
Empfang eines Briefes von der Braut.
Die Art des Selbstmordes zeugte von der ungewohnlichen Energie des
Mannes. In Ermangelung irgend eines anderen Mittels — die Zelle enthielt nur
dieHolzpritsche — hatteR. die sehr starken eisernenBiigelschlosser, mit welcben
die Pritschenfusse vermittels Bankeisen am Fussboden befestigt w&ren, gewalt-
sam aufgerissen, so dass es moglich wurde, die schwere Pritsche etwas hoch-
zuheben. Hierdurcb war es ihm gelungen, den Hals zwiscben das Bankeisen
und den Fussboden zu klemmen, so dass das Gewicht der Pritsche die Luft-
rohre zudriicken konnte. R. lag ausgestreckt auf der Erde. Gewiss ein beson-
ders seltener Modus der Selbsterdrosselung!
Sektionsbefund : Mittelgrosser, kraftig gebauter Mann, Haut intensiv
zyanotisch, namentlich am Kopf. Am Hals links in Kehlkopfhohe eine kleine
fiache Eintrocknung. Eine zweite kleinere am rechten Unterkieferrand. Keine
sonstigen Eindriicke in der Haut. Fettgewebe stark entwickelt, hellgelb, prall.
Kopf im allgemeinen normal, nur das Horn des rechten Schildknorpels ist ein-
geknickt, aber frei von Blutung. Zungenbein und seine Bander normal.
Thyreoidea blutreich. Das Mediastin&lgewebe in derGegend
der Thymus kraftig entwiokelt, einer Hyperplasie entsprechend.
In den Halsmuskeln finden sich keine Blutungen, alle Halslymphdrtisen
sind vergrossert, feucbt, prall, tiefrot, auch das Fettgewebe am Halse
stark injiziert; keine Blutungen. Zunge ganz ohne Besonderheiten. Follikel
des Zungengrundes auffallend gross, desgleichen Tonsillen.
Oesophagus ohne Besonderheiten. Milz relativ hellgraurot, sehr weich, schlaff,
trube. Follikel treten nicht besonders hervor.
Beide Nebennieren auffallend,schmal, klein, dunkelbraungrau,
nur wenig kleine, gelbe, inselformige Herde. Nieren gross, tiefschwarzrot,
prall, trube Rinde. Nierenbecken und Blase normal. Prostata ohne Besonder-
htiten.
Hoden etwas klein, kornig rotgrau, Penis relativ klein, desgleiohen Skro-
tum, Behaarung des Genitale etwas sparlich, die Thoraxhaut gleichfalls wenig
behaart, Kopfhaare sehr stark. Leber gross, prall, fest, tiefgraurot, fettlos.
Hagen und Darm enthalten reiohlich unverdaute Speisereste, noch im Dick-
darm unverdauteRiibenstucke u.a. Keine Follikelentwicklung im Darm,
keine Peyerbaufen. Magenschleimhaut glatt, blass. Schleimhaut und Mus-
kulatur des Traktus etwas dunn. Mesenterialdrusen ohne Besonderheiten.
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Pankreas mittelgross, weich, triibe. Das Netz- und Mesenterialgewebe kraftig
entwickelt.
Epikrise: Es bestand bei diesem Fall eine auffalleud geriuge
Widerstaudsfahigkeit des Nerveosystems gegen Alkokol, die vielleicht
ihre chemische Ursache in einer durch den Status thymicus bedingten
Stoffwechselanomalie hat. Diese Intoleranz darf wohl als eine Teil-
erscheinung psychischer Anomalie, einer nerv6sen Reizbarkeit im all-
gemeinen angesehen werden, aus welcher sich das Delikt des R. sowie
sein ablehnendes Verhalten nach der Straftat einerseits, der Entschluss
zu dem mit besonders verzweifelter Encrgie ausgefuhrten Selbstmord
andererseits erklaren. Vielleicht wiire die Strafbestimmung (10 Jahre
Zuchthaus), welche den R. zur Verzweiflung trieb, milder ausgefallen,
wenn dem Richter die psychischen Anomalien bekannt gewesen w3ren.
Diese sind erst nach dem Tode des R. durch die Angaben, welche dem
Obduzenten seitens des Ortspfarrers gemacht wurdeu, aufgekl&rt worden.
Wie mancher Fall wiirde vielleicht gerichtlich milder beurteilt werden,
wenn der psychiatrischen Untersuchung auch die Untersuchung auf den
etwaigen Status thymicus angeschlossen worden w&re! — Eiu Fall, wie
der des R., deutet mit allem Nachdruck auf die Notwendigkeit einer
derartigen Beriicksichtigung des letzteren durch den Gerichtsarzt hin.
Fall 7 . Georg W., Alter ? Ersatzreservist.
Selbstmord durch Herz-Lungenschuss.
Sektionsdiagnose: Hamoperik&rd. Hamothorax. Status thymicus.
Hypoplasie des Gehims. Kyphoskoiiose.
War psychisch minderwertig, ein Nichtstuer. Hat vor Jahren bereits
mehrfach Selbstmordversuche gemacht (Lysol). Erschoss sich mit einem Re- ^
volver. Der Tod trat sofort ein.
Sektionsbefund: 157 cm gross; Thorax durch starke Kyphoskoiiose
nach rechts erheblich deformiert und verkurzt; Beine relativ lang, Haut im
allgemeinen blass, Gesicht gerotet, Fettgewebe und Muskulatur massig ent-
wiokelt, letztere weich und schlaff.
Ueber dem 4. Interkostalraum eine kleine Sohusswunde, mit Blut iiber-
stromt, in deren Umgebung weithin ein brauner eingetrockneter Hof mit zahl-
losen eingesprengten kleinsten Pulverkornchen sich zeigt. Der Schusskanal
fiihrt durch das massig blutunterlaufene Fettgewebe zwischen 4. und 5. Rippe,
3 Finger breit vom Sternalrand entfernt, in den Herzbeutel, welcher einen
schmalen Schlitz aufweist und mit geronnenem und flussigem Blute, etwa
300 ccm, prall gefiillt ist. Weiterhin findet sich einEinschuss am Herzen genau
in der Mitte des Septums. Die entsprechenden Koronargelasse sind durch-
schossen, der Ausschuss liegt an der hinteren Wand des linken Ventrikels, ist
nur wenig grosser als der Einschuss. Das Loch im Herzbeutel hinter dem
Ausschuss ist schlitzfdrmig, klein, unmittelbar darunter setzt sich der Schuss-
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fcanal m die verwachsene linke Lunge fort, tritt unten links hinten wieder aus
und trifft dieS.Rippe, welche vollig quergebrochen und bier mit Blut umgeben
isi. Hinter ibr im Muskelgewebe die Ravolverkugel, 6 mm, etwas abgeschliffen.
Der Lungenschusskanal ist stark mit Blut gefiillt, die linke Pleura enthalt
zwischen weichen Verwachsungen etwa 500 ccm flussiges Blut. Das Lungen-
gewebe zeigi keine Blataspiration, doch sind die Bronchi beiderseits mit biu-
tigem Schleim gefiillt.
Thymus mittelgross, deutlich rotgrau, parenchymatos. Thy-
reoidea mittelgross, rotgrau.
Trachea enthalt etwas blutigen Schleim. sonst ohne Besonderheiten.
Zungenbalgdriisen gross, sebr prall, reichlich.
Tonsillen mittelgross, Oesophagus ohne Besonderheiten.
Milz klein, sehr schlaff, weich, sehr blassgrau, keine Follikelhypertrophie.
Nieren selir klein, links 105, rechts 120 g, hellgrau, sonst ohne Be-
>c*ndertieiten.
Nebennieren sehr klein, schmal, platt, gelb, Mark sehr atrophisoh.
Leber blassbraunrot. Keine Herderkrankuug. Magen zeigt blassgraue,
weicbe diinne Schleimhaut, keine Narben. Darm sehr blass, schlaff, ziem-
lioh leer. Brustwirbeisaule sehr hochgradig nach rechts gebogen. Lumen der
reohten Thoraxhalfte verengt, Zwerchfell steht sehr hoch. Lendenwirbelsaule
wemg gekriimmi, keine Spondylitis deformans. Schadel klein, sehr dick, platt.
Dura normal, Pia blutreich. Gehirn sehr klein, 1195 g, richlig proportioniert,
aber auffallig platte, soharf gezeichnete Windungen, sonst keine Anomalien,
gut* Resistenz und Blntgehalt, Ventrikel normal.
Epikri.se: Die Anamnese ergab eine psyehische Minderwertigkeit,
die in der Hypoplasie des Gehirns ihre Erklarung findet. Ob der aus-
grpragie Status thymicus bezw. die Nebennierenhypoplasie bedeutungs-
vnll war, bleibt dahingesteilt. Jedenfalls muss in dieser Richtung der
Degensatz des Falles zu dem fruheren mit Gehirnhypertrophie (Fall 4)
i>evonders hervorgehoben werden. Vielleieht lasst sich ganz allgemein
sagen, dass die Gewichtsverhaltnisse des Gehirns, welche doch uur sehr
approximatee Lrteile gestatten, da sie ja den Flussigkeitsgekalt der
Glia mu! die Ouantittt der Markmasseu gleicbzeitig bestiminen, wenig
gmgnet sind. um als Massstab fur die funktiouellen Besonderheiten
d# s Gehirns zu dienen. Indessen sind die Gegeus&tze der mitgeteilteu
Filie doch zu stark, als dass die Tatsache abgeleuguet werden kdnnte,
dass tier Status thymicus, sowohl mit Hyperplasie, wie mit
Hypoplasie des Gehirns vergesellschaftet sciu kann. Offenbar
liegt hierin ein Hinweis darauf. dass weniger die Quantity als die
fiiuktiunelle Keizung der Gehirnsubstanz in Frage kommt.
Fall S. Kurt A., 26 Jahre.
Sektionsdiagnose Hirnschussverletzung (Suizidium). Lungenhyper-
Status thymicus.
Arr it? f. Payrhiatrie. B<L 60. H«ft 1. \
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Daten aus der Krankengeschichte: Lebte anscheinend in etwas
schwierigen Verhaltnissen (Frau schwer epileptisch, Zerwurfnis mit Schwieger-
vater aus pekuniaren Ursachen). Ende 1916 als Rekrut eingezogen, meldet
sich sofort krank, simuliert im Krankenhaus Genickstarre. Am 9.11. empfangt
er den Besuch seiner Frau, verlasst mit ihr obne Erlaubnis das Lazarett, er-
schiesst sie in der Wohnung und darauf sich selbst. Sofort ins Lazarett ge-
bracht, Exitus 2 Stunden nach dem Schuss.
Sektionsbefund: 179 cm lang, kraftig gebaut, Haut bleioh, von nor-
maler Elastizitat, Fettgewebe wenig entwickelt, deutlich abgemagert, Musku-
latur kraftig, starr. An der rechten Schlafe eine kleine eingetrocknete Einschuss-
offnung, aus welcher massige Mengen Blut iiber das Gesicht herabgelaufen sind.
Unter der Schusswunde nur geringe Blutsugillation iiber der Temporalis-
faszie. Hier findet sich ein etwa funfpfennigstuckgrosses Loch im Schlafenbein,
die innere Flache erbeblich grosser als die aussere. Die Stelle entsprioht dem
Verlauf der Art. mening. media; ein Ast derselben ist zerrissen, die Dura eine
Strecke weit vom Schadel abgerissen und spaltformig perforiert. Aus der
Schadelwunde entleert sich reichlich flussigos Blut nach' aussen in das Tem-
poralisgewebe. Eine starkere extradurale Blutung besteht nicht. Im Subdural-
raum massiger Bluterguss, ebcnso sehr ausgedehntsubarachnoideal fiber beiden
Hemispharen und an der Hirnbasis. Im rechten Schlafenlappen findet sich
eine etwa fingerdicke Einschusswunde, welohe durch einen entspreobenden
Schusskanal mit hamorrhagischen zerrissenen Wanden zu einem Ausscbuss im
rechten Parazentrallappen fiihrt; er geht durch den Falx unterhalb des Sinus
in den linken Parazentrallappen dicht am Winkel und bildet hier ein Knie,
fiber welohem die Dura spaltformig geplatzt und der Schadel schwarzlich pig-
mentiert, aber nicht eingedruckt ist. Der Schusskanal geht waiter gegen das
linke Schlafenbein und endet in dessen Markmasse, hier findet sich die defor-
mierte 6 Millimeterkugel. Die Hirnventrikel sind unverletzt, blutfrei. Gehirn
im fibrigen vollig normal. Ebenso die Hirnhaute.
Thymus, 24 g, breit, rotgrau, deutlich abgrenzbar, schlaff.
Herzbeutel breit. Ueber dem rechten Ventrikei eine markstfickgrosse,
epikardialo Schwiele. Herz sehr kraftig, 315 g, mit flfissigem Blut reichlich
gefullt, pralle, rotgraue Muskulatur, normale Klappen. Aorta 62, Pumonalis
60 mm, Aorta abd. 38. Die Aorta im allgemeinen glatt, im Gebiet der Nabei-
blutbahn reichlich schmale Fettstreifen.
Lungen im allgemeinen normal, uberall stark hyperamisch, ganz leichtes
Oedem in der linken; Bronchi mit schaumigem, zahem Schleim geffillt. Larynx
und Trachea ohne Besonderheiten.
Thyreoidea normal gross, prall, rotgrau. Zungenbalgdrusen und
Tonsillen sehr gross, prall, stark vorspringend, Oesophagus ohne
Besonderheiten. Milz mittelgross, etwas schlaff, dunkelgraurot, reichliche,
aber undeutlich begrenzte Follikel.
Linke Nebenniere ausgepragt in denFlfigeln verdfinnt, rechte
etwas weniger, linke 3 g, rechte 5 g. Rinde beiderseits massig fetthaltig.
Mark schmal, grau, nicht weich.
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Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 67
Nieren sehr prall, fast, tiefrotgrau, koine Herderkrankungen; linke 160 g,
rechte 155 g.
Blase ohne Besonderheiten. Prostata und Samenblasen ohne Besonder-
heiten, letztere leer, Hoden links 27, rechts 22 g, prall, hellgelbgrau.
Leber normal gross, prall, sehr blutreich, keine ischamisohen Herde,
nor male Gallenblase.
Magen mit unverdautem Speisebrei stark gefallt, kein blutiger Inhalt.
Schleimhant weich, triib, blassrotgrau. Diinndarm enthalt streckenweise eigen-
tumliche trockene schwarze Kotmassen, an Blutkot erinnernd, die Darmwand
ist an der entsprechenden Stella tintensohwarz durchtrankt. Die Follikel
und Peyerhanfen des Ileums sind flaoh, nur im unteren Abschnitt
praller und gerdtet. Die Peyerhanfen reichen weit in das Jejunum
hinauf. Mesenterialdrusen nicht verdickt. Diinndarm ohne Besonderheiten,
kaine Follikelschwellung.
Retroperitoneal- and sonstige Lymphdrusen nicht auffallend.
Epikrise: Auch in diesem Falle handelt es sich um einen Men-
schen, der an allgemeiner Nervositat, die durch die Lebensverh<nisse,
spater vielleicht auch durch Kriegsangst bedingt war, litt; offenbar war
diese Nervositat auf dem unverkennbaren Status thymicus basiert. Der
Versuch, durch Simulation sich dem Eriegsdienst zu entziehen, sowie
die j&he Verzweiflungstat (Mord und Selbstmord) deuten auf das seit
lingerer Zeit gestorte seelische Gleichgewicht bin.
Nach den Ergebnissen der vorliegenden Falle ist fuglich die Tat-
sacbe, dass bei der Mehrzabl der militarischen Selbstmorder ein Status
thymico lymphaticus vorkommt, nicht zu leugnen. Wie aber ist der
innere Zusammenhang?
Die letzten Jahre baben uns die Erkenntnis von der Bedeutung
jener Substanzen gebracht, welche aus den Drusen ohne AusfQhrungs-
gang dem KOrper zugefuhrt werden, haben uns gezeigt, in welch innigen
Beziehungen, sei es, dass sie hemmende oder fSrdernde Funktion haben,
die BlutdrOsen und ibre Sekrete, die Hormone, zum Gesamtorganismus
steben. Klinisch hat man bei den Erkrankungen dieser Orgaue mannig-
fache Erscheinungen, welche auf Hyper- oder Hypofunktion, oder, wie
einige Autoren angeben, Dysfunktion, d. h. eine qualitativ gestOrte Funk¬
tion, zu beziehen seien, unterscbieden. Hierbei hat sich gerade das
Nervensystem als von den Hormonen der Blutdrusen besonders abh&ngig
erwiesen; mancherlei funktionelle StCrungen zeigten sicb bisweilen deut-
licb als Ausdruck der gestOrten Beziehungen zu gewissen Blutdrusen.
Trefflich charakterisiert Biedl(28) den Debergang in diese neuen An-
sehaunngen: „Fruher gait jede Organkorrelation fflr nervds, heute
werden sogar die nervdsen Beziehungen als cbemisch ubermittelt be-
traebtet 4 *. Wie bereits oben erwlhnt, nimmt Paltauf beim Status
5*
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Dr. Neste,
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tbymico-lymphaticus das Bestehen einer besonderen Konstitutionsanomalie
an, bei der nicht eine lokalisierte Erkrankung, sondern ein allgemem
krankhafter Zustand des Kdrpers anzunelmien ist. Die hyperplastische
Thymus ist also nicht die Ursache der pathologiscben Verftnderungen,
sondern nur ein Teilsymptom einer allgemeinen Emahrungsstfirung,
des weiteren charakterisiert durch die Vergrosserung des lympha-
tischen Apparates und eine Atrophie der Nebennieren, eine Dys-
funktion des Blutdrusensystems und ihrer Ausfuhrstoffe, die ihreu Aus*
druck auch in einer Alteration und Insuffizienz des Net vensystems und
der Psyche finden kann. So ergab es ja auch die Anamnese bei unseren
Fallen. Es handelte sich um Individuen mit einem reclit labilen Nerven-
system, die auf Grund der Anomalie ihrer Konstitution erfabrungsgem&ss
Krankheitseinflussen, besonders Infektionskrankheiten, Alkoholintoxika-
tionen, wie oben bereits berichtet, sehr leicht unterliegen, fernerhin aber
auch psychischen Einwirkungen gegeniiber sehr wenig widerstandsf&hig
sind. Die Feststellungen Bartel’s, der den Selbstmord vorwiegend als
eine Erscheinung des jugendlichen Alters bezeicbnet — eine Auffassung,
welcher allerdings andere Statistiken widersprechen — gibt uus auch
die Erkl&rung fur die leider recht zahlreichen Soldatenselbstmorde. Sind
es doch meistens Leute in jugendlichem Alter, an die, zudem zum ereten
Male in ihrem Leben, psychische Einfliisse schwerer Art, der milit&rische
Drill, die bisher nie gekannte Subordination, oder etwa die Einwirkung
ungerechter und misshandelnder Vorgesetzten, eventuell die mannigfacheu
Schrecken und Anstrengungen des Krieges herantreten. Die dorch ihre
krankhafte Anlage an sich schon nerv5s alterierten Leute kdnnen diesen
ausseren Einflussen keinen Widerstand entgegensetzen, ihnen erscheint
das Suizid als der beste Ausweg.
Alle oben angefiihrten Autoren, ausser Miloslavicb, stellten ledig-
lich die Tatsache feet, dass bei der uherwiegenden Zahl von Selbst-
mordern ein Status thymico-lymphaticus zu konstatieren sei, obne jedocb
eine Erkl^rung uber eiuen Zusammenbang mit den Ursachen des Selbst-
mordes zu geben. Miloslavich stutzt sich auf Dntersuchungen von
Bartel, Hermann, v. Wiessner, Kyrle, die ergeben haben, dass
man bei Individuen mit lymphatischer Konstitution Entwick]ungsst5rungen
an spezifischen Parenchymen, speziell an Lymphdriisen und Sexualdrusen
mit gleichzeitiger Wucberung des Stiitzgewebes sehen kann, und nimmt
an, dass bei solchen Lymphatikern auch das spezifiscbe Parenchym des
nervosen Systems, speziell der Nervenzellen, ein von der Norm niehr
oder weniger abweichendes Verhalten zeigt. Er weist dabei auf die
auch von mir oben erw&hnten Befunde von Hirnhypertrophie bei Lym-
phatUmus (vergl. S. 61) hin. Sodann erscheint ihm aber noch eine
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Beziehungen des Status thymico-lymph&ticus zum Selbstmord von Soldaten. 69
andere Mfiglichkeit erwfihnenswert. Bonhoeffer (33) beschrieb 1910 in
ciner Monographic die im Gefolge von akuten Infektionen und inneren
Erkrankungen anftretenden vorfibergehenden GeistesstSrungen. Mil os -
iavich betont, dass das Zusammentreffen von solchen auf Grund
lage von aknten Infektionen, von inneren Erkrankungen, odor physiolo-
gischen Vorg&ngen (Status digestionis, Menstruation, Puerperium usw.)
auftretenden passageren geistigen Stdrungen mit einem Status thymico¬
lymphaticus wabrscheinlich das Wesen der inneren organischen Selbst-
morddisposition bildet.
Etwas Derartiges Hess mein Material in keinem Falle erkennen.
Regelmfissig war es anscheinend nur der psychische Affekt, welcher
zu dem Entschluss zum Selbstmord fiihrte. Hiermit ist natfirlich nicht
gesagt. dass nicht aucb einmal die Kumulation des Status thymicus
durcb eine Sexualerregung, eine Infektionsintoxikation u. fihnl. die Rei-
zung des Nervensystems fiber das ertrfigliclie Mass steigern konnte.
Die Statistik ist nur eiue Grundlage und Aufforderung fur weitere
Forschungen. Wenn sie, wie es im Vorstehenden goschehen ist, die
Beziehungen des Status thymicus zu nervfisen Reizzustfinden erweist, so
mussen diese Beziehungen weiterhin analysiert werden. In dieser Rich-
tung kommen hauptsfichlich wohl zwei' chemische Wirkungsreihen in
Frage. Die Hyperplasie der Thymusdrfise und der Lympbfollikel deuten
auf eine Ueberproduktion von Nukleinsubstanzen. — Diese gehen, wie
Beneke (s. o.) vermutet, mit den Lymphozyten in das Blut und, etwa
durcb Zerfall der letzteren, als hochwertige Nukleinbausteine in die
Gewebe. Es wire vielleicbt mfiglich, durch die Yerfolgung des Purin-
stoffwechsels, bei Leuten, welche an Status thymicus leiden (Zungeu-
balgdrfisenhypertrophiel), einige Aufklfirungen zu erhalten. Zweitens
konnte wohl die Beziehung des Cholesterinfettes der Nebennierenrinde
zum Cholesterinfctt der Markscheiden und Achsenzylinder des Nerven¬
systems sicli der direkten Bestimmung unterwerfen lassen; hierzu wurde
die Gewichtsbestimroung des Fettgehaltes im Vergleich zum Wasser-
gehalt des Zontralnervensystems notwendige Grundlage sein mfissen.
Ausser diesen beidon Kfirpern wurde auch wohl noch eine Reihe an-
derer Hormone, unter ihnen Adreuin und Cholin, gewiss heranzuziehen
sein. Dem wirklichen Verstfindnis der bier besprochenen Beziehungen
muss jcdenfalls die Lfisung zahlreicher Vorfragen vorangehen. Wfirden
diese gelost, so wfire mancber neue Einblick in das Geschehen inner-
balh des Nervensystems und damit besseres psychologiscbes Verstfindnis
nicht nur den Schwerkranken, sondem auch den annfihernd „normalen“
Menschen gegenuber gewonnen. Auch die Rechtsprechung wfirde von
diesen Ergebnissen grOssten Nutzen haben.
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Zum Schluss kann ich eine Bemerkung nicht unterdrucken, welche
sich auf die jungst vom Kriegsministerium dem Reichstag mitgeteilte
Tatsache bezieht, dass die Selbstmordf&lle im Laufe der letzten Eriegs-
jahre gegen die Zahl der im Kriegsbeginn vorgekommenen F&lle wesent-
lich abgenomraen liaben. Beneke(25) hat in einem Vortrage in der
Eriegstagung der Deutschen patbologischen Gesellschaft fiber die auf-
fallend bohe Ziffer der an Status thymicus leidenden Soldaten seines
Arbeitsbezirkes (IV. Res.-A.-E.) bericbtet. Einer personlichen mfind-
lichen Mitteiiung nacb bat sich seit jener Zeit (1916) diese Ziffer ganz
auffallig verringert; weder an den in der Heimat zurfickgebliebenen,
noch an den aus dem Felde kommenden, an akuten oder chronischen
Erkrankungen eingegangenen Soldaten konnte Be neke in den letzten
zwei Jahren Thy mushy per trophie in irgendwie auff&lliger Prozentzahl
nachweisen; da diese Differenz von dem gleichen Beobachter festgestellt
wurde, so darf die Tatsache des Unterschieds der 2 ersten und 2 letzten
Kriegsjahre als sicher angenombien werden. Sie kann sich nur aus
allgemeinen Verbaltnissen, sehr wahrscheinlicb der Ernfihrung, er-
kl&ren und muss demnach als Stutze der schon erw&hnten Auffassung
Beneke’s gelten, dass der Status thymicus keine angeborene, sondera
eine passagere Eonstitutionsanomalie sei. Bringt man jene statistische
Feststellung bezuglich der Zahl der Soldatenselbstmorde biermit in Ver-
bindung, so erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Abnahme der
Selbstmordfrequenz mit der Abnahme des Status thymicus in einer mehr
oder weniger direkten Verbindung stehen konnte, womit natfirlich Be-
ziehungen anderer Art nifcht in ihrer Bedeutung herabgesetzt werden
sollen. Jedenfalls besteht zwiscben beiden Angaben eine bemerkens-
werte Eongruenz.
Literatnrverzeichnis.
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Hemizephalen. Viroh. Arch. 1884. Bd. 98.
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1885. Bd. 100. S. 176—79.
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nieren zu anderenOrganen, speziell zumGrosshirn. Ziegl.Beitr. 1890. Bd.7.
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ziehungen zum Nervensystem. Ziegl. Beitr. 1892. Bd. 11.
5. Czerny, Hydrozephalus und Hypoplasie der Nebennieren. Zentralbl. f.
pathol. Anatomic. 1899. Bd. 10.
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CORNELL UNfVERSSTV
Beziehuugen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. 71
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9. Dersolbe, Wiener klin. Wochenschr. 1912. Bd. 27. Zeitschr. f. Heilk.
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11. Basch, Die Beziehuugen der Thymus zum Nervensystem. Jahrb. f. Kin-
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12. Priedleben, Die Physiologie der Thymus. Frankfurt 1858.
13. Klose und Vogt, Klinik und Biologie der Thymusdriise. Beitr. z. klin.
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17. Bartel und Stein, Ueber abnormale Lymphdriisenbefunde und ihre
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20. Dersolbe, Zur Pathologie der Nebennieren. Wiener med. Wochenschr.
1914. Militararzt.
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22. Derselbe, Ein weiterer Beitrag fur pathologische Anatomie der militari-
schen Selbstmorder. Virch. Arch. 1912. Bd. 208.
23. Heller, A., Zur Lehre vom Selbstmord, naoh 300 Sektionen. Munch, med.
Wochenschr. 1900.
24. Egglhuber, Ueber Sektionen von Selbstmordern. Diss. Miinchen 1911.
25. Ben eke, Ueber Status thymicus und Nebennierenatrophie bei Kriegsteil-
nehmern. Pathol. Zentralbl. 1916. B(f. 27. (Kriegstagung der pathol.
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2*’. Derselbe, Zur Frage nach der Bedeutung der Thymushypertrophie fur
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Aerztl. Verein. Marburg 1907. Miinchener med. Wochenschr. 1907. Jahrg. 4 .
>. Biedl, Innere Sektretion. 2. Aufl. 1913. Urban u. Schwarzenberg.
29 Faita, Erkrankung der Blutdrusen. Springer, Berlin 1913.
Martius, Konstitution und Vererbung. Springer, Berlin 1914.
31. Pilcz, .Jahrb. d. Psych, und Neurologie. Bd. 26.
32. Anton, Wiener klin. Wochensohr. 1912. Nr. 20.
5.1 Bonhoeffer, Die symptomatischen Psyohosen. Leipzig 1910. Deuticke.
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IV.
Aufsatze zur energetischen Psychology.
Von
Dr. Harry Marcuse (Herzberge),
Stabsarzt d. R., zurzeit im Feldc.
(Schluss.)
VIII. Kapitel.
Defektreaktion und Defekterregnng.
1. Allgeraeine8. *
Definition. Angeborene underworbene Defektzustande. Es gibt keinen iso-
lierten Defekt. Hemmung ist stets supprimar. Erregung und Hemmung konnen
gleichzeitig wirksam sein. Das Verhalten der supprimaren Funktion bei Hem-
mung. Der „Erregungsdefekt“* Die mechanischen Schadigungen des Gehirns
in ihrer psycbologischen Bedeutung. Die Unzulanglichkeit der histologisohen
Befande fur den Nachweis des Defekts. DieNotwendigkeit der psychologischen
Analyse. Gegensatz der energetischen Anschauung zu der gewohnlichen. Die
verschiedenen Arten der Defektreaktionen.
Die Begriffe der Defektreaktion und Defekterregung haben sich aus
den Voraussetzungen der energetischen Auffassung des psychologischen
Geschehens ergeben. Sie sind theoretisch wie praktisch sehr wichtige
Konsequenzen dieser Theorie.
Sie unterscheiden sich nur durch die Intensit&t der produzierten
psychischen Energie und gehen daher ohne scharfe Grenze in einander
fiber. Beiden gemeinsam und fur sie charakteristisch ist, dass sie psy-
chische Reaktionen eines Zentralnervensystems sind, das aus irgend
einem Grunde an der vollen Entfaltung seiner Kraft gehindert ist. Die
Reaktion ist daher im Verhfiltnis zur St&rke des Reizes schw&cher als
normal und auch die stfirkste Erregung bleibt hinter der normalerweise
maximalen Erregung zuruck. Es kann sich dabei um einen voruber-
gehenden Hemmungszustand des Kraftzentrums handeln, wie er physio-
logisch bei Ermudung oder im Schlaf besteht, oder um eine dauernde
Storung, wie sie durch Krankheiten, Gifte oder Verletzungen liervor-
gerufen wird. Man f>flegt vorfibergehende Stftrungen als Hemmung,
dauernde als Defekt zu bezeichnen. Es ist jedoch klar, dass es fur
den Ablauf der einzeinen Reaktion gleichgfiltig ist, wie lange die w&h-
rend ihres Ablaufes vorhaudene Abschwfichung der psychischen Kraft
besteht oder bestanden hat.
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Aufsatze zur energetischen Psychology.
73
Man kbnnte auch die imbezille Konstitution als einen Defektzustand
anseben und ihre Reaktionen als Defektreaktionen bezeichnen, um so
mehr als sie den Defektreaktionen Normaler mehr oder weniger ahnlick
sind. Der Ausdruck „Defektmenscben“ wird auch vielfach auf Imbezille
angewandt. Es erscbeint aber zweckiniLssiger, die Bezeichnung zun&chst
nicht auf die angeborenen Zustande anzuwenden. Wenn wir das t&ten,
warden wir verscbiedene Individuen mit einander vergleicben, wbhrend
bei der Beschr&nknng auf erworbene Zustande die Defektreaktion grade
darch den Vergleicb mit fruheren Reaktionen desselben Individuums als
solche erkannt wird. Der Nachweis, dass Individuen mit angeborenem
Defekt in gleicher oder ahnlicher Weise reagieren, ist an der Hand der
klinischen Erscheinuugen unschwer zu erbringen. Der Unterschied
zwiscben den angeborenen und erworbenen Defektzustanden liegt in den
Inhalten. Die Reste des in gesunden Tagen Erlebten und Erfahrenen
wie der erworbenen Kenntnisse lassen sich auch bei stark ere tn Defekt
eines Katatonikers usw. noch nachweisen und imterscbeiden ihn von
dem geborenen Imbezillen oder Idioten. Die klinische Forschung hat
im allgemeinen mehr Interesse daran, die Unterschiede festzustellen, ist
aber in diesem an sicb berechtigten Streben zweifellos zu weit gegangen.
Das Gemeinsame dieser Zustande wurde daher zu wenig gewurdigt. Es
liesse sich zeigen, dass die Aehnlichkeit imbeziller Reaktionen und De¬
fektreaktionen auf die Konstitution P 1 zuruckzufuhren ist, dass
also in beiden Fallen die verminderte Intensitat von P die Reaktion
charakterisiert. Dieser Nachweis, der fur die Auffassung mancher kli-
nischer Fragen von Bedeutung sein diirfte, ist bereits in der Theorie
der Psychosen, wenn auch nur wenig ausfuhrlich enthalten. Im Fol-
genden wollen wir vor allem die erworbenen oder vorubergehenden
Hemmungen besprechen.
Wir fanden, dass das Wesentliche einer psychisclien Reaktion nicht
der Inhalt, also nicbt die Qualitat, sondern ihre Starke und Form ist,
und konnten nun ^usammenhange und Gegensatze feststellen, die bisher
nicht gesehen worden sind. Die vier Hauptsymptome der krankhaften
Erregungszustande, die Halluzinationen, Affekte, motorische Erregung
und Wahnideen konnten als Ausdrucke primbrer oder katatoniscber
Firregung zusammengefasst werden und iknen eine gleiche Reilie gegen-
ubergestellt werden, die von der sekundaren Stufe ausgehen und daher
hysterisch oder psychogen genannt werden. Wir konnten also die kata-
toniscben oder imbezillen Reaktionen den hysterischen oder psychogeneu
gegenuberstellen und schliessen, dass jedes Erregungssymptom auf diese
zwci verschiedenen Arten zu Stande kommen kann. welchen Inhalt es
auch baben mag.
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Dr. Harry Marcuse,
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Es war unverineidbar, dass hierbei den in der Psychiatrie ublichen
Begriffen teilweise eine etwas andere Bedeutung gegeben wurde, als sie
bisher hatten, wenn man nicht zu vollig neuen Bezeichnungen greifen
wollte. Als solche wurden nur die Hypernoiker und Hyponoiker auf-
gestellt, die die geringeren Grade der Hysterisclien und Imbezillen besser
als bisher herausheben. Der Wert der Theoric sckeint uns gerade da-
durch erhoht zu werden, dass die alten Namen durch eine scbarfe Be-
griffsbestimmung eine klare Deutung erhalten, wenn diese sick auch
nicht mit den alten Inhalten deckt. Handelt es sich doch bisher bei
fast alien Namen der Psychiatrie um ganz unklare und verschwommene
Begriffe, die den verschiedeusten, aber nie psychologischen Gesichts-
punkten ihre Entstekung verdanken.
Zu diesen unklaren Begriffen gehdrt nun auch die Bezeicknuog
Defekt. Noch niemals ist die Herabsetzung der psychischeu Energie
als das Wesentliche der Defekte angeseken worden und noch niemand
hat erkannt, dass diese Herabsetzung die Form der Reaktion in be-
stimmter Weise ver^ndert. Man sah eben stets nur, dass der Inbait
der Reaktionen sich anderte und sprach nicht von Defekt schlecht-
hin, sondern von Defekt der Intelligenz, der Moral, der Willenskraft,
kurz von einera qualitativ naher bestimmten Defekt.
Der Annahme eines so isolierten Defekts widerspricht unserer Au-
schauung nach die Einheit der psychischeu Energie, die auf jede Sckii-
digung wie auf jede Erregung in ihrer Gesamtheit reagiert und nicht
in einer Qualit&t ausschliesslich beeiuflusst werden kann. Eine Herab¬
setzung oder Hemmung der psychischeu Energie, sei sie vorubergehend
oder dauernd, kann zwar in einer Qualitat besonders deutlich in die
Ersckeinung treten, sie muss aber alle drei prim&ren Qualitaten in
gleicher Weise betreffen. Ist z. B. die Spontaneitat herabgesetzt, so
muss auch Affektivitat und Empfinden schwacher sein als normal usw.
Wir haben friilier gezeigt, dass die Erregung der psychischeu
Energie sich in derselben Weise stets auf alle drei primaren Qualitaten
erstreckt und nur fur die oberMckliche Betrachtung eine Qualitat be¬
sonders hervortritt. Die Erregung der anderen Qualitaten als der in
der einzelnen Reaktion vorherrschenden und damit in dem Bewusstseins-
zustand dominierenden ist stets nachweisbar und naturlick leichter zu
erkennen als die Hemmung, da grossere Intensitaten psychischer Energie
stets der Beobachtung zuganglicher sind als kleinere. Das bewirkt
schon die objektiv erkennbare Erregung der supprimaren Funktiou, die
stets in demselben Masse wie die primare erregt sein muss. Es ware
unlogisch, fur die Erregung zwar anzunehmen, dass sie die psyckische
Energie stets in alien Qualitaten betrifft und doch die Bescbr&nkung
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(
Aufsatze zur energetischen Psychologic. 75
dor Hemmung auf einzelne Qualitaten fur moglich zu halten. Es ist
vieimehr logisch uotwendig, dieselbe Annahme auch fur die Hemmung
za machen. Man braucht auch nur die Aufmerksamkeit darauf zu
richten, um einzusehen, dass es sich tats&chlich so verhftlt, dass es also
eine partielle Hemmung der psyfchischen Kraft ebenso wenig gibt, wie
eine partielle Erregung.
Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings zwischen Erregung
und Hemmung und auf ihn wurde bereits mehrfach hingewiesen: Die
Erregung kann von der sekund&ren Stufe ihren Ausgang nehmen, sie
kann durch Vorstellungen ausgeldst werden. Dieser Modus kann da-
gegen fur die Hemmung nicht in Frage kommen. Eine Vorstellung
kann zwar den Ablauf der Assoziationen hemmen und zu den gewdhn-
licb als Denksperrung bezeichneten ZustSuden fuhren. Dabei ist aber
die psychische Kraft als solche erregt.
Ein bemmender Einfluss der sekundaren auf die prim&re oder sup-
primare Funktion ist nicht denkbar, wenn man mit Jodi annimmt, dass
die sekundare Funktion die prim&re zur Voraussetzung hat. Eine sekun-
dare Keaktion ist transformierte primare Energie, sie kann sich wieder
in die tiefere Stufe zurflckverwandeln und damit eine primare Erregung
bervorrufen, sie kann aber unm5glich dadurch eine Verminderung der
primttren Energie herbeifuhren. Jeder primare oder supprimitre Reiz,
der zu einer psychischen Reaktion fubrt, lost damit psychische Energie
aus und kann nur zu einer Steigerung der Erregbarkeit des Kraftzen-
trums fuhren.
Fur die Entstehung der Hemmung oder des Defekts kommt da-
gegen keine Art von intrapsychischen Reizen in Betracht. Hemmung
der psychischen Energie kann nur durch supprim&re Einflusse hervor-
gerufen werden.
Der supprimfire Einfluss, der die Reaktionsfhhigkeit des psychischen
Kraftzentrums herabsetzt, kann als negativer Reiz bezeichnet werden.
Es gibt eine Reihe von Substanzen wie Alkohol, Chloroform u. a., die
zunachst eine Erregung und dann eine Hemmung der psychischen Kraft
hervorrufen. Andere wie die gebr&ucblichen Schlafmittel wirken gleich
ini negativen Sinne, also hemmend. Die Scb&digungen des Gehirns, die
durch die sogenannten organischen Erkrankungen hervorgerufen werden,
wirken oft schneller hemmend als die Noxe der katatonischen Seelen-
storuugen. Hysterische Erkrankungen dagegen kdnnen nie oder doch
nur indirekt durch Ueberanstrengung hemmenden Einfluss ausuben.
Ein psychisches Kraftzentrum, das unter der Wirkung einer Schftdi-
gung stebt, die seine Leistungsf&higkeit herabsetzt, reagiert trotzdem
noch auf Reize. Die Reaktionsfkhigkeit wird ja erst mit dem Tode
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aufgehoben. Die w&hrend der Hemmung produzierte Energiemenge.
also ihre Intensit&t, ist aber kleiner, als sie der Intensit&t des Reizes
normaler Weise entspricht. Zur Erzielung derselben Reaktion bedarf es
daher bei einem gehemmten Kraftzentrum eines starkeren Reizes als
bei einem normalen. 1st der Reiz stark genug, so kann es aucb bei
einem gehemmten Kraftzentrum zu Reaktionen kommen, deren Gesamt-
heit wegen dieser Intensitat als Erregungszustand zu bezeichnen ist.
Es kanu also Erregung und Hemmung gleichzeitig bei demselben Indi-
viduum vorhanden sein. Da es zunachst gleicbgultig ist, ob die Hem¬
mung dauernd oder vorubergehend ist (aucb die Erregung ist in ihrer
Dauer sehr wechselnd), so kann man man jede Reaktion eines gehemmten
Kraftzentrums als Defektreaktion bzw. Defekterregung bezeichnen.
Der Defekt kann also nicht wie die Erregung intrapsycbisch und
uicht durch aussere primare Reize entstehen. Er entstebt vielmehr
durch negative, supprimare Reize und gehort daher seiner Entstehung
nach nicht eigentlich in das Gebiet der Psychologie, sondern in das der
biologiscben und roedizinischen Wissenschaft. Die Psychologie als solche
bat nur seine Wirkung auf das psychische Geschehen zu untersuchen
oder sein Vorhandensein festzustellen, sie kann aber mit ihren Mitteln
seine Ursache nicht ergriinden. Denu aucb hier konneu wie bei der
Erregung verschiedene Ursachen dieselben und eine Ursache bei ver-
schiedenen Individuen sehr verschiedene Wirkuugen haben.
Die Untersuchung der supprimaren Funktion, also der Reflexe, der
Muskelerregbarkeit, der Herztatigkeit usw., die man noch in weiterem
Sinne als psychologische Tatigkeit betrachten kann. wie wir es bei der
Untersuchung der Erregung getan habeiT. ist fur Hemmungszu^t&nde in
unserem Sinne noch nicht so weit durchgefuhrt, dass sich ein klares
Bild von ihrem Verbulten entwerfen liisst. Die angeboreneh Defekt-
zustande, also Imbezille und Idioten, zeigen gewohnlich eine grossere
supprimare Erregbarkeit als normale. Diese bekannte Tatsache scheint
zun&chst unserer Anschauung zu widersprechen. Sie steht mit der fruher
erw&hnten Tatsache in Einklang, dass Hyponoiker durch pr&seutative
Reize starker erregt werden konnen als Hypernoiker. Der Hyponoiker
reagiert lebhaft, aber kurz, der Hypernoiker dagegen weniger lebhaft.
aber nachhaltiger. Er transformiert den grdsseren Tell der psychischen
Energie, die der Reiz ausgelost hat und unter Hinzurechnung der hierbei
verbrauchten Energie, die zuuachst nicht festzustellen ist, kommen wir
zu dem Schluss, dass seine Reaktion im Vergleicb zu der des Hyponoiker*
im ganzen tatsachlich eine starkere ist.
Die Erklarung fur die Steigerung der supprimaren Reaktionen der
konstitutionellen Defektzust&nde ware danach analog darin zu selien,
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Aufsatze zur energetischen Psychologie.
77
<lass allgemein bei Sch&digung der psychischen Kraft die hohere Stufe
in erster Linie gebemmt wird und die tiefere desto deutlicher in die
Erscheinung tritt. Diese Tatsache steht mit der Annahme Jodi’s,
dass sieh die hoheren Funktionen auf den tieferen aufbauen, in Ein-
klang.
Wir koimen sie uns noch durch ein Bild verdeutlichen. Bei einem
Idioten k&nnen pri mitre Reize sich nicht wie normal in psychische
Energie der prim&ren oder sekund&ren Stufe umsetzen, da diese nicht
irenugeud entwickelt sind. Anstatt daher nach den verschiedenen Rich-
tungen zu irradiieren, fliesst der Strom der Erregung, den der prim&re
Keiz erzeugt, im wesentlichen der supprimaren Stufe zu. Trotzdent
daher die Starke der Reaktion aller Stufen zusammen hinter der nor-
malen Intensity zuruckbleibt, kann die supprimkre st&rker als bei einem
normalen Individuum sein.
Bekanntlich sind bei vision Menschen die lyuesehnenreflexe nur
auslosbar, wenn Kunstgriffe angewandt werden, welche die Aufmerksam-
keit des betreffenden von deni Versuch der Auslftsung ablenken. Das
heisst psychologisch ausgedruckt: Es genugt die Beobachtuug des Vor-
ganges (lurch das Individuum, den primaren Reiz, den der Schlag auf
die Kniesehne erzeugt, unwillkurlich so zu transformieren, dass die Er¬
regung der supprim&ren Funktion, der Selmenreflex, nicht in die Er¬
scheinung tritt. Hindert man die Beobachtung, so tritt die supprim&re
Reaktion ein. Die Reaktion im ganzen ist nicht starker als im ersten
Falie. aber die Verteilung des Energiestromes ist eine andere.
Man pflegt hierin eine Hemmung der tiefereu Funktionen durch
die hohere zu sehett und es entspricht dies zweifellos den Tatsachen.
Nur muss man sich klar sein. dass eine solche Hemmung etwas ganz
anderes ist, als die Herabsetzung der psychischen Energie, die wir als
Hemmung bezeichnen. Diese Hemmung der tieferen durch die hoheren
Funktionen entspricht viclmehr derjenigen, die eine iiberwertige Idee,
'•in Affeki usw. auf den Vorstellungsablauf bzw. die Motilitat ausiibt.
Sie beruht wie diese auf der Verteilung der verfiigbaren psychischen
Energie. deren Intensitat ja stets beschr&nkt ist. So wenig man bei
starker Aufmerksamkeit Schmerz fuhlt, vielmehr aus^eren Eindrucken
gegeniiber refraktar ist, so wenig kanu der Sehnenreflex ausgeldst wer¬
den. wenn die Aufmerksamkeit zu sehr erregt ist, die Spontaneitat also
underweitig zu stark jn Anspruch genommen ist. Man kann das Aus-
Meiben des Reflexes als „Erregungsdefekt w bezeichnen und diesen
Ausdruck aueh auf die Erregungszust&nde der hGheren Stufen anwenden.
Hierbei wurde der Defekt in dem Ausbleiben einer Reaktion infolge
der ungewohnlichen Verteilung der gesteigerten psychischen Energie
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bestehen, wihrend der wirkliche Defekt gleichbedeutend ist mit Herab-
setzung der psycbischen Energie.
Unter den Schadigungen des psychischen Kraftzentrums, die seine
Reaktionsfahigkeit lierabsetzen, nehmen die Verletzungen des Gehirns
< durch Stoss, Schuss, Blutung usw. eine besondere Stellung ein, die aber
auf die Psyche im allgemeinen ohne Einfluss sind. Eine Embolie kann
z. B. das Sprachzentrum schadigen oder die Liihmung eines Beines
herbeifuhren, wihrend die iibrigen Funktionen vollig intakt sind.
Die Feststellung, dass es im Gehirn sogenannte Zentren gibt, die
bestimmte Empfindungen wie das Sehen und Horen oder die Tastempfin-
dung vermitteln, sowie andere, die die Bewegungen des Kbrpers und
der Gliedmassen sowie die Sprache beherrschen, hat die Hoffnung er-
weckt, dass es der weiteren Forschung gelingen musste, schliesslich fur
jede psychische Funktion z. B. den Geschlechtstrieb, den Affekt, ja vieJ-
leicht auch fur die moralischen Begriffe oder die Intelligenz bestimmte
Felder der Gehirnoberfl&che oder bestimmte Anhaufungen von Ganglion-
zellen, sogenannte Kerne, festzustellen. Besonders die Entdeckung der
Apraxie schien einen Fortschritt in dieser Richtung zu bedeuten. Hier
war anscheinend der Wille nahe an seinem Ursprung lokalisiert.
Der Apraktische im urspriinglichen Sinne weiss, was er will oder soli,
seine Glieder sind frei beweglich und fukren unwiilkurliche, automa-
tische Bewegungen bei entsprechenden Reizen ohne Scbwierigkeit aus.
Nur wenn eine bestimmte Bewegung gewollt wird, gelingt sie nicht oder
kommt nur unvollkommen zur Ausfiihrung. Gewisse Sprachstdrungen
lassen ein analoges Verhalten erkennen. Als Ursache dieser Symptome
findet man die Zerstdrung bestimmter Hirngebiete, die eine mehr oder
weniger volls^andige Abtrennung der an sich unverletzten Zentren fur
die entsprechenden Bewegungen von dem iibrigen Gehirn bewirkt. Da-
durch sollen nun die vorhandenen Bewegungsvorstellungen gehindert
sein, sich in Bewegung umzusetzen.
An die Stelle der Bewegungsvorstellungen tritt in der energetischen
Theorie die reflektorische Assoziation, die Transformierung sekundarer
Energie in supprim&re. Beide Arten, die willkurliche Bewegung dem
Verstandnis naher zu bringen, sind bildlich aufzufassen. Doch ist die
reflektorische Assoziation ein Vorgang, den wir uberall im psychischen
Geschehen als wichtig und bedeutungsvoll erkannt haben, w&hrend die
„BewegungsvorsteIlungen“ kein Analogon haben.
Fur die ErklSrung der Bewegungsstorungen durch lokale Schadi¬
gungen des Gehirns sind sie jedenfalls nicht notwendig. Es is’t min-
destens ebenso verstandlicb, dass Umformungen der psychischen Energie
in die supprimare Funktion gehindert werden kbnnen, wenn die mate-
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Aufsatze zur energetischen Psycbologie.
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riellen VorgAnge, die wir fur alles Psychische voraussetzen mussen,
unmoglich gevorden sind. Die Bewegungsvorstellungen konnen sich
aaeh nicht in die Tat nmsetzen, wenn die entsprecbenden Babnen zum
oder im Ruckenmark gesch&digt sind. Die Reflexe, um die es sich bei
der Apraxie handelt, sind nur ihrer Entwicklung nach hoher stebend,
meist nicht ererbte, sondem erworbene Automatismen.
Wir haben diese Fragen deswegen hier angeschnitten, um zu er-
drtern, wie sich diese Art von Defekten der psychischen Energie zu den
anderen Defektreaktionen verbalten. Wir haben selbst zugegeben, dass
solche Ausfalle vorkommen kdnnen, ohne die psychische Kraft im Ganzeu
herabzusetzen. Das triflFt naturlich nicht zu, wenn die Apraxie usw.
nur Teilsymptome einer allgemeinen organischen Gehirnkrankbeit wie
Arteriosklerose, Lues, Dementia senilis u. a. ist. Hierbei linden wir im
Gegenteil die allgemeine Verminderung, also den Gesamtdefekt stets
sehr ausgeprAgt.
Die isolierten Bewegungsausfalle sind gleichzusetzen dem Verlust ein-
zelner Sinnesorgane, die ebenfalls einen Defekt bedeuten, aber das psy-
chiscbe Geschehen als solches nicht zu beeinflussen brauchen. Beethoven
komponierte trotz vOlliger Ertaubung, Fecbner verfasste w&hrend langer
Blindheit seine Schriften, Helen Keller entwickelte ihre Intelligenz trotz-
dem sie blind und taub geboren war. Gerade die Falle von angeborener
Blindheit oder Taubheit zeigen, dass der Ausfall in einer Qualit&t durch
Verst&rkung anderer z. B. des Tastsinnes ausgeglichen werden kann,
dass also das Fehlen einer Qualitat der Empfindung die Gesamtinten-
sit&t der psychischen Kraft, wenn keine allgemeine Gehirnerkrankung
vorliegt, nicht herabzusetzen braucht. Ebenso ist offenbar das ausge-
wachsene Gehirn im Stande, lokale Stdrungen auszugleictien. Die Fahig-
keit zu sprecben, ein Glied zu bewegen, wire alsTeil der Spontaneitat
anfzufasson.
Um solche Ausfalle graphisch darzustellen, was fur bestimmte
Zwecke von Wert sein kann, brauchte man nur unser Konstitutions-
scbema nach Art des Spektrums auszubauen und den vorhandenen Defekt
in ibm zu vermerken. An der Starke und Form der psychischen Reak-
tion wird also eine derartige qualitative Lucke nichts andern. Sie ware
nicht als konstitutionelle Eigenart zu betrachten, sondem der Konstella-
tion zuzurechnen, die sie allerdings oft in hohem Grade beeinflusst.
Von diesem Standpunkte aus kfinnen wir die Resultate der lokali-
satorischen Gebirnforscbung dahin zusammenfassen, dass es ihr bisher
gelungen ist, eine Reihe von Qualitaten zu lokalisieren bezw. den Ort
im Gehirn zu bestimmen, der zu ihrem Zustandekommen notwendig ist.
Im Einklang mit unserer Theorie ist auch die Schmerzempfindung an
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die „motorischen Zentren 44 gebunden (nicbt die Tastempfindung), tiud
wir kdnnen wobl annehmen, dass die mit den Sinnesenipfindungen ver-
bundenen Gefuhle beziiglich ihrer Entwicklung in entsprechender Weise
von den Zentren abbangig sind. Einen taubgeborenen Komponisten kanu
es nicht geben und wkhrend das Geliirn des Taubgewordenen keine
mikroskopisch nachweisbare Ver^nderung des Hdrzentrums zeigt, ist es
nicht unwahrscheinlich, dass sich die angeborene Taubheit in der ver-
rainderten Grosse oder Zahl der Zellen usw. ausdruckt, die sich fruher
oder sp&ter nachweisen lassen wird. Bisher aber ist es noch nichr
mdglich, im Gehirn Zellveranderungen der Zentren nachzuweisen, wenn
auch l&ngere Zeit vor dera Tode ein Auge oder Ohr, ein Bein oder Arm
verloren gegangen war. Es ist auch zu beachten, dass die ersten loka-
lisatorischen Erfolge nicht dem Mikroskop zu verdankeu sind, sondern
dem elektrischen Strom und dass die Herde, wie sie bei der Apraxie ge-
funden werden, bei geeigneter F&rbung mit blossem Auge erkeunbar sind.
Aus allem ergibt sich, dass fur einen histologischen Nachweis der
hdheren (primaren und sekundiren) psychischen Funktionen noch nicht
die geringsten Grundlagen geschaffen sind. Wir kdnnen am Gehirn
nicht erkennen, ob ein Sinnesorgan funktioniert hat oder eine Extre¬
mist gelahmt war oder nicht, wir kdnnen noch weniger den Willen
oder das Gefuhl, den Zeit- oder Raumsinn iokalisieren oder gar auf die
Vorstellungen des Individuums irgendwelche Schlusse ziehen. In der
Ausdrucksweise der energetischen Theorie heisst das: die Konstitution
entzieht sich noch vollig dem histologischen Nachweis. Wir kdnnen
aus den bisherigen Forschungsergebnissen auch nicht die Hoffnung
schopfen, dass darin so bald eine Aenderung eintritt, denn diese be-
treffen ausschliesslich Eigenschaften der Konstellation.
Dementsprechend kdnnen wir aus den histologischen Befunden bei
Gehirnkrankheiten (zu denen wir die Katatonie rechnen) keinen Scbluss
auf den Grad der im Leben vorhanden gewesenen Sch&digung ziehen.
Die Starke der Demenz bei Paralyse oder Dementia senilis steht be-
kauntlich durchaus nicht immer im Einklang mit der SUrke der histo¬
logischen Veranderungen, und nicht einmal alle Idiotengehirne lassen
krankhafte Befunde erkeunen. Wir kdnnen daher den Nachweis dee
Defektes nicht durcb die Histologie erbringen und sind fur ibn ebenso
wie fur den der vorubergehenden Hemmung auf die psychologischen
Methoden angewiesen.
Ein Beweis, der sich ausschliesslich auf die immer recht subjektive
psychologische Analyse stutzt, braucht aber fur die Annahme der neuen
Begriffe Defektreaktion und -erregung nicht jedem ohne weiteres zu ge-
niigen. Manchem diirften vielmehr die bisherigen klinischen Anschauungen
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Aufsatze zur energetischen Psyohologie.
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einfacher und naturlicher vorkommen. So wird z. B. gewdhniich das
sinnlose Toben eines verblOdeten Katatonikers anf den Verlnst der Intelli-
geuz zuruckgefubrt. Eine tlemmung d. b. Herabsetzung der psychischen
Energie scheint hier auf den ersten Blick nicht in Frage zn kommen.
Die energetische Tbeorie zwingt jedoch zu dem Schluss, dass hier eine
cbroniscbe Hemmuug neben der akuten Erregung vorhanden ist und
dass daher auch die starkste Erregung nicht nur qualitativ, sondern
anch quantitativ binter den Erregungen zuruckbleibt, deren dasselbe
Individuum in gesimden Tagen fahig war.
Der Unterschied der Anschauungen liegt vor nllem darin, dass die
allgemeine Ansicbt den Begriff der Energie vdllig aus dem Spiel l&sst.
Sie stellt sich partielle Ausfftlle der psychischen Funktionen vor, fur
die sie womOglich bestimmte, besonders stark gesch&digte Hirnpartien
in Anspruch nimmt (vg). Kleist).
Die energetische Theorie behauptet, dass jeder Defekt und jede
Hemmuug silmtlicbe psychiscbe Funktionen betrifft, wenn auch einzelne
Qualit&ten starker als die anderen. Durch die UnmOglichkeit, die Er¬
regung in Energie hOherer Stufe zu transformieren, tritt die tiefere Stufe
deutlicher hervor und tauscht so eine starkere Produktion psychischer
Energie vor.
Wir sind so sehr gewObnt, einen starken Affekt oder motorische
Erregung nur zusammen mit Vorstellungen zu seben und zu erleben,
dass wir unwillkurlich auch den sinnlosen, tatsachlich uumotivierten
Erregungen Gedanken und Empfindungen unterschieben. Im Leben des
Gesunden spielen fur gewdhniich die durcb Vorstellungen hervorgerufenen
Empfindungen, Affekte und Strebungen eine viel grOssere Rolle als die
durch die primaren Akte hervorgerufenen Vorstellungen. Erst wenn
die psychiscbe Energie sinkt oder auch bei katatonischer Erregung ist
' das Umgekehrte der Fall, also immer in abnormen Bewusstseinszustanden
nut Ausnahme der hysterischen.
Bei den katatonischen Erregungszustanden treten reflektorische
Assoziationen von Vorstellungen, die der Individualitat d. h. der Kon-
stellation nach wechseln, in grosser Zabl auf, sie verhindern das logische
Denken und erzeugen unter UmstXnden Ideenfiucht. Ebenso muss bei
Hemmiuigszustanden, die ja stets katatonisch sind, die reflektorische
Assoziation in den Vordergrund treten, dagegen Zielvorstellung, Auf-
merksamkeit, Logik wie alle hdheren psychischen Akte scbwerer pro-
dnzierbar oder gar unmdglich werden. Das kiinische Bild eines Er-
regungszustande8 kann daher unter Omstanden dem eines Defektzustandes
mit Erregung im Anfange sehr Ahnlich sein bis die weitere Entwicklung
die Lage kl&rt.
Arslttv t PsjehiAtrit. Bd. 00. Hafl 1. r
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Dr. Harry Marcuse,
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Der Beweis fur das gleichzeitige Vorhandensein tod Hemmung und
Erregung kOnnte aus einer Analyse der zu dauernder VerblOdung fuhren-
den Psychosen erbracht werden. Oder aber man kOnnte zeigen, dass die
Grnppen der Hyponoiker und relative!) Hysteriker, die beide unter den
Sammelnamen der Psychopathen fallen, eine weitgehende Aehnlicbkeit
der Symptomatologie mit den Anfangsstadien der Geisteskrankheiten
mit Defekt darbieten und daraus das Vorhandensein der Hemmung in
beiden Fallen erschliessen.
Hier wollen wir uns jedoch nur mit einer Gruppe von psychiscben
Reaktionen besch&ftigen, deren Vorkomraen stets mit einem Zustand
verbunden ist, der eine Herabsetzung der psychischen Energie auch nach
allgemeiner Anschauung zur Voraussetzung hat Damit sind wir der
Notwendigkeit uberhoben, den Defekt selbst erst aufzuzeigen, und kCunen
zun&chst erGrtern, welche Wirkung er auf das psychische Geschehen
ausfibt. Darans wird sich die Begrundung unserer Begriffe Defektreak-
tionen und -erregungen um so leicbter ergeben, als diese Art Reaktionen
pbysiologisch vorkoromen und daher jedem aus eigener Erfahrung be-
kanot sind. Wir meinen die Traume.
2. Die Traume.
Die supprimaren Funktionen im Schlafe. Die Entstebung der Traume. Ein-
fluss der Konstitution. Traume sind Defektreaktionen. Vorkommen von Trau-
men. Der Defokt als (Jrsache der Eigenart der Traume. Naohweis der im
Traum bestehenden Hemmung. Die scbeinbare Starke der Affekte. Die geringe
Intensitat der primaren Funktion. Schwierigkeiten der Traumanalyse. Die Er-
innerung an die Traume. Schlaftiefe. Zusammenhangslosigkoit der Traume.
Das primare Empfinden im Traum. Die Unlustaffekte als Schutzreflexe. Die
Lustaffekte. Die Spontaneitat im Traum. Das „erotische Gefiihl 11 als Teil der
Spontaneitat. Der Sexualtrieb im Traum. Die Vorstellungen im Traum. Raum
und Zeit. Die Aufmerksamkeit. Einteilung der Traume. Die Aehnlichkeit
der Traume mit anderen Defektzustanden. Hemmung und Verbrechen. Der
Egoismus ein Zeioben des Defekts. ErmucTung, Scbwachsinn und Traum. Die
Deutung der Traume. Reiz und Trauminbalt. Grenzen der Traumanalyse.
Einfluss der Konstellation. Hysterische Traume. Wirksamkeit von Vorstellungen
im Sohlaf.' ‘Katatonisohe Entstebung der Angsttraume. Traum und Charakter.
Soblaf und Hypnose. Zusammenfassung.
Der Schlaf ist ein Zustand von Bewusstlosigkeit, fur den wir in
derselben Weise wie fur andere Hemmungszustande als Orsache einen
negativen Reiz. annehmen mussen, den noch unbekannte Stoffwechsel-
produkte ausuben. Unter Tr&umen verstehen wir die psychischen Reak¬
tionen hOherer Stufe, die wahrend eines Schlafzustandes vorkommen.
Es sind danach die supprimaren Reaktionen nicht zu den Traumen im
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Aufsatze zur energetisohen Psychologic.
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engeren Sinne zu rechnen. Da aber, wie oben angefuhrt wurde, jede
Hemmong die hdberen Funktionen starker scbadigt als die tieferen, so
moss die snpprimare Funk lion wahrend des Schlafes relativ am besten
erkennbar sein und wird daber zunfichst unsere Aufmerksamkeit ver-
dienen.
In der Tat gehdren die Reaktionen, die sich objektiv an einem
Schiafenden erkennen lassen, ausschliesslich der supprimkren Stufe an.
Jede Einffihlnng in den Bewusstseinszustand ist unmQglich. Nicht nur
was ein scblafender Mensch trfiumt, sondern auch ob er uberbaupt
trfiumt, lasst sicb nie mit Sicberheit feststellen. Den automatischen
Bewegungen, dem Mienenspiel, dem Seufzen oder Lachen braucht keine
primare Qualitfit und keine Vorstellung zu entsprechen. Jedenfalls hat
das Individuum, wenn es sofort nach solchen Reaktionen geweckt wird,
oft keine Erinnerung, getraumt zu haben. Es scheiot daber anch die
populare Annabme willkfirlich zu sein, die das Belien und Heulen
sehlafender Hunde auf Trfiume zuruckffihrt. Andererseits kann sehr
lebbaft getraumt werden, ohne dass der Beobachter das Geringste davon
feststellen kann.
Objektiv feststellen lasst sicb, dass wahrend des Schlafes (und in
geringerem Grade wahrend eines Ermfidungszustandes) die Starke eines
Reises erheblich grCsser sein muss, als im Wachen, wenn eine Reaktion
erzielt werden soli. Die Reizscbwelle liegt bdher als im Wachen oder,
wie wir sagen, die psychische Kraft ist herabgesetzt.
Diese Tatsache bedarf keines weiteren Beweises. Die supprimare
Fnnktion hat aber fur das psychische Gescbehen im Scblaf eine sehr
weitgehende Bedeutung, deren Umfang in keiner der zahlreicben Hypo-
thesen fiber das Trfiumen richtig erkannt ist.
„ Je starker die Hemmung ist, desto weniger psychische Energie kann
produziert werden. Der tief Schlafende liegt rubig, atmet regelmfissig
und langsam, zeigt keine Muskelspannungen. Er wird weder durcb
Licht, noch durcb Gerfiusche gestOrt, reagiert nicht auf Reize des Tast-
oder Geruchsinnes, wenn diese Reize nicht zu intensiv werden.
Ganz anders wird jedoch das Bild, wenn dem uegativen Reiz posi¬
tive entgegentreten, sei es vor oder wahrend des Schlafes. Es kann
sich z. B. im Schlafe Fieber einstellen, es kann durch reichliches Essen
oder Krankheit die Tatigkeit des Darmes und der Verdauungsdrusen
stark in Anspruch genommen werden, ein Lungenkatarrh nfitigt zu
htufigem Hasten, unbequemes Liegen erzeugt irgendwo einen Schmers
oder beengt die Atmung, zu starke oder feblende Bedeckung erzeugt
Temperaturempfindungen, kurz es treten irgendwelcbe supprimare Reize
auf, die so einer Erregung ffihren. Der Schlafende braucht dabei nicht
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sofort aufzuwacheu, er wird aber unruhig, wirft sich bin and ber, gibt
unartiknlierte Laute von sich oder spricht unzusamraenhftngend und ist
nan darch Reize von erheblich geringerer Intensitftt za erwecken.
Die Brregung der supprimftren Punktion teilt sich den hOheren
Funktionen mit, d. h. es treten reflektoriscli psychische Akte hOherer
Ordnung auf. Der supprimftren Brregung k&nnen sich prim&re Blemente
und Vorstellungen assoziieren, es kommt zum Trftumen.
Dieser Entstehungsmodus der Trftume entspricht v5llig dem der
katatonischen Psychosen, bei denen die Krankheitsursache den suppri-
mftren Reiz ausubt.
Trftume kOnnen aber auch den bysterischen Zustftnden entsprechend
durch Vorstellungen hervorgerufeu werden, doch muss diese Genese
sich auf hysterische oder doch stark hypernoische Konstitutionen be-
schrftnken.
Gelegentlich traumt wohl jeder Mensch. Sicher jedoch trftumen
kleine Kinder, Hyponoiker, Schwachsinnige viel seltener als Brwachsene,
als Hypernoische, als die sogenannten NervOsen. Und nicht nur, dass
bei den Konstitutionen, in denen P. uberwiegt, uberhaupt seltener
Trftume auftreteh, auch die Form der Trftume ist bei beiden Gruppen
von Konstitutionen sebr verschieden. Die Trftume der Hypernoiker sind
reicbhaltiger, detaillierter, beziehungsreicher als die der Hyponoiker.
Wir haben gesehen, dass die Brregung der sekundftren Funktiou
viel langsamer abklingt, als die der tieferen Stufen. Dadurch erklftrt
sich die Tatsache, dass Hypernoiker schwerer einscblafen und schwerer
tief schlafen. Der Herabsetzung der psycbiscben Bnergie wirkeu die
stftndig aus der sekundftren Funktion zustromenden Reize entgegen, sie
erhalten die Reizschwelle linger auf einer gewissen HOhe. Schon relativ
kleine Erregungen kdnnen bei diesen Individuen daher den Schlaf v&llig
verscheuchen und bei hysterischen Krankbeitszustftnden erweisen sich
selbst grosse Dosen von Schlafmitteln als unwirksam.
Aus der hysterischen Konstitution wird durcb die den Schlaf be-
dingende Hemmung eine relativ-hysterische, d. h. solche Individuen
denken auch im Schlaf noch relativ viel, jedenfalls viel mehr als der
Normale und mehr als der Intensitat von P. ini Schlafe normalerweise
entspricht.
Die Hemmung verftndert die Konstitution, indem sie stftrker ver-
mindernd auf S wirkt als auf P. Aber wenn das Uebergewicht von S gross
genug ist, wird es sich wfthrend des Hemmungszustandes in gewissem
Grade erhalten. Dem entspricht, dass es Defektzustilnde bei Hysteri¬
schen gibt, die sehr lange hysterische Zuge neben typisch katatonischen
Erregungen zeigen.
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Aufsatze 2 nr energetischen Psychologic.
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Wir kOnnen die Tribune ebenso wie die anderen psychischen Reak-
tionen ibrer Entstebung nach in katatonische and hysterische einteilen.
Wean es aber auch psychogene Tr&ume gibt, ist doch der Bewusst-
seinszustand stets ein Hemmangszustand und der Traom daher stets
eine relativ-liysteriscbe Reaktion. Tr&ume sind stets Defektreaktionen.
Diese Tatsache ist noch nicht genugend hervorgehoben worden und
so warden die Tr&ume immer wieder mit den Geisteskrankheiten ver-
glichen, ohne dass der Vergleicb, wie es notwendig ist, auf die Defekt-
psychosen beschr&nkt wurde. Ffilschlicher Weise glaubte man gerade
die hysterischen D&mmerzust&nde und die bypnotischen Erscbeinungen
den Tr&umen ah die Seite stellen zu mfissen, w&hrend diese im Gogen-
teil Erregungszust&nde und keine Defektzust&nde sind.
Die Tr&ume beweisen also scbon durch die Tatsache ihres Vor-
kommens w&hrend eines Hemmungszustandes der psychischen Kraft,
dass es Defektreaktionen in unserem Sinne gibt. Sie bieten uns die
MOglichkeit an einem reichhaltigen und jedem zur Verffigung stehenden
Material zu untersuchen, in welcher Weise das psychische Gescheben
durch die Hemmung beeinflusst wird oder umgekehrt, wie Reize wirken,
die ein gehemmtes Kraftzentrum treffen. Ferner werden wir auf Grand
nnserer Theorie manche den Traum betreffende Frage ki&ren und manche
unrichtige Anschauung widerlegen kOnnen.
Die Ansichten fiber die verschiedenen Probleme des Tr&umens gehen
sehr auseinander, ohne dass die eine besser als die audere begrfindet
wire. So wird behauptet, dass es keinen traumlosen Schlaf gebe, son-
dern der Traum nur h&ufig vergessen werde. Hier kOnnen wir uns
durehaus auf die Seite derer stellen, die den traumlosen Schlaf ffir
naturlich halten. Ausschlaggebend ist offenbar der Grad der Hemmung
and die Konstitution. Je erheblicbcr die Hemmung ist und je mehr P
in der Konstitution fiberwiegt, desto weniger wird im gewGhnlichen Sinne
getr&nmt. Die byponoischen Konstitutionen schlafen schneller ein und
schlafen tiefer als die bypernoischen. Daher der feste Schlaf der
Jugend und der kGrperlich Arbeitenden im Vergleich zu den Aelteren
and geistig Angestrengten. Hier kann es leichter zu Reflexbewegungen
kommen, zum aus dem Schlafe Reden oder zu Lust und Unlust, die
sich im Mieneaspiel kundgibt, ohne dass Vorstellungen vorhanden bzw.
erinnerungsf&big sind. Die Mdglichkeit, sich des Traumes zu erinnern,
mass ebenfalls von dem Grad der Hemmung abh&ngig sein, insofern
die prim&ren Akte and Vorstellungen von zu geringer Intensit&t nicht
reproduziert werden kOnnen.
Es muss also alle Ueberg&nge geben voro traumlosen Schlaf .zum
deutlichen Traam. Bei einer Hemmung, die nicht zam vOIligen Ein-
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schlafen genugt, tr&umen wir am lebhaftesten. Man denke nur an die
Zust&nde von ErschOpfung, in denen man sich mit Muhe wach erh<,
sich zur Aufmerksamkeit auf ein Gespr&cb, einen Vortrag usw. zw ingen
will. Dabei kommt es nicbt selten vor, dass pldtzlich der Kopf vom-
fiber sinkt, man fahrt auf und bemerkt, dass man schon eine Zeitlang
getr&umt bat. Auch die Hallnzinationen, die von Wanderern in der
Wuste und Teilnehmern von Nordpolexpeditionen benchtet werden, ge-
hSren bierher.
Zn falscben Yorstellungen moss es fuhren, wenn man wie H. Ellis
eine besondere Traumwelt annimmt, oder wie Freud das Traumbewusst-
sein gewissermassen personifiziert. Wir museen vielmebr davon aus-
gehen, dass die Eiemente des Traumes dieselben sind, wie die des
Wachens, wenn wir nicht auf ein Yerst&ndnis des Tr&umens verzichten
wollen. 1st aber, wie wir annehmen, der Defekt, also die geringe In-
tensit&t der im Schlafe produzierbaren psycbiscben Energie, die Drsache
der Eigenart der Tr&ume, so mussen wir in den der Selbstbeobachtung
zug&nglicben eigenen Tr&umen und in den Schilderungen der anderen
diese Schwicbe der psycbischen Energie feststellen und weitgehende
Aehnlichkeit zwischen Tr&umen und anderen Defekterregungen linden
k&nnen. Eine objektive Feststellung der psycbischen Energie ist bier nocb
weniger als sonst mdglich. Wir sind daber auf Ueberlegungen angewiesen.
Fur uusere Annahme spricbt zun&chst, dass jeder prira&re Reiz von
gewisser St&rke den Schiaf unmbglicb macht oder aufhebt. Wenn er
also durch die Tr&ume, wie es docb der Fall ist, sehr oft nicht gestbrt
wird, so muss das besondere Grunde baben. Jedenfalls geht dem Ein-
schlafen gewdbnlich ein Stadium der Berubigung vorauf, die Erregung
des Wachens klingt ab, die Glieder Ibsen sicb. Der geistig Arbeitende
muss seine Gedanken gleicbgultigen Dingen zuwenden, der kOrperlicb
Angestrengte die erregte Herzt&tigkeit und die Atmung zur Rube kommen
lassen. Die sekund&re wie die supprim&re Funktion darf sich also in
keiner erheblichen Erregung mehr befinden, wenn es zum Schlafen
kommen soil. Dementsprechend darf aucb die prim&re Funktion nicht
erregt sein. Schmerz, Angst, Triebe jeder Art (motorische oder sexuelle
Unrube) bindern das Einschlafen.
Das Eintreten eines D&mmerzustandes kann dadurch bervorgerufen
werden, dass ubergrosse Erschbpfung die psychische Kraft trotzdem weit
genug herabsetzt und nun lebbaft getr&umt wird. Sehen wir aber von diesen
nicht gewbhnlichen Zust&nden ab, so ist im Allgemeinen erst mit Eintreten
des Schlafes die Mdglichkeit zum Tr&umen gegeben. Dass wir am leb-
baftesten bei Beginn und gegen Ende des Schlafes tr&umen, ist vielfacb
festgestellt und stimmt jedenfalls zu unserer Anschauung.
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Aufsatze zor energetisohen Psychologic. 87
Der Grad der Erregong oder besser Hemmang, in welcbem sich
die supprim&re Funktion w&hrend des normalen Schlafes befindet, ent-
zieht sich der Selbstbeobachtung vSllig. Nur in manchen F&lletr be-
merken wir beim Erwachen Herzklopfen, Schwitzen, Schraerzen, sexuelle
Erregung. Wir haben dann meist iebhaft getrSumt, baben uns ini
Traume ge&ngstigt, erschreckt, anfgeregt, wollten etwas ausfubren z. 6.
jemanden einbolen nod konnten doch die- Fusse nicht erheben, soliten
im Examen eine Frage beantworten, machten uns irgendwie lacherlich.
Alle diese Affekte kOnnen sebr Iebhaft empfunden werden, die pri-
m&re Qualitit des Geffibls kann also im Traum stark erregt erscheinen
and sich sogar durch die Erregung der supprim&ren Funktion, die wir
nocb beim Erwachen spuren, als tats&chlich erregt dokumentieren.
Man nimmt gewbhnlich an, dass die kOrperlichen Erscheinungen als
Folge dieser Affekte aufzufassen sind. Dies kann der Fall sein, dann
w&rde es sich um einen psychogenen Traum handeln. Das h&ufigere
aber ist unseres Eracbtens, dass der Traum katatoniscb, also aus einer
supprim&ren Erregung entsteht. Eine kOrperliche StGrung liefert den
Reis, der sich nun auf die hdheren Funktionen ausbreitet und, wie
Freud sagen wurde, gedeutet wird, d. h. in unserer Anschauung zu
reflektoriscben Affekten und Assoziationen uberbaupt ffihrt. Diese so-
genannten Angsttr&ume sind daher schon nicht als vdllig normal anzu-
seben. Wenn sie auch nicht selten sind und ohne erhebliche Erkran-
kung auftreten, so kommen sie doch auf katatonischem Wege aus-
schliesslich bei StOrangen des Allgemeinbefindens zu Stande. Vor allem
spielen hier alkoholische Exzesse und Ueberlastung der Verdanungs-
organe eine Rolle. Beide setzen die psychische Energie starker als ge-
wOhnlich herab, sie erschweren damit das Erwachen und geben so die
Mdglichkeit, dass der Schlaf trotz relativ starker Erregung der primfiren
Funktion z. B. des FOhlens (es kann auch eine Empfindung oder ein
Streben sein) andauert. Es ergibt sich hier, dass bei stftrkerer Hem¬
mang lebhafteres TrSumen mflglicb ist als bei gewdhnlichem Schlaf.
Das ist nicht paradox, da Hemmang und Erregung verschiedene Ursachen
haben, die gleichzeitig auf das Kraftzentrum wirken. Eine gewisse
Schlaftiefe ist f&r jeden Traum Vorbedingung.
Das Wichtige ist dabei, dass die prim&re Erregung nur relativ
stark ist. Sie erecheint dem Trftumenden zwar Iebhaft, damit ist noch
nicht bewiesen, dass sie es ist. Der Tr&umende gleicht in gewisser
Beziebung dem Kinde, das um seine zerbrochene Puppe weint. Nur
empfindet das Kind den Schmerz so stark, wie es zu empfinden f&hig
ist, es tranert mit der ganzen „Kraft seiner Seele u . Der Tr&umende
aber ist im Wachen nocb viel st&rkerer Empfindungen f&hig, er trauert
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nur mit halber Kraft. Wall rend des Scblafes aber feblt ibm jeder
Massstab, es fehlt die Begrfindung und die Kritik. Hemmungslos kann
sich die Affekterregung ausbrciten, verst&rken, die supprim&re Funktion
erregen, sie kann sich aber nicbt in hfihere psychische Akte transfor-
mieren. Mitunter tritt nur eine einzige Vorstellung hinzu, die den
Tr&umenden im Augenblick ausreichend fur die Begrundung des Affekts
erscheint, die er aber beim Erwachen sofort als sinnlos erkennt. Oefter
ist auch keine klare Vorstellung mit der prira&ren Erregung verbunden
oder wird beim Erwachen nicht mehr erinnert. Dies zeigt, dass die
Erregung von der supprim&ren Stufe ausgeht und die Vorstellungen bei
diesen Angsttr&umen nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Diese Erkl&rung wird durch eine weitere Ueberlegung noch wahr-
scheinlicher gemacht. Es ist eine haufige Beobachtung, die wohl jeder
aus eigener Erfahrung mit Beispielen belegen kann und fCLr die auch
H. Ellis eine Reibe von Fallen beibringt, dass n&ralich der Affekt aus-
bleibt, trotzdem wir im Traum die ungeheuerlichsten Dinge erleben, ja
sogar ausffihren. Situationen, deren Gefahren uns zwar klar werden,
erzeugen keine Angst, Verwunduogen keinen Schmerz und auch Stre-
bungen, die wir erwarten, bleiben aus. Man nimmt diese M&ngel nicht
selten im Schlafe mit Verwnnderung wahr. Derartige Tr&ume treten
besouders bei hypernoischen Konstitutionen auf, sie sind die normals
Art ihrer Tr&ume. Hierbei ist trotz der Hemmung noch ein Ueberwiegen
der sekund&ren Funktion fiber die prim are vorhanden, die Konstitution
ist vorfibergehend relativ hysterisch geworden. Sobald die Hemmung
starker ist und nun von der supprim&ren Stufe ausgehende Erregungen
auftreten, die nicht wie sonst in Vorstellungen transformiert werden
kfinnen, erscheint die Erregung der prim&ren Qualit&t ungewfihnlich
stark. Der Mechanismus ist fihnlich wie der bei Auslfisung des Kuie-
sehnenreflexes bei darauf gerichteter und abgelenkter Aufmerksamkeit.
Auch hier verteilt sich die Erregung im ersten Falle, im zweiten da-
gegen kommt sie ganz der supprim&ren Funktion zu gute.
Dazu kommt noch, dass wir nicht feststellen kfinnen, wie lange die
Erregung der prim&ren Qualit&t, haupts&chlich also die Angst im Traume
besteht, bevor sie zum Erwachen ffihrt. Es fehlt uns im Traum das
Zeitmass und, wie bekannt, tr&umt man manchmal in wenigen Minuten
mehr als sonst in Stunden. Das Geffihl, sehr lange Schmerz oder Angst
ausgestanden zu haben, seiner Bewegungen nicht Herr gewesen zu sein,
kann daher sehr wohl auf T&uschung beruhen. Auch im Wachen wer¬
den ja die Minuten, die man in unangenehmen Situationen verbringeu
muss, zur Ewigkeit.
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Aufsalze zur energetischen Psyohologie.
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Wir kommen also zu dem Schluss, dass die prim Are Erregung in
Wirklichkeit nicbt so stark ist, wie sie dem TrAumendeu erscheint und
nicht so lange dauert wie er glaubt. Sie fuhrt vielmehr scbnell sum
Erwachen and bleibt tatsAchlich hinter den Erregungen im Wacken
weit znruck.
Wir nahmen oben an, dass die AngsttrAume und die ihnen ent-
sprecbenden der anderen prim Aren Qualitaten (man kGnnte sie analog
Schmerz- and Willenstrftume nennen, w Ahrend Affekt-Empfindungs-Spon-
taneitAtstrAume nmfassendere und ricbtigere Bezeicbnungen wAren) meist
katatoniscben, nicht hysterischen Ursprungs seien. Diese Aunabme ist
nicbt willkurlich, sondern beruht auf der Erkenntnis, dass bei alien
DefektzustAnden in unserem Sinne die seknndAre Funktion eino im Ver-
hAltnis zum Wachen nur geringe Rolle spielen kann. Sie wird ja durch
den negativen Reiz am stArksteu geschAdigt. Nur bei Hypernoikem
stArkeren Grades und voraufgehenden hysterischen Erregungen, die den
Schlaf nicbt tief werden lassen, kdnnen einzelne Vorstellungen zu stAr¬
keren primAren Erregungen Veranlassung geben. Solche TrAume werden
dann leicbt die Beziehungen auf das affektbetonte Erlebnis erkennen
lassen, werden detaillierter und zusammenhAngender sein und dentlicher
in der Erinnerung baften ais die katatoniscben, bei denen die Veran¬
lassung des Affekts mitunter beim Erwachen vergessen oder doch nur
sehr nnklar zu reproduzieren ist. Auch diese TrAume sind also selten
uud stellen einen von den gewbhnlicben abweichenden Typus dar.
Zusammenfassend kdnnen wir sagen: StArkere Erregungen der pri-
mAren Funktion sowohl katatonischen wie hysterischen Ursprunges treten
nur in besonderen FAllen auf und gebOren nicht zu der alltAglichen
Form der TrAume. Im Ailgemeinen aber ist die IntensitAt primArer
Akte im Traum sebr geriiig, wie es der Hemmung der psychischen
Encrgie entspricht.
Daher geben so viele TrAume spurlos an uns voruber, wirken nicbt
als erlebt, sind in der Tat dem Schaum vergleichbar, der nur die Ober-
fliehe, nicht die tieferen Schichten krAuselt. WAre es anders, so wAren
wir aucb gar nicht im Stande, unsere wirklichen Erlebnisse von unseren
TrAumen zu untereebeiden, wAhrend dies gewdhnlicb mit absoluter
Sicherbeit gesebieht. Die seltenen Ausnahmen, in denen das nicbt der
Fall ist, sind stets darauf zuruckzufubren, dass entweder der Schlaf
oder der Bewusstseinszustand des Wachens nicht normal ist. Mit Recbt
sagt Jodi: n Der Traum ist ein schlafendes Hallnzinieren u , worait der
sekundAren Funktion die wesentliche Rolle im Tranmbewusstsein zuge-
wieeen wird.
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Id Uebereinstimmung damit sehen wir viel Ofter gesonde Menacheo,
Hypemoiker naturlich, vom Trfiumen beeinflusst, als Geisteskranke, aus-
genommen die hysterischen. Bei Schwachsinnigen bOheren Grades and
alien st&rkeren Verblddnngszust&nden sind Tr&ume nicht mehr festxu-
stellen. Die Behauptung von Ellis (W. d. Tr. p. 259), dass Geistes-
krankbeit durcb einen Traum hervorgerufen werden kann, entbebrt jeder
Begrfindung. Hdchstens kOnnten relative Hypernoiker (also Schwack-
sinnige, bei denen P < S ist) gelegentlich st&rkerer Beeinflnssang darcb
Traume anterliegen.
Man bat behauptet, dass kein Reiz das Traumbewusstsein erreichen
kann, ohne erst eine Dmformung durchzumachen. Ellis drfickt das
folgendermasseD ans: „Sie (die Reise) mussen erst das Gepr&ge voa
Erscbeinungen der fiusseren Welt, das sie tragen, abstreifen. Sie mussen
das Gepr&ge einer anderen Welt, das der Traumwelt annebmen u . Sehr
poetisch, aber falsch!
In der Annabme einer besonderen Traumwelt scbeint der Glaabe
an ein Doppelleben der Seele nocb fortzuwirken. Wenn die Traumwelt,
wie Ellis meint, wirklicb eine Welt fur sicb wire, „ein dimmeriges
Scbattenbaus, in das kein Strabl aus der iusseren Welt des wachen
Lebens fillt u , dann muss ten wir wohl auf ein Verstindnis dieser psychi-
schen Akte verzichten. Auch das Aufzeicbnen des Traumes, direkt nach
dem Erwachen, auf das Ellis mit Recbt Wert legt, kfinnte uns nicht
viel helfen.
Das Interesse, das den Triumen zu alien Zeiten entgegengebracht
worden ist, hat dazu geffihrt, sie mit einem Nebel mystiscber Vor-
stellungen zu umgeben, die naturlich den jeweils berrschenden Welt-
anschanungen entsprachen. Erst sandten die Gutter den Traum, um die
Zukunft zu verkunden, spiter der Teufel, um die Frommen zu ver-
suchen, jetzt verkiindet Freud, der Traum diene zur Erhaltung des
Scblafes.
Die mit diesen Ansicbten verbundenen Fragen werden sich durcb
die Analyse des Traumes ohne weiteres beantworten iassen. Vor allem
mussen wir ohne Voreingenommenheit irgend welcher Art an die Tat-
sachen herangehen, die jedem bekannt sind.
In Wirklichkeit sind die Schwierigkeiten der Traumanalyse nicht
wesentlich grosser als die, welche der Analyse des subjektiven Erlebens
fiberhaupt entgegenstehen und sie sind keineswegs prinzipieller Natur.
Dnsicberheit der Auffassung, der Erinnerung, des Urteils fiber bestimmte
Vorg&nge sind auch im Wachen vorhanden. Auch auf der Vergangen-
heit ruhen Scbatten, die sich mit wachsender Entfernung verdichten und
die Rekonstruktion erschweren.
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Zweifelloa erschweren besonders die Ungenaaigkeit und Unvoll-
stfindigkeit, die die Erinnerung des Traumes auszeichnen, seine Analyse
nicht unwesentlich. Man hat daher versucbt, den Traum mOglicbst xu
▼ervollst&ndigen. Ellis u. a. empfehlen zu dem Zweck, ihn sofort nach
dem Erwachen aufzuschreiben. Es ist jedoeh klar, dass auch bierbei
eine Menge nachtr&glicher Zus&tze, Ver&nderungen, Auslegungen unter-
lanfen kftnnen, die sicb der Feststellung und Prafung vOllig entzieben.
Auch die Freud’sche Methode erscheint uns nicht geeignet, einen
Traum vollstindig und genau zur Reproduktion zu bringen.
Wir sind vielmehr uberzeugt, dass immer nur Brucbstucke dessen,
was getrftumt wird, in der Erinnerung haften, und zwar hangt die Er-
ionerangsf&higkeit von verschiedenen Umst&nden ab. Sie ist zunichst
geringer bei tiefem, grosser bei weniger tiefem Scblaf, also der Hem-
mung umgekehrt proportional. Sie ist aber bei gleicber Hemmung dem
Grade der Defekterregung direkt proportional. Hysterische Tr&ume baften
genauer in der Erinnerung als katatonische, entsprechend erinnern sicb
Byperoniker bcsser ihrer Traume als Byponoiker. Neben den zahlreichen
Beziehungen, die durcb die Vorstellungen gegeben sind, kommt dazu,
dass sie sicb besser erz&hlen lassen, da sie verst&ndlicher, motivierter
sind, als die unklaren katatonen Erregungen.
Der Grad der Erinnerangsf&higkeit oder -unf&liigkeit ist also fur
die Diagnose, am welche Art von Traum es sich handelt, in gewissem
Grade zu verwerten und wir baben keinen Grand, uns diesen Anbalts-
punkt methodiscb zu verkummern.
Fur die Tiefe des Scblafes besteht zweifellos ein ziemlich richtiges
Gefuhl. Diese hingt mit der Erfrischung zusammen, die wir nacb tiefem
Scblaf empfinden und auch mit der Erinnerung an eine kurzere oder
llngere Zeit vOlliger Bewusstlosigkeit. Beides tritt Jbesonders nach traum-
losem Schlaf ein. Bei lebbaften Triumen wird manchmal die LJnmOg-
lichkeit des Erwachens gespurt, manchmal dagegen tritt die Vorstellung,
dass ailes nur ein Trabm ist, mildernd und den Schlaf verl&ngernd auf.
Im letzten Falle ist die Remmung weniger intensiv, die hysterische Er-
regong starker, im ersten Falle ist die Remmung stark und gleicbzeitig
eine erhebliche Erregung vorhanden.
Stets erschwert aber die Hemmung bzw. der Defekt die Erinnerung
des Traumes. Ein Zweites kommt hinzu, das sich aber sp&ter als Folge
des Defektes erweisen wird.
Die moisten Trftume haben wenig Zusammenhang und ebenso wie
man eine Anzahl sinnlos aneiuandergereihter Silben schwerer bebA.lt
alt zusammenh&ngende Worte, ebenso muss der Mangel an logischem
Gescheben nnd Denken, der den Traumgebilden eigentumlich ist, ibr
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Erinnern erscbweren. Ein zu logischer Traum wird sogar berechtigte
Zweifel an der Wahrheitsliebe oder Kritik der ibn benchtenden Person
bervorrufen, auch wenn er sofort nacb dem Erwachen aafgescbrieben
wurde. Immerhin kann man, am gleichartiges Material zu haben, solche
Aufzeicbnangen mit der nOtigen Vorsicbt benatzen.
Wir glauben, darauf verzicbten zu kdnnen, neucs kasuistisches
Material beizubringeu, wollen vielmebr gegebenen Palls auf Ellis „Welt
der Tr&ume u Bezug nehmen. Da namlich dem Traum der Znsammen-
hang fehlt, so stellt eigentlicb jede Traumerz&blung, wie sie gewOhnlich
erinnert wird, eine Summe von Einzeltrauinen dar. Pur eine allgemeine
Besprechung der Starke uud Form der psycbischen Reaktioo, die uns
auch bier wieder vor dem Inbalt interessieren, ist cs aber gleichgultig,
ob sie wahrend desselben oder wahrend verschiedener Scblafzust&ude
vorgekommen sind. Anstatt uus also auf Einzelfalle zu beschrankeu,
wollen wir versucben, das den normalen Tr&umen Gemeinsame, fur sie
cbarakteristiscbe, namlich die geringe Intensitat der psycbischen Energie
nachzuweiseu, indem wir voraussetzen, dass jedem Reaktionen in ge-
ougender Zahl erinnerlicb sind, urn unsero Angabcn nacbprufen zu
kdnnen.
Eine Betrachtung der einzelnen Qualit&ten der primaren Punktion
soli zunachst erweisen, dass die primare Energie im Traum herabge-
setzt ist.
Die hkufigsten Empfindungen im Traum sind wohl die des Gebdrs.
in zweiter Linie erst stehen die Gesichtsempfindungen. Geruchs- nnd
Geschmacksempfindungen sind selten, ebenso die eigentlicben Tastemp-
findungen. Eine Souderstellung nehmen die sexuellen Empfindungen ein.
Das Verhaltnis ist hier offenbar dasselbe wie bei den Halluzina-
tionen. Deutlicbe Tastempfindungen sind aucb hier selten, wie in der
Th. d. Ps. gezeigt wurde.
Die Rollen sind also ebenso wie im Wachen verteilt. Es gibt an-
scbeinend mebr Menschen vom Typus der „Tontie|jp t ‘ als von dem der
„Sehtiere u . Bei diesen mussten naturlich die Gesichtsempfindungen
aucb im Traume hSufiger sein.
Die geringe Intensitat der primaren Energie failt uns wahrend des
Traumens nur selten auf. Es kommt allerdings vor, dass wir einen
heftigen Schmerz, einen Enall oder Scbrei erwarten und uns uber sein
Ausbleiben wundern. Im allgemeinen aber empfinden wir die Siunes-
eiodrucke als den Umstanden entsprecbend.
DieGebOrsempfindungen sind oftdeutlich. Melodien, Orchestermusik
u. a. wird genau unterschieden und erkannt, die Stimme Verstorbener
hat den aus dem Leben bekannten Rlang, wir hOren es regnen oder
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donnern, horen die Ger&usche, die uns im t&glichen Leben gewohut
sind. Die geringe Intensity der prim&ren Empfindung zeigt sicb bier
darin, dass eine Explosion z. B. ohne Knall verl&uft, dass Larmen oder
Schreien zwar vorgestellt, abcr nicbt empfunden wird, ohne sofort sum
Erwachen zu fubren. Auch dann hCren wir kein iautes GerSusch, er-
wacheu vielmehr durcb die Erwartung desselben. Nur wenn ein ausserer
Reiz, also ein reales Ger&usch zum Erwacben fuhrt, bOren wir wirklich
etwas. (UeberIautes Empfinden realer Reize.). Charakteristisch scheint
mir noch, dass wir eine Melodie gcrade dann nicbt hehaltcn, wenn wir
sie besonders schOn findeu. Sie kommt uns fremdartig vor, klingt wuu-
derbar, so schou, wie wir es uns immer „ertraumt“ batten und beim
Erwachen ist es unmdglich, sicb ihrer zu erinnern. In diesen Trauraeu
betrifft die Erregung offenbar mebr das prim tire Fuhlen. Der Lustaffekt
schafft die Musik, indeni die Erregung auf das Empfinden ubergreift.
Die Worte, die wir im Traume gehort baben, oder die von fruher be-
kannten Melodieu kdnnen wir dagegen oft naebber genau angeben.
Aucb den Gesichtsempfindungen fehlt die lutensitat. Das Licbt der
Sonne blendet nicht, andererseits sebeiut vOllige Dunkelheit im Traum
nicht vorzukommen. Bekanntlich trilumen auch Erblindete, dass sie
wie fruher sehen. Ueber die Traume Blindgeborener liegt uns kein
Material vor, es ist aber nicbt anzunehmen, dass sie im Traum Licbt-
empfindungen baben. Denn nur was bereits erlebt oder vorgestellt
worden ist, kann Inbalt des Tr&umens sein. Nie erfahren wir vorher
vfillig Fremdes im Traume, der nur neue Kombinationen der friiberen
psycbischen Akte schaffen, nicht aber neue primiiro Akte hervorbringen
kann. Was sonst nur vorgestellt war, kann als primer, als erlebt er-
sebeinou, z. B. glauben wir zu fliogen oder tr&umen uns als Meister
irgend einer Kunst, die wir nie geiibt baben. So wenig uns aber dies
getraumte Kdnneu fur das Leben nutzt, so wenig kaun uus der Traum
die einfachste Empfindung lebren, die wir nie gehabt baben.
Ellis behauptet, dass die Farbe bei den meisten Menscben im
Traum selten vorkommt, die Visionen meist grau ersebeinen. Das wurde
unsere Ansicht von der Schw&che der Lichtempfindungen best&tigen, da
bei geringer lntensitat des Lichtes die Farben verschwinden. Wir glauben
aber. dass E. bier zu weit geht. .Selten sind nur die greilen Farben,
die eben starke Lichtempfindungen darstellen.
Die Gesichtsempfindungen dos Traumes sind im aligeineinen un-
sebarf und ver&ndern sicb bei darauf geriebteter Aufmerksamkeit. „Die
Traumvisionen ziehen kaleidoskopisch voruber 1 * (Ellis).
Geruchs- und Geschmackstrtlume, die auch nach Ellis selten auf-
treten, zeigen nie eine grosse lntensitat, ohne zu sofortigem Erwachen zu
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fuhren. Aucb hier darf man nicbt die Affekterregungen mit den Sinnes-
empfindnngen verwechseln. Wie Gehdrsempfindungen, so treten im Traam
manchmal wunderbare Geruchs- oder Geschmacksempfindungen anf, die
wir nachber zuruckzurufen uns vergeblich berauhen. Der Ton liegt
auch bier auf dem Affekt, nicbt auf der Gmpfindnng. Die Unlustemp-
findnngen, die durcb Geruchs- oder Geschmacksempfindungen entstehen,
sind noch softener und dann gewohnlicii durch aussere, reale Reize her-
vorgerufen. Sie fuhren meist zum Erwachen, was einen reflektorischen
Schutz des Individuums bedeutet.
Zur Erhaltung des Individuums notwendig, also al6 Schutzreflex
aufznfassen, scheint die Tatsache, dass st&rkere Unlust, welcher Art sie
auch sei, zum Erwachen fuhrt und daher im Traum nicht erlebt wer-
den kann. Die Ausnahme, die die Angsttr&ume bilden, wurde oben
bereits erklftrt.
In Zusammenhang mit dem Zweck, das schlafende Individuum vor
Schaden zu bewahren, durfte auch die besondere Wirkung stehen, die
aussere Reize auf das Tr&umen ausuben. Man kann nSmlich hSufig
feststellen, dass relativ kleine aussere Reize, sei es, dass sie Empfin-
dungen des Tastsinnes, des GehSrs, Geruchs oder Gesichts auslosen, im
Traum ungeheuer stark erscbeinen und schreckhaftes Erwachen herbei-
fuhren. Hierbei spielt die Konstellation eine wesentliche Rolle, durch
welche die prim&ren Qualitaten sich mit Vorsteliungen assoziieren kSnnen,
die affektbetont sind und zu einer Verstarkung der Erregung und damit
zum Erwacben fuhren. Es ist mitunter nicht mdglich jemanden aufzu-
wecken, ohne ihn zu erschrecken, da jeder Ieise Reiz in dieseni Sinne
wirkt. Dies ist der Fall, wenn ein besonderer Grund zur Aufregung
gegeben ist, wie Krankheit eines Angehdrigen oder, wenn der Schlaf
nicht erlaubt war, wie bei Personen, die Rrankenwachen ubernommen
haben, bei Posten, auch bei ubermudeten Kindern in der Schule, bei
Erwachsenen in VortrSgen oder Konzerten.
Diese primaren Affekte, die zum Erwachen fuhren, kann man fug-
lich nicht mehr den Traumen zurechnen. Sie beweisen vielmebr, dass
die Intensitat auch hier eine gewisse Starke nicht uberschreiten kann,
sondern gegen das Wacbbewusstsein stark herabgesetzt ist. Auf die
Verarbeitung der ausseren Reize im Traume wird noch einmal zuruck-
zukommen sein.
Fur die Lustaffekte ist im Traum erheblich mehr Platz als im
Wachen. Sie brauchen nicht als Schutzreflexe zu wirken, man kann
sich ihnen, ohne durch die Fesseln der Vernunft gebunden zu sein, hin-
geben, sie sind nicht nur das Zeichen eines guten Gewissens, sondern
auch des normalen Zustandes der kbrperlichen Funktionen. Daher treten
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Aufsatze zur energetiscben Psyobologie. 95
8ie vor allem dann auf, wenn die gr5sste Mudigkeit fiberwnnden ist and
das Wohlbehagen der wiedergewonnenen Frische sich geltend macht,
wenn man also eine Stunde linger schlafen kann als gewOholich. Auch
hier kann scblieeslich die wachsende Lust zum Erwacben fuhren, z. B.
wenn wir fiber irgend etwas herzlich lachen mfissen oder besonderen
Stolz, lebhafte Frende empfinden. lin allgemeinen kommt es aber auch
hier nur zu Stitamungen, zu allgemeinem Wohlgeffihl, zu angenehmen
Empfindungen, zur Zufriedenbeit mit sich und der Welt. Diesen Tr&umen
gilt vor allem das Lob der Dicbter und Vfllker.
Es ist merkwfirdig, dass gerade sie dem Traumpsychologen Ellis
ganz entgangeu sind. Er widmet zwar den „Gemut$bewegungen der
trftumenden Seele“ ein besonderes Kapitel, in dem aber von Affekten,
besonders von Lustaffekten im Traum sehr wenig die Rede ist. Seine
Beispiele zeigen gerade einen auffallenden Mangel an entsprechenden
Gefuhlen und er hat offenbar nur Unlustaffekte im Auge, wenn er sagt:
n Der Schlaf ist deshalb eine so wirksame Yorbedingung fur das Auf-
treten von Affekten, weil er, wAhrend er der Sinnest&tigkeit eine erheb-
liche Aktivitit und der Phantasie die allergrfisste Freiheit gew&hrt, zu-
gleich die motorische Aktivitit in alien Richtungen aufs stirkste hemint“.
Er ist der Meinung, dass der meist vergebliche Kampf der Bewegungs-
impulse sich in Handlungen umzusetzen, auf das Seelenorgan derart
snrfickwirkt, dass in ihm die reflektorischen Wellen zum Affekt werden!
Dabei kOnnen wobl nur Unlustaffekte zu Stande kommen, die aucb wir
nicht leugnen, denen wir aber ffir das Traumen selbst keine grosse
Intensit&t zusprecbeo konnen. Sobald sie starker werden, ffihren sie
vielmehr zum Erwachen.
Wie die moisten Autoren erkennt Ellis die durch den Schlaf her-
vorgerufene Bemmung vor allem fur die Spontaneit&t an. Dabei uber-
sieht er aber zweierlei.
Erstens siebt er die „motorische Aktivitfit w als den einzigen Aus-
druck der Spontaneity an, w&hrend sie ffir uns nur einen Teil derselben
darstellt. Wir nnterscheiden dio verschiedenen Triebe wie den Wahr-
nebmungs-, Nab rungs-, Bewegungs-, Nachahmungstrieb, auf denen sich
die Aufmerk3amkeit, das Interesse aufbaut, und rechnen vor allem den
sexuellen Trieb bierher, den E. vfillig in dem erotischen Geffihl ver-
scbwinden l&sst.
Zweitens aber unterscbeidet er, zum Teil wohl infolge dieses ersten
Feblers, nicht scharf zwischen Traum und Schlaf. Niemand zweifelt,
dass die Spontaneit&t im Schlafe stark gehemmt ist. Wir wollen nach-
weisen, dass dem Traumbewusstsein st&rkere Triebe normaler Weise
ebenso feblen, wie st&rkere Affekte und Empfindungen. Wir bewegen
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uns docb im Traum uubehindert, bandeln so, wie es uns zweckmassig
erscheint, haben Wunsche und Hoffnungen, Sorgen and Beffirchtungea
wie im Wachen. Hier sind docb Gberall Spontaneitatskomponenten
deatlich erkennbar, ebenso wie Rmpfindungen and Affekte. Nur tritt
es bier bei den Bewegungen eben deutlich zu Tage, dass wir die pri-
mSren und supprimAren Akte mebr vorstellen aLs wirklich erleben, dass
wir die Bewegungen halluziuieren ohne sie auszufuhren. Wie aber bei
alien vorgestellten Rmpfindungen und Affekten stets die primAre Stufe
mitschwingt, so werden auch die Bewegungsballuzinationen von Bewe-
gungsimpulsen begleitet. Sie kdnnen sogar zu irgendwelchen Bewe¬
gungen fubren, die das getrAumte Ziel naturlicli nicht erreicben. Wir
trAumen z. B. eine Rede zu halten und geben in Wirklichkeit nur ein-
zelne unartikulierte Laute von uns. Macht sicb der Widerstand dee
KOrpers bemerkbar, was nicht die Regel bildet, so steigt die Rrregung
des Widens und es tritt Rrwachen ein.
Es kommt uns nicbt darauf an, ob eine Bewegung w&hrend des
Traumes ausgefflhrt wird — eine solche braucht in gar keinem Zu-
sammenhang mit dem Traum zu stehen — sondern ob das Streben nach
Bewegung ais erlebt empfunden wird. Es zeigt sich sofort, dass wir
uns alle Bewegungen nur summarisch vorstellen, uns ais Schwimmer,
Reiter, Flieger trAumen ktinnen, obne aber dabei einzelne Bewegungen
oder gar Bewegungsvorstellungen zu halluzinieren oder zu erleben. Wir
trAumen, irgend wohin geben zu wollen und sind im nAchsten, Moment
bereits dort, wir wunschen etwas zu besitzen oder zu erreichen und es
steht sofort vor unseren Augen, wir sehnen uns nach einem Verstorbenen
und hbren ibn sofort sprechen. Der Trieb hat in diesen Fallen keinen
Grund sich zu verstArken, verschwindet vielmehr mit seiner Befrie-
digung.
Dieser schnellen Befriedigung alien Strebens steht die ebenso prompt
eintretende Erfullung aller Befiircbtungen, des Widerstrebens zur Seite,
Wir versinken, sterbeD, fallen durchs Examen und erleben die unange-
uehmsten Situationen. In diesen Traumen tritt aber das Widerstreben
gegen den Unlustaffekt in den Hintergrund. Es ist so innig mit ihm
verschmolzen, dass es schwierig oder unmOglich ist, im Einzelfall zu
bestimmen, welcbe Qualitat uberwiegt. Wir entscheideu uns hier leichter
fur den Affekt, weil er im Wacben fur uns das Wesentliche ist. Er-
innern wir uns aber, dass im Traum sogar eine Melodie, die uns ent-
zuckt, Nebensache, das Wohlgefuhl Hauptsache sein kann, wahrend wir
im Wachen stets die Tonempfindung ais die den Bewusstseinszustand
cbarakterisierende Qualitat anerkennen werden. Wir erkennen dann
in der Verschmelzung der primaren Qualitaten zu fast unauflOslicher
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Einheit die Wirkung der Hemmung. An den geringen Quantittiten der
peychiscbeu Energie lassen sich die Elemente erlieblich schweror nach-
wcisen als an den grosseren, besonders also als an den Erregungs-
xust&ndeu.
Aoch im Traum zeigt sich ferner, dass die Verknupfung von Yor-
stellungen und Affekten enger ist als die von Vorstellnngen einerseits,
Empfindungen and Strebungen andererseits. Es kommt leicbter zn affek-
tiven Erregungen ala zu solchen der anderen Qualitaten, aber eine ge-
vrisse Grenze kOnnen auch die Affekte nicht uberschreiten, ohne die
Hemmung zu uberwinden und den Schlaf zu stOren. Schon aus diesem
Grande ist ein melancholischer Zustand im Traum unmoglich.
Es treten also die Affekte des Traumes leicht in den Vordergrund
und haften besser in der Erinnerung. Dies darf uns aber nicht dazu
verleiten, die Erregungen des Empfindens und Strebens zu ubersehen,
die im Verhaltais nicht mehr Einbusse an Intensity erleiden als jene.
Dies wird aber fur das Streben gewdhnlich angonommeu und beson¬
ders verfuhrt dazu seine Identifizierung mit der „motnrischen Aktivitat".
Weil Erregungszust&nde beweisen, dass das „erotische Gefuhl“ als
reiner Sexualtrieb vorkommt, wobei das Gefiihl durchans in zweiter
Linie steht und von den begleitenden Umstinden abhfingig ist, sehen
wir auch in Hemmungszust&nden wie dem Traum, wenn auch hier die
Trennung der Komponenten schwieriger ist, das Wesentliche des eroti-
tischen Gefuhls im sexuellen Trieb. Die Auffassung von Ellis steht
mit dieser von Schopenhauer, Jodi u. a. begrundeten Anschauung
in Widerepruch. Fur Ellis scheint das Wollustgefuhl das Wesentliche
des sexuellen Triebes zu sein. Dies entsteht aber erst bei seiner Be-
friedigung, ist nicbt in ihm enthalten. Dasselbe zeigen alle anderen
Triebe z. B. der Nahrungstrieb. Auch bei seiner Befriedigung treten
Empfindungen und Wohlgefuhl auf. Ebenso wie Hunger und Durst
im Traum oft durch halluzinierte Genusse beschwichtigt werden, so
auch der sexuelle Trieb. Dieser spielt im Traum ebenso eine grdssere
Rolle als Hunger und Durst wie im Wachen, weniger viel leicht weil er
der stfirkere Trieb ist, als weil seine Befriedigung schwerer ist.’ Hunger
und Durst, also der Nahrungstrieb, kann sicher ebenso lebhaft werden
und ihn vflllig verdr&ngen.
• Die Griinde der Sonderstellung, die der Sexualtrieb unter den Trieben
einnimmt, sollen hier nicht n&her erOrtert werden. Dass es der Fall
ist, dafdr spricht schon die Tatsache, dass seine Befriedigung mit dem
besonderen Begriff der Wollust bezeichnet wird, wihrend fur die Stillung
von Hunger und Durst so wenig wie fur die Befriectigung des Bewegungs-
oder Wahrnehmungstriebes besondere Ausdrficke existieren.
Anktv r. P»yehl«tri«. Bd. SO. Halt 1 . 7
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Dr. Harry .Marcuse,
Die sexuelle Erregung l&sst besonders deutlich die beiden MOglicb-
keiten der supprimftren and sekund&ren Entstebung erkennen, die wir
ffir alle primfiren Qualit&ten aunehraen. Beide Entstehungsarten kommeo
aach im Traume vor. Gewdlinlich hebt eine stark ere sexuelle Erregung
wie jede andere den Scblaf auf. Dies gescbiebt nicht, wenn die Hem*
mung sebr stark ist, so dass st&rkere Defekterregungen mdglich werden.
Besonders kOnnen Stoffwechselvorg&nge pbysiologischer Art erregend
wirken, wenn der Scblaf infolge abnormer Hemmung z. B. darch Alko-
holgenuss besonders tief ist. Hier kann es zu supprim&ren Reaktionen
(Pollutionen) kommen, die den Scblaf nicbt unterbrechen, aber auch den
Traum nicht beeinflussen, vielmehr unterbewusst bleiben oder nur von
wenigen und undeutlichen Assoziationen begleitet sind. Es sind Defekt-
reaktionen einer zeitig byponoischen Konstitution, die zwar einen gewissen
Grad der Erregung beweisen, aber den unwillkfirlichen Bewegungen
oder Spracbversuchen des Tr&umers analog sind.
Im Gegensatz zu diesen katatonen Traumreaktionen stehen die byste-
rischen. Bei ibnen komrnt es trotz lebbafter sexueller Phantasien viel
seltener zur supprim&ren Reaktion. Auch die sexuellen Akte werden nur
vorgestellt ebenso wie die motorischen oder das Essen und Trinken. Das
Auftreten zablreicber Vorstellungen kann auch bei katatonischen Tr&umen
der Hypernoiker die Erregung transformieren und die Steigerung der-
selben bis zum Erwachen vermeiden. So sind l&ugere Tr&urae erotischen
Cbarakters mdglich, obne dass die prira&ren Qualit&ten st&rker erregt sind.
In diesen Mechanismus greifen aber individuell erworbene Reflexe
nicbt selten stfirend ein, die viel beacbtet werden und die Ansichten
fiber die Sexualit&t im Traume beeinflussen.
Wir mfissen uns vergegenw&rtigen, dass die sexuelle Erregung die
Sinne, das Ffihlen und das Streben in sicb vereinigend normalerweise
die prim&re psychische Kraft auf das Aeusserste in Auspruch nimmt und
das Denken vollig ausscbaltet. Diese Kraft fehlt der sexuellen Erregung
im Traume stets, ebenso wie der Schmerz oder der Gescbmack bei ent-
sprechenden Vorstellungen ausbleibt, ffibren die erotischen Vorstellungen
nur zu einem Lustgeffihi, das die Fortsetzung des Tr&umens begunstigt,
nicht zu sexueller Erregung.
Anders ist es aber, wenn eine Uebererregbarkeit des sexuellen Triebes
bestebt, wie es bei den sogenannten Neurasthenikern nicht selten der
Fall ist. Hier kann es ohne erhebliche Lustempfindung auf dem Wege
der reflektorischen Verknfipfuug zu Pollutionen kommen, die Defekt-
reaktionen darstellen.
Das Auftreten solcher reflektorischen sexuellen Erregung beansprucht
aber wie alle Reflexe keine erhebliche psychische Energie. Es ist ja
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gerade der Zweck oder jedenfalls das Resultat ailer reflektoriscben
Assoxiation, dass Rnergie gespart wird. Die supprim&re Reaktion kommt
infolge der Erregung, in der sich die supprimare Funktion daaernd be-
findet and die sich aach in dem unruhigen, nicht tiefen Schlaf der
Kranken ausdruckt, leichter zu Stande und kann daber auch mit ent-
sprechenden Vorstellungen einhergehcn oder durch diese hervorgerufen
werden. Sie kann also auch im Traum wahrgenommen, erlebt werden.
Trotzdem ist sie aber kein Beweis fiir eino Starke Intensitat des sexuellen
Triebes im Traam, sondern vielmehr fur die enge reflektorische Ver-
bindung der sekandaren und supprimaren Funktion, die hier auf krank-
h after Basis beruht.
Wir kommen also zu dem Schluss, dass aach die sexuelle Energie,
der Sexual trieb wie alle anderen Qualitaten der Spontaneitat im Traum
herabgesetzt, wie alle primaren Erregungen uberhaupt auf ein geringes
Mass bescbrankt ist.
Mit diesem Nachweis kOnnten wir uns eigentlich begnugen, da
nnserer Anschauung nach die sekundare Funktion von der primaren
abhangig ist und daber bei Hemmung derselben selbst hdchstens relativ,
nicht aber absolut erregt sein kann. Wir mussen also folgern, dass auch
die Intensitat der Vorstellungen schwacher als im Wachen ist. Es ban-
delt sicb aber fur uns darum, die Anwendbarkeit des Energiebcgriffs
zu xeigen und damit den Begriflf „ Intensitat der Vorstellungen 1 * zu be-
grunden, der ohne ihn inhaltslos ist. Ausserdem haben wir selbst zu-
gegeben, dass die Vorstellungen im Traume eine grOssere Rolle spielen
als die primaren Qualitaten und es kdnnte daber scbeinen, als ob wir
der gewohnlicheu Anschauung gar nicht so fern standen, die immer
wieder die gesteigerte Phautasie des Traumes als charakteristisch be-
tont. Indem wir ferner die „Gedankenwelt der Traume u naher unter-
suchen, werden wir gleichzeitig feststellen, ob die starke Hemmung, wie
sie der Schlaf darstellt, als ausreichend fQr die Eigentumlicbkeiten des
Traumbewusstseins zu erachten ist, oder ob noch andere Momente dafur
herangezogen werden mussen.
Wesentlich erleichtert wird diese • Untersuchung gegenuber der bis-
lierigen dadurch, dass wir nun nicht mehr allein auf die Einfuhlung
angcwiesen sind, sondern das Verstehen in seine Rechte tritt. Es ist
sicbcr schwerer, sich aus der Erzahlung des Traumes eines anderen ein
Bild davon zu macben, wie stark seine Empfindung usw. gewesen ist,
als diese Erzahlung inhaltlich mit ahnlichen Ereignissen des wirklichen
hebens zu vergleichen, besonders wenn wir zunachst nicht den Zusam-
nenliang, die logische Verknflpfung der Gedanken oder hdhere geistige
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Leistungen ins Auge fassea, sondern die einzelnen Yorsteliungen des
Traumes den analogen des Wachens gegenuberstellen.
Die Tranmvor8tellungen weisen gewbhnlich dem Ichgefuhl gegen-
uber dieselben Beziehungen auf wie die des Wachens. Man kann zwar
triumen, verwandelt oder gestorben zu sein, hat aber stets das Bewusst-
sein der eigenen, ununterbrochen bestehendeu PersOnlichkeit, man trftumt
als das lndividuum als welches man lebt. Wir sehen also onsere Tr&ame
nicht wie kinematographische Bilder an uns voruberziehen, sondern wir
erleben sie, wenn auch dies Erleben sich durch seine geringere Inten¬
sity von dem des Wachens unterscheidet.
Die Tr&ume spielen sich ferner ebenso wie aJle Bewusstseinsvor-
g&nge des Wachens auf dem Untergrunde der Begriffe von Raum und
Zeit ab. Wir konnen diese Grundformen unseres geistigen Lebens auch
im Traume nicht entbehren. Aber wir sehen hier eine audere Art von
Abkangigkeit der psychischen Akte als im Wachen. Unsere Phantasie
nimmt im Traume keine Rucksicht ^Arauf, ob sich die Einzelheiten
r¨ich und zeitlich, also neben und nacheinander ordnen lassen. Was
wir sehen, sehen wir r¨icli, in richtiger Perspektive, uns selbst
finden wir oft nicht als Zuschauer gegenuber einer Buhne, sondern ais
mitten in deu Vorgangen drinstehend und handelnd und, ob die Ereig-
nisse sich Iangsam oder schnell folgen, es fehlt uns me an einer, wenn
anch unzutreffenden, Sch&tzung oder doch einem Bewusstsein der Zeit.
Suchen wir aber tr&umend uber Raum und Zeit ins Klare zu kommen,
so gelingt das nicht, vielmehr wechselt der Schauplatz, vOllig andere
Ereignisse Ibsen die soeben noch vorhanden gewesenen ab, wir werdcn
abgelenkt.
Die Entstehung der Begriffe Raum und Zeit hat Jodi eingehend
erdrtert und gezeigt, dass sie sich aus den prim&ren Qualit&ten ent-
wickelt haben. Sie erfordern eine gewisse Starke der primaren Quali-
taten, zunachst der Aufmerksamkeit, also der Spontaneitat. Diese Starke
ist im Traum nicht aufzubringen und so werden die Begriffe zwar reflek-
torisch mitgedacht, kOnnen aber niemals scharf und deutlich in das
Bewusstsein treten. Sie erfordern ferner ein Vergleichen mit dem Ueber-
und Nebeneinander der Erscheinungen und da dies infolge des Fehlens
der realen Eindrucke im Traum keinen Anhaltspunkt gew&hrt, konnen
sie nicht zur Entwicklung gelangen und keinen Einfluss auf die Asso-
ziation a us ii ben.
Alle Traumerlebnisse entbehren daber gcnauer Raum- und Zeitvor-
stellungen und lassen sich diesen Begriffen nie einwandsfrei unterordneu,
wie es bei jedem Erlebnis des Wachens der Fall ist. Sie stehen nicht
ausserbalb dieser Begriffe — was undenkbar ist — aber sie lassen bei
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naherer Betrachtung erkennen, dass sie die Grenzen nicht achten, die
dem wirklichen Erleben bier gesteckt sind.
Stellt man sich nun vor, dass uns irgend ein Vorgang ohne genaue
Zeit- und Raumangabe initgeteilt wird, so ist es klar, dass eine solche
Mitteilung sebr wenig bestimmt, unscharf, verworren sein muss. Selbst
die M&rchen sind in sich ortlich und zeitlich bestimmt. Zunachst fragen
wir bei allem, wann, wo und in wie lunger Zeit es geschehen ist. Bei
den TrAnmen kCunen wir schon auf diese einfachsten Fragen keine Aus-
kunft erhalten. Oem TrAumenden selbst fAllt dieser Mangel nur selten
auf, er gibt sich vielmehr, ohne an den UnmOglichkeiteu Anstoss zu
oehmen, den Ereignisseu hin.
Die Folge ist, dass an Stelle der durcb die firtlichen und zeitlichen
Bedingungen geschaffenen Ordnung das wirre Durcheinander der Erlebnisse
tritt, wie es viele TrAume darbieten. Trotzdem konnen auch in ihnen
einselne Vorstellungen eine gewisse Scharfe und Lebbaftigkeit zeigen.
Bei naherer Betrachtung ergibt sich aber, dass die Halluzinationen des
Traumes in Ahnlicher Weise wie die von Geisteskranken und die Illu-
sionen Gesunder sich damit begnugen, einen Teil eines Ganzen vorzu-
stcllen, das Uebrige aber reflektorisch zu erg&nzen. So sehen wir von
einem Menschen oft nur das Gesicbt, von einem Saal nur eiue Ecke,
von einer Landschaft nur ein kleines Stuck, GesprAche oder Hand I ungen
bieten sich nur in Bruchstflcken dar. Wird uoser Iuteresse, also die
SpontaneitAt rege, so dass wir genauer hinsehen oder hinh&ren, so spielt
sich bereits ein anderer Akt ab, der ebenso oberflAchlich wahrgenommen
wird, wie die vorigen. Mitunter, besonders kurz vor dem Erwacben,
kritisieren wir die VorgAnge bereits im Traum und suchen nach kausalen
Zusaminenhangen. Ihr Fehlen wird aber meist, nAmlich bei stArkerer
Hemmung, nicht bomerkt.
Dasselbe ist der Fall, was die logischen ZusammenbAnge anbetrifft,
nur scheint hier das Bewusstsein des Unsinns bAnfiger aufzutauchen,
was damit in Einklang stehen wurde, dass abstraktes Denken nur auf-
Ueten kann, wenn eine sUrkere IntensitAt psychischer Energie verfugbar
ist So machen wir uns in n^anchen pathologischen Angsttraumen die
Folgen der getrAumten Ereignisse oft sehr klar und geraten dadurcb
noch stArker in Aufregung.
Trotz dieser Zusammenhanglosigkeit der meisten TrAume bat man
viellach versucht, sie nach ihrem Inhalt einzuteilen. So hat man Wunsch-
Mord-Flug-Fall-Angst usw. TrAume unterschieden, vor allem auch den
•rotiseben Traumen eine grosse Wichtigkeit beigelegt. Dns erscheint
eine solche Gruppierung, die ja auch stets besondere Nebenzwecke ver-
folgt, vbllig verfehlt.
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Die Gedankenwelt der Tr&ume umfasst nicht nur alles, was im
Wachen gedacht werden kann, sondern auch alles das, was im Wachen
aus Grunden des Ort- und Zeitbewasstseins, des kaasalen und logischen
Bedurfnisses sowie der Wirksamkeit &stbetischer, moraliscber, sozialer
Vorstellungen nicht gedacht werden kann, Oder doch sogleich unter-
■ druckt wird. Die unendliche Zahl von Kombinationen, die sich daraos
ergeben, dass ohne jede Rucksicht Bruchstucke von fruheren Gedanken
und Erlebnissen zu nenen Gedanken und Eriebnissen zusammengesetxt
werden, spottet jeder Einteilung. Eine solche w&re auch ebenso zweck-
los, als wenn man die Wahnsysteme Geisteskranker nach ihrem Inhalt
gruppieren wollte.
Die Assoziation der Vorstellung erfolgt im Traum in boohstem Masse
reflektorisoh, ideenfldchtig. Dad arch allein sind die Eigenarten der Tr&ame za
erkl&ren, die Frond als Verdichtnng and Traumverschiebang bezeichnet and
far die er in Zusammenhang mit dem von ihm angenommenen ^Element des
Damonismus" einebesondere n Tranmarbeit“inAnspruch nimmt. Mit diesenAas-
dracken werden die Produkte der kritiklos aneinander gereihten psychiscfaen
Elemente sehr treffend bezeiohnet. Sie sind aber nicht auf den Traam be*
schr&nkt, sondern kommen auoh im Wachen and vor allem bei Geisteskranken
vor. Freud aber fiihrt za ihrer „Erklarong u den „Gesicbtspankt der Zensar
als Hauptmotiv der Traamentstellung u ein und darin konnen wir ihm so wenig
wie in seiner sonstigen Auffassangsweise des Psychischen folgen.
Als Einteilung8prinzip muss auch fur die Traume das den Be-
wusstseinszustand Charakterisierende genommen werden, das ist das
quantitative Verh<nis der psychischen Reaktionen zueinander. Dann
kdnnen wir innerhalb der bereits unterschiedcnen Hauptgruppen, den
katatonischen und den hysterischen Traumen, noch Unterabteilungen
abgrenzen, die zun&chst die prim&ren Elemente und erst in letzter Linie
die Vorstellungen ihrem Inbalte nach berucksichtigen. Wir erhalten so
zwei Reihen von Empfiodungs*, Affekt- und Spoutaneititstr&umen, w&h-
rend alle Tr&ume, in denen Vorstellungen eine wesentliche Rolle spielen,
also die Mord-, Examen-, Wunsch- usw. Tr&ume als Defektreaktionen
einer hysterischen Konstitution aufzufassen sind, die katatonisch oder
hysterisch entstanden sein kOnnen.
So erhalten wir allerdings keine scbarf begrenzten Gruppen, aber
das entspricht wohl dem Wesen der Tr&ume besser als die ublichen
einfachen Inhaltsangaben, die eigentlich nur wie Ueberschriften von
Romanen zu bewerten sind.
Jeder Traum ist ein abnormer Bewusstseinszustand, der nicht ohne
weiteres mit dem normalen, sondern mit den Hemmungszust&nden des
normalen und kranken Wacbbewusstseins verglichen werden kann. Ist
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Aufsatze zur energetischen Psychologic.
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die Hemmang der psychischen Kraft wirklich die einzige Ursache fur
die Eigenart der Tr&ume, so mussen ihre charakteristischen Uerkmale,
die sie vom psychischen Geschehen des Wachens unterscheiden, den
kliniscben Symptomen dieser Hemmungszust&nde entsprechen, und zwar
muss die Aehnlichkeit dem Grade der Hemmung proportional sein. Je
grosser der Defekt der Vorgleichspsychose, desto ahnlicher muss der
Bewusstseinszustand dem des Traumes sein. Starkere Defekte, als sie
der Traum darbietet, mussen sich der Erkennung entziehen, da dieser
bereits mit Bewusstlosigkeit verbunden ist.
Alle Hemmungssymptome sind Ausfallssymptome, also etwas Nega¬
tives. Die Zustande geringer Hemmung zeigen Lucken im Ablauf des
bOhereu psychischen Geschehens, wenn wir sie mit dem normalen Be-
wusstseinszustand vergleiehen. Diese Lucken werden durch reflektorische
Assoziation verdeckt, so dass das psycbische Geschehen auch w&hrend
der Hemmung in ununterbrocbenem Strom dahinfliesst. Die Erregung
sehligt nicht so hohe Wellen wie sonst. Es treten zwar keine Inter¬
val le des Bewusstseins auf, wohl aber Ausfallo der bOcbsten psychischen
Leistungen.
Wir sind gewOhnt, die Taktlosigkeit des im Anfangsstadium befind-
lichen Paralytikers, die Roheiten des Alkoholisten, die Entgleisungen
des Imbezillen als Defekt aufzufassen. In den Tr&uinen zeigt jeder ge-
legentlich derartige Dofekte, so dass er sich nach dem Erwachen ver-
wundert fragt, wie er nur dazu f&big ist, solcbe Dinge zu tr&umen.
Nicht zufallig sind gerade die Frommen so oft im Traume vom Teufel
versucht worden, tr&umen die Keuschen erotische Dinge, die Ehrgeizigen
das Misslingen ibrer Plane. In den Vorstellungen der Frommen spielte
der Teufel eire ebenso grosse Rolle wie die Heiligen,* die Keuschheit
verlangt stindige Bekampfung des Geschlecbtstriebes, der Waghalsige
muss stets das Misslingen befurchten. Im Traume feblt es ihnen alien
an der psychischen Kraft, die Assoziationen wie sonst zu lenken, die
Tricbe nnd Affekte durch Vorstellungen wie Ehre und Schande, Pflicht,
Treue, Ehrlicbkeit usw. zu uberwinden. Die Einschrankung der Asso-
ziation verhindert das „Spiel der Motive", die Kraft der einzelnen Vor-
stelluugen ist nicht ausreichend, am die entsprechenden Gegenimpulse
anznregen, es feblt die Voraussicht, die Kritik, die Ueberlegung. So
werden Sitaationen, Handlungen, Geschehnisse, die wohl mal gehOrt,
geiesen oder vorgestellt worden sind, als eigene Erlebnisse getraumt.
Das Fehlen moralischer, asthetischer, sozialer Begriffe wird beim
Wachenden an Aeusserungen oder Handlungen entgegengesetzter Natur
erk.mnr. Das Zentralnervensystem des Schlafenden ist ebenso wenig
wie das des psychisch Defekten zu den HOchstleistungen f&big, die nur
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im gesuuden und starken Geist gedeihen und wirken konuen und dessen
beste Kennzeicben Bind. Das Traumbewosstsein verfugt uicht fiber die
Gedanken, die die Individualist, den Charakter des Wachenden aus-
maclien, seine Konstellation bilden, solidern die Vorstellungen treten
ohne die gewohnten Assoziationen in seinen Kreis. So tr&umt der Beste
gelcgentlich unmoralich, un&stbetiscb, unsozial.
Die Tatsache wird jeder zugcben, nicbt aber die Annahme, dass
sie auf Herabsetzung der psychischen Kraft beruht. Man nimmt viel-
nichr an, dass in diesen lnhalten, selbst wenn sie dem Cbarkter des Men-
schen in keiner Weise entsprechen, unbewusste Wunsche in das Blick-
feld des Bewusstseins treten, die sonst durch die Zensur der Assozia¬
tionen verdrfingt oder uuterdruckt werden. Auch Magenrerstimmungeo
und andefe kfirperliche Stfirungen werden fur den Inbalt der Traum-
vorstellungen verantwortlicb gemacht. Jedenfalls ist man geneigt, den
TrSumen in Bezug auf deu Cbarakter mebr zu glauben als dem Wachen.
Die Hemmung aber kann darum nicbt die Ursacbe der Tr&ume sein,
glaubt man, weil ein uuedler Gedanke nicbt weniger psycbische Kraft
▼erbrauchen dfirfte als ein edler. Wenigstens scbeint dies vielen eine
unbeweisbare Behauptung.
Sicher gebort zum Planen und zur Ausffihrung vieler Verbrechen
ein grosses Mass psycbischer Energie und es wire eine Verkennung
dessen, was uns die t&gliche Erfabrung lehrt, wenn wir dies dem Ver-
brecher absprecben wollten. Die Quantitftt oder Intensitat der Kraft,
die fur einen Gedanken oder fur eine Handlung, fur eine Empfindung
oder ein Geffihl notnendig ist, kann nicht von dem Inbalt des psychi-
scben Aktes abb&ngig sein. Das - wird aber auch von uns nicht be-
hauptet und trotzdem glauben wir, einen urs&chlichen Zusammenhang
zwischen Hemmung und Verbrechen (um es kurz zu sagen) nachweisen
zu kdnnen.
Nicbt die absolute psychisclie Energie ist fur uns allein mass-
gebend, sondern das lntensitfitsverh<nis der primSren zur sekundaren
Funktion. Dies Verb<nis wird durch Hemmung verkndert. Wahrend
die Erregung ein etwa vorhandenes Missverhftltnis nur vergrSssert und
starker in die Erscheinung treten lSsst, bewirkt die Hemmung eine Ver-
minderung der hOheren Funktionen, die sicb desto starker fuhlbar macht,
je hdhere Anforderungen an die psychische Energie gestellt werden, und
die daber die hocbsten Leistungen zuerst schadigt. Es bleibt gewisser-
massen nocb geuug Strom im Hauptkreis, wahrend der im Nebenkreis
fast versiegt. Die hCheren Funktionen sind daher das bessere Reagens
auf psychische Hemmung als die primare Stufe, abgesehen davon, dass
sie leichter zu erkennen sind.
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Aufsatze zur energetischen Psyohologie.
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Das sind theoretische Erwagungen, die sich aus unseren Voraus-
setxungen ableiteu lasseu. Sie wiren wertlos, wean sie nicht durch die
Erfahrung stetig bewiesen wfirden. Niemand wundert sich, dass ein
verblodeter Geisteskranker an Kunst und Wissenschaft keine Preude hat
und doch mit sichtlichera Genuss isst und trinkt und raucht. Hat er
die Ideen, von denen er frfiher beherrscht war, nur jetzt so griindlich
verdr&ngt oder hat er sich vielleickt die asthetischen Genfisse fruher
nur eingebiidet? Kommt jetzt sein eigentlicher Charakter ans Licht?
1st seine psychische Kraft unverfindert geblieben und wendet sich nur
anderen Objekten zu?
Wir nebmeu im Gegeuteil an, dass die Hemmuug aus der fruher -
hyparnoischen oder normalen Konstitution eine imbezille gemacht hat.
Die psychische Kraft ist gleicbzeitig unter die Norm gesunken. (P<1)
und die primilre Puuktion hat das Uebergowicht fiber die sekundfire
•rlangt (P>S).
Das letzte kann der Fall sein, obne dass geistige. Erkrankung vor,
angegangen und ohne dass eine Verringerung der psychiscben Kraft
vorhanden ist. P kann grdsser als normal und doch grosser als S sein,
ee kann eine relativ imbezille Konstitution vorliegen. Diese Konsti-
tution, die h&ufig bvsonders begabte Heuschen besitzen, mfissen wir
auch fflr eine Anzahl von Verbrechern annehmen. Es sind stets solcbe,
die durch das Raffineroent, die Geschicklichkeit, die Energie ihrer Un-
taten Erstaunen erregen und das Bedauern, dass sie ihre Geistesgaben
nicht auf andere Weisc verwerten. Infolge ihrer Konstitution hat sich
ihnen aber ein grosser TeiI der Vorstellungswelt des Normalen gar nicht
•rscblosseu, die hdheren BegrifFe, die das Leben des Normalen beherr-
schen, sind ihnen leerer Scball. Nicht das Fehlen von Kenntuissen oder
der Mangel an kunstlerischem oder wissenschaftlichem Interesse, nicht
irgendwelche Defekte anderer Art sind ffir den Imbezillen so charak-
teristisch wic der Egoismus. Er ist egoistisch, das heisst doch: seine
Empfindungen, seine Gefuhle und Triebe sind ihm mehr als die der
MiUnenschen, sie sind stets in ihm lebendig, sind pr&sentativ, kfinnen
sugar st&rker ausgebildet seiu als normal. Die Empfindungen, Gefuhle
and Triebe anderer kann er sich dagegen infolge seiner Konstitution
weniger deutlich vorstellen als ein normaler. Der Hypernoiker dagegen
kann sich ganz andere in die Seele des Anderen hinoinversetzen und
ist daher Altruist. So zeigt sich hier eine gewisse Abh&ngigkeit der
QualitAt der psychischen Akte von der Quantitit, d. h. von dem Ver-
hlltnis P : S, von der Form.
Wir sehen ferner, dass die hdheren BegrifFe dem Kinde fremd sind,
und erst durch Erziehung in ihm zur Entwicklung gelangen. Das Kind,
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das seine Pnppe xerbricht, urn ihr Inneres kennen zu lemen, oder dem
Sehwesterchen ins Auge sticht oder eine Fliege zerreisst, handelt genaa
wie manche Verbrecher aus egoistischen Motiven. Nur ist der Mangel
an Vorstellangen hier nocb normal, der Verbrecher ist in seiner psychi-
schen Konstitution Kind geblieben. Beim Kinde ist die sekundare Funk-
tion im Verhaltnis zu der des Erwacbsenen nicht entwickelt, defekt,
bci dem Verbrecher ist sie auf dieser Stufe geblieben, beim VerblOdeten
wieder zu ihr binabgesunken. Alle drei Kategorien sind gewalt-
tatig, grausam, roh, handeln ohne die Folgen zu bedenken, ohne Deber-
legung.
Es sind dies die Cbaraktere, bei denen niemand das Fehlen der
hOheren psychischen Akte auffallend findet und bei alien dreien treten
die unsozialen Eigenschaften oft deutlich hervor! Wir fubren diese
Uebereinstimmung auf das Ueberwiegen der primaren Funktion zurfick,
die 8ich auch fur einen grossen Teil der Traumzust&nde ergeben hat
Die hyponoischen oder imbezillen Konstitutionen wie die relativ imbe-
zillen Konstitutionen treten also in den Tr&nmen in analogen Formen
auf, nur dass die Intensitat der primaren Funktion im Traum erbeblich
geringer ist. Dadurch wird die Unterdruckung der bdberen psychischen
Akte noch rollkommener und das Hervortreten der egoistischen Motive
nocb deutlicher. Die Trkume ubertreffen in der Tat nicht selten die
Wirklichkeit in Bezug auf den Mangel der fisthetischen, moralischen
nnd sozialen Gefuhle.
Dieser Mangel ist allerdings nicht das einzige Merkmal der zum
Vergleich herangezogenen Beispiele, wenn er auch ein sehr wesentlicbes
darstellt. Er ist erst die Folge anderer Symptome wie der Stdrung der
Merkfahigkeit, Aufmerksamkeit, Konzeutration, der Logik und Kritik.
Die Moral ist stets vom Verstand abhangig, nicht von den erworbenen,
angelernten Kenntnissen, sondern Von der geistigen Energie, die man
gewdhnlich als deu gesunden Menscbenverstand bezeicbnet. Jedes Qu&nt-
cben, das hier fehlt, lasst dort eine grosse Lucke entstehen. Das ist
eine altbekannte Erfahrung.
Fassen wir nun die Zustande ins Auge, die hier einen Defekt er-
kenneu lassen, also die eigentlich Schwachsinnigen, so lasst sich leicht
zeigen, dass alle Symptome, die sie bieten, auch den Traumen eigen-
turn I icli sind. Wir kounen uns im Traum nicht konzentrieren, die Asso-
ziation nicht willkurlich lenken, Zusammenhange nicht erfassen. Wir
lachen fiber Dinge, die' uns nachher durchaus nicht komisch oder witsig,
sondern unverstandlich, blddsinnig vorkommen. Ebenso kfinnen wir im
Traum heftig weinen und die RGhrung beim Erwachen nicht begrundet
finden. Es fehlt uns im Traum die Mdglicbkeit der Kritik.
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Aufs&tze zar erorgetischen Psychologic.
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Die Hemmung 1st im Traum so erheblich, dass uns im t&glichen
Leben keioe ibnlichen Bewusstseinszust&nde entgegentreten, so dass wir
bier die Erfahrongen der Psychiatric zu Hilfe nehmen mussen, am ge-
eignetes Vergleichsmaterial za gewinnen. Mehr Aebnlicbkeit mit dem
Scbwachsinn leichteren Grades zeigen naturgem&ss die Rnnudungszu-
stftnde Normaler.
Die Ermudung setzt jedem psychischcn Geschehen gewisse Schran-
ken. Nickt nor der Wille erlahmt, sondern auch das Empfinden und
Ffihleu. Ebenso wie wir uns nur eine beschr&nkte Zeit zu kfirperlichen
Anstrengungea Oder zur Aufmerksamkeit zwingen kdnnen, versagt auch
onsere Ffthigkeit zu sehen und zu hfiren, zu geniessen und zu leiden.
Wir stumpfen schneller oder langsamer ab und kOnnen die Intensitftt
der anf&nglichen psychiscben Energie nicht mehr aufbriagen. Der Kraft-
begriff ist hier bezeichnender Weise allgemeiuer Spracbgebrauch.
Ebenso wie zu den prim&ren, einfachen Akten bedurfen wir auch
zu den sekund&ren, komplexen Funktionen psychischer Energie. Der
Genus8 eines Kunstwerkes unterliegt ebenso der Ermudung wie der einer
Speise, Lust und Leid wird gemildert, Ehrgeiz und Widerstand er-
seblaffen. Hier sehen wir, dass die hOehsten Akte die meiste Energie
gebrauchen. Nur wenn wir ausgeruht, kfirperlieh nnd geistig frisch
dnd, k&nnen wir die psychische Kraft aufbringen, die zum Verstflndnis
eines wissenschaftlichen Werkes, zur Wurdigung einer Kunstleistung, zu
iusserster Pflichterfullung notwendig ist. Nur dann sind wir Herr unser
selbst, wenn wir uneingeschr&nkt fiber unsere psychische Kraft verffigen
kfinnen.
Jede krankhaftc Erregung beeinflusst das psychische Geschehen
nngunstig/ weil die Energie an falscher Stelle verbraucht wird, jede
Hemmung, weil sie das Niveau der psychiscben Leistung herabdrfickt.
Das Kesultat ist in mancher Beziehung das gleiche, die Steigerung der
reflektori8chen Assoziationen.
Der angstvoll Wartende hfirt und sieht leicht Gespenster, aber auch
der ErschOpfte wird leicht das Opfer illusionfirer Sinnestfiuschungen.
Die Erwartung, ein bestimmtes Wort vor sich zu haben, ffihrt zum
Cebersehen sinnentstellender Dmckfehler, ebenso verschreibt Oder ver-
spricht sich der Ermfidete fifter als der Normale. „Es irrt der Mensch,
solang er strebt u , d. h. solange er sich von HofTnungen und Wfinschen,
too Angst and Sorge, Liebe und Hass treiben I asst, steht er der Aussen-
welt nicbt objektir gegenfiber. Aber ebenso wenig erkennt der die
Wahrheit, der sie nicht mit der ganzen Kraft seiner Seele sucht. Der
Ermfidete verliert den Faden, seine Gedanken ordnen sich nicbt mehr
einer Zielvorstellung unter. Nebens&chliches, fruher Erlebtes dr&ngt
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sick ungewollt auf and ienkt ibn ab. Es ist zweifellos schwerer, sich
von den fiusseren Eindrficken, von den prasentativen, stets auf uns ein-
sturmenden Keizeu zu emanzipieren and ihrer ungeacbtet sich in ab-
strakte Dinge zu vertiefen, als sich ibnen hinzugebcn. Schon bei ge-
ringer Hemmung sind wir dazu nicht mehr f&hig, sondern werden durcb
Gerauscbe Oder Empfindungen, die vorher nicht bemerkt wurden, durch
Affekte und Strebungen, die wir unterdrucken konnten, gestfirt.
Solchen Stdrungen unterliegt der Schwachsinnige stftndig. Was bei
dem Normalen nur Anzeichen von Ermudung bedeutet, charakterisiert
dauernd sein Geistesleben. Und in viel hoherem Masse treteu diese
Mangel des psychischen Geschehens in den Tr&umen hervor.
Je geringer die psychische Kraft, desto wirksamer werden die
reflektorischen Akte, desto vollkommener werden die hokeren Funk-
tionen ausgeschaltet.
Wir sehen es physiologisch beim Tier, beim Kind, beim Ermudeten,
wir finden es beim angeborenen Schwachsinn wie bei dem erworbeoen,
ob die Hemmung durch Alkohol, durch Krankheit oder durch Alter
hervorgerufen ist und wir finden, dass die charakteristischen Symptome,
die diesen Zust&nden gemeinsam sind, die wesentlichen Eigentumlich-
keiten der Trfiume bilden, und dass sie sich hier in verst&rktem Masse,
gleichsam vergrdbert zeigen.
Man sollte meinen, dass diese Uebereinstimmung, die sich aus den
Tatsachen ergibt, die jeder kennt, deutlich genug beweist, dass der De-
fekt das Wesen der Trkume bedingt und es erscheint uberflnssig, diese
Dinge noch eingebender auszufuhren.
Warum halt man aber diese einfache Erklkrung der Trfiume nicht
fur ausreichend, warum will man in den Tr&umen durchaus etwas Beson-
deres sehen, was der Erforschung, der Erklarung und Deutung bedarf?
Hierfiir gibt es verschiedene Grunde.
„Findet das Wesen des Traumes und ihr werdet alles, was man
fiber Irresein wissen kann, gefunden haben u meinte Hughlins Jack-
son. Er wollte also von den Tyumen zum Verstandnis der Psychosen
gelangen, wahrend wir den urogekehrten Weg fur gangbarer halten und
die Traume den Defektzustanden angliedern. Immerhin zeigt das Stre-
ben, von hier aus den Geisteskrankheiten n&herzukommen, dass man
die vorhandenen Aehnlichkeiten erkannte und die Hoffnung ist verstfind-
lich, weil der Traum schnell vorubergeht und mitgeteilt oder selbst
erlebt werden kann. Man erkannte aber nicht, dass er dem Studium
schwerer zug&nglich ist, als Erregungszustfinde und dass der Erfolg aus
diesem Grunde ausbleiben musste. Sobald man sich die Wirkung der
Hemmung auf das psychische Geschehen klar macht, muss die Aunabroe,
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aus Triumen mehr als a as Wachzustanden uber das eigene oder fremde
Seelenleben erfabren zu kOnnen, hinf&llig werden.
In einer Zeit, als man den Geisteskranken von Dftmonen beherrecht
glaubte, musste man konsequenter Weise fur den Traum fibematurliche
Kr&fte in Anspruch nehmcn. Und es dfirfte der von hier stammende
Rest von Aberglauben sein, der noch jetzt immer wieder mit der Deu-
tung der Tr&time dem Unergruudlichen naher zu kommen gianbt. Dieser
Drang nacli Erkenntnis ini Verein mit der Verkennung dessen, was er-
kennbar ist, l&sst immer wieder neue „Erkl&rungen“ des Traumes ent-
stehen and Anh&nger gewinneu.
Wir wollen nur einige der wicbtigsten Irrtfimer, die hierbei unter-
laufen sind, hervorheben.' Wir haben zu verstehen gesucht, wie es
fiberhaupt dazu kommt, dass wir tr&umen, d. h. dass w&hrend des
Scblafes psychische Reaktionen von besonderer Eigenart auftreten. Wir
sahen, dass neben der Hemmung Erregungen auftreten kOnnen, die vor
allem auf supprim&re, seltener auf sekundfire Reize zurfickzuffiliren sind.
So allgemeiu wird die Frage gewOhnlich nicht gestellt, sondern
man versucht immer wieder zu ergrunden, warum gerade der bestimmte
Inhalt getrfiumt worden war, und versucht, ihn auf einen.bestimmten
Reiz zurfickzuffihren. 1
Es ist dies derselbe Fehler, den die Psychiater begehon, wenn sie
bestimmte klinische Symptome, wie einzelne Gruppen von Wahnideen,
von Halluzinationen u. a. ffir bestimmte Gruppen von Krankheiten als
cbarakteristisch ansehen. So erschien der Grfissenwahn ffir Paralyse,
Verfolgungsideen fur Paranoia, Gebfirshalluzinationen ffir Dementia prae-
eox zu sprechen. Es soli nicht bestritten werden, dass dies bis zu einem
gewissen Grade auch der Fall ist. Aber man darf nicht fibersohen,
dass die masslosesten Grfissenideen bei Paranoikern, stark angstbetonte
Verfolgungsideen bei Paralytikern, GehSrsballuzinationen bei psycho-
genen Zustanden ebenso hfiufig sind. Es ist noch immer zu wenig be-
tont worden, dass dasselbe Symptom durch sehr verschiedene Reize zu
Stande kommen kann und umgekehrt, derselbe Reis sehr verschiedene
Symptome hervorzurufen vermag. Die Wirksamkeit des Reizes ist in
weitera Umfang von der Konstellation abhfingig und es gibt keinen Vor-
stellungsinbalt, der ffir einen bestimmten Reiz spezifisch wire.
I)iese Tatsache ist auch bei den Traumdeutungen nicht beobachtet
worden. So sieht Ellis z. B. die Ursache ffir einen Mordtraum in dem
Genuss von Fasanenbraten! „Trfiume von Hord, bevorstehendem Tod
oder fihnlichen tragischen Situatiouen, scheinen gewdhnlich ihren Ur-
sprung in Verdaunngsstfirungen zu haben. Es kann kein Zweifel be-
steheo, dass der Hageo einen ungeheueren Einfluss in dieser Hinsicht
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(n&mlich anf Gemfitsbewegungen) ausubt 1 *. Es ist eine volkstumliche
Anschauung, die dem Magen besondere Wichtigkeit fur die Traume bei-
misst, die anderen Organe Herz, Lunge, Leber, Niere, Darm usw. aber
gar nicht berficksichtigt.
KOrperlicbe Storuugen kfinnen die Scblaftiefe vermindern and da-
durch das Zustandekommen von Trfiumen begunstigen, sie haben aber
keinen Einfluss auf den Inbalt der Trfiume, dieser ist vielmebr von der
(Constellation des Individuums abhfingig. Ebenso wenig kfinnen wir
demgemfiss den Yer&nderungen der Atmung und der Herztatigkeit im
Schlaf, auf die Ellis die Flug- und Falltrfiume zuruckfuhrt, diese
Bedentung zuschreibeu.
Kinder traumen and ere Tr&ume als Erwachsene, Frauen andere ala
Manner, Bauern andere als Kaufleute usw. Was b&ufig oder intensiv
das Indiviuum beschaftigt bat und daher am meisten Beziehungen zu
den verschiedensten Assoziationsreiben besitzt, wird leicbter und haufiger
reproduziert werden, als flfichtigo und oberflachliche Erlebnisse. Je
mebr Vorstellung^material vorbanden ist, desto wecbselnder, je weniger
desto einffirmiger muss sich der Inhalt der Traume gestalten. Daher
haben Kinder meisteDS einfache n Wunschtrtlume u , sie tr&nmen die Er-
fullung ihrer Wfinsche.
Was die Assoziationen miteinander verknupft, ist infolge der Hem-
mung niebt Logik oder Zielvorstellung, sondern oberflachliche Aehnlich-
keit, Gleichklang, Oebereinstimmung in Einzelheiten wie Farbe, Geruch.
Bewegung, Affekt. Es ist die Ideenflucht des Scbwacbsinns, der wir im
Traum unterliegen.
Die Beispiele, die Ellis selbst anfiihrt, urn Zusammenh&nge zwischen
Reiz und Trauminbalt nachzuweiseu, zeigeu sebr deutlieb, dass dieser
Zusammenhang uur ein lockerer ist. So fuhrt er als Folgen des Ge-
rausches, das sturmisches W'etter vcrursacht, an: 1. eine Dame traumt,
dass ihr kleiner Hund eine steile Klippe binunter gefallen ist und sie
sein Winseln hbrt. 2. Zwei Freunde traumen gleichzeitig (!), sie wan-
derten naebts zwischen hohen Klippen. 3. E. selbst traumte in einer
sturmischen Nacht, er bdre einen Teil von Gluck’s Alceste. 4. E. traumte,
einem Schauspiel von etwas zweifelhaftem erotischen Charakter beizu-
wohnen. 5. Traum von einem furebtbaren Zyklon, bei dem Blitze eine
Rolle spielen, Fragmente von Hausern, allerhand Triiiumer, eine Frau
durch die Luft segelte. 6. E. irrte mit einem befreundeten Arzte durch
Gange, Treppen, fiber Plattformen.
Ellis begnugt sich damit, darauf hiuzuweisen, dass alle diese
Traume durch den akustischen Reiz des Sturmes hervorgerufen seien.
In einem fruheren Kapitel behauptet er im Gegensatz dazu, „dass die
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Aofsatze zur energetisehen Psychologic.
Quelle des Triumens stets central, rein psychisch“ sein mfisse. „Der
Sonnenstrahl, der auf den Tr&umenden f&llt .... kann seinen Traum
ebenso wenig erklfiren wie der Klingelzug des Brieftr&gers den Inhalt
der Briefe, die er bringt, erklftrt 44 . Die Traumwelt ist ihm doch eine
Welt fur sich, „ein dllmmriges Schattenhaos, in das kein Strahl aus der
fiusseren Welt des wachen Lebens
Die Frage ist ofifenbar, wie wirken fiussere prim&re Reize auf den
Inhalt der Tribune and es entspricht der Unsicberheit der Anschauungen
bierfiber, dass Ellis einmal jeden Einflass leugnet, ein anderes Mai die
Terschiedensten TriLume auf deuselben Reiz beziebt.
Man hat anch experimentell die Frage zu lGsen vorsucht. Ellis
berichtet fiber einen Versuch des amerikanischen Professors W.S.M onroe:
„20 Studentinnen bekamen in 10 aufeinander folgenden N&chten eine
serdrfickte Gewfirznelke abends auf die Zunge gelegt. Von 254 Tr&umen,
die unter diesen Umst&nden auftraten, waren 17 Geschmacks- und 8 Ge-
sichtstr&ume, 8 von diesen Tr&umen bezogen sich auch auf Gewurz-
nelken. Das Gewurz beeinflusste auch Traume anderer Eategorien; so
trfiumte eine Studentin infolge des breuneuden Geschmacks auf der
Zunge, dass das Haus brennt“.
Diese nngenauen Angaben lassen unseres Erachtens wenig Schlusse
zu. Wieviel Studentinnen batten die Geschmacks- bzw. Geruchstr&ume?
Waren diese besonders nervOs, hypernoisch, so dass das Experiment
mehr Erwartung und damit st&rkere Erregung bei ihnen hervorrief als
bei den anderen? Was tr&umten die anderen? Vielleicht w&ren hiW
doch noch fieziehungen nacbwcisbar gewesen. Wie viele tr&umten gar
nicht? u. a.
Der angenommene Zusammenhang „brennender Geschmack, brennen-
des Haas" erscheint sehr zweifelhaft, denn das brennende Haus ent¬
spricht wohl weniger einer Geschmack- als einer Lichtempfiudung. Hier
ist die Association, wie sie im Wachen sein kOnnte, einfacb dem Traum
untergcschoben.
Aus dem Mitgeteilten geht nur bervor, dass die direkte Beein-
flussung der Traume durch prim are Reize sehr gering ist und dass ver-
scbiedene Individuen auf denselben Reiz sehr verschieden reagieren.
Pur Ellis ist das gleichzcitige Auftreten desselben Traumes bei zwei
Freunden der Beweis, dass in diesem Fall der Sturm als Ursache anzu-
sehen ist, w&hrend wir darin nicht mehr als einen Zufall erblicken
kfinnen, abgesehen davon, dass sicb bei genauerer Analyse jedenfalls
grosse Verschiedenheiten der Sturmtr&ume herausstellen wurden.
Er beacbtet zweierlei nicht, n&mlich erstens, dass die Hemmung
auf die psychiscbe Kraft je nach ihrem Grade und ihrer Art verschieden
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Dr. Harry Marcuse,
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wirkt und die Erregung infolge dessen verschiedene Richtungen ein-
schlagen und zu verschiedenen TrSumen fuhren muss. Zweitens wird
derselbe Reiz auch bei Voraussetzung gleicbstarker und gleichartiger
Hemmung (die nicbt nachweisbar ist, die Spontaneit&t kann z. B. st&rker
gehemmt sein als Empfindung und Geffihl usw.) bei verschiedenen In-
dividuen oder auch bei demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten
zu inhaltlich verschiedenen Traumen fuhren. Denn es kann nicht znrei
Individnen geben, die in ihrer (Constellation so vfillig ubereinstimmen,
und auch die Ver&nderungen der Ronstellation des Einzelnen im Laufe
der Zeit sind so weitgehend, dass derselbe pr£sentative Reiz nicht zwei-
mal auf genau die gleiche Ronstellation des Bewusstseinszustandes
treffen kann.
Ellis zieht ebeu weder den Bewusstseinszustand in Betracht, auf
den der Reiz trifft, noch berucksicbtigt er die reflektorische Assoziation
primarer und sekundarer Elements. Bedenken wir ferner, wie ungenau
die Erinnerung an Trkume stets sein muss, so k&nnen wir variierend
sagen: „Wenn zwei dasselbe tr&umen, ist es nicht dasselbe u und jeder
wird aus eigener Erfahrung hinzufugen: „wenn einer zweimal dasselbe
trSumt, ist es auch nicht dasselbe u .
Der aussere Reiz, der den Schlafer trifft, z. B. ein Sonnenstrahl,
wird zunacbst eine Empfindung ausldsen, an diese schliesst sich die
Vorstellung, wic Feuersbrunst — Sonnenaufgang — nun tritt ein affektives
Element Angst — Preude hinzu und verbindet sich mit weiteren Vor-
stellungsreihen. Der Reiz bewirkt eine Erregung, die in verschiedener
Weise ausstrahlt. Er erscheint im Traume oft verstarkt, einmal infolge
der illusionkren Vergrosserung oder auch, weil er im Verhaltnis zu den
sonst vorhandenen psychischen Akten eine starke und besonders deut-
liche Reaktion hervorruft, weil ihm also gewissermassen die Ronkurrenz
fehlt. Er fubrt aber sofort zum Erwachen, wenn die Erregung wirklich
einen gewissen Grad erreicht.
Zusammenhange zwischen prasentativen Reizen und Yorstellungen
kdnnen also vorkommen, aber die Einzelglieder in der Rette der Asso-
ziationen, die den Traum zusammensetzen, kdnnen wir trotzdem in ihren
kausalen Zusammenhangen nur selten erfassen.
Das kdnnen wir aber auch bei den Reizen, die das psychische Ge-
scbeben des wacben Zustandes beeinfiussen, nicht. Wir mussten dazu
nicht nur gendu alle Eindrucke kennen, die das Individuum kberhaupt
erlebt hat, sondern auch alle Gedanken, die es je gedacht hat. Ferner
mussten wir im Stande sein, auch die Intensity jedes fruheren Aktes
in Rechnung zu setzen. Erst dann wurden wir-die vorliegende Kon-
stellation kennen.
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Aufsatze zur energetischen Psyohologio.
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Eine so eingehende Kenntuis kann niemand von seinem eigenen
Geistesleben erwerbeo, viel weniger von dem eines anderen. Wie viel
hier Vererbung bedeutet, was auf Gewotinheit, Erziehung, Uebung zu-
ruckzufuhren ist, was also reflektorisch gescbiebt und was unter Leitung
des Willens, das kGnuen wir oftmals in nnserem eigenen Fuhlen
and Denken nicht auseiuanderhalten, viel weniger bei den wenigen uns
erkennbaren psychiscben Reaktionen eines anderen Individuums oder
gar bei einera Hemmangszustand wie dem Traum entscheiden.
Es ist also zuviel verlangt, wenn wir den lnhalt der Tr&ume bis
ins Eiuzelne erkliren zu mussen glauben, indem wir die assoziativen
Znsammenh&nge zwiscben Reiz und Vorstellungen samtlich klarzulegen
versucben. Das Strcben danacl) ist aber nicht nur aussichtsios, es
sebliesst auch die grosse Gefahr der Selbstt&uchung in sich. Was m6g-
licb ist, wird leicht fur wahrscheinlich, das Wahrscheinlicho fur gewiss
gehalten, wenn es sich dem einfugt, was man gem beweisen mochte.
Die meisten, wenn nicht alle Psycboanalysen der Freudianer, siud bier-
nach zu bewerten. Jeder kritisch Urteilende wird bei ihrer Lekture zu
dem Schlosse kommen, es kann wohl so sein, es kann aber auch sich
ganz anders verhalten (abgesehen von den hautigen Fallen, in denen
mit Hilfe der „Syrobolik“ das unsinnigste Zeug als wissenschaftliche Tat-
sache vorgebracht wird). Die Suggestion der Versuchsperson bzw. des
Patienten oder die Autosuggestion der Forscher liegt oft klar zu Tage
and maebt den Erfolg der analytiseben Methode sowie die fanatische
Bcgeisterung ffir sie verstandlich. Auch der heilige Rock von Trier
heilt und begeistert maneben, der die geeignete Konstellation mitbringt.
Void Stand pun kt der energetischen Theorie mussen wir uns damit
begnugen. die Schwierigkeiten zu erkennen, die einer so genaueu Ver-
folgung der Assoziation im Wachen und im Traume im Wego stehon,
and mussen sie praktisch fur unuberwindlich erklSren. Die eingehendste
Analyse kann nur einen kleinen Ausscbnitt des gesamteu Bewusstseins-
mstandes aufzeigeu und nur einzelne engbegrenzte Anfgaben experi-
mentell mit Erfolg in Angriff nehmen. An die Stelle von unbewiesenen
and unbeweisbaren Behauptungen setzen wir ein bescheidenes aber be-
grundetes Ignoramus.
Ks konnte manchem erscheinen, dass mit diesem Verzicbt der in-
teressanteste und wichtigste Teil der Psychologie, nftmlicb die Ueber-
tragung ihrer Ergebuisse auf den Einzelfal! und das Individuum vGllig
fortfallt. Man kann die Art, wie gewisse Freudianer Soelenstudien
treiben, unkritisch oder unsympathiscb finden, ohne dass man sich mit
der Feststellung von Form uud Starke der psychischen Akte ohne ROck-
riebt auf ibren lulialt begnugen will.
Artfcr* t. Pfjeliiatri#. Bd. 60. H«ft 1. g
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Dies geschiebt nun keineswegs von Jodi oder der auf seiner Lehre
aufgebauten, energetiscben Theorie. Aber im Gegensatz zu alien an-
deren Psychologen weist Jodi durch seine Einteilung des Psychischeo
in verscbiedene Stufen der Form alter psychischen Akte den Plalz an,
der ihr gebuhrt. Er erkl&rt das Psychiscbe, indem or es den letzten,
nicht weiter erklarbaren Prinzipien, der Energie und Eutwicklung, unter-
ordnet. So ist seine Psycbologie einfacher als die anderer Autoren,
aber einfacher nur in Bezug auf den Rahmen, der das aufs feinste aus-
gearbeitete Bild umgibt. Dieser hindert nicht, sich in Einzelheiten zu
versenken, er verhindert aber die unwissenschaftlichen Spekulationen,
die sich gerade in der Psychologio und nicht zum wenigsten auf dem
Gebiete der Traume breit machen.
Die Beachtung der Umgestaltung bezw. der Erweiterung, die der
Begriff der Assoziation durch die Annahme primarer und supprim&rer
Elemente erfahrt, lasst schon manches verstindlicher erscheinen, wofur
man bisher nur neue Worte, aber keine klaren Begriffe geschafifen hat.
Aus der Erkenntnis des stufenweisen Aufbaues. des psychischen
Gescbehens zieht die energetiscbe Theorie den unabweisbaren Schluss,
dass nur die hOheren psychischen Akte dem Verstehen zug&nglich sind,
das Wirken der psychischen Kraft auf ihrer niederen Entwicklungsstufe
dagegen unbegreiflich ist und bleiben wird. Auf der prim&ren Stufe
tritt an die Stelle des Verstehens die Einfuhlung, auf dev supprim&ren
die Feststellung ven Hemmung und Erregung. Indem wir so die ver-
schiedenen Entwicklungsstufen der Einzelglieder beachten, aus denen
sich eine Kette von Assoziationen zusammensetzt, werden wir ohne
Zweifel der Wahrheit naher kommen und die handgreiflicben Fehler
anderer psycbologischer Systeme vermeiden.
Zu der Annabme, dass die Traume aus den primaren Reizen er-
klarbar seien, verfuhrte vor a'llem der Umstand, dass im Anschluss an
aufregende Erlebnisse nicbt selten Trfiume auftreten, die ihrem Inhalte
oder ihrem Afifekt nach einen gewissen Zusammenhang mit diesen er-
kennen lassen. Nicht beacbtet oder nicht erkannt wurde aber, dass es
sich hierbei stets um hypernoische Konstitutionen handelt, bei denen
hysterische oder psychogene Traume vorkommen kOnnen. Ueber diese
mdgen noch einige Bemerkungen folgen.
Die Annahme, dass Vorstellungen aus dem Wachzustand im Schlafe
nachwirken und Traume hervorrufen kdnnen, wurde von uns bereits
gemacht, als wir die Hauptgruppe der hysterischen Traume den kata-
tonischen gegenuberstellten. Es braucht aber nicht eine Vorstellung
sich kontinnierlich in den Traum fortzusetzen, sondern sie kann durch
eine primkre Qualitat hervorgerufen sein und nun infolge ihrer Affi-
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Aufsatze zur energetischen Psychologie.
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nitat za anderen Vorstellungen oder zum Affekt, also infolge ibrer
Valenz wie man sagen kdnnte, im Traum die Vorherrschaft erlangen.
Wir werden z. B. im Traum etwas gefragt und kdnnen die Antwort
nicht linden. Das unangeaebme Gefuhl erinnert uns an eino Situation
im Rxamen, es taucht vielleicht das Bild des prufenden Lehrers auf,
wir hdren wieder eine Frage und nun befallt uns dieselbe Angst wie
damals. Solch Traum ist katatoniscben Ursprungs, aber der Bewusst-
seinszustand ist relativ hysterisch, wenn wir annehmen, dass die Vor¬
stellungen einigermassen zusammenhangend sind.
Das Beispiel eines hysterischen Traumes wire dagegen folgendes:
Wir waren im Theater und haben uns uber die Handlung des Stuckes
aufgeregt, so dass uns einzelne Szenen beim Einscblafen wieder ein-
fallen. PlOtzlich seben wir in den Personen des Stuckes gute Bekannte,
oos selbst in einer der Rollen, wir reden in der Sprache des Dichters,
erleiden das Scbicksal des Helden und erwacben. Hier kann der Inbalt
des Traumes auf fernliegende Gebiete ubergreifen, der Zusammenhang
braucht nicht gewabrt zu sein und trotzdem ist der Traum psycbogen.
Die Vorstellung des Stuckes hat den Anstoss zu der Reihe von Asso-
ziationen gegeben, die durcb prim&re Akte wie durch Ideenflucht beein-
flusst zu den verschiedensten Triumen fubren kann. Solcben Beein-
Bussungen unterliegen bekanntlicb vor allem nervOse d. b. hypernoische
Konstitutionen.
Der assoziative Zusammenhang zwischen Reiz und Traum ist hier
leicht festzustellen, wAhrend dies oft nicht der Fall ist, wenn es sich
urn prim&re oder supprim&re Reize bandelt. Die den Traum hervor-
rufende Erinnerung braucht naturlicb nicht direkt vor dem Einschlafen
erworben zu sein, sondern kann auch weiter zuruckliegende Ereignisse
betreffen.
Je ausgesprochener bypernoisch eine Konstitution ist, desto starker
kSnnen Erinnerungen aus dem wachen Zustand in dem Hemmungszu*
stand weiter wirken. So finden wir besondere bei Hypernoiscben die
Fikigkeit, zu der Minute aufwachen zu kdnnen, zu der sie es sich vor*
nehmen. Die Autosuggestion wird bbufig durch die Angst unterstutzt,
etwas Wicbtiges za versaumen oder Unannehmlicbkeiten im Falle des
Verschlafens zu haben. Der Schlaf ist dann weniger tief, oft treten
Tr&ume auf, die sich urn die Folgen des Verschlafens drehen und die
Angst davor unterhalten. Wenn es sich dagegen um eine belanglose
Sacbe handelt, kann der Schlaf bis zur bestimmten Zeit fest und traum-
los sein.
Der Mechanismus ist hierbei derselbe wie bei den posthypnotischen
Auftragen. Der Wachzustand verbalt sich ja zur Hypnose ebenso wie
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der Schlaf zum Wachzustand, d. b. die psychiscbe Kraft ist in der
Hypnose starker als im Wachen, im Wachen starker als im Schlaf. Der
Auftrag, der in der Hypnose gegeben wurde, ist nachher nur scheinbar
vergessen. Das geistige Leben spielt sicb obne Stfirung ab, bis der
Aogenblick kommt, fur den der Auftrag gegeben wurde. Ebenso wirkt
die Autosuggestion des Erwachenmiissens wahrend des Schiafes nach
und lost erst im gegebenen Moment die Erregung aus, die das Erwachen
herbcifuhrt.
Derartige Ausldsungen dutch eiuen bestimmten Zeitpunkt sind nichts
Erstaunliches, sondern kommen im taglichen Leben sehr hautig vor.
Weuu man fur den nachsten Tag z. B. eine Verabredung trifft oder an
einem bestimmten Tag einen Termin wahrzunebmen bat, so kann die
Zwischenzeit auf die gewohnte Weise ausgefullt werden, ohne dass man
standig an die Verabredung oder den Termin denkt. Erst die bestimmte
Stunde weekt die Erinncrung daran. Anders ist es nur, wenn man die
Stunde sehnsiichtig oder angstvol) erwartet, die Vorstellnng also stark
affektbetont ist. Man denke an die Unrube nervdser Menschen vor deni
Examen, vor einer Rede oder vor sonst einem sle aufregenden Ereig-
nisse. Bei nerv&sen Kindern genugt die Erwartung eines Theaterbesuches,
einer Reise, des Weihnachtsfestes, um das seeliscbe Gleichgewicht zu
erschfittern.
Es zeigt sich bier, dass die Absch&tzung der wahrend des Schiafes
verflos8enen Zeit bei Hypernoischen und weniger tiefem Schlaf recht
genau sein kann, wobei aller dings auch Uebung oft eine Rolle spielt.
Bei starker ErschdpfuDg und entspreebend tiefem Schlaf gelingt das
rechtzeitige Erwachen auch dem Hypernoiker niebt Bei dem alltSglichen
zur selben Stunde erfolgeuden Aufwacben spielen noch andere Momente
der GewOhnung, vor allem auch physischer Natur eine Rolle, so dass
dies auch Hyponoikern oft gelingt.
Auf Hypernoiker ist ferner eine andere, oft diskutierte Erschei-
nung beschr&ukt. Die TrSume malen ihnen bisweilen die Zukunft bis
ins Einzelne aus, allerdings mehr ein erhofftes oder befiirchtetes als ein
zutreffendes Bild der Wirklichkeit im Voraus entwerfend. In manchen
Pollen kommen aber doch Aehnlichkeiten in Situationen oder Worten
vor, die bei der summarischen Erinnerung an den Traum zur Ursache
fur das Gefuhl des d6ja vu werden. Man glaubt, dasselbe Ereignis,
dieselbe Situation schon einmal erlebt zu haben, ohne sich zu erinnern,
dass es nur ein Traum gewesen war.
Ellis konstatiert, dass mehrere Autoren (Laland, Heymans, Du¬
gas) diese Erscheinung viel h&ufiger bei gebildeten Leuten als bei uu-
gcbildeten feststellen konnten. Das trifft mit unserer Behauptung zu-
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Aufsatze zur energetischen Psychologie.
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sammen, dass die Gebildeten ofter and detaillierter tr&umen. Sie sind
vielfacb Hyperuoiker, ihre TrSume enthalten in jedem Falle, ob sie vou
der prim&ren oder sekund&ren Stufe ausgeben, zahlreiche sekund&re
El entente, ebenso wie die katatonischen Psycbosen der Hypernoiker.
Aus denselben Gruoden, die die Unterscheidung einer katatonischen
Melancholic vou einer hysterischen ini Anfang erschweren, ist die Ent-
seheidung schwer oder unraoglich, welchc. Art von Traum im Einzelfall
vorliegt. Wenn auch die Vorstellungen in den Traumen einer byper-
uoischen Ronstitution eine gewisse Inteusit&t entfalten und relativ stark
sein konnen, so ist doch ihre Macbt durch die den Schlaf bedingende
Hemmung sehr erheblich bcschrSnkt. Es gibt dalier keineu Traum,
der sich dem Bilde der hysterischen Melancholic vergleichen liesse,
deren Erleben im Traume sonst seinen hysterischen Ursprung dokumen-
tieren wurde.
Daher ist aach das Auftreten von Augst in keiner Weise als ein
Zeichen der hysterischen Entstehung eines Traumes zu verwerten, was
man naeh ihrem hauflgeu Auftreten bei der hysterischen Melancholie
vielleicht erwarten kdnnte. Der Grund hierfur sei kurz auseinander
gesetzt.
Mit grfisster Wahrscbeinlichkeit konnen wir eine hysterische Melan¬
cholic dann annehmen, wenn ein hypernoisches Individuum im Anschluss
an eine schwere seelische Erschutterung eine Psychose mit depressiver
Erregung bekommt. Der Aflekt ist zun Hells t nicht immer als Angst zu
bczeichnen. Oft ist es genaner Reue fiber frfihere Handlungen, Sorge
vor der Zukunft, Gram fiber die Vernichtung des Lebensgluckes, Insuf-
fuienzgeffibl gegenfiber den Aufgaben des t&glicben Lebens, die mit-
unter zu den heftigen Angstanfallen fuhren, in denen die Gefahr des
Selbsimordes auftritt. Angst ist der allgemeinere Begriff. Es gibt daher
eine unbestimmte und nicbt uaher zu begrundende Angst, wEhrend die
oben augefubrten Affekte eine bestimmte Ursache, ein Objekt haben,
auf das sie sich beziehen. Ebenso verhalt es sich mit Schreck, Ent-
setcen, Furcht, nur liegt in diesen Affekten noch das Plbtzliche, Vor-
ubergehendc, im Gegensatz zu den erstgenannten, die anhalteuder sind.
Auch diese Uuterschiede der Dauer verwischen sich in dem umfassenderen
Begriff der Angst. Bei schw&cberen Graden der Erregung bleibt sich
das Individuum bewusst, worauf der Affekt zuruckzufubren ist, und
schildert die Gruude oft in beredter Weise. Wird aber der Affekt fiber-
macbtig, so treten alle Vorstelluugeu in den Hiutergrund und wir haben
es dann nicht mehr mit Reue, Sorge, Gram usw. zu tun, sondern mit
anertriglicher, grenzenloser, sinnloser Angst, dem prim&ren asthenischen
Affekt.
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Ein solcher Angstsustand bietet daher koine Kennzeichen seiner
hysterischen Entstehung, er kdnnte ebenso gut prim&rer, katatoner Natur
sein. Nur die Kenntnis der Konstitution and der Vorgeschickte, also
der Konstellation und der Grad der Erregung kann die Diagnose er
mdglichen.
Die hysterische unmotivierte Angst stellt also einen besonders hoheu
Grad von Erregung dar. Sie kann daher im Traum nicht vorkommen.
Unbestimmte Angst muss vielmehr stets katatonen Ursprungs sein. Fur
das Auftreten auch der leichteren hysterischen Melancholiezust&nde sind
aber die durch die Hemmung geschaffenen Bedingungen obenfalls sehr
ungunstig.
Kaum ein Geisteskranker ist schwerer einzuschllferu, als der Melan-
cbolische. Die angstvolle Erregung raubt wie keine andere den Schlaf
und besonders wenn sie immer von neuem durcb die Gedanken anfge-
peitscht wird, wenn sie also hysterischer Natur ist. Zum Schlafe ist
eine gewisse Herabsetzung der psychischen Energie erforderlich und
diese wird durch die Konzentrierung der Vorstellungen und der damit
▼erbundenen affektiven Erregung verhindert. Auch andere Affckte, wie
Freude, Hoffnung konnen ebenso wie kCrperlicher Scbmerz oder sexuelle
Erregung den Schlaf verscheuchen. Sie alle sind aber leichter zu be-
k&mpfen als die Angst. Tritt nun in solchem Zustand Schlaf ein, so
muss vorher die Angst nachgelassen haben. Sobald umgekohrt im
Schlaf heftige Angst auftritt, wird die Erreguug so gross, dass Er-
wachen die Folge ist.
Die im Schlaf bestehende Hemmung lasst eine Konzentrierung der
Aufmerksamkeit, wie sie der Melancholie eigen ist, nicht zu. Es gelingt
auch im lebhaftesten Tr&umen nicht, einen Gedanken dauernd festzuhalten
oder ihn in logischer Weise zu verarbeiten. Die Melancholie ist aber
gerade dadurch ausgezeichnet, dass die „fixe ldee“ immer weitere Kreise
zieht und die ganze psychische Kraft absorbiert. Im Gegensatz dazu
wird der Traumende immerzu abgelenkt, seine Vorstellungen reihen
sich ja in unlogischer Weise, ideenfl&chtig aireinander.
Ein affektvolles Erlebnis kann zwar die Traum vorstellungen stark
beeinflussen, die Motivierung des Affektes kann aber im Traum eine
vdllig andere sein als im Wachen. W&hrend wir bei der hysterischen
Melancholie das ausldsende Ereignis im Anfang der Erkrankung meist
aus den Reden des Kranken erschliessen konnen, da alle Gedankenreihen
auf denselben Mittelpunkt fubren, kann der affektbetonte Traum einen
vdllig anderen lohalt haben, als der ursprungliche Affekt. Die Vor-
stellung, die den Affekt anfangs ausgelOst hat, kann durch andere er-
setzt nnd selbst vergessen sein (Yerschiebung). Was bei der Melan-
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Aufsatze zar energetischen Psyohologie.
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cbolie durch Halluzinationen, also starke Erregung, bewirkt werden
kann, wird im Traum durcb die Hemmung hervorgerufen, die za ideen-
fluchtiger Assoziatioo fuhrt
Es ist also die aomotivierte Angst im Traum nicht als Zeichen
hy&teriscber, sondem katatoner Defek ter regang anzusehen und nur die
motivierten Affekte bei Hypernoikern stlrkcren Grades sind fur die
Aonahme eines hysteriscben Traumes zu verwerten.
Neben der irrtumlichen Ansicht, dass der Inhalt der Traume von
den Reizen abh&ngig sei, sind es wobl noch zwei Momente, die vor
allem daxu gefuhrt haben, ausser dem Defekt noch audere Ursachen fur
die Eigeoart der Tribune zu suchen.. Das eine ist das Streben, einen
geoaueren Einblick in das intimste Seelenleben zu gewinnen, als es sonst
mfiglich ist, das zweite h&ngt mit der Auffassnng der Hypnose zu-
aammen.
Man glaubt noch heute vielfach, dass sich im Traume der wahre
Charakter des Menschen zeigt. Die im Wachen vorhandenen Hemmungen
fehlen and nan treten die geheimsten Wunscbe, die sonst unterdruckten
Triebe und Leidenscbaften ans Licht. Die Auffassung ist sogar sehr
verbreitet und bei den Freudianern gerftt zweifellos jeder in den Ver-
dacht pro domo zu sprechen, der ihr entgegentritt. Nun, wir haben
oben anseinandergesetzt, dass die Hemmung gerade die hdchsten psy-
chischen Akte, zu denen wir die Ssthetiscben, moralischen, sozialen —
die kotnplexen — Gefuhle rechnen, am st&rksten schadigt und dass
daher jeder, anch der beste Mensch gelegentlich Tr&ume hat, in denen
er entgegengesetzte Cbaraktereigenschaften zeigt. Wir wurden uns doch
anch nicht einfallen lassen, den Charakter eines Menschen nach Haod-
I cm gen seiner ersten Rindheit oder nach dem klinischen Bilde zu be-
urteilen, das er w&hrend einer katatonischen Psychose zeigt. Und doch
wire das kein grdberer Fehler! Die Trlume sind jedenfalls in dieser
Bene hung nicht zu verwerten, auch nicht, wenu man sich eine beson-
dere Symbolik nach Freud’schem oder sonstigem Master dafur zn-
rechtmacht.
Wesentlich dagegen scheint, dass sich aus ihnen die Abh&ngigkeit
der Ethik von der psychischen Energie ergibt. „Moral begrunden ist
schaer**. Hier zeigt sich wenigstens, dass ihre hohe Bewertung inso¬
lent bercchtigt ist, als sie hbchste Rraftleistungen erfordert. Das Be-
wusstsein, dass jede sittlich wertvoile Handlung den gcistigen oder
kunstlerischen Taten ebenburtig an die Seite zu stellen ist, durfte jeden¬
falls tief in der Volksseele wurzelo. Es ist die Kraft, die psycbische
Energie, die man in jeder Leistung, auf welchem Gebiet es auch sei,
wh&tzt und achtet.
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. Schlaf und Hypuose werden noch heuto vielfach als sehr abnliche
Bewusstseinszustande angesehen. In der energetischen Theorie ist aus-
einandergcsetzt, dass die Hypnose mit Schlaf nichts zu tun hat, sondern
einen auf Vorstellungen beruhenden, nur durch das Vorhandensein be-
stiramter Vorstellungen mdglichen, Erregungszustand darstellt. Es gibt
in der Tat keine Schlaf erregende Vorstellung. Wenn wirklicher, nicht
hypnotischer Schlaf hervorgerufen werden soli, so entfernt man alles, was die
geistige Tatigkeit anregt oder als supprimarer oder primirer Reiz wirken
kdnnte. Die Versachsperson soil nichts denken, sich nicht bewegen,
nichts sehen oder hOren. Wenn es nicht gelingt, die Reize aaszuschalten
z. B. bei heftigem Zahnweh, bei grosser Angst oder Widerstreben, wird
die Schlafsuggestion erfolglos seiu. Bei fehlenden Reizen sinkt die
psychische Kraft und es kann schliesslich zu richtigem Scblafen kommen.
Der hypnotische Zustand zeigt sich als das Gegentcil des normalen
Schlafes u. a. durch den sogenanuten Rapport zwischen Hypnotiseur
und Versuchspersou. Die Konzentrieruug der psychischen Euorgie der
ietzteren auf bestimmte VdrsteUungen oder gegebene Reize bewirkt,
dass schon sehr kleine, den Zuschauern nicht bemerkbare, auch unwill-
kurlicbe Einwirkuugen des Hypnotiseurs das Medium beeinflussen. Die
Vorstellungen des Hypnotisierten sind „das Instrument, auf dem der
Hypnotiseur spielt". Es gelingt daher die Hypnose ausschliesslich bei
hypernoischen Konstitutionen. Sie ist ein Erregungszustand und beruht
ebenso wie die hysterischen Erregungszustande auf Vorstelluogen.
Grade an der Auffassung der Hypnose zeigt sich, dass die Beruck-
sichtigung der lutensitatskomponente und die Annahine psychischer
Akte verschiedeuer Entwicklungsstufe richtig und notwendig ist. Dann
braucht man auch zur Erklarung dieses vielumstrittenen PhSnomens
keine „Spaltung der PersOnlichkeit“ oder abnliche nichtssagende Bilder
zu Hilfe zu nebmen.
Unsere Anschauung uber das Traumen lasst sich folgendermassen
zusammenfassen:
Der normale Meusch ist als Hypernoiker zum Traumen dispouicrt.
Nur wenn der Schlaf eine gewisse Tiefe oder, was dasselbe sagt, die
Hemmung der psychischen Kraft einen gewissen Grad erreicht, ist der
Schlaf traumlos.
Alle Momente, die die Schlaftiefe verringern, sind geeignet, das Auf-
treten von Traumen zu begunstigen. Solche Momente sind:
1. Supprim&re Reize wie Stdrungen der Herztatigkeit, der Atmung,
der Verdauung u. a., die korperliches Unbehagen (oder Be-
hagen) verursachen;
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Aufsatze zur energetischen Psychologie.
121
2. Prim ire Reize, die eatweder auf den sup prim Aren beruhen,
wie Atemnot, Uebelkeit, Schmerz, sexuelle Erregung oder das
Individuum von aussen treffen, wie akustische Reize, Hautreize,
Licht usw.;
3. Sekund&re Reize, wie affektbetonte Vorstellungen oder inten¬
sive geistige Titigkeit.
Die letztgeuannten fuhren zu bysterischen oder psychogenen, die
ersten bpiden Gruppen zu priunaren oder katatonischen Tr&umen.
Die Lnterscbeidung von hysterischen und katatonischen Tr&umen
betrifft nur ihre Entstebung, nicht ibren Inhalt.
Die Wahrscheinlicbkeit, dass ein Traum von der sekuudiren Stufe
ausgegangeu, also bysterisch ist, liegt dann vor, wenn 1. ein hysteri-
scher Erreguugszustand vor dem Schlaf bestanden bat, dagegeu primare
Erregungeu wie Alkoholgcnuss, kOrperlicbes Unbehagen, Fieber uud der-
gleichen auszuscbliessen sind, 2. eine hypernoische Konstitution vor-
banden ist, 3. der Traum lehhaft, detailliert und einigermassen zusam-
menhaugend war.
Das erste Merkmal ist das wichtigste, das zweite ist fur das Zu-
standekommen eines bysterischen Traumes Bedingung, wird aber meist
als vorliegend anzunehmeu sein, wenn es sich um normale Menschen
handell, das dritte ist bei Hypernoikern hOberen Grades auch baufig vor-
banden. wenn der Traum von der prim&ren Stufe ausgegangeu ist; es
ist also nur bei Hypernoikern geringeren Grades zu verwerten, bei Men
schen, die selten lebhaft traumen.
Sicker sekuod&ren Urspruugs sind nur die Tr&ume, in denen affekt-
betonte Erlebnisse mil so geringen Ver&nderungen reproduziert werden,
dass der iogische Zusammenhang erkennbar ist, dock darf man bier die
Grenzen nicbt zu weit ziehen. Man kann also leicbter einen katatoni-
scben Traum und nur selten einen bysterischen Traum diagnostizieren
und wird in einer Anzabl von Fallen nicht tiber eine gewisse Wahr-
scheinlichkeit binaus kommen.
Der Inhalt der TrAume ist nicbt von den sie auslosenden Reizen,
sondern von der Konstellation abh&ngig.
Die Ursacbc ihrer Eigenart ist die Hemmuug der psychischen
Kraft, infolge deren das psychiscbe Gescheben im wesentlichen reflek-
torisch verl&uft und die hOberen psychischen Leistungen unmOglich ge-
maeht sind.
Den Tr&nmen kommt keine grdssere Bedeutung zu als den Wakn-
vorstellungen oder den Aeusserungen von Geisteskranken. Sie sind kein
Spiegelbild, sondem ein Zerrbild des Lebens.
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3. Die relative!) Erregungszust&nde.
Gleichzeitige Wirksamkeit positiver uod negativer Reize. Die Konstellation
bei Hypernoikern. Das Sohlafwandeln. Physiologisohe Dammerzustande. Die
Erschopfung. Die relative Erregung als Grundlage der traumatischen Neurose.
Entstehung der traumatischen Symptome. Die Kriegsnearose.
Bei der Betrachtung der Hysterie und Neurasthenic haben wir nach-
zuweisen versucht, dass die Symptome dieser Krankheitsbilder stete Er-
regungssymptome sind, w&hrend die Cntersucbung der Tribune zeigen
sollte, dass das Wesentliche, die Ursache ihrer Eigenart, in der Hem-
mung zu erblicken ist, der das psychische Kraftzentrum w&hrend des
Schlafes unterliegt.
Die Begriffe der Erregung und Hemmung habe ich friiher bereits
in ausfuhrlicher Weise erflrtert und auch in diesen Aufs&tzen ist zum
Ausdruck gebracht, dass es sich um Einfluihe bandelt, welche die Reak-
tionsf&higkeit des Kraftzentrums in positivem Oder negativem Sinne
verandern, dass aber Erregung auch dnrch fruher wirksam gewesene
reproduzierte Reize, durch Vorstellungen hervorgerufen werden kann.
Die bisherige Darstellung musste in gewissem Grade einseitig sein,
um zunachst d;is Wesentliche von dem Unwesentlichen scharf zu trennen.
Es machte sich jedoch bereits an mehreren Punk ten fuhlbar, dass die
psychologische Analyse den klinischen Bildern nicht vOllig gerecht wurde,
dass noch ein Rest der Neurastlienie z. B. nicht als Erregung, das Schlaf-
wandeln nicht als Hemmung allein aufgefasst werden kann.
Haben wir erst nachzuweisen gesucht, dass Hemmung und Erregung
uberhaupt zusammen vorkommen kOnuen, so erubrigt nun noch klarzu-
legen, dass sie nicht selten vereint sind und dass es sich bei jeder Ana¬
lyse eines Bewusstseinszustandes darum handelt, den Einfluss der einen
gegen den der entgegengesetzt wirkenden Moroente, das Yerbaltnis der
positiven zu den negativen Reizen, abzuw&gen.
Die Reaktionsf&higkeit eines psychischen Kraftzentrums ist durch
seine Konstitution nur in groben Umrissen festgelegt, innerhalb deren
aber Schwankungen nnterworfen, die auf sehr verschiedene Drsachen
zuruckzufuhren sind. Derselbe Mensch reagiert auf denselben Reiz iu
verschiedener Weise, wenn er kbrperlich gesund oder krank, frisch oder
ermudet, jung oder alt, nucbtern oder angetrunkcn ist, wenn sein In-
teresse von anderen Dingen bereits in Anspruch genommen ist oder er
grade nach Betatigung verlangt.
Diese gewissermassen zuf&lligen Umstande sind der Konstellation
znzurechnen und kounen eine einzelne Reaktion sehr wesentlich beein-
flussen, sie unterscheiden sich aber von den konstitutionell bedingten
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Aufs&tze zur energetischen Psychologic.
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Einflassen, denen die Reaktion unterworfen ist, dadurcb, dass sie erworben
oder verubergebend, jene dagegen angeboren und dauernd wirksam sind.
Die Reaktion h&ngt nun bei hypernoischen und hysterischen Kon-
stitutionen in stArkerem Masse als bei Hyponoia und Imbezillit&t
von der Konsteliation ab. Die sekundAre Funktion ist nicht nur gegen
alle Arten supprimArer und primArer Reize empfindlicher und beant-
wortet sie mit stArkeren Schwankungen als die prim are, sondern es
werden auch die gerade vorhandenen Vorstellungen einen Reiz unwirk
earn macben oder ibn verst Arken kOnnen. Diese Wirkung der Vorstel¬
lungen ist naturgemiss weniger bedeutend in den Konstitutionen mit
uberwiegendem P und daher sind die Mbglichkeiten verschiedener Kon¬
steliation zahlenmAssig hier viel geringer. Der Hyponoiker^ ist im
wesentlichen nur von Ausseren und supprimAren UmstAnden abhAngig,
auf den Hypernoiker wirken ausser diesen noch die ihn bescbAftigenden
Gedanken, seine Vorstellungen.
Hier werden daher die gleicbzeitig nuftretenden erregenden und
bemmenden Reize zu komplizierteren Zustanden fiihren, denen wir noch
einige Bemerkungen widmen wollen.
Wir fassen sie als n re)ative ErregungszustAnde“ zusammen und
untersebeiden sie dntnit von den Defekterregungen. Sie stellen geringere
Grade als diese dar, sowobl was die Erregung wie aucb die Hemmung
betrifft und stehen also dem normalen Zustande nAher als diese.
Die Ermfidung bei geistiger Arbeit, bei anhaltendem Kunstgenuss,
bei affektiver Erregung u. a. fuhrt zu den leiebtesten Formen dieser
ZustXnde, in denen sich die Wirksamkeit der negativen und positiven
Reize kombiniereu. Hierher reebnen wir ferner gewisse Formen der
traumntischen Neurose und der Neurasthenie, sowie das Schlafwandeln
der Hysteriker. Die DAmmerzustAnde auf epileptischer Basis sind als
Defekterregungen zu bezeichnen, weil sie Ausseren Einflussen nicht zu-
gAnglich sind und sich dadurch als HemmungszustAnde stArkeren Grades
erweisen. Ebensowenig gehOreu die hysterischen DAmmerzustAnde hier¬
her, da in ibnen die Erregung zu stark ist.
Eine ^relative Hemmuug“ in entsprechender Weise anzunehmen, liegt
kein Grand vor. Die relative Erregung l&sst sicji umschreiben als eine im Ver¬
batim's zur Hemmung der primaren erregte sekundare Funktion. Die relative
Hemmung ware eine im Verhaltnis zur Erregung der sekundaren gehemmte
primare Funktion, was auf dasselbe herauskommt, oder eine im Verhaltnis zur
erregten primaren gehemmte sekundare Funktion, was nur eine imbezilie oder
Defektreaktion zur Folge haben kann.
Schlafwandeln kommt nur bei hysterischer Konstitution vor und
steilt einen relativ hysterischen DAmmerzustand dar, dessen Hemmung
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auf der scblaferzcugenden Ursache beruht, dessen Erregung katatonisclien
oder bysterischen Urspruugs sein kanu, in jedem Falle aber die Spon¬
taneity der ho here n Stufe in uberwiegendem Masse betrifft. Gs ent-
spricht also den Affekttrauraen der Hysteriker. Die Erinnerung ist eine
suramarische, meist beschrankt auf die Zielvorstellung, die das Woilen
lenkt. Sie fiihrt aber nur zu automatiscbein Handeln, das sicb im
Wachen als ebenso falsch motiviert, sinnlos, kritiklos erweist, wie die
AlTekte des Trauraes. Die VorstelluDgen der Gefahr, des Verbotenen,
auch des Uumoralischen der Handlungsweise, die im Wachen sofort
assoziiert werden, sind infolge der Hemmung nicht reproduzierbar. Das
Missverhaltnis vou P: S ist so erheblich,’ dass die geringe Hemmung
gerade noch genugt, den Schlaf zu ermoglichen, wabrend die Grregung
der sekund&ren Punktion sicb bereits in reflektorisch ausgelSstera Han¬
deln geltend machen kann. Dass dieses aucb vom Staudpunkte der
Traumvorstellung unzweckmassig sein kann, ist naturlich, da es nur von
der Konstellation, nicht von der Ueberlegung abh&ngt, was getan wird
und die Vorstellungen, also Halluzinationen, das Bewusstsein beherr-
schen. Der Schlafwandelnde glaubt etwas tun zu sollen, biidet sich
ein, eine bestimmte Handlung auszufuhren, wabrend er, ohne es zu be-
merken, reflektorisch auf ein falsches Gleis geriU und sich so automa-
tisch weiter von seinem Ziel entfernt.
D&mmerzust&nde, in dcnen das Empfinden iiberwiegt, kdnnen bei
Ermudeten z. B. in einem Vortrag oder Konzert auftreten. Sie enthalten
besonders Gesichts- und Gehorsballuzinationeu. Man erlebt plotzlich
eine Veranderung der Situation, bort deutlich andere Worte, tr&umt
lebhaft und wird durcb eine Pause des Vortrags, eine Verstarkung der
Musik oder auch ein Zeicben des Nachbars geweckt. Der Zustand steht
ebenso auf der Grenze zwischen Scblaf und Wachen wie das Schlaf-
wandeln, bei beiden geniigen geringfugige aussere Reize, um die geringe
Hemmung der primaren Funktion zu uberwinden.
In ibneu ist die Erregung immer nur relativ gross, die Hemmung
dagcgen noch recht erheblich, was daraus zu schliessen ist, dass die
bdheren psychischen Akte ausgeschaltet sind und die Erinnerung grosse
Lucken zeigt. Der Affekt durfte selten oder nie die uberwiegende Qua-
litat sein, da bier die Grenze, die zu vblligem Erwachen fubrt, sehr
bald erreicht werden wurde.
Starkere Erregung und geringere Hemmung zeigen nun gewisse
Zustande, die hauptsachlich dem Kreis der neurasthenischen Krankheits-
bilder angehbren, die aber in ahnlicher Weise auch in den Anfangs-
stadien der Katatonie und aller organischen Hirnkrankheiten entstehen
kdnnen. Vorbedingung ist auch bier stets das Vorhandensein einer
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hypernoischen Konstitution. Die be'mmend wirkende Noxe ist sehr h&ufig
die chronische Ermfidung, die Erschopfung. Besonders anstrengende
Mfirsche, uuregelm&ssige Ern&brung, nicht genfigender Schlaf bei st&n-
diger korporlicber Anstrengung und oft aufregenden gef&hrlichen Situa¬
tions odor geistiger Anstrengung stelleo hohe Anforderungen an die
psychische Energie und mussen selbst bei normaler Widerstandskraft
schli^sslich zu einer Unterbilanz ffihren. Die Znst&nde mussen psycbo-
logisch vollkommen denen gleicben, die cbronisch verlaufende allgemeine
organische Schadigungen des Gehirns hervorrufen. Wahrend sich jene
aber sukzessive verschlimmern, je weiter das Leiden fortschreitet. kann
die Erschopfung zwar zunaehst zu vQlligem Zusammenbruch fuhren.
Mit deni Augenblick aber hOren die Anforderungen auf und die Resti¬
tution beginnt und kann bei Ruhe und Pflege zu volliger Wiederher-
stellung fortsebreiten. Naturlich haben wir bier nur die psycbologischen
Verhaltnissc im Auge und seben von der grossen Zahl kdrperlicher
Stdrungen ab, die das Bild kliniscb anders gestalten konnen.
Das modeme Leben schafft auch in normalen Zeiten Verhaltnisse,
die eine Uebermudung infolge Deberanstrengung bei vielen Menschen
zur Folge haben. Die Entfernungen in den Grossst&dten, die harte
korperliche Arbeit in Fabriken, Bergwerken, industrielleu Betrieben, die
scbiechten Wohnungsverhaltnisse, kurz der Kanipf ums Dasein wirkt auf-
reibend und zermurbend, wenn die Gelegenheit zur Erbolung feblt.
Dazu komtnt vor allem, dass die Ansichten fiber das, was Erholnng
ist. noch recht verkehrte sind. Der Arbeiter glaubt, er musse sich
inindestens am Sonntag im Wirtshaus oder im Kino ffir die Muhe der
Woche entscbfidigen. Der Kaufmanu will sich vielleicht kunstlerische
Genusse gOnuen und opfert dem Theater oder Konzert seine Nacht-
ruhe. Viele loekt der Tanzboden, die Freuden der Geselligkeit oder
sexuelier Betfttigung. Die Wenigsten aber bedenken, dass diese Art
der Krholung das Gegenteil von dem ist, was ihnen Not tut, dass hier-
bei stfindig Kraft verbrauebt wird, die Zeit der Rube, des Schlafes ver-
kiirzt und so die einzige Mdglichkeit das Verbrauchte zu ersetzen, die
Krifte zu sammeln und die Leistungsf&higkeit zu erbalten, mehr und
mehr ausgeschaltet wird. Man glaubt eben noch vielfach, Vergnugeu
und Erbolung seien identisch, wahrend das Vergnugen oft anstrengender
als die Arbeit ist.
Auch der Irrtum ist verbreitet, dass man geistige Arbeit durch
kfirperlicbe kompensieren kfinnte, und bis vor kurzem waren die Turn-
stunden in den Schulen als Erbolung zwischen wissensebaftliehe Stunden
eingeschaltet. Neuerdings hat man wobl eingesehen, dass beimTurnenzwar
eine andere Form psych ischer Energie verbraucht wird als beim Lernen,
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dass aber die Quelle fur alle psychiscbe Energie dieselbe ist, und das
Kraftzentrum leichter erschopft wird und Schaden erleidet, wenn es be-
reits dutch geistige Arbeit ermudet noch korperlichc Leistungen voll-
bringen muss oder umgekehrt.
Dass die Zeit der Verdauung geistigeu H&chstleistungen nicbt gun-
stig ist, weiss man seit langem: Plenus venter nou studet libenter. Hier
wird die supprimare Funktion durch die Steigerung der Drusentatigkeit
von Magen und Darm, die Erhdhung des Blutdruckes, Erschwerung der
Atmung usw. in hdherem Masse in Anspruch genommen, so dass fur
die h5heren Funktionen weniger psychisclie Energie als sonst verfugbar
ist. Ebenso muss natiirlich jede korperliche Arbeit durch ihre Wir-
kung auf den Organismus den h5heren psychischen Funktionen Energie
entziehen.
Der Wert der Abwechslung zwischen geistiger und kGrperlicher
Betatigung liegt darin, dass weder Geist noch Kdrper zu kurz kommen
sollen. Vielleicht ist aber dies Ziel doch nur in beschr&nktem Masse
erreichbar, insofern Veroachl&ssigung und damit Verkummerung oder
Erkrankung des einen von beiden vorgebeugt wird. Wird z. B. die
Muskulatur stark ausgebildet, so verlangt sie dauernde Debung, ist es
aber der Geist, so stellt er mindestens ebenso grosse Anforderungen.
Die Kraft wird also zersplittert und das wird aus praktiscken Grfinden
gewohnlich unzweckmassig sein.
Je nacbdem man Gefahr und Nutzen der Spezialisierung hewertet, ent-
soheidet sich die Frage der sogenannten Kultur der linken Hand. Man kann
den Rechtshandern wohl kaum eine recht erbebliohe Kultur auch der linken
Hand absprechen. Sie Uegt gerade in der Differenzierung, die es fur die rechte
fast ebenso schwer macht, die linke zu ersetzen als umgekehrt. Die Kraft bier
gleichmassig auf beide verteilen, nur urn fur einen etwaigen Unfall oder Schlag-
anfall besser gerustet zu sein, scbliesst die bohe Wahrsoheinlichkeit in sich,
dass die Kultur der Rechteu leidet. Die angebliohe Wirkung auf Bildung eines
zweiten Spracbzentrums, wiihrend das liuksseitige noch funktioniert, erscheint
recht zweifelhaft. Wahrschoinlich wiirde auch in diesem Falle zwischen den
beideu Zentren eine Arbeitsteilung Platz greifen, die die Gesamtleistung nicht
erhoht, aber bei Schadigung des einen doch das Auftreten sohwerer Ausfalls-
symptome nicht verhindert.
Die hygieniscbe Forderung, dass man nach der Arbeit Kdrper und
Geist Ruhe gonnen muss, konnen wir also von unserem Standpunkte
gut verstehen. Wir wissen aber, dass ihr haufig nicht Genuge geschehen
kann, dass vielmehr der Mensch von neuem an die Arbeit gehen muss,
bevor vollige Erbolung eingetreten ist. Einige Zeit lang wird er deu
gesteigerten Anspruchen gerecht werden konnen, indem er sich ge-
Go^ 'gle
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Aufsatze zar energetisoben Psychologic.
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wissermassen darauf einstellt. Er nimmt seine ganze Kraft zusammen
and befindet sicb nan in einem Zustande Ausserster Anspannung. Er
denkt jetst schneller, begreift rascber, urteilt scharfer, bandelt ent-
sehlossener als gewbhnlich. Entsprechend ist er empfindlicber gegen
Aussere Eindrucke, reizbarer in seinen Gefuhlen, der Blutdruck ist ge-
steigert, die HerztAtigkeit beschleunigt. Der Scblnf weniger tief. Er
befindet sich in einem Erregungsznstand.
Je stArker die Konstitution bypernoisch ist, desto fruher muss das
MissverhAltnia von P: S so erheblicb wachsen, dass die klinischon Syra-
ptome der Hysterie oder Neurasthenic auftreteu. Wird das Tempo der
Arbeit nicbt verlangsamt, so muss Ermudung die Folge sein. Nqben
die Erregung tritt die Hemmung mit all den Konseqaenzen, die wir
bereits besprocben baben, die kurz gesagt, Quantit&t und QualitAt der
Leistung schadigt. Es kommt noch nicht zu eigentlicben Defektreak-
tionen; bei wichtigen AnlAssen gelingt es noch immer, die notwendige
LeistungsfAhigkeit aufzubringen. Es ist aber aus dem anfAnglichen Er-
regangszustand bereits ein „relativer Erregungszustand“ geworden. Es
fehlt die fruhere Ausdauer, die unermudliche Schaffensfreude, die Schlag-
fertigkeit, die jeder Situation gewacbsen war. Es kommen Irrtumer
»or, die auf Mangel an Aufmerksamkeit und Konzentration beruhen.
Zerstreutbeit, Vergesslichkeit, Unsicherheit fallen auf, ein Versagen
gegenuber neuen, ungewohnten Aufgaben. An die Stelle der scbOpferi-
schen Kraft ist die reflektorisck ausfuhrbare Schablone getreten und
damit die NervenscbwAche, die Neurasthenie im eigentlichen Sinne des
Wortes, offenbar.
Wir sehen also wohl ein, dass der Begriff der Neurasthenie einer
gewissen Begrundnng nicht entbehrt, halten aber daran fest, dass sie
stets einen Erregungsznstand einer hypernoiscben Konstitution darstellt
und dass eine Schw&che oder Hemmung nicht unbedingt zu ibr gehort,
wenn sie auch hkufig mit ibr verbunden ist.
Die „relativen ErregungszustAnde“ sind nun dadurcb von besonderer
praktiscber Bedeutung, dass sie den gunstigsten Boden fur das Auftreten
der „traumatiscben Neurosen 11 abgeben. Es ist vielleicht nicht zu viel
gesagt, wenn man die Behauptung aufstellt, dass sie nur auf dieser
peyehologischen Grundlage zur Entwicklung kommen. Doch ist ihre
Definition zu unscharf, das Rrankheitsbild zu wechselnd, die Ansichten,
was als trauniatische Neurose aufzufassen oder anderen Formen der
Neurose zuzurechnen ist, za rerschieden, als dass mit einer solchen Be-
hauptung viel gewonnen wire.
Aus unseren Ueberlegungen ergab sich ferner, dass die Unterecbei-
dung der versebiedenen psychogenen Krankbeitsbilder nur klinisch, nicht
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psychologisch ist. Die Beschrankung auf eine der klinischen Forraen,
deren Berechtigung fraglich and nur empiriscb nachzuweisen ist, durfte
daher nicbt angebracbt sein. lmnierhin glauben wir gerade die Bnt-
stehung der traumatiscben Neurose dem Verstandnis niher bringen zu
kOnnen, indem wir die Wirksamkeit der relativen Erregnng als ein die-
ponierendes Moment ins Auge fassen. das neben der hysterischen Koii-
stitution und der Erregung fur eine Anzahl von Fallen in Betracht
kommt.
Unfall und Shock sind die beiden wichtigsten Ursachen der trau¬
matiscben Neurose. Das „epidemische“ Auftreten dieser Ursachen im
Kriege musste eine enorme Steigerung der Falle von traumatischer Neu¬
rose zur Folge liaben, wenn sie wirklich die einzigen Ursachen w&ren.
Die Tatsache, dass sich dock nur in relaiiv wenigen Fallen eine Neu¬
rose an das Trauma anscbliesst, wie es sicb auch im Frieden verhalt.
fuhren wir darauf zuruck, dass eine hypemoiscbe Konstitution erforder-
lich ist, um die Erregung dauernd zu unterhalten. Diesc Hypernoiker
werden sich aber infolge der Strapazen des Krieges h&ufiger als im
Frieden im Zustand der Erregung befinden. Die Wirksamkeit des
Traumas muss hierdurch noch verstarkt werden, so dass die immerhin
vorhandene Hautigkeit der Kriegsneurose hierdurch ihre Erklarung findet.
Die Disposition eines Hypernoikers zur traumatiscben Neurose wird
durch das Bestehen eiuer „relativen Erregung 4 * wesentlich gesteigert.
Wahrend der relativen Erregung befindet sich das Kraftzentrum
gewissermassen in einem besonders labilen.Gleicbgewicht. Es sind keine
Reserven mebr verfugbar. Ein psychisches Trauma, das, wie wir ge-
sehen haben, stets erregend wirkt, muss nun durch Kraftverbrauch zum
Zusammenbruch, zum Defekt fuhren, sei es ein primarer Reiz wie
Schmerz oder ein Affekt Oder eine durch die Umst&nde hervorgerufene
Vorstellung. Ein supprimarer negativer Reiz, z. B. eine Gehirnerschutte-
rung, die zunachst vielleicht Bewusstlosigkeit zur Folge hat, muss sich
der bereits bestehenden Erschopfung hinzuaddieren, und ebenfalls die
Hemmung vers tar ken.
In jedem Falle besteht daher kurzere oder liugere Zeit ein Zustand,
in dem die hOchsten psychiscben Funktionen mehr oder weniger aus-
geschaltet sind und die reflektorischen Akte das Uebergewicht haben. In
dieser Zeit konnen sich neue reflektorische Verbindungen bilden, die als
Krankbeitssymptome in die Erscheinung treten.
Die Entstehung dieser Reflexe ist von dem Willen des Individuums
selbstverst&ndlich vbllig unabhangig. Es hat die Fixierung des Zittems
oder die Lahmung des Armes, die funktionelle Aphonie usw. nicht
gewollt. Jeder weiss, welche Energie dazu gehOrt, ein derartiges Sym-
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Aufsatze zar energetischen Psychologic.
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ptom za simulieren. Aber die Reflexe sind in ihrer Entstehung von der
Konstellation abh&ngig. Der Wunsch, krank zu sein, Rente zu beziehen,
aus dem Milit&rdienst entlassen zu werden, kann reflexbahneud wirken,
ibr Zustandekommen fordern. Das einzelne Symptom ist damit nocb
nicht bestimmt, es wird vielmehr nur der angenblickliche Zastand im
Hinblick auf die mOglichen Folgen betrachtet und dabei unwillkurlich
die vorhandenen Storungen verstirkt empfunden.
Der vielleicht auftauchende Wunsch, dies oder jenes Symptom zu-
nachst zu behalten, wird sicber moist sofort unterdruckt und die Ver-
gangenheit des Uannes beweist oft, dass es ihm nicht an soldatischen
Tugenden fehlt. Er kann aber nicht dagegen an, dass sich bereits der
Glaube an die Krankheit bei ihm entwickelt bat. Mit welcbem Sym¬
ptom sich dieser Glaube besonders fest verbindet, bftngt von den ver-
Kchiedensten Zuf&Uigkeiten ab, die dem Kranken selbst vdllig unbekannt
sind, da es sich eben urn Reflexe handolt. Dnd wenn wir ihm auch noch so
kiar beweisen, dass sein Glaube falsch ist, kanu das auf sein Leiden keinen
Einfluss haben, da es nicht logisch, sondem reflektorisch entstanden ist
In schwereren Fallen zeigt sich, dass aus der hysterischen Konsti-
tution eine reiativ-hysterische geworden ist. Der Egoismus, die Willens-
schwache, der Mangel an Konzentrationsf&higkeit, die Gleichgultigkeit
in mancher Beziebung, die Wehleidigkeit, die zahlreichen kdrperlichen
Beschwerden sind dieselben Symptome, wie wir sie bei anderen Defekt-
zustanden Hysterischer finden.
Die Erregung macht sich in der Herrschaft der Vorstellungen gel-
tend und iiussert sich besonders deutlich mid leicht nachweisbar in der
supprimaren Funktion. Die Hemmung macht Kraftleistungen ksthetischer,
moralischer, sozialer Art unrobglich und beeinflusst daher mancbmal
den Charakter in recbt ungunstiger Weise. Sie erschwert ferner die
Bildung neuer Assoziationen und begunstigt so die Entstehung und Fixie-
rung reflektorischer Akte. Sie verhindert schliesslich zum Teil die
Umformung der supprim&ren Energie in solche hbherer Stufen und ea
kann eino starke Erregung der supprim&ren Funktion mit Demenz vor-
getHnscht werden. Dass auch aus der funktionelleu, scheinbaren Demenz
eine organiscbe entsteben kann, ist theoretisch nicht auszuschliessen.
Es kann die Erschopfung so lange gedauert haben, dass eine Restitution
nicht mehr mdglich ist. Praktisch sind diese FSlle, soweit ich sehe,
aosserst selten, da der Organismus durch die gewOhnlich rechtzeitig
einsetzende Bewusstlosigkeit dagegen geschfitzt ist.
Treten organische Verletzungen des Gehirns hinzu, so pfiegen wir
nicht mehr von traumatischer Neurose zu sprechen. Die Annahme mole-
kuiarer Verschiebungen, die wir stillschweigend fur jeden psychischen
A/ekiv f. P*yebi»tri». Bd. CO. Haft 1. g
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Dr. Harry Marcuse,
Akt voraussetzen, kann unsere psychologische Analyse niclit fdrdern,
da sie ein anatomiscber Begriff ist. Wir kdnnen sie nur ebenso als
sapprim&ren Reiz werten, wie andere organische Ver&nderangen, die
sich dem mikroskopischen Nachweis noch entziehen.
Pur die Auffassung der Kriegsncurosen folgt aus unserer Anscbauuug,
dass man zwischen rein hysterischen Erregungszust&nden and relative
hysterischen Erregungszust&nden mdglicbst scharf unterscheiden muss.
Bine genaue Anamnese wird das in vielen Fallen mdglich machen.
Die erstgenannten Formen werden naturgem&ss starker hysterische
Konstitutionen betreffen. Sie erkranken bftufig bereits in der Garnison
oder werden bei der ersten Gelegenbeit manifest hysterisch.
Die zweite Gruppe wird dagegen Individueu betreffen, die niemals
als nervds gegolten haben. Sie sind erst durch die Einwirkungen des
Feldzuges labil geworden und, weil* sie erschdpft waren, durch ein be-
stimmtes Ereignis znm Traumatiker geworden.
Dnter die Einwirkungen des Feldzugs fallt aucb der Alkoholmiss-
brauch, der haufig eine Rolle spielt und das Krankheitsbild im Sinne
der Intoxikation beeinflusst. Auch dann aber kann nur auf Grand der
hysterischen Konstitution eine traumatische Neurose entstehen.
Den traumaiischen Neurosen glauben wir alle die Falle nicht zu-
rechnen zu sollen, die eine Gebirnerscbutterung erlitten haben und daher
nicht als funktionelle Erkrankungen gelten kdnnen. Der Nachweis, dass
eine Gehirnerschutterang nicht stattgefundeu hat, wird sich oft erst
durch Nachforschen erbringen lassen. Jedenfalls muss man den An-
gabcn der Patienten gegenuber eine gewisse Skepsis walten lassen.
Prognose und Behandlung werden von dem Grade der konstitutio-
nellen Hysterie und der Erschdpfung bestimmt. Neben der suggestiven
Beeinflussung muss zweifellos zunachst fur mdglichste Rube und Erho-
lung gesorgt werden. Einen relativen Erregungszustand wird mau mit
der Kaufmanu'schen Oeberrampelungsmethode nicht heilen und auch
andere Arten der Suggestion kdnnen erst dann wirksam werden, wenn
die psychische Energie eine gewisse Starke wiedergewonnen hat. Fur
die reinen Erregungszustande gilt das bei der Hysterie Gesagte.
Die Einteilung der Kriegsneurosen trifft auch auf die Unfallsneurose
des Friedens zu. Die Erschdpfung ist heilbar, die Konstitution nicht
Dies erkl&rt, dass die Krankheit im Frieden langwieriger und hart-
n&ckiger ist, als im Kriege, in dem der Einfluss der Erschdpfung h&ufiger
und starker zur Geltung kommt.
Eine genauere Analyse der verschiedenen Formen der Traumatiker
nach den hier dargelegten Prinzipien durfte meines Erachtens von grossem
praktischen Wert sein, da sich eine Reihe neuer Fragestellungen ergeben.
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Aufs&tze zar energetischen Psychologie.
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IX. Kapitel.
Die energetisehe Anffassnog des psychischen Geschehens
als Arbeitsbypothese.
Der Etagenbau der Seele. Ergebnisse der energetischen Anschauungsweise.
Die Behandlang der Hysterie. Die Beeinflassung der K&tatoniefr&ge. Die Epi-
lepsie. Die Vererbung psycbischer Eigenschaften. Erziebung and Konstitation.
Die forensiscbe Bedeatang der Theorie. Die Pathographie. Energetik and
Kanst. Die Psyphoiogie Scbopenhaaer’s.
Gegen die „cnergetiscbc Theorie der Psychosen“ ist von verschie-
denen Seiten der Vorwnrf erhoben worden, dass man nichts mit ihr 1
anfangen k&nne, dass es doch gleichgultig sei, wie man einen Zustand
beqeone, dass also die Theorie praktisch keinen Wert babe. Wenn das
zutr&fe, h&tte die Theorie in der Tat keine Existenzberechtigung, denu
sie soil vor allem eine Arbeitsbypothese fur die Psychiatric sein.
Allerdings bat sich die Psychiatrie erst zu ihrer jetzigen H5he ent-
wickelt, seitdem sie einen Teil der Medizin bildet. Dieser Umstand hat
aber auch nachteilige Foigen geliabt. Die grossen Portschritte, die der
Anatomie, Histologie, Serologie, kurz den mediziniseben Forschungs-
methoden zu verdanken sind, und das Vertrauen in die experimentelle
Psychologie lassen theoretische Ueberlegungen uianchem als uberfliissige
Spekuiationen erscheinen. Die Psychiatrie darf den Zusammenhaug mit
der Medizin zwar nicht verlieren, sie ist aber ebenso sehr ein Teil der
Psychologie. Trotzdem hatte sie unseres Erachtens den Zusammenhang
mit dieser bisher noch nicht gefunden. Die Uuzul&nglichkeit der bisher
aufgestellten Systeme, die schori in den GegensAtzen hervortritt, die
iwischen den verschiedenen Schulen eines Kraepelin, Ziehen, Wer¬
nicke, Binswanger, Bleuler u. a. vorhanden sind, ist stets erkannt
worden und hat immer wieder zu Versuchen gcfuhrt, die Ursachen dieser
Verschiedenheiten aufzufinden und zu beseitigen. Da sie nicht den ge-
wunsehten Erfolg batten, ist der Skeptizismus begreiflich, mit dem
Jaspers unter grossem Beifall der Fachgenossen auf jede' Theorie
feierlich verzichtet hat. Es ist in der Psychiatrie niebt mehr modern,
ein psychologisches System zu haben und es gilt fast als anmassend,
ein ueues aufstellen zu wollen.
Ein gewisserGr&d, wenn aaoh nicht von Anm&ssung, so doch von Selbst-
vertraaen gehort sicherlich za jeder eigenen Ansicht. Wir finden diese Eigen-
schaft bei Paranoikern daher stets krankhaft gesteigert. Wie unterscheidet sioh
aber, konnte man vielleicht fragen, ein wissenschaftliches System von einem
paranoisoben? Der Grad des Selbstbewusstseins, mit dem es verkiindet wird,
durfte nicht massgebend sein, auch falsche Schlusse sind noch kein Beweis for
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Paranoia. In der allgemoinen Beurteilang wird auf die Art derNutzanwendung
der Hauptwert gelegt. So hat man die Freud’sche Anschauung mit der Para¬
noia verglichen, weil sie besonders in ihren extremen Vertretern den Tatsachen
Gewalt antut, wahrend man Wernicke’s immerhin recht erheblich von der
iiblichen Betrachtungsweise abweiehende Tbeorie wegen iher scharfen Abgren-
zung der verschiedenen Krankheitszustande von einander bewunderte. Aber
auch das „paranoische u Festhalten an einer falschen Idee ware noch keine
Paranoia. Denn dicse kann, wie wir gesehen baben, niemals von der sekun-
daren Funktion ihren Ausgang nebmen, vielmehr ist die paranoiscbe Idee stets
erst die Polge katatoner Erregung. Die Paranoia beruht auf krankhaften pri-
maren psyohischen Akten, auf Erlebtem, der wissenscbaftlichen Tbeorie liegt
stets eine Idee, eine abstrakte Vorstellung zu Grnnde. Daher gibt es nicht
zwei Verruckte, die dasselbe System haben, wahrend die suggestive Gewalt
mancber Vorstellungen ganze Volker in ihren Bann schlagt. Eine abstrakte Idee
kann wohl zu einer Zwangsvorstellung, aber niemals zu einer Paranoia werden.
Ohne theoretische Grundlage gibt es jedoch keine Wissenschaft.
Von besonderer Bedeutung aber muss sie fur das Studium des psychi-
sclien Geschehens sein, das wir uns stets durch einen Vergleich nfcher-
rucken miissen, um das Ungreifbare bildlich zu verdeutlichen.
Wenn die Psychiatrie bisher aus psychologisclien Systemen keinen
Nutzen gezogen hat, durfen wir nicht schliessen, dass diese iiberhaupt
zwecklos sind, sondern dass ihre psychologische Grundlage falsch war.
Indem wir diese Grundlage und damit den Standpunkt, den wir den
Tatsacben gegenuber einnehmen, in zweckm&ssiger Weise verandern,
konnen wir wohl die Fekler zu vermeiden hoffen, die den bisherigen
Theorien anhaften.
Die „energetische Theorie der Psychosen u hat die alte Vorstellung
wieder aufgenommen, dass das psychische Geschehen nichts als eine
Erscheinungsform der Energie ist. Das W 7 esentliche und fur die Psy¬
chiatrie Neue der von uns vertretenen Ansicht ist aber die Verbindung
der energetischen Auffassung des Psychischen mit dem Entwicklungs-
prinzip. Diese Kombination ist der Kernpunkt der Jodl’schen Psycho-
logie. So gelangen wir zwar in weiterer Durchfuhrung der Jodl’schen
Einteilung des psychischen Geschehens zu dem bereits fruher vielfach
angenommenen „Etagenbau der Seele u . Dieser Begriff ist h&ufig be-
spOttelt worden, aber nur deswegen mit Recht, weil ihm seinerzeit der
Energiebegriff fehlte. Und dessen Anwendung auf das Psychische f5r-
derte uns nicht, weil auch sein konsequenter Vertreter, Ostwald, die
Vorstellungen nicht als hbhere Stufen, sondern als den anderen koor-
dinierte Elemente des Seelenlebens auffasste. Wenn uns aber das Bild
von der psychischen Kraft in der neuen Gestalt leichtere Verst&ndi-
gungsmflglicbkeit, neue Ausblicke nnd neue Fragestellungen gewfthrt,
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Aufsatze zar energetischen Psychologic.
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wenn es zii klaren Definitionen und neuen Erkenntnissen von Zusammen-
h&ngen fuhrt, wenn es also mehr leistet als die bisherigen Darstellnngen,
so ist es berechtigt und wertvoll. Die wesentlicbsten prinzipiellen Abwei-
chnngen von der herrschenden Art, die Tatsachen zu deuten, seien hier
unter Einbeziebung der Ergebnisse vorliegender Aufsatze nochmals zu-
sammengestellt, um eine Uebersicht uber die Tragweite der Theorie
zu geben.
Die theoretischen Irrtumer der Psychiatrie spiegeln sich in ibrcr
Nomenklatur. Die Hysterie, die Hypnose, die Neurastheuie, die Kata-
tonie, Dementia praecox, Schizophrenic u. a. sind Namen, die von den
Zust&uden, die sie bezeichnen sollen, im Voraus einen falscben Begriff
geben. Man muss daher, wenn nicht ibre Beseitigung, so doch ihre
Klarstellung als dringende Aufgabe bezeichnen. Die energetische Theorie
erscbeint hierzu in befriedigender Weise geeignet. Sie gibt zum ersten
Male eine Definition des Begriffes „psychische Konstitution u und stellt
sechs von der normalen abweichende Typen auf. Diese Verschieden-
heiten werden zusammen mit der individuellen Konstellation als die
Ursache fur die Verschiedenheit der Reaktionen, bezw. der Krankheits-
bilder angesehen. Wahrend man also bisher glaubt, dass eine Krank-
heitsursache immer dieselben Krankheitssymptome hervorrufen musse
— eine aus der Medizin ubernommene Anschauung — finden wir, dass
im Gegenteil verschiedene Ursachen gleiche Wirkungen, dieselbe Ur¬
sache aber verschiedene Wirkungen haben kann und tats&cblich oft hat.
Die Begriffe Reiz, Reflex, Assoziation werden untersucbt und ge-
winnen eine etwas andcre Bedeutung als die bisher ubliche. Da eine
VerSnderung des psychischen Kraftzentrums nur in Erregung oder Hem-
mung bestehen kann, kOnnen nur zwei Arten von Ursachen fur alle
mftglichen Abweicbungen vom Normalzustand in Betracht kommen, die
positiven und die negativen Reize. Die gewOhnlich beachteten psychi¬
schen Krankheitssymptome sind fast ausschliesslich Folgen der positiven
Reize, also Erregungssymptome, w&brend die Hemmungssymptome noch
nicht gcniigend erkannt sind und oft falsch gedeutet werden.
Reflex und Assoziation sind durchaus nicht so verschiedene psy-
ehische Vorg&uge, wie man anzunehmen scheint, sondern jeder Reflex
ist Assoziation and jede Assoziation kann reflektorisch sein.
Die bisher ublichen psychologischen Begriffe, wie Apperzeption,
Dissoziation, Bewegungsvorstellung u. a., haben die Erkenntnis der psy¬
chischen Krankheiten nicht gefOrdert and halten der Kritik^nicht stand.
Die energetische Theorie weist das im Einzelnen nach.
Die vier Kardinalsymptome der Geisteskrankheiten entsprechen den
vicr psychischen Elementen, d. h. es sind Erregungssymptome, in denen
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das botreffende Element Oder wenn man will, die eine Seite des psychi-
schen Gescbehens besonders deutlicb hervortritt. Die starks ten Grade
der Erregung fuhren zum Stupor, der entsprechend in vier verscbiedeuen
Arten auftritt. AIs funfte Stuporform konimt der bisher zu wenig be-
achtete Hemmangsstupor hinzu, bei dem eine Unterscheidung nach Qua-
litaten nicht roOglich ist.
i Infolge des Etagenbaus der Seele kaun nun aber jedes Erregungs-
symptom auf zwei verschiedene Arten zu Stande kommen, es kann kata-
tonisch oder psycbogcn sein. Hemmungssymptome dagcgen sind nur auf
katatonisckem Wege moglich.
Der Begriff „katatonisch u erhalt hier zum ersten Male eineu greif-
baren Sinn und eine psycbologiscbe Bedeutung.
Die Einteilung der Geisteskrankheiten muss deuen der Symptome
parallel geben und ist in dcr Tat auf unserer Grundlagc ohne Schwie-
rigkeiten durchfuhrbar, wenn auch die Tbeorie der Praxis hier noch
etwas vorauseilt. Es ergab sicli die Einheit dcr katatonischen Krank-
heitsformen und die Identitat der vielumstrittenen Begriffe Hysterie,
Neurasthenie, Psychogenie. Allerdings konnten bei diesen Betrachtungen
die Bedurfnisse der Klinik uicbt massgebend sein, sondern nur die psy-
cbologische Erkenntnis. Wabrend aber die Klinik durch iminer feinere
Zergliederung der Erscbeinuugen allmablicb die Uebersicht fiber die
Fulle der Einzelheiten zu verlieren droht, gibt ibr die energetische Psy-
chologie ein einigendes und ordnendes Prinzip an die Hand.
Wabrend die Psychiatric bisher immer wieder den unfruchtbaren
Yersuch macbte, das Zustandekommen einzelner Symptome zu erklaren
legen wir darauf Wert, ob die Erregung von der supprimaren oder
von der sekundaren Stufe ausgegangen ist. Das Zustandekommen des
einzelnen Symptoms hangt von der Konstellation ab, es ist daher
unwichtig, in gewissem Grade zufallig. Nicht der Inhalt von Haliuzi-
nationen usw. ist wesentlich, sondern die Art ihrer Entstehung. Zu
ibrer Feststellung ist die Kenntnis der Konstitutiou von Bedeutung, wobei
besonders die Gegensatzlichkeit der Hysterie und Imbezillitat win der
Hypernoia und Hyponoia zu beachteu ist.
Die Anwendung des EnergiebegrifTs fubrt mit Notweudigkeit dazu,
die gewOhnlich als somatisch bezeichneten Funktionen dem psychiscben
Geschehen als „supprimar“ anzugliedern. Nun folgt ohne weiteres,
dass auch jedes somatische Symptom auf zwei Arten, namlich suppriuiar
oder sekundar, entstehen kann, d. h. es kann einen realen Grand haben
oder vorgcstellt, organisch oder hysterisch sein. Diese wichtige Scbluss-
folgerung wird man immer wieder bestatigt linden. Sie ist fur die
Auffassung der sogenannten traumatischen Neurose von besondereui In-
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Aufsatze zur energetiscben Psyohologie. 135
teresse ood praktischem Wert. Eine Neurose, die ja der Aasdruck
einer Erregung ist, muss stets mit Erregungssymptomen auch suppri-
m&rer Art einhergeheu. Daher kann unter Umstanden das Fehlen der-
selben die Diagnose der Simulation sicbern.
Auch die somatischen Symptome der hysterischen Krankheitszu-
st&nde, zu denen also die traumatische Neurose gehOrt, sind als zuf&llig
entstanden ansusehen. Daher ist jedes bysteriscbe Symptom heilbar,
die Konstitution aber und damit die Neigung zu Rezidiven oder zum
Auftreten anderer Symptome bleibt besteben.
Nur die Beilung der hysterischen Symptome kann Aufgabe des
Arztes sein. Auf Grund unserer Anschauung, dass diese wShrend eines
besonders starken Erregungszustandes entstehen und reflektorische Ver-
bindungen der supprimSren oder prim&ren mit sekund&ren Elementen
darstellen, bestebt die Tberapie in suggestiver Behandlung. Dazu ist
lunltchst notwendig, dass die Erregnng nacbgelassen hat, da sich der
Patient sonst in einem hysterischen Dammerzustand befit) det oder min-
destens einer Autosuggestion untersteht, die ibn gegen Suggestion von
anssen unempfindlich macht. Andererseits aber mus6 die psychische
Energie des Patienten eine gewisse IntensitAt bcsitzen. Die Suggestion
kann also nicht gelingen, solange nach einem Shock oder einem kdr-
perlichen Trauma eine schwcre Erschdpfung vorhanden ist. Dann kann
natiirlich die Aufmerksamkeit. die Erwartung, die Macht der Vorstel-
iuogen, kurz die Erregung der sekund&ren Punktion nicht geniigend
gesteigert werden, um eine wirksame Gegenvorstellung zu erzeugen.
ist aber eine genugende IntensitSt von P vorhanden, so kann die so-
iortige Beseitigung der Krankheitssymptome auf die verschiedenste Art
erreicht werden. Man kann zweifellos auf so drakonische Mittel, wie
sio in neuester Zeit empfohlcn werden (Kaufmann), verzichten.
E. Mendel lehrte, die Hysteric wird durch den Glauben an das
Heilmittel gcbeiit, und demoustrierte in jedem Semester seinen ZuhSrern
solche Heilungen, die er w&hrend des Rollegs mit Hilfe eines Ma-
gneten ausfuhrte. Wir meinen, dass der Glaube an die Erankheit
beseitigt werden muss, und halten es daher fur unzweckm&ssig, sich auf
ein Mittel oder eine Methodc festzulegen. Die Form der Suggestion
muss vielmohr dem Falle angepasst sein, je mehr verschiedeno Methoden
dem Arzt zur Verfugung stehen, desto besscr.
Die Kranken fuhren ihr Leiden oft auf Drsachen zuruck, die tat-
sichlich nicht als solche in Fragc kommen. Sie halten sich vielmehr
oft an Nebenumst&nde. Das kann man auch den Freudianern zugeben,
ihre Annahme jedoch, dass stets sexuelle Ursachen an die Stelle der von
den Patienten angegebenen zu setzen sind, trifft jedeufalls nur selten zu.
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Ein typischer Fall von Verkennung der Ursacke radge liier folgen:
Ein 20jahriger Infanterist lilt seit einem Nervenshock, den er vor l j 2 Jahr
an der Westfront erlitten hatte, an der ublichen Pseudoparesis spastioa mit
Schutteltremor der rechten Hand, Zuckungen des Kopfes und des rechten Beins.
Er konnte die Hand wenig gebrauchen, nicht schreiben, zeigte das Pseudo-
Romberg’sche Symptom. Er war 4 Woohon lang im Lazarett mit starken elek-
trischen Stromen behandelt worden, wobei er Schmerzen hatte, „als ob das
Fleisch herausgerissen warde u . Das Leiden hatte sioh in der Garnison etwas
gebessert, war aber nach zweitagigem Aufenthalt dicht hinter der Front wieder
in alter Starke aafgetreten.
Er selbst gab an, durch Verschdttung krank geworden zu sein. Im Laza¬
rett sei ihm gesagt worden, dass der starke Knall einen Nervenshock hervor-
gerafen habe, daher vertrage er auch jetzt koine Gerausche. Jeder wisse, dass
die starken Explosionen solche „raoralische w Wirkung hatten.
Nachdem ihm auseinander gesetzt war, dass der Eindruck der verwun-
deten Kameraden und die Lebensgefahr, in der er sich befunden hatte, ihn so
aufgeregt habe, dass er zitterte, wurde er ohneSchwierigkeiten in Wachsugge-
stion von seinem Leiden befreit. Am selben Tage schrieb er einen Brief nach
Hause und macht nun unbehindert Dienst.
Bemerkenswert erscheint immerhin, dass dieser Erfolg trotz ungiinstiger
ausserer Verhaltnisse (hauGges Schiessen der Artillerie wahrend der Behand-
lung) erzielt werden konnte.
Diese Zusammenstellung der tkeoretischen Ergebnisse kOnnte leicht
durck eine Reihe von Einzelkeiten vermekrt werden. Wenn die Theorie
aber nichts als eine klare Bestimmung kliniscker Begriffe und eine
naturliche Gruppierung der Geisteskrankhciten ermoglichen wurde,
musste sie schorl als wertvoll anerkannt werden. Besonders bemerkens¬
wert ersckeint noch, dass sie die Unterscheidung von Hysterie und
Simulation erleichtert und die Tkerapie der kysteriscben Symptome,
die aus dem Stadium des Experimentiereus noch nicht herausgekommen
ist, zu zielbewusstera Handelu anleitet.
Welcher Nutzen der Prognose der katatoniscken Erkraukungen aus
der Beacktung der Theorie erwachsen wird, kann erst nach entsprechen-
der Bearbeitung eines gr6sseren Materials beurteilt werden. Immerhin
durften gerade hier die neuen Gesichtspunkte zu einer Belebung der
seit langerer Zeit resignierenden Forschung fukren.
Von besonderem Einfluss kann aber die Theorie auf die Erforschung
von der Ursache der Geisteskrankheiten und die Vererbung psyckischer
Eigenschaften werden. Trotzdem darauf bereits mehrfach hingewiesen
wurde, wollen wir diese Punkte hier noch etwas ausfuhrlicher erdrtern,
weil der erste Fortschritt, der auf Grand der neuen Theorie gemacht
wurde, mehr als alle anderen Umstaude ihren Wert erweisen wurde.
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Aufsatze zar energotischen Psychologie.
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Da es sich hier aber urn die schwierigsten Fragen der Psychiatric
handelt, kOnnen wir uns nicht der Hoffnung hingeben, dass ihre LOsung
unmittelbar bevorsteht.
Anstatt fur die Dementia praecox, das zirkulSre Irresein, die
Paranoia usw. vcrschiedene Krankbeitsursachen anzunehmeu, fuhrt die
energetische Theorie zn der Annahme, dass diese Krankbeiten nur ver-
schiedene Konnen der katatoniscben Psychose darstelien und es sich
also nur urn eine einzige, ilinen alien zu Grunde liegende Krankheits-
ursache handeln kann. Wir halten es femer fur wabrscbeinlich, dass
auch einzelne Formen der Dementia senilis, der Idiotie und der Epilepsie
nicbts als Kombinationen dieser unbekannteu Noxe mit Alterserschei-
nungen bezw. Entwickelungsstdrungen darstelien. Dieselben Umst&nde,
die uns in der Ratatonie eine Stoffwechselerkrankung vermuten lassen,
weisen uns zur Erforscbung ihrer Noxe auf die Serologie. Dabei wird
man zweckm&ssiger Weise zunichst die Falle untersuchen, 'in denen
man die st&rksten Grade der Erkrankung vermuten muss. Das durften
einerseits die in der Pubertat einsetzenden und scbnell zu geistigem
Verfall fuhrendcn Fallo sein, andererseits gehOren die cbroniscben Er-
krankungen der sp&teren Jahre hierber, soweit sie besonders hyper-
noische Konstitutionen betreffen, bei denen die katatoniscben Symptome
lange durch hysterische verdeckt werden konnen. Beide Kategorien
von Kranken stellen jedenfalls schwere Formen dar, der Unterschied
de8 Verlaufs durfte auf der geringen Widerstandsf&higkeit des jugend-
lichen Organismus beruhen.
Der Vergleicb mit don genannten organischen Erkrankungen ist
unter Zuhilfenahme der Histologie anzustellen. Wir unterscheiden zwei
Formen von Epilepsie. Die eine zeigt im Wesentlichen supprimftro
SWrangen, also Kr&mpfe und Absencen, zu denen allenfalls eine ge-
wisse Reizbarkeit hinzukommt, die andere zeigt daueben alle Symptome
der Dementia praecox. Bei dei; ersten Form fubrt die histologiscb
nachwoishare EntwickelungsstOrung zu den periodiscbeu Storungen, bei
der zweiten treten diese gegenuber den katatoniscben Erscbeinungeu
zuruck oder kombinieren sich zu schwerstem Verfall der psychischen
Kraft. Schon eine verhaltnismassig geringe Starke der katatoniscben
Komponente wird hier zu erheblichen StOrungcn fubren, was sich bisto-
logisch und serologisch erweisen muss. Aehnliches muss sich fur die
Dementia senilis ergeben, docb ist die histologische Abgrenzung hier
noch weniger scharf als bei der Dementia praecox, so dass die Erkran¬
kungen des Alters zuu^chst fur diese Untersuchungen am wenigsten
Erfolg versprechen Von Idioteu kommen dagegen die nicht seltenen
Fllle mit negativem histologischen Befund als wabrscbeinlich stark
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katatoniscb in Betracht. Diese Vermutung wird durcli die event, nach-
weisbare erblicbe Belastung mit Katatonie zu stutzeu sein.
Bei hysterischen Krankheiten kann naturlick die katatoniscke Noxe
nie auftreten.
Gegen unsere Einkeitspsychose, die sich allerdings in ihrem Wesen
und ibror Bcgrundung von der alten Arndt’schen sehr unterscheidet,
kCnnte eiugewandt werden, dass z. B. die Paralyse anf diese Weise
anch hiuzugerechnet werden kOnute und ibre Spezifizitat nie gefunden
worden ware, wenn man die Konstitution und Konstellation als die
Ursache des verschiedenartigen Auftretens angenommen hatte. Aber
gerade das Beispiel der Paralyse scheint fur unsere Auffassung be-
weisend, da wir an ihm seben, dass einc und dieselbe Noxe tatsacb-
lich alle Formen der jetzt nocb als fnnktionell anzusebenden katatoni-
schen Psychose hervorrufen bezw. vortjiuschen kann. Unsere Auffassung
muss dazu fuhren, ebenso wie es bei der Paralyse der Fall war, an-
scheinend ganz verschiedene Krankbeitsbilder nuf eine gemeinsame Ur-
sacbe zuruckzufuhren und so eine neue Gruppe gegenuber den wirklicb
funktionellen d. h. psychogenen und den organischen Psychosen abzu-
grenzen. Es durfte jedenfalls mehr Erfolg versprechen, eine einzige
Noxe zu suchen als fur jede der verscbiedenen Formen eine besondere.
Zur Begrundung der Annahme, dass es sich in den von uns als
katatoniscb bezeicbneten Psychosen um dieselbe Rrankheitsursache
handelt, liefert die Betrachtung der Vererbung eine wesentliche Stutze.
Dies ist fur die klinischen Tatsacken beroits in der Theorie der Psychosen
erOrtert worden. Auf Grund dieser Aufsatzo konnen wir nun auch die
Vererbung im Bereich des normalen psychiscben Gescbehens beruck-
sichtigen.
Die Definition und die Einteilung der Konstitution liefert uns die
Erbeinheiten, deren Vererbung wir nackgehen miissen. Vererbbar ist
nur die Konstitution, die Starke und Form der psychiscben Reaktiouen.
Die Konstitutionsformeln P < S und P > S werden wir zum Zweck
dieser Untersuchung besser pS und Pa schreiben und konnen die Ab-
weichungen P <[ 1 und P 1 zunachst unberucksichtigt lassen, da es
im Bereich des Normalen nur auf das Verh<nis P: S ankommt.
Dies Verbaltnis ist aber nicht nur fur die gesamte Intensitat von
P und S wichtig. Diese setzt sich vielmehr aus einer unbestimmten
Anzahl von Teileinheiten zusammen, namlich aus so viel Teilen, wie
wir Qualitaten prim&ren psychiscben Geschehens annehmen kOnnen,
wenn wir, wie bereits erwahnt, unser Schema nach Art des Spektrums
erweitern. Dann erhalten wir z. B. im Gebiet des Empfindens die zahl-
reicben Qualitaten sinnlicher Eindrucke. Hier konnen wir, obne irgend
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Aufsatze zur energetiscben Psycbologie.
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welchen Annahmen unserer Theorie zu widersprecheu, fur einzelne ein
Verh<uis P = S, fur andere P S uud schliesslich fur einige P )> S
annebmen. Darait tragen wir nur don stets betonten Tatsachen Recbnuug,
dass die Konstitution nur im Grossen -und Ganzen fur die psychisohe
Art zu reagieron entscheidend ist und dass einzelne Qualitaten im Be-
wusstseinszustand eine grOssere Rolle spieleu als andere. Die psychi-
scben Reaktionen kSdnen in gewissen Grenzeu auf einzelne Reize starker
oder schwacker ausfallen als im allgemeinen. Ebenso wie es ein
temporares oder konstellatives Ueberwiegen einer Qualitat gibt, so muss
es auch ein konstitutionelles Ueberwiegen oinzelner Qualitaten geben.
Qualitaten dcs Empfindens sind in dem bier gemeinten Sinne Sehen,
HOren usw. Wir haben es also mit einer hdheren Form des primaren
Empfindens zu tun. Entsprechend waren fur das Fuhlen und Streben
„an sich“ die unmittelbar eriebten Affekte und Triebo zu setzen, die
der primaren Lust and Unlust und dem primaren Streben und Wider-
streben gegenuber jedenfalls eine hohere Differenzierung voraussetzende
Form primaren psychiscben Geschebens darstellen.
Die normale Konstitution kann man sicb danacb aus sehr vielen
PS zusamraengesetzt deuken und eine besonders bervertreteude Qualitat
als P* S 11 bezeicbnen. Aucb diese kann wieder als zusammengesetzt
and aus verschiedenen Einzelgliedcrn bestehend angenommen werden.
Nehmeu wir z. B. an, in einer Konstitution (PS) n XP 2 S 2 sollte P 2 S 2
die musikalische Begabung bezeicbnen, so kOnnte die Art derselben
doch sehr verschieden sein. Sie kann sich mehr reproduktiv als pro-
duktiv aussern, was wir auf starkeres oder geringeres Ueberwiegen
von S zu beziehen batten, sie kann besonders mit Gefubl fiir Rhytkmus
oder fur Stimmung gcpaart sein, sich in schnellem Erfassen oder in
gutem Gedacbtuis fur neuc Harmonien aussern, je nachdem die Spon-
taneitat, die AfTektivitat oder das Empfiuden starker ausgebildet ist.
Nicht konstitutionell bedingt ist dagegen, ob sich das Talent betatigt
oder welches Instrument es bevorzugt. Das hangt naturlich von Zu-
falligkeiten ab. Stets ware aber festzustellen, aus welcher primaren
Qualitat die vorliegende Art der Begabung uberwiegeud abzuleiten ist.
Hicr sind zweifellos Zusammenhangc vorhanden, die nocb zu wenig
beach tet sind, und es ergeben sich fur die Frage der Vorerbung wichtige
Anhaltspunkte. G. Sommer 1 ) macht darauf aufmerksam, dass sich der
Blockausdruck „Sprachbegabuug“ in eine Summo von Einzeldispositionen
auflosen ifisst. Welche Begabung man aber untersucht, stets wird man
•ines der prim&ren Elements als die wesentliche Quelle der Begabung
1) G. Sommer, Geistige Veranlagung und Vererbung. Teubner. 191b.
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ansprechen mussen. Fur diese prim&re Quelle mussen die Vererbungs-
regeln zunftchst studiert uud festgestellt werden, nicht aber fur ihre
eutferntesten Auslaufer.
Sommer kommt an anderer Stelle zu dem Schluss, dass nur die
Disposition erblich ist, „eine Labilitat der seelischen Konstitution, dieje
nach der gebotenen Gelegenheit zu der gleicben oder aber einer anderen,
eveut. ahnlichen Verrirrung disponiert‘‘. Setzen wir hier fur „Verirrnng u
„Inbalt M , was berechtigt sein durfte, da die Vererbbarkeit von guten und
bosen Eigenschaften wohl gleicbartig ist, so linden wir hierin eine Be-
statigung unserer Anschauung. Die Labilitat sehen wir in dem vererb-
baren YerhaJtnis P : S.
Sommer glaubt aber, die „Anlage zur Wahrhaftigkeit 11 auf ihre
Erblichkeit untersnchen zu kbnnen, und macbt also gerade den Fehler,
an einer tertiaren Eigenschaft die Vererbung des psyckischen Geschehens
auseinanderzusetzen, deren Entwickelung im Individualleben von ausseren
Zufalligkeiten abhangig ist. Bevor nicht mebr Klarbeit iiber die Ver¬
erbung der primaren Qualitaten und ihres Verhaltnisses zur sekundaren
Fuuktion gescbaffen ist, halten wir es fur zwecklos, iiber die Vererbung
komplizierter psycbischer Eigenschaften zu diskutieren. Eine Eigen¬
schaft wie die Wahrhaftigkeit kann nie vorhanden sein, obne dass auch
das ethische Empfinden als solches entwickelt ist. Die Grundlage hier-
fur stellt die sekund&re Fuuktion dar, deren hOhere Entwickelung sich
uberwiegend auf ethischem Gebiet aber ebensogut auf sozialem oder
asthetischem betatigen kann. Fur die Art der Betatigung sind aussere
Momente massgebend. Wenn also der Sohn eines Pastors Arzt oder
Lehrer wird, so kann er zwar die Hyperfunktion von S ererbt haben,
er kann sie aber anders verwerten als der Vater. Das hangt im Einzelnen
von den erworbenen reflektoriscben Assoziationen ab, daher baufig der
Sohn wieder Pastor wird, wenn nicht andere Einfliisse der Umgebung
die des Vaters iiberwiegen. Vererbt wird aber nur die Begabung,
nicht das Theologische oder Medizinische oder Juristische. Wir mussen
also derartige Eigenschaften, die inhaltlich von einander abweichen,
zu einander in Beziehung setzen und als vererbt ansehen, wodurch das
Problem doch wohl in anderem Lichte erscheint als sonst.
Fur die Vererbung kunstlerischer F&higkeiten ist in Betracht zu
ziehen, dass die Trennung von Gesichts- und Gehbrseindrucken z. B.
ausgesprochener ist als die von juristischen und anderen wissenschaft-
lichen Gedaukenghngen. Die Funktionen des Auges und des Ohres
sind an bestimmte Gehirnteile gebunden, was von den tertiaren psy-
chischen Akten nicht angenommen werden kann. Es ist infolgedessen
wohl moglich, dass der Vererbung der kunstlerischen Talente eine
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Aufsatze zur energetischen Psychologic.
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Vererbung lokaler Ueberwertigkeit der betreffenden Zentren einhergebt.
Ianerbalb der einzelnen Erbeinkeit gibt es zwar Verscliiedenheiten.
Ob jemand aber Zeichner, Maler, Bildhauer oder Arcbitekt wird, ob
er also starker in der Kormgebung oder in der Farbenempfindung, in
tier Auffassung der Bewegung oder der der Perspektive ist, immer muss
er ein besonders entwickeltes Selizentrum baben.
Die Vererbung gewisser Talente kann daher auch auf abnorme,
ja minderwertige Konstitutionen erfolgen. Wir finden bei Imbezillen
and Idioten mitunter eine auffallende musikalische oder sonstige — in
letztem Falle allerdings relative — Begabung, die das ubrige geistige
Niveau weit uberragt. Das scbwachsinnige lndividuum kann jedocb
mit seiner Begabung nickts anfangen, die Ausubung und Verwertung
eines Talentes ist vielmebr nur bei Iudividuen von normaler Konstitution
mOglich. Wie eine ethische Qualitat nur auf dem Untergrund einer
hockstekenden PersOnlichkeit, einer kockentwickelten Sekundarfunktion
emporwachsen kann, so ist ein kunstlerisches Talent nur bei hochent-
wickeltem Sinnesorgan denkbar. Das Talent allein mackt nocb keinen
Kunstler, es muss dazu mit einer hockwertigen Konstitution verbunden
sein. Eiue etbische, ftsthetische oder soziale Begabung kann nur mit
einer solcheu zusatnmen vorkommen, sie ist ein Teil einer stark ent-
wickelten terti&ren Funktion, die kunstleriscbe Eigenschaft jedoch ein
Teil der betreffendeu Empfindung, die in prim&ren Akten wurzelt.
Diese ist daher in ilyer speziellen Eigenart vererbbarer als jene, die
nur in ihrer allgemeinen Grundlage — der Hyperfunktion von S —
vererbbar ist.
Die psychischen Funktionen sind, wie sich aus diesen ErOrterungen
ergibt, nicht in gleicher Weise vererbbar wie kdrperliche Eigenschaften,
die Vererbbarkeit nimmt vielmebr mit der Hflhe der Entwickelungs-
stufe ab.
Nun wird auch die fruhere Ablehnung dor Behauptung, dass die
Homosexuality angeboren sei, begrundet erscheinen. Auch hier wird
nur der Trieb, nicht die Richtung desselben, die Disposition, nicbt der
Inbalt von den Vorfahren geerbt.
Die kOrporlichen Eigenschaften sind stiirker vererbbar, sie sind
mit dem Organismus inniger verbunden als die geistigen. Daher auch
die individuellen Ver&nderungen des Kdrpers wftbrend des Lebens er-
beblicb geringer sind als die des Geistes und die kdrperlichen Eigen¬
schaften der Vorfahren sich bei den Deszendenten 5fter wiederholen
und l&nger erhalten als die geistigen. Das musikalische Talent ist als
solches vererbbar, die Wahrbaftigkeit nur in Form der Disposition fur
etbisches Empfinden.
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Dr. Harry Marcuse,
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Die Aufgabe ware also zunachst, die Vererbung der Konstitution
als solcher festzustellen. Wie verhalten sich die Deszendenten, wean
die Konstitutionen der Elteru die Formel: 1) pS-|-pS, 2) Ps-j-Ps,
3) pS-J-Ps haben. Im Fall 3 ist noch zu unterscheiden, welcber
Einfluss dem Vater und der Mutter zukommt, so dass hier zwei Mfig-
lichkeiten vorhanden sind. Ferner ist auch das Geschlecbt der Kinder
zu berficksichtigen.
Die weitere Frage ware dann. welche Elemente der psychischen
Konstitution vererbbar sind, ob gewisse Elemente enger miteinander
verbunden sind, so dass sie stets gemeinsam vorkomraeri. Vor allem
wfirde wolil interessieren, ob korperlicbe und psychische Elemente mit-
einauder verkoppelt sind, wie es in vielen Fallen den Anscbein bat,
z. B. musikalisches Talent und Bildung der Ohren oder die hypernoiscbe
Konstitution der Mutter und die Form ihrer Hande, die Farbe der Iris,
oder eine besonders starke Spontaneitat uud gute Entwickelung der
Muskulatur. Es gibt bier sebr viele MOglichkeiten, fiber die nocb kein
Tatsachenmaterial vorliegt, deren Erforschung wohl geeignet erscheint,
das Dunkcl der psychischen Vererbung etwas zu licbten.
Man bat besonders versucht, die Kopfform in Beziehung zur geistigeu
Entwickelung zu setzen, ohne aber zu verwertbaren Resultaten zu ge-
langen. Mit den absoluten Massen dfirfte bier uicht weiterzukommeu
sein und man ist auch bereits dazu fibergegangen, verschiedene Rela-
tionen wie Gewicht des Gehirns zum Kdrpergewicht, Lange der ver-
schiedenen Kopfdurchmesser zu einander u. a. zu berficksichtigeo. Dem
Geffihl erscheint oft das Verhfiltnis des Gesichts- zum Gebirnschadel
dem der prim&ren zur sekundarcn Funktion zu entsprechen. Ob Mes-
sungen vorliegen, die ffir oder gegen eine solcbe Proportionalitat sprechen.
entzieht sich uuserer Kenntnis. Man mfisste sich dazu etwa auf einer
der Gehirnbasis entsprechend durch den Schadel gelegten Ebene zwei
Kegel konstruieren und bestimmen, ob deren Volumina dem Verhaltnis
P: S entsprochen. Die Feststellung, ob bier eine konstante Beziehung
vorhanden ist, erscheint immerhin von Interesse.
Vielfach hat man bei Katatonikern ein Deberwiegen kfirperlicher
Degenerationszeichen festzustellen geglaubt, ohne bier zu einwandfreien
Schifissen zu gelangen. Sie findeu sich auch bei normalen Individuen,
sind aber vor allem bei pathologischen Konstitutionen h&ufiger. Nicht
die Erkrankung an Katatonie dfirfte mit ihnen in Verbindung zu bringen
sein, sondern die absolute Schw&che von P. Es ist nicht unwahr-
scheinlicb, dass Individuen, die kfirperliche Anomalien erben, auch die
psychischen Abweichungen aufweisen, dass also hier eine Kombination
von Erbeinheiten vorliegt.
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Aufsatze zur energetischen Psychologie. 143
Nicht zu iiberseken ist hierbei, dass der Begriff „Degenerations-
zeichen" kein feststeheuder ist. Gs erscheiut z. B. recbt zweifelhaft,
ob die angewachsenen OhrlAppchen oder die zusammengewachsenen
Augenbraaen die ihnen anhaftende ominSse Bedeutuug wirklicb ver-
dienen. Sie sind gerade bei hochentwickelten Individueu nicht selten
und es kOnnte doch auch cine aberratio ad majus geben.
Die Erfalirung, dass das Genie gewbhnlicb nicht erblich ist, be-
sonders aber dass es oft einc oder (seltener) mehrere Generationen
uberspringt, ist vielleicht jetzt schon leichter zn verstehen. Das uber-
grosse P des Vaters wird dnrch eino weniger begabte Mutter (vielleicht
auch durch das Alter des Vaters ?) kompensiert, und erst in der n&ch-
ston Generation ist das psychische Grbgut wieder grosser als normal.
Die Mendel’schen Gesetze sind hier, wo es sich stets um kleine Zahleu
handelt, nur in beschrAnktem Masse verwertbar. Trotzdem scheint mir
ein Versuck ihrer Anwendung Rrfolg zu versprechen, wenn man in
einer inoglichst grossen Zahi von Fallen die Konstitutionsformeln von
Gltern und Deszendenten eruiert.
Eine schwierige Frage ist noch zu crOrtern. Wir nannten die der
Hyponoia naliestehende bezw. im Sinne dorselben starker von der Norm
abweichendc Konstitution imbezill oder katatonisch. Die Berechtigung
dazu sahen wir in dor Uebereinstimmung ihrer Kcaktionsweise mit den
katatonischen ZustAnden. Es liegt nalie anzunehmeu, dass hier ein
tieferer Zusammenhang vorliegt. dass namlich die imbezilie Konstitution
zur katatonischen Erkrankung disponicrt, dass sie vielleicht sogar den
Ausdruck der ererbten Kata ton ie darstellt. Gegen diese Auffassung
spricht, dass Imbezilie wohl nicht hAufiger als Normale katatODisch cr-
kranken, fur dieselbe. dass AngehOrige von Katatonikern mitunter
imbezill sind. Beides ist behauptel worden, fur boide Behauptungen
scheiuen mir aber- ausreicheudc Erfalirungen nicht vorzuliegen. Wir
sehen dagegen hAufig hypernoischc Menschen schnell katatonisch ver-
fallen und finden bei Katatonikern kochbegabte und gesunde Geschwister.
Es durfte also vorlAufig die katatonische Konstitution von der kata¬
tonischen Krankheit, was die Vererbung anbelangt, scharf zu trennen
sein. Vielleicht ist der Zusammenhang der, dass die Konstitutionen
mit kleinera P der katatonischen Noxe gegenuber goringere Widerstands-
kraft besitzen, wAhrend die Vererbung von Konstitution und katatoni¬
scher Noxe nichts miteinander zu tun haben.
Das Studium der Konstitution und der Vererbung muss auch das
fur die Psychiatric so wichtige und heute noch recbt undankbare Kapitel
der Prognose katatonischer Krankheiten beeinflussen. Die Prognose
einer Psychose ist bei katatonischer Entstehung ungdnstiger als bei
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Dr. Harry Marcuse,
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psychogener. Bekanntlich uberstehen aber minderwertige lndividuen,
Hyponoiker stSrkeren Grades ofter katatoniscbe Anfalle, obne besonderen
Scbadon davonzutragen, wahrend sie bei Hypernoikern nur selten yollig
ohne Defekt ausheiien. Wie in der Theorie der Psychosen scbon er-
w&bnt, fuhrt die katatonische Noxe im ersteren Falle scbon bei ge-
ringerer Intensitat zu Krankbeitserscbeinungen, so dass katatoniscbe
Symptome einer hypernoiscben Konstitution entsprochend prognostisch
ungiinstiger zu veranscblagen siud. Die kliniscben Erfabrungen sprecben
ferner dafur, dass die iiberwiegende Beteiligung eines primareu Elementes
an der katatonischen Erregung prognostiscb gunstiger ist ais die gleich-
massige Beteiligung der gesamten prim&ren Fuuktion. Hemmungs-
symptome scheinen, wenn sie deutlich ausgebildet sind, die Prognose
zu verscblechteru, doch bedarf gerade dieser Punkt noch grundlicher
Bearbeitung. Er ist zunacbst fur die mit Hemmung beginnende Kata-
tonie von Wichtigkeit, dann aber auch fur die hysterischen Zustande
_ mit Erschbpfung, also fur gewissc Formen der traumatischen Neurose.
Solange die serologische Erkennung der Katatonie noch ausstebt, durfte
die psychologiscbe Analyse iii unserem Sinne auch hier wertvolle
Dienste leisten.
Die hier aufgeworfeuen Fragen stellen gewissermassen eiu Programm
fiir kunftige Untersuchungen auf. Dasselbe kann wobl etwas kuhn
und phantastiscb erscheinen uud ich wurde mich scheueu, solche Zu-
kunftsplane auszusprecben, wenn niebt die Arbeit, die hier zu leisten
ware, meines Erachteus Erfolg verspracbe, dabei aber die Kraft eines
Einzelnen bei weitem uberstiege. Ein Institut fur psycbiatrische For-
sebung ist im Entstehen begriffen. Sollte es niebt der Muhe wert
sein zu erproben, ob sicb unsere theoretischen Vorstellungen als uutz-
licb erweisen?
Gegenuber der Auffassung von Jaspers, die uns einen Fortscbritt
zu erschweren scheint, mochten wir uns auf Fr. A. Lange berufen;
„Die Idee ist fiir den Fortscbritt der Wissenscbaft so unentbehrlich
wie die Tatsache. Sie fuhrt niebt notwendig zn Metapbysik, obwohl
sie jedesmal die Erfahrung iiberschrcitet. Aus den Elementen der Er-
fabrung unbewusst und schnell, wie das Anscbiessen eines Kristalls,
hervorspriugend, kann sip sich auf Erfahrung zuruckbeziehen und ihre
Bestatigung oder Verwerfung in der Erfahrung suchen 1 ). „Nicht ab¬
solute Wahrheit“, fuhrt Lange weiter aus, wird von der Idee gefordert,
sondern „Brauchbarkeit, Vertraglichkeit mit dem Zeugnis der Sinne
in dem durch die Idee geforderten Experiment, entsebiedenes Ueberge-
1) Fr. A. Lange, Geschichte des Materialismus. II. 2. 11.
Gck igle
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I
Aufsatze zar ftnergetischen Psychologie. 145
wicht fiber die eatgegenstehenden Auffassungen — das genfigt schon,
am der Idee das Burgerrecht im Reiche der Wissenschaft zu geben.“
Diese Forderungen sind diesel ben, die wir an unsere Arbeitshypo-
these stellen und denen diese anseres Erachtens in hobem Masse ge¬
nfigt. Sie ist far die Psychiatric geschaffen und ist fur diese vor allem
von Bedeutung, wShrend sie gleichzeitig hier ibre wesentlichste Be-
stltigung findet. Ihre Anwendbarkeit erstreckt sich aber noch weiter.
Wer sich die Grundlagen unserer Anscbauung zu eigen gemacht hat,
wird psychologische Fragen, wo sie sich auch darbieten, in etwas
anderem Lichte ansehen als vorher. Eine ausffihrliche Darlegung uns
vorbehaltend wollen wir hier nur, um falschen Schlfissen vorzubeugen,
einige Hinweise geben.
Am nficbsten liegt es wohl, das Problem der Willensfreiheit,
dessen Bedeutung fur die forensisclie Psychiatric wie fur die Ethik
keines Beweises bedarf, zu betracbten. Wenn die Eonstitution ange-
boren ist, die moisten psychischen Akte aber gemass der Konstellation
reflektorisch verlaufen, so entfallt offenbar jede Verantwortlicbkeit des
lodjviduums fur seine Taten. Wir braucben die guten Handlungen
nicht zu bewundern und durfen die Verbrechen nicht bestrafeu, ja wir
kfinnen auch nicht erwarten, dass die Erziehung einen erheblichen Ein-
fluss ausubt. Denn alles, was der Mensch empfindet find fuhlt, was
er tut und denkt, ist durch die Struktur seines Zentralnervensystems
bedingt. stellt gewissermasscn einen Mechanismus dar, der unbeirrt,
ohne Rucksicht auf Gesetz und Recht, auf Gut und Bfise, seine Walze
abspieien lfisst.
Die Seele ist in der Tat einem Saitenspiel vergleichbar, das infolge
einer geheimnisvollen Kraft stfindig tfint, mal starker, mal schwacher.
Die Melodie stellt die herrschende Qualitat dar, die andern sind die
begleitenden Akkorde. Einfluss hat (lie Vergangenbeit wie die Gegen-
wart, besonders aber die Bauart des Instruments. Nicht wir spielen
auf diesem Instrument — dies Instrument sind wir. Und nur zum
kleineren Toil lenken wir die Melodie nacb unserem Willen. Die Er¬
ziehung will auch aus dem weniger edlen Instrument herausholen, was
berauszuholen ist, das Gesetz unterdrfickt mit Gewalt die stfirenden
Disharmonien, die Ethik schafft durch Anerkennung und Bewunderung
der Hfichstleistungen das Streben, solche hervorzubringen.
Es ware also TfiUig unberechtigt, unserer Anscbauung entgegen-
halten zu wollen, dass sie die pfidagogischen Bestrebungen als illusorisch
hinstelle, jede Dntat entschnldige und jede etbische Tat ihres Wertes
beraube. Das Gegenteil ist der Fall!
ArtUf L PiychimtrU. Bd. 60. Heft t.
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Dr. Harry Marcuse,
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Allerdings kann Erziehung nur da etwas erreichen, wo etwas Er-
ziehbares vorhanden ist. Wir halten es nicht fur zweckm&ssig wie
es leider vielfach ublich ist, grosse Muhe darauf zu verwenden, Idioten
Dinge auswendig leroen zu lassen, die sie nicht verstehen. Das ist
keine Erziehung, sondern Dressur! Erziehung kann nur darin bestehen,
Vorstellungei} zu bilden, an der Starke der primaren Funktion und
ihrem Verhaltnis zur sekund&ren kann sie nichts Sndern. Vorstellungen
lassen sich nur bilden und k5nnen nur dann das Handeln und Denken
beeinflussen, wenn die sekuud&re Funktion in gewissem Grade ent-
wickelt ist. Dnsere Anscbauung wird uns also in der Auswahl der
erziehbaren Individuen unterstutzen und das Herausfinden der Unerzieh-
baren erleichtern. Diese Trennung ist bisher praktisch zu wenig durch-
gefuhrt. Es ist noch viel zu sehr von Zufalligkeiten abh&ngig, welche
Psychopathen in die Irrenanstalt und welche in die Erziehungsanstalt
kommen. Viel zu sebr h&ngt das einfach davon ab, ob die Gelegen-
heit zu einer strafbaren Handlung gegeben war oder nicht.
Verbrecher gibt es nur vom juristischcn, nicht vom psychologischen
Standpunkt. Der Begriff der freien Willensbestimmung, den das Gesetz
noch immer zum Masstab der strafrechtlicken Verantwortlichkeit macht,
trifft nicht das Wesentliche.
Jede Handlung, ob gut oder schlecht, kann auf zweifache Art zu
erkl&ren sein. Sie kann erstens der Konstitution entspringen. Dann
wird das Individuum gegebenenfalls stets in derselben Weise reagieren,
es ist unverbesserlich, unbelehrbar. Steht die Art der Reaktion (ihr
Inhalt) in erheblichem Widerspruch zu den Interessen der Gesiyntheit,
die denen des Einzelnen vorangeken mussen, so bleibt nichts ubrig,
als sie mit Gewalt zu verhindern. Nicht Strafe sondern Iuternierung
in einer Irrenanstalt ist hier angebracht.
Zweitens kann die Handlung durch krankhafte Erregung einer ge-
wohnlich nicht so stark reagierenden Konstitution ausgelost werden.
Hier ist die supprimftre oder sekundare Entstehung der Erregung zu
unterscheiden, bezuglich der Verantwortlichkeit aber kommt vor allem
der Grad der Erregung in Betracht. Praktisch wurde wohl stets hier-
auf der grSsste Wert gelegt und nicht die Frage beantwortet, ob Ein-
schr&nkung oder Ausschluss der freien Willensbestimmung vorgelegen,
sondern ob die Erregung stark genug war, um dies zu vermogen.
Unsere Einteilung der Konstitutioneu durfte es erleichtern, die Wirkung
eines bestimmten Reizes, sei er supprim&r oder intrapsychisch, abzu-
sch&tzen und so mit grOsserer Sicherheit als bisher zu bestimmen, ob
die Grenze der Zurecknungsf&kigkeit, im Sinne des Gesetzes, uber-
schritten ist oder nicht. f
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Aufsatze zur energetiscben Psyohologie.
147
Massgebend daffir, ob eine krankhafte oder eine strafbare Hand-
lnng vorliegt, ist unserer Auffassung uach die Starke und Form der
psvchisehen Kraft, die sie erforderte. War die Kraft gering, so handelte
es sicb um eine reflektorische Handluug, die also nicht strafbar sein
kann. War die Kraft aber gross, so kann sie uberwiegend primar
oder ilberwiegend sekund&r gewesen sein. In beiden Fallen liegt eine
abnorme Reaktion vor. Nur wenu die Kraft erheblich, dabei aber das
□ormale Yerhalten V : S gewahrt blieb, kann es sich um eine strafbare
Tat handeln.
Der Staat interessiert sich vor allem fur die schlechten Taten,
der Psychologe aber muss von der moralischen Wertung absehen. Fur
ihu gibt es ebeuso auch krankhafte gute Handlungen. Nicht jede
gute Tat ist ethisch wertvoil, vielmehr gelten hier dieselben Bedin-
gungen, die wir soeben fur das Verbrechen aufgestellt haben. Gbenso
wie es Verbrechen aus Schwache und aus krankhafter Grregung gibt,
entspringen dieser konstitutionellen und konstellativen Ursache soge-
nannte gute Handlungen. Diese kSnnen natiirlich keincn Anspruch
auf ethischen Wert haben, sondern sind mehr oder weniger k rank haft.
Bine Handlung gewinnt erst ethischen Wert, wenn die psychische f
Kraft, die sie bervorgebracht hat, von ungewdhnlicher Starke, aber von
normaler Form gewesen ist. Nur dann wird sie auch von alien als
etuisch anerkannt und gewurdigt. Nicht den nennen wir mutig, der
berauscht in Kampf und Tod geht oder sich in religibser Gxtase
opfert, sondern den, der sich bewusst der Gefahr aussetzt unter Ab-
wagung der ethischen Pflichten. Seine Handlungsweise erfordert die
rnciste psychische Kraft und steht daher am hochsten. Hier findet die
Gthik ihre naturliche Begriindung.
Finer der wenigen, die das eingesehen oder doch gefuhlt haben,
ist Dostojewski, der in dem „Idioten“ die krankhaften ethischen
Handlungen in gl&nzender Weise behandelt. Gs wurde sich lohnen,
die Charaktere dieses Werkes eingehend zu analysieren. Bine solche
Betrachtung literarischer Werke crscheint uns fruchtbarer und interes-
santer als die sogenannte Pathographie, die aus. den Werken den Cha-
rakter oder sogar die Krankheit des Verfassers erkennen will. Abge-
sehen davon, dass dies gewChnlich auf einfachere Art und sicherer mQg-
lich sein wird, entbehrt diese Pseudowissenschaft auch jeder Grundlage.
Seibst wenn man aus dem „Idioten (1 nachweisen wurde — was man
obnedies weiss —, dass Dostojewski an epileptischen Anf&llen ge-
litten hat, wire das keiu grosser Gewinn. Gs wurde vor allem die
geniale Bebandlung des schwierigen Stoffes zwar nicht verkleinern,
aber auch nicht richtig wQrdigen kOnnen. Dies aber wire gerade die
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Dr. Harry Uarcuse,
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Aufgabe der Psychologie, zu zeigen, wie aus Konstitution und Ron-
stellation folgerichtig die Handlung entwickelt wird. Nor auf diese
Weise kann aus solchem Werk eines Genies psychologiscbes Verstind-
nis fur das t&gliche Leben gewonnen werden. Und es ware wohl ver-
dienstvoll, an den Werken literariscber Tagesberfihmtheiten zu zeigen,
wie wenig Abnung sie von psychologischen Dingen baben, und wie
im Gegensatz dazu die unsterblichen Werke gerade durch ibre psycho-
logische Wahrheit die Jabrbunderte fiberdauern find eine Quelle der
Erkenntnis werden.
Mit Recht wirft Jodi 1 ) der Arbeit von Moebius fiber J. S. Rous¬
seau vor, dass sie nicht in die „Gedankenwelt des grossen Bahnbrechers“
eindringt. „Vom Patbologiscben aus gelangt roan nie zum Grossen,
sondern iromer nur zum Kleinen, Jammerlichen; nie zum Unsterblicben,
sondern iromer nur zum Verg5nglichen.“ Die zahlreicben Nachfolger
von Moebius auf dem Irrwege der Pathographie baben dies Wort
Jodi’s iromer wieder bestatigt. Den Psychiater aber muss es davor
warnen, die Grenzen seiner Wissenscbaft zu fiberschreiten.
Aus einem belletristischen literarischen Werke wird man obne
Zweifel eine Anzahl von Scblussen auf die Intelligenz, das Wissen,
die Gedankenwelt seines Urhebers ziehen kfinnen, ebenso wie aus deu
Reden eines Menschen. In erster Linie sollten aber die in dem Werk
enthaltenen Gedanken interessieren, deren Wert unabhfingig von dem
des Autors zu beurteilen ist. Eher noch lassen die Werke der Musik
und der bildenden Kfinste ffir den, der sicb eiiifuhlen kann, Scblfisse
auf die psychiscbe Konstitution ihres Schfipfers zu. Hicr, wo Nach-
ahmung und schopferischer Trieb, Vorstellungen und prim&re Akte
leichter auseinander zu halten sind, kfinnte viel eher ein Zusammen-
hang zu konstruieren sein. Wir wollen aber nicht eine Pathographie
der Musiker oder Maler hervorrufen, sondern nur auf die Tatsache bin-
weisen, dass aucb der Wert dieser Werke der psychischen Intensitfit
und Form entspricht, der sie ibre Entstehung verdanken.
Die vorliegenden Aufs&tze greifen besonders dadurch fiber das
Gebiet der psychischen Erkrankungen hinaus, dass sie das psychische
Geschehen den anderen Lebenserscheinungen zwar als eine andere und
bdhere Form, aber doch als ein derselben Kraft entspringendes Ph&nomen
angliedern. Dadurch verwischen wir die anscheinend so scharfen Grenzen
zwischen Physjschem und Psychischem, und w&hrend wir einerseits den
BegrifF des Psychischen weiter ausdehnen, als es gewdhnlich geschieht.
1) Jodi, Vom Lebenswege4. „ Rousseau im Lichte der Pathologie u , zu-
erst erschienen in der Neuen Freien Presse. 15. 11. 1903.
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Aufsatze zar energetischen Psychologic.)
ubertrageu wir auch die sonst nur fur die physischen Vorg&nge ange-
wendeten Erkenntnisse und Gesetze auf das Psychische.
Daun gilt nicht rriehr, was von manchen betont wurde, dass der
erste Gedanke, der die Materie durchzuckt, etwas vfillig Neues, vflllig
Anderes darstellt als die bisherigen Prozesse. Dann ist psychisch und
bewusst nicht mehr identisch, unbewusstes Psychisches dagegen keine
Contradictio in adjecto, sondern es gibt mehr oder weniger bewusstes
und unbewusstes psychisches Geschehen.
Das Charakteristische des Psychischen ist nicht mehr, dass es von
dem Individuum bewusst erlebt wird, sondern dass sein Zentralnerven-
system bei diesem Vorgang spezifische Energie verbraucht, spezifische
Kraft produziert 1 ). Wenn wir das Psychische als eine spezifische Ener¬
gie des Zentralnervcnsystems dcfinieren, mfissen und kfinnen wir auch
die Emkehruug gotten lassen und jede Keaktion als psychisch bezeichnen,
bei der diese Energie auftritt.
Es ist in dem engen Zusammenhange der Naturvorgtinge begrfindet,
dass die Anschauung, die man sich von einem Teil derselben bildet,
nicht auf dieseu beschr&nkt bleiben kanu, sondern sich entweder der-
jenigen, die man in Bezug auf die fibrigen als richtig erkannt hat,
unterordnen muss oder aber zum Fundament wird, auf dem man sich
eine Weltanschauung aufbaut.
So kunuten unsere Betrachtungen leicht dazu fuhren, den Zusam-
menhang von Leib und Seele oder den Ursprung des Denkens und an-
deje Problemo zu erortern, die fiber die mogliche Erfahrung hiuaus-
geheu. Es wurde aber darin eine Verkennung der Tragweite unserer
Theorie liegen.
Es kann nicht Aufgabe einer psychologischen Theorie sein, sich
mit den angedeuteten, letzten Fragen fiberhaupt zu befassen. Durch
die Annahme, dass wir es mit einer Form der Energie zu tun haben,
sclmeiden wir uns die Mdglichkeit ab, etwas anderes als Energie in
dem psychischen Geschehen zu findeu. Eine derartige Annahme kann
weder bewiesen nocb widerlegt werden. Sie dient dazu, sich fiber
etwas Unerforschliches, fiber ein X zu verstftndigen. Es liesse sich
nichts dagegen sagen, wenn jemand lieber annehmen wollte, das psy-
1) Die Begriffe Kraft und Energie sind zwar in der Physik verschieden zu
definieren, bezw. zu gebraucbon. Sobald es sich aber um psychische Kraft und
psychische Energie handelt, sind sie nicht soharf zu trennen, da die geleistete
Arbeit bezw. die produzierte Kraft nicht messbar ist. Sachlich durfte es an den
bier dargelegten Anschauungen nichts andern, wenn ein Unterschied zwisohen
den beiden Begriffen auch for diePsychologie konstruiert wurde (z.B.Euergie =
Kraft X Zeit).
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Dr. Harry Marouse,
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chische Geschehen sei eine Form der Wellenbewegung oder Strahlung,
vorausgesetzt, dass damit Aiehr erreicht wurde. Die Ergebnisse sind
bier ausschlaggebend. Welche Berechtigung unsere Annahme vom philo-
sophischen, tkeologischen oder erkenntnistbeoretischeu Standpunkt hat r
kummert uns so wenig, wie den Astronomen die Frage, wo der Himmel
sich befindet. Daher berubren uns auch keine EinwSLnde, die von einem
anderen als psychologischen Standpunkt erboben werden kOnnten.
Wir kQnnen nicbt beweisen, dass das Gesetz von der Erbaltung der
Kraft auf die angenommene Umformung der supprim&ren in primare
oder sekund&re psychische Energie Anwendung findet oder hier eine'
Ausnahme erleidet. Es ist dies aber keine psyckologische Frage. Die
psychische Energie ist so wenig wie die chemische Affinitat oder die
Attraktionskraft der Materie weiter erkl&rbar.
Von anderen Erfahrungen ausgehend als Jodi, sind wir wobl in
Einzelheiten auch zu anderen Ergebnissen gekommen und stellen Fragen
in den Vordergrund, die der Darstellung der normalen Psychologie
ferner liegen.
Es war mir noch vergdnnt, Jodi selbst die „energetische Theorie
der Psychosen u vorlegen zu kOnnen. Er bat die Konsequenzen, die in
ihr aus seiner Lehre gezogen worden sind, durchaus gebilligt. Dnd so
bin ich auch der Ueberzeugung, dass die vorliegenden Aufsatze mit den
Grundanschauungen der Jodl’scben Psychologie nirgends in Widerspruch
stehen. Das erscheint mir von Wichtigkeit, wenn es mir auch fernliegt,
die Verantwortung fur die hier vertretene Auffassung kliniscber Begriffe
und psychopathologischer Zust&nde Jodi zuscbieben zu wollen.
Die Auffassung der Tribune, der Hypnose, der Halluzinationen u. a.
weicbt in mancher Hinsicht von der Jodi’s ab. Diese Verschiedenheiten
treten jedoch bereits in der fruheren Arbeit hervor, obne dass Jodi
selbst Anstoss daran genommen hat. Sie sind gegenuber der Tatsache,
dass die Einteilung des Psychischen von Jodi ubernommen ist, unwesent-
lich. Diese Einteilung ist das Fundament der Theorie.
Eine eingehende Darstellung der vorhandenen Unterschiede, sowie
des Verh<nisses der energetischen Psychologie zu anderen Systemen
wurde zu weit fiihren. Was uns von Wundt, Ziehen, Bleuler, Freud
trennt, ist mehrfach hervorgehoben worden.
Hier sei nur noch darauf hingewiesen, dass sich unsere Anschauungen
in einzelnen Punkten mit denen Schopenhauer’s begegnen 1 ), dass
1) Im Folgenden sind selbstverstandlich nur die psychologischen, nicht
die philosophischen Anschauungen Sch.’s gemeint, und zwar insbesondere der
Aufsatz: Ueber den Willen in der Natur.
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Aufsatze zur energetischen Psychologie.
151
aber die Dreiteilung der primaren Funktion die Welt nicht als Wille
and Vorstellung anzusehen erlaubt, sondern dem Willen Gefuhl und
Empfindung gleichberechtigt zur Seite stellt. Die Aehnlicbkeit liegt in
der Herausbebung der Vorstellungen als einer bdbereu Stufe psycbi-
scber Akte.
Die supprim&re psycbische Funktion l&sst die drei Qualitftten Erap-
finden, Fuhlen, Wollen nicht mebr erkennen, sie ist nur eine Form der
Energie, an der man nichts als Intensitatsunterschiede wabrnehmen kann.
Man spracli fruher von Lebenskraft, fur die Schopenhauer den Willen
setzte. Von unserem Standpunkt kdnnen wir Schopenhauer hierin
nicht zustimmen. Er gibt selbst zu, dass es nur eine Art von Willen
sei, um die es sich hier handele, die unbewusste Spontaneit&t. Mit
detnselben Recbt kOnnte man aber von unbewusster Empfindung Oder
Gefuhl sprechen. Er belegt das Vorhaudensein dieser Spontaneitat fur
die Pflanzen mit Beispiclen, aus denen sich das ohne Weiteres ergibt.
Der Kurbis, der den nebenstehenden Wasserkubel findet, die Kartofifel,
die dem Licbt einen meterlangen Stengel entgegenstreckt, sie mussen
ebensoviel Empfinden oder Gefuhl haben als Willen. Es handelt sich
stets um eine tiefere Stufe psycbischer Entwicklung, um eine Kraft, auf
die wir den Begriflf des Psychischen nur in der das Unbewusste ein-
schliessenden Form des supprimaren anwenden.
Sobald wir uns aber Schopenhauer’s Weltanschauung mit dieser
Einschrankung ansehen, finden wir eine Reihe von Einzelheiten, mit
denen wir in entsprecbend modifizierter Form ubereinstimmen. So vor
ailem den Satz, dass Wille nicht durch Erkeuntnis bedingt sei, wohl
aber Erkenntnis durch Wille. Wir mussen nur hinzufugen, dass es
nicht der Wille allein ist, sondern ebenso auch die andereu beiden
primaren Qualitaten, so dass also Erkenntnis ohne diese nicht mdg-
lich ist.
Das Psycbische zeigt auch nach Schopenhauer verschiedene Ent-
wicklungsstufen, er glaubt aber, dass die alte Einteilung der Lebens¬
kraft in Reproduktion, Irritabilitat und Sensibilitat seiner Auffassung
nicht entgegenstehen, wahrend dies d?ch in erheblichem Masse der Fall
sein durfte, will man der alten Anschauung nicht Gewalt antun.
Schopenhauer sieht bekanntlich in dem Willen das „Ding an
sicb u . Die Berechtigung dazu wollen wir dahingestellt sein lassen, nur
sei bervorgehoben, dass die „supprimare Funktion u ein psychologischer
Begriff ist, der uns die psychologischen Prohleme klaren, die Gedanken-
welt mit den ubrigen Lebenserscheinungen verbinden und so die Ent-
stehung des Bewusstseins begreiflicb machen soil, dass er aber nicht
metapbyBiscbe Spekulationen irgendwie zu fOrdern geeignet ist.
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152 Df. Harry Marcuse, Aufsatze zur energetisohen Psychologic.
Wenn wir also den supprim&ren Widen gelegentlich als „Widen
an sicb u bezeichnet haben, so soil damit keine Parallele zu dem „Ding
an sich* gezogen werden. Der Begriff der supprim&ren Funktion um-
fasst ja ebenso die Qualit&ten des Fuhlens und Empfindens. Er erm6g-
licht der Psychologie, ilire besondere Anscliauungsweise auch auf die
Lebenserscheinungen auszudehnen, die bisher der Physiologic vorbehalten
zu sein schienen, und so deren Untersuchungen zu erg&nzen. Wahrend
sich die Physiologie auf die Erforschung der im Organismus wirksamen
chemischen und physikalischen Krafte beschr&nkt, ist Gegenstand der
Psychologic die psychische Kraft.
So wenig wir die anderen Krafte weiter erklaren kfinnen, so wenig
k5nnen wir die Entstehung der psychischen Kraft verstehen. Diese Tat-
sache kann aber unseres Erachtens die Ablebnung des Begriffes der
psychischen Kraft niclit begriinden, sie muss vielmehr dazu fiihren, ihn
als gleich berechtigtes theoretisches Prinzip den anderen Kraften anzu-
reihen. Nur wer der Meinung ist, die Physiologie werde frtiher oder
spater die Erscheinungen des Lebens restlos erklaren, wird ihre Ergan-
zung durch die Psychologie fttr iiberfliissig halten.
Wir lioffen gezeigt zu haben, welcher Nutzen der Psychologie daraus
erw&chst, wenn sie den Begriff der psychischen Kraft in der Form der
energetischen Theorie zur Anwendung bringt: eine Auffassung des psy¬
chischen Geschehens, die sich von metaphysischen Spekulationen frei
halt und grade dadurch keinem Glauben und keiner philosophischen
Betrachtung im Wege stcht, eine Auffassung, die die Ergebnisse der
Naturwissenschaft vcrwertet und damit selbst zu einem Zweig der Natur-
wissenschaft wird.
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V.
Hysterische DUmmerzustSnde.
Von
Dr. Harold Siebert,
Nervenarzt und leitendem Arzt der psychiatrischen Abteilung
am Stadtkrankenhause in Libau.
Fur die Erkennung ^fast aller Krankheiten kaim es als notwendige
Forderung eracbtet werden, dass das jeweilige zu beurteilende Bild
mit einer Reihe frfiber gesehener, analoger oder fihnlicher Zust&nde
verglichen wird, dass gewissermassen die „Erfahrung“ als fur die
Diagnose ausschlaggebendes Moment nnzusehen ist. Es gilt dieses ganz
besonders fur die Vielgestaltigkeit der hysterischen Zustandsbilder; die
Worte Krehls 1 ): „Von einer scharfen Beobacbtungsgabe, der Fahig-
keit zu kombinieren und dem Besitz einer grossen Reihe von Erinne-
rnngsbildern wird der Erfolg abhfingen 11 — haben dalier nicbt un-
wesentlichen Bezng auf die richtige Deutung eines so komplizierten
Nerven- und Seelenleidens, wie wir es in der Gestalt der Hystcrie vor
uns haben. Fast jeder kritisch denkende Beobachter. der an die Be-;
bandlung bysterischer Stdrungen herantritt, ist sieh darfiber klar, dass
wir eine einbeitliche Definition des Hysteriebegriffs nicbt haben, und
dass deslialb auch die Beurteilung mancher Storungen an der abweichen-
den Auffassung der einzelnen untersuchenden Aerzte auseinander gebt;
andererseits meinen vielfach Verschiedene dasselbe, sagen nur Ver-
schiedenes. Sondern wir nun die nebens&chlichen Begriffe und ver-
; 1 > Komponente einer jeden Auffassung, so bleibt dabei dock
meist die cine gleichc Tatsache besteben, dass auf vcrschiedenen
Seiten der gleicbe Grundgedanke anzutreffen ist.
Weon ich auch die Frage der Definition der Hysterie keineswegs
vom prinzipiellen Standpunkt aus anschneiden mdchte, so muss doch
in Rurze anf die grundlegenden Theorien fiber das Wesen dieser Krank-
1) Pathologiscbe Physiologic. 1907. Vorwort.
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CORNELL UNfVERSSTV
154
Dr. Harald Siebert,
heit hingewiesen werden. Wahrend MObius 1 ), Cramer 2 ), Striimpell 3 )
and andere, bei der Beurteilung dcr Hysterie der Vorstellungen den
wesentlichsten Teil beim Gntsteben der StGrungen, besonders den Ver-
anderungen des Korpers zuschreiben, bebt Oppenbeim 4 ) die gesteigerte
Affekterregbarkeit und den krankbaft gesteigerten Einfluss der
, Gemutsbewegungen auf die diese in der Norm begleitenden moto-
riscben, sensprischen, vasomotorischen and sekretorischen Funktionen
hervor. Aucb neuerdings betont Oppenheim 5 ), dass wir keine pra-
zise, allgemein anerkanote Begriffsbestimmung der Hysterie
besitzen. Als Grundpbanomene bezeichnet er den abnormcn Seelenzu-
stand: die Reizbarkeit, den jahen, unmotorischen Stimmungswechsel,
die Cbarakteranomalien, die Neigung zu explosiven Handlungen, femer
die Steigerung des Einflusses der Affekte auf die korperlicbe Sphare
in typischer Ausdrucksform, die Entstehung und Beseitigung kOr-
perlicher Symptome auf ideagenem bezw. psycbogenem Wege und
die damit in der Regel verknupfte Unbestandigkeit der Erscbeinungen.
„Die einfacbe Steigerung der euiotionellen Erregbarkeit ist kein Cha-
rakteristikum der Hysterie, sie kommt auch der Neurasthenic, dem
neuropathischen Zustand schlechtweg zu. Erst die Art ihrer Aeusse-
rung (Lach- und Weinkrampfe usw.) und das grobe Missverhaltnis
zwischen Reiz und Wirkung verleibt ihr das hysteriscbe Geprage. Bei
der Hysterie ist der AfFekt nur die Gelegenheitsursaclie, wahrend die
Grundlage der durch ibn ausgeldsten Krankheitserscheinungen in der
Personlicbkeit, und zwar in erster Linie in der gesteigerteu Erregbar¬
keit und dem gesteigerten Einfluss der Gemutsbewegungen auf die
kOrperliche- Sphare beruht, ausserdem in der besonderen Physiognomic
dieser Ausdrucksbewegungen, die sie durch die Fixation erhalten. 11
0. Binswanger 6 * ) halt den Beweis fur unmdglich, dass alle hyste-
rischen Krankbeitsvorgange auf eine psychologiscbe Grundformel zu-
ruckzufiihren seien. Er ist der Meinung, dass zwar alle hysteri-
schen Krankheitserscheinungen durch psychiscbe Vorgange
beeinflusst werden k5nnen, dass aber der Satz, die Hysterie
entstehe ohne jede Ausnahme aus psychischen Vorgangen
1) Neurologische Beitrage. 1898. S. 68.
2) Lehrbuoh der Psychiatrie von Binswanger und Siemerling. 1907.
S. 274.
3) Spezielle Pathologic und Therapie. 1907. II. 753.
4) Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 7. Aufl. S. 1203.
5) Die Neurosen infolge von Kriegsverletzungen. Berlin. 1916. S. 191.
6) Die Hysterie. In Nothnagels Handbuch der speziellen Pathologic
und Therapie. 1904. S. 14.
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CORNELL UNfVERSm
Hysterische Dammerzustande.
155
noch uicht bewiesen worden ist und aucb nicht bcwiesen
wcrden kann. „Die hysterische Veranderung besteht darin, dass die
gesetzmassigen Wechselbeziehungen zwischen der psycliischen und mate-
riellen Reihe gestflrt sind, nnd zwar in doppelter Richtung, auf der
einen Seite fallen fQr bestimmte Reihen materieller Rindenerregungen
die psychischen Parallel prozesse aus oder werden nur unvollstandig
durch jene geweckt; auf der anderen Seite entspricht einer materiellen
Rindenerregung ein Uebermass psychiscber Leistung, das die verschie-
denartigsten Ruckwirkungen auf die gesaniten Innervationsvorgange,
die in der Rinde entstehen oder von ihr beherrscht werden, hervor-
ruft u .
Sehr zuruckhaltend verhalt sich Reichardt 1 ) beziiglich der
Diagnosestellung auf Hysterie, auch er will mit Sommer 2 ), wenigstens
dem Publikum gegenuber, lieber die Bezeichuung „Psycbogenie“ ange-
wandt wissen, zum mindesten um der weitveibreiteten Auffassung vom
Zusammenhang zwischen dieser Neurose und den Sexualorganen (39 baripa-
Gebarmutter) entgegenzutreten. „Was fur das Wesen der Hysterie am
meisten als ckarakteristisch gelten kann, ist die ausserordentlich ge-
steigerte Suggestibilitat den Ausseren Einfltissen, sowohl wie den
eigencn Vorstcllungen gegenuber 1 '. Im Uebrigen akzeptiert Reichardt
auch die Definition von Kraepelin 3 ). „Als wirklicb einigermassen
kennzeictmend durfen wir vielleicbt die ausserordentliche Leich-
tigkeit und Schnelligkeit ausehen, mit welcher sich psychische
Zustaude in mannigfaltigen kOrperlichen Storungen wirksam zeigen-
seien es Anasthesien, ParSsthesien, seien es Ausdrucksbewegungen, Lab
mungen, Krampfe oder Sekretionsanomalien."
Hellpach 4 ) betrachtet als die psychologische Grunderscheinung
der Hysterie die intensive, extensive und qualitative Vermehrung der
psychogenen psychischen Vorg&nge (der Ausdrucksbewegungen im wei-
testen Sinne des Wortes) und ihre DisproportionalitAt zu den Gemuts-
bewegungen. Gegenuber der Psychogenie will er folgende Unterechei-
dung obwalten lassen 5 ): „psychogenisch ist einer, der krank sein kann,
wenn er krank sein will, und so krank sein kann, wie er will —
aber hysteriseh erst einer, der (unter Aktualisierung solcher Potenzen)
krank wird, weil er krank sein will."
1) Leitfaden zur psychiatrischen Klinik. 1907. S. 192.
2) Diagnostik der Geisteskrankheiten. 1894. S. 125.
3) Lebrbach der Psychiatrie. 7. Aufl. II. S. 684.
4) Lit. naoh Oppenheim, Lehrb. der Nervenkr. II. S. 1209.
5) Die Physiognomic der Hysterischen. Neurol. Zentralbl. 1917. No. 15.
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156
Dr. Harald Siebert,
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Den Unterschied der zuletzt genannten Begriffe habe ich auch in
folgendem hervorgehoben 1 ): „die meisten faysterischen Stfirungen
sind psychogen bedingt, aber weit weniger psychogene St6-
rungen sind hysterisch u . Auch ich bin der Ansicht 2 3 4 5 * * ), dass die Dia¬
gnose auf Hysterie viel zu oft gestellt wird, und will diese Diagnose
nnr fur gewisse qualitative Verfinderungen der psychisch-nerv6sen Funk-
tionen reserviert wissen. Es erscheint mir daher unerl&sslich, dass
daffir die notwendigen Kritericn dieses Krankheitsbildes, wie das alte-
rierte Vorstellungsleben und gesteigerte Affekterregbarkeit
nachweisbar sind.
A. Behr 8 ) betont, dass „mit der Vorstellung krank zu sein,
der Hysteriker den Wunsch verbindet krank zu sein“ — und
Sokolowsky 4 ) hebt hervor: „der Simulant will krank scheinen, der
Hysterische krank sein u , auch weiterhin: „der Hysterische findet in
dem Kranksein den Rettungsanker fiir seine Minderwertigkeit, da er
sich alsdann vom Kampf urns Dasein befreit glaubt und trotzdem eine
Rolle spielt und die Beachtung findet, welcbe ihn allein befriedigt“.
An letzter Stelle soli noch in Kurze auf die Breuer-Freud’sche 5 )
Hysterieauffassung hingewiesen werden, welche ich, ob der ihr zeit-
weise weuigstens sehr weitgehend gezollten Anerkennung, der Erw&hnung
wert halte. Vom Begriff des „eingeklemmten Affektes w ausgehend —
hysterische Symptome verdanken nach Auffassung dieser Autoren ihre
Entstehung bestimmten, vielfach dem Kranken selbst nicht erinnerlichen,
erschutternden Ereignissen — waren sie bemfiht durch die „Psycho-
katharsis“ das auslOsende Ereignis, das „psychische Trauma w in Hyp-
nose festzustellen und durch „Abreagieren 14 den Affekt zur Erledigung
zu biingen. Auf dem Boden dieser Psychokatharsis kam Freud zur
Auffassung von der Verdrangung und baute auf solchen Voraussetzungen
seine Sexualtheorie auf, indein er aunahm, bei seinen Beobachtungs-
objekten bis in die zarteste Kindheit hinein sexuelle Traumen nach-
1) H. Siebert, Die Psychosen und Neurosen der Bevolkerung Kur-
lands. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 73.
2) H. Siebert, Einige Bemerkungen fiber die allgemeinen Neurosen.
Monatsschr. f. Psych. Bd. 35. H. 4. S. 400.
3) Ein Fall von Hysterie im Anschluss an Leuchtgaseinatmung. Wiener
med. Wochenschr. 1896 H. 40—42.
4) Petersb. med. Wochenschr. 1895. No. 51 u. Zentralbl. f. Nervenheilk.
und Psych. 1896. Jam.
5) Psych. Mechanismus hyster. Phanomene. Neurolog. Zentralbl. 1893.
Studien fiber Hysterie. 1895. Leipzig u. Wien. Kleine Schriften zur Neurosen-
lehre. 1906.
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Hysterische Dammerzustande.
157
weisen zu kOnnen, und sah die Hysterie als Folge dieser Erlebnisse an.
Aligemein werden sowohl der Standpunkt Freud’s, obgleich sicb ein
Autor wie Bleuler an dem Ausbau der Neurosen leli re auf Grundiage
der VerdrAngung der Komplexe lebhaft beteiligt hat, als erst recht
die weitgehenden Schlussc und Behauptungen der Schuler and AnhAnger
Freud’s in ihren wesentlichen Punkten von den meisten deut-
schen Gelehrten und psyckiatrischen Schulen abgelehnt, ich erwAhne
dabei lediglich Sommer 1 ), Hoche 2 ), Oppenheim 3 ), Schultz 4 ) und
anderc. —
Durch den Begriff der VerdrAngung und das uheraus scharfe Her-
vorheben des sexuellenMomentsuuterscheidet sich dieBreuer- Freud’sche
Auffassuug nicht nur in quantitativer, sondern hauptsAchlich in quali-
tativer Hinsicbt von den meisten anderen Hysteriethcorien der deutschen
Psychiater. Die Gefahr, welche eine solche Anscbauung in sich birgt,
ist nicht zum mindesten darin enthalten, dass man in den Fehler gerAt,
Symptome isolierter Natnr zu verallgemeinern, NebensAchliches als Haupt-
sAchliches zu betrachten und da kausale Zusammenh&nge zu suchen,
wo nicht ein Auf- oder Naclieinander der Erscheinungen besteht, sondern
hOchstensein Nebeneinander derselben, wAhrend dem Begriff der Minder-
wertigkeit, welcher in den wesentlichsten Bestandteilen ein Charakte-
ristikum der Hysterie an sich ist, durcb das Suchen nach neuen Kom-
plexen oder Definitionen, welche in anderen Worten dasselbe sagen,
eine zu geringe Beachtung geschenkt wird. WAhrend die motorischen,
sensiblen und die vom vegetativen Nervensystem regulierten sekretorischen,
vasomotorischen und trophischen StOrungen einerseits, die Charakter-
anomalien, die perversen Aeusserungen der Stimmung und die Perfidien —
als psychiscbe Stdrongen — andererseits, bald mehr isoliert, bald kom-
biniert, relativ hAufige Anzeichen der erwAhnten Psycho-Neurose dar-
stellen, sehen wir in den DftmmerzustAnden krankhafte Erschei¬
nungen vor uns, wie solche durchaus nicht so alltAglich auf-
treten, dass sie ohne weiteres Bedenken als eisernes Inventar
in den Beobachtungs- und Erfahrungsschatz der meisten
Aerzte aufgenommen werden durften. Folgen wir in der Frage
des Vorkommens bysterischer D&mmerzustAnde Ziehen 5 ), so linden
1) Psyehologische Untersuchungsmethoden. Klinik f. psych, u. nerv.
Krankb. 1911. Bd. 6. S. 227.
2) Medizinische Klinik. 1910.
3) Lehrbuoh der Nervenkrankh. 7. Anil.
4) Ueber Psychoanalyse in gerichtsarztlicher Beziehung. Monatsschr. f.
Psych. Bd. 36. H. 4. S. 296.
5) Psychiatric. 1911. S. 524.
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Dr. Harald Siebert,
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wir an der Spitze seiner diesbezugliclien Abhandlung, dass „diese hy-
sterischen Dammerzustande, ebenso wie die epileptischen, teils in engerer
Beziehung zu cinern hysterischen Krampfanfall (pra- oder postparoxys
mell, oder auch intraparoxysmell) oder freistehend vorkommen u . Ich
will dann einiges bervorheben, was gerade Ziehen, der meiner Ansicht
nach die klarste und am moisten urarisseneDarstellung dieser psychotiscben
Symptomenkomplexe gegeben, als wesentlich betont: meist treten die
hysterischen Dammerzustande erst nach Vorbestehen jahrelanger, ander-
weitiger bysterischer Svmptome auf, selten ist es, wenn der Dammer-
zustand die erste erkennbare Aeusserung der bis dahin „latenten u Hy-
sterie darstellt; ofter, als die epileptischen, schliessen sich die hyste¬
rischen Dammerzustande uumittelbar oder nach einer mehrstundigen
oder mehrtiigigen Latenzzeit an cine Affekterregung — „gefuhlsbetontes
Ereignis u — an.
Da die epileptischen Dammerzustande die haufigsten dieser Spezies
von krankhaften Seelen&usserungen sind, richtet sich naturgemass unser
diagnostisches Augenmerk in erster Linie auf diese, den hysterischen
horaologen, Erscheinungen. Auch in der Diagnose sei die Ansicht
Ziehen’s wiedergegeben: „alle Zeichen sind nicht untruglich, am wert-
vollsten ist ini Sinne der hysterischen Stbrung die Beeinflussbarkeit
durch Suggestionen, ferner sprechen gegen epileptischen Dammerzustand
und fur hysterischen:
1. Remittierender Verlauf;
2. Allmahliches Abklingen;
3. Theatralische Nuancierung der Affekte;
4. Romanhafter Zusammenhang der Sinnestauschungen und Be¬
ziehung auf ein dera Dammerzustand vorausgehendes gefiihlsbetontes
Erlebnis;
5. Ausgesprochene hysterische Symptome;
6. Selbstverstandlich interkurrente hysterische Anfalle;
7 Suggestive Beeinflussbarkeit.
Nahe verwandt den hysterischen Dammerzustanden sind die hyste¬
rischen Delirien. Sie unterscheiden sich von den Dammerzustanden
nur dadurch, dass sie erstens ausgesprochener remittierend zu sein
pflegen, dass sie zweitens am Anfang und am Schluss nicht so scharf
abgegrenzt sind, dass drittcns die Assoziations- und Orientierungsstflrung
viel oberflachlicher ist und dass viertens die Aranesie fehlt. w Solch
eine Unterscheidung ist aus mehr als einem Grunde richtig, soweit sie
sich eben nur immer anstellen lasst, in der Mekrzahl der Falle durfte
jedoch bei genauer Analyse der Erscheinungen diese Abgrenzung durch-
fuhrbar sein.
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Hysterische Dammerzustande.
159
Dem Begriff der fur solche Zustiinde erforderlichen Differential-
diagnose wird auch Wernicke 1 ) gerecht, indem er als Hauptmerkmal
der hysterischen Dammerzustande „nicbt sowohl die Benommenheit des
Sensoriums 11 , als die totale allopsyckische „Desorientierung“ hervor-
hebt, wobei sich die Kranken einer traumbaft ver&nderten, meist sebr
affektvoll gef&rbten Situation entsprecbend verbalten, andererseits steht
Wernicke auf dem Standpunkt 2 ), dass Zustande von doppeltem
Oder auch alternierendem Bewusstsein oft auch unzweckmassig
als D&mmerzustSnde bezeichnet werdeu, da „das Sensorium dabei an-
scheinend wohl erbalten ist, es sich gewissermassen um eine Unter-
brcchung der Kontiuuitat in dem Bewusstsein handelt, derart, dass zwei
von einander gauz verschiedene Personlichkeiten sich gegenseitig ab-
losen, die eine an die Stello der anderen tritt. Die Unabh&ngigkeit
der cinen Personlichkeit von der anderen beschrankt sich dabei uicht
auf die Auswahl bestimmter Erinnerungen, sondern auf das Gebiet der
interessen, Neigungen und Abneigungen, Charaktereigenschaften und
dergl. rnehr, so dass ein bisher untadelhafter Cbarakter in dem zweiten
Zustande die Gemutsverfassung eines vertierten Verbrechers darstellen
kann. u
Diesen Zust&nden gegenuber nimmt nun Wernicke den
Standpunkt ein, dass .ihre TatsSchlichkeit nicht angetastet
werden soil, uud auch ihr theoretisches Interesse nicht zu leugnen
sei, doch scheinen sie zum Teil Eunstprodukte hypnotischer Suggestion
zu sein und sind ausserdem so s el ten — so hatte er selbst nie einen
solchen Fall zu Gesicbt bekommen — dass sie fUr das praktisclie
Leben keine wesentliche Bedeutung besitzen. K. Rieger 3 ) erwkhnt
bus SchrOdej' van der Eolk’s „PathoIogie und Therapie der Geistes-
krankheiten“ einen Fall, wobei ein junges Madcben alternierend und
ia photograpbischer Regel- und GesetzmMssigkeit an einem Tage ein
kindisch-lilppisches Wesen aufwies, w ah rend sie am nachstfolgenden
Tage vollkommen geordnot und besonnen war. Die Erinnerungslosigkeit
ging bei der Kranken so weit, dass ibr Gedachtnis stets vom hellen
zum ubernacbsten hellen Tage korrespondierte. Sie begann z. B. am
l&ppiscben oder kindischon Tage franzbsisch zu lernen, w ah rend sie am
luziden Tage ganz fliesseud sprach; dasselbe wiederholte sich auch in
bezug auf Erkennen bezw. Wiedererkennen von Personen und die um-
gebenden Verhaltnisse. Rieger knupft hieran die Bemerkung: „Das
1) Grundriss der Psychiatrie. 1906. S. 496.
2) Daselbst S. 299.
3) Der Hypnotismus. Jena 1884. S. 99.
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Dr. Haraid Siebert,
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eben Erzfthlte klingt ganz fabelhaft, die AutoritAt des Berichterstatters
ist aber eine zu gute, der Bericht selbst zu beatimmt und ausfuhrlich,
als dass wir ihn in Zwejfei ziehen durften. Bei einem so exquisiten
„doppelten Bewusstsein 14 ist eine einheitliche Persflnlichkeit gar nicht
mehr mbglich, solchen Iudividuen gegenuber h5ren derartige vom nor-
malen psychischen Leben bergenommene Begriffe einfach auf u . Sehr
beachtenswert ist die Auffassung Rieger’s, dass, wie uberall in psycho-
logischen und psychiatriscben Zustanden, es keine scharfe Grenze
zwischen erhaltener und v6llig aufgehobener Erinnerung gibt, sondem
nur gradweise OebergAnge zwischen beiden.
I.
lch selbst bin vor kurzer Zeit in der Lage gewesen einen Ahn-
lichen, aber selbstverstAndlich keineswegs so atisgesprochenen, Fall von
alternierendem Bewusstsein zu beobachten.
Das 24jahrige Fraulein L. wurde mir von ihren Angehorigen zwecks
Untersuchung und Begutachtung zugefiihrt. Die Vorgeschichte' ergab keine
wesentlicbe hereditare Belastung, die Entwicklung der jungen Dame war in
der Jugend glatt vor sich gegangen, sie batte nie-viel an korperliohen Krank-
heiten zu laborieren gehabt, gute Fahigkeiten wies sie auf alien fur sie in Frage
kommenden Gebieten auf, lernte fleissig, war im Hause als hilfsbereit und
fleissig bekannt. Mit 13 Jahren — die Menses bestehen seit dem 15ten Lebens-
jahre — stellten sich nervose Reizzustande ein, welohe anscheinend nicht eine
psychologisch begrundete Ursache besassen, sie lachte und weinte ohne Ver-
anlassung und konnte dann nur mit Muhe beruhigt werden. Die Puber-
tatszeit wurde gut tiberstanden, die erwabnten Anfalle wiederbolten sich nicht
mehr.
Mit 19 Jahren verlobte sie sich, nach zwei Jahren teilte ihr der Brautigam
schriftlich mit, dass er nicht in der Lage sei das Yerlobnis aufrecht zu er-
halten. Bald nach diesem Vorfall setzte das unten zu schildernde Krankheits-
bild ein.
Unter dem Bilde einer schweren psycho-motorischen Erregung, als ein-
leitender Ersoheinung, veranderte sich der Bewusstseinszustand der Kranken
in aufialligstef Weise. Wahrend sie bis zum Ausbruch dieses Paroxysmus,
welcher in lebhaftem zuckendem Spiel einzelner Muskelgebiete, im Haarraufen
und lauten Schreien bestand, mit ihrer Umgebung in vollkommenem geistigen
Konnex sich befand, an der (Jnterhaltung in sachgemasser und geordneter
Weise teilnahm, kurzum nach alien Richtungen bin besonnen und geordneter-
schien, veranderte das Einsetzen dieses Exzitationsstadiums ganzlich die ganze
Personlichkeit. Schon im Verlauf der motorischen Reizzustande schien das
Bewusstsein sich gewaltig verandert zu haben, wie dieses durch die Ausdrucks-
bewegungen (Blick) unzweideutig dokumentierte; mit Nachlassen der siohtbaren
korperliohen Phanomene, welohe von durchaus wechselnder Dauer, bis zu einer
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Hysterische Dammerzustande.
161
balben Stunde and mehr, waren, trat die Verandernng des Bewusstseins offen-
sichtlich zu Tage: die Kranke war ihrer Umgebung anscheinend ganzlich fern,
sprach wohi die sie umgebenden Personen an, sobien jedooh fur die Umgebung
selbst und den Ort beine prazise Vorsteilung zu bilden. Die Sprechweise war
geordnet und ruhig, Akoasmen Hessen sioh nicbt nachweisen, wohl aber fiel
cine Personenverwechslung auf, indem sie einzelne, jedoch nicht alle, gerade
anwesende mannliche Verwandte als ihren ehemaiigen Brautigam ansprach
und sich mit ihnen in lebhaftes Gesprach einliess. Eine besonders gesteigerte
Affektivitat konnte wahrend dieser Gesprache nicht beobachtet werden, weder
dass sie ihm Untreue oder Wortbruchigkeit yorwarf, oder in Zorn geriet, noch
dass eine besonders traurige oder heitere Stimmungslage dabei auftrat. Sie
spielte auch kompiizierte Klavierstiicke und legte dabei musikalisobes Ver-
siandnis an den Tag. Den Abschluss dieses veranderten Gemiitsverhaltens,
welches bis zu mehreren Stunden andauerte, bildete eine grosse Mudigkeit,
der Kranken begannen die Augenlider schwer zu werden, sie zeigte gehemmte
und tragere Bewegungen und begab sioh meist spontan in ihr Zimmer, wo sie
sich dann hinlegte und fest einschlief. Gewalttatigkeiten oder Drobungen
gegen ihre Umgebung sind nie beobachtet worden, desgleichen menials die
Neigung zum Selbstmord. Beim Erwachen vom Schlaf bestand stets eine
yollkommene Amnesie fur die durchgemachte Episode, das Gedachtnis
korrespondierte fast vollig liickenlos mit der Zeit kurz yor Einsetzen der
Attacks, ohne dass die Kranke jedoch irgend eine Rechensohaft fiber das, yom
veranderten Bewusstsein ausgeftillte, Iniervall abzugeben imstande war. Der
Versuch eines Neurologon im Hohestadium der Bewusstseinsveranderung Hyp-
nose einzuleiten, missgluckte zu wiederholten Malen, wie uberhaupt ziemlich
jede Art einer Therapie — Suggestion, Sanatorium, Milieuwechsel — sioh als
refraktar erwies. Auffallend war aber das Phanomen, dass das Bewusstsein
des Frauleins wiederholt wahrend des krankhaften Zustandes mit
der vorhergehenden Attacke korrespondierte, und der Gedankengang
gewissermassen im neuen Anfall vom vorhergehenden weitergesponnen wurde,
wahrend sie im luziden Zustand nichts mehr vom kurz bevor durchgemachten
su wissen angab: Sie fubrte ihre Gesprache fort, konnte die gleichen Musik-
xtucke vorspielen und dergleichen mehr.
Uiese GemutsstOrung durfte nun nach genauer Analyse des Falles
als eine bedingt hysterische aufgefasst und angesprochen werden, es
ist vieles in derselben enthalten, was an den oben von Rieger er-
wiilinten Fall Schroeder van der Kolk’s erinnert, so das sonderbare
Korrespondieren im Gedachtnis von einer Attacke zur anderen, bei
ganzlicher Amnesie hierfur im luziden Zustande. Sowohl das Gesamt-
bild, wie auch das AnkniipfungsvermSgen an die letztvorhergehende
Sprung spricht gegen einen epileptischen Zustand. FQr hysterische
Aflektion kann ferner angefuhrt werden eine Reibe neuro-somatischer
Phinomene, wie gelegentlicher Globus, unter dem Einfluss emotioneller
Momente entstehende muskulAre Zuckungen und eine ausgesprochene
Ar«hiv f.FajehUtri^. Bd. 60. Heft 1. \\
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Dr. Harald Siebert,
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Herabsetzung alter Gefuhlsqualitaten, besonders der Schmerzempfindung
an der ganzen linkeu K5rperhalfte „vom Scheitel bis zar Sohle“. Die
Frage, welche bier bei der Beurteilung des Gesamtzustandes drin-
gend gestellt werden muss, ist derart, ob und wieweit diese Bewusst-
seinsstSrungen durcli die Umgebung bezw. ein lebhaftes Interesse des-
selben an diesen Zustanden gefbrdert werden. Es spielt dieser Umstand
hier sicher eine mitbestimmende Rolle, wenn auch wobl nicht die aus-
schlaggebende. Die Starring an sick macht, wenn man das Einsetzen
derselben einmal genau studiert, durchaus den Eindruck einer prim&ren
Affektion der Geistesqualit&ten und des Geistesgesekebens: das mit voll-
kommener Sicherheit zu erwartende Schwinden der ricktigen Vorstel-
lungen im Raum — die allopsyckiscke Veranderuug —, das Personen-
verkennen und der auffallende Wecbsel im Inhalt des Blicks, den ich
als Sttfrung in der Innervation der mimiscken Muskulatur betrachte —,
sind Erscheinungen, die nach alien Richtungen kin die psyckische Alie¬
nation als solcke kennzeichnen. Vielseitige Rehandluug, Aufenthalt im
Sanatorium und manckes mehr haben jedock diese Erkrankung nickt
beeinflussen konnen. Zugegeben auck, dass bis jetzt kein Arzt so weit
im Besitz suggestiven Einflusses gewesen ist, urn die Psychose am rechten
Fleck noch in nStiger Weise zu packen, so hat dieses Moment sicher-
lich nur die Bedeutung rein quantitativer Natur. Das auffallende Kor-
respondieren im Gedachtnis wahrend der eiuzelnen Attacken durfte viel-
leicbt auf Kosten ausserer, suggestiver Einfliisse geschrieben werden;
mOglich, dass durch frivoles Experimentiereu der AngebCrigen die Zu-
stande eine ungeahnte Steigerung erfakren batten, und dass auf diesem
Gebiet auck tberapeutisck etwas zu erreichen ware. An sich halte ich
hier Heilversuche nach Art der Psychoanalyse nicht fiir gerechtfertigt.
Dass ein sexuelles (vielleicht unbefriedigtes und unerreichtes) affektives
Moment hier eine Rolle spielt, ist wakrscheinlich, besitzt sicher eine relativ
nebens&cbliche Bedeutung gegenuber den bereits vor der Pubertat auf-
getretenen nervdsen Allgemeinst5rungen. Jedenfalls durfte hier sicher-
licb ein Herumwrihlen im Unbewussten und Unterbewussten auf sexueller
oder uberhaupt erotischer Grundlage, unter eventueller Heranziehung
des „psychischen Traumas* — der gelosten Verlobung —, kaum als die
geeignete Psychotherapie erscheinen.
Ich benutze die Bezeichnung Hysterie fttr die StOrungen des Frau-
lein L. deshalb, weil sie an sich eine Reihe hysterischer — sit veoia
verbo — Anzeichen darbietet. Ob die beobachteten transitorischen Ver-
anderungen der Geistestatigkeit als hysterische anzuseken sind, ist eine
Frage, welche ich, trotz gewisser Bedenken, im bejahenden Sinne be-
antworten mochte, teils weil die St5rung uberhaupt schwer in ein fest
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Hysterische Dammerzustande.
163
tunrissenes Krankheitsbild hineinpasst, teils weil die Grenzen des Hysterie-
begriffs eben sehr weite sind. — Ich will hier auf die uberaus merk-
wurdige Erscheinung der von Reichardt 1 ) beschriebeneu Marianne
Illig hinweisen, wo sich periodische Hirnblindheit and Verwirrtheit,
besonders in rAumlicher und zeitlicber Hinsicht paarten. Der Fall Illig
konnte nicbt guterdings glatt als Hysterie bezeichnet werden. Wenn
icb auch ohne Bedenken im Fall L. von DAmmerzustAnden spreche und
keineswegs eine so strenge Kritik in bezug auf die diesbezugliche Auf-
fassung obwalten lasse, wie dieses Wernicke in der oben erwAhnten
Weise tut, so ist im GesetzmAssigen und in der Gleicbartigkeit
der Stdrung, welche, ohne sich durch Stereotypien Oder Verscbroben-
heiten im engeren Sinne auszuzeichnen, deutlich zu Tage treten, doch
ein prinzipieller Gegensatz zu den weiter unten zu beschreibenden ge-
nuinen hysterischen DAmmerzustAnden zu erblicken, welcbe stets ein
gewisses mehr affektvolles GeprAge aufwiesen. Die Unmdglichkeit bei
FrAulein L., die Situationen durch Suggestion in weiterem Masse umzu-
stalten, ist auch fur mich ein Grund, neben den sicher hysterischen
Zugen und Eigenarten, nicht nAber prAzisierbare psycho-
neurotische Stbrungen anzunehmen. Eine Epilepsie kann mit
Sicherheit ausgescblossen werden, desgleichen muss ich das Bestehen
sonstiger wohlbekannter und genau definierbarer affektiver oder intellek-
tueller Seelenstfirungen ansschliessen, — es wire eben ein eigenartiges
Krankheitsbild von luzidem Verhalten und DAmmerzustAnden, bei welchen
jedenfalls das hysterische Moment ausschlaggebend ist.
Bovor icb mich der Betrachtung der weiteren hysterischen Dammer¬
zustande zuwende, soli noch in Kurze in gewisser Hinsicht der Sympto¬
matology dieser krankhaften Aeusserungen gedacbt werden. In einer
Arbeit „ fiber die Psychosen und Neurosen der Bevfilkerung Knrlands" 2 )
babe ich anf die recht betr&chtlicbe Reihe meiner Beobachtungen auf
dem Gebiet der hysterischen Dftmmerzustande hingewiesen und betonte
direkt, dass ich mich in bezug auf Anerkennung eines solchen, ganz
besonders in forensischer Hinsicht, der Aussersten Vorsicht und Zuruck-
baltung befleissigt babe. In der Regel sprach ich nur solche Geistes-
stdrungen als Dammerzustande an, wenn auch in der Tat nachgewie-
aenermassen die Kriterien der hysterischen Konstitution vorbanden waren.
Ich muss betonen, dass ich nie in der Lage war und vielleicht auch
nicht im Stande wire, eine bis dahin latente Hysterie, welche sich
dttrch einen DAmmerzustand der Umgebung kund gibt, von einer simu-
1) Arbeiten aus der psych. Klinik zu Wurzburg. H. 8. S. 730.
2) Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 73.
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164 Dr. H&r&ld Siebert,
lierten StOrung unterscheiden zu kdnnen, falls bei der dieses Leiden vor-
t&uschenden PersCnlichkeit in der Tat gewisse fur Hysterie spreckende
Anzeichen bestehen. Ick kabe bisker aucb keinen einzigen Diebstahl,
als im kysteriscken D&mmerzustand begangen und deskalb der freien
Willensbestimmung bar, in gerichtlicker Hinsicht zur Begutachtung ge-
habt. Die derartigen Falle waren teils (anscheinend) simuliert, teils
war keineswegs ein so tiefer Erinnerungsdefekt vorhanden, dass man
die Anwendung der entsprechenden Schutzparagrapken zubilligen konnte,
kingegeu kabe ich eine recht grosse Anzahl vou kysterischen D&^nmer-
zust&nden, wo fCir die Auslosung derselben emotionelle Momente mit-
spielten, beobachtet; die Dammerzustande setzten dann als prompte
Reaktion auf ein reizendes Etwas ein, im Vprlauf — meist zu Beginn
fuhrte das betreffende Objekt eine Gewalthandlung aus oder zeigte sicb
zerst6rungswutig. Solche Erregungen dauerten dann meist mehrere
Stunden bis zu andertbalb Tagen in einem Fall, so dass das klinische
Bild, aucb vor Festlegung der d&mmerbaften Bewusstseinsstdrung genau
den Weg fur die folgericktige Beurteilung wies. Auf Grund meines
Materials muss icb dabei von einera g&nzlichen Versageu des Gan-
ser’schen Symptoms 1 ) sprecken. Das Fixiereu einzelner Kranker
und das Auhalten zu einem geordneten Antworten war gelegentlick
schwer, oder gar, wegen allopsyckischer Verwirrtheit, unmoglich, ein
regelrecktes Vorbeireden ist mir in der von Ganser betonten Weise
nickt begegnet, wobei ja sickerlich die Verschiedenheit des Materials
eine nicht zu uoterscb&tzende Rolle spielen durfte. Ich glaube nicht,
dass ick einen zu laienhaften Standpunkt einnekme, wenn icb der An-
sickt bin, dass das Ganser’sche Symptom, dessen grosse uosologiscke
und psychologische Bedeutung keineswegs abgestritten werden soil und
darf, dock bereits das Allgemeingut vieler Psyckopathen, Minderwertiger,
iiberhaupt unsozialer Persflnlichkeiten, ja auck genuiner Hysteriker, ge-
worden ist, welche mit demselben bei passender oder unpassender
Gelegeuheit operieren und von demselben gegebenen Falles Gebrauch
machen.
II.
Anna D., 35 Jahre alt, russischer Nationalitat, Frau eines russischen
Obe^sten. Die Mutter der Kranken litt an schwerer Hysterie, welche sich
im wesentliohen in Form von gehauften Anfallen ausserte. Sie war viele Jahre
hindurch Patientin von Charcot. Die Tochtcr Anna ist das einzige Kind, sie
zeigte von fruhester Jugend auf ausgesprochene neuropathische Zuge, wie Reiz-
barkeit, naohtliche Schreianfalle und Tics universeller Art. Bei Eintritt der
1) Arch. f. Psych. Bd. 30 und 38.
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Hysterische Dammerzustande.
165
Pubertat schwanden diese nervosen Zustande ganzlich, mit 20 Jahren stellten
sich die ersten fiir Hysterie charakteristischen Erscheinungen ein.
Sichtlich ohne irgend einen psychogenen Anlass bekam sie plotzlich Wein-
krampfe und muskulare Uebererregbarkeit. Trotz sachgomasser Behandlung
kehrten solche Anfalle alle Monate etwa, jedoch in keinem Zasammenhang mit
den Menses, wieder. Ansser diesen sehr hervortretenden Symptomen be-
herrschte eine sehr wecbseinde Stimmungslage, eine groteske Launenhaftigkeit
und'Sprunghaftigkeit das Wesen der Anna D., daneben liessen sioh vielfach
bedeutungslose Anzeichen von untergeordnetem Wert, wie Globus, Gefuhls-
storungen u. a. nachweisen. Nach Angaben sehr hervorragender Neurologen
war die Kranke ein schwer zu behandelndes und wenig beeinflussbares Objekt.
In der Ebe, die sie mit 25 Jahren einging, besserte sich die Krankheit recbt
betrachtlicb, jedenfalls verloren sich die schweren Anfalle in kaum weiter be-
merkfcarer Art; der Mann ubte anscheinend einen beruhigenden und ausglei-
chenden Einfluss auf die disharmonischen Eigenscbaften aus.
Erregungen, besonders bei kleinen Streitigkeiten, traten olt auf, Dammer-
zustando sind friiher nie beobachtet worden. Zwei Geburten wurden glatt
uberstanden, die Kinder, 8 und 6 Jahre alt, sind gesund, zeigen einstweilen
keinerlei psycho-neuropathische Ziige oder Gepflogenheiten. Im Juli 1912
schwerer Herpes zoster beiderseits, dielnterkostalnerven X, XI und XII waren
befallen. Oktobor 1912 allgemeine Urtikaria, welche in einigen Tagen,
angeblich nach suggestiver Behandlung abklang.
Januar 1913 — in keinem Zusammenhang mit den Menses — setzte der
erste, unten zu beschreibende Diimmerzastand ein. Anlass zur psychiscben
Erregung gab eine an sich sachlich gefuhrte Auseinandersetzung mit dem Mann,
welcher seiner Frau nicbt auf der St el 1 e die Einwilligung gab zu
ibrer Mutter nach Petersburg zu reisen und sie bat etwas zu warten, be¬
sonders da die Reise eben, in Hinblick auf die Erziehung der Kinder, inopportun
erschien. Hierauf ging der Mann zum Dienst. Frau D., welcbe bis dahin ganz
ruhig und besonnen gesprochen, nur ibren ausserst dringenden Wunsch nach
der Reise geaussert, rief das Dienstmadchen, liess sich ihre Kleider bringen
und erklarte, dass sie zu ihrer Mutter verreisen wolle. Sie hatte sich ganz
ordnungsgemass angezogen und sprach ruhig, so dass das Dienstmachen sich
nichts bei diesem Ausspruch dachte. Von Hause ging sie direkt zum russischen
Polizeiprasidenten, der sie auf Grund personlicher Bekanntschaft auch um-
gehendempfing, undmeldetedemselben ruhig und in sicher vorgetragener
Weise, dass ihr Mann sie heute friih vergiften wollte und seine
Absicht urn die Mittagszeit sicher realisieren wurde, falls die Polizei
nicht vorher seine Verhaftung vornehihe. Sie schilderte dabei bis ins kleinste
und genauoste die Art, wie der Mann die Manipulationen vorgenommen babe,
dass in ihren Worten durchaus der Charakter der Wabrsoheinlichkeit entbalten
zu scin schien. Immerhin glaubte der Beamte derselben nicht blindlings, ver-
sprach ihr Obacht zu gebe'n und liess dabei Frau D. nach Verlassen des Hauses
unauffallig verfolgen. Sie begab sich darauf zur Kirche, wo gerade eine gottes-
dienstlicbe Handlung stattfand, der sie etwa innerhalb einer halben Stunde
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166 Dr. Harald Siebert,
beiwohnte; nach Schluss derselben suchte sie den Popen auf und beichtete ihm
eine Reihe von Sdnden: dass sie ihren Mann betriige, ihre Kinder nmbringen
wolle und dergleichen mehr. Uierauf bestieg sie eine Droschke, fuhr zum Bahn-
hof und trat dortselbst an den geschlossenen Fahrkartenschalter
und verlangte mebrfach mit lauter Stimme, so dass die anwesenden
Personen ringsum aufmerksam wurden, ein Billett nach Petersburg. Hierauf
sank sie plotzlich ohnmachtig zu Boden und wurde vom Schutzraann, der sie
die Zeit iiber beobachtet, nach Hause gebracht.
Bei meinem Eintreffen fand ich die Kranke unter dem Bilde eines stupo-
rbsen Zustandes. Lider krampfhaft geschlossen, Bulbi nach oben verzogen,
Pupillen rechts gleioh links, schlaff-hypotonisohes Verhalten der quergestreiften
Muskulatur, alia Reflexe ungestort, dabei ganzliche Analgesie der Hautdecken.
Herztatigkeit leicht beschleunigt — 92 Pulse 1 ). Bei Eihatmen von NH S so-
fortiges Erwachen vom Stupor, die Kranke richtete sich auf, blickte er-
staunt auf den Arzt und fragte, wozu er hergekommen und was ihr fehlen solle.
Sie hatte weder gleich noch spater jemals eine subjektive Erinnerung an alle
Vorfalle, an ihre eigenen Handlungen und Aeusserungen; auch ein genaues
Roferieren iiber diesciben war nicht jmstande in ihr die Vorgange ins Gedacht-
nis zu rufen, sie erschienen ihr samtlich so absurd, kritiklos und unverstand-
lich, dass sie das Faktum derselben kaum glauben wollte. Sie wusste nichts
davon, dass sie ihr Haus verlassen, dabei war die Erinnerungslosigkeit so weit
retrograd, dass sie sioh nich einmal der Gesprache mit dem Mann kurz vor
Ausbruch des Dammerzustandes entsinnen konnte. Die Entstehung dieser
Storung war anscheinend eine langsame, sie muss aus dem vollen Bewusst-
sein allmahlich in den schleierhaften Dammerzustand mit volliger Amnesic
hiniibergefuhrt haben. Diese Erinnerungslosigkeit brachte es auch mit sich,
dass die Frage nach eventuellen Sinnestauschungen, welche das ganze Handeln
moglicher VVeise geleitet oder die wahnhaften Empfindungen in gewisaer Rioh-
tung geformt, sich als rollkommen illusorisch erwies. Vortauschung war hier
ganzlich ausgeschlossen, es ware zweoklos gewesen solche Handlungen zum
Schein zu ersinnen, zudem waren dieselben bizarr und spraohen von einer
inneren seelischen Disharmonie. Beim Abklingen der Erscheinungen war die
geistige Genesung von den krankhaften Symptomen des Dammerzustandes
eine ganzliche, in jeder Richtung vollkommene, das Pathologische war wie ab-
geschiittelt.
Die transitorische Storung hatte 6—7 Stunden gedauert,
eine Anstaltsbehandlung erwies sich nicht als notwendig.
Bis zum Jauuar 1916, wo ich die Kranke letztmalig untersuchte,
haben sich keine weiteren psychotischen Episoden, wie die oben ge-
schilderte, wiederholt, ob fur sp&terhin muss naturgem&ss als unent-
schieden hingestellt werden; die hysterische Konstitution bleibt bestehen,
1) Vgl. Chr. Siebert, Zur Kasuistik der lethargo-kataleptischen Zu
stande. Petersburger med. Wochenschr. 1910. Nr. 36.
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Hysterische Dammerzustande.
167
und daher ist die Wiederholung eines D&mmerzustandes als durchaus
im Betracht der Mdglichkeit liegend anzusehen, in dem Sinne lautet
aucb die Prognose den Anghdrigen gegenuber. Ein Krankheitsgefuhl
hatte Frau I). in ausgesprochener Wejse, die ihr gemachte Schildernng
ties Vorkommnisses gewabrt der hoch intelligenten PersSnlichkeit sich
volikommen in das Sckleierhafte und Ratselhafte der Episode hinein-
zufinden, jedoch ist das Krankheitsbewusstsein in der Hinsicbt nur ein
partielles, weil die Erinnerungsbilder fur die Ereignisse jedenfalls in
den liquiden BewusstseinsvorgSngen nicbt beliebig na#h subjektivem
Erniessen zur Disposition gestellt werden kbnnen, hingegen hat sich
auf Grand der objektiven Darlegungeu eine vollkommene Krankheits-
einsicht gebildet. Im Gegensatz zu Paranoiscben, welche gelegentlich
wohl ein Krankheitsbewusstsein besitzen kQnnen, da sie auch im Stande
sind, kraft ihrer Besonnenheit die Wahnbildung sich selbst vorzuhalten
und uber jeden (wabntiaften) Gedankeu ibre ganze Verstandesthtigkeit
und Kombinationsgabe ins Gewicht zu legen, jedoch trotzdem keine
Einsicht fur das Falsche und Verkehrte ihrer Denkweise besitzen, hat
unsere erwahnte Kranke trotz Fehlens der Erinnerung, fur die Episode
iiirer Wahnbildung. die beste Einsicht fur das Unsinnige ihrer falschen
Gedanken. Hierin liegt ebcn der, meines Erachtens, grunds&tzliche
Gegensatz zwischen den dammerhaften, durch Suggestionen verschiedener
Art herausgeforderten, Wahnideen und der stabilen Wahnbildung im
Gefuge der funktionellen — nach uuserer heutigen Auffassung und
Klassifikation — Psychosen.
I in konkreten Fall hier liisst sich die schwerwiegende Bedeutung
des auslOsenden Moments nicht sicher heraussclialen. Ist in der Tat
der Umstand, dass der Mann ganz mit Recht die gewunschte Reise ab-
sehlug, Grand genug, urn den ersten DUmmerzustand, zudem so schwerer
Natur. auszuloscn? Darf roan hier etwa in dieser Reaktionsform einen
r eingeklemmten Affekt" nach der Devise: „Los voro Mann um jeden
Preis u — suchen, der sicb in einer so perversen Form nach aussen
bin entlud. Mein psychiatrisches Empfinden lehnt dieses entschieden
ab, und auch die, vie gesagt, sehr intelligente Kranke spricht in ganz
sachgeni&sser und ruhiger Weise, dass ihr die psychiscbe Alienation
hei sich volikommen r&tselhaft ist, und sie weder in sexueller, noch
in persdnlicher Uinsicht mit ihrem -Mann in tats&chlichem Konflikt
oder unbefriedigtem Verhaltnis gelebt. Wenn auch der Streit an sich
noch keinen Shock aufs Nervensystem ausgeubt hat, so muss indes
dem fur Hysterie charakteristischen groben Missverhaltnis zwiscben
Reiz und Reaktionsform Rechnung getrageu werden, welches einem
die schwierigsten Probleme vorlegen kann, ohne dass man darauf eine
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168
Dr. Harald Siebert,
befriedigende Antwort geben konnte. Auch der g&nzlich unerkl&rliche
Umstaud der schweren Wahnblldung — ob der Wahn vorubergehend
oder bleibender Natur ist, spielt dabei keine Rolle —ist ein irrealer
Vorgang und steht in keinem Verhaltnis zur Wirklichkeit 1 ), und darum
halte ich hier ein Suchen im Unbewussten und Unterbewnssten fur
zwecklos und nicht sinnentsprechend.
III.
Emma 0., 22 Jahre alt, Littauerin, seit einem Jahr an einen Letten ver-
heiratet, vor 2 Monaten Geburt eines Kindes, welobes sie eben stillt. Von
friihester Jugend auf ein nervoses Individuum, war in iiberaus auffalliger Weise
jedem Eindruck von aussen her unterworfen, indem sie mit schweren krank-
haften Aeusserungen korperlicher und seelischer Natur auf oft recht unbedeu-
tende Anlasse reagierte. Sie stand eigentlich stets in arztlicher Behandlung,
ohne dass eine solche jemals andauernde Besserung hervorgerufen hatte,
meist genugte jede neue Ordination fiir eine kurze Frist, bis dann das alterierte
Vorstellnngsleben der Krankheiteinbildung auf einer anderen Stelle die Pforte
offnete. — Die Kranke ist an sich recht ungebildet, dabei aber intelligent und
tatkraftig, sie ist eine sehr religiose Natur. Die Ehe musste von Anfang an
als denkbar ungliicklich bezeichnet werden. Der Mann ist ein Produkt der
Halbbildung, liest viel popular-wissenscbaftliche Literatur, bewegt sich viel
im Theater und in Versammlungen, vernachlassigt die Frau auf Schritt und
Tritt, gibt ihr stets zu verstehen, dass sie ganz ungebildet sei, und ergeht sich
andauemd in Spottreden iiber ihre Volksart und den, von dem seinen verschie-
denen, Glauben der Frau. Solche Verhobnungen wurden sowohl niiobtern, als
auch in betrunkenem Zustande geaussert. Die fortgesetzten Erregungen, das
fast bei jedem Zusammensein erfolgende Reizen und Kranken wirkten natur-
gemass stark zermiirbend auf die Gemiitslage der Kranken ein; toxischen Ein-
flussen unterlag sie nioht.
Im Februar 1914 kehrte der Mann schwer betrunken nach Hause und
bedrohteunvermittelt seine Frau mit dem Stock inGegenwart mehrerer
fremder Personen. Sie erschrak so heftig dariiber, dass sie sofort zu Boden
stiirzte. Im Bett liess sie sich nicht halten, sondern stand auf, war jedoch wie
ganzlich von ihrer Umgebung entruckt. Auf Fragen gab sie keine Antworten
oder reagierte sprachlioh mit einem unverstandlichen undkeineswegszusammen-
hangenden Gerede. Die psychische Anlienation steigerte sich progressiv und
ausserte sich in einer ganzlichen allopsychischen Dosorientiertheit, dabei war
sie motorisch nicht sonderlich erregt. Sie verkannte ihre Umgebung, achtete
nicht auf ihr Kind, redete eine fremde Frau fiir ihre feme Mutter an; auch
mit dem Mann sprach sie, wie mit einer ganzlich fremden Personlichkeit, doch
ausserte sie hierbei weder Verstimmung noch Aerger oder iiberhaupt irgendwie
1) H. Siebert, Zwei Falle paranoischer Erkrankung. Sommer’s Klinik
f. psych, u. nerv. Krankh. Bd. 10. H. 1.
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Hysterische Dammerzustande.
169
betonten AfTekt. Von Stunde zu Stunde steigerte sich die Erregung, es ent-
wickelteo sich Sinnestauschungen sowobl visueller als auch akustischer Art:
sie horte sich rufen, antwortete bald leise bald schreiend, horchie an der Tiir,
wandte sich an irgend einen Gegenstand und fiihrte laute Selbstgesprache.
Sie sah Teufel und Gestalten, welche dann wieder mit den Gehorstauschungen
verquickt wurden. Dabei klagte sie uber unertragliche Kopfschmerzen, hielt
sich bestandig die Stirn; das Gesicbt war turgeszent, es liess sich iiberhaupt
eine betrachtliche Kongestion des Kopfes nacbweisen.
Die somatische Untersuchung, welche ich in diesem Zustande vornahm,
ergab eine enorme Hyperhsthesie des ganzen Korpers, indem jede Beriihrung
der Korperoberflacbe lebhafte Abwehrbewegung ausloste, besonders jedooh
eine Steigerung der Schmerzempfindung; dabei keine Differenz zwischen rechts
und links, sonst liess sich am Nervensystem kein Befund erheben. Bis zu
einem gewissen Grade war die Kranke dabei suggestibel, indem sie sich der
Exploration glatt unterzog und wabrend derselben von ihren Sinnestauschungen
ganzlich abgelenkt schien, sie sprach auch die Person des ibr ganzlich fremden
Arztes sofort als solche an und dokumenticrte dadurch ihre teilweise Orientie-
rungsfahigkeit. Bti der Ungunst der hauslichen Verhaltnisse riet ich doch
umgehend zur Anstaltsbehandlung, obgleich die Prognose an sich mir nicht
schlecht erscbien, und konnte die Verbringnng in die von mir geleitete psycbia-
trische Abteilung umgehend vorgenommen werdeu. Hierselbst wi^derholte sich
im Grossen und Ganzen das gleiche Bild psychischer Exzitation, wie es zu
Hause wahrnehmbar gewesen. Per os dargereichte narkotische Mittel iibten
keinen Einfluss auf den Zustand aus, die Kranke war in der Abteilung im
Laufe von 36 Stunden schlaflos. Es begann langsam und allmahlich ein Naoh-
lassen der Sinnestauschungen sich bemerkljar zu machen, sie w’urde sichtlich
luzider, erlangte auf dem Wege der Kombination ihre Orientierung wieder,
und jetzt stellle sich bei ihr erst eine psychologisck begriindete Zornempfindung
uber das Yerhalten des Slannes ein. Teilweise noch in damineriger Benommen-
beit, teilweise in verstandlicher Begriindung stiess sie eine Reihe von Dro-
hungen und Yerwiinschungen gegen ibn aus. Die Kopfschmerzen batten jetzt
ganzlich nachgelassen. Die Priifung der kutanen Sensibilitat ergab, im Gegen-
satz zur kurz vorber angestellten Untersuchung, eine ganzliche Analgesic der
Hautdecken und Scbleimhaute. Man konnte die Haut durchstechen und durch-
bohren, ohne dass die Kranke selbst oder auf Befragen angab einen Schraerz
zu empfinden oder auch nur eine Abwehrbewegung machte. — Der nach der
Erregung eintretonde Scblaf war von vierstiindiger Dauer. Beim Erwachen
war das Sensorium nicht ganzlich frei, die Kranke war wohi besonnen und
orientiert, docb betonte sie dabei nicht geuau zu wissen, was in ihr vorgeht,
— es bestand hierin, sowie iiberhaupt in ihren Angaben, ein deutliches Krank-
beitsgefiihl, doch liess sich ein stuodliches Nachlassen desselben beobachten.
Nach etwa 48 Stunden war die Kranke vollkommen klar, die Erinnerung bezog
sich nur auf den Vorfall mit ihrem Mann; nach demselben „stieg ihr eine
solche Hitze in den Kopf, dass sie sich weiterer Vorgange nicht mehr entsinnen
konme u . Fur die Dauer der krankhaften Vorgange fehlte ihr jede Erinnerung,
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Dr. Harald Siebert,
auch die Ueberftihrung in die Anstalt lag ihr nicht im Bewusstsein, erst lang-
sam und allmahiich konnte sie sich wieder auf sieh und ihre Umgebung be-
sinnen.
Sie hielt sich nun fur gesund, konnte sich den Vorgang nur so erklaren,
dass % durch den grossen Schreck und die Erregung sich bei ihr eine Storung
eingestellt hatte, welohe „Gehirn und Geist umnachtete u . Den Uann wollte
sie weiterbin nicht mehr sehen und beabsichtigte mit dem Kinde zur Mutter
zu ziehen und vom Manne weiterhin getrennt zu leben.
Die Kranke hat dieses auch ausgefiihrt, lebt seitdem vom Mann getrennt
bei ihrer Mutter. Erregungszustande sind weiter nicht Vorgekommen. lm Marz
1915 wurde die Kranke nach einerBeschiessung derStadt aphonisch.
Auch diese Erscheinung beruhte auf einer funktionellen Storung im Gebiet der
Phonationsmuskeln. Die Behandlung war schwierig und bis zum Schwin-
den der Ausfallserscheinungen vergingen viele Wochen — eine Beobachtung,
welche ich in bezug auf die Behandlung der korperlicben Aeusserungen der
Hysterie bei der littauischen Volksart oft gemacht habe. Seit weiteren 2 1 / 2
Jahren sind grobere Storungen auf psychisch-nervbsem Gebiet nicht weiter
wahrnehmbar gewesen. Die Kranke hat mich oft konsulliert, meist jedoch trug
sie lediglich indiderente Klagen vor; ihre Krankheitsvorsteliungen waren der-
art, wie sie von joher zu ihrer Personlichkeit und zu ihrem psychisch-nervosen
Geschehen gehorten.
/ Dauer der krankhaften Storung des Bewusstseins etwa
48 Stunden. Anstaltsbekandlung wurde angewandt.
Dass wir es bier mit einer hysterischen Stflrung zu tun hatten,
diirfte wolil auf Grund der Vorgescbichte, als auch auf Grund der Er-
hebungen uber die konstitutionellen Eigenheiten ohne jeden Zweifel sein;
auch hier ist die blitzartige Verdammerung des Bewusstseins auflfallig.
Ich glaube, dass wir uns beziiglich des Ausbruchs der psychischen
Alienation bei Emma 0. die Auffassung BonhOffer’s 1 ) zu eigen machen
mussen, dass die Sckreckeraotion einen vasomotorischen neuro-
tischen Komplex hervorruft, und nicht den hysterischen. Der Kurz-
schluss im Bewusstsein ware hier eben durch gewaltige vasomotorische
Vorgange angebahnt und hervorgerufen worden, und nachdem konnte
sich auf diesem Boden die hysterische Bewosstseinsstfirung — der
Dammerzustand — voll entwickeln.
Betrachten wir nochmals, rekapitulierend, die charakteristischeu
Merkroale des Dammerzustandes an sich, so imponiert, wie ausdriick-
lich herorgehoben, das pl5tzliche und umgebende Einsetzen der StQrung;
der Oebergang vom Normalen, soweit es die Umgebung beurteilen
konnte, zum Psychopathologischen vollzog sich im Handumdrehen, hin-
1) Psychogene Krankheitszustande. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 68.
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Hysterische Dammerzustande.
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gegen machte sich dann eine stundlich zunehmende Steigerung der
krankhaften Aeusserungen bemerkbar, zur Desorientiertheit gesellten
sich die Siunestkuschungen, so dass jedenfalls ein st&ndiger Progress
unverkennbar war. Daneben muss dringend das auff^Uige Verhalten
der Scnsibilit&t in einer fur Hysterie charakteristischen Weise im Auge
behalten werden. Relativ gering, wenn auch vorhanden, war die Sug¬
gestibility der Kranken, auf alle Falle wkre dieses noch keineswegs
ein Grand, urn Zweifel au der Richtigkeit der Auffassung uber die hy¬
sterische Qualitat der SWrung aufkommen zu lassen. Ich hob gerade
oben die geringe Suggestibilit&t der hysterischen Littauer uberhaupt
hervor und erw&bnte hier die Schwierigkeit der spaterhin erfolgten
Behandlung der aphonischen StSrungen. Fur Hysterie sprechen auch
die glatte Heilung mit vollkommener Einsicht, das langsame und suk-
zessive Schwinden der krankhaften psychischen Ph&uomene, sowie die
durchaus beachtenswerte Schnelligkeit, mit welcher bei unserer Kranken
sich psychische Momente in kOrperliche Projektionsformen umzuwandeln
vermochten.
IV.
Betty K., 25 Jahre alt, Jiidin, Inhaberin eines grossen kaufmannischen
Betriebes, dem sie seit etwa 3 Jahren in mustergiltiger Weise vorsteht. Sie
ist seit 6 Jahren verkeiratet, 2 Kinder. Der Mann ist eine vollig nichts-
sagende Personlichkeit, der eigentlich von der Frau unterhalten wird. Frau K.
ist nach Angabe aller Bekannten eine ausserst energische und tiichtige, aber
auch eine hochgradig nervose und reizbare Personlichkeit. Sie ist wechselnd
in ihrer Gemutslage, sprunghaft in ihren Neigungen, ist zu Hause durch die
Laonenhaftigkeit und Norgeleien ein iiberaus schwierig anzufassendos Wesen.
Korperlichen Vorstellungen gegeniiber sei sie von jeher sehr suggestibel ge-
wesen, es lagen bei ihr andauernd die verschiedensten allgemeinnervosen
Storungen vor, bald Globus, bald Schmerzen, bald Gchstorungen, dann wech-
selte die Stimmung in auffallender Weise — kurzum es bestand der Symptomen-
komplex, der wohl meist vom Arzt und von den Angehorigen als Hysterie be-
zeichnet wird. Um den noch neuerdings von Hellpach uber die Physiognomic
der Hysterischen (S.155 Lit.5) gemacbten Ausfuhrungen gerecht zu werden, sei
auch hier erwahnt, dass sich sowohl „Boopie u , als auch das eigenartige
Lacheln in charakteristischer Weise beobachten liessen.
Die psychische Bewusstseinsstorung wurde hier durch folgenden Vorfall
ausgelost. Die Frau K. wurde plotzlich davon benachrichtigt, dass sie um-
gehend in einigen Tagen eine recht umstandliche und mit grossen Sohwierig-
keiten verbundene Reise antreten masse, um vor einem Gericht in einer
recht schwerwiegenden Sache, von der sie angeblich etwas wissen solle,
als Zeugiu aufzutreten. Da Eile geboten war, hatte sie in etwa 12 Stunden
abfahren miissen. Diese plotzlioh an sie herantretende Tatsache ubte einen so
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gewaltigen Einfluss auf sie aus, dass sie umgehend aus ihrem psychischen
Gleichgewicht herausgehoben wurde und in einen bis dahin Die dageweseDen
Zustand psychischer Alienation verfiel. Sie warf, laut aufschreiend, ihre
Sachen durcheinander, verliess ohne Hut und Ueberkleider das Geschaft und
rannte auf die Strasse, so dass sie nur mit Miihe ihrer Wohnung zugefuhrt
werden konnte. Hier beging sie auch eine Reihe verkehrter Handlungen, sie
stellte die Stiihle auf die Tische, kleidete ihre Kinder grundlos aus, scbuttete
Wasser ins Feuer usw. Den hinzugezogenen Arzt begrusste sie freundlich, er-
kannte ibn anscheinend nicht, jedenfalls vermochte sie nicht seinen Namen zu
nennen. In Bezug auf die Zeit war sie ganzlich verwirrt, gab jedoch an zu
Hause zu sein. Sie sab Gestalten, horte Pferdegetrappel, Kanonenschiessen,
glaubte sicb auf einem Schlachtfelde zu befinden. Aucb bei dieser Kranken
iiess sich eine Exploration gut ausfiibren, indem sie prompt alien an sie ge-
richteten Wiinscben und AufForderungen Folge leistete.
Vom rein neurologischen Standpunkt konnte, ausser einer leichten Hyper-
algesie, nichts von Bedeutung nachgewiesen werden. War jedoch die Kranke
einen Augenblick nicht fixiert, so wurde ihre Aufmeiksamkeit umgehend durch
jeden neuen Eindruck gefesselt, es schien dann, ob sie ihn sofort im Sinne
einer Illusion verarbeiteto; auch sich selbst uberlassen, hielt das unbestandige
Gebahren und Sprechen, das Hasten und Delirieren an. Zwischendurch er-
folgten kurzandauernde Lach- oder Weinkrampfe, welche sich in ihrer Intensitat
durch suggestive Einfliisse mildern liessen. Der Schlaf, der nach etwa zehn
Stunden dammerhaften Delirierens eintrat, wal* kurz, er stellte sich erst nach
einer Skopolamin-Panlopon-Injektion ein, Beim Erwachen besteht die Bewusst-
seinsstoruug in unverandertem Masse fort; im Laufe des nachstfolgenden Tages
keine nennenswerte Veranderung, die Suggestibility der Kranken scheint in-
des geringer zu sein, sie ist schwerer zu untersuchen, die Lach- und Wein-
krampfe sind kaum beeinflussbar. Die Verbringung ins Krankenhaus erfolgt
mit grosser Schwierigkeit, die Veranderung der Umgebung und der sacbgemasse
Umgang beeinflussen bis auf weiteres das Verhalten der Kranken kcineswegs.
In der zweiten Nacht nach Morphium-Skopolamin 6 Stunden Schlaf, beim Er¬
wachen ist sie sichtlich luzider, halluziniert nicht mehr, ist aber im Raum und
in der Zeit vollig unorientiert. Im Laufe des dritten Tages langsames Schwinden
des Dammerzustandes. Sie kann sich kaum irgend welcher Vorgange entsinnen,
glaubt nur aus der Stadt fortgewesen zu sein, konfabuliert, indem sie an¬
scheinend noch unter dem Eindruck der auf sie vorher einstiirmenden Sinnes-
tauschungen steht. Trotz der weitgehenden Besserung noch haufige, aber
leichtere, Lach- oder Weinanfalle. Am vierten Tage ganzlich klar und be-
sonnen, halt sich fur gesund, nur noch fur sehr angegriffen und mude. Enormes
Schlafbediirfnis, standiges, krampfhaftes Gabnen. Die gauze Erkrankung liegt
wie ein Traum ziemlich erinnerunglos hinter ihr; der Sinnestauschungen ent-
sinnt sie sich nur dunkel, als etwas Fremden und Unangenehmen, Einzelheiten
fehlen ihr im Gedachtnis. Die Einsicht ist eine vollkommene, insofern als aile
diese Erscheinungen als Aeusserungen krankhaften geistigen Geschehens von ihr
angesprochen werden.
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Hysterisohe Dammerzustande.
173
Dauer des Dammerzustandes drei Tage. Anstaltsbehand-
lung erforderlich.
Auch hier diirfte an der Hysterie, als der Grundlage des Damraer-
zustaudes keiu Zweifel bestehen; beachtenswert erscheint dabei die
Frage des D&mraerzustandes vom rein forensischen Standpunkt bezw.
von dem fur das Gericht in rein praktischer Hinsicht bedeutungsvollen
Ausblick zu sein. Dass eine Reise wSLhrend der Erregung und des ver-
Inderten Geisteszustandes ausgeschlossen erscliien, auch wenn, wofur
keinerlei Anhaltspunkte bestanden, hier beabsicktigte T&uschung
oder Cebertreibung vorgelegen hatten, muss als selbstverstandlich an*
gesehen werden. Ich hielt aber auch eyentuelle Zeugenaussagen
der Frau K. in einer Sache, die bald nach erledigtem Dkmmerzustand
zur Verhandlung kkrae, deshalb fur unerwunscht und keineswegs
fur genugend einwandfrei, weil die Gefahr als durcbaus berechtigt
und mbglich angesehen werden muss, dass Frau K. infolge ihrer eben
stark aus dem Gleichgewicht geworfenen hysteriscben Konstitution leicht
unrichtige oder durch Konfabulationen geleitete Angaben machen kOnnte.
Hierdurch ware der Sache an sich mit nichts gedient, und Frau K.
ware leicht der Gefahr ausgesetzt selbst mit dem Strafgesetz in Kon-
flikt zu geraten, weil bei ihr nach AbkJingcn des D&mmerzustandes von
einer Beeintrftchtigung der freien Willensbestimmung wohl keine Rede
sein wurde. Aus diesem Grundo erscheint mir an sich ein Vermeiden
von Zeugenaussagen effektiv schwerer hysteriscber lndividuen,
wie unsere Kranke es ist, nach M6glichkeit als geboten.
V.
Wilhelm S., 18 Jahre alt, Lette, Mutter Littauerin, wird aus der chi-
rurgischen Abteilung im stuporosen Zustand der psychiatrischen Abteilung
des Stadtkrankenhauses uberwiesen. Er wurdo von seinem Fabrikbetriebe, an
dem er tatig war, blutuberstromt ins Krankenhaus eingeliefert, ohne dass ihm
ein Unfall oder ein besonders schadigendes Ereignis zugestossen ware. In der
chirurgischen Abteilung war eine Hamoptoe festgestellt worden, zugleich er-
weckte jedoch das psychiscbe Verhalten den Verdaoht auf gleicbzeitig ?or-
handene Geistesstorung, weshalb auch die psychiatrische Behandlung angezeigt
erschien.
Die erste Untersuchung zeigte den Kranken im tiefen Stupor, eine ali-
gemeine Hypotonie der Extremitatenmuskulatur, eine ganzliche Reaktionslosig-
keit bei Nadeleinstichen in die Ilaut, der spontane und der reaktive Mutismus
sprachen fiir ein schweres Daniederliegen oder Verschrobensein der psychischen
Funktionen. Am nachsten Tage war der Kranke aufgestanden, ging umber,
die Mimik war lebhaft; er achtete auf alle Fragen, antwortete jedoch nur
pantomiraisch und sobrieb auf Papier, dass er nioht sprechen kbnne. Die Sen-
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174
Dr. Harald Siebert,
sibilitatspriifung ergab dann anscheinend eine bessere allgemeine Leitang
als am Tage vorher. Nach weiteren 24 Stunden spraoh er, jedoch in deutlich
stotternder Weise, nach einigen Tagen war die Sprache vollkommen glatt und
fliessend.
Aus seiner Vorgeschichte liess sich ersehen, dass er von Jugend auf ein
neuropathisches Kind war, er war bald furchtsam, bald tolikuhn, log viel, war
unfolgsam, lernte schlecht. Besondere Belastung konnte nicht nachgewiesen
werden. Mit 13 Jahren wurde er Trapezkiinstler und Degenschlucker, zog dann
mit einer Gauklergesellsckaft umber. Er trank nicht, vertat jedoch sein Geld.
Darauf hat er verschiedene Bcschaftigung gehabt, welche er teils schlecht, teils
zufriedenstellend verrichtete. Seit dem 16ten Lebensjahre ist eine Lungen-
tuberkulose manifest, welche auch mekrere Blutstiirze zur Folge hatte. Zu der
Zeit wurde S. fiir einen Diebstahl bestraft. — Spaterhin begann er in Oel zu
malen und stellte auch einige Gemalde aus, obgleich er nie eine Malstunde
gehabt. Gleichfalls mit dem 16ten Jahre sind nun die ersten Storungen auf
psychisch-nervosem Gebiet in einer fur seine Angehorigen greifbaren Weise
aufgetreten. Es liess sich namlich zeitweise beobachten, dass S., sei es nach
Erregungen oder auch ohne dass solche direkt erwiesen wurden, die Sprache
verlor und dann stundenlang, wie geistesabwesend, umherlief, er vagierte ziel-
los in der Stadt, kehrte aber stets in kiirzerer oder langerer Zeit zuriick. Auf-
fallend war, dass meist nach einigen Stunden, selten erst nach einem Tage, der
S. klarer wurde, sich ganz besonnen und geordnet verhielt, jedoch nicht im
Besitz der Sprache war, diese kehrte dann nach Ablauf weiterer Tage
wieder, und zwar, wie dieses oben bereits als Beobachtnngsresultat geschildert,
unter anfanglichem Stottern. — Jetzt steht S. im Verdacht seinem Ka-
meraden den Schrank aufgebrochen zu haben, von einer Veranderung des
Geisteszustandes vor der Tat ist niemand £twas bekannt, soweit die Umgebung
solches beurteilen kann, er selbst stellt den Vorgang in Abrede. Forensische
Begutachtung erwies sich als nicht erforderlich.
Der innere Organbefund, vom Spezialisten erhoben, rechtfertigt voll¬
kommen die Auffassung vom Bestehen einer Lungentuberkulose als Ursache
der Hamoptoe. Vom rein psychiatrischen Standpunkt aus betrachtet ist S. ein
Individuum, das wenig gelernt hat, aber iiber eine glanzende Kombinations-
fahigkeit verfugt, er bildet Begriffe und Vorstellungen, welche fur sein Milieu
geradezu uberraschend sind. Auch ist er durchaus weltgewandt und fruhreif.
Sexuell hat er sich viel und lebhaft betiitigt (Tuberkulose-|-Psychopathic?)
Er ist jetzt zum zweiten Male verlobt! Bei seiner Einlieferung war er im Besitz
verschiedener narkotischer Mittel, mit denen er sich angeblich vergiften wollte,
auch gelang es ihm umgehend durch einen aus der Anstalt hinausbeforderten
Brief einen Pflcger anonym bei der Direktion zu denunzieren, und nur durch
Zufall konnte er daraufhin ertappt werden. Dabei versuchte er rastlos hohe
Temperaturen vorzutauschen oder die verschiedensten Krankheitssymptome
vorzuspiegeln, so dass bei der tatsachlichen recht groben Stoning der
Atmungsorgane ein vielfach unentwirrbares Chaos von Wahrheit und Dichtung
entstand.
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Hysterisohe Dammerzustando.
175
loh habe nun wahrend des mehrmonatigen Anstaltsaufenthalts bei S.
einige dieser Dammerzustande beobachtet, die mehr oder weniger einen gleich-
artigen Charakter trugen, nur war die Dauer der Bewusstseinsstorung wechselnd
von einer Stande bis etwa einem vollen Tage. Ira Gegensatz zu den anderen,
genau studierten Beobachtungen, war hier das Einsetzen der Storung kein
plotzliches, sondern ein langsames, kaum merkliches. Wahrend die ubrigen
Falle wohl eine sukzessive Steigerung, ob ohne oder durch Suggestibility
bleibt dahingestellt, aufwiesen, wobei die Ausschaltung aus dem normal
fliessenden geisligen Geschehen eine plotzliche war, ging der Prozess bei S. in
steter Weise vorwarts, bis der Bewusstseinsverlust den Grad des Dammer-
zustandes erreicht batte, indera die Desorientierung und die Unfahigkeit im
Hamieln den Zustand als solcben dokumentierten.
Der Scblaf konnte ungesiort sein, nach dem Erwachen bestand die
Storung fort. Sinnestauschungen traten nicht in ausgesprochener Weise auf;
er schien Musik zu horen und begann zu tanzen. Es liess sich das Faktum
der Halluzinationen nie genau feststellen, da der begleitende Mutismus zu der
Zeit nie fehlte, und hierdurch die Untersuchung sehr erscbwert wurde. Einen
Stuporzustand habe ich nur das eine Mai gesehen, sie sind angeblich vorher
auch nicht vorgekommen. Ueber die Erinnerungsfiihigkeit liess sicb, nach ab-
gelaufener Storung, wenig Positives ermitteln, da man bei dem bekannten
Lugen des Kranken iiber den Grad der Amnesie, die er stets als voll-
kommen schilderte, die Angabo nur sehr mit Vorbehalt verwerten konnte.
Ein schweres Krankheitsgefiihl bestand unzweifelhaft, iiber die Einsicht in den
Zustand waren die Ermittlungen auch ungeniigend, da man desgleichen mit
betrachtlicheu Aggravationen einerseits, mit grosser Durchtriebenheit anderer-
seits zu recbnen hatte, zudem hielt ich ein allzu intonsives Eingehen auf den
Krankheitszustand aus didaktisch-therapeutischen Griinden fiir unerw‘iinscht.
Simulation der Zustande diirfte wohl ausgeschlossen sein, soweit eben iiber-
haupt unsere Diagnosestellung auf Hysterie Fug und Recht besitzt. Fiir Epi¬
lepsia bestanden keine Anhaltspunkte; 0,03 bezw. 0,05 Cocaini muriat. mehr-
fach subkutan angewandt riefen auch keine epileptischen Zustande hervor, wie
solche iiberhaupt eigentlich nicht in Frage kamen. Sonderbar verhielt sich die
kutaneSensibilitat wahrend des Bestehens der stotterneurotischenErscheinungen
nach Abkiingen des Dammerzustandes. Man erhielt am Korper die verschie-
densten anasthetiscben und analgetischen Zonen.und Flecke, wie solche etwa
auf den beriihmteu Darstellungen Charcot’s sichtbar sind. Auch diese merk-
wurdige Koinzidenz erhartete wohl wesentlich die Diagnose dor Hysterie gegen-
uber Scbwindel und Simulation eines Psychopathen. —
Bei S. war demgem&fts die Dauer der Dammerzustande von
einer Stunde bis zu einem Tage; sie traten sowohl im haus-
licben Leben, als auch in der Anstalt auf.
Ueber meine Auffassung, dass ich diese Krankheitsbilder den byste-
rischen Damracrzust&ndeu zurechnen mOchte, habe ich oben bei der
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Dr. Harald Siebert,
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Betrachtung eines jeden einzelnen Bildes berichtet. Es fragt sieh nun,
ob eine solche Anschauung auch gerechtfertigt erscheint. Gaupp 1 )
weist ausdriicklich auf die Schwierigkeit einer solchen Auffassung hin,
indem er nach Erw&hnung der Scliwankungen dieses Begriffs seit Char¬
cot, die Feststellung Hoche’s vora Jahre 1902 anfuhrt: „Wer die
These aufstellen wollte, dass es uberhaupt ein Krankkeitsbild Hysterie
nicht gibt, sondern nur eine besondere Form psychischer Disposition,
die man als hysterisch bezeichnet, wftre gar nicht zu widerlegen“. Es
wird hierbei von Gaupp darauf hingewiesen, dass von den Psychosen
und Vergiftungen besonders die zur Dissoziation fuhrenden haufig mit
hysterischen Symptomen verknupft sind (Dementia praecox, Paralyse,
Stirnhirntumor, Sklerose). Solche Bedenken uber die Richtigkeit und
die Berechtigung mit der Hysterie und dementsprechend mit den ein¬
zelnen Symptomengebilden derselben, als mit einer festgefugten Einheit
im nosologischen Sinne, operieren zu durfen, sind nicht nur erwunscht,
sondern sprechen und raahnen immer in dem Sinne, dass Krankheits-
bilder nur dann als hysterisch bezeichnet werden sollen und k6nnen,
wenn wir in der Tat anderweitige Affektiouen mit Sicherheit aus-
schHessen durfen. Es fragt sich nun, welche Krankheitsbilder aus
differentialdiagnostischen Grunden in Erwkgiing gezogen werden mussen.
Nehmen wir die Beobachtungen II, III und IV, so l&sst sich in klarster
Weise verfolgen, dass dem Ausbruch des DSmmerzustandes unmittelbar
ein affektvolles Ereignis vorherging, an welches sich dann die Bewusst-
seinsstorung nebst den sonstigen psychoneurotischen Phanomenen an-
schloss. Dieser Umstand lftsst naturgemkss daran denken, dass hier
eine affektive Seelenst5rung im Spiel sein konnte. Nach der psychia-
trischen Betrachtungsweise v. Krafft-Eking’s 2 ) mtissen wir hei deu
Hysterischen folgende Stdrungen des Seelenlebens unterscheiden: 1. tran-
sitorische Irreseinszust&nde, 2. protrahierte, delirante Zust&nde, analog
den protrahierten psychischen Aequivalenten und 3. die hysterischen
Psychosen. In diesem Sinne w&ren die geschilderten Beobachtungen
kaum sachgem&ss in der einen oder andereu Klasse unterzubringen,
eher konnten schon die Beobachtungen I und V unter die transitorischen
Irreseinszustande rubriziert werden. — Die Gesamtauffassung Krafft-
Ebing’s wird wohl heute von einer relativ geringen Anzahl Facbge-
nossen geteilt, so durfte der Frage der hystero-epileptischen Delirien,
sowie der Melancholie mid der Manie auf hysterischer Grundlage doch
nur mit grosster Reserve n&her getreten werden.
1) Ueber den Begriff der Hysterie. Neurol. Zentralbl. 1911. Nr. 11.
2) Lehrbuch der Psychiatrie. 1903. VII. Aufl. S. 508ff.
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Hysterisohe Dammerzustande.
177
Neben der Manie und der Melaacholie, als Prototypen einer affek-
tiven Seelenstorung, hat Ziehen 1 ) auf eine Gruppe anderer affektiver
Psychosen hingewiesen, welche er als protrahierte Affektschwan-
kungen bezw. als Eknoia bezeichnete. Er betrachtet diese St6-
rungen als Herausreissung aus den normalen Denkgeleisen durch die
Affektstdrung und betont, neben dem seltenen Vorkommen der Eknoia,
die MQglichkeit der Verwecbslung mit der Amentia. Der Unterschied
beruht jedoch im Wesentlichen darauf, dass im Anschluss an den &tio-
logischen Affektstoss sich eine unverkennbare pathologische Affektsteige-
rung entwickelt, auf deren Boden sich erst nachtr&glich Sinnest&uschungen,
Wahnvorstellungen und Inkoh&renz einstellen. Es liegen ahnliche Schil-
derungen von Bresowsky 2 ) vor, welcber warm fur die nosologische
Selbstandigkeit der protrabierten Affektschwankungen eintritt. Abgesehen
▼on den ausgesprochenen „hysterischen“ Zeichen, welche die von mir
beobachteten Krankeu darboten und dadurch das „hysterische“ Moment
als solches sicherten, getraue ich fur meine Person nicht eine so kom-
plizierte Diagnose auf Eknoia anzuwenden. Wenn ein Meister im Fach,
wie Ziehen, aus seinem enormen Material solche Beobachtungen schdpfen
konnte, so ist dieses verst&ndlich, in praxi wird jedoch kaum jemand
in der Lage sein, seine diesbezugliche Auffassung folgerichtig vertreten
cu konnen. Dass Zust&nde von schwerer Bewusstseinstrubung
vorkommen, welche nicht zur Hysterie gehOren, hebt auch Bon-
hoeffer 3 ) hervor, wobei die Unsicherheit des Hysteriebegriffs eine sach-
gemasse Behandlung dieser Frage sicher sehr erschwert; solche Beob¬
achtungen geh5ren nicht zu den hhufigen Vorkommnissen, auch rechnet
Bonhoeffer ferner die eigentlichen haftpsychotischen ZustUnde, den
Ganser’schen Dimmerzustand, die psycbogene Pseudodemenz und den
hysterischen Stupor zur Hysterie, fur welche nnter anderem der Wunsch
fur geisteskrank zu gelten, als charakteristisch anzusehen ist.
Es sind weiterhin in Frage zu ziehen gewisse Erscbeinungen, die
bei den VerblCdungsprozessen der Gruppe der Dementia prae-
cox (hebephrenica) vorzukommen pflegen. Besonders diejenigen Krank-
heitsvorgange, welche unter dem Bilde einer pseudo-hysterischen Neurose
ihren Beginn dokumentieren, kOnnen am allerehesten Anlass zu ver-
1) Psychiatric. 1911. S. 421.
2) Ueber protrahierte Affektschwankungen und eknoische Zustande.
Monatsschr. f. Psych. Bd. 31 und Neurol. Bote (russisch) 1914. H. 3.
3) Wie weit kommen psychogene Krankbeitszustande und Krankheits-
prozesse vor, die nicht der Hysterie zuzurechnen sind. Neurol. Zentralbl.
1911. Nr. 11.
▲rekiT f. Ptjrehiatrie. Bd. 60. Heft 1. t.i
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Dr. H&r&ld Siebert,
b&ngnisvollen Verwechslungen geben. Auch die Spaltung der Persfin-
lichkeit, wie sie im Fall l, zwischen luzidem Verhalten und krankhafter
Bewusstseinsstfirung auftritt, gibt durchaus berechtigte Hinweise darauf,
dass man einen zerebralen Abbanprozess in Frage zieben mass, indes
ist bei der sturmischen Art des Auftretens der Grscheinnngen, wie eine
solcbe alle unsere Beobachtungen auszeicbnet, das Einsetzen so tiefer
und nachhaltiger Remissionen obne jeden Intelligenzdefekt und bei aus-
' gesprocbener Krankheitseinsicht eine Vermutung, die eigentlich keine
positive Stutze besfisse.
Die Frage grober organischer StOrungen, iu deren Verlauf,
etwa bei Tumor und Paralyse, transitoriscbe BewusstseinsstOruugen
den Beginn der Erkrankung eiuleiten kdnnten, darf mit vOlliger Sicher-
heit verneint werden.
Der Erw&huung wert w&rcn uoch toxische VorgSnge, welche
durch direkte Scbadfgung des Gehirns Stdrungen, wie die oben erwfihnten,
bedingen konnten. Ich babe selbst einen Fall beschrieben x ), wo ein
Delirium tremens alcobolicum im Beginn, w&hrend eines halben
Tages, bei einem fruher nicht hysterischen Individuum unter dem Bilde
einer hysterischen Erregung verlief, bis dann mit Steigerung der spezi-
fiscben StOrung die pseudohysteriscben Stdrungen schwanden. Auch
A. Behr 2 ) hat eine Beobachtung von einem Abstiuenzdelir bei chboni-
schem Paraldehydraissbrauch mitgeteilt, wo eigentlich nur die ge-
naue Kenntnis der Vorgescbichte mit Sicherheit vor einer Verwechslung^
mit einem hysterischen D&mmerzustand scbutzeu konnte. Erw&hnt sei
noch von anderen toxischen D&mmerzustRnden die Vergiftung mit Hyos-
cyamus niger 3 ) und den ihm analog wirkenden Alkaloiden, dock
durften hierbei die StOrungen an den Pupillen und die Trockenheits-
erscheinongen einzelner, von sezerniereuden Drusen versehener KOrper-
abschnitte vor Verwechslung schutzen.
In letzter Linie sei noch der Epilepsie mit einigen Worten ge-
dacbt, die wesentlichsten Punkte daruber wurden bereits oben hervor-
gehoben; die differentialdiagnostische Unterscheidung des hysterischen
D&mmerzustandes gegenuber dem epileptischen ist insofern die scbwie-
rigste, weil eben die epileptischen Bewusstseinsstbrungen quantitativ am
1) H. Siebert, Zur Klinik der Gesohwisterpsychosen, anscheinend exo-
genen Ursprungs. Monatsschr. f. Psych. Bd. 42. H. 2. S. 43.
2) Beitrag zur Kasuistik der Paraldebyddelirien und Bemerkungen fiber
die Trunksucht der Frauen besserer Stande. Petersburger mod. Wochenschr.
1902. H. 14.
3) Vergl. Chr. Siebert, VergiftuDgspsyohose nach Radix Hyoscyami
nigri. Petersburger med. Wochenschr. 1911. H. 35.
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Hysteriscbe Dammerzustande.
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h&ufigsten in Frage kommen. Die provokatorische Anwendung subku-
taner Kokaininjektionen, als eines einem epileptischen Anfall ausldsen-
den Mittels, ist eine noch zu uagewisse und unpr&zise Massnahme, tun
uberhaupt positive nnterscheidende Bedeutung zu besitzeo. Unter 41 Epi-
leptikern, denen ich wiederbolt Kokain injizierte, reagierte bloss einer
mit einem leichten Anfall, doch auch bei dem wurde das Mittel zu
einer Zeit angewandt, in der der Rranke an sich eine Reihe von Par-
oxysmen batte. Fur die Frage der Differentialdiagnose zwischen Hysterie
und Epilepsie wurde ich fur meine Person jedenfalls hiervon Abstand
nehmen, wir baben uns darin doch bis auf weiteres lediglich an rein
klinische Beobachtungsresultate zu halten.
So sebr auch an sich vor einem ubereilten und fibertriebenen An-
wenden des Hysteriebegrifls gewarnt werden muss, weil sowohl orga-
nische, als auch uberhaupt destruierende StOrungen, wie andererseits
auch einfache Vort&uschung, sich hinter, uns als hysteriscb anmutenden
Zust&nden verbergen kOnnen, ist es trotzdem unerl&sslich fiir eine ganze
grosse Reihe von Krankheitsbildem die nosologische Einheit „Hysterie“
festzubalten. Wicbtig ist dabei, dass die abnorme Reaktion auf
psychische und sum Toil auch somatische Reize 1 ) nachgewiesen
ist, dann ist man auch in die Lage gesetzt zu zeigen, dass die Psycho¬
neurosen wirklich Rrankheiten sind, was lange Zeit hindurch geleugnet
wurde und was auch heute noch von mancher Seite bestritten wird.
Ich halte die vOlkische und rassenindividuelle Verbreitung der Hysterie
fBr so wechselnd und schwankend, dass es wohl verst&ndlich ist, dass
mancher Beobachter weniger Hysterien zu Gesicht bekommt als ein an-
derer. Mein spezieller Wirkungsradius gew&hrt mir die Mdglichkeit
gerade unter der jddischen und littauischen BevOlkerung Krankheits-
bilder in reichem Umfange zu studieren, die nur mit Hysterie bezeichnet
werden kdunen.
Zum Schluss will ich noch hervorheben, dass hysteriscbe St5-
rnngen und besonders hysterische D&mmerzust&nde nach
meinen Erfahrungen selten Objekte der Anstaltspsychiatrie
werden (bezflglich der Rliniken, besonders solcber mit einer Nerven-
station, l&sst sich solches nicht sagen); nur zu oft haben Katamnesen
spbterhin ergeben, dass die anscheinend hysteriscbe Stdrung doch
nur eine Begleiterscheinung oder der Deckmantel eines
groben Defektzustandes war.
1) E. Stern, Beitrag zor Patbogenese det Psychoneurosen. Sommer’s
Klinik f. psyoh. und nervose Kranke. Bd. 10. H. 1. S. 22.
12*
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VI.
Ueber Krankheitseinsicht.
Von
Dr. Ernst Herzig (Wien-Steinhof).
*
W&hrend altere Autoren nur von einem Bewusstseio, welches bei
Geisteskranken in Bezug auf ihre Krankheit und deren Symptome sich
zeigen k5nne, sprechen, haben spate re im Anschlusse an einen Aufsatz
von Pick im Archiv fur Psychiatrie (1882) an einer strengen Ab-
trennung des Krankheitsgefuhles vom Krankheitsbewusstsein festgehalten.
Pick selbst hat noch den Ausdruck Krankheitsbewusstsein als Allge-
meinbezeichnung fur die Gesamtheit der in Frage stehenden Erschei-
nungen: Krankheitsgefuhl und Krankheitseinsicht aufgefasst. Die letztere
stehe strong genommen in keinem reinen Gegensatz zum Krankheits¬
gefuhle, weil auch dieses, wenn noch ein gewisser Grad von Befangen-
heit bestehe, zu klarer Krankheitseinsicht fuhre. Diese werde gegenuber
dem Krankheitsgefuhle charakterisiert durch ihre vorwaltend r&sonierende
Genese. Nach Pick hat man vielfach eine scharfere Abgrenzung des
Begriffes der Krankheitsgefuhle vorgenommen, wie mir scheint erst da-
durch mOglich gemacht, dass man als Krankheit nicht mehr die geistige
Krankheit in das Auge fasste, sondern den vollen Komplex der durch
die krankhaften GebirnvorgSnge bewirkten Unlustgefuhle zusammen-
fasste. Heilbronner hat auf dieser Auffassung aufbauend vorge-
schlagen, von Krankheitsgefuhl iiberall da zu reden, wo der Betroffene
uberhaupt nur eine Vertinderung seines Zustandes bemerkt. Erst, und
nur, wenn man diesen Sinn mit dera Ausdruck des Krankheitsgefuhles
bei geistigen Krankheiten verbindet, gelangt man zu einer Erkl&rung
der psychologischen Moglichkeit, dass ein solches nicbt nur als Grund-
lage einer auftretenden Krankheitseinsicht vorhanden sei, sondern als
ein selbst&ndiges psychologisches Moment bei Geisteskranken eine
Rolle spiele. Denn dann wird nur gesagt, dass die entstandenen Hirn-
empfindungen noch nicht zu einer Eindeutigkeit ihres Ausdruckes ge-
fuhrt haben, aus der die Richtung eines auf ihnen basierenden Erkennt-
nisaktes Jestzulegen sei. Im gewohnlichen Leben bringt man durch
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IJeber Krankheitseinsicht.
181
die Redensart: Ich habe das Gefuhl, als ob . . . . zum Ausdruck, dass
die einen klaren und bestimmt gerichteten Erkenntnisvorgang bietenden
Vorginge des niederen Erkenntnisvermflgens nicht vorhanden sind,
sondern, unterdessen wenigstens, weniger klare und weniger sichere,
weil mehrdeutige Allgemeingefuhlsver&nderungen zum Bewusstsein
kommen. Der psychologische Ablauf der ira Vorwurfe in Betracht ge*
zogenen Vorg&nge muss sich in analoger Weise erklaren lassen. Dar-
ruber werde ich sp&ter ausfuhrlicher meine Anschauungen entwickeln.
Wo es sich nicht mehr bloss um die Empfindung einer somatischen
Ver&nderung, sondern um jene BeeintrSchtigung der psychiscben Lei-
stungsfahigkeit bandelt, pflegt man von Krankheitsbewusstsein zu reden.
Ob man als Unterscheidungsmerkmal des Krankheitsbewusstseins vom
Krankheitsgefiihle ausserdem noch das Vorhandensein oder das Fehlen
von Erkl&rungsideen anfuhren kann, scbeint mir von keinem wesent-
lichen Werte zu sein, sondern ein nebens&chliches Moment zu bilden,
wie auch jene Forderung, dass das Krankheitsbewusstsein unmittelbar
der erw&hnten Empfindung folge. Bezuglich des zweiten Punktes meine
ich, dass es gleicbgultig sei, ob die Genese eine unmittelbare oder
mittelbare sei.
Von Krankheitseinsicht spricht man gewdbnlich dann, wenn der
Kranke nicht nnr das Gefuhl einer eingetretenen Veranderung, auch
nicht nur das Bewusstsein einer durch krankhafte Momente bedingten
Beeintrachtigung seiner psychischen Funktionen hat, sondern auch im-
stande ist, den Einzelsymptomen der Erkrankung gegeniiber Kritik zu
uben.
Eine scharfe Abgrenzung des Krankheitsgefuhles vom Krankheits¬
bewusstsein wird in den meisten Krankheitsf&llen auf die Aufangs-
stadien geistiger Erkrankungen beschr&nkt bleiben, weil nur liier jene
Disharmonie in der T&tigkeit der Nerven und dem. Wollen als unange-
nehm empfunden wird, welche als die Grundlage des Krankheitsgefuhles
zu gelten hat. Solange die naturliche Harmonie in jenen beiden
Punkten vorhanden ist, ist die Entstebung eines Krankheitsgefuhles,
welches nebst dem Gefuhle der Cnlust noch die Beziehung einer chro-
nischen StOrung der physiologischen Funktionstatigkeit beinbaltet, eine
ganz naturliche Folge, welche bci keinem Individuum, welches davon
betroffen wird, ausbleiben kann. Es kommt nur allzu oft vor, dass
bei spaterer Aufnahme einer Anamnese von den Kranken das Vorhandeu-
sein eines solchen Krankheitsgefuhles geleugnet wird. Fur solcbe Vor-
koromnisse hat man ausser Erinnerungsdefekten die Scbeu der Kranken
in Betracht zu ziehen, ihr Innenleben dem forschenden Arzte zu ent-
hullcn. Ein gradueller Unterscbied und individuelle Verschiedenheiten
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182
Dr. Ernst Herzig,
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im Ausdrucke des Gefubles werden durch die physiologische Reaktions-
weise des betroffenen Individuums an sich erkl&rt, nacbdem insbesondere
in den erw&hnten Anfangsstadien eine Aenderang derselben gegenuber
dem Gesandheitszustande unmoglich ist, da eine so tief greifende Altera¬
tion naturgem&ss erst die Folge eines linger dauernden Andr&ngens
der geinderten Nervenvorgftnge an die Psyche sein kann. Diese Aende-
rung der Nervenvorg&nge tritt in Rrscheinung durcb Abnormitaten des
Gemeingefuhles, welche nach Kundt 'als Resultate aus den Empfind-
dungen der inneren Teile aufzufassen sind. Es ist gleich, ob man non
der Meinnng beitrete, das hier in erster Linie in Betracht kommende
Gehirn I8se jene unangenehmen Organgefuhle aus oder jene, durch
Strieker inaugurierten, dass wir von dem die Vorsteliungen vermitteln-
den Gehirnteile gewisse Gefuhle erbalten. Diese Divergenz der An-
schauungen wird immer eine rein theoretische sein.
Von dem Vorhahdensein eines Krankheitsgefuhles kann man nur
dann reden, wenn das betreffende Individuum sich desselben bewusst
geworden ist. Da also nach dieser Richtung bin eine Abgrenzung
gegen das Krankbeitsbewusstsein niebt stattfindet, bat man durch eine
abstrakte Abgrenzung oder durch eine gewShlte Anschauungsrichtung
eine Scheidung der Begriffe vorgenommen, die also logisch dasjenige
auseinanderk<, was in psychologischer Einheit ‘verknupft sich vorfindet.
Das seiuer Natur nach Differente wird gesebieden. Auf Grund dieser
psychologischen Erkenntnis konnte man in eine weitere Erorterung der
sich erhebenden Frage eintreten, ob also ein bewusstes Krankheitsge-
fuhl und das Bewusstsein des Krankheitsgefuhles nicht inhaltlich Gleiches
besagen und deswegen die Gewobnheit, beide als verschiedene psycho-
logische Vorginge zu betrachten, einen Wert habe und Nutzen bringe.
Vielleicht hangt es mit dem verneinenden Resultate, zu welchem die
verschiedenen Autoren bei dem Nachdenken uber letztere Frage kamen,
zusammen, dass man an die Auseinandersetzung uber die Frage des
Krankheitsgefiihle.s wenig Worte zu verschwenden pflegt. Ueber diesen
Punkt wird stets nur in den Einleitungen der das Krankheitsbewusst-
sein und die Krankheitseinsicbl behandelnden Aufsatze gesprochen.
Uebrigens ist ja auch die Trennung dieser Vorg&nge keine so tief-
gehende, als es beim ersten Horen scheinen kQnnte. Die Wundt’sche
Psychologie bietet in der Perzeption und der Apperzeption ein Analogon.
Das bei der Krankheitseinsicht zum Krankbeitsbewusstsein Hinzu-
kommende, das den zugrunde liegenden Erkenntnisakt Erweiternde ist
die zielbewusste Willenstatigkeit, welche die einzelnen intellektuellen
Akte erschfipft. Das Krankbeitsbewusstsein ist fur die Krankheits¬
einsicht das psychologisch Prim&re, nach meiner Meinung, in gleicher
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CORNELL UNfVERSSTV
Ueber Krankheitseinsicbt.
183
Weise wie das Krankheitsgefuhl dem Krankheitsbewusstsein voraus-
gehen muss.
Das Krankheitsbewnsstsein kann man als relative Krankheitseinsicht
bezeichnen, wenn man diese als das Absolute einer psychologischen
Skala ansehen will.
B. F., geboren 1882, ledig protestantisch Augsb. Bek. Im Sommer 1902
wanderte er von Galizien nach Amerika ans. Neben seiner beruflichen Tatig-
keit als Schlosser and Werkzeugmechaniker beschaftigte er sich mit der Aus-
klugelung von Erfindnngen, welche er aber nie zu einem eigentlichen Abschluss
brachte, weil Zweifel an der Vollkommenheit derselben ihn abhielten, damit
in die OefTentlichkeit zu treten. In den letzten 2 Jahren seines Aufenthaltes
in Amerika (er kam im Dezemder 1913 wieder nach Europa) belastigten ihn
unlnsterregende Wahmehmungen; er hatte das Gefiihl des Hypnotisiertwerdens,
dann, dass man ihm seine Gedanken abziehe, indem man duroh seinem eigenen
Gedankengange entgegenarbeitende Einmischung ihn zwinge, nicht seine, son-
dern fremde Gedanken zu denken. Im Februar 1913 Hess er sich, da ihm die
bereiteten „seelischen Leiden u unertraglich wurden, in ein New-Yorker Spital
aufnehmen, welche ihn in eine Irrenanstalt iiberstellte, Im Dezember 1913
wurde er nach Europa gebracht, wo er die Mon&te bis zum Kriegsausbruche
bei seinen Eltern verbrachte, ohne sich zu irgend einer Arbeit aufraffen zu
kdnnen. Jene erwahnten seelischen Qualen machten ihm eine Arbeitsleistung
unmoglich. Nachdem er im Februar 1914 als tjmglich erklart worden war,
ruckle er bei der Mobilisierung im August 1914 ein, geriet im Dezember 1914
in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Oktober 1916 im Austausoh-
wege nach Oesterreich zuriickkam. Nach mehrwochiger Beurlaubung wurde
er zum Hilfsdienste bestimmt; aus den schon bekannten Griinden erklarte er
sich zum Dienste unfahig. Zum Zweck der Konstatierung gab man ihm am
31. 5. 1917 in die psychiatrische Abteilung des Krakauer Garnisonspitales ab,
▼on wo er am 9. 8. 1917 unserer Anstalt zuwuchs.
Ich explorierte den Kranken mehrere Male speziell in Bezug auf sein
Krankheitsbewusstsein und seine eventuelle Krankheitseinsicht. Die diesbezug-
lichen Angaben des Kranken gebe ich im Folgenden unter Beibehaltung der
▼on ihm selbst gebrauchten Ausdriicke und Redewendungen wieder. Seit Jahren
babe er gegen die ihm aufgedrangten fremden Gedanken, welche zum grossen
Teil gegen seinen Glauben gerichtet waren, aktiv abwehrende Stellung einge-
nommen. Dadurch sei es ihm ab und zu gelungen, diese Gedanken aus sich
herauszubringon, in den meisten Fallen hatten diese aber die Oberhand be-
halten, wodurch er schreckliche seelisohe Sohmerzen leiden musste. Die Quelle
dieser Schmerzen bildete die Erkenntnis, dass jene Gedanken die Reinheit und
Polgerichtigkeit seines Denkens trubten und seine geistige Leistungsfahigkeit
durch sio herabgesetzt werde. Die fremden Gedanken seien wirkliche und tat-
sachliche Beeinflussungen von aussen, ein Zwang, von andern ihm vorgelegte
Gedanken nachzudenken. Er sei sich klar daruber, dass jeder Gedanke Produkt
seiner psychischen Aktivitat sei, doch nehme er an, nach den an sich .selbst
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gemachten Erfahrungen, dass jemand auf die Seele eines anderen einen der-
artigen Einfluss gewinnen konne, dass jede Freiheit des Denkens aufgehoben
werde. Wahrend er fruher glaubte, kein Gedanke konne ohne die entsprechende
Willenskraft in ihm aufsteigen, respektive, wennaufgestiegen,wiederunterdrdokt
warden, sei er durch die Erfahrong eines andern belehrt worden. Nach einer
Diskussion uber Willensfreiheit and Willenssohwache, bebanptet der Kranke
die zum Losreissen von seinen Zustanden erforderliche Willensstarke fehle ihm,
er leide an psychischer Schwache.
Bei diesem Kranken existiert ein ausgesprochenes Krankheitsbewusstsein,
welches in der Erkenntnis der Verursachung des in Betracht kommenden Zu-
standes den Begriff desselben im angenommenen Sinne uberschreitet, durch die
fehlende Erkenntnis der Irrealitat des von aussen Aufgezwungenwerdens sich
aber von der Krankheitseinsicht abscheidet.
Die Grundbedingung, dass Krankheitseinsicht zustande komme, ist
die M5glichkeit, dass zu einer bestimmten Zeit die Erinnerung und die
Erinnerungsmogliclikeit fruherer Zustande gegeben sei. Diese beiden
Momente sind erforderlich, wenn die Frage, ob Krankheitseinsicht he-
stehe, fur die Zeit der Rekonvaleszenz und der Gesundheit aufgeworfen
wird, ebenso, als wenn sie fur manche luzide Interval!e im Ablaufe
der Krankheit in Frage gestellt wird. Besitzt ein Genesener oder Ge-
nesender nicht die Erinnerung an seine friiheren krankhaften Zustande,
dann fehlt ihm die Grundlage fur den vergleichenden Akt, als welcher
die Krankheitseinsicht in psychologischer Hinsicht aufzufassen ist. Die
Kenntnis des gegenwartigen Zustandes muss wie jene des fruheren
dem Einsichtigen gegenwartig sein, damit er beide nebeneinander prufen
k6nne. Diese letztere ist das geistige Richtmass, welches das Indivi-
duum an alles es Betreffende anlegt. Es verhalt sich hier genau wie
in dem Falle, wo es sich um den Vergleich zweier normaler Zustande
handelt. Deswegen findet auch die Tatsache, dass die Griindlichkeit
der Einsicht in gerade proportionalem Verbaltnisse zur Klarheit, Detail-
lierung und Sicherheit der Zustandserinnerungen stelit, auch fur die
in Betracht kommenden psychotischen Falle ihre Anwendung. Weiter
folgt daraus, dass die Einschatzung fruherer Zustande umso scliwerer
sein wird, jemehr dieselben mit dem normalen Leben des Genesenden
verankert und verknupft sind. Krankhafte affektive St5rungen werden
daher stets einer nachtraglichen korrigierenden Erkenntnis eher zugang-
lich gemacht werden, wie wahnhafte Zustande, welche dem vorpsycho-
tischen Lebensgange des Individuums sich verkettet haben. Dieser Fall
wird eintreten, wenn zwischen Wahnideen und fruheren Gedankengangen
irgend eine Kongruenz besteht. Fremdere, der Persbnlichkeit des Kran¬
ken fernerliegende Ideen regen leichter die Kritik des Individuums an,
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Ueber Krankheitseinsicht.
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weil sie mit diesem Fernerliegen dem Streben abseits liegen. Aller-
dings darf nicht ubersehen werden, dass solcbe Ideen erfahrungsgem&ss
(man sehe ab von den organischen Geisteskrankheiten) in jenen Psy¬
chosen zum Vorscheine kommen, welcbe akut verlaufen und schon aus
diesem Verlaufe besondere Aussichten auf Gesundung und Eintreten
der Krankheitseinsicht bieten. Diese eben angefuhrte Tatsache grundet
sich in der, dass bei jenen ersten Ideen der Beziehungscharakter der-
selben leicht Anknupfungen zu den allgemeinen Lebensverhaltnissen
des Individuums findet, wodurck gleichzeitig die aflfektive Verkettung
eine leichtere und innigere wird nach dem Gesetze der affektiven Asso-
ziation. Bei den letzteren aber macht es gerade die Loslflsung des-
selben von dem normalen Lebensinhalte, dass sie doch ihre sckwere
aflfektive Bedeutung verliereu, damit aus dem Zusammenhange lieraus-
treten und dadurch leichter Objckt einer Krankheitseinsicht werden
konnen, als jene, welcbe diescn genannten Charakter nicht haben.
Von vomherein affektivc Storungen werden darum in Hinsicht auf sich
ansbildende Krankheitseinsicht umso mehr Aussicht bieten, je weniger
dieselben in ihren Verlaufe zur Ausbildung von festen Wahnideen fuhrten.
Fur diese Auffassung kann man auf die Tatsache hinweisen, dass der Gross-
teil der rein manischen und melancholischeii Krankheitsbilder einen
diesbezuglichen gunstigen Verlauf hat.
Krankheitseinsicht ist dennoch in alien jenen Fallen nicht zu or-
warten, in denen jene Erinnerung oder Erinnerungsmoglichkeit nicht da
ist, in jenen Fallen, in denen Amnesic fur die krankhaften Vorfftlle
besteht. Fehlerhaft ist daher die Ansicht jener, welcbe die Krankheits¬
einsicht als Kennzeicken einer Heilung verlangen, welcbe da sein musse,
um von einer Heilung uberhaupt reden zu kdnnen. Abgesehen von
hysterischen und epilepti-chen Ausnahmezustanden, Alkohol und Fiebcr-
delirien widersprechen einer solcken Auffassung viele Falle von Amen¬
tia-Erkrankungen. Auch das hilft nicht iiber die aus diesen Fallen
sich erkebemie UnroOglichkeit, die gonannte Ansicht zu vertretcn, hin-
weg, dass man zwischen detaillierter und summarischer Krankheitsein¬
sicht unterscheidet. Denn auch die letztere ist oft nicht vorhanden.
Ein Soldat wurde in einem schweren akuten Erregungszustande einge-
bracht, der im Beginne eines kurzen Urlaubes aufgetreten war. Mit dem Aus-
drucke weitgehender affektiver Erregung berichtet er, seine Frau sei mit einem
Liebhaber durchgebrannt, er babe zu Hause nur leere Wiinde gefunden und
der Liebhaber habe lhm 15000 Gulden gestohlen. Nach zwei Tagen war der
Patient vollkommen klar. Als ihm seine friiheren Aussagen vorgehalten war¬
den, war er verdutzt, hiolt es fur unmoglich, dass er so etwas auch nurdenken
konnte. Dio wieder eingetretene psychische Ordnung war von Dauer, es kam
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dem Patienten nie eine Spar einer Erinnerang. Er musste als geistesgesund
geworden angesehen warden, nachdem sein Handeln zar psychologisoben Norm
zaruckgekehrt war. Der Fall warde mangels aller alkoholischen, hysterisohen,
toxischen and epileptischen Antezedentien and bysterischen Stigmata als
Amentia diagnostiziert.
Die Tiefe der zu Stande kommenden Kraukbeitseinsicht ist nicht
in alien Fallen die gleiche. Sie entspricht immer der geistigen Reife
des in Betracht kommenden Individuums und seiner F&higkeit, sein
eigenes geistiges Leben in seinen verschiedenen Kurven zu beobachten,
dem Masse der Selbstkritik, welches jenes zu uben gelernt hat Die
Stufenleiter der fortschreitenden MSglichkeiton verl&uft hier proportional
der allgemeinen geistigen Ausbildung der Individuen. Dieselbe durfte
entscheidend sein, ob es im einzelnen Falle zum Krankheitsbewusstsein
(in dem eingangs erwahnten Sinne) oder zur Krankheitseinsicht kommt
Diese Erwagung fiihrt von einer anderen Richtung wie jene des vorher-
gehenden Absatzes zur Erkenntnis, die dort erw&hnte Ansicht, man
musse die wiedergekehrte geistige Gesundheit durch die Krankheitsein-
sicbt bestimmen, unrichtig sei. Denn die kindlichen Psychosen fuhren
raeistens zur vollstiindigen geistigen Gesundheit. ohne dass irgend eine
relative oder absolute Kraukbeitseinsicht sich entwickelt.
Ich sagte friiher, die Krankheitseinsicht sei das Resultat eines Ver-
gleiches des im Augenblick des Vergleichaktes bestehenden und vom
Bewusstsein erfassten Zustandes mit einem anderen als erinnerter be-
wussten. Dass er den ersten als den objektiv richtigen erkennt, be-
griindet sich in der dem naturgemassen Streben des Individuums nach
Befriedigung entsprechenden Natur der jetzt von ihm gesetzten ausseren
und inneren Akte; dass er den letzteren gegensatzlich fihdet, indem
nach der Erinnerung gegensatzlichen Charakter der entsprechenden Akte.
Entsprechend der teleologischen Einrichtung des Universums besteht fur
die Beurteilung der menschlichen Handlungen, ob sie normal oder ab¬
normal seien, der Gesichtspunkt zu Recht, dass sie danach zu bewerten
seien, ob sie zur Selbsterhaltung und Selbstentfaltung, zur Befriedigung
beitragen. Normal ist jener Mensch, dessen Haudeln jenen Zielen an-
gepasst ist Als normal beurteilt das Individuum jene Handlungen,
welche zu diesem Ziele fuhren. Auch das kranke Individuum wird in
den meisten Fallen eine Bezeichnung seiner Handlungen als krankhafter
entschieden zuriickweisen, auf dem Standpunkt stehen, seine Hand-
lungsweise sei die gesunde.
Fruber hatte man auch in wissenschaftlicheu Kreisen die Ansicht,
dass jedem geisteskranken Individuum die Beurteilung seiner Handlungen
als krankhafter unmSglich sei. Erst urn die Mitte des vergangenen
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Ueber Krankheitseinsicht.
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Jahrhunderts tauchten Stimmen auf, welche fur eine gegenteilige An-
sicht eintraten. Pick hat im 13. Bande des Archivs fiir Psychiatrie
eiue eingehende Studio fiber dieses Thema im. zweiterwahnten Sinne
verfiffentlicht. In derselben sind aucli Erklfirungsversuche erwfihnt,
durcb welche einzelne Autoren dqr Erfassung der Tatsache auf den
Grand zu kommen suchten.
Zu einer psychologischen Erklfirung kann der Vergleich mit dem
n&cbststehenden Akte aus dem normalen Geistesleben einige Anhalts-
punkte geben. Dieser Akt ist der Irrtum. Dass derselbe znr Erl&ute-
rang herangezogen werden kann, wird nur dadurch mfiglich, dass bei
den normal-psychologischen wie bei den patho-psychologischenHandlungen
dieselbe in ihrem Grandvermfigen unverfinderliche Psyche als Wirkungs-
ursache da ist. Die Grundeigenart der Psyche bleibt auch unter den
gestfirten Bedingungeo ihrer Wirksamkeit dieselbe. Jene psychologischen
Momente, die bei der Irrtumseinsicht wirken, werden daram auch dort
einen nrs&chlichen Einfluss haben, wo es um Irrseinseinsicht sich han-
dolt. Die die Irrtumseinsicht begfinstigenden Momente werden auf das
Eotstehen einer Irrseinseinsicht fdrderlich wirken, die jene hemmenden
Momente ffir das Entsteben dieser ein Hemmnis sein. Zur ersteren
Kategorie gchfirt die Freiheit von krankhafter affektiver Erregtheit und
Erregbarkeit, zur zweiten deren Vorhandensein.
Es scheint mir, dass man die wichtige Rolle, welche die Affekti-
vitat im Geistesleben fiberhaupt spielt, oft nicht in gebfihrender Weise
einscbatzt, da man doch immer wieder Stimmen hOrt, welche fur die
Eigenkraft der Vorstellungen eintreten, als ob die den Willen treibende
und bcstimmende Kraft derselben nicht der psychologisch notwendigen
sofortigen Verknfipfung von Erkenntnis und Gefuhl, sondern auch nur
in einem Falle der Vorstellung als solcher eutspringon wurde. Man
braucht durchaus kein bedingungloser Anbanger der Freud’schen Schule
zu sein, um den Wert ihrer Bestrebungen, der Affektivitat eine hfihere
Bewertung in der Beurteilung der psychologischen und der psychopatho-
logischen Zust&nde zu verschaffen, ruckhaltslos anzuerkennen. Wie im
Geistesleben im Allgemeinen darf man die Einflussnahme des Gefuhl-
lebenB bei der Entstehung und der Behinderung der Krankheitseinsicht
nicht ubersehen. 'Das Verhaltnis der affektiven Betonung zur Krank¬
heitseinsicht wird immer das der umgekehrten Proportion sein. Die
Erkenntnis eines Irrtums gelingt dann, wenn das in Frage kommende
Erlebnis, sei es durch die Ueberlegung, sei es durch den Einfluss der
Zeit, seine gemutliche Schfirfe verloren hat. In gleicher Weise wird
ein Haupterfordernis zum Zustandekommen der Krankheitseinsicht
sein. dass die allzu leichte und allzu scharfe Reaktion auf Erkenntnis-
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akte aufgeh&rt bat. Diese teleologisch inadequate Reaktion ist fur
alle physisch abnormen Zustande der Schlttssel zu deren VerstSndnis.
Jede Schwierigkeit zur Erkenntnis einer psycbiscben Abnormitat ent-
steht, abgesehen von den reinen Defektzust&nden, beim betroffenen
Individuum selbst aus der fiberm&ssig gesteigerten Kraft, welcher ein
bestimmter Affekt fiber die mit anderen Erkenntnisakten sich erheben-
den gewinnt. DieseJbe erzeugt Hemmung oder sogar Aufhebung der
Folgerichtigkeit des Denkens und Handelns, weil sie das ganze Lebeu
in eine dem objektiven Lebenszweck entgegenlaufende Einseitigkeit hin-
eindr&ngt.
Erst nach Aufhebung dieses Einflusses kann eine energische intel-
lektuelle Arbeit einsetzen, welche zu einer Vertiefung der einmal mfig-
lich gewordenen Einsicht ffihrt. Diese Festsetzung hat ffir die Krank-
heitseinsicht gesunder und gesund gewordener Individuen in der gleicben
Weise Gfiltigkeit, wie ffir die in den lfingeren und kfirzeren Krankheits-
remissionen, welche letztere man mit Vorliebe als luzide Intervalle be-
zeicbnet. Forscht man nach dem Grunde dieser Erscbeinung, wird man
kaum einen anderen angeben kfinnen, als dass aus jener affektiven Be-
tonung eine Verbindung mit der geistigen PersQnlichkeit entspringt,
welche eine Loslfisung von dem Erkenntnisakt erschwert oder unmfig-
lich macht, welche dem einzelnen psycbischen Inhalte einen Ueber-
zeugungscbarakter gibt, der dem betreffenden Individuum als objektive
Wahrheit imponiert. Solange dieser Ueberzeugungscharakter besteht,
ist es dem Individuum unmfiglich, zur Erkenntnis der Unrichtigkeit des
Erkenntnisaktes vorzudringen.
Die erwahnte affektive Tonung irgend eines Erlebnisses begrfindet
die jedesmalige innere Stellungnahme des Individuums. Ob diese Stel-
lungnahme innerhalb eines noch in der Gesundheitsbreite liegenden
Zeitraumes einer Aenderung zur objektiv richtigen Bewertung fahig ist,
oder erst ein daruber hinausliegender dazu ffihrt oder eine Unkorrigier-
barkeit der eigenommenen Steilung bestehen bleibt, hfingt wieder von
der habituellen Reaktionsweise des Individuums ab, ausschlaggebend
ist auch meiner Ansicht wiederum die Beschaffenheit des affektiven
Vermfigens der Psyche.
Die Steilung des Individuums kann zunfichst eine zweifache sein;
entweder gelingt es ihm schon zur Zeit der Kenntnisnahme zur objek¬
tiven Wahrheit durchzudringen oder nicht. Im letzteren Falle kann
entweder nach einem bei verschiedenen Fallen, und verschiedenen Indi¬
viduen verschieden langen Zeitraum eine Korrektur ausbleiben. Auch
dann, wenn der erste Fall gegeben ist, kann doch trotz des richtigen
intellektuellen Aktes, trotz der richtigen Erkenntnis jenes Geffihl des
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Ueber Krankheitseinsioht.
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Bcfriedigtseins fehlen, welches der allgemeineu psychischen Zweckmassig-
keit und Naturerfullung folgt. Dieser Defekt bat semen Grand in der
dann bestehenden Willensanentschiedenheit. Dmgekehrt bildet ein un-
richtiger Erkenntnisakt keinen Grand, das erwEhnte Gefuhl unmdglich
zu machen. Nor darf man damit nicht ein anderes verwechseln, welches
nicht von dem lnhalte eines Erkenntnisaktes an sich seinen Ursprung
nimmt, sondern einer zufaliigen Verknupfung entspringt, welche Hand-
lungen und Erlebnisse mit diesem haben; dieselben kdnnen dann, wenn
sie eine Unannebmlichkeit zur Folge haben, ein Unlustgefuhl ausldsen;
mit dem als wahr hingenommenen Inhalt hat dasselbe aber nichts zu
tun. Auch dann, wenn die intellektuelle Haltung des Individuums nicht
gleich die Einsicht in das Fehlerhafte des Erkenntnisaktes gestattet,
kann die Steilungnahme dessclben eine zweifacbe sein, indem der Kor-
rektionsakt nach einiger Zeit sich einstellt oder ausbleibt. Durch die
Gegensatzlichkeit dieses Verhaltens erkl&rt sich die Wesensverschieden-
beit psycbologischer Akte.
Diese Tatsachen lassen die Assoziationspsychologie als fehlerhaft
erkennen, denn bei der Voraussetzung derselben, dass der Wille nicht
vom ErkenntnisvermOgen wesentlich Verschiedenes sei, ware eine ver-
schiedene Stellung des Individuums gegenuber logiscb gleich begrun-
deten Erlebnissen nicht mdglicb. Es wurde uberhaupt unmdglich sein,
dieselbe zu erkl&ren, insbesondere aber, wie im Laufe der Zeit eine
einmal eingenommene Stellung verandert werden kdnnte; mit anderen
Worten wie Irrtumskorrektur und Krankheitseinsicht zu Stande kommen.
Das Erlebnis bleibt dasselbe. Wodurch geschieht es, dass das Indivi-
duum zu verschiedenen Zeitpunkten in ein anderes Verhaltnis zu ihm
tritt, daifs es seine innerliclie Beziehung zu ihm andert? Und wenn
man gar bedenkt, dass diese Stellungsanderung einer Entscheidung des
Individuums selbst entspringen kann, wahrend die Erkenntnistatigkeit
ein rein passives Vermdgen ist, wird dem Denkenden klar, dass die
Assoziationspsychologie, welche das ganze geistige Leben in einer
Summation von Erkenntnisakten sich erschGpfen lasst, zur Erklarung
der psychologischen Akte des behandelten Themas nichts beitragen
kann.
Aus der fruheren Zweiteilung ist somit eine Vierteilung geworden.
Erstens kann zur Zeit des sich vollziehenden Erkenntnisaktes der ent-
sprechende Anerkennungsakt ohne weiteres sich einstellen, zweitens kann
zu jcner Zeit der Anerkennungsakt unmdglich sein, weil der Wille zu
einem abschliessenden Urteile sich nicht durchsetzen kann; drittens kann
der objektiv richtige Erkenntnisakt einem fruhereb falschen doch nach
einiger Zeit folgen, wenn die Hemmungen ausserlich ricbtiger Erkenntnis
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gefallen sind; viertens kann der objektiv ricbtige Erkenntnisakt inner-
halb einer noch als normal-psychologisch zu bezeicbnenden Zeit unmflg-
lich sein, infolge innerer Hemmungen. Im ersten Falle ergibt sich das
Bild vollkommener geistiger Normality, welches im dritten eigentlicb
nur verdeckt wird. Dagegen erscheinen 2 und 4 psychologische Zu¬
stande. Zwei behalten die Zwangsvorstellungszustande, vier die para-
noischen Geistesstorungen und die affektiven Psychosen.
Es ist nicht notwendig, eine Unterscbeidung zwischen akut ver-
laufenden und chronischen paranoiscben Zukunftsbildern zu machen, da
fur das vorliegende Thema nur das Paranoische einfach bin in Frage
kommt.
Solange die gerniitlichen StOrungen der affektiven Psychosen so
heftige sind, dass die aos den Innenempfindungen geborene Storung der
zerebralen Zentren durch die Psyche nicht uberwunden werden kann,
ist bei denselben an das Zostandekommen einer Krankheitseinsicht nicht
zu denken. Sobald aber ein Abklingen jener zentralen Stdrung, eine
Beruhigung der aus ikrer Ruhelage herausgeworfenen biologischen und
vielleicht anatomischen Funktionen, eingetreten ist, erscbeint damit die
Grundlage fur die Ausbildung der Krankheitseinsicht gegeben. Fur
das raehr oder minder Kritische, fur die Tiefe des diesbezuglichen Rai-
sonements, ist die habituelle Kritikfahigkeit des einzelnen Individuums
massgebend. Detaillierter darf man sie bei einer geistig hSber stehenden,
summarischer bei einer geistig niedrig stehenden Person erwarten.
Ausserdem darf man nicht ubersehen, dass auch fur die Ausweitung
jener Einsicbt die retrospektive Meditation eine grosse Rolle spielt, zu-
mal ja die Erinnerung an alle in der Krankheit durchlebten Erlebnisse
nicht in einem Bilde und mit einem Schlage, sondern gewdhnlich erst
im Ablaufe der Zeit kommt.
In Hinsicht der Krankheitseinsicht, dem nach durchgemachter affek-
tiver Psychose wiederkehrenden Gesundheitszustande gleicb, ist oft das
mit der jenem fruheren Zustande in der grundliegenden Verstimmung
im Gegensatze stehende spatere Krankheitsbild. Im manischen Zustande
kann Einsicht fur die fruheren depressiven Krankheitserscheinungen
und im depressiven fur frubere manische bestehen. Besonders im Be-
ginne der diesbezuglichen Krankheitszustande und bei geringer Intensi¬
ty derselben sind derartige Beobachtungen zu machen. Wahrend aber
die Details vielleicht in besonderer Scbarfe herausrucken, ist der objek-
tive Wert einer solchen Einsicht doch zum wenigsten kein besonderer,
weil man nie einer der Wirklichkeit entsprechenden Adaquatheit der¬
selben sicher sein kann, sondern immer an UebertreibuDg der gegen-
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Ueber Krankheitseinsicht.
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sfitzlichen Erinnerung denken mass. Die Art, in welcber solcher Ein¬
sicht Ausdruck gegeben wird, kann Anhaltspunkte daffir gebeD, als Bilder
welcher zusammengesetzten Psychose jene zu betrackteu seien.
Bezuglich der Krankheitseinsicht ist bei jenen beiden affektiv-psy-
chotiscben Zustande eine Vcrschiedenheit zu vermerken, insoferne, als
bei den manischen eine solche bezuglich der depressiven h&ufiger in
die Erscheinung tritt Ich bin entfernf davon zu behaupten, dass sie
bei letzteren in Bezug auf erstere nicht ebenso hfiufig vorhanden sei.
Nachdem sich aber dieser Vorgang als innerer der direkten Kenntnis-
nabme entzieht, ist es unmfiglich, daruber ein Urteil zu fallen, wall rend
die verbalen Mitteilungen der Kranken fiber die Richtigkeit der ersteren
Behauptuug keinen Zweifel lassen. MOglicberweise lassen die depres¬
siven Verstimmungen nur weniger eine solche Mitteilsarakeit der Indi-
viduen aufkommen iuid verdecken dadurch das Bestehen der vorhandeuen
Einsicht ffir den Beobachter.
Am leichtesten verstfindlich ist die Krankheitseinsicht bei den Zwangs-
vorstellungen, weil bei denselben die Einsicht in den psychologischen
Vorgang einen wesentiichen Zug des ganzen Krankheitsbildes darstellt.
Denn der subjektiv empfundene Zwaug hat zur notwendigen Bedin-
gung, dass die Erkenntnis des Widerstreitens durch logisches Denken
hervorgernfener uud frei aufsteigender Vorstellung dem Willen einen
Zwang bereite, der dadurch bewirkt wird, dass es diesem nicht gelingt,
zum entscheidenden Beschlusse zu kommen, nur die eine Vorstellung
als die Norm seines Handelns wirkeu zu lassen. Der daraus entsprin-
gende innere Kampf, welchen das Individuum durch das Auftreten der
sogenannten Zwangsvorstellung im Gegensatze zil einer gleicbzeitig be-
stehenden logisch riebtigen Vorstellung zu bestehen hat, ist das den
psychiscben Zwang Kennzeichnende.
Dieser Begriff des psychischen Zwanges wurde vielfach verkannt.
Man hat sich heute in vielen Kreisen daran gewfibnt, aus ihm das Ge-
fuhl des Subjektivempfundenwerdens auszuschalten und psychische
Vorg&nge als Zwangsvorg&nge in gleichem Sinne wie die Zwangsvor-
stellungen zu bezeichnen, bei welchen der Zwang nur ffir den Beob¬
achter als eine durch eine bestiminte Willensrichtung gekennzuichnete
Form einer menschlichen Handlung erscheiut; Empfindungen, Tiks und
Angstanfttlle kfinnen nie in dem von mir in Anlehnung an Westphal
festgehaltenen Sinne mit dem Bestimmungsworte des Zwanges versehen
werden, weil ffir ihr Zustaudekommen der Wille als genetischer Faktor
versagt. Auch das Moment der Unverdr&ngbarkeit gibt den Begriff
des psychiscben Zwenges nicht gehdrig wieder, da damit nichts fiber
die Stellung einer Handlung im Rahmen des spezifisch Menschlichen
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ausgesagt wird. Denn die naturliche Art der menschlichen Handlungs-
weise erfUhrt bei durch diese Eigenschaft gekennzeichneten Handlungen
keine Beintr&chtigung. Zur Empfindung eines Zwanges kann es nicht
kommen. Alle psychischen Vorgange sind von den Zwangsvorstellungen
ausgeschlossen, bei welchen es nicht von vornherein zu einem Eingreifen
des uberlegenden Icks koromt im Augenblicke ihres Auftrittes.
Der Begriff der Zwangsvorstellungen war schon dem Hippokrates bekannt;
Westpbal hatto also ricbtiger nicht von einem neuen Krankheitsbilde der
Zwangsvorstellungen gesprocben, sondern nur von einer erneuten Darstellung
desselben. Wem Helen, wenn er die von Nasse (De insania commentatio secun¬
dum libros Hippocraticos, Leipzig 1819) wiedergegebene Erzahlung des Alt-
meisters der Medizin, von einem gewissen Timokies liesst, nicht die Diskus-
sionen der letzten Dezennien uber Agoraphobic ein? Timokies wurde, an einem
Graben oder einerBriicke angelangt, von uniiberwindlicher Angst, hinabzufallen,
ergriffen, die ihm das Ueberschreiten unmogiich machte. Aus dem von Hippo¬
krates gebrauchten Ausdrucke Aumio^areiv sohliesst Nasse: Aegrotum non so¬
lum vertigine tentatum fuisse sed etiam fixa sibi cogitatione laborasse. Der
Kranke besass also Krankheitseinsicht.
Es ist selbstverstftndlich, dass man in vielen Fallen von Zwangs-
vor8tellungskrankbeit sich mit einer relativen Krankheitseinsicht wird
begnugen rniissen. Dass aber diese in irgend einem Falle fehlen solle,
scheint mir unmdglich, wenn man nur mitjenem Grade sich bescheidet,
der bei dem Bilduugsgrade des Individuums mdglich ist. Schliesslich
bedeutet die Ausdrucksweise fur den an sich gleichen inneren Vorgang
nicht mehr, als eine mehr oder minder scbOne Einkleidung desselben. Die-
selbe ist Sache des Bildungsniveaus. Warum k&mpft denn der Betroffene
gegen seine Vorstellungen an? Doch nur, weil er dieselben als Etwas
seinem Ich Schadenbringendes erkennt. Das Auftreten gegen dieselben
ist ein sicheres Kennzeichen, dass er von den Unzukflmmlichkeiten jener
Vorstellungen, von deren Uuvereinbarkeit mit seinem geistigen Wohler-
gehen uberzeugt ist, dass er weiss, dass nach denselben zu bandeln,
seinem geistigen Leben abtrAglich ist. Dass er oft fur sie das Wort
Krankheit nicht anwendet, mag ja sein, das Ausschlaggebende ist, dass
er ihnen gegenuber eine Stellung einnimmt, wie er sie nur Krankheiten
entgegentrigt, die Stellung der Abwehr.
Diese Stellungnahme bezieht sich auf jene Vorstellungen unmittel-
bar, nicht auf irgend ein unangenehmes Erlebnis, welches dem Indivi-
duum begegnet, wenn es jenen Vorstellungen gem&ss liandelt. Eine
solche kann bei den Zwangsvorstellungen auch vorhanden sein; sie
ist aber nicht dasjenige, wodurch die Reaktion des Individuums gegen¬
uber jener auf andere psycbologische Ereignisse charakterisiert ist.
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Ueber Krankheitseinsicht.
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Den Zwangsrorste]langen in Hinsicht auf Krankheitseinsicht zu-
n&chststehend sind die Psendoballuzinationen. Bei ibnen koramt es
zur Hervorrufung sinnlicher Vorstellungen und sinnlicher Biider, welche
an sich von den echten Hallnzinationen sich nicht unterscheiden, aber
noch im Momente ihres Auftretens von dem betroffenen Individuum
als etwas subjektiv Entstandenes erkannt werden. Diese Erkenntnis
des snbjektiven Ursprunges schliesst die Erkenntnis des ganzen Vor-
ganges als eines krankhaften in sich, da ja damit die Erkenntnis eines
naturwidrigen Entstehens vorliegt. Wie bei den Zwangsvorstellungen
gehdrt die Krankheitseinsicht zum Wesen des ganzen Krankheitsbildes
der Pseudohalluzinationen. Das geistige Gebilde, auf welche sich hier
die Einsicbt bezieht, ist ein anderes. Der Pseudohalluzinant steht den
Hallnzinationen gegenuber wie einer, der ein Gemalde betrachtet und
dasselbe kritisiert. Der Unterschied der geistigen Gebilde der Zwangs¬
vorstellungen und der Pseudohallnzinationen wird Often rait dem oft
vorhandenen Unterschiede in der erst sekund&r auftretenden Affektlage
verwechselt. Tatsache ist, dasa die ZwangsTorstellungen immer von
einem Affekte der Unlust begleitet, w&hrend Pseudohalluzinationen Lust
ebenso wie Unlust erzeugen kOnnen. Eben deswegen werden erstere
als etwas Zwangsm£ssiges empfunden, was bei lustbetonten Vorstellungen
garnicht der Fall sein kann, erst dieses Zwangsm&ssige fuhrt dazu,
dass das betroffene Individuum jene Vorstellungen als etwas Fremdes
empfindet. Krankhafte psycbiscbe Gebilde gebon so lange keinen An-
lass zu einem Entgegenstreben des Individuums, als sie nicht zum
wenigsten als etwas L&stigcs oder Fremdes empfuDden werden. Sicher
als solcbes treten nun die Pseudohalluzinationen in jedem Falle auf,
da sie dem Individuum gegenuber seinen sonstigen Wahrnehmungen
als etwas Neues imponieren. Sie erzeugen zwischen sich und der ubri-
gen PorsSnlichkeit einen Gegensatz. Die Einsicbt in diesen Gegensatz
Ut die Krankheitseinsicht bei Pseudohalluzinationen.
Bei alien anderen Halluzinationen ist die fur l&ngere oder kurzere
Zeit bestehende Ueberzeugung von der Objektivit&t derselben kenn-
ceichnend. Von einer Krankheitseinsicht kann erst die Rede sein, wenn
die durch sie bewirkte Persdnlichkeitsver&nderung vorubergehend oder
dauernd scbwindet, wenn Remission des Krankheitsprozesses oder seine
Heilung eingetreten ist. Daun kommt es zur normalen Perzeptionsfihig-
keit, welcbe alle der Natur des Individuums zuwider gebenden iusseren
and inneren Handlungen ricbtig erkennt und zu jener Assoziationsf&hig-
keit, welche durch objektiv ricbtige Verknflpfung der einzelnen Wabr-
nehmungs- und Erinnerungsvorstellungen charakterisiert ist. In den
Remissionen steht der Kranke in einer stabilen Ruhelage gegenuber
Aiehir f. Fiyehlatrie. Bd. 00. Hefl 1. ]3
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Dr. Ernst Herzig,
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seinen fruheren Zustande, nicht anders, als ein normales Individuum
nacb einem Affektzustande demselben nach Eintritt der Beruhigung
gegenubersteht. In der Erinnerung sind ibm seine fruheren Erlebnisse
haften geblieben, er kritisiert dieselben in Bezug auf ihre seiner Natnr
entsprechende Tragfahigkeit und gewinnt aus dem Fehlen derselben
die Ueberzeugung ibrer Schadlichkeit. Bei den Halluzinationen besteht
diese Piufung darin, dass er der Begrundung der in Betracht kommen-
den von ihm gemacbten Wahrnebmungen nachgeht. Sobald er nun
einen Gegeusatz zu der naturlichen Bildungsart seiner sonstigen Wabr-
nehmungen findet, ist ihm ohne weiteres die Krankhaftigkeit der ohne
Sussere (n&here Oder entferntere) Kausalit&t dagewesenen Wahrnehmun-
gen klar.
In ahnlicher Weise bildet sich die Krankbeitseinsicht bei den Wahn-
ideen. Auch hier bildet die Grundlage derselben die Moglickkeit eines
Urteiles, in dessen Pr&misseu die beiden zu beurteilenden Vorstellungs-
gattungen durch einen Oder mebrere Mittelbegriffe verglichen werden.
Dass Remissionen w&hrend des Krankbeitsverlaufes tats&chlich
vorkommen, ist jedem Psychiater bekannt. Durch die Leugnung
dieser Tatsache wurde man sicb hinter die Mitte des vergangenen Jahr-
hunderts zurucksetzen. Auf die psychologische Begrundung hat man aber
vielfach nicht jene Aufmerksamkeit verwendet, welche eine diesbezugliche
Erkenntnis wert ist. Jene psychologische BegrGndung stutzt sich auf
den Wegfall der Hemmnngen, welche die freie Bet&tigung der natur¬
lichen Assoziationsf&higkeit einschr&nken oder aufbeben. Alle diese
Hemmungen sind affektiven Charakters. Man hat sich aber daran ge-
w6hnt, nur jene als solche zu bezeichnen, welche letzten Endes als ihr
direkt in die Augen springendes Kennzeichen das afiektive Moment her-
vorkehren. Andere, bei denen intelektuell assoziative StGrungeu im
Vordergrunde erscheinen, hat man abgetrennt.
Zu diesen letzteren z&hlt man vor allem die der bestimmten Indi-
vidualitat wesentliche geistige Konstitution. Ausser dieser gehoren
hierher die berufliche und ausserberufliche Beechaftigung des Eranken,
das ihn umgebende soziale Milieu und der ihm zugewiesene oder auf-
gezwungene Umgang. (Die Wirksamkeit dieser Faktoren ist, wie ich
schon betonte, auch auf der von ihnen ausgelbsten Stimmung beruhend).
Die aus ihnen im gegebenen Falle entspringende Hemmung in Hinsicbt
einer sonst moglichen Krankbeitseinsicht begrundet sich psychologisch
darin, dass die erwahnten Momente, wenn sie in der den vorhandenen
Wahnideen gleichlaufenden Richtung wirken, notwendigerweise zur Aus-
bildung von Erki&rungsideen fuhren, welche dann eine Versch&rfung
der Grundideen in der Weise verursachen, dass dieselben dem Indivi-
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Ueber Krankheitseinsicht.
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damn eine breitere Basis geben. Diese Tatsache an sich, wie auch die
Erfahrung, dass eine solche Verknfipfung der einzelnen IdeengEnge die
Einsicht in die Fehlerbaftigkeit der an der Spitze stehenden pathologi-
schen Idee verhindert, sind imstande, die Bedeutung der ErklErungs-
ideen in das rechte Licht zu rficken. Die Reaction im Sinne der Aus-
bildnng von Erklarungsideen ist nicht als das Resultat einer abnormalen
GedaokentEtigkeit, sondern als durcb krankhafte Stimraungslage ver-
ursaebte, euergische Reaktion auf die einmal gesetzte VerEnderung des
Bewusstseiniubaltes zu betrachten. Die beim Auabau der ErklErungs-
ideen sich bekundende Denkkraft ist ebenso normal wie jene beim Zu-
standekommen der Krankheitseinsichten zu betEtigende. Einzig die Rich-
tung ist eine verschiedene, bewirkt dadurch, dass ein subjektiver, aber
als objektiv richtig hingenommener geistiger Vorgang die Grundlage
fur ein GedankengebEude abgibt.
Die Erkenntnis des Irrtumes kann auf' einem doppelten Wege ge-
schehen, indem entweder die erkannte Unmfiglicbkeit einer der Er-
klErungsideen rfickwErtsschreitend zur Korrektur der Grundidee fuhrt
oder in erster Linie diese erschuttert und damit das ganze fiber ibr
sich erhebende GebEude dem Zusammensturze preisgegeben wird. Man
8ollte meinen, dass beim Irresein dieser doppelte Weg ebenfalls eiuge-
scblagen werde. Nach meiner Erfahrung wird immer nur der zweite
Weg gegangen; die lehrreicbsten Beispiele, welche dieselbe belegen,
werden durcb die typischen Trinkerdelirien gegeben. Ein langer tiefer
Scblaf fuhrt erstens zu einer vollstfindigen PersfinlichkeitsEnderung der
im Delirium befangen gewesenen Person, alle SinnestEuschung ist vor-
fiber und was in der Erinnerung davon hEugen blieb, wird obne Wei-
teres als „Dummheit u „Unsinn“ und „Krankheit“ erkannt. Ich bin bei
meinen retrospektiven Krankenexplorationen wiederholt dieser Erschei-
nung nacbgegangen und babe in den psycbologischen Gang derselben
einzudringen gesucht. Verwertbar wurde mir beim Auseinanderlegen
desselben, dass die Kranken selbst bei sonstiger guter AssoziationsfEhig-
keit sich nie dazu aufraffen konnten, sogar bei Unsinnigkeit der Er-
klarungswahnideen ruckwErtsgebend der unterliegenden Grundidee ihre
iogiscbe Berecbtigung abzuerkennen; im Gegenteil waren sie immer be-
reit zu erkiSren, os rausste halt doch so sein.’ In dieser Erscheinung
findet das dem Menscben naturliche Streben nach Konsequenz im Denken
beredten Ausdruck. . Dieses Streben ist ununterdrfickbar.
Man darf mit demselben an sich die Mfiglicbkeit nicht verwechseln,
den Ausdruck desselben anhalten zu kfinnen; dieselbe ist gleichbedeutend
mit der Mfiglichkeit der Simulation. Diese hEngt davon ab, ob fur das
Individuum wichtige Interessen vorliegen, welche ffir lEngere oder kfirzere
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Zeit es ermoglichen, Handlungen im Sinne der Wahnideen zu unter-
lassen Oder gar denselben entgegenlaufende auszufubren. Bei den
meisten Anstaltskranken, welche fur diesen Punkt in Betracht kommen.
liegt dieses wichtige Moment in dem Wunsche, die Freiheit zn erlangen.
Unter zwei Bedingungen wird es dem Individuum unmbglich zu simu-
lieren. Erstens, wenn die mit der Wahnidee verbundene affektive Kraft
die zum Zustandekommen der Simulation notwendige Selbstbeherrschung
unmoglich macht, und zweitens, wenn ein allgemeiner Defekt des Affekt-
lebens, welcher in IndifFerenz gegenuber seiner Situation zum Ausdruck
kommt, dem Individuum die Notwendigkeit der Zuruckhaltung in den
Aeusserungen seiner Wahnhaftigkerit nicht mehr aufdrhugt.
Umgekehrt konnen einem Individuum in seiner Interessensph&re
sich Grtinde aufdr&ngen, welche ibm nabelegen, trotz vorhandener
innerer Einsicht dieselbe nicht in erkenntlicher Weise nach aussen treten
zu lassen, eine vorhandene Krankheitseinsicht zu dissimulieren. Neben
der Beobachtung der Handlungsweise des Kranken kann man auch hier
einen Anhaltspunkt fur die Wahrscheinlichkeit der Dissimulation ge-
winnen aus der Ueberlegung der Vorteile, welche einem Individuum
aus dem Weiterbestande der Krankheit entstehen. Man kSnnte des-
wegen meinen, dass gerade unter dem milit&rischen Material der psy-
chiatrischen Anstalten wenigstens eine grOssere Zabl von Patienten zu
finden sein werde, bei der eine solche Dissimulation in Frage kommen
kbnnte. In unserer Anstalt haben wir Aerzte eine dahingehende Er-
fahrung nicht gemacht; auch babe ich in der umfangreichen deutsch
geschriebenen psychiatrischen Kriegsliteratur keine diesbezugliche An-
gaben machen konnen, woraus man wohl mit Sicherheit schliessen kann,
dass zum wenigsten bei keiner nennenswerten Patientenzahl derartige
Beobachtungen gemacht wurden. Uebrigens: wer kann einem, der einen
akuten Gelenkrheumatismus uberstanden bat, gegen dessen Aussagen
beweisen, dass alle schmerzhaften Reste geschwunden sind? Niemand.
Wer kann also schon gar einem nach einer Geisteskrankheit rekon-
valeszenten Individuum auf den Kopf zusagen, dass diese oder jene
neuropathischen oder psycbopathischen Erscheinungen, zu denen seine
Krankheit abgeklungen ist, nicht wahrbaft noch bestehen?
Wenn von einer Simulation oder Dissimulation gesprochen wird, ist
es vor allem notig, auf die Verschiedenheit der Individueu hinzuweisen,
welche das Subjekt der Simulation oder Dissimulation sind. Dasselbe
kann ein geistesgesundes (gesundgewordenes) oder ein noch geistes-
krankes sein. Alle jene Individuen konnen Krankheitseinsicht simulieren
oder dissimulieren, welche in Bezug auf Geisteskrankheit die genannten
zwei Fahigkeiten entwickeln konnen. Denn in der Aenderung des Ob-
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Ueber Krankheitseinsioht.
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jektes der letzteren liegt kein Grand, die mOglicbe Ausiibung derselben
auch nur in Frage zu ziehen. Bezuglich der Geistesgesunden steht die
Beantwortuog der diesbezuglichen Frage ausser alter Diskussion; be¬
zuglich der Geisteskranken aber braucht sie eine Unterscheidung.
Ob nur der Geistesgesunde imstande sei, Krankheitseinsickt zu
8imulieren, ist eine Frage, welche bier zu behandeln, mir von Vorteil
scheint. Diese Frage kann man vielleicht deutlicher (unter Beruck-
siehtigung des Themas) so formulieren: 1st das Vorhandensein von
Krankheitseinsicbt unter alien Umstiinden ein Beweis, dass das betreffende
Individuum nicht geisteskrank sei?
Sich fur eine positive oder eine negative Antwort zu entscheiden, h&ngt
von der Stellung in der Grundfrage ab, ob bei einera geisteskranken
Individuum Symptome da sein kftnnen, welche auch dasselbe als krank-
haft erkennen kano. Ich glaube, diese Frage bejahend beantworten zu
musscn. Hierber zu rechnen sind die jedem Psychiater unterkommenden
Falle, in denen Paranoiker gelegentlich durchgemachten Erregungs-
xustanden das Brandmal krank aufdrucken, Epileptiker und Hysteriker
fur ibre Er&rapfc and Ausnahmezustande die Bewertung als krankhafter
zum Ausdruck bringen, Schwachsinnige und Dementia praecox-Kranke
fur einzclne Handlungen selbst den Ausdruck kranke Handlung ge-
brauchen. Wann immer der allgemeine Geisteszustand des Individuums
eine solche Erkenntnis ermOglicht, kann Erankheitseinsicht sich aus-
bilden. Ich selbst bin weit davon entfernt, alle jene Beteuerungen der
Schwachsinnigen, dass sie ibre Aufregungen als Krankheitszeichen er¬
kennen, als klingende Munze zu nebmen. Sie haben deni Anstaltsaufenthalte
seine truben Stunden abgescbaut, finden dieselben doch zu unangenehm
und suchen unter Weinen und Schwuren die Freiheit zu gewinnen. In
gleicher Weise sieht man bei Paranoikern Erankheitseinsicht sich ein-
8tellen respektive als vorhauden zum Ausdruck gebracht in Be^ug auf
schwerere Erregungszustande, zu welcben sie sich in der Reaktion auf
seine Sinnestfiuschungen fortreissen lassen. Der Erkenntnis, dass die¬
selben abnormal und darum krankhaft seien, steht an sich kein grund-
s&tzliches Hindcrnis entgegen. Unter den oben erwahuten Voraussetzungen
kann man also bier von einer Erankheitseinsicht bei einem Paranoiker
trotz Weiterbestehens einer paranoischen Erankheit reden. Die Krank-
heitseinsicht bezieht sich nicht auf das Wesen seiner Geisteskrankheit,
sondern auf etwas derselben Externes, unwesentlich und rein Susserlich
Verknupftes. Insbesondere bei Hysterikern ist die MSglichkeit einer
im gleichen Sinne laufenden Erkenntnis gegeben.
Diesel be begrundet die Ansicht, dass also in Bezug auf jene
Aeusserlichkeiten Erankheitseinsicht simuliert (und dissimuliert) werden
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kOnne. Wenn dem einzelnen Individuum es mOglich ist, zur Erkenntnis
eines aus einem bestimmten Krankheitssymptome ihm entstebeoden Yor-
teils oder Nachteils zu gelangen und jenen Vorteil oder die Vermeidong
jenes Nachteils die Motivation seiner kusseren Hand) tings weise sein zn
lassen, ist damit das psychologische Requisit fur das Auftreten von
Simulation (und Dissimulation) gegeben. Der Geisteskranke steht den
erwahnten Yorkommnissen in derselben Weise gegeniiber wie ein
Gesundgewordener oder in Remission Befindlicher den Zust&nden der
ehemaligen Geisteskrankbeit. Solange es in seiner Gewalt steht, Sussere
Erscheinungen durcb Absicbt hervorzurufen, kann bei jedem Geistes-
kranken Simulation mdglich sein; psychologisch erklart, so lange es in
seiner Gewalt steht, aus Yorstelluugen von einem durch den Glauben
anderer an die Wirklichkeit eines nicbt vorhandenen Zustandes zu er-
langenden Vorteil (oder abzuweisenden Nachteile) Handlungen ent-
springen zu lassen. Simulation und Krankheit, sagt Richarz, haben
ein Gemeinsames, n&mlich die Anomalie der ausseren Erscheinungen.
Das beide Unterscheidende liegt darin, dass bei ersterer die Erschei¬
nungen durch die Absicht der T&uscliung vermittelt werden, w&hrend
bei letzterer diese Absicht gar nicbt einmal in Frage kommt, allerdings
nur in Hinsicht auf die Krankbeitserscheinungen selbst.
Manehe Autoren betrachteu als die Grundlage sicb fixierender
Wahnideen Schwacbsinn des betroffenen Individuums (also eine all-
gemeiqe Minderung der geistigen speziell der intellektuellen Leistungs-
fahigkeit). Da es scbliesslich nun doch Falle von Heilung bei wahn-
bildenden Psycbosen gibt, hatte man in ihnen ein klares Beispiel fur
die eben abgetanen Ausfuhrungen. Dafur, dass man vielleicht annimmt,
jener Scbwachsinn werde den Wahnideen voraus geheilt, babe ich in
der mir zuganglicben reichen Literatur keine Anhaltspunkte gefunden.
Eine andere naheliegende Auffassung, dass man deuselben auch bei
wissenschaftlicher Exploration leicht ubersehen kbnne, ist mir auch
nicht untergekommen. In alien diesen Fallen wurde die Heilung von
den Wahnideen nicht gleichbedeutend sein einer Heilung des Indi¬
viduums schlechthin. Eine Einsicbt in die Rrankbaftigkeit der Wahn¬
ideen wurde nicbt Einsicht in seine krankhafte PersOnlichkeit sein.
Simulation (und Dissimulation) in Hinsicht auf die Wahnideen wurden
gleich zu bewerten sein, wie ich fruher von diesen psychologischen
Vorgangen, von den Erregungszust&nden der Schwachsinnigen es be-
hauptete.
Der Anschein des Schwachsinns bei Paranoikern wird erweckt durch
den passiveu Zwang des Individuums, nach einer bestimmten Richtung
in objektiv dem Inhalt der Wahnidee inadaquater Weise zn denken.
Indem deswegen durch den Ausfall der jene Idee korrigierenden Er-
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fahrungen das ganze Denken in Einseitigkeit hineingedr&ngt wird, er-
weckt die entstehende MonotonitEt des geistigen Lebens den Eindruck
geistiger SchwEche.
Diese Auffassnng besagt nicbt, dass nur bei geistig rustigeu Menscben
es zar Ausbildung vou Wahnideen kommen ktinne und komme, sondern
nor, dass Schwachsinn kein notwendiges Erfordernis derselben bilde.
Nach Jessen kommen die heharrlichsten und metbodiscbsten
Simulanten unter den Geisteskranken vor. *
Das eventuelle GestEndnis von Simulation darf darum nicbt dazu
verleiten, den Gest&ndigen als geistig Gesunden anzusehen. Deun, wenn
Kranke behaupten, dass sie dieses oder jenes Symptom willkurlich er-
zeugt batten, dann haben sie damit, wenn die Wahrheit dieser ibrer
Angaben sich herausstellt, nur bewiesen, dass trotz der StCrung der Selbst-
beberrscbung, des Denkens und des Empfindens ein gewisses Mass von
freier Selbstbestimmung ihnen geblieben ist. Wird ein hierher gebOriger
Fall forcnsisch, dann baben die SachverstEndigen den Richter darauf
aufmerksam zu macben, dass Simulation und Geisteskrankheit sich nicht
ausschliessen.
Man hat im Lanfe der letzten Dezennien die Erfahrung gemacht
und therapeutisch auszuwerten gesucbt, dass organisch begrundete
Geisteskrunkbeiten durch fieberhafte kOrperliche Erkrankungen gunstig
beeinflusst werden, indera wEbrend derselben fur kurzere oder lEngere
Folgezeit Pausen des Krankheitsprozesses sich einstellten. Bei Pnra-
noikern tritt oft bei schwereren korperlichen KrankheitszustEnden weit-
gehende Beruhigung ein, durch welche die psychopathologischen Vor-
g&nge so tief in den Hintergrund gedruckt werden, dass sie dem nur
zuscbauendeo, aber nicbt prufenden Beobacbter als vollstandig ver-
schwunden imponieren kbnnen. Entscheidend dafur, ob man hier tat-
sacblich ven einer Heilung jener paranoiscben Erscbeinungen sprechen
kann, oder nur von einer Herabsetzung der psychischen AktivitEt
sprechen durfe, ist immer der spEtere Verlauf; meipt gelingt bei jenen
KrankheitszustEnden w&brend ibrer Dauer oft uberbaupt nicht eine
solche Feststellung trotz eingebender Explorationen, weil die der kdrper-
licben nebenhergehende geistige ErschOpfung nicbt zulEsst, dass der
Patient eine geistige Spannung bckomme, welcbe notwendige Bpdingung
zur Ausbildung paranoischer Zustandsbilder ist. Noch weniger als bei
dieser allgemeinen Feststellung kommt man zu einem Resultate, wenn
man die Frage beantworten will, ob bei dem Eranken Einsicht in seine
pathologiscben Ideen vorhanden sei.
Tatsacbe ist bei kdrperlicbem Leiden ein Zurucktreten der psy-
cborischen Symptome. Die vollstEndige Analogie mit psychischen
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Leiden, welche nacb einer anderen Richtung zielen wie die habilaellen
psychischen Erscheinung6n, lasst von vornberein vermuten, dass bier ein
beiden gemeinsames Moment die Begriindung fur die gleiche Folge-
wirkung abgebe. (Voraussetzung ist das Erbalteosein einer klaren Per-
zeptionsfahigkeit.) Dasselbe findet sicb in der tiefen und scharfen
affektiven Erregung, welche die einen wie die anderen begleitet. So-
lange diesel ben in einem Grade vorhanden ist, welcher jenen durch
die pathologischen Symptome der niederen Oder der hdheren Erkenntuis-
sphare bewirkten uberragt, wird die Aufmerksamkeit des Eranken von
jenen besetzt, bleibt es so lange, als die letzteren nicbt gradweise uber-
schlagend werden. Fur den Beobachter mag 5fter die Graduierung,
wenn er beide Erlebnisse nebeneinander stellt, widerspruchsvoll sein;
die Reaktion des Individuums ist aber eine unfehlbar sichere. Um die-
selbe nachfuhlen zu kbnnen, miisste der Beobachter notwendig in die
Erkenntnis- und Auffassungsweise des kranken Individuums sich ein-
leben konnen. Schon im t&glichen Umgange mit Geisteskranken macht
man die Erfahrung, dass dieselben durch momentan wichtige Ereignisse
aus ihrem Krankenbett herausgeworfen werden, ihre Ideen vergessen zu
haben und davon frei zu sein scheinen. In demselben Masse, in welchem
diese Ereignisse abblassen, drangen sich die zuruckgedr&ngt gewesenen
pathologischen Erscheinungen wieder vor. Wahrend der erwahnten
Pause gehorte eben die Aufmerksamkeit des Kranken nicht mehr allein
Oder in besonderer Weise jenen psychischen Vorgangen, deren Resultat
die pathologischen Bewusstseinseinhalte sind, sondern wurde in weit-
gehendem Masse von neuen Erlebnissen absorbiert, so dass fur die Vor-
gange des Halluzinierens und der aktuellen Wirksamkeit der Wahn-
ideen nicht mehr jenes Mass an psychischer Euergie zur Verfugung
stand, welches notwendig ist, darait sie als aktuell wirksam auftreten
konnen. Der gleiche Gedankeugang hat fur die vbllig gleiche Wirkung
kbrperlicher Krankheitszust&nde Geltung. Solcbe Zustande wirken die
Aufmerksamkeit ableitend.
Jene kSrperlichen Zustande brauchen nicht Krankheitszustande im
engeren Sinne dieses Wortes zu sein. Jede vorubergebende korperliche
Unannehmlichkeit hat diesel be Wirkung, welche in der Dauer der aktuell
einwirkenden Unannehmlichkeit umgekehrt proportioniert ist, so dass
man von einem Gegensatz von akuter kOrperlicher Erankheit und
offenliegender GeistesstOrung reden kann. Richtig ist die auf solchen
Beobachtungen basierende Anschauung, dass Wahnideen Resultate zeit-
licher geistiger Produktivitat seien und in der Art ihres Vorhanden-
seins von tieferliegenden somatischen Bedingungeu mit abhaugen. Die
Therapie der alien Psychiatrie suchte aus dieser Beobacbtung prak-
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tischeD Nutzen zu schdpfen. Die Anwendung der von ihr im tbera-
peutiscben Inventar durch Dezennien mitgeschleppten mechanischen
and instramentellen Zwangsmittel bezweckte, die Ablenkung zu erzielen.
Der Fehler, den sie dabei beging, war, dass sie ubersah, welche weit-
gehende allgemeine psychische Schw&chung durch die wiederholte kOrper-
liche Schwacbung und durch die Erregung von vornherein nicht vor-
handen gewesener Zwangsaffekte als Folgen der korperlichen Miss-
handlungen sie verursachen musste.
Auf dem Prinzip der Aufmerksamkeitsablenkung fusst auch alle
Psychotherapie. In der Methodik derselben gibt es dann im allgemeinen
zwei Wege, auf welchen man zum Ziele zu gelangen sucht: Jenen der
Ueberredung und jenen der Ueberzeugung. Der erstere will gar nicht
dem betroffenen Individuum auf dem psychologisch naturlichen Wege
der Willensbe9timmung auf Grand einer vorausgehenden Erkenntnis in
die Details der einzelnen willensbestimmenden intellektuellen Akte,
also auf Grund einer Krankheitseinsicht seine geistige Gesundheit zuruck-
geben, er bcscheidet sich bei einer rein autoritativen Willensdirigierung.
Der zweite fuhrt durch Berucksichtigung der naturlichen Anlage des
Indiriduums zur Krankheitseinsicht und damit automatisch zur gesunden
Handlungsfahigkeit. Nur dieser zweite Weg kann zum Ziele fuhren.
Die typischen Belege fur die Bicbtigkeit dieser Behauptungen geben
die Falle nicht zu weit vorgeruckter Charakterveranderung. Ein ein-
facbes Ueberrumpeln solcher Kranken kann ja ein zeitweiliges Pausieren
krankhafter Symptome herbeifiihren, ein Ausbleiben derselben nur fur
lingere Zeit kann zufalliger Weise eintreten. Dann ist es aber
Zufall, nachdem es nicht unmittelbar durch jeno uberraschende
Uandlung herbeigeftihrt wird, sondern durch eine derselben. folgende
Reibe von Schlussen, welche in ihrem Aufbau nicht Vorlagen des
Therapeuten, sondern Ausflusse der ureigensten und selbstaudigen
geistigen Tatigkeit des Patienten sind. Dafur, ob dieser Weg im ein¬
zelnen Falle eingescblagen .werde, ist der babituelle intellektuelle Zu-
stand des Individuums massgebend.
Nach Aschaffenburg entstehen Wahnideen auf der Grundlage
einer Affektstdrung bei stark egozentrischer Richtung des Denkens.
Aus dieser krankhaften Eigenbeziehung musse man das Wahnbedurfnis
zu erklarcn suchen, da durch dieselbe der Kranke in den Mittelpunkt
der veranderten Denkrichtung trete; beim Irrtum sei eine Loslbsung
von der Persfinlichkeit des Irrenden denkbar. Normale Handlungen des
Kranken scien daram auf jenen Gebieten mOglich, welchen eine Eiu-
mischung der Eigenbeziehung fern liegt. Ein wahnbildender Kranker
konne deshalb ein genialer Mathematiker sein. Entsprechend dieser Auf-
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fassung w^Lre das Zustandekommen von Krankheitseinsicht gleich der
Bebebung dieeer krankhaffeen Eigenbeziehung oder mit der Zuruck-
fuhrung des Denkens auf das richtige Beziehungsverhaltnis. Dieses
letztere ist immer dann da, wenn das Denken nicbt von seinem natur-
lichen Wege abgeleitet wird. Ableitung aos dem naturlichen Geleise
ist nur durch Einmischang der Affektivitat mOglich. Diese gibt dem
Denken eine von seiner naturgemassen abweichende Richtung, die selbst-
verstandlich nicht durch zu grosse Objektivitftt, sondern nur durch
Subjektivitat des Denkens sich ausdruckt. Wann diese Subjektivitat
vom Individuum noch uberwunden werden kanu und wann nicht
mehr, dafiir besitzen wir keine aprioristische Entscheidungsmbglich-
keit; die Empirie gibt Ausschlag. Denn man findet im Inhalt der
Wahnideen nichts hierfur Entscheidendes, man kann auch aus der Zeit
ihres Bestandenhabens keine Anhaltspunkte gewinnen. Allerdings
pflegen alle psychischen VorgSnge bei langerer Dauer sich mehr weniger
fest zu fixieren; wann aber diese Fixation in eine nicbt mebr trenn-
bare Konsolidation ubergeht, kann man auch nicht annahernd von
vornherein bestimmen. Man hat fiir ein diesbezugliche Berechnung nur
einen gauz beilaufigen Auhaltspunkt in dem fruheren babituellen Zu-
stande der geistigen Aktivitat eines bestimmten Individuums. Derselbe
ist von Einfluss auf die Krankheitseinsicht nach der Genesung von
geistiger Krankbeit wie auf jene, welche in manchen sogenannten
luziden Intervallen sich einstellt. Sowohl die Tiefe wie die Dauer
werden von demselben mitbestimmt; und zwar nach doppelter Hinsicht.
Erstens einmal, indem derselbe eine seichtere oder tiefere Erkenntnis
des krankhaften Vorgangs und Erlebens bewirkt, und zweitens, indem
die an sich stark ere Willenskraft es eher zustande bringt, jenen Um-
standen aus dem Wege zu gehen, welche erkannter Weise die psycho-
logische Grundlage jeder Wahnbildung sind. Jaspers hat diese Um-
stande zusammenfassend als Wahnstimmuog bezeicbnet. Nach Hagen
bezeichnet er dieselbe als eiu Gefuhl der Haltlosigkeit und der Cn-
sicherheit, welches den Kranken instinktartig treibe nach einem festen
Punkt zu suchen, an welchem er sich halten und anklammern kdnne.
Wie jeder Gesunde unter analogen Urns tan den findet auch er ihn in
einer Idee, welche infolge der durch jenes Gefuhl einseitig gewordenen
Denkrichtung dem objektiven Weltgehalte nicht mehr entspricht und
damit als wahnhafte gekennzeichnet erscheint. Ob er diese Idee unter
alien Umstanden festhalte oder zeitweise von derselben frei sei, hangt
von der Umwandlung ab, welche die Persdnlichkeit als Ganzes durch
die Krankheit erfabren hat. Ein Moment, welches engstens mit der
ehemaligen geistigen Kraft und Widerstandsfahigkeit des Individuums
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(Jeber Krankheitseinsicht.
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zusammenbangt. Je grosser dieselbe ist, urn so schwerer werden von
aussen andr&ngende Ereignisse dieselbe zu biegen oder gar zn brecben
vermOgen oder, wenn e< schon dazn gekommeu ist, werden gunstige
Einflusse dieselbe leichter wieder aufzurichtcn vermCgen. Wie also
jeuer fruhere psychische Zustand eine Hemmang der Ausbildung der
Krankheit entgegenstellen kann, so bedeutet er andererseits eine Er-
leichternng, wenn Krankheitseinsicht sicb einzustellen beginnt. Der
Psychothbrapeut kann mit vielem Vorteile von dieser Erkenntnis Ge-
brauch macben, indem er dieselbe bei der Dosierung seiner — sit venia
verbo — psycbotberapentiscben Medizin als Leitfadeu dafur verwendet,
in welcher Schnelligkeit er auf seinem Heilwege nach vorwiirts rucken
kann. Dem an' sclbst&ndiges Denken Gewohuten braucht er nor einige
Schlagworte fur sein Denken zu geben, an denen derselbe genugsam
Stoff fur seine geistige Arbeit findet, wakrend er dem schon von fruher
her geistig tiefer stehenden ein detailliertes Denkrezept und oft in viel-
facher Wiederholnng vorlegen muss.
Erfolg hat diese psyckotherapeutische Arbeit nur danu, wenn die
inlellektuelle Potenz in ikrer aktuellen Kraft nicht bis zur Unraoglick-
keit gesiort ist und der Wille Kraft genug aufbringt, um an der Hand
der Veruunftsvorlageu das Ziel seines Handelns zu verfolgen. Eine
direkte Rinflussnahme auf den letzteron ist fur den Psychotherapeuteu
ein Ding der Unmdglichkeit. Cnfehlbar wirkt darum sein psychothera-
peutisches Muhen nie.
Wo oder in was liegt das Hinderni.s fiir das Zustandekommen der
Krankheitseinsicht?
Bei den rein affektiveu Geisteskrankkeiten kann das Hindernis von
kciner anderen Seite koimnen als aus diesem Affekte lieraus. Das heisst
aus dor Bekinderung dor uberlegenden Verstandestatigkeit. Jenes Mo¬
ment also selbst, welches bei diesen Psychosen das hervorsteckeudste
Merkmul derselben bildet, hemmt diejenige geistige Fahigkeit, in deren
Resort dio Krankheitseinsicht als intellektuellcr Akt fallt. Dass gerade
bei diesen - Psychosen with rend der Krankheitsdauer vorflbergehende
Ruhepausen in der Intensity der affektiven Sturme zu ebenso voruber-
geheuden Krankheitseinsicbten fuhren, ist von vielen Autoren betont
and hervorgekoben werden. An und fur sich macht es keinen Unter-
scbied. ob jene affektiv-psychotischen Zust&nde im Verlaufe eiuer zu-
sammengesetzten Psychose oder aber auch als selbstandige Erkrankung
anftreten. Meine Erfabrungen liessen mich aber erkennen, dass oft ge¬
rade das Verhalten dor Kranken im voriiegcnden Punkte Finprzeige
gab, wie dies ganzc Krankheitsbild zu klassifizieren sei. Wie in anderer
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Dr. Ernst Herzig,
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Hinsicbt erscheint auch in der angeregten die Begrundung darin ge-
geben, dass in solchen Pausen die babituelle psychologiscbe PersOnlich-
lichkeit nach aussen tritt mit jenen Aenderungeu, welche sie im Laufe
krankbafter Attacken erfahreu bat. Dieseiben imponieren in jenen
Zust&nden vorfibergehenden stabiien psych ischen Gleicbgewichtes als
Charaktereigentfimlichkeiten. Nur deijenige, welche den einzelnen Fall
kennt, ist klar fiber die tiefer liegende geistige Sch&digung, welche
dem Verhalten des Individuums zugrunde liegt.
Anders liegen die Verlialtnisse bei den psychotiscben Krankheits-
bildern, welche mit intellektuellen StOrungen, mit Wahnbildungen und
Sinnest&uschuugen einhergeheu. Wahrend man in den frfiheren Fallen
es mit durcb den Affekt verursachter Aenderung im Assoziationsablaufe
zu tun batte, bandelt cs sicb hier uni einen Defekt in der Per- und
Apperzeption selbst, welcher nebeu der affektiven Stfirung, welche ihn
verursacht bat und bestehend erb<, seine Selbstandigkeit bat. Da-
durch wird es moglicli, dass jeuer Defekt nach dem Abklingen des
Affektes weiter fortbesteht und in einer vom Affekte unabh&ngigen Per-
soulichkeitsknderung sich kundgibt. Nacb Ablauf des fioriden Frank-
lieitsprozesses konnen also noch psycbotische Symptome vorhanden sein,
welche durcb das Fchlen der psyckischen Potenz gekennzeicbnet sind.
Dieseiben kfinnen in nichts anderem bestehen, als in einem Defekte
der intellektuellen Potenz. Indem sicb derselbe als eiue Abweichung
vom physiologischen Typus darstellt, andererscits durch Insuffizienz der
psycliischen Potenz gekennzeicbuet ist, fasst er alle Sekund&rzustande
nach akuten Psychosen in sich. Objektiv treten dieseiben als solche
in Erscheinung; im Individuum selbst hat sich weitgehende G leichgiltig-
keit gegenfiber den in Betracht koiumenden psycbopathologiscben In-
halten eingestellt. Die Tatsache, dass es derartige Zustande gibt, be-
statigt meiue Behauptung, dass der iutellektuelle Defekt neben dem
affektiven selbstandig auftreten kann. Das Zustandekommen dieser
Selbstandigkeit kann keiue andere Erkl&rung haben, als dass die in
Betracht kommenden Ideen im nichtpsychischen Anteile der mensch-
lichen Natur, also im somatischcn Teile des psychozerebralen Systems
starre Fixation gefunden haben, andererseits aber die Affektivitfit ihnen
gegenfiber schon vollst&ndig sicb abgestumpft hat, gleichgiltig geworden
ist. Damit deute ich an, dass in alien diesen Krankheitsf&llen von
einer Krankheitseinsicht nicht die Rede ist und sein kann. Denn in
diesen Kranken hat ihre Stellung nicht zu den wahnhaften Ideen an
sich eine Aenderung erfahren, die Reaktiou auf diese Erkenntnis-
vorgfinge ist dem Nuilpunkte nahegekommen oder an demselben an¬
gel angt.
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Ueber Krankheitseinsicht.
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Fur die praktische Psychiatric ist dieses Angelangtsein von Wichtig-
keit, weil es die Stellungnahme des Psychiaters bei der Entscheidung,
ob fur ein derartiges Individuum die geschlossene Anstaltsbehandlung
notwendig oder nutzlich sei, bestimmt. Allerdings kann auch hier
keine einfache Schablone festgestellt werden. Denn, obwohl jenes Her-
absiuken der Aktivit&t gewbbnlich ein ganz allgemeines fur die Ver-
bftltnisse innerbalb und ausserhalb der Anstalt ist, gibt es docb manche
Falle, welche im Leben ausserhalb der Anstalt bald eine Wiederer-
hbhung ihrer Affektivit&t erfahren, wShrend sie in der Anstalt durch
Rube und Gelassenheit imponieren. Besonders hervorstehend ist solcbes
Verhalten bei an Beziebungswahu Leidenden. Mit den Wahnideen selbst
scheinen auch die Lebensgewobnheiten der Krauken etwas Fixiertes ge-
worden zu sein. Indem ihnen gleicbzeitig durch ihre geistige Minder-
wertigkeit die Akkommodationsf&higkeit an neue Lebensverhaltnisse ver-
loren ging, kOnnen sie sich in die docb erhohten sozialen Anspruche
des Aussenlebens nicht mehr finden. Sie stelJen den Grossteil der
wegen geistiger Hilflosigkeit Pflegebedurftigen. Gelangen solche Indi-
viduen in das Leben zuruck, ohne eine regelniUssige ruhige T&tigkeit
und geordnete soziale Verhaltnisse vorzufinden, so kann es zur Aus-
bildung eines stabilen deprimierenden Affektes kommen, der in weiterer
Folge zu neuerlicher Wahnbildung fiibrt, eine ganz neue Psychose aus-
l6st. Weil die affektive Reaktionsf&higkeit des kranken Individuums
ihre Hemmungslosigkeit verloren hat, braucht man das ungezugelte
Losfahren bei Berubrung seiner Wahnideen nicht mehr zu furchten.
Die psychologiscbe Tatsache der Gew&hnung kommt hier zur vollen
Geltung, da sie infolge ihrer AUgemeinheit die normal psychologiscbe
Handlungsweise ebenso wie die psycho-pathologische unter sich fasst.
Dass trotz der eingetretenen Beruhigung keine Krankheitseinsicht sich
entwickelt? Weil sich gleichzeitig Schwachung der Assoziationsfahig-
keit eingestellt hat, welche die Verminderung an affektiver Erregbar-
keit wieder quitt macht. Was die individuelle Luziditat auf der einen
Seite gewann, verlor sie auf einer anderen reicblich, so dass das Ge-
samtresumee bei den erwahnten Zustanden eigentlich dasselbe geblieben
ist und die allgetneine Eignung zur Ausbildung von Krankheitseinsicht
sich nicht erhtiht hat.
F. Ch. E., geboren 1879, verheiratet, Anstreichergehilfe, aufgenommen
15. 9. 1917.
Aus der Vorgeschiohte ist zu erwabnen, dass der Kranke sehon von 1905
bis 1909 in einer galizischen Irrenanstalt interniert war, wegen „Stimmen-
horens 44 , welches in den letzten 9 Monaten seines dortigep Aufenthaltes voll-
standig verscbwand. Schon im einen fruheren Jabre war er nach einjabriger
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Dr. Ernst Herzig,
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Militardienstzeit daaernd wegen Geisteskrankheit beurlaubt worden. Die An-
gaben, welohe der Kranke iiber die damals bestanden habenden Symptome
macht, sind so verschwommen, dass man sich nicht einmai darfiber klar werden
kann, ob Sinnestauschungen bestanden oder nicht.
Bei seiner Einruckung zur Kriegsdienstleistung als Feldgendarm sei er
nach seiner Meinang geistig vollkommen gesund gewesen, in jener Verfassung,
in welcher er die erwahnto Irrenanstalt verlassen hatte und seitdem seinem
Berufe nachgegangen war. Bis zum Spatsommer 1916 hatte er keinen Anstand
im Dienste. Da aber begann wieder das Stimmenhoren; er mfisse davon auch
seinen Kameraden erzahlt und diese dem Rittmeister Meldung gemacht haben.
Letzteror bestimmte ihn zum llapporte und sc-bickte ihn vom Fleck weg in die
Irrenabteilung eines Lubliner Spitales. Nach dreimonatigem Aufenthalte dort
wurde or in seine Heimat beurlaubt und wahrend des Urlaubs aus dem Miiitar-
verbande ausgeschieden. Wahrend dos Spitalaufenthaltes Schwinden der Stimmen,
so dass er wieder eine Arbeit aufnehmen konnte in einer Papierfabrik in der
Nahe Wiens.
Naoh ungefahr lOmonatiger Pause begannen im August 1917 wieder die
Belastigungen durch die Stimmen, welche nach Art und Inhalt des friiher Ge-
horten ganz analog waren. Nach der ietzteren Richtung sind sie charakterisiert
als Beschimpfungen und ekelhafte Kritiken seiner Handlungsweise. Wenn er
zu Zeiten innerer Ruhe fiber die Stimmen nachdenke, komme er dazu, sie als
Krankheitserscheinungen seines Gehirns zu erkennen, und nehme sich fest vor,
sich durch sie zu keiner Reaktion hinreissen zu lassen. Trotz alledem gelinge
es ihm in den entscheidenden Momenten nie, seinem Vorsatze treu zu bleiben,
bis nach Ablauf eines inneren schweren Druckes innere Erleichterung, Beruhi-
gung eintrete und die Stimmen von selbst schwinden. Der jedesmalige Anlass
zum Auftreten werde durch vorhergegangene gemfitliche Erregungen gegeben.
Vor seiner Intemierung in Lublin war er durch vielen und strengen Dienst in
seinen Nerven geschadigt worden; seiner letzten waren Aufregungen wegen
der durch die Teuerung geschaffenen Notlage seiner Familie vorangegangen.
Das hauptsachlichst Unlusterzeugende bei diesen Kranken war allerdings
durch den negativen Inhalt seiner Stimmen gegeben; er ist sich auch bewusst,
dass gerade durch diese Stimmen seine Leistungsfahigkeit beschrankt werde.
Er besitzt aber auoh zeitweise eine vollkommene Einsicht in die Krankhaftig-
keit jenes psyohisohen Vorganges, den er wie Halluzinanten oft als Stimmen¬
horen bezeichnet; welches er aber wegen mangelnder Selbstbeherrschung nicht
unterdrficken kann.
Krankheitseinsicht lfisst sich immer erwarten, solange die Heftig-
keit der gemutlichen Erregungen die intellektuellen Vorgfinge nicht in
dem Grade verwirrt, dass letztere in objektiv richtiger Art zustande
kommen. Insbesondere bei geringgradig affektiven Stdrungen ist daher
oft ein Verstfindnis fur den bestehenden gemutlichen Defekt vorhanden,
ohne dass die aus diesem Verstfindnis erwachsenden sittlichen Motive
eine derartige Kraft erlangen, dass das Individuum den Geffihlsantrieben
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Ueber Krankheitseinsicht.
207
Widerstand leisten kann, indem jene sittlichen Motive auf Art und
Richtung der durch diese Antriebe ausgeldsten Handlung entscheidend
einwirken. Die Handlungsweise des Individuums bleibt eine krankhafte.
Dass krankhafte intellektnelle Vorgange selbst in ihrer Krankhaftig-
keit -erkannt werden, erscheint von vornherein dem psychologischen
Verstftndnisse unuberwindllche Scbwierigkeiten bietend, verst&ndlich in
dem Momente, da man sich vorhttlt, dass der Eranke ja nicht zu alien
Zeitpunkten der Krankheitsdauer in gleicher Weise seinen psycho-patho-
logischen VorgSngen gegenubersteht. Abgesehen davon, dass in letzter
Linie die habitnelle psychiscbe Eigenart for das Auftreten und fur die
Art der auftretenden Krankheitseinsicht massgebend ist, ist auch bei
den sogenannten intellektuellen Psychosen die Gruudlage die gemut-
liche Aenderung. Tritt dieselbe zuruck, dann muss unter alien Urn-
stinden die nur unterdruckte, aber nie aufgehobene naturliche Betati*
gung der Psyche sich auch darin aussern, dass sie den objektiv krank-
haften Vorgang auch subjektiv als solchen bewertet.
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VII.
Suggestion und psychische Infektion.
Yon
Dr. S. Galant (Bem-Belp).
In der Literatur ist unseres Wissens bis jetzt keine strikte Grenze
zwiscben Suggestion und psychischer Infektion gezogen worden. Manche
Autoren werfen sogar beide Begriffe in einen Topf, und fur sie sind
Suggestion und psychische Infektion zwei Worte fur ein and denselben
Begriff. Fiir LOwenfeld ist psychische Infektion „die Oebertragung
von Ideen von Person zu Person" und unterscheidet sich sonst in nichts
von der Suggestion, die am meisten und besten durch die ttgliche
Presse ausgeubt werden soli 1 ). Andererseits kastriert derselbe Autor
den Begriff der Infektion auf psychischem G6biet, indem er ihr den
eigentlichen medizinischen Sinn wegnimmt. Er sagt: „Mut und Kalt-
blutigkeit wirken erfreulicher Weise nicht minder ansteckend wie Feig-
heit und Ratlosigkeit" (1. c.). Die psychische Infektion ist also nicht
beklagenswert: wenn sie ihre schlechten Seiten hat, so hat sie auch
ihre guten, wie alles andere in der Welt. Sie ist eine Erscheinung,
die wir nicht etwa bek&mpfen mussen, vielleicht sogar nicht durfen,
denn wir hatten uns eines Mittels beraubt, urn das Gute in der Welt
zu pflanzen.
Wir wollen daher in diesem kurzen Aufsatze versuchen, die zwei
Begriffe zu analysieren, um uns klarzulegen, um welche psychischen
Prozesse es sich bei der Suggestion und bei der psychischen Infektion
handelt. Wenn es sich in beiden Fallen um ein und denselben psy¬
chischen Prozess handeln sollte, so werden wir berechtigt sein die beiden
Worte zu identifizieren, wie es bisher geschehen ist. Im anderen Falle
werden wir auf Grand der entdeckten Unterschiede eine strenge Grenze
zwischen beiden Begriffen durchfuhren mussen.
1) Lowenfeld, Psycbopathia gallica. Grenzfragen des Nerven- und
Seelenlebens. Heft 100.
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Suggestion und psychische Infektion.
209
Was ist Suggestion?
Eine kurz zusammengefasste Definition fiir diesen Begriff zu pr&gen
ist gar nicht leicht, vielleicht verwegen, und wenn wir doch wagen
eine solche zu geben, so geschieht es nur deshalb, weii wir bier keine
Anspruche auf Vollst&ndigkeit erheben und nur die Prinzipien der Sug¬
gestion, so wie wir sie uns vorstellen, kurz ausdriicken wollen.
Wir verstehen unter Suggestion (Suggestibilit&t) eine angeborene
thymopsychische Eigenschaft unseres Geistes, dank weicher
wir auf affektivem Wege Ideen verschiedenster Natur ver-
dauen kCnneu und sie zu einem der Elemente unseres ich
assimilieren.
Die Definition ist nicht so kurz atisgefallen wie wir uns dachten,
und enth< mOglicher Weise auch manche duukle Punkte. Wir wollen
sie erl&utern.
Die Suggestion ist angeboren. Dieser Satz ist leicht zu beweisen,
wenn, wie wir es gemacht haben, die Suggestion, als ein affektiver
Vorgang und nur als solcher aufgefasst wird. Eine inteilektuelle oder
noopsychiscbe Suggestion existiert uuserer Meinung nacb uberhaupt nicht.
Einer der besten Tbeoretiker dieser Art Suggestion ist Max Nordau 1 ).
Dieser Autor behauptet, die geistige Entwicklung der Menschbeit sei
eine Suggestion, die vom Genie ausgeht und der die ganze Menschheit
sich unterwerfe. WOrtlich heisst es dort: „Das Genie denkt, urteilt,
will und handelt fur die Menschbeit, es verarbeitet Eindriicke zu Vor-
stellungen, es err&t die Gesetze, deren Ausdruck die Erscheinungen
sind, es antwortet auf die &usseren Anregungen mit zweckm&ssigen
Bewegungen und bereicbert fortwfthrend den Inhalt des Bewusstseins.
Die Mehrbeit tut nichts anderes als das Genie nachzuabmen; sie
wiederholt, was das Genie vorgetan hat. Die Tollkommen normal ge-
bildeten, gut und gleichm&ssig entwickelten Individuen tun es sofort
and erreichen ann&hernd das Muster. Man nennt sie Talente. Die in
einer oder der anderen Richtung zuruckgebliebenen, an die Durch-
schnittsmasse des jeweiligen Menschentyps nicht heranreichenden Indiv
viduen gelangen erst sp&ter und muhsam dazu, und ihre Nachahmung
ist weder geschickt noch treu. Das sind die Philister.“
Die Nachahmung, von der oben die Rede war, bezeiebnet Nordau
als Suggestion. „Was ist aber das Wesen der Suggestion und auf
welche Weise kommt sie zustande u , fragt sich der Autor selbst. Die
Antwort ist eine Hypothese. Suggestion ist die Oebertragung der Mole-
kularbewegungen eines Gehirns auf ein anderes in der Weise, wie eine
1) Max Nordau, Paradoxa. Zweite Auflage. Leipzig 1888.
ArekiT f. Psychiatri*. Bd.60. Hffl 1.
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Dr. S. G&lant,
Saite ibre Schwingungen auf eine benachbarte Saite ubertrigt, wie
eine beisse Eisenstange, wenn man sie gegen eine k<ere halt dieser
ihre eigene Molekularbewegungen mitteilt. Da alle Vorstellungen, Dr-
teile und Emotionen Bewegungsvorg&nge der Hirumolekule sind, so
werden naturlicb durch die Uebertragung dej Molekularbewegungen aucb
die Urteile, Vorstellungen und Emotionen ubertragen, deren mecbanische
Unterlage jene Bewegungen sind.
Nordau entwickelt also eine Molekulartheorie auf psychischem
Gebiet. Die Psyche ist fur ihn etwas physikalisch Fassbares. Es gibt
„Molekule“ von Urteilen, Vorstellungen und Emotionen usw., und diese
Urteils-, Vorstellungs- und Emotionsmolekule kommen eben in Bewegung,
wenn identische Molekule eines anderen Gehirns sie in Schwingung
bringen. Eine recbt phantastiscbe Hypothese, die zu kritisieren kaum
der Muhe wert ist.
Wir kSnnen diese Theorie, die darnm entstanden ist, weil ibr Autor
offenbar bestrebt war, eine noopsychische Suggestion zustande zu bringen,
obne weiteres verwerfen und uns dem Problem der thymopsychiscben
Suggestion zuwenden.
Die Suggestion, wie wir sie versteben (wir wiederbolen es noch
einmal), ist angeboren. Davon sicb zu uberzeugen ist leicbt, wenn man
die Entwicklung der menschlichen Psyche vom S&uglingsalter her ver-
folgt.
Die ersten Anf&nge der Suggestion sind schon ini fruhen S&uglings-
alter zu konstatieren. Wir konnten es bei folgendem Anlass feststellen.
Wir untersuchten in der Frauenklinik S&uglinge, die nicht uber 14 Tage
alt waren, auf Reflexe. Wir waren imstande zu beobachten, wie manche
Sauglinge schon mit dem 4. — 6. Tage auf ein lachendes Gesicht mit
einem deutlichen L&cheln reagierten. Ein besonders empfindlicher
Sftugling stiess bei der Untersuchung der Sohlenreflexe, gegen die die
S&uglinge sehr empfindlich sind, ausserordentlich starke Schreie aus.
Nach einigen Minuten baben alle Sauglinge, die im Saal waren (6, von
ihnen einige, die bloss ein und zwei Tage alt waren) mitgeschrieen.
Solcbe und ahnliche Tatsachen konnten wir Tag fur Tag beobachten.
Diese primiiren Aeusserungen der Suggestion im fruhen S&uglings-
alter sind rein affektive. Nur Affekte und zwar sehr starke (lautes
Lachen, intensives Weinen) werden von dem SSugling durch Vermittlung
der Suggestion beantwortet. Leichte Affekte oder affektbetonte Worte,
ein heiterer oder trauriger Gesichtsausdruck rufen bei dem Singling
keine Reaktion hervor.
Mit der geistigen Entwicklung entwickelt sich aucb die angeborene
Eigenschaft der Suggestion allmfihlich. Die Suggestion braucht schon
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Suggestion and psychischo Infektion.
211
nicht mebr bis zum Extrem gesteigorte Affekto. Affekte leichterer Art,
oder nor affektbetonte Worte genugen, um suggestiv auf ein Kind von
5—7 Monaten zn wirken. So genfigt es z. B., dass man den Zeigefinger
an die Nasenspitze bringt und dem 5 Monate alten Kind dabei im leicht
drobenden Tone „Nn-nu-nu“ zuruft; wie man es in der Kinderstube
macht, und das Kiod fangt an bitterlich zu weinen.
Je weiter die psychische Entwicklung vor sich gebt, deato weiter
gebt die Suggestion, so dass schliesslicb ein hocbintelligenter Mensch
keine eigentlicbe Affektivit&t seitens des Suggestors mebr braucbt, um
•eine Ideen aufzufassen und versteben zu kOnnen. Denn jedes Wort,
wenn es auch nicht affektbetont gesprochen wird, bat in sich eine ge-
wisse suggestive Kraft durcb den Begriff oder die Vorstellung, die da-
binter stecken, nnd die immer von einem Affekt begleitet sind. Diese
(Begriffe und Vorstellungen) sind beim intelligenten Menschen so gut
entwickelt, dass ein Wort oder Wortkomplexe (Satae) ohne jeden Affekt
vorgetragen, doch die entsprechendeu Vorstellungen hervorrufen und doit
ibnen die Affekte, die an ibnen haften, d. b. sie wirken auf den ZuliOrer
affektiv, so dass sie ihm leicht verstandlich und klar werden.
So tritt allmahlich die Suggestion von rein affektivem Gebiet im
Sanglingsalter auf das rein intellektuelle im vorgeruckten Alter, aber
auch dann wirkt die Suggestion nur durch jenen kleinen Teil Affektivitat,
der im Worte versteckt ist. Je intelligenter der Mensch ist, desto
starker werden bei ihm die Begriffe, die hinter den Worten verborgen
aind, ekpboriert, desto starker wird der Affekt belebt, desto mehr
werden die Gedanken anderer, die durch die WOrter ausgedruckt sind,
klarer, aflfektbetonter, nnd wenn sie auch nicht genugend affektbetont
vorgetragen werden, wirken sie doch auf den intelligenten ZuhOrer
affektiv, d. h. suggestiv.
Das ist der Begriff der normalen oder (aus Grunden, die wir gleich
beflser erOrtern werden) sekundaren Suggestion in ihrer Entwicklung.
Je intelligenter ein Mensch ist, desto starker ist bei ihm die Suggestion
entwickelt, so dass er sich von dem ausseren Affekt des Sprechenden,
des Suggestors, nicht verleiten lasst, sondern kontrolliert durch die
Affekte, die die Gedanken der anderen in ihm erweckt haben, das Vor-
getragene, das durch die erweckten Affekte zuganglicher nnd verstand-
licher wird.
Die sekundare Suggestion ist desto starker entwickelt, je
hOher das Individuum auf der intellektuellen Stufe steht.
Wir sind also zu einem ganz anderen Begriffe der Suggestion ge-
kommen, einem Begriffe, der bis jetzt nicht ausgesprochen worden ist.
Bis jetzt ist unter Suggestion allgemein die kritiklose Dnterwerfung
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Dr. S. Oalant,
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unter den Willen des Suggestors oder kritiklose Aufnahme seiner Ideen
verstanden worden. Diese Art Suggestion 1st bis zum gewissen Grade
als etwas normales betrachtet worden und wurde als therapeutisches
Mittel verwendet. Dabei sol] die Suggestion am st&rksten bei dem
willensschwachen Menschen wirken. Diese Art Suggestion werden wir
noch besprecheu, sie gehort aber nicht zu der normalen sekundSren
Suggestion, die ihre Quelle in der Vortellungskraft des Individuums
hat. Am besten sieht man das bei Rindem, die ihre GefUhle nicht
b&ndigen kbnnen. Es genugt, einem Einde in dem gleichg<igsten
Tone das Wort „Bonbon" zn sagen, urn in ihm einen starken Affekt
hervorzurufen, suggerieren. Beim intelligenten Erwachsenen sugge-
riereu die Worte mit abstrakten Begriffen Affekte, ahnlich wie „Bonbon"
beim Kinde, und dadurch werden die Begriffe noch deutlicher ekphoriert,
regen das Denken auf das intensivste an und machen die Begriffe sehr
verst&ndlich. Aber eine hohe Intel I i gen z ist dazu notwendig, um von
vornherein die Begriffe, die binter den Worten stecken, wenigstens
dunkel sich vorstellen zu kbnnen, damit der Affekt hervorgerufen wird
und durch seine Kraft das Dunkle beleuchtet.
Von diesem Standpunkte aus kbnnen wir nicht mit Bleuler sagen:
„Ideen ohne begleitenden Affekt wirken nicht suggestiv" 1 ). Eben Ideen,
die ohne begleitenden Affekt aufgenommen und assimiliert werden (wir
wurden sagen suggeriert werden) sind unserer Meinung nach die wirk-
lich suggestiv wirkendeD.
Man wird vielleicht erwidem, dass unsere sekund&re Suggestion
schliesslich eine mehr intellektuelle als affektive sei, denn wir sagen
ja, dass das Wort eine Vorstellung bei dem Hbrenden wenigstens dunkel
ekphoriert, dann kommt noch der Affekt dazu und belebt das Bild.
Es ist aber insofern unmdglich die Sache so aufzufassen, als eine Vor¬
stellung an sich ein affektiver Vorgang ist (vgl. Beispiel von „Bonbon“)
und das Denken als solches auf affektiver Basis beruht. Zuerst kommt
die Vorstellung, die durch weiteres Mass von Affekt sich in einen
Begriff umwandelt, und die klaren Begriffe ermoglichen das weitere
Denken. Das Denken ist also im Grunde genommen ein affek¬
tiver Vorgang.
Ein mehr oder weniger rein intellektueller Vorgang w&re das Ur-
teilen, das ubrigens durch die affektive Richtung des Individuums be-
stimmt ist. Ein Mensch kann in alien mbglichen Richtungen denken,
urteilt aber nur in einer Richtung, n&mlich in der, die durch jene
Begriffe bedingt ist, die mit angenehmen oder weniger unangenehmen
1) Bleuler, Lehrbuoh der Psychiatrie. S. 31. Springer, Berlin 1916.
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Suggestion and psychiscbe Infektion.
213
Affekten verbunden sind. Darch ‘ das Urteilen kommen die Meinungs-
verschiedenheiten der Menschen zastande, indem bei dem einen diese,
bei dem anderen jene Begriffe von angenehmen Affekten begleitet
werden, und in der Richtung der „angeuehmen“ Begriffe urteilt der
Betreffende, failt sein Urteil. Bine Diskossion ist darum ein intellek-
taeller Vorgang, weil die Affekte des Diskutierenden schon vorbedingt
sind and nar noch die intellektaelle Fabigkeit, der Reich turn-- an Asso-
ziationen, eine Rolle spielt. —
Neben der sekund&ren Suggestion, die durch die hohe geistige
Entwicklang des Individuams bis auf ibren Gipfel getrieben werden
kann, unterscheiden wir die prim&re Suggestion, das ist diejenige,
die aaf dem Stadium der fruhen Jugend steben geblieben ist und die
der sekund&ren Suggestion wenig Raum fur ibr Spiel gelasseu bat
Die Suggestion hat aus irgend welcbem Grunde, der sich haupts&chlich
in einer geistigen SchwSche des Individuams birgt, ihre normale Ent¬
wicklang nicht durchmachen kSnnen und ist, wie gesagt, auf einer
niedrigen Stufe steben geblieben. Die prim are Suggestion ist diejenige,
▼on der bis jetzt allgemein in der Psychologic und der Psycbiatrie ge-
sprochen worden ist. Das Charakteristische fur diese Art Suggestion
ist, dass das Individuum sich von dem ausseren Affekt des Sug-
gestors ohne weiteres hinleiten lasst, ohne dass die Idee, die
dabei geaussert wird, genugend aufgefasst oder sogar kontrolliert wird.
Der aussere Affekt wirkt auf das Individuum und nicht jene indi-
▼ iduellen Affekte, die hervorgerufen werden sollten durcb die Vor-
stellangen und Begriffe selbst. Damit erklart es sich leicht, warum
der Durchschnittsmensch durch eine „feurige“ Predigt uberzeugt wird,
dass er von nun ab froram und gut sein werde, aber schon am nachsten
Tage Sacben begeht, die dem Sinne der Predigt ganz widersprechen.
Denn er hat die Predigt in Wirklicbkeit gar nicht aufgefasst (sie ist
ihm durch den Inhalt nicht suggeriert worden), sondern der aussere
Affekt, der die Predigt begleitet hat, der hat auf ihn momentan ein-
gewirkt, und der Zuhbrer, der den ausseren Affekt als einen solchen.
der angenebme Empfindungen begleitet, gefuhlt hat, meinte die vor-
getragenen Ideen waren seine eigenen, denn der aussere Affekt ist auf
ibn Gbertragen worden. Mit dem Affekt ist aber auch die Idee, die
gar nicht suggeriert worden ist, verschwunden. Wenn der suggerierte
Affekt (der aussere Affekt, nicht die Idee!) ein sehr starker war, so
kann er noch einige Zeit nachwirken, verliert aber scbliesslich doch
seine suggestive Kraft, wabrenddem eine wirklich suggerierte Idee, die
mit den Anschauungen des Individuums ubereiustimmt, von dem letzteren
assimiliert wird und fur immer sein geistiges Eigentum bleibt.
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Dr. S. Galant,
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Die prim&re Suggestion ist die dominierende bei den meisteo
Menschen. W&hrend die sekund&re, hOhere Art Suggestion bis sum
gewissen Grade mit der Intel ligenz fest verbanden ist und eine so za
sagen bedingte ist, ist die prim&re Suggestion diejenige, die das Indi-
viduum mit auf die Welt gebracht bat und fur deren Entwicklung er
keine Sorge tragen musste: Die sekund&re Suggestion ist in dem Sinne
angeboren wie die Sprache angeboren ist. Der Menscb kommt auf die
Welt obne Sprache und akquiriert sie erst nacb einiger Zeit. Nichts-
destoweniger sagen wir von der Eigenschaft der Sprache, dass sie dem
Menschen angeboren sei. So steht es aucb mit der sekund&ren Sug¬
gestion, die ihre Entwicklung, wenigstens in fruher Jugend, parallel
mit der Sprache durchmacht, die eine hOhere Stufe der ersten nicht
artikulierten Laute des S&uglings ist. Beim Tier bleibt die Suggestion
auf dem ersten Stadium: Die Tiere besitzen eine prim&re Sug¬
gestion. Die bChere Art Suggestion ist bei den Tieren nicht vor-
handen, da sie keine Spracbe besitzen, mit der die sekund&re
Suggestion eng verbunden ist und ohne die sie uberhaupt nicht
existieren kano.
Die Geschichte, so wie sie bis jetzt ihre Entwicklung durcbgemacht
hat, ist ein Produkt der prim&ren Suggestion. Der Menge, die eigent-
lich die Geschichte macht, ist diese Ieichter zug&nglich. Die ver-
schiedenen Reformatoren, Religionsstifter, Philosophen wirken auf sie
nur durch den &usseren Affekt, der die Masse zu der oder jener Tat
anfeuert, und die durch den allgemein provozierten „Willen“ geheiligt
wird. Der Sussere Affekt der Menge ist aber so stajjc, dass er die
einzelnen Individuen mit der hochentwickelten sekund&ren Suggestion
sich unteijocht, und so kommt es, dass auch bochintelligente Leute
gegen ihre Ueberzeugungen mit dem Strom schwimmen, da sie den
wogenden Wellen der Menge nicht widerstehen kOnnen.
Wir sehen also, dass niemand von der prim&ren Suggestion ganz
frei ist. Der Besitzer der hochentwickelten sesund&ren Suggestion aber
uberwindet durch diese letztere die prim&re und nur in Ausnahme-
f&llen kommt es zu einem Sieg der prim&ren Suggestion. Auch haben
andererseits alle Menschen mehr oder weniger von der sekund&ren
Suggestion. Nur die Oligophrenen (Imbezille, Idioten usw). sind sehr
oft der sekund&ren Suggestion ganz beraubt, und sie befinden sich fast
ausschliesslich unter Wirkung der prim&ren Suggestion. Sie lassen sich
ohne weiteres von dem ftusseren Affekt des Sprechenden lei ten, und ihr
eigener Affekt wechselt so oft als jener des Suggestors. Darum spricht
man von der gut erhaltenen Affektivit&t der Oliphrogenen, die aber
im Grunde genommen maschinenm&ssig vor sich geht, und die nur so
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Suggestion and psychische Infektion.
215
■weit den Namen der AffektivitSt verdient, als wir sie beim S&ugling
and jangen Kinde vor unseren Aagen haben.
Bei den F&llen von Dementia praecox, wo die Affektivitat voll-
standig ausgeldscht ist, stirbt die prim&re wie die sekund&re Suggestion
ab. Man hat mit ihnen keinen eigentlichen Kontakt, weil sie weder
die notwendige Vorstellungskraft besitzen, noch der Beeinflussung durch
den &u£seren Affekt des Suggestors zuganglich sind
Damit haben wir die fur die Suggestion aufgestellte Definition
genngend erl&utert. Die primitre wie die sekund&re Suggestion sind
rein affektive Vorgange. Die prim&re Suggestion ist angeboren und
wie den Menschen so anch den Tieren eigen. Die sekund&re Suggestion
hat sich aus der prim&ren entwickelt parallel mit der Sprache, und da
sie sich aus der ersteren (prim&ren Suggestion) entwickelt hat, so be-
ruht sie selbstverst&ndlich auf derselben Basis und ist thymopsychisch,
wie wir es auch nachgewiesen haben.
Jetzt kOnnen wir uns dero Begriffe der psychischen Infektion zu-
wenden.
1st die psychische Infektion mit der Suggestion identisch?
Durchaus nicht. Der Hauptunterschied ist der, dass die psychische
infektion, wie der Begriff fur sich selbst spricht, nicht angeboren sein
kann, soudern pr&sentiert etwas, das erworben ist. Gine Infektion ist
das, was nicht sein soil, was vermieden wird, wogegen wir uns mit
alien Kraften str&uben. Gine Infektion ist, was gelegentlich eintreteu
und was eben so schnell verschwiuden kann. Der Suggestion sind wir
aber iinmer unterworfen: ohne Suggestion ist kein psychisches Leben
mfiglich.
Alle anderen Unterschiede, die zwischen Suggestion und psychischer
Infektion existieren, werden von selbst zum Vorschein kommeu, wenn
wir fur die psychische Infektion folgende Definition schaffen.
Die psychische Infektion ist eine imbezille Neophilie,
die iliren Ursprung haup ts&cblich in der krankhaften Affek-
tivitit des Individuums nimmt.
Das Streben nach neuen Gindrucken ist im allgemeiuen eine er-
freuliche Gigenscbaft der mendchlichen Psyche. OhDe dieses Streben
wurde das Individuum kaum vorw&rts kommen. Bei normalen Menscben
aber ist dieses Streben durch seine individueile Gutwicklung sozusagen
vorbediugt. Sein Streben nach Neuem ist in gewisse Bahnen, die durch
seine Bildung, seine interessen, seine Stellung in der Gesellschaft be-
stimmt sind, gelenkt. Die Neophilie aber, besonders die imbezille Neo-
phitie ist ein Streben nach Neuem, das nicht von innen herkommt,
nicht durch die Grziehung und das Milieu bedingt ist, sondern eine
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Dr. S. Galant,
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Last darstellt neue, nicht erprobte Empfindungen zu haben, in andere
Situationen zu geraten, etwas zu machen, das die anderen nicht tun
und das darum die anderen in Aufregung bringt, in Schrecken versetzt,
Abscbeu erweckt. Die imbezille Neophilie wird ausschliesslich,
durch Sussere Einwirkungen bedingt, weil der Imbezill-Neopbile keine
festen Prinzipien hat, nach denen er vorgehen soil. Darum ist es auch
leicht erkl&rlich, warum die imbezille Neophilie, also die psychische
Infektion, besonders stark bei Geisteskranken entwickelt ist, wo das
Seelenleben stark zerruttet ist, keinen festen Boden unter den Fussen
hat und geneigt ist alles nachzuahmen. Die imbezille Neophilie ist
meist eine kritiklose Nachahmung.
Der Grundunterschied aber zwischen Suggestion und psychiscber
Infektion besteht darin, dass die letztere nicbt von der Affektivit&t ge-
leitet wird, wie es bei der Suggestion der Fall ist. Der Affekt des
Nachgeahmten spielt bei dem Nachahmer, Her Infektion Unterworfenen,
auch nicht die geringste Rolle. Er vollfuhrt die Tat, wenn auch die
Affekt&usserung des Nachgeahmten ihn von der Tat abschrecken sollte.
Wir wollen es an folgenden Beispielen klarlegen.
Eine schwere Katatonika muss regel mSssig gefuttert werden; der
Akt ist ihr sehr unangenehm und sie scbreit with rend der Futterung
furchterlich. Nach der Art, wie Patientin scbreit, ist ohne weiteres zu
urteilen, dass das Futtern ihr nicht viel Vergnugen roacht. Ihr Ver-
halten sollte die anderen warnen in eine solche Situation zu gelangen.
Eine andere Katatonika, die die Szene ansieht, und die, der
Husseren Affektivit&t der Gefutterten nach, einsehen konnte, dass das
Futtern unangenehm sei, verlangt trotzdem jedesmal bei der Visite
gefuttert zu werden. Patientin motiviert ibr Verlangen damit, dass die
Mitpatientinnen ihr Vorwurfe machen, sie sei gefr&ssig. Wenn sie aber ge¬
futtert wird, so wird es fur die anderen ein Zeichen sein, dass sie zu
wenig esse, und sie wird auf solche Weise von den Vorwurfen befreit werden.
Es handelt sich in diesem Falle um eine psychische Infektion. Die
Sache mit den Vorwurfen, die die Kranke vorbringt, ist eine einfache
Erfindung. Die Patientin sehnt sich nach einem neuen Erlebnisse, und
da sie schon genug verblddet ist, um sich was SchSnes auszudeuken
(die Kranke meint sie sei „une bfite“. — Pourquoi? „Parce que je
fais des betises“), so mbchte sie die Futterung erproben, ganz gleich,
ob sie angenehm oder unangenehm sei. Dass es so ist, ist daran zu
sehen, dass Patientin, deren Wunsch nicht erfullt wurde, etwas anderes
gefunden bat, um nachzuahmen. Sie hat n&mlich gesehen, wie die oben-
erw&hnte Katatonika ihr Gesicht mit Kot beschmiert hat, und sie eilt
es nachzuahmen.
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Suggestion and psychische Infektion.
217
Letzte Zeit abmt dieselbe Patientin eine Haarzupferin nacb und zupft
den ganzen Tag ibre Haare, so dass sie schon eine grosse Glatze hat.
Ein ahnlicher sehr interessanter Fall ist bei Bleuler erw&hnt,
bloss hat ihn Bleuler 1 2 ) mit dem richtigen Namen nicht belegt. Ein
KatatoDiker sieht zu, wie sein Nachbar gefuttert wird, wie dieser sich
gegen die Futterung auf allerlei Weise str&ubt und eineu qualvollen
Affekt Sussert. Die ganze Szene regt ihn absolut uicht auf. Er isst
von nun ab nicht und muss gefuttert werden, wobei er sich ausserst
rubig verh<. Gefragt, warum er sich fiittcrn lasst, antwortet Patient,
er mflchte zeigen, dass er nicht geisteskrank sei, wie sein Nachbar, der
blddsinniger Weise sich gegen die Futterung wehrt.
Auf die Motivierung des Kranken brauchen wir nicht weiter einzu-
gehen. Es ist selten, dass ein tief verblOdeter Katatoniker sein Benehmeu
nieht begrilndet h&tte*). Es handelt sich wiederum um eine psychische
Iofektion, die so stark war, dass Patientin sich dem Hunger unter-
worfen hat um seine imbeziile Neophilie zu befriedigen.
Etwas ahnliches haben wir in folgetidcm Fall. Ein ziemlich stark
verblddeter Epileptiker, der sonst uuzuganglich ist und keine Untersuchung
auf sich gehen lasst, wird von uns zusammen mit anderen Epileptikeru
zur Prufung auf die Reflexe genommen. Patient sieht mit scheinbareni
Interesse zu, wie einige Versuchspersonen sich gegen das Experiment
wehren und Wehlaute ausstossen. Mcrkwiirdigcr Weise verhiilt sich
unser Epileptiker, als die Reihe an ihn kam, vollst&ndig ruhig und
lasst auf sich ohne Widerstreben alles gehen. Als wir aber nacb einigen
Tagen das Experiment mit dem Patienten wiederholen wollten, so
wehrtc er sich so viel er konnte und iiess sich nicht untersucheu. Er
hatte es mit einem Male genug, seine Neophilie war befriedigt.
Ein anderes schfines Beispiel fiir die psychische Infektion wiire
noch folgendes. Eine Imbeziile schluckt Nadeln. Sie ist" eine Kunst-
lerin auf diesem Gebiet, schluckt sechzig und mehr Nadeln auf einmal
1) Bleuler, Dementia praecox, in Ascbaffenburg’s Handbucb der Psy¬
chiatric.
2) Wir fubren bier einige Beispiele von Begrundung bei der Dementia
■ praecox an, die zeigen, wie die Kranken motivieren, bloss um zu motivieren. —
Ein Patient vorlangt, man soil ibm die Zahne aus dem Munde zieben. (Warum?)
— Damit ich weiter reiseb kann. (Warum?) — Weil meine Verwandten es
wollen. (Warum?) — Damit ich ohne Zahne bin. (Warum?) — Mein Onkel
in Buenos-Aires will es aucb. — Ein Katatoniker will entlassen werden.
(Warum wollen Sie hinans?) — Deswegen weil ich da bin, sollte man mich
berauslassen. — Eine Patientin pfliickt Blumon vom Rasen, was sie nicht tun
sollte. (Warum pOucken Sie die Blumen, es ist verboten.) Jetzt ist Ferieu usw.
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218
Dr. S. Galant, Suggestion und psychische Infektion.
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ohne sich zu verletzen. Patientin gibt an, dass sie beim Schlucken von
Nadeln eine starke Angst hat. Die Angst findet offenbar ibren Aus*
druck im Gesicht wkhrend des Aktes. Die Nadelschluckerin sagt einer
anderen Imbezillen, sie (Nadelschluckerin) musse jetzt Nadeln schlucken.
Die andere sieht zu und schluckt auch.
Auch hier, wie in den anderen drei Fallen, bandelt es sich um
eine psychische Infektion. Von einer Suggestion kann in alien diesen
Fallen keine Rede sein. Die Suggestion ist, wie gesagt, ein affektiver
Vorgang, in diesen vier Fallen aber hat die Affektivitat keine Rolle
gespielt. Die Patienten lassen sich gar nicht durch die Affektivitat der
Nachgeahmten (in den ersten drei Fallen Schmerz, im letzten Falle
Angst) leiten. Fur sie kommt nur der Akt als solcher, als etwas Neues
noch nie Erprobtes in Frage und ihn mussen sie auf sich wirken lassen.
Die vier Beispiele sind typische Falle von psychiscber Infektion.
In der Psychiatric sind wir also mit dem Begriffe der Infektion
viel weiter gekommen als in den anderen Fachern der Medizin.
Wfthrend *wir auf den anderen Gebieten der Medizin noch nicht wissen,
worauf die Disposition zur Infektion beruht, kdnnen wir in der Psychi¬
atric bestimmt sagen, dass die Disposition zur Infektion in der
krankhaften Affektivitat sich birgt und darnm am moisten
bei den Geisteskranken vorkommt.
Wir glauben an unserem Ziel angelangt zu sein. Wir haben den
Unterschied zwischen Suggestion und psychischer Infektion feststellen
kbnnen, wir haben an Hand einiger Beispiele die psychische Infektion in
ihrer Wirkung demonstrieren kOnnen. Wir kommen also zum Sckluss, dass
Suggestion und psychische Infektion zwei grundverschiedene
Erscbeinungen sind, die ihre besonderen Kennzeichen haben
und die wir von nun an nicht verwechseln durfen.
Anmerkung. Wir sind in unseren Anschauungen uber Suggestion (Sug¬
gestibility) denselben Weg gegangen, den Bleuler in seinem Werke: n Affek-
tivitat, Suggestibility, Paranoia u , Halle, Marhold, betreten hat. Leider ist
Bleuler mitten im Wege, wenn nicht gar am Anfang stehen geblieben und
hat die Konsequenzen, die ohne weiteres aus seinen Ansiohten zu ziehen sind,
nicht gezogen. Hatte es Bleuler getan, er rnusste zu denselben Resultaten*
wie wir kommen.
Unsere Arbeit ist unabhangig von dem oben erwahnten Werke Bleuler’s
entstanden: erst spater hat uns Bleuler selbst darauf aufmerksam gemacht,
dass unsere Anschauungen in manchem Punkte mit den seinigen harmonieren.
Die Tatsache, dass unsere Ansichten mit denen Bleuler’s zum Teil zo-
sammenfallen, hat uns jene Genugtuung versohafft, die ein Forsoher, wenn er
seine Resultate von einer anderen erfahrungsreicheren Seite her bestatigt
sieht, haben kann.
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vm.
Zur Pathographie des Immanuel Kant.
Von
Friederioh Kanngiesser.
Ein kablet Zimmer, weiss getttneht und ohne Kant starrt durchs Fenster anf zu dem Komet-en,
Deo kleinsteo Schmuck. der Leben wfirdig macht Und m&rchenschtta wird jfth der blaoe Blick
Das einzge Ornament: der dunkle Streifen Des wanderliohen ganz einsamen Mannes,
Aof roher Bretterdiele, dranf den Weg Des Manns, der handelte vie die Natar,
Tom Poll zum Bttcherschrank millionen Male Keiner Erziebung f&hig und bedtirftig.
Kants rubeloser Sohnallensohub gesncbL — Zngleicb notwendig ganz, and ganz auoh frei:
Non sehiebt derZfferg, gobUckt, onsflglichraager, »Zwei Dingo aind es, die das Herz des Menscben
SorgUch xnreoht das Kissen auf dem Stahl, Mit immer nener Ehrfurobt anerfUllen:
Seio Diener legt bebntsam auf die niedre Da fiber mir gestirnter ewger Hiramel,
Ton bober Schulter seinen Zopf und geht. Und du in mir, da sittliohes Gesetz !*
Barries, Frh. v. MQnchhausen: Aos dessen Ballade .Die Kometenjahre*.
Immanuel Kant wurde geboren zu Kdnigsberg am 22. April 1724.
Die Voreltern v&terlicherseits stammten aus Schottland. Ueber die
Eltern iiegen keine anamnestischeo Daten von Belang vor. Kant
selbat war, nach eigener Aussage, weder krank, noch gesund. Er war
kaum funf Fuss hoch, die rechte Schulter prominierte nach oben und
hinten, er war skoiiotisch, sein flacher Brustkorb batte Anlage zur
Trichterbrust. Lateuto Tuberkulose? Bemerkeuswert ist immerhin, dass
sein R Atem bis in seine letzte Zeit frei war u . Sein Kopf war verh<-
nism&ssig gross. Sein Kbrperbau sehr grazil. Muskulatur atropbisch.
Keine Fettpolster. Ueber den „g&nzlichen Mangel des Ges5sses“ pflegte
er selbst zu scherzen. Seine Augen waren myopisch. Seine Stimme
schwach. Er war unverbeiratet. Seine Moralist streng. Sein Be-
nehmen war liebenswurdig und gutig. „Das Wort Kindlicbkeit druckt
den ganzen Kant aus“ meinten zwei seiner Frennde.
Er raucbte, und trank Wein: beides mfissig. Hingegen schnupfte
er stark. Bier trank er nie: er hielt es fur ein die Lebensdauer ver-
.karzendee Gift. So gross sein Interesse fur die Heilkunst war, beson-
ders fur die Makrobiotik: er wollte an sich selbst seben „wie lange das
Zeug halt 4 *, so war er doch vom Medizinieren kein Freund: „Alles,
was in der Apotheke verkauft wird, Pharmakon and Gift sind Syno-
nyma**. Aosserdem war er Impfgegner. Sein Lebenswandel war sebr
geregelt; bis,ins hOchste Alter liess er sichGlockenschlag 5 wecken und
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Friederich Kanngiesser,
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stand sofort auf; erst um 10 Uhr begab er sicb wieder zur Rube. Er
hielt 7 dem Schlaf gewidmete Stunden fur geuugend. Ich glaube, dass
dieses gewaltsame Herausreissen aus dem Scblaf mittelst des kategori-
schen Imperativs „Du sollst u , desgleichen sein gcradezu sybaritisclies
Geniessen des Schnupftabaks, gewiss neben dem Hauptmomente des
hoben Alters, aber immerhin docb eine Rolle mitgespieit hat in der
Aetiologie der Geistesschw&che w&hrend seiner letzten Lebensjahre. Es
ist zu verwundern, dass Kant’s „Lebenskunst“ diese Sch&dlichkeiten
nicht erkannte. Aber er wich nicht von seinen „Maximen“ ab und ver-
trug keinen Widersprucb, wie er sich auch um die Schriften seiner
Gegner kaum oder gar nicht kummerte. Ein fur einen Weltweisen son-
derbares Verhalten. Andererseits darf man seine Prophylaxie: er atmete
nur durcb die Nase und hutete sich in Schweiss zu geraten, als lebens-
verlangernd wohl anerkennen.
Er ass bloss einmal des Tages und zwar reichlich, Bewegung machte
er sich wenig. Beides lag meines Erachtens nicht im Interesse seiner
chronischen Intestinalbeschwerden: der Hartleibigkeit und der als Gas-
troptose des atonischen Magens anzusprechenden Inkommodit&t, von der
seine Biographen berichten.
Dass sein fein organisierter Geist durch einen Nachbarshahn oder
durch das Singen von Insassen eines seiner Wohnung naheliegenden
GefSngnisses sich bel&stigt fuhlte, ist verstandlich. Doch darubcr
hinaus konnte er wahrend des Universit&tsvortrags im ruhigen Ab-
lauf seiner Gedanken gestOrt werden durch das Fehlen eines Knopfs
bei einem ZuliSrer, ebenso zerstreute ihn ein auffalliges Aeussere
bei Studenten. Da er beim Teetrinken des Morgens gewohnt war allein
zu sein, fuhlte er sich bier durch zuf&llige Gegenwart anderer geniert,
sofem man ihm gegenuber Platz nalim. Ein Nachbar f&llte ihm zu
lieb eine Pappel, da Kant durch diesen beim Blick vom Fenster zum
Turm in sein Gesichtsfeld hineingewachsenen Baum in seinen Betrach-
tungen gestort wurde. Einzelne Begriffe fixierten sich derart in ihm,
dass er im Gesprach auch unwillkurlich auf sie zuruckkam. In seinem
letzten Lebensjahr litt er darunter, dass Scherzverse aus seiner Scbul-
zeit sich ihm zwangsweise aufdr&ngten. Kant war ubertrieben vorsichtig
und gewissenhaft. So erwtlhnte er z. B. in einer Vorlesung zwar die
Aqua tofana, aber nicht ihre Zubereitung: „Es kOnnte docb irgend
einer einmal davon Gebraucb machen u . Die Scherben eines bei Tisch
zerbrochenen Glases liess er behutsam sammeln und bat seine Freunde
(nicht den Diener) dieselben nach laugem t gemeinsamem Suchen eines
„sicheren“ Ortes daselbst tief zu vergraben.
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Zur Pathographie des Immanuel Kant.
221
Seit 1796 „las und schrieb Kant nicht mehr“. Erst 1799, also in
seinem 75. Lebensjabre, konnte man die ersten Anffinge des Nachlassens
seiner Geisteskr&fte beobachten. Er fing an seine Erz&hlungen am
gleichen Tage zu wiederholen. Die Gegenwart machle auf ibn gerin-
geren Eindruck, wihrend fur Ereignisse der entfernteren Vorzeit sein
Ged&chtnis vorzfiglich blieb. Zur Unterstutzung desselben machte er
sicb in den letzten vier Jahren seines Lebens Denkzettel. Er klagte
aucb sebr fiber Druckempfindung im Kopf. In den letzten drei Jahren
kam es hfiufig zu einem Ausgehen oder Stehenbleiben der Gedanken.
1m Jabre 1802 wurde diese arteriosklerotische Schw&clie bezw. der
Marasmus senilis manifested Er fiel im Gehen und Stehen, sogar vom
Stub). Verwechslung der Mfinzen. Desorientierung im eigenen Garten.
Seit Begiun 1803 wurde er durch (bei seniler Geistesschwficbe so
bfiofig beobachtete) schreckhafte nfichtliche Halluzinationen bzw. Angst-
trfinme geplagt. Er glaubte sicb von Rfiubern und Mordern umgeben,
doch lachte er anderen Tages selbst fiber diese Trfiumereien. Die Ffihig-
keit klarer Ausdrucksweise verminderte sicb, anch der Sinn ffir das
Zeitmass verliess ibn. Infolge seiner Schwfiche stellte sich Schlafsucht .
ein. Die Esslust, das GehOr und die Gescbmacksempfindung stumpften
ab. Ein steter Drang zum Wasserlassen (Prostatahypertropbie?) wurde
ihm l&stig. Seit Herbst 1803 konnte er kaum einen Schritt mebr gehen.
Am 8. Oktober 1803 Schlaganfall. Danacb drfickte er sich nur noch
sebr unverst&ndlich aus, bloss fiber naturwissenschaftliche Dinge gab er
merkwfirdigerweise noch gute Auskunft, sogar nocb am 6. Februar 1804,
sechs Tage vor seinem Tode. Nach dem Schlaganfall stellten sicb
Stereotypien bei ihm ein, die er rast- und ruhelos wiederholte, so das
Auf- und Zuknfipfen der Kleider. Seit December 1803 konnte er seinen
eigenen Namen nicht mehr schreiben, ganz abgesehen davon, dass seine
Sehkraft (teils durcb Katarakt) erheblich gescbw&cht war. In den letzten
Wochen verkannte er oft die Personen seiner nfichsten Umgebung. Seit
dem 3. Februar 1804 nahm er keine Speise mebr zu sich. Als ihn an
diesem Tage der Doktor besuchte, wollte er seinen Dank aus-
drucken, brachte aber nur einzelne Worte verbinduugslos vor. Sein
Freund and treuer Pfleger Wasianski erlfiuterte dieselben und bat
den Xrzt, Platz zu nehmen, da Kant sich sonst nicht setzen wfirde.
Der Arzt tat es, wenn auch unglfiubig, und war zu seinem Erstaunen
nberrascht als sein Patient, der sich mit grosser Mfihe aufrecht gehalten
hatte, sich niederliess and mit letzter Kraft sagte: „Das Geffihl fur
HumanitMt hat mich noch nicht verlassen“. Am 10. Februar wurde
Kant bewusstlos und verbrachte die Zeit bis zu seinem Ableben, bei
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222 Friederioh Kanngiesser, Zur Pathographie des Immanuel Kant.
intermittierendem, schliesslich peripher erlbschendem Pulsschlag, in
Sopor. Sein Tod, der am 12. Februar 1804 eintrat, war eiu sanftes
Hinubergleiten vom Leben, ein stilles Einscblummern zur ewigen Ruhe.
Die yorstehenden Zeilen habe ichauf Veranlassung eines lieben Freundes,
der mir daza das von H. Schwarz zusammengestellte Buch fiber Immanuel
Kant: Ein Lebensbild naoh Darstellungen seiner Zeitgenossen Borowski, Jach-
mann und Wasianski (Halle 1907) gab, geschrieben. Moge dieser medizinische
Beitrag das Interesse erwecken, auoh das Leben anderer Geistesgrossen vom
arztlichen Standpunkt aus zu betrachten. Mag ein solcher Aufsatz auch als
„kleinlioh w bewertet werden, ioh denko er ist immerhin ein, wenn auch nur
winziges Steinchen im Mosaik der biographischen Forschung.
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IX.
Zur Kasuistik kriegshysterischer St'drungen.
Yon
Medizinalrat Dr. W. Heinicke,
Sachsische Heil- und Pflegeanstalt Waldheim,
friiher icitender Arzt dor Nervenstation des Res. - Lazaretts I Bautzen.
Welche ungeahnte Fulle hysterischer Erscheinungen der Weitkrieg
zeitigt, weiss Jeder, der roit Kriegsnervenkranken zu tun bat. Es ist
auch bereits so viel daruber geschrieben worden, dass es Eulen nach
Athen trageo hiesse, wenn auch ich noch mein diesbeziigliches reiches
Material zusammenstellen wollte, zumal die Klinik meiner Beobachtungen
und meine Aulfassung psychogener Erscheinungsformen im allgemeinen
gaoz mit deuen Anderer ubereinstimmt. Ausserdom wurde mir augen-
blicklich nicht die Zeit zu so einer umfangreichen Arbeit zur Verfugung
stehen. Auch fiber die Therapie dieser Zustfinde eingehend zu reden,
erscheint mir ebenso wenig notig. Die Grundzfige der Behandlung der
Hysterie sind ja im Grosseu und Ganzen die alteo, bereits festgelegte und
der weitere feinere Ausbau der jeweils ndtigen Behandlungsart ist eben-
falls bekannt und so verschiedenartig, dass man nicht einer bestimmteu
Therapie das Wort reden kann. Es liegt eben in der Eigenart der
Hysterie, dass es bei ihr weniger auf eine bestimmte engere Heil-
methode ankommt, als vielmehr auf die Persdnlichkeit des Arztes
und sein Geschick fur den jeweiligen Patienten die gerade passende
Heilmethode zu linden. Schliesslich hat sicb im Laufe der Zeiten jeder
Neurologe seine eigenen Behandlungsarten zurecht gemacht, die er bei-
beh<, weil er mit ihnen ebenso schnelle und gute Erfoige erzielte,
wie Andere mit ihren Methodeu. So sehr ich zum Beispiel das Verdienst
Kaufmann’s schMtze, das er sich mit seiner Behandlungsart er-
worben hat, so stehe ich doch nicht an, zu behaupten, dass auch Hei-
I ungen verschleppter hysterischer Zust&nde in einer Sitzung durch an¬
dere, mildere Metboden zu erreichen sind. Ich z. B. babe bereits im
ersten Eriegsjabr, immer naturlich die geeigneten F&lle vorausgesetzt,
durch eindringliche Aufk I fining des Patienten uber seinen Zustand, im
Verein mit Vorbalsuggestion und anschliessenden Bewegungskommandos
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224
Dr. W. Heinicke,
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auch in einer Sitzung Heilung linger bestehender hysterischer Kr&mpfe
undL&hmungszust&nde erzielt; wenn n8tig, unterstutzte icb meineTberapie
dadurch, dass ich die kranke Extreinit&t in 6in Warmwasserbad bracbte
bzw. den Kranken der Wirkung des schw&chsten vollstAndig schmerz-
losen Vierzellenbades aussetzte. Trotzdem bin icb aber kein allzugrosser
Freund dieser Scbneilbeiiungen; icb babe immer das Gefuhl als bSten
sie geringere Garantien hinsichtlich ties Bestandes, ais Heilungen, die
langsamer erzielt wurden; beweisen^ kann ich dieses nicht; ich bin
auch gem jeder mich anders iiberzeugenden Belebrung gegenuber zu-
ganglicb.
Den Fall, den ich jetzt in aller Kiirze beschreiben will, erwies sich
fur eine Schnellheilung nach meiuer Uethode zunachst Susserst gunstig,
so dass icb nicht einmal zum Vierzellenbad meine Zuflucht nehmen
musste. Ich scbildere ihn aber nicht deshalb, sondern wegen einer in-
teressanten Komplikation, die w&hrend der Therapie eintrat und die ich
in solcher Yollkommenheit nicht wieder sah.
Soldat K. hatte vor Monaten eine Schussverletzung der reohten Hand er-
litten, die ihm den Verlust zweier Fingerglieder einbrachte. Im Anschluss an
diese Verwundung hatte sich eine scheinbare Dauerkontraktur der rechten Hand
im Sinne des Faustschlusses eingestellt; die ganze Hand war vollstandig be-
wegungsunfahig; die Finger hatten sich tief in die Vola eingekrallt und jeder
Versuch, sie zu strecken, bzw. etwas zu lockern, scheiterte vollstandig. In
diesem Zustande wurde K. mir zur Untersuchung iiberwiesen. Ich stellte die
Diagnose auf psychogen bedingten Dauerkrampf der Hand. Nunmehr erlauterte
ich dem vollgeordneten, aber etwas minderwertigenEindruck machenden Mann,
dass gar kein Grund vorlage, warum er die Hand nicht bewegen konne; er
habe nur die Herrschaft viber dieses Glied verloren usf. Hand in Hand mit
diesem suggestiven Zuspruch maohte ich Versuche, die zur Faust gebalite
Hand zu offnen; nach einigem Bemiihen gelang es mir dann auch, ein geringes
Nachlassen der Spasmen hervorzurofen; auf jedes Mehr reagierte aber der
Patient in Hinblick auf den langen Bestand des Krampfzustandes begreiflicher-
weise mit Qchmerzausserungen; ich setzte ihn deshalb unter den Einfluss eines
Warmwasserbades; sehr bald liessen in demselben die restlichen Krampfe
weiter naoh und ich konnte passiv miihelos die Finger bewegen, strecken, ad-
und abduzieren. Das Erstaunen des Kranken benutzte ich, um unter Forfc-
setzung der passiren Bewegungen jede derselben mit dem entsprechenden
Kommando zu begleiten, bis schliesslich K. im Warmwasserbade schnell und
geschmeidig ohne jede Hilfe die Finger normal bewegen konnte. Das Warm¬
wasserbad wurde nunmehr unterbrochen und Patient gebrauchte seine rechte
Hand fast wie eine gesunde.
Ehe ich jedoch dazu kam, dem Chefarzt des Lazarettes diesen fur die
damalige Zeit noch einigermassen uberraschendenHeilerfolg vorzufuhren, setzte
gewissermassen vikariierend fur die geschwundenen Spasmen bei dem Patienten
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Zor Kasuistik kriegshysterischer StSrungen.
225
ein Schwerer hysterischerDammerzustand ein; er stierte plotzlioh vor sich hin,
sprang dann nnter lebhafter motorischer Unruhe vom Stnbl auf, balluzinierte
auf das Lebhafteste Fouer und Flammen, wie sein angstvolles Schreien efgab,
and drangte mit alterMacht nach demFenster, um sioh aus diesem zu stiirzen.
Mit Mdhe davon abgehalten, brach er bewnsstlos zusammen. Vollstandig starr
lag er darauf einige Minuten da, bis er vollkommen klar erwacbte, und von
neuem wieder den bis dabin verschwandenen schweren Handkrampf bot. Von
weiteren Versuchen, diesen zu beseitigen, liess icb nacb dem Erlebten naturlicb
ab; K. wurde vielmehr zunacbst zur allgemeinen Kraftigung seines Nerven-
systems einer Heilanstalt iiberwiesen. Was aus ihm wurde, weiss ich leider
nicht.
Jedenfalls zeigt dieser Fall, wie wechselseitig die Hysterie in dexn-
selben Individuum ihre Erscheinungsform zu gestalten weiss und auf
was fur unangenehme Zwiscbenfftlle man selbst bei vorsichtigster Aus-
wahl der Eranken bei der Schnellheilung gelegentlich gefasst sein muss.
IrcbiT f. Pfjcbiatrie. Bd. 80 . Heftl.
15
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X.
Sprachstfrungen bei Epilepsie.
Von
Dr. Albert Knapp,
fr. Direktor und Privatdozent, z. Z. Kommandanturarzt.
Spracbstfirungen bei Epilepsie sind von einer Reihe von Beobach-
tern beschrieben worden. Vorwiegend wareu es aphasiscbe Stdrungen,
denen die Aufmerksamkeit zugewendet und eine eingehendere Analyse
zu teil geworden ist. Sie sind h&ufiger, als man bei einer Durchsicht
der Literatur erwarten sollte. Den Versucb einer erschfipfenden Be-
handlong aphasiscber und verwandter Erscbeiuungen behalte ich einer
spateren monographischen Bearbeitung vor. Heute will ich nur einen
kurzen Ueberblick fiber diese mannigfachen Rrankheitsbilder geben und
haupts&chlich diejenigen Gesichtspunkte hervorheben, welche auch fur
die Beurteilung der weniger beachteten artikulatorischen Stdrungen
von Bedeutung sind.
Bei der Untersuckung von Sprachver&nderungen jeder Art bei Epi-
leptikern ist zuerst die Frage aufzuwerfen, ob dieselben
1. prfiepileptisch,
2. postepileptiscb,
3. ein D&mmer- und Verwirrtbeitszustand,
4. als Aequivalent oder
5. als Dauersymptom im anfallsfreien Intervall beobachtet werden.
Die vor dem epileptiscben Krampfanfall auftretenden aphasiscben
Symptome sind besonders von Fer6 beschrieben worden. „Unter den
eigentlichen Erscheinungen der Aura“, schreibt er, „mussen noch Sprach-
stdrungen erw&hnt werden, welche an die Stelle der motorischen, sen-
sitiven oder psychiscben Erscheinungen treten. Manches Mai bestehen
sie in einfachem Stottern, einer Paraphasie oder motorischen, mehr
weniger intensiven Aphonie“.
Diese motoriscbe Aphonie oder, wie wir sagen warden, Aphasie
dauert nach meinen Beobachtungen meist nur ganz kurz, hSufig nur
wenige Sekunden. Die Kranken ffihlen den Anfall berannahen, wollen sich
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/
Spraohstdrungen bei Epilepsie. 227
darch Hilferafe oder Anweisungen an die Umgebung darauf vorbereiten,
haben aber die Herrschaft fiber die Sprache verloreo, kfinnen hfichstens
einige Silben oder Lante hervorstossen und gleichen in ibrem Verbal ten
durchaus einem Menschen, der durch einen apoplektischen Insult seine
.Sprache verloren hat nnd nan vergeblicb versucht, mit den zurfickge-
bliebenen Laatresten seine Gedanken und Wfinsche zum Ausdruck zu
bringen. Die Kranken klagen nach dem Anfall dariiber, dass ihnen die
Sprache versagt bat. t
Sehwieriger ist es, eine sensorische Aphasie w&hrend der
Aar a einwandsfrei nachzaweisen. Dieselbe dauert in der Regel zu
kurz, um die notwendigen Fragen zu stellen, und geht zu rasch in den
Ver&nderungen des Gesamtbewusstseins unter. Der Nachweis einer prlt-
epileptischen oder, besser ausgedruckt, pr&konvulsiven sensorischen
Apbasie ist mir nur selten gelungen. Soweit ich sehe, ist F6re der
Einzige, der sie kennt. Er scbreibt S. 79 seiner von Ebers fibersetzten
Monographie: „In anderen Fallen hOren die Kranken wohl den Ton,
▼ersteheu aber nicht die Bedeutung des Wortes. In einer Anzahl von
Fallen scheint die rechte WorttaubheiW wirklich bestanden zu haben 1 '.
Paraphasie babe ich bisher nur ala Teilcrscheinung einer motd-
rischen Aphasie wahrend der Aura beobachtet, nie als Schlafenlappen-
symptom nachweisen kdnnen.
Dngleich haufiger als vor den Anfallen kommen Aphasien
postkonvulsivisch zur Beobachtung. Ein Fall von motorischer
postepileptischer Aphasie wird unten ausffihrlicher mitgeteilt. Der
Kranke G. von A. konnte oft nach den Anfallen 10 Minuten lang bei
klarem Bewusstsein nicht sprechen. Auch nach F6r6 ist „eine Anzahl
von mehr minder rasch vorubergehenden postepileptischen (motorischen)
Aphasien beobachtet worden". „Todd, Robertson, Jackson be-
haupten, dass diese transitorischen Paralysen auf nervfiser ErschOpfung
beruhen, die eine Folge der fibermassigen Anstrengungen wahrend des
Anfalles durch Entladung der Rindenzellen ist“.
Wahrend ror dem Anfall die motorjsche Aphasie haufiger
nachweisbar ist, als die sensorische, ist es nftch den An¬
fallen umgekehrt.
Fere hat nach meinen Wahrnehmungen recht, wenn er sagt, dass
„die wahre Worttaubheit nach den Anfallen haufig“ ist. Auch
Pick hat die Beobachtung gemacht, dass n vielfach ausgesprochene Para¬
phasie besteht and Stfirungen von sensorisch-aphasischem Charakter
In Gottingen hat mich ein benachbarter Epileptiker mit zahlreichen
Anfallen hiufig in der Poliklinik besucht. Ich habe Ofters Qelegenheit
gehabt, nach dem kurz dauernden typischen Krampfanfall eine 10 bis
15*
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228 Dr. Albert Knapp,
30 Minuten wfihrende sensorische Aphasie zu beobachten, die regel-
missig anf den Anfall folgte. Die Rfibkbilduug erfolgte nicht in der
von Pick als Regel angegebenen Weise. Echolalie war nie vorhanden,
dagegen ausgesprochene Parapbasien. Die poistkonvulsivische
Paraphasie, soweit ich sie beobachtet habe, ist im Gegensatz zu
der prakonvulsivischen immer als Teilerscheinung einer sen-
soriscben, nie einer motorischen Apbasie anzusehen.
Pick glaubt ein eigenartig gesetzm&ssiges Abklingen der
postepileptischen sensorischen Aphasie beobachtet zu haben.
„Zuerst das Fehlen jedweden Sprachverstfindnisses, daran anschliessend
fehlendes Sprachverstfindnis mit Perzeption der unverstandenen Worte
und dadurch ermfiglichter Echolalie, drittens endlicb fehlendes Sprach-
verstandnis bei richtiger Perzeption der als solche aufgefassten Worte
und dadurch ermdglichter Benutzung derselben in wilikurlicher, nicht
wie im vorigen Stadium in automatiscber Weise u .
Bei einigen der von mir beobacbteten Faile scheint die Ruck-
bildung in ahnlicher Weise erfolgt zu sein.
Nur kurz sei auf das Vorbeireden nacb den Anfalleu hingewiesen.
Auch Binswanger liat den Ganser’schen Symptomenkomplex beob¬
achtet.
Die Sprachstfirungen wahrend der DSmmer- undVerwirrt-
heitszustande sind besonders von .Liepmann, Heilbronner und
Raecke behandelt worden. Raecke und Heilbronner machten auf
echolalische und aphasische Erscheinungen aufmerksam. In an-
deren Fallen hat man „bestandiges Nachplappern eines einzigen Satzes,
bald als Antwort, bald als Anrede, bald als Drohung beobachtet 41
(Binswanger).
Ich habe motorische und sensorische Aphasie sowohl jede
von beiden isoliert, als auch beide kombiniert gesehen.
Liepmann weist in dem Vortrag uber epileptische Geistesstfirungen in
der Deutschen Klinik auf die Erscbwerung der Wortfindung hin und
erwfihnt Zeichen einer amnestischen Aphasie, die alle sonstigen
Bewusstseinsstfirungen gelegentlich tagelang fiberdauerte. „Zusammen-
hangslose Satze, deplazierte Redensarten, Bruchstficke von Zitaten, Wort-
reihen ohne Sinn und Verstand, bisweilen in eigentfimlicher Stereotypie
und Perseveration linden sich im Dfimmerzustand und gehen der Ver-
wirrtheit oft auch langere Zeit voraus 44 (Binswanger).
Perseveration, Echolalie und Verbigeration sind bei epi-
leptischen Dammerzustfinden auch von Liepmann beobachtet worden,
die Haufigkeit der Verbigeration wird auch von Binswanger hervor-
gehoben. Ich kfinnte ffir alle diese Stfirungen Beispiele aus eigenen
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Sprachstdrungen bei Epilepsia.
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Beobachtungen beibrlngeu. Eines ist iu meiner Publikation fiber Epilepsie
und Korsakow’schen Symptomenkomplex eingebend beschrieben.
Der wfihrend der Dammerzustande auch von mir hfiufiger beob-
achteten apraktischen und seltener sicher nachgewiesenen asymbo-
liscben Erscheinungen bat Liepmann Erwihnung getan. Sie ver-
diesen sorgfiltige Beacbtung. Icb habe sie fibrigens nicht bloss w&h-
rend der'Dfimmerzustfinde, sondern aucb prfi- und postepi-
leptiseb gelegentlich wahrgenommen.
Sehr wenig bekannt scheint zu sein, dass sowohl motorische
als auch sensorische Aphasie als epileptisclies Aequivalent
vorkommen kann. Sensorische Aphasie statt eines Anfalls habe ich
bei dem oben erwfihnten Gdttiuger Krauken beobachtet, der sonst die
8ensorischen Stdrungen nacb den Anfallen aufwies. Meist gehen frei-
lich diese Aphasien der Petit mal-Anfille iu der allgemeinen Bewusst-
seinsanderung unter. Mit kurzen Anfallen von motorischer Aphasie be-
gaunen die epileptischen Erscheinungen bei dem Kranken G. v. A.
Wenu aphasische Sprachstdrungen in der anfallsfreien Zeit zur Bo-
obachtung kommen, so wird es sich so gut wie immer um eine Herd-
erkrankung des Gehirns handcln, bei der die epileptiformen Anf&lle
nur ein beilSufiges Symptom darstellen. Bei genuiuer Epilepsie
bin icb in der anfallsfreien Zeit motorischer oder sensori-
scher Aphasie noch nie begegnet. Dagegen sind amnestisch
aphasische Stdrungen auch zwischen den Anfallen gelegentlich
zu beobachten, auch wenn die Bromsalze als Ursache mit Sicberheit
ausgeschlossen werden kdnnen. Der Kranke G. von A. beklagte sich
zu eiuer Zeit, in der er uberhaupt kein Brom erhielt, selbst daruber,
„dass er bei lfingeren Auskunften, die er zu geben habe, oft die rich-
tigen Worte nicht fiodeu konne und dann Biddsinn rede“.
Weniger beacbtet und untersucht, aber viel hfiufiger und
fur die Differentialdiagnose wichtiger als die aphasisclien
Stdrungen sind die artikulatorischen Sprachstdrungen der
Epileptiker. Dieselben Verfiuderungen der Artikulation, die man als
Symptome der Epilepsie bfiufig nameutlich in vorgeschrittenen Fallen
firidet, kommen auch bei der cbronischen Bromvergiftung zeitweise
vor. Ehe man also die Erschwerung und Ver&nderung der Artikulation
der Krampfkrankheit zur Last legt, muss man erst mit Sicherheit aus¬
geschlossen haben, dass sie durch die Medikation verursacht seiu kdnnen.
Bei hohen Bromdosen wird die Artikulation hfiufig beein-
trficktigi, aber auch bei lingerer Darreichung von4—6g sind Stdrungen
zuweilen zu beobachten. Diese Tatsache ist wenig bekannt und doch
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kfinnen gelegentlich Schwierigkeiten bei derDifferentialdiagnose
gegen die progressive Paralyse entstehen, wenn der Kranke ohne
Vorgeschichte unter Bromwirkung dem Arzte oder der Klinik zugeffihrt
wird. 1st die Spracbe schwerfallig, lallend und verwaschen
und ist gar Silbenstolpern vorbanden, so wird der Verdacbt auf
Paralyse am so mehr wachgerufen, ale auch bei dieser Krankheit, wie
bei der chroniscben Bromvergiftung, die Sebnenreflexe berabgesetzt oder
aufgehoben sein konnen und zuweilen einseitige oder doppelseitige
Pupillenerweiterung and Pupillentr&gheit beobachtet wird.
Die Lebrbficher von R. von Jacksch und Rad. Robert fiber die
Vergiftungen erwfihnen die Spracbstdrungen bei chroniscbem Bromismus
nicht; ich babe sie nur bei Lewin beachtet gefunden. Bei Tagesdosen
von 4—10 g hat er beim langsam auftretenden Bromismus „Sprachver-
langsamung, Stocken und Schwere in der Spracbe, sprachliche Artiku-
lationsstorungen, Verdrehen und Verwechseln von Silben und Worten w
kennen gelernt.
In der Literatur fiber Epilepsie babe ich nur bei Binswanger
diese Stdrungen bei Bromvergiftung berficksichtigt gefunden. Er sagt:
„der sprachliche Ausdruck ist mangelhaft, schwerfallig, einsilbig, die
Spracbartikulation ist erschwert, plump, lallend, undeutlich. Es tritt eine
Art Silbenstolpern und Verschleifen der Konsonanten, fihnlich wie bei der
paralytischen Sprachstfirung ein“. Analog der Spracbstdrung kommt
eine Schreibstfirung vor: „die Schrift wird kritzlich, unordentlicb.
Die Patienten lassen einzelne Buchstaben aus, verstellen Silben und
schreiben oft verkehrte Worte nieder, wodurch der Inhalt ganz unver-
stfindlich wird 11 .
Schon die Zahl der unten mitgeteilten Falle kann als Beweis dienen,
dass die artikulatorischen Spracbstdrungen nicht so gar selten bei Epi¬
lepsie vorkommen. Ich habe nnr diejenigen ausgewahlt, bei denen
Silbenstolpern vorbanden war. Die Durchsicht der Krankengeschichten
ergibt ohne weitere Hinweise, wie schwierig zuweilen die Differential-
diagnose gegen die Paralyse sich gestalten kann. Weitaus am hfiu-
figsten treten die Artikulationsstdrungen postkonvulsivisch
auf, seltener wfilirend der Dimmer- oder Verwirrtheitszustande;
im anfallsfreien Intervall sind sie bisher, soweit ich sehe, nur von
Binswanger erwfihnt worden, in der Aura und als Aequivalent bin
ich ihnen nie begegnet.
Am eingehendsten sind die Stdrungen der Artikultation von F6re
behandelt worden. Er bat „nach epileptischen An fallen Ofters Sprach-
stdrungen beobachtet, und zwar sind diese urn so ausgesprochener, je
intensiver und frequenter die Anffille waren. Wir sehen in diesen Fallen
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Sprachstorungen bei Epilepsie.
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eine Verlangsamung der Sprache, ein Zogern und Stocken bei der Aus-
sprache der Worte, das ebenso wohl durcb Vergesseo der Worte als
dorch eine KoordinationsstOrung der Zunge erkl&rt werden muss. Diese
KoordinationsstOrung der Zungeumuskeln ist ferner noch mit einem
Tremor der ganzen Zunge in toto zu einem Zittern der Lippen verbun-
den. Dies Zittern und diese VerzOgerung der Sprache, Erscheinungen,
die mehrere Stunden nach dem Anfall andauern kdnnen, erinnern
an die Sprachst5rung der Paralytiker, die sich jedoch durch
fibrill&re Kontraktionen kenntlich machen. Zuweilen bleibt die Stdrung
sehr lange bestehen“.
F6re hat auch eine ErklSrung fur dieselbe gesucht: „die postepi-
leptischen StCrungen der artikulierten Sprache scheinen sicherlich als
physiologische Grundlage eine Stdrung in der Beweglichkeit der Zunge
zu haben“. Fer6 hat ein Glossodynamometer erfunden und damit fest-
gestellt, dass die Energie der Zungenbewegungen nach den Anf&llen
zuweilen geringer ist. „Nach epileptischen An fallen lassen die Patien-
ten mit Sprachstorungen eine betr&chtliche Herabsetzung
des Widerstandes der Zunge auf Druck erkennen, die oft auf
beiden Seiten verschieden ist, auch wenn die Anf&lle nicht halbseitig
waren. Es kanu sogar vorkommen, dass die Bewegungen der Zunge
oft l&ngere Zeit ganz aufgehoben sind, auch wenn der Kranke schon
l&ngst wieder zu sich gekommen ist“.
Die ArtikulationsstOrungen sind verschiedener Art, im allgemeinen
trifft es zu, wenn Nadoleczny meint, „dauernde Sprachstorungen
scheinen seltener zu sein, als vorubergehende Artikulationsbehinderung 41 .
Wir nnterscheiden eine:
1. verlaugsamte, ' 4. stocken de und skandierende,
2. monotone, 5. stotternde und
3. lallende, 6. silbenstolpernde Sprache.
Die Bradyphasie ist eine Teilerscbeinung der allgemeinen
Erschweruug und Verlangsamung der Bewegungen und aller
Reaktionen. Diese quantitative Ver&nderung der Artikula-
tion ist die am h£ufigsten zu beobachtende Artikulations-
stOrung. Ich habe sie bAufig als einzige oder mit Monotonie verbun-
dene SprachstOrung nach den AnfUllen beobachtet.
Fflrstner hat gleichfalls eine postepileptische Bradyphasie und
Bradylalie beschrieben und auf die „verlangsamte, angestrengte, mono¬
tone Aussprache der Silben und Worte u hingewiesen.
Im Verwirrtheitszustand bat Hin rich sen „h&sitierende Sprache"
beobachtet. Ich bin diesem Symptom bei D&mmerzust&nden wiederholt
bcgegnet.
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Binswanger und Nadoleczny haben Verlangsamung and
SchwerfAlligkeit der Sprache auch im anfallsfreien Inter¬
val 1 festgestellt, and ich selbst habe nicht bloss in den drei mitge-
teilten G. von A., H. de H. and A. von 0., sondern auch bei einer
Reihe von anderen Kranken die langsame und schwerfAllig artikalierte
Sprache als Dauersymptom unabhAngig von den Krampferscheinangen
kennen gelernt. Besonders eindrucksvoll war die Verlangsamung der
Sprache bei einem Kranken, dessen Geschichte ich in. einer Arbeit fiber
Epilepsie und Korsakow’schen Symptomenkomplex verOffentlicht habe
und bei dem auch alle anderen Reaktionen dauernd ausserordentlich
verlangsamt gewesen sind.
Nach der Verlangsamung ist die Monotonie der Sprache das
hAufigste Symptom, wenigstens nach meinen Erfahrungen. Als Beispiel
moge der Fall H. de H. gelten. Furstner hat die EintOnigkeit der
Sprache nach den AnfAilen beobachtet, Nadoleczny hat generell anf
dieses Symptom bei Epilepsie aufmerksam gemacht.
Bei der Kranken J. Sch. wie auch bei anderen Kranken habe icb
die Sprache dauernd lallend und verwaschen gefunden. Bins¬
wanger hat bervorgehobeD, dass die Sprache im postepileptischen
Er,sch6pfungszustand hAufig „einen lallenden Typus“ zeige,
und berichtet, dass er Kranke im DAmmerzustand „in monotoner Ver¬
bigeration lallend“ gefunden babe.
Stockend und abgerissen fanden wir die Sprache auch unab¬
hAngig von den AnfAilen bei dem Kranken G. v. A. Auch Binswanger
fand die Sprache zwischen den Anfallen zuweilen „stockend, undeut-
lich, oft geradezu skandierend“. Fere erwahnt ein postepileptisches
„Zflgern und Stocken bei der Aussprache", das oft lange zurfick-
bleibe.
Es gibt Kranke, bei denen unter dem Einfluss der epileptischen
VerAnderungen die fruher fliessende Sprache stotterud wird,
Ahnlich wie in anderen FAllen ein epileptischer Nystagmus eintritt, den
man auch als Augenstottern bezeichnen kdnnte. Nach Nadoleczny’s
Ansicht „kommt das Stottern prA- und postepileptisch vor u .
Auch F6r6 kennt dieses Symptom und glaubt es bei einem von Pitres
beschriebenen Kranken auf einen Krampf der Gesichtsmuskulatur zu-
ruckfuhren zu konnen. Du cl os hat das Stottern als postepileptischen
LAhmungszustand der Sprachmuskulatur erklArt. Ich habe stotternde
Sprache nicht bloss vorubergehend im Anschluss an AnfAlle beobachtet,
sondern auch Kranke kennen gelernt, bei denen dieses Stottern im
freien Intervall zwischen und unabbAngig von den AnfAllen
als Dauersymptom nachzuweisen war.
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Sprachstorungen bei Epilepsie. 233
Die wichtigste und wenigstens fur die Differentialdiagnose bedeu-
tungsvolUte SprachstOrung ist das SMbenstolpern. Ehe ich dieses
Symptom eingehend bespreche, teile ich zun&chst die Geschichte von
acbt Rranken mit, bei denen ich dasselbe in ausgesprochener Weise
beobachtet habe.
Fall 1. Der 37jahrige Weber Ph. G. leidet seit dem 2. Militarjahre,
nach nberstandenem Typhus an epileptischen Anfallen. Erblich ist er nioht
belastet. Bis vor 2 Jahren wiederholten sich die Anfalle 1—3mal wochent-
lich, seither sind sie hauflger und ofters mit Wutanfallen, Geistesab-
wesenheit, Wandertrieb uud Neigung zu Gewaltt&tigkeit verbunden.
Ein solcher Anfall zu Weihnachten 1902 soil 4 Tage gedauert haben. Seit
2 Jahren hat sich der Geisteszustand so verschlechtert, dass er, der
vorher ein gescbickter, fleissiger Weber war, zu keiner Arbeit mehr fahig war.
Am Abend des 5. 1. 1904 geriet er ohne vorangegangene Krampfe in
Wut, zertrummerte die Wohnungseinrichtung, irrte drei Stunden in der Kalte
nmher, so dass die Fiisse von Frost wund wurden und die Haut abgefetzt war
und bedrohte, nachdem er eingefangen war, seine Angehorigen, so dass er ge-
bandigt werden musste. Er glaubte sich verfolgt und auf dem Kasernenhof
turn Dauerlauf umhergejagt. Stets seien seine Verfolger hinter ihm.
Urin und Stuhl lasst er unter sich, die Pupillen sind mittelweit
und reagieren kaum. Am 8. 1. wird er der Nervenklinik in H. zugeiuhrt.
Bei der Aufnahme hat er starkes Silbenstolpern, sonst ist der kor-
perliche Zustand, abgesehen von dem iiblen Zustand der Fusssohlen, mehreren
Zungenbissnarben und Patellarklonus normal. Insbesondere reagieren die
Pupillen gut und sind die Hornhautreflexe erhalten.
Zeitweise ist Vorbeireden und Perseveration vorhanden.
Vom Tage der Aufnahme am 8. 1. bis zu seiner Ueberfiihrung nach der
Anstalt U. am 13. 2. ist er ortlich und zeitlich unorientiert. Die
Merkfahigkeit und Auffassungsfahigkeit ist herabgesetzt, z. B.
kann er vier einstellige Ziffern gar nicht nachspreohen, wahrend er einfache
Rechenexempel prompt lost. Offenbar unter dem Eindruck von Sinnestau-
schungen hat er phantasUsche Verfolgungsideen, er hat dabei Krankheitsgefiihl
and erklart sich seine Wunden an den Fiissen richtig. Bald glaubt er auf dem
Magdeburger Bahnbof, bald in seinem Heimatsort, bald in einer Krankenanstalt
zu sein. Sein Alter gibt er um 3 Jahre zu niedrig an und glaubt, erst
vor 3 Tagen vom Militardienst „freigesprochen u zu sein.
Die Aerzte verkennt er haufig als friihere Bekannte.
Wahrend die Kniephanomene spater nicht mehr gesteigert gefunden war¬
den, bleibt das Silbenstolpern bestehen und wird zeitweise noch star¬
ker, andert sich auch nicht nach einem plotzlichen Erregungs-
zustand, in dem er gewalttatig.wird und sinnlos trotz seiner wunden Fiisse
fortzustiirmen sucht, ebenso nicht nach den wiederholten Krampfanfallen. Bei
der Entlassung aus der Klinik am 13. 2. ist das Silbenstolpern noch vorhanden,
bei der in U. am 2. 3. vorgenommenen Untersuchung ist es verschwunden.
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Fall 2 . G. v. A. &us B., ist abgesehen von hochgradiger Nervositat der
Grossmntter vaterlicherseits erblich nicht belastet. Bis zum 9. Jahre war er
geistig sehr geweckt und korperlich vorzeitig entwickelt.
Wahrend des Unterrichts beim Vater versagte im 9. Jahr, als er ein
Gedicht aufsagen sollte, plotzlich die Sprache. Diese Erscheinung
wiederholte sich mehrmals, schliesslich unter Zuokungen. Er war aber im
Stande sich das Einjahrige zu erwerben.
Bei der Aufnahme in die Anstalt war der 22jahrige Mensch korperlich,
abgesehen von Steigerung der Fnsssefrnenreflexe, normal. Eine' glatte Narbe
auf dem Scheitelbein von 1,5 cm Lange riihrte von einem Sturz im Anfail her.
An der Zunge sind Bissnarben vorhanden.
Fast alle 14 Tage treten typische epileptische Anfalle auf, meist
morgens im Bett oder unmittelbar nach dem Aufsteben, zuweilen mit ini-
tialem Scbrei, fast regelmassig mit Zungenbiss ohne Sezessus,
mit nachfolgender, bald langerer, bald kiirzerer Benommenheit.
Am 23. 8. 1903 zuckt er wahrend des Gottesdienstes 2 — 3mal mit dem
Oberkorper, drebt den Kopf nach rechts, stosst einige stohnende Laute aus und
zieht dann den Korper krampfhaft zusammen, so dass die Kniee an den Unter-
leib angedriickt sind. Der Oberkorper ist dabei stark vorniiber geneigt. Nach
x / 2 Minute ErschlafTung und gleichzeitig leichte klonische Zuckungen. Das
Gesichtvist bleich, von Schweissperlen bedeckt, Speichel und Schaum steht
vor dem Munde, die Pupillen sind weit und starr. Nach dem Anfail schlaft
der Kranke 1 / 2 Stunde und ist zwei Tage lang etwas miide.
Bei Behandlung mit salzarmer Kost wird der Kranke hinfallig, Brom
wird schlecht vertragen, so dass die Darreichung ausgesetzt
wird.
In den folgenden zwei Jahren stellen sich die Anfalle durchschnittiich
5mal monatlich ein.
Im Jahre 1906 warden haufige Angstzustande beobachtet, die, ebenso
wie das Allgemeinbefinden, sich bei fleischloser Kost bessern. Die Zahl der
Anfalle bleibt dieselbe.
Im folgenden Jahre steigt die Zahl der monatlichen Anfalle auf durch¬
schnittiich 6, dazu gesellen sich vereinzelte Anfalle von Petit mal.
1918 macht sich eine allmahliche Abnahme der geistigen Fahig-
keiten bemerkbar, die auch dem Kranken zum Bewusstsein konlmt. Er sagt
selbst, dass ejr bei langeren Auskiinften, die or zu geben habe, oft
die riohtigen Worte nioht finden konne und dann „B15dsinn u rede.
Er ist sehr unzufrieden, reizbar und jahzomig und gibt selbst zu, dass
es ihm an Selbstbeherrsohung fehle.
Die Sprache ist schwerfallig, stockend, abgerissen, die Aus-
drucksweise umstandlich.
Merkfahigkeit und Auffassungsf&higkeit ist mangelhaft, z.B.
ist er zur Wiederholung von 5 Zahlen zwischen 1 und 10 unfahig. Die Scbul-
kennisse sind erheblich vermindert, das begrifQiche Unterscheidungsvermogen
ist weniger herabgesetzt.
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Sprachstorungen bei Epilepsie.
235
Id den nachsten 2 Jahren werden die ausgebildeten typiscben Krampf-
anfalle seltener, z. B. werden von Januar bis August 1910 darchschnittlich
nar 3—4 Anialle monatlich gezahlt, dagegen sind die friiher seltenereti Petit
inal-Anf&lle immer mehr in den Vordergrund getreten, durchschnittlioh
34 monatlich.
Dieselben beginnen mit lantern anhaltendem Schrei, dann tram-
pelt der Kranke einige Sekundenauf derS telle oder springtmehr-
mals in die Hohe oder lauft durchs Zimmer und wird bleich im
Gesicht. Die Dauer uberschreitet gewohnlich 1 / 4 Minute nicht. Nachher ist
der Kranke mude und schlafsuchtig, gelegentlich verstimmt und unzufrieden
und kann oft bei klarem Bewusstsein 10 Minuten lang nicht spre-
ohen. Einige Stunden nachher ist er geistig frisch.
Der korperliche Befand ist unauffallig, abgesehen von ausgesprochenem
dauernd vorhandenem Silbenstolpern.
Durch eino im September 1910 begonnene Bromkur(2mal2 g tfiglich) mit
Verringerung der Kochsalzdarreichung (die Suppen werden durch Milch er-
set 2 t, Butter und Eier ohne Salz gegeben, im iibrigen erhalt er die gewohn-
liche Kost) werden die Anfalle erheblich vermindert. Im September wird neben
2*1 Petit mal-Anfallen nur 1 ausgebildeter Krampfanfall beobachtet, imOktober
bleiben beiderlei Anialle vollig aus.
Der korperliche Befund andert sich nicht. Das Silbenstolpern bleibt
in unverminderter Starke bestohen.
Fall 3 . A. v. 0. soil sohon als kleines Kind an Blutandrang gegen den
Kopf gelitten haben, wozu sich von seinem 7. Lebensjahr an Schwindel und
Krampfanfalle gesellten. Die letzteren traten nach Ermiidung und besonders
nach Aufregung ein und bestanden in einem einige Minuten dauernden und
von Bewusstlosigkeit begleiteten Krampfzustand, der bis zu 7mal an einem
Tage auftrat und von intensivem 24 Stunden anhaltendem Kopfschmerz be-
gleitet war. Alle 1—2 Wochen setzten diese Zufr.lle ein und zwar mit beson-
derer Vorliebe dos Nachts.
Der Kranke ist erblich belastet. Sein Vater soli n nervos veranlagt u
gewesen, einem Herzschlag erlegen und etwas dem Trunke ergeben gewesen
sein. Eine altere Schwester des Kranken ist von Geburt an beiden Beinen ge-
lahmt, geistig aber frisch. Eine Schwester des Vaters war bis zum 40. Jahre
epileptisch, seither aber anfallsfrei.
Mit Miihe eignete sich der Kranke die elementarsten Schulkennt-
an und katn nicht tiber die drei ersten Klassen des Realgymnasiums hinaus,
brachte es aber nicht bloss in der Handhabung der russischen, sondern auch
der franzosischen, englisohen und deutschen Sprache zu der seinem Stande
entspreohenden Fertigkeit. Naoh einem P/gjahrigen Aufenthalt in einem Sana¬
torium und voriibergehendem Aufenthalt in der Anstalt suchte er auf einem
mecklenburgischen Gut die Landwirtschaft praktisch zu erlernen und kehrte
nach einem Jahre in das Elternhaus zuriick, angeblich weil die Familie des
Gutsbesitzers an seinem Leiden Anstoss nahm.
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Mit seinem 23. Lebensjahr trat er noch einmal in die Anstalt ein, die er
seit Oktober 1887, abgesehen von kurzen Urlaubszeiten, in der Heimat nnd an
See nicht mehr verliess.
Abgesehen von einer 4mal im Anfall zngezogenen Luxation des linken
Schultergelenkes ist der korperliche Zustand sehr gut.
Seine Antworten erfolgen langsam und' schwerfallig artikuliert,
aber sinngemass. Auch in fremden Sprachen z. B. englisch druckt er sich
geschickt aus. Sein Horizont ist enge; im Gesprach kehrt er immer wieder zu
seinem Leiden und besonders zu seinem russischen Besitz zuriick. Das Ge-
daohtnis fur die Daten seines Lebens ist gut, die Fahigkeit, Neues seinem
geistigen Besitztum hinzuzufiigen, gering. Seine geographiscben und
geschichtlichen Kenntnisse sind schlecht, z. B. ist nach ihm die Schlacht von
Poltawa gegen die Franzosen gesohlagen worden, und nur den einfachsten
Rcohenaufgaben ist er gewachsen.
Der im April 1903 aufgenommene korperliche Befund war normal. Spe-
ziell waren samtliche Schleimhautreflexe vorhanden, die Gesichts-
farbe und der Gesichtsausdruck frisoh, die Haut nicht wesentlich ver&ndert.
1905 war der Kranke wohl, abgesehen von den etwa alle 3 —i Tage
hauptsachlich nachtswiederkehrenden Anfallen. Dieselben begannen mit einem
lautenSchrei und waren von allgemeinen heftigen klonisohen Zuckungen
begleitet. Nur 3—4 Minuten ging das Bewusstsein verloren, haufig erfolgte
Urinabgang. *
Der Kranke erfullt gewissenhaft seine Pflichten als Postbote. Er beteiligt
sich willig an giirtnerischen Arbeiten, zu Zeiten will die Arbeit nioht voran-
gehen. Er bleibt dann mit dem Spaten in der Hand eine Viertelstunde ver-
sonnen stehen und wird aufgeregt und unwirsch, wenn er sieht, dass andere
mehr gearbeitet haben.
Zeitweise spricht er die Befiirchtung aus, dass seine Angelegenheiten
nicht richtig besorgt werden und sein Vermogen verloren gehen kdnnte, da
Niemand auf die Verwaltung seines Gutes aufpasse. Daher wolle er nach dem
Yorschlag seines Vaters nach Hause gehen, der ihm geraten habe, trotz seiner
Anfalie einLeben zu fiihren, wie es einem jungen kraftigen Edelmann gezieme.
Mit seinen 40 Jahren sei es Zeit zu heiraten, damit sein Stammgut nicht in die
Hande der Regierung falle.
Im Jahre 1896 hatte er 66 Krampfanfalle und 3 Schwindel, 1897 67 Au-
falle und 14 Schwindel, 1898 75 Anfalie und 13 Schwindel, 1899 89 und 10,
1900 100 und 35, 1901 144 und 17, 1902 198 und 18, 1903 156 und 12, 1904
145 und 17, 1905 144 und 8 Anfalie und Schwindel.
Trotz 2mal 3 g Bromsalz taglich hat v. 0. vom 21. Juli 1906 bis zum
Jahresschluss 115 Anfalie und 19 Schwindel, im Jahr 1907 111 und 23, 1908
100 und 36, 1909 109 und 22, 1910 85 und 15 Anfalie und Schwindel.
Bei sonst normalem Korperbefund und Fehlen aller Zeiohen einer chro-
nischen Bromvergiftung ist ausgesprochenes Silbenstolpern vorhanden. Im
iibrigen ist die Artikulation langsam und schwerfallig.
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Sprachstorungen bei Epilepsie.
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Pall 4 * Der Schohmacher K. L. wurde im Alter von 40 Jahren im
Oktober 1909 in die Anstalt aufgenommen. Er ist erblich nicht belastet.
Schon in friiher Jngend hat er an einer rechtsseitigen Lahmung gelitten
mit hochgradiger Verkiirzung des reohten Beines. Naoh 8jahrigem
Schulbesnoh nnd Konfirmation kam er zu einem Schahmacher in die Lehre,
hat aber nicht ausgelernt. Angeblich erst seit dem 25. Lebensjahre sind
Krampfanfalle vorhanden, in unregelmassigen Zwischenraumen, mit kloni-
schen Zuckungen, BewusstlQsigkeit und haufigem Urinabgang.
Er ist wegen Geistesschwache entraiindigt.
Wahrend die Gesiohtsmuskulatnr symmetrisch ist and die Zunge
gerade vorgestreckt wird, ist der rechte Arm wesentlich (urn 4 cm)
karzer und um 2cm diinner als der linke. Auf derUlnarseite des rechten
Unterarms ist eine strahlige, vom Ellbogen bis zur Kleinfingerkuppe reichende,
von einem Anfall herruhrende Brandnarbe zu sehen. Das rechte Ellbogenge-
lenk kann nicht voliig gestreckt werden. Die grobe Kraft des rechten Hande-
drucks betragt 15, die des linken 32 kg. Die rechte Hand kann zum Schreiben
und anderen Verriohtungen gebrauoht werden. Noch mehr ist die rechte
Unterextremitat im Wachstum zuriickgeblieben und sehr atro-
phisch. Der Wadenumfang rechts bleibt um 12 cm zuruok. Das rechte Bein
kann im Kniegelenk nicht voliig gestreckt werden und der rechte Fuss steht
in extreraer Spitzfussstellung.
Die Kniescheibenreflexe sind symmetrisch lebhaft, rechts ist der Ke¬
flex auch von der oberen Quadrizepssehne auszulosen. Das Ba-
binski’sche Zeichen ist rechts zuweilen vorhanden, Oppenheim und
Mendel fehlen. Die ubrigen Sehnen- und Hautreflexe sind symmetrisch. Horn-
haut- und Rachenreflexe sind in normalcr Starke vorhanden.
Die Sprache ist unauffallig.
Einfache Fragen werden prompt beantwortet. Von 6 einstelligen Zahlen
werden 4 richtig wiederholt. Die Merkfahigkeit ist etwas herabgesetzt. Die
Sohulkenntnisse sind mangelbaft. Rechnet im kleinen Einmaleins richtig, da-
gegen addiert er 14 26, 23 + 44 nicht richtig und kann 35: 7 nicht aus-
rechnen.
Den Inhalt einer kleinen Geschichte kann er nicht wiedergeben, er liest
ohne jedes Verstandnis. Den Unterschied zwischen Teich nnd Bach, Wasser
und Eis gibt er richtig, aber umstandlich an. Was Undankbarkeit ist, kann er
nicht sagen. Er asSOziiert sehr schlecht. Die Ebbinghausprobe misslingt voll-
standig. Urteilsvermdgen maugelhaft*
24. 10. Abends 9 ] / 4 nach dem Bettgehen bekommt er einen Krampfanfall
mit initialem Schrei, stark gerotetem Gesioht und klonischen
Zuckungen, Urinabgang und Zungenbiss. Nachher schlaft er ruhig
und weiss anderen Morgens nichts von dem Vorgefallenen.
30. 11. Zur Arbeit in der Schusterei gefuhrt, musste er zuruckverlegt
werden, da er in 4 Wochen 2mal Erregungszustande bekommen und mit
einem Stock auf die Umgebung eingeschlagen hatte. Nachdem er 'im Bett
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238 Dr. Albert Knapp,
noch einige Tage erregt gewesen und laut geschimpft hatte, trat allmahlich
Bernhigung ein.
21. 1. 1910 auf die Station fur gewalttatige Kranke verlegt. Vor der
Verlegung sehr erregt, schlug mit einetn Stock gegen die Haustur und musste
eine Stunde isoliert werden. Darnaeh ging der P/gStundige Transport gut
von statten.
15. 3. Meist gehobener Stimmung. Merkfahigkeit stark herabgesetzt.
Kennt noch jetzt seine Umgebung nicht. Leicht reizbar, schlagt dann mit der
Kriicke drein. Wird vormittags im Bett gehalten. Zur Arbeit unbrauchbar.
18. 5. Geistig sehr sohwach. Nicht mehr gewalttatig.
12. 8. Sohimpft zuweilen. Sonst unverandert.
28. 10. Schlug nach der Verlegung auf eine andere Station mit dem
Stock um sich und verletzte seine Umgebung. Sonst ist der Befund gegen
fruher unverandert, abgesehen davon, dass jetzt dauernd Silbenstolpern
vorhanden ist. Brom bekommt der Kranke nioht.
Fall 5 . H. de H. leidet seit dem 6. Lebensjahre an epileptisohen An-
fallen. Auch der Vater hat in der Jugend an epileptiformen Zufallen gelitten,
die sich aber spater verloren. Er wird als schwachbegabt bezeichnet und ist
wegenGeschaftsunfahigkeitinKonkurs gerate.n Die Mutter ist nervos und leidet
an einer hysterischen Stimmlosigkeit. Haufig treten die Anfalle des Kranken
nach Verdauungsstorungen auf. Er sieht dann sehr angegriffen
aus. sinkt lautlos zur Seite, verliert aber angeblich das Bewusst-
sein nicht immer vollstandig. Die Anfalle dauern angeblich 5 Minuten
und stellen sich in Pausen von 4—5Wochon ein. Der Kranke sei fruher geistig
normal gewesen. Vor dem Anfall sei er erregt, sonst gutmiitig. Die Schule
besuchte er mit geringera Erfolg. Er war 2 Jahre lang in einer anderen An-
stalt. Da die Anfalle sich hauften, wurde er im Alter von H Jahre zum ersten
Mai aufgenommen und nach 4 Jahren gebessert wieder enllassen.
Im April 1902 wurde seine Aufnahme zum zweiten Mai erbeten. Der
Gesichtsausdruck des jetzt 27jahrigen Kranken ist blode, seine Bewegungen
langsam, der Kopf nach oben spitz zulaufend. Auf dem linken Fussrucken
sieht man eine von einer Knochenoperation herriihrende Narbe, an der Zunge
sieht man die Narben von mehreren Bissverletzungen.
Die Sensibilitat ist herabgesetzt, die Hautreflexe sind lebhaft, obenso die
Kniephanomene.
Hochgradiger Schwacbsinn. Sprache langsam und eintonig.
April 1902. 2 Serien von Anfallen, deren 4 an 2 Tagen, 3 und 1 Petit
mal-Anfall in 3 Tagen, 2 andere Petit mal-Anialle erfolgen einzeln, 2mal 2 g
Bromsalz taglich.
Im Juni 6 ausgebildete und 1 kleiner Anfall, im Juli 7 gross© und
1 kleiner.
Da das Brom ohne erkennbare Wirkung ist und die Zahl der An¬
falle sich monatlich ungefahr in gleicher Hohe halt, wird die Dosis auf 2 mal
2 g herabgesetzt.
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Sprachstdrungen bei Epilepsie.
239
Im Jahr 1903 darchschnittlioh monatlich 4—5 ausgebildete, 2—3 kleinere
Anfalle. Der Kranke ist stumpf, braucht sehr lange, bis er die einfachste
Frage beantwortet and ist zeitweise verwirrt and unklar.
In den Jahren 1904—1906 ist der Zastand unverandert. Zeitweise ist er
naoh den Anfailen einige Tage benommen und macht dann vollig
erfandene Berichte dber die Aaordnungen des Arztes.
1907 98 schwere, 12 leichtere, 10 Petit mai-Anfalle bei 2 g Brom.
1908 81 schwere, 18 leichte, 48 Schwindel.
1909 81 schwere, 21 leichte, 51 Schwindel.
1910, Oktober 67 schwere, 18 leichte, 51 Schwindel bei 3 g Bromkali.
Korperlioher Zastand unauffallig, keine Zeichen von Bromintoxikation.
Haut normal. Rachenreflex erhalten. Allgemeine hoohgradige Demenz ohne
besondere Farbung.
Silbenstolpern beieinfachen Parad igmen aach in den an fall s-
freien Zeiten. Sonst ist die Sprache langsam und monoton.
Fall 6. C.J.ist 1877 geboren und im Alter von 15Jahren in die Anstalt
aufgenommen worden. Ein Bruder des Vaters ist epileptisch. Im 5., im
10. Monat und im 5. Lebensjahr hatte sie Kramp fan falle, mit 12 Jahren litt sie
an Veitstanz. Seitdem 14. Jahr stellten sich wieder typische epileptische An¬
falle ein. Sie begannen ohneVorboten mit pinem durchdringenden Schrei,
der typische Anfall dauerte nur kurze Zeit, wahrend die Bewusst-
losigkeit sich iiber eine Stunde ausdehnte. Die Anfalle tarten gruppen-
weise zu 3—4 an einem Tage auf, mit 10—12 Tagen Zwischenpause.
Zuerst soil das Madchen eine gate Schulerin gewesen sein. Bei der Auf-
nahme war sie mit ihren 15 Jahren weniger entwickelt als ein lOjahrigesKind.
In den ersten Jahren hatte sie zuerst bei 4, spater bei 2 g Bromsalz
durchscbnittlich 6 Anfalle monatlich. Im Jahre 1903 nahmen die AnfaUe bis
zu 34 monatlich zu, trotz Steigerung der Bromdosisf auf 6 g.
Im September 1904 hatte sie nacbts einen Status epileptious, 1905
wiederbolte sich derselbe dreimal, wurde aber durch Amyleninjektionen kou-
piert; im September 1906, Juli und September 1908 and Februar 1909 trat
wieder je ein Status epilepticus ein, wahrend sonst die Anfalle ausblieben.
Seit Februar 1909 ist kein Status epilepticus mehr eingetreten. Dagegen
stellten sich trotz 2mal 2 g Bromsalz darchschnittlioh 5—6 Anfalle
monatlich ein ohne Aura mit initialem Schrei and haufigen Zun-
genbissen und Urinabgangen. Nach den Anfailen ist sie tagelang be¬
nommen.
Was den psychischen Zastand im Oktober 1910 betrifft, so ist die Auf-
fassungs-and Merkfabigkeit herabgesetzt, die Ausdrucksweise schwer-
fallig and amstandlich. Das begriffliche Unterscheidungsvermogen und die
Korobinationsfahigkeit so gat wie aufgehoben. Die Schulkenntnisse sind fast
ganz verloren gegangen. — Alter und Heimat gibt sie richtig, aber um-
stan d 1 i ch an. Nachher kommt sie bei jeder Frage wieder darauf zuruok, dass
sie aas der Rheingegend and dem Regierungsbezirk Wiesbaden sei.
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240
Dr. Albert Knapp,
V
Sie halt sich far ganz gesund. Die Pflegeschwester ist ihrer Meinung
nach zam Nahen and Stricken da, ebenso die anderen Kranken.
Sie ist reizbar, gerat leicht in Streit and ist sehr kraftig. Unterliegt sie
ausnahmsweise, so droht sie mit den Gerichten. Sonst ist sie stets heiter, zam
Singen geneigt and erotisch.
Zaweilen hat sie Anfalle von Geistesstorung. Sie glaubt dann in
Hoffnang zu sein. Ihr Vater and ihr blinder Bruder liegen bei ihr im Bett.
Kaiser Friedrich ist ihr Brautigam, der im Astloch oder in den Fassleisten des
Bodens sitzt und dem sie Brocken von ihrer Speise hinlegt. Sie legt sich um-
gekehrt ins Bett, mit dem Kopf am Fussende. Auf andere, die ihr Zimmer be-
treten, ist sie eifersdchtig.
Korperlich ist sie wohl. Abgesehen von Steigerang der Kniephanomene,
Hautschrift und Herabsetzung des Rachenreflexes ist niohts Auffalliges nach-
zaweisen. Der Hornhautreflex ist vorhanden. Die Hant ist rein. Ihre Be-
wegungen sind tappisch, aber sehr flink, wenn sie davon laufen oder Essen
holen will.
Auch bei verhaltnismassig einfachen W or ten ist Silbenstolpern ver-
handen und haufige Silbenauslassungen.
Fall 7 . E. E. wurde im Alter von 30 Jahren im Juni 1905 in die An-
stalt aufgenommen. Ein Bruder war Epileptiker, ein anderer hat sich selbst
entleibt. Die Eltern sind gesund. Kbrperlioh und geistig hatte sich das
Madchen gut entwickelt, sie war eine gute Schulerin, ist aber jetzt geistig
sehr schwach geworden. Die Menstruation erfolgte seit dem 16. Jahre regel-
massig.
Die epileptischen Erscheinungen begannen im 12. Lebensjahre; zunachst
waren es nur Schwindelanfalle, jetzt sind es ausgebildete Krampfan¬
falle, die nur nachts ohne Aura etwa zwei Mai wdchentlich sich
einsteilen.
Korperlich lasst sioh niohts Besonderes finden.
Sie lachi und grimassiert bestandig, ist auf die moisten Fragen nicht zu
fixieren und vermag selbst ihre Personalien nur liickenhaft anzugeben. Die
Schulkenntnisse sind gleich Null. Auf die Frage nach der Provinz, nach dem
Namen und Wohnort des Kaisers gefragt, bleibt sie die Anwort sohuldig.
Im Jahre 1906 sinkt die Zahl der Anfalle bei 2mal 4 g Bromkali >uf 30.
Sie stellen sich stets nur bei Nacht ein.
„ „ 1907 werden bei 2mal 3 g Bromkali 21
n „ 1908 „ w 2 n 3g w 13
. * 1909 * * 2 „ 3 g * 21 Anfalle
beobachtet.
Nach den Kranken bench ten hat sich das Befinden der Kranken nie ge-
andert. Sie sitzt dauemd fast ganzlich untatig da, ist entweder ausgelassen,
lappisch und albem oder gereizt und zu Tatlichkeiten geneigt. Beim gering-
sten Anlass schlagt sie in blinder Wut mit den Fausten oder Schuhen auf die
Mitkranken.
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Sprachstorungen bei Epilepsie.
241
Oktober 1910. Bei 2mal 3 g Bromkali taglich treten die Anfalle duroh-
schnittlich 2mal monatlich aaf, immer ohne Aura, durch initialen Scbrei sich
anmeldend, stets nur bei Naoht, in typiscber Ausbildung. Am Tage nacb den
Anfallen ist die Kranke benommen und reizbar. Auch gegenwartig zeigt sie
sich reizbar, gewalttatig und nachtraglich.
Die Auffassungs- und Merkfahigkeit ist schlecht (365 wird nacb
2 Minuten nicht agnosziert). Das begriffliche UnterscheidungsvermSgen und
die Scbulkenntnisse sind so gut wie vdllig geschwunden.
Ihr Alter gibt sie falsch (auf 39 statt auf 35 Jahre) an, weiss ihr Geburts-
jabr nicht, will schon 10 Jahre (statt 5) in der Anstalt sein.
Die pflegendeSchwester ist, wie sie glaubt, zur Dnterhaltung der Kranken
da. Sie halt sich nicht fur krank und behauptet, sohon seit Jahren anfallsfrei
zo sein. Sie weiss ebenso wenig den Grund, warumsie in der Anstalt ist, als
was den anderen Kranken fehlt.
Sie ist ouphorisch und geschwatzig, kommt immer wieder auf sich selbst
su sprechen, erzahlt weitlaufig von ihrerFamilie, ihrerKrankheit, ihren Zahnen,
ihren kirchlichen Leistungen.
Korperlich ist sie wohl. Die Kniephanomene sind gesteigert, die
mechanische Erregbarkeit der kleinen Hautgefasse und der Muskeln erhdht, der
Kornealreflex vorhanden, der Rachenreflez aufgehoben. Die Haut ist rein, der
Atem nicht ubelriechend, auoh sonst sind keine Zeichen von Bromismus
vorhanden.
Die im ubrigen unveranderte Spraehe ist artikulatorisch gestort. Han
beobaohtet dauernd deutliches Silbenstolpern.
Fall 8. Die Kranke J. S. ist nach den Angaben der Angehdrigen erb-
lich nicht belastet und eine gute Schiilerin gewesen. Im 16. Lebensjahre trat
ohne ausseren Anlass der erste typische Krampfanfall auf. Zunaohst wieder-
holten sich die Anfalle alle 3—4 Wochen, dann steigerte sich die Zahl: im
20. Jahr hatte sie dieselben oft dreimal taglich.
Dieselben beginnen ohne Aura mit lautem oft lange anhatyendem Schrei.
Es folgen tonisch-klonische Krampfe des ganzen Korpers bei vdlligem
Bewusstseinsverlust mit Pupillenstarre und terminalem Sohlaf.
Im Juli 1898 tritt die Kranke in ihrem 20. Lebensjahre in die Anstalts-
pflege ein. '
Abgeseben von Blutarmut, Schwellung der Nasenmuschel und nasalen
Spraehe ist der korperliche Befund unauffallig. Ueber den geistigen Zustand
istnotiert: „Rechnet schlecht, 3 X 8 = 35, liest ohne Verstandnis. Hat
st&rke Gedachtnisdefekte tt .
1899 warden durchsohnittlich 8 Anfalle,
1900 „ * 7 „
1901 „ „ 10 „
moDAtlicb festgostellt. •
1902 wird die Spraehe als lallend bezeichnet. Bei 2mal 4 g Brom¬
kali vermindert sich die Zahl der Anfalle nicht.
AnsUv r. Prf«hi»trie. Bd. 80. Hert I. jg
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242
Dr. Albert Knapp,
1903. Znweilen stellen sich nach Anfallen Erregungszustande mit Ge-
horstausch ungen ein.
1908 werden bei 2mal 2 g Bromkali % Anfalle,
1909 „ « ^ j) 2g tj r)
jahrlich gezahlt.
1910 wird das Bromkaliquantum zunachst auf 2 g taglich herabgesetzt,
nach einigen Monaten ganz weggelassen. Die Zahl der Anfalle andert sich
nicht wesentlich, Monatlioh sind es durchscbnittlich 5,9.
Ohne Aura mit initialem Schrei, Urinabgang und terminalem Schlaf haben
die Anfalle durchaus typischen Charakter. Nachher ist die Kranke ganz munter.
Die Intelligenzdefekte sind sehr stark. Merkfahigkeit, Auf-
fassungsfahigkeit. Gedachtnis, Schulkenntnisse, Kombinationsfahigkeit und be-
griffliches Unterscheidungsvermogen sind sebr schlecht. Sie kann auch im
Rahmen des kleinen Einmaleins nicht rechnen, gibt die Zahl der Tage im Jahr
auf 44 an, die Zahl der Wochentage auf 10.
Sie halt sich fiir „ganz gesund u , glaubt, dass die pflegende Schwester
hier sei, , 7 um frohlich zu leben u , die anderen Kranken „zu besserer Arbeit tt ^
Sie ist euphorisch, tibermutig, reizbar, gewalttatig, hort zuweilen Stitn-
men, bezieht alles, was gesprochen wird, auf sich, macht sich aus Strumpfen
und Lumpen Puppen, die sie als Wickelkinder von verschiedenem Alter und
Namen bezeichnet. Augenblicklich sind es zehn. Sie spricht gern von ihren
Entbindungen, ist sehr religios, behauptet ihre Menses verloren zu haben und
reibt sich mit Kot ein, urn den Blutfluss wieder hervorzurufen. (Sie ist erst
32 Jahre alt und menstruiert etwas unregelmassig.)
Korperlich ist sie wohl. Die Extremitaten sind zuweilen kuhl. Dio
Kniescheibenreflexe sind gesteigert, dieHornhautreflexe normal, derRachenreflex
stark herabgesetzt. Sonst ist der korperliche Befund unauffallig. Sie klettert
sehr gewandt.
Die Sprache ist meist verwasohen und 1 all end, zuweilen dann wieder
auffallend fliessend. Standig ist Silbenstolpern auch bei anderen
Worten vorhanden (z. B. Elektrizizitat, Oberburgcrmeimeister). Die Sprach-
storung bleibt auch nach wochenlangem Aussetzen des Broms
bestehen.
Nachdem ich Silbenstolpern bei Epileptikem wiederholt beobachtet
hatte, habe ich unter den 2100 epileptischen Kranken der Anstalt etwa
500 auf das Symptom hin untersucht und die Sprache in neun Fallen*
von denen ich mitteilen kann, ausgesprochen und dauerud silbenstolpemd
gefonden. Angedeutet und weniger ausgesprochen habe ich das Symptom
sehr viel hHufiger beobachtet, besonders bei Kranken, die sich auch
durch das Vorhandensein der objektiven neurasthenischen Kennzeichen
als Neurastheniker verrieten. Ware ich imstande gewesen, meine Onter-
suchungen fortzusetzen, so hatte ich wohl das Silbenstolpern noch
haufiger nachweisen konnen.
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SprachstSrungen bei Epilepsie.
243
Unter deo mitgeteilten Krankengeschichten nimmt die letzte eine
Sonderstellung ein. Ich babe diesen Kranken am Anfang meiner Tatig-
keit an der Nervenklinik in Halle beobacbtet und verdanke die Udg-
lichkeit, meine Krankengeschichte noch einmal einzusehen, dem Ent-
gegenkommen von Herrn Geheimrat Anton, einige ergfinzende Notizen
der Freandlichkeit von Herrn Prof. Alt. In diesem Fall bandelte es
sich am einen wochenlang daaernden Dammerzustand, der anfaogs
Ofter von halluzinatorisch bedingten Erregungszustanden and Verfolgungs-
vorstellungen unterbrochen war und wabrend der rabigeren Zeiten ganz
unter dem Bild eines Korsakow’schen Symptomenkomplexes sich
darstellte. Das schon bei der Aufnahme am 8. Januar nacbweisbare
Silbenstolpern steigerte sich spater immer mebr, ohne sich
durch den Eintritt der Erregungszustande beeinflussen zu
lassen, und konnte bis zar Ueberfuhrung nach Dcbtspringe am
13. Februar nacbgewiesen werden. In Uchtspringe war am 2. Marz
mit dem Korsakow’schen Symptomenkomplex auch das Silbenstolpern
verschwunden.
Wahrend in diesem Fall das Silbenstolpern nur voruber-
gehend wahrend eines Dammerzustandes und anderer psychi-
scher Veranderungen, wenn auch mebrere Wochen lang, vor-
banden war, war es in alien anderen Fallen als Dauersym-
ptom unabhangig von den epileptischen Zufallen festzustellen.
Wenn also Nadoleczny bei der Besprechung der Veranderungen der
Ausseren Spracbe der Epileptiker das Urteil -abgibt: „Dauernde Sprach-
stdrungen scbeinen seltener zu sein, als vorfibergehende Artikulations-
bebinderung u and wenn, wie wir gesehen haben, dieses Urteil im all-
gemeinen fur die ubrigen Arten der artikulatorischen Storung zutrifft,
scheint es fur das Silbenstolpern keine Geltung zu haben.
Bei den Kranken E. E. und K. L. war ebenso wie bei dem Kranken
Ph. G. das Silbenstolpern das einzige sprachliche Symptom,
bei den anderen war es mit andern Artikulationsveranderungen
verBchwistert. Bei samtlichen Kranken bestanden die epileptischen
Veranderungen schon jahrelang, fast bei alien beganuen die Krampfe
schon in frdher Kindheit. Drei von ihneu litten an der besonders
omin&sen Serienepilepsie, die geistig schwachste an wiederholten An-
Alien von Status epilepticus. Bei alien waren erhebliche lntelligenz-
defekte nacbzuweisen und war der Nachlass der geistigen Krftfte
schon in der Jugend offenkundig geworden, so dass ein besonders
rascher und b&sartiger Verlauf der Krampfkrankheit ange*
nommen werden muss. Vier von den Kranken befanden sich in
einem Zustand hochgradiger Verblddung, der weniger demente Kranke
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Ph. G. mit seinem Damraerzustand hatte kurz nach dem Einsetzen der
Anfalle seine fruhere berufliche Tuchtigkeit vollkommen eingebfisst, der
starke Ruckgang der geistigen Krafte erfolgte bei dem Kranken K. L.
innerhalb eines Jahres ohne Bromsalze unter meinen Augen, namentlich
war auch der Nachlass der Merkfahigkeit sehr dentlich, der Kranke
A. t. 0. vermocbte sich zwar Kenntnisse in vier Sprachen anzueignen
und zu eri>alten, konnte sich aber nur die elementarsten Schulkenntnisse
muhevoll erwerben und zeigte im ubrigen scbon in jungen Jahren seine
geistige Schwfiche, und der verhfiltnismfissig geistig lebendigste G. v. A.
hatte selbst das Geffihl, unter unseren Augen an geistigen Fahigkeiten
einzubfissen.
Bei sfimtlichen Kranken war speziell die Merkfahigkeit und
meist auch die Auffassungsfabigkeit wesentlich herabgesetzt,
bei mehreren so gut wie aufgehoben. Diese Beobachtung bedarf desbalb
besonderer Erwabnung, weil bei andern epileptischen Verblodungszu-
stfinden die Merkfahigkeit oft auffallend lange gut bleibt. Vier von den
Kranken litten an psychischen Stflrungen. Von H. d. H. wurde
angegeben, dass er zeitweise verwirrt und unklar war, Ph. G. batte in
seinen Dammerzustanden Anfalle von halluzinatorisch bedingtem phan-
tastischem Verfolgungswabn, J. Sch. hatte neben zeitweise auftretenden
Phonemen und Beziehungsideen einen Dauerzustand, der am meisteu
Aehnlichkeit mit einer paralytischen Manie hatte, bei C. J. traten An¬
falle auf mit auto psych ischer und allopsychischer Desorientierung und
monotonen phantastischen Wahn- und Grfissenvorstellungen.
Fast alle Kranken wurden von zahlreichen Anfallen beimgesucht.
Meist waren es ausgebildete typische Krampfanfalle; nur bei dem Kranken
G. v. A. spielten die taglich auftretenden kleinen Anfalle die Hauptrolle.
Bei mehreren Kranken war frfiher die Wahrnehmung gemacht
worden, dass Bromsalze wirkungslos waren. Bei dem Kranken
G. v. A. gelang es, durch geringe Bromdosen (2 X 2 g Bromsalz) und
kochsalzarmere Kost die Anfalle zum Verschwinden zu Jbringen, ohne
dass das Silbenstolpern aufgehort hatte.
Fast immer sind die Sprachstdrungen in unsern Fallen als
einziges kdrperliches Symptom ohne andere neurologische
Veranderungen im anfallfreien Intervall nachzuweisen gewesen.
Wenn wir nach der Ursache des Silbenstolperns forschen
wollen, mussen wir uns in erster Linie fiber das Verhfiltnis des Kranken
zu den Bromsalzen im Klaren sein. Da Silbenstolpern sowohl nach
meinen Wahrnebmnngen, als auch nach der Ansicht yon Binswanger
bei der Bromvergiftung vorkommt, mussen wir erst den chronischen
Bromismus ausschliessen kdnnen, ehe wir das Symptom als durch die
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Spracbstorungen bei Epilepsie.
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epileptischen Veranderungen bedingt ausehen. Bei alien unsern
Kranken kann eine Brom in toxitation, bei einzelnen selbstBrom-
medikation mit Sicherbeit ausgeschlossen werden. Die Kranken
Ph. G. und K. L. haben uberhaupt kein Brom erhalten, bei dem Kranken
G. v. A. war die Bromdarreichung scbon monatelang ausgesetzt, als ich
das Silbejiftolpern feststellte, die Kranke J. Sch. hatte wenig Brom
erhalten und die Spracbstdrung Suderte sich auch nicht, als das Brom
weggelassen wurde, die Kranken H. de H. und C. J. erhielten nur
2X1? bezw. 2 X 2 g t&glich, nur den Kranken E. E. und A. v. 0.
wurden grGssere Bromdosen (je 2 X 3 g Bromsalze) gereicht. Aber auch
bei den letzteren kann die Sprachstdrung dem Brom nicht zur Last ge-
legt werden. Bei ihnen, wie bei den ubrigen Kranken war das kflrper-
liche Befinden gut und waren Zeichen einer Bromvergiftung nicht vor-
handen. Die Haut war bei alien rein, die Bewegungen ungestbrt, Hande
und Zunge zitterteu nicbt, die Sehnenreflexe waren nicht abgeschw&cht,
die Pupillen normal, die Kornealreljexe waren vorhanden, nur bei den
zwei Kranken E. E. und C. J. war der Rachenreflex aufgehoben.
Eine direkte AbhAngigkeit von den Krampfanfallen war
schon doshalb auszuschliessen, weil das Silbenstolpern
dauernd, uicht bloss postkonvulsivisch vorhanden war. Ueber-
dies blieb bei dem Kranken G. v. A. das Silbenstolpern zuriick, nachdem
die Anf&lle wochenlang durch therapeutische Maassregeln ausgesetzt
batten; und war bei dem Krauken Ph. G. nur ein ausgebildeter Krampf-
anfall w&hrend der psychiscben Storungen vorhanden.
Immerhin ist es in manchen Fallen nicht ausgeschlossen, dass das
Silbenstolpern alspostkonvulsivisches Erschbpfungssymptom
anzusehen ist, wie es bei den aphasischen StOrungen und bei manchen
transitomchen Lahmungen der Fall ist. Da Silbenstolpern bei der
Ruckbildung motorischer Aphasien haufig beobachtet werden
kann, so k5nnte man wenigstens bei dem Kranken G. v. F., der haufig
eine motorische Aphasie als Aequivaleut und als postkonvulsivisches
Symptom hatte, daran denken, das Silbenstolpern mit der motori-
schen Aphasie in Zusammenhang zu bringen und es wie diese als
Erschdpfungssymptom zu deuten. Da aber das Silbenstolpern dauernd,
auch unabhangig von den Anfallen vorhanden war, kommt diese. Er-
klarung auch fur den Patienten G. v. A., geschweige denn fur die
ikbrigen Kranken nicht in Betracht.
Berucksichtigt man die spontanen Klagen des Kranken Ph. G.:
n Es zuckt mich so im Maul, wenn ich viel spreche“ und n es zuckt
immer im Mund, da vergesse ich alles u , so kdnnte man auf den Ge-
danken kommen, dass die lastigen und offenbar die Aufmerksamkeit
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in Anspruch nebmenden Sensationen das Silbenstolpern mit veranlasst
haben kOnnten. Diese Klage ist aber vereinzelt and derartige Sensationen
sind kejneswega die Regel.
Wenn F6re die artikulatorischen Sprachstbrungen ganz allgemein
durcb eine Koordinationsstbrung der Znngenmuskeln so erkliren
sucht und mit seinem Glossodynamometer eine Herabsetzung der groben
Kraft der Zungenmuskeln als ihre Ursache festgestellt zu haben glaubt,
so trifft diese Erkl&rung weniger fur das Silbenstolpern, das ibm als
epileptisches Symptom flberdies nicht bekannt ist, als fur die andero
ibm bekannten artikulatorischen Stbrungen zu und kann fur die Mehr-
zahl der Ffille von .Silbenstolpern nicht in Betracht kommen.
Nacb der Ansicht von Wernicke, die jetzt wohl die allgemein
giltige ist, kommen als Ursache fur das Silbenstolpern drei Krankheiten
in Frage: 1. die progressive Paralyse, 2. die motoriscbe Aphasie,
3. der cbronische Alkoholismus, besonders das Delirium tremens. Wenn
wir nach unsern Erfahrungen diesen drei Krankheiten die Epi-
lepsie als vierte an die Seite stellen mfissen, so ist es das wahr-
scheinlichste, dass auch bei ibr dieselbe anatomische oder pbysiologische
Ursache fur diese Sprachstbrungen anzunehmen ist, wie bei den drei
andern, d. h. dass es sich urn leichte Verfinderungen in der motori*
schen Sprachregion handelt. Diese Ver&nderungen sind bei der
motorischen Aphasie, wenn im Rfickbildungsstadium Silbenstolpern auf-
tritt, und beim Delirium tremens reparabel, bei der Paralyse immer,
bei der Epilepsie in der Regel, wenigstens gilt das fur unsere F&lle,
irreparabel.
Silbenstolpern als epileptisches Symptom ist fast ganz
unbekannt. Nicht bloss ist es in keinem neurologischen und internen
Lehrbiicher erw&hnt, sondern auch in keiner der Uonographien fiber
Epilepsie bertlcksichtigt. Nur in der Wiedergabe der Krankengeschichte
eines an Petit mal leidenden Kranken von Binswanger ist bemerkt,
dass die Sprache einmai silbenstolpernd gewesen sei, ohne dass weitere
Schlussfolgerungen daraus gezogen worden wfiren, und Nadoleczny
erw&hut unter den Ver&nderungen der fiusseren Sprache bei Epileptikern
auch das Silbenstolpern.
Und docb verdient das Symptom aile Aufmerksamkeit, weil unter
Umst&nden die Differentialdiagnose gegenfiber der progres-
sivenParalyse dadurch erschwert undVeranlassungzu Fehldiagnosen
gegeben werden kann. Einerseits kommen bei der Paralyse bekanntlich
epileptiforme Zust&nde vor, die sich vom typischen epileptischen Krampf-
anfall in keiner Weise unterscheiden, andererseits kommen bei der
Epilepsie ausser dem Silbenstolpern eine Reihe von Symptomen vor,
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Sprach stdrungen bei Epilepsie.
247
die als charakteristisch fur die Paralyse gelten, so Pupillenstdrungen,
Verftnderungen der Sehnenreflexe, Gangstdrungen, Tremor der Zange und
Lippen, lallende und verwaschene Sprache, Silbenauslassungen, Schrift-
ver&nderungen und unter den psychischen Symptomen hauptsHchlich
Herabsetzung der Merkf&higkeit und Auffassungsf&higkeit. Auch die
epileptische Demenz kann der paralytischen gelegentlich zum Verwechseln
fihnlich sein, und der Symptomenkomplex einer epileptischen Psychose
kann den psychischen Stdrungen bei Paralyse gleichen. Wurde man
allein mit dem psychischen Status der Kranken G. J. und J. Sch. be-
kannt gemacht, so wurde man gewiss zuerst an Paralyse dcnken.
Der Psychiater und Neurologe hat daher alien Grund, dem Symptom
des Silbenstolperns bei Epilepsie Aiifmerksamkeit zu schenken.
Literatnrverzeichnig.
1. Binswanger, Otto, Die Epilepsie. 2. And. Wien und Leipzig. 1913.
2. F4r6, Charles, Die Epilepsie. Uebersetzt von Paul Ebers. Leipzig. 1896.
3. Furstner, Ueber einige nach epileptischen und apoplektischen An fallen
auftretende Ersoheinungen. Arch. f. Psych. S. 518.
4. Duclos, Etudes cliniques pour servir a l’histoire des convulsions de
Penfance. 1854. S. 36.
5. Heilbronner, Bedeutung aphasischerStdrungen beiEpileptikern. Zentral-
blatt f. Nervenheilk. 1905.
6. Hinrichsen, Beitrag zur Kenntnis des epileptischen lrreseins. Allgem.
Zeitschr. f. Psych. 1911. Bd. 73.
7. v. Jacksoh, Die Vergiftungen. 2. Aufl. 1910.
8. Robert, Lehrbuch der Intoxikationen. 2. Aufl. 1906.
9. Lewin, Die Nebenwirkungen der Arzneimittel. 2. Aufl. 1893.
10. Liepmann, Epileptische Geistesstdrungen. Deutsche Klinik. Bd. 6.
11. Nadoleczny, Beitrag zur Kenntnis der Physiologic, Pathologic und
Thcrapie der Sprache. Heransgeg. v. H.Gutzmann. Monatsschr. f. Spraoh-
beilknnde. Berlin. 1908. Bd. 18.
12. Pick, A., Ueber die sogenannte Revolution nach epileptischen Anfallennsw.
Archiv. f. Psych. Bd. 22.
13. Racke, Das Verhalten der Sprache in epileptischen Verwirrtheitszustanden.
Mnnchener med. Wochenschr. 1904.
14. R&oke, Znr Symptomatology des epileptischen lrreseins usw. Archiv f.
Psych. Bd. 41.
15. Sohnlze, W., Beitrag znr Kenntnis der SprachstSrungen der Epileptiker.
Inaug.-Diss. Gottingen.
16. Knapp, Albert, Epilepsie und Korsakow’soher Symptomenkomplex.
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XI.
Aas der psychiatrischen und Nervenklinik Rostock -Gehlsheim
(Direktor: Prof. Dr. Kleist).
Untersuchungen uber fermentative Yorgange im
Yerlaufe der endogenen Verblodungsprozesse ver-
mittels des Abderhalden’schen Dialysierverfahrens,
und iiber die differentialdiagnostisehe und forensische Yer-
wertbarkeit der Methode in der Psychiatrie. 1 )
Von
Dr. med. Gottfried Ewald,
Assistent der psychiatrischen und Nervenklinik Rostock-Gehlsheim.
Wenn ich heute fiber Untersachungen serologischer Art bei den
endogenen VerblOdungen berichte, so kommt bier nur ein begrenztes
Gebiet zur Darstellung, mit dem wir uns im Verlaufe des letzten balben
Jahres mit grosserer Intensitat an unserer Klinik beschaftigt haben,
namlich die serologische Erforschung der endogenen Verblodungsprozesse
vermittels des Abderhalden’schen Dialysierverfahrens.
Die Verfiffentlichungen Fauser’s Ende 1912 fiber seine Ergebnisse
mittels des Abderhalden’schen Dialysierverfahrens in der Psychiatrie
riefen ein ausserordentlicbes Aufsehen hervor. Bekanntlich kam Fauser
im weiteren Verlauf. seiner Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass in
Fallen von Dementia praecox und bei anderen organischen Gehirn-
erkrankungen, besonders bei Paralyse, fast immer ein Organabbau im
Dialysierversuch nachgewiesen werden konnte. Dagegen fand er niemals
Organabbau bei Gesunden und bei den sogenannten funktionellen Psy¬
chosen, dem manisch-depressiven Irresein, Hysterie und Psychopathie.
Ihm war damit ein objektives Kriterium an die Hand gegeben, urn eine
funktionelle Psychose von einem organischen, zu Defekten ffihrenden
Leiden zu trennen. Bei der Ueberzeugung, mit der Fauser seinen
1) Nach einem Vortrag auf dem Norddeutschen Psychiatertag vom27.7.1918
in Rostock-Gehlsheim.
Fermentative Vorgang& im Verlaufe d. endogonen Verblodungsprozesse asw. 249
Befunden vertraute, ist es nicht Wander zu nehrnen, dass er auch bald
zu weittragenden praktischen Schlussfolgerungen und Nutzanwendungen
fiberging. Im Hinblick darauf, dass der Organabbau von Drfisen mit
innerer Sekretion eine Dysfunktion dieser Drusen ihm zu beweisen schien,
anternahm er operative Eingriffe, z. B. Strumektomien, und glaubte
tats&chlich dadurch nicbt nur Besserungen, sondern sogar Heilungen der
operierten Psycbosen eintreten zu sehen. Auf der anderen Seite schien
ihm durch die Ergebnisse der Untersucbungen eine wertvolle Bereiche-
rung auch fur unsere forensische Begutachtung an die Hand gegeben.
Die serologische Diagnose ermOglichte es seiner Ansicht nacb, Simu-
lanten und Psychopatben von beginnenden Hebephrenen objektiv zu
nnterscheiden, er glaubte, die serologische Diagnose fiber die klinische
Beobachtung stellen zu dfirfen, und auf Grand des Ergebnisses des
Abderhaldeu-Versucbes sollte die Berechtigung zu einem operativen
EingrifF, die Berechtigung zu einer gerichtlichen Verarteilung oder Frei-
sprechung gegeben sein.
Bei der ungeheuren und weittragenden Bedeutung dieser Befunde
und Ueberlegungen ffir die theoretische Wissenschaft und die praktische
Medizin ist es wohl verst&ndlich, dass sich in kfirzester Zeit eine Ffille
von Autoren dieses neuen Arbeitsfeldes bemfichtigte, und in den
l 1 /* Jahren bis zum Ausbruch des Krieges waren samtliche Zeitschriften
uberschwemmt von einer Flut von Arbeiten auf diesem Gebiet.
Els lag in den Ergebnissen Fauser’s, in seinen Rfickblicken und
Ausblicken, wie er es nannte, etwas ausserordentlich Bestechendes, und
nur wenige, die sich damals mit der neuen Methode befasst haben,
werden sicb dem enormen Einfluss und der suggestiveh Wirkung der
Fauser’schen Ideen ganz haben entziehen kfinnen; schien sich uns
doch eine MOglichkeit aufzutun, in das Dunkel der Aetiologie der
Psycbosen einzudringen. So kam es, dass mancher Forscher die immer
noch mit Vorsicht und Reserve von Fauser aufgestellten Leitsatze als
vollendete Tatsachen nahm, und dass bei Berficksichtigung der ausser¬
ordentlich diffizilen Methodik — und Abderhalden hat selbst immer
wieder betont, wieviel von der peinlichen Durchfuhrung der Reaktionen
abh&ngt — an der Spitze der Ergebnisse einer Arbeit der Satz stehen
konnte: „Paradoxe Reaktionen sind Ausfluss von Versuchsfehlern". Als
2. Satz wurde vom Autor dieser Arbeit, Wilhelm Mayer, die Be-
hauptung aufgestellt: „Das Serum von Dementia praccox-Kranken ent-
h< immer Abwehrfermente gegen Geschlechtsdrusen, es enthfilt meist
Fermente gegen Hirnrinde und Thyreoidea u , und 3.: „in der Grappe
der funktionellen Psychosen ist kein Abwebrferment im Blut gefunden
worden“.
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250
Dr. Gottfried Ewald,
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Diese Resultate blieben allerdings nicbt lange unwidersprochen.
Ich will hier gleich hinzuffigen, dass Mayer seinen Stand pun kt sehr
bald finderte, er verOffentlichte bald darauf eine neue Statist!k, in der
von einem negativen Ausfall der Reaktion in 23 pCt. der Dementia
praecox-Kranken berichtet wurde, blieb allerdings die Begrfindung der
Aenderung seiner Ergebnjsse schuldig.
Am schfirfsten hat wohl Plaut gegen die Ergebnisse der Abder-
balden’scben Untersucbungsmethodik Front gemacht, indem er den
Abderhalden’scben Abwehrfermenten jeglicbe Spezifit&t absprach. Be-
rechtigt glaubte er sicb dazu dadurch, dass Ontersuchungen von Seren,
die er an Fa user und an den frfiheren Abderhalden’schen Assistenten
und einen seiner eifrigsten Anh&nger, Lam p6, einsandte, einen wesent-
licben Unterschied zwisehen Dementia praecox einerseits und dem
maniscb-depressiven Irresein, Hysterie und Psychopathie anderseits, nicbt
erkennen liessen. Auch von experimenteller Seite her griff er die
Methode an, indem er nachzuweisen suchte, dass durch physikalische
Einwirkung seitens anorganiscber Substanzen, wie Kaolin, Barium-
sulfat usw., auf Blutserum auch positive Niubydrinreaktion erzeugt
werden kann. Die Rolle der anorganischen Substanz sollte im Abder-
baldenversucb dem Organsubstrat zufallen, und also auf rein pbysikali-
schem Wege ein — naturlich unspezifiscber — Abbau vorget&uscht
werden. Die giinstigen Resultate der anderen Autoren glaubte Plaut
lediglich auf Suggestivwirkung zurfickfuhren zu mfissen, ist damit aber
zweifellos fiber das Ziel hinaus gegangen.
Es wurde viel zu weit ffihren, wollte ich heute auf die Frage der
Spezifit&t der Abwebrfermente an sich eingehen. Ffir micb existiert
eine solche mit Bestimmtbeit in weitgehendem Masse, und die grosse
Mehrzahl der Autoren, die sich des weiteren mit dem Studium der
Abwehrfermente befasst baben, hat eine solche anerkannt.
Damit ruckte die Frage immer mehr in den Vordergrund, ob es
gelingen wurde, tatsficblich die Dementia praecox-Gruppe scharf von
der Gruppe der funktionellen Psychosen zu trennen. In diesem Punkte
divergierten die Ansichten bei Kriegsausbruch noch ganz ausserordent-
lich. Auf der einen Seite Fauser, Mayer, Bundscbuh und Rfimer,
Maass u. a., die so gut wie nie Abbau bei den funktionellen Psychosen
und Psychopathien sahen, auf der anderen Seite Bowman, van Hasselt,
Schwarz u. a., die ebenso oft bei diesen wie bei den Verblfidungs-
prozessen positive Reaktionen erhalten baben wollten. Eine grosse Zahl
Autoren hielt sich allerdings in der Mitte, es seien nur einige wenige
wie Sioli, Runge, Rosental und Hilffert genannt, sie fanden zwar
Gck igle
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Fermentative Vorgange im Verlanfe d. endogenen Verbloduogsprozesse usw. 251
anch bei Manisch-depressiven und Hysterikern nicht ganz selten Abbau,
jedoch bei weitem nicht so hilufig wie bei Dementia prapcox.
Kurz vor dem Kriege nahm nun die Friedrichsberger Anstalt,
besondera Kafka und Rautenberg wieder die Frage auf, ob nicht
die Abderbalden’scbe Reaktion doch geeignet erscheine, in klinisch
sweifelbaften Fallen bei gerichtiicber Begutachtung den Ausscblag zu
geben, und sie beautworteten die Frage in bejabendem Sinne 1 ). Wie
der voijfihrige Norddeutsche Psychiatertag zeigte, konnten sie fiber
gfinstige Erfolge bericbten; die betreffenden Kliniker fiusserten sich
dahin, dass ihnen das Grgebnis der serologischen (Jntersuchungen stets
eine angenehme (Jnterstfitzung gewesen sei bei Beurteilung schwer zu
rubrizierender forensischer Ffille. Um Missverst&ndnisse zu vermeiden,
mftcbte ich hier betonen, dass die Friedrichsberger Anstalt sich damals
keineswegs auf den Standpunkt stellte, den Niescytka vor dem Kriege
nocb dahin prfizisierte, dass die serologieche Diagnose an Wert die
klinische fiberwiege. Dies hat die Debatte auf dem vorjahrigen Nord-
deutschen Psychiatertag einwandfrei ergeben; sie zeigte allerdings gleich-
seitig auch, dass die Mehrzabl der Dntersucher sich mit Entschiedenheit
ablehnend verhielt gegenfiber der in Hamburg gefibten praktischen
Verwertbarkeit der Abderhalden’schen Methode in gerichtlichem Betriebe.
Ich werde zu dieser Frage noch spfiter Stellung nehmen.
Wenn ich jetzt dazu fibergehe, fiber meine Befunde bei endogenen
Defektpsychosen zu berichten, so lege ich die nach Kraepelin fibliche
Einteilung zugrunde, unterscbeide also zwischen Katatonie, Hebephrenie,
Schizophrenie (Scbizophasie) und paranoider Demenz.
Untersucht wurden im ganzen 41 verschiedene Praecoce, von diesen
eine grOssere Zahl zu wiederholten Malen, so dass sich die Zahl der
aogestellten Reaktionen auf 86 bel&uft. Inzwischen ist sie auf weit fiber
100 Reaktionen angestiegen, ohne dass deshalb eine Aenderung in den
gleich mitzuteilenden Resultaten dadurch eingetreten ware.
Lege ich die Zahl der Personen zugrunde, so hatte ich unter
41 Fallen 8, die dauernd ganz negativ waren, also
80,6 pCt. positiv, 19,6 pCt. negativ.
1) Im Privatgesprach erklarte mir Kafka, er persdnlich trete keineswegs
so ffir die Verwertung der Abderhaldenreaktion im forensischen Betriebe ein,
es werde nur der Dialysierrersucb immer wieder von Seite der Kliniker von ihm
erbeten.
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252
Dr. Gottfried Gwald,
Lege ich die Zahl der uberbaupt angestellten Untersuchungen zu-
grande, so fanden sich unter 86 Reaktionen 19 negative, also
77,9 pCt. positiv, 22,1 pCt. negativ.
Halte ich diese Zahlen mit denen anderer Antoren zusammen —
ich wahle absichtlich zwei Autoren aus den verschiedenen Lagern — so
ergibt sich eine verhftltnism&ssig recht gate Uebereinstimmung:
W. Mayer (2. VerOffentlichung) 77 pCt. positiv, 23 pCt. negativ
Rosental und Hilffert 69 „ „ 31 „ „
Bezuglich der Verteilung auf die einzelnen Gruppen der Dementia
praecox verhalten sich meine Zahlen in folgender Weise:
von 18 Katatonien
., 8 Hebephrenien
„ 3 Schizophrenien
„ 12 Paranoiden
14 positiv
7
1
8
17
57
77
4 negativ
1
2
^ 55
Danach hat es den Anschein, dass besonders Katatonie und Hebe-
phrenie zu Organabban neigen, wahrend die Schizophrenie und paranoiden
Formen verbaltnismassig oft ganz negative Resultate ergeben. Allerdings
sind die Zahlen noch viel zu gering, um irgend welche bindenden
Schlusse zuzulassen.
Zur Erklarung der negativen Reaktionen suchte man nun besonders
die alten stationaren Falle heranzuziehen. Eine grbssere Anzahl der-
selben fuhrte auch tatsachlich bei meinen Untersuchungen zu negativen
Resultaten, aber es wurden auch hier zwischendurch Falle mit positiven
Reaktionen beobachtet. Audi nahm man an, dass ganz frische Falle,
bei denen es noch nicht zu erheblicheren Defekten gekommen war, eine
Anzahl der negativen Resultate erklaren kdnnte. In dieser Hinsicht
waren mir zwei meiner Beobachtungen interessant: Der eine blieb im
Verlauf mehrerer Untersuchungen vollig negativ, obwohl es sich um
einen ganz akut einsetzenden schweren Stupor bandelte, der nach Ab-
klingen klinisch einen schweren Defekt bot, der andere, der ebenfalls
ausserordentlich schnell zu schweren Ausfallserscheinungen fuhrte, ergab
im Verlaufe mehrerer Untersuchungen nur einmal einen geringen Abbau
von Hoden und Schilddruse. Nach kurzer Entlassung wurde er in einem
nenen Erregungszustand vor wenig Wochen hier eingeliefert, diesmal
zeigte er einen Abbau von Gehirn, Hoden und Schilddruse. Es lasst
sich demnach zum wenigsten generell nicht behaupten, dass die negativen
Reaktionen aus frischen noch nicht verblQdeten Erkrankungen oder aus
den alten stationaren Fallen sich rekrutieren.
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FermentativeVorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 253
Analysiere ich meiue Zahlen, die ich fur Dementia procox- Kranke
fund, mit Hinblick aaf die Art der einzelnen abgebauten Organe, weiter,
so ergab sich unter den 67 positiven Dementia praecox-Reaktionen.
Gehirnabbau in 44 Fallen = 65,7 pCt.
Genitalabban „ 49 „ = 73,1 ,,
Schilddrusenabbau „ 48 ,, =71,3
Leberabbau „ 13 „ = 19,4 „
I
Diese Zahlen stimmen wieder, besonders was den Abbau von Gehirn-
und Genitalorgan anbelangt, recbt gut uberein mit den Zahlen anderer
Autoren. Niescytka hat es vor dem Eriege in dankenswerter Weise
unternommen, die Zahlen einer grossen Anzahl von Antoren zusammen-
znstellen und Durchschnittswerte zu berechnen. Vergleiche ich meine
Zahlen mit diesen Durchschnittswerten, so ergab sich folgendes:
Gehirnabbau
in
70,9 pCt.
gegenuber 65,7 pCt.
bei mir
Genitalabbau
82,4 „
„ 73,1 „
Schilddrfisenabbau
38,2 ,,
r 71,3 „
r v
Leberabbau
n
11,3 „
v 19,4 ,,
» Vi
Woher die verb<nismfissig bohen Zahlen an Scbilddrusenreaktionen
bei mir kommen gegenuber dem Durchschnitt, kann ich nicht sagen.
Mayer fand bei Uutersuchung akuter F&lle sogar in 75 pCt. Scliild-
driisenabbau. Die Zahlen der fibrigen Dntersucher be^egen sich dagegen
im allgemeinen im Rahmen zwischen 30 und 40 pCt. Dass der Kom-
bination Gehirn-Genitale eine besondere Bedeutung zukommt, wurde von
jeher betont. Ich fand die Kombination in 51 pCt., Kafka 1914 in
44 pCt; eine erhebliche Bedeutung scheint mir auch der Trias Gehirn-
Genitale-Schilddrfise in der pathologischen Physiologic der Dementia
praecox zuzukommen. Ich fand dieselbe 27 mal, also in 40 pCt. aller
positiven Reaktionen vertreten. Kafka fand sie nur in 16 pCt., was
dem von mir oben schon erw&hnten hftuflgeren Scbilddrusenabbau in
meinen Reaktionen entspricht.
Bine weitere Frage, die schon mehrfach aufgeworfen, aber ver-
h<nismfissig wenig systematisch behandelt worden ist, ist die, wie es
sich mit dem Vorhandensein von Abwehrfermenten im Verlauf des
VerblOdungsprozesses verhalt. Es war ja naheliegend, daran zu denken,
dass in akuten Erregangszust&nden, vielleicht auch im schweren Stupor,
sich Fermeute in besonderer Menge im Blute vorfinden, dieselben aber
sn Zeiten von Remissionen zurucktreten oder auch ganz verschwinden
kftnnten. Meine Untersnchungen in dieser Richtung, die sich allerdings
erst fiber ein knappes halbes Jahr erstrecken, mag folgende Tabelle
wiedergeben.
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254
Dr. Gottfried Ewald,
T a b e 11 e I.
Serien-Untersnchongeii bei Katatonie.
1. Han.
25.2.18.
3.
3.
11. 3.
„ 5. 4.
12. 6.
8. 7.
a. 1 ) i.a.
a.
i.a.
a.
a. i. a.
a. i.a.
a. i.a.
1,0
Serum allein
— —
—
—
— —
—
— —
1,5
V
+ Gehirn
+ -
((+»
—
(+)
++ —
—
—
1,5
V
-j- Hoden
+ -
(+)
—
(+)
(+) -
—
+ -
1,5
r>
+ Schilddriise
+ -
((+))
—
«+»
+ -
—
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V)
-j- Leber
O
O
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— —
—
o o
1,5
V
-j- Nebenniere
o o
((+))
((+))
(+)
o o
O O
o o
Klinische Bemerkungen. 25.2.: Kurz nachschwererkatatonerErregung.
3. 3.: Fortschreitende Bcsserung. Bewegungsarm bis zum Stupor. 11. 3.:
Etwas freier, geht spazieren. 5. 4.: Liegt noch gern zu Bett, sonst freier.
Viel Sensationen. 12. 6.: Zustand unverandert. Dauernd Rlagen iiber *Un-
geziefer* (Sensationen). 8. 7.: Dauernd ruhig. Kommt zur Entlassung.
Parallelismus zwischen klinischem und serologischem Befund angedeutet.
2. Vo.
25.1.
1918.
8. 2.
21. 2.
5. 3.
6. 4.
26. 6.
10. 7.
1,5 Serum allein
a.
a.
a. i.a.
a.
a.
a.
a. i.a.
1,5 „ + Gehirn
(+>
+
(+) -
—
+
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(+) -
1,5 „ + Hoden
++
(+)
+ «+))
—
—
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(+) -
1,5 „ + Schilddriise
+
((+»
++ ((+»
—
(+)
«+))
1,5 „ -j- Leber
o
o
O O I
((+» -
1,5 „ + Nebenniere
o
o
o o
—
o
o
o o
Klinische Bemerkungen. 25. 1.: Kurz nach heftiger
katatoner Er-
regung. Stereotypieen, Manieren, Katalepsie, Mutazismus. 8. 2.: Etwas freier,
aber dauernd kataleptisch und mutazistisch. Steht auf. 21. 2.: Zustand unver¬
andert. Katalepsie, Mutazismus, nur selten unterbrochen von unverstandlichem
Gemurmel. Manieren. 5. 3.: Zustand vollkommen unverandert. 6. 4.: Zustand voll-
kommen unverandert. 26. 6.: Status idem. 10. 7.: Status idem. Parallelis¬
mus zwischen klinischem und serologischem Befund nicht nachweisbar.
3. Har.
7. 1. 18.
26. 2.
6. 6.
.
2. 7.
1,5 Serum allein
a.
a.
_ |
a.
a.
a. i.a.
1,5 „ Gehirn
(+)
+
?
((+))
— —
1,5 „ + Hoden
+
—
—
?
— —
1,5 „ + Schilddriise
—
(+)
+
— —
1,5 „ -j- Leber
O
(+) 1
(+)
+
O O
1,5 „ + Nebenniere
—
(+)
o
o
o o
Klinische Bemerkungen. 7. 1. 18.: Alte Katatonie. Bewegungsarm,
steht untatig umher. Stereotypieen. 26. 2.: Status idem. 6. 6.: Status idem.
7. 6.: Status idem. 2. 7.: Status idem. Parallelismus zwischen klinischem
und serologischem Befunde nicht nachweisbar.
1) a. = aktives Serum; i. a. = inaktives Serum.
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CORNELL UNfVERSSTV
Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 255
4. Seh.
18.
2.
20 . 4 .
17. 6.
2 . 7 .
1,6 Serum allein
a.
i. a.
!
a.
_
a.
a. i. a.
1.5 • H
|- Gehirn
—
—
(W)
(+)
— —
1.5 , H
h Hoden
+
—
(+)
(+)
((+)) -
1,5 H
f- Schilddriise
+
—
«+))
(+)
(+)
1,5 * H
h Leber
O
O
0
Klinische Bemerkungen. 18. 2.: Alte Katatonie, stumpf, bewegungs-
arm, einformig. Manieren. Keine Katalepsie. 20. 4.: Status idem. 17. 6.:
Status idem. 2. 7.: Status idem. Auch serologisch dauernd ziemlich
gleichmassig.
5. Wi.
od
22. 2.
1
26. 6.
10.7.
1,5 Serum allein
a..
a.
a.
a. i. a.
1,5 „ -f Gehirn
- 1
—
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1,5 „ 4* Hoden
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1,5 * ■+■ Schilddriise
—
4-
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1,5 „ 4* Leber
—
_ i
—
(+) -
1,5 * 4“ Pankreas
((+))
O
O
0 0
Klinische Bemerkungen. 8. 2.: Leicht erregbar, Katatoniker. Krank
seit IV2 Jahren. Andeutung von Katalepsie. Reizbar. Ausgesprochene Hypo-
tonie. 22. 2.: Etwas ruhiger. Sonst Status idem. 26. 6.: Geht mit zur Arbeit,
ruhiger. Reizbar. Hypotonie. Grimassieren. 10. 7.: Status idem. Paralle¬
lism us zwiscben klinischem und serologischem Befund nicht deutlich.
6. Via.
28. 2.
9. 8.
21 . 4 .
1
24. 6.
8. 7.
a. i. a.
a.
a.
!
a.
|
a. i. a.
1,5 Serum allein
— —
—
— ■
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1,5 • + Hoden
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—
— —
1,5 „ -j- Schilddriise
++ _
—
((+))
4—h
— —
1,5 , + Leber
0 0
O
«+))
((+))
O O
Klinische Bemerkungen. 28. 2.: Schwerer aogstlicher katatonischer
Stupor. Bettfliichtig. Negativismus. Jammert unausgesetzt. Aengstlich ver-
zerrtes Gesicht. Stereotypien. 9. 3.: Stuporos. Liegt dauernd unter der
Decke. Weniger angstlich. 21. 4.: Besserung. Erwacht allmahlich aus dem
Stupor. Leichte Katalepsie. Oft noch negativistisch. 24. G.: Deutliche Besse¬
rung. Stcht auf. Bewegungsarm. Noch angstlich. Wenig Katalepsie, keine
Stereotypien. 8. 8.: Ausserordentlich gebessert. Geht regelmassig zur Arbeit.
Nunmehr leicht gehemmt. Deutlicher Parallelismus zwischen klinischem
und serologischem Befund.
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CORNELL UNIVERSITY
256
Dr. Gottfried Ewald,
Serien-Untersactaoiigen bei Hebephrenic.
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1. St.
6. 2.
1,5 Serum allein
a.
1,5 „ + Gehirn
+
1,5 r -j- Hoden
1,5 ,. + Schilddriise
(+)
1,5 r -j- Leber
1,5 * -j- Nebenniere
—
1,5 r 4 * Pankreas
—
2. 6. j
1
26. 6.
8. 7.
a.
a.
i. a.
a.
«+))
(+)
(+)
«+)) -
o o
«+»
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o
o
O
o
0
O
o
o
Klinisch* Bemerkungen. 6. 2. Alte, langsame progrediente Hebe¬
phrenic. Geraiitlich verstumpft. Bewegungsarm. Steht oder sitzt untatig umber.
2. 6.: Status idem. 26. 6.: Status idem. 8. 7.: Parallelismus zwischen
klinischem und serologischem Befund nicht nachweisbar.
2. Me.
8. 2.
i
21. 2.
i
24. 6.
8. 7.
a.
a.
a. i. a.
a.
1,5 Serum allein
—
—
— —
—
1,5 ,, + Gehirn
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1,5 „ + Hoden
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+ ((+»
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1,5 r + Schilddriise
+
+ —
«+))
1,5 „ 4“ Leber
O
o
(+>
Klinische Bemerkungen. 8.
2.: Alte, langsam progrediente Hebe-
phrenie. Gemiitlich stumpf. Bewegungsarm. Fades Lacheln. Fast muta-
zistisch. Steht untatig umher. 21. 2.: Status idem. 24. 6.: Status idem.
8. 7.: Status idem. Parallelismus zwischen klinischem und serologischem
Befund nicht nachweisbar.
Serien-Untersnchiiiig bei Schizophrenic (Schizophasie).
1. Lo.
0 s *
od
9. 3.
25. 3.
14. 4.
25. 6.
a.
a.
a. i. a.
a.
a.
1,5 Serum allein
—
—
— —
—
—
1,5 „
+ Gehirn
(+)
—
4- - !
(+>
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1,5 ,
4* Hoden
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++
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1,0 „
+ Schilddriise
—
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1,5 „
4 Leber
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+
((+»
1,5 *
4- Pankreas
—
o
o o
o
o
1,5 „
+ Nebenniere
—
o
O O I
o
o
Kliniscbe Bemerkungen. 28. 2.: Stupor, liegt mutazistisch mit abge-
hobenem Kopf. Keine Katalepsie. Wenig Negativismus. 9. 8.: Status idem.
25. 8 : Erwacht aus dem Stupor. Spricht vollig inkoharente Satze. Rede-
drang. Katatone Haltung. 14. 4.: Steht auf. Vollig inkoharent. Bewegungs¬
arm. Steht untatig umher. Keine Initiative. 25. 6.: Status idem. Paralle¬
lismus zwischen klinischem und serologischem Befund nicht nachweisbar.
Gck igle
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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenenVerblddangsprozesse usw. 257
2. Eg.
23.8.13.
9. 2.18.
14. 3.
25. 6.
12. 7.
1,5 Serum allein
!
a.
a.
a. i. a.
a. i. a.
a. i. a.
1,5 » + Gehim
—
—
(+)
— —
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1,5 „ 4- Hoden
—
—
((+)) -
— —
1,5 „ + Schilddruse
—
—
((+)) -
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— —
1,5 » t|- Leber
O
O
- —T
— —
— —
Klinische Bemerkungen. 23. 8.13.: Alte stationarc inkoharente Ver-
blddung. Wortneubildungen und Gedankenverquiekungen. Bester Arbeiter.
9. 2. 18.: Status idem. 14. 3.: Status idem. 25. 4.: Status idem. Hat in
vergangener Nacht stark optisch und akustisch halluziniert. 12. 7.: Wieder
fruherer Status. Parallelismus zwischen klinischem und serologischem Befund
.nicht nachweisbar.
Serien-Untersuchnng bei paranoider Form.
1. De.
24. 1.
27. 2.
4. 5.
24. 6.
11. 7.
1,5 Scrum allein
a.
a. i. a.
a.
i. a.
a.
a. i.a.
1.5 „ -
- Gehirn
+
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1.5 . -
- Hoden
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+
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1,5 , H
- Schilddruse
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c+) -
((+))
+ -
Ifi „ H
- Leber
—
1 — —
1 O
O
o
+ -
Klinische Bemerkunged. 24.1.: lJahrkrank. Unsinnige Wahnbildung,
Grossenideeu. Bewegungsunruhe. Schreit oft plotzlich laut auf. Halluziniert.
27. 2.: Reaktionsfohler. 4. 5.: Ausgesprochen unsinniges, verworrenes Wahn-
gebaude. Keine Halluzinationen. In der Personlichkeit sonst gut erhalten.
Drangt sehr fort. 24. 6.: Deutliche Besserung. Zuriicktreten der Wahnideen,
ruhiger, halluziniert angeblich nicht mehr. 11. 7.: Anhaltende Besserung. Ge-
mutlich sehr stumpf. Drangt wenig fort Parallelismus zwischen klinischem
and serologischem Befund nicht nachweisbar.
2. Wa.
5. 6.
%
26. 4.
11. 7.
a.
a. i. a.
a.
i. a.
1,5 Serum allein
—
— —
—
—
1,5 , H
Gehirn
—
+ -
—
—
1,5 „ H
\- Hoden
—
—
—
1,5 , -
b Schilddruse
—
+ —
—
—
1,5 . H
h Leber
O
O O
o
o
Klinische Bemerkungen. 5. 6.: Alte, phantastische Wahnbildung.
Stationar. Tageweise erregt. Mitunter stereotype Bewegungen. Sensationen.
Personlichkeit erhalten. 26. 4.: Status idem. 11. 7.: Status idem. Paralle¬
lismus zwischen klinischem und serologischem Befund nicht nachweisbar.
inbir f. Psyehiatris. Bd. 60. Heft 1. yf
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258 Dr. Gottfried Ewald,
Ich weiss sebr wohl, dass die Zahl der hier angefuhrten Beob-
achtungen nicbt sehr gross, dass ein lebhafter Wechsel zwiscben Er-
regung uod Stupor hier nicbt beobachtet wurde, das eine kann man aber
m. E. docb aus der Tabelle entnehmen, dass auch ohne irgend eiuen
erkennbaren Wechsel im klinischen Bild die Abwehrfermente im Blute
plOtzlich schwinden oder auch plfitzlich wieder auftreten konnen. Ein
Parallelismus zwiscben klinischem und serologiscbem Befunde wurde
nach meinen Beobacbtuogen in den meisten Fallen nicbt deutlich.
Kurz zusammenfassend l&sst sich nach meinen Dntersuchungen also
sagen: dass bei Dementia praecox sich in einem sebr hohen
Prozentsatz, etwa80pCt. der Falle, ein Organabbau nach-
weisen l&sst. Die Gruppierung, Gehirn-f-Genitalorgan, ist
dabei bevorzugt (in 51 pCt. der positiven Reaktionen), und
auch der Trias Gehirn-Genitale-Schilddrfise kommt eine we-
sentlicbe Bedeutung zu (40 pCt. aller positiven Reaktionen).
Katatonie uud Hebephrenie scbeinen sich am lebhaftesten
am Organabbau zu beteiligen. Ein Parallelismus zwischen
Fermentgehalt des Blutes und klinischem Verlauf w&hrend
der Beobachtung fiber l&ngere Zeit wurde nicht deutlich.
Wenn wir jetzt der Frage der praktischen Verwertbarkeit zwecks
differentialdiagnostiscber Schlfisse mit besonderer Berficksichtigung der
forensischen Psychiatrie naher treten wollen, so mfissen wir uns aus-
einander setzen in Sonderheit mit der Gruppe der Hysterischen und Psycho-
pathen, und auf der anderen Seite mit dem manisch-depressiven Irresein.
Ich kann mich hier nicht in Erfirterungeu der verschiedenen Er-
gebnisse bei diesen funktionellen Psychosen nach den verschiedenen
Autoren einlassen, auch hier geht die Kette von denen, die niemals
Abbau fanden, kontinuierlich hinfiber zu denen, die einen solchen genau
so oft fanden, wie bei der Dementia praecox. Die Mehrzahl der Autoren
ist allerdings der Ansicht, dass den funktionellen Psychosen eine geringere
Neigung zum Abbau zukomme als der Dementia praecox.
Ich kann mich auch auf methodologische Fragen im einzelnen nicht
einlassen, nur ein Wort sei mir gestattet zur Frage der Beurteilung der
Reaktion, vielleicht dfirfte dies einige Aufkl&rung bringen fiber meine
etwas abweichenden Befunde, wenn sie auch trotzdem in weitem Umfang
in ibrer Besonderheit gewahrt bleiben werden.
Es wird von vielen Untersucbern so grosser Wert darauf gelegt,
dass die Rontrollprobe „Serum allein“ vollkommen negativ ausf&llt;
darauf lege ich keinen Wert, im Gegenteil, ich liebe es, wenn diese
Rontrollprobe allein schon eine ganz schwach positive Reaktion gibt,
und zwar aus folgendem Grande:
Gck igle
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Fermentative Yorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 259
Wir wissen, dass das Seram allein schon Substanzen enth<, die
dialysabel sind und mit Ninliydrin, sobald sie in genugender Menge vor-
handen sind, eine positive Reaktion geben. Setzen wir die Menge der
znr fraglichen Reaktion notwendigen Stoffe bei Verweodung von 1,5 ccm
Seram = 75, so werden wir bei Verwendung von uur 1 ccm Seram eine
Menge von 50 ins Dialysat bekommen, mithin eine vollkommen negative
Reaktion. Nehmen wir nun an, dass der Abbau irgend eines Organ es
zu 10, der eines anderen zu einer Menge von 20 an dialysablen S to (Ten
fiihrt, so addieren sich diese Zahlen zu den im Serum allein vorliandenen
Mengen. Wir werden also bei 1,5 ccm Serum bei dem 1. Organ einen
Abbau finden, der vielleicht mit (-{-) zu bezeichnen wire, bei dem
2. Organ vielleicht einen solchen, der mit -|- zu bezeichnen ware, also
zwei positive Reaktionen; denn in dem einen Fall fand sich eine Menge
von 85, bei dem anderen von 95 an Ninhydrin-positiven Stoffen im
Dialysat, also bedeutend mehr als die zum Grenzwert erforderlichen 75.
Anders bei Verwendung von nur 1 ccm. Da ergibt die Addition zu den
60 im Seram vorhandenen dialysablen Stoffen das erstemal 60, das
zweitemal 70. Wir haben eine vollkommen negative Reaktion, obwohl
ein Abbau tats&chlich stattgefunden.
Rosental und Hilffert heben hervor, dass die grosse Zahl der
fraglichen Reaktionen sehr unbequem sei, und erblicken in. dem Fehlen
scharfer absoluter Reaktionsgrenzen einen metbodischen Mangel des
Dialysierverfahrens.
1st aber die Reaktion Serum allein schon schwach positiv, so
komrneu die sogenannten fraglichen Reaktionen so gut wie ganz in Wegfall.
Es handelt sich nur darum, festzustellen, ob die Reaktion Serum -f-
Organ eine intensivere BlaufErbung ergibt, als Serum allein, und dies
stdsst auf keine grOsseron Schwierigkeiten 1 ). Gleichzeitig haben wir die
absolute Gewissheit, dass ein Organabbau nicht in der oben geschilderten
Weise latent geblieben ist. Und wir mussen joden Abbau als positive
Fermentwirkung anerkennen und als Abbau bewerten (nicht nur starke
lntensitatsunterscbiede), sonst begeben wir uns jeglicher Mdglichkeit
Vergleichswerte zu erbalten, willkurlicher Beurteilung ist Tur und Tor
geSffnet. Die Abderhalden’sche Reaktion ist eine qualitative Reaktion
und keine quantitative, das mSchte ich gegenuber einer neuen Arbeit
von Lindstedt an dieser Stelle hervorbeben.
1) Bei Eiobung der Hulsen auf gleichmassige Durchlassigkeit fur Peptone
geschieht die Hulsengruppieruug ja aucb nach Intensitat der Blaufarbung. Der
Einwaud, dass es misslicher sei, zwei blaue Reaktionen miteinander zu ver-
gleicben, als eine negative von einer schwaoh positiven zu untersebeiden, ist
also nicht stichhaltig.
17 *
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260
Dr. Gottfried Ewald,
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Unter Zugrundelegung dieser Methodik kam ich bei Psyclio-
patben und Hysterikern zu folgendem Ergebnis:
50 Untersuchungen an Psychopathen und Hysterikern ergaben in
25 Fallen also in 50 pCt., Abbau von irgend einem Organ, gegenuber
nahezu 80 pCt. bei Dementia praecox.
Unter den 50 pCt. positiver Reaktionen fanden sich:
Gehirnabbau
in
72 pCt.
gegenfiber 66 pCt. bei Dementia
praecox
Genitalabbau
11
72 „
11
^ 71 11 11
ii
Schilddrfisenabbau
11
76 „
It
11 11 11
ii
Leberabban
«
86 „
11
IQ
11 V
ii
Die Trias Gehirn-Genitale-Schilddruse wurde bei Psychopathen in
36 pCt. aller positiven Reaktionen gefunden gegenuber 40 pCt. bei
Dementia praecox, gleichzeitiger Abbau von Genitale und Gehirn in
50 pCt. gegenuber 51 pCt. bei Dementia praecox. Ein wesentlicher Unter-
scbied fand sich in der Organgruppierung zwischen Dementia praecox
und Hystero-Psychopathen also nicht, dagegen fanden sich bei Hysterikern
und Psychopathen wesentlich seltener fiberhaupt positive Reaktionen,
n&mlich nur in 50pCt. gegenuber 80pCt. bei Dementia praecox.
I
Und nun noch meine Zablen fiber das manisch-depressive
Irresein: auch hier weiche ich nicht unerheblich von den Zahlen an-
derer Autoren ab. Ich fand n&mlich, Manien, Melancholien und Misch-
zustfinde zusammen genommen, Abbau irgend eines Organes in nicht
weniger als 63,6 pCt.
Aber eines ist nun meines Erachtens recht wichtig, unter den
13 positiven Reaktionen fand sich
Gehirnabbau nur in 38 pCt. gegenuber 66 pCt. bei Dementia praecox
Genitalabbau nur „
46 „
W
73
11
11
J1
11
dagegen
Schilddrfisenabbau „
77 „
11
71
11
11
11
11
Leberabbau „
31 „
11
19
11
11
11
11
Verhfiltnismfissig
oft fand
sich
bei
den
Manien
isolierter
Schilddrfisenabbau, w&hrend sich die positiven Leberreaktionen fast
nur bei Melancholic fanden. Wegener hat ja als erster hervorgehoben,
dass bei Melancholien sich hfiufig Leberabbau finde, ich will dies hier
nur der Yollstfindigkeit halber anffihren, ohne weiter mich auf eine
Kritik seiner Beobachtungen einzulassen.
Nach meinen Untersuchungen erscheint es also wohl bis zu gewissem
Grade mfiglich, eine Dementia praecox serologisch vom manisch-de-
Gck 'gle
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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 261
pressiven Irresein mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu trennen,
insofern, als sich verhfiltnismfissig selten Gehirnabbau bei manisch-
depressiver Grkrankung findet, h&ufig dagegen isolierter Schilddrfisen-
abbau. Die Trias Gehirn-Genitale-Schilddrfise scheint ferner
ausserordentlich selten bei dieser Erkrankung aufzutreten.
Davon, dass man die serologische Diagnose auch nur in
dieser Frage fiber die klinische stellen kfinne, kann jedoch
keine Rede sein. Ich sah z. B. gerade vor wenig Tagen bei einem
klassischen Maniker einen Abbau von Gehirn und Hodon.
Tabellarisch zusammengestellt ergibt sich also aus meinen Uoter-
suchungen Folgendes:
Tabelle II.
Abbau irgead eines Organes bei
Dementia praecox in.80 pCt.
Manisch-Depressiven in.60 „
Hysterischen und Psychopathen in ... 50 „
Tabelle III.
Unter den positiven Reaktionen finden sich bei
Dementia
Manisch-
Hystero-
praecox
Dcpressiven
Psvchopathcn
pCt.
pCt.
pCt.
Gehirnabbau.
66
38
72
Genitalabbau.
73
46
72
Schilddriisenabbau.
71
77
76
Leberabbau.
19
31
36
Gehirn- und Genitalabbau ....
51
15
56
Trias: Gehirn - Genital - Schilddriisen-
abbau .
40
7
3G
Was nun die Frage der forensischen Verwertbarkeit anlangt, die
ja moistens ’die Differentialdiagnose, ob Psychopatbie oder
Dementia praecox, ob nur gemindert zurechnungsf&hig oder
geisteskrank, zu entscheiden hat, da haben meine Resultate wohl schou
fur sich gesprochen. Der Unterschied zwischen 60 pCt. positiven Reak¬
tionen bei Psychopatben und 80 pCt. positiven Reaktionen bei Dementia
praecox ist denn doch ein zu geringer, um verwertet werden zu kdnnen.
Trotzdem spreche ich der Reaktion auch in dieser Frage einen gewissen
Wert nicht ab. Eine negative Reaktion darf man doch recht erheblich
auf der Seite der Psychopathic buchen, eine positive Reaktion dagegen
kann niemals entscheiden, ob Psychopathic oder Geisteskrankheit vor-
liegt Ich kann mir denken, dass in einem Fall, wo die Reaktion
negativ ausffillt, der Kliniker eine willkommene Best&tigung ffir
seine schon vorher gefasste Meinung, dass es sich nicht um Geistes-
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262
Dr. Gottfried Ewald,
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krankheit handelt, finden wird. Weiter darf man meiner Ueberzeugung
nach aber nicbt geben. Ich habe gerade zwei Falle im Auge, die
uns von vornherein klinisch nicbt ganz klar erscbienen. In dem einen
Fall handelt es sich um eine Art D&mmerzustand, bei dem die organische
Grundlage an fangs nicht ohne weiteres auszuschliessen war, von dem
sich sp&ter aber herausstellte, dass er im Anschluss an ein Delikt im
Arrest entstanden war, und der weitere Verlauf bewies dann aucb die
zweifellos psychogene Natur der Erkrankung. Die Reaktion fiel w&hrend
des D&mmerzustandes sehr stark positiv aus mit Gehirn, stark mit Hoden;
kurz nacb Ablauf des D£mmerzustandes war sio noch immer stark
positiv mit Gehirn, schw&cher mit Hoden, und weitere 8 Tage sp&ter
waren Gehirn und Hoden negativ, Schilddruse aber andeutungsweise
positiv. In einem 2. Falle handelte es bich um eine Haftpsychose,
die unter dem Bild eines schweren Stupors, der anfangs die Diagnose
Eatatonie wahrscheinlich machte, verlief. Die Verbringung aus der
Haft bracbte den Stupor jedoch fast sofort zum Schwinden, und auch
weiterhin bot der Kranke nichts, was die Diagnose eines Verblbdungs-
prozesses h&tte stutzen kOnnen. Die Reaktion ergab zweimal starken
Hirn- und Hodenabbau, das 1. Hal auch solchen von Schilddruse und
spurweise von Leber. Wir haben naturlich den Verbrecher trotzdem
wieder in das Zuchthaus zuruckbringen lassen.
Fur die praktische Verwertbarkeit der Abderhalden’schen
Reaktion in der forensischen Psychiatrie ist meines Erach-
tens die Zeit noch nicht gekommen.
Auf der andereu Seite aber mbclite ich noch einmal betonen, dass
fur mich kein Zweifel besteht, dass wir es tats&chlich mit echter, spezi-
fischer Fermentwirkung beim Studium der Abderhalden’schen Reaktion
zu tun haben. Abderhalden hat selbst einmal ausgesprochen: wie
weit sich seine Reaktion als praktisch verwertbar erweisen wurde, stebe
ausserhalb seines Machtbereiches und seiner Interessen, das zu begrun-
den, sei Sacbe des Klinikers; ihm liege nur daran, festgestellt zu habeu,
dass spezifische auf Organe eingestellte Fermente im Blute auftreten.
Das bleibt auch sein grfisstes Verdienst.
Dass fur mich als suggestives Moment, von dem ja immer so
gem bei dieser Reaktion gesprochen wird, nur der 'Wunsch in Be-
tracht kommen konnte, meinem hochverehrten Lehrer Herm Geheim-
rat Abderhalden den Beweis der praktischen Verwertbarkeit seiner
Reaktion auch in der forensischen Psychiatrie zu erbringen, wird
mir gewiss jedor zubilligen. Ich bedauere, dass ich das bislang nicht
gekonnt.
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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenenVerblodungsprozesse usw. 263
Allerdings muss ich gesteken, es ist mir gar nicht so wunderbar,
dass auch bei Psychopatben und Hysterikern haufig allerbaud Organ-
abbau auftritt; denn auf endokrine Storungen mfissen wir letzten Endes
doch auch die reaktive AfiFektlabilitftt des Hysterikers, die Reizbarkeit
des Psychopathen zurfickffihren; und wie enge Beziebungen besteheu an-
erkanntermassen zwischen ecbten eudokrinen Erlcrankungen, wie z. B.
dem Basedow und zwischen Hysterie. Fur erstere Erkrankung hat man
ja sogar eine typiscbe Abbaugruppierung, uud wobl mit Recht, angefuhrt.
Stdrungen im einzelrienOrgan rutte 1 n eben immer am ganzen
System. Meines Erachtens beweisen uns die Abderhalden-
scben Dntersucbungen im Reagenzglas-Versuch objektiv
gerade das, was wir klinisch bereits so oft erkaDnten, nfimlich
das enge Ineinandergreifen und Zusammenarbeiten ganzer
Organsysteme. Das Schwanken im Ausfall von Reaktionen bei Unter-
suchung fiber Ifingere Zeit hat ffir mich aus diesem Grunde nichts
Yerwunderliches. Die Abderhalden’schen Untersuchungen lehren uns
hineinsehen in einen fiusserst kompliziert arbeitenden Mechanismus. Wir
koonen einstweilen noch nicht sagen, dass wir die Gesetze des Meckanis-
mus durchschaut haben. Ob es der Abderhalden’schen Methode, ob
einer andereu UntersuchuDgstechnik vorbehalten ist, uns tiefer hinein
zu fuhren in diese Renntnisse, bleibe dahingestellt.
Es war mir interessant, meine frfiheren Untersuchungen an Geistes-
kranken aus dem Abderbalden’schen Institut—sie beschranken sich
allerdings auf ganze 17 Falle — mit meinen jetzigen Resultaten zu
vergleichen. Sie scheinen mir nicht different von meinen heutigen Er-
gebnissen. Auch damals oft kombinierter Abbau eines ganzen Systems,
auch bei zweifellos nicht organischen Psychosen.
Wenn ich damals fiber recht zufriedenstellende Untersuchungen be-
zuglich der Gravidit&ts- und Karzinomdiagnose bericbtete, so stebt dies
meines Erachtens auch nicht im Widerspruch mit meinen heute mitge-
teiltcn Befunden; denn nicht jeder Meusch trfigt eine Plazenta mit sich
herum oder ein Karzinom. Normalerweise finden sich die auf diese
Organe eingestellten Fermente natfirlich nicht. Aber jeder Menscb hat
ein Gehirn, ein Genitalorgan, eine Schilddruse, hat ein sehr labiles
endokrines Organsystem, und daher werden wir viel leicbter bei An-
setzen derartiger Organe auf positive Reaktionen stossen bei Menschen,
die klinisch gar nicht erheblioh von dem Normalen abzuweichen brau-
chen, da die geringen Abnormitfiten keine ffir ibn selbst oder sozial
auffallende Erscheinungen verursachen. Das drfickt den Wert der Reak-
tion beim Ansetzen derartiger Organe naturgemfiss erheblich herab.
Fur Graviditfits- nod Karzinomdiagnosen wird der praktiscbe Wert der
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264 Dr. Gottfried Ewald,
Abderhalden’schen Reaktion nach wie vor von mir anerkannt, das wird
durch die Ergebnisse meiner psychiatrischen Beobachtungen nicht berubrt.
Ich will zum Schluss eine Anzahl meiner Versuchsprotokolle
mitteilen. Dabei komme icb noch ganz kurz auf die Erdrterung
einiger technischer Fragen. Die Dialysierversuche wurden stets unter
mOglichst absoluter Wahrung der Sterilit&t angesetzt, aucb wurde nor
mit friscb destilliertem Wasser gearbeitet. Um Vergleichswerte zn
haben, wurde die Dialysierdauer von 16 Stunden stets genau innege-
halten. Das Serum wurde fast stets nuchtern entnommen. Seren zur
Zeit der Verdauung sind nicht verwertbar, da sie leicht allgemein gro-
teolytische Fermente entbalten kOnnen. Die Hulsen wurden ungefchr
alle 14 Tage auf Eiweissundurchl&ssigkeit und auf gleichmissige Durch-
l&ssigkeit fur dialysable ninbydrinpositive Substanzen gopruft. Dabei
zeigte sicb, dass eiue Eiweissdurchl&ssigkeit nur in sebr selteuen Fallen
auftrat, dagegen scbwankte die Permeabilitat der Hulsen starker, so
dass eine Umgruppierung der Hulsen Ofter stattfinden musste. Dies war
auch der Anlass, dass,ganz minimale Scbwankungen, also die seltenen
Reaktionen, die mit ? zu bezeichnen waren, stets den negativen Reak-
tionen zugerechnet wurden.
Den scbwierigsten Punkt bildeten, wie icb schon in einer fruberen
Arbeit betonte, und wie aucb von Abderbalden und Lamp6 bereits
hervorgehoben wurde, die Organsnbstrate. Ich wandte zur Organpru-
fung, wie scbon bei meinen Untersucbungen am Abderhalden’schen
Institut, folgende Methodik an: Gleichzeitig mit den Versuchen wurde
auch eiu Teil von den bei scharfster Prufung negativ gefundenen Organen
in Reagenzglasern mit destilliertem Wasser angesetzt und 16stiindiger
Bebrutung unterzogen. Darauf wurde das Bebrutungswasser abfiltriert,
das Organ noch einmal mit etwa 10 ccm destillierten Wassers versetzt
und auf etwa 1—2 ccm eingekocbt. Dies Kochwasser wurde sodann
zum Bebriituugswasser hinzufiltriert, mit 1 ccm Ninhydrinlbsung versetzt
nnd abermals auf 1—2 ccm eingekocbt. Es durfte nicht die geringste
Spur von Blaufarbung auftreteu.
Ferner wurde nach Mdglichkeit wenigstens eines der Seren, die an
eiu und demselben Tage angesetzt wurden, inaktiviert, und das inaktive
Serum in der gleichen Weise angesetzt, wie das aktive. Es durfte dann
keine Spur von Abbau eintreten, wenn der Versuch als eiuwandsfrei
gelten sollte. Schliesslich war icb bestrebt, stets am gleichen Tage
neben Seren, bef denen Abbau erwartet wurde, solche anzusetzen, bei denen
Abbau nicht zu erwarten war. Es konnte dabei naturlich einmal vor-
kommen, dass ich mich in der Annahme des voraussichtlichen Abbauens
Gck igle
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Fermentative Vorgange imVerlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse asw. 265
oder Nicbtabbaaens tSuschte, in fast alien Fallen fand sich aber wenig-
stens ein ganz negatives Serum an jedem Versucbstage, und waren ja
einmal alle Versucbe positiv, so konnte das inaktive Serum den Beweis
der Intaktheit der Organe neben der scbarfsten Organprufung nocb er-
bringen. Wichtig erscbien mir das Ansetzen mit inaktivem Serum neben
der scbarfsten Organprufung (Organbebrutungsmethode) aus dem Grande,
weil man nocb denken kdnnte, dass vielleicht Serum eher als Aqua
destillata imstande ware, wahrend der Bebrutungsdauer aus den an sich
vorher einwandsfrei praparierten Organen ninhy drinpositive Stoffe her-
vorzulocken. Ich halte dies nach meinen Untersuchungen allerdings fur
sehr unwahrscbeinlich, die Organbebrutungsprufung erschien mir zum
wenigsten gerade so einwandsfrei, wie die Kontrolle mit inaktivem Seram,
ist ihr vielleicht sogar uberlegen. Andererseits erscheint die Organ-
kontrolle mit wahrscheinlicb negativen Seren wiederum wertvoll, um
dem Binwand zu begegnen, dass inaktives Serum hinsichtlich des nicht
fermentativ hervorgerufenen Hervortretens von ninhydrinpositiven Stoffen
anders auf die Orgaue wirke, als aktives' Serum. Der Binwand, dass
das eino Seram roehr, das andere weniger die Fahigkeit habe, auf nicht
fermentativem Wege aus einwandsfreien Organen ninhydrinpositive, dia-
lysable Substanzen lierauszuziehen, und dass auf dicse Weise ein Abbau
vorgetauscht werden konne, bleibt naturlich bestehen. Bbenso der Bin¬
wand, dass vielleicht in der einen Hulse ein Substanzteilchen noch batte
Stoffe abgeben kdnnen, wahrend ein anderes Teilchen in einer anderen
Hiilse ebcn absolut „ninhydrinfrei“ war. Wer sich an diese beiden
Punkte klammern will, um der Methode damit Abbruch zu tun, der ist
naturlich schwer zu widerlegen. Ihnen gegenuber sei nur bemerkt, dass
der gleiche Ausfall bei Ansetzen von Doppelversuchen oder bei Wieder-
holung des Versuches am nacbsten Tage sich doch damit ausserordent-
lich schwer vereinigen liesse.
Das Ablesen derVersuche erfolgte stets so, dass ich nur die num-
merierten Rohrchen vor mir sah, ohne eine Ahnung zu haben, wie sie
zu den angesetzten Sereu gehOrten. Das subjektive Moment war damit
vullig ausgcschaltet.
Ich gebe die Protokolle wieder genau so, wie sie von meiner Labo-
rantin unter meiner Leitung und nach meiner Anweisung in das Proto-
kollbuch eingetragen wurden, stelle die Versuche von einem Tage
immer in besonderer Rubrik zusammen, so dass die Zusammenstellung
der Seren an den einzelncn Tagen gut ubersehbar ist. Wo mir eine
Bemerkung betreffs der Versuchsdeutung wunschenswert erschien, habe
ich sie am Schlusse jeder Rubrik angefuhrt.
Die Protokolle sind folgende:
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266 Dr. Gottfried Ewald,
Nr. 1. 25. 6. 18.
Name
Diagnose
j S t 0 f f
Reaktion
Bemerkungen
Mei.,
Hebephrenie. Chronisch ver-
Aktives Serum allein
-»)
1,5 ccm Serum.
miinnl.
laufend, noch nicht stationar.
do.
+ Gehirn
+
0,2 ccm Ninhydrin.
Einfach gemutlich verblodet.
do.
+ Hoden
+
Scharfste Organpro
do.
+ Schilddr.
(+)
ben, samtlich neg
do.
+ Leber.
(+)
Inaktiv. Serum allein
—
do.
+ Gehirn
—
do.
-j- Hoden
«+»
do.
-j- Schilddr.
do.
+ Leber
—
Vial.,
Katatonie. Stupor nach an-
Aktives Serum allein
—
mannl.
fanglicher Erregung. Krank
do.
+ Gehirn
((+))
! seit V 2 Jabr. Katalepsie.
do.
+ Hoden
—
Im inakt. Versuch be
do.
+ Schilddr.
+4-
Mei. Hoden ((-f-))
do.
+ Leber
a+))
Gus.,
Normal.
i Aktives Serum ellein
—
mannl.
do.
+ Gehirn
(+)
vergl.
do.
' + Hoden
(+>
Im inakt. Versuch bei
Nr. 2.
do.
+ Schilddr.
—
Mei. Hoden ((+))
do.
+ Leber
—
Det.
Paranoide Form der Dementia
Aktives Serum allein
!
—
mannl.
praecox mit verworrener, un-
do.
+ Gehirn
((+))
sinniger Wahnbildung, ziem-
do.
+ Hoden
■+*
Im inakt. Versuch be
lich schnell fortschreitend,
do.
+ Schilddr.
((+))
Mei. Hoden ((+))
erst seit IV 2 Jahren bestehend.
i
Der Versuch ist nicht ganz einwandfrei beziiglich der Hodenreaktioncn, doch war es wahr
scheinlich, dass kein Organfebler vorlag; denn die scharfste Organpriifung war negativ, und dei
Versuch Vial, ergab eine negative Hodenreaktion. Auffallend war auf der anderen Seite die positive
Gehirn- und Hodenreaktion bei dem anscheinend normalen Serum Gus. Zur Kliirung wurde dieses Serum
daher sofort noch ein zweites Mai angesetzt. Die Reaktion findet sich in der Rubrik des foigenden Tages
Die Reaktionen dieses Tages wurden als mit grosser Wahrscheinlichkeit einwandfrei bezeichnet
Die positive Reaktion des Hodens im inaktiven Versuch ist vielleicht als Hiilsenfehler, vielleieh’
durch nicht ganz gleichmassiges Kochen zu erklaren. Auf letzteres wurde aucb stets streng ge
achtet. Es kann aber natiirlich einmal zu einem Zwischenfail kommen, wie jeder weiss, der dit
Methode selbst langere Zeit ausgeiibt. Auch die gleichmassige Weite der Rohrchen darf bei dei
Beurteilung, selbst schon bei Ansetzen der Reaktion nicht vernachlassigt werden.
Nr. 2. 26. 6. 18.
Gus.,
mannl.
Normal.
Aktives Serum allein
—
Das gleiche Serun
wie in Nr. 1.
vergl.
Nr. 1.
do. + Gehirn
do. + Hoden
do. + Schilddr.
((+))
«+»
Nur 1,0 ccm Serum
0,2 ccm Ninhydrin.
1) Die Wahl derBezeichnungen ist folgende*. ? = fragliche Reaktion (negativ gedeutet); ((+)) = sehi
geringe Blaufarbung; (+) = deutliche Blaufarbung; + = starke Blaufarbung; ++ = starker*
Blaufarbung. Mit +++ zu bezeichnende Reaktionen kamen so gut wie nie zur Beobachtung.
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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblddungsprozesse usw. 267
Name
Diagnose
S t o f r
Reaktion
Bemerkungen
Schizophrenic. Stationarer Fall.
Aktives Serum allein
_
Nur 1,0 ccm Serum.
mannl.
Bester Arbeiter der Anstalt.
do.
+ Gehirn
—
0,2 ccm Ninhydrin.
Zeitw. Halluzinationcn. Wort-
do.
4* Hoden
—
neubildungen, Kontaminatio-
nen, Gedankenverquickungen.
do.
+ Schilddr.
Tie.,
Manische Attache im Yerlauf
Aktives Serum allein j
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
eincs manisch - depressiven
do.
+ Gehirn
++
1 +
0,2 ccm Ninhydrin.
Irreseins.
do.
+ Hoden
++
+
do.
+ Schilddr.
a+))
*
do.
4 Leber
((+))
—
Inaktiv. Serum allein
((+»
—
do.
+ Gehirn
((+))
—
do.
4- Hoden
((+))
—
do.
Schilddr.!
((f))
—
do.
-1- Leber
«+))
—
Drae..
Schwere periodische Manie, aber.
Aktives Serum allein
■
—
1,5 ccm Serum.
weibl.
nicht verworren. Enorraer
do.
+ Gehirn
—
0,2 ccm Ninhydrin.
Rededrang und Bewegungs-
do.
4 Ovar
—
unruhe, bochgradige Ideen-
do.
4* Schilddr.
+
flucht.
i do.
+ Leber
Skr.,
Kongenitaler Strabismus mit
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
schwerem Nystagmus. Sonst
do.
+ Gehirn
+
0,2 ccm Ninhydrin.
normal.
do.
4 Hoden
— .
!
do.
4* Schilddr.
!
—
do.
4- Leber
1
—
Die Reaktion Gus. in Nr. 2 bewcist zuniicbst die Richtigkeit der Reaktiou Gus. in Nr. 1. Da
sic mil nur 1,0 rcm Serum ausgefiihrt wurdc, war der Abbau ein entsprcchend geringerer. Die
Richtigkeit des Schilddriisenabbaucs bei der Manic Drae. diirfte angesiehts der iibrigen vielfachen
negativen Scbilddriisenrcaktionen kaum anzuzweifeln sein. Das gleiche gilt yon den positivon Gehirn-
und Hodcnreaktionen. — Der Versuch gilt als einwandfrei.
Nr. 3. 27. 6. 18.
Stu.,
Hebephrenic, langsam fort-
Aktives Serum allein
___
1,5 ccm Serum.
mannl.
schreitende, einfach gcmiit-
liche Verblodung mit seltenen
tagweisen Vcrstimmungen.
do. + Gehin
do. 4" Hoden
do. 4" Schilddr.
do. 4“ Leber
?
0,2 ccm Ninhydrin.
Hoden im Organ-
bebriitungsversuch
schwacb +•
Wit.,
Katatonie, krank seit iy 2 J.,
ziemlich rasch fortschreitend,
Wechsel zwischen Stupor und
mehr oder minder heftigen
Errcgungcn. Starke Hypo-
tonie, zeitw. erhcbl. Katalepsie,
z.Z. der Blutentnahmc inassige
Erreguug u. starke Hypotonie.
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
maonl.
do. + Gehirn
do. -j- Hoden
do. 4 Schilddr.
do. 4- Leber !
((+»
((+»
«+))
?
0,2 ccm Ninhydrin.
Hoden im Organ-
bebriitungsvcrsuch
schwach +.
1) Bei Reaktionen, bei denen Serum allein nicht negativ war, ist das Ergcbnis in die linke Spalte
der Rubrik „Reaktion - cingetragen. In der rechten Spalte lindet sich das „auf 0 reduzierte* 4 Ergebnis.
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Gck igle
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CORNELL UNIVERSITY
268
Dr. Gottfried Ewald,
Name
Diagnose
S t 0 f f
Reaktion
Bemerkungen
Was.,
Dementi a paranoides, ziem-
lich stationar, Fiille von phan-
Aktives Serum allein
((+)>
—
1,5 ccra Serum.
0,2 ccm Ninhydrin.
mannl.
do.
+ Gehirn
++
+
tast. Wahnideen, sei Christus,
do.
+ Hoden
((+»
Hoden im Organ
schon 125 mal gekreuzigt usw.
do.
4- Schilddr.
+■+■
+
bebrutungsversuc
Dabei gute Erhaltung der Per-
sonlichkeit, weiss, dass er da-
do.
+ Leber
((+»
—
schwach +.
bei doch Schuhraacher Was.
Kum.,
ist, gibt geordnete Auskunft.
Vereinzelte Stereotypien.
1
Hysterie. Enuresis.
I Aktives Serum allein j
(+)
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
do.
+ Gehirn
—
0,2 ccm Ninhydrin.
do.
4“ Hoden
+
(+)
Hoden im Organ
do.
4- Schilddr.
+
(+)
bebrutungsversuc]
do.
Leber
(+)
—
schwach .
Mai.,
Schwere Melancholie, zahllosc
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
weibl.
Selbstbeschuldigungen u.Ver-
do.
+ Gehirn
((+)>
0,2 ccm Ninhydrin.
siindigungsideen. Selbstmord-
do.
4“ Ovar
—
neigung. Tiefe Traurigkeit,
do.
4- Schilddr.
c +»
spater auch Angst.
do.
4- Leber
—
Der Versuch ist wicderura betreffs des Hodens nicht einwandfrei. Zwar ist derselbe bei de
Reaktion Was. negativ, die drei anderen positiven Reaktionen bleiben aber suspekt. Inaktivierei
wurde aus Serummangel unterlassen. Die anderen Reaktionen miissen als einwandsfrei gelten. Di
negative Reaktion mit Gehirn in der linken Spalte bei Kum. bei positiver Reaktion von Serum alleii
erkliirt sich durch Adsorption, wie alle weiteren gleichartigen Falle im weiteren Verlaufe der Statistik
In den folgenden Tagen Hulsenpriifung.
Nr. 4. 2. 7. 18.
Mun.,
Leichte Melancholie mit Klein-
Aktives Serum allein 1
((+»
_
1,5 ccm Serum.
weibl.
hcitswahn und Suicididcen.
do.
+ Gehirn j
(4-)
«+»
0,2 ccm Ninhydrin.
do.
4" Ovar |
((+))
do.
+ Schilddr.! ((+))
—
do.
+ Leber !
(+)
((+»
Inaktiv. Serum allein
(+>
—
-
do.
+ Gehirn
(+>
—
do.
4- Ovar
—
do.
4- Schilddr.
—
do.
4- Leber
—
—
Lok.,
Normal.
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
weibl.
do.
+ Gehirn
—
0,2 ccra Ninhydrin.
do.
Ovar
—
do.
4- Schilddr.
—
do.
+ Leber
—
Mel.,
Katatonie, fast stationar.
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
weibl.
Katalepsie. Stereotypien. Sitzt
do.
4- Gehirn
T“
0,2 ccm Ninhydrin.
den gaozen Tag zusammenge-
do.
4* Ovar
—
kauert auf einer Bank. Blddes
do.
4“ Schilddr.
—
Lachen. Selten einen Tag er-
regt, schimpft dann, schlagt
gelegentl. Weitgeh. verblodet.
do.
4- Leber
i
Der Versuch ist einwandsfrei und bcdarf keiner Erliiuterung.
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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 269
Nr. 5. 3. 7. 18.
Name
Diagnose j
S to f f
Reaktion
i
Bemerkungen
Koh.,
Schwere Angstmelancholie mit
Aktives Serum allein
_
1,5 ccm Serum.
weibl.
Beeintrachtigungsgedanken,
do. + Gehirn
—
0,2 ccm Ninhydrin.
bewegungsarm. Keine Ilalluzi-
do. + Ovar
—
nationen. Ratios.
do. + Schilddr.
—
do. + Leber
Wag.,
Normal.
Aktives Serum allein
((+))
—
1,5 ccm Serum.
nannl.
do. + Gehirn
—
0,2 ccm Ninhydrin.
do. + Hodcn
«+»
—
do. + Schilddr.
—
do. -j- Leber
—
—
Schii.,
Ratatonie, nahezu stationar.
Aktives Serum allein ,
((+»
—
1,5 ccm Serum.
nannl.
Katalepsic zeitweise. Aus-
do. + Gehirn
—
0,2 ccm Ninhydrin.
gesprochene Manieren. Aeus-
do. 4“ Hoden
(+)
«+))
serste Bewegungsarmut. Ste-
do. 4" Schilddr.
' +
(+)
reotypien.
do. 4“ Leber
—
—
Inaktiv. Serum allein
—
do. + Gehirn
—
do. 4” Hoden
—
do. -j- Schilddr.
—
do. 4- Leber
—
Har..
Ratatonie, nahezu stationar.
Aktives Serum allein
((+))
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
ZusammengekriiramteHaltung,
do. + Gehirn
—
0,2 ccm Ninhydrin.
Neigung zu Ratalepsie, Steroo-
do. 4- Hoden
—
—
typien. Selten impulsive Akte.
do. 4“ Schilddr.
—
—
do. 4* Leber
—
—
Der Versuch ist cinwandsfrei, die Krankenzusammenstellung klar.
Nr. 6. 4. 7. 18 (Fehlversuch).
Sei.,
Leichto endogene Depression
Aktives Serum allein
_
fl,5 ccm Seram, 0,2 ccm
\ Ninhydrin.
weibl.
mit Mangel an Initiative und
do.
+ Gehirn
((+)>
Im inaktiv. Versuch
Unzulanglichkeitsgefiihlen.
do.
4 - Ovar
Lun. Gehirn ((+))
do.
4 * Schilddr.
+
do.
4- Leber
(+)
Car.,
Paranoide Form der Dem.
Aktives Serum allein
—
/ 1,5 ccm Serum, 0,2 ccm
l Ninhydrin.
weibl.
praecox m. unsinnig., verworre-
do.
+ Gehirn
(+)
Im inaktiv. Versuch
ner Wahnbild., auch Wortneu-
do.
4 - Ovar
+
Lun. Gehirn ((+))
bild. u. Rontamination. Zeitw.
do.
4 - Schilddr.
+
heftige Erreg. Nahezu station.
do.
-j- Leber
+
Lun-,
Endogene Depression mit In-
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum
mannl.
suffizienzgefiihl und Arboits-
do.
+ Gehirn
(+>
0,2 ccm Ninhydrin.
unlust, Selbstmordgedanken.
do.
4 - Hoden
(+>
Sehr weinerlich. Wasser-
do.
4 - Schilddr.
+
mann im Blut und Liquor
do.
4 “ Leber
+
negativ.
Inaktiv. Serum allein
—
do.
-f- Gehirn
«+))
do.
4- Hoden
do.
+ Schilddr.
—
de.
4 - Leber
—
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Go 'gle
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270
Dr. Gottfried Ewald,
Dieser Versuch wurde verworfen, ist naturgemass auch in. der oben mitgetcilten prozentualen
Zusammenstellung nicht mit vorwandt. Zwar war das inaktive Serum bei Liin. mit Ausnahrae einei
schwachen Gehirnreaktion negativ, samtliche Organe auch bei Bebriitung einwandfrei. Der gleich-
massig positive Ausfall in alien 3 Reaktionen mit samtlichcn Organen war aber zu verdachtig, es
musste eine Storung votliegen. Die Richtigkeit dieser Annahrae beweist der folgende Tag, Nr. 7,
an dem die Sera Sei. und Car. nochmals angesetzt wurdon und negativ ausfielen.
Was der Anlass zu den Fehlresultaten war, konnte nicht eruiert werden. Auch aus diesen
Ergebnis erhellt der Wert des Ansetzens mehrerer Versuche gleichzeitig. Das^ Ansetzen eines
isolierten Versuches bleibt gefahrlich.
Nr. 7. 5. 7. 18.
Name
Diagnose
Stoff
Reaktion
Bemerkungen
Sei.,
weibl.
S. Nr. 6.
I
! Aktives Serum allein
do. + Gehirn
do. + Ovar
do. + Schilddr.
do. + Leber
i i i i i
1,5 ccm Serum.
0,2 ccm Ninhydrin.
Car.,
weibl.
S. Nr. 6.
1 Aktives Serum allein
do. + Gehirn
do. -j- Ovar
do. -t- Schilddr.
—
1,8 ccm Serum.
0,2 ccm Ninhydrin.
Bek.,
Schizophrenic mit zahlreichcn
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
weibl.
Wortneubildungen und Kon-
taminationen. Vollige Inko-
harenz des Gedankenganges.
Nahezu stationar.
do. + Gehirn
do. + Ovar
do. 4* Schilddr.
do. 4- Leber
?
?
(+)
0,2 ccm Nin hydrin.
Eich.,
Dem. paranoides, nahezu statio¬
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
weibl.
nar, mit ganz phantastischer,
produktiver Wahnbildung bei
verhaltnismassig gut erhal-
tener Personlichkeit.
do. + Gehirn
do. 4“ Ovar
do. 4" Schilddr.
do. 4“ Leber
?
<+)
0,2 ccm Ninhydrin.
Der Versuch gilt als einwandfrei. Zwar bestand koine Moglichkeit zum Ansetzen inaktiver Ver¬
suche. Die dreifach beobachteten negativen Reaktionen mit Leber und Ovar verbiirgen die Richtigkei:
des fermentativen Abbaues in den zwei positiven Versuchen. Ein Organfehler lag offenbar nicht vor
Np. 8. 6. 7. 18.
Wol.,
r
Paranoide Form der Dem.
Aktives Serum allein
1,5 ccm Serum.
raannl.
praecox, im ersten Beginn.
Vor Wochen ausgesprochene
Beziehungsideen, hat jetzt ein
Geheimnis, das er niemandem
mitteilt. Lappisches Wesen,
unvertraglich.
do. + Gehirn
do. 4" Hoden
do. 4" Schilddr.
do. 4* Deber
?
0,2 ccm Ninhydrin.
Gen.,
Alte stationare Hebephrenie,
affektiv verblodet, lappisches,
albernesWesen, unmotiviertes
Lacheln.
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
do. + Gehirn
do. 4* Hoden
do. 4" Schilddr.
do. 4“ Deber
i
INI
0,2 ccm Ninhydrin.
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Gck igle
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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse nsw. 271
Same
Diagnose
Stof f
Reaktion
Bemerkungen
Met.,
Hebephrenic im Beginn, son-
Aktives Serum allein
_
1,5 ccm Serum.
*nnl.
derliches Wesen, bewegungs-
arm, afiektiv stumpf, ist gern
fiir sich. Mitunter lappisches
Lachen. Galt erst fur Psycho¬
path, en tpuppte sich erst spater
als Dem, praecox.
do. + Gehirn
do. + Hoden
do. + Schilddr.
do. + Leber
?
?
0,2 ccm Ninhydrin.
Aus Mangel an Serum konnten inaktive Versuche nicht angesetzt werden. Doch liegt kein
rund vor, dem Ausfall der Reaktion zu misstrauen. Der Versuch gilt als einwandfrei.
Nr. 9. 9. 7. 18. (Am 7. und 8. 7. wurde nicht gearbeitet.)
Vial.,
Katatonie. Allmahliches Ab-
Aktives Serum allein
(+)
1,5 ccm Serum.
lannl.
klingen des Stupors.
do. + Gehirn
(+)
- !
0,2 ccm Ninhydrin.
do. + Hoden
<(+))
- 1
Nr. 1
do. + Schilddr.
((+))
—
do. 4- Leber
(+)
—
Inaktiv. Serum allein
<(+))
—
t
do. -
do. -
do. -
do. i
h Gehirn
|- Hoden
|- Schilddr.
b Leber
(+)
(+)
((+))
((+))
((+))
((+))
> Organbebrutungs-
' proben absolut ne-
gativ. Im inaktiv.
Versuch Liin. bci-
1
des negativ.
Mci.,
Hebephrenie. Klinisch unver-
Aktives Serum allein
(+)
_
1,5 ccm Scrum.
nannl.
andert.
do. + Gehirn
((+»
—
1 0,2 ccm Serum.
do. 4“ Hoden
+
((+))
1 lm inaktiv. Versuch
Nr. 1
do. 4* Schilddr.
+
((+))
Vial, beides ((+)),
do. 4* Leber
((+);
ira inaktiv.Vorsuch
Lun. jedocb beides
negativ. Die Or-
ganbebriitungspro-
ben waren durch-
weg negativ.
Han.,
Katatonie, in Schuben ver-
Aktives Serum allein
(+)
—
1,5 ccm Serum.
nannl.
laufend, mit guten Remis-
0,2 ccm Ninhydrin.
sionen, seit Jahron bestehend.
do. -
- Gehirn
(+)
—
> Im inaktiv. Versuch
' Vial, beides ((+)),
im inftl'tiv
Vor 2 Mon. ausserst schwerer
do.
- Hoden
H—H
+
Erregungszustand, langsam
do. -
- Schilddr.
((+))
abklingend. Jetzt sohon recbt
gute Remission. Noch Sen-
sationen.
do. -
- Leber
((+))
till lUuaU V • Y viaULU
Liin. jedoch beides
negativ. Die Or-
ganbebriitungspro-
ben waren durch-
weg negativ.
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272
Dr. Gottfried Ewald,
Name
Diagnose
S t 0 f f
Reaktion
Bemerkungen
Liin.,
Endogene Depression.
Aktives Serum allein
((+»
1,5 ccm Serum.
mannl.
0,2 ccm Ninhydric
vgl.
Nr. 6.
do. + Gehirn
do. + Hoden
do. + Schilddr.
do. + Leber
Inaktiv. Serum allein
(+)
(+)
((+»
((+»
++I 1 1
> Im inaktiv. Versucl
1 Vial, beides ((+) 1
Samtliche Organ
bebriitungsprobe:
absolut negativ.
do. + Gehirn
((+)>
—
do. + Hoden
((+»
—
do. 4“ Schilddr.
((+»
—
do. 4“ Leber
—
Hier ist ein Organfehler nicht anzunehmen, da sowohl samtliche Bebriitungsproben negstr
waren, als auch der inaktive Versuch Ltin.; auch hatte man bei vorhandenem Organfehler eiw
positive Gehirn- und Hodenreaktion im aktiven Versuch Vial, erwarten miissen. Wahrscbeinlici
handelt es sich um einen Kochfehler bei dem inaktiven Serum Vial, allein. Moglicb ist auch ei:
Hiilsenfehler. Daher sofort Hiilsenpriifung auf gleichmassige Durchlassigkeit fiir Peptone.
Nr. 10. 11. 7. IS.
Lan.,
Normal.
Aktives Serum allein
(+)
1,5 ccm Serum.
mannl.
do. + Gehirn
(+>
—
0,2 ccm Ninhydrin.
do. 4" Hoden
(+)
—
do. 4" Schilddr.
(+)
—
do. 4“ Leber
(+)
—
Was.,
Dem. paranoides. Klinisch
Aktives Serum allein
(+)
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
unverandert.
do. + Gehirn
(+)
—
0,2 ccm Ninhydrin.
vgl.
do. 4“ Hoden
—
—
Nr. 3.
do. 4" Schilddr.
r+)
—
do. -f Leber
(+)
—
Inakt. Serum allein
(+)
—
do. + Gehirn
(+)
—
do. 4“ Hoden
—
—
do. 4" Schilddr.
(+)
—
do. 4" Leber
0
0
Wit,
Katatonie. Klinisch etwas
Aktives Serum allein
((+))
_
1,5 ccm Serum.
mannl.
erregter.
do. + Gehirn
+
(+)
0,2 ccm Ninhydrin.
vgl.
do. 4“ Hoden
((+))
—
Nr. 3.
do. 4* Schilddr.
((+))
—
do. 4" Leber
+
(+)
Nil.,
Leichte endogene Depression.
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
Weinerlich, Suizidgedanken.
do. 4- Gehirn
—
0,2 ccm Ninhydrin
do. + Hoden
—
do. 4* Schilddr.
((+))
Der Versuch ist einwandfrei.
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Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblddungsprozesse usw. 273
Nr. 11. 12. 7. 18.
B
Diagnose
Stoff
Reaktion
Bemerkungen
leek..
Schizophrenic, chronisch fort-
Aktives Serum allein
(+>
_
1,5 ccm Serum.
iinnl
schreitend, mit katatonen
do. + Gehirn
(■+•>
-
—
0,2 ccm Ninhydrin.
Ziigen, Stereotypien, Ver-
do. + Hoden
((+»
-
-
bigeration, vdlliginkoh&rentem
do. + Schilddr.
—
-
-
Gedankengang.
do. + Leber
—
-
—
Stn.,
Hebephrenie.
Aid ives Serum allein
-
—
0,6 ccm Serum -f-
annl.
Rlinisch unverandert.
do. + Gehirn
-
-
1,0 ccm physiolog.
T g l.
do. + Hoden
,
-
-
NaCl-Losung.
<r. 3.
do. + Schilddr.
-
-
0,3 ccm Ninhydrin.
lun.,
Chronische Melancholic mit viel
Aktives Serum allein
-
-
1,5 ccm Serum.
anni.
hypochondrischen Ziigen, seit
do. -
- Gehirn
+
0,2 ccm Ninbydrin.
2 l /z Jahren ohne Unter-
do. -
- Hoden
+
brechung bestehend.
do. -
- Schilddr.
-
-
do. -
- Leber
<+>
Det.,
Paranoide Form der Dem. prae-
Aktives Serum allein
«+»
-
-
1,5 ccm Serum.
annl.
cox, ziemlich schnell fort-
do. + Gehirn
(+>
((-
-»
0,2 ccm Ninhydrin.
'gi-
schreitend.
do. + Hoden
+
(-
-)
iT. 1 .
do. + Schilddr.
++
do. + Leber
++
-
-
Der Versuch Stn. wurde nicht in der prozentualen Statistik verwertet, da die Serummenge viei
i gering war. Inaktive Versuche wurden wegen Serummangel nicht angesetzt. Doch sichert der
'g&tive Ausfall in Versuch Beck mit hoher Wahrscheinlichkeit die Bichtigkeit auch des Versuches
uo. Die Organbebrutungsproben waren nstiirlich samtlich negativ.
Die Versuche Beck., Jun. und Sch. durften als einwandfrei zu bezeichnen sein.
Nr. 12. 13. 7. 18.
tei
Schizophrenie, stationar.
Aktives Serum allein
(+)
1,5 ccm Serum.
iannJ.
do.
+ Gehirn
++
+
0,2 ccm Ninhydrin.
v gl-
do.
+ Hoden
-
-
—
<r. 2.
do.
+ Schilddr.
(H
b)
—
do.
-b Leber
b
(+)
Val.,
’ eibl
Schizophrenie, stationar, voll-
Aktives Serum allein
-
b
—
1,5 ccm Serum.
kommene Inkoharenz des Ge-
do.
+ Gehirn
(-
b)
—
0,2 ccm Ninhydrin.
dankenganges, Wortneubil-
do.
+ Ovar
(-
b)
—
dungen, Kontaminationen.
do.
+ Schilddr.
((-
b))
—
do.
+ Leber
((-
b))
—
Inaktiv. Serum allein
—
do.
+ Gehirn
—
do.
4* Ovar
—
do.
+ Schilddr.
—
do.
+ Leber
—
ini..
Paranoide Form der Dem. prae-
Aktives Serum allein
((+))
—
1,5 com Serum.
ribJ.
cox, falsche, unsinnige Be-
do.
+ Gehirn
-
-
—
0,2 ccm Ninhydrin.
ziehungen, Wortneubildungen
do.
-f- Otar
(+)
((+))
und Verquickungen, aber aus-
gesprocben einformig.
do.
+ Schilddr.
?
1
Der Versuch ist einwandfrei.
Arsklr t PtyehUtri*. Bd. SO. Heft 1.
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CORNELL UNIVERSITY
274 Dr. Gottfried Ewald,
Nr. 13. 14. 7. 18.
Name
Diagnose
Stof f
Reaktion
Bemerkungen
Gri.,
weibl.
Hebepbrenie, einfach gemiit-
liche Verblodung. Lasst unter
sich. Grosste Bewegungsar-
raut, fades Lacheln. Lang-
sam progredient.
Aktives Serum allcin
do. + Gehirn
do. -f Ovar
do. + Schilddr.
do. + Leber
?
+
+
+
1,5 ccm Serum.
0,2 ccm Ninhydrin.
Bod.,
weibl.
Irabezill, mit Pfropf-Katatonie.
Aktives Serum allein
do. + Gehirn
do. 4- Ovar
do. + Schilddr.
do. 4" Leber
((+))
+
+
(+)
(+>
(+)
«+))
1,5 ccm Serum.
0,2 ccm Ninhydrin.
Brei.,
mannl.
Frische Katatonie. 2. Attache,
schnell verblbdend. Erre-
gungszustaud.
Aktives Serum allein
do. + Gehirn
do. 4* Hoden
do. 4“ Schilddr.
do. 4“ Leber
(+)
+
+
«+»
((+»
(+)
(+)
1,5 ccm Serum.
0,2 ccm Ninhydrin.
Versehentlich wurde hier kein wahrscheinlich negatives Serum angesetzt. Aus Serummangel kei3
inaktiver Versuch. Es liegt bei dem vollig negativen Ausfall der Organbebriitungsproben aber keii
Grund vor an der Richtigkeit der Reaktion zu zweifeln. Ferner ist Gehirn im Versuch Gri., Schilddr
im Versuch Brei., Leber im Versuch Brei. und Bod. negativ. Es lag kein Grund vor, die Versuch
Gri. und Brei. in der prozentualen Statistik nicht zu vcrwendcn.
Am 15. 7. keine Reaktion, 16.—18. 7. IlUlsenpriifung.
Nr. 14. 19. 7. 18.
Bre.,
Zirkuiares Irresein. Mischzu-
Aktives Serum allein i
((+»
1,5 ccm Serum
weibl.
stand, manischer Stupor,
do.
+ Gehirn
++
+
0,2 ccm Ninhydrin.
spater plotzlich in manische
do.
4- Ovar
(+)
«+))
Erregungumschlagend. Hallu-
do.
4- Schilddr.
((+»
—
ziniert stark optisch.
Vich.,
Paranoide Deraenz, produktive,
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
weibl.
phantastische Wahnbildung
do.
+ Gehirn
++
0,2 ccm Ninhydrin.
bei verhiiltnismassig gutem
do.
4- Ovar
+
Erhaltenbleiben der Person-
do.
4- Schilddr.
+
-
lichkeit.
do.
4- Leber
++
Hei.,
Chronische Manio, von Zeit zu
1 Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
Zeit crheblich anschwellcnd.
do.
+ Gehirn
++
0,2 ccm Ninhydrin.
Potator.
do.
4- Hoden
(+)
do.
+ Schilddr.
(+)
do.
4- Leber
((+))
Vol.,
Katatonie, chronisch, in Schii-
Aktives Serum allein
((+))
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
ben verlaufend. Vor l / 4 Jahr
do.
+ Gehirn
((+«
—
0,2 ccm Ninhydrin
letzteschwereErregung. Jetzt
do.
4“ Hoden
—
schwcre Katalepsie, Stereo-
do.
4~ Schilddr.
—
—
typien, Manieren, Mutazismus.
do.
4“ Leber
—
—
Der iiberraschenderweise negative Ausfall der Reaktion Vol. sichert trotz Mangels eines inti
tiven Versuches mit hoher Wahrscheinlichkeit die Richtigkeit von Versuch Bre. und Hei. Der Ver
such gilt als einwandfrei.
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Fermentative Vorgange imVerlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 275
Nr. 15, 20. 7. 18.
lame
Diagnose
Stoff
Reaktion
Bemerkungen
iru..
Katatonie, chroniscfy verlaufend.
Aktives Serum allein
«H
h))
1,5 com Serum.
annl.
Stereotypien u. Manieren, ite-
do.
+ Gehirn
H
(>)
0,2 ccm Ninhydrin.
rierende Bewegungen. Vereinz.
do.
+ Hoden
«-
-))
?
Kontaminat. Zeitw. Verstim-
do.
+ Schilddr.
(H
-)
((+))
mung. Grosste Einformigkeit.
do.
+ Leber
(CH
h))
Lis.,
Angstpsychose auf atheroskiero-
Aktives Serum allein
((H
h»
—
1,5 ccm Serum.
h'annl.
tischer Basis.
do.
+ Gehirn
H
(+)
0,2 ccm Ninhydrin.
do.
+ Hoden
((H
-))
?
do.
+ Schilddr.
H
(+)
do.
+ Leber
-
VVol.,
Paranoide Form der Dem.
Aktives Serum allein
(+)
—
1,5 ccm Serum.
iannl.
praecox. Rlinisch in letzter
do.
+ Gehirn
+
((+))
0,2 ccm Ninhydrin.
vgl.
Zeit aufi&Uende Verstim mung.
do. *
+ Hoden
++
(+)
Nr. 8
! do.
+ Schilddr.
+
((+))
do.
+ Leber
+
((+))
Inaktiv. Serum allein 1
+
—
1
do.
+ Gehirn
-
-
—
do.
+ Hoden
((+))
—
do.
-f Schilddr.
(+)
—
do.
+ Leber
(+)
—
Der Versuch ist einwandfrei. Die Reaktion Lis. wurde nicht in der prozentualen Statistik des
nanisch-depressiven Irreseins verwendet.
Nr, 16. 21. 7. 18.
Web.,
Paralyse, expansiv.
Aktives Serum allein
«+))
_
1,5 ccm Serum.
mannl.
do.
+ Gehirn
+
(+)
0,2 ccm Ninhydrin.
do.
+ Hoden
«+))
?
do.
+ Schilddr.
{(+))
—
do.
+ Leber
—
Inaktiv. Serum allein
(^■)
—
do.
+ Gehirn
((+»
—
do.
-f" Hoden
((+»
—
do.
+ Schilddr.
—
do.
4- Leber
«+)
—
Bum.,
Paralyse, expansiv.
Aktives Serum allein |
—
1,5 ccm Serum.
maonl.
do.
+ Gehirn
(+>
0,2 ccm Ninhydrin.
do.
4- Gehirn
(+>
do.
4* Hoden
((+))
do.
+ Hoden
?
do.
+ Schilddr.
—
do.
4- Schilddr.
?
do.
4- Leber
—
i
do.
4- Leber
—
Der Versuch ist einwandfrei. Man sieht aber an dem Versuch Bum., dass die fraglichen
Heaktionen sowohl fiir positive, wie negative Resultate sprechen konnen. Die doppelt angesetzto
Hodenreaktion diirfte als positiv, die doppelt angesetzte Schilddriisenreaktion als negativ zu deuten
scin - Fiir die vorstehende Arbeit kommen die Reaktionen nicht weiter in Betracht.
22. 7. 18. keine Reaktion angesetzt.
18 *
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CORNELL UNIVERSITY
276
Dr. Gottfried Ewaid,
Nr. 17. 23. 7. 18.
Name
Diagnose
Stoff
t
Reaktion
Bemerkungen
Ofl.,
Reizbarer Psychopath.
Aktives Serum allein
«+))
_
1,5 ccm Serum.
mannl.
do. + Gehirn
(+)
((+»
0,2 ccm Ninhydrin.
do. + Hoden
(+>
<(+))
do. + Schilddr.
++
+
Inaktives Serum allein
(+)
-
-
do. + Gehirn
((+))
-
-
do. + Hoden
((+)>
-
-
do. + Schilddr.
((+))
-
-
Zie.,
Dem. paranoides, stationar.
Aktives Serum allein
(+>
-
-
1,5 ccm Serum.
mannl.
Phantastische, produktive
do. + Gehirn
++
+
0,2 ccm Ninhydrin.
Wahnbildung bei gut er-
do. + Hoden
++
+
haltener Personlichkeit.
do. + Schilddr.
—
-
-
Ron.,
Schizophrenie. Vollige Zu-
Aktives Serum allein
((+))
-
-
1,5 ccm Serum.
weibl.
sammenhanglosigkeit des Ge-
do. + Gehirn
c+)
((-
-))
0,2 ccm Ninhydrin.
dankenganges. Wortneubil-
do. + Gehirn
+
(-
-)
dungen. Stereotypien, Ma-
do. + Ovar
++
nieren.
do. + Ovar.
++
-
-
do. + Schilddr.
+
(H
-)
do. + Schilddr.
+
(H
b)
Der Versuch ist einwandfrei.
Der Wechsel in der Starke des Gehirnabbaues im Doppelversueh der Pat. Ron. zeigt, dass
die Abderhalden’sche Metbode eine qualitative und nicht eine quantitative Methode ist. Die Starke
der Reaktion ist zu sehr abhangig von der Menge des zugesetzten Substrates und dessen angriffs-
fahiger Oberflache. Diese zu regulieren, hat man nicht in der Hand.
Nr. 18. 25. 7. 18.
Con.,
Dem. paranoides, station&r. Gut
Aktives Serum allein
+
1,8 ccm Serum.
weibl.
erhaltene Personlichkeit bei
do. + Gehirn
(+)
—
0,2 ccm Ninhydrin.
produktiver, ganz phantasti-
do. -j- Ovar
+
—
scher Wahnbildung.
do. + Schilddr.
(+)
—
do. + Deber
+
—
Pap.,
Psychopath, reizbar.
Aktives Serum allein
<+)
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
do. + Gehirn
-
-
—
0,2 ccm Ninhydrin.
do. 4* Hoden
(+)
?
do. 4" Schilddr.
((+))
—
do. + Leber
-
-
—
Mill.,
Paralyse, manisches Zustands-
Aktives Serum allein
((H
b))
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
bild, leicht ezpansiv.
do. + Gehirn
-H
-+
++
0,2 ccm Ninhydrin.
do. 4“ Hoden
((H
-))
?
do. 4" Schilddr.
++
+
do. + Leber
((+))
?
Papen,
Imbezillitat.
Aktives Serum allein
—
1,5 ccm Serum.
mannl.
do. + Gehirn
—
0,2 ccm Ninhydrin.
do. 4" Hoden
—
do. + Schilddr.
—
do. 4" Leber
?
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CORNELL UNIVERSITY
Fermentative Vorgange imVerlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 277
Name
Diagnose
Stoff
Reaktion
Bemerkungen
Soha.,
nitnl.
Hysterische Anfalle.
Aktives Serum allein
do. + Gehirn
do. + Hoden
do. + Schilddr.
(+)
((+»
((+»
«+))
Der Versaoh ist trotz Mangels inaktiver Kontrollen angesichts der zahlreichen negativen
Reaktionen zweifellos einwandfrei.
27. and 28. 7. keine Reaktionen angesetzt.
Nr. 19. 29. 7. 18.
Hu.,
Katatonie. Klin, fortschreitende
Aktives Serum allein
(+)
1,3 ccm Serum.
mannl.
Remission.
do.
+ Gehirn
(+)
—
0,2 ccm Ninhydrin.
vgl.
do.
-j- Hoden
(+)
—
Nr. 9.
do.
+ Schilddr.
«+»
—
do.
4- Leber
«+))
--
Inaktiv. Seram allein
-
-
—
do.
+ Gehirn
(H
-)
—
do.
4* Hoden
(-
-)
—
do.
4- Schilddr.
(-
-)
—
do.
4- Leber
(H
—
PriL,
Hysterische Gangstorung.
Aktives Serum allein
((+))
—
1,25 ccm Serum.
mannL
do.
+ Gehirn
+
(+)
0,2 ccm Ninhydrin.
do.
4- Hoden
?
—
do.
+ Schilddr.
(+)
((+))
do.
4- Leber
?
—
Klan.,
Hysterischer Schiitteltremor.
Aktives Serum allein
((+))
_
1,5 ccm Serum.
mannl.
do.
+ Gehirn
-1-
(+)
0,2 ccm Ninhydrin.
do.
4- Hoden
+
(+)
do.
+ Schilddr.
(+)
((+))
do.
4- Leber
((+))
—
Stef,
Katatonie, seit l / 2 Jahr krank.
Aktives Serum allein
—
0,6ccm Serum+lccm
weibL
Viel Stereotypien. Zeitweise
do.
+ Gehirn
—
phys. NaCl-Losung #
Katalepsie.
do.
4- Schilddr.
((+))
0,8 ccm Ninhydrin. *
Der Yersuch ist einwandfrei. Die Reaktion Stef, wurde wegen der geringen angewandten
Serummenge in der Statistik nicht verwandt.
Nr. 20. 80. 7. 18.
Nie,
Hy3terie.
Aktives Serum allein
1,5 ccm Serum.
nionl.
do.
+ Gehirn
—
0,2 ccm Ninhydrin.
do.
4- Hoden
—
do.
-j- Schilddr.
—
do.
4- Leber
—
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Original from
CORNELL UNIVERSITY
278
Dr. Gottfried Ew&ld,
Name
Diagnose
Stoff
Reaktion
Bemerkungen
Kre.,
mannl.
Hypomanischer, reizbarer Psy¬
chopath.
Aktives Serum allein
do. + Gehirn
do. + Hoden
do. + Schilddr.
do. + Leber
?
1,5 ccm Serum.
0,2 ccm Ninhydrin.
Kar.,
mannl.
Psychopath, Alkoholiker mit
Leberschwellung, Polyneuritis
und Merkdefekt.
Aktives Serum allein
do. + Gehirn
do. + Hoden
do. + Schilddr.
do. -j- Leber
Inaktiv. Serum allein
do. + Gehirn
do. + Hoden |
do. 4* Schilddr.
do. 4“ Leber
+
+
((+))
1,5 ccm Serum.
0,2 ccm Ninhydrin.
Der Versuch ist einwandfrei. Eeaktion Kar. wurde in der vorstehenden Arbeit wegen dr
alkoholischen Nebenerscheinungen statistisch nicht mit verwertet.
So weit die Protokolle meiuer Versuche. Ich babe etwa den 4. bis
5. Teil der bisher von mir angestellten Reaktionen gebracht; die Ge-
samtzabl bel&uft sich bislang auf etwa 3—400 Reaktionen. Die Zahl
ist noch nicht ubermSssig gross. Aber ich glaube mich doch berechtigt,
ein vorsichtiges Urteil abgeben zu durfen. Es geht dahin, dass wir
viel 6fter, als wir bisher geglaubt, auch bei Psychopathen und Hysteri-
kem positive Reaktionen sehen. Meine Befunde bei Manich-Depressiven
erscheinen mir zwar bemerkenswert, sie sind aber an Zahl noch zn ge-
ring; ich teile sie daher vorerst nur unter gewissem Vorbehalt mit.
Die ausfuhrliche Mitteilung der Versuchsprotokolle geschah aus dem
Grunde, dass jedermann nachprufen kann, in welcher Weise die Beur-
teilung der Reaktion geschah, und um darzulegen, dass die Beurteilong
in kritischer Weise vorgenommen wurde. Ich mCchte noch binznfugen,
dass ein zu schnelles Arbeiten, Massenreaktionen, nur von Nachteil sein
konnen; die Resultate der diffizilen Arbeitsmetbodik mussen darunter
leiden. Meiner Ansicht nach hat eine Laborantin mit 5 Seren am Tag
vollstSndig ausreichend zu tun. Lieber sollte man einmal einen Tag
mit dem Arbeiten aussetzen, als auf Kosten der Genauigkeit bei der
grossen Inanspruchnahme der Geduld und der Aufmerksamkeit seitens
des Arbeitenden eine hohe Reaktionszahl zu erzielen. Nur so kann
man meines Erachtens zu einwandfreien Resultaten kommen. Wer selbst
die Reaktion l&ngere Zeit ausgefuhrt hat, wird mir Recht geben. Auch
sollte man lieber eine Reaktion zu viel als eine zu wenig verwerfen.
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Gck igle
Original from
CORNELL UNIVERSITY
Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodangsprozesse usw. 279
Wenn ich mich auf Grund meiner Ergebnisse nicht auf den Fauser-
schen Standpunkt und den seiner Anhfinger stellen kann, nicht der
Ansicht bin, dass die Sache so einfach liegt, dass fnnktioneile Psychosen
nicht abbauen, organische aber positive Ergebnisse zeitigen, so ist das
keineswegs mit einer Verneinung der Methods identisch. Gerade meine
Untersuchnngen haben mir die Spezifit&t der Abwehrfennente wieder
kiar vor Augen geffibrt. Durch allgemein proteolytische Fermente
Ifisst es sich nicht erkl&ren, dass ein Serum, zu wiederholten Malen an-
gesetzt (vergl. Nr. 1 und 2, Reaktion Gus.; Nr. 16, Reaktion Bum.;
Nr. 17, Reaktion Rdn.) sich stets von den mehrfach vorgelegten Organen
immer nur dieselben spezifisch heraussucht. In der weitaus fiber-
wiegenden Mebrzahl der Reaktionen wurde ja auch immer nur das eine
oder andere Organ abgebaut, wfihrend eine mehr oder minder grosse
Zahl der Organe negativ blieb. Das ist mit der Wirkung allgemein
proteolytischer Fermente nicht vereinbar. Die Abderhalden’sche Reaktion
ist eine spezifisehe Reaktion.
Noch einmal aber mfichte ich mich wenden gegen die viel geiibte
Praxis, schwacb positive Reaktionen (mit ((-}-)) bezeichnete) als negativ
anzusprechen. Denn der eine halt dann fur positiv, was der andere
noch als negativ begutaehtet. Vergleichswerte werden auf diese Weise
niemals gewonnen, und wir kommen nicht weiter. Viellcicht liegt darin
zum Toil der Unterschied zwischen meinen verbaltnismasig „schlechten“
Ergebnissen und denen andorer Autoren mit den bisher als „gunstig“
bezeichneten Resultaten. „Gfinstig u werden aber auch meine Ergebnisse
noch nicht, wenn ich meine mit ((-f-)) bezeichneten Ergebnisse als
negativ buche. Ich bekomme dann bei Hysterikern und Psychopathen
zwar nur 25 pCt. positive Resultate, aber die Zahl der positiven Reak¬
tionen bei Dementia praecox geht auch gleichzeitig auf 50 pCt. herunter.
Ich kann darin keinen Vorteil erblicken. Ich habe mich fibrigens ge-
wundert, dass sich in der Literatur nur ganz verschwindend wenig
zahlenmfissige Angaben finden fiber die positiven Reaktionen bei Hysteri¬
kern und Psychopathen. Die weitaus fiberwiegende Mehrzahl der
Autoren begnfigt sich mit der Feststellung, dass sich bei diesen funktio-
nellen Leiden nur negative, oder seltener positive, oder gerade so
b&ufig positive Reaktionen finden, wie bei Dementia praecox. Zahlen-
mlssige Angaben dfirften bier gerade ausserordentlich erwfinscht sein.
Hierbei wfire dann genauestens auf den augenblicklichen Zustand des
Patienten zu achten. Es liegen auch noch keineswegs genfigend ein-
wandfreie Beobachtungen darfiber vor, wie sich die fermentativen Vor-
gfinge bei Menstruation, nach k6r per lichen und seeliscben Anstren-
gungen, nach sexuellen Exzessen und fihn lichen von der Norm ab-
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Gck 'gle
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CORNELL UNIVERSITY
280
Dr. Gottfried Ewald,
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weichenden Zust&nden des Organismus verhalten. Aucb darauf wire zu
acbten. Vielleicht erkl&rt sich die eine oder aodere positive Reaktioo
bei Normalen, die wenn aucb selten, so docb immer wieder einmal
beobachtet wird, auf solcbe Weise.
Alle diese Dingo weisen darauf bin, dass ein noch weithin unbe-
bautes Feld vorliegt, und gerade dieser Umstand zwingt dazu, mit einer
praktiscben Verwertung der Reaktion auf psychiatrischem Gebiet, besonders
im forensischen Betriebe, nocb ausserst vorsichtig zu sein, ja, sie einstweilen
noch rundweg abzulehnen. DerZeitraum, seit dem wir die Methode besitzen,
ist ja aucb noch ausserordentlicb kurz; die Kriegszeit ist nahezu abzu-
rechnen, und vor dem Kriege waren es gerade l 1 ^ Jahre, seit Fauser
mit seinen ersten psychiatrischen Beobachtungen in die Oeffentlichkeit
trat. Icb mOchte also ja nicht dabin verstanden werden, dass ich die
Abderhalden’scbe Methode als Forschungsmethode ablehne. 1m Gegen-
teil, ich halte sie fur eine wesentliche Bereicherung unserer Ar-
beitsmethoden; sie bat schon viel geleistet, und wird sicher auch
weiterhin unsere Kenntnisse noch durch viele interessante Befunde be-
reichern. Aber sie erfordert z&he Ausdauer, peinlichste Genauigkeit,
ruhiges Arbeiten und sch&rfste Kritik und Selbstkritik, auch in der
Hand des geubten Serologen. Ein enges Zusammenarbeiten zwischen
Serologen und Kliniker ist hier mehr, als bei irgend einer anderen
Methode, erforderlich.
Literaturverzeichnis.
1. Abderhalden, Abwehrfermente. 1914. Springer.
2. Bowmann u. van Hasselt, Die Abderhalden’sche Reaktion bei Psychosen
und Neurosen. Nederl. Tijdschrft. vor Geneesk. 1915. 59. I. 423.
3. Bundschnh u. Romer, Ueber das Abderhalden’scbe Dialysierverfahren in
der Psychiatrie. Deutsche med. Wochenschr. 1913. S. 2029.
4. Ewald, Erfahrungen mit dem Abderbalden’scben Dialysierverfahren und
fiber seineVerwertbarkeit am Krankenbett. Fermentforscbg. 1915. I. S. 315.
5. Fauser, Pathologisch-serologiscbe Befunde bei Geisteskranken. Allgem.
Zeitschr. f. Psych. 1913. Bd. 70.
6. Derselbe, Zur Frage des Vorhandenseins usw. Mfinchener med. Wochen-
schrift. 1913. Nr. 11.
7. Derselbe, Die Serologie in der Psychiatrie (Rfickblicke und Ausblicke).
Ebendas. S. 1985.
8. Derselbe, Die Serologie in der Psychiatrie. Ebendas. 1914. S. 126.
9. Derselbe, Deutscher Verein ffir Psychiatrie. Strassburg 1914. Zeitschr.
f. d. ges. Neurol, u. Psych. Ref. Bd. 10. S. 55.
10. Kafka, Ueber den Nachweis von Abwehrfermenten usw. Ebendas. 1913.
Bd. 18.
Gck igle
Original from
CORNELL UNIVERSITY
Fermentative Vorgange im Verlaufe d. endogenen Verblodungsprozesse usw. 281
11. Kafka, Die Abderhalden’sche Uethode in der Psyohiatrie. Med. Klinik.
1914. S. 155.
12. Lampd nnd Fuohs, Serologisobe Untersnohungen mit Hilfe des Abder-
balden’schen Dialysierverfahrens usvf. Munchener med. Wochenschr. 1913.
S. 2112 u. 2177.
13. Lindstedt, Deutsche med. Woohenschr. 1918. Nr. 27.
14. Maass, Psychiatrisobe Erfahrungen mit dem Abderhalden’sohen Dialysier-
verfahren. Zeitschr. f. d. ges. Nenrol. u. Psych. 1913. Bd. 20. S. 560.
15. W. Mayer, Die Bedentung der Abderhalden’sohen Serodiagnostik fur die
Psychiatrie. Munchener med. Woohenschr. 1913. S. 2045.
16. Derselbe, Die Bedeutung der Abderhalden’schen Dialysiermethode. Zeit-
schrift f. d. ges. Neurol, n. Psych. Orig. 1914. Bd. 23. S. 539.
17. Derselbe, Bemerkungen zur Abderhalden’schen Methode in der Psychiatrie.
Munchener med. Wochenschr. 1915. 62. 1. S. 580.
18. N iezoy tka, Ergebnisse der Abderhalden’schen Methode fur die Psychiatrie.
Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 1914. Orig.
19. Plant, Ueber Adsorptionsersoheinungen beim Abderhalden’schen Dialysier-
verfahren. Munchener med. Wochenschr. 1914. S. 238.
20. Derselbe, Deutscher Verein fur Psychiatrie. Strassburg 1914. Zeitschr.f.
d. ges. Neurol, u. Psych. Ref. Bd. 10. S. 55.
21. Rautenberg, Ueber den klinischen Wert der Blutreaktion nacb Abder-
halden, insbesondere auf Grand kriegsforensischer Begutachtung. Verein
Nordd. Psych. 1917. Hamburg. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Ref.
Bd. 15. S. 222.
22. Rosental und Hilffert, Zur Frage der klinischen Verwertbarkeit des
Abderhalden’schen Dialysierverfahrens in der Psychiatrie. Zeitschr. f. d. ges.
Neur. u. Psyoh. 1914. Bd. 26. S. 6.
23. Range, Ueber Erfahrungen mit dem Abderhalden’schen Dialysierverfahren
usw. Aroh. f. Psych. 1917. Bd. 58.
24. Sohwarz, Erfahrungen mit der Abderhalden’schen Blutuntersuchungs-
methode. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1914. Bd. 32. S. 19.
25. Sioli, Die Abwehrfermente Abderhalden’s in der Psychiatrie. Arch. f.
Psych. 1915. Bd. 55. S. 241.
26. Wegener, WeitereUntersuchungsergebnisse mittels des Abderhalden’schen
Dialysierverfahrens. Munchener med. Woohenschr. 1914. S. 15.
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Gck igle
Original from
CORNELL UNfVERSSTV
s
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XII.
Zur Abwehr.
Von
Prof. Dr. J. Raecke (Frankfurt a. M.).
Der Unterscbied zwischen Forschung und Schriftstellerei ist erst
kfirzlich zum Gegenstande einer VerOffentlichung aus dem Munchener
Forschungsinstitute gewiblt worden. Umso verwunderlicher wirkt es,
dass die anatomischeu Vertreter gerade dieser von uns Psycbiatera
mit den hfichsten Erwartungen begrussten neuen Schflpfung rich
vorzugsweise iu polemischer Schriftstellerei ergehen. Den Angriffen
Spielmeyer’s gegen mich ist jetzt ein weiterer von Nissl gefolgt,
weil ich sein Dogma vom paralytischen Parallelismus angegriffen babe:
Zwei getrennte histopathologiscbe Prozesse sollen, ohne sich zu schneiden,
in der paralytischen Hirnrinde nebeneinander herlaufen, entziindlicbe
und toxisch-degenerative.
Diese Hypothese berubt nicht, wie Nissl annimmt, auf histo-
pathologischen Tatsachen — die Tatsachen habe ich nicht bestritten —,
sondern nur auf Nissl’s Deutung dieser Tatsachen. Wir haben wobl
bei der Paralyse, im Gegensatz zu der auf das Mesoderm beschr&nkten
gummosen Lues cerebrospinalis, zugleich Verfinderungen am Mesoderm
und Ektoderm vor uns, aber beides ist Ausdruck der durch Spiroch&ten
erzeugten lokalen Entzundung. Naturlich kfinnen ektodermale und
mesodermale Ver&nderungen bis zu einem gewissen Grade ungleich-
m&ssig verlaufen, so dass man beispielsweise mit Salvarsanbehandlung
den mesodermalen Prozess zu beeinflussen und die meningitisch ent-
standenen abnormen Liquorbefunde zu beseitigen vermag, w Eh rend gleich-
zeitig der ektodermale Prozess fortschreitet und zum Tode fuhrt.
Nissl selbst muss einraumen, dass man zweifelhaft sein kann fiber
die Berechtigung, regressive und progressive Gewebsverfinderungen nur
deshalb als nichtentzfindlich zu bezeichnen, weil die gleichzeitig nach-
weisbaren exsudativen Erscheinungen nur geringffigig und sporadisch auf-
treten. Man konnte vielleicht noch weiter gehen und das Erfordernis
einer Exsudation in Nissl’s Sinne ffir den Begriff Entzundung im Zentral-
Go^ 'gle
Original from
CORNELL UNIVERSITY
Zur Abwehr.
283
nervensystem uberhaupt anzweifeln. Jakob 1 2 ) hat erst kurzlicb wieder
daraaf hingewiesen, dass die proliferativ reaktiveu Vorgange an der
Glia sick sebr wohl als exsudative deuten liessen. Die von Nissl ge-
forderte Einschrankung des Entzundungsbegriffes fuhre zur Notwendigkeit,
prinzipieli gleiche histologische Vorgange verschieden zu charakterisieren.
Nissl’s scharfsten Widerspruch baben meiue Ausfiihrungen erweckt,
dass Alzheimer gerade auf Grund der verschiedenartigen Bilder, welche
die Nervenzellen in paralytischen Rinden darbieten, nochmals die Frage
erwogen habe, ob Veranderungen im Nissl-Praparate wirklich einen
wesentlichen Ausdruck verschiedener Schadigungen darstellten, und dass
er erst im allgemeinen Hinblick auf die Strukturverhaltnisse der er-
krankten Zellen uberhaupt ,• auch im nicbtparalytischen Gehirne, zu
dem Ergebnisse gelangt sei, dass es sich nicht urn gleichgultige Unter-
schiede sondern um verschiedeue ErkrankungszustSnde handle.
Nun, wdrtlich hat Alzheimer fiber seine paralytischen Zellbefunde
geschrieben (Histol. u. histopath. Arb. Bd. 1. S. 55): „Die Ganglienzell-
veranderungen, welche man findet, kfinnen der allervcrschiedensten Art
sein und ich glaube, alle von Nissl beschriebenen Formen, manchmal
mehrere Arten neben- und untereinander und dazu kaufig solche, die
Kombinationen verschiedener Erkrankungsarten darstellen, neben anderen
noch nicht beschriebenen Erkrankungsbildern gesehen zu haben . . . .
Im allgemeinen sind Mischformen und weniger scharf gekennzeichnete
Erkrankungszustande sogar hanfiger als die von Nissl beschriebenen,
leichter erkennbaren Formen.
„Diese auffallige Erscheinung konnte uns bedenklich
macben,'ob uberhaupt die Ganglienzellveranderungen, wie
wir sie heute, besonders an Praparaten nach der Nissl’schen
Farbung, soben und durch Nissl’s Vorarbeiten kennen, einen
wesentlichen Ausdruck verschiedener Schadigungen dar¬
stellen, ob ihnen eine grfissere Bedeutung fur die patho-
logiscbe Histologie zukommt. Doch sprechen wichtige Grunde
dafur, dass diese Zellveranderungen nicht als bedeutungslose
Umwandlungen des normalen Zellbildes betrachtet werden
durfen*). Denn zunhchst seben wir, dass mit bestimmten Umlagerungen
der chromatischen Substanz, welche in erster Linie den pathologischen
Zellformen ihr Geprage geben, auch ganz bestimmte Veranderungen
am Kern und Kernkorperchen, an Form und Grdsse des GanglienkCrpers
und seiner Fortsatze einhergehen, wie dies Nissl eingehend beschrieben
1) Jahreskurse fur arztlicbe Fortbildung. Mai 1918.
2) Im Original nicht gesperrt gedruckt.
Digitized by
Gck igle
Original from
CORNELL UNIVERSITY
284
Dr. J. Raecke,
hat. Zweitens mussen wir annehmen, dass eine Umlagerung der chro-
matischen Substanz, die normaler Weise nur die Fibrillenbahnen freilSsst,
auch eine Schfidigung der Fibrillen selbst andeutet, also eine SchKdigung
von Zellstrukturen, die direkter als die €hromatinmassen mit nervOsen
Funktionen in Zusammenhang zu bringen sind. Dazu finden wir die
im Nissl’schen Pr¶t an gesunden Zellen ungef&rbten Fibrillenbahnen
bei krankbaften Zust&nden oft gef&rbt, was wieder eine Ver&nderung
derselben beweist. Drittens sieht man vielfach, dass mit bestimmten
Ganglienzellver&nderungen aacb ein bestimmtes Verhalten der Trabant-
sellen einhergeht, deren Wucherung oder Rfickbildung, wie wir spfiter
noch sehen werden, Storungen in den feinsten periganglion&ren nervOsen
Strukturen anzeigen dfirfte. So erscheiut es wohl sicher, dass die
verschiedenen Ganglienzellveranderungen nicbt auf gleich-
gfiltigen Umlagerungeu der Granula beruben, sondern den
Ausdruck verschiedenartiger, tiefergreifender Schadigungen,
dass sie mit kurzen Worten verschiedene ErkrankungszustSude
darstellen“ . . . *).
Auch persOnlicb erinnere ich mich aus mehrfacben Aeusserungen
Alzheimer’s in den Jahren 1898—1900, dass ihm wenigstens damals der
fiberraschende Formenreichtum der Ganglienzellbilder im Paralysegehirn
hinsichtlicb ihrer Einschatzung fur die Histopathologie besonders wichtig
erschien. Die an fan gl ich sehr fibertriebenen Hoffnungen, welche durch
Nissl’s Befunde erregt worden waren, batten anfgegeben werden mussen.
Das eifrige Forschen nach spezifiscben Ganglienzell veranderungen wurde
allmahlich eingestellt. Die Wurdigung der starken Einwirkung zufalliger
kOrperlicher Stdrungen setzte sich durcb.
Alzheimer selbst hatte zeitweilig geglaubt, in einer fiber nabezu
alle Rindenschichten ausgebreiteten akuten Ganglienzellerkrankung das
anatomische Substrat der Amentia 1 2 ) gefunden zu baben. Seine eigenen
und fremde Arbeiten (Binswanger und "Berger, Cramer, E. Meyer,
Sander, Schroder usw.) ffihrten zur Erkenntnis, dass bei den meisten
akuten Infektions-, Intoxikations- und Autointoxikationspsychosen,
namentlich auch bei dem Delirium tremens (Bonhoeffer, Tromner,
Kfirbitz, SchrOder usw.) die akute Zellerkrankung in der gesamten
Rinde auffallig verbreitet, dass aber ihre vermutlicbe Ursache weniger
in psychischen als begleitenden somatiscben StOrungen zu suchen ist.
Im Gegensatze zu diesen bekannten Bildern ffillt im paralytischen
Zellpraparate, gleichgfiltig, welche interkurrente Erkrankung den Tod
1) Im Original nicbt gesperrt.
2) Monatsschr. f. Psych. Bd. 2. S. 111.
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Zur Abwebr.
285
herbeigefuhrt hatte, in der Regel ein weit bunterer Wecbsel der Formen
mit Vorherrschen schwerster StOrungen auf. WOrtlich bat Alzheimer
darfiber gelehrt: „Was nun znnfichst im allgemeinen die Veranderungen
der Ganglienzellen bei der Paralyse von denen bei vielen anderen Psy¬
chosen nntersoheidet 1 ), ist das haufige Vorkommen solcher Er-
kranknngsbilder, welche scbon aus der Art der Veranderung eine be-
sonders schwere Scbadigung andeuten u . (Folgt eine Beschreibung der
Formen.) „Das sind nur eiuige der auffalligsten Formen. Recht haufig
begegnen wir Zustanden, die die letzten Stadien des Zellzerfalls dar-
stellen und sich als kSrnige Protoplasmahaufen, Ausgangsstadien der Ver-
flfissigung, Vakuolisierung, Zellschattenbildung (Nissl) kennzeichnen“ . . .
Diese von Alzheimer so klar betonte Eigenartigkeit paralytiscber
Ganglieuzellpraparate legt meines Erachteus den Gedanken nahe, ob
nicbt hier neben den sonst einwirkenden AllgemeinstOrungen toxischen
Cbarakters ein neues lokales Moment hinzutritt und die auffallend
schweren Nervonzellveranderungen in erster Linie verursacht. Meine
Fragestellung ist von Nissl missverstanden worden.
Niemand wird beute daran denken, bei der grossen Mannigfaltig-
keit mfiglicher Zellbilder aus derartig leichten und schwankenden Unter-
schieden differentialdiagnostische Richtlinien gewinnen zu wollen. Wohl
aber erschien es mir verlockend, die von Alzheimer so trefflich ge-
schilderten Befunde mit der Spirochateninvasion in Zusammenhang zu
bringen. Ob dabei die Spirochaten wirklich after in die Zellen ein-
dringen oder sich nur an sie anlegen, ob sie mechaniscbe oder chemiscbe
Schadigungen setzen, ist, wie ich an anderer Stelle ausdrficklich betont
habe, eine mehr nebensachliche Frage.
Ebenso habe ich mehrfach hervorgehoben, dass regressive and
proliferative Gewebsverfinderungen zugleich mit den exsudativen zum
Wesen einer Entzfindung gehCren. Das hindert aber nicht, dass an
einzelnen Stellen des Hirngewebes sogleich nach Eindringen der
Spirochaten die exsudativen Erscheinungen noch einige Zeit febleu
kQnnen, wAhrend sich Degeneration und Proliferation bereits als Folgen
jener Invasion bemerkbar machen. Dafur treten wieder an aoderen
Gewebsstellen die Exsudationen deutlich hervor. Der paralytische
Prozess ist eben imraer, trotz vorubergebend einsetzender Exazerbationen,
ein ausgesprochen chronisch-scbleichender, der im Laufe von Jahren
allmAhlich fiber die Hirnrinde kriecbt bzw. sprunghaft unregelmfissig
verbreitet. Der im Augenblicke des Todes zu erhebende Befund bietet
nur einen Ansschnitt aus dem ganzen Vorgange.
1) Im Original nicht gesperrt.
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286
Dr. J. Ra«cke, Zur Abwehr.
Nicht immer mag uberall das Bild der Eutzundung gleich uber-
zeugend im Schnitte hervortreten. Wenn man dann sofort selb-
stftndige Degenerationeu annimmt, versetzt man sicb in die UnmOglich-
keit, den gesamten nervGsen Zerfall im paralytischen Gehirn von lokalen
EntzundungsvorgSngen abh&ngig zu denken, und verbaut sicb die meines
Erachtens naturlichste Erklarung des paralytischen Prozesses. Auch
bier hat mich Nissl missverstanden.
Trotz Nissl’s Widerspruch muss ich an der Behauptung festhalten,
dass massenhafte Plasmazellinfiltrate das Vorliegen parasit&rer Ent-
ziindungsursachen wahrscbeinlich machen. Uebrigens scbeint auch
Jakob diese Auffassung zu vertreten, da er sagt:
„Aber so viel lehren uns die Erfahrungen aus der Patbologie des
Zentralnervensystems, da'ss bei alien Affektionen, in denen sich eine
starke lymphozytare Reaktion des Gewebes zeigt, die Einwirkung eines
Bakteriums mit grosser Wahrscheinlichkeit angenommen werden darf;
ich verweise hier auf Tuberkulose, Syphilis, Schlafkrankbeit, Heine-
Medin’sche Krankbeit (epidemische Kinderl&hmung), Lyssa, Hundestaupe,
Borna’sche Krankheit der Pferde, alles Prozesse, die mit starken
infiltrativen Bindegewebsexsudationen einbergehen. Im Gegensatze hierzu
stehen die Befunde bei Dysenterietoxin, Bid, Alkohol, Diphtberie, Blut-
giften, wo mehr reine Toxinwirkungen im Yordergrunde stehen, und
exsudative Prozesse, wenn iiberhaupt, nur sehr geringgradig im Zentral-
nervensystem entwickelt sind“ (1. c. S. 39).
Von einem Widerspruche der Anschauungen zwischen Jahnei und
mir, wie ihn Nissl behauptet, ist mir nichts bekannt. Jahnei hat
allerdings die Frage nach dem Zusammenhange zwischen entzundlichen
und degenerativen VerSnderungen im paralytischen Hirngewebe einst-
weilen offen gelassen, da es nur in seiner Absicht lag, die von ihm
beobachteten histopathologischen VerSnderungen zu beschreiben, ohne
auf n&here Deutung derselben einzugehen. Allein auch Jahnei ist gleich
mir fest davon iiberzeugt, dass die Dementia paralytica als eine lokale
Gebirnerkrankung, als eine Spirocbaetosis cerebri aDzusprechen ist.
Es war stets eine undankbare BeschSftigung, an ein Dogma zn
riihren. Es iliegen dem Storenfried nur zu leicht Liebenswurdigkeiten,
wie Dngereimtheit, Verdunklung des Gewounenen, Verwirrung der Frage-
stellung an den Kopf. Doch darf das nicht schrccken!
Auch meine jetzige Kontroverse mit Nissl beruht wie die andere
vor 17 Jahren, bei der ich trotz des schon damals von Nissl aufgefah-
renen groben Geschutzes schliesslich Recht behielt, zum grossen Teil auf
Vorbeireden. Der Nutzen solcher Polemik entspricht kaum der darauf
verwendeten Zeit.
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XIII.
21. Versammlnng (Kriegstagung)
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen
in Leipzig am 27. Oktober 1918.
(Offizieller Bericht.)
. Referent: Dr. Karl Ponitz-Halle.
Anwesend sind die Herren:
Anton- Halle, B a u e r - Alt-Scherbitz, B e r 1 i t - Sonnenstein, B i e 1 i n g -
Friedricbroda, Bock horn-Nietleben, Braune-Conradstein,
B r as s e r t - Leipzig, B r i 11 - Magdeburg, B r n s t - Sonnenstein,D e o tj e n-
Wilhelmshohe, D e h i o -Zschadrass. F a c k 1 a m-Suderode, O.Foerster-
Breslau, Hey m an n-Leipzig, Hoehe-Demnitz, H os el-Dresden,
11 b e r g - Sonnenstein, J a e g e r - Wernigerode, Jolly - Niirnberg, K1 i e n-
Leipzig, Klipstein-Magdeburg, Krapf-Kreischa, Langer-Niet-
leben, Lehmann-Hartheck, Levy-Suhl-Berlin - Wilmersdorf,
Liebers, Lustig-Leipzig, Marloth-Zschardrass, Moeli-Berlin,
Neuendorff-Bernburg, Nitzsche-Leipzig, Pfeifer-Halle,
Pfeifer-Leipzig, Ponitz-Halle, Quensel-Leipzig, Rheinboldt-
Leipzig, Riohter-Leipzig, von Rohden-Nietleben, Roper-Jena-
Hambnrg, Ru st-Jericho w-Magdeburg, Sohafer-Roda, Curt
Schmidt-Dresden, Schroder-Alt-Scherbitz, Schuhmacher-
Roda, Sohutz-Leipzig, Schwabe-Plauen, Schwarz-Leipzig,
Schwede-Uchtspringe, Seeligmdller-Halle, Sommer-Giessen,
Sobe-Dresden, Stadler-Plauen, Strohmeyer-Jena, von
Strnmpell-Leipzig, Tetzner-Schkeuditz, Wendt-Thonberg,
Wiener- Leipzig, W i c h u r a - Sch warzeck.
I. Sitzung Yormittags 9 Uhr
in der Medizinischen Klinik zu Leipzig.
Herr Hosel-Dresden erofTnet in Vertretnng des erkrankten ersten Ge-
schaftsffihrers Flechsig-Leipzig die Sitznng und begriisst die Anwesenden.
Er wird zum Vorsitzenden der Vormittagssitzung gewahlt, Herr Sommer-
Giessen zum Vorsitzenden der Nachmittagssitznng. Zu Schriftfubrern werden
die Herren PSnitz-Halle and Tetzner-Schkeuditz gewahlt.
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CORNELL UNfVERSSTV
288 21. Versammlung (Kriegstagung) miiteldeutscher Psychiater a. Nearologen.
Vortrftge.
1) Herr Wichara-Schwarzeck: „Zur spezifischen Behandlang
der Tabes dorsalis w .
Naohforschungen bei 18 Tabikern, die im Laufe der letzten 4 l / t Jahre
nach Drey fas behandelt worden waren, ergaben, dass der unmittelbar gate
Karerfolg auch angehalten hatte.
Das gfinstige Ergebnis wird darauf zurfickgeffihrt, dass die spezifisohe
Behandlang zwar so intensiv wie moglich, aber keinesfalls intensiver als mit
einer gleichzeitigen Kraftigung des Korpers yereinbart durohgeffihrt wurde.
Es wird empfohlen, die einschleichende und yorsichtig weitertastende
spezifische Behandlang als ein wertvolles Unterstdtzungsmittel der klinischen
physikalisch-diatetischen Therapie zu betrachten and sie nach biologischen,
nicht chemo-therapeutischen Riioksichten za gestalten. (Eigenbericht).
Aussprache.
Herr 0. Foerster-Breslau weist u. a. darauf hin, dass es fast nie ge-
linge, die spezifische Reaktion daroh die spezifische Behandlang zam Ver-
schwinden za bringen, weil es offenbar fraglich sei, ob das Medikament tief ins
Gewebe eindringe. Foerster behandelt seit 1913 mit der endolumbalen Me¬
thods wie sie Wechselbaum, Marinesco, Swift und Ellis eingefdhrt
haben. Er hat 130 Tabesfalle behandelt und hat beobachtet, dass die Wasser-
mann’sche Reaktion vermindert wird oder verschwindet, dass die Lymphozytose
zuriickgeht, dass die Nonne-Apelt’sche Reaktion aber am langsten erhalten
bleibt. Was das Klinische anbelangt, so schwinden die lanzinierenden
' Schmerzen oft, die Ataxie wird sehr giinstig beeinflusst, auch gastrische Krisen,
Parasthesien, Blasenstdrangen sollen milder werden und sogar objektive Sym-
ptome, wie die Reflexe, sollen gebessert werden. (Eigenbericht).
Herr Strumpell-Leipzig: In meiner Klinik werden seit 8 Jahren fast
alle Tabes-Kranken in ausgiebiger Weise antisyphilitisch mit Qaecksilber
(Schmierkar) und Salvarsan behandelt. Ich muss leider sagen, dass die Ergeb-
nisse keineswegs besonders erfreulich sind. Gewiss loben viele Kranken an-
fangs die Behandlung und zuweilen bessem sich auch einzelne Symptoms
(Ataxie, Schmerzen, Blasenstorungen). Aber im ganzen gehen dieseBesserangen
keineswegs fiber das hinaas, was man auch sonst durch die friiher ublichen
Behandlangsmethoden (Ruhe, Bader, Elektrisieren and dergl.) erreioht hat.
Nach meinen Erfahrungen tritt jeder neae jange Assistenzarzt mit grossen Er-
wartungen und sanguinisohem Optimismus an die Salyarsan-Behandlung der
Tabes heran. Es ist ja so erfreuliob, ein spezifisch und yermeintlich sicher
wirkendes Mittel gegen'die traurige Krankheit zu haben! Aber nach 1 bis
2 Jahren, wenn die bebandelten Tabiker im ganzen noch immer dasselbe Bild
darbieten, dann weicht der anfangliche Enthusiasmus einer recht resignierten
Stimmung. Ich selbst habe stets besonders diejenigen Falle za energischer
Salvarsan- and Qaecksilber-Behandlung ausgewahlt, bei denen ein Heileffekt
leioht and deutlich nachweisbar gewesen ware: dies waren namentlich F&lla
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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutsoher Psychiater u. Neurologen. 289
mit schweren anhaltenden gastrisoben Erisen odor mit anhaltenden tabischen
Krisen. Und gerade bei diesen Fallen hat die Kur fast immer versagt oder
hoohstens zweifelhaften Erfolg gehabt. Wer, wie ich, der Ueberzeugung ist,
dass die Tabes etwas anderes ist als eine gewohnliche tertiare Syphilis des
Gehirns und Riickenmarks, der wiirde von vornherein die Wirksamkeit einer
antisyphilitisohen Behandlung nur gering ansohlagen konnen. Von grosster
Wichtigkeit ware die Entscheidung der beiden Fragen, ob eine mogliohst
energische Behandlung der Syphilis bald nach erfolgter Infektion das spatere
Auftreten von Tabes oder Paralyse seltener machen oder gar verhindern konnen,
sodann, ob durch eine energische spezifische Behandlung bei einer be-
ginnenden Tabes das weitere Fortschreiten der Krankheit gehindert
oder wenigstens gehemmt werden kann. Leider kann ich nach meinen eigenen
Erfahrungen keine bejahende Antwort geben. Gewiss miissen wir Aerzte fort-
fahren, aus den Errungenschaften der Aetiologie die erreichbaren Vorteile fur
die Therapie der Tabes zu ziehen. Das bisher Erreichte konnen wir aber —
wenn wir kritisoh und aufrichtig sind — nur recht bescheiden beurteilen.
(Eigenbericht).
Herr Schwarz-Leipzig: Auf Grund meiner Erfahrungen b^i Augen-
storungen als Teilerscheinungen von Hirnlues, Tabes, Paralyse kann ich die
oft guten Erfolge auch schon mit kleinen Dosen von Salvarsan und Neosal-
varsan bestatigen. Besonders frische Falle von Ophthalmoplegia interior habe
ich zuweilen rasch zuriickgehen sehen. Manche vollstandig, mancho unvoll-
standig (Ruckgangder AkkommodationslahmungmitZuruckbleibenreflektorischer
oder auoh allgemeiner Pupillenstarre). Fur Falle, wo intravenose Einspritzung
nicht oder schwer anwendbar ist, weise ich auf die ebenfalls gut wirksame
Verabreichung durch Einlauf hin, wie sie schon mehrfach auch von mir emp-
fohlen wurde: Vorbereitung durch etwa 24stiindige Beschrankung der Flussig-
keitszufuhr, urn den Korper aufsaugungsbediirftig zu machen, Darmentleerung
durch Glyzerin-Suppositorium (Perca-Glyzerin wirkt auch) eine halbe Stunde
bis eine Stunde vor dem Einlauf, der in Linkslage erfolgt, darauf Knie-Ellen-
bogenlage, nach einigen Minuten Rechtslage (s. Munchener med. Wochenschr.
1913, Nr. 5). Man kommt damit auch urn die neuerdings bei der militararzt-
lichen Behandlung angeordnete Beschrankung der intravenosen Dosis auf 0,45
herum, wenn man starkere Dosen fur erforderlich und nach den vorausge-
gangenen Dosierungen fur unbedenklich halt.
Auch der Wirksamkeit innerlicher Behandlung, sowohl gleiohzeitig wie
in Abwechslung mit den anderen Behandlungsformen mSchte ich das Wort
reden. Seit Jahren verwende ich, nachdem ich fruher auch Mergal angewendet,
▼on inneren Mitteln vor alien Merjethin, gelegentlich auch als erste Behand¬
lung, wenn die Luesdiagnose noch unsicher ist, namentlich aber zu periodiscber
Nachbehandlung, wofur es mir recht gute Dienste leistete. (Eigenbericht).
Herr Anton-Halle spricht erganzend uber die Behandlung der progres¬
sion Paralyse. Aehnlich wie Strumpeli zur Tabesfrage aussert sich Anton
zur Salvarsanbehandlung bei Paralyse, d. h. kritisoh. Er geht auf die neueren
Theorien der Paralysebehandlung ein, erwahnt die Tuberkulinkur, die En6sol-
Irebit f. PgjehSatrit. Bd. 60. Heft 1. iq
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290 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen.
Injektion, die Malariaimpfungen usw. Er weist darauf hin, dass bei jedem
Paralytiker eine polyneuritische Komponente vorhanden ist, dass das Nerven-
system eine andere Vitalitat als der Korper hat, dass die Syphilis oft vom
Korper „aufgefangen“ wird, d. h. dass das Nervensystem dann nicht erkrankt.
Es werden die Volker erwahnt, die viel Lues, aber keine Paralyse haben.
Anton erwahnt die endolumbale Behandlung Gennerich’s, wie sie auch
Willige ausfiihrt und seine Arbeit mit v. Bramann (Ventrikel!).
Herr Quensel-Leipzig: So gut die Erfolge bei Lues cerebrospinalis mit
Schmierkur und intravenosen Neosalvarsan-Injektionen sind, so wenig habe ich
bei Tabes bisher durchgreifende Erfolge und Besserungen gesehen. Ich be-
handle im Lazarett nur diejenigen Tabesfalle spezifisch, bei welchen die
Wassermann-Reaktion positiv ausfallt oder Zeichen fur einen floriden Prozess
vorliegen. Bestimmt haben mich zu dieser teilweise ausserlichen Beschrankung
und Indikationen Erfahrungen, dass trotz und unter energischer spezifischer
Behandlung Tabes sehr sohnell Fortschritte machte. Bei der Beurteilung der
Erfolge habe ich allerdings den Eindruck, dass Dosen von 0,45 Neosalvarsan,
selbst bei ziemlich protrahierter Behandlung, nicht ausreicheu, wie sie auch
nicht genugen, um die Wassermann’sche Reaktion negativ zu machen.
(Eigenbericht).
Herr Roper-^Hamburg-Jena hatte als Marinearzt sehr viele Tabiker zu
behandeln, er hat in den ersten drei Kriegsjahren lege artis mit Salvarsan und
grauem Oel behandelt, hat aber von der doch immerhin in Anspruch nehmenden
Kur keinen Nutzen gesehen, der von dem Militarfiskus die Aufwendungen
lghne. Nicht selten wurden die Kranken durch die kombinierte Salvarsan-
Queoksilberkur in ihrem Allgemeinzustande verschlechtert, so dass wieder
Woohen notwendig waren, um sie zur Entlassung geeignet zu maohen. R. be¬
handelt im allgemeinen die Tabiker jetzt wie Erschopfungszustande. Die
Moglichkeit, die Leute arbeitsfahig zu entlassen, wird so durchweg schneller
und sicherer erreicht und eine eventuell aus den Anstrengungen des Kriegs-
dienstes resultierende Verschlimmerung wird so sicherer behoben. Trotzdem
lehnt R. die Salvarsan-Quecksilberbehandlung nicht a priori ab, er wendet sie
z. B. mit sichtlichem Nutzen bei den Fallen an, in denen starke tabische
Schmerzen bestehen. Doch muss Vortr. auch, abgesehen von dem militararzt-
lichen Standpunkte, aussprechen, dass die spezifische Behandlung bei ausge-
sprochenen Tabesfallen einen nennenswerten Einfluss auf den Verlauf des
Leidens nicht habe.
Was die Frage der Paralysebehandlung betrifft, so mochte Referent der
Fieberbehandlung das Wort reden. Zur Tagung dieser Gesellschaft, die im
November 1914 stattfinden sollte, hatte Ref. einen Vortrag fiber Behandlung
der Paralyse mit albumosenfreiem Tuberkulin angemeldet, die Arbeit blieb
seinerzeit liegen, ist aber jetzt wieder aufgenommen. Nach den bisherigen Er-
gebnissen der Nachforsohungen scheint es doch, dass sehr wohl Aussicht vor¬
handen ist, durch kiinstliche Fiebererzeugung weitgehende Remissionen her-
beizufiihren. Es ist aber durchaus notwendig, wirklich hohes Fieber und ort-
liche Entzundungen, die tagelang leukozytentreibend wirken, herbeizufuhren.
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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 291
3 der 1912 bebandelten Paralytiker stehen noch heuto selbstandig grossen Ge-
schaften vor. (Eigenbericht).
Herr Klien-Leipzig: In der bisherigen Diskussion sind einige meines
Eraohtens sehr wichtige Punkte unerwahnt geblieben, die za einem Tail
wenigstens zur Erklarung der Widerspriiche der von den Herren Vorrednern
geausserten Ansichten beitragen konnen. Wenn es als ein besonderes Kriteriom
fur die Wirksamkeit des Salvarsans bezeichnet wurde, ob die als Reiz-
erscheinungen aufzufassenden lanzinierenden Schmerzeu beseitigt werden
konnen, so ist dem entgegen zu halten, dass die lanzinierenden Schmerzen
nicht in alien Fallen als Reizerscheinnngen infolge eines aktiven Prozesses auf-
gefasst werden mussen. Es ist sehr wohl moglich, dass lanzinierende Schmerzen
anch ausgeldst werden konnen durch reaktive Wncherungen der Stutzsubstanz,
durch narbige Prozesse im weiteren Sinne. In solchen Fallen kann natdrlich
dine giinstige Beeinflussung durch Salvarsan nicht erwartet werden und es ist
wohl moglich, dass die Falle, in denen lanzinierende Schmerzen jahrelang hin-
durch unverandert und durch nichts beeinflussbar fortbestehen, auf solche
Weise zu erklaren sind.
Dagegen werden die lancinierenden Schmerzen in zahlreichen Fallen
gunstig beeinflusst, ja, sie gelten als das Symptom, das am haufigsten in un-
zweideutiger Weise gunstig beeinflusst wird. In solchen Fallen beruhen sie
wohl auf frischeren Prozessen, vor allem auf entzundlichen Vorgangen an den
hinteren Wurzeln. 'Weiterhin wurde betont, dass die Ruokbildung einer Ataxie
unter der Einwirkung des Salvarsans gar nicht erwartet werden konne, da es
sich hier um eine Ausfallserscheinung infolge von Untergang der Hinterstrangs-
fasern handle. Gewiss ist die Ataxie eine derartige Ausfallserscheinung, aber
es braucht doch keino irreparable zu sein. Man muss annehmen, dass der
vollstandigen Zerstorung der Fasern ein Zustand der Schadigung vorausgeht,
in welchem zwar die Funktion erheblich gestort ist, der aber der Ruokbildung
fahig ist. Auf jeden Fall sieht man unter dem Einfluss intensiver spezifisoher
Behandlungen Bosserungen bestehender Ataxie, die fiber das Mass spontaner
Scbwankungen hinausgehen.
Auch eine ganze Reihe anderer tabischer Symptoms sehen wir nicht selten
unter dem Einfluss von Salvarsanbehandlung sich bessern, bzw. schwinden.
Eine andere Frage ist aber, ob diese Besserungen der tabischen Sym¬
ptom e in der Regel von Dauer sind. Es ist wohl anzunehmen, dass durch kon-
sequente und intensive Fortbehandlung ein Stationarbleiben der erzielten
Besserung erreicht werden kann. Zu einer solchen intensiven Fortbehandlung
kommt es aber in der Praxis aus verschiedenen Grfinden in den seltensten
Fallen, unter Omstanden auoh durch das bereohtigte Bedenken, dass man evtl.
durch zureicbende Behandlung irgend welchen Schaden stiften konnte. Treten
aber Ruckfalle ein, so sind dieselben entschieden nicht in gleichem Grade
gunstig beeinflussbar wie die zum ersten Mai bebandelten Tabesfalle. Dies
scbeint fur eine gewisse Arsenfestigkeit der uberlebenden Spirocbaten zu
sprecben. Ioh babe aber auch nach massig starker Behandlung Stationarwerden
des Krankheitsprozesses ein treten sehen, wo dies nach dem vorherigen Verlauf
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292 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeatscher Psychiater u. Neurologen.
der Krankheit nicht zu erwarten wer. Dass das suggestive Moment das Haupt-
agens bei den Erfolgen der Salvarsanbehandlung sei, kann nicht angenommen
werden. Der ausserordentlich in die Augen springende Riickgang der Liquor-
Lymphozytose, wie auch bei intravenoser Behandlung haufig zu beobachten ist,
sprioht doch selbstverstandlich fur die direkte chemische Beeinflussung. Auf-
fallig ist aber, dass der Eiweissgehalt kaum beinflusst wird. Auch der Ruck-
gang, resp. Sohwinden der Plasmazellen konnte K. feststellen. Bei manchen
auf Salvarsan sich bessernden Symptomen (z. B. bei okulistischerseits festge-
stellter betrachtlicher Erweiterung des Gesichtsfeldes in einem von K. beob-
achteten Palle von Tabes) kann man auf die Vermutung kommen, dass es sich
hier nicht urn echte tabische Symptome gehandelt hat, sondern um spat lu-
etisohe, da ja die Kombination von Metalues mit tertiaren Ersoheinungen nicht
selten ist. Gerade dieses Nebeneinandervorkommen bedingt aber die dringende
Indikation, in jedem Tabesfalle eine Salvarsanbehandlung zu versuchen, wenn
es sich nicht um an sich gutartige oder stationare Formen handelt. Mindestens
gilt dies fur die ausgesprochenen fortschreitenden Falle. Dasselbe gilt fur die
Paralyse. Es gibt Falle, die unter dem klinischen Bilde der Paralyse verlaufen
oder wenigstens von dieser unsicher zu trennen sind, die durch spezifische,
insbesondere Salvarsanbehandlung einer so weitgehenden Besserung entgegen-
gefuhrt werden konnten, dass sie nur noch einen stationaren Defekt zeigen.
Wahrscheinlich handelt es sich in diesen Fallen um luetische Pseudoparalyse.
Mit Riicksicht auf eine solche, wenn auch entfernte Moglichkeit, ist der Versuch
mit einer intensiven Salvarsanbehandlung bei jeder frischen Paralyse indiziert,
selbst auf die Gefahr hin, bei ausbleibendem Erfolg eventuell sogar eine Be-
schleunigung des paralytischen Prozesses bei dem immer doch verlorenen Pa-
tienten herbeizufiihren.
Betreffs der Technik ist auf das allerdringendste hervorzuheben, dass
stets mit sehr kleinen Dosen begonnen werden muss, die Gesamtdosis aber eine
grossq sein muss. Am besten ist, eine kurze Quecksilberbehandiung voraus zu
schicken. Die grossen Anfangsdosen bringen die Gefahr einer Herxheimer-Re-
aktion, die am Zentralnervensystem zu den verhangnisvollsten Folgen fiihren
kann. Todesfalle bei latenter Endarteriitis der Hirnarterien (wahrscheinlich
ein Fail Hoffmann’s), bei latenter Meningitis in Hohe des Zervikalmarks
(wahrscheinlich in einem Fall Westphal’s).
K. sah in einem Falle von latenter Tabes (Pupillenstarre und Areflexie,
ohne subjektive Symptome nach einer dermatologischerseits vorgenommenen
Injektion von 0,4 Salvarsan zwei Stunden spater erstmalig die heftigsten und
spaterhin sehr hartnackigen lanzinierenden Schmerzen auftreten.
Eine zu schwache Behandlung bedingt vielleicht die Gefahr baldiger Re-
zidive, die, wie gesagt, schwerer zu beeinflussen scheinen, bedingt auch viel¬
leicht die Gefahr einer Forderung des metaluetischen Prozesses in Analogic zu
den Vorgangen beim Nourorezidiv der Friihperiode. Ja, es erscheint — wie
ich dies schon 1913 aussprach (Sitzung der Medizinischen Gesellschaft Leipzig,
19. November 1913, Diskussion zum Yortrag Riecke) — nicht ganz unmoglich,
dass eine schwache Behandlung von Spatluetikern oder vielleicht uberhaupt
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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 293
der Luetiker eine spatere Entstehung metaluetischer Erkrankungen fordern
k&nn. (Eigenbericht).
Herr Wichura (Schlusswort) glaubt seine Ansiohten durch vieles, was
in der Disknssion gesagt wurde, bestatigt.
2) Herr Anton-Halle: „ Kopfrontgenbilder bei Entwicklungs-
storungen“.
Der Vortr. demonstriert einen Schadel mit Gehirn, wobei das Kleinhirn
als minimaler Rest vermindert war und wobei die hintere Schadelgrube schlaff
nnd schmal und mit knochernen Auswuchsen gefunden wurde.
Dann ein Fall von Hypertrophic des Kleinhirns mit entspreohender Aus-
scheidung der hinteren Schadelgrube. In diesem Falle waren die Nebennieren
verkummert und die Thymus vergrossert.
Weiterbin demonstriert A. gegen 30 Schadelrontgenbilder: Mit Ver-
grosserung der Kleinhirngrube, mit auffalliger Verkleinerung derselben, mehrere
Turmsehadel mit Verbildung der Kleinhirngrube.
Endlich wurde das haufige Vorkommen partieller oder allgemeiner
Lagunenschadel vorgezeigt.
Der Vortr. gab folgende Zusammenfassung:
1. Die mangelhalte Ausbildung oder der friihzeitige Schwund des Klein¬
hirns bekundet sich durch Verkleinerung der hinteren Schadelgrube, durch
kompensatorisches Knochenwaohstum daselbst, mitunter auch durch steilen
Winkel des Klivus.
2. Die iibermassige Ausbildung des Kleinhirns ist desgleichen im Ront-
genbilde erweisbar. Die oberen Grenzen sind durch den Sinus transversus und
die dort befindliche Knochenleiste meist gut zu bestimmen.
Die Hypertrophie des Kleinhirns ist bei Entwicklungsstorungen viel ofter
durch das Rontgenbild erweisbar als durch andere Untersuchungsmethoden.
Sie ist nur in seltenen Fallen mit Stauungspapille und tumorosen Erschei-
nungen einhergehend.
3. Es ist moglich, durch genaue prazisierte Ebene das Verhaltnis von
Grosshimraum zum Kleinhirnr&um genauer zu bestimmen. Die planimetrische
Abmessung des Grossbirnraumes und des Kleinhitnraumes sind am Rontgen¬
bild mdglich, wenn moglichst dieselben Ebonen eingestellt werden, urn mitein-
ander vergleichbar zu sein.
4. Bei Turmsehadel ist Lagunenbildung am Hirnschadel sehr hauflg zu
finden und lasst, wenigstens zu einer Entwicklungsphase, ein Missverhaltnis
zwisohen Schadelraum und Gehirn vermuten.
5. Bei Turmsehadel sind auch andere Anomalien des Hirnschadels er-
kennbar, welche nicht nur durch vorzeitige Nahtverschliessung der Koronarnaht
und der basalen Sychondrosis bedingt sind.
Der krankhafte Turmsehadel ist eine Teilerscheinung einer allge-
meinen Entwicklungsstorung, wobei die Driisen mit Innensekretion in Betracht
kommen.
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294 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater a. Neurologen.
6. Das Missverhaltnis zwischen Schadelkapazitat und Gehirnraum nach
Rieger and Reichardt lasst sich sohon beim Lebenden durch Schadelront-
genbilder anschaulich machen. Desgleichen sind die Venenstauungen, be-
sonders an der konvexen Gehirnoberflache am Rontgenbild sichtbar zu machen
and daher bei Operationen eine praktisoh verwertbare Grundlage, am die
Venenstellen za vermeiden.
7. Die Laganenbildangen am Hirnschadel sind wahrscheinlich auch be-
dingt darch krankhafte Abandoning der Knochensabstanz selbst. Sie sind haufig
auch bei Psychopathen ohne Schadelverbildung am Rontgenbilde nachweisbar.
3) Herr Strdmpell-Leipzig: „Ueber Wilson’sche Krankheit 41 .
Vortr. steilt der Gesellsohaft den Kranken E. Heidenreicb vor, den er in
seiner Arbeit uber n Wilson ? sohe Krankheit, Pseudosklerose u (Deutsche Zeit-
schrift fur Nervenheilkande) ausfdhrlioh beschrieben hat. Die hervorsteohend-
sten Symptome (Bewegungsarmut, die Muskelstarre, die abnormen Steilungs-
fixationen, der dadarch bedingte eigentiimliche Gang, das leichte Zittem)
werden demonstriert. Im Anschluss hieran bespricht Striimpell kurz die
Symptomalogie der Erkrankung der extrapyramidalen motorischen Leitungs-
bahnen. Dient die Pyramidenbahn der Myodynamik, so dient die Linsen-
kernbahn vorzugsweise der Myostatik. Ihre Symptome sind daher vor allem
Muskelfixation und Bewegungsstarre, Tremor, Athetose. Striimpell nennt
diesen Symptomenkomplex den amyostatisohen. Er findet sich bei der
Paralysis agitans, der Pseudoskierose, der Wilson’schen Krankheit and der so-
genannten Myastasie in ausgepragtester Form, ausserdem aber auch teilweise
bei Chorea und Athetose. Auch in den Fallen gewdbnlicher apoplektischer
Hemiplegie spielen wahrscheinlich die amyostatlschen Symptome zuweilen eine
beachtenswerte Rolle neben den gewohnlichen Pyramidenbahn-Symptomen.
‘ (Eigenbericht).
Aussprache.
Herr Ni ess 1 v. May end or f- Leipzig: Ein anatomisches Glied dieses
statischenFasersystems kennen wir, es sind das dieBindearme, welche dieNerven-
kerne der Wiirmer mit den kontralateralen Nuclei rubri verbinden. Von hier
steigenBahnen durch die Linsenkerne in die Zentralwindungsgebiete, anatomisch
verfolgbar in der hinteren Zentralwindung. Ein Kausalnexus zwischen der
Unterbrechung dieser Faserung mit dem Auftreten choreatischer Zuokungen ist
klinisch bcwiesen (Benedickt’scher Symptomenkomplex). Da die Hysterie den
funktionellen Ausfall motorisoher und sensibler Leitungsbahnen als klinisches
Charakteristikum an der Stirn tragt, so ist es durchaus gerechtfertigt, die Zitter-
phanomene bei den traumatischen Neurosen im Kriege auch auf eine funktionelle
Ausschaltung zerebello-kortikaler Zusammenhange zu beziehen.
4) Herr Pfeifer-Nietleben: ^Ueber kortikale Blasenstorungen
und deren Lokalisation bei Hirnverletzten a .
Beim Erwachsenen ist die Urinentleerung in erheblichem Grade rom
Willen abhangig. Das Bestehen von zerebralen Blasenzentren ist schon fraher
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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 295
durch experimentelle Untersuchungon bei Tieren nachgewiesen worden. Auch
klinische Beobaohtungen iiber zerebrale Blasenstorungen wurden wiederholt
schon in Friedenszeiten gemacht. Dagegen ist die Frage der Blasenstorungen
nach Schussverletzungen des Gehirns noch nicht in ausfiihrlicher Weise be-
handelt worden.
Vortr. hat unter den ersten 200 Fallen, welohe im Sonderlazarett far
Hirnverletzte in Nietleben aufgenommen worden, im ganzen 20mal Bl&sen-
storungen im Anschluss an Hirnverletzung feststellen konnen. Die Schussver-
letzong des Gehirns betraf7mal die linke, 6mal die rechte Grosshirnhemi-
sphare, in 7 weiteren Fallen waren beide Hemispharen betroffen.
Die Blasenstorungen bestanden im wesentlichen in Harnverhaltung.
Einige Male musste anfangs katheterisiert werden, einige Male kam es spaterhin
zur Aosbildang einer imperativen Inkontinenz. Die Blasenstorungen d&uerten
meist einige Wochen; einwesentlicherUnterschied zwischen den linksseitigen and
rechtssoitigen sowiezwiscbenden einseitigen unddoppelseitigenHirnverletzungen
inbezug auf Intensitat ond Dauer der Blasenstorungen war nicht festzustellen.
Die kortikale Innervation der Harnblase ist demnach eine doppelseitige.
Eine vorwiegende Bedeutung einer Hirnhaifte ftir die Innervation der Harnblase
ist nicht anzunehmon. Der Sitz der kortikalen Blasenzentren ist im Rinden-
gebiete der motorischen Region zu suchen. In alien Fallen, welche nach der
Verwundung Blasenstorungen zeigten, hatte die Verletzung ihren hauptsach-
lichsten Sitz in der Gegend der Zentralwindungen und alle diese Falle gingen
mit zerebralen Motilitatsstorungen einher. Das Stimhirn kommt als kortikale
Innervationsstatte fur die Harnblase nicht in Betracht.
Da eine erhebliche Zahl von Hemiplegien infolge von Schussverletzungen
im Bereich der motorischen Rindenregion ohne Blasenstorungen verlauft, ist
anzunehmen, dass das kortikale Blasenzentrum nur ein kleines Feld im Bereich
der motorischen Rindenzone einnimmt, das der Zerstorung leicht entgehen
kann. Der Sitz dieses Feldes ist in Uebereinstimmung mit klinischen Einzel-
beobachtungen aus der Friedenszeit in der Gegend des Huftzentrums, also in
dera Rindengebiet zwischen Arm- und Beinzentrum zu suchen, nicht aber im
Bereich des Beinzentrums selbst, wie neuerdings Kleist und Forster auf
Grund von Kriegsbeobachtungen annehmen. Hierfiir spricht die Art und Aus-
breitung der sonstigen motorischen Lahmungserscheinungen und der Sitz der
Kopfverletzung. Bei den 13 Fallen von einseitiger Hirnverletzung mit Blasen-
storung war in keinem Fall das Bein allein oder in vorwiegendem Masse von
der Lahmung betroffen. Dementsprechend fanden sich auch die Schadelnarben
bei fast alien diesen Fallen am mittleren oder zwischen dem mittleren und
dem oberen Drittel der Zentroparietalregion lokalisiert. Bei den 7 Fallen von
doppelseitiger Hirnverletzung handelte es sich slots urn Triplegia mit ent-
sprechender Schadelnarbe. Bei diesen Fallen war aber trotz der doppelseitigen
Beinlahmung die Blasenstorung nicht sahwerer als bei den Fallen von ein¬
seitiger Hirnverletzung.
Gegen den Sitz der kortikalen Blasenzentren im Bereioh der motorischen
Beinregion spricht besonders auch ein Fall von allerschwerster doppelseitiger
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296 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen.
spastisoher Beinlahmung ohne sonstige Lahmungserscheinungen und ohne die
geringsten Blasenstorungen.
Bei diesem Fall land sich auch eine durch Verletzung der sensiblen Bein-
region an der hinteren Zentralwindung bedingte Sensibilitatsstorung von spinal-
segmentarem Charakter. Die kutane Sensibilitat war vom 9. Dorsalsegment
abwarts beiderseits herabgesetzt, aber mit Aussparung der gesamten Genito-
Analhant. Dieser Umstand, im Verein mit dem Fehlen jeglicher Blasenstorung
spricht dafiir, dass auch das sensible kortikale Blasenzentrum an der hinteren
Zentralwindung ebenso wie das motorische an der vorderen seinen Sitz an der
Hirnrinde unterhalb des Beinzentrums hat.
• Aussprache.
Herr Niessl v. Mayendorf: Ich fand Gelegenheit einen Fall zu beob-
achten, welcher infolge einer Sohrapnellverletzung an derPfeilnaht desSchadels
anfangs eine Lahmung der rechten Korperhaifte mit einer Fusslahmung der
linken Seite kombiniert gezeigt hatte. Die rechtsseitige Hemiplegie besserte
sich, die beiderseitige Fusslahmung spastischer Natur blieb ungebessert zu-
ruck. Bei einem operativen Eingriff wurde zerstortes Gewebe aus der Gegend
der Parazentrallappen entfernt. Der Mann hatte niemals Blasenstorungen.
Herr Foerster-Breslau.
Herr Pfeifer (Schlusswort): Der von Herrn Niessl angefiihrte Fall
liefert eine sehr treffende Bestatigung meiner Beobachtung, dass Falle mit
schwers ter Paraplegia derBeine infolge von doppelseitiger Verletzung dermotori-
schen Beinregion der Hirnrinde vollig frei von Blasenstorungen sein konnen.
Falle von iiber Jahre sich erstreckenden Blasenstorungen bei Hirnrinden-
verletzten mit Lahmung der Beine habe ich nie beobachtet. Bei meinen
Fallen von Triplegie war die Blasenstorung inbezug auf Dauer und Intensitat
trotz der doppelseitigen Beinlahmung nicht schwerer als bei den einseitig Hirn-
verletzten. Nur in einem Fall dauerte die Blasenstorung iiber ein halbes Jahr
an und zwar in Form von Inkontinenz, wahrend es sich bei alien iibrigen
Fallen um Harnverhaitung, evtl. in vereinzelten Fallen mit gelegentlicher im-
perativer Inkontinenz handelte. Bei diesem Fall fanden sich aber, abgesehen
von derHirnrindenverletzung in beiden Grosshirnhemispharen, wie dieRontgen-
untersuchung ergab, 15Geschossplitter, so dass die Vermutung naheliegt, dass in
diesem Fall auch das subkortikale Blasenzentrum imSehhugel, dessen Erkrankung
naoh den Erfahrungen der Friedenszeit Inkontinenz verursacht, verletzt war.
5) Herr von Rohden-Nietleben: ^Experimentelle Aufmerksam-
keitsuntersuchungen an normalen und hirnverletzten Soldaten 44 .
Die Ausfuhrungen des Vortragenden beschranken sich auf eifrzelne Er-
gebnisse von tachistokopischen Untersuchungen des optisch-sensoriellen Auf-
merksamkeitsumfanges. Die Versuche wurden an 10 normalen und
70 hirnverletzten Soldaten mit dem Wundt’schen Falltachistoskop und dem
mit einer neuen Zeitmessvorrichtung versehenen Netscbajeff’schen Apparat
angestellt. Als optische Reizobjekte dienten 1—6 stellig© Zahlen und sinnlose
Konsonantenkomplexe. Die Expositionszeit betrug 30, bezw. 15 Sekunden. Das
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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 297
Durchscbnittsmass des von Cat tel u. a. festgestellten Aufmerksamkeitsum-
fanges erreiohten 56pCt. der normalen und 40pCt. der hirnverletzten Soldaten.
Par die Gute der tachistoskopischen Leistang ist nicht der Grad, sondern in
erster Linie der Ort der Hirnscbadigung massgebend. Unter der Voraus-
setznng, dass fur das untersuchte Soldatenmaterial die simultane Grkennung
▼on 3 Einbeiten anch nocb als normal gelten kann, zeigten die nntersuchten
normalen Soldaten sowie die stirnverletzten keine Einschrankung des Aufmerk-
samkeitsumfanges. Tachistoskopische Aufmerksamkeitsstorungen traten erst
anf bei Rindendefekten in der Zentropariotalregion. Am kleinsten war der
Aofmerksamkeitsumfang bei Scheitelhirnverletzten, ohne dass bei ibnen Seh-
stdrungen nachzuweisen waren. Die ausserst durftigen tachistoskopischen
Leistungen derOkzipitalhirnverletzten sind nicbt auf Aufmerksamkeitsstorungen,
sondern anf Sebstorungen zuruckzufiihren. Hysterische Stirnverletzte zeigen
einen in quantitativer und qualitativer Beziehung wohl charakterisierten Anf-
merksamkeitstypus, der von differentialdiagnostischer Bedeutung ist. Aus der
Tatsache, dass bei Scheitelhirnverletzten die optische Aufmerksamkeit mehr
geschadigt ist als bei alien anderen Hirnverletzten, soweit sie keine Seh-
storungen aufweisen, diirfen irgendwelche lokalisatorischen Schliisse hin-
sichtlich der Gesamtfunktion der sensoriellen Aufmerksamkeit nicht ge-
zogen werden. (Erscheint im Original.)
Aussprache.
Herr Niessl v. Mayendorf-Leipzig: Sowohl bei einseitigen als
doppelseitigen Stirnhimverletzungen sind psychische Ausfallssymptome von
mir nicht beobachtet worden. Man darf nicht bloss die befallene Lokalitat,
sondern muss auch die Art der Yerletzung in Betracht ziehen, da posttrauma-
tische Nenrasthenien und Kommotionsneurosen mit Aufmerksamkeitsstorungen
einhergeben. Ehe man nicht dieso Quelle der letzteren auszuschalten vermag,
kann man den Aufmerksamkeitsdefekt nicht mit der Lasion einer bestimmten
Hirngegend in kausale Beziehung bringen.
(Erwiderung auf die Diskussionsbemerkung Pfeifer’s). Ich wollte nicht
behaupten, dass psychische Veranderungen stets bei Stirnhimverletzungen
fehlen miissen, ich leugne nur, dass die im Kriege gewonnenen Bcfunde uns
zwingen, diese psychischen Veranderungen als die Folge der Stirnhirn-
▼erletzungen aufzufassen. Es liegen keine statistisch einwandfreien Reihen vor,
welche den Nachweis fiihren konnten, dass die typischen Veranderungen nicht
als Symptome einer posttraumatischen Neurasthenie oder Kommotionsneurose
auszuschliessen waren, also nichts mit der Stimbirnlasion zu tun hatten. Dio
psychologisch-experimentellen Untersuchungen sind in der Regel zu fein, um
die Grenze zwischen psychologischer Breite und pathologischer Abweichung
sicher ziehen zu konnen, so dass deren Ergebnisse neue Aufschliisse fur loka-
lisatorisohe Zwecke erwarten liessen. Die exakten Untersuchungsergebnisse
des Vortr. sprechen dem Stirnhirn eine psychische Funktion ab. Es erscheint
mir gefahrlich, veralteten Tbeorien zu Liebe unsere Erfahrungen zu deuten und
Gall’s zerebrale Organologie wieder aufnehmen zu lassen.
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298 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Nearologen.
Herr K lien-Leipzig: Wenn der Herr Vortragende auf Grand seiner Ex-
perimente za dem Resultat kommt, dass moglicherweise in dem parietalen
Assoziationszentrum ein Aafmerksamkeitszentrum lokalisiert ist, so meint er
damit wohl, was er nicht besonders hervorgehoben bat, nor ein Zentrum fiir die
optische Aufmerksamkeit. Im ubrigen ist zu bedenken, ob nicbt die unter dem
Parietallappen verlaufende Sehstrahlung moglicherweise durch die Verletzang
des Parietallappens in einer Weise geschadigt sein kann, dass zwar Ausfalle im
Gesichtsfeld fehlen, dass aber die Leitungsgeschwindigkeit in der Sehstrahlung
herabgesetzt ist, ahnlich wie wir dies u. a. bei Drucksohadigung und unter Er-
krankung peripherer Nerven beobachten. Selbst eine sehr geringeVerminderung
der Leitungsgeschwindigkeit konnte natiirlich bei den tachistoskopischen Ver-
suchen dieLeistung herabsetzen. (Nachtraglicher Zusatz: Vielleicht konnte durch
tachistoskopische Versuche mit vergleiohender Exposition der Objekte in der
homolateralen und kontrolateralen Gesichtsfeldhalfte eine Klarung iiber diesen
Punkt herbeigefiihrt werden.)
Herr Pfeifer-Nietleben: Der Vortragende hat auf Aufmerksamkeits-
storungen hingewiesen, die ich friiher bei Fallen von Hirntumoren machen
konnte. Es handelte sioh dabei um 2 Falle von Tumoren an der lateralen Seite
des Parieto-Okzipitallappens, bei welchen die Aufmerksamkeit-auf optische Ein-
driicke stark herabgesetzt war. Allerdings sei bemerkt, dass es sich bei meinen
damaligenFeststellungen nicht um experimentell-psychologischeUntersuchungen
bei der Priifung der Aufmerksamkeit handelte. Immerhin war in dem einett Falle
eine Stoning des Sehvermogens und in beiden Fallen eineTrubung des Bewusst-
seins alsUrsache fiir die Aufmerksamkeitsstorung mitSicherheit auszuschliessen.
Der Vortr. ist auf Grund seiner experimentellen Untersuchungen bei Ilirn-
verletzten bezuglich der Lokalisation der Aufmerksamkeit zu ahnlichen Resul-
taten gelangt, wie ich selbst fruher bei Hirntumoren, insofern als Aufmerk-
samkeitsstorungen bei den Stirnhirnaffektionen gar nicht, dagegen besonders
bei den Affektionen der Parieto-Okzipitalregion hervortreten.
Ich mochte besonders nooh nachdriicklich betonen, dass meines Erachtens
eine allgemeine Herabsetzung der Aufmerksamkeit fiir alle Sinnesgebiete nicht
in einem bestimmten Hirnteil lokalisiert werden kann. Bei meinen Fallen
yon Tumoren der seitliohen Scheitel-Hirnhauptgegend hdndelte es sich um eine
Reduhtion der Aufmerksamkeit speziell auf optischem Gebiete, und das trifft
ja auch fiir die experimentell-psychologischen Untersuchungen des Vortr. zu,
wobei ebenfalls die Aufmerksamkeit speziell auf optische Reize gepriift wurde.
Herr Pfeifer-Leipzig: Der Diskussionsbemerkung des Herrn Niessl
von Mayendorf habe ich entnommen, dass er die Ansicht vertritt, der
Mensch konne selbst grosserer Mengen von Gehirnsubstanz verlustig gehen,
ohne Ausfallserscheinungen d. h. Schadigungen in funktioneller Hinsicht zu
zeigen. Diese Auffassung ist nicht neu und gait bis zu Kriegsbeginn ganz all-
gemein. Die Lehre von den stummen Ecken des Gehirns verdankt ihr die Ent-
stehung. In der Tat gibt es Falle von chirurgisch erwiesener Hirnverletzung,
wo der ubliche neurologische Befund vollkommen negativ ist und auch die
klinische Beobachtung im Krankenhaus keinen krankhaften Befund feststellen
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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater a. Neurologen. 299
liess. Diesen Zwiespalt zu iiberbruoken war physiologisch und anatomisch
UDgebeuer schwer. Die Kriegserfahrung von Hirnverletzten lasst aber nan die
sogenanaten negativen Falle in einem ganz anderem Lichte erscheinen. Es
ware doch zu erwarten gewesen, dass gerade diesen Hirnverletzten der Ruck*
tritt in das Wirtschafts- und Berufsleben sehr leicht hatte fallen miissen, zu-
mal ihre Entlassung aus dem Heeresdienste in sehr vielen Fallen begvinstigt
wurde. Das ist nun keineswegs der Fall. Es erwies sich sehr bald ihre ganz-
liche Unbrauohbarkeit beim Heere und nicht selten auoh eine ganz unerwartete
Herabsetzung ihrer Leistung im biirgerlichen Beruf. Dieser Umstand hat ja
gerade dazu gefuhrt, die neurologische Untersuchung durch experimentelle
Hilfsmittel zu verfeinern und die klinische Beobachtung zu einer berufliohen
Arbeitsbeobachtung zu erweitern. Wie^konnte man aber auch von der kli-
nisohen Beobachtung im Krankenhaus Unmogliches verlangen? Sie ist ja in
keiner Weise geeignet, in alle Nfschen des Geisteslebens hineinzuleucbten.
Kir ist ein Fall bekannt geworden, wo ein Fabrikdirektor eine Schussverletzung
des Scheitelhirns davontrug und neurologischer Befund sowohl als klinische
Beobachtung als negativ verzeichnet wurden. Und doch hatte die Personlioh-
keit eine schwere Einbusse erlitten. Anscheinend gut geheilt vom Militar ent-
Iasset), bemerkte die Frau zu ihrem Erstaunen, wie ihr Mann, der fruher die
Seele des Fabrikbetriebes war, allmahlich auch die wichtigsten Obliegenheiten
in die Hande des Werkmeisters hiniibergleiten liess. So kann selbst eine
sohwere Einbusse an Initiative am Krankenblatt glatt iibersehen werden, wah-
rend sie im Berufsleben offen zutage tritt. Jeder, der mit Hirnverletztenfiir-
sorge zu tun hat, kann weitere Beispiele anfiihren. Wir sind deshalb vorsich-
tiger geworden. Bei chirurgisch erwiesener Hirnverletzung kann man nicht
mehr ohne Bedenken sagen, es bestehen keine Ausfallsersoheinungen, sondern
nur so viel, dass man keine Ausfallserscheinungen gefunden bat.
6) Herr Pfeifer-Leipzig: „Einleitung und arztliche Ueber-
wachung des Defektausgleiches bei Hirnverletzten*.
Die Sonderabteilungen fur Hirnverletzte haben eine vierfache Aufgabe zu
erfullen: Die prazise Defektbestimmung, Einleitung und Ueberwachang des
Defektausgleiches, die Rentenbegutachtung und die arztliche und berufliche
Beratung der Rentenempfanger. Der Defektausgleich, als einzige therapeutische
Massnahme nach Ablauf der chirurgischen Behandlung, ist an sich schon ge¬
eignet die Sondereinricbtung zu rechtfertigen und bei gutem Erfolge auch ren-
tabei erscheinen zu lassen. Es ist zweckmassig, von vornherein diejenigen
Hirnverletzten, die nachchirurgisoh behandelt werden miissen, zu trennen von
denen, die dieser Behandlung nicht mehr bediirfen. Die Trennung ist eventuell
ausschlaggebend fur die Erreichung des Zieles. Auch frische Rekonvaleszonz
nod Epileptiker mit gehauften Anfallen sind von der Unterrichts- und Arbeits-
therapie auszuschliessen. Ihre zu fruhe Belastung mit Arbeit kann zur Ver-
schlimmerung des Leidens fiihren und hat jedenfalls sehr viel zur Befestigung
des Vorurteils beigetragen, dass jeder Hirnverletzte der Schonung bedarfe.
Die dadurch mogliche Schadigung des Arbeitswillens ist kaum wieder gut zu
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300 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen.
machen, denu alle therapeutischen Massnahmen des Defektausgleiches sind
Anpassungsvorgange an neue Bedingongen ond erfordem einen ganz ener-
gischen Willen. In der Mebrzahl der Falle handelt es sich nm den Erwerb
von neuen Fertigkeiten, die nur durch ausdauernde Uebung erlernt werden
konnen. Auf der Station wurde deshalb jeder Hirnverletzte mogliohst booh
und bis zn 6 Stunden am Tag mit Arbeit belastet. Das hat sich glanzend
bewahrt.
Urn einen Defekt auszugleichen, muss man ihn kennen. Die prazise De-
fektbestimmung ist daher Voraussetzung. Der frische Defekt, wie ihn z. B.
Alters in seinem Buche schildert, sieht ganz anders aus als der Defokt des
chirurgisch abgelaufenen Falles, wie ihn etwa Poppelreuter beschreibt, und
grundverschieden ist jene Defektbestitnmung unmittelbar vor der Entlassung,
wenn die angewandten therapeutischen Massnahmen erfolgreich waren. In
letzterem Falle wird der Defekt gewissermassen indirekt bestimmt durch die
Beschreibung der wirklichen Restfunktionen des noch vorhandenen Gehirns.
Im allgemeinen erscheint namlich der Defekt viel zu gross. Die Ausfalls-
erscheinungen werden durch Ausheilen der weniger betroffenen Hirngebiete
und durch Uebungstherapie wesentlich geringer. Auch ein physiologischer
Faktor spielt dabei eine Rolle. Das Leben an der Front nimmt die Leute per-
sonlich mit. Durch die langwierige chirurgische Behandlung sind sie dann
noch verurteilt zu dem willenlahmenden Rentierleben im Lazarett. Fur einen
Gesunden wiirde es unter solchen Umstanden Ueberwindung kosten, im Leben
und Beruf wieder tiichtig zu sein. Diese Schadigung der Personlichkeit stort
sehr bei der Defektbestimmung und fuhrt zur Ueberschatzung des Erfolges
beirn Defektausgleich. Gleichwohl haben die therapeutischen Massnahmen
mit der Behebung dieser Schaden einzusetzen. Die systematiscb betriebene
Uebungstherapie verspricht Erfolg auf dem Gebiete der sensorischen und mo-
torischen Aphasie, der hemianopischen Sehstorung, den dynamischen Muskel-
storungen usw. Ein besonderes Problem fur sich bildet die Hebung der Ge-
schicklichkeit der linken Hand bei Rechtsgelahmten. Ref. erlautert das an
der Linkshanderschrift, die er zu Versuchszwecken an Analphabeten studierte.
Der Not gehorchend hat die Medizin auf dem Gebiete der Uebungstherapie
Fiihlung genommen mit der sogenannten Heilpadagogik. Darin liegt aber eine
Gefahr, weil es verfehlt ist, den Unterricht bei den Hirnverletzten gleich auf
den Schwachsinn einzustellen. Die richtige Methodik ist nur aus der Zusammen-
arbeit des Padagogen mit dem Arzt zu entwickeln.
Die gesamten gemachten Erfahrungen laufen darauf hinaus, dass die
Therapie des Defektausgleichs keinesfalls aussichtslos ist. Im Grunde ge¬
nommen hangt es damit zusammen, dass der Hirnverletzte, abgesehen von ein-
zelnen sehr schweren Fallen, eben nicht vollkommen ausserhalb des Rahmans
der Gesunden steht und die Einbusse eine so grosse ist, dass er unter jeder
Schlechtleistung der Normalen herabsinkt. Mit Hilfsmitteln der experimentation
Psychologie lasst sich nachweisen, dass die Mehrzahl der Hirnverletzten mit
ihren Leistungen noch in die Variationsbreite der Gesunden hineinfallen. Ref.
erlautert das an einer graphischon Darstellung.
Go^ 'gle
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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater a. Neurologen. 301
Zu einem geradeza verbluffenden Ergebnis fdhrte z. B. die Prdftmg der
Hebebiickarbeit mittels der Poppelreuter’schen Eimerprobe. Schon wahrend
der Eichung des Verfahrens durch Gesunde (Aerzte, Lazarettporsonal) drangten
sich Hirnverletzte heran und wollten die Sache auch einmal probieren. Dam
Wunsche wurde mit List naohgegeben und es entfachte sich auf der Station
▼on selbst eine Art Sporteifer, indem sich die Hirnverletzten an Leistungen zu
ubertrefifen versuohten. Bei ganz exakter Ausfuhrung der Probe leistete ein
schwer aphasischer Hirnverletzter 900 Hebungen, was einer korperlichen
Dauerarbeit von 2% Stunden entspricht. Die vorgefuhrte graphische Dar-
stellung der Ergebnisse zeigt, dass die Hirnverletzten mit ihren Leistungen bei
der Hebebiickarbeit nicht so schlecht gastellt sind wie Poppelreuter an-
nimmt und dass das Experiment zugunston Goldstein’s spjicht, der es far
unbedenklioh halt, den Hirnverletzten auch das Gebiet der landwirtschaftlichen
Arbeit zu erschliessen.
Ausspraohe.
Herr Pfeifer - Nietleben: Eingehende experimen tell - psychologische
Untersuchungen der Hirnverletzten sind, abgesehen von deren hoher Bedeutung
fur die wissensohaftliche Erforschung der Hirnfunktionen, auoh von grosser
' praktischer Wichtigkeit als Grundlage fur die padagogische Behandlung, die
Werkstattenbeschaftigung und Begutachtung der Hirnverletzten. Wir diirfen
uns nicht mehr wie friiher bei der Untersuohung organischer Nervenkranker
damit begniigen, die klinisch nachweisbaren lokalen und aligemeinen Ausfalis-
erscheinungen festzustellen. Wir miissen uns ein moglichst genaues Urteil iiber
den Grad der durch die Hirnverletzung bedingten Herabsetzung der korperlichen
und geistigen Leistungsfahigkeit zu verschaffen suchen, und zwar auf Grund von
experimentell-psychologiscben Untersuchungen. Es ist namentlich Poppel-
reuter’s Verdienst, diese Forderung zuerst eindringlich gestellt zu haben.
Anderererseits diirfen aber die Aufgaben der Hirnveriotztenlazarette nicht
auf die experimentell-psychologischen Untersuchungen und auf die Unterrichts-
und Workstattenbehandlung beschrankt werden. Die arztlich-klinische Behand¬
lung der Hirnverletzten muss voll zu ihrem Recht kommen.' Es diirfen nicht
Kranke von der Aufnahme ausgeschlossen werden, weil sie an Epilepsia leiden
und deshalb fur die Uebungsschule und Arbeitstherapie nicht geeignet sind.
Fur arztliohe sorgfaltige Ueberwachung und Behandlung der Epileptiker und
Schwergelahmten muss besonders gut gesorgt werden. Vor allem muss in alien
geeigneten Fallen chirurgische Behandlung stattfinden und zwar nicht nur bei
Spatabszessen und traumatischer Epilepsie, sondern auch besonders bei den
spastischen Lahmungen durch Vornahme der von Foerster angegebenen Ope-
rationsmethode an den hinteren Rtickenmarkswurzeln und an den gelahmten
Extremitaten selbst.
7) Herr Dehio-Zschadrass: „Ueber Hayner 11 .
Herr Dehio zeigt eine Nachbildung einer Tonbiiste des ersten Direktors
der Landesheilanstalt Colditz, Dr. Hayner, die von den ersten Colditzer Ton-
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302 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen.
werken, Thomsberger und Hermann in Colditz, hergestellt worden ist und von
dort bezogen werden kann.
Hayner war, bevor er im Jahro 1829 die Anstalt Colditz einrichtete,
Arzt an der damaligen Versorgungsanstalt Waldheim i. S. und hat als solcher
im Jahre 1817 eine kleine Schrift veroffentlicbt: „Aufforderung an Regierungen,
Obrigkeiten und Vorsteher der Irrenhauser zur Abstellung einiger schwerer
Gebrechen in der Behandlung der Irren. w In dieser Schrift wendet er sich in
warmer, menschlich packender Weise gegen die damals iibliehe Behandlung
der Irren duroh Fesselung mit Ketten, korperliche Ziichtigungen und duroh
rohes, ungebildetes Personal. Seiner Zeit weit vorauseilend hat er schwere
Bedenken gegen die verschiedenen Zwangsmittel, und er kann die Zwangsjacke
nur fur besonders schwierige Falle und unter Anwendung besonderer Vorsichts-
massnahmen empfehlen. Als geeignetes Hilfsmittel fur die erste Versorgung
der Geisteskranken sohlagt er das Autenriet’schePalisadenzimmer vor, die Dr-
form des spateren Isolierzimmers, die aber in ihrer ursprungliohen Bauart die
dauerndeUeberwachungdesKranken durchPflegergestattet. In kurzen Leitsatzen
gibt er weiterAnweisungen fur denUmgang mit Geisteskranken, bestimmt fur die
Warter, die in ihrer knappen und doch warmenForm sebr wohl noch jetzt fur die
ersteUnterweisung des Pflegepersonals brauchbar sind. SeineGedanken undAn-
regungen sind unzweifelhaft mit massgebend gewesen beim Aufbau der sachsi-
schen Anstaltspflego unter dem Minister von Nostiz und Jankendorf.
8) Herr Sommer-Giessen: n Optisches Gedachtnis u .
Sommer geht von der Untersuchung eines iiberwertigen optischen Ge-
dachtnisses aus, die er in dem Jahresbericht fur Neurologic und Psychiatric
1916 beschrieben hat. Die Methods besteht darin, dass der Versuchsperson
25Figuren, in 25Feldern eines Quadrats geordnet, exponiert werden. Sommer
vereinfacht die Methods dadurch, dass er das Schema in verkleinerter Form
auf ein Blatt drucken Hess, auf dem sich gleichzeitig ein Quadrat mit 25 leeren
Feldern zum Eintragen der behaltenen Figuren findet.
Die behandelte Versuchsperson, der bekannte Rechner Dr. Ruckle,
konnte nach der ersten Exposition von durchschnittlich 2 Sekunden (zusammen
50 Sekunden) 7 Figuren richtig, 6 halbrichtig reproduzieren, wobei 12 Figuren
in die richtigen Felder lokalisiert waren. Sommer suchte nun weiter normale
Vergleiohswerte zu gewinnen, indem er eine Anzahl von Horern seines Kollegs
iiber „Experimentelle Psychologies (Studenten und Studentinnen) untersuchte.
Die bei Dr. Ruckle angewandte Expositionszeit von 2 Sekunden erwies sich
dabei als zu kurz. Bei Exposition von durchschnittlich 6 Sekunden fur jede
Figur d. h. von 2 l / 2 Minuten merken diese Versuchspersonen im allgemeinen
8—10 von 25 Figuren richtig, ausserdem noch durchschnittlich 2 halbrichtig.
Die richtige Lokalisation geschieht relativ seltener, namlich durchschnittlich
etwa in 6 Fallen bei der genannten Zahl von formell richtigen oder halbrich-
tigen Erinnernngsbildern. Im Hinblick auf diese normalen Zahlen hat sich
bei pathologischen Fallen eine Reihe von charakteristischen Abweichungen und
Storungen ergeben. ' (Eigenbericht.)
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21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen. 303
9) Herr Klien-Leipzig: „Zur Frage nach dem anatomischen
Verlauf and der Leitungsrichtung der 01ivenbahn a .
Klien demonstriert Praparate von einem Fall von Kleinhirnapoplexie,
aus denen hervorgeht, dass die Olivenbahn aus aufsteigenden und ab-
steigenden Fasern zusammengesetzt ist, die in der Oblongata
einen im wesenilichen getrennton Verlauf nehmen, in denen die auf¬
steigenden Fasern die Oliven durch den Hilus verlassen, die absteigenden da-
gegen in den „Biretropyramidalen Bogenfasern u beide Oliven umschliessen,
um dann von aussen durch das Amikulum in die kontralateraie Olive einzu-
treten. Die aufsteigenden Fasern unterliegen einer besonders starken retrogra-
den Degeneration, weshalb bei einer Unterbrechung der Olivenbahn im Striok-
korper odor oberhalb beide Systeme hochgradig entarten. Bei primarer Erkran-
kung der Oliven findet man dagegen nnr eine starke Degeneration der Hilus-
fasern bei relativ viel geringerer Entartung der Olivenfasern im Strickkorper
und Kleinhirn (Foix, Marie). Hier sind eben die biretropyramidalen abstei¬
genden Fasern nicht nennenswert degeneriert. Fur die absteigende Leitungs-
richtung des biretropyramidalen, von aussen in die Olive eintretenden Faser-
zuges spricht auch der aus Golgipraparaten erhobene Befund, dass die Oliven-
zellen ihre Azone fast durchaus in den Ililus aussenden.
Die dem Kleinhirnherd kontralateraie Olive war regionar in sebr verschie-
denen Graden atrophisch. Die Lokalisation dieser Atrophie in Gegeniiber-
stellung zu der Lokalisation des Kleinhirnherdes sprach dafiir, dass die von
Henschel und Stuart-Holmes behauptete Projektion bestimmter
Olivenanteile auf bestimmte Kleinhimrindenanteile zu Recht be-
stehen. — Den von diesen Autoren festgestellten Beziehungen ware noch hin-
zuzufugen, dass die kaudaleren Absohnitte des Kleinhirns auch den kaudaleren
Teilen der Olive entsprechen. An umschriebenerer Stelle war auch die homo-
laterale Olive erkrankt (ausfiihrlich wird dieser Fall veroffentlich in einer dem-
nScbst in der Monatsschr. f. Neurolog. und Psychiatr. erscheinenden Arbeit:
^Ueber den anatomischen Befund eines Falles von kontinuierliohen Krampfen
der Schlingmuskulatur nach Kleinhirnapoplexie usw. l< ).
10) Herr Pfeiffer-Leipzig: n Ueber rhythmische Schlingmuskel-
krampfe u (mit Krankenvorstellung).
Kontinuierliche, rhythmische Krampfe der Schlingmuskulatur sind nicht
so selten, wie man fruher annahm. Seit die Aufmerksamkeit darauf eingestellt
worden ist, werden sie haufiger beobachtet. Klien gebdhrt das Verdienst ihre
Abhangigkeit von Kleinhirnherden naohgewiesen und den anatomischen Zu-
sammenhang am Sektionsbefund bei einer Reihe von klinisch beobachteten
Fallen dargetan zu haben. Was den vorzustellenden Fall besonders interessant
macht, ist der Umstand, dass hier die drei anderenUrsachen, aus denen solcbe
Krampfe entstehen kSnnen, namlich Hysterie, reflektorische Erregung vom Ohr
aus und Erkrankung der motorischen Kerne ausgeschlossen werden konnen,
w&brend als wahrscbeinliobe Ursaohe die Kleinbimverletzung in Frage kommt,
da das gesamte Krankheitsbild von ausgesprochenen Kleinbirnsymptomen be-
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304 21. Versammkmg (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiateru. Neurologen.
herrscht wird. Die Untersuchung ergibt seit etwa einem Jahr: Am linken
Hinterkopf dicht oberhalb der Haargrenze breitflachige Narbe. Am knochemen
S chad el in Hohe des Warzenfortsatzes und zwar ^}icbt dahinter isLein 3 cm
langer und 2cm breiter Spalt durchzutasten, der von einer Trepanationsoffnung
herriihrt. Bei der Operation im Feldlazarett war aus der Wunde reichlich
Hirnmasse hervorgequollen. Die Wunde ist glatt verheilt und es bestehen von
seiten des Nervensystems folgende Erscheinungen: Beim Drehen des Kopfes
nach links und beim Bucken und Schwindel mit der Neigung binzufallen, beim
schnellen Gehen leichtes Taumeln nach links, sowie auch Abweichung der
Gangrichtung nach links. Unmittelbar nach der Verletzung war angeblich die
ganze linke Seite gelahmt. Jotzt besteht nur noch eine deutliche motorische
Schwache der linken Hand und des linken Beines. Bei extremer Blicksteilung
nach rechts leichter horizontaler Nystagmus, nach links langsamer, jedoch
rotatorischer Nystagmus. Die Motilitat der Zunge ist beeintrachtigt. Sie kann
herausgestreckt, aber nur muhsam hin und her bewegt werden. Demzufolge
ist die Sprache verlangsamt. Der Gesichtsausdruck ist maskenarrtig starr, da
die mimische Muskulatur, ohne gelahmt zu sein, an Beweglichkeit eingebiisst
hat. Spontanes Vorbeizeigen nach links im linken Hand-, Ellenbogen- und
Schultergelenk. Besonders auffallend sind halbseitige klonische, rhythmische
Zuckungen des Gaumensegels und der Rachenwand links. Auoh am linken
Stimmband sind synchron mit den rhythmischen des Gaumensegels und der
Rachenwand Zuckungen angedeutet. Diese rhythmischen Krampfe bestehen
seit dieser Zeit unverandert fort und werden vom Pat. nicht empfunden. Auch
die Zahl der Zuckungen, etwa 140 pro Minute, hat sich wahrend der langen
Beobachtungszeit nicht geandert. EinZusammenhang dieser klonischen, rhyth-
misohen Krampfe mit der Kleinhirnverletzung scheint unverkennbar.
11) Herr Sommer-Giessen: „Behandlung von Muskelstorungen
mit Metallfedern u .
Sommer erortert zunachst die Polgen, die sich bei Lahmung einzelner
Muskeln durch die antagonistische Kontraktur ergeben. Im Kriege haben sich
solche Falle besonders bei peripherischon Verletzungen ausserordentlich ge*
hauft. Besteht die Antagonistenkontraktur langere Zeit bei Dehnung des ge¬
lahmten Muskels, so trifFt dieser bei eintretender Besserung, z. B. infolge elek-
trischer Behandlung, auf sehr ungiinstige mechanische Bedingungen. Daraus
ergibt sich die Notwendigkeit, die Lahmung moglichst bald auszugleichen,
wahrend in Wirklichkeit oft eine Reihe von Monaten, z. B. bei Peroneuslah-
mungen, bis zur Korrektur durch orthopadische Schuhe vergeht. S. verwendet
daher moglichst friihzeitig Metallfedern, die nach genauem Studium der Aus-
fallserscheinungen im einzelnen Fall so angebracht werden, dass sie die Funk-
tion der gelahmten Muskeln ersetzen. Vielfach haben Lahmungen infolge von
Nervenverletzungen, z. B. an den Beinen, auch indirekte weitgehende Folgen
in Bezug auf Haltung der Patienten. Mit Hilfe der Metallfedern lassen sich
haufig bei solchen organischen Krankheiten wesentliche Besserung erzielen und
gunstige Bedingungen fur die Wiederherstellung der Funktion der gelahmten
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21. Versammlung (Kriegstagang) mitteldeatsoher Psychiater u. Neurologen. 305
Maskeln schaffen. Bisher hat S. 14 Falle, unter denen Verletzungen der peri*
pherischen Nerven, des Kdckenmarks and des Gehirns sind, in dieser Weise
behandelt. (Eigenbrrioht.)
Aussprache: Herr Quensel warnt davor, die Metallfedern bei funktio-
nellen Leiden anzuwenden.
12) Herr Krapf-Kreisoha: „Ueber die Bebandlnng der Kriegs-
neurosen u .
Ref. berichtet dber 450 in seinem Neurotiker-Lazarett behandelte Falle
von Kriegsnearosen verschiedener Art, von denen nur 2 als ungeheilt, 28 er-
heblich gebessert und alle iibrigen als vollig symptomfrei entlassen werden
konnten. Er bevorzugt die von Kehrer angegebene Methods des sogenannten
Zwangsexerzierens, die mit der Kaufmann-Methode eng verwandt sei. Das
wirksame Prinzip beruht in der Anwendung energischer suggestiver Mass-
nahmen bei gleichzeitiger Ausnutzung de$ dem Soldaten anerzogenen Subordi-
oationsgefiihls unter steter sorgfaltigor Pflege der „psychischen Atmosphare w
des Lazaretts. Ebenso wichtig, wie die Symptombefreiung selbst ist der zweite
Teii der Behandlung: die Anhaltung zu geordneter intensiver Arbeit in kriegs-
wirtschaftiichen Betrieben. Die etwa 6wochige Bewahrungsfrist wirkt erfolg-
fixierend und ermoglicht gleichzeitig eine einwandsfreie arztliohe Beurteilung
hinsichtlich der Leistungsfahigkeit.
Vortr. kommt hierauf auf die schweren Psychopathen und die Krampf-
hysteriker zu sprechen und auf diejenigen, die aus irgend einem Grunde, meist
wegen unbotmassigen oder gewalttatigen Verhaltens dem Lazarett uberwiesen
werden, und ist derMeinung, dass auch diese Kranken durchaus im Neurosen-
Lazarett behandelt werden konnen, vorausgesetzt alierdings, dass entweder das
Lazarett einer gesohlossenen Anstalt angegliedert ist oder dass zum mindesten
die Moglichkeit einer sofortigen Ueberfiihrung in eine geschlossene Anstalt be-
steht. Die giinstigen Erfahrungen, welche Raether-Bono mit der Behandlung
schwerer hysterogener Seelenstorungen nach der Kaufmann-Methode gemacht
bat (Mendelsohes Zentralbl. 1918, Nr. 5), kann Vortragender auf Grund seiner
Erfahrungen durchaus bestatigen.
Vortr. vergleicht alsdann die Methode der Waohbehandlung mit der Hyp-
nose und bezeichnot die hypnotische Behandlungsform als die wissenschaft-
lichere, hingegen die scharfe Kur als die im allgemeinen dem Neurotiker-
Material gegenuber angebrachtere, da doch ein nioht geringer Prozentsatz
sohlechten Willens bezw. von Mangel an Willen zum Symptomuberwinden in
Rechnung zu setzen ist. Den sensitiven weichlichen Hysteriker gegenuber
erscheint alierdings jede mildere Methode gegenuber der lauten und schroffen
angezeigt, wahrend auf denBildungsgrad des zu Behandelnden nur hinsichtlich
der suggestiven Vorbereitung Riicksicht genommen zu werden braucht. So
wurden vom Vortr.20Offiziere mit vollem Erfolg nach derMethode desZwangs-
exerzierens behandelt und geheilt.
Zum Schluss aussert Vortr. seine Bedenken hinsichtlich der Zukunft, wo
einerseits die Rentenkampfhysterie sioherlich eine grosse Rolle spielen wird
Arehif f. Psychiatric. Bd.60. Heft 1. 20
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306 21. Versammlung (Kriegstagung) mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen.
und andererseits naoh Beendigung des Krieges das Subordinationsverhaltnis
und die Moglichkeit der Wiedereinziebung in Wegfall kommen. Leute mit
„defektem Gesundheitsgewissen u werden bei fehlender Moglichkeit der Anwen-
dung von Zwangsmassnahmen einer psychischen Behandlung and Erziehung
schwer zugangig sein. (Eigenbericht.)
13) Herr Jolly -Niirnberg: n Ueber Polyneuritis bei Soldaten tf .
ErsterFall: 20jahriger Kanonier, April 15 Abschiirfung am linken
Knie, die vereiterte, maohte trotzdem weiter Dienst. Seit Anfang Juni pelziges
Gefiihl in den Zehen, an den Fusssohlen, taubes Gefiihl in den Fingerspitzen.
Mitte Juni wieder Fieber, Entleerung von Eiter durch Inzision in der Leisten-
gegend. Konnte nicht mehr gut gehen. Bei Untersuchung am 24. 6. taubes
Gefuhl vom Ende derWirbelsaule bis in die Fiisse, besonders an der Riickseite
der Beine, taubes Gefuhl in den Fingerspitzen, Kraftlosigkeit und Unsicherheit
in den Beinen, Schmerzen in denselben. Keine Blasenstorung. Objektiv
Schmerz-und Beriihrungsgefiihl an den Fingerspitzen herabgesetzt, sonst obere
Extremitat frei. Beide Beine schwere, schlaffe Lahmung; soweit Bewegungen
ausgefiihrt wurden, nur unter starkem Schwanken; von oben nach unten zu-
nehmend Schmerz- und Beriihrungsempfindung in den Beinen abgestumpft.
Lagegefiihl in den Zehen gestort. Waden und Ischiadioi auf Druck empfind-
lioh. Kniereflexe fehlten, Achillesreflexe ganz schwach. Allmahlich Besserung.
Pat. jetzt im Felde, bei Nachuntersuchung vor kurzem objektiver Befund frei,
subjektiv etwas taubes Gefuhl an der Riickseite der Beine und grossere Ermud-
barkeit derselben.
Zweiter Fall. 23jahriger Kanonier, Januar 16 Furunkulose, nach
einiger Zeit Schmerzen in den Waden, es fiel das Gehen schwer. Keine Blasen-
und Mastdarmstorung. Bei Untersuchung im April ausgedehnte Hautnarben von
Furunkulose, Sehnenreflexe an Armen und Beinen nicht auszulosen, Waden-
muskulatur sehr schlaflf, Gang unsicher mit hangender Fussspitze, Zielbewe-
gungen unsicher ausgefiihrt. Keine starkere Druckempfindlichkeit, Sensibili-
tatssthrungen fehlten; offenbar war der Hohepunkt scbon uberschritten. Dio
Reflexe kamen allmahlich wieder, auch der Gang war wieder normal.
Dritter Fall: Anfang 1916 Furunkulose, Mai doppelseitige Akkommo-
dationsparese, taubes Gefiihl im Munde, Erschwerung des Sprechens und
Schluckens. Diese Erscheinungen verschwanden, es kamen zur schlaffen Lah¬
mung der Beine mitVerlust der Sehnenreflexe, SensibilitatsstSrung und Druck-
schmerz an den Beinen. Keine Bla9en- und Mastdarmstorung. Narben von
Furunkulose und Hauteiterungen. Allmahliche Heilung.
Die Besonderheit derselben liegt in der Aetiologie. Bei Fehlen der
Sehnenreflexe wird man, besonders bei Soldaten, auch an Furunkulose bezw.
Hauteiterungen und dadurch bedingte Polyneuritis denken miissen.
Roper: Fragt, ob es sich bei dem einen Fall nicht um Wundiphtherie
gehandelt haben konne.
Jolly: Es ist nur eine subjektive Anamnese vorhanden.
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XIV.
43. Wanderversammlnng der Siidwestdeutschen
Neurologen und IrrenSrzte am 25. und 26. Mai 1918
in Baden-Baden.
Anwesend sind die Herren:
A igner-Miinchen, Arndt-Strassburg, Leopold A u er bach -Frank¬
furt a. M., Sigmund Auerbach-Frankfurt a. M., H. Bade-
Mannheim, Barbo-Pforzheim, Bauer-Baden-Baden, Baumler-
Freiburg, Beetz-Stuttgart, Bender-Mannheim, Berliner-Giessen,
Bethe-Frankfurt a. M., Beyer-Roderbirken, Bohs, Brill-Frank-
furt a. M., Buttersack-Heilbronn, Damkohler-Klingenmunster,
Deetjen-Wilhelmshohe, Dillenburger-Strassburg, G. L. Drey-
fus-Frankfurt a. M., Dreyfus-Mulhausen, Du hr-Baden-Baden,
Ebers-Baden-Baden, Ecoard-Frankenthal, Edzard-Strassburg,
v. Ehrenwall-Ahrweiler, Erb-Heidelberg, Erlenmeyer-Bendorf-
Goblenz, Feldbausch-Emmendingen, Friedmann-Mannheim,
Freund-Strassburg, Freund-Tubingen, Furstenheim-Frank-
furt,G erhardt-W urzburg, G i e r 1 i c h-Wiesbaden ,G i e s e-Baden-Baden,
Glitsch-Herrenalb, Gratz-Karlsruhe, Gross-Rufacb, Gross-
Schussnried, Goldstein-Frankfurta.M., Haardt-Emmendingen,
Haen el-Strassburg, Hagmann-Coblenz, Hahn-Baden-Baden,
Happi oh-Heidelberg, Hauptmann-Freiburg, Haymann-Konstanz,
Hedinger-Baden-Baden, Heinsh eimer-Baden-Baden,Hell man n-
Frankfurt a. M., He tz el-Wiesbaden, Hoche-Freiburg, Hoffmann-
Heidelberg, Hoestermann-Karlsruhe, Hubner-Bonn, Hugel-
Elingenmunster, Jaeger-Konstanz, Jahnel-Frankfurt a.M., John-
Hirsau, F. Kaufmann-Mannheim-Ludwigshafen, Klee-Karlsruhe,
K 9 n i g -Bonn, K o s c h e 11 a -Stuttgart. Kraft -Baden-Baden, L a u d en -
heimer-Alsbach-Darmstadt, Lasker-Freiburg, Leva-Strassburg,
Hugo Levy-Stuttgart, Lydtin, Mango Id-Freiburg, Mann-Mann-
heim, K. Eduard Mayer-Ulm, W. Mayer-Tubingen, 0. B. Meyer-
Wurzburg, Muller-Baden-Baden-Basel, Leo Muller-Baden-Baden,
L. R. Muth-Wurzburg, Monokeberg-Strassburg, Naunyn-Baden-
Baden, Nobiling-Miinoben, Nonne-Hamburg, Obkirohner-
20 *
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308 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
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Baden-Baden, Offenbacher, Ollendorf-Berlin, zurzeit Wald
bei Solingen, van Oordt-Karlsruhe, Pfersdorff-Strassburg,
K. Pfunder-Cdln, Pletzer-Bonn, Raeoke-Prankfurt a. M.,
Rath-Baden-Baden, Reichardt-Wiirzburg, Rietscher-Wurzburg,
Roith-Baden-Baden, Rosenfeld-Strassburg, Rostoski-Dresden,
Seitz 5. Bayer. Ers.-Regt., v. Szily-Freiburg, Sohottelius-Frei-
burg, Schmitt-Augsburg, Sohneider-Dlenau, Schultze-Bonn,
Schultze-Frankfurt a.M., Schultze-Gottingen, Sch wenninger-
Reichenau, St ark-Karlsruhe,Ste ok elmacher-Heidelberg, Steiner-
Karlsruhe, Steiner-Strassburg, Stenger-Ba 3 rr.Res.Pion.Komp. 2 i,
Stern-Strassburg, A. Stoffel-Mannheim, Edda Stoffel-Mann-
heim, Thoma-Dlenau, Thorspecken-Rastatt, Volhardt-Mann-
heim, Volker-Baden-Baden, Wallenberg-Danzig, Weichbrod-
Frankfurt a. M., Max Weil-Stuttgart, Weimann-Miinohen, Wein-
t r a u d - Wiesbaden ,Wollenberg -Strassb urg, Z a c h e r - Baden-Baden.
Folgonde Herren haben die Versammlung begriisst bzw. ihr Fernbleiben
entschuldigt:
Eschle-Sinsheim, v. Hecker, Obergeneralarzt, Sanger-Ham-
burg, Asohaffenburg-Coln, Steinthal, Weygandt-Hamburg,
v. Monakow-Zurich, Westphal-Bonn, Romheld-Hornegg,
Friedlander-Kreuznaoh, Generalarzt Gillet-Strassburg.
I. Sitznng am 25. Mai, nachmittags 2 Uhr.
Der Geschaftsfuhrer Prof. Gerhardt-Wurzburg eroffnet die Versamm¬
lung und begriisst die Anwesenden. Er gedenkt des im letzten Jahre ver-
storbenen Prof. Edinger-Frankfurt a. M., zu dessen Ehren sich die Ver¬
sammlung von ihren Sitzen erhebt.
Zum Vorsitzenden der ersten Sitzuug wird Geheimrat Schultze-
Bonn, der zweiten Sitzung Geheimrat Wollenberg-Strassburg, der dritten
Sitzung Geheimrat Hoche-Freiburg gewahlt.
' Sohriftfiihrer: Privatdozenten Hauptmann-Freiburg und Steiner-
Strassburg.
Es halten
Vortrage:
1) Herr Stoffel-Mannheim: „Ueber die operative Versorgung
der Lahmungen nach Nervenverletzungen bei undurchfiihrbarer
oder missgliickter Nervenoperation u . (Mit Vorfiihrung von Kranken,
Tafeln und Modellen.)
Bei Sehnenuberpflanzung bei volliger Radialislahmung vermeidet St.
grundsatzlich alle starren Fixierungen, Tenodesen, Sehnenverkiirzungen. Die
Tenodese der Handstreoker verwirft er unbedingt. Wenn man eine derart
wunderbare aktive Dorsalflexion der Hand erzielen kann, wie sie die vorge-
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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 309
stellten Patienten aufweisen, dann darf man nicht zu einer stark verstummelnden
Operation, welche die aktive Beweglichkeit im Handgelenk dauernd aufhebt,
greifen. Das Gleiche gilt far die Fingerstrecker and die langen Daumen-
maskeln. I
St. dberpflanzt den M. flex. carp. rad. anf M. ext carp. rad. brev., den
H. flex. dig. subl. Ill auf M. abd. poll. long. et. ext. poll, brev., den U. flex,
carp. nln. aaf ext. dig. com. et ext. poll. long.
St. stellt noch einige Sehnenuberpflanzungen bei teilweiser Radialis-
l&hmung vor. *
Urn das Hangen der Finger vor allem des Zeigefingers zu verbessern,
machte erfolgenden kleinen Eingriff: erverschob die Insertion der Mm. interossei
dorsales aaf die Streckseite der Finger and wandelte somit den Abzieber and
Beager za einem Streoker der Grundphalanx am. Der Erfolg abertraf eigent-
lich die Erwartung. Die Patienten zeigen, dass durch die Maskelkontraktion
ein energischer Zug im Sinne der Streckang aaf die Grandglieder ausgeiibt
wird. Der Eingriff eignet sich aus anatomisch-pbysiologischen Granden vor
allem far den Zeigefinger.
Wenn bei einer Ulnarislahmung eine storende Krallenstellung der Finger
vorliegt, dann lasst St., am wieder teilweise Streckfahigkeit der Mittel- and
Endphalanx za erzielen, die Endsehne des Ext. digt. comm, bis zum Nagel-
glied weiterlaafen. Aus der Fascia lata wird ein langer sobmaler Streifen ge-
schnitten, der in der H5he des Mittelhandgrundgelenkes an der Sebne des
Fingerstreckers angenabt, subkutan bis zum Endglied durcbgezogen und bier
periostal befestigt wird. Selbstverstandlicb miissen Kontrakturen und Ver-
steifangen vorher beseitigt sein. In erster Linie eiguen sich passiv gut be-
wegliche Finger dazu. Es liegt aaf der Hand, dass vbllige Streckang nicht
erzielt werden kann, aber eine wesentliohe Besserung ist zu verzeichnen.
Es wird immer noch viel zu wenig beachtet, dass nach der Nerven-
operation die gelahmten Maskeln nicht uberdehnt werden diirfen. Deshalb
tritt St. dafur ein, dass man lebende Radialisschienen, lebende Peroneus-
stutzen sohafft, die gegen den Wiilen des Arztes niemals abgelegt werden
kSnnen. Er sohneidet aus der Fascia lata am Oberschenkol ein 25 cm langes
and 8 cm breites Faszienstiick, das funffingrig ist, aus. Das breite Teil wird
periostal am Unterarm befestigt, die fiinf Zipfel werden subkutan bis zu den
Grundgliedern der 4 Finger and des Daumens durchgezogen und hier angefcaht.
Nur wenn Versteifungen der Grandglieder in Streckstellung vorliegen, werden
die Finger nicht versorgt, dann sohafft er nur eine Stdtze fur die Hand and
den Daumen: ein Lappen mit drei Zipfeln wird in diesem Fall genommen.
Diese Fascienplastik wird gleicbzeitfg oder kurz im Anschluss an eine
Nervenoperation vorgenommen. Nach Wiederkehr der Nervenleitung wird die
Faazie wieder darchtrennt. Ist die Nervenoperation erfolglos, dann wird nach
ungefahr zwei Jahren die Faszie durchtrennt and eine Sehnenuberpflanzang
vorgenommen.
Sehr Gates leistet die Faszienplastik aach bei Peroneuslahmang, man er¬
zielt mit ibr eine wirkungsvolle lebende Peroneasschiene. Ein doppelt zu-
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310 43. Wandervers. der Siidwestdeutscben Neurologen u. Irrenarzte.
sammengelegter Faszienlappen wird urn den 5. Mittelfassknochen spiralig her-
umgeffihrt und an einem Knochenhaken verankert. Mittels dieses Zfigels wird
der Fuss in die Hohe gezogen. Die Befestignng an der Fibula geschieht in der
gleichen Weise. Je nach der Stellung des Fusses, ob reiner Spitzfuss oder mehr
Klumpfuss vorliegt, muss man die Angriffspunkte des oder der Zfigel w&hlen.
Abgrenzung des Indikationsgebietes der Nervenoperation
gegen das der Sehnenoperation bei Kriegsverletzungen der
peripheren Nerven: Die Meinungen, welcher der beiden Methoden der Vor-
zug gebiihrt, gehen zum Toil recht weit auseinander. Es liegt sehr im Inter-
esse der Verletzten, dass eine gewisse Einigung erzielt wird. Eine am
falschen Platze oder zur falschen Zeit ’ ausgeffihrte Sehnen¬
operation kann erheblichen Schaden stiften.
Wo es sich urn hochgradige Zerstorung des Muskelbauches oder der
Endsehne handelt, kommt nur eine Sehnenoperation in Betracht. Das Gleiche
gilt auch fur die meisten derjenigen Falle, bei denen die ausserhalb des
Nervenstammes verlaufenden Nervenfasern abgesohossen sind; meistens wird
man im Narbengewebe die feinen Nervenfasern schlecht finden.
Der Pessimismus, den manche Aerzte den Nervenoperationen gegenuber
an den Tag legen, ist nicht am Platze. Sie stiitzen ihre Ansioht hauptsachlich
auf ihre Lazaretterfahrung und iibersehen, dass die Angelegenheit erst spruch-
reif wird, nachdem der Patient das Lazarett langst verlassen hat. Nach einer
Nervennaht tritt der Erfolg meist spat, oft sehr spat zu Tage (1 bis 2 Jahre
und langer).
Selbst die bestgelungene Sehneniiberpflanzung kann sich mit einer
Nervenoperation, welcher voiles Resultat beschieden ist, nicht messen, sie
wird immer zurvickstehen.
Bei manchen Lahmungsformen ist das Missverhaltnis zwischen dem Er¬
folg einer Nerven- und Sehnenoperation besonders gross. • Die Erfolge bei
Ulnaris- und Medianuslahmung sind sehr massig. Ihre Triumphe feiert die
Sehneniiberpflanzung bei der seltenen Lahmung des N. femoralis und der
haufigen des N. radialis. Gute Resultate erzielt man auch bei teilweiser
Lahmung des N. peroneus.
Die Nervenoperation ist der logische Eingriff, der dort ansetzt,
wo der SchaJen sitzt.
Das lange Zuriickliegen der Verletzung ist keine absolute Indikation fur
Sehneniiberpflanzung. Wiederkehr der Nervenleitung kann nach einer Nerven¬
operation eintreten, auch wenn die Verletzung 2—3 Jahre, vielleicht noch
langer zurfickliegt. Damit sei nicht gesagt, dass eine sehr spate Nervenopera¬
tion wiinschenswert ist.
Aus alien diesen Griinden redet St. zuerst den Nerven¬
operationen das Wort. Er greift zuerst zur Nervennaht oder Neurolyse;
nur dann, wenn sie versagt habenoder undurchfiihrbar sind, geht
er zur Sehneniiberpflanzung iiber.
Wenn ungiinstig lokalisierte chronische Fisteln (vor allem am Oberarm)
oder sehr schlecht und langsam heilende Hautwunden fiber der Verletzungs-
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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 311
stelle am Nerven bestehen, so entsoheidet er sich, namentlich wenn es sich
urn eine Radialislahmung handelt, primar zur Sehnenoperation.
Zeitpunkt der Sehnenoperation: Nach der Nervenoperation lange
warten, da der Erfolg oft sehr spat ersoheint! Nur ein halbes Jahr za warten,
wie vorgeschlagen wurde, durfte nicht einmal for die Neurolyse angangig sein.
Nach einer Nervennaht muss man l 1 ^ — 2 Jahr^ verstreichen lassen, ehe man
an eine Sehnenuberpflanzung herantritt. (Selbstbericht.)
2) Herr L. Mann-Mannheim: „Unberechtigte Operationen an
Nervenverletzten 11 .
Bei der Sitzung der im Sammellazarett fur Nervenverletzte des X1V.A.-K.
zusammengekommenen Nervenverletzten hat es sich gezeigt, dass bei einigen
Fallen Ers&tzoperationen gemacht wurden, die nach zwei Seiten hin falsch
sind. Bei den einen war die Leitungsfabigkeit der Nerven nach der Ersatz-
operation wiedergekehrt; bei den andern war durch die Ersatzoperation die x
Gebraucbsfahigkeit des gelahmten Gliedes verschlechtert worden. Wenn die
Falle auch nicht zahlreich sind, so sind sie immerhin jetzt, wo wir anscheinend
einer nicht immer berechtigten Steigerang der orthopadischen Operationen ent-
gegengehen, von grundsatzlicher Bedeutung und deshalb will ioh die Falle
hier zeigen.
Die erste Riicksicht, die man zu nehmen hat, ist die, dass man keine Er¬
satzoperation an einem Nervenverletzten vornehmen darf, ehe die Wiederkehr
der Nervenleitung nicht mit volliger oder annahernder Sicherhoit auszu-
schliessen ist. Dies ist naturlich der Fall wenn bei einer Operation sich zeigt,
dass die Wiedervereinigung eines Nerven nicht durchzufiihren ist. In solchen
Fallen ist es das Beste, die Ersatzoperation moglichst scbnell, tunlichst sofort
anzuschliessen. In jedem anderen Fall aber muss abgewartet werden. Denn —
abgesehen davon, dass wir uber die Dauer der Abbauzeit im degenerierenden
Nerv und die Auswachszeit des sich regeneriorenden Nerv nicht geniigend
orientiert sind — hat uns die Erfahrung bei Nachuntersuchungen von Renten-
empfangern gelehrt, dass die Wiederkehr der Nervenleitung auch zwei Jahre
nach der Verletzung und Operation nioht ausgeschlossen ist. Erst vor wenigen
Tagen hat Vortr. einen Mann untersucht, der am 31. 8. 1915 am Gesass ver-
wundet wurde, in der Hohe des Trochanter m^jor, und eine Tibialis- und Pero-
neuslahmung hatte. Wegen des ungunstigen anatomischen Sitzes wurde keine
Operation gemacht. Bei der Lazarettentlassung noch vollige Peroneuslahmung
mit schwerster kompletter EaR., Tibialis in Wiederkehr begriflfen mit kompletter
EaR. Am 15. 5. 1918, also 2 8 / 4 Jahre nach der Verletzung, Funktion
der beiden Nerven wiederhergestellt, ebenso direkte und indirekte elek-
trische Erregbarkeit. Von neurologisoher Seite war einige Monate naoh der
Verletzung wegen der Aussichtlosigkeit des Falles Operation verlangt worden.
Vortragender zeigt folgende Falle:
Fall 1. Oberarmschuss 13. September 1916. Sofortige Radialislahmung;
schwere Gasphlegmone mit zahlreichen Inzisionen. 6 Monate nach der Ver«
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312 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
letzung erstmals neurologisch e Untersuchung. Vollige Lahmung, elektrische
Erregbarkeit erloschen. 8 Honate nach der Verletzuog elektrisohe Erregbarkeit
erloschen. 9 Monate nach der Verletzang Ueberpflanzang des Ext. carpi rad.
auf ext. poll long., des Ext.carpi ulnaris auf den ext. digit. IS^Monate nach
der Verletzung Wiederkehr der Beweglichkeit im ganzen Radialis-
gebiet. Elektrische Erregbarkeit direkt und indirekt wieder vor-
handen.
Fall 2. Oberarmschuss rechts. Sofortige Radialislahmung. 2 x / 2 Honate
nach der Verletzung komplette EaR. vom Neurologen festgestellt, damals Ope-
rationsvorschlag. S 1 / 2 Honate nach der Verletzung Nervennaht.
l 1 ^ Monate nach der Nervenoperation Raffung der Strecksehnen
und Ueberpflanzung des Palmaris longus auf den Ext. carpi rad.
7 Monate nach der Verletzung Radialisfunktion wiedergekehrt.
8 y 2 Monate nach der Verletzung direkte und indirekte Erreg¬
barkeit der Handstrecker vorhanden.
Fall 3. Radialis-Lahmung durch Oberarmschuss. Lange Eiterung.
Sequestrotomie. 7 Monate nach der Verletzung ohne neurologisch
untersucht worden zu sein periostale Fixation der Handstrecker
und Ueberpflanzung des Flex. carp. rad. auf den Daumenstrecker
und Flex. carp. uln. auf Fingerstrecker. Dadurch Fixation des
Handgelenks in Ueberstreckstellung, mit der der Mann funktionell schlechter
daran ist als vorher. Die Faustbildung ist nunmehr unmoglich, die Hand zum
Greifen unbrauchbar. Selbst wenn der Nerv nicht wiederkehrt, ware der Mann
mit einer guten Radialisarbeitsschiene und freiem Handgelenk erheblich besser
daran als mit dem fixierten Handgelenk.
Fall 4. Gegenstiick zu Fall 3. Oberarmverletzung mit schwerer
Knochenzertrummerung. Pseudarthrose. Erloschene elektrische Erregbarkeit.
13 Monate nach der Verletzung Ueberpflanzung der langen Handbeuger auf den
Ext. dig., Ext. poll. long, und Abd. poll. long. Funktionell gute Beugung
und Streckung der Hand und Finger.
Fall 5. Peroneuslahmung durch Schussverletzung. Nie neu¬
rologisch untersucht. 9 Monate nach der Verletzung Verkiirzung der
Sehne des Tib. ant. zur Beseitigung des Spitzfusses. Dadurch rechtwinklige
Fixierung des Fusses. In diesem Fall hatte auf jeden Fall vor der Behelfs-
operation der Nerv operativ aufgesucht werden mussen. Bei der Notwendigkeit
einer Behelfsoperation ware die Ueberpflanzung eines lebenden Kraftspenders
und nicht die einfache Fixierung durch Sehnenverkiirzung angebracht gewesen.
Fall 6. Oberschenkelschuss. Am Tage der Verletzung Wund-
revision, Ischiadikus unverletzt. Fussbewegung frei. 3 Monate nach der
Verletzung erstmals Peroneuslahmung ohne sensible Storung erwahnt. In
Krankenblattern ist dauernd nur von geringem Grade der Peroneuslahmung
die Rede. Niemals neurologisch und elektrisch untersucht. Nie
Sensibilitatsstorung. 2 l j 2 Monate nach der Verletzung Ueberpflanzung des
Ext. hall. long, auf den Peroneus HI der lateralen Halite des Tib. ant. auf den
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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 313
Ext digit, and Kiirzung der Tib. ant.-Sehne. Bei der Einweisungin das
Neryenlazarett elektrisch und sensibel vollkommen normaler
Befund. Gehstorung genau wie vor der Operation, also offenbar
psyohogen. Vortragender stellt auf Grund dieser Erfahrnngen folgende vor
einem neurologischen Forum nicht naher zu begrundende Satze auf:
1. An einem Nervenverletzten darf obne vorherige neurologische
Untersuchung, Behandlung und Begutachtung keine Operation vorgenommen
werden.
2. In jedem Fall, wo dies anatomisch moglich ist, muss vor einer Ersatz-
operation der verletzte Nerv aufgesucht werden.
3. Wo dies nicht mdglich ist, ebenso nach Operationen am Nerv darf vor
Ablauf von 2 Jahren nach der Verletzung resp. Nervenoperation keine Ersatz-
operation gemacht werden. Auch in diesem Fall muss der Operation eine neu¬
rologische Untersuchung vorausgehen.
4. Die verlorene Funktion darf nicht auf Kosten des volligen Verlustes
erbaltener Funktionen ersetzt werden.
5. Bei jeder Ersatzoperation ist der Beruf des Verletzten zu beriick-
sichtigen. ^ (Eigenbericht.)
3) Herr M. Hedinger und H. Hiibner-Baden-Baden: „Ueber
Haltungs- und Gehstorungen bei Ischias, mit Krankendemon-
stration w .
In die Begutachtungsstation fur Rheumatiker des 14. A.-K. wurden im
Laufe des letzten Jahres 534 Patienten mit der Diagnose Ischias eingewiesen.
Bei 268 = 50pCt. wurde diese Diagnose bestatigt. Die Diagnose Ischias wird
danach zu haufig gestellt. 206 Falle hatte andere organische Erkrankungen
(Piattfusse, Hiiftgelenkserkrankungen, Tumoren usw.). 60 Falle hatten rein
psychogene Gehstorungen. 211 Ischiadiker hatten eine Gehstorung, nur 57
keine Gehstorung, 83 Falle eine Skoliose, davon 13 Falle ohne gleichzeitige
Gehstorung. Fur die Ausbildung einer Geh- oder Haltongsstorung war ein
oharakteristischer Befund (Sitz der Schmerzen, der Atrophie, Roflexstorung,
Wurzelischias usw.) nicht festzustellen. 49 Falle hatten eine typische Geh-
storung mit bekannter Haltungsanomalie: Abduktion, Aussenrotation des Ober-
schenkels, Flexion des Beins in Hiifte uud Knie, meist Spitzfussstellung. Nicht
in alien Fallen gleichzeitig eine Skoliose. Abbangigkeit der Skoliose von der
Haltungsanomalie des Beins besteht danaoh nicht. 162 Falle hatten eine un-
charakteristische Gehstorung, die als psychogen entstanden anzusehen war,
in vielen Fallen war eine anfanglioh organische Erkrankung psyohisch flxiert.
Die psychische Fixierung kommt vornehmlich in der Gehstorung zum Ausdruck.
Diese Gehstorungen wurden samtlich durch Verbalsuggestion, Zwangsexerzieren,
in einem Toil der Falle unter Zuhilfenahme eines sohwachen faradisohen
Stroms in einer Sitzung geheilt und die Heilung durch Exerzieriibungen und
straffe Disziplin im Lazarett festgehalten.
Die Falle mit typischer Gehstorung, teilweise mit starker Atrophie, Reflex-
verlust, starkstem Ischiasphanomen, vasomotorischen Veranderungen, oft schon
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314 43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
monatelangem Bestehen, mit Gehlahigkeit nut an Kriicken oder Stdcken, Falle,
bei denen eine schwere chroniscbe Ischias angenommen wurde, waren mit den
iiblichen Methoden: Badern, Massage, Injektionen (nach Lange and n&ch
Sicoard) nur sehr langsam und unvoilkommen zu bessern. Der Versuch,
auch diese Gehstorungen wie die obigen, als psychogen bedingt entstandenen
in einer Sitzung mit Verbalsuggestion und Zwangsexerzieren zu beseitigen,
gelang ebenfalls in fast alien Fallen, in einzelnen Fallen war mehrmalige Be-
handlung notwendig. Auch die Skoiiose ist durch das gleiche Vorgehen zu
beseitigen, im Gegensatz zu den Gehstorungen aber nur in einzelnen Fallen
mit einmaliger Behandlung, in der Mehrzahl der Falle nach mehnnaligen ener-
gischen Uebungen. Nach Beseitigung der Haltungs- und Gehstorung gingen
sofort die vasomotorischen Storungen zuriick, ebenso die Angaben uber
Schmerzen, das Ischiasphanomen wurde an Intensitat wesentlich geringer.
Die Patienten waren dankbar und froh uber die sohnellen Erfolge der Behand¬
lung im Gegensatz zu der oft monatelang vorausgehenden vergeblichen
Behandlung. Katamnesen haben das Anhalten der Heilung und die gate mili-
tarische Verwendbarkeit, ofter Kriegsverwendungsfahigkeit der so Geheilten
gezeigt.
Nach diesen Erfahrungen erscheint uns die chronische Ischias, soweit sie
nicht rein symptomatisch ist (bei Tumoren, Diabetes usw.), als psychogene
Fortsetzung einer anfanglich organischen Neuralgie oder Neuritis im Gebiet des
Ischiadikus. Die Gehstorung ist nur durch Angst vor dem Schmerz bedingt
und angewohnt. Die Beseitigung ware sonst auf die oben geschilderte Art
nicht moglich. Um eine etwaige unblutige Dehnung des Nerv oder Zerreissung
perineuritischer Verwachsungen kann es sich bei diesem Vorgehen nicht ban-
deln, da die Methode keineswegs besonderS schmerzhaft ist. Sie ware
undurchfuhrbar, wenn sie mit starken Schmerzen infolge gewaltsamer Dehnung
des Nerv verbunden ware.
Die schnelle Heiibarkeit dieser Gehstorungen lasst auch wohl viele oder
die meisten dor Falle von chronischer Neuralgie des Ischiadikus ohne Geh¬
storungen, bei denen schnelle Heilungen durch die verschiedensten Methoden
(Injektionen, spezielle Massagen usw.) berichtet warden, als psychogen bedingt
und suggestiv geheilt ansehen.
Jedenfalls scheint uns bei Soldaten die Schonungsbehandlung der chro-
nischen Ischias nicht angezeigt, die bisher perhorreszierte Parforcekur ist die
Methode der Wahl im Lazarett. (Eigenbericht.)
4) Herr Nonne-Hamburg: „Ueber einen Fall von intra vitam
diagnostizierter hypophysarer Macies mit anatomischen Demon¬
strati onen“.
N. spricht fiber einen erstmalig wahrend des Lebens richtig diagnosti-
zierten Fall von Kachexie auf der Basis von primarer Atrophia der Hypophyse
und zeigt Diapositive der erkrankten Hypophyse.
Der Fall wird veroffentlicht werden von Dr. Bostroem.
(Eigenbericht.)
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>
43. Wandervers. der Sfidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 315
5) Herren KfipfeYle and von Szily-Freiburg i.B.: ,,'Ueber die nicht-
chirurgisohe B eh and lung, insbesondere fiber Strahlenbehandlung
der Hypophysis-Tumoren 44 .
Ausgehend von den klinisch bekannten verschiedenen Formen der duroh
Hypopbysistumoren bedingten Krankheitsbilder, der ophthalmischen Form, der
Akromegalie und der hypophysaren Dystrophic wird ein kurzer kritisoher Be-
richt gegeben fiber die bei solohen Fallen duroh chirurgische Eingriffe erreich-
baren und erreichten Erfolge.
Da der chirurgische Eingriff keinen Dauererfolg versprioht, also nur als
Palliativoperation im Sinne der Druckentlastung zu gelten hat, ist man be-
rechtigt, nach anderen Uethoden zu suchen, die eine wirksame und nachhaltige
Beeinflussung des Tumorgewebes im Sinne einer spezifischen Tumorschadi-
gung ermogliohen.
Diese spezifische Tumorschadigung kann erreicht werden durch eine
zweckmassig durchgeffihrte kombinierte Rontgen-Radiumbehandlung bei all
den Tumoren, die sich nach dem Ergebnisse der kiinischen Beobachtung als
radiosensibel erwiesen habon.
Es wird fiber ffinf Falle berichtet, die der Strahlenbehandlung unterzogen
worden sind. Von diesen ffinf ist bei vieren eine ganz merkliche und auch
dauernde Besserung der Sehfunktion erreicht worden. Ein Fall ist besouders
dadurch bemerkenswert, dass die trotz gelungenen operativen Eingriffes ein-
getretene Erblindung durch die Strahlenbehandlung beseitigt werden konnte,
und zwar mit nachhaltigem Erfolge, so dass die Sehfunktion fiber zwei Jahre
nach Abschluss der Behandlung erhalten blieb, wahrend sie scbon wenige
Wochen nach Vornahme des operativen Eingriffes erloschen war. Auch in vier
weiteren Fallen ist eine Besserung der Sehfunktion erreicht worden, wie die
objektiv kontrollierten und demonstrierten Gesichtsfelder beweisen.
Auf Grund der Beobachtungen und Erfahrungen im Laufe mehrerer Jahre
teils chirurgisch, teils konservativ mit Strahlenanwendung behandelter Falle
haben die Verfasser folgende Richtlinien ffir die Behandlung von Hypophysen-
tumoren festgestellt:
1. Die kombinierte Rontgen-Radiumbehandlung ist bei den Fallen in
Anwendung zu bringen, die sich nach den kiinischen Beobachtungen als radio¬
sensibel erwiesen haben und bei denen nicht eine sofortige Druckentlastung
angezeigt erscheint.
2. Da mit Ausnahme der Akromegalie die Art der Geschwulst nach kii¬
nischen Gesichtspunkten nur mit Zurfickhaltung beurteilt werden kann, ist die
Strahlenbehandlung zunaohst bei alien Fallen von Hypophysentumoren be-
rechtigt.
3. Ein operativer Eingriff erscheint dann angezeigt, wenn rasch zuneh-
mende Drucksyroptome eine rasche Druckentlastung erfordern; ferner ist die
Operation bei all den Fallen angezeigt, die sich als strahlenrefraktar erwiesen
haben (Zysten, Terratome, eventuell auch Gliome, und verschiedene Formen
von Strumen) und trotz medikamentoser Therapie fortsohreiten.
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3 1 6 43. Wandervers. der Sodwestdeotscben Neurologen u. Irrenarzte.
4. Als unterstutzende Bebandlungsmethode kann sowohl neben der
Strahlenbehandlang als anch neben der ohirargiscben Behandlang die innere
Darreichung von Jod gelten, ond bei den Fallen, die mit hypophysarer Dys-
trophie einhergehen, anch die interne Einverleibung von Hypophysissubstanz.
Die medikamentose Therapie kann auch in all den Fallen far sich allein ver-
sucht werden, die nicht prqgressiv sind und das zentrale Sehen noch nicbt
bedrohlich gefahrden. (Eigenbericht.)
6 ) Herr Hoche-Freiburg im Breisgau: „Die Heilbarkeit der pro¬
gression Paralyse 4 *.
Jeder Irrenarzt, der Erfahrungen macht, wird mit zunehmenden Jahren
vorsichtiger in dem Aussprecben absoluter Prognosen 'bei der Paralyse.
Einige wenige Falle (F. Schultze, Nonne) existieren, die als tatsachliche
Heilnngen anznsprechen sind. Immerhin ist die verschwindende Seltenheit
diesos Yerlaufs noch immer ein Beweis fur die im praktischen Sinne be-
stehende Unbeilbarkeit der Krankbeit. Eine Wabrscheinlichkeit der Genesnng
von 1 : 10000 oder 1 : 20000 ist keine Wahrscheinlichkeit. TTotzdem notigen
uns neuere Erfahrungen, das Problem nicht fallen zu lassen. Die progressive
Paralyse ist ein Spezialfall aus dem Kapitel Syphilis. Es gelten fur sie alle
grundsatzlichen Erwagungen, die bei lnfektionskrankheiten eine Rolle spielen.
Es gab eine Zeit, in der die europaische Menschheit keine Syphilis kannte;
es gab einige hundert Jahre lang in EuropaSyphilis, ehe sie die Erscheinungs-
form der Paralyse annahm. Vielleicht wird eines Tages durch die natvirliche
innerliche Entwicklung, ohne unser Zutun, die Paralyse mit der Syphilis ver-
schwinden; darauf zu warten, ware sundhaft. Jede lnfektionskrankheit, deren
Erreger bekannt und in seinen Lebensbedingungen untersuchbar ist, muss als
prinzipiell heilbar gelten. Das Erreichen dieses Zieles ist eine Frage des Zu-
falls, des Glucks, der Technik, der Beharrlichkeit des Suchens. In der sonst
fruchtbaren Syphilistherapie ist eine lahme Stelle: die Tabes, eine tote
Stelle: die Paralyse. Dass durch quantitative Energie der bisherigen Be-
handlungsmethoden der Paralyse nicht beizukommen ist, wissen wir; worm
die besondere Unangreifbarkeit der Spirochaten bei Paralyse ihre Ursaohe hat,
wissen wir nicht. Denkbar ware eine chemische Autonomie des zentralen
Nervensystems, die die Spirochaten unangreifbar macht; denkbar ein beson-
derer Kapillarwiderstand des Plexus choroides und der Hirngefasse; denkbar
eine besondere Unfahigkeit des Gehirns zur Bildung von Antikorpern; denkbar
eine besondere Giftfestigkeit der metaluetischen Spirochaten. Wir wissen jetzt,
dass im Gehirn des Paralytikers wahrscheinlich aberall Spirochaten vorhanden
sind. Ihre Rolle ist hier wohl zum kleineren Teile die lokal wirksamer Krank-
heitserreger, zum grosseren Teile die der Lieferanten toxischer Stoffe, deren
Wirkung die chronisch parenchymatosen Veranderungen bedingt. Wahrschein¬
lich ist in alien Fallen von sekundarer Syphilis der ganze Kreislauf mit Spiro¬
chaten beschiokt. Die eigentliche Frage bei der Paralyse lautet also nicht:
warum werden 4—5 pCt. der Syphilitiker paralytisoh, sondern: warum werden
95—96 pCt. der Syphilitiker nicht paralytisoh? — vielleicht losbar durch An-
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43. Wandervers. der Sfidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 317
nahme einer erworbenen Organimmunitat des Gehirns. „Heilung“ bei der
Paralyse heisst nicht Verschwinden aller Krankheitsspuren.
Wir sprechen von Heilung der Pocken, auoh wenn die gesamte Kdrper-
oberflache mit Narben bedeokt bleibt. Die Heilungsnarbep der Paralyse sind
zunachst anatomisober Art, dann aber auf kliniscbem Gebiete sowohl neu-
rologiscbe wie psychische. Der Heilung gleichzusetzen ist praktisch ein
lebenslanglicher Stillstand mit den dem Stadium der Krankbeit entsprechenden
anatomischen und klinischen Narben. Wir haben koine Ahnung, wieviel Even-
tualfalle von Paralyse sich mit dem fruhesten Stillstandsbilde einiger neurolo-
gisoher Narben, Pupillenstarre und dergl. begniigeu mogen. Das Problem zeigt
eine ungeheure Ffille von ungelosten Pragen und damit von zahlreichen expe-
rimentellen und therapeutischen Angriffsmoglichkeiten. Moglich wird vielleicht
sein ein VerhindernderEntstehungderParalyse, derenAnfang vielleicht schon
mit Beginn des Sekundarstadiums anzusetzen ist; moglich ein planmassiges
oder zufalliges Finden anderer Sohwermetalle ausser Quecksilber, die in Albu-
minatform den Spirochaten zugeffihrt werden konnen; moglich durch Zufall
oder planmassiges Suchen das Finden von Giften, nach dem Prinzip des Sal-
varsans, die die Mikroorganismen treffen, ohne den Trager zu scbadigen; mog¬
lich, dass es uns glfickt, eine Vorbehandlungzu finden (— analog etwa
der Beizung bei der Gliafarbong —), die die Spirochaten therapeutisoh ver-
letzlich maoht; moglich das Finden einer grundsatzlich anderen Uethode, die
den Spirochaten nichts tut, aber ihre Umgebung etwa zu einer Verkalkung ver-
anlasst. Das Dogma der Unheilbarkeit, im Augenblick das grosste Hemmnis
fur die notige allseitige Freudigkeit der Mitarbeit muss fallen. Ich zweifle nicht
daran, dass die Jiingeren unter uns den Tag noch sehen, an dem die Paralyse
uns nur noch historisch interessiert. (Eigenbericht.)
7) Herr Prof. Schultze-Bonn berichtet fiber von ihm beobachtete zwei
Falle von Geschwisterataxie („hereditarer Ataxie u ), die am moisten nach
dem zur Zeit festzustellenden Befunde mit der Friedreich’schen Form der
Erkrankung Aehnlichkeit haben, aber sich durch mangelnden Nystagmus und
durch jetzt noch vorhandene, wenn auch bei einem der Geschwister etwas ab-
gesohwachten Patellarreflexe von ihr unterscheiden. Zwei Geschwister waren
nach der Angabe der Mutter ziemlich frfih ihrer Erkrankung erlegen, die in
dem einen Falle zu erheblichem Schwachsinn und Incontinentia alvi geffihrt
haben soli, in dem anderen mit epileptischenAnfallen sich verband. Bei beiden
von dem Vortragenden beobachteten Kindern bestand Friedreich’scher Fuss
und Babinski.
Die Untersuchung der Spinalflfissigkeit ergab negative Wassermann-Reak-
tion, die Rontgenuntersuchung der Ffisse keine Veranderung der Knochen.
Der Vortragende geht des Naheren auf die Ursache der hereditaren Ataxie
ein, bei der gewohnlich, wie auch bei seinen Fallen weder die Syphilis, noch ein
Alkoholismus der Eltern eine Rolle spielt. Die Edinger’sche Aufbrauch-
tbeorie erklart weder die Lokalisation der Erkrankung, nooh im wesentlichen
die Neigung zu dauerndem Fortschreiten derselben, besonders da auch die
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318 43. Wandervers. der Sddwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
Sohonung der betroffenen Nervengebiete selbst in fruheren Stadien der Erkran-
kung keine sicher erkennbare Besserung hervorruft and umgekehrt ebenso wie
Ueberanstrengang auchUeberrahe schaden kann. — Bemerkenswert ist der auch
sonst bei hereditarer Ataxie beobachtete Schwachsinn. (Eigenbericht.)
8 ) Herr L. R. Muller-Wurzburg: „Ueber die Innervation der
Harnblase. u
*
Die Ganglienzellen der Blase, die an der Einmundungsstelle der Ureteren
angehauft sind, erweisen sich bei geeigneten Farbemethoden als multipolar.
Sie sind ganz derselben Art, wie wir sie am Herzen, im Oesophagus, im Darm
und auch in den Ganglienknoten des Grenzstranges finden. Wie zu alien
inneren Organen so ziehen auch zum Plexus vesicalis Nervenfasern von zwei
verschiedenen Gebieten vom sympathischen und vom parasympathi-
schea System. Die ersten gelangen vom oberen Lumbalmark iiber die Rami
communicantes lumbales iiber den Plexus aorticus und endlich fiber die paa-
rigen Plexus hypogastrici zum Blasengeflecht. Vom sakralautonomen System,
dessen Ganglienzellen in der Intermediolateralsubstanz des untersten Sakral-
markes gelegen sind, ziehen die Bahnen fiber die unteren Sakralwurzeln und
von dort als Nervi erigentes oder Nervi pelvici zum Nervengeflecht an der
Blase. Die Innervation dieser beiden Nervengebiete ist eine gegensatzliche:
Reizung der Nervi pelvici bedingt Eroffnung des Sphincter und Kontraktion
des Detrusor vesicae und somit Entleerung der Blase. Erregung der Plexus
hypogastrici fiihrt zur Verstarkung des Sphinktertonus und zum Nachlass der
Detrusorkontraktien und damit zur Harnretention. Ueber die Bahnen im
Rtickenmark, durch welche die spinalen Blasenzentren beeinflusst werden,
wissen wir nooh gar nichts, wir wissen nur, dass Querschnittslasionen des
Ruckenmarks, in welcher Hohe sie auch sitzen mogen, ob sie im Halsmark, im
Lendenmark oder im Sakralmark gelegen sind, immer das gleiche klinische Bild
auslosen, wie wir es auch bei der Caudakompression sehen. Die Bahnen,
welche iiber das Sakralmark und iiber die Cauda equina und die Nervi pelvici
zum Plexus vesicalis ziehen und dort den Entleerungsreflex auslosen, sind
unterbrochen und damit ist die Harnausstossung unmoglich und es kommt zur
Ischurie. Naoh kiirzerer oder langerer Zeit kontrahiert sich aber die Blase bei
einem gewissen Fiillungsgrade spontan und es entwickelt sich die automatische
Blasenentleerung. Ueber die Stellen im Gehirn, von welcben aus eine Beein-
flussung der Blaseninnervation erfolgen kann, haben uns die letzten Jahre
manchen Aufschluss gebracht. Durch Karplus und Kreidl und dann auch
von Leichtenstern wurde experimentell festgestellt, dass Reizung der Seiten-
wande des dritten Veitfrikels und damit Reizung des Hypothalamus ausser
maximaler Pupillenerweiterung und ausser Schweissausbruch auoh Kontraktion
der Blase bedingt. Diese Stelle in der Tiefe der grossen Stammganglien ist
wohl auoh der Ort, iiber welche die Stimmungen, wie die Angst und der
Scbrecken ihren Einfluss auf die Blasentatigkeit ausiiben. Die willktirliche
Auslosung der Blasenentleerung und die willkfirliche Hemmung dieses Reflexes
beim Harndrang kann nur vom Grosshirn aus erfolgen. Es ist nicht wahr-
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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 319
scheinlicb, dass dort in der Rinde ein eigentliches ^Blasenzentrum 14 zn suchen
ist, von dem die glatte Muskulatur dieses Organs direkt beeinflusst wird. Far
eine solche Annahme fehlen all© Anhaltspunkte. Unseres Wissens hat kein
anderes inneres Organ eine eigene Vertretung in der Grosshimrinde. Wenn
manche Funktionen innerer Organe, wie die peristaltische Bewegnng der
Schlundrohre oder die Entleerung des Enddarmes bis za einem gewissen Grade
willkiirlich anszulosen sind, so erfolgt die dazu notwendige Innervation des
vegetativen Nervensystems sicherlich nicht primar von einem Zentrum in der
Hirnrinde, vielmehr werden die dazu notwendigen Reflexvorgange wohl immer
erst darch Bewegungen der willkiirlich zu innervierenden quergestreiften
Muskulatur angeregt. Durch die willkurliche Verbringung des Bissens mittels
der quergestreiften Schlundmuskulatur in den Anfangsteil des Oesophagus wird
dort die peristaltische Bewegung ausgelost, die den Bissen in den Magen
weiter befordert. Die Anspannung der Bauohpresse und das dadurch bedingte
Vortreiben der Kotsaulo verursacht den Reflex, welcher der Stuhlentleerung zu
Grunde liegt und der in letzter Linie in den Ganglienzellen der Darmwandung
zustande kommt. So kann wohl auch durch die willkurliche Innervierung der
am Blasenboden gelegenen quergestreiften Muskulatur und durch den Nachlass
des Tonus des Compressor urethrae der Reflex im vegetativen Nevensystem
ausgelost werden, welcher die Harnausstossung zur Folge hat und so kann
durch starke Anspannung des Compressor urethrae das Zustandekommen eines
solchen Reflexes bei starkem Harndrang verhindert werden. Die Stelle in der
Hirnrinde, von welcher die quergestreifte Muskulatur am Beckenboden will-
kurlich innerviert wird, ist beider6eits im obersten Teil der Zentralwindung
oder im Lobulus paracentralis zu suchen. So ist es auch zu verstehen, dass
Kleist bei tangentialen Scbeitelschussen, die beiderseits zur Zerstorung
der obersten Zentralwindungen geftihrt haben, neben Fusslahmungen auch
Storungen in der Blasenentleerung gesehen hat. Ueber ahnliche Beobaohtungen
verfugen auch 0. Forster-Breslau, Auerbach-Frankfurt und Wallenburg-
Danzig. Auf Grand solcher Feststellungen durfen wir also annehmen, dass
tatsachlioh vom Grosshirn aus die Blasenentleerung ausgelbst werden kann,
wenn dort auch kein Blasenzentrum im strengen Sinne des Wortes zu suchen ist.
(Eigenbericht.)
9) Herr F. E. Otto Schultze-Frankfurt a. M.: „Auf welchem Wege
konnen wir in der Erforschung der Neurosen und Psychosen zu
iibersichtlichen Erkenntnissen gelangen? u
Obschon der Krieg vielen Aerzten eine geradezu unbegreifliche Full© von
Einzelerscheinungen vor Augen gefuhrt hat, in denen sioh der Einfluss seeli-
scher Vorgange auf den Korper aussert, ist die Ausbeute an wissenschaftlichen
Erkenntnissen verbaltnismassig gering geblieben. Der Grand hierfiir wird in
der ungenugenden Entwicklang der Gehirnanatomie und Gebirnphysiologie ge¬
sehen. Viele Einzelvorgange sind desbalb vorlaufig in ihrem inneren Mecha-
nismus vollstandig unbekannt geblieben; hinsichtlich der yielen Beobaohtungen
motoriscber Bewegungsstdrungen konnen wir nur vereinzelt und in allergrobsten
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320 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
Ziigen verfolgen, wie sie zustande gekommen sein mogen. Die Diagnose ist
desh&lb moist nichts weiter als eine Klassifikation, nicht eine durchdringende
Erkenntnis. Wir steben vielfach noch auf dem Standpunkt des Botanikers der
ersten Halfte des 19. Jabrhunderts, dessen Aufgabe darin bestand, nach dem
Linn6’sohen System Pilanzen zu bestimmen. Die eigentliche wissenschaftliohe
Aufgabe der biologiscben Erklarung ist noch wenig entwickelt. Es fragt sich
daher: Konnen wir die schematischen Grundansohauungen, auf die aiies natur-
wissenschaftliche Denken zuruckgehen muss, uns nicbt unabhangig von der
Gehirnanatomie schaffen? Wie wir die krankhaften Vorgange der Niere, der
Lunge und ailer einzelnen Organe unseres Korpers daduroh begreifen, dass
wir ihre einzelnen Glieder und einzelnen Funktionen als quantitativ variiert
auffassen, so miissen wir auch die im seelischen Leben wirksamen Faktoren
feststellen und aus ihren Funktionen durch quantitative Variationen die unbe-
schrankte Fiille krankhaft veranderter seelischer Vorgange erklaren.
Ein Funktionsschema in dem gewunscbten Sinne bat Wernioke ge-
geben. In seiner Einfachheit entwickelt es die wesentlichen Bestandteile eines
zentralsensorischen, eines zenttelmotorischen und eines intrazentralen Apparates.
Die Hauptbestandteile sind damit gegeben. Sie kommen nicht bloss fur die
sprachlichen, sondern auch fur die anderen seelischen Vorgange in Betracht.
Der intrazentrale Apparat tragt nun den ungliioklichen Namen Begriffszentrum;
denn es kommen in ihm nicht pur Begriffe vor, und ebensowenig ist er ein
Zentrum. Statt seiner konnten wir fast ebenso gut sagen Seele. Einmal ent~
halt er alle Erfahrungsmomente (oder mit anderen Worten Erfahrungsdispo-
sitionen der Residuen der verschiedenen Sinneseindriicke, die wir in uns auf-
genommen haben, und auch die Residuen alles dessen, was die Phantasie das
Wort im weitesten Sinne als Fahigkeit zur Synthese gefasst aus ihnen ge-
schaffen hat). Daneben laufen vollstandig die von ihnen zu trennenden Vor¬
gange des Gemiitslebens ab, die ganz anderen Gesetzen unterworfen sind, als
jene, die wir unter dem Worte Geist zusammenfassen konnen. Noch andere
Grundfunktionen, wie Merkfahigkeit, Produktion an Energie usw. miissen in
das Schema aufgenommen werden. Entscheidend ist aber, dass der Begriff
Bewusstsein in ihm nicht beriicksichtigt ist. Wernicke hielt an dem Stand¬
punkt des krassen Materialismus fest, der in seiner Jugendzeit in Deutschland
herrschte: Bewusstsein ist Giehirn. Er schied nicht zwischen dem Gehirn und
seinem Produkte. Er erkannte nioht, dass das Bewusstsein etwas mit dem Ge¬
hirn nicht zu Vergleichendes ist. Mit der Einfuhrung des Bewusstseins erobert
sich aber das Funktionsschema ein ganz neues Gebiet, das an Fruchtbarkeit
die gegenwartige Gehirnanatomie und Gehirnphysiologie um das unbegrenzt
Vielfache iibertrifft. Es kann erst so die Beziehung zur Psychologie herge-
stellt werden. Von ihm aus kann ein Ausbau der bisher nur angedeuteten Be¬
griffe Geist und Gemiit, Wille und Gedachtnis erfolgen. Mit seiner Hilfe ist
erst eine voile Geschlossenheit eines Schemas des seelischen Haushaltes
zu erreichen. Die Psychiatric sowohl wie die Lehre der Neurosen mussen von
beiden Seiten her weiter arbeiten, von der Seite des Bewusstseins, wie von der
Seite des Gehirnes aus, und sehen, ob die Faktoren und Mechanismen, zu
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43. Wandervers. der Sddwestdeutschen Nearologen u. Irrenarzte. 321
deren Annahme sie durch die Wacht der Tatsaohen gedrangt werden, identisoh
warden konnen oder nicht. Das Ergebnis dieser Forsohungsarbeit wird ein
Fanktionsschema des seeliscben Haushaltes sein, das for die genannten Wissen-
schaften die gleiche grundlegende Bedeutung bekommen moss, wie die Sche¬
mata des Korpers und seiner Organe fur die innere and aussere Medizin.
(Eigenbericht.)
10) Herr Hauptmann-Freiburg i. Br.: „Ueber herdartige Ver-
breitung der Spirochaten im Gehirn bei Paralyse 44 .
An der Hand einer grdsseren Anzahl von Diapositiven wird iiber eine
herdartige Spirochatenverbreitung in der Hirnrinde bei Paralyse berichtet,
welche deswegen ihre besondere Bedeutung hat, weil es auch gelang, die Herde '
im Zellbilde farberisch zur Darstellung zu bringen.
Unser Bestreben muss dahin gehen, die Spirochatenpraparate mit den
uns von den andem Farbeverfahren gelieferten bekannten histologischen
Bildern in Beziehung zu setzen, urn festzustellen, inwieweit die lokale An-
ordnung der Spiroch&ten im Gehirn fur die paralytischen Veranderungen in
Anspruoh zu nehmen ist. Fur einen Teil derselben, wie die diffuse Infiltration
der Gefasscheiden und die systematischen Degenerationen ist die Unabhangig-
keit von der Lagerung der Spirochaten in der Hirnrinde a priori wahrschein-
lich, far einen andem Teil, wie z. B. den fleckweisen Markscheidenausfall,
konnte ein Zusammenhang eher vermutet werden.
Die Schwierigkeiten einer Yergleichung der mit verschiedencn Farbever¬
fahren behandelten Schnitte liegen in der einstweilen noch vorhandenen Un-
moglichkeit, die Spirochatenimpragnation im Schnitt vorzunehmen. H. um-
ging diese deshalb durch fast schnittartige Verkleinerung der Blocke, so dass
annahernd Vergleichspraparate gewonnen werden konnten. Dass man auf
diese Weise zum Ziel kommt, konnte auch an einem, dem Vortr. von Nissl
giitigst zurVerfugung gestellten Fall bewiesen werden, bei dem dieser schon vor
10 Jahren einen Herd im Zellbilde beobacbtete, dessen Genese er sich damals
noch nicht erklaren konnte. Das Diapositiv dieses Herdes wurde demonstriert.
Im einzelnen Spirochatenpraparat stellten sich die Herde dar als im all-
gemeinen scheibenformige Gebilde, in welchen sich ein zentraler Kern und ein
peripherer Kreis deutlich trennen lasst. Das Gewebe des Kerns ist in seiner
Struktur mehr oder weniger zerstort, oder doch wenigstens infolge dichtester
Durchwachsung mit Spirochaten, die sich nur sobwach braunlich farben und
(dadurch?) in ihrer Gestalt undeutlicher hervortreten, in seinen einzelnen
Bestandteilen nicht mehr kenntlich; der periphere Kreis besteht aus einem
dichten Kranz wohl gefarbter und gut gebildeter Spirochaten. Durch Rekon-
struktion von zahlreichen Serienschnitten erweist sich die Herdbildung als
kugelformig in der Gehirnsubstanz sitzend. Demgemass begegnet man je nach
Lage des Schnittes Herden verschiedener Grdsse, und, je naher man den Polen
kommt, auch verschiedener Gestalt, insofern diese keinen amorphen Kern mehr,
sondern nur noch eine scheibenformige Anordnung der gut gefarbten Spiro¬
chaten besitzen.
▲rehir f. Psyehiatrie. Bd. 60 . Haft 1 . 91
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322 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Nearologen u. Irrenarzte.
Die Entstehung der Herde lasst sich einmal an eben beginnenden und
dann an Serienschnitten durch grossere studieren: Aus den Gefasswanden and
adventitiellen Raumen von kleineren Gefassen und Kapillaren wucbern Spiro¬
chaten ins Gehirngewebe, wobei sich auch schon an eben beginnenden Harden
die zentrale Amorphisierung des Gewebes bezw. der Spirochaten zeigt. Dnd
im Zentrum grosserer Herde sieht man bei Seriensohnitten fast immer ein Ge-
fass, das meist in seiner Wand wenig verandert ist und in ihr wohi erhaltene
Spirochaten aufweist. Dieser immer wiederkebrende Befund und vor allem die
Betrachtung jungerer Herde lasst den Zusammenhang mit Gefassen (was bei
der Gefassvermehrung ja moglich ware) nicht als zufallig erscheinen..
Aeltere Herde gewinnen dadurch ein anderes Aussehen, dass Zellen glio-
gener Herkunft, grosstenteils sogenannte „gemastete“ in sie eindringen. In
diesen Zellen sieht man nicht selten Spirochaten, die Form und Farbung be-
wahrt haben, was urn so auffallender ist, da sie inmitten der schlecht gefarbten
Spirochatenhaufen liegen. Man konnte auf eine Fresstatigkeit dieser grossen
Gliazellen schliessen, weniger auf ein aktives Eindringen von Spirochaten in
sie, daman Spirochaten in Ganglienzellen ausserst selten antrifft.
Eine Gliafaserbildung scheint, soweit sich das bisher farberisch nach-
weisen liess, in der Gegend der Herde nicht stattzufinden. 1
Im Zellbild stellt sich der zentrale Kern als homogene Anfarbung des
Grundgewebes dar, in dem je nach dem Alter des Herdes Zellen verschiedener
' Genese (gliogen, Polyblasten) eingelagert sind. Ganz junge Herde oder An-
schnitte alterer sind nur eben als ganz hauchartige Anfarbung (ohne ZeHein-
lagerung) zu sehen und entgehen leicht der Beachtung. Es ist deshalb wohl
moglich, dass man ihnen bei entsprechend gerichteter Aufmerksamkeit kiinftig-
hin doch ofters begegnen wird.
Verfiihrerisch ist es, in ihnen etwa die oder wenigstens eine der Ursaohen
des fleokweisen Markscheidenschwundes (und zwar des „Mottenfrasses w ) zu
sehen. In den entsprechenden Windungen fanden sich fleckige Ausfalle, die
in ihrer Lagerung wohl den Herden entsprechen konnten. Dieser Annahme
steht aber einstweilen nooh die Seltenheit des Befundes an solchen Herden
gegeniiber der Haufigkoit des fleckweisen Markscheidenschwundes entgegen.
Allerdings ist zu bedenken, dass wir hier das Produkt eines iiber viele Jahre
ausgedehnten Zerstorungsprozesses vor uns haben, der sehr wohl im einzelnen
auf einer nur kurzfristigen Herdbildung beruhen konnte.
Und diese geringe Lebensdauer der Spirochatenherde, die zudem nur
an ganz wenigen Stellen der Hirnrinde sitzen, der Beobachtung also leicht
entgehen konnen, und sioh im Zellbilde lange nicht in der gleichen Regel-
massigkeit wie im Spirochatenbilde zeigen, lasst erwarten, dass im weiteren
Verlauf der mit der vergleichenden Zell- und Spirochatenfarbung angestellten
Forschung diese herdformige Spirochatenverteilung ein haudgeres Vorkomnis
bilden wird. (Eigenbericht).
11) Herr Hiibner-Bonn hat Experimente zur Simulationsfrage
angestellt. Er brachte auf der Beobachtungsabteilung zunachst, um zu sehen.
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43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 323
wieviel fiber Simulation gefcprochen wurde, einen Rechtsanwalt unter, der die
diesbezfiglichen Erfahrungen sammelte. Es stellte sich heraus, dass diese
Frage viel diskutiert wurde.
Die Simulation von manschettenfdrmigen und handschuhformigen Sensi-
bilitatsstorungen gelang bei Anwendung schwacher Reize leicht, auch auf
starke Schmerzreize konnte eine Person Abwehrreaktionen regelmasssig unter-
drficken.
Dass auch bei Dynamometerversuchen Vorsioht am Platze ist, lehren
weitere Untersuchungen des Vortragenden.
In ganz kurzer Zeit gelang es dem Vortragenden, ein 20jahriges Madchen
zur Vortauschung einer Handkontraktur anzulernen, die von einem Chirurgen
und einem Neurologen fur echt gehalten wurde.
Eingehender geht Vortragender dann an der Hand von 2 selbst beobacb-
teten Fallen auf die Frage der Anamnese ein. Er warnt davor, sie glaubig
hinzunehmen, und zeigt, wie ein Mann 9mal in Lazaretten Aufnahme fand und
dort lediglich wegen der genauen anamnestischen Angaben fiber neurotische
Zustande bebalten wurde. Objektiv war an ihm nie etwas gefunden worden.
In einem anderen Falle, den H. beobachtet hat, sohaffte sicb der Ange-
schuldigte eine Anamnese durch propbylaktische Simulation vor Laien, wah-
rend er in der Klinik selbst nur noch einige Tage krank schien und dann sicb
rasch besserte.
Was scbliesslich die psycbischen Storungen anlangt, so vermocbte das
oben zitierte junge Madchen ohne nennenswerte Erlauterungen und ohne je
einen Schwachsinnigen gesehen zu haben, sowohl bei der Intelligenzprufung,
wie auch sonst eine Imbezillitat mittleren Grades vorzutauschen.
Es gelang ihr auch einen Dammerzustand zu markieren.
Ausfuhrlicb geht dann der Vortragende noch auf einen Fall ein, in dem
ein zuveriassiger Mann mehrere Wochen eine schwere Psyohose mit dem Erfolge
simulierte, dass er den erstrebten Zweck, weloher ihm vorschwebte, erreiohte.
Unmittelbar nach Erreichung desselben meldete er siob freiwillig und machte
nun fiber das, was er sich im einzelnen bei der Vortauschung der versohiedenen
Symptome gedacht und wie er Erfahrungen gesammelt hatte, den Aerzten sehr
genaue Angaben.
Vortragender schliesst aus seinen Beobachtungen und Versuchen, dass
es doch leichter sei, einzelne Zustandsbilder vorzutauschen als man ursprfing-
lich angenommen babe, dass man jedenfalls aber auch dem Simulationsproblem
experimentell nahertreten mfisse. (Eigenbericht).
12) Herr E. Rappers (Freiburg) Ueberlingen: „Die systematische
Bek&mpfung der Rentenneurose im Frieden auf Grund der Kriegs-
•rfahrungen u .
Der Krieg ist der gfinstigste Zeitpunkt, urn auch gegen die alten Renten-
neurosen des Friedens therapeutisch vorzugehen (Einweisung in die bestehenden
Neurosenlazarette, Heilung, Unterbringung in die Munitiousindustrie und Ent-
ziehung der Rente). Zugleich werden dadurcb die Berufsgenossenschaften von
21*
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324 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
der Heilbarkeit der Rentennearosen dtirch arztiiche Massnahmen uberzeagt und
fur die Schaffung entsprecbender Einriohtungen im Frieden gewonnen.
Die Frage, ob es moglich ist, auch im Frieden auf die im Kriege
bewahrte Weise gegen die Rentenneurosen vorzugehen, muss bejaht werden.
Das Geheimnis der Kriegserfolge liegt in der Verkniipfung der personliohen
Autoritat mit der militarischen, die in der Strafgewalt des Vorgesetzten ver-
korpert ist. Die Strafgewalt des Neurosenarztes im Frieden ist gesetzlich fest-
gelegt im §606 der R. V. 0., der die Entziehung der Rente bei unbegrundeter
Verweigerung der Bebandlung androht. Diese Moglichkeit muss nur ausgenutzt
werden. Als Bebandlungsmethode kommt neben der Hypnose vor allem die
konsequente Bettruhe, kombiniert mit Paokungen, Dauerbad und Isolierung in
Betracbt. Derartige arztiiche Anordnungen konnen nicht „mit gesetzlichen
oder sonstigen triftigen Grunden tf (§606) verweigert werden. — Als Ausgleich
verlangt die Anwendnng des §606 die Sicherung des Kranken gegen unzu-
lassige Anwendung der Strafgewalt (Verkennung organischer Falle, inhumane
Prozeduren). Als solche Sicberungen werden vorgeschlagen: Trennung von
Beobachtungs- und Behandlungsstationen und Beigebung eines Arbeiterver-
treters an die Seite des behandelnden Arztes zur Kontrolle dariiber, dass einer-
seits die suggestiven Massnahmen an Scharfe und dass andererseits der
Patient bei seinem Widerstande die Regeln des Anstandes wahrt. —r Riickfalle
konnen durcb keine Form der Symptomiiberwindung verhutet werden. Viel-
mehr ist wochen- bis monatelange Erptobung der Dauerhaftigkeit des Behand- *
lungsergebnisses bei Lohnarbeit unter arztlicher Aufsicht erforderlich. Nach
einer solchen Erprobung, bei der moglicbst die naturlicben Verhaltnisse des
Berufes hergestellt werden mussen, kann fur den trotzdem etwa eintretenden
„Riickfall w kein Kausalzusammenhang mit dem Unfall mehr anerkannt werden.
Die Streichung der Rente ist also endgiiltig und damit auch die Heilung. —
Unerlassliche Voraussetzung fur die Durchfuhrung des Verfahrens ist, dass
die Aerzteschaft geschlossen hrnter dem Neurosenarzte steht und ihn gegen
die vorauszusehenden Angriffe von seiten der Neurotiker und der Oeffentlich-
keit wirksam unterstiitzt. (Eigenbericht).
13) Herr Hezel-Wiesbaden: a) w Eine im Felde vorkommende Be-
schaftigungsneurose w .
Major C., welcher viele Monato lang den ganzen Tag mit demTelephon-
horer in der rechten Hand tatig war, verspiirte seit Marz 1917 ein Taubheits-
gefiihl in der ulnaren Halfte der rechten Hand und zunehmende Schwache
derselben, in der Folgezeit bemerkte er auch einen Schwund der kleinen Hand-
muskeln. Er fuhrte diese Storungen ganz richtig auf eine Geberanstrengung
der Hand beim Telephonieren zuriick. Der Militartelephonhorer ist so einge-
riohtet, dass die Finger, welche den Stiel des Horers umfassen, gleichzeitig
die in den Stiel eingelassene Sprechtaste niederdriicken mussen, so lange ge-
sprochen wird. Das Festhalten des Stiels geschieht nicht nur mit den vier
Fingern, sondern auch mit demDaumen, der dabei hauptsachlich durchAdduk-
tion den Stiel zwischen Daumen und Hand fixiert.
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43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 325
Wie mir der Kranke mitteilte, hat er die gleiche Stdrung auch bei einem
Kameraden gesehen.
Im Febraar d. J. erbob ich folgenden Untersuohungsbefund:
Die Hand hat das Anssehen wie bei der Ulnarislahmung, d. h. Krallen-
stellong der vier Finger and Atropbie der Interossei and des Adductor pollicis,
in geringem Grade auch des Hypothenar. Am 5. Finger stehen die Hittel- und
Endglieder in extremer Beugestellung und konnen passiv nur unvollstandig
gestreckt werden, wahrend das an den iibrigen Fingern mit einiger Gewalt
vollstandig gelingt. Aktiv erfolgt die Streckung dieser Glieder am 2. und
3. Finger leidlioh, am 4. und 5. aber gar nicht* Die aktive Beugung dieser
Glieder wird an alien Fingern mit voller Kraft ausgefiihrt. Die aktive
Beugung der Grundglieder dagegen sehr mangelhaft und schwaoh. Ebenso ist
die Adduktion ganz schwach und erfolgt nur unter gleichzeitiger Beugung der
Hittel- und Endglieder, also offenbar hauptsachlich durch die Wirkung der
langen Beuger. Eine aktive Spreizbewegung vermogen nur der 2. und 3. Finger
auszufuhren. Der Daumen kann vollstandig und ziemlich kraftig adduziert
werden, aber diese Bewegung geschieht, wie man sich deutlich durch lnspek-
tion und Palpation iiberzeugen kann, nicht durch den Adductor pollicis, son-
dern durch die Ersatzmuskeln der Opposition des Daumens, der Beugung der
Daumenglieder und der Hand sind vollkraftig, letztere erfolgt auch unter
kraftiger Hitwirkung des Flexor carpi ulnaris.
Die elektrische Untersuchung ergibt eine hochgradige Herabsetzung der
dirckten und indirekten faradischen Erregbarkeit der atrophischen Muskeln, an
den am starksten atrophierten bis zur fast volligen Aufhebung. Die indirekte
galvanische Erregbarkeit ist ebenfalls merklioh, aber nicht so hoohgradig her-
abgesetzt und bei der direkten galvanischen Reizung Zucken der atrophischen
Muskeln mehr oder weniger trage, der Abductor digit. V. aber fast normal. Die
langen Fingerbeuger zeigen keine Abweichungen der elektrischen Erregbarkeit.
Auch die Sensibilitat zeigt bemerkenswerte Storungen. Die Tastempfin-
dung ist im Ulnarisgebiet hocbgradig herabgesetzt, am kleinen Finger und dem
zugeborigyi Hetakarpusgebiet beinahe ganz aufgehoben, in geringerem Grade
herabgesetzt an den Volarflachen der iibrigen Finger, ganz gering am Hand-
teller. Aehnlich verhalt es sich mit der Temperatur- und Schmerzempfindung.
Das Tastgefiihl ist in alien Fingergelenken erheblich herabgesetzt. Druck-
schmerzhaft sind weder die Stamme, noch einzelne Zweige des Ulnaris und
Hedianus.
Bemerkenswert ist, dass die langen Fingerbeuger, welche das Nieder-
driicken der Sprechtaste besorgen, also auch ebenso angestrengt sind, wie die
Interossei, gar keine Schadigung erlitten haben, im Gegensatz zu den schwer
geschadigten Interossei. Innerhalb des Gebietes der kleinen Handmuskeln da¬
gegen lasst sich ein gutes Proportionalitatsverhaltnis zwischen dem Grade der
Schadigung und der der Grosse der geleisteten Arbeit erkennen.
Toxische oder infektiose Schadlichkeiten, welche zur Entwicklung von
Neuritiden disponieren, lagen nicht vor. Es handelt sich also wahrscheinlich
urn die Folge einer reinen Ueberanstrengung.
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326 43. Wandervers. der Sudwestdeutsohen Neurologen u. Irrenarzte.
b) „Eine durch subdurale Injektion von Tetanus-Antitoxin
erzeugte lokale Hirnrindenschadigung w .
In einem Falle von Spat-Tetanus nach einer Granatsplitterverwundung
des Beines wurden am 18. 12. 1917 naoh vorausgegangenen Neisser’schen
Trepanationen im Bereiohe jedes der beiden Soheitelbeine subdurale Injektionen
von Tetanus-Antitoxin ausgefuhrt. Nach diesen Injektionen konnte der Kranke
den linken Arm 14 Tage lang so gut wie gar nicht bewegen, und 2 Tage lang
bestand ein klonischer Krampf desArmes. Allmahlich kehrte die Kraft in dem
gelahmten Arm zuriick, aber dauernd besteben blieb taubes Gefuhl und Unge-
schioklichkeit beim Gebrauoh des Armes, besonders der Hand.
Ich untersuchte den Kranken am 17. 3. 1918 und fand keinerlei Beein-
trachtigung der passiven Beweglichkeit, eine geringe Herabsetzung der groben
Kraft der aktiven Bewegungen bei ausgesprochener Koordinationsstdrung der-
selben. Die Sensibilitatspriifung ergab taktile Anasthesie fast an der ganzen
Hand und Hypasthesie am tibrigen Arm, proximalwarts allmahlich abnehmend,
in ganz geringem Grade lasst sich die Hypasthesie auch an den Schuitern, dem
Hals, der Wange und dem Ohre nachweisen. Die Schmerz- und Temperatur-
empfindung ist nur an der Hand deutlich herabgesetzt Erheblich ist die Sto-
rung des Lagegefdhls, in den Gelenken der vier Finger ganzlioh aufgehoben,
in den Daumengelenken und im Handgelenk hochgradig, im Ellbogengelenk
weniger stark herabgesetzt. Unsicher bleibt das Verhalten am Schultergelenk.
Damit ist ein Symptomenbild gegeben, wie man es bei Lasionen des
mittleren Drittels der hinteren Zentralwindung beobaohtet. Nun liegt die Tre-
panationsliicke im Bereiche des reohten Scheitelbeines so, dass sie dem mitt¬
leren Drittel der hinteren Zentralfurche ungefahr entspricht. Es ist deshalb
die Annahme naheliegend und berechtigt, dass die nach der subduralen Injek¬
tion im Bereiche des rechten Scheitelbeines zuriiokgebliebene Storung dos linken
Armes auf einer ernsteren Schadigung der Hirnrinde durch die Injektion be-
ruht. Ich glanbe, dass eine direkte Verletzung der Hirnrinde erfolgt ist etwa
derart, dass die Nadel, iiber den subduralen Raum hinaus, in die Rinde ein-
gedrungen ist, und dass durch die Injektion in die Rinde selbst eine mecha-
nische Lasion derselben stattgefunden hat. Dieser Fall wiirde demnach, wenn
meine Deutung derselben richtig ist, zu einer entsprechenden Vorsicht bei
Vornahme von subduralen Injektionen mahnen, es durfte geraten sein, diffe-
rente Hirnrindenpartien am besten zu vermeiden. (Eigenbericht.)
14) Herr Kronfeld: „Zur Aetiologie der Landry’schen Para¬
lyse 44 .
Mitteilung eines Falles von Landry’scher Lahmung, welcher bis zum
Ende der dritten Woohe unter zunehmenden Bulbarersoheinungen und volliger
Lahmung des ganzen Korpers zum todlichen Ausgang zu fiihren schien. Im
Liquor wurde der Streptococcus mucosus (Schottmulller, Stephan) ge-
ziiohtet. Dieser ist nach Rochs ein Glied der Pneumokokkengruppe. Infolge-
dessen wurde sofort ein therapeutischer Versuch mit Optochin gemacht, 3 g
oral in funf Tagen. Am funften Tage koine Bazillen mehr im Liquor; schlag-
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43. Wandervers. der Sadwestdeutschen Neurologen a. Irrenarzte. 327
artige weitestgehende Besserung, die in vollige Heilung iiberging. Hieraus
werden bezaglich der Aetiologie und Behandlung der Landry’schen Paralyse
die Folgerungen entwickelt.
(Original erscheint in der Zeitschr. fur die ges. Neurol, u. Psych.)
(Eigenbericht.)
15) Herr Lilienstein-Nauheim demonstriert einen einfachen,
neuen Stromanzeiger fCir den farad ischen Strom (Faradimeter).
Der faradisohe Strom wird jetzt besonders bei der erfolgreichen aktiven Be-
handlang der Kriegsneurosen auch in den Lazaretten haufiger zur Anwendnng
gebracht.
Hierbei sind in einigen Fallen schadliche Nebenwirkungen beobachtet
worden, die zum Teil auf die Anwendung zu starker Strome zuriickgefuhrt
warden. Dieser Fehler war bisher beim Mangel jeglicher Messinstrumente fur
den sekundaren Strom kaum vermeidlich. Der demonstrierte einfache Apparat
gestattet nun, wahrend der Behandlung den zur Anwendung kommenden
Strom dauernd zu kontrollieren.
Er kann an jeden, auch den einfachsten faradischen Handapparat, ange-
sehlossen werden.
(Ausfuhrliche Verdffentlichung demnachst in der Munch, med. Wochen-
schrift und im Neurol. Zentralbl.)
II. Sitznng am 26. Mai, vormittags 9 Uhr.
Als Versammlungsort fur das nachste Jahr wird wieder Baden-Baden
verabredet.
Zu Geschaftsfiihrern werden die Herren Geh. Rat H o c h e - Freiburg und
Sanitatsrat Dr. Zacher-Baden-Baden gewahlt.
16) Herr S. Auerbach-Frankfurt a. M.: „Verschiedene Vulnera-
bi 1 itat bzw. Giftaffinitat der Nerven Oder Gesetz der Lahmungs-
typen? w
Auf der letzten Jahresversammlung der Gesellscbaft Deutscher Nerven-
arzte in Bonn (September 1917) sagte A., dass er den von 0. Foerster zur
Erklarung des zeitiicb und graduell verschiedenen Ruokganges der Lahmungen
in den einzelnen Muskelgruppen nach Schussverletzungen aufgestellten Begriff
der verschiedenen n Vulnerabilitat u der Nervenfasern nicht akzeptieren konne.
Er betonte, dass jene regelmassige Erscheinung restlos durch das von ihm fur
die gesamte Neuropathologie aufgestellte „Gesetz der Lahmungstypen (< zu er-
klaren sei. Dieses Gesetz lautet:
„Diejenigen Muskeln bzw. Muskelgruppen eriahmen am
raschesten und vollkommensten bzw. erholen sich am lang-
samsten und am wenigsten, die die geringste Kraft (ausgedriiokt
durch das Muskelgewicht) besitzen und ihre Arbeitsleistung
unter ungunstigen physikalischen, physiologischen und anato-
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328 43. Wandervers. der Sddwestdentschen Neurologen u. Irrenarzte.
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mischen Bedingungen zu vollbringen haben, wahrend die in
dieser Beziehung besser gestellten Muskeln von der Lahmung
grosstenteils verschont bleiben.“
In seinem Schlnssworte bielt Foerster (vgl. den Eigenbericht im Neurol.
Zentralbl., 1917, Nr. 20) den Begriff der verschiedenen Vulnerability der
Nervenfasern fur versohiedene Muskeln unbedingt aufrecht und hielt ferner auf-
recht, dass' die Fasem fur die distalen Muskeln vulnerabler seien als die fur
die proximalen. Fur toxische und infektiose Schadigung kamen noch ganz be-
sondere Affinitaten in Betracht. Curschmann stimmte Foerster zu und
sprach noch von der verschiedenen Erkrankungsbereitschaft verschiedener
Nerven auf toxische Einfliisse.
Diesen Auffassungen gegeniiber fuhrt A. unter Hinweis auf seine ausfuhr-
lichen Publikationen Folgendes aus:
Ausdriicke wie versohiedene „Vulnerabilitat w , „Giftaffinitat u und „Er-
krankungsbereitschaft u der Nerven sind nur Umschreibungen des Tatbestandes,
der Erscheinungen, aber keine Erklarungen. Er findet es wohl begreiflich,
dass ein Hautnerv oder auch ein oberflachlich liegender Nerv wie der N. ra-
dialis an seiner Umschlagstelle am Oberarm eher verletzt werden kann als ein
tiefliegender Nerv, dass er „vulnerabler“ ist als der letztere. Die Annahme
einer verschiedenen „Vulnerability bringt aber dooh niemanden in seinem
kausalen Denken einen Sohritt vorwarts, wenn man sich die jetzt in zahlreichen
Fallen ganz regelmassige Beobachtung erklaren soli, dass nach Absohuss des
N. ischiadicus am Oberschenkel oder nach .Resektion eines seinen ganzen
Querschnitt durchsetzenden Kallus und darauffolgende Naht dieses Nerven
stets, falls Regeneration eintritt, zuerst die vom N. tibialis innervierten
Plantarflexoren des Fusses ihre Funktion wieder erlangen, und erst viel spater,
wenn uberhaupt, die vom N. peron. beherrsohten Dorsalflexoren und Abduk-
toren. Diese bei Lasion des Gesamtquerschnittes des N. ischiad. — bei Ver-
letzung einzelner Bahnen kommen naturlich rein topographische Gesichtspunkte
in Betracht — regelmassige Erscheinung ist doch unmoglich damit zu er¬
klaren, dass man annimmt, die Bahn des N. peron. im Ischiadicus sei „vulne-
rabler u als die des N. tibial. Sie ist auoh nicht zu erklaren mit der grosseren
Distanz, welche die auswachsenden Nervenfasern zu durchlaufen haben, eben-
sowenig mit der grosserenEntfernung vom trophischen Zentrum der zugehorigen
Vorderhornganglienzellen. Denn es wird doch niemand behaupten wollen,
dass in dieser Beziehung Unterschiede zwischen dem N. tibial. und dem
N. peron. bestehen.
Dem Verstandnisse zugangig wird die erwahnte Beobachtung erst durch
folgende Ueberlegung: nach Frohse und Frankel verhalt sich das Gewicht
der Plantarflexoren des Fusses (Gastroknemius -j- Soleus -\- Plantaris) zu dem
der Dorsalflexoren (Tibial. ant. -|~ long. + peron. tertius) wie
795:196, also wie 4:1. Die Mm. peron. long, et brevis (Abduktoren bzw. Pro-
natoren) gehoren zu den schwachsten; ihre Gewichtszahl betragtnach Frohse
und Frankel 123. Beriicksichtigt man nun ausserdem, dass die Waden-
muskeln mit der Sohwere arbeiten, die ohnehin schwachen Peronei aber gegen
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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 329
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diese und als Abduktoren den Fuss von der Medianebene des Korpers zu ent-
fernen haben, welche Bewegnng natiirlich eine grossere Arbeitsleistung dar-
stellt als die Bewegung nach der Medianebene der Korpers hin, so wird man
es begreiflich finden, dass ceteris paribus die Plantarflexoren des Fusses ihre
Fun kt ion friiher wieder aufnehmen als die Dorsal flex oren. Das Erfolgsorgan
des N. tibia!, ist eben viel kraftiger und bat ausserdem seine Arbeit unter
gunstigeren Bedingungen zu leisten als dasjenige des N. peron.
In ganz analoger Weise ist die Beobachtung zu erklaren, dass bei Ab-
schiissen des N. radialis am Oberarm, bzw. bei einem seinem ganzen Quer-
schnitt durchsetzenden Nervenkallus, Resektion desselben mit darauffolgender
Nabt regelmassig zuerst die Strecker des Karpus wieder in Tatigkeit treten,
viel spater erst die Strecker der Finger.
Fur die traumatische Gruppe unter den peripberen Labmungen kommt
das Gesetz der Lahmungstypen nur in beschranktem Umfange in Betracht.
Durch eine Verletzung kann jeder Nerv und jedor von ibm abbangige Muskel
gelahmt warden ganz obne Rucksicht auf seine spezielle Muskelkraft und die
Arbeitsbedingungen, unter denen er sich zu betatigen pflegt. Es kann sich
nur um solche Falle handeln, in denen das Trauma einen mebrere
Muskeln innervierenden Nerven nacbweislich in seinem ganzen Quer-
schnitt ladiert oder einen Nervenplexus in toto getroffen hat, oder wenn bei
partieller Verletzung eines solcben durch einen autoptiscben Operationsbefund
konstatiert werden kann, welobe Aeste verschont geblieben sind. Allgemeine
Giiltigkeit hat das Lahmungsgesetz jedoch iiir die iibrigen typischen Lah-
mungen der peripberen Nerven, insbesondere fur die dnrcb eine Polyneuritis
bedingten. Und biermit kommt A. auf den Begriff der „Giftafflnitat u und der
„Erkrankungsbereitschaft w zu spreohen.
Wir nehmen an, dass die verschiedenen Gifte, mogen sie toxisoher oder
infektioser Natur sein, eine verschieden grosse Affinitat zu einzelnen Organen
oder Organsystemen baben oder umgekebrt. So gibt es Gefass-, Blut-, Muskel-
gifte usw., selbstverstandlich auch Nervengifte, und unter diesen wieder solche,
die sich mit Vorliebe in der Gehirn- oder Ruckenmarksubstanz verankern,
and ere, welcbe die peripberen Nerven bevorzugen. Warum das eine Gift mit
Vorliebe oder ausscbliesslicb dieses oder jenes Organ befallt, wissen wir, von
einigen Ausnahmen abgeseben, nicbt und nebmen desbalb zu dem Begriffe der
differenten Giftaffinitat unsere Zuflucht. Unser Kausalbediirfnis kann und muss
sich hiermit vorlaufig zufrieden geben. Es kann ibm aber unmoglich zuge-
mutet werden, anzunebmen, dass ein und dasselbe Gift eine besondere Ver-
wandtschaft zu bestimmten peripheren Nerven oder Nervenasten eines Extremi-
tatenabsobnittes besitzt, dass es aber andere derselben Gliedmasse, die ana-
tomisch und cbemisch genau ebenso konstruiert sind, verschont. Besonders
bemerkenswert ist, dass, wenn bei der gewohnlichen Polyneuritis ein vom
N. peron. profund, innervierter Muskel ibtakt bleibt, es der relativ kriiftigste
M. tibia 1. anticus ist, obgleich aucb er die Anziehungskraft der Erde zu uber-
winden hat. Das kann man docb wirklioh nicbt mit einer verschiedenen Gift¬
affinitat oder Erkrankungsbereitsohaft der Nervenfasern erklaren. Es ware doch
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330 43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
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mehr als gezwungen, anzunehmen, dass die die Mm. extens. digit, long, et
brevis und Ext. hall. long, et brevis versorgenden Nervenaste des N. peron.
prof, eine grossere Affinitat zu dem betreffenden Qifte haben als die in dem
M. tib. ant. eindringenden, dass das krankmachende Agens jene befallt und vor
diesen Halt macht.
Wie wenig berechtigt die Annahme einer verschiedenen Giftaffinitat oder
Erkrankungsbereitsohaft der Nervenfasern ist, zeigt auch die von vielen
Beobachtern gemachte Feststellung, dass bei der Polyneuritis anscheinend
funktionstfiohtige Muskeln bei genauer Untersucbung sich oft auch als leicht
geschwacht erweisen und eine deutlich herabgesetzte elektrisohe Erregbar-
keit zeigen. Zum volligen Versagen aber kommt es nur bei den
weniger kraftigen und unter ungfinstigen Umstanden arbeitenden
Muskeln.
Nach dem Ergebnis von A.’s Untersuohungen, die er natfirlich nur in
Kiirze vortragen konnte, sollte man Begriffe wie verschiedene „ Vulnerability
oder Giftaffinitat” der Nervenfasern cndgiiltig fallen lassen. Sie sind fur
unser kausales Denken entbehrlich geworden, nachdem es gelungen ist, sie
durch exakte physikalische und psycbologisch-anatomische Vorstellungen zu
ersetzen. (Eigenbericht.)
17) Herr Steiner-Strassburg: „Ueber die atiologische Erfor-
schung der multiplen Sklerose 4 *.
Nach einem Hinweis auf seine in Gemeinschaft mit Kuhn ausgeffihrten
experimentellen Forschungen berichtet Vortr. fiber Untersuohungen ana-
mnestisch-statistischer Art bei multipier Sklerose.
Was den Stand und die Arbeitsweise der Polysklerotiker angeht, so
scheinen die sozial niederen Stande mehr betroffen zu sein. Es ist jedoch hier
Vorsicht am Platz, da das vielen Aerzten zuganglicbe Krankenmaterial sich
vorzugsweise aus den niederen Standen zusammensetzt und femer entsprechend
der grosseren Anzahl von Menschen niederer Stande die Erkrankungshaufigkeit
auch absolut eine grossere sein muss. *
Betrachtet man die Arbeitsweise derjenigen Personen der niederen Stande,
die an multipler Sklerose erkranken, so finden sich gerne landwirtschaftliche
Arbeiter, Holzhauer, Forster, Arbeiter in Sagewerken, Zimmerleute, Fuhrleute,
Maurer, Monteure usw. erkrankt. Allen diesen Berufsschichten gemeinsam ist
die Arbeitsweise im Freien und zwar besonders die auf dem freien
Lande. Gewiss erkranken auch Leute in der Grossstadt; sehr haufig handelt
es sich aber bei diesen urn Personen, die frfiher auf dem Lande gelebt oder
sich langere Zeit aaf dem Land aufgehalten haben. Bei der vor dem Kriege
herrschenden Landfiucht der landlichen Bevolkerung ist es notwendig, die Er*
krankung der grossstadtischen Bevolkerung immer auoh daraufhin zu beachten,
ob nicht Landaufenthalt frfiher vorgelegen hat.
Bei sozial hoheren Standen kommt zweifellos multiple Sklerose ebenfalls
vor. Hier scheinen mir aber zwei Momente beachtenswert: gerade diejenigen
Teile der gebildeten Bevolkerung erkranken gerne an multipler Sklerose, die
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43. Wander?ers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 331
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sich riel im Freien bewegen, die Ansfldge machen oder grosse sportliche
Leistungen rornehmen.
Andererseits seheinen die Stubenhooker vor der Erkrankang an mnltipler
Sklerose fast gesichert.
Wenn wir das Lebensalter betrachten, in dem die multiple Sklerose er-
scheint, so lasst sich die Erkrankang als ein Leiden des kraftigsten Lebens-
alters bezeichnen. Vorzugsweise am Ende des zweiten and Anfang des dritten
Lebensjahrzehnts tritt die multiple Sklerose auf, wobei ausdriicklich darauf
hingewiesen wird, dass die zum Arzt fdhrenden ersten Krankheitsersoheinungen
sehr haufig nicbt den Beginn der Krankheit darstellen, sondem bei genauer
Nachforschung oft voriibergehende, kurzdauernde, schon jahrelang znriick-
liegendeKrankheitsersoheinungen (Sehstorungen, LahmungsArscheinungen usw.)
naobgewiesen werden konnen.
Auffallig ist, was das Lebensalter angeht, dass kleine Kinder und Greise
von einer Erkrankung an multipier Sklerose in der weitaus iiberwiegenden
Mehrzahl aller Falls versohont bleiben. Gerade diejenigen Jahresschichten er-
kranken an multipier Sklerose, die in ihrer korperlichen Beweglichkeit am
besten gestellt sind und die fur ihren Bewegungsdrang auoh am moisten freie
Zeit zur Verfiigung haben.
Man konnte dagegen einwenden, dass Kinder, etwa vom 7. bis 15. Lebens-
jahr auffallend selten an multipler Sklerose erkranken und dass dooh bei ihnen
sowohl die korperliche Beweglichkeit wie auch die Verfiigung uber ihre Zeit
mindestens ebenso gunstig liegt, wie bei den Schichten vom Ende des zweiten
und Anfang des dritten Lebensjahrzehnts. Demgegeniiber ist zu betonen, dass
naoh allem, was wir iiber die lange „initials Latenz w der multiplen Sklerose
wissen, die arztlich erkennbaren und zum Arzt fiihrenden „ersten w Krankheits-
erscheinungen erst vom 16. oder 17. bis zum 25., 26. Lebensjahr aufzutreten
brauohen und trotzdem der Keim der Erkrankung sohon innerhalb des 7. bis
15. Lebensjahres aufgenommen worden sein konnte.
Besteht eine Erklarungsmoglichkeit fiir das eben Dargelegte?
Wenn die multiple Sklerose eine Infektionskrankheit ist, so miissen wir
uns uberlegen, in weloher Weise die Krankheit dbertragen wird, wie der
Krankheitskeim in den Menschen hineingelangt?
Eine Uebertragung der Erkrankung von Mensch zu Mensch ist ganz
gewiss ausgeschlossen, dafiir bestehen keinerlei Anhaltspunkte.
Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Krankheitskeim durch Aufnahme
mit der Nahrnng oder mit der Luft, durch Beriihrung mit Gebrauchsgegen-
standen oder mit Abfallstoffen den Monsohen befallt, es fehlen im grossen und
ganzen alle Beobachtungen uber Erkrankungen am selben Ort und zur selben
Zeit, uber endemisches oder epidemisohes Auftreten; die ausserordentlioh sel-
tenen familiaren Erkrankungen diirfen hier gerade wegen ihrer Seltenheit
ausser Berucksichtigung bleiben.
Als eine weitere Uebertragungsmdglichkeit kommt die duroh lebende
Krankheitsubertrager in Betracht.
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332 43. Wandervers. der Sodwestdeotschen Neorologen o. Irrenarzte.
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Man konnte da an die Uebertragong dorch Haostiere denken, jedoch
konnte Vortr. bei anamnestisehen Nachforschongen keinerlei Hinweis auf eine
Moglicbkeit finden.
in neuerer Zeit hat man immer mehr die Bedentang gewisser Insekten far
die Uebertragong der verschiedensten Infektionskrankheiten kennen gelernt. Nicht
nor beimMenschen (Malaria iibertragen duroh Anopheles, Fleckfieber iibertragen
dorch Kleiderlaose, Schlafkrankheit iibertragen durch Glossina palpalis, afrika-
nisches Riickfallfieber iibertragen dorch eine Zeckenart, Gelbfieber obertragea
dorch Stegomyia osw.), sondern aoch beimTier werden Krankheiten (Babesiosen,
Nagana, Hdhnerspirochatose osw.) dorch Insekten verschiedener Art iibertragen.
Vorhin worde schon daraof hingewiesen, dass bei der Entstehung der
moltiplen Sklerose anscheinend der Aofenthalt ond das Leben in der freien
Nator eine Rolle spielt. Wir ddrfen also vielleicht annehmen, dass alle die-
jenigen Insekten, die im menschlichen Gemeinscbaftsleben bei engem Zo-
sammensein vorkommen, Laose, Flohe osw., fiir das Zostandekommen der
moltiplen Sklerose onwesentlioh sein konnten. Wir worden damit aof eine be*
sondere Art von Insekten hingewiesen.
Von diesen Ueberlegongen aosgehend hat Vortr. zo erforschen gesocht,
ob nicht in der Vorgeschichte der Polysklerotiker Erlebnisse vorkommen, die
einen Hinweis aof Uebertragong dieser Erkrankong dorch Insekten geben
worden. Bei 21 von bis jetzt gesammelten 43 Fallen von moltipler Sklerose,
also bei nahezo 50 pCt., findet sich in der Vorgeschichte angegeben, dass sie
frdher von Zecken befallen worden oder dass sie mit der Hand Zecken an sich
selbst, an anderen Menschen oder an Tieren entfernt ond zerqoetscht haben.
Wahllos alle erreichbaren Falle worden vom Vortr. befragt; aoch die schon
viele Jahre bestehenden Falle, bei denen nicht selten das Gediichtnis etwas
gelitten hatte, worden anamnestisch ontersocht, obwohl jabei der vorhandenen
Demenz eine negative Angabe keine bindende Kraft besitzen kann. Dem Vortr.
standen im wesentlicben nor Klassen der sozial niederen Stande zorVerfdgong.
Es darf wohl angenommen werden, dass bei ihnen ein Zeckenstich, der ganz
schmerzlos verlaoft, oft kaom beacbtet wird ond im Gedachtnis deshalb wohl
aoch kaom haften bleibt. Aoch ist die Haotpflege ja natorgemass in diesen
Bevolkerongsschichten nicht so got wie bei den sozial hoheren Klassen.
Die Gegenprobe an nicht-polysklerotischen Personen der gleichen Alters-
ond Bevolkerongsklasse ergab 10 pCt. positive Ergebnisse.
Die Feststellong der Zeit des Zeckenbisses oder der Zeckenzerqoetschong
begegnet natorgemass Schwierigkeiten, da Aofzeichnongen von den Kranken
nie gemacht worden ond bei der Geringfiigigkeit des Erlebnisses das genaoe
Datom nioht im Kopf behalten worde. Immer lag der Zeckenbiss vor der Er¬
krankong ond zwar aoffallenderweise sehr haofig verbaltnismassig lange Zeit,
einige Jahre vor dem Aoftreten der ersten Krankheitserscheinongen.
Es darf dies nicht Wonder nehmen, wenn man den schleichenden Beginn
der moltiplen Sklerose mit ihrer verhaltnismassig langen initialen Latenz be-
trachtet. Ferner miisste ja aoch, wenn der Zeckenstioh tatsachlich etwas mit
der moltiplen Sklerose zo ton hat ond die Erkrankong nach einer ganz korzen
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43. Wandervers. der Sddwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 333
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Inkubationszeit auftreten wurde, der Zasammenhang zwischen Zeckenstich bzw.
Zecken zerquetschung and mnltipler Sklerose scbon lange bekannt sein. Das
ist aber nicht der Fall. Es bestehen also bloss zwei Moglichkeiten: entweder
der Zeckenstich hat nichts mit der multiplen Sklerose za tan oder die Erkran-
kang an mnltipler Sklerose tritt langere Zeit nach dem ursaohliohen Zecken¬
stich anf. Nebenbei sei nur erwahnt, dass das Ansbleiben der Erkrankong an
mnltipler Sklerose nach einem Zeckenstich nicht als Gegenbeweis gegen einen
ursachlichen Zasammenhang zwischen Zeckenstich and multipler Sklerose ver-
wendet werden darf.
Aus der Geschichte der Ursachenlehre der nervosen Krankheiten liessen
sich hier Vergleiche heranziehen. Bei der ganz kurzen Zwischenzeit zwischen
Diphtheric and der postdiphtherischen Lahmung ist der ursachliche Zusammen-
hang anvorkennbar. Bei der Chorea postinfectiosa wird ebenfalls noch der Za¬
sammenhang mit der fruheren Infektionskrankheit klar erkennbar. Aber schon
bei der Schlafkrankheit war man sich langere Zeit fm Unklaren daruber, ob das
anfangliche Trypanosomenfieber mit dem spateren psychisch-nervosen Krank-
heitsstadiam zusammenhinge. Beide Stadien waren friiher als voneinander za
trennende Krankheiten tot allem auch deshalb aufgefasst worden, weil der
zeitliche Zwischenraom zwischen den beiden Stadien oft ein recht grosser war.
Wird endlich die zeitliche Entfernung der psychischen oder nervbsen Krank-
heitserscheinungen von der ursachlichen Infektion sehr gross, so kann es Jahr-
zehnte lang dauern, bis der ursachliche Zasammenhang sicher klargestellt ist.
Ein klassisches Beispiel hierfur sind die der Geschichte angeborenden Kampfe
bezuglich des ursachlichen Zusammenhangs zwischen Syphilis einer- und
Tabes bzw. Paralyse andererseits.
Die Befragung nach den Zeckenstichen hat Yortr. immer in der Weise
vorgenommen, dass er nicht unmittelbar darauf losfragte, ob der Kranke von
einer Zecke gestochen worden sei. Vielmehr wurde nach einleitenden Fragen
dber Beschaftigung auf dem Land, mit Haustieren, Aufenthalt im Wald, Be-
arbeitung von Holz usw. festzostellen gesuoht, ob der Kranke dberhanpt
wusste, was Zecken sind. Nicht sei ten erwiderte auf solche Fragen der Kranke
lachelnd von sich aus, das kenne er sehr wohl, er sei ja schon einmal von
einer Zecke gestochen worden. Damit darf man sich aber nicht begndgen, man
muss sich aach eine Beschreibang des stechenden Insekts geben las sen. Bei
negativem Ergebnis der Befragang wird man sich vergewissern miissen, ob
der Kranke Zecken dberhaupt nicht kennt, oder ob sie ihm nur dem Namen
nach unbekannt sind. Darch Vorzeigang von Bildern, darch Sohilderung des
Verbaltens der Insekten l^sst sioh dies ja mit Leichtigkeit feststellen. Die
Kriegszeiten brachten es mit sich, dass dem Vortr. Falle von mnltipler Sklerose
aus den verscbiedensten Teilen Deutschlands zugingen. Die Benennung der
Zecken ist provinzial ausserordentlich verschieden (Zack, Zwack im Elsass,
Waldbock im Thuringischen, Tacke im Hannoverschen usw.).
Die anamnestischen Erhebungen mussen aach darauf ausgedehnt werden,
ob jemand mit der Hand Zecken bei anderen Menschen oder bei Tieren aus
der Haut entfernt und mit den Fingem zerquetscht hat. Ein solche9 Vor-
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33 4 43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
kommnis wurde auch unter den positiven Fallen vermerkt. Genau mussten
natiirlich auch die zeitlichen Verhaltnisse des Zeckenstiches oder der Zer-
quetschung mit der Hand beobachtet werden. Als positiv konnte ein Fall nur
bezeichnet we'rden, wenn das Erlebnis mit den Zecken sicher vor alien Krank-
heitserscheinungen stattgefunden hatte.
In einigen (4) meiner negativen Falle wurden „Wespenstiohe u angegeben.
Vortr. ist sich sehr wohl bewusst, dass die auffallende Haufigkeit des
Zeckenstiches und der Zerquetschung der Zecken in der Vorgeschichte seines
Materials zufallig sein und auf der geringen Zahl der bisherigen Unter-
suchungen und der sozialen Gleichartigkeit der Falle beruhen kann.
Immerhin scheinen dem Vortr. die bisherigen Ergebnisse doch wichtig
genug, um als Richtlinien fiir kiinftige anamnestisch-statistische Unter-
suchungen zu dienen.
(Demonstration von Praparaten der Tierimpfungen im Nebenzimmer.)
(Die Falle werden spater ausfiihrlich veroffentlicht werden.)
(Eigenbericht.)
A ussprache.
Herr Ph. Kuhn-Strassburg i.E.: Abgesehen von einigen weiteren erfolg-
reichen Verimpfungen bei frischen Fallen von multipler Sklerose haben Steiner
und ich folgende Fortschritte zu verzeichnen:
Mittels der Levaditimethode fanden wir die Spirochaten in den Lebern
der Tiere von drei unserer veroffentlichten vier Falle. Wir sahen sie nicht
nur in den grosseren Gefassen, sondern auch in den Kapillaren, die manch-
mal vollgestopft sind.
Wir beobachteten die Spirochaten nicht nur bei den geimpften
Kaninchen, sondern auch bei den Meerschweinchen. Damit halten
wir den Einwand fiir widerlegt, dass es sich um harmlose Parasiten handelt,
die den Kaninchen eigentiimlich sind. Wenn sie nicht aus den kranken
Menschen stammen, so mussten sie sowohl imMeerschweinchen wie im Kaninchen
vorkommen. Das ist zwar unwahrscheinlich, liegt aber imBereich desMoglichen.
Wir beschranken uns nach wie vor darauf, unsere sicheren Beobachtungen mit-
zuteilen. Auch der von Siemerling mitgeteilte Befund von Spirochaten im
Gehirn eines an multipler Sklerose Verstorbenen geniigt uns noch nicht, um
unsere Spirochaten endgultig als die Erreger der Krankheit zu bezeichnen.
Bei unseren Impfversuchen legen wir den grossten Wert auf die Auswahl
ganz frischer Falle von wenigen Monaten Krankheitsdauer. Alte Falle sind
ziemlich aussichtslos, was wir bei Nachpriifungen zu beachten bitten.
18) Herr Bet he-Frankfurt a. M.: „Theoretisches und Praktisches
zur Frage der Nervennaht 44 .
Vergleichende Versuche iiber die verschiedenen Arten der Ausfiihrung der
Nervennaht, welche nachMoglichkeit an vergleichbarenNerven desselbenHundes
ausgefiihrt wurden, ergaben folgendes: Durchgreifende Nahte sind ungiinstig,
da sie ganze Nervenbiindel abschniiren. Diese Methode scheint auch fast voll-
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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen a. lrrenarzte. 335
kommed aufgegeben zu sein. Die viel aussichtsreichere paraneurale Nabt wird
zum Teil mit (wenig zahlreichen) weit ausgreifenden Nahten, die dann meist
stark angezogen werden, ausgefuhrt, zum Teil mit zahlreichen Nahten, die das
Perineurium moglichst kurz fassen. Letztere Methode gibt wesentlich bessere
Resaltate. Die Narben sind glatt, die Neurombildung und Faserverwirrung ist
meist gering, Wachstumsverirrungen (Keulen, Spiralen und riicklaufige Fasern)
fehlen fast ganz und die meisten Fasern finden Anschluss aneinander. Da-
gegen tritt beim starken Anziehen weitausgreifender Nabte eine pinselartige
Auseinandertreibung der Faserbiindel an den Querschnitten ein, so dass nur
die zentralgelegenen Bundel glatten Anschluss erreichen. Die randstandigen,
umgebogenen Bundel des zentralen Stumpfs wuchsen zum Teil riickwarts, zum
Teil erschopfen sie sicb in der Bildung von zahlreichen Keulen und Spiralen.
Neurombildung und Faserverwirrung sind hior sehr bedeutend. Dementspreohend
ist das physiologisohe Resultat and die Neurotisation des peripheren Stumpfes
bei weitausgreifenden Nahten ungiinstiger.
Die Angabe vieler Autoren, dass eine Einscheidung der Nahtstellen not-
wendig ware, oder wenigstens viel sichere Resultate ergebe, konnte nicht be-
statigt werden. Auch dann, wenn die umgebende Muskulatur in ausgiebigster
Weise zerfleischt war, traten ohne Tubulierung niemals bedrohliche Ver-
waohsungen ein. Das pbysiologische Resultat war bei der Einscheidung nie¬
mals gunstiger wie bei freiliegender Naht. Auch bei Tubulierung kommt es
nach Zerfleischung der Umgebung stets zu Verwachsungen an den Jtohrenden
und dem freiverlaufenden Nerventeil. VergleichendeVersuche fiber verschiedeie
Einscheidungsmaterialien ergaben die geringsten Verwachsungen bei Galalitb-
robren, welcbe meist in einigen Wocben resorbiert wurden, stiirkere bciKollodium-
rohren, die starksten bei Kalbsarterien. Die Reaktion vonseiten des Nerven
selbst und der Umgebung (Infiltrationen und Riesenzellenanbaufung) waren bei
GalalithrShren und Kalbsarterien mehrmals recht betrachtlich, bei Kollodium-
rftbren fehlten sie meist ganz. Kalbsarterien werden oft organisiert und fiihren
zu Bindegewebstumoren.
Haufig lasst man Patienten nach Nervennaht, besonders wenn sie unter
Spannung erfolgte, wocben-, ja monatelang in fixierenden Verbanden. Nach
dem Tierversuch muss dies als iiberflussig erscheinen, da die Nahtstelle schon
nach 5 bis 6 Tagen fest verwachsen ist.
Gegen die Einpflanzung von uberlebenden Nerven der gleichen Tierart
ist von Bielschowsky eingewandt worden, dass solche Transplantate nicht
mit ihrem spezifischen Gewebe an der Heilung beteiligt seien. Es muss dem
widersprochen werden, ebenso der Ansioht Bielsohowsky’s, dass es keine
Aohsialstrangfasem gabe. Die Ansicht Bielscbowsky’s, dass abgetdtete
Nerven auch anderer Tierarten die gleichen Dienste leisteten, konnte nicht be-
statigt werden. In meinen Versuchen wurden solche Nerven bisher immer
resorbiert und durch Gewebe des Wirts ersetzt.
Kirchner hat gegen die Transplantation den Ein wand erhoben, dass bei
diesem Operationsverfahren zwei Nahtstellen zu durchwachsen seien; jedeNaht¬
stelle gabe aber ein neues Hindernis. Der Vergleich zwischen einem Hund, bei
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336 43. Wandervers. der Siidwestdeutscben Neurologen u. Irrenarzte.
dem der linke Ischiadikus nur einmal durchschnitten und genaht, der rechte
Ischiadikus dagegen an vier Stellen durchschnitten und vernaht wurde, efgab
das Resultat, dass die vielfache Durchschneidung nicht ungiinstiger wirkt. Die
physiologiscbe Wiederberstellung (Auftreten der Sensibilitat und Motilitat)
geschah auf beiden Seiten fast gleicb scbnell und die Erregbarkeit der frei-
gelegten peripheren Stiimpfe war nabezu gleicb. Ebenso war die Neurotisation
rechts und links nicht verschieden. Dieses Resultat erklart sich daraus, dass
die Verheilung an alien Unterbrechungsstellen von Serien des lokalen Gewebes
geschieht. (Eigenbericht.)
19) Herr Goldstein berichtet iiber eigentiimliche „ringformige u
Gesicbtsfelddefekte bei Hirnvorletzten, die or gemeinsam mit Dr.Gelb
untersucbt hat. Perimetriert man fortlaufend von aussen nach innen, so fmdet
man bei gewissen Kranken ein ^peripheres Ringskotom“, das etwa die Grade
40 bis 60 einnimmt. Zwischen dem Ringskotom und der Aussengrenze des
Gesichtsfeldes liegt eine ringformige Zone, in der der Patient das Priifungs-
objekt sieht. Eine genaue Untersuchung ergab, dass es sich nicht urn abso¬
lute Skotome handelt, sondern dass es mdglich ist, durch starkere Reize
Empfindmigen innerhalb des „Ringes u hervorzurufen. Der Ring ist auf der
temporalen Seite gewohnlich starker ausgebildet als auf der nasalen. Er ist
hier breiter und amblyopischer und manchmal uberhaupt nur temporal als
Sichel nachweisbar. Der „Ring“ hat bei verschiedenen Untersuchungen unge-
fahr dieselbe Lage in Beziehung auf die Aussengrenze des Gesichtsfeldes und
entspricht deshalb bei verschiedenen Aussengrenzen des Gesichtsfeldes ver¬
schiedenen Partien der Netzhaut. Es handelt sich also uberhaupt nicht
um eigentliche Skotome. Engt sich die Aussengrenze infolge Ermiidung
ein, so wird der Ring breiter und amblyopischer und umgekehrt bei Erholung.
Diese Ermiidung tritt sehr schnell bei fortlaufender Untersuchung ein, und
dadurch kann es zu sehr verschiedenen Gesichtsfeldbildern kommen, je nach-
dem man in der Richtung des Uhrzeigers oder in der entgegengesetzten Richtung
perimetriert. Bei Benutzung eines grbsseren Objektes liegt der Ring zentraler,
bei Benutzung eines kleineren mehr peripher. Bei zentrifugaler Objektfiihrung
kommt es vor, dass das Objekt, wenn es einmal verschwunden ist, uberhaupt
nicht mehr gesehen wird, so dass die sonst erhaltene ringformige Ausseuzone
gar nicht oder nur unvollkommen feststelibar ist. Alle angefiihrten Momente
gelten sowohl fur Perimetrie mit Weiss, wie fur Farben.
G. sieht in diesen Erscheinungen die Folgen einer Ermiidbarkeit des Seh-
organes, die sich in einer abnormen Herabgesetztheit der Leistungsfahigkeit bei
seiner Inanspruchnahme, einer aussergewohnlich starken Abnutzung der Seh-
substanz aussert. Dadurch lassen sich alle erwahnten Eigentvimlichkeiten er-
klaren. Dadurch erklart sich auch die Abhiingigkeit der Giite der Leistungen
vom Allgeraeinzustand und eine Reihe von anderen Tatsachen, die G. noch
erwahnt. Er bringt die Storung in Beziehung zu den von Wilbrandt und
Saenger beschriebenen Erscheinungen des oszillierenden Gesichtsfeldes, ist
aber der Ansicht, dass dieser Ausdruck nicht ganz den Tatsachen gerocht wird.
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43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 337
Es handelt sich nicht am eine Oszillation im wirklichen Sinne, bei der Starke
and Aasdehnung der Amblyopic des Skotoms in alien Netzhaotstellen die
gleiche ist, sondern ihre Starke ist recht versohieden and abhangig Ton der
Netzhautpartie, die nntersacht wird. Die Starke und Aasdehnung wird amso
grosser, je mehr man sich der Aussengrenze des Gesichtsfeldes nahert. Nor
dadurch kommt es ja zu dem ringformig aussehenden Gesiohtsfelddefekt. Der
Vortragende ist deshalb geneigt, nicht einfach yon einer Oszillation za spreohen,
sondern von einer abnormen Abnutzung des ganzen Sehorganes
unter dem Einfluss des Reizes. Die scheinbare Oszillation beim fort-
laafenden Perimetrieren auf einem Meridian kommt: 1. durch die Verschieden-
heit der normalen Ansprechbarkeit der verschiedenen Zonen zastande, deshalb
tritt iiberhaapt, naohdem eine periphere Zone unerregbar geworden ist, in einer
zentraleren das Objekt wieder auf, da die gleiche Herabsetzang der Anspreoh-
barkeit des ganzen Gesichtsfeldes den zentraleren Partien weniger schadet als
den peripheren; 2. dadurch, dass mit fortschreitender Perimetrie die Ermddang
auf der noch nicht gereizten Netzhaut dauernd zunimmt. Deshalb tritt schliess-
lich auch in den zentraleren Partien bei Weiterreizung peripher gelegener and
noch sehender eine so starke Herabsetzang der Leistangsfahigkeit auf, dass
wieder eine blinde Stelle entsteht a. s. f. Die Aatoren sehen in der Storung
den Ausdruck einer Schadigung des Sehorganes, wahrscheinlich durch eine
Ernahrungsstorung. Sie wollen diese speziell mit dem zentralen Sehapparat in
Beziehang bringen, aach deshalb, weil sie sie besonders bei Hinterhaupts-
▼erletzten gefunden haben. Far das Vorliegen diner Ernahrungsstorung spricht
der Umstand, dass es sioh meist am Falle handelt, bei denen auch sonst eine
Stdrung des yasomotorischen Regulationsmechanismus vorliegt.
Eshandelt siohumorganischbedingteStorangen, nicht am hysterisohe.
Die Storungen haben eine grosse praktische Bedeutung, weil sie ihre Seh-
fahigkeit bei der anhaltenden Inanspruchnahme des Aages and damit ihre
Leistungsfahigkeit in starkem Masse beeintrachtigen.
(Ausfuhrliche Mitteilung, in der auoh die Literatar berdcksichtigt werden
wird, erfolgt demnachst.) (Eigenberioht.)
20) Herr Gierlich-Wiesbaden: „ Lymphozytose and Neatropenie
bei Kriegsnearotikern u .
Zur besseren Beurteilung der Krankheitsansserangen der Nearotiker
untersuchte Vortragender das weisse Blatbild, sowie mittels der Adrenalin-
nod Pilokarpinprobe das Vorhandensein von Sympathikotonie and Vagotonie.
Nach sorgfaltiger Ausscheidang aller infektiosen Erkrankangen, bei denen
Lymphozytose darch tozische Einflusse vordbergehend nachgewiesen worde,
fand sich bei 230 Neurotikern in 80 pCt. Lymphozytose and Neatropenie, das
sogenannte Kocher’sche Blatbild. Die Lowi’sche Adrenalinprobe war 22 mal,
die Pilokarpinprobe 25 mal positiy. 26 yon den 230 Fallen zahlten za den
Basedowoiden. Status thymicolymphaticus war bei 10 Fallen deatlich aasge-
pragt. Die anderen Diathesen, Dogeneratio adiposogenitalis, Eanuchoidismus,
Asthenic Stiller’s asw. warden nur yereinzelt angetroffen. Das Kooher’sche
Arehlt f. Ptychiatri*. Bd. 60 . Heft I. 22
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338 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
Blutbild steht somit ebensowenig in Abhangigkeit von Sympathikotonie, Vago¬
tonia, Basedowoid, wie vom Status thymicolymphaticus, mit dem es vielfaoh
identifiziert wird, und anderen Diathesen. Das, wie Kocher meinte, dieses
Blutbild fur den Morbus Basedowii charakteristisch sei, gilt heute als wider-
legt. Vortragender kommt somit zu dem Schlusse, dass die endogene Lympho-
zytose und Neutropenie eine selbststandige Krankheitsanlage darstellt. Das
Blutbild entspricht dem eines Kindes von 10—12 Jahren. Es besteht ein In-
fantilismus der blutbildenden Organe, der eine Minderwertigkeit des Gesamt-
organismus zur Folge hat. Bauer spricht von degenerativem Blutbild auf der
Grundlage eines Status degenerativus. Verursacht ist das Blutbild durch eine
Dysfunktion der Blutdriisen, eine Dyshormonie. Es ist stets verbunden mit
einer grossen Labilitat des Nervensystems, einer neuropathischen Veranlagung.
Lymphozytose und Neutropenie sind somit ein wertvolles objektives Krankheits-
zeichen zur Beurteilung der Neurotiker. (Eigenbericht.)
21) Ilerr Stern-Strassburg i. E.: „Ueber die Storung der motori-
schen Geschicklichkeit bei Imbezillen“.
Wenn man die Ergebnisse der allgemein iiblichen Intelligenzpriifungen
mit der praktischen Leistungsfahigkeit eines Mannes vergleicht, so finden sich
hiiufig ganz auffallende Widerspriiche. Leute, die bei der Intelligenzprufung
schlecht abschneiden, erweisen sich oftmals im Leben noch als durchaus
brauchbar. Worin hat dieser Umstand seine Ursache? Doch wohl in erster
Linie — es kommen noch andere Faktoren in Betracht — darin, dass die In¬
telligenzprufung ganz andere psychische Funktionen untersucht, als diejenigen,
welcho fiir die Praxis in Betracht kommen. Mit Recht hebt Otto Lip mann
in einer kiirzlich erschienenen Arbeit hervor, dass die gewohnliche Intelligenz¬
prufung den Gelehrten und nicht den Mann der Praxis zu priifen geeignet sei.
Er trennt daher die „theoretische u von der „ praktischen u Intelligenz und
fordert die Untersuchung der letzteren fiir die Beurteilung der praktischen
Brauchbarkeit. Er gibt auch bereits einige Hinweise, wie dies geschehen kann,
wobei er sich ziemlich eng an den kiirzlich von der Preussischen Akademie
der Wissenschaften herausgegebenen Bericht iiber eine Arbeit von Kohler:
„Intelligenzpriifungen an Antropoiden u halt. Ich kann leider auf diese inter-
essanten Untersuchungen nur kurz hinweisen.
Definieren wir die natiirliche Intelligenz ganz allgemein mit 'William
Stern als die „allgemeine Fahigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst
auf neue Forderungen einzustellen, als allgemeine geistige Anpassungsfahig-
keit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens u , so will mir scheinen,
dass sich dieser Intelligenzbegriff in verschiedene Faktoren zerlegen lasst, oder
wenn man ihn, wie ich dies vorschlagen mochte, enger fasst, dass zur Be-
stimmung der praktischen Leistungsfahigkeit noch einige andere Faktoren hin-
zutreten miissen, und unter diesen scheint mir nun die Priifung der motorischen
Geschicklichkeit eine besondere Stellung einzunehmen. Wir konnen die mo-
torische Geschicklichkeit definieren als die Fahigkeit, Bcwegungen sicher,
schnell und zweckentsprechend auszufiihren.
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43. Wandervers. der Sfidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 339
Bei^Imbezillen linden sich nan weitgehende Storungen der motorischen
Gesohicklichkeit; die Tdlpelhaftigkeit vieler Schwachsinniger ist ja bekannt,
und anch ihr bidder Gesichtsausdmck scheint znm grossten Toil seine Ursache
in der man^elnden Beherrscbnng der Gesiohtsmuskulatur zu baben. Es fallt
nan oftmals auf, dass ancb ganz einfacbe Bewegnngen eine mangelnde Ge-
scbioklichkeit verraten. Um dies eingehend zu prfifen, babe ich auf Anregung
and in Gemeinscbaft mit Herrn Dr. Steiner, nnter Mitbilfe von Herm
Dr. Rot backer ein Schema zur Prdfung der Psychomotilitat aufgestellt; wir
gehen dabei so vor, dass wir die Yersuohsperson zunachst eine Reihe ge-
wohnter Bewegnngen eines Gliedes ausffihren lassen. Dann gehen wir zn un-
gewohnten fiber and lassen sobliesslich Bewegnngen von zwei and drei
Gliedern gleichzeitig aasffihren. Das Schema ist dabei an Bewegnngen ange-
passt, welcbe in der Praxis des taglichen Lebens wirklicb vorkommen. Gerade
dies ersobeint ffir die Benrteilung der praktischen Verwendbarkeit erforderlich.
Es fallt nan auf, dass eine grosse Anzahl von Scbwacbsinnigen nicbt in derLage
ist, drei, oft sogar scbon zwei Bewegnngen gleichzeitig aosznffibren, dass oft
ungefordert Mitbewegungen gemacht werden; einige erweisen sicb als lernfahig
and fibbar, bei anderen trifft dieses nicbt oder nur in sebr geringem Masse zn.
Ausser diesen eben skizzierten Untersuohangen kommt die Feststellang
der Bewegungsgesohwindigkeit and der Bewegangssicberbeit in Betracht. Zur
Prfifang der ersteren liess icb einen Karbelapparat anfertigen, der die Dauer der
Kurbelbewegung am Cbronoskop misst. Anch hier zeigte sich eine wesent-
liche Yerlangerung der erforderlicben Zeit bei Scbwachsinnigen. Die Bewe-
gungssicherheit der Hand warde dad arch gemessen, dass ich die Versuchs-
person vor eine Bleobtafel setzte, ans der verschiedene Buobstabon and Figaren
ansgeschnitten waren, and sie anwies, mit einer Metallnadel duroh die Lficken
hindurobzufahren. Die Berfihrnngen der Nadel und des Metalles scblossen
einen Stromkreis and wurden am Kymographion aufgezeichnet. Die Zabl der Be-
rfibrnngen und erforderliohe Zeit ergeben ein Mass ffir die Bewegangssicherbeit
der Hand. Anch hier ist die Leistung der Scbwacbsinnigen wesentliob schleohter.
Neben diesen Methoden baben wir nnn nocb die Prfifung der komplexen
Gesohicklicbkeit mit Hilfe von Geschicklicbkeitsspielen vorgenommen. Anch
bier ergeben sich interessante Resultate.
Yergleicht man die Ergebnisse der gescbilderten Yersuchsanordnung mit
dem Ansfall der Intelligenzprfifang, so zeigen sicb deatliohe Widersprfiche
and zwar in dem Sinne, dass die Kranken, die sicb im Leben als brauchbar
erweisen, selbst bei schlecbtem Ausfall der Intelligenzprfifang, hier meist nocb
recht gat absohneiden, so dass diese Untersuehungen, neben anderen, fiber die
ich an anderer Stelle aasffibrlioh bericbten werde, ein besseres Bild von der
praktischen Leistungsfahigkeit des Untersuchten ergeben. Die bisherigen
Methoden der Intelligenzprfifang bedfirfen also, wenn diese ibre Aufgabe er-
ffitlen soil, ans ein Mittel zur Bearteilung der Yerwendbarkeit eines Kranken
an die Hand zu geben, eine Erganzung duroh andere Methoden.
Unter diesen spielen, wie mir scheint, die hier vorgetragenen eine
wicbtige Rolle. (Eigenbericbt.)
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340 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
22) Herr Wollenberg: „Zur Vorgeschichte der Kriegsneuro-
tiker u .
Der Vortragende unterscheidet bei der Kriegshysterie einerseits die vor-
iibergehenden Hysterismen, wie Zittern, einzelne Anfalle, Sprach-
storungen usw., bei denen von vornherein eine Heilungstendenz vorhanden
ist T andererseits die hysterischen Dauerformen, also die schweren Sto-
rungen des Ganges, hartnackige Neigung zu Krampfen, Zittern und Tics usw.,
welche diese Heilungstendenz nicht haben und sich gewissermassen „ein-
fressen u , wenn sie nicht aktiv behandelt werden.
Die Hystorismen konnen rein exogen sein und bei Gesunden allein durch
Kriegserlebnisse hervorgerufen werden. Natiirlich kommen auch sie bei En-
dogendisponierten besonders leicht vor. Dagegen sind die Dauerformen in
ibrer grossen Mehrzahl nachweisbar endogen bedingt. Es bleiben aber auch
hier immer einige Falle iibrig — und Jeder von uns wird solche im Gedachtnis
haben —, in denen die tiblichen Naohforschungen keinen Boweis fiir Endogenie
ergeben. Es fragt sich nun, ob in der Tat solche Falle schwerer
Hysterie bei Nichtveranlagten vorkommen, mit anderen Worten,
ob die seinerzeit von Hoche ausgesprochene Meinung, jeder-
mann sei hysteriefahig, ohne Einschriinkung gilt.
Wir beantworten die Frage der Endogenie gewohnlich auf Grund der
Anamnese, die wir von dem Kranken selbst und den uns gerade zuganglichen
Personen seiner (Jmgebung erhalten, und der Erhebungen, die wir auf schrift-
lichem Wege bei den Heimatsbehorden anstellen. Dariiber hinaus ist nach
meiner Kenntnis bisher nur Laudenheimer gegangen, welcher vor 3 Jahren
hier fiber „die Anamnese der sog. Kriegspsychoneurosen“ gesprochen hat. Er
hat aber, dem Zweck seiner Untersuchung entsprechend, die Hysterischen nur
nebenher behandelt und auch damals nur eine kleine Zahl von Fallen benutzen
konnen.
Ich habe deshalb einen der jiingeren Aerzte meines Lazaretts, den Feld-
unterarzt Kossler, veranlasst, 100 Krankenblatter von Kriegshysterikem auf
das Vorhandensein von endogener Veranlagung durchzusehen und fiber die
dort als ganz gesund und nicht veranlagt Bezeichneten am Wohnort selbst
persdnlich Ermittelungen anzustellen. Von diesen 100 Fallen, von denen
iibrigens 50 pCt. nicht aktiv gedient hatten, sollte nach den Krankenblattern
bei 11 eine endogene Veranlagung durchaus fehlen. Die Ermittelungen zu
Hause ergaben nun ohne weiteres fiir 6 Falle das Gegenteil; es waren Ziige
▼on Minderbegabung, abnorme Weichlichkeit, Erregbarkeit, Widerspenstigkeit,
auch friihere krankhafte Reaktionen festzustellen. In 2 Fallen hatte sich Zit¬
tern an fieberhafte Erkrankungen angeschlossen, sie hatten also etwas Beson-
deres an sich, 1 Fall war ein alter Rentenempfanger, und von den 2 iibrig
bleibenden machte der eine auf den Besucher doch einen recht psychopathi-
schen Eindruck, wahrend bei dem anderen von Anfang an psychotische Merk-
male sehr stark hervorgetreten waren. Ausserdem ergaben sich bei Ver-
gleichung der schriftliohen und mfindlichen Auskiinfte erhebliohe Widerspriiohe
hinsichtlich des Gesundheitszustandes der anderen Familienmitglieder. Ueber
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43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 341
die Einzelheiten der Untersuchungen wird Herr Kossler in einer Arbeit dem-
nachst berichten. Jedenfalls soheint mir das Mitgeteilte die Folgerung zu
rechtfertigen, dass man mit der Annahme hysterischer Dauerformen ohne En-
dogenie sehr vorsichtig sein muss. Ioh glaube an solche nicht recht und bin
der Meinung, dass sie immer seltener sein werden, je eifriger man nachforscht.
Hierfur stebt aber der besohrittene Weg der persdnlicben Erkundigung allein
zur Verfugung nnd dieser ist mfihsam, auoh wenn die Naobforscbungen wie
bei *uns auf die nahere Umgebung des Standortes besohrankt werden. Die
Sacbe ist von praktisober Wichtigkeit, weil in einer Arbeit von Nonne neuer-
dings mit Recht das Vorbandensein oder Fehlen der Endogenie als Anhalts-
punkt fur die Benrteilung dor weiteren militarisohen Leistungsfahigkeit der
Leute bezeicbnet worden ist. (Eigenbericht.)
23) Herr Haenel: „Zur pbysiologisohen Meobanik der
Wfinsohelrute“.
In den mancherlei Arbeiten, die sicb neuerdings mit der Wiinscbelrute
beschaftigen, ist bisber der Bewegnngsvorgang selbst, der sioh an ihr abspielt,
noch kaum einer naheren Betrachtung unterworfen worden, Ibn zu studieren
ist aber scbon deshalb notig, weil wir dadurch allein Aufschluss erhalten
konnen fiber die Quelle der Kraft beim Rutenausschlag; das Missverhaltnis
zwischen der Geringffigigkeit der strablenden oder sonstwie gearteten Erdkraft
und der Heftigkeit der Ausschlagsbewegung ist ja einer der auffalligsten Mo-
mente in der ganzen Wfinscbelrutenfrage.
Die Wfinschelrute bat von alters her stets eine gleiche Form: ein Gabel-
zweig aus frischgeschnittenem elastischen Holze mit zwei gleichlangen und
mdglichst gleichstarken Gabelenden, und einer unpaaren kfirzeren Gabelspitze.
Die Art des Holzes ist gleichgfiltig. Haufig sind auch Ruten, in der gleicben
Form gebogen oder gedreht, aus Eisen-, Kupfer-, Messing-, Silberdrabt in
Gebrauoh. Das Material ist mebr oder weniger Gescbmackssacbe des einzelnen
Rutengangers.
Wie wird diese Rute gebandbabt? Folgende Regeln beobachtet der
Rutenganger:
1. Er legt die Oberarme fest an den Oberkorper an.
2. Er iasst die Rute mit Untergriff, d. h. mit supinierten Handen.
3. Er bait sie mit der Spitze horizontal nach vorne.
4. Das Wichtigste: Er spannt sie, d. h. spreizt die Gabelenden ausein-
ander, wozu je naoh der Starke und Elastizitat des Materials eine grossere
oder geringere Kraft aufgewandt werden muss. Und zwar sind dabei folgende
Muskeln tatig:
a) Die Muskeln des Scbultergurtels adduzieren die Oberarme.
b) Die Beuger am Oberarm flektieren die Unterarme reohtwinkelig.
c) Die Rotatoren am Scbulterblatt drehen die Ober- und damit zugleich
die Unterarme nach auswarts, dem Widerstand der Rute entgegen.
d) Die jFingerbeuger suchen die an der Daumenwurzel sich stfitzenden
Gabelenden in die Handflache bineinzudrfioken.
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342 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
e) Die Supinatoren halten die Handflache nach oben und damit die
Gabelspitze nach vorne.
Diese letztere Aufgabe ist aber grundsatzlich anderer Art als: die Rate
zu spannen. Der Rutenganger weiss, dass die Rute in seiner Hand ausscblagen
will und soli, und dass er sie darin nioht hindern darf. Sie muss trotz der
Spannung in seinen Handen „spielen u . Mag er also auf die Muskelgruppen
a—d selbst erhebliohere Kraft aufwenden, die Supinatoren wird er nur so
wenig innervieren als notig ist, die horizontal Ausgangsstellung beizubehalten.
Er spart also unter einer ganzen Menge stark arbeitender Muskeln eine einzelne
Gruppe aus und halt sie in Minimalspannung; die Beobachtung lehrt, dass
dieser scheinbar so komplizierte Normalgriff des Rutengangers sich ohne gross®
Schwierigkeiten erlernt und sich bald von selbst einstellt.
Wahrend die Muskulatur des Rutengangers in dieser besonders gearteten
Koordination sich befindet, geht an der Rute folgendes vor: Die auseinander-
gedrangten Gabelenden streben kraft ihrer Elastizitat darnach, sich einander
wieder zu nahern. Sie suchen das zu erreichen an der Stelle des geringsten
Widerstandes und finden diesen dort, wo die Innervation am schwachsten ist:
bei den Supinatoren. Die Stellen, wo die Gabelenden ihfen Stiitzpunkt haben,
das erste Spatium interosseum, liegen bei supinierten Handen nach aussen,
also am weitesten von einander entfernt. Zwingt die Rute die Hande in Pro¬
nation, so erreicht sie ihr Ziel, die Entspannung, ohne dass die Arme ein¬
ander genahert zu werden brauchen, gewissermassen durch Ueberrumpelung:
Durch die Handdrehung wird bei unverriicktem Abstande auf beiden Seiten
urn eine halbe Handbreite der Abstand der Gabelenden vermindert; gentigend,
urn sie zur Ruhelage kommen zu lassen; diese ist bei der Pronation dann
natiirlich mit abwarts gerichteter Gabelspitze vorhanden: Die Rute hat aufge-
hort zu „arbeiten u , hat ausgeschlagen, und zwar ohne dass der Rutenganger
seine innervierten, gespannten Arm- und Handmuskeln losgelassen hat, also
scheinbar ohne, ja gegen seinen Willen. Das vorhergehende labile Gleich-
gewicht wurde noch dadurch begiinstigt, dass das Radio-Humeralgelenk als
ein Rollgelenk mit der am langen Hebelarm angehangten Last der Hand be¬
sonders leicht spielt. Der angehende Quellensucher spurt dies im „Arbeiten u
der Rute in seiner Hand als eine Art Eigenkraft, die dieser inne wohnt: er
halt sie mit festem Griff gespannt, seine Aufmerksamkeit ist auf die Spreizung
der Arme gerichtet, das Tasten der Rute naoh dem Locus minoris resistentiae
hat fast etwas von einem lebendigen Wesen an sich. Die Rute zieht auf- oder
abwarts, natiirlich, weil er sie auseinander zieht. Es ist in der beschriebenen
Mittellage fast schwerer, sie horizontal zu halten, als sie ausschlagen zu
lassen.
Es ist damit auch verstandlich, dass der Ausschlag um so heftiger er-
folgt, je fester der Rutenganger die Rute halt, d.h. spannt: ist erst dieSupina-
tionsstellung iiberwunden, so erfolgt der Uebergang in die Pronation mit einem
schnappenden Rucke, der um so kraftiger ist, je mehr die Elastizitat der Rute
beansprucht worden war, und in der Tat etwas Ueberraschendes, Gewaltsames
an sich hat.
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43. Wanderrers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 343
Die Frage nach der Herkunft der bewegen'den Kraft beim Aus-
scblag ist also dahin zu beantworten: sie staramt aus 2 Quellen, 1. der
spannenden Kraft der Armmaskeln, 2. dem Widerstand, den die
elastische Rute der Spreizung entgegensetzt. Die spezielle Form des
Ausschlages ist bedingt durch den Mechanismus des Handgelenks. Das labile
Gleichgewicht in der Ausgangsstellung ist ebenfalls die Folge zweier Mo¬
menta: eines psychisch-physiologischen, das einzig die Supinatoren nahezu
entspannt, lasst unter den iibrigen stark innervierten Muskeln des Armes und
eines anatomisch-physiologischen, das auf der leichten Rollbewegung
des Speichenkopfchens beruht. Das stabile Gleichgewicht ist die Folge
der plotzlichen Pronation, die die Gabelenden bis zur Entspannung
wieder einander nahert.
Es ist somit erklarlich, dass das Material der Rute als solches, ob Holz,
Draht, Stahl usw., gar keine bestimmende Rolle spielt, sobald ihm nur eine
gewisse Elastizitat inne wohnt. Der Vorgang des Ausschlages ist rein physio-
logisch-mechanisch; auf magnetische, hygroskopische oder sonstige Eigen-
schaften kommt es dabei gar nicht an.
Was wir bisher betrachtet haben, ist die von den Rutengangern am
haufigsten eingenommene Grundstellnng und der Normalausschlag nach unten.
Nun gibt es aber oine Reihe anderer Ausschlagsarten, die freilich selteu vor-
zukommen scheinen. Beim Ausschiag nach oben findet die Rute trotz
gleichbleibenden Armabstandes — was fur den subjektiven Eindruck immer
sehr wichtig ist — die Ruhelage dadurch, dass die Hande statt zu pronieren
in Ucbersupination geraten; auch dabei nahern sich die Gabelendon und
haben ausserdem die Moglichkeit, von ihrem Stutzpunkte an den Daumon-
wurzeln nach dem Zeigefinger zu abzugleiten und somit an Spannung zu ver-
lieren. Die Gabelspitze schlagt gegen die Brust und hat das Bestreben, sich
rnckwarts und abwarts bis zur Ruhelage nach unten weiter zu drehen: der
Anfang des „Rotierens u der Rute. Das mechanische Prinzip ist das gleiche
wie beim Normalausschlag abwarts. Bei Obergriff, der bei Holzruton etwas
Seltenes ist, fehlt das labile Gleichgewicht, wenn die Spitze nach vorn zeigt,
tritt aber ein, wenn die Grundstellung mit der Spitze nach hinten genommen
wird; dann stiitzen sich die Gabelenden an den Kleinfingerballen und worden
entspannt, wenn die Hand supiniert wird; die Folge ist der Ausschiag nach
oben und vorn. Wir sehen, dass bei diesen letzteren Bewegungsarten der Aus-
schlagswinkel von 90° schon gem iiberscbritten wird: schnellt bei heftigem
Ausschiag die Rute fiber die Senkrechte hinaus, so kann der Rutenganger den
naheliegenden Irrtum begehen, dass er, statt nunmehr nachzulassen, noch
fester „zupackt“, d. h. starker auseinander zieht und die fur einen Moment
ausgeschaltete Elastizitat der Rute damit von neuem weckt. Er hat dann den
Eindruck, dass sie sich trotz alien Widerstandes, d. h. in Wirklichkeit wegen
dieses seines Widerstandes, unaufhaltsam weiterdreht, und der Erfolg ist das
fur den Zuschauer so auffallende Rotieren der Rute. Bekanntlich kann der
Ausschiag gelegentlich so heftig sein, dass „es u die Rute dabei zerbricht, d.h.
der Rutenganger selbst sie, sobald er die missverstandene Bremskraft, die ja
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344 43. Wandervers. dor Sudwestdeutschen Neurologen a. Irrenarzte:
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in der Tat als Triebkraft wirkt, ubertreibt: sie reisst dann entweder an der
Spitz© anseinander oder knickt an den Stellen, die die starkste Durehbiegung
erfabren, d. h. dioht an den haltenden Handen ab.
lnsoweit ist an der Bewegung der Wdnschelrute nichts Mystisohes oder
Okkultes; dieses Gebiet beginnt erst, wenn man die Frage zu beantworten
sncht, weshalb an bestimmten Stellen im Gelande der Ansschlag erfolgt. Wir
wissen jetzt, dass der Ruteng&nger diesen nicht eigentlich erzengt, sondern
ntur die mechanischen Bedingnngen dafur in dem Muskel-Ruten-System schafft,
and ibn dann zul&sst. Es sind keine j^Greif*- oder Benge- oder Tast-
bewegangen (wie yon anderer Seite bebauptet wurde) dabei im Spiele, be-
zeicbnend ist die eigenartige Miscbnng zwischen Innervation and Erschiaffung
in eng zusammengehorigen Muskelgebieten. Das Naobgeben der Sapinatoren
kann dann hervorgernfen werden dnrch allerhand, was die Anfmerksamkeit
des Rntengangers fesselt oder ablenkt, uberbaupt andert; sei dies nan die
Empfindang far irgend welcbe „Erdstr<jme M oder Erdstrahlen, oder die Ent-
deckung bestimmter Merkmale der Bodenoberflache, unklare korperlicbe Sen-
sationen oder reine Autosuggestionen oder eine Miscbung von mebreren dieser
Moment© — der Erfolg auf den Muskel-Ruten-Apparat wird der gleicbe sein.
Lasst sicb doch, wie wir geseben baben, der Ausscblag aucb wirklicb obne
besondere Kunst bervorrafen. Wegen dieser Mannigfaltigkeit der moglicben
Ursaoben, die im Einzelfalle oft scbwer oder gar nicbt auseinanderzubalten
sein werden, wird auch der Streit urn das Wesen der Wtinschelrute, urn Echt-
beit oder Trug des Phanomens, nicbt so leicbt zur Entscbeicfong kommen.
Jedenfalls ist es aber nicht berechtigt, wenn so manche Untersucher, die da
and dort Selbsttauschung, Betrug oder Mystifikation nacbgewiesen baben,
nunmehr den Stab brecben fiber jeden, der sicb mit den Wunschelrutenerschei-
nungen befasst, und die gauze Angelegenheit in das Gebiet des Aberglaubens
verweisen. (Eigenberiobt.)
24) Herr M. Rosenfeld-Strassburg i. E. demonstriert Kopfkurven
oder Kepbalogramme, die in der Weise hergestellt warden, dass bei der
Prdfung auf das Romberg’sche Phanomen die Bewegungen des Kopfes bzw.
des Korpers durcb eine einfacbe Vorriohtung aufgescbrieben warden. Die zu
antersuchende Person erhalt eine belmartige Kappe auf den Kopf gesetzt,
welche aus scbmalen gebogenen Blecbstreifen zusammengesetzt ist, welcbe in
Soheitelbohe zusammengeben und unten frei enden, so dass die Kappe durcb
ein die freien Enden verbindendes Band sicb leicbt jeder Schadelform an-
passen kann. Oben tragt die Kappe einen Scbrcibbebel, der etwas nacb hinten
gebogen ist, stark federt und sich auf diese Weise gut an die fiber der Person
befindliche Scbreibtafel anlegt. Die Schreibtafel kann an einer an der Wand
befestigten Eisenstange auf- und abbewegt werden. Yortr. demonstriert nun
normale Kepbalogramme, solche von Personen mit soblecbter Stabilitat, von
nervdserscbopften mit und obne Kopftrauma und von simulationsverdacbtigen
Personen. Auch die versohiedenen Tremorformen geben recbt charakteristischo
Kepbalogramme. An den Kurven sind zu beachten: die L&nge der in einer
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43. Wandervers. der Sudwestdeutsohen Neurologen u. Irrenarzte. 345
Zeiteinheit (meist am 20 Sekunden) zuruckgelogten Strecke, die sich leicht
darch einen Kurvenmesser bestimmen lasst, ferner das Areal, welches die
Kurve im ganzen einnimmt, die Form der Kurven, die Zitterbewegungen,
welche die Kurve unterbrechen, und schliesslich die zeitlichen Verhaltnisse,
unter denen die Kurve zustande kommt. , Namentlich bei den sehr charakte-
ristischen Kephalogrammen der Tabiker, von denen mehrere demonstriert
werden, wird eine genauere Zeitmessung angezeigt sein, da wir bei diesen
Kranken ja gerade schleudernde Bewegungen von wechselndem Tempo zu
sehen pflegen. Diese Zeitmessung hat der Vortr. dadurch zu ermoglichen ver-
sucht, dass er den Schreibhebel des Helms in Form eines holzernen schmalen
Brettes naoh unten gerichtet hat, so dass er der Sohreibtafel aufliegt; die
Reibung des Sohreibhebels auf der Unterlage wird durch einen glatten Metall-
knopf mfiglichst verringert. Neben dem Schreibstift, welcher in blaoer Farbe
zeicbnet, ist ein zweiter, sehr weicher Graphitstift angebracht, der durch
eine einfache Vorrichtung jede Sekunde in die blau gezeiohnete Kurve oder
direkt daneben einen kleinen schwarzen Strioh einzeichnet. Vortr. demonstriert
ein solches Kepbalogramm mit Zeitmessung bei einem Soldaten mit links-
seitiger Kleinhirnverletzung und Hemiataxie. Schliesslich hat Vortr. noch ver-
sucht, die angegebene Methode auch zur Aufzeichnung von solchen Kopf-
bewegungen zu beniitzen, die bei der Untersuchung auf dem Drehstuhl als
Reaktionsbewegungen der Vestibularisreizung auftreten. Auch hier werden
sich diagnostisch verwertbare Kurven herstellen lassen. Die Resultate sind
aber noch nicht zahlreich genug, urn fiber sie etwas aussagen zu konnen.
(Ausffihrliche Veroffentlichung demnachst im Arch. f. Psych, u. Neurol.)
(Eigenbericht.)
25) Herr Pfersdorff-Strassburg-Tfibingen: „Ueber paranoide Er-
krankungen im Felde u .
Die paranoiden Erkrankungen betragen etwa 4 pCt. der beobachteten
Psychosen. Nicht mit eingereohnet sind Paraphrenien und paranoide Zustands-
bilder der Dementia praecox und des manisch-depressiven Irreseins.
Die Falle lassen sich in zwei Gruppen einteilen: 1. in solche, bei denen
eine psychopathische Veranlaguug bestand, 2. in Falle, bei denen vor der Er-
krankung ein Abweichen von der Norm nicht erkennbar war.
Was die erste Gruppe, die der Psychopathen anlangt, so liegen ihre
Stfirungen vorwiegend auf dem Gebiet des Affektlebens. Ein Toil wird als
reizbar und misstrauisch geschildert, ein anderer Teil als angstlich und zu
Stimmungsschwankungen geneigt. Diese Psychopathen geraten wegen ihrer
Eigenart leicht in Konflikt mit der Umgebung und es ist nicht ausgesohlossen,
dass ein Teil der von ihnen geschilderten „verfolgenden w Handlungen tat-
sachlich ausgefuhrt wurde.
Die Psychopathen mit mehr angstlicher Stimmungslage pflegen Verfol-
gnngsideen diffuser Art zu anssern. Die persekutorische Eigenbeziehung ist
das wesentliche Symptom. Sinnestausohungen sind ausserst selten. Der Be-,
ziebungswahn dauert in der Regel auch in der Klinik an und klingt erst all-
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346 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen n. Irrenarzte.
mahlich ab; er geht unmerklicb in die Dauerform des den Kranken eigentura-
lichen Aflekts der Aengstlichkeit fiber. Dio Psychopathen, die mehr gereizt
und misstranisch sind, produzieren ebenfalls lebhaften Beziehungswahn. Als
Verfolger wird auch hier stets eino Mehrzahl, nie ein Einzelner, genannt; die
Eigenbeziehung arbeitet auch in der Klinik weiter. Nur werden zu gleicher
Zeit auch expansive Wahnideen produziert. Die Kranken berichten fiber innere
Erleuchtungen und Vorahnungen, innere Worte der Entscheidung; sie ent-
decken auch expansive Beziehungen. „Der Zeitgeist spricht aus mir“, ausserte
ein Kranker. Sie haben Erfindungen zur Vernichtung der Foinde, beschaftigen
sich mit Verbesserung der Flugapparate usw. Auch hier geht das akute
Stadium der Erregung mit Beziehungswahn in den Habitualzustand des Psycho¬
pathen iiber.
Typisch ist das starke Hervortreten des Beziehungswahnes, ohne dass ein
richtiges Wahnsystem komplizierterer Art zur Entwicklung gelangt. Diese
Kranken zeigen das „Delire d’interpr6tation“, das far die Kraepelin’sohe Para¬
noia charakteristisch ist, in ziemlich reiner Auspfagung. Interessant ist, dass
auch die expansiven Vorstellungen sich nur auf Funktionen, auf Leistungen
beziehen, nicht auf die Persbnlichkeit des ({ranken; Grossenideen in Bezug auf
den sozialen Rang des Kranken treten auf. Obwohl, wie schon hervorgehoben,
das Krankheitsbild frei von Sinnestauschungen ist, so erinnert doch das gleich-
zoitige Auftreten von persekutorischer Eigenbeziehung und expansiver Eigen-
leistung an die Verhiiltnisse, die wir bei manchen Formen von Paraphrenien
treffen, namlich bei den Fallen, die mit motorischen Halluzinationen (Muskel-
sinnhalluzinationen,Gedankenbeeinflussung)einhergehen. Diese Kranken pflegen
zu gleicher Zeit auch iiber Eigenleistungen zu berichten, iiber Beeinflussungen
der Bewegungen und Gedankon anderer Personen, die sie selbst zu leisten
imstande sind.
Was die Entstehungsvveise anlangt, so ist interessant, dass die Mehrzahl
der Psychopathen schon nach relativ kurzer Zeit, ohne dass besondereStrapazen
vorausgegangen sind, erkrankt. Konflikte mit der Umgebung linden sich in
jeder Anamnese; der Psychopath wirkt als Fremdkorper unter dem Gros der
Soldaten und kann sich nicht, wie im Frieden, isolieren.
In der zweiten Gruppe der paranoiden Falle kann von ausgesprochener
krankhafter Veranlagung nicht die Rede sein. Andeutungsweise finden sich
Ziige, die von der Norm abweichen, so bisweilen geringe Verstandbegabung
oder scheues Benehmen. Bei alien diesen Fallen finden sich in der Anamnese
schwere mehrjahrige Kriegsstrapazen, Verwundungen und korperliche Krank-
heiten. Vortragender ist der Ansicht, dass wenn die Erschopfung allein auch
nicht krankmachend wirken soil (vergl. Bonhoeffer’s serbische Kriegs-
gefangenen), sie doch im Verein mit anderen Faktoren diese Wirkung haben
kann. Die anderen Faktoren sind: die Zermfirbung, die durch langdauerndes
Trommelfeuer undLeben in der ersten Linie psychisch und nervos sich geltend
macht; auch die Sorge urn die eigene Familie in der Heimat kommt als Faktor
hier in Betracht.
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43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen a. Irrenarzte. 347
Was non das paranoids Zostandsbild anlangt, das bei diesen Fallen sich
entwickelt, so steht auch bei ihm die persekatorische Eigenbeziehung im
Vordergrande. Nur dauert sie eine relativ kurze Zeit nnd ist bei der Aufnahme
in die Klinik meist abgeklangen. Auoh diese Kranken glanben sich verspottet
nnd verfolgt, sollen bestraft, erscbossen werden. Im Gegensatz zu der Gruppe
der Psychopathen treten in dieser Gruppe Sinnestauschungen auf, illusionare
Verkennung und akustische Halluzinationen, die jedoch stets affektiv gef&rbt
sind, der Situation inhaltlich entsprechen und vom Kranken nur inhaltlich ver-
wertet werden. Die Schilderung der Erlebnisse erinnert lebhaft an diejenige
paranoider Alkoholiker. Was den Inhalt der Wahnvorstellungen anlangt, so
handelt es sich zumeist Urn einfaohe Verfolgungswahnvorstellungen. Es linden
sich jedoch auch andere Formen. So religios gefarbte Vorstellungen und ferner
Eifersuchtswahn. Samtliche Zustandsbilder anderten sich insofern, als weitere
Eigenbeziehung nach dem Initialstadium nicht stattfand; die Wahnideen ver-
schwanden restlos. Vortragender bespricht sodann die Differenzialdiagnose der
paranoiden Zustande und der paranoid gefarbten Depressionen. Er vergleicht
ferner die paranoiden Formen mit andern Geistesstorungen, die ebenfalls im
Kriege sich entwiokeln, namlich mit den Zustanden depressiver Verstimmung;
auch diese pflegen sich nur nach langer Zeit zu entwiokeln, bei pradisponierten
naturlich rascher als bei andern. Die Aehnlichkeit der Entwicklung und des
Verlaufs dieser Depressionen und der paranoiden Falls ist eine sebr grosse.
Erst nach jahrelangem Verwetten in der Front tritt das psychische Versagen
ein. Das psychotische Zustandsbild aussert sioh entweder als depressive Ver¬
stimmung, als angstliche Erregung mit Sinnestauschungen (kurz, der Affekt
beherrscht die Symptomatologie) oder, wie in den heute besprochenen Fallen,
als paranoides Zustandsbild. Die Depressionen pflegen meist langer anzu-
halten, wie die paranoiden Formen, jedoch auch bei letzteren konnen nach Ab-
klingen der Wahnideen Zustande von Inaktivitat langere Zeit anhalten.
Trotz dieser Aehnliohkeiten in Entwicklung und Verlauf sind die De-
dressionen und die paranoiden Zustande doch symptomatisch scharf von ein-
ander zu trennen. Man kann jedoch ihrer Entstehung nach beide als Schick-
salspsychosen(Sympathopathien) im Kraepelin’schen Sinne bezeichnen. Wie
die gleichfalls zu den Schicksalspsychosen gerechneten Haftpsychosen, horen
auch diese im Krieg entstandenen Geistesstorungen bei Aenderung der Situation
des Kranken, bei Wegfall der sohadigenden Momente, auf. Vortragender weist
zum Schluss auf einen interessanten Parallelismus hin, der zwischen diesen
paranoiden Fallen und den Untergruppen der Paranoiaformen besteht. So wie
bei letzteren, kann man auoh hier, wie geschildert, Gruppen unterscheiden, die
mehr einfache Verfolgungsideen, die erotisch gefarbte Wahnideen (Eifersuchts¬
wahn) und die religiose Wahnvorstellung in erster Linie darbieten. Dies ist
deshalb auoh von Interesse, als die Mbglichkeit somit gegeben erscheint, dass
duroh Schicksalswirkung eine Gruppierung stattfindet die man sonst nur auf
Grand angeborener Charaktereigentumlichkeit kennen gelernt hatte und die
eben in den Gestaltungsweisen der echten Paranoia ihren Ausdruck findet.
(Eigenbericht.)
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34 8 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte.
26) Ilerr Jahnel-Frankfurt a. M.: „Die Frage der Lues nervosa
im Lichte der modernen Sy philisforsch ung a .
Wenn von einer ^Lues nervosa a gesprochen wird, darf darunter nur jene
Lues verstanden werden, die haufiger als die „gewohnliche u Lues zu Paralyse
und Tabes fiihrt. Die im wesentlichen tertiiiren Prozessen zugehorende Lues
cerebri kann bei dieser Betrachtungsweise nicht beriicksichtigt werden.
Die Argumente der Anhanger dieser Lehre, die sicb auf Einzelbeobach-
tungen von gehauften Erkrankungen an Paralyse und Tabes bei aus einer
Syphilisquelle Infizierten berufen, sind nicht stichhaltig.
Zur Losung dieser Frage auf der^rtige Weise ware der von 0. Fischer an-
gebahnte Weg einer exakteren Statistik der konjugalen Paralyse geeignet. wenn
ein grosseres Material in diesemSinne verarbeitet wiirde und wenn wir vor allem
eine vergleichbare Statistik der Paralyse- und Tabesmorbiditat der Luetiker
hatten. Die verdienstvollen, bisher vorliegenden Statistiken von Pick und
Bandler, Mattauschek und Pilcz bergen zu grosse Fehlerquellen in sich.
Noguchi hat angegeben, dass drei verschiedene Stamme der Spirocbaeta
pallida existieren, einer von mittlerer Dicke, ein dicker und ein diinner Typus.
Er hat sich jedoch nicht dariiber ausgesprochen, zu welchem Stamme die Para-
lysespirochaten gehoren. Die Angaben Noguchi’s und auch die Levaditi’s,
der im Tierexperimente Unterschiede zwischen der gewohnlichen Luesspiro-
chate und der vom Paralytiker stammenden gefunden haben will, bediirfen
noch der Nachpriifung. Waren Paralyse und Tabes von einer besonderen
Art des Syphiliserregers erzeugt, dann miissten Paralytiker und Tabiker zwar
gegen eine Reininfektion mit Lues nervosa immun sein, nicht aber gegen
eine Neuinfektion mit einem anderen Luesstamm, was nicht zutrifft.
Der Vortragende konnte weder morphologische, noch larberische Unter¬
schiede zwischen den Spirochaten der gewohnlichen Lues und denen der Para¬
lyse linden. Die Existenz von Hause aus neurotroper Spirochatenstamme ist
daher in keiner Weise erwiesen.
Wohl aber ist es moglich, dass die Spirochaten wahrend ihres langen
Aufenthaltes im Organismus eine Umwandlung erfahren, dass also die Para-
lysespirochatcn imEhrlich’schenSinne hoheRezidivstamme darstellen. Jedoch
bedarf auch diese Frage noch eines eingehendeu Studiums.
Die Tatsache, dass nur ein geringer Bruchteil der Syphilitiker spater
paralytisch oder tabisch wird, kann auch ohne dieAnnahme einer Lues nervosa
erklart werden, wenn wir bedenken, dass die Lues ofters vollig ausheilt, dass
nicht jeder Paralysekandidat den Ausbruch der Paralyse erlebt, dass die Loka-
lisation der Spirochaten in den einzelnen Organen in jedem Fall eine ver¬
schiedene sein kann (wie bei der Tuberkulose und der tertiaren Lues). Auch
der Verlauf der frischen Lues ist ein so mannigfaltiger, dass wir in ihren
spateren Stadien nicht mit einer in alien Fallen gleichformigen Entwicklung
der Krankheit rechnen diirfen.
Wir miissen uns einstweilen mit der Erkenntnis zufrieden geben, dass die
Paralyse eine parasitare Erkrankung des nervosen Gewebes ist, wie solche
auch bei Tieren vorkommen.
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43. Wandervers. der Sudwestdeutschen Neurologen u. Irrenarzte. 349
AUe iiber diese Feststellung hinausgehenden Betrachtungen uber das
Wesen der Paralyse miissen zur Zeit als fruohtlose Spekulationen gelteo.
(Eigenberioht.)
27) Herr Weichbrodt-Frankfurt a. M.: „Die Hirnpunktion nach
Beriel M .
Vortragender gibt die Technik der Bdriel’schen Hirnpunktion an, fiber
die B6riel im Lyon ohirugioal. 1909, im Lyon medical 1913, im Neurol. Zen-
tralbl. 1914 berichtet hat. Unabhangig davon hat Sioli — Bonn 1913 — den
Weg durch die Augenhohle zum Temporallappen auf Grund eines Sektions-
befundes einer Epileptikerin fur gangbar erklart (Allgem. Zeitschr. f. Psych.
69. Bd.). An 30 Paralytikern im Endzustande wurde diese Hirnpunktion nach-
gepruft, und es kann naoh diesen Versuchen gesagt werden, dass die Punktion
in der Tat sehr einfach ist, da man nur eine diinne Punktionsnadel dazu ge-
braucht, sonst keine Apparate. Auch darin hat Bdriel Reoht, dass die Punk¬
tion ungefahrlich ist, wenn man einige Uebung besitzt; . aber bis man sich
diese Uebung erwirbt, ist die Punktion nicht ganz gefahrlos. Nicht immer zu
vermeiden ist ferner, dass man in der Orbita venose Blutungen bekommt, es
entsteht dann eine, wenn auch schnell vorubergehend^ Exophthalmic, einige
Tage sind auch die Augenlider blau verfarbt, es sieht dann aus, als wenn der
Kranke aofs Auge gesohlagen worden ware. Wegen dieser Naohteile wird sich
die Bdriel’sche Hirnpunktion nioht einburgern. (Eigenberioht.)
28) Herr Richard Offenbacher-Furthi.Bayern. „Zur Psyohologie
des Feldzugs-Soldaten u . ,
Auffallenderweise liegen psyohologische Veroffentlichungen von Truppen-
ond Frontarzten fast nicht vor, trotzdem von anderer Seite (Kriegsberichter-
statter, Theologen usw.) vielfach derartige Fragen gestreift und erortert wurden.
Das durch diese publizierte Material kaun arztlichen Anforderungen nioht ge-
nugen, es bedarf der Erganzung und Korrektar durch fronterfahrene, psycho-
logisch vorgebildete Aerzte. Bei der Verschiedenheit und Veranderlichkeit der
zu beobachtenden Objekte (Zeit, Kriegsphase, Einsatz an ruhiger oder Gross-
kampf- Front usw.) sind moglichst viele, aber eingehende Besohreibungen und
Beurteilungen erwiinscht, urn zu allgemeinen Richtlinien zu kommen. Auf
diese Weise konnte der Truppenarzt die Arbeit der Lazarette wertvoll erganzen
(Fragen der Neuropathogenese, der Simulation, der Kriegsdienstbeschadigung
usw.) and den Gesichtskreis dec Nicht-Frontarzte entsprechend erweitern.
Leitsatze aus eigner Arbeit:
A. Die Motnente, die auf das Seelenleben des Feldzugssoldaten in den
einzelnen Kriegsphasen (s. u.) in verschiedener Kombination und verschiedener
In ten si tat einwirken, sind einzuteilen in:
1) Moment©, die auf jedenVolksgenossen wahrend eines Krieges einwirken
(Sorgo urn Angehorige zuhause und im Felde, urn die wirschaftliche Existenz).
2) Momenta, die mit den Besonderheiten des militarischen Dienstes
^im allgemeinen u zusammenhangen: Subordination, Disziplin, Vorgesetzten-,
Kameraden-Verhaltnisse usw.
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350 43. Wandervers. der Siidwestdeutschen Neurologen u. irrenarzte.
3) Momente, die mit den Besonderheiten des Frontdienstes zusammen-
hangen: Todesgedanken (Religiositat); Driickebergerei und Heldentum; Be-
geisterung und Pflichtgefuhl; Kameradschaft und Nachstenliebe; Affekte im
Kampf usw.
Die sub 1 und 2 erwahnten treten an der Ruhefront, die sub 3 er¬
wahnten besonders an der Hauptkampffront in den Vordergrund.
B. Kriegspbasen: Die Bedeutung der Eindriicke der Hauptkampffront fiir
Nerven und Seele wird haufig unter-, die der Ruhefront haufig iiberschatzt.
C. Beziehungen zwischen sittlichen Eigenschaften und Krieg:
I. Helden: Wenn auch in der Mehrzahl der Falle sittliche Motive den
Heldentaten zugrunde liegen, so gilt dies doch nicht fur aile Falle. Die Motive
zu „Heldentaten u sind vielmehr sehr verschiedenartig. Wenn man von den
„Helden u absieht, die die Gefahr nicht kennen oder auf dem dummen Stand-
punkt stehen, dass „ihnen doch nichts passieren u kann, kann man die Helden
nach ihren Motiven in folgende Kategorien einteilcn, wobei im Einzelfalle
selbstredend mehrere Motive gleichzeitig mitwirken konnen:
1) Helden mit nicht egoistischen Motiven: a) echte Patrioten, b) Leute,
die ein gewisses Veranlwortungsgefiihl fiir ihren Stand (Lehrer, Angehorige
studentischer Korporationen), fiir ihre Glaubensgemeinschaft (Juden) usw., die
einen gewissen Korpsgeist haben, und sich deshalb auszeichnen wollen.
2) ^Helden 44 mit egoistischen Motiven: a) ehrgeizige Leute, b) Leute,
die sich rehabilitieren wollen.
3) „Helden 44 die aus irgendwelchen Griinden den Tod suchen, die sich
preisgeben, in der ausgesprochenen Absieht zu fallen — sie wiirden im Frieden
Selbstmord begehen, ziehen nun aber den Heldentod als „salonfahigen Selbst-
mord u vor.
II. Driickeberger: Der ausgesprochene Driickeberger ist ein Individuum,
bei dem neben einem beinahe pathologischen Mangel an Willensstarke und
Selbstzucht gewisse sitttiche Charakterfehler zutage treten (Mischform der
moral insanity). Altruistische Momente (Sorge urn Familie usw.) spielen keine
ausschlaggebende Rolle, werden aber haufig als Vorwand gebraucht; der
Hauptgrund ist die Sorge um das eigene Leben, das er unter alien Umstanden
dem ehrenvollen Tode vorzieht; dies Ziel behorrscht ihn vollstandig — jedes
Mittel, es zu erreichen, wird versucht. Diese reinen Typen sind nicht sehr
haufig — die meisten besinnen und iiberwinden sich doch noch.
III. Allgemein sittliche und religiose Anschauungen und Qualitaten
werden durch die Erlebnisse des Krieges nur in seltenen Fallen prinzipiell und
dauernd geandert; der bisherige (bejahende oder ablehnende) Standpunkt wird
meist bestarkt und gefestigt; es gilt auch hier der Satz Binswanger’s „Den
Starken reissen grosse Ereignisse empor, den Schwachen schlagen sie nieder! 44
Anregung einer frontpsychologischen Sammelforschung!
(Ausfiihrliche Arbeit wird spater erscheinen.) (Eigenbericht.)
Freiburg i. B. und Strassburg, Juli 1918.
Hauptmann.* Steiner.
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XV.
Ludwig Edinger f.
In der Zeit des grossen Sterbens, das uns die letzten Jahre gebracht
haben, stumpft sich das Gefiibl gegeniiber dem Verluste Eiuzelner un-
willkurlich ab und nanientlich der Heimgang Aelterer wird mit dumpfer
Resignation als etwas Unverraeidliches getragen. Dennoch wirkt es auf
weiteste Kreise erschutternd, wenn ein geistiger Fiihrer wie Edinger,
dessen Lekren wir seit Jahrzehnten zu lauschen gewohnt waren, und
von dem wir noch so manche wertvolle Forderung der Wissenschaft
erwarteten, seinem Wirkungskreise plotzlich entrissen wird.
Der Name Ludwig Edingerist mit der Geschichte des medizinischen
Lebens in Frankfurt a. M. and mit der Entstehung der jiingsten deutschen
University untrennbar verknupft. Neben Weigert batte er am Senken-
bergischen Institute lange Jabre zugleich als Hirnanatom und vielbe-
schiiftigter Nervenarzt, geforscht und gelehrt, bis es ihm endlich gelang,
sich seine eigene Arbeitsstatte nach seinen Wunscben zu scbaffeu, die
er bezeichnenderweise Neurologisches Institut nannte.
Denn Edinger hat niemals die Besch&ftigung mit der Anatomie
als Selbstzweck betrieben, sondern sie nur als Grundlage angeseheu,
von der aus er an eine Erkennung der funktionellen Leistungen des
Gehirns herantreten und neue Gesichtspunkte fiir die Kliuik gewinnen
wollte. Sogar seine vergleichenden Arbeiten liber das tierische Zentral-
nervensystem sind von diesem Standpunkte aus geschrieben, suchen vor
allem die Grundlinien des Hirnbaues aufzudecken und eutbalten wertvolle
pbysiologische und psychologische Bemerkungen.
Aus solcben Beweggriinden beraus ging Edinger an die nShere
Erforschung des Zwischenhirns, klarte er die Bedeutung der Hypophyse
und Epiphyse, stellte er den Begriff des Oralsinnes auf, legte er die
Verbindung des Striatum mit den tieferen Hirnteilen dar. In gleicher
Wcise gewann er einen Einblick in die verwickelte Zusamraensetzung
des Kleinhirns mit seinen mannigfachen Faserbeziebungen, trennte
die afferenten Babnen von den eflFerenten, verfolgte die Ziige von den
Purkinjezellen zu den Kleinbirnkernen und sprach den Wurm als eigent-
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352
Raeoke,
liches Organ des Statotonus an. So gelangte er auch schliesslich zu einer
Neueinteilung des gesamten Nervensystems, indem er die Grosshimrinde
als Neencepbalon von dem ubrigen nervdsen Bau, dem Palaeencephalon,
unterschied. Das letztere habe als urspriinglicher Tr&ger der Reflexe
und Instinkte nur die Sinnesreize zu empfangen und mit Bewegungen
zn beantworten, w&hrend das allm&hlich in der aufsteigenden Tierreibe
hinzutretende Neencephalon der Sitz der Gnosien, Assozialionen und
Praxien werde, bis endlich beim Menscben mit Auswachsen des Stirn-
lappens die eigentliche lntelligenz sich entfalte.
Ueber die Fulle der Edinger’schen Arbeiten, die uns ausser wert-
yollsten anatomischen Entdeckungen anregende Erdrterungen uber neu-
rologisch-kliniscbe Probleme geschenkt haben, gibt die Ged&chtnisrede
seines Schulers Goldstein einen so vorzuglicben Deberblick, dass ich
mich mit einem Hinweise auf diese (Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u.
Psychiatric, Bd. 44, S. 114) begniigen darf. Ueberall tritt uns neben er-
staunlichem Gedankenreicbtum hOchste Klarheit der Darstellung entgegen.
Man hat mit Recht die Kiinstlerbegabung Edinger’s geruhmt.
Intuitiv erfasste er stets das Wesentlicbe, arbeitete rastlos auf das ihm
vorschwebende Ziel hinaus, wusste auch andere fur seine Entwurfe zu
begeistern, sie auf neue Fragestellungen higzulenken und ibnen in un-
nacbahmlicher Weise die Schwierigkeiten aufzuhellen.
Gerade als Lehrer wirkte Edinger, fast ebenso sehr wie durch das
lebendige Wort, durch seine hervorragende Beherrschung des Zeichen-
stiftes. Selbst in der Unterhaltung uber allt&gliche Dinge im Freundes-
kreise liebte er es, seine Erz&hlungen durch rasch entworfene kleine
Skizzen zu erl£utern. Noch weit mehr kam ihm diese Gabe bei der
Darstellung verwickelter anatomischer Verbaltnisse zu statten. Namentlich
in seinem beruhmten Lehrbuche uber den Bau der nerv5sen Zentralorgane,
das, aus Vorlesungen fiir praktische Aerzte hervorgewachsen, vor allem
seinen Namen in der ganzen wissenschaftlichen Welt bekannt gemacht
hat, springt uns diese unvergleichliche Beherrschung des Darstellerischen
in die Augen.
Edinger’s gliickliche Vielseitigkeit, seine einzigartige Verbindung
von anatomischen uud klinischen Interessen, von wissenschaftlichem und
prakiiscbem Kdnnen erkl&rt sich teilweise aus seinem Lebensgange:
Geboren zu Worms am 13. April 1855, hatte er unter Gegenbaur
und Waldeyer mit leidenschaftlicher Liebe anatomische Studien be-
trieben. Aeussere Verhaltnisse zwangen ihn dann, die klinische Assistenten-
laufbahn einzuschlagen. So wurde er Schuler von Kussmaul und
Riegel, habilitierte sich an der Giessener medizinischen Rlinik und liess
sich 1883 in Frankfurt als praktischer Nervenarzt nieder, um hier, auf
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Ludwig Edinger f.
353
eigenen Fussen stehend, seine vergleichenden hirnanatomischen Arbeiten
za beginnen und das eben geschilderte Lebenswerk zu vollenden.
Noch erlebte er die Genugtuung, sein selbstgeschaffenes Forschungs-
institut der bei Kriegsausbruch neugegriindeten Universitiit anzugliedern
und als Ordinarius fur Neurologie in die medizinische Fakultiit einzu-
treten. Mit Eifer widmete er sich den Bestrebungen, die durcli Schuss-
verletzungcu entstandenen Nervenlahmungcn zu beseitigen, und suchte,
dem Operateur neue Mittel zur Ueberbriickung von Nervenliicken an die
Hand zu geben. Das ersehute Ende des Krieges, der die wissenschaft-
liche Fortarbeit in seinem geliebten Institute vielfach behiuderte, sollte
er nicht mehr schauen. Am 26. Januar 1918 hat der Tod seinem
arbeitsreichen Leben uberraschend ein Ziel gesetzt. Raecke.
▲rehiv f. Psjchiatrie. Bd. 60. Heft 1.
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XVI.
Korbinian Brodmann f.
Nach Alzheimer Brodmann! Sckon wieder hat die deutsche
Gehirnforschung einen unersetzlichen Verlust zu beklagen, schon wieder
hat der Tod uns Psychiatern der Besten einen genommeu. Was Brod¬
mann fur die anatomische Wissensckaft im Einzelneu geleistet hat,
mag von berufenerer Seite naher dargelegt werden. Hier soil nur in
grossen Ziigen eine Wurdigung seiner kervorragenden Personlichkeit
versucht werden:
Korbinian Brodmann begann seine psychiatrische Laufbahn an
der Jenenser Klinik unter Binswanger. Damals habe ich ihn zuerst
kennen gelernt und wegen seiner ausgezeichueten menschlichen Eigen-
schaften rasch lieb gewonnen. Holies wissenschaftlickes Streben gepaart
mit streuger Gewissenhaftigkeit, liebenswurdiger Frohsinn und kamerad-
schaftlicke Treue waren ilirn zu eigen, mack ten den Umgang mit ihm
besonders genussreich. Seine Interessen waren damals noch vorwiegend
klinische. In erster Linie der Hysteriefrage und dem Hypnotismus schien
sich seine Aufmerksamkeit zuwenden zu wollen. Erst nachdem er im
Jahre 1900 Assistent an der Frankfurter Irrenanstalt geworden war, fing
er unter dem Einflusse von Alzheimer’s gewinnender PersOnlickkeit
in immer steigendem Masse an, sich fur die histologische Forschung zu
erw&rmen. Allein das geschah etwa nicht in der Weise, dass er einfach
in des anderen Fussstapfen trat, sondern nach kurzem Umhertasten
hatte Brodmann bald sein bestimmtes Arbeitsgebiet gefunden, auf
welchem ihm die schonsten Erfolge beschieden sein sollten.
An Oskar Vogt’s neurobiologischem Institute in Berlin, iu das er
bereits 1901 eintrat, vollbrachte Brodmann mit staunenswertem Fleisse
und Grundlichkeit ausgedehnte vergleichend anatomische Untersuchungen,
auf welchen er in mustergiiltiger Weise seine Lehre von der Cytoarchi-
tektonik der Rinde aufzubauen vermochte. Grundlegend ist da sein
Werk aus dem Jahre 1909 geworden: „Vergleickende Lokalisationslekre
der Grosshirnrinde in ihren Prinzipien dargestellt auf Gruud des Zellen-
baues w mit 150 Abbildungen im Texte.
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Korbinian Brodmann f. 355
Ursprunglich war nur die Absicht gewesen, einen von den Hirn-
anatomen und Pathologen langst als Bedurfnis empfundenen Normalstatus
der gesamten Grosshirnrindenflriche des Menschen zu schaffen mit Beriick-
sichtigung auch der kleinen und kleinsten Rindenteile. Aber im Ver-
laufe der Vorarbeiten sab Brodmann bald die Notwendigkeit ein, eine
breitere entwicklungsgeschichtliche und vor allem vergleichend anato-
mische Basis zu geben. Erst musste aus einfachereu Gehirnformen und
aus ontogenetischen Verhaltnissen heraus ein Einblick in den Bauplan
der Grosshimrinde angestrebt werden, ehe es moglich war, den einheit-
lichen Ausgangstypus der mannigfachen Scbichtungen klarzustellen.
Sobald das Brodmann erkannt hatte, zbgerte er auch nicht, sich
dieser Riesenaufgabe zu uuterziehen und sie in 8 Jahren angestrengtester
histologischer Tatigkeit zu ltisen. Das reiclihaltige Sektionsmaterial des
Berliner Zoologischen Gartens wurde von ihm nutzbar gemacht, danu
auch menschliche Gehirne in grosserer Zahl in Angriff genommen. So ge-
langte Brodmann zu seiner bekannten Aufstellung eines sechsschichtigen
Gruudtypus, zum Entwurf einer histologisclien Landkartentopographie
der Hemispharenoberflache und zu der wichtigen Einsicht, dass die Gross-
hirnriude der Saugetiere als ein Organkomplex zu betrachten sei, d. h.
als eine Summe von aus gleicher Anlage hervorgegaugenen und in ver-
schiedenen Graden der Aus- und Riickbildung begriffeuen Partialorganen,
welche nach ihrem mikroskopischen Bau rnehr oder minder scharf ab-
gegrenzt sind.
Es soil hier nicht weiter auf die Einzelheiten dieses wahrhaft epoche-
machenden Werkes eingegangen werden, auch nicht auf die spateren
Untersuchungen Brodmaim’s, welche auch die Beziehungen zur Physio-
logie und rasse-anatomise he Fragen immer mehr in den Bereich seiner
Betrachtungen zogen. Wer ihn in jenen Tagen freudigster Schaffens-
tatigkeit besuchen und sprechen durfte, weiss, mit welch riihrender
Begeisterung er von seinen Planen und Entwiirfen zu reden pflegte, und
vermag zu abnen, wieviele Hoffnungen jetzt mit ihm begraben worden sind.
Brodmann hat es im Leben nicht leicht gehabt. Mit seinem sonst
so liebenswiirdigen und heiteren Wesen verband sich eine gewisse hart-
n&ckige Schroflfheit in der Durchfiihrung des von ihm fur richtig Ge-
haltenen, welche keine Kompromisse kannte und vielleicht die engere
Zusammenarbeit mit ihm nicht immer ganz leicht gestaltet haben mag.
Diese Veranlagung und eine Reihe widriger ausserer UmstSnde er-
schwerten seine Laufbabn. In Berlin gelangte er trotz seiner anerkannten
Bedeutung nicht zur Habilitation. Von der Statte seiner erfolgreichen
Wirksamkcit, dem neurobiologischen Institute trennte er sich. Wiederholt
streckte sich ihm eine Freundeshand hellend entgegen, seinen Weg zu
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II
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356 Raecke, Korbini&n Brodmann f.
ebnen. Gaupp rief ihn an die Tubinger Klinik und ermdglichte ihm
die Habilitation, Pfeiffer nahm ihn als Prosektor an die Nietlebener
Anstalt. Allein erst mit der Begrundung der Munchener Forschungs-
anstalt fur Psychiatric erOffnete sich ibm endlich die Aussicbt auf eine
Stellung, wie sie wohl seinen eigensten Wunschen angepasst war.
Wer Brodmann gekannt hat, vermag sich vorzustellen, mit welch
boffnungsfrohen Erwartongen er diese schdne Arbeitsst&tte aufgesncht
haben wird, an der ihm die Leitung der topographisch-histologischen
Abteilung von Kraepelin zngedacht worden war. Da, als er sich
schon eben am Ziele seiner Wunsche glanben durfte, raffte ein jaher
Tod an Sepsis ibn am 22. August 1917 dabin! Nicht nur seine An-
gehbrigen und Freunde, die gesamte Wissenschaft wird ihm stets eine
treue Erinnerung bewahren. Raecke.
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XVII.
»
Referate,
Reichardt, Martin, Allgemeine und spezielle Psychiatrie. Ein
Lehrbuch fur Studierende und Aerzte. Zweite umgearbeitete Auflage des
Leitfadens zur psychiatrischen Klinik. Mit 95 Abbildungen. 605 S. Jena
1918. Verlag von Gustav Fischer.
Der Leitfaden Reichardt’s ist mit umgearbeitetem und stark erweiter-
tem Inhalt als Lehrbuoh neu erschienen. Einen breiten Raum, nicht ganz die
Halfte des Buches nimmt die allgemeine Psychiatrie (eingeteilt in allgemeine
Symptomatology, Ursachen der Geisteskrankheiten, Lebensalter und Geistes-
krankheit — die diagnostischen Hauptfragen — die Einteilung der Geistes¬
krankheiten, die prognostischen Erwagungen, die Anamnese, die Untersuchung
auf Geisteskrankheit, die Behandlung der Geisteskranken) ein. Auch werden
bier die forensischen Fragen und die Simulation eingehend besprochen. Dem
speziellen Toil ist entsprechend dem besonderen Arbeitsgebiet Reiohardt’s
ein Absohnitt iiber Hirn und Schadel (Grosse des Schadelinnern, Hirnge-
wioht, Theoretisches iiber Hirnvorg&nge und krankhafte Hirnveranderungen)
angefugt.
in dem vorliegenden Buche tritt die personliche Note des Yerfassers ganz
besonders stark zu Tage. Darin liegen seine Vorzfige, aber auch seine Schwa-
chen bogrundet; Vorzuge insofern, als die in mancherlei Hinsicht neuartige
Beleuchtang, welche einige Fragen erhalten, die Aufrollung von mancherlei
Problemen auf den Studierenden anregend zu wirken vermag, Nachteile and
Schwachen insofern als der Verfasser offenbar der Gefahr nicht immer ent-
gangen ist, den Stoff in einer zu einseitig und individual gefarbten Weise zu
behandeln und infolge dessen das Ziel, den Lernenden besonders in die prak-
tisch wichtigen Fragen einzufuhren, zu verfehlen. Diese Nachteile treten be¬
sonders in dem allgemeinen Teil, in der Einleitung mit ihren theoretischen
Erdrterungen, in dem Abschnitt iiber optisch-raumliche Storungen, fiber vege¬
tative Symptome und anderen Abschnitten zu Tage. 1m speziellen Teil begegnet
man ihnen weniger. Hier halt sich R. bei der Abgrenzung und Einteilung der
Psychosen und Psychosengruppen auf einer mittleren Linie zwischen den
divergierenden Anschauungen der verschiedenen Sohulen. Hervorzuheben ist,
dass K. eine besondere, umfangreiche Paranoiagruppe aufstellt, zu der er auoh,
was nicht allgemein als berecbtigt anerkannt werden wird, die Degen orations-
psyohosen (degenerative Wahnbildung von Birnbaum) z&hlt. Unberechtigt
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358
Referate.
I
ersoheint es, wenn die Haftpsychosen und hysterischen Psychosen als sehr
bezw. ungemein selten bezeichnet werden. Wie schon im Leitfaden wird dem
Woohenbett, den Gemiitsvorgangen und iiberhaupt den exogenen Faktoren sehr
wenig Bedeutung fur die Entstehung von Psychosen zugesprochen.
Zahlreiche Abbildungen, Kurven and instruktive Krankengeschichten
unterstiitzen das Studium des Buches. Runge.
Schrottenbach, Heinz, Studien iiber den Hirnprolaps mit beson-
derer Beriicksichtigung der lokalen posttraumatischen Hirn-
schwellung nach Scbadelverletzungn. MitAbbildungen aufl9Tafeln.
Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie.
Heft 14. Berlin 1917. Verlag von Julius Springer.
DieAbhandlungSchrottenbach’s bringtbeachtenswerteUntersuchungen
fiber den Hirnprolaps und seine Pathogenese. Nach einer Einleitung, die sic-h
mit den bisherigen Anschauungen iiber den Hirnvorfall an der Hand der ein-
schlagigen Literatur befasst, werden die physikalischen Verhaltnisse beim
I primaren und sekundaren Hirnvorfall einer Betrachtung unterzogen. Im 3. Ab-
schnitt werden die eigenen Untersuchungen iiber den Hirnvorfall mitgeteilt,
die sich auf vier Falle von sekundarem Hirnvorfall erstrecken. Das zur Ver-
fiigung stehende Material ist nach den verschiedenen Methoden histologisch
untersucht. — Hier ergibt sich als wichtiges Resultat das Bestehen enzepha-
litischer Vorgange beim sekundaren Hirnprolaps, die einer am Orte ihres Auf-
tretons sich entwickelnden lokalen Entziindung der Himsubstanz ihre Ent¬
stehung verdanken. Sehr schone photographische Reproduktionen veranschau-
lichen die Befunde. Ausfiihrliches Literaturverzeichnis ist beigegeben. S.
Kraepelin, Emil, Hundert Jahre Psychiatric. Mit 35 Textbildern.
Berlin 1918. Verlag von Julius Springer.
Einen Beitrag zur Geschichte der menschlichen Gesittung nennt der Ver-
fasser diese historische Abhandlung. Sie ist die erweiterte Form eines Vor-
trages, der in Miinchen gelegentlich der ersten Sitzung der Deutschen For-
schungsanstalt fur Psychiatrie gehalten wurde. Die Geschichte der Psychiatrie
mit ihren reizvollen Wandlungen und Irrungen sehen wir in lebhafter eindrucks-
voller Schilderung an uns voriiberziehen und das Studium dieser Schrift ge-
wabrt uns einen fesselnden Einblick in die Entwicklung dieses medizinischen
Sondergebietes, das wie kein anderes im engen Zusammenhang mit den allge-
meinen geistigen Zeitstromungen steht. S.
Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen, heraus-
gegeben von Dr. Karl Marbe. IV. Bd. 11. Heft. Leipzig-Berlin. Verlag
von B. G. Teubner.
A. Peters bringt das Ergebnis interessanter Versucbe iiber Gefiihl und
Wiedererkennen.
J
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Referate.
359
Das I. Heft des V. Bandes dieser Zeitschrift enthalt eine Abhandlung yon
0. Sterzinger: Zur Psychologic and Naturphilosophie der Ge-
sohicklichkeitsspiele. S.
Kaplan, Leo, Hypnotismus, Animismus und Psyohoanalyse. Histo-
risch-klinische Versuche. Leipzig, Wien. 1917. Verlag von Franz Deuticke.
Das 1. Kapitel bringt eine Entwicklungsgesohichte des Hypnotismus, die
als Vorgeschichto der Psychoanalyse im 2. Kapitel mit Suggestion und Hysterie
fortgesetzt wird.
Der 3. Abschnitt beschaftigt sich mit der Seele und dem Unbewussten,
der 4. mit den ursprunglichen Ideen und der Wirklichkeit, der 5. mit der Seele
und den psychischen Reaktionen. S.
Schilder, Paul, Wahn und Erkenntnis. Eine psychopathologische Studie
mit 2 Textabbildungen und 2 farbigen Tafeln. Monographien aus dem Ge-
samtgebiet der Neurologic und Psyohiatrie. Heft 15. Berlin 1918. Verlag
von Julius Springer.
An der Hand einsohlagiger Falle, die genau analysiert werden, beschaf¬
tigt sioh der Verfasser mit der Frage der Halluzination, mit Wirkliohkeits-
anpassung und Schizophrenie. Im Abschnitt Volkerpsychologie und Psychiatric
wird hingewiesen auf die Zuge, welche der Denkweise der Primitiven und ge-
wisser Geisteskranken gemeinsam sind. In einem Anhang „Ueber den Futuris-
mus u wird hingewiesen auf den Zusammenhang der zeiohnerischen Entwiirfe
Geisteskranker mit dem Futurism us. S.
S. Hens, Phantasiepriifung mit formlosen Klecksen bei Schul-
kindern, normalen Erwachsenen und Geisteskranken. Zurich
1917. Verlag von Speidel & Wurzel.
Hens benutzt den formlosen Tintenklecks zur Prtifung derPhantasie bei
Kindern, normalen Erwachsenen und Geisteskranken und teilt seine Ergebnisse,
welche er mit dieser eigemartigen Methode erhalten hat, mit. S.
C. v. Economo, Die Encephalitis lethargica. Mit 12 lithographischen
Tafeln. Leipzig und Wien 1918. Verlag von Franz Deuticke.
An der Hand von 13 Krankengeschiohten, 5 mit Sektionsbefund zeiohnet
Verfasser das Krankheitsbild der Encephalitis lethargica klinisch und patholo-
gisch-anatomisch. Er sieht in der Encephalitis lethargica einen duroh eine
Infektion hervorgerufenen echt entziindlichen Prozess des Parenchyma des
Nervengewebes mit sekundarer kleinzelliger Infiltration der GeiUsse. Hervor-
gerufen wird die Erkrankung durch einen Diplostreptokokkus. Vorziigliche
Abbildungen uber die anatomischen und histologischen Veranderungen im Ge-
him sind der Arbeit beigegeben. S.
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Original frnm
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360
Referate.
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R. Gaupp, Psychologic des Kindes. AusNatur und Geisteswelt 213/214.
Vierte Auflage. Leipzig, Berlin. Verlag von B. G. Teubner.
Das vortreffliche bekannte Werk von Gaupp wird sich in der neuen er-
weiterten Auflage viele Freunde erwerben. S.
Rafael Becker, Die jiidische Nervositat, ihre Art, Entstehung und
Bekampfung. Zurich 1918. Verlag von Speidel & Wurzel.
In seinem Vortrag beschaftigt sich Verfasser mit einom interessanten Pro¬
blem. Er sieht die Ursachen der Haufigkeit der nervosen Erscheinungen bei
Juden nicht in der besonderen Predisposition, sondern in den Bedingungen,
in welchen sie gezwungen warden zu leben: unnormale rechtliche Lage, Be
vorzugung der fur das Nervensystem schadlichen Berufe, das durch Bevor-
zugung dieser Berafe bedingte anormale geschleohtliche Leben.
Als Hauptmittel diesem Uebel zu steuern, wird Schaffung eines eigenen
Heimes und Landes empfohlen. S.
Schlomer, Georg, Leitfaden der klinischen Psychiatrie. Miinchen
1919. Verlag yon Rudolph Muller & Steinioke.
Der Leitfaden erftillt seinen Zweck, den Anfanger in die psychiatrische
Klinik einzufuhren durch leicht fassliohe Darstellung. S.
Arbeiten aus der psychiatrischen Klinik in Wdrzburg. 9. Heft.
Die Messstange von Professor Rieger. Mit 3 Abbildungen im Text.
Jena 1918. Verlag von Gustav Fischer..
Abbildung und Besohreibung der von Rieger verwendeten Messstange
und ihre Anwendung in der Psychiatrie. S.
Wimmer, August, Psykiatrisk-Neurologiske Undersogelsesmeto-
der. Kobenhavn 1917. G. E. C. Gads Foriag.
Der Leitfaden enthalt eine gate Zusammenstellung der in der Psychiatrie
und Nejurologie gebrauohlichen Untersuchungsmethoden. S.
Die neu gegriindete Zeitschrift fttr Milit&rrecht unter Mitarbeit
von Georg Lelewer und Viktor Cs&sz&r von Kolgydr, herausgegeben
von Albin Schager. Verlag von Karl Harbauer, Wien und Leipzig, bringt
in den bis jetzt vorliegenden 6 Ileften Abhandlungen aus den verschiedensten
Gebieten des Militarrechts, enthalt Besprechungen und Entscheidungen. Im
6. Heft befasst sich ein Artikel von Hirschmann mit Erfahrungcn und Wun-
schen aus der forensisch-psychiatrischen Praxis im Felde. S.
Drnek von L. Schumacher in Berlin N. 4.
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XVIII.
' Veber doppelseitige Atlietose und verwandte
KrankheitszustHnde („striUres Syndrom").
Eiii Itoitrag xnr Lefcre von den Linsenkemerkranknngen.
Von
A. Westphal (Bonn).
(Mit 17 Abbildungen ini Text.)
Die Frage nacb der Bedeutung und der Funktion des Linsenkerns
bat in neuerftr Zeit wesentliche FOrderung durch eine Reihe von Arbeiten
erfahren, welche deutlich die nutzbringende Verbindung von klinischen
Beobachtungen und pathologisch-anatomischen Untersuchungen zeigen.
Auf den durch die bekannten Verfiffentlichungen von Anton, Oppenhei m
and C. Vogt, sowie von Wilson u. a. geschaffenen Grundlagen arbei-
teten zahlreiche Forscher mit Erfolg weiter und erweiterten unsere
Kenntnisse von den Erkrankungen der Stammganglicn und der durch
die 9 e bedingten Bewegungsstftrungen. Die Arbeiten aus der neuesten
Zeit, viie die von Marburg 1 )? v. Stauffenberg 2 ), H. Deutsch 3 ) und
Thomalla 4 ) geben auf Grund eigener Beobachtungen an der Hand der
Literatur eine gute Uebersicht und kritische Betrachtung des Stand-
punktes unsercr Kenntnisse auf diesem Gebiete, so dass icli, um Wieder-
holungen zu vermeiden, auf die Ausfuhrungen dieser Autoren verweise.
um auf die uns interessierenden Punkte spftter des Naheren einzugehen.
In kliniscber Hiusicbt ist unsere Kenntnis von den extrapyramidaieu
1) Zur Patbologie und Pathogenese der Paralysis agitans. .Jahrb. fur
Psych, u. Neurol. 1914. 36. Bd. (Festschrift. )
2) Zur Kenntnis des extrapyramidalon motorischen Systems. Zeitschr.
f. d. ges. Neurol, u. Psych. 1918. 39. Bd.
3) Bin Fall von symmetrischer Erweichung im Streifenhugei und im
Linsenkern. Jahrb. f. Psych, u. Neurol. 1917. 37. Bd.
4) Bin Fall von Torsionsspasmus mit Sektionsbefund und seine Be-
ziehungen zur Athdtose double, Wilson’soher Krankheit und Fseudosklerose.
Zeitschr. f. ges. Neurol, u. Psych. 1918. 41. Bd.
Aretiiv f. Pnyebiatrie. Bd. GO. Hoft 2 / 11 . 91
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362
A. Westpha),
Bewegungsstorungen besonders durch v. S trump ell 1 ) gefdrdert wordea,
dessen Arbeit iiber den „amyostatischen Syroptomenkomplex“ k lit rend und
sichteud gewirkt hat, indem in ihr die verwandtscbaftlichen Beziehungen
von anscheinend so verschiedenartigen Symptomen, wie sie uns bei der
sogenannten „Pseudosklerose“ (Westphal-Strumpell), der Wilson-
schen Krankheit, der doppelseitigeri Athetose, der Paralysis agitans usw.
im Gegensatz zu den durch Affektion der Pyramidenbahn hervorgc-
rufenen Erscheinungen, entgegeutreten, dargetan werden. In jungster
Zeit ist von C. und 0. Vogt 2 3 ) der erste Versuch gemacht worden, die
von C. Vogt in ihren fruheren Arbeiten ais „striftres Syndrom u be-
bezeicbneteu MotilitatsstOrungen nach patbologisch-anatomischen Ge-
sichtspunkten einzuteilen.
- Die Untersuchungen C. u. 0. Vogt's haben zur Unterscheidung „von
vier ganz differenten pathologisch anatomischen Prozessen gefuhrt, von
denen jedem ein so charakteristisches klinisches Bild entspricbt u , dass
die Autoren auf Grund desselben „den pathologisch-anatomischen Pro-
zess diagnostizieren und den weiteren Verlauf voraussagen k5nnen u .
Fur die Auffassung der subkortikalen Bewegungsstorungen ist die neueste
Arbeit Kleist’s 8 ) von Bedeutung, welche die bisher- vorliegenden Er-
fahrungen besonders auch in theoretischer Hinsicht mit einander zu
verknupfen sucht.
So gross die Fortschritte sind, die diese Veroffentlichungen auf dem
uns beschftftigenden Gebiete gebracbt baben, gebt doch aus denselben
hervor, dass es sich zun&chst vielfacb noch um vorlftufige Einteilungs-
und Erklftrungsversuche der mannigfachen in Frage kommenden Sym-
ptomenkomplexe handelt, und dass wir von einem vollen Verstftndnis
der klinischen und patbologisch-anatomischen Zusammenhftnge noch
weit entfernt sind, so dass in erster Linie die Herbeischaffung neuen
Tatsachenmaterials n5tig ist, welches geeignet ist, einerseits featzustellen,
oh die bisherigen Erfabrungen durch neue Befunde eine Bestfttigung
finden, andererseits die noch vorbandenen Lucken unseres Wissens aus-
zufullen. Aus diesem Grunde erfolgt hier die VerOfFentlichung von drei
in mancber Hinsicht bemerkenswerten Fallen, die verschiedene Formen
,,striftrer w MotilitfttsstDrungen betreffen, von denen in zwei Fallen die
1) ZurKenntnis der sogenannten Pseudosklerose, derWilson’schen Krank-
heit und verwandter Krankheitszustande (der amyostatische Symptomenkom-
plex). Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1915. 54. Bd.
2) Erster Versuch einer pathologisch-anatomisohen Einteilung striarer
Motilitatsstorungen nebst Bemerkungen uber seine allgemeine wissenschaftliche
Bedeutung. Journal, f. Psyohol. u. Neurol. 24. Bd.
3) Arch. f. Psych, u. Nervenkrank. 59. Bd. 2. u. 3. II.
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 363
Erkrankung des C. striatum durch die Sektion nacbgewiesen und die
Ver&nderungen bistologisch untersucbt werden konnten, w&hrend sich
der dritte Fall nocb in unserer Beobachtung befindet.
Fall l 1 ). Johann Reicbardt, 43jahriger Arbeiter. Aufnahme am 11. 2.
1918. Es bestdbt keine hereditare Belastung. Das Zittem, an welcbem sein
Vater in spaterem Lebensalter gelitten haben soli, war auf den Potns desselben
^uruckzufiihren. Pat. bat voriibergehend 3—4 Mai, jedes Mai etwa 8 Wochen
in Fabriken mit Bleiweissfarben zu tun gehabt. Koliken oder andere Symptome
von Bleivergiftung sindnichtaufgetreten. Erbat vor einigenJabren einen Tripper
und einen Schanker akquiriert. Ueber den genauen Zeitpnnkt der Infek-
tion ist nicbts zu erfabren, ebenso wenig dariiber, ob eine spezifische Behand-
lung stattgefunden hat. In den letzten Jabren bat er viel an Kopfschmerzen,
Scbwindel und Ohrensausen gelitten. Das Gedachtnis soil erst in der letztenZeit
abgenommen haben. Das jetzige Leiden, wegen dessen Pat. das Krankenhans
aufsucht, bat sich nacb seinen Angaben scbnell innerhalb weniger Tage, vor
einigen Wochen eingestellt. Er bemerkte damals ziierst unwillkiirliche Bewe-
gungen im linken Arm und Bein, denen sich „Zuckungen“ in der Gesichts-
muskulatur anscblossen. Ein Zustand von Bewusstlosigkeit oder Triibung des
Bewusstseins ist dieser Storung niobt vorangegangen; dieselbe soli ohne be-
sondere psychiscbe Begleiterscbeinungen entstanden sein.
Pat. ist ein Mann von massigem Ernahrungszustand. Zeicben einer
fruheren Bleivergiftung (Bleisaum) sind nicht vorbanden. In der linken In-
gumalgegend eine von einer Inzision berruhrende Narbe. Die auffallendste
Erscbeinung bietet bei der Anfnabme ein fortwahrendes Grimassieren.
Es handelt sich um langsame Bewegungen, durch welche der Mund und
die angrenzenden Wangenpartien abwechselnd nach links und reohts oder in
die Hohe gezogen werden, dabei werden Schmeckbewegungen ausgefiihrt,
Scbnalzlaute ausgestossen, der Mund oft riisselartig vorgestreckt. Trotz dieses
Grimassierens hat der Gesichtsausdruck etwas eigenartig Starres. Die Zunge
nimmt an der Storung Teil, macht, aus dem Munde herausgestreckt, langsame
drehende Bewegungen. Beim Zeigen der Zunge hort das Grimassieren vor-
iibergebend auf. Im linken Arm und Bein bestehen langsame, drehende Be¬
wegungen von ausgesprochen athetotischem Charakter, die auffallender-
weise nicht die dislalen Enden der Extromitaten, die Finger und Zeben, son-
dern die grossen Gelenke betrofTen. Die Bewegungen finden statt im Schulter-
nnd Hiiftgelenk, Knie- und Ellenbogengelenk, sowie im Hand- und Fussgelenk.
Beugungen und Streokungen, Ab- und Adduktionen weohseln miteinander ab.
Am linken Vorderarm und Hand sind haufig Pronationsbewegungen zu beob-
achten. Die linke Scbulter ist in der Regel in die Hohe gezogen. Wenn Pat.
stebt, stellt sich der linke Fuss in Spitzfussstellung, so dass in diesem
1) Dieser Fail ist von rair in der Sitzung der niederrheinischen Gesell-
vom 4. 3. 1918 vorgestellt worden. Referat Deutsche med. Wochensohr. 1918.
Nr. 16.
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Stadium des Leidens, die durch die atbetotisohen Bewegungen bedingte
Korperhaltung der Abb. 1 entspricht. Hand in Hand. mit den atbetoti-
schen Bewegnngen gehen Muskelspasmen von wechselnder Intensitat und
Dauer. Bei passiven Bewegungen in den betroffenen Gelenken ist eih bald
leichterer, bald stSrkerer spastischer NViderstand zu fiihlen, der bei pldtzlichen,
briisken, passiv vorgenommenen Bewegungen nicht starker' w'ird, sondern
eher nach einigen schnell auf einander folgenden Bewegungen an Intensi¬
tat nachlasst. Lahmungserscheinungen bestehen an den Extremi-
taten nicht.
Die Patellar- und Ach illessehnenreflexe sind lebhaft, ohne deutlich gesteigert
zu sein. Kein B&binski, Oppenheim rechts mitunter angedeutet, aber nicht deut¬
lich vorhanden. Es besteht ein leichter Grad von Inkontinenz der Blase mit
Harntraufeln. Bauohdeckenreflexe vorhanden. Die Pupillen reagieren gut auf
Lichteinfall und Konvergenz. Augenhintergrund normal. Kcin Pigmentring
an der Kornea vorhanden. Gehirnnerven abgesehen von der Bewegungsst5rung
imMundfazialis ohneBesonderheiten. Was dielntelligenzdesPat. betrifft, isteine
genauere Priifung derselben nicht moglich, da er alle Angaben mit sehr schwer
verstandlicber, leiser, mitunter stockender Sprache, die einen etwas nasalen
Beiklang hat, maoht. Es lasst sioh aber feststellen, dass das Gedaohtnis ge-
litcen hat, was aus den sich widerspreohenden Angaben des Pat. tiber zeitlfche
Verhaltnisse seinet Vorgeschichtehervorgebt. Besonders istdieMerkfabigkeit
herabgesetzt. Pat. vermag ofters uber die gewohnlichen Vorkommnisse des
taglichen Lebens, das Einnebmen der Mablzeiten usw. keine richtigen Angaben
zu machen. Grobere Storungen der Intelligenz sobeinen nicht zu besteben.
Sinnestauschungen oder Wahnvorstellungen sind nicht vorhanden. Die Stim-
mung ist, seinem qualvollen Zustande entsprechend, eine deprimferte, er bittet
haufig um Schlafmittel, da im Schlafe die unwillkurlichen Bewegungen vor-
iibergohend aufboren. Die Untersuchung der inneren Organe, besonders auch
der Leber und Milz ergibt keinen von der Norm abweichenden Befund. Keine
starker© peripherische Arteriosklerose. Die Nabrungsaufnahme ist durch mit-
nnter auftretende, nicht konstant vorbandene Behinderung des Schluckaktes
gestort. Es besteht starke Salivation. Die Was serin an n J scbe Reaktion ist
im Blut und Liquor negativ. Wahrend sich die langsamen, drehenden, atheto-
tischen Bewegungen in den ersten Tagen der Beobachtung auf die linksseitigen
Extremitaten beschriinken, greifen sie bald auch auf die rechte Korperseite
fiber. Zuerst werden athetotische Bewegungen im rechten Arm konstatiert,
denen bald auch solche des rechten Beins folgen. Bei detu Versuch des Pat. zu
gehen, fallt zuerst auf, dass auch die Muskeln des Rumpfes an der Bewegungs-
storung teilnehmen. Pat. geht mit langsamen kleinen Schritten, in st$ifei
Korperhaltung. Beim Gehen tritt dann eine allmahlich immer mehr zuneh-
mendeBeugung des Rumpfes nach vorn in sehr auffalliger Weise in die Ersehei-
nung. Die Wirbelsaule wird kyphotisch nach hinten gekrummt, der Kopf nach
vorn gebeugt gehalten. Nach wenigen Schritten bleibt Pat. in dieser Stellung
mit vornubergebeugtem Rumpf, gebeugten Knie- und Hiiftgelenken stehen, ist
nicht im Stande weiter zu gehen (Abb. 2 u. 3). Mitunter kommt es aus dieser
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Ueber doppelseitige Atlietose und verwandte Krankheitszustande. 365
stebenden Stellung beraus oder auch beim Versucb, waiter zu gehen, zu der
Ersoheinung der Retropulsion in ausgesproehener Wtise; er fangt an, sieh
mit kleinen sterfen Schritten, in bescbleunigtem scbiessendem Tempo nach
riickwarts zu bewegen. Mitunter treten auch Andeutungen von Lateropulsion
bervor. Diese Erscbeinungen in Verbindung mit der steifen nach vorn ge-
beugten Kfirperbaltung, dem starren Gesichtsausdruck, der profusen Salivation
verleiben dem Krankheitsbilde vorubergehend eine weitgehende Aebnlichkeit
mit der Paralysis agitans. Die Haltung der Arme ist bei den Gehversucben
eine verschiedene, wecbselnd naob der Intensitat und Lokalisation der gerade
w irks amen unwiHkiirlichen Bewegungen und Muskelspannungen (Abb. 2—3).
In Folge derselben kommt es auch bei ruhiger Riickenlage zu ganz grotesken
Korperbaltungen. Zunachst treten stavke Beugebewegungen in Ilfift- und Knic-
gelenken, baufig mit Adduktionsbewegungen verbunden auf(Abb.4), denen eine
extreme Beugung des Rumpfes und Kopfes nach vorn folgt, so dass schliesslich
Pat. den Korper bogenformig naob vorn gekrfimmt, nur mit einem Teil des
Riickens auf dem Bett aufliegend, mit von der Unterlage weit abgeliobenen
Beinen und Gesass sozusagen fiber seiner Lagerstatte schwebt (Abb. 5) und
langere Zeit in dieser merkwurdigen Stellung, die er willkurlich nicbt zu an-
dern vermag, verharrt. Es ist bemerkenswert, dass diese bizarren, an die Ver-
drehungen beim „Torsionsspasmus u erinnernden Koiperbaltungen nach einem
gewissen Rbytbmus in mehr oder weniger regelmassigen Intervallen und auch
nach einem bestimmten Typus der Aufeinanderfolge der eigenartigen Bewegun¬
gen einzutreten und zu verlaufen pflegen. Wahrend dieser Phasen ist dcr
hypertonische Zustand der Muskeln, wie er uns bei dem Versuch von passiven
Bewegungen entgegentritt, besonders deutlich ausgepragt. Naoh einigen
Minuten pflegt die abnorme Kbrperhaltung zusammen mit den starken Spasmen
wieder zu versohwinden. Andauernd ist zu beobachten, dass psychische
Reize der alter?ersohiedensten Art verslarkend auf die athetotischen Bewegun¬
gen einwirken, oder dieselben, wenn sie zeitweilig nicbt hervortreten, wieder
auslosen. Oft genfigt das Herantreten an das Bett, das blosse Anredon des
Kranken, um sie hervorzurufen. Mitunter sieht man, dass auch die Zehen und
Finger, die frtiher keine athetotischen Bewegungen zeigten, in geringerem Grade
von dieser Storang jetzt qitbetroffen sind. Die athetotischen Bewegungen im
Gesiobt, die sich znerst auf den Mundfazialis beschrankten, greifen allmahlich
auch auf die underen Aeste des Fazialis fiber, so dass es schliesslich zu einem
allgemeinen Grimajssieren kommt. Diese Bewegungen zeigen stets den
exquisit langslmen, ziehenden Charakter der Atbetose. DasSchlucken und die
Sprache wird in immer boherem Grade gestort, so dass die Nahrungsaufnahme
grosse Schwierigkeiten macht, besonders ist das Schlucken vonFlussigkeiton be-
hindert, wfibrend das Kauen fester Speisen besser vonstatten geht. Die Sprache
ist kaum mehr verstandlich; Pat. versucht mitunter durch die in den Mund ge-
steckten Finger die unwiHkiirlichen Bewegungon desselben zu unterdrficken.
Der gesamte Krankheitsvcrlauf lasst trotz seines ausgesprochen progressiven
Charakters, mitunter Remissionen von kurzer Dauer erkennen, in denen die
Atbetosebewegungen mehr zurucktreten, mitunter vorubergehend versohwinden.
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Abbildung 4. Abbildung 5.
* t*
Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 367
Pat. ist durch die sich plotz-
lich einstellenden spastiscben
Zustande der Korpermusku-
latur in seinen Aktionen sehr
behindert; ervermagz.B.nicht
allein ausdemBett zukommen,
sondern verharrtbeidiesenVer-
suchen mitunter in ganz bi-
zarren Stellungen, wie erstarrt
auf derBettkante sitzend. Eine
auffallende Bewegungsar-
mut tritt in seinem ausse-
renVerhalten hierbei deutlich
hervor. Was den iibrigen Be-
fund amNervensystem betrifft,
ist das Oppenheim'sche
Zeichen, welches am Beginn
der Beobachtung rechts zwei-
felhaft war, spater rechts an-
dauernd deutlich vorhanden,
ebenso ist der Gordon’sche
Reflex rechts in ausgesproche-
nerWeise nachweisbar. Links
sind diese Zeichen nur init-
unter und weniger deutlich zu
konstatieTen.
Babinski fehlt beiderseits
andauernd. Die Bauchdecken-
reflexe sind deutlich vorhan¬
den. Die Sehenrellexe sind an
den Beinen sehr lebhaft, aber
nicht ausgesprochen patho-
logisch gesteigert, nur einmal
war voriibergehend beiderseits
Fussklonus vorhanden. Keine
^paradoxe Kontraktion u . An
den Armen sind die Sehnen-
reflexe nicht gesteigert, von
normaler Starke.
Anhaltende Kontrak-
turen oder La h mu n gen
sind nicht zur Entwick-
lung gekommen, wie sich
in den Zeiten von voriibei.
gehendem Verschwinden der
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A. Westphal,
Spasmen nachweisen liisst. Die Bewegungsstdrung lasst andauernd den
Charakter der Athetose erkennen, cboreiforme Bewegungen oder Tremor werden
nicht beobachtet. Kurz dauernde kloniscbe, auf den linken M. sartorius
beschninkte Zuckungen sind einmal bemerkt worden. Sogenannte n identische M
Mitbewegungen sind nicht zu konstatieren. Ataxie ist nioht vorhanden. Ziel-
bewegungen werden, sobald sie nicht durch eintretende athetolischeSpannongen
verhindert werden, sicber ausgefuhrt. Sensibilitatsstorungen waren niemals
Abbildung 6.
Horizontalsclmifct durch das Gehirn in der Hohe der Corpora striata gelegt.
Das Putamen beiderseits bei H von kleinen Herden durchlochert.
nachzuweiscn. Wiederholt ist Urintraufeln zu beobachten. Keine Storangen
der Stuhlentleerung. Erst in den letzten Wochen stellen sich Durchfalle ein,
die den schon sehr erschopften Pat. noch mehr herunterbringen. Fieberbe-
wegungen sind wahrend des gesamten Krankheitsverlaufes nicht beobaohtet
worden.
Exitns am 20. Marz 1918 nach kaum secbswochentlichem Krankenbaus-
aufenthalt.
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankboitszustande. 3H9
Aus dem Sektionsproiokoll ist Fol gen des hervorzuheben: Schadel
diinD. Dura massig gespannt. Pia diinn und durchscheinend. Gefasse an der
Basis und der Fossa Sylvii zartwandig. Hirnwindongen nicht verscbmalert.
Ein dorch das Gehirn gefuhrter, den Linsenkern beiderseits frei-
legender Horizontalscbnitt lasst eine bi lateral e symmetrise be Er-
krankung desselben erkennen. Der hintere aussere Teil des Pu-
tamen zeigt beiderseits in einem etwa zebnpfennigstiickgrossen
Bezirk eine wabenartige Struktur, die bedingt ist durcb mehrere
birsekorn- bis linsengrosse, dicht bei einander liegende Hohl-
r&ume (Abb.6). Die Sussere Grenze dieses erkranktenBezirks wird sebarf durch
die aussere Kapsel gebildet. Dorsal warts reicben diese durchlocherten Stellen
beiderseits nur wenige Millimeter in die Tiefe. Die Hohlraume entbalten eine
geringe Menge eines zaben, fadenziebenden, hellen Inbalts. Die iibrigen Teile
des Linsenkerns, der N. caudatus und der Thalamus opticus lassen makrosko-
pisch koine VerEnderungen erkennen. Ebenso ersoheint das Rtickenmark un-
verandert. Von den inneren Organen sind llerz und Aorta, Nieren, Magen und
Hoden auffallend klein, obne sonstige Veranderungen erkennen zu lassen. Die
Leber ist etwas vergrossert, Gewicht 1650 g. Die Oberflache glatt. Der Dick-
darm stark byperEmiscb mit zahlreiohen Geschwuren.
Mikroskopiscbe Ontersuchung. Aus dem Gehirn wurde je ein
kleines Stuck aus der linken Frontalwindung, der vorderen und hinteren Zen-
tralwindang, sowie aus dem erkrankten Linsenkern einer Seite inAlkohol gelegt
zur ToluidinblaufSrbung nach Kissl.
Das ubrige in Formol konserrierte Gehirn wurde zur weiteren Bearbeitung
in das neurologische Universitfits-Laboratorium nach Berlin gescbickt. Den
Herren Kollegen 0. Vogt und Bielschowsky bin ich fur die liebenswiirdige
Ausfuhrung dieser Untersuchungen zu vielem Dank verpflichtet. lob gebe zu-
naohst den ton mir in Gemeinscbaft mit Herrn Dr. Sioli am Alkoholmaterial
gewonnenen Befund nieder.
1. Frontalwindung. Pia stellenweis etwas verdiokt durch Fibroblasten
und Abraumzellen mit ziemlicb viel grunem Pigment. GehirnoberflEobe stark
grobwellig, keine bemerkenswerte kernfrele Deckscbicht. Keine Storung der
Rindenarobitektur.
Die Gefasse der Ilirnrinde und des Marks sind niclit vermehrt, einzelne
Gefasse aber stark geschlEngelt. Endothelkerne niebt vergrossert, aber stellen¬
weis etwas vermehrt. In vielen Gefasswandzellen grune Pigmentkorner. In
den adventitiellen Scheiden vieler Markgefasse reichliche Zellansammlungen
(Abb. 7), von denen ein grosser Teil als gelbes oder griines Pigment enthal-
tende AbrSumzellen erkennbar ist, ein anderer Teil nur grosse oder kleine
Kerne obne Protoplasma zeigt. Iofiltrationszellen sind nicht mit Sicberheit
nachweisbar. Es fin den sicb keine PJasmazellen.
Die Ganglienzellen beilnden siob vielfacb im Zustand der ebroniseben
Voranderung in verschiedenen Graden des kornigenZerfalls. Stellenweis starke
Neuronopbagie. Gliakerne stark vermebrt, es linden sich viele kleine, aber
auoh eine vermebrte Anzahl geschwellter Gliakerne. Stabchenzellen sind nicht
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vorhanden. Vordere und hintere Zentralwindung gleichen der 1. Fron-
talwindung, nor ist die Ganglienzellenveranderung geringer.
Linsenkern. Im Bereich des Linsenkerns finden sich in den adventi-
tiellen Lymphsoheiden neben Lymphozyten, Plasmazellen in wechselnder
Anzahl. Wahrend dieselben an manchen Stellen nur sparlich vertreten sind,
sind sie an anderen Stolen zahlreicher vorhanden, liegen mitunter in den
Abbildung 7
Perivaskulare Zellanhaufungen (Mark des Stirnhirn); schwache Vergrbsserung,
Lymphsoheiden derkleinenGe fa ssedichtbei einander (Abb.8). Dane-
ben sind zahlreiche Pigment fiihrende Abraumzellen sichtbar. Unregelmassig
im Gewebe zerstreut sind zahlreiche Stabchenzellen sichtbar.
Die Ganglienzellen sind vielfach verandert im Sinne eines kornigen Zer-
falls mit Vorhandensein zahlreicher Zellschatten.
Die Gliakerne sind vermehrt, es finden sich besonders zahlreiche grosse
geschwellte Kerne, umgeben von Stippchen oder hauohartigen Protoplasma-
fortsatzen.
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 371
Das Uesultat der bisherigen histologischen von Prof. Bielschowsky aus-
gefiihrton Untorsuchung des in Formol aufbewahrten Materials lasse ich in
abgekdrzter Form folgen 1 ):
Bei schwacher Vergrosserung bietet das Gewebe der erkrankten Stelie
des Putamen das Aussehen eines grosslocherigen Schweizerkases. Die Looher
enthalten haufig Ballen einer koagulierten, durchsichtigen und mit Kresylviolett
metachromatisch gcfarbtenSubstanz, in welcher sich nioht selten kristallinische
Nadeln und Nadelbiindcl ausgeschieden haben. Die Locher entsprechon in der
Mehrzahl den stark erweiterten Lymphraumen der grosscren Arterien; zum Teil
Abbildung 8.
» ^
Plasmazellen im pcrivaskuliircn Lymphraum eines kleincn Gcfiisses
des Corpus striatum (Zeiss liomogen. Immersion).
lasst ihr Inhalt aber Reste eingeschmolzenen zentralen Gewebes (Giiakerne,
schattenhaft abgeblasste Ganglienzellen, Rundzellen von lymphozytarem Aus¬
sehen) erkennen, %efunde, welcbe darauf sohliessen lassen, dass neben einer
erheblichen Lymphstauung auch eine sekundare Einschmelzung des
infiltrierten Gewebes'in derUmgebungderGefasse stattgefundenhat. Forner
l) Das vollstandige Fjigebnis der anatoniischen Untersuchung wird nach
Fortigstellung derselben im Journal fur Psychologie und Neurologie verbiTent-
licht werden.
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A. Westphal,
l *?■>■ •*'. >
finden sich in der Umgebung kleiner Arterien frische und Reste a 11erer
Blutungen, welche ebenfalls an der Bildung der kleinzystischen Verande-
rungen des Gcwebes mitgewirkt baben konnen.
Neben diesen in enger Beziehung zum Gefassapparat stehenden kleinen
zystischen Herden finden sich iin ganzen Putamen und vereinzelt aucb im
N. caudatus kleine rundliche, scharf begrenzte Proliferationszonen
von Gliakernen, in deron Bereicb sich aucb zahlreiche Stabcbonzellen nach-
wcisen lassen. Bei Kisenbamatoxylinfarbungen treten diese Herde mit ibren stark
injizierten und gedrangt stehenden Kapillaren besonders deutlicb bervor. Die
Venen sind in den makroskopisch erkrankten Partien desPutamen von Rundzellen
umsaumt. Die peri vaskularen Infiltrate durchsetzen baufig die Gefass-
wand und bilden gelegentlich breite Wallc. Sie enthalten vorwiegend lympho-
zytare Elemente, aber aucb Plasmazellen und vereinzelte Mastzellen. Dazwi-
scben finden sich adventitielle, oin griinliches Pigment entbaltende Abbauzellen
und freiliegende Pigmentklumpen. An den Gefassen des Putamen und
des Globus pallidas fallt ferner das reichlicbe Vorkommen von Kalkein-
lagerungen in den Gefasswanden, teils in Form einer staubartigen
Durchsetzung der Media, teils in der Bildung einer derben Konkrement-
scbicht zwisoben Intima und Media auf. Haufig geht eine hyaline Meta¬
morphose der Media mit dieser Inkrustation des Gefassrohres Hand in
Hand. Im Globus pallidus finden sich rundliche oder eiformige, mitunter eine
/.wiebelartigo Scbichtung erkeunenlassende Gebildc, die ihrer farberiscben
Reaktion nach kalkhaltigo Verbindungen darstellen und als schollenartige
dunkle Bildungen viele Kapillaren auf weite Streckcn bedecken. Der N. cau¬
datus bietet ahnliche Befunde wie der Linsenkern, nur in quantitativ abge-
scbwacbtem Masse. Auch in den dem Linsenkerne benaobbarten Inselwin-
dungen, in der llegio substriata und dem Claustrum, sowie in der Pia der Insel-
windungen sind zahlreiche erweiterte Gefasse, besonders Venen mit zellig
infiltrierten Wandungen und erweitertenLymphraumen vorhanden. Die Linsen-
kernschlinge, die Haube und die Faserung des Mittelhirns zeigen
keine Abweichu'ngen von -dor Norm, insbosondere weder Herde, noch
sekundare Degenerationen. Die Parenchymbestandteile sind in dem erkrankten
Linsenkerngebiet im Zellbild relativ wenig veriindert. Immcrkin sieht man
nicht selten an den grossen Zelltypen desPutamen und Globus pallidus Zerfalls-
erscheinungen und in den grossen Zellen des letzteren Anhaufungen von grob-
kornigerlipoider Substanz, wie sie unter normalen Verhaltnissen nicht vorkommen.
Das Riickenmark lasst in beiden Pyramidenseitenstrangen
deutliche Vermehrung dor faserigen Glia erkennen, so dass sich die-
seiben scharf von den nicht veranderten Kleinhirnseitenstrangbahnen abgrenzen.
Bei Markscheidenfarbungen (nach Pal) ist jedoch keinAusfall vonNervenfasern
m dem Areal der Pyramidenseitenstrango zu erkennen.
Die Untersuchung der Leber ergab: Beginnende Exsudation an den
kleinen Gefassen des interazinosen Bindegewebes, fettige Degeneration der
Leberzellen, keine Kapillarneubildungen in den Gallenwegen.
Diagnose: Beginnende Zirrhose.
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 373
Dieser Fall ist in symptomatologischer, lokalisatorischer und patho-
logisch-anatomischer Beziehung bemerkenswert. Wenden wir uns zuerst
den Syroptomen der Krankheit zu. Rs handelt sicb um eine doppel-
seitige, die Muskeln der Extremit&ten, des Rumpfes und des Geeichts
betreffende Athetose. Die Beteiligung des Gesichts ist einc selir aus-
gesprochene, es besteht ein fast kontinuierliches Grimassieren. Die
athetotischen Bewegungen der Extremitaten betreffen niclit wie in der
Regel vorwiegend die distalen Abschnitte derselben, sondern linden in
erster Linie in den mehr proximal gelegenen Gelenken statt, eine ge-
ringe Beteiligung der Finger und Zehen wird erst im spateren Krank-
beitsstadium beobachtet. Dass die Lokalisation der athetotischen Be¬
wegungen an Hand und Fuss keine ganz konstante ist, wird schon von
Lewandowsky 1 ) erwahnt, der hervorhebt, dass die Bewegungen, wenn
auch selten. an andejren Muskeln beobachtet werden. Er selbst sah die
Athetose zweimal an den Muskeln der Schulter auftreten. Die Bewe¬
gungen haben den exquisit langsamen, drehenden, der Athetose eigen-
tumlichen Charakter, zeigen niemals die schnellere Verlaufsweise von
choreatischen Zuckungen.
Was den rhythmischcn Charakter der Bewegungen betrift't, auf den
Lewandowsky besonders Gewicht legt, so ist derselbe im allgemeinen
uicht zu konstatieren, vielmehr erfolgen die Bewegungen in der Regel
in ganz ungeordneter, uberaus wechselvoller Weise. Dagegen zeigen die
mit der Athetose eng zusammenh&ngenden passageren Kontraktureu,
der „Spasmus mobilis u der Autoren, niitunter eine eigenaqtige, sich
rhythmisch wiederholende Verlaufsweise bei nnserem Kranken. Dass es
sich bei der Erscheinung der Athetose double in meinem Fall aus-
schliesslicb r nm eine Art generalisierter, aber keineswegs identischer
Mitbewegnngen handelt’, als welclie sie Lewandowsky auffasst, much to
ich nicht glauben. Zwar konnte auch ich feststellen, dass mitunter so-
genaunte athetotische Stellungen erst auftreten, wenn andere Kfirper-
teile Bewegungen maclien, oder wenn sich der Kranke in Bewegung
setzt, aber viel h&ufiger sah ich athetotische Bewegungen einzclner
Muskeln, ohne dass diese Bewegung als Mitbewegung gedeutet werden
konnte oder wieder andere Bewegungen auslfiste. In evideuter Weise
tritt der von Lewandowsky besonders. betonte Einfluss psychischer
Emotionen l>ei nnserem Kranken hervor; das Anreden desselben, das
Ilerantreten an das Bett, ja mitunter schon eine von dem Kranken be-
merkte Beobachtuug aus der Feme genfigt, athetotische Bewegungen
hervorzurufen oder vorhandene wesentlich zu verstiirken.
1) Ueber die Bewegungsstfirungen der infaniilen zerebralen Hemiplegie
and fiber die Athetose double. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 29.
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374 •
Von besonderem lntercsse ist die Betrachtung der mit der Atlie-
those untrennbar verbundenen Spasmen in den betroffeneu Mus-
kelgruppen, seitdem Striimpell (1. c) diese hypertonischcn Zustande
der Muskeln zum Gegenstand eingebeuder Untersuchung gemacht und
gezeigt hat, dass sie ein wesentliches Merkmal verschiedener mit ein-
ander verwandter, auf Storungen der Myostatik beruhender motorischer
Symptomenkoniplexe bilden. Zu diesem „amyostatischeu Syndrom u
gehort auch die Athetose, welche besonders in zwei von Strumpell’s
Fallen in den Vordergrund trat. Der von Striimpell als eine Haupt-
eigentumlichkeit desj veranderten Muskelzustandes beschriebene Ura-
stand, dass die hypertonischen Muskeln die Glieder in den eingenom-
menen Stellungen fixieren und festbalten, eine Erscheinung, die er
,, Fixationsrigiditat“ oder „Fixationskontraktur“ nannte, tritt
auch in unserer Beobachtung deutlich hervor. Die Abbildungen 1—5
zeigen die bizarren Stell ungen, in welche der Patient durcli diese Fixa-
tionsrigiditat gebracht wird. Die Tatsache, dass „diese Stellungen ganz
von allein kommen M , wie sich ein Patient Strum pel 1 ’s ausdruckte, ist
auch fiir unsere Beobachtung. zutreffend.
In ausgesprochener Weise trat die Bewegungsarmut bei unserem
Patienten in die Erscheinung. Die in den sonderbarstcn und unbequem-
sten Stellungen geratenen Extremitaten verharreu oft l&ngere Zeit be-
wegungslos in denselben. Der Gesichtsausdruck bat trotz der athetoti-
schen Bewegungen der Gesichtsmuskulatur etwas Starres, es fehlt jede
eigentliche Mimik. Patient bewegt sich iiberhaupt spontan so gut wie
gar nicht, die an ihm zu beobachtenden Bewegungen sind unwillkur-
liche. Das Verlialten der Muskeln bei passiveil Bewegungen
entspricht ini wesentlichen dem von Striimpell Angegebenen; insbe-
sondere kann bei plotzlichen, briisken, ))assiven Bewegungen keine Ver-
starkung der Spasmen auf reflektorischem Wege, wie dies bei spastischen
auf Erkrankung der Pyramidenbahn beruhendeu Lahmungen der Fall
zu sein pflegt, hervorgerufen werden. Im Gegenteil, die Spasmen lasseu
bei mehrfach wiederholten passiven Bewegungen nach; niemals ist dabei
auch nur eine Andeutung von Schutteltremor vorhanden. Diesel* Um-
stand ist urn so bemerkenswerter, weil unser Fall ’kein ganz „reiner u
ist, sondern eine Komplikation mit einer auch anatomisch nachgewie-
senen, allerdings nur geringfiigigen Erkrankung der Pyramiden¬
bahn zeigt, auf die klinisch das rechts im spateren Krankheitsverlauf
andauernd vorhandene Oppenheim'sche und Gordon schen Zeichen
hinwiesen, die links nur mitunter hervorzurufen waren. Das Babinski-
sche Zeichen jedoch war niemals nachweisbar. Die Sehnenreflexe waren
lebhaft, oline deutlich gesteigert zu sein. Nur einmal liess sich in der
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 375
letzten Zeit der Erkrankung vorfibergehend Fussklonus hervorjrufen.
Die Bauchdeckenreflexe waren deutlich vorhanden. Dass durcb die Bei-
mengung einiger auf eine Mitbeteiliguug dcr Pyramidenbabn hinweisen-
der Symptome, die prinzipielle Bedeutung des myostatischen
Symptomenkomplexes nicht verringert wird, ist bei Berucksicbtigung
der anatomiscben Verk<nisse ohne weiteres verstfindiich, wenn man be-
denkt, dass es sich in diesen Fallen „wohl nur um eine Ueberscbreituug,
um ein Ueberdieufertreten 14 des anatomischen Prozesses handelt (Oppen-
heim). Nicht zweifelbaft ist es aber, dass durch das Auftreten von
Pyramidenbahnsymptomen bei zum amyostatischen Symptomenkomplex
gehfirenden Krankheitsffillen die Differential diagnose erschwert werden
kann, wie das fur die Pseudosklerose gegenuber der multiplen Sklerose
in eingehender Weise von Oppenhetm 1 ) dargetan ist.
Unser Fall zeigt, dass trotz der bestehenden Komplikation mit einer
leichten Pyramidenbahnerkrankung, die Art der Muskelrigiditfit im wesent-
lichen dem StrfimpeH’scken Typus entspricht, dass demnack der Eigen-
art des hypertonischen Zustandes der Muskulatur eine besonders grosse
Bedeutung in diagnostischer Hinsiclit zukommt.
In unserem Falle R. spielen neben der Athetose Stdrungen der
Sprache and des Schluckens eine wichtige Rolle. Die Sprache ist
leise, mitunter stockend, von monotonem Charakter und nasalem Bei-
klang, sie ist in der letzten Zeit der Beobachtung kaum noch verstfind-
lich. Das Schlucken ist sehr erschwert^ besondere Schwierigkeiten
macht die Einnabme von Flussigkeiten, die zuletzt nicht mebr herunter
gebracht werden kdnnen. Starke Salivation ist mit diesen Stdrungen
verbunden. Diese „pseudobu)b&ren u Erscbeinungen sind schon in den
ersten Fallen von C. Vogt und Oppenheim bei doppelseitiger Alhe-
tose von diesen Autoren beobacbtet und auf die Erkrankung des Corpus
striatum zuruckgefuhrt worden. Von Wilson ist spttter bei Beschrei*
bung seiner Krankheitsf&lle betont worden, dass die in seinen Beobach-
tungen zu konstatierende Dysarthie und Dysphagie auf die bilaterale
lentikul&re Erkrankung zu beziehen seien.
Was die in unserem Fall vorhandenen Blasenstdrungen, die in
leicbter Inkontinenz bestandeu, betrifft, weise icb darauf hin, dass
v. Czylarz und Marburg 2 ; in* ihrer Arbeit fiber zerebrale Blasen-
stdrungen zur Annahme eines im Corpus striatum gelegenen Blasen-
zentrums kommen, durch dessen Mitbetroffensein die Blasenstdrungen
1) Differentialdiagnose zwischen multipler Sklerose und Pseudosklerose.
Deutsche Zeitsohr. f. Nervenheilk. Bd. 54. H. 4.
2) Jahrb. f. Psych, u. Neurol. Bd. 21.
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A. Westphal,
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unser^s Kranken eine Erklarung fin den kbnnten. Das Fehlen schwererer
psychischer Stdrungen in unserem Falle steht in Uebereinstimmung
mit den Erfahrungen bei den fr&her beobachteten Fallen von doppel-
seitiger Athetose [Freund 1 )].
Dass die in unserem Falle konstatierten leichteren V erSnderungen,
wie die Abnabme des G ediich tn isses und der Merkf&higkeit.
auf die zerebrale Erkrankung zuruckzufubren sind, nicht lediglich als
beginnende Alterserscheinungen aufgefasst werden durfen, wird durch das
zeitliche Zusammeutreflfen des Einsetzens dieser Stdrungen mit den mo-
torischen Krankheitssyraptoraen wahrscheinlich geniacht. Diese Ged&cht-
nisstftrungen sind ini Gegensatz zu den Angaben Stdcker’s 2 ) bemer-
kenswert, dass bei der progressiven Lentikularerkrankung „auf psychi-
scbem Gebiete in alien bisher beobachteten Fallen immer nur eine
eigenartige geistige Schwache beobachtet worden ist, die sich vor allem
ausserte in einer gewissen Urteils- und Aflektstdrung . . . Jedoch nicht
in Stdrungen der Merkfahigkeit“.
Bei der Vorstellung meines Kranken (I. c.) wies ich auf die Aehn-
licbkeit bin, welcbc das Krankheitsbild einerseits mit dem der Para¬
lysis agitans, andererseits mit der Dystonia musculorum defor¬
mans (Oppcnheim) in mancben Punkten aufweist.
An die Paralysis agitans erinnern in erster Linie die Muskel-
spannungen, die den Cbarakter der bei der Zitterlabmung zu beobacb-
tenden Spasmen zeigen. Striimpell hat bei der Schilderung des
amyostatischen Symptomenkomplexes auf die Aebnlicbkeit bingewiesen,
welcbe die Muskelrigidit&t mit dem Yerhalten der Muskelspannungen
mancber Fiille von Paralysis agitans aufweist, die von ibm als „Para¬
lysis agitans sine agitatione w bezeicbnet worden sind. Auch in unserem
Falle fehlt das Zittern vollstandig. Der Gesichtsausdruck unseres
Kranken bat den starren der Paralysis agitans eigentiim lichen Charakter,
der bei dieser Krankheit auf die Muskelspannungen zuruckgefuhrt zu
werden pflegt, wiihrend Zingerle 3 ) das Fehlen der inimischen Aus-
drucksbewegungcn als ein den Spasmen koordiniertes Symptom, nicht
als eine Folge derselben betrachtet.
Weitgebende Aebnlichkeit mit dem Verbalten bei der Paralysis
agitans zeigt die Korperbaltung und der Gang unseres Kranken. Das
Symptom der Retro puls ion, welches, wenn auch nicht ko ns taut nach-
1) Journal f. Psych, n. Neurol. Bd. 18. Erganzungsheft 4. %
2) Ein Fall von fortschreitender Lentikulardegeneration. Zeitschr. f. die
ges. Neurol, u. Psych. Bd. 15.
3) Journal f. Psych, n. Neurol. Bd. 14.
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 377
weisbar, doch zeitweilig in ausgesprochener Weise vorhanden 1st, muss
besonders hervorgehoben werden, da es, soviel ich die Literatur fiber-
sehe, bisber bei Fallen von doppelseitiger Athetose nicht beobacbtet ist.
Es geht aber ana der Bescbreibung von zum amyostatischen Symptomen-
komplex gehdrigen Fallen, und zwar in erster Linie solcben der Wilson -
schen Krankheit hervor, dass dieses Symptom keineswegs ffir die Para¬
lysis agitans pathognomoniscb ist, sondern auch bei verwandten Krank-
heitszustanden vorkommt. So beschreibt St6cker*(l. c.) in seinem Falle
von fortschreitender Lentikulardegeneration (Wilson’scher Krankheit)
ganz analog unserer Beobachtung Retro- und Lateropulsion als Sym¬
ptoms, die er mit der Muskelsteiiigkeit in Zusammenhang bringt, und
ihre Entstehung dadurch erkl&rt, „dass in Folge der Steifigkeit und vor
allem tier dadurch bedingten Erschwerung und Verlangsamung aller
Muskelbewegungen, die statische Ausbalanzierungsf&higkeit des Kfirpers
Scbaden gelitten hat u . Leichte Erscheinungen von Propulsion bei einem
Falle Wilson’scber Krankheit konnte auch Stier 1 ) bei einem seiner
Fade nacbweisen. Von den pseudobulbfiren in unserem Falle beobach-
teten Symptomen kommen Dysarthie und Dysphagie in vereinzelten Fallen
bei Paralysis agitans vor, wfihrend der bei unserem Patienten bestehende
Speichelfluss zu den hfiufigen Begleiterscheinungen dieses Leidens ge-
hfirt. Noch nShore Beziebungen wie zum Symptomenkomplexe der
Paralysis agitans l&sst unser Fall zur Dystonia musculorum defor¬
mans (Torsionsspasmus) erkennen. Seitdem Oppenheim und Ziehen
in ihren ersten dieses Krankheitsbild schildernden Darstellungen auf
verwandtschaftliche Verhaltnisse desselben zur doppelseitigen Athetose
hingewiesen baben, ist die Frage* nach diesen Beziehungen in den fol-
genden Verfiffentlichungen und Diskussionen nicht mehr von der Bild-
flache verschwunden. In jfingster Zeit bat Thom alia (1. c.) bei der
Schiiderung eines in klinischer und anatomischer Hinsicht bemerkens-
werten Fades von Torsionsspasmus eine zusammenfassende Uebersicht fiber
den Standpunkt unserer Kenntnisse auf diesem Gebiete gegeben. Wenn
ich meine Beobachtung in das Gebiet der allgemeinen Athetose eiureihe,
so geschieht das aus folgenden Grfinden: Der Fall unterscbeidct sich
von dem ursprfinglichen Krankheitsbilde der Dystonia musculorum de¬
formans dadurch, dass er einen Erwachsenen, nicht das kindliche Alter
betrifft, dass der Patient nicht semitischer Abstammung ist, und dass
das Leiden in akuter Weise entstanden, sich in rapider Weise weiter
entwickelt hat, nicht den bei der Dystonia musculorum deformans ge-
1) Wilson’sche Krankheit und Paralysis agitans. Neurol. Zentralblatt.
1917. Nr. 24.
ArchfT t P»ychl»irie. Bd. 60. Heft 2/3. 25
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378
A. NVestph&l,
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wdhnlicheu schleichenden Charakter zeigt. Von den kliniscben Eracbei-
nungen ist das lebhafte Grimassieren, die starke StSrung der Sprache
und des Sckluckaktes, sowie der Umstand, dass die eigenartige Bewe-
gungsstOrung nicht nur im Gehen und Stehen auftritt, sondern auch im
Liegen zu deu groteskesten StelJungen fuhrt, dem Oppenheim-Ziehen-
schen Krankkeitsbilde fremd. Hypotonische Zust&nde der Muskulatar,
die Oppenkeim besckreibt, sind in unserem Falle nicht zu konstatieren.
Fur die Athetose kingegen spricbt in meinem Fail der exquisit langsanie
Charakter der Bewegungen, die Tatsache, da$s die Pradilektionsstellen
der Atlietose, die Finger und Zeken im sp&teren Krankheitsverlauf von
der StOrung mitergriffen werden, sowie der ausserordentlicke Einfluss,
den psycbiscke Erregungen auf die Auslftsung der Beweguugen kaken.
Der torquierende, zu ubertriebenen Stellungen fuhrende Verlauf’der Be*
wegungen bei unserem Kranken ist fur die Dystonia musculorum defor¬
mans kennzeichnend, aber auck der Athetose nicht fremd. Dass das
Vorhandensein oder Fehlen von auf ein Mitergriffensein der Pyramiden-
bakn hinweisendenSymptomen, besonders wenn diesel ben ein wechselvolles,
fluktuierendes Verkalten zeigen, keineu Scbluss fur oder gegen die An*
nakme des Bestekens eiuer Athetose double oder des Torsionsspasmus
gestattet, hat bereits Thomalla ansgefukrt. Das Vorhandensein einer
Reihe der Athetose double zukomraender Symptome (Grimassieren,
Sprach- und SckluckstOrungen, typisch atketotiscke Bewegungen, starke
Salivation) in seinem im iibrigen mekr dem Biide des Torsionsspasmus
entspreckenden Falle, veranlasst Thomalla diesen als einen Grenzfall
zwiscken Torsionsspasmus und Athetose double zu bezeicknen, wie sie
auch von Flatau, Maas, Fischer u. a. beobachtet sind. Wie sckwierig
die Differeutialdiagnose dieser beiden Symptomenkomplexe sein kann,
geht mit besonderer Deutlicjikeit aus der sick an eine Krankkeits*
vorstellung Kramer's 1 ) ansch lies sen den Disk uss ion hervor, in der von
Bonhoeffer darauf hingewiesen wurde, dass auch das Verhaiten der
Bewegungsstorung bei Ruhelage und Lokomotion, der ckronische Ver*
lauf, die semitiscbe Abstammung, keine durcbg&nglgen, in alien F&llen
vorkandene Attribute des Torsionsspasmus sind, und in welcker
Oppenkeim betoute, dass derartige Drebkrampfe nicht nur bei der
Dystonie bezw. dem Torsionsspasmus, sondern auch unter anderen uns
nock unbekannten Bedingungen vorkommen. Wir konnen uns Op pen-
heim nur anschliessen in der Forderung, dass es eine Hauptaufgabe
der weiteren Forschung sei, die Differentialdiagnose der so niannigfacke
l i Torsionsspasmus iihnliches Bild beim Krwachsenen. Ref. Zeitschr. f.
die gos. Psych, u. Neurol. Bd. 1G. If. 2. 1918.
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszusiande. 379
Beruhrungspunkte darbietenden Dystonia musculorum deformans und
der bilateralen Athetose weiter auszubauen. Ob und inwieweiteine
scharfe Trenuung dieser Krankheitsbilder auf symptomnto-
logiscbem <Wege raftglich ist, wird erst die Zukunft leh.ren.
Auf keinen Fall wird die klinische Arbeit auf diesem Gebiete die Kon-
trolle durcb die anatomische Untersucbung entbebren k&nnen.
Die Lokalisation der Erkrankung ira Striatum in unserein Falle ist
dieselbe wie in den Fallen von Anton, C. Vogt und O'ppenheim,
von C. Vogt, Freund und Barrd, die s&mtlick mit Ausnabme des
Anton’schen Falles, in dem choreatische Bewegungen iiberwogen, das
Bild der doppelseitigen Atbetose darboten. Der neue „Grenzfall w
Thomallas, bei dem der anatomische Befund ebenfalls eine
doppelseitige symmetrische Erkrankung des Putamen ergab,
ist in Verbindung mit unserer Beobachtung besonders ge-
eignet, zum Verstandnis der auf klinischem Wege festge-
stellten nahen Beziehungen des Torsionsspasmus zur Atbe¬
tose double beizutragen und auf die Bedcutung weiterer ana-
tomiscber Befunde fur die Lokalisation der in Frage stehen-
den Krankheitsbilder binzuweisen. Mit Hinsicht auf die feinere
Lokalisation im Gebiet des Striatum hebt Kleist (I. c.) bervor, „dass
Erkrankuugen des Striatum choreatische uud atbetotische Bewegungen
uberwiegend dann zeigen, wenn die nacb Ban und Entwicklungsgescbichte
zusammenh&ngenden „kleinzelligen Striatumteile u , Purameu und Scbwanz-
kern verletzt sind. In raehreren Fallen (Anton, Berger, v. Mona-
kow, Abundo) war nur das Putamen betroffen, bei den bciden Krankeu
von C. Vogt, das Putamen und der N. caudatus, w fill rend der Globus
pallidus in einem Falle, wcnn auch in geringerem Grade, mitbeteiligt
war. ... Nur Fischer und Bothmann beschrieben Gehime von
Kranken mit Athetose double, die cine starkere bezw. ausscbliesslicbe
Erkrankung des Globus pallidus, des grosszelligen Striatumteils auf-
wiesen u . Das Intaktsein der Linsenkernscblinge in unserer Beobachtung
steht im Kinklang mit der Angabe K1 cist's (1. c.), „dass dieselbe bei
der Linsenkcrnchorea und Atbetose zwar auch zuweilen beteiligt ist,
aber im Ganzen weniger befallen zu sein scbeint 14 .
Neben den lokalisatoriscben Fragen ist die Betrachtung der histo-
logischen Eigenart der am Linsenkcrn gefundenen VerUnderungen in
unserem Falle von Bedeutung. Was zuniichst die makroskopischen sicli
auf einen kleinen Teil der hiuteren und basalcn Partien des Putamen
beiderseits besclir&nkenden Ver&nderungen betrifft, die sicb auch dorsal-
warts nur wenige Millimeter weit erstreckten, crgibt die mikroskopiscbe
Cntersuchung, dass die wabenartigen kleinen, an diesen Stellen sicht-
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380
A. Westphal,
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baren Hohlrfiume ihre Entstehung toils einer star ken, durcb Lymph*
stauung bedingten Erweiterung der adventitiellen Lymphrfiume verdan-
ken, teils auf sekundfirer Einschmelzung des Gewebes in der Umgebung
von infiltrierten Geffissen beruhen, zum Toil auch auf Bltftungen in der
Umgebung kleiner Geffisse zurfickgeffihrt werden mfissen. Die starke
Beteiligung der Geffisse tritt uns nicht nur in den makroskopisch ver-
anderten Partien des Putamen, sondern in diffuser Verbreitung im ge-
gesamten Gebiete des Linsenkerns entgegen. Die Geffissverfinderungen
iiberschreiten aber dies Gebiet und greifen, wenn auch in geringerera
Grade, auf den N. caudatus und benachbarte Partien der Regio sub-
striata, der Inselwindungen und des Claustrums uber.
Die Geffissverfinderungen besteben in erster Linie in vielfach erheb-
licben Infiltrationen der adventitiellen Lympbscheiden mit Lymphozyten;
neben diesen finden sich an vielen Stellen nur in geringerer Zahl, an
manchen kleii^n Gefassen aber auch zahlreichere Plasmazellen.
Daneben sind in reichlicher Menge pigmenthaltige Abbauzellen, sowie
freiliegendes Pigment und sparliche Mastzellen vorhanden.
In diffuser Verbreitung finden sich in dem erkrankten Gebiet
Stabchenzellen in bald spfirlicher, bald reichlicher Anzahl. Besonders
zahlreich treten sie in den rundlichen Proliferationsberden des Linsen¬
kerns und des N. caudatus auf. Neben diesen progressiven Verfinde-
rungen am Geffissapparat, finden sich im Gebiet des Linsenkerns Ver-
finderungen der Geffisswandungen regressiver Natur in Gestalt von
feinen, staubartigen und * derberen kalkhaltigen Konkrementbildungen,
die haufig mit einer hyalinen Metamorphose der Media verbunden sind.
Im Globus pallidus bedecken dunkle schollenartige kalkhaltige Gebilde
oft die Kapillaren auf weite Strecken.
Besonders bemerkenswert ist es, dass diese Verfinderungen
am Geffissapparat sich fast ausschliesslich auf das Gebiet
des Linsenkerns und wenn auch in geringerem Grade auf die
ihm benachbarten Gehirnabschnitte beschrfinken, wfihrend sie
in den zur Untersuchung gelangten Rindenpartien des Grosshirns fehlen
und nur stellenweise in der Marksubstanz in einer leichten Infiltration
der adventitiellen Lymphscbeiden mit zum grOssten Teil aiis Abrfium-
zellen bestehenden Elementen hervortreten, wfihrend Plasma und Stab¬
chenzellen vermisst werden.
Auch in der stellenweis etwas verdickten Pia finden sich neben
Fibroblasten und pigmenthaltigen Abrfiumzellen nur vereinzelte kleine,
lymphozytfire Infiltrationen.
Die Verfinderungen des Parenchyms im erkrankten Linsenkerngebiet
treten gegen diejenigen am Geffissapparat in den Hintergrund. Immer-
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Uober doppfilseitigfi Athetose und verwandto Krankheitszustande. 381
bin sind an den Ganglienzellen vielfach Zerfallserscheinungen mit An-
haufungen lipoider Substanz nachweisbar, Erscheinungen, die auch an
mancben Stellen an den Ganglienzellen der Hirnrinde hervortreten.
Fragen wir nach dem Wesen dieser Befunde, so ist es nicht
zweifelbaft, dass die dnrcb reichliche Lyraphozyteninfiltrate in den ad-
ventitiellen Lymphscheiden, dem Vorkomn^en von Plasma- und Stab-
chenzellen ausgezeichneten Veranderungen entzdndlicber Natur sind.
Ueber die Orsache dieser entzundlichen Vorgange lasst sich ein be-
stimmtes Urteil nicht abgeben. Der Umstand jedoch, dass mit Aus-
nabme der sebr wabrscbeinlich vorausgegangenen Syphilis 1 2 ), andere
atiologiscb in Betracht kommende Momente nicht nachweisbar sind, ruckt
die MOglichkeit in den Vordergrund, dass es sich urn entzundliche
Veranderungen'auf luetischer Grundlage handelt.
Die regressiven Veranderangen an den Gefassen, bestehend in Ab-
lagerung kalkhaltiger Snbstanzen in den Gef&sswandungen und hyaliner
Entartung derselben, sind arteriosklerotischer Natur. Ob irgend
welcbe Beziehungen derselben za den entzundlichen Veranderungen be-
stehen, mussen wir dahingestellt sein lassen, aber auch hier die M5g-
lichkeit offen lassen, dass nach bekannten Erfahrungen a ) die Syphilis
als prlldisponierendes Moment w^rksam gewesen und zu relativ fruh-
zeitigen arteriosklerotischen Veranderungen am Gefassapparat gefuhrt
hat. Besonders hervorgehoben sei, dass weder die Lokalisation, noch
die Ausdehnung der Arteriosklerose sich fur die Annahme einer syphi-
litischen Genese derselben verwerten lasst, zumal in unserem Falle die
Pradilektionsstelle der sypbilitischen Veranderungen am Gefassapparat,
der Anfangsteil der aufsteigenden Aorta, frei von Veranderungen gefunden
wurde.
Was die Untersuchung des Ruckenmarks betrifft, lasst sich die
Frage, ob die Affektion der Pyramidenbahn mit der Erkrankung
des Corpus striatum im Zusammenhang stebt, vielleicbt auf Entzun-
dungsYorgange oder Stauungserscheinungen in der Umgebudg des er-
k rank ten Linsenkerns zuruckzufuhren ist, oder ob ihr eine mehr selbst-
1) Der negative Aosfall der Wa. R. in unserem Falle bei einmaliger
Untersuchung kann nach un9eren Erfahrungen, die sich mit der wohl jetzt
allgemein vertretenen Ansicht decken, dass nur der deutlich positive Ausfall
der Reaktion beweisend ist, nicht gegen die Annahme der Syphilis bei unserem
Patienten, der die Infektion zugab, verwertet werden.
2) Vergl. Nonne, Syphilis und Nervensystem S. 72 „Arteriosklerose bei
Syphilitikern M .
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A. Westphal,
382
st&ndige Bedeutung zukommt, auf Grund unseres bisher vorliegenden ana-
tomischen Befundes niclit entscbeiden.
Von besondereni Interesse ist die Beantwortung der Frage, zu wel-
cber der von C. und U. Vogt (I. c.) neudings aufgestellten, auf patho-
logisch-anatomischem Wege zu differenzierenden Gruppen von Linsenkern-
erkrankungen unser Fall geliort? Die drei ersten von diesen Forschern
aufgestellten, in engster Beziehung zur Heredodegeneration stehenden
Gruppen, der Etat raarbre (Status marmoratus), der Etat fibreux (Status
fibrosus), und die totale Nekrose des Striatum konnnen auf Grund des
von uns erhobenen liistologischen Befundes nicht in Betracht. Es ban-
delt sich in unserein Fall um die vierte Gruppe, welche die akut auf-
tretenden, vaskularen Herde umfasst. Das fiir diese Falle cliarak-
teristiscbe plotzliche Auftreten der klinischen Symptome ist fiir unseren
Fall zutreffend, wahrend von einer bald beginnenden und mehr oder
weitgehenden Besserung, die C. und 0. Vogt bei iliren Beobachtungen
konstatierten, bei der ungewohnlich schwereu, sturmischen Verlaufs-
weise in unserer Beobachtung nicht gesprochen werden kann. Blutungen
und Erweichungen ini 0. striatum, welcbe anatoinisch diese Gruppe
kennzeichnen, sind in unserem Fall vorhanden. Es muss jedoch kervor-
gehoben werden, dass ein Missverhaltnis besteht zwischen diesen win-
zigen, ini wesentlichen nur auf einen kleinen zirkumskripten Teil des
Putamens beschrankten Herdchen und der Schwere der Krankheits-
erscheinungen, so dass als Grundlage derselben wohl die Allgemein-
erkrankung des C. striatum, berukend auf entzundlichen und
arteriosklerotischen Gefiissveranderungen, wesentlich mit in
Betracht zu ziehen ist.
Auf Grund unserer Beobachtung spielen demnach nrcht
nur Herdbildungen, sondern auch diffusere Erkrankungen
des Striatum bei den akut auftretenden Fallen striarer Moti-
litatsstorunge n eine Rolle.
° *
Die Erkrankung der Leber in unserem Fall verdient Beachtung,
da Leberveranderungcn bei unserer Beobachtung verwandten Krankheits-
gruppen, der VV i Ison'schen Krankheit und der Pseudosklerose, bei ersterer
konstant, bei letzterer haufig gefunden werden, und da bemerkenswerter
Weise, Thomalla (1. c.) eine Erkrankung der Leber auch iu seinem
Falle von Torsionsspasmus nachgewiesen bat. Der Befund einer be¬
ginnenden Zirrhose in unserem Falle entspricht aber weder makro-
skopisch, nocli inikroskopiscb den eigenartigen Veranderungen, wie sie
bei den genannten Krankheiten gefunden worden sind. Es handelt sicb
zunjichst nicht um eine verkleinerte, sondern um eine in massigem Grade
vergrosserte Leber mit glatter Oberflache, oline die groben HOcker und
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I’cber doppelseitige Athctose und verwandte Krankheitszustande. 383
Knotchen, wie sie bei der Wilson’schen Krankbeit und der Pseudo-
sklerose gefuuden werden, und der roikroskopiscke Befund l5sst die
von der gewBhnlicben Zirrhose abweicbenden, auf fStale Schadigungen
des Lebcrgewebes hinweisenden Veranderungen, wie sie bei der Pseudo-
sklerose von Pryra und mir, Volsch, Fleischer, Schulte, Rumpel
u. :i. neuerdings auch in dom Falle T ho mall a’s bescbrieben worden
sind 1 ), verraissen. So wenig wahrscheinlicb es also ist, dass nakere
Beziehungen der leickten zirrhotischen Leberaffektion in unserem Falle
zu der zerebralen Erkrankung besteken, m&chte ick dock erw&kneu,
dass V&lsck hervorkebt, dass sein Befund bei der Pseudosklerose sekr
wokl einem Entwicklungsstadium der Leberzirrhose entsprechen, und dass
die relative Massenhafrigkeit der neugebildeten Knoten in dem jugend-
licben Alter de9 K ran ken ikre ErklArung fin den kOnne.
Es wird die Aufgabe der Pathologen sein, den bei Erkrankungcn
des l-orpus striatum vorkommenden Lcberveranderungeu weiter ihre
Aufmerksamkeit zuzuwenden und vor allem die noch ungeklarten Be-
ziehungen von Lebererkrankungen zu Erkrankungen des Zentralnerven-
systems dem Verstandnis naher zu bringen.
Auf die iii unserem Fall gefundene auffallende Kleinbeit sfimt-
licher innerer Organe (mit Ausnahme der Leber), die durck Ver-
gleich mit den durcbschnittlicben mir von Herrn Gebeimrat Ribbert
freundlickst zur Verfiigung ges tell ten Normalwerten Gesuuder ermittelt
werden konnte, sei kurz kingewiesen, da die Vorstellung einer konge-
nitalen Veranlagung zu Erkrankungen des Linsenkerns, wie sie wohl
zueret von Anton (1. c.) ausgesprochen und spater vielfach in der
Literatur wieder aufgetaucht ist, vielleickt in derartigen Befunden eine
Stutze findet. Auch Thomalla erwaknt in seiner Beobacbtung den
infantilen, besonders in der mangelkaften Ausbildung der Sexualorgane
hervortretenden Habitus seines Kranken.
Fall 2. P. Grohe, Gojahriger•Schlosser, ist wegen schweren Alkoholis-
mus und verscbiedener alkoholiscber Psychosen (Delirium tremens, abater
Alkoholballazinose, typiscbem Eifersucbtswahn) zu wiederholten Malen in der
hiesigen Anstalt in Behandlung gewesen. Abgesehen von den psycbischen
Storangen und leiohten neuritischen Erscheinangen (Druckschmerzhaftigkeit
der Waden osw.) waren bei don ersten Aufnahmen keine auffallenden Erschei*
nungen bei dem Pat. zu konstatieren. Bei der letzten Aufnahme (1914)
1) In einem zur Pseudosklerose gehorigen von Fr. Schultze vor kurzem
verdffentliobten Fall (Neurol. Zentralbl. 1918, Nr. 20), den er 1878 auf der
Friedreich’sohen Klinik zu beobachten und zu untersuchen Gelegenheit
hatte, konnte sobon ein analoger Leberbefund erbobon werden.
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384
A. Westphal,
wurde trage Lichtreaktion der Pupillen festgestellt, die im Laufe der weiteren
Beobachtung bei erhaltener Konvergenzreaktion vollig erloscb. 1917 bestand
beiderseits Miosis und reflektorische Pupillenstarre. Pat. gab eine
friihere syphilitische Infektion zu. Wassermann im Blute stark posi-
tiv, im Liquor negativ. Nonne-Apelt, schwache Trubung, Lymphozyten leicht
vermehrt. (15 im cmm.) Auf psychischem Gebiete ist die grosse Stumpfheit
und Aflektlosigkeit des Pat. horvorzuheben. Die Merkfabigkeit ist stark
herabgesetzt. Keine paralytische Sprachstorung. Die Sehnenrefiexe sind von
normaler Starke. Kein Oppenheim, kein Babinski. Starke peripberische Arterio-
sklerose. Gang und Haltung des Pat. zeigten bis auf eine leicbte Unsicber-
heit beim Gehen keine Storungen. 1918 fallt zuerst auf, dass Pat., im
Begriff durch den Krankensaal zu scbreiten, plotzlich in stark
riicklaufige Bewegung gerat. Die Retropulsion ist so ausgesprochen,
dass Pat., wenn er nicht gehalten wird, nacb hinten bertiber auf den Riicken
fallen wurde. Die Untersuchung ergibt jetzt starren, maskenartigen
Gesichtsausdruck. Die Korperhaltung ist aufTallend steif, ohnejedoch
das typische Verhalten der Paralysis agitans zu zeigen. Alle Bewegungen
lassen eine gewisse Verlangsamung und Erschwerung erkennen. Bei
passiven Bewegungen fiihlt man in den Gelenken der oberen und unteren Ex-
tremitaten einen leichten gleichmassigen spastischen Widerstand,
der sich bei plotzlichen, briisken Bewegungon nicht verstarkt. Zittern besteht
nicht. Pat. klagt liber starken Speichelfluss, der sich in letzter Zeit be-
merkbar gemacht hat. Exitus plotzlich am 27. 6. 1918 unter den Erscheinungen
der Herzschwache.
Die Sektion ergab: Schiideldach schwer, Diploe erhalten. Dura raassig
gespannt, Innenflache glatt und glanzend, Hirngewicht 1270 g. Pia iiber der
Konvexitat verdickt und getriibt, ohne Substanzverlust des Gehirns abziehbar.
Stirnwindungen etwas verschmalert. Pia der Basis diinn und durchscheinend.
Gefasse der Basis und der Fossa Sylvii massig arteriosklerotisch verandert.
Auf einem durch das Gehirn gelegten, das Corpus striatum beiderseits frei-
legenden Horizontalsohnitt tritt im dorsalen Teil des rechten Putamens
ein grosser, zystischer, sparliche Gewebsfetzen entbaltender
Substanzverlust von annahernd dreieckiger Gestalt hervor, der
auch auf die benachbarte Partie der Capsula interna iibergreift (Abb. 9H). Auf
der linken Seite findet sich an einer entsprechenden, aber etwas tiefer geiegenen
Stelle des Putamens in der Umgebung kleiner Gefasse eine etwa linsengrosse,
sich durch den rotlichen Farbenton deutlich von der Umgebung abhebende
Stelle (beginnende Erweichung?). Aus dem iibrigen Sektionsprotokoll ist her-
vorzuheben:
Herz stark vergrossert, besonders linker Ventrikei. Sehr starke Arterio-
sklerosedes Anfangsteils der Aorta mitGeschwiirsbildung, geringe
Arterioskleroso der Aortenklappen. Starke Arteriosklerose der absteigenden
Aorta. Geringe Granularatrophie beider Nieren. Leber und Milz ohne Be-
sonderheiten. Das in Formol aufbewahrte Gebirn und Riickenmark wurde dem
neurobiologischen Laboratorium in Berlin zur weiteren Untersuchung iibersandt.
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Uebor doppelseitige Atbetose und rerwandte Krankheitszustande. 385
Es wird nach Abschluss derselben iiber den Befund berichtet werden. An
dieser Stelle gebe ich zunachst das Resultat der von Professor Bielschowsky
freundlichst ausgefiihrten Untersuchung des Herdes ini rechten Putamen, sowie
der Gehimrinde wieder.
Bei der mikroskopischen Untersuchung sieht man, dass der Sub-
stanzverlust im rechten Putamen kein vollstandiger ist. Im Gebiet der Uiicke
Abbildung U.
Grosser, anniihernd dreieckiger Krwcichungshcrd I! im <iobict
des rechten Linsonkerns.
ist der bindegewebige Gefassapparat wenigstens zum Teil erhalten geblieben.
und es haften an ihm auch noch Keste glioser Substanz mit vermehrten Glia-
kemen. An den Randpartien der Liicko hat das Gewebe stellenweis einen
grobmaschig spongicisen Charakter. Die Balken des schwammigen Gcriistes
werden von den Gefass- und Kapillarwiinden gebildet. In den Maschen linden
sioh zahlreiche gliogene Fettkornchenzellen. Gegen die Nachbarschaft ist dieser
J}(\
•u
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A. Westphal,
38b
Herd an einzelnen Stellen ziemlich scharf durch eine glioseijrenzsckicht mit
dicht gelagerten Gliafasern abgesetzt. Jenscits dieser Grenzschicbt ist das
Gewebe nur relativ wenig verandert. Die Ganglienzellen sind vermindert, an
den Markfaserbiindeln sind frische und altere Degenerationszeichen nachweis-
bar; es finden sicli auch bier Fettkdrnchenzellen zum Teil in reihenformiger
Anordnung. An anderen Stellen ist die Demarkation zwiscben Herd und
Nachbargewebe weniger deutlicb. Der Uebergang vom Einschmelzungsherde
zu dem an den Randgebieten noch vorbandenen normalen Gewebe des Putamens
vollzieht sich bier allmahlich. An solcben Uebergangsstellen bat das Gewebe
oinen areolierten Obarakter. Man siebt zahlreiche ftndliche kleine Lucken, in
deren Lichtang geschrumpfto Ganglienzellen mit starken Degenerationser-
scbeinungen imSinneeiner pigmentosen AtrophienebenFettkornchenzellen liegen.
An den erhalten gebliebenen Gefiissen der grossen Gewebs-
liicke. und an den Gefassen der Nacbbarscbaft sind grobereWand-
veranderungen nicht nactiweisbar. Insbesondere fehlen Proliferations-
vorgange an der lntima, welcbe im Sinne einer Endafteriitis gedeutet werden
konnten. Nur in der Adventitia sind an einzelnen Stellen lebbafte Prolifera-
tionsvorgange an don Gewebszellen und Anhaufungen von lymphozytaren Ele-
menten sichtbar. Ilier handelt es sich aber unzweifelhaft um sekundiire Er-
scheinungen.
Gehirnrinde (die am Formolmaterial gewonnonen Befunde wurden von
HerrnDr.Sioli durchNisslpraparate von inAlkohol aufbew’ahrtenRindenstiicken
erganzt). Pia im allgemeinen nicht verdickt, stellenweis geringe bindegewebige
Verdickung mit Pigment fubrenden Abraumzellen und freiem Pigment. Keinc
Infiltrationszellen. Rindenoberllacbe glatt, kein wesentlicher kernfreier Rinden-
saum. Rindenanchitektonik obne Storung. Die Ganglienzellen haufig im Zu-
stand chronischer Erkrankung, nicht selten aber auch im Zustand des akuten
Zerfalls. In tieferen Scbichten leicbte Vermebrung der meist pyknotiscben
Gliakerne. Keine Neuronophagie. Gefasse obne Infiltrationszellen und obne
Schwellung derGefasswandkerne, keincGefassvermehrung,keineStabchenzellen.
Einige Gefasse zeigen Schlangelung und lassen leicht verdickte Wandungen
crkennen. In den Gefassen des Marks finden sich in vielen Gefasscheiden Ab¬
raumzellen mit griinem Pigment.
Die klinischen Erscheinungen, welche sich bei diesem Kranken
im Laufe der Beobachtung entwickelten, die eigenartige Muskelrigiditat
ohne Symptome einer Pyramidenbahnerkrankung, die mimische Starre, die
Erscheinungen der Retropulsion, die Salivation entsprecben dem Bilde der
Paralysis agitans sine agitation e, so dass ich ihn in symptoma-
tologischer Hinsicht als ein dieser Krankheit verwandtes Zustandsbild
betrachte. Wir liaben sclion bei Besprechung des vorigen Falles auf
die Beziehungen der Paralysis agitans zum amyostatischen Symptomcn-
komplex Strumpells hingewiesen und mOchten an dieser Stelle mit
Hinsicht auf den vorliegenden Fall hervorheben, dass dieser Autor
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1
Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankbeitszustande. 387
deinselben „auch im httheren Alter auftretende Fillle subsummiert, die
zur Arteriosklerose der Gehimarterien oder zur senilen Demenz in Be-
ziehang gebracht wurden. u Besonders wird von Strum pell darauf
aufmerksam gemacht, dass die von 0. F&rster 1 ) treffend geschilderto
„arteriosklerotische Muskelstarre", unzweifelhaft in dies Gebiet gehftre,
ohne dass er der Arteriosklerose der Gehirnarterien eine so grosse
and primkre Bedeutung zuzuscbreiben geneigt ist, wie es Ffirster tut,
sondern meint, dass noch andere unbekannte atiologiscbe Momente
hierbei in Betracbt kamen. Strum pel l schildert als (l'ypus dieser
Krankheitsgruppe eiuen Fall, bei dem sich bei einem Manne in hOherem
Alter ein sebr an Paralysis agitans sine agitatione erinnemder Krank-
heitszustand entwickelte, und bei dem sich bei der Sektion erne Endo-
aortitis fand, die mit grosster Wahrscheinlichkeit (trotz negativen
Wassermanns) als eine sypbilitische Erkrankung aufgefasst werden musste.
Dieser Befund ist auch mit Hinsicbt auf unsere Beobacbtung, in der sich
eine schwere und ausgebreitete Endoaortitis bei einem sicher syphilitiscben
alteren Manne fand, bemerkenswert. Auffallender Weise liess aber in
dem Strumpellschen Fall die makroskopische Untersuchung des in
Formol gebkrteten Gehirus auf Frontalschnitten keine Ver&nderungen
an den Linsenkernen erkennen.
Es wirft sich die Frage auf, ob die in unserem Fall gefundenen
Veranderungen, der Nachweis eines grossen gegen die Nachbarschaft
ziemlich scharf abgegrenzten Erweichungsherdes im Putamen des rechten
Linsenkerns einen Ruckschluss auf die Aetiologie des Leidens gestatten?
Diese Frage muss verneint werden. Die mikroskopische Untersuchung
des erkrankten Linsenkerns liess am Gefessapparat keine Ver&nderungen
erkennen, insbesondere fehlten alle entzundlichen Erscheinungen an
demselben, und auch Ver&nderungen arteriosklerotiscber Natur waren
nicht vorhanden, so dass der Nachweis des Zusammenhanges des anato-
mischen Befundes mit der klinisch festgestellten Syphilis und den
scbweren arteriosklerotischen Verauderungen der Aorta auf histologischem
Wege nicht zu erbringen war, und lediglich das Bestehen eines
nekrobiotischen Prozesses nicht vaskul&ren Charakters kon¬
st at iert werden konnte. Der weiteren noch ausstehenden Unter¬
suchung des Zentralnervensystems bleibt es vorbehalten, festzustellen,
ob sich anderen Ortes auf eine syphilitische Grundlage hin-
weisende Ver&nderungen nachweisen lassen, fur deren Vor-
handeDsein das Bestehen der reflektorischen Pupillenstarre spricht.
Die Untersuchung des Gehirns hat ergeben, dass eine Para-
• _
1) Allgem. Zeitschr. fur Psychiatr. Bd. S. 90*2.
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388
A. Westphal,
lyse oder eine syphilitische Erkrankung desselben im engeren
Si one niclit vorliegt. Die am Gehirn gefundenen Ver&nderungen
sind solche, wie sie bei den verschiedensten cbronisclien Psycbosen and
im Senium nicht selten beobachtet werden. Yon Interesse wird es sein,
festzustellen, ob die Untersuchung des Rfickenmarks tabische Ver&nde-
rungen erkennen Iftsst, da ja Kombinationen von Paralysis agitans mit
Tabes resp. mit zur Tabes gehdrigen Symptomen, besonders auch
Pupillenstfiruugen, in einer Reihe von Fallen [Seiffer 1 )] beobachtet
worden sind. Von der weiteren anatomischen Untersuchung wird auch
Aufschluss fiber die auffallende Tats ache zu erwarten sein, dass trotz des
Uebergreifens des krankhaften Prozesses auf die innere Kapsel klinische,
auf eine Mitaffektion der Pyramidenbahn hinweisende Symptome fehlten.
Was die Einroihung unseres Falles in eine der von C. u. 0. Vogt
(1. c.) aufgestellten Gruppen betrifft, ist derselbe wohl, ebenso wie die
vorhergehende Beobacbtung, den - akut auftretenden Striatum-
herden (Erweichungen) zuzuz&hlen, bei denen alle Beziehungen zur
Heredodegeneration fehlen. Auch der Symptomenkomplex in unserer
Beobachtung entspricbt der Einteilung dieser Autoren, welcbe der
Paralysis agitans zugehfirige Zustandsbilder dieser Form stri&rer Erkran-
knngen subsum mieren.
Von besonderer Bedeutung ffir die Lokalisation des Symptomen-
komplexes der Paralysis agitans sine agitatione ist die Beobachtung
von Helene Deutsch (1. c.). Dieselbe konnte bei einer vorher ge-
sunden Person im Anschluss an einen an ihr ausgeffihrten Erwfirgungs-
versuch die Entstehung eines hypertonischen Zustandes der Extremit&ten-
muskeln, besonders an den unteren Extremit&ten, welche zuletst eine
unfiberwindlicbe Kontraktur zeigten, feststellen. Auch eine auffallende
mimische Starre, bedingt durch den gesteigerten Tonus der Gesichts-
muskulatur, war bei dieser Kranken, bei der alle Zeichen einer Pyra-
midenbahnerkrankung fehlten, zu konstatieren. Der anatomische Befund,
etwa 3 Monate nach dem Wfirgakt erhoben, ergab eine symmetriscbe,
isolierte Erweichung im N' caudatus und lentiformis, bei mikroskopisch
norm ale m Befunde der fibrigen Teile des Zentralnervensystems, speziell
des Thalamus und der Hirnrinde. Dieser Fall weist mit der Exaktheit
eines Experiments auf die nahen Beziehungen der lentikulfiren Er¬
krankung zu dem uns besch&ftigenden Symptomenkomplex hin und ist
ffir die Beurteilung der etwas komplizierteren Verhaltnisse in unserer
Beobachtung besonders wertvoll. Die auffallende Muskelstarre in den
1) Neurol. Zentralbl. 1900. S. 1119.
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Ueber doppelseitige Athetose und verwaudte Krankheitszustande. 389
unteren Extremit&ten in dem Falle von Deutsch erinnert an das Ver-
halten der Muskeln bei der Little'schen Erankheit. Den Untersuchangen
von C. u. 0. Vogt verdanken wir die Kenntnis der naben Beziebungen
dieser Affektion zu einer angeborenen Missbildung des Corpus striatum,
dem Etat marbrd (Status marmoratus) C. Vogt’s. Was die Entstehung
der Little'schen Starre betrifft, nebmen diese Autoren auf Grund ihrer
Befunde an, „dass Kinder nicht als Folge der Asphyxie einen Etat
marbr6 bekommen, sondern dass Kinder mit dieser Missbildung des-
wegen h&ufiger asphyktiscb zur Welt kommen, weil sehr oft die im
oralen Toil des Striatums gelegene Bulbfirregion desselben erkrankt,
und dadnrch die EinstelluDg der Kinder auf die Lungenatmung er-
schwert ist. w Die Beobacktung von H. Deutsch zeigt, dass asphyk-
tfsche Zust&nde bei Erwachsenen aucb das urs&chlicbe
Moment fur die Entstehung von Erweichungsberden im
Corpus striatum darstellen kdnnen, mit den Folgeerschei-
nungen einer ausgesprochen „reinen w Muskelstarre. H.Deutsch
wei8t in ihrer Arbeit auf ahnliche Beobacbtungen von L5wy und
Cassirer hin, in deren kliniscbem Bilde ebenfalls Hypertonie das
konstanteste Symptom bildete (ohne Tremor, Chorea Oder Athetose),
so dass sicb diese F&lle wie Paralysis agitanB sine agitatione zu dem
gewdhnlichen Bilde der Schuttell&hmung verbielten.
Mit Hinsicht auf meine Beobachtung mOchte ich besonders hervor-
heben, 'dass wenn aucb die grosse Aehnlichkeit des bei Erkrankung
des Linsenkerns gefundenen Symptomenkomplexes mit dem der Paralysis
agitans sine agitatione, den Gedanken nahegelegt, diese Erfahrungen
auf das Problem der Genese der Paralysis agitans im allgemeinen zu
ubertragen, mir dock die bisherigen Befunde bei der echten Paralysis,
agitans nicht eindeutig und vor allem nicht iibereinstimmend genug zu
sein scheinen, urn ohne weiteres den Schluss zu rechtfertigen, dass die
Schuttell&hmung ausschliesslich auf die Erkrankung des Striatums zuruck>
zufuhren ist. Besonders zeigen die Ausfuhrungen Marburg's (1. c.) aus
neuester Zeit, nach denen die Paralysis agitaus eine auf Stdrung der
Nebennierenfunktion beruhende Hormontoxikose mit Affektion gewisser
Systeme des Zentralnervensystems (Systeme des Bindearms und kortiko-
zerebellare Bahnen) ist, die Rigidit&t der Muskeln aber myogenen
Ursprungo sein soil, dass hier doch offenbar recbt komplizierte Ver*
h<nisse vorliegen, deren einheitliche Erkl&rung zur Zeit noch Schwierig-
keiten bereitet. Die Aonahme des myogenen Ursprungs der Muskel*
rigidit&t scheint mir mit den von uns wiedergegebenen Tatsachen nur
schwer in Einklang zu bringen zu sein.
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390
A. Westphal,
Zusammenfassend lasst sicli fiber die beiden mitgeteilten FJille
sagen, dass sie klinisch verschiedeoe Formen des amyostatischen Sym-
ptomeukomplexes darstellen, deneu anatomisch in dem ersten Falle eioe
doppelseitige symmetriscbe Erkrankung des Linsenkerns zu Grunde lag,
wfihrend in dem zweiteu Fall die weitere histologische Untersuchung
zeigen muss, ob es sich nur urn die nachgewiesene schwere einseitige
Erkrankung Oder auch, wie es nach dem makroskopischen Be fund wahr-
scheinlich ist, um eine doppelseitige Affektion des Linsenkerns gehan-
delt hat. Was die atiologischen Verh<nisse betrifft, sind die
Beziehungen zur Syphilis von besonderem Interesse. W ah rend in dem
zweiten Fall nicht nur Syphilis sicher vorlag, sondern die reflektorische
Pupillenstarre auf eine syphilidogene Erkrankung des Zentral-
nervensystems hinwies, war nach der Anamnese in dem ersten Fall
eine vorausgegangene Syphilis sehr walirscheinlich. Die histologische
Untersuchung zeigt in beiden F&llen, wie schwer bezw. unmoglich es
nach dem heutigen Standpunkte unserer Kenntnisse sein kann, aus dem
anatomischen Bilde mit irgend welcher Sicherheit Rfickschlfisse auf die
Natur der zu Grunde liegenden Erkrankung zu zieben. In dcr Literatur
linden sich nur spfirliche Angaben fiber etwaige Beziehungen der lenti-
kularen Degeneration zur Syphilis. Wilson (1. c.) konnte bei seinen
Fallen keine Beziehungen zur Syphilis entdecken. Den bekannten Fall
Anton's von ^Dementia choreoastheiiica mit juveniler knotiger Hyper-
plasie der Leber u fasste er als kongenitale zerebrale Lues auf. Da*
gegen ist die Frage, ob die Lues in der Aetiologie der dem uns Le-
schfiftigenden Krankheitsbilde nabestehenden Pseudosklerose eine Rolle
spielt, vielfach erfirtert worden, seitdem Strum pell in seiner bekannten
Arbeit fiber die Pseudosklerose auf die Mfiglichkeit eines ursfichlichen
Zusauimenhan&es hingewiesen hat. Ich 1 ) hob hervor, „dass es ein
dringendes Erfordernis sei bei kfinftigen Beobachtungeu von Pseudo¬
sklerose, Liquor und Blut nach der Wassermann'scben Methode zu
prfifen, da nur auf diesem Wege sichere Anhaltspunkte fiber die Ktio-
logisclie BedeutUng der Syphilis, inqbesoudere der wohl vornehmlich in
Frage kommenden lieredit&ren Form derselben, zu gewinnen seien.
Oppenheim 2 ) nimmt ffir einen seiner Fklle, in denen heredit&re
Syphilis vorlag, an, „dass der keimschfidigende Einfiuss der Syphilis
wohl den Grund zu der Krankheit gelegt hat, ohne dass diese selbst
als ein Produkt der Spirochaeta pallida angesehen werden konne u .
1) Beitrag zur Lehre von der Pseudosklerose (Westphal-Striimpell).
Arch. f. Psych. Bd. 51. II. 1.
2) Zur Pseudosklerose. Neurol. Zentralbl. 1914. Nr. 22.
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Ueber doppelseitige Athetose and verwandte Krankheitszustande. 391
Mit flinsicbt auf unsere Beobachtung erscheint es mir besonders bemer-
kenswert, dass Oppenheira bei zwei Geschwisterpaaren mit Dystonia
musculorum deformans ebeufalls Syphilis in der Aszendenz nachzuweisen
vernaochte. In jungster Zeit ist dann von Thoma 11 a (I.c.) bei Besprechung
seines Fa lies von Torsionsspasmus und der eigenartigen bei ihm nach-
gewiesenen Leberverftnderungen mit Hinweis auf die Fftlle von Vfilsch,
Hom6n, Anton, auf die MOglickkeit hingewiesen worden, dass ungunstige
Entwicklungsverhaltnisse in einern kranken z. B. kongenital luetisclien Or-
ganismus die Entfaltung der Leberfunktion kindern und die Intoxikation
kervorrufen k5nnen“, und v. Dziembowski l ) ist auf Grand seiner Beob-
aclitungen zu der Annahme gelangt, r dass hereditSrc Lues in atiologischer
Hinsicht als kaugaler Faktor eine bedeutsame Rolle spielt w . Auf jeden
Fall fordern diese Beobachtungen dazu auf, der Bedeutung der
Syphilis fur die Entstehung der in Frage koramenden Krank-
hei tszustande weiterhin besondere Aufmerksam keit zu schen-
ken. Die Gesamtheit der bisher vorliegenden Erfahrungen zeigt, dass die
allerverschicdensten Soh&dlichkeiten 2 ) eine Erkrankung des
Linsenkerns hervorzurufen im Stande sind. 11. Deutsck (l. c.)
hat die versckiedenen iitiologiscken Faktoren in das Bereich ihrer Be-
trachtung gezogen und hobt hervor, „dass die merkwiirdige Tatsache,
dass es Krankkeitspnuessc gibt, die sich auf das Corpus striatum in
so elektiver Weise beschr&nken, einmal als Sitz eines kongenitalen Pro-
zesses, dann als besondere Reaktion auf gewisse toxische Prozesse, dann
wieder als Pradilektionsstelle fur Erweichungen ohne vaskulHre Pro¬
zesse, die V$ruiutung nahe legt, dass im Organ selbst die disponierende
Ursache gelegen ist“. Zur Erklarung einer solchen angenommenen Pre¬
disposition wird 1. die Gefassverteilung (Kolisko), 2. eine das Organ-
gebiet betreffende besondere Disposition von ihr herangezogen. Audi
Thom alia (1. c.) weist auf die Moglickkeit hin, dass die Linsenkerne
eine besonders holie Empf&nglichkeit oder Angreifbarkeit fur Toxine
kaben und fasst seine 'atiologisehen Betracktungen folgendermassen zu-
sammen, „es kommen Entwicklungsfekler im Gehirn in Betrackt, femer
Krk rank ungen der Leber, vielleickt in Folge infektidser Allgeinein-
erkrankung, oder auch Entwicklungsfekler der Leber, jedenfalls an-
schliessend Antointoxikation. Audi faraili&re Disposition liegt oft vor“.
\) Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilson’schen Krankheit.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 57. H. 6.
2) Oppenheim (Aerztl. Sachverstandigenzeitung 1918, Nr. 22) hat vor
Kurzern an der Hand eines von ihm bcgataohteten Falles darauf hingewiesen,
dass auoh Kopfverletzungen einen der Wilson 7 schon Krankheit verwandten
Symptomenkomplex herorvrufen konnen.
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392
A. Westphal,
Diesc Betrachtungen zeigen, dass die Erforschung der atiologischen
Verhiiltnisse der leutikularen Erkrankungsformen zwar eine Reihe vod
Tatsachen ergeben hat, an denen kiinftige Untersuchungeu anknupfen
konnen, dass wir aber von einem Yerstandnis der Bedeutung und des
Zusammenlianges der verschiedcneu in Betracht kommenden Faktoren
nocb weit entfernt sind, und dass der Forschung auf diesem Gebiete
noch mannigfache Probleme zu In sen iibrig bleiben.
Fall 3. Martha Busch, Arbeiterin, 24 Jahre alt, aufgenommen am
24. Januar 1918. Aus der Vorgeschichte ist herauszuheben, dass ihre Mutter
vom 12. bis lo. Eebensjahr an „Yeitstanz u gelitten haben und im 29. Lebens-
jahr am _Herzschlag a gestorben sein soil. Bin Bruder litt an epileptischen
Anfallen und ist geisteskrank in der Anstalt Friedrichsberg gestorben. Bei der
Sektion fand sich nach den uns iiberlassenen Akten multiple Tumorbildung
im Grosshirn. Patientin selbst soil massig gelernt haben, im iibrigen in der
Kindbeit und in den Entwickelungsjahren auffallende Erscheinungen nicht
dargeboten haben. Entbindung (1916?) von einem unehelichen Kinde. Seit
1917 verandert, still und traurig. Es sei ihr so gewesen, „als ob ihre Robren
(Blutgefasse) zugefroren seien, die Augen seien wie verglast gewesen, sie habe
wie eine Totenraaske ausgesehen, habe keine Blahungen mehr gehabt, nicht
mehr aufgestossen. Seit einigen Wochen seien Schwindel, Kopf- und Herz-
schmerzen aufgetreten, sie fiihle keinen Herzschlag mehr. Sie.hore Stimmen
im eigenen Leib,wie bei einem Bauchredner, aber furchtbar traurige. Sie selbst
sei Ideal ist in, schwore auf die Real i tat der Tatsachen. w Dicse Angaben werden
von der Patientin bei ihrer Aufnahme, wenn auch miihsam und in abgerissener
Weise vorgebracht. Sie maclit zunachst einen geordneten Eindruck, nimmt
Interesse an ihrer Umgebung. Sehr schnell versinkt sie aber in den folgenden
Tagen in einen stuporosen Zu stand. Sie liegt von jetzt an fast stets unter
derBettdecke versteckt, fast andauernd besteht sehrausgesprochenerSohnauz-
krarapf (Abb. 10), der in der Folgezeit nur voriibergehend verschwindet.
Anfang Juni werden typisch athetotische Bewegungen zunachst in den
Fingern der linkenHand beobachtet, die bald auch die Finger der rechten Hand
ergreifen. In Abb. 11 sind athetotische Stellungen der Finger wiedergegeben,
die Verdoppelung der Finger der r. Hand ist durch die Bewegungen derselben
bei derMomentaufnahme bedingt. Am 25. Juni werden zuerst langsame drehende
Bewegungen von athetotischem Charakter an den Fiissen konstatiert.
Beim Gehen treten extreme Plantarllexionen des 1. Fusses ein, dabei starke
Beugung im Kniegelenk. In dieser vertrakten Stellung bleibt Patientin eine
Zeit lang stehen, bis sie das Gleichgewicht verliert und sich mit dem r. Arm
auf den Boden stiitzt, urn nicht nach links heriiberzufallen. Nach kurzer Zeit
verschwinden die mit der Athetose verbundenen Spasmen, und Pat. geht mit
kleinen, trippelnden Schritten in ihr Bett zuriick. Die athetotischen
Bewegungen beherrschen von jetzt an das Krankheitsbild, sind
aber zu verschiedenen Zeiten in sehr verschiedener Intensit&t
und Ausdehnung nach weisbar. Fast konstant, wenn auch mitunter nur
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 393
in geringerem Grade, sind sie an den Fingern vorhandcn. Zu mancben
Zeiten tritt eine ausserordentliche Verstarkung und weiteres Um-
sichgreifen der Bowegongen auf die Extremitaten und den Rumpf
hervor, mitunter bei Gelegenheit irgend einer psychisohen Erregung wie beim
Akt der Untersuchung, mitunter aber ohne eine nachweisbare Ursacbe. Die
athetotiscben Bewegungen an den unteron Extremitaten und am Rumpf pflegen
bei dem Versucb aufzustehen oder zu gehen am deutlichsten hervorzutreten,
mitunter treten sie aber aucb beim rubigen Liegen im Bett in die Erscheinung.
Man kann dann beobacbten, dass die Beine in Stellungen gebracbt werden,
in denen sie uber der Unterlage erhoben, bald nebeneinander, bald ineinander
verschlungen, frei in die Luft ragen. Beim Stehen und Gehen fiihren
Abbildung 11.
Starker, fast kontinuirlicher Athetotische Stellungen der Finger.
Schnauzkrampf.
die Bewegungen ofters zu den bizarrsten Stellungen; so bleibt
Patientin mitunter mit gekreuzten (Abb. 12) oder auch schlangcnartig sich
umwindenden Beinen stehen, oder stebt auf einem Bein mit heraufgezogenem
anderen Beine nach Storchenart. Beim Sitzen treten mitunter eigenartige Be¬
wegungen des Beckens, ahnlich den Bewegungen beim Bauchtanz hervor.
Beim Versuch aus sitzender Stellung aufzustehen. kommen Rumpf und Ex-
treraitaten in die vertraktesten Stellungen, wie sie Abb. 13 und 14
wiedergibt, so dass Pat. schliesslich durch extreme Vorniiberbeugung der
Wirbelsaule mit den Handen auf den Boden zu ruben kommt (Abb. 15) und
dann auf alien Vieren weiterkriecht (Abb. 1G). Da die diese eigenartigen
Stellungen bedingenden spastiscben Zustande der verscbiedensten Mnskel-
gruppen sich in der Regel nicht sofort wieder losen, sondern langere oder
kurzere Zeit andauern, wird nicht selten ein Verharren der Kranken in
den sonderbarsten und unzweckraassigsten Positionen beob-
ArchiT f. Pejehiatrie. Bd. 60. Heft 2/S. 2f>
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankbeitszustande. 395
achtet. Auch bei passiven Bewegungen behalten die in eine bestimmte
Stellung gebraohten Arme (Abb. 17) oder Beine eine Zeit lang dieselbe bei.
Mitunter ist festzustellen, dass die Kranke Gegenstande, die sie an-
gefasst hat, nioht wieder loszulassen imstande ist, z. B. Seiten
eines Buohes, in dem sie blattert, so fest halt, dass eine Losung nur unter
Zerreissung der Seite moglich ware, eine Erscheinung, die wohl dadurch zu
erklaren ist, dass sich athetotische spastische Zustiinde in die willkiirlichen
Bewegungen einmischen und dieselbe zeitweilig verhindern. Auch die Ge-
sichtsmuskulatur ist, obwohl an ihr eigentliche athetotische Bewegungen
nioht zu sehen sind, an diesen voriibergehenden spastischen Zustanden beteiligt;
Abbildung 17,
.Fixationskontraktur* 1 (Katalepsie?) des linken passiv erhobenen Armcs.
man kann mitunter beobachten, dass Patientin den geofifneten Mund nicht so
schnell schliessen kann und den gescblossenen Mund nicht so schnell oflfnen,
wie es unter normalen Verhiiltnissen der Fall ist, so dass man den Eindruck
erhalt, dass der auffallende, kontinuierliche Schnauzkrampf wohl auch durch
derartige Spasmen der Mundmuskulatur mitbedingt ist. Symptome von
Myotonie fehlen im iibrigen vollstandig. Auch die Zunge zeigt bei
langerem Herausstrecken langsame, athetotische, drehende Bewegungen. Mit
den spastischen Zustanden in engem Zusammenhang stehen die Ersohei-
nungen der Pro- und Retropulsion, die hauGg bei der Patientin zu be¬
obachten sind. Sie bekommt beim Versuch zu gehen einen „Ruck u nach vorn
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oder hinten, so dass sie sich einige Schritte in bescblennigtem Tempo nach
einer dieser Riohtungen bowegt, mi tun ter in schiefer nach einer Seite herdber-
gezogener Haltung des Korpers, wenn die Spasmen der einen Seite die der
anderen an Intensity ubertreffen. Auffallend kt die Erscheinung, dassPatientin
sich manchmal leichter und schneller nach hinten als nach Torn beim Gehen
bewegt. Treten die Spasmen, besondors Dorsal- oder Plantarflexionen derFdsse
beim Gehen plotzlich in starker Weise auf, so stiirzt Patientin nach einigen
Versuchen, die Balance zn halten, auch mitunter brCisk hin. DerFlussder
athetotisohen Bewegnngen ist ein verschiedener. In der Regel
schreiten sie von den am starksten betroffenen Extremitatenenden proximalwarts
fort, in anderen Fallen sieht man sie am Rumpf beginnen und sich dann nach
der Peripherie ausbreiten. Haufig ist auoh ein ganz regelloses Auftreten der
athetotisohen Bewegungen zugleich an den verschiedensten Korperstellen zu
beobaohten. Bei passiven Bewegungen ist in don Gelenken, besonders
denender unteren Extremitaten ein deutlicher gleichm assiger spastischer
Widerstand zu fiihlen, der sich bei plotzliohen Anspannungen
nicht verstarkt. Ein negativistisches Anspannen der Muskeln ist
nicht nachweisbar. Die Sehnenreflexe sind nicht gesteigert, Babinski,
Oppenheim oder Gordon nicht vorhanden. Was das motorische Verhalten der
Patientin, abgesehen von der Athetose, betrifft, wechselnin auffallender
Weise Zeiten eines anscheinend stupordsen Verhaltens, in denen
Patientin sich kaum bewegt, unter der Decke versteckt, bis auf einzelne athe-
totische Bewegungen fast regungslos daliegt, mit Zeiten gross ter moto-
rischer Unruhe, wilden Umherwalzens, unsteten Herumlaufens und Heraus-
drangens aus der Abteilung ab. In diesen letzteren Zeiten pflegt auch die In¬
tensity und Ausdehnung der athetotischen Bewegungen am starksten zu sein.
Die Lange der ruhigen und der erregten Phasen ist eine wechselnde, schwankt
zwischen einigen Tagen und wochenlanger Dauer. Die'Spracheder Patientin
ist eigenartig kindlich, lappisch, so sagt sie mitunter „sa u statt ja. Auch un-
sinnige selbstgebiidete Worte, wie „enlatielriamalatria u werden vorgebracht.
Eigenartig sind girrende Laute, ahnlich derti Girren von Tauben, die Patientin
oft von sich gibt. Haufig ist zwangsartiges Auftreten von Weinen und L&chen
zu beobachten. Es besteht zeitweilig starke Salivation. Stdrungen des
Sohluckens sind nur voriibergehend zur Beobachtung gekommen, in der Regel
ist die Nahrungsaufnahme reiohlich und unbehindert. Patientin ist zeitweilig
unrein mit Stuhl und Urin, der mitunter plStzlich in profuser Weise in das
Zimmer entleert wird.
Der Befund am Nervensystem ist im ubrigen ein negativer.
Nur sind die Bauchdeokenreflexe bei den sehr schlaffen Bauchdecken (Diastase der
M. recti) nioht auszulosen. Keine Pigmentierungen, keine Yeranderungen an der
Leber nachweisbar. Im Urin kein Eiweiss oder Zucker, kein Urobilinogen. Es
besteht keine alimentare Lavulosurie (Prof. Gerhartz). Wa. im Blut negativ.
Spinalpunktion bei der Unruhe der Patientin bisher nicht ausfuhrbar gewesen.
Das psychische Verhalten ist in erster Linie durch seinen lebhaften
Wechsel ausgezeichnet. Wahrend in der Regel stuporahnliche Zustande oder
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszust&nde. 397
Phasen starker Erregnng eine Priifung ihres geistigen Besitzstandes sebr er-
schweren oder unmoglich machen, erscbeint Patientin zu anderen Zeiten freier,
so dass wenigstens bis zu einem gewissen Grade eine Prufung des psychiscben
Zustandes mogliob ist. Wiederholte Untersuchungen ergeben, dass sie ortlicb
und zeitlich nicht orientiert ist. Oft erfolgen ganz unsinnige, an Vorbeireden
erinnernde Antworten, so nennt sie den Arzt v „Onkel Wilhelm 44 , die Patienten
in der Klinik bezeicbpet sie als „Hindenburg u , sie sei schon drei Jabre in der
Klinik und ahnliches. Bei der Prufung der Sohulkenntnisse wird das Alphabet
richtig, aber in manirierter Weise aufgesagt. Sie zahlt obne Fehler bis 11.
Die Monatsnamen fangt sie mit Juni an. Das Vaterunser wird riohtig an-
gefangen, dann schliirfende, girrende Laute ausgestossen. Das erste Gebot?
„Ich der Herr Dein Gott, bin ein eifriger Gott, Nini, Titi“— Fluss in Deutsoh-
land? „Rhein u , — Zu welchem Staate geborig? „Preussen u — Wer fiibrte 1870
Krieg? ,,Napoleon. 4 * Auffallend gut ist das Reobnen erbalten, Aufgaben aus
dem Einmaleins werden fast ausnahmslos schnell und richtig gelost.
Die Sc hr i ft geht nach einigen korrekt geschriebenen Worten in ein sinn-’
loses Gekritzel uber. Nacb Sinnestausohungen gefragt, gibt sie zu, mit-
unter Stimmen zu boren und Gostalten zu seben, „das sei dann so komisch 4 *.
Sowohl bei diesen Prufungen, wie bei der Beobacbtung des Gesamtverbaltens
der Patientin, fallt besonders auf, dass ein eigentlich negativistisches
Verhalten, abgesehen von dpn an Vorbeireden erinnernden unsinnigen Ant¬
worten, nicbt zu konstatieren ist. Patientin sucbt alle an sie gerichteten
Aufforderungen, soweit es ibr Zustand gestattet, zu befolgen, ist freundlicb
und willig. Selbst in ibren stuporahnlichen Zustanden ist sie zuganglicb,
steht auf Befehl auf, legt sioh auf Aufforderung wieder bin, sinnloses Wider-
streben ist bei diesen Versuchen nioht festzustellen. Auch die affektive
Sphare ist keine so weit daniederliegende, wie es auf den ersten Anblick den
Anscbein hat. Man kann oft feststellen, dass Patientin Vorgiinge ibrer Um-
gebung mit Anteilnahme verfolgt, besonders lebbaften Affekt zeigt sie, sobald
man das Gesprach auf ibr Kind oder ibre Hamburger Heimat bringt. Es
wechseln Zeiten einer beitcren Erregung, in denen sie sich sebr erotiscb zeigt,
sich zu anderen Patientinnen ins Bett legt und dieselben kusst, die Aerzte zu
umarmen versuoht u. dergl., mit Zeiten ab, in denen sie andauernd weint,
jammert und siob zu verstecken sucht. Die athetotischen. Bewegungen
empfindet sie als sebr lastig, klagt fiber dieselben und bezeiohnet
das „Zappeln“ als ibre Krankheit.
In diesen) Fall steht im Vordergrund der krankhaften Erscheinungen
auf kdrperlichem Gebiete die Athetose, die in typischer Weise vor-
nehmlich die distilen Abschnitte der Extremit&ten betrifft. Aber wie
in nnserer ersten Beobacbtung ist auch die Rumpfrauskulatur nicht frei
von dieser BewegungsstOrung geblieben. Die drehenden langsamen
Bewegungen des Rumpfes, die in Verbinduug mit den entsprechenden
Bewegungen an den Extremit&ten zu den sonderbarsten KOrperstellungen
fQhren, haben weitgehende Aebnlichkeit mit den bei der Dy-
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398
A. Westphal
stonia musculorum deformans zu beobackteuden Erschei-
uungen. Sie untersclieiden sich aber von den typiscken Fallen dieses
Leidens dadurck, dass sie auck in dcr Ruke, beim Liegen auftreten.
Audi sind die Torsionsspasmen keineswegs konstant vorkanden, sie treten
zu mancken Zeiten mit grosser Deutlickkeit in die Erscheinung, uni dann
wieder fur kiirzere oder liingere Zeit zu versckwinden. Dieses Verkalten
ist auch von Oppenheim bei Dystonia musculorum progressiva mitunter
beobachtet, und von Maas 1 ) in einer Beobachtung sogar eine jakrelange
Besserung der krankkaften Erscheinungen festgestellt worden. Das von
Tkomalla bei seinem Falle von Torsionsspasmus beobachtete, an myo-
touische Zustande erinnernde Verkalten der Muskulatur, welches
darin bestebt, dass durck die plotzlick einsetzenden Muskelspasmen die
Ausfiihrung aktiver Bewegungeu vorubergekend erschwort oder unmoglich
gemackt wird, j^t auck in unserem Falle mitunter zu konstatieren, wenn
Patientin vergeblick versuckt, den geoffneten Mund zu sckliessen oder
einen ergrifTenen Gegenstand aus der Hand zu legen.
Zu den Ersckeinungen der Atketose und des Torsionsspasmus ge-
sellen sich in unseren Beobachtungen bei der Paralysis agitans zu
beobachtende Symptome, von denen ick besonders die ausgesprockenen
Pulsionserscheinungen mit Storungen des statischen Gleickgewickts,
die maskenartige Starre des Gesichts, die starke Salivation,
hervorhebe.
Zusanimenfassend liisst sich liber die motoriscken Er¬
sckeinungen unseres Falles sagen, dass sie dem amyostati-
scken Symptomenkomplex StriimpelTs in alien wesentlicken
Punkten entsprecken. Die Eigenart der Muskelspasmen mit dem Feklen
aller auf eine Mitbeteiliguug der Pyramidenbahn kinweisender Symptome,
die „Fixationsrigiditiit u der Muskeln, durch welche dieselben in den ver-
traktesten Stellungen zeitweilig festgekalten werden, die Bewegungsarmut
in Verbindung mit den Ersckeinungen von doppelseitiger Atketose und
Symptomen der Paralysis agitans, kennzeichnen den Fall als zur „My-
astasie“ gekorig. Seine naken Beziekungen zur Dystonia mus¬
culorum deformans sind mit Hinsickt auf unsere erste kier
mitgeteilte Beobacktung besonders kervorzukeben.
Von Interesse sind die schweren, dem gewdhnlichen Krankkeitsbildc
der doppelseitigen Atketose nicht zukommenden psyckiscken StSrun-
gen unseres Falles. Die Entwicklung der Psyckose bei einer jugend-
lichen Person nach einem depressiven mit unsinnigen hypockondriscben
1) Zur Konntnis der Vorlaufs des Dystonia musculorum deformans. Neu¬
rol. Zentralbl. 1918. Nr. 6.
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Ueber doppelseitige Athetose und verwandte Krankheitszustande. 399
Wahnideen einhergekenden Vorstadium, sowie die am meisten in die
Augen fallenden Symptome, der Wechsel von stuporosen und Erregungs-
stadien, die manirierte Sprechweise mit Wortneubildungen, die gesucht
unsinnigen Antworten, entsprecben anscheinend vOllig den
Krankheitserscbeinungen der Katatonie. Jeder Beobachter, der
die Kranke nur kurze Zeit zu seben Gelegenbeit h&tte, wiirde wobl
diese Diagnose stellen. Bei lingerer Beobachtung der Kranken jedoch
fkilt auf, dass ein eigentlicher Negativismus, trotz der Schwere
der psyehischen Krankheitserscheinungen, fehlt. Patientin ist
nicht widerstrebend, kommt alien Aufforderungen gern und willig nach.
Die Muskelspannungen steben bei ihr im Zusammenhang mit den athe-
totischen Rewegungen, sind in ihrer Stfirke von der Intensit&t dieser
Bewegungen abh&ngig, sie haben nicbt den Charakter des sinu-
losen Widerstrebons wie bei der Katatonie. Es ist nicbt auszu-
scbliessen, dass die anscheinend stupordsen ZustSnde durch die zweifel-
los bestehende allgemeine n Bewegungsarmut“ mitbedingt sind, und dass
die „kataleptischen u Erscheinungen bei passiven Bewegungen auf die
„Fixationsrigidit&t“ zuruckzufuhren sind, wie ja aucli bei den
Strum pell’schen Kranken ein analoges Verbalten obne jeden Anhalts-
punkt fur eine katatonische Erkrankung konstatiert werden konnte.
Dass auch der fast andauernd vorbandene Scbnauzkrampf vielleicht
auf die dem amyostatiscben Symptomenkomplex eigentumlichen Muskel-
spannungen zuruckzufuhren ist, habe ich bereits hervorgehoben.
Ueber den Endausgang des Leidens in psychischer Hinsickt
ist zurzeit etwas Sicheres noch nicbt zu sagen. Eine ausgesprochene,
fur die schweren Verlaufsweisen der Dementia praecox charakteristische
gemutlicbe Verblddung, lasst sich bis jetzt nicht feststellen., Diese Erwa-
gungen veranlassen mich, die Frage, ob es sich bei unserer Patientin
urn eine Komplikation von Katatonie mit allgemeiner Athetose oder um
einen der Katatonie khnlicben Symptomenkomplex bei doppelseitiger
Athetose handelt, zun&chst unentschieden zu hissen und ihre Beant-
wortung von dem Resultat der weiteren Beobachtung abh&ngig zu
macben. Sollte sich die Annahme, dass es sich um ein katatones
Zustand8bih) im amyostatischen Symptomenkomplex handelt, als die
wahrscheinlichere lierausstellen, dann muss man sicb vergegenw&rtigen,
dass die fur die Myastasie nach den bisherigen Erfahrungen in vielen
Fallen ala wesentlich zu betracbtende Linsenkernerkrankung nicht auch
als Ursache der in unserer Beobachtung so hervortretenden psyehischen
Stdrungen angesehen werden kann, sondern dass diese auf einer diflfu*
seren Gehirnerkrankung beruhen mussen. Hat ja auch Striimpell (I. c.)
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A. Westpbal, Ueber doppelseitige Athetose usw.
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besonders mit Hinsicht auf die bei der Wilson’schen Krankheit vor-
liegenden Verhaltnisse hervorgehoben, dass die bei diesem Leiden „doch
in vielen Fallen sehr ansgesprockenen psychischen Storungen auf eine
wesentlich allgemeinere Beteiligung des Gehirns an dem Krankheits-
prozesse hinweisen u . Eine Untersuchung der Gehirnrinde erscheint bei
Fallen des amyostatischen Symptomenkomplexes, in denen psychische
StOruugen eine hervorragende Rolle spielen, ein unabweisbares Erfordernis
zur Feststellung der diesen Zust&nden vielleicht zugrundeliegenden ana-
tomischcn Veranderungen. Diese Untersuchungen sind von besonderem
Interesse.da neuereForschungen aufBeziehungen desStirnhirns zurMotilitat
hingewiesen haben. So erwahnt Mills Fall©, bei denen „Stirnbirn-
l&sionen die gleicben Symptome bewirkten, wie sie bei den Lentikular-
erkrankungen gefunden wurden, dieselben Innervations- und Spannungs-
verknderungen u und Kleist’s Untersuchungen haben es wahrscheinlich
gemacht, „dass die eigenartigen tonisellen und akinetischen Erscbei-
nungen, die man bei manchen linksseitig Apraktischen findet, auf den
Ausfall einer im wesentlichen vom linken Stimhim ausgehenden tonus-
hemmenden und bewegungsanregenden Funktion zuruckzufuhren* sei tf .
(H. Stauffenberg 1. c.)
Es bleibt abzuwarten, ob bei unserm Fall die weitere klinische
Beobachtung 1 ), und eventuelle anatomisebe Untersuchung uns Anhalts-
punkte zur Feststellung der Grundlage des in psychischer und somatischer
Beziehung eigenartigen Krankheitsbildes liefern wird.
Die Anamnese ergab uns keine fur die BeantwortuDg dieser Fragen
in Betracbt kommende Momente, da die Angabe, dass die Mutter der
Patientin in ihrer Kindbeit an „Veitstanz w gelitteu haben soli, ebenso-
wenig wie die Tatsache, dass ibr Bruder an multiplen Hirntumoren
gestorben ist, bei der Bewertung der in Frage kommenden &tiologischen
Faktoren mit irgendwelcber Sicherbeit verwertet werden kanm
1) Aum. wahrend der Korrektar (Ende Marz 1919): DerZustand der
Patientin hat sich allmahlioh wesentlich gebessert. Die Bewegungsstorun-
gen sind bis anf eine leichte Atbethose der Finger geschwunden. Psychisch ist
Patientin erheblich freier, beschaftigt sich, stupordse oder Erregungszust&nde
sind nicht mehr aufgetreten. Das Gesamtverhalten hat einen ausgesprochen in*
fantilen Habitus.
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1
XIX.
Aus der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn
(Direktor: Geh. Rat Prof. Dr. Westphal).
Die Spirochaete pallida bei der progressiyen
Paralyse.
Voa
Dr. F. Sioli.
(Hierzu Tafeln in— VII.)
Einleitung.
Zwar war das Vorkommen der Spiroch&ten bei Paralyse seit
Noguchi’s erster Mitteilung im Jabre 1913 roehrfach bestatigt. Der
Nachweis beschr&nkte sich aber mit ganz wenigen Ausnahmen auf Be-
funde mit Hilfe der Dunkelfelduntersuchungen oder anderer Schnell-
methoden. Deren Bedeutung ist auch in der Bearbeitung der Paralyse
unbestritten und mit ihrer Hilfe erzielte Ergebnisse sind von grosser
Wichtigkeit, wie insbesondere der von Forster und Tomasczewski
erbrachte Spiroch&tenbefund an einer grossen Zahl von lebenden Para-
lytikem, denen Hirnrinde mittels der Hirnpunktion entnommen war,
und die Arbeiten vonLevaditi, A. Marie, Bankowski, die in Ge-
hi men von nach paralytiscben Anfallen Verstorbenen bei Durchsucbung
einer grossen Anzahl von Hirnstellen fast regelm&ssig Spirocb&ten
fanden.
Ffir den Sypbilidologen haben die Schnellmethoden ihre grosse
Bedeutung bei der Diagnostik des einzelnen Falles in der Praxis, fur
den Psychiater liegt bei der Paralyse kein entsprechendes Bedurfnis vor.
Die Diagnose der Paralyse wird kaura jemals an Lebenden der Him-
pnnktion und des Spiroch&tennachweises bedfirfen and am toten Gebirn
wird die histologiscbe Untersuchung mit den bew&hrten Methoden dor
Nissl-Alzheimer’schen Scliule in der Prufung oder Berichtigung der
klmischen Diagnose vor dem Spirochktennachweis stets den Vorzug haben.
Die Schnellmethoden der Darstellung sind bei der Paralysebearbei-
tung notwendig zur Untersuchung einer grOsseren Anzahl von Hirnstellen
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402
Dr. F. Sioli
in kurzer Zeit and sie waren und sind notwendig zur Bearbeitang der
vitalen Morphologic der bei der Paralyse gefundenen Spirochate, sie
werden besonders gebraucht werden bei den bevorstehenden experimen-
tellen Arbeiten.
Die n&chstliegenden Fragen der Paralysebearbeitung verlangten
gebieterischer als in der Syphilidologie nicht nur den Nachweis der
Spirochete mittels der Scbnellmethoden, sondern die Darstellung im Ge-
websschnitt. Diese Darstellung im Gewebe aber war seit Nogucbi
und Moore nur in ganz vereinzelten Fallen gelungen und wurde von
keiner Methode, auch nicht von der durcb Noguchi angegebenen,
gewahrleistet.
Jahnel’s Verdienst ist es, Methoden einer zuverlassigen und uber-
sichtlichen Darstellung der Spirochaten im Gewebe ausgearbeitet zu haben.
Jahnel selbst hat in zahlreicheo Arbeiten Ergebnisse seiner Me-
thode bekannt gegeben und damit den Bau einer Grundlage fur die
weitere Erkenntnis der Paralyse begonnen. Seine ilethoden ermftglichen
durch eine grosse Zahl von Befunden diese Grundlage zu einem trag*
fahigen Gebaude zu verbreitern.
Einen Beitrag dazu sollen die nachfolgend mitgeteilten Unter-
suchungen bilden.
' Von April 1917 bis zum Abschluss der Arbeit habe icb 32 Gehirne
von Paralytikern untersucht, obne dass eine Auswahr unter dem Ge-
sichtspunkt klinischer Besonderheiten getroffen wurde; von jedem Fall
wurde je ein Stuck aus der ersten Frontalwindung und der vorderen
und hinteren Zentralwindung nach der Methode II von Jahnel (Pyridin-
Uranmethode) zur Darstellung der Spirochaten im Gewebeschnitt behandelt.
Bei einem Teil der Falle wurde eine grosse Menge von Gehirn-
stiicken untersucht. Mitgeteilt werden die positiven Falle.
Eigene Befunde.
Fall 1. Robert N., geb. 23.4.1869, Bucbhaltor. Lues 1898, 12 Sprit-
zen Hg. Jod. Wassermann im Blot positiv 1911, daraufl911 Kur in Oeynhausen,
6 Spritzen Salvarsan intramuskular, 1912 nocbmal 4 Spritzen intramuskul&r.
Seit Oktober 1912 Verfolgungsideen, Unruhe, Angst, Gedachtnisabnahme, Reiz-
barkeit, Zittem der Hand beim Schreiben. 25. 1. 1913 Selbstmordversuch darcb
Erschiessen, keine Bewusstlosigkeit, kam ins Krankenbaus und am 6. 2. in die
Prov.- Heil- und Pflegeanstalt Bonn.
Befund: 2 Einschusse an linker Schlafe, Zunge weicbt nach links ab,
linker Fazialis schwacber, Pupillen eng, lichtstarr, verzogen, Sehnenreflexe
fehlen, Sensibilitatsstorungen an den Beinen, paralytische Spracbstbrung.
Tremor. Stimmung weinerlich, bypocbondrische und depressive Wahnideen.
/ Orientierung und Merkfahigkeit gut.
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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse.
403
Verlauf: angstlich depressiv. Isst schlecht. Am 11.2. 1913 plotzliches
Umfallen, nach 5 Minuten tot.
Sektion 7Stunden nach dem Tode: Leptomeningitis iiber der Konvexitat.
Versohmalerung der frontalen Hirnwindungen, Grweiterung der Seitenventrikel,
Granulation ihrer Wand, Hydrocephalus interims, kolossale Granulation der
Wand des 4. Ventrikels. Herz scblaff, linker Ventrikel hypertrophisch, Embolie
in der linken Pulmonalarterie. Aortitis luetica. In der linken Hypogastrika und
Pemoralis der Wand anhaftender Thrombus.
Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial. Farbung mit Tolui-
dinblau nach Nissl: I. Frontalwindung rechts: Pia abgezogen, Rinden-
architektonik stark gestort, diffus massige Gefassvermehrung, stellenweise
starker, ziemlich reichliche Gefassaussprossungen. Mittelstarke Infiltration der
grosseren und kieinen Gefasse, meist aus Plasmazellen bestehend. Ziemlich
zahlreiche Stabchenzellen. Ganglienzellen difTus stark verandert, im Sinne.der
wabigen Veranderung. Gliakerne meist ruhend, einzelne progressiv oder
regreasiv verandert; geringe Proliferation des Gliazellprotoplasmas. Keine
Vermehrung der Trabantzellen, keine Neuronophagie. Vordere und hintere
Zentralwindung rechts: Pia stark verdickt, bindegewobig, stellenweise
reiohlicbe Infiltration mit zahlreichen Plasmazellen. Kindenoberflache massig
wellig, verschieden starker, stellenweise sehr starker kernfreier Rindensaum,
Rindenarohitektonik gut erhalten. Mit schwacher Vergrosserung fallt Gefass-
scheideninfiltration kaum insAuge. Bei Immersionsvergrosserung diffuse gleich-
massige Infiltration der kieinen Gefasse meist mit Plasmazellen. Stabchenzellen,
Gefassvermehrung, Ganglienzellen, Glia wie in der ersten Frontalwindung
verandert, nur weniger hochgradig.
Formolmaterial: Spirochatendarstellung nach Jahnel: I. Frontal¬
windung rechts. In der stark vordickten Pia, in der 1. Rindenschicht und
dem Mark keine Spirochaten, in der iibrigen Rinde massig reioblich Spirochaten,
am moisten in der Tiefe der 3. Schicht, Formen die typischen dor Spirochaete
pallida, einzelne, nicht sehr hochgradige Einrollungsformen. Lagerung diffus
im Gewebe, nicht gleiohmassig, sondern an verschiedenen Stellen wesentlich
zahlreicher. Beziehungen zuGewebselementen: im allgemeinenohneBeziehungen
zu den Gewebselementen im Gewebe, an einzelnen Ganglienzellen sind mehrere
Spirochaten angelagert. Vordere und hintere Zentralwindung rechts: Sehr spar-
liche vereinzelt liegende Spirochaten in der Hirnrinde ohne Beziehungen zu Ge¬
webselementen. An einer ortlich begrenzten Stelie findet sich eine iiberwiegende
Zahl von Exemplaren, die auffallig diinn und schwacher impragniert, zum Teil
nioht schwarz, sondern braun erscheincn. Die ortliche Begrenzung der Verande¬
rung konnte als mangelhafte Impragnierung erscheinen. Da aber an einer Anzahl
dieser Exemplare an mehr oder weniger grossen Stellen verklumptes Periblast
zu sehen ist und einige Exemplare dick und verkiirzt erscheinen, muss man
annehmen, dass es sich um Skelettierungsvorgange handelt, die durch ihre
ortliche Begrenzung besonders bemerkenswert sind (Tafel III, Fig. 1 i).
Fall 2. Franz Z., geb. 1. 9. 1872, Fabrikarbeiter. Seit Dezember 1910
nervensehwach, Schlaflosigkeit, Gedachtnisschwache: Depression, leichte Er-
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404 Dr. F. Sioli,
regbarkeit. 6. 3. 1911 ins Krankenhaus, dort unruhig 9. 3. in Prov.-Heil- und
Pflegeanstalt Bonn.
Befund: Pupillenreaktion ungestort, Reflexe, Sensibilitat, Motilitat un-
gestort, paralytiscbe Sprachstorung, Merkfahigkeit herabgesetzt, keine wesent-
liche Demenz, gibt an, er habe Anfalle von Zuckungen im linken Arm ohne
Bewusstseinsstorung, einmal sei er bewusstlos gewesen. Wassermann im
Blut positiv.
Verlauf: Nacb einigen Tagen Euphorie und bluhende Grossenideen, zeit-
weilig gereizt. Bleibt so bis 5. 5. 1911, dann plotzlich revoziert er die Grossen¬
ideen, es seien Illusionen gewesen, bleibt urteilsscbwach, kritiklos, euphoriscb.
26.6. entlassen. Arbeitete ordentlicb auf der Werft. Seit 27. 11. niederge-
scblagen, gehemmt, am 12. 12. wieder in Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn.
Pupillenreaktion ungestort, linker Fazialis schwacher, Sehnenreflexe lebbaft,
negativistiscb, im Februar 1912 zuganglicher, stumpf apathisch, dement. Im
Mai 1913 Pupillenreaktion spurweise, Patellarreflexe gesteigert. August
Wassermann im Blute stark positiv, im Liquor von 0,2 aufwarts stark ppsitiv.
20.8. 0,3 Altsalvarsan intravenos. 4. 9. 0,5 Altsalvarsan intravenos. 10.9.
0,6 Altsalvarsan intravenos, alb Naohmittag einmal Erbrechen. 20. 9. begin-
nender lkterus, Temperatur 37,1—37,4, Puls64. 21. 9. Temperatur 3^,3—37,6.
22.9. Dreimal Erbrechen galligerMassen, Temperatur37,4—38,2. Urin: Eiweiss
positiv. Bilirubin positiv. Zucker negativ. Mikroskopisch: zahlreiche Leuko-
zyten, vereinzelte hyaline und granulierte Zylinder, keine roten Blutkoiperoben.
Tod 22. 9. 1913 ll 1 ^ h.p.m.
Sektion nach 12 Stunden: Scbadeldacb ikterisch, sonst o. B. Dura
ziemlich stark gespannt, beim Einschneiden entloert sich sebr viel ikterisober
Liquor. Frische Pachymeningitis hoemorrhagica. Pia sulzig getrubt an der Kon-
▼exitat. Pia der Basis diinn, ungetrubt. Gefasse der Basis diinnwandig. Hirn-
gewicbtll85. Erwacbsene mannliobe Leiohe, Totenstarre deutlich, Totenflecke,
keine Oedeme. Hautfarbe ikterisch. Muskulatur schwach, kein Fettpolster.
In der Bauchhohle bedeokt das Netz die Darme, kein Aszites; Darmserosa glatt
und spiegelnd. Leber reiobt bis zum Rippenbogen. Zwercbfell 1. 4. ICR, r. 4R.
Fett und Muskulatur ikterisch verfarbt. Herzbeutel liegt frei, r. Lunge kolla-
biert, 1. Lunge in ganzer Ausdehnung mit der Pleura costalis verwachsen.
Herz sehr schlaff. Im r. Vorhof Speckhaut, Ostien geschlossen. Trikuspidalis
o. B. Muskulatur zum Teil fettdurchwachsen. Koronararterien etwas erweitert,
enthalten Speckhaut. Muskulatur, Klappen der Aorta und Pulmonalis ikterisch.
L. Vorhof Speckhaut, normale Weite, Mitralis o. B., nicht verdickt, Conus ar¬
teriosus entsprechend. Aorta: herdformig weisslich gelbliche Plaques, die an
den Klappen beginnen; ikterische Farbung. Verwaohsungen der 1. Lunge leicht
zu losen. Anthrakotische Hilusdrusen, Pleura verdickt. Massiges ikterisches
Lungenodem. Im Unterlappen einzelne Herde. Halsorgane ikterisch, sonst
o. B. Massige luetische Aortitis. Milz doppelt vergrossert. Serosa glatt spie¬
gelnd, sehr weich. Pulpa leicht abzustreifen. Trabekel deutlich. Follikelo.B.
17 : 9 : 2 l / 2 cm. L. Nierenkapsel leicht abziehbar. Auf der Oberflache bis
Talergrosse prominierende Herde, die zum Teil nur aus weisslichen Knotchen
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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse. 405
i
und hyperamischem Rand besteben. Auf der Schnittflache entsprechen die
Horde den Markkegeln. Stark ikterisch. Im Nierenbecken leichte zum Toil
blutige Auflagerungen. Kapsel von r. Niere leicht abziebbar. Anf der Ober-
flacbe zablreicbe Knotchen, an Einzelstellen geringe Blatungen. Anf der
Schnittflache einzelne Knotchen der Rinde. Nierenbecken leicht injiziert, weiche
Auflagerungen. In Magen und Duodenum etwas Speisebrei. Sohleimhaut des
Duodenums leicht hamorrhagisch injiziert. Ductus choledoohus anscheinend
nicht durcbgangig auf Druck auf die Gallenblase. Nach Sondierung entleert
sich reichliche Galle. Leber 25 : 9 : 20 cm. Gew. 1855, Schnittflache massig
stark ikterisch. Gallengange nicht erweitert, deutliche ikterische Zeichnung
nicht vorhanden. In der Gallenblase reichlidh dunkelbraune Galle. Im Darm
weisslich gelblicher Inhalt. Im Dickdarm harter galliger Kot. Dunndarm
Schleimhaut leicht injiziert, ikterisch, enthalt viel Schleim. in der Nahe der
Ileozokalklappe kleines linsengrosses Geschwur. Im Douglas leichte schwarz-
licbe punktformijje Pigmentierungen. Blase stark kontrahiert, enthalt wenig
traben Ham. Im Rektum schleimiger Kot. Schleimhaut leicht injiziert. Im
Trigonum der Blase leichte flbrinose Auflagerungen. Fundus massig injiziert.
Histologische Untersuchung: Alkobolmaterial, Farbung mit Tolui-
dinblau nach Nissl: I. Frontalwindung: Pia massig stark verdickt und
infiltriert, Hirnrinde stellenweise versohmalert, llindenarchitektonik deutlich,
aber nicht sehr stark gestort, Oberflache der Rinde leicht wellig, schmaler
kernfreier Rindensaum. Reichliche diffuse Vermehrung kleiner GefSsse mit
Sprossbildung und sehr vielen geschwollenen Gefasswand- und Endothelkernen.
Diffuse Inflltration mit grossen offenbar meist frischen Plasmazellen. Keine
massiven Infiltrationszellmengen. In den adventitiellen Scheiden und den Ge-
fasswandzellen grosserer Venen Tiel gelbes Pigment. Seltene Stabchenzellen.
Ganglienzellen diffus, meist wabig verandert, stellenweise perizellulare Inkru-
stationen. Keine Neurenophagie. Gliakerne in der Rinde und Mark meist
ruhend. Keine betrachtlichen Wucherungserscheinungen am Gliazellprotoplas-
ma. Die Veranderung ist diffus, aber nicht ganz gleichmassig. Es bestehen
Bezirke starkerer Gefassvermehrung. Vordere und hintere Zentralwin -
dung: Die gleiche Veranderung der Ganglienzellen wie in I. Frontalwindung;
Inflltration, Endarteriitis, Gefassvermehrung von gleicher Art, aber weniger
stark ausgepragt wie in I. Frontalwindung. Rindenarchitektonik gut erhalten.
Medulla oblongata und Kleinhim: Infiltration vereinzelter Gefasse, keine
Gefassvermehrung.
Formolmaterial: Spirocbatendarstellung nach Jahnel. Von I. Fron¬
talwindung, vorderer und hinterer Zentralwindung, Kleinbirn und von einem
Block aus dem Boden des 4. Ventrikels. In den Schnitten der Frontal- und
vorderen Zentralwindung ganz vercinzelt hie und da eine Spirochate; in den
Schnitten von Kleinbirn und Boden des 4. Ventrikels keine Spirooh&ten.
Fall 3. Heinrich P., geb. 7. 2. 1864, Kutscher. Exzesse in venere et
baccho, wiederholt Delirium tremens. Ami.5. 1912 ins Krankenhaus Miilheim
wegen Delirium tremens, nach dessen Ablauf dauern Halluzinationon an, ver-
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406
Dr. F. Sioli,
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waschene Sprache, Reflexsteigerung, deshalb am 4. 6. in die Prov.-Heil- und
Pflegeanstalt Bonn aufgenommen.
Befund: Starker Tremor, Pupillenreaktion links trage and wenig aus-
giebig, recbts ungestort. Sehnenreflexe lebhaft, paralytische Sprachstdrung.
Stimmung euphoriscb, bumoristiscb, geringe Aufmerksamkeit, sebr Starke Merk-
fahigkeitsstorung, delirante motorische Unrube, verwirrter Rededrang, will das
Auge herausgenommen baben, balluziniert. Liepmann negativ.
Verlauf: Euphorie, cbronisch delirante Unruhe, verlangt dauernd Ent-
fernung seines Auges. November 1912 ein Anfall, in dem er fallt und den
Oberarm bricbt, danach ruhiger, stumpf, ganzdement. Geht korperlich zuriick
und stirbt am 27. 2. 1913. 5 h. p. m.
Sektion \ l l 2 Stunde nach dem Tode: Hydrocephalus externus und in-
ternus, starke Leptomeningitis chronica uber der vorderen Konvexitat, Epen-
dymitis granularis des Seitenventrikels und des 4. Ventrikels, Verschmalerung
der frontalen Hirnwindungen. Aortitis luetica, Verdickung der Mitralklappen,
broncbopneumonische Herde, hamorrhagischer Infarkt im Unterlappen der
rechten Lunge.
Histologischer Befund: Alkolmaterial, Toluidinblaufarbung nacb
Nissl: I. Frontal win dung rechts: Pia wenig verdickt, stark infiltriert mit
Plasmazellen, Lymphozyten und Abraumzellen, von der Hirnoberflache gut
abgesetzt, an einzelnen Stellen mit ihr verlotet. Gehirnoberflache aiemlich
glatt, kein kernfreier Rindensaum, Rindenarchitektonik gut erbalten, Gef&sse
nicht sebr vermebrt, zablreiche Gefasse aber von dicken Infiitrationsmanteln
umgeben, die meist aus Plasmazellen bestehen. Auch im Mark dicbt unter der
Rinde nocb starke Infiltrationen der Gefassscbeiden. Bndotbelkerne nicbt
wesentlich geschwollen. Die Infiltration halt sich in den adventitiellenScheiden
und durcbsetzt nicht die Gefasswand bis zum Endothel. Stabchenzellen und
Neubildungen von Gefassen. Ganglienzellen diffus stark verandert, Zustand
des komigen Zerfalls in Verbindung mit der chronischen Erkrankung. Tra-
bantzellen nicbt vermehrt, keine Neuronopbagie. Gliakerne allgemein und sebr
stark geschwollen, deutlich am starksten in der 3. Schicht. Starke Prolifera¬
tion eines lockeren Gliazellprotoplasmas um die Kerne. Die Ver&nderung ist
diffus, stellenweise sind Stabohenzellen und Gliakernschwellung starker aus-
gepragt. Vordere und hintere Zentralwindung rechts: Die Ganglien-
zeliveranderung ist weniger stark, alle anderen Veranderungen an Art und
Starke wie in der I. Frontalwindung.
Formolmaterial: SpirochatendarstellungnachJahnel: I.Fron¬
talwindung links: In Pia, I. Rindenschicht und Mark keine Spirochaten. In
einem Teil des bearbeiteten Stiickes, einer Seite der betreffendenHirnwindung,
einzeln liegende sparliche Spirochaten von typiscber sehr langer Form mit ein¬
zelnen knospenartigen Formyer&nderuugen im oberen Teil der 3. Schicht. Sie
liegen im Gewebe ohne erkennbare Beziehungen zu zelligen Gewebselementen.
Gyrus rectus links: Etwas weniger reiohliche Exemplare, aber diffus regel-
massiger verteilt in alien Schicbten ausser der I. Rindenschicht. Form typisch,
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407
Lage im Gewebe. Hint ere Zentralwindnng: Ganz vereinzelte Spirochaten
in der 3. Sohioht. Vordere Zentralwindnng: Keine Spirochaten.
Es ist hervorzuheben, dass in den sehr massigen Infiltraten dieses Falles
keine Spirochaten liegen.
Fall 4 . Peter H., geb. 30. 1. 1881, Scbmied. 23. 10. 1916 in der /
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn aufgenomznen. Ein balbes Jahr vorber eine
Art Anfall (starke Kopfschmerzen, es ginge ibm alles rund), danacb Gedacbt-
nisschwache, unsicberes Sprechen, in letzterer Zeit nachlassig.
Befund: Papillen lichtstarr, starker Tremor, lebhafte Sehnenreflexe,
links Andentung von Babinski, starke Spraobstorung. Stumpf, enphoriscb,
hochgradige Demenz.
Verlauf: Stumpf, eupborisob, findet sicb nicbt zurecht, wird hinfallig
und stirbt am 21. 12. 1916. 2 ] /s b« p. m.
Sektion 20 Stunden nach dem Tode. Gefasse der Basis und Fossa
Sylvii zartwandig, Pia vom Frontalpol bis zur Zentralfurcbe etwas getrubt,
nicbt wesentlich verdickt, Windungen nicbt deutliob verscbmalert. Seiten-
ventrikel nicbt erweitert. Ependym derselben und des 4. Ventrikels nicbt
granuliert..
Histologiscbe Untersuchung: Alkobolmaterial, Toluidin-
blaufarbung nach Nissl. Frontalpol rechts: Pia wenig verdickt durch
Infiltrationszellen, diese sind vorwiegend Lymphozyten, eine gewisse Anzabl
Abraumzellen, nur vereinzelt Plasmazellen. Die Infiltration durcbsetzt nir-
gends die Wand der pialon Gefasse. Die Pia ist von der Gehirnoberflache gut
abgesetzt. Die Gehirnoberflacho ist im grossen ganzen glatt, ein bemerkens-
werter kernfreier Rindensaum besteht nicbt; die Rindenarchitektonik ist im
allgemeinen gut erhalten, fleckweise starker gestort, mehr durch Reicbtum in-
filtrierter Gefasse als durch Zellausfall. Die Rindengefasse sind ziemlich all-
gemein mit Plasmazellen locker infiltriert, diese Plasmazellen sind von auf-
fallend verscbiedener Form und Grosse, starke Vermehrung kleiner Gefasse,
zatlreiche Stabchenzellen. Endotbelkerne stellenweise vergrossert. Im Rinden-
bilde fallt besonders in die Augen die allgemeine Ganglienzellerkrankung des
„Zellschwundes w (Vakuolisierung des Kernkorperchens, Grosse und Blasse des
Kerns, obne oder mit ganz dunner Kernmembranfalte, perinukleare Unfiirbbar-
keit, farbbare Substanzen als Basalkorper, Kernkappen, Verzweigungskegel in
blasser, krumeliger, scblecht umschriebener Form erhalten, Dendriten und
Acbsenzylinder gleiohmassig biass ziemlich weit gefarbt, nicbt aber die feineren
Verzweigungen). Von dieser Erkrankung bestehen die verschiedensten Stadien
bis zur Auflosung der Zeilen. Glia der 1. Schicht und der ganzen Rinde sebr
stark progressiv verandert und gewucbert, Kerne meist gross und blass, zum
Teil von langer Form, mit mehreren Polkorpercben, reichlicb Protoplasmabil-
dung, zum Teil Rasenbildung. Einige bomogene Gliakerne, umgeben von
einem hauchartigen Leib von Gestalt der amoboiden Gliazellen, in denen einige
metacbromatiscbe Kornchen eingelagert sind. Die Trabantzellen liegen in
etwas vermebrter Menge den Ganglienzellen sebr eng an und haben meist
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grosse helle, zum Teil gestreckte Kerne und zum Teil Protopl&smastippchen.
Bilder schwerer Nearonophagie fehlen. Die ganze-Rinde sieht schmutzig aus
durch eine Menge von Kdrnern, Kringeln und Resten, deren Zugehorigkeit zu
Zellen oft nicht mebr genau zu bestimmen ist. Im Mark ganz allgemein grosse
Gliakerne und eine ziemliche Menge von Gliazellen mit grossem formverander-
tem blassem Kern, mehreren roetacbromatischen Polkorperchen und einem
grossen massiven Protoplasmaleib, der sicb am Rande in feine Fortsatze auflost
gemastete Gliazellen). Fleckweise im Mark freie Korncben, Kringelcben usw.
1. Frontalwindung recbts gleicbt dem Frontalpol. Vordere und bintere
Zentralwindung recbts gleicbt dem Frontalpol, Gefassvermebrung und
Infiltration ist fleckweise starker.
Formolmaterial: Spirochatendarstellung nacb Jahnel (die Praparate
sind nacb der Metbode I — ohne Pyridinvorbehandlung — dargestellt, sie
sind nur stellenweise braucbbar, da sie stellenweise Fibrillendarstellung und
Niederscblage zeigen). 1. Frontalwindung links: keine Spirochaten. Vor¬
dere und hintere Zentralwindung links: an einer sicb iiber mebrere
Immersionsgesichtsfelder erstreckenden Stelle der hinteren Zentralwindung
zahlreicbe (etwa 20 im Gesicbtsfeld) Spirochaten in typisoher Form, viele mit
Verscblingungen des Leibes, dififas einzeln im Gewebe, obne erkennbare Be-
ziebungen zu zelligen Gewebselementen, nur urn Ganglienzellen starker an-
gebauft.
Fall 5 . Gustav K., geb. 24. 12. 1879, Chauffeur. Am 8. 6. 1914 in
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn aufgenommen, nachdem er 2 Wochen vor-
ber erkrankt mit Kopfschmerz, Schwindel, Aufgeregtheit, schwerer Sprache,
Grossen ideen.
Befund: Pupillen fast lichtstarr, Sehnenreflexe gesteigert, Romberg,
paralytische Sprachstorung, Euphorie, unsinnige Grossenideen, Storung der
Merkfahigkeit.
Verlauf: 13. 6. 1914 0,3 Altsalvarsan intravends, 23. 6. 0,6 Altsalvarsan
intravenos. Er ist rubig, besoheiden, geistig leioht geschwacht, wird am 19. 8.
entlassen, am 15. 10. wieder aufgenommen, rubig, affektlos. Oktober 1915
nochmals 3mal Altsalvarsan, Wassermann bleibt positiv, Patient bleibt onver-
andert. Juli 1916 mehrere paralytische Anfalle, nach denen er geistig zurfick-
geht. 1917 korperlicher Riickgang, Tod 28. 2. 6 8 / 4 ~h. p. m.
Seklion nacb 15 Stunden: Sebr starke Verdickung und Trubung der
Pia vom Stirnpol bis zum Partiallappen beiderseits, massige Verschmalerung
der Windungen im Stirnhirn, starke Granulation der erweiterten Seitenventrikel
und des 4. Ventrikels.
Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial. Farbung mit To-
luidinblau nacb.Nissl. 1. Frontalwindung links: Pia stark verdickt,
meist bindewebig fibros, mit vielen Abraumzellen, stellenweise mit Anhaufung
zablreicber Infiltrationszellen, in denen Plasmazellen iiberwiegen. Keine die
Gefisswand dnrchsetzende Infiltration. Pia liberal! vom Gehirn gut abgesetzt.
Rindenoberflache grobwellig, verscbieden dicker kernfreier Rindensaum, an
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Die Spirocbaete pallida bei der progressiven Paralyse. 409
einer kleinen Stelle dicht unter der Oberflache um ein Gefass Infiltrationszellen
frei im Gewebe, moist Lymphozyten, vereinzelt Plasmazellen. Hirnrinden-
architektonik stark gestort, an verschiedeneu Stellon in verschiodenor Starke,
an einzelnen Stellen sehr betrachtlicher Nervenzellausfall. Gefassvermehrung
in der ganzen Rinde deutlich, an verschiedonen Stellen verschieden stark. Die
Gefassscheiden sind zum Teil sehr stark infiltriert, meist mit Plasmazellen,
teilweise mit Lymphozyten, an einzelnen Stellen dnrchsetzt die Infiltration die
Gefasswand bis zur Intima, deren Kerne zum Teil stark geschwollen sind. Die
kleinsten Gefasse und Kapillaren zeigen fast reine Plasmazelleninfiltration, die
Plasmazellen sind von kleiner bis grosser Form, die Intimawucheruug ist an
den kleinen Gefiissen sehr deutlich. Gefiissaussprossungen und Stabohenzelien
massig reiohlich. Die Ganglienzellon zeigen durchgehend das BiId der chro-
nischen Veranderung, an verschiedenen Stellen verschieden stark; einzelne
Ganglienzellen sind im Schwund. Gliazellen: viele pyknotische Kerne, vielo
Schwellungsfornien der Kerne mit reieblieher Protoplasmabildung massiver
Art. In den verschiedenen Schichten ist die Veranderung an Qualitat gleich,
an Quantitiit bestehen die stiirksten Ausfalle in der 3. Rindeuschicht, die
starkste Gefassinfiltration in der 5. und 6. Rindenschicht. Auch im Mark
finden sich stark infiltrierte Gefasse in ziemlicher Zahl. Die Veranderung ist
an verschiedenen Stellen sehr verschieden stark, Fig. 1 und 2 der Tafel V
zeigen 2 dicht nebeneinanderliegende Stellen aus^dem gleichen Schnitt.
1. Tempo ralwi nd ung links: Pia Veriinderung gleichor Art, Infiltration
starker wie bei 1. Frontalwindung. Rinde: Veriinderung glcicher Art wie in
1. Frontalwindung, lleokweise aber viel starker als dort, sowohl in Infiltration,
wie Gefassvermehrung, wie Zellausfallen und Storung der Architektonik. Die
Zellausfalle sind am starksten in dor 3. Rindenschicht, von der an einzelnen
Stellen keine Nervenzellen mehr vorhanden sind, sondern nur ein Gcfiissgeriist,
zwischen dem Stabchenzellen, Gliazellen (progressiv und regressiv verandert),
zum Teil rasenartig und einige Ganglienzellreste liegen. Keine freien Infil¬
trationszellen. Die Gefasse dieser Stellen sind gering infiltriert. An der Ober-
flache eine kleine Stelle mit vielen freien Infiltrationszellen frei im Gewebe
um ein Gefass. Die Ganglienzellen sind im allgemcinen weniger stark chro-
nisch verandert als in 1. Frontalwindung. Vordere und hintere Zentral-
windung links: Pia stark bindegewebig verdickt, fast ohne Infiltrations¬
zellen. Rinde zeigt sehr gut erhaltene Architektonik und nur geringe krank-
hafte Veranderungen. Nur vereinzelt finden sich Gcfassscheideninfiltration mit
Plasmazellen, Schwellung der Intimakerne, Stabchenzellen. Ganglienzellen
und Gliazellen zeigen nur geringfugige Veranderungen.
Formolmaterial: Spirochatendarstellung nach Jahnel. 1. Frontal¬
windung rechts: Im Mark und der stark verdickten Pia keine Spirochaten.
In der ganzen Hinrinde roichlich Spirochaten, bei weitem am zahlreiohsten in
der 3. Rindenschicht (ca. 20 ira Gesichtsfeld, Taf. Ill, Fig. 4), aber auch in
der 1. Rindenschicht. Formen typische meist sehr lange Exemplare, vereinzelt
Einrollungsformen. Verteilung diffus, einzeln liegend, fieckweise stiirkerc An-
haufungen. Die meisten liegen ohne erkennbaro Beziehungcn zu Gewebsele-
ArchiT f. Fsychiatrie. Wd. 60. Heft 2/3.
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menten diffas im Gewebe, eine grosser© Anz&hl liegt einzeln oder in mehreren
Exemplaren an Ganglienzellen und anch anderen Zellen an. Unverkennbar
- sind die Beziehungen einiger Exemplar© zu Gefassen, in denen einige langs
oder schrag gestellt in der Gefasswand liegen (Taf. Ill, Fig. 8 und 9), verein-
zelte auch in den adventitiellen Scheiden zwischen Infiltrationszellen liegen
(Taf. Ill, Fig. 5), ganz vereinzelt sieht man eine stark eingerollte Spirochate
zwischen Infiltrationszellen so um einen Kern gerollt liegen, dass anzunehmen
ist, sie liegt in einer Infiltrationszelle. Stuck aus der Mantelkante
vom hinteren Ende der linken Frontalwindung mit ungeheuer stark ver-
dickter Pia rechts: In der Pia keine Spirochaten, in der Hirnrinde Spirochaten
wie in vorigem Stuck, aber erheblich weniger. Vordere und hintere Zen-
tralwindung rechts: Keine Spirochaten.
Fall 6. Arnold H., geb. 7. 5. 18G4, Anstreichergeselle. Juli 1909
* - im Krankenhaus wegen Rheumatismus, 6. 8. in Prov.-Heil- und Pllegeanstalt
Bonn.
. Befund: Pupillenreaktion ungestort. Patellarreflexe schwach, links
sohwacher als rechts, allgemeine massige Hypalgesie, paralytische Sprach-
storung, euphorisch, stumpf, gute Merkfahigkeit.
Verlauf: Jeden Monat 3—-5 paralytische Anfalle, danach oft verwirrt
oder erregt, zeitweilig pjptzliche Wahnideen (glaubt Geld verschluckt zu haben
oder bestohlen zu sein), wird plotzlich aggressiv. Wechsel von Euphorie und
Gereiztheit, kommandiert die Umgebung. Zeitweilig zeigt er gute geistige
Fahigkeiten, geht aber seit 1911 unter regelmassigen Anfallen zuruck,
schliesslich monatelange starke Erregung, wird elend und stirbt am 22. 7.1912
* 2 h. p. m.
Sektion 21 Stunden nach dem Tode: Massige Verdickung und Triibung
der Pia vom Frontalpol bis zur hinteren Zentralwindung. Sehr starke Atrophie
der Hirnwindungen in gleicher Ausdehnung, stark erweiterte Seitenventrikel,
Granalation des 4. Ventrikels. Oedem beider Lungen, sohlaffe beginnende
Pneumonie )., sonst kein Befund.
Histologische Untersuchung: Nur Formolmaterial vorhanden.
Farbung mit Kresylviolett. Vordere und hintere Zentralwindung links:
Pia massig verdiokt, toils durch Bindegewebe, toils duroh Infiltrationszellen,
diese meist Plasmazellen, viel Pigment. Gehirnoberflache etwas wellig, starke
kernarme Deckschicht. Hirnrinde allgemein zellarm, besonders auflailig fast
volliges Fehlen der oberen und tiefen KSrnersohicht, an Stelle der tiefen
Komerschicht eine besonders zellarme Zone. Massige Gefassvermehrung, all*
. ' gemeine Infiltration grosser und kleinster Gefasse, meist mit Plasmazellen, viel
Pigment in den adventitiellen Scheiden. Endothelschwellung und Stabchen-
zellen nicht erkennbar. Ganglienzellen zum Teil chronisch verandert. 1. Fron-
talwindung links: Wie Zentralwindung. 1. Temporal- und Okzipital-
windung: Nur geringe Veranderungen erkennbar, Kornerschichten erhalten.
Spiroohatendarstellung nach Jahnel: 1. Frontalwindung links: In Pia,
^ 1- Rindenschicht keine Spirochaten. In der tieferen Rinde uberall einzelne
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Die Spirochaete pallida bei der prhgressiven Paralyse.
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Spirochaten, in einigen flachenhaften Bezirken der tieferen Rinde ganz unge-
heuer viel Spirochaten (weit fiber 100 im Gesichtsfeld), sehr lange auffallig
dfinne Exemplare, gleichmassig einzeln liegend, Beziehungen zu Gefassen oder
zelligen Gewebsbestandteilen nicht erkennbar. Aoch bei don Praparaten dieser
Farbung siebt die Hirnrinde auffallig aas, ihr oberer Teil wie ein scholliges
ineinandergeschobenes Gerfistwerk, die sonst bei dieser Farbung gut abgrenz-
baren Gliazelien der 1. Rindenschicht sind schlecht zu erkennen, ein Teil ist
deutlich amoboid vorandert. Vordere und hintere Zentralwindung
links: In der tiefen Rinde fleekweise massig reichliche Spirochaten, einzeln
liegend. Die Rinde wie in 1. Frontalwindung.
Fall 7 . Helene T., geb. 11. 10. 1869, Arztfrau. Vater litt an Angst-
neurose, Mutter sebr bigott, zerfahrene Erziehung. Patientin stets sehr
exzentriscb, ethiscbe Defekte, krankhaft eifersfichtig, in letzten Jahren Alkohol-
missbrauch. 1892 verheiratet mit Arzt, dieser hatte 1892, als Frau mit erstem
Kind im 4. Monat schwanger, scbwerbeilende Wunde an der Hand, die nach
Sachverstandigenurteil nicht spezifisch war. Kind kam richtig zur Welt, nach
14 Tagen Hautausschlag, nach einigen Wochen tot. Ehemann hatte nie
Erscheinungen von Lues bemerkt ebenso nicht Patientin. Mai 1915 liess Ehe¬
mann Blut untersuchen, Wassermann positiv, hat seit 1914/15 Rekurrens-
lahmung, nach facharztlichem Urteil infolge Erweiterung der Aorta. 4 Kinder
leben gesund. Patientin seit 1913 wortkarg, vernachlassigt sich, lebte zuletzt
nur von Wasser und Brot. War vom 22. 9.—1. 12. in psychiatrischer Klinik
Koln. Dort Pupillen verzogen, kaum wahrnehmbare Lichtreaktion, ausser-
ordentliche Steigerung der Sehnenreflexe, unregelmassige unkoordinierte cho-
reatische Bewegungen der Arme, zwei Anfalle epileptischer Form, Zuckungen
rechts mehr als links, lang dauernde Bewusstseinstrubung. Wassermann in
Blut und Liquor negativ, mittelstarke Polyzytose, Nonne positiv. Apathisch,
grimassiert, zeitweilig unrein, nach 4 Wochen freier, maniriert, affektlos, zeit-
weilig verstimmt. Am 12. 5. 1915 wieder zur psyohiatrischen Klinik Koln,
seit kurzem erregt, verwirrt, halluziniert. Wassermann erneut negativ. Am
22. 5. zur Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn.
Befund: Links Fazialisschwache, Pupillenreaktion trage. Sprache lang-
sam, hasitierend, Sehnenreflexe vorbanden. Choreatische Bewegungen der
Hande, Gang taumelig.
Verlauf: Wechselnder Zustand, manchmal heiter orientiert, manchmal
verwirrt, angstlich, benommen, Sprache oft kaum verstandlicb, zeitweilig un<<
rein. Geht von Oktober an khrperlich und geistig progress!v zurfick, Pupillen
lichtstarr, Sehnenreflexe lebhaft. 20. 10. wiederholte allgemeine Konvulsionen
mit Bewusstlosigkeit, seitdem ohrfe Besinnung, stirbt 24. 10. 6 Y 2 ^ p. m.
Sektion 15^2 Stunden nach dem Tode: Gefasse der Basis und der
Fossa Sylvii fleekweise verdickt und verhartet. Pia fiber dem Frontalhirn sul-
zig verdickt, nicht wesentlich getrfibt, Gehirnwindungen nicht wesentlich ver-
schmalert. Seitenventrikel erweitert, v Ependym glatt. Ependym des 4. Ven-
trikels gTanuliert.
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Dr. F. Sioli,
Histologisch e Untersuchung: Alkoholmaterial, das nach Alkohol-
fixierung in Formol aufbewahrt war; Kresylviolettfarbung. 1. Frontal-
windunglinks: Pia massig vordickt, Infiltrationszellanhaufungen in lockerem
Bindegewebe, mehrere Gefasse stark hyalin entartet. Rindenoberfiache grob-
wellig, erheblicher allgemeiner kernfreier Rindensaum, Rindenarchitektonik
fleckweise stark gestort, verschieden starke Vermehrung und Infiltration von
Rindengefassen, die Infiltrationszellen sind meist Plasmazellen. Keine wesent-
liche Endothelkernschwellung. Wenige Stabcbenzellen. Ganglienzellzustand
nicht klar erkennbar, infolge Konservierung. Gliakerne teils ruhend, teils pro-
gressiv verandert. Vordere und hintere Zentralwindung links: Infil¬
tration der Pia geringer, der Itinde wie in Frontalwindung. Architektonik
besser erhalten, Gefassvermebrung geringer, kernfreier Rindensaum wie in
Frontalwindung. Okzipitalwi ndung (Calc arina) links: Wie Zentral-
windung. Formolmaterial. Spirochatendarstellung nach Jahnel. 1. Fron¬
tal windung rechts: In mehreren fleckfbrmig verteilten Stellen der 2. bis
6. Rindenschicht linden sich sparliche (1—3 im Gosichtsfeld) Spirochaten,
meist von typiscber Form, einige auch von sehr stark eingerollter Form (bis zu
knotenartiger Form) difTus einzeln liegend im Gewobe ohne erkennbare Be-
ziehungen zu zelligen Gewebselementen. Keine Spirochaten in Pia, Mark und
1. Rindenschicht. Vordere und h intere Zentral windung rechts: Ganz
sparlich einzeln liegende Spirochaten in der Rinde ohne Beziehung zu zelligen
Gewebselementen. Okzipital windung rechts (Calcarina): Sparliche
vereinzelt liegende Spirochaten ohne Beziehung zu zelligen Gweebselementen
in der 1. und den anderen Rindenschiohten.
Fall 8. Fritz K., geb. 1. 2. 1865, Kaufmann. Am 10. 6. 1913 in die
Prov.-Heil- und Pllegeanstalt Bonn aufgenommen nachdem er vollig verwirrt
in Bonn auf der Strasse aufgegriffen war.
Be fund: Beben der Mundmuskulatur, Pupillen rechts weiter als links,
lichtstarr, Patellarreflexe rechts schwach, links nicht auslosbar, Romberg an-
gedeutet, paralytische Sprachstorung, affektlos, stumpf, Grossenideenpekuniarer
Art, verwirrte Angabcn, Bonehmen geordnet. Gibt Syphilis zu.
Verlauf: Sehr stumpf, 3. 9. 1913 paralytischer Anfall, danach rapider
korperlicher Verfall und Tod am 8. 9., 8 l / 2 h. p. m.
Sektion nach 14 1 /* Stunden: Lfeptomenigitis chronica, Athropia,
gyrorum cerebri,Ependymitis granularis, schlaffes Herz, Nephritis interstitialis.
Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial, Toluidinblaufarbung
nach Nissl: 1. Frontalwindung rechts: Pia stark verdickt, halb binde-
gewebig, halb inliltrativ, die Infiltration ist gleichmassig, der Hirnoberflache be-
nachbart, meist von der Hirnobertlacho gut abgesetzt, an einigen kleinen Stellen
mit ihr verlotet. Die Infiltration enthalt viele Plasmazellen, cs besteht keine In¬
filtration, welche dieGefasswande durchsetzt. Gehimoberfiache stellenweise sehr
stark wellig; deutlicher massig dicker kernfreier Rindensaum. Rindenarchitektonik
wenig gestort, eine Verringerung der Zahl der Ganglienzellen ist vorgetauscht
durch akute Zellerkrankung. In Hirnrinde ausgedehnte diffuse Infiltration der
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Dio Spirochaeto pallida bei dor progressiven Paralyse. 413
Gefassscheiden mit z. T. dicken Zellmanteln, die Infiltration besteht grossten-
tcils aus grossen Plasmazellen. An einzelnen Stellen der GefSsse finden sioh
dicke Polster von gewucherten Intimazellen und Gefassaussprossungen. An
einigen kleinen Stellen ortlich begrenzter Austritt von Plasmazellen und
Lymphozyten ins Gehirngewebe. Stabchenzellen stellenweise vorhanden, an
anderen Stellen fehlend. Ganglienzelien im Sinne der akuten Zellveranderung
Nissl’s erkrankt. Gliakeme in ziemlicher Zahl hochgradig progressiv ver-
andert, ohne sichtbarenProtoplasmaleib,eine gewisseZahl Gliakerne pyknotisoh
Oder homogen verandert umgeben von einem schwachsiohtbaren, wolkenartigen
Protoplasmaleib von der Form der amoboiden Zellen, der einige rotgefarbte
Granula enthalt. Die Ganglienzellveranderung ist diffus, aber nicbt gleioh-
massig, sondern fleckweise mehr oder weniger stark. Vordere und hintere
Zentralwindung reohts: Gleicht in Art der Veranderung und darin, dass
die Veranderung fleckweise versohieden stark ausgepragt ist, der 1. Frontal-
windung. Die Quantitat der Veranderung ist starker als an der 1. Frontal-
windung in Bezug auf Piainfiltration, Verlotung der Pia mit der Hirnoberflache
auf weite Strecken, Gefassvermehrung und Dicke der Infiltration. Intima-
wucherung. An einzelnen Gefassen von Pia und Rinde durchsetzt die In¬
filtration die Gefasswand fleckweise in ganzer Dicke.
Formolmaterial: Spirochatendarstellung nach Jahnel. L.Frontal-
windung rechts: In der Pia, der 1. Rindenschicht und dem Mark keine
Spirochaten. In den tieferen Zweidritteln der 3. Schicht und den
tieferen Sobichten bis zur Markgrenze reichlich Spirochaten (fiber 10 cm
Immersionsgesichtsfeld), am moisten in der 3. Schicht. Form der Spirochaten:
Neben einzelnen typischen Exemplaren uberwiegend Einrollungsformen von
teilweisen Einrollungen bis zu sehr stark eingerollten Formen (Taf.IlI, Fig.lb
bis f). Verteilung einzeln liegend, diffus verteilt, aber ungleichmassig,
indem der eine Bogen der geschnittenen Hirnwindung die Spirochaten enthalt,
der andere Bogen fast frei ist. Beziehung zu Gewebselementen: Meist ohne
erkennbare Beziehung zu zelligen Gewebselementen im Gehirngewebe, einige
liegen in der Gefasswand von Kapillaren und deren naheren Umgebung, keine
in der Wand oder Umgebung grosserer Gefasse. Vordere Zentralwindung:
Spartiche Spirochaten (1 in 3—4 Gesichtsfeldern) in der 3. Rindenschicht
ohne erkennbare Beziehungen zu Gewebselementen, gleichmassig verteilt.
Hintere Zentralwindung: In Pia, 1. Rindenschicht und Mark keine Spiro¬
chaten, massig reichliche (2—4 im Gesichtsfeld) Exemplare in den tieferen
Zweidritteln der 3. Schicht, einzeln liegend, diffus gleichmassig verteilt, ohne
erkennbare Beziehungen zu Gewebselementen. Unter den Formen neben einigen
typischen sehr langen Exemplaren uberwiegend eingerollte usw. veranderte
Formen bis zu sehr stark eingerollten.
Fall 9 . Peter B., geb. 1890, Laufburscbe. Eltern gesund, Lues negiert,
7 Geschwister gesund, 2 Geschwister tot mit 2 und 4 Monaten, 1 Zwillings-
geschwisterpaar tot geboren. Patient selbst h&tte Rachitis und lernte erst mit
4 Jahren laufen, lernte in der Schule gut, dann Fortbildungssohule, erhielt ein
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Dr. F. Sioii,
Dipiom. War immer schwachlich. 22. 2. 1908 in psychiatrische Klinik Coin
aufgenommen, nachdem er 3 Monate allmahlich verandert war, teilnahmslos,
weinte grundlos, unbeholfener Gang. 11.3. in Prov.-Heil- nnd Pflegeanstalt
Bonn anfgenommen.
Befund: Korperlich zuruckgeblieben, Habitus eines 14—15jahrigen
Jungen. Pupillen different, lichtstarr, grobe Wellenbewegungen der unbehilf-
lichen Zunge, Hypalgesie der Beine, ataktischer Gang, Steigerung der Patellar-
reflexe, starke Sprachstorung, Mitbewegung der Gesichtsmuskulatur. Sehr
starke Demenz, blode Euphorie.
Verlauf: Lebt blode, abwechselnd weinerlich und reizbar. August 1908
Blindheit (Optikusatrophie), Sprache wird unverstandlicher, aus vereinzelten
verstand lichen Worten gehen Grossenideen hervor (grosse Reisen auf Motorrad)
oder Angst (sieht wildeFiichse). 1909 ganz verblodet, hilfsbediirftig, unverstand-
lich, lallend. 1911 rapider korperlicher Verfall und Tod. Am 10.1. 2 1 /, h. a. m.
Sektion: 7 x / 2 Stunden nach dem Tode. Hirngewicht 1027 g. Gefasse
der Basis und Fossa Sylvii zartwandig, Optikusatrophie beiderseits. Pia fast
fiber dem ganzen Gehirn getriibt, fiber dem Frontalhirn stark sulzig verdickt
und stark getriibt, im Zusammenhang ohne Rindenschadigung abziehbar.
Hirnwindungen iiberall schmal, im Frontalhirn sehr schmal. Seitenventrikel
stark erweitert, Ependym glatt. Ependym des 4. Ventrikels granuliert.
Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial; Toluidinblaufarbung
nach Nissl. Vorhanden sind 4 unbezeichnete Rindenteile, von denen Nr. 1 als
aus der Frontalgegend, Nr. 2 aus der Zentralgegend, Nr. o aus der Parietal- oder
Okzipitalgegend, Nr. 4 aus der Okzipitalgegend (Calcarina) stammend erkenn-
bar sind. Nr. 1: Sehr starke Verdickung der Pia, meist aus lookerem Binde-
gewebe mit Abraumzellen und Pigment bestehend; an dem der Hirnoberflache
zugekehrten Blatt der Pia eine verschieden dicke Schicbt von Infiltrationszellen,
toils Plasmazellen, teils Lymphozyten. Pia vom Gehirn gut abgesetzt. Gehirn-
oberflache glatt, sehr starker kernfreier Rindensaum, starke Storung der Rinden-
arohitektonik durch Gefassvermehrung und Zellausfalle, die fleckweise sehr
verschieden stark sind. Die Gefasse sind z.T.mit massiven Zellhaufen infiltriert,
ii) denen Plasmazellen fiberwiegen, dabei viel Pigment. Stellenweise starke
Wucherung der Endothelzellen, Neubildung von Gefassen, zahlreiche Stabchen-
zellen. Die Ganglienzellen zeigen allgemein das Bild der wabigen und chro-
nischen Zellerkrankung in hohem Grade. Gliakerne meist ruhend, vieie von
feinen Pigmentkornchen umgeben, einzelne stark vergrossert, von Stippchen
oder oinem massig dichten Protoplasmaleib umgeben. Keine Neuronophagie,
keine Trabantzellenvermehrung. Auch im Mark vieie Gefasse mit Plasmazellen
infiltriert und mit viel Pigment. Nr. 2: Pia: Wie bei Nr. 1. Gehirn: Kern¬
freier Rindensaum, Gefassvermehrung, Infiltration, Endothelwucherung, Gang-
lienzellerkrankung gleicher Art wie bei Nr. 1, aber wesentlich starker, fleck¬
weise sehr verschieden stark. An einzelnen Rindengefassen durchsetzt die
Infiltration die ganze Gefasswand. Einzelne submiliare Gummen. Nr. 3:
Pia sehr wenig verdickt, Veranderungen an Art wie bei Nr. 1, an Starke
geringer. Nr. 4: Wie bei Nr. 3, nur ist die Ganglienzellerkrankung gering.
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Formolmaterial: Spirochatendarstellung nach Jahnel. 1. Frontal-
windungrechts: In Pia, 1. Rindenschnitt und Mark koine Spirochaten, in
der iibrigen Rinde an einigen Stellen mehrere einzeln liegende Spirochaten
ohne erkennbare Beziehungen zu zelligen Gewebselementen, von sehr ver-
schiedenen, meist stark eingerollten, teilweise gestreckten Formen (Taf. Ill,
Fig. 1 g, h). Gyrus rectus recbts: Bei sehr laugem Suchen findet sich
hie und da eine ganz vereinzelte Spirochate in der Hirnrinde. Vordero und
bintere Zentral windung rechts: In Pia, 1. Rindenschioht und Mark keine
Spirochaten; in der iibrigen Rinde zahlreiche Spirochaten, in der Tiefe der
3. und in der 5. Sohicht stellenweise ungeheuer zahlreiche (100 im Gesichts-
feld). Die Formen sind meist typisch, sehr lange Exemplars, einzelne zeigen
teilweise Streckungen, Verschlingungen, Einrollungen des Leibes. Sie sind
diffus verteilt, meist einzeln, hie und da in kleinen Zopfen von 3—8 Exem-
plaren zusammen liegend. Ihre Menge zeigt, ausser der erwahnten flachen-
haften Vermehrung in den tiefen Ganglienzellschichten, noch deutliche fleck -
weise Unterschiede in der ganzen Rinde. Beziehungen zu den zelligen Ge¬
webselementen sind bei den meisten Spirochaten nicht festzustellen. Um
Ganglienzellen ist eine starkvermehrte Anhaufung deutlich (Taf.Ill, Fig.6u. 7);
Eindringen in Ganglienzellen fehlt. Ganz vereinzelte Spirochaten liegen in
der Wand oder den Infiltrationen von Gefassenj ohne dass Beziehungen zu den
Zellen erkennbar sind; noch vereinzeltere sind als in Gliazellen liegend er-
kennbar. Kleinhirnrinde: An einer sich fiber mehrere Immersionsgesichts-
felder erstreckenden Stelle sparliche Spirochaten in der Molekularschicht
(Taf. IV, Fig. 8). Medulla oblongata: (Stuck mit Boden des 4. Ventrikels
und Olive). Keine Spirochaten. Spinalganglion aus Lendengegend: Keine
Spiroohaten. (
Fall 10 . Max G., geb. 10.6.1880, Buchdrucker. 1907 Schanker,
mehrfach energische Hg« und Salvarsanbehandlung. September 1915 plotzlich
Sprachverlust, 3Tage bewusstlos, dann Verstandigung durch Zeichen, langsam
Wiederkehr der Sprache, danach wieder Behandlung mit Hg und Salvarsan.
Oktober 1916 Schlaganfali und Krampfe, Dezember 1916 und spater Kramf-
anfalle. 27. 2. 17 Aufnahme in psychiatrische Klinik Coin, 23. 3. in Prov.-
Heil- und Pflegeanstalt Bonn.
Be fund: Pupillen liohtstarr, eng, verzogen, Patellar- Achillessehnen-
reflexe fehlen, Sensibilitatsstorungen an den Beinen, Romberg, paralytische
Sprachstornng. Wassermann in Blut und Liquor positiv, Nonne positiv, Zell-
vermehrung. Deprimiert, Wahnideen(erwerde geblendet), Merkfahigkeit gestort.
Verlauf: Nahrungsverweigerung infolge Vergiftungsideen, Negativismus.
Vom Mai 1917 an paralytische Anfalle. Vom 9. 7. 17 an taglich Anfalle, zum
Teil stundenlange Korperzuckangen. 16. 7. I. h. a. m. Tod.
Sektion: 9 Stunden nach dem Tode. Pachymeningitis haemorrhagica
interna beiderseits an Konvexitat und Basis. Leptomeningitis ohronioa der
Konvexitat geringen Grades, geringe Erweiterung des Seitenventrikels, Epen-
dymitis gtanularis des 4. Ventrikels. Himgewicht 1560 g.
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416 Dr. P. Sioli,
Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial, Toluidinblaufarbung
nach Nissl. 1. Frontalwindung links: Pia massig verdickt durch Infil-
trationszellcn, von Gehirnoberfliiche gut abgesetzt. Gehirnoberflache sehr stark
grobwellig, sehr geringe kernarme Deckschicht. Starke Storung der Rinden-
architektonik durch Nervenzellausf&lle und starke Gefassvermebrung. Gefasse
d iff as mit Plasmazellen infiltriert, koine dicken Infiltrationshaufen. Verbreitete
Wucherungserscheinungen an Endothelzellen undGefassaussprossungen. Wenige
Stabchenzellen. Ganglienzellen durchgehend stark verandert: Kernkorperchen
gross, oft randstandig, Kern klein, oft eckig, dunkelbomogen gefarbt, Kern-
membran wird meist verraisst, uin Kern oft Lichtung, farbbare Substanz als
dicht aneinanderliegende ditTus vortcilte Kornchen verandert, Rand der Zelle
wie angenagt, oft nicht abgrenzbar, Fortsatze weit gefarbt, z. T. geschlangelt.
Verschwinden von Zellen, um einige Zellen perizellulare Inkrustationen. (Zell-
erkrankung des kornigen Zerfalls.) Keine Trabantzellvermehrung, keine Neuro-
nophagie. Glia vermehrt, meist regressiv oder amoboid verandert. Vordere
und hintere Zentralwindung, Gyrus rectus, 1. Temporalwindung
und Okzipitalhirn (Calcarina und Umgebung) links zeigen gleiche
Veranderungen wie die 1. Frontalwindung.
Formolmateri al: Spirochatendarstellung nach Jahnel. Gyrus
rectus, hintere Zentralwindung, 1. Frontalwindung, 1. Temporal¬
windung links: Keine Spirochaten. Vordere Zentralwindung links:
Einzelne Spirochaten in der Tiofe der Rinde. Okzipitalhirn (Calcarina)
links: Ganz vereinzelte Spirochaten.
Fall 11. Jakob D., geb. 8. 6. 1864, Fabrikarbeiter. Seit Juli 1916 Ge-
dachtnisschwache, daraals mehrfach nach Schlaganfallen rechtsseitigeLahmung,
Sprachverlust. 27. 12. in die psychiatrische Klinik Koln, 5. 1. 1917 in die
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn aufgenommen.
Befund: Pupillen links queroval verzogen, beide lichtstarr, Patellar-
Achillessehnenreflexe fehlen, Romberg, ataktischer Gang, Sensibilitatsstorung,
sehr starke paralytischo Sprachstorung, fibrillar© Zuckungen der Gesichtsmus-
kulatur. Grosse geistige Stumpfheit und Demenz.
Verlauf: Mai 1917 plotzliche Veranderung, sieht verfallen aus, ist hin-
tiillig, sorgt nicht mehr fur sich, Ischuria paradoxa, nach3—4Tagen Erholung,
ist aber geistig und korperlich mehr zuriickgegangen. Wird immer hilfloscr,
die Sprache fast unverstiindlich, dauernde fibrillare Zuckungen der Gesichts-
muskulatur. Tageweise auffalliger Wechsel im Zustand. 30. 10. 1917. 4 x / 4 h.
p. m. Tod.
Sektion: 2 Standen nach dem Tode. Gefasse der Basis und Fossa
Sylvii zeigen an einzelnen Stellen weissliche Verhartungen und Verdickungen
der Wand. Pia fiber der ganzen Konvexitat etwas verdickt und getriibt. Gra¬
nulation des 4. Ventrikels. Keino wesentliche Verschraalerung der Hirnwin-
dungen. Graue Degeneration der Hinterstrange des Riickenmarks.
Histologische Untorsuchung: Alkoholmaterial. Toluidin¬
blaufarbung nach Nissl: 1. Frontalwindung rechts: Geringe Ver-
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Dio Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse. 417
dickung der Pia, meist aus Abraumzellen bestehen, nur wenige Lympbozyten
und Plasmazellen. Pia von Rinde gut abgesetzt. Gehirnoberflache stellenweise
grobwellig. Erheblicher, stellenweise sehr erheblicher kernarmer Rindensaum.
Rindenarchitektonik im allgemeinen sehr gut erhalten, nur an einzelnenFlecken
gestort. Keine wesentliche Gefassvermehrung, diffuse Infiltration der Gefasse
meist mit Plasmazellen, keine wesentliche Endothelw r ucherung. Miissig zahl-
reiche Stabchenzellen. Ganglienzellen diffus im Sinne der chronisohen Erkran-
kung verandert in verscbieden vorgeschrittenen Stadien. Vermehrung der Tra-
bantzellen, massige Stadien der Neuronophagie. Gliakerne in iiberwiegender
Zahl klein und pyknotisch, von kleinen Pigmentkornchen und kleinen hell-
metachromatischen Kornchen umgeben; eine gewisse Zahl Gliakerne gross, hell,
von Stippehen oder einem deutlichen massiven Protoplasmaleib umgeben, ver-
einzelt kleine Rasengebilde. Die progressiven Gliaveranderungen sind fleckweise
starker. Gyrus rectus reohts: Die Infiltration von Pia und Rindengefassen
und die progressiven Gliaveranderungen sind starker, der iibrige Befund ebenso
wie in der 1. Frontalwindung. Vordere und hintere Zentralwindung,
1. Temporalwindung, Okzipitalwindung (Calcarina) wie Gyrus rectus.
Formolmaterial: Spirochatendarstellung nach Jahnel. 1. Frontal¬
windung rechts: in Pia, Mark und 1. Rindenschioht keine Spirochaten. In
der Tiefe der 3. Rindenschicht und den tieferen Schiohten ziemlich zahlreiche
Spirochaten (5—15 im Gesichtsfeld), meist sehr lange typische Exemplare, ein-
zelneEinrollungsformen, diffus verteilt, nicht gleichmassig, sondern in grosseren
Bezirken verschieden viel; einzeln liegend, ohne erkennbare Beziehungen zu
zelligen Gewebselementen. Gyrus rectus rechts: Im Bulbus olfactorius,
Pia, Mark und 1. Rindenschicht koine Spirochaten. Auf einer Seite der Hirn-
windung von der 2. Rindenschicht bis zum Mark ungeheuer zahlreiche Spiro¬
chaten (weit iiber 100 im Gesichsfeld), meist von typischer langer Form, diffus
gleichmassig im Gewebe verteilt, einzeln liegend, ohne erkennbare Beziehungen
zu Gefassen oder zelligen Gewebselementen. In der anderen Seite der Hirn-
windung keine Spirochaten. Vordere und hintere Zentral win dung
rechts: fleckweise reichliche Spirochaten, die in der hinteren Zentralwindung
om Ganglienzellen biischelartig angebauft sind, andere Stellen sind spirocha-
tenfrei. 1. Temporalwindung wie 1. Frontalwindung. Okzipitalhirn
(Calcarina und Umgebung): in der Rinde sparliche Spirochaten, teils einzeln
liegend, teils in kleinen Biischeln Gefassen anliegend. Len den mark und ein
Spinalganglion aus der Lendengegend: keine Spirochaten.
Fall 12 . Peter Q., geb. 27. 2. 1863, Packer. Vor 20 Jahren im An¬
schluss an Bowusstlosigkeit mit Krampfen Verwirrtheitszustand. Seit 4 Jahren
kranklich, ofter Schwindel und geistiger Verfall. Seit 1 / 2 Jahr Sprachstorung,
Reizbarkeit, erregte Stimmung, in letzter Zeit Grossenideen. Am 3. 9. 1910 in
die psychiatrische Klinik Koln aufgenommen. Pupillen ungleicb, lichtstarr,
Patellarreflexe schwer auslosbar, Sprachstorung. Wassermann positiv. Zuerst
vollig verwirrt, schwachbesinnlich, zuweilen erregt, aggressiv, zuw T eilen klar
geordnet. Am 21. 11. in Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn iibergeftihrt.
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418
Dr. F. Sioli,
Befund: Pupillen rund, gleich weit, prompte Reaktion auf Licht and
Konvergenz. Patellar-Aehillessehnenreflexe gut auslosbar, kein Romberg. Keine
Ataxie, keine Sensibilitatsstorungen, keino Sprachstorungen. Aortenklappen-
fehler. Merkfiihigkeit gut, keine Demenz, gibt Gedacbtnisschwache zu, in Kolner
Klinik babe er phantasiert und Wahnideen gebabt, er habe wobl eine Gehirn-
erscbiitterung durcbgemacht.
Verlauf: Geistig geordnet, attent, keine Urteilsschwache. Beeintrach-
tigung der Lichtreaktion uud Sprachstorung tritt zeitweilig in Beobachtung
und wird zeitweilig vermisst. Wassermann im Blut und Liquor positiv. Nonne
posiiiv, starke Lymphozytose. 2. 5. 1911 entlassen, 15. 1. 1912 wieder aufge-
nommen. Starke Gewichtszunahme. Pupillen ungleich, beeintrachtigte Licht¬
reaktion, starkere Sprachstorung, Andeutung von Strabismus, will vor kurzem
doppelt geseben baben.
Weiterer Verlauf: Unzufrieden, Grdssenideen, halluziniert, ablehnend.
.labrelang ablehnend unter dem Einlluss der Halluzinationen, gebt von Herbst
1914 an korperlich und geistig zuriick, verblodet im Verlauf von 1915 und
stirbt ohne besondere Erscbeinungen am 22. 12. 1915.
Sektion: 22. 12. 1915. Gelasse der Basis und Fossa Sylvii zartwandig.
Pia iiber dem Frontal- und Zentralkirn etwas getrubt, nicht wesentlich ver-
dickt. Hirnwindungen nicbt deutlich verscbmalert. Seitenventrikel erwei-
tert. Ependym glatt. Ependym des vierten Ventrikels stark grauuliert. In
der linken Lunge bronchopneumonische Herde und Hepatisation desLungenge-
webes. Rechte Pleurahoble: eitrig fibrinoses Exsudat. Das Ilerz ist etwas
vergrossert, Aortenklappen stark verdickt.
Histologische Untersucbung: Nur Formolmaterial vorhanden. Far-
bung mit Kresylviolett: 1. Frontal wind ung rechts: Pia kaum verdickt,
nur vereinzelto Infiltrationszellen, viel Pigment. Rindenobeiflache grobwellig,
erhebliche kernarmeDeckschicht, Rindenarchitektonik gut erbalten, mit schwa-
cher Vergrosserung keine Infiltration und keine Gefassvermehrung zu sehen,
mit Immersionsvergrosserung findet sich sparlichePlasmazelleninfiltration, keine
Endothelschwellung; lleckweise viele Stabchenzellen, Gliakernvermehrung und
Neubildung feiner Gefasse. Vordere und hintere Zentralwindung
rechts: Pia starker verdickt, Riudengefasse starker infiltriert als in 1. Fron-
talwindung. Fleckweise Ganglienzellausfalle, einige dieser Flecke sind zeli-
reich durch grosse Mengen Gliazellen. Spirochatendarstellung naoh Jabnel:
1. Frontalwi nd ung rechts: In der Hirnrinde diffus verbreitet sparlicb ein-
zelne, lleckweise zahlreiche Spirocbaten, von denen die Mebrzahl obne erkenn-
bare Beziebungen zu zelligen Gewebselementen, ein Teil den Ganglienzellen
angelagert, einige in Gefassvvandungen nnd einige offenbar in Gliazellen liegen.
Vordere Zentralwindung rechts: an einer kleinen Stelle des Blocks (ca.
4—6 Gesicbtsfelder) Spirochaten in der Tiefe der 3. Schicht, mit ausgespro-
chener Anhiiufung urn Ganglienzellen. Die iibrige Rinde ohne Spirocbaten.
Hintere Zentralwindung rechts: ^bienenscbwarmartige u Anhaufungen
von Spirocbaten in einem begrenzten Teil des Blockes. Diese Scbwarme sind
scbon bei schwacher Vergrosserung als feinmaschige sohwarzeFlecke erkennbar
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Die Spiroch&ete pallida bei der progressive!! Paralyse.
419
(Tafel IV, Fig. 10). Sie bestehen aus zahllosen, eng zusammenliegendenSpiro-
chiten im oberen Toil der 3. Scbicht; ein Toil der Spirochaten ist aufftllig
gestrecbt. Beziehungen zu Gefassen sind nioht festzustellen, Ganglienzellen,
Gliazellen, kleine Gefasse sind von dem Sohwarmhaufen umschlossen, insbe-
sondere die Ganglienzellen (TafelIV, Fig. 12u. 13). In der Naho der Schwarme
einzelne Spirochaten im Gewebe mit Bevorzugung der Anlagerung an Ganglien¬
zellen and mit einer zur Oberflache der Rinde senkreohten Stellung, offenbar
Nervenfasern folgend. Schwarme haben eine Grosse vomUmfang eines Immer-
sionsgesichtsfeldes bis zu ganz kleinen, die den (Jebergang zur einzelnen Lage-
rung darstellen. Die Rinde ausserhalb des kleinen Gebietes, in dem die
Schwarme liegen, ist spirochatenfrei.
Fall 13. Joseph T., geb. 17. 4. 1881, Maschinist. Ein Bruder des
Vaters geisteskrank, ein Kind Idiot gestorben. Er selbst lebt immer fur sioh.
Im November 1915 fing er an viel zu schitnpfen, versetzte alles, zerschlug
Sachen, starke Unruhe, dumme Streiche, gehobene oder weinerliche Stimmung.
17. 12. 1915 zur Prov.-Heil- und Pflogoanstalt Bonn.
Befund: Pupillen links weiter als rechts, linke reagiert prompt, rechte
sehr langsam und wenig auf Licht, Konvergenz und Akkommodation. Patellar-
Achillessehnenreflexe sehr sohwach. Zungentremor. Analgesie an der unteren
Extremitat. Sprachstorung bei Paradigmaten. Geordnet, orientiert.
Verlauf: Ruhig, Qeissig, freundlich, keine Sprachstorung mehr nach-
weisbar. Am 6. 2. 1916 entlassen, gebessert (Dementia praecox?). Am 21. 3.
wieder aufgenommen, versetzte und verkaufte alios. Deutlicho Sprachstorung,
geht zur Arbeit, geordnet. Wird im Laufe des Jahres stumpfer. 1917 geht er
korperlich zuriick, wirdweinerlich, starke Sprachstorung, wird ganz stumpf und
korperlich elend und stirbt am 24. 6. S l / 4 h. p. m.
Sektion 3 / 4 Stunden nach dem Tode: Hirngewicht 1100 g. Hydroce¬
phalus externus und internus. Leptomeningitis massigen Grades uber der
ganzen Konvexitat ausscr fiber dem Okzipitalhirn, ganz geringe Atrophie der
frontalen Hirnwindungen. Ependymitis granularis des 4. Yentrikels. Keine
Veranderung der basalen Gefasse.
Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial, Farbung mit Tolui-
dinblau nach Nissl: 1. Frontalwindung rechts: Pia ziemlich verdickt
durch sehr grosse Mengen von Infiltrationszellen, besonders Plasniazellen, von
der Hirnrinde gut abgesetzt. Hirnobertlache sehr stark grobwellig; allgemeine
starke, stellenweisc sehr starke, kernarme Deckschicht. Rindenarchitektonik
stark gestort, fleckwoise sehr stark gestort durch reichliche Vermehrung
und sehr starke Infiltration von Gefassen und durch Nervenzellausfalle. Die
Ganglienzellen fallen schon bei schwacher Vergrosserung als blass auf mit
sehr deutlichem Kernkorperchen, besonders in der Tiefe der dritten und in
den tieferen Rindenschichten. Grossere und kleinste Rindengefasse sind diffus
mit Plasmazellen infiltriert, einige mit dicken Infiltrationszellhaufen und Pig¬
ment Sehr verbreitete und starke Endothelwucherung, zum Toil polsterartig,
starke Gefassvermehrung durch Sprossbildung, wenige Stabchenzellen. Gan-
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420
Dr. F. Sioli,
glienzellen allgemein in einer dem Nervenzellschwund ahnlichen Form in ver-
schiedenen Stadien verandert; Kernkorpereken sehr gross, zum Teil vakuolig,
Kern sehr gross, sehr hell ohne Geriist rnit nur einzelnen Piinktchen, sekr dtinne
Kernmembran, keine Membranfalte. Farbbare Substanzen des Zelllcibes nur
im Basalteil der Zelle als kriimelige Masse und in den weitgefarbten Dendriten
des basalen Zellteils und im Achsenzylinder als wabige Struktur; Form der
Zelle basal wenig verandert, spitzenwarts vom Kern allgemeine Aufbellung
und Verschwinden der Zelle bis zur volligen Unabgrenzbarkeit. Keine Tra-
bantenzellenvermehrung, hie und da Eindringen eines Gliakernes in die Zelle,
aber keine allgemeineNeuronophagie. Glia stark gewuchert, (iberall iiberwiegen
unter denGliakernen grosse helleExemplare mit mehreren dichtderMetnbran an-
gelegten basischenKorperchen, umfastalle dieseKerneStippchenoderhelleProto-
plasmaleiber, zum Teil Rasenbildung. Die Veranderung ist fleckweise ver-
schieden stark. Vordereund hintere Zentralwindung rechts gleicht
der 1. Frontalwindung. Kleinhirn rechts: ganz geringe Infiltration der
Pia, keine Veranderung im Kleinhirn.
Formolmaterial. Spirochatendarstellung nach Jahnel. 1. Frontal¬
windung rechts: in Pia, Mark und erster Rindenschicht keine Spirochaten.
In der ubrigen Rinde ganz ungcheure Mengen von Spirochaten (weit fiber 100
im Gesichtsfeld), ziemlich gleichmassig verteilt, nur geringe fleckweise Unter-
schiede. Neben vielen langen typischen Exemplaren finden sich sehr viele,
ganz kurze und teilweise eingerollte. Viele Spirochaten liegen in den Gefass-
wanden teils einzeln, teils in Biischeln (Tafel III, Fig. 10, Tafel IV, Fig. 1
bis 5), keine Spirochaten in den Infiltrationszellhaufen. Bei weitem die Mehr-
zahl der Spirochaten liegt diffus im Gehirngewebe fern von denGefassen, keine
starkere Anhaufung urn Gefasse. Beziehungen zu zelligen Gewebselementen
nicht erkennbar. Vordere und hintere Zentralwindung rechts: sparlicher als
in Frontalwindung, aber immer noch sehr reichliche Spirochaten in der ganzen
Rinde, vereinzclt auch in derl. Rindenschicht. Einige Exemplare scheinen bier
in einer Gliazelle zu liegen. Sonst wie Frontalwindung. Kleinhirn rechts:
keine Spirochaten.
Fall 14 . Hermann S., geb. 7. 12. 1867, Viehhandler. Am 29. 6. 1911
in psych. Klinik Koln, am 29. 7. in Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn auf-
genommen, nachdem er seit langerer Zeit sehr erregt und streitsuchtig y un-
sinnige Einkaufe machte, seinem Geschaft nicht nacbgehen konnte. Pupillen
lichtstarr, Sprachstorung, Zunge weicht nach links ab, Patellarreflexe gesteigert,
allgemeine Hypalgesie, expansive gehobene Stimmung. Rededrang, verkennt
Umgebung, ideenfliichtiges Geschwatz, Grossenideen kaufmannischer Farbung
und sexueller Art, bleibt dauernd manisch erregt, verwirrt. Februar 1912 vier
paralytische Anfalle, danach linksseitige Abduzensparese. Juni 5 paralytische
Anfalle, ohne Folgen, seitdem hie und da paralytische Anfalle. Seit Januar
1913 haufige Anfalle. Im Januar 8, im Februar 2, dabei dauernd erregt und
voll verwirrter Wahnideen. Vom 9. April an fast taglich Anfalle. Am 20. 4.
76 Anfalle. Am 21. 4. 254 Anfalle. Am 22. 4. 104 Anfalle. Am 23. 4.
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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse.
421
44 Anfalle. 1st seit 20. 4. benommen, schlaffe Liihmung der ganzen linken
Korperseite, die Augen weichen zusammen naoh rechts ab. Die Anfalle be-
ginnen in der linken Korperseite und erstrecken sich hauptsachlich auf die
linke, gehen nur vereinzelt nach rechts iiber; Arm, Bein und Gesichtsmuskulatur
zucken, die Augen werden beim Anfall nach links gedreht. Babinski bei und
nach manchen Anfallen vorhanden, Mendel, Oppenheim dauernd negativ. Seit
22. 4. schluckt der Patient nicht mehr. Stirbt am 24. 4. 9 h. a. m.
Sektion Stunde nach dem Tode. Pia iiber der ganzen Konvexitat
von Fissura parietooccipitalis nach vorn stark getriibl, etwas verdickt, rechts
erheblich dicker als links. Gefasse der Basis enthalten nur einige verdickte
verhartete Wandstellen. Pia nur mit Substanzverlust abziehbar. Seitenven-
trikol rechts etwas weiter als-links; Wand nicht granuliert, *ebenso nicht
3. Ventrikel. 4. Ventrikel deutlich granuliert. Nach Abzug der Pia frontale
Gyri massig verschmalert. Pia und Rinde der Zentralwindungen zeigen rechts
keine Unterschiede gegen links. Stammganglien und innere Kapsel rechts
gleich links. Im Durchschnitt der Briicke und Medulla unterhalb der Oliven-
gegend kein Untcrschied von rechts und links. Der rechte Gyrus rectus
und die beiden benachbarten Himwindungen sind 1 / 2 bis l j 3
schmaler als die der linken Seite. Hirngewicht 1250 g.
Histologische Untersuchung: Alkoholmaterial, Toluidinblau-
farbung nach Nissl. 1. Frontalwindung rechts: Die Pia ist stark ver¬
dickt und stark infiltr&rt; an einigen Gefassen durchsetzt die Infiltration nach
innen zu die Gefasswand; an einigen Stellen ist die Pia mit der Hirnoberflache
verlotet. Hirnoberflache stark wellig. Stellenweise kernfreie, stellenweise sehr
kernreiche Deckschioht. Die Hirnrindenarchitektonik ist stark gestort, die
Rinde zellreich. Starke Infiltration der Gefasse, meist mit Plasmazellen, deren
Kerne zum Tail gross, wie gequollen sind. Massige Gefassvermehrung, keine
wesentlichen Wuohorungserscheinungen am Endothel; viel gelbes Pigment in
den Gefasswanden; wonig Stabchenzollen sehr langer Form. Ganglienzellen
zum Teil wonig verandert, einige wabig verandert, zum grosseren Teil aber im
Zustand des „Zellschwundes w in verschiedenen Stadien: Der Kern erscheint
vergrossert, die gofarbten Teile des Kerninnern sind unscharf gezeichnet,
kriimelig. Kernkorperchen weist Vakuolen auf, Kernmembran diinn, nur selten
Membranfaltung zu sehen, im Zelleib kriimelig kornige zum Teil netzartige
Anordnung intensiv gefarbter Substanz, teils dicht am Kern, teils von diesem
durch schwach gefarbte Substanz abgesetzt, kaum ungefarbte Bahnen im Zell-
leib. Zellfortsatze nur auf kurze Strecken blass gefarbt. Keine Trabanten-
zellenvermehrung, vereinzelte Bilder massiger Neuronophagie. Glia sehr stark
progressiv verandert: Sehr grosse Kerne versohiodener zum Teil gelappter
Form, einige mit mehreren basisch gefarbten Polkbrperchen, sehr reichliohes
Gliaprotoplasma, zum Teil als Stippchen, zum Teil als massiv verzweigtes
Protoplasma dor gemasteten Gliazellon, letztere besonders zahlreich in der
1. Rindenschicht und im subkortikalen Mark, das eine so starke Vermehrung
der Gliazellen aufweist, dass das subkortikale Mark bei schwacher Vergrosserung
dunkler erscheint als der innere Teil des Marks der Windungen. Die Ver-
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422
Dr. F. Si6li,
*■
anderung ist allgemein and gleiohmassig. Vordere und hintere Zentral-
windang rechts: Die Veranderung am Gefassapparat und dem nervosen
Gewebe gleicht in der Art der Veranderung der in der Frontalwindung, ist aber
von betrachtlich geringerem Grad. Gyrus rectus rechts und benach-
barte Wind ungen: Pia verschieden stark verdickt und infiitriert, an einzelnen
Stellen mit der Hirnrinde verlotet. Die Verscbmalerung der Windungen er-
weist sich als vorzugsweise durch eine starke Verschmalerung des Marklagers
verursacht. Im Marklager sieht bei schwacher Vergrosserung das subkortikale
Mark wesentlich dunkler aus als das tiefe Marklager (durch Reichtum an Glia-
zellen). Auch die Rinde ist stark, stellenweise verschieden stark verschmalert.
Die Oberfliiche des Gehirns ist grobwellig mit tiefen Einziehungen. Die kern-
freie Deckschicht ist verschieden stark, gerade iiber den atrophischen Stellen
oft nicht verdickt. Die Hinrinde ist im ganzen sehr arm an Nervenzellen, aber
reich an Gefassen und Gliazellen (Taf. V, Fig. 3 u. 4). Die Gefasse sind nur
massig infiitriert, meist Lymphozyten, weniger Plasmazellon, vereinzelt Mast-
zellen, keine Abraumzellen, von den Plasmazellen zeigen einige regressive Ver-
anderungen. Die Gefasswandkerne sind an einigen Gefassen vermehrt, sie sind
toils klein und dunkel, toils etwas geschwellt; keine allgemeinere Endothelpro¬
liferation, kein Pigment in den Gefasswanden. Starke Vermehrung kleiner Ge¬
fasse, viele Stabchenzellen. Die Ganglienzellen zeigen teils Veranderungen im
Sinne der chronischen und wabigen Veranderung, teils Bilder des Nervenzeil-
sohwundes, wie in der 1. Frontalwindung, meist aber das Bild der „schweren
Zellerkrankung 44 : Kern klein, dunkel gleichartig metachromatisch gefarbt,
Kernmembran sehr deutlich, Kernkorperchen klein, wandwarts geriickt, Zerfall
der Zelleibsubstanz in Kdrnchen, die Fortsatze verschwinden, die Zelle wird
klein, ein homogener abgerundeter Haufen (Taf. V, Fig. 5), sie verschwindet,
allerlei Zellreste geben dem Gewebsgrund ein verunreinigtes Aussehen. Einige
Ganglienzellen zeigen an der Basis ballonartige homogene Anhange. Die Glia¬
zellen sind an Zahl stark vermehrt, nur wenige sind progressiv verandert im
Sinne der gemasteten Gliazellen, die Mebrzahl zeigt kleinen, pyknotischen oder
homogenen blassen Kern und Spuren von dicht anliegenden nicht verzweigten
Protoplasmateilen oder einigen hellen Pigmentkornchen. Keine Neuronophagie,
keine Trabantzellvermehrung. Im subkortikalen Mark starke Vermehrung von
Gliazellen, teils als gemastete, teils als regressiv veranderte. Die Geiasse des
Marks sind nicht vermehrt, ihr Endothel nirgends in Proliferation, in ihren
Scheiden viele Abraumzellen, wenig Pigment, einzelne Infiltrationszellen.
Formolmaterial: Fettfarbung mit Scharlachrot. 1. Frontalwindung
rechts: In der 1. Rindenschicht dicht unter der Rindenoberflache enthalten
eine grosse Anzahl von Gliazellen ganz ausserordentliche Mengen mittelgrosser
Fetttropfen. In der ganzen Rinde enthalten sehr viele Ganglion- und Gliazellen —
ungefahr dem Vorkommen der wabigen Veranderung im Zellbiid entsprechend —
grosse Haufen meist einseitig gelagerter feinster Fetttropfchen. Im ganzen
Mark finden sich ausserordentlich viel mittelgrosse bis sehr grosse Fetttropfen,
die teils um Kerne gelagert als zu Zellen gehdrig erkennbar sind, teils frei im
Gewebe zn liegen soheinen, um manche Gefasse ist die Menge des Fetts ausser-
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Die Spirochaete pallida bei der progressive!) Paralyse. 423
ordentlich vermehrt. In den Gefassscheiden der Rinde findet sich kein Fett,
in denen des Marks verschiedentlich viel. Die Gefasswandzellen sind fettfrei.
Gyrus rectus rechts: Die Ganglienzellen enthalten allgemein etwas mehr
Fettkorner als die der Frontalwindung, die Gliazellen der Rinde sozusagen
gar kein Fett, ebenso nicht die Gefassscheiden und Gefasswandzellen der Rinde.
lm subkortikalen Mark finden sich massige Mengen Fetttropfen in Gliazellen,
mehr als in der Rinde aber wesentlich wenigor als in der entsprechenden
Schicht der 1. Froutalwindung, in oinigen Gefassscheiden des subkortikalen
Marks mehr Fett. Im tiefen Mark reichliche Mengen Fetttropfen, aber erheblioh
weniger als in der Frontalwindung. 1. Temporalwindung rechts: Rinde
wie 1. Frontalwindung, Mark sehr wenig Fett.
Spirochaten d arstellung nach Jahnel: 1. Frontalwindung
links: Vereinzelte Spirochaten. Vordere und hintere Zentralwindung
links (mehrere Blocke): Keine Spirochaten. 1. Frontalwindung rechts:
Vereinzelte Spirochaten, mehr als links. Vordere und hintere Zentral¬
windung (mehrere Blocke) und 1. Temporalwindung rechts: Keine
Spirochaten. Gyrus rectus rechts und benachbarte Windungen:
Ganz vereinzelte Spirochaten in der atrophischen und nichtatrophischen Rinde.
Fall 15 . Friedrich B., geb. 17. 11. 1860, Kaufmann. Am 25. 11. 1912
in Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn aufgenommen, nachdem er sich seit 21. 5.
wegen Paralyse in Privatanstalt befand.
Befund: Pupillen sehr eng, paradoxo Lichtreaktion (Erweiterung auf
Belichtung) Beben der Mundmuskulatur, Patellarreflexe lebhaft, rechts starker
als links, Sprachstorung, grobsschlagiger Tremor, Sensibilitatsstorungen an
den Beinen, Romberg. Aortenklappenfehler. Stimmung wechselnd von Gereizt-
heit und Euphorie, unsinnige Grossenideen, konfuser Rededrang, Stoning der
Auffassung und Merkfahigkeit. Im Verlauf stumpf und euphorisch, manchmal
gereizt, ah und zu ynrein, dauernd affektlose Grossenideen. Pupillenreaktion
manchmal paradox, manchmal fehlend. 15. 4. 1913 Schwachezustand. 17. 4.
dauernde Zuckungen in der Gesichtsmuskulatur und linken Hand. Bewusst-
losigkeit. Tod 17. 4. 1913, 9 h. p. m.
Sektion eine Stunde nach dem Tode: Gefasse an der Basis und der
Fossa Sylvii stellenweise stark verdickt ohne Kalkeinlagerung. Leptomeningitis
chronica fiber der Konvexitat. Keine Erweiterung der Ventrikel, kein Hydro¬
cephalus externus oder internus. Kolossale Granulation aller Ventrikelwande.
Der linke Gyrus rectus ist auf die Halfte des reohten ver-
schmalert. Hirngewioht 1230g.
Histologische Untersuohung: Alkoholmateria), Farbung mit Tolui-
dinblau nach Nissl: 1. Frontalwindung links: Pia stark verdickt, meist
bindegewebig mit Einlagerung einzeln liegender Plasmazellen und Abraum-
zellen, dem Gehirn zugekehrt eine dichte Reibe von Plasmazellen. Gehirnober-
flache grobwellig, keine kernfreie Deckschicht. Hirnrindenarchitektonik stark
gestort durcb Zellreichtum, der verursacht wird durch ausserordentliche Gefass-
vermebrung und Gliavermehrung. Dicke Infiltrationsm&ntel an etwas grdsseren
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424
Dr. F. Sioli,
Rindengefassen, diffuse Infiltration derKapillaren mit Plasmazellen, nur geringe
Wucherungserscheinung am Endothel, sehr starke Gefassvermehrung, zahlreiche
Stabchenzellen. Gangiienzellen allgemein verandert im Siune der wabigen Ver-
anderung in VerbindungmitNervenzellschwund, keineTrabantzellenvermehrung,
keine Neuronophagie. Glia der Rinde ganz allgemein stark progressiv verandert:
Sehr grosse Kerne, zum Teil mit mehreren basischen Korperchen, Stippchen
um die Kerne, Rasenbildung, nur wenige gemastete Gliazellen. Die Rinden-
verandorung ist diffus gleichmassig. Im Mark Infiltration vieier Gefasscheiden
mit Infiltrationszellen und vielen Abriiumzellen mit grfinem Pigment. Starke
Gliavermehrung im Mark besonders im subkortikalen Marklager mit zablreiohen
gemasteten Gliazellen. Vordere und hintere Zentralwindung links:
Die Veranderung gleicht in ihrer Art der in der 1. Frontalwindung, ist aber
in ihrem Grad ganz erheblich geringer, sie ist fleckweise verschieden hoch-
gradig. Gyrus rectus rech ts: Die Veranderung gleicht in Art und Grad im
allgemeinen der in der 1. Frontalwindung, ist aber hochgradiger; fiber weite
Strecken findet sich „schwere Nervenzellerkrankung* 4 . Im subkortikalen Mark
noch starkere Gliavermehrung als in 1. Frontalwindung. Stellenweise ist die
Veranderung anderer Art: Es findet sich betrachtliche Endothelproliferation
und einzelneStellen von fleckweise abgegrenzter Ernahrungsstorung imGewebe:
Versohwinden der Gliazellen, neben stark progressiven Gliakernen blassen die
meisten Gliakerne ab, zahlreiche Abraumzellcn frei im Gewebe (Taf.VI, Fig. 3).
Gyrus rectus links: Rinde und Mark verschmalert, in der Rinde gleich-
massige Verschmalerung aller Schicliten, bei schwacher Vergrosserung sieht
man keine bemerkenswerte Infiltration oder Gefassvermehrung (Taf.VI, Fig. 2).
Bei starker Vergrosserung erscheint massige Infiltration vieier kleinster Gefasse
mit Plasmazellen, von denen einige degeneriert sind, keine allgemeine, an ein-
zelnen Stellen aber betrachtliche Prolifcrationserscheinungcn am Endothel, keine
Gefassvermehrung. Wenige Stabchenzellen. Allgemeine Ganglienzeilver-
anderung: Grosse blasse strukturlose Kerne, meist mit wand warts gerficktem
kleinen Kernkorperchen, mit sehr deutlicher Membran und sehr deutlichen
Faltungserscheinungen, teils wabige, teils feinkornige Farbung des Zelleibs,
ohne ungefarbte Bahnen, Leib der Zelle unscharf begrenzt, nicht vergrossert,
Fortsatze nicht weit gefarbt, unscharf, bei einem Teil der Zellen blasst Kern
und Leib ab bis zum Verschwinden (Taf. V, Fig. 6). Keine Neuronophagie.
Keine Trabantzellvermehrung. Gliazellen der Rinde meist regressiv verandert:
Kleine homogene blasse Kerne, viel pigmenthaltige. Im ganzen Mark sehr starke
Gliavermehrung, wesentlich hochgradiger als im rechten Gyrus rectus, teils
gemastete Gliazellen, teils regressiv veranderte.
Die Fig. 1 und 2 der Taf. VI zeigen im Uebersiohtsbild den Vergleich
der nicht verschmaierten aber stark infiltrierten Rinde des Gyrus rectus rechts
mit der entsprechenden Stelle verschmalerter nicht wesentlich infiltrierten
Rinde links.
For molm ate rial: Markscheidenfarbungnach Wo Iters: 1. Frontalwin¬
dung links: allgeraeiner hochgradiger Schwund der tangentialen und supra-
radiaren Fasern, starke Lichtung der intraradiaren Fasern und der Radii, ausser-
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Die Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse, 425
dem* starker fleckweiser Fasernsohwund in der Rinde. Vordere nnd hintere Zen-
tralwindung nnd 1. Temporalwindung links: Kein bemerkenswerter allgemeiner,
sehr geringer fleokweiser Fasernschwund. Spirochaten darstellung naoh Jahnel.
1. Frontalwindang links: Keine Spirochaten in Pia, ersten Rinden-
schicht nnd Mark. In der iibrigen Rinde zahlreiche Spirochaten (Taf. Ill, Fig. 2)
in der 3. Rindenschicht sehr zahlreiche, stellenweise ansserordentlich zahl¬
reiche (Taf. Ill, Fig. 3). Sie sind diffns verteilt, stellenweise mehr-oder weniger
zahlreich. Die Formen sind typisch, zahlreiche ansserordentlich lange Exem-
plare, einzelne Verschlingnngen zu knospenartigen Formen. Beziehnngen zu
zelligen Gefasselementen sind im allgemeinen nicht vorhanden. Einige Spiro¬
chaten aber liegen in der Gefasswand oder der adventitiellen Scheide kleiner
Gefasse, zum Teil dentlich in Zellen znsammengerollt, ob in Plasmazellen ist
nicht zu entscheiden (Taf. Ill, Fig. 2 bei iz). Vereinzelte Spirochaten liegen in
Gliazellen zum Teil lang ausgestreckt, yon zelligen Fortsatzen der Gliazellen
umgeben; nm einige kleine Gefasse and einige Ganglienzellen besteht in der
Umgebung eine reichliche Anhaufung yon Spirochaten. Keine Spirochaten
finden sich in den massigen Infiltrationen von Gefassscheiden, wo pigment-
fiihrende Abraumzelien orkennbar sind. Vordere nnd hintere Zentral-
windung links: Fleckweise sparliohe nnd fleckweise keine Spirochaten in
der 3. Rindenschicht, diffns verteilt, typische Formen mit vereinzelten Ver-
schlingnngen nnd einzelnen Einrollungen, die wie in der 1. Frontalwindang
zam Teil in zelligen Elementen liegen. Die grosse Mehrzahl ohne Beziehung
za zelligen Gewebselementen. In der hinteren Zentralwindang mehr Spiro¬
chaten als in der vorderen. Gyrus rectus links (makroskopisch versohm&lert)
nnd Nachbarwindung (nicht verschmalert): Ganz vereinzelte Spirochaten diffns
im Gewebe ohne Beziehung zu Gewebselementen, kein Unterschied im Vor-
kommen bei den verschmalerten und nicht verschmalerten Rindenteilen.
Fall 16 . Jakob H., geb. 1879. Keine Hereditat, Lues 1904, Quecksilber-
kur. Krankheitsbeginn 1911: Aufgeregt, vergesslich, daher 11. 6. 1912 in die
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg anfgenommen. Pupillen liohtstarr,
Silbenstolpern, Kniesehnenreflexe gesteigert; dement, erregt, schneller Verfall.
Gestorben 8. 10. 1912.
Sektion: Leptomeningitis chronica. Atrophia cerebri, Hydrocephalus
internes, in Grosshirnrinde verstrent sehr .zahlreiche kleine silberweisse Herde.
Mikroskopisch: Ueberall in Hirn und Riickenmark typischer Para-
lysebefund, am starksten in Stirnhirnrinde. Herde: Hyalin-amyloide Ver-
andernng.
Den Fall verdanke ich Herrn Dr. Witte in Bedburg, der ihn mir zum
Stadium der Spirochatenlagerung uberlassen hat. Witte wird ihn anderweitig
veroffentlichen.
Zur Spiroohatenuntersuchung lagen mir 3 Gehirnstiickchen vor. Der
Befund ist in alien drei Stucken der gleiche.
Sehr starke Gefassvermehrung in der Hirnrinde, besonders von der
3. Rindenschicht nach der Tiefe. Die Gefasse sind teils zellig infiltriert, teils
Archiv f. PayehUtrie. Bd. 60. Heft 2/3. 28
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426
Dr. F. Sioli,
sind ihre Wande durch eine homogene Substanz in dicke starre Rohre ver-
wandelt, diese Substanz liegt an einzelnen Stellen auch ansserhaib der Gefass-
scheiden im Hirngewebe, toils sind die Gefasse bereits bei schwacher Ver-
grosserung eigentiimlich schwarz verfarbt. Starke Vergrosserung zeigt, dass
diese schwarze Farbung von der Anhaufung ungeheurer Spirochatenmengen
herriihrt.
Spirochaten liegen in der Hirnrinde diffas verteilt,'fleckweise verschieden
reichlich im Gewebe and finden sioh auch da, wo an den Gefassen weder
grosse Spirochatenanhaufungen nooh Ablagerungen der fremden Substanz be-
stehen.
Die grosse Menge der Spirochaten steht in Beziehung zu Gefassen; sie
.liegen in alien Schiohten der Gefasswand vom Endothel bis in die Umgebung^
des Gefasses hinein, einzelne Exemplare auch frei im Lumen von Gefassen
(Taf. VII, Fig. 5).
Die Ablagerung der fremden Substanz ist toils mit Spirochaten vereinigt
und zeigt dann besonders Bilder, wie die fremde Substanz in konzentrischea
Ringen die Gefasswand durchsetzt, wiihrend zwischen diesen Ringen Schichten
oder Inseln von Spirochaten liegen, toils findet sich die Ablagerung in Gefass-
wanden, ohne dass Spirochaten vorhanden sind.
Auch in den infiltriertenZellmanteln der Gefasse ohneSubstanzablagerung
finden sich Spirochaten.
Alle genannten Befunde kommen nebeneinander im gleichen Gewebs-
schnitt vor, also:
Spirochaten diflfus im Gewebe,
in der Gefasswand (Taf. VII, Fig. 2),
„ „ „ „ und in ungeheurer Menge in der Um-
gebung der Gefasse (Taf. VII, Fig. 1),
Ablagerung der fremden Substanz mit Spirochaten (Taf. VII, Fig. 3 u.4),
„ „ „ „ ohne „ (Taf. VII, Fig. 6),
Uebersichtsbilder mit schwacher Vergrosserung (Taf. VI, Fig. 4—6).
Znsaramenstellung der Befunde anderer Untersucher mit
meinen Befunden.
Wie eingangs erwahnt sind die 16 mitgeteilten FUlle die
positive Ausbeute der Untersuchung von 32 Paralytikerge-
hirnen. Noguchi (69) hatte bei 24 von 200 Fallen, also in 26 pCt.
positive Befunde, Moore (62) in 12 von 70 also 17pCt., Forster und
Tomasczewski (28) in 27 von 61 also 44pCt., Levaditi, A. Marie
und Bankowski (56) bei systematischer Absuckung von Hirnwindung
imAnfall gestorbener Paralytiker 8 von 9 Fallen also90pCt. Marinesco
(60) erwahnt den fast konstanten positiven Befund bei Dunkelfeldunter-
suchung. Jahnel(51) schlieslich gibt an, dass er Spirochaten in
Schnittpr¶ten in uugefahr einem Viertel seiner Falle, bei Unter-
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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 427
sachung des frischen Gehirns im Duukelfeldo in uber 50 pCt. gefunden
babe, er bait hSheren Prozentsatz positiver Befunde fur dnrcbaus mSg-
licb, warnt aber vor der Sucht in alien Fallen positive Befunde erheben
zn wollen und wurde derartigen Angaben kritisch gegenuber steben.
Wenn ich in 60 pCt. meiner Falle positiven Befund in den Schnitt-
prdparaten batte, so ist dieses ein hoher Prozentsatz, wenn man bedenkt,
dass die Falle nicht nacb kliniscben Gesichtspunkten ausgesucht waren
and im allgemeinen von jedem Gehirn nur 2 Hirnstellen der Unter-
suchang zu Grunde gelegt waren. Mein Prozentsatz geht uber die bis-
her vorliegenden in Gewebsscbnitten hinaus. Man kann nach allge¬
meinen Erfabrongen in der Wissenschaft annehmen, dass spatere
Untersucber bei Voraussetzung gleicben Eifers und gleicher Befahigung
stets bdhere Prozentsatze positiver Befunde haben werden, da ihnen ein
Teil der Scbwierigkeiten der Technik und Beobachtuug durch die ersten
Untersucher aus dem Wege geraumt ist, und dass erst nach einer
grCsseren Reihe von Arbeiten die Grenzen klar werden, in denen sich
die positiven Befunde balten. Dass das Optimum der Befunde nocb
nicht erreicht ist, und dass der positive Nacbweis von Spirochaten aucb
in den nicht ausgesuchten Fallen in mebr als 60pCt. gelingen wird, halte
ich fur sicber, und zwar glaube icb, dass dazu nicht einmal die Durch-
untersucbung fast alter Windungen ndtig sein wird, sondern dass scbon
mit einer Untersuchung von cinigen Hirnstellen jedes Falles eine hobere
Prozentzahl erreicbt wird, nachdem durch weitere Erfahrung ein ge-
scharfter Blick fur die Beurteilung erworben ist. Fur solche Unter-
sucbungen wird wabrscbeinlich die Untersuchung von Gewebsschnitten
vor der Dunkelfeldmethode den Vorzug haben, da sie die Durchmuste-
rung flachenhafter Gebiete ermdglicbt.
Dass es sich bei den in den Paralytikergehirnen dar-
gestellten Organismen um Exemplare der Spirochaete pallida
handelt, ist seit den Noguchi’schen Arbeiten unbestritten. Zahl-
reiche Autoritaten haben die Gebilde in Originalpraparaten und Photo-
graphien anerkannt und die charakteristische Form schutzt sowohl bei
der Dunkeifelduntersuchung, wie den Farbemethoden im Ausstrich und'
der Darstellung in Gewebsschnitten, unter der Voraussetzung kritischer
Beobacbtung vor Verwecbslung. Dass es sich um den lebenden Erreger
der Syphilis im Gehirn handelt, geht aus den Befunden mittels Hirn-
punktion von Forster und Tomasczewski (28) und Bdriel (8) hervor,
sowie aus den Impferfolgen mit paralytischem Hirngewebe. Dass die
Aoffindung in Gewebsschnitten bisher im allgemeinen nicht gelang, ist
darauf zuruckzufuhren, dass stets die verschiedenen Fibrillen des Ge¬
hirns mit impragniert wurden und mit ihrem ungebeuren Reichtum die
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428
Dr. P. Sioli,
Spirochaten verdeckten. Woran es lag, dass Noguchi mit seiner
Methode Erfolge hatte, die fast alien seinen Nacharbeitern versagt
blieben, ist noch unklar. Levaditi, A. Marie, Bankowski (56)
geben an, dass sich auch mit der alten Levaditimethode besonders an
altem Formolmaterial gelegentlich Erfolge erzielen lassen.
Dem bisherigen Mangel ist durch die Jahnel’schen Methoden
abgeholfen. Soweit es bis jetzt zu uberseben ist, hindern diese Metho¬
den die Mitimpriignierung der Fibrillen und gewahrleisten dabei die
Darstellung der Spirochaten, wenn sie sotgf<ig geubt werden. Weiteres
grOsseres Dntersuchungtmaterial wird zeigen, ob ibnen noch irgend
welche bei Silbermethoden ja bekannte Launenhaftigkeit anhaftet. Es
kann sich einerseits darum bandeln, dass docb vereinzelte Fibrillen
dargestellt werden und zu Verwechslungen fiihren konnen, davor wird
kritische Beurteilung schutzen, andererseits darum, ob vorhandene
Spiroch&teu der Darstellung entgeben, das wird Vergleich von Dunkel-
felduotersuchung mit Darstellung im Gewebe lehren.
Jahnel hat es unternommen alle Beobachtungen mit mikrophoto-
graphischen Abbildungen zu belegen, eine Art des Vorgehens, die sich
ausserordentlich empfieblt und Missverst&ndnisse verhindert und die
allgemein nacbgeahmt werden sollte. Jahnel hat in sorgf<iger Weise
die ublichen typischen Formen der Spirochaete pallida bei der
Paralyse beschrieben und hat besonders ausfubrlich die verscliiedenen
von demTypus abweichenden Formen beschrieben, abgebildet und
erklart. Mit den Formabweichungen bei Paralyse batten sich die fruheren
Beschreiber nicht besch&ftigt, abgesehen davon, dass Levaditi, A. Marie
und Bankowski Formes en boucle erwahnen.
Die Spirochaete pallida bei der Paralyse bat im allgemeinen die
typisch schraubenartig gewundene Form mit gleichm&ssigen Windungen,
gelegentlich koromen Endfkden vor (Taf. Ill, Fig. If).
Die Formabweichungen bestehen in Biegung der Achse bis zur
Verschlingung, Einrollungserscheinungen an einem oder beiden Endeu
oder des ganzen Exemplars, Ungleichmassigkeit der Windungen, Streckung
von kleinen oder grOsseren Teilen des Leibes, Verkurzungserscheinungeu.
So entstehen Endknopfe oder Ringe an einem oder beiden Enden
(Hantelform, E. Hoffmann), mehrfache Ringe am Ende (Brillenform),
Yformen, seitliche scheinbar knospenartige Anh&nge, spiralige Ver-
schlingungen, ringformige, stecknadelknopfartige und vielerlei anders-
artige Gebilde, Abflachungen der Windungen bis zu fast gradlinigen
Exemplaren (Formes rectilignes von Fouquet). Alle diese Formen
sind als zu den typiscben Exemplaren gehorig erkenntlich dadurqh, dass
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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse.
429
bei eiDem Teil von ihnen noch typische Schraubenwindungen abgehen,
and dass alle in technisch einwandfreien Prftparaten gewebsfremd er-
scheinen.
Neben den durcb Streckung, Verscblingung und Einrollung entstan-
denen Formabweichungen ist nocb die Erscbeinung der Skelettierung
zu beobacbten: man sieht auffallig dfinne aber typisch gewundene Exem-
plare, die ganz oder zum Teil nicbt so scbwarz impr&gniert sind, wie
sonst, sondern einen schw&cheren mebr braunen Farbton haben; an
einem Teil dieser Exemplare sieht man klumpige Anlagerungen auf mehr
oder weniger grossen Strecken. Bei einigen Exemplaren ragt aus einem
dickeren verkurzt erscheinenden Teil ein feines Ende heraus. Es
handelt sich zweifellos um den Vorgang der Skelettierung, das Periblast
streift sich von dem Acbsenfaden ab, welcber alsdann in mehr oder
weniger grosser Ausdehnung nackt vorliegt.
Alle diese Formen sind bei Syphilis bekannt.
Sowohl die typischen Exemplare wie die Formabweichungen der
Spirochaete pallida bei Paralyse unterscheiden sich morphologisch in
nichts von den Formen der Spirochaete pallida, wie sie in den ver-
schiedenen Perioden der Syphilis gefunden werden und wie sie in Ein-
zelarbeiten und Zusamnienfassungen von Syphilidologen und Spiroch&ten-
forschern ausfuhrlich beschrieben sind. (u. A. von E. Hoffmann im
Handbuch der Geschlechtskrankheiten, Muhlens im Prowazeks Hftnd-
buch der pathogenen Protozoen, Sobernheim in Kolie-Wassermann,
Handbuch der pathog. Mikroorganismen, Mayer-Neumann).
Die Bedeutung der atypischen Formen kann nocb nicbt als
gekl&rt betracbtet werden. Der Neigung zur Streckung mit Einrollung,
Verknotung und Schlingenbildung wird von Prowazek als Depressions-
formen eine Rolle im Entwicklungszyklus der Spiroch&te zugeschrieben,
ahnlich fassen sie Krzysztalowicz und Siedelecki auf, welche die
Ringformen als definitives Ruhestadium betrachten und davon unter¬
scheiden die „formes eutortillees et 6paissies*‘, die verschlungenen und
plnmpen dicken Formen, die aus den geknitterten Spirochaten (formes
ramollies) entstehen und zu Keulen uud knrzen Formen und zur Dege¬
neration der Spirochaten fuhren. Sie betrachten die „formations com¬
pacts ou en baguette 1 * (Stabchen) als Depressionsstadien, die „indivi-
dus oblongs et granuleux** als Degenerationsaufldsungsform (zit. nach
Muhlens). Andere Forscher (Levaditi, Roche, Mfihlens) konnen
die Auslegung der aufgerollten Formen als Rubeformen noch nicht an-
erkennen und glauben an wesentlichen Einfluss der Degeneration, event,
unter dem Einfluss der Praparation.
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430
Dr. F. Sioli,
Die Streckung wird als Absterbeerscheinung gedeutet durch Mfih-
lens aus der progressiven Zunahme atypischer Formen bei Untersuchang
des gleichen, verschieden lange aufbewahrten Materials.
Zu all den Auffassungen fiber die atypischen Formen muss man
wohl auf die Aeusserung von Schaudinn verweisen, gelegentlich der
Beobachtung von Streckung auf Glyzerinzusatz, dass die Frage der
Ruhestadien nur ein langdauerndes vergleichendes Studium der Ent-
wickelungsgescbicbte der verschiedenen Spirochfitenarten entscheiden
kfinue.
Bisher dauert das Studium noch nicht lange genug. Yielleicht
wird gerade die Bearbeitung des Paralysematerials eine Forderung bringen
kfinnen.
Es verdient Beachtung, dass diese Formabweichungen in keinem
meiner Paralysef&lle ganz fehlten, in einigen recht zahlreich waren,
in einem meiner F&lle (No. 8) fiberwogen. Wie aus der Beschreibung
der Ffille und ihrem Befunde bervorgeht, ist es nicht moglich einen
Zusammenhang von klinischem Verlauf, Todeseintritt, Zeit der Sektion
mit dem Auftreten der Formabweichungen festzustellen. Die Erschei-
nung der Skelettierung fand sich sebr selten, aber fast allgemein an
einer ortlich umschriebenen Stelle eines meiner Falle (No. 1). Unter
den Formen der Spirochfite in den spfiter zu erwahnenden bienenschwarm-
artigen Herden sind viele typische aber auch viele auffallig gestreckte
Exemplare. (Taf. IV, Fig. 11—13). Jedenfalls kanu man sageu, dass
sich die Spirochaete pallida bei der Paralyse morphologisch nicht von
der bei den anderen Erscheinungen der Syphilis unterscheidet.
Da alle typischen und atypischen Formen der Spirochfiten von
Jahnel in erschopfender Weise beschrieben und abgebildet sind, habe
icb micb darauf bescbrfinkt, nur einzelne atypische Formen als Beispiel
auf Taf. Ill, Fig. 1 abzubilden, vieles von den typischen und atypischen
Formen siebt man aus den Uebersichtsbildern.
Neben den Formabweichungen der Gewebsspirochfiten muss
man einige Eigeuarten der Spirochfiten in Kulturen erwfihnen, die
vorzugsweise Noguchi beschrieben hat. Noguchi beschrieb eigentfim-
liche runde lichtbrechende Korperchen von ca. 0,75/u GrOsse, die meist
in Einzahl dem Periblast der Spirochfite angeheftet seien und aucb frei
vorkfimen, sie scheinen mit dem Wachstum der Spirochfite in irgend
einer Beziehung zu stehen. Er beschrieb weiterhin in Kulturen eine
Granularbildung, indem zahlreiche runde und ovale Korner mit aktiver
Molekularbewegung und 0,2—0,3 /i Grfisse aus der Spirochfite austreten,
was bis zur Freilegung eines nackten Achsenfadens ffihren konne, diese
Kfirner stellten Fragmente des Periblasts dar, im Verlauf eines Degene-
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Die Spiroohaete pallida bei der progression Paralyse.
431
rationsprozesses, bei Uebertragung in ein frisches Medium trEten wieder
typische SpirochEten auf.
Wie Noguchi und Jahnel bemerken, ist die Darstellung mit
SilberimprEgnation im Gewebeschnitt nicht geeignet zur Feststellung
solcher VerEnderung. Die Darstellung mit ImprEgnierungsmetbftden er-
laubt auch keine Stellungnabme zur Frage der Unterscheidung ver-
scbiedener Typen von SpirochEten nach ihrer Dicke — Noguchi unter-
scheidet 3 Typen von 0,2, 0,26 und 0,3 a — and keine Stellungnahme
zur Frage des Teilungsmodus der SpirochEten.
Von Forster und Tomasczewski (28) ist angegeben, dass sie in
ihren FEllen von Paralyse die im Hirnpunktionsmaterial durch Dunkel-
felduntersuchung gefundenen SpirochEten nicht nach Giemsa fErben
konnten. '
Jahnel (50) gibt an, dass er mit Giemsalfisung selir schOne Bilder
von ParalysespirochEten erhielt und dass nach dem Tit^l einer amerika-
nischen Arbeit von Brock zu schliessen auch diesem die Giemsa-
fErbung gelungen sei.
Ich selbst habe von dem Fall 10 ebenfalls im Ausstrich mit Gierasa-
Iftsung SpirochEten fErben kOnnen.
Es ist also wohl Jahnel beizupflichten, dass das Ergebnis von
Forster nnd Tomasczewski auf einem gelegentlich vorkommenden
Versagen der Farbung beruht. Die NichtfErbbarkeit der SpirochEten
nach Giemsa bei Paralyse besteht nicht und auf diesem Wege ist ein
verEndertes biologisches Verhalten der ParalysespirochEte nicht zu be-
grunden.
Die Verteilung der Pallida auf die verschiedenen Gegen-
den des Gehirns wurden von Noguchi (69) nur in soweit erwEhnt,
als er im allgeraeinen sagt, dass Gyrus frontalis, Gyrus rectus und Regio
Rolandi hauptsEchlich zur Untersuchung ausgewEhlt wurden und die
Befunde zeigten, in einigen FEllen wurde auch der Gyrus Hippocampi,
das Ammonshorn und andere Regionen untersucht, in cinem Fall fanden
sich die. SpirochEten in alien Teilen, aber in weit geringerer Anzahl
als im motorischen Zentrum. Moore (62) sagt, dass Lokalisierung und
Verbreiteruug des Organismus genugend ubereinstimmend mit der Ver¬
teilung des paralytischen Prozesses sei. Levaditi, A. Marie und
Bankowski (56) fanden die Verteilung wechselnd in den verschiedenen
FEllen, im ganzen aber hEufiger in den vorderen Gebieten des Gehirns,
sio vermissteu sie im Bulbus, Ruckenmark und Spinalganglien, fanden
sie aber in einem Fall in der Flussigkeit des Seitonventrikels. Jahnel
(49) gibt an, dass sich die SpirochEten am hEufigsten und zahlreichsten
im Stirnhim fanden, besonders am Stirnpol, aber auch in den anderen
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432
Dr. P. Sioli,
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Rindenregionen bis znm Hinterhaupt, nach dort an Haufigkeit abnehmend.
Ansser in der Hirnrinde fand Jahnel Spiroch&ten in den subkorti-
kalen Ganglion und im Eleinhirn (48, 48).
Meine eigenen Fftlle zeigen, dass sich die Spiroch&ten am zabl-
reichsten und regelm&ssigsten' in der ersten Frontalwindung finden,
n&chst dem in den Zentralwindungen, dass sie aber auch in den anderen
Teilen des Hirnmantels gefanden werden, gelegentlich z. B. in den
Okzipitalwindungen, w&hrend sie in den frontalen Teilen vermisst wurden,
and dass ich sie in einem Falle auch im Eleinhirn gefunden habe.
Nach all dem ist anzunehmen, dass uberall in der grauen Substanz
des Gehirns Spiroch&ten gefunden werden konnon, am regelm&ssigsten
und zahlreichsten im Stirnbirn; diese Verteilung entspricht im allge*
meinen der Art und dem Grade der Verteilung der histologischen Ge-
websver&nderungen.
Spiroch&ten in der Pia wurden von Me. Intosh und Fildes
(44) und von Jahnel gefunden, Noguchi (69) erw&hnt ausdrucklich,
dass er sie in der Pia vermisst habe, ebenso Marinesco (54). Unter
meinen F&llen zeigte keiner Spiroch&ten in der Pia. Ihr Vorkommen
in der Pia scheint zu den grCssten Seltenheiten zu gehOren. In der
weissen Substanz des Gehirns hat Noguchi (69) Spiroch&ten ge¬
funden, aber weniger zahlreich und h&ufig als in der Rinde. Mari¬
nesco (51) fand sie ausnahmsweise in der weissen Substanz. Leva-
diti, A. Marie (56) und Jahnel (51) betonen ausdrucklich, dass sie
in der weissen Substanz keine Spiroch&ten gefunden haben. Auch
meine F&lle waren in der weissen Substanz spiroch&tenfrei. Alle Unter-
sucher sind darin einig, dass der eigentliche Sitz der Spiroch&te die
Hirnrinde ist. Noguchi fand sie nicht in der 1. Rindenschicht,
Jahnel (51) fand sie auch dort ausnahmsweise aber meist vereinzelt,
aber auch kleine Ansammlungen.
Drei meiner F&lle (5, 7,13) weisen in der 1. Rindenschicht einzelne
Spiroch&ten auf.
Die grosse Menge der Spiroch&ten findet sich in der tieferen Hirn¬
rinde und zwar im allgemeinen am regelm&ssigsten und bei weitem am
zahlreichsten in der Tiefe der 3. Brodmannschen Rindenschicht (oder
Pyramidenschicht). Im Eleinhirn fand Jahnel die Spiroch&ten in der
Molekularschicht, der Nachbarschaft der Purkinjezellen und der E5rner-
scbicht. Mein einer Fall 9, der sie im Eleinhirn bot, zeigte sie in der
Molekularschicht.
Ueber die Art der Lagerung der Spifbch&ten zueinander ist
von Noguchi die Bemerkung zu erw&hnen, dass die Spiroch&ten ver¬
einzelt oder so zahlreich sein konnen, wie in der Leber syphilitischer
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Die Spirocbaete pallida bei der progressive!! Paralyse. 433
F6ten, Levaditi, A. Marie, Bankowski erklaren, dass die Spiro¬
chaten in einigen Fallen so zahlreich seien, wie beim Primaraffekt, und
dass die Neigung in Herden aufzutreten, bemerkenswert sei.
Jabnel (49) unterschoidet zwischen der Anordnung der Krankheits-
erreger in scharf umschriebenen Herden und der diffusen Ver-
teilung fiber die Hirnrinde. Den ersten Typ bezeichnet er als bienen-
schwarmartig, bei seiner reinen Form ist die Grenze scharf abgegreuzt,
in ikrer Umgebung finden sich keine oder nur vereinzelte Spirochaten,
auch in anderen Hirnteilen sind keine Spirochaten zn finden. Der weit-
aus hfiufigere Typ der diffusen Yerteilung im Gewebe zeige grossen
Wecbsel in Bezog auf die Menge der Spirochaten an verechiedenen
Stellen. Zwischen beiden Typen bestfinden zablreicbe Uebergange.
Meine Befunde bestatigen in vollem Umfange die Bescbreibung
Jahnel’s. In einem meiner Falle findet sich die Anordnung der
Spirochaten in bienenschwarmartigen Kolonien, welche in den Schnitten
schon mit schwacher VergrOsserung als feinmascbige schwarze Flecke
kenntlicb sind. Sie bestehen aus zahllosen enggedrangten Spirochaten, '
wie die Abbildungen zeigen. Der Fall weist mehrere solcher Bienen-
schwarme verschiedener Grosse auf, ausserdem finden sich aber noch
einzelne Spirochaten im Gewebe in der Umgebung der Schwarme und
diffuse Verteilung in anderen Hirnteilen. Die grosse Mehrzahl der Falle
weist eine diffuse Verteiiung der Spirochate in der Hirnrinde auf. Der
Parasitenreichtum ist in den einzelnen Fallen ein durchaus verschiedener.
In einzelnen Fallen finden sich nur vereinzelte, in anderen ungeheure
Mengen vou Exemplaren. Auch in den Fallen, in denen eine diffuse
Ausbreitung zahlreichster Mengen bestebt, ist die diffuse Ausbreitung
nicht uberal 1 gleichmassig, sondern fleck- und fifichenffirmig verschiedeu
stark. Eine Himwindung kann an einer Seite von Spirochaten erfullt
und an der anderen Seite frei von Spirochaten sein, dicht neben Stellen
diffuser Anhaufung liegen Stellen, die ganz oder fast frei von Spirochaten
sind. Der Wecbsel des Spirochatenreichtums ist im ganzen unrfigel-
massig, immerhin lasst sich annehmen, dass eine ringffirmige oder
scbeibenfdrmige Anordnung, wie sie Jahnel als fur manche Anordnung
denkbar halt, m5g!ich ist.
Ueber die Beziehung der Spirochaten zu den Elementen
des Zentralnervensystems liegen bisber wenig Mitteilungen vor.
Noguchi (69) fand sie nicht in der Pia, fast niemals in den Gefass-
wandungen und nur ganz selten in der Nahe von Blutgefassen, er er*
wahnt die enge Anlagerung von ein oder mebreren Spirochaten an
Pyramidenzellen und dass in einigen Fallen ein Teil des PallidakQrpers
sich dem Zytoplasma der NervenzelJen zu inserieren scheine, zuweilen
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Dr. F. Sioli,
liegen die Parasiten in den perineuralen Rfiumen lfings des Verlaufs
der Achsenzylinderfortsfitze. Jahnel gibt an, dass sebr hfiufig Spiro-
chfiten in der Umgebung von Ganglienzellen angehfiuft sind, dass
mancbmal die Ganglienzellen von Spirochaten ganz umlagert sind, ein
Eindringen der Spirochate in die Ganglienzellen scbeine nur ausnahms-
weise vorzukommen. In Plasmazellen babe er Spirochaten nicht geseben,
wohl aber habe er als seltene Erscheinung Spirochaten zuweilen
zwischen den Infiltratzellen der Lympbraume beobacbtet. In der Pia
hat Jabnel Spirocbaten als sehr seltenen Befund gesehen, ebenso wie
Mc.Intosh und Fildes.5 Die Angaben Noguchi’s fiber das Niclit-
vorkommen der Spirocbaten in den Geffisswandungen bezeichnet Jahnel
in dieser Exklusivitat nicbt fur richtig, es kamen gelegentlich auch
Spirochaten in den Geffissen vor und Bilder von Entlangwuchern der
Spirocbaten an den Geffissen oder von Darchwachsung aller Schichten
der Geffisswand vom nervfisen Gewebe aus; solche Bilder zeigt Raecke
(78) nacb Jahnel’schen Prfiparaten und Jahnel leitet aus diesen Be-
obacbtungen eine besondere Theorie von der Reinfektion aus dem Ge¬
webe, die spfiter zu erwfibnen ist, ab.
Die Befunde meiner Falle zeigen, dass ffir die grosse Masse der
Spirocbaten Beziebungen zu zelligen Gewebselementen des Zentral-
nervensystems nicht erkennbar sind. Es feblen aber Beziehungen zu
zelligen Elementen nicht ganz. Unter diesen Beziehungen tiberwiegt
bei weitem die Anhfiufung von Spirochaten um Ganglienzellen,
ohne dass ein Eindringen in Ganglienzellen nachweisbar ist. (Taf. Ill,
Fig. 6 und 7.) Beziebungen zu Gliazellen sind als seltener Befund, aber
etwas hfiufiger als zu den Infiltrationszellen und Geffissscheiden vor-
handen, sie sind scbwer erkennbar und nocb schwerer zu pbotographieren
Taf. IV, Fig. 7 ist die Photographic einer Stelle an der das Mikroskop
bei Benutzung der Mikrometerschraube zeigt, dass die 2 dunkleren
Stellen (gl) Gliakerne sind, die von einem lappigen Protoplasmaleib um-
geben sind, in welchem eine abgeknickte (a) und eine aufgerollte (b)
Spirochate liegen. Unter den Beziehungen zu den Geffissen kann ich eine
erhobte diffuse Anhfiufung in der Nfihe von Geffissen nicht finden; wo die
Nacbbarschaft von Geffissen eine gewisse vermehrte Menge zeigt (Taf. Ill,
Fig. 11), bietet derselbe Fall eine gleiche oder hfihere fleckweise An¬
hfiufung fern von Geffissen, so dass die Beziebungen zu Geffissen nicht
sicher zu bebaupten sind. Beziebungen zu anderen nervfisen Elementen
sind ausserordentlicb seltene Einzelvorkommnisse. Zuweilen erscbeint
eine Spirochate senkreclit zur Hirnoberflfiche gelagert, dass man glauben
konnte, sie folgt einer Nervenfaser. Einige Male habe ich eine Spiro-
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Die Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse. 435
chate zu einem Knauel geballt in einer Infiltrationszelle geselien, ohne
dass icb erkennen konnte, ob es sich am eine Plasmazelle Oder eine
andere Infiltrationszelle bandelte (Taf. Ill, Fig. 2 iz). Mit Jahnel kann
icb mich von der Ueberzeagungskraft der Schilderung und Abbildung
von Spirochaten im Innereu von Plasmazellen, auf welche Markus
weitgehende Hypothesen aufbaut, nicbt nberzeugen, ohne dass ich die
MOglichkeit der intrazellularen Lagerung bestreiten will. Gelegentlich,
aber sehr selten sieht man Spirochaten den Infiltrationsmanteln der
Gefassscheiden angelagert (Taf. Ill, Fig. 5) oder zwiscben den Zellen
gelagert (Taf. VII, Fig. 5).
Beziehungen zur Gefasswand sind selten, sind aber haufiger
als Beziehungen zu Infiltrationszellen. Fig. 8 und 9 auf Taf. Ill zeigen
unverkennbare Lagerung von Spirochaten in der Gefasswand des Falles 5.
Einer meiner Falle zeicbnet sich dadurch aus, dass bei ihm einzeln
und in Buscheln liegende Spirochaten in der Gefasswand ein weit ver-
breiteter Befund sind (Taf. Ill, Fig. 10, Taf.. VII, Fig. 1—6). Histologisch
zeigte dieser Fall die typischen Veranderungen der paralytischen Er-
krankung mit einer diffus verbreiteten Endothelwucherung. Dass der
histologisch auffalligen Eudarteriitis eine noch vorhandene Spiro-
chatenwucherung in den Gefasswandungen entspricht, ist von grossem
Interesse.
Eine Beziehung der bienenschwarmartigen Kolonien zu den Gefassen
oder Elementen des Zentralnervensystems kann ich nicht finden. In
den Schwarmen sieht man einzelne Ganglienzellen oder Gefasse wie
ausgespart liegen, zu denen die Schwarme in keiner Beziehung zu stehen
scheinen (Taf. IV, Fig. 9, 10, 13). •
Eine vollstandige Sonderstellung mount der Fall 10 ein, der weitcr
unten zu erortem ist.
In meinen Fallen babe ich aucb den histologischen Befund
aufgefuhrt, um fur den Vergleich der pathologisch-anatomischen Ver-
anderung mit dem Spirochatenbefund den Anfang einer Grundlage zu
schaflen. Ich habe mich im allgemeinen auf die Zellfarbung nach
Nissl beschrankt, da diese grundlegend fur die Diagnose und Erkenntnis
des paralytischen Prozesses ist. Am nach Jahnel zur Spirochaten-
darstellung behandelten Formolmaterial ist eine geeignete Gewebsfarbung
nicht mehr mdglich. Daber wurden, soweit angangig, benachbarte
Blbcke in Alkohol znr Zellfarbung und in Formol fur Jahnel’sche
Spirochatendarstellung konserviert, es sind das die Falle, in denen beim
histologischen Befund die Halbseitenbezeichnung gleichseitig reclits oder
links ist. Von mehreren Fallen war eine Hirnhalfte in Alkohol, die
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Dr. F. Sioli,
andere in Formol konserviert, alsdann wurden korrespondierende Stellen
beider Halften nach den beiden Methoden boarbeitet.
Aus dem Vergleich des histologischen BefundeS rait dem
Spirochatenbefund ist bisher von Bedeutung: Wie oben gesagt, ist
im allgemeinen der Pradilektionssitz der paralytischen Erkrankung,
namlicb die frontalen Hirnteile, sowohl an der konvexen wie der
orbitalen Seite auch die Gegend des regelm&ssigsten und reichlichsten
Spirochatenbefundes, und im allgemeinen decken sich auch im eiuzelnen
Falle H5he der histologiscben Veranderung und des Spirochatenbefundes,
nur entspricht nicbt in jedem Falle der hdchste Grad der bistologischen
Veranderungen dem sicbersten und reichlichsten Nachweis der Spiro-
ch&ten, sondern es kann in Gegenden, in deneu die histologische Ver-
anderung am Gefassapparat und nervGsen Gewebe am ausgesprocbensten
ist, der Spirochatennachweis fehlen oder geringer sein als in histologisch
schwache Veranderungen aufweisenden Hirngegenden. Dieses Ver-
halten ist von Jabnel bescbrieben und gewurdigt.
Die fleck- und flachenfdrmigen Unterschiede in der diffusen Ver-
teilung der Spirocbaten veranlasste mich, darauf in den Zellpraparaten
zu achten; dabei ergab sicb, dass auch die Zellfarbung in fast jedem
Falle sehr betrachtlicbe Unterschiede des Grades der diffusen Gewebs-
veranderung in einer der Spirochatenverteilung ahnlichen fleck- und
flachenfdrmigen Verteilung zeigt, indem dicht nebeneinander sehr ver-
schieden schwer veranderte Stellen liegeu. Als Beispiel zeige ich zwei
benacbbarte Stellen aus einem Schnitt des Falles 5 (Taf. V, Fig.l und 2).
Ich denke nicht daran, dass sich Spirochatenbefund und histologische
Veranderung im einzelnen decken sollen, aber die grosse Verbreitung
des Gradunterschiedes weist darauf hin, dass der Hergang der histo-
logischen Veranderung eine weitgehende Beziehung zu der Ausbreitung
der Spirochatenverteilung haben mag.
Bemerkenswert ist, dass sich bei dem Falle mit bienenschwarm-
artigen Spirocbatenkolonien in den Zentral wind ungen bei der Zellfarbung
fleckweise Ganglienzellausfalle flnden, von denen einige zellreich dnrch
grosse Mengen Gliazellen sind. DieSchwierigkeit, aufeinander folgende
Schnitte geeignet zu bebandeln, lasst die Frage, ob die Spirochaten-
kolonien diese fleckweisen Ganglienzellausfalle verursacht haben, vor-
laufig unentschieden.
Besonderer Erwahnung bedarf der Fall 8, in dem die Zellfarbung
das Vorhandensein der akuten Zellerkrankung Nissl’s, also einer im all¬
gemeinen ubiquitaren und einen akuten Erankheitsprozess ausdrucken-
deu Veranderung ergab, besonders deshalb, weil in diesem Fall die
Spirochaten in weit iiberwiegender Menge Einrollungsformen zeigten.
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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse.
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Die Betrachtung des klinischen Verlaufs der Falle zeigt, dass 7
von den 16 Fallen im Zusammenhang mit paralytischen Anfallen moto-
rischer Art starben (6, 7, 8, 10, 14, 15). Die Mehrzabl der ubrigen
Falle (1, 3, 4, 6, 9, 11, 12, 16) zeigte in der Zeit vor dem Tode einen
geistigen oder kOrperlichen progredienten Verfall, der als akuter Krank-
heitsschub der Paralyse aufgefasst werden muss. Nur 1 Fall (No. 2) kann
als stumpf apatbischer Zustand aufgefasst werden, bei dem die Krank-
heit zur Zeit des Todes nicht im Fortschreiten war, dieser Fall zeigt
nur ganz vereinzelte Spirochaten.
Meine Falle mit negativem Spirocbatenbefund enthalten 2 Falle
mit Tod nach paralytischen Anfallen, von denen einer nacb schnell
progressivem Verlauf im unmittelbaren Anschluss an mehrere schwere
paralytische Anfalle starb. Die Spirochatenuntersuchung war in zabl-
reicben Hirnwindungen negativ. Von den anderen negativen waren 6
stumpf dement, die anderen 8 in einem Zustand teils langsamen teils
schnellen Verfalls.
Es spricbt also der Vergleich des klinischen Verlaufs mit dem
Spirocbatenbefund dnrchaus dafur, dass bei in oder nach Anfallen ver-
storbenen Paralytikern eine grOssere Wahrscheinlichkeit des Spirochaten-
nacbweises vorhanden ist, und dass eiu schneller progredierender Krank-
heitsverlauf, der als akute Erankheitsverschlimmerung zu betrachten
und in seiner akutesten Phase als psychischer Anfall den epileptiformen
und apoplektiformen an die Seite zu stellen ist, ebenfalls eine hohere
Wahrscheinlichkeit des Spirochatennachweises gibt, als sie den Fallen
mit langsamem progredienten Verlauf oder in stumpfdementen Endzu-
stand zukommt. Levaditi, A. Marie und Bankowski (56) hielten
os auf Grund ihrer Befunde fur wahrscheinlich, dass die Anfalle der
Paralytiker entspr&chen akuten Schuben der Spirochatenvermehrung,
besonders in den motorischen Zonen. Forster und Tomasczewski
(28) widersprachen dieser Annahme, da sie am Material ihrer Hirn-
punktionen in einfach dementen Fallen mauchmal zahlreich Spirocbaten
fanden, sie in Fallen mit expansiven Grossenideen und Anfallen ver-
missten; Jahnel (51), der den Begriff Anfall im weitesten Sinne fasst,
sagt, dass man bei im Anfall verstorbenen Paralytikern in der Regel
zablreiche Spirochaten und zwar gleichzeitig an vielen Stellen des Ge-
birns finde.
Wenn in entsprechenden Fallen von kdrpcrlichen und psychiscben
Anfallen mit progredientem Krankheitsverlauf die Spirochaten leichter
und in grosserer Zahl nachgewiesen werden, so legt das die Annahme
nnhe, dass sie in solcben Fallen in einem Zustand akuter Vermehrung
sind, und dass zeitlicbe Schwankungen der Spirochatenzahl durcb
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solche Befunde erwiesen werden. Aus meinen Fallen mfichte ich diese
Folgerung von Levaditi, A. Marie, Bankowski und'Jahnel im all-
gemeinen annehmen. Noch aber scbeint es roir nicht erlanbt, fSr die
genanntcn Krankbeitspbasen stets das Vorhandensein einer akuten
Spirochatenausbreitung anzanebmen oder die Krankheitserscheinungen
dadurch unmittelbar erklaren za wollen. Dagegen spricht, dass ich in
einem akut progredienten Falle mit motoriscben Anfallen bei Unter-
suchung zahlreicber Hirnwindungen die Spirochfiten vermisst habe, und
spricht weiterhin besonders der Fall 14, ein Fall, der kliniscb das
Musterbeispiel von motorischen Anfallen war, die auf Entstehung in der
rechten Hirnhalfte binwiesen; fiber dieser recbten Hirnhalfte zeigte sich
bei der Sektion eine erheblich stfirkere Leptomeningitis als links, der
rechte Seitenventrikel war weiter als der linke, die Spirocbatenzahl
aber war eine geringe und in den Zentralwindungen wurden trotz Unter-
sucbung mehrerer Blficke keine Spirochfiten gefunden. Die Beziebungen
des Spirochatenbefundes zu korperlicben und psycbischen Anfallen und
den akuten Schfiben des paralytischen Krankheitsprozesses werden erst
endgfiltig zu beurteilen sein, wenn ein sebr grosses Untersuchungs-
material vorliegt. Da die Kranken verschieden lange Zeit nach dem
Anfall sterben, ist im Auge zu behalten, dass der mikroskopische Be-
fund bereits eine Verscbiebung der Verhaltnisse zur Zeit des Anfalies
darstellen kann und dass das Zugrundegehen der Spirocbaten sebr
schnell geschehen kann, darauf weist der Fall 8 hin, in dem sich uber-
wiegend Einrollungsformen fanden.
Der Fall 14 weist ebenso wie der Fall 15 einen wicbtigen Sonder-
befund auf. Beide sind anatomiscbe Falle Lissauer’scher Paralyse,
d. h. mit herdartiger Veranderung in bestimmten Windungsgebieten.
Die herdartige Veranderung findet sich bei beiden Fallen einseitig im
Gyrus rectus, bzw. seiner Umgebung und war kliniscb nicht erkennbar
gewesen. Art und Grad der Veranderung ist im Befund der Falle aus-
fuhrlich beschrieben und wird durcb die Bilder Taf. V, Fig. 3—6,
Taf. VI, Fig. 1—3 erlautert.
Es handelt sich um eine abgegrenzte Verschmalerung von Windun-
gen, an der Rinde und subkortikales Mark beteiligt ist. Durcb die
Ausbreitung und den histologiscbeu Befund ist auszuscbliessen, dass
eine durch einen iokalisierten vaskulfiren Prozess (Verlegung eines Ge-
fasslumens) bedingte Ernahrungsstorung die Drsache des Prozesses ist.
Durcb den Befund ist weiterhin auszuschliessen, dass eine lokalisierte
tertifir-luetische meningitische oder enzephalitische Veranderung den
Prozess verursacht oder eingeleitet hat. Es besteht im befallenen Ge-
biet ein diffuser Nerveuzellschwund der Hirnrinde, an dem sich die
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Die Spirocbaete pallida bei der progressiven Paralyse. 439
Gewebselemente gleickmassig beteiligen. Zustand der Nervenzellen, der
Markscheiden, und besonders der Glia and der Abbauprodukte zeigen,
dass es sick am einen nicbt mehr akuten Prozess bandelt, sonderu ein
Zustand relativer Ruhe in dem befallenen Gebiete eingetreten ist. Die
charakteristischen bistologischen Merkmale der paralytiscben Hirnrinden-
erkranknng sind vorhanden. Die herdfdrmige Veranderung ist in beiden
Fallen als ein besonders weit vorgeschrittener Endzustand derselben
Erkrankung anzusehen, die in der ubrigen Hirnrinde der beiden Falle
bestebt, und muss auf die gleicben Ursachen zuruckgefukrt werden.
Spirocbaten findeu sick in beiden Fallen in den herdfOrmig boch-
gradig atropbischen Gebieteu, an Zahl wesentlich geringer als an anderen
Stellen der gleicken Gehirne. Da die herdformige Veranderung auf die
gleiche Ursacke zuruckzufuhren sein muss, wic die Verfinderung der
ubrigen Hirnrinde, so muss angenommen werden, dass in den betreffen-
den Gebieten eine bedeutend hokere Zakl von Spirockaten zu irgend
einer Zeit der Krankheit vorhanden war und sich das Gewebe von iknen
fast gereinigt hat. Insofern bedeuten diese beiden Falle einen sicheren
Beweis fur die hochgradigen zeitlicken Schwankungen des Spirochaten-
vorkommens. Diese Annahme wird unterstutzt dadurcb, dass im Falle 15
im Frontalbirn ein bistologisch ganz akuter Prozess in der ersten Hiru-
windung bestekt, in dessen Beroich eine ungeheure Spirochatenmenge
nackweisbar ist. Aus diesen Fallen geht weiterkin hervor, dass eine
region&re Ausbreitung des Erregers in der Hirnrinde stattfinden kann,
denn anders ist das Bild dicser herdfbrmigen Rindenveranderung nicbt
zu erklaren.
Ein Fall besonderer Art ist der Fall 16. Es kandelt sick urn
eine klinisch und bistologisch einwandfrei festgestellte Paralyse, bei der
sich lokal begrenzt an mekreren Stellen eine besondere Gefassveraudc-
rung zeigt, namlich die Ablagerung einer homogenen Substanz in der
Gefasswand. Witte, dem ich den Fall verdanke, hat einen anderen
derartigen Fall bescbrieben (95), er glaubt, dass es sich urn ein Exsu-
dationsprodukt aus den Gefassen bandelt; an der Hand eines anderen,
etwas anders gearteten Falles katte ich die bekannten Falle von Ab¬
lagerung homogener Substanz im Gekirn zusammengestellt und es offen
gelassen, ob der Prozess von Einschmelzung und Verwendung des
Grundgewebes zum Aufbau der amyloidahnlicken Substanz mit einer
Exsudation aus den Gefassen beginnt (83). Einen weiteren Fall hat
inzwiscken Fankkauser beschrieben (25). Der vorliegende Fall reikt
sich dem fruheren Witte’scben Fall an und wird von Witte selbst
beschrieben werden. Es haudelt sich wobl nicbt oder nock nicht um
Einschmelzung des nerv09en Gewebes, sondern um eine Ablagerung
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eines Exsudationsproduktes aus den Gefasswanden. Hier interessiert der
Fall nnr durch die Spirochatenverteilung.
Der Fall wird durch die Bescbreibung im Befund und die Bilder
veranschaulicht. (Taf. VI, Fig. 4—6, Taf. VII, Fig. 1—6.) Der Fall zeigt
neben der diffusen, fleckweise verschieden reichlichen von Gef&ssen un-
abh&ngigen Spirochaten verteilung in der Hirnrinde, wie sie die anderen
Falle von Paralyse bieten, eine gauz besondere Erkrankang der Gef&sse,
die teils mit Ablagerung der homogenen Substanz vergesellschaftet,
teils von ihr unabh&ngig ist. Dass die Spiroch&teninvasion der Gefass-
wande das Primare, die Ablagerung der homogenen Substanz das Sekun-
dSre ist, scheint mir aus Bildern wie Taf. VII, Fig. 3 und 4 hervorzugehen,
in denen sichtlich auf dem Ruckgang befindliche Spirochatenzuge und
Inseln von der Ablagerung wie erdruckt erscheinen. Sicher zeigt der
Fall, dass bei der Paralyse neben der ublichen diffusen Verteilung im
Gewebe auch ausgebreitete Spirochatenwuclierung in den Gefasswanden
und deren Umgebung vorkommt. Bedeutungsvoll ist der Nachweis von
Spirochaten im Lumen von Gefassen, also in der Blutbahn (Taf. VII, Fig. 5).
Erwahnenswert ist, dass im Fall 7, bei dem2malige Untersuchung
der Wassermann’schen Reaktion im Blut und Liquor negativ gewesen
war, sich Spirochaten fanden.
Ueber das Wesen der Paralyse.
Noguchi hatte die Paralyse als cine diffuse Spirochatose des
ganzen Gehirns mit vorziiglichem Befallensein der Rindenzone bczeichnet
und nahm an, dass die Lasionen unmittelbar auf die Gegenwart der
Pallida bezogen werdeu mussten (69, 70).
Allgemeine Zustimmung fand er fur diese Auffassung der Paralyse
damals noch nicht; Moore (62), der an Noguchi's ersten Spirochaten-
befunden beteiligt war, meinte, dass die Frage, ob die Paralyse wahre
Syphilis sei oder nicht, noch offen bleibe, wenn auch der wichtigste
Punkt, der damit im Widerspruch stehe, beseitigt sei, und Hoche (39)
erkannte nach Noguchi’s Befunden zwar an, dass Paralyse und Tabes
nicht als 6p5te Nachkrankheiten der Lues, sondern als ein Stuck der
Syphilispathologie selbst gelten raussen, die Verteilung der Mikroorganis-
men liesse es aber als ausgeschlossen erscheinen, dass sie in direkter
Rontaktwirkung die patbologischen Ver&nderungen hervorriefen, da
sich in den entzundlich veranderten Partien (Pia und Gef&sse) keine
Spirochaten fanden und die Verteilung so regellos sei, dass aus ihr die
Moglichkeit einer systematischen Erkrankung von Zellgruppen Oder
Fasersystemen nicht abzuleiten sei; es bestande die Moglichkeit, dass
die Spirochaten im Gehirn bei Paralyse nur ein Nebenbefund seien, wie
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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse.
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Spirochaten in der Nebenniere von Paralytikern, und dass der chronisch
degenerative Prozess der Paralyse nicht einer lokalen, sondem einer
allgemeinen toxischen Wirkung der Spirochaten zuzuscbreiben sei; un-
gekl&rt sei auch durch die Spirochatenbefunde, warnm Hirnsyphilis im
Prinzip heilbar, Paralyse im Prinzip und tats&chlich unheilbar sei und
warum nur 4—5 pCt. der Syphilitiker paralytisch wfirden.
Inzwischen haben sich die Spirochatenbefunde in Paralytikergehir-
nen vermebrt. Die Forscber, welche selbst fiber eine grfissere Zahl
von positiven Befunden verffigen, betrachten die Spirochate im Gehirn
als Ursache der Paralyse. Levaditi, A. Marie und Bankowski (56)
meinen, dass die Paralyse hervorgerufen ist durch Ausbreitung der Spi-
rochfiten und die dadurch gesetzten Schfidigungen.
Nach Forster und Tomasczewski(28) kann es als sehr wahr-
scheinlich gelten, dass die Paralyse verursacht ist durch eine (biologisch
verinderte — siehe unten —) Syphilisspirochate, Marinesco (69) nennt
die Paralyse eine diffuse Syphilose der Hirnrinde ohne Hautsymptome.
Ehrlich (15) sagt: „Nachdem Noguchi der Nachweis von Spiroch&ten
im Gehirn von Paralytikern gelungen ist, hat die Anschauung, welche
die Paralyse als eine metasyphilitische Erkrankung betrachtet, ihre Be-
rechtigung verloren. Wir werden anzunehmen haben, dass es sich nicht
urn eine Folgeerscheinung einer aktiven syphilitischen Infektion handelt,
vielmehr noch um einen syphilitischen Infektionsprozess", und weiter,
„dass die Paralyse als eine atiologisch gekl&rte Krankheit erscheint“.
Es fragt sich, ob wir aus den bis jetzt vorliegenden Befunden
schliessen dfirfen, dass in jedem paralvtischen Gehirn Spirochaten vor-
handen sind, oder gefordert werden muss, dass in alien Fallen von
Paralyse Spirochaten nachweisbar sind. Diese Forderungen nennt Jah-
nel(51) unberechtigt und unerffillbar, da die Mfiglichkeit, die Spiro-
ch&ten im Gehirn von Paralyse aufzufinden, eine beschrfinkte ist, denn
abgesehen davon, dass auch die grfindlichste Untersuchung sich nur auf
einen winzig kleinen Bruchteil des Zentralnervensystems erstreckt, engen
die zeitlichen und Ortlichen Schwankungen des Spirochatenvorkommens
die M&glichkeit der Auffindung der Spirochaten noch mehr ein.
Die Annabme der drtlichen Schwankungen des Spirochatenvorkom¬
mens wird durch die Beobachtung der wechselnden Verteilung in den
verschiedenen Hirngegenden (Levaditi, A. Marie, Bankowski) und
durch das Vorkommen von einzelnen bienenschwarmartigen Eolonien,
deren Auffinden ein Glficksfall ist, begrundet (Jahnel).
Die Annahme der zeitlichen Schwankungen wird begrundet durch
die natfirliche Ueberlegung, dass die Vermehrung nicht scbrankenlos,
sondem in verschiedenen Schfiben entsprechend den Hautsyphiliden und
Arefai* f. Pqrohlatrie. Bd. 60. Heft 2 3. 29
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durch den regelmSssigen Befund in Anfallen (Levaditi, A. Marie and
Bankowski, Ehrlich und Jahnel).
Ein weiterer anatomischer Beweis fur die zeitlichen Schwankungen
ist erbracht durch die geringe Spirochatenzahl in den atrophischen Rin-
denteilen meiner beiden Falle von Lissauer’scher Paralyse, in denen
sie an Ort und Stelle der Ver&nderung in reicher Zahl vorhanden ge-
wesen sein mussen und grOssstenteils verschwunden siud, wie ich das
oben begiindet habe.
Dabei ist zu erwahuen, dass bei tertiiirer Lues der Spirochaten-
nachweis, der erst spat in wenigen Fallen von Doutrelepont und
Grouven und Tomasczewski besonders iu den Randpartien gelang,
ein sehr seltener Befund ist und doch „uber ihre Anwesenheit in tertiar-
luetischen Produkten kein Zweifel besteht" [Sobernheim (86)].
Man darf auf Grund der vorliegenden Befunde wohl mit Jahnel
schliessen, dass in jedem paralytischen Gehirn Spirochaten vorhanden
sind, auch wenn der Nachweis nicht in alien Fallen gelingt.
Dieser Meinung ist inzwischen auch Hoche(40) beigetreten und
sagt jetzt, dass „wir annehmen diirfen, dass wohl in alien Paralyse-
fallen das ganze Gehirn reichlich Spirochaten beherbergt w . Es mag
jetzt scbon Falle von Paralyse geben, die heilen oder zum Stillstand
des Krankheitsprozesses fuhren, der auf endgultigem Verschwinden der
Spirochaten beruhen musste, unter Umstanden, ohne dass das klinisch
in Erscbeinung tritt, da die Kranken mit ihren erworbenen Krankheits-
erscbeinungen unter dem kliniscben Bild der Paralyse fortleben kOnnen.
Fur die Erkenntnis dieser MSglichkeit ist durch die Jahnel’schen Me-
thoden der Spirocbatendarstellung im Verein mit klinischer Beobach-
tung und der histologiscben Untersuchung die Grundlage geschaffen.
Yon grosser Bedeutung ist die Frage, ob bei der Paralyse das Ge¬
hirn allein der Sitz von Spirochaten ist, oder ob auch andere
Organe von Spirochaten durchseucht sind. Jahnel (51) hat seine Unter-
suchungen auf die inneren Organe von Paralytikern ausgedehnt und
dabei Lungen, Herz, Milz, Leber, Nebenuieren, Pankreas. Schilddriise,
Lymphdriisen, Hoden, Knochenmark u. a. berucksichtigt, mit dem Er-
gebnis, dass er einmal im Dunkelfeld eine Spirochate in der Verreibung
eines Herzmuskels und einmal im Levaditipraparat eine einzige Spirochate
in der Lunge fand. Er halt Einschleppung auf dem Blutwege fur mdglich
und halt es aus dem fast regelmassigen Fehlen von Spirochaten in
den inneren Organen von Paralytikern fur hSchst unwahrscheinlich, dass
daselbst Herde starkerer Proliferation des sypbilitischen Virus existieren.
Andere einwandfreie Befunde von Spirochaten in inneren Organen
von Paralytikern, bzw. Tabikern existieren nicht; bei einem von ScbmorL
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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse. 443
mitgeteilten Fall Scblimpert’s von Spiroch&ten in der Milz erortert
Schmorl selbst die Mfiglichkeit, dass es sich urn verschleppte Spiro-
ch&ten aus ulzeriertem Magenkarzinom gebandelt habe. Hirschl und
Marburg bezweifeln auch die Tabesdiagnose dieses Falles [zitiert nach
Jahnel(51)], eine Arbeit von Krasser(53), deren Referat im Neurol.
Zeutralbl. auf Durcbsetzung der Nebennieren mlt Spiroch&ten schliessen
Ifisst, zeigt sich im Original als eine reine Spekulation fiber diese M6g-
lichkeit.
Die H&ufigkeit der Aortitis bei Paralytikern verdient Beacktung,
da bei Aortitis Spirochaten gefunden siud, allerdings noch nicht bei
Paralytikern. Ueber entzundliche Veranderungen, diffuses Vorkommen
von Lymphozyten und Plasmazellen in Leber und Niere von Paraly¬
tikern berichtet Catola (9). Abgeschlossen ist die Frage des Zustandes
der inneren Organ bei Paralyse noch nicht. Weitere histologiscbe und
Spirochfttenuntersuchungen in dieser Richtung sind notwendig, um die
metaluetischen Erkrankungen (im Sinne Erb’s) zu klaren.
Jetzt schon kann man aber fiber die Paralyse sagen, dass diese
Form der Metalues keine Nachkrankbeit der Lues, sondern ein aktiver
Infektionsprozesses (Ehrlich) und weiter, dass das Gehirn der Haupt-
sitz dieses aktiven Infektionsprozesses ist und* die paralytiscbeu Veran¬
derungen durch Wirkung der Spirochaten am Ort ihres Hauptsitzes im
Gehirn erzeugt sind. „Die Auffassung, dass die Paralyse eine Allge-
meinerkrankung des KOrpers darstellt, bei welcher die Erscheinungen
von Seiten des Zentralnervensystems ira Vordergruode stehen, hat nur
dann und auch nur vom klinischen Standpunkt aus Berechtigung, wenn
man die Kacbexie usw. als Folgeerscheinung der paralytischen Erkran-
kung im Nervensystem ansieht“ [Jahnel (61)].
Die Paralyse ist in ihrer Aetiologie geklart als eine Spi-
rochatenerkrankung des Gehirns, ungeklfirt aber ist ihre
Entstehung und Entwicklung.
Die ffir diese Fragen wichtigsten Eigenarten der Paralyse sind, dass
nur eine geringe Anzahl der Luetiker paralytisch wird, dass die Para¬
lyse klinisch im allgemeinen erst lange Jahre nach der Infektion in
Erscheinung tritt, und dass im Prinzip die sogenannte Hirnlues durch
die gebr&uchlicben antOuetiscben Mittel beeinflusst wird, die Paralyse
nicht. Zwar war schon vor der Salvarsan&ra bekannt, dass vorsichtige
antiluetische Kuren bei mancben Paralytikern nfitzlich sind und seit
der Verwendung des Salvarsans haben sich solcbe Mitteilungen gemehrt.
Wie aber auch das Salvarsan verwendet wurde, ob iutravenOs in kleinen
oder grossen Mengen von Raecke und Runge, ob intralumbal nach
Gennerich, ob als intralumbale Einverleibung salvarsanisierten Serums
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Dr. F. Sioli,
nach Swift und Ellis, immer kann man nack den bisher vorliegenden
Veroffentlichungen nur sagen, dass eine gewisse Anzahl von Paralytikern
gfinstig beeinflusst wurde, im Sinne von Remissionen und Stationfir-
werden, die Paralyse aber nicht als gefindert anerkannt werden kann,
denn Remissionen und stationfire Zeiten gibt es bei unendlich vielen
Paralytikern.
Schon Noguchi (69) sah den Grund de therapeutischen Unbeein-
flussbarkeit dcr Paralyse darin, dass die Mikroorganismen in der Tiefe
des Organparenchyms liegen und gegen den Angriff der Medikamente
geschfitzt seien, wAhrend sie bei der gewfiknlichen Form der Syphilis
des Zentralnervensystem8 in der NAhe von BlutgefAssen therapeutischer
Einwirkung besser zugfinglich seien. Moore (62) sak in der Hirnsypkilis
eine lokalisierte syphilitische Erkrankung der Hirnbaut mit Erbaltung
einer schutzenden Barriere gegen das Eindringen der Spirochaten in die
Gehirnsubstanz, in der Paralyse eine allgemeine Verbreitung des Orga-
nismus infolge verschiedener UmstAnde, Alkohol, Erblichkeit, PrAdilek-
tion einer gewissen Art des Organismus fur Nervengewebe. Ich (84)
habe bei der Demonstration eines Noguchi’scben OriginalprAparates
durch E. Hoffmann darauf verwiesen, dass die Widerstandsfahigkeit
der Paralyse gegen antilaetische Bekandlung begrfindet sein kfinnte in
den besonderen anatomischen Verbaltnissen des Gehirns. Die Meningen
und adventitiellen Scheiden der GefAsse seien im allgemeinen bei Para¬
lyse eine Grenzmauer fur Infiltrationszeilen, die fiber die beschrAnkte
PermeabilitSt der Meningen bekannten Befunde liessen vermnten, dass
hier auch ffir Arzneimittel eine Sperre besteht; ffir Spirochaten bestehe
diese Sperre offenbar nicht.
In letzter Zeit hat Bekr (5) diese GedankengAnge am Beispiel des
Sehnerven ausgebaut auf Grund von Injektionsversucken, die ihn zur
Annahme eines an das Gliafasersystem gebundenen parenchymatfisen
Lympbstrom8 und zu dem Schluss ffihrten, dass „die luetische Sehnerven-
atrophie durch Infektion des Bindegewebes des BlutgefAsssystems, die
metaluetische dagegen durch eine Infektion des nervds glifisen Gewebes
zustande kommt“, die glifisen Grenzmembranen stellten eine biologische
Scheide zwiscben dem Debertritt der in Blutplasma gelfisten Arznei¬
mittel und dem parenckymatfisen Saftstrom dar.
Diese Anschauungen sind Annahmen, sie stfitzen sich einerseits
auf Beobachtung histologischer Gewebsveranderungen, andererseits anf
den Typus der SpirochAtenverteilung im paralytischen Ge-
hirn. Dieser Typus der Spirochatenverteilung im Gehirn ist durch
die bisher vorliegenden Befunde sicher begrfindet und besteht darin,
dass die Spirochaten ohne Beziehung zum Gefftsssystem im Gehimge-
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Die Spirochaete pallida bei der progressives Paralyse. 445
webe liegen. Els fehlt zor Sicherung dieser Annahmen noch eine ge-
nauere Kenntnis der Spirochatenverteilung bei der sogenann-
ten Hirnlues.
Der Strasmann'sche Fall (89) ist der allgemein bekannte Fall
von Him- bezw. Ruckenmarkslues mit Spirochatenbefund. Der Fall
erkrankte ca. ein Jahr nach der Infektion an zerebrospinaler Lues und
starb 21 Monate nach der Infektion. Er zeigt als Typus der Spiro¬
chatenverteilung allerdings die Lagerung in den Gefasswanden und den
Infiltrationen ihrer Scheiden und von den Gefassen aus ins nmliegende
Gewebe ausgebreitet, doch finden sich einzelne Exemplare auch im Ge-
webe zwischen Ganglienzellen und in der weissen Substanz, ohne dass
Bezieh ungen zu den Gefassen sicherzustellen sind.
Ein weiterer Fall ist von Vers6 (92) verOffentlicht, es handelt sich
um eine akute und subaknte Phlebitis im Sekund&rstadium der Lues
mit frischer Myelomeningitis, ausgebreiteter Wurzelneuritis und herd-
fOrmigen Degenerationen in den Hinter- und Seitenstrangen bei einem
10 Monate nach Infektion gestorbenen Kranken. Es fanden sich Spiro-
chaten am Nervensystem des Gehims, besonders zahlreich in einer
stark veranderten und vOllig thrombosierten Vene des Stirnlappens, wo
auch die infiltrierten weichen Haute von ihnen durchsetzt sind; gelegent-
lich Spirochaten im Lumeu von Venen. In den peripheren Rinden-
schichten der Gehirnsubstanz nicht selten spirocbatenartige Gebilde,
die sich wegen der Aehnlichkeit mit gewundenen Nervenfasern doch
nicht mit der wunschenswerten Sicherheit differenzieren lassen. Im
Ruckenmark Spirochaten sehr reichlich im Lumen von Venen, dem
Endothel angeschmiegt, die Wand durchsetzend, auf die weichen Haute
ausgebreitet ohne starkere Zellinfiltrate, in der Lissauer’schen Rand-
zone und weiter in der weissen Substanz, wobei sie in dem glibsen
Balkenwerk zwischen den erweiterten Mascben vordringen; Nervenbundel
der hinteren Wurzel sind hie und da von den Venen ans von Spiro¬
chaten durcbsetzt; sparlicbe Spirochaten im Zwischengewebe des Hodens
und in den venbsen Gefassen des Nebenhodens, keine Spirochaten in
Milz, Leber, Nebenniere, Leisten- und Halsdrusen. Fahr (23, 24) hat
einen Fall demonstriert, der 9 Wochen nach dem Primaraffekt im
Sekundarstadium der Syphilis plbtzlich zusammenbrach, und inner-
halb kurzer Zeit im Roma starb. Die Sektion ergab etwas sulzige
Verdickung der Meniogen am Stirnbiro, die bei der histologischen
Untersuchung sich als aus massigen Infiltraten bestehend erwies, die
auch die intrazerebralen Gefasse als Mantel umscheideten; in dieser
Infiltration sowohl wie innerhalb der Gefasse fand man massenhaft
Spirochaten. Ein Praparat dieses Falles habe ich bei Jahnel gesehen,
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Dr. F. Sioli,
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die Fibrillendarstellung in dem PrSparat verbindert die Erkennnng, ob
in nSherer Oder weiterer Entfernung von den Gefassen Spirochaten im
Hirngewebe liegen. Schiiessiich ist noch ein Fall von Verhoeff(91)
zu erwahnen, bei dem 7 Monate nach der Infektion ein doppelseitiges
Augenleiden begann mit Stanungspapille, Glaskdrpertrubung, Iritis,
Exophthalmos and Lidddem, 20 Monate nach der Infektion wurde ein
Auge enukleiert; es fand sich ein Syphitom des Optikus und der Pa-
pille, uberal] im Optikus fanden sich Spirochaten sehr zahlreich, be-
sonders in den zentralen Teilen, auch in den thrombosierten Zentral-
gefassen in betracbtlicher Menge, sie fehlten nur im sobvaginalen Granu-
latioQsgewebe; die histologische Dntersucbung liess nicbt erkennen, ob
es sich um ein sekondares oder tertiares Loesstadium handelte, wahr-
scheinlich kann man den Fall zu den Neurorezidiven rechnen.
Um die an sich naheliegende Unterscheidung der Hirnlues als meso-
dermaler von der Paralyse als ektodermaler Spirochatenerkrankung ge-
nugend sicher zu begrunden, fehlen also noch ausreichende Spirocbftten-
untersuchungen bei der Hirnlues, eine unverkennbare Schwierigkeit fur
die Bearbeitung dieser Frage ist, dass nicht wenige Falle von Hirnlues,
besonders unter den Insassen unserer Irrenanstalten, sich schiiessiich
zu atypischen oder typischen Paralysen entwickeln; auf solche Aus-
gange der Hirnlues haben Nonne(72) und Jakob und Kafka (45)
hingewiesen, auch das Material unserer Anstalt zeigt diese Erscheinung,
so dass es nicht leicbt ist, in den Besitz eines Falles von Hirnlues zu
kommen, der auch nach der histologischen Untersuchung als solcher be-
zeiclmet werden kann.
Dem Rahmen dieser Art Annahmen uber die Unbeeinflussbarkeit
der Paralyse fugen sicb die Beobachtungen uber gunstige Beeinflussung
mancher Paralytiker ein, wenn man die Abweichungen vom Typus der
Spirochatenverteilung berucksicbtigt. Der Typus ist die Verteilung der
Spirochaten im Gehirn oline Beziehungen zu Gefassen. Durch Jahnel’s
und meine Untersuchungen ist genugend erwiesen, dass bei manchen
Fallen von Paralyse neben der typischen Verteilung im Gewebe fern
vom Gefasssystem auch Beziehungen der Spirochaten zu den Gefassen
bestehen, bei einigen Fallen in bemerkenswertem Umfang, bei ganz
vereinzelten in ausserordentlicher Ueppigkeit. Wenn Spirochaten im
mesodormalen Gewebe beeinflussbar sind, im ektodermalen nicht, so
erklaren diese Befunde vollauf die Beeinflussbarkeit mancher Paralytiker,
indem der mesodermale Anteil der Spirochaten vernichtet und dadurch
eine Entlastung des Paralytikers erzielt werden kann, der ektodermale
Spirochatenanteil aber, der fur die Paralyse typisch ist, ungestort
weiterwirkt.
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Die Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse. 447
Jahnel hat die Beobachtungen von Durcbwachsung der Gef&ss-
wand darcb Spirochaten und ibr Entlangwuchern in der Gefass-
-wand so gedeutet, dass aus dem nervQsen Gewebe die Spirochaten
in die Gefasse eindringen und zur hamatogenen Aussaat komtnen
konnen.
Nur ion nervbsen Gewebe und zwar in der grauen Substanz fanden
die Spirochaten beim Paralytiker giinstige Bedingungen zur Nieder-
lassung und Vermehrung, die in verschiedenen Hirnstellen region&r fort-
scbreite und gelegentlich zu neuem Einbrucb in die Blutbabn ffihre,
er sagt: „Wir batten demnach bei der Paralyse einerseits eine Aus-
breitung der Parasiten durch Wanderung im Nervengewebe, mitunter
nach erfolgter Rezidivbildung an Ort und Stelle in einem fruberen
Zeitraum liegen gebliebenen Virus, andererseits eine vom Gebirn aus-
gehende und in dasselbe zuruckgehende Aussaat auf dem Blutwege
anzunehmen. Demnach ist bei der Paralyse das nervOse Parencbym
des Zentralnervensystems der nie erloschende und stets sich erneuemde
Infektionsherd, von dem aus wohl Parasiten ins Blut gelangen, aber
wieder aus diesem ins Neryengewebe zuruckkehron". Jabnel meint,
dass die bei dieser Art von Reinfektion ins Blut ausges&ten Spiro¬
chaten bei der Paralyse in den anderen Organen zu Grunde gehen, in
der Hirnrinde aber giinstige Em&hrungsbedingungen linden und nur
dort die zufallig dortbin gelangten Reime sich entwickeln konnen; das
kOnne man allerdiugs eine Art Neurotropismus oder strong genommen
Polioencephalotropismus nennen, wobei nicht daran zu denken sei, dass
die Spirochaten von der Hirnrinde angezogen wurden oder sie willkur-
lich aufsuchten. Raecke (78) sieht in der Aonahme der Reinfektion
aus dem Gehirn in die Blutbabn eine Ermutigung zur nicht resignieren-
den, haufigen Zufubr kleiner Sal varsanmengen in den Blutkreislauf auch
gerade zur Zeit paralytischer Anfalle in der Hoffnung, die Reinfektion
und ihre Ursache, offene Spirochatenherde, zu bekampfen.
Fur die Frage, ob uberhaupt bine hamatogene Aussaat der Spiro-
cbate vorkommt, ist der Nachweis der Spirochaten in der Blutbahn von
grundlegender Bedeutung. Impferfolge mit Paralytikerblut batten Graves
und Levaditi, Jahnel macht darauf aufmerkam, dass in der Arbeit
von Levaditi, A. Marie, Bankowski Spirochaten im Lumen von
Gefassen gezeichnet seien, die aber vom Zeichner aus einer anderen
Ebene eines Schr&gschnittes versehentlich in das Gefass gezeichnet sein
kdnnten, zumal die Autoren diesen auffallenden und wichtigen Be fund
nicht ausdrucklich betonen; einwandfrei seien also Spirochaten in der
Blutbahn von Paralytikern auf histologischem Wege noch nicht festge-
stellt. Die Lucke wird durch meinen Befund im Falle 16 ausgefiillt.
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Dr. P. Sioli,
Die Figur 5 auf Taf. Y1I zeigt eine deutliche Spirochfite im Lumen eines
quergeschnittenen Gef&sses, also in der Blutbahn.
Die bei der Frage der Dnbeeinflussbarkeit der Paralyse bisher er-
wfihnten Befunde und auf sie gestutzten Annahmen werden durch weitere
histologische und Spirochfitenuntersuchungen der Paralyse und Hirnlues
geffirdert werden mfissen. Mfiglicberweise findet sich die Begrundung
der Unterschiede und Beziehungen von Hirnlues und Paralyse in einer
sinngemfissen Zusammenordnung der histologischen und Spirochfitenbe-
funde zu gewissen Zeiten und unter Umstfinden in einem schubweisen
Wechsel. Mein Fall 13, bei dem neben der Spirochfitenverteilung fern
von Gefassen auch reichliche Spirocbatenlagerung in Gefasswanden be-
stand, ist durch seine endarteriitischen Wucherungserscheinungen jeden-
falls bemerkenswert.
Neben den bisher genannten, auf histologischen Befunden aufge-
bauten Annahmen fiber wichtige Merkmale des paralytiscben Krank-
heitsprozesses stehen die der Immunitfitslehre entnoromenen Ueberlegun-
gen. Ehrlich (14) hat die Lehre von den hohen Rezidivstfimmen der
chronisch rekurrierenden Erkrankungen, als deren Typus man die Try-
panosomenkrankheiten bezeichnen kann, auf die Paralyse angewendet
und damit Wechsel von Rrankheitsschilben und Remissionen erklfirt,
er sagt: „So kann man sich leicht vorstellen, dass die im Gehirn vor-
handenen Spirochfiten, wenn sie eine gewisse Wucherungsintensitfit er-
reicht haben, schliesslich einen potenten Antikfirper auszulfisen, der
mehr oder weniger die im Gehirn vorhandenen Spirochfiten abtfitet und
so eine scheinbare Heilung, die Remission, einleitet. Eine Neuerkran-
kung folgt dann, wenn die vereinzelten zurfickbleibenden Spirochfiten
sich dem Antikfirper angepasst haben und so eine neue Propagation
gewinnen. Auf diese Weise kann man sich das Wesen der Remissionen
klar machen und wird auch verstehen, warum man in einem grossen
Teil der Ffille von Paralyse keine Spirochfiten findet, man hat eben
dann die Untersuchung in dem spirillolytischen Intervall ausgeffihrt."
„Es ist anzunehmen, dass sich bei der Paralyse, die ja solange nach der
Infektion aufzutreten pflegt, offenbar ein Rezidivstamm vorfinden muss,
der in seinen biologischen Eigenschaften von der die frischen Infektionen
bedingenden Spirochfiten weitgehend verschieden sein kann, und ich
vermute, dass diese Verschiedenheit auch in einer Resistenz gegen die
therapeutischen Agentien zutage tritt.“ Diese Annahmen des Biologen
sind die notwendige Ergfinzung ffir die anatomisch begrfindeten fiber
das Wesen des paralytischen Krankheitsprozesses, nur das Problem der
Beeinflussbarkeit der Paralyse beleuchten sie von einer anderen Seite
und sehen es begrfindet in der Eigenschaft des Syphiliserregers, nicht
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Dio Spirocbaete pallida bei der progressiven Paralyse. 449
in seiner Lagerung. Wie sich beide Ansichten vereinigen lassen, wird
weitere Forschung lebren, keine schliesst bisber die andere aus.
Die Eigenart der Paralyse, erst lange Zeit nach der syphilitiscben
Infektion klinisch in Erscbeinnng zu treten, •'hat eine Reibe von Ge-
dankeng&ngen und Forscbungen aufgerollt. Aus der ErOrteruug der
langen Inkubationszeit wurde dabei die Frage nach dem Beginn des
paralytiscben Prozesses. Anatomisch ist die Frage berechtigt, da auch
die kliniscb frischen Paralysen histologisch einen erstaunlich ausge-
breiteten und vorgeschritteneren Grad von Hirnrindenverwustung zeigen,
der die Mdglichkeit nahelegt, dass beim Inerscheinuugtreten der Para¬
lyse der paralytische Prozess schon lange bestand. Die klinische Be-
obacbtung rudiment&rer Symptome am Zentralnervensystem von Lueti-
kern (isolierte Pupillenstarre, Refiexanomalien), die Hfiufigkeit der lue-
tischen Aortitis bei Paralytikern und Tabikern verwiesen darauf, die
Elarung dieser Fragen auf die Forschung am Luetiker, nicht am Para-
lytiker zu stutzen und den Luetiker von der Infektion an zu verfolgen.
Alzheimer (3) hat erwabnt, dass sich in nicht seltenen Fallen bei
fruheren Luetikern eine manchmal gar nicht unerhebliche Anhfiufung
von Lymphozyteu und Plasmazellen in den Meningen findet, wenn auch
gar keine Erscheinungen einer nervbsen oder kortikalen Erkrankung
vorlagen.
Wohlwill (96) beschaftigt sich mit den pathologisch-anatornischen
Ver&nderungen am Zentralnervensystem von klinisch nervengesunden
Syphilitikern; er fand bei einer Syphilitischen, die ein Vierteljahr nach
der Infektion an Tuberkulose starb, keine Veranderung am Zentral-
nervensystem, bei 42 Fallen von Spatformen erworbener Syphilis zeigten
20 keine auf Syphilis zu beziehetide Veranderungen an Gehirn und
Ruckenmark, 6 perivaskulare Infiltrate, die mfiglicherweise durch
Syphilis bedingt waren, 3 kleine Zerfallsherde im Gehirn anscbeinend
im Zusammenhang mit Kapillarveranderungen, die ins Gebiet der End-
arteriitis der kleinen Hirngefasse gehbren, 3 infiltrativ meningitische
Prozesse an Him- und Ruckenmarkspia, 1 ein kleines Granulom an der
Pia, 8 Paralyse, Tabes oder Hirnsyphilis (bei diesen 8 Fallen war die
neurologiscbe Untersuchung intra vitam nicht mdglich gewesen, da sie
moribund oder wegen schwerer anderer Leiden in extremen Stadien zur
Anfnahmo gekommen waren, sie kfinnen also eigentlich nicht als klinisch
nervengesunde Luetiker bezeichnet werden), 1 ungewOhnlich friihes
Stadium der Tabes.
Die vorliegenden sparlichen • pathologisch-anatomischen
Befunde am Zentralnervensystem von Luetikern zeigen also
bisher, dass Veranderungen bei einer ziemlich betrachtlichen Zahl
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klinisch Nervengesunder vorkommeu, vermitteln aber noch keine Ansicht
fiber Omfang und Bedeutung dieser Verttnderungen und ihre Beziehung
zur paralytisclieu Erkrankung.
Die Anwesenheit von Spirochaten im Liquor cerebrospinalis
im frfihen Stadium der Syphilis ist nachgewiesen durcb eineu
positiven Impferfolg von E. Hoffmann (41) mit Lumbalflfissigkcit von
einem Patienten mit sehr dichten papulosen Exantliemen, von Steiner
(81) gemeinsam mit Mulzer durch Impferfolg mit Liquor bei 3 von
20 Lues II-Kranken, deren Liquor weder Zell- noch Eiweissvermehrung,
noch Wassermann'sche Reaktion hatte (lnkubation 3—4 Monate), von
Arzt und Rerl (4) in 2 Fallen von Lues 11, von Frfihwald und
Zaloziecki (31) in 1 Fall von 4 mit Lues II mit friscken, 2 Fallen
■von 7 von Lues II mit alteren Eruptionen (lnkubation 7 uud 12 Wochen).
Nichols und Hough (65) hatten Impferfolg mit Liquor bei einem
Fall von zerebrospinaler Lues 8 Monate nach der Infektion. Nichols
(66) legt diesem Stamm foigende Charakteristika bei: dicke Formen,
sie erzeugen harte demarkierte Verfinderungen mit nekrotischem Zentrum,
charakteristisch lokalisiert, es bestand nur kurze Inkubationszeit, da-
gegen neigte die erzeugte Ver&nderung dazu, nach lokaler Inokulation
im Testikel und Skrotum zu generaiisieren, insbesondere mit Haut- und
Augenerschfeinungen. Spirochatennachweis im Liquor mittels des
Mikroskops ist erbracht von Dohi und Tanaka (10) mit Giemsa-
f&rbung bei Lues II, von Sezary und Pail lard (81) mit Dltra-
mikroskop bei einer Frau mit papulo-ulzerdsem Syphilid und totaler
linksseitiger Hemiplegie, von Gaucher und Merle (32) mit Ultra-
mikroskop bei einem Fall von Hirnberden 7 Monate nach der Infektion.
Wesentlich grundlicher erforscht ist das Schicksal der Luetiker von
der Infektion an mittels der Zerebrospinalflussigkeitsunter-
suchung. Krankhafte Verfinderungen der Zerebrospinalflussigkeit
fruherer Luetiker wurden zuerst von den Franzosen, dann von anderen
Dntersuchern festgestellt. Zusammenfassende Bearbeitung grosseren
Materials durch Untersuchung vou Wassermann’scher Reaktion, Eiweiss-
gebalt, Nonne’s Phase I, Zellzahl, Druckmessung von Dreyfus und Alt-
mann (1,11,12, 13) kamen zu dem Schluss, dass bei der unbehandelten
Lues im Frfihstadium eine uberwiegende Zahl (80 pCt.) einen krank-
haften Zustand des Liquors zeigte, dass zuweilen diese krankhafte Ver¬
finderung des Liquors, die vorher nicht nachweisbar war, durch Be-
handlungsbeginn provoziert werden kfinne, aber im allgemeinen unter
Fortffihrung systematischer Behandlung verschwinde, dass bei Lues III
und in der Latenzzeit aber nur bei etwa 23 pCt. krankhafte Verfinde¬
rungen des Liquors gefunden wurden. Aus der grossen Prozentzahl der
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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse. 451
krankhaft veranderten Liquores in der Fruhperiode ist auf eine friih-
zeitige und uberraschend hftufige Mitbeteiligung des Zentralnerven-
systems in dieser Zeit der allgemeinen Durcbseuchnng des KOrpers zu
schliessen, aus dem Zuriickgehen dieser Prozentzahl bei der Spat- und
Latenzperiode aucb bei unzul&nglicher Behandlung auf eine therapeutische
und spontane Beeinflussbarkeit dieser Mitbeteiligung. Auffallig ist, dass
die Zahl der schweren Liquorver&nderungen bei Lnes II (33 pCt.) der
Prozentzahl der LiquorverSnderungen in Spat- und jLatenzstadium
(23 pCt.) genahert ist. Gennerich (33) kam auf Grund eines grossen
Materials zu ahnlichen Ergebnissen, ebenso Wechselmann und
Dinkelacker (94).
Diese Untersucbung fuhren zur Ueberzeugung, dass in fruhem
Stadium der Lues eine Liquorveranderung mindestens sehr baufig ist,
und sich im weiteren Verlauf auch spontan bei einer Anzahl von Fallen
zuruckbilden kann, bei einer Anzabl aber persistiert. Die eben an-
gefuhrten Liquoruntersucbungen waren inaugariert durcb die Forderung
einer zu Beginn der Salvarsanara gehauft auftretenden und die Auf-
merksamkeit auf sicb ziehenden besonderen Gruppe von Krankheits-
erscheinungen, der Ncurorezidive. Diese Neurorezidive, die in Beziehung
zu setzen sind mit anderen Monorezidiven, werden von Ebrlieh und
seinen Schulem, insbesondere Benario (6), sowie von Gennerich u. a.
aufgefasst als birnsypbilitische Herdsymptome, die fast ausscbliesslich
an die frube Sekundarperiode der Lues gebunden sind, im allgemeinen
als eine Folge insuffizienter Behandlung mit antisyphilitischen Mitteln
entsteben und zwar nur da, wo schon vor der Behandlung Spirochaten
im Gebirn vorhanden waren. Sie stellen eine besonders frube Form
der herdformigen meningoenzephalitiscben Hirnlues dar.
Vorzugsweise auf den auf sie beziiglicben Beobacbtungen ist eine
systematische Erklarung des Verlaufs der luetischen Infektion, die aucb
fur das Wesen des metaluetischen Prozesses von grOsster Bedeutung ist,
anfgebaut: Bei frischen Luesfallen erstreckt sich die Durchseuchung
des KOrpers aucb auf die Meningen. Bei Rezidiven nimmt die Zahl
der Herde und die Zahl der Spirochaten im allgemeinen ab, so dass
schliesslich im spaten Stadium nur ganz vereinzelte Herde mit spttr-
licbeu Spirochaten vorhanden sind. Das beruht auf den vom KOrpcr
mitbewirkten Immunisierungsvorgangen, der AntikOrperbildung, die nacb
jedem Rezidiv sich progredient steigert, einer Anzahl von Spirochaten
die Eutwicklung8- und Expansionsfahigkeit nimmt und nur den hohen
Rezidivstammen eine lokalere Wirkungsfahigkeit erlaubt. AbtOtung
eines Teiles der Spirochaten durch Behandlung verursacht eine Hinde-
rung der Immunvorgange, der AntikOrperbildung, so dass die sparlich
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Dr. P. Sioli,
im Organismus gebliebenen Spiroch&ten auch eines niedrigen Rezidiv-
stammes am Ort ihrer Lage zu uppiger T&tigkeit gelangen kSnnen. So
wird die Entstehung des Neurorezidivs gerade durch insuffiziente Be-
bandluDg erkl&rt, die Monorezidive entstehen durch Einschr&nkung der
Allgemeininfektion, diese Einwirkung eutsteht durch ImmunvorgSnge
oder therapeutische Beeinflussung, die insuffiziente therapeutische Beein¬
flussung begunstigt die Entwicklung der lokalisierten Monorezidive.
Es muss erw&hnt werden, dass nicht alle Autoren in Neurorezidiven
lokalisierte Fruherkrankungen an lediglich durch die Spiroch&ten be-
dingter Hirnlues sehen, sondern die Arsensch&digung im Auge behalten,
sei es, dass sie nur eine unmittelbare toxische Salvarsaneinwirkung auf
das Nervengewebe annehmen, oder die MOglichkeit, dass die Arsen¬
sch&digung des Nervengewebes die Entwicklung lokaler Sypkiliswirkung
als in einem kunstlich geschaffenen locus minoris resistentiae begunstigt
[siehe Stern (88), Mentberger (61)].
Zur eudgultigen Stellungnahme zur Frage der Neurorezidive fehlen
bisher Befunde von genauen histologischen und Spiroch&tenunter-
suchungen bei denselben.
Derartige Untersuchungen sind fur die Paralysefrage von grund-
legender Bedeutung. Vielleicht werden sie im Verein mit weiteren
Untersuchungen der Hirnlues die Briicke zum Verst&ndnis der Paralyse
schlagen.
Eine solche Brucke glaubt Gennerich (34, 35) jetzt schon
schlagen zu konnen mit folgenden Annahmen: Die Liquorinfektion ist
im fruhen Sekundarstadium der Lues allgemein und kann spontan durch
allgemeine Immunvorgange oder therapeutisch beeinflusst heilen oder
kann persistieren. Ihr Haften erzeugt eine chronische Entziindung der
Pia, die schliesslich zur Funktionsstorung der Pia durch Ersch5pfung
fuhrt. Tritt infolge des Riickgangs der Allgemeindurchseuchung des
Korpers der Anlass zur Rezidivbildung der meningealen Infektionsherde
in Wirkung, so entsteht die Hirnlues, solange nock keine Funktions¬
storung der Pia eingetreten ist. Die Funktion der Pia ist: das Nerven¬
gewebe vom Liquor abzuschliessen. Die „Funktionsst5rung“ oder „Um-
stimmung“ oder „funktionelle Durchl6cherung“ oder „Permeabilit&t u der
Pia schliesst Gennerich aus der Abwanderung der syphilitischen
Reaktionsprodukte in den Liquor, und dem Ergebnis der Weil-
Kafka’schen Reaktion, Uebertritt der menschlichen Normalh&molysine
fur Hammelblatkorperchen bei Paralyse. Die Funktionsstorung der
Pia bewirkt Einbruch des Liquors in das nervose Parenchym, „die auf
diese Weise zustande gekommene Liquordiffusion, deren Wirkung uus
bereits makroskopisch durch die sulzige Beschaffenheit der Rinde eines
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Die Spirochaete pallida bei der progressives Paralyse. 453
Paralytikers ebeu die nicht gummose Erweichung entgegeutritt, macht
uns den Abstand der bistologischen Befunde and der therapeutiscben
Zuganglichkeit der syphilitischen Meningoenzephalitis und der Para¬
lyse verstandlicb.” Die Spiroch&ten brechen mit dem Liqaoreinbruch
ins Parenchym ein, alle Abwehrvorgknge, die dieses gegen die Spiro-
chaten bildet, wandern durch Aaslaugung (Diffusion) in den Liquor ab.
„Wir finden daher bei Metalues wohl noch die Lymphscheideninfiltrate
— iibrigens ein schdner Beleg fur die Herkunft der Plasmazellen —,
aber im Gewebe vdllige Auslaugung aller lymphozyt&ren Elemente, eben
die sogenannte prim&re Degeneration”, alle anatomischen Befunde fuhrt
Gennerich auf auslaugende Liquordiffusion zuruck, selbst die St&bcheu-
zellen und Fettkbrnchenzelleu, indem die Zellen zum Toil erheblich
schrumpfen, zum Teil die in ihnen enthaltene Fettsubstanz nicht mebr
festzuhalten verrnogen. Gennerich baut seine Annahme auf auf Be-
funden der Liquoruntersuchungen, der lmmunforschung, der histologischen
Untersuchung, indem er Befunde, Deutung und Schliisse in buntem
Wechsel ineinander greifen l&sst. Stern (88) bezeichnet die Liquor-
befunde Gennerich’s, die ihn zur Annahme der allgemeineu Liquor-
infektion im fruheren SekundSrstadium der Lues fuhrten, als einer
kritischen Nachprufung bedurftig, indem er auf Unstimmigkeiten in
Gennerich’s Tabellen hinweist, er warnt weiterhin davor, krankhafte
Ver&nderung des Liquors als bindenden Beweis wirklich dauernder
spezifischer anatomischer Gewebsveranderungen ohne weiteres an*
zunehmen, sie beweisen nur, dass Reaktionserscheinungen an den serbseu
Hauten des Ruckenmarks vor sich gehen. Die Funktion, welche
Gennerich der Pia zuschreibt (Abschluss des Nervengewebes vom
Liquor), ist unerwiesen. Dass die Pia bei der Paralyse gestort ist, ist
nach dem anatomischen Befunde klar, eine Funktionsstbrung im Sinne
Gennerich’s aber ist durch die anerkannte veranderte Permeabilitat
fur hamolytische Normalambozeptoren und einiges andere noch nicht
erwiesen. Die Verwendung, die Gennerich von anatomischen Befunden
macht, muss abgelehnt werden:
Die Annahme, dass die Spirochaten mit dem Eintritt der Funktions-
stbrung der Pia, dem Beginn der Paralyse nach Gennerich, in das
Nervengewebe einbrechen, ist eine bisher aprioristische unerwiesene
Annahme, die oben angefuhrten allerdings noch sparlichen Befunde
uber die Spirochatenlagerung bei der Hirnlues sprechen dagegen. Die
„bereits makroskopisch sulzige Beschaffenheit der Rinde des Paralytikers”
ist eine falsche Beobachtung oder eine falscbe Verallgemeinerung einer
seltenen Beobachtung. Die Auslaugung von zelligen Bestandteileu aus
dem Nervengewebe und die Verandernng anderer zelliger Elemente
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Dr. P. Sioli,
durch Liijuordiffusion (z. B. die Stabchenzellen) erscbeint bisber un-
glaubbaft; dass auf diese einfache Weise die sogenannte prirnSre De¬
generation entsteht, die also gar keine prim are ware, sondern ein un-
endlich vorgeschrittener Gndzustand, ist eine ganz unbegrundete Losung
der Streitfrage der Prioritat und der Beziehungen entzundlicher «nd
degenerativer Veranderungen bei der Paralyse, einer Streitfrage, die ge-
rade in letzter Zeit in der Rustling der Himhistologie wieder lebbaft
erdrtert worden ist und in der man die Ldsung der gegenwartigen Ver-
strickung wohl nur durcb die Stellungnahme Nissl’s erhoffen kann.
Die Annahmeu Gennericb’s fiber Gntstebung und Wesen der Paralyse
mussen also bisber abgelehnt werden.
Die in den Gigenarten der Paralyse liegenden Schwierigkeiten, aus
der Syphilis allein die Gntstehung der Paralyse zu erklaren, baben zur
Lues nervosa-Frage gefuhrt, der Annahme, dass es eine besondere
Varietat des syphilitischen Virus gabe mit ausgesprocbener Fahigkeit,
das Zentralnervensystem zu schadigen (Syphilis a virus nerveux). Ihre
Hauptstfitzen siud: 1. Die Beobachtung paralytiscber und tabischer
Gruppenerkrankuugen bei Personen, die sich an .der gleichen Quelle
mit Lues infiziert batten [Morel und Fournier, Babinski, Marie
und Beaussart, Mott, Brosius, Grb, Nonne, Mflrchen (63)].
Diesen Beobachtungen kann man aber nur die Bedeutung von Anregung,
nicht Beweiskraft fur die Lues nervosa zuerkennen, zumal eine Beob-
acbtung Gichelberg’s (19) vorliegt, dass aus einer Gruppeninfektion
von 13 Personen mit im wesentlicben gleicher Bebandlung nur je 1 an
Paralyse bzw. Tabes erkrankte. 2. Das baufige Vorkommen der kon-
1 jugalen und familiaren Metalues [0. Fischer (27) u. A.]; auch diesen
Beobachtungen kann man bei den komplizierten Mdglichkeiten, die sich
aus statistiscben Feststellungeu ergeben, nur die Bedeutung von An-
regungen, nicht von Beweiskraft zuerkennen [siebe Seelert (80), von
Rohden (79)]; 3. Die besonders von Grb und Fournier (30) einwand-
frei nachgewiesene Tatsache, dass nacb leicbtem Verlauf der Lues sehr
oft, nacb scbwerem Verlauf der Lues relativ selten Metalues beobachtet
wird [0. Fischer (27)]; diese Grscheinung wird vou Fournier durch
nacblassige Behandlung der leichten VerlaufBformen der Lues erklart, sie
wird von Plaut (74) unterstrichen durch die Grwahnung, dass die bei den
Gingeborenen der tropischen und subtropischen Lander sehr verbreitete
und mangelbaft bebandelte Lues meist einen schweren Verlauf nehme
und docb sehr selten zur Metalues ffihre. Dass bei den Gingeborenen
der tropischen und subtropischen Lander die Metalues so ausserordent-
lich selten sei, kann nocb nicht als Lehrsatz neurologisch-psychiatrischer
Wissenschaft und als sicherc Grundlage von weiteren Hypothesen an-
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Die Spirochaete pallida bei der progressive!! Paralyse.
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erkannt werden; nach Zusammenstellung von E. Sioli (82) geben ver¬
schiedene Beobachter sebr verschiedene HEufigkeitszahlen an, es liegt
daber die MSglichkeit nahe, dass dem nicht eingeborenen, besonders
dem reisendcn, Beobachter die Diagnose vieler FElle entgebt. Plant
denkt aber zur ErklErung daran, dass die an Metalues erkrankenden
Personen mOglicherweise von vornberein gegenuber der Lues eine cin-
heitliche und besondere Reaktionsweise darbieten, schiebt also die Er-
scheinung ins Gebiet der endogenen Ursachen. lnzwischen stebt fur
die H&ufigkeit der Metalues nach mildero, ibre Seltenheit nach schwerem
Verlauf der Lues eine ansprechende ErklErung aus dem Gebiet der
ImmunitEtslehre zur Verfugung: dass der milde Verlauf der Lues eine
nur geringe Antikbrperbildung verursacht und so die schleichende Ent-
wicklung chronischer lokaler SpirochEtenwucherung begunstigen kann;
aus der Lues nervosa-Frage durfte die Erscheinung ausgeschieden sein.
Nachdem die Spirochaete pallida als Erreger der Lues anerkannt
war, hat sich die Lues nervosa-Frage vom syphilitischen Virus auf die
Spirochete umgestellt. Die Fragestellung hat jetzt verschiedene MSg-
lichkeiten, deren bauptsachliche Formulierungen folgende sind: 1. gibt
es eine Abart der Spirochete, die von vornberein infolge einer besonderen
' Affinitet zum Nervengewebe die Neigung hat, sich im Zentralnerven-
systein zu lokalisieren oder in diesem vorzugsweise zu gedeihen?
[0. Fischer (27), Nonne(72), Levaditi (58)]. Diesen Zustand kbnnte
man als echte oder primere Neurotropio bezeichnen; 2. kOnnen Spiro-
cbeten durch den Aufenthalt im mcnscblichen Korper eine biologische
Verenderung erleiden (z. B. Bildung hoher Rezidivstemme durch Im-
munisierungsvorgenge u. a. m.), die sie zur Lokalisation im Gehirn und
dadurch zur Erzeugung der Paralyse befehigt und ibre Unbeeinflussbar-
keit erklert? [Erb (20—22), Ehrlich (14), Forster (29)]. Diesen Zu¬
stand kOnnte man als erworbene oder sekundEre Neurotropie bezeichnen;
3. wird die Spirochete, nachdem sie im SekundErstadium zufellig ins
Gehirn gelangt ist, dort so verSndert, dass sie gegen antiluetischeMittel
widerstandsfEhig wird und nur dort ihre weitere Entwickluug nimmt
[Hauptmann (38)]. Diese Moglichkeit sieht von irgend einer neuvo-
tropen Eigenschaft ab und kleidet die Lues nervosa-Frago in ein ganz
neues Gewand.
Bevor ich weiter auf die Lues nervosa-Frage eingehe, muss ich an
dieser Stelle die Bezeichnung Metalues erdrtern, die ich bisher
meist fur die paralytischen und tabischen Erkrankungen, aber auch
bereits im weiteren Sinne Erb’s angewandt habe; Erb (21) sagt:
„Metasyphilis ist eine besondere Form des von den LuesspirochEten
ausgelOsten Infektionsprozesses; sie tritt nur im spEteren Verlauf der
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Dr. F. Sioli,
syphilitischen Infektion in die Erscbeinung uud beruht wobl auf bio-
logischen Vorg&ngen, die zu einer weitgebenden Aenderung der bio-
logischen Eigenscbaften der Spirochatenstamme (bezw. ihrer Antigene
und AntikSrper) gefuhrt haben. Metasyphilis beffillt mit Vorliebe das
Zentralnervensystem in alien seinen Abscbnitten — obne deshalb den
ubrigen KSrper and seine Organe zu verschoueu“. Erb erSrtert die
Mfiglichkeit, Tabes und Paralyse als metasyphilitische Lokalisation im
Nervensystem, einen Teil der sogenannten tabischen Symptome aber
nicht als eigentlich tabische, sondern lediglicli als metasyphilitische
aufzufassen (Arthropathie, Osteopathie, Malperforant, Optikusatrophie),
, statt sie ohne weiteres bei den neurogen bedingten, trophischen Sym-
ptomen zu verbrauchen. Diese Auffassung des Altroeisters Erb erbffnet
weitreichende Erkenntnis- und Forscbuugsmoglichkeiten, die zuntlchst
eine breitere Grundlage von Spirockiitenbef unden verlangen.
In der weiteren Erbrterung der Lues nervosa-Frage ist zun&chst zu
erwahnen, dass Ehrmann (16—18) auf Grund von Spirocfafttenbefunden
obne Reaktionserscbeinungen in Nerven und Nervenscheiden aus Primar-
affekten und in NerveD, die aus grossmakulbsen Syphiliden abgingen,
eine Propagation der Spirochaten in den Nerven und ibre Fortleitung
zum Nervensystem als Entstehungsursache der Metalues fur wahrschein-
lich betracktete; Hoffmann (43) betonte demgegenuber, dass man die
Spirochaten auch ganz frisch in vbllig reaktionslosem Gewebe findet;
daher ist bei dem grossen Spirochatenreicktum in der ganzen Umgebung
von Syphiliden die Ehrmannsche Annahme ungenugend begrundet
[Levaditi, Plaut(74)]. Die anderen Begrundungen eines Neurotropis-
mus der Spirochate verlangen den Nackweis, dass sich die Spirochate
der Paralyse bezw. der Metalues von der der Lues noch durch andere
Eigenschaften untersckeidet als die Tatsache der Paralyseerzeugung.
Dass die Gewebsspirockate der Paralyse sich morphologisch von der
der Lues nicbt unterscheidet, ist durch die bisherigen Befunde erwiesen;
die Kulturspirochate der Paralyse ist noch nicht genugend erforscht.
Der friiher diskutierten MOglichkeit eines Entwicklungszyklus mit Form-
wechsel der Spirochate ist durch den Nachweis bei der Paralyse die
Wabrscheinlichkeit entzogen [Neumann-Mayer (67)]. Eine farberische
Eigenart der Paralysespirochate war dadurch in Erbrterung gezogen,
dass Forster und Tomasczewski (28) sie nicht nach Giemsa hatten
farben konnen, dieser Befund ist inzwischen widerlegt.
Ein weites Feld zur Feststellung biologischer Eigenart ist aber
durch die experiineutelle Tierimpfuug eroffnet., Die Irapfung kaun mit
Liquor, Blut Oder Hirngewebe von Paralytikern erfolgen.
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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse.
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Impferfolg mit Liquor am Kaninchenhoden hatten Volk und
Pappenheim (93) bei 1 von 5 Paralytikern (Inkubation 4 Monate),
Mattausehek mit Arzt und Eerl (4) bei 2 von 6 Paralytikern und
2 von 3 Tabikeru, von dem einen Impferfolg erzielten sie Fortfuhrung
auf die zweite Generation, Fruhwald und Zaloziecki (31) bei 1 Fall
(Inkubation 3 Monate), Marinesco und Minea (60) bei 1 Fall juveniler
Paralyse; dagegen hatte Steiner (87) mit Chlenhuth und Mulzer bei
19 Fallen keinen Erfolg.
Impferfolg mit Blut am Kaninchenhoden hatte Graves (36, 37)
von 2 Paralytikern (Inkubation 48 bezw. 66 Tage), Mattausehek mit
Arzt und Kerl (4) bei 1 von 3 Paralytikern und 1 Tabiket, A. Marie
und Levaditi (58). Letztere haben mit Paralytikerbluteinspritzung
unter die Skrotalhaut beim Kaninchen Hautveranderungen mit zahlreichen
Spirochaten erzeugt und diesen Stamm PG weiterverimpft und mit dem
Truffi’schen Stamm verglichen; der PG-Stamm bat als Eigenscbaften:
lange Inkubation (127 Tage bei Ansteckung, 94, 46, 49 Tage bei
folgenden Ueberimpfungen), die erzeugten Ver&nderungen sind ober-
flachliche Erosionen, die mit Schuppen bedeckt und von einer In-
filtrationszone in der Haut umgebeo sind, es fehlen Geschwursbildung,
Induration, in die Tiefe gehende Schadigungen, die Haut und Schleim-
haut der Scheide in Mitleidenschaft ziehen, wie sie der Truffi-Stamm
erzeugt. Mikroskopisch zeigen die Spirochaten des PG-Stammes auf-
falleude Wucherung in der Epitbelschicht; die Veranderungen des PG*
Stammes beilen auffallig langsam (in 169 und 195 Tagen), der PG-Stamm
war nicht auf niedere Alien und Schimpansen ubertragbar, er schien
nur fur Kaninchen pathogen im Gegensatz zum Truffi-Stamm, er erzeugte
keine Immunitat gegeu den Truffi-Stamm und umgekehrt. Marie und
Levaditi halten daher die Spirochate bei Paralyse fur eine besonders
neurotrope Abart, deren Verwandtschaft zum Nervengewebe die langsame
Ausbreitung der Gehirnsymptome erklare.
Mit Gehirngewebe vom Paralytiker baben Landsteiner und
Pdtzl 1908 wohl den ersten Impferfolg beim Alien erzielt. Forster
und Tomasczewski (28, 29) haben mit dem Gebirnpunktionsmaterial
lebender Paralytiker von 53 Fallen an 60 Kaninchen keinen Impferfolg
gehabt, Berger (7) aber mit gleichem Material bei 3 von 20 Fallen
(Inkubation 81, 110, 69 Tage). Mit Gehirn toter Paralytiker hatten
Impferfolg am Kaninchenhoden: Noguchi (70, 71) in 2 Fallen (Inku¬
bation 87 und 102 Tage), Uhlenhuth und Mulzer (90) in 1 Fall (In¬
kubation 50 Tage) nnd Wile.
An eine geringe Infektiositat der Paralysespirochate und an eine
lange Inkubationszeit muss man auch nach diesen Befunden denken,
Arehiv f. Psychiatric. Bd. 60. Heft 2/8. * 30
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man muss aber beriicksicbtigen, dass auch mit Luesmaterial die Impf-
erfolge anfangs selten waren und dass die Inkubationszeit auch beim
Ausgaug von diesem Material schwankend ist.
Am bedeutungsvollsten sind die Befunde von A. Marie uod
Levaditi fiber die Unterschiede ihres PG-Stammes gegen den Truffi-
Stamm, besonders die Verscbiedenheit der erzeugten Ver&nderungen und
das Ausbleiben der Immunisierung fur den einen Stamm nach fiber-
standener Impfung mit dem andern. Noch ist aber die Zabl der Impf-
erfolge zu klein, um irgendwelche allgemeine Annahmen sicher begrfinden
zu kdnnen. -
So ist die Frage der Lues nervosa noch nicht entschieden;
das vorliegende Material erlaubt es, an sie in irgend einer ihrer Ge-
stalten zu denken, bis weitere (Jntersuchungen sie verneinen oder be-
jahen werden; die notwendigsten Untersuchungen sind Impf- und Kultur-
ergebnisse und sorgf<ige Familienforschung.
Bisber muss man aber auch betonen, dass die Annahme einer neu-
rotropen Eigenscbaft oder biologischen Aenderung der Spirocbfite ffir
die Erklfirung des paralytischen fiberhaupt metaluetischen Krankheits-
vorgangs nicht unbedingt notwendig ist. Die Eigenarten der Metalues
kdnnen auch lediglicb aus der „Verschiedenheit des Terrains"
verstanden werden [Hoffmann (43), Finger (26)]. Diese Verschieden-
heit des Terrains kann vielleicht nur in der anatomiscben Sondersteilung
des Gehirns und seiner Art der Gef&ssversorgung (bzw. bei der Aortitis
im Aufbau der Geffisswand usw.) liegen, sie kann auch der Ausdruck
anderer individueller Eigenschaften sein. Welche Mdglichkeiten solchen
endogenen Faktoren zugeschrieben werden kdnnen und welche exogenen
Momente als Mitursachen in Frage kommen, ist noch kfirzlich von
Nonne(72), Hauptmann (38), Kafka (52) erfirtert. An dieser Stelle
gebe ich auf die endogenen und exogenen Ursacben nicht ein, sondern
beschrfinke mich auf die Spirochfite und die mit ibr in Beziehung
stehenden Fragen.
Die Forschung hat das Ziel, das Wesen des paralytischen Krank*
heitsvorgangs zu enthfillen, um aus dessen Verst&ndnis einen Weg zur
therapeutischen Beeinflussung zu linden. Die Darstellung der Spiro*
chfite bei der Paralyse hat maucberlei Wege angeschnitten, die dem
Ziel nfiher zu ffihren scheinen, auf keinem ist bisher das Ziel er-
reicht und das Wesen des paralytischen Krankheitsvorganges eindeutig
sichtbar.
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Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse.
459
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Gck igle
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Miinchener med. Wochenschr. 1913. S. 737.
70. Derselbe, Dementia paralytica und Syphilis. Berliner klin. Wochenschr.
1914. S. 1884.
71. Derselbe, The transmission of treponema pallidum from the brain of
paretios to the rabbits. Journ.of the amer. med.assoo. 1913. Bd.61. S.85.
72. Nonne, Der heutigeStandpunkt derLues-Paralysefrage. DeutscheZeitschr.
f. Nervenheilk. 1913. Bd. 49. S. 384. -
73. Derselbe, Syphilis und Nervensystem. 3. Aufl. Berlin 1915.
74. Plaut-Fischer, Die Lues-Paralysefrage. Referat auf der Jahresversamm-
lung des deutschen Vereins fur Psychiatric. 1909. Allgem. Zeitschr. f.
Psyoh. Bd. 66. S. 340.
75. Raecke, Die Lehre von der progressiven Paralyse im Lichte neuerer For-
schungsergebnisse. Aroh. f. Psych. Bd. 56. H. 3.
76. Derselbe, Die Bedeutung der Spiroohatenbefunde im Gehirn von Para-
lytikern. Arch. f. Psych. Bd. 57. H. 3.
77. Derselbe, Die Anssiohten der Salvarsanbehandlung bei der progressiven
Paralyse. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1918. Bd. 43. S. 37.
78. Derselbe, Noohmals die Bedeutung der Spiroohatenbefunde im Gehirn von
Paralytikern. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1918. Bd. 44. S. 110.
79. von Rohden, Ueber die Pathologic der Paralytikerfamilie. Zeitschr. f. d.
ges. Neurol, u. Psych. 1917. Bd. 37. S. 110.
80. Seelert, Untersuchungen der Familienangehorigen von Paralytikern und
Tabikern auf Syphilis und damit zusammenhangende nervdse Storungen
unter besonderer Beruoksichtigung des Infektionstermins dieser Paralytiker
und Tabiker. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1917. Bd. 51. S. 329.
81. Sezary und Paillard, Soc. de Biol. Bull. mid. 1910. S. 232. Zit. naoh
Fruhwald.
82. E. Sioli, Geisteskrankheiten bei Angehorigen versohiedener Volker. Fest¬
schrift d. 39. Vorsamml. d. Deutsch.anthropolog. Gesellsoh. Frankfurt 1908.
83. F. Sioli, Ueber amyloidahnliche Degeneration im Gehirn. Zeitschr. f. d.
ges. Neurol, u. Psych. 1912. Bd. 12. S. 447.
84. Derselbe,Diskussionsbemerkung. Deutsche med. Wochenschr. 1913. S.533.
85. Derselbe, Ueber die Spirochaete pallidabeiParalyse(vorlaufigeMitte)lung).
Arch. f. Psyoh. 1918. Bd. 59. H. 1.
86. Sobernheim, Syphilisspirochate. Kolle-Wassermann’s Handbuch der
pathogenen Mikroorganismen. 2. Aufl. 1912.
Gck igle
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CORNELL UNIVERSITY
Die Spirochaete pallida bei der progression Paralyse.
463
87. Steiner, Impfexperimente mit Spinalflussigkeit von Syphilitikern. (Sit*
zungsber.) Neurol. Zentralbl. *1914. S. 132.
88. Stern, Die Pnnktion des Rfickenmarkkanals in der Diagnose und Therapie
der Syphilis. Arch. f. Dermat. u. Syph. 1916. Bd. 123. S. 943.
89. Strasmann, Zwei Falle von Syphilis des Zentralnervensystems mit Fieber,
der zweite mit positivem Spirochatenbefund im Gehirn and Rfickenmark.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1910. Bd. 40. S. 387.
90) Uhlenhath and Malzer, WeitereMitteilnngen fiberErgebnisse der expert*
mentellen Syphilisforschung. Berliner klin. Wochenscbr. 1913. S. 2031.
91. Verhoeff, Ein Fall von Syphilom des Opticas and derPapille mit Spiro*
chatenbefnnd. Klin. Monatsbl. f. Aagenheilk. 1910. S. 315.
92. Vers6, Ueber Phlebitis syphilitica cerebrospinalis, zugleich ein Beitrag
zur Nervensyphilis. Ziegler’s Beitrage, 1913. Bd. 56. • S. 580.
93. Volk a. Pappenheim, Sitzungsber. Wiener klin. Wochenscbr. 1913. S. 1824.
94. Wechselmann undDinkelacker, Ueber dieBeziehnngen derallgemeinen
nervosen Symptome im Frfihstadiam der Syphilis za den Befanden des
Lambalpunktates. Mfinchener med. Wochenschr. 1914. S. 1382.
95. Witte, Ueber eine eigenartige herdformige Gefasserkranknng bei Dementia
paralytica. Zeitsohr. f. d. ges. Neurol, a. Psych. 1910. Bd. 2.
96. Wohlwill, Pathologisoh-anatomische Untersachangen am Zentralnerven-
svstem klinisch nervengesunder Syphilitiker (mit Einschluss der kongeni*
talen Syphilis). Arch. f. Psyoh. 1918. Bd. 59. S. 733.
97. Markus, Spirochaete pallida in den Plasmazellen bei der progression
Paralyse. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. 26. S. 245.
Erkl&rung der Abbildungen auf Tafeln III—VII.
Tafel III.
Fig. 1. Atypische Formen von Spirochaten. Vergr. 1000—1200. a = End-
knopf, Streckung in der Mitte des Leibes. b = Hantelform. c and d = seit*
liche Knoten darch Verschlingung. g = Einrollang za Doppelring. h = Yp-
silonform. i = Skelettierang.
Fig. 2. Zahlreiche Spirochaten, diffas verteilt, bei iz Spirochate in Infil-
trationszelle (Fall 15). Vergr. 800.
Fig. 3. Ansserordentlich zahlreiohe Spirochaten, diffus verteilt (Fall 15).
Vergr. 800.
Fig. 4. Zahlreiche Spirochaten, diffas verteilt (Fall 5). Vergr. 800.
Fig. 5 . Spirochate in Beziehung zum Infiltrat der adventitiellen Scheide
(Fall 5). Vergr. 800.
Fig. 6 and 7. Spirochatenanhaafung am eine kleine and eine grosseGang*
lienzelle (Fall 9). Vergr. 800.
Fig. 8 and 9. Spirochaten in der Gefasswand (Fall 5). Vergr. 800.
Fig. 10. Spirochaten in der Gefasswand (Fall 13). Vergr. 800.
Fig. 11. Sehr zahlreiohe Spirochaten in der Umgebang eines Gefasses,
diffus verteilt (Fall 9). Vergr. 800.
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464 Dr. F. Sioli, Die Spirochaete pallida bei der progressiven Paralyse.
Tafel IV.
Fig. 1—6. Diffuse Spirochatenverteilong, viele Etnrollungsformen, Bezie-
hungen zur Gefasswand (Fall 13). Vergr. 800.
Fig. 7. Beziehung der Spirochaten zur Gliazelle, bei gl. 2 Gli&kerne, bei
a eine abgeknickte, bei b eine eiogerollte Spirochete im Protoplasma der Glia*
zellen (Fall 12). Vergr. 800.
Fig. 8. Spirochaten in der Molekularschicht des Kleinhirns (Fall 9). Ver-
grosserung 800.
Fig. 9—13. Bienenschwarmartige Spirochatenkolonien. (Fig. 10. Deber-
sichtsbild, bei k Spirochatenkolonien. Vergr. 80. Fig. 9. Vergr. 800. Fig. 11
bis 13. Vergr. 1200.)
Tafel V.
Alkoholmaterial, Toluidinblaufarbung.
Fig. 1 und 2. Unterschied der Ver&nderungen von benachbarten Stellen
aus dem gleichen Schnitt des Falles 5. Vergr. 60.
Fig. 3 und 4. Rindenatrophie aus dem rechten Gyrus rectus des Falles 14.
(Lissauer’sche Paralyse). Vergr. 60.
Fig. 5. Endstadium der Nervenzellveranderung aus der atrophischenRinde
des Falles 14 (Lissauer’sche Paralyse). Vergr. 800.
Fig. 6. Nervenzellveranderung aus der atrophischen Rinde des Falles 15
(Lissauer’sche Paralyse). Vergr. 800.
Tafel VI.
Fig. 1—3. Alkoholmaterial, Toluidinblauf&rbung.
Fig. 1. Nicht atrophische Rinde aus dem rechten Gyrus rectus des Falles 15.
Vergr. 60.
Fig. 2. Atrophische Rinde aus der entsprechenden Stelle des linken Gyrus
rectus des gleichen Falles. Vergr. 60.
Fig. 3. Nicht atrophische Rinde aus dem rechten Gyrus rectus mit lokaler
Ernabrungsstorung. Vergr. 60.
Fig. 4—6. Spirochatenfarbung, Uebersichtsbilder der Rinde von Fall 16.
Vergr. 60.
Fig. 4. Uebersicht der ungeheuren Spirochatenanhaufung an Gefassen.
Fig. 5. Dasselbe mit Ablagernng von homogener Substanz.
Fig. 6. Ablagerung der homogenen Substanz ohne Spirochaten.
Tafel VII.
Fall 16. Vergr. 800.
Fig. 1. Ungeheure Spirochatenmenge in Gefasswand und Umgebung.
Fig. 2. Spirochaten in der Gefasswand.
Fig. 3 und 4. Ablagerung von homogener Substanz in der Gefasswand
und der adventitiellen Scheide mit Spirochaten.
Fig. 5. Spirochaten in Gefasswand, dem Infiltrationszellmantel und im
Gefasslumen (bei sp).
Fig. 6. Ablagerung von homogener Substanz ohne Spirochaten.
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XX.
Einwirkung ausserer Ereignisse auf
psychogene Dammerzustande.
Yon
E. Meyer (Ednigsberg i. Pr.).
Die Kriegserfabrangen haben uns in Uebereinstimmung mit denen
der Friedenszeit gelehrt, dass es mit Unlustgeffihl verbundene aussere
Ereignisse sind, die zn psychotischen Erscbeinungen psychogener Art
fuhren, insbesondere sind Konflikte mebr oder weniger krimineller Natur,
Verschfittungen, Granat-Explosionen u. dgl. m., auch korperliche Krank-
heiten solche Ursachen, wobei Kriegsunlust und Kriegsfiberdruss mebr
oder weniger nnbewnsst wesentlich mitspielen.
Unter den Psychosen psychogener Herknnft nehmen die meisten die
Form der Dammerzustande, insbesondere des Ganser’scben Dammer-
zustandes an. Wahrend manche Falle von selbst in kurzer Zeit ab-
liefen, zogen sich andere, abgesehen von denen, bei welchen besondere
tberapeotische Eingriffe im Sinne des Nonne’schen oder Kaufmann-
schen Verfahrens vorgenommen wurden, nicht selten — auch bei weit-
gehender Vernachlassigung zu Heilzwecken — fiber eine Reihe von
Monaten hin. Haufig war auch eine Neigung zu Rezidiven, sei es
infolge von Verlegung oder durch irgendwelche neue aussere Eindrucke,
aber auch obne solche ans der psychopathischen Veranlagung an sicb
heraus.
Zur Zeit der Revolution befanden sich vier psychogene Dammer-
znstande in unserer Beobachtung, zum Teil von schon recht erbeblicher
Dauer. Es schien mir von wesentlicher Bedoutung, bei ihnen die Ein-
wirkungen des Umsturzes, durch die der Zwang des Kriegsdienstes wie
des militarischen Dienstes fiberhaupt und die etwaigen Nachwirkungen
militariscber Vergeben, also gerade die Hauptursacben psychogener
Dammerzustande im Kriege, mit einem Scblage beseitigt wurden, zu
beobachten.
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466
E. Meyer,
Hermann E., 19 Jahre. Seit 1. 12. 17 Sold&t. 11.6. 18 in ein Lazarett
aufgenommen, nachdem er sich aus einem Rekruten-Depot, wo er erst 8 Tage
war, entfernt nnd einige Tage umhergetrieben hatte.
Bei der Aufnahme gab er auf keine Frage Antwort.
Die korperliche Untersuchung ergab niohts Besonderes. Aoch in
den nachsten Tagen sass Pat. den ganzen Tag stnmm and anscheinend voll-
kommen gleicbgultig auf seinem Bett. Stundenlang starrte er auf ein Blatt
Papier, auf ein Buch. Sprach weder von selbst noch antwortete er auf Fragen.
Nahrnng nahm er selbst zu sich.
Am 16. 6. 18 in ein weiteres Lazarett iiberfuhrt, erschien er auch dort
vollig stnmm, verstandigte sich nur duroh Zeiohen und Schreiben. Aus seinen
Bekundungen ging hervor, dass er raumlich und zeitlioh, sowie zur Person
gut orientiert war, und dass sein Auffassungs- und sein Denkvermogen frei
von groben Storungen erschien. Er machte einen miiden Eindruck. Den ihm
gegebenen Weisungem kam er zogernd und wie unwillig nach. Bei passiven
Bewegungen kein Widerstand; in gegebenen Stellungen yerharrte er. Seine
Haltung war fur gewohnlioh meist gebiickt, der Blick gesenkt. Bei der korper-
lichen Dntersuchung zeigt er stellenweise starkes Widerstreben. Am 20. 6.
schrieb E. in einem Brief an seine Pflegeeltern: Er konne gar nicht sprechen,
er sei vor Schreck stumm geworden, sei schon in Belgien erkrankt.
11. 6. sei er in das Festungslazarett zu L. gekommen, wo er bis 14.6.
gewesen sei, dann sei er untersucht und nach C. geschickt. Manchmal sei er
auch taub.
Am 22. 6. klagt er schriftlich fiber Schlaflosigkeit, ist sehr beunruhigt
fiber seine Zukunft. Auch weiterhin scheues Benehmcn, ersoheint viel in Ge-
danken versunken, liest aber allmablich mehr.
14. 7. Muder Gesichtsausdruck, spricht noch nicht, fasst aber alles auf
und driickt sich in Briefen gewandt und verstandig aus.
5. 8. In den Tagen etwas teilnehmender, hilft in der Hausarbeit, spielt
bisweilen Karten mit anderen Soldaten.
3. 9. Spricht noch immer nicht, klagt zeitweise fiber heftige Kopf-
schmerzen, auch in den nachsten Wochen keine wesentliche Aenderung, spricht
nach wie vor gar nicht, erscheint sonst in jeder Hinsicht goordnet.
30. 10. Aufnahme in die psychiatrisohe und Nervenklinik.
Antwortet auf Fragen iiberhaupt nicht, spricht eben so wenig spontan,
verstandigt sich durch Zeichen und Schreiben.
Wo hier? Schuttelt den Kopf.
Krank? Etwas Kopfschmerz habe ich. Auf Vorhalt: Zeigt er sich ortlich
und zur Person orientiert.
Weshalb sprechen Sie nicht? Ich kann nicht sprechen.
Wie lange nicht? Seit 1. Juli 1918. Er mochte gem sprechen, er sei
matt und traurig, es wolle gern in die Heimat. Auf Befragen: Er sehe n&chts
eine Gestalt und konne auch nicht schlafen.
18 + 17? 23.
22—9? 17.
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Einwirkung ausserer Ereignisse auf psyohogene Dammerzustande. 467
5X4? 18.
18:6? 4.
19 + 11? Richtig.
Farbe von Schokolade? Gelb.
Farbe von Schnee? Gran.
Farbe von Glas? Schwarz.
Haoptstadt von Deutschland: Riohtig.
Von Frankreich? Metz.
Weshalb Weibnachten? Weil Christas gestorben ist.
Unterschied zwischen Teioh and Fluss? See.
Muder Gesichtsaasdrack, starre Haltang, langsame Bewegungen. Samt-
liche Aufforderungen werden prompt befolgt. Nach Angabe des Pflegers soli
Pat. mit seinen Nachbam leise gesprochen haben.
Die korperliche Dntersuohung ergibt nnr Zeichen allgemeiner Ueber-
erregbarkeit sowie allgemeiner starker Hypalgesie.
4. 11. Liegt vollig ruhig da, erscheint teilnahmslos, sprioht nicht, ver-
standigt sich wie friiher nur schriftlich, macht auch nach Angabe des Personals
nie Versuche sich anders als schriftlich zn verstandigen.
10. 11. Aas Anlass der grossen staatlichen Umwalzungen werden
einzelne Mitkranke entlassen. Dem Pat., der sich ansserlich wie
vorher verhalt, wird gesagt, or kame auch zar Entlassung in
Betracht. In der Nacht darauf beginnt er zu sprechen.
12. 11. Seit gestem morgen zoganglicher, gibt richtige Antworten,
ist zar Person orientiert, ebenso ortlich and im wesentlichen zeit-
lich. AafBefragen: Ich bin noch etwas krank, ich habe Kopfschmerz, die
Verdauang ist schlecht. Ich kann nicht so got denken wie fraher. Sonst gibt
Pat. geordnetAuskunft, erscheint etwas made. Man sieht unruhige Bewegungen
der Hande. Im Zivil sei er Kutscher auf dem Lande gewesen. Im Felde war
er nicht, nor in einem Feldrekruten-Depot. Er wisse, dass er dort krank ge-
worden sei, wie es gekommen, konne er nicht angeben. Er wisse aas der Zeit
sonst gar nichts. Er erinnere sich, dass er nicht gesprochen habe, waram
wisse er nicht. Aufregangen habe er viele gehabt, doch konne er Bestimmtes
als Grand nicht angeben. Die Sprache sei allmahlich wiedergekommen. Auf
Befragen sagt er, es sei ihm vorgekommen, als ob man ihn verfolge, es war
ihm angstlich. Im zweiten Lazarett sei ihm nachts die Gestalt eines Mannes
erschienen. Wie erjetzt plotzlioh besser geworden ware, konne er
nicht sagen.
In der Schule habe er leidlioh gelernt.
6 X 7? 36 - 38.
4X5? 18.
2 X 4? 6.
5 + 7? 13.
12 — 4? 7.
2 X 4? 6.
3 X 3? 7.
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CORNELL UNfVERSSTV
468
E. Meyer,
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Gegenstande, Bilder bezeichnet er richtig.
Soil die Zahl 246 bebalten.
4X5? 10.
2X8? 15.
3 X 9? 25.
15 -|- 14? 23.
Hat die Zahl vergessen.
Bilder erkennt er richtig. Macht bei der Untersuchung einen zanebmend
miiden Eindruck.
Bei AssoziationspriifaDg ergibt sich langsame Reaktion, sonst nichts
Besonderes.
19. 11. noch etwas made bei Bewegangen. Es gehe ihm im ganzen
besser, aber mit dem Verstand ware es noch nicht so richtig. Er sei aafgeregt
and angstlich. AafBefragen: Weil er nicht seine Freiheit habe. Antwortet
stets sehr langsam mit tonloser Stimme, oft gar nioht.
Soil heate wieder die Zahl 246 behalten.
4X5? Richtig.
15 —J— 14! Richtig.
3X9? Richtig.
21 — 9? 11. Auf Vorhalt: Richtig.
Zahl? 44.
Unterschied zwischen Spiegel and Fenster? Weiss er nicht anzageben.
1870/1871? Richtig.
Bismarck? Richtig.
Unterschied zwischen Richter und Reohtsanwalt?-
MeiDeid?-Auf Vorhalt: Auf dem Gericht.
22. 11. Etwas frischer and reger. Geht aus, kommt rechtzeitig wieder.
Allmahlich immer freier.
Der vorstehende Fall ist schon an sich bemerkenswert, weii er an-
fangs in den Lazaretten als „Katatonie u aufgefasst wurde und zwar
besonders wohl wegen der anscheinenden Apathie und Regungslosigkeit.
Dass es sich nur um eine scheinbare Apathie handelte, ging schon aus
des Patienten schriftlichen Bekundungen hervor, insbesoudere aus dem
Brief an seine Eltern, in dem er schrieb, dass er vor Schreck stumm
geworden sei, sowie aus seinen weiteren Briefen, in denen er zeigte,
dass er mit seinem Schicksal. sehr besch&ftigt war. Gegen Dementia
praecox sprachen auch das Fehlen von Grimassieren und Stereotypien,
von eigentlichem Negativismus, die sehr verst&ndig und geordnet ab-
gefassten Briefe und die regelrechte Affektverbindung. Es handelte
sich nach allera um psychogene Hemmung, die die Apathie vort&uschte
und die ja auch nach der Losung des mit Mutismus verbundenen Stupors
noch deutlich zu bemerken war.
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Einwirkung ausserer Ereignisse aaf psyohogene Dammerzustande. 469
Mit der Revolution, die ihm durch die Mitteilung, er konne eben-
falls entlassen werden, n&her gebracht wurde, schwindet von einem
Tage zum anderen der Mutismus bei unserem Kranken. Er war ge-
ordnet und orientiert, klagte nur fiber nervfise Beschwerden und fiber
Stfirungen* von seiten des Darms, macbte auch Angaben fiber ftngstliche
Vorstellungen, die ihn beberrscbt hfitten. Entsprechend seinen Elagen
waren die Merkffihigkeit noch herabgesetzt und die Assoziationen ver-
langsamt. Besonders bemerkenswert war, dass das w&hrend des D&mmer-
zustandes festgestellte Vorbeireden im wesentlichen nun geschwunden
war, jedoch in bezug auf das Recbnen am ersten Tage nacb der Auf-
hellung noch sehr deutlich bestand und erst nach mebreren Tagen ab-
geklungen war. Auch das Urteilsverrafigen erschien noch beciutr&chtigt.
Das auslfisende Moment lag in diesem Falle uicht klar zutage.
Patient selbst erw&hnt einen Schreck, fiber den aber nichts weiter be-
kannt war. Im fibrigen sind wir auf den zeitlichen Zusammenhang
zwischen der Versetzung in ein Rekrutendepot und dem Ausbruch der
geistigen Stoning und damit auf die Kriegsunlust als Anstoss zur Er-
krankung bei einem Psychopathen angewiesen. Eine gradweise Ab-
hfingigkeit der Schwere der Erkrankung von der Starke des auslfisenden
Ereignisses braucht ja nicht vorhanden zu sein.
Der so entstandene psychogene Stuporzustand loste sich nach einer
Dauer von vier Monaten unter dem Einfluss der Revolution innerhalb
eines Tages bis auf geringe Reste, die auch bald schwanden. Ich betone
dabei, dass von der Revolution mit dem Patienteu nicht gesprochen
wurde, um das Ereignis als solcbes, wie es innerhalb der Elinik an
den Eranken herantrat, mdglichst rein auf ihn einwirken zu lassen.
Eine Verstfirkuug des Eindrucks durch Verbalsuggestion von seiten des
Arztes wurde daher ganz vermieden, abgesehen von der Mitteilung, er
kfinne jetzt ebenfalls entlassen werden. Ebenso sind wir in den
fibrigen Fallen verfahren.
Ernst 6., 18 Jahre alt. Seit Mai 1918 Soldat. Die Mntter soil leicbt
aufgeregt sein und an Wutanfallen leiden. Der Vater trinke. Patient will
oft von seinem Vater missbandelt und dadurch sebr verangstigt worden sein.
Er babe von jeher an Kopfschmerzen sehr viel gelitten, wenig mit anderen
Kindern verkehrt. Er babe schlecht gelemt. Habe nur zwei Klassen durch-
gemacht. Korperlich krank sei er nie gewesen. Luetische Infektion stellt er
in Abrede, ebenso Alkoholmissbraucb.
9. 10. 1918 wurde Pat. in ein Lazarett aufgenommen. Nach arztlicher
Mitteilung soil er einen Vorgesetzten vorher mit einem Messer angegriffen
haben. Er erschien bewusstlos. Der Kopf war leicht nach hinten geneigt, der
Nacken massig gut beweglich. Die Pupillenreaktion, ebenso wie die Knie-
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470
E. Meyer,
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sehnenreflexe waren vorhanden. Der Konjunktivalreflex war herabgesetzt. Der
Pols war regelmassig, kraftig, 60 in der Minute. Im Urin kein Eiweiss.
10. 10. Hat nachts unter sich gelassen. Die „Benommenheil u erscheint
geringer. Nach Angabe der Stubenkameraden soil Pat. in der Nacht auf die
Bettkante gestiegen sein, hatte sich dann auf Anrufen der Sohwester steif auf
den Fussboden fallen lassen, wo er bis zum Morgen ruhig liegen geblieben
ware. Nachdem in seiner Gegenwart gesagt war, wenn das Bewusstsein bis
znm folgenden Tage nicht wiederkehre, musse er einer sehr schmerzhaften
nnd unangenehmen Operation — dem Riiokenmarkstich — unterzogen werden,
fing Pat. an von selbst zu essen, wahrend er bis dahin keine Nahrung zu sich
genommen hatte.
11. 10. Aeussert zur Schwester, er wiinsche entlassen zu werden, er
habe sich zur Sanitatsschule gemeldet und fiirchte bei langerem Aufenthalt im
Lazarett nicht dorthin zu kommen.
13. 10. Klagt iiber Kopfschmerz, aussert zur Sohwester, er kdnne nie
lachen, miisse in Gegenwart heiterer Kameraden oft weinen.
3. 11. Aufnahme in die Psyohiatrische und Nervenklinik in Kdnigsberg.
Sieht bei der Untersuchung unrnhig im Zimmer umher, blickt zur Docke, starrt
dann wieder zur Erde. Stirn stark quer gerunzelt. Mund geoffnet. Die Augen
starr, seltener Lidschlag. Gesichtsausdruck gespannt, Kopf vornuber geneigt.
Name? Richtig.
Geburtstag? Weiss ich nicht. AufVorhalt: Ich glaube September, den 16.
Wo? Richtig.
Beruf? Anstreicher. (Richtig.)
Wo hier? In einer Stube (spricht immer plattdeutsch).
In welohem Hause? In einem Hause.
In weloher Stadt?-in Bentheim bei den Eltern.
Auf Befragen: Er sei gesund, ihm fehle nichts, er sei nicht krank gewesen.
Auf Befragen: Warum er friiher nicht gegessen habe? Er esse immer.
Soli die Zahl nachsprechen: 8346 8003 und 46?
2X2? Richtig.
8 7? Richtig.
22—9? 11.
5 -f 11? 44.
3X12? 26.
Tintenfass? Glas. Wozu? Zum Sohreiben.
Glas? Topf.
Messer? Schliissel? Richtig. Von 1—20 zahlen? Richtig, langsam.
Monate? Januar, Februar, Mai. Dann richtig.
Wocbentage? Richtig.
Eine Mark in Pf.? Richtig.
Kaiser? Richtig.
G. antwortet immer langsam, zeigt wenig Ansprechbarkeit fur aussere
Eindrucke, sitzt anscheinend teilnahmslos da. In seinen Bewegungen ist er
schwerfallig, halt den Kopf dauernd geneigt, kann ihn nicht heben.
Gck igle
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Einwirkung ausserer Ereignisse auf psychogene Dammerzustande. 471
8. 11. Liegt teilnahmslos zu Bett, mit weit geoffnetem Mand and weit
aafgerissenen Augen, kummert sich am seine Umgebang gar nicht, antwortet
auf Befragen langsam, immer plattdeutsch.
11. 11. Seit heate — er hat von der Revolution gehort — ver-
andert: Unterhalt sioh mit den Nachbarn, spricht hochdeutsch; gibt gute
Antworten, zeigt natdrliohe Haltung.
12. 11. 5XH? Richtig.
3X12? Richtig.
28 -f 37 ? 56.
22—9? 11.
55:5? 9.
22 + 13? 45.
Datum? 12. November 1918.
Monate? Januar, Februar, April, Jali, August, September, November,
Dezember.
Wieviel Monate? Richtig.
Wochentage? Ruokwarts Sonntag, Sonnabend, Freitag, Mittwoch, Donners-
tag, Dienstag, Sonntag, Montag.
Weihnaohten? Richtig.
Nenjahr? Richtig.
Erscheint noch vielfach apatbisoh, halt vielfach den Mand offen.
15. 11. Auf Befragen: Er wisse nicht, warum er hierher gekommen.
Dass er jemand angegriffen, sei ihm nicht erinnerlich. Rechne schlecht, habe
das immer getan. Bei langerem Befragen verfallt Pat. wieder in ein mehr
apathisches Verhalten. Die nachsten Tage ruhig and geordnet. Bei langerer
Exploration verfallt er immer in sein friiheres Verhalten. An der Umgebang
nimmt er'teil and beschSftigt sich.
29. 11. entlassen.
Der zweite Fall ist dem ersten insoweit ahnlich, als auch bei ihm
ein ausserer Anlass fur die Entstehung der psychotischen Erscheinungen
nicht nachweisbar, ja, noch weniger zu konstruieren ist, als bei jenem;
wabrend andererseits in der starken Belastung, der angeborenen Minder-
wertigkeit und den kdrperlichen und seelischen Schadigungen, die seinen
Entwicklangsgang noch getroifen haben, eine besonders starke Disposition
zu pathologischen Reaktionen auf sonst geringffigige Anlasse gegeben war.
Nach einem kurzen Erregungszustand mit Neigung zu Gewalttfitig-
keiten seben wir eine stupordse Phase sich entwickeln, die, insbesoadere
die Nahrungsverweigerang, darch einmalige Verbal-Suggestion schon
Besserung erfuhr, aber bei Verlegung in die Klinik wieder hervortrat.
Auch hier zeigte sich anscheinend apathisches Verhalten, das durch
psychogene Hemmnng bedingt war, wahrend im iibrigen wesentlich Ver-
dachtsmomente fQr Dementia praecox fehlten. Mit der Revolution schwand
auch hier fiber Nacht nach etwa einmonatiger Dauer der Stupor. Starre
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472
E. Meyer,
Haltung and Apathie wichen naturlicher Haltung und Teilnahme fur
die Umgebung. Der Kranke, der im D&mmerzustand nur plattdeutsch
sprach, spricht jetzt hochdeutsch, doch macht sich bei Anstrengung and
Aerger das apathische Wesen ofter wieder bemerkbar.
Robert R., 24 Jahre. Soldat seit 1. 10. 1914. 9. 8. 1918 Aafn&htne in
ein Lazarett. Leidet seit binem halben Jahr an Krampfen and Kopf-
schmerz. Friiher sei er gesund gewesen. Bei der Aufnahme war er nicht
bewusstlos, aber apathisch, gab keine Antwort, verhielt sich aber im ubrigen
rnhig. Wann und wamm er gekommen sei, wisse er nicht. Meint, es sei Mitte
Juli. Er wisse nicht, ob das hier ein Lazarett sei. Er habe jetzt Erholungs-
urlaub gehabt und sei von diesem gerade zuruckgekehrt. Wie lange der Urlaub
gedauert und wann er begonnen habe, konne er nioht sagen, er habe sich in
dej. Auskunftsstelle nach seiner Truppe erkundigt, sei dann wo anders hinge-
schickt, habe dort seine Scheine vorgezeigt, wisse dann nicht mehr, was weiter
geschehen sei. Erst heute fruh sei er wieder zu sich gekommen.
i Auf korperlichem Gebiet ergab sich eine Herabsetzung der Schmerz-
empfindlichkeit am ganzen Korper. Keine Zeichen organischen Nervenleidens,
kein Zungenbiss. Die Hande zitterten stark.
12. 8, Reagiert nioht auf Fragen. Auf langeres Zureden zeigt er die
Zunge. Auf tiefes Kneifen einer Hautfalte aussert er keinen Schmerz.
Auf Befragen nach Schmerzen greift er nach dem Kopf.
13. 8. Etwas freier, befolgt einfache Aufforderungen, weiss, dass er in
einem Lazarett ist.
18. 8. In ein zweites Lazarett uberfuhrt. Gibt dort an: Ein Bruder sei
in einer Irrenanstalt. Er habe gut gelernt, sei Arbeiter und Maurer gewesen.
War znerst in Frankreich, dann in Russland, schliesslich wieder in Frankreich.
Verwundet sei er nicht. Warum er ins Lazarett gekommen sei, wisse er nicht.
Arzt habe gesagt, er habe einen Anjall gehabt. Vor 4 Monaten habe er schon
einmal einen solchen bekommen. Pat. macht einen sehr schwerfalligen
Eindruck, liegt in schlaffer Haltung da, antwortet erst nach mehrfacher
Wiederholung der Frage, vielfach auch: „Ich weiss nicht w . Klagt viberZittem
und Kopfschmerz. In den nachsten Tagen allmahlich freier, zeigt auch mehr
Interesse fur die Umgebung, dann wieder mehr gedruckt. Klagt fiber Kopf¬
schmerz. Zeigt auch eigensinniges Wesen, ist ablehnend.
30. 10. Aufnahme in die Psychiatrische und Nervenklinik zu Konigsberg.
Gibt bei der Aufnahme noch au: Er habe einmal eine Gasvergiftung gehabt.
Sei wegen Anfallen ins Lazarett gekommen, die angeblich durch Granatein-
schlage verursacht seien. Er habe Stechen im Kopf und wenn er die Augen
zumache, sahe er lauter Kafer.
Pat. sitzt in fast starrer Haltung da, brutet mit gerunzelter Stirn vor sich
hin, achtet nicht auf die Umgebung, sondern schaut auf die Erde. Er ant¬
wortet meist erst nach mehrfachen Wiederholungen der Fragen, nachdem er zu-
erst nachhelfende Bewegungen gemacht hat. Er spricht meist nur wenige Worte
tonlos. Auf Befragen sagt er: „Die Kafer seien ganz schwarz, es knalle ihm
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Einwirkung ausserer Ereignisse aaf psychogene Dammerzustande. 473
such ofter in den Ohren u . Er habe eine Art Kafer summon gehort. Seinen
Geburtstag kann er nicht nennen, ist im iibrigen znr Person orientiert. Manch-
mal wisse er gar niohts, wenn einer etwas zu ihm sagt. Den Ort bezeichnet er
richtig, das Datum kennt er nicht, es sei September.
Auf Befragen, warum er nicht recht antworten konne: Er wisse, er wisse
auoh nicht was das ist, ein Woohentag. Monate ruckwarts kann er nicht auf*
zahlen, sagt sie vorwarts.
3x12? Uacht mit dem Korper und mit den Lippen Bewegungen, gibt
keine Antwort.
6X4? Richtig.
18- 9? . . .
3X3? 6.
2X2? 2+2 ist 4.
8 : 2? 8-|-2 ist 10.
Wann der Krieg angefangen? Vor 4 Jahren.
Wilson? Hindenburg? . . . Hindenburg, ich habe ihn schon gesehen.
Kaiser? Wilhelm.
Wann Neujahr? . . .
Farbe des Grases? Gras? Gras?
Tintenfass? Glas.
Federhalter? Schlussel? usw. richtig.
7. 11. 1st noch immer sehr gehemmt, schaut sich angstlich urn, halt sioh
abseits.
12. 11. (Nach der Revolution). Es gehe besser. Das Kafersummen
habe aufgehdrt. Antwortet freier. Hilft auf der Station.
15. 11. Auf Befragen, ob er entlassen werden wolle, er
mochtegern noch ein paarTagebleiben. Sonst geordnet, zeigt nur leichte
Unruhe.
5X12? Richtig.
28+37? 64.
22 — 9? 11. 15+18? Richtig.
55:5? Richtig.
Wilson? Kdnig von Amerika.
Hindenburg? Richtig.
Gegenstande bezeiohnet er riohtig. Datum? Anfang November. Wochen-
tage? Richtig, ebenso Jahreszahl. Alle Reaktionen erfolgen noch lang*
sam. Weiss, wie lange er hier ist. Er habe immer Kopfschmerz und Zittern
gehabt, schon vom vorigen Jahr. Sei seit 1917 krank, wo er von einer
Granate umgeworfen sei. Er soli bewusstlos gewesen sein. Monate von
ruokwarts richtig, wenn auch langsam. Denken geht noch langsam, nicht wie
in gesunder Zeit Auf Befragen: Er erinnere sich, schwarze K&fer in ganzen
Klumpen wimmeln gesehen zu haben. Was das bedeute, wisse er nicht. Es
sei wohl durch Krankheit gekommen. Soli Zahl 426 behalten.
3X6? 18.
2+7? Richtig.
▲rdkir f. Ptjehiatrie. Bd. 00. Heft 2/3. * 01
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474
E. Meyer,
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5 — 3? Richtig.
6X8? 40.
Z&hl? 425.
Weiterhin zugangliob, bilft anf der Abteilang, macht taglich Spaziergange
in die Stadt, kommt regelmassig wieder.
28. 11. noch immer leicht erregbar, bekommt Streit.
29. 11. entlassen.
Unser dritter Kranker stammt ebenfalls aus belasteter Familie. Seit
Kriegsbeginn Soldat and lange im Felde, ffihrt er auf eine Granat-
explosion die Entstehang seines Leidens zurfick, das zuerst in Form von
Anfallen auftrat. Ob und welchd besonderen Schadigungen den gegen-
wartigen Dammerzustand hervorgerufen haben. ikt nicht festzustelien.
Vielleicht lasst sich seine Angabe, dass er gerade von einem Erholungs-
urlaub zu der Truppe znrfickkehren sollte, so verwerten, dass, wie wir
es fitter bei Rfickkehr vom Uriaab oder aus dem Lazarett sehen, nan
eine Steigerung des Leidens infolge der Kriegs- und Dienstanlast, bzw.
des Geffihls der Unfahigkeit dazu, sich einstellt. Der Dammerzustand
entspricht dem Ganser’schen Typus. Einen besonderen Zug bilden
die Halluzinationen akustischer and optischer Art, fur die wir ein rich-
tanggebendes Moment nicht nachzuweisen vermogen.
Nach fiber zweimonatigem Besteben des Dammerzustandes tritt
durch die Revolution Lfisung desselben ein, nur ist, wie bei den vorigen
Fallen, eine gewisse Hemmung und Neigung zum Vorbeireden, sowie
abnorme Erregbarkeit noch zu bemerken, ebenso deutliches Rrankheits-
geffihl, das ibn aucb zu der Bitte veranlasst, noch einige Zeit in der
Klinik verbleiben zu dfirfen.
F., Alfred, 30 Jabre. Seit Januar Soldat. Ein Bruder babe sich das
Leben genommen. Habe frtiher viol getrunken, scblecht gelernt. Ab-
gesehen von Kinderkrankheiten frfiher gesund. Mai 1916 durch Granat-
splitter am Hinterkopf verwundet, ebenso durch Gewehrsohuss
Oktober. Schon nach der ersten Verwundung Kopfbeschwerden. Oktober
1917 durch Granatsplitter am Rficken verwundet. Machte schliesslich keinen
Dienst mehr. Streit mit Vorgesetzten.
Pat. macht einen sehr unruhigen Eindruck, macht schnelle Schritte auf
und ab, gestikuliert lebhaft mit den Handen. Kann sioh auf Einzelheiten nicht
besinnen. Klagt fiber heftigen Kopischmerz, konne keine Ruhe finden, konne
die vielen Mensohen niobt vertragen, schlafe scblecht. Es sei ihm angstlich
zu Mute. Er habc Zueken im Rficken und in den Beinen. Schilt, dass man
man ihn bei der Truppe hatte zum Narren machen wollen. Er solle kr. u.
nach Hause geschickt werden. In denPapieren stand drin, man solle ihn nicht
reizen. Ist ortlich, zeitlich und zur Person orientiert. Er klagt fiber dauernden
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Einwirkung ausserer Ereignisse auf psychogene D&mmerzustande. 475
Kopfschmerz. Wenn er in Rahe lebe and nioht aafgeregt werde, gehe es. Das
<}edachtnis sei sohlecht. Soil 829 merken.
18 + 9? Richtig.
22 -j- 8? Richtig.
14 X 4? 42.
91-7?-36-19? 24.
15 X 4? 15mal?
Zahl? 828.
Weshalb Pfingsten? Weiss ich nicht.
Weihnachten? Znckt die Aohseln.
Christi Geburt? Wann? 28. Dezember.
Unterschied von Rechtsanw< nnd Staatsanwalt? Keiue Ahnung.
Unterschied von IHpd and Zwerg? Zwerg ist klein.
Vorgehaltene Gegenstande richtig.
Eigentumliohe, etwas stockende Sprache, abgehaokt, etwas qtarrer Ge-
siohtsausdruck. Stirn in Falten gelegt. Kein.Anhaltspnnkt for ein organisches
Nervenleiden. Allgemeine Hypalgesie.
11. 11. 1918. Nach der Revolution.
Beschwerden? Habe noch solche Kopfschmerzen.
Monat, Jahr? Richtig.
Oertlich orientiert. Datum und Wochentage werden um einen Tag ver-
schoben. Soil sich eine Zahl merken, hat diese bald vergessen. Es strenge
ihn zu sehr an. Bilder kann er erst nach langerer Zeit erkennen.
12.11. Freier, geht in die Stadt, kehrt regelmassig znruck, ist im ganzen
seit der Revolution ausserlich viel geordneter, spricht gleiohmassi-
ger, der Gang ist unauffallig, die Stirn wird nicht me hr gerunzelt.
15. 11. Psychisch noch reoht ormiidbar. Assoziation verlangsamt, dabei
starke Eigenbeziebnngen, z. B.: Krank? Mir fallt nichts ein, ich denke immer
an zn Haase. Kircbe? War ich nioht mehr.
Tranring? Ich habe keinen.
15. 11. entlassen.
Unser letzter Kranker zeigt mit dem zweiten insofern Aehnlichkeit,
als er belastet, von Hause aus minderwertig nnd ebenfalls Sch&digungen
verschiedener Art — Potos, Kopfverletzung — in seiner Entwicklnng
ausgesetzt war, so dass die Entstebnng pathologischer Reaktionen ausser-
ordentlich erleichtert erschien. . Wodurch schliesSlich der bei dena Pa-
tienten bei der Anfnahme in die Elinik bestehende Sngstliche Erregungs-
zustand mit Stoning der Sprache bedingt war, ist nicht sicher zn sagen,
wahrscheinlich hat irgend ein Konflikt bei der Truppe, wo sich der
Kranke schikaniert glaubte, den Anstoss dazu gegeben. Mit der Revo¬
lution traten die Erscheinungen der Sngstlichen Erregnng nnd der Std-
rung der Sprache, deren Daner uns nicht bekannt ist, zuruck. Abnorme
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476 E. Meyer, Einwirkang ansserer Ereignisse aaf psychogene Dammerzu stande.
Ermiidbarkeit und Insuffizienzgefuhl blieben noch besteben, ebenso bei
Assoziationsversuchen verlangsamte Reaktion, mit Neigung zu Eigen be.
ziehungen, wie wir es bei psychogenen psychotischen Erscheinungen za
linden gewohnt sind.
0
Bei Beginn des Krieges habe ich untersucht, wie weit der Kriegs-
beginn aaf schon bestehende geistige StOrungea einwirkte 1 ). Es ergab
sich dabei, dass eine Beeinflussung bestehender Psychosen darch den
Krieg Oder Kriegsausbruch nicht erfolgte. Psychogene Stdrungen stan-
den mir damals nicht zur Verfugung. Eine Einwirkang b&tte man bei
solchen voraussichtlich dann in erster Linie erwarten kOnnen, wenn
ihre Entstehung mit dem drohenden Krieg etwa jp irgend welcher Be-
ziehung gestanden hatte, wenn auch artfremde Einflusse, den auslbsen-
den Ursachen nicht verwandte seelische Erschutterungeu, zu einer LOsung
von D&mmerzust&nden ebenfalls erfahrangsgemftss fuhren kOnnen.
Wenn wir aach bei unseren jetzigen Beobachtungen die auslbsenden
Momente fur die psychogenen Psychosen nicht mit Sicherheit festzu-
stellen vermochten, so kSnnen wir doch so viel sagen, dass sie jeden-
falls in Unlastgefuhlen wurzelten, die darch die Revolution beseitigt
warden, so dass Entstehen und Schwinden der psychotischen Erschei-
nungen psychogener Art sich durcb die Zeitverhkltnisse hier erkl&ren.
1) Arch. f. Psych. Bd. 55. S. 353.
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XXI.
Aus der psychiatrischen and Nervenklinik der Universitat Konigs-
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer).
Beitrag zur Kenntnis der mit Erhdhung der
Rigiditiit der Muskeln einhergehenden erworbenen
Krankheiten des Nervensystems (Pseudosklerose).
Von
Priv.-Doz. Dr. Max Rastas,
I. Asstatent der Klinik.
(Mit 7 Abbildungen im Teit.)
Unsere Kenntnis von den Krankheiten, welche einen erhohten Mus-
keltonus oder besser gesagt eine erhOhte Rigidit&t aufweisen, ist in den
letzten Jahren erheblich bereichert worden. In vieler Beziehung haben
wir unsere fruberen Anschauungen korrigieren mussen, auf jeden Fall
sie sebr erweitern k&unen. In erster Linie kommt als eine derartige
Krankheit die multiple Sklerose in Betracht. Hier hat besonders Oppen-
heim und spaterhin aucb H. Curschmann Krankheitstypen aufgestellt,
welche uns fruher unbekannt waren. Das Eigenartige und ganz beson¬
ders Wichtige an den Darlegungen Oppenheim’s liegt dariu, dass
er die Formen der multiplen Sklerose, die doch als Prototyp der nicht
systematischen Erkrankungen gait, in Beziehung zu den einzelnen Faser-
systemen des Ruckenmarks gesetzt hat, so dass er Formen beschreibt,
welche der Tabes, der Syringomyelie, der amyotrophischen Lateralsklerose
und anderen ahneln kOnnen.
Die zweite in Betracht kommende Krankheit ist die Pseudosklerose,
die wohl jetzt als identisch mit der Wilson’schen Linsenkerndegene-
ration angesehen wird. Hier ist es vor allem v. Strumpell gewesen,
der nicht nur als einer der ersten die Krankheit beschrieben und ihr
auch den Namen gegeben hat, sondern ganz besonders durch Auffindung
des amyostatischen Symptomenkomplexes ihre klinische Stellung wesent-
lich gekl&rt hatte. Weit mehr als der fthnliche Klang der in den Be-
zeichnnngen multiple Sklerose und Pseudosklerose zum Ausdruck kommt,
zeigt die Tatsache, dass Oppenheim der Differentialdiagnose beider
Krankheiten im vorigen Jahre eine umfangreiche Arbeit gewidmet hat,
wie schwer es oft ist, trotz unserer erweiterten Kenntnisse von den
Symptomen sicb schlussig zu macben, ob bei einem bestimmten Fall
dieses oder jenes Leiden vorliegt.
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478
Dr. Max Kastan,
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Gerade im letzten Jahre ist die Pseudosklerose mehrfach ram
Gegenstand der wissenschaftlichen Diskassion gemacht worden. Eioe
ganze Reihe tod Fallen siod verdffentlicht worden, die sich mit ihr
beschaftigen, von einem Autor, v. Dziembowski, sogar mehrere, was
ans der Erscheinung sicb herleiten l&sst, dass die Pseudosklerose ein
vornebmlich familiar auftretendes Leiden ist. v. Dziembowski ist
der Meinung, dass nicht nur Pseudosklerose und Wilson’sche Erank-
heit dasselbe w&ren, sondern dass auch die juvenile Paralysis agitans
dem gleichen Krankheitsbild zuzurechnen sei. Ich glaube niebt, dass
man dieser Vermutung wird beitreten kdnnen. Durchsiebt man die von
Willige stammende Uebersicbt der als juvenile Paralysis agitans be-
schriebenen Falle, so fallt auf, dass fast nie psychiscbe StCrungen bei
der juvenilen Form vorkommen, wahrend diese zu den hervorstechend-
sten Zugen der Pseudosklerose gebOren.- Auch sind pathologisch-ana-
tomiscbe Befunde bei der juvenilen Paralyse agitans, soweit die Wil¬
li ge’sche Zusammenstellung ergibt, nicht erhoben worden. Hingegen
hat man bei der Pseudosklerose wenu auch nicht eindeutige, so doch
ganz sichere Abweicbungen des grob anatomischen und des histologischen
Bildes feststellen kSnnen. Hierhin gehOren die Veranderungen im Linsen-
kem selbst, die eigentumlichen Gliabildungen im Nucleus dentatus und
in den Stammganglien, ferner auch die Erscheinungen in der Leber.
Erst in allerletzter Zeit hat Hunt auch fur die juvenile Paralysis agi-
. tans ein pathologisch-anatomisches Substrat aufgedeckt, indem er eine
Veranderung des Globus pallidussystems (zitiert nach Spielmeyer)
beschrieben hat. Aber jedenfalls ergibt sich auch daraus, dass dann
die Veranderung ihren Sitz nicht an der Stelle bat, an der sie die moisten
Falle der Pseudosklerose aufweisen.
In allerjungster Zeit hat auch Thomalla sich mit der Pseudo¬
sklerose beschaftigt. Er will dieselbe mit zwei anderen Krankheiten,
namlich dem Torsionspasmus und der atb&ose double zu einer grossen
Gruppe der Dystonia lenticularis vereinigen. Es begrundet das damit,
dass der Linsenkern bei all diesen Erkrankungen in einer Reihe von
Fallen als Sitz anatomischer Veranderungen beschrieben sei, jedoch
wird man auch dieser Neuauffassung und Neueinteilung der Pseudo¬
sklerose mit einiger Vorsicht entgegentreten mussen. Von der gewShn-
* lichen Dystonie allerdings unterscbeidet sie sich ja schon durch das Fehlen
des dieser Erankheit eigentumlichen Zusammentrefiens von Hypertonie
und Schlaffheit, aber die bei dem Torsionsspasmus auftretenden merk-
wurdigen Bewegungen sehen doch den Symptomen sehr ahnlich, die
als Teilerscheinung einer Erankheit erst neulich von v. Stauffenberg
beschrieben wurden, welche ihren Sitz an ganz anderer Stelle im Ge-
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Mit Erhohung der Rigiditat der Muskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 479
him hat, n&mlich der Atrophie olivo-c4r6bellaire und der von mir in diesen
Bl&ttern beschriebenen Chorea mollis. Man sieht auch, die Topographic
sicher bekannter Ver&nderungen sollte uns nicht verleiten, neue Krank-
heitsgruppen anfzostellen, welche man aus noch nicht bekannten Einzel-
bildern und Krankheitsformen zusammensetzen verfuhrt werden kdnnte.
Im folgenden gestatte icb mir einen Fall zu bescbreiben, welcher
geeignet zu sein scheint, die Schwierigkeiten der Differentialdiagnose
zwischen all diesen Krankheitsbildern aufs neue grell zu beleuchten.
Ich mbchte dabei jedoch ganz besonders darauf hinweisen, dass, als
die Pseudosklerose bekannt wurde, Charcot geneigt war, sie uber-
haupt dem Krankheitsbilde der Hysterie einzureihen. Ferner sind in
der Literatur der Pseudosklerose Falle beschrieben — ich erinnere an
die von Fleischer —, welche zuerst f&lschlicherweise als Demeutia
praecox diagnostiziert wurdeu. Die ersten Beobachtungen, die an unserem
Kranken gemacbt wurden, geben' anf das Jahr 1909 zuruck. Er ist
dann bis zum Jabre 1910 dauernd in klinischer Behandlung gewesen.
Zuerst im Lazarett Juterbog, dann im Garnisonlazarett Berlin, in der
dortigen psychiatrischen und Nervenklinik und in der Anstalt Buch.
Er ist zwar sp&ter entlassen worden, ist aber immer unter arztlicher
Kontrolle geblieben insofern, als er sowohl von milit&rischer Seite be-
gutacbtet worden ist (1913) als auch durch gerichtliche BehOrden in
einer Entmundigungsangelegenheit 1916 und weiterhin im Zivil im
Krankenhaus 1917 untersucbt worden ist. Es l&sst sich also der Ver-
lauf der Krankheit w&hrend 8 Jahren ziemlich gut verfolgen, genaue
KlSrung durfte allerdings erst eine sp&tero eventuelle Obduktion
bringen.
Ich lasse nun die fruheren Krankengeschicbten und Gutachten folgen;
im Februar 1909 war Pat. wegen Zellgewebsschadigung des ■ linken
Unterschenkels im Lazarett.
Abschrift
des Krankenblattes aus dem Garnisonlazarett Juterbog.
Diagnose: Syphilis und zur Beobachtung auf seinen Geisteszustand.
a) Vorgesohichte.
33.12. 1909. S. ist vom Gericbt der 1. Garde-Division dem Lazarett zur
BeobachtungseinesGeisteszustandesuberwiesen. Wahrend seiner Untersuchungs-
haft ist sein Benehmen aufgefallen, so dass Zweifel an seinem Geisteszustande
entstanden. In seiner Familie sind angeblicb koine Nerven- und Geisteskrank-
heiten vorgekommen. Vater starb angeblich an Herzschlag. Mutter und Ge-
schwister leben, sind kSrperlicb und geistig gesund. Als Kind ist er angeblich
stets gesund gewesen. Krampfe bat S. nie gebabt. Als Kind hat er angeblich
gut gelernt. Er hat angeblich rechtzeitig spreohen und laufen gelernt. Seit
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Dr. Max K&stan,
\
der Untersuchungshaft gibt er an, sehr nervos zu sein. Seitdem er das erato
Mai aus der Untersachnngshaft herausgekommen ist, kann er sicb, wie er sagt,
mit seinen Gedanken nicht zureohtfinden. Er gibt an, in seiner Untersuchungs-
zelle einen schwarzen Mann gesehen zu haben, mit dem er nicht einig warden
konnte. Er leidet angeblich zeitweise anKopfsohmerzen, hat haufigeSchwindel-
anfalle. Sein Gedachtnis hat anch angeblich gelitten. Keine Angstzustande.
Seit dem 10. 12. gibt er an, Leibschmerzen zu haben and auch geschlechts-
krank zu sein. Er gibt an, nicht Onanie getrieben zu haben.
b) Befund bei der Aufnahme: regelrecht.
1. Korperlicher Zastand. Kraftig gebauter Mann yon guter Musku-
latur and gatem Ernahrungszustand. Gesichtsfarbe frisch und gesund. Haat
and sichtbare Schleimhautc gat darchblatet. Zange nicht belegt. Appetit and
Schlaf nicht besonders, Stahl trage. Rachenorgane nicht entzundet and ver-
grossert. Langen: ohne krankhaften Befund. Herz: Dampfung nicht ver-
breitert. Tone rein. Pals mittelvoll, kraftig, regelmassig, 72. Leib: etwas
aafgetrieben. Milz and Leber nicht vergrossert. Urin: frei von Eiweiss and
Zucker. Mannliches Glied: Links auf der Eichel 2 etwa linsengrosse Ge-
schwdre. Nervensystem: Pupillen gleich weit, sehr weit, reagieren prompt
auf Lichteinfall and Konvergenz. Kniesehnenreflexe sind gut aaslosbar, desgl.
die Fnsssohlenreflexe. Sensibilitatsprufung: anscheinend nicht in Ordnung,
kann spitz and stampf nicht unterscheiden. Kalt und warm vermag er zu
unterscheiden. Kein Romberg. Keine Koordinationsstorungen. Keine Storung
des Lagegefdhls. Leichtes Zittern der Augenlider bei geschlossenen Augen.
2. Geistiger Zustand. Der Gesichtsausdruck des S. ist unruhig; er
lasst seine Blicke unstet umherschweifen. Die Sprache ist auffallend
langsam und stockend; sie klingt wie gemacht. Er scheint sich
anzastrengen, am die Tone hervorzupressen. Dabei lauft ihm an-
aafhorlich der Speichel aus dem Munde. Wenn er mit einem Vorge-
setzten spricht, so errotet er. Die Antworten erfolgen langsam. Gefragt fiber
hausliche Verhaltnisse gibt er die Antwort gat mit einer gewissen Intelligenz.
Rechenaufgaben: 9X3? 27; 7X8? 56; 8X12? 96; 15X16? 240. Die
Antwort erfolgt ziemlich prompt. 5- und 6stellige Zahlen kann er nicht voll-
standig im Gedachtnis behalten. Wenn man ihm komplizierte Wortverbindungen
vorspricht, so vermag er sie tadellos nachzusprechen. In der vaterlandischen
Geschichte weiss er gut Bescheid, er kennt den Namen des Kaisers, seines
Vaters und Grossvaters. Die Ebbinghaus’sche Probe gelingt ihm nur mangel-
haft. Er kennt die Namen seiner Mitkranken bis auf einen. Ueber Ort and
Zeit ist er gut orientiert.
24. 12. Er hat gestern an der Weihnachtsfeier teilgenommen and sich
dabei ruhig verhalten. Die Nacht dber hat er ruhig geschlafen.
25. 12. Heute ist er sehr lebhaft, spricht viel, namentlich vor sich Inn.
Er will durchaus im Garten spazieren gehen.
26. 12. Da er sich am Mitt&g des 25. 12. unruhig zeigt und durch sein
vieles Reden die ubrigen Kranken stort, wird er isoliert. Gleichzeitig wird er
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Mit Erhohung der Rigiditat der Muskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 481
wegen Schanker zur gemischten Station verlegt. Die Krankheit will er sich
Mitte November d. J. in Berlin zngezogen haben.
26. 12. Hente bei der Morgenvisite zeigt er, als ihm gesagt wird, es
seien zwei Pakete for ibn angekommen, lebhaftes Interesse, antwortet rasch,
sinn- nnd sacbgemass auf die an ihn gerichteten Fragen betreffend den vermut-
licben Inhalt und Absender der Pakete. Aach treten die sonst beobachteten
Gesiohtsverzerrungen nnd der Speichelfluss nicht auf. Die anfangs kleinen
Erosionen am Gliede beginnen sich scharfer abzngrenzen, sie sind jetzt etwa
bobnengross nnd sondern ziemlich reichlich ab. Uikroskopisch keine Spiro-
chaten nachzuweisen, nnr Detritus nnd Epitbelien. Beh and lung: Einlegung
eines mit Cupr. sulf. getrankten Streifens.
28. 12. S. sohlaft in der Nacht ruhig. Am Tage spricht er oft vor sich
hin; dabei lauft ibm der Speichel aus dem Munde. Die Gerichtsverhandlung
ist meistenteils der Qegenstand seiner Gesprache. Behandlung bleibt.
29. 12. S. verhalt sioh ruhig; er spricht oilers vor sich hin, der Gegen-
stand seiner Selbstgespraohe bildet hauptsachlich die Gerichtsverhandlung.
S. aussert sich dfters: Er wurde sioh mit seinen Gedanken nicht einig, sie
gingen ihm im Kopfe herum. Seine Sprechweise und Wortstellung sind die-
selben wie vorher, dabei starker Speichelfluss. Die mikroskopische Unter-
suchung eines Abstriohes von den Geschwiiren am Glied ergibt denselben Re¬
fund wie am 26. 12. Die Wache beobachtete, dass S. jede Bewegung der
Waohe scharf beobachtete, und, sobald seine Blicke mit denen des Wacht-
babenden sich trafen, seine Grimassen schnitt.
2. 1. Stabsarzt Dr. B. maoht den Einj.-freiw. Arzt Dr. K., der den Pat.
znm ersten Hal sieht, auf die gesuchteWortstellnng in seinerRedeweise fldchtig
aufmerksam. Als nun Pat. noohmal die Ereignisse bei seiner geschlechtlichen
Infektion angeben soli, fallt es auf, dass er seinen Satzbau normal ausfuhrt.
Er sagt z. B.: „Ich bin im Oktober nach Berlin gefahren (( . Nach seiner
sonstigen Redeweise wurde er etwa gesagt haben: Ich nach Berlin im Oktober
bin gefahren u. dgl. mebr. Sonst ist in dem Verhalten des Pat. keine Ver-
anderung zu konstatieren. Er liest zumeist den ganzen Tag liber und schlaft
in der Nacht ruhig.
8. 1. In dem Verhalten des Pat. ist kaum eine Veranderung eingetreten.
Er ist seit einigen Tagen mit im gemeinsamen Saal der gemischten Station
untergebraoht. Er verhalt sich auch da ganz ruhig. Die anderen Pat. geben
an, dass er ihren Gesprachen immer zuhore. Wenn er sich beobachtet fuhle,
sehe er dann schnell in sein Buoh. Die schiefe Stellung der Lippen beim
Sprechen und der Speichelfluss sind noch vorhanden. Die Verhartung der
Wundrander an den beiden Geschwiiren am Glied ist sehr deutlich, so dass an
der syphilitischen Natur der Affektion niobt mehr gezweifelt werden kann.
Sekundare Erscheinungen bestehen zur Zeit noch nicht.
11. 1. Es besteht eine deutliche Roseola an Brost und Leib. Deshalb
wird mit einer Schmierkur begonnen. Graue Quecksilbersalbe.
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482
Dr. Max Kastan,
c) Entlassungsbefund.
15. 1. Die syphilitischen Erscheinungen auf der Haut sind sehr ausge-
pragt. Die beiden Schankergeschwdre sind noch offen. — Pat. verhalt sich im
allgemeinen ruhig und gibt auf Fragen sinngemass Antwort. Sein Schlaf in
der Nacbt ist in der letzten Zeit etwas unruhiger. — Er hat immer verlangt,
dass nachts das Licht auf dem Saal nicht ausgeloscht wird. Gestem Abend
erzahlte er dem Stationsaufseher, dass nachts immer ein schwarzer Mann zn
ihm kame and er deshalb Licht haben musste. lm Dunkeln furchte er sich. —
In der gezwungenen Wortstellung, in der Stellung des Mundes und dem
Speiohelfluss beim Sprechen ist keine Veranderung eingetreten. — Urin frei
yon Eiweiss. S. wird zur weiteren Beobachtung seines Geisteszustandes in das
Garnisonlazarett I Berlin uberfiihrt, nachdem die Genehmigung des General-
kommandos des Gardekorps (11. 1. 10 Seite II b Nr. 291) eingetroffen ist.
Abschrift
des Krankenblattes aus dem Garnisonlazarett Berlin Nr. 2933.
Krankheit: Syphilis und jugendliche Verblodung (katatonische Form).
Aufnahmebefund.
16. 1. 1910. lm Sulcus coronarius, das Bandchen mit eingreifend, ein
hartes Infiltrat yon iiber Markstiickgrosse. Die Oberflache, soweit sie sichtbar
zu Tage liegt, ist erodiert und sondert diinnfliissiges Serum ab. Dorsales
Lymphgefass hart, strobbalmdick. Es besteht allgemeine Driisenschwellung,
(Leistendriise haselnuss- bis walnussgross. Kubitaldrusen,Halsdriisen, Nacken-
driisen). Am Korper, hauptsachlich auf Brust, Rucken, Beugeseite der Ober-
arme und Oberschenkel findet sich eine Roseola, die sich aus erbsen- bis
pfennigstiickgrossen Flecken zusammensetzt. Fusssohlen und Handflachen frei,
sowie der behaarte Kopf. Auf der rechten Tonsille ein spez. Belag. Bezeich-
nung: LuesII (Roseola, Lymphadenitis universalis, Angina specifica). Jugend¬
liche Verblodung, katatonische Form. Behandlung: Schmierkur, Jodkali
10/200. Mundpflege.
Verlauf.
20. 1. Der Ausschlag am Korper ist deutlich abgeblasst, der Schanker
am Glied fast verheilt. Angina versohwunden.
27. 1. Patient yertragt die Schmierkur gut. Im Urin kein Eiweiss.
Mund frei. Roseolen verschwunden. Schanker uberhautet.
3. 2. Mund frei, Schmierkur wird weiter gut vertragen. Appetit gut.
Entlassungsbefund.
6. 2. Primaraffekt abgeheilt. Roseola und Angina specifica verschwunden.
Allgemeine Drusensohwellung massigen Grades besteht noch. Da S. heute
einenErregungszustand starker Art bekam, wird er in dieKgl. Charity iiberfuhrt.
18. 1. Einzelzimmer fur Geisteskranke. Pat. grimassiert lebhaft, reisst
die Augen auf, greift nach den Papieren des Arztes. „Meine Papiere a , ^ich
kann doch nicht kriegen meine Papiere. 41 Sprache manieriert, weinerlich mit
grunzenden Lauten untermischt.
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Mit Erhohung der Rigiditat der Muskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 483
Name? „Kanonier S. u (Nimmt dem Arzt die auf dem Tisch liegenden
Papiere.)
Wo hier? „Sie haben mich hier eingesperrt. a
Wo? „Ich kann nicht raus. w
Welches Haas? „Garnisonlazarett, ich will meine Papiere haben.“
Jahreszeit? —
Sommer oder Winter? ^Winter, ja, wir haben Winter, ja. u
(4 Finger gezeigt.) Wieviel Finger? „4. a
Liest die Zeit von der Uhr des Lazaretts, die er vom Fenster aus sehen
kann, ab.
Sind Sie krank? „Ich noch nicht, nein, ich mache gleich meinen Dienst. u
Spricht affektiert-quiekend.
20.1. Gesichtsaasdruok and Speicheln unverandert. Isst besser, ist
reinlich und ruhig, springt aber ans dem Bett, sobald ein anderer als der
Pfleger eintritt, soli auch mit dem Pileger naturlich sprechen, weckt sogar selbst
denWarter, wenn er austreten will, wahrend er, wenn der Arzt mit ihm spricht,
eine eigentiimlich manirierte und gescbraubte, quiekende, abgerissene, von
zisohenden, schliirfenden Gerauschen begleitete Sprachweise hat. Aeussert
dem Pfleger gegeniiber, gestern Abend hatten sie ibn festbinden wollen. Sobald
ich ihn frage, starrt er mich an, besinnt sich lange auf die einfachsten Fragen.
Wie heissen Sie? „Kanonier S. u
Vorname? —
Rufname? „Wir konnen nicht zusammenkonimen.“
„Herr Doktor, jetzt frage ich, meine Papiere?-*
Verlangt das Speiglas, er musse sich brechen. Es kamo ihm iramerZeug
in den Mund. Verweigert deshalb Kaffee und Milch. In allem sei Arznei.
„Herr Doktor — ich sage gestern — bringt einer einen Topp Tee — ich
trinke ibn frei weg — bring einer Tee — ja (murmelt dann unverstandlich) ja,
darnach wollte er mir festbinden. u (Womit?) „Mit Schnallen, Stricke braohten
sie rein.“
Deutliche Katalepsie. Pupillen mittelweit, gleich. L. R. prompt und
ausgiebig. Stirn-Augen-Mundfazialis symmetrisch. Zunge gerado heraus-
gestreckt. Gaumenhebung symmetrisch. Trigeminus-Austrittspunkte an-
scheinend schmerzhaft.
Romberg: Lasst sich wie ein Stock hintenuber auf das Bett fallen. Arm-
und Beinbewegung, soweit prufbar, koordiniert. Grobe Kraft gut. Kein Tremor.
Sehnenreflexe: Patient ist nicht zur volligen Entspannung zu bringen.
Achillessehnenreflexe normal. Plantarreflex bds. sehr schwach. Sensibilitat
nicht in den einzelnen Qualitaten prufbar. Nadelstiche werden uberall als nicht
schmerzhaft bezeichnet, bringen auch keine Schmerzausserung hervor.
Echolalie 0, Echopraxie 0.
Die Aufforderungen bei der somatischen Untersuohung werden teils
schnell, teils langsam, teils trotz mehrfacher Aufforderung gar nicht\ befolgt.
S. wird ans Fenster gefiihrt, von wo aus der Blick in den Garten fallt.
Was sehen Sie da? „Baume w (schnell und sehr laut.)
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484
Dr. Max Kastan,
Was noch? In der Luft? Auf dem Boden? „Schnee“ (langsam, leise
und undeutlioh.)
„Herr Doktor, ich mochte noch etwas sagen u ,(bringt aber weitere Aeusse-
rnngen nicht hervor).
22.1. Unverandert. Sprache, Grimassieren, Speiobein unverandert, ver-
zieht dieLippen schnauzenformig nach vorn oder nach einer Seite. Ruhig, wenn
alleine gelassen, bei der Visite sofortiges Anfspringen aus dem Bette, setzt
sich auf den Bettrand, gibt auf Befragen an, er sei gat zu Wage. Erklart mit
Bezug auf einen Riss im Hemde, nach dessen Herkunft er befragt wird, da
seien ihm Steine darchgezogen, wiederholt mehrmals stereotyp diese Antwort.
25. 1. Nicht die geringste Aenderung des Verhaltens. 1st ruhig und
liegt Oder sitzt teilnahmslos da, wenn man sich nicht mit ihm beschaftigt. Die
bizarre Spreohweise ist konstant, alle Aeusserungen sind abgerissen, kurz, zu-
weilen aber der Frage entsprechend. Langere zusammenhangende Aeusse¬
rungen sind nicht zu erlangen, eine geordnete Unterhaltung ist nicht mit ihm
zu fiihren. Gegenstande bezeiohnet er nicht richtig, oft erst nach mehrmaligen
dringlichen Fragen. Doch fallt auf, dass er einzelne Objekte ,,danoben“ be¬
zeiohnet und sich stets dieser verkehrten Bezeichnung bedient, seine Hand
z. B. „Stein u nennt, die Tiir ,,Weg(?). w Soil gelegentlich zornig werden dem
Pfleger gegeniiber und ihn besohuldigen, dass er ihn vergifte. Droht ihm, er
werde es dem „ganz langen Arzt u (er meint den Chefarzt) sagen.
31. 1. Vollig unverandert. Sehr stereotyp ist der oft wiederhoite Ausruf
w meine Papiere u , sobald er mich mit den Krankenblattem kommen sieht.
Gefragt, wie lango er hier sei, antwortet er nach langerer Pause: 4 Wochen,
auf weitere Orientierungsfragen gibt er keine Antwort.
5. 2. Ziemlich lenksam und fiigsam. Gebahren stets bizarr, Aeusse¬
rungen unzusammenhangend. Sprechweise verschroben. Als iiber sein Ver-
halten mit dem Pfleger gesprochen wird, aussert er „ich nichts tun? u .
Wie lange hier? Ich-ja — hier, ja, meine, meine, hier, ja — 5, 5,
ja, 5 — ja, ja. Wo? Ja, hier, ja (gibt dann unverstandliche, z. T. nicht
artikulierte Laute von sich).
Lazarett? „Ja (nickt sehr hastig) Lazarett. u
Wo gedient? „Ja-Batterie-. a
„Stiebel-ja-Batterie-Dienst-.“
Bei der Verabschiedung steht er auf und stellt sich militarisch hin.
7. 2. Gestern beim Mittagessen soil S. plotzlich sehr erregt gewesen
sein, aggressiv gegen die Pfleger und ausserst energisoh sinnlos hinausgedrangt
haben. Er soil wiederholt ausgerufen haben: „Was wollt ihr, w ^7, 8 Jahre
bin ich hier u und anderes nicht Verstandliches. Es ist aus den Aussagen der
Pfleger und des einj.-freiw. Arztes nicht zu erkennen, ob Sinnestauschungen
bestanden haben.
Diagnose: Katatonische Form der Dementia praceox.
Diese Beobachtung fiihrte zu folgendem Gutachten:
Am 15. 12. beantragte Hauptmann Yanselow die Untersuchung des S.
auf seinen Geisteszustand, da er bei einer Verhandlung beim Oberkriegsgericht
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Hit Erhdhung der Rigiditat derMaskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 485
am Tage zuvor eine auffallende geistige Veranderung des S. seit seiner Ein-
liefernng in die Untersochungshaft bemerkt babe, die anch von anderen Zeugen
wahrgenommen sei. In der kriegsgerichtlichen Hanptverbandlnng am 21. 12.
wegen der hier in Rede stehenden Straftaten gab S. an, dass er nicht mehr
wisse, wie damals alles gekommen sei, ihm gingen seit der ersten Verurteilung
dieGedanken so im Kopfe herum, dass er nnr an die vierwochige Strafe denke.
Hauptmann V. als Zeuge erklarte, dass er S. fur schwer geisteskrank balte,
Oberarzt W. als Sachverstandiger wiederholte seine friiheren Aussagen und
fiigte binzu, dass S. ibm in der Untersucbungsbaft gesagt babe, ein Mann mit
dunklen Haaren sei in seiner Zelle gewesen and babe gesagt, er solle sich
Watte in die Obren stecken, er habe mit einem Buch nach diesem Manne
geworfen. Eine absohliessende Begutachtung des S. konne er nicbt ab-
geben. Das Gericht beschloss darauf kommissarische psychiatriscbe Begat-
acbtang.
Am 23. 12. warde S. ins Garnisonlazarett Juterbog uberfubrt zur Be-
obachtung seines Geistesznstandes. Er bat dort angegeben, erbtich nicht
belastet zu sein und in derSohule gut gelernt zu haben. In der Untersuchungs-
haft sei er nervos geworden, habe sicb mit seinen Gedanken nicht zurecht
finden konnen und in der Zelle einen schwarzen Mann gesehen. Die korperliohe
Untersuchung ergab ein frisches syphilisverdachtiges Schankergesohwur am
Gliede. Die Sprache war auffallend langsam und stockend, wie gemacht, aus
dem Munde lief Speicbel. S. war zeitlich und ortlich orientiert. Die Prufung
seiner Kenntnisse ergab leidlich gute Resultate, dagegen erwiesen sich Korn-
binationen und Merkfahigkeit geschadigt. Am 26. 12. trat Unruhe hervor,
sprach sehr viel, seine Reden bescbaftigten sich hauptsacblich mit der Gerichts-
verhandlung, die Wortstellung dieser Reden war eigentiimlich gesucht, zeit-
weise war S.ganz ruhig. Am 11.1. wurde nach Auftreten eines ausgesproohenen
syphilitischen Hautaussohlags eine Scbmierkur eingeleitet. In den letzten
Tagen trat wieder vermehrte Unruhe hervor, S. behauptete auch, einen
schwarzen Mann 5fters neben sich zu sehen. Am 16. 1. 10 erfolgte die Ueber-
fuhrung ins Garnisonlazarett Berlin.
Die antisyphilitisohe Bebandlung wurde hier sofort weitergefuhrt. Der
Gesichtsausdruck war erstaunt und dabei eigentiimlich maskenartig
▼erzerrt, die Augen weit aufgerissen, der Mund nach einer Seite ver-
zogen, bestandig war starkes Speicheln vorhanden. Wenn S. allein war, war
er ruhig; sobald aber der Pileger sich mit ihm beschaftigte oder gar ein Arzt
das Zimmer betrat, sprang er aus dem Bett, lief herum und sprach beziehungs-
los und verworren. Die Sprache war abgehackt und abgerissen, mit grunzenden
und quiekenden Lauten untermischt, z. T. vdllig unverstandlich. Fragen und
Zureden gegenuber war S. unzuganglich, selten war er zu Antworten zu
bringen, aus denen hervorging, dass er die Eindrucke der Umgebung ziemlioh
ricbtig auffasste. So wusste cr, wo er sich befand, und kannte die Aerzte als
solche; zu zusammenhangenden geordneten Aeusserungen war er aber nie zu
bringen. Auf Befragen bezeichnete er sich als Yollig gesund und verlangto
zum Dienst zu gehen.
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486
Dr. Max Kastan,
Seine Aeusserungen and Handlungen waren eigentdmlich maniriert and
bizarr und wiederholten sich vielfach. So lief er jedesmal dem Arzt entgegen,
wenn derselbe mit Krankenblattern sein Zimmer betrat, und rief bestandig
„meine Papiere a , sachie auch die Krankenblatter za ergreifen.
Am Nervensystem fanden sioh keine korperlichen Storungen. Das ge-
schilderte Verhalten blieb im allgemeinen unverandert.
Wiederholt traten plotzlich Zornaffekte hervor. In diesen bebauptete S.
vergiftet za werden und verweigerte auch die Nahrang. Wiederholt behauptete
er auch von Mannern gefesselt worden zu sein; Risse in seiner Hand, die er
selbst verursacht hatte, fdhrte er auf solche Misshandlungen zuriick. Eigen-
tamlich war sein Danebenbezeichnen von Gegenstanden in der letzten Zeit. Er
nannte z. B. seine Hand „Stein u , die Tiire „Weg a . Ansatze zu richtigen Ant-
worten machte er gelegentlioh, doch wurden die Satze nie vollendet. So fiel
die Antwort auf die Frage, wie lange er im Lazarett sei aus: „lch—ja—hier
—ja, fiinf, fiinf, ja ja ja u . „Dieselbe Antwort wurde auf eine Anzahl nach-
folgenderFragengegeben, bis erauf eineFrage, bei welchemTrappenteiler diene,
die Antwort fand: „Ja—Batterie—Stiefel—ja, Batterie-Dienst u . Bin starkerer
Erregungszustand, in welohem sich die Ausrufe: „7, 8 Jahre bin ich hier u ,
„was wollt ihr u und dergleichen ganzlich beziehungslose und absurde Aeusse¬
rungen fortwahrend wiederholten, und in denen er heftig hinausdrangte und
das Personal angriff, veranlasste am 7. 2. 1910 die Ueberfuhrung in die psy-
chiatrische Klinik der Charity.
Das Krankheitsbild, welches S. bietet, ist ein ausserordentlich charak-
teristisches. Es setzt sich aus hochgradiger geistiger Zerfahrenheit, aus Sprach-
verwirrtheit, Negativismus sowie Verschrobenheit, Maniertheit, lmpulsivitat
und Stereotypic in Ausdruckbewegungen und Handlungen zusammen und offen-
bart hierdurch deutlich seine Zugehorigkeit zur katatonischen Form der De¬
mentia praecox (jugendliohe Verblddung). Nebenher bestehen noch Sinnes-
tauschungen und Wahnbildungen, wie sie gleichfalls bei dieser Krankheit vor-
kommen. Die Yorgeschichte weist darauf hin, dass zwar, wie so haufig, die
Haft den Anstoss zu dem Hervortreten schwerer Krankheitserscheinungen ge-
geben hat, dass der eigentliche Krankheitsbeginn aber waiter zuriick liegt. In
dem vom Oberarzt W. und den anderen Zeugen in der Zeit, in die die Straf-
handlungen fallen, beriohteten konfusen und unstaten Wesen des S. ist mit
Sicherheit ein sehr charakteristisches Zeichen der bereits vorhandenen krank-
haften geistigen Veranderung zu erkennen, dieStrafhandlung selbst zeigt deut-
liche Zvige des Negativismus, der Zerfahrenheit und der lmpulsivitat. Es ent-
spricht zudem der wissenschaftlichen Erfahrung, dass ein^so schwerer Krank-
heitszustand, wie ihn S. jetzt bietet, langere Zeit bis zu seiner Ausbildung
braucht. Sehr bemerkenswert zur Beurteilung der Frage, wie lange die Ent-
stehung der Krankheit zuruckreicht, sind auch die anliegenden schriftlichen
Aufzeichnungen dos S. Sie lassen neben einigermassen zusammenhangenden
Betrachtungen, welche an den S. zur Last gelegten Diebstahl ankniipfen, die
deutlichen Erscheinungen der geistigen Zerfahrenheit und der fur die Krankheit
charakteristischen Sprachverwirrtheit bereits Ende August 1909 hervortreten.
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Mit Erhohnng der Rigiditat der Muskeln einbergebende Nervenkrankheiten. 487
Abschrift der Kankengcschichte der Konigl. Charitd.
Wird nacbmittags von ffinf Sanitatssoldaten eingeliefert, lasst siob aus-
ziehen, verhalt sich rohig. Yerzieht das Gesicht, lasst den linken Mund-
winkel hangen, fortwahrender Speichelfluss. Als er ins Unter-
SDcbungszimmer gefiibrt wird, bricbt er in Weinen aus.
Wo b>er? „Ja, eben ja—ja, eben gefragt . . Ich gewesen Lazarett ja“.
?? „Lazarett, jawohl".
Wer ich? „Doktor“.
Jahr? „19 . . . 1910 . .ja“.
Uonat? „Januar . . . Januar“.
Datum? „Nein . . . nicht u .
Wo gestern? „Lazarett“.
Krank? „Nein u .
Schmerzen? „Mir gedruokt“ (deutet auf die Magengegend and hebt das
Hemde boch).
Gesnnd? Ja, gehen in Batterie? ja, macht er Dienst? ja, maoh meinen
Dienst 11 .
Bei der Visite: „ich beiss Ibnen doch nioht“ . . . Fortgesetzt ziemlioh
eintonige Mnndbewegnngen, Entblossen der Zahne, Verziehang des Mundwin-
kels. Nach links and rechts Vorstossen von Speichel, Hocbziehen der Angen-
braaen. Haben Sie Krampfanfalle gehabt? „Nein, ich bin krank nicht nein“.
Wann beim Militar eingetreten? „Die Tage kommen nicht u . (Nacb wieder-
holtem Befragen.) Wie lange Soldat? „Ein Jahr, ein Jahr ja“. Anfregnng ge-
habt? „lch komme doch u . Was fiir Aufregung? — Besonders haufig kommt eine
Mundverziehung vor, bei der die rechte Mundhalfte feat geschlossen,
die linke weit gedffnet wird. Seit wann so ver&ndert? „Mir warde ge-
sagt, ja, diese Nacht nichts gewesen".
Die hingehaltene Urkette wird sofort fixiert und richtig bezeichnet, dann
spontan: „Nun gesagt, laaft weg, ja, die Geschicbte da, halb 2 ja, da kommen
mir, kommen mir, kommen mir, besser ja die Worte".
Uhr? Es wird 1 / 2 9 abgelesen (tatsachlioh 6 Minuten vor 1 / 2 10).
2 X 3? 6, 8 X 9 = 48. ? !) Stimmt. Siebt den Arzt dabei gross an.
Farbe Blut? Nach langer Pause „Blut“ (kurz hervorgestossen. ?!). Ver-
ziebt das Gesicbt, grimassiert und schdttelt den Kopf. Weiss, Weiss . . .
Welche Farbe der Schnee? Ja —0.
Verstehen Sie meine Frage? „loh verstebe ja“. Fortwahrendes Finger-
spiel and Grimassieren, aber keine Antwort. „Mag die Gescbichte nicht".
? !) „Ja Gesicbt 11 .
? !) „Der hat welche, ist jiie Gesohichte ja“.
Auf tiefe Stiche in die bebaarte Kopfhaut keine Schmerzreaktion, bei tiefen
Sticben in die Nasenschleimbant Zusammenpressen der Kiefer. Kein Blinzeln.
Klinisohe Vorstellang. (Spontan-Aeusserungen.)
Ich erzahle die Geschicbte ... lob setze ja, ja, ich setze die Stuhle her.
Wie heissen Sie? „r.“
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488
Dr. Max K&stan,
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Was sind Sie? „Ja, die Geschichte, ja u .
? !) Ich, herkommen, ein Jahr Schiessschule, ja erzahlen Sie die Ge-
schichte?
2X3? Ja, 6.
Farbe Blut? „Weiss, Weiss ja u .
Farbe Scbnee? „Er kommt niobt durcheinander 4 .
? !) „Er kommt, ja er kommt, setzen, nicht hier stehen, SttLhle bringea
Sie mir.
Zurufen?
Fisch? 0. Tanzen? 0.
Gift? 0. Krank? 0.
Keinerlei assoziative Reaktioo.
Auf Sticbe keine Reaktion.
8. 2. 1910. Pat. verhielt sicb nachts ruhig, auch beute dieselbe Mund-
stellung and fortwahrender starker Speichelfluss. Der vorgehaltenen Pistole
weicht Pat. aus, beim Knall kein Blinzeln. Auf den Warter Sch. aofmerksam
gemaoht, der mit dem Pat. in einer Batterie gedientbat, erkennt erihn wieder.
Als ihm der Name genannt wird, nickt er mit dem Kopf und wiederholt den
Namen mehrmals.
9. 2. Visite. Hande leicbt zyanotiscb, bis jetzt reinlicb.
10. 2. Wer bin ich? ,ja, frei weg M .
Wo hier? „ja w .
Auch heute dieselbe Mundstellung, starker Speichelfluss.
12. 2. Die Mundstellung ist noch nicht anders geworden, immer nocb
starker Speichelfluss. Auf die Frage, wie es ihm gehe, macht er mit seinem
Munde eigenartige Bewegungen, als wenn er sprechen wollte, lallt einigeWorte,
die ganz unverstandlich sind, und grimassiert im Gesicht. Er verhalt sich
sonst ruhig, sein Appetit undSohlaf sind gut. Haufig steht er aufrecht imBett.
13. 2. Auf Befragen gibt Pat. an. dass er vom Lazarett nach dem Kran-
kenhaus gebracbt worden ware, dazwischen sei ein weiter Weg gewesen. Er
wollte dann anscheinend erzahlen, wie er hierher gekommen ist, konnte es
aber nicht aussprecben. Weiterhin sagt er, dass im Lazarett ein Arzt mit
einem weissen Mantel gewesen ware, und dass hier auch ein Arzt mit einem
weissen Mantel sei, deshalb musse hier auch ein Lazarett sein.
14. 2. Reibt an den Beinen und sagt, er mbchte die die . . . (kann das
Wort nicht finden) und als gesagt wird: die Hosen, sagt er ja, die Hosen.
Perkussionshammer? 0.
Ist es ein Nagel? 0.
Ist es ein Hammer? 0.
Schlussel? „Das ist die 44 (macht die entspreckende Handbewegung).
Ist es ein Schlussel? „Schliissel u (lacht dazu erfreut).
Uhr? „Na lauft mir weg, ja u (mit weinerlioher Stimme und schlagt sich
gegen die StirnL
Ist es ein Taschentuch? fasst nach seinem Taschentuch und sagt erfreut:
^Tucha, Tucha u und zeigt es.
Gck igle
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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 489
Noch einmal gezeigt: „Die Uhr fertig“. Haben Sie Krampfanfalle ge-
faabt? „ja“, maoht die entspreohende Bewegnng and sagt die Qesohichte.
Wann gebabt? 0.
In der Scbale? ,ga“.
Sieht hente den Arzt mit freudigem erstannten Gesicht an. Wer bin ioh?
deutet anf die Aerzte and sagt: „Doktor, Doktor, Doktor“. Uhr? „Laaft ja
immer im Kopf, lauft, lauft“.
1st es ein Loffel? „Schuttelt den Kopf“.
1st es eine Uhr? „ja“, mit freadigem Lachen.
Wie viel ist die Uhr? „12 u (in der Tat war 11).
Welohe Farbe der Sohnee? „liegt die Wege“.
Wie sieht er aus? Fasst das Betttaoh zwischen seine Hande and suoht
naoh dem Worte, aussert dann „diese u and sieht dabei das Betttaoh an.
Hell? 0.
Weiss? ,ja“.
Deatet dann noch einmal anf die Stirn und sagt: „da die Worte-
lauft, lauft“.
2 X 3? 6.
15. —16. 2. (Waohbericht). Pat. wollte sich von Anfang der Wache
mit seinem Nachbar unterhalten. Pat. S. gab ihm jedoch keine Antwort, dann
nahm Pat. eine sitzende Stellung ein, so dass es aussah, als wenn sich Pat.
mit seinem Naohbarn weiter unterhalten wollte, spater legte Pat. sich hin, and
schlief bis zam Morgen.
16. —17. 2. (Wachberich)t. Um IY 2 Uhr stand Pat. auf und fragte
verwundert, wo er denn sei and was er im Krankenbett machen sollte. Anf
Fragen gab er ganz klare Antworten, las die Uhr genau ab. Er stand dann
anf, kam an den Tisch vor und unterhielt sich mit Pat. R., wobei er richtige
Auskanft gab. Alsdann fragte er, ob er an seine Matter gesohrieben habe; als
ibm dies verneint wurde, bat Pat., ein paar Zeilen schreiben zu durfen. Er
bat dann um ein anderes Bett und sagte, es komme ihm alles so komisch vor.
Es sei ihm im Kopf noch so dumm und im Kehlkopf laufe ihm immer nooh
etwas zusammen. Er mochte gleich Dienst machen. Pat. wiinschte alien gate
Naoht and legte sich dann hin.. Auf Befragen gibt er ganz genau die Dauer
seiner bisherigen Dienstzeit an, Oktober wurde er entlassen. Auf weitere
Fragen gab er ganz klare Aaskanft. Pat. sohlief dann gut bis zum Morgen.
17. 2. Wo hier? „im Krankenhaus“.
Wer ich? „Herr Doktor“.
Jahr? ,,1910“.
Monat? „Febrnar“.
Auf Befragen gibt Pat. an, dass ihm eines Tages, als er mit seiner Bat-
terie von einer Schiessiibung zuriickkehrte, plotzlich auf dem Kasernenhofe
„seine Gedanken gesohwunden u waren. Ueber die Yorgange in der Zwisohen-
zeit weiss er absolut nichts.
Weiss nicht, wie er hierher gekommen ist. Haben Sie mich schon mal
gesehen? „Nein“. Gestern sohon bei Ihnen? „nein“.
Arohiv f. Psychiatric. M. HO. Heft 2/3. go
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490
Dr. Max Kastan,
a
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Fruher Krampfanfalle? „ich weiss nicht 44 .
Fruher Krampfe? „es hat immer nur in den Beinen gezogen 44 .
Mundfazialisinnervation heute fast symmetrisch. Behauptet, die Uhr des
Arztes noch nioht gesehen zu haben.
Fragt dann, was er eigenlich gemacht habe, ob er einen totgeschlagen
habe. Sieht dann naoh seinen Handen and sagt: „Ich weiss gar nioht, das
ist doch nicht mein Fleisoh, ich habe doch fruher anderes Fleisch gehabt u .
Seit wann hier? „Seit gestern 44 .
Wer ich? „Herrn Doktor gestern gesehen 44 .
Wo hior? „Krankenhaus in Berlin 44 .
Krank? „Ich fuhlo mich gerade so, als wenn ich in einem, in einem, als
wenn ich ganz aufgedunstet bin 44 .
Patient sitzt ruhig im Bett, der Gesichtsausdruck ist lebhaft, Gegenstande
werden richtig bezeichnet.
Datum? „17. Februar 44 .
Soldat? „Ja 44 .
19. 2. Wie auf der Schule gelernt? „Gut 44 .
Wieviel Klassen die Schule? „Zuerst Volksschule bis 10. oder 11. Lebens-
jahre, dann noch eine bohere Schule und dann in die Stadtschule nach Tilsit 44 .
Gibt an, nicht sitzen geblieben zu sein, sondern Nachhilfestunden ge-
liabt zu haben.
317? „r.“
Kolonie? „Ist eine neuangelegte Ansiedelung 44 . Auch jetzt noch beim
Sprechen oft Hochziehen der Augenbrauen.
19.—20. 2. (Wachbericht). Patient war von Anfang der Wache auf-
geregt und weinte laut. Dann kam Pat. aus dem Bett und behauptete, der Arzt
hatte gesagt er ware geisteskrank. Pat. sah den Arzt immer in einer Ecke
stehen, „ich sehe ihn ja u . Auf Zureden legte Pat. sich dann ins Bett. Nach
einer halben Stunde meint der P^t., der Doktor stehe in der Tur, er kdnne
nioht hingehen, sonst reisst Pat. dem Doktor die Nase ab.
Pat; sah fortwahrend nach der Tur, dann fiihrte Pat. leise Selbstgespraohe
und drohte mit der Hand nach der Tur. Pat. sagte spater: „Da an der Tur
brennt Licht und da tanzt der Doktor auf ein Bein, wenn ich hingehe, dann
schlage ich den Hund tot 44 . Als der Warter ihm sagte, dass da niemand steht,
ging Pat. auf die Tur zu und schlug mit der Faust rein, und sagte, jetzt geht
er zuriiok 44 . Dann legte Pat. sich wieder ins Bett. Auf Anordnung des Arztes
bekam Pat. 1,5 Veronal und 2 Ldffel Amylenhydrat. Pat. blieb wach, frug den
Warter fortwahrend, wie spat es sei, er konne die Uhr nicht mehr sehen. Pat.
blieb aufgerichtet im Bett sitzen und sah fortwahrend nach der Tur, dann kam
der Pat. zu dem Warter und sagte, er mochte ihm doch Hilfe leisten, er allein
bekommt ihn dort von der Tur nicht weg. Als der Warter ihm erklarte, dass
da niemand sei, ling Pat. an zu weinen und bat, „helfen Sie mir doch, da
kommt er, der will mich erwurgen, wenn or dort nicht weg geht, dann muss
ich mich aufhangen. Erwurgen lassen will ich. mich nicht, nicht von ihm 41 .
Um l j 2 < i Uhr schlief Pat. in sitzender Stellung, rechte Hand am Kopf, ein,.
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Mit Erhohung der Rigiditat derMoskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 491
legte sich naoh einer halben Stunde erst hin and sohlief dann mit Unter-
brechung bis frub.
21. 2. Behauptet seit gestern, dass ein Volontararzt, der eine Brille tragt,
ihn als geisteskrank bezeichnet babe. Siebt ihn auch heute unverwandt an
nnd aussert: „Brille abnehmen — allein mal — Willen mich betrugen — Sie
denken iob kenne nicht mehr ein Talglicht. (Bezieht sicb auf die Intelligenz-
prufung, Pupillenprufung mit dem Wachsstock.) Ich kenne Honig dooh und da
wollen Sie mir vorreden, das ist ein Talglicht. Oft stotterndes Wiederholen
einzelner Worte und kurzer Satzteile. Linke Unterlippe wieder sohief
nacb unten gezogen.
Es wird ihm das Talglicht gezeigt, er greift danacb und sagt: „Licht —
Licht".
Was ist das? „Wie Honig sieht’s aus", behauptet dann, es ware Talglicht,
wirklich ein Honiglicht.
Gestern floss ihm der Speichel wieder aus dem Mundwinkel auf das Hemd.
Abends liest Pat. in der Zeitung von einem Beileidstelegramm des Kaisers
nach dem Ableben des Grafen Stollberg. Sagt dann zum Arzt: „Wie kann denn
der Kaiser den Grafen beleidigen!"
Warum Mund verzogen? „lch mach’ das doch nicht. Ich war mit einem
guten Uenschen am Bett, jetzt muss ich fort, mit dem mit der Brille".
Sind Sie nun verniinftig? „Ja".
Ganz klar doch nicht? „Bin ganz klar u .
Benommen? „Das kann ich doch nicht glauben".
Spontan: „Die Klappen schreien hier, ich halte es nicht aus."
26. 2. n War heut morgen verreist, war in der polnischen Weltausstellung
in Pari3 und habe mir den Klapperstorch angesehen".
Wie sah er aus? „Grun mit schwarzen Federn".
Blauem Kopf? Ja, hat er einen blauen Kopf".
Rote Federn? „Ja, hat er rote Federn".
Kariert? „War er kariert".
Behauptet dann, sein Rucken ware blutig, er habe es beim Baden gesehen.
27. 2. Die machen hier tolle Sachen, das kann ich nicht aushalten, wie
in einer Maschine bin ich hier drin* (bezieht sich wohl auf den tobsiichtigen
Baron).
Merkzahl 472.-
Es war 472 diktiert.
1. 3. War nachts sehr aufgeregt, sprach sehr laut und nahm den andern
Pat. die Decke weg. Wollte die Fensterscheibe zersohlagen.
8 80 Uhr 1 Spr. Hyosoin. Schlaft darauf bis zum Morgen.
Behauptet am Morgen, die ganze Nacht geschlafen zu haben.
3. 3. Pat s erhalt eine Karte yon einer Schwester, welche er nicht an-
nehmen will, er heisse nicht Max, sondern Ludwig; er sei Ludwig XVI. Spater
aussert er, ihm sei der Kopf auseinandergeplatzt, ihm sei ganz bunt im Kopf.
4. 3. Pat. gerat gegen 6 Hhr mit einem Warter in Streit, geht auf diesen
los und yersucht ihn zu schlagen. Er ist dann sehr erregt, sohimpft laut mit
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unverstandlichen Worten und nimmt ganz eigentdmliche Korper-
haltungen an. Erkrampft bald den ganzen Korper zusammen, bald
liegt er wie auf dem Querbett, den Kopf nach unten, die Arme ge-
spreizt in der Luft.
7. 3. Sobald Pat. angeredet wird, zeigt er ein weites Aufreissen der
Augen, Hochziehen von Branen and Stirn, and ein Verziehen des linken Mund-
winkels nach nnten und zur Seite.
8. 3. Pat. war am Uorgen aufgeregt und schimpft und ruttelt an den
Tiiren.
Weshalb? „Ja, ja, wollen totmachen — der Dioke, der Dioke, raus, ich,
ich — ich habe ihm u (ballt die Faust und schlagt um sich).
Klinische Vorstellung, nach derselben. Wo waren Sie vorhin? „In der
Weltausstellung — der Dioke, der Dioke u .
Er ruttelt an den Tiiren, geht auf Warter und Pat. los, wirft den Pat. K.
mit Wucht an die Wand seines Kastenbettes und den Pat. P. aus dem Bett,
wobei der letztere eine leichte Hautabschiirfung davon tragt.
8. 3. Nachtrag, klinische Vorstellung.
Geh. Z.: Wer bin ich? „Weiss — weiss weiss ich 11 .
Was? „Fischer w .
Geh. Z. setzt dann Pat. ein Horrohr auf die Brust.
Was bin ich? „Ziehst aus, hier doch (Pat. versucht seine Jacke zu offnen).
Was? „Doktor w . Wo hier? „Tilsit“.
Welches Jahr? Falsche Antwort.
Welcher Monat? „Juni u .
Welohe Tageszeit? „Abend u .
Wie lange hier? „1 Jahr a .
Haben Sie Angst? „Ich nur hier stehen, jetzt ist sie weg 41 .
Welche Farbe hat das Bint? „blau“.
(Es wird ihm ein Wachsstock gezeigt.) Was ist das? „Honig“.
Wieviel Beine hat ein Pferd? „8 U .
9. 3. Hat den ganzen Tag geschlafen.
10. 3. Lag ruhig im Bett.
11. 3. An diesem Tage geriet er zweimal mit einem Warter aneinander,
den er verpriigeln wollte. Er rollt dabei die Augen und Schaum tritt ihm vor
den Mund. Der Korper wankt dabei stark hin und her, ohne indessen hinzu-
sturzen. Mit seinen Armen macht er eigenartige pathetische Bewegungen,
schlagt sich dabei zeitweilig auf Brust und Riicken. Die Worte, welche er
sprechen will, wiederholt er 5mal und mehr, ohne irgendeine Satzstellung zu¬
sammen. Nach einer Spritze Hyoscin beruhigt er sich.
12. 3. Bei der Visite liegt der Pat. zusammengekauert an dem Fussende
des Bettes eines Mitpatienten. Er hat dabei seine Hande um den Fuss des
Bettes geschlungen. Das rechte Bein ist im Knigelenk gebeugt, das
linke ausgestreckt auf dem Boden; der' Oberkorper ist stark ge-
krummt, der Kopf herabgesunken. In dieser Stellung verharrt er unge-
fahr eine Stunde, schlaft ein und wird zu Bett gebracht.
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Hit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 493
13. 3. Am Abend ist Pat. wieder unruhig, will sein Bett verlassen. Er
erbalt 1,0 Veronal.
Pat. geht gegen Abend auf den Pat. P. los, wird aber zuriickgehalten.
Anf die Frage weshalb, bringt er nnr die Worte „Dieser dieser“ . . . herans.
Er maoht den Eindrnok, als ob er naoh weiteren Worten suche, sie aber nicht
finden konne. Mehrmals schliigt er sich dabei mit der geballten Faust gegen
die Stirn.
15. 3. Er verhalt sich heute ruhig.
16. 3. Pat., weloher ein kleines Glasstiickchen auf der Erde fand, wollte
dieses nicbt herausgeben; es musste gewaltsam abgenommen werden, wobei er
sich eine Kratzwunde am linken Ellenbogen zuzog; ebenso einige Schrammen
an der linken Bauchseite.
18. 3. Pat. hauft alle Zeitungen, Trinkbecher, welche er anderen Pat.
abnimmt, unter seinen Decken zusammen. Auf die Frage, weshalb er das tue,
bringt er nur das eine Wort heraus: „Schind, Scbind u . . . welches er 5 bis
6mal wiederbolt. Hittags will Pat. kein Mittagessen zu sich nehmen und liegt
den ganzen Naohmittag starr Tor sich hinsehend im Bett. Er stosst dann die
Worte ans: „Stehlen-stehlen. Mittagessen nicht essen u ; er fangt dann
laut an zu weinen. (Am Morgen war bei der Visite davon die Rede, dass Pat.
als Soldat gestohlen haben soli).
19. 3. Was sollen Sie gestohlen haben? „Nichts“.
Was? „Essen u .
Wem? „Hier — den den den“.
Wem denn?! Runzelt die Stirn, scheuert Bart und Hals, antwortet aber
nicht.
21. 3. Wahrend der Nacht war Pat. ruhig, er macht in den letzten Tagen
reibende Bewegungen auf seinem Bauch; nach der Ursache gefragt, bringt er
nur die Worte heraus: „hart, hart w .
22. 3. Pat. geriet in der Nacht mit dem Pat. H. in Streit und bringt
diesem einen Schlag ins reohte Auge bei. i
24. 3. „Mir ist so duselig im Kopf; 99 Tage war ioh in Untersuchungs-
haft — 99 Tage, da habe ich — da habe ich gearbeitet, meine Papiere ge-
schrieben. Bestraft bin ich, bestraft mit, mit .... — wieviel Wochen weiss
ich nicht — Berufung, Berufung eingelegt, ich habe zwei Bogen geschrieben. u
Bei welohem Regiment gedient? „Artillerie 53 u .
Wo? „Bromberg u
Wann geboren? „ 1887“
Wie alt? „23 Jabre u
Wie heisst Ihr Hauptmann? von V.
Der Leutnant? v. H.
Der Oberst? Seine Exzellenz von K.
26. 3. Pat. ist heute sehr unrubig, er erklart: „die Syphilis geht in
meinem Leib rum. hier ist schon alles dick geworden (er zeigt auf seine Mus-
kulatur), meine Korperteile sind schon ganz gelb geworden, ich werde hier
schon durch die Syphilis verfaulen u . Pat. beginnt laut an zu weinen, lasst
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Dr. Max Kastan,
sich aber durch einen kleinen Soherz zum lauten Lachen um-
stimmen. Er setzt sich dann hin and verfasst einen Bericht fiber seine
Krankheit.
Berlin d. 27. Marz 1909.
Einige Anmerkungen iiber meine Geschlechtskrankheit.
Ich entsinne mich ganz genau, als ich in Untersuchungshaft war, meldete
ich Herrn Oberarzt Dr. Wiedel, dass ich bei mir Schanker bemerkte, an
der linken Seite der Kreuzfurche eine offene Stelle. Hierauf erhielt ich den
Befehl, das Glied, taglich mehrere Male mit kaltem Wasser zu kfihlen. —
Auch war die Vorhaut am.angeschwollen. — Es wurden mir aoch
mehrere Stiickchen Gaze in die Zelle gebracht, von Herrn Sanitatsfeldwebel
.So habe ich denn nun einige Zeit in der Zelle gesessen.
Dann bin ioh nach dem Lazarett gebracht worden.
29. 3. Der Pat. zeigt in den letzten Tagen ein ganz verandertes Wesen,
er ist ietzt vollstandig ruhig und liegt nachsinnend im Bett. Die Sprache ist
nicht mehr so stockend wie fruher, sie ist heute verhaltnismassig fliessend.
Wahrend er fruher stets erklart batte, fiber einen Diebstahl niohts zu wissen,
ebenso wie von einer syphilitisohen Infektion, vermag er heute, Einzelheiten
anzugeben. „Nach und nach ist mir alles eingefallen. u Auch die Iutelligenz-
priifung ergibt bessere Resultate.
Haben Sie gestohlen? „Nein u .
Haben Sie Qeld gestohlen? „Nein“.
„Ich habe die Pakete von der Post geholt, da sollen Geld und andere
Sachen weggekommen sein. w
Haben Sie doch nicht etwas Geld herausgenommen? „Nein, ich habe von
meiner Schwester vorher Geld erhalten und auch 15 Mark von Hause. Ich bin
augeklagt worden, aber ein Offizier als Verteidiger ist mir versagt worden, weil
es sich urn einen schweren Diebstahl handelte. Der Verteidiger war R,echtsan-
walt S., der Kriegsgerichtsrat Dr. M. Ich wurde zu der geringsten Strafe —
6 Wochen Gefangnis verurteilt — Untersuchungshaft abgerechuet. Damals
konnte ich mich nicht verteidigen, da meine Sprache schlechter war. Ich habe
dann gleich Berufung eingelegt auf Rat meines Verteidigers und auf meinen
eigenen Willen hin tt . Der Pat. erzahlt dann den weiteren Verlauf seiner An-
gelegenheit ganz genau bis zu alien Einzelheiten. Manohe Dinge weiss er unter
Angabe der Stunde zu erzahlen. Er gibt dabei auch an, dass es ihm ausser-
ordentlioh peinlich sei, wenn auf Kontrollversammlungen die Strafen vorgelesen
wurden, wo er doch nichts getan habe.
30. 3. Pat. klagt heute iiber Schmerzen in der Brust und glaubt, das
Sekret seiner Nase mfisse wohl nach hinten abfliessen, da vorne niohts mehr
herauskomme.
„Dass ioh leidend bin, weiss ich schon fruher, aber dass ich jetzt
nicht weiss, was zuletzt passiert ist, das verstehe ich nicht, Ich habe friiher
zeitweise nicht gewusst, was ich gemaoht habe. Eine Stellung habe ich fur
ein gauzes Jahr angenommen, ich konnte sie aber nicht durchffihren. So sollte
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Mit Erhohnng der Rigiditat derMaskeln einhergehende Nerrenkrankheiten. 495
ich auf dem Gate ein Madchen geschlagen haben, aber ioh wasste nichts da-
von; erst als ich vom Gerioht die Vorladung erhielt, horte ioh davon. Ich
wurde zu 3 Hark Strafe verurteilt and ich wollte damals bis zam hochsten Ge-
richt gehen and wean die Sache nicht duroh Zureden vom Herrn Amtsgerichts-
rat erledigt worden ware, so schwebte sie heute noch. Ioh war bei Kraften,
aber ich war geistig krank. Ich stellte die Gespanne richtig an, verteilte dio
Lente, aber wenn mal etwas verkehrt war, so wassto ioh naohher nichts daron.
Auch beim Militar war es nichts, ich verweohselte die Kokarden and fiel immer
auf. Was soil nan aus mir werden, meine Mutter hat mich etwas lernen lassen
and ioh moohte ihr in dem Alter etwas Gates tun. tt Pat. beginnt laut an zu
weinen. Von dem Verziehen des Mundes, dem Krausziehen der Stirne ist nicht
das Geringste mehr wahrzunehmen.
31. 3. Vormittag. Heute ist der Pat. winder unruhiger, er lauft wieder
erregt durch den Saal. Zeigt wieder das gleiohe Zeichen desGesichts wie fruher,
auch die Sprache ist wieder stookend.
„Wenn ich, ich . . kriege . . den Oberstabsarzt — ich kriege ihn — kriege
ihn . . . meine Papiere, die sind, sind, sind . . . nehme meinen Loffel Leber*
tran, kriege Appetit und besser Stahlgang — nein, nein heisst nicht Lebertran,
ich — ich — will dooh nicht verfaulen.“ (Der Pat. leidet an einem spezifi-
schen sekundaren-makulbsen Exanthem).
Naobmittag. Der Pat., welcher wahrend der letzten beiden Tage ver-
langt hatte, ron einem Herrn der Hautklinik nntersucht zu werden, wird, als
seinem Wanscbo nachgekommen ist, wieder ruhiger; der Erregungszustand des
Vormittags klingt vollstandig ab.
4X33? r.
Merkzahlen
624378 r.
274536 r.
Aufgabe behalten.
5 X 47? r. (Sehr schnell gerechnet.)
368 420 r.
537 48 37 r.
Aufgabe vergessen.
13X12? r.
367 426 78 r.
527 476 43 r.
Aufgabe behalten.
Wieriel bringen 450 M. zu 4°/ 0 ? r.
2 Pferde 3700 M. wieriel 1 Pferd ? r.
4 Pferde 9230 M. 1 Pferd? r.
634789206? r.
920 642 374 8? Palsch bei der 10.Stelle. WelcheAufgabe zuletzt? Richtig
mit genaaer Zahlenangabe.
Stadt, Dorf? Die Stadt ist Stadt, weiter begrenzt wie ein Dorf.
Irrtum, Luge? Liige mit rollem Bewusstsein.
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Dr. Max Kas tan,
Rechtsanwalt, Staatsanwalt? Der Staatsanwalt ist angestellt, der Rechts-
anwalt ist iiir das Yolk da.
Loiter, Treppe? In Ostprenssen ist beides eins, hier ist die Loiter too
Sprossen, die Treppe von Stufen.
Monate rfickwarts? r.
Obgleich der Hand bissig ist? Lauft er los her urn.
7 + 23? 30 r.
7 + 2750? 5400 f.
Wie recbnen Sie das? Indem ich die beiden Faktoren abziehe.
4. 4. Der Pat. liegt hente rnhig im Bett, er meint, er wfirde trotz der
Sohmierkar seine Krankbeit nicbt dbersteben; er sei scbon ganz gelb am Korper
and er babe starke Scbmerzen in der Brnst.
2. 4. Hente ist der Pat. weniger klar, am Korper findet sicb ein gross-
fleckiges Syphilid; auch leidet er an einer Angina specifica.
4. 4. Der Pat. klagt hente fiber Scbmerzen im Leib; er leidet ferner an
Diarrhoen, wahrend in den Tagen vorher eine Ostipation bestand. Temperatnr
38,9°. Der Leib ist massig aufgetrieben, and bei Drnck aaf der reohten Seite
schmerzempfindlich. Der Pat. redet wieder mit stockender Sprache and zeigt
wieder das alte Grimassieren.
Am Naohmittag betragt die Temperatnr 39,8°. Puls 102, voll and regel-
massig. Am Morgen hat der Pat. wieder Erbrechen.
5. 4. Die Scbmerzen baben nacbgelassen; Temperatur 37,5°. (Leicbte
Appendicitis simplex). Die Konjnnktiven zeigen eine leicbte ikteriscbe
Verfarbung.
7. 4. Die Appendioitis ist abgeklungen, der Pat. ist augenblicklioh nicht
imstande einfache Rechenaofgaben zu losen, die Sprache ist stockend; er rer-
greift sich zaweilen in den Wortern, sagt z. B. statt Hauptmann - Haas; beim
Sprechen kratzt er aaf seinem Kopfe beram, fahrt mit der Hand darch die
Haare, zieht die Stirn in Falten, and verzieht den Mund. Die Schrift, welche
z. B. am 27. 3. gat zu lesen and ricbtig war, ist kaum zu lesen and voll ortho*
graphischer Fehler. Die Stimmung ist sehr scbwankend, zaweilen beginnt er
fiber Kleinigkeiten za weinen.
9. IV. Der Pat. gerat hente fiber eine Kleinigkeit in die heftigste Aaf*
regang, er verzieht dabei das Gesicht krampfhaft, die Stimme wird lallend,
der ganze Oberkorper zeigt eine intensive Rote, sonst gleicber Zustand wie am
7. 3., spater erklart er, er kijnne noch Millionen verdienen als Landwirt. Er
wolle die Weltausstellang bescbioken und bekame ffir einen Ochsen 8000 Mark.
11. 4. Dem Pat. werden hente zwei Zahne gezogen; vorher and naohher
stellt er sich vor den Spiegel and schneidet Grimassen. Karze Zeit daraaf ge¬
rat er wieder in einen hochgradigen Erregnngsznstand, er schimpft, dass man
ihm die Zahne nicht riohtig gezogen and erklart, er wfirde dem Arzt das Ge-
nick brechen. Er ist nor schwer zur Ruhe za bringen. (1 mg Hyoszin.)
13. 4. Der Pat. erklart hente, er babe eine Million zurfickgelegt and er
babe die Plane za einer grossen Villa gezeichnet, er wfinsche jetzt entlassen
za werden, am das Haas baaen za konnen.
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Mit Erhohung der Rigiditat derMoskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 497
14. 4. 17. Der Pat. gerat auf der chirurgisohen Kiinik, als ihm ein paar
Zabne gezogen werden sollen, wieder in einen derartigen Erregungszustand,
dass die Extraktion nicht ausfuhrbar ist. Aueh heute bait er die Behauptung
aafrecht, er besitze 2 Millionen and wolle sicb jetzt eine Villa bauen.
17.4. 6X5? f.
635 489 f. bei der 3. Zahl.
580 474 f. bei der 4. Zahl.
Dorf, Stadt? „Das ist gleich u .
lrrtum, Liige? 0
Fluss, Teich? „Der Teich, der Teich, Teich ist — ist — ist eine Abtren-
nung vom Fluss u .
Starker Speichelfluss und Verzieben der Mundwinkel, weites Aufreissen
der Aagen and Krausziehen der Stirne. Die Sprache bat wieder etwas Stooken-
des; der Pat. vergreift sicb wieder in den Worten and fahrt sicb beim Sprechen
fortwabrend durch die Haare.
18. 4. Der Pat. erklarte heute, er babe in der Nacht einen Unteroffizier
gesehen, welcher ibn habe holen wollen, er yerlange jetzt dringend entlassen
zu werden; ich werde noch Leutnant und Oberleutnant.
20. 4. Der Pat. erklart heute, es seien ihm 2000M. aus demBettgestohlen,
und gerat dann in einen starken Erregungszustand. Er lasst sich langsam zur
Erde gleiten, schreit und weint „Meinetwegen, ver-ver-verfressen“. Er bleibt
ungefahr 20 Minuten auf dem Fussboden liegen, lauft dann noch einige Zeit
im Zimmer herum und legt sich dann zu Bett.
21. 4. Der Pat. klagt heute viber Scbmerzen in der rechten Bauchgegend,
leidet ferner an Durchfallen.
24. 4. Liegt ruhig im Bett, verlangt immer wieder zur Batterie entlassen
zu werden; er sei ganz gesund, er solle hier nur abgeschlachtet und unter die
Erde gebracht werden; auf Orientierungsfragen gibt er richtigeAntwort. einfache
Rechenexempel vermag er heute nicbt zu losen, auch auf Unterschiedsfragen
gibt er heute ungeniigende oder falsche Antwort.
27. 4. Als dem Pat. eine Zoiiung angeboten wird, beginnt er zu weinen,
n ich lese, ich lese und kann doch nichts bebalten, es ist alles gleich weg u .
Im Kolleg sieht er einen Oberstabsarzt, den er nie gesehen fur einen fruheren
Hauptmann an, er gibt ferner an, in der Nacht einen General gesehen zu haben,
welcher ihn habe holen wollen.
28. 4. Erkennt Prof. Z. nach vierwocbiger Abwesenheit gleich wieder.
Schlagt heute und tritt nach dem Arzt.
1. 5. In den letzten beiden Tagon keinerlei Erregungszustande.
2. 5. Pat. ist ziemlich erregt. Als ein Zimmergenosse eine Bemerkung
macht, springt er aus dem Bett und schlagt ihm mit der Faust zweimal auf
den Kopf.
3. 5. Pat. gibt an, unter dem rechten Rippenbogen Scbmerzen zu haben.
Ein objektiver Befund lasst sich nioht erheben.
6. 5. Pat. ist ruhig, sagt: „Ich ganz gesund w . Auf Fragen antwortet er
nicht. „Ich mochte doch gerne raus. Wenn ich hier nicht angenommen werde,
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498 Dr. Max Kastan,
gehe ich zum Auslandmilitar. Ich kann Millionen verdienen. Ich kann noch
General werden u .
7. 5. „Wenn ich hier nicht die Tressen kriege, maohe ich mir selbst ein
Armeekorps, ich kann damit Millionen verdienen. tt
9. 5. Pat. verweigert die Schmierkur und sagt, er wolle heute nach der
Hautklinik gehen. Ordination. Schmierknr nioht erzwingen.
11. 5. Pat. iasst sich, nachdem er Senna bekommen hat and Stahl d&nach
hatte, wieder schmieren.
13. 5. Pat. springt gestern Nachmittag aas dem Bett and greift den Pat.
R. an. Aaf Vorhaltungen wird cr sehr erregt, wirft seinen Kakao um and ver-
lasst das Bett und sagt wiederholt: „Ich konnt nicht an mich halten, es ging
nicht mehr w .
15. 5. Pat. ist heute und gestern ruhig, zeigt auch dem Arzt. den er an-
lasslich des Berichtes uber den Streit S.-R. Liigen vorwarf, ein ruhiges Be-
nehmen und scheint auf Vorhaltungen einsichtig zu sein.
16. 5. Pat. bat gestern, dass ein Warter far ihn einen Brief sohreiben darfe.
19. 5. Pat. ist heute x /s Std. unter besonderer Aufsicht in den Garten
gegangen und hat sich dabei korrekt benommen. Wird abends sehr unruhig.
20. 5. Heute ircih will Pat. durchaus nach der Hautklinik. Sei belogen
und betrogen vom Arzt. Donnert mit den Pausten an die Tut und will fort.
War wieder geordnet im Garten.
25. 5. Pat. bekormnt, als er heute nachmittags im Garten vom Pat. 0.
mit kleinen Steinchen beworfen wird, einen starken Erregungszustand, schimpft
^ und schreit und weint vor Wut. Zertriimmert in seiner Wut eine Scheibe ia
der Gartentur, ohne sich erheblich zu verletzen. Lasst sich aber gutwillig zu
Bett bringen, wo er noch langeZeit weint und schimpft. Verhalten sonst korrekt.
3. 6. Verhalten dos Pat. ist in den letzten Tagen korrekt gewesen.
12. 6. Pat. beschwert sich, dass er nicht geniigend Zeit zum Baden habe
und ihm das Wasser vorzeitig abgekiihlt sei. Tatsachlich hat er reichlich Zeit
gehabt. Er schimpft und zankt deswegen den ganzen Morgen etwa lOMin. Baden.
14. 6. Heut wieder ruhig.
20. 6. Klagt heut fiber Halsschrnerzen, derRachen ist gerotet. Temperatur
morgens 38°. Ord, Bettruhe, Umschlag.
23. 6. Rotung des Rachens ist voriiber. Extraktion zweier karioser Zahn-
wurzeln des Unterkiefers unter Lokalanasthesie.
2. 7. Verhalten des Pat. nach wie vor korrekt, beschaftigt sich viel mit
Kartenspiel.
3. 7. Uebergibt heute ein von ihm in ausgezeichneter Handschrift ge-
schriebenes Gesuch an sein Regiment.
24. 7. Fertigt auf Aufforderung einen Aufsatz uber das Thema: „Was
der Krieg fur einen Nutzen bringt“ an.
29. 7. Verfasst heute ein Schreiben an den Kriegsminister, in dem er ganz
vernunftig auseinander setzt, dass er auf Anwendung des § 51 verziohte, da
er nicht geisteskrank, sondern unschuldig sei.
31.7. Pat. wird durch 3 Soldaten abgeholt und nach Buch uberfuhrt.
Go gle _
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Mit Erhohung der Rigiditat derMaskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 499
Die Diagnose auf Grund dieser Beobachtung lautete: Hysterisoher
Dammerzustand? Dem. praecox?
In Buoh war er einige Monate ruhig.
In einem 1912 erstatteten Gutachten des Herrn Generalarztes G. heisst
es fiber das fernere Sohicksal unseres Kranken:
S. wurde durch Verfugung des Generalkommandos vom 13. 7. 1910 wegen
Geisteskrankheit (jugendliche Verblodung) infolge Dienstbeschadigung als
zeitig (1 Jahr) 100 pCt. erwerbsunfahig, und zeitig (1 Jahr) einfaoh verstfimmelt
anerkannt.
Zur Zeit der Anerkennung befand or sich in der lrrenanstalt Buob. Am
7. 9. 1910 wurde er von der Mutter naoh Hause gebracht, die Anstalt entliess
ihn als „gebessert u . Ein Antrag der Mutter vom 1. 11. auf Erhohung der Ver-
stfimmelungszulage ffihrte zu einer ausserterminlichen Untersuohung. In dieser
Untersuchung vom 30. 12. warde S. als nicht verstfimmelt, aber als zeitig
(1 Jahr) 100 pCt. erwerbsunfhhig eraohtet und anerkannt. Das Wesen des S.
wird darin als fahrig und urteilslos bezeichnet, die katatonischen Erscheinungen
waren gesohwunden. In einer Auskunft des Gemeindevorstehers vom 11.4.1911
wird das Aussehen als das eines vollig gesunden Menschen bezeiohnet. S. be-
rnfihte sich um eine Schreiberstelle. S. war dann von Mitte Juli bis Ende Sep¬
tember als Schreiber in Tilsit tatig, von da ab 4 Monate als Rechnungsfiihrer
auf einem Gute Prankenheim. Dann war er zwei Monate im Hause der Mutter,
ging am 21. 3. 1912 als Gutsverwalter nach dem Gute Glombowen. Seit Sep¬
tember halt er sich beschaftigungslos bei der Mutter auf. Von Glombowen
wurde er nach Angaben.des Amtsvorstohers am 21. 11. wegen Unredlichkeit
entlassen. Auch in der Rentennachliste vom 1. 7. wird sein Wesen als zer-
fahren, der Blick starr, die Stimmung bald als aufgeregt und bald als weiner-
lich bezeichnet^ In einem von ihm verfassten Schreiben machen sich inhaltlich
querulantanhafte Zfige bemerkbar. Nach Auskunft des Gemeindevorstehers
vom 6. 11. halt er sich riel bei der Mutter auf, in den Stellungen bleibt er
nicht lange. Der Gemeindevorsteher fuhrt dieses auf seinen Gesundheits-
zustand zurfiok.
S. wurde im Lazarett im Bett behalten. Er war sehr lebhaft und erregt,
erz&hlte den Kranken von seinen vielen Prozessen, warf aber zeitlich alles
durcheinander, las mitunter, konnte das Gelesene aber nicht inhaltlich wieder-
geben, sonst hielt er sich sauber, wusch sich und ass manierlich.
Auf die Aufforderung, aufzustehen, sich anzuziehen und sich zur Unter¬
suchung auf einen Stuhl zu setzen, erscheint er schwankend, mit breitbeini-
gen, steifen Schritten. Wie beim Gehen, so macht sich auch im Sitzen
eine gewisse Starrheit in seiner Haltung bemerkbar. Oft schlagt er ein
Bein fiber das andere, sitzt mit steifem Oberkorper, den Kopf nach rechts ge-
wandt da (eine bei Katatonikern haufige Haltung). Mitunter macht er stereo¬
type Bewegungen beim Reden, macht kreisformige Bewegungen mit dem rechten
Unterarm, oder schlagt rhythmisch mit dem linken Arm auf das Knie, oder nickt
mit dem Kopfe. Die Pupillen sind gleich, reagieren etwas trage. Bei ge-
schlossenen Augen tritt leichtes Schwanken ein. Das Empfindungsvermogen
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ist im ganzen etwas herabgesetzt, nicht inselformig oder halbseitig. Die Re*
flexe sind gut auslfisbar, nioht erhoht. Beim Sprechen grimassiert er sehr
stark, die Augen werden gerollt, alle Gesicbtsmuskeln sind in lebh&fter Tatig-
keit. Die Sprache ist hastig, aufgeregt, bei dem schnellen Sprechen znacht
sich Silbenstolpern bemerkbar. Besonders haufig sind Wort- nnd Satzwider-
bolungen in seinen Antworten.
Z. B. Waren Sie friiher in Stellung? „Ja ich war in Stellung, ja ich
war auch, war anch. u
Weshalb haben Sie ihre Stellung verlassen? „Ja ich war, ja ich war
da, da icb war draus zum Schreiben, spater sollte ich etwas anderes machen,
das ging nicht, das ging nicht, ging nicht, ich war zu schwach. w
Sie haben einen Prozess? „Da hab ich viel Prozesse, da hab ich
viel Prozesse, ich will ja alles zu Ende fiihren, da ich ja bloss ein Jahr, da
ich ja bloss ein Jahr (fangt an verwirrt zu werden). Versteh ich nicht so
richtig, weshalb babe ich, da habe ich viel u .
Ueber Person, Ort und Zeit .ist er orientiert. Der Gedankenablauf ist be-
schleunigt, absohweifend, zerfahren.
Z. B. In welchem Jahre sind Sie geboren? „87, ich habe hier keinen Spie¬
gel, kann garnicht sehen, ich will sehen wie das so ist, will Aussicht. w
Was macben Sie in Tilsit? ,,Ich sollte, na was ich da, na dass ich (leb-
haft grimassierend), ich war in Buch, da babe ich meine Rente bekommen,
nachher haben sie mir geraten, sagt hatte Geld unterschlagen, hat mich ver-
klegt, ist noch nicht zu Ende, nachdem war ich nach Hause gekommen. Wie
war das doch? Da waren meine Akten verschwunden“.
Die Merkfahigkeit ist herabgesetzt. Die Intelligenz ist sichtlich im Riick-
gange, doch ist ein stattlicher Rest der Schulkenntnisse erhalten, besonders
Rechnen. Das Gedaohtnis fur die jiingere Vergangenheit ist liickenbaft. Seine
Urteilsfahigkeit ist gering. Der Zukunft steht er vollig sorglos gegeniiber,
seine Gedanken werden nur von seinen Prozessen beherrscht. Dass er wegen
Unterschlagung bestraft ist und wegen Meineids (nach seiner Angabe) angeklagt
ist, erzablt er wie einen Scherz. Sinnestauschungen bestehen nicht. Stereo-
typien sind, wie schon oben erwahnt, zur Zeit deutlich.
S. ist geisteskrank. Nach dem Verlauf der Krankheit ist anzunehmen,
dass Zeiten grosserer gemutlicher Ruhe mit Erregungszustanden wechseln.
Zur Zeit besteht sicher ein derartiger Zustand von Erregung, dessen voraus-
sichtliche Dauer nicht mit Sicherheit abzugrenzen ist. Zu irgend einer dauem-
den Arbeit ist S. nicht zu verwenden. Er ist zeitig (1 Jahr) 100 pCt. erwerbs-
unfahig. Der Anstaltspflege bedarf er nicht.
In einem Gutachten von Oberstabsarzt Prof. S. wird 1913 folgende
Schilderung entworfen:
Bei ruhigsterBespreohung dieserFrage fallt schon seine leichte psychische
Erregbarkeit auf, er aussert den Gedanken, dass ich ihn verleumden wolle, da-
mit kein Mensch mehr zu ihm kame; seine Stellung als Geschaftsagent in K.
sei schon an und fur sich schwierig, so dass er sie aufgeben miisse. Prage:
„Weshalb wollen Sie die Stelle aufgeben ? u Antwort: „Die Leute kamen und
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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 501
liessen sich von ihm Testamente und Klagen aufsetzeo, es bezahle ihn aber
niemand. u Setzeo Sie viele Klagen auf? „Ich babe schon 34Journalnummern. w
Was erhalten Sio fur solch ein Schriftstiick? „Ich lasse mir 20 M. Vorschuss
zahlen und arbeite mit einem Juristen in T. zusammen. w Wer ist der Jurist?
„Er ist ein sehr gesoheiterOberlehrer. w Weshalb zahlen denn die Leuto nicht?
„lch werde jetzt Geschaftsabsohluss machen und den Leuten Zahlungsbefehle
schicken und sie verklagen und wenn sie nicht zahlen, gehe ich nachRussland. u
WaswollenSie inRussland? „Dort will ich littauischerMissionspfarrer werden,
dann gehe ich amTage in die Hauser und rufe dieLeute zusammen und abends
predige ich littauisch und erhalte von jedem 1 M.“ Woriiber werden Sie denn
predigen? „Es gibt solche Bucher, daraus lese ich ihnen etwas vor. u Wie
kommenSie denn nacb Russland ? „Ich will jetzt den Aufenthalt inK. benutzen,
um auf das russischeKonsulat zu gehen und mir einenPass zu holen. w Darauf
bittet er mioh um seinenPass und um seine Papiere, denn sonst erhalte er vom
Konsulat keinen Pass.
Wieviel haben Sie in K. bar eingenommen und konnen Sie mir Leute
nennen, die Ihnen grosser© Summen bezahlt haben? Antwort: ,,500—600 M.,
die Namen der Leute sind mir entfallen. Sie wollen mich aber wohl auslaohen,
dann gehe ich Ihnen gleich an den Kragen.“
Alle Antworten werden mit einem gespannten Gesichtsausdruck gegeben,
die Augen sind gross aufgerissen, auf den Fragenden gerichtet, dabei aber leer
und ohne Ausdruck. Er hat eine grosse und vollgepfropfte Aktenmappe unter
dem Arm, die er hastig hin und her walzt.
Dann kommt noch eine Szene, in der er energisoh auftritt und verlangt,
von seinem Haisleiden ira Garnisonlazarett geheilt zu werden. Als ich ihm
erklarte, dass dieses erdt das Kriegsministerium bestimmen miisste, beruhigto
er sich und ausserte nur: das verlange ich aber, denn sonst lasst man mich
nicht in Russland hinein.
Urteil: S. ist geisteskrank. fleute trat noch eine Ideenflucht besonders
zutage.
Da er gutmtitig und lenkbar ist, bedarf er augenblicklich der Anstalts-
behandlang nicht, ebenso ist er nicht fremder Pflege und Wartung bediirftig.
Er ist unter Beriicksichtigung seines Berufes als Landwirt 100 pCt. er-
werbsunfahig.
Dieser Zustand bestand schon am 1. 7. 1912. Wenn S. vorubergehend,
wie vor dem 1. 7. Arbeit gefunden hat, so ist das mehr einem Zufall zuzu-
schreiben. Wenn er die iibernommene Arbeit leisten soil, ist er infolge unge-
niigender Konzentrationsfahigkeit und mangelnden Verantwortungsgefuhls dazu
nicht imstande.
Das jetzt noch hinzUgekommene Drusenleiden steht mit dem Invaliditats-
Ieiden in keinem Zusammenhang.
l / 2 Jahr spater wird S. auf Grund folgenden Gutachtens entmiindigt.
Der unverheiratete Wirtsohaftsfiihrer Max S., geboren am 23. 1. 1887 in
K. soil aus einer Familie stammen, in der Geisteskranke nicht vorgekommen
sind. Auf der Volksschule, welche er besuchte, soli er gut gelernt und sich
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502
Dr. Max Kastan,
als Kind regelmassig und kraftig entwickelt baben. An schweren Kinderkrank-
heiten und Epilepsie will er nicbt gelitten haben. Naoh Verlassen der Schule
erlernte er die Landwirtschaft, sodann wurde er Soldat und stand vom Ok-
tober 1908 bis Juni 1909 bei der Feldartillerie in Bromberg und von dann ab
bis Ende Juli 1910 bei der Artillerie-Schiessschule in Juterbog. Ein bei dem
Gericht der 1. Gardedivision in Berlin gegen S. wegen Gehorsamsverweigerung
eingeleitetes Strafverfahren wurde eingestellt, da die Voraussetzungen des §51
R.St.G.B. vorlagen. Zur Beobacbtung seines Geisteszustandes wurde S. am
6. 1. 1910 nach der Charity nach Berlin und dann von hier aus am 31. 7.
nach der Irrenanstalt Buch bei Potsdam ubergefiihrt. Seine Mutter hat ibn am
7. 9. als „gebossert“ zu sich nach K. abgeholt.
Am 21. 11. 1913 leitete die Staatsanwaltschaft in L. auf Antrag der Ostpr.
Landgesellschaft in Konigsberg i. Pr. gegen S., der sich als Wirtschaftsassistent
der genannten Gesellschaft Veruntreuungen hatte zu schulden kommen lassen,
ein Strafverfahren ein. Dieses Verfahren wurde am 29. 3. 1914 naoh Kenntnis-
nahme vom Inhalt der Militarstrafakten aus § 51 R.St.G.B. eingestellt.
Am 14. 5. fand vor dem Koniglichen Amtsgericht in K. ein Termin
statt. S. prasentierte sich als ein im Allgemeineh gesund aussehender Mann,
auffallend war der stiere Blick und ein unstetes Rollen der Augen. Seine Ant-
worten auf die gestellten Fragen wurden immor erst nach langerem Besinnen
gegeben, teilweise wurden dieselben richtig beantwortet, indessen fielen doch
erhebliche Gedachtnisliicken auf. Frage: Welche Kriege hat Wilhelm I. gefiihrt?
Antwort: Den Deutsoh-franzosisohen Krieg 1860 und noch einenKrieg. Frage:
Was haben wir fur den Krieg bekommen? Antwort: Geld, waiter nichts.
Frage: Haben wir nicht auoh Land bekommen? Haben Sie schon mal etwas
von Elsass-Lotbringen gehort? Antwort: Nein, nurGeld, vonElsass-Lothringen
babe ich schon mal was gehort. Auch auf wichtige Vorgange in seinemLeben,
die ihn, wie aus den Akten hervorgebt, friiber sehr beschaftigt haben, konnte
er sich nicht mehr besinnen, so, dass er geschlechtskrank gewesen ist und eine
Schmierkur durchgemacht hat. Auf Befragen des Ersten Stajitsanwalts fiber
seine Rentenbezuge sowie uber seine Vorstrafen gibt er verworrene Antworten
und entwickelt ziemlich hochtrabende Plane fur seine Zukunft, welche er mit
einem gewissen iiberhebenden Selbstbewusstsein vortragt. Auoh auf Befragen
der Aerzte antwortet er bezuglich der iiberstandenen Syphilis in verneinendem
Sinne. Leichtere Rechenaufgaben loste er im allgemeinen, nach allerdings
langem Besinnen, richtig. Hierauf schloss sich noch eine oberflachliche korper-
liche Untersuohung an, welche ergab, dass die Pupillen zwar auf Lichteinfall,
indessen sehr trage reagieren, dass die Kniesebnenrellexe normal sind und dass
er beim Stehen mit gesohlossenen Augen so erheblioh schwankt, dass er unge-
halten hingefallen ware. Schliesslich wurde eine Gangprobe gemacht, welche
ergab, dass er mit gespreizten Beinen, eigentiimlich stampfend und unsicher
geht, so dass der Herr Erste Staatsanwalt seinem Verdachte auf bestehende
Riickenmarkserkrankung Ausdruck gab.
Die Saohverstandigen erklarten hierauf, dass es notwendig ware, den S.
nochmals in seiner Wohnung untersuchen zu miissen, uni ein endgiiltiges Gut-
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Hit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 503
aohten abgeben zu konnen. Dr. K. hat den zu Entmiindigenden demgemass
untersucht und am 28. 5. nooh einmal gemeinsam mit dem Erstunterzeich-
neten. Nach Mitteilung des Dr. K. deckto sicb der Befund der Untersuchung
bei dem von ihm allein gemachten Besuch mit dem bei dem gemeinsam ge-
machten Besuoh erhobenen. Er war beziiglich der korperlichen Untersuchung
folgender: S. ist ein hagerer, ziemlich grosser Mann, dessen Korpertemperatur
normal und dessen Puls etwas beschleunigt ist, an der linken Halsseite weist
er eine 6 cm lange, 2 cm breite Narbe auf als Folge einer operativen Lymph-
drusenentfemung. Die Organe sind gesund, die Sensibilitat im Wesentlichen
ungestort, die Sehkraft bat nicbt abgenommen, das Gesichtsfeld ist nicht ein-
geengt. Als auffallehd erwiesen sich rasch bin und her schwankende
Bewegungen ganzer Glieder, also ein Gemisch von willkurlichen und un-
willkuriichen Bewegungen. Die Sprache hat etwas Objektives, was man als
skandierend bczeicbnet. Die Sehnenreflexe, namentlich an den Armen, aber
auch an den Beinen sind erhbht. Aufgefordert, in ruhiger Haltung zu stehen,
scbwankt er schon bei geoffueten Aogen sehr erbeblich, bei geschlossenen Augen
aber derartig, dass man ihn am Fallen hindern muss. Der Gang ist unsicber,
er geht mit gespreizten Beinen und fast unbeweglichen Kniegelenken
(spastisoh-paretisoher Gang). Die Pupillen reagieren nur trage auf Lichteinfall.
Die Prufung seiner geistigen Funktionen hatte folgendes Ergebnis: Er war zeit-
lich und ortlich orientiert. Wiederum fiel eine ausgesprocbene (Jnbesinnliohkeit
rucksichtlich wichtiger Vorgange in seinem Vorleben auf. So konnte er sich
anfanglicb gar nicht darauf besinnen, dass er im Militarlazarett behandelt
worden ist; *als es ihm mit Bestimmtheit gesagt wurde, wusste er nicht, wie
lange er dort gewesen, ob 4 Wochen oder 1 Jahr lang. Dabei antwortet er
stets erst naoh langem Besinnen, man merkt ihm an, dass er mit grosser An-
strengung nachdenkt. Alles sei fruher anders gewesen, warum es jetzt so ge-
kommen sei, dafiir hatte er keine Erklarung. Syphilis hatte er niemals gehabt.
„Wo werde ich denn so was gehabt haben. tt Darauf aufmerksam gemacht, dass
er selbst darum eingekommen sei, dass er mit Salvarsan behandelt werde und
dass er dieserhalb auch an das Medizinal-Kollegium geschrieben hatte, zeigt er
vollstandige Unbesinnlichkeit. Rucksichtlich seiner Zukunft gefragt und darauf
aufmerksam gemacht, dass er doch als Gutswirtschafter schwerlich werde be-
stehen konnen, meint er, dass er jederzeit ein Gut von 3000 Morgen bewirt-
schaften konne, es musse nur immer einer aushelfen, wenn es nicht weiter ginge.
Die Prufung seiner Kenntnisse ergab leidlich gute Resultate, dagegen erwiesen
sich Kombination und Merkfahigkeit als erheblich geschadigt. Seine ganze Art
undWeise, zu antworten, hatte etwas Weinerliches an sicb; er wollte gerne
„sitzen u oder die Sacha mit Geld abmachen, nur nicht entmiindigt werden, da
er sich doch im Besitze seiner vollen Manneskraft fiihle.
Gutachtcn.
Fassen wir die Ergebnisse der Ermittelungeu iiber das Vorleben
des S. und unsere tats&chlichen Beobachtungen bei dem Terrain in K.
und den Vorbesochen zusaramen, so kommen wir zu folgendera Schluss:
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Dr. Max Kastan,
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Der zu Entmundigende leidet an einer Ruckenmarkserkrankung, welche
die Wissenschaft als multiple Sklerose bezeichnet, and er leidet ferner
an jugendlicher VerblOdung (Dementia praecox). Die erstere Erkranknng
ist eine Folge der in fruheren Jahren uberstandenen Syphilis und bietet
eine sehr schlechte Voraussage, d. h. sie ist in der flberwiegenden Mehr-
zahl der F&lle unheilbar und fuhrt nieist nach mehreren Jahren znm
Tode. Bezuglich der jugendlicben Verblodung ist zu bemerken, dass
sich diese Krankheit gewOhnlich erst im Pubert&tsalter entwickelt; es
hat also nichts Besonderes an sich, dass er ein leidlicher Schuler
gewesen ist, aber es ist als sicher zu betrachten, dass diese Krankheit
schon in der Entwicklung war, als er Soldat wurde, und es ist durch
die fruheren Gutachten erwiesen, dass sie w&hrend seiner Dienstzeit znm
vollen Ausdruck gekommen ist. Daher ist auch bei der Beurteilung
seiner Straftat § 51 R.St.G.B. in Anwendung gekommen. Trotz ziemlich
gunstiger Susserer Umst&nde hat er sich nur vorubergehend eine Stellung
im Leben erwerben kdnnen. Auf sich selbst angewiesen, legt er Un-
tatigkeit an den Tag und gibt sicb ubertriebenen Hoffnungen fur die
Zukunft im Vertrauen auf die ihm zu Gebote stehenden korperlichen
und geistigen Kr&fte bin. Bei der kOrperlichen Untersuchung zeigt er
Mangel an Gewandtheit im Ausdruck und bemerkenswerte Liicken im
Auffassungs-, Erinnerungs- und UrteilsvermOgen. Er zeigt weder Ver-
st&ndnis fur das Strafbare der von ihm begangenen Handluugen, noch
empfindet er Reue daruber. Er wurde also im gegebenen Augenblick
voraussichtlich wieder bei sich bietender Gelegenheit ebenso strafbar han-
deln und ebenso wieder kein VerstSndnis fur das Strafbare seiner Hand-
lungen an den Tag legen. Es muss also die Frage, ob er f&hig ist, die
Folgen seiner Handlungen zu iiberlegen, mit nein beantwortet werden.
Zudem ist keine Hoffnung vorhauden, dass in dem Zustande des S. eine
Besserung eintreten wird, es ist vielmebr anzunehmen, dass sich seine
Aufnahme in eine geschlossene Anstalt demnacbst als notwendig er-
weisen wird.
Fassen wir das Ergebnis unserer Beobachtungen zusammen, so lautet
dasselbe:
S. ist in seinen intellektuellen Leistungen so beschrankt, dass er
einem unmundigen Kinde gleichzustellen ist; er ist also im Siune des
Gesetzes des §6 B.G.B. als geisteskrank zu erachten und ausser Stande,
sein$ Angelegenheiten zu besorgen.
Kurz vor der hiesigen Aufnahme ist er im hiesigen Institut fur
gericktliche Medizin begutachtet worden. Nacb diesem Gutachten w&re
er scheinbar vorbestraft wegen KOrperverletzung und Unterschlagung
(1912). Aus diesem Gutachten erw&hne ich ferner folgendes:
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Mit Erhohung der Rigiditat derMaskeln einhergebende Nervenkrankheiten. 505
Im Jahre 1913 leitete die Staatsanwaltscbaft in L. auf Antrag der
Landgesellschaft gegen S., der sich als Wirtschaftsassistent der ge-
nannten Gesellschaft Veruntreuungen hatte zu Scbulden kommen lassen,
ein Strafverfahren ein. Dieses Verfahren wurde im Jahre 1914 aus
§ 51 R.St.G.B. eingestellt. Dem Antrag der K5niglicben Staatsanwalt-
schaft T., S. zu entmundigen, hat das KAnigliche Amtsgericht K. ent-
sprochen. — 20. Juli 1914. — S. ist wegen Geisteskrankheit ent-
mundigt.
Am 19. 1. 1917 ist seitens des Rittergutsbesitzers H. Anzeige er-
stattet, dass der bei ihm t&tige Oberinspektor S. verschiedene Sachen
— Autouberzug, Woilach, Graupensacke, Uebergardinen, Anschnallsporen,
Rauchservice aus Kupfer, Milchsieb, neue Sacke, Ledertucher, neue
woliene Unterhosen — entwendet nnd sicb aus einem Antriebriemen
Stiefeisohlen habe machen lassen. Es findet sich ein Eingestandnis des
S., dass er frevelhaft gebandelt babe und dass ihm seine Handlungs-
weise leid tue. Bei seiner ricbterlichen Vernebmung bat er seine Straf-
taten bestritten und erklart, er habe die Sachen, um Ordnung zu schaffen,
in seinen Koffer gelegt.
Eigene Untersuchung.
icb hatte den S. am 7. und 10. April d. Js. untersucbt und babe am
letzten Tage noch mit seiner Schwester, bei der er wobnt, Rucksprache ge-
nommen. Diese hat mir erklart, dass ihr Bruder erregbar sei und nicbts tue.
Sie wisse nicht, wo er sich hinwenden sollo. In K. lebe sein Stiefvater, ob
dieser sicb fur S. interessieren werde, sei der Referentin zweifelhaft.
S. ist ein ziemlich grosser, sohlanker Mensch, mit leidendem Gesichts-
ausdruck, breitbeinigem Gang, Flechte an Hals und Brust — Pitbyriasis ver¬
sicolor —. Sprache etwas stolpernd. Beim Bedecken der Augen tritt Schwanken
des Korpers ein. Lichtreaktion der Pupillen trage, Haotgefuhl normal, Knie-
sehnenreflexe gesteigert. Achillessehnenreflexe vorhanden, keinBabinski-Reflex.
Bemerkenswert sind die Schmerzausserungen bei Bewegung der Knie-
gelenke in denselben. Ein krankhafter Befund ist daselbst nicbt erboben.
Die inneren Organe zeigen nicbts Besonderes. Herz ohne Abnormitat.
Erin frei von Eiweiss und Zucker.
Auf Befragen erklart Explorat: Vater sei Trinker gewesen, Uutter starb
1916, nacbdem sie sich nach dem friihen Tode des Vaters wieder verheiratet
hatte. S. bat die Landwirtsohaft erlernt. Als ioh den Namen seines Lehrherrn
aufschreibe, erklart Explorat: Icb schriebe alles auf und bekame keineStelluDg,
wenn ich micb bei dem Herm erkundige. NVeiter erklart er, er sei nicht ent-
mundigt, weil er seinen Entmundigungsbeschluss nicht bekommen babe.
Ich habe ibn an der Hand der Zivilprozessordnung bele^rt, dass ihm
ein Entmundigungsbeschluss nicht zugestellt zu werden braucbe, weil er
wegen Geisteskrankheit entmiindigt sei.
Archiv f. Ptyehietrie. Bd. 00. Heft 2/3. 33
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506
Dr. Max K&stan,
Explorat erklart dann auf Befragen waiter: er babe spater Stellen be-
kleidet. Zwischendurch war er dann wieder zu Hause. Welche Konflikte er
beim Militar hatte, weiss er nicht mehr aufzufubren, nach Besinnen erklart er
dann: er hatte dasWasser nicht richtig auSgegossen, batte sich widersetzt and
kam in Untersuchungshaft.
Spater hat er dann als zweiter Inspektor gearbeitet, 1 / 2 Jahr wird es ge-
wesen sein. Naheres kann er von seinen fruheren Stellen nicht angeben.
Auf Befragen hinsichtlich seinerVorttrafen erklart er: Er habe gar nichts
gemacht, auch hinsichtlich der ihm jetzt zur Last gelegten Straftaten erklart
er: dass er die verschiedenen Sachem in seinen Kasten gelegt habe, damit sie
nicht in seinem Zimmer herumlagen.
Die Merkfahigkeitspriifang hat folgendes Ergebnis:
3X13? Richtig.
4X14? Richtig.
27 + 35? 62.
Wiederholung von 859723 ergibt 859732.
208541? Richtig.
729184 ergibt 729841. I
281743 ergibt 281345.
Wiederholung von 2% 187 ergibt 2% 164.
S. wird nnnmehr aufgefordert, die zuerst gestellten drei Aufgaben zu
wiederholen. Die beiden Multiplikationsaufgaben vermag er za wiederholen,
die Additionsaufgabe dagegen nicht. S. erklart auf Befragen, welche Kriege
Kaiser Wilhelm 1. gefuhrt habe: Der Krieg 1866, das sei der Krieg, der mit
der grossen Volkerschlacht bei Leipzig endete. Auf Befragen erklart er weiter,
dass der Krieg 1870/71 der Freiheitskrieg ware. Auf Befragen, wie lange der
jetzige Krieg dauere: seit August 1916. Er weiss, dass wir mit England,
Frankreich und Russland kampfen und dass in Russland die Revolution ist.
Wenn 1 Pfd. Butter 2,50 Mk. kostet, dann kann er ausreohnen, wieviel
3 Pfd. Butter kosten. Das Datum des Untersuchungstages kennt er, behaupte;
aber, dass der Marz 30 Tage habe. Wenn 1 Zentner Roggen 11,50 Mk. kostet,
dann kosten 8 Zentner 100 Mk. Naohher kann er die Aufgabe richtig losen.
Auf Befragen erkl&ft Explor&t noch, dass er an „Syphilis“ gelitten.babe.
Gutachten.
S. ist wegen Geisteskrankheit entmundigt. Die zu Grunde liegende
Erkrankung ist von den Herren MilitarSrzten als Jugendirrsinn be-
zeichnet worden. Ich glaube, dass sich an dieser Diagnose auch heute
nicht viel andern lisst, und dass S. an einem Folgesustand nach Jugend¬
irrsinn, einer Defekt-Psychose, leidet. Der Defekt ist ein intellektueller,
aber auch moraliscber. Der intellektuelle Defekt geht hervor aus der
Tatlosigkeit des S., aus seiner mangelnden Merkf&higkeit und seinen
mangelhaften Kenntnissen, die darauf schliessen lassen, dass er grosse
GedSchtnislucken hat, ferner aus der mangelhaften Darstellung seines
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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 507
eigenen Lebens, die denselben Ruckschluss gestattet. Der moralische
Defekt ergibt sich aus der Schamlosigkeit, mit der er seine Diebstable
bem&ntelt, insofern als er erklart, er babe nur in seinem Ziramer auf-
ger&umt und deshalb die Sacben in seinen Koffer gelegt.
S. ist aber daneben noch mit versckiedenen Abnormitaten in seinem
Nervensystem bebaftet. Er hat das sog. Romberg’sche Symptom, ferner
trage Pupillenreaktion auf Lichteinfall. gesteigerte Kniesehnenreflexe.
Dabei besteben Neuralgien in den Beinen. Ich halte es fur wahr-
scheinlicb, dass sich neben der im Anschluss an eine Hebephrenie —
Jugendirrsinn— erfolgten Verblfldung noch eine organische Nervenkrank-
beit entwickelt hat.
Die wesentlichsten Einzeiheiten der Anamnese sind in diesen
Krankengeschichten und Gutachten enthalten. Die Famiiie hat daruber
nnr noch angegeben, dass er nicht belastet sei und auch kein Unfall
ihn selbst fruher betroffen babe. Er selbst habe fruher wenig mit der
Famiiie verkehrt und habe diese erst wieder aufgesucht, als er zu Be-
ginn des Jahres 1917 an einer Lahmung der rechten Seite erkrankt sei.
Der ktirperliche Befund, der bei seiner Aufnahme erhoben wurde, war
folgender:
Uebermittelgrosser Mann. Die Wirbelsaul© ist skoliotisch und leicht
lordotisch verkrummt. Die Muskulatur und das Fettpolster sind reduziert. An
beiden Schulterblattern sind im Bereiche der Mm. trapezii braunlich pigmen-
tierte Stellen, an der Leistenbeuge und der Achselhdhle Ekzem. Keine Narben,
keine Driisen. Schadel unsymmetrisoh und sehr druckempfindlicb. Gaumen,
Zahne und Ohren, ebenso Haare normal. An Lungen iyid Herzen kein krank-
hafter Befund. Puls 72,-gleichmassig und regelmassig. Blutfarbstoff 52 pCt.
Hemoglobin, 4 Millionen rote, 6&00 weisse Blutkorperchen, 5 pCt. Uebergangs-
formen, keine Eosinophilie, 63 pCt. Polymorph., 30 pCt. Lymphoz, \ l / 2 pCt.
Eosinophile. Im Blut Wassermann’sche Reaktion positiv. Lumbal-
punktion wird verweigert*. Seltener Lidschlag und seltene Augen-
bewegungen. Lidspalten weit aufgerissen, starrer Blick. Hornhaut und
Bindehaut ohne Besonderheiten, kein Kornealring. Bauchorgane nicht krank-
baft verandert. Leberdampfung nicht vergrossert. Milz nicht palpabel. Keine
alimentare Glyko- und Lavolosurie. Der Mund steht of fen, wird nicht
geschlossen. Speichel wird nicht abgesondert. Die rechte Lidspalte etwas
grosser als die linke. Pupillen reagieren auf Lichteinfall und Blickanderung,
sind rund und mittelweit, die Augapfel zeigen eine lebhafte E ins tel lungs-
unruhe bei den zu dieser Reaktion notigen Bewegungen. Kein Nystagmus.
Spraohe sehr langsam, schleppend, an Falsetton anklingend. Fa-
zialis,Trigeminus,Zunge o. B,EbensoGeschmack undGeruch. Augenhintergrund
und inneres Ohr ebenfalls normal. Scbrift unsicher und unbeholfen (s.Abb. lj,
keine eigentliche Ataxie. Schleimhautreflexe vorhanden. Kniereilexe beiderseits
lebhaft. Kein Klonus. Kein Babinski. Kein Oppenheim. Achilles- und
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508
Dr. Max Kastan,
Abbildung 1
Abbildung 3.
Schrift von Fall 1 im Beginn
Abbildung 2,
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Abbildung 4.
Mit Erhohung der Rigiditat der Muskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 509
Fusssohlenreflexe vorhanden, desgleichen beiderseits Bauchdecken-
und Kremasterreflexe. In der Schulterrauskulatur und dem Deltoideus
leichte Atrophie. Bewegungen im Schultergelenk sehr erschwert. Arm wird
in der Ellenbeuge leicht kontrakturiert gehalten, kann aber im Ellen-
bogen- und Handgelenk besser als im Schultergelenk bewegt werden. Deutliche
spastisohe Schwache des rechten Armes. Ira rechten Bein ebenfalls starke
Beugekontraktur. Im Kniegelenk, auch im Huftgelenk stark bescbrankte
Bewegung, ausgesprochene Spitzfusstellung. Links sind diese Erschei-
nungen nur angedeutet. Der Gang ist breitbeinig und unsicher, es besteht
Neigung zu Retro- und Propulsion in geringem Masse. Die Bewegungen
des Kopfes sind ebenfalls stark behindert, die Haltung macht im allgemeinen
einen sehr starren Eindruck. Bei geschlossenen Augen und Fiissen fallt
Abbildung 5.
Patient hin. Es besteht ein deutlicher feiner Tremor, der hin und wieder
etwas starker wird. Hypalgesie und Hypasthesie leichten Grades im rechten
Arm; rechte Hiifte und Beckengegend druckschmerzhaft. Keine Ovarie, keine
Mastodynie. Koine Storung des Druck-, Lage- und Gleichgewichtssinnes. Aus-
gesprochenes Westphal’sches paradoxes Phanomen d. h. bei Annaherung der
Ursprung- und Ansatzstellen der Muskeln starke Kontraktion (vergl. hierzu die
Bilder, von denen bei 2 der starre Blick, der geoffnete Mund, bei 3 die eigen-
tiimliche Armhaltung, bei 4 die Kontraktur und Spitzfussstollung besonders
deutlich zura Ausdruck kommen; infolge des Zitterns wurde die Photographie,
welchedas Westphal’schePhanomen zeigen sollte, undeutlich und unbrauchbar.)
Der psychische Befund und die Autoanamnese ergaben folgendes: Patient
war schon vor einigen Wochen von der Polizei als gemeingefahrlicher Kranker
angemeldet; kommt dann allein in die Poliklinik. Er hatte eine Liihmung des
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510 Dr. Max Kastan,
rechten Armes und des rechten Beines und man hatte ihm gesagt, er wurde
hier behandelt werden. Gibt selbst an, er sei 1910 in der Nervenklinik der
Berliner Charit6 nnd von dort aus in der Anstalt Bach gewesen. Dort sei er
auf der ruhigen Station gewesen und nach einigen Wochen von der Matter
abgebolt worden. Erklart umstandlich, weshalb er hergekommen sei, aussert
sioh euphorisoh fiber die baldige, schnelle Heilung. Es werde ihm ja schwer
sein, sich hier so lange aufzuhalten, aber die Hauptsache sei ja die baldige
Besserung. A. B. mit der Polizei batte er insofern zu tun gehabt, ais ein
Rittergutsbesitzer, bei dem er als Inspektor tatig sei, ihn beschuldigt habe,
allerlei Sachen, an denen er gar kein Interesse babe, gestohlen zu haben. Das
sei nicht der Fall. Er sei darauf von Geh. Rat P. hier untersucht worden.
Er sei 1912 entmiindigt worden, wolle jetzt aber eine Schwester zum Vormund
haben. Beschwert sich, dass man ihm 25 Mk. Militarrente entzogen.
Patient war angeblich friiher ganz gesund. Ging in die L&ndscbule,
habe gut gelemt. Ein Versuch, Kaufmann zu werden, scheiterte daran, dass
er das Rechnen„nicht so kapieren u konnte. Wurde dann Inspektor, wurde 1908
zum Feld-Art.-Reg. 53 nach Bromberg eingezogen, diente bis 1910, wurde im
letzten Vierteljahr wegen „Nerven a als invalide entlassen. Er hatte wohl
etwas beim Scharfschiessen nicht gut gemacht und hatte eine grosse Klage
gehabt „ wegen vieler Saohen 14 vorm Kriegsgericbt. Sei zuerst zu 6 oder
8 Wochen Gefangnis verurteilt worden, legte Berufung ein, wurde aber dann
krank. Nach der Entlassung vom Militar auf den verschiedensten Inspektor-
stellen, hatte zeitweilig auch bei den Verwandten auf dem Lande mitgeholfen.
A. B. er sei entmiindigt worden, das konne er nicht bestreiten, auf dem
Amtsgericht hatte man ihm gesagt, wegen „Geisteskrankheit. u Er wolle aber
dann durch arztliche Beobachtung Entmiindigung aufheben lassen, denn er
sei doch noch jung und wolle sich, wenn der bdse Krieg zu Ende sei, nicht
allein herumqualen, sondern sich verbeiraten. Die Beurteilung als Geistes-
kranker sei vielleicht auch falsch, denn er sei doch ganz ruhig.
Datum? „Weiss ich nicht . u
Monat? „Mai, nein Juni. u (Falsch.)
Jahr? „-Da weiss ich Bescheid, da habe ich starkes gutes Ge-
dachtnis. Bloss, dass ich so schnell immer vergesse. u
Ferner fehlten ihm oft die Wqrte, die er sprechen wolle, „aber das sei
nicht so schlimm, das ist ja nicht das Schlimmste. (Wiederholt das mehrfach.)
A. B. Die rechtsseitige Lahmung sei in diesem Friihjahr aufgetreten, er
hatte es beim Anziehen gemerkt. die Westen seien ihm zu klein geworden.
Allmahlich hatte sich das verschlechtert, er hatte auch ein steifesGenick
bekommen. Durch Bettruhe hatte sich nichts gebessert, er hatte nicht schlafen
konnen und sei naohts unruhig geworden. Ein Arzt hier hatte Herz- und
Leberkrankheit festgestellt, hatte ihm Tropfen gegeben, nach denen der Arm
sohlimmer geworden sei.
Fragt, ob Ref. ihm auch das viele Geschriebene alles vorlesen wurde,
soviel zu schreiben sei nicht notig.
579 merken.
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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 511
7X8+; 27+17? „35 u 63-19 . . +; 91:7? „13“ 12X6+; Zahl -
in den 600, 678, 675.
Reg.-Bezirk von Ostpreussen? „K5nigsberg und Gumbinnen. 44
Hauptstadt von Oesterreich? „Prag, nein Wien. 44
Wo Prag? —
Weshalb Pfingsten? n So allgemeiner Feiertag. a
Zinsen? „Zinsen sind fur die — wie man soli sagen — (lacht) ich weiss
ja, was es sind, aber Namen nennen! tf
Unterschied zwischen Zwerg und Kind? (Lacht) „Zwerg ist klein, das
weiss ich nicht. 44
Teich, Fluss? —
Scheibe, Spiegel? „Spiegel gibt das Ebenbild wieder, Fensterscheibe
auch, doch nioht in dem Uasse. Spiegel sei dazu hergerichtet. u
Langsame, bisweilen skandierende, etwas kindliohe Sprache. Pat. ist meist
sebr stumpf, haufig euphorisch, dann wieder weinerlich. Yergisst oft denAnfang
seiner Satze oder dasThema, wiederholt oft seineAeusserungen leisevor sich hin.
Bei der kbrperlichen Untersuohung sehr empfindlich; kann nur muhsam
auf der linken Seite ltegen, klagt iiber starke Sohmerzen und Schmerzgefiihl in
alien Gliedem, konne den Kopf nicht anheben, miisse die rechte Hand immer
festhalten, da sie beim Hinunterfallen zu grosse Schmerzen mache. Aeussert
weinerlich viel Klagen und Befiirchtungen, dazwischen wieder sehr hoffnungs-
froh. Klagt uber Nackensteifigkeit, Gefiihl, als falle er nach hinten.
Leugnet fruhere Wahnvorstellungen. 1908 bewusstlos naoh Unfali. Vater
an Lungentuberkulose gestorben.
Wei tere lntelligenzpriifung. Kennt Namen der Lehrer und Schulen.
Habe einmal Ausscblag als Kind gehabt. Spater habe er wohl keinen Aussoblag
gehabt. Ueber andere Krankheiten gibt er nichts an.
(Wiederholt immer dieselben Wendungen: n Das kann ich nicht besinnen.
Der Feldwebel hat gesagt, Du bist vom Pferde gefallen 44 .) Weintleichtbei
Schilderung der schwierigen Lebensverhaitnisse. Lacht bei
scherzhaften Bemerkungen. Meint, er babe nicht geglaubt, Ref. werde
ihn noch am Samstag untersuchen.
Weiss den Tag nach dem friiheren Lazarett nicht anzugeben.
Monat? +
Fiinfstcllige Zahlen +
Sechsstellige Zahlen —
Erzahlt eine Geschichte richtig naoh, gibt aber den Schluss falsch an.
Bilder: Storcb bringt die Puppe. Zwei Magde (recte ein Bauer) sehen
zu. (A. V. kann auch ein Bauer sein.) Bar und Biene: Ein Tiger mit Mucken
oder Fliegen, reibt sich im Gesioht. weil es so warm ist. Ein Affe oder Bar
kann nioht so auf dem Hintern sitzen. .
Definition: Treue ist Verbindliohkeit.
Mut: Aufopfernde Tapferkeit, wenn man Eifer zeigt, so wie ich wollte
Soldat warden im Krieg.
Schliissel? +
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512
Dr. Max Kastan,
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'^RI
Kritik: Eid, Meineid
Vogel, Schmetterliog? Vogel fliegt vom Blame za Blame, hat ein grosses
Knochengerust als Riickgrat. Schmetterliog hiipft.
Assozv&tionspriifung:
Reizworte:
Assoziation:
Reproduktion:
Schwarz
Farbe
Tinte
Riechen
Dufte
Geruoh
Gift
Aether
+
Unfall
hilflos
+
Schneider
naht
auch ein Name
Stimme
Gehor
+
Krank
siech
hilflos
Gefangnis
Zwangshaft
Abbiisseanstalt
Kopf
Das Haupt des Korpers
edelster Teil des Korpers
Bilder
Schmuck
+
Engel
Geist
4 -
Ring
Schmuokgegen stand
+
Leben
Wandem dnrchs Leben
Weiterschaffen
Bier
ein Henkel
+
Schenken
Opferwilligkeit
einem Gates tun
Griin
die Farbe
grasgrun
Traorig
mitleidig
niederschlagen
Rose
Pflanze
rot
Apfel
Gewachs
Frucht
Haus
Unterkunft
+
Bett
Niederlage
Niederkunft
Gold
Edelmetall
+
Konig
Herrscher
+
Reisen
unterwegs sein
+
Frosoh
ist ein Tier
+
Sonne
Fixstern
+
Soldat
V aterlandsverteid iger
Pfleger
Hilfspersonen
hoflicher Mensch
Gras
griin
+
Hand
Glied
+
Stark
kraftig
kraftiger Mensch
Schuld
Abbussung
falsches Bewusstsein
Vogel
Tier
+
Pferd
ausch ein Tier
+
Saner
muss sauer gemacht werd en
Geschmack
Feind
boser Mensch
+
Hanfen
angehaufte Stelle
+
Trommel
Ledertrommel
+
AbsurditatenrlstSelbstmordbei46Schnittenmoglich? „Nein46Schnitte
zu feige“. ,
Gck 'gle
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CORNELL UNfVERSSTV
Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 513
„loh habe zwei Brfider, Paul und ich u -f-
Heilbronner -|-
Zeitlich unorientiert.
Rechnet Zinsen, Lobnbereohnung.
Datum? ,',Weil es angefuhrt ist.“
Weihnacbten? „Da haben wir Weihnachtsfreude. Maria empfangt das
Jesuskind.“
Eroberungen im Winter? Nicht riel, einige Vorstosse in Rumanian.
Schlacht? Arras.
Friedrich der Grosse? Der dritte Hohenzollernffirst.
Bismarck? Hat Deutsobland hoch gebraobt. Reichskanzler war er nicbt.
Dankbarkeit? -j-
Scherzfragen ? 1 Pfund Blei ist schwerer als 1 Pfund Federn.
Grille und Ameise? Grille ist trage, Ameise fleissig.
Ebbinghaus? -{- (1 Febler).
Worte ordnen? —
Witzverstandnis? —
Zeigt emotionelle Sohwache. Fangt an, wenn ihm ein Wunsch versagt
wird, zu weinen. Hort er Freudiges, so lacht er, ohne aofboren zu konnen,
ist dann sehr euphoriscb.
Fassen wir die ganze Entstehung des Rrankheitsbildes zusammen,
so ergibt sich folgendes:
Ein erblicb nicht gleicbartig belastgter junger Mensch erkrankt
an Lues. Gleichzeitig wird uber ihn eine Haft verh&ngt. Zu dieser
Zeit ist er 23 Jahre alt, noch wfihrend des Bestehens der primfir und
sekundftr syphilitischen Symptome bricht ein psychischer Verwirrtheits-
zustand aus. Der Kranke ist "dabei zeitweise sehr erregt, ablehnend
und gibt Antworten, die etwas an das Symptom des Vorbeiredens er*
innern und die Form des Agrammatismus und Puerilismus tragen. Es
tritt starker Speichelfluss ein. Sonstige Lahmungserscheinungen fehlen
vfillig, nur eine damalige Schriftprobe zeigt schon starke Unsicherheit.
Der Kranke bleibt dann einige Monate in psychiatrischer Bebandlung,
allm&hlich verliert sich die Desorientierung und er wird klar, er wird
entmfindigt und es bleibt ein mfissiger Schwachsinn fibrig, wobei eine
starke Reizbarkeit immer wieder hervortritt. Nachdem er nicht weiter
aufffillig geworden ist, tritt 7 Jahre sp&ter eine „Lahmung“ auf, die
nun bis zum Abschluss der hiesigen Beobachtung besteben bleibt.
Wenn auch leider die Autopsie in diesem Falle nicht mfiglich war,
so bietet doch, glaube ich, das gesamte Krankbeitsbild viele Einzel-
heiten, die die genaue Schilderung der Anamnese rechtfertigen dfirften.
Fragen wir uns zunficbst, was bier wohl vorgelegen habe. Von den im
Beginn unserer Ausffihrung erw&hnten Krankheiten fkllt nach der ganzen
Symptomatologie der Torsionspasmus und die Ath4tose double weg,
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514
Dr. Max K as tan,
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derm von derartigen Verdrehungen des Kdrpers, wie wir sie bei dem
Torsionspasmus sehen, und von athetotischen Bewegungen ist nicbts
festzustellen. Der chronische Verlauf und die Anordnung der Symptome,
vor allem das Fehlen eindeutiger Hirnsymptome, sprechen gegen eine
olivo-zerebellare Erkrankung. Aucli von einer echten Dystonie wird
man in unserem Falle nicht sprechen konuen. Es bleibt mithin nur die
Mdglicbkeit, dass eine multiple Sklerose, eine Pseudosklerose oder eine
juvenile Paralysis agitans vorliegt. Es fehlen aber die extrapyramidalen
Symptome der multiplen Sklerose, das Babinskrsche Ph&nomen, die
allgemeine Erhdhung der Sehnenreflexe und Stbrungen des Augenhinter-
grundes, ferner der Nystagmus. Eine juvenile Paralysis agitans mtfchte
ich deshalb nicht annehmen, weil, wenn man die Willig’sche Zu-
sammenstellung verfolgt, bei dieser Krankheit nur sehr selten bulbire
Symptome und psychotische Erscbeinungen anzutreffen sind.
Nun muss allerdings zugegeben werden, dass einige der h&uiigsten
Symptome, die bei der Pseudosklerose anzutreffen sind, bei unserem
Kranken nicht gefunden werden kbnnen. Das gilt vor allem von dem
Kornealring, von einein ausgesprocbenen Wackeln und von greifbaren
Anzeichen einer Lebererkrankung. Ich mochte aber betonen, dass ein
so ausgezeichneter Kenner wie Schultze erst neuerdings darauf aufmerk-
sam gemacht bai, dass der Kornealriug keineswegs zu den unumg&ng-
lich notwendigen AnhaltspuAten fur die Diagnose der Pseudosklerose
gehSrt. Dem hatte schon fruher Oppenheim und in einer auch zuletzt
erscbienenen Darstellung von Economo beigestimmt. Der letztgenannte
Autor verweist auch bei seinem Falle auf das Fehlen eines ausge§pro-
chenen Tremors hin und zieht zum Beweise, dass trotzdem eine Wil¬
son sche Krankheit angenommen werden kOnne, den Cassirer’scheu
Fall heran. Es verdient aber hervorgehoben zu werden, .dass in einem
fruheren Gutachten ganz besonders starkes Wackeln betont wird, obwohl
damals nicht an Pseudosklerose gedacht wurde. Die Einstellungsunruhe
der Augapfel — als Augenrollen von einem Vorgutachter bezeichnet —
glaube ich aber als ein auf die iiusseren Augenmuskeln beschranktes
oszillatorisches Wackeln auffassen zu kOnnen. Die Leberveranderung
wird man am Lebenden palpatorisch kaum feststellen konnen, da es
sich meist um zirrhotische d. h. Schrumpfungsprozesse handelt. Der
negative Ausfall der funktionellen Leberprufung ist allerdings bemerkens-
wert. Wenn man aber der Ansicht ist, dass sich Veranderungen der
Leber auch von den Verhaltnissen der Milzfunktion widerspiegeln, so
ist auch auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass im Blutbilde
eine erhebliche prozentuale Verraehrung der Lymphozyten imd ein
starkes Vorhandensein der Uebergangszellen festzustellen ist. Der zur
Gck igle
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Mit Erhohung der Rigiditat derMuskeln einhergehende Nervenkrankhoiten. 515
Zeit negative Leberbefund verliert aucb an Bedeutung durch die im
Beginn der Erkrankung sicher vorbandene Leberaffektion, die sick in
der ikterischen Verf&rbung der Augenbindeh&ute dokumentierte.
Nicht minder wicbtig ist ein Fingerzeig, den uns die Entstebung
des ganzen Krankheitszustandes auf dife Aetiologie des Leidens gibt.
Schon A. Wes tp ha I hat auf Grand des Leberbefundes ganz besonders
auf die Mdglicbkeit hingewiesen, dass der Lues eine Rolle fur die Ent-
stehung der Krankheit zukommt. v. Dziembowski hat sich deal fur
seine F&Ue angeschlossen, ohne allerdings Westphal’s Annahme zu
erwShnen. In unserem Falle hat sich nun kurz vor Ausbruch der Er¬
krankung die syphilitische Infektion nachweisen lassen, hat vielleicht
auch damals zu Leberveranderungen und Ikterus gefiihrt, und dass
auch jetzt nach der ■ zur Zeit herrschenden Auffassung iebende Spiro-
chaten im Organismus sich finden, beweist die Wassermann’sche
Reaktion. Eine erbliche JBelastung konnte im Gegensatz zu den meisten
der beschriebenen Falle, wo familiares Auftreten die Regel war, nicht
nachgewiesen werden. Auch fur Unfalle, wie sie friiker mit verant-
wortlich fur die Entstebung der Krankheit gemacht wurden, ist kein
Anhaltspunkt in der Anamnese vorhanden.
Ueberschaut man das kSrperliche Symptomenbild in unserem Falle,
so ist das Hervorstechendste die Spitzfussstellung, die Kontraktur, die
voro Kranken und seinen Angehdrigen selbst als Lahmung aufgefasst
wurde, und die allgemeine Starre der Muskulatur und des Gesichts-
ausdruckes, die sich auch auf die Augenbewegungen und den Mund
erstreckt. Gerade diese Starre des Gesichts und der KOrperhaltung
liess an eine Paralysis agitans denken, wie das gleichermassen v. Strum-
pell in einem seiner Falle tat. Von einer Lahmung im klinischen
Sinne konnte nicht die Rede sein. Auch die eigenartige Falsettstirome
ist bereits von v. Strumpell betont worden. Man hatte den Eindruck,
als ob unser Kranker immer mit der Stimme uberschnappte, daneben
war die Sprache aucb langsam, aber nicht eigentlich skandierend. Auch
dies gehCrt ja zum Symptomenbild der Pseudosklerose. Die Spitzfuss-
stellung und Beugekontraktur im Knie sind genau dieselben wie sie
Rausch und Scbilder an den Bildern von ibren Kranken zeigen.
Ganz eigentumlich war nun das psychische Verhalten in miserem
Falle. Bekannt ist ja, dass bei der Pseudosklerose sowobl psychische
als auch kfirperlichy Krankheitszeichen schub- und anfallsweise auf¬
treten. Bei unserem Kranken bestand zuerst ein Zustand von Desorien-
tiertheit, Angstlicher Erreguug, grosser motorischer Uuruhe, es wurde
daher aucb immer nur an einen psychogenen D&mmerzustnnd oder eine
Dementia praecox gedacht. Und das scheinbar unter dem Einfluss der
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516
Dr. Max KastaD,
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Autoritat eines der ersten Diagnostiker noch dann, ais alle akuten
Symptome, die dafflr sprechen konnten, abgelaufen waren. Es muss
ja zugegeben werden, dass die Wirkung der Haft psychogene Zuge ira
Krankbeitsbilde auftauchen liess. Aber bei der Pseudosklerose treten
sowieso bysteriforme Zuge — z. B. Mutismus im Fall v. Econo mo,
der vielleicht der Verbigeration und erschwerten Wortfindung unseres
Kranken an die Seite zu setzen ist — so haufig in Erscheinung, dass
Charcot sie ja an sich ais Hysterie auffassen wollte, eirie Auffassung,
der keiner beigepflicbtet bat. Ebenfalls sind schon fruber Verwechse-
lungen mit der Dementia praecox vorgekommen. Ich erwahnte hier
schon einen Fall von Fleischer, in dem spater das Auftreten des
Kornealringes zur richtigen Diagnosestellung gefuhrt bat. Wie,Rausch
und Schilder schon hervorheben, bildet sich bei der Pseudosklerose
eine Afiektlabilitat und ausgesprochene emotionelle Schwache aus; diese
mit einer allgemeinen geistigen Einschrankung, Herabsetzung des Asso-
ziationsvermdgens, der Kritik und sehr deutlichen Erinnerungsfaischungen
verbunden, ist aucb bei unserem Kranken deutlich ausgepragt. Der
ausgesprochene kOrperliche Befund ist mit einer pathogenen oder schizo-
phrenen Erkrankung nicbt vereinbar.
Es handelt sich also um einen jetzt 6 Jahre bestehenden Fall von
Pseudosklerose, der in der Haft nach einer luetischen Infektion mit
einem psychiscben Verwirrtheitszustande begann und kdrperlich anfangs
nur Speicbelfluss und Scbriftstdrungen zeigte, bei dem sich allmiblich
eine psycbiscbe und affektive Abschwachung ausbildete und bei dem
6 Jahre nach der Erkrankung Kontrakturen und erhdhte RigiditAt der
Muskeln sicb bemerkbar machten.
Bei chronisch verlaufenden Fallen (Strumpell's letzte Arbeit Bd. 59
der Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., v. Dziembowski und mein Fall)
tritt relative Vermehrung der Lymphozyten, Absinken der polymorph-
kernigen Leukozyten und teils des Hamoglobingehalts ein, das wohl der
Leber- und Milzsckadigung zuzuschreiben ist.
Rumpel's Annahme einer durcb kongenitale Lues bedingten pri-
mkren Leberschadigung trifft nicht fur alle Falle zu. Es mag eine
fehlerhafte embryonale Anlage oder eine frisch einwirkende Noxe die
Leber schon ver&ndert haben; die frCLh erworbene Lues fuhrt erst den
Ausbruch der typischen Krankheit herbei. Hierbei mag dahingestellt
bleiben, ob die schon vor der Lazarettbeobachtung bemerkte psychische
Eigenart ebenfalls nur ais disponierendes Moment zu gelten hat oder
schon Initialsymptome des Leidens waren, da ich die Akten hi er fiber
nicht bekommen konnte.
i
Gck igle
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Mit Erhohung der Rigiditat derMoskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 517
Nachtrag bei der Korrektur: Nach Fertigstellung der Arbeit
sind noch folgende zwei einschlagige F&lle bier beobachtet worden:
Fall 2 . Paul W., 17 Jahre alt, erkrankte 1917 mit Zittern der linken
Hand, das auch auf die andere Hand und auch auf den ganzen Korper spater
ubergriff. Nach Angabe des Vaters sei er dummer geworden, spreche jetzt
auoh schwer und scblafe viel. Aufnahme 30. 12. 1918. Gibt selbst an, seit
Februar 1917 mit der linken Hand zu zittern, was sich bei Gebraucb der Hand
verstarkte Und spater auf den Arm und den iibrigen Korper iiberging, so dass
er nur geben konnte, wenn der KSrper nicht zu sebr „scblackerte. u Herz und
Lungen o. B. Haut, besonders am Mund, Kinn zu Abschiirfungen geneigt,
naoh Injektionen subkutane Blutungen. Ohrlappchen angewacbsen, Uvula
geht nach rechts, Brustorgane o. B. Im Rontgenbilde nach der Rautenberg-
schen Insufflationsmethode kleine Leber mit auffallend kantigen Randern. Im
Harn Urobilinogen -f-* Wassermann’sche Reaktion negativ im Blut und Liquor,
AbbilduDg 6.
Sclirift von Fall 2.
Nonne’sohe Reaktion positiv, Lympbozytose -f-- Im Blutbild 60 pCt. poly-
nukleare, 30 pCt. Lympbozyten. Keine Thrombopenie. Pupillen etwas entrundet
L. R. -j-, C. R. -f-? Schleimhautreflexe etwas herabgesetzt, Sehnen- und Haut-
reflexeo.B. Kein Babinski, Hautroten KeinOppenbeim. Zunge zittert grob-
scbl&gig, Sprache ist skandierend, langsam. Fistelton. Langsame athetotische
Fingerbewegungen in der Ruhe. Schrift unsicber (s. Abb. 6.). Arme und Beine
ataktisch. Beim Bewegen, z. B. Schreiben oder Essen, wird die Hand addu-
ziert, der ubrige Arm fuhrt grobschlagige Zitterstosse aus. Dasselbe gilt
fur die Beine beim Gehen, dabei wird die Hacke aufgesetzt, die Zeben dorsal
flektiert, die Kniee stark gebeugt, die Beine geschleudert. Beim Aufsetzen
waokelt der ganze Oberkorper mit dem Kopf, Gesicbtsausdruck starr, Augen-
bewegungen selten, bei Fixation Wackeln des Kopfes und der Augenmuskeln,
Hand bleibt offen, kein Speiohelfluss. Beim Trinken wird der ganze Mund,
nicht nur die Lippen ans Glas gepresst. Sensibilitat o. B.: Psychiscb:
emotionelle Schwacbe, weint und lacht sehr leicht. Im allgemeinen eupho-
risch, zeigt aucb eine Verringerung des Wortschatzes, gebraucbt oft dieselben
Worte.
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518
Dr. Max Kastan,
Fall 3 . Fritz R., 21 Jahre alt, soli seit 4 Jahren krank sain. Soli
anfangs nur gezittert baben, spater soli sich die Krankbeit verschlimmert
haben. Angeblicb sei die Krankheit nach einem Schreok entstanden. Pruher
habe er gut gelerot, seit zwei Jahren seien, nachdem vorher nur die Beine
erkrankt waren, auch die Anne ergriffen worden, dann der Kopf, die Sprache
sei scbleohter geworden. Br habe, obne etwas dagegen tun zu koonen, um
sich schlagen miissen und habe seines Leidens wegen Viehhuter werden mussen.
Befund: Allgemeinzustand gut, grosser Gesichtsschadel, niedrige
Stirn, zusammengewachsene Augenbrauen, angewachsene Ohrlappchen, innere
Organe o. B. Im Harn kein Bilirubin, kein Urobilin. Prufung der Reflexe
infolge der starken Bewegungsstorungen fast nicht moglich. Allgemeine
Hyperasthesie, Pupillen gleich- und mittelweit. L. R. -f-, C. R. Bauch-
reflexe desgleichen Kremasterreflexe. lm Blut und Liquor Wassermann-
sche Reaktion —, Nonne’sche Reaktion —, keine Lymphozytose. Sprache dys-
arthrisch gestort, fast unverstandlicb. Sehr starke und grobe Zitterstosse
beim blossen Versuch der Untersuchung, schon, wenn auf den zu unter-
snohenden Korperteil besonderes Augenmerk gerichtet wird. Dabei Gesicht
stark gerotet, beim Sprechen seitliches Wackein des Kopfes, der sonst meist nach
links liegt, kan-n fast gar keine Konsonanten sprechen, weohselnd Pro- und
Supination der Hande, ungleichmassiges Schlagen derselben auf die Bettdecke
und Schlagen der Beine, die abduziert werden und dann mit den Fersen zu-
sammenstossen. *Aufrichten des Korpers und Gehen unmoglich. Alle Zitter¬
stosse zeigen grosse Amplitude. Gesichtsausdruck starr. Nach Luminal
Besserung der Bewegungen, die nur noch nach passiven und aktiven Be-
wegungsversuchen auftreten, Sprache deutlich scbleohter, schlaft mit ofTenem
Mund, die Zunge bewegt sich dabei von oben nach unten (sagittal), Sprache
dysarthrisch, skandierend. Nach Hyoszin-Morphium rechts Fallhandstellung.
Ellenbogen gebeugt, schlaff, Andeutung von Katalepsie, Zittern angedeutet,
reohte Hand mit gespreizten Fipgern aufs Belt gestiitzt. Naoh einem Monat
Erbrechen, Schluckstorung, wird sebr still und rubig, Puls kleiu, Temperatur
39,1 bis 39,0. lm Munde gelbliche Belage, ausgesprochene Gingivitis; daher
Verlegung nach der medizinischen Klinik. Hier Auftreten von blasigen Ab-
hebungen etwa 50 Pfennig-Stuck grosser Hautstiicke, die sich zum Teil bareits
nach einem Tage entleeren, und dunkle, gelbe Pigmentierungen an den Armen,
ferner roseolaartiger Ausschlag. Einen Tag nach der Verlegung Exitus.
Histologische Untersuchung: Milz: Bild der Stauung ohne Trabekelwuche-
rungen. Leber: Vollstandiger Umbau der Leberlappchen, die teils frisch
regeneriert sind durch Leberzellen von der doppelten Grosse der normalen mit
zwei bis drei Kernen ohne Mitose. Teils erstrecken sich in sie Auslaufer von
Bindegewebe mit kleinzelligen Infiltrationen. Gallengange gewuchert. In der
Haut nur normales Pigment, kein Blut, Eisen oder Silber. Die vorlaufige
Untersuchung des Zen train ervensystems ergibt Gliawucherung, Unregelmassig-
keit der Anordnung der Ganglienzellen in der lnselrinde, wo die Fortsitze
nach alien Richtungen auseinandergehen, dort ferner auch Trabantzellen, die
zum Teil die Ganglienzellen deformiert haben.
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Mit Erhohung der Rigiditat derMaskeln einhergehende Nervenkrankheiten. 519
Sektionsprotokollauszug: (Privatdozent Dr. Christeller.) Fibrose
Aorten- und Kranzarteriensklerose; pleurale und pratracheale Blutungen,
Hyperamie der Nieren, Erweiterung des Nierenbeckens, atelektatische Broncho-
pneumonie, Intimaverfettung der Aorta, chronische Leptomeningitis fibrosa,
Zahnlleisch und Mundschleimhaut mit zabem, schleimigem, sohmierigem und
mit geronnenem Biut untermiscbtem Sekret bedeckt. Rechte und linke
Aortenklappe 5 mm weit verwachsen miteinander. Gelbe, leicht erhabene
Einlagerung im recbten Kranzgefass. 1m Bindegewebe zwiscben den vorderen
Halsmuskeln und der Trachea reichliche itacbe Blutaustritte. Milz 16:13 cm,
620 g, stark vergrossert, weich, schlaiT, Durchscbnitt gleichmassig graurot
Zeichnung deutlich, Pulpa fest, nicht abstreichbar, Leber 23:15:7,5 cm,
1285 g. Oberflache auffallig grob gehockert, Pareitchym bestebt aucb im
Durchscbnitt aus erbs- bis kirscbgrossen festen, genau kugligen Knoten, die
durch einen Strang von einander getronnt sind. Farbe der Knoten dunkel-
V
Abbildung 7.
Leber von Fall 3. •
braunrot bis bellbriiunlich gelb. Leber stark verwachsen. Gallenwege durcb-
gangig, nicht erweitert. Pankreas ziemlich klein. Riickenmark o. B. Schadel-
dach selvr schwer, nur am Scheitel transparent. Diploe sehr blutreicb, Dura
schlalT, blass: Oberer Sinus longit. hat rechts geronnenes Blut. Pia milchig-
blaulich-weiss getriibt, besonders in einera weissen Strang langs der Gefasse,
stark mit klarer Fliissigkeit durchtrankt. Gleiche Fliissigkeit in den Hirnhohlen.
Gehirn im ganzen klein, 1085 g, Briicke atrophisch.
Besonders wichtige Punkte liebe ich noch bervor. Allen drei
Fallen fehlt der Kornealring. Fall 1 und 2 haben gemeinsam die
emotionelle Schwiiche, ferner ist bei ihnen Lues anzunehmen (Wasser-
mann, Nonne). Je nachdem es sich um akquirierte Lues mit frisch in
den Organismus eindringenden Spirochiiten oder um kongenitale bandelt,
sind die Erscbeinungen aucb an der Leber akut oder weniger akut-
Aucb bei geringen klinischen Syraptomen seitens der Leber (siebe Fall 3)
zeigt die Autopsie ganz enorme Veranderungen, diese deuten auf eine
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520 Dr. Max Kastan, Mit Erhohung d. Moskelrigiditat einhergeh.Nervenkrankh.
krankhafte embryonale Anlage hin. Die kleinzellige Infiltration spricht
fur chronische Entziindung (Lues?). Es ist dringend zu empfehlen. in
alien F&llen durch Anwendung des Insufflationsverfahrens sich fiber
Grfisse und Form von Leber und Milz Klarheit zu verschaffen. Erwfihnt
sei nocb, dass auch Fall 2 eine Iymphozytfire Blutverschiebung hatte
und bei Fall 2 und 3 Neigung zu Blutungen besteht. (Vgl. Fall Voelsch.)
Die Literatur des letzten Jahres, die v. Dziembowski in seiner Arbeit
noch nioht berucksichtigen konnte, sei aus Raumersparnis fur sich erwahnt,
da die altere bei v. D. siob vollstandig findet.
Oppenheim, Zeitschr. f. Nervenbeilk. Bd. 55.
Maas, i
Schultze, > Neurol. Zentralbl. 1918.
Bostroem, l
v. Economo, Zeitschr. f. d. ges. Psych, u. Neurol. Bd. 43.
Thomalla, Zeitschr. f. d. ges. Psych, u. Neurol. Bd. 41.
i
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xxn.
Ueber Aggravation nnd Simulation geistiger
StSrung.
Yon
Prof. Dr. J. Raecke (Frankfurt a. M.).
Die Feststellung von VortHuschung geistiger Stdrnng bedeutet eine
der schwierigsten Aufgaben der Psychiatric, wiewohl unsere Lehr-
bficher in der Regel zierolich kurz uber diese ganze Frage hinweggehen.
Hinsichtlich der Hfiufigkeit solcher Simulation waren die Ansichten der
einzelnen Autoren frfiher sehr geteilt, doch scheint heute im allge-
meinen die Auffassung herrschend zu werden, dass nur reine Simulation
wirklich selten ist, dass aber T&uschungsversuclie auf psycbopathischer
Grundlage verhfiltnismflssig hfiufig vorkommen, vielleicbt auch in letzter
Zeit an Zabl zugenommen haben. Bestimmte Ziffern lassen sicb da schlecht
geben, weil das Material der einzelnen Beobachter zu verschieden ist,
um einen Vergleich zu gestatten, und weil ferner je nach der persfin-
lichen Auffassung der Gutachter die Grenzen zwischen bewusster und
unbewusster Uebertreibung zu verschieden gezogen werden.
Hoche bat leider Recht mit seiner Behauptung, dass allgemein
gfiltige Kennzeichen der Simulation bislang nicht bestehen. Es erschwert
das die Stellung des gerichtlicben Sachverst&ndigen ungemein. Man
sollte sich nicbt wie Bolte mit dem Gedanken trfisten, die Simulations-
diagnostik sei praktisch unwesentlich, weil es sich in 90 pCt. der ein-
scblfigigen F&lle doch im Grande um krankhaft veranlagte Menscben
bandelte, denn nicht jede] Erankhaftigkeit bedingt gleich Unzurech-
nungsf&higkeit. Der von Wassermeyer beschriebene Fall, dass die
widersprachsvolle Auffassung verschiedener Sachverst&ndiger einen Simu-
lanten wiederholt zwischen Strafhaft und Irrenanstalt bin und her irren
lasst, bildet leider keine seltene Ausnahme, sehr zum Schaden des An-
sehens der gerichtlichen Psychiatric. Der an sich richtige Satz, dass
Simulation nicht geistige Krankheit ausschliesst, wird leicht irrtfimlich
dahin ausgelegt, als sei Simulation an sich ein krankhaftes Zeichen,
und es ist nicht so selten, wenn auch nicht zu billigen, dass verant-
Arohir f. Pfjehifttrie. Bd. 00. Heft 2/3. 34
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CORNELL UNfVERSSTY
522
Dr. J. Raecke,
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wortungsscheue Gutachter sich trotz innerer Zweifel nicht entschliessen
konnen, in einem bereits 6fter als krankhaft angesprochenen Falle an-
ders zu entscheiden, als ihre Vorghnger. Freilich die Voraussicht, dass
der betreffende Simulant nach seiner Verurteilung weiter seine psycho-
pathischen Eigentumlichkeiten zur Schau tragen, den Str&fvollzug stfiren
und neue Begutachtungen notwendig machen wird, lasst es bequemer
und vielleiclit zweckm&ssiger erscbeinen, den teilweise abnormen Men-
scben sogleich wieder irrenarztlicher Verwabrung zu ubergeben. Allein
auf die Dauer ist mit diesem halben Verfahren niclits gewonnen. Ein-
mal muss doch entsckieden Stellung genommen werden.
Gerade die sogenaunteu Grenzf&lle, haltlose Psychopatben und
mftssig Schwachsinnige mit ausgesprochenen sittlichen Mangel n, die
dauernd hart an der Grenze der Zurechnungsfahigkeit stehen, baben es
besonders leicht, durch Aggravation ihrer seelischeu Abweichungen sich
den Schutz des § 51 zu erlisten. Hier begegnen wir auch Beispielen
planvoller und geriebener Simulation von StQrungen, die in Wahrheit
niemals vorhanden waren. Die an sich schwierige Beurteilung wird
durcb ungenugende Vorbegutachtungen immer mehr erschwert und der
Fall so verwickelt,. dass die endliche Klarstellung auf die gr5ssten Hin-
dernisse stosst.
Wie leicht es manchen Psycbopathen gemacht wird, die zur Er-
reichung der Unzurechnungsfahigkeit erforderlichen „Krankheitszeichen u
aufzubringen, mag folgende Beobachtung von neuem zeigen:
Fall 1. Hermann J., unehelich geboren 1880, Arbeiter, war 7mal wegen
Diebstahl and Hehlerei vorbestraft, 2mal wegen Korperverletznng, batte zwar
in der Schule leicht gelernt, war aber mit 13 Jahren wegen Schwanzens, Steh-
lens, Lugens in Zwangserziehung gekommen. Nach der Konfirmation erst
Sohlosserlehrling, tat nicht gut, kam zum Schiffer, lief diesem fort. 2 Bruder
der Matter sollen in Irrenanstalten gewesen sein.
Seit Oktober 1900 wieder wegen Diebstahls in Untersuchnngshaft, bot
anfangs nichts Auffalliges bis Dezember, wo er wahrend Verbiissung einer Dis-
ziplinarstrafe in hochgradige Aufregung geriet, Fensterscheiben, Tisch und
Schrank der Zelle zertriimmerte, dem Personal Widerstand leistete und es be-
schimpfte. Nach einigen Stnnden beruhigte er sich, sagte, er sei manchmal
ganz von Sinnen, habe das schon einmal in der Haft gehabt.
Sein Benehmen war weiterhin trotzig, frech, prahlerisch. So behaupiete
er falsohlich, 2 Brnder bei der Marine zu baben, selbst schon in Ostafrika ge¬
wesen zu sein. Einmal machte er einen nach der ganzen Art der Aasfdhrung
wenig emsthaft gemeinten Suizidversuch, nntemahm Fluohtversuche, bedrohte
wiederholt die Aufseher. Dooh fugte er sich stets, wenn er Ernst sah. Wegen
seiner reizbaren, unberechenbaren Stimmung liess man ihn zeitweilig Hand-
fesseln tragen. Anfangs behauptete er, damit nicht ossen zu konnen, begann
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aber nacb kurzem Fasten von selbst wieder zu essen. Seine Untersuchung
durch den Gefangnisarzt wurde angeordnet.
In dessen Gatachten werden Fehlen organischer Erkrankungen and Bil-
dungsfehler betont, das Vorhandensein der Fahigkeit zum Lesen, Sohreiben
Rechnen zugegeben, aber angeborener Schwachsinn angenommen wegen Feh-
lens hoherer Interessen nnd Strebungen, mangelnder Liebe zu den Eltern,
Reuelosigkeit und Unfahigkeit zu geregelter Lebensfiihrung.
Am 9. 7. 1901 ward J. von der Strafkammer nach § 51 freigesprooben,
in die Irrena'nstalt S. eingewiesen und entmundigt. Er entwich am 25.3.1903,
nachdem man dort seine Entlassung schon ins Auge gefasst hatte, da er bei
fortgesetzter Beobachtung nicbt Gegenstand irrenarztlicber Behandlung und
Verwabrung zu sein schien. Es heisst im Bericht der Anstalt ausdruoklich, er
babe koine krankhaften Erscheinungen geboten und an seiner Zurechnungs-
fahigkeit sei nioht zu zweifeln.
Scbon Oktober 1903 beging J. none Diebstahle, nachdem er zunachst auf
verschiedenen Hofen gearbeitet hatte, Er entschuldigte sich mit augenblick-
licber Hittellosigkeit. Im Gefangnis zeigte er alsbald wieder das gleiche Ver-
halten wie das letzte Mai: Auflehnung gegen die Ordnung, Unlust zur Arbeit,
eitles Prahlen, Drohen mit Gewalttatigkeit. Wieder ward er von dem gleichen
Arzte wegen angeborenen Scbwachsinns exkulpiert.
In den Grunden der Freisprechung heisst es (Urteil vom 21. 3. 1904):
„Er raumt die ihm zur Last gelegten Handlungen ein, ist nach dem Gutachten
desKreisarztes jedoch strafrecbtlich dafiir nicbt verantwortlich zu macben, weil
er an unheilbarem angeborenem Schwachsinn leidet“.
20. 5. bis 25. 7. in der Nervenklinik Kiel, wo er sich dauernd ruhig und
geordnet betragt, willig in die Hausordnung fiigt, nicht prablt, nicht droht,
uberraschend gate Schalkenntnisse zeigt. Er gibt zu, in der Schule gut ge-
lernt zu haben, er sei nicht krank, sei es auch nie gewbsen. Bei seinen ersten
Straftaten habe es sich urn jngendliche Yerfehlungen ohne rechte Ueberlegung
gehandelt. Einmal sei er auch unschuldig verurteilt worden. Jetzt habe er
nurausNot gestoblen, bebauptet Reue. Nie Krampfe, Schwindel, Ohnmachten.
Gleicbmassig freundliches Wesen. Fleissig und geschickt. Liest viel. Nur
am 5. Juli einmal vorubergehend erregt, als er nach Ablehnung seines Ent-
lassungsgesuches aus Vorsicht in die feste Abteilung verlegt werden soil.
Wehrt sich, macht Fluchtversuch, droht, beruhigt sich aber, als er keinen Aus-
weg sieht. Ueberfuhrt nach Irrenanstalt N.
Ein eigentumliches Licht auf seine „Affekthandlungen tt im Gefangnisse
warfen ubrigens die gelegentlichen Aussagen eines Mitgefangenen, die uns
durch das Gericht zugingen: J. habe sich dahin geaussert, wenn er Termin
kriege, wolle er sich zur Wehr setzen und einen Radau herbeifdhren und einen
Skandal auf dem Gericht machen, dass der Termin nioht zustande kame. Be-
strafen konne ihn das Gericht nicht, er rufe den Gefangnisarzt zum Zeugen an,
der erklare ihn dann wieder fur verriickt und frei!
2. 10. entwich J. aus der Anstalt N., wo er ebenfalls keinen kr&nken
Eindruck gemacht und allmahlich mehr Freiheit genossen hatte. Nach seiner
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Dr. J. Raecke,
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Wiederaufnahme in der Kieler Klinik am 16. 10. infolge polizeilioher Einvei-
sung verstand er es, bereits am 31.10. anch von bier zu entwisohen. Er hatte
die 14 Tage rubig nnd fleissig gearbeitet, sioh alien Anordnnngen gefugt. Am
26. 1. 1905 brachte ihn die Polizei wieder. Er sah gut gekleidet aus, konnw
naohweisen, dass er bisher in regelmassiger Arbeit gestanden hatte. Da nichU
Nenes gegen ihn vorlag, wurde er als nioht geisteskrank am 7.2. wieder entlassen.
In dem nunmehr von der Klinik eingeforderten Gutachten wurde darge-
legt, dass wahrend des wiederholten Aufenthaltes hier ausser leichtem Schwach-
sinn keine krankhaften Ersoheinungen bei J. beobachtet worden waren. Die
kdrperliche Untersuchung ergab normals Verhaltnisse. Das Bewusstsein war
dauernd ungetriibt gewesen. Das gesamte Betragen war den Verhaltnissen
angemessen, die Stimmnng gleichmassig. Eine gewisse Reizbarkeit war wobl
vorhanden, im Aerger neigte er zn Zornausbriichen mit Gewalttatigkeit, ver-
mocbte sich aber selbst dann zn beberrscben. Seine Neigung zum Prablen
liess ihn doch nie das Verstandnis for die Wirkliohkeit verlieren. Eigentliche
Wahnvorstellnngen waren nie vorhanden, das Gedachtnis war gut, die allge-
meinen Kenntnisse nicht soblecht. Bei korperlicher Arbeit erwies er sioh ge-
scbickt und anstellig.
Lediglioh ein beschrankter Gesiohtskreis, geringe Voraussicht, Haltlosig-
keit und Hang zn leichtsinnigen Streichen, sobald er der Yersuchung ausge-
setzt war, liessen sicb bei J. als auffallig feststellen. Von Jugend auf benahm
er sich unsozial, roh, empfand keine rechte Rene, wurde durch Strafen nicht
gebessert. Er war also ausgesprochen moralisch minderwertig, intellektuell
vielleicht etwas beschrankt. Man konnte einen gewissen Schwaobsinn anneh-
men, doch nicht einen solchen Grad der Imbezillitat, dass daduroh die freie
Willensbestimmung dauernd aufgehoben worden ware.
Es ward daraufhin noch ein weiteres Gutachten vomProvinzial-Medizinal-
kollegium eingeholt, das sich nioht klar ausspracb, ob es eigentlich Schwach-
sinn annehmen wollte oder nicht. Nur den Begriff eines moralischen Schwach-
sinns schloss es entschieden aus, liess aber dieFrage offen, ob etwa ein Mangel
an Vernunft bestebe, der tiefer in das Seelenleben des J. einschneide, als es
zunachst den Anschein babe. Zu beurteilen, welches Gewicht dieser Moglich-
keit beizumessen sei, musse dem Gerichtshofe iiberlassen bleiben. Es erfolgte
wiederum Freispreohung.
Am 17. 10. 1905 wurde J. polizeilich in die Klinik verbracht und von
dort weiter nach der Anstalt N. Bei der Aufnahme war er zunachst wieder
ruhig und fiigsam. Nur als die Transporteure, welche ihn abholten, ihren
Weisungen gemass auf seiner Fesselung bestanden, ward er zornig und setzte
sich kurz zur Wehr, ging dann, als es ihm nichts niitzte, friedlich mit.
Inzwischen ist J. infolge der weiteren Beobachtungen langst als nicht
geisteskrank aus der Irrenanstalt entlassen worden. Bei seinem letzten Ruck-
fall ins Verbreohen ist er vom Gericht als zurechnungsfahig angesehen und
zu mehreren Jahren verurteilt. Seine Strafe hat er auch angtreten.
Aus den mir vorliegenden Gerichtsakten ergibt sich, dass er dieses Mai kei-
nerlei Erregungszustande bekommen hatte, nachdem man ihn wegen Einbruchs
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verhaftet hatte. J. war auoh gestandig, betonte, dass er in Arbeit gestanden
and die ernste Absicht gehabt habe, ein ,,ordentlioher Mensch 11 zu werden, bis
er abermals derVersuchnng unterlag. Nachdem ervon der fiber ihn verhangten
Znchthausstrafe 2 Uonate obne Storungen verbfisste hatte, gelang es ihm, bei
der Aussenarbeit zu entweicben.
Der Fall J. bietet an sicb nichts Besonderes. Aehnliche Erfahrun-
gen kfinnen wohl die moisten Kliniken and Anstalten mitteilen, dennoch
ist es angezeigt, von aeuem auf die hier zutage tretende Dnzutrfiglich-
keit binzuweisen, dass ein Krimineller heute immer wieder vom Ge-
richtsarzte exkulpiert werden kann, obgleich alle Irrenfirzte, welche
ihn Monate und Jahre hindurch in Anstalten and Klinik zu beob-
achten Gelegenheit gehabt haben, ihn fibereinstimmend ffir zurechnungs-
ffthig eracbten. Dass damals auch das Medizinalkollegium sich nach
einigem Schwanken der Ansicht des nichtspezialistischen Arztes anschloss,
mag freilich darauf berubt haben, dass ihm zu jener Zeit zuf&llig kein
psychiatrischer Fachmann angehfirte.
Man kann im Falle J. nicht einmal von richtiger Simulation sprechen,
nor von einer gewissen Aggravation. Der Hfiftling hatte es ausser-
ordentlich leicht. Sobald er sich gegen die Haosordnung auflehnte,
nicht arbeiten wollte, Zeichen von Erregung vorffibrte, ward er ohne
Weiteres einer psychiatrischen Anstalt Qberwiesen und ihm der § 51
zugebilligt. Er war sich bald dieses Vorteils bewusst und ging plan-
rofissig darauf aus, ihn zu nutzen. Dass es sich bei seinem auffallen-
den Gebahren im Geffingnisse nur um ein Kunsterzeugnis handelte, geht
aus seinem ganz andersartigen Betragen in den Ahstalten hervor, wo
er die Erfahrung gemacht hatte, dass er mit seinen Matzchen nichts
erreichte. Hier war er ein fleissiger und geschickter Arbeiter von
ruhigem, gleichm&ssigem Yerhalten, an dem wirklich krankhafte Er*
scheinungen nicht zu bemerken waren. Wohl machte sich hin und
wieder eine gewisse Eeizbarkeit geltend, aber er konnte sich gleich be-
berrschen und in die (Jmstfinde ffigen. Es fehlte seinen Erregungen
vollkommen die charakteristische Rficksichtslosigkeit mit Nichtbeach-
tung aller Folgen ffir die eigene Person. Sie waren vielmehr stets
nicht nur in Susseren Vorgfingen begrfindet, sondern auch in ihren Folgen
berechnet. Niemals verlor er wirklich die Herrschaft fiber sich.
Es ist daher nicht zu bezweifeln, dass J. im Falle einer Verur-
teilung sich auch in die Gefangnisordnung zu ffigen gelernt haben wfirde.
Tatsfichlich hat er denn auch nicht nnr frfiher, ebe die Periode seiner
Exkulpierungen einsetzte, obne Stfirung Strafen abgesessen, sondern auch
spater, wie katamnestische Nachfragen ergaben, hat er im Zuchthause
unauff&llig zugebracht.
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Dr. J. Raecke,
Hubner bat einmal in einem lehrreichen Vortrage hervorgehoben,
wie gem sich Kriminelle die verschiedenartige Beurteilung and Behand-
lung durcb Gefangnisarzt and Anstaltsarzt zunutze machen, and wie
gunstig es wirkte, als infoige getroffener Vereinbarang beim n&chsten
Aufregungszustande des aus der Rlinik in die Haft Zuruckgeschickteu
statt des erwarteten Gef&ngnisarztes der Klinikarzt selbst erscbien and
die Zweckiosigkeit solcher vorget&uscbten Grregungen aaseinanderzusetzen
in der Lage war. Die „Krankbeitserscheinungen“ horten damit wie
abgeschnitten auf.
Bei J. mag man lediglicb von Uebertreibung einer tatsAchlich vor-
handenen Reizbarkeit reden. In anderen Fallen werden auch einselne
Gesichtstauschungen und Wahnideen hinzusimuliert. M5nkem6ller,
der in beweglichen Worten die schwierige Stellung des Anstaltsarztes
gegenuber der Ginweisang solcber Individuen aus den Gefangnissen ge-
schildert bat, spricht treffend von einer Aufpfropfung kunstlicher Gr-
findungen auf eine allgemeine psychopathische Minderwertigkeit. Die
Schwierigkeit liegt vor allem in der Aehnlichkeit solcher simalierten
Zust&nde mit manchen der von Bonboeffer, Siefert, Birnbanm
a. a. geschilderten degenerativen Hafterkrankangen. Indessen meinte
schon Wilmanns, dass in einzelnen derartigen Fallen wohl zunichst
eine primare Vortauschung geistiger Stdrung bestehe, bis dann mit der
Zeit, vielleicht durch eine Art von Autohypnose, der Betreffende sich in
eine hysterische Psychose hineinarbeite.
Jedenfalls ist es oft eine beikle Frage, wie weit man bei Benr-
teilung der Haft- und Strafvollzugsf&higkeit den Hauptnackdruck auf
die minderwertige Gmndlage einer solchen Pfropfsimulation legen soli.
In Zweifelsfallen wird es gewiss ratsamer sein, die Moglichkeit tatsach-
lichen Irreseins zu beriicksichtigen und sich zunachst in diesem Sinne
auszusprechen, bis der Fall etwa durch weitere Beobachtung in scharfere
Beleuchtung geruckt wird. Es ist sicher besser, lieber in solcher Rich-
tung einen Irrtum zu begehen, als umgekehrt. Jedoch darf man nicht
unter alien Umstanden hartnackig die erstmalige Auffassung festhalten
wollen, obwohl die femere Gntwicklung nahe legt, dass nur Tauschung
vorlag. Im folgenden FaUe, wo ich mich erst fiir Krankbeit entschied,
hatte bestimmt Simulation die Hauptrolle gespielt:
Fall 2 . HugoSch., 31 Jahre alt, hatte mit seinen beidenBrudernKuno and
Bruno zusammen scbwindelbafteKrankenversicherungsgesellschaften in verschie-
denen Stadten begrundet. Es wurden wohl die Versichorungsbeitrage erhoben,
aber am die Gegenleistangen wusste sich die Kasse zu drucken; gleichzeitig
wurden den Briidern als Beamte ubermassig hobe Gehalter gezablt. Als die Auf-
sichtsbehorde, auf das Treiben aufmerksam geworden, die Auflosung dieser Ver-
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sioherungsgesellschaften verlangte, riefHago alsDirektor eine„Generalversamm-
lung w ein, in der nur er and seine Brader erschienen, am darch „Beschlass u
den noch vorhandenen Kassenbestand von ca. 22000 M. „als Entsobadigung a
unter sich za teilen. Als das Aafsichtsamt nun einschritt and das Geld zuruck-
forderte, suchte Hugo mit der Summe ins Aasland za gelangen, warde aber
an der Gronze am 20. 4. 13. verhaftet; die 22000 M. warden an seinem Korper
gefunden.
Bei seiner Vernehmung am 21. 4. behauptete er, darch „Generalversamm-
lungsbeschlass u sei ihm das Geld zuerkannt worden. Sein Brader Kano ffihre
die Geschafte noch waiter. Ebenso ausserte er sich am 22. 4., machte jetzt
einen „nervosen tt Eindrack, sohrieb aach in einem Briefe, der Richter sache
ibm einen „Mord u nachzuweisen. Am 24. 4. erhob er gegen den Haftbefehl
Einspruch, er habe die Geschafte der Gesellschaft einwandfrei gefuhrt, das Geld,
stehe ihm als Gehalt za. Gleichzeitig klagte er in einem Briefe an den Brader
Brano uber Nervenzucken und drohte, den Gerichtsarzt zu verklagen.
Ebenso betonte er am 9. 5. sein gutes Recht, schrieb aber zagleicb an
einen ihm bekannten Psychiater, er moohte ihn untersachen, der Gerichtsarzt
verstehe nichts; er sei doch erst kurzlioh aus einem Nervensanatoriom entlassen
worden. Der Richter habe diese Nacht zu ihm gesagt, er habe einen Mord be-
gangen. Ferner am 15. 5. protestierte er gegen die unberechtigte Verhaftnng
und klagte uber seinen schlechten Gesundheitszustand. Es sei alles rechtmassig
zugegangen, nach ihren Satzungen sei jede Generalversammlung ohne Rdck-
sicht aaf die Zahl der erschienonen Mitglieder beschlussfahig.
Am 4. 6. drohte er jede weitere Aussage zu verweigern, aach vor dem
Schwurgericht: „Solange ich lebe, wird gut prozesst! 44 Alles frage ihn hier
aus, der Untersuchungsrichter, der Oberinspektor, der Arzt, der Anwalt, es sei
zum Weglaufen. Nur wenn er nicht mehr antworte, .bore die Fragerei auf.
Am 11.4. liess er durch seinen Yerteidiger mehrere arztliche Atteste dber
frdhere nervose Sthrungen vorlegen. Er hatte sich von Februar bis Marz wegen
Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Vergesslichkeit, Kopfschmerzen in einem Sana¬
torium behandeln lassen; ebenso vorher im Dezember an anderer Stelle wegen
Blatarmut and nervosen Herzbeschwerden, endlich im Oktober von dritter Seite
wegen allgemeiner Nervositat. In dem einen Atteste war von oberflachlicher
Sorglosigkeit und Schwache des Willens and des Urteils die Rede. Es handle
sich anscheinend am eine seit Jahren sohleichend begonnene Krankheit mit
Niedergang der psychischen Fahigkeiten and Unvermflgen, die Tragweite ge-
wisser Handlungen and Unterlassungen za ubersehen. In dem anderen Atteste
warde sogar behauptet, dass Hugo Sch. mindestens seit 2 Jahren for die im
AfTekt and in krankhafter Vorstellung begangenen Handlungen nicht verant-
wortlich gemacht warden konnte. Er sei angemein leicht reizbar, anangenehme
Eindriicke losten bei ihm Affekte aus, die nicht darch Selbstbeherrschung und
logisches Denken anterdrdckt and korrigiert wurden. In solchen Momenten
gehe ihm die Fahigkeit ab, die Folgen seiner Handlungen za erwagen.
Endlich bescheinigte der Gefangnisarzt in H., er habe den Besch. schon
vor Jahren begutacbtet. Damals sei dieser hochgradig neurasthenisch gewesen
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Dr. J. Raecke,
and sei infolge seiner Reizbarkeit bei der geringsten Kleinigkeit in grosste Auf-
regung geraten, sodass er nicht mehr Herr seiner Sinne ersohien. in solchen
Affekte babe er beleidigendeFlugblatter veroffontlicht and sei deshalb exkulpiert
worden. Er sei erblich belastet; schon die Eltern seien nervos gewesen, ein
Brader habe Selbstmord veruben wollen, der jdngste Bruder Otto sei schwach-
sinnig.
Am 12. 6. verfasste der Besch., der sich bis dahin immer noch sachge-
mass yerteidigt hatte, konfase Sohreiben, in welohen er gegen Staatsanvralt,
Richter, Gefangnisarzt allerlei Anschuldigungen erhob, bohe Entschadigungs-
ansprdche stellt, yon einem Adelspradikate sprach. Uebrigens erhob auch die
Hatter Sch. fabelhafte Beschwerden: Ihre Sdhne mfissten hungern, im Bretter-
sohlag sitzen, warden langsam zu Tode gemartert. Desgleichen richtete der
Brader Brano die heftigsten Aasfalle gegen Gericbt und Beamte.
Eigene Beobachtung: Am 2. 4. and 14. 10. besachte ich die Bruder
Scb.im Untersaohangsgefangnisse. Wahrend Kano nichts besonderes bot, ffihrte
Hugo wirre Reden, yerbat sioh erregt jedeFragerei, schlug auf den Tiscb, weinte
and gab das erste Mai keine Antworten. Das zweite Hal ausserte er: „Die Bull-
dogge scblage ioh tot, wenn sie wieder ins Haas kommt. 5—6mal kommt sie
herein, ich habe jedesmal die Tiir zugemacht. Endlichwar sierausgesprungen.“
(Blickt scbea amher, macht sonderbare Tope, nimmt den einen Fuss in die
Hand, spielt mit den Fingern daran). „lch denke fiber die Broschfire nach, die
ich heransgeben will. Die Reohtanwalte und die ganzen Aerzte, die stecken
mit dem Gericht unter einer Decke. Das will ich jetzt an die OefTentlichkeit
bringen.“
(Geld zam Drnck?) „Ach ich habe genug Geld, aber die Volker machen
einen bettelarm; das ist es ja gerade! Die Katze sass auf dem Ofen und war
so schwarz, wie das Ofenrohr. Die hat mich ganz bos angeguckt. Ich habe
dem Volk ja garnichts getan!“
(Stimmen gehort?) „Die Bade ist fur mich nicht geeignet. Das ist ja
ein Zag! Wie, wie ein Blitzzag, so geht das. Man will sich aber anch nicht
beschweren, denn die Leute haben ja genag schon. Ioh will gem 2—300 Jahre
hier bleiben, aber man soil mir meine Ruhe lassen. Ich will hier ruhig sitzen
and meine Rohe haben 1“
(Krank?) „Nein, ioh bin ganz gesund. u
(Wie hierher?) „Das weiss ich aach nicht. Ich habe ja den ganzen Tag
Unterhaltang genag. “
(Spricht wer nachts zu Ihnen?) „Ich branche ja nicht za scblafen,
ich gebe ja einfach Antwort, and wenn mir die Sache za dumm wird,
fange ich an za schimpfen. Die Sache muss ganz aus der Welt gesohafft
werden.“
(Was wird gesagt?) „Mein Vater sagte diese Naoht, ich sollte mich nicht
bezwingen lassen. Die mfissen mir alle parieren! Das ist ja aach ganz selbst-
verstandlioh."
(Spricht er oft za Ihnen?) „Mein Vater and ich, wir sind ja immer za-
sammen. u
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529
Spricht dann plotzlich wieder von der Broschiire, die or heransgeben will:
„Den Untersnohungsrichter habe ich ja schon zweimal belehrt and der Staats-
anwalt hat auch keine Kenntnisse und das Landgericbt and Oberlandsgericht
wissen auch von nichts. Das sind doch keine Zastande!"
(Woriiber belehrt?) „Da habe ich eingesehen, dass ich mehr Kenntnisse
habe wie er, und da hat er mich garnicht mehr untersucht. Das ist bezeiohnend
fur das ganze Yerhalten des Untersuchungsrichters. Er soil mich dooh rufen,
dann helfe ich ihm darauf.
(Wie liegt die Sache?) „Das ist uberhaupt keine Sache! So eine Sache
kann man im Sohlaf erledigen. Und die Anw<e? Ich weiss nicht, wofur die
Kerle auf der Welt sind! Die haben keine Ahnung! Die verstehen nicht
den blauen Teufel! Ich habe den Untersnohungsrichter in C. aufmerktam ge-
macht, den Staatsanwalt auch in M. Ich muss die ganzen Leute belehren.
Die haben die Gesetze, sind aber zu faul, in die Gesetze zu gucken. Ich kenne
das Gesetz auswendig. Der Untersuchungsrichter hat reingeguckt und hat es
falsch verstanden. Was sagen Sie dazu? Werden sie auch oine Broschiire
nehmen? Ich denke doch, dass ich 500000 bis 1 Million absetze. Die mussen
in die ganze Welt. Ich tue einzelne Filialstellen machen und die Vertreter
kriegen ein Quantum Bucher. Eine Million ! w
Auch bei dem dritten Besuche fing er gleich von der Broschiire an. Er
murmelte grimassierend vor sich hin, kratzte auf dem Tische, sagte: „Ich
werde die Brosohure doch herausgeben und vorn tu ich meine Photographic
hin. Dann weiss jeder, dass ich das Geld hatte. Die Photographic kommt
darauf ! w
Aeussert dann argerlioh: „Ich glaube, dass die Kerls mioh hier noch
vergiften. Ich habe sohon ein paar Tage Durchfall gehabt. Jetzt sehen Sie,
dass ich nicht hinaus will. Nun machen sie es auf diese Weise. u (Weint).
„Mit dem Leichenzug war es ganz anders; da waren die Pferde schwarz be-
hangen und die Musik spielte und die Leute sind hinterher gegangen. Das ist
so unniitz! w
(Wann?) „Vor ein paar Tagen. w
(Wie hierhergekommen?) „Das weiss ich ja nicht. Ich bin spazieren ge¬
gangen und da haben sie mich eingesteokt. u
Beantwortet die einfachsten Fragen nicht, will nicht einmal die Monate
wissen. Sei nie zur Schule gegangen.
Am 21. 10. erfolgte die Aufnabme in die Klinik. Die korperliche Unter-
suchung ergab folgenden Befund:
31jahriger Mann von-Uebermittelgrosse, kraftigem Knochenbau, massiger
Ernahrung, blasser Hautfarbe. Schadel ohne Besonderheiten. Sehlocher weit,
rund, gleich, verengern ” sich regdlrecht bei Belichtung und Einwartssehen,
Augenbewegungen frei. Gesicht gleichmassig bewegt. Zunge kommt geiade
heraus, zittert leicht. Stotternde, aber sonst nicht gestorte Sprache. Sehnen-
reflexe stark erhoht. Hautreflexexe ohne Besonderheiten. Tast- und Schmerz-
empfindung herabgesetzt. Gang sioher. Puls von mittlerer Starke, regelmassig.
Herztone rein. Lungen ohne Besonderheiten. Urin frei von Eiweiss und Zucker.
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530 Dr. J. Raecke,
Liegt ruhig im Bette, spricht nur leise vor sich hin and zupft Faden acs
seiner Decke. Nimmt Nahrung, schlaft aber wenig. Wird allmahlich freier,
kniipft Gespriiche mit seinen Bettnachbarn an, verlangt Zigarren, erklart dem
Pfleger, er habe Geld auf der Verwaltung. Lasst sich nicht photographieren.
Fordert Briefpapier. Zeitweise beobachtet er misstraaisch seine Umgebung und
fiihrt nnter lebhaftem Gestikulieren unverstandliche Reden. Dem Arzte gegen-
cuber zuriikhaltend in seinen Antworten.
22. 10. (Warum hier?) „Ioh bin doch vollstandig gesund, ioh weiss nicht/
(Ans Untersochungshaft?) „Ich habe so viel im Kopfe, das sind 4 bis
500 Jahre her, dass wir die Schlosser gehabt haben. Die Zeitung tut das
ja alles. u
(Welche Zeitung?) „Da muss ich ja immer hin. Die 300 Masohinen und
die ,800 Millionen Einwohner. u
(Wer Redakteur?) „Das geht ja anders, davon verstehen Sie nichts. u
(Geldmittel?) Jede Annonce von der Grosse kostet schon 80000 Mark/
(Das sehr viel) „Die Annoncc geht ja doch durch die ganze Welt, kommt
ja in alle Sprachen. 44
(In welcher Schule gewesen?) ^Schule? Weiss ich nicht! 44
(Wo aufgewachsen?) „Weiss ich nicht. Ich habe das mit der Zeitung.
Meine Photographie ist vorn darauf. Ioh habe 500 Automobile und die Eisen-
bahnstation. Die Stadt hier heisst Sch. (sein Name) Alles aussteigen! 44
(Wo liegt die Stadt Sch.?) „Weiss ich nicht. Da muss noch alles, das
ist . . . da verstehen Sie nix von! w
(Wo Ihr Vater geboren?) ^Das haben wir gar nicht. 44
Kommt Aufforderungen nur zogej-nd nach, hat dauernd die Stirn gerunzelt.
Stottert stark. Liegt oft unter der Decke und fubrt laute Selbstgespracbe.
Einmal weinte er bei der Visite, verschmahte nachher das Mittagessen. Sonst
ass er gut, hielt sich sauber. Auf Fragen antwortete er ausweichend oder
gar nicht, wollte nicht rechnen konnen. Als ihm ein Kranker mit einer Zeitung
einen leichten Schlag vcrsetzte, ward er sehr erregt, fasste nach dem Betttische
und drohte damit zu werfen. Beruhigte sich nur langsam.
8. 11. (Wie geht es?) „Ich habe ja iiber nichts zu klagen. u
(Wie lange nicht mehr?) „Da habe ich ja weniger Interesse fur; ich
habe ja mit meiner Broschiire genug zu tun. Das lasst sich ja schnell rnachen.* 4
(Wie viel davon gesohrieben?) „Ioh habe es im Kopf. Es ist ja schnell
hingeschrieben. u
• (Wie lange bei uns?) ^Weiss ich nicht. a
(Wie heisst Ihr Nachbar?) w Das weiss ich nioht. a
(Wie der Pfleger?) ^Weiss ich auch nicht. Das kann mir ja ganz egal
sein, wie der Kerl heisst, nioht? tf
(Was fur Leute neben Ihnen?) „Ganz ordentliche. a
(Kranke?) „Aoh, die sehen gar nicht krank aus! u
(Sie krank ?) ^Ioh bin nicht krank . u
(Haus hier?) ^Irrenanstalt. Was habe ich da zu tun, das mocbte ich
gern mal wissen. 44
Ga gk
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(Nicht mit Anwalt verhandelt?) ^Ach, die haben alle kein Verstandnis,
die Kerls ! u
(Wo wir uns friiher gesehen?)-
(Vielleioht im Gefangnis?) „Das kann sein, Ich habe so viel mit der
Broschure zu tun. Wenn die fertig ist, ist ja alles festgelegt. u
(Monat?) ^November. 44 (Wie vielte?) „Der 5. 44
(Wo festgenommen?) ^Ich will einfach meine Rube haben. 44
(ImSanatorium gewesen?) „Ich habe so viel mit meinerBroschure zu tun.“
(Woriiber handelt die?) „lch werde denen sohon das Gesetz beibringen,
wenn die keine Kenntnisse haben . u
(Wieso?) „Die haben ja so viel gesiindigt, dass das himmelschreiend ist. u
(Wer?) „Ueberhaupt alle! Die Rechtsanwalte und die Gerichte. 44
(Haben was gegen Sie?) „Die sind immer auf uns herum. Wir tun
nichts; aber weil die nicht das Gesetz verstehen, sitzen die auf uns. tt
(Haben Sie Porderungen?) „Wenn wir Prozesse gegen andere Leute an-
strengen, verlieren wir sie. Strengen die Prozesse gegen uns an, haben die
gewonnen! Das wird durch meine Broschure schon alles festgelegt. Die er-
soheint in Franfcreich, England und Amerika. u
(Wer tibersetzt sie?) „Ach, da sind uberall so viel Deutsche. Die setzt
man sofort ab, die Broschure. a
(Kopfschmerzen?) „Nur so ein Druck auf dem Kopf. 44
(Schlaf?) „Wenn meine Broschure fertig ist, werden sie in ganz Deutsch¬
land aufgucken. 44
(Gedachtnis schlecht?) „Ich braucbe mich doch urn nichts zu bekiimmern.
Ich muss hauptsachlich sehen, dass meine Broschure genugend Absatz findet. a
^Wenn wir jemand anzeigen, dann ist es einZivilprozess! Ist es aber wirklich
ein Zivilprozess, ist es eine Strafsache! Der Honsbroch hat das Schloss von
uns durch Schwindeleien erworben. Unsere Vorfabren batten doch ein Schloss;
das hat er einfach so eingesteckt. Wie heisst noch das Nest? Er wohnt ja
selbst darin. Unsere Vorfahren waren Freiherren. Warum wir jetzt anders
heissen, weiss ich nicht. Wir suchen das jetzt festzustellen. 44
Unterhielt sich in der naohsten Zeit viel mit anderen Kranken, suohte auf
den Korridor vor dem Waohsaal hinauszugelangen, hatte in seinem Nacht-
schrankchen eine abgerissene Eisenklammer versteckt.
20. 11. Abends plotzlich erregt, wirft mit einem Glas nach der Nacht-
wache. Wird auf die unruhige Abteilung verlegt, wo er sich sogleich beruhigt
und geordnet benimmt.
21. 11. Bittet bei der Visite urn seine Riickverlegung nach dem oberen
Saale.
(Woriiber erregt?) ^Da karaen 2 Kerls und haben mich einfach herunter-
geholt. u
(Geworfen mit Glas?) n Ach, die haben mich heruntergeholt. Seitdem
bin ich hier. a
(Mit Glas geworfen?) „Ich habe Kaffee getrunken und da sind sie ge-
kommen, mir nichts, dir nichts sind sie dagewesen. Ein ganzer Trupp war
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Dr. J. Raecke,
das. Die haben wohl koine Betten mehr und darum daohten sie, sie schaffen
mich ranter. Komm ich wieder rauf? tf
(Waram mit Gias geworfen?) „Ja, wenn der das sagt, ioh weiss es nicht
Ich weiss nur, dass sie geko,mmen sind. u
(Denken Sie naoh!) „Aoh, der hat vielleicht getraumt oder hat ge-
schlafen. Er miisste ja verwundet gewesen sein! Ioh weiss von nichts. Komm
ich nicht wieder hinauf? u
(Gefahrlich, wenn Sie nicht wissen, was Sie tun.) n Ach, die kdnneii
doch die Glaser wegstellen. u
(Sonst auch schon so geworfen?) Laohelt: „loh wfisste nicht, dass ick
schon jemand totgeschmissen habe. a
(Gern oben?) ^0, ja, Pfleger sind gut und Aerzte. Ioh habe fiber nichts
zu klagen. a
Nennt auf Befragen die Namen von Kranken, aber nicht von Pflegern
oder Aerzten. Gibt an, er wolle jetzt eine Reise um die Welt antreten. Ent-
fernt sich mit spottischer Verbeugung: ^Guten Abend, Herr Professor!* 4 Seine
verschiedenen Briefe an die Aerzte und Angehorigen waren stets kindlich ab-
gefasst und merkwurdig unorthographisch. So schrieb er z. B.: ^Schon
2 Wogen bin ich im Bet heute as ich einen Hering und Kartofln. Ich muss
mog einen Lebensblann schrepen hete aber noch . . . schickt 1 Giste Cikaren
und einiche siisigkeiten.“ Bei Intelligenzfragen antwortete er sofort mit
Vorbeireden.
Das ganze Verhalten machte von vornherein einen ubertriebenen und stark
gekiinstelten Eindruck. Indessen war zu bedenken, dass es sich nach der
Vorgeschichte um einen schwer belasteten Psyohopathen handelte, der seit
Jahren nervose Erscheinungen gezeigt hatte, und dass bei derartigen degene-
rativen Individuen in der Untersuchungshaft die eigenartigsten Formen psy-
chischer Storungen vorubergehend vorkommen. Eine Dementia praecoz war
dagegen nach Vorgeschichte und Krankheitsbild weniger wahrscheinlich. Jeden-
falls erschien er zur Zeit nicht verhandlungsfahig. Um dem Gericht die Mdg-
lichkeit zu geben, die Sache gegen ihn abzutrennen und zunachst gegen den
Bruder allein zu verhandeln, ward unter solchen Umstanden folgendes Gut-
achten abgegeben:
Gutachten.
Hugo Sch. ist zur Zeit geisteskrank.
Er fuhrt verwirrte. Reden, vollfuhrt sonderbare Handlungen und tragt eine
Reihe von Wahnvorstellungen vor, scheint auch vorfibergehend an Sinnes-
tauschungen zu leiden. Er neigt zu plotzlichen Erregungen und will sich der
einfachsten Dinge nicht erinnern kdnnen, weiss aber anderersqits offenbar fiber
seine Situation ganz gut Bescheid.
Dieses etwas widerspruohsvolle Krankheitsbild, das er zur Zeit bietet,
macht keineswegs den Eindruck einer alten chronisohen Verrficktheit oder
eines Falles von Spannungsirresein, sondern ahnelt nooh am moisten gewissen
hysterischen Haftpsychosen, wie sie bei dazu veranlagten, moist von Haus aus
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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stdrung. 533
minderwertigen Individuen gelegentlich in der Untcrsuchungshaft ausbrechen,
nm spater wieder vollstandig zu verschwinden. Man hat sie wegen ihrer Ent-
stehung durch ungliickliohe Sitoationsbedingungen treffend Situationspsychosen
genannt. Sie machen wohl den Betreffenden vorubergehend haft- und ver-
handlungsunfahig, laufen aber in verhaltnismassig kurzer Zeit wieder ab und
erlauben an sich niemals schon den Schluss auf Unzureohnungsfahigkeit zur
Zeit der Begehung der Tat.
Die Frage, ob Sch. bereits bei Begehung der ihm zur Last gelegten
Handlungen der freien Willensbestimmung entbehrte, muss an der Hand der
Akten erortert werden. Es ist beachtenswert, dass er einmal in M. auf Grund
des § 51 freigesproohen worden ist, dass er sich zur Behandlung in einer
Nervenheilanstalt aufgehalten hat und dass er nach Ansicht des Gefangnisarztes
von H. schon langer an einem chronischen Nervenleiden erkrankt gewesen ist,
in welchem er nicht immer Herr seiner Sinne gewesen sein soli. Unter diesen
Umstanden bedarf jene Frage einer grundlichen Prufang:
Der Besch. stammt aus einer erblich sehr belasteten Familie. Beide
Eltern werden als nervos bezeichnet, dazu die Schwester und der eine Bruder.
Zwei Bruder sollen geistig minderwertig oder direkt schwachsinnig sein. Der
letzte Bruder schreibt hochst sonderbare Eingaben, ist mindestens ebenfalls ein
Psychopath. Der Besch. selbst hat als Kind Rachitis und eine Kopfverletzung
gehabt, lernte schwer, kam nur bis Untertertia, wurde dann Kaufmann. Er
war blutarm und hatte ausser Lungenspitzenkatarrh zahlreiche nervosa Be-
schwerden, wie Herzersoheinungen, Kopfschmorzen, allgemeine Schwaohe,
grosse Reizbarkeit. Vom 13. 2. bis 22. 3. 13 befand er sich zur Behandlung in
der Nervenheilanstalt H. in B. y naohdem angeblich infolge einer missgliiokten
Verlobung seine Nervositat eine Verschlimmerung erfahren hatte. Ausserdem
liess er dort eine syphilitische Ansteckung mit Hg und Salvarsan behandeln.
Ein damals erstattetes Gutachten von W. betont nervose Schlaflosigkeit,
Erregbarkoit, Yergesslichkeit, Unfahigkeit zu geistiger Arbeit, Schwaohe
von Willen und Urteil. Die ganze Schilderung maoht den Eindruck
einer sohweren Neurasthenie, nicht einer eigentlichen Geisteskrankheit. Die
Verneinung der Zurechnungsfahigkeit geschah nur im Hinblick auf solche
Falle, in denen sich Sch. durch seine krankhafte Erregbarkeit im Zorn zu einer
Affekthandlung hatte hinreissen lassen oder in der Zerstreutheit sich einer
blossen Unterlassung schuldig gemacht hatte.
Von einer derartigen nervosen Affekthandlung kann nun aber im Hinblick
auf die dem Besch. jetzt zur Last gelegten Straftaten nicht wohl die Rede
sein. Das ganze Vorgehen ist mit voller Ueberlegung und Konsequenz im
Einvernehmen mit dem Bruder Kuno erfolgt, hat sich iiljer eine langere Zeit
erstreckt, und der Besch. hat nachher nicht nur Erinnerung an die Einzelheiten
der Tat gezeigt, sondem er hat sein Tun immer als berechtigt zu verteidigen
gesucht und mit Geschick nach Entsohuldigungsmomenten sich umgesehen.
Wenn somit auch nicht bestritten werden soli, dass Hugo Sch., wie das die
friiheren Gutachter betont haben, seit Jajiren nervos leidend ist, so erscheint
es doch im hbchsten Grade zweifelhaft, ob diese Nervositat jemals zu einem
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534
Dr. J. Raecke,
solohen Grade geistiger Storung Veranlassung gegeben hat, dass dadurch Auf-
hebuDg der freien Willensbestimmung bei Ausfuhrung der heute in Frage
stehenden Straftat begrundet werden konnte.
Die zur Zeit bestehende Geistesstorung.macht, wie bereits oben hervor-
gehoben wurde, schon ihrer Form nach durohaus den Eindruck einer in der
Haft ansgebrochenen Erkrankung. Auch die Durchsioht der Akten gibt uns
Anh<spnnkte fur die gleiehe Annahme. Alierdings ist sogleich nach der Ver-
haftung an Soh. eine grosse Nervositat dem vernehmenden Amtsrichter auf-
gefallen, so dass dieser die Untersuchung durch den Kreisarzt veranlasste,
auch bat Sch. in einem Briefe die merkwiirdige Behauptung aufgestellt, der
Richter habe ihm nachts gesagt, er wollte ihm einen Mord nachweisen; allein
im ubrigen sehen wir anfangs in alien Vernehmungen dauornd saehgemasse
Beantwortung der Fragen und zweckentsprechende Verteidigung. Auch die
Briefe enthalten lange Zeit hoohstens Klagen fiber Zunahme der uervosen Be*
schwerden, wie Nervenzucken, Kopfschmerzen, dann im Juni die Behauptung,
er wisse nicht mehr, was er vor einer Viertelstunde gesagt habe. Dann folgen
Klagen iiber die ewige Fragerei; er werde iiberhaupt nichts mehr antworten.
Erst am 12. 6. beginnt der Besch. konfuse Schreiben zu verfassen, in
denen er gegen Staatsanwalt, Richter, Gefangnisarzt allerlei Anschuldigungen
erhebt, als wolle man ihn zum Meineid verleiten und toten oder ihm den Adels*-
titel zusprechen u. dergl. Von hier ab also setzt deutlich die psychogene
Hafterkrankung oin. Bei den verschiedenen (Jntersuchungen im Oktober und
November vermochte ich stets das gleiehe Bild zu konstatieren, wie es oben
schon geschildert worden ist. Daraus wurde aber hervorgehen, dass die zur
Zeit hervortretende Geisteskrankheit des Sch. erst in der H&ft entstanden ist.
Solange diese neue Erkrankung nioht abgelaufen ist, erscheint es begreif-
licherweise misslich, ein endgultiges Gutachten iiber den gewohnlichen Geistes-
zustand des Besch. abzugeben. Immerhin durfte die uberwiegende Wahrsohein-
lichkeit meines Erachtens schon heute fur die vorstehend niedergelegte Auf-
fassung des Sachverhaltes sprechen. Zusammenfassend gebe ich mein Gut¬
achten dahin ab:
1. Hugo Sch. ist in der Haft geistig erkrankt und zur Zeit weder haft*
noch verhandlungsfahig.
2. Er leidet zwar seit Jahren an schweren nervbsen Storungen, doch
fehlen geniigende Anhaltspunkte fur die Annahme, dass er sich zur
Zeit der Begehung der ihm jetzt zur Last gelegten Handlungen in
einem Zustande krankhafter Storung der Geistestatigkeit befunden
hatte, durch welchen die freieWillensbestimmung ausgeschlossen war.
Kaum hatte der Besch. durch seinen An wait von diesem Gutachten
gehort und begriffen, dass jetzt vermutlich gegen seinen Bruder allein ver-
handelt werden wurde, ohne dass er doch auf spatere Freispreohung auf Grand
des § 51 zu rechnen hatte, so anderte er sein gesamtes Verhalten. Er benahm
sich nun vollig geordnet, horte auf zu stottern und zu grimassieren und ver-
langte den Arzt zu sprechen. In fliessender Form trug er ihm folgendes vor:
„Ioh wunsche, dass das Gutachten aufgehoben wird, da keine Geisteskrankheit
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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung.
535
vorliegt. Es wird ja auoh keine Broschiire gemacht mit 500000 bis 1000000
Exemplaren und kein Blitzesehen und mit Verstorbenen sprechen, das ioh bei
den Vernehmungen angegeben habe. Ich kenne ja samtliohe Symptome der
Geisteskrankheit. Ich habe auoh nioht mit einem Glas geworfen damals,sondern
nur mit Filzpantoffeln. tt
(Stadt Sch. griinden?) „Ja, das habe ioh auoh gesagt und ein Zeitungs-
unternehmen mit 800—900 Millionen Exemplaren! Uan kann hochstens mit
800 Abonnenten anfangen. u
(Warum das alles erzahlt?) „Das kann ja kein Mensoh glauben, ioh auoh
nioht! u (Laoht.) „Das habe ioh absichtlioh gemaoht. Ich dachte, ioh konnte
dadurch Geld sparen fiir die Yerteidigung. Auoh das mit meinen Photo-
graphien in der Ecke an den Zeitungen und 1060 Ballen Papier tagiich, das
habe ich alles nur so gesagt . a (Hatte das tatsachlich fruher erzahlt.)
(Warum so gestottert?) „Das kann man dooh leicht nachmachen. u
(Lacht.) '
(Geschichte mit Bulldogge?) „Ach, das war bei der 2. Vernehmung im
Untersuohungsgefangnis. Aber da habe ich auoh keine Bulldogge gesehen.
Als Sie dann sagten, das genugt! (Zum Schliesser tatsachlioh gesagt), da habe
ich gedaoht, dass ich bald frei kommen wurde. a
, (Meinten, Verfahrenwurdewegen IhrerGeisteskrankheit eingestellt?) „Ja. w
(Nioht gedaoht, dass Fall abgetrennt wurde?) „Nein, das habe ioh nioht
gedaoht gehabt. u
(Auoh gesproohen von sohwarzer Katze?) Lacht: „Ja, das habe ioh auoh
gesagt. Ioh habe weder Katze noch Ofenrohr gesehen. u
(Wollten 2—300 Jahre bleiben?) „Gewiss, wohl im UntersuchungsgefSng-
nis!“ — Lacht hohnisch.
(Filialen?) „Ja, ich habe gesagt, ioh wiirdeFilialen griinden. Ich mochte
bloss wissen, wer sioh fiir meine Strafsache interessiert! Kein Mensoh. Ioh
wurde mich doch nur selbst blamieren, dass ioh mit 30 Jahren schon Konkurs
gemacht habe. Was soli nun noch meine Photographie dabei? u
(Nie zur Sohule gewesen?) „Ach, ja, so habe ioh gesagt und Sie haben
gesagt: Wir sind doch hier in Deutschland! w (Tatsaohliche Aeusserung.)
(Vergiftungsfnrcht gehabt?) „Das sagte ioh nur, urn das Misstrauen zu
begrunden, das gewbhnlich bei Geisteskranken besteht. a
(Kopfschmerzen gehabt?) „Das habe ich vor allem gesagt, weil Dr. E.
ausgesagt hatte, ich ware schon 2 Jahre geisteskrank, ioh wollte ihm keine
Unannehmlichkeiten machen und das Oberlandesgerioht verlangte eine ausfuhr-
lichere Begrundung. Ich war damals krank, als ioh zu Dr. E. kam. Ich habe
das ja alles gewusst mit der Broschiire und konnte mir nioht anders helfen.
Ioh wollte Dr. E. nioht hineiniegen. Ioh habe mir so viel Gedanken gemacht
in der Untersuchung. u
(Nach Verhaftung behauptet, des Amtsriohters Stimme zu horen, die
Ihnen Mord vorwarf?) „loh dachte, ioh wurde dann vielleicht entlassen. 44
(Warum in Nervenheilanstalt B.?) „Ioh hatte so eine Sohwaohe, wohl
duroh Syphilis. 11
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536 Dr, J. Raecke,
(Klagten Reizbarkeit and Kopfdruck?) „Ach, ich bin besonders wegen
meiner Beleidigungsklage bingegangen. 41
Sagt: „Ich mochte vor allem, dass die Gemeingefahriiohkeit aufgehoben
wird. Geisteskrankheit ist koine Sobande, es ist ein Zeichen, dass man den
Kopf angestrengt bat. Ich sohlage aber keinen tot, ich mochte verhandelt
werden. w
(Ihnen recht, dass vor Gericht alles zur Sprache kommt?) „Gewiss, wir
laden nnsere Entlastungszeugen, dann ist alles erledigt. u
(Fruher gesagt, Sie woliten nicht sprechen?) „Jetzt besteht nicht die Ab-
sicht. Stande das nicht in der Anklageschrift, wdsste ich das dberhanpt nicht
mehr. Ich habe immer dieWahrheit gesprochen and da hiess es, es seienAus-
fluchte. Die sollten doch froh sein, wenn einer die Wahrheit spricht! Mein
Anwalt wollte mir auch nicht glauben, dass ich nicht iiber die Grenze wollte. u
(Antwort auf Anklageschrift?) „Ach, mein Rechtsanwalt hat schon In¬
formation, ich mochte zur Schwurgerichtsverhandlung, ins Untersuchungs-
gefangnis, nur dass ich nicht mehr hierher zuruckgebracht werde. u
An seine Angehorigen schrieb er jetzt folgenden stilistisch and ortho-
graphisch fehlerfreien Brief:
„Meine Lieben!
Herzlichen Gliickwunsoh, ich habe die Anklage erhalten, 42 Seiten ist
sie lang, obwohl der Inhalt derselben nicht die Welt erschuttern kann. In den
nachsten Tagen werde ich sie Each zasenden and fertige dann noch eine Ab-
schrift fur Herrn £. in M., da ich ihn doch zuziehen mochte, umsomehr als
der K. Bdrgermeister auch als Zeuge goladen ist and Letzterer aosgesagt hat,
er wiisste nicht, wovon die Familie Sch. leben wurde.
Was meine Geisteskrankheit anbelangt, so habe ich hente mit Herrn Prof.
R. noch gesprochen, wie er mich fur geisteskrank bezeichnen konne. Wir
miissen mal sehen, was sich jetzt machen lasst. Jedenfalls findet die Schwur-
gerichtssitzung nicht eher gegenKano statt, bis dass dasGatachten der hiesigen
Irrenanstalt aufgehoben ist. Dass samtliche Symptoms der Dementia praecox,
Paralyse and Paranoia in einen Kessel geworfen sind, ist doch aus dem Gat-
achten klar und deutlich zu ersehen. Mir geht es gut, lasst sioh doch denken
and ich habe mich hier adch gut erholt, so dass meine Absicht, mich vor der
Schwurgerichtssitzung wieder vollstandig herstellen zu lassen, ansj&tt nach
dem Freispruch jeden Tag 10—12 M. an ein Sanatorium zu bezahlen, doch als
gat bezeichnet werden muss. In 6Wochen habe ioh ca. 6 Pfund zugenommen.
Der Schlaf ist auch gut, weshalb von einer innerliohen Erkrankung keine Rede
sein kann. Mein korperliches Befinden ist also tadellos.
Was die Anklage anbelangt, so ist sie nicht der Rede wert, obwohl man
sich bei der Staatsanwaltschaft ja tuohtig angestrengt hat. Es ist keine Sache.
Rechtsanwalt J. hat Information, obwohl ich ihm noch etwas mitzuteilen habe.
„Mancher Rechtsanwalt konnte froh sein, wenn er Ihre Kenntnisse in diesen
Sachen hatte, u sagte J.; die Sache ist zu kleinlich: ware ich aber auf freiem
Fosse geblieben, ware es nicht zu einer Anklage gekommen. Fur die Urteiis-
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537
begriindung des Oberlandesgerichts habe ich Interesse und war os demnach
doch gut, dass Kuno meinem Rat, Revision einzulegen, Folge leistete. Sohickf
die Begriindung also mal heriiber. Wie geht es Euch sonst? Mimis Brief und
das Paket erhielt ich. Zigarren senden ist nicht notwendig, denn ich will mir
das Rauchen doch ziemlich abgewohnen.
Dem J. braucht Ihr nicht eher Geld zu sohicken, bis dass die Hauptver-
handlung anberaumt ist bezw. das Gut&chten aufgehoben ist; jedenfalls soil
gegen Kuno und mich am gleichenTage verhandelt werden, selbstverstandlich
nachdem das Gutachten aufgehoben ist, andernfalls braucben wir uberhaupt
koine Reohtsanwalte.
Ich grusse Euch bestens nnd rufe auf Wiedersehen zu. Kuno kann mir
mal schreiben. Hugo.“
Auf Mitteilung an das Gericht, nachdem sioh diese plotzliche Aufhellung
von Bestand gezeigt hatte, dass Hugo Sch. wieder haft- und verhandlungsfahig
sei, wurde er sehr zu seiner Befriedigung am 24. 12. 13 wieder in das Unter-
suohungsgefangnis zuruokverbracht. Er scbrieb dann aus der Haft noch mehr-
fach an die Aerzte der Klinik. Die Briefe seien hier mitgeteilt:
Brief 1.
Mein lieber Herr Dr. G.!
' Bin gut angekommen und sende freundliohe Grusse. Vielleicht kommen
Sie mit Freunden mich nooh mal besuchen. Es eilt. Je vous serre amicale
la main. Votre H. S.
Brief 2.
Hochverehrter Herr Dr. G.!
Zum Jahreswechsel moohte ich mir gestatten, Ihnen meine herzlichsten
Gluckwunsche darzubringen.
Ich denke noch oft an den „Feldberg“ zuriiok und wenn ich nicht daran
denke, werde ich des Nachts um 2 Uhr von der Runde darauf aufmerksam ge-
macht, dass ich hier nicht auf dem Feldberg sei und die anderen Gefangenen
scblafen wollten.
Immerhin kann ioh nicht umhin, auszudrucken, dass es mir gut geht
und die neunwochige Kur droben viol dazu beigetragen hat, dass ioh nunmehr
die Welt mit anderen Augen ansehe.
Wenn es aber bis zur Sohwurgerichtssitzung noch lange dauem sollte,
muss ich mir uitbedingt gestatten, da oben auch wieder vorzusprechen, denn
icb vermisse sehr das Bett auf C 2.
Genehmigen Sie die Versicherung meiner besonderen Hoohaohtung
ganz ergebenst H. S.
Brief 3.
Herr Professor! 30. 1. 14.
In meiner Zivilsache Sudwestdeutsche sollen Sie auf Anordnung des Ge-
richts nochmals vernommen werden. Da Ihnen geniigend bekannt sein diirfte,
ArefclT f. P*r«hlatri*. Bd. 40. Heft 3/S. 35
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Dr. J. Raecke,
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dass ich nicht auf meinen Geisteszastand untersucht sein wollte, das dm
Oberlandesgericht anch seinerZeit mitteilte, so mochte ich es doch nicht niter-
lassen, die Aussage bei meiner letzten Vernehmung dahin rich tig zu steilen,
dass ich sowohl in S. von dem Gefangnisarzte als wie auch in Z. Brom aid
Aspirin verschrieben bekommen babe, wesbalb hierans wohl der Sohlnss ge-
zogen werden diirfte, dass die Angabe dem Herrn Kreisarzte gegendber der
Richtigkeit entspricht. Jedenfalls kann ich mich in meiner Strafsache, in der
das letzte Wort noch nicht gesprocben ist, nicht auf meinen Geisteszastand
untersuchen lassen, abgesehen davon, dass die aufgestellte Anklage uberhaapt
vollstandig unricbtig war and an Hand dieser einem Psyohiater nicht moglicb
sein kann, ein Gutachten iiber jemanden abzugeben, dass letzterer die „straf-
bare Handlong“ in einem Zustande der Bewusstlosigkeit oder krankhafter Stb-
rnng der Geistestatigkeit began gen hat.
Dass ich meinem Verteidiger 2 Tage vor der Hauptverhandlnng erst In¬
formation gab, diirfte Beweis genug sein, dass eine strafbare Handlnng nicht
vorliegt und mir wenig Kopfschmerzen macht.
Genehmigen Sie die Versicherung meiner besonderen Hoobachtung
ganz ergebenst H. S.
Auch bei der Hauptverhandlung betrng er sich darchaus geordnet, ver-
teidigte sich and seinen Brader gewandt and zeigte ein ausgezeicbnetes Ge-
dachtnis fur alle Einzelbeiten. Nach seiner Verorteilang trat kein Backfall ein.
In die6em Fdlle war mir das gekiinstelte Benehmen zwar gleich
bei meinem ersten Besuche im GefJLngnisse aafgefallen und war der
Grand gewesen, wesbalb ich die Vorbesuche zweimal wiederholte, ehe
ich mich entschloss, nach § 81 St. P. 0. den Antrag auf Einweisung in
die Eiinik zur Beobachtung zu steilen. Allein die aktenmSssige Tat-
sache, dass es sich um einen alten Psychopathen handelte, der schon
in einer Nervenheilanstalt behandelt und einmal exkulpiert worden war,
mahntezur Vorsicht. Das phantastische Krankheitsbild, das er alsdann
in der Klinik bot, konnte eine Situationspsychose bei einem degenera-
tiven Individuum vorstellen. Jedenfalls war es praktisch der sicherere
Ausweg, ihn einstweilen fur weder haft- noch verhandlungsfahig zu
erklaren and damit Zeit zu l&ngerer Beobachtung zu gewinnen. Da
trat die Mdglichkeit ein, dass gegen seinen Brader, welcher au sich die
Nebenperson gewesen war, allein verhandelt wurde, und das zu ver-
hindem hatte er alles Interesse. Sofort mit einem Schlage trat die
Aafhellung ein und erwies sich als best&ndig.
Nun kdnnte man trotzdem meinen, es babe eine Art von D&mmer-
znstand ursprunglich vorgelegen. Das unorthographische Schreiben and
die Unkenntnis der einfachsten Dinge, die Unf&higkeit zu recbnen, die
Verfolgungs- und Grdssenideen und die Geh5re* und Gesichtst&uschoo-
gen seien echt gewesen und erst mit Ablauf des D&mmerzustandes ver-
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/
Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stoning. 539
schwunden. Indessen was dagegeb spricht, ist doch wohl die Tatsache,
dass Sch. sich seiner falschen Antworten wie der Frage und Aeusserun-
gen des Antes gat entsann, selbst daruber spottete und ihre Entstehang
aas der Absicht der T&uschung erkl&rte. Er hatte sich, vermutlich bei
seinem fruheren Aufenthalte in einer Nervenheilanstalt, allerlei psychi-
atriscbe Eenntnisse erworben und diese anscheinend bewusst zuT&uschungs-
zwecken verwertet. Er war ein schlauer und gewandter Mensch, der
jabrelang grossartige Versicherungsschwindeleien betrieben hatte. Ob
er bei seiner fruheren Freisprechung auf Grund des § 51 aucb binzu-
gemacht hatte, sei dabingestellt. Zweifellos war er ein sehr erregbarer
Menscb, so dass etwaige Affektdelikte bei ihm doch anders zu beurteilen
waren, als bei dem Gesunden. Seine Simulation wurde ihm eben durch
diese krankhafte Grundlage sehr erleichtert, dem Sachverst&ndigen da-
gegen die Aufgabe erscbwert. Man darf dafaer bei diesem Psychopathen
wohl auch noch besser nur von Aggravation sprechen.
Reine Simulation lag dagegen in folgendem Falle vor:
Fall 3, Jakob F., 22 Jabre alt, Krankenwarter aus Holland, wegen
Bettelns vorbestraft, kam am 24. 12. 1917 nacbmittags 8 1 j 2 Uhr in ein Gast-
haus ersten Ranges, gab sich fur den „K5nig von Frankreich" aus und ver-
langte ein Zimmer. Auch einem herbeigerufenen Kriminalsohutzmanne gegen-
uber behauptete er. Konig von Frankreioh zu sein. Naheres war fiber seine
Person nicbt festzustellen, da er auf alle Fragen nur sntwortete, er sei Kdnig
von Frankreich. Er ward verhaftet, vom Kreisarzte untersucht und fur „gemein-
gefahrlich geisteskrank u erklart, und der Anstaltspflege bediirftig.
Am 27.12. erfolgte seine Einlieferung in die hiesige Klinik. Bei der
Aufnahme zeigte er sich ruhig und geordnet, ausserte koine Wahnideen mehr.
Die korperliche Untersuohung ergab in der Hauptsache folgenden Befund:
Mittelgrosser Mensch von mittelkraftigem Korperbau und mittlerem Ernabrungs-
zustande. Sehlocher sind mittelweit, gleich und verengern sich gut bei Be-
Hchtung und Einwartssehen. Keine Lahmungen. Rachen ohne Besonderheiten.
Sebnenreflexe lebbaft. Tast- und Sobmerzempfindung nicbt gestort. Innere
Organe bieten keine Abweichung von der Regel.
Auf Befragen gab er seine Personation bereitwillig an und erklarte weiter:
„Ich babe vorige Woche, nacbdem iob mich pekuniar schlecht gestanden babe,
eine Depesche an meine Eltern aufgegeben, dass sie mir Geld schicken sollten,
Ich war in Nfirnberg in Stellung. Jetzt batte icb aber keine Bescb&ftigung
mehr and ging von Nurnberg nach Wurzburg, dort habe ich aber auch nichts
bekommen. Von dort aus ging icb naoh Aschaffenburg. Urn 11 Uhr 20 bin
ich am Montag nach Frankfurt gefabren. Am Ostbahnhofe kam ich an mit
etwa 4,50 M. Bei der Hauptpost habe ioh mich dann erkundigt, ob fur mich
schop was eingetroffen ist, es war aber noch nichts da. Ich wollte dann zum
Niederlandischen Konsulate und urn eine kleine Unterstutzung bitten. Des
Nacbmittags zwischen 4 und 5 Uhr fiel mir aber ein, dass morgen Weihnachten
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Dr. J. R&ecke,
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sei. Im ganzen hatte ich noch 3,50 M. oder 80, ioh weiss es nicht mehr genau,
davon konnte ich keine 3 Tage leben. Das Sohlafen in der Wirtsch&ft kostet
mindestens 80 Pfennig©. Ich bin dann schliesslich darauf gekommen, mich auf
Staatskosten verpflegen zn lassen. Von Bernf bin ich Krankenpfleger and
Heilgehilfe. Ich konnte anf keine gescheitere Idee kommen, als Grossenwahn
vorzuspielen, am in der Irrenanstalt verpflegt zu werden. Hieraufbegab ich
mich in den H. Hof, am ein paar Zimmer za mieten.' Es war aber nichts fra.
Ich fragte dann den Ober, ob er wisse, wer ich bin. Er meinte dann, woher
soli ioh das wissen? Ich sagte dann: Ich bin der Konig von Prankreich! Da
war er sofort ganz anders: Geruhen Ew. Majestat, Platz za nehmen, and hot
mir einen Sessel an. In welch er Etage geruhen Ew. Majestat za wohnen? Er
entfernte sich dann, um mit dem Direktor za sprechen, telephonierte aber der
Polizei. Als er wiederkam r sprach ich etwas franzosisch. Wie er aber dann
auoh anting, franzosisch zu sprechen, musste ich simulieren. Inzwischen kam
ein Kriminalschatzmann and ersaohte mich, mich za legitimieren. Ich darfte
mich aber nicht verbldffen lassen and masste dann mit zur Polizei. Nan dachte
ich, meinen Zweck erreicht za haben and in die Irrenanstalt za kommen.
Man behielt mich aber 3 Tage dort, die Transportgelegenheit sei za schlecht.
Anstatt nan gat verpflegt zu werden, masste ich aber die Feiert&ge dort
bleiben. Die Herren Aufseher wagten sich auch nicht in meine Zelle. Wenn
sie mir etwas zu essen brachten: Ew. Majestat geruhen za essen! Als ich hier-
her gefahren wurde, fragte ich meinen Begleiter, wann ich in mein Palais
komme. Selbstverstandlich wusste ioh, dass ioh jetzt in die Irrenanstalt komme.
Gestern morgen, als ich im Automobil hergefahren wurde, fragte mich der
Kriminalschatzmann, ob ich denn wirklich verruckt ware. Ich sagte: Wir sind
ja an ter ans. Er sagte, ioh sollte ihm ruhig alias anvertrauen, es liege ja
weiter niohts gegen mich vor, and ich habe es ihm dann erzahlt. Er sagte
mir noch, ich solle aber nichts weiter erzahlen, sonst konnte ich noch wegen
groben Unfags bestraft werden. Herr Dr., ich habe gehort, im St&dtischen
Krankenhause waren Stellen als Pfleger frei; vielleicht konnte ich auoh wieder
nach Mannheim in meine alte Stelle u .
(Warum dort fort?) „Ich habe dort zu wenig verdient. Mein Gepack.
habe ioh auch noch auf der Bahn liegen, das kostet auch jeden Tag was.
Ich habe noch eine Eilkarte aufgegeben; hoffentlich ist das Geld inzwischen
eingetroffen, wenn nicht, bekomme ich so ungefahr 30 M. vom Konsulat. Es
war mir ja nur darum zu tan, die Weihnachten angenehm zu verbringen. Das
Konsulat war aber geschlossen, sonst ware es ja besser, wenn ich den Streich
nicht gemacht hatte. Wenn man aber Hunger hat, dann kommt man ebon
auf solche Gedanken. Voriges Jahr war ioh ja auch hier im Haase als Pfleger,
ich dachte, es ist hier besser, als garnichts. Von den paar Mark hat man mir
auch nooh 2 M. abgezogen wegen Verpflegung t£ .
(Warum hier fort?) „Eben aus demselben Grunde. u
(Wielange hier gewesen?) „Etwa 3 Wochen, das Geh< war ja ziemlicb
gut. Von hier ging ioh nach Wiesbaden. Dort bin ioh mit Herrn Dr. F.
bekannt geworden. Er war dort im Operationssaal. Ueber meine Fuhrung
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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 541
konnen Sie sich bei Herrn Dr. F. erknndigen. Von dort ging ioh nach
Mannheim tt .
(Warum soviet gewechselt?) „Ich babe gate and schlechte Stellangen
gehabt. In Nnrnberg war ioh angefabr 5 Woohen im St. Krankenhanse, babe
doTt etwa 104 H. verdient. Ich war aber nur Ausbilfspfleger 1 *.
(Warnm nicbt in Holland geblieben?) „Am 5. 10. 1915 bin iob von
Holland fort, ich babe ja auch ganz gate Stellangen bekommen. Ich wollte
mal in einen lebhafteren Betrieb, mich mal in einem kriegfdhrenden Gross*
staat amseben. Etwas Abentenerlichkeit kann ja aach wohl mit in Betracht
kommen“.
(Wenn wir Sie nicbt fortlassen?) „Wenn Herr Dr. meinen Geisteszastand
priifen wiirden. u
(Schon in Anstalt gewesen?) „Nein, noch nie.“
(Wenn ich Sie als krank befinde?) „Dann mass icb mich Ibrer Ent-
scheidung unterwerfen.“
(Wenn wir Sie 1 Jahr festhalten?) „Ich babe sohon Strafe genug gehabt u .
(Wo znr Scbole gewesen?) „ln Amsterdam. Ich babe bis znm 14. Jahre
die Elementarschale besacht, dann Unterricht in engliscber and franzosischer
Sprache genommen 1 *.
Untersachung ergibt keine Zeichen von Schwachsinn oder sonstige Auf-
falligkeiten. Krampfe will er nie gebabt haben. War aach als Pfleger in
seinen Leistnngen ordentlich gewesen. Pnmpt Bekannte urn Geld and Zigaretten
an, schreibt geordnete Briefe. 2.1. 1918 entlassen.
Die Beurteilung gelingt in diesem Falle, wo keine eigentliche Straf-
tat vorlag, sondern lediglich die augenblickliche Notlage den Wunsch
zur Simulation hatte emporschiessen lassen, sehr viel einfacher als sonst.
Das Geat&ndnis des Mannes kann ohne Weiteres als vollgultig belrach-
tet werden, zumal die Persbnlichkeit selbst uns von ibrer fruheren
Krankenpflegert&tigkeit her bekannt war. Immerhin war der gew&hlte
Ausweg aus der Geldverlegenheit etwas ungewbhnlich und eben auch
auf einer gewissen psychopathischen Grundlage erwachsen. Der fruhere
Beruf, die Kenntnis psychotiscber Zust&nde traten veranlassend hinzu.
Dennoch uberrascbt die Leicbtigkeit, mit der F. seinen Wunsch, geistes-
krank zu erscheinen, verwirklichen konnte, und macht es uns begreif-
lich, wieso immer wieder von Kriminellen zu diesem bequemen Aus-
kunftsmittel gegriffen zu werden pflegt. Vermutlich dOrften solche
bewusste VortSuschungs- und Uebertreibungsversache in den Gef&ngnissen
sehr viel h&ufiger unternommen werden, als viele psychiatriscbe Autoren
wahr haben wollen.
Eine weitere Beobacbtung, in welcher das Eingest&ndnis bewusster
VortAuschung von Irrsinn und zwar von einer katatonischen Geistes-
stbrung vorlag, sei bier angeschlossen. Auch hier handelte es sich um
einen von Haus aus psychopathischen Menschen.
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I
Dr. J. Raecke,
Fall 4 . Am 4. 4. 1917 wurde der Schriftsteller Wilhelm B. wages
chronischer Geisteskr&nkheit aus der Schweiz nach Deutschland ausgetausekt
und mit dem Lazarettzug naoh der hiesigen Klinik verbracht. Die Diagnose
lautete auf Schizophrenic. Er benahm sich aber durchaus geordnet und Ter-
standig und machte folgende Angaben:
„lch betrachte mich auf der Raise von Amerika nach Deutschland:
icb komme direkt aus C. Aber Sie nehmen Anamnese auf, ioh werde
mich jetzt genau prazisieren, sonst wird mir hinterher ein Strick daraus ge-
dreht. u
(Wie alt?) „31 Jahre.“
(Beruf?) „Tagesschriftsteller und Dramaturg, man darf wohl nicht mehr
Journalist sagen. Ich leide nicht an Verfolgungswahnsinn, aber bitte schreiben
Sie auch Ihre Zwischenfragen auf.“
(Wo Dramaturg?) „Ich war Regiesohuler bei M. 1908/09. u
(Dann wohin?) „Nach Berlin, studiert 1909/12 bei Erich Schmidt. u
(Dann?) „War ich in B. am Stadttheater Dramaturg. u
(Von B.?) „Dann kommt die dunkle Periode, ich war in Berlin einige
Tage, habe sehr viel Geld durohgebracht, kam nach B. in die Anstalt ....
Ich war ca. l / 2 Jahr in der Anstalt, wurde auf Antrag meiner Verwandten
wegen Geistesschwache entmundigt, setzte meine Entlassung durch, ging dann
nach Amerika, wo es mir gut ging, ich war zuletzt Mitdirektor zweier Theater.
Als der Krieg ausbracb, fuhr ich auf hollandisohem Dampfer nach Hause,
wurde im Kanal von den Franzosen erwischt, kam nach He longue, wo ich bis
Ende April 16 blieb. Ich wurde gut behandelt, weil ich gleich einen nervosen
Zusammenbruch installierte. Dann wurde ich mit der Diagnose trouble nenreux
nach der Schweiz geschickt. Ich wollte nur nach Deutschland, um ins Heer
eintreten zu kdnnen. u
(Wie war es in der Schweiz?) „Gut in jederBeziehung, aber ich empfand
es als ein Unrecht, es mir gut gehen zu lassen, ohne etwas getan zu haben.
Ioh dachte nun unterBenutzung meiner subjektivenErfahrung in der Psychiatric,
als Geisteskranker ausgetauscht zu werden. Zuerst ging ich mit einem Strick
in den Wald 3 Tage lang. Da mich aber niemand fand, der mein Elend sah,
ging ich zurPolizei und machte katatoneBewegungen, sagte immer„43“, sagte
aufTage sonst irresZeug bei klaremBewusstsein, kam darauf insKrankenhaus,
kam dann nach A., wo ich von Moissi Unterrioht haben wollte, er hatte aber
keine Zeit, dann machte ich* einen 2. Versuoh, ich nahm 0,2 Morphium per os
— ich hatte als Student eine Periode gehabt, wo ich Opium rauchte, ass und
trank — hatte aber zuvor dafur gesorgt, dass der Arzt zeitig genug benach-
, richtigt wurde: der Arzt wollte mich nioht mehr daraufhin behalten. Darauf
kam ich naoh C., von dort sollte ich nach 8 Tagen wieder entlassen werden. Icb
wollte ausgetauscht werden, aber der Arzt hielt es fur aussichtslos, ich schrieb
daher meine Krankengeschichte. Ich nahm mir den Flaubert vor, schrieb daraus
einen Bericht zusammen: „Der Blick ins 'Leere u . Nahm auch aus Hebbers
Tagebuchern die Depressionsideen heraus, wo er die Berechtigung der Selbst*
morder vertritt, nannte das „Tafeln am Wege u ; das genugte zum Austauscb-
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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung.
543
antrag, der innerbalb 4 Wochen genehmigt wurde. Ich hatte vom 6. Tage an
freien Ausgang.“
(Was fur Geld in Berlin durchgebracht?) „Ich hatte meinerMutter 2000 M.
aus dem Schreibtisoh genommen. 1 *
(Vater?) „Starb an.Lungentuberkulose mit 63 Jahren, war Tierarzt.“
(Mutter?) „Sie wurde oft operiert, ioh vermute, dass sie Karzi-
nom bat. u
(Gesohwister?) „Ein Bruder tot, es steht nicht fest, ob er Suizid veriibt
hat oder nicht. Eine Schwester lebt in B., ist verheiratet. Ein Bruder hat
Knochentuberkulose, ein Bruder ist lungeoleidend, ein Bruder ist gesund.“
(Geisteskrankheiten?) „Sind nicht in der Familie bekannt. a
(Auf der Schule?) n Ich hatte Abiturium sehr gut gemacht mit 20Jahren,
war einmal zuruckgeblieben, damals hatte mein bester Freund Suizid verubt.“
(Auf der Schule Konflikte?) „Nein.“
(Infiziert?) „Gonorrhoe 1909.“
(Potus?) n Wenig.“
(Bestraft?) „Nein.“
Auf der Abteilung unauffallig, vertraglioh, erz&hlt, man babe ihn in
Frankreich und der Schweiz fur einen unheilbaren Geisteskranken gehalten;
deshalb sei er ausgeliefert worden. Versichert, nicht krank zu sein; er habe
nur .verstanden, jenen Aerzten das vorzumacben. Appetit und Schlaf gut.
Keinerlei nervose Beschwerden. Die korperliohe Untersuchung ergibt keiue
Abweichungen von der Regel.
Aus dem Krankenblatte der Kriegsinternierung zu X. ging hervor, dass
B. nach seiner Festnahme nervosen Zusammenbruch mit Weinkrampfen gehabt
habe und yon jeder Arbeit wegen seiner Krankheitserscheinungen frei gewesen
war. In der Schweiz bot er korperlich Lidzittern, Zungenzittern, erhohte Re-
flexe. Er habe von Anfang an den Eindruck eines Querulanten gemacht. Stets
exzentrisoh, aufbrausend. Am 2.1.17 habe er sich aus einer Gesellschaft ent-
fernt, nachdem er sich schon einige Tage auffallend deprimiert gezeigt hatte,
und habe ein 20 com Flaschohen mit lproz. Morphiumlosung getrunken. Beim
Erscheinen des Arztes lag er ruhig auf dem Bette, zeigte etwas verlangsamten
Pols, vorengtePupillen; versohiedeneBreohmittelwirkten, daraufMagenspulung,
der sich B. ruhig unterzog. Nachher zeigte er guten Puls, ganz leichte Be-
nommenheit, fuhlte sioh anderenTages wohl. Er erklarte, seinen Suizidversuch
aus philosophischen Grunden unternommen zu haben. Unterwarf sich willig
der Ueberfuhrung in eine Anstalt.
Hier wurde die Diagnose auf Schizophrenie gestellt. B. sei ein haltloser,
selbstgefalliger Mensch mit Neigung zu Schwindeleien. Ohne Grand nenne er
sich 7 ,von“. Er sei fruher wegen Psychopathic entmiindigt worden, nachdem
er mit 2000 M. der Mutter nach Berlin durchgebrannt war. Wiederholt habe
er Selbstmordversuche gemacht, die misslangen oder vereitelt wurden; es sei
ihm wohl nicht immer emst damit gewesen. Zwar betrage er sioh jetzt ruhig
und gefugig, doch habe er jedes Selbstvertrauen (?) eingebiisst und bedurfe
dauernd der Aufsicht und Fursorge. Er sei als unheilbar anzusehen.
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Dr. J. Raecke,
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Dasu diese Auffassung des Fades jedenfalls nicbt stimmte and dass
es dem B. gegluckt war, semer Absicht gemAss kataton oder schizophreo
zn erscheinen, durfte demnach nicht zweifelhaft sein. Seine seeliscbe
VerAnderung in der Schweiz war wohl eine der Situation entsprungene
.gewesen, aber bewusst entsprungene. B. war planvoll darauf ansge-
gangeu, sich durch den Anschein einer schweren GeistesstOrang der ihm
unangenehmen Situation zu entziehen. Soli ten unter den zahlreichen
Schwindel- und Betrugsverbrechern, die in unseren GefAngnissen sitzen,
wirklich zu Ahnlich planvollem Handeln nur so wenige imstande sein,
wie das unsere Lehrbucber darzustellen belieben?
Gewiss war auch B. eine von Haus aus krankbaft veranlagte Per-
sdnlichkeit, ein ausgesprochener Psychopath. Man kann noch weiter
geben und fragen, ob er nicht vielleicht zunAchst nach seiner Gefangen-
nahme wirklich einen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Indessen sein
Benehmen in der Scbweiz ist doch hdcbstwahrscheinlich schon von
vornherein nicht mehr echt gewesen. Das dortige Krankenblatt beststigt
seine eigenen Angaben zum grossen Teil, und wenn man auch einiges
abstreicht von dem, was er in etwas prablerischer Weise hinterher be-
hauptet hat, so bleibt immer noch genug, urn eine bewusste Ueber-
treibung nicht nur, sondern auch eine direkte VortAuschung glaubhaf:
zu machen.
Lehrreich ist, wie bier und im vorhergehenden Falle persQnliehe
Erlebnisse in der Irrenanstalt als Muster fur die Simulationsversuche
dienen. Etwas ungewdhnlich ist bei B. der Plan, gerade eine kata-
tonische Psychose vorzutAuschen. Mir scheint indessen der Gedanke
gar nicht schlecht, da eben die Unterscheidung markierter und echter
Schizophrenie sich bei dem unendlichen Formenreichtum schizophrener
Krankheitsbilder besonders schwierig gestalten k<5nnte. In der Regel
ist allerdings diese Geisteskrankheit zu wenig bekannt, urn zielbewusst
zum Vorbild gewAhlt zu werden. Hdchstens kommen Stuporeu und
Faxensyndrome vorubergehend zustande, und wir haben dann zu nnter-
scheiden zwischen Katatonie, Hysterie, Simulation.
lm allgemeinen sind alle erworbenen Psychosen schwerer vorzu-
tauschen als angeborene Schwachsinnszust&nde. Namentlich die Geber-
treibung tatsAchlicher leichter geistiger SchwAche bis zum Bilde boch-
gradiger Imbezillit&t erfreut sich da grosser Beliebtheit. Unter den zur
Beobachtung ihres Geisteszustandes in die Lazarette eingewieseneo
MilitArpersonen ist mir mehr als ein Soldat begegnet, der seine Be-
scbrAnktheit in geschickter Weise zu vergrdbern wusste und daher al>
schwachsinnig betrachtet worden war. Ohne zuverlAssige Vorgeschiebte
ist es misslich, an die Entlarvung solcher FAlle beranzugehen. Aber ,
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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Stoning.
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an der Hand genugender Auskunfte uber fruberes Verhalten und Eonnen
gelingt es in der Regel leicbt, den Betreffenden zur Aufgabe seiner nun
nutzlos gewordenen Debertreibung zu bewegen. Ein einschl&giger Fall
sei wegen der praktischen Wichtigkeit kurz mitgeteilt, wennscbon die
wissenschaftliche Ausbeute derartiger Beobachtungen fur unser Thetna
gering bleibt:
Fall 5. Georg P., 22 Jahre alt, Soldat, macht bei der Aufnabme einen
„dementen“ Eindrnck, wie es im Krankenblatte heisst. Er benimmt sich tolpel-
haft, gibt torichte Antworten, will keinen Beruf baben, zu Haase bei den Eltern
gelebt baben. In eine Sohule sei er nie gegangen. Er sei von den Eltern er-
nahrt worden und babe „gar nichts a gemacht. Aucb beim Militar babe er
noch so gut wie keinen Dienst getan, weil man ihn zu nichts babe brauohen
konnen. Zuletzt ist er wegen Kopfschmerzen und Einnassen dauernd in Laza-
retten gewesen. Das Einnassen babe er von Jugend auf.
9. 9. (Tag beute?) „Weiss ich nicht“.
(Honat?) „Februar“.
(Monate aufsagen?) Lasst Juli und September aus.
(3 X 2) „Das weiss icb nicht“.
(2X2) „Das weiss ich auch nioht u .
Liest die Ubr faisch ab, bezeiohnet dagegen Gegenstande richtig. Farben
nennt er faisch: (Rot) „Gelb“.
(Blau) „Schwarz“. (Griin) „Rot“, Weiss richtig.
Nachdem Erkundigungen ergeben batten, dass er die Schule bis zur
2.Klasse besucht und fruher nicht eingenasst hatte, warden ihm seine Schwin-
deleien energisch vorgehalten, worauf er sofort sein Verhalten anderte.
30. 9. (Beruf?) „Bergmann. Als ich aus der Schule kam, bin icb in
die Grube gegangen u .
(Wann?) „Mitl5Jahren. Ich bin auoh in dieFortbildungsschule gegangen. “
(Wie lange in Grube gearbeitet?) „Zuerst ein Jahr und dann bin ioh in
die Hutte gekommen u .
(Was verdient?) „In der Hiitte babe ioh im Tag 2 M. gehabt“.
(Einnassen?) ,,IchbineinmalaufUr]anb gewesen und da habe ioh Blasen*
leiden gehabt u .
(Als Kind Einnassen?) „Nein“.
(Warum gesagt?) „Ich habe im Lazarett neben einem Mann gelegen, der
hat gesagt, ich sollte so sagen“.
Farben werden jetzt richtig bezeichnet.
(Warum die Farben fruher falsoh?) „Oben ist so ein Soldat, so ein Blon¬
der, der hat gesagt, ich sollte alles faisch sagen, sonst kame ich doch nioht
los vom Militar, er hatte es auch so gemacht u .
Die Intelligenzpriifung ergibt jetzt im Einklang mit Anamnese und ge-
samtem Eindruck, dass es sioh um einen minderwertigen und schwaoh be*
gabten Menschen handelt. Von einer Anzeige der Aggravation wird daher Ab*
stand genommen.
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Dr. J. Raeoke,
Die Erw&hnung dieses an sich sonst vrenig bemerkenswerten Fallee
geschab in diesem Zusammenhange besonders, am aaf die Schwierigkeit
der Beurteilung von angeborenem Schwacbsinn obne zuverlfissige Ana*
mnese erneut hinzuweisen.
Wir kommen darauf weiter anten nochmals ausfuhrlicher zuriick.
Allein nicht nur tatsachlich leicht schwachsinnige Menschen, son-
dern auch intellektuell gut begabte Psycbopathen bringen es mitunter
zu einer staunenswerten Gewandtheit in der Vortfiuschung von hoch-
gradigem Schwachsinn, so dass sie selbst Fachpsychiater wiederholt
hinters Licht zu ffihren vermogen. Ein hOchst interessanteTs derartiges
Beispiel, in welchem noch neben der Simulation von Demenz die Nach*
ahmung epileptischer Anfalle eine wesentlicbe Rolle spielte, mfichte ich
hier ausfuhrlicher wiedergeben wegen der weitgehenden praktischen wie
theoretischen Bedeutung, welche derartigen Beobachtungen zukommt.
Der Fall stammt nocb, wie der erste, aus der Kieler Klinik.
Fall 6. Therese W., geboren 10. Dezember 1867, hatte eine lange Straf-
liste mjtVerurteilungen wegen Diebstahl, Hansfriedensbruch and Misshandlang
1885, von Betrng 1886, von Betrug, Unterschlagang nnd Korperverletzung
1888, von Betrug and Untersohlagung 1889. Meist handelte es sich nar um
kurzfristige Strafen. Die letzte and langste betrug 6 Uonate.
1891 warde sie wieder wegen wiederholter Hehlerei verurteilt. Dieses Mai
machte sie die Strafe nicht ab, sondern verfiel naoh der Verarteilang in so
heftige Krampfe, dass sie ins Krankenhaus geschafft warde. Angeblich daaerten
die Anfalle 5 Tage standig an. Es warde bei ihr Epilepsie von den Aerzten
angenommen.
Naoh Aussage ihres Mannes sollten ihre Matter and drei Sohwestern an
Krampfen gelitten baben. Sie selbst sei znerst im 16. Jahre an Krampfen er-
krankt. Seitdem babe sie geistig nachgelassen. Ein Physikatsgataohten nahm
Unzareohnnngsfahigkeit wegen epileptischer Verblodung an.
Ueber die Entstehang der Krampfe selbst hatte sie angegeben, dass sie
mit 16 Jahren als Kindermadchen darch ein Nebenmadchen mit Strychnin ver-
giftet worden sei. Zwei gleiohfalls vergiftete Kinder seien gestorben. Sie
selbst sei nar sehr krank gewesen and habe seither die Krampfe zarfiok-
behalten.
In einem spateren Gntachten findet sich fiber diesen Vorgang folgender
Vermerk: „SeitllJahren leidet die W. an epileptischen Krampfen. Zum ersten
Malesollen dieselben sicheinigeTagenachdem ratselhaftenTodeder beiden Kinder
A., deren Kindermadchen sie war, eingestellt haben, and warde sie damals,
da diese Krampfe alsSymptome einer darch Selbstmordversuch herbeigefahrten
Yergiftang aafgefasst warden, and sie in den Verdacht geriet, auch die beiden
Kinder vergiftet zu haben, im Kurhanse langere Zeit beobachtet. Die Unter-
sochung wegen Giftmordes warde niedergeschlagen and dieW. entlassen, doch
finden sich in der Akte manche Anhaltspunkte daffir, dass sie schon damals
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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stoning. 547
merkwdrdige Charakterzuge, intellektaelle Ldcken bot. Mehrfach wird erwahnt,
dass sie naohts „allerlei schreckliche Dingo sieht" und „weisse Manner yor
ihrem Bette tanzen u . An einer Stelle wird sie als Kindermadcben entlassen,
da sie „aberglaubige Vorstellungen hat“, an einer anderen, weil sie ,,unehrlioh
und nascbhaft u ist. Bei ihrer Vernebmung im Kurbause durch Herr Ober-
staatsanwalt B. fiel die grosse Rube auf, mit der sie alle Fragen, oft lachelnd
beantwortete, und auffallend erschien es besonders, dass sie auf die eindring-
licbsten und im giitigen Tone an sie gericbteten Ermabnungen zur Wabrheit
sowie bei dem V orb alt, ob einem so jungen Madchen, wie sie sei (16 Jahre),
die vielen und plotzlicben Todesfalle, bei denen sie zugegen gewesen sei — es
starben zusammen 4 Kinder plotzlioh in 3 Familien, wo sie als Kindermadohen
diente — nicbt zu Herzen gegangen sei, vollig teilnabmlos blieb und stereotyp
bemerkte, sie „sei sehr kinderlieb“.
Hierin glaubte der Qutacbter die ersten Spuren des in der Folge stets
zunehmenden Scbwaobsinns zu erkennen. Zwei Jahre spater erklarte der Phy-
sikus, dassinfolge epileptischer Krampfe eine gewisse Schwache der Intelligenz
bestebe.
Unter dem 30. 12. 1892 meldete der Polizeibericht, die W. babe vor der
Kellerwohnung ihres Yaters, wo sie mit ibrem Ehemanne zum Besuobe weilte,
durch Schreien und Toben einen Auflauf yerursaoht. Auf Befragen babe sie
erklart, yon ihrem Manne misshandelt worden zu sein. Dieser aber, seine
Schwiegereltern und Schwagerin stellten das in Abrede. Die W. sei ein jah-
zorniges, Ieioht erregbares Weib. Sie babe mit ibrem Manne Streit angefangen
und sei auf ihn eingedrungen. Als sich dann Eltern und Sohwester ins Mittel
legten, sei sie im Aerger auf die Strasse gelaufen und habe dort woiter ge-
larmt. Erst als ibr polizeilich mit Festnahme gedroht wurde, berubigte sie
sioh. Im gleichen Jahre soli sie bei einem Termine vor dem Landgericht von
Krampfen befallen worden sein, so dass sie fortgesobafft werden musste.
1893 ward die W. wegen LadendiebstabIs und wegen Beleidigung ange-
klagt, aber auf das Gutacbten des Physikus Dr. W. rom 7. 6.1893 wegen Un-
zurechnungsfahigkeit freigesprochen. Sie leide an Krampfen und zeige in der
Unterbaltung „kindliche Ausdruoksweise u . Der Gutachter nabm „epileptisobe
Demenz u an. Die W. sei y 51 lig verblodet und niobt vorhandlungsfahig.
In dem Gutachten ist von moralischen und intellektuellen Lucken vor
Eintriti der Kr&mpfe die Rede. Nachts babe sie oft schreckliche Dinge ge-
sehen, z. B. weisse Manner, die vor ibrem Bette tanzten. Sie habe nacb ihrer
Verheiratung eine luetiscbe Infektion durchgemacht und mehrfach abortiert.
Krampfe und Aufregungszustande zeigten sich besonders wahrend der Scbwan-
gersohaften. Dann sei sie wie kindisch und you Sinnen, mache die wabn*
sinnigsten Einkaufe, verschwendeHauseinrichtungsgegenstande, versetze Haas*
rat und Kleider, sei masslos reizbar und gewalttatig, klage unausgesetzt fiber
Kopfweb. Diese Angaben stammten vom Manne. Bei der Untersuchung fiel
namentlich die Lfiokenbaftigkeit des Gedaohtnisses auf; alle moglichen Ereig-
nisse sollten „gestern u gewesen sein. Naoh Aussage des Mannes sollte sie auch
fur ihr Tun in der Erregung und in den Krampfen keiine Erinnerung besitzen.
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Dr. J. Raecke,
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Hinsichtlich der Untersuchung wegen Giftmordes ist noch nachzutragen,
dass sie wegen mangelnder Beweise eingestellt worden ist. Bei der Beobach-
tung der W. im Kurhause war erst Morphiumvergiftnng angenommen worden;
schliesslich wurde die Diagnose auf „Hysterie a gestellt Die Anfalle sohein-
barer Bewusstlosigkeit erschienen „gemaoht u .
Aus obigem Psysikatsgutachten seien nun folgende Satze wortlich an-
gefdhrt: „Die Gesichtsziige sind grob sinnlioh, der Ausdruok stumpf, blode,
der Blick starr. Sie klagt iiber Kopfweh, halt sich sonst ffir ganz gesund. An
sie gerichtete Fragen beantwortet sie oft dem Sinne nicht entspreohend and
erst auf wiederholtes Eindringen, weitschweifig und fiuchtig. Bestimmte Wen-
dungen kehren immer wieder, z. B. „ja, unordentlich bin iob nicht u ; auch
brauoht sie fortwahrend Diminutive „Kleinchen, Kindchen, Schuhchen a usw.
Ihr Gedachtnis ist ausserordentlich liickenhaft, sie meint, alle mog-
lichen Ereignisse seien „gestern a gewesen. An friihere, nur aus den Akten
bekannte Dinge aus ihrem Leben erinnert sie sich gar nicht, auf die Namen
der ihrer Wohnung nahe liegenden Strassen kann sie sich nicht besinnen,
samtliche Angaben iiber ihr Hausstandsgeld und sonstige Angaben waren, wie
sich spater bei einer Unterhaltung mit ihrem Maune herausstellte, vollig falsch
Als Probe ihrer allgemeinen Gefuhls- und Verstandesausserungen erlanbe ich
mir einige Bruchstucke unserer Unterhaltung, die ich sofort niederschrieb,
einzuiugen:
(Haben Sie iiberhaupt schon einmal gestohlen?) ^Wenn man Sachen so
nehmen kann, dann stehle ich, und wenn die Leute nacBher kommen, sage ich,
es ist nicht wahr. Sehen Sie mal das Schuhchen, das habe ich auch gestohlen,
auf dem Hopfenmarkt, nun miisste ich nur noch das andere haben, das konnte
ich aber nicht kriegen, es ist zu gross fur das Kindchen, aber es wachst hinein,
dann lasse ich noch ein Sohuhchen dazu machen, dann hat das Kindchen
2 Schuhohen. Aber meinem Mann diirfen Sie es nioht sagen, der schlagt
mich sonst. u
(Ins Gefangnis, wenn Sie stehlen?) „Ja, dann komme ich ins Loch. u
(Ihnen das einerlei?) „Ja, dann schlagt mein Mann mich nicht, aber
das Kind soli mit. Ich ziehe es selbst aus, mache ihm neue Kleider. Nein,
unordentlich bin ich nicht. a
Auch einzelne W&hnideen sind nun erkennbar, so glaubt sie, dass die
Leute sie auf der Strasse alle ansahen und sie fur verriickt hielten, dass ihr
Mann es mit ihren Schwestern halt: „Aber sie diirfen ihn nicht anlachen und
nicht mit ihm spreohen, sonst sohlage ich sio ! u Mit dem Schlagen ist sie
iiberhaupt gleich bei der Hand. Ueber ihre Mutter, die Angeklagte K. befragt,
aussert sie lebhaft: „Ja, die stiehlt alles, sie stiehlt immer, die stiehlt mir
Kaffee und Zucker und 10 Mark hat sie mir auch gestohlen. u Ihre Ausdrucks-
weise ist durchaus kindlich. Jeder Satz fangt mit „Und da a an, und wenn
sie zu Ende gesprochen hat, klatscht sie frohlich in die Hande, um dann
gleich wieder ernst zu werden und von ganz etwas anderem weiter zu reden.
Fasse ich alle Beobachtungen zusammen, so glaube ich mich bereohtigt,
zu sagen, dass die vielfachen Konflikte, in welohe die W. mit dem Strafgesetz
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geraten ist, ibre stets wiederholten Diebstahle, Betrugereien und Hehlereien,
mebr oder weniger durch die Ent&rtung und durch die Defekte ihrer ethisohen
Gefuhle bedingt waren; wie ihre vielfachen Brutalitaten, die ihr die Anklagen
wegen Korperverletzung zuzogen, mit ihrer krankhaften Gemutsreizbarkeit zu-
sammenhangen. Weiter ergibt sich aber, dass die W. jetzt nicht mehr, wie
fruher, nur periodische, mit den epileptisohen Krampfen im Zusammenhang
stehende Beeintrachtigungen ihrer Geistestatigkeit zeigt, sondem vielmehr eine
dauernde Veranderung ihres gesamten Geisteslebens bietet, deren Grundzug
eine auf dieser epileptisohen Basis entstandene Verblodung ist. Sie zeigt eine
so erhebliche Abnahme ihrer allgemeinen seelischen Leistungsfahigkeit, ge-
kennzeichnet durch ihre krankhafte Gemutsreizbarkeit, welche fur den Schwaoh-
sinn auf epileptischer Grundlage besonders charakteristisch ist, und durch
hochgradige Gedachtnis- und Urteilsschwache, dass nicht anzunehmen ist, sie
ware imstande, sittlich verwerfliohe und gesetzlich strafbare Handlungen zu
unterscheiden und sich so zu beherrschen, dass sie ihre Gemutserregungen,
ihre Triebe und Leidensohaften der Einsioht iiber Recht und Unrecht, Straf-
bares und Erlaubtes unterordnen konne. u
Auoh in den folgenden Jahren 1896, 1901, 02, 03, 04, 05 ist die W.
regelmassig auf Gutachten desselben Sachverstandigen bin exkulpiert worden
im Verfahren wegen Betrugs, Kurpfusoherei, Abtreibung, Diebstahls, Kuppelei;
Unterschlagung, Kuppelei, Betrugs und Diebstahls; Ladendiebstahls und Ver-
kuppelung der eigenen Tochter.
Am 4. 5. 1896 wurde sie wegen Betrugs verhaftet und auf Grund des
Physikatsattestes „epileptische Seelenstorung a der Irrenanstalt P. zugefiihrt.
Sie hatte unter falschem Namen Waren im Werte von 571 M. ersohwindelt.
Bei ihrer Verhaftung verfiel sie in Tobsucht, bald darauf in Krampfe. Bei der
Aufnahme in die Anstalt war sie ruhig und geordnet. . Es heisst daruber in
den Krankenakten: „Das Benehmen der Kranken ist nach keiner Richtung hin
ein auffalliges. Sehr gross, gut genahrt, blasses Ausseben. Will friiher viel
an Kopfschmerzen gelitten haben. Der Vater starb an Blutvergiftung. Eine
19jahrige Schwester und der Vater litten an Krampfen, sonst noch 14 Ge-
schwister, von denen 5 am Leben sind. Schadel spitz zulaufend. Ohrmuschel
wohl gebildet. Pupillen sehr weit, beiderseits Konjunktivitis. Leichte Fazialis-
parese links. Starker Zungentremor, die Zunge weicht nach links ab. Am
linken Zungenrande Narbe (luetisch?), Herztone rein. P.-Sehnenreflexe vor-
handen. 1 lebendes Kind. 9 Tot- und Fehlgeburten, 3 mal Umschlag. Will
nioht gesohleohtskrank gewesen sein.
30. 6. Hatte gestern einen schweten epileptisohen Anfall mit einleitendem
Schrei, heftigen allgemeinen Zuokungen, nach dem Anfall etwa 1 / 2 Stunde
sohlafsuchtig.
10. 6. Hatte mehrfach Anfalle.
20. 6. Beschaftigt sich sehr fleissig, manchmal gerat sie ohne merklichen
Grund in Tranen.
30. 6. In den letzten Tagen wurde nur ein Anfall konstatiert.
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26. 7. Hielt sich seitdem ruhig und geordnet. Wird auf Wunsch des
Mannes unter Zustimmung der Polizeibehorde beurlaubt.
2. 11. Wird gebessert entlassen.
Davon, dass ein Arzt die angeblichen Anfalle gesehen hatte, ist nichts
vermerkt. Die ^Verblodung 44 scbeint nicht hervorgetreten zu sein.
Am 25. 1. 01 erfolgte wieder Verhaftung wegen Betrugs, Kurpfascherei,
Verdachts auf Abtreibung. Der Physikus bescheinigte, er babe die W. bereits
wiederholt begutachtet. Sie sei vollig verwirrt und konne nicht verantwortiich
gemacht werden. Aus der Anstalt, in die sie nun die Polizei verbrachte,
entwioh sie alsbald am 26. 3. und wurde vom Manne verborgen gehalten. In
einem Schreiben des letzteren, der ubrigens selbst eine lange Strafliste hat,
heisst es, seine Frau leide infolge von Vergiftung und Magenauspumpung an
Krampfen seit dem 18. Jahre. Sie sei seither nie mehr gesund gewesen, lasse
sich von anderen ausnutzen. An sioh sei sie gutartig, werde nur gereizt bose.
Bei den Krampfen bekomme sie eine Biegung des Korpers nach hinten, dann
allgemeine Zuckungen. Manchmal sei sie auch hingestiirzt, hatte Schaum vor
dem Munde. Bei Befragen wollte er auch wissen, sie habe sich in den Anfallen
sohwer verletzt.
Aus der damaligen Krankengeschichte der lrrenanstalt gebt hervor, dass
die W. bei ihrer Aufnahme einen gedriickten Eindruck maohte. Sie folgte ruhig
und willig auf die Abteilung, erzahlte, sie sei im 4. Uonate schwanger. Kura
vor ihrer Verheiratung habe sie einen plotzlichen Schreck gehabt, seither leide
sie an Krampfen. Sie wisse von diesen nur durcb Horensagen, nachher sei sie
gewohnlich verwirrt, habe, wie sie von ihrem Manne wisse, oft unsinniges Zeug
gemaoht, z. B. Saohen zum Fenster hinausgeworfen, uberflussige Einkaufe ge¬
macht. Ihre Straftat stellte sie in Abrede. Das sei nur Verleumdung; die
Menschen gonnten ihr nicht, dass sie mit ihrem Manne so gliicklich lebte.
Nach den Akten* hat die W. langere Zeit mit Wissen ihres Ehemannes
mit 2 anderen Mannern geschlechtlichen Verkehr gehabt und hat von dem einen
dieser Liebhaber nach und nach gegen 1000 M. zur Verwahrung erhalten, die
sie veruntreut hat. Sie hat dabei, wenigstens eine Zeit lang, sich als Schwagerin
ihres Mannes ausgegeben. Sie soli bei sich Fruchtabtreibung herbeigefuhrt
baben. Sie hat sich anscheinend gewerbsm&ssig mit Kartenlegen und Kur-
pfuscherei (Sympathiekuren, Abgabe von Medik&menten zu teilweise recht hohen
Preisen) beschaftigt und ihre Klienten beschwindelt. Im Gefangnis erschien
sie zeitweise hochgradig erregt und verwirrt. •
Unter dem 18. 2. 01. ist eingetragen: „Frau W. klagt fiber etwas unregel-
massigen Stuhlgang, schlaft mit Unterbrechungen, leidet manchmal an Kopf-
schmerzen, im fibrigen ifihlt sie sich wohl. u .... ^Gesichtsausdruck recht
dement. Pat. will sich an alle in den Akten erwahnten Delikte nicht erinnem
konnen. Sie zeigt sehr wenig Interesse fur ihre Umgebung. Intelligenz er-
scheint betrachtlich herabgesetzt, Kenntnisse aus Geschichte, Geographic und
Religion sehr sparlich, Kopfrechnen geht langsam und unsicher, meist mit Zu-
hilfenahme der Finger und auch bei den einfachsten Rechenaufgaben kommen
Fehler vor. Krankhafte Affekte, Sinnestauschungen oder Wahnideen sind nicht
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551
festzustellen. — Die W. ist einige Stunden am Tage ausser Bett, batte dabei
vorgestenr einen kurzdauernden Ohnmaohtsanfall (epileptisch?).
21. 2. Ist jetzt den ganzen Tag ausser Bett, benimmt sicb ruhig und
ordentlioh, beschaftigt sich mit Lesen, fiiblt sicb ziemlich wohl, klagt fiber
ihre Augen (will Granulose gebabt haben), uber Stublbesobwerden und ge-
stbrten Schlaf.
26. 2. Halt sich ruhig und ordentlicb, beschaftigt sich mit Lesen, scheint
sich ganz zufrieden zu fiihlen.
28. 2. Unverandert, nach Siechenabteilung verlegt.
1. 3. Steht auf, beschaftigt sich mit Handarbeit. W&hrend sie sich oben
angeblich ihrer Delikte nicht erinnern konnte, sucht sie sich Ref. gegeniiber
ganz spontan wegen jener zu rechtfertigen.
26. 3. Entwich heute Abend durch den Keller.
Ende September 1902 klagte der Ehemann W. gegen eine Schwester seiner
Frau, eine Frau D., wegen Diebstahls. Diese antwortete mit einer Anzeige
wegen Kuppelei gegen W. Als die Saohe bedenklich wurde, machte der Ehe¬
mann W. wieder die „Geisteskrankheit u seiner Frau geltend. Er wurde aber
verurteilt und nur sie wegen Unzurechnungsfahigkeit abermals freigesprochen.
In dem betreffenden Gutachten heisst es, die W. mache ganz unsinnige An-
gaben, behaupte z. B. wegen Brandstiftung 7 Jahre Zuchthaus gehabt zu baben.
Juni 1903 wurde die W., die sich noch immer auf freiem Fusse befand,
von einem Kaufmann N. verklagt, weil sie von ihm eine goldene Uhr auf Ab-
zahlung gekauft und niohts bezahlt habe. Die W. suohte sich erst damit her-
auszureden, die Uhr sei ihr gestohlen worden und der Diebstabl sei auch von
ihrem Manne angezeigt. Auf das Unriohtige dieser Angaben hingewiesen,
schutzte sie wieder Nervenleiden und Ged&ohtnisschwache vor. Ein Termin
musste aufgehoben werden, da sie angeblich wegen Krampfe nicht erscheinen
konnte. In dor nachsten Verhandlung fiihrte sie dann ganz verkehrte Reden,
sprach z. B. wieder davon, sie habe 7 Jahre Zuchthaus wegen Brandstiftung
gehabt; die ihr vorgehaltene Strafliste sei falsoh. Dann bek&m sie einenKrampf-
anfall. Der Gerichtsarzt N. vorsicherte, sie leido an einem n betrachtlich vor-
geschrittenen Zustand geistiger Verblodung im Anschluss an Fallsucht u und
sei unzurechnungsfahig. So erfolgte Freisprechung. Inzwischen war eine neue
Anzeige eingelaufen, dass sie ein auf Abzahlung gekauftes Piano versetzt hatte.
Wieder schutzte sie Geistesabwesenheit vor. Wieder erfolgte auf Grund eines
Attestes von Dr. Sch. Freisprechung, da die Angeklagte seit Jahren nicht mehr
zurechnungsfahig sei.
Dieser Sachverstandige hatte die W. naoh ihrer Entweichung aus der
Irrenanstalt 1901 vergeblich in seiner Eigenschaft als Stadtarzt aufgesucht.
Der Ehemann behauptete, sie sei naoh Pr. Eylau verreist. Als er sie endlich
auffand, besohrankte er sich, wie es in seinem Gutachten heisst, wegen ihres
hochschwangeren Zustandes auf eine kurze Untersuohung. Naoh den Akten
sei sie Kartenlegerin und infolge ihrer Schwindeleien vielfach mit den Behorden
in Konflikt geraten. Die vom Physikus Dr. W. betonte Verwirrtheit bestand
nicht. Der schwangere Zustand sohien eine Ueberfuhrung in die Anstalt un-
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552 Dr. J. Raecke,
railich zu machen. Der Mann W. habe sich verpfliohtet, seine Frau sorgfaltig
zu iiberwachen! Das Gntachten schliesst: „Da sie bislang anschfcinend nur
wegen Schwindeleien, nioht wegen Gewalttatigkeiten mit den Behdrden in
Konflikt geraten ist, so habe ich nichts dagegen, wenn sie vorlaufig bei ihrem
Manne verbleibt. Letzterer miisste auf die ihm zafallende Varantwortlichkeit
aufmerksam gemacht werden, auch dafdr sorgen, dass seine Fran nioht mehr
ihr Gewerbe als Kartenlegerin ausubt >u
Erst als sich die Anzeigen gegen dieW.im Jahre 1904 bedenklich hauften,
hielt der Stadtarzt auf Anfrage der Polizei die baldige Verbringnng in eine
Irrenanstalt fur geboten: „Da sie immer wieder mit dem Strafgesetze in Konflikt
kommt, ist sie zweifellos als gemeingefahrlich anzusehen ,u
Jetzt beantragte der Ehemann der W. ihre Entmiindigung wegen Geistes-
krankheit und berief sich auf alle schon fiber sie erstatteten Gutachten.
Der Gerichtsarzt Dr. N., welcher bereits im Jahre 1903 die W. in einer
Strafsache exkulpiert hatte, hielt ^Epilepsia mitSohwachsinn w seitlangen Jahren
fiir vorliegend. Die W. maohe noch denselben schwachsinnigen Eindruck, sei
von derselben plumpen Vertraulichkeit und derselben uferlosen Redseligkeit.
Ihre Stimmung sei schwankend, sie weine und lache in demselben Zuge.
Ihr Intellekt sei sehr schlecht, sie sei nicht mehr uber die einfachsten
biirgerlichen Verhaltnisse orientiert, rechne schlecht und konne koine Begriffe
bilden. Innerhalb des Rahmens ihrer Hauslichkeit erscheine sie brauchbar,
soweit Ordnung und Sauberkeit in Frage kamen. Sie wasche, putze, scheuere
den ganzen Tag; auch machten ihre beiden Kinder korperlich einen wohlge-
haitenen Eindruok. Gleicbwohl sei der Ehemann fortdauernd gewungen, eine
Haushalterin zu halten, weil seine Frau ausser stande sei, sein Haus auch nur
im gerinsten nach aussen hin zu vertreten; vor allera kenne sie den Wert des
Geldes nioht und kaufe und schachere sich alles an, was sie sehe, schrecke
auch vor einem Diebstahle nicht zuriick. Sonst sei sie harmlos und unachtsam
zutraulicb, schwatze mit jedem, auch fremden Menscben, stundenlang und be-
nehme sioh so, dass man ihr allein eine Wobnung nicht anvertrauen konne.
Auch ihm habe sie unaufgefordert ihre ganze Garderobe gezeigt, ihre neu
erworbenen Hutfedern, Bander usw. und von neuen Blumen erzahlt bzw. Aus-
gestaltung der Garderobe. Dabei habe sie ihn fiir einen Versicherungsagenten
gehalten, bei seinem 2. Besuche — 5 Tage spater — fiir den Augenarzt und
ihm dieselben Sachen erzahlt und gezeigt.
Aus Vorstehendem ergebe sioh zugleich ihre enorm herabgesetzte Merk-
fahigkeit und gerade dieser Schaden, den ihr Gedachtnis genommen habe, sei
es, der sie fiir die Vertretung eines Haushalts unbrauchbar mache. Epileptische
Krampfe selbst habe er wahrend der letzten Beobachtungszeit nicht gesehen,
doch konne kein Zweifel an der Persistenz derselben bestehen. Frau W. leide
an einem vorgeschrittenen Grad epileptischen Schwachsinns (Epilepsia cum
Dementia) und sei infolge dieses Schwachsinns nicht imstande, ihre Angelegen-
heiten zu besorgen.
Beim Entmiindigungstermin erklarte die W. aufBefragen, sie leide seit
ihrer Konfirmation an epileptischen Anfallen. Geburtsort und Alter gab sie
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verkehrt an: 56 Jahre! Sie fiihre ihren Haushalt mit Unterstutzung ihrer
Schwester. Sie habe viel Geld und erbe noch.
(Haben Sie viele Kleider?) „Ein graues, ein schwarzes, ein blaues. Ein
schwarzes ist noch in Arbeit. tt (Kennen sie mich?) „Sie waren wegen der
Assekuranz da. tt
Weiter gab die W. auf Befragen des Richters an, zu 7000 M. versichert
zu sein, friiher zu 4—5000. Sie habe einen Onkel, von dem sie noch viel erbe.
Es gebe alles neue Kleider dafiir.
Besonders fiel auf, dass die W. ihren Geburtstag nioht angeben konnte.
Der Gerichtsarzt schloss aus diesem neu zu Tage getretenen Umstande auf
schwere Schadigung des Gedachtnisses.
Die Entmiindigung erfolgte am 10. Mai 1904 wegen Geistesschwache. In
der Begriindung des Beschlusses heisst es:
„Die angestellten Ermittlungen durch Vernehmung des Gerichtsarztes
Dr. N. als Sachverstandigen und die personliche Vernehmung der Entmiin-
digten selbst haben ergeben, dass die Entmiindigte zwar nicht an Geistes-
krankheit leidet, aber an Geistesschwache, und an dieser in so erheblicher
Weise, dass angenommen warden muss, dass sie nioht imstande ist, ihre An¬
gelegenheiten selbst zu besorgen. Denn abgesehen davon, dass der arztliche
Sachverstandige nach seiner Bekundung auf Hinweis seiner Untersuchung oder
Beobachtung der Entmiindigten sein Gutachten dahin abgegeben hat, dass die
Entmiindigte an einem vorgeschrittenen Grad epileptischen Schwachsinns leidet
und infolge dieses Schwachsinns ausser stands ist, ihre Angelegenheiten zu
besorgen, hat das Gericht duroh seine Wahmehmungen bei der personlichen
Vernehmung der Entmiindigten die Ueberzeuguug gewonnen, dass die Ent-
mundigte nicht die geistige Fahigkeit besitzt, ihre Angelegenheiten selbst zu
besorgen, da sie insbesondere nicht einmal im stande war, ihr Alter und ihren
Geburtsort richtig anzugeben, indem sie ihr Alter auf 56 Jahre und als ihren
Geburtsort Konigsberg angab, wahrend sio tatsachlich erst 36 Jahre alt war
und in Pr. Eylau geboren ist. u
Am 20. 11. 1904 kaufte die W., die nunmehr auf freiem Fusse unter Auf-
sicht ihres Ehemannes belassen worden war, im Warenhause einige Kleinig-
keiten und stahl bei dieser Gelegenheit verschiedene Gegenstiinde im Werte
von 26 M. Sie wurde dabei ertappt und entschuldigte sich mit ^Kleptomania. a
Eine 2 Tage spater erfolgende Vernehmung durch einen Kriminalbeamten ver-
lief erfolglos, da sie „verwirrte Antworten tt gab. Einleitung eines Strafver-
fahrons wurde von der Staatsanwaltschaft abgelehnt, da die W. wegen hoch-
gradigen Schwachsinns nicht verantwortlich gemacht warden konne. Ausser-
dem schwebte ein neues Verfahren wegen Betrugs, Misshandlung, Beleidigung
und Widerstands. Auch dieses ware wohl eingestellt worden, da kam eine
weitere Sache hinzu: Die W. wurde angeklagt, einen Konditor S. daduroh be-
trogen zu haben, dass sie ihm unter der Vorspiegelung, Beweise fiir die Un-
treue seiner Frau schaffen zu konnen, Geld abnahm.
Frau S. klagte gegen den mit ihr in Ehescheidung liegenden Ehemann,
dieser babe verbreitet, dass sie sich ein Absteigequartier gemietet habe, dort
Archiv f. Psychiatric. Bd. 60. Heft 2/3. 30
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mit Herren verkehre and sich auch was habe abtreiben lassen. Der beklagta
Ehemann gab an, Frau W. habe ihm gegen Entgelt von SOO M. Beweismaterial
gegen seine Frau beschaffen wollen und habe ihm erzahlt, seine Frau habo
mit verschiedenen Mannera geschlechtlich verkehrt, sie habe selbst jene ein-
mal dabei gesehen. Diese Angabe, die sie genau ins Einzelne ausgemalt ge-
habt hatte, hielt sie freiiich vor Gericht nicht aufrecht, sondern entschuldigta
sich wieder mit ^Nervensohwache 14 und mit ihrer Entmundigung.
Ferner aber kam sie mit der Erzahlung heraus, ihr habe eine Frau H. die
300 M. angeboten, damit sie im Prozesse S. gegen S. eine falsohe Aussage
machen sollte. Yon der Frau H. deshalb verklagt, stellte die W. bei ihrem Ver-
hor die Sache so dar, als sei sie iiberhaupt von der H. zu allem aufgestachelt
worden. Die H. habe ihr erst die Namen der Manner bezeichnet, die sie, die
W., dann dem eifersiichtigen Konditor als seine Rivalen angab. Die H. habe
dafiir einen Teil der von dem Konditor S. ausgezahlten Summe abbekommen.
Die Sache liege also nicht so, dass die H. ihr selbst 300 M. fur eine falsche
Aussage angeboten habe, wohl aber habe die H. sie zu ihrem ganzen Verhalten
in der Ehescheidungssache erst angestachelt. Nur im Auftrage der H. habe
sie 300 M. gefordert. Ihr Ehemann habe indessen den Betrag, sobald er
von der Sache horte, zuruokerstattet. Der geschadigte S. bestritt, irgend
welches Geld zuriickerhalten zu haben. Die W. habe ihm mit ihren Ver-
sprechungen und ausfuhrlichen Berichten das Geld allmahlich abgelockt. Sie
habe ihm beteuert, sie konne alles beeiden, und habe ihn nachher stecken
lassen. Beachtenswert ist die Anzeige der Frau H., die W. schwindle im Ein-
verstandnis mit ihrem Ehemanne.
Januar 1905 ging von Dr. C., dem leitenden Arzte des Krankenhauses m
A., in das die W. als gemeingefahrliche Geisteskranke neuerdings untergebracht
worden war, die iiberraschende Mitteilung ein, die W. scheine simuliert zu
haben und uberhaupt nicht geisteskrank zu sein!
Anfangs hatte die W. wieder ihre alte Darstellung bei der Aufnahme ge-
geben: Sie sei krank soit ihrer Vergiftung mit 16 Jahren, habe dann gleich ge-
heiratet, sei schon schwanger gewesen. Im Wocbenbette seien zuerst epilep-
tisohe Krampfe aufgetreten, anfangs taglich, in den letzten Jahren nur alia
4 Wocben. Einige Tage vor den Anfallen neige sie zu grossen Einkaufen. Su
habe sie jetzt auch ihren Ladendiebstahl begangen.
Bei naherem Befragen schilderte sie die Anfalle so, dass erst die Beine
steif wurden, dann kamen Krampfe in Arm^n und Handen, und dann ver-
liere sie erst das Bewusstsein. Den Vorgang beim Ladendiebstahl vermochta
sie genau zu schildern, wusste, was sie fortgenOmmen hatte, zeigte ge-
heuchelte Reue.
Nacbforschung ergab, dass beide Schwestern Prostituierte und Yer-
brecherinnen sind, dass auch der Mann vielfach, vor allem wegen Korperver-
letzung und Kuppelei bestraft ist und sich wegen Verleitung zum Meineid in
Untersuchung befindet.
Die drohende Anstaltsinternierung schreckte die W. und veranlasste sie r
sich entschieden gegen die Aussicht einer solchen zu wehren. Da sie einsah r
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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storang. 555
d&ss dieses Mai kein Entrinnen sei, anderte sie plotzlich ihr Verhalten. Hatte
sie zunachst naoh der Aufnahme dem untersucbenden Arzte betont, sie sei bei
ihrer Straftat unzurechnuugsfahig gewesen, sei einem nnwiderstehlichen Triebe
gefolgt, bei dem sie nicht wisse, was sie mache, lenkte sie jetzt langsam ein
und erklarte, lieber die Strafe zu verbiissen, als dauernd interniert zu werden.
Dabei entwickelte sie einen anerkennenswerten Ueberblick uber die strafrecht-
lichen Folgen ihres Tuns.
Bei der nunmebr vorgenommenen Untersucbung liessen sich keine
Storungen von Merkfahigkeit und Erfahrungswissen nachweisen. Nur war das
Schulwissen gering. Ihre ^Verwirrtheit 14 bei der friiheren Untersuchung durch
den Stadtarzt erklarte sie darnit, sie sei uber den Besuoh erschrocken gewesen;
entsann sich aller Einzelheiten.
Im Krankenhause erschien sie geordnet, zuganglioh, schloss sioh gesellig
an die Mitkranken an, erzahlte ihnen pathetisch von ihrer ungliioklichen Lage,
wusste ihr Mitleid zu erregen. In ihrer Geschicklichkeit, ihr Benehmen den
Umstanden anzupassen, und in ihrer Beurteilung der eigenen Lage zeigte sie
eine unleugbare Schlauheit. Den Arzt bat sie, zwar nicht von Unzurechnungs-
fahigkeit zu sprechen, sie aber doch dem Richter so krank darzastellen, dass
sie mit einer leichten Strafe davonkame. Als sich die Beobachtung hinzog,
verlangte sie energisch ihre Entlassung, liess durch den Ehemann bei der
Polizei wegen „Freiheitsberaubung w Schritte tun. Dann wieder spielte sie sioh
auf die ungluckliohe Mutter heraus, legte ein schmeichlerisch-pathetisches Be-
tragen an den Tag.
Auf Veranlassung der Polizei erfolgte am IS. 1. 1905 die Entlassung.
Die Diagnose war auf Hysterie gestellt worden. Im.Februar stellte sie sioh in
einem anderen Krankenhause als „reiche Wohltaterin 11 vor mit dem Wunsche,
eine dort untergebrachte Trinkerin zu besuchen, berief sich auf angebliohe
Empfehlungen des Arztes, der sie zuletzt im Krankenhause behandelt hatte.
In verschiedenen Sanatorien, welche sie dem Gerichte als ihre Adresse
angegeben hatte, wusste man niohts von ihr. Im Juli beschloss die Straf-
kammer auf Antrag des Sachverstandigen ihre Dnterbringung in einer offent-
lichen Anstalt nach § 81 Str.P.O.
Am 1. 8. 05 erfolgte ihre Aufnahme in die Irrenanstalt F. Sie liess sich
willig auf die Abteilung fuhren, redete aber dabei fortwahrend in alberner
Weise vor sich hin: „Ich weiss gar nicht, warum mein Mann micb hierher ge-
braoht hat, ich habe nichts getan. Die andere Frau hat das Geld gestohlen.
Mein Mann sagt, diesmal darf ich hier nicht wieder weglaufen. Dann nimmt
er mioh nicht wieder auf. Das will ich auch nicht tun, dann komme ich dooh
auch bald wieder weg. u
Die korperliche Untersuchung ergab: „Grosse, kraftig gebaute Frau in
gutem Ernahrungszustande. Muskulatur uberall ziemlich kraftig entwickelt.
Kein Fieber. Urin ohne Zucker und Eiweiss. Oedeme, Ausschlage und Drusen-
sohwellungen fehlen. Leiohter Kropf. Lungen und Herz ohne Besonderheit.
Puls kr&ftig, regelmassig, 60, Pulssohl&gader weioh. Abdomen zeigt starkes
Fettpolster, alteSchwangerschaftsnarben, keine druckempfindlichenResistenzen.
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556 Dr. J. Raecke,
Menses zur Zeit vorhanden, angeblich sonst unregelmilssig, alle 2—3 Wochen,
angeblich vor 9 Wochen Umschlag, doch weiss die Angeklagte nicht, von wie-
viel Monaten. 12 Kinder tot, einmal Drillinge, ausser diesen noch ein Kind am
Leben. Der Schadel zeigt kleine, scbmale, niedere Stirn, im Verbaltnis dam
vorspringende Baokenknochen. Am Hinterkopf in der Gegend der Lambdanaht
eine druokempfindlichePartie. (Von einemFall herruhrend.) Haarwuchs dicht,
ohne Besonderheit. Ueber dem linken Auge zwei alte Narben {Krampfanfall).
An der rechten Schnlter, am linken Unterarm nnd in der linken Ellenbeoge
ebenfalls Narben. Gesicht etwas asymmetrisch, die rechte Augenbraue steht
hoher als die linke. Gesichtsfarbe gut. Ohren ohne Besonderheit. Die Zunge
wird unter starken Zitterbewegungen vorgestreekt, deutiiche Bissnarben am
4 Zungenrand nicht erkennbar. Gebiss teilweise karios, ZahnstelLung ohne Be¬
sonderheit. Rachen ohne Besonderheit. Rachenroflex vorhanden. Linke Lid-
spalte enger als die rechte. Augenbindehaut beiderseits stark injiziert. Rechts
Hornkauttriibung. Altes Trachom massigen Grades. Links starkeres altes
Narbentrachom, leichte Trichiasis. Pannus trachomatosus, bezw. traumaticus.
Augen- und Gesichtsmuskulatur ohne Lahmungserscheinungen. An den oberen
Extremitaten lebhafte Trizepssehnenreflexe, sowie auch Knochenhautreflexe von
den Vorderarmknochen, besonders rechts. Am rechten Unterarm, besonders am
Handgelenk, epileptogene Zone, Druck auf dieselbe lost Ohnmacbt
aus. Kniesehnenreflexe beiderseits sehr lebhaft. Fusssohlenreflexe ohne Be¬
sonderheit. An beiden unteren Extremitaten sowie am rechten Unterarm scheint
Hyperasthesie und Hyperalgesie zu bestehen. Am linken Unterarm vielleicht
etwas Hypasthesie und Hypalgesie. Sprache und Gang ohne Besonderheit.
Kein Schwanken bei geschlossenen Augen (Romberg’sches Phanomen). Blase
und Mastdarm funktionieren. u
„ Wahrend der 6wochigen Beobachtungszeit zeigte die Angeklagte im
grossen und ganzon das gleioheBenehmen wie beideMale wahrend des fruheren
Anstaltsaufenthaltes, nur scheint sie damals mehrfach leidlich richtigeAngaben
uber ihr Vorleben gemacht zu haben, wahrend sie jetzt angeblich bis auf die
Zeit von etwa einemJahr alles, was ihre fruherenStraftaten betrifft, vergessen
hat, dariiber weiter unten. w
„Ausgesprochene Krampfanfalle sind nur 2 festgestellt worden, am 16.
und 18. 8. je einer: sie konnten arztlich nicht beobachtet worden. Die
Warterin des Waohsaals gab folgende Schilderung:
16. 8. Heute 1 Anfall um 8Y 2 Uhr abends. Pat. sprach vorher unver-
standliche Worte, streckte beide Arme stramm aus, machte die Hande ab-
wechselnd auf und zu, machte fortwahrend zuckende Bewegungen mit dem
gauzen Oberkorper, schiittelte den Kopf, hatte Schaura vorm Mund. Der Anfall
dauerte 5 Minuten. Pat. zitterte aber noch lange daruach.
18. 8. Bekam lO 1 /^ Uhr abends einen Anfall, war dabei sehr laut, schrie
stossweise auf, streckte die Arme krampfhaft von sich. Diesmal kein Schaum
vorm Mund. Pat. sprach dann viel, aber unverstandlich im Schlaf. u
Ausserdem wurde „zwangsartiges u Lachen beobachtet. Die ersten Anfalle
vonLachkrampfenwurden am31.8.beobachtet und folgendermassen geschildert:
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„1. 9. Hatte gestern Abend dreimal Anfalle von Lachkrarapf. Pat. lachte
am Tage schon viel bei jeder Gelegenheit. Abends 8 Uhr der erste Anfall:
Pat. lachte erst laut, allmahiich leiser, wobei das Gesicht ganz entstellt und
scheinbar steif war. Nachdem der Anfall voriiber war, hatte Pat. eine ganze
Weile zuckende Bewegungen. Die Augen waren wahrend des Anfalls ge-
schlossen, die Tranen liefen iiber die Wangen. Pat. wusste am folgendenTage
nichts von den Anfallen. — Menses.**
Zwei ahnliche Anfalle wurden arztlicherseits beobachtet, von denen am
7. 9. einer vom spateren Begutachter selbst: „Naohdem schon eine langere
Unterredung mit der Frau W. stattgefunden hatte, reagierte sie auf die Frage,
was nun mit ihr werden solle, damit, dass sie plotzlich gellend zu lachen an¬
ting, den Fragenden mit eigenartig maskenartig grinsendem, verzerrtem Ge-
sichtsausdruck starr ansah, nach etwa 10 Sekunden ganz still wurde und an¬
ting, mit den Fingern an ihrem Taschentuch und der abgenommenen Brille
zwecklos pdiickende und putzende Bewegungen auszufiihren. Sofort befragt,
weswegen sie so gelacht habe, meinte sie, weil Referent sie so angesehen habe;
fast unmittelbar darauf nochmals befragt, stellte sie in Abrede, iiberhaupt
soeben gelacht zu haben. Eine sich dem Anfall anschliessende Verwirrt-
heit bestand nicht, denn Frau W. konnte richtig angeben, welches Thema Ref.
vorher mit ihr besprochen hatte, sie sagte ganz richtig, „von der H u . Die
Pupillenreaktion war nicht sicher zu priifen. u
„Abgesehen von diesen Anfallen von zwangsartigem Lachen, bei denen
Frau W. zweifelsohne das Bewusstsein verlor, wurden niemals bei ihr
Zwangshandlungen beobachtet, auch keine Dammerzustande, nur einmal fiel
es auf, dass die Angeklagte 2 Tage lang augenscheinlich ein verandertes
Wesen zeigte. Sie klagte iiber allgemeines Unwohlbefinden, iiber heftige Kopf-
schmerzen und Ohrensausen und beachtete am nachstenTage, dem 20. 8. ihren
sie besuchenden Mann, ganz gegen ihre sonstige Art, wenig, was sie am
folgenden Tage sehr bedauerte. Die Menses traten erst \ l j 2 Wochen nachher
auf, standen also damit in keinem Zusammenhang. u
„Spontan machte Frau W. auch nie Angaben fiber Sinnestauschungen,
sondem berichtete erst auf Befragen, sie hore auf dem reohten Ohre etwas,
^da ruft immer einer: Therese komml; auch wenn ioh schlafe, wache ich
schnell auf und kann nicht wieder einschlafen. u Gesiohtstauschungen zu haben,
stellte sie in Adrede, meinte aber dann, n ich hore Musik nachts, die Ohren
summon. a Sie selbst konnte nur sehr unsichere Angaben iiber ihre Krankheit
xnachen, sie erzahlte, dass sie ungefahr seit ihrer Verheiratung an Krampfen
leide, wie haufig sie diese habe, „weiss ich nicht, ich habe das letzte Jahr gar
nicht mehr arbeiten diirfen, meine Tochter und Schwester machen alles, ich
ging nur immer in die frische Luft. u
„Die Priifung der allgemeinen Kenntnisse ergab ein ganz minder-
wertiges Resultat. Frau W. beantwortete kaum eine Frage richtig.
(Wie heisst die Hauptstadt von Deutschland?) ^Schleswig-Holstein.**
(Das ist doch keine Stadt?) „So habe ich das gelernt.**
(Wo wohnt der Kaiser?) „ Berlin.**
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(Wie heisst er?) ^Wilhelm. 44
(Der wievielte?) „Dritte. a
(An welchem Fluss liegt Hamburg?) „Das ist die See bei Hamburg. Mein
Mann holt die Segelsohiffe herauf. u
(Wie heisst die See bei Hamburg?) „Ostsee, da haben wir drin gebadet,
da sind wir beinahe ertrunken, ioh und meine Tochter. tt
(Was ist Schnee?) „Das ist weiss. a
(Was ist Eis?) „Das ist sehr kalt, das friert im Winter und wird kalt. 44
(Wo kommt Wolle her?) „Das wird gepflanzt, meine Schwiegermutter
hat das auch gemacht. tf
(Wo?) „In Hitzaoker. u
(Was ist Leinen?) „Ja, das macht ja meine Schwiegermutter, das wird
durchgezogen. u
(Was' fur Farben gibt es?) „Rot, schwarz, weiss, grun, blau, braun, grau. u
Dabei fallt auf, dass FrauW. ziemlich unauffallig ihre Umgebung darauf-
hin ansieht, Kleid ist rot und schwarz, Papiere auf dem Tische weiss, Tisoh-
decke grun, sieht zum Fenster hinaus, blau, Bucher auf dem Tisch braun
und grau.
(Baume?) „Fuchsia, Geranium, Lebensbaum, Rosenb&ume, Aepfel,Birnen,
Pflaumen, Kirschen, Flieder. u
(Unterschied zwischen Fluss und Teich?) „Weiss ich nicht. u
(Was ist die Elbe?) Ein grosses Wasser, viele Schiffe darauf, da fahrt
mein Mann. 44
Dor Hochste in Hamburg ist der Burgermeister, der Hochste in Deutsch¬
land ist „unser Herr Kaiser. 44
Nach der Lange eines Meters befragt, meint Frau W. „ihr Mann rechne
das immer nach seinem Arm, 1 m sei etwa noch einmal so lang 44 .
Ganz rudimentare Kenntnisse schien die Angeklagte im Rechnen zu
haben, 8X9 ist 38, 6X7 ist 28, 3X8 ist 27, 21 — 14 ist 16, 137 ist 20.
Bei einer spateren Rechenpriifung bittet Frau W. sich Papier aus und rechnet
6X7 foJgendermassen: 7,14,26,32,48,52, also 6X7 ist 52. 2—J—3 -f-5—|—114
rechnet sie schriftlich erst nach mehreren Fohlern richtig, nimmt dabei, ohne
es irgendwie autiallig zu machen, die Finger zu Hilfe.
Bei der Aufgabe, wieviel 3 m Schnur kosten, wenn 1 m 15 Pf. koste,
schreibt Frau W. 3mal 15 untereinander, addiert zuerst die Zehner, dann die
Einer und erhalt so das Resultat 3,15 M. Auf Vorhalt verbessert sie sich, es
seien ja 3 Grosohen, also 3 Groschen, 15 Pf. 5°/o von 100 M. kann sie nicht
berechnen. Bei einem Multiplikationsezempel entschuldigte sie sich, „ich kann
iiberhaupt nicht so schnell rechnen, ich muss mir Zeit lassen 44 .
Ganz im Gegensatz dazu versteht sie mil kleinen Betragen baren Geldes
ganz gut zu rechnen und addierte mehrfach Silber- und Nickelgeld sofort richtig
und‘ ging dabei sichtlich mit Eifer und Befriedigung vor; ebenso wusste sie,
dass 1 Taler 3 M. ist, 1 M. gleioh 10 Groschen, 1 Taler gleich 30 Groschen.
Sie meint, in den Laden habe sie meist zu wenig Wechselgeld herausbekommen,
daher sei bei Einkaufen stets ihre Tochter mitgegangen. 44
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Weiter heisst es: „Ins Untersuchungszimmer gefiihrt, setzt sich Frau W. fc
ruhig auf den Stuhl und gibt dann ruhig Antworten, dabei fallt auf, dass sie
bei sonst guter Orientiertheit kaum eine zutreffende Antwort gibt. So meint
sie, sie sei heute schon 5Wochen hier, wahrend es gestem erst 3 Wochen waren.
Will an einem Mittwoch aufgenommen sein, wahrend es an einem Dienstag
war. Will jetzt zum 4.Uale hier sein, wahrend es zum 3. Hale ist. Will nicht
wissen, wie lange sie hier zu bleiben habe, der Mann habe ihr gesagt, nach
2 Sonntagen werde er sie holen; fugt dann unvermittelt hinzu: „Von meinem
Manne will ioh mich soheiden lassen! Da will ich nicht wieder hin. w Den
moge sie nicht mehr leiden, ihr kleiner Junge, der vor einem Jahre gestorben
sei, habe ihn auch nicht leiden mogen. Wann sie zum ersten Male hier ge-
wesen sei, wisse sie nicht. „Das war schon lange Jahre her, da habe ich ein
Baby gehabt, ich glaube es sind 5 Jahre her. tt
„In ihren Reden macht Frau W. einen etwas eigenartigen Eindruck, sie
spricht wie ein befangenes geziertes Kind. Will nicht in Pr. Eylau,
sondern in Kbnigsberg, den 11. Oktober (ihre Schwester) geboren und jetzt
42 Jahre alt sein. u Wollte die Namen der Aerzte nicht kennen.
„Behauptet, sie sei noch niemals bestraft. Dabei wird Frau W. nicht
orregt, sondern bekraftigt in ruhiger Art, es sei wirklich so, wohl sei ihre
Sch wester bestraft; will aber nicht behaupten, dass ihre Sch wester stets auf
ihren Namen bestraft sei. Ganz unmotiviert erzahlt sie im Anschluss daran,
dass ihr Mann sie einmal 3 Wochen eingesperrt, und ihr Onkel aus Danzig
ihr immer Geld geschickt habe. Auf Yorlesung eines Toils des Strafregisters
fragt Frau W. *,und das soil ich alles getan haben? u Meint dann nachher zu
Ref., dann werden Sie mir jetzt auch bos, dann glauben Sie das auch? u Will
nie in Anklage gewesen sein, wenn in den Akten ihre Unterschrift zu linden
sei, so wisse sie nicht, wo das herkomme, sie sei nie in einem Gefangnis
gewesen.
„Im Kurhaus sei sie einmal gewesen im vergangenen Jahr, sie wisse
nicht, weswegen man sie hingebracht habe. Auf Befragen, ob sie nicht
einmal in Stellung gewesen sei, wo Kinder vergiftet waren, bejaht sie, sie
wisse aber nicht, ob sie damals auch vergiftet sei. Weiss nicht, seit wann
sie an Kr&mpfen leidet, sie hatte schon lange keine mehr, auch hier hatte sie
bestimmt noch keine gehabt; ganz unvermittelt fugt sie hinzu: „friiher waren
immer meine Hiinde kaput, jetzt nicht mehr u , meint nachher, ihr Mann habe
ihr fruher gesagt, das sei bei den Krampfen entstanden.
„Nach ihrer Beschaltigung hier befragt, erzahlt sie in kindlichem Tonfall,
sie lese, wenn die Augen nicht schmerzen, „dann singen wir einmal, gehen
im Garten spazieren, zu Hause habe ich immer gescheuert."
„Stellt heute in Abrede, gesagt zu haben, dass sie mit Frl. L. zusammen
Blusen gestohlen habe. In recht scharfem, erregtem Tone erklart sie es fiir
Lugen, wenn ihr Mann und ihre Schwester erklart hiitten, sie sei vorbestraft.
„Das sind alles Lugen, dann steckt mein Mann im Komplott, die mir alles an-
hangen wollen u . Meint, ihr Mann wolle von ihr loskommen, dann solle er es
aber offen sagen. Setzt dann hinzu: „Ich maohe meine Treppen immer rein,
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aber wenn andere dort wohnen, mussen sie auch reinmachen. 44 Auf Vorhalt,
sie sei einmal der Kindsabtreibung angeklagt gewesen, meint Frau W. mit
bitterem Tonfall „nun wird es aber ganz toll — dann bin ich ja kein Mensch
mehr. 44
„Gibt nach momentanem Besinnen zu, im Warenhaus festgehalten zu sein,
„ja, das ist wahr, ich babe ein Jakett gestohlen, das hat mein Uann bezahlt u ,
sie glaubt, bei dieser Gelegenheit allein gewesen zu sein, sie kdnne die Einzel-
heiten nicht mehr sagen, es sei ein paar Jahre oder nur ein Jahr her, ihre
Tochter sei aber bestimmt nicht dabei gewesen. Auf Vorhalt, dass sie Klep*
tomanie yorgesohiitzt habe, meint Frau W., ja sie wisse nicht, wie es sei, wie
sie dazu gekommen sei, ibr Mann bringe die Sachen immer zuriick.
Den Umstand, dass sie jetzt zugebe, sohon mehrfach gestohlen zu haben,
wahrend sie es sonst immer abgestritten; erklarte sie dadurch, dass bei der
Frage nach der Angelegenheit im Warenhaus ihr einiges eingefallen sei, „ich
habe gestohlen, das gebe ich zu, dann muss ich nach dem Gefangnis 44 . Ge-
sessen will sie aber noch nicht haben. Stellt mit Bestimmtheit in Abrede, ent-
miindigt zu sein. Wielange und wann sie im A.-Krankenhause war, wisse sie
nicht, es mogen wohl 3 Jahre her sein. 44
„AufVorhalt der Jahreszahlen desStrafregisters mein t Frau W.verwundert:
„Da habe ich ja noch garnicht gelebt 44 , gibt ihr Alter auf 42 Jahre an; sie
konne es nicht mit den Jahreszahlen zusammenbringen. 44
„Sie bleibt auch heute dabei, dass die Hauptstadt Deutschlands Schles¬
wig-Holstein heisse, das sei eine Stadt. Namen des Flusses bei Hamburg?
„Wo mein Mann drauf fahrt? Elbe. „Stellt in Abrede, hier erzahlt zu haben,
dass sie ih* Sofa mit Petroleum angesteckt habe, dazu sei sie mit ihren Sachen
viel zu eigen. (Tatsachlich hat sie es einer Warterin erzahlt.) Will Frau H.
zuletzt vor ein paar Jahren gesehen haben, gibt dann nachher zu, sich ver-
sehen zu haben, es sei wohl zu Plingsten gewesen.
Auffallend ist die kindliche Art, in der Frau W. allerlei Sachen er¬
zahlt, die garnicht zum Gesprach gehoren, ganz ohne Zusammenhang mit dem
Vorhergehenden teilt sie irgend eine Tatsache mit, z.B. wenn von Frau H. die
Rede ist, erzahlt sie plotzlich unvermittelt, dass diese ihr noch ein Kleid zu
geben habe usw., ganz lockere assoziative Verbindungen. Dabei ist die Satz-
bildung auffallend ungewandt, FrauW. bedient sich fast nur kurzer Hauptsatze
Oder Satzrudimente.
Kennt die Vornamen, Rufnamen der mit ihr in Beriihrung kommenden
Warterinnen, auch die der mehr fur den Verkehr in Betracht kommenden
Kranken.
Will nicht wissen, zu welchem Zweck sie hier sei, der Mann habe sie
mit List hergebracht, ihr dann gesagt, sie solle von Ref. untersucht werden
„das kann ich mir nicht klar machen, was habe ich denn mit dem Gericht
zu tun?*
Auf Vorhalt, dass sie und Frau H. wegen Betrugs gegen Sch. angeklagt
seien, meint Frau W., das sei ganz falsch ausgelegt, Sch. habe sie aufgefordert
auszusagen, dass sie jemanden bei seiner Frau gesehen haben. E. bezeichnet
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sie als „der das Milcbgeschaft hat, den Namen habe ich vergessen u . Erinnert
sich auch, Sch. babe sie aufgefordert zu sagen, dass sie seine Fran in der
Wohnung bei der fremden Logiswirtin getroffen habe, das sei aber garnicht
war, dass sie sie dort geseben habe. Der Konditor Scb. (Name verstiimmelt)
habe ihr ein grosses Papier vorgelegt, oder es sei der Onkel gewesen, da habe
sie Therese W. nnterschreiben miissen, sie habe garnioht gewnsst, was darin
stand; bleibt bei dor Auffassung, dass sie das nnterschreiben musse, was man
ihr vorlege, ,ja ich musste das dooh unterschreiben w . Auf Vorhalt, dann sei
ja Sch. der Schlechte, meint Fran W., ja aber die II. sei anch schlecht, habe
ihr Geld fortgenommen, auch einmal Glasscheiben in der Haustur eingeschlagen,
weil sie Fran W. habe schlagen wollen, als sie sich weigerte ausznsagen, dass
die Frau mit dem Mann, „der das Milchgeschaft hat u , im Bett gelegen hat;
FranW. setzt unvermittelt hinzn „ich habe nie geschlagen und nie geschimpft“.
Sie will von Herrn Sch. oder dessen Onkel 1500 M. bekommen haben,
aber wieder abgegeben haben; die 300 M. habe Fran H. erhalten, sie habe sagen
sollen, sie hatte gesehen, wie Fran Soh. mit einem Manne, „der ein Milchge¬
schaft habe tt , der Name sei ihr entfallen, verkehrt habe; bei der Erzahlung
benimmt sich Frau W. wie ein Backfisch, zupft am Taschentuch „das kann
ich garnicht sagen — sie haben sich ausgezogen — znsammen — im Bett ge¬
legen 44 . Fran H. habe sie beauftragt, das zn sagen, aber sie habe es nicht
getan; wenn sie es tate, habe ihr Sch. 1500 M. versprochen.
Zu bemerken ist noch, dass eine der mit Frau W. in einem Zimmer
wohnenden Kranken, die als absolnt zuverlassig angeseben werden muss, sich
dahin ausserte, sie hatte anch einige Male bemerkt, dass Frau W. krampfhaft
gelacht und dabei ganz starr ansgesehen habe, sonst hatten sie sich ganz nett
mit einander unterhalten; es sei ihr aber aufgefallen, dass Frau W. ein sehr
schlechtes Gedachtnis, Personcngedachtnis, habe.
Menses hatte die Angeklagte wahrend des 6 wochigen Aufenthaltes in der
Anstalt 2 mal, das eine mal ohne besoudere Erscheinnngen. Im anschliessen-
den Gutachten, das der obige Referent erstattete, ward ansgefiihrt, dass die
W. seit ihrem 15. Lebensjahre mit Sicherheit an Krampfen leide: „Auch jetzt
konnten Anfalle zweierlei Art bei der Angcklagten festgestellt werden, 2Krampf-
anfalle und mehrere Lachanfalle mit Bewusstseinsverlust; erstere traten inner-
halb 2 Tagen ohne erkennbare Ursache auf, beide des Abends, sie wnrden von
der wachenden Warterin in der im 2. Teil des Gutachtens referierten Weise
beschrieben; die Lachanfalle warden erst nach 4 wochigem Anfenthalte der
Angeklagten in der Anstalt beobaohtet und standen zeitlioh im Zusammenhang
mit dem Anftreten der Menstruation; es fiel auf, dass Fran W. ein eigenartig
lautes gellendes Laoben anschlug, wenn irgend etwas Heiteres passierte oder
gesagt wurde, im Anschluss daran verlor sie augenscheinlich mitunter das Be-
wusstsein und es zeigten sich Reizungen der motorischen Tatigkeit, Steifheit,
Zittern usw., dieses Zwangslachen trat aber mitunter auch ohne normalen, ver-
standlichen Anlass auf und von diesen Aufallcn konnten 2 arztlicherseits be¬
obaohtet werden, der eine vomRef. selbst; er ist ebenfalls im 2.Teil beschrieben;
das plotzliche Anftreten und ebenso plotzliche Abklingen, die Starre des Ge-
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sichts, die zwecklosen putzenden und pfidckenden Bewegungen der Finger, die
Gedachtnisliicke fur den Anfall, die augensoheinlich nicht markiert war, das
alles spricht, abgesehen von dem zwingenden subjektiven Eindruck mit
Sicberheit dafiir, dass die Angeklagte tatsachlich an einer Krankheit leidet,
die in Anfallen von Bewusstlosigkeit und Krampferscbeinungen ihren ausseren
Ausdruck findet. Es ist diese Krankheit 1883 im Krankenhause far Hysterie
gehalten worden, ich mochte mich den zahlreicben friiheren Gutachten an-
schliessen und die Krankheit der Angeklagten ins Gebiet der Epilepsie weisen.
Von diesem Gesicbtspunkt aus verdient auch die sioh fiber 2 Tage hinziebende
primare Verstimmung der Angeklagten eine Beriicksichtigung als eine haofig
beobachtete Erscheinung im Krankheitsbilde der Epilepsie.
Frau W. fiel durch ihr verandertes Wesen dem Wartepersonal auf, sie
klagte iiber allerlei Beschwerden, war miirrisch auch gegen den am folgendcn
Tage zum Besuch erscheinenden Ebemann. Ein erkennbarer Anlass bestand
nicht, auch mit der Menstruation hatte dieser Zustand nichts zu tan.
Niemals beobachtet wurden wahrend des sechswocbigen Aufenthaltes in
der Anstalt bei der Angeklagten langer dauernde Verwirrtheits- oder Dammer-
zustande, auch abgesehen davon ist aus allem, was die Angeklagte erzahlte
und aus dem Anklagematerial mit Sicberheit auszuschliessen, dass bei der
Begehung der strafbaren Handlungen epileptische Dammerzustande eine Roll©
gespielt haben.
Die Diagnose Epilepsie, die die zahlreichen Gutachter aus den friiheren
Jahren fur erwiesen erachten, muss ich auch Herrn Dr. C. gegenuber aufrecht
erhalten. Herr Dr. C. hat allerdings zu Anfang dieses Jahres die Angeklagte
fiir eine Hysterika gehalten, ich mochte dazu nur bemerken, dass es nicht auf-
fallen kann, dass Frau W. im Krankenhause in A. keine Anfalle gehabt hat,
sie war nur 2 Wochen dort und auch hier in F. trat der erste Anfall erst am
16. Tage der Beobachtung auf, die mit Lachanfallen verbundenen Absenzen
erst nach 4 Wochen; diese Anfalle waren aber zweifelsohne epileptischer
Natur.
Mit der Diagnose Epilepsie ist nun selbstverstandlich an sich noch nicht
gesagt, dass die Bedingungen vorliegen, die die Anwendung des §51 St.G. B.
berechtigt erscheinen lassen. Ich habe auch keine Anhaltspunkte gefunden,
urn die strafbaren Handlungen mit prae- oder postepileptischen psychischen
Veranderungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Anfallen stehen,
in Verbindung zu bringen.
# Es handelt sich aber weiter um die Frage, ob die allgemeine geistige
Verfassung der Frau W. so hochgradig krankhaft gestort ist, dass die Auf-
fassung der friiheren fautaohten zu Recht bestehen bleiben muss. Die Beur-
teilung wird nun in hohem Masse dadurch erschwert, dass Frau W. zweifellos
iibertreibt und liigt, ob aus eigenem Antrieb oder ob dazu von anderer Seite
veranlasst, ist nicht festzustellen. Diese Unzuverlassigkeit ihrer Angaben hat
wohl auch Herrn Dr. C. mit dazu veranlasst, die auch von ihm festgestellte
geistige Schwache der Angeklagten fur nicht hochgradig genug zu halten, um
den § 51 St. G. B. als vorliegend zu erachten.
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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 563
Waren alle Angaben der Fraa W. glaabwurdig, so wurden sie einen der-
artigen hohen Grad von Storung auf alien Gebieten der Geistestatigkeit be-
weisen, dass ein Zweifel daruber, wie sie zu beurteilen ist, garnioht entstehen
konnte. Uan mag aber die berechtigte Skepsis noch so weit treiben, es
bleiben doch so viele positive Momente iibrig, die das psychische Bild der An-
geklagten so weit von dem abweichen lassen, was nooh als normal bezeichnet
werden kann, dass meines Erachtens der § 51 St. G. B. gegeben und kein An-
lass vorliegt, von den Soblussfolgerungen der fruheren Gutachter abzugehen.
Im Folgenden muss ioh naher darauf eingehen.
Absehen mochte ich von dem zu Tage tVetenden Mangel an den aller-
gewohnlichsten Kenntnissen allgemeiner Natur; so kurz und prazise gestellte
Fragen lassen sich ja sehr leicht auch mit Absicht unsinnig odor falsch be-
antworten. Aber auffallend war mir die Art und Weise, in der Frau W. die
Antworten gab, auch in alien spateren Unterredungen; sie sprach oft geradezu
in baokfisohartig gezierter Weise, dabei vermochte sie kaum einen wirklich
ordentlichen Satz zu formulieren und brachte mitten hinein immer wieder ganz
heterogene Dinge in ganz loser Ideenassoziation; ferner fiel dabei eine grosse
Stereotypie der Antworten auf, z. B. fragte ich zu 3 verschiedenen Gelegen-
heiten die Angeklagte, woher Wolle stamme, und jedes Mai folgte wortlioh auf
die an sich schon falsche Antwort der Nachsatz, dass ihre Mutter auf die und
die Art auoh schon Wolle geerntet habe.
Im Vordergrunde der deutlichen scheinbaren Storungen stand der ganz-
liche Verfall des Gedachtnisses: wenn Frau W. behauptete, sie sei noch nie
bestraft, babe noch nie im Gefangnis gesessen, so erscheint mir ein Erinnerungs-
defekt in dieser Ausdehnung nicht glaubhaft, auf gleicher Stufe stehen augen-
scheinlicb zahlreiohe der im 2. Teil des Gutachtens besohriebenen Aussagen
der Angeklagten, aber auch hier muss auffallen, dass die Angeklagte uber
manche Perioden des fruheren Lebens doch noch Angaben, wenn auch lucken-
hafte, maohte. Mitunter wurden diese geradezu phantastisch, dazu rechne ich
auch die 2 mal in den Akten festgelegte Aussage der Angeklagten, sie sei nur
einmal vorbestraft mit 7 Jahren Zuchthaus wegen Brandstiftung. Es haben
mir allerdings nicht alle Akten, die liber die Angeklagte im Laufe der Jahre
erwachsen sind, zur Verfugung gestellt werden konnen, aber das steht fest,
dass die Angabe betr. 7 Jahre Zuchthaus wegen Brandstiftung absolut unwahr
ist, wahrend Frau W. noch ofter in Anklage gestanden hat, als ich in vor-
liegenden Gutachten aktenmassig habe verarbeiten konnen. Die zweimalige
gleichlautende Aussage vermag ioh nicht zu erklaren, es ware aber nicht un-
moglich, dass sie nicht unter die ganz bewussten Unwahrheiten zu zahlen ist.
Die ganze Art und Weise des Verhaltens der Angeklagten ist gelegentlich
einem Richter schon als sicher nicht normal aufgefallen.
Eine Bestatigung fur das Vorhandensein eines wirklich sehr schlechten
Gedachtnisses war mir die Angabe einer kranken Dame, an deren absoluten
Zuverlassigkeit ich keinen Augenblick zweifle; sie erzahlte auf vorsichtiges
Fragen hin, dass sie mit Frau W. ganz nett verkehrt habe, diese litte aller¬
dings an Anfallen und hatte ein auffallend schlechtes Gedacbtnis, Namen-
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gedachtnis. Dafar sprach ferner nooh die absolute Unfahigkeit der Angeklagten,
die Namen Sch. und E. zu behalten, der erstere war stets „der Konditor a , der
zweito „der Mann, der das Milchgeschaft hat u . Diese Umschreibungen er*
folgten absolut prompt und stereotyp, und auf gelegentlich einmal erfolgtes
Drangen, den wirklichen Namen des Konditors zu nennen, bracbte sie ihn ver-
stiimmelt vor. Der Name der H. hat der Angeklagten nie gefehlt.
Sehr skeptisch zu beurteilen sind naturlioh die total negativen Ergeb-
nisse bei jeder Priifung auf Rechenkiinste. Frau W. versagte effektiv bei jedem
nooh so kleinen Versuch und auch diese negativen Ergebnisse hatte ich wohl
zum grossten Teil der Absicht einer Tauschung zugeschricben, wenn nicht
ganz im Gegensatz zu diesem Manko Frau W. mit barem Geld ganz leidlich
gerechnet hatte: ich habe sie mehrmals Silber- und Nickelgeld zusammen-
zahlen lassen und sie machto sich augenscheinlich mit Eifer an die Aufgabe
und teilte mit Befriedigung das stets richtige Resultat mit. Diese Inkongruenz
scheint mir daher doch dafiir zu sprechen, dass ihre Fahigkeiten, im Kopf oder
auf Papier zu rechnen, tatsachlich hochst minderwertige sind, es lasst sich
darauf wohl gut der Satz von Prof. Kraepelin anwenden „die begrifflichen
Gedankengange treten zuriick gegeniiber dem Greifbaren, Alltaglichen“. Aehn-
lioh zu beurteilen ist es auch, wenn die Angeklagte auf die AulTorderung bin,
Farben zu nennen, keine einzige „aus dem Kopf u nannte, sondern ganz un-
auffallig ihre ganze Umgebung ansieht und deren Farben nennt, rot und schwarz
ihr Kleid, grim die Tischdecke usw., schliesslich bratm und grau die Biicher-
einbande. Auch hier war es augenfallig, wie die Angeklagte begrifflich nicht
geniigend denken konnte, urn eine Anzahl Farben zu nennen, sondern erst auf
Grund sinnfalliger, direkter konkreter Beobachtung dazu imstande war.
Ich muss zum Schluss noch betonen, dass meiner Ansieht nach garnicht
alle falschen Angaben der Angeklagten als bewussterweise zum Zweck der
Tauschung gemacht anzusehen sind; ganz abgesehen davon, dass Epileptiker
iiberhaupt gern in krankhafter Weise liigen und iibertreiben, so ist in diesem
Falle eine genaue Scheidung zwischen dem, was bewusste Liige, und dem, was
wirkliches Nichtwissen oder Falschwisson ist, ganz unmoglich, die Grenze liegt
meines Erachtens aber weit im Pathologischen.
Ich fasse kurz zusammen: Frau W. entstammt einer schwer degenerierten
und zu Straftaten geneigten Familie, mit Eintritt der Pubertat treten bei ihr
die ersten abnormen Erscheinungen auf, sie leidet an Krampfen und beginnt
von der Zeit an ein Leben, das sie fast ununterbroohen mit den Strafgesetzen
in Konfiikt bringt; zweimal wird sie der Irrenanstalt uberwiesen, zahlreiche
Male von verschiedenen Gutachtern fiir geisteskrank erklart und deshalb nicht
bestraft, schliesslich der Irrenanstalt zu einer erneuten Beobachtung uberwiesen.
Das Ergebnis dieser Beobachtung fasse ich dahin zusammen: Frau W. leidet
ganz zweifellos an einer schweren Kratikheit, die sich in der t Form von epi-
leptischen Anfallen aussert, die arztlioherseits beobachtet worden sind. Im
Zusammenhang mit dieser Krankheit steht eine so hochgradige krankhafte Ver-
anderung der psychischen Funktionen, dass die Angeklagte als krank im Sinne
des § 51 St. G. B. anzusehen ist. w
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Nach ihrer auf Grund dieses Gutachtens abermals erfolgten Freispreohung
befand sich die W. wieder langere Zeit auf freiem Fusse und wurde von Krimi-
nalbeamten vergeblich gesucht. Endlich gelang ibre Fostnahme. Am 20. 2.
1906 wurde sie der Kieler Nervenklinik zugefiihrt: Ihr Mann und sie hatten
gegen die Einlieferung protestiert, doch war von dem Regierungsprasidenten
der Protest verworfen worden.
Die korperlicho Untersuchung ergab folgenden Befund: 39jahrige Frau
von 1,68 m Grosse, 76 kg Gewicht, kraftigem Knochenbau, guter Muskulatur,
und Ernahrung, 37,3 Temperatur. Ueber der linken Augenbraue horizontal
verlaufende kleine Narbe, ebenso am linken ausseren Augenwinkel, beide ver-
sohieblich, nicht druckempfindlich. Schadel frei von Druckpunkten. Linke
Lidspalte kleiner als die rechte, beide Lider links der Wimpem beraubt. Altes
Narbentrachora. Sehlocher untermittolweit, links enger, rund, verengem sich
gut bei Belichtung und Einwartssehen. Augenbewegungen frei. Gesicht gleich-
massig bewegt. Zunge weicht Spur nach rechts ab, zittert leicht, frei von
Narben. Schlechtes Gebiss. Rachenreflex erhalten. Gaumonbogen gleichmassig
gehoben. Hande zittern, zeigen beiderseits kraftigen Druck. SehnenreQexe der
Arme lebhaft. Ausgesprochenes Nachroten. Bauchdeckenreflexe fehlen. Gang
sicher. Kein Schwanken bei Fuss- und Augenschluss. Kniescheiben- und
Achiliessehnenreflexe lebhaft. Zehenrefloxe regelrecht. Tast- und
Schmerzempfindung ungestort. Herzdampfung nicht vergrossert. Tone laut,
rein. Puls 72, regelmassig, von mittlerer Spannung und Fiillung. Arterien-
wande weich. Lungen ohne besonderen Befund. Bauchorgane regelrecht.
Zahlreiche Striae. Urin frei von Eiweiss und Zucker.
Oertlich und zeitlich vollkommen orientiert. Fiihlt sich nicht krank. Sei
hier ihrer Meinung nach, um auf ihren Geisteszustand untersucht zu werden.
Sie habe 1905 in der Anstalt F. „simuliert a , sei 1904 auf schwindelhafte Aus-
sagen, die sie dem Geriohtsarzte gemacht habe, entmundigt worden.
Yon Geistes- und Nervenkrankheiten in ihrer Familie wisse sie nicbts.
Schon als Kind sei sie von der Mutter zum Stehlen angehalten worden. Sie
sei dannmehrfach wegen Dicbstahls mit Gefangnis und einmal wegen Kuppelei,
verubt an ihrer jiingsten Tochter, mit Zuchthaus bestraft worden. Schwestern
von ihr seien ebenfalls mit Zuchthaus bestraft, trieben sich als Kontrolldirnen
herum; 1 Schwester sei verheiratet und unbestraft.
Sie selbst habe in der Schule wenig gelernt, weil sie wegen hauflgen
Augenleidens viel gefehlt habe. Trotzdem seien ihre Zeugnisse gut gewesen.
Als kleines Kind Keuchhusten, mit 12 Jahren Diphtheritis. In der Schule habe
sie nie etwas weggenommen. Sie habe auf Befehl der Mutter vom Obstmarkt
Waren gestohlen, sei nie dabei gefasst worden.
Nach Konfirmation als Dienstmadchen in Stelluog, habe sich gutgefiihrt,
war 8 / 4 Jahr in der ersten Stellung, kam dann zum Kaufmann A., wo 5 Kinder
waren. Am Sonnabend trat sie den Dienst an, am Sonntag ging die Herrschaft
aus. Sie spielte mit den Kindern und brachte sie zu Bett. Als die Herrschaft
wiederkam, musste sie aus festem Schlaf geweckt werden. — Sie hatte sich,
wie sie meint, aufs Bett gelegt. — 2 Kinder wurden tot aufgefunden. Nach
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einigen Tagen Erbrechen bei Pat., kam ins Krankenhaus, wusste nicht, wes-
halb. Hier sei der Hagen mehrfach ausgepumpt worden, bekam Medizin, blieb
x / 4 Jahr dort. In dieser Zeit Anfalle, angeblich infolge des Schrecks und des
Magenspiilens, jedesmal, wenn sie sich argerte. Merkte nicht, wenn ein Anfall
kam, wurde nur rot, manchmal schwindlig; legte sich dann hin, weil sie
wusste, dass ihr etwas bevorstand. Dann Krampfe, kein Zungenbiss, kein Ein-
nassen, zweimal Verletzung im Gesicht, einmal am Fuss durch Verbruhung mit
Wasser, weil sie vom Anfall iiberrascbt wurde. Wisse nichts von Zuckungen.
Anfalle in Zwischenraumen von 1—4 Woohen, manchmal auch in Pausen von
*/ 2 Jahr, von 1884 an. Seit jetzt 13 Jahren frei von Anfallen!
1884 Heirat mit 16 Jahren. Gluckliche Ehe. Vor jetzt 4 Jahren Eh©
gebrochen; der Mann bestraft, weil er den Einwohner, mit dem sie geschlecht-
lich verkehrte, priigelte, mit 3 Wochen Gefangnis; Dauer des geschlechtlichen
Verkehrs mit dem Einwohner */ 4 Jahr.
1885 wegen Korperverletzung mit 10 M. Geldstrafe und 2 Tage Gefangnis;
Streit mit denNachbarn, welche angeblich die Geschwister der Pat. geschlagen
hatten, und Priigelei, Pat. sei unschuldig gewesen, die anderen hatten erst
geschlagen.
1886 wegen Korperverletzung 1 Monat Gefangnis: Schlagerei mit den-
selben Nachbarinnen und einem Ehemanne, wieder wegen der Schwestem.
Schlagerei auf dem Boden. Berufung beim Oberlandesgericht Kiel, bekam die
Strafe erlassen; sie sei wohl als sehr jung befunden worden.
1886 gleichfalls bestraft wegen Betrugs mit 3 Tagen Gefangnis. Habe
die Schneiderin um den Macherlohn fur ein Kleid betrogen, weil die Sohneiderin
das Kleid so schlecht gemacht hatte und Pat. selbst zu jung war, um sich die
Sache zu iiberlegen. Ihr Mann habe sie dafiir geschlagen.
1888 Betrug, Unterschlagung und Korperverletzung: 6Wochen Gefangnis.
Strafe abgesessen. Hatte einen Grunladen eingerichtet. Das Geschaft wollte
nicht gehen, sie besohloss mit ihren Sachen auszuriicken. Wurde dem Haus-
herrn gemeldet, dieser erschien und es gab eine allgemeine Schlagerei. Ferner
Uhr auf Teilzahlung genommen, dann versetzt.
Im selben Jahre vom Schoffengericht wegen Diebstahls 4 Wochen Ge¬
fangnis. Hatten sich ein Zimmer gemietet bei der Inhaberin eines Geschafts,
der sie halfen. Pat. stahl dieser eine goldene Uhr. Sagt als Grund: Der
Mann war krank, hatte keine Krankenkasse, sie hatten nicht wohnen bleiben
konnen, wenn sie nicht die Miete bezahlten.
1889 wegen Hehlerei 6 Monate Gefangnis. Sass davon 6 Wochen &b,
wurde wegen Schwangerschaft und Krampfanfallen vor der Zeit entlassen.
Hatte sich in G.mit einem Madchen angefreundet, besorgte dieser eine Stellung,
diese stahl und gab ihr davon ab. Sie hatte es gar nicht notig. Ihr Mann
hatte gute Stellung, die geschenkten Esswaren habe sie sogar weggeworfen.
Ihre eigene Schwester habe sie angezeigt. Wisse nicht, weshalb sie die Sachen
angonommen hatte, habe keine Entschuldigung.
13 Geburten in der Zeit von 1885 bis 1902, ausserdem mehrere Fehl-
geburten. 1 Tochter, jetzt 14 Jahre alt, am Leben. Von den 13 Geburten
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10 Totgeburten; von den anderen 1 im Alter von mehreren Stunden an Lebens-
schwaohe gestorben, 1 mit 3y 2 Jahren an Knoohentuberkulose und Lungen-
erweiterung. Alio Geburten schwer, moist Querlage. 3 Kinder totgemeisselt,
die ubrigen Steissgeburten. Leugnet, sicb jemals selbst die Frucht abgetrieben
zu baben.
1891 wegen Betrugs 6Monate Gefangnis abgesessen: Hatte Uhr auf Teil-
zablung genommen und versetzt. Wegen Schwangerscbaft vorzeitig entlassen.
Gibt als Grund der Tat an, es sei ihr schlecht gegangen.
1893 Ladendiebstabl. Will erst nicbts von da wissen, sagt dann, sie babe
bei einem Herrn B. unter falschem Namen Sachen gekauft. Wurde fur geistes-
krank erklart. Kein Termin.
Behauptet, ihre friiheren Angaben und Entschuldigungen mit Nerven-
und Geistesschwache, als ob sie zu Zeiten des Unwohlseins und der Anfalle
unsinniges Zeug zusammen kaufe, seien nicbt wahr gewesen. Das babe
sie nur so gesagt, um frei zu kommen. Jetzt wolle sie vom Irren-
hause freikommen. Sie habe die Tragweite ihrer friiheren Ausreden nicht
uberblickt.
Erzahlt plotzlich wieder eine Geschicbte, nach der sie in einen Laden-
diebstahl ihrer Mutter und Schwester mitverwickelt wurde. Der Physikus habe
sie damals untersucht. Meint dann, die Sache sei wohl 1896 gewesen. Sie
hatte damals ein Unterleibsleiden vom Wocbenbett her, kam ins Krankenhaus
und dann in die Irrenanstalt zur Beobaohtung. Wurde von dort wieder
entlassen.
1901 Anklage wegen Betrugs, Kurpfuscberei und Abtreibung: Sie legte
Karten, bekam dadurch Feinde. Massierte 2 altere Damen we^en Rheumatismus
in den Beinen, das sei als Kurpfuscherei ausgelegt worden. Auoh wurde
gesagt, sie habe sich selbst ein Kind abgetrieben, sie sei aber gar nicht
schwanger gewesen. Wurde verhaftet. Ein Arzt hielt sie nicht fur geistes-,
krank. Auf Veranlassung von Dr. W. kam sie in die Irrenanstalt und entwioh
nach 4 Wochen, weil sie sich schwanger fuhlte; lief zu ihrem Ehemanne.
Dr. Sch. untersuchte sie dort; man liess sie auf freiem Fuss.
1902—1903 Kuppelei-Sache: Da sie eine grosse Wohnung hatten, ver-
mieteten sie an Madchen, die vom Geschlechtsverkehr lebten. Ihr Mann bekam
6 Wochen. Sie wurde auf Veranlassung von Dr. Sch. als geisteskrank frei-
gesproohen. Sagt, sie habe sich nur durch Verbrechen aus der Not helfen
wollen. Geisteskrank sei sie nicht gewesen.
Einmal habe sie in verschiedenen Geschaften Waren genommen und diese
versetzt. Dem Dr. Sch. habe sie mit Willen sinnlose Antworten ge-
geben. So habe sie ihm von Brandstiftung und einer abgesessenen 7jahrigen
Zuchtbausstrafe gesprochen, um etwas zu sagen.
Juni 1903 sei ihr eine auf Abzahlung genommene Uhr, die sie versetzen
wollte, gestoblen worden. Ihr Mann habe Anzeige ersiattet. Sie sei dann vom
Kaufmann N. verklagt, aber als geisteskrank freigesprochen worden. Der Ge-
richtsarzt Dr. N. uptersuohte sie in ihrer Wohnung und schlug dem Manne
Entmundigung vor, damit sie mit den Gerichten nichts mehr zu tun habe.
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568 Dr. J. Raecke,
1903 Klage oines Instrumentenmachers Sch.: Hatte 1900 ein Klavier auf
Miete genommen und sollte es versetzt haben. Sie habe damals ^mit .Willen
viel Unsinn gequatscht 44 von Versetzen, Abzahlen von Geigen, Spiel-
klavieren usw. Sie wollte geisteskrank erscheinen. Wurde „nach § 51 u
freigesprochen.
10. 5. 1904 sei sie entmiindigt worden. Ein Uhrmacher R. wurde Vormund,
Gegenvormund ihr Uann. Betont, sie habe sich nicht entmiindigen lassen, am
neue,Straftaten zu veriiben, sondern um von alten Sachen freizukommen, sie
hatte nooh viele Strafen vor sich wegen Kuppelei usw.
Jetzt denke sie anders. Wenn sie auch zehn Jahre Zuchthaus absitzen
miisse, so wolle sie das lieber, als unter kranken Leuten sein. Wenu sie ihre
Strafe absitze, bekomme sie auch ihre Ruhe und ihren Frieden ,wieder. Dann
habe sie gesuhnt, was sie verbrochen habe.
Auf Aufforderung zeigt sie, wie sie ihre „Anfalle w aufWunsch bekommen
habe: Streckt sich im Bette, Kopf etwas nach hinten, verdreht die Augen, macht
Schuttelbewegungen mit Armen und Beinen.
Am 21. 2. zur Behandiung des Trachoms in die Augenklinik verlegt. Am
19. 4. von dort wieder zuriick. Hatte sich die ganze Zeit durchaus geordnet
betragen, keine Anfalle gehabt. Eine geistig gesunde Patientin, die dort Bett
an Bett mit ihr gelegen hatte und sie spater besuchte, erzahlte, die Frau W.
habe nur liber ihre Augenkrankheit mit ihr gesprochen, fiber ihre eigenen An-
gelegenheiten nicht, habe nur gesagt, sie sei in derNervenklinik, um elektrisiert
zu werden. Sie habe der W. nie etwas Besonderes angemerkt.
22. 4. Ruhig, willig, ' gleichmassig freundlich, beschaftigt sich fleissig,
kehrt von einem Urlaub nach Hause freiwillig zuriiok. Erklart, ihre Absioht
sei, hier fur gesund erklart zu werden. Es sei nicht wahr, dass sie ihreTochter
zum Bosen verleitet habe, sie wolle diese rein halten und biissen, was sie ver¬
brochen habe. Boim Urlaub sei sie zum Abendmahl gegangen und habe das
Grab ihres kleinen Sohnes auf dem Friedhof besucht.
Ueber ihre frfiherenKrampfanfalle gibt sie an, sie habe diese stets Abends
gemacht, wenn keine Aerzte da waren; dann batten die Warterinnen es in
die Bucher eingesohrieben.
27. 4. Hilft eifrig bei der Hausarbeit, andauernd ruhig und geordnet.
Gibt auf Befragen klar und sachgemass Antworten. Weiss ziemlich genaa die
Daten ihrer Vorgeschichte.
1. 5. Ausser gelegentlichem Brennen in den Augen keine Beschwerden.
Fortgesetzt gleichmassig willig und heiter, vollig geordnet.
6. 5. Sagt auf Befragen, Ende 1904 sei die Anklage wegen Kuppelei ge-
wesen, der Mann war auch verklagt. Nicht bestiaft auf Gutachten von Dr.
Sch. hin. 1905 Vernehmung in Sachen der H. vor dem Untersuchungsrichter.
Leistete nicht den von Frau H. verlangten Meineid. Hatte 300 M. dafiir er-
halten. Wegen dieser Sache nach Irrenanstalt zur Beobachtung. Machte
dort den Pflegerinnen Anfalle vor, 3mal. Oefter absichtlich sehr ge-
lacht. Auch in Gegenwart des Arztes. Habe sich so verhalten, wie eine
Kranke sei. Habe es an anderen Kranken gesehen, habe auch viele Krampf-
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569
anfalle gesehen. Schildert das selbst: „Sohreien auf, kriegen Schaum vor
dem Mund, schlagen hin, spreohen wirr, wenn sie so aufkommen, sind sie den
Tag noch nicht zu gebrauohen, sind matt u .
Sei von der Irrenanstalt am 12. 9. 1905 entlassen worden, war za Hause
beim Manne, hatte Stellen als Reinmachefrau and ging zar AushiKe. Im No¬
vember kam ein Schutzmann in die Wohnang and frug, ob die Fraa W. mit
ibrer Tochter bei ihrem Manne sei. Sie sagte: Das bin ich ja selber! Am an-
deren Tage ging der Mann auf die Polizei, was das bedeuten solle. Bekam
keine richtige Auskunft. 14 Tage spater kamen Schutzleute and wollten sie
abholen. Fragten nach der W. Sie sagte, Frau W. sei nach Danzig, sie sei
nur die Schwester. Darauf gingen jene. Dieselbe Woche kamen Kriminal*
schutzleute morgens nach 6 Ubr, sie versteokte sioh im Kleiderschranke. Die
Tochter sagte, die Matter sei in Danzig. Sie wurde nicht gefunden, blieb bis
zum 31. 1. 1906 unbehelligt. Ging nicht aus der Wohnung. Die Nachbarn
meinten, sie sei in derAugenklinik. Schliesslich wurde sie von ihrer Schwester
angezeigt, auf dem Markte einen Korb Birnen gestohlen zu haben. Gntschloss
sich nun, der eingehenden und vom Manne angenommenen Vorladung nachzu-
kommen. Bei der Verhandluug soli sich ihre Unschuld herausgesteilt haben.
Dagegen ward nun die Kriminalpolizei benachrichtigt, angeblioh wieder von
der Schwester, sie sei da. Ein Beamter erschien und nahm sie fest. Trotz
ibres Protestes erfolgte die Ueberfuhrung nach der Nervenklinik in Kiel. Die
betreffende Schwester sei jetzt mit ihrem Zuhalter fliiohtig nach England.
Erzfihlt dieses alles ruhig und gebrdnet, verfiigt gut fiber die versohie-
denen Daten, bleibt bei der Sache, schweift nicht ab, antwortet auch saohge-
mass auf Zwischenfragen.
11. 5. Dauernd sehr fleissig, vertragt sich gut mit den anderen
Kranken.
25. 5. Andauernd ruhig und geordnet, arbeitet fleissig . Korrespondiert
mit ihrem Manne wegen ernes Gesuchs um Entlassung aus der Klinik. Zeigt
Einsioht and Verstandnis fur ihre Lage, sucht mit Geschick einen Ausweg aus
dersolben. Weint einmal nach Besuch des Mannes, sonst stets gleichmassige
Stimmung. Keinerlei Anfalle. Keine Auffalligkeiten.
2. 6. Gibt ihre Personalien stets riohtig an, ohne zu zogern.
(Wie alt?) „38 Jahre u .
(Wann geboren?) „1867, 10. Dezember u .
(Wie heissen Eltern?) „Vater Rudolf Ferdinand N.; Matter Christine K. u
(Wann gestorben?) „Mutter 1902 im April, der Vater ist 10 Jahre tot w .
(Geschwister?) Die alteste Schwester Auguste K., geschieden von ihrem
Manne, ist Arbeiterin, treibt sich umber, ist vielfach vorbestraft, hat uneheliche
Kinder, eine Marie D., Eversfuhrersfrau, vielfach wegen Diebstahls bestraft,
znietzt vor einem Jahr in A., im Mai freigekommen. Margarete N., unverhei-
ratet, treibt sich umher, hat einen Zuhalter. Sonst keine Geschwister, 11 sind
gestorben
(Mutter bestraft?) ^Vielfach wegen Diebstahls, einmal wegen schwerer
Kuppelei der eigenen Tochter mit einem Jahr Zuchthaus. Das hat sie aber
ArtkiT 1 PsjrohUtrie. Bd. 60. Heft 3/3. 37
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Dr. J. Raeoke,
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zu Unrecht bekommen. Die betr. Toohter war die Grate N. Es ist ein Jahr
her. Sie ist in A. bestraft worden 44 .
(Wo zar Schule?) „In A., in der S.*Strasse. Ich hatte eine Lehrerin FrL
Hansen und einen Lehrer Heim Kreuzfeld.
(Wann?) „Vor 26 Jahren. Bin mit dem 13. Jahre konfirmiert, noch
keine 14 Jahre 14 .
(Gut gelerat?) „Nein, hatte immer schlimme Augen. Konnte die Schule
nur wenig besuchen 44 .
(Spater gelernt?) „Bin schon auf Stall© gewesen, wie ich noch zur Schule
war, bei Herrn Dr. S., Zahnarzt, B.-Strasse 44 .
(Spatere Stellen?) „Von da bei Milchmann M. in E., P.-AUee, da waren
3 Knechte, der Hann war gelahmt. 2 Kinder. Ich habe immer alles machen
miissen. Ich habe immer schwere Stellen gehabt. Von da bei M., Tapeten-
geschaft, in H. . . . twiete, bin 3 Monate dageblieben, bin weggekommen, weil
ich billigeres Brot einkaufte, als ich Geld bekam, und den Uebersohuss dafur
verwendete, urn mir Brot zu kaufen. Ich bekam zu wenig zu essen. Von da
zu Herrn Senator R., bin 2 Monate dageblieben, wurde krank. Von da nach
Weinhandler S., nur zurAushilfe. Vorher auch beiA., dort starben die Kinder
und ich wurde auch krank. Von S. ab nur Aushilfsstellen bei v. T. in S.-
Strasse und in E. .. . ich kam. nicht auf den Namen kommen, es waren Fran-
zosen, dann bei L. in Sch.-f trasse, dann bei Gerichtsvollzieher L. in A. Ich
war da schon verheiratet, wie ich bei L. war u .
(Wann Heirat?) ,,1884, 11. Oktober 44 .
(Wen?) „Johann Heinrich W. w
(Kinder?) „Habe 13 Kinder gehabt, eins lebt davon, ist am 30. April
14 Jahre gewesen. Ist 1892 geboren w .
(Datum heute?) „2. Juni 1906 w .
(Wochentage?) Richtig.
(Wie lange hier?) „Ich bin gekommen am 20. Februar, am 21. nach der
Augenklinik 44 .
Sagt Wochentage und Monate vorwarts und riickwarts fliessend, richtig
auf. Weiss, wieviel Stunden der Tag, Minuten die Stunde, Sekunden die
Minute, Tage die Monate haben, meint nur, das Schaltjahr sei alle 5 Jahre.
(Wochen im Jahre?) 13 Wochen ist ein Vierteljahr, 26 Wochen ein H&lb-
jahr — 52 Wochen.
(Tage im Jahr?) „Herr Doktor, das bringe ich nicht so schnell zusam-
men, die Rechnung . . . 366 Tage 44 .
Hat nach Monaten ausgerechnot. Weiss, dass das Schaltjahr einen Tag
mehr hat.
(Wann Weihnachten?) ,,24. und 25. Dezember 44 .
(Ostern?) „Das ist verschieden. Dies Jahr haben wir Ostern am 15.,
16. April gehabt 44 .
(Pfingsten?) „Immer 6 Wochen nach Ostern 44 .
(Warum wird es Tag und Nacht?) „Bei Nacht ist es dunkel, am Tage ist
es hell, weil die Sonne sich dreht, geht im Osten auf, im Westen unter 44 .
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(Wann Tago langer?) „Im* Sommer ist er langer, weil es dann langer
hell ist“.
(Wann nehmen die Tage zn?) „So Ende Januar“.
(Hamburg oder Kiel grosser?) „Hamburg“.
(Richtung?) „Von Hamburg nacb Kiel naoh Norden“.
(Wie finden Sie Himmelsrichtungen?) „Wo die Sonne aufgeht, ist Osten;
-wo sie untergeht ist Westen. Sfiden and Norden liegen gegenfiber; Sfiden ist
weiter ins Land hinein". (Zeigt nach der Richtung.)
(km?) „Das weiss ioh niobt. Ist viel mehr wie andere Meter; das gebt
ja per Bahn".
(Meile?) „Man kann in einer Stunde eine Meile erreichen u .
(qm?) „Ist P/j m.“
(m?) Zeigt rich tig.
(Fluss bei Hamburg?) „An der Elbe".
(Woher kommt die?) n LEuft in die Nordsee, kommt vom Rhein oder
weiter da oben, wie nennt man das, bis zu Dresden da in die HShe".
(Flusse in Deutschland?) „Oder, Rhein, Weichsel, liegt bei Danzig".
(Stadte an der Elbe?) „Cuxhaven, Glfickstadt, Altona, Hamburg, Magde¬
burg, Domnitz, Dresden".
Weiss die Namen ihrer Mitpatientinnen, der Aerzte und Pflegerinnen.
8 X 10 sind 80; 6 X A sind 24; 6X8 sind 48; 7X9 sind 75; 11 X 12
sind 120; 21 u. 38 sind 58; 8 u. 14 sind 22; 14 u. 26 sind 30; 19 u. 32 sind
51; 28 u. 44 sind 72; 36 u. 25 sind 51; 21 — 4 sind 17; 22 — 9 sind 12;
58-12 sind 46; 87 — 19 sind 68; 43 — 17 sind 26; 123 u. 235 u. 537
sind.
(16 M.? Fr., wenn 4 M. gleich 5 Fr.).
(Wenn man an 1 Tag 2,50 M verdient, wieviel im Monat?) „65 M."
(6 Mann machen eine Arbeit in 4 Tagen, in welcher Zeit 3 Mann?)
„12 Tage."
2 / a m sind ? cm) „15 cm."
(% M. ? Pf.) „75 Pf.“
(Baume im Walde?) „Tannen, Buchen, Eichen, Linden, Eschen."
(Unterscbied von Eiohe und Tanne?) „Tanne hat Nadeln, Eiche hat
zaokige Blatter."
(Frfichte auf dem Felde?) „KartofTeln, Weizen und Roggen, Ruben,
Kohl, Wurzel, Sauerampfer, Spinat."
(Religion?) „Evangelisch.“
(Andere Religioneu?) „Katholisch l judisch, Menoniten, Baptisten-Ge-
meinde."
(Unterschied?) „In der Kirche. Die Juden haben ihren Feiertag Sonn-
abend. Katholischo baben sehr viele Feiertage."
(Luther?) „Das war ein Dichter; nein, der hat die Bibel fibersetzt."
(Was bedeutet Weihnachten?) n Da ist Christi geboren."
(Was Ostern?) „lst Christi wieder auferstartden."
(Was Taufe?) „Dass man den heiligen Glauben kriegt."
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Dr. J. Raecke,
(Wer war Schiller?) „Ein Diohter.“
(Gedichte tod ibm?) „Nein, Herr Dr. mebr Theaterstficke: Die Rauber
und Maria Stuart. tt
(Kaiser?) „ Wilhelm II. “
(Regiert seit?) „18 Jahren. a
(Wer vorher Kaiser?) „Friedrich, vor dem Wilhelm I. u
(Hauptstadt yon Deutschland?) „Berlin.“
(Staaten in Deutsohland?) Versteht die Frage nicht.
(Lander in Deutschland?) „01denburg, Hamburg, Lubeck, Bremen,
Wiirttemberg, Ostpreussen, Westpreussen. tt
(Hauptstadt von Bayern?) „Munchen. u
(von Sachsen?) „ Dresden, tt
(Was war 1870?) „War Krieg mit Frankreich, u
(Schlachten?) „Strassburg: sind bis Paris hineingegangen. u
(Schlacht bei Leipzig?)-
(Gustav Adolf?) „Friiherer Kaiser von Bayern. “
(Waifengattung?) Pioniere, Kfirassiere, Garde, Artillerie, Husaren. u
(Zweck der Soldaten?) „Wenn Unfriede ausbricht, urn uns zu be-
schfitzen.“
(Parteien?) „Sozialdemokratie, weiss garnicht, wie sioh die anderen
Parteien nennen. u
(Wozu Gerichte?) „Um Gerechtigkeit zu halten.“
(Warum wird man bestraft?) „Weil man etwas getan hat, wenn man
stiehlt Oder sonst was macht. u
(Wer gibt die Gesetze?) „Vom Reichstag. tt
(Unterschied von Staatsanwalt und Rechtsanwalt?) n Rechtsanwalt ver-
teidigt einem sein Recht, Staatsanwalt pruft und bestraft einen. u
Die Geldstucbe kennt sie alle.
(Warum Papiergeld?) „Vom Reich aus. Wenn man nicht soviet Silber
hat und Gold. u
(Pfund Blei oder Pfund Federn schwerer?) „lst wohl Beides egal. u
(Wozu Steuern?) n Um den Staat zu erhalten, Militar und anderes fur
den Staat. “
(Zinsen?) n Wenn man Kapital aufnimmt, muss man es verzinsen. u
(4. Gebot?) Richtig.
(Pfliohten gegen Mitmenschen?) „Um sie zu schiitzen und sie in Not
beizustehn. u
(Wie kann man Mensohen an der Ehre kranken?) „Wenn man . ibm was
Unwahres nacbsagt, was er nicht begangen hat, und schlechte Worter sagt.^
(Wie finden Sie Ihr Gluck?) „Ich bin verheiratet und lebe recht zu*
frieden mit meioem Maun und habe ein Kind, das ich herzlich lieb habe. u
Antwortet bei dieser ganzen Unterrednng rasch, ruhig und geordnet.
Immer fleissig bei der Hausarbeit und unauSallig.
4. 6. Freut sich fiber den Besuch ihres Mannes. Dieser gibt zor Vor*
geschichte n'och an: Er kenne seine Frau seit 24 Jahren. Ihr Vater sei ein
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ordentlicher nnd strebsamer Mann gewesen, Chausseewarter. Die Matter sei
niobt lobenswert gewesen, sei wiederholt wegen Diebstabls bestraft, znletzt
Tor 9 Jabren. Seit 6 Jabren sei sie tot. Knppelei babe sie nicbt begangen.
Die alteste Schwester seiner Fran and deren Tochter seien Umhertreiberinnen.
Oft wegen Unzacbt, Kuppelei, Diebstabls bestraft. Aach die 2. Sohwester,
Fran D., sei haafiger wegen Diebstabls bestraft. Die 3. Scbwester babe
wiederholt Zachthaus and Gefangnis gebabt wegen Unzucbt, Diebstabls
a. dergl.
Bevor er seine Fraa kennen lerate, solle sie ganz gesand gewesen sein.
Als sie bei A. in Stellang war, babe sie „vor Schreck u ibre Krankheit be*
kommen. Wie die Kinder vergiftet warden, babe sich nie herausgestellt. Nach
Ansioht der Aerzte sei seine Fraa mitvergiftet gewesen. Als er sie 1884
heiratete, habe er besondere Erlaabnis gebraacht, da sie erst 15 Jabre alt war.
Sie habe seit der Vergiftangsgeschichte Anfalle gehabt. Der Kopf war ganz
hinten aaf dem Riicken, die Brust gewolbt. Kein Schaam vor dem Monde,
kein Zangenbiss, kein Einnassen, Zackungen im ganzen Korper, bewasstlos.
Nachher Kopfscbmerzen, keine Erinnerang, war 2 Tage ganz kapat. Yorher
ofter verwirrt mit stierem Blick; manchmal ging das dann ohne Krampfe vor-
fiber. Im Anfall mal ganz weiss, mal rot. Krampfe kamen mitunter ofter die
Woche, mitanter 3Wochen nicbt. Seit 4 Jahren babe sie keine Krampfe. mehr.
Er habe welche znletzt 1900 gesehen, aber nicht mehr so schlimm, wie friiher.
Von 13 Kindern alle bis aaf 1 klein gestorben. Mann habe 1882 Syphilis
gehabt nnd Schmierknr gebrauoht. Was seine Fraa alles begangen habe, wisse
er nicht mehr so genau. Anfangs habe sie ihre Strafen abgesessen, naohber
habe sie nioht fur zareohnnngsfahig gegolten.
1904 sei ibm geraten worden, seine Fran entmundigen za lassen. Er
habe selbst seine Fraa nicbt far geisteskrank gehalten, wie er eingestehen
masse. Damals babe er freilich anders ausgesagt. Ihm gegeniiber habe sie
sich nie krank gestellt. Er meine, sie babe aach za den Aerzten in seiner
Gegenwart richtig gesprocben. Dagegen habe sie in der Irrenanstalt bei der
Beobachtung aaf jeden Fall simaliert. Damals habe sie keine Krampfe mehr
gebabt, nor vorgemacht.
In der Zeit vor 1900 sei sie ofter standenlang verwirrt gewesen, habe an-
notige Sachen gekanft. Er habe es an ibren starren Augen gemerkt. Duroh-
einander gesprocben habe sie nicht.
Bei alien diesen Angaben ist er sehr sohwankend and ansicher, macht
einen wenig glaubwardigen Eindrack.
5. 6. Pat. erzahlt selbst, sie habe mit dem Gerichtsarzte in Gegenwart
ihres Mannes verndnftig gesprocben, sonst in kindlicher Weise. Aaf Aaf-
forderung macht sie diese kindliche Sprechweise vor, die sie verschiedentlich
angenommen babe.
11. 6. In den letzten Tagen etwas gedriickter Stimmang, da die An-
gelegenbeit ihrer Entlassung schon langere Zeit schwebt and keine Fort-
sohritte macht. Ist aber andauernd fleissig, willig and geordnet. Vertragt
sich got mit ihrer Umgebung.
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Dr. J. Raecke,
13. 6. Wird in der Vorlesung liber forensisobe Psyohiatrie von Geh. Rat
Siemerling vorgestellt, soil lant Yerabredung erst in kindlioh gemaohter
Weise anf Fragen antworten, wie wahrend ihrer Begntachtnng in der Irren-
anstalt F., dann anf gegebenes Zeichen einen „epileptisohen Anfall“ vorfohren,
daranf znm Scblnsse verniinftig reden. Fdbrt ibre Rolle ansgezeichnet durch,
so dass die Horer von ihrer Krankheit zunachst nberzengt sind.
(Wie beissen Sie?) „Frau W.“ (in geziert alberner, etwas kindlicber
Sprechweise, zupft am Kleide.)
(Wie alt?) „58 Jahre. u
(Wo geboren?) „In Konigsberg.“
(Wann?) „11. Oktober. u
(Wo bier?) „Ja, ioh bin hier zur Erholung."
(Hans?) n In der Villa."
(Wielange hier?) „2 Jahre."
(Oho!) Lacht gellend.
(Messer vorgezeigt:) „Das ist ein Griffel."
(Schlussel?) „Das ist der Geldschrankschliissel, der ist mir fort-
genommen. “
(Portemonnaie:) „Das ist mein Portemonnaie."
(Schon bestraft?) „Nur 7 Jahre Zuchthaus babe icb gehabt. u
(Was getan?) „Ich hab’ ein Haus angesteckt. 11
(Menschen verbrannt?) „Pferde!“ (Lacht gellend.)
(Wo hier?) „Altona.“
(An welchem Fluss?) „An der Spree.“
(Fliesst wohin?) „ln die Nordsee.“
(Von Berlin gehort?) „Ja, unser Kaiser."
(Heisst?) „Konig der 3."
(Wovon Konig?) n Konig von Schleswig-Holstein."
(Was ist das?) „’ne Stadt, so gross wie Altona."
(Wieviel Einwohner?) „4500."
(Berlin?) „1000.“
(Wo geht die Sonne auf?) j,lm Norden."
(Unter?) n Im Osten."
(Stnnden der Tag?) „6."
1m Anfalle stdrzt sie richtig hin, liegt erst starr, zuckt and scbdttelt
dann, baumt sich aber nicbt auf, hat die Hande geballt. Schanm vor dera
Monde! Zwinkert mit den Augen. Steht dann anf and erzahlt, wie sie
das macht.
15. 8. Wird in der Klinik mit derselben Verabredung vorgestellt:
(Wie heissen Sie?) „W. heiss ich." (Mit hoher Stimme in kindlichem
Tonfall, einfaltigem Gesicht, wie verlegen.)
(Wie alt?) „58 Jahre."
(Wesbalb hier?) fl Ich soli mich hier erholen."
(Wo hier?) „In Altona."
(Gebaude?) n In einer Villa bin ich."
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1
Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung.
575
Bekommt einen Anfall von laut gellendem Lachen, macht ganz verstortes
Gesicht. Lacht anhaltend.
(Warum freuen Sie sich?) „Alle Kinder sind da. u
(Wo sind die?) „Im Himmel. u
(Das freut Sie?) „Ein Kind ist lebendig begraben. u
(Schliissel vorgezeigt:) „Mein Geldschlussel. u
(Ring:) n Meiner Mutter Ring. a
(Messer:) „Griffel, mit ’nem Messer dran. a
(Portemonnaie:) „Mein Portemonnaie, das haben sie mir weggenommen. u
(Uhr:) „Meine Uhr, die habe ich immer gehabt, die ist mir weg-
gestohien. a
(Strafen?) „Ich habeJahreZuchthaus gehabt! a (Lacht wieder gellend
und noch langer.)
(Was ist Altona?) „Ist ? ne Kirche, hier von aus dem Fenster ist ’ne
Kirche. a
(Kaiser?) „Der 4. a
(Name?) „Friedrich. u
Auf ein Zeichen (Taschentuch herausgezogen) stiirzt sie hin, Korper steif,
Arme gestreckt, dann Zuckungen, schlagt mit den Fiissen den Boden, Daumen
eingeschlagen, Schaum vor dem Munde, Augen aufgerissen. Dann wie be-
nommen. Auf Anruf steht sie auf, ist vollig geordnet. Erzahlt lachelnd bei
Befragen, sie „mache tf solche Anfalle seit 20 Jahren, vorher habe sie
wirkliche Anfalle gehabt und zwar im Wochenbett und nach Aufregungen.
Dass auch ihre Mutter und Schwestern Krampfe gehabt hatten, habe sie er-
funden; das sei nicht wahr.
21. 6. Nach einer Bemerkung in den Entmiindigungsakten befragt, als
ob der Mann wegen ihrer Unfahigkeit eine Haushalterin hatte nehmen mussen,
erklart sie lachend: ^Niemals, nein, wir haben zu der Entmiindigungszeit
keine Hilfe gehabt. Ich habe alles allein gemacht. u Ihr Mann habe wohl alles
etwas schlimmer dargestellt. Meint, sie babe sich ihrem Manne gegeniiber
zur Zeit der Entmiindigung auch etwas diimmer gestellt. Sie habe ihm das
erst neulich eingestanden, als er sie besuchte. Der Mann habe wohl wirklich
geglaubt, dass sie geisteskrank sei. Die Tochter freilich habe ihre Verstellung
bemerkt. Was die dabei gedacht habe, wisse sie nicht. Vor Gericht habe sie
nie wirkliche Krampfe gehabt, sie habe das nur vorgemacht. Wie sie ihre
letzte Strafe wegen Hehlerei vor 15 Jahren abgesessen habe, da habe sie von
den 6 Monaten nur 6 Wochen abzumachen brauchen, weil sie hochschwanger
war und Krampfe hatte. Seit gut 10 Jahren aber habe sie keine Anfalle mehr.
Da habe sie die Anfalle nur gemacht.
Zum ersten Male habe sie sich verst el It, als die Tochter 1892 ge-
boren war und sie dieselbe nicht gern verlassen wollte und eine Strafe abzu-
sitzen hatte. Damals markierte sie Krampfe und habe irre geredet. Der Mann
holte einen Arzt. Dieser stellte ein Attest aus, dass sie krank ware, nicht
geistesnormal und' die Strafe nicht absitzen kdnnte. Jene Anfalle im Gefang-
nisse aber seien die letzten gewesen, welche sie wirklich gehabt habe.
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576 Dr. J. Raecke,
Die wirklichen Anfalle friiher hatte sie in der Sohwangerschaft und nach
Aerger bekommen. Deshalb sei sie einmal bei der Entbindnng auoh chloro-
formiert worden. Jene Anfalle babe sie vorber gemerkt; es sei ihr ubel ge-
worden und schwindlig, so das9 sie sioh meist legte. Wahrend der Anfalle
selbst sei sie bewusstlos gewesen. Nie babe sie sich verletzt, auf die Zange
gebissen oder eingenasst. Nacbber habe sie sich matt gefuhlt.
Die „gemachten u Anfalle babe sie nachgeahmt, sich auch nacb dem An-
blick anderer Krampfkranker gerichtet. Jetzt wolle sie aber ein ordentliches
Leben beginnen, werde absichtlich nie wieder mit Polizei und Gericht zu tun
bekommen! Auch Anfalle werde sie nicht mehr vortauschen, etwaige Strafen
geduldig absitzen. Sie wolle sich zusammennehmen und derTochter mit gutem
Beispiel vorangehen.
Bei dem dauernden geordneten Verhalten der W. lautete das Urteil auf
„nickt geisteskrank u . Sie wurde mit polizeilicher Genehmigung entlassen und
ist anscheineud nicht wieder mit den Gerichten in Konflikt gekommen. Wenig-
stens sind nie Anfragen liber sie in der Klinik eingelaufen. Auch ergaben
unsererseits angestellte Erkundungen bei ihrer Heimatsbehorde, dass sie nicht
wieder bestraft wurde.
Epikrise: Der Fall W. ist im Laufe von 20 Jahren, von 1883
bis 1906, unz&hlige Male zur Begutachtung gelangt und hat eine viel-
fach wechselnde Beurteilung gefunden Nur einen Toil der Akten und
Gulachten habe ich hier verarbeiten konnen. Immerhin genugt wohl
das Mitgeteilte, um ein abgerundetes Bild zu geben. Mit Bestimmtheit
lassen sich Epilepsie und st&rkerer Schwachsinn ausschHessen. Meines
Erachtens ist es sogar kaum angftngig, von einem leichten Schwach¬
sinn zu sprechen. Die unleugbaren Liicken im Scbulwissen durften eher
auf ungenugenden Unterricht zuruckzufubren sein. Die Schlauheit, Be-
obachtungsgabe, Menschenkenntnis, Energie und Ausdauer der W. waren
erstaunlich. Gewiss wird man einen hysterischen Einschlag anzunehmen
haben. Allein wenigstens in den spateren Jahren traten die hysteri¬
schen Erscheinungen mehr zuruck und Zust&nde nackter Simulation
wechselten mit Zeiten vOllig geordneten und, wie ich nicht anstehe zu
erklkren, geistesgesunden Verhaltens.
Die W. stammte aus hdcbst ungunstigcn Verb ill tnissen. Mutter,
Geschwister, Ehemann zeigten verbrecherische Neigungen und waren
mehrfach bestraft. Sie selbst wurde schon als Rind von ihrer eigenen
Mutter zum Stehlen angehalten. So ist es kein Wunder, dass sie eben-
falls fruh mit den Strafgesetzen in Konflikt geriet und mehrfach ins
Gef&ngnis wanderte. Allein nur anfangs liess sie sich verurteilen und
sass die ihr zuerkannten Strafen wirklich ab. Sp&ter crkrankte sie
regelm£ssig in der Dntersuchung an „Anf&lleu“, bekam auch bei den
Vorladungen solcbe und, nachdem sie erst einmal wegen „epileptischer“
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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Stdrung. 577
GeistessWrung exkulpiert worden war, wiederholte sich das bei alien
folgenden Verhaftungen regelmSssig.
Sogar ob sie langere Zeit hysterische Krampfanfalle gehabt hat,
ist nicht sicher festgestellt. Zuverlassige Schilderungen aus fruberer
Zeit sind nicht vorbanden, die aus spaterer Zeit erwecken entschieden
den Eindruck des Gemacbten. Gleich bei ihren allerersten Anfallen
im Jahre 1883 stand sie in dringendem Mordverdachte. In 3 Familien,
wo sie als Kindermadchen tatig gewesen war, starben pldtzlich 4 Kinder.
Es wurde Vergiftung angenommen. Sie selbst betrug sich bei ihrem
VerhOre auffallend gefuhllos. Dazu kommt, dass sie das letzte Mai
selbst unter Vergiftungserscheinungen miterkrankt sein wollte. Es ist
da von Morphium vergiftung die Rede, aber scbliesslich gelangte man
in dem Krankenhause, das sie aufgenommen hatte, zur Diagnose eines
hysterischen Zustandes. Damals soil 'sie nun auch ausser allerlei Ge-
sichtstauschungen Krflmpfe gehabt haben. Hier liegt die Annahme hy-
sterischer Anfalle nahe.
Im Uebrigen sind wir hinsichtlich der Art ihrer angeblichen An¬
falle fast ganz auf ihre und ihres Ehemannes Bericbte angewiesen, und
diese sind, wie die Betrachtung der gesamten Krankengeschichte lehrt,
nicht nnr ungenau sondern teilweise wissentlich falsch und daher zur
Stutze einer Diagnose nicht zu verwenden. Wahrend ihrer Beobachtung
in der Irrenanstalt war sie so vorsichtig, nur in Abwesenheit der Aerzte
Krampfanfalle zu bekommen. Angesichts ihrer verbluffenden Fahigkeit,
epileptiscbe Anfalle, die sie bei anderen gesehen hatte, nachzuahmen,
kann den Pflegerinberichten keine Beweiskraft beigemessen werden. In
Gegenwart der Aerzte hat sie nur zweimal Lachanfalle gehabt. Schon
nach der Schilderung des Krankenblattes ware ich da geneigt, mehr
an Hysteric als an Epilepsie zu denken. Berucksichtigt man aber das
eigene Gestandnis der W., dass sie die Anfalle gemacht habe — und
dazu berechtigt wohl -die Tatsache, dass sie uns solche Anfalle auf
Kommando vorzufuhren vermochte, — dann wird es doch fraglich, ob
nicht hier auch Simulation mit in Betracht zu ziehen ist.
Jedenfalls kann es 6ich, wenn uberbaupt jemals echte Anfalle statt-
gehabt batten, nur um ganz seltene Zustande gehandelt haben. Eine
VerblSdung und Charakterdegeneration infolge von Epilepsie, wie sie
die verschiedensten Gutachter als sicher vorliegend angenommen haben,
sind mit Bestimmtheit abzulehnen.
Prachtig ist die Geschicklichkeit, mit welcher den Untersuchem
Schwachsinn vorgespiegelt wird. Namentlich wahrend des als beliebten
Schutzmittels auch hier wieder, wie so oft von Kriminellen, betriebenen
Entmundigungsverfahrens weiss die W. Sachverstandigen und Richter
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Dr. J. Raecke,
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von der Schwere ihrer geistigen Mangel vollig zu uberzeugen. Die
„enorme Merkfahigkeitsst5rung“, welche der Erstere an ihr festgestellt
zu baben glaubte, erschien so charakteristisch, dass daruber die Nicht-
beobachtung epileptischer Anfalle nebensachlich erschien. Und dabei
vermochte die W. noch 3 Jahre sp&ter die falschen Antworten zu nennen,
auf Grund deren damals der Gutachter Gedachtnisschwache und epilep-
tische Demenz angenommen hatte!
Die W. war eben zu schlau, urn in der plumpen Weise der Geistes-
gesunden Henneberg’s die Geistesscbwache zu spielen. H&chstens
kann man sagen, dass ihr zeitweises kindisches Gebaren, welches an
Moria oder Puerilismus erinnerte, dem Ganser’scben Vorbeireden nahe
gestanden babe. Auf die engen Beziehungen zwischen diesen beiden
hysterischen ZustSnden babe ich bereits 1904 aufmerksam gemacht.
SpSter bat dann Straussler sicb noch eingebender damit bescbaftigt.
Allein bei der W. hat man docb immer das Geffihl des Unechten und
bewusst Gekunstelteu. Aehnlich wie manche Hysterische Sensibilitats-
storuugen und Gesichtsfeldeinschrankungen zur Scbau tragen, indem sie
immer etwas schlechter angeben, als sie in Wabrheit zu antworten fahig
waren, ahnlich erwecken bei den Intelligenzprufungen andere den Ein-
druck starkerer Lvicken, als der Wirklichkeit entspricht. Von der mebr
oder weniger unbcwusst infolge suggestiver Vorgauge irgend welcher
Art sicb entwickelnden schlecbten Antwort bis hiniiber zur absichtlichen
Vortauschung einer gar nicht vorhandenen Unwissenheit bestehen ohne
Zweifel fliessende Uebergange. Oft ist es mehr Gefuhlssache, als dass
sich bestimrat entscheiden lasst, wo die Grenze gezogen werden soil. Bei
der W. bin ich nicht nur wegen ihres Gestandnisses sondern auch wegen
der ganzen Art, wie immer wieder im geeigneteu Momente die rettende
Demenz vorgeschoben wurde, durchaus der Ansicht, dass sie nicht in
einem hysterischen Ausnabmfezustande, sondern rait klarer Ueberlegung
ihre unrichtigen Antworten von sich gab. Sie hatte sich im Laufe der
Jahre und der vielen Begutachtungen eine solch verbluffende Geschick-
lichkeit nnd Sicherheit angewbhnt, dass ihr Erfolg schliesslich nicht zu
verwundern ist, zumal damals noch der Verdacht auf Simulation von
Schwachsinn bei vielen Gerichtsarzten zu wenig gepflegt wurde.
Selbst bei der recht eingehenden Intelligenzprufung in der Irren-
anstalt F. wie sie wahrend der 2. Aufnabme der W. dort stattfand, ver-
stand sie es den Schein echten Nichtwissens zu erwecken. Ausgesprochen
unsinnige Antworten vermied sie und ubertrieb ihre intellektuellen Lucken
so unauffallig, dass trotz des anfanglich entstandenen Verdachts auf
Bdswilligkeit ihr Gesamtverhalten dem psychiatrischen Sachverstandigen
die Ueberzeugung von ihrem Schwachsinne aufdrangte.
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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung. 57 9
In dieser Beziehung erinnert die W. an den von B. Schultze er-
wfihnten Fall eines X., der voile 9 Monate in der Anstalt so geschickt
Scbwachsinn simuliert batte, dass er sogar alte und erfahrene Irren-
firzte zu tAuscben imstande war. Schultze berichtet fiber ihn: „Was
er bot, entsprach durchaus alien klinischen Anforderungen und ich
mfichte mich nicht frei davon sprechen, dass ich mich heute bei gleicher
Sachlage wieder t&uschen werde“. Allerdings hatte sich Schultze im
Falle X., wie er einraumt, mit dem Studium der Vorakten begnfigt
und unterlassen, durch eigene Erkundigungen die dort enthaltenen An-
gaben nachzuprfifen. Auf diesen wosentlichen Punkt batten wir bereits
weiter oben besonders hiuzuweisen Gelegenheit gehabt. Darum glaube
ich nicht, dass man in alien Fallen den Skeptizismus von E. Schultze
anerkennen muss, der auch bei erworbenen Psychosen dem sich dar-
bietenden klinischen Bilde nur wenig Wert beimisst ffir die Entdecknng
von Simulation, weil alles ohne kunstliche Zutat ebenso vorkommen
konnte und die Abweichungen von dem erfahrungsgemfiss Ueblichen an-
gesichts unseres beschrfinkten Wissens nichts bedeuteten. In der Regel
tragen die von Simulanten gebotenen „Krankheitsbilder“ doch irgend-
wie den Stempel des Unnatfirlichen gleich derartig auf der Stirn, dass
wir schon auf Grand dieses ersten Eiudrucks berechtigt und verpflichtet
sind, mit Misstrauen an ihre Prfifung heranzutreteu. Weiter freilich
darf uns ein solcber erster Eindruck nie treiben.
Weniger Gluck und Geschick, als dieser Fall X., entwickelte der
von Schafer erwahnte Geldschrankknacker, obgleich er sein simuliertes
Bild von „agitiertem Blfidsinn“ ebenfalls 9 Monate hindurch aufrecht
zu erhalten gestrebt batte. Erst mit seiner Verarteilung gab er die Ver-
stellnng auf und fiusserte: Nun habe es ja doch keinen Zweck melir!
Becker hat zu bedenken gegeben, dass ein ungeheures Gedfichtnis
erforderlich ware, wenn wirklich ein Simulant von Schwacbsinn bei
immer wiederholten Prfifungen an der Hand von bestimmten Intelligenz-
fragebSgen stets die gleichen Ausfalle bieten wollte. Durch mehrfacbe
Untersuchungen mit demselben Einheitsreiz werde es gelingen mfissen,
Widersprfiche festzunageln. Dem ist doch wohl entgegenzuhalten, dass
auch der gutwillig Antwortende zu verschiedenen Zeiten nicht immer
ganz gleiche Leistungen aufweist. Unwagbare Umstande wie Befangen-
heit, Zerstreutheit, Ermfidung, auch zufallige Konstellationen spielen da
eine Rolle. Die wenigsten Prfiflinge sind an jedem Tage gleich gut
aufgelegt. Schon im Examen wird die Erfahrang gemacht, wie ungleich
einzelne abschneiden, je nacbdem sie ihren guten oder schlechten Tag
haben. Es werden da gelegentlich Fragen ausgelassen fiber Dinge,
die eigentlich der Betreffende ganz gut gewusst batte. Immerhin ist
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580 Dr. J. Raecke,
der Versuch einer solchen mehrfachen Priifung bei vorsichtiger Bewer-
tung der Rrgebnisse sicherlich ganz zweckm&ssig. Vielleicht hatte er
gerade der W. gegenuber zum Ziele gefuhrt, wenn schon zu bedenken
ist, dass sie sich mancber falschen Antwort spater fiberraschend gat
entsann.
Sehr lebrreich erscheint es, die Antworten der W. und ihr ganzes
Gebaren bei der Priifung im Ginzelnen nfiher zu betrachten. Sie denkt
garnicht daran, immer falsch zu antworten, sondern beeilt sich, sobald
ihr die Frage leichter vorkommt, richtig zu erwidern. Darum macht
sie auch einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Kopfrecbnen mit
blossen Zahlen und dem Rechnen mit Geldstficken. Da sie gewohnt
ist bei ihren Eink&ufen fur den Haushalt vielfach mit Geldbetr&gen zu
rechnen, so hfitet sie sich jetzt, hier eine auffallende Unkenntnis zur
Schau zu tragen. Ferner nennt sie auf Befragen nach Farben nur die-
jenigen, welche sie just vor sich sieht. Gerade dieses Verhalten, das
dem aufmerksamen Untersucher nicht entgeht, stfitzt sein schon schwan-
kendes Vertrauen zu ihrer Aufrichtigkeit.
Ueberhaupt hat sie ein gewisses System in ihren falschen Antworten.
Sie will sich nicht ihrer Straftaten entsinnen kdnnen. Das ist eine
hfiufige Ersckeinung bei Kriminellen und dem Untersucher verdachtig.
Aber sie macht diesem die Beurteilung sogleich wieder dadurch
schwieriger, dass sie andererseits Gerichtsstrafen bebauptet, die sie nie
erlitten hat. Ferner erweckt sie bei jeder Beobachtung den Eindruck
eines schlechten Gedachtnisses, indem sie die Aerzte nicht wiedererkennt,
ihre Namen sich nicht einpragen kann, die eigenen Personalien verkehrt
oder luckenhaft angibt, in der zeitlichen Orientierung stark versagt.
Zwiscbendurch fiberrascht sie durch plbtzliche Bemerkungen, die in
keinem erkennbaren Zusammenhange mit der Unterhaltung stehen. Sie
spricht geziert, kindlich, fast ungrammatikalisch, lacht albern. Alle
diese Matzchen brachte sie in gleicher Weise vor, als sie, aufgefordert
sich zu verstellen, spater im Kolleg ihre Simulation zum Besten gab.
Gerade dieses Daruberstehen fiber den Manieren, die gute Ruckerinne-
rung an die Einzelheiten solchcr Aufffilligkeiten und die Fahigkeit, sie
jederzeit auf Verlangen darzustellen, macht es vollig unglaubbaft, dass
bier wirklich ein krankhaftes Moment im Sinne eines Dammerzustandes
mitgespielt haben sollte.
Die Absichtlichkeit in dem Yorgehen der W. ist klar genug: So-
lange es ihr nur darauf ankam, den Bestrafungen ffir ihre Delikte zu
entgehen, suchte sie sich auf jede Art mfiglichst krank zu stellen. Da-
gegen ward sie schwankend in diesem Vorgehen, als allmahlich die
Frage der Gemeingcfahrlichkeit in den Yordergrund trat und sie mit
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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 581
langdauernder Yerwahrung im Irrenhause bedrohte. Um dem zu ent-
gehen, entschloss sie sich, ilire T&uscbuDg einzugestehen, zuckte jedoch
wieder zurfick, als sich die Anzeigen h&uften und mit schwerer Be-
strafang gerechnet werden musste. Aus der Irrenanstalt war ihr ja
schon einmal die Flucht geglfickt. Endlich aber gestaltete sich die
Sacblage docb fur sie so, dass ihr Bestrafung als das kleinere Uebel
erschien, und nuu legte sie die Methode ihrer Simulation rfickhaltlos
dar, um ja nicht mehr als geisteskrank begutachtet zu werden. Der
Erfolg zeigte, dass sie auch da ricbtig gerechnet hatte; sie gelangte auf
freien Fuss, verbielt sich nun Jahre hindurch ganz unauff&llig.
Interessant ist, wie die falsche Diagnose Epilepsie, nachdem sie
einmal in die Akten geraten ist, sich unausrottbar durch fast alle
sp&teren Gutachten weiter scbleppt. Der alleinige Widersprucb von
Cimbal, der mit Recht geltend machte, es dfirfte hfichstens von Ilysterie
die Rede sein, verhallte ungehOrt. Es hat sich hier wieder, wie so
haufig, die Nichtbeachtung vou Siemerling’s bekannter Mahnung ge-
richt, niemals die Diagnose Epilepsie als gesichert anzuseheo, ehe man
nicht entweder selbst einen einwandfreien Anfall beobachtet bat oder
sich auf die Mitteilungen zuverlfissiger Beobachter zu stfitzen in der
Lage ist. Dnkenntnis der diagnostischen Schwierigkeiten bei Epilepsie
hat Qbrigens jetzt wieder im Kriege zu einer Ffille fehlerhafter Begut-
achtungeu bei Krampfkranken gefuhrt, wie ich mich an meinem Material
uberzeugen konnte. Nicht nur um Verwechselungen mit hysterischen
Anfallen handelt es sich da, sondern auch am bewusste Vortfiuschung
von Krfimpfen. Auf einer Erankenabteilung wurden solche von den
Patienten systematisch eingefibt.
Dass gerade epileptische Anfalle leicbt zu simulieren sind, ward
schon von Calmeil, L. Meyer und C. Westphal entschieden betont.
Allein diese wichtige Lehre ist niemals wirklich Allgemeingut der
Aerzte geworden. Nur zu viele stehen jedem scheinbaren Anfalle hilf-
los gegenfiber, vermOgen sicb einer starken Beeinflussung ihres Drteils
durch ibn nicht zu erwehren. Es ist ein Verdienst von Mdnkemfiller
and Hfibner, wieder entschieden auf die H&ufigkeit simulierter Epilepsie
die Aofmerksamkeit der Fachgenossen gelenkt zu haben. Henneberg
erw&hnt, dass in einem Lazarett die schriftliche Anweisung zur Simu¬
lation von Epilepsie gefunden ward.
In der Literatur sind bereits zablreiche Beispiele simulierter Epi¬
lepsie niedergelegt. Ein besonders eindrucksvolles Gegenstuck zum
Falle W. bildet die filtere Verflffentlichung von Salgo fiber erfolgreiche
Vortfiuscbung von Epilepsie mit Schwachsinn durch einen Schwindler
von „ungewohnlich scharfem und durchtriebenem Yerstande" und mit
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Dr. J. Raecke,
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einem Orientierungsvermogen von beispielloser Gewandtheit. Auch in
diesem Falle D. Snderte sich das Verhalten mit einem Scblage, sowie
das angestrebte Ziel mit der VersOtzung in die ^jsychiatrische Anstalt
erreicht war, denn auch hier ging wohl der Wunsch dahin, aus dem
Gef&ngnisse in die Rlinik zu gelangen, aber nicht dort zu verbleiben.
Salgo sagt daruber in seiner Epikrise: „Der Fall D., in welchem
die psychiatrische Diagnose von der Simulation der Geistesstfirung aus-
geliend, durch den Nachweis schwerer Epilepsie mit konsekutivem, un-
heilbarem BlSdsinn hindurcb, wieder zur anf&nglichen Simulation zurfick-
kehrte, diirfte nacli jeder Richtung hin als exzeptioneller gelten. Er
verdient die grftsste fachtnannische Aufmerksamkeit nicht nur wegen
der Form des vorgetausckten Krankheitszustandes und wegen der dabei
in Betracht kommenden psychiatrischen Sachverst&ndigen, bei deren
grosser Erfahrung und geubtem Versthndnis das Gelingen der Simulation
mit grellem Licht die Unvollkommenheiten der heutigen Psychiatrie zu
beleuchten geeignet ist.“ Wir sind leider auch heute nicht viel weiter
und sollten das in den Lehrbuchern mehr eingestehen.
Salgo macht weiter die Bemerkung, dass eiu soldier Simulant
vermutlich einen gewissen Reiz darin finde, die Aerzte zu tauscken und
der von ihm befehdeten Gesellschaft eine Nase um die andere zu drehen.
Das war fur den D. Zerstreuung, so dass er auch bei jahrelanger Simu¬
lation nicht ermudete und sogar Reflexepilepsie mit Erfolg vort&uschte.
„Je schwerer die Sache, um so mehr mochte sie die Ambition des D.
anspornen, und mit um so grdsserer Befriedigung konnte ihn das Gelingen
des durchaus nicht reizlosen Spieles erfullen. Wir sehen, wie weit D.
die Eonnivenz treibt, weun er die allerdings nicht schwere Operation
am linken Brauenbogen ausfubren liess, womit er geniss sein konnte,
die dankbare Anerkennung seiner Krankheit zu erringen.“
Auch Salgo beobachtete einen Eranken, der nach seiner Entlassung
vom Milit&r wegen angeblicher Epilepsie ihm auf Wunsch den schonsten
Erampfanfall vorfulirte und auf Befehl unterbrach. „Es fehlte in dem-
selben auch nicht eiumal der blutige Schaum vor dem Munde, dessen
wenig ingenidse Herstellung er mich in dienstbereiter Weise lehrte.
Nach alledem ist die Gefahr der T&uschung durch Epilepsie sehr gross.“
Mit der scheinbaren Feststelluug einer Epilepsie werde aber alleu
spateren Folgerungen die feste klinische Grundlage gegeben und ein
fiktives klinisches Verstandnis der weiteren EntwickluDg des angeblichen
Krankheitszustandes bis zur Verblodung ermoglicht.
Ebenso passt in diesen Zusammenhang der lehrreiche 3. Fall aus
K3nig’s bekannter Arbeit, in welchem die vollig unberechtigte Diagnose
Epilepsie durch viele Jahre sich fortgeschleppt hatte und in zahlreiche
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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung.
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Gutachten ohne erneute Prufung als Tatsache binfibergenommen worden
war. Hier hatte der betreffende Kriminelle selbst fiber Schwindel-
anfalle bericbtet, lediglich ein War ter wollte einen Krampfanfall gesehen
haben, und die bebaupteten Erregungszustfinde gestatteten eine gfinzlich
abweichende Deutung. Ferner bielt die vorgeschfitzte Amnesie nicbt
stand, die angeblichen paranoiden Ideen schwebten vdllig in der Luft,
tancbten nur auf, sobald sie zur VerteidiguDg nfitzlich erschienen, ver-
schwanden wieder, wenn sie den augenblicklichen Beziekungen zur Justiz
binderlich waren.
Beacbtenswert blieb in diesem Falle endlich der Widerspruch zwischen
dem Beteuern geistiger Gesundheit auf der einen Seite und dem ziel-
bewussten Streben, geisteskrank zu erscbeinen und Gutachter, die daran
glaubten, zur Unterstfitzung heranzuziehen, auf der anderen Seite. Eben
dieses Vorgehen, das auch schon von anderen Autoren, namentlich
Schafer, gescbildert wurde, habe ich bei Uebertreibern mehrfach be-
obachtet und mfichte es als eine beliebte Methode ansprechen. Ein vor
Jahren exkulpierter Scbwindler und Dieb flekte mich sogar auf den
Knieen an, ihn nicht wieder fur geisteskrank zu erklaren und dem
Irrenhause zu fiberantworten. Als icb ikm jedoch mit gutem Gewissen
diesen Gefallen tun konnte, zeigte er sich in der Hauptverhandlung
hochlich enttfiuscbt und entrfistet. Uebrigens hatte Konig’s Patient
eine langjahrige Irrenanstaltslaufbabn bin ter sicb gehabt und vermochte
bei seiner guten intellektuellen Begabung aus dieser reichen Erfahrung
entsprechenden Nutzen zu ziehen.
Efinig selbst hat an den fihnlichen Fall K. von Nehrlick erinnert,
der gleickfallg Epilepsie vorgab, obschon niemals Krampfanffille oder
Verwirrtheitszustande wirklick gesehen worden waren. Dieser R. suchte
gleichfalls Schwachsinn vorzutfiuschen und gab seine Simulation erst
bei der Gerichtsverhandlung auf, als er sich fiberzeugen musste, dass
man ihm nicht glaubte. Da ausserte E. zum Gutachter: „Ja, mein
Lieber, man muss eben alles versuchen, um frei zu kommen!“ An diese
Falle lasst sich meine Frau W. anreihen. Sie alle warnen vor fiber-
sturzter Diagnose von Epilepsie. Es ist gar nicht immer nOtig, dass
der Kriminelle aktiv Fallsucht vortauscht. Oefter kommt ihm der Gut¬
achter mit einer derartigen Vermutung zuerst entgegen und er geht
nur ge8cbickt darauf ein durch Besckaffung der gewfinschtcn Anamnese.
Wie sebr die scblauen Exploranden beflissen sind, Steckenpferde ihrer
Sachverstaudigen zu erkunden und ihren wissenschaftlicben Anscbau-
ungen Rechnung zu tragen, hat Schafer treffend beleuchtet.
Es ist nicbt ricktig, wenn in manchen Lehrbfichern behauptet wird,
der Simulant fibertreibe fast immer plump und verwickle sich dadurch
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in Widerspruche. Das von ihm gebotene Bild pflege sicb mit unseren
Erfahrungen nicht zu decken, und das bediage dann die Entlarvung.
Gerade unser Fail W. erscheint vorzuglich geeignet, die grossen
Schwierigkeiten aufzudecken, welche sich heute noch immer der Unter-
scheidung zwischen Simulation und Geistesstorung entgegenstemmen
konneu. Es ist leider nicht so, wie Henneberg einmal andeutete,
dass gesunde Laien, wenn sie sich geisteskrank zu stellen trachteu,
immer auf sinnloses Vorbeireden verfallen. Das beobachtet man viel-
mehr mit Vorliebe bei Geistesschwachen, die ubertreiben wollen.
Andererseits bleibt zu bedenkeu, dass wir auch noch lange nicht
genugend s&mtliche mbglichen Bilder des Irreseins kennen, um olioe
weiteres sagen zu durfen, dieses oder jenes Bild gibt es nicht, das kann
einfach nicht echt sein! Auf diese wichtige Tatsache ist bereits hin-
gewiesen worden. Der vielleicht zu weitgehende Skeptizismus von
E. Schultze fand oben Erwahnung. Siemerling hat an die zugel-
losen Uebertreibungen krankbafter Entstehung bei hypochondrischen
Zust&nden erinnert. Kraepelin hat die sinnwidrige Triebartigkeit
negativistischer Eatatoniker hervorgehoben, welche so gerne den Ein-
druck des Gemachten erweckt, und hat mit Recht bemerkt, dass es bei
Hysterischen ganz unmdglich werden kdnne, alie willkurlichen Zutaten
auszuscheiden. Zweifellos sind hier manche altere Autoren in ihrem
Misstrauen zu weit gegangen.
Wenn v. Krafft-Ebing meinte, ein Simulant heuchle gem eine
falsche Apperzeption, verrate aber zugleich in seiner mdglichst un-
sinnigen Antwort, dass er die Pointe der Frage wohl erkaunt babe, so
ist offenbar ganz das Gleiche auch von mancbem krankhaften Vorbei-
redeD im Dammerzustande zu betonen, wahrend die Schilderung fur
intellektuell hbher stehende Simulanten gar nicht einmal zutrifft. Die
Vort&uscbung von BlGdsinn sollte nacb dem gleichen Autor an der
Schwierigkeit scbeitern, vOllige Affektlosigkeit zu Eussern und ihr
mimisch Ausdruck zu verleihen. Allein gerissene Simulanten, wie die
W., huten sich vor soicher Uebertreibung und fallen trotz zahlreicher
Untersucbungen nicht aus der Rolle.
Wilmanns hat offen eingerEumt, dass unter Umst&nden die Er-
kennung einer Simulation so schwierig wird, dass sogar unter den ver-
offentlichten Fallen in der Literatur mehr als einer falsch diagnostiziert
sein durfte. Ein grosser Teil der angeblichen Simulationen machten
auf uns beim Lesen der Erankengeschichten den Eindruck von Haft-
psychosen, Ganser’schen D&mmerzust&nden und Ehnlichen Bildern.
Vielleicht sei eine scharfe Scheidung zwischen derartigen psychogenen
Stbrungen und Simulationen uberhaupt nicht mbglich, weil eine enge
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Ueber Aggravation nnd Simulation geistiger Stoning.
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Verwandtschaft 'bestehe. Gin Teil jener Dfimmerzustfinde entspringe
grade dem Wunsche, geisteskrank zu erscheinen. Das wurde freilich
erklfiren, warum gerade bei Kriminellen Dfimmerzustfinde mit Vorbei-
redeu so unverhfiltnismfissig oft angetroffen werden.
Siemerling und Stern haben daher bei solchen Hafterkrankungen
von Situationspsycbosen gesprocben, weil sie ohne zureichende innere
Ursacbe infolge ausserer Verhaltnisse wie aus beiterem Himmel plotzlick
einsetzen and ebenso anbegrfindet wieder verscbwinden, sobald die be-
drangte aussere Lage nicht mehr vorhanden ist.
Jung vermutete in einem Falle, dass die ursprfingliche Simulation
wider Wissen nnd Willen zu gut geraten gewesen sei, so dass sie fast
zur Geistesstfirung wurde und schon anfing, krankhafte Zfige anzunebmen,
indem durch die konseqnent fortgefiihrle Darstellung eines blfidsinnigen
Zustandes die normale Geistestatigkeit in Mitleidenschaft gezogen ward.
Jung glaubte, dass wohl einzelne Momente der Simulation so fiber-
zeugend auf seinen Patienten eingewirkt h&tten, dass sie die Bedeutung
einer starken Suggestion erlangten und ihn in eine formliche Auto-
bypnose versetzten. Das wiirde ganz der Annahme von Bonhoeffer
entsprechen, dass psychopathische Schwindler eben infolge ihrer krank-
haften Autosuggestibilitfit allmahlich selbst an ihre Erfindung glaubten.
In diesem Zusammenhange muss knrz auf die Bedeutung des so-
genannten Vorbeiredens eingegangen werden. Moeli hat es zuerst bei
Untersuchungsgefangenen nfiker bescbrieben, allgemeiner bekannt wurde
es durch Ganser, der es in der Verbindung mit Denkhemmung, Kopf-
scbmerz und hysterischen Stigmata als Ausdruck eines hysterischen
Dammerzustandes auffasste. Ganser legte auch Wert auf nacbfolgende
Amnesie. Spater hat man an alien diesen Forderungen nicht mehr
festgehalten und damit verwischten sicb die Grenzen nach der Seite
bewusster Vortausehung immer mehr.
E. Meyer fiel es auf, dass Traumatiker mit Vorbeireden fiber ihren
Anfall immer nock gut Auskunft gabeu. Vor ihm batte Jung’s Schfiler
Ricklin darauf aufmerksam macben konnen, dass die Grenzen des
Nichtwissens in solchen Zustanden je nach der Art der Fragen erheb-
lich wecbseln. Auf dem Wege des Gemttts wfirden Vorstellungen wieder
zuganglich, von denen der Gefragte vorher nicbts habe wissen wollen.
Der Gedanke des Nichtwissenwollens werde erst durch den Unter-
suchungston der Fragen suggeriert und unterhalten und verbreite sich
so aucb fiber Gebiete, die eigentlich fiber das Nichtwissenwollen des
Delikts hinausgingen. Darum simuliere der Expiorand im Grunde sich
selbst gegenuber, das Nichtgewfinschte werde von ihm abgespalten und
verdrfingt. Jung spreche daher von Simulation im Unbewussten und
Arehiv f. Psych i&trie. Bd, 60. Heft 2 3. gg
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586 Dr. J. R&ecke,
zwar unter der entfesselten Herrschaft der affektbetonten Vorstellung-
des Nichtwissens.
Einer ahnlichen Auffassung des Vorbeiredens babe ich selbst fruher
Ausdruck gegeben, indem ich sagte, dass, wenn auf ein minderwertiges
Nervensystem die Schadigungen der Haft einwirkten und einen Zustand
von Ratlosigkeit, Unfahigkeit zur Konzfentration und Denkerschwerung
bervorgebracht batten, arztliche Suggestivfragen nach den einfachsten
Dingen notwendig ungunstigen Einfluss ausuben mussten. WOrtlicb achrieb
icb: „Die verschiedenen Fragen des untersucbenden Arztes beeinflusseu.
den Hysteriker weiter wie ebensoviele Suggestionen. Denn es muss
ja auf den Kranken, der jsich leidend, matt und denkunlustig fuhlt,
einen tiefen Eindruck macben, wenn er z. B. alien Ernstes gefragt
wird, ob er noch bis 10 z&klen kaun. Von der naheliegenden Er-
wEgung, dass er wohl recht krank erscheinen musse, wenn ibm ein
Sackverst&ndiger nicbt einmal diese einfacbste Kenntnis mehr zutraue,
ist es nur ein Scbritt zur Ueberzeugung, die Antwort tatsSchlich nicbt
zu wissen. Es kann also eine solche Frage unter Umstanden ahnlick
wirken, wie der einem Hypnotisierten erteilte Befehl, nicbt mehr bis
10 zahlen zu kfinnen. Spater wird dann diese Suggestion, wie scbon
gesagt, durcb den mehr weniger bewussten Wunscb, recht krank zu er-
scbeinen, erbalten und verst&rkt; ahnlich wie der Traumatiker durch
die Unfallrente in seiner Genesung aufgebalten wird, ohne dass man
darum doch von Simulation reden durfte. u Heute wurde ich webl den-
Wunsch, krank zu erscheinen, mehr an den Beginn der Entwicklung
des ganzen Ganser’schen Zustandes rucken, im ubrigen darf ich meine
Auffassung von damals wiederholen und vor ungeschickter Fragestellung
wamen. Vor allem auf das Dammerkafte, Vertraumte wahrend des
Vorbeiredenshaben zahlreiche Autoren, wie Ganser, Lucke,Westphal r
Hey den Hauptnachdruck gelegt. Neuerdings hat Pick entschieden
die Ansicht vertreten, der hysterische Dammerzustand sei nicht bloss
durch den Helligkeitsgrad des Bewusstseins, wie Fiirstner annahm,.
und durch die Aenderung der Sinnesempfindungen, sondern auch durch
die verschieden weitgehende, psychologisch als Abstraktion (innerhalb
der Teilempfindungen) zu bezeichnende, Einengung des Blickfeldes aus-
gezeichnet. Auf den letzteren Umstand sei besonders das Danebenreden
zuruckzufuhren. Allerdings hat Pick seine einschlagigen Untersuchuugen
fast ganz auf das Vorzeigen von GegenstEnden beschr&nkt und aus der
Art der erfolgenden Falschbenennung bezw. des verkehrten Gebrauches
seine Schlusse gezogen. Abstraktionen der einfachsten Art, die der
GrOsse, der Farbe, des Glanzes, der Harte, der Beweglichkeit bildeten
die Grundlage des Vorbeigeredeten und es schien verstandlich, wenn
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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung.
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Kranke, die etnas gar nicht Sachbildendes abstrahiert hatten, auf Un-
sinniges rieten oder ebenso oft uberbaupt nicht wussten, vomit sie es
zu tun hatten.
Diese geistreiche Deutung mag gewiss fur einen Toil der Falle
zntreffen. Indessen wird man doch unwillkurlich stutzig, sofern man
sich nicht auf die von Pick bevorz6gten Prufungen beschr&nkt, sondern
z. B. zu Zahlen und bekannten Reihen ubergeht. Hier gewinnt man
nur allzu oft ans der Art und Weise, wie der Explorand beim Aufsagen
regelm&ssig jede zweite Zahl oder zweiten Monat ausl&sst, wie er bei
Zeitangaben sich immer genau um einen Wochentag, einen Monat, eine
Jahreszahl irrt, beim eigenen Geburtstag wombglich um die richtige
Ziffer her urn rat usw., die unabweisliche Ueberzeugung, dass mehr eine
gewisse Absicht als reines Dnvermflgen vorherrscht, und dass man es
beim hysterischen Yorbeireden durchaus nicht immer mit einem eigent-
lichen Dammerzustande zu tun hat.
Vollends eiu so gekiinsteltes Vorbeireden, wie es Hoppe und Dietz
in ihren Simulationsfallen geschildert haben, l&sst sich obne die An-
nahme wohl uberlegter Ueberlegung uberhaupt nicht erkl&reu. Icb er-
innere nur an die Behauptung des Di etz’scbeh Falles, dass Kalber auf
dem Felde wachsen und auf die Frage, wie man diese schlachte, die
weitere Autwort: Man m&he mit Sensen ihnen die Kopfe ab! Oder die
angebliche UnmOglichkeit, Winter und Sommer auseinander zu halten,
zu erkennen, ob es draussen warm oder kalt sei, w&hrend die Personen
der War ter und Kranken rasch unterschieden und die im Krankenzimmer
ublichen Gebriuche gut gemerkt wurden. Henneberg verlangt mit
Recht, dass vorsatzliches Vorbeireden nicht mit dem Ganser’schen Bilde
vermengt wird.
Das Vorbeireden ist ubrigens nicht erst von Henneberg und
Rosen bach als Ausfluss beabsichtigter T&uschungsbestrebungen auf*
gefasst worden, scbon Moeli hatte klar dargelegt, dass es sich sowohl
am krankhafte Bewusstseinstrubung als auch um den Versach, BlOdsinn
za simulieren, haudeln kOnne. Neuerdings hat Moeli sehr glucklich
die „stete Eiarheit des Ziels u bei Simulanten hervorgehoben im Gegen-
satz zum Yerhalten des Hysterikers.
Stern betrachtete als besonders verdachtig auf bewusste VortAuschung
die Beschr&nkung der krankhaften Erscheinungen auf bestimmte Ge-
legenbeiten. Dnsinnige Antworten gegenuber dem Arzte bei sonst ge*
ordnetem Yerhalten dQrften zwanglos als vorgetAuscht augeseben werden,
sobald Negativismus und Lust an Witzeleien ausgeschlossen seien.
Wenn ein Patient, der sonst vorbeirede, heimlich auf dem Rloset den
Gerichtsbeschlas8 lese, um ibn schnell zu zerreissen, da er sich beob-
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achtet sehe, so sei das ein Widerspruch and er werde in dem Augen-
blick in unlauterer Absicht gehandelt haben. Ebenso liege Simulation
vor bei einem Patienten, der den Pflegern bekenne, er wisse seinen
Aufenthaltsort, aber sie mOchten ihn nicht verraten, and der gleich
hinterher vor dem Arzte verwirrt tue. Wie autosuggestiv Vort&uschung
in echte Psychose fibergehe, wfirden nach Ablauf einer Psyehose Ver-
wirrtheit und Vorbeireden gelegentlich noch absicbtlich weiter festge-
halten; es konnten aber auch zu jeder Zeit sonst bewusste Uebertreibun-
gen sich einem Erankheitsbilde beimischen. Mit dieser Feststellung
wird die erhebliche Schwierigkeit der Entscheidung im eiuzelnen Falle
zngegeben.
Auch mir ist es im Laufc der Zeit immer mehr zur Gewissheit
geworden, dass wir es gerade bei solchen Situationspsychosen mit Vor-
beireden mit recht verschiedenen Zustanden za tun haben. Wir befmden
uns bier auf unsicherstem Boden und sind gezwungen, von Fall zu Fall
zu entscheiden, wobei oft genug dem Dauerzustande ausserhalb des mit
Vorbeireden verbundenen Ausnahmeverhaltens die grossere Bedeutung
beigemessen werden muss. Vielleicht wird uns aber eine weitere Ein-
teilung der mdglichen Zustandsbilder mit der Zeit weiterbringen. Falle,
in deuen ohne alle anderen Erscheinungen des Ganser’schen Symptomen-
komplexes lediglich ein plumpes Vorbeireden zur Schau getragen wird,
sind mit hochster Vorsieht aufzunehmen. Gerade neuerdings sind mir
unter den Psychopathen, die unsere Hoimatlazarette bevOlkern, so zahl-
reiche derartige Individuen begegnet, dass sich der Gedanke, es handle
sich da um einen gewohnheitsmassig dem Gutachter vorgemachten Trick,
unwillkfirlich aufdr&ngt. Vielfach werdeu gleichzeitig einzelne kindische
Streiche vollffihrt, die den Verdacht auf Irrsinn offenbar verstarken
sollen, obne dass aber sonst Zeichen von Moria odor Puerilismus zu
bemerken waren. So schor sich ein Soldat ein Kreuz ins Haupthaar,
um angeblich gegen Fliegerbomben gesichert zu seiu. Ein anderer
brachte bei der Aufnahme einen Frosch an der Leine mit und sagte,
das sei ein Bar. Einige tranken Tinte und erklarten dieselbe fiir guten
Wein. Ihre vorbeigeredeten Antworten erinnerten wohl stark an die
von Pick beschriebenen, jedoch sie entsannen sich nachher ihrer und
erzahlten sie den Kameraden auf der Abteilung als guten Witz.
Vor allem ein zur Begutachtung wegeu Fahnenflucht eingewiesener
M. tat sich in dieser Beziehung hervor. Nachdem er bei der Visite
die verkehrtesten Antworten erteilt und sich vollig unorientiert gegeben
hatte, berichtete er einem Mitpatienten, wie er in die Klinik gekommen
war, und macbte sich fiber den Arzt lustig, der ihn am Morgen habe
zahlen lassen. „Natfir!ich“ habe er getan, als vcrstfinde er das nicht.
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Ueber Aggravation nnd Simulation geistiger Storung. 589
Er fugte hinzu: „Was glaubst du wolil, ich werde die Ohren schon
steif halten. Da kommen die bei mir schon an, wenn die glauben,
mit mir machen zu kounen, was sie woilen. Andere kommen doch
frei, warum soli ich es nicht anch schaffen?“ Ferner erz&hlte er, er habe
7.wei Briefe an seine Eltern geschrieben und dem Arzte gegeben; er habe
sie aber so abgefasst, als ob er verruckt sei. In der Tat waren diese
Briefe ganz kindisch gehalten. Gleichzeitig gab er dem Mitpatienten
einen vemunftig gehaltenen Brief zar Besorgung. Auch als er in der
Vorleeung gezeigt worden war, berichtete er demselben Mitpatienten,
er habe „natfirlich“ die Fragen, wie er in die Klinik gekommen sei
und wer ihn gebracht habe, nicht beantwortet. Ein ihm vorgehaltenes
Hfirrohr habe er nicht zu kennen behauptet, habe bis 20 nur v or warts
richtig gezablt aber nicht ruckw&rts, sondern babe 18, 15, 13 ausgelassen.
Freilich batten dann die Aerzte so gesprochen, als sei er nicht krank
und mache alles nur ans Furcht vor Strafe. Er sei ja zwei Monate
fiber Urlaub geblieben.
Hierzu sei bemerkt, dass ich Bedenken sonst tragen wfirde, die Mit*
teilungen des Mitpatienten hier zu verwerten, obgleich es sich um
einen nicht geisteskranken Psychopathen gebandelt hat, dem wir den
Schntz des § 51 nicht zugebilligt haben; aliein mochte dieser auch
den Zweck verfolgen, durch seinen Verrat sich bei den Aerzten einzu-
schmeicheln, so konnte er doch nicht aus eigener Erfindung wissen,
was tats&chlich in der Vorlesnng sich abgespielt hatte. Die von ihm
erw&hnten Einzelheiten waren richtig und mussten ihm von M. selbst
entdeckt worden sein. Das durfte genfigen, um festzustellen, dass M. bei
seinem Vorbeireden und Vorschfitzen von Amnesie zum mindesten be-
wusst fibertrieb, wahrscheinlich simulierte 1 ).
Auch Mdnkemfiller’s Fall Ba. wollte nur in Gegenwart der Aerzte
nicht die einfachsten Dinge kennen, unterhielt sich aber ganz ordentlich
mit anderen Kranken, spielte eifrig mit ihnen Earten und bedeutete
einem neuen Ankommling, man durfe hier nicht zuviel wissen. Seine
Amnesie hatte sich erst im Verlaufe der Vernehmungen ausgebildet;
vorher war sein Gedfichtnis tadellos gewesen. Desgleichen benahm sich
der Fall Di. des gleichen Autors nur im allgemeinen wie ein kleines
Kind, war plfitzlich ganz verst&ndig, wenn er wollte, und verriet in
Aeu8serungen zu anderen Kranken, dass er genau wusste, worauf es ankam.
Ph. Jolly, der fiber eine Frau berichtet, die im Zfihlen und
Schreiben gekfinstelte Fehler machte, bis die trotzdem erfolgende Ver-
1) Ein andererSoldat hatte in seinem„Dammerzustande“ einemKameraden
Geld fur eine Besorgung anvertraut. Wahrend er im ubrigen nachher totale
Amnesie behauptete, forderte er diesen Betrag zuriick.
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urteilung geradezu heilend wirkte, will eine hysterische Stbrung uber-
haupt nicht annehmen. Die von ibr zur Schau getragene Schwerbesinn-
lichkeit nebst weitgehender Amnesie sei unecbt gewesen.
Forster l&sst zwar dem Wunsche, krank zu erscheinen, einen
hysterischen Dammerzustand mit Vorbeireden entspringen, betont indessen,
dass spatere Wiederholungen haufig nur Kopien des ersten, affektiv be-
diogteD Ditmmerzustandes darstellten. Es wurden hier die Erfahrungen
des fruheren Ausnahmezustandes, als neues Mittel krank zu erscheinen,
verwertet. Gewollt sei die Einengung der Vorstellungen, die dann durch
das Hineinversetzen in eine bestimmte Situation auch erreicht werde,
allerdings anscheinend nur bei psychopathischer Grundlage. Demnach
ware Absicht uberall vorhanden; nur gerate, je nach der Veranlagung,
der eine wirklich in einen krankhaften Zustand, der andere bleibe mehr
oder weniger reiner Simulant.
Es ist zweifellos richtig, wenn Bunse schreibt, dass der Begriff
des Dammerzustandes heute nacbgerade in verheerendem Umfange volks-
tumlich zu werden drohe. Unter den minderwertigen Soldaten seiner
Beobachtung fand sich kaum einer, der nicht in jedem Falle strafbarer
Bandlung die Erinnerungslucke bei der Hand hatte. Sehr oft wurde
gleich bei der ersten gerichtlichen Vernehmung mit erfrischender On-
verfrorenheit die Behauptung aufgestellt, dass die fragliche Tat im
„Dammerzustande“ begangen sei. Derartige Simulationsversucbe hatten
den grOssten Teil seines Gutachtenmaterials ausgemacht. Fur den
weniger geubten Sachverstandigen bedeutet da die Klarung des Sach-
verhaltes keine leichte Aufgabe. Nach beiden Seiten bin sind Ent-
gleisungen mdglich. Simulationsriecherei ist fraglos zu verwerfen, doch
auch zu weitgehende Milde und Vertrauensseligkeit sind nicht zu recht-
fertigen. Die alte Anschauung von der relativen.Seltenheit von Vor-
tauschung geistiger Erankheit ist nicht aufrecht zu erhalten. Crell’s
Berufung auf Schule, der unter tausenden von Geisteskranken keinen
einzigen Simulanten gesehen babe, macht heute keinen Eindruck mehr.
Vingtrinier’s oft zitierte Behauptung, schon Simulation sei eine Psy-
chose, ist entschieden abzulebnen, auch Penta’s Annahme, dass sie die
Geisteskrankheit des gebornen Verbrechers sei. Raimann, der bei
jedem hysterischen Vorbeireden eine Beimischung von Uebertreibung
vermutete, hat in alien Fallen von Simulation die Fragestellung mit
Recht so formuliert: Ist der zu Begutachtende des Gebrauches seiner
Vernunft so vSllig beraubt, dass er die Tat nicht zu verantworten ver-
mag, deren strafrechtliche Verfolgung jetzt die Simulation von Geistes¬
krankheit veranlasst? Jedenfalls ist der Nachweis einzelner krankhafter
Zuge noch nicht geniigend, urn nun gleich alles, was geboten wird, fur
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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 591
krankhaft anzusehen. Die Beherzigung dieser Warnung hatte vielleicht
im Falle W. mit dem Versuche, die Uebertreibung von der tatshchlichen
psychopathischen Grundlage zu trennen, schon fruher zu einer richtige-
ren Anffassung dee Falles Veranlaesung geben kdnnen, anstatt dass jetzt
•die Grundlosigkeit der Annahme ihrer Unzurechnungsfahigkeit erst mit
ihrem Gestandnis zntage getreten ist.
Das fubrt nns zur ErOrterung der wichtigen Frage, wieweit das
Eingestandnis von Simulation als beweisend gelten darf. Schott hat
sich dahin gehussert, Gestandnisse bewiesen so wenig wie Entlarvungen.
Moeli hat anf die Mdglichkeit aufmerksam gemacht, dass Geisteskranke
Simulation simulieren. Das ist gewiss zu beherzigen. Die blosse Be-
hauptung, simuliert zu haben, besagt noch nichts. Wir hCren dasselbe
oft genug von unseren Patienten erklaren, wenn sie auf Entlassung aus
der Anstalt dr&ngen. Nach Schafer kann ein Gestandnis auch teil-
weise echt sein, wenn namlich der in der Tat simulierte Symptomen-
komplex nur die bewusste Uebertreibung wirklich vorhandener psychi-
scher Krankheitserscheinungen darstellt.
Eriminelle Psychopathen prahlen gern mit ihrer Scblauheit. Man*
ches, was sie ohne die MOglichheit einer Nachprufung uns hinterher
zum besten geben, mag einfach auf Phantasie und Erfindung beruhen.
Oder sie haben, wie Schafer zu bedenken gibt, erst im Laufe ihrer
zahlreichen Explorationen und Begutachtungen so allerlei erfahren, was
sie uns nun als eigene Erinnerungen aufzutischen streben. Man kann daher
derartigen Gestandnissen gegenuber gewiss nicht misstrauisch genug
bleiben.
Stets wird es erforderlich sein, zunachst eine nahere Prufung des
Gestandniss-s eintreten zu lassen und sorgfaltigst alien zur Stutze
angefuhrten Einzelheiteu nachzugehen. Wer sagt, er babe Anfalle
kunstlich vorgetauscht, soli diese nochmals vorfubren. Wer sagt, er
habe absichtlich falsch geantwortet, mag die falscben und richtigen
Antworten nennen, damit wir sie mit unseren Aufzeichnungen verglei-
chen. Nur als Bestatigung des auf Grund eigener Beobachtung ge*
wonneneu Urteils darf, wie Siemerling mit Recbt verlangt, fur uns
das Zugestandnis des Untersuchten Bedeutung erlangen.
Um ausschliessen zu kOnnen, dass nicht etwa neben dem bewuBst
vorgetauschten Bilde noch eine echte Krankheit eine Rolle spielte, ist
immer die Einziehung einer m5glichst grundlichen Yorgeschichte erfor¬
derlich. Auch werde die eigene Beobachtung so lange wie mbglich
ausgedehnt. Das Gestandnis soil nns nur einen Fingerzeig geben, keinen
Beweis; diesen haben wir selbst zu fuhren. Ebenso bedeutet jji auch
hartnackiges Ableugnen einer bewussten Uebertreibung niemals den
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Gegenbeweis. Der Untersucber bat sich in alien F&llen selbst seine
Ueberzeugung za bilden.
Indessen ebenso, wie ein Eingest&ndnis bei no tiger Vorsicht immer
nfitzlich werden kann, so sind es auch Mitteilungen von Mitpatienten
nnd Eameraden. Nur sei man ihnen gegenuber nocb vorsichtiger und
skeptischer als gegenuber den Aussagen des Patienten. Oft hat dieser
seine Umgebung mit Geschick beeinflusat, so dass sie ohne bose Absicht zu
seinen Gunsten sicb aussert. Die falschen Angaben der als durchaus
zuverlfissig geltenden Patientin der Irrenanstalt F. fiber die Frau W.
sind hierffir ein beachtenswertes Beispiel. Dass Zellgenossen in den
Gef&ngnissen es vielfach als Parteisache betrachten, den Exploranden
dutch ihre Aussagen zu stfitzen, w ah rend umgekehrt die Aufseher in
ihrem Misstrauen leicht fibers Ziel hinausschiessen, hat vor allem
Fritsch betont. In anderen Fallen wieder mag persfinliche Abneigung
oder der Wunsch, sich wichtig und bei den Aerzten beliebt zu machen,
die Triebfeder bei den Mitteilungen von Mitpatienten bilden. Unzuver-
lfissig sind leider auch oft genug die Berichte des Pflegepersonals und
dfirfen nur mit einer gewissen Vorsicht und Auswahl den arztlichen
Schlussfolgerungen zu Grunde gelegt werden. Dennocb wird wohl keia
Psychiater auf diese ganz verzichten wollen. So steht es schliesslich
auch mit den Aussagen der fibrigen Umgebung. Dieselben kfinnen, wie
wir geseben haben, gelegentlich wertvoll werden und sind daher nach
Moglicbkeit mitheranzuziehen und selbst dann, wenn sie zunfichst etwas
fiberraschend lauten, nicht vorschuell zu verwerfen, soudern zu prfifen.
Bei der Untersuchung eines schweren Schwachsinn vortfiuscbenden
Verbrechers im Geffingnisse babe ich z. B. einmaf von dieser Methode
mit Vorteil Gebrauch gemacht: Seine Antworten bei der ersten Explo¬
ration hatten wegen der allzu hochgradigen Unkenntnisse einen gekfin-
stelten Eindruck gemacht. Beim zweiten Besuche im Gefangnisse liess
ich zuerst seine Zellgeuossen einzeln vorffihren und fragte sie, was ihnen
der Explorand fiber die frfihere Untersuchung erzfihlt hatte. Da ergab
sich, dass er vor ihnen mit seinen absichtlich falschen Angaben geprahlt
hatte. Als ihm das dann vorgehalten wurde, war er so betroffen, dass
er jeden weiteren Tfiuschungsversuch aufgab. Es ergab sich, dass er
wohl leicht schwachsinnig war, aber lange nicht in dem Masse, wie er
sich anfangs gestellt hatte.
In der Elinik ist das gesamte Verhalten des Exploranden zur Um¬
gebung, wie bereits mehrfach oben gezeigt wurde, bedeutungsvoll. Oft
lassen sich selbst hartnfickige Uebertreiber gehen, wenn sie sich einmal
unbeobachtet wahnen. Bei der Verwendung derartiger Vorkommnisse
ffir die Beurtcilung ist es aber stets erforderlich, dass sich der Gut-
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Ueber Aggravation and Simulation geiatiger Storung. 593
achter selbst irgendwie nachtr&glich von der Zuverlassigkeit der ihm
gemachten Meldung uberzeugt, falls er nicht durcb eigenen Augenscbein
ihre Ricbtigkeit festgestellt hatte. 1st ihm Beides nicht mfiglich, darf
erjene nur als Verdachts- und nicht als Beweismoment ansehen. Niemals
ist es gestattet, die Aussagen von Laien ohne weiteres als gleichwertige
Tatsachen neben den eigenen Beobachtungsergebnissen zu verwerten.
Harmlosere Simulanten werden sogleich in der Umgebung wirklich
Geisteskranker unsicber, kopieren ungeschickt das dort Gesehene, lassen
sich neue Symptome durch fiberhfirte Ausstellungen des Arztes sugge-
rieren oder fallen nach einiger Zeit ermudet aus der Rolle. Aber die
Gewandteren und Gefahrlicheren, die scbon eigene Erfakrnngen hinter
sicb baben, wissen sich vor solchen Klippen scblau zu schtitzen, und be-
folgen hartnfickig einen ganz bestimmten Plan. So bielt der von Dietz
beschriebene Simulant 6 Monate hindurch die Kopie eines Kindes fest
und noch lfinger eine angebliche L&bmung. Es schien dieser ethisch degene-
rirte Mensch bestrebt, die Luge kindlicher Naivitfit zur Schau zu tragen.
Die grosse Bedeutung der Art der Entsehung eines angeblich psy-
chotischen Zustandes ist bereits oben zur Besprechung gelangt. Pldtz-
liches Einsetzen der StOrung fiber Nacbt bei ungfinstiger ausserer Situa¬
tion -ohne voraufgegangeue Krankheitszeichen und obne befriedigende
Grundlage wird immer Verdacht erregen mfissen. Daher ist die Be-
schafifung einer guten Vorgeschichte so wichtig und bildet stets die un-
erlassliche Voraussetzung einer sorgffiltigen Beobacbtung. Sogar fruhere
Gutachten in den Akten gestatten in verwickelteren Fallen dem vorsich-
tigen Gutacbter nicht, auf eigene Nachforscbungen zu verzichten. Ge-
rade hier kann vielmehr das Herausarbeiten einer wirklich einwands-
freien Anamnese gelegentlich zu einer fiberraschenden Elfirung des Sach-
verhaltes fuhren. Oft genug ergibt sich dann, dass im Laufe der Zeit
das wahre Bild arg verffilscht worden war.
Ein gutes Beispiel bietet auch da wieder unser Fall Frau W. mit
den zahlreichen Gutachten, die sich auf angebliche epiieptische Ante-
zedentien stutzten, wahrend nahero Nachprufung die Unhaltbarkeit der-
selben erwies. Ganz fihnlich war in einem Simulationsfalle von Furstner
die vorgetfiuschte Epilepsie durch eine vollig verffilschte Vorgeschichte
glaubhaft gemacht worden.
Selbstredend sind alle Mitteilungen der Angehdrigen in Begutach-
tungsfallen mit dem grfissten Misstrauen aufzunebmen. Immer wieder
macht der gerichtliche Sachverstfindige die Erfahrung, dass die gleichen
Angehfirigen, wenn es sich darum handelt, den Tfiter durch Annahme
von Unzurechnungsffihigkeit vor Strafe zu schutzen, oder darum, ihn
als nicht mehr gemeingeffihrlich aus der Irrenanstalt wieder herauszu-
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bekommen, vbllig w'idersprechende Anamnesen mit dem gleichen Brust-
tone der Ueberzeugung abgeben.
Nur recht bedingten Wert haben ferner viele Zeugenaussagen, veil
sie infolge laienbafter Unkenntnis in medizinischen Dingen sehr viel
mehr behanpten, als wissenscbaftlich haltbar ware. Hat aber nunmehr
erst ein Sachverst&ndiger eine solche Zeugenaussage in sein Gutachten
aufgenotnmen und sich die betreffenden Ausffihrungen zu eigen gemacht,
dann gewinnt sie rasch unverh<nismfissige Bedeutung, und die im
Grunde ganz unznverlassige Bekundung geht als gesicberte Tatsache
durcb alle folgenden Gutachten und arztlichen Zeuguisse, bis endlich
ein spaterer Dntersucher auf den Gedanken kommt, der Entstehnng
jener Bebauptung n&lier nachzugehen. Es ist wobl verstJtndlicb, dass
gerade viel beschaftigte Kreis- und Gerichtsarzte nicht immer Zeit und
Lust zu solcher muhsamen Quellenforscbung aufbringen und dann ge-
legentlich, obne es zu ahnen, mit ibren neuen Aeusserungen das Bild
noch weiter verwirren.
Aber schon die allerersten arztlichen Bekundungen in den Akten,
soweit sie nicht von facharztlicher Seite stammen, soil ten nicht unge-
prfift fibernommen werden. Der psychiatrisch nicht genfigend vorge-
bildete Arzt wird, falls er einmal zufallig in einem Prozesse fiber psy-
chiatrische Fragen vernommen wird, erfahruogsgemfiss leicbt dazu neigen,
aus seinen Beobacbtungen auf Drfingen von Richter oder Verteidiger
weitergehende Schlussfolgerungeu zu ziehen, als sich bei strenger Nacb-
prfifung aufrecbt erbalten lfisst. Leicht schleppt sich dann solche un-
genfigend gestutzte Behauptung als bedeutsame Unterlage aus einem
Gutachten in das andere fort.
Ferner sollte nie die blosse Tatsache, dass der Betreffende, dessen
Geisteszustand begutachtet wird, sich schon fruher in Irrenanstalten als
Patient befunden bat, genfigen, am darauf Annahmen aufzubauen. Immer
ist erst zu versuchen, Einblick in seine Krankengeschichten zu erhalten,
und auch diese sind kritisch zu lesen. Manchmal wfirde der Schreiber
des einen oder anderen Krankenblattes seine Meinung findern, wenn er
jetzt noch einmal den gleichen Fall auf Grund des inzwischen ver-
mehrten Materials zu beurteilen hfitte.
Endlich ist in unserem Falle der Frau W. darauf hingewiesen
worden, dass sie gewissermassen ihr bestimmtes Simulationssystem hatte.
Das dfirfte wohl von den meisten derartigen Individuen gelten. Zum
Toil wohl auch aus diesem Grunde kehrt bei einzelnen die gleiche
Form der Situationspsychose mit fast photographischer Treue wieder.
Unrichtig erscheint mir jedenfalls die Bebauptung von Bresler,
dass in der Art, wie Geisteskrankheit oder Krfimpfe simuliert wfirden,
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keinerlei System vorhanden sei, so dass auch die Ausfubrnng der Ent-
larvung nie in der Ausfuhrung bestimmter Technizismen erfolgen kSnne.
Der Aafbau einer „Lehre“ von der Simulation geistiger Stfirungen ge-
hfirt vielmehr nicbt ohne Weiteres zu den Unmfiglichkeiten, wenn wir
auch zur Zeit von einer solchen noch kaum die Anfangsgrunde besitzen
mOgen. Es war daher zu bedauern, dass Bresler sich lediglich roit
einer Zusammenstellung der einschlagigen Schriften begnugte, ohne den
Versuch zu wagen, das zusammengetragene Material nach bestimmten
Gesichtspunkten zu ordnen und damit die Vorarbeiten fur eine ein-
dringende Erkenntnis in die psycbologischen Gesetzmfissigkeiten bei
dem Zustandekommen simulierter „Krankheitsbilder“ zu liefern.
Liest man vielmehr die in der Literatur niedergelegten Simu-
lationsffille von diesem Gesichtspunkte aus aufmerksam durch, so
sieht man sich bald zu dem Eingest&ndnis gezwungen, dass ganz
merkwfirdig oft die gleichen oder doch recht fihnliche Typen wieder-
kebren.
Sehr beliebt ist, wie schon erw&hnt ward, blosse Ged&chtnisschwSche
fur alle belastenden Vorkommnisse, wobei bald dem Gutachter die
Deutung dieser Erscheinung uberlassen, bald das Vorliegen eines
„Dammerzustandes“ behauptet wird. Urn letztere Behauptung wahr-
scheinlicber zu machen, sind geriebene Simulanten sogar so weit ge-
gangen, sich vorher „propbylaktisch“ auffallig zu benehmen. Ein
solches Verfahren erinnert stark an den beruchtigten Alibinachweis
alter Verbrecher.
Unter den bunteren Bildem phantastischer Wahnideen und Sinnes-
tauschungen kehren, wie Schafer treffend bemerkt, auffallend haufig
bestimmte Formen wieder, wie schwarze Manner, die an den Menschen-
fresser im Marchen erinnern, Giftbeimengung im Essen, Intriguen des
Staatsanwalts, der darauf ausgehen soil, den „Unschuldigen u zu ver-
nichten und deshalb von diesem zum Duell gefordert wird, vomehme
Abstammung, wobei volltfinende Namen, wie z. B. Benkel v. Donners-
mark, eine schon unangenehme Bevorzugung erfahren. Stets fehlt jede
merkiiche Veranderung der Persdnlichkeit und es besteht nur ein ober-
flachlicher Affekt. Die angefuhrten Verfolgungen bleiben ohne ent-
sprechenden Einfluss auf das gesamte Gebabren. Die Aufforderung,
fiber die angeblichen Sinnestfinscbungen, die vorwiegend Gesichts-
tauschungen sind, eingehender zu berichten, verursacht oft deutliche
Verlegenheit oder es kommt zu ganz verzerrten Schilderungen, die sug¬
gest v beliebig zu beeinflussen sind. Man hat hier immer wieder den
Eindruck, dass die meisten derartigen Versuche einer Vortfiuschung sich
ganz ausserordentlich untereinander ahneln.
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Auch MonkemSller gelangte auf Grand aasgedehnter Erfahrangen
auf diesem Gebiete zu dem Schlusse, dass in der Regel die gleichen
Krankheitsbilder vorgespielt wurden. Es seien das die landlaufigen
Irrsinnsformen, wie sie das Publikum sich vorstellte. Nur wer irgend-
wie Gelegenheit geliabt habe, selbst einen Fall von Geistesstorung naher
zn beobacbten, wurde als Simulant dazu schreiten, diesen nachzuahmen
und dadurch vielleicht ein selteneres Erankheitsbild kopieren. Verh<-
nism&ssig beliebt sei ausserdem bei Simulanten wegen des Eindracks
auf die meisten Gefangnisarzte die Nahrungsverweigerung, zuweilen
verbunden mit Stummbeit und Selbstbeschadigungsversuchen. Diese
Angabe ist zweifellos ricbtig. Schon geringe Anstrengungen in solcher
Ricbtung fuhren nftmlich in mancben Gefangniseen mit absoluter Ge-
wissbeit zur sofortigen Verlegung in die Irrenanstalt, wo dann aber bei
ruhigem Abwarten rasch ein geordnetes Verhalten zuruckzukebren pflegt.
Debrigeus mochte ich eine solche Vorsicbt der betreffenden Ge¬
fangnisarzte durchaus nicht tadeln. Im Zweifelsfalle ist es sicber besser,
in dieser Ricbtung zu irren, als umgekebrt.
Auf Grand aller derartiger Beobachtungen haufiger Uebereinstimmung
der SimuiationsformeD lag der Gedanke nahe, die ublicbsten Bilder zu
beschreiben und einzuteilen, um dadurch zu einer besseren Kenntnis
und Uebersicht des auf diesem Gebiete MOglichen zu gelangen. Auf
alle alteren Versuche dieser Art konuen wir hier nicbt eingehen. Be-
kannt ist die Einteilung von Fiirstner in Zustande von Blddsinn, von
balluzinatorischer Bewusstseinstriibung, von Erregung mit Zerstfirungs-
sucbt und unsinnigen Aeusserangen, endlich in eine Gruppe, deren Bild
sich ans sehr verschiedenartigen, unregelmassig miteinander wechselnden
Erscheinungen zusammensetzt. Daneben erwahnt aber Fiirstner auch
das Nachabmen von Paralyse und von Epilepsie mit Irresein.
Siemerling, welcher anerkennt, dass „durch Ausdauer, Geschick-
lichkeit, Intelligenz und Willenskraft mancher Simulant die geschicktesten
Irrenarzto wenigstens eine Zeit lang zu t&uschen verstanden hat“, nennt
als haufigste Bilder Blddsinns-, leichte Depressions-, paranoische Zu-
stftnde, auch Erinnerangsdefekte und Epilepsie.
Neuerdings bat dann Hubner eine erscbOpfende Aufzahlung zu
bieten versucht. Er unterscheidet epileptische Anfalle, Stummheit,
Regungslosigkeit, Schwachsinn, Bewusstseinstriibungen, traurige Ver-
stimmung, Sinnestauschungen und Wahnideen. Aber auch diese Ueber¬
sicht vermag anf der einen Seite nocb nicbt alle Formen zu beriick-
sicbtigen, die uberhaupt moglich sind, wabrend sie andererseits zu all-
gemein und farblos bleibt, um unserem Zweck zu geniigen. Ohne
grundlichere Vorarbeiten durfte sich die hier angeregte Aufgabe wohl
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gar nicht durchfuhren lassen. Zuviele Zuf&lligkeiten, persfinliche Ge-
wandtheit, Wissen, Yorleben, Neigungen nsw. spielen beim Zustande-
kommen der einzelnen Simulationsbilder mit. Im allgemeinen dfirften
aber die zor Zeit im Lande herrsckenden laienhaften Anscbauungen
fiber das Wesen Geistesgestfirter am meisten zum Ausdruck dr&ngen,
oder aber die gelegentlich erworbenen individuellen Erfabrungen ver-
wertet werden, wie z. B. der Fall von Riehm seine frfiher fiberstandene
Alkoholpsychose benutzte. Je nach Begabung, Bildung, Rasse, Gegend
-werden wir daber andere Bilder zu erwarten haben. Interessant sind
in dieser Beziehung die Mitteilungen von Penta fiber die ausserordent-
lich hfiufige Simulation' in Neapel.
Immerhin bat Ffirstner Recht, wenn er behauptet, dass trotz
mancher Abweichungen, die durch die fiusseren Verbfiltnisse bedingt
sind, bestimmte Zfige und Merkmale immer wiederkehren, denen darum
oine gewisse diagnostische Verwertbarkeit nicht abzusprecben sei. Nur
sind eben diese bisker hfichst schwierig in Wort und Scbrift festzuhalten.
Man wird bisweilen bei einem neuen Fall unwillkfirlich an eine frukere
Simulationsbeobachtung erinnert, hat den zwingenden Eindruck des Un-
echten und kann doch nicht gleich sagen, wieso.
Mit Leppmann’s Forderung, der Unterschied zwischen dem simu-
lierten Bilde und den wirklichen Krankheitsformen des eigenen Er*
fahrungsschatzes mussten erheblich sein, ist in dieser Fassung wenig
anzufangen.
Am greifbarsten ist noch immer wieder unter der Ffille buntester
Mannigfaltigkeit, die uns bei jedem Ordnungsversuche entgegentritt, der
klaffende Widerspruch zwischen der vom Simulanten zur Schau getragenen
Verwirrtheit oder Demenz und der tats&chlichen guten Orientierung.
Penta hat sicb fiber diesen wesentlichen Punkt, der ihm bei seinem
grossen Material gleichfalls nicht entgehen konnte, folgendermassen aus-
gesprochen: Der Simulant setze sich leicht mit sicb selbst in Wider-
sprucb und werde sein eigener VerrSter. Er sei nicht imstande, Gang,
HaltuDg, Gesten, sein ganzes Benehmen und besonders seinen Blick mit
seinen Reden in Einklang zu bringen. Sein lebhafter Wunsch, Eindruck
zu machen, seine Unsicherheit fiber den Ausgang des Versuches und
die Willensschwache und Sorg*losigkeit der Verbrechernatur bildeteu die
Grunde, wesbalb der Simulant fortwfibrend sein Gebabren findert. So
werde die Simulation meist zur Karikatur einer Geisteskrankheit. Das
wiederhole sich so regelmfissig, dass man fast von einem besondereu
klinischen Bilde sprecben kdnne. In dieser Hinsicht glichen sich alle
Falle von Simulation, so dass wer einen gesehen habe, hnndert ge-
sehen habe.
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Oben ist bereits wiederholt auf derartige innere Widersprfiche id
den Darbietungen von Simulanten aufmerksam gemacht worden.
Scbon Dedichen stellte fest, dass sich Versagen bei einfachsten
Fragen verband mit guter Auffassung und Eenntnis der Tagesereig-
nisse.
- Der von Siemens begutachtete Weppe schwatzte fast nur in Gegen-
wart der Aerzte verwirrtes Zeug. Sein sich fingstlich verwirrt stellen-
der Explorand Schmidt beobachtete stets alles genau, was urn ihn herum
vorging, drehte sich lebhaft und intelligenteu Blickes urn, blinzelte mit
den Augen; urn stets alles verfolgen zu kdnnen, zupfte bei Suggestiv-
frage misstrauisch und unentschlossen an den Fingern, bewies durch
passende Antworten, dass er die Fragen verstand. Anstatt eine wirk-
liche Depression zu zeigen, lachte er, als Witze und Zoten gerissen
wurden, unterdruckte aber das Lacben sofort, als es gemerkt wurde.
In dem von Longard und Pelmann geschilderten Falle bestand
ein scbroffer Gegensatz zwischen dem angeblichen totalen Versagen des
Gedfichtuisses und dem soust ausgezeichneten Intellekt.
Bolte bemerkte bei seinem Schwachsinn Simulierenden ein stets
den Umst&nden angepasstes und mit ihnen wechselndes Verbalten.
Krdmer’s Frau Z. erging sich den Aerzten gegeniiber in un-
sinnigen Antworten, konnte nicht bis 10 zahlen, wusste ihre eigenen
Personalien nicht, nichts von ihrer Tat, w&hrend sie gleicbzeitig
einer Pflogerin gegeniiber sich in jeder Hinsicht unterrichtet und ge-
ordnet erwies.
Die gleichen Erfabrungen machte Heller mit seinen Simulanten,
die sich vor allem durch Uebertreibung und Inkonsequenz verrieten.
In der Unterhaltung mit dem Untersucher wollten sie fiber die gewfihn-
lichsten Dinge nicht Auskunft geben kfinnen, wahrend sie flott alle
Momente nannten, die ihrer Exkulpierung forderlich erschienen, oder
aber sie brachten ihre bidden Erwiderungen immor dann vor,. wenn
das Gesprfich auf die ihnen zur Last gelegten Handlungen gelenkt
ward.
Ferner sei erwfihnt der durch Detektivs klargestellte Fall von
Marcuse: Der Unfallkranke H. hatte sich vor dem Gerichtsarzte wie
vfillig verblddet benommen und keine Frage richtig beantwortet. Zwi¬
schen seinen Antworten sprach er schwachsinniges Zeug und erzfihlte
unaufgefordert von ganz gleichgfiltigen Dingen, ein Zug, der uns auch
, in unserem Falle Frau W. begegnet war. Trotzdem liess sich zeigen,
dass H. die Zeitungen las und die Tagesereignisse kannte; er suchte
sich geeignete Kameraden zur Unterhaltung aus, spielte mit ihnen Dame
und Mfihle, sang mit richtigem Text ein Lied. Niemals beging er
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Ueber Aggravation and Simulation geistiger Storung. 599
eine unsinnige oder der Tat nicht entsprechende Handlung. Alle seine
angeblichen Krankheitserscheinangen waren stundenweise ganz ver-
schwanden.
Vielleicht wurde es sich ermoglichen lassen, durcb Aufdeckung der
Gedankeng&nge, welche in einzelnen Fallen sicker entlarvter Simulation
die Betreffenden zn gerade dieser Wahl von Symptomen bestimmt hatten,
der hier vermutlich herrschenden psychologiscben Gesetzmassigkeit mehr
auf die Spur zu kommen und schJLrfer umschriebene Grundtypen von
Simnlationsmethoden aufzustellen.
Gest&ndige Simulanten, wie unsere Frau W. durften bereitwillig er-
kennen lassen, warum sie gerade diesen Weg wahlten, sich im einzelnen
YerbOr so und nicht anders benahmen. Leider haben wir damals noch
nicht auf diesen Punkt unser Augenmerk gerichtet. In kunftigen ein-
echlSgigen Fallen wurde ich nicht verfehlen, das Vers&umte nachzuholen,
und mOchte auch andere, die dazu Gelegenheit haben, um VerOffent-
lichung entsprechender Feststellungen bitten.
Erst auf Grand einer derartigen Erkenntnis von dem eigentlichen
Mechanismus der Simulationsmethoden liesse sich auch unser Vorgehen
bei der Entlammg in eine Art System bringen. Heute probieren wir
mehr auf gut Gluck die verschiedenen empfohlenen Mittel durcb.
Yor den friiher beliebten beroischen Gewaltkuren hat Moeli mit
Recht gewarnt. Sie wirken nicht nur leicht inhuman und im Irrtums-
falle uberaus schadlicb, sie verraten meist auch eine bedenkliche Un-
sicherheit des Gutachters, falls dieser erst mit solchen Mitteln zu einem
Drteil gelangen will. Audernfalls sind sie uberhaupt viberflussig.
Zweifellos ist es ungeschickt, dem zu Begutachtenden von vorn-
herein Misstrauen zu zeigen. Man braucht noch nicht so weit zu gehen,
wie MdnkemSUer, der sogar im Falle fester Ueberzeugung von vor-
liegender Simulation abr&t, solches dem Delinquent deutlich zu machen:
Der Simulant falle leichter aus der Rolle, wenu er w&hne, man glaube
ihm. Sonst nehme er sich zusammen und erschwere die Entlarvung.
Allein Starke Yoreingenommenheit tut nie gut und es bleibl stets Auf-
gabe des Arztes, nach MOglichkeit das Yertrauen seines Patienten zu
erringen. Erst wenn man mit Sicherheit bewusste T&uschungsversuche
beobachtet bat, mag man sein Betragen findern, und unter Umst&nden
mit dem Simulanten offen und energisch reden.
Mir hat sich bisher immer am besten bew&hrt anfangliches Igno-
rieren der Uebertreibungen, gleichm&ssig freundliche abwartende Behand-
lung, bei Gelegenheit vielleicht vorsichtiger Versuch, neue Symptome
zu suggerieren, dann Yorstellung in der Yorlesung und Auseinander-
setzen der verschiedenen Aussichten, je nachdem Zurecbnungsf&higkeit
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Oder Unzurechnungsf&higkeit anzunehmen wftre, also eine Kombiaation
der von Hoche, Leppmann, Hubner angeratenen Verfahren.
Mit Ueberrumpelung und Gioschuchterung wird man nur bei aus-
gesprochen hysterischen Erscheinungen oder bei manchen ubertreibenden
Schwacbsinnigen Erfolg haben, liuft aber stets mit Anwendung der-
artiger Mittel vie Faradisieren Gefahr, sicb bei Misslingen die Aufgabe
zu erschweren. Dann wire es noch zweckm&ssiger, eine Kombiaation
von Ignorieren und Abschreckung eintreten zu lassen durch Versetzung
auf die unruhige Abteilung, und zwar unter Umst&nden ins Dauerbad,
wie Weichbrodt fur rnanche Kriegsneurotiker empfohlen hat. Dort
iibersieht man scheinbar den Patienten, bis er sich selbst meldet und
Wunsche vortrSgt. Manchmai verschwinden so Stupor, Mutismus, Vorbei-
reden uberraschend schnell. Es stellt ja diese Methode nichts eigentlich
Neues dar, so wenig wie die sogenannte Kaufmann-Methode. In den
meisten Anstalten diirfte man friiber die hysterischen Stuporzust&nde
faradisiert, die hysterischen Erregungen zur Beruhigung vorubergehend
auf die unruhige Abteilung verlegt haben. Es sind auch ia der Lite-
ratur F&lle beschrieben, wo ein solches Vorgehen rasch die besten
Fruchte bei Simulanten trug. So beobachtete Plaszek einen Kn., der
nach leichtem Unfall schlecht hOrte und „den wilden Mann spielte“.
Die blosse Verlegung auf die geschlossene Abteilung genugte, um sofor-
tiges Eingest&ndnis der beabsichtigten Tauschung zu erzielen. In der
Umgebung unruhiger Kranker versagte dem Kn. alle Energie, die bis-
herige Rolle durchzuhalten. Er horte wieder gut und bekannte offen
seinen Schwindel.
Jedenfalls sollte man sich bei der Begutachtung von Simulations-
verdachtigen stets mbglichst Zeit lassen und bedenken, dass gerade die
Zeit sich gewOhnlich als wertvolle Verbundete erweisen wird, da sie
unvermeidlich die Durcbfflhrung der Simulation erschwert, den Betreffen-
den, der nicht erkennt, was mit ihm werden soil, schwankend macht
und gleichzeitig dem Untersucher immer neues Material in die Hande
spielt, zumal wenn es gleichzeitig gelingt, ein ausgedehntes Netz unauf-
falliger Beobachtung um den Simulationsverdachtigen zu legen.
Also grundlichste Aufdeckung der Vorgeschichte, vorsichtige Nach-
prufung etwa fruher erstatteter Gutachten, sorgsame kOrperliche Unter-
suchung und geduidige Ueberwachung und Beobachtung mit nur ge-
legentlicber aktiver Eiwirkung je nach der Art des Falles, das mussen
unsere hauptsachlichsten Mittel sein, um einer Simulation auf die Spur
zu kommen. Nur wer in dieser Weise jede Uebereilung meidet und
keine zeitraubende Arbeit scheut, wird sich vor unliebsamen Ueber-
raschungen zu siehern imstandc sein.
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Ueber Aggravation und Simulation geistiger Storung.
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XXIII.
\
Die Simulation psychischer Krankheitszustande
in militSrforensischer Beziehung.
Von
Dr. Honkemoller (Langenhagen).
Die Simulation psychiscber Krankheitszustande hat zu alien Zeiteir
im MilitSrwesen eine bedeutsame Stellung eingenommen. Es ist noch
nicht so lange her, dass ihr von der forensischen Militarpsychiatrio
ein grosses Gewicht eingeraumt wurde. Das Walten der bewussten Vor-
tauschung geistiger Krankheitserscbeinungen witterte man beim Militar
und insbesondere in gerichtlichen Fallen auch dann noch, als man sonst
schon allgemein zu der Erfabrung herangereift war, dass die reine Simu¬
lation, also die bewusste Vortauschung krankhafter Geisteszustande von
einem Individuum, dessen geistige Gesundheit unanfechtbar war, ausserst
selten sei.
Allerdings war man sicb auch hier schon langst daruber klar, dass
man sicb davor huten musse, die Bedeutung der Simulation zu uberscbatzen.
Auch hier erlebte man immer wieder, dass man, selbst wenn es ge-
lungen war, die Vortauschung oder Uebertreibung psychischer Krank¬
heitszustande nachzuweisen, hinter diesem Schleier auf ein psychiscbes
Gesamtbild stiess, dein die Zurechnungsfahigkeit entweder Qberhaupt nicht,
oder doch nur mit grossen Einschrankungen zugebilligt werden konnte.
Nach KOster 1 ) und Kirn 2 3 ) ist die Vortauschung psychischer Krank-
heitsbilder ohne jede positive Grundlage in der Armee ausserordent-
lich selten.
Auch Du ms 8 ) vertrat die Ansicht, dass gewOhnlich Verstellung
baufiger angenommen werde, als es wirklich zutreffe. Ueberhaupt waren
1) Podesta, Haufigkoit und Ursachen seelischer Erkraokungen in der
deutschen Marine unter Vergleich mit der Statistik der Armee. Arch. f. Psych.
1905. Bd. 40. S. 668.
2) Kirn, (Jeber die Verkennung von Seelenstorungen im Militarstande.
Allgem. Zeitschr. f. Psych. 1875. Bd. 31. S. 478.
3) Dums, Handbuch der Militarkrankheiten. Leizig 1900. Bd. 3. S.578.
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CORNELL UNfVERSITV
Die Simulation psycbischer Krankheitszustande usw.
605
sich die neaeren Autoren [Bennecke 1 )] darfiber einig, dass Simulation
als planmEssiges Delikt bei uns seltener geworden ist.
In den Jahren 1905 bis 1909 schwankte beim deutschen Heere die
Zahl der nacb den §§ 81 und 83 wegen Simulation und Selbstverstfim-
melung verurteilten Personen zwischen 24 und 39 jEhrlich bei einer
Gesamtziffer der Verurteilungen zwischen 11500 und 12800.
Dabei betonte allerdings auch Bennecke, dass die Zahl der Simu-
lationen — worunter natfirlich in erster Linie die von kfirperlichen
Leiden zu rechnen sind —, in diesen statistischen Zahlen nicht nach
ihrem vollen Umfange zum Ausdruck kommt, weil sie in ihren harm*
losen Formen gar nicht bis zur richterlichen Brfassung gelangt. Die
Bebandlung dieser leichteren VortEuschungs versuche ist eben anders ge¬
worden. Man appelliert an das Ehrgeffihl des Mannes, man baut ibm
goldene Brficken und verspricht ibm, dass die Sache keine gerichtliche
Folgen fur ihn haben soil, wenn eine Besserung erkennbar ist. Da aus
solchen Drfickebergern noch oft recht brauchbare Soldaten werden
konnen, ffihlt der MilitErarzt sich nicbt sofort berufen, fiber jede Vor-
tEuschung Anzeige zu erstatten.
So betont denn auch Blau 2 ):
Und dann wollen wir nicht vergessen, dass der erste Betrug erst
die oberste Stufe auf der Stufenleiter, erst das Extreme darstellt, dass es
eine Menge Zwischenstufen gibt und dass eine ganze Anzahl von Ein-
flfissen auf einen sonst recbtlich und gut denkenden Mann eingewirkt haben
kann, um ihn zur KrankheitsvortEuschung zu bewegen: Beschranktheit,
VerEngstigung durch andere, CharakterschwEche, Beeinflussung durch
Angehorige, niederer Bildungsgrad und grosse innere UmwElzungen. Und
mag auch der Arzt noch so r fest von der Simulation fiberzeugt sein, ob
er in juristischer Beziehung die notigen Handhaben fur eine Verur-
teilung darbietet, ist nicht immer gesagt. So wird lieber von vornherein
darauf verzichtet, ihn dem Gerichte zu fiberweisen.
Dagegen bat, was die Simulation psychischer Krankheiten anbetrifft,
die Zahl der hierfiber verdffentlichten FElle eine wesentliche Verringe-
rung erfahren. Denn ein grosser Teil von ihnen halt einer kritischen
Anfechtung nicht stand. Gerade in der Slteren Literatur segeln noch
zahireiche Falle von Hysterie und Dementia praecox mit ihren oft so
gekfinstelt unnatfirlich erscheinenden KrankheitsEusserungen unter der
Flagge der Simulation.
1) Bennecke, Simulation und Selbstverstummelung in der Armee unter
besonderer Beruoksicbtigung der forensischen Beziebungen. Arob. f. Kriminal-
anthrop. und Kriminalstat. 1911. Bd. 43. S. 197.
2) Bennecke, 1. c. S. 198.
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Bennecke 1 ), der die Akten von 42 milit&rischen Simulationsf&llen
bearbeitete, in denen es zur Verurteilung von 15 Simulanten kam, ver-
fugte auch fiber 2 F&lle von Simulation psyichischer Stfirungen.
Ffir den Soldaten hat die Simulation und selbst die Aggravation
psychischer Stbrungen eine wesentlich unangenehmere Bedeutung als im
bfirgerlichen Leben.
Er wird, wenn er darauf ausgebt, der Erffillung der Dienstpflicht
zu entgehen, strafbar. Dieser grundlegende Unterschied grfindet sich
darauf, dass das feste Geffige der Armee auf der unbedingten Sicher-
heit der Durchffihrung der allgemeinen Wehrpflicht beruht. Die Simu¬
lation rfittelt an diesem Geffige. Bliebe sie straflos, so wfirde sie sicher
bei der ansteckenden Verbreitungsweise solcher Versuche in weitgehend-
stem Masse die Bestrebungen fflrdern, die derErfiillung der Dienstpflicht
entgenarbeiten. Die hohen Strafen, die darauf steben, sollen ab-
schreckend wirken.
Aber wenn es nicht zu einer Verurteilung kommt und nicht
einmal ein Verfahren eingeleitet wird, ist das Scbicksal der Soldaten,
die zum Simulanten gestempelt werden, bei der Truppe nicht gerade
sehr erfreulich. Es ist klar, dass Elements, die derartigen Neigungen
frdhnen, mit der ganzen Strenge des Dienstes angefasst werden.
Spielen derartige Neigudgen in ein Verfahren wegen Fahnenflucht
hinein, so werden Zweifel, ob der Titer sich der Dienstpflicht entziehen
wollte, zu seinen Ungunsten ausgelegt.
Auch sonst wird bei anderen militirischen Delikten seltener ein
„minder schwerer Fall“ angenommen, wenn der Titer auf Vortiuschung
und Uebertreibung ertappt wird, auch wenn gegen ihn nicht ausdrfick-
lich das Verfahren wegen Simulation eingeleitet wird.
Der jetzige Krieg liess von vornherein nicht erwarten, dass wir
allzuviel mit der Simulation zu tun haben wfirden.
An und ffir sich hitte ja theoretisch fiberhaupt nicht damit ge-
rechnet werden dfirfen, dass die Verbindung von Verbrechen und Geistes-
krankheit derartige Blfiten treiben wfirde. Im Beginne des Erieges
war im Heere ein Material vertreten, das in korperlicher und geistiger
Beziehung eine Auslese darstellte, von dem kriminelle Elemente schwe-
rerer Firbung einerseits und psychisch kranke Persfinlichkeiten anderer-
seits systematisch ferngehalten worden waren. Auch bei zweifelhafteren
Naturen war dnrch die Begeisterung jener Zeit, durch den Idealismus,
der alles verklirte, alle jene Bestrebungen fortgespfilt worden, auf denen
die Simulation Fuss fassen konnte.
1) Bennecke, 1. c. S. 203.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
607
Im weiteren Verlaufe des Krieges ist hierin ja grundlich Wandel
geschaffen worden. Vor allem bat der Krieg mit seinen unz&hligen,
die Psyche sch&digenden Einflusseu die allgemeine geistige Beschaffen-
heit des Heeres gewaltig verschlecbtert. Die Schranken, die bei Per-
sonen, die einmal psychisch krank gewesen sind, dem Eintritt in die
Armee entgegenstanden, sind gefallen. Die Insassen der Gef&ngnisse,
der Eorrektionsanstalten, die schweren Psychopathen der Fursorge-
erziebnng steben mit Oder gegen ihren Willen unter den Fahnen.
So ist es kein Wudder, dass die Milit&rkriminalit&t einen erheblichen
Cmfang angenommen hat. Spielte schon die Geisteskrankheit im Zivil-
leben unter den Drsachen der Eriminalit&t eine grosse Rolle, so hat sie
sich im allm£hlichen Fortschreiten des Erieges eine noch viel grund-
legendere Steliung erworben.
So war allm&blich eine genugend grosse Grundlage von Psycho¬
pathic and erworbener geistiger Entartung geschaffen, ohne die die
Simulation nicht emporzuwuchem pflegt.
Gleichzeitig wurde eine weitergebende Senkung des sittlichen Niveaus
erkennbar. Bei schw&cheren Naturen wurden die ethischen und mora-
liscben Gefflhle abgestumpft. Die Begeisterung der ersten Tage, die
die niedrigen Instinkte zu Boden gehalten batte, verrauchte. Hatten
solche psychisch gesch&digte Personen mit der Erinnerung an schwerste
Eriegserlebnisse zu k&mpfen, dann suchten sie eher weiterer Sch&digung
durch Mittel aus dem Wege zu geben, denen sie sonst abhold gewesen
wiren. Dazu kam wieder die Macht der psychischen Ansteckung. Wer
zu solchen Bestrebungen neigte, hatte reichlich Gelegenheit gehabt, sich
mit dem ndtigen Rustzeug in anderem Masse zu wappnen als sonst.
Was so viele Eriegsneurotiker, die von einem Lazarett zum andern
wandelen, an geistiger Elastizit&t einbussten und was sie dafiir an
neurologischen Eenntnissen eintauschten, das wurde geradezu ein Erebs-
schaden. Nicbt selten mussten wir hier feststellen, dass Eranke, die
von bestimmten Nervenstationen kamen, in der Technik der Unter-
sucbung recht gut beschlagen waren und gelegentlich auch davon reich-
lichen Gebrauch macbten.
Mehr noch hat sich dieser Oebelstand auf den Abteilungen herausge-
bildet, auf denen sicb eine grOssere Zahl von forensiscben Beobachtungs-
kranken zusammendrttngte. Immer wieder mussten wir hier die Erfah-
rung machen, dass sich gerade die kriminellen Elemente, die auf die
Segnungen des § 51 nicht die weitgehendste Anwartscbaft hatten, sich
bald gefunden hatten und dass sich die Unbefangenbeit, mit der sie
zuerst der Beobachtung gegenuberstanden, bald sichtlich verlor. Die
Erinnerung at) die Straftaten schrumpfte zusehends zusammen, je mehr
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die Anw&rter auf den § 61 sich von der Tragweite eines erlOsendeo
Erinnerongsaasfalles uberzeugt hatten. Ebenso hatten Soldaten in der
Untersuchung8haft diese Gelegenheit nicht ungenutzt vorubergehen lassen,
urn auf psychiatrischem Gebiete die Kinderschuhe auszutreten. Legte
man gelegentlich Wert darauf, das Gutacbten in Abwesenheit des An-
geklagten zu erstatten, so wurzelte das in der truben Erfabrung, dass
das AnhOren des Gutachtens noch den Nebenzweck erfullt hatte, den
Angeklagten auf manclie Fehler in seinen Yerteidigungsversuchen auf*
merksam zu machen. Bei einer zweiten Untersucbung verrieten sie die
Anregungen, die sie in den geistsprubenden Ausfuhrungen des Gutach¬
tens eingesogen hatten.
Eine recht unerwunschte Quelle der Ausbildung in der MilitSrpsy-
chiatrie sind auch die Gefangenenkompagnien, in denen sich die Haft-
linge in freierer Bewegung als sonst zusammen drftngten. Manche Er-
regungszust&nde, manche Depressionen, die sich hier plOtzlich einstellten,
obgleich ein grosser Teil der ungunstigen Einflusse der Haft hier aus-
geschaltet ist, machten eine kritische Beurteilung erforderlich, obgleich
sich hier ein schwer psychopathisches Material anhftufte, bei dem der-
artige Ereignisse nicht auffallig erschienen. Aber hier gedieh die Wert-
scbatzung der militarisch-forensischeu Begutachtung ganz besonders.
Schliesslich gestanden einige Delinquenten offenherzig ein, dass sie gar
nicht im Ernste darauf gerecbnet hatten, dass die Beobachtung ihnen
den Weg zur Straffreiheit erschliessen werde. Aber die Aussicht, einige
Zeit die Ode Zwangsarbeit mit den lichten R&umen der Irrenanstalt
vertauscben zu konnen, genugte, sie zu bestimmen,- den krankhaften
Seiten ihrer meist nicht ganz einwandsfreien Psyche einige grelle Lichter
aufzusetzen.
Der Rrieg hat die Erfahrungen bestatigt, die wir im Frieden ge-
macht batten: die Simulation ist sehr seiten, die Uebertreibung wesent-
lich hanfiger und auf einem einwandsfreien Boden erw&chst sie nie.
Nach Voss 1 ) wird von Laien und auch von Aerzten Vortauschung
oder Uebertreibung bei unseren Soldaten haufig angenommen. Reine
Simulation ist aber sehr seiten, baufiger Aggravation.
Krull 2 ) wies darauf hin, wie wertvoll die Untersucbung der An¬
geklagten nahe an der Front ist. Dadurch wurden viele Einflusse aus-
geschaltet werden, die eine Verdunkelung des Geisteszustandes herbei-
1) Voss, Erfahrungen fiber Simulation b. Militarpersonen. Neurol. Zen-
tralbl. 1916. Nr. 17. S. 728.
2) Krull, Die strafreohtliche Begutachtung der Soldaten im Felde. Ber¬
liner klin. Woohenschr. 1918. Nr. 24.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 609
ffibren konnen. Er erw&hnt in keinem Falle eine Simulation. Immer-
bin lag nie eine ausgesprochene Geisteskrankheit vor, und weno er in
13 Fallen jsu einer glatten Ablehnung des § 51 kam, so lasst sich nicht
von der Hand weisen, dass bier auch gelegentlich Erankheitssymptome
starker aufgebauscht wurden.
In eingehender Weise kamen die Ansichten fiber- die Hfiufigkeit der
Simulation in dem Vortrage Henneberg’s 1 ) zu Wort, bei dem es sich
im wesentlichen um nervOse Erankheitserscheinungen handelte. Reine
Simulation sah er selten, weil die unwilligen Disponierten zurzeit leicht
den Weg in die Hysteric ffinden.
Hirschfeld hielt die Simulation ffir eine seltene Erscheinung,
w&hrend die Aggravation von Symptomen, die im Gefolge von Schreck
aufgetreten seien, h&ufig nachweisbar sei. Unter ungef&hr 600 Fallen
von Eriegshysterie konnte er die Simulation 5mal eiwandsfrei nach-
weisen.
Nach Peritz ist die Zahl der Simulation auf der inneren Station
h&ufiger, als auf der neurologischen, was von Mfiller best&tigt wurde,
und Singer glaubte, dass alle hysterischen Taubstummen Simulanten
seien. Wenn auch Oppenheim auf dem- alten Standpunkte Charcot’s
stehen blieb, dass von Simulation bei Hysteria und den verwandten Neurosen
diejenigen am meisten sprfichen, die davon am wenigsten verstfinden,
gab er zu, dass der grosse Erieg ganz neue Verh<nisse und neue Bc-
dingungen geschaffen habe, einmal durch die Massenansammlung von
Neurosen, dann besonders dadurcb, dass die Zahl der Menschen, die
krank erscheinen wollen, zugenommen habe. Da seine Erfahrungen
sich vorwiegend auf die beiden ersten Eriegsjahre erstreckten, hatte er
weniger von Aggravation und Simulation gesehen.
Auch Bonhoeffer betonte, dass die Aggravation praktisch eine
grfissere Rolle spielte, als die Simulation.
R6gis 2 ) verlangte Vorsicht bei der Verwertung des Ganser’schen
Symptomes bei Militfirgefangenen, bei denen er Simulationsversuche als
relativ b&ufig bezeichnete.
Das Material, das mir zur Verffigung steht, umfasst fiber 700 Falle,
die im hiesigen Vereinslazarette begutachtet wurden. Nicht in Betracht
gezogen wurde eine Anzabl von Fallen, die spfiter kriminell wurden,
und andere, fiber die nur kurze gutachtliche Aeusserungen erfordert
1) Henneberg, Deber Aggravation and Simulation. Nenrol. Zentralbl.
1917. Nr. 18. S. 765.
2) R6gis, Simulation de la folio et syndrome do Ganser. Revue de
m6decine llgale. 1912. 19. T. p. 226.
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Dr. Monkemoller,
wurden. Ausser Berecbnung blieben auch Kriminelle, die auf Grand des
§51 freigesprochen waren und sp&ter bei Nachprufung ganz eigenartige
Besserungen feststellen liessen und bei deneu andere Anhaltspunkte dafur
sprachen, dass die Angeklagten ihr geistiges Licbt erheblich unter den
Scheffel gestellt batten.
Die beobachteten F&lle umfassen einen, allerdings ziemlich grossen
Prozentsatz der in psychischer Beziehung verd&chtigen Elientel der
stellvertretenden 38. und 40. Infanterie-Brigade, des Gerichtes des stell-
vertretcnden 10. Armeekorps, des Gerichtes der Gefangenenlager des
10. Armeekorps sowie der entsprecbenden Untergerichte. Zeitweise
waren auch AngehOrige der 37. und 39. Infanterie-Brigade bier begut-
achtet worden, sowie vereinzelte AngehSrige anderer Truppenverb&nde.
Aber auf der einen Seite fielen nicht alle forensischen F&lle der hiesigen
Beobachtung zu und auf der anderen Seite bringt es die Lage Hannovere
an der bedeutendsten Verbindungslinie zwiscben dem westlicben und
dstlichen Kriegsschauplatze roit sich, dass hier gelegentlich eine ver-
h<nism&ssig grosse Zahl von AngehOrigen fremder Truppenteile strandet.
Zahlenm&ssig lasst sich aus diesem Materiale nichts folgern. Die
Hinzuziehung des Psychiaters hat sicb derart gesteigert, wie es im
Frieden auch von der ausschweifendsten Pbantasie nicht fur mOglich
gehalten worden w&re. Von Seiten der Milit&rgerichte wurde dem Her-
anspielen der Psychopathic in dies Gebiet die weiteste Recbnung ge-
tragen. Von der fruheren Neigucg, in ubertriebenem Masse Simulation
zu erkennen, war nicht die Rede. Im Gegenteii, in nicht wenigen Fallen
h&tten die Gerichte gerne auch dort noch Milde walten lassen, wo die
psychopathische Grundlage gewaltig von Simulationsbestrebungen uber-
wuchert war. Auch in der Milit&raTrestanstalt und im Milit&rgef&ngnis
haben sich die Beamten eine durchaus milde Auffassung und ein ver-
st&ndisvolles Erkennen psychischer Krankheitszust&nde angeeignet. Das
steigerte sich gelegentlich bei dem Massenandrang derartiger Elemente
zu dem unverkenobaren Bestreben, solche Kranke moglichst schnell an
das Lazarett loszuwerden, wenn sie durch eine Zuspitzung oder ge-
r&uschvolle Vorfuhrung zweifelhafter Symptome den Frieden des Ge-
f&ngnisses gestort hatten.
Jedenfalls stand hier ein Material zur Verfugung, wie es im Frieden
nie auch nur ann&hernd zur Beobachtung gelangt war. Hier liess sich
auch die allm&hliche Zunahme der psychopathischen Elemente feststellen
und gleichzeitig die Zunahme der Bestrebungen, das Ergebnis der Beob¬
achtung nach den Wunschen der Angeklagten zu wenden.
Im Nachstehenden habe ich nur 25 von den 55 Falien angefubrt,
bei denen die Frage der Simulation zu ernstlichen Bedenken Anlass
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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gegeben hatte. Ausgeschieden sind die Falle, in denen von Laien-
seite der Verdacht anf Simulation erhoben worden war, in denen sich
aber ohne Zweifel die Krankheitsbilder feststellen liessen, die in
der Regel bei Laien zn dieser falschen Auffassung Anlass gegeben
batten.
Unter den Krankbeitsformen, die im Milit&rleben am liebsten vor-
get&uscbt werden, gehfirt nach wie vor die geistige Schwfiche und zwar
wnrde bier mit besonderer Vorliebe die angeborene Geistes-
schwache bevorzogt.
Auch bierbei handelte es sich im wesentlicben nicbt urn die reine
Yortfiuscbung eines geistigen Schwachezustandes von Personen, die fiber
eine mittleren Ansprfichen genfigende Intelligenz verffigten. Gerade
solche Glemente, die nnter anderen Umstanden sich gehfitet batten, ihr
geistiges Veraagen zuzugeben, setzteo ihr erheblicb stark ere Lichter auf.
Das kam zunachst auch in den Fallen nicbt selten zn Tage, in denen
nur die Dienstfahigkeit festgestellt werden sollte. Weit mehr wie im
Frieden hatte sich herausgestellt, dass selbst nicht unerhebliche geistige
Schwfichezust&nde nicht genfigten, um die Dienstfahigkeit auszuscbliessen.
Waren doch die frfiheren Besucher der Hilfsschulen und die ehemaligen
FfirsorgezOglinge, bei denen die Anstaltsleiter die Militfirbehfirden mit
Rucl^icht auf den geistigen Tiefstand vor der Einstellung in das Heer
gewarnt hatten, ruhig Soldaten geworden und hatten sich zum Toil viel
besser bewahrt, als das nach theoretischen Anschauungen von vorn-
herein mfiglich erschienen ware. Hatte es auch sogar ein Soldat, der
frfiher 8 Jahre tang ZOgling der hiesigen Idiotenanstalt gewesen war,
bis zum Unteroffizier gebracht.
Fall 1. Jager Friedrich A., Arbeiter, 29 Jahre. Entfemt sich einige
Tage nach dem Diensteintritt unter Preisgabe seiner Dienstgegenstande. Ein¬
stellung des Strafverfahrens auf Grand eines Gutachtens, das nach den prak-
tischen Erfahrungen, die die Yorgesetzten im Dienst gemaobt hatten, einen
sehr erhebliohen Grad von Geistesschwache annahm. Gerade, weil
„diese Geistesschwache fast an Idiotie reiohe, sei Simulation
ganzlich ausgeschlossen. u
Bald daranf entfemt A. sich wieder von der Trnppe. Die in der Heil-
und Pflegeanstalt in L. durchgefuhrte Beobachtung kam zu dem Ergebnisse,
dass A. wohl geistig schwach veranlagt sei, dass aber der Grad der
Geistesschwache nioht als Strafaussohliessungsgrad angesehen werden konne.
Auf Grand der fiber sein Yorleben eingezogenen Erkundigungen sowie der in
der Anstalt fiber ihn gemachten Beobachtnngen mfisse vielmebr angenommen
werden, dass er seine intellektuellen und ethisohen Mangel absichtlich und
bewusst fibertreibe bezw. einwandsfrei simuliere. Darauf Wiedereroffnung des
Strafverfahrens.
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Nach den Angaben des Lehrers war er kein besonders begabter Schuler
gewesen, hatte es aber bis zur ersten Klasse gebracht. In der Lehre und in
seinen spateren Stellungen war er ganz brauchbar gewesen.
Weitere Erknndignngen des Gerichts ergaben, dass A. zeitweise den Ein-
druck eines nicht normalen Menschen erweokte, sich herumtrieb, nichts auf
seine Kleidung gab, ofters mit der Arbeit aufhorte and damme Reden fuhrte.
Mehrere Male ausserte er allerdings, er habe keine Lust zum MilitSr und
finge noch etwas an, urn dann loszukommen.
Das Gericht gewann den Eindruck offensichtlicher Simulation.
Anstaltsbeobachtung. In den ersten Tagen yerkroch er sioh stets
unter der Bettdecke. Spater sprach er nie yon selbst ein Wort, hielt sich auch
von den anderenKranken zuruck und gab anfBefragen keine Antwort, dabeihatte
er sich yon selbst an die Stationsarbeiten herangewagt and zeigte sich dabei
sehr anstellig. Die Station yersorgte er, obgleich die Zahl der Insassen sehr
stark wechselte, stets richtig, ohne dass an der Zahl jemals etwas gefehlt hatte
oder zuviel gewesen ware. Einmal erklarte er, er ware weggelaufen, er ginge
lijeber ins Gefangnis als ins Feld. Ein anderer Beobachtungskranker,
mit dem zusammen er yorher einige Wochen in Untersuchungshaft gewesen
war, teilte mit, dass A. ihm in der Haft ganz genaue Angaben iiber die Straf-
taten gemaoht hatte und in keiner Weise das Verhalten gezeigt hatte, das jetzt
bei ihm beobachtet wurde. Bei den Untersuchungen sass er anbeweglich da,
starrte mit blodem Blicke vor sich hin und gab nur abgerissen und eintonig
Antwort. Spater gab er sich uberhaupt keine Muhe nachzudenken, sondem
antwortete sofort: „dat weit ick nich. u
Die notwendigsten Personalien gab er an, musste sich aber lange be-
sinnen, wie er mit Vornamen hiess.
Auch bei der Intelligenzprufung antwortete er fast nur mit dem dusteren
„das weit ick nich. u Die Woche hatte bei ihm 5 Tage, welcher Tag nach
dem Sonntag kommt, weiss er nicht, die Uhr kennt er nicht. 1 X 1 rechnete
er richtig aus, 2 und 2 gelang ihm nicht mehr. Woher die Milch kommt,
wollte er nicht wissen, auch nicht, wozu sie verarbeitet wird. Ebensowenig
war ihm bekannt, welche landwirtschaftlichen Arbeiten in der jetzigen Jahres-
zeit verrichtet werden. Von landwirtschaftlichen Arbeiten, Pfliigen, Diingen,
Pflanzen, Stallreinigen wollte or gar nichts wissen. Wieviel und wie oft ein
Soldat Lohnung bekommt, war ihm unbekannt, schliesslich meinte er: „50 Mark
am Tage, u Geld wollte er nicht kennen, Lesen und Schreiben wollte er
nie gelernt haben. In der Sohule habe er sehr schlecht gelernt
und sei immer in der untersten Klasse gewesen. Sonst wollte er aus seiner
Kindheit nichts wissen. Einmal sei er mit einem Knuppel auf den Kopf ge-
schlagen worden. Er habe gern und yiel Schnaps getrunken. Spater habe er
bei einem Bauern gearbeitet und 6 M. in der Woche verdiont.
Ueber die ihm zur Last gelegten Straftaten war so gut wie
nichts herauszubekommen. Er antwortete mtirrisch ja oder nein, stierte
immer mit odem Blicke yor sich hin and murmelte Unverstandliohes in
sich hinein.
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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw.
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Die Symptome besagter Schw&che, die vor dem Militfirdienste nie
beobachtet worden waren, sind im wesentlichen nur den Vorgesetzten
und dem Beobachter angefubrt worden. Nachdeni er verurteilt worden
war, wurde die Strafvollstreckung ausgeset&t. Er gab dann das Ver-
halten auf, fuhrte sich gut, kam ins Feld und ist forensisch nicht wieder
bekannt geworden.
Fall 2 . Musketier Walter K., Landarbeiter, 22 J. Steht seit Dezember
1915 im Felde. Nach dem ersten Vierteljahre kam er wegen einer Fuss-
verletzung zuriick. Bis dahin, November 1916, Fabnenflucbt und eine kom-
plizierte Urkundenfalschung. 5 Jabre Gefangnis. Bis April 1917 in Strafhaft.
Dann Aussetzung der Strafe, fuhrte sich im Felde gut. Im Sommer 1917
wegen eines Blasenleidens in die Heimat. Zeichen von Nervenschwache sind
in den Krankenblattern nicht erwahnt. Schliesslich Diebstahle und unerlaubte
Entfernung. Zweimal entzog er sich der Verhaftung in sehr geschickter Weise
und pocbte darauf, er sei nervos.
Bei den Vernehmungen n^ph seiner Festnahme gestand er die unerlaubte
Entfernung ein und begriindete sie eingehend, erwies sich auch fiber die straf-
rechtlichen Folgen seiner Handlungen sehr genau unterrichtet. Er entschul-
digte seine Tat mit Nervensoh wache und bat zweimal um „facharztliche
Untersuchung u wegen eines Schankers. Auch hier keine geistige Abweichung.
Bei der facharztlichen Untersuchung macht er plotzlich einen „stark psyoho-
pathischen, krankhaft gehemmten w Eindruck und ersoheint der bewussten Vor-
tauschung nicht unverdachtig.
Anstaltsbeobachtung. Naoh den Ffirsorgeerziehungsakten kam er,
nachdem ihn der Umgang mit leichtsinniger Gesellschaft verdorben hatte, in
Ffirsorgeerziehung. Fleiss und Schulleistungen stets befriedigend, zuletzt
gut. Er neigte stark zum Liigen. Sonst gait er als normal. Spater in Stellung
bei einem Jahreslohn von 220 U. (als Ffirsorgezogling). Im allgemeinen fuhrte
er sich befriedigend. Der Zweok der Ffirsorgeerziehung wurde als erreicht
angesehen.
In den ersten Tagen der Lazarettbeobaohtung war Ka. besonders mfirrisch
gestimmt, sab immer fmster drein, sprach spontan nichts und war sogar un»
willig, wenn er angeredet wurde. Bei jeder Gelegenheit klagte er fiber Kopf-
schmerzen. Mit der Zeit wurde er immer lebhafter und beteiligte sich mit
grossem Interesse an Halma und Skat. Mit dem Reizen und Zusammenzahlen
kam er nicht gut mit, dagegen zeigte er sich bei Kartenkunststficken ausserst
gerieben. Yersohiodene Male versuchte er eine Nachricht an seine Frau heraus-
zuscbmuggeln.
Bei den Untersuchungen war er immer klar und orientiert, fasste gut auf
und konnte, wenn er wollte, sehr gut Auskunft geben. Vielfach zogerte er
mit der Antwort, fiberlegte lange und antwortete nicht oder nur mit einem
eintonigen „ja u oder „nein. u Den Fragenden sah er nie an, sondern nestehe
an seinen Fingern und seinem Zeuge herum. Bei der Intelligenzprfifung gab
er durchweg mangelhafte Antworten. Ueber die einfachsten landwirtschaft*
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lichen Verhaltnisse wollte er nicht Bescheid wissen. Um so aasgiebiger brachte
er in seiner Vorgeschichte alles an, was ihn als krank erscheinen lassen konnte.
In der Sohule habe er sehr schlecht gelemt und sei aus der 3. Klasse einer
Volksschule konfirmiert worden. Er bestritt sehr energiscb, jemals gerichtlich
bestraft worden zu sein, er sei auch niemals in Fursorgeerziehuug
gewesen. Aaoh beim Militar sei er nie bestraft worden, sei nie fahnenfluchtig
gewesen und sei nicht Soldat II. Klasse. Das mfisse ein anderer Ka. gewesen
sein. In seinen Angaben fiber seine militarischen Verhaltnisse widersprach
er sich fortgesetzt.
Die ihm jetzt zur Last gelegten Straftaten gab er in der ersten Zeit zn.
Er sei ohne Erlanbnis nach Hanse gefahren, weil er ins Feld gewollt habe.
Er schilderte dann seine Entfernang von der Truppe mit alien Einzelheiten.
Er bestritt sehr eifrig, si eh zweimal der Festnahme entzogen und die Aeusse-
rung wegen seiner Nervositat getan zu haben.
Bei den spateren Untersochungen wurde er dann ganz anders. Er trug
ein lappisches Wesen zur Schau. Die Augen riss er weit auf und starrte er-
staunt um sich. In kindlichem Tone erklarte er, er sei ja von der Truppe fort-
gezogen, das sei aber doch nicht schlimm, wenn man mal nach Haase gehe.
Bestrafen konne man ihn doch nicht, denn er gehe ja wieder ins Feld. Hier
wolle er nicht bleiben, denn er sei nicht geisteskrank, auch nicht dumm,
sondern ganz gesund.
Alle Vorhaltungen, die Wahrheit fiber sein Vorlebon zu sagen, prallten
von ihm an, er wurde sogar ganz unverschamt, als ihm die Ffirsorgeerziehungs-
akten vorgehalten warden. Die Briefe, die ihm vorgeworfen werden, habe er
nicht geschrieben, es sei ein ganz anderer Ka. Dabei entsprechen die Briefe,
die sich in den Akten vorfinden, ‘durchaus in Form, Schrift und Inhalt den
frfiheren Sohreiben.
Vor dera Milit&rdienst und in der Zeit seines Militfirlebens wird
nichts beobachtet, was seine geistige Gesundheit in Frage stellen kfinnte.
Erst spfiter ffihrt er selbst seine Nervositat ins Feld und zeigt dann bei
der Anstaltsbeobachtung ein Wesen, das allerdings seine geistigen Fahig-
keiten als wesentlich eingeschrfinkt erscheinen lassen musste.
Die auffallige Einengung seiner geistigen Fahigkeiten vollzieht sich
erst in der spateren Zeit der Anstaltsbeobachtung, nachdem er mit
Elementen zusammengesteckt hatte, die gleichfalls nicht dem Gerichte
fiber ihre geistigen Fahigkeiten restlos klaren Wein einzuschenken ge-
dachten. Der Verdacht, dass eine Dementia praecox in der Entwickelung
begriffen sei, liess sich nicht halten. Das auffallige Verhalten zeigte
er nur dann, wenn der Arzt sich mit ihm befasste. Sein spfiteres Ver¬
halten, — er hat sich auch in der Haft einwandsfrei gefuhrt —, hat nichts
erkennen lassen, was eine sekundfire geistige Schadigung erwiesen hatte.
Fall 3, Ffisilier Max Er., Arbeiter, 25 Jahre. Entfernte sich am
13. 3. 1917 von der Truppe. Vorher hatte er sich Zivil verschafft und erklarte,
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Dio Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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•or werde nach Holland tiirmen. Er werde, wenn er ergriffen werden sollte,
den wilden Mann spielen, um der Verurteilung zu entgehen.
Am 18.3.19 worde er ergriffen und auf dieSchreibstube seines Bataillons
gebracht. Als der Feldwebel eintrat, stand Er. trotzdem nicht auf, sondern
lacbte jenem ins Gesioht und ausserte auf polnisch, „Du bist verriickt w . Bei
der gerichtlichen Vernehmung gab er keine Antwort. „Er stellte sich an, als
ob er nicht im Besitze seiner Geisteskrafte sei. u In den Lazaretten, in denen
er friiher wegen seiner Schussverletzung sehr lange gewesen war, war er in
keiner Weise aufgefallen.
Anstaltsbeobachtung. Macht einen gehemmten und benommenen
Eindruck, wahrend er noch auf der Fahrt nach Langenhagen ganz munter und
redselig gewesen war. Angeblich konnte er nicht angeben, wo er gewesen sei
und bei welchem Truppenteile er gestanden habe. Auf alle Fragen erwiderte
er nur, er sei bei seiner Kleinen in Frankreich gewesen. Soldat sei er noch nie
gewesen. Sein Alter sei mindestens 37 oder 40 Jahre.
In der Folgezeit lag er meist mit geschlossenen Augen da und schien yon
den Vorgangen in seiner Umgebung gar keine Notiz zu nehmen. Wenn man
sich ihm naherte, begann er mit den Augen zu blinzeln. Einem andereu
Kranken, der sich mit ihm angefreundet hatte, erzahlte er, er stehe bei den
73ern, sei von der Truppe fortgelaufen und habe sich bei seinem Madchen
4 Tage aufgehalten. Er wisse ganz genau, was er getan habe. Sonst reagierte
er auf Fragen gar nicht oder antwortete erst nach langem Nachdenken, indem
er den Fragenden mit der Miene der aussersten Verstandnislosigkeit anstierte.
Auf die Frage, wieviel Finger die Hand habe, begann er sie sofort
zu zahlen, stierte dann gleich mit einem oden Blioke auf die Hand und
brachte keinen Ton mehr heraus. Dabei war aber sonst sein Gesichtsausdruck
ganz lebhaft und die Bewegungen frei.
Spater besohaftigte er sich mit Lesen, zeigte ein ganz unverkennbares
Interesse fur seine Umgebung und unterhielt sich lebhaft mit ihr. Sobald aber
der Arzt kam und irgend eine Auskunft von ihm haben wollte, versagte er so¬
fort. Nach mehreren Tagen fragte er, wo er sich befinde. In Frankreich sei
er noch erst gewesen und seine Kleine wohne in Hannover. Dabei sprach er
in einem affektiert kindlichen Tone, indem er dazu siisslich lachelte.
Gleiohzeitig versuchte er an seine „Kusine u einen geordnetenBrief durch-
zuschmuggeln, in dem er mitteilte, dass er in Langenhagen zur Beobachtung
sei. SpSter wurde er ganz lebhaft und unterhielt sich angeregt, wobei er sofort
den Anschluss an die kriminellen Elements fand. Hier gab er genaue Aus¬
kunft fiber seine Kriegserlebnisse, die sich mit dem Akteninhalte vollkommen
deckte.
Sobald der Arzt erschien, senkte sich der Schleier der ausgepragtesten
Verblodung fiber ihn herab. Zur Beantwortung der einfachsten Fragen ge-
brauchte er unendlioh lange Zeit. Ein fades Lacheln thronte auf seinem Ant-
litz. Nun wusste er weder Ort noch Zeit, konnte nicht angeben, wann er ge-
boren war, ob er Geschwister habe, und hatte Seinen Zivilbertif vergessen. Er
wusste auoh nicht, dass er Soldat und im Kriege gewesen war.
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Dr. Monkemoller,
2X2 war nach ihm 6. Die Zahl seiner Ohren gab er nach langem
Zahlen mit 5 an. SeinenVornamen konnte er erst naoh reiflichster Ueberlegung
nennen.
Nachdem er spater einmal auf der Abteilnng angegeben hatte, bei welchem
Eegimente er gestanden hatte, wann er eingezogen worden war and welche
Gefechte er mitgemacht hatte, verfiel er, als er unmittelbar darauf in das Unter-
suchnngszimmer gekommen war, ohne weiteres in seine Blodigkeit. Er rekelte
sich grinsend auf dem Stnhle herum und befleissigte sich einer uberaos
lappischen Ausdracksweise. Hinterher war er sofort wieder ganz geordnet and
korrekt.
Gelegentlich spielte er Karten mit und erwies sich dabei ganz gerissen
und seinen Gegnern gewachsen.
Im Untersuchungszimmer sohnellte er auf die Frage naoh seinem Vor-
namen vom Stnhle empor and briillte: „Maxe u . Nach seinem Zunamen gefragt,
machte er eine sehr lange Pause and nannte dann in fragendem Tone seinen
Namen. Seinen Geburtstag wusste er nicht, da sei er nioht bei gewesen. Dann
gab er einen falsohenMonat und alsJahreszahl 1904 an. Hier sei er imLangen-
hager Lazarett seit gestern (3 Wochen). Weshalb man ihn hergelegt habe,
konne er nicht sagen, sei er ja doch der Gesundesten Einer. Der Referent sei
sicher ein Lehrer, weil er so viel schreibe, seinen Namen konne er doch nioht
wissen. (Hatte ihn am selben Tage naoh einem anderen Kranken genannt.)
Noch nie sei er beim Militar gewesen. Woher er gekommen sei, sei ihm ganz-
lich unbekannt, zuletzt sei er immer hier in der Stube gewesen. Im Krieg sei
er nicht gewesen, es gebe doch uberhaupt keinen Krieg. Wo er geboren sei,
konne er nicht sagen, das sei in Oberschlesien oder sonstwo gewesen: „das
kannVor-Oder Nach mittag gewesen sein. Er sei hinten in dieSchule gegangen,
einen Lehrer habe es nicht gegeben, jetzt sei aber schones Wetter und da konne
man spazieren geben. a
2 X 2 = ja ja, auch Karten habe ich gespielt, da sagt man so was
wie 5.
3X3= (zahlt lange an den Pingern herum und sieht den Arzt mit
einem bidden Blicke an, ohne ein Wort zn sagen. Als ihm vorgehalten wird,
dass man ihm die Simulation nicht glaube, lachelte er hohnisch und erklarte,
er verstehe uberhaupt nicht, was man von ihm wolle).
In der Hauptverhandlung war das ganze lappische Wesen ganzlich Ton
ihm abgefallen. Er gab prompt Auskunft, folgte dem Gutaohten mit ausberstem
Interesse, aber berief sich nooh auf eine gewisse NerTOsitat, ohne an der
schweren Geistesschwacbe festzuhalten.
Er. hatte die geistige Schwache, die er in der Anstalt vorfuhrte
und vorher rechtzeitig in Aussicht gestellt hatte, im allgemeinen nur
dem Arzte vorgefuhrt. Darin, dass es derartige Individuen nicht fur
ndtig halten, unentwegt daran festzuhalten, spricht sich die minder-
wertige Anlage aus, die wir ja unterschiedslos bei ihnen nachzuweisen
imstande sind. Er hielt auch nur fur die Zeit der Anstaltsbehandlung
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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw.
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daran fest und als er gesehen hatte, dass er mit dem Eopfe nicht
durch die Wand konnte, liess er die Maske unbedenklicb fallen.
Fall 4 . Rekrut Georg Ru., Landwirt, 21 Jahr. Am Tage vorher vor
seiner Stellung scboss er sich mit einem Jagdgewehr in die linke Hand. Nach-
her ging er zu einem Arzte und liess sioh verbinden. Dieser besoheinigte ihm 9
dass er sich nicht stellen konne.
Als Ru. duroh den Gendarmeriewachtmeister vernommen wurde, erklarte
er, dass er seit langerer Zeit an Magenschmerzen leide. Deshalb habe er sich ins
Bett gelegt, sei aufgestanden, im Zimmer dmhergezogen und musse so an das
Gewehr gekommen sein.
Allgemein wurde eine absichtliche Selbstverstummlung angenom-
men. Der Landrat bemerkte zu dem Berichte, die ganze Familie habe sich
wahrend der ganzen Dauer des Krieges durch eine vaterlandslose Gesinnung
ausgezeichnet. c
Dienst tat er spater iiberhaupt nicht. Er meldete sich wegen Schmerzen
in der linken Bauchseite sofort krank. Der Beirat fur innere Krankheiten
stellte einen chronischen Magenkatarrh fest. Er sah Ru. als Psychopathen
an. Im Lazarett lag er immer im Bett und dachte fiber seinen Zustand naoh
und hatte zu keiner verstandigen Beschaftigung Neigung. Fiir seine Umgebung
zeigte er kein Interesse, nie beteiligte er sich an der Unterhaltung. Der Ge-
sichtsausdruck war niedergeschlagen. Aufforderungen fuhrte er langsam mit
einem deutlichen passiven Widerstande aus.
Ru. blieb dabei, er konne sich auf nichts besinnen, denn er sei infolge
heftiger Magenschmerzen ganz von Sinnen gewesen.
Der Gutachter erklarte eine solche Wirkung der Magenbeschwerden
fur hochst unwahrscheinlich, doch hielt er es auf Grund der bestehenden
Psychopathie fur moglich, dass er sich tatsachlioh wahrend der Tat in einem
<lie freie Willensbestimmung aussbhliessenden Zustande befunden habe.
In der Hauptverhandlung erklarte der Saohverstandige ihn fiir geistes-
schwach, aber nicht fur geisteskrank im Sinne des § 51. Der gegenwartige
Zustand sei ubertrieben. Denn er habe selber beobachtet und zum Teil auch
Ton anderen gehort, dass Ru. regelmassig die Zeitung lose, Karten naoh Hause
scbreibe, sich mit seinem Yater fliessend anterhalte, plotzlich aber dann gar
nichts mehr sage, sobald er bemerke, dass er beobachtet werde.
Wahrend der Verhandlung benahm Ru. sich so, als konne er nicht folgen.
Er behielt die Miitze auf, gab keine Antwort, konnte nicht einmal seinen Vor-
namen und mit Miihe seinen Familiennamen nennen, hSrte nioht zu und war
wie geistesabwesend.
Naoh der Verhandlung verstand er alles und sprach bei einem Streite,
den er mit anderen Kranken der Station hatte, frei und fliessend.
Der Gendarm hatte Ru. als einen vemiinftigen Menschen kennen gelernt,
<der sich gelegentlich eines Verdaohtes wegen Jagdvergehens sogar recht ge-
schiokt verteidigte. Der Hausarzt vermochte fiber seinen Geisteszu-
stand nichts auszusagen. Der Hauptlehrer bezeiohnete ihn als einen
Arehir t Psyehi&trie. Bd. 60. Heft 2/3. ja
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gaten Durchschnittsschuler, dessen Geisteszastand ihm wahrend der
Schulzeit nicht aufgef&llen sei. Der Pastor gab an, er sei immer rnhig, still
and niedergedrdckt gewesen. Er erkannte das aber nicbt alseinennor-
malen Geisteszastand an. Daraaf Beobacbtang im Anstaltslazarett Hildes-
beim (Oberarzt Dr. Grimme). Wahrend der ganzen Beobachtung lag Ra. meist
rabig im Bette. Der Gesichtsausdruck war blode, ein Mienenspiel kaam za
bemerken. Die Aagen waren ins Leere gericbtet. Yon selbst spraoher nie,
redete man ihn an, so wandte er den Eopf nach der Seite. Die Stimmang
war gedrdckt, sehr oft kam er ins Weinen, wenn die Rede auf seine Straftat
gebracht wurde. Seine Lage im Bette yeranderte er nicht, nnr beim Essen
ricbtete er sich auf and ass langsam. Zum Klosett ging er stets allein.
Nach dem Aufstehen stand er dann mit leicht vorabergebeugtem Korper da,
streckte beim Geben den Kopf nach vorne and verfiel bald in ein leichtes
Zittern.
Auch bei den Besuchen seiner Angehorigen blieb er rollkommen wort-
karg. Nur in den letzten Tagen der Beobachtnng wurde er freier, bewegte
sioh sohneller, sprach von selbst and zeigte ein gewisses Interesse fur seine
Umgebung.
Ueber seine Straftat machte er dieselben Angaben wie fruher. Er wisse
nicht, wie die SchussverletzuDg zu Stande gekommen sei, da er in diesem
Augenblicke ohne Besinnung gewesen sei. Er entsinne siob nur, dass er den
ganzen Tag wegen seiner Magenschmerzen im Bette gelegen habe und spat am
Nachmittage aufgestanden und dabei schwindelig geworden sei. Erst in der
Kuche sei er za sich gekommen. Da babe er gemerkt, dass er geblutet habe.
Was er mit dem Arzte verhandelt habe, konne er nicht sagen. Von seinen
Eltern sei er nicht angestiftet worden. Trotz der Verwandung habe er sich
stellen wollen, sei aber vom Arzte abgehalten worden.
Der Verdacht auf Simulation, der beinahe zur Stellung des ent-
sprechenden Strafantrages gefuhrt h&tte, war im wesentlicbea dadurcb
hervorgerufen worden, dass Ru. sp&ter ein Verhalten darbot, das in auf-
fallendem Gegensatze zu seinem sonstigen Gebahren stand. Dabei war
er zeitweise aus diesem Zustande berausgefallen.
Immerhin hat er sp&ter lange Zeit dasselbe Verhalten dargeboten,
das Bich im wesentlichen mit einem Stuporzustande deckte, dessen
Einzelheiten ihm unmdglich bekannt sein konnten. Ohgleich er sich
lange auf den verschiedensten Wachabteilungen befand, ist er nie einen
Augenblick aus der Rolle gefallen und wenn sich sp&ter dieser Stupor
in klinisch einwandsfreier Weise ldste, so entspricht das kaum dem
Wesen eines Simulanten, der so lange ohne Schwierigkeit seine Kunste
hatte spielen lassen.
Wie es zur Zeit der Tat damit bestellt gewesen war, liess sich
nicht mit Sicherheit sagen, da das Material fur diese Zeit recht dilrftig
war. Obgleich aber das Auftreten eines Bewosstseinsverlustes im Sinn»
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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw.
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eines Dammerzustandes lediglicb im Aoscblusse an eine Magenerkran-
knng immerhin recht verd&chtig war, musste man bedenken, dass es
sich ohne jede Frage am eioen Psychopathen handelte, der in kdrper-
licher Beziehung nicht sehr leistungsfabig war.
So genugte das Material eben nicht, am ihn der Simulation zeihen
zu kdnnen und wenn das Verfahren gegen ibn eingestellt wurde, war
das praktisch die beste LSsung der Frage.
In diesem Falle musste sebr energiscb die Tatsache erwogen werden,
dass ein beginaendes Jugendirresein im Spiele sein konnte.
Die Dementia praecox beansprucht aber gerade, was die Simulation
bei Militarpereouen anbetrifft, eine gauz besondere Bedeutung.
Sie fallt gerade das Lebensalter, in dem der Militardienst aus-
geiibt werden muss. Und wenn sie. auch eine durcbaus endogene Krank-
heit ist, kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass die Strapazen
des Kbrpers ihren Ausbruch beschleunigen und sie unter ungewOhnlicben
Umstanden ins Leben treten lassen.
Dabei ist gerade das Gekunstelte und Theatralische, was so manchen
Ansdrucksformen dieser Krankheit anhaftet, durcbaus geeignet, nicht
nur bei Laien den Verdacht auf Vort&uschung zu erwecken. Das an-
scheinend Widerspruchsvoile in ibrem Wesen, der, Mangel an Folgerichtig-
keit in ihren Symptomen, der jahe und unverwickelte Wechsel in ihren
Krankheitserscheinungen, das Auftreten geordneter Augenblicke und
selbst lingerer Zeitraume milssen um so mehr befremden, wenn der
Betreffende einen Anlass zu haben jscheint, bewusst mit seinen Krank-
heitssymptomen zu hantieren. Die schleichenden Anfangsstadien dieser
Krankheit bleiben der milit&rischen Umgebung nur zu oft verborgen
und so ttberrascht das sturmische Auftreten der Krankheit in forensisch
bedeutsamen Augenblicken um so mehr.
Die Neigung zu krimineller Bet&tigung ist an und fur sich schon
fur diese Stadien der Krankheit bezeichnend. Die Delikte, die hier
besonders in Betracht kommen, die unerlaubte Entfernung, die Fahnen-
flacbt, die Achtungsverletzung, die Gehorsamsverweigerang und der
Angriff auf Vorgesetzte werden durch die Krankheitssymptome dieser
Krankheitsperiode begunstigt. Diese Krankheit bildet sich unter den
Eiuflossen der Haft zu einer ger&uschvollen und lirmenden Ausdrucks-
form um, w&hrend die Straftaten selbst noch in die ruhigeren Phasen
bineingefallen waren. Da das Krankheitsbild noch nicht fest umrissen
und das Jugendirresein gelegentlich die Neigung zeigt, unter dem Drucke
der milit&riachen Disziplin und der unbewussten Widerspruchsgeste
gegen die scta&rferen Anforderungen der straffen milit&rischen Zucht
sich noch zerfahrener und zerrissener zu geberden, als sie es scbon
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fur gewfihnlich tut, so muss die Betrachtung dieses eigenartigeu Weseus
im falscben Lichte noch leichter aufkeimen.
Es ist daher kein Wunder, dass, wie Bennecke 1 ) es in einem
grossen Teile seiner Falle feststellen musste, bei diesen Pseudosimulanten
an Verstellung oder Uebertreibung gedacht oder sie wenigstens fur
verstockte, bdswillige und renitente Menscben gehalten wurden. Er be-
obachtete das naturgem&ss besonders in solchen Fallen, in denen sie
im Gegensatze zu ihrem sonstigen theatralischen Wesen, das sie den
Beobachteru gegenuber zur Schau trugen, zwischeudurch orientiert und
gerade in prozessualen Dingen besonders gut orientiert gewesen waren,
oder; wenn sie auf eindringlicbes Zureden vorubergehend das an-
scbeinend affektierte Wesen abzulegen vermocbten.
Man muss sieh eben daran erinnern, worauf scbon Scbultze 2 ) ein-
dringlich hinwies, dass bei der Dementia praecox, was die psychischen
Symptome anbetrifft, einfach alles mbglich ist, vom scheinbar tiefsten
Blddsinn bis zur maniakalischen Ausgelassenheit, von der ausgesprochen-
sten Depression bis zu einem Grbssenwahn, dessen sonst nur der Para-
lytiker fur fabig gehalten wird, von der tiefsten gemiitlichen Gleich-
gultigkeit bis zur grdssten Reizbarkeit und Empfindlichkeit, von einer
klaren Diktion bis zuro krausesten Wortsalat.
Der Parallelismus der Simulation mit der Dementia praecox gipfelt
im wesentlicben in diesem widerspruchsvollen Wesen. Man wird sich
daher in alien Fallen, in denen eine Dementia praecox in Frage
kommen kann, noch eine grossere Vorsicht auferlegen mussen, als
sie sonst scbon bei der Beurteilung der Simulationsmdglichkeiten
die Regel sein muss. Der Grundsatz des In dubio pro reo wird uns
bier oft nOtigen, die Frage der Vortauschung ganz fallen zu lassen
und auch dann noch die Mdglichkeit einer Krankheit gelten zu lassen,
wenn wir uns von dem Verdachte auf Simulation nicht ganz losreissen
kdnnen.
In mebreren derartigen Fallen baben wir die Einstellung des Ver-
fahrens und die Wiederaufnahme zu einer Zeit vorgeschlagen, in der
sicb ein sicheres Urteii ermOglichen liess.
Immerhin musste man auch in einzelnen Fallen, in denen das
Jugendirresein mit in den Kreis der Betrachtungen gezogen werden
musste, bei Annahme der schwersten Uebertreibung und Simulation auf
Zurechnungsfahigkeit herauskommen.
1) Bennecke, Dementia praecox in der Armee. 1907. S. 94.
2) Sohultze, Ueber Psychosen bei Militargefangenen nebst Reform-
vorschl&gen. 1905.
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Fall 5* Musketier Max Qu., Kaffeehausmusiker, 25Jahre. Am 1.7.1915
wurde Qu., dor im Biirgerquartier lag, Bettruhe verordnet. Zwei Tage spater
wurde er fliichtig uuter Mitnahme von Wertgegenstanden, Kleidern und einem
Fahfrad. Er ubemacfatete in Braunschweig, liess seineUniformsachen zuruck
und verschwand unter Mitnahme eines Herrenanzugs und eines Portemonnaies.
Am 30. 7. wurde er in Passau mit seiner Geliebten verhaftet, naohdem
er mit ihr in den verschiedensten Stadten umfangreiohe Gasthofdiebstahle aus-
gefuhrt hatte.
Bei seiner Vernehmung gab er an, er sei auf eigenen Wunsch aus dem
Gefangnisse eingestellt worden. Das sei bekannt geworden, man habe An-
spielungen darauf gemacht, vor allem, naohdem einem Kameraden ein Geld-
betrag entwendet worden sei. Das habe er sich so zu Herzen genommen, dass
er nach Braunschweig gefahren sei. Ueber Frankfurt, Aschaffenburg,- Niirnberg,
Regensburg sei er nach Passau gefahren.
Am 1. 9. 1918 richtet er noch eine vollig geordnete Eingabe an das
Kriegsgericht, in der er die Tat mit alien ihren Einzelheiten schilderte.
Am 5. 9. schrieb er plotzlich dem Gerichtsherrn, er sei nach Empfang
dieses prinzliohen Schreibens seines Postens enthoben. Er ernenne ihn zu
seinem Geheimsekretar. Er selbst sei in deutscher Gefangensohaft und es sei
eineSchande, dass dem Prinzen von Marokko so etwas passiere. Man habe
sogar gegen ihn Meuchelmorder gedungen. Der Gerichtsherr moge sich mit
seiner prinzlichen Schwester in Verbindung setzen. Hindenburg liege auch da
krank, wo er selbst liege. Die Hauptsache sei, dass die unsiohtbare Luftflotte
funktioniere.
An seine Schwester schrieb er gleichzeitig, dort, wo er sei, seien alle
Leute verruckt, nur er sei von diesem Uebel verschont. Diese Krankheit komme
aus Frankreich und Russland. Er habe ein Patent erfunden, mit dem er ganze
Regimenter vernichten konne. Der Kaiser von Marokko werde ihn zum Prinzen
ernennen.
Anstaltsbeobachtung. Bei der Aufnahme behauptete er, wild urn
sich stierend, er sei der Prinz Marokko und gerade 14 Jahre alt geworden.
Ein Taschentuoh, das er sioh um den Kopf gebunden hatte, bezeiohnete er als
seinen Turban. Sein Schiff habe er telegraphisch besteilt, es stehe bereits vor
der Ture. Hier sei er in Amerika, seinen Hunger habe er in Marokko gelassen,
dafiir habe er sich einen Korb mit Hiihnern mitgebracht. Sobald sich eine
Fliege auf sein Bett setzte, erklarte er jammernd, das seien Papageien und
Schlangen aus dem fernen Orient.
Zur Untersuchung erschien er in unordentlicher Kleidung und erklarte
achzend, er konne den Hosentrager nioht mehr zuknopfen, da er zu schwach
dazu sei. Dann steckte er die Hande in die Rockarmel und behauptete, hier
sei es furohtbar kalt, an so eine Kalte sei er von Marokko her nicht gewohnt.
Dann stierte er fassungslos im Zimmer herum und meinte in kindliohem Tone,
in diesem Palaste sei es dooh zu fein.
Hier sei er wohl in einem Soldatenhause und der Doktor miisse wohl so
eine Art von Arzt sein. Dass die Anderen alle knatschgock seien, habe er gar
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nicht bemerkt. Er sei tod oben bis onten gesund und wolle zur s^lben Stand©
als tapferster Held in den Krieg ziehen. Ebenso babe er einen Brief gekriegt,
da stehe eine 5 darauf, also masse heute der 8. November 1820 sein.
Nachdem er dies Verhalten mehrere Tage durchgeffihrt hatte, wurde er
energisoh angefasst. Daranf uberlegte er langere Zeit, gab kleinlaut seinen
richtigenNamen an and erklarte weinerlioh, derPrinzvonMarokko sei er nicht,
davon babe er noch nie ein Wort gesproohen.
Aaf Befragen gab er dann seine Vorgescbichte ldokenlos an. Schon fruh
sei er in ein Waisenhaas gekommen — so nenne man doch so was. In Fdr-
sorgeerziehang sei er noch nie gewesen. Tatsachlioh war er vom 6. Lebens-
jahre ab danernd in einer Fdrsorgeerziehangsanstalt gewesen. Im Waisenhaase
habe man ihn bis za seinem 20. Lebensjahre gefangen gehalten, weshalb die
bosen Lent© das getan hatten, konne er nicht sagen. Naohher habe man ihn
auch zam Militar getan, aber er habe seine Feinde nicht besiegen ddrfen, weil
er immer za viel Blasenkatarrh gehabt habe. Dann hatten ihn die Leate aach
immerza so farohtbar mit Gefangnis yerarteilt and so sein ganzes Leben
verpfascht.
Bis dahin hatte er immer noch in kindiich-trotzigem Tone gesproohen,
einen unendlich oden Gesichtsaasdruck zar Schau getragen und sich uberhaupt
so geberdet, als sei er der Vertreter eines riesenhaften Schwachsinns.
Als ihm noch einmal liebevoll-kraftig ins Gewissen geredet wurde, fing
er an, heftig zu weinen and sprach von nun an in yollstandig verandertem
natdrlichem Tone weiter. Man moge doch bedenken, was er alles durchzu-
maohen gehabt habe. Schon mit 6 Jahren habe man iho in die Fdrsorge*
erziehang and gleichsam in das Gefangnis gestossen. Die Fursorgeerziehung
habe ihn yollstandig verdorben and da habe er aach gelernt, wie man
sich verstellen kSnne and masse. Das dbrige habe er in den Gefang-
nissen dazagelernt, aus denen er seitdem so gut wie gar nicht heraus-
gekommon sei.
Im Grunde seiner Seele sei er ein ganz gutmutiger Kerl, nur sei er zu
willensschwach and mache dann immer gleioh seine Dummheiten.
Von dieserZeit an entsagte Qu. alien angefiihrten Erankheitsersoheinungen
yollstandig. Er sprach in naturlichem Tone and liess die theatralischen
Gestikulationen, von denen er bis dahin sehr reichlich Gebrauoh gemacht hatte,
ganzlich fallen.
Die Gefangnisstrafen habe er glatt abgemacht. Nie sei es ihm
hier schlecht za Mate gewesen, hochstens habe er einmalKopfschmerzen gehabt.
Nie habe er Sinnestauschungen oder Wahnvorstellungen gehabt.
Wobl aber habe er Geisteskranke im Gefangnisse gesehen and
so sei er aufden Ge dan ken gekommen, es jetzt aach einmal dam it
zu probieren, um um die Strafe herumzukommen.
Das ganze Verhalten des Angeklagten war so barock, wie wir es
mit besonderer Vorliebe als Zustandsform des Jugendirreseins in der
Haft entstehen sehen. Trotzdem konnte das Eintreten einer Haftpsychose
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mit grdsster Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Qa. hatte
wiederholt aach l&ngere Freiheitsstrafen ohne jede Sch&digung uber-
«tanden und stritt selbst spater alle unangenebmen Einflusse der Haft
ond der durch sie bedingten krankhaften Erscheinungen mit grdsster
Entschiedenheit ab.
Wenn er nachher alle seine Simulationsmatzchen vollkommen fallen
liess und sogar ein Gestandnis ablegte, so konnte man diesem unbedenk-
lich Glauben schenken.
Gewiss muss man bei derartigen Eiugestandnissen Vorsicht walten
lassen. Man findet ja gelegentlich, dass auch die Selbstbezichtignng
psychopathologisch bedingt sein und als Krankheitssymptom einer Psy-
chose auftreten kann fSerog 1 )].
Aber das sind doch nur verhaltnismassig seltene Falle. Kommt
es zu einer derartigen Selbstbezichtigung, so wird die tatsacbliche psy-
ebische Krankheit in ihren sonstigen Zugen in der Regel so deutlich
ausgeprSgt sein, dass sie den Unwert des Gestfindnisses darzutun im-
stande ist.
Hier, wo der Angeklagte auch noch often angab, wie er zu seinen
Simulationskunsten gekommen war, konnte man sich mit diesem Ein-
gestlndnisse ruhig zufrieden geben. In der Regel wird man daranf ver-
zichten mussen, ein solches Gestandnis zu erzwingen. Die meisten
Delinquenten wissen natQrlich gaoz genau, was fur sie auf dem Spiele
steht, und wenn sie auch mit ihren Machenschaften aufbOren, gestehen
sie docb nicht ein, dass sie der Vortauschung gehuldigt haben. Man
ist meist gezwungen, aus dem sonstigen kliniscben Verhalten die Un-
ecbtheit des vorgefuhrten Erankenbildes zu erweisen.
Fall 6. Ersatzreservist Otto Ta., Lakierer, 28 Jahr. In der Kindheit
englische Krankheit und Fall von einer Kellertreppe. Kam in der Sohule bis
zur zweiten Klasse. Verdiente in seinem Berufe sehr gut. lm Zivil mehrere
Male bestraft. Bei Kriegsausbruch eingezogen, kam bald ins Feld.
1915 Handschuss und Verscbuttung. Spater wegen Trippers und Rheu-
m&tismus in 12 Lazaretten. Kam von einem Truppenteil zum anderen, kam
immer wieder nach kurzem aus dem Felde zurnck. Mehrfach bestraft, weil er
ohne Urlanb ron der Truppe fortgegangen war. Zweimal wegen Diebstahls zu
Gefangnis verurteilt. Die Strafen brauohte er nieht abzumachen, da sie jedes-
mal mit einer Amnestic zusammenfielen.
Am 4. 7. 16 entfernte er sich Ton der Truppe. Naoh 3 Tagen Terhaftet
Selbstmordversuch. Beobachtung im Reservelazarett.
1) Serog, Zwei Falle von krankhafter Selbstbezichtigung der Simulation.
Med. Klinik. 1916. Nr. 42.
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Dr. Monbemdller,
Hier wollte er von der ganzen Zeit seiner Entlassung nichts wissen. Er
gab eine schwere erbliche Belastnng an und wollte seit Jahren an
Kr&mpfen leiden. Er wurde als minderwertig, aber zurechnungsfahig
begutachtet.
Spater kam er in eine Arbeiterkompagnie. Als nach einigen Wochen ein
Kamerad den Wansch ausspraoh, nach Leipzig zu kommen, macbte er ihm die
Entweichung mundgerecht, dann packte er seine Sachen and gab an, es solle
Gesohaftsordonnanz werden. Am verabredeten Tage ging er mit Th. zum Bahn-
hof, nabm eine Bahnsteigkarte und stieg in einen Zug, der nach Leipzig durch-
fuhr. Eine Station vorher stiegen sie aus, drangten sich durch die Sperre und
hielten dabei die Bahnsteigkarten verkehrt herum. In der Folge begingen sie
viele Diebstable und Betrugereien.
/Die Geschadigten hatten bei ihm nichts Aurfalliges bemerkt. Nach drei
Wochen festgenommen, benahm sich Ta. so auffallend, dass er einem Lazarett
zugefuhrt wurde. Er erklarte hier, er habe auf der Strasse eine unbekannte
Frau mit einem Dolche erstochen und das ganze Begrabnis mit angesehen. Er
habe sich umbringen wollen, sehe aber kein Blut. In naiver Weise bat er,
man moge ihm doch eine Gabel geben, da er das Leben satt habe. Von Zeit
zu Zeit jammerte er lebhaft, der Leichenzug sei so gross gewesen und er
furchte, auch seinen Bruder erstochen zu haben.
„In der Folgezeit klagt er oft uber Sinnestauschungen, vor allem der
angeblich gemordeten Frau, die ihn aber nur wenig erregt. Die angstliohe
Erregung ist nicht besonders stark, er lasst sich stets duroh einige Worte be-
einflussen und lenken. u
Hautabschurfung am Oberschenkel erklart er duroh Ueberfahren durch
den Leichenwagen. Sein Herz habe ihm 34 Stunden auf der Brust gelegen,
dann sei es wieder hineingesprungen. Als er sich beim Anziehen des Hemdes
nicht gleich in den Aermel findet, behauptet er jammernd, man habe ihm den
ganzen Arm fortgenommen.
In den naohsten Tagen hatte er sioh bei der Visite malerisch mit einem
Bettuche drapiert. Er warte jetzt auf den hohen Befehl. Sechs Exzellenzen
wollten ihn im Auto abholen. Er verlauge bei der Visite ganz verniinftig den
Arzt allein zu sprechen. Plotzlich sprang er auf diesen zu: „Warum lasst Ihr
mich nicht zu meinem Bruder. a Am selben Tage erzahlte er einem andern
Kranken genau, wie er mit Th. einen Fluchtversuch unternommen habe. Am
naohsten Tage teilte er dem Arzte mit grinsendem Gesiohte und in einer eigen-
tiimlich abgehackten Sprache mit, er sei jetzt wieder k. v.
Schon jetzt hatte man dringend den Verdacht der Simulation.
Bei einer Intelligenzprufung war er personlich, ortlich und zeitliohschlecht
orientiert. Er las stockend, viele Worte liess er aus, andere buchstabierte
er in singendem Tone und verfolgte die Zeilen mit dem Zeigefinger. Zum
Schreiben seines Namens brauchte er uber eine Minute und sohrieb weit aus-
fahrend und die letzten Buchstaben ganz in unleserliche Krakel auslaufen
lass end.
3X4 = 8 (nach sehr langem Zahlen unter Zuhilfenahme der Finger).
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„Wenn Sie 5 Zigaretten haben und bekommen noch zwei geschickt, wie-
▼iel sind das? u
Hat yersuobt vergeblich die Aufgabe durch Abzahlen an den Fingern zu
losen. Dann nimmt er einen Einmarkschein beraus und sagte plotzlich: „Fur
dieses Geld bekommt man 6 Zigaretten. u Dann rechnete er nochmals nach,
indem er mit dem Fingernagel immer Einkerbungen in den Rand des Scbeines
machte.
10 -|- 4? (fangt nach einer Weile an zu weinen: „Die Leute sollen mich
lassen, ich mache ja meine Arbeit. u )
8 — 2? Rechnet wieder mit den Fingern und den Einkerbungen und
kommt nach 5 Minuten zu der richtigen Losung.
Hauptstadt yon Deutsbhland? . (Zuerst spricht Ta. in abgebrochenen
Satzen yon seiner Heimat, rat dann auf Leipzig „da liegt Sie ja ooch Milidar.“
Kaiser? „Der ist im Feld in,-der heesst Sie ja Herzog Friedrich. u
"Wo wohnt er im Frieden? („In Saalfeld, ich war in Saalfeld un der
Genig Willem ooch.“)
Name nnserer Feinde? „Frankreich, sonst niemand. Als ein anderer
Kranker aniangt, stereotype Reden zu fuhren, bricht Ta. in Weinen aus und
beklagt sich, dass Jener ihn schimpfe.
Wer ist noch unser Feind? „In Russland is mein Bruder gefallen, zwei-
mal 4 ist 9.“
Bundesgenossen? ^Deutschland stosst Russland, Blut soil iliessen . . .
Russland, England, Deutsohland, . . . bitte, wir wollen weitermachen. u
Unsere Bundesgenossen? („Holleben, das ist das grosse Land, die kost-
baren Lander. u )
Wieviel Manate? (Naoh langem Zogern, „30 so oder so u .)
Aufzahlen! ( n Januar, Mai . . . ne . . . 16. Mai 14. . . ne September . . .
wir liegen jetzt im Bett. . . sanber sein . . . kommissarisch verwandt. u Trotz
aller Bemuhungen ist er nicht auf die gestellte Frage zuruckzubringen.)
Sehr haufig bricht er in weinerliche Klagen aus, sobald die Visits kommt
und spricht yon seinem begrabenen Bruder. Einmal ausserte er, es sei Gift
im Essen, nachdem sein Bettnachbar dasselbe geaussert hatte.
Wenn man ihn zuredete, brach er sofort in Weinen aus und bat, man moge
ihn doch in Ruhe lassen.
Naoh 3monattger Beobachtung wurde er nach Langenhagen
rerlegt.
In der ersten Zeit war gesagt worden, dass wahrscheinlich ein Dammer-
zustand yorlioge. Dass Ta. forensisoh war, war im Lazarett nicht bekannt.
Das Schlussgutachten lautete: Ta. steht im dringenden Verdachte,
dass er simuliert. Sobald man sich mit ihm eingehend beschaftigt, macht
er sinnlose Einfalle, die ebensogut auf eine Hebephrenie schliessen lassen
konnen.
Als er bei der Ankunft in Hannover gerichtlich yemommen wurde, starrte
er wie geistesabwesend um sich und gab keine Antwort. Schliesslich ging er
ans Fenster und fing an laut zu weinen.
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Dr. Monkemoller,
Auf der Fahrt zur Anstalt war ich zufalligerweise auf der Elektrischen
and hatte so Gelegenheit, Ta. anauffallig zu beobachten. Er sass hier mit
belebtem Gesichtsausdruck, zeigte grosses Interesse fur die Mitfahrendert und
die none Umgebang, unterhielt sich mit seinen Begleitem angelegentlich and
ausdrucksvoll und erzahlte seine Kriegsabenteuer. Ueber alles war er genau
unterrichtet, er fasste schnell auf und antwortete schlagfertig. Als er dann
auf dem Bureau abgeliefert wurde, fiel er zusehends in sich zusammen, bekam
einen damlichen Gesiohtsausdruck und antwortete stockend und abgerissen.
Auf der Abteilung war er zunachst zuriickhaltend. Er spraoh langsam,
gab aber gut Auskunft.
Bei den Unterredungen war er die verkorperte Damlichkeit, das Gesicht
geistlos, die Bewegungen ungelenk, die Sprache tbnlos. Zu seinen Antworten
nahm er sich viel Zeit, wiederholte die Frage und dann noch einmal das letzte
Wort und stierte den Arzt hiilflos an. Die einfaohsten Dinge wollte er nicht
wissen. Redete man ihm gut zu, so wusste er pldtzlich gut Besoheid. Wenn
man sich Zeit mit ihm gonnte, konnte man aus ihm seine Vorgesohichte in
alien Einzelheiten herausholen. Seine Kriegserlebnisse gab er genau an, nur
fiber seine Bestrafungen driickte er sich ausserst unbestimmt aus. Pldtzlioh
fing er an, in unnatiirlicher Weise zu weinen: „Das ist einmal so plotzlich
gekommen, dass ich so ein Lump geworden bin. w
Nachdem er sich dann noch einige Tranen entrungen hatte, die er auch
spater auf Yerlangen yon sich zu geben vermochte, sprach er viel schneller
ohne jedes Ueberlegen und gab alle Einzelheiten prompt an. Er blieb denn
auch ganz naturlich, wenn er auch ab und zu das kindliche Wesen hervor-
zukehren versuchte.
Einen bestimmten Grund zur Entfernung von der Truppe babe er nicht
gehabt. Mit einem Kameraden, der auch aus Leipzig gestammt habe, habe er
immer die Ziige vorbei fahren sehen, auf denen das Schild Hamburg—Leipzig
gestanden habe. Da habe sein Freund Karl gesagt: „Weessde, wenn wer nn
kennden nachLeibzig machen! w Und so seien sie eines Tages in Uniform fort-
gefahren. Ueber seinen Aufenthalt in Leipzig machte er ganz genaue Angaben.
Er habe einige „Dummheiten a gemacht. Eines schones Tages habe ein Polizei-
diener ihn mitgenommen. Der Gerichtsoffizier habe ihn vernommen. Weshalb
er dann in das Lazarett gekommen sei, kdnne er nicht sagen, er habe es mit
dem Magen zu tun gehabt und auch Kopfschmerzen gehabt. Die Einzelheiten
des Lazarettaufenthaltes gibt er genau an. Phantasiert habe er nie, von einer
Frau, die er tot gestochen habe, wisse er nichts, habe sich iiberhaupt nichts
eingebildet, sei weder erregt noch angstlich noch niedergesohlagen gewesen.
Er wisse ganz genau, was er gemacht habe.
In der Hauptverhandlung machte er einen sehr schlagfertigen und ge-
rissenen Eindruck und verteidigte sich zweckmassig.
Ta., der sclion fruher unbefugt eine schwere erbliche Belastung und
Kr&mpfe in seine Vorgeschichte eingefuhrt hatte, hatte als alter Lazarett*
l&ufer seine geringe Neigung zum Kriegsdienste zur Genuge bekundet.
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Die Simulation psycbischer Krankheitszustande usw.
627
Wenn seine Straftaten mehrere Male durcb eine Amnestie der Strafe
entgingen, so war auch hierbei die 5fters beobacbtete Tatsache zn be-
rucksichtigen, dass er anscheinend vor neuen Straftaten desbalb nicht
zuruckschreckte, weil er wusste, dass wieder eine Amnestie fallig war.
Obne Einwirkung einer Strafhaft setzt der krankhafte Zustand, der
znn&chst als Hebepbrenie zu imponieren vermag, ganz unvermittelt ein
and halt dann drei Monate stand. Allerdings gelangt man dort all-
m&hlich zur Annahme, dass es sich am Simulation bandeln musse. Das
spatere Verbalten des Angeklagten konnte diese Annahme nnr bestatigen,
wenngleich Ta. kein voiles Eingestandnis von sich gab. Die recht lange
Zeit, die seitdem verstrichen ist, — er macbt jetzt ohne jeden Zwischen-
fall die ihm zuerkannte Gefangnisstrafe ab, — spricht dafur, dass es
sich nicht am eine vorfibergehende Besserang nach einer akuten heftigeren
Phase des Jugendirreseins gehandelt haben kann.
Eine sebr geringe Bedeutuug fur die Simulation nabm bier die
Epilepsie in Ansprucb, bei der ja nicht nur ihre Folgezustande weit
in die forensische Gestaltung krimineller Handlungen hineinragten. Auch
die Vortauschang der Anfalle selbst zur Herbeifuhrung der Dienst-
unbrauchbarkeit kann ja strafbar werden. Denn das V.orbandensein
epileptischer Krampfanfalle befreite fruhet* ausnahmlos vom Militar-
dienste.
Scbon 1829 raumte Schmetzer 1 ) der Epilepsie den ersten Rang
nnter den Krankheiten ein, die von MilitSrpflichtigen gerne nachgeahmt
wurden. Auch spater sah man sich nicht selten gezwungen, mit dieser
MSglichkeit zu rechnen. Die Bedeatnng der epileptischen Anfalle fur
die Dienstunbranchbarkeit ist seitdem den Interessenten nie verborgen
geblieben. So hatte ich wahrend meiner militararztlichen Dienstzeit mehr
als einmal Gelegenheit, mich in dieser Hinsicht mit den Vertretern
einer Simulantenschule za beschaftigfen, die die Anwarter fur den Mili-
tardienst darin unterrichtete, wie sie sich bei einem derartigen Anfalle
zn verhaiten hatten.
So nahm denn aach die Nachahmang der epileptischen Anfalle in
der Literatur eine ziemlich bedeutende Stellung ein und man war im
allgemeinen geneigt, eine derartige Vortauschung als nicht allzu schwer
darzustellen.
Die Anstaltsbeobachtung wird in vielen Fallen durcb den Nachweis
der Pupillenerweiterung und -starre, die Veranderungen des Pulses, die
Verletzuogen, die Analgesie, also die Erscheinungen, die einer Simulation
1) Schmetzer, Ueber die wegen Befreiung vom Militardienst vor-
geschiitzten Krankheiten nnd deren Entdeckungsmittel. Tubingen. 1829.
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nicht erroiclibar sind, die wabre Natur der Anfalle aufzuklaren im-
stande sein.
Itnraer ist das allerdings nicht so leicht. Die Anfalle konnen so
kurz sein, dass es nicht mCglich ist, sie der Beobachtung des Antes
zug&nglich zu machen. Bin Simulant braucht nicht als besonders ge-
rissen zu gelten, der die Anfalle vorsichtig zu Ende gelangen l&sst,
sobald der Arzt auf der Bildflache erscheint.
Dabei kSnnen die Simulanten mit gutem Gewissen uberhaupt auf
das Auftreten der Anfalle im Lazarett verzichten, ohne sicb dadurch
verdachtig zu machen. Es ist ja allbekannt, dass der ruhige Aufenthalt
auf Erankenabteilungen und die Hygiene in der ganzen Lebensfuhrung
die Erampfe selbst fur langere Zeit hintanhalten kann, zumal auch die
jetzt durch die Macht der Umstande gebotene vollkommene Abstinenz
vom Alkohol das Ausfallen der Krampfe begunstigt.
In der Regel versagen auch die Mittel, durch deren An wen dung
das Auftreten des Anfalls erzwungen oder beschleunigt werden soil:
Salzreiche Eost, konzentrierte Zufuhrung yon Alkohol, Erweckung
starker Affekte. Die Einspritzung von Eokain, der man nach dieser
Richtung hin eine besondere a Wirkung nachruhmte, hat in einer grCsseren
Zahl von Versuchen, die hier angestellt wurden, vollkommen in Stich
gelassen.
Im Eriege ist die Epilepsie nicht ganz aus dem Heere ausgeschaltet.
Einzelne schwere Epileptiker haben sich selbst langere Zeit an der
Front halten konnen.
Die Zahl der Erampfanfalle, die zur Beobachtung auf Dienstf&hig-
keit fubrten, hat ja in ganz ausserordentlichem Masse zugenommen und
auch in unserm Lazarett haben wirhunderte von derartigen Fallen zur
Beobachtung bekommen.
In der weit uberwiegenden Mehrzahl der Falle handelte es sich
aber um hysterische Erampfe. Yerdacht an der Echtheit wurde sebr
selten ausgesprochen und war das einmal der Fall, dann konnte fast
immer der Nachweis erbracht werden, dass es die Eigenart dieser Falle
gewesen war, die diesen Irrtum ermoglicht hatte. Die Vortauschung
eines Anfalls haben wir hier nicht nachweisen konnen.
Ebenso selten kommen solche Falle in Betracht, die durch Vor-
fuhrung der krankhaften Folgeerscheinungen der Epilepsie sich
forensische Vorteile zu erringen versuchten.
In erster Linie wurden hier angebliche Dammerzustande bewusst
als Folgezust&nde einer Epilepsie ins Feld gefuhrt. Indirekt wurde
eine Erschwerung der Beurteilung in einem fur den Angeklagten gun-
Cpk igle
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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw.
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stigen Sinne dadurch bedingt, dass, wie schon Raimann 1 ) hervorhebt,
eine grosse Anzahl von Degenerierten und Gewohnheitsverbrechern —
und die ist jetzt in der militErforensischen Klientel reichlich genug
vertreten — epileptiscbe Antezedentien hat. Sie weisen Schadelnarben
auf, sie wollen an Koplschmerzen und SchwindelanfEllen leiden und wenn
sie behaupten, dass sie fruher an KrEmpfen gelitten haben, so wird man
das nicht ohne weiteres von der Hand weisen durfen.
Weit mehr wie die Epilepsie stellt die Hysterie die forensische
Begutachtung vor Aufgaben, die mancbmal recht unbebaglich und ver-
antwortungsvoll sind.
Unter den Kriegsteilnebmern hat die Hysterie in einer Weise zu-
genomnien, wie man das fruher nie fur mOglich gehalten hatte. Da-
durcb hat sich das forensische Material ganz gewaltig gehEuft, auch
wenn man davon absieht, dass man bei der Annahme dieses Krank-
heitsbegriffes, der auch sonst seiner ganzen Natur nach einer scbarfen
Abgrenzung entbehrt, ausserordentlich freigebig geworden ist und nicbt
selten alles das, was man nicht forensisch dekiyrieren kann, schnell
gefasst als Hysterie ansieht.
Auf der einen Seite drEngt das ganze innere Wesen der Hysterie
ibre TrEger in die KriminalitEt hinein. Die ZurechnungsfEhigkeit ist
dabei immer in Frage gestellt oder bedarf doch wenigstens der Priifung,
wenn die Hysterie an und fur sich ja auch nur dann als straffrei-
tnachend gelten kann, wenn sie in ausgesprochener Weise in das Reich
der Geisteskrankheit ubergetreten ist.
Dabei fubren von ihr viele Brucken in das Gebiet der Simulation
heruber. Das psychische Gesamtbild des Hysterischen trttgt oft den
Stempel des Theatralischon und Gekunstelten. In gewissem Masse ge-
hSrt die Neigung zur Luge und Uebertreibung geradezu zum Wesen
der Hysterie. Da auch ihre kriminelle BetEtigung sich bEufig die Ge-
biete zu ihrem Schauplatze aussucht, auf dem Luge und Betrug im
Vordergrunde stehen, ist es selbst fur einen Kenner dieses Gebietes
immer sehr schwierig, und oft sogar ganz unmbglich, die Grenze zu
ziehen, die zwischen den krankhaften Lugenkunsten des Hysterikers
und der planmEssigen und zielbewussten Uebertreibung und VortEuschuog
des Simulanten nachgewiesen werden muss.
Dazu kommt noch, dass die Hysterischen, die sich so gerne im
Vordergrunde des Interesses sehen und denen das Theaterspielen zur
zweiten Natur geworden ist, sich mancbmal in entsprechenden Simulati-
1) Raimann, Ueber Simulation von Geistesstorungen. Jahrb. f. Psych.
Bd. 58. S. 445.
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onskomddien gefallen and gerne die - Unbequemlicbkeiten mit in den
Rauf nehmen, die eine solcbe Betatigung nun einmal mit sich bringt.
Die Schwierigkeit in der Beurteilung macht sich schon in recht
stOrender Weise bei den bysterischen Anfallen bemerkbar, die dem
Laienbeobacbter oft geradezu den Gedanken an Simulation aufzwingen.
Die BewusstseinsstSrung ist ocler scheint doch meist viel ober-
fl&chlicher zu sein und die Reaktion auf Eindrucke und Einflusse der
Aussenwelt ist Dicht in dem Masse erloscben, wie bei den epileptischen
Anfallen. Sie schliessen sich nur zu gerne an Zeitpunkte an, in denen
es fur den Betreffenden nicht unvorteilhaft zu sein scheint, wenn er
fur einige Zeit der Welt des Bewussten Valet sagt. Dabei gewinnt es
oft den Anschein, dass er vollkommen Herr fiber diese Zust&nde ist
\
und sie nach Belieben in die Erscheinung treten lSsst. Da sich der-
artige Rrampfkranke so gut wie gar nicht verletzen, sich meist eine
bequeme Lagerungsstfitte aussuchen und durch barsches Zureden und
energiscbe Massnahmen wieder aus dem Anfalle aufschrecken lassen,
sind Nichtsachverst&ndige nur zu leicht mit einem Verdammungsurteile
uber diese Zustfinde bei der Hand. Daffir haben wir jetzt ein sehr
reiches Material beobachtet.
Im Militfirwesen und vor allem im jetzigen Rriege hat sich dieses
Wechselspiel zwischen Hysterie und Simulation im wesentlichen einen
Schauplatz auserkoren, auf dem die fore'usiscbe Psychiatrie nicht zu
Worte zu kommen braucht. In den zahllosen Neurotikerlazaretten mit
ibren nicht immer sehr dankbareu Aufgaben hat die Hysterie recbt oft
durch ihre Yerquickung mit einem anscheinend simulatorischen Ein-
schlage auf die Frage der Entscheidung uber die Dienstfahigkeit ge-
drfickt, ohne dass an die Anklage wegen Simulation auch nur gedacht
worden wfire.
Diese Wechselbeziehungen sind gerade in der letzten Zeit ein-
gebender als frfiher gepruft worden. Was fur die Frage der Dienst¬
fahigkeit bier gesagt werden musste, hatte naturlicb auch fur die foren-
sische Seite seine grosse Bedeutung.
Wahrend Marcuse 1 ) die Unterechiede zwischen Hysterie und Simu¬
lation auf psychologischem Wege zu erreichen suehte, erklarte W. M ayer 2 )-
es fur unmfigiich, dass die Unterscheidung der Hysterie und Vortauschung
der subjektiv zu wertenden Auffassung des Dntersuchers zu uberlassen
1) Marcuse, Zur psycbologisohen Unterscheidung von Hysterie und
Simulation. Mediziniscbe Klinik. 1918. Nr. 9 u. 10.
2) W. Mayer, Ueber Simulation und Hysterie. Zeitsohr. f. d. ges.Neurol,
u. Psych. XXXIX. 1918. H. 4 u. 5.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
631
sei. Gine Unterscheidnng allein nach der fiusseren Form der Sym-
ptome sei ausgeschlossen, denn die Symptomformen der Hysterie seien
nnbegrenzt. Der zentrale, das ganze Seelenleben durchdringende Krank-
heitswunsch erfulle den Hysterischen, nie den Simulanten. Die Frage,
ob der Krankheitswunsch bewusst oder unbewusst vorhanden sei, sei,
abgesehen von der Schwierigkeit einer sicheren Beantwortung, deshalb
anch nicht ausscblaggebend, veil auch bewusste Tendenzen bysterische
Mechanismen in Fanktion setzen kOnnten. Unter dem stets wichtigen
anamnestischen Material verdiene die willensmassige Lebensgestaltung
und der Nachweis fruherer ahnlicher Grkrankungen besondere Beacbtung.
Macht man sich diese Ansebauungen ganz zu eigen, dann braucht
man, wenn man einmal die Diagnose auf Hysterie gestellt hat, sich mit
den Scbvierigkeiten der Annabme einer Simulation weitcr gar nicht
abznmuhen und wird dann auch nnr selten einmal auf Zurechnuugs-
f&higkeit herauskommen.
Das wttrde aber praktisch um so weitere Folgea haben, als, wenn
man sich auf die Ansichten Forster’s 1 ) einstellt, jeder Mensch in mehr
oder weniger ausgesprochenem Masse zur hysterischen Reaktion neigt.
Es hftngt nach ihm von der Umgebung ab, ob sich die bysterische
Reaktionsweise weiter entvickelt oder befestigt oder uDterdriickt wird.
F&r die hysterische Reaktion kommt die ursprungliche Neigung, die
nicht unterdruckt, sondern ausgebildet wird, im Affekt zum Ausbruch,
bei der echten Simulation wird nach Deberlegungen planm&ssig zu
einer bestimmten Zeit gehandelt.
Die forensischen Bedenken, die einem schrankenlosen Ueberwucbern
dieser Grunds&tze entgegenstehen, liegen auf der Hand.
Zu einer weit scharferen Fassung der Zurechnungsfahigkeit bei
Hysterischen gelangte Niessl v. Mayendorf 2 ).
Die Hysterie darf als strafausscbliessende Drsache und nicht
nur als mildemder Umstand bloss unter gewissen Voraussetzungen ge-
wertet werden.
1. Eine Anzahl ausgesprochener kOrperlicher und seelischer Sym-
ptome muss die Diagnose Hysterie ausser Zweifel setzen. Einzelne
bysterische Zeichen sind bei psychopathisch Minderwertigen sehr h&ufig
anzutreffen und fur Hysterie noch nicht entscbeidend.
2. Die Hysterie darf nicht nur als Charakteranlage, sondern muss
bereits als Krankheit offenbar sein. Eriterien hierfiir sind der ein-
1) Forster, Hysterische Reaktion und Simulation. Monatsschr. f. Psych,
n. Neurol. 1917. Bd. 42. H. 5 u. 6.
2) Niessl v. Mayendorf, Zur forensischen Beurteilung Hysterischer.
Arch. f. Psych. 1918. Bd. 59. S. 313.
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Dr. Monkemoller,
wandsfreie Nachweis von Krampfanffillen Oder Dammer-
zustanden.
3. Die Delikte mfissen ihrem Wesen nach den hysterischen psychi-
schen Anomatien entsprechen und aus denselben eklatant hervorgehen.
Auch wird die fiftere Wiederholang immer derselben Straftaten sowie
die Unverbesserlichkeit des Tfiters dessen pathologische Willensschwfiche
in so hohem Masse zu begrfinden haben, dass er der freien Wahl, so-
bald seine Verstandestatigkeit von bestimmten Affekten beberrscbt wird,
g&nzlich verlustig wird.
Bei derAussprache fiber den Henneberg’schenVortragfiberAggrava-
tion und Simulation kamen praktische Gesichtspunkte ffir die forensische
Wertung der simulierten StSrungen verhaltnismassig wenig zur Sprache.
Henneberg war der Ansicht, dass der Nachweis von Simulation
hysterischer Anf&lle kaum zu erbringen sei. Leppmann, der betonte,
dass die Frage der Simulation deshalb so schwer statistiseh zu beant-
worten sei, weil die eigentlich arztlichen Methoden immer nur die Ent-
scheidung ermdglichten, ob ein Symptom psychogen sei oder nicht, hob
hervor, dass je nach den Ergebnissen mehr kriminalistischer Nach-
forschungen und Beobachtungen man im Einzelfalle gelegentlich zur
Simulationsdiagnose korame. Hirschfeld war der Ansicht, dass man
im allgemeinen einen geschulten Simulanten von einem Hysteriker
differential-diagnostiscb nicht scheiden konne. So sei man meist zur
Ohnmacht verurteilt.
Henneberg sah besonders hochgradige Aggravation bei Neurotikern,
gegen die ein gerichtliches Verfahren schwebte. In der Regel werde
bei den Kriegsgerichtsverhandluogen von diesen das Bild der Pseudo-
demenz mit Amnesie ffir die Tat vorgespiegelt.
Er hielt daran fest, dass es nicht angfingig sei, eine hysterische
Stfirung wie eine organische zu bewerten. Die Hysteric babe im
Laufe der Zeiten ihre Erscheinungsweise vielfach gefindert. Die heutige
Kriegshysterie sei in sehr vielen Fallen eine wesentlich oberflach-
lichere StOrung als in entsprechenden Fallen der Friedenserfahrung.
Jetzt erkrankten auch viele nur wenig disponierte Individuen und
Aggravation spiele eine viel grOssere Rolle:
Nach meinen Erfahrungen gelten diese Betrachtungen auch gerade
ffir die forensischen Ffille.
Die Zahl der Hysteriker hat im Heere in ganz ungeheurem Mass*
zugenommen. Wahrend sie sich im Frieden nur in der Marine in etwas
weiteren, wenn auch an und ffir sich nocb sehr bescheidenen Grenzen
- hielt, spielt jetzt die Hysteric in den militarischen Krankengeschichten
eine fiberragende Rolle.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 633
Bei aller Wertschatzung des tatsJlchlichen Anwachsens der hysteri-
schen Krankheitszustande kann es aber keinem Zweifel unterliegen,
dass ihr Machtbereich ungebuhrlich ausgedehnt worden ist.
Gewiss sind die Grenzen der Hysterie schwer zu ziehen, ihre
Aeusserungsformen vielgestaltig und zu Meinungsverschiedenheiten fiber
derartige unbestimmte Symptomenkomplexe kann es nur zu leicht
kommen. Ebenso sicher aber ist es, dass man mit der Diagnose recht
freigebig umgeht. Neurastheniker aller Art, Psychopqtben mit ein-
zelnen hysterischen Zfigen, Schwachsinnige, die unbestimmte ahn-
licbe Symptome erkennen lassen, Verletzte mit nur leicht angedeu-
teten Erscheinungen der traumatischen Neurose werden unterschiedslos
mit der Diagnose der Hysterie geschmfickt, oft nur aus Bequemlichkeits-
grfinden, oft aus mangelnder Kenntnis der ausserlich sich anscheinend
nahe stehenden Krankheitsformen.
Das ist ffir die praktische forensische Tatigkeit aber eiu Krebs-
schaden. Die Betrachtung und Wertung des Krankheitsbildes wird
damit auf eine Grundlage verrfickt, die von vornherein eine weit bessere
Moglichkeit gew&hrt, die Zurechnungsfiibigkeit als gefahrdet erscheinen
zu lassen. Es ist unbedingt geboten, sich ffir die forensische Beob-
achtung eine mfiglichst scharfe Umschreibung der Krankheit zur Pflicht
zu machen, so scharf als das eben bei der sprodeu Natur dieses Ge-
bietes mfiglich ist.
Man muss hier das Vorhandensein ausgepragter korperlicher Krank-
heitssymptome und schwerer psychischer Krankheitserscheinungen ver-
langen, vor allem von Dfimmerzust&ndeu. Abgesehen davon, dass die
letzteren nicht immer ohne weiteres als echt anerkannt werden kOnuen,
ist es wieder oft sehr schwer, zu bestimmen, ob sie auch zur Zeit der
Tat vorgelegen haben oder erst zur Zeit der Beobachtung in die Er-
scheinung getreten sind. Es ist ja seitdem oft so viel vorgefallen —
in erster Linie die Untersuchungshaft — was eine st&rkere Auspragung
von an und ffir sich harmloseren hysterischen Erscheinungen im Ge-
folge gehabt haben konnte. Man wird daher der Anamnese eine
recht erhebliche Wichtigkeit beilegen mfissen, wenngleich jetzt im
Kriege leider gerade ffir die wichtige Zeitspanne, in die die strafbaren
Handlungen fallen, einwandfreie Angaben nach dieser Richtung hin oft
nicht zu erhalten sind.
Was nun die Vortfiuscbung krankhafter Erscheinungen hysterischer
Natur anbetrifft, so wird man sicher mit dem Begriffe der Simulation
ganz besonders vorsichtig sein und nur im fiussersten Falle mit ihm
operieren. Es darf eben nie vergessen werden, wie vielgestaltig das
Krankheitsbild der Hysterie ist. Man darf den Symptomen eiuen ge-
▲rehir f. PajcWatric. Bd. 60. Heft 2/3. 4 [
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Dr. Monkem&ller,
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waltigen Spielraum lassen und man soil sich nicht von vornherein an
ihrer Premdartigkeit stossen. Aber das darf uns docli nicht bewegen,
non alles ohne jeden Widerspruch in den Kauf zu nehmen. Entwickeln
sich diese oft so seltsamen Symptome bei Personen, bei denen die ganze
Vorgeschichte fur eine hysterische Veranlagung vollkommen schweigt,
dann wird man schon eher zn einem gewissen Misstrauen berechtigt
sein durfen.
Man wird dann aus der Betracbtung der gesamten psychischen
PersSnlichkeit sich ein Drteil bilden mussen, ob man diesen Angaben
Vertrauen schenken will oder nicht. Man wird sich dann eher zu einer
Entscheidung entschiiessen konnen, ob man eine bewusste oder unbe-
wusste Uebertreibung oder Vort&uschung annehmen soil, wenn man sich
anch d^ruber nicht im Cnklaren ist, dass eine solcbe Entscheidung
immer nur ein Ausfluss der subjektiven Anschauung bleibt und dass
sie nie durch objektive Dntersuchungsmethoden gescbaffen werden kann.
Das ist aber auch bei so vielen anderen Objekten der forensischen
Psychiatric nicht anders. Man denke nur an die Abw&gung geistiger
Schw&chezust&nde fur die Zurechnungsf&higkeit, die Glaubhaftigkeit der
Amnesien, die Wertung der Macht der Triebe, der Zwangsvorstellungen.
Man kommt ebon dabei nicht darum herum, dass wir der sub¬
jektiven Einsch&tzung dieser zweifelhaften Erscheinungen eine Bedeutung
zukommen lassen, die man an und far sich gerne entbehren mbchte
and die man in forensisch-psychiatrischen Dingen nur als iussersten
Notbehelf in Anspruch nimmt. Auf Grand der klinischen Erfahrungen,
die man sicb gesammelt hat, auf der Grundlage der forensischen Er¬
fahrungen und der Menschenkenntnis, die man sich zumuten darf, muss
man sich bemfihen, diesem Subjektivismus eine mbglichst kr&ftige Unter-
lage zu geben. Dann kann man sich immer ein zutrefifendes Gesamt-
bild des T&ters aufbauen, auch wenn man sich dabei nie verschweigt,
dass wir bei dieser Krankheit nie unfehlbar sein kdnnen.
Es darf auch nicht zu gering angeschlagen werden, dasB manche
Nebenumst&nde, manche Beobachtungen der Umgebung, die Wertung
des Vorlebens des Angeklagten, die seine Glaubwurdigkeit in schlechtem
Lichte erscheinen l&sst, wfthrend sie seiner Neigung zur Eriminalit&t
und seine allgemeine Cnglaubwurdigkeit um so starker hervortreten
lasst, uns die Unterlagen zur festeren Gestaltung unseres Urteils an die
Hand gibt, obgleicb diese unterstutzenden Momente oft mehr in das
Gebiet der Kriminalistik als der Psychiatrie gehbren.
Ziehen wir uns aber in mnder Resignation auf den tbeoretisch ja
ganz unanfechtbaren Grundsatz zuruck, dass bei der Hysteric alles mdg-
lich ist, dass Simulation und Hysterie zwei sprechend ahnliche Zwillings-
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Die Simulation psyohischer Krankheitszustande usw.
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kinder sind and wir uns auch eine subjektive Trennung der Begriffe
nicbt zutrauen dfirfen, dann wird man uns sicberlich nie eines Feblers
zeihen kdnnen. Ebenso sicber ist es aber aucb, dass wir, wenn wir in
so bequemer Weise der Endentscbeidung aus dem Wege gehen, der Ge-
recbtigkeit keinen Gefallen erweisen und Personlichkeiten der Strafe
entziehen, die sie auch bei Zuerkennung alter Milde verdient haben
und die durch die Macht des Beispiels auch andere stammverwandte
Naturen dazu anfeuern werden, sich gleichfalls auf diesem Gebiete zu
versuchen.
Bei ausgesprochenen Fallen von Hysterie wird man ohne weiteres
den Begriff der Simulation ganz aus dem Spiele lassen. Auch bei den
verwascbenen Formen begnugt man sich am besten damit, bei der Zu-
meseung der Zurechnungsfabigkeit nur stillschweigend alles das in Ab-
zug zu bringen, was man als Zutat ansieht.
Hebt man in den Gutachten die Uebertreibungen hervor, dann ist
man auch verpflichtet, das Gericht daruber aufzukl&ren, in welchem
Zusammenhange diese Versucbe mit der Grundnatur der krankhaften
Anlage stehen.
Fall 7. Landsturmmann Zu., Viehhandler, 38 Jahre. Als Kind war
Zu. schwachlich und litt an Schwindelzustanden. Sohlechter Schuler. Ernst-
lioh krank war er nie. Im Wesen war er immer still, nur regte er sich leicht
auf. Im Geschafte sehr brauchbar.
'1915 als Landsturmpllichtiger eingezogen ruckte er mit einer Kolonne
nach dem Osten aus. Hier will er sich durch Sturz von einem Heuwagen
einenSchadelbruch zugezogen haben. LangeLazarettbehandlung. Verletzungen
gehen aus den Krankenpapieren nicht hervor. Zuletzt in Langenhagen. Hier
wurde festgestellt, dass er neben einer rechtsseitigen alten Sehnervenatrophie,
die spezialistisch als nicht traumatisch festgestellt wurde, an Nervenstorungen
leide, die in das Bild einer leichten hysteriscben Neurose gehorten. Da-
neben bestand ein starkerVerdacht auf Aggravation der subjektiven Be-
schwerden. Zu. wurde jetzt zu leichtem Dienste herangezogen und wiederholt
wegen unerlaubten nachtlichen Fernbleibens aus dem Quartier bestraft. Zuletzt
weigerte er sich andauernd, Dienst zu tun, da er es nicht konne und krank sei.
Sobald man sich mit ihm beschaftigte, zitterte er am ganzen Korper und war
nicht imstande, sich zu biicken. Der Truppenarzt hielt ihn fur einen
Simulanten. Als er sich am 12. 7. 1917 zur Heldung uber eine fiber ihn
verhangte Strafe auf der Schreibstube melden sollte, gab er dem Unteroffizier
ungebubrlicbe Antworten und vergriff sich tatlioh an ihm. Zuletzt warf er sich
auf den Boden und „bekam anscheinend Krampfe u .
Anstaltsbeobaohtung. Aeusserlich still and apathisch, Gesichtsaus-
druck unbewegt, doob hatte sein Wesen etwas Lauerndes. Seinen Eltern liess
er von einem Kameraden mitteilen, er konne nicht schreiben. Immer stand er
untatig fur sich allein herum.
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636 Dr. Monkemoller,
Allen Fragen, weshalb er da sei, wioh er ans oder erklarte, er sei mal
yom Baume gefallen und babe einen Schadelbruoh erlitten, so dass die
Splitter den Sehnerven durchtrennt hatten, spater, er habe noch eine Kugel
im Kopfe. Nie werde er wieder seine Geschafte besorgen konnen, er sei
schwermiitig geworden. Spater ausserte er einmal, er habe einen Zusammen-
stoss mit einem Unteroffizier gehabt. Nach seinem Leben frage er nichts mehr
und habe sich schon einmal aufgehangt. (Nicht zutreffend.)
Alle seine Kameraden gewannen von ihm den Eindruck eines Simu-
lanten. Einem Kameraden, der ihn besonders bemitleidete, schloss er sich
immer mehr an und unterhielt sich mit ihm im Fliistertone ausfuhrlich fiber
seine und seines Vaters geschaftliche Beziehungen. Anderthalb Jahre habe er
in der Front gestanden, habe einen Kopfschuss erhalten und sei dadurch
erblindet. Ausfuhrlich schilderte er seine Leiden, bei denen er woohenlang
ohne Besinnung gelegen habe. Seit dieser Kopfverletzung leide er an
Krampfen. Das eine Mal habe der Unterarzt einen solchen Anfall gesehen,
ihn aber als Simulation aufgefasst und gesagt, man solle ihn nur in cfonHintern
treten und in Arrest steoken. Der Stabsarzt habe die richtige Diagnose auf
Hysterie gestellt! Der Arzt in Langentiagen habe ihn fur krank gehalten und
von Traumzustanden gesprochen. Ob er ihm wohl sagen konne,
ob Traum- und Dammerzustande dasselbe seien? Mit einem Unter¬
offizier habe er einen Zusammenstoss gehabt. Der Arzt habe ihn auch jetzt so
angeschuauzt, ihm Vorhaltungen fiber seinen Briefverkehr gemacht und ihm
einen Brief eines Madchens aus Koln gezeigt, den er ihm vorenthalten habe.
Es habe ihm nicht gepasst, dass der Oberwarter immer gehorcht habe, als sein
Yater dagewesen sei. Er und der Vater hatten nicht einmal geschaftliche
Dinge besprechen konnen.
\ Bei diesem Besuche zeigte er sich im Anfange ganz angeregt, machte
durchaus nicht den schlafrigen Eindruck, den er sonst machte und erkundigte
sich sehr interessiert, wie es zu Hause gehe. Nachher sprachen sie leise und
unverstandlich miteinander und schienen sich durchaus zu yerstehen.
Bei den Untersuchungen machte er immer sofort einen apathischen und
stumpfen Eindruck. Kein Mienenspiel. Kein Affekt. Dabei fasste er gut auf,
antwortete aber immer wie sohwerbesinnlich. Das Gedachtnis fur seine frfihere
Vorgeschichte war sehr gut, fur die letzte Zeit wollte er nicht mehr Bescheid
wissen.
Dass er sich durch seine Anfalle einen Schadelbruch zugezogen habe,
wisse er aus dem Soldbuche. (Enthalt nichts.) Ob, weshalb und wie oft er
mit Arrest bestraft worden sei, konne er nicht mehr sagen, auch nicht, wann
und wo er im Lazarett gewesen sei.
Auf Befragen klagte er fiber zahlreiche nervose Beschwerden. An nichts
mehr habe er Lust und konne sich nicht mehr freuen. Bei der Intelligenz-
priifong, bei der er im Yergangenen Jahre sehr gut abgeschnitten hatte,
gab er nur Fehlantworten.
Den Angaben, die er im Yergangenen Jahre fiber erbliche Belastung ge¬
macht hatte, fugte er jetzt noch einen Onkel und eine Kusine hinzu.
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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw.
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Von den ihm zur Last gelegten Straftaten wollte er nichts wissen. Eines
Vorfalls mit einem Unteroffizier konne er sich nicht entsinnen. Dass er von
einem Gerichtsoffizier vernommen worden sei, wisse er, nicht aber, dass ihm
eine Krankmeldung verboten gewesen sei und dass er wegen Uebertretung eine
Arreststrafe bekommen sollte.
Darauf wurde ihm auf Grand seines Briefweohsels, der erkennen liess,
dass er an Angehorige und Bekannte geschrieben und seinem Bruder sogar
kurzvorher noch ausfuhrlicheVerhaltungsmassregeln gegeben hatte,vorgehalten,
dass er seine Besohwerden und vor allem seine Gedachtnisschwache ganz er-
heblich iibertreibe. Er sohrak zusammen, stierte um sich, zitterte am ganzen
Korper und schwankte hin und her, ohne aber hinzufallen, schnappte nach
Luft, fasste sich an die Kehle und konnte kein Wort herausbekommen.
Das Bewusstsein war nicht gestort. Er kam alien Aufforderungen prompt
nach und buckte sich beim Ausziehen ohne jede Schwierigkeit. Die nachste
Mahlzeit verweigerte er und lag noch stundenlang auf seinem Bette, ohne ein
Wort zu sprechen.
Bei einer spateren Untersuchung erklarte er, er konne sich dieses Zu-
standes nicht mehr entsinnen und wollte von der ganzen Unterhaltung und
Untersuchung nichts mehr wissen. Das miisse wohl mal wieder ein „Dammer-
zustand u gewesen sein. Solche Anfalle habe er schon ofters gehabt.
Als ihm seine Aeusserungen zu den Kameraden vorgehalten wurden,
leugnete er in frechem Tone und mit grosser Ruhe alles rundweg ab. Er sei
eben Jude und das geniige.
Korperlicher Befund: Abgesehen von der Sehnervenatrophie negativ.
Man musste schon sehr weit gehen, wenn man Zu. eine Hysterie
zuerkennen wollte auf Grund des einen Anfalls, den er beim Militftr
erlebt hatte, und des sehr anfechtbaren Zustandes, den er als Dammer-
zustand aufgefasst wissen wollte, ohne dass in seiner Vorgeschichte ein
entsprecheuder Vorgang nachzuweisen war. Dafur hatte er sich nach
dem Wesen dieser Zustande erkuudigt und sich gleichzeitig als Unter-
lage fur die bei ihm vorhandene nicht traumatische Sehnervenatrophie
einen Unfall geschaffen, den er in wechselnder Weise darstellte. Ohne
dass etwas eingetreten w&re, was ihn in intellektueller Beziehung hatte
schadigen konnen, hat sich seine geistige Leistungsfahigkeit in der auf-
fallendsten Weise gegenuber der fruheren Beobachtung gesenkt, d. h.
nur dem Arzte gegenuber, walirend er durch Briefe und die Unterhaltung
mit seinem Vater und Kameraden gegenuber bekundete, dass er in
dieser Beziehung noch recht gut beschlagen war und vor allem auch
nicht einen Ged&chtnisverlust zu beklagen hatte.
Fall 8. Pionier Rudolf Sch., Kaufmann, 32 Jahre. Am 12. 7. 1917
schlich er sich in eine Wirtschaft ein, durchsuchte das Zimmer eines Arbeiters
und versuchte das Spind der Arbeiterin Ru. zu offnen. Als diese hinzukam,
fluchtete er, nachdem er aufBefragen noch angegeben hatte, ersei nicht drinnen
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Dr. Honkemolier,
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gewesen. Am nachsten Tage bestritt er entschieden, in derWirtschaft gewcsen
zq sein, iiber sein sonstiges Verhalten an diesemTage gab er genaaeAuskunft.
Bei einer Haussuchung fand sich eine Menge Sachen, die von anderen Dieb-
stahlen herruhrten. Ueber die Herkunft der. Sachen machte er ganz genane
Angaben. Eine Hose wollte er von einem Arbeiter De— bekommen haben.
Dieser leugnete das entschieden ab. Dagegen hatte Sch. ihm erzahlt, er sei
wegen seiner Nerven schon im Krankenhause gewesen. Uan halte ihn fur
nicht ganz normal, aber er sei schlauer, wie sie alle zusammen.
Friiher wegen nnerlaubter Entfernung 6 Honate Gefangnis. Achtmal in
Lazarettbehandlung. In zwei Lazaretten, in denen er sich wegen Muskel-
rheumatismus befanden hatte, war er in nervhser und psychischer Beziehung
in keiner Weise aufgefallen. Im Festungslazarett K. gab er an, er leide, seit-
dem er in Serbian ein Ponton gegen ihn gefallen sei, an Kopfschmerzen and
Schwindelanfallen. Keine Anfalle. Im Reservelazarett U. gab er an, er habe .
seine Anfalle im Anschluss an eine Verschiittung bekommen. Hier
bekam er angeblich drei Anfalle, die aber arztlich nicht beobaohtet wurden.
Yom 24. 1. bis 12. 4. 1917 war er im Lazaret Be. Aerztlicherseits wurde hier
einmal ein „Anfall u beobachtet, ohne Zungenbiss, ohne Einnassen. Die
Pupillenreaktion konnte nicht gepruft werden. Er erwies sioh als
reizbar und gewalttatig. Der Hausordnung fugte er sich schlecht und verliess
naohts oft das Lazarett. Auf die psychiatrische Abteilung verlegt. Hier stets
ruhig und geordnet. Die Natur der Anfalle konnte nicht als epileptisch fast-
gestellt werden. Keine Anfalle. Da ein weiterer Aufenthalt in der psychiatri-
schen Abteilung als unzulassig bezeichnet wurde, als „Affektepileptiker u ent-
lassen.
Nachdem er wieder einige Zeit im Lazarett Hi.— ohne Anfalle gewesen
war, kam er in das Lazarett Ei. Keine Anfalle.
Einmal hatte er auf dem linken Vorderarme einige rote Striche. Er be-
hauptete, diese seien von einem Hanne mit sohwarzem Barte gemacht worden,
der in der Nacht zu ihm gekommen sei.
In Langenhagen wusste er iiber seine Vorgeschichte zunachst genau Be-
scheid, die Diebstahle bestritt er entschieden. Dazwischen erkundigte er sich
in kindlicher Weise, ob er Flieger werden konne. Hit den anderen Kranken
verkehrte er nicht. Heist wandelte er im Wachsaale herum und fuhrte ver-
worrene Selbstgespraohe. Ab und zu klagte er iiber Kopfschmerzen.
InderUnterhaltung saher den Arztniean,sondernstiertemit wilden Blioken
gegen die Decke. Er gab immer sehr widerstrebend Auskunft. Stimmung
miirrisch. Urn die Antworten, die ihm nicht angenehm waren, suohte er sioh
herumzudrucken. Dabei liess sich nur feststellen, dass er sehr gut auffasste
und ganz genau wusste, worauf es ankam. Als Kind sei er immer ganz gesund
gewesen, habe nie Krampfe oder dergleichen gehabt. „0, wie gerne mochte
ich fliegen w . Auoh spater sei er immer gesund gewesen, habe nie getrunken,
keinen Unfall erlitten und sei nicht geschlechtskrank gewesen. Auf der Schule
habe er allerdings nicht besonders gut gelernt. Im Kriege habe er geheir&tet,
wann und wo, wisse er aber nicht, auch nicht, wie seine Frau als Hadohen
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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geheissen habe. Dann sei er Schiffer geworden and auf der Weser zur See
gegangen. (Sie da, Doktor, ich kann doch wohl mai sicher Oilaub kriegen?)
Wo er in Frankreich gestanden habe, wisse er nicht, auch nioht, wo er
im Lazarett gewesen sei. 1915 habe er in Galizien Anfalle gekriegt, wann
and bei weloher Gelegenheit, sei ihm entfallen. Trotzdem habe er
gegen Serbien gemus9t. Er babe die Donau uberschritten, sei dabei hineinge-
falien und habe wieder einen Anfall bekommen. Von dieser Zeit ab sei er
immer wieder in den Lazaretten gewesen, die er nicht nennen konne. Nur zu-
letzt habe er in Mi. 8 Monate lang in einem Lazaretto gelegen. Dass er in
einem anderen Lazarett gewesen sei, bestreitet er im affektiert kindlichen Toue:
„In Mi, in Mi u . Erst bei nochmaligem Zureden weiss er dann plotzlich yon
seinem Aufenthalte in Hannover in einem Lazaretto, dessenLage er ganz genau
besohreibt. Jetzt sei er nur hier, „weil man ihn hierher gebracht habe a .
Auf die Frage, ob er nicht wegen unerlaubter Entfernung im Felde ver-
urteilt worden sei, erklart er mit hoher sittlicher Entrustung, er wisse davon
nichts. Noch nie sei er vor Gerioht gewesen. Noch nie habe er etwas von
Fahnenflucht gehort und dafiir konne ein Mensch doch nicht bestraft werden.
Auobaus Be. sei er noch nie fortgelaufen: „da war ich doch immer in Caper¬
naum und in Moringen und habe, o, so fromme Lieder gesungen. Hallelujah!
Aus dem Parkhause „solle a er auch einmal fortgelaufen sain, da sei er
dann am Morgen auf der Wache gewesen, wohin ihn brave Zivilisten gebracht
batten. Da sei auch der bdse schwarze Mann gewesen und habe ihn immer
geschlagen. Aber hier kdnne er ihm nichts tun, da sei ja eine Irrenanstalt, da
kdnne er nicht hinein. 0, wie scbon ist es doch hier!
Auf nochmaliges Befragen erklart er nach langerem Ueberlegen, er solle
Brotmarken gestohlen haben und wisse doch gar nicht, was das sei. Ausser-
dem solle er 5 M. genommen haben, auch davon wisse er nichts. Auf weiteres
Befragen raumt er dann noch eine Hose ein, die man ihm nicht gdnne. Die
habe er aber von einem Manne Namens De— gekauft und sehr schabig sei sie
gewesen. Die Frau habe auch behauptet, sie habe ihn gesehen, wie er die
Treppe hinuntergegangen sei. Die ganze Sache solle sich ja in Mi. in der
Wirtschaft von Wi. abgespielt haben. Da sei er nooh nie gewesen. Als der
Diebstahl passiert sein solle, sei er dauernd in seinem Quartier gewesen und
habe sich fleissig beschaftigt. Von der Haussuchung will er zunachst nichts
wissen. Auf Vorhalt gibt er dann % gekrankt mit leidendem Gesiohtsausdruoke
zu, dass bei ihm einDrillichanzug gefunden worden sei. Den habe er aus dem
Lazarett mitgebracht.
Als er nach erfolgter Beobachtung wieder in das LJntersuchungsgefangnis
zaruckgebracht worden war, stellten sich dort bei ihm sofort „Anfalle“ ein,
die nicht arztlich beobachtet werden konnten. Bald darauf lief er zweimal aus
dem Lazaretto Wa. fort. Das eine Mai wurde er in der Stadt in Gesellschaft
eines schonen jungen Madchens betroffen und erklarte dem Unteroffizier, der
ihn anhielt, er werde sich in den nachstenTagen wohl wieder einmal im Laza-
rett sehen lassen. Beim zweiten Mai lief er auf den Friedhof, wo er sich,
nachdem er si oh die Stiefel ausgezogen hatte, leise weinend auf, einen Grab-
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hfigel setzte. Schliesslich fahr er nach Mi. und wurde hier bei seiner Frau
im Bette liegend gefunden. Fur beide Entweichungen wollte er nachher auch
nicht die geringste Erinnerung haben.
Daraaf kam er in das Reservelazarett Jl., anch hier liessen ihn die An-
falle ganzlich im Stiche. Als er dagegen elektrisiert wurde — nach Aussage
des behandelnden Arztes wurde er mit einem ganz schwachen Stromchen in
iiberaus liebreicher Weise behandelt—, war plotzlich die Erinnerung an
die beiden Entweichungen wieder da. Aus freien Stiicken gab er
alle Einzelheiten aus dieser Zeit an. Darauf kam er nach Langenhagen. Mit
der Miene eines ungerecht geplagten schweren Dulders betrat er die Anstalt.
Im Lazarett Wa. habe man ihm gesagt, er solle sich so schnell wie mogiich
um ein Schiff bewerben und das habe er dann auch getan. Weshalb man ihn
dann wieder hierher gebraoht habe, konne er nicht verstehen. Die ganze Ge-
schichte habe keinen Zweck, am besten sei es ja wohl, wenn man ihn in Ruhe
lasse, da er doch schwer krank sei. Wie er nach Mi. gekommen sei, konne er
nicht sagen. Man habe ihn bange gemacht, man wurde in Jl. so.furohtbar
schwer elektrisiert. Da habe or und ein Kamerad sich gesagt, dass es doch
am besten sei, wenn sie gleich fortliefen. Als er mit 6—8 Kameraden den Lei-
densweg nach Jl. habe antreten sollen, sei er in das Wirtshaus hinten an der
Ecke gegangen. Da habe er einen Schnaps getrunken und als er wieder zu
sich gekommen sei, habe er bei seiner Frau in Mi. im Bette gelegen, ohne dass
er gewusst habe, was er da gewollt habe.
Bald darauf sei er eines Morgens auf dem Friedhofe gewesen, ohne zu
wissen, wie er dort kingekommen sei. Seine Schuhe hatten ihm gefehlt. Die
Sache sei ihm so furchtbar unheimlich gewesen, dass er sich von einem Manne
in sein Lazarett habe zuriickfiihren lassen.
In Jl. habe er genaue Mitteilungen fiber seine Fahrt nach Mi. gemacht,
weil man ihn in der furchtbarsten Weise gequalt habe. Dann sage der Mensch
alles, auch das, wovon er gar nichts wisse. Aber man habe einen solchen
Starkstrom in sein schwaches Leib hineingelassen, dass ihm noch jetzt das
ganze Rfickenmark wackele.
Bei der Visite stand er in schlotteriger Haltung in den Ecken herum,
indem er das Bild des tiefsten Grames darbot und seine umflorten Blicke ratios
an der Decke herumirren lies. Auch bei den Untersuohungen sass er vollig
zusammengebrochen da, sah den Arzt wehmutsvoll an und erging sich in den
beweglichsten Klagen in iiberaus hohlem Theaterpathos.
Sobald er dem Arzte aus den Augen war, lebte er auf und ffihrte das
grosse Wort. Dabei norgelte er bestandig und schimpfte vor allem fiber den
Militarismus und alles, was damit zusammenhangt.
Krampfahnliche Erscheinungen wurden wahrend der Untersuchung nicht
bemerkt.
Nach seiner Gesamtveranlagung konnte man ihm die Diagnose der
Hysterie, die an Stelle der fruheren Epilepsie getreten war, wohl gfinnen.
Allerdings versagte der kfirperliche Befund ganz und dass die Krampfe
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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recht uberzeugend gewirkt h&tten, liess sich auch nicht behaupten. Auf
der psych iatrischen Abteilung in Be., auf der man ihn ausdriicklich fur
nicht geisteskrank erklarte, stellte man eine Affektepilepsie fest. Sonst
aber gelang es ihm nicht, w£hrend der viele Monate umfassenden
Lazarettbehandlung einen unanfechtbaren Anfall von sich zu geben.
Dabei fuhrte er gleich vier verschiedene Ursachen dafur ins Feld!
So hatte er sich um so mehr zum Vertreter der typischen Lazarett-
degeneration ausgebildet, der ganz dem entnervenden Einflusse einer zu
lange und zu liebevoll ausgeubten Behandlung zum Opfer gefallen war.
Auch wenu man ihm seine Hysterie zu Gute hielt, brauchte man
der kindlichen Art seines Auftretens, seiner kunstlichen Naivitat und am
wenigsten seinen sich immer zur rechten Zeit einstellenden Dammer-
zust&nden Glauben zu schenken, um so weniger, als sie sich bei geeig-
neter Behandlung glatt und restlos listen.
Bemerkenswert ist dieser Fall dadurch, dass die Uebertragung der
Kaufmann’schen Methode auf die psychischen Ausfallserscheinungen
zu einem dem Tater sp liter unbequemen Ergebnisse fuhrte.
Damit knupft die Behandlung derartiger Simulanten an die Mittel
an, deren sich die Psychiatric und nicht in letzter Linie die MilitSLr-
psychiatrie in derartigeu Fallen friiher mit besonderer Vorliebe zu be-
dienen pflegte. Es war die Zeit, in der man vor allem der Anwendung
der kalten Dusche und langerer Nahrungsentziehung, Ekelkuren, Brech-
mitteln, Douchen, Einsperrung zu ekelhaften, tobenden oder gefabrlichen
Eranken, lebensgefahrliche Angriffe, Feuerruf im Hause, Chloroformie-
rung nicht zuruckscheute, wenn es gait, den Trotz eines vermeintchen
oder wirklichen Simulanten zu brechen.
Man hat jetzt im allgemeinen von derartigen Mitteln Abstand ge-
nommen. Ist man seiner Sache sicher, dann bedarf es solcher Mittel
nicht und will man erst Elarheit in die dunkle Sachlage bringen, dann
l&nft man Gefahr, einem Geisteskranken und Unzurechnungsfabigen ein
nicht wieder gut zu machendes Unrecht anzutun. Zahe und wider-
standsfahige Naturen dagegen wird man nur zu leicht noch mebr in
ihre T&uschungsbestrebungen hineintreiben und ihre Gestaltungskraft zu
neuen Taten anregen. Dabei verraten sie nur die Unsicherheit des Gut-
achters und Erafft-Ebing bezeichnete sie geradezu als ein Armuts-
zeugnis fur den Arzt. Auch Bonhoeffer hielt ein kriminalistisches
Aufdeckungsverfahren, den Versuch der Gestandniserzwingung bei den
Zwischenzust&nden zwischen Hysterie und Simulation fur unzweckmassig.
Praktisch stelle man sich zweckmassiger auf den Standpunkt, dem
Patienten eine Brucke zu bauen und ihn auf irgend einem Wege der
Ueberredung oder irgend einer psychop&dagogischen Massnahme zum
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Verlasseu seiner Position zu bestimmen. Nachtr&glich sei oft eine Auf-
kl&rung mit moralischer Note angebracbt, am der Wiederkehr der Zu-
stande zu begegnen. Auch von; militlrarztlichen Standpunkte aus ver-
focht Dannehl 1 ) den Standpunkt, dass man solcbe nicht ganz einwands-
freien Mittel und Ueberrumpelungsversuche nicht anwenden durfe. Auch
bier habenwir im allgemeinen die besten Erfolge bei der Kilning dieser
zweifelhaften Zustande dadurch erzielt, dass man znn&cbst mit sanfter
Gutgl&ubigkeit zuhSrt und den Kunstler dadurch dazu begeistert, sicb
an eine nocb so farbenreichere Ausgestaltung der vorgefuhrten Zustlnde
zu begeben. Mit der notigen Geduld wird man dann schliesslich doch
meist zum Oeberblicke fiber die Sachlage kommen. 1st man so weit,
dann kann man versucben, durcb festes Zureden dem Betreffenden klar
zu machen, dass er mit seinen Bemubungen keinen Erfolg h^ben wird.
Ebenso hat das energische Zureden des Richters in der Hauptverhand-
lung, doch auf die Simulation zu verzichten, schon recht oft einen offen-
sichtlichen Erfolg gehabt. Das ist in letzter Linie darauf zuruckzu-
fuhrcn, dass es den Angeklagten fast ausnahmslos bekannt ist, dass sie
sich bei der Strafzumessung weit besser stehen, wenn sie die Geduld
der Richter nicht durcb Leugnen, Lugen und Uebertreibungen auf eine
zu barte Probe stellen. Dafur sorgt die Yerbreitung der kriminalisti-
schen Erfahrungen, die unsere Delinquenten gesammelt haben.
Allerdings haben die Stimmen, die fur eine rauhere Tonart sprechen,
nie ganz geschwiegen.
So glaubte Fritsch 2 3 * ), man kdnne nicht in jedem einzelnen Falle
mit den milden Methoden zum Ziele kommen und wenn es auch vom
Irztlichen Standpunkte aus nicht geraten erscheine, zu Repressalien seine
Zuflucht zu nehmen, so musse dennoch hie und da einmal eine schlrfere
Massnahme der Untersuchungsmassnahmen getroffen werden, um die
Situation klarzustellen.
Auch Reimann 8 ) hielt bei Simulanten unter bestimmten Indika-
tionen die Anwendung hydropathischer Prozeduren und den faradischen
Pinsel fur angezeigt, besonders wenn die logische Bearbeitung zu einem
Resultat gefuhrt habe und man dem grausamen Spiel der Simulation
ein Ende machen wolle. Auch meines Erachtens liegt kein Bedenken
1) Dannehl, Ueber Simulation. Deutsche militararztl. Zeitschr. 1912.
Bd. 41. S. 361.
2) Fritsch, Erfahrungen fiber Simulation von Irresein und das Zusam-
inentreffen desselben mit wirklioher geistiger Erkrankung. Jahrb. f. Psych.
1880. Bd. 36. S. 322.
3) Reimann, Ueber Simulation von Geistesstdrungen. Jahrb. f. Psych.
Bd. 22. S. 443. '
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 643
vor, die Kaufmann’sche Methode in derartigen Fallen anzawenden.
Sie ist fur kranke Menschen erdacht, die gesund gemacht werden sollen.
Wenn unsere Beobachtungskranke angeben, an Folgeerscbeioungen einer
Krankheit zu leiden, deren kfirperliche Symptome diesem Verfabren
unbedenklich nnterworfen werden, dann ist nicht einzusehen, dass man
auch der Heilung dter psychischen Rrankheitserscheinungen in Shnlicher
Weise zu Leibe geht. Weshalb unsere kriminell gewordenen Krieger
eher den vorubergehenden Cnbequemlichkeiten dieses Verfahrens aus
dem Wege gehen sollen, wie ihre nicht straff&lligen Kameraden,
lisst auch nicht durch die weitgehendste Sentimentalitat sich recht-
fertigen.
Voraussetzung ist naturlich, dass man auch hierbei die Vorsichtsmass-
regeln nicht vergisst, die bei diesem Yerfahren nnu einmal unentbehr-
lich sind. Und ebenso mussen wir uns bei dieser Wiederbelebung des
angeblich erloschenen Erinnerungsvermdgens davor buten, die Frage-
Btellnng nach den Einzelheiten der angeblich aus dem Gedacbtnisse
ausgefallenen Tat irgendwie suggestiv zu gestalten. Man muss auch auf
die unangenehmen Zwischenfalle gefasst sein, die hierbei gelegentlich
einmal auftreten konnen.
Fall 9. Flieger Erich Na., Kaufmann, 26 Jahre. Massige erblicbe Be-
lastung. Als Kind englische Krankheit und Krampfe. Schlechter Schuler.
Yield dumme Streiche. In der Lehre kummerlich. Kam als Kriegsfreiwilliger
ins Feld. Nach wechselnden Schicksalen zertrummerte er mit Kameraden
nachts in Laden die Scheiben, stieg ein und verkaufte spater die Beute. Hatte
stets Dietriche bei sich.
Nach Ergreifung wurde er in einem Nervenlazarett fur verhandlungs- und
haftfahig erklart. Es sei moglich, dass er eine psyohopathische Personlichkeit
sei, ebenso sicher aber, dass er „sich den Eindruck eines SchwerkrankW bei-
zulegen suche u . Dem Personal und dem Arzte gegenuber tat er, als ob er
kaum sprechen konne. atmete schwer, hielt sich den Kopf und schlich an*
scheinend muhsam nmher. Dagegen nnterhielt er sich flott mit einer Bier*
mamsell und Tersuohte von einem Oesterreicher Kranken sich dessen Uniform
zu leihen, um in die Stadt zu gehen. Diesem erzahlte er, er babe flott rer*
dient, viel gelumpt und einen Teil seines Geldes in der Uhrkapsel. Im Kreis*
gefangnis bekam er sofort Anfalle und wurde wieder in das Lazarett zuruck-
gebracht. Seine Abteilung hielt ihn fur einen Simulanten. Aerzt-
licherseits stellte man fest, dass er zweifellos eines simulatorisohen Verhaltens
uberfuhrt sei, doch bestehe die Moglichkeit, dass er ein Psyohopath sei.
Anstaltsbeobachtung. Zunachst blieb er unter der Bettdeoke liegen,
starrte nach den Tiiren und sah mehrere Male angstlich unter das Beit. Auf
Fragen gab er gar keine Antwort.
Am nachsten Morgen gab er richtige Antworten, klagte aber uber heftige
Kopfschmerzen und legte sich ostentativ ein nasses Handtuch um den Kopf.
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Am darauffolgendenTage wollte er wieder nicht wissen, wo er sei, stellt©
an das Personal ganz sinnlose Fragen und klagte bestandig fiber die heftigsten
Kopfschmerzen. Dem Oberwarter trat er in planloserWeise in denWeg, starrte
ihn wie abwesend an und berfihrte ihn wie prfifend. Der Saalwaohe erzahlte
er, er hore Stimmen, die ihn riefen. Eine Zeit lang ahmte er alle Geberden,
Bewegungen und Hantierungen seiner Bettnachbaren nach. Zwischendurch
beschaftigte er sich mit Lesen und unterhielt sioh mit don anderen Kranken,
vor allem mit zwei sohwer Kriminellen. Das Untersuchungszimmer betrat er
mit leeren Blicken. Die Frage nach seinem Geburtsjahr wiederholte er fitters
wie abwesend. Auf weiteres Fragen sagte er, den Arzt vorwurfsvoll anschauend:
2 X 12 = 25. Auf die Frage nach seinem Alter fragt er kindlich zutraulich:
„Meine Seife ist doch hier? Sind meine Hosen nicht hier?* Dann stand er
auf, ging vor den Spiegel, besah sioh wohlgefallig und kehrte gravitatisch auf
seinen Platz zurfick. Auf die Frage, wann er beim Militar eingetreten sei,
meint er, „das ist schon lange her, drum freut es uns so sehr u . Was ist Ihr
Yater? „Der tut auch in Berlin sein. Er ist Feldwebelleutnant. Du, in dem
Kronleuchter fehlt eine Birne, die ist hinausgeschraubt. u Die Zahl seiner Ge-
schwister konne er nicht angeben, da sei auoh einer von Soldat. In welcher
Strasse er in Berlin gewohnt habe, konne er nicht angeben, „sehen Sie, solche
Kopfschmerzen hat man, dass man aliens vergessen hat u . Er habe eine Ober-
realschule besucht, wo die aber gelegen habe, konne er nioht sagen, da sei er
noch ein ganz kleines Baby gewesen.
Bis zu welcher Klasse sind Sie gekommen? „In Berlin bin ich gewesen,
was macht man denn mit so einem Dinge? 1914 sei er als Freiwilliger einge¬
treten, das weitere weiss ich nicht, da mfissen Sie in meinem Passe nachsehen.
Ja Flieger war ich. Ja Flieger in der Tfirkei und zwar der allerbeste. u Will
sich dann plotzlioh die Hande waschen. „Nein sind Sie schmutzig. u Was er
hier in der Anstalt solle, wisse er nicht. „Nun kann ich doch auch gleich
wieder gehen, denn ein fremder Mann hat mir gesagt, ich solle im Bette liegen
bleiben. u Als unten die Hausglocke lautet, erhebt er sich, um aufzuschliessen.
Er komme direkt aus einem Lazaretto in Berlin und sei ganz allein hier-
her gekommen.
An welchem Flusse liegt Berlin? „In Allenstein war ich auch. u
In den nachsten Tagen beantwortete er jede Frage, die man an ihn*
richtete, mit den Worten: „Morgen frfih um 9 Uhr muss ich zur Beerdigung. a
Bei der Pupillenuntersuchung kniff er immer die Augen fest zu. Bei der
Prfifung des Augenfussschlusses fiel er schon um, ehe er fiberhaupt die Augen
geschlossen hatte.
Auf der Rfickkehr erzahlte er dem Unteroffizier, dass er sich verstellt
habe, er sei ebensowenig verrfickt, wie die andern, die dort zur Boobachtung
gewesen seien. Er sei der gesundeste Mensch von der Welt und werde ver-
suchen, aus dem Lazarett zu entweichen, da er frfiher schon im Auslande ge¬
wesen sei und ganz genau Bescheid wisse. Lieber ware es ihm schon, wenn
er damit durohkomme, dass er den Verruckten markiere. Dann werde er um
so schneller entlassen und beziehe Rente. Er wisse genau, dass die Aerzte
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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schon an seinem Geisteszustande zweifelten. Er babe aucb einen Freund, der
es lebbaft bedanre, sicb nicht so anstellen zu konnen wie er. Der habe aber
wenigstens eine alte Kopfverletzung aufzuweisen und hoffe damit sein Ziel er-
reiohen zu konnen. Er habe im Gefangnis absichtlich nicht gegessen und sein
Brot verschenkt. Das Hungern halto man ganz gut aus, wenn man einmal fiber
den Anfang hinweg sei. Er habe nur da gestohlen, wo es die Leute gut hatten
entbebren konnen. Ob er nicht gut markieren konne, ihn mfisse doch jeder
Menscb fur verrfiokt balten.
Wenngleicb der Angeklagte als Psychopath aufgefasst werden musste,
stand die Hysterie, die man ihm zuerkannt hatte, wieder auf ziemlich
schwacben Ffissen und die Taten, die er begangen hatte, konnten in
keinen inneren Zusammenhang mit der Hysterie gebracht werden.
An seinem Gest&ndnis hielt er spater immer auch in abgeschw&chter
Form fest und liess in seinem Wesen nichts mehr erkennen, was an sein
Tbeaterspiel w&hrend der Beobachtung erinnert hatte.
Abgesehen von der kritischen Prfifung, die derartige Gestfindnisse
an Eameraden an und ffir sich erfordern, scheinen sie gegen eine ziel-
bewusste Simulation zu sprechen, well sie den Erfolg der Vortfiuschungs-
bestrebungen ohne weiteres in Frage stellen kfinnen. Das gilt in
gleichem Masse von der auch sonst so oft geubten Praxis der Simulanten,
es nicht ffir der Mfihe wert zu erachten, an ihrer Komodie festzuhalten,
wenn der Arzt nicht zugegen ist.
Das liegt zum Teil daran, dass sie der Meinung sind, dass ihre
Eameraden und das Personal unbedingt auf ihrer Seite stehen mfissten.
Dazu kommt sehr oft bei ihnen die selbstzufriedene Renommiersucht,
die es nicht duldet, dass sie fiber ihre Leistungen den Mund balten.
Im Grunde genommeu kommt aber hier in erster Linie die all-
gemeine minderwertige Veranlagung zum Ausdruck, die ihnen die nfitige
Eonsequenz zur lfickenlosen Durchffihrung ihrer Bestrebungen versagt.
Wie in manchen anderen der hier beigebrachten Falle hat auch
Na. den Ganser’schen Symptomenkomplex, — oder richtiger gesagt, —
einen Ersatz daffir vorgeffihrt. Wie der hysterische Stupor Raecke’s 1 )
und die emotive Stupidit&t Jung's 2 ) stellt er ein Gebiet dar, auf dem
die Begutachtung immer am ersten Bedenken tragen wird, eine scharfe
Greuze zwischeo Simulation und Geisteskrankheit zu ziehen.
1) Raecke, Beitrag zur Kenntnis des hysterischen Dammerzustandes.
Allgem. Zeitscbr. f. Psych. Bd. 58. S. 115. — Hysterisoher Stupor bei Straf-
gefangenen. Ebendas. Bd. 58. S. 445.
2) Jung, Ueber Simulation von Geistesstorung. Journ.f.Psyoh.u.Neuro-
logie. 1903.
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Auch naclidem nach dem Vorgange von Stertz dem Erankheiis-
bilde der Name der bysterischen Pseudodemenz beigelegt wird, ist die
am meisten in die Augen fallende Erscheinung die, dass die Kranken
bei alien Anforderungen, die an ibre geistige Leistungsfahigkeit gestellt
werden, einen so gut wie vollkommenen Ausfall aller Kenntnisse dar-
bieten, die sie bald in der zweifelnden und fragenden Form einer nocb
richtigen Antwort, bald durcb die Antwort „ich weiss nicht“, oder in
der typiscben Ausdrucksweise des Vorbeiredens zum Besten geben. Man
hat dies Symptom jetzt im wesentlichen der Hysteric zuerkannt, ob-
gleich es gelegentlich, wenn aucb in grOberen Umrissen bei mancben
Formen der Dementia praocox beobacbtet wird.
Bei aller Wertsch&tzung dieser Erankheitserscheinung bat man nie
ganz vergessen, dass es fruber als eines der sichersten Zeichen der
Simulation gegolten hat.
Schon zu der Zeit, in der Ganser auf diese Erscheinung aufmerk-
sam machte, war es anfgefalleu, dass es sicb bei den von ibm beob-
achteten Fallen nur um verbrecberische PersOnlichkeiten handelte. Auch
in der Folgezeit ist das Symptom im wesentlichen bei Straf- und Unter-
suchungsgefangenen beobachtet worden. Auch die F&lle, in denen es
bei Unfallskranken in die Erscheiuung trat, kOnnen von vornherein den
Gedanken an eine Vortauschung nicht vergcheuchen. Denn auch hier
ist das Ziel, das durch eine solche Vorfuhrung erstrebt werden soil,
deutlich erkennbar. Nun sind ja auch Falle beobachtet worden — und
sie stehen auch mir zur Verfugung, — in denen irgend ein derartiger
Zweck einer etwaigen Vorfuhrung nicht erkennbar ist. Aber von alien
Seiten wird anerkannt, dass derartige F&lle iusserst selten sind und
nur Ausnahmen darstellen.
Und wenn wir jetzt diese Erscbeinungen bei Eriegsteilnebmern be-
obachten, die schwere Eriegserlebnisse durchgemacht haben, bei denen
irgend welche kriminelle Gesicbtspunkte nicht erkennbar sind, so darf
doch nicht vergessen werden, dass bei ibnen im Unterbewusstsein der
Wunsch und das Bestreben schlummert, der Wiederholung derartiger
Anfechtungen zu entrinnen. Gerade diese Falle sind am meisten ge-
eignet, den Uebergang zwischen der bewussten und unbewussten Vor¬
fuhrung dieser Erscheinungen zu vermitteln, wie diese Zust&nde auch
in anderer Beziehung manche Aehnlichkeiten mit haftpsychotiscben Er¬
scheinungen erkennen lassen.
Auch wir haben unter unserem milit&rischen Material eine recht
betr&chtliche Menge ganserahnlicher Zustande gesehen. Aber auch hier
waren die Falle, die gknzlicb aus dem kriminellen Bereiche herausfielen,
ausserordentlich selten.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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So wird man auch jetzt an den immer wieder ausgesprochenen
Mahnungen zur Vorsieht in der Wertung dieses Symptoms festhalten
tnfissen.
So wies Klein 1 ) auf die Bedeutung des Symptomenkomplexes bin
and Jansky 2 3 ) liess sicb trotz des Auftretens dieser Erscheinungen nicht
abhalten znr Diagnose der Simulation zu kommen. Henneberg bielt
trotz der Tatsache, dass die Antworten bei Simulation sich inhaltlicb
nicht von den Antworten bei hochgradiger bysterischer Zerstreutbeit
und in manchen Fallen vom D&mmerzustand unterschieden, daran fest,
dass das bewusste Vorbeireden nicht als Ganser’sches Symptom be-
zeichnet werden dfirfe. R6gis 8 ) betonte, dass das Vorbeireden doch
nocb nicht aufgebOrt habe, ein Merkmal der absicbtlichen Simulation
zu sein, und bracbte einen Fall bei, in dem der Betreffende selbst ein*
gestand, das Vorbeireden simuliert zu haben. Besondere Vorsieht bei
der Verwertung dieses Symptomes riet er besonders fur Militfir-
personen an, bei denen er Simulationsversucbe als relativ haufig be*
zeichnete. Bonhdffer 4 ) hob hervor, dass bei der Mehrzahl der Falle
von hysterischem Scheinblodsinu zum mindesten im Beginn eine be¬
wusste Absicht, Gedachtnisschwache, bezw. Geisteskrank-
beit darzustellen, vorliege. Daffir spreche die zunehmende Haufig-
keit dieser Zustande im letzten Jabrzehnt bei Renteuneurotikern und
neuerdings bei Heeresangehflrigen. Ein grosser Teil hierher gehoriger
Falle gehe unter Fehldiagnosen und werde durch Festnehmen seitens
der Aerzte fixiert. In der Klinik gelinge es meist innerhalb weniger
Tage, durch Ignorieren, Betonung der Unerheblichkeit und Verlegen auf
die unruhige Station, den Komplex zu beseitigen.
Wenn wir dem Ganser’schen Symptom in forensischer Beziehung
die gebuhrende Bedeutung zukommen lassen wollen, sind wir jedenfalls
gezwungen, unter alien Umstanden vorher den Nachweis zu erbringen,
dass tatsachlich eine Hysterie vorliegt (abgesehen von den selteneren
Fallen, deren Zugehfirigkeit zu einem katatonischen Krankheitsbild sich
un8chwer nachweisen lasst). Jedenfalls dfirfen wir uns nicht bewegen
lassen, nur aus dem Vorhandensein dieses Symptomenbildes ruck-
1) Klein, Ueber^psychische Storungen in der Untersuchungshaft. Zeit-
schrift f. Medizinalbeamte. 1917. Nr. 13 u. 14.
2) Jansky, Simulation der Geisteskrankbeit bei einem Morder. Casopis.
ceskyou 14k. 1917. Bd. 56. S. 43.
3) Rlgis, Simulation de la folie et syndrome de Ganser. Revue de mid.
llgale. 1912. 19. S. 226.
4) Bonhoffer, Diskussion fiber den Henneberg’schen Vortrag l.c.S. 1017.
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schliessend die Diagnose anf Hysteric zu stellen, wie wir das wieder-
holt erlebt hahen.
Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass aucb Hysteriker ge-
legentlich einmal bewusst dies Symptom benutzen, urn einen forensi-
schen Vorteil zu erringen. Wird das Vorbeireden hier aber in einwands-
freier Weise vorgefGhrt, dann wird man kaum eine Handhabe haben,
auch den sUrksten Verdacht auf Simulation zum Ausdrucke zu bringen.
Dass das Vorbeireden vorget&uscht werden kann, ist durch eine
genugende Zahl von Fallen, die ein Gest&ndnis abgelegt haben, be-
wiesen worden. In groberen Umrissen ist es auch gar nicht so schwer
vorzufuhren. Schon Ilenneberg machte darauf aufmerksam, dass man
ein typisches Vorbeireden auch von Vollsinnigen sehr leicht dadurch
erhalten kann, dass man sie aufforderte, sich geisteskrank zu stellen,
auch wenn die Versuchspersonen nichts von psychischen Krankheits-
bildem wussten.
Der Ausfall der landlSufigen Kenntnisse geht eben aus der An-
nahme des Laien hervor, dass die Geisteskrankheit im wesentlicben in
einer allgemeinen VerblOdung und dem Schwinden des gewbhnlichsten
geistigen Besitzstandes gipfele.
Zur Entscheidung ist zunachst die mdglichst scharfe Fassung des
Vorbeiredens in engerem Sinne erforderlich.
Man darf nicht [Schuppius 1 )] alle groben Feblantworten, alle un-
sinnigen Reaktionen auf die gestellten Fragen als Vorbeireden bezeichnen.
Es ist gerade fur das Ganser’sche Vorbeireden bezeichnend, dass
sich immer ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen der richtigen und
der falschen Ant wort herstellen lasst, auch wenn man manchmal etwasMuhe
hat, die Gedankensprunge und die ausgefallenen Gedankenglieder nach-
zuweisen.
Nimmt man eine genauere Analyse der Antworten vor, dann wird
man schon eher zu der Annahme kommen, ob eine Simulation vorliegt
oder nicht. Selbst wenn man damit rechnet, dass unsere Beobachtungs-
kranken sich bemuhen, sich in der Krankheit, die sie vorfuhren wolleu,
anszubilden, und auch im gewissen Masse Gelegenheit dazn haben, ist
es kaum anzunehmen, dass sie den Feioheiten dieses Reaktionstypus
auf die Spur kommen werden.
Selbstverstaudlich schwinden alle Bedenken sofort, wenn es gelingt,
eine Stdrung des Bewusstseins und damit den Zusammenhang des Vor-
1) Sohuppius, Das Symptomenbild der Pseudodemenz und seine Be-
deutung fur die Begntachtungspr&zis. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych.
1914. Bd. 22. S. 566.
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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande nsw. 649
beiredens mit einem D&mmerzustand festzustellen. Nur darf dabei nicbt
vergessen werden, dass gerade nnsere Beobachtungskranken, die sich
bemuhen, diesen Typus vorzufiihren, die Neigung haben, sich im all-
gemeinen damlich und dflsig 'hinzustellen, ohne dass eine tatsachlicbe
BewosstseinsstSrung vorliegt. Das Verhalten der Umgebuug gegenuber
schafft bier meist AufklSrung.
Dass man das Symptom nicht durch die Art der Fragestellnng
direkt bervorrufen darf, wie das ja unschwer zu erreichen ist, ist selbst-
verst&ndlich. Wie Schuppius richtig bervorhebt, ist bei Simulanten
eine grdssere Mannigfaltigkeit bei den Antworten zn erwarten, wabrend
man bei *den unverfalschten Fallen immer eine gewisse EintOnigkeit in
der Art der Antworten beobachtet.
Einen Anbaltspunkt fur die Beurteilung haben wir auch in der
Daner dieser Zustande. Handelt es sich nicht um einen bysterischen
Dammerzustand, dann wird das pldtzliche Verschwinden des Symptoms,
vor allem, wenn es im Anschluss an eine geeignete suggestive Ein-
wirkung anf die Beobachtungskranken, doch mit diesera Verhalten auf-
zuhOren, erfolgt, die Annahme nahelegen, dass es sich ura kein echtes
Symptom gehandelt hat. Die Falle, in denen dies Symptom unab-
hangig von einer BewusstseinsstOrung lange Zeit durchgeffthrt wird,
sind entschieden Ausnahmen. Mehrfach hatten wir hier Gelegenheit
zu beobachten, dass es bei einor zweiten Beobachtung gar nicht mehr
vorgefuhrt' wurde, nachdem es bei der ergten Begutachtung nicht an-
erkannt worden war.
Scbliesslich sind wir noch in der Lage, durch den Nachweis der
objektiven Merkmale der Hysterie die Diagnose zu stutzen, in erster
Linie der GefuhlsstSrungen und der Gesichtsfeldeinengung. Wir dfirfen
aber auch hier nicht vergessen, dass man gerade bei diesem Reaktions-
typus die Frage nach der Simulation dieser anscheinend rein objektiven
Symptome nicht ganz ausschalten darf. Wie unsere Simulanten hier
die psychischen Krankheitssymptome zu ihren Gunsten zu gestalten
suchen, schaffen sie sich im Notfalle dazu auch noch die somatische
Unterlage. Alan braucht dabei gar nicht zu verlangen, dass sie uber
die Bedeutnng dieser Befunde unterrichtet sein sollen, obgleicb nach
unseren Erfahrungen auf diesem Gebiete mehr geleistbt wird, als fur
die Beurteilung gerade angenehm ist. Da sie hier auch sonst das
Gegenteil von dem tun, was der vernunftige Mensch in solchem Augen-
blicke zu tun pflegt, so kann es ihnen nicht schwer fallen, auch bei
der kOrperlichen Ontersuchung die entsprechende Nutzanwendung zu
finden. Die Benutzung der komplizierten Untersucbungsmetboden ist
hier unbedingt erforderlich.
Arehir f. Psycbi atria. Bd. €0. Heft 2/3. 42
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Dr. Monkemoller,
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In den meisten Fallen wird es moglich sein, abgesehen von dem
Ganser’schen Symptom dnrch sonstige unanfechtbare Krankheitser-
scheinungen die Diagnose sicber zu stellen. Bei einer l&ngeren Be-
obachtung fallen die Simulanten aucb fast ausnahmslos aus der Rolle.
Und schliesslich genugen die Erfabrungen, die man im Laufe der Zeit
sammelt, um auch dem subjektiven Momente bei der Beurteilung dieser
Zustande zu seinem Recht zu verhelfen.
In forensischer Beziehung hat die in mancher Beziehung mit
der Hysterie so nahe verwandte Neurasthenic verhaltuism&ssig selten
zu weitgebenden ErOrterungen Anlass gegeben.
Dass der Neurasthenie bei einem sehr erhebliehen Teile unserer
militarischen Klientel eine nicht geringe Bedeutung zukommt, bat sich
im weiteren Verlaufe des Krie^es immer mehr herausgestellt. Sie ist
allm&hlich etwas so alltagliches geworden, dass sie gar nicht mehr
auffallt. Da ihr der Richter von vornherein nur die Bedeutung einer
Nervenkrankheit zuerkannt, die keine Grundlage fur den § 51 abgeben
kann, fuhrt sie aus demselben Grunde nicht zur Beobachtung, aus dem
der Verteidiger sich nicht auf diesen Paragrapben beruft. Die Ange-
klagten selbst fuhren ja nun ziemlich regelm&ssig subjektive Rlagen
neurasthenischer Natur ins Feld und tragen hierbei auch gerne die
grellen Farben auf, die nun einmal zum Wesen der Neurasthenie ge-
horen. Wenn sie aber in sich die Regungen fiihlen, sich durch Ueber-
treibung oder Vortauschnng den Schutz des § 51 zu erwirkcn, erklaren
sie sich lieber fur eine bandlichere Geisteskrankheit, weil es auch ihnen
nicht verborgen bleibt, dass sie aliein mit einer solcben Nervenkrank¬
heit kein Gluck haben. Nur die D&mmerzustande, die auf einer solchen
Grundlage erwachsen, konnten ffir diesen Zweck genugen und werden
auch gelegentlich nach dieser Richtung hin ausgcbeutet.
Damit soli nun nicht gesagt sein, dass nicht auch das Bestreben
vorliegen kann, diese Beschwerden in der ausgesprochen^n Absicht zu
ubertreiben, sich damit dem Militardienste zu entziehen und dass hier-
durch der Simulationsparagraph des Militftrstrafgesetzbuches erfullt wird.
Aber wie die Berufsgenossenschaften nur gauz ausnabmsweise gegeu
die Vertreter derartiger Simulationsbestrebungen auf gerichtlicbem Wege
vorgehen, kommt es in militariscker Beziehung nur sehr selten zur
Anklagc.
Die Neigung zur ubertrieben starken Betonung der subjektiven Be¬
schwerden, ja gelegentlich sogar die allzuscharfe Auspr&gung oder
Vortauschung der objektiv nachweisbaren Beschwerden gehSrt nun ein¬
mal zu den kennzeichneuden Erscheinungcn der Neurasthenie. Obgleich
von diesen Bestrebungen zur bewussten Simulation eine Briicke heruber-
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Die Simulation psychischer Krankbeitszustande usw.
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fuhrt, ist es hier fast ebenso schwer wie bei der Hysterie und meist
gar nicbt mdglich, die Greuze zwiscben bewusster und unbewusster
Uebertreibung zu ziehen.
Man wird aucb bier Bedenken tragen, selbst in Fallen, in denen
man die Deberzeugung gewonnen bat, dass Uebertreibung im Spiele ist,
die entsprechenden forensischen Schlussfolgerungen daraus zieben.
Man muss ja den Tragern dieser Form der Meurasthenie stets zu
gute balten, dass sie ibre subjektiven Beschwerden tiefer empfinden,
afs das aus ihrer objektiven Leistungsfahigkeit hervorzugehen scbeint.
Dazu stellen sich diese verscharften subjektiven Bescbwerden in der
Regel am st&rksten bei Personlicbkeiten ein, die scbon in der Anlage
besonders empfindsam und wenig widerstandsffihig sind und bei denen
eine gewisse allgemeine Minderwertigkeit die Willenskraft in ffihlbarem
Masse schw&cht. Gerade die angeborene Schlaffheit und Energielosig-
keit, die durch die erlittenen Scbadigungen des Krieges eine Vertiefung
erfahren, eyleichtert das Aufwuchern der Bestrebungen, die vorhandenen
Beschwerden in ungebuhrlicher Weise aufzubauscben. Die allgemeine
Missstimmung, die dnmpfe Unlust, die durch das Gefuhl der Leistungs-
unfibigkeit hervorgerufen wird, ist nur zu sehr dazu angetan, sie iu
dieser Neigung noch mebr zu bestarken.
Wenn man hierbei aucb besondere Vorsicbt gelten lassen muss,
hat man doch einen gewissen Anhalt am kSrperlichen Befunde, der
einen objektiven Massstab dafiir abgeben kann, dass tatsachlicb
eine scbwere Schadigung des Nervensystems vorliegt 1 ). Ausschlag-
gebend fur die forensische Wertung kdnnen diese objektiven Symptome
allerdings auch nicbt sein. Mit der Mdglichkeit, dass derartige un-
zweifelhafte Neurastheniker gelegentlich aucb anscheiuend der Simulation
nicht erreichbare Symptome vorzutauschen wissen, muss gerecbnet werden.
Darauf weist miter anderem sehr eindrucksvoll Szedlack 2 ) hin, der
sogar fiber einen intelligenten Kranken berichtet, der, an Lues leidend,
Gehimsyphilis simulieren wollte und durch Eintrfiufeln von Atropin die
Lichtstarre der Pupillen herbeifuhrte.
Fall 10 . Pionier Alfons Zo., Kaufmann, 36 Jahre. Als Kind Kopf-
schmerzen. Sonst gesund. Mit 5 Jahren wurde er von seinem Bruder mit dem
Kopfe gegen eine Tiscbecke gestossen. Zeitweise starkerer Potus, konnte viel
vertragen. Starker Kaucher. Auf der Schule lernte er sehr gut. Spater einige
11 Rubemann, Ueber einige bei Neurosen vorkommende Simulation
und Uebertreibung ausschliessende Symptome. Zeitschr. f. psyoh.-diat. The-
rapie. 1917.
2) Szedlack, Simulierung und Aggravation nervoser Krankheiten wah-
rend des Militardienstes. Budapesti Orvosi Ujsag. 1916. Nr. 22.
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652
Dr. Monkemoller,
Jahre auf einem Lehrerseminar. Die Examina bestand er glanzend. Zuletzt
Referendar.
Im Oktober 1905 trat er im Eisenbahnregiment in Berlin-Schoneberg ein.
Im Januar 1906 entwich er yom Eisenbahnregiment Berlin, weil seine Brant
von ibm in anderen Umstanden war. Er blieb in der Schweiz bis 1915. Hier
zeitweise wegenNervenerscheinnngen in Behandlung. Angeblich wegen einer
Sehstorung in einer Privaklinik, sah Schlangen und glaubte sich von ihnen
erwurgt. Nach seiner Sohilderung war er in der Schweizer Zeit immer nervos.
Stets will er eine Neignng zur Ortsveranderung gehabt haben nnd vom Hause
einmal fortgelaufen sein.
Bei Kriegsausbrnch begann er, „da er sich doch gerne patriotisch be-
tatigen wollte tf , einen schwunghaften Lebensmittelhandel von der Schweiz
nach Deutschland. In Wien verbaftet, wurde er ansgeliefert. Hier Verurtei-
lung zu 2 Jahren Gefangnis („weil er aus dem Wege geraumt werden sollte,
da er eine grosseErfindnng gemacht hatte, derenErtrag man ibm nicht gonnte u ).
Seine Strafe machte er in Ragnit ab. Ein Rest wurde ihm geschenkt, „weil er
sein Vergehen durch Tapferkeit vor dem Feinde wieder gut machen wollte a .
Obgleich er im Gefangnis noch Nervenbeschwerden gehabt hatte, sollte er so-
fort wieder Dienst tun und wurde fur transportfahig fur das Feld erklart.
„Er war seelisch gebrochen und fiihlte sich gehetzt wie ein Hund a . Um
sich zu kraftigen, ging er in eine Wirtschaft. Auf dem Heimwege brach er be-
wusstlos zusammen. Als er zu sich kam, ging er zur Kaserne, die er ver-
schlossen fand. Da er sich nicht hineintraute, trank er in einem Restaurant
eine Flasche Wein und verbrachte mit einem Madchen die Nacht. Da er sich
nicht wohl fiihlte, brachte diese ihn zu einer „Legationsratin u , die ihm eine
Flasche Morphium mitgab, die sie aus einer sehr grossen Flasohe abzapfte.
Sie lehrte ihn, wie man sich das Morphium einspritzen musste, immer senk-
recht sich hinein bis in die Schlagader, immer 1—2 Strich. Da er sich matt
und zerschlagen fiihlte, mietete er sich zwei Wohnungen.
Hier nannte er sich Dr. R., liess sich Visitenkarten machen und wandte
sich nun an alle moglichen Firmen, indem er ihnen Bohnen, Erbsen und Kak&o
in grossen Mengen anbot. Er wollte sie aus einem Geschaft in Holland, auf
dessen Namen er spater nie kommen konnte, eingekauft haben. Er verhandelte
mit alien moglichen Geschaftsvertretern in der umsichtigstenWeise und sohloss
mit ihnen Kaufvertrage ab. Zum Beweise dafiir, dass die Waren sich in Lehrte
auf der Bahn befanden, zeigte er gefalschte Frachtbriefduplikate vor. Die
Stempel zu diesen Frachtbriefen hatte er sich in mehreren Rahmen anfertigen
lassen. Diese Geschafte, bei denen er auf die Beteiligten einen ausserst ge-
sohaftsgewandten und zielbewussten Eindruck machte, spielten sich in einem
Zeitraume von 14 Tagen ab.
Er behauptete nun spater, in der ganzen Zeit habe er immer unter dem
Einflusse des Morphiums gehandelt. Naoh den Einspritzungen sei ihm so ge-
wesen, als ob er schwebe. Er sei nur so mit fortgerissen worden. Wenn er
eingespritzt hatte, wurde er in seinen Geschaften geradezu zur Begeisterung
hingerissen. Am Abend wusste er denn meist gar nicht, was er getan hatte.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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Seine Schwagerin habe ibm gesagt, dass er oft ganz nnzutreffende Antworten
gegeben babe.
Sohliesslicb, als er tibersehen konnte, welohe Geschafte ihm gegluckt
waren, hob er in der Bank ungefahr 70000 M. ab, die von den betreffenden
Firmen niedergelegt gewesen waren. Die Unterschrift unter den Vertragen
hatte er am letzten Tage erst vollzogen.
Am Abend vorher batte er noch ziemlicb erbeblicb gezecht. Er hatte
dabei aber durchaus die Direktion bebalten und eine genaue Erinnernng be-
wahrt. Gegen Mittag vollzog er die Unterschriften und hob das Geld ab.
Dann fubr er nacb Stuttgart und bielt sich dort langere Zeit auf, indem
er mehrereMal den Versuch machte, eine sichere Unterkunft zu bekommen, und
einmai eine Entweichung nach der Schweiz yorbereitete.
Am 22. 8. 1917 wurde er verhaftet und haufig vernommen, wobei er sich
ausserst zielbewusst und in alien Dingen beschlagen erwies. Er wurde nach
Berlin uberfiihrt und dort, weil ein alter Tripper wieder ausgebrochen war, in
ein Lazarett uberfiihrt.
Am 2. 10. entwich er von dort. Angeblich hatte man ihn als grossen
Sohieber zu alien moglichen bdsen Zwecken ausniitzen wollen. Infolgedessen
habe er sich wenig heimisch gefiihlt. Das habe ihn in namenlose Auf-
regung versetzt, die anderen hatten das benutzt und ihn bei dem ersten Aus-
bruohe mit genommen. Tatsachlich hatte er einen anderen kriminellenKranken
bewogen, mit ihm auszubrechen. In Berlin hielt er sich langere Zeit auf, liess
sich eine Offiziersuniform anfertigen, lebte recht gut und bereitete andere
Untemehmungen vor.
Spater behauptete er, er habe in dieser Zeit ganz plan- und ziellos ge-
lebt. Er habe versucht, unter einem anderen Namen in das Sennelager zu
koznmen, um seinen heisscsten Wunsoh, fiir das Vaterland zu kampfen, zur
Tat werden zu lassen.
Am 13. 1. wurde er verhaftet und am 25. 6. nach Hannover uberfiihrt,
nachdem es ihm in der Untersuohungshaft sehr gut ergangen war.
Die Transporteure hatten ihn sehr schlecht behandelt. Er habe sehr
trube in die Zukunft gesehen. So sei er aus dem schnellfahrenden D-Zuge
gesprungen. Tatsachlich hatte er, indem er das Klosett benutzte, seine Be-
gleiter getauscht, war in das Nebenabteil gezogen und hatte, vor dem Heraus-
springen noch langere Zeit gezogert, ehe er lossprang.
Nach seinen spateren Angaben war er einen Augenblick betaubt, stand
auf, fiel aber hin und wurde in den Zug zuriickgefuhrt.
Am 7. 7. liess er sich in der Arrestanstalt, nachdem er vorher gar nicht.
aufgefallen war, vorfiibren und erklarte, er habe auf dem Kopfe einen schweren
Bleiklumpen, Schmerzen im Arme und standiges Rauschen im Kopfe. Er wisse
auch nicht, weshalb er da sei. Als ihm erklart wurde, dass er der Fahnen-
flucht beschuldigt werde, erklarte er, es sei riohtig, dass er sioh im Jahre
1906 vom Eisonbahnregiment entfernt habe. Er sei nicht zu seiber Truppe
zoruckgekehrt und habe sich in der Sohweiz aufgehalten. Wie er wieder nach
Deutschland gekommen sei, wisse er nicht. Von seinen ganzen Taten wollte
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654
Dr. Monkeraoller,
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er nichts wissen. Er verlangte bestandig, man solle ihm den Arm abschneiden
und ihm einen halben Zentner Blei aus dem Kopfe nehmen.
Spater erklarte er dem Gerichtsoffizier, selbstredend gebeer zu, vor acht
Jahren fahnenfliichtig geworden zu sein, aber deshalb nehme ihn doch die
Schweiz. Wie komme er also nach Deutsohland?
Da er beim Eisenbahnregiment in Schoneberg aktiv gewesen und weil
Berlin der Ort der Tat gewesen sei, musse dieSache vor einem Berliner Kriegs-
gericht verhandelt werden. Ausserdem bitte er um einen Arzt, der ihm den
Bleiklumpen, der doch mindestens 1 / 2 Zentner wiege, aus dem Kopfe nehme.
Der linke Arm musse ihm weggeschnitten werden > da er ihm so schrecklich
weke tue.
Aehnlich schrieb er am 14. 7. in einem Briefe an seine Frau, sie moge
ihm ordentlioh Essen schicken und ihn in Bern abmelden. Dabei teilte er ihr
die genaue Adresse seines Verteidigers mit. Imraer wieder sprach er von seiner
Fahnenflucht, die vor acht Jahren erfolgt sei. Neben nervosen Besohwerden
klagte er fiber absolutes Fehlen des Erinnerungsvermogens, wie er von Bern
nach Hannover gekommen sei. Seiner Frau suggerierte er die Antwor-
ten auf alle moglichen Fragen nach seinen fruheren Nervenerkran-
kungen and den behandelnden Aerzten. In anderen Briefen behauptet
er, er konne nicht mehr lesen, alles sei duroh die grosse Bleiplatte ver-
dunkelt, die auf seinem Haupte laste. Man wolle ihm einreden, er sei aus dem
Zuge gesprungen. Das glaube er aber nicht, denn dann ware er unfehlbar tot.
Man habe gesagt, er habe davon eine Hirnerschiitterung bekommen, das glaube
er nicht, man habe ihn jedenfalls fallen lassen, als man ihn yerschleppt habe.
Seine Frau solle ihm doch nicht sChreiben, dass es keinen Tee, Kaffee, Kakao
gebe. Ob sie nicht mehr rechnen konne. Sein Sohn solle 9 Jahre alt sein,
der sei doch erst 6 Jahre alt.
Zwischendurch machte er ganz geordnete Eingaben an das Kriegs-
gericht.
Als er in eine dunkleArrestzelle eingesperrt wurde, erhob erBeschwerde.
Noch nie in"seinem Leben sei er ausgebrochen, auch nie eingesperrt gewesen,
nur 1906 in Berlin, ehe er die Fahnenflucht beging. Auch musse er betonen,
dass er Neurastheniker sei, wenn er das auch nur ungern sage.
Die Zustellungsurkunde wies er zuriick, dass musse wohi ein anderer sein, er
habe doch beim Eisenbahnregiment gedient und nicht bei den Pionieren.
Am 8. 8. 1917 wurde er militararztlich untersucht. Er behauptete, jetzt
sei 1914. Vom Kriege wollte er nichts wissen. Jetzt sei doch gerade der Bal-
kankrieg gefiihrt worden. Wie er nach Hannover gekommen sei, wisse er nicht.
Er habe in Bern gewohnt. als er eines Morgens aufwachte, habe er in der
Arrestzelle gelegen, Man habe ihm dort eine fremde Uniform hingelegt. Ueber
seine sonstige Vorgeschichte machte er sehr genaue Angaben und hob alles
hervor, was ihn als krank erscheinen lassen konnte.
Jetzt habe er dasGefuhl, dass ein schwerer Bleiklumpen auf seinem Kopfe
liege. Er musse annehmen, dass einer ihm diesen auf den Kopf geworfen
habe. Er sei jedenfalls, als man ihn aus der Schweiz holte, an der Grenze
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Die Simulation psycbischer Krankheitszustande usw. 655
aus dem Zuge herausgeworfen worden, dabei habe man diesen Klumpen auf
ihn gestiirzt. Jetzt wolle man ihn umbringen und der Arzt habe schon Blau-
saure in seinen Kaffee getan.
Fasst gut auf. Wird nicht abgelenkt. Fliessender Gedankengang. Lachelt
haufig listig.
Er wurde als neuropathische Persdnlichkeit und Simulant bezeichnet.
Am 12. Januar sohreibt er dann, er wisse jetzt wieder, was
passiert sei, aber lediglioh dadurch, dass er seine Erinnerung aus einer
AnzahlNotizen, Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Briefkopien rekonstruiert
habe. Aus diesen gehe hervor, dass er zur Zeit der Tat sohwer verwirrt
gewesen sei. Seine Erinnerung fangt dementsprechend damitan, dass er alles
das, was als krankhaft erscheinen konnte, mit ganz genauer Zeit und Ortsbe-
zeichnung bis in die feinsten Einzelheiten vorbringt.
Von da an sind seine Eingaben vollkomraen sachgemass und in den Ver-
nehmungen weiss er glanzend Bescheid.
Anstaltsbeobachtung. DieEreignisse, die sich mit seinemAbspringen
aus dem Zuge abgespielt hatten, konne er nur nach Notizen schildern, die er
sich in der Haft gemacht habe. Was vorher geschehen sei, sei ihm ganzlich
aus der Erinnerung geschwunden gewesen. Er habe sich immer in der Zeit
gewahnt, in der noch in der Schweiz gewesen sei. Spater sei alles in seine
Erinnerung zuruckgekehrt, aber lediglich an der Hand der Notizen, die er sioh
in der ganzen Zeit gemacht habe. In der Zeit seiner Erinnerungslosigkeit sei
er nie vernommen worden. Als dann die Novemberstiinne gekommen seien, sei
plbtzlich der ganze Druck von seinem Gehirne fortgenommen worden. In der
Zeit vorher habe er auch noch an Sehstorungen gelitten, die aber nie behandelt
worden seien. Jetzt halte er sich fur gesund. Eine krankhafte Aenderung
seines Geisteszustandesnehme ervom Januar 1916 an, da seien ihm die Sehmerzen
strahlenformig durch den Kopf geschossen.
In dieserZeit sei sein ganzes moral is oh es Rechtsbewusstsein
getotet und er habe Taten gebilligt, die er friiher verabscheut habe. Seitdem
habe er ein sohmerzhaftes Zucken durch den Korper gehabt, wie eine Angst
und er habe sich abgehetzt gefuhlt.
Als er dann das Morphium eingesetzt habe, habe er sich geradezu in
einem hypnotischen Schwachezustand befunden. Da habe er sich ein-
gebildet, er konne viel Geld bekommen, wenn er sich nur den dazu gehorigen
Frachtbrief verscbaffe.
Im Gefangnisse wieder sei er durch die Einwirkung seiner Mitgefangenen
nervos uberreizt worden, was schon daraus hervorgehe, dass er sich mit den
minderwertigsten Leuten eingelassen habe. Es sei ihm schwer, diesen Zustand
zu schildern, er sei vollig geistig und korperlich ruiniert gewesen.
Nach seiner Entweichung aus dem Lazarett babe er vollstaodig unter
dem Einflusse seines Mittaters gestanden. Auf der Fahrt nach Hannover sei
er durch eine tiefe Melancholie in den Selbstmord hineingejagt worden. Die
angebliche Simulation habe doch gar keinen Zweck gehabt, denn sie falle nicht
in die Zeit der strafbaren Handlungen.
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656 Dr. Monkemoller,
i
Wahrend der Beobachtung war die Stimmung immer sehr gat. Stets
anterhielt er sich mit den Wartern vergniigt und angeregt. In seinem ganzen
Wesen batte er etwasEinschmeichelndes und Gewinnendes. In jeder Beziehnng
erwies er sich als ein hochintelligenter Mensch.
In der Haupt- und Berufsverhandlung, die sehr lange dauerten, be-
herrschte er bis zum Schlusse ohne jede Ermiidung die Sachlage. Die lange
Untersuohungshaft hatte er ohne Zwisohenfall iiberstanden.
Zo., der als ein ausserst intelligenter und gerissener Mensch be-
zeichnet werden musste, auch wenn man ihm die psychopathische Grund-
lage nicht zu versagen brauchte und auch eiue Neurasthenie mittleren
Grades zuerkennen durfte, hat auf die mannigfachste Art und Weise
seine Zurechnungsfahigkeit zu schm&lern versucht. Er beruft sich auf
unbestimmte Yerfolgungsideen, unter deren Einflusse er gestanden haben
will, er will dem damonisch suggestiven Einflusse eines Spiessgesellen
erlegen sein, seine eine Fahnenflucht schiebt er einem Dammerzustande
zu, der sich an eine Ohnmacht angeschlossen haben soil, und die bedeut-
same Dnterschrift will er in einem pathologischen Rauschzustande voll-
zogen haben, obgleich die Alkoholvergiftung am Abend vorher statt
gefunden hatte.
Fur die voraufgehenden Straftaten, die als der Ausfluss einer ausser-
ordentlich umsichtigen und berechnenden Tatkraft erscheinen, beruft er,
der offenbar nie eine Morpbiumeinspritzung kenuen gelernt hatte, sich
auf hdchst kuriose Morphiumeinwirkungen, die ihn zum willenlosen
Werkzeuge unbestimmter M&chte machten, nachdem schon vorher durch
die widrigen Einflusse der Haft und des Militarismus seine sonst so
herrliche Moral gebrochen worden war.
Es ist fur einen Mann, der in einem gerichtlichen Verfahren seine
Unzurechnungsfahigkeit erweisen will, nicht sehr vorteilhaft, wenn er
fur diesen Zwcck zu viele Eisen im Feuer hat. Und so musste Zo. es
sich gefallen lassen, dass man auch dem eigeuartigen Foigezustand des
Eisenbahnunfalles nicht die gewunschte Anerkennung schenkte. An und
fur sich hatte der Unfall ja zweifellos eine schwere nervQse und psy-
chische Schadigung im Gefolge haben kdnnen. Aber das Verhalten
unmittelbar nach dem Sturze, fur das er eine ganz genaue Erinnerung
hatte, stimmte dazu ebensowenig, wie die Tatsache, dass schliesslich
alle objektiv nachweisbaren Folgen des Traumas vermisst wurden und
dass er fiber eine glanzende Intelligenz, ein geradezu phanomenales
Gedachtnis, eine beneidenswert geistige Elastizitat und eine ausserordent-
liche Leistungsfahigkeit verfugte, trotz aller Wechselfalle, die er in den
letzten Jahren erlcbt hatte, trotz der langen Haft und der schlechten
Ernabrung und trotz der riesigen Anspruche, die an seine Erfindungs-
und Gestaltungskraft gestellt wurden.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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Auch wenn man dem Unfall die Kraft gonnte, eine retrograde
Amnesie zu schaffen, — man konnte Zo. nicbt glauben, dass drei Jahre
Lebens vollkommen aus seiner Erinnerung herausgeschnitten sein sollten,
dass diese mystische Amnesie 6 Monate lang auhielt, obgleich alles
geschah, am ihn wieder zu orientieren und dass sich dann eines schonen
Tages die Erinnerung bis auf die fernsten ^inzelheiten wieder einstellte.
Und das nur dadurch, dass er sie aus alten Notizen, die er sich fur
die kritische Zeit der angeblichen GeistesstOrung gemacht haben wollte,
rekonstruierte. Zu beachten sind vor allem auch die Briefe, die er in
dieser Zeit an seine Frau schrieb und durch die er ihr soufflierte,
wie sie ihm in ihren Antworten eine brauchbare Vorgeschichte zugute
kommen lassen kbnne.
Und damit w&ren wir bei dem Kapitel der D&mmerzustfinde
angelangt, die in der forensischen Psychiatrie dieses Krieges sich eiu
geradezu unheimliches Hausrecht erworben haben.
Es unterliegt ja keinem Zweifel, dass wir es jetzt mit einem wesent-
lich anderen Menschenmaterial zu tun haben, als mit den Verbrechern
der Friedenszeit. Es steht auch ebenso fest, dass bei den vielen ge-
waltigen Kriegshandlungen ganz andere Gelegenheiten zur Aus 16sung
von Bewustseinsstbrungen und triebhaften Handlungen der verschiedensten
Art gegeben siud. Eine Zunahme der kriminellen Handlungen, die aus
diesem Quell schbpfen, liegt auch deshalb auf der Hand, weil diese
psychogenen Reaktionen [Bunse 1 )] mit einer gewissen Notwendigkeit
zu Verstbssen gegen die milit&rische Ordnung fuhren mfissen.
Das gait vor allem von den milit&rischen Delikten, die unser t&g-
liches forensisches Brot bilden, von der unerlaubten Entfernung und der
Fabnenfiucht, von tatlicben Angriffen gegen den Vorgesetzten, der
Achtungsverletzung und der Gehorsamsverweigerung. Sie alle haben
eine gewisse Anwartschaft darauf, im Dunkel eines Dammerzustandes
unter gegebenen Umst&nden ihre Deutnng zu finden. Es kann aber
gar nicht geleugnet werden, dass sie von diesem Rechte in einer Weise
Gebrauch machen, die alles Schickliche weit ubersteigt.
Schon bei einer frfiheren forensischen Studie fiber Marineangehbrige
musste ich feststellen 2 ), dass die Dammerzustfinde sich in weitgehendstem
Masse bei alien denen Geltung erk&mpft haben, denen ihre Kenntnis
1) Bunse, Die reaktiven Dammerzustande und verwandte Storungen in
ibrer Bedeutung als Kriegspsychosen. Zeitsohr. f. d. ges. Neur. und Psych.
XI. 1918. H. 4 u. 5.
2) Mb nkemoiler, Zur forensisohen Beurteilung Marineangehbriger.
Arch. f. Psych. Bd. 46. H. 1 u. 2. S. 99.
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von Vorteil sein musste. Die Zahl der Dammerzustande, von deren
Echtheit man sich jetzt trotz des weitgehendsten Entgegenkommens nicht
uberzeugen kann, hat an Zahl gauz ausserordentlich zugenommen. Und
nach ahnlichen zahlreicken Fallen, die von anderen Fachgenossen frulier
begutachtet worden waren und die spater in unseren Bereich kamen,
babe ich die Ueberzeugung gewonnen, dass wir es nicht alleiu sind,
die sich nicht imraer von der Unanfechtbarkeit dieser Zustande restlos
zu uberzeugen vermogen.
Das liegt sicher in erster Linie daran, dass die Bewerber um
Straffreiheit sich dieses Mittels mit der gleichen Leichtigkeit bedienen
zu kOnnen glauben, wie sie mit dem einfachen Leugnen durchzukommen
hoffen. Man fasst dies Verhalten dann auch jetzt meist in einem &kn-
lichen Sinne auf und wird sich meist gar night bewusst, dass man es
hicr mit einer regclrechten Simulation zu tun hat.
Schon vor dem Kriege hat die Oeffentlichkeit der Gericlitsverhand-
Inngen und vor allem die genaue Berichterstattung in den Zeitungen
dafiir gesorgt, dass diesen Zustanden eine recht unangenehme Volks-
tumlichkeit beschert wurde. Ueber ilire Verbreitung im Interesseuten-
publikum sorgt auch die Tatigkeit der Deliquenteu selber.
Im Kriege hat diese Kenutnis unleugbar noch mehr zugenommen.
Die meisten Soldaten, die im Felde gestanden haben, haben genug Ge-
legenheit gehabt, im Anschlusse an Gewalteinwirkungen Verwirrtheits-
zust&nde und Bewusstseinstriibungen in ihrer Umgebung zu beobachteu,
in denen die Erinnerung verloren ging. Das enge Zusammenleben
in den Militlirgefangnissen sorgt weiter fur die Ausbreitung dieser
Kenutnis. Auf unserer Beobachtungsstation haben wir mehr als einmal
beobachtet, dass sich auf Beobachtungskranke, die bis dahin treulich
ihre Erlebnisse gebeichtet hatten, plotzlich eine dustere Amnesie herab-
senkte, nachdem sie in die H&nde genugend aufgeklarter Genossen ge-
fallen waren.
In mancher Beziehung ist die Beurteilung ohne jede Frage schwerer
geworden. Friiher war man ja zunachst verpflichtet, festzustellen, ob
eine Grundlage vorhanden war, auf der sifh solche Zustande entwickeln
konnten. Liess sich weder Epilepsie noch Hysterie, weder chronischer
Alkoholismus noch Kopfverletzungen in der Vorgescbichte nachweisen,
dann musste das unvermittelte Auftreten derartiger Zustande zum min-
desten s^hr uberraschen, .wenn sich keine sonstigen Anzeichen fur das
Vorhandenseiu einer psychischen Epilepsie nachweisen liessen.
Das ist jetzt im Kriege anders geworden. Wenn wir so hanfig
unter der Einwirkung der psychischen und kbrperlichen Gewalteinwir-
kungen hysterische Zust&nde aller Art sich einstellen sehen, wenn wir
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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beobachten, wie die schlummernde hysterische Veranlagung dadarch
zum Ausdraek gebracht wird, dann braucht uns das Auftreten derartiger
BewusstseinsstOrungen auch bei Personen nicht in Erstaunen zu setzen,
bei denen bis dahia die Vorgescbichte daruber geschwiegen hatte.
Nur darf nicht vergessen werden, dass die meisten zweifelbaften
D&mmerzust&nde bei' solchen Milit&rpersonen auftreten, die keine Kopf-
verletzung, keine Verwundung, keine Verschuttung, keine Gasvergiftung
durchgemackt hatten und die alien gefiibrlicben Kampfhandlungen mit
Erfolg aus dem Wege gegangen waren, die sich aber mit um so grosserer
Sickerkeit auf solche ursScblicben Einflusse beriefen, deren Bedeutung
ibnen wohl bekanut war. Es ist leider nicht immer moglich, nach
beiden Seiten bin Sicherheit zu erlangen, da die wichtigsten Zeugen
dafur nicht zu erreichen sind und die Akten und Krankenpapiere
manchraal daruber schweigen.
Aus demselben Grunde kann man sich noch weuiger darauf be-
rufen, dass in der Vorgeschicbte ein Analogon nicht zu ermitteln ist.
1st das auch sonst eine Forderung, die nur mit einem gewissen Vorbekalte
gestellt werden, darf, so sind wir jetzt noch weniger berechtigt, aus dem
Fehlen eines solchen Analogous ungunstige Ruckschlusse fur den Ver-
treter eines solchen zweifelbaften Znstandes zu ziehen. Die Gewalt-
einwirkungen, die solche Reaktionen nach sich zu ziehen vermogen,
sind jetzt an der Tagesordnung. Das ganze Wesen .des Kriegsdienstes
erleichtert die kriminelle Einkleidung derartiger BewusstseinsstOrungen.
Fur die Beurteilung bleibt es allerdings sehr wertvoll, wenn es gelingt,
fur diese zum ersten Male auftretenden Dammerzustande einen zeitlichen
Zusammenhang mit derartigen Einwirkungen nacbzuweisen.
Fur viele militarische Delikte darf auch die Annahme eines der¬
artigen Zustandes nicht daran scheitern, dass der Tater zur Zeit der
strafbaren Handlung nach aussen nicht auffiel, dass sein Verhalten
logiscb und zielbewusst erschien und dass die Umgebung nicht an seiner
geistigen Gesundheit zweifelte. Ein grosser Teil des militarischen Ver-
haltens, der Gehorsam gegen Befehle der Vorgesetzten, die Ausfuhrung
von militarischen Hand] ungen, Ehrenbezeugungen usw. erfolgt so mecha-
nisch und automatisch, dass selbst verwickeltere Handlungen moglich
werden, ohne dass voiles Bewusstsein dabei vorhanden zu sein braucht.
Dabei ist die Beobachtungsgabe der militarischen Umgebung oft so
gering und die Anspruchslosigkeit, die an ein „vcrnunftiges“ Verhalten
gestellt wird, so gross, dass nur die grosste Vorsicht in der Beurteilung
vor Fehlurteilen schutzen kann. Zu vergessen ist dabei naturlich nicht,
dass ein derartiges geordnetes Verhalten an und fur nicht gerade fur
die Krankhaftigkeit des Zustandes spricht.
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Dr. Monkemoller, *
Vor Fehlurteilen schutzt auf der anderen Seite auch nicht immer
die anscheinende Motivlosigkeit der Tat. Auch hier wird man spater
bei genauerer Kenntnis der Sachlage und bei tieferem Eingehen in das
Seelenleben des Angeklagten gelegentlich nachweisen kOnnen, dass hier
Grunde fur das anscheinend so zwecklose Vorgehen vorhanden waren.
Bedingten Wert nur bat die Tatsache, dass die T&ter w&hrend der
Tat nicht immer gauz folgerichtig handelten, nicht [mit eisernem Ziel-
bewusstsein ibre Ziele verfolgten und durch mancbe Seitensprunge den
Erfolg ihres Vorhabens aufs Spiel zu setzen schienen. Gerade wenn
sie beabsichtigen, sich durch die Hilfe des § 51 der Verantwortung
fur ihr Tun zu entledigen — und die Berufung auf den D&mmerzustand
erfolgt oft prompt bei der ersten Vernehmung —, traut man ihnen
nicht immer zu viel Vorsicht und Planm&ssigkeit zu, wenn man an-
nimmmt, dass sie es sich angelegen sein lassen, der Glaubwurdigkeit
des yon ihnen vorgefuhrten krankhaften Zustandes durch eine derartige
Inkonsequenz eine Hilfsstellung zu geben: Nicht selten berufen sich
gerade die Vertreter der anfechtbarsten Dammerzust&nde auf derartige
Folgewidrigkeiten in ihrem Verhalten.
Fall 11 . Musketier Heinrich He., Mechaniker, 30 Jahre. Keine erbliche
Belastung. Normale Erkrankung. Massiger Schuler. In der Lehrzeit tat er
nicht gut. Spater mehrfach wegen Betrugs und Hausfriedensbruches bestrift.
1908 Militardienst als „Unsioherer“. Haufig wegen Zapfenstreichens
bestraft.
Gleich nach der Mobilmachung eingezogen. November 1914 Granatexplo-
sion, Lazarettbehandlung. Entlassungsdiagnose: Psychopathie mit neurasthe-
nischen Symptomen. Abgelaufener Dammerzustand hysterischer Herkunft. Bei
einem spateren Lazarettaufenthalte nichts Besonderes. Eine Diagnose ist Sier
iiberhaupt nicht gestellt.
Am 29. 1. 1915 entfernte er sich von seinem Truppenteile Hannover und
wurde am selben Tage auf dem Hauptbahnhofe Frankfurt a. M. festgenommen.
Er erklarte sofort, or sei nervenkrank. Wann er sich aus der Kaserne entfernt
habe, konne er nicht sagen. Auf einmal habe er sich in Hoohst auf dem Be-
zirkskommando befunden. Seitdem er im Felde sei, habe er mehrere Dam-
merzustande durchgemaoht. In diesem habe er auf Flieger geschossen und
den President Poincar6 ermorden wollen.
Die militararztliche Beobachtung liess die Frage nach der Zurechnungs-
fahigkeit unentschieden. Da das Kriegsgericht die Moglichkeit eines Dam-
merzustandes annahm, wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt.
Am 25. 8. blieb er auf dem Marsche zuriick und wanderte durch mehrere
Lazarette. Diagnose: Neurasthenie.
Am 20. 1. 1916 sollte er beim Truppenteil eintreffen, erschien aber nicht.
3 Wochen war er in seiner Wohnung bei seiner Frau gewesen und hatte dieser
angegeben, er habe Urlaub.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 661
Am 8. 9. wurde er in Frankfurt ergriffen. Sofort berief er sich darauf,
er sei wegen Dammerzustande und Neurasthenic wiederholt in Lazaretten ge¬
wesen.
Wie er aus dem Lazarett in Frankfurt entlassen worden sei, konne er
nicht angeben, ebensowenig, was spater passiert sei. Wie ihm seine Frau er-
zahlt habe, sei er 4 Wochen in seiner Wohnung gewesen. Dann musse er den
ganzen Sommer von Hause fortgewesen sein. Er habe eine dunkle Erinnerung,
dass er zwischendurch mal in Kdln gewesen sei. In Hoohst sei er vorgestern
plotzlich wieder zur Besinnung gekommen.
Bei spaterenVernehmungen verlangte er immer auf seinen Geisteszustand
untersucht zu werden.
Anstaltsboobachtung. Rahig und geordnet. Betont bestandig, dass
er vom Feldzuge her so heftiges Kopfweh und ein so aufgeregtes Wesen habe.
Ueber seine Vorgeschichte maohte er ohne jede Gedachtnisstorung ausgiebige
Angaben. Seitdem er im Felde seinen ersten Dammerzustand gekriegt habe,
sei es mit ihm nicht mehr gut gegangen. Trotz seiner Kopfschmerzen und
seiner Erregungszustande habe man ihn immer wieder ins Feld geschickt.
In seinem jetzigen Dammerzustande sei er lange in seiner Wohnung bei
seiner Frau geblieben. Soweit er sich dunkel erinnere, sei er ganz lange los-
marschiert, nach Koln und Dusseldorf gekommen und von da wieder nach Frank¬
furt zuruckgewandert. Am liebsten mochte er sich auch jetzt noch aufmachen
und losmarschieren.
Wies man ihn auf Widerspriiche in seinen zeitlichen Angaben hin, so er-
klarte er achselzuckend, es sei wirklich so, wie er es sage: mit sonen Dam-
merzustanden sei es eben eine ganz eigentiimliche Sache. In stereo¬
typer Weise klagte er iiber Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und die Angst, ver-
ruckt zu werden. Trotz der schweren Bedenken, die der Annahme eines Dam-
merzustandes entgegen standen, wurde die Moglichkeit zugegeben, dass ein
soloher vorgelegen haben konne. Freispreohung.
Am 1. 12. 1916 trat er einen zehntagigen Heiratsurlaub an, von dem er
nicht zuruckkehrte. Er wurde am 15. 12. in seiner Wohnung festgenommen.
In seinei Yernehmung berief er sioh sofort wieder darauf, dass er mehr-
fach in Irrenanstalten gewesen sei. So habe er dann geglaubt, dass er auf
llUonate bis zu seiner Entlassung in die Heimat beurlaubt worden sei, zumal
das auch auf seinem Urlaubsschein gestandeu habe. Tatsachlicb war das in-
folge eines Schreibens so ausgefertigt worden.
„Ich bemerke gleich, dass ich haufig bei geringer Aufregung
Tobsuchtsanfalle bekomme, in denen ich alles um mich herum
zertrummere M .
Wenige Stunden nach dieser Erklarung zertrummerte er denn auch pro-
grammgemass in der Zelle das Mobiliar. Als ihm die Hande gefesselt worden^
wurde er sofort ruhig und sprach ganz verniinftig. Zur Truppe zurtickgekehrt,
blieb er dabei, er habe geglaubt, 10 Monate Urlaub zu haben. Ausserdem
musse er sofort darauf aufmerksam machen, dass in einer ahnliohen Saohe ein
Verfahren gegen ihn eingestellt worden sei, nachdem er in einer Irrenanstalt
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beobachtet worden sei. Er habe nicht die blasseste Ahnung, was man von
ihm wolle. Ein Verfahren sei uberhaupt nicht gegen ihn angestrengt worden.
Er leide eben an sohweren Dammerzustanden.
Bei einer erneuten Anstaltsbeobachtung erschien er wieder nieder-
geschlagen und in sich gekehrt. Anfallsartige Zustande warden nicht be¬
obachtet.
Er sei so lange zu Haase geblieben, weil er fur lOMonate Urlaub gehabt
habe. Seine Kameraden hatten ihm gesagt, er werde entlassen werden and
da habe er dann zu Haase gedaldig darauf gewartet, bis er entlassen werden
wiirde.
Von seinen Taten in der Zelle wollte er niohts wissen. Er werde aber
sehr leicht aufgeregt und dann habe er es eben so an sich, er dass alles kaput
schlage. Bei diesen Worten machte er ein sehr wildes Gesicht, rollte mit den
Augen, knirschte mi denZahnen und stiess ein kurzeslndianergeheul aus. Nach
einigen Minuten sagte er dann: „Sehen Sie, da habe ich eben mal wie¬
der einen sole hen Zustand gehabt, da wa war ich furchtbar err eg t,
dann muss man mit mir sehr vorsichtig sein w . Dabei war er wieder
vollstandig ruhig.
Von dem „Tobsuchtsanfall“ in der Zelle wisse er nicht das Geringste.
Trotz seiner anscheinend sehr niedergeschlagenen Stimmung brachte He.
es fertig, auf sehr versohmitzte Weise zwei muntere Briefe an seine Frau aus
dem Lazarett herauszuschmuggeln, wie er auoh bei ihrem Besuche sehr ver-
gniigt war.
Auch in diesem Falle war es selir wahrscheinlish, dass der Ange-
klagte den fruher tats&chlich erlebten D&mmerzustand dazu benutzte,
um spater ungestraft darauf los zu sundigen. Als ausgesprochen krimi-
nelle Natur pocht er jetzt immer wieder bei seinen Delikten auf seine
Nervenkrankheit und beruft sich geradezu auf seine Dammerzust&nde.
Da er ja tats&chlich eine Schadigung seines Nervensystems erlitten
hatte, so glaubte man ihm anstandslos selbst zweifelhafte D&mmerzu-
st&nde — so wurde sogar ein D&mmerzustand von 8 Minuten zu seinen
Gunsten in Rechnung gestellt —, ohne dass fiber die Grundnatur seiner
Krankheit Uebereinstimmung geherrscht hatte.
Wenn man fur den letzten Dammerzustand, den er vorfuhrte, den
Glauben nicht aufbringen konnte, so war das bei der ganzen Sacblage
ohne weiteres verstandlich.
Eigenartig war es in diesem Falle, dass er seinen Tobsuchtsanfall
— am ersten Tage der Haft, nachdem er fruher anstandslos jahrelange
Haftstrafen durcbgemacht hatte — vorher ankiindigte. Wenn er spSter
diesen Tobsuchtsanfall in einer Weise vorfuhrte, die den Stempel der
Unnatur an der Stirne trug, so konnte man dabei erkennen, was er
nach seinen bisherigen Erfahrungen mit der forensischen Psychiatric
dieser auch sonst bieten zu kSnnen glaubte.
Gck igle
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 663
Fall 12 . Trainsoldat Wilhelm Am., Buchhalter, 38 Jahre. Als Am.
aus dem Privatquartier in die Kaserne iibersiedeln sollte und der Wachtmeister
ihn fragte, ob er dem Befehle nachgekommen sei, erklarte Am., der Truppen-
arzt habe ihm erlaubt, zu Hause zu schlafen. Er lasse sich eine solche Be-
handlung nicht mehr gefallen, er sei kein dummer Junge. Als der Wacht¬
meister ihm Ruhe gebot, erklarte er, er schweige vor Keinem, selbst wenn es
sich um einen General handele. Am Tage vorher hatte er erklart, er werde
auf das Ganze gehen, wenn man ihm etwas wolle. Die Abteilung fiberwies
ihn nach Langenhagen, warnte aber zugleich vor ihm. Am. sei ein schlauer
und gerissener Mensch. Einem Kameraden hatte er angegeben, er werde
die Sache schon zu drehen wissen, ihn solle keiner kriegen. Die
Abteilung nahm an, dass or simulieren werde. Er*selbst behauptete,
er habe gerade einen „Nervenan fall 14 gehabt. Er war vollkommen klar und
gab sehr wortreich Auskunft. Er sei beim Polizeiprasidium in Br. fiber-
anstrengt worden, habe den Chinafeldzug mitgemacht und dabei einen Schadel-
bruch erlitten. Im Felde habe er wieder einen schweren Sturz durchgemacht
undimAnschlusse damach den erstenNervenanrall bekommen. (Diese Angaben
erwiesen sich spater als erlogen.)
Jetzt sei er in der Anstalt, da er die Eisenbahnfahrt fechlecht verfcragen
habe. (Tatsachlich war er seit 14 Tagen in der Garnison gewesen.) Da habe
er dann wieder seinen Nervenanfall bekommen. Da er nichts Besonderes dar-
bot, wurde er nach einigen Tagen wieder entlassen.
In seii^r Vernehmung gab er an, er konne sich der Vorgange nicht mehr
entsinnen. Er wisse nur noch, dass der Wachtmeister ihm gesagt habe, er
solle sich vom Arzte untersuohen lassen. Er leide eben an schweren
Nervenzufallen, die sich an einen Schadelbruch angeschlossen hatten.
Im Zivil war er wegen Majestatsbeleidigung, Beleidigung, Betrugs und
Urkundenfalschung haufig bestraft. Beim Militar war seine Fuhrung schlecht.
Wegen Unterschlagung degradiert und mit Gefangnis bestraft. Im Lazarett
Or. war er 14 Tage wegen „Neurasthenie.“ Da er sich auf der Leicht-
krankenabteilung befand, wurde eine Krankengeschichte iiberhaupt nicht
gefuhrt. Auch im Reservelazarett B. wurde Neurasthenie angenommen. In
seiner Vorgeschichte, die er vollkommen anders angab, wie bei seinen
spateren Untersuchungen, ist nie von Dammer-, Erregungs- oder Nervenkrank-
heitszustanden die Rede. Der objektive Befund war stets vollkommen negativ.
Es wurde eine ganz erhebliche Besserung festgestellt. Im Reservelazarett A.
wurde uberhaupt keine Krankheit nachgewiesen.
Wabrend der ersten Beobachtung war die Stimmung immer heiter und
zufrieden. Irgendwelohe anfallsartige Erscheinungen wurden hier nicht naoh-
gewiesen. Von den anderen Kranken schloss er sich ab mit Ausnahme eines
forensiscben -BeobachtungskTanken, mit dem er sofort eine dicke Freundsohaft
schloss. Sehr anspruchsvoll, dem Arzte gegeniiber ausserordentlich hoflich
und unterwiirfig.
Ab and zu klagte er liber unbestimmte nervose Beschwerden, ohne dass
ihm ausserlich etwas anzumerken gewesen ware. Wahrcnd er darfiber klagte,
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Dr. Monkemoller,
dass er so gedachtnisschwach sei und keinen Gedanken fassen konne, untwhielt
er sich mit seiner Fran auf das lebhafteste, ohne jede Bebindernng, besprach
mit ihr alles mogliche Geschaftliche und traf sachgemasse und energische
zahlreiche Anordnungen.
Auch in einem ausfiihrlichen Lebenslaufe, den er damals angefertigt
hatte und der zahlreiche Abweichungen von der Wahrheit enthielt, hatte er
alle seine Bestrafungen oft vfcrschwiegen, wahrend er seTbst seine kostlichen
Vorziige in ein helles Licht setzte und zahllose nervose Besohwerden in den
grellsten Farben sohildorte.
Auch bei der zweiten Untersuchung war zunachst nicht das Geringste
festzustellen, was als ein „Anfall u hatte gedeutet werden konnen.
In den Unterredungen antwortete er jetzt vorsichtig und langsam, auch
bei Fragen, deren Beantwortung jhm nicht die geringste Schwierigkeit machen
konnte. Im Gegensatze zu friiher hatte er jetzt etwas Sondierendes und
Lauerndes in seinem Wesen.
Die korperliche Untersuchung hatte ein vollkommen negatives
Ergebnis. '
Bis zum 10. Lebensjahr habe er an Krampfen gelitten (nicht bestatigt).
Immer habe er einen unruhigen Schlaf und die angstlichen Traume. (Hier
war der Sohlaf stets ausgezeichnet.) Im Chinafeldzng habe er Typhus, Ruhr
und Malaria durchgemacht undwochenlang imLazarett gelegen (nicht bestatigt).
Dort sei er auch einmal mit dem Pferde gesturzt und habe sich mehrere
Wunden an der Stirne zugezogen. (Keine Narben.) Dann habe er nach
1^/2 Jahren in Tientsin mit dem Pferde einen schweren Sturz durchgemacht
und sei tagelang bewusstlos gewesen. (Nicht bestatigt.) Duroh die anstren-
genden Arbeiten sei er mit sainen Nerven ausserordentlich heruntergekommen.
Seine Erlebnisse im Felde schildert er mit grossen Uebertreibnngen. Schliess-
lich habe er in Ostende einen schweren Nervenshock erlitten und sei in das
Lazarett gekommen.
Erst nach Yorhalt raumt er ein, dass er vorher eine gerichtliche Vor-
ladung bekommen habe. Er habe von der ganzen Sache gar niohts mehr
gewusst. Man habe ihm keinen Verteidiger gestellt, ihm keine Anklage vor-
gelesen und iiberhaupt nicht gesagt, urn was es sich gehandelt habe. Es sei
ihm beinahe so, als habe er auch wahrend dieser Verhandlung
einen Anfall gehabt. Jetzt sei er von einem Zivilisten dem Oberstleutnant
angezeigt worden, der ihn kommen liess und furchtbar anschnauzte. Als er
einem Unteroffizier klagte, dass er trotz seiner ausgezeichneten Fuhrung so
schlecht behandelt werde, kam der Wachtmeister dazu. Er weiss noch, dass
dieser ihm sagte, er solle zur Untersuchung kommen. Er habe sich geweigert,
sich von seinen Auszeichnungen zu treimen. Was dann weiter gesohehen sei,
konne er auch nicht sagen, er sei dann in Langenhagen im Bette zu
sich gekommen. Es habe sehr lange gedauert, bis er sich zurecht
gefunden habe. Er habe dann erst in derVernehmung gehort, was er angestiflet
haben solle. Vor allem leide er an heftigen Schwindelanfallen. Sehr oft habe man
ihn aus dem Stalle ins Revier bringen miissen. Bestandig habe er die w&hn-
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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw.
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sinnigsten Kopfschmerzen, die sich bei Witterungswechsel bis zor Bewusst-
losigkeit steigerten. Dabei leide er an einer masslos gesteigerten Reizbarkeit.
Er sei deshalb aber nie bestraft worden, da man ohne weiteres anerkannt
habe, dass er krank sei. In seinem Dienste als Polizist sei er oft so aufgeregt
geworden, dass er aus dem Strassendienste habe zuriickgezogen werden mussen.
(Nicht bestatigt.) In Ostende habe er viele Nachte lang furchtbar getobt.
Viele Nachte habe er unausgeschlafen zubringen mussen. Am Schlusse der
Beobachtung wurde ihm vorgehalten, wie eigentiimlich es doch sei, dass er
trotz seiner angeblichen Reizbarkeit hiergarniohts von Aufgeregtheit,Schwindel-
anfallen und Bewusstseinstrubungen dargeboten habe. Er wurde verlegen,
gab darauf gar keine Antwort und griibelte den ganzen Tag vor sioh hin.
Am n’achsten Morgen trat er auf der Visite an den Arzt heran und be-
schwerte sich in einer Aufregung, die auf samtlicbe Zeugen des Vorfalles
einen durchaus gekiinstelten Eindruck machte, dass man seine Frau nicht mehr
zum Besuche zugelassen habe. Es wurde ihm ruhig bedeutet, dass der Besuch
aus dienstliohen Griinden nicht zugelassen werden konne. Er blieb jetzt zu-
nachst vollkommen ruhig, war bei klarem Bewusstsein und erklarte, er k6nne
sich das nicht gefallen lassen. Eine halbe Stunde spater lief er von einem
Spaziergange plotzlich fort, ohne dariiber sich irgendwie geaussert zu haben und
ohne dass er seiner Umgebung irgendwie aufgefallen ware. Er wurde zu Hause
im Bette liegend aufgefunden.
Yon dem ganzen Yorfalle wollte er gar nichts mehr wissen. Er habe
sich so entsetzlich dariiber aufgeregt, dass seiner Frau solch himmelschreiendes
Unrecht angetan worden sei. Er konne sich nicht entsinnen, dass er auf der
Yisite mit dem Arzte gesprochen habe und spater spazieren gegangen sei. Als
er wieder zu sich gekommen sei, habe er zu Hause im Bette gelegen.
Nach einigen Tagen bat er in einem Schreiben um Yerzeihung. Erst
jetzt habe er wieder einen kleinen Gedanken fassen konnen. Wenn er einmal
in einen solchen „Dammerzustand u hineingeraten sei, dann konne er machen,
was er wolle, er kdnne nicht dagegen an.
Am., der auf eine recht uble kriminelle Vorgescbichte zuruck-
blickte und offen erklSrt hatte, dass man von ihm etwas erwarten
durfte, was seinen Vorgesetzten sicher nicht angenehm gewesen
wire, versuchte hei seinen Beobachtungen sich eine Vorgeschichte zu
schaffen, die mit der Wirklichkeit in schreiendstem Widerspruche stand.
Yor allem suchte er in zielbewusster Weise sich eine Neurasthenie zu
sichern, uber deren Einzelheiten er auf das genaueste unterrichtet war.
So wollte er auf einen Dammerzustand heraus, mit dem er ganz offen-
sichtlich spielte und den er sogar noch auf die Hauptverhandlung aus-
zudehnen suchte, weil die Angaben, die er hier gemacht hatte, ihm
jetzt hinderlich waren. Schliesslich versuchte er auch, einen derartigen
Dammerzustand dem Beobachter vor Augen zu stellen, allerdings in
recht wenig glucklicher Weise. In der Hauptverhandlung wagte er
AxthtT f. PsyehiAtrie. Bd. 60. Heft 2/3. ^ 43
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auch riicht mehr, sich darauf za berufen. Er stutzte sich zwar uoch
auf seine Nervositfit, liess den D&mmerzustand aber ganz fallen.
Wie so oft bei derartigen D&mmerzust&nden war es bei ihm das
ganze Wesen, das Drum und Dran in seinem Auftreten, was bei der
Abwfigung seiner ganzen Personlichkeit ein Urteil fiber die$?en Zustand
gewinnen liess. Allein die ungeheure Hoflichkeit, die er stets dem
Beobachter auch dann entgegenbrachte, wenn er von dessen Willffibrigkeit
gegenfiber seinen Aeusserungen nicht allzu sehr begeistert zu sein
brauchte, musste wie meist bei derartigen fiberdevoten Beobachtungs-
kranken einen gewissen Verdacht erwecken.
Wenn er im fibrigen auf einen Dfimmerzustand binaus wollte, hatte
er sich ein Vorbild ausersehen, das wieder besonders der Anfechtung
anbeim fallen musste J ). Die Existenzberecbtigung neurasthenischer
Dfimmerzustfinde soil nicht gfinzlich in Abrede gestellt werden, —
aber sie sind in klinischer Beziehung stets sehr umstritten gewesen und
wenn sie einmal ins Feld geffibrt werden, mussen sie sich in erster
Linie eine kritische Musterung gefallen lassen.
Fall 13 . Reservist Leo Tu., Dreher, 32 Jahre. Normale geistige Ent-
wicklung, lernte auf der Schule leicht. Verdiente spater als Dreher sehr gut.
1909 Syphilis. Spater ungluckliche Ehe. Aktive Militarzeit verlief ohne jeden
Zwischenfall. Mehrere Male wegen Diebstahls bestraft, zuletzt wegen Korper-
verletzung mit todlichem Ausgange mit 4 Jahren Qefangnis. Nach der Ent-
lassung aus dem Gefangnisse 1916 eingezogen. Keine Kriegsbeschadigung.
Im Juli 1917 wegen Trippers im Lazarett. 14 Tage stronger Arrest, weil
er einmal Nachts das Lazarett verlassen und „ausserdem seine Krankheit
kunstlich verlangert hatte“.
Oktober 1917 fahr er aus dem Cellelager nach Hannover und blieb unter
der Angabe, er habe Urlaub, 3 Tage bei seiner Braut. Als er horte, dass die
Truppe nach ihm suche, stellte er sich freiwillig.
In der Haft versuchte er zunachst einen Brief durchzuschmuggeln. Am
zweiten Tage ffihrte er sinnlose Redensarten, zeigte eine ubertriebene Unruhe
und grimassierte lebhaft. Schliesslich brachte er sich mit den Scherben eines
Trinkglases, das er sehr vorsichtig zerbrochen hatte, einige oberflachliche
Hautverletzungen bei. In der Militararrestanstalt nahm man an, dass er „den
wilden Mann spiele u .
Anstaltsbeobachtung. Ruhig und geordnet, gibt seine Personalien
in erschopfender Weise an, ohne irgend etwas Auffalliges darzubieten. In seinen
Briefen verstandigte er seine Braut sofort, dass hier alle ein- und ausgehenden
Briefe gelesen wfirden. Im Gefangnis habe er einen schweren Anfall ge-
habt und liege in den letzten Niichten bestandig in grosster Aufregung da
1) Monkemoiler, Zur forcnsischen Bedeutung der Neurasthenic. Arch,
f. Psych. Bd. 54. H. 2. S. 65.
Go^ 'gle
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(Tatsachlich ausgezeichneter Sohlaf). Herrlicher Appetit. Seine Stimmung
blieb sehr gut. Er beschaftigte sich auf der Abteilung fleissig, unterhielt sich
mit den anderen Kranken munter, wobei er die Unterhaltung beherrschte und
liess Lektiire, Karten und sonstige Zerstreuungsspiele nicbt ungenutzt vorbei.
Sobald derArzt erschien,. stand Tu. mit teilnahmslosen, in sich gekehrten
Blicken da, antwortete kaum und schien ganz in sich versunken zu sein. Dabei
beobachtete er alles genau, was urn ihn herum vorging und folgte vor allem
den Gesprachen, die mit den neuaufgenommenen Kranken gefuhrt wurden, mit
grosster Anfmerksamkeit. >
Einmal blieb er ohne jede Veranlassung im Bett liegen. Der Wache er-
klarte er, er sei verstimmt, fuhl© sich furchtbar aufgeregt und „das sei die
Alteration, an der er immmer leide u .
Mittags wollte er vor Aufregung nicht essen konnen, liess sich aber spater
seine Portion kommen. Als geflissentiich nicht nach seiner Aufregung geforsoht
und nachmittags Besuch angemeldet wurde, erhob er sich schleunigst voin
duftenden Lager und unterhielt sich mit seinem Besuche angeregt und ohne
jede Ermudung.
Uebir seine Vorgeschichte gab er erschopfend Auskunft, indem er sich
besonders liebevoll in seine Krankheitsgeschichte vertiefte. Sehr ungemein und
verdrossen ausserte er sich fiber seine Vorstrafen, die er nur auf Befragen
bruchstiickweise von sich gab. Wie er zu der letzten Straftat gekominon sei,
wollte er nicht wissen. Er habe mal Scblage auf den Kopf gekriegt und
seitdem wisse er manchmal nicht, was er tue. Dann konne er kaum sitzen,
„bekomme Anfalle u und falle gleich bin. Rege man ihn auf oder lasse
ihn wie letzthin im Arrest aliein, dann kamen ihm die Gedanken und er werde
so erregt, dass er sich nicht mehr halten konne. Schon in seiner Gefangnis-
haft habe der Direktor veranlasst, dass er aus der Einzelhaft herauskam, weil
er diese nicht vertragen konne. Er sei deshalb aus dem Gefangnisse in Her-
ford nach Hameln verlegt worden, da er dort nicht in Gemeinschaftshaft habe
sein konnen (tatsachlich war er in der Haft nie aufgefallen).
Spater sei dann infolge einer Schlagerei eine Verschlimmerung seines
nervosen Zustandes herbeigefiihrt worden (er war beimMilitar wegen derartiger
oder ahnlicber Zustande nie behandolt oder beobachtet worden).
Ueber seine angeblichen „Anfalle u vermochte er niohts Bestimmtes an-
zugeben. Er erging sich nur in ganz unbestimmten Redensarten und kam
schliesslich darauf heraus, es seien die Gedanken, deren er sich nicht erwehren
konne.
Weshalb er aus dem Cellelager fortgelaufen sei, konne er mit dem allot-
besten Willen nicht angeben. Das habe er doch olfenbar in seiner Nervo-
sitat getan.
Er wurde als Psyohopath begutaohtet, § 51 wurde ihm nicht zugebilligt.
5 Monate Gefangnis machte er ohne jeden Zwischenfall ab.
Nach 2 Monaten entfernte er sich wieder von der Truppe aus Nienburg.
Nach3Wochen wurde er bei seinerSchwiegerrnutteraufgefundenund verhaftet.
Er erklarte von vomherein, er habe im Dammerzustand gehandelt.
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Anstaltsbeobachtung. Bei der Aufnahme macht er jetzt einen affek-
tiert kindlichen Eindruck. Mit blodem Gesichtsausdrucke starrte er vor sicb
hin, wackelte mit dem Kopfe und zwinkerte mit den Augen, indem er ab and
zn ein meckemdes Gelachter von sich gab. Man babe v ihm gesagt, bis in drei
Tagen kdnne das Gutachten gut erstattet sein. Die Hanomag habe ihn rekla-
miert and da er jeden Tag seine 18 M. verdiene und ein sehr brauchbarer Mann
sei, werde es dort ohne ihn nicht gehen.
Auf der Abteilung war er immer gehobener Stimmung. Er fiihrte das
grosse Wort und renommierte yiel. Der Beschaftigung war er ganz abgeneigt,
spielte aber dafiir urn so eifriger Karten. Keine Anzeichen fur Kopfschmerzen
und Schwindelanfalle.
In der Unterhaltung fasste er gut auf, antworte aber haufig abspringend
in kindlich unterwiirfigem Tone. Immer liess sich feststellen, dass er ganz
genau wusste, nach was er gefragt war. Dabei grimassierte er bestandig,
machte abgerissene stossartige Bewegungen und stiess ein absoheuliches Ge-
grunze aus.
Sonst folgte er der Unterhaltung glatt, verfiigte uber ein glanzendes Ge-
dachtnis und seine Urteilsfahigkeit genugte auch weitgehenden Anspruchen.
Jetzt wollte er vor zwei Jahren bei einer Messerstecherei vier Stiohe
in den Kopf bekommen und sehr lange bewusstlos im Krankenhause gelegen
haben. Auch wollte er friiher Tripper, weichen und harten Schanker und
Syphilis durchgemaoht und noch in den letzten Jahren einige sehr anstrengende
Karen iiberstanden haben. Stets habe er furchtbar stark getrunken und sei ein
wahnsinnig heftiger Rancher gewesen. In der „Schule“ habe er uberaos
schlecht gelernt und sei nur bis zur 4. Klasse gekommen. In Zivil sei er ein-
mal wegen einer harmlosen Sache unbillig bestraft worden.
Seit seiner Kopfrerletzung habe er dauemd die heftigsten Kopfschmerzen.
Wenn er gereizt werde, habe er mit Anfallen zu tun und verliere dabei voll-
kommen das Bewusstsein. In diesem Zustande habe er sich alle mdglichen
Verletzungen beigebracht. Sehr leioht werde ihm schwindlig, dann werde
ihm griin, gelb und violett vor den Augen und er sei schon dabei vom
Stuhle heruntergefallen. Seitdem er die Stiche in den Kopf bekommen und
seitdem ihn ein Flieger eine ganze Menge Pfeile in den Leib gejagt habe, habe
er am Leben keine Freude mehr.
Im vergangenen Jahre habe er sich im Dammerzustande 6 Tage von der
Trappe entfernt. Als man ihn jetzt aus dem Lazarett entlassen habe, habe er
natdrlich gedacht, er konne bis zu seinerEntlassung vom Militar, die bei seinen
schweren geistigen Storungen mit Sicherheit bald erfolgen musse, nun zu
Hause bleiben. Dort sei er aber gar nicht gewesen. Er musse wohl so
3 Wochen von der Truppe fortgewesen sein. Was er in dieser gan-
zen Zeit angefangen habe, konne er mit dem besten Willen nicht
sagen, und zuletzt sei er plotzlich zu Hause gewesen. Wie er von
Nienburg fortgefahren und sohliesslich zu Hause angekommen sei, das sei ein
diisteres Geheimnis, uber das er sich seinen schwachen Kopf schon- lange
vergebens zerbrochen habe. Plotzlich sass er da und seine gute Sohwieger-
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 669
matter fragte ihn,' wo er herkomme. Da habe er denn einfach gesagt, er sei
beurlaubt.
Er sei dann in Haft gekommen und habe in der Zelle haufig seine „An-
lalle u bekommen (nioht bestatigt). Darauf habe man ihn entlassen und nun
sei es die hochste Zeit, dass er sofort wieder an die Arbeit gehe.
Tu., ein Mann von mangelhafter Ethik und einer ausgeprfigt krimi-
nellen Vorvergangenheit, lSsst sehr bald im Kriege, der ihn weder
psychisch noch kbrperlich geschfidigt hat, erkennen, dass ihm nicht
viel daran liegt, Soldat zu bleiben.
Als er dann die Folgen seiner Fahnenflucht tragen soil, beruft er
sich auf Anfalle, von denen niemand etwas weiss, er grfindet sie auf
Verletzungen, in deren Schilderung er wechselt and fur die sich ein
Nachweis nicht erbringen lisst, und sucht aus einem kfinstlich verlfin-
gerten Tripper Kapital zu schlagen.
Dazu spielt er im Gef&ngnisse den „wilden Mann“ und erkfirt
sich damit die Erankheit, die in Laienkreisen noch immer als die
typische Ausdrucksform der Simulation gilt und vor allem durch die
ausfuhrlichen Zeitungsberichte fiber derartige forensische Schaustficke
immer von neuem dem Publikum vor Augen gehalten wird.
Auch in der milit&risch - forensischen Tatigkeit haben sie ihren
Nimbus noch nicht eingebusst. In den Milit&rgefhngnissen, Vorgesetzten
gegenfiber und selbst in militfirischen Verbandlungen treten uns nicht
selten diese sinnlosen Erregungszust&nde vor Augen, die sich in der
zfigellosesten motorischen und sprachlichen Entladung, in Angriffen
auf die Umgebung und Zertrfimmerung aller erreichbaren mfiglichen
Gegenstttnde Luft machen. Auch ibnen steht man von militarischer
Seite oft noch mit grosstem Misstrauen gegenfiber, wenn man auch von
Seiten der Milit&rgerichte und nicht minder der Strafvollzugsbehfirden
immer mehr dazu gekommen ist, unter alien Umstfinden hier den
Psychiater zu Rate zu ziehen.
Weit mehr noch wie vor dem Kriege muss man allerdings die Be-
obachtung machen, dass es bei den vielen psychopathologischen Persfin-
Hchkeiten, die das Kriegstoben in die milit&rische Rechtspflege ver-
schlfigt, durch die Haft, durch die Aufregungen des gerichtlichen Ver-
fahrens, durch den Druck der Hauptverhandlung die gewaltige innere
Spannung zu einer Entladung gebracht wird, die in dieser gerfiusch-
vollen und lfirmenden Weise zum Ausdruck gelangt.
Meist ist es nicht so schwer, die Echtheit dieser anscheinend von
Simulanten so gerne gewfihlten Stfirungen nachzuweisen. Fast immer
gelingt der Nachweis, dass es sich um Personen mit einem labilen
Affektleben, mit enorm gesteigerter Reizbarkeit, mit ausgesprochener
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imbeziller, hvsterischer Oder epileptiscber Veranlagung frandelt, in deren
Yorleben meist scbon abnliche Auftritte nachzuweisen sind. Fast immer
bieten die Ereignisse der letzten Zeit eine ErklErung fur das Entstehen
dieser Spannung. GewChnlich bandelt es sich auch am lEnger dauerude
ErregungszustEnde, die sicb durch die Eusserste Rucksicbtslosigkeit bis
zum Wuten gegen die eigene. Person steigern.
Gewiss versuchen aucb gelegentlich Simulanten sich auf diesem
Felde zu bewegen. Aber selten nur vermCgen sie sich im Rahmen des
kliniscb Echten und Unantastbaren zu halten. Es geh&rt eine ausser*
ordentlicbe Energie und ein recht betrEchtlicher KrEfteaufwand dazu,
diese Rolle lEngere Zeit durchzufuhren und an ibr auch festzubalten,
wenn sie sich nicht beobachtet glauben, wie sie auch meist der eigenen
Person nicht zu nahe treten. In der Regel findet man bei genauerer
Nachforschung, dass es sich um Personen handelt, die nur eine kum-
merliche geistige Veranlagung aufzuweisen haben. Meist kommen diese
ZwischenfElle zu einem raschen Ende, wenn man sich gar nicht um sie
kummert, ohne dass man ihnen dann eine weitere Bedeutung beizuiegen
brauchte.
Weshalb bei Tu., dessen Affektleben fast nie eine StOrung erkennen
Hess, und der schon lange Jahre im Gefangnis ohne jeden Schaden fur
seine geistige Gesuncjheit gesessen hatte, schon am zweiten Tage der
Haft eine solche Explosion erfoJgen sollte, die er zudem auch an-
gekundigt hatte, ist ohne Zuhilfenahme der Simulation gar nicht zu
erklEren.
Wieder lEsst sich bei ihm eine FQlle von NebenumstEnden nach-
weisen, die seine Glaubwurdigkeit in einem fragwurdigen Lichte er-
scheinen lassen.
Nachdem er noch einen schwachen Versuch gemacht hat, wEhrend
der Beobacbtung eine abnliche Alteration vorzufuhren, setzt bei ihm
pldtzlich ein DEmmerzustand ein, der 3 Wochen gedauert haben soli,
bei denen er Anspruch auf einen vollstEndigen Erinnerungsverlust macht
und dessen Bedeutung er seiner Umgebung auf das Eindringlichste zu
Gemute zu bringen sucht.
Auch er beslEtigt die alte Erfahrung, dass man den totalen
Amuesien mit besonders grosser Skepsis gegenuberstehen muss, zumal
wenn sie eine durch eine entsprechende Geisteskrankheit gar nicht zu
erklErende iibermEssig lange Dauer aufweisen. Es sind das zweifellos
sehr seltene ZustEnde.
Es ist verstEndlich, dass Simulanten sicb mit besonderer Yorliebe
diese Form der Amnesie auserwEhlen, weil sie dadurch am ersten der
Gefabr aus dem Wege zu gelien glauben, aus der Rolle zu fallen. Viel
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glaubbafter aber bleiben immer die- Erinnerungsverluste, in die noch
einzelne Ged&chtnisinseln eingesprengt sind, oder der Ausfall einzelner
Erinnerungspunkte.
Jedenfalls spricht sich darin, dass der Tater fur einzelne Punkte
die Erinnerung zugibt, in gewissem Masse seine Neigung aus, bei der
Wahrheit zu bleiben. Gelingt es ihm, bei verscliiedenen Yernehmungen,
die zeitlich lange genug auseinanderliegen, in der Wiedergabe seiner
Eriunernngen keine zu groben Abweichungen zu machen, so wird man
mit grSsserer Sicberheit die Richtigkeit seiner Angaben annehmen
kSnnen.
Fall 14 . Fusilier Hyronimus Sohu., Landwirt, 27 Jahre. Im Zivil
haufig wegen Diebstahls, Betrugs, Urkundenfalschung vorbestraft. Tritt 1914
als Freiwilliger ein. Wegen mehrerer Verwundungen ofters in Lazarettbehand-
lung. Schlechte Fuhrung. 1915 wegen unerlaubter Entfernung 2 Jahre Ge-
fangnis, die er glatt abmacht.
Am 13. 2. 1918 wurde er, nachdem er wegen eines Nervenleidens beur-
laubt, zuruckberufen. Obgleich er telephonisch seine Ankunft angemeldet hatte,
hielt er sich von der Truppe fern und wurde erst am 1. 4. in Oldenburg fest-
genommen. Wahrend dieser Zeit hatte er mehrere Diebstahle begangen.
U. a. hatte er einem Schnlkameraden, der einen Koffer zur Bahn tragen sollte,
vorgeschwindelt, er sei ein Bekannter des Besitzers, heisse Janssen, fahre mit
demselben Zuge und wolle den Koffer dem Besitzer abliefern. Als er bald
darauf wegen Uebertretung der Fahrradvorschriften angehalten wurde, gab er
einen falschen Vomamen an und behauptete, bei einem anderen Regimente ge-
dient zu habeti und als Yizefeldwebel der Reserve entlassen zu sein. Bei der
Durchsuchung fand man bei ihm eine grosse Geldsumme sowie die gestohlenen
Sachen. Den Wachtmeister suchte er zu bestechen. Auch das Fahrrad hatte
er gestohlen. In der Yernehmung behauptete er, ganzlich unbestraft zu sein,
und berief sich darauf, 8 Monate im Lazarett Langenhagen gewesen zu sein (in
dem er zur Beobachtung auf Krampfe 11 Tage gewesen war), behauptete, er
sei tatsachlich im Besitze der Auszeichnungen und unterschrieb als Sergeant
Schu. Deber den Erwerb des Rades machte er erlogene Angaben.
Keiner von den zahlreichen Personen, die mit ihm bei den Diebstahlen
undBetrugereien inBeruhrung gekommen waren, hatte irgend etwasAuffallendes
an ihm wahrgenommen.
Wahrend seines ersten Aufenthaltes in Langenhagen hatte er einem
anderen Kranken ein Paar Scbnurschuhe und wahrend eines Besuches in einem
anderen Lazarett ein Paar Schniirschuhe und eine Sabelkoppel gestohlen.
Wahrend aller friiheren gerichtlichen Verfahren hatte er nieErscheinungen
dargeboten, die einen Zweifel an seiner Zurechnungsfahigkeit erweckt hatten.
Die uber ihn verhangten Strafen verbusste er alle glatt. Er berief sich friiher
auf angebliches Lungenbluten, ohne wahrend der Beobachtung eine Blutung
gehabt zu haben und ohne dass auch nur der geringste objektive Befund er-
hoben worden ware. In den Krankenblattern wird der Verdacht der Ueier-
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treibung geaussert, so hatte er auch wiederholt die Temperatur kunstiich in
die Hohe getrieben. Einmal wird direkt ausgesprochen, dass er simaliert babe.
lm Oktober 1917 im Reservelazarett R. aufgenommen, weil er auf der
Reise einen Anfall gehabt haben wollte. Wahrend 14 Tagen hatte er kcinen
Anfall. Auf der Reise nach Ha. wollte er wieder einen Anfall gehabt haben.
Im Reservelazarett II Ha. hatte er mehr Anfalle. Hier gab er an^ er leide seit
dem 11. Jahre an Ohnmachtsanfallen (nicht bestatigt). In La. warden mehrere.
Anfalle beobachtet, die als hysterisch aufgefasst werden (uber die forensische
Sachlage war nichts bekannt).
Es wurde eine absiohtlich vorgetauschte Abschwaohung der
Intelligenz angenommen.
Bei der zweiten Aufnahme in La. sofort hysterischer Anfall. Nach dem
Anfalle war er klar und geordnet, unterhielt sich angeregt and zeigte keine
Zeichen yon Miidigkeit. Sonst verhielt er sich ruhig und geordnet und war
niemals verstimrat oder angstlich. Wenn er sioh beobachtet wusste, tat er
ausserordentlich wehleidig, hielt den Kopf schief, wackelte damit hin und her
und sprach mit leisem, klaglichem Tone.
War der Arzt nicht in der Nahe, dann war er wie ausgewechselt. Er
unterhielt sich lebhaft mit seiner Umgebung und zeigte fur alles Interesse.
Gelegentlioh las er auch in der Zeitung. Dem Arzte gegeniiber behauptete er,
nicht lesen zu konnen. Von anderen Kameraden liess er sich Karten schreiben,
da er selbst nicht schreiben konne. Dagegen schmuggelte er versohiedene —
selbst gesohriebene — Karten durch, in denen er zwei Madchen zum Besuch
bestellte und sich Zigarren und Esswaren erbat. Trotz seines klagsamen
Wesens suchte er auch ein Heiratsgesuoh in den Hamburger Anzeiger duroh-
zuschmuggeln. Dem Arzte gegeniiber versank er sofort in ein Meer der beweg-
lichsten Klagen und antwortete leise und zdgernd. Wenn er wollte, konnte er
auf alle Pragen prompt und sinngemass Antwort geben und folgte den ein-
gehendsten Unterhaltung^n ohne jedes Zeichen von Ermudung.
Das Gedachtnis war geradezu ausgezeichnet, nur bei der Besprechung
mancher Straftaten, die ihm unangenehm waren, hatte er damit Schwierig-
keiten. In der Besprechung seiner Vorgeschichte batte er das ausgepragte Be-
streben, sich als einen von Kind auf geistig abnormen kranken Menschen hin-
zustellen. Seine ganze Pamilie sei minderwertig. Aus der Scbule sei er immer
fortgelaufen. Beim Lernen sei er gleich schwindlig geworden. Spater habe
er immer die masslosesten Schwindelzustande gehabt. Die Krampfe habe er
mit dem 18. Lebensjahre bekommen und auch in alien Lazaretten gehabt. Als
ihm vorgehalten wird, dass friiher bei ihm nie etwas yon nervosen Storungen
bemerkt worden sei, meint er, die Zustande seien von den Aerzten ubersehen
worden. Von seinen Vorstrafen wollte er gar nichts wissen. Er sei zwar bfters
vor Gericht gewesen, konne sich aber mit dem besten Willen nicht erinnern,
urn was es sich dabei gehandelt habe.
Auch bei der Intelligenzpriifung suchte er auf jede Weise den Eindruck
der schwersten Geistesschwache zu machen. Schreiben wollte er nicht konnen.
Als,ihm ein Schriftstiick aus einer fruheren Akte vorgehalten wurde, in dem er
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sich mit leidlioher Schrift, brauchbarem Stile and gutem Gedankengange ver-
teidigt hatte, wurde er sehr bestiirzt und wusste nichts zu erwidern. Selbst
bei den einfaohsten Rechenaufgaben versagte er, die er bei seinem ersten Auf-
enthatte in La. glatt und richtig gelost hatte. Die Geldstiicke wollte er nioht
unterscheiden konnen. Er kannte weder die Zahl der Monate, noch dieWochen-
tage, und zahlte diese falsch auf. Als er nach der Zahl seiner Finger gefragt
wurde, fing er an, sie abzuzahlen, kam damit aber nioht zuwoge.
Wie er zu der unerlaubten Entfernung gekommen sei, konne er nicht
sagen. Es sei ihm unmoglich, irgendwo langer zu bleiben, nach mehreren
Stunden werde ihm schwarz vor den Augen, er bekomme Kopfschmerzen und
dann wisse er nicht mehr, was mit ihm los sei. Die Diebstahle in den
Lazaretten bestritt er, erwies sich dabei aber iiber alleEinzelheiten unterrichtet.
Er selbst habe sich nur in seiner Unschuld dazu verleiten lassen.
Aus ungunstigen Verh<nissen stammend, nimmt die Eutwicklung
des Schu. einen abnormen Verlauf. Schon sehr fruh wird er straff&llig,
ohne dass er w&hrend der zahlreichen Verfahren etwas dargeboten hatte,
was seine Zurechnungsf&higkeit hatte in Frage stellen k6nnen. Alle
Haftstrafen macht er ohne jeden Zwischenfall ab. Beim Militkr wird
er ein eifrigor Lazarettlaufer, gerat in don Verdacht, ein Lungenleiden
vorget&uscht zu haben, treibt die Temperaturen kiinstlich in die H6he
und stellt sein geistiges Licht unter den Scheffel. Erst nach 3 Jahren
stellen sich ohne jede Aussere Veranlassung — er selbst gibt falsch-
licherweise eine Verscbuttung an — Anlklle ein, die nicht immer der
Anzweiflung der Echtheit zu entgehen yermocbten, mit gutem Willen
aber der Hysterie zugerechnet werden konnten, wAbrend der kOrperliche
Befund fur hysterische Anzeichen g&nzlich im Stiche liess.
Energisch versucht er dann die Anf&lle bis in seine Kindheit zu-
ruckzuverlegen und sich auch sonst als geistig nicht normal hinzustellen.
Fur Alles, was er spAter vorbrachte, fand sich in den Akten wieder
kein Anhaltspunkt, er hatte ganz erheblich zugelernt. In zielbewusster
Weise sucht er dann durch die Klippen der Beobachtung durchzusteuern.
Fall 15 . Flieger Ferdinand Bu., Schlachter, 37 Jahre. 13 mal wegen
Betrogs, Unterschlagung und Diebstahls vorbestraft. Bis Harz 1916 im Felde.
Am 29. Dezember 1916 entfernte er sich auf einem Transport von seinem
Truppenteil und meldete sich am 29. Januar 1917 wieder. Seinen Feldwebel
beleidigte er spater durch Eingaben.
Bei seiner Vernehmung gab er an, er sei nachtblind und bekomme
hanfig Nervenanfalle. Infolge eines solchen Anfalls habe er aach bei seiner
Ruckkehr aus dem Felde 3 Tage beim „Roten Kreuz u gelegen. Auch auf einer
anderen Reise sei er in Neu. an ahnlichen Anfallen im Lazarett gelegen. Von
11.—15. Januar habe er in Du. seine Angehorigen besucht. Dann babe er nach
Ha. fahren wollen, habe aber in Es. und Do. wegen seiner Anfalle Aufenthalt
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nebmen miissen. Sehr oft wisse er gar nicht, was er tue. Ein Bruder und
eine Schwester seien in einer Irrenanstalt gewesen.
Spater erklarte er, er habe sich in Na. vom Transport© entfernt, weil ihm
iibel gewesen sei. Am 4. Januar sei er nach Du. gefabren und habe dort bis
zum 16. Januar in seinem Geschaft gearbeitet. Spater habe ernoch Verwandte
in Kr. besucht, um dann wieder nach Dii. zuriickzukehren. Schliesslich sei er
mit Aufenthalt in Es. und Do. naoh Ha. zuruckgefahren. Er gab zu, die be-
leidigenden BrieTe verfasst zu haben.
In der Hauptverhandlung iinderte er wieder seine Aussagen. Er wisse
nur, dass er sich einige Tage in Dii. aufgehalten habe, und wenn er spater
andere Angaben gemacht habe, so sei das nur im Schreck und in der Ueber-
sturzung geschehen. Zeugen hielten ihn fur einen Sonderling, den die Kame-
raden gemieden hatten. Stets habe er sich vom Aussendienst zu
driicken gesucht. Dabei habe er immer Krankheit vorgeschiitzt. Er gait
als schlechter Soldat und Driickebcrger. Mehrere Zeugen bezeichneten ihn
direkt als Simulanten. Auch im Zivilleben bezeichnete man ihn als ganz
raffinierten Simulanten, der kein Mittel unversucht lassen werde, sich
vom Militardienste zu driicken.
Eine eingehende Untersuchung seiner angeblichen Nachtblindheit an einer
Universitatsklinik batte ergeben, dass sie hochstwahrscheinlioh simuliert sei.
Mehrere Angaben seiner Mutter gegeniiber, er sei von seiner Firma reklamiert
worden, erweisen sich als erlogen.
Aus den Briefen, die bei einer Haussuchung vorgefunden wurden, ging
hervor, dass er auf jede Weise versuoht hatte, wieder nach Hause zu kommen.
Die Mutter solle in einem entsprechenden Gesuche an die Behorde angeben,
sie sei schwer krank. In einem Schreiben teilte er seinem Bruder mit, was er
b$i der Vernehmung uber seinen angeblichen Aufenthalt in der Heimat und
den Lazaretten wiihrend der unerlaubten Entfernung angegeben hatte und
scharfte ihnen genau ein, was sie angeben sollten, falls dort Nachforschungen
veranstaltet wurden. Es konne ja nichts herauskommen, wenn die beiderseiti-
gen Angaben mit einander ubereinstimmten. Vor allem sollten sie aussagen,
dass er dort viel allein gesessen und seinen Verstand teilweise nicht zusammen-
gehabt habe.
Am 19. 2. hatte er einen Brief an eine Verwandte geschickt mit der Auf-
forderung, ihn abzuschreiben und an das Gericht nach Ha. zu schicken, von
< der Mutter unterschrieben. Dies Schreiben solle den Anschein haben, als ob
es von ihr ausgegangen sei und einen Beweis fur seine geistige Krankheit
liefern. Die Mutter solle schreiben, dass er nachtblind sei. Er habe vielfaoh
seine Gedanken nicht zusammen, so dass er nicht verantworten konne, was er
so oft in umnachtetem Zustande ausfiihre. Seine Mutter selbst habe bei ihm
haufig, besonders Nachts, Herzkrampfe festgestellt. Wahrend seines Aufent-
haltes in Du. habe sie oft bei ihm Schwindelanfalle beobachtet, in denen es
auch zum Erbrechen gekommen sei. Meistens habe er in dieser Zeit von seiner
Schwester phantasiert. Nachts habe er mit Handen und Fiissen gearbeitet und
sei plotzlich zusammengeschreckt.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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lm ubrigen waren die Briefe durohaus geordnet und sachlich.
Anstaltsbeobachtung. Keine Intelligenzstorung. Gutes Urteilsver-
mogen. Umfassende Kenntnisse. Ueber die Vorgange bei seiner nnerlaubten
Entfernung wusste er offenbar ganz gut Bescheid, docb tat er meist so, als ob
er intensiv nachdenken miisse. DieStimmung war im allgemeinen gleichmassig.
Aeusserlich fiel er nioht auf. Besonders verkehrte er mit einem Beobachtungs-
kranken, der sioh als grosser Uebertreiber entpuppte. Dem Personal gegeniiber
war er mit seinen Aeusserungen ausserordentlich vorsiohtig. Er fuhrte eine
ausgiebige Korrespondenz und suchte verschiedene Briefe an Madohen in Ha.
durchzusohmuggeln. Auch meldete er sich auf eine Heiratsannonce als Be-
werber. In Gegenwart des Arztes setzte er ein sehr wehleidiges Gesicht auf.
An den Oberarzt einer .anderen Anstalt scbrieb er einen Brief, der aber tat-
sachlich fiir den Beobachter bestimmt war. In diesem ausserte er, er reibe
sich vollstandig mit seinen Aufregungen und Gedanken auf. Wenn nur jemand
an seinem Bette vorbeigehe, fahre er aus dem Scblafe auf. Oft sei er ganz
mit den Gedanken weg. Tatsachlich war der Schlaf immer ungestort.
Trotz seiner Nachtblindbeit fand er sich stets in den dunkeln Schlafsalen
muhelos zurecht und ging Tischen und Stiihlen, die absichtlich in seinen Weg
gestellt waren, glatt aus dem Wege.
Ueber seine Delikte machte er im wesentlioben dieselben Angaben wie
bei seinen gerichtlichen Vernehmungen. Die Beschwerdeschrift habe er tat¬
sachlich geschrieben und mit dem Namen der Mutter unterzeichnet, er sei aber
▼on dieser bevollmachtigt gewesen. Dagegen wollte er yon den unerlaubten
Entfemungen nichts mehr wissen. Bei der Schilderung seiner angebliohen
Erlebnisse auf der Riickreise von Ha. geriet er bald in Widerspriicbe. In Na.
sei ibm schlecht und scbwindlig geworden. Kameraden hatton ibn aus dem
Zuge getragen. Auch in Lu. und Aa. sei er liegen geblieben. In Ne. sei ihm
dann wieder schlecht geworden. Sein schlechtes Befinden in Du. schilderte
er in den schwarzesten Farben. Als er dann nach Kr. gefahren sei, babe er
sich auch dort zu Bett legen miissen. Auch auf der Weiterfabrt habe er mehr-
fach halt macben miissen und sei in Lazarettyn und Krankenhausern behandelt
worden, er konne sioh aber nicht mehr entsinnen, wo das gewesen sei, er sei
immer viel zu.erschopft und verwirrt gewesen.
Seit dieser angebliohen Serie von Krankbeiteu ist er in der Garnison
weder im Lazarett noch im Revier jemals mehr behandelt worden.
Als ihm der Brief vorgehalten wird, in dem er die Angehorigen iiber sein
angebliches Verhalten wahrend des Urlaubes instruiert, wird er zunachst ver-
legen, dann meint er, das sei alles falsch aufgefasst, er habe seine Mutter nur
an diese Zeit erinnern wollen, denn diese sei so sohwachsinnig, dass sie nicht
mehr aUes rich tig aussagen konne. Auch sonst batte er, wenn er auf Wider-
spruche aufmerksam gemacht wurde, stets eine andere Antwort zur Hand.
In seine Vorgeschiohte trug er noch eine Menge von nervosen Beschwerden
hinein, die sich spater als erdichtet erwiesen.
Abgesehen davon, dass es in ethischer und moralischer Beziehung
urn Bu. sehr schlecht bestellt gewesen war, so dafs er oft wegen Be-
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trugs vorbestraft war, bei den Zivilbehorden als gerissener Simulant
gait und beim Milit&r als gemeiner Druckeberger erschien, bietet seine
Vorgeschicbte nichts dar, was ihn einer Psychose zuweisen konne.
Selbst die geringen nervosen Beschwerdon, die er vorbringt, sind frag-
los in der grfibsten Weise ubertrieben, wie auch seine Nachtblindheit
rein simuliert war.
Wenn er seine Bntfernung mit einem D&mmerzustande entschuldigen
wollte, fehlte es zunacbst wieder an jeder Grundlage, auf der sich ein
solcher zwanglos aufbauen sollte. Allmahlich fand er fur den grossten
Teil der fraglichen Zeit die Erinnerung wieder, nur dass er jetzt alle
moglichen Erankheitszustande in diese Zeit einzuscbieben versucht, fur
die sich wieder nicht der geringste Anhaltspunkt ermitteln lasst.
Im Uebrigen bescbrankt er sich nicht darauf, eine fingierte Vor-
geschichte zum Besten zu geben, sondern bemuhte sich auch, seine
Verwandte zu Aussagen zu Veranlassen, die diesen die nbtige Glaub-
wurdigkeit verschaffen sollten.
Die gewandte und zielbewusste Art, in der er seinen Zweck zu
erreichen suchte, hatte, falls bei ihm die Anklage auf Simulation ge-
stellt worden ware, wahrscheinlich zur Verurteilung gefuhrt, da seine
Absicbt sich dem Dienste zu entziehen, ganz often auf der Hand lag.
Pall. 16 . Theodor Po., Telegraphist, 38 Jahre. 16.11.1916 wegen
Fehlens bei der Gestellung zur Vernehmung befohlen, erschien er nieht. Nach
Aussage der Mutter war er krank. Von Mitarbeitern war er zur selben Zeit
in der Stadt geseben worden. Verhaftung. 31. 1. 1917 gab er an, er babe
sich gestellt, sei aber nicht verlesen worden. Als das„Publikum a aufgefordert
worden sei, den Platz zu verlassen, sei er einfach fortgegangen. Schon am
16. 11. 1916 sei er krank gewesen, er leide an Herzschwache, Rheumatismus
und Leberkranksein. In einem Atteste wurde ihm bescheinigt, er sei ge-
legentlich wegen Brustrohrenkatarrh behandelt worden.
16. 5. 1917 sollte Hauptverhandlung sein. 14. 5. verliess er die Kaserne
in Ve. 17. 5. telegraphierte die Mutter, er liege in unnormalem Zustande im
Bette. Er erklarte, er konne nicht sagen, weshalb er sich entfernt habe. Er
sei sicher stark herz- und nervenleidend gewesen.
Anstaltsbeobaohtung. Zuerst wollte er iiberhaupt nicht wissen, dass
ein Verfahren gegen ihn schwebe. Erst nach langeren Verhandlungen gab er
das zu. Den Inhalt der Vemehmungen in den Akten erkannte er nicht an.
Unterschrieben habe er sie, aber das beweise nichts.
Von deu iibrigen Kranken hielt er sich etwas feme und' sass mit
murrischem Gesichtsausdrucke in den Ecken herum. Auch dem Wartepersonal
gegenuber beobachtete er eine wurdige Zuruokhaltung. Die Stimmung war
leicht gedruokt. Manchmal gab er iiberhaupt keine' Antwort, sondern starrte
den Fragenden mit ungewissem Gesichtsausdrucke an. Ab und zu klagte er
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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auch iiber Kopfschmerzen. Irgend welche anfallsartige Erscheinungen oder
Storungen des Bewusstseins waren nicht wahrzanehmen.
Bei den Untersuchongen nahm er sich zu den Antworten sehr lange
Zeit nnd gab vorsichtig und mit lauernden Blicken Antwort. Haufig wollte er
die einfachsten Fragen nioht verstehen oder fasste sie falsch auf. Dabei stellte
sicb immer wieder heraus, dass er ganz genau wusste, nm was es sich handelte.
Auch sonst hatte er das unverkennbare Bestreben, um die Sache herumzureden.
In den Zwischenpausen des Gespraches entquollen bestandig tiefe Seufzer
seiner Brust. Ermiidungserscheinungen waren am Ende der Unterredung nioht
festznstellen. Die korperliohe Untersuchung ergab nicht die geringste Ab-
weichung von der Norm. Bis zum 10. Jahre wollte er Bettnasser gewesen sein.
Spater habe er lange an einem chronischen Husten und Rheumatismus gelitten,
von dem ein schwerer Herzfehler zuriiokgeblieben sei. Dazu sei Asthma ge-
kommen und schliesslioh habe sich eine furchterliche Ichias dazu gesellt. Er
sei uberaus sohwachlich gewesen. Im vergangenen Jahre sei ihm eine Kiste
auf den Rucken gefallen. Auch habe er sich einmal gegen den Arm gestossen,
sodass er jetzt noch dauernd die entsetzlichsten Scbmerzen habe. Immer habe
er sich von der Welt zuruckgezogen. Trotzdem habe er die wahnsinnigsten
Kopfschmerzen gehabt, mitunter auch solche Stiche in der Seite, dass es
geradezu eigentumlich gewesen sei. Jeden Witterungswechsel habe er in seinen
Lungenflugeln gespurt. Die Stimmung sei bei ihm immer bauptsachlioh
geradezu niedergeschlagen gewesen. Immer habe er sich die wustesten Ge-
danken gemacht wegen seines Magens, der infolge seiner so schlechten Zahne
ihm jahrelang die peinlichste Last gemacht habe. So habe der Schlaf ihn oft
geflohen, da seine Nerven so uberaus gelitten hatten und er mit seiner Ver-
dauung so furchterlich schlecht bestellt gewesen sei.
Trotzdem gesteht er schliesslioh ein, dass er eine gesellige Natur gewesen
sei. Er war in einem Turn-, Gesang- und Theater-Verein und hatte seinen
Stammtisoh. Ins Feld sei er nicht gekommen, wahrscheinlich weil er so furcht-
bar krank gewesen sei. Wahrend des ganzen Dienstes, der ihm unmassig auf
die Nerven gegangen sei, sei er immer so hin- und hergeschwankt.
Weshalb er hierher gebracht worden sei, konne er sich nicht denken.
Mit dem Geriohte habe er gar nichts zu tun, er sei noch nie gerichtlich ver-
nommen worden, noch nie habe er etwas untersohrieben. Als ihm dann
energisch erdffnet wird, dass er genau wisse, um was es sich handele, sieht er
den Arzt langere Zeit uberlegend an und erklart dann schliesslioh kleinlaut:
^a, daruber habe ich eine ganze Akte. u
Schliesslioh stellt sich dann heraus, dass er iiber alle Einzelheiten genau
Bescheid weiss. Zuletzt sei er jron Ve* fortgegangen, weshalb, kdnne er nicht
sagen. Mittags um 4 Uhr sei er abgefahren, da sei gerade ein Personenzug
losgegangen. In Ha. habe er sich nicht aufgehalten und sei weitergefahren.
Er habe Dmwege machen miissen, weil die Bahn gar nicht gefahren sei. So
sei er nach Oberhausen gekommen, von da waiter nach Coin, von Coin nach
Bonn. Von Bonn sei er wieder zuriickgefahren nach Oberhausen, von da nach
Hamm und da dort kein Anschluss war, sei er wieder nach C51n gefahren.
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Von Coin sei er nach Koblenz gereist, von da nach Bonn, von Bonn wieder
zurbck nach Koblenz, dann wieder nach Oberhausen, von da nach Ldhne und
schliesslich sei er fiber Osnabriick nach' Bremen und dann zuriick nach Munster
gefahren.
Dazu habe er zwei Tage gebraucht. Er sei dabei immer in Uniform ge-
wesen und nur im Besitze einer Bahnsteigkarte gewesen. In Munster, wo er
genau Bescheid gewusst habe, sei er dann auf der letzten Seitentreppe herunter-
gegangen. Nachts sei er immer durchgefahren. Gegessen habe er nur einmal
auf dem Bahnhofe in Oberhausen beim „Ro.ten Kreuz.“ In Munster sei er dann
nach Hause gegangen und habe sich zu Bette gelegt. Am nachsten Tage sei
er spazieren gegangen. An diesem Tage habe man ihn abgeholt und ins
Lazarett gesteckt. Er sei nur weggegangen, weil man ihm den Urlaub immer
abgeschlagen babe. Auch habe er nichts zu essen gehabt. Er sei so die Kreuz
und Quer gefahren, weil er nicht anders gekonnt habe. Die Zfige seien alio
nicht „so u gefahren, und so habe er keinen Anschluss bekommen konnen.
Krank sei er dabei insofern gewesen, als er sich schlecht gefiihlt habe. Sonst
aber konne er sich an die Einzelheiten der Fahrt ganz genau erinnern.
Nachdem Po., der alle mSglichen korperliclien Krankheiten zur
Erh&rtung seiner geistigen und k5rperlichen Leistungsunf&higkeit vor-
geffihrt und das ganz ausgesprochene Bestreben verraten hatte, sich
kr&nker hinzustellen als er in Wirklichkeit war, zunachst versucht
hatte, das gauze gegen ihn schwebende Verfahren in den Mantel ernes
totalen Erinnerungsausfalles zu hiillen, sucht er spater seine Entfernung
von der Truppe plfjtzlich als ein so sinnloses Hin- und Herfahren hin¬
zustellen, dass daraus oline weiteres ein krankhafter Geisteszustand hatte
gefolgert werden konnen. Wahrend er fruher mit Erinnerungsausfallen
zu wirken versuchte, wollte er jetzt genau Bescheid wissen und fand
sogaij nocli einen Beweggrund fur sein Handeln. Die Durchfuhrung
des Reiseprogramms, wle er es abgewickelt haben wollte, war an und
fur sich ganz unmoglich.
In der Hauptverhandlung, in der durch Zeugen festgestellt wurde,
dass er in der ganzen Zeit in Mu. gewesen war und sich durchaus
geordnet benommen hatte, verzichtete er auf den Schutz seiner geistigen
Storungen und nahm die Strafe widerstandslos an.
Fall 17 . Trainfahrer Otto EL, Automobilfabrer, 32 J., 8. 1. 1917 ent-
fernte er sich aus seinem Quartier in Ha. 9 Tage spater U*af ihn ein anderer
Fabrer auf der Strasse und veranlasste ihn, zur Truppe zuriickzukehren. 8. 2.
entfemte er sich wiederura, fuhr nach Br. und wurde nach 10 Tagen im Bette,
angebiich schwer krank angetroffen. Langere Lazarettbeobachtung.
Als er aus dem lteservelazarett zu seiner Truppe geschickt wurde, fuhr
er nicht nach Ha., sondern nach Br. und hielt sich dort 5 Wochen auf. Er
wollte in unbewusstem Zustande gehandelt haben.
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Bei seiner Vorfiihrung vor dem Gerichtsoffizier „spielte er den vollkommen
Gestdrten u . Er behielt trotz des Befehls, militarische Haltung anzunehmen,
die Hande auf dem Riicken, auf alle an ihn geriohteten Fragen erklarte er:
„ich will meine Kartoffeln, mein Pferd und meinen Wagen wiederhaben tt . Da-
bei schlug er mit der Faust auf den Tisch und lief im Zimmer herum. Da
Eh „offenbar simulierte“, wurde er festgenommen.
Spater gab er an, er wisse nocb, dass er in II. entlassen worden und in
einen Zug gestiegen sei. Dann musse* er sich fiber irgend etwas erschreckt
haben. Von dem Augenblicko an wisse er niclits mehr. Erst seit Beginn dor
Vernehmung sei er wieder beiBewusstsein. Er sei inFrankreich versohiittet
worden, seitdem habe er haufig Zustande, in denen ihm jedes Bewusstsein
fehle.
Anstaltsbeobachtung. Bei der Aufnahme war er vollkommen orien-
tiert. Er batte u. A. aus freien Stucken angegeben, seine Frau habe am nach-
sten Tage Geburtstag und man moge sie doch zum Besuohe zulassen. Er gab
dem Personal an, er sei friiher in II. gewesen, wo man sein Bein massiert habe,
das steif gewesen sei. Von dort sei er zu seiner Truppe entlassen worden,
habe sich aber dort nicht gemeldet.
Dem Arzte erzahlte er, in der Champagne sei ihm ein Stuck Eisen auf
den Kopf gefallen. Einmal sei er bestraft worden, da solle er irgend etwas
begangen haben, was ihm spater als Strassenraub ausgelegt worden sei.
Anfangs 1915 sei er nach Frankreich gekommen, wohin wisse er nicht,
konne die Dinger ja doch nicht behalten. Spater habe er in Russland bei der
grossen Offensive gestanden. Einmal Darchschuss durch das Bein. Wann er
in der Champagne gewesen sei, konne er nicht sagen, da miisse er mal nach-
fragen. Ob er nach seiner Verletzung in ein Lazarett gekommen sei, sei ihm
entfallen. Wann er nach der Heimat gekommen sei, konne er nicht angeben,
er wisse nur, dass er plotzlich in Br. in einem Lazarette gelegen habe. Wie
lange, sei ihm unbekannt „Sie miissen danach meine Frau fragen a . Dann sei
er in eine Nervenanstalt gekommen. Alle Einzelheiten seien ihm ganz aus dem
Gedachtnis entschwunden. Wie er von dort fortgekommen sei, das sei ihm
ganzlich unklar, obgleich er garnichts anderes getan habe, als dariiber nach-
zudenkerv Er sei zu sich gekommen, als er in einem vergittorten Loohe ge-
sessen habe. Das sei nun der Dank dafur, dass er das viele Blut fiir das Vater-
land vergossen babe. Auf die Frage, ob er nicht wisse, dass er von der Truppe
fortgelaufen sei, erklarte er mit hohlem Pathos, er sei kein Fahnenfliichtling.
Er wisse, dass er einmal vor dem Gerichtsoffizier gewesen sei. Schliesslich
babe man ihn hierher in einem Kutschwagen gefahren.
Bei der ganzen Unterhaltung hatte er iiberaus sondierend und abwagend,
dabei vcrdrossen und miirrisck geantwortet, obgleich er in der vorsichtigsten
und liebevollsten Weise befragt wurde.
Jetzt erklarte er auf die Frage, weshalb er denn in der Anstalt sei: „Wie
kommen Sie dazu, mich zu fragen, sind Sio Staatsanwalt“. Als ihm das vet-
wiesen wurde, erging er sich in freche Redensarten. Dem Befehle zu schweigen,
folgte er einem Augenblick, schlug dann aber mit der Faust auf den Tisch und
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680
Dr. Monkemoller,
begann wieder heftig zu schimpfen. Als der Arzt ihm befahl das Zimmer zu
verlassen, ging er mit geballten Fausten auf ihn zu. Als er kraftiger ange-
schnauzt wurde, sah er sich den Arzt einen Augenblick an, und verliess das
Zimmer. Den anderen Kranken erzahlte er triumphierend, wie er es dem Arzte
gegeben habe, am anderen Morgen wollte er nichts mehr davon wissen.
Meist erschien er murrisob und verdrossen. Von selbst spraoh er wenig.
Wenn er angeredet wurde, erwies er sich als ein iritelligenter Mensch. Im all-
gemeinen war er sehr anspruchsvoll. Dem Personal leistete er bestandig pas-
siven Widerstand, die anderen Kranken hetzte er auf, als fanatischer Anhanger
Ledebur’s schimpfte er bestandig uber Staat und Militar. Die einzigen Spon-
tanausserungen, die er dem Wartepersonal machte, bestanden darin, dass er
wiederbolt iiber seine lastigen „Dammerzustande tt klagte. Keine anfallsartigen
Erscheinungen.
Nach abgescblossener Beobachtung wurde er am 10. 8. 17 vernommen.
Bei dieser Vernehmung machte er durchaus zutreffendeAngaben und fielinkeiner
Weise auf. Nach der Vernehmung entwich er aus dem Militargerichtsgebaude.
Am 24. 10. 17 wurde er in He. im Reservelazarett abends im Dunkeln in
der Nabe des Hauseingangs aufgefunden. Er gab keine Antworten und ^stiess
mit Handen und Fiissen um sich a . Nach einiger Zeit gab er Antworten, aber
immer ohne jeden Zusammenhang mit der gestellten Frage. Spater wiederholte
er auf alle an ihn gestellten Fragen, er wolle zu den FranzoseD, die kamen
sonst ins Land und daran sei sein Fortbleiben schuld. ^Ileist sass er starr im
Bett und schien sich nicht um seine Umgebung zu kiimmern.
Auf Befragen erzahlte er, er habe vor 2 Jahren in Frankreich gegen
Schwarze gekampft und eine Kopfverletzung durch Messerstich davongetragen
(keine Narbe). Was seitdem mit ihm geschehen sei, konne er nicht
sagen.
Diagnose: Epilepsie mit Verdacht auf Dammerzustand. In der Lazarett-
abteilung taute er bald auf. Im Verkehr mit den tibrigen Kranken vollkommen
geordnet. Sobald der Arzt kam, blieb er andauernd wie ratios liegen. Ueber
seine Vorgeschiohte machte er verworrene Angaben. Was in den letzten Monaten
mit ihm geschehen war, wollte er nicht wissen. Der Gesichtsausdruck war oft
lauernd und beobachtend. Keine krampfiihnlicben Zustande. In der Irrenab-
teilung Lu. machte er einige Angaben iiber seine Vorgeschiohte. Er war be-
strebt, alles, was mit seiner Krankheit zusammenhing, moglichst
unklar darzustellen. Diagnose: Hysteric.
In La. war er ziemlick murrisch und zuriickhaltend. Dem Wartepersonal
gegeniiber erzahlte er, er habe fiir die ganze Zeit keine Erinnerung. Als er
dann nach dem allgemeinen Aufenthaltssaale verlegt wurde, war er strahlender
Laune, unterhielt sich lebhaft und fiihrte das grosste Wort. Dabei las er die
Zeitung und spielte fleissig und mit Erfolg Skat. Keine Stimmungssckwankung.
Keine Reizbarkeit. In Gegenwart des Arztes senkte sioh eine diistere Schwer-
mutauf ihn herab, die sofort verschwunden war, sobald jener das Zimmer yer-
lassen hatte. Schlaf und Appetit ausgezeichnet. Keine Anfallserscheinungen.
Naohdem er eine mehrmonatige Untorsuchungshaft ohne Storung durchgemacht
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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und sich in der Hauptverhandluug sehr eingehend auf die Dammerzustande
berufen hatte, wurde er zu 9 Monaten Gefangnis rerurteilt.
Bei der ersten Beobacbtuug hat El. olme jede Frage einen Er*
regungszustand in ahnlicher Weise vorzufuhren versucht, wie er ihn
nach der Entweichung zur Erhartung seiner krankhaften Veranlagung dem
Gerichtsoffizier vorgespielt hatte. Die Tatsache, dass er, als er die Sach-
lage uberschaute, sich zu beherrschen wusste, sein ganzes Verhalten bei
diesem kunstlichen Erregungsznstande und die Art und Weise, wie er
nachher daruber sprach, beweisen am besten, dass dieser Zustand nicht
emst genommen zu werden brauchte.
Beim zweiten Male hat er entschieden dazugelernt. Yorher waren
bei ihm nie nervbse Ersclieinungon, geschweige denn Krampfe aufge-
treten. Jetzt befallt ihn der Anfall glucklich Abends in der Dunkel-
heit, nachdem er am Ende seines Dammerzustandes ausgerechnet an
der Tfire eines ihm unbekannten Lazarettes gelandet und arztliche Be-
obachtung nicht zu erwarten ist. Sonst kommt in den Lazaretten nie
ein Anfall zur Beobachtung, so dass die Diagnose, die zuerst auf Grand
seiner Angaben auf Epilepsie gestellt worden war, nur auf Grand des
korperlichen Befundes zur Hysterie uberging. -Nachdem er einen Ver-
wirrtbeitszustand durchgemacht hat, der zum mindesten sehr anfechtbar
erscheinen muss, schSlt sich eine Amnesie heraus, die sich zunachst
anf 2 Jabre erstrecken soli und schliesslich auf die letzten Monate zu-
sammenschrumpft. Durch das sonstige Verhalten El.’s wurde sie gerade
nicht glaubhafter und wenn man dem langen D&mmerzustand nicht die
Echtheit zuerkennen wollte, so war das sicherlich keine zu weitgehende
Skepsis. Seitdem ist er auch, bis jetzt wenigstens, nicht mehr straf-
bar geworden und scheint vorl&ufig seinen Kr&mpfen und D&mmerzu*
standen Yalet gesagt zu haben.
Die bier angefuhrten Falle stellen nur einen geringen Teil der hier
beobachteten angeblichen Dammerzustande dar, denen der Glaube ver-
sagt werden musste.
Es liegt in der Natur dieser Zustande, dass man sich nicht immer-
zu einer sicheren Entscheidung durchringen kann. Es ist selbstverst&nd-
lich, dass man hier oft dem Grundsatze des in dubio pro reo seine Be-
deutung znkommen lassen muss.
Die Yorfiihrung anderer Psychoseri erfolgte mal seltener und in
den vereinzelten Fallen, die hier in Betracht kommen, handelte es sich
meist am wenig scbarf ausgepragte Krankheitsbilder. Glucklicherweise
ist die Kenntnis der psychiscben Krankheiten noch nicht so sehr ins
Yolk gedrungen, dass das Repertoire der Simulanten eine zu stbrende
VieUeitigkeit erlangen kann.
Arehiv f. Pejchiatrie. Bd. 60. Heft Q/Z. 44
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Dr. Monkemoller,
Fall 18 . Ulan Heinrich Ko., Schreiner. Lernte auf der Schnle gut.
War immer leicht empfindlich. Potus, Lues, Trauma negiert. Wahrend seiner
aktiven Dienstzeit 1910 erkrankte er haufig an alien mdglichen korperlichen
Krankheiten. Fiihrung sehr schlecht. Als er sich fur einenTag von derTruppe
entfernt hatte, wurde er auf seinen Geisteszustand beobachtet. Er wurde zwar
fur zurechnungsfahig, spater aber fiir dienstunfahig erklart. Nach Ansicbt der
Polizei war er allgemein dafiir bekannt, dass er sich systematisch urn
die Arbeit herumdriicke. '
Mit Kriegsausbruch trat er kriegsfreiwillig ein. September 1915 wegen
angeblicher Bewusstseinsstorung in La. Negativer Befund.
Januar 1916 schoss er sich eineKugel in dieBrust, nachdem er sich ohne
Urlaub entfernt hatte, weil er angeblich mit Vorgesetzten Reibereien gehabt
hatte. Wahrend der langen Lazarettbehandlung war er korperlich binfallig,
nervos, unzufrieden.
13. 11. 1910 entfernte er sioh von der Truppe, hielt sich zeitweise bei
einer Freundin seiner Frau auf, mit der er ein Vcrhaltnis hatte, schrieb von
Flensburg und Frankfurt mebrere Karten an seine Frau und wurde
schliesslich in Frankfurt festgestellt, wo er sich bei seiner Mutter aufhielt.
Sohliesslich telegrapbierte er seinen Angehorigen aus Wurzburg, er werde
in der naohsten Nacht in Hannover eintreffen. Hier verhattet.
Er erklarte, sich entfernt zu haben, weil er nicht ins Feld gekommen sei.
Anstaltsbeobaohtung. Sehr redselig, mischt sich in alia Gesprache
und spielt den erfahrenen Weltmann. Keine Intelligenzstorung. Ausgezeichnetes
Gedachtnis.
Seine Entfernung entschuldigte er mit seiner Nervenkrankheit. Ein
Sergeant habe ihn so scbikaniert, dass er denSelbstmordversuch gemacht habe.
Am Tage vor seiner Entfernung habe er seinen Dienst getan, ohne dass etwas
Besonderes vorgekommen sei. Am anderen Morgen habe er sich plbtzlich im
Zuge nach Fr. angefunden.
Die Einzelheiten der folgenden Zeit gab er ganz genau an. Er habe
immer versucht, an die Front zu kommen, es sei ihm aber nicht gelungen.
Daranf habe er sich selbst gestellt.
Das Gutachten billigte ihm eine starke Nervenschwache zu. Bei der Ent¬
fernung von der Truppe konne er sich hochstens im Anfange in einem Dammer-
zustande befunden haben.
Verurteilung zu 7 Monaten Gefangnis. Aus dem Gefangnisse wurde er
nach Bochum in ein Lazarett gesohickt, in dem er 5 Monate arbeitete. Dann
wieder zu seiner Ersatzeskadron.
Schliesslich entfernte er sich von derTruppe, nachdem er zusammen mit
einem Sergeanten Unterschlagungen begangen hatte. Bei der Verhaftung fand
man viele Urlaubsscheine, die er von einem Unteroffizier abgestempelt gekauft
haben wollte. Er selbst hatte die Unterschrift des Rittmeisters vollzogen und
eine ganze Menge verschiedener Daten ausgefullt, urn die entspreohenden Brot-
marken bekommen zu konnen. Er gab an, er habe zu seiner Familie gewolli.
la Gemeinschaft mit dem Sergeanten beging er weiterhin mehrere Betriigereien.
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Did Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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Ende September entfernte er sich von neuem mit geHUschtem Urlaubs-
sohein. Ausserdem hatte er sicb Sergeantentressen aufgenaht. In Hildes-
heim wobnte er 5 Tage in einem Hotel. Mit einem Madchen, mit dem er sich
verlobte, fubr er zu deren Eltern. Dort blieb er 14Tage und beschaftigte sich
mit Feldarbeiten. Spater trieb er sich in Braunschweig mehrere Wochen
herum and beging mehrere Diebstahle. Schliesslich wurde erin einem Backer¬
laden verbaftet, als er gerade einen Diebstahl begangen hatte.
In der Untersuchungshaft schrieb er an seine „Braut“ einen geordneten
Brief, in dem er mitteilte, er sei in (Jntersuchung wegen unerlaubterEntfernnng
und Diebstahls. Man habe ihn zu allerhand Schlechtigkeiten benutzt und
nachher im Stiche gelassen.
Jetzt erschienen ihm die grauenhaftesten Bilder. „Weisst du was davon
oder hast du mal gelesen, ich hatte jemand umgebraoht? Mir kommt es wirk-
lich bald so vor. Jede Nacht erscheint mir eine Wirtschaft mit einem toton
Manne, dem Wirte. w
Da in der letzten Zeit einWirt ermordet worden war, wurde er daraufhin
vernommen. Er habe in der Wirtschaft verkehrt. Es sei leicht moglich, dass
er am Wirt einen Mord begangen habe.
Zunachst beschrieb er mit yerbluffender Genauigkeit eine ganze Menge
von Schmuckgegenstanden, die bei dem Raubmorde gestohlen worden waren.
Er habe diese Gegenstande wahrend seines Aufenthaltes in Br. versetzt. Die
Tat habe er zusammen mit zwei Leuten veriibt, die er genau beschrieb. Er
konne nicht abstreiten, dass er den Wirt ermordet habe, es aber auch nioht
zugeben. Da er Kopfschmerzen hatte, gaben ihm die Spiessgesellen mehrere
Kognaks und versch each ten duroh hypnotischeStriche dieSchmerzen.
Was dann passiert sei, konne er nicht genau sagen. Als er wieder zu sich ge-
kommen sei, sei er mit seinen beiden Gefahrten in einem Kaffee gewesen. Sie
hatten ihm 600M. gegeben und gesagt, dass er sioh das redlich verdient habe.
Er habe sich gewundert, dass seine Hande so rein gewaschen waren und einen
so scharfen Moschusgeruch hatten. Spater schilderte er dann noch, wie er
einen Wortwechsel mit dem Wirte gehabt habe. Dann konne er sich nur ent-
sinnen, dass er den Wirt habe im Blute liegen sehen.
Spater sohob er die Schuld auf eine Witwe, mit der er schlecht stand.
Er habe den Wirt erst durch einen provozierten Streit in ein Handgemenge
verwiokelt und dann erstochen.
Als ihm die Mordtaten der letzten Zeit vorgehalten werden, gestand er
auch noch einen Mord an einer Verkauferin ein und beschrieb auch diesen mit
alien Einzelheiten. Auch habe er vor 9 Wochen noch^ ein Madchen ermordet,
mit dem er verkehrt habe. Schliesslich gab er noch ein Madchen zu, das er
vor einigen Jahren in Br. totgeschlagen. Vorher habe er mit ihr geschlechtlich
verkehrt und als sie gesagt habe, dass sie schwanger sei, habe er sie einfach
erwiirgt. Ausserdem konnten in Flandern noch zwei weitereFalle passiert sein,
in denen er Madchen ermordet habe.
In einer Reihe voii weiteren Vernehmungen iiber diese Mordtaten machte
er imxner genaue Angaben. Dabei beteuerte er, es handele sich bei ihm nicht
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Dr. Monkemoller,
um Einbildung. Nach den ausserordentlich umfangreichen Nachforschungen
war er an diesen Morden gar nicht beteiligt.
Mittlerweiie beging Ko. am 14. 12. 1917 einen Selbstmordyersuch durch
Erhangen.
Nach abgeschlossenerBeobaohtung, die sich auch darauf erstrecken sollte,
ob er simnliere und durch die Verlegung nach La. eine Ent-
weichung ermoglichen wollte, gab der Untersuchungsgefangene, der mit
Ko. zusamtnen geschlafen hatte, an, dass dieser nach seiner festen Ueber-
zengnng simuliere.
Er hatte verschiedene Male gesagt, er werde schon dafiir sorgen,
dass er nach La. komme und wenn er jetzt zum 3. Male dort beobachtet
werde, sei es ganz sicher, dass er auf Grund des § 51, den er wortlich an-
fiihrte, freigesprochen und was die Hauptsache sei, ganz vom Militar entlassen
werde. Der Selbstmordyersuch sei offenbar simuliert Worden. Am Tage nach
dem Selbstmorde hatte Ko. ausfiihrlich besprochen, wie man es am besten an-
fange, um nach La. zu kommen. Dabei war besonders vonSelbstmordversuchen
die Rede gewesen, die das sicherste Mittel seien.
In der darauf folgenden Nacht stieg Ko. au§_ dem Bette, befestigte eine
Verbandbinde am Heizrohr, legte sie um den Hals und setzte sich auf einen
Schemel. „Darauf fing er an, mit dem Schemel hin- und herzureiben, offenbar
um mich aus dem Schlaf zu wecken, damit ich dann zur Hand sein sollte. u
Schliesslich warf er den Schemel mit lautem Gepolter in die Zelle, indem er
sich an die Schlinge hing und die Zunge herausstreckte. „Dabei kniete er aber
auf den Knien und hielt sich sogar fest. u Er wurde von den anderen Ge-
fangenen sofort losgemacht.
Anstaltsbeobachtung. Vor seiner Ueberfiihrung steckte er dem
Transporteur noch einen Brief an seine Braut zu. In diesem Briefe schrieb er
ganz geordnet, gab ihr gute Ratschlage und bat, ihn in La. zu besuchen.
Dabei besohrieb er diese Besuchsgelegenheit auf das Genaueste. Irgend eine
Andeutung fur eine Depression oder Wahnideen ist in diesem Briefe nicht vor-
handen.
Anstaltsbeobachtung. Bei der Aufnahme ruhig und orientiert, nicht
gehemmt, nicht niedergeschlagen. Keine Strangulationsmarke. Auch wahrend
der spaterenBeobachtung ruhiger und gleichmassigerStimmung, meist ziemlich
ernst, aber ohne jede Angst oder Niedergeschlagenheit. Er schlief ganz gut.
Manchmal lag er waoh, war aber ganz ruhig, nicht angstlich, traurig, schreck-
haft, kurzum er liess in nichts erkennen, dass er unter dem Einflusse von
Sinnestauschungen gestanden hatte: er fiihrte keine Selbstgesprache, sab nicht
in die Eoken, sprach mit derNachtwache ohne jede Spur vonAffekt und machte
keine abwehrenden Bewegungen. Manchmal erzahlte er in ganz gleichgultigea
Tone, der Geist sei dageweseh, schlief aber hinterher ganz ruhig ein. Sobald
er in das Zimmer zu den iibrigen Kranken kam, wurde er sofort sehr guter
Stimmung und unterhalt sich lebhaft.
In den Unterhaltungen gab er prompt Auskunft, ohne im geringsten ge¬
hemmt oder von seinen Gedanken in Anspruch genommen zu sein. Er fasste
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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw.
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glatt auf, sein Gedachtnis war geradezu glanzend, seine Urteilsfahigkeit tadel-
los. Stimmung im allgemeinen gehalten. Nur als er auf seine angeblichen
Mordtaten kam, wurde er sehr aufgekratzt.
Schon bei der ersten Entweichung habe er unter dem Einflusse der
qualendsten Erscheinungen gestanden, er habe es nur Keinem gesagt. Beim
zweiten Male sei es so schlimm geworden, dass er sioh gar keinen Rat gewusst
habe, er sei geradezu yerfolgt worden.
Nachdem er mit dem Sergeanten die gestohlenen Gegenstande versetzt
habe, habe er stark gezecht. In der Nacht darauf habe es in ihm so herum-
gemacht wegen des Mordes. Da seien ihm der Wirt H. und die Warterin G.
im Traum erschienen. Zuerst habe er es nur fur einen Traum gehalten, es sei
aber immer sohlimmer geworden. Von den beiden Mordtaten habe er nichts In
der Zeitung gelesen, da sei er gerade in Bochum gewesen. Wenn er zuletzt
ruhig gesessen habe, seien ihm die Bilder erschienen, gesprochen hatten
sie nichts.
Schliesslioh habe er sich gesagt: „Du bist ein Morder, du hast es getan,
auch bist du schon in La. gewesen.“ Da er ja doch unter alien Umstanden
geschnappt werden wurde, habe er beschlossen, das Leben noch einmal
ordentlich zu geniessen. Deshalb habe er sich auch die Sergeanten-
uniform angezogen, damit er bei den Weibern einen tieferen Eindruck machen
kdnne. Die Mordgedanken hatten ihn nie verlassen und besonders in der Haft
•habe er besonders gut dariiber nachdenken miissen. Da habe er gedacht. er
mfisse sein Gewissen erleichtern und an eine Freundin geschrieben. Er habe
gewusst, dass die Briefe nachgesehen wiirden und da habe der Cnter-
suchungsfiihrer es erfahren miissen. Der habe ihm gesagt, das Leugnen
helfe ihm doch nichts, er solle nur alles eingestehen. Wie er dazu
gekommen sei, die Sache in alien Einzelheiten zu erzahlen, kdnne er nicht
sagen. Er sei immer gefragt worden und bei den meisten Fragen habe er nur
ja oder nein zu sagen gebraucht. Im fibrigen aber habe er sich dieEinzelheiten
alia ausgedacht und das habe ihm immer mehrSpass gemacht. Er habe schon
immer ein ausgezeiohnetes Gedachtnis und eine sehr starke Fhantasie gehabt
und seine Mutter habe ihm prophezeit, er werde noch einmal an der Phantasie
zugrunde gehen. So habe er die Morde erzahlt, die er sich habe zuschreiben
mussen. Wie er dazu gekommen sei, spater noch die anderen Mordtaten anzu-
geben, konne er nicht sagen. Deren Geister habe er nicht gesehen. Der Unter-
suchungsfuhrer habe immer nur gefragt und sei so ausserordentlioh erfreut ge¬
wesen fiber das Ergebnis der Untersuchung und er habe dann nicht den Spass
verderben wollen. Schliesslich habe man nachgewiesen, dass er die Taten
nicht begangen haben kdnne. Trotzdem musse etwas an der Sache sein, denn
die beiden Geister erschienen noch jeden Abend an seinem Bette und machten
ihm Angst. Wenn er jetzt noch einmal in dasGefangnis kommen werde, werde
er eine furchtbare Gewalttat begehen.
In der Hauptverhandlung stellte sich heraus (nachdem er wieder mehrere
Monate in Untersuchungshaft gewesen war, ohne dass die geringsten Zeichen
einer Haftpsychose aufgetreten waren), dass er als Rentenempfanger fiberhaupt
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nicht mebr zum Militardienste verpflichtet gewesen und infolgedessen auch
nicht imstande gewesen war, sich seiner Dienstpflicbt zu entziehen. Das Ver-
fahren wurde daher vorlaufig eingestellt.
In der Verbandlung War Ko. sehr aufgeraumt, kam mit seinen Geistern
nicht mehr herans und wollte auch von den Selbstbezichtigungon nichts mehr
wissen.
Wenngleich Ko. wieder ein ausgesprochener Psychopath war, dem
eine recht betriichtlicbe Neurasthenie zugute gehalten werden musste
und durch einen ernstlichen Selbstmordversuch dargetan hatte, dass mit
seinen Affektentladungen nicht zu spassen war, verfugte er fiber eine
rdcht erhebliche Intelligenz und musste als ein gerisseuer Geselle be-
zeichnet werden, dem es zuzutrauen war, dass er mit seiner Mitwelt
gelegeutlich gerne etwas Theater spielte.
So hatte er schon durch den ersten „Dammerzusland u , in dem er
ohne jedes Vorbild in seiner Vergangenheit gleich fur mehrere Monate
seine Erinerung verleugnete, gezeigt, dass man seine Angaben nur mit
grosser Vorsicht aufnehmen durfte. Der spfitere Selbstentleibungsver-
such konnte nur als Selbstmordattrappe bezeichnet werden.
Gewiss mfissen die Aussagen von Mitgefangenen ja immer nur mit
grosser Vorsicht bewertet werden. Man ist bei ihneu nie sicher, dass
sie nicht aus egoistischen Grfinden ihre Mitgefangenen denunzieren l ).
Aber dieser Selbstmordversuch war doch nur das Schlussglied in einer
Kette von Bemfihungen des Angeklagten, ihm wieder die Beobachtung
in der Irrenanstalt zu erwirken, und eine Reihe von ahnlichen Selbst-
mordversuchen bei Einlieferungen aus dem Militargeffingnis in der nftch-
sten Zeit bewies, dass die Bedeutung des Suizids den dortigen Inter-
essenten kein Geheimnis geblieben war.
Wichtiger waren die Selbstbezicbtigungen des Mannes, die ihm zu
guter Letzt denn auch in den Hafen der Irrenanstalt einlaufen Jiesseu.
Auch sie waren sicherlich nicht ganz auf normalem Boden erwachsen.
In erster Linie entspringen sie seinem Bestreben, sich interessant zu
machen, — wusste er doch genau, dass ihm nichts Ernstliches geschehen
konnte. Dazu kam seine Freude, den Untersuchungsrichter, mit dem
ihn keine schwfirmerische Zuneigung verband, so restlos aufsitzen zu
sehen. Vor allem aber bezweckten die in seinem Schreiben so osten-
tativ geHusserten Sinnest&uschungen, ihm wieder die niihere Beobachtung
seines Geisteszustandes zu erwirken. Er erreichte es denn auch zu guter
Letzt, dass man seine Selbstbezichtigungen ais Teilerscheinung eines
1) Klein, Ueber psychische Storungen in der Untersuchungshaft. Zeit-
schriftf. Medizinalbeamte. 1917. Nr. 13 und 14.
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melancbolischen Symptomenkomplexes auffasste, dem er sich auch in
seinen Schilderungeo zu nahern versuchte.
Sein ganzes Verhalten zur Zeit der Straftaten bekundete auf das
uuzweideutigste, dass bei ihm weder von Angst, noch von Depression
erustlich die Rede gewesen sein konnte, und auch zur Zeit der Beob-
achtung lag fur das Vorhandensein von Sinnest&uschungen, und zwar
solcher Art, dass sie sein Handeln eingreifend hatten beeinflussen sollen,
nicht der geringste Anhaltspunkt vor. Als sich ein anderer Ausweg
zu 5ffnen schien, der ihn aus der Strafe und dem Milit&rdienste her-
ausfuhren konnte, verzichtete er sofort auf die ganze Krankheit und
Hess sich auch die Haft nicht im geringsten mehr anfechten.
Pall 19 . Pionier Theodor Fe., Arbeiter, 23 Jahre. Dient seit dem
15. 6. 1915, nahm an Schlachten im Westen und Osten teil. Keine Lazarett-
behandlung. Puhrung selir schlecht, bestraft.
Wahrend er fruher in psychischer Beziehung nicht aufgefallen war, wurde
er 1917 der Sanitatskompagnie in 0. zur Beobachtung uberwiesen. Er gab
jetzt auf alle Fragen die Antwort: „ weiss ich nicht w , erinnerte sich angeblich
an kurz vorhergegangene Vorfalle nicht und bekam auf die Aufforderung des
Feldwebels, stramme Haltung anzunehmen, einen Wutanfall, an den er sich
nach 5 Minuten nicht mehr entsinnen wollte. Schliesslioh kam er
vom Urlaub mit 2 Tagen Verspatung zuriiok.
Seine Mutter sei nervos, ein Bruder geistesschwach. Auf der Schnle habe
er schlecht gelernt. Aus seiner Vorgeschichte gab er eine Menge von Daten
an, die fur seine geistige Minderwertigkeit sprechen sollten.
Er erschien stumpf und interesselos und musste oft energisch angeregt
werden. Oertlich und zeitlich wollte er vollkommen unorientiert sein. Bei der
Intelligenzprufung beantwortete er alle, auch die einfachsten Fragen, mit:
„Das weiss ich nicht 4 *.
Diagnose: Imbezillitat. Auf die Nervenstation verlegt, gab er seine mili-
tarische Vorgeschichte ganz genau an. Als Minenwerfer habe er 5 Rohr-
krepierer mitgemacht. Seitdem konne er den Dienst nicht vertragen und
habe Angst vor dem Abschuss. Bei der Einlieferung in das Lazarett
0. sei er besinnungslos gewesen. Er leide jetzt an Kopfschmerzen und
Schwindel. Wie in 0. war auch hier der korperliohe Befund vollkommen
negativ. Bei der Intelligenzprufung gab er diesmal rechtr gute
Antworten. Er klagte, dass er mehrere Tage so angstlich sei. Die ihm ge-
wahrte Freiheit benutzte er nur mit gleiohgesinnten Kameraden dazu, um in
Wirtschaften Krach zu sohlagen. Auf Befragen wollte er von diesen
Vorgangen nie auch nur das Geringste wissen. Auf die geschlossene
Abteilung verlegt, benahm er sich sofort korrekt und ordentlich.
lrgendwelche psychotische Erscheinungen wurden nicht beobachtet Er spielte
Karlen, las Zeitungen und unterhielt sich lebhaft.
Die Diagnose „Imbezillitat u konnte nach zweimonatiger Beobachtung
nicht gehalten werden. Wahrscheinlich handele es sich urn eine Hysterie,
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Dr. Monkemoller,
im Anschluss an die seelischen Ersohdtternngen anlasslich der Rohrkre-
pierer. Yon irgend einer Stoning des korperliohen odor geistigen Gesund-
heitszustandes war bei der Kompagnie nicht das Geringste bemerkt worden.
Eine Dienstbeschadigung sei ausgeschlossen, auch die 5 Rohrkrepierer
k&men nicht in Betracht, da Fe. solche gar nicht mitgemacht habe. Fe. sei
eiu sfchr kraftigerund energischer, aber vollkommen verstockter Bursche,
der lediglioh unberechtigte Rentenanspruche heransschlagen
wolle. Auf der Nervenstation fiel Fe. in keiner Weiseauf und machte bei der
Intelligenzprufung ausgezeichnete Angaben. Auch hier wurde eine Hysterie
massigen Grades angenommen.
Eine Woche nach der Entlassung von dem Lazarett entfernte er sich von
der Truppe. Im Eisenbahnzuge festgehalten, gab er an, er sei von seinem Er-
satzteil nach der Westfront geschiokt und von da zuruckbeordert worden. Spater
vervollstandigte er seine Aussage mit vielen Einzelheiten. Tatsachlich hatte
er sich bei seiner alten Kompagnie gestellt. Als ihm gesagt wurde, er sei un-
berechtigt hergekommen, nahm er eine drohendeHaltung an, darauf verschwand
er. In der Haft bedrohte er einmal den Gefangenenunteroffizier.
Der hinzugerufene Arzt stellte keine Krankheitserscheinungen fest.
Als er an demselben Tage in eine andere Ztlle verlegt werden sollte,
erklarte er, er werde Gewalttatigkeiten bzw. Selbstmord begehen,
da jede Freiheitsbeschrankung in Einzelhaft ihn in einen so aufgeregten Zu-
stand versetzte, dass er nicht mehr Herr seiner selbst sei.
Bald darauf wurde er zu einer Minenwerferabteilung versetzt. Hier ver-
weigerte er bald seinem Feldwebel den Gehorsam und musste nach einem
Handgomenge in die Zelle gelegt werden.
Bei seiner Yernehmung wollte er die Richtigkeit seiner Stammrolle und
seines Strafverzeichnisses nicht anerkennen, da er sich nicht darauf besinnen
konne. Auoh von der Straftat wollte er nichts wissen. Er habe monatelang
wegen seines Nervenleidens im Lazarett gelegen.
Darauf machte er in der Zelle einen Selbstmordversuoh durch Erhangen
mit einer ganz dunnen Schnur, nachdem er kurz vorher in der Zelle ungeheuren
Larm gemacht hatte. Das Festungslazarett bezeichnete ihn als Simulanten.
Ein psychiatrischer Gutachter fuhrte die Reizbarkeit auf eine Hysterie massigen
Grades zuruck. Der Wutanfall und der Yersuch, sich zu erhangen, seien die
Reaktion eines Hysterischen, der unbedingt der Strafe entgehen wolle.
Der Selbstmordversuoh sei nicht ernstlich gemeint gewesen. Fur den Angriff
auf den Feldwebel sei ein hysterischer Dammerzustand nicht anzunehmen.
„Es liegt eine krankhaft gesteigerte Reaktion vor, so dass er milder beurteilt
werden mfisse, dooh nicht der § 51 vor. w
Am 12. April 1918 entfernte er sich wieder von der Truppe. Am 15. Juni
d. Js. wurde er in Mannheim verhaftet, nachdem er langere Zeit bei seinen
Angehorigen gewesen war und in einer Fabrik gearbeitet hatte. Er nahm an
mehreren Einbriiohen teil. Verhaftet erzahlte er sofort ungefragt, er werde seit
langerer Zeit von einem Geiste heimgesucht, der genau so gross sei wie er
und genau so aussehe. Dieser sage ihm jedesmal etwas, was er zu tun habe.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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So babe er ihm auoh erklart, dass er dem Tode verfallen sei, wenn er in Un.
bleibe. Er habe ihm befohlen, fortzugehen und nicbt wieder zuruckzukehren.
So sei er denn nacb seiner Heimat gefahren und habe sich dort unangemeldet
aufgehalten, indem er oft seine Wohnung gewechselt und burgerliche Kleidung
getragen habe. Auch habe er in einer Holzfabrik gearbeitet. Von den Ein-
brdchen sei ihm nichts bekannt.
Anstaltsbeobachtung. Von erblicher Belastung wollte erjetzt nichts
wissen. Ebenso wollte er noch nie Krampfe durchgemacht haben.
In der Schule sei es mit dem Lernen ganz leidlich gegangen. Ebenso wollte
er friiher nie an Kopfschmerzen gelitten haben und wusste auch von den son-
stigen nervosen Beschwerden nichts zu berichten. Nur einmal sei in seiner
Nahe eine Granate krepiert.
Er blieb trotz Verhaltens entschieden dabei, dass er nur einmal von der
Truppe fortgegangen sei.
fllch muss jetzt als weg, wenn ich nicht wegmache, bin ich dem Tode ver¬
fallen. Jede Nacht kommt ein Geist, der sagt mir alles, was ich zu machen
habe“. Als er den Geist beschreiben soil, sucht er langere Zeit und sagt dann
stockend: „Der sieht aus wie ich, der ist so wie ich. Seine Stimme ist gerade
so tief wie meine und klingt auch gerade so. Der Geist kommt immer mit
einem Uesser in der Hand und hat mich auch einmal wirklich am Halse gekriegt
und gewurgt zu Hause, so dass ich aus dem Bette gestiegen bin. u Seine
Mutter sei gleich gekommen und habe gesehen, dass er am Halse
gewurgt sei. Auch in der vergangenen Nacht sei er dagewesen, habe ihn
fortwahrend in seinem Bette geschiittelt und gerufen: „Du musst aufstehen u .
Er sei auch aufgestanden 14 . (Tatsachlich hatte er die ganze Nacht duroh-
geschlafen.) Er sei also von U. mit der Bahn fortgefahren, Geld habe er
gar keins bei sich gehabt, auch keine Fahrkarte. In Hannover sei er umgestie-
gen, in Lehrte habe er zufallig einen Mann aus seinem Orte getroffen, und der
habe ihn mit in seine Heimat genommen. Als nach einigen Tagen das Gesprach
fortgesetzt wird, hat er ganz vergessen, dass er von diesem Manne erzahlt
habe. Als er nach dessen Namen gefragt wird, ist er sehr verlegen und kann
ihn nicht nennen. Er kenne ihn aber sehr gut und habe noch mit ihm zu-
sammen in Mannheim verkehrt. Bezahlt habe der fur ihn niohts, das sei ja auch
gar nicht notig gewesen, er habe ja selbst Geld gehabt und auch eine Fahrkarte.
Ein paar Mai sei er aus dem Zuge aus und wieder eingestiegen, erst in Han¬
nover, dann ein Stuck weiter so nach Karlsruhe und dann habe der Schnellzug
in Versheim gehalten und er sei weiter nach Mannheim gefahren. Seine dortigen
Wohnungen gibt er ricbtig an, desgleichen seine Arbeitsgelegenheiten und
samtliche Komplizen. Taglioh habe er 7 M. verdient. Er habe Zivil getragen,
das er sich von der Kompagnie habe nach Hause schicken lassen.
Zur Truppe habe er nicht zuriickkehren wollen, dann ware er ja dem
Tode verfallen gewpsen. Denn wenn er in der Kompagnie sei, stehe der Mann
mit dem Messer vor ihm und sage: n Theodor, abfahren oder tot! u Er muss
sehr lange nachdenken, bis er angeben kann, wie der Mann spricht. Von den
Diebstahlen wollte er nicht das Mindeste wissen.
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Trotz nachdriicklichen Vorhaltens bleibt er dabei, dass er mit einem
Feldwebel nie auch nur das geringste za tan gehabt habe. Nie sei eine An-
klage gegen ihn erhoben worden, geschweige denn, <lass er jemals iiber diese
Sache vernommen worden ware.
Abgosehen von einem leichten Lidflattern war der korperliche Befund
vollkommen negativ. Bei Augenfussschluss fallt er sofort steil naoh ruckwarts.
Er hatte sich vorsichtig so gestellt, dass gerade hinter ihm ein Sessel stand,
in den er mit einem leichten Wehlaut hinsank. Mit den anderen Kranken
unterhielt er sich zunachst wenig, dem Personal gegendber war er vorsichtig
in seinen Aeusserungen.
Der Schlaf war vollkommen ungestort. Nur an den beiden Tagen,
an denen bei den Untersuohungen von dem schwarzen Manne die Rede war,
sagte er der Nachtwache je einmal, eben sei der Mann wieder dagewesen. Das
brachte er aber vollkommen affektlos ohne jede Spur von Angst vor, und
schlief, naohdem er diese Mitteilang abgegeben hatte, sofort wieder ein.
Noch weniger liess er bei Tage erkennen, dass er unter dem Einflusse
von Sinnestauschungen gestanden hatte. Nie war er angstlidh, nie erregt, nie
verstimmt. Anfallsa*tige Storungen waren bei ihm nicht nachzuweisen. Bei
den Untersuchangen sass er mit ausserst einfaltiger Miene da und antwortete
stotternd im Tone und der Sprechweise eines kleinen Kindes. Bei alien Fragen
gab er sich zuerst den Anschein, als habe er nicht verstanden. Dabei liess
sich aber immer wieder feststellen, dass er genau wusste, am was sich handelte.
Deber seine Vorgeschichte wie uber alles, was er wissen wollte, wusste er
genau Bescheid.
Nachdem bei ihm auf Grund seines Verhaltens, das mit seiner Vor¬
geschichte und seinem sonstigen Benehmen im auffallendsten Gegen-
satze stand, eine Imbezillit&t angenommen worden war, die aber sehr
bald wieder fallen gelassen werden muss, wird ihm auf Grund seiner
Angaben, die sich in keiner Weise mit seinen sp&teren Aussagen decken,
eine Hysterie zuerkanut. Man glaubte sie ihm gbnnen zu mussen, weil
er fruher an Anf&llen gelitten haben wollte, die er sp&ter in der Ver-
senkung verschwinden liess und von denen nie das Geringste beobacbtet
worden war. Auch hatte er sich eine Aetiologie dafur geschaffen, die
er sp&ter wieder ganz fallen liess und von denen die Truppe nichts
wusste. Obgleich auch der objektive Befund vollkommeu negativ war,
erkaunte man ihm auch spater diese Krankheit zu, wenn man auch
nur einen leichten Grad annahm. Wenn man ihn als Psychopathen
bezeichnen wollte, kam man damit der Wirklichkeit sicher sehr nahe.
Auf Grund seiner Hysterie leistet er sich eine Amnesie fur seine
Straftaten, die er gelegentlich zuriicknimmt und nach Bedarf auch auf
die sp&teren Yernehmungen und alles, was ihm unbequem ist, ausdehnt.
Selbst wenn man sie ihm geglaubt hatte, vor seinen Halluzinationen
durfte die Skepsis nicht Halt machen.
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Die Simulation psyohischer Krankbeitszustande usw. 691
Nachdem er bis dahin nie etwas davon ge&ussert hatte, fuhrt er
selbst sie sofort ins Gefecht, als eine neue Vernehmung uber ihn ergeht,
nachdem sie ihn wfihrend seiner Entferuung von der Truppe nicht davon
abgehalten hatte, ordentlich zu arbeiten und seW Angst in zahlreiche
Einbrfiche ausstromen zu lassen. Dabei lfisst er sich selbst erscheinen,
hurt seine eigene Stimme und schildert das Phantasma auch sonst in
wenig glaubhafter Weise, iudem er sich immer wieder in neue Wider-
spruche verwickelt. Auch sein sonstiges Yerhalten lasst keinen Ruck-
schluss darauf zu, dass er tatsachlich im Banne von Sinnest&uschuugen
gestanden h&tte. Was er ausgerechnet am Tage, an dem bei der Unter-
suchung davon die Rede ist, vorffihrt, ist so farblos und unecht, dass
der Verdacht zur Gewissheit werden musste, dass er das, was er sonst
schon an Vortftuschung geleistet hatte, auch auf dieses Gebiet fiber-
tragen wollte.
Was die frfihere Begutachtung von seinem Selbstmordversuche
gesagt hatte, erschien nach seinem spfiteren Verhalten durchaus glaub-
haft. Auch die Militfirgerichte sehen in der Regel in den Selbst-
mordversuchen der Angeklagten ein Symptom, das fur die Ernst-
haftigkeit der vorgefuhrten Krankheit spreche. Nuu soil ja naturlich
nicht geleugnet werden, dass sie nicht selten aus krankhaften Beweg-
grfinden hervorgehen nnd als schwerwiegende Krankheitssymptome
gewertet werden mfissen. Aber es darf auch nicht vergessen werden,
dass sie aus normalen Beweggrunden entspringen kfinnen. Sie kfinnen
in der Furcht vor der Strafe ihren Drsprung haben, bei ethisch hfiher
stehenden Personen in der Erkenutnis, was sie durch ihren Sundenfall
/verwirkt haben und was ihnen bevorsteht. Nicht minder aber ist zu
beachten, dass Personen, die darauf ausgehen, ihre geistige Unzul&ng-
lichkeit zu erweisen und ihrem sonstigen Rustzeug nicht mehr trauen,
hierdurch ihrer Krankheit besonders kraftige Licbter aufsetzen wollen.
Dann wird der Selbstmordversuch zur Selbstmordattrappe. Nach unseren
Erfahrungen haben sich diese Versuche fraglos geh&uft. Wie diese
Selbstmordversuche durch psycbische Infektion ausgelflst werden kOnnen.
so wirkt auch ihre Vorspiegelung in den Milit&ranstalten manchmal
geradezu ansteckend.
Sehr oft werden gewichtige Zweifel durch das Affektierte und
Kunstliche erweckt, das meist diesen Zustanden eigen ist. Meist werden
die nStigen Vorsichtsmassregeln getroffen, uin zu verhuteu, dass die
Komftdie bis zum letzten Eude dnrchgefuhrt wird und wenn sie nicht
gerade dann gemacht werden, wenn Warter, Aerzte oder Mitgefangene
in n&chster Nahe sind oder ihr Erscheinen in allernkchster Zeit zu
erwarten ist, so wird durch den n5tigen Larm das Erscheinen nach
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Dr. Monkemoller,
Mdglichkeit beschleunigt. Andere Gefangene werden darauf aufmerksam
gemacht, dass irgend etwas zu erwarten ist. Oder man l&sst in Briefen,
die an Angehorige gehen sollen, durchfliessen, was im Schilde gefuhrt
wird. Die Art der Ausffihrung lfisst oft erkennen, dass diese Versuche
nicht ernstlich gemeint waren, und die Wahl der Mittel l&sst es als
unm5glich erscheinen, dass der Plan gelingt. Dem theaterhaften Cha-
rakter derartiger fingierter Selbstmordversuche tut es auch keinen Ab-
brucb, dass sie manchmal glucken und damit fiber den Willen der
Tater hinausgehen.
Ebensowenig aber darf aus dem Auge gelassen werden, dass solche
Selbstmordversuche nur aus dem Bestreben von Hysterikern und ihren
sinnverwandten Psychopathen hervorgehen kfinnen, sich zum Mittelpunkt
des Interesses zu machen und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen,
obgleich bei ilinen tiefergehende und die Unzurechnungsffihigkeit be-
dingende Stfirungen nicht in Rechnung gesetzt zu werden brauchen.
Manchen derartigen Selbstmordversuchen liegen allerdings, obgleich
ihnen &usserlich ein theatralischer Anstrich anhaftet, doch durchaus
ernsthafte Absichten zu Grunde.
Sie verlangen jedenfalls unter alien Dmstfinden eine ernsthafte
Prfifung des Gesamtzustandes und eine Wurdigung alter Nebenumstknde,
die eine Beurteilung dieses zweifelhaften Symptoms zu sichem vermfigen.
Fall 20 . Ersatzreservist Adolf Ad., Mechaniker, 27 Jahre, 1915 ein-
gezogen. Wiederholt im Felde wegen Trippers und Blasenschwache mehrfach
in Lazarettbehandlung. Frfiher dreimal wegen Unterschlagung bestraft.
Januar 1917 fuhr er nach H. und arbeitete unter seinem richtigen Namen
in Zivilkleidern.
Januar 1918 fluohtete er, als er verhaftet werden sollte,nach Br. 23. 3.
Verhaftung. Er entwich und stellte sich selbst bei seiner Truppe.
Er gab die Tat zu, von einer geistigen Erkrankung ausserte er niohts.
Dagegen erklarte er 12.6., erleide an Angstzustanden und Zwangsvorstellungen
und konne sich der Einzelheiten nicht mehr erinnern. Aus dem Militararrest-
hause versuchte er zusammen mit anderen Gefangenen zu entweichen.. Fruher
hatte er angegeben, or leide seit dem 8. Lebensjahre an Blasenschwache. In
geistiger Beziehung war er aufgefallen.
Anstaltsbeobaohtung. Stets ruhig und geordnet, gab prompt Aus-
kunft. Irgend eine Trubung des Bewusstseins wurde bei ihm nie beobachtet
Hit dem Personal wie den anderen Kranken unterhielt er sich lebhaft und an-
geregt. Zeigte Interesse fiir alles und beschaftigte sich mit Lesen. Zuweilen
klagte er fiber Kopfschmerzen und Langeweile. Die Stimmung war ganz zu-
frieden. Niemals wurden sonst Yerstimmungen oder Angstzustande auch nur
andeutungsweise wahrgenommen. Bei den Untersuohungen fiel er in keiner
Weise auf. Er druckte sioh sehr gewandt aus. Im allgemeinen erschien er sehr
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Die Simulation psychificher Krankheitszustande usw.
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gerissen und zielbewusst. Abgesehen von Kopfschmerzen klagte er fiber un-
ruhigen Schlaf, es wurde aber nie das geringste bemerkt, vor allem auoh nicht
von schreckhaftem Auffahren aus dem Schlafe, wie er das haufig haben wollte.
Normale korperliche und geistige Entwickelung, keine Krampfanfalle.
Arbeitete regelmassig und verdiente sehr gut. Angeblich litt er seit seinem
15. Lebensjahre an Zustanden, in denen er nicht recht Luft bekommen konne.
Es sei ihm dann alles so, als ob die Lunge zu klein und die Brust zu eng sei.
Diese Zustande seien zeitweise so schlimm gewesen, dass er die Arbeit ganz
babe aussetzen mfissen. Juni 1916 sei er verschfittet gewesen (nicht bestatigt).
Seitdem habe er ganz besonders schlimme Kopfschmerzen. Was wahrend dieser
Zeit mit ihm geschehen sei, wisse er nicht. Es mfisse etwas Schreckliches ge¬
wesen sein, etwas mit Leichen. Denn seitdem habe er immer sohreckliche
Bilder vor den Augen. Dauernd habe er ein gewisses angstliches Geffihl in
der Brust und einen Druck in derHerzgegend. Er leide an angstlichenTraumen,
als ob Leichen naoh ihm griffen.
Damals habe er das Geffihl gehabt, als ob in ihm etwas sei, was nicht in
hineingehore, als ob ein fremder Mensch fiber ihn herrsche. Es sei ein sugge-
stiver Zwang, der ihn zu Handiungen treibe, die er eigentlich garnicht wolle.
Er mfisse damals bei der Entfernung in einem bewusstlosen Zustande gewesen
sein. Seitdem seien auch die Blasenbeschwerden sohlimmer geworden, er leide
an unwillkfirliohem Urinabgange, besonders wenn er Leichen sehe. Auch nach
seiner Rfickkehr zur Ersatztruppe Januar 1917 sei er noch sehr unruhig und
aufgeregt gewesen sei, habe Nachts nicht schlafen konnen und sei immer her-
umgelaufen, so dass die Kameraden ihn mit Schlagen bedroht hatten. Er habe
sich daher eine Wohnung in der Stadt genommen und tagsfiber seinen Dienst
getan, wahrend er Nachts gearbeitet habe. Er habe lange Zeit nur eine halbe
Stunde taglich geschlafen, da er gar keine Ruhe gefunden habe.
Wie er zu der Entfernung von der Truppe gekommen sei, wisse er nicht
mehr, er mfisse damals 14 Tage hindurch in einem bewusstlosen Zustande ge¬
wesen sein und sich wahrend dieser Tage in Be. aufgeh^lten haben. Als er
wieder zur Besinnung gekommen sei, sei er in seiner Wohnung in Ha. gewesen.
Auf die Frage, weshalb er naoh Ablauf des angeblichen Dammerzustandes nicht
bei der Truppe gemeldet habe, erklart er, er habe zwar mehrere Male dazu
den Wunsch gehabt, sich zu melden und sei auoh in dieser Zeit 7—8mal zur
Kaserne gegangen, urn sich zu melden, es sei ihm aber nicht geglfickt. Er sei
jedesmal angstlich geworden und habe an der Tfire sofort die schreckhaftesten
Bilder gesehen. Es sei ihm so gewesen, als ob ihn jemand direkt zurfickdrange,
als ob ihm die innere Stimme ges^gt habe, er dfirfe nieht dorthin gehen. Das
sei keine richtige Stimme gewesen, sondern vielmehr ein angstliches Geffihl,
das ihn zurfickgehalten habe.
In der Zwischenzeit habe er regelmassig gearbeitet und 12 Mark wochent-
lich verdient. In dieser Zeit habe er sich sehr wohl geffihlt und garnicht an
seine Fahnenflacht gedacht, aber die innere Stimme habe sich dann bei ihm
sofort wieder eingestellt. Er habe nur das Geffihl gehabt, dass er von einem
fremden Willen geleitet werde. Schliesslich habe er es garnioht mehr aushalten
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konnen und seiner Brant gesagt, sie solle ihn zur Trnppe zuruckbringen.
Weshalb er das seiner Braut nicht friiher gesagt babe, konne er nioht sagen,
es miisse ihn wobl etwas abgebalten baben. Es feble ihm uberhaupt fur so
viele Vorgange aus dieser Zeit ganz die Erinneruhg. Dabei verwiokelte er sich
in zahllose Widerspriiche. Auch fur die Tatsache, dass er erst so spat auf
seine krankbafte Geistestatigkeit bingewiesen babe, macht erdiewidersprechend-
sten Angaben.
Obgleich sich Beweise daffir uicht finden Hessen, konnte roan Ad.
zugestehen, dass er Neurastheniker war. Ueber ein nicbt allzuhohes
Mass von Neuro- und vielleicht auch Psycbopathie erbob sich die minder-
wertige Veranlagung aber nicht. Wabrend der Entfernung von der
Truppe, die fiber ein Jahr dauerte, bei der er sich als gut bezahlter
Arbeiter durch das Leben schlug und sich recht zielbewusst benahm,
will er sich viele Wochen lang in einem Dfimmerzustande befnnden
haben, der aus der Veranlagung des Kranken nicht zu erklfiren ist und
in seinem Vorleben kein Vorbild hat. Sie scnkte sich nur auf ihn
herab, wenn er etwas Strafbares begangen hatte.
Anders wie andere D&mmerer sucht er sein Fortbleiben von der
Truppe durch die suggestive Kraft krankhafter Empfindungen zu er¬
klfiren, die nocb am ersten als Zwangsvorstellungen gedeutet werden
konnten. Sie stellen sich bei ihm auch nur dann ein,* wenn er sich
zur Trnppe zuruckmelden will, wfibrend er zwischendurch Monate lang
von diesen Zustfinden nicht geplagt wurde. Nie hatte er seiner Um-
gebung von den befingstigenden Zustfinden erzfihlt. Als ihm der Boden
in Ha. zu heiss wird, macht er sich sofort aus dem Staube, nach seiner
Verhaftung entweicbt er sofort und aus der Untersuchungshaft versucht
er auszubrechen, was sicherlich nicht daffir sprach, dass ihm daran ge-
legen gewesen wfire, bei der Truppe zu bleiben. Im Gegensatze zu den
farbigen Schilderungen dieser Zustfinde, die ihm hier zu Gebote standen
hatte er in seinen zahlreichen gerichtlichen Vernebmungen daffir kein
Wort gefunden.
Ein Nachurteil fiber die in der Literatur niedergelegten Ffille von
Simulation bleibt immer schwierig und ist oft unmoglich. Schon da-
durch wird die Beurteilung erschwert, dass die Ffille aus fiusseren
Grfinden in starker Verkfirzung und unter VerzichJ; auf bedeutungsvolle
Einzelheiten wiedergegeben werden mfissen. Dann aber ist es unmog¬
lich, die Ffille objektiv wiederzngeben. Auch dort, wo man das nocb
zu sein glaubt, schieben sich oft Urteile ein, die sich auf die subjektive
Anscbauung des Beobachters grfinden. Der Subjektivismus des Beob-
achters kann aber gar nicht ausgeschaltet werden, wenn er fiberhaupt
zu einer Entscheidung kommen will.
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Die Simulation psyohischer Krankheitszustande usw.
Einzelne der angeffihrten Falle babeu denn auch zum Teil eine
verscbiedenartige Beurteilung erfahren. Das hfingt in erster Linie von
der Stellung ab, die die versckiedenen Gutachter zu psychiatrisch-
forensischen Fragen fiberhaupt und zur Frage der Simulation im Be-
sonderen einnehmen. Gerade im Kriege sind ja viele Militfirarzte ge-
zwungen, zu diesen schwierigen Fragen Stellung zu nehmen, obgleich
sie sich durch ihre Vorbildung dazu nicht berufen fuhleu und im
Frieden zweifellos gerne dicjsem Amte entsagen wiirden. Auch dadurck,
dass die Ffille in verschiedenen Stadien zur Untersuchung kommen und
das Material, das zur Vcrffigung gestellt werden kann, recht verschieden
ist, wird die MOglichkeit stark beeinflusst, zu einem abschliessenden
Drteile zu kommen. Die Vorteile einer langercu sachgem&ssen Beob-
acbtung dfirfen hierbei nicht zu gering veranschlagt werden.
Auch jetzt halte ich es fur durchaus mdglich und verst&ndlich,
dass zu mancheu Fallen andere Gutachter nicht dieselbe Stellung ein¬
nehmen wiirden. Die Uebergange sind hier zu fliessend. Die Versucbe,
diese sprdden Fragen restlos im allgemeinen befriedigend zu beantworten,
werden immer daran scheitern, dass der Subjektivismus nicht ausge-
scbaltet werden kann. Die grundsatzlicbe Stellungnahme zu dieser Frage
wird immer recht verschieden bleiben.
Es hat wenig Zweck, fiber diese Fragen zu streiten. Denn objektive
Tatsachen, durch die sich die Gegner fiberzeugen liessen, sind auf diesem
Gebiete nach keiner Seite hin beizubringen. Es muss sich jeder seine
Grundsfitze in der Beurteilung zwischen den beiden Estremen bilden.
Jedenfalls ist Tintemann 1 ) durchaus zuzustimmen, wenn er sich
zu der Auffassung bekannte, dass die Simulationsfrage an dem Dogma
- kranke, dass, wer Simulation dingnostiziere, nicht diagnostizieren kdnne.
Ich halte es auch ffir sicher, dass die Anschauungen Birn-
baum’s 2 ), der wohl als der entschiedenste Verneiner der bewussten
Simulation angesehen werdeu muss, in der Praxis keine feste Stfitze
haben. Er nimmt ja bei derartigen Versuchen nicht einen bis ins
Einzelne gehenden klaren Plan, sondern nur einen unklaren instinktiven
Drang an. Alles, was fiber die Simulationsabsicht hinausgehe, sei
Krankheitsvorgang. Es komme ein pathologischer Vorgang zustande,
fiber den die Person nicht mehr die Herrschaft habe. Es bestehe eine
psychogene Simulationspsychose.
1) Tintemann, Unzulangliche im Kriegsdienst. Allgem. Zeitschr. fur
Psych. 1917. Bd. 73. H. 1.
2) Birnbaum, Zur Simulation geistiger Storungen. Arch. f. Krim.
Bd. 60. H. lu. 2.
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696 Dr. Mdnkemoller,
Es kann ohne jede Frage zugestanden werden, dass diese Anscbau-
ungen in mancben Fallen zu Recht bestehen und ich babe sie mir schon
gelegentlich zu eigen gemacht. Nur muss man sich daruber nicht im
Unklaren bleiben, dass wir einen Beweis daffir ebensowenig beizubringen
vermfigen, wie wir das bewusste Handeln in der Simulation zu beweisen
imstande sind.
Fur weit mehrere der bier beobacbteten und fur eine Anzahl der
nach Drucklegung dieser Arbeit zur Reobacbtung gelangten Falle kann
ich micb nach dem praktischen Verlaufe unmoglich zu der Meinung
bekebren, dass diese Auffassung anerkannt werden kann. Vor allem
hat sich in nicht wenigen Fallen die Tatsacbe feststellen lassen, dass
die Vertreter dieser Tauschungsversuche durchaus die Herrschaft fiber
ihre Betatigung batten und sie im gegebenen Augenblicke fallen lassen
konnten.
Ich ffirchte, dass man, wenn man diese Auffassung unterschiedslos
walten lassen will, einer auf die Spitze getriebenen Theoretisiererei zum
Opfer fallen wfirde. Aucb wenn diese Wertung der simulatorischen Be¬
tatigung in forensischer Beziehung eine sehr angenehme Erleicbterung
mit sich bringen wfirde, wfirde dadurch die Wfirdigung des Einzelfalls,
auf die es hier immer ganz besonders ankommen muss, geschfidigt
werden. Auch wenn man das psychiatrisch-forensische Material der
letzten Eriegsjahre mit noch so nuchternem Blicke fiberschaut, wird
man sich der Ansicbt nicht verschliessen kOnnen, dass sich hier eine
recht beach tens werte Menge von unbewusster und bewusster Simulation
zusammendrfingt, die eine ernste Wfirdigung verlangt und auf die Zu-
erkennung der Uuzurechnungsffihigkeit nicht ohne Weiteres Ansprucb
erheben darf.
Wenn man sich die Falle, in denen den vorgeffihrten Krankheits-
erscheinungen die Echtheit nicht zuerkannt werden kann, bei Licbt an-
sieht, werden wir immer wieder die alte Erfahrung machen, dass wir
es nicht mit der Blfite geistiger Gesundheit zu tun baben. Unsere
Delinquenten entpuppen sich immer wieder in der einen oder anderen
Form als Psychopathen. An und fur sich kann man das von vornherein
gar nicht anders erwarten. Im Gegenteil, man mfisste sehr erstaunt
sein, hinter einem Simulanten einen voll normalen Menschen zu ent-
decken. Wenn sich Jemand, der kriminell geworden ist, ganz abge-
sehen davon, dass er sich fiberha'upt auf die Babn des Verbrechens
herabdrangen lasst, dazu hergibt, sich in den Mantel der Geisteskrank-
heit zu hullen oder ihr wenigstens einige Attribute zu entlehnen, so
spricht das unter alien Umstanden ffir eine Denkungsart, die aus dem
Regelrechten herausfallt.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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Die Aussonderung der Krankheitserscheinungen, die nickt als echt
anerkannt werden konnen, hat aber praktisch einen reckt wesentlichen
Zweck and muss unter alien Urastanden erfolgen, weil das, was von
Psychopathic zurfickbleibt, in der Regel nicht ausreicht, um die Unzu-
rechnungsf&higkeit zu begrfinden.
Auch wenn man verhindert, dass den Simulanten and Aggravanten
der voile Lohn ihrer Bemfihungen erblfiht, erreichen sie durch ihre
Vortauschung immerhin, dass sie psycbiatrisch beobachtet und begut-
achtet werden. Und dieser Erfolg verhilft ihnen zu einer prozessual
weit besseren Lage als ihren Unglficksgenossen, die der Hilfe des Psy¬
chiaters entbehren mfissen, wenn sie durch das Fegfeaer des Strafver-
fahrens wandeln.
Denn diese Untersuchung legt den psychopathischen Kern frei und
erzielt dadurch bei der Stralzumessnng recht oft eine grfissere Milde in
der Bearteilung.
Wenn uns einmal die verminderte Zurechnungsf&higkeit bescheert
sein wird, werden unsere Simulanten wahrscheinlich dank ihrer Be¬
muhungen oft in diesem Hafen landen kdnnen.
Dabei besteht eine sehr grosse Wahrscheinlichkeit, dass spater
manche Begutachter bei der Schwierigkeit, eine haarscharfe Grenze
zwiscben den tats&chlich bestehenden gcistigen Ausfallserscheinungen
und den aufgepfropften vorgetSuschten Symptomen zu ziehen, ihr Ge-
wissen damit zu beruhigen glauben, dass sie auf diese geminderte Zu-
recbnungsfahigkeit abkommen. Das bleibt allerdings ein schwachlicher
Kompromiss, der dem Simulanten zum Dank fur seine Tauschungs-
bestrebungen noch eine zweite Moglicbkeit verschafft, seine Lage zu
verbessern.
Dadurch gewinnen sie fraglos einen Vorsprung vor jenen, die be-
scheiden und friedlich das Urteil fiber sich ergehen lassen, obgleich
man auch bei ihuen nicht selten die mildemden Umst&nde hatte nach-
weisen kfinnen, die unentdeckt auf dem Grunde so vieler Delinquenten
schlnmmern. Es braucht kaum daran erinnert zu werden, dass, wenn
man sich die Mfibe geben wfirde, bei unseren geisteskranken Verbrechern
auf derartige Zfige zu fahnden, man meist eine recht grosse Ausbeute
machen wfirde, auch ohne dass die Anwendung des § 51 dabei in Frago
kfime.
Es uuterliegt aber keinem Zweifel, dass dieser krankhaften Grund-
lage eine ubertrieben hohe Wertung zuteil werden wird, wenn die vor-
geUuschten Symptome die Uebersicht fiber das Bild erschweren. Da
man den Grnndsatz des In dubio pro reo hier sehr gerne walten lassen
wird, so kann der Angeklagte leichter dazu gelangen, sich die Vorteile
Arefciv t PqreUatrie. Ed. SO. Heft 2/3. 45
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des § 51 zu erringen, die ihm sonst versagt worden w&ren. Stellt man
sich nun noch auf den Standpunkt, dass diese Tauschungsversuche nicht
viel zu bedeuten baben, oder sieht man sogar noch in ihnen den Aus-
fluss geistiger Krankheit, dann baben die Simulanten ein doppelt er-
strebenswertes Ziel.
Die Simulationsfrage wird daher immer eine hobe Bedeutung
beanspruchen mussen. Die Veroffentlichung einschl&giger Falle bleibt
von nicht geringem Werte, ebenso wie man versucben muss, ihr
weiteres Schicksal im Auge zu behalten. Man wird sich nacb beiden
Seiten hin mancbmal fiber einen unerwarteten Ausgang nicht zu wundern
braucben und wenn man sich auf seiue psychiatrische Unfehlbarkeit
allzuviel einbildet, wird man gerade hier auf herbe Euttiuschungen ge-
fasst sein mussen. Die Nacbforscbungen fiber das weitere Ergehen
unserer Simulanten werden bei militarischen Delinquenten mancbmal
dadurch erleicbtert, dass sie bei demselben Truppenteil bleiben, so dass
sie, wbnn sie wieder strafffillig werden, demselben Milit&rgericht und
dann auch hfiufig demselben Beobacbter zufallen. Sehr oft allerdings
baben die Truppenteile keine glubende Neigung fur diese undankbaren
Elemente und sucben sie nach Mfiglichkeit einem anderen Truppenteile
aufzuhangen. Die grosse Zahl der Formationen, denen ein Soldat
w&hrend des Krieges angehOrt hat, erlaubt in mancben Fallen geradezu
einen Rfickscbluss auf seine geistige Minderwertigkeit. Immerhin sollte
man auch hier versucben, ihr Schicksal wenigstens in besonders be-
merkenswerten Fallen nicht aus dem Auge zu verlieren.
Es fragt sich nur, ob man gerade bei militfirischen Delinquenten
das Gericbt davon in Eenntnis setzen soil, dass ein derartiger Tfiuschungs-
versuch stattgefunden hat, oder ob man sich mit dem Urteile begnugt,
das man selbst vom Geisteszustande nach Abzug dieser angeflickten
Krankheitssymptome gewonnen hat. Man muss sich darfiber klar sein,
dass man damit die Gesinnung der Richter gegen den Angeklagten ver-
schfirft und dass man auch auf sein sp&teres militfirisches Schicksal
einen ungfinstigen Einfluss ausfibt. Man wird sogar in F&llen, in denen
man auf Grund der tats&chlich bestebenden krankhaften Abweichungen
von der Norm eine mildere Beurteilung auempfiehlt, trotzdem nicht er-
reichen, dass ein minder schwerer Fall angenommen wird, da sich die
Angeklagten durch ibre T&uschungsabsichten bei der Beurteilung durch
den Richter selbst im Lichte stehen.
Trotzdem aber halte ich es gerade im Interesse der Aufrecht-
erhaltung der Disziplin in vielen Fallen ffir durchaus angebracht, dass
Delinquenten, bei denen eine Tauschungsabsicht nachgewiesen ist, nach*
drficklich vor Augen geffihrt wird, dass man ihnen nicht alles glaubt.
Gck 'gle
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande nsw.
699
Sie selber verlieren dann die Lust, spilter in ahnlichen Fallen ihre
Lage in ungebuhrlicher Weise verbessern zu wollen. Auch bei ihren
Kameraden, die Von abnlichen Gelusten geplagt werden, wird die
Neigung ausgerottet, die Nachsicht des Psychiaters in ahnlicher Weise
auf die Probe zu stellen. 1st dem Gericht bekannt, dass der Gutacbter
nicht gesonnen ist, alles fur bare Munze zu nehmen, was ihm derartige
forensische Schauspieler aufzutischen wagen, dann wird dieser in anderen
Fallen um so leichter Glauben finden, in denen er Kranken, deren an-
scheinend affektiertes and gekdnstelt erscheinendes Gebahren denVer-
dacht einer Tauscliung unbegrundeter Weise nahelegt, zur Freisprechung
verhelfen will.
Damit kommen wir zu der Frage, wie sich der Gutachter zu
dem ansschliesslich militarischen Delikte der Simulation zu
stellen hat.
Es ist im § 83 des Milit&rstrafgesetzbuches entbalten:
„Wer in der Absicht, sich der Erfullung seiner gesetzlichen oder von
ibm ubernommenen Verpflichtung zum Dienste ganz oder teilweise zu
entzieben, ein auf T&uschung berechnetes Mittel anwendet, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren bestraft; zugleicb kann auf Versetzung
in die zweite Klasse des Soldatenstandes erkannt werden.
Dieselbe Strafvorschrift findet auf Teilnahme Anwendung.“
Wahrend dieser Paragraph fur die aktiven Soldaten, die Uebungs-
mannschaften und Personen des Beurlaubtenstandes gilt, kommt fur
Personen, die noch in keinem MilitSrverhaltnis stehen, also vor erfolgter
Aushebung, fur die Mannschaften der Reserve und Landwehr, soweit
sie nicht zur Uebung eingezogen sind, § 143 des Deutschen Strafgesetz-
buebes in Betracht:
„Wer in der Absicht, sich der Erfullung der Wehrpflicht ganz oder
teilweise zu entzieben, auf Tauschung berechnete Mittel anwendet,
wird mit Gef&ngnis bestraft; auch kann auf Verlust der burgerlichen
Ehrenrechte erkannt werden.
Dieselbe Strafvorschrift findet auch auf den Teilnehmer Anwendung. M
Nach Koppmann’s Kommentar zum Militarstrafgesetzbuch und
nacb den Entscheidnngen des Reichsmilitargerichtes kommt fur die Be*
urteilung der Simulation noch folgendes in Betracht.
Der Paragraph, der im wesentlichen der Vort&uschung kOrperlicher
Krankheitserscheinungen entgegenwirken soil, verlangt nicht, dass ein
krankhafter Zustand oder gar wirkliche Dienstunbrauchbarkeit hervor-
gerufen wird. Nach einer Reichsmilitargerichtsentscheidung will der
Simulant sich nicht wirklich untauglich machen, er will nicht eine
Erankheit, die seine Befreiung vom Milit&rdienst zur Folge haben muss,
45*
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700
Dr. Monkemdller,
hervorbringen, er will lediglich die betreffeDden Behorden, Aerate,
Kommis8ionen usw. mit einer kfinstlich hervorgerufenen oder geltend
gemachten Krankheitserscheinung tfiuschen und diese dadurch in den
Irrtum versetzen, als sei er wirklich dienstunf&hig.
Fur die Vortauschung psychischer Krankheiten braucht ja sowieso
nicht damit gerechnet zu werden, dass durcb die langere Vorfuhruog
psychischer Rrankheitserscheinungen tats&chlich eine geistige Stfirung
ausgelost werden kfinne, wenn man nicht die Simulation als Simulations-
psychose auffasst. Diese Absicht wurde frfiher nicht selten mit der
Begrundung vertreten, dass die Schwierigkeit, solche Erscheinungen
linger mit Erfolg darzustellen, einon derart ungiinstigen Einfluss auf
den Simulanten auszufiben vermoge, dass er tats&chlich in Geistes-
krankheit verfallen k&nne. Bei niherer Betrachtung der einschligigen
Fille in der Literatur wird man allerdings mit viel grosserem Rechte
zu der Anschauung gelangen, dass es sich hierbei um die Verkennung
tatsachlich vorhandener Rrankheitserscheinungen und die irrtumlicbe
Annahme einer Simulation gebandelt hatte.
Blosses lugenhaftes Vorbringen genugt nicht, „so lange nichts vor-
gebracht wird, um die Behauptung glaubbaft zu machen“, wohl aber
dann, wenn die Absicht besteht, dadurch Aerzte, Vorgesetzte und Richter
fiber den wahren Zustand irrezufuhren. Das trifFt wieder ffir die Ver-
treter der Simulation psychischer Rrankhciten so gut wie ausnabmslos
zu: je nach dem Masse ihrer geistigen Krafte und psychiatrischer Er-
fabrungen versuchen sie alle, ihre Bescb werden glaubhaft erscheinen
zu lassen.
Es ist auch fur den Tatbestand nicht erforderlich, dass der Titer
, versucht, das Leiden in seiner iusseren Erscheinung darzustellen. Es genugt
das dauernde Vorschfitzen subjektiver Beschwerden. Die Vorffihrung von
Erregungszustinden, Tobsuchtsanfillen und Rrimpfen bleibt ihm erspart.
Besonders wichtig aber ist, dass es vollstindig gleichgfiltig ist, ob
durch die strafbare Handlung Vorgesetzte wirklich getiuscbt worden sind.
Dass der Versuch der Vollendung rechtlich ganz gleicb steht,
ist gleichfalls von Bedeutung. **
Es ist auch gerade ffir die Frage der Simulation psychischer Rrank-
beit sehr wesentlich, dass die Uebertreibung vorhandener Krank-
heitserscheinungen gerade so gut den Simulationsparagraphen er-
ffillt, wie die Vortiuschung eines Rrankheitsprozesses ohne greifbare
Grundlage.' Auch auf die Debertreibungsversuche von Personen steht
Strafe, bei denen emzelne psychische Rrankheitserscheinungen anerkannt
werden mfissen, wofern diese nicht an und ffir sicb die Unzurechnungs-
fihigkeit bedingen.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
701
Die Zahl der F&lle, in denen wegen angeblicher Vortiuschung von
psychischen Krankheiten ein Strafverfahren wegen § 83 R.M.St.G. durch-
geffihrt wurde, ist sehr gering.
In den Jabren 1905 bis 1909 schwankte beim dentschen Heere die
Zahl der wegen Simulation und der ihr sebr nahestehenden Selbst-
verstfimmelung zwischen 24—39 jbhrlich bei einer Gesamtziffer der
Verurteilungen zwischen 11500—12800. Dabei tritt hinter der Simu¬
lation von kOrperlichen Krankheiten die Vortbuschung von psychischen
Krankheiten ganz gewaltig zurfick.
Bennecke 1 ) fand unter den 42 Fallen von Simulation, die er den
einschlagigen sSchsischen Militargerichtsakten von 1890—1900 entnahm,
nur zwei Falle von Vortauschung von Geisteskrankheiten. Das Verfabren
endete haufiger mit Freisprechung, vielleicht, wie- Bennecke meint, weil
dem Gericht die Unsicberbeit des Rechtsbodens ffihlbarer geworden ist,
hauptsachlich aber wegen der Aenderung des arztlichen Standpunktes,
der anf Grand der Fortschritte der Wissenschaft seltener Simulation
annimmt als frfiher.
Von 88 militarforensischen Fallen, fiber die ich frfiher berichtet
habe 2 ), ist nur einmal ein Verfabren wegen Simulation erfiffnet worden.
Dnter den mir jetzt zur Verffigung stehenden Fallen wurde nur
funfmal das Verfahren wegen Simulation eingeleitet. Darunter sind mir
noch zwei Falle von anderen Beobachtern zur Verffigung gestellt worden.
Nur in einem Falle wurde die Frage bejabt.
Fall 21 . Musketier Franz Schw., Drecbsler. 5.2. 1915 beim Jager-
bataillon in All. eingestellt. Am 10. 3. als dienstuntauglich entlassen. 30. 5.
in Sa. wieder eingestellt, tat er meist Waohtdienst und meldete sich spater
krank. 20. 5. 16 wurde er wegen chroniscber Herzmuskelerkrankung abermals
entlassen. 17. 10. in Ko. zum dritten Male eingestellt. Bereits am ersten
Tage meldete er sich wegen Herzbeschwerden krank und wiederbolte diese
Krankmeldung 30mal. Der Bataillonsarzt, der ihn stets auf seine Beschwerden
untersucbte, konnte keinen Anhaltspunkt fur diese Klagen finden, ebensowenig
eine kommissarisobe Untersuobung. Vom Reservelazarett Ko. der medizinischen
Klinik in L. fiberwiesen, wurde er nach 7 wochiger Beobachtung als
dienstfahig zur Truppe 'entlassen. In dem von den Autoritaten der medizi-
niscben Klinik in L. unterzeicbneten Gutacbten wurde erklart, dass bei dem
Angeklagten kein Herzleiden festzustellen sei.
1) Bennecke, a. a. 0. S. 203.
2) Monkemoller, Zur Kasuistik der forensiscben Psychiatrie in der
Armee. Viertoljahrsschr.f.gerichtl.Med. 3.Folge. H.l. Bd.38. — Zur forensi¬
scben Beurteilung Marineangeboriger. Arch. f. Psych. Bd. 46. H. 1 u. 2. —
Die erworbenen Geistesstorungen des Soldatenstandes. Ebendas. BcL 50. H. 1.
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702
Dr. Monkemoiler,
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Am Tage nach seiner Entlassang aus L. meldete er sich wieder krank,
machte aber auf Befehl seines Kompagniefuhrers den Dienst mit. Anf dem
Ruckwege fiel er urn und wurde, da er angab, nicht gehen zu konnen, auf
einem Schlitten in die Revierstube gebracht. Hier lag er eine balbe Stunde
anscheinend ohnmachtig. Sein Pals war normal. Als der Sanitatsunteroffizier
ihm Ammoniak zu rieohen gab, schreckte er sichtlich zasammen and verdrehte
die Augen. wenn die Aagenlider geoffnet wurden. Als sein Hauptmann die
Revierstube betrat, zuckte er zwar auf dessen Anrufen deutlich zasammen, war
aber weder durch Rufen noch durch Schiitteln zum Erwachen zu bringen.
Kaum hatte jener die Stube verlassen, als er aufsprang, seine Saehen
nahm und hinter ihm herging. Ohne gestdtzt zu werden, begab er sich in die
Mannschaftsstube und setzte sich auf sein Bett. Naohdem er etwas gegessen
hatte, machte er S / A Stunden lang den Pechtdienst ohne Schwierigkeit mit.
Am 25* 1. wollte er sich wieder krank melden, machte aber auf Befehl
des Hauptmanns den Exerzierdienst */ 4 Stunden lang ohne alle Schwierigkeiten
mit, wurde dann zuruckgefuhrt und unter Hinweis auf die Strafbestimmungen
wegen Simulation vom Bataillonskommandeur ausdrdcklich verwarnt.
Im Dienste war er iiberaus nachlassig. Beim Griffeftloppen nahm er die
Hand vom ersten Grille ab mit dem Zeichen der hochsten Ermudung berunter.
Als aber eines Tages der Hauptmann die Ehrenbezeugungen der Rekruten
daratifhin besichtigte, ob den Leuten die Erlaubnis zum Verlassen der Kaserne
gegeben werden konnen, ging er in lebhaftem Schritte und nahm die Hand von
der Miitze schneidig und flott herunter.
Wurde ihm seine Sohlappheit und Nachlassigkeit vorgeworfen, so be-
hauptete er stets, er konne nicht besser. „Ich kann nicht, ich bin totsterbens-
krank. w
Seine Yorgesetzten hatten die Auffassung, dass Schw. etwa vorhandene
Besohwerden stark iibertreibe, urn seine Entlassang durchzusetzen.
Als der Bataillonsarzt ihn eines Tages faradisierte, schaltete er, ohne
dass jener es merkte, den Strom aus und legte lediglich einen nassen Watte-
bausch an. Schw. geberdete sich daraufhin genau so, wie wenn der Strom
eingeschaltet ware, schrie, tobte und trat mit den Fussen aus. Er konne tat-
sachlioh keinen Dienst tun,seiwirklioh bewusstlos gewesen, habe nioht bemerkt,
dass der Hauptmann in die Stube getreten sei und nur mit Unterstfitzung
mehrerer Leute auf seine Stube gehen konnen. Anklage wegen Simulation.
Auch in der Hauptverhandlung behauptete er, er sei krank und musse
sterben. Dabei war er in der Lage, der ganzen Verhandlung stehend, ohne
jede Erschopfung beizuwohnen.
Das Gericht nahm eine Simulation an. Er habe alle seine Uebertretungen
und Vortauschungen in der Absicht unternommen, sich dem Dienste zu ent-
ziehen. Gegen eine Gefangnisstrafe von 2 Jahren legte er Berufung ein. Dabei
wurde die Frage nach seiner Zurechnungsfahigkeit aufgeworfen. Einmal hatte
er gosagt, er habe Angstgefuhle und konne es nioht in der Stube aushalten.
Ein anderes Mai hatte er behauptet, er habe das Gefuhl, er werde sterben,
wenn er noch mehr Dienst mitmacbe. Er fiihle sich korperlich ruiniert. Zahl
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 703
reiche Zeugenaussagen liessen ihn als geistig gesunden Menschen er-
scheinen.
Nach den Beobaohtungen in Go. verffigte er fiber eine auffallend gate
lntelligenz and gab fiber sein Vorleben, die ihm zur Last gelegten Straftaten,
sowie deren etwaigen Folgen gate Auskunft.
Vorgeschichte und korperlicher Befund waren negativ. Immer wieder
behauptete er, dass er herzleidend sei. Wenn man ihn darauf hinwies, dass
keine arztliche Untersuchung ein Herzleiden zu linden vermoge, bemerkte er,
dass dann eben die arztliche Praxis nicht so weit sei. Er beschwerte sich, dass
er nicht behandelt werde, man wolle ihn ermorden. Wenn man ihn fragte,
wie es komme, dass er zu Hause trotz seines Herzfehlers immer gearbeitet
habe, behauptete er, das sei auch leichte Arbeit gewesen.
Auf der Abteilong war er norgelich, reizbar, argwohnisch. Naohts wollte
er nie schlafen, wahrend die Beobaohtung feststellte, dass er immer fest durch-
sohlief. Sobald man auf den Militardienst kam, wurde er sofort gereizt und
ausfallend. Dauernd war er verstimmt und verdrossen.
Am Ende der Beobachtung bekam er nachts urn 4 Uhr einen Anfall, der
hysterischen Charakter trug. Als er am Uorgen nach seinem Befinden gefragt
wurde, wusste er sofort, um was es sich handelte.
Ganz schlimm sei es gewesen, naohdem er in Er. in der Untersuchungs-
haft gesessen habe. Er sei ganz verzweifelft geworden.
Bei seinen Klagen kam er immer wieder darauf zurfick, dass er von einem
Zivilarzte fur krank erklartworden sei, und wies die Behauptung aller Militar-
arzte und Professoren mit grosser Entschiedenheit zurfick. Auch jetzt nehme
die Krankheit alia Tage zu. Er habe immer Schmerzen, immer Angstgeffihl.
Das kame von den erkrankten Herzmuskeln.
In seinem Gutachten betonte Schultze, mit welcher unerschfitterlichen
Sicherheit Schw. seine Behanptungen wiederhole. Dabei maohe er, wenigstens
zeitweilig, einen gedrfickten Eindruck und scheme ganz verzweifelt zu sein.
Bei dieser Sachlage konne ihm keine Simulation vorgeworfen warden.
Denn keiner konne zweifelsfrei dartun, dass Sohw. sicher nioht glaube, an
einem Herzleiden erkrankt zu sein, was begrifflich zurAnnahme der Simulation
gehore.
Dass er, objektiv betrachtet, seine Herzstorung fibertreibe, stehe fest, ob
auch subjektiv, sei freilich schwer zu unterscheiden. Jetzt sei es bedenklich,
eine Uebertreibung anzunehmen und frfiher sei es immerhin fraglich gewesen.
Damals konne er aber nicht diese depressive Verstimmung gezeigt haben
wie jetzt, die den vielen Aerzten nicht habe entgehen konnen. Diese Depression
habe sioh seitdem entwiokelt, wahrscheinlich unter dem Einflusse der Haft.
Aucb jetzt kfinne kein Mensch, nicht einmal der Fachmann, entscheiden,
ob das depressive Verhalten, das er jetzt zeige, echt sei und ob es nur als eine
psyohologische Reaktion auf die etwaige Bestrafung anzusehen sei, Oder um
etwas rein Pathologisches. Ueber die Echtheit des Leidens kdnnten nur der
Eindruck, die Glaubwfirdigkeit des Uannes und zuletzt auch die psychiatrische
Ansicht entscheiden. Gewiss mahne dasVerhalten bei der Truppe zur Vorsioht.
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bv Google
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704
Dr. Monkemoller,
Dass er diese Depression jetzt ubertreibe, glaube Schw. nicht. Anderer-
seits moge es auch sein, dass er bei seinem jetzigen Verhalten ubertreibe, nicht
nur auf dem Boden der bei ihm bestehenden gemutlicben Verstimmung,
sondern viejleicht auch bewusst, da er bestrebt sei, sich immer mehr als den
herzkrankenKriegsunbrauchbaren und den durch den Heeresdienst Geschadigten
aufzuspielen.
In der Hauptverhandlung betonte Schuitze, dass die Unterschoidung
zwischen Simulation auf der einen, seelischen oder psychogenen Storungenauf
der anderen Seite fur den Fachmann kaum zu treffen sei. Er sei iiberzeugt,
dass Schw. an Depression leide und infolgedessen Beschwerden habe, diese
aber sicher ubertreibe.
Aus dienstlichen Griinden wiirde er ihn verurteilen, allerdings unter
Zubilligung milderner Umstande.
Schw. wurde wegen Uangels an Beweisen freigesprochen. Das Gericht
nahm die Moglichkeit einer Uebertreibung auf hypochondrischer Grundlage an,
ohne zu der Frage Stellung zu nehmen, ob die Uebertreibung bewusst oder
unbewusst sei.
Fall 22 . Sanitatsunteroffizier Georg Wi.
Wi. war schwachlich und machte mehrereLungenentziindungen durch.
Auf der Schule lernte er schlecht, arbeitete dann bei seinen Eltern als
Knecht und verdiente nur wenigLohn. Spater Kellnerlehrling in verschiedenen
Wirtschaften, lief einige Male fort. Als eine Liebschaft in die Bruche ging,
sass er mehrere Tage zu Hause. Schliesslich fing er eine Wirtschaft an, die
er nach 3 /* Jahren wieder aufgeben musste.
1. 8. 14 eingezogen. Sehr bald Verwundang an der Hand, lm Lazareit
keine nervosen Erscheinungen. Wurde jetzt sehr bald Sanitatsunteroffizier.
Bei Gelegenheit einer Influenza wird fiber Klagen von Schwindelgefiihl be-
richtet. Zum Truppenteil zuriickgekehrt, wurde er in einem Reservelazarett
als Schreiber benutzt.
Am 4. 11.17 sollte er wieder ins Feld. Er liess sich vom Dienste be-
freien and fuhr ohne Urlaab nach Ha. Von hier aus teilte seine Frau dem
Sanitatsunteroffizier H. mit, dass Wi. ohnmaohtig geworden sei. Einige
Minuten sei er ohne Besinnung gewesen. Er sollte am nachsten Morgen wieder
zuriickkehren. In den nachsten Tagen fiihlte er sich angeblich sehr schlecht
Am 5. 11. sollte er seine Sachen zum Transporte empfangen. Darauf meldete
er sioh krank. Man glaubte, dass er sich vom Transporte drficken wolle.
Im Revier behauptete er, er habe einen „Anfall w gehabt. Stabsarzt Dr. M.
konnte nichts finden und schickte ihn da zu einem Nervenarzte, der gleichfalls
nichts finden konnte.
Am Nachmittage bekam er angeblich ein unsicheres Gefiihl in den Beinen
und stolperte. Am nachsten Morgen hatte er wieder Sohmerzen im Knie und
meldete sich auf der Revierstube krank. Der Arzt stellte einen leichten Erguss
in das Kniegelenk fest und behandelte ihn nur 6 Tage.
Dem Sanitatsunteroffizier sagte Wi., wenn das nicht geschehen ware,
ware etwas anderes gekommen.
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Die Simulation psyohischer Krankheitszustande usw.
705
Als ihm am 30.11. gesagt wurde, er miisse am Nachmittag reisen, ver-
langte er, dem Arzte vorgefuhrt zu werden. Er wurde fur k. v, erklart. Nun
ging er wieder nach Hause, packte einen Teil seiner Sachen und fuhr nach H.,
kam aber am Nachmittage wieder. Als er sich beim Packen buckte, bekam er
angeblich einen Schwindelanfall. Als er wieder zu sich kam, fuhlte er sich so
schwach, dass er das Bett hiiten musste. Nach seiner Angabe sollte die Wirtin
diesen Anfall beobachtet haben. Diese hingegen sagte aus, er habe nur neben
seinem Tornister gekniet und gesagt, ihm sei so schlecht. Spater sagte er, er
habe einen Schwindelanfall von 2 Minuten gehabt, sei nicht umgefallen, auch
nioht ohnmachtig geworden.
Nach seiner Angabe ist er dann im Bette eingeschlafen und wurde spater
von dem Unteroffizier Ci. geweckt. Dieser hat ihn nicht schlafend betroffen
und an ihm nichts Auffalliges festgestollt. Wi. blieb im Bette liegen. Als er
am nachstenTage in Begleitung des Unteroffiziers Li. zur Kaseme ging, suchte
er diesen zu der Aussage zu bestimmen, er habe gesehen, dass er beim
Ankleiden ohnmachtig geworden sei.
Bei der Vernehmung durch den Hauptmann schwankte er plotzlich und
bat, sich am Tische stiitzen zu diirfen. Dem Feldwebel und den Unteroffizteren
gegemiber klagte er oft fiber Schwindelanfalle, ohne dass sie objektiy etwas
wahrzunehmen yermochten. Sie gaben an, Wi. habe immer dann von solchen
Anfallen gesprochen, wenn etwas Besonderes zu erwarton war, so dass man
ailgemein annahm, dass er sich nur verstelle.
Anstaltsbeobachtung. Ueber seine Vorgeschichte gab er nnter An-
derem an, er habe schon als Schuljunge wiederholt Schwindelanfalle gehabt.
Einmal habe er bei seiner Tante auf dem Sofa gelegen. Beim Militar sei er
dann noch einmal beim Exerzieren bewusstlos umgefallen. Als er wieder zu
sich gekommen sei, habe er auf seinem Bette gelegen und ein Unteroffizier
habe ihm Fleischbriibe eingeflosst (?). Bei einer fruheren Vernehmung hatte
er angegeben, der Zustand habe eine Stunde gedauert. Vier Monate spater
habe er einen ahnlichen Anfall gehabt. Da sei er am Abend urn 8 Uhr mit
einem Eimer auf der Treppe zusammengebrochen.
Wahrend er in einer Besohwerdeschrift gegen den Stabsarzt behauptet
hatte, er habe nach seiner Militarzeit haufig Anfalle gehabt, gab er jetzt
an, or habe nur einen solchen gehabt. Als er wieder zu sich gekommen sei,
habe er auf dem Sofa gesessen. Er wisse ganz genau, dass er sich vorher auf
den Stuhl gesetzt habe. Dieser Anfall wurde bestatigt. Am Tage nach der
korperlichen Untersuchung, die einzelne nervose Symptome ergab, klagte er
fiber Schmerzen im Riicken, die angeblich von dem Nadelstechen herruhren
sollten. Er sprach yon einer Riiokenmarkserkrankung.
Die Herztatigzeit war moist beschleunigt und stieg nach leichten Kor-
peranstrengungen auf 120. Wahrend der Beobachtung hatte er mehrere
Schwindelanfalle, bei denen er blass und der Puls schwach und unregelmassig
wurde.
Die Erhebnng der Anklage wegen Simulation grundete sich auf
das geh&ufte Auftreten der Anffille zu einer Zeit, in der es sich darum
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706 Dr. Monkemoller,
handelte, dass Wi. an die Front komraen sollte, sowie daranf, dass er
dunkle Andeutungen fiber sein kfinftiges Verhalten machte und den
Unteroffizier zu einer falschen Aussage zu bestimmen suchte.
Dass es mit alien Anf&llen, fiber die er sowieso w?idersprechende
Angaben gemacht hatte, nicbt ganz richtig gewesen sein mag, konnte
mit gutem Rechte angenommen werden. Aber berficksichtigt musste
bei ihm werden, dass er ohne jeden Zweifel eine psychopathische Per-
sfinlichkeit war, wie er das dnrch seine zerfahrene Lebensfuhrung und
seine fiberstarke Reaktion auf Sussere Einflusse zur Genfige bewiesen
hatte. Er war eine weichliche Natnr und hatte schon in seiner Kind-
heit und sp&ter an Anf&llen gelitten, die bei seiner ganzen Eigenart
nichts Auffalliges darboten und bei denen es nicht stutzig zu machen
brauchte, dass sich diese Anf&lle gerade dann einstellten, wenn fiussere
ungfinstigo Einflusse auf ihn einwirkten und vor allem, wenn er unter
dem Drucke der Anwesenheit von Vorgesetzten stand.
Aber selbst wenn man alle die in Frage kommenden Anf&lle als
simuliert ansehen wollte, man w&re nicht in der Lage gewesen, ihm
nachzuweisen, dass er bewusst simuliert hatte. Und darfiber hinaus
musste er nach seinen Erfahrungen wissen, dass diese Anf&lle so leich-
ter Natur waren, dass sie ihn nie von der Dienstf&higkeit entbunden
h&tten.
Fall 23 . Gefreiter Ernst Ma., 32 Jahre. Normale Entwicklung. Leicht
erregbar und aufbrausend. 1901—1903 diente er aktiv beim 2. Garderegiment
zu Fuss, wurde Gefreiter und machte spater zwei Uebungen mit.
Bei der Mobilmachung eingezogen wurde er am 9. 8. 1914 wegen Epi-
lepsie vom Stabsarzt fur vollig dienstuntauglich erklart. Erhebnngen beim
Magistrat seiner Heimatstadt: Drei Personen batten krampfahnlicbe Zustande
bei ihm beobacbtet. Der Magistrat erklarte, dass er selbst wie die moisten
Einwobner, Ma. fur einen durobaus gesunden und kraftigen Mann halte, der
seine Anfalle simuliere, urn nicht zum Heeresdienste eingezogen zu
werden.
Im Marz 1916 wurde er durcb einen Arzt des Bezirkskommandos Go.
untersucht und gleicbzeitig der Nervenklinik in Go. fiberwiesen.
Der dort erbobene neurologische Befund war negativ. Ein Anfall wurde
nicbt beobacbtet. Nach dem allgemeinen Eindruck des Ma. wurden die
Anfalle fur hysteriscb erachtet.
Der Magistrat blieb bei seiner Behauptung, dass Simulation vorliege.
Vor dem Kriege babe Ma. nie geaussert, dass er an Krampfen leide. Auf alien
Arbeitsstellen, in denen er die schwersten Arbeiten zu verrichten gebabt habe,
babe er niemals Anfalle bekommen. Einen Unfall habe er nicht erlitten. An-
dererseits bestatigten mehrere Arbeiter, dass er einmal durch eine Luke ge-
fallen sei.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw. 707
1916 bei der Truppe wieder als versucbsweise dienstfahig eingestellt
bekam er einige krampfahnliche Anfalle, unter Anderem einen in der Revier-
stube, der von einem Assistenzarzte beobachtet wurde. Dieser stellte fest,
dass es sich nicht urn Epilepsie handele, und glaubte auch naob dem ganzen
Verlanfe und den Erscheinungen des Anfalls Hysteric aussohliessen zu
mussen. Da Ma., nachdem ihm Wasser ins Gesicht gegossen worden war,
sofort zu sich gekommen war, nahm er mit Bestimmtheit an, dass der Unfall
in seinem ganzen Unfange simuliert worden sei. Gleichzeitig spraoh er don
Verdacht aus, dass Ma. uberhaupt epileptiscbe Anfalle vortausche,
um sich der Dienstpflicht zu entziebep.
Ein unter anderen Zeugen zugezogener Sanitatsgefreiter, der im Zivil-
berufe Masseup war, nahm auch an, dass der fragliche Anfall nicht epileptisch
gewesen, sondem simuliert sei.
Darauf wurde vom Kriegsgerichte ein Verfahren wegen Vortau-
schung eines nicht bestehenden Leidens eingeleitet. ^
Anstaltsbeobachtung. Ma. verhielt sich stets ruhig und geordnet,
hielt sich mehr fur sich allein und las sehr viel. Im Verkehre mit dem Per¬
sonal und den ubrigen Kranken war er freundlioh, dooh bestand bei ihrp eine
stark gesteigerte Reizbarkeit. Zeitweise traten bei ihm auch deutliche Stim-
mungssohwankungen auf. Danu klagte er iiber Kopfschmerzen, Schwindelge-
fdhl und iibet aufstoigendes Angst- und Beklemmungsgefiihl in der Brust.
Deshalb legte er sich selbst auch ofters zu Bett.
Mehrere Male hatte er Schwindelanfalle, die aber wegen ihrer kurzen
Dauer arztlich nie beobachtet werden konnten. Er klagte einige Zeit vorher
fiber angstliche Unruhe mit Umschnurungsgefiihl in der Brust und der Kehle,
Plimmern, Schuppen- und Perlbildung vor den Augen, legte sich dann selbst
bin und schwitzte stark, Zuckungen wurden dabei nicht beobachtet. Nachher
legte er sich immer mit dem Zeichen starker Ermattung ins Bett.
Nachdem er starke Salzdosen bekommen hatte, erhielt er nuchtem drei
Flaschen Bier und 300 g Rum in ungefahr einer halben Stunde. Krampf¬
ahnliche Zustande, Schwindelerscheinungen oder eine Veranderung des Be-
wusstseinszustandes und des psychischen Verhaltens wurden dadurch nicht
erzielt.
Bei den Untersuchungen war er immer klar und geordnet, dabei aber
stark gereizt und suchte in keiner Weise sich durch auffallende Hoflichkeit das
Wohlwollen des Gutachters zu erhalten.
Will immer leicht erregt und aufbrausend gewesen sein. Seit ihm ein Ast
auf den Kopf gefallen sei, leide er haufig an Kopfsohmerzen, Schwindelgefiihl
und Atemnot, besonders beim Biicken. Eine Rente bezog er nicht.
Vier Monate nachher bekam er zum ersten Male einen Krampfanfall und
zwar auf einem Tanzvergniigen im Anschlusse an eine Aufregung. Seitdem
batten sich die Anfalle alle 4 Wochen wiederholt, meist im Anschlusse an
Aufregungen. Die Anfalle beschrieb er sehr anschaulich mit alien Einzelheiten.
Vor 5 Jahren sei er einmal in einem solchen anfallsartigen Zustande an einem
Sonntagsmorgen von Hause fortgegangen und nachher von einer Frau im Holze
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708
Dr. Monkemoller,
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anfgefonden worden. Im November 1915 habe er dann einen zweiten Unfall
erlitten. Er sei 10 m hoch duroh ein Luke abgestiirzt.
Seitdem seien die Anfalle haufiger und schwerer und auch in der Pabrik
mehrere Hale aufgetreten.
Korperlicher Befund. Narbe am Knie. Schadel ist druck- und klopf-
empfindlich. Puls stark beschleunigt. Zunge zittert stark. Massiges Hande-
zittern. Die Sehnenreflexe sind gesteigert. Starke Schweissbildung. Bei
Augenfusssohluss deutliches Schwanken und Lidflattern. Gesichtsfeld leicht
eingeengt.
Durch Zeugen war festgestellt worden, dass er tats&chlich einen
Unfall erlitten und Erscheinungen dargeboten hatte, die als Schwindel-
zusULnde oder krampfartige Anfalle aufgefasst werden konnten. Da auch
bei der Beobachtung Scbwindelanfalle festgestellt wurden, musste die
Mflglichkeit unter alien Umstanden zugegeben werden, dass auch die
angezweifelten Anfalle ecbt gewesen seien.
Fall 24 . Wehrmann August Br., Landm&nn, 35 Jahre alt. Haufig vor-
bestraty.
Am 7. Mobilmachungstage eingezogen, wurde er Mitte September 1914
wegen Herzfehlers entlassen.
Am 15.5.1915 wurde er eingezogen und einem Landsturmbataillon iiber-
wiesen.
Am 2. 10. wurde er wegen asthmatischer Beschwerden in das Lazareit
fiir Bewachungsmannschaften in So. aufgenommen. Da dem dortigen Stabs-
arzte die Klagen in keinem Verhaltnisse zu den nachweisbaren krankhaften
Veranderungcn standen, wurden Nachforschungen in der Heimat angestellt.
Zu Hause war von einem Herzleiden des Br. nichts nachzuweisen. Nach
der Aussage seiner Frau war er nur dann etwas herzleidend, wenn er zuviel
geistige Getranke zu sich genommen habe. Er sei fahig, eine Krankheit vor-
zutauschen und habe in seinem angetrunkenen Zustande oft seine Frau miss-
handelt. Mehrere Male hatte er eine Narbe im Gesichtc als von einer Mensur
— herriihrend bezeichnet. Auch die neben Br. liegenden Kranken gaben aus
freien Stricken an, dass Br. es immer liebe, seine Beschwerden nur dann zum
Ausdruck zu bringen, wenn ein Arzt zugegen sei. DerOberstabsarzt bezeichnete
ihn als einen schabigen Charakter. Die Zeugen — Sanitatsgefreite — be-
kundeten, dass er nur dann anfange zu stohnen, wenn der Arzt kam. Der
Gemeindevorsteher und ein benachbarter Schlachtermeister bezeugten, dass sie
nie an ihm ein korperliches Leiden bemerkt hatten. Der Gemeindevorsteher
hielt ihn fiir besohrankt, der Nachbar fiir sehr schlau. Die Ehefrau gab jotzt
an, dass er zuweilen fiber Herzklopfen geklagt habe, wenn er anstrengend ge-
arbeitet habe oder schnell gegangen sei. An eine Simulation glaube sie nicht,
ein regelmassigerTrinker sei er auch nicht gewesen, sondern habe nur anfalls-
weise getrunken. Fur beschrankt hielt sie ihn nicht. Br. berief sich auf das
Zeugnis der Militararzte in Br. und die Passnotiz, nach der er dauernd feld-
dienstunfahig sei, sowie auf das Zeugnis zweier Aerzte, die er zwischendurch
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wegen Asthmas konsultiert hatte. Darauf wnrde eineAnklage wegen Simulation
erhoben. Als seine Bruder und Schwager ins Feld riickten, erklarte er: „ehe
ich ins Feld gehe, stelle ich erst noch etwas an“.
Lazarettbeobachtung. Bei der Aufnahme ausserte Br. keine Be-
schwerden. Er wollte sich an nichts mehr erinnern konnen, wusste nicht, wo
er zuletzt gewesen war, kannte weder sein Alter noch das seiner Frau und
Kinder, nicht den Namen seines Truppenteiis, fand sich nicht in der Zeit zu-
recht und konnte dieJahreszahl nicht richtig angeben. JedeFrage beantwortete
er mit: „das weiss ich nicht u . Dio einfachsten Rechenexempel loste er falsch.
Dabei erschien er angstlicb und schuchtern, sah mit starren Augen um sich
und zockte hin und wieder zusammen. Dann war er wieder sehr albern und
kindisch, verzog dasGesicht zumGrinsen, warf ganz zusammenhangsloseWorter
hin, sprang im Krankensaale herum, tat so, als ob er Kegeln schiebe und be-
hauptete auch, auf einerKegelbahn zu sein. Mit auf demRiicken verschlossenen
Armen, den Kopf nach unten geneigt raste er auf dem Vorplatze herum.
Spater sprach er ofters leise yor sich hin, zupfte fortgesetzt an seinem Rocke
und legte sich auf den Fussboden hin, indem er Schwimmbewegungen machte.
Dabei tat er immer vollkommeu unorientiert und wollte sich an nicbts erinnern.
Mit einem Male, anscheinend weil ihm die Sache langweilig geworden
war, wusste er plotzlich sehr gut Bescheid, die Erinnerung war gut, er war
genau orientiert und 15ste die gestcllten Reohenaufgaben ganz richtig.
Zuletzt klagte er viei fiber Herzklopfen und Stiche in der Herzgegend.
Eines Nachmittags verschwand er aus dem Lazarett und kam erst in der
Nacht zuruck. Er hatte sich von einem Frauenzimmer mitnehmen lassen und
mit ihr den Beischlaf vollzogen. Mit grossem Stolze erzahlte er, dass er
12 Nummern geschafft habe.
Der korperliohe Befund bot koine Unterlage fur das Vorhandensein einer
der bekannten Asthmasymptome. Das Endergebnis war, dass es sich um einen
entarteten, minderwertigen, hysterischen, auf Grund des Alkoholmissbrauches
entarteten Menschen handle. Seine subjektiven Klagen hatten infolge der bei
ihm bestehenden nervosen Erscheinungen eine gewisse Berechtigung, ausge-
schlossen sei nicht, dass infolge des reichlichen Alkoholgenusses eineEntartung
des Herzens bestehe. Wenn man ihm auch nicht den Vorwurf der Simulation
machen konne, sei doch eine starke Uebertreibung nicht von der Hand zu weisen,
die in seiner Personliohkeit ihre Erklarung finde. Dagegen sei er fur die ihm
zur Last gelegten Handlungen als verantwortlich anzusehen.
Anstaltsbeobachtung. Korperlicher Befund: Massiges Lidflattern,
Zungenzittern. Gang etwas unsioher. Starkes Handezittern. Bei Augenfuss-
schluss Lidflattern und deutliches Sohwanken. Bauohdeckenreflex fehit. Nach-
roten der Haut. Lebhafte Schweissabsonderung. Atmung dauernd stark be-
sohleunigt, nach leichten Anstrengungen noch waiter gesteigert, pfeifend und
auf die Entfernung horbar. Schon bei kurzen Spaziergangen lautes Pfeifen,
dabei schwere Zyanose.
Naoh den Untersuchungen des Spezialisten fur Herzkrankheiten Dr. B.
bat das Herz Entenform und reioht links fast bis zur Mamillarlinie. Der Puls
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ist sehr klein, weich, beschleunigt, der Blutdruck ist herabgesetzt. DasElektro-
kardiogramm zeigt grosse Unregelmassigkeiten in der Herztatigkeit, und zwar
Schwankungen, die toils positive, teils negative Phasen annehmen- Wahrend
der Beobachtung war er dauernd hocbgradig angstlich verstimmt, stobnte and
jammerte und klagte in zaweilen offenbar dbertriebener Weise iiber Sticbe nnd
Schmerzen in der Herzgegend, Angst- nnd Beklemmungsgefuhl. Er habe oft
dasEmpfinden, dass er keineLuft bekommen konne, nnd wisse mancbmal nicht,
was er vor innerer Aufregung machen solle.
Auch wenn er sich niobt beobachtet wusste, zeigte er einen angstlich
gespannten Gesichtsausdruck, starrte meist mit weit aufgerissenen Augen, die
Stirn in tiefe Falten gelegt, vor sich hin und macbte dann einen hilflosen nnd
verstorten Eindruck. Um die Vorgange in seiner Umgebung kiimmerte er sich
gar nicht, an derUnterhaltung nahm er nicht teil, sprach uberhanpt nnr selten,
sondern brutete stumpf und teilnahmslos vor sich hin oder wanderte planlos
im Zimmer umher, ohne zur Ruhe kommen zu kdnnen.
Sobald ihn jemand beruhrte, fuhr er in iibertrieben schreckhafter Weise
zusammen, tat dann ganz verstort nnd konnte anscheinend vor lauterErregung
gar kein Wort hervorbringen. Ab und zu verlangte er in stereotyper, kind-
lich bitten der Weise, nach Hause entlassen zu werden. Fur alle Einwande und
Belehrungen iiber seinen Zustand blieb er vollkommen taub.
Anch bei den Untersuchnngen war er zu keiner Spontanansserung zu be-
wegen. Er starrte geistlos vor sich hin, spielte an seinen Kleidern, alle Ant-
worten mussten aus ihm herausgeholt werden. Nur anfangs vermochte er zu
folgen, dann versagte er zusehends mehr und mehr, zuletzt gab er auf die ein-
fachsten Fragen, die er unbedingt wissen musste, keine zntreffende Antwort
mehr. Oertlich und zeitlich war er orientiert. Auffassungsvermogen und Ge-
dankenablauf waren verlangsamt.
Yoriibergehend war er freier, doch nach knrzer Zeit zeigte sich immer
wieder die angstliche Unruhe und Verstimmung.
Dass eine kflrperliche Erkrankung vorlag, konnte einwandsfrei fest-
gestellt werden. Die chronische Herzmuskelerkrankung, die jedenfalls
auf den Alkoholmissbrauch zuruckzufuhren war, erkl&rte zwangslos die
Beschwerden, die er ge&ussert hatte. Ebenso liess sich eine ausgespro-
chene psychische Erkrankung feststellen. Neben einer psychischen Hem-
mung bestanden Angstliche VerstimmungszustAnde, die ebenfalls auf die
Grnndlage des Alkoholisraus zuruckzufuhren waren.
Wenp Br. gelegentlich den Eindruck erweckte, dass er seine Be¬
schwerden ubertreibe, so ist das garnichts besonderes bei Angstlicben
und neurasthenischen Kranken.
Fur die Zeit der Beobachtung in La. liess sich also Simulation
und sogar bewusste Uebertreibung ohne weiteres ausschliessen. Sie
liess sich auch fur die Vorg&nge im Lazarett nicht halten.
Nach den Akten hatte er ja vorher an asthmatischen AnfAllen ge-
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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande usw. 711
litten and da die Grundlage des Asthmas, die Herzerkrankung sich in
der seitdem verstrichenen Zeit nicht entwickelt haben konnte, waren
diese Anffille schon oereits erklfirt. Und da derartige Zust&rde ja durch
psychische Erregungen, zu denen auch der Besuch des Arztes gerechnet
werden moss, ausgeldst verstfirkt und werden kfinnen, erklfirt sich das
Verhalten dem Arzte gegenuber zwanglos ohne Inanspruchnahme der
Simulation.
Der Angeklagte wurde wegen Simulation freigesprochen. Nach
einem Vierteljahre wurde er wegen Vornahme unzuchtiger Handlungen
verhaftet, nochmals beobachtet fur geisteskraok erklfirt und einer Irren-
anstalt fiberwiesen.
Fall 25 . Landsturmmann August To., Werkfuhrer, 38 Jahre alt. Am
16.11. 1917 an die Front gekommen, meldete er sich am 24.11. zusammen
mit einem anderen Landwehrmann krank, wurde aber dienstfahig geschrieben.
Am 27. 11. wurde er auf dem Hauptbahnhofe Ha. festgenommen und
einem Lazarett als Geisteskranker uberwiesen, das ibn sofort nach La. weiter-
schiokte. Bei der Aufnahme erschien er vollkommen benommen. Er sohien
auf den Fiissen vollkommen unsicber zu sein und schwankte bin und her. Die
Augen riss er weit auf und brach oft in ein tierisohes Lacben aus. Die meisten
Fragen musste man ihm wiederbolen. Oefters rieb er sich die Stirne.
Seine Vorgesohichte liess er sich ohne grosses Widerstreben herausbolen,
seine Personalien gab er prompt an. Keine erbliche Belastung. Er besuchte
die Volksschule und war angeblich ein schwacher Schfiler. Spater wurde er
Kutscher nnd war zunaohst im Ha. in Stellung. 1901 heiratete er, er hat ein
Kind, das es immer an den Augen hatte (tatsachlich eine reoht ausgewacbsene
Tochter). Seit Jahren leide er an Syphilis. Noch in diesem Jahre sei er des-
halb behandelt worden. Er wollte noch nie gerichtlich bestraft sein. Aus Ver-
sehen wurde zunaohst ein falscher Auszug aus dem Strafregister geliefert, nach
dem er tatsachlich unbestraft sein sollte. Am 5. 9. 16 sei er als Landsturm¬
mann eingezogen worden und babe in Frankreich in derNahe der Combres-Hobe
gestanden. Weshalb er in die Heimat gekommen sei, konne er nicht sagen. Ge-
stern habe man ihn auf einem Transport nach Hause gesohickt. Korperlicher
Befund negatir. Er machte nun zunaohst dauernd einen schlafrigen nnd be-
nommenen Eindruck. Ab und zu fragte er den Arzt in kindlicher Weise, ob
er dann auch bald nach Hause komme. Dabei schrieb er einmal an seine Frau
einen ganz einwandfreien Brief, den er durobzusohmuggeln versuchte. Am
gleiohen Tage riss er sioh den Verband vom Fusse und verlangte grinsend,
dass ihm das Bein abgeschnitten werde. Fragte man ihn irgend etwas, so gab
er immer riohtig, wenn auch sehr umstandlich Antwort, indem er die Stirne
rieb nnd blode lachte. Oertlich und zeitlioh war er orientiert. Im Tagesraum
sass er bei dem ubrigen Kranken nnd unterhielt sich mit ihnen sachgemass,
wenn auch affektlos. Das rechte Bein, an dem sich einige abgeheilte syphili-
tische Geschwnre befanden, legte er immer auf einen Stuhl. Erst Anfang De¬
cember wurde bekannt, dass gegen ihn ein gerichtliches Verfahren sohwebe.
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1m burgerlichen Leben 14mal bis za 8 Jahren Gefangnis wegen Diebstahls,
Uebertretung, Botrugs, Korperverletzung, Sachbesohadigung, Hausfriedensbruchs
und Zuhalterei bestraft. Wahrend seiner aktiven Dienstzeit war er in die zweite
Klasse des Soldatenstandes versetzt worden. Mehrfach disziplin&risch bestraft,
weil er sioh unter Vortauschung von Krankheiten immer wieder
krank meldete und vom Dienste zu driicken vermochte. Fiihrung
schlecht.
Bei der Ueberfiihrung ins Feld war vom Ersatztrappenteil ganz besonders
auf ihn hingewiesen worden. Er hatte wieder auf alle mogliche Art and Weise
versucht, sich der Heraussendung ins Feld zu entziehen, indem er fortwahrend
neue Krankheiten vortauschte. Trotz griindlichster Untersuchung war bei ihm
nie etwas Positives nachzuweisen. Das Bataillon vermutete, dass er auch dort
durch ahnliche Mittel versuchen werde, sich um den Dienst herumzudrucken.
Bei der Untersuchung im Felde am Tage seiner Entweichung war nichts fest-
zustellen gewesen. Nach den Angaben des andereD Landsturmmannes (der
eine Augenkrankheit simulierte und spater ein voiles Gestandnis ablegte) waren
sie von der Truppe naoh Metz gefahren, wo sie sich trennten. To., der in
keiner Weise aufgefallen war, fuhr allein weiter.
Als Te. der Inhalt der Akten vorgehalten wurde, leugnete er, sich von
der Truppe entfernt zu haben. Auch sei er nie bestraft worden. Er konne
sich noch so dunkel erinnern, dass er einmalSoidat zweiter Klasse geworden sei.
Dabei nahm er dem Arzte die Akten aus der Hand und sagte in kindlich
sohmollendem Tone: „Die habe ich nioht geschrieben a . Dann zeigte er auf
eine andere Akte: n Da liegt wohl auch nooh was u . Als ihm vorgehalten wurde,
dass er aus derStellung weggegangen sei, meinte er kopfschiittelnd: „Ich wohne
Wagnerstrasse 4 a . Dabei versuchte er in naiv trotziger Weise das Gesprach
auf andere Dinge zu lenken. Zwischendurch wickelte er sich den Verband ab,
hielt das Bein und sagte mit wichtiger Miene auf den Instrumententisch zeigend:
„Das sieht ja beinahe aus wie ein Tisch a . Spater lag er meist auf einem Sessel
bequem hingeflegelt ohne aufzustehen, wenn der Arzt kam, dem gegenuber er
eine plumpe Zutraulichkeit zeigte. Stets benahm er sich vollig unmilitarisch.
Er lief mit offenem Waffenrocke herum. Gelegentlich klagte er zutraulich,
seine Kloten oder sein Pint taten ihm so weh. Auf einem Urlaub benahm er
sich ganz geordnet. Stets gab er mit gleichmutigem Gesicht zur Antwort:
„Das weiss ioh nicht a . Jetzt wollte er nicht wissen, wann er zum Miiitarge-
kommen sei, ob und wo er im Felde gestanden habe und wie er von der Front
hierher gekommen sei. Nach seiner Wohnung gefragt, aus der er eben ge-
kommen war, suchte er lange, nannte die Strasse richtig und liess dann einige
Tranen rinnen. Zwischen seine Antworten flocht er unter albernem Grinsen
alle mogliche Bemerkungen ein, die nicht zur Sache gehorten. Wie lange er
in La. sei, konne er nicht sagen. Es miisse ihn wohl Jemand im Wagon her-
gebracht haben. Zwischenduroh stand er auf und sagte: „Jetzt kann ich ja
wohl wieder fortgehen?“ Wie er glaube, sei er seit dem 5. November beim
Militar, das wisse seine Frau ganz genau. Ueber seine aktive Dienstzeit machte
er ganz genaue Angaben. DieFrage, ob er nichtSoldat zweiter Klasse geworden
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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sei, verneint er entrusted In Zivil sei er einmal mifc einer Kleinigkeit bestraft
worden. Dabei fragte er sofort wieder, ob er jetzt gehen konne.
Nach langeren Verhandlungen gibt er dann zu, jetzt in Ha. eingestellt
worden zu sein. Dann habe ihn irgend einer in einem Zuge bingebracht, wo-
hin, wisse er nicht, das sei in Dingsda gewesen. Auf energische Frage weiss
er pldtzlich genau, dass er nacb Koblenz gebracbt worden sei. Beim Arzte
sei er wegen seiner kaputen Beine gewesen. Auf Anschnauzen fallt ihm ein,
er habe in Frankreioh in der Nahe von Vi. gestanden. Er sei wobl ein balbes
Jahr dort geblieben, Gefechte habe er nicht mitgemacht, ^docb, halt, warten
Sie, eins habe ich doch mitgemacht u . „Die werden mich wohl von dort fort-
gescbickt haben. u Dann sei er auf der Bahn gewesen, es war ein ganzer Zug
voll. Wie er gefahren sei wisse, er nicht: „Soll ich Ihnen einmal mein Bein
zeigen, Herr Doktor? u Er konne auch nicht zuriickdenken, wie er in die An-
stalt gekommen sei. Einer von den Wartern habe ja gesagt, er sei ja hier
wegen seines kaputen Beines. Im Kopfe sei er ganz riohtig, er habe wohl
l manchmal im Kopfe so was wie Schmerzen, aber der Herr Warter sage, das
kame von Rheumatismus. Ueber seine Familien- und Berufsangelegenheiten
war er in jeder Beziehung unterrichtet. Dabei war seine Auffassung ungestort,
der Gedankenablauf nicht verlangsamt, sein Gedachtnis liess keine Liicken er-
kennen, auch im Verkehr mit dem Warterpersonal hatte er fiir alle Gesprachs-
themata, die in seine Verhaltnisse hineinpassten, ein sachgemasses Urteil. So-
bald man aber wieder auf seine militarischen Verhaltnisse und vor allem auf
seine Delikte kam, wich er sofort aus. Alle Warter und Kranken seiner Ab-
teilung kannte er mit Namen, die meisten auch mit Vornamen. Bei der korper-
lichen Dntersuchung vermied er es diesmal hartnackig, den Arzt anzusehen,
sondem stierte nach oben. Beim Stehen mit gesohlossenen Augen und Fiissen
schwankte er plump hin und her. Wahrend der Untersuchung zitterte er grob-
schlagig mit der linken Hand, was sonst nie beobachtet worden war. Beim
Beklopfen des Schadels wollte er die heftigsten Schmerzen auch dann emp-
flnden, wenn der Hammer den Schadel garnicht beruhrt hatte. Bei der Gefuhls-
prufung bezeichnete er die Nadelspitze als stumpf und den kirschkerngrossen
Nadelknopf als spitz. Bei der Priifung der Kniereflexe schlug er mehrere Male
vor. Das Gutaohten nahm an, dass die meisten Krankheitserscheinungen nicht
als echt angenommen werden konnten.
In der Hauptverhandlung erschien er viel kindiscber, als er sich sonst
dargestellt hatte. Die einfachsten Fragen beantwortete er nicht, sondem
grinste nnr blode und erklarte schliesslich: „ich bin jetzt in der Schule, der
Leutnant hat gesagt, ich branchte mich jeden Tag nur einmal zu melden.
Mahlzeit! Er schien dann der Verhandlung gar nicht zu folgen. Und als
sein Mitsohuldiger gegen ihn aussagte, warf er ihm einen giftspriihenden Blick
zu. Als ihm 5 Jahre Gefangnis zuerkannt wurden, schien er ganzlich unberiihrt
davon zu bleiben.
Im Arrestlokal hatte er am ersten Tage seiner Entlassung aus La. einen
schwer verblodeten Eindruck gemacht. Sofort nasste er ein, beim Sprechen
sohwankte er bestandig hin und her, riss den Mund auf und grimassierte.
Archly f. PsjehUtrie. Bd. 60. Heft 2/3. 40
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N&ohdem er eine Zeitlang sein Essen nicht gebolt hatte, wurde ibm energisoh
gesagt, wenn er die Dammheiten nicht lasse, werde er dafur bestraft werden.
Darauf gab er sofort das Schwanken auf, stellte sicb ordnungsmassig in die
Reihe and liess sicb sein Essen geben. Sonst kam er prompt alien Auf-
fordernngen nach.
Mehrere Tage nach seiner Vernrteilang unterbielt er sich lebhaft mit
einem anderen Soldaten, der in seiner- Zelle lag, und sagte diesem, er sei nur
3Tage von der Front weg gewesen und habe dafur 5 Jahre Gefangnis bekommen,
das sei doch gar kein Verhaltnis. Dann liess er sioh vorfuhren und legte in
vorschriftsmassiger Weise gegen das Urteil Berufung ein. Mit seiner Frau
unterhielt er sich geordnet. Mehrere Male tuschelte er mit ihr leise und eifrig,
so dass ihm das untersagt werden musste. Da er immer unmanierlicher wurde,
wurde er am 11.8. 1917 wieder nach La. gebracht. Jetzt musste er aus-
gezogen und vollstandig besorgt werden. Dabei weinte er heftig, taumelto
hin und her, klammerte sich an den Arzt an, und klagte: „Tun*sie mir doch
nichts, sie wollen mich ja schlagen 44 . Er blieb nun ruhig im Bette liegen,
schien nichts zu sehen und zu horen und reagierte nicht auf Anreden. Nur
zeitweise liess er ein gewaltiges Jammern horen. Wenn er sich nicht beob-
achtet glaubte, sah er frei und interessiert um sich. Sehr oft nasste er ein
und verunreinigte sich mit Kot.
Einige Tage, nachdem er auf eine andere Abteilung verlegt worden war,
sah er mal freier und interessierter um sich. Er ging auch selbstandig auf das
Klosett und hatte es sofort gefunden, obgleich er durch zwei Zimmer und
einen Gang durchgehen mqsste. Dabei taumelte er immer wie ein schwer Ge-
lahmter. Wenn er ass, war sein Gesichtsausdruck vollkommen frei. Redete
man ihn dagegen an, so sah er sofort sehr blode aus, steckte den Finger in
den Mund und gab keine Antwort.
Am 23. 8. ging er wieder im-Hemde nach dem Klosett, das im ersten
Stookwerk lag, verschloss die Tiire hinter sioh und kletterte mit grosser Ge-
wandtheit aus dem Fenster am Blitzableiter zur ebenen Erde. Sofort aaf-
genommene Nachforschungen blieben erfolglos.
Einige Tage nachher teilte ein sehr zuverlassiger Kranker mit, To. habe
sich oft mit ihm unterhalten. Dabei habe er immer ganz verstandig gesprocben.
Einige Tage vor seiner Eentwiohung hatte er ihn um Rat gefragt, wie er sich
eigentlich verhalten solle. Ob er sich weiter verstellen oder die richtigen
Antworten geben oder gar nichts sagen oder ausriicken solle. Er habe langst
eingesehcn, dass der Direktor ihm nicht glaube und dass er seine Strafe ganz
abmachen rniisse. Wenn er ausriicken werde, werde er sioh seine Kleider in
der Nahe der Anstalt besorgen lassen. In Ha. werde er schon von einem
anderen Zuchthausler andere Papiere bekommen, dann wolle er nach Le.
fahren, wo ein Yerwandter von ihm wohne und eine Wirtschaft betreibe. In
Le. konne man ganz ruhig unangemeldet wohnen. Er wisse genau, was er in
der Untersuchungshaft getan habe. Auch dort habe er sich nur verstellt, sich
mit Absicht nass gemacht, die Kleider beschmutfct und die Wasohsohalen
fallen lassen.
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande usw.
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Der andere Kranke hielt ihn fur einen zielbewussten Simulanten.
Am 21. 3.1918 wurde To. in Ha. festgenommen. Er hatte zusammen
mit einem anderen Fahnenfliichtigen mehrere schwere raffinierte Einbruchs-
diebstahle veriibt. Spater hatte er einen Eilboten beauftragt, die Sachen aus
dem Hause, in dem er sie zunaohst aufgestapelt hatte, abzuholen und zu einem
Hehler zu besorgen. Vorher hatte er mit der Wirtin des Hauses ganz genau
Verabredungen getroffen. Als er festgenommen wurde, gab er einen falschen
Namen an.
Auf Vorhalt gab er schliesslich seinen riohtigen Namen an. Naoh zwei
Tagen erklarte er, er wolle nun sagen, dass er Soldat gewesen sei und zum
lnfanterieregiment 73 gehbre. Am 27. 3. gab er an, er sei lange im Vereins-
lazarett La. gewesen, sei aber nioht yon dort entsprungjen, habe auch keinerlei
Diebstahle begangen. Wo er festgenommen worden sei, konne er nioht sagen,
in dem Hause, wo er verhaftet worden sei, sei er noch nie gewesen.
In der Vernehmung schwankte er wieder hin and her und gab schliess¬
lich ganz yerwirrte Antworten. Als er vorher zum Verhore geftihrt worden
war, war der Gang vollkommen normal gewesen.
Bei der Festnahme hatte er sich „durchaus nicht wie ein Geisteskranker w
benommen. Erst einige Stunden nach der Festnahme begann er zu schwanken:
„er simulierte offenbar k< . In seiner alten Arbeitsstelle waren auch nie die
geringsten Spuren von Geisteskrankheit und Gedachtnisschwache bemerkt
worden.
Bei der Aufnahme Im Militararresthaus tanmelte er hin und her. Seine
Zelle beschmutzte er mit Kot, Essen nahm er nur in den ersten Tagen zu sich,
Befehle fuhrte er nicht aus und auf Fragen antwortete er nicht. Am 4. 4.
wurde er wieder nach La. gebracht, Auf der Fahrt dahin liess er seinen Kot
in die Hosen, holte ihn heraus und beschmierte sich damit. Taumelnden
Ganges kam er hereingestolpert. Bei Anreden schwankte er hin und her, stierte
blode vor sich hin und antwortete lallend wirres Zeug. Als'er gebadet werden
sollte, steigerte sich das Schwanken noch mehr und er griff Hilfe suohend um
sich. Als der Warter ihm sagte, er solle mal ruhig fallen, blieb er stehen.
Spater ass er, indem er dabei ausserordentlioh stark zitterte.
Nun blieb er ruhig und teilnahmslos im Bette liegen, starrte mit blddem
Gesichtsausdruoke vor sich hin und gab auf Befragen abgerissene und ganz
sinnlose Antworten. Da er dauernd einnasste und einschmutzte, wurde er in
ein Torfmullbett gelegt. Bei jeder Visite zeigte er vorwurfsvoll und bittend
auf den Torf und sagte mit bittender Stimme: „Scheisse u oder „bitte eine
andere Kiste“. Als ihm eroffnet wurde, dass er ein anderes Bett bekommen
werde, wenn er sich sauber halte, wurde das Einnassen geringer, er bediente
sich mit vielem Anstande einer Ente und hielt sich zuletzt ganz sauber. Wenn
er zu den Untersuchungen in das erste Stockwerk gefuhrt wurde, ging er die
Treppe herauf und herunter ohne jedes Schwanken und ohne das Gelander
anzufassen. Sobald er das Untersuohungszimmer betrat, begann wieder das
alte Schwanken. Dann sass er breitbeinig auf dem Stuhle, stierte wehmutig
auf den Arzt und spielte geheimnisvoll an seinem mannlichen Gliede.
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Schliesslich wurde ihm wohlwollend und ernst gesagt, er moge doch die
Simulation lassen, da es ihm doch nicht geglaubt und er nur noch dazu wegen
Simulation bestraft werden wurde. Wahrend er bis dahin noch den alten
Gesichtsausdruck zur Schau getragen hatte, wurde jetzt plotzlich sein Gesicht
ernst und belebt, das Zittern horte auf, beim Aufstehen schwankte er nicht
mehr, er sah sehr nachdenklich aus. Er kampfte langere Zeit mit einem Ent-
schlusse, kam damit aber nicht zustande. Als er dann das Zimmer verlassen
sollte, blieb er noch einmal steheu, kam ein paar Schritte zuruck und wollte
etwas sagen, kam aber nicht dazu.
Nachdem er in das Arresthaus zuriickgebracht worden war, fing er vom
ersten Augenblick an, wieder einzunassen und einzuschmutzen. Aufforderungen
kam er nicht nach, sohwankend lief er in seiner Zelle herum oder doste auf
seiner Pritsche vor sich hin.
Yom ersten Tage ab setzte er mit der Nahrungsaufnahme aus. Darauf
wurde er im Reservelazarett mit der Schlundsonde gefttttert. Schon nach dem
ersten Male fing er an zu essen. In der Arrestanstalt schmutzte er wieder be-
standig ein. Darauf hatte einer der wachthabenden Unteroffiziere, der ihn
von friiher als einen durchaus gesunden, wenn auoh moralisch minder-
wertigen Menschen kannte, mit ihm eine eingehende Unterredung. Jetzt begann
To. in sich zu gehen und nach einigem Ueberlegen erklarte er, er sehe nun
ein, dass er die Sache nicht langer durchfiihren konne und dass er sie jetzt
aufsteoken mochte.
Die grosse Schwierigkeit sei nur die, dass er, der gestern
noch ganz verriickt gewesen sein wolle, jetzt pldtzlich ganz nor¬
mal sein solle.
Von da war er im Arrestlokal vollkommen ruhig und geordnet. Er gab
das Schwanken auf, zitterte nicht mehr und gab, wenn auch kurz, so doch
zutreffend Antwort. Dabei schmutzte er nicht mehr ein, ass manierlich und
hielt seine Zelle in tadelloser Ordnung. Allen Aufforderungen kam er prompt
nach und fugte sich glatt der Hausordnung.
In der Berufungsverhandlung erschien er auch ganz geordnet und gab
seine Personalien prompt an. Als ihm erklart wurde, die Verhandlung solle
verschoben werden, bis eine zweite gegen ihn erhobene Anklage wegen Simu¬
lation usw. erledigt sei, erklarte er sich damit einverstanden und begab sioh
ruhig wieder in den Arrest. Nachdem er sich 2 Monate tadellos und unauf-
fallig gefuhrt hatte, entwich er zwei Tage vor der Hauptverhandlung mit
einem Genossen aus dem Festungsgefangnis, obgleioh besonders auf ihn
geachtet wurde.
Nach einiger Zeit wurde er wieder verhaftet. Sofort machte er wieder
einen so verblodeten und verwirrten Eindruck, dass er am 2. 11. von neuem
nach Langenhagen gebracht wurde.
Wieder bot er das alte Bild eines vollstandig dementen und verwirrten
Mannes. Er ausserte Verfolgungsideen, schien sehr angstlich zu sein und
machte mehrere Strangulationsversuche. Zu fixieren war er uberhaupt nichi.
Er plapperte bestandig in unzusammenhangender Weise vor sich hin.
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Die Simulation psychisoher Krankheitszustande nsw.
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Am 9.11. erschien gelegentlich des Putsches eine Abteilung des Soldaten-
rates und setzte die ‘Befreiung der far gesund gehaltenen Beobacbtungskranken
durch. To., der die Sachlage zunachst nicht uberschaute und annahm, dass
er wieder in Haft gebracht werden sollte, setzte sein Treiben in noch verstark-
tem Masse fort. Erst als ihm der Yorgang verstandlich wurde, fiel in dem-
selben Augenblicke die Geisteskrankheit von ihm ab.
Er war vollkommen geordnet und machte einen sehr intelligenten
Eindruck.
Schliesslich gab er mit grosstem Behagen zu, dass er wahrend der ganzen
Zeit mit vollster Absicht simuliert habe, und gab seine Simulationskunststiicke
in alien Einzelheiten an. Auf die Dauer sei es ja sehr anstrengend gewesen,
als einziger Gesunder zwisohen lauter Geisteskranken den Verruckten zu
spielen. Aber wenn es sich um 5 Jahre Gefangnis handele, sei das doch der
Muhe wert.
Bemerkenswert ist bei To., der nach seiner Vorgeschichte kein
Ausbund tod normaler Gesinnung erscheinen mochte, die ausserordent-
licbe Ausdauer und Ziihigkeit, mit der er an seinen Simulationsbe-
strebungen festhielt, wobei er sich der heroischsten Mittel bediente,
wenn auch die Nahrungsverweigerung leichter durchzufiihren ist, ala
das dem Laien und Richter in der Regel scheint, sobald einmal die
ersten Tage uberwunden sind. Er bat lange mit Erfolg die schwierige
Rolle eines organiscb Geisteskranken durchgefuhrt. Da bei ihm eine
Bchwere Syphilis vorlag, hatte man ihm eine beginnende Paralyse zu
Gute gehalten und erst das dauernde Fehlen aller kbrperlichen Sym¬
ptoms im Vereine mit seiner Vorgeschichte, seinem Verhalten und seinen
rerschiedenen Gestandnissen liessen es als nbtig erscheinen, seine Simu-
lationsbestrebungen aus dem Reiche des Bewussten herauszufuhren.
Bemerkenswert ist jedenfalls die eigenartige Heilung seiner Simulations-
psychose.
Die Uartn&ckigkeit, mit der er die auf die Dauer recht unbequeme
Simulation durchgefuhrt hatte, erfuhr die verschiedenartigste Wertung,
die in solchen Fallen auch der Psychiater je nach seiner Stellung zur
Simulationsfrage diesem Verhalten angedeihen lasst. Der Vertreter der
Anklage folgerte darans, dass jemandem, der so lange und systematisch
diesem muhseligen Theaterspiel obliege, eine reeht betrachtliche Willens-
kraft und Zielbewusstsein zuerkannt werden musse. Der Verteidiger
berief sich mit ebenso tiefer Ueberzeugung darauf, dass nur ein Mann,
der aus dem Normalen stark herausfalle,. sich zu einem derart wider-
lichen und auf 'die Dauer anstrengendem Verhalten hergeben kdnne.
Wie gewOhnlich liegt die Wahrheit in der Mitte.
Die allgemeine Stellungsnabme zur Simulation, wenn sie selbst
als Delikt gilt, steht auf einem erheblich anderen Standpunkte als die
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718 Dr. Monkemoller,
Simulation, weun sie nur als Nebenerscheinung in einem sonstigen
Strafverfahren auftritt.
Im letzteren Falle gonnt man sie dem Tttter gewissermassen als
gates Recht und als Mittel in seiner Abwehr der drohenden Bestrafung.
Der Richter lUsst sich daruber hinaus bei der Strafzumessung vielleicht
nur insoferu beeinflussen, als die Neigung einen minder „schweren Fall"
anzunebmen, von seiner Stellungsnahme zur Simulation beeinflusst wird.
Im ersteren Falle aber kommen zun&chst einmal sehr erhebliche
Strafen in Betracbt. Und dann draogt sich bier die Schwierigkeit der
Entscheidung ein, ob der T&ter simuliert bat in der Absicbt, sich der
Erfullung seiner Dienstpfiicht ganz oder teilweise zu entziehen.
Das ist ja nun auf den ersten Blick eine Feststellung, die lediglich
der Richter zu treffen bat und die den Psychiater gar nichts angebt.
Aber zum Ersatze dafur wird ihm vom Richter fast immer die Beant-
wortung der Frage zugeschoben werden, ob der Tfiter bewusst oder
unbewusst simuliert hat. Das ist eine Frage, die bei der Abmessung
der Zurechnungsfahigkeit nicht entfernt in diesem Masse gewurdigt zu
werden braucht, und der man sicher nicht ungern aus dem Wege geht,
weil gerade bei den Krankheitsformen, die hier am moisten in Betracht
kommen, die Grenzen vollkommen verschwimmen. Und ob jemand be¬
wusst gehandelt hat, lasst sich eigentlich nie mit Sicherheit sagen.
Man befindet sich sofort wieder auf dem Boden der Vermutung und
der subjektiven Anschauung.
Dann aber muss man sich vor Augen halten, dass man, wenn man
zugibt, dass der T&ter simuliert hat, in gewissem Grade nebenher auch
die Frage mitbeantwortet, ob er das in der Absicht der Entziehong
vom Dienste getan hat, falls noch sonstige Anzeichen vorliegen, die
dafur sprechen, dass er sich mit dieser Absicht getragen hat, vor allem
wenn kein sonstiger Grund vorliegt, der den Entschluss zur Simulation
erklarlich machen konnte. Yergleicht man die Falle, in denen diese
Frage gestellt worden ist, so wird man nicht verkennen kbnnen, dass
auch Vortauschungs- und Oebertreibungsversucbe gemacht worden siud,
in denen sonstige forensische Beweggrunde ganz zuriicktreten. Die
Absicht, der Dienstpfiicht ledig zu werden, schimmerte auch hier oft
deutlich durch. Oft ware man hier weit mehr berechtigt gewesen, die
Frage der Simulation in diesem Sinne zu bejahen, als in den wenigen
Fallen, in denen sie tatsachlich gestellt wurde.
Man kann deshalb unschwer die Scheu der meisten Richter ver-
stehen, schon bei anscheinend vorgeschutzten kbrperlichen Krank-
heitserscheinungen diese Frage anzuschneiden, geschweige denn bei
geistigen. Dazu ist den meisten Richtern mit der Zeit bekannt gewor-
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Die Simulation psychischer Krankheitszustande uSw. 719
den, wie schwer die Feststellung der Simulation ist, welcbe Be-
deutung die subjektiven Anscbauungen die Begutachter bier haben,
und wie es gelegentlich zwischen den verschiedenen Gutachtem zu
Widersprfichen in der Beurteilung kommt. Dazu sind die Simulanten
erfahrungsgem&ss sehr selten zu einem Gestandnisse zu bringen.
Die Unsicherheit auf diesem Gebiete, die den Vertreter der An-
klage davon abhalt, allzu reichlich Strafantrfige in dieser Richtung bin
zu stellen, mag es auch sein, die den Richter veranlasst, nur selten
deshalb sebr strenge Strafen zu verhEngen, wie das Bennecke 1 ) fest-
stellt, obgleich die Simulation an und fur sich gewiss nioht ein Ver-
geben ist, das gerade iu militarischer Beziehung eine allzugrosse Nach-
sicht hinaufzubeschwdren geeignet ist.
Auch der Richter hat in den meisten Fallen die Erfahrung gemacht,
dass die Simulation, ebenso wie bei Selbstverstflmmelung, die mit ihr
ja eine sebr nahe Verwandtschaft hat, fast ausnahmslos auf einem
Geistesboden erwachst, der nicht als normal bezeicbnet warden kann.
Fur den Psychiater liegen die praktischen Nutzanwendungen,
die aus alle dem hervorgehen, noch deutlicher auf der Hand.
Selbstverstandlich ist es, dass man alle Mfiglichkeiten, den Tat-
sachen auf den Grund zu kommen — moglichst lange und sorgfaltige
Beobacbtung, die Erhebung einer mdglichst genauen Vorgeschichte,
die Benutzung aller erreichbaren Akten und Zeugenaussagen — er-
schdpfend ausnutzt.
Nicht genug kann betont werden, dass man sich gerade hierbei
nicht von einer vorgefassten Meinung leiten lassen darf und die sub-
jektive Auffassung. nach Moglichkeit zurfickzudr&ngen muss.
Die Vorsicht, die man bier walten lassen muss, steigert sich noch,
wenn direkt die Frage nach der Simulation gestellt wird. Ist einmal,
abgesehen von den vorget&uschten Erscheinungen, eine Krankheit nach-
gewiesen, die fiber das Mass der gewfibnlichen Psychopathie hinausgeht,
ist festgestellt, dass cin bemerkenswerter Grund von angeborenem Schwach-
sinn vorliegt,* dass eine Hysterie nicht nur in Einzelsymptomen erkenn-
bar ist, dann wird man sich im allgemeinen unbedingt davor hfiten
mfisseu, die Simulationsfrage zu bejaben, auch wenn man im Innersten
noch so fest davon fiberzeugt ist, dass der T&ter im erheblicben Masse
sich der Uebertreibung und Vortfiuschung schuldig gemacht hat und
wenn man auch die Frage der Zurechnungsf&higkeit unbedenklicb bejabt.
So weit allerdings darf diese Rficksichtnabme nicht ffihren, dass
man sich durch die Schwierigkeit der Beurteilung dazu bewegen lfisst,
1) Bennecke, a. a. o. S. 204.
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720 Dr. Monkemoller, Die Simulation psyohischer Krankheitszustande usw.
die Frage zu verneinen, wenn man die geistige Gesundheit anerkennen
muss. Geht der Widerwille, die Simulation uberhaupt anzuerkennen,
so weit, dann schafft nach alien Erfabrungen, die icb gemacht habe,
das Haltmachen vor den tats&chlichen Verh<nissen eine Rechtsschadi-
gung, die auch in praktischer Beziehung unbequeme Folgen haben kfinnte.
Jedenfalls ist es sehr angebracbt, dass man den Richter fiber das
Wesen der Simulation und die Scbwierigkeiten in der Beurteilung auf-
klfirt, damit nach beiden Seiten hin den Vertretem der Simulation ibr
Recht zu Teil wird.
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XXIV.
Aus der psychiatrischen and Nervenklinik der Charite in Berlin.
Einige Schlussfolgerungen aus der psychiatrischen
Krankenbewegung wahrend des Krieges 1 ).
Von
K. Bonhoeffer.
Jetzt, wo wir am-Ende des Krieges steben und 4 Kriegsjahre uber-
blicken, ist der Zeitpunkt gekommen, den Einfluss des Krieges auf die
psychiatrische Krankenbewegung zu studieren. Was uns dabei inter-
essiert, ist die Frage, deren Beantwortung schon bei fruheren Kriegen
grosse Schwierigkeiten machte und keine sichere Losung fand, ob sick
eine Zunahme, Abnahme oder em Gleichbleiben der Geisteskrankheiten
wahrend des Krieges feststellen iasst und welche Schlussfolgerungen
auf die atiologische Bedeutung der den Krieg begleitenden Schadigungen
fur den Ausbruch der Geisteskrankheiten sich ziehen lassen. Es ist
klar, dass bei einer solchen Untersuchung die grQsste Vorsicht geboten
ist, weil wahrend des Krieges eine ganze Anzahl ausserer von den Ur-
sachen der Geisteskrankheiten unabhangiger Umstande auf die Kranken¬
bewegung der Kliniken und Anstalten von Einfluss gewesen ist.
Kaum eine wesentliche Fdrderung unserer Fragestellung wird man
▼on einer Gesamtzahlung der Geisteskranken erwarten diirfen. Wenn
wir hdren, dass vom Jahre 1913 zum Jahre 1917 die Zahl der Manner
in den 5ffentlichen Anstalten Preussens von 21509 auf 22 263, also um
3,6 pCt. gestiegen ist, wahrend die Zahl der Frauen von 14227 auf
11489, also um 19 pCt. gesunken ist, so ware es verfehlt, daraus
Schlussfolgerungen derart zu ziehen, dass die Kriegserlebnisse auf die
mannliche BevOlkerung psychosenfSrdernd, auf die Frauen entgegen-
gesetzt gewirkt haben. Dass das falsch ist, ergibt sich aus der Zahlung
der grflsseren Privatanstalten, wo die M&nneraufnahmen von 3732 im
1) Vortrag in der Februarsitzung 1919 der Berliner Gesellschaft fur Psy-
•biatrie und Nervenkrankheiten.
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722
K. Bonhoeffer,
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Jahre 1917 auf 2808, also um 23 pCt. lieruntergegangen sind, wahrend
die Frauen in dem Vergleichsjahr von 2985 auf 3149 gestiegen sind,
demnach eine Zunahme um 6 pCt. erfahren baben, also das umgekehrte
Verh<nis wie in den bffentlichen Anstalten 1 ).
Es ist klar, dass bier die besondere Gestaltung ausserer Verhaltnisse
eine entscheidende Rolle gespielt hat. Dadurch, dass zahlreiche An-
staltsbetriebe durcb die Einricbtung als milit&rische Nervenlazarette eine
Umstellung erfahren baben, wurden mancherortsAufnahmebeschrankungen
fiir die burgerlicbe Bevblkerung nQtig. Das betraf in besonderem Masse
wohl die Frauenaufnahmen. Das mag eine gewisse Abwanderung der
letzteren in die Privatanstalten zur Folge gebabt haben, die vielleicht
noch durch die giinstige Gestaltung der Lohnverhaltnisse wahrend des
Erieges eine FCrderung erfahren hat. Auch die guten Erwerbsmoglich-
keiten mogen auf den Anstaltszugang von Einfluss gewesen sein, inso-
fern manche minder Konkurrenzfahige wahrend des Erieges im Er-
werbsleben geblieben sind, die sonst vielleicht^in die Anstalten ab-
geschoben worden waren. Bei der Zunahme der Manner und der Ab-
nahme der Frauen in den oflentliehen Anstalten mag die Neigung der
Heeresverwaltuog, zunachst die offeutlichen Irrenanstalten zu belegen,
Bedeutung gewonnen baben. Es kommen noch manche anderen aussereu
Umstande, die die Erankenbewegung beeinflusst haben, hinzu, auf die
ich nicht eingehen will. Auf dem Wege solcher allgemeinen Massen-
zahlung sind fruchtbare Ergebnisse fiir unsere spezielle Frage nicht zu
erwarten. Mehr hatte man sich versprechen, wenn eine alle Anstalten
umfassende, die einzelnen Erankheitskategorien differenzie-
rende Zahlung gemacht wurde, in der zum Ausdruck kame, in
welchem Prozentverhaltnis die einzelnen Erkrankungen vor dem
Eriege und wahrend desselben aufgetreten sind und in der fur
jede Anstalt gleichzeitig auch die ausseren Ursachen fur Aenderungen
der Erankenbewegung aufgefuhrt und in ihrem Einfluss abgewogen
wurden. Solche Zahlungen der hauptsachlichsten Erankheitsformen
sind in gr&sserem Dmfang bis jetzt meines Wissens nicht gemacht
worden, nur fur den Alkoholismus liegen sie aus einzelnen Eliniken
und neuerdings auf Veranlassung des Ministerium des Inneren fur
Preussen vor.
Ich lege Ihnen eine prozentuale Berechnung aus der Charite vor.
Der Bearbeitung eines solchen kleinen Materials haften natiirlich die
Mangel kleinerer Zahlen fur jede Statistik an, andererseits bietet ein
l) Die Zahlen verdanke Herrn Kollegen Beninde, vortragendem Rat im
Ministerium des Innern.
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Einige Schlussfolgerungen aus der psychiatrischen Krankenbewegang usw. 723
solcbes Material vielleicht den Vorteil sorgfaltiger und einheitlicber
Diagnosestellung. Hinsichtlich der Susseren die Krankenbewegung be-
einflussenden Faktoren liegen die Verhaltnisse der Charite uicbt un-
gunstig, weil die ausseren Umstfinde der Aufnahmeverhaltnisse sich
nicht wesentlich gegen die Friedenszeit ver'indert kaben. Wir batten
uns zwar der MilitSrverwaltung fur die Aufnahme erkrankter Soldaten
znr Verfiigung gestellt, hatten uns aber die Freiheit, aufzunehmen and
abzulehnen, vorbehalten. Dadurcb waren die fiir die Aufnahme geltenden
Gesichtspunkte nicbt wesentlich verandert. Die Frauenabteilung batte
allerdings eine Aenderung erfahren, insofern eine Abteilung fur him-
und nervenverletzte Soldaten abgesondert wurde. Dadurch ist die
absolute Zahl der zur Aufnahme gelangendeu Frauen gegenuber der
Friedenszeit herabgesetzt und dementsprechend die Prozentberecknung
grosseren Zufalligkeitsschwankungen ausgesetzt worden. Man kann bei
unserer Zusammenstellung den Einwand machen, dass die Aufnahmen
der Klinik nicht den naturlichen aus der Bevblkerung sich ergebenden
Zuwachs an psychischen Erkrankungen darstellen, sondern im gewissen
Sinne eine Auswahl fur die Zwecke der Klinik. Es ist aber zu be-
merken, dass gerade die akuten psyfchotischen Falle, also diejenigen,
die fur die Frage der Kriegsatiologie vorwiegend in Betracht kommen,
so gut wie ausnahmslos aufgenommen worden sind. Abweisungen in
starkerem Umfang fanden hdchstens bei alten Fallen, besonders auch
bei alten fortgeschrittenen Paralysen statt. Doch war dieser Brauch in
den Friedensjahren ebenso gewesen, so dass die Verhaltnisse in dieser
Hinsicht nicht geandert sind.
Die Tabelle geht vom Jahre 1913 aus. Es ware erwunscht ge¬
wesen, den Kriegsjahren auch mehrere Friedensjahre entgegenstellen
zu kbnnen. Das war aber untunlich, weil die Verschiedenheit der klassi-
fikatorischen Betrachtungsweise meines Vorgangers und der jetzt ge-
bandhabten eine einheitlicbe Verwertung des Materials vor dem
Jahre 1913 wenigstens hinsichtlich der endogenen Zustande schwierig
gestaltet hatte.
Ich babe micb bei der tabellariscben Uebersicht auf die hauptsach-
lichsten Erkrankungen beschrankt. Nicht aufgefuhrt sind die Epilepsie,
die nicht schizophrenen paranoischen und paranoiden Prozesse, diesympto-
matischen, die arteriosklerotischen, senilen, luischen Psychosen, die
sonstigen organischen Prozesse, die Rcntenbegutachtungen, die foren-
sischen und anderen Begutachtungen, die unklaren Falle. Die relatir
kleinen Zahlen, in denen ein Teil dieser Erkrankungen auftrat, liess
doch keine sicheren Schlussfolgerungen zu und bei den anderen inter-
essierte der Zusammenhang mit dem Kriege nicht. Die Epilepsie babe
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724
K. Bonhoeffer,
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ich an anderer Stelle schon besprochen 1 ). Es ist klar, dass nur grSbere
VerSnderungen in der Aufnahmeziffer Scblnssfolgerung enzulassen.
Schizo¬
phrenic
Manisch-
depressive
Erkran¬
kungen
Progressive
Paralyse
Hysterie,
Psycho¬
pathic
Alkoholis-
raus
Morphinis¬
ms,
Kokainismus
M.
Fr.
M.
Fr.
M.
Fr.
M.
Fr.
M.
Fr.
M.
Fr.
1913
7,9
18,2
2,0
6,0
13,5
6,25
12,0
15,0
12,4
3,7
0,24
0,53
1914
9,5
16,0
1,2
7,9
12,3
6,09
16,6
21,0
11,6
3,3
0,25
0,22
1915
8,8
16,0
1,6
8,5
6,0
4,6
36,0
15,7
8,9
1,9
1,06
0
1916
8,0
13,0
2,2
11,9
9,2
3,0
26,0
12,0
3,2
0
0,75
2,4
1917
7,9
16,0
1,2
4,3
8,1
4,8
25,4
20,0
1,8
0,5
0,9
0
Bei der Schizophrenie sehen Sie, dass nur geringfiigige Schwan-
kungen sowohl bei Miionern wie bei Frauen sich ergeben. Ich habe
diese Tabelle schon im vergangenen Jahre einmal in dieser Geseilschaft
bis zum Jabre 1916 reichend vorgelegt. Auch das Jabr 1917 hat sich
in demselben Rahmen gehalten, es bat sich zuf&llig sogar genau die-
selbe Prozentzahl wie im Jabre 1913 ergeben.
Bei den manisch-depressiven Erkrankungen sind auf der
M&nnerseite die Zahlen ziemlich gleich geblieben, jedenfalis ist von
einer ausgesprochenen Zunahme oder einem Ruckgang der Erkrankungen
nicht die Rede. Bemerkenswert ist die geringe absolute Zahl, in der
wir die manisch-depressiven Erkrankungen bei den M&nnern uberhaupt
auftreten sehen. Das zeigt sich auch darin, dass wahrend in Friedens-
zeit das Verhaltnis der Aufnahmen von Manisch-depressiven zu Schizo-
phrenen etwa 1 zu 4 ist, es wShrend der Mebrzahl der Kriegsjahre
sich wie 1 zu 5 Oder 1 zu 6 verh<, und wahrend im allgemeinen
die manisch-depressiven Erkrankungen bei Frauen im Durchschnitt etwa
2 bis 3 mal so haufig als bei Mann era in dem Anstaltsmaterial sich
finden, hat sich auch dieses Verhaltnis in demselben Sinne verschoben,
dass die manisch-depressiven Miinneraufnahmen nur 1 j t bis 1 / 8 der
Frauen betragen. Ich mochte mieh enthalten, daraus irgend welche
Schlussfolgerungen zu ziehen, insbesondere nicht die, dass die manisch-
depressiven Erkrankungen hier uberhaupt seltener wSren. Was ich
sonst in Poliklinik und in der Bevolkerung sehe, spricht durchaus nicht
in diesem Sinne.
Auch bei der progressiven Paralyse liegen die Verhaltnisse
so, dass jedenfalis von einer Zunahme der Paralyse in unserem Material
nicht gesprochen werden kann.
1) Diese Monatschrift. 1915. 38. Bd.
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Einige Schlussfolgerungen aus der psychiatrisohen Krankenbewegung usw. 725
Ausgesprochene Zunahmen seben wir bei der psychopathischen
Eonstitution, und zwar auf der Minnerseite. Wir sehen ein An-
steigen yon 12 auf 25 pCt., im Jahre 1915 sogar auf 36 pCt. Es bedarf
das keiner weiteren Erklining. Bald nach Kriegsbeginn wurde es ersicht-
licb, dass fur diese Eategorie der psychisch Labilen der Krieg ein
ausserordentlich anfallfdrderndes Agens geworden ist.
Als Gegenstuck sehen wir, wie der Alkoholismus von 12 pCt.
auf 1,8 pCt. im Jahre 1917 zuruckgegaugen ist, und zwar ergibt sich
deutlich ein vom Jahre 1916 ab besonders sicb steigernder Riickgang.
Im Jahre 1918 wird der Prozentsatz noch niedriger, er ist auf 0,6
heruntergegangen. Wie die Statistiken von anderwarts lehren und eine
Erhebung innerhalb Preussens, die wie ich annehme, bald bekannt ge-
geben werden wird, zeigt, bandelt es sich um eine durch das ganze
Reich gebende Erscheinung. Durch die Freundlichkeit des General-
sekretars des Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getranke, Herrn
Prof. Gonser, habe ich aus einer grossen Anzahl von Alkoholfursorge-
stellen des Reichs Berichte fiber den Alkoholismus wahrend des Krieges
bekommen. Die Jabreszuginge dieser Ffirsorgestellen, die zusammen
vor dem Erieg etwas mebr als 6000 betrugen, sind auf etwa 500, also
nm etwa 90 pCt. zuruckgegangen. Das entspricht ziemlich genau den
Zahlen, die die Erankenhausstatistik ergibt.
Von Einzelheiten, die sich aus dieser Enquete ergeben, ist bemer-
kenswert, dass Suddeutschland an der Abnahme etwas weniger Teil zu
nehmen scheint. Es erkl&rt sich das wohl daraus, dass der in Sud¬
deutschland fibliche Weinkonsum weniger stark durch die Eriegsver-
h<nisse beeinflusst worden ist, und dass die dort haufigen, kleinen Haus-
brennereien fur Fruchtschn&pse gesetzlich weniger leicht fassbar sind.
Ein zweiter Punkt ist, dass der Ruckgang des weiblichen Alkoholismus
nicht ganz Schritt halt mit dem m&nnlichen, Das war eigentlich zu
erwarten. Es ist eine alte Erfahrung, dass Frauen, wenn sie zum Alko¬
holismus gelangen, schwerere Formen zu zeigen pflegen. Sie koramen
weniger aus sozialen, als aus Grunden der endogenen psychopathischen
Anlage zum Alkoholismus. Dazu kommt nun in den Eriegszeiten das
Hereinwachsen der Frauen in die m&nnlichen Arbeits- und damit auch
Trinkgewohnheiten und dazu die geringere Toleranz der Frau gegen
Alkoholika.
Das Verschwinden des Alkoholismus ist auch noch in anderer Rich-
tung von atiologischem Interesse. Es ist eine sehr vielen Psychiateru
noch gelaufige Vorstellung, dass dem Alkoholismus auch abgesehen von
seiner atiologischen Bedeutung fur die alkobolistischen Geistesstorungen
im engeren Sinne eine erhebliche auslosende Bedeutung auch fur die
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726
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Entwicklung anderer Geistesstfirungen zukomme. Die Siemerling’sche
. Schule, speziell E. Meyer ist bekanntlick der Ansicht, dass der chro-
niscbe Alkoholmissbraucb jede Form geistiger Stfirung bervorrufen
kann. Yon Kraepelin und von den Franzosen ist versucht worden,
Grfinde daffir geltend zu machen, dass bei der Entwicklung der
progressiven Paralyse deni chroniscben Alkobolismus eine auxili&re Be-
deutung zukommt. Ware das ricbtig, so ware zu erwarten, dass sich
das jetzt, wo wir seit einigen Jahren in der Anamnese kaum mehr
etwas von Alkobolismus bfiren, in einem Rfickgang auch der nicbt
alkobolistiscb psychischen Erkrankungen anssprache. In meinem Mate¬
rial ist davon nicbts zu bemerken. Oebmig weist in seinem Dresdener
Material darauf hin, dass die alkoholistiscben Anamnesen bei semen
Geisteskranken von 310 vor dem Krieg auf 54 im Jahre 1917 zurfick-
gegangen sind, wall rend in der Aufnahmezahl der Geisteskranken sich
keine entsprechende Aenderung gezeigt babe. Sicherer wird sicb fiber
diese Frage urteilen lassen, wenn wir das Gluck haben, nocb einige
Jahre alkobolismusfrei zu sein, weil dann auch der Einwand nicbt
mehr gemacbt werden kann, dass der frfihere Alkoholismus noch
nacbwirkt.
Auch die Frage der chroniscb paranoiden A Ikoho I psychosen, deren
Existenz besonders von Kraepelin betont worden ist, wird jetzt viel-
leicht einer KlSrung entgegenzuffihren seiu. Wenn es ricbtig ist, wie
icb annehme, dass bei diesen sogenannten chronischen Alkoholpsychosen
der Alkoholismus nur eine Begleiterscheinung darstellt, die der ersten
Krankheitspbase vielleicht eine besondere F&rbung gibt, wahrend das
Wesentlicbe das endogene Moment ist, so werden diese Krankheitsfalle
auch jetzt noch unabhangig vom Alkoholabusus zur Beobachtung kommen
mfissen. Klarbeit fiber diese Punkte zu bekommen, ist im Interesse
einer scbarferen atiologischen Gruppierung der einzelnen Geisteskrank-
heiten durchaus geboten, und es ist zu boffen, dass uns die Zeit der
Zwangsnfichternheit das ermoglicbt.
Zum Schluss habe icb noch die Tabcllen des Morphinisms und
Kokainismus aulgefuhrt. Die Tatsache, dass es sich bei der Abnahme
des Alkoholismus nicht um selbstgewahlte Euthaltsamkeit, sondern
urn eine Zwangsnfichternheit handelt, lfisst daran denken, dass das
narkotische Streben in dieser einer Stimmungshebung so sehr bedfirf-
tigen Zeit andere Wege sucht. Aus der Mitteilung der Alkoholfur-
sorgestellen und auch aus eigenem Erfahren wissen wir, dass die
Nachfrage nach Hoffmannstropfen, Baldriantinktur und fibnbchem erheb-
lich gestiegen, dass der Genuss von vergfilltem Spiritus sehr zugenommen
hat. Eine wesentlicbe Bedeutung kommt dieser Quelle des Alkoholis-
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Einige Schlussfolgerungen aus der psychiatrischenKrankenbewegang usw. 727
mus aber kaum zu. Von besonderem Interesse war es zu erfahren, ob,
etwa das Morpbium oder Kokain in st&rkerem Grade an Stelle des
Alkohols getreten sei. Tats&cblich besteht ohne Zweifcl eine Zunabme
des Morphinismus. Wahrend 1913 der Prozentsatz der Morpbinisten
and Eokainisten zusammen 0,24 ansmachte, betrug er dio folgenden
Jahre das 2 bis 3 and noch mehrfache. Der Anteil bleibt aber auch
im Jahre 1917 noch unter 1 pCt. 1m Jahre 1918 ist es jetzt so, dass
die Zahl der Morphinistenaufnahmen die der Alkoholisten ganz er-
heblich ubersteigt. Wir baben unter den Aufnahmen der Mannerab-
teilung 0,6 pCt. Alkoholisten und 2 pCt. Morpbium-, bzw. Kokain-
suchtige, bei den Frauen Alkobolistinnen 0 pCt. und Morphinistinnen
4 pCt.
Die Nacbfrage bei einigen sich mit Morpbium- und Kokainent-
ziehungen beschaftigenden Sanatorien ergab eine Bestatigung dieser
Beobachtung. Eine wesentliche Steigerung, vor allem der Morpbinisten,
wird berichtet.
Dm einen Ersatz des Alkoholisraus durch diese Intoxikationen handelt
es sich aber nicht. Das ergxbt die Durchsicht der Krankengeschichten, die
in keinem Fall die Abldsung des Alkohols durch Morphium oder Kokain
zeigt. Die wesentliche Ursache fur die Zunahme liegt in der vermehr-
ten Anwendung des Morphiums, die der Krieg mit sich gebracht hat.
Schwestern, Offiziere, Soldaten sind es vor allem, die den Kreis der
Konsumenten bildem Es mag auch sein, dass die Unzulanglichkeit
und Einfdrmigkeit der Ernahrung, wie sie auch die Neigung zum Tabak-
gebraucH gesteigert hat, das Loskommen von dem urspriinglich arztlich
verordneten Morpbium erschwert bat.
Dnsere Prozentberecbnung gibt mit bemerkenswerter Anschaulich-
keit das Wesentliche der psychiatrischen Kriegserfahrungen wieder. Nur
die psychopathischen Konstitutionen einschliesslich der Hysterie und von
den Intoxikationspsychosen der Alkobolismus und Morphinismus zeigen
in ihrem zahlenmassigen Auftreten eine ins Auge fallende Aenderung.
Die Drsachen dafur liegen in den uns bekannten Kriegsverbaltnissen.
Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankungen und progressive Paralyse
sind in ihrem Haufigkeitsverhaltnis kaum verandert. Der Schluss, den
meines Erachtens auch die Individualbeobachtung ergibt, -dass bei diesem
letzteren die Kriegsverhaltnisse einen irgend welcben ausscblaggebenden
Einfluss nicht ausgeubt baben, drangt sich auf. Er wird noch zwingender
werden, wenn auch andernorts ahnliche Untersuchungen in grdsserem
Dmfang dieses Ergebnis bestatigen. Dass Kriegserlebnisse, wie Unter-
ernahrung, ErschOpfung und Emotionen keinen nachweisbaren Einfluss
auf den Ausbruch dieser Psychosen ausuben, ist nicht nur von der
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728 Bonhoeffer, Einige Schlussfolgerungen a. d. psychiatr. Krankenbeweg. usw.
bislier fast ausschiiesslich betrachteten praktischen Seite der Dienst-
besch&digungsfrage aus wichtig. Hier, kann man sagen, ist es schliess-
lich gleichgultig, ob der Milit&rfiskus oder die Gemeinde die Geistes-
kranken versorgt. Je schSrfer aber die Bedeatungslosigkeit der ge-
nannten exogenen Faktoren sich allm&hlich hervorhebt, am so ein-
dringlicher wird die Stiologische Forschung sich der Aufkl&rang der
inneren somatischea Entstehungsbedingungen dieser Psychoseo zaweoden
mussen.
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XXV.
Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Konigs
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer).
Zwei Fiille von Haarausfall nach Kopfschuss-
verletzung.
Von
Franz Pfabel,
approb. Arzt
Es ist wohl allgemein anerkannt, dass man fur diejenigen Alopezien
beim Menschen, deren Aetiologie unbekannt ist, nicht eine einheitliche
Krankheitsursache annehmen kann. Wahrscheinlich ist es, dass es unter
diesen eine Alopezie (und zwar eine Alopecia areata) gibt, die einen
parasit&ren Ursprung hat. Trennt man aber diese F&lle ab, so findet
man in der Literatur die verschiedensten Theorien zur Erkl&rung der
Entstehung der ubrigen Alopezien. Zwei eigenartige F&lle von Alopezie
nach Kopfschussverletzung, die ich aus der hiesigen Rlinik mitteilen
mOchte, geben Veranlassung, auch auf die Entstebungsbedingungen der
Alopezien allgemein einzugehen *)•
Fall 1. 26jahriger Trainfahrer W., im jfrvilberuf Maler, unverheiratet.
Mutter uud Vater des Pat. sollen nervos gewesen sein. Eine Schwester der
Mutter befindet sich in einer Nerrenheilanstalt. In der Sehule hat W. gut ge-
lemt, im Alkoholgenuss ist er massig gewesen. Keine Gesohlechtskrankheiten.
1910 will er 3 Monate an teiner Bleivergiftung krank gelegen haben. Am
17. 8. 1914 trat er als Kriegsfreiwilliger ins Beer ein und riickte anfangs des
Jahres 1915 ins Feld. Am 3. 11. 1916 wurde er durch Minensplitter an der
rechten Kopfseite und am linken Fusse verwundet. Er will etwa 3 Stunden
nach der Verwundung bewusslos gewesen sein. Blutaustritt aus Nase und
Mund hat er nicht bemerkt, jedoch hat er mehrmals erbrochen. Lahmungs-
ersoheinungen haben nie bestanden. Am 13.11. wurde eine Revision derKopf-
wunde vorgenommen. In den ersten Woohen nach der Verwundung
begannen dem Pat. die Haare auszugehen. Es traten kreisformige,
kahle Stellen auf, die aUmahlich konfluierten. Nach 6 Wochen war der Kopf
vollig kahl. In weiteren 6 Wochen verlor W. auch die Barthaare und die
ubrigen Haare des Korpers. Nur in den Achselhohlen blieben wenige Haare
stehen. In den naohsten Monaten traten am Bauch und am Riioken weisse
Flecken auf. Wahrend dieser ganzen Zeit bestanden dumpfe Kopfschmerzen,
1) cf. Demonstration der Falle im Ver. f. wissensch. Heilkunde durch
A. Pelz. Deutsche med. Woohenschr. 1918. Nr. 29.
▲rehiv t. Psyebiatrie. Bd. 60. Heft 2/3. ±~
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Franz Pfabel,
die zeitweise exazerbierten, nnd ein Zncken von derWnnde nach der Stirne za.
Am 1.2.1917 wnrde er za seinem Ersatztrappenteil entlassen nnd tat leichten
Dienst bis znm Beginn des Jahres 1918. Nach mehrmaliger Untersnchnng anf
der Kopfsohnssstation des Festnngsbilfslazaretts I in Kdnigsberg i. Pr. wnrde
er am 26. 2. in die Psychiatriscbe and Nervenklinik aafgenommen.
Befund vom 26. 2. Gat entwickelter Mann. Hor- and Sehfahigkeit
normal. Keine Geschmacks- and Geraohsstdrangen. Organe der Brast- und
Leibeshohle ohne krankhaften Befund. Pals regelmassig, 72 in der Minute.
Hoden von normaler Grosse, in richtiger Lage. Vor nnd fiber dem rechten Ohr
befindet sich eine 4 om lange, verschiebliche, etwas drnckempfindliche Narbe.
Eine Rontgenaufnahme des Scbadels lasst keine Knochenverletzang erkennen.
Yollkommenes Fehlen der Haare anf dem Kopf, der Aagenbranen, der Bart-
haare in Kinn-, Wangen- and Lippengegend. Aach am ganzen fibrigen Korper,
anf der Brast und in der Sohamgegend fehlen die Haare, nar in den Achsel-
hohlen fin den sich einzelne, blonde, lange Haare. Aaf dem Kopf sieht man
fleckweise ganz feine weisse Lanngohaare, ebenso in der Branengegend. Sonst
zeigt die Haut des Kopfes normaleBeschaffenheit. In der rechtenLeistengegend
befindet sich ein 8 cm langer, 3 cm breiter weisser Vitiligofleck mit konvexem
Rand, ausserdem 4 kleinere Flecke von anregelmassiger Form. In der linken
Leistengegend sieht man einen fast rnnden weissen Fleck, angefahr von 5Mark-
stfickgrosse. In der Umgebang 5 kleinere, etwa ovale Flecke. Die Vorderseite
des Hodensackes wird von einem grossen, weissen Fleok eingenommen. In der
Kreazbeingegend befindet sich ein weiterer ovaler weisser Fleck, der 10 cm
lang, 2 cm breit ist, darfiber mehrere kleinere unregelmassige Flecke. Die
Umgebang der Flecken ist etwas pigmentreicher als die fibrige Haut. Sonst
zeigt die Haut an den Vitiligoflecken normale Beschaffenheit. An dem linken
inneren Fassknochel befindet sich eine kleine verschiebliche Narbe.
DieUntersachang desNervensystems ergibt: Pupillen reagieren auf Lioht-
einfall and Konvergenz, die Augenbewegangen sind frei, der Konjnnktival- and
Kornealreflex ist vorhanden, ebenso der Rachenreflox. Die Hirnnerven sind
samtlich intakt. Die Reflexe der oberen Extremitaten sind vorhanden. Knie-
sehnenreflex and Achillessehnenreflex sind lebhaft. Kein Fassklonas, kein
Babinski. Abdominal- and Kremasterreflex sind vorhanden. Die Motilitat der
Arme nnd Beine ist frei. Jedoch besteht eine allgemeine Kraftlosigkeit der
Maskelleistang. Romberg negativ. Berfihrangs-, Schmerz-, Temperatar- nnd
Tiefensensibilitat ist am ganzen Korper ohne Abweiohung von der Norm.
Das geschlechtliche Verlangen soli seit der Verwundung erheblich ab-
gesohwacht sein. Zuweilen Erektionen morgens, Pollationen alle 14 Tage bis
3 Wochen. Fast daaernd dampfe Kopfschmerzen, die zeitweise exazerbieren,
ofters Stechen am die Angen heram. Zuckangen von der Wnnde aas nach der
Stirn werden empfanden. Im psychischen Verhalten keine auffalligen Er-
scheinnngen.
Fall 2 . Flieger Sm., im Zivilberaf Sohlosser. Will auf der Schale gut
gelernt haben. 1912 soli er an einem Langenspitzenkatarrh gelitten haben.
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Zwei Falle von Haaransfall nach Kopfschussverletzung. 731
Potas and venerische Krankheiten warden negiert. Im November 1915 wnrde
er eingezogen. Ab Januar 1916 lag er 2 Monate wegen eines Kehlkopfkatarrhs
im Lazarett. April kam er ins Feld nnd wnrde im September durch einen
Granatsplitter an der Stirne verwnndet. Er will 12Tage nach derVerwnndnng
bewosstlos gewesen sein. Keine Sprachstornngen, keine Lahmungen traten anf,
nor zeitweise Schwindelgefuhl und Kopfschmerzen. Nach 2 Uonaten wnrde er
ans der Lazarettbehandlung entlassen nnd im Jannar 1917 zn den Fliegern
versetzt. Im September bemerkte er ein tanbes Gefhhl in der Stirngegend,
dfters litt er nnter Kopfschmerzen. Die Kopfhaare begannen ihm allmahlich
strichweise ansznfallen. Am 12. 12. meldete er sich krank nnd kam zunaohst
in ein Kriegslazarett in Mitan, dann nach Liban. Er wnrde dort mit Elektri-
sieren des Kopfes nnd wegen seiner Sohlaflosigkeit mitSchlafmitteln behandelt.
Hit Lazarettzng kam er in die hiesige psychiatrische nnd Nervenklinik.
Befnnd vom 12. 2. 1918. 1,65 m grosser Mann von kraftigem Korperbau,
got ansgebildeter Mnsknlatnr nnd genhgendem Fettpolster. In der Medianebene
der Stirn befindet sich eine 5 cm lange, got verheilte, blasse, verschiebliche
Narbe. Einige Zahne in Ober- und Untorkiefer sind karios. An den seitlichen
nnd hinteren Partien des behaarten Kopfes befinden sich 7 langliche, kahle
Stellen. Sie haben fast alle eine nngefahr ovale Form, einige sind fast streifen-
formig. Der Uebergang in die behaarten Stellen ist ein allmahliober. Die
Hant zeigt an den kahlen Stellen normales Aussehen und normale Spannnng.
An den Organen der Brust- nnd Lejbeshohle lassen sich keine krankhaften
Erscheinnngen nachweisen. Hoden von normaler Grosse, in richtiger Lage.
DieUntersnohnng desNervensystems ergibt: Pnpillen mittelweit, reagieren
anf Lichteinfall nnd Konvergenz gut. Lidflattern. Konjunktival- nnd Korneal-
reflex vorhanden, dbenso der Raohenreflex. Reflexe der oberen Extremitaten
prompt anslosbar. Kniesehnen- nnd Achillessehnenreflex sehr lebhaft. Ab¬
dominal* nnd Kremasterreflex vorhanden. Kein Patellar- nnd Fnssklonns.
Babinski nnd Oppenheim nicht vorhanden. Starkes vasomotorisohes Nachroten.
Motilitat der Extremitaten frei. Keine Ataxie, kein Tremor. Bei Lidfnsssohlnss
psychogenes Schwanken. Sensibilitat intakt.
Kopfschmerzen werden geklagt. Libido soli wesentlich nachgelassen
haben. Keine morgendlichen Erektionen. (Beim Koitns habe der Samen
keinen Drock.)
Wenn wir die angefuhrten Falle in vorhandene Einteilungen von
Alopezien einzufugen suchen, kOnnen wir zunSchst mit ziemlicher Sicher-
heit sagen, dass das Trauma, also hier die Kopfschussverletzung.
mit der Alopezie in Zusammenh'ang gebracht werden muss,
Beim ersten Fall begann die Alopezie unmittelbar nach dem Trauma
aufzutreten, beim zweiten allerdings erst nach ungefahr einem Jahr.
Trotzdem werden wir auch diesen Fall nnter die traumatischen Alope¬
zien rechnen mussen, denn das Krankheitsbild stimmt ganz mit dem
einer traumatischen neurotischen Alopezie uberein, wie wir es unten
beschreiben werden. Nach dem geschilderten Krankheitsverlaufe mussen
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wir das Trauma fur ziemlich erheblich balten. Es wird in beiden
Fallen eine Gehirnerschutterung vorgelegen haben. Micheisan gab als
erster eine gute Einteilung der Alopezien. Er trennte von der Alopecia
areata die Alopecia neurotica ab und bracbte diese letzjere in folgendes
Schema:
Neurotische Alopezien
1. nach traumatischen Affektioneu des Zerebrums oder des peri-
pheren Nervensystems,
2. nach inneren Erkrankungen des Nervensystems.
Die Alopecia areata kann man nach dem klinischen Bilde von der
Alopecia neurotica abtrennen. Pohlmann beschreibt in seinen „Bei-
tragen zur Aetiologie der Alopecia arpata“ eingebend das Bild der
Alopecia areata. Er versteht unter Alopecia areata diejenige Form des
Haarausfalls, bei der inmitten der behaarten Regionen kreisfdrmige,
scharf konturierte, blasse, glatte, haarlose Scheiben auftreten, die lange
isoliert bleiben kdnnen, meistens aber durch fortdauernde Randver-
grdsserungen und das sprungweise Auftreten neuer Flecken zur Kon-
fluenz gelangen und so gelegentlich zu mehr oder minder allgemeiner
Kablheit fuhren. Die Kopfhaut an und fur sich bleibt bei der Alopecia
areata absolut normal. Sekundare Krankbeitsprodukte wie Scbuppen,
Krusten, Blaschen, Follikulitiden oder Narben fehlen vollst&ndig. Cha-
rakteristisch ist ferner, dass, so lange die Erkrankung fortschreitet, die
Haare der dem kahlen Fleck unmittelbar angrenzenden Zone gelockert
sind und durch leisesten Zug ohne abzubrechen epiliert werden k5nnen.
Die Haare selbst sind meist normal, gelegentlich findet man glatte,
nach der Wurzel zu diinner werdende, Ausrufungszeichen ahnliche Haar-
stiimpfe, welche den Rand der kahlen Flecke umsaumen. Berucksichtigt
man weiter den launenhaften Verlauf, die oft sprungweise und uber-
raschende Zeilung der Afifektion, den negativen histologiscben und
bakteriologischen Befund, so kann man die Alopecia areata als Krank-
heitsbild sui generis von fast alien anderen mit Alopezien einhergehen-
den Erkrankungen trennen. 1m Gegensatz hierzu findet man bei der
Alopecia neurotica unregelm&ssige (strichformige, dreieckige, landkarten-
fdrmige) kahle Stellen. Der Uebergang in die behaarten Stellen ist
ein ganz allm&hlicher. Michelson erwkhnt ausserdem noch als cha-
rakteristisch den azyklischen Verlauf, das Vorkommen von Lanugohaaren,
die nicht seltene Kombination mit Verf&rbung der gesund gebliebenen
Haarbezirke.
Vergleichen wir unsem zweiten Fall mit diesen Krankheitsbildem,
so ist es unschwer zu erkennen, dass er unter die neurotischen Alopezien
eingereiht werden muss. Denn wir linden hier unregelm&ssige, raanch-
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Zwei Faile von Haarausfall nach Kopfschussverletzung. 733
mal strichformige, kahle Stellen, allmfihlichen Uebergang zu den be-
haarten Zonen. Nach der Michelson’schen Einteilung wfirde also
dieser Fall unter „die neurotischen Alopezien nach traumatischen
Affektionen des Zerebrums" einzureihen sein. ■
Die Michelson’sche Einteilung der neurotischen Alopezien ist aber
nicht vollstfindig. Joseph hat in seinem Lehrbuch der Haarkrankheiten
eine dritte Kategorie hinzugeffigt, in die er die im Anschluss an Ge-
mfitserregungen auftretenden Alopezien einreibt. Rock hat in seinem
„Beitrag zur Kenntnis der Alopecia neurotica 11 12 solcher Faile zu-
sammengestellt und einen 13. neu beschrieben, in denen Alopezien nach
Schreck Oder anderen Gemutserschutterungen auftraten. Ausser den
wahrecheinlich parasitaren Alopezien, die immer als kreisffirmige auf-
treten, gibt es noch eine Art von Alopecia areata, die ohne besondere
Veranlassung bei sonst gesunden Menschen. auftritt und deren Ent-
stebungsursache vfillig unbekannt ist.
Ueberseben wir noch einmal die Einteilung, so gibt es also:
1. eine Alopecia areata unbekannten Ursprungs,
II. eine Alopecia areata, wahrscheinlich parasitaren Ursprungs,
III. eine Alopecia neurotica
1. nach traumatischen Affektionen des Zerebrums und der
peripheren Nerven,
2. nacb inneren Erkrankungen des Nervensystems,
8. nach Gemutserschutterungen.
Diese Einteilung, die zwar nichts Naheres fiber die pathologiseh-
histologischen VorgSnge bei der Entstehung aussagt, ware doch einiger-
massen befriedigend, wenn es nun nicbt Faile von neurotischen Alopezien
gibe, die das Symptomenbild einer typischen Alopecia areata zeigen.
Einen charakteristischen Fall hat Pfihlmann beobachtet. Nach einer
vdlligen Erscbfipfung in einem Schneesturm bei einer Bergbesteigung
bekam ein 34jahriger Maler vom 5. Tage ab Ausfall und stellenweises
Ergrauen der Kopf- und Barthaare. Sftmtliche haarlose Flecke im
Kopf- und Bartbaar waren von rundlicber Form und scharf begrenzt.
Die Haut selbst war blass, glatt, frei von alien entzfindlichen Verfinde-
rungen Oder irgend welchen Auflagerungen. Die Sensibilit&t war intakt.
Die Haare in der Umgebung der kablen Flecke waren zum Teil ergraut,
folgten leisem Pinzettenzug, ohne abzubrechen. Sie zeigten filters die
Form des Ausrufungszeichens, anderweitige anatomische Veranderungen
des Haares konnten bei fifters ausgeffibrter mikroskopischer Untersuchung
nicht festgestellt werden. Die ganze Affektion, sowobl der kreisffirmige
Haarausfall wie das Ergrauen war stets streng halbseitig, nur auf die
rechte Kopfhfilfte beschrfinkt. Das Symptomenbild ist hier also das
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einer typischen Alopecia areata. Die Art dee Entstehens, vielleicht
auch das Auftreten grauer Haare in der Umgebung der Flecke sprecben
fur eine Alopecia neurotica. Pdhlmann hilft sicb, indem er das Leiden
„Alopecia areata neurotica 11 nennt. Einen weiteren Fall hatPohlmann
1915 verdffentlicht. Nach einer Schussverletzung des Armes traten
kreisfdrmige, kahle Stellen auf dem Kopfe auf.
Auch unsern ersten Fall muss man als Alopecia areata neurotica
bezeichnen. Wahrend unserer Beobachtung bat zwar kein kreisformiger
Haarausfall bestanden, Patient gab jedoch mit Sicherheit an, dass zu-
n&chst kreisfdrmige Herde bestanden, die sp&ter konfluierten. Es handelt
sich also um eine Alopecia areata neurotica nach Trauma. (Pdhlmann
schlug vor, mit der Diagnose Alopecia traumatica alle diejenigen Fille
zu belegen, bei denen im Anschluss an ein bekanntes Trauma Haaraus¬
fall gleichviel welcher Art sich eingestellt hat; dagegen die Diagnose
Alopecia neurotica fur die F&lle zu reservieren, bei denen Haarausfall
im Gefolge lokaler oder allgemeiner Nervenleiden oder bei besonders
disponierten Personen nach einem psychischen Shock eingetreten ist.
Wir halten es fur zweckmMssig, im Sinne der Michelson’schen Ein-
teilung die Bezeichnung Alopecia neurotica als zusammenfassenden Be-
griff zu gebrauchen, von der die Alopecia traumatica eine Unterab-
teilung ist.)
Wir seben aus diesen Fallen, dass es unzulAnglicb ist, bei der
Einteilung auf das klinische Symptomenbild einen so ausscblaggeben-
den Wert zu legen. Die Einteilung muss auf den pathologisch-histo-
logLschen VorgSngen bei der Entstehung des Krankheitsbildee sich auf-
bauen. Die verschiedensten Autoren haben sicb schon um die Er-
forscbung dieser Vorg&nge berauht. Durch experimentelle oder mikro-
skopisch-histologische Untersuchungen ist man nicht vorw&rts gekommen
und es ist bei Hypotbesen geblieben, die s&mtlich nicht unangefocbten
sind. Nur die Hypothese, die fur gewisse kreisfdrmige Alopezien eine
parasit&re Entstehung annimmt, ist wohl, wie ich schon anfangs er-
w&hnte, fast allgemein anerkannt. Man glaubt n&mlich, die F&lle von
Alopecia areata, wo dieselbe in Epidemien auftritt, nur durch die An-
nahme einer mittelbaren oder unmittelbaren Uebertragung eines Kon-
tagiums erklaren zu kdnnen. Die bekannteste Epidemic ist wohl eine
im Jahre 1904 von Th. Mayer beschriebene, die unter der Schutzmann-
scbaft Berlins um sich griff. Von 35 Polizeimannschaften eines Reviers
erkrankten 12, die s&mtlich demselben Wacbbezirk angehdrten. Sie
benutzten in ihrem Wachlokal nacheinander dieselben Betten. Die
einzige befriedigende Erklirung ist hier die Uebertragung eines Ron-
tagiums, dessen Entwickelung und Infektiosit&t vielleicht durch die
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Original fro-m
CORNELL UNIVER5WY -
Zwei Palle von Haarausfall nach Kopfschussverletzung. 735
Bettw&rme begunstigt wurde. Aber auch hier ban del t es sich nor um
eine Hypothese, denn der Pilzbefund und das Tierexperiment fehlen.
Von den weiteren Hypothesen, die zur Erklarung der Alopezien
aufgestellt sind, ware zun&chst eine altere und zwar die „tropho-
neurotische Theorie“ zu erwahnen, die bereits von Barensprung
verfocbten wurde. Als Stutze dieser Theorie wird das Experiment
Joseph’s angefuhrt. Joseph schnitt das zweite Spinalganglion bei
Katzen aus und erzielte dadurcb herdfbrmige Alopezien an bestimmten
Stellen des Kopfes. Joseph selbst trat unter Bezugnahme auf dies
Experiment fur die trophoneurotische Natur der Alopecia areata ein.
Er nahm an, dass durcb sein Experiment die Existenz bestimmter
trophischer Fasern erwiesen sei, durch deren Zerstorung der Haarausfall
eintrete. Kflster prufte das Joseph’sche Experiment nacb und konnte
es bestatigen, jedoch tritt der Haarausfall durcbaus nicht regelm&ssig
adf und wird durch Scheuern der Katzen an den Kafigwanden begunstigt.
K os ter glaubte, dass es zur Erklarung durchaus nicht n&tig sei, die
Existenz bestimmter trophischer Nervenfasern anzunehmen. Die Stbrungen
lassen sich nach seiner Meinung in befriedigender Weise erklaren, wenn
man den sensiblen Nervenfasern eine allgemein trophische Funktion zu-
schreibt. Wenn gewisse Hautstellen nicht mehr unter dem Einflusse
der ihre voile Lebensenergie und Sensibilitat aufrechterhaltenden Nerven
stehen, so sind sie widerstandsloser gegen Traumen geworden und bei
sonst ganz bedeutungslosen Reizen k&nnen sich „trophische“ Stdrungen
entwickeln. Eine Anzabl von Alopezien ist nun sicher auf dieselbe Art
entstanden wie im Joseph’scben Experiment, durch Nervenverletzungen.
Ich will nur 2 Beispiele anfubren: Re my schildert einen Fall, in dem
nach Resektion eines 1 cm langen Stuckes des Nervus frontalis sich
Haarausfall einstellte. Pantoppidan sah kreisfdrmigen Haarausfall
nach Exstirpation eines Drusentumors in der Karotisgegend, der obere
Zervikalnerv war bei der Operation verletzt worden.
Jedoch ist das nur ein kleiner Teil der Alopezien, die man auf
diese Weise erklaren kann, eben diejenigen, die nach Verletzung eines
peripheren Nerven auftreten.
Pbhlmann und auch Rock glaubeta, dass man auch bei Alopezien,
die nach Commotio cerebri auftreten, anatomische Veranderungen im
Zentralnervensystem als ursachliches Moment annehmen muss. Stutzen
wollen sie diese Annahme dadurcb, dass Schmaus und Skagliosi
tatsachlich bei Erschutterung des Gehirns und des Ruckenmarks mikro-
skopiscb nachweisbare Schadigungen des Gehirns nachweisen konnten.
Sind Kdster’s Anscbauungen richtig, dass es keine besondere trophi-
schen Nervenfasern gibt, sondern dass der Haarausfall durch Verletzung
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der sensiblen Nerven (oder hier Nervenzentren) hervorgerufen wird, 60
miissten sich in alien diesen Fallen von Haarausfall nach Commotio
cerebri entsprechende Stdrnngen der Sensibilitat nachweisen lassen. In
unsern beiden Fallen ist davon aber nickts nachweisbar. Nock mekr
sprecken gegen diese Anffassung Fade von Ergrauen der Haare und
Pigmentschwund der Haut nach Commotio cerebri, die Goldscbeider
1917 ver5ffentlicht hat. In einem Fall waren als Folgen ciner Gehim-
erschutterang neben Herabsetzung des GeruchsvermSgens und anderen
Erscheinungen die Sensibilitat der recbten Gesichts- und KOrperh&lfte
herabgesetzt. Dennoch fand sich das Ergrauen der Haare und der
Pigmentschwund vdllig symmetrisch auf beiden KOrperhalften.
Goldmann sucht diesen und einige andere Falle nun auch nicht
durck die StSrung sensibler Zentren, sondern durch die Lasion des
Va8omotorenzentrums im verlangerten Hark und des Sympathikus
zu erklaren. Gegen diese Ansckaunng spricbt aber, dass im Tier-,
experiment nach Lasion des Vasomotorenzentrams tiefer gelegene Zentren
im Ruckenmark die Funktion ubernehmen. Aber vielleicht liegt dock
dieser Anschauung etwas Richtiges zugrunde, nur dass wobl die aus-
giebigere Wirkung auf das sympathische Nervensystem durch
Beeinflussung der inneren Sekretion und zwar der Hypophysen-
sekretion durch das Trauma hervorgerufen wird. Wir kommen spater
hierauf zuruck.
Kurz wollen wir noch Jaquet’s Theorie zur Erklarung der Alopecia
areata anfuhren. Er will den meisten Fallen einen Reizzustand der
Zahne zugrunde legen. Nach Head’s Zahnschema gehort aber zu
jedem Zakn eine bestimmte Empfindlichkeitszone. Auf diese ent¬
sprechende Zone musste bei Erkrankung eines Zahnes der Haarausfall
besckrankt sein. Dies ist aber nach Bettmann’s Beobachtungen durch-
aus nicht der FalL Pohlmann meint, dass gegen Jaquet’s Theorie
auch der Umstand spricht, dass im Verhaltnis zu der grossen Zahl von
Zahnerkranknngen doch die Alopecia areata selten vorkommt.
Alle diese Hypothesen beziehen sich auf Nummer 1 der Michel-
son-Joseph’schen Einteilung „nenrotische Alopezien nach tranmatisclien
Affektionen des Gehirns oder der peripheren Nerven.“ Fur die Alo-
zepien nach Gemutserregungen stellt Pfihlmann in Uebereinstimmung
mit Wecbselmann folgende Hypothese auf: Er glaubt, dass kaum
anatomische Ver&nderungen im Zentralnervensystem in solchen Fallen
anzunehmen sind.'j Der Schreck bewirkt aber vasomotorische St6-
rungen und zwar eine spastische Kontraktion der kleineren Arterien,
die auch fur das Gefuhl sich durch blitzartig auftretende Par&sthesien
bemerkbar macht. Eine solche, wenn auch vorubergehende Arterien-
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Zwei Falls von Haar&usfall nach Kopfschussverleizung.
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kontraktion soil nun den Stoffwechsel des Haares stfiren und den Haar-
ausfall [bewirken, zumal da das Haar nur durch wenige rait voller
Lebensenergie erfullte Zellen mit dem Edrper verbunden ist. Auch sei
es ja bekannt, dass das Haar fiberhaupt sebr empfindlich gegen Anfimie
sei, da ein einmaliger grfisserer Blutverlust (Menorrhagie, Abort, Partus)
bHufig Haarausfall nach sich ziehe. Der Haarausfall ist also nach dieser
Hypothese eine Folge der Anfimie, die durch Kontraktion der kleinern
Geffisse infolge des psychischen Traumas entsteht. Diese Kontraktion
muss aber doch durch eine Reizung der Geffissnerven hervorgerufen
sein. Und zwar muss doch das psycbische Trauma an einer zentralen
Stelle eipwirken, von der der Reiz weitergeleitet wird. Wir sehen, dass
diese Hypothese Berfihrungspunkte mit der Anschauung Goldmann’s
hat. Nur kann Goldmann nach den Gehirnerschfitterungen anato-
mische Verfinderungen annehmen, wfihrend bei dem Haarausfall nach
Gemfitserregungen Rock, unserer Meinung nach mit Recht, einwendet,
dass sich in dem Tatsachenmaterial der Pathologic hierfur keine Analogic
finden dfirfte, da ja das die Alopezie ausldsende Trauma gegenfiber der
Dauer der bleibendeu Haarlosigkeit verschwindend kurz ware. Noch
einen Einwand kann man erheben. Der Haarausfall tritt in alien Fallen
erst einige Tage nach der Gemfitserregung auf, wenn das psychische
Trauma schou langst vorfiber ist. Poblmann sucht diesen Einwand
in seiner Arbeit vom Jahre 1915 dadurcb zu entkraften, dass er sagt,
es kSnne sich um einen ahnlichen Vorgang handeln, wie Kreibich ibn
als Spfitreflex beschrieben habe.
Buschke und nach ihm Bettmann ist es gelungen, durch Ver-
fattening von Thallium beziehungsweise Abrin bei Tieren areata-
abnliche Alopezien hervorzurufen. Bettmann stellte sogar aufbauend
auf diese Versuche eine Intoxikationstheorie der Alopecia areata beim
MetfSchen auf. Buschke glaubte dagegen, dass man auf diese Versuche
noch keine Theorie der Alopezie grfinden kbnne. Pohlmann konnte
durch Nachuntersuchungen die Resultate dieser Autoren bestatigen.
Durch spektralanalytische Untersuchungen der einzelnen Orgaue suchte
er Anhaltspunkte fiber die Verteilung des Medikaments im TierkOrper
zu gewinnen, fand aber Thallium ausschliesslich in den Nieren.
Die Beobachtung, dass gewisse StOrungen der Hypophysen-
funktion mit Haarausfall verbunden sind, legte es nahe, auch bei
unsern oben beschriebenen Fallen an eine Beeinflussung der Funktion
der Hypophyse durch das Trauma zu denken. Es ist bekannt, dass
man den Vorderlappen und den Mittellappen der Hypophyse als Drfisen
mit innerer Sekretion anspricbt, von denen jede ihr besonderes Hormon
sezerniert. Biedl berichtet fiber eine grosse Auzahl von eigenen und
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Franz Pfabel,
fremden Tierversuchen, bei denen Teile des Vorderdriisenlappens entfernt
wurden. Es fanden sicli als Folge der Exstirpation neben Fettanh&u-
fungen und Verfettung der inneren Organe, Zuruckbleiben im Wachstum,
Anomalie und Fehlen der Behaarong, Hypoplasie der Genitalien. Biedl
meint, dass mit Sicherheit nur die Wachstumshemmung (darunter sind
auch die Anomalien der Behaarong verstanden) mit dem Fehlen des
Vordcrlappengewebes in Zusammenhaug gebracht werden kann, obwohl
man zun&chst geneigt ware, den ganzen Symptomenkomplex anf den
Ausfall des Vorderlappens zu beziehen.
Wir wolletf jetzt sehen, bei welcher Art von Hypophysen-
erkrankungen des Menschen Haarausfall vorkommt. Zuu&cbst ist
bei Fallen von Zwergwucbs, die auf Hypophysencrkrankungen beruhen,
Storungen des Haarwuchses eine gewOhnliche Begleiterscbeinung. Einen
instruktiven Fall zeigte Spriuzel in der Gesellschaft der Aerzte in
Wien. Ein 17jahriger, intelligenter jnnger Mann, der im 3. Lebens-
jahre einen Sturz erlitten batte, bdrte vom 5. Lebensjahre auf zu
wachsen. Er zeigte eine Kdrperl&nge von 106 cm and proportionierten,
kindlichen ROrperbau. Die Turkensattelgrube erschien r&ntgenologisch
vergrdssert. Neben Vermehrnng der Urinmenge auf 3500—4000 ccm
und Dekoloration der Papille im ophthalmoskopischen Bild bei normaler
Sehsch&rfe zeigte sich vSlliges Fehlen der Behaarung am ganzen R5rper.
Die Haut war auffallend trocken, die Schweisssekretion feblte. Biedl
fasst den Fall so auf, dass ein im Anschluss an das Trauma im Turken-
sattel entstandener Tumor mit geringer Wacbstumstendenz durch seinen
Druck eine starke Funktionseinschr&nkung des Hypophysenvorderlappens
und auf diese Weise die WachstumsstOrung und das Fehlen der Be¬
haarung bedingt habe. Das Symptom der Polyurie weise darauf hin,
dass gleichzeitig eine Deberfunktion des Mittellappens bestehe. Zwei
weitere Falle von Zwergwucbs fuhrt Biedl an, bei denen klinische
Zeicben eines Hypophysentumors (bitemporale Hemianopsie, beiderseitige
Optikusatrophie) bestanden. Auch in diesen beiden Fallen war der
Rtirper unbehaart. Es gibt aber auch Falle von Hypophysentumor ohne
Zwergenwuchs, bei denen ebenfalls Haarausfall eintritt. Einen solchen
beschreibt Schloffer. Im Jabre 1900 begann das Leiden im 23. Le¬
bensjahre mit anhaltenden Eopfschmerzen. Im Jahre darauf begannen
die Kopfhaare auszugehen, spater die Haare am ubrigen KSrper. Die
Potenz litt im Verlauf der Krankheit; zuerst fehlte die Libido sexualis,
seit 1906 auch die Erektion. Eine allgemeine Kraftlosigkeit der
Muskelleistung entstand allmahlich. Im Jahre 1907 nahm Sohloffer
wegen des Eintritts einer bitemporalen Hemianopsie und wegen der
starken Eopfschmerzen eine Operation vor. Ein Toil des Tumors wurde
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Zwei Falle von Haarausfall nach Kopfschussverletzong.
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entfernt und erwies sich als Adenom. Nach wesentlicher Besserung des
Zustandes, vor allem AufhSren der Kopfschmerzen, kam der Patient
pldtzlich nach 2 1 j 2 Monaten zum Exitus. Die Sektion zeigte einen
grossen Tumor der Hypophyse, der in das Gebiet des Foramen Monroi
and darch das Genu corporis callosi gedrungen war und dadurch zu
chronischem Hydrocephalus internus gefubrt batte. Ausserdem bestand
AnSmie nnd Oedem des Gehirns, Hypoplasie der Hoden. Wir miissen
annehmen, dass es sich in diesem Fall um einen Hypophysentumor
handelte, der vom Vorderlappen ausging. Die Zellen des Tumors
werden nicht spezifisck sezerniert, sondern die Funktion des Vorder-
lappens gest6rt haben, denn bei Hyperfunktion des Vorderlappens in-
folge spezifiscber Sekretion eines Vorderlappentumors kommt es zu
Akromegalie, die meist von Hypertrichosis begleitet ist.
Aus den Tierexperimenten und den Erscheinungen bei Hypophysen-
erkrankungen des Menschen, kann man also mit einiger Sicherbeit
schliessen, dass die Funktion des Vorderdrusenlappens der
Hypophyse wie fiberhaupt zum Wachstum des Kdrpers auch in
inniger Beziehung zum Haarwuchs steht. Und zwar kommt es
bei einer Hyposekretion des Hormons zur Hemmung des Haarwuchses,
bei Hypersekretion zu Hypertrichosis.
Kommen wir nun auf nnsere Falle zurfick, so sehen wir, dass
unser erster Fall verscbiedene Beziehungen zu dem von Schloffer
beschriebenen Fall hat. In Schloffer’s und in unserem Fall findet
sich das fast v5llige Feblen der Behaarung, die Rraftlosigkeit der
Muskelleistung und das Fehlen der Libido sexualis. Es fehlen aber in
nnserm Fall die durch den Tumor als Fremdkdrper bedingten Erschei¬
nungen, so die Hemianopsie.
Vielleicht kOnnen wir aber auch in unserm Falle eine Schadigung der
Funktion des Hypopbysenvorderlappens annehmen. Es mag diese
Anffassung auf den ersten Blick gesucht erscheinen, doch gibt es einen
ahnlichen Vorgang in der Pathologie, bei dem durch ein Trauma eine
Stdrung der innerenSekretion hervorgerufen wird. Esistdies dieGlykosurie
nach Zuckerstich. Durch den Zuckerstich wird nach Kahn ein zentraler
Reiz ausgeldst, der auf dem Wege des syropathischen Nervensystems eine
abnorme Adrenalinsek retion in der M arksubstanz der Nebennieren hervorruft.
Durch den Ueberschuss an Adrenalin, der ins Blut gelangt, steigt der
Znckertonus d. h. die Konzentration des Zuckers im Blute und ffihrt
zur Hyperglykamie, welche von einer Glykosurie gefolgt ist. Aber noch
weiter geht die Analogic. Es ist zum Auftreten der Glykosurie nicht
eine experimenteiie Verletzung am Boden des vierten Ventrikels ndtig,
auch nach Gehirntraumen tritt afters Glykosurie auf.
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740 Franz Pfabel,
Der Unterschied besteht nur darin, dass hier der Reiz ausl&send
auf die innere Sekretion wirkt, wahrend er in unserm Falle bemmend
wirken musste. Vielleicht druckt sich liierin ein Antagonismus des
sympathischen und parasympathischen Nervensystems aus, der Art, dass
in unserem Falle das parasympathische Nervensystem geschadigt war.
Wir seheo, dass wir uns hier Goldmann’s Anschauung tojd der
Entstehung des Haarausfalls durch Lesion des sympathischen (resp.
parasympathischen) Nervensystems nfihern, nor dass wir noch eiue Be-
einflussung der inneren Sekretion des Vorderlappens der Hypophyse
als Zwischenglied annehmen.
Fur welche Arten von Haarausfall konnen wir nun die Storung
der Fnnktion des Hypophysenvorderlappens als Entstehungs*
ursache annehmen?
Zunfichst mfissen wir an die Haarausffille nach traumatischen
Affektionen des Gehirns, wie in unseren Fallen, denken. Aber auch
bei den Alopezien nach Gemfitserregungsn kann man sich eine StQrung
der Hypophysenfunktion auf dem Wege des sympathischen resp. para¬
sympathischen Nervensystems vorstellen und vielleicht kGnnen auch
manche kreisfdrmige Alopezien unbekannten Ursprungs auf Hypo-
physenstdrangen zurfickgeffihrt werden 1 ).
Literatnrverzeichnis.
1. Bettm&nn, Ueber Beziehungen der Alopecia areata zu dentalen Rei-
zungen. Arch. f. Derm. u. Syph. 1904. Bd. 70.
2. Biedl, Innere Sekretion. Ihre physiologisohe Grundlage und ihre Bedeu-
tung fur die Pathologie. 1913. 2. Aufl.
3. Buschke: a) Weitere Beobachtungen fiber die physiologischen Wirkungen
des Thalliums. Deutsche med. Woohenschr. 1911. b) Klinische und ex-
perimentelle Beobachtungen fiber Alopecia congenita. Arch. f. Derm. u. Syph.
1911. Bd. 118.
4. Goldmann, Pigmentveranderungen der Haut und Haare und Alopezie
infolge von Verletzungen des Zentralnervensystems. Dermat. Zeitschr.
1917. Bd. 24.
5. Jaquet, Akromegalie mit Alopecia areata. Berl. klin. Wochenschr. 1911.
6 . Joseph, Lehrbuch der Haarkrankheiten. 1911.
7. Foster, Zur Physiologie der Spinalganglien und der trophisohen Nerven,
sowie zur Pathogenese der Tabes dorsalis. Monographic. Leipzig 1904.
1) Nach Abschluss meiner Arbeit wurde mir der Aufsatz von Spiegler,
Ueber einen Fall von Alopecia universalis trophoneurotica nach Granatshok
(Wiener klin. Woohenschr. 1918. Nr. 40) bekannt, auf den ioh daher nur hin-
weisen kann.
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Zwei F&Ue Ton Haaransfall nach Kopfsohussverletzung.
741
8 . Lesser, Lehrbuoh der Haat- and Gesohlechtskrankheiten. 13. erweiterte
Aufl. 1914.
9. Mayer, Znr Uebertragung der Alopecia areata. Derm. Zeitsohr. Bd. 13.
10. Nobl, Stndien znr Aetiologie der Alopecia areata. Wiener mod. Wochen-
schrift. 1911.
11. Pdhlmann, a) Beitrage znr Aetiologie der Alopecia areata mit experimen-
tellen Untersuohnngen fiber die Thallinmalopezie. b) Alopacia areata neu-
rotica naoh Schussverletzung. Munch, med. Wochenschr. 1915.
12. Rock, Beitrag znr Eenntnis der Alopecia neurotica. Derm. Zeitsohr.
1913. Bd. 56.
13. Sobloffer, Alopezie bei Hypophysistumor. Wiener klin. Wochensohr.
1907.
14. Sprecher, Neuer Beitrag znm Studinm der Alopecia tranmatica. Arch,
f. Derm. u. Syph. 1909. Bd. 94.
15. Tigerstedt, Lehrbuch der Physiologic des Mensohen. 3. Aufl. 1905.
16. Vignolo Lutati, Ueber die experimentellen Alopozien durchAbrin. Arolu
f. Derm. u. Syph. 1912. Bd. 111.
17. Wechselmann, Ueber traumatische Alopezien. Deutsche med. Wochen-
sohrift. 1908. Nr. 46.
Zitiert nach Pdhlmann:
1. Jaquet, La pelade dentaire. Annal. de derm, et syphil. 1902.
2. Joseph: a) Zur Aetiologie der Alopecia areata. Zentralbl. f. med. Wissen-
sohaft. 1886. b) Ueber Nervenlasion und Haarausfall mit Bezug auf die
Alopecia areata. Virch. Arch. Bd. 116.
3. Pantoppidan, Bin Fall Ton Alopecia areata nach Operation am Halse.
Monatsh. f. prakt. Derm. 1889.
Zitiert nach Rock:
1. Michelson in Ziemssen’s „Hautkrankheiten u . Bd. 2. S. 139.
Zitiert nach Biedl:
1. Sprinzel, Demonstration eines Falles Ton Hypophysentumor mit Zwerg-
wuohs. Wiener klin. Wochenschr. 1912.
2. Kahn, Zuckerstioh und Nebennieren. Pfliiger’s Arch. f. d. ges. Physiol.
1911. Bd. 140.
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XXVI.
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Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten.
Ein Gutachten
von
Ernst Schultze (Gottingen).
Vor einiger Zeit wurde ich von einer Regierung um die Erstattung
eines Gutacbtens darfiber ersucht, ob eine in ibrem Bezirk liegende
Privatirrenanstalt gewerbesteuerpflichtig sei Oder nicht. Nur selten wird
ein Psychiater fiber diese Rechtsfrage ein Gutachten zu erstatten haben.
Aber nicht das veranlasst mich, das Gutachten mit nur unwesentiiohen
Aenderungen zu verfiffentlichen, sondern vielmehr der Umstand, dass
ich gezwungen war, mich fiber einige grunds&tzliche Fragen aus der
praktischen Irrenheilkunde oder, richtiger gesagt, der Anstaltspflege
auszulassen. Von unmittelbarem Interesse sind sie in erster Linie ffir
den Besitzer oder Leiter von Privatirrenanstalten. Max Edel hat vor
kurzem in seinem Aufsatz fiber „Sanatorien und Umsatzsteuer" in der
Psych.-Neurol. Wochenschr. XX. Jahrg. 1918. Nr. 85/36 auf mein Gut¬
achten bezug genommen und dessen VerOffentlichung, um die ich von
vielen Seiten gebeten wurde, in Aussicht gestellt.
Der Tatbestand ist sehr einfach.
Die Privatirrenanstalt X., die zwei Irrenilrzten gehfirt und von
ihnen geleitet wird, wurde zur Gewerbesteuer berangezogen. Sie legten
gegen die zu ihren Ungunsten ausgefallene Berufungsentscheidung der
Regierung Beschwerde bei dem Oberverwaltungsgericht ein, dessen 6. Senat
in seiner Sitzung am 1. XII. 1915 sich eingehend mit den in der Be¬
schwerde enthaltenen Punkten befasste. Auf diese Entscheidung braucbe
ich nicht des Genaueren einzugehen; alles NOtige ergibt sich aus meinem
Gutachten. Nur einen mehr formalen Punkt mocbte ich hervorheben.
Auch nach dieser Entscheidung hat nicht der Arzt oder Dntemehmer
der Anstalt den Gegenbeweis daffir zu erbringen, dass dem Anstalts-
betriebe der gewerbliche Charakter fehlt; vielmehr haben die Veran-
lagnngsbebOrden hier wie uberal 1 die tats&chlichen und rechtlichen
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Die Gewerbesteuerpflioht der Privatirrenanstalten.
743
Voraussetzungen der bestrittenen Steuerpflicht festzustellen. Naturlich
liegt es im Interesse der Aerzte, selbst auf die massgebenden Umstande
hinzuweisen; jedenfalls haben sie diejenigen wesentlichen Tatsachen
geltend zu machen und nOtigenfalls zu beweisen, die sich der Kenntnis
der Verwaltungsbehdrden auch bei sorgfal tiger Ausubung der Ermitte-
lungspflicht entziehen 1 ).
Icb lasse daa Gutachten folgen:
Auf Ersuchen der Kdniglichen Regierung zu . . . erstatte ich in
Sachen betreffend die Beschwerde der Inhaber des Sanatoriums in X.
wegen der Veranlagung zur Gewerbesteuer fur das Steueijahr 1914 das
von mir erbetene Gutachten. Dieses hat vor allem die AusfUhrungen
der Entscheidung des Sechsten Senats des KSnigl. Preussischen Ober-
verwaltungsgericbts vom 1. Dezember 1915 zu berucksichtigen.
Zur Erstattung des Gutachtens babe ich nicht nur die mir zur Ver-
fugung stehende juristische und mediziDische Literatur benutzt, sondern
auch die Antworten, die ich auf die uberwiegende Mehrzahl meiner an
etwa 80 deutsche, vor allem preussische Privatanstalten gerichteten
Anfragen erhalten habe 2 ).
Es erscheint mir ratsam, das Gutachten in 3 Abscbnitten zu erstatten.
I. 1st eine Privatirrenanstalt, deren Besitzer gleicbzeitig der
leitende Arzt der Anstalt 1st, schlechtweg und insbesondere
die in X. gewerbesteuerpflichtig?
II. 1st die Yereinigung der beiden Aerzte nur aus der Absicht
der Gewinnerhohung zu erkl&ren?
III. Was kOnnen die Inhaber der Anstalt fur ibre Srztlicbe Tatig-
keit an der Hand der arztlichen Gebuhrentaxe berechnen?
I.
A. Der Irrenarzt ist nur selten in der Lage, Geisteskranke in
ibrer Wohnung Oder in seiner Sprechstunde zu behandeln. Naturgemass
kOnnen dies nur ruhige und lenksame Kranke sein, die keiner beson-
deren Aufsicbt bedurfen. Die Mehrzahl der Geisteskranken bedarf aber
zu ihrem eigenen Schutze oder mit Rucksicht auf andere einer Ueber-
wachung, deren Dauer und Strenge von Fall zu Fall abgestuft werden
muss; sie muss also in einer geschlossenen Anstalt verpflegt werden,
da fur sie ein offenes Sanatorium nicht ausreicht. Die AngehOrigen
1 ) Fuisting, Kommentar zu den Gewerbesteuergesetzen. 3. Anil.
1906. S. 75.
2) Auf diesem Wege erhielt ich Kenntnis von einer Reihe oberstgerioht-
licher Entscheidungen, die bisher nicht verSffentlicht sind. Auoh solohe Ent-
soheidungen habe ich in meinem Gutachten ohne Angabe der Quelle verwertet.
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744
Ernst Schaltze,
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der Kranken, soweit sie den besseren Standen angehoren, habdn vielfacb
Bedenken, ihre Verwandten einer offentlichen Anstalt zu ubergeben.
Sei es mit Rucksicbt auf das Gerede in der Welt, sei es, weil sie
glauben, die Aufnabme in eine Privatanstalt werde weqjger bekannt,
sei es, weil sie auf grosseren Komfort, bessere Verpflegung, die Gew&h-
rung umfangreicber Wohnung, die MSglichkeit, auch Familienmitglieder
anfzunehmen, grossen Wert legen, sei es scbliesslich, weil ibnen an
einer ausgietftgeren, individuelleren arztlichen Behandlung, als eine
offentliche Anstalt bieten kann, gelegen ist.
Selbstverst&ndlich ist nur der Irrenarzt zur Behandlung yon Geistes-
kranken bernfen. Aber er kann diese aus den oben angefuhrten Grunden
in der uberwiegenden Mehrzahl nur bebandeln, indem er sie in einer
Anstalt unterbringt. Zur Sicherung einer sachgemassen Behandlung ist
es aber weiter erforderlich, dass der Irrenarzt Herr in der Anstalt ist.
Somit stellt die Irrenanstalt das zur Behandlung der Geisteskranken
unerl&sslich notwendige Instrument dar, und der Irrenarzt ohne sie
wire ebenso ubel dran wie der Chirurg ohne das Messer.
Schon die Unterbringung in der Anstalt an und fur sich kann oft
genug ein Heilmittel sein, indem sie die Reize der Aussenwelt dem
Kranken fernhalt, und des Hinzutretens besonderer arztlicher Behand¬
lung bedarf es in diesem Falle nicht. In andern Fallen wieder kommt
es mehr auf den engsten Anschluss des Kranken an den Arzt an; der
Kranke wird geradezu Mitglied seiner Familie und findet so seine Ge-
nesung. In der Mehrzahl der Falle gehen diese beiden Wirkungen, die
Entziehung. der Freiheit und die Beeinflussung durch den Arzt, Hand
in Hand.
Freilich darf nicht verkannt werden, dass nicbt jedes Haus schlecht-
weg sich fur die Aufnahme von Geisteskranken eignet. Hinsicbtlich
seines Baues und seiner Einrichtung muss es bestimmten Anfordemngen
genugen, die nur der Sachverstandige beurteilen kann. Vor alien Dingen
muss eine Gewahr dafur geleistet werden, dass der Kranke weder sich
noch andere beschadigen, dass er immer hinreichend beaufsicbtigt
werden kann. Hierzu kommen noch Vonichtungen, um im Notfalle
einen Kranken zu isolieren (Zellen), ihn langere Zeit unter Aufsicht und
Vermeidung einer Abnahme der Wassertemperatur zu baden (Dauerbader)
usw. Einer besonderen Einrichtung bedurfen naturlich einzelne Fenster,
die, sofern sie nicht vergittert sind, nicht you jedem ohne weiteres zu
Offnen Oder zu zerstdren sind, sowie die Verschlusse an den Turen.
Daraus ergibt sicb, dass ein Gebaude, das fur die Unterbringung
yon Geisteskranken bestimmt und geeignet ist, fur andere Zwecke kaum
benutzt werden kann.
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Die Gewerbesteaerpflicht der Privatirren&nstalten. 745
Weiter muss berucksichtigt werden, dass die £eh and lung der Geistes-
kranken in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht hat.
Diesen Fortschritten muss auch der Anstaltsbau gerecht werden. An-
stalten, die vor einigen Jahrzehnten gebaut sind, sind heute nicht nur
veraltet, sondern uberhaupt nicht mehr zu gebrauchen. Hinsichtlich des
Baus von Irrenanstalten haben sich grundsUtzliche Anscbauungen geSndert,
und wahrend beispielsweise fruher die Isolierung unruhiger Geistes-
kranker an der Tagesordnung war, wird sie heute vielfach geradezu
verpOnt und durch ihre Unterbringung auf WachsSlen ersetzt.
Aber nicht nur der Bau des Krankenhauses und alle seine tech-
nischen Ginrichtungen mussen bestimmten gesundheitspolizeilichen An-
forderungen genugen, bevor die nach der Gewerbeordnung notwendige
Konzession erteilt wird, sondern auch die Kuche und deren Betrieb muss
in jeder Beziehung dem Arzte unterstellt sein, soli die Irrenanstalt ihren
Zweck erfullen. Denn nor so wird die Sicherheit geschaffen, dass der
Kranke die Nahrung erhalt, deren er bedarf; auch bei Geisteskranken
spielt die Frage der zweckmEssigen Ern&hrung eine grosse Rolle.
Danach bilden die Unterbringung der Kranken, ihre Verpflegung
and arztliche Behandlung ein einheitliches Ganze, das nicbt auseinander
gerissen werden kann. Der wirtschaftliche und der arztliche Betrieb
ipnss grundsatzlich einheitlich sein.
Es bedurfte langerer K&mpfe, ehe dieser Grundsatz fur die Offent-
lichen Irrenanstalten dadurcb seine Anerkennung fand, dass der allein
verantwortlicbe Leiter der Irrenanstalt ein Arzt ist. Heute werden
woj^l alle offentlichen Irrenanstalten, von nur wenigen Ausnahmen ab-
gesehen, von einem Arzte geleitet, dem der oberste Verwaltungsbeamte,
auch wenn er in seinem Bereich v&llig selbstandig ist, untergeordnet
ist. Der ganze Anstaltsbetrieb soil eben in den Dienst des Arztes ge-
stellt werden.
Fiir die Privatirrenanstalten besteht die Preussische aligemeine
Anweisung vom 26. Marz 1901, die ausdrucklich vorschreibt, dass sie,
soweit es sich nicht um wirtschaftliche und BQroangelegenheiten handelt,
„von einem in der Psychiatrie bewanderten Arzt geleitet werden“
mussen; der Leiter der Anstalt, gleichgultig ob er gleichzeitig Anstalts-
besitzer ist oder von diesem angestellt wird, muss, wie es weiter heisst,
nach seiner Approbation fur gewOhnlich mindestens zwei Jahre in einer
grOsseren Offentlichen, nicht nur fur Unheilbare bestimmten Irrenanstalt
oder in einer psychiatrischen Universitatsklinik tatig gewesen sein.
§ 20 der genannten Anweisung schreibt ganz genau vor, welche
Obliegenheiten dem leitenden Arzt zu ubertragen sind. Dabei handelt
es sich nicht allein um die Krankenpflege, die Anstellung und Aus-
Areb.iT f. Psychiatrie. Bd. 60. Heft 2/3. 43
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Ernst Schultze,
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bildung des Pflegepersonals, die Ffihrung der Erankengeschichten (§ 21)
sowie bestimmter Bucher and Listen, sondern auch urn die Anord-
nung der Kost, die Beantwortung aller schriftlichen und mfindlichen
Anfragen von Behfirden und Anverwandten, soweit sie sich auf den
Zustand der Kraoken, ihre Behandlung, Aussichten auf Entlassung oder
Geuesung usw. beziehen. Der firztliche Leiter muss in der Anstalt
wohnen, sofern sie heilbare Eranke aufnimmt.
Der spezifische Charakter der Irrenanstalt ergibt sich auch daraus,
dass wohl kaum jemand ganz aus freien Stricken, insbesondere ohne
firztlichen Rat, eine geschlossene Anstalt aufsucht, es sei denn, dass
er die bestimmte Absicbt bat, ein Gesundbeits- oder Erankheitsattest
zu erlangen. Eeiner will mit einer Irrenanstalt etwas zu tun haben r
und das gilt auch dann, wenn sie die euphemistische Bezeichnung
„Sanatorium u ffihrt.
Tatsficlilich darf in die Privatirrenanstalt niemand ohne Erfiillung
bestimmter Vorschriften, fiber die ebenfalls die erwfihnte Ministerial-
anweisung Aufscbluss gibt, aufgenommen werden. Ja, sogar bei der
Aufnahme von Eranken, die „freiwillig u in die Irrenanstalt eintreten,
bedarf es bestimmter FOrmlichkeiten. Die Genehmigung zur Aufnahme
freiwillig Eintretender wird von dem Regierungsprfisidenten unter dem
Vorbebalt jederzeitigen Widerrufs auf besonderen Antrag erteilt.
Unter den Aufnahmevorschriften spielen gerade die firztlichen Zeug-
nisse eine besondere Rolle. Das ergibt sich daraus, dass nicht nur zu
jeder Aufnahme ein firztliches Zeugnis notwendig ist, sondern zu 6einer
Ausstellung nur der Ereisarzt oder der firztliche Leiter einer fiffent-
lichen Irrenanstalt oder einer psychiatrischen Universitfitsklinik berufen
ist; es muss mit anderen Worten eine gewisse Gewfihr ffir die fachliche
Ausbildung des Arztes, der die Aufnahme der Eranken in die Privat- ^
irrenanstalt ermfiglicbt, gegeben werden. Das Aufnabmeattest muss
ausdrficklich nicht nur eine geistige Stfirung, sondern eine durch sie
bedingte Anstaltspflegebedfirftigkeit bescbeinigen. Der Anstaltsleiter,
der jemanden ohne ein derartiges Attest aufnimmt, wurde sich grfissten
Unannehmlichkeiten aussetzen.
Jede Privatirrenanstalt in Preussen muss jfihrlich zweimal von dem
zustfindigen Ereisarzt revidiert werden. Ebenso findet seit 1896 jfihr-
lich eine Besichtigung der Privatanstalten durch eine Besuchskommission
statt. Wenn auch an dieser ein hdherer Verwaltnngsbeamter, vielleicht
auch der zustfindige Landrat, teilnimmt, so fiberwiegt doch in ibr das
firztliche Element; denn zu ihr gehOrt noch der Regierungs- und Medi-
zinalrat der zustfindigen Regierung, der zustfindige Ereisarzt und der
Direktor einer fiffentlichen Irrenanstalt.
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Die Gewerbesteuerpflioht der Privatirrenanstalten.
747
Wie sich daraus aufs deutlichste ergibt, haben die BehSrden den
Aerzten einen so erheblichen Einfluss auf den Bau, die Einrichtung und
den Betrieb einer Irrenanstalt ausdrdcklich zugewiesen, dass unbedenk-
lich die Irrenanstalt einem Heilmittel gleicbgestellt werden kann.
Es mag auch darauf bingewiesen werden, dass fur den Rnf einer
Privatirrenanstalt nicht sowohl ihre landschaftliche Lage, die Bequem-
lichkeit, sie zu erreichen, ihre Ausstattung oder die Gfite des Essens
massgebend sind, als vielmehr die persOnlichen Eigenschaften des Arztes,
nicht nur in wissenscbaftlicher, sondern auch in rein menschlicher Be-
ziehung. Das Ansehen, das er bei seinen Kollegen geniesst, das Zu-
trauen, das er sich bei seinen Eranken und derfen Familien erworben
hat, bestimmen in viel grOsserem Masse die Frequenz der Anstalt.
Der Chirurge kann beute ohne ein Rontgenlaboratorium nicht aus-
kommen. Seine Einrichtung und Unterhaltung ist sehr kostspielig.
Dass diese Unkosten von den Patienten getragen werden, ist selbst :
▼erst&ndlich. Ein Rontgenlaboratorium kSnnte auch von einem Nicht*
arzt beschaffen, geleitet und dem Publikum gegen Entgelt zur Verfugung
gestellt werden. In diesem Falle wfirde das Rontgeninstitut zweifellos
gewerbesteuerpflichtig sein. Ich habe aber noch nicht gehfirt. dass der
Chirurge hinsichtlich seiner Rfintgeneinrichtung zur Gewerbesteuer heran-
gezogen 'wird, w&hrend wohl jeder Anstaltsbesitzer dies einmal erfahren
hat. Der Unterschied ist wohl darin begrundet, dass das Rfintgen-
laboratorium etwas neues und ungewfihnliches ist, w&hrend die Privat*
irrenanstalt oder das Sanatorium vom Publikum mehr oder weniger mit
einem Hotel auf eine Stufe gestellt wird.
Aus diesen Darlegungen ergibt sich, dass die Privatanstalt eine
Einrichtung ist, deren Eigenschaften bis in alle Einzelheiten vom Arzte
vorgeschrieben und dauernd geprfift werden mfissen, soli sie ihrem Zweck
dienen, und dass auch bei dem Betriebe der Anstalt fortlaufend der
Irztliche Zweck obwalten, sowie eine 6tetige Srztliche Kontrolle statt-
finderi muss. Die Anstalt bildet somit einen wesentlichen oder vielmehr
notwendigen Bestandteil der Behandlung der Geisteskranken, ohne die
der Psychiater nicht auskommen kaon.
Somit gehOren die Einrichtungen und der Betrieb einer Privat¬
irrenanstalt vom krztlichen Standpunkte aus unmittelbar zur psy-
ehiatrischen Tberapie.
Was im allgemeinen fiber den Betrieb einer Privatirrenanstalt ge-
sagt ist, gilt insbesondere von der in X. gelegenen. Die beiden Aerzte
sind Besitzer der Anstalt. Beide sind Fachleute; der eine von ihnen
war l&ngere Zeit Dozent an einer Universit&t und erhielt den Professor-
titel. Beide widmen fast ausschliesslich ihre Tfitigkeit der Anstalt,
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Ernst Schultze,
und ohne weiteres glaube ich, auch aus sach lichen Erwagungen, dass
die Praxis, die sie ausserhalb der Anstalt treiben, nicht erheblich
sein kann.
B. Eine andere Frage ist die, wie vom rechtlichen Standpunkt
die Einrichtungen und der Betrieb einer Privatirrenanstalt zu beur-
teilen sind.
Icb verwerte fur die Beantwortung dieser Frage vor allem die
Entscheidungen des preussischen Oberverwaltungsgerichts, dann die der
entsprecbenden Gericbte der anderen Bundesstaaten, des Kammergerichts
sowie Reichsgericbts, die sich entweder fiber die Heranziehung des
Anstaltsbesitzers zur Gewerbesteuer oder fiber die Krankenversicherungs-
pflicht der in den Privatanstalten beschfiftigten Personen oder fiber die
Frage auslassen, ob der Arzt, der eine Privatanstalt besitzt, seine Firma
in das Handelsregister eintragen iassen muss.
Frfiher hat das Oberverwaltungsgericht [11. 10. 1894 x )] den Stand¬
punkt vertreten: „Der Betrieb einer Privatkranken-, Irren- oder Ent-
bindungsanstalt erscheint regelmfissig als Gewerbebetrieb. Nur dann,
wenn eine solche Anstalt von einem Arzte unterhalten und geleitet
wird, kann unter besonderen, von diesem nachzuweisenden Umstfinden,
welche das Ueberwiegen von Erwerbszwecken ausschliessen, ein nicht
gewerbliches Unternebmen angenommen werden. Liegt Gewerbebetrieb
durch einen Arzt vor, so erscheint die Ausfibung des firztlichen Berufes
durch denselben innerhalb des Anstaltsbetriebes als Tatigkeit im Ge-
werbebetriebe, so dass eine Aussonderung des Ertrages dieser Tatigkeit
als steuerfreien Teils aus dem gesamten Ertrage des Unternehmens nicht
zuzulassen ist“.
Im Anschluss an diese Entscheidung wurden viele Anstalten, soweit
ich aus den mir gewordenen Zuschriften enlnebmen kann, ohne weiteres
zur Gewerbesteuer veranlagt.
Indes erhoben zahlreiche Aerzte Einspruch, und das Oberverwaltungs¬
gericht hat in der Folgezeit den obigenGrundsatz wesentlich eingescbrankt
oder gar aufgegeben.
Vor allem gilt das von einer massgebend gewordenen Entscheidung
des 6. Senats des Oberverwaltungsgerichts vom 5. 5. 1898 1 2 ). Diese
Entscheidung bezeichnet als Gewerbe im Sinne des Gewerbesteuergesetzes
„jede mit der Absicht auf Gewinnerzielung untemomnfene, selbstfindige,
berufsmfissige und erlaubte Tatigkeit, welche sich als Beteiligung am
1) Entscheidungen des Preussischen Oberverwaltungsgerichts in St&ats-
steuersaohen. 1895. Bd. 3. S. 250.
2) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts. 1899. Bd. 7. S. 418ff.
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Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten. 749
allgemeinen wirtschaftlichen Verkebr darstellt“. Ein „wesentlich ent-
scheidendes subjektives Merkmal 11 ist „der Gewinnzweck u , „also die
Absicht des Untemehmers, aus dem Betriebe, aus der Tatigkeit, die
den Gegenstand des Unternehmens bildet, Gewinn zu ziehen“. Die Ge-
winnerzielung mass den Bauptzweck der Tatigkeit bilden und nicht
nur beilaufig add nebensacblicb bezweckt werden. „Dient die Tatigkeit
anderweitigen Zwecken, insbesondere nur als Mittel fur die Erzielung
von Gewinn aus einer anderen Erwerbstatigkeit, so ist sie kein Ge¬
genstand eines besonderen Gewerbebetriebes u . Unterhalt ein Arzt eine
Elinik lediglicb zum Zwecke der Ausubung seines arztiichen
Berufes, ist die Unterbaltung der Klinik nicht als eine besondere Er¬
werbstatigkeit anzosehen, oder dient sie als Mittel fur seine eigene
FortbHdung, zu Lehr- oder wissenscbaftlichen Zwecken, ohne die Ab¬
sicht, aus dem Betriebe einen besonderen Gewinn zu erzielen, so ist
die Unterbaltung der Klinik kein Gewerbeunternebmen. Es fehlt die
fur den Gewerbebegriff unerlassliche Absicht, gerade aus dieser Tatigkeit
Gewinn zu erzielen. Die Klinik ist „nur als ein Mittel zur Ausubung
der arztiichen Tatigkeit, nicht aber als eine besondere Erwerbstatigkeit
und demgemass nicht als Gewerbe anzusehen“. Fehlt die Absicht, aus
dem Betriebe der Anstalt als solcber, aus der Unterbringung und Ver-
pflegung und aus dem dkonomiscben Betriebe Gewinn zu erzielen, liegt
kein Gewerbebetrieb vor. Der Betrieb der Anstalt ist dann nicht Selbst-
zweck, sondern ordnet sich der Ausubung der eigenen arztiichen Tatig¬
keit unter.
In demselben Sinne hat sich das Oberverwaltungsgericht in seiner
Entscheidung vom 3. 4. 1902, sowie das Kammergericht unterm
30. 6. 1903 ausgelassen: fQr die Beurteilung der Steuerpflichtigkeit ist
allein der Zweck des Unternehmens massgebend.
Einen ahnlichen Standpunkt nimmt der Wurttembergische Ver-
waltungsgerichtshof in einem Urteil vom 29. Oktober 1903 ein. Danach
wird dem Anstaltsbesitzer zugegeben, „dass es ihm bei dem fraglicben
Betriebe lediglich um die Ausubung des arztiichen Berufes zu tun sei,
dass er mit diesem Betrieb ausschliesslich durch Verwertung seiner
arztiichen Kenntnisse und Erfahrungen ein seiner beruflichen Ausbildung
entsprechendes Einkommen zu erzielen suche, dass die neben der arzt¬
iichen Behandlung hergehendeBeherbergung und Verkostigung der Kranken
keine selbstandige wirtschaftliche Bedeutung habe, sondern mit der Er-
mGglichung der durcbgreifenden Beaufsichtigung der Kranken und der
Regelung ihrer Diat' und Beschaftigung auch dem ausschliesslich ver-
folgten Heilzweck diene, ein weiteres Mittel fur diesen Heilzweck
bilde und sich so demselben vollstandig unterordne. Der Betrieb des
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Ernst Schultze,
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Beschwerdefuhrers wird vollst&ndig beherrscht von der berufsm&ssigen
arztlichen Tatigkeit, diese Tatigkeit ist wirtschaftlich und steuerlich die
Hauptsache, die Hauptqaelle, aus welcher das gesamte im Betrieb
erzielte Einkommeu fliesst; im Vergleich hiermit erscheint die an sich
einen gewerblicben Charakter tragende Verpflegung der Kranken ais
ein Akzessorium, als eine untergeordnete Nebensacbe, welche
auch in steaerlicher Hinsicbt das Schicksal der Haaptsacbe zu teilen hat u .
Der Anstaltsbetrieb ordnet sicb in den gedachten Fallen der arzt-
licben Tatigkeit vdllig unter.
Die gewerbliche Tatigkeit des Anstaltsbetriebes und die beruiliche
des Arztes ist auf das engste miteinander verknupft, so dass eine rein-
liche Scheidung weder praktisch nocb rechnerisch kaum mdglicb ist.
Daber wird aucb mit Recbt die Notwendigkeit einer einheitlicben Auf-
fassung des Anstaltsbetriebes hinsicbtlich der Gewerbesteuerpflicht be-
tont, wenn es auch nicht immer so klar ausgesprochen ist, wie in der
eben erwahnten Entscbeidung des ^iurttembergischen Oberverwaltungs-
gerichtshofes. Es kann mit dem Reichsgericht [17. 5. 1007 l 2 )] dem
Berufungsgericbt nicht „zugegeben werden, dass allein scbon dadurcb,
dass die auf Gewinnerzielung gericbtete arztliche Tatigkeit der Elager
die Unterhaltung der Anstalt erfordert, der Anstaltsbetrieb mit zur
Grundlage des auf Erwerb abzielenden Berufs der Elager wird, und
dass es, weil der Betrieb der Anstalt und die Ausubung der Heilkunde
fur die Frage der Gewinnerzielung untrennbare Faktoren sind, genugt,
wenn nur die Heilkunde mit Gewinnabsicht ausgeubt wird u .
Eine Gewerbesteuerpflicbt liegt aber naturlicb dann vor, wenn der
Betrieb der Anstalt selbstandiges Mittel zur Erzielung einer dauernden
Einnabmequelle ist. ,,lst der Betrieb einer Erankenheilanstalt Selbst-
zweck, hat also der Arzt die Absicht, gejade aus der Gewahrung von
Aufenthalt und Unterhalt gegen Entgelt Gewinn zu ziehen, und stellt
die arztliche Tatigkeit sich nur als ein, wenn aucb wesentliches, Glied
in der Eette derjenigen Einrichtungen dar, welche in ihrer Zusammen-
fassung als Anstaltsbetrieb Gewinn abwerfen sollen, so muss das Vor-
bandensein eines gewerblicben Unternehmens anerkannt werden“ [Eammer-
gericbt 14. 1. 1901*)]. In ahnlicber Weise hat das Eammergericht
. sich dabin ausgelassen: „Bildet aber nicht die Ausubung des arztlichen
Berufes des Anstaltsunternehmers und der dadurcb erzielte Gewinn,
sondern die Gewahrung von Aufenthalt und Unterhalt und die bierans
erwachsende Einnahme den Hauptzweck des Anstaltsbetriebes, werden
1) Juristische Wochensohrift. 1907. S. 492.
2) Das Recht. 1901. S. 203. Entsch. 647.
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Die Gewerbesteuerpflioht der Privatirrenanstalten. 751
namentiich die Eranken in der Hauptsache nicht von dem Inbaber der
Anstalt, sondern von andern, z. B. den von ihm angestellten Aerzten,
den Hausarzten der Eranken oder angesehenen Spezial3rzten arztlich
bebandelt, so ist ein gewerbliches Unternehmen im Sinne des § 2 H.G.B.
vorhanden“ [Kammergericht 9.11.1903 1 )].
„Es kann dem Berafongsgericht nicht zugegeben werden, dass all ein
schon dadurch, dass die auf Gewinnerzielung gerichtete arztliche Tatig-
keit der Elager die Unterhaltung der Anstalt erfordert, der Anstalts-
betrieb mit z«r Grundlage des auf Erwerb abzielenden Berufs der Elager
wird, and dass es, weil der Betrieb der Anstalt und die Ausubung der
Heilkunde fur die Frage der Gewinnerzielung untrennbare Faktoren sind,
genfigt, wenn uur die Heilkunde mit Gewinnabsicht ausgeubt wird.
Nur wenn die Anstalt als ein selbstandiges Mittel zur Erzielung einer
dauernden Einnahmequelle vom Arzte gebalten wird, macht sie ibn zum
Gewerbetreibenden [Reichsgericbt 17.5.1907 2 3 )].
Mit ahnlicben Erwagungen hat das sacbsische Oberverwaltungs-
gericht mit seinem Urteil vom 12. Marz 1910 in der Unterhaltung einer
Frauenklinik durch einen Frauenarzt eiuen Gewerbebetrieb bestritten;
die Elinik ist „als ZubehSr der spezialarztlichen Tatigkeit des Beklagten
zu betrachten, da ohne eine solche nicht sachgemass operiert und
,nachbehandelt‘ werden k0nne“ 8 ).
Dasselbe Gericht hatte bereits in seinem Urteil vom 31. Mai 1902 4 )
betont, dass Aerzte die namentiich in grOsseren Stadten bestehenden
spezialarztlichen Privatkliniken regelmissig nicht deshalb einrichten, „um
sich durch Gewahrung von Wohnung und Bekdstigung an die darin auf-
genommenen Eranken eine selbstandige Einnahmequelle neben ihrer
sonstigen Berufstatigkeit zu verschaffen. Sie bilden vielmehr ihrem
Wesen und bestimmungsgem&ssen Zwecke nach lediglich ein Mittel zur
sachgemasseu Ausubung der Heilkunde. Der Arzt nimmt dort die-
jenigen seiner Eranken auf, deren erfolgreicbe Behandlung in ihrer
eignen Wohnung aus sachlicben Grunden uudurchfuhrbar oder doch
wenigstens unzweckmassig und schwierig sein wurde. Bei diesem
innigen Zusammenhange, in dem die Ausubung der arztlichen Praxis
mit dem Betriebe der Privatkliniken steht, — und hierin liegt das
eharakteristische Unterscheidungsmerkmal gegenuber den eigentlichen
Privatkrankenanstalten, deren wirtschaftlicher Betrieb Selbstzweck ist,
1) Das Recbt. 1904. S. 10.
2) Juristische Wochensohrift. 1907. S. 492.
3) Zeitschrift fur Medizinalbeamte 1911, Reohtsprechung S. 208.
4) Zeitschrift fur Medizinalbeamte 1903, Rechtsprechung S. 3.
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wAhrend die Arztliche Behandlung nur einen Teil der nicbt einmal on-
bedingt vom Unternehraer persSnlich zu gewAhrenden Arbeitsleistungen
darstellt — erscheint es ausgeschlossen, die Privatkliniken als selbst-
standige wirtschaftliche Unternehmungen zu bebandeln. Sie stellen
vielmehr nur eine besondere Form der Ausubung des Arztlichen Berufs
dar. Wenn aber die Tatigkeit des Arztes als solcha nicht als eine
gewerbliche im Sinne von § 8 des Handels und Gewerbekammergesetzes
angeseben werden kann, wie das die Gewerbekammer selbst annimmt,
so folgt hieraus ohne weiteres, dass die KlAger wegen des Betriebes
ihrer Privatkliniken nicht zu BeitrAgen fur die Gewerbekammer heran-
gezogen werden durfen.“
1st der krztliche Gesichtspunkt der durchschlagende, so ist von einer
Gewerbesteuer abzusehen. Dieser Gesichtspunkt ist von soldier Be-
deutung, dass das Mass und die Art der rein Arztlichen Tatigkeit des
Besitzers nicht uber die Gewerbesteuerpflicht entscheidet. Auch wenn
er sich vorwiegend den VerwaltungsgeschAften widmet, die doch auch
eine ausgesprochen Arztlicbe FArbung, wie immer wieder betont werden
muss, tragen, oder wenn er zu seiner Unterstutzung Aerzte anstellt,
behAlt der Betrieb einer Privatheilanstalt sicher den Charakter einer
Arztlichen Tatigkeit [Eammergericht 9. 11. 1903 *)].
Eine mir vorliegende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom
3. 11. 1904 fuhrt aus: „Wenn beispielsweise ein Arzt, der eine Privat-
krankenanstalt zweifellos nur zum Zwecke der Ausubung seines arzt-
lichen Berufes begrundet und betrieben hat, durch Alter, Kraqkheit
oder andere Umstande gezwungen wird, seine eigene arztliche Tatigkeit
einzuscbrSnken und die Leitung der Anstalt, sowie die Bebandlung der
Kranken in mehr oder minder grossem Umfange den zu seiner Hilfe
angenommenen Aerzten zu ubertragen, so wird dadurch noch nicht seine
Gewerbesteuerpflicbt begrundet, so lange nur der Zweck der Anstalt,
die Ausubung des arztlichen Berufes seitens des Besitzers, unverAndert
bleibt.“ „Auf das Mass seiner Arztlichen Tatigkeit 44 kommt es nicbt an.
Wurde freilich die Arztliche Behandlung der aufgenommenen
Kranken vollig oder in der Hauptsache fremden oder angestellten
Aerzten uberlassen und wurde sich der Anstaltsbesitzer vorwiegend mit
der finanziellen Ausbeutung des Betriebes befassen, so wurde der An-
staltsbetrieb fur den Anstaltsinhaber Selbstzweck, eine „selbstAndige
berufsmassige Tatigkeit zur Gewinnerzielung aus dem Okonomischen
fietriebe der Anstalt wie bei nicht Arztlichen Anstaltsbesitzern. u Ein
Mittel zur Ausubung der Arztlichen Tatigkeit ist die Anstalt dann fur
1) Das Recht 1904, S. 10.
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Die Gewerbesteuerpflicbt der Priyatirrenanstalten.
753
andere, n&mlich die fremden Oder angestellten Aerzte (Oberverwaltungs-
gericht 14. 1. 1914).
Das Oberverwaltungsgericht hat den Betrieb einer Badeanstalt oder
einer zur Aufnahme von Badeg&sten bestimmten Pension durch einen
Arzt als gewerbesteuerpflichtig angesehen, weil sie nach den Unter-
lagen im wesentlichen offenbar der Unterkunft der Badeg&ste ebenso
dienen soli, wie ahnliche Unternebmungen nichtSrztlicher Personen.
„Dass es sich bei jener Anstalt regelm&ssig oder haupts&chlich am die
Aufnahme solcber Badeg&ste handelte, die einer anhaltenden Kranken-
wartung und Pflege bedurften, ist aus dem Inhalt der Verhandlungen
nicht zu entnehmen** 1 ).
Die Ausubung des &rztlichen Berufes ist nach § 4, Z. 7 des Ge-
werbesteuergesetzes vom 24. Juni 1891 — wenigstens fur die in Deutsch¬
land approbierten Aerzte 2 3 ) — ausdrucklich als gewerbesteuerfrei erklirt,
wie denn auch „nach dem allgemeinen Sprachgebrauche die Berufs-
t&tigkeit des Arztes nicht ein Gewerbe darstellt“ [Kammergericbt
14. 1. 1901®)]. Sie darf auf Gewinnerzielung, natiirlich auch dauernd,
gerichtet sein und ist es auch in der Regel. Die Ausubung des &rzt-
lichen Berufes stebt, obgleich sie in Erwerbsabsicht stattflndet, wegen
des dabei obwaltenden hOheren wissenschaftlichen und sittlichen Inter-
esses ausserhalb des materiellen Gewerbebetriebes. Dadurch, dass die
Ausubung der Heilkunde, soweit dies im Offentlichen Interesse geboten
ist, durch die Gewerbeordnung geregelt ist, wird die Srztliche Berufs-
t&tigkeit nicht schlechthin als ein Gewerbe charakterisiert. Die Ge¬
werbeordnung befasst sich mit der Ausubung der &rztlichen T&tigkeit
nur nach ihrer gewerbe-polizeilichen Seite, ohne dass dadurch die auf
wissenschaftlicber Grundlage beruhende Berufst&tigkeit der approbierten
Aerzte selbst zum Gewerbe gemacht wird 4 ).
Darum darf der Betrieb einer Anstalt nicht deshalb als Gewerbe
angesehen werden, weil er Gewinn abwirft, wie ubereinstimmend und
ausdrucklich von den obersten Gerichten hervorgehoben wird. „Benutzt
1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Bd. XIII. 1906. S. 426.
2) O.V.G. 18. 4. 1907. Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte,
Bd. XIII, S. 388. R.G. 17. 5. 1907. Jurist. Wochenschr. 1907. S. 491.
3) Das Reoht. 1901, S. 203. Entsch. 647. Vergl. Entsoh. des Preuss.
Oberverw.-Gerichts 5. 3. 1894. Entscheidungen des O.V.G. Bd. II. S. 448.
Bd. IV. S. 431.
4) Vergl. Urteil des Reichsgerichts vom 6. 3. 1902. Juristisohe Wochen-
schrift 1902. Beilage, S. 227. Reichsgericht 4. 10. 1906, Reichsgericht 17. 5.
1907, DentscheJuristenzeitung 1907. Nr. 1, Spruchbeilage, Juristisohe Wochen-
schrift 1907. S. 492.
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.... der einzelne Arzt seine Anstalt zur Erzieiung eines Gewinns aus
der Verpflegung der Kranken, so bleibt sie dock ein notwendiges Mittei
zur Ausubung seines Erztiichen Berufes und behalt dementsprechend
die Eigenschaft einer ZubehOrung wenigstens so lange, als nicht der Ge-
winn aus ihr die Hauptsache fur den Erwerb des betreffenden Arztes ist 1 ).
Der Anstaltsbetrieb ist und bleibt eben unter den oben angefuhrten
Voraussetzungen dock nur ein Teil der Srztlichen Tatigkeit. Es ist
daker nickt mehr als sinngem&ss, wenn das Oberverwaltungsgericht in
Durckfuhrung dieses Grundsatzes die Privatanstalten, sofern ikr Besitzer
sie zur Ausubung seiner krztlichen Tatigkeit benutzt, von der Zahlung
der Gewerbeiteuer selbst dann befreit, wenn sie einen sebr erheblichen,
in arztlicken Ereisen sonst ganz ungewdhnlicken Jabresgewinn aufweisen.
Die Hdhe des Ertrages aus dem Betriebe der Anstalt spricht nicht
gegen die Richtigkeit der Behauptung des Anstaltsbesitzers, dass die
Anstalt lediglich der Ausubung seines Arztberufes dient, sagt eine Ent-
scheidung des Oberverwaltungsgerickts vom 3. 11. 1904.
Dieselbe Ansicht vertritt das Kammergericht unterm 9.11.1903 2 ); eine
gewerbliche Tatigkeit stellt der Betrieb einer Anstalt selbst dann nicht
vor, wenn sie einen erheblichen Gewinn abwirft Oder wenn die Kranken
nicht ausschliesslich durch den Inhaber, sondorn auch durck andere von
ihm angestellte Aerzte bekandelt werden.
In Uebereinstimmung mit dieser Entsckeidung ist in verscliiedenen,
mir bekannt gewordenen Fallen trotz der grossen Anzabl der angestellen
Aerzte — sie betrug bis zu 8 — die Gewerbesteuerpflicht der betreffenden
Anstalt verneint worden, wenn sie auch einige 100 Kranke verpflegt;
denn der Besitzer leitet sie, wurde ausgefukrt, in arztlicker Bezieliung 3 ).
In demselben Sinne lasst sich auch das sacksiscbe Oberverwaltungs¬
gericht aus.
,,Wenn . . . der arztlicke Beruf selbst kein Gewerbe ist, so kann
er nicht dadurch zu einem solchen werden, dass zu seiner sacbgem&ssen
Ausubung gewisse Einricbtungen erforderlich sind, die sich der Arzt,
wenn sie ihm nicht von dritter Seite zur Verfugung gestellt werden
(zum Beispiel in Krankenhausern), selbst beschaffen muss. 11 Die Ein-
richtung einer chirurgischen Klinik wird nicht als Selbstzweck, sondem
als das notwendige Mittei zur sachgeroassen Ausubung des arztlicben
Berufes angesehen. „Hieraus folgt weiter, dass es fur die rechtlicbe
1) Sachs. O.V.G. 12. 3. 1910. Zeitschr. fur Med.-Beamte 1911. Becht-
sprechung 208.
2) Das Recht. 1904. S. 10.
3) Vergl. Entscheidung des Preuss. O.V.G. vom 13. 3. 1899. Entschei-
dungen Bd. VII, S. 431, Anmerkung.
Gen 'gle
□ rigirkBl from
- CORNELb UNI VERSITf'
Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten.
755
Beurteilung an sich belanglos ist, ob sich der Betrieb der Klinik im
tats&chlichen Erfolge gewinnbringend gestaltet oder nicht. Denn selbst,
wenn die hierdurch erzielten Ginnahmen einen Ueberschuss fiber dje
Unterhaltungskosten liefern wfirden, kOnnte dieser nur als ein Teil des
aus der gesamten Srztlichen Tfitigkeit herrfihrenden Ginkommens auf-
.gefasst werden. u Die Privatklinik ist eben kein „in erster Linie wirt-
scbaftlichen Interessen dienendes Unternehmen" x ).
Aach spfiter hat das s&chsische Oberverwaltungsgericht (12. 3.1910)
sich dahin ausgelassen, die Kliuik behalte ihre Gigenschaft als not-
wendiges Mittel zur Ausfibung des Srztlichen Berufes so lange, als nicht
der Gewinn aus ihr die Hauptsacbe ffir den Grwerb des betreffenden
Arztes ist 1 2 ).
„Insbesondere ist dem Umstande, dass mit dem Betriebe einer
solchen Anstalt“ — es handelt sich am ein heilgymnastisches Institut,
dessen Betrieb n als Mittel zum Zwecke der Ausfibung der Srztlichen
TStigkeit dient“ — „auch ein Gewinn erstrebt und erzielt wird, an sich
allein eine ffir die Annabme eines Gewerbebetriebes entscheidende Be-
deutung nicht beigelegt worden“ 3 ).
Ganz entsprecbend hat das Oberverwaltungsgericht in einer anderen
Gntscheidung vom 3. 10. 1901 4 ) betont: „Die im § 4 Nr. 7 des Ge-
werbesteuergesetzes ffir die Ausfibung einer unterrichtenden oder er-
ziehenden T&tigkeit ausgesprochene Ausnahme von der Gewerbesteuer-
pflicht beruht keineswegs auf der Unteratellung, dass eine solcbe Tatig-
keit nicht auf Gewinn oder doch nur auf einen verhaltnismSssig dfirftigen
Gewinn gerichtet sei. Vielmehr soil die Befreiung ohne Rficksicht auf
die Hdhe des erzielten Gewinns erfolgen." Daher verlangte das Ober¬
verwaltungsgericht zur Gntscheidung der Frage der Steuerpflichtigkeit
1) Gntscheidung des sachsischen O.V.G. vom 13.11. 1907. Zeitschr.
ffir Medizinalbeamte. 1908, Rechtsprechung, S. 70.
2) Unlangst hat das Reichsgericht unter dem 8. 11. 1918 (Das Recht.
1919. Entsch. Nr. 147) entschieden, dass der Arzt, der Unternehmer einerPrivat-
krankenanstalt ist, als Gewerbetreibender dann anznsehen ist, wenn dieAnstalt
als ein selbstandiges Mittel zur Erzielang einer dauernden Einnahmequolle vom
Arzt gehalten wird. Der Arzt wird aber nicht schon dad arch Gewerbetreibender,
dass die auf Gewinnerzielung gerichtete arztliche Tatigkeit, die an sich keinen
Gewerbebetrieb im Sinne der Gewerbeordnung bildet, die Unterhaltung einer
Anstalt erforderlich macht, wie z. B. die Klinik eines Chirurgen, in welcher
die Kranken lediglich zur Durohfuhrung operativer Eingriffe ffir eine gewisse
Zeit aufgenommen werden.
3) Entsch. des O.V.G. 3. 12. 1903, Entsch. des O.V.G. Bd. XI. 1904.
S. 401.
4) Entsch. des O.V.G. Bd. X. 1903. S. 400.
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Ernst Schultzs,
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eine Prufung, „ob die Aufnahme der Pensionarinnen in die Anstalt
zum Zwecke ihrer Unterrichtung, Erziehung und Beaufsichtigung, Oder
aus anderen und welchen Grunden erfolge“. Ebensowenig ist der Lehrer,
der durch Halten von Pension Siren Gewinn erzielt, gewerbesteuerpflicbtig,
da „seine erziebende Tatigkeit die Quelle 11 des Gewinns ist ul ).
II.
Die Regierung hat in ihrer von dem Oberverwaltungsgericht zu-
ruckgewiesenen Entscheidung betont: „Diese Vereiuigung der beiden
Aerzte kann nur aus der Absicht der Gewinnerhdhung, also der Ge-
winnerzielung heraus erklart werden, da ein jeder von ihnen auf ein -
facherem Wege ein derartiges Sanatorium allein betreiben konnte,
wenn es sich fur ihn nur darum handein wtirde, Material fflr die Aus-
ubung seiner arztlichen Tatigkeit zu bekommen. Die Vereinigung der
beiden Aerzte in dem gemeinsamen Betriebe der Sanatorien ist offen-
bar nur aus rein wirtschaftlichen Grunden in der Absicht einer Ge-
winnerzielung erfolgt. Die arztliche Praxis hatte ein jeder von den
beiden Anstaltsbesitzern allein ebensogut ausuben konnen, wie auch ein
jeder von ihnen neben der Sanatorien praxis eine, wenn auch wenig um-
fangreiche besondere arztliche Praxis ausubt M .
Wie ich schon oben betonte, ist dieFrage derGewinnerzielungschlecht-
weg fur die Entscheidung der Frage der Gewerbesteuerpflicht belanglos.
Auch der praktische Arzt oder der Spezialarzt, der seiner Praxis nach-
geht, will fur gewdhnlich Gewinn erzielen, ohne dass er deshalb der
Gewerbesteuer unterliegt. Ausschlaggebend darf allein die Frage sein,
ob der Anstaltsbetrieb als selbstandige und dauernde Einnahmequelle
anzusehcn ist, dem gegenuber die rein arztliche Tatigkeit in den Hinter-
grund tritt. Aus meinen obigen Ausfuhrungen ergibt sich aber, dass
der Anstaltsbetrieb der arztlichen Tatigkeit in einer zeit- und sachge*
mass geleiteten Irrenanstalt untergeordnet ist, sofern der Anstaltsbesitzer
auch der leitende Arzt ist.
Mir ist nicht recht ersichtlich, warum gerade die Vereinigung
zweier Aerzte die Berechtigung zur Annahme der Gewerbesteuerpflicht
dartun soil.
Das alte Sanatorium, von dem das Unternehmen in X. seinen Ausgang
genommen hat, erwies sich bald als zu klein und nicht mehr zeitgemass;
es bedurfte eines zeitgemassen Neubaues, um alien Nachfragen gerecht
werden zu kbnnen.
1) Entsch. des O.V.G. vom 29.2. 1896. Entscheidungen des Oberver-
waltungsgeriohts. Bd. V, S. 391.
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Die Gewerbesteuerpilicht der Privatirrenanstalten.
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Die VereinigUDg mehrerer, von einander getrennter Geb&ude zu
einer Anstalt bat den grossen Vorteil, dass die Kranken, je nach ihrem
sozialen Verbalten, leichter, zweckm&ssiger und sachdienlicher verteilt
werden kOnnen. Von vornherein ist die Trennung eines offenen Sana-
toriums von einer geschlossenen Anstalt gegeben. Dazu kommt unter
Umst&nden noch, wie in X., ein Geb&ude, das binsichtlich seines Cha-
rakters weder das eine noch das andere ist,- sondem ein Zwischending
darstellt.
Soilte wirklich ein Einzelner die erforderlichen Mittel haben, um
eine grdssere Privatanstalt zu grunden oder kaufiich zu ubernehmen,
so wurde es mebr als fraglicb sein, ob er dann die Last, den Aerger
und die Unannehmlicbkeiten, die der Betrieb einer Privatanstalt mit
sicb bringt, auf sich nehmen wurde! In der Regel wird ein Einzelner
nicht uber die notwendigen Rapitalien verfugen. Er kann sich diese
naturlich auf rein gesch&ftlichem Wege beschaffen; 'aber sehr viel vor-
teilhafter ist die Gewinnung eines fachm&nnischen Mitarbeiters oder,
kaufm&nnisch gesprocben, Teilhabers, der ebenfalls Geldmittel einschiesst.
Nach der Preussischen Ministerialanweisung vom 26. 8.1901 §19 Z.3
muss, mindestens ein psychiatrisch vorgebildeter Arzt in der Irrenanstalt
wohnen, wenn sie heilbare Rranke aufnimmt; der leitende Arzt darf
mit anderen Worten, wenn er der einzige Arzt der Anstalt ist, die An¬
stalt jedenfalls nicht fur l&ngere Zeit verlassen, und er wSre somit das
ganze Jahr an die Anstalt gebunden, wenn er keinen Vertreter stellen
kann. Sind aber zwei Aerzte in ihrer eigenen Anstalt als leitende
Aerzte tatig, so ist die GewShr geschaffen, dass jeden Augenblick ein
vollwertiger Ersatz vorhanden ist. Eines solchen bedarf es naturlich
fur den Fall eines l&ugeren Urlaubs oder einer schweren Erkrankung.
Dem Anstaltsleiter, der allein auf sicb angewiesen ist, wurde es schwer
fallen, einen Arzt mit geeigneter Vorbildung, zudem in kurzer Zeit
als Vertreter zu gewinnen. Seine Anstellung, auch fur einen kurzen
Zeitraum, wurde ihm erhebliche Kosten verursacben. Aber auch wenn
ich hiervon absehe, muss bervorgehoben werden, dass in einer Privat-
irrenanstalt die Verbindung zwischen Kranken und Arzt so innig oder
so pers5nlich ist, wie man sich nur denken kann. Dieses Verh<nis
wurde durch die Einschiebung eines nicht standig angestellten, meist
jungeren, wenn auch vieileicht spezialistisch ausgebildeten Arztes, der
sich zudem in den neuen Betrieb erst einleben muss, gef&brdet. Nicht
nur der Kranke selbst, sondem auch seine AngebSrigen wiirden dagegen
Bedenken haben.
Die Notwendigkeit, fur eine st&ndige &rztliche Stellvertretung in
einer grOsseren Privatanstalt Sorge zu tragen, ist im Vergleicb zu einem
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Sanatorium sebr viol dringlicher, weil die Geisteskranken der arztlichen
Beratung und Ueberwachung viel mehr bedurfen als Nervenkranke —
man denke nur an den Fall einer ausgesprochenen Selbstmordneigung
oder tobsuchtigen Erregung — und weil die Irrenanstalt .das gauze
Jahr hindurcli im Betriebe sein muss, w&hrend viele Sanatorien, vor
allem solche, die mebr zur Erholung bestimmt sind, nur im Sommer
geOffnet sind.
Das waren zweifellos die Erwagungen, die in X. fur die Vereini-
gung der beiden Psychiater zum gemeinsamen Betrieb der Privatanstalt
massgebend waren.
Ob uuter Verzicht auf die eben gescbilderten Vorteile dieser Vereini-
gung der Betrieb desselben Untemehmens billiger durcb Anstellung eines
Assistenzarztes gesichert werden konute, ist meines Erachtens fur die
Frage der Gewerbesteuerpflicht belanglos, unterliegt viel mehr lediglich
dem Ermessen der beteiligten Aerzte. Dabei darf auf keinen Fall uber-
sehen werden, dass die Vereiniguug zweier Aerzte in gleichwertiger
Stellung auch ihre Nachteile bat. Gerade diese sind daran Schuld,
dass verhaltnismassig selten eine Irrenanstalt von mehreren gleichbe-
rechtigten Aerzten als Besitzern betrieben wird.
Es ist gewiss nicht erforderlich, dass eine Privatirrenanstalt von
einem Arzt errichtet und betrieben wird. Die Reichsgewerbeordnung
sieht in ihrem § 30 diese M5glichkeit ausdrucklich vor, indem sie vor-
scbreibt, welche Bedingungen der Unternehmer bei Erteiluog der Kon-
zession erfullen muss. Aber daraus darf noch nicht der Schluss gezogen
werden, dass dasselbe Unternehmen, wenn es von einem Arzte and
nicht von einem Laien betrieben wird, deshalb den Charakter eines
Gewerbebetriebes beibehalt, auch wenn das Unternehmen der arztlichen
Tatigkeit vfillig untergeordnet wird. Dasselbe gilt fur den Fall, dass
zwei Aerzte eine Anstalt besitzen.
Fur die Frage der Gewerbesteuerpflicht kann es auch belanglos
sein, wie die Arbeit unter beide Aerzten verteilt wird. Die Trennnng
kann so erfolgen, dass der eine Arzt nur die arztlichen Leistungen uber-
nimmt, der andere sich lediglich dem Anstaltsbetrieb widmet; da aber
der Anstaltsbetrieb der Ausubung des arztlichen Berufes untergeordnet
sein muss und somit eine ausgesprochen arztliche F&rbung tragt, ist
auch diese Tatigkeit als eine arztliche anzusehen.
Die MOglichkeit einer derartigen „sachlichen Teilung der Arbeit u
sieht die hier vorliegeude Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom
1. Dezember 1915 ausdrucklich vor. „Der eine Arzt widmet sich bei-
spielsweise dem sogenannten Ordinieren, der andere mehr der Verwal*
tung, namentlich der Sorge dafur, dass die Anstaltseinrichtungen und
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Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten.
759
der Betrieb den arztlichen Anforderungen entsprechen, dass die Pfleger
ansgebildet und uberwacht, dass die Anstait in jeder Hinsicht mfiglichst
jedem Kranken die gfinstigsten Lebeus- und Heilbedingungen bietet.
Auch in dieser Tatigkeit kann die Ausubung der arztlichen Tatigkeit
nnd in der Anstalt ein Werkzeug fur diese besondere Art von Berufs-
ausfibung gefunden werden“.
„Dass der Arzt seine gesamte arztliche Tatigkeit nur in der An*
stalt und fur sie ausuben musse und dass diese, um gewerbesteuerfrei
zu sein, die voile Ausubung etwa seines arztlichen Berufes ermfiglichen
musse, ist nirgendwo ausgesprochen und rechtsirrig“, bemerkt ausdruck-
lich das Oberverwaltungsgericht in einer inir vorliegenden Entscheidung
vom 14. Januar 1914; denn es „mfissen die gesamten Einrichtungen,
wenn sie ibrem Zweck entsprechen sollen, erfahrungsgemfiss nach firzt-
lichen Grundsfitzen getroffen sein. Sie mfissen den Kranken die gun¬
stigsten Lebensbedinguugen bieten; welche das sind, kann nur der Arzt
benrteilen. Sie milssen zugleich verhfiten, dass die Geisteskranken sich
oder andere scbadigen 1 *. Mit diesen Ausffihrungen wurde die Ansicht
der betreffenden Regierung zuruckgewiesen, die daraus, dass der eine
der beiden arztlichen Anstaltsbesitzer in der Hauptsache die Verwal-
tnngsangelegenheiten leitet und die Wirtschaftsffihrung uberwacht, auf
einen gewerblichen Charakter des Anstaltsbetriebes schliesst.
Ueber die Beurteilung der Tatigkeit der beiden Aerzte kann dann
kein Zweifel sein, wenn beide sich der Behandlung der Kranken und
der Leitung des damit unmittelbar verknQpften Anstaltsbetriebes gleich-
massig widmen, wie es in X. der Fall ist.
III.
Fur die Entscheidung fiber die Gewerbesteuerpflicht hat das Ober¬
verwaltungsgericht eine ausschlaggebende Bedeutung der Frage bei¬
ge] egt, ob die Absicht besteht, den Kranken Aufenthalt und Dnterhalt
gegen Entgelt lediglich aus Gewinnabsichten zu gewahren. Diese Frage
kann im Einzelfalle, da die Vermutung weder ffir die eine noch die
andere Annahine spricht, nur unter Prflfung der konkreten Verhaltnisse
beantwortet werden.
Das Oberverwaltungsgericht hat daher in seiner vorliegenden Ent¬
scheidung vom 1. Dezember 1915 „die Anhfirung eines mit den Ver-
haltnissen der Heilanstalt vertrauten oder bekannt zu machenden Sach-
kundigen u gefordert, der sich insbesondere auch fiber die „Verteilung
der geforderten Tagessfttze auf Verpflegung und arztliche Tatigkeit
innerhalb der unter fihnlichen Verhaltnissen fiblichen beziehungsweise
durch die arztliche Gebfihrentaxe festgesetzten Grenzen“ auslasst.
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760 Ernst Schultze,
Das Oberverwaltungsgericht hat damit eine Forderung gestellt, die
es bereits in seiner fruheren Entscheidung vom 5. 6. 1898 erhoben
hat 1 ). Die’Fuhrung diesesNachweises, dass aus demAnstaltsbetriebe selber
kein besonderer Gewinn erstrebt wird, wird erleichtert, „wenn die arzt-
lichen Unternehmer von Privatkrankenanstalten, wie es vielfach geschieht,
die Vergutung fur die arztliche Tatigkeit einerseits und fur die Ge-
w&hrung von Unterhalt in der Anstalt andererseits getrennt berecbnen
und fiber- Beides gesondert Buch ffibren; alsdann kfinnen sie unschwer
beweisen, dass sie tatsachlich erhebliche Ueberschfisse nicbt erzielt
haben oder mit Rficksicht auf die H5he der Unkosten im Verh<nis
zu den Pensionssatzen uberhaupt nicht zu erzielen verm5gen“.
Ich mOchte hiuzufugen, dass der Kgl. Wfirttembergische Verwal-
tungsgerichtshof in einer Entscheidung vom 29. Oktober 1903, in der er
ebenfalls die Gewerbesteuerpflicht der Privatanstalten verneint, die „Unter-
scheiduug, wieviel von der Gesamtvergutung auf die arztlichen und wie-
viel auf die sonstigen Leistungen entfallt“, als bedeutungslos bezeichnet.
„Im Hinblick auf diese einheitliche Gestaltuug des Betriebes
des Beschwerdefuhrers und des daraus fliessenden Einkommens muss
dieser Betrieb auch einer einheitlichen umfassenden Besteuerung
unterstellt werden: es ist nicht angangig, durch kiinstliche, mit der
Wirklichkeit in Widerspruch stebende Annahmen den einheitlichen
Wirtschaftsbetrieb in zwei steuerlich besonders zu behandelnde Betriebe
zu spalten und fur diese gesonderte Betriebe'zwei selbstandige unter
verschiedenen steuerlichen Gesichtspunkten stehende Gewinne willkur-
lich zu konstruieren 11 .
Tatsachlich wird wohl kaum in einer einzigen Privatirrenanstalt
die arztliche Leistung in jedem Einzelfalle — und gar noch nacb der
Gebfihrenordnung! — in RechnUng gestellt. Ich wfirde auch die
schwersten Bedenken grundsatzlicher Art gegen eiu derartiges Vorgehen
haben, ganz abgesehen davon, dass hierdurch nur Schwierigkeiten,
Unzutraglichkeiten und Misshelligkeiten entstehen. Die arztliche Leistung
ist eben keine Ware, die man gewissermassen mit dem Meter messen
kann! Der Patient wurde das Gefuhl rticlit los werden, dass die firzt-
licbe Bemuhung nur nach der Zeit bezahlt werden musse, und anderer¬
seits muss sich der Arzt auch gegen den Yerdacht scbutzen, sich bci
der Behandlung von Kranken lediglich von materiellen Gesichtspunkten
leiten zu lassen.
Bei eiuer derartigen Kostenberechnung wurde, das kann man mit
Sicherheit erwarten, geradezu um die Kosten fur die arztliche Behand-
1) Entscheidungen des O.V.G. 1899, Bd. 7, S. 428.
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Die Gewerbesteuerpflicht der Priratirrenanstalten.
761
long gefeilscht werden und zwar im Hiublick oder gar unter dem aus-
drficklichen Hinweis darauf, dass die Ausfibung der arztlichen Tfitigkeit
dem arztlichen Anstaltsbesitzer keine' unmittelbaren Unkosten oder
Auslagen verursacht.
In nur wenigen Anstalten wird nach den Prospekten ein besonderes
HoDorar fur die arztlichen Leistungen ausser den Kosten fur Wohnung
und Bekfistigung vereinbart. Fur gewOhnlich wird die arztliche Be-
handlung, die Wohnung und Verpflegung als ein einheitliches Ganze
angesehen und in einer Gesamtsumme in Rechnung gestellt; nur insofern
wird hier und da ein Unterschied gemacht, als sich der Anataltsleiter
das Recht vorbehalt, einen hOheren Pensionspreis zu berechnen, falls
besondere Anforderungen von Seiten des Kranken — und das gilt aucb
in arztlicher Beziehung — gestellt werden.
Daher geht es meines Eracbtens auch nicht an, gerade daraus, wie
es im vorliegenden Falle seitens der Regierung geschehen ist, die Ab-
sicbt der Gewinnerzielung aus dem Anstaltsbetriebe zu erschliessen, dass
eine gesonderte Berechnung des arztlichen Honorars und der Pensions-
einnahmen nicht stattfindet. Ein sehr gewichtiger Beweisgrund fur die
Gewerbesteuerpflicht des Sanatoriums konnte dann durch ein einfaches
finanztechniscbes Manover leicht beseitigt werden; tatsachlich soli aber
doch nur auf Grund sachlicher Erwagungen, nicht im Hinblick auf die
Art der Bficberffihrung fiber die vorliegende Frage entscbieden werden.
Da nach mehrfachen Entscheidungen 1 ) die Privatanstalten nicht ver-
pflichtet sind, ihre Firma in das Handelsregister eintragen zu lassen, sind
sie zu einer kaufmfinnischen Bucbfuhrung nicht angehalten. Aus der
Unmfiglichkeit, auf Grund der eingereichten Bilanz ein klares Bild „uber
die HChe des er?ielten gewerblichen Ertrages aus der arztlichen Tfitigkeit
in Verbindung mit dem Betriebe des Sanatoriums 11 zu erhalten, ’darf und
kann somit kein Rfickschluss auf die Steuerpflichtigkeit gezogen werden.
Der hier vom Oberverwaltungsgericht gestellten Aufgabe gerecht
zu werden, ist nicht nur roisslich, sondern auch schwer. Ich kann eine
Ldsung der Aufgabe nur darin sehen, dass ich dem Nichtfacbmann aus-
einandersetze, worin die rein arztliche Tatigkeit des Anstaltsleiters einer
Irrenanstalt besteht. Ich ffige in Klammern die Mindestgebfihr hinzu, die
dem Arzt nach der arztlichenGebfihrenordnung ffir Preussen vom 15.5.1896
und ihren Ergfinzungen vom 13. 3. 1906 und 23. 5. 1914 zusteht.
Man kann erwarten, dass durchschnittlich jeder Kranke von dem
Anstaltsarzt tfiglich mindestens zweimal besucht wird. Der Besuch
1) Kammergericht 14. 1. 1901, vgl. Kammergericht 9. 11. 1903. Aerztl.
Saohverstandigenzeitung 1905, S. 92.
Archiv f. Pflyebiatrie. Bd.flO. Heft 9/3. 49
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Ernst Sohultze,
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dauert naturlich nicht immer gleicb Iange. Bei dem einen Kranken
genugt oin H&ndedruck, ein kurzes Wort, wAhrend der andere Kranke
bei jeder Gelegenheit Wert darauf legt, mindestens 1 / i , 1 / 2 Stunde oder
noch linger sich mit dem Arzt zu unterhalten. Da der Arzt in der
Anstalt wohnen moss, wird es sich am eine „Beratung eines Kranken
in der WohDung des Arztes” (11 A. Z. 8 1 Mark) bandeln. In X liegen
aber die beiden Sanatorien getrennt. In jedem Sanatorium wohnt ein
Arzt. Vertritt ein Arzt den anderen, so wurde fQr die Besncbe in der
nicht zur Wohnung gehOrigen Anstalt, also „den Besuch des Antes bei
dem Kranken”, eine hohere Gebuhr zu berechnen sein, wenn auch die
Mindestgebuhr (II A. Z. 2 1 Mk.) dieselbe ist. Die Mindestgebuhr darf
erboht werden, wenn eine besonders eingehende Untersuchung (Augen-
spiegel, Mikroskop) vorgenommen wird (Z. 5 2 Mk.) oder wenn der
Besuch auf „Verlangen der Kranken” sofort gemacht wird (Z. 11).
Vielfach genugen aber nicht zwei Besuche t&glicb, vor allem nicht
bei Augstzustinden oder Erregungszust&nden. Damit kime die Berech-
nung einer grOsseren Zahl in Betracht, die nacb der Gebuhrenordnung
gerechtfertigt ist, weil sie „nach der Beschaffenheit des Falles geboten
sind” (Z. 8).
Die Einrichtung von Wachabteilungen beseitigt nicht die Notwendig-
keit, die Kranken auch nachts unter UmstSnden aufzusuchen; hierfur
kommt (Z. 10) das Zwei- bis Dteifache der Gebuhr fur Besucbe oder
Beratungen am Tage in betracht.
Die T&tigkeit des Anstaltsleiters, soweit sie bisher geschildert ist,
stellt das dar, was durchschnittlich jedem Kranken gew&hrt wird.
Beim Hinzutritt einer rein kOrperlichen Erkrankung wird der Arzt er-
heblich^mehr in Anspruch genommen werden.'
Aber auch die Eigenart der psychisehen Stdrungen macht vielfach
besondere Eingriffe notwendig. Dem Kranken muss ein Betaubungs-
mittel, unter Umst&nden, wie bei melancholischen Kranken, die sich
weigern, die Arznei zu nehmen, wochen- oder gar monatelang, Tag fur
Tag, mehrmals (vgl. Z. 42) eingespritzt (Z. 87 1 Mk.) oder ein Heilmittel
intravends einverleibt werden wie z. B. Salvarsan. (Z. 37 b 5 Mk.) Bei
andern Kranken sind zeitraubende elektro-diagnostische Untersuchungen
oder elektrische Behandlungen (Z. 36 2 Mk.) erforderlich.
Unter Umstanden muss die Hypnose, die fur den Arzt sehr zeit-
raubend und anstrengend ist und fur die iu der Gebuhrenordnung eine
besondere Taxe nicht angegeben ist, angewandt werden. Die Psycho¬
analyse, die noch mehr Zeit beanspriicht und oft stattfinden muss, soli
sie den von manchen gepriesenen Erfolg haben, brauche ich nicht zn
berucksichtigeu, da sie — glucklicherweise! — nicht iu den Heilplan
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Die Gewerbestenerpflicht der Privatirrenanstalten.
763
der Anstalt in X. aufgenommen ist. Bei nahrungsverweigemden Eranken
1st Sondenernahrung erforderlich. Bei sehr erregten Oder kfirperlich
schwacben Eranken muss der Anstaltsleiter das Bad leiten, das dem
Eranken gegeben wird (Z. 32 2 Mk.). Zar Feststellang der Natur der
Erkrankung ist heute in einer grossen Zahl von Fallen die Untersuchung
des Blutes und des Liquors notwendig. Natiirlich muss hierzu das Blut
dem Eranken entnommen oder die Punktion vorgenommen werden;
beides bedeutet einen, wenn auch nicht gerade erheblichen, operativen
Eingriff (vgl. Aderlass nach Z. 48 2 Mk.). Die Untersuchung des Blutes
und des Liquors ist umstandlick und schwierig, so dass fur sie eine
besondere Entschadigung, fiber deren Hfibe die Gebfihrenordnung keine
Bestimmuog enthalt, zweifellos gerechtfertigt ist. Dass die Untersuchung
des Harns, mindestens bei der Aufnahme jedes Eranken, gemacht wird,
halts ich ffir selbstverstfindlich. Sie muss bei dem Verdacht oder dem
Vorliegen von Stoffwechselstfirungen wiederholt, unter Umstfinden tag]ich
vorgenommen oder gar quantitativ ausgeffihrt werden.
Ich habe bisher die firztliche Tatigkeit im engeren Since berfick-
sichtigt, wenn ich noch erwfihne, dass der Anstaltsleiter, vor allem
wenn die Anstalt auf dem Lande gelegen ist, des Oftern auf eine „mfind-
liche Beratschlagung zweier oder mehrerer Aerzte“, z. B. mit einem Fach-
arzte fur innere Medizin oder Chirurgie (Z. 12 5 Mk. ffir jeden Arzt)
angewiesen ist.
Die arztliche Tatigkeit des Arztes einer Privatirrenanstalt ist aber
sehr viel umfangreicher. Bei der Aufnahme und bei der Entlassung
des Eranken ist einer grossen Zahl von Behfirden zu berichten. Die
zustandige Staatsanwaltschaft fragt in bestimmten Zwischenraumen nach
dem Befinden des in der Anstalt untergebrachten Geisteskranken und
der Notwendigkeit seiner Entmfindigung. Diese Frage vermag nur der
Arzt zu beantworten, und die Antwort stellt zum mindesten wieder
eine kurze Bescheinigung fiber den Erankheitszustand (Z. 24 a 2 Mk.)
dar, wenn nicht gar ein ausffihrlicher Erankheitsbericbt (Z. 24 b 3 Mk.)
notwendig ist; dasselbe gilt auch dann, wenn der Anstaltsleiter die
Stellung eines Pflegers ffir den Eranken anregt, beffirwortet oder ab-
lebnt oder wenn er Behfirden gegenfiber, insbesondere der Ortspolizei-
behfirde des zukfinftigen Aufenthaltsorts, seine Bedenken gegen eine
Entlassung des Eranken aos der Anstalt zum Ausdruck bringen will.
Begrfindete Gutachten babe ich nicht erwahnt, weil diese wohl immer
besonders von den sie einfordernden Behfirden entschadigt werden.
Bisher babe ich noch nicht den mfindlichen und schriftlichen Ver-
kebr mit den Angehorigen des Eranken erwahnt. Wohl jeder Irrenarzt
wird mir darin beipflichten, dass es in nicht wenigen Fallen scbwieriger
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764 Ernst Schultzs,
ist, mit den AngehOrigen des Kranken als mit diesem selbst auszukommen.
Man kdnnte geradezu von einer Behandlung der Verwandteu reden!
Viele Verwandteu bringen dem Anstaltsleiter, sei es aus sicb, sei es
infolge fibernommener krankbafter Vorstellungen des Anstaitskranken,
Misstrauen entgegen. Jeder AngehOrige glaubt, fiber Geisteskrankheiten,
auf jeden Fall fiber das bei seinem Angehdrigen vorliegende Leiden,
besser untevrichtet zu sein, als der Facbmann. Auch der Fernsprecher
(vgl. Z. 5 a) wird in den Dienst einer Privatirrenanstalt gestellt; so kann
man in Prospekten schon der Bemerkung begegnen, telephoniscbe Aus-
kunft werde, wenn fiberhaupt, nur zu den and den Zeiten erteiit.
Nimmt der Arzt die Mahlzeiten gemeinsam mit den Kranken ein,
wie es auch in X. der Fall ist, so hat er nicht einmal w&hrend der
Mablzeit seine Ruhe, sondern muss auch dann noch beruflich tfitig sein.
Ich bin mir sehr wobl bewusst, dass nicht jede der von mir er-
wahnten Moglichkeiten, so h&ufig sie in der Anstalt auch zutreffen, in
jedem Einzelfalle in Betracht kommen. Gewis wird der schon seit
Jahren erkrankte ruhige Irre weniger firztlicber Pflege bedfirfen, als
der akut Erkrankte oder der Erregte. Aber ich muss doch dem Miss-
verstfindnis entgegentreten, als ob bei alten unheilbaren Kranken ledig-
lich eine Bewahrung in Betracht kommt, also eine T&tigkeit, die auch
der Nicht-Arzt ausfiben kfinnte; vielmehr ist auch hier eine korperliche
und psycbische Behandlung Oder doch zum mindesten Ueberwachung
notwendig, soil der Kranke nicht verkommen.
Das Mindestmass firztlicher Leistung, das jedem Anstaitskranken zn
teil wird, ist der ein- bis zweimaligeBesucb amTage, und man kann getrost
annohmen, dass hierzu noch sicher im Laufe des Tages eine weitere
Leistung hinzukommt, die natfirlich in jedem Einzelfalle verschieden ist
Ich habe oben nur die Mindestsfitze angeffihrt. Die Mindestsatze
sollen aber nach der Gebfihrenordnung bei nachweisbar Unbemittelten
(I § 2) Anwendung linden. Solche konnen aber in X. nicht aufgenommen
werden. Im Gegenteil, es handelt sich bier durchschnittlich um Kranke,
die den besseren St&nden angehfiren — das ergibt sich schon aus dem
Pensionssatz, der t&glich durchschnittlich 8—12 Mark betr> —, und
die Gebfihrenordnung gestattet im § 8 ausdrficklich, die HOhe der Ge-
bfihr nach der Vermogenslage des Zahlungspflichtigen zu bemessen.
Eine hOhere Gebfihr ffir die firztlichen Leistungen zu berechnen ist
auch deshalb zulfissig, wei) die beiden Besitzer Spezialarzte sind; sie
waren es schon, bevor sie in den Anstaltsbetrieb eintraten — fur den
leitenden Arzt einer Privatirrenanstalt ist ja eine zweij&hrige spezialisti-
sche Ausbildung ohnehin erforderlich — und sind es im Laufe ibrer
bisherigen Anstaltstfitigkeit noch mehr geworden.
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Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten. 765
Ihre T&tigkeit, die „eine besondere Form der Ausubung des arzt-
lichen Berufes“ darstellt 1 ), unterscheidet sich von der anderer Aerzte
vor allem auch dadnrch, dass sie Tag fur Tag — gewissermassen in ,
ihrem eigenen Hause — Sprechstunde fur eine grfissere Zahl von Kranken
und zwar vielfach diesel ben Kranken halten. Es ware aber unberechtigt,
daraus die Forderung einer geringeren Gebiikr herzuleiten. Man kann
es dem Arzte nicht zumuten, dass er, kaufmannisch gesprochen, Rabatt
gibt; es bandelt sich bier urn einen grundsatzlichen Unterschied, der
ohne weiteres einleucbtet.
Die Gebfihrenordnung sieht ubrigens eine Ermassigung auch nur
dann vor, wenn „mehrere zu einer Familie gehOrende und in derselben
Wobnnng befindliche Kranke gleichzeitig zu behandeln" sind (Z. 9).
Die Unzalassigkeit einer Ausdehnung dieser Pflicht iiber den im Gesetz
ausdrucklich vorgeschriebenen Rabmen hat das Landgericht Munster i. W.
am 9. Mai 1912 ausdrucklich verneint 2 ); danach kann bei gleichzeitiger
Bebandlnng mehrerer einer und derselben Krankenkasse angehfirenden
Mitglieder in einera Krankenhause das voile Besuchshonorar bei jedem
Kranken berechnet werdeu. Aber auch abgesehen davon trifft die obige
Vorschrift fiber Erm&ssigung bei Massenbehandlung nur auf die firzt-
lichen Besuche zu, nicht aber auf die Beratungen in der Wohnung des
Arztes. nm die es sich vorzugsweise bei einer Privatirrenanstalt handelt.
Soil ich auf Grand meiner Ausffihrungen schatzen, wieviel die
Anstaltsbesitzer in X. fur ihre krztliche Bemfihung t&glich ffir jeden
Kranken dnrcbschnittlich berechnen dfirfen, so wfirde ich sicher 3—5 Mk.
angeben.
Es muss berficksichtigt werden, dass auch in X., wie in jeder
grdsseren Privatanstalt, einzelne Kranke zu einem billigeren Satz verpflegt
werden, der oft die baren Auslagen nicht deckt; dass der besser situierte
Kranke durch eine hflhere Zahlung den Ausfall ausgleicht, erscheint
gewiss nicht unbillig. Daraus allein darf nicht ohne weiteres eine Ge-
winnabsicht des Anstaltsleiters entnommen werden, wie ausdrucklich die
scbon mehrfach angezogene Entscheidung des Preussischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 5. Mai 1898*) betont. Massgebend ffir die
Absicht der Gewinnerzielung ist eben nur das j&hrliche geldliche
Schlussergebnis.
Dass die Ausfibung des irztlichen Berufes durch die Verbindung
mit dem Anstaltsbetriebe vielfach einen grdsseren Gewinn abwirft als
1) Entscheidung des sachsischenOberverwaltungsgerichts vom 31.5.1902.
Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1902. Reohtsprechung S. 3.
2) Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1912. Rechtsprechung S. 21.
3) Entscheidungen. Bd. 7. S. 429.
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ohne solche, gebe ich ohne weiteres zu. Aber damit allein darf nicht
die Gewerbesteuerpfiichtigkeit begrundet werden, wie es bereits eine
altere Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 1894 >)
getan bat.
Das Oberverwaltangsgericht hatte geradezu „wegen der HObe des
Anlage- und Betriebskapitals and der Grosse der Anstalt, sowie der
von der Anstalt an die Patienten gew&hrten Leistungen and des
j&hrlichen Umsatzes“ den Betrieb der Anstalt als einen Gewerbe-
betrieb angeseben, and eine Ausscheidung der Honorare fur die Arzt-
liche Behandlung von dem Ertrage des Gewerbebetriebes als unznl&ssig
bezeichnet.
Ich babe mit Absicbt in meinen Anfragen, die ich an die Privat-
anstalten gerichtet habe, eine Aoskunft auch daruber erbeten, welcher
Betrag wohl fur die Behandlung jedes Kranken fur den Tag berechnet
werden durfte.
Viele Fachkollegen fubiten sich dazu ausser stande, weil ihnen
eine reinliche Scheidung zwischen Verpflegungskosten nnd Gebuhren fur
arztliche Leistungen unmdglich erscbien.
Andere wieder berechneten ibr arztliches Einkommen aus dem tat-
s&chlichen Ueberschuss, den sie bei dem Anstaltsbetrieb nach Abzog
aller Ausgaben, Abgaben and Unkosten am Ende des Rechnungsjahres
erzielen; das ist meines Erachtens nicht zul&ssig, da es sich hier am
ein BilanzmanOver handelt.
Einzelne Aerzte gaben an, dass ein bestimmter Prozentsatz des
Pensionsgeldes fur ftrztliche Bemuhungen anzusehen sei; er schwankte
zwischen 15 und 30 pCt.
Eine vierte Gruppe von Aerzten gab mir bestimmte Zahlen an.
Zwei Mark war die Mindestsumme, die fur den Eopf und Tag berechnet
wird, and dabei bandelt es sich meist am Sanatorien, in denen der
Arzt eine weniger anstrengende and verantwortlicbe, man darf auch
ruhig sagen, weniger gefahrvolle T&tigkeit ausubt, als in der ge-
schlossenen Anstalt. Die Mehrzahl beziffert die zu beanspruchende
Mindestsumme aaf drei Mark t&glich. Viele verlangen auch mehr. Ein
Anstaltsbesitzer nimmt Bezug auf ein Gutachten, das aber diese Prage
vier in weiten Kreisen bekannte Rliniker erstattet hatten; nach diesem
Gutachten sollen dem Arzt t&glich 5 Mark fur die Behandlung jedes
Kranken zugebilligt werden.
Einige Anstaltsbesitzer wiesen darauf bin, dass die Leiter einzelner
Sffentlichen Krankenh&user berechtigt sind, die Behandlung von Kranken
1) Entsoheidungen. 1895. Bd. 3. S. 254.
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Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten. 767
besserer Strode zu berechnen; nach den mir gemachten Mitteilungen
betragt diese Gebuhr fur die I. Elasse — und nur diese k&me nach
dem Charakter der Anstalt in X. in Betracht — mindestens drei Mark
taglich. Der Besitzer einer bayriscben Privatirrenanstalt scbreibt mir,
dass ihm die Anrechnung einer Gebuhr in dieser H5he schon vor Jahr
und Tag seitens seiner Steuerbehfirde zugebilligt sei.
Ich bin uberzeugt, dass der Jahresabschluss mancher Privatanstalten
bei Zugrundelegung dieser Gebuhr fur arztliche Tatigkeit eiue Unter-
bilanz aufweisen wurde. Das wurde naturlicb nicbt beweisen, dass die
arztliche Tatigkeit von mir geldiich zu hoch bewertet wird. Es geht
vielmehr aus diesem rechnerischen Abschluss nur hervor, dass der
Anstaltsbetrieb an sich keinen Gewinn bringt. Mehrere Privatanstalts-
besitzer, die eine eingehende und kaufmannische Buchfuhrung haben,
gaben mir in glaubbafter Weise an, dass sie froh seien, wenn der An¬
staltsbetrieb eine 4—5 prozentige Verzinsung abwerfe.
Der Besitzer einer sehr angesehenen grSsseren Privatanstalt schrieb
mir, dass der Reingewinn, auf Arztkosten berechnet, 95 Pfennig fur
den Kopf und den Tag ergebe. Da in dieser Anstalt nur Rranke der
besseren Stande verpflegt werden und ihnen, wie allgemein bekannt ist,
eine sehr ausgiebige und persSnliche BehandluDg zuteil wird, pflichte
ich ohne weiteres dem Anstaltsbesitzer bei, wenn er meint, diese Be-
zablung sei mehr als karglich. Diese Angabe, der ich wegen der jedem
bekannten Zuverlassigkeit des Anstaltsbesitzers besonderen Wert bei-
messe, teile ich nur mit, weil sie lehrt, dass tatsacblich der reine An¬
staltsbetrieb nicht immer Gewinn abwirft.
IV.
Ich gebe somit mein Gutacbten dahin ab:
1. Das Sanatorium X. ist nicht als ein Unternehmen anzusehen,
das der Gewerbesteuerpflicht unterliegt; denn der Anstalts¬
betrieb ist der arztlichen Tatigkeit nach jeder Richtung unter-
geordnet.
2. Die Vereinigung der beiden Aerzte ist nicht in der Absicht
der Gewinnerhfihnng erfolgt, sondern bedingt oder fast geboten
durch uberwiegend arztliche Erwagungen und Rucksichten.
3. In einer Anstalt von dem Charakter der Anstalt in X. ist
eine Gebuhr vou 3—5 Mark fur den Tag und den Kopf, soweit
arztlicbe Leistungen in Betracht kommen, aucb unter Zugrunde¬
legung der Bestimmungen der Preussischen Gebuhrenordnung
gerechtfertigt.
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768 Ernst Schultze, Die Gewerbesteuerpflicht der Privatirrenanstalten.
Auf mein Gntachten hin hob die Regierung die VeranlagnDg der
Privatanstalt zur Gewerbesteuer auf. Zahlenm&ssig konnte nacbgewiesen
werden, dass ein besonderer, die Gewerbesteuer begriindender Gewinn
nicbt erzielt wird. Nur der geringste von mir vorgeschlagene Tages-
satz von 3 Mark der Berechnung der krztlichen Gebuhren zugrunde
gelegt, wird das im Anstaltsbetriebe steckende Kapitai der Inhaber
verzinst, — wird, wie ich noch hinzufugen mOdite, anch noch ein an-
gemessener Betrag fur die Abnutzung der betreffenden Geb&udeteile und
ihres Inventars unter den Unkosten in Ausgabe gestellt (vergl. Ent-
scheidung des O.Y.G. vom 5. Mai 1898 Bd. 7 S. 429) — so ergab sich,
dass in einem Jahre uberhaupt keiner, in zwei Jahren nur ein un-
erbeblicher wirtscbaftlicber Reinertrag erzielt wurde. Dieser Ertrag
wurde vor allem mit Rucksicht auf das aufgewandte Risiko und die
wirtschaftliche Tuchtigkeit der beiden Anstalts&rzte als gering angesehen.
Alles das berechtigt nicht zu der Annahme, „dass der ganze Anstalts-
betrieb von dem Inhaber zum Zwecke des Erwerbs aus der Wirtscbaft
betrieben wird“. Auch den anderen Ausfuhrungen meines Gulacbtens
schloss sich die Regierung an.
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XX vu.
Ueber eigenartige Einschliisse in den Ganglien-
zellen (Corpora amylacea) bei einem Falle yon
Myoklonus-Epilepsie.
Vorlaufige Mitteilung.
Von
A. Westphal.
(Hierzu Tafeln VIII—X.)
Im Jahre 1911 hat Lafora 1 ) eine ganz eigenartige Bildung von
besonderen Korperchen in den Ganglienzellen des Zentralnervensystems
bei einem Falle von Myoklonus-Epilepsie beschrieben und dieselben als
„AmyloidkSrperchen“ bezeichnet. Die K5rperchen liegen nach der Be-
sehreibong Lafora’s im Innern der Ganglienzellen, teils in Einzahl,
toils in Mehrzahl. Der Kern liegt bei diesen Ganglienzellen zum Toil
exzentrisch und erscheint durch die Kbrperchen gedruckt. Die proto-
plasmatischen Fortsatze der Ganglienzellen sind zum Teil geschwundeu,
so dass dieselben rundlieb erscheinen. Seltener liegen die Korperchen
in den protoplasmatischen Fortsatzen der Ganglienzellen. Derartig ver-
anderte Zellen fanden sicb am sparlichsten unter den Betz’schen
Zellen des Zentralnen'ensystems, am zahlreichsten unter den Ganglien-
zellen der II., III. und IV. Scbicht der Hirnrinde, besonders in der Cal-
carinagegend, den Vierhugeln, dem Sehhugel, der Oblongata und dem
Hinterhorn des Rfickenmarkes, wahrend die Vorderhdrner keine der-
artigen Ver&nderungen zeigten.
Die Amyloidkdrperchen sind rund, besitzen gewOhnlich einige
Schichten, welcbe manchmal radiare Streifung zeigen. Sie geben fast
immer die charakteristischen Reaktionen der amyloiden Substanz. In
ihrer Mitte finden sich oft nadelfOrmige Kristalle. Manchmal nehmen
1) Ueber das Vorkommen amyloider Korperchen im Innern der Ganglien¬
zellen, zugleich ein Beitrag znm Studium der amyloiden Substanz im Nerven-
system. Virch. Arch. Bd. 205, und Beitrag zur Histopathologic der myokloni-
schen Epilepsie. (Bearbeitung des klinischen Teiles von B. Gluck.) Zeitschr.
f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. €.
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770
A. Westphal,
die Schichten verschiedene kontrastierende FArbungen an. Die Neuro-
fibrillen zeigen das vorgeschrittene Stadium der Zerstdrung.
Eiuige freiliegende Korperchen sind von einer Gliahulle umgeben.
Lafora macht keinen Versuch diese „Amyloidk5rperchen“ von den
Corpora amylacea zu trennen, er bezeichnet ihr Auftreten in den Ganglien-
zelten als „amyloide Degeneration 14 derselben und erklArt sich ihre Bil-
dung durcb eine lokale Abscheidung amyloider Substanz, welche mbglicher-
weise aus dem gestorten Stoffwecbsei in den Ganglienzellon hervorgehe.
Gegen diesen Befund und seine Deutung wendet sich Sturmer 1 ) in
seiner grossen, den heutigen Standpnnkt unserer Kenntnisse uber die
Corpora amylacea des Zentralnervensystems wiedergebenden Arbeit, in
welcher er hervorhebt, dass eine direkte Entstehung der Corpora amy¬
lacea aus Ganglienzellen noch nicht nachgewiesen, aber auch nicht an-
zunebmen sei, und dass es sebr zweifelhaft sei, ob es je gelingen wird,
eine Entstehung der Corpora amylacea aus spezifischer Nervensubstanz
zu beweisen, in einer absprecbenden Kritik, „die Abbildungen Lafora’s
ermangelten jeder Wahrscheinlichkeit, selbst fur den Fall, dass sie
ganz schematiscb gehalten sein sollen“. Das atypische Vorkommen in
den Ganglienzellen und das andersartige morphologische und tinktorielle
Verhalten wiesen darauf hin, dass es sich in dem Falle Lafora’s wohl
schwerlich um richtige Corpora amylacea handeln durfte. Es sei falsch
aus dem sebr zweifelbaften Befund dieser sogenannten AmyloidkSrper-
chen auf eine „amyloide Degeneration 14 der Ganglienzellen zu schliessen.
Der Befund von Lafora war bisher in seiner Art der Ein-
zigste. Vor Eurzem konnte ich nun bei einem auch in klinischer Hin-
sicht bemerkenswerte Erscheinungen darbietenden Fall von Myoklonus-
Epilepsie eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen konstatieren,
deren IdeutitAt mit den von Lafora beschriebenen nicht-zweifelhaft ist.
Da mir die Feststellung dieser Tatsache von allgemeinerem Interesse
zu sein scheint, halte ich eine vorlAufige, sich auf eine Schilderang des
klinischen Verlaufs des Falles und des Befundes an den Ganglienzellen
beschrAnkende, von einer Wiedergabe der anatomischen VerAnderungen
in ihrer Gesamtheit zunAchst noch absehenden Mitteilung fur angebracht,
wAhrend die ausfuhrliche VerOffentlichung einer spAteren Arbeit vor-
behalten bleibt.
Krankengeschiohte. Adele N., 18 Jahre alt, wurde am 31. 7. 1917
in die Bonner Provinzial-Heilanstalt aufgenommen. Ihre Eltern, Geschwister-
kinder, leben und sind gesund, ebenso die beiden Bruder und eine Schwester
1) Die Corpora amylacea des Zentralnervensystems. Histologische und
histopathologisoheArbeiten uber dieGrosshirnrinde, herausgegeben von F.Nissl
und A. Alzheimer. 1913. Bd.5. H.3. (MitausfubrliohemLiteraturverzeiobnis.)
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Ueber eigenartige Einscbliisse in den Ganglienzellen usw.
771
der Patientin. Keine Nerven- Oder Geisteskrankheiten in der Familie, insbe-
sondere auch nichts von Epilepsie bckannt. Im Alter von 10 Jahren
Scharlach. In Anschluss an diesen ein Anfall mit Bewusstlosigkeit von
einer Stnnde Daner. Danach anscheinend gesund, besuchte das Madchen-
gymnasium, lernte sehr gut, bis sich allmahlich Zuckungen in den
Armen einstellten, die fur „nervos“ gebalten wurden and zunachst keine
weitere Beachtung fanden, obwobl dieselben bald so stark vurden, dass ihr
beim Essen mitunter der Loffel aus der Hand fiel. November 1915 fiel Pat. bei
einem Schulansflug auf das Kimr, .soil sich Tiber das iliessende Blut sehr er-
schreckt baben, besuchte aber weiter die Schule und soil keine auffallenderen
Veranderungen dargeboten haben. VierzehnTagenach demUnfall schwerer epi-
leptischer Anfall von 1 / 2 —1 Stunde Dauer. Seitdem haufige Wieder-
holung der Anfalle, die auf den Unfall zuruokgefiihrt wurden. Nach den
Anf&llen war Pat. haufig kurze Zeit verwirrt, brach in krampfhaftes Weinen
oder Lachen aus. Die in den anfallsfreien Zeiten auftretenden
Zuckungenio den Handen wurden starker und ergriffen auch die
unteren Extremitaten. Der Gang wurde schwankend und unsicher. Es
stellten sich jetzt auch Veranderungen in dem psychischen Verhalten
der Pat. ein. Sie wurde sehr schreckhaft, leioht ermiidbar, ihre Interessen
liessen nach, sie fing an stumpf und gleichgiiltig zu werden. Die Sprache
wurde stockend und unsicher. Am 11. 5. 1916 erfolgte die Aufnahme in die
Lindenburg zu K61n.
Aus dem uns freundliohst uberlassenen Krankenjournal ist Folgeudes
bervorzuheben: Es werden sehr haufige, mitunter in Serien verlaufende schwere
epileptisohe Anfalle beob^chtet. Ausserhalb der Anfalle bestehen ^eigenartige
Zuckungen, bei Intentionen sich verstarkend“. Pat. wurde immer apathischer,
die Sprache immer unverstandlicber. Sie erkannte ihre Umgebung nioht mehr,
hatte Lichterscheinungen vor den Augen, behauptete andauend „14“ Streifen
zu sehen. Am 31. 8. wurde konstatiert, dass die sonst gut reagierenden Pupil*
len, unabhangig von den Anfallen beiderseits sehr weit waren und dass die
linke Pupille vollstandig liohtstarr war, die rechte nur wenig
reagierte. Naoh kurzer Zeit wurde wieder prompte Lichtreaktion
der mittelweiten Pupillen festgestellt. Zu gleicher Zeit fiel auf, dass
Pat. nioht mehr fixierte „offenbar ohne jedes Sehvermdgen war“, bei
normalem Augenspiegelbefund. Zeitweilig schien sie auch fastvollig
taub zu sein. Diese Storungen des Gesiohts- und Gehbrsinns
waren auch in der Folgezeit, aber\n geringerem Grade zu beob-
achten. Sehr wechselnd war das Verhalten der Sehnen* und Haut*
reflexe. Fuss- und Patellarklonus waren bald vorhanden, bald nicht nach*
weisbar, ebenso waren Babinski undOppenheim mitunter deutlich nachweisbar,
mitunter nicht oder in nicht ganz sicherer Weiee zu konstatieren. Die Bauoh*
deckenreflexe waren vorhanden. Die Sensibililt&t wies keine Storungen auf.
Keine Lahmungserscheinungen an den Extremitaten. Wassermann im Blute
negativ. Bei Lumbalpunktion kein erhohter Druok, Liquor fliesst tropfenweise
ab, ganz klar. Nonne negativ, keine Zellvermehrung.
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772
A. Westphal,
t
Da die epileptischen Anfalle, trotz aller angewandten Mittel (Brom, Epi-
leptol u. a.) an Haufigkeit und Schwere zunahmen, die Pat. benommen wurde,
nicht mehr schluckte und unter sich liess, wurde im September 1916 der Ver-
sucb eines operatiyen Eingriffs durch Eroffnung der Schadelhdhle in der linken
Scheitelgegend (Geh. Hat Tilmann) gemacht. ^Das Gehirn quoll formlich
aus der Oeffnung des Schadels heraus und stand offenbar unter sehr starkem
Druck. Ein Stich in die weichen Hirnhaute veranlasste ein allmahliches Ab-
fliessen der Flussigkeit und Sinken des Niveaus des Gehirns“. Nach der Ope¬
ration trat zunachst Besserung der Anfalle und des psyohischen Verhaltens
auf. Pat. antwortete wieder, wenn auch miihsam und mit stockender Sprache.
Bald aber stellen sich wieder sohwere, oft in Serien verlaufende epileptische
Anfalle ein, die Zuokungen ausserhalb der Anfalle nahmen an Intensitat zu,
und in psyohischer Hinsicht trat eine immer deutlicher werdende Demenz her-
vor. Dieser Zustand hielt im ganzen unverandert bis zu ihrer Ueberfuhrung
nach Bonn am 31. 12. 1917 an.
Hier ergab die Untersuchung folgendes: Patientin ist ein schwachlich
gebautes junges Madchen. In der linken Parietalgegend eine von dev Trepanation
herriihrende, nicht empfindliche Operationsnarbe. Die auffallendste Er-
scheinung bieten kurze,blitzartige Zuckungen einzelner Muskeln,
die in erster Linie die Extremitaten betreffen. Fast andauernd sind
die Zuckungen im U. quadrioeps femoris beiderseits siohtbar, auch die Exten-
soren und Flexoren der Hand und der Zehen sind lebhaft beteiligt. Mitunter
greifen die Zuokungen auch auf Muskeln des Rumpfes iiber und fiihren zu
einer krampfartigen Verziehung des Korpers nach hinten heruber. Im Fazialis-
gebiet sind bald kurze klonisohe Zuokungen urn die Mundwinkel herum, bald
ein mehr fibrillares Wogen zu beobachten, wahrend die anderen Fazialisaste
frei sind. Die Zunge nimmt nioht an den Zuckungen teil. Die myoklonischen
Zuckungen an den Extremitaten sind arhythmisch, nur mitunter auf beiden
Seiten synchron und von sehr wechselnder Intensitat. Am deutliohsten treten
sie beim Liegen der Patientin in die Erscheinung, haben aber keinen starkeren
lokomotorischen Efifekt zur Folge, der sich in der Regel auf leichte Beugungen
und Streckungen der Finger und Zehen beschrankt, wahrend in den grossen
Gelenken keine Bewegungen erfolgen. Mitunter wird durch das regellose Her-
vorspringen einzelner Muskeln ein „Sehnenhupfen a bedingt, ahnlich dem Ver-
halten bei hochfiebernden Kranken. Der Gang der Patientin ist nicht ohne
Unterstiitzung moglich, er erscheint weniger durch die Muskel-
zuokungen, wie durch ein starkes Taumeln gestort. Intendierte Be¬
wegungen mit den Armen sind.durch die sich einmischenden Muskelzuckungen
behindert. Die Kranke vermag nicht allein zu essen, muss gefuttert warden.
Die grobe Kraft der Extremitaten ist sehr gering, ohne dass sich eigentliche
Lahmungserscheinungen nachweisen lassen. Keine Sensibilitatsstorungen, die
Bauchdeckenreflexe sind erhalten. Die Patellarreflexe sind gesteigert, mitunter
Fussklonus hervorzurufen, beiderseits Babinski naohweisbar, kein Oppenheim.
Die Pupillen gleiohweit. Lichtreaktion links aufgehoben, rechts trage und
wenig ausgiebig. Augenhintergrund ohne Besonderheiten. Die Sprache ist ab-
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Ueber eigenartige Einsohliisse in den Ganglienzellen usw.
773
gerissen, mitunter deutlich skandierend, dabei verwasohen. Schwierigere Worte
warden nur mfihsam and unter sichtlicher Anstrengang herausgebracht, wobei
die Zucknngen um den Mund herum an Starke zunehmen. Psychiscb macht
Patientin einen euphoriscb dementen, leicht benommenen Ein -
druck. Alle Antworten erfolgen mit grosser Langsamkeit, die weniger aaf
der Spraohstorung, als auf einer Erschwerang der Auffassang zu beruhen
scheint Die auffallendste Erscheinang aaf psychischem Gebiete ist die boch-
gradige Ermfidbarkeit, die sich durch das schnelle Versagen bei Wieder-
holnngen aucb der leiohtesten Aufgaben dokumentiert; wahrend man bei der
ersten Frage noch mitunter eine leidlicb richtige Antwort erhalt, sind die fol-
genden Antworten schon unsinnig Oder die Patientin verstummt vollig. Es
lasst sich nur durch haufige Wiederhoiung der Prfifungen feststeilen, dass
Ged&chtnis und Merkfabigkeit erheblich gelitten haben, und dass die Kennt-
nisse fiir ihren Bildungsgang sehr dfirftige sind. Wassermann im Blut negativ,
im Liquor (ausgewertet bis 2,0) negativ. Nonne-Apelt negativ. Keine Pleozytose
(6 Lymphozyten in 1 ccm.)
Aus dem weiteren Krankheitsverlauf ist zunachst das haufige Auf-
treten von epileptischen Anfallen in verschieden langen Intervallen her-
vorzubeben. Wahrend zeitweilig taglich mehrore Anfalle beobachtet werden,
ist Patientin mitunter wochenlang frei von Anfallen. Die andauernd be-
stehenden myoklonischen Zuckungen werden durch dies© Anfalle in
der Art ihres Auftretens nicht beeinflasst, dagegen haben psyohische Er-
r eg ungen der verschiedensten Art eine wesentliche Steigeruag der Muskel-
zuckungen zur Folge. Die Haut- und Sehnenreflexe zeigen ein sehr
wechselndes Verhalten. Babinski und Oppenheim sind bald deutlioh vor-
handen, bald nicht nachweisbar, ohne dass sich ein Zusammenhang dieser Er-
scheinungen mit vorhergegangenen epileptischen Anf&llen nachweisen liesse.
Bald ist Fussklonus vorhanden, bald nicht hervorzurufen. Sehr auffallende
Erscheinungen sind an den Pupillen zu konstatieren und veranlassten
mich zu systematischen, wahrend des gesamten Krankenhausaufenthaltes der
Patientin fortgesetzten UntersuchungeD, deren Gesamtresultat folgendes ist:
Mitunter zeigen beide Pupillen keine Storung der Lichtreaktion,
mitunter sind beide starr auf Lichteinfall. Haufiger ist die Pupille
einer Seite lichtstarr, wahrend die der and ere n Seite auf Licht rea-
giert, mitunter prompt, mitunter auch trage, wobei zwischen links
und rechts ein ganz unregelmassiger Wechsel stattfindet. Nicht
selten reagiert eine Pupille noch bei der ersten Belichtung, wahrend sie bei der
zweiten starr erscheint. Verziehungen der Pupillen sind hierbei nioht zu
konstatieren. Es kann einigemal festgestellt werden, dass die lichtstarren,
mittelweiten Pupillen sich auch bei Konvergenz nicht verengern, wahrend mit¬
unter bei Konvergenz eine Verengerung eintritt. Die Versuche zur Priifung der
Konvergenzreaktion werden durch die Unfahigkeit der Patientin zu fixieren
sehr erschwert. Das ganze Verhalten der Patientin erweckt den Eindruok, dass
eine fortschreitende Abnahme des Sehvermogens besteht, fiber die
aber boi ihrer grossen Ermudbarkeit bei alien Sehprfifungen ein sicheres Urteil
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A. Westphal,
nicht zu gewinnen ist. Lesen and Schreiben zuerst nooh, wenn auch unvoll-
kommen erhalten, ist spater nicht mehr moglich. Der Gehorssinn lasst zur
Zeit unserer Beobachtung keine auffallenden Storungen erkennen. Psychisoh
tritt ein eupborisch dementes Verhalten immer deutlioher zu Tage, wird aber
mitnnter duroh karze freiere Zeiten unterbrochen, in denen die Kranke hin
and wieder einige iiberraschend prompte and richtige Antworten gibt, am dann
sofort wieder in ihren fruheren Zustand zu versinken. Zeitweilig bestehen
Gesichtshallazinationen; Patientin erzahlt von drohenden Gestalten, die
an ibr Bett herantreten. August 1918 treten besonders schwere epileptiscbe
Anfalle von mitunter stundenlanger Dauer auf. Im September wird beobacbtet,
dass die myoklonischen Zuckungen eine ausserordentliche Stei-
gerung bei der leisesten Beriihrung der Patientin, einem leichten
Anblasen der Haat erfabren, die gesamte Korpermuskulatur ergreifen and
so heftig sind, dass die Kranke, nicht gehalten, darch die Zackangen aus dem
Bett gescbleadert werden wurde. Starke Schweisse treten aaf. Patientin wird
immer stampfer, die Sprache ist kaum noch verstandlich and anter zaneh-
menden StSrungen des Schlaokens tritt am 3. Oktober 1918 Exitus ein.
Die wesentlichen Symptome dieses Krankheitsfalles, myoklonische
Muskelzuckungen, epileptische Anfalle und progressive zur
Demenz fuhrende psychische StSrungen weisen auf Beziehungen
desselben zu der von Lundborg bescbriebenen Form der myoklonischen
Erkrankung hin, anterscbeiden sich aber von derselben durch das Fehlen
jeder nachweisbaren hereditaren Veranlagung, die fur den Lundborg-
schen Typus als ein wesentliches Merkmal bezeichnet werden muss. Die
„myoklonische Reaktion" Lundborg’s tritt uns in der letzten Zeit
des Leidens in der uberaus heftigen Steigerung der Zuckungen auf die
geringfttgigsten sensiblen Reize deutlicb entgegen. Was die spastischen
Phanotnene anbetriflt, zeigt auch dieser Fall wieder, dass Babinski’s und
Oppenheim’s Zeichen zu den haufiger bei der Myoklonie vorkommenden
Erscheioungen gehoren, ein Umstand, auf den ich 1 ) vor kurzem bei der
Schilderung zweier Falle von familiarer Myoklonie hingewiesen babe. In
der Inkonstanz dieser Symptome steht die vorliegende Beobachtung den
von Recktenwald verCffentlichten Fallen von familiarer Myoklonie nahe.
Bemerkenswert erscheint die schwere Sprachstbrung in der vor-
liegenden Beobachtung, die wohl nicht allein auf die myoklonischen
Zuckungen in der Mundmuskulatur zuruckgefuhrt werden kann. Eine
sehr auffallende Erscheinung in unserer Beobachtung bietet das Ver¬
halten derPupillen. Die wabrend einer langen Beobachtungs-
zeit audauernd zu konstatierende Tatsache, dass die Pupillen
1) Ueber familiars Myoklonie und uber Beziehungen derselben zur
Dystrophia adiposo genitalis. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1918. Bd.58.
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Ueber eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen usw. 775
einen fortwihrenden Wecbsel zwischen erhaltener and auf-
gebobener Licbtreaktion bald einseitig bald doppelseitig
zeigen, muss als ein ganz ungewdhnliches Verhalten be-
zeichoet werden. Die Erscheinungen erinuern an die bei manchen
Fallen von katatonischem Stupor zu beobachtenden Pupillen-
phfinomene, unterscheiden sich aber von diesen in der Regel schnell
vorubergehenden Beeintrachtigungen der Lichtreaktion, durcb die auf-
fallende Konstanz der StOrung, auch lassen die Pupillen die fur die
katatonische Pupillenstarre bis zu einem gewissen Grade charakteri-
stiscben Formver£nderungen vermissen. Der Umstand, dass die Pupillen
bei der Konvergenz bald starr bleiben, bald sich verengern, weist
in Verbindung mit analogen Erfabrungen bei der „katatoniscben
Pupillenstarre 14 darauf bin, dass wir es mit einer vorubergehenden
absoluten Starre zu tun baben, bei welcher der an Starke uber-
wiegende Konvergenzimpuls mitunter zu einer Verengerung der Pupillen
fuhrt, wahrend dieselben auf Licht noch nicht reagieren. Von weiteren
Symptomen, deren Deutung zurzeit nocb nicht mdglich erscheint,
hebe ich die vorubergehenden, in einem fruheren Krankheitsstadium
beobachteten Symptome von anscheinend vOlliger Amaurose und
Taubheit, sowie die spateren Erscheinungen von Amblyopie hervor.
Die Auffassung dieser Symptome als psychogen bedingter ist besonders
mit Hinsicht auf die wesentliche Rolle, welche hysterische Ueber-
lagerungen in den von mir (1. c.) vor kurzem verOffentlicbten Fallen
von Myoklonie spielen, naheliegend. In dem vorliegenden Falle aber
fehlen alle weiteren Hinweise auf eine komplizierende Hysterie vbllig,
und die Art der SehstOrung machte durchaus nicht den Eindruck einer
auf psychogener Grundlage beruhenden Erscheinung, so' dass wir nacb
anderen Ursachen fur dieselbe suchen mussen.
Anatomische Untersuohung 1 ). Die Sektion des Gehirns ergab mit
Ausnahme eines starken Hydrocephalus externus keine Abweichungen von der
Norm. An den inneren Organen fand sich nichts Pathologisches.
Bei der mikroskopischen Untersuchung der Hirnrinde fallen zunachst
eigenartige Einschliisse in den Ganglienzellen auf. Es handelt sich urn ganz
eigentumliche kugelige Gebilde, welche sich in zahlreiohen
Ganglienzellen der Hirnrinde, besonders der tieferen Rindenschichten,
finden. Sie kommen in alien bisher untersuchten Rindenteilen vor und sind
am zahlreichsten in der hinteren and vorderen Zentralwindung vorhanden, mit
Ausnahme der Betz’scben Riesenpyramidenzellen, in denen sie nur in vor-
einzelten Zellen nachweisbar sind. Die Veranderungen treten am besten in
1) Bei derBearbeitung des anatomischen Materials hat mich Herr Dr. Sioli
in sehr dankenswerter Weise unterstutzt.
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A. Westphal,
den nach dem Nissl’schen Prinzip mit Toluidinblau gefarbten Schnitten des
Alkoholmaterials hervor. Dies© Darstellungsweise wird der folgenden Be-
schreibang zunachst zugrunde gelegt: die runden kugeligen Korperchen grenzen
sich scharf von der (Jmgebung ab, lassen jedoch nie eine Membran erkennen.
In der grossen Mehrzahl der erkrankten Zellen verdrangen die kugeligen
Gebilde den Kern, so dass derselbe, haufig in der Form verandert, ex-
zentrisch an der Peripherie der Zelle liegt, in anderen Zellen liegen die
Korperchen im Protoplasma, ohne die Gestalt der Zellen wesentlich zu ver-
andern oder den Item zu verdrangen. In vereinzelten Exemplaren sind die
Korperchen auoh in den Zellfortsatzen vorhanden (Fig. 7, Taf. VIII,
Fig. 14, Taf.IX, Fig. 16, Taf.X). Die Grosse derkugeligen Korperchen
ist eine sehr verschiedene, wie aus den farbigen, bei derselben Vergrdsserung
angefertigten Abbildungen hervorgeht. Sie liegen teils vereinzelt, teils
zn mehreren, bis zu 7 Exemplaren (Fig. 8, Taf. VIII) in den Zellen und
bilden mitunter ein die ganze Zelle ausfiillendes, von sparlichen Protoplasma-
resten derselben umgebenes Konglomerat. Man kann im allgemeinen belle
und dunkle Korperchen unterscheidon. Erstere stellen kreisformige Auf-
hellungen des Zellprotoplasmas von mitunter leicht opakem Farbenton dar,
lassen keine konzentrische Schichtung (Fig. 2a, Taf. VIII), nur mitunter ein
punktformiges, etwas dunkler gefarbtes Zentrum (Fig. 2b, Taf. VIII) erkennen.
Die grossere Anzahl der kugeligen Gebilde besitzt ein homogen basisch
blau gefarbtes Zentrum und um dieses herum ein- oder mehr-
schiohtige, sich durch Differenzen in der Farbbarkeit unter-
scheidende Hofe (Figg.3,9,10, Taf.VIII). In den gleichen Zellen kommen
beideArten von Korperchen nebeneinander vor (Fig. 14,Taf. IX). Dass zwischen
hellen und dunklenKorperchen in den einzelnenZellen die verschiedensten
Uebergange vorhanden sind, geht aus den Abbildungen deutlich hervor.
Eine Anzahl von Korperchen lasst eine feine radiareStreifung erkennen (Fig.l,
Taf. VIII), die mitunter zu zierlichen fazettierten Bildungen (Fig. 4, Taf. VIII)
fuhrt. Bei einigen der fraglichen Gebilde hat der Rand ein gezahntes, zackiges
Aussehen (Fig. 6, Taf. VIII). Das Protoplasma der diese Korperchen ein-
schliessenden Zellen zeigt, soweit es nicht vollig von derselben zerstort ist, die
verschiedensten Grade der Tigrolyse, zuweilen mit vakuolenartigen
Bildungen (vergl. die Abbildungen). Die Form der Zellen mit Ein-
schlussen lasst die mannigfachsten Formveranderungen, Ab-
rundungen, flaschenformige Bildungen, sack- oder buckelartige Auftreibungen
erkennen, dcren Mannigfaltigkeit die Abbildungen zeigen. Mitunter sind die
Veranderungen der Zellform und die Deformitaten des Kerns derartig, dass der
Gharakter derZelle, obGlia- oderGanglienzelle, nicht mehr sicher zu erkennen
ist, doch ist keine Zelle mit Zelleinschluss mit einiger Sicherheit
als Gliazelle zu identifizieren. Vereinzelt finden sich die gleichen
Kdrperohen, geschichtete und ungeschichtete, grossere und kleinere, helle und
dunkle frei im Gewebe liegend (Figg. 4, 5a, Taf. VIII) ohne naohweis-
baren Zusammenhang mit Zellen, wahrend bei anderen entsprechenden
Gebilden der Kern und ein zartester umgebender Protoplasmasaum (Fig. 5b
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Ueber eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen usw.
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nnd o, Taf. VIII) oder ein Zellfortsatz (Fig. 5c, Taf. VIII) erkennen lasst, dass
die Korperchen in kleinen zelligen Elementen eingeschlossen sind.
Bei der Farbung nach van Gieson sind die K5rpercben im Allgemeinen
rosa, mit einem Stioh ins gelbliche gefarbt. Fig. 12, Taf. VIII zeigt ein solohes
Gebilde, welches den ganzen Zellleib einnimmt, dem der ganz nach aussen
gedrangte Kern kappenformig aufsitzt. Manche der Korperchen lassen ein
kreisformiges, helleres, gelblich gefarbtes Zentrum erkennen (Fig. 13,Taf.VUl).
Bei der Bielschowsky-Farbung der Neurofibrillen sieht man, dass
die got erbaltenen, intensiv schwarz gefarbten Anssenfibrillen das in der Zelle
liegende Gebilde umziehen und auch in den Fortsatzen schwarz gefarbt anf
weite Strecken zu verfolgen sind. (Fig. 15, Taf. IX.) Die in einem Fortsatz
liegendeu Korperchen warden ebenfalls von schwarz gefarbten Fibrillen um-
zogen, die dann wieder, zn einem Stammchen yereinigt, weiterziehen. (Fig. 16,
Taf. X.) Allgemeinere Veranderungen im Fibrillenbild der die
KSrperchen einschliessenden Zeilen lassen sich also nichtfest-
stellen. Die in yielen Ganglienzellen und yereinzelt in ibren Fortsatzen
liegenden kngeligen Gebilde sind teils hell, strukturlos (Fig. 16, Taf. X), teils
zeigen sie eine drusige Struktur, und zwar handelt es sich hierbei entweder
um ein dunkles Zentrum, welches aus einer drusig gestalteten Anhaufung
kleiner Kldmpchen von nicht ganz scharferBegrenzung besteht (Fig. 15, Taf. IX)
oder es sind derartig kleine Kliimpchen in einer peripberen Schicht, drusen-
artig um ein helleres Zentrum angeordnet. (Fig. 17, Taf. X.)
Bei der Fettfarbung mit Scharlaoh (R. Michaelis) lassen die
kngeligen Zelleinschliisse an keiner Stella Fettreaktionen erkennen.
Bei der Farbung mit H&matoxylin farben sich Teile der kugeligen Ge¬
bilde sehr intensiv blau.
Mit Best’schem Karmin und Neutralrot farben sie sich in ihrem ganzen
Umfang sehr stark rot.
Mit Methyl violett, Th ion in und Jodgrfin farben sie sich in gleicher
Weise wie das Gmndgewebe.
Bei der Farbung mit Lugol’scher Losung farbt sich der zentrale Tail
▼ieler Korperchen dunkelbraun, der periphere Te\\ hellgelblich (Fig. 5d,
Taf. VIII). Bei Farbung mit verdunnter Lugol’scher Losung tritt die gleiche
dunkelbraune Farbung des Zentrums ein, bei einigen eine dunkelviolette Far¬
bung, wahrend der periphere Teil bei einigen hellfiolett wird. Nachbehand-
lung der Scbnitte mit Schwefelsaure verst&rkt den violetten Farbenton etwas.
Farbung mit May-Grunwald’schem Farbgemisch und Mann’scher
Ldsung lasst im Innern einiger der Korperchen ganz kleine, stark gefarbte
Punkte hervortreten.
Diese Untersuchungen ergeben, dass es sich bei den
fraglichen, in den Ganglienzellen gelegenen KQrperchen um
Gebilde handelt, die nach Form, Gr6sse, Struktur und den
FArbbarkeitsverhaltnissen dem Verhalten von Corpora amyla-
cea entsprechen. Was die viel diskutierte Frage nach der konzen-
ArebiT f. Psychiatric. Bd. 60. Heft 2/3. N 50
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A. Westphal,
trischen Schichtung dieser KOrperchen betrifft, welche Redlich 1 ) nur
selten fand, w&hrend Sturmer (1. c.) an der konzentrischen Schichtung
als Eigenschaft der Corpora amylacea nnbedingt festhalt, sehen wir bei
den, von uns in den Ganglienzellen nacbgewiesenen KOrperchen alle
Ueberginge von Gebilden mit deutlich konzentrischer Schichtung bis
zu selteneren Exemplaren, die eine Schichtung nicht erkennen lassen.
In der fiber wiegendeu Mehrzahl der KOrperchen erblicken wir aber mit
Sturmer „in der Unterscheidung zweier verschiedenen Partien, eines
Kernes und einer Schale, den Beweis fur ibre konzentrische Schichtung”.
Es kann bei Vergleich der Scbilderung und den allerdings schematiscb
gehaltenen Abbiidungen Lafora’s mit unseren Pr¶ten kein Zweifel
bestehen, dass'die von diesem Autor in den Ganglienzellen bescbriebenen
KOrperchen mit den von mir gefundenen identisch sind. Der Umstand,
dass wir die kleinen kristallinischen Bildungen im Zentrum mancher
der KOrperchen, die Lafora beschreibt, bei unserem Falle nicht nacb-
weisen konnten, kann als eine wesentliche Differenz wohl nicht be-
trachtet werden.
Somit ist in zwei Fallen der Nachweis gebracht, dass in
den Ganglienzellen Einschlfisse von Gebilden vorkommen.
die nach dem heutigen Standpunkt unserer Kenntnisse von
den Corpora amylacea nicht zu trennen sind, und dass
Stunner’s Kritik der Lafora’schen Befunde „als jeder Wahrscheinlicb-
keit ermangelnd” nicht den Tatsachen entspricht. Die Form der Ge-
bilde mit ihrer konzentrischen Schichtung, ihre braunviolette Farbung
mit Jod, die Best’sche und die Neutralrotfarbung und ibre Darstellung
im Bielschowsky-Praparate lassen es als ausgeschlossen erscheinen, dass
es sich urn Kunstprodukte, Myelintropfen oder Aehnliches, handelt.
Anschliessen mfissen wir uns aber auf Grund des Ergeb-
nisses unserer Farbreaktionen der Ansicht Sttlrmer’s, dass
es nicht richtig sei, aus dem Befund der von Lafora als
„AmyloidkOrperchen“ bezeichneten Corpora amylacea auf
eine „amyloide Degeneration” der Ganglienzellen zu schliessen,
wie es Lafora tut. Auch abgesehen von dem ganz ungewOhnlichen
Ort des Auftretens der Corpora amylacea in den Ganglienzellen,
w ah rend sie ausserhalb derselben nur vereinzelt vorhanden sind, moss
in unserer Beobachtung der Befund von sehr zahlreichen der-
artigen KOrperchen bei einer jugendlichen Person an und fur
sich als ein auffallender bezeichnet werden, da ja bekanntlich
1) Die AmyloidkOrperchen des Nervensystems. Jabrb. f. Psych. 1891.
Bd. 10. H. 1.
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Ueber eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen usw.
779
die Corpora amylacea in grosser Menge ganz vorwiegend in hbheren
Altersstufen zur Beobachtung kommen, w&hrend sie im jugendlichen
Alter fehlen odor nur in sehr sp&rlicher Anzahl vorhanden sind.
Es ist bier nicbt die Stelle, auf die verschiedenen Theorien uber
die Entstehang der Corpora amylacea als eines Produktes der Glia, der
Markscheiden Oder der Acbsenzylinder des Naheren einzugehen, zumal
es heute „wohl ausser Zweifel ist, dass die Corpora amylacea.
nur ein allgemeines patbologiscbes Stoffwechselprodukt des
gesamten zentralen Jiervensystems sein konnen“ (Stunner)
Unter diesem Gesicbtspunkt betrachtet, kann das Auftreten der Corpora
amylacea in den Ganglienzellen der Grossbirnrinde 1 ), wenn auch zur-
zeit unsere Kenntnisse nicbt ausreichen, um nur eine Vorsteilung uber
ibre Entstebungsweise an dieser Stelle zu bilden. nicbt a priori als
„etw'as ganz Unwabrscheinlicbes u bezeichnet werden, hat ja das Studium
der mikrochemischen Veranderungen der Ganglienzellen des Zentral-
nervcnsystems uns in dem Verbalten der Ganglienzellen bei der amau-
rotischen Idiotie gezeigt, dass sich bestimmte, eigenartige Abbau-
produkte in denselben anhaufen und zu den sonderbarsten Form-
veranderuugen der Zellen und ibrer Fortsatze fubren kdnnen. Die
Eigenart der fur die amaurotiscbe Idiotie charakteristischen Zellveran-
derungen lasst daran denken, dass vielleicht auch bei anderen Gehirn-
erkrankungen abnliche Beziehungen bestimmter Abbauprodukte zu- den
Ganglienzellen bestehen kdnnten, und dass die bei der Myokionus-Epi-
lepsie gefundenen Zelleinscblusse auf Abbauvorgangen beruben, die mit
den dieser Erkrankung vielleicht zugrunde liegenden, freilich noch durch-
aus bypothetischen StoffwechselstCrungen (Autointoxikationstheorie
Lundsborg’s) in Zusammenbang stehen.
Wenn es auch als eine sehr auffallende Tatsache be¬
zeichnet werden muss, dass sich bei einer so seltenen Erkran¬
kung wie der Myoklonus-Epilepsie in zwei Fallen das bisher
noch nicht beobachtete Vorkommen von Corpora amylacea
in den Ganglienzellen hat feststellen Iassen, so ist es doch
nicht erlaubt, aus diesen Befunden allgemeinere Schlusse
irgendwelcher Art zu ziehen, zumal die frQheren Untersuchungen
der Ganglienzellen bei der Myoklonie (Fr. Scbultze, Hunt) ein nega-
1) Es ist in dieser Beziehung eine Bemerkung Barfurth’s (Rostock) im
Anschluss an einen Vortrag von Winterstein „Ueber den Stoffwechsel der
nervosen Zentralorgane“ (Ref. Neurol. Zentralbl., 1919, Nr. 2) von Interesse,
dass „schon der Physiologe E. Pfluger in seinen Vorlesungen die graue Sub-
stanz des Zentralnervensystems als die am sohnellsten zersetzbare im Orga-
nismus cbarakterisiert habe“.
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A. Westphal,
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tives Resultat gehabt haben, und die Befunde an den Ganglienzellen
aus neuerer Zeit bei Fallen von Myoklonus-Epiiepsie (Clark und Prout,
Mott, Volland, F. Sioli) zwar Veranderungen, aber nicbt charakte-
ristischer Art ergeben haben.
Es sei mir zum Scbluss gestattet, auf einige Eigentumlichkeiten
des kliniscben Verlaufs in meinem Fall und dem vou Lafora-
Gluck kurz hinzuweisen. In beiden Fallen haben sich den bekannten
Symptomen der Myoklonus-Epiiepsie dem Krankheitsbilde nicbt zn-
gehOrige Symptome auf optiscbem und akustischem Gebiete
zugesellt. Es handelt sich in beiden Fallen um eine Abnabme des
Seb- und HOrvermOgens, die in meiner Beobachtung von sehr wech-
selnder Intensitat war und einen objektiven Befund vermissen liess. In
dem Lafora-Gluck’scben Falle bestand ausserdem eine Stauungs-
papille 1 ), wahrend in unserer Beobachtung ein sehr auffallender Wechsel
in dem Verhalten der Lichtreaktion der Pupillen zu konstatieren war.
Fur die Auffassung der Sehstdrang ist es vielleicht bemerkenswert, dass
in der Lafora-Gluck’schen Beobachtung die charakteristischen Ver-
anderungen an den Ganglienzellen in der Calcarinarinde weit aus-
gedehnter waren als an iigendeinem anderen Abschnitt der Gehirorinde.
Derartige Befunde lassen die Frage aufwerfen, ob sich nicbt aus den
verschiedenen unter dem Sammelnamen „Myoklonus-Epilepsie“ zusammen-
gefassten Krankheitsgruppen, deren Trennung in manchen Fallen zur-
zeit noch eine mehr oder weniger willkurliche ist, auf Grand typischer
anatomischer Befunde fester umgrenzte Erankbeitsformen zusammen-
fassen lassen, in ahnlicher Weise, wie es gelungen ist, aus der an-
seheinenden GleichfOrmigkeit der Idiotieformen die wohlcharakterisierten
Krankheit8bilder der amaurotischen Idiotie abzusondern? Dass der¬
artige Erwagungen zunachst nur aus dem Grunde Berechtigung haben,
um die Aufmerksamkeit bei weiteren Untersuchungen auf die angeregten
Fragen zu lenken, braucht kaum besonders bervorgehoben zu warden.
1) Wegen dieser komplizierenden Befunde bat wohl auch Oppenheim
(Lebrbucb) den Lafora-Gluek’sohen Fall nicht ohne weiteres der Myoklonie
zugerechnet.
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Ueber eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen osw.
781
, ErklSrong der Abbildnngen (Tafeln VIII—X).
Tafel VIII.
[Fig. 1 bis Fig. 11. (Toluidinblaufarbung nacb Nissl.) Zeiss bomogen Immer¬
sion 2 mm. Kompens. Okular 4.]
Fig. 1. Ganglienzelle (Zentralwindung), mehfere Corpora amylacea im
Innern entbaltend. Das Korperchen mit intensir blau gefarbtem Zentrum lasst
radiare Streifnng des ansseren Ringes erkennen. Kern an die Peripherie der
Zelle gedrangt.
Fig. 2. Zwei kleinere Ganglienzellen a and b (Zentralwindung), jede ein
belles Corpus amylaceum im Innern entbaltend, die Zelle b mit im Zentrum
des Korperchens gelegenem blauen Punkt. Zelle a lasst keinen Kern erkennen,
in Zelle b liegt er ganz exzentrisch an der Peripherie der Zelle. Die abgerun-
dete Zelle lasst koine Fortsatze erkennen.
Fig. 3. Ganglienzelle (Zentralwindung), mebrere kleine nnd ein grosseres
Corpus amylaceum entbaltend, letzteres mit intensir blau gefarbtem Zentrum.
Bucklige Auftreibungen des Zellleibes durch die Korperchen. Tigrolyse.
Fig. 4. Corpus amylacenm freiliegend (Zentralwindung). Die ausge-
sprocben radiare Streifnng bedingt zierliche Fazettierung des Korperchens.
Fig. 5. Bei a. Drei freiliegende Corpora amylacea (Zentralwindung). Die
bei b nnd c abgebildeten Korperchen sind in kleine zellige Elemente einge-
schlossen. Bei d mebrere Corpora amylacea mit braun gefarbtem Zentrum. (Be-
bandlung mit Lugol’scher Losung.)
Fig. 6. (Zentralwindung.) Grosses helles Corpus amylaceum mft dunk-
lerem Zentrum und eigenartig gezaoktemRand, in stark reranderterZelle liegend.
Fig. 7. Ganglienzelle (Zentralwindung), mit mehreren Corpora amylaoea
im Innern und einem Korperohen in dem Zellfortsatz liegend. Kern an die
Peripherie der Zelle gedrangt. Tigrolyse.
Fig. 8. Ganglienzelle (Zentralwindung). Eine grossere Anzahl ron Cor¬
pora amylacea im Innern der stark veranderten, abgerundeten Zelle liegend.
Fig. 9. Ganglienzelle (Frontalwindung) mit gesohiohtetem Corpus amy¬
laceum im Innern. Zelle flaschenformig deformiert. Kern an der Spitze der
Zelle liegend. Tigrolyse.
Fig. 10. (Zentralwindung.) a und b birnformig gestaltete Ganglienzellen
mit je einem zentral gelegenen Corpus amylaceum, der Kern an der Peripherie
der Zellen liegend. Tigrolyse. In Zelle a vakuolenartige Bildung.
Fig. 11. Ganglienzelle (Zentralwindung) mit einem grosseren geschich-
teten Corpus amylaceum und zwei kleineren Korperchen im Innern. Tigrolyse
der stark deformierten Zelle.
[Fig. 12 n. 13. (Farbung nach van Gieson.) Zeiss homogene Immersion 2mm.
Kompens. Okular 4.]
Fig. 12. Grosses gelbrosa gefarbtes Corpus amylaceum, die Ganglienzelle
(Zentralwindung) ganz ansfdllend. Kern der kreisrunden Zelle kappenformig
aufsitzend.
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782 A. Westphal, Ueber eigenartige Einschlusse in den Ganglienzellen nsv.
Pig. 13. Grosses rosa gefarbtes Corpus amylaceum mit kreisformigem
gelblich gefarbtem Zentrnm, die Ganglienzelle (Frontalwindong) fast ganz aus-
fullend. Kern der abgerundeten Zelle peripherisch anfsitzend.
Tafel IX.
Fig. 14 (Mikrophotographie nach einem mit Toluidinblan gefarbtem Pra-
parat). Vergr. 600. Ganglienzelle mit zahlreiohen sich durch ihre Farbungs-
eigensohaften unterscheidenden hellen nnd dunklen Corpora amylacea im Innern
nnd einem kngeligen hellen Kdrperchen im Fortsatz liegend. Der Kern liegt
deformiert in der Spitzengegend der Zelle.
Fig. 15 (Mikrophotographie nach einem Bielschowskypr¶t.) Vergr. 700.
Grosses Corpus amylacenm mit dunkel gefarbtem drnsigem Zentrnm in der
Ganglienzelle liegend. Das Kdrperchen wird von schwarz gefarbten Fibril len
nmzogen, die sich weiter in den Fortsatzen verfolgen lessen.
Tafel X.
Fig. 16 (Mikrophotographie nach einem Bielschowskypraparat.) Vergr. 700.
Helles „strukturloses“ Corpus amylaceum in einem Ganglienzellenfortsatz
liegend. Schwarz gefarbte Neurofibrillen umziehen das Korperchen und lessen
sioh nach Vereinigung zu einem schwarzen Stammchen weiter verfolgen.
Fig. 17 (Mikrophotographie nach einem Bielsohowskypraparat.) Vergr.700.
Corpus amylaceum in einer Ganglienzelle liegend. Das Kdrperchen lasst ein
helleres Zentrum nnd einen dunkel geiarbten peripherischen Toil von drnsiger
Struktur erkennen. ^
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xxvm.
Aus der Klinik fiir psychisch and Nervenkranke der Universitat Bonn
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Westphal).
Ueber die manisch-depressive Anlage und einlge
ihrer Ausliiufer.
I. TeU.
Von
Prof. Dr. A. U. Hiibner,
Obererzt der Klinik.
Vorwort.
Bei den wissenschaftlichen Abenden, welche nnser Jubilar in der
Anstalt Herzberge seiner Zeit veranstaltete, wies er uns immer von
neuem auf die Notwendigkeit einer genaneren Erforschung der Zust&nde
hin, welche wir in dem Begriff der Psychopathicn zusammenzufassen
pflegen.
Wie fruchtbringend seine Anregungen waren, zeigen die Arbeiten
von Birnbaum, der sich sowohl urn die Erforscbnng einzelner Sym¬
ptoms sebr verdient gemacht hat, wie er anch versucbte, Typen ans der
grossen Masse der Degenerativen berauszusch&len.
An jene 14 Jahre zurfickliegenden Anregungen knfipft die vor-
liegende Studie an. Sie stelit einen Versuch dar, gewisse symptomato-
logisch und itiologisch zasammengehfirende „abnorme Charaktere" kurz
zu skizzieren und ausserdem zu zfeigen, dass es bizarre Persfinlichkeiten
gibt, die, lediglich als Zustandsbild betrachtet, manchen schweren Ver-
blfidungsprozessen zu gleichen scheinen. Erst ihre symptomatologische
Zergliederung und die Verfolgung ihrer Lebensschicksale lehrt uns, dass
keine progressive Verblddung vorliegt, sondern dass es sich am die
Entwickelung einer manisch-depressiven Anlage handelt.
Einleitung.
Das eingehende Studium des manisch-depressiven Irreseins, insbe-
sondere die Verfolgung der Lebenslaufe Zirkul&rer, zeigte uns, dass es
neben den in gut abgrenzbaren Phasen verlaufenden F&lle andere gibt,
deren Verlauf ein protrahierterer ist. Ein Teil von ihnen heilt fiber-
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784
Dr. A. H. Hubner,
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haupt nicht aus. Es bildet sich vielmehr ein Zustand chronischer
Manie (Nitsche, Specht) oder Melancholic (Dreyfus, Hubner) aus,
der noch alle wesentlichen Symptome des an fangs vorhandenen Zustands-
bildes aufweist, aber in milder Form, mehr skizzenhaft.
Eine zweite Erfahrung, die bei Verfolgung der Lebensl&ufe Zirku-
larer gewonnen wurde, besagte, dass zum mindesten ein Teil der Kranken
ausserhalb der schweren Attacken, in den sogenannten „freien Zeiten u ,
nicht ganz gesnnd ist, vielmehr Krankheitszeichen bietet, die in das
Gebiet der allgemeinen Entartung hineingerecbnet werden, in Wirklich-
keit aber grossenteils Einzelfftden aus dem Kn&uel der Symptome des
ausgepragten manisch-depressiveu Zustandsbildes darstellen.
Einen Schritt weitergehend stiess man dann auf die milderen Formen
des manisch-depressiven Irreseins, wie sie uns Wilmanns, Hecker,
ROmheld u. a. kennen gelehrt baben, und als man diese Zyklothymien
nach der gesunden Seite hin weiter verfolgte, da traf man scbliesslich
auf den Begriff der manisch-depressiven Anlage (Kraepelin, Bon-
hoeffer), die nicht allein bei sicber Zirkul&ren gefunden wurde, sondern
auch bei PersOnlichkeiten, die das Grenzgebiet der Entartungszust&nde
niemals uberschritten, also nie geisteskrank im engeren Sinne wurdea.
Die Renntnis dieser abnormen PersOnlichkeiten ist trotz vieler Arbeit
(Kraepelin, Reis u. a.) eine unvolikommene. Wesentlich gefOrdert
wurde sie durch die Aufdeckung der engen Beziehungen zwischen den
Zwangsvorstellungen und der manisch-depressiven Anlage (Bonhoeffer,
Heilbronner, Stoecker, Schneider, Verf.). Es bedarf aber noch
weiteren Studiums und zwar nach verschiedenen Richtungen:
1. mussen die von Kraepelin u. a. gegebenen Beschreibungen der
Grundzust&nde erg&nzt werden,
2. ist die Frage der Beziehungen zwischen den Zwangsvorstellungen
und der manisch-depressiven Anlage zu erOrtern,
3. bedarf es einer Abgrenzung einiger Ausllufer der manisch-depres¬
siven Anlage von der Dementia praecox,
4. sind die Beziehungen zwischen den reaktiven Psychoneurosen
und den zirkul&ren Zust&ndeu zu prufen, schliesslich ist
5. gewisser Zusammenh&nge zwischen epileptischen Symptoraen-
komplexen und der Zyklothymie zu gedenken, und
6. sind die paranoiden Phasen des zirkul&ren Irreseins zu be-
sprechen.
Mit dem ersten dieser 6 Punkte besch&ftigt sich die vorliegende
Arbeit.
Es scheint, als ob das den einzelnen Autoren zur Verfugung stehende
Material qualitativ und quantitativ sehr verschieden ist, und auch die
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaafer. 785
Methodeo, mit denen man an die Ldsung der erw&hnten Fragen heran-
trat, waren teilweise unzureichend.
Es bedarf, urn einen wirklichen Ueberblick zu bekommen, eines
grossen Materiales, gewonnen durch Untersuchung ganzer Familien.
Namentlich die nicht anstaltspflegebedfirftigen Familienmitglieder ver-
dienen besondere Berficksichtigung.
Sehr geeignet sind z. B. die orthodox-jfidischen Familien, in denen
ich Ofters die hier zu besprechenden Zust&nde fand 1 ). H&ufig sah ich
sie auch in der rheinischen LandbevClkerung and zwar seltener unter
den klinischen Eranken, als in der Privatsprechstunde und Ambulanz,
denn viele von den Patienten kommen mit kflrperlichen Allgemeinbe-
schwerden zum Arzte und erst eine genauere Analyse zeigt, dass nicht
neurasthenische oder hysterische, sondern manisch-depressive Erschei-
nungen, wenn auch in feinster Andeutung, den Kern des Erankheits-
zustandes bilden.
Was die Forschungsmethode anlangt, so muss man sich von dem
Fehler, an dem unsere Erblichkeitsforschung lange gekrankt hat, frei
halten, n&mlich von der allzu hohen Bewertung kurzer Urteile der An-
gehfirigen fiber den Geisteszustand ihrer Verwandten. Man muss jedes
einzelne Familienmitgiied selbst untersuchen, einen Lebenslauf von ihm
erfragen und dann seine Angaben durch Vernehmung Verwandter und
Uobeteiligter erg&nzen. Nur so gelingt es, ein wirkliches Bild davon
zu erhalten, in welchem Umfange Zeichen der manisch-depressiven An¬
lage innerhalb einer Familie sich finden.
Besonders wertvoll ist es, wenn man die einzelnen Glieder einer
solchen Familie beobachten kann. Man kann dann gerade auch bei
den scheinbar Gesunden manches entdecken, was uns lehrt, dass nicht
nur die Erankheitsanlage im Groben vererbt wird, sondern dass sogar
einzelne Zfige sich bei alien Familienmitgliedern wiederfindeu.
An die klinische Betrachtung. des Einzelnen muss man unter
den Gesichtspunkten herantreten, die Eraepelin uns gelehrt hat, nfim-
lich unter Berficksichtigung der Tatsacbe, dass das rein manische und
rein melancholische Zustandsbild bestimmte Eardinalsymptome, Depres¬
sion, motoriscbe und sprachliche Hemmung usw. einerseits — Exaltation,
Rede- und Bewegungsdrang usw. andererseits aufweist, dass diese Sym¬
ptoms koordiniert sind und dass Zeichen der einen Gruppe sich im
Einzelfalle mit solchen der anderen so weitgehend vermischen kOnnen,
dass nur eine genaue Analyse, verbunden mit der Betrachtung des Ge-
1) Weil dort viel Yerwandteneben geschlossen werden, die manisch-
depressive Anlage im fibrigen dort besonders haafig vorkommt.
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786 Dr. A. H. Hiibner,
samtverlaufes die Zugehdrigkeit zur manisch-depressiven Anlage er-
kennen l&sst.
1. Die manisch-depressive Anlage.
Allgemeine Hinweise darauf, dass das manisch-depressive Irresein
einer angeborenen Anlage ent&pringt, finden sich in der Literatnr schon
sehr frfih. Falret und Morel haben einige hierauf bezfigliche Ausffih-
rungen gemacht. In Magnan’s Forscbungeu fiber die Folie des here-
ditaires Deg4n6r6s sind zahlreiche klinische Tatsacben enthalten, welche
in diesem Sinne zu ve|rwerten sind, und je mehr wir uns der Gegen-
wart n&hern, desto h&ufiger begegnet uns die Grkeuntnis, dass die sp&ter
Manisch-depressiven schon von Jugend auf krankhafte Abweichungen
von der Norm bieten. (Rybakoff, Hecker, Weygandt, Dubois,
Hartenberg u. a.).
Thalbitzer hat aber Recbt, wenn er sagt, dass nur einzelne Au-
toren die Gleichartigkeit der Symptome, welche die degenerative
Anlage bilden, unit denjenigen des voll entwickelten Krankheitsbildes
klar erkannt batten.
In exakterWeise nahm iReiss ffir die konstitutionelle Verstimmung
das Problem in Angriff. Gr wies an der Hand zahlreicher Krankheitsge-
schichten nach, dass sie ein Vorl&ufer des manisch-depressiven Irreseins
ist. Specht, Siefert, Nietzsche u. a. zeigten, dass es chronisch-
manische und melancholiscbe Zust&nde gibt.
Die ausfuhrlichsten Darstellungen der in Betracht kommenden Zu-
stande verdanken wir Kraepelin, Wilmanns, Birnbaum undStranski.
Alle diese Forscher stimmen in der Beschreibung der depressiven und
manischen Anlage fiberein, auch auf das Vorkommen der zyklothymen
Veranlagung wird von ihneu hingewiesen und der reizbaren Personlich-
keiten gedacht. Verh<nismflssig kurz werden die Mischzust&nde be-
rfihrt, obwohl auch die, wenigstens bei unserem Krankenmaterial, ein
zi^mlich grosses Kontingent aller vorkommenden Spielarten bilden.
In Grgfinzung dieser Darstellungen wollen die nachstehenden Aus-
fubrungen eine mit Lebensl&ufen belegte Beschreibung derjenigen Modi-
fikationen der manisch-depressiven Anlage geben, die uns im Laufe der
letztea Jahre begegnet sind.
a) Die konstitutionelle Erregung.
Die Frage, ob es fiberhaupt eine reine, lediglich aus manischen
Symptomen zusammengesetzte Charakteranlage gibt, ist von verschiedenen
Forschem bestritten worden, obwohl uns Hoche, Sieffert, Specht,
Nitsche, Rehm, Ritterhaus u. a. mit solchen Fallen bekannt ge¬
macht haben.
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Ausl&ufer. 787
Richtig ist, dass es verhAltnismAssig wenig Beobachtungen gibt,
die ganz frei von grOberen depressiven Beimischungen sind. Dass solcbe
PereSnlichkeiten aber jahrzehntelang ungef&hr das gleiche Bild bieten
kdnnen, hoffe ich sogleich beweisen zu kdnnen.
Ehe ich fiber meine Beobachtungen selbst berichte, ist noch eine
Yorbemerkung zn machen.
Es war oben davon die Rede, man mfisse davon ausgehen, dass
die vorbandenen manischen und depressiven Symptome koordiniert seien.
Znm vollen Yerst&ndnis der tatsfich lichen Verhfiltnisse ist aber noch
ein Weiteres hinzuzuffigen. Es entstehen verschieden aussehende Typen
der gleichen Spezies (z. B. der manischen Anlage) dadurch, dass zwar
die wichtigsten Symptome der Manie andeutungsweise im Charakterbild
vertreten sind, aber in angleicher St&rke. Wie in einer schweren
Manie die Einzelkomponenten des Zustandsbildes in ihrer Gradentwick-
inng nicht in gleicher Starke zor Auspragnng zu kommen braucben
(Stransky), so braucht das auch bei der manischen Anlage nicht der
Fall zu sein. Es kdnnen einzelne Symptome dominieren andere nur
angedeutet sein, und dadurch kommen Persdnlichkeiten zustande, die
— wenigstens auf den erslen Blick — grundverscbieden zu sein scheinen,
wabrend sie in Wirklichkeit alle der manischen Anlage zuzurechnen sind.
Was ich meine, warden einige Erankheitsgeschichten am besteo
illustrieren.
Die Selbstbewusst-reizbaren.
Familie C. (27a Jahr persdnlich beobachtet. Aus der Zeit vorher
liegen arztliche Atteste, Briefe and persdnlicbe Mitteilungen von ffinf
Verwandten, darunter der Mutter, vor).
Yater, ehemaliger Offizier, scbwankte in den letzten zwanzig Jahren
seines Lebens fast standig zwisohen ausgepragteren melancholischon und
leicbteren manischen Zustanden bin und her. Wabrend der. Depressionen sehr
menschenscheu. In den hypomanischen Zeiten sehr erotisch und reizbar. Auch
in den kurzen freien Zeiten und wahrend der Melancholion tyrannisch gegen
die Umgebung. In der Familie der Mutter warden zyklothyme (z. B. regel-
massige menstruelle Yerstimmungen bei einer Niohte) und andere degenerative
Zustande (Morpbinismus auf endogcner Basis) beobachtet.
C., jetzt 32 Jahre alt, ist zweiter Sohn des eben Bescbriebenen. Er kam
als Kind mit den Hauslehrern nicht aus, weohselte mehrfach die Schule. Bei
guter Intelligenz verspatet das Einjahrige erreicht, weil er fur Sohulwissen
nicht zu interessieren war und jede ernste Arbeit verabscheute. Ausserdem
ffiblte er sich von Jugend auf seiner Umgebung iiberlegen, kritisierte seine
Lehrer scharf und behandelte die meisten Menschen sehr von oben herab. Seine
eigenen Fahigkeiten und Leistungen schatzte er schon sehr fruh ausserordent-
lich hoch ein.
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Dr. A. H. Hiibner,
N&chdem er das Einjahrigenoxamen bestanden hatte, erhielt or das Geld
zu einer Reise nach Suddeutschland. Er reiste ab, Hess dann einige Zeit nichts
von sioh horen und scbrieb schliesslich aus Venedig. Von dort ging er, wieder
gegen den Willen der Eltern, nach Montecarlo, wo er mit Gluck spielte. Hit
dem gewonnenen Gelde reiste er 14 Tage weiter, dann kehrte er ohne nennens-
werte Baarmittel zuruck. Fur die Vorwurfe, die ihm gemacht warden, zeigte
er sich einsichtslos.
Er sollte Landwirt werden, am spater ein eigenes Gut zu bewirtschaften.
Hatte in drei Jahren 3 Lehrstellen. Die beiden ersten verliess er wegen Diffe-
renzen mit den Gutsleuten. Auch auf der dritten biieb er nur kurze Zeit. Die
Lehijahre wareh haufig darch Reisen unterbrochen.
Nach Beendigang der Lehrzeit landwirtsohaftliche Hochschule. Besaohte
nar zwei Tage lang die Kollegion, dann ging er nicht mehr hin, schimpfte auf
die akad. Lehrer. Ritt wahrend des Semesters ein wertvolles Pferd, das er
von der Mutter gesohenkt bekpmmen hatte, zuschanden. Fiel auoh in der
Oeffentlichkeit darch allerlei Extravaganzen auf. So ritt er z. B. ohne Hat,
nur mit Hemd, Hose und Stiefel bekieidet, in den belebtesten Strassen der
Stadt spazieren. Einmal ritt er eine ziemlich hohe, nur fur Fussganger be-
stimmte Treppe herauf. Auoh in Gesellschaft fiel er duroh die Art seines Auf-
tretens, namentlich darch anmassendes Benehmen und Erzahlung pseudologi-
soher Geschichten auf.
Einmal ersohien er uneingeladen auf einer Hoffestlichkeit in blauer Jack©
und weissen Hosen.
Nach etwa dreimonatigem Studium ging er „zu weiterer Information in
landwirtschaftlichen Fragen w nach Argentinien. Dort beabsichtigte er aact,
auf einer Farm Stellung anzunehmen, urn weiter zu lernen. In Argentinien
angekommen, riistete er statt dessen eine Expedition aus, mit der er fiber die
Kordilleren bis nach Valparaiso herunterritt. Angebotene Stellungen lehnte
er ab. Die Farmen sah er sich in 1—2 tagigen Aufenthalten nur sehr *>ber-
flachlich an. Als grosstes Erlebnis dieser muhevollen und kostspieligen Reise
beschrieb er einen Sektabend auf einer einsamen Farm mit einigen Pferdehfitern.
Wie nachher bekannt wurde, ist er in Sfidamerika als Vertreter einer
weltbekannten deutsohen Firma aufgetreten. Er hat fiberall erzahlt, er babe
den Auftrag, fur 5 Millionen Landereien zu kaufen.
In dieser Zeit nun trat er in seinen Briefen an die Eltern mit mehreren
abenteaerlichen Projekten hervor. So verlangte er einmal hohe Geldbetrage,
weil er sioh an der Ausbeutung grosser Erzfelder beteiligen wollte. Dann
wollte er eine Schiffsgesellschaft grunden, deren Sohiffe die Strecke Deutsch-
land-Sfidamerika urn drei Tage rascher zurficklegten, als die Dampfer des
Norddeutschen Lloyd. Einmal hatte er in einer Bar gehdrt, es sollte in einer
noch nicht erschlossenen Gegend eine Bahn gebaut werden. Sofort wollte er
grosse Landereien, die an der angeblich projektierten Strecke lagen, aufkaufen,
ohne irgendwelche ernstlichen Informationen eingeholt zu haben.
Nachdem er nach Europa zuruckgekehrt war, reiste er hier eine Zeitlang
umher, ritt in England Jagden, lernte in Frankreich fliegen, ging auch mehr-
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaufer. 789
fach nach Oesterreioh-Ungarn, Rumanian und Norwegen. Schliesslicb — etwa
1913 — siedelte er fur einige Zeit nach Nordamerika fiber. Hier trat er wieder
als Grandseigneur auf, brauchte mehr, als er hatte, musste in den Luxushotels,
in denen er abstieg, mebrfach beim Personal Anleihen maoben. Eines Tages
teilte er den Angehorigen mit, er sei im Begriff, eine vorzfigliche Stella in
Canada anzutreten. Bald ergab sich, dass es sich um einen Posten als Grenz-
sohutzmann handelte.
Die Raise nach Canada endete damit, dass er yon der Familie ausgelost
nnd nach Europa zurfickgeholt werden musste. Man brachte ihn nun in eine
Priyatanstalt, wo er beobaohtet werden sollte. (Dortige Diagnose Psychopathic.)
Die ihm gewahrte freie Bewegung missbrauchte er zn Trinkgelagen, ffigte
sich in die Hausordnung nicht ein, und zeigte sich bei Vorhaltungen vollig
uneinsichtig. Mach einer erregten Unterredung mit dem Anstaltsleiter ent-
fernte er sich.
Er fibernahm dann in einer Fabrik ffir Flugzeugmotoren, in der Offiziere
mit den Bestandteilen des Motors bekannt gemacht warden, die Stelle des
Erklarers und versah diesen Posten (unentgeltlicb) etwa 8 Monate lang.
Wahrend dieser Zeit verfasste er, um der Familie seine fiberragenden Fabig-
keitcn darzutun, eine Abhandlung fiber das Flugzeugwesen. Als dieselbe
einem Fachmann vorgelegt wurde, erklarte der, es handle sich um fast wort-
liche Abschriften aus Werken bekannter Aviatiker.
Die acht Monate in der Motorenfabrik sind wohl die ruhigsten in seinem
Leben fiberhaupt. Mach dem Austritt aus der Fabrik nahm die Unrube und
Unstetheit wieder zu. Zu Beginn des Feldzuges tat er bei einer Fliegerabteilung
Dienst, verlangte dort ernstlicb, gleich als Offizier angestellt zu werden, kfin-
digte seinen Vertrag sofort, als seinem Wunsche nicht entsprochen wurde.
Die Truppe war froh, als sie ihn los war.
Wahrend des ganzen Krieges reiste er unstet, toils in Deutschland, teils
in rerbfindeten Landern und der Schweiz umher, stellte sich dem roten Kreuz,
dem Spionageabwehrdienst und der Diplomatic zu Verffigung, ohne dass man
ihn gebrauchen konnte. Fast standig erwog er irgendwelche phantastischen
Projekte, suchte von den nachsten Angehdrigen moglichst vielGeld zu erlangen,
kam mit dem, was er erbielt, nie aus. Er ist wahrend der letzten vier Jahre
wohl nie langer, als 4—6 Wochen an einem Ort gewesen.
Vor etwa einem Jahre heiratete er. Wahrend der ersten 4—5 Monate
seiner Ehe scheint er etwas ruhiger gewesen zu sein, dann nahm die Un¬
stetheit wieder zu.
Ich selbst habe ihn im Jahre 1916 kennen gelernt, seitdem mehrfach
wieder gesehen.
Die wesentlichsten Eigenschaften, welche bei den persdnlichen
Untersuohungen hervortraten, waren eine zeitweise geradezu ungeheuerliche
Selbstfiborschatzung, grosse Ruhelosigkeit, Neigung zum Planeschmieden,
meist gehobene, nicht selten gereizte Stimmung und sprunghaftes Denken.
Diese Symptoms erfuhren mehrfach ffir einige Wochen eine Verstarkunjr
und waren dann mit ausgesprochener Ideenflucht verbunden, so dass der Kranko
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Dr. A. H. Hubner,
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das Bild einer leichten Manie bot. Depressionen sind nicht beobachtet worden.
Wohl aber zweimal mehrmonatige Zeiten, in denen der Pat. etwas sesshafter
und ruhiger war.
Die danernd gehobene Stimmiuig, zeigte sioh z. B. in der Art, wie er
von dem Tode seines Vaters sprach, oder wenn von der geistigen Storung
seines Bruders die Rede war. Ueber beides ausserte er sioh in soherzhaften
Redewendungen.
Wenn seine Wiinsohe nicht bedingnngslos 'erfdllt wurden, dann wnrde er
gereizt und erregt, schimpfte laut auf seine Verwandten, ohne Rucksicht
darauf, dass die Verhandlungen mit ihm z. T. in ersten Hotels stattfanden.
Er weinte dazwischen auch einmal aus Wut, um kurz darauf iiber einen Scherz
herzhaft zu lachen.
Seine Selbstiiberschatzung ist duroh Beispielo oben bereits aus-
reichend belegt. Er steht auf dem Standpunkt, dass er alias, auch ohne Lehr-
zeit gleich versteht. An ihn diirfe man nioht den Massstab fur Durohsohnitts-
mensohen legen. Es sei unanstandig, fur Geld zu arbeiten. Er allein sei
Kavalier, die anderen Menschen, namentlich seine Verwandten, seien alle
„Piefkes. tt Deshalb miissten die Angehorigen auoh unbegrenzte Mittel zur
Verfugung stellen. (Die Familie gehort zu den reichsten Deutschlands.) Was
Focker mit seinen Eindeokern jetzt in die Wirkliohkeit umgesetzt habe, babe
er schon vor Jahren gepredigt. BISriot habe ihm schon gesagt, dass er za den
Mensohen gehore, die nioht auf dem regularen Wege zu lernen branch ten.
Deshalb konne er (C) auch nicht anerkennen, dass gewohnliohe Uenschen das
Recht hatten, fiber ihn zu urteilen. Er hatte langst eine hervorragende Stelle,
wenn seine Angehorigen ihm nioht hinderlich gewesen waren usw.
Dass C. in unsteter iiberhasteter Weise von einem Ort zum andem
zog, ist oben bereits beschrieben. Auch sonst im Leben suchte er jeden
Gedanken, der ihm durch den Kopf ging, in die Tat umzusetzen. So kam
es, dass er in den letzten Jahren Holzhandler, Flieger, Diplomat, Kavaliers-
spion, Landwirt, Offizier und nooh verschiedenes andere werden wollte, mehr-
fach zweifelhaften Existenzen in die Hande fiel und auch stark ausgebeutet
wurde.
Sein Denken zeigte, namentlich zu Zeiten deutlicherer Erregung deutliche
Ideenflucht. Er kam vom Hundertste ins Tausendste. Hatte er z. B. in
einer bestimmten Absioht einen Besuch gemacht, so kam es vor, dass er un-
verrichteter Saohe wieder fortging, weil er schon beim Eintritt in das Zimmer
von der Hauptsache abgelenkt wurde.
Dass er in Gesellsohaft sehr viel sprach, lebhaft gestikulierte und liberal],
wohin er kam, aufzufallen suchte, ist oben bereits angedeutet..
Von der Umgebung wurde er zunachst immer als ein heiterer, wenn auch
etwas oberflaehlicher Hensch angesehen, bis er sioh nach einigen Tagen oder
Woohen durch seine Selbstiiberschatzung und Geschwatzigkeit unmoglich
machte.
In sexueller Beziohung soile er naoh den Angaben verschiedenerBekannter
wust gelebt haben.
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Ueber die manisoh-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 791
Angesichts des eben beschriebenen Lebenslaufes sind verschiedene
Fragen aulzuwerfen. Zun&chst die eine, ob uberhaupt eine manische
Anlage vorliegt.
Die Antwort hierauf ist leicht. Sie muss wohl restlos bejabend lauten.
Wir konnen bei dem jetzt 32jahrigen Msnne alle wesentlichen Symptome
der Manie nachweisen. Die Stimmung ist gehoben, oft gereizt. Es
besteht eine betrachtliche Ueberscb&tzung der eigenen PersOnlichkeit.
Der Kranke ist eitel, selbstgef&llig, halt sich fur kluger und leistungs-
fahiger, als andere Menscben. Es bestebt Ablenkbarkeit der Aufmerk-
samkeit, das Interesse eilt von einem Gegenstande zum anderen. Unstet
ieist der Kranke umher, findet nirgends Ruhe, macbt standig neue
Projekte, ohne auch nur eines zu Ende zu bringen. Sein Denken ist
oberfiacblicb und sprungbaft. Erlebtes und Gelesenes gibt er ungenau
wieder.
Mit anderen Worten: Es besteht Hyperthymie, Rec^e- und Be-
wegungsdrang, Selbstiiberschatzung, Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit,
Ungenauigkeit der Reproduktion, kurz, wir finden in mebr oder
minder ausgepragten Andeutungen lauter Symptome, wie sie
die reine Manie darbietet.
Trotz eifrigen Nachforschens — der Patient hat schon seit Jahren
die Psychiater beschaftigt; ich selbst verfolge ihn mehr als 2 Jahre —
habe ich eigentliche Depressionen nicht nachweisen konnen. Wohl hatte
er zweimal mehrmonatige Phasen, wo er weniger lebhaft war, als vorher
und nachher. Es handelte sich aber auch da nicht urn Depressionen,
soudern nur um ein Abblassen der manischen Krankheitszeichen, die
nie ganz fehlten.
H&ufiger beobachtet wurden Steigerungen der manischen Anlage
bis zur ausgesprocbenen Manie.
Diejenigen Symptome, welche der PersOnlichkeit ihre Besonder-
heit verliehen, waren die Selbstuberschatzung und die Empfindlichkeit
und Reizbarkeit, sowie die Neigung, die Umgebung zu tyrannisieren.
Es ist nun ausserordentlich interessant, dass an der Hand von Briefen
und den Mitteilungen der AngehOrigen festgestellt werden konnte, dass
gerade diese Eigenscbaften auch seinen zirkul&ren Vater ausgezeichnet
haben, und diesen selbst zur Zeit der Depressionen nie ganz verliessen.
Und es verdient weiter hier erw&hnt zu werden, dass auch ein jetzt
etwa achtj&briger Neffe (Sohn einer Schwester) des C., den ich gleich-
falls einige Tage beobachten konnte, die n&mlichen Eigenscbaften zeigt
und deswegen den Eltern schon viel Schwierigkeiten bereitet hat.
Bei C. selbst sind die manischen Symptome nicht etwa erst all-
m&hlich oder im Beginn der Pubert&t hervorgetreten, sondern sie waren
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Dr. A. H. Habner,
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vorbanden, solange die Mutter denken kanu. Das, ist durch Mitteilung
zahlreicher Einzelzuge ausreicbend begrundet worden. (Vergl. den
Lebenslauf.)
Es handelt sich also bei C. nicht urn eine Manie, die eines Tages
einsetzte 1 2 ) und dann, abgesehen von den erw&hnten Schwankungen
chronisch wurde, sondern um eine von Jugend auf bestehende
Charakteranlage, die sich aus manischen Zugen zusammen-
setzt.
Gerade die letzterw&hnte Tatsache mochte ich im Hinblick anf die
Ausfuhrungen einzelner Autoren besonders unterstreichen, welche an-
nehmen, dass die in der Kindbeit Zirkul&rer vorkommenden psyghischeu
Abweichungen nicht spezifischer Natur sind.
Interessant ist, dass der Patient von zwei namhaften Psychiatem
als ein schlecht erzogener Psychopath angesehen wurde. Es wurden
infolgedessen mehrfach Erziehungs- und Beschaftigungsversuche unter-
nommen, die aber missgluckten und die vdllige Unbeeinflussbarkeit des
C. zeigten, ein Dmstand, der wohl auch dafur spricht, dass bier eine
besondere Form der Psychopathie vorliegt*).
Die rein Eupborischen.
Diesem menschiich unsympathischen, sozial gefahrlichen und fur
die Allgemeinheit wenig wertvollen Typus der manischen Anlage stebt
ein anderer gegenuber, dessen Selbstbewusstsein weniger stark ausge-
pr> ist, dessen Tatigkeitsdrang die Unstetheit fast ganz vermissen lasst
und wirkliche Werte schafft, bei dem schliesslich die Reizbarkeit und
das ablehnende Verhalten gegenuber anderen Menschen fehlt und durch
Menschenliebe, Hilfsbereitschaft und Aufopferungsfahigkeit ersetzt ist.
Dass trotzdem' klinisch eine manische Anlage vorliegt, wird aus dem
Lebenslaufe deutlich hervorgehen.
Familie A. (etwa 18 Jabre selbst beobaebtet).
Grossvater Einsiedler. Sehr musikalisch. Soil periodenweise getrunken
haben.
Eine Schwester des Vaters beging Selbstmord aus unbekannter
Ursacbe.
Ein Bruder des Vaters bedeutender Kiinstler, der Ende der Zwanziger
zogellos lebte (z. B. in einem Jabr drei unebelicbe Kinder batte), viel trank,
allmahlich in seinen Leistungen erbeblich zuruckging. Er starb mit 48 Jahren
1) v. Brero und Lackmann haben 12> und 13jahrige Manisoh-De-
pressive bescbrieben.
2) Hinzugefiigt sei, dass von einem dritten Psychiater die Diagnose „ma-
nische Anlage' 1 auch gestellt worden ist.
Go^ 'gle
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 793
an Magenkrebs. Hat die letzten Jahre seines Lebens gedriiokt und ganz zuruck-
gezogen unter armlichen Verbaltnissen vegetiert.
Anderer Bruder des Vaters menschenscheu, entschlusslos. Konnte
trotz guter Berufskenntnisse nie dazu gebracht warden, sein Heimatstadtchen
zu verlassen. Heiratete unter seinem Stand. Eine Tochter desselben soli ma¬
tt isch sein.
Der Vater des A. bat sich aus relatir kleinen Verhaltnissen herauf-
gearbeitet. War immer von morgens bis abends tatig. Hatte periodisohe Stim-
mungsscbwankungen, sowohl ganz leichte Depressionen (mit Menscbenscheu),
wie Hyperthymien. Schmiedete viel Plane, von denen nur ein Teil zur Aus-
fiihrung kam. Sehr musikalisch. Hat vielen Henschen im stillen Wobltaten
erwiesen. Besitzt ein fiir seine Verbaltnisse ansebnliches Vermogen. Im Alter
bypochondrische Klagen.
A. (jetzt 40 Jahre alt). Mit 4 Jahren Scharlacb, dabei delirioser Zustand.
Friibzeitiges Erwachen des Geschlechtstriebes mit 6 Jahren. In der Schule un-
gieiche Leistungen mit Ueberwiegen der guten. Mit etwa 10 Jahren leichte
14tagige Erregung. Wahrend derselben machte er mehrere Gedichte, die sehr
gut beurteilt wurden. Mit 16 Jahren wieder leichte Erregung, bei der er z. B.
dadurch auffiel, dass er einen Schulaufsatz in Versen machte. Ein halbes Jahr
spater absolute Unzulanglichkeit der Leistungen, deshalb nioht versetzt. Be-
steht trotzdem das Abiturientenexamen mit 17^2 Jahren.
Schon beim Schuleintritt „gelegentUoh“ innere Unsicherheit und unbe-
grcindete Angst vor dem Lehrer. Spater in den „besten u Zeiten Gefiihl abso-
luten Wohlbefindens und innere Sicherheit mit „rauschartigem Schaffensdrang“,
wo „alles gelang“. Dazwischen vereinzelt Zeiten von innerer Hemmung, wah¬
rend deren er sich mit der Erledigung einfacher Hinge „abqualte u , das Vielfache
der Zeit brauchte, die er sonst dazu notig hatte, und oft sogar nicht einmal
den Entschluss fassen konnte, an eine Saohe heranzugehen. Dann auch
menschensoheu, still, mitunter sogar misstrauisch.
Wahrend der Studienzeit (Mediziner) sehr unregel massiger Kollegbesuch.
Reichlicher Alkoholgenuss. „Quartalsarbeiter a (Hoche). Wenn er arbeitete,
geschab es meist mit gutem Erfolg. Staatsexamen rechtzeitig bestanden.
Die ersten Assistentenjahre stellten eine Fortsetzung der Studienzeit dar,
dann ruhiger, arbeitsamer. Jetzt beamteter Arzt.
Wahrend mehrjahriger Beobachtungszeit wurde festgestellt, dass korper-
lich keine besonderen Krankheiten bestanden.
Psychisch war A. meist heiterer Stimmung, energisch, im allgemeinen ein
guter Organisator in seiner amtliohen Tatigkeit.
Seine Leistungsfahigkeit war keine ganz gleichmassige. Wenn er auch
die wichtigsten dienstlichen Obliegenheiten im allgemeinen regelmassig er-
ledigte, so gab es Zeiten, in denen das langsamer geschah und dem Patienten
raehr Miihe machte. Dabei auch leichte Depression. Zu andoren Zeiten arbeitete
er alles Liegengebliebene auf einmal auf. Meist geschah das sacbgemass. Es
kamen aber auch kurzdauernde Pbasen vor, in denen die Arbeit fliichtig und
ungenau war und zwar sehr vieles erledigt wurde, aber schlecht. In diesen
Arehir f. Psychiatrie. Bd. 60 Heft 2/S 51
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Dr. A. H. Habner,
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Zeiten bestand auch Neigong zu obszdnen Reden and gesellschaftliohen Ver¬
st ossen, eine gewisse Unruhe and schleohter Schlaf. Dabei etwas gesteigertes
Selbstbewusstsein. Zasammenstosse mit anderen Personen in aod aasser Dienst
sind sehr selten, obwohl er Widerspraob nioht gat vertrigt.
Allgemein gilt A. als heiterer, witziger, sehr gatmutiger, stets hilfsbereiter
Optimist, der im stillen aach yiel wohl tat and aaf seine Kranken einen guten
, Einflass aasubt. Dass er zeitweise innere Hemmungen zu dberwinden hat,
merkt ihm nur seine naohste Umgebung an. Er ist dialektisch gewandt, seine
Ausfdhrangen vor Goricht and bei ahnlichen Gelegenheiten sind nor zu den
Zeiten, in denen er sich entweder in der Exaltation oder in der Hemmang be-
findet, nicbt klar. Er ist vom Uorgen bis zum Abend beschaftigt, liest riel
wissenschaftliohe und belietristiscbe Literatar, masiziert, bet&tigt sich gesell-
schaftlich gern and ist freigebig, ohne dber seine Verhaltnisse zu leben. Manche
von den Planen, die er gesohmiedet hat, liessen sich nicht verwirklichen, im
allgemeinen ist es bei A. aber doch so, dass er aaf frahere Plane za gegebener
Zeit zuriickkommt and sie dann za fordern sacht.
A. ist aach literarisch tatig. Seine Prodoktionen werden grdsstenteils
gdnstig beurteilt. In einigen yon ihnen, die er „im Sobaffensransch“ yollendete,
ist eine gewisse Fluchtigkeit nioht za yerkennen. Schliesslich ist zar Vervoll-
standigang des Krankheitsbildes noch za erwahnen, dass der Patient aach
einzelne leiohte Zwangsyorstellangen hat.
Wenn er sioh vor dem Verlassen des Zimmers eine Zigarre anzundet and
dann fortgeht, mass er zaruokkehren, um festzastellen, ob das Zandholz
gat gel&scht ist. Den riohtigen Verschlass der Haastdr, das Einstecken eines
Briefes in den Briefkasten und Ehnliches mass er zwangsmassig naohprdfen
(Kontrollierzwang).
Wie man auf den ersten Blick erkennen kann, ist der eben geschil-
derte kein ganz reiner Fall von manischer Anlage, weil sich mehrere
leichte Depressionen zwischen die manischen Symptomenkomplexe ein-
geschoben haben und ausserdem neben den manischen auch noch einzelne
depressive Erscheinungen, wie zeitweilige innere Unsicherheit, besteben.
Dazu kommen die Zwangsvorstellungen.
Dass dieser im ubrigen sehr viel mildere Fall, als der zueret be-
scbriebene, uberhaupt in das hier erdrterte Eapitel hineingehdrt, ergibt
sich aus der gleichartigen Belastung, dem Yorhandensein von gehobener
Stimmung, dem Bet&tigungsdrang, dem PlJLneschmieden, der zu gewissen
Zeiten bestehenden Erleichterung des Denkprozesses und den Schwan-
kungen im Befinden des Patienten, die recht charakteristisch sind. Dass
diese Schwankungen endogener Natur sind, durch iussere Drsachen nicht
ausgeldst wurden, sei ausdrucklich betont. Der Kranke selbst bebt ihre
Unabh&ngigkeit vom Milieu besonders hervor. DafQr spricht im ubrigen
auch die gleicbartige symptomatologische Zusammensetzung der einzelnen
Pbasen, d. h. der Umstand, dass in den Depressionen immer wieder die
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaafer. 795
bekannten depressiven, in den Exaltationen die manischen Symptomen-
komplexe anftreten.
Wenn ich diesen Fall dem erstbeschriebenen gegenuberstelle, so
geschieht das aus verscbiedenen Grunden. Einmal ist bei ibm die Reiz-
barkeit nur angedeutet, statt dessen treten altrnistiscbe Gefuhle stark
hervor. Zweitens ist der Denkprozess nicht so stark gestfirt, wie bei C.,
ein Umstand, der bewirkt, dass A. nicbt nnr sozial branchbar ist, sondern
sogar den Durchschnitt fiberragt.
Wir haben also hier einen direkt wertvollen Typ der manischen
Anlage, wie er uns ubrigens in Gelehrten- and Kfinstlerkreisen nicbt
selten begegnet.
Ein weiterer Grand, der mich veranlasste, den Fall A. zu beschrei-
ben, war folgender:
Wir haben hier einen psycbiatriscb vorgebildeten Arzt, der gerade
aoch fiber die Aendernngen, die sein Denken in den einzelnen Pbasen
erleidet, gut Ausknnft geben kann. Ich habe deshalb mit ihm fiber
die Frage der Ideenflucht ausffibrlich gesprochen. Was er dabei
angab, scheint mir geeignet, manche strittigen Fragen zn klfiren.
Der Fall A. gibt mir somit Veranlassung, anf das Problem der
Ideenflucht n&her einzugehen.
Wer die Literatar der letzten 20 Jahre fiber die Ideenflucht ver-
folgt, der weiss, dass nicht so sehr die Bestimmung des Begnffes selbst
Gegenstand der Kontroverse ist, als vielmehr das Problem: Wie entstebt
die Ideenflucht?
Man hat die Antwort anf verschiedenen Wegen gesucht. Aschaffen-
burg, Isserlin u. a. haben experimentell-psychologische Methoden
herangezogen. Auf psychologische Ueberlegungen hat Liepmann
eine Lfisuhg gestfitzt, w&hrend Heilbronner, Kraepelin, Stranski
u. a. ihren Schlussfolgerungen rein klinische Erw&gungen zu Grunde
legten.
Aschaffenburg (1904) sagt: Die Ideenflucht ist eine Teilerscbei-
nung der allgemeinen Erleichterung der psychomotorischen VorgSnge.
Sie ist vor allem eine StOrung des begrifflichen Denkens. Der Gesunde
wird in seinen Vorstellnngen durch deren Inhalt bestimmt; alles, was
an Nebeneindrficken auftauscht, wird unterdruckt. Der Manische da-
gegen verliert sich in Abschweifungen, weil ihn die Zuf&liiakeit einer
lockeren Gedankenverbindung, einer sprachlichen Reminiszenz oder einer
Klang&hnlicbkeit ebenso leicht zur Assoziation ffihrt, wie die Zielvor-
stellung.
Zn dieser Ansicht ist A. auf Grand von Assoziationsexperimenteu
gekommen, die er an Manischen and Gesunden angestellt hatte.
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Dr. A. H. Hiibner,
„Zwingen wir den Normalen“, so sagt er an einer Stelle, „jede
Vorstellung wabllos niederzuschreiben oder auszusprechen, wie bei un-
seren Versuchen mit der fortlaufenden Methode, so gleicbt das Ergebnis
der Rede des Hyporoauischen aufs genaueste“. Diese Aebnlichkeit be-
recbtigt zu der Annabme, dass die wahllose Umsetzung des Denkens in
die Spracbe bei dem Zustandekommen der Ideenflucht von der grOssten
Bedeutung ist“.
In einem vier Jahre sp&ter gebaltenen Vortrage modifizierte A.
seine Ansicbt dann insofern, als er der Ablenkbarkeit mehr Wert bei-
niass. Er fasste sich dahin zusammen, dass Zusammentreffen von psv-
cbomotoriscber Erregung und erbdhter Ablenkbarkeit das Symptom der
Ideenflucht hervorbrichte 1 ).
Ausser Ascbaffenburg hat sicb Liepmann eingehend mit der
Frage der Ideenflucht bescbaftigt. Er gebt von einer Analyse des ge-
ordneten Denkens aus und sagt:
Beim georylneten Denken entsteht ein System von Vorstellongen
verscbiedener Wertigkeit (S. 81). Eine Anzabl aufeinander folgender
Einzelglieder wird durch den Inhalt einer voraufgegangeuen Vorstellung
verknupft. Diese ietztere nennt er Obervorstellung. Mehrere Obervor-
stellungen konnen durch eine weitere Obervorstellung noch bOheren
Grades verbunden sein usw.
Bei der Ideenflucht nun ist die Wirksamkeit der Obervorstetlungen
exzessiv abgeschwacht oder ganz aufgehoben.
Das, was nach L. die hOhere Wertigkeit einer Vorstellung bedingt
und sie zur Obervorstellung macht, ist die Aufmerksamkeit.
„Sowohl die Ablenkbarkeit durch Sinneseindrucke, welche der
Ideenfluchtige zeigt, wie das fortw&hrende Erliegen unter den Anreiz
des gewohnheitsmassig Verknupften und Aehnlichen haben ihre gemein-
same Wurzel in einer schweren StOrung der Aufmerksamkeit, namlich
dem hbchsten Grade von Unbestandigkeit derselben, bei grosser Energie
derselben“. In der Ideenflucht reisst jedes assoziativ oder sensugen
Geweckte die Aufmerksamkeit an sich.
Auch Heilbronner hat sich — von klinischen Gesichtspunkten
ausgehend— gegen die urspriingliche Ansicht Aschaffenburg’s aus-
gesprochen, dass die Ideefiucht Teilerscheinung einer allgemein psycho-
motorischen Erregung sei. Er erklSrt das Symptom aus der Erleichte-
rung der assoziativen Leistungen. In Anlehnung an Wernicke’s Ge-
dankengSnge uber die uberwertigen Vorstellungen meint er, die Erleich-
1) Aebnlich spricbt er sich in seinem Handbuch der Psyohiatrie aus (s.
Allg. Symptomatologie).
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 797
terung der assoziativen Leistungen bedinge eine „Nivellierung der Vor-
stellungen“, weil der die Deberwertigkeit bestimmter Bahnen bedingende
Unterscbied der Erregbarkeit aufhdre; dadurch werde naturgem&ss der
geerdnete Zusammenhang des Denkens gestort und es komme zur Ideen-
flucht (283).
Uebereiustimmung herrscht bei den zitierten und meisten anderen
Forschern (z. B. Burake) daruber, dass die Ideenflucht eine Stdrung
des Denkens ist, bei der die „Leitmotive“ l ) ihre dominierende Rolle
verlieren, so dass nebensachliche Vorsteliungen, Einfalle und Sinnesein-
drucke an ihre Stelle treten k5nnen.
Strittig sind dagegen folgende Fragen:
1. Besteht uberhaupt eine Beschleunigung des Gedankenablaufes und
hat dieselbe eine prinzipielle Bedeutung fur das Symptom?
2. Sind die Produkte, welche normale Menscben beim Reihen-
sprechen und vor dem Einschlafen vorbringen, wirkliche Ideenflucht?
3. Wodurch kommt die „Nivellierung der Vorsteliungen“ (Wer¬
nicke, Storch) bei der Manie zu Stande?
4. Ist das, was Liepmann die „Energie der Aufmerksamkeit”
nennt, lediglich eine Funktion der Aufmerksamkeit?
5. Wie ist die Ideenflucht bei Hemmung zu erkl&ren?
Man kann an die Ldsung dieser Fragen, wie sich aus der Literatur
ergibt, auf verschiedenen Wegen herantreten. Der zuverlfissigste, weil
naturlichste, scheint mir eine Verbindung von objektivor Beobachtung
der Kranken verbunden mit Festlegung der Angaben des Patienten, was
und wie er denkt. Ich meine damit, dass man solche Kranke, die ge-
nugend psychiatrische and psychologische Erfahrungen haben, uber ihre
inneren Erlebnisse sprechen lasst und sie veranlasst, sich selbst zu
analysieren, ohne sie zu viel zu fragen (denn jede Beeinflussung des
Denkens soli moglichst vermiedeu werden). Notwendig ist dabei weiter,
dass man mit dem Kranken nicht nach, sondern wahrend des Zustandes
selbst 8pricbt, denh es ist auch einem gebildeten psychologisch gescbulten
Menscben nicht moglick, zu einer Zeit, wo er depressiv und leicbt ge-
bemmt ist, uber eine htperthyme Phase brauchbare Auskunft zu geben.
Einleuchtend ist, dass gerade die leichtesten Falle zu einer der-
artigen Materialsammlung am geeignetsten sind. Ich habe desbalb den
Fall A. nach dieser Ricbtung hin genauer untersucht, kann ausserdem
hinzufngen, dass ich noch zwei andere Aerzte, darunter einen psychia-
trisch gebildeten, in gleicher Weise explorioren und beobachten konnte.
1) Dieser ans der Musikwissenschaft entlebnte Begriff umgebt die von
Storch gegen Liepmann’s „Obervorstellnngen“ erhobenen Einwande.
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Dr. A. H. Hubner,
A., dessen Angaben mit denen der anderen Herren fibereinstimmten,
berichtete folgendes:
„Wenn die Zeit beginat, wo ich fiber dem Strich bio, daoo emp-
finde ich zun&chst ein vorher in dem Masse oicht vorhandenes Gesund-
heits- und Kraftgeffihl. Mein Selbstvertraaen und meine Selbstein-
schitzung erfahren eine Steigerung. Auch in ungewohnten and schwie-
rigen Situationen habe ich das Geffihl absoluter Sicherheit. Ich em-
pfinde das Verlangen zu schaffen und mache mich sofort an irgend eine
deijenigen Arbeiten oder wissenscbaftlichen Probleme heran, mit denen
ich vorher nicht zurecht gekommen war. Jetzt geht es mit der Arbeit
besser. Das Denken f&llt mir leichter. Bei jedem Problem stellen sich
ganze Eomplexe von Yorstellungen und neue Gedankenverbindungen ein,
so dass ich die Lfisung auch schwieriger Fragen „in einer Sitzung“ finde.
Es sind mehr Gedanken, die sich einstellen. Ich entdecke an
meiner gewohnten Umgebung manche Dinge, an deoen ich vorher acht-
los vorfiber gegangen bin. Auch neue Ideen, Wfinsche und Plane
tauchen auf. Dmgekehrt fibersehe ich manchmal Wichtiges.
Eine Beschleunigung des Denkens besteht insofern, als ich selbst-
redend rascher denke, wie in den Zeiten der Hemmung.
Die Gedanken tauchen ohne mein Zutun auf. Sie wechseln mit
der Art meiner T&tigkeit; immer entdecke ich aber ein Plus gegenfiber
der ruhigeren Zeit.
Die Tatsache, dass sich so viele Gedanken einstellen, bereitet mir
Freude. Ich empfinde sie nie unangenehm, selbst dann kaum, wenn
dieses Denken etwas Zwangsmhssiges bekommt und nicht unterdrfickt
werden kann.
Das Durchdenken einer bestimmten Gedankenreihe gelingt mir in
diesem Zustande — namentlich unter Zuhilfenahme der Schrift, die
arretierend wirkt — noch gut. Dass aber eine Aufmerksamkeitsstfirung
schon in diesem leichten Zustande vorhanden ist, geht aus folgenden
Tatsachen hervor: 1. besteht bereits eine gewisse Neigung zu Seiten-
sprfingen im Denken, 2. ist die Disposition des Gedachten nicht mehr
straff und nicht immer klar. Es kfinnen sich unter Anderem auch schon
grfibere logische Fehler einschleicben, 3. ich vergessse mi tun ter die
Fragestellung ganz oder teilweise, oder den Punkt, au dem ich den
Denkakt unterbrechen muss, wenn ich plfitzlich angesprochen und aus
meinen Gedanken herausgerissen werde, zum mindesten ist aber 4. die
Rfickkehr zu dem Punkte, wo ich den Denkakt unterbrechen musste,
schwerer, als in ruhigen Zeiten, und mit momentanen Unlustgeffihlen
verbunden, weil ich mit meinem Denken und Ffihlen bei den Dingen
bin, derentwegen die Dnterbrechung der Arbeit erfolgte.
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Ausl&ufer. 799
Vielleicht 1st auch noclx etwas Weiteres erw&bneoswert:
In den rnbigen Zeiten, wo ich Schritt fur Schritt „vorw&rtsdenke“,
bis ich ein Ziel erreicht habe, werden mir neben den Anfangs- and
Endgliedem einer Gedankenreihe auch die Mittelglieder voll bewusst,
weil jedes von ihnen schrittweise erreicht wird. Schon im Beginn der
lebhaften Zeit konnen Zwischenglieder ganz ausfallen, sie kommen mir
wenigstens nicht mehr zum Bewusstsein, so dass zwar ein brauchbares
Endglied einer Reihe erreicht wird, das Leitmotiv also seine Herrschaft
noch nicht ganz verloren hat, und doch ist nicht mehr in Schritten,
sondern in Sprungen gedacht worden.
In diesem Stadium ist eine eigentliche Ideenflucht noch nicht vor-
handen. Dagegen macht sich bereits ein Drang bemerkbar, auch in
rein sachlichen Ausfuhrungen Bonmots, Epitheta ornantia u. Aehnl. 1 )
einzuflechten. Nebens&chliche Episoden werden mitunter auch schon
weiter ausgesponnen, als ndtig, kurz es zeigt sich, dass die „Obervorstel-
lungen“ nicht mehr uneingeschr&nkt dominieren. Es lockert sich die
Disposition der Rede.
In dem, was ich „ Rausch “ nenne, ist die ZaRl der auftaucbenden
Gedanken erheblich vermehrt. Sehr bald nach Beginn einer Gedanken¬
reihe erfolgt die Ablenkung auf ein Nebengeleise. Die Beschreibung
der Nebens&chlichkeiten kann denselben Umfang erbalten wie die ;Haupt-
sache. Nicht immer wird eine Zielvorstellung erreicht. Das Abweichen
vom Ausgangspunkt wird vor alien Dingen nicht immer gemerkt. In
die Rede hineingeflochten sind Witze — z. T. solche mit durftiger
Pointe —, Hauptworten werden unndtige Adjektiva beigelegt, die Ge-
samtdarstellung entha.lt Uebertreibungen, unberechtigte Verallgemeine-
rungen, gelegentlich auch direkte Entgleisungen.
Ich bin mir dabei oft wohl bewusst, dass die Witze und Ueber-
treibungen in ernsthafte Ausfuhrungen nicht hineingehOreu. Mitunter
kommt mir sogar, ehe ich sie ausspreche, blitzartig der Gedanke, es
sei besser, dies Oder jenes nicht vorzubringen; und doch kommt es
heraus! Ich kann es nur ausnahmsweise unterdrucken. Es dr&ngt
micb oft geradezu, trotz der fluchtig auftauchenden Gegenvorstellungen
eine kleine Bosheit auszusprecben oder direkte gesellschaftliche Un-
geschicklichkeiten zu begehen,' lediglicb wenn dabei ein Witz in die
Rede eingeflocbten werden kann, der meiner inneren Stimmungslage
entspricht, ohne dass ich deshalb einen anderen kr&nken will.
Auch Augenblickseindrucke und Ein&lle werden dem Redestrom
eingefugt, oder stellen den Ausgangspunkt neuer Gedankeng&nge dar,
1) Aber koine Reime.
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Dr. A. H. Hfibner,
die alle ihre F&rbung durch die heitere Stimmung bekommen, welche
mich beseelt.
Dabei vermag ich nur einen kleinen Teil dessen, was mir durch
den Kopf geht, uberhaupt auszusprecben. Die Gedanken fliegen viel
schneller, ala ich reden kann. Nur so ist es uberhaupt mfiglich, dass,
wShreud ich rasch uud fliessend spreche, in meinem Innern noch ein
„Kampf der Motive” fiber Einzelheiten meiner Rede stattfinden kann.
Dazu kommt schliesslich noch Eines.
Wfthrend ich in gesunden Tagen alles, was ich zu einer Sache zu
sagen weiss, kurz vorbringe und dann schweige, ffillt mir das in den
als „ Rausch “ bezeicbneten Zeiten schwer. Ich kann schlecht aufhOren.
Und wenn ich zufallig unterbrochen werde, dann laufen wenigstens die
Gedanken weiter.”
Soweit geht der Bericht des Dr. A. Hinzuzuffigen habe ich noch,
dass ich bei ihm kaum je Elangassoziationen, Reime oder fihnliches
beobachtet habe. Diese treten h&ufiger wohl erst in den ausgepr>en
Fallen von Ideenflucht auf.
Wenden wir uns nun der Beantwortung unserer oben gestellten
Fragen zu, so wfirde zunficbst zu erfirtern sein, ob eine Beschleunigung
des Gedankenablaufes besteht.
Eine solche objektir im Vergleich zu den Durchschnittswerten Ge-
sunder festzustellen, das halte ich ffir fast unmfiglich.
So dagegen, wie Dr. A. es tneint, mfissen wir eine Beschleunigung
annebmen. Seiner Ansicht nach kann man von einer solchen dann
sprechen, wenn die Leistungen zur Zeit des Bestehens der ideenflucht
mit denen ruhigerer oder gar depressiver Phasen verglicben werden.
A. hat von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet subjektiv eine
Beschleunigung des Gedankenablaufes empfunden.
Wenn wir hinzunehmen, dass er in den Zeiten der Hyperthvniie
nur einen kleinen Teil dessen auszusprechen vermag, was er denkt, so
findet seine Ansicht eine weitere Stfitze.
Auf die Rolle, welche diese Beschleunigung ffir die Frage der
Ideenflucht spielt, wird weiter unten n&her einzugehen sein. —
Das wichtigste Problem, welches wir hier zu besprechen haben. ist
das der Genese der Ideenflucht.
Uebereinstimmung herrscht jetzt wohl darin, dass der Aufmerksam-
keitsstdrung dabei eine hervorragende Rolle zukommt. Audi Aschaffen-
burg hat das in seinem Kfilner Vortrage und in seinem Handbucb zu-
gegeben und Bumke hat es erst vor Kurzem in bestimmter Form nus-
gesprocben und begrfindet. Ueber diesen Punkt ist also kaum mebr zu
diskutieren.
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 801
Dagegeu mass man meiner Ansicbt nach zwei weitere Fragen auf-
werfen, namlich 1 . die, durch welche Faktoren wird die Onbestandigkeit
der Anfmerksamkeit bestimmt uud 2. die, ob das, was als „Energie der
Aufmerksamkeit 11 bezeichnet worden ist, lediglich eine Funktion der
Anfmerksamkeit darstellt.
Liepmann, welcher uns die beiden Eigenschaften der Aufmerksam-
keit, die BesUndigkeit und Energie gezeigt hat, sagt, die UnbestEndig-
keit der Aufmerksamkeit bei der Ideenflucht sei daran zu erkennen,
dass die einander im Aufmerksamkeitsfelde sich folgenden Vorstellungen
nicht durch Obervorstellungen ausgewEhlt und verbunden sind, sondern
dass lediglich die vorhergehende mit der n&chsten durch assoziative
Verknupfung in Beziehung steht, oder ein interkurrenter Sinneseindruck
sich zusammenhanglos anfugt.
Wodurch wird nun die Bildung von Obervorstellungen bei der
Manie beeintr&chtigt oder ganz unmdglich gemacht?
Es gibt dafur, wie ich glaube, verschiedene Griinde:
Einmal wirkt die zum mindesten subjektiv als solche empfundene
Beschleunigung des Yorstellungsablaufes hindernd.
Sehr friih, d. h. schon in den Anfangsstadien der Ideenflucht, stellt
sich auch bereits ein Plus an Gedanken gegenuber den ruhigen Zeiten
ein, das gleichfalls der Selektion der Vorstellungen ungunstig ist.
Hinzu kommt weiter, dass der Gesunde wohl imstande ist, will-
kurlich eine Gedankenreihe abzubrechen. Der Ideenfluchtige kann das
nicht ohne weiteres. Er muss weiter denken. Er steht manchmal
geradezu unter einem Denkzwange.
Diese drei Erscheinungen gehbren in das Gebiet der psycbomotori-
schen Erregung und Aschaffenburg hat, wie ich glaube, Recht, wenn er
in ihnen ein Hindernis fur die Bildnng von Obervorstellungen erblickt.
Ich bin mir dabei wohl bewusst, dass die drei Erscheinungen in
verschiedener Starke auftreten kdnnen. Wir sehen aber doch, dass sie
selbst in den Vorstadien der eigentlichen Ideenflucht bereits subjektiv
vom Kranken empfunden werden. Und auf das Subjektive kommt es
meiner Ansicbt nach in erster Linie an.
Wir haben damit den einen Teil der VorgSnge kurz gestreift, die
beim Zustandekommen der Ideenflucht sich abspielen. Wir kennen jetzt
einige Faktoren, die die Bildung der Obervorstellungen beeintrEchtigen.
Das ist etwas Negatives. Es ist nun aber bei dem Zustandekommen
des Symptoms noch ein positiver Faktor wirksam, den Liepmann
unter den Begriff, der Energie der Aufmerksamkeit subsummiert.
Es ist meiner Ansicbt nach, wenigstens fur die leichteren FElle
nicht richtig, zu sagen, dass die Anknupfungen and Abschweifungci
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Dr. A. H. Hvjbner,
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des Ideenfluchtigen wahllos erfolgen. Dem Eranken kommt dabei
doch eine aktive Roll® zu. Er wahlt aus, eowohl aus den Gedanken,
die ihm durch den Eopf gehen, wie aus den Erlebnissen in seiner
Umgebung.
Er entdeckt an seinem Gegenuber z. 8. nicht, dass derselbe gerade
gewachsen ist, wie viele Andere, einen Schnurrbart tr>, wie viele
Andere und Aehnl. mebr, sondern ihm fallt die Warze auf der Nase,
der Fleck* im Rock, die Glatze, die schiefen Absatze usw. auf. Und an
diese Besonderheiten knupft er an.
Es sind also nicht die durch die Ausgangsideen oder Zielvorstellungen
bedingten Leiimotive, die seinem Denken die Richtung geben, sondern
andere Obervorstellungen, die er sich selbst unter dem Einfluss seiner
krankhaft veranderten Stimmung bildet.
Dazu kommen uun pathologische Einfalle, d. h. um mit
Reich und in Anlehnang an Bonhoeffer und Cl. Neisser zu sprechen,
unvermittelt, bezw. nicht bewusst vermittelt, dabei plOtzlich auftretende
und meist auch plOtzlich wieder verschwindende Vorstellungskreise. Sie
stellen das intrapsychische Analogon zu den sensugen vermittelten
Unterbrechungen der ideenfluchtigen Vorstellungsreihen dar.
Diese Einfalle haben — vieJleicht nur infolge ihres Mangels an
erkennbaren Beziehungen zu dem ubrigen Vorstellungsinhalt und infolge
der Pldtzlichkeit ihres Auftretens — besondere Anziehungskraft fur den
Maniakus und infolgedessen flicht er sie, ebenso wie Sinneseindrucke?
die fur ihn besonders auffallend sind oder seiner Stimmung entsprechen,
in seine Reden ein.
Gerade diese Verhaltnisse hat Dr. A. uns recht deutlich geschildert.
Er muss trotz auftauchender Gegenvorstellungen Bosheiten sagen, in
ernste Ausfuhrungen Witze hineinbringen, Taktlosigkeiten begehen, Auf-
falligkeiten an seinem Gegenuber lacberlich machen usw. Denn diese
Dinge sind seine Oberrorstellungen.
Man sollte deshalb den ganzen Vorgang besser so beschreiben,
dass man sagte, die beim Normalen wirksamen Obervorstellungen,
welche ihm das schrittweise Vorwartsdenken ermOglichen, verlieren an
Wertigkeit. Statt ihrer drSngen sich andere, der Stimmungslage des
Mauischen entsprechende Obervorstellungen, Sinneseindrucke und Einfalle
vor und leiten das Denken des Eranken auf Nebengeleise.
Wenn diese Erklarung richtig ist, dann wird nur der, der die Be-
griffe „Unbestandigkeit und Energie der Aufmerksamkeit 11 sehr weit
fasst, mit ihnen allein den ganzen Vorgang erklaren kOnnen. Gerade
das krankhafte Prinzip, nach dem der Manische seine yiel kurzlebigeren
Obervorstellungen auswahlt, lasst sich weder in dem Begriff der Un-
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Ueber die man isch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 803
best&ndigkeit, noch in dem der Energie der Aufmerksamkeit ganz unter-
bringen. Noch weniger die pathologischen Einfalle.
Was schliesslich den Inhalt des ideenfifichtigen Denkens im all-
gemeinen anlangt, so ist auch der nicht in dem Masse von Zuf&lligkeiten
abh&ngig, wie das mancbmal dargestellt wird. Dr. A. bat uns fiber
diesen Punkt gleichfalls wertvolle Mitteilungen gemacht. Wir hfiren,
dass er auch in ruhigen Zeiten manche Redensarten filters gebraucbt,
dass er gewfihnt ist, auf bestimmte Eigenheiten bei anderen Personen
besonders zu achten, and dass gerade diese in seinen ideenfiuchtigen
Aenssernngen eine grosse Rolle spielen. Er berichtet uns ferner, dass
die Art, in den „Rauschzustfinden U1 ) zu reden, nur eine Uebertreibung
oder Karrikierung deijenigen der ruhigen Zeiten ist.
Wir seben also, dass auch das ideenfificbtige Denken innerlich
starker gebnnden ist, als man nach manchen Darstellungen annehmen
sollte, dass es jedenfalls aber nicht richtig ist, zu behaupten, der Ideen-
flfichtige schweife wahllos ab. Wenn wir dieser Feststellung bei ge-
eigneten Kranken in Zukunft weiter nachgehen, insbesondere ihre
individuellen Eigentfimlichkeiten in ruhigen Zeiten genauer studieren,
dann werden wir vielleicht auch befriedigende Erkl&rungen fur einzelne
Erecheinungen, wie die Klangassoziationen, dasVorbringen l&ngererReihen,
die rhythmische Gliederung, die Reime und fihnliches mehr linden.
Wir haben oben die weitere Frage aufgeworfen, ob die Produkte,
welehe normale Menschen beim Reihensprechen und vor dem
Einschlafen vorbringen, wirkliche Ideenflucht sind.
Es gibt einzelne Autoren (z. B. Ascbaffenburg, Heilbronner),
die das meinen. Stransky hat die Erfahrung nicht best&tigen kfinnen
und Aschaffenburg hat seine abweicbenden Ergebnisse durch die
Verschiedenheit der Versuchsanordnung zu erklSren gesucht, wie ich
glaube teilweise mit Recht, aber doch nicht ganz.
Es kommt bei derartigen Versuchen doch aucb, um nur einen Punkt
hervorzuheben, sebr auf das zugerufene Reizwort an. Man kann bei
einzelnen Reizworten Reihen erhalten, die genau so gut von Ober-
vorstellungen beeinfluisst sind wie jedes andere normale Denken.
Ich habe z. B. einem jongen Mfidchen bei einem Versuch ihren
eigenen Namen als Reizwort zugerufen. Sie assoziierte: Stelle, Zukunft,
Mutter, Schwester, Geld, Erankheit, Leben, Heirat, unmfiglich usw.
In dieser Reihe feblt auf den ersten Blick die gemeinsame Ober-
vorstellung. Wohl aber kfinnen verschiedene Worte zu den folgenden
1) Ich branchewohl nicht besonders zu betonen, dass dieRauschzustande,
von denen Dr. A. spricht, mit Alkoholmissbrauch niohts zu tun haben.
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Dr. A. H. Hubner,
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in Beziehung gebracht werden (z. B. Stelle-Zukunft, Mutter-Sch wester,
Kraukheit Leben, Heirat-unmdglicb).
Wenn man aber erfahrt, dass die Versucbsperson zu jener Zeit
Gefahr lief, wegen eines Spitzenkatarrbs ibre Stellung za verlieren,
durch die sie Mutter und Scbwester ern&hrte, dann erkennt man, dass
die ganze Reibe von einer Obervorstellung beberrscht wird und niehts
Ideenfluchtiges enthalt.
Bei einem anderen Versuch mit einer anderen Versuchsperson er-
hielt icb auf das Reizwort Scbimborasso die Antwort: Berg, Baum,
Zaun, Pferd, Zaum, Schiene, Englander, Strassenbahn, Huhn, Sirene.
Diese Mischung sinnloser Worte mit vereinzelten Klangassoziationen
stellte sich bei naherer Erklarung auch als durch eine Obervorstellung
hervorgerufen heraus. Die Versucbsperson wusste vom Scbimborasso
nicbts weiter, als dass es ein Berg ist. Um eine Reibe herausbringen
zu kdnnen, fugte sie dem Worto Berg alles an, was sie im Moment
durch das Fenster wahrnahm.
Was ich mit diesen Beispielen sagen will, ist folgendes: Auch bei
fortlaufenden Assoziationen wird, gleichgultig, ob ein genugender Sch&tz
von Begriffen vorhanden ist oder nicbt, von normalen Versucbspersonen
unter dem Einfluss von normalen Obervorstellungen assoziiert. Wenu
dann einzelne Reihen 1 ) den Eindruck des Ideenfluchtigen erwecken oder
der Spracbverwirrtheit gleichen, so sind sie deshalb mit diesen beiden
Begriffen keineswegs zu identifizieren. Es handelt sich vielmehr nor
um ausserliche Aebnlichkeiten, wovon man sich leicht uberzeugen
kann, wenn es moglich ist, von der Versucbsperson die Entstehung der
Reibe zu erfragen.
Ideenfluchtig ist eine Reihe nicht schon dann, wenn jedes folgende
Glied nur zu dem vorhergehenden in Beziehung zu stehen scheint, sondem
erst dann, wenn gleichzeitig eine die Reihe beherrschende Obervor¬
stellung fehlt. —
Noch weniger, wie beim fortlaufenden Assoziieren, handelt es sich
meiner Ansicht nacb bei den Vorgangeu vor dem Einschlafen
um Ideenflucbt. Ich babe bei mir selbst, so oft ich darauf geachtet babe,
nie ideenfluchtige Reiben beobachtet, wohl aber ein regelloses Auf-
tauchen und Wiederverschwinden von Vorstellungen. —
Wir sind mit den bisberigen Ausfubrungen kurz auf die Punkte 1,
2, 3 und 4 eingegangen und haben nocb einige Bemerkungen fiber die
Ideenflucbt bei Hemmung binzuzufugen.
Rraepelin, Heilbronner u. a. haben sich dabin ausgesprochen.
1) Dass ideenfluchtige Reihen regelmassig entstehen, bestreite ich.
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 805
dass es sich dabei nicht um eine Hemmung des Den kens, sondern des
Sprechens handelt. Das trifft fur einen Teil der F&lle auch sicher zu.
Es gibt aber daneben wobl aucli andere, bei denen neben der
Hemmung Ablenkbarkeit und die eigenartige, oben n&ker geschildeite
Auswahl der Obervorstellungen nebeneinander bestehen, so dass man
dann von ideenfluchtiger Denkhemmung 1 ) sprechen kann.
Diese Falle zeigen meiner Ansicht deutlich, dass man bei dem
Begriff der Ideenflucht auf das, was ich oben als den „positiven Faktor w
besclirieben habe, besonderes Gewicht legen muss.
Die Verscbrobenen.
W., jetzt 62 Jahre alt (geb. 1856). Begabtes Kind, unbestandig und fahrig,
zeitweise heftig. Misshandelt die Eltern und Sohwestern. Sept. 1890 in eine
Anstalt, damals unruhig, ezaitiertes Wesen, erhohte Reizbarkeit, grosse Un-
zufriedenheit mitallem, Neigung zu Tatlichkeiten, ideenfluchtig, Grossenideen.
Alle diese Erscheinungen verloren mit den Jabren an Scbwere, so dass
er im Jahre 1899 nach Hause genommen werden konnte. Dort lief er viel und
unruhig hin und her, verschenkte und verlegte alles, schimpfte fiber seinen
friiheren Aufenthalt, weokte morgens sehr fruh die Angehorigen und hielt ibnen
lange Reden. Deshalb naoh B. in die Anstalt. Seitdem unverandert. Verf.
hat ihn im ganzen etwa 12 Jahre beobachtet* teils in der Anstalt selbst, zum
Teil auch wahrend mehrmonatiger Beurlaubungen. Das Bild war mit kurzen
Unterbrechungen immer das gleiche. Pat. war moist freundiich und heiter, er
erging sich in einer haufig mit geschraubten Redensarten durchsetzten Sprech-
weise. So pflegte er z. B., wenn von seiner Ausbildung die Rede war, regel-
massig zu sagen: „Die Zeit kommt nicht wieder, das ist das Schlimme, sonst
liessen sich manche Febler korrigieren. Die ganze propadeutische Grundiage
und Philosophic ist in den Sumpf geraten. Das klassische Altertum und die
Neuzeit mit ihren Erfindungen (Pat. war Techniker), die sind nur fur tiefer-
blickendeGeister erschaffen, nicht fur Sonntagskincjer, die alles von der loichten
Seite nehmen. Alles ist fortgesohritten, nur der remanete Magnetismus und
die alten Bocke bleiben ubrig. a Er will noch einmal aufs Gymnasium gehen
und das Abiturientenexamen macben, nm „mit diesem unanfechtbaren Doku-
ment u sich ein „neues Planetensystem u zu grunden.
Auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortete er haufig: Es gehe ihm
„approximativ w wohl. Andere Ausdriicke, wie „nolens, coblenz u , flocht er oft in
seine Rede ein.
Auf der Abteilung entging ihm kein wichtiges Geschehnis. Er unter-
suchte auch alle Ecken, beobaohtete das, was Pfleger und Kranke taten, und
machte seine jeweiligen Beobachtungen zum Gegenstand langer Erorterungen,
die er mit philosophischeu, physikalischen und mathematischen Ausdriicken
verbriimte.
1) Siehe auch die Arbeit von Pfersdorf.
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Dr. A. H. Hiibner,
Auffallend ist dabei, dass er seine Mitmenschen sehr gnt beobaohtet, an
Aerzten, Pflegern, Kranken, seinen Angehorigen, dem Zeitungsinhalt, semen
Erlebnissen auf der Strasse, das Hervorstechendste richtig herausfindet 1 ), nicht
selten bewusst kleine Schwachen des einen oder andern ans Licht zieht und
in Gegenwart Premder in seiner mit witzigen und ubertriebenen Ausdrticken
gespickten Rede geisselt. Auf den ersten Bliok erinnerten seine sprachliohen
Aeusserungen nicht ganz selten an diejenigen mancher Katatoniker, wenn man
sich aber die Mfihe nahm, sich die Gedankengange des Pat naher erklaren zu
lassen, dann zeigte sich, dass seine Aeusserungen nicht sinnlos waren, sondern
eine toils scherzhafte, toils karrikierte Einkleidung von an sich vernunftigen
Gedanken darstellten, die auf aktuelle Erlebnisse Bezng nahmen.
Von Katatonikern unterschied er sich auch dadurch, dass er standig den
Drang, sich zu beschaftigen, hatte und auch regelmassig in einer der Werk-
statten mitarbeitete.
Ftir die Art seines Denkens und Handelns seien noch folgende Beispiele
hinzugefugt:
Es war ibm immer sehr unangenehm, dass er der Anstaltsordnung ent-
sprechend verbaltnismassig fruh aufstehen musste. Urn grbssereMilde in diesem
Punkte zu erzwingen, stellte er sich wocben- und inonatelang neben die Schlaf-
zimmerturen zweier Assistenzarzte, dieauf jener Abteilungwohnten,und sohimpfte
laut auf das Fruh&ufstehen, fugte hinzu, dass, wenn er nicht langer schlafen
ddrfe, die Kerls das auch nicht brauchten. Er erging sich dann so lange in
lauten Scbimpfreden, bis er seinen Zweck, die beiden Aerzle rorzeitig aus dem
Bett zu treiben, erreicht hatte.
Von denjenigen Kranken und Pflegern, welche auf der Abteilung eine
Rolle zu spielen suchten oder das grosse Wort fuhren wollten, pflegte er sich
offers, namentlich wenn Aerzte dabei waren, in ganz iibertrieben tiefer Weise
zu verbeugen, und fugte dann einige Redensarten hinzu, in denen er die
Herrschsucht und Geschwollenheit der Betreffenden periiflierte.
Besonders unangenehm waren ihm frommelnde Menschen. Es gab auf
der Abteilung mehrere Personen, deren aussere Glaubensbetatigung in einem
gewissen Missverhaltnis zu manchen ihrer Handlungen stand. Ftir deren Ver-
halten hatte er stets eine sehr feine Witterung und geisselte das, wenn er irgend
etwas Boses entdeckte, erbarmungslos.
Mitunter erweokten seine Reden und sein Handeln ganz den Eindruck
eines Klowns. Da er infolgedessen offers von anderen Kranken geneckt wurde,
kam er gelegentlich mit ihnen in Zwistigkeiten, bei denen er schimpfte, hie
und da auch einmal tatlich wurde, haufiger aber in witziger, recht geschickter
Weise seine Gegner abfiihrte.
Von Zeit zu Zeit kam er mit Verbesserungsvorschlagen bezuglich der
Anstaltseinrichtungen usw. Seine Anregungen waren nicht immer zweckmassig.
1) So nannte er z. B. einen sehr frommen, etwas selbstbewussten Pfleger
stets n Simon Potrus u , weil dessen Familienname Simon war.
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Ausl&ufer. 807
In mindestens mehrmonatigen Abstanden wurde er far einige Tage oder
Wocben leicht erregt, lief dann z. B. von einem Obrenarzt znm andern, nm
sich sein altes Obrenleiden „kritisch beleuchten“ zn lassen, wie er es aus-
druckte, bielt den betreffenden Kollegen jedesmal lange Reden nnd batte
offenbar selbst Prende daran, wenn er Heiterkeit erregte. Gerade das merkte
man ihm ubrigens offers auch in den rubigen Zeiten an.
In den Perioden leichter Unruhe pflegte er ferner Rechtsanwalte und das
Vormundsohaftsgericht aufzusuohen, am seineWiederbemiindigung za betreiben.
Er ging dann auch zu bekannten und fremden Aerzten, um sich Attests zu be-
sorgen, berubigte sich aber rascb vieder, wenn er nichts erreichte. In diesen
Zeiten batte er auch hanfig Streitigkeiten mit seiner Umgebung, besonders mit
den Verwandten, and er kam dann nicbt selten auch mit allerlei Planen bezuglich
der Zukunft. Wahrend er sich in den ruhigeren Zeiten eine selbstandige
Lebensfubrung nioht zutraute, sich wenigstens mit dem Anstaltsaufenthalt bei
freiem Ausgang durcbaus abfand, behauptete er dann plotzlicb, er wolle ein
neuesLeben anfangen, beiraten, sich einenBeruf schaffen, noobmals zu studieren
anfangen und ahnliohes. Um diese Zeiten hatte er zweifellos ein gesteigertes
Selbstbe wusstsein.
Der Fall W. ist insofern schwierig, als er zu differentialdiagnosti-
scben Erw&gungen gegenuber der Dementia praecox Anlass gibt. Wir
haben zu erflrtern, welche Grunde gegen die Annahme einer Schizo-
phrenie sprechen. Meiner Ansicht nach sind es folgende:
1. Znn&cbst sind die krankhaften Abweicbungen, welche W. zu einer
abnormen PersBnlichkeit machen, angeboren. Schon in der Jugend zeigte er
sich unbest&ndig und fab rig. Auch die Reizbarkeit bestand bereits damals.
2. Bei der Schizophrenie linden wir meist ein deutlich aus dem
bisherigen Lebenslauf sich heraushebendes Anfangsstadium der Psychose.
Ein solches feblt vollst&ndig. Die mehrfach verzeichneten Zeiten, in
denen der Patient erregt war, sind einem solchen Initialstadium eben-
sowenig gleichzusetzen, wie etwa den einzelnen n Scbuben u , die wir bei
manehen Eatatonien beobachten.
3. Da eine progrediente Abnahme der psychischen Funktionen, ins-
besondere eine Verddung des Gefuhlslebens nicbt nachzuweisen ist, so
kommt eine Dementia simplex (Diem, Pick, Kraepelin) auch nicht
in Betracht.
4. Die Zeiten der Erregung bringen keine wesentlich neuen Sym¬
ptoms, sondern lassen lediglich eine quantitative Steigerung der bereits
▼orhandenen erkennen.
5. Was mehrere der behandelnden Aerzte in erster Lioie an eine
Schizophrenie denken liess, waren die eckigen, grotesken Bewegungen
des Patienten und seine eigentumliche Art zu reden. Mit diesen beiden
Symptomen mussen wir ons noch besonders bescbAftigen.
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Dr. A. H. Hiibner,
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Wie schou bei der Darstellung der Krankheitsgeschichte gesagt
wurde, bandelt es sich bei den Bewegungen um eine Uebertreibung
von an sich vernunftigen Reaktionetx Der normale Mensch, der eine
Respektsperson begriisst, bringt die Bewertung, die er derselben znteil
werden lasst, in der Form seines Grusses zum Ausdruck. W. begriisst
die fur ibn in Betracht kommenden Respektspersoneu, die Aerzte,
achtungsvoll, aber nicht ubertrieben. Dagegen die Gernegrosse auf der
Abteilung, diejenigen, die zu Unrecht dominieren wolien, sucht er sich
heraus und ihnen erweist er eine offensicbtlich ubertriebene Ehrfurcht, uni
sie zu verspotten. Was er tut, ist ubertrieben, aber nicht unmotiviert
Oder sinnlos. Insofern unterscheidet sich sein Handeln von dem des
Schizophrenen und erinnert an das des „dummen August" im Zirktas.
Dasselbe gilt von seinen Reden. Er geht zum Ohrenarzt, nicht?
um sich sein Obr untersuchen zu lassen, sondern er lasst es „kritisch
beleuchten". Er verschmaht den nuchternen, rein sachlichen Ausdruck
fur den Vorgang und wendet statt dessen. einen anderen, an sich sinn-
vollen an, der aber eine Uebertreibung darstellt.
6. Alles das gescbieht, weil er standig heiterer Stimmung ist, und
durch nichts — z. B. auch nicht durch den jahrzehntelangen Anstalts-
aufenthait — aus derselben berausgerissen werden kann. Er sieht
alle3, was ihm begegnet, mit den Augen des lachenden Philosophen an.
7. Schliesslich ist noch ein Punkt wichtig. W. hat uie das Inter-
esse an seiner Umgebung, der Aussenwelt, den Zeitereignisseu verloren.
Er liest Zeitungen und verarbeitet das Gelesene. Wenn er auch nicht
den Wunsch aussert, einen Platz im Leben auszufullen, so ist er anderer-
seits docb auch nicht untatig, beschaftigt sich innerhalb der Anstalt —
soweit das seine Unbestaudigkeit zulasst — seinen Kraften und Fahig-
keiten entsprechend und hat ein durchaus richtiges Urteil fur die
Grenzen seines Rdnnens.
So stellt er das, was man ein „OrigiDal“ nennt, dar, d. h. einen
Menschen, der nicht etwa schwachsinnig oder verblddet ist, sondern
nur durch gewisse Verscbrobenheiten in Kleidung, Reden und Handeln
auffallt, verbaltnismassig gut beobachtet, keineswegs interesselos ist.
sich aber zu wirklich wertvollen Leistungen nicht aufraffen kann. Der
im ubrigen alles, was ihm begegnet, durch die rosige Brille betrachtet.
Dass man diese Falle von der Dementia praecox aussondern muss,
ist wohl nicht fcu bestreiten. Ich glaube aber weiter, dass der vor-
liegende Fall als ein Ausfluss der manisch-depressiven Anlage anzn-
sprechen ist, denn wir linden bei ihm eine von ausseren Einflussen wenig
oder gar nicht abhangige Heiterkeit. Der Kranke knupft an Erlebnisse
und Sinneseitidrucke aus seiner Umgebung oft an. Gelegentlich kommt
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 809
ee zu Klangassoziationen (nolens-coblenz). Br ist sprunghaft im Denken,
macbt Witze und neigt zu Uebertreibungen in seinen Reden.
AIs besonders wichtig ist weiter des Omstandes zu gedenken, dass
sich tod Zeit zu Zeit, ohne erkennbare ftussere Orsachen, bei ihm Zu-
st&nde leichter Erregung einstellten, w Eh rend deren er reizbar gegen
die Umgebang war, wegen eines alten Ohrenleidens vom einem Arzte
zum anderen lief, seine Wiederbemundigung betreiben wollte, Heirats-
gedanken Susserte und sich sogar die F&higkeit zntraute, einen Beruf
auszuuben.
Gerade diese, nicht exogen bedingteu Phasen, so kurz sie auch
sein mOgen, sprecben sehr zugunsten der Annabme einer maniseh-
depressiven Anlage 1 ).
Ueber die Erblich keitsverhaltnisse vermag ich leider bei W. nichts
zu sagen. Ich weiss von seinem Vater nur, dass der ein hervorragender
Uathematiker war, der kOrperlich durch ungewOhnliche H&sslichkeit auf-
fiel und zu den beruchtigsten Homosexuellen gehbrte.
' Wenn wir somit zu dem Schluss kommen, dass auch hier ein in
den Bereich der manisch-depressiven Anlage gehbriger Fall vorliegt,
so mussen wir weiter feststellen, was ihn von den beiden bisher be-
schriebenen Typen unterscbeidet. Das ist meiner Ansicbt nacb die
Denkstbrung mit ihren Begleiterscheinungen. Die Art, wie W. denkt
und spricht, zeigt viele Uebereinstimmungen mit dem, was wir uber die
Tor- und Anfangsstadien der Ideenflucht weiter oben erfahren haben.
Es sei nur an die Uebertreibungen, die Verwendung bestimmter Kraft-
ausdrucke, die gelegentlichen Klangassoziationen, die charakteristische
Verarbeitung Susserer Eindrucke erinnert.
Diese Art zu denken und zu sprecben gibt der Personlichkeit ihr
eigenartiges GeprSge. Sie springt mehr in die Augen, als die zweifellos
daneben vorhandenen affektiven und psychomotorischen Storungen.
Querulanten.
X. Y., Geistlicber, 32 Jahre alt. Vater reizbarer Sonderling, mit Nei-
gung zu Depressionen. Sehr fromm, sehr ehrgeizig und empfindlicb. Hat
leicbt zyklothyme Schwankungen. (Letzteres Angabe seines Sohnes.) In der
Familie viel Zwistigkeiten.
Ueber zwei Briider des X. wird in dem Abscbnitt paranoide Falle zu
bericbten sein.
X. selbst ist in Internaten erzogen. Er zeigte Dnrohschnittsbegabung,
kam aber fruhzeitig wegen seiner Reizbarkeit und Empfindlicbkeit mit seiner
Umgebang in Konflikt. Hetzte gegen Mitarbeiter und Vorgesetzte. Wurde
1) Naohtrag: Gegenwartig (Februar 1919) ist er leioht depressiv!
Arehlr f. PsyohUtrie. Bd. 60. Heft 2/Z. 52
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Dr. A. H. Hiibner,
Ordensgeistlicher. Fuhlte sioh im Xloster von seinen Vorgesetzten zuruck~
gesetzt, intriguierte gegen seine Mitbruder und hetzte gegen die Oberen.
Gleicbzeitig begann er fur sich selbst allerlei Yergunstigungen zu fordern.
Wenn dieselben ihm nicht gewahrt warden, tat er, was ihm beliebte, odor
kampfte mit grosster Energie so lange, bis er das Gewiinschte erreichte.
Queruliert jetzt gegen fast alles, was seine Vorgesetzten bestimmen.
Yor 5 Jahren Klagen iiber nervose Storungen (Sohlaflosigkeit, innere
Unruhe, Gefiihl der Leistungsunfahigkeit, Reizbarkeit.) Deshalb in ein Sana¬
torium geschickt, fiel er dorch Ruhelosigkeit, unstetes Wesen, Neigung alles
zu beobaobten und die anderen Kranken durch Ratschlage und Tadel zu be-
lastigen, durcb Uebertretungen der Hausordnung, Differenzen mit dem behan-
delnden Arzt, naoh einer Mitteilung aucb duroh erotisches Gebaren auf.
Zur Rede gestellt, bestritt er stets Inkorrektheiten begangen zu haben.
Da er in dem Sanatorium storend wirkte, erfolgte seine Entlassung. Er wurde
nun in mebreren Klostern untergebracht, immer mit dem gleichen Erfolge. Er
hetzte alle Insassen gegeneinander auf, bracbte infolge seiner Ruhelosigkeit
den ganzen Betrieb in Unordnung, war einsichtslos, wenn ibm vorgehalten
wurde, dass sein Verhalten storend wirkte, und bezichtigte andere der Inkorre#-
beit. Ueber die Interna der Kloster, in denen er untergebraobt war, teilte er
Fremden Wahres und Erfundenes mit, fiel auoh sonst in der Oeffentliohkeit
auf und kam zu Beginn des Krieges sogar in den Yerdacht der Spionage.
Deshalb erfolgte Anstaltsinternierung.
In der Anstalt erregt, benutzt mebrere gewahrte Ausgange dazu, urn in
der Stadt unter falsohen Angaben Einkaufe zu machen, die er nicht bezahlen
kann, fiigt sich nicht in die Hausordnung, schlaft sehr wenig. Verlangt unter
Drohungen seine Entlassung, behauptet, seine Oberen hatten ihn auf Grand
falscher Angaben verschiedenerPersonliohkeiten durch die Internierung fur ewig
unsohadlich machen wollen. Stellt Skandalprozesse in Aussicht.
Naoh einigen Wochen ruhiger. Wird entlassen. Geht sofort in eine
andere psych. Anstalt, urn sich auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen.
Dann beginnt er mit grosster Betriebsamkeit der ganzen Angelegenheit
nochmals nachzugehen, holt uberall eidesstattliche Yersicherungen, arztliche
Atteste usw. ein, geht gegen die Aerzte vor, welche das Internierungsattest
ausgestellt haben, sammelt das ganze Material, lasst es einbinden und mehrere
Ezemplare davon herstellen, mit denen er bei den verschiedensten weltlichen
und kirchlichen Behorden umherzieht. Er reicht auch Klagen bei arztlichen
Ehrengerichten und seinen kirchLichen Behorden ein, sucht Abgeordnete far
seine Sache zu interessieren, reist viel herum und beschwort immer neue
Konflikte mit seiner vorgesetzten Behorde herauf.
Bemerkenswert ist dabei, dass seinYerhalten periodisoh weohselt.
Ohne aussere Yeranlassung — also nicht etwa durch Komplik&tionen bedingt,
die in seiner Saohe neu eingetreten waren — setzt plotzlich eine grosse Be¬
triebsamkeit ein, wahrend deren er viel redet, schreibt, queruliert, mit seinen
Vorgesetzten anbindet, unter falschen Angaben neue Freunde fur seine Saohe
zu gewinnen sucht, ausgesproohenen Rededrang mit Neigung zum Abspringen
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Ueber die manisoh-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 811
aafweist, wenig schlaft and dber Nervositat klagt, die er aaf seine Kampfe
zuruckfuhrt. In diesen Zeiten erfahrt auoh sein sonst scbon recht ausgepragtes
Selbstgefdhl eine deatlicbe Steigerang. Die Stimmang ist gereizt. Er ist fort-
wahrend in Bewegang, zeigt sicb anbelehrbar, so dass in standenlangen Aus-
einandersetzangen nicbts weiter erreicht wird, als dass er vordbergebend
xagibt, er babe in dieser Oder jener Frage nnrichtig gehandelt. Trotzdem tat
er schon am naobsten Tage wieder das, was er selbst am Tage vorher als on-
richtig bezeichnet bat.
Diesen Zeiten der Erregang — in der letzten mir bekannten bat er seine
Dokomente sogar dracken lassen — steben andere gegendber, in denen er
wesentlich rnbiger and einsicbtiger ist, allerdings aach da seine Angelegenheit
weiter betreibt. Verf. bat ibn in diesen Pbasen doch mehrere Male so weit
gebracht, dass er ernstlich erwog, ob es nicbt zweokmassiger ware, wenn er
seine Prozesse abbrache.
Weder fur den Eintritt der erregten Phasen, nocb far die Rdokkebr der
rabigeren lassen sich exogene Ursacben linden. Er selbst bann die plotzlich
einsetzende Betriebsamkeit aach nicht motivieren. Aasgesprocbene Ideenflucht
besteht bei X. nicht, wohl aber Andeutungen davon. Er sprioht riel and
rasch, stellt alles im Sinne seiner Ansohaaungen dar, sucht sicb aas den
Anschauungen anderer in den Zeiten der Erregang in erster Linie das beraus,
was seiner queralatorischen Gereiztheit am moisten entspricbt. Eine gewisse
Ablenkbarkeit tritt aach bervor.
Korperlich bietet er ansser einer auffallend boben Stimme nichts Bc-
sonderes.
Der Mann, den icb soeben geschildert babe, ist ein Querulant.
Warum aber gehdrt er nan anter den Begriff der manisch-depressiven
Anlage?
Dass direkte Belastung im Sinne des zirkularen Irreseins vorliegt,
ist in der Krankheitsgeschichte bereits gesagt.
Ein zweiter Grand liegt darin, dass er periodisch, ohne exogene
Drsachen auftretende Erregungszust&nde bekommt, die den Cbarakter
einer leichteren Manie tragen. Die wesentlichsten Symptoms aber,
welche er zu diesen Zeiten bietet, linden sich auch — in abgeschw&chter
Form — dann, wenn er rahiger ist. Es handelt sich um Reizbarkeit,
Misstraaen, Empfindlichkeit, eine gewisse Unstetheit, Selbstubersch&tzung,
Weitschweifigkeit im Reden, Neigung viel za reden, Unf&higkeit sich
dem Elosterleben einzuordnen, Sprunghaftigkeit im Denken, Sfteren
Wecbsel der Zaknnftspl&ne. Er fangt, das sei noch hinzugefugt,
von Zeit za Zeit auch wissenscbaffliche Studien an, bringt aber seine
Ansbildang nie zam Abschluss and ist noch weniger in der Lage, selbst-
st&ndig zu arbeiten.
Aach hier haben wir also einen im Sinne des manisch-depressiven
Irreseins Belasteten vor uns, der von Jugend aaf gewisse Symptome der
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Dr. A. H. Hiibner,
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Manie als Charaktereigenschaften zeigt. Diese Charaktereigenschaften
steigern sich von Zeit zu Zeit zu richtigen maniscben Phasen, in denen
der Patient als geisteskrank im engeren Sinne zu bezeichnen ist. Nach
Abklingen derselben ist er ein „unangenehmer, anspruchsvoller Unter-
gebener.“ „Besserwissei', u „unrubigerGeist,“„sich uberhebender, disziplin-
loser Psychopath,“ der im ubrigen aber eine ganze Reibe von Attesten
von Aerzten nnd Laien bat, die seine „geistige Gesundbeit, ja sogar
seine ungewobnlicbe GeistesschErfe u bezeugen.
Depressionen babe icb bei ihm nicht nacbweisen konnen, wohl
aber bei seinem Bruder.
Dasjenige, was den X. besonders kcnnzeichnet, ist sein Misstrauen
and seine Empfindlicbkeit, die sich mit boher Selbsteinschfitzung der
eigenen PersSnlichkeit verbinden. Diese Eigenscbaften charakterisieren
auch seinen Vater und bei zweien seiner Bruder spielen gerade die
gleichen Symptome eine wichtige Rolle.
Man sieht also, dass die beredit&ren Beziebungen zwischen
dem Vater und dem Sohne sich nicht auf die Vererbung der
manisch-depressiven Krankheitsdisposition im allgemeinen
beschranken, sondern dass wesentlichste Eigenscbaften der
Gesamtpersbnlicbkeit sich bei alien von mir persOnlich
untersuchten Gliedern der Familie finden.
Diese Eigenschaften beeinflussen ubrigens das Zusammenleben der
Beteiligten in hobem Masse. Auf die Dauer vertrigt sich keiner mit
dem anderen. Einmal nimmt der Vater uneingeschr£nkt Partei fur
seinen Sobn, bezahlt Recbtsanw<e und Reisen zur Durchfechtung der
verschiedenen Streitigkeiten, wendet sich selbst an die hbchsten Instanzen,
um seinen Sohn in seinen K&mpfen zu unterstutzen. Zu anderen Zeiten
redressiert er alle getroffenen Massnahmen, heisst die Entscheidungen
der Behbrden gut, erklUrt den Sohn selbst fur geisteskrank, verweigert
ihm jede finanzielle Unterstutzung und wirft ibn aus dem Hause heraus.
So schwanken die Beziehungen beider zwischen innigstem Einvernebmen
uud bitterster Feindschaft, ohne dass fur diesen Wechsel sachliche
Grunde zu finden siud.
Das Gleiche trifft fur die Bruder untereinander zn.
Das, was alle diese Personlichkeiten sowohl vom Gesunden, wie
vom Paranoiker unterscheidet, ist der Mangel an Konsequenz im Denken
und Handeln. Die Labilit&t des Urteils und Handelns ist bei ihnen
nicht — wie etwa beim Hysteriker — durch Aenderungen der Lage
oder sonstige exogene Faktoren bedingt, sondern sie ist lediglich der
Ausdruck endogener Schwankungen, wie wir sie bei dem manisch-
depressiven Irresein kennen.
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 813
Die ethisch Depravierten.
Es gibt Psychopathen, bei denen als hervorragendstes Symptom die
ethische Depravation bezeichnet wird. Frei von alien Gefublsregungen
ton und lassen sie nur das, was ihnen gefallt. lbre Einordnung in
ein bestimmtes Milieu begegnet grosseu Schwierigkeiten. Viele von
ibnen werden kriminell. Trotz guter Begabung konnen sie im Leben
nirgends dauernd Fuss fassen.
Die moisten von diesen fruher als Moral insanity bezeicbneten
Fallen gehOren nicht in das Gebiet der manisch-depressiven Anlage.
Dass aber einzelne von ihnen vielleicht doch hierher zu rechnen sind,
an diese MSglichkeit lassen die folgenden Falle denken:
Beide Eltern von jeher bypochondrisch und total versohroben. Mutter
in den letzten Jahren senil-dement. (Durch Ermittelungen festgestellt.)
Aelteste Tochter, jetzt 42 J. alt, Lebrerin (in diesem Jahr unter-
sucbt). Musste wegen einer Melanoholie pensioniert werden. Die letztere
war gekennzeichnet durch Depression, objektive und subjektive Hemmung,
subjektives Insuffizienzgefuhl, innere Leere, Skrupeln, zeitweilige Selbstvor-
wurfe, Schlafstdrungen, verminderte Nahrungsaufnahme, innere Unruhe und
Prakordialangst, Neigung zum Weinen. Auoh Suizidgedanken baben voriiber-
gehend bestanden. Dauer etwa 5? Jahre. Die Melancholic babe ich selbst
festgestellt. Ueber das sonstige Vorleben der Krankon weiss ich nichts
Naheres.
Zweite Tochter, 38 J. alt, Privatsekretarin, jetzt verheiratet. (Seit
7 Jahren von mir verfolgt.)
Intelligentes Kind. Sehr gut gelernt. Yon jeher liigenhaft. Stahl schon
als kleines Madcben. Gegen Belehrungen, Ermahnungen und Schlage refraktar.
Immer, selbst in grosster Bedrangnis, heiter.
Nach der Sohulzeit Handelsschule. Franzosisch und Englisch, Schreib-
maschine, Stenographic. Zur Yervollkommnung in Sprachen nahm sie Stel-
lung in der Schweiz an. Dort Gonorrhoe und Lues. Abort. Adnexoperation.
Nach Ausheilung Ruckkehr nach Deutschland. Nimmt Stellung bei einer
grossen Fima als Privatsekretarin des Chefs, mit dem sie sofort einVerhaltnis
beginnt. Yon ihm weiss sie fortwahrend Geld herauszuholen, das sie fur
allerlei Nichtigkeiten ausgibt. Ijlelugt und betrugt den Chef ohne Reue. 1st
immer heiter. Einmal geht sie, urn einen langeren Urlaub zu erhalten, zum
Kassenarzt, lugt demselben ein Heer von Symptomen vor und erhalt auf
Grund eines Attestes die Erlaubnis zu einer Erholungsreise. Unterwegs geht
ihr das Geld aus. Infolgedessen lasst sie sich in ein Krankenhaus aufnehmen,
erbittet unter Beifugung eines neuen arztlichen Attestes eine grossere Summe
Geld von ihrem Liebhaber, verlasst nach Eintreffen des Geldes sofort das
Krankenhaus, um mit einem Anderen zusammen zu leben. Lasst sich noch
mehrmals Geld nachschicken, bis der ganze Schwindel herauskommt. Kehrt
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Dr. A. H. Hdbner,
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in ihre Stellung zuriick, als wenn nichts geschehen ware. Gesteht die Be-
triigereien lachend ein, bringt ihren Liebhaber dazu, dass er sie waiter behalt.
Um nicht durch Schwangerungen in nnangenehme Lage zu kommen,
heiratet sie einen wenig bemittelten, aber ordentlichen Uann. Bleibt gleich-
zeitig bei ihrem bisherigen Liebhaber in Stellung and setzt das Verhaltnis mit
ihm fort.
Spricht mit Behagen davdfc, wie vorzuglich sie alias inszeniert habe.
Daneben auch noch andere Seitenspriinge „naoh BedarP*.
So geht alles einige Jahre. Zu Beginn des Krieges wird der Uann ein-
gezogen. Sie selbst bleibt bei ihrem Liebhaber, halt sich aber auch noch
andere daneben, und zwar mit Vorliebe reiche, die ihren Tribut entriehten
mvissen.
1916 verlasst sie plotzlioh ohne Grund ihre Stellung, kommt nach Bonn.
Hier traurig, menschensoheu. Motiviert den Angehorigen gegenuber ihr Ver-
halten nioht. Sitzt untatig zu Hause herum. Kommt sohliesslich zum Verf.
Der solle ihr helfen. Sie sei ein schlechter Mensch, verdiene nicht zu. leben.
Habe alle Menschen betrogen. Ihre Schlechtigkeit stinke gen Himmel. Sie sei
eine Bestie, wolle sioh das Leben nehmen usw. Dabei schwer deprimiert,
grosse innere Unruhe, fast vollige Schlaflosigkeit, sehf geringe Nahrungsauf-
nahme. Unfahigkeit, sich zu beschaftigen. Denken und Handeln verlangsamt.
Entsohlusslosigkeit.
Naoh etwa 4 Monaten — ohne Anstaltsaufnahme — allmahliche Basse-
rung, so dass sie zwei Monate spater wieder berufsfahig ist. Fangt dann hier
wieder Verhaltnisse an, macht sich aber zeitweise Vorwiirfe, dass sie ihren
Mann betruge. Grubelt jetzt mehr uber sich nach, warum sie so sei usw.; hat
das Bedfirfnis, sich von Zeit zu Zeit beim Arzt auszusprechen. Mitte 1917
Riickkehr in die alte Stellung zu ihrem fruheren Verhaltnis. Gleicbzeitig ver-
sucht sie auch die Versetzung ihres Mannes, der nur garnisondienstfahig war,
an den Ort ihrer Tatigkeit zu betreiben. Dies gelingt ihr. Daraufhin lebt sie
in der alien Weise weiter.
Dritte Tochter 1 ), starb, 32 Jahre alt, 1918 an Grippe. Telephonistin
und Telegraphistin. Klug, sehr belesen, gute Umgangsformen, dabei aber
genau so raffiniert, wie ihre zweite Schwester. Erzahlt sans g§ne bei der
ersten Konsultation die grossten Intimitaten aus ihrem Vorleben.
Hat ungefahr nach den gleichen Grundsatzen gelebt, wie die andere
Schwester. Heiratete z. B. einen ihr gleichgiiltigen Mann, weil er Geld hatte.
Als er das verlor, verliess sie ihn sofort und liess sich scheiden. In einer
Stelle hatte sie eine unbequeme Nebenbuhlerin. Ihrer entledigte sie sich da-
durch, dass sie ein Verhaltnis mit dem zustandigen Vorgesetzten anfing und
diesen veranlasste, jene Dame zu entlassen. Nachdem sie ihr Ziel erreicht
hatte, brach sie das Verhaltnis sofort ab.
Von alien diesen Dingen erzahlt sie in heiterer Weise, persifliert sioh
selbst, sucht nichts zubesohonigen. Keineldeenflucht. SelbstbewusstesAuftreten.
1) Kurz vor dem Tode einige Male gesprochen.
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' Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Aasl&ufer. 815
Aasgesprochene Depressionen oder Manieren waren nicht nachzaweisen.
Zeitweise ist sie skrupulos. Macht sich dann Gedanken dariiber, dass sie so
gehandelt hat.
Nebenher hypocbondrisch. Hegt bei jedem Symptom, das sie an sich
beobachtet, gleich die sohlimmsten Beffirchtungen.
Eeine hysterisohen Stigmata.
Vierte Tochter, Lehrerin. Jetzt 26 Jahre alt. (Seit 1Jahren in
Beobachtang.)
Sohalleistnngen gut. Sehr verlogen. Stiehlt als Kind. Ueber die Seminar-
zeit ist niohts Nachteiliges bekannt geworden. Als Lehrerin gate Erfolge, aber
Tiel Differenzen mit Amtsgenossen. Kommt vertretangsweise an eine Knaben-
schule. Dort Verhaltnis mit einem 15jahrigen Schuler and einem jangen
Geistlichen. Nachdem die Sacbe heraasgekommen war, Entlassang. Davon
vfillig unberfihrt. Lasst sich jetzt von Herren aushalten. Uacht auch fitters
grfissere Sohulden, derentwegen sie bereits frachtlos gepfandet worden ist.
Gibt daneben Privatstunden.
Immer gleich gater Stimmang. Erzahlt Ton ihren friiheren Erlebnissen
ohne Sohea and mit sichtlichem Vergnugen.
Berichtet, dass sie 3mal fur etwa 2—3 Monate „nervfis“ gewesen sei.
Sie habe Kopfschmerzen gehabt, nicht geschlafen, keine Freude am Leben ge-
habt. Zur Arbeit habe sie sich nicht zwingen kfinnen, sondern habe wahrend
der ganzen Zeit zuhause herumgesessen. Sie sei damals direkt menschensohea
gewesen and habe sich innerlich ansicher gefdhlt. Keine Selbstvorwiirfe. Kein
Kleinheitswabn. Prakordialangst.
Wahrend der letztbeschriebenen Zustande hat Ref. sie nicht gesehen.
Bei einer kfirperlichen Untersuchung vor etwa 6 Monaten keine hysterischen
Symptome.
Das, was die drei jiingeren Tfichter der Familie St. auszeichnet
(fiber die alteste weiss ich nicht mehr als oben angegeben), ist ihre
ethische Depravation.
Bei guter intelligenz besitzen sie ein stark ausgeprfigtes Selbst-
bewnsstsein. Ethische Geffible und Moralbegriffe fehlen ihnen ganz
and so spielen sie mit ihrem eigenen Schicksa), ebenso wie mit dem
Anderer, ohne an die Folgen zu denken. Sind sie durch ihr Handeln
in Schwierigkeiten geraten, so beeinflusst auch das ihr psychisches Be-
finden nicht wesentlich. Sie empfinden keine Reue and werden durch
Misserfolge nicht belehrt. Ihre heitere Grandstimmung erleidet dadurch
keine Aenderung.
Wenn man alles das zasammenfasst, so glaubt man klassische Ffille
von Moral insanity vor sich zn haben.
Nan kommen aber zu diesen Symptomen sichere melancholische.
Bei der filtesten Schwester habe ich selbst eine Melancholie festgestellt.
Auch bei der zweiten trat plfitzlich eine mehrmonatige Melancholie
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Dr. A. H. Hiibner,
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auf. Die dritte war zeitweise skrupulOs and machte sich dann Ge-
danken, dass sie ein solches Abenteuerleben fuhrte. Dnd bei der vierten
sind kurz dauernde Zustande beobachtet wordeo, die den mildereo
Formen der Melancholic gleichen, soweit man das aus den Beschreibun-
gen schliessen kann.
' Depressive Symptome haben also alle vier zu irgend einer Zeit
ihres Lebens geboten and dieser Umstand lfisst an ihre ZugehOrigkeit
zur manisch-depressiven Anlage denken. Hinzu kommt, dass hysterische
Stigmata bei keiner von den vier Schwestern nachzaweisen waren.
Andererseits muss man zugeben, dass der Komplex von Symptomen,
der bei den drei genauer Studierten die „Anlage" ansmacht, an mani-
schen Zugen nur die heitere Lebensauffassung, ein deutlich ausgeprftgtes
Selbstbewusstsein, die sexuelle BetStigung, and die Beeintr&chtigang
der ethischen Gefuhle enthielt. DenkstOrungen im Sinne der Ideenflucht
waren, soweit ich das feststellen konnte, nicht vorhanden.
Ich mOchte die Zngehdrigkeit der Familie St. zur manisch-depressi¬
ven Anlage deshalb auch nur mit Vorbehalt behaupten.
Kurz hingewiesen sei im ubrigen wieder auf die Gleichartigkeit der
Charakterstruktur bei den drei jungeren Schwestern. —
Wir haben damit die wichtigsten manischen Anlagen, welche
mir begegnet sind, besprochen.
Gin fluchtiger Ruckblick lehrt uns, dass es tatskchlich ganz reine
Falle gibt, die nie depressiv werden. Gewissen endogen bedingten
Schwankungen sind aber auch die unterworfen. Nur die geringe Starke
des Ausschlags nach der entgegengesetzten Seite unterscheidet sie von
den mit depressiven Symptomen vermiscbten Fallen.
Die Aufstellung eines Begriffes, wie des der manischen Anlage,
birgt die Gefahr in sich, dass er missbraucht wird, wenn eine scbarfe
Abgrenzung nicht mOglich ist (vgl. Bumke). Darum mdchte ich aus-
drucklich nochmals betonen, dass nicht allein der Besitz eines heiteren
Temperaments und einige aus der euphorischen Stimmung resultierende
Handlungen genugen, die ZugehOrigkeit zur manischen Anlage zu be-
grunden, sondern dass dazu erforderlich sind Komplexe psychischer
Eigenschaften, die verstarkt eine Manie ausmachen.
Sehr wichtig ist dabei die Erfahrnng, welche wir im Verlaufe
unserer bisherigen Betrachtungen fast durchgangig gemacht haben, dasB
schon bei der manischen Anlage Andeutungen jener StOrungen des
Denkens sich finden, die wichtige Bestandteile des ausgeprSgten mani¬
schen Zustandsbildes darstellen, namlich der Ablenkbarkeit, der Nei-
gung zu Witzen, des Auftretens von „ Ein fallen" und des sprunghaften
Denkens.
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 817
Anch der Nachweis wiederholt aufgetretener endogener Schwan-
kungen des psychischen Zustandes ist geeignet, die Diagnose zu stutzen. —
Ein Wort schliesslich noch fiber die Bedeatung der manischen An¬
lage ffir die Produktivit&t auf wissenschaftlichem and kfinst-
lerischem Gebiete.
Ich habe gerade auch fiber diesen Punkt mit denjenigen meiner
Falle, die daffir geeignet waren, gesprochen. Sie gaben fibereinstimmend
an, dass die wiohtigste Hilfe bei wissenschaftlichen und kfinstlerischen
Leistungen die „Einfalle u seien. Sie bringen die wirklich neuen Gedanken.
Nach ihnen kommt der Gedankenreichtum, von dem Dr. A. sprach.
Sein Einsetzen bewirkt, dass Probleme, auf deren Ldsung der Betreffende
viel Mfihe und Zeit verwandt hat, ibm mit einem Male gekl&rt erscheinen,
ohne dass er Schritt ffir Schritt vorwfirts zu denken braucht.
Das Hindernis der Ablenkbarkeit wird dadurch fiberwunden, dass
bei den hier gemeinten PersOnlichkeiten eine gewisse Neigung besteht,
gelegentlich — wenn auch nach langer Zeit (z. B. in der n&chsten
hyperthymen Phase) — auf ungeldste Fragen zurfickzukommen. So
wird manches zwar langsamer vollendet, als von anderen Menschen,
aber es reift doch.
Dass die manische Anlage die Gefahr ungleichwertiger Produktionen
in sich birgt, ist in Anbetracht der Denkstorungen leicht erklfirlich.
Auch die Wahrscheinlichkeit, dass Denkfehler sich einschleichen, ist
bei unseren Persdnlichkeiten grosser, als bei anderen geistig produ-
zierenden Menschen. Trotzdem kdnnen auch schwierige mathematische
Probleme geldst werden.
Es war mir besonders interessant, zuffillig feststellen zu kdnnen,
dass zwei von den bedeutenderen Mathematikern des verflossenen Jahr-
hunderts eine manisch-depressive Anlage gehabt haben mfissen. —
Auf eine ffir die praktische Behandlung dieser Falle wichtige
Tatsache mochte ich noch eingehen.
Es ist oben auf die Verschlimmerungen, welche die Anlage zeit-
weise erf&hrt, hingewiesen worden. Wfthrend derselben kann u. U.
Anstaltspflege ndtig sein. Da die Zust&nde vom Laien schwer als geistige
Stdrangen erkannt werden, wird leicht einmal der Vorwurf unberechtigter
Internierung gegen Anstalten und Aerzten erhoben. Eomplizierend
kommt hinzu, dass die Verstimmungen von nur kurzer Dauer zu sein
brauchen, so dass dann, wenn die Angelegenheit in der Oeffentlichkeit
besprochen wird, der Pat. Ifingst wieder in seinen alten Zustand zurfick-
gekebrt ist.
Die nacbuntersuchenden Psychiater kdnnen dann nur eine „Psycho-
pathie“ feststellen.
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Dr. A. H. Hubner,
Nach meinen Erfahrungen liegt in solchen Fallen nicbt selten eine
manische Anlage vor, die sich vorubergehend zu einer richtigen Uanie
ausgewachsen batte.
Wie haufig im ubrigen diese Zustande verkannt werden, bewtfist
am beaten der Umstand, dass die in Betracht kommenden Kranken fast
regelmissig mebrere arztliche Attests vorlegen kOnnen, in denen ihnen
geistige Gesundheit, oder sogar besondere Scharfe des Denkens nnd
abnliches bescheinigt wird. Ich kann weiter kinzufugen, dass einer
meiner F&lle in einer Versammlung von Fachgenossen einen Vortrag
gehalten hat, bei dem er sich sehr auffallig benahm, ohne dass die
Diagnose Hypomanie von den Herren, mit denen ich nachher sprach,
gestelit worden ware.
b) Die depressive Anlage.
Unter dem Namen der konstitutionellen Verstimmung bat Kraepelin
eine CharakterveranlaguDg beschrieben, die gekennzeichnet ist dorch
eine andanernd trube Gefuhlsbetonung aller Lebenserfabrungen. Daneben
verspuren die Kranken oft „ inn ere Hindernisse" bei Bewaltigung geistiger
Leistungen. Sie zeigen Neigung zu hypocbondrischen Grubeleien, sind
besonders empfanglicb fur die Sorgen, Muhsale und Enttauschungen
des Lebens und werden oft von einem Schuldgefuhl gepeinigt, als hatten
sie sich etwas vorzuwerfen.
Ihr Gefuhlsleben wird von einer weichlichen Empfindlichkeit be-
herrscht. Sie besitzen oft ausgepragte kunstlerische und scbSngeistige
Neigungen und Fahigkeiten.
Haufig sind sie angstlich, menschensckeu, unselbstandig, unsiclier
im Auftreten, umstandlich im Handeln, wenig verantwortungsfreudig
und schwer von Entschluss. Auch Selbstmordneigung wird beobachtet
Dazu kommen die verschiedensten nervOsen Beschwerden wie Herz-
beklemmungen, Kopfscbmerzen, SchlafstQrungen, Magenerscheinungen,
Darmbeschwerden u. a. m.
Diese Konstitution sieht Kraepelin als einen Grundzustahd des
maniscb-depressiven Irreseins an. Er fugt aber gleichzeitig hinzu, dass
nicht alle Formen depressiver Veranlagung im gleichen Sinne zu deuten
seien. Namentlicb die Falle mit mehr umgrenzten Angstzustanden und
Befurchtungen gehdrten nicht hierber, dagegen seien wahrscheinlich
gewisse weicbe, sanfte, ein wenig zur Schwermut geneigte Naturen hinein-
zurechnen, die mit guter Verstandesbegabung, gewinnender, anschmiegen-
der Liebenswurdigkeit und grosser Herzensgute, Aengstlich^eit, peinliche
Gewissenhaftigkeit und Maugel an Selbstvertrauen verbinden, von jeder
rauben Beruhrung mit dem Leben zuriickschrecken, sich leicht Sorgen
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaafer. 819
machen and wohl zu dalden, ja sich zu opfern, aber nicht zu kampfen
verstehen.
- Reiss, der in seinen schdnen Untersnchungen fiber den Zusammen-
bang von Veranlagung and Psychose von der konstitutionellen Ver-
stimmung ausgeht, best&tigt zun&chst die Richtigkeit der Bescbreibong
Kraepelin’s.
Er erg&nzt sie dahin, dass die Kraepelin’schen Ffille sich durcb
eine langsam ansteigende, lang hingestreckte, und trfige verlaufende
Affektkurve (Gaupp) aaszeichueten and enge Beziehungen zu den
Zwangszust&nden bfiten.
In einer zweiten Gruppe fasst Reiss dann solcbe Kranke zusammen,
die sich durch raschen und unvermittelten Ablauf aller affektiven Vor-
gfinge aoszeichnen. Er meint damit Menschen, die im allgem einen
depressiv veranlagt sind und anf jede Kleinigkeit mit einem zwar
karzen, aber intensiven Stimmungsausschlag reagieren. Die Summe
dieser sich rascb folgenden Einzelausschl&ge tfiuschl eine dauernde
Yerstimmong vor.
Bei dieser Gruppe finden sich Zwaugsvorstellungen, Grfibelzwang,
Selbstqualereien, Yersfindigungsideen und alle die anderen, oben er-
wahnten Erscheinungen nicht. Der Eranke vermag sich wenigstens vor-
ubergehend dem Genuss des Augenblicks voll hinzugeben bis die nachste
betrfibende Erfahrung eine neue Yerstimmung auslost.
In zwei Punkten nur stimmen die Angehdrigen dieser zweiten Gruppe
mit denen der ersten fiberein, n&mlich in der fibergrossen Empfindlich-
keit gegen Erfinkungen und Zurficksetzungen and in der Neigung sich
mit der eigenen Person zu besch&ftigen. Wfihrend aber bei der ersten
Gruppe die Gedanken sich vorwiegend um die eigene Unzulanglichkeit
drehen, sind es bei der anderen kdrperliche Missempfindungen, die dem
Gesamtbilde einen hypochondrischen Anstricb verleihen.
Die zweite Gruppe stellt nach Reiss einen zu psychogenen Reak-
tionen neigenden Typus dar. R. meint nun, dass man diese beiden
Gruppen zwar theoretisch scheiden mfisse, dass ihre Abgrenzung im
konkreten Falle aber ausserordentlich schwierig sei.
An fihnliche Verhftltnisse, wie Reiss, scheint Rybakoff, dessen
Arbeit mir nur im Referat zugfinglich ist, gedacht zu haben. Er be-
schreibt eine Zyklophrenie, deren Dnterformen z. T. in die hier bespro-
chenen Eonstitutionsanomalien, zum anderen Teil in die leichteren Formen
des manisch-depressiven Irreseins hineingehoren, wie sicb aus seiner Ein-
teiiung der Zyklophrenie ergibt. Jedenfalls hat auch dieser Autor der
engen Beziehungen zwischen Individuality und Psychose besonderS
gedacht.
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Dr. A. H. Hiibner,
Einen dem hier vertreteuen in mancher Beziehung nahestehenden
Standpunkt nehmen Rodiet und Masselon ein. Sie fuhren aus, dass
ihrer Ansicht nach jede Melancholie auf prSdisponiertem Boden entstehe.
Die Individualit&ten, aus denen sich das ausgepr>e Rrankheitsbild
entwickele, seien in drei Gruppen zu teilen, die man etwa 1. als Kon-
stitutionell depressiv, 2. Zyklothymische und 3. Degenerative mit obses-
siven Zustanden und periodischen Schwankungen bezeichnen k5nne.
Wenn ich im Folgenden, zun&chst obne auf bestimmte Streitfragen
einzugehen, einige Typen beschreibe, die mir h&ufiger begegnet sind,
so kann ich selbstverst&ndlich auf VollstSndigkeit keinen Anspruch
machen. Die Kranken, deren Geschichte ich hier bringe, sind ausnahms-
los in die erste Gruppe von Reiss einzureihen, d. h. sie sind Spiel-
arten dessen, wasKraepelin als konstitutionelle Verstimmung beschreibt.
Auf die anderen F&lle einzugehen, behalte ich mir fur ein sp&teres
Kapitel vor.
Ich betone wieder ausdrucklich, dass die gegebene Einteilung zu¬
n&chst nur bezweckt, zu zeigen, wie verschieden sich die Menschen,
welche mit den gleichen Komplexen psychischer Eigenschaften ausge-
stattet sind, im Leben prasentieren konnen, sobald einzelne Symptome
starker hervortreten, als die anderen. Daneben iiegt mir aber auch
daran, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass doch verh<nis-
m&ssig oft solche dominierenden Symptome die Familieneigentum-
lichkeit bilden und selbst in den ausgesprochenen manischen oder
melancholischen Phasen nicht verschwinden, im Gegenteil mitunter in
diesen schweren Attacken sogar deutlicher hervortreten.
a) Die einfache depressive Verstimmung.
Familie B. (Mutter und Tochter 2 1 / 2 Jahre beobachtet. Vater einmal
untersucht.)
Mutter stille, durch viel Ungluck in der Familie vorzeitig gealterte Frau,
die auf Aufregungen und korperliche Anstrengungen mit Kopfsohmerzen, Mudig-
keitsgefiihl, Scblaflosigkeit und ahnliche Erscheinungen reagiert. Ein Bruder
der Mutter Epileptiker mit Krampfen, petit mal, Dammerzustanden und aus-
gesprochenem Schwachsinn.
Der Vater (geb. 1860) ist in der Jugend ein gutbegabter, stiller, etwas
empfindsamer Mensch gewesen. Das Lernen fiel ihm nioht leicht. Er war
grublerisch veranlagt, neigte zu triiber Lebensauffassung.
Wurde Realschullehrer. In den Jahren derBerufstatigkeit selbstbewusster.
1906 „allgemeine Nervositat“ and Aengstlichkeit. Pat. wurde reizbar und
empfindlich, appetit- und schlaflos. Er unternahm alle moglichen Karen,
ohne Besserang zu finden. Schliesslich stellten sioh religiose Skrupel ein, mit
denen sich eine melancholische Verstimmung verband. Deshalb am 13. 3. 06
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 821
in die Prov.-Heilanstalt B. Hier bot der Pat. das Bild einer ausgepragten
Melancholic, die durch das zeitweilige Auftreten von vielen Halluzinationen
sich auszeichnete. Bis Ende Oktober 1908 trat Besserung ein, sodass Pat. ver-
suchsweise entlassen werden konnte. Zu Hanse setzte einige Tage spater eine
lebhafte Erregung ein, die bewirkte, dass er wieder in einer Anstalt unterge-
bracht werden mnsste. Seit April 1913 ist er wieder in B. Hier wurde folgen-
der Verlauf beobachtet:
April 1913 bis Ende Mai 1914 Depression mit vereinzeiten Sinnestau-
schungen and Verfolgungsideen. Jani 1914 bis Marz 1915 viel Halluzinationen
and lllnsionen, kein charakteristischer Affekt. Juli 1915 Erregang mit Beein-
trachtigungsideen. Oktober 1915 ansgesprochene manischo Erregung mit Rede-
drang usw. Viel Grossenideen. Der Zustand hielt an bis Anfang 1917. Dann
wechselndes Verhalten. Mehreren Tagen, an denen er ganz ruhig, klar und
geordnet ist, folgen andere, an denen er die Personen seiner Umgebung mit
anderen Namen bezeichnet, sehr erregt ist und sogar mit Kot und Urin sohmiert.
Mitunter bedient Pat. sich einer besonderen Sprache. Gelegentlich sonderbare
Haltungen, an den ruhigen Tagen schreibt er inhaltlich gute, zusammenhan-
gende Briefe, macht auch ganz brauchbare Gedichte.
Anfang 1918 zunehmende Erregung. Unter dem Einfluss von Sinnes-
tauscbungen aggressiv, beschimpft und schlagt die Frau. Nimmt die von ihr
mitgebrachten Geschenke nicht an. Fiihlt sich von ihr und anderen beein-
trachtigt. Dabei ideenfliichtig. Ruhige Tage selten.
Tochter. Jetzt 20 Jahre alt. Von Jugend auf still und zuriickhaltend.
Ging nur im Familienkreise aus sich heraus. Empfindlich gegen Tadel. Bei
ziemlioh guter Begabung fiel ihr das Lernen schwer. Griiblerisoh. Dachte
oft iiber Dinge nach, die anderen jungen Madchen fern lagen. Neigung zu
truber Lebensauffassung. Aeusserte bisweilen allerlei grundlose Befiirohtungen.
Mitte 1916 fielen zwei Briider im Felde. Angeblich im Anschluss daran
wurde sie stiller, traurig, gehemmt. Sie sprach weniger, hatte Angst und
Druokgefuhl auf der Brust, schlief schlecht, ass wenig, nahm an Korpergewicht
ab. Gelegentlicbe Selbstvorwiirfe, starkes Insuffizienzgefiihl. Hat das Bedtirf-
nis, sich noch mehr als friiher an die Mutter anzulehnen. Will nicht, dass
Massnahmen zu ihrer Heilung getroffen werden. Es habe keinen Zweck. Sie
werde doch nicht wieder gut. Subjektive und objektive Hemmung. Einige
Male Selbstmordgedanken.
Nach sechsmonatigem Bestehen der Krankheit auf Rat desVerf.’s mit der
Mutter aufs Land. Dort allmahliche Besserung. Nach 8 Wochen Riickkehr
nach B. Auf der Riickfahrt in der Eisenbahn Erregungszustand. Will an einem
Kreuzungspunkt nicht umsteigen, ruft laut urn Hilfe, die Mutter wolle sie um-
bringen, wehrt sich gegen die Verbringung in den anderen Zug, so dass die
Fahrt unterbrochen werden muss. Am nachsten Tage Riickkehr nach Bonn.
Hier Beeintrachtigungsideen gegen die Mutter, viel Halluzinationen (teilweise
im Sinne der Verfolgung), heitere, meist auch etwas gereizte Stimmung. Ideen-
flucht. pOngeniertes Benehmen. tt In der Anstalt (17.1.17), wohin die Pat. zu-
nachst gebracht wird, Vergiftungsideen (mit Geruchs-, Gehors- und Gesichts-
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Dr. A. H. Hiibner,
tauschungen), nimmt zogernd Nahrung. Einige Male ansauber mit Urin.
Rasches Abklingen der Erregung, auch jetzt noch glaubt sie, dass die Matter
ihr nicht wobl will. Hort bassliche Dinge, die ibr zagerafen werden.
1. 3.18 versuchsweise naoh Hause entlassen, die Erregong nimmt sofort
wieder zu. Pat. glaabt sicb besonders von der abgottiscb geliebten Matter be-
eintrachtigt. Bedroht, besohimpft and schl> dieselbe. Nimmt einmal eine
Axt and will aaf die Matter losgehen. Als Ref. gerafen wird manisches Zu-
standsbild mit Uallazinationen. Pat. ist gereizt, sprioht fortwahrend, schimpft,
maoht dazwischen Witze, ist abspringend, macht Verse. Deatliche motorische
Unrabe, ungeniertes Benebmen. Hallaziniert offenbar. Als tod der Matter
gesprocben wird, zanebmende Erregung. Scbreit, raft ibr Schimpfworte za.
Will aggressiv werden.
Deshalb erneut in eine Anstalt, wo nacb 3 Monaten Beruhignng eintritt.
Nach der Riiokkebr in die Familie Erankheitseinsicht. An fangs nooh
Stimmangsschwankungen. Jetzt wieder still, beschaftigt sicb im Hause, trube
Lebensauffassung, Hang zur Traurigkeit, leicbte Hemmung.
Vater und Tochter B. stellen vor dem Auftreten der ersten schweren
Phase die reinsten Typen konstitutioueller Verstimmung dar, die es
wohl gibt. Das Wesentlichste und Hervorragendste ist die depressive
Lebensauffassung und eine stille Traurigkeit. Nebenher in nur geringer
AusprSgung finden wir eine leichte Erschwerung des Denkens, Neigung
zum Grubeln, Empfindlichkeit, und gelegentlich werden auch Befurch-
tungen ge&ussert.
Insofern sind beide Kranke einfach zu deuten. Wichtig sind nan
die beiden Pat. fur die Frage des Vererbungsproblems.
Nicht nur die Anlage ist bei beiden die gleiche, sondern auch der
Verlauf der geistigen Stoning, und namentlich finden wir bei beiden
gewisse symptomatologische Besonderheiten, die das klinische Krank-
heitsbild atypisch macben.
Bei Vater und Tochter beginnt die Psychose mit einer Melancholie.
Sebr fruh zeigen sich verhaltnism&ssig viel Halluzinationen. Als dann
der manisch-depressive Mischzustand einsetzt, spielen die Halluzinationen
eine noch gr&ssere Rolle. Sie richten sich bei beiden gegen die in
ruhigen Zeiten heissgeliebte Mutter.
Wahrend der Erregungen bei beiden Neigung zum Versemacben,
baufige Angriffe auf die Umgebung, vorubergebende Unsauberkeit mit
Eot und Urin.
Dabei im ubrigen das unverkennbare Bild eines manisch-depessiven
Mischzustandes mit vorwiegend manischen Symptomen.
Man sieht also bier dasselbe Rrankheitsbild mit den gleichen aty-
pischen Beimischungen bei Vater und Tochter auftreten. Beim Vater
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 823
besteht es jetzt schon fiber 10 Jahre mit gewissen Schwankungen. Die
Tochter ist genesen.
Die Vererbung erstreckt sich bier also nicht nur auf die Erank-
heitsform im allgemeinen, sondera sie erstreckt sich sogar 1 ) auf die
klinischen Besonderheiten and den Verlauf! Denn sie entwickelte sich
aits einer depressiven Anlage heraus. Dabei muss ich ausdrficklich
hinzuffigen, dass die Tochter den Vater in den Zeiten der Krankheit
nur dann ganz selten einmal geseben hat, wenn er ruhig war. Jahre-
lang fiberhaupt nicht.
Exogene Faktoren, welche das Auftreten so gleichartiger Erank-
heitsbilder zu erklfiren verm5chten, babe ich nicht nachweisen kOnnen,
man wird deshalb nicht umhin kommen, alles, was bei beiden an gleich-
artigen klinischen Erscheinungen aufgetreten ist, auch als den Ausfluss
der PersOnlichkeit anzusehen.
Mit anderen Worten gesagt: Es liegt nahe anzunehmen, dass nicht
allein die Krankheitsform, sondern auch symptomatologische Besonder¬
heiten in der PersOnlichkeit „praformiert“ wareD.
Diese Feststellung, der wir im Verlaufe unserer Ausffihrungen bereits
begegnet sind, die uns auch bei sp&teren Beobachtungen noch begegnen
wird, best&tigt nicht nur manche Erfahrungen von Reiss, sie lehrt
sogar, dass die Uebereinstimmungen noch weiter gehen kOnnen, als
dieser Autor meinte.
Jaspers hat in seiner Psychopathologie unter Hinweis auf die
mehrfach erw&hnten Studien von Reiss gesagt, man mfisse Antwort auf
drei Fragen suchen: 1. Gibt es aufzeigbare Krankheitsformen, die sich
nur gleicbartig vererben? 2. Innerhalb welcher abgrenzbaren Ereise
findet eine transformierende Yererbung statt in dem Sinne, dass ein
Erankheitsbild das andere als Aequivalent gleicbsam ersetzen kann?
3. Oder gibt es etwas Derartiges fiberhaupt nicht?
Wenn wir die Literatur von Sioli’s erster Arbeit bis heute ver-
folgen und wenn wir insbesondere solche Erfahrungen, wie sie uns die
Familien C., B., V., A. und H. bieten, mit bdrficksichtigen, dann muss
man als feststehend fur das manisch-depressive Irresein ansehen, dass
es sich gleichartig vererbt. Innerhalb des manisch-depressiven Irre-
seins ist eine transformierende Yererbung in dem Sinne mOglich, dass,
statt einer Melancholic, eine Manie oder ein Mischzustand auftritt.
Das HSufigere scheint aber auch da die Gleichartigkeit der Yererbung
xu sein.
1) Das Gleiche hat Reiss anscheinend auch beobachtet (vgl. l.c. S.258).
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Gegen diese Behauptung hat man die gelegentiich gemachte Er-
fahrung ins Feld geffibrt, dass von manisch-depressiven Eltern Kinder
abstammen, die schwachsinnig sind oder an Dementia praecox leiden
und ahnliches. Darauf ist folgendes zu erwidern:
. 1. In einem Teil dieser F&lle handelt es sich meiner Ueberzeugung
nach um Fehldiagnosen. Ich werde weiter unten selbst Beobachtungen
bringen, die zeigen, wie schwer die Differentialdiagnose sein kann.
2. Man darf die s&mtlieheu in einer Generation vorkommenden
seelischen Abweichungen nicht ohne weiteres auf die manisch-depressive
Belastung durch eines der Eltern beziehen, sondern muss den Ursprong
der vom Typus der gleichartigen Vererbung abweichenden Krankheits-
form an der Hand des Stammbaums suchen. Man wird dann nicbt
selten finden, dass die scbeinbare Abweichung von der Regel bis tief
in eine angebeiratete Familie zurfickzuverfolgen ist, also ursichlich auf
die manisch-depressive Belastung gar nicht zurfickzuffihren ist, sondern
neben und unabh&ngig von ihr besteht (vgl. Fainilie N. und Ho.).
Es ist das grosse Verdienst von Sommer, Strohmeyer, Riidin,
Berze u. a., auf die Notwendigkeit der Ermittelung von Familienstamm-
b&umen hingewiesen zu haben. Leider sind solche nur selten in der
wfinschenswerten Vollst&ndigkeit zu erbalten und man wird sich deshalb
oft damit begnugen mfissen, alle erreichbaren lebenden Familien-
mitglieder in ihrem Lebensgang zu verfolgen. Es genfigt im allgemeinen
nicht, eine oder einige Untersuchungen vorzunehmen. Man darf die
einzelnen Personen vielmehr nicbt aus den Augen verlieren, wenn kleine
endogene Schwankungen der Stimmung, das passagere Auftreten von
Zwangserscheinungen, die unten noch naher zu besprechende Storung
de6 Denkens und ahnliches nicht unbemerkt bleiben sollen.
Noch ein Punkt ist bei Besprechung der Familie B. zu erdrtern,
namlich die Frage, wie weit sowohl die manisch-depressive Aulage, wie
auch die ausgesprochenen Phasen des manisch-depressiven Irreseins
durch exogene Momente beeinflussbar sind.
Diese Frage hat gerade w&hrend des Krieges, wo es sich darum
handelte, fiber die Berechtigung materieller Entschfidigungsansprucbe zu
entscheiden, viel Schwierigkeiten bereitet und sie ist sehr verschieden
beantwortet worden. Im allgemeinen hat jedenfalls die Neigung zuge-
nommen, den exogenen Faktoren einen allzu grossen Einfluss auf die
Entstehung und den Verlauf unserer Erkrankung abzusprechen.
Je linger man sich gerade mit den hier besprochenen Zustanden
beschfiftigt, desto mehr kommt man zu der Ansicht, dass fiussere Ein-
flflsse von sehr untergeordneter Bedeutung sind. Man ist — das wird
jetzt auch allgemein anerkannt — bei der Annahme von urs&chlichen
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 825
Zusammenhangen friiher docb allzu handwerksmdssig vorgegangen und
hat sich biaweilen ledigiich mit dem mehr oder minder exakten Nach-
weis eines zeitlichen Zusammenhanges zwischen dem angeschuldigten
Erlebnie und der Verschlimmernng des Zustandes begnugt. Wie vor-
sicbtig man aber dabei sein mass, das kann man sich gerade an unseren
Fallen klar machen.
Yon Frl. B. wird behaaptet, dass sich bei ibr im Anschluss an
den Tod der Briider allm&hlich die depressive Anlage zn einer Depression
gesteigert babe.
Klinisch war die Depression, als ich sie feststellte, eine echte
Melancholic. Der Inhalt der Psychose wurde von dem traurigen Ge-
schehnis, welches sie ausgeldst haben sollte, nicht im geringsten beein-
flusst. Die Patientin fuhlte sich in erster Linie krank und dachte an
sich and ihren Zustand, weniger ait-die Briider.
Noch unverstandlicher ist der Zusammenhang zwischen der Ruck-
reise aus der Sommerfrische und dem Dmschlag in die Manie. Das
zeitliche Zusammentreffen ist nicht zu leugnen. Das Auftreten von
Sinnestauschungen und Beeintrachtigungsideen nicht zu verstehen.
Betrachten wir nun den Krankheitsverlauf beim Vater. Da hat sich
die einleitende Depression-ohne ausseren Anlass ausgebildet. Die Exazer-
bationen in dem spateren Verlauf steliten sich zwar einige Male im
Anschluss an einen Ortswechsel ein; noch viel haufiger aber ohne exo¬
gene Beeinflossung.
Man muss bei dem Vater B. geradezu sagen, dass die Reaktion des
Kranken auf die Anstaltsbntlassung mit einer Verschlimmernng psycho¬
logist nicht verstandlich ist. B. kam nach Hause zu seiner Familie,
die er liebte, nach der er sich in der Anstalt, wie aus seinen Briefen her-
vorgeht, auch gesehnt batte, und es stellen sich nun Erregungszustande
und Beeintrachtigangsideen ein, die sich gegen die Ehefrau richten.
Wie ganz anders, wie viel durchsichtiger und psychologisch ver-
standlicber ist dagegen die Wirkung exogener Faktoren bei den psycho-
genen Erkrankungen. Da sehen wir nicht nur den zeitlichen Zusammen¬
hang, sondem kdnnen auch feststellen, dass der Eranke sich mit dem
oder den inkriminierten Erlebnissen wahrend der geistigen Stdrung be-
schaftigt.
Es gibt zwischen den reaktiven Psychosen und unseren Fallen noch
zwei weitere Unterschiede, namlich:
1. gilt fur die reaktiven Erkrankungen mit gewissen Einschran-
kungen der Satz: Cessante causa, cessat effectus. Fur die manisch-
depressive Anlage und das manisch-depressive lrresein trifft dieser Satz
nicht zu;
▲rehir f. Psjehi&trie. Bd. 60. Heft 2/3. 53
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Dr. A. H. Hiibner,
2. sind bei den psycbogenen StOrungen die 6chwersten Symptome
im Anfang zu finden, und es erfolgt dann eine bald raschere, bald lang-
samere Ldsung. Bei den Manisch-depressiven ist das h&ufig umgekehrt,
jedenfalls l£sst sich die eben gegebene Regel nicht anwenden.
So ergibt sich denn, dass bei den von uns als manisch-depressive
Anlage beschriebenen Fallen exogene Faktoren kaum eine Rolle spielen.
Manche von den angeschuldigten Erlebnissen sind nicht Ursache, sondern
bereits erste Symptome einer Bxazerbation. So entschuldigte der Fall C.
sein Benehmen der Mutter gegenuber z. B. einmal damit, sie habe ihn
durch Verweigerung von Geld gereizt. Deswegen sei er zornig geworden
und babe ihr in der Oeffentlichkeit Szenen gemacbt. In Wirklichkeit
lagen aber die Verhaltuisse so, dass er das Geld zu einer Zeit forderte,
in der er bereits durch Vielgeschaftigkeit, vermehrtes Planeschmieden,
grfissere Unruhe usw. aufgefallen war. Seine manische Anlage war also
schon vorher exazerbiert.
Man wird nun sagen, dass selbst bei Berucksichtigung aller von
mir aufgezahlter Faktoren nocb Falle ubrig bleiben, in denen nacb
einem bestimmten Erlebnis die manisch-depressive Anlage deutlicher
hervortritt, als vorher.
Diese Tatsache besteht zu recht. Das muss zugegeben werden.
Es feblt aber auch nicht an Erkl&rungen fur die Erscheinung. lch
habe an zwei MOglichkeiten gedacht.
Es kommt erstens vor, dass eine solche Anlage, ohne dass eine
wirkliche Verschlimmerung eingetreten ist, starker hervortritt, weil die
ausseren Verhaltnisse ungunstiger geworden sind. Zweitens muss man
daran denken, dass psycbogene Beimiscbungen das Erankbeitsbild farben.
Was ich damit meine, kann ich am einfachsten an einem Bei-
spiel zeigen:
M. (geb. 1876), Rechtsanwalt. Seit Mitte 1917 beobachtet.
Grossvater hochgradig nervos. Mutter sebr affekterregbar, h&tte zeitweise
extreme Gerauschfqroht, so dass sie die Fenster des Schlafzimmers polstern
liess. Vater Philanthrop, weltabgewandt.
M. selbst stark depressiv veranlagt. Neigung zu Befurchtungen, Insuffi-
zienzgefuhl, arbeitete zu jedem Examen bis zur Erschopfung.
1912 Depression mit schwerem Krankheitsgefuhl, Furcht, geisteskrank zu
werden, lnsuffizienzgefiihl, subjektiver und objektiver Hemmung, Gefuhl, dass
das Gedachtnis scbwande,Selbstvorwurfe, Suizidgedanken. Nach einer grosseren
Ausspannung Besserung.
1914 wurde Pat. auf der Sommerreise durch die Mobilmachung uber-
rasoht. Auf der Ruckreise auf einem Bahnhof erregt, weint laut. Die Familie
mvisse zugrunde gehen und verbungem. Pat. lasst zu Hause allerlei Nahrungs-
mittel einkaufen, um die Seinen vor dem flunge^tode zu bewahren. Schafft
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaafer. 827
andererseits die Zeitongen ab, weil er fdi derartige Aasgaben kein Qeld zu
haben behanptet, was nicht zutrifft.
Yon da ab wahrend des ganzen Krieges deprimiert, weint bisweilen,
skrapnlos. Weiss nicbt, ob er dem Berafe noch nachgehen darf, sei doch krank.
Fdrobtet standig etwas falsoh zu maohen. Glaabt, dass die Kollegen and
Richter ihm seinen Zastand ansehen. Maoht sich Gedanken fiber eine eventnelle
Einziehung. Er wfirde die Vorgesetzten nicht richtig grfissen, Befehle ver-
gessen oder nicht richtig aasffihren and dann eingesperrt werden. Er wird
schliesslich als Schreiber eingestellt and hat einige Joarnale fiber verliehene
Auszeichnungen zu ffihren. Obwohl die Tagesarbeit in 3 Stunden zu leisten
ist, geht er 1—2 Stunden vor Dienstanfang auf die Schreibstabe, schlaft naohts
nioht, weil er sich fiber seine dienstliohen Pflichten viele Sorgen macht.
Scblechte Nahrungsaufnahme. Ist froh, dass er seine Tatigkeit als Anwalt
nicht aaszufiben braacht. Daneben zu Haase Neigang za Affektaasbrfichen
gegenfiber der Familie bei geringen Anlassen.
Wabrend der Revolationstage and nach dem Einzag der feindlichen Be-
satznng Exazerbation.
Nachdem sich die Verhfiltnisse konsolidiert haben, ruhiger, aber
die Anlage zur Depression und die Neigung zur Skrupulositfit be-
steben fort.
M., der bereits frfiher eine sicher endogene Depression gehabt hat
und zweifellos auch eine depressive Anlage aofweist, daneben aber (in-
folge der Belastung von seiten der Mutter?) zu heftigen Affektentladungen
neigt, findet in den durch den Krieg bedingten Verhfiltnissen eine Quelle
zu vermehrten Skrupeln. Es ist mehr Grund zu trfiben Gedanken
vorhanden, und er kann sich vor allem der verfinderten Lage
nicht anpassen. Deshalb scheint er krfinker, ohne es zu sein. In
seinen Gedankeng&ngen spielt auch das jeweils Aktuelle eine grosse Rolle.
Daneben linden wir seine Neigung zu Affektreaktionen gesteigert,
dieselbe machte sich zu Beginn des Erieges am st&rksten bemerkbar.
Mit der Besserung der fiusseren Lage findert sich aach sein
Verhalten. '
Hier linden wir also die beiden oben erwfihnten Faktoren neben-
einander, nfimlich 1. den.Kampf des depresdlv veranlagten, wenig an-
passungsffihigen Patienten mit einer neuen, unbequemen Situation und
2. die psychogenen Beimischungen.
Der eben gefiusserten Ansicht stehen scheinbar zwei Gruppen von
Fallen entgegen, namlich 1. die Depressionen nach UnfalleD, wie ich
sie in meinem Buche fiber den SelbstmoFd beschrieben habe.
Wenn ich filr jene Beobachtungen damals den Begriff der Melan-
cholie beibehielt, so geschah es, weil die Gutachter, welche die Akten
hearbeitet hatten, sie als solche bezeichnet hatten. Meiner Ansicht nach
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Dr. A. H. Hiibner,
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handelte es sich in Wirklichkeit um reaktive Depressionen. Schon der
Umstand, dass sich inhaltlich die Psychose ganz mit dem auslbsenden
Erlebnis beschaftigte, spricht dafur.
Ich babe dann im vorigen Jahre zwei atypische Schreckpsychosen
beschrieben, in denen auf einen Affektshock sich Geistesstdrungen von
sicher reaktivem Charakter entwickelten. Spater stellten sich dann
Symptome ein, die als manisch bzw. depressiv angesprocben werden
mussten.
Beide Eranke habe ich weiter verfolgen kSnnen und es zeigte sich,
dass bei ihnen eine Neigung zu psychogenen Reaktionen neben der
manisch-depressiven Anlage bestand. Die 1. c. auf S. 379 beschriebene
junge Dame hat inzwischen sowohl hysterische Symptomenkomplexe wie
mehrere kurze melancholische Depressionen gehabt, die ietzteren waren
sicher endogen (die Belastung dazu ruhrte von der Mutter her), die
ersteren exogen bedingt (die Belastung stammte aus der vater lichen
Familie). Beide waren dnabhangig voneinander, so dass ich auch fur die
anf&ngliche StQrung an ein zuf&lliges Zusammentreffen denken mCchte.
Wie leicht man sich bezuglich der exogenen AuslOsbarkeit von
Psychosen tauschen kann, zeigen am besten unsere Eriegserfahrungen.
Es gab am Anfang des Erieges eine ganze Reihe von Autoren (z. B. Verf.),
die glaubten, dass die Eriegsereignisse manische und depressive Zustande
in grosser Zahl ausgeldst hatten. Wie sich spater herausstellte, traf
das nicht zu. Die auch bei nns in Bonn anfangs beobachtete Haufung
von zirkularen Erkrankungen war offenbar eine zufailige 1 ) gewesen.
Schon vom zweiten Eriegsjahre ab gehbrten Manien und Melancholien
zu den Seltenheiten, obwohl um diese Zeit die Leiden sowohl fur die
Zivilbevblkerung, wie fur die Heeresangehorigen eigentlich erst begannen.
Ich muss es mir versagen, auf die 2. Gruppe konstitutioneller Ver-
stimmungen von Reiss an dieser Stelle, wie es wunschenswert ware,
einzugehen, und mbchte mir das fur spater %orbehalten.
Nur darauf mOchte ich nochmals hinweisen, weil es fur das Erb-
lichkeitsproblem wichtig ist, dass sich, wie ich ja schon zeigen konnte,
die verschiedene Herkunft der manisch-depressiven Anlage und der
Neigung zu lebhaften Affektreaktionen in manchen Fallen an der Hand
des Stammbaumes nachweisen Jasst.
p) Die Skrupulositat.
Haben wir uns soeben mit der einfachen depressiven Verstimmung
und einigen im Anschluss daran zu erdrternden allgem einen Fragen be-
1) Vgl. auch Bonhoeffer, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1916.
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 829
i
sch&ftigt, so mussen wir uns jetzt einer anderen Variation, der „Skrupu-
losit&t u , zuwenden.
Auch da mOchte ich ein Beispiel voranstellen.
E. G., Studentin der Philos., 29 J. alt. (2 Jahre beobachtet.)
Vorfahren des Vaters sehr religios. Etnpfindliche Naturen. Neigung
zu trhber Lebensauffassung.
Vater: Maschinenfabrikant, zeigt grosste Neigung zu hypochondrischen
Gedanken. Beobaohtet sich und die Familie sehr genau, lasst sofort mehrere
Aerzte kommen, wenn er etwas gefunden zu haben glaubt.
Neigung zu trauriger Lebensauffassung. Macht sich auch viel Gedanken
fiber Dinge, die mit der Gesundbeit nichts zu tun haben. Lebt ganz als Ein-
siedler. Reist nioht, weil er Menschen nicht sehen kann und Gerausche
furchtet (z. B. das Zuschlagen der Abteilturen auf der Eisenbahn).
In seinem Fach sehr tiiohtig. Hat selbst mehrere Erfindungen gemacht,
die ihm viel Geld eingebracht haben. Neben der Konstruktion von Werk-
zeugmaschinen beschaftigt er sich mit Astronomie, der er seine freie Zeit
widmet.
Der Tochter ist aufgefallen, dass in dem Befinden des Vaters Schwan-
kungen auftreten, fur die sich aussere Anlasse nicht linden lassen.
Die Mutter, die ich selbst gesprochen habe, ist eine ruhige, klar
denkende Frau von guten Formen und gesundem Urteil. Auch die Tochter
halt ihre Mutter fur gesund.
Frl. G. selbst gibt an, dass sie ebenso wie der Vater bezuglich ihrer
Gesundheit von Jugend -auf sehr' angstlich gewesen sei. Sie habe von jeher
bei allem gleich immer an das Schlimmste gedacht.
Schon in den ersten Schuljahren trat bei ihr die Neigung zu depressiver
Lebensauffassung und Grubeleien hervor. Sie pflegte deshalb von ihrem
10. Lebensjahre ab der Mutter abends vor dem Schlafengehen mindestens eine
Yiertelstunde lang alles zu erzahlen, was sie im Laufe des Tages Unrechtes
gedacht und getan hatte. Sie machte sich fiber das Geschehene Vorwiirfe und
Skrupeln, aber nicht allein iiber Dinge, die sie wirklich ausgefuhrt hatte, son-
dera auch iiber solche, von denen sie nicht genau wusste, dass sie sie getan
hatte. So bestand z. B. in der Schule die Bestimmung, dass die Schulerinnen
vor Eintritt der Lehrerin nicht sprechen durften. Abends wusste die Pat. oft
nicht, ob sie das Gebot iibertreten hatte. Trotzdem konnte sie von dem Ge¬
danken nicht loskommen, dass sie sich vergangen hatte.
Sie lernte in der Schule leicht und kam gut mit, doch fagte die Pat.
ungefragt hinzu, dass ihre Leistungsfahigkeit „periodisch ausserordentlich
schwankte u . Zum Abiturientenexamen bereitete sie sich privatim vor, musste
mehrere Male fur einige Wochen ihre Arbeit unterbreohen, weil sie sich „nervos u
fuhlte, und bestand das Examen trotzdem naoh 2 Jahren.
Kdrperlioh fuhlt sie sich von Jugend auf sehr wenig leistungsfahig, ob-
wohl ihr bisher alle Aerzte gesagt haben, sie sei organiscb gesund. — Solange
ich selbst die Pat. kenne, bot sie folgendes: x
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Dr. A. H. Hfibner,
Sie erschien in nicht ganz gleichen Abstanden mit Klagen fiber Kopf-
drnck, Erschwerung des Denkens, Unfahigkeit zn geistiger and kdrperlicher
Arbeit, Mattigkeitsgefuhl, Gedachtnisschwaohe und Schlafstorungen.
Ueber diese Erscheinnngen machte sie sicb dann grosse Sorgen, liess
sicb immer von neuem versichem, dass das nichts Scblimmes sei, erwog in
skropuloser Weise, ob sie das Stadiam nicbt aufgeben solle, da sie docb so
insnffizient sei. Einige Male bestand ancb Angstgeffihl and Herzdrack. Die
Pat. maohte einen gedrfickten, mfiden Eindrack, sah blass aus, hatte eine
massige Tacbykardie. Ohne dass man schon von Hemmnng reden konnte, varen
ibre Bewegungen and ihrSprecben langsamer, als in den besseren Zeiten.
Nach einigen Wooben verringerten sich die pnbjektiven Bescbwerden oder
scbwanden ganz, die Stimmung wurde zaversichtlicber and die Eranke konnte
wieder arbeiten. Ein gewisses Gefuhl der Insaffizienz, die Neigang za Skru-
peln and ein „Sfindengeffihl u warde sie aber nie los. Sie qnalte sioh sogar
mit diesen Dingen innerlich viel, namentlich dann, wenn sie sioh za nie*
mandem darfiber ansspreohen konnte. Einmal erschien sie z. B. erregt and
bat, „sie auf Homosexualitat za antersachen u . Sie batte darfiber gelesen and
es vtar ihr aafgefallen, dass sie bisber fast nar Freandscbaften mit Madchen
gehabt hatte (ibre Eltern pflegten keinen gesellschaftlichen Verkehr und sie
lebte in einer kleinen Stadt). Dies genfigte ihr, am sich fur homosexuell
za halten and es bedarfte mehrerer langerer Unterredungen, um sie davon
abzabringen.
Ueber das n Sundengeffihl u berichtet sie folgendes:
Nach harmlosen Freuden stellt sich bei ihr ein Geffihl ein, als hatte sie
ein Unrecht begangen, and sie muss sich dann Vorwfirfe machen. Wenn sie
z. B. jemanden besuchen will, den sie gern hat, dann front sie sich vorher
and gerat direkt in einen Spannnngszastand. Nach Beendigung des Besuches
beschaftigt sie sich mit dem Erlebnis so intensiv, dass sie sohlecht schlaft
and am Morgen mit einem „Katergeffihi“ aufwacht, einem Geffihl, „als wenn
sie sich fibernommen hatte u , and dann macht sie sioh Vorwfirfe, dass sie mit
Monschen, die so aaf sie wirken, fiberhanpt verkehrt.
Das Geffihl der Insaffizienz kommt bei ihr dauernd darin znm Aasdrack,
dass sie etwas Hastiges and Unsicheres in ihren Bewegungen hat und standig
beobachtet, ob ihre Unsicherheit von der Umgebang bemerkt and ob ihr Ver*
halten beobachtet wird.
Schliesslich hat sie noch etwas, was sie die „innere Stimme u nennt.
Wenn sie sich Vorwfirfe macht, weil sie dies oder jenes getan oder nnterlassen
bat, dann beschaftigen sie diese Vorwfirfe so lebhaft, dass sie ihre Gedanken
fast hort. Sie ist sioh vollkommen klar darfiber, dass nicht etwa wirkliche
Stimmen ertonen, weiss, dass es sioh am ihre eigenen Gedanken handelt, and
will damit nar zam Aasdrack bringen, welohe bohe Bedeatang and Intensitat
diese Gedanken fur sie haben.
Diese innere Stimme maoht sioh za den Zeiten, in denen sie sich
schlechter ffihlt, mehr bemerkbar, als za anderen. Eine Abhangigkeit der
Schwanknngen von exogenen Faktoren habe ich nicht nachweisen konnen.
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Ueber die m&nisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 831
Zur VervollstSndigung ist noch hinzazafiigen, dass die G. trotz ihrer
Jagend and ihres Reichtums sehr einfach and zurfickgezogen lebt, wenig Ver-
kebr hat und mit peinlicher Gewissenhaftigkeit ihren selbstubernommenen
Pflichten nachgeht, d. h. sie besucht ihre Vorlesungen, sohreibt eifrig mit and
arbeitet das Besprochene so gewissenhaft darcb, wie ein Schdler die auf-
gegebene Lektion, obwohl sie lediglich aus wissenschaftlichem Interesse stu-
diert, nicht etwa am sp&ter eine Stelle anzunehmen.
Das hervorstechendste Merkmal der Persfinlichkeit des Frl. G. ist
ihre Skrupulositat. Es kann ihr begegnen, was es sei, immer hat sie
ein Geffihl der Unsicherheit. Sie muss nachgrfibeln, ob ihr Verhalten
richtig war, angstigt uud sorgt sich, hat nach den harmlosesten Freuden
ein „Siindengefuhl“ und macht sich oft sogar fiber Dinge Yorwfirfe,
von denen sie nicht einmal bestimmt weiss, ob sie sie fiberhaupt aus-
geffibrt hat.
In den ausgesprochensten Fallen, die ich gesehen habe, ging die
Stfirung so weit, dass die Kranken jede Kleinigkeit zu einer Haupt-
und Staatsaktion machten. Eine meiner Pat. befragte ihren Mann vor
jeder Gesellschaft fiber das anzuziehende Kleid, die Frisur, ob sie diese
oder jene Handschuhe nehmen sollte, welcher Schmuck in Betracht
kfime und ahnl. mehr. Sie begnfigte sich nicht damit, einmal alles zu
uberlegen und dann entsprechend zu handeln, sondern kam immer
wieder mit den gleichen Fragen, machte selbst Bedenken geltend, die
immer von neuem widerlegt werden mussten, brauchte infolgedessen zu
ibrer Toilette viel mehr Zeit, als andere Frauen, und brachte auf diese
Weise ihre gesamte Dmgebung fast zur Verzweiflung.
Dass dieser Typ hierher gehfirt, ergibt sich aus der Art der Be-
lastung und den eiidogenen Scbwankungen, die bei meinen Fallen nie
fehlten. Nicht selten verbinden sich die Skrupeln mit ausgesprocbenen
melancholischen Yerstimmungen, wfihrend sie zur Zeit der leichten
Exaltationen weniger hervortreten, zum mindesten aber leichter fiber-
wunden werden.
Sie entsteben aus einem Gefuhl innerer Unsicherheit, der Neigung
zum Klebenbleiben an jedem einzelnen Gedanken und aus betrfichtlicher
Entschlusslosigkeit.
Infolge der Skrupulositat, die sich namentlich in ungewobnten
Situationen bemerkbar macht, sagen oder tun diese Kranken nicht selten
etwas, was sie in Zeiten, wo sie zu wirklicher, d. b. ungehinderter
Ueberlegnng ffihig sind, nie tan wfirden. Ihre Entschlfisse und ihr
ganzes Handeln ist — wenigstens in den ausgeprfigtesten Fallen —
mehr Zufallsprodukt. Es entbehrt der Konsequenz. Denn, wenn die
Kranken auch gewisse GrnndsStze haben, so hindert sie die Skrupulositat
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Dr. A. H. Hiibner,
oft daran, diese Prinzipien zur Anwendang zu bringen and sie handeln
ihnen entgegen, wenn sie nicht die erforderlicbe Zeit habeD, sich zu
ihnen durchzuringen. —
Wenn ich diese Variation besonders schildere, so geschieht es ein-
mal der Skrapeln wegen, dann aber auch, weil wir hier besonders
deutlich eine DenkstOrung kennen lernen, die charakteristisch fur die
konstitutionelle Verstimmung ist. Wir werden weiter unten darauf
n&her einzugehen haben.
Ausserdem stellen diese Falle den Uebergang zu den reinen Zwangs-
vorstellungskrauken dar, die ja auch eine besondere Gruppe der manisch-
depressiven Anlage bilden.
y) Hemmungszustande.
Scbon das Beispiel, welches bei der Skrupulositat gebracht wurde,
wies neben den Skrupeln ein anderes Phanomen, wenn auch nicht als
dominierend, auf, namlich gewisse Hemmungserscheinungen.
Gs gibt nun Menschen, bei denen dieses Symptom so stark in den
Vordergrund treten kann, dass es der Gesamtpersbnlicbkeit den Stempel
aufdruckt und oft zu Fehldiagnosen Anlass gibt.
Die schwersten Falle dieser Gruppe, die ich gesehen babe, sind
als alte Katatoniker, einer auch als ein besonders abgefeimter Simulant
angesehen worden, und man muss zugeben, dass bei Betrachtung ledig-
lich des Zustandsbildes, ohne Kenntnis der Gntwicklung des Kraokheits-
bildes, man leicht zu einem Fehlurteil kommen kann. Die folgenden
Beispiele werden das zeigen.
Familie Ba. (Tochter 6 Monate in Beobachtung).
Vater tot, psychisch anscheinend o. B.
Matter nach Angaben der Toohter mit 40 Jahren Depression. Sie wurde
angstlioh, schlief sehr schlecht, ass wenig, furchtete, dass ihr etwas passieren
wurde. Innere Dnrahe, Selbstvorwurfe und sohr ausgesprochene Platzangst.
Naoh etwa 2 Jahren heilte die Krankheit aus.
Frl. H., jetzt 24Jahre alt, stud, phil., war als kleines Kind sehr lebhaft,
spater sehr still. In den ersten Schuljahren gate Leistungen. Seit dem
12. Lebensjahre verandert. Damals wurde sie „bleichsuchtig t( , konnte in der
Schule nicht aufpassen, batte Kopfsohmerzen. Aufgaben, die sie zu Hause gut
gelernt hatte, konnte sie in der Klasse nicht, weil das Gedachtnis versagte.
Deshalb schlechte Schulerfolge.
Im 16. Lebensjahre, wahrend eines Winters, besseres Befinden. Das Ge¬
dachtnis wurde zuverlassiger, sie bekam grossere Beweglichkeit, fuhlte sich
innerlioh sicherer. Die Schulzeugnisse warden besser.
Im folgenden Jahr in Pension (Kloster im Ausland). Dort starkes An-
lehnungsbediirfnis. Gelegentliche Befurchtungen, dass sie nioht stark genug
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 833
sei, dem Leben die Stirn za bieten, dass sie zur Ebe nicht geeignet sei usw.
Wollte deshalb Nonne werden. Ein personlicher Zwist mit einer Schwester
verleidete ihr jedoch das Klosterleben. Deshalb ins Elternhaus zuriick. Sie
bescbloss, Sprachlebrerin zu werden. Wahrend der Vorbereitungen Versagen
des Gedachtnisses, Sinken der Energie, Schw&chegefuhl. Sie musste sioh zu
allem zwingen, glaubte, dass der Kopf „wie leer w war, vernaohlassigte sioh
auch etwas im Aeusseren. Trotzdem legte sie nacheinander das franzosisohe
and englische Sprachexamen ab. Zum Besuch der Handelshochscbale konnte
sie sioh aber auf die Dauer nicht zwingen, weil ihr das ganze Stadium zu
nuohtern war.
Um diese Zeit litt sie auch noch immer unter der Enttauschung, die ihr
die Klosterschwester bereitet hatte. Sie hatte dieselbe schwarmerisch geliebt.
Vor 3 Jahren Besserung. Infolgedessen Vorbereitung zum Abiturienten-
examen. Einige Monate nach Bestehen desselben erneutes Auftreten der Ge-
dachtnis- und Denkhemmung. Anfangs konnte sie noch Kolleg horen und mit-
arbeiten, spater ging das nur noch selten. DieAugen und der Kopf schmerzten
ihr, sie hatte das Gefiihl der Leistungsunfahigkeit, das Interesse an der Sache
schwand, sie arbeitete auchwenig,warde traurig und zog sich von den nachsten
Angehorigen zuriick.
Objektiv: Kleines, scheues, sanftes Madchen mit traurigem Gesichtsaus-
druck. Dnsioherheit in Blick und Haltung. Langsame Antworten und Be-
wegungen. Gute Intelligenz. Deutliches Insuffizienzgefuhl. Klagen iiber
korperliche Beschwerden. Blasses Aussehon. Tachykardie.
Der Fall bietet, zusammengefasst, folgendes:
Gleichartige Belastung von seiten der Mutter. Bei der Pat. in den
ersten Lebensjahren heiteres, spliter depressives Temperament, das im
16. Jahre pur fur kurze Zeit eine Besserung erfuhr.
Vom 12.—16. Jahre Hemmung des Gedachtnisses, Erschwerung des
Denkens, schlechtere Schulerfolge.
Vom 17. Lebensjahr bis zur Gegenwart mit kurzer Dnterbrechung
GedflchtnisschwAche, Energie!osigkeit, k5rperliches Schwachegefiihl, Ge-
fuhl der Leistungsunfahigkeit, Abnahme de5 Interesses fur den zukiinftigen
Beruf, Neigung zum Einsiedlerleben, leichte Verstimmung, Langsamkeit
im Denken und Handeln.
Es ist also in diesem Falle die HemfPung der psychischen
Funktionen, welche seit Jahren die GesamtpersOnlichkeit kennzeichnet.
Dabei wird die Zugehdrigkeit zur manisch-depressiven Anlage durch
die gleichartige Belastung und die charakteristischen endogenen
Schwankungen einwandsfrei bewiesen.
In vieler Beziehung erinnert der Fall an die Beschreibung, die
Kraepelin von gewissen schwarmerisch veranlagten, wenig leistungs-
fahigen und energielosen Menschen gegeben hat, die, wie er hinzufugt,
wohl zu dulden, aber nicht zu kampfen verstehen. —
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Dr. A. H. Hiibner,
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Bei Familie Ha. hielt sich die Hemmung in m&ssigen Grenzen, so
dass die Pat. zwar in ihrer Leistungsf&higkeit dadurch beeintr&chtigt
war, aber doch nicht als geistesgestOrt im engeren Sinne angesehen
werden konnte. Es gibt F&lle, bei denen die Hemmungen viel weiter
gehen. Welche Grade dabei erreicht werden k5nnen, lehrt die folgende
Beobachtung. Ich habe die Kranke in einer Eheanfechtungssacke begat-
aclitet. Die Mitteilungen fiber den Verlauf verdanke ich der Dr. Hertz-
schen Anstalt in Bonn.
Frau E., geb. 1875.
Vater nervos. Hat als Bauunternehmer viel Geld yerdient. Wurde spater
Trinker.
Frau E. selbst war immer still, ofnst veranlagt, freundlich. Gute Schul-
erfolge, sehr musikalisob.
Der Mann, welcher einige Jahre im Hause verkehrte, ehe er die Pat.
heiratete, berichtete, ihm sei schon damals aufgefallen, dass seine spatere
Frau „apathisch u war, sich an der Unterhaltung wenig beteiligte. Sie musste,
wenn er zum Besuch kam, oft yon der Mutter erst ins Zimmer hereingeholt
werden, manchmal erschien sie iiberhaupt nicht. Er bemerkte auch, dass die
Mutter ihre Tochter erst fertig anzog, bevor sie sie dem Bewerber zufuhrte,
weil die E. selbst sich dazu nicht aufraffen konnte.
Nach der Verheiratung uberliess die Pat. den Haushalt dem Madchen,
kiimmerte sich um nichts, brauchte sehr yiel Zeit zum Anziehen, konnte nie
fertig werden, zeigte in allem eine enorme Langsamkeit. Zu den offiziellen
Besuohen (Mann: Gymnasial-Oberlehrer) war sie nicht zu bewegen. Spazier-
gange vermied sie. Zu Unterhaltungen war sie selten geneigt. Dabei angst-
liches Wesen. Furchtete sich, allein in ein Zimmer zu gehen, konnte kein
Messer sehen, angstigte sich davor, ohne dass sie zu sagen vermochte, warum.
Ein inzwischen geborenes Kind versorgte sie nicht.
Anfang 1915 in ein Sanatorium gebracht, wurde sie erregt, versuchte zum
Fenster herauszuspringen. Wiederholte von Zeit zu Zeit immer dieselben
Fragen: Ob sie nooh gerade und ganz sei, ob etwas passiert sei, ob ihr jemand
etwas tue.
In der Folgezeit blieb sie angstlich, wollte nicht allein sein. Sie wosch
sich zwar, machte sich das Haar aber nioht, brauchte zum Ankleiden die Zeit
vom Morgen bis Mittag. Sfe ass nur auf Drangen, und dann auch sehr
langsam. Der Schlaf war schlecht. Es bestand ausgesproohenes Krankheits-
gefuhl.
Am 28. 2. 1917 kam sie in* die Hertz’sche Anstalt. Dort stark gehemmt.
Anfangs gab sie noch vereinzelt mit leiser Stimme Antwort. Spater setzte sie
wohl zum Sprechen an, braohte aber kaum ein Wort mehr heraus. Nur ab und
zu beantwortet sie Fragen durch Kopfnicken oder Sohiitteln.
Einmal, an einem etwas freieren Tage, gab sie an, sie musse so yiel an
die Fragen, die sie von Zeit zu Zeit wiederhole, denken, dadurch sei sie so ge¬
hemmt, dass sie nichts tun konne.
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 835
Wenn der Arzt das Zimmer betrat, lachelte sie verbindlich, nahm auoh
die gebotene Hand. Konnte sie dann auf die Fragen des Arztes nichts heraus-
bringen, dann kamen Tranen.
Besuch der Angehorigen bereitete ihr Freude.
Dass es sicb nicht etwa urn Zwangsvorstellungen, sondern am wirkliohe
Hemmnng handelt, ging aus einzelnen Beobachtungen hervor. Wenn sie sich
die Zahne reinigen sollte, brauchte sie eine gewisse Zeit, ehe sie die Zahnbdrste
in die Hand nahm. Dann hielt sie dieselbe ratios in der Hand, tanchte sie
erst naob einiger Zeit ins Wasser, brachte sie aber auch da zunaohst nicht
wieder heraus, sondern brauchte dazu, wie zu den iibrigen noch erforderlichen
Bewegnngen mehrere Minuten.
Man sah ihr haufig an, dass sie energische Anstrengungen machte, die
Hemmung zu iiberwinden. Das gelang ihr aber nur selten und dann auch iiur
unvollkommen.
In ungefahr dem gleichen Zustande wurde die Pat. im Januar 1917 nach
Hause entlassen. Wahrend des Aufenthaltes in der Anstalt hat das Befinden
ganz leichte endogene Schwankungen gezeigt, so dass sie manchmal einzelne
Worte oder Satze herauszubringen vermochte, mehr aber nicht.
Nie Katalepsie. Kein Grimassieren, koine Manieren, wie iiberhaupt nichts
Schizophrenes.
Hier haben wir eine progressive, sich ganz langsam entwickelnde
Hemmung des Kedens und Handelns bis fast an die Grenze des Stupors.
Dass nicht etwa eine Katatonie vorlag, ist meiner Ansicht nach aus
dem Fehlen katatoner Symptome, ferner daraus, dass die Patientin unter
den Zust&nden sebr litt und keine Ver&nderung der Persdnlichkeit im
Sinne der Schizophrenie zeigte, zu schliessen. Sie war nichts weniger
als gemutsstumpf.
Um Zwangsvorstellungen allein kann es sich nicht gehandelt haben,
denn die Hemmung &usserte sich immer und uberall, nicht bloss in be-
stimmten Situationen. Das Vorliegen von Zwangsvorstellungen, die ihr
Verhalten hatteo erkl&ren kbnnen, hat die Patientin auch durch Kopf-
schutteln verneint.
Fur die Diagnose wichtig ist: 1. dass eine depressive Anlage vor-
handen war, aus der sich das Ganze entwickelte, 2. haben voruber-
gehend Phobien bestanden (Furcht vor Messern), 3. finden wir die be-
kannten endogenen Schwankungen. Dazu kommt 4. der depressive Affekt
und die mehrfach ge£usserten Selbstmordgedanken.
Ich habe einen ganz &hnlich verlaufenen, wenn auch nicht ganz so
schweren Fall im Eheanfechtungsverfahren begutachtet (Frau von
28 Jahren), in dem die Hemmung durch mehrere kurze hypomaniscbe
Phasen unterbrochen wurde. In einer derselben liess die Patientin in
Abwesenheit des Mannes das Haus umbauen. Sonst pflegte sie einen
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Dr. A. H. Hdbner,
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wutenden Hausputz zu beginnen, der regelmassig mit einem Wechsel
des gesamten Personals endete. Da war die Zugehorigkeit zur manisch-
depressiven Anlage noch deutlicher.
Ich habe noch drei Falle gesehen, die zwar im ausseren Anblick
ahnlich waren, wie der eben beschriebene, aber doch wohl anders zu
deuten sind. Alle drei waren Landleute, die aus ihrem Dorfe nnr zur
Erffillung ihrer militarischen Dienstpflicht herausgekotnmen waren.
Es waren Menschen, die in der Jugend zwar langsam arbeiteten
und langsam dachten, sich in ihrem engen Wirkungskreis aber wohl
fuhlten und dann auch frohlich sein konnten. In der Familie des einen
waren hysterische Storungen mehrfach vorgekommen. Diejenige des
zweiten stand in schlechtem Ruf, namentlich wurde ihr Neigung zu
Diebereien vorgeworfen. Von den Angehdrigen des Dritten konnte ich
nichts Naheres in Erfabrung briugen.'
Zwei von ihnen wurden zum Militar eingezogen, der Dritte musste
die Heimat aus anderen Grunden verlassen. Bei alien Dreien ging nun
die Krankheit folgendermaassen weiter:
Einige Wochen nach dem Verlassen des Heimatdorfes trube Stim-
roung. Neigung zum Weinen. Dann plbtzlicher Erregungszustand mit
nachfolgendem Stupor, der sich in mehreren Mona ten loste. Inzwischen
war die Entlassung nach Hause erfolgt.
Dort nahmen sie ihre alte Beschaftigung wieder auf. Sie arbeiteten
langsam und umstandlich, zeigten eine extreme Menschenscheu, so dass
sie, sobald ein Fremder auf den Hof kam, alles stehen und liegen
Hessen und sich im Hause oder in der Scheune versteckten.
Sie verliessen freiwillig den Hof fiberhaupt nicht, antworteten auf
Anreden den Dorfbewohnern nicht. Mit deh zum eigenen Hof gehfirigen
Personen verkehrten sie in vernunftiger Weise, wie auch ihre Arbeits-
leistungen denen anderer Landarbeiter im grossen und ganzen ent-
sprachen.
Nur fiber grosse Reizbarkeit wurde von den Verwandten und An-
gestellten der Patienten geklagt.
Dieses Bild finderte sich sofort, wenn sie den Hof aus irgendeinem
Grande verlassen mussten. Zun&chst mussten sie zum Bahnhof ge-
schoben oder gefahren werden. Sie sprachen unterwegs mit niemandem.
Einen der drei Falle habe ich in Bonn bei der Ankunft zufallig beob-
achten kfinnen, ohne dass ich wusste, dass es sich urn eine klinische
Aufnahme handelte. Er wurde von seinem Bruder wie ein negati-
vistischef Katatoniker die Strassen entlang bis zur Rlinik geschoben,
wobei er auch einen gewissen Widerstand leistete. Das Aeussere war
durch die Reise schmutzig, der Hut sass schief auf dem Eopf, sein Be-
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Gck igle
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ibrer Anslaufer. 837
durfnis batte der Patient unterwegs in die Hose gemacbt (die Reise
ging tod der Eifel bis Bonn). Im Sprechzimmer antwortete er nicht,
befoigte keinerlei Aufforderungen, bewegte sicb auch spontan nicht und
reagierte auf Nadelstiche gar nicbt Auf der Abteilung ass er nicht,
starrte vor sich bin, sprach mit niemandem, musste mit Gewalt ins
Bett gebracht werden.
Dieser Mann war in seinem Dorfe, da er Milit&rrente bezog, fur
einen grossen Simulanten gehalteu worden.
Der zweite Fall, aus der Umgegend von Bonn stammend, war un-
gef&hr so, wie der eben beschriebene, nur war er nicht so unsauber.
Bei ihra kam Rentensncht oder Furcht vor der Einzieliung nicht in Be*
tracht, denn er war bereits definitiv entlassen. Trotzdem das gleiche
Bild: Ausserhalb des elterlicben GehOftes wie ein katatonischer Stupor,
in gewohnter Umgebung ein fleissiger Arbeiter, der sich nur wegen
Kopfschraerzen von Zeit zu Zeit fur halbe Tage ins Bett legeu musste.
Dass die eben kurz gescbilderten beiden Falle — der dritte stimmte
mit ihnen iiberein — ganz ungewOhnlich sind, wird obne weiteres zu-
gegeben werden.
Els fragt sich zun&chst, wie'sind sie klinisch zu rubrizieren?
Von Frau E. unterscheiden sie sich dadurcb, dass es sich nicht
urn eine endogene Fortentwicklung eioer angeborenen Anlage handelt.
Die Erkrankung ist vielmehr im direkten Anschluss an das erst-
malige Verlassen der viterlichen Scholle entstanden. Die ersten Sym-
ptome wie uberhaupt der Verlauif in den ersten Monaten, den ich nur
aus Akten bzw. Angaben von Verwandten kenne, erinnert am meisten
an denjenigen reaktiver Psychosen.
Schliesslich sehen wir dann, dass eine extreme Menschenscbeu
zuruckbleibt und der Patient, wenn er aus der gewohnten Umgebung
des elterlichen Hauses herausgeholt wird, vdllig ablehnend wird, nicht
spricht, nichts isst und sich vernachlAssigt, wtlhrend er zu Hause zwar
reizbar ist und allerlei (neurotiscbe?) Beschwerden hat, aber doch selb-
st&ndig arbeitet und Brauchbares leistet.
Mit den manisch-depressiven Zust&nden ist dieser Krankheits-
verlauf um so weniger zu identifizieren, als bei alien drei Patienten
weder cbarakteristische, manischo noch depressive Zustandsbilder nach-
znweisen waren.
Als Falle von Katatonie kann man sie wohl auch nicht ansprechen,
denn bei dem Manne aus der Nahe von Bonn wurden dann die VerhAlt-
nisse so liegen, dass er an einem Tage, wo er den Arzt besucbte, von
morgens 6—10 Uhr fleissig arbeitete, von 10—2 Uhr das Bild eines kata*
tonen Stupors bot und dann, nach Hause zuruckgekehrt, wieder arbeitete.
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Dr. A. H. Hiibner,
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Zu Hause war er ein gereizter Menscb, hatte viel Kopfschmerzen,
tat aber seine Arbeit, ohne Negativismus oder irgendwelche groben
Hemmungserscheinungen. Auch impulsive Handlungen, Halluzinationen,
Katalepsie usw. fehlten.
Ich glaube, dass man diese F&lle doch wohl zu den reaktiven wird
rechnen mussen. Bei ihrer Entstehung spielt wahrsckeinlich der Heim-
wehkomplex eine grosse Rolle.
Auch das Vorkommen subjektiver Beschwerden, wie wir sie von
Neurotikern klagen hOren, spricht in gleichem Sinne. Schliesslich ist
auf die weitgehende AbhSugigkeit des Zustandes von der Umgebung
besonders hinzuweisen.
d) Der Kleinmut.
Zu den wichtigeren Symptomen der Melancbolie geh&rt das Gefuhl
der Insuffizienz, die innere Unsicherheit und der Kleinheitswahn. Alle
drei sind psychologisch miteinander nabe verwandt.
Andeutungen dieser Erscheinungen kOnnen sich nun innerbalb der
depressiven Anlage als Charaktereigentumlichkeiten zeigen und sie ver-
leihen dann der betroffenen Persdnlicbkeit eine so ausgepr>e Eigenart,
dass man von einer besonderen Variation der depressiven Anlage zu
sprechen berechtigt ist.
Wn., jetzt 62 Jabre alt. Jurist. (Dem Ref. seit 10 Jabren bekannt.)
Ueber Erblichkeit konnte nichts erfragt werden. Eine Tochter des Pat. soli
zirkular sein.
Wn. selbst hat sich aus kleinen Verhaltnissen emporgearbeitet. War von
Jogend auf angstlich und aufgeregt. Literarisch ist er mit Erfolg tatig ge-
wesen, bat aucb als Jurist ein sicheres Brot, ist aber nicht reich geworden.
Im Jahre 1917 hat er eine Melancholic von etwa 10 monatiger Dauer
durchgemacht.
So lange ich den Pat. konne, bot er mit Ausnahme der Zeit der Melancbolie
immer dasselbe Bild:
Er war ein kleiner, durftig und etwas nnordentlich gekleideter Mann mit
eckigen Bewegungen, dem man die innere Unsicherheit schon vom Gesicht
ablesen konnte. Jeden, der sein Amtszimmer betrat, begrusste er mit tiefen
Bucklingen, war peinlichst bemiiht, die riohtigen Titel bei der Anrede zu
brauchen, Hess auf der Strasse seine Begleiter stets rechts neben sich gehen
und erschien aucb dann begliiokt, wenn er von Lenten, die weniger waren als
er selbst, angeredet wurde.
Er widersprach fast nie, stimmte anderen in der Unterhaltung auch dann
meist zu, wenn sie Unsinn redeten, und ausserte nur selten eine eigene Meinung.
Auf andere nabm er uber Gebiihr Riicksicht, auf sich selbst nie. Es fiel
ibm sehr scbwer, im Beruf sowohl, wie im Privatleben, fremden Menschen
Wunsobe abzuschlagen, mocbten sie auch noch so unberechtigt sein. Takt-
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Ueber die manisoh-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaafer. 839
losigkeiten gegenuber war er wehrlos. Er ist von vielen Menschen ausgenutzt
worden, wahrend er far sich selbst schwer bitten oder gar fordern konnte. So
hat er riel Gates getan, aber nur wenig Gates erfahren.
Es bebass ein umfangreiohes Wissen, war sioher kliiger als die Mehrzahl
seiner Amtsgenossen, and urteilte treffend, so lange er anbeeinflasst war. So-
bald aber jemand energisch and bestimmt aaf ihn einredete, dann wurde er
sehr leioht schwankend und es gelang nicht selten, ihn za einer seiner arsprdng-
lichen Ansicht entgegengesetzten Meinung za bekehren.
Seine Stimmung war leicht gedriickt. Er sachte dieselbe nach anssen
fain moistens za rerbergen. Wer ihn naher kannte, dem entging die Depression
aber nicht.
Korperlich hatte er einen Herzfehler.
Nach den Mitteilangen von Stadien- and Amtsgenossen hat Wn. von
Jugend aaf das gleiche Verhalten gezeigt.
Der Nachweis der Zugehorigkeit des Falles zur manisch-depressiven
Anlage ist durch die von mir selbst beobachtete Melancholic erbracht.
Der Umstand, dass eine Tochter des Pat. zirkul&r sein soil, kann diese
Annahme nor wahrscheinlicher machen.
Das Wesentliche an der PeraOnlichkeit des Wn. besteht in einer
Unterschatzung des eigenen Wertes, innerer Unsicherheit and einem
deutliclien Insuffizienzgefuhl. Diese Erscheinungen bewirken, dass er
den onbedentendsten Menschen gegenuber sehr devot ist, im Urteile
leicht beeinflusst werden kann und im Leben nicht die Erfolge zu ver-
zeichnen hat, die seinen Kenntnissen entsprechen.
Dass diese Erscheinungen mildere Formen einiger Symptome der
Melancbolie sind, babe ich schon oben gesagt. In unserem Falle trat
diese Tatsache besonders deutlich hervor, als die Anlage sich zu einer
ausgesprochenen melancholischen Krankheitsphase steigerte. Da waren
es wieder die gleichen Krankheitszeichen, die dem klinischen Bilde seine
besondere Farbung gaben.
Ich mdchte das Kapitel der depressiven Anlage nicht schliessen,
ohne nochmals kurz auf die DenkstOrungen einzugehen, die ihr
eigen sind.
Waren wir bei der Ideenflucht und ihren Vorstadien im Zweifel,
ob eine Beschleunigung des Yorstellangsablaufes anzunehmen ist, so sind
die Bedenken dagegen, dass bei der Depression eine Verlangsamung des
Denkens eintritt, geringer. Bei den scbweren Melancbolien konnen wir
uns davon ohne Zeitmessung iiberzeugen und die depressiv Veranlagten
klagen uns oft, dass das Denken langsamer gehe und ihnen schwer
falle. '
Der Ablenkbarkeit bei den maniscben Zustanden steht ein Kleben-
bleiben an einzelnen Vorstellungen und Gedanken bei der depressiven
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Dr. A. H. Hiibner,
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Anlage gegenuber. Und w&hrend schon der leicht Maniscbe durcb aussere
Eindrucke tuid die reichlicli ihm zufliessenden Gedanken vom Haupt-
wege in Seitenpfade bineingefuhrt wird, kann beim Depressiven auch
durch selir aufdringlicbe Eindrucke die Aufmerksamkeit nicht gefesseit
werden, ihn beherrscht zn stark der Gedanke an die eigene Person
und an seinen krankhaften Zustand.
Der Depressive bildet zwar Obervorstellungen, aber nur sp&rlich 1 ),
weil die Verwertung des Erfahrungsschatzes behindert ist, und er kann
sich von der einzelnen Vorstellung viel schwerer abldsen, wie der Ge-
sunde und der Manische. Es fehlt ihm auch — von den bekannten
Ausnahmen abgesehen — das Plus an Gedanken 2 ), von dem nns der
Maniakus bericbtet. Zum Teil aus diesem Grunde gewinnt die einzelne
Vorstellung bei ibm eine erlidhte Wertigkeit.
Bei der Auswahl der Obervorstellungen werden vom Depressiven
solche bevorzugt, die den eigeuen Zustand betreffen. Patbologische
Einfalle werden kaum jemals beobachtet, sein Ideenkreis ist ein viei
engerer, wie bei seinem beweglicheren Gegenstuck.
Alles in allem ist also das Denken des Depressiven in derselben
Weise gestdrt wie sein Handeln. Es stellt das Negativ zu dem Positiv
dar, das uns der Hyperthyme bietet.
Icb babe diese an sicb bekannten Tatsacben hier absicbtlicb nock
einmal zusammengestellt, weil ich den Eindruck habe, dass bei den
differentialdiagnostischen Erwagungen mancber Autoren gerade diese
Denkstdrung zu wenig berucksichtigt wird.
Manisch oder melancholiscb veranlagt ist nicht ein Hensch, der
konstitutionell beiter bzw. traurig ist, sondern wir mussen bei ihm zum
mindesten andeutungsweise die Denkstdrungen Qnden, von denen soeben
die Rede war. Nicht die affektive Stdrung allein ist das Wesentliche,
neben ibr und mit ibr vdllig gleicbberechtigt stebt vielmehr die
Denkstorung uud das motorische Verhalten.
Diese Denkstdrungen spielen meiner Ansicht nach fur das Ver-
standnis der Beziebungen zwischen manisch-depressiver Anlage und den
Zwangsvorstellungen eine ganz hervorragende Rolle. Wir werden darauf
in einem besonderen Abscbnitt noch zuruckzukommen haben.
Sie geben uns auch die Mdglichkeit, eine Abgrenzung des manisch-
depressiven Irreseins von der cbronischen Paranoia vorzunehmen, wie
gleichfalls in dem zweiten Teil dieser Arbeit erdrtert werden soli.
1) Einer unserer Kranken sagte: „Man findet die Zusammenhiinge nicht
mehr so.“
2) Derselbe Kranke ausserte: „Es fallt einem nichts mehr ein. u
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Ueber die m&nisch-depressive Anlage and einige ihrer Auslaufer. 841
Schliesslich werden wir sie auch bei der Unterscheidung der zirku-
laren Psychosen von den reaktiven Zustanden und der Dementia praecox
als wichtiges Hilfsmittel kennen lernen.
c) Mischzust&nde.
Bei der Darstellung der Grundzustande bringt Kraepelin als
vierte Form die zyklotbyme Veranlagung und er beschreibt als solche
jene Personlichkeiten, die durcb ein mebr oder minder regelmassiges
Hin- und Herschwanken zwischen den beiden Polen Erregung und De¬
pression gekennzeicbnet sind.
Wilmanns betont in seiner Beschreibung besonders, dass Ver-
mischungen von manischen und depressiven StOrungen hSufig vorkommen
und dem Anfall voriibergehend oder langere Zeit hindurch eiue besondere
Farbung geben kfinnen.
Ausfuhrlicher hat sich mit den zirkularen Erkrankungen Reiss
beschaftigt. Er beschrieb vorwiegend die zyklothymischen Verlaufs-
formen. Unter seinen Beispielen finden iich aber mancbe, die Misch-
formen im Sinne Kraepelin’s und Weygandt’s darstellen.
Wie bei den ausgepragten Erankheitsbildern die Mischzustande
sehr komplizierte Verbindungen von manischen und depressiven Sym-
ptomen darstellen, so dass bisher nur die Abgrenzung vereinzelter,
haufiger vorkommender Zustandsbilder gel ungen ist — ich verweise auf
die Arbeiten von Weygandt und Stransky —, so gelingt es bei der
zyklotbymen Veranlagung dem Einzelnen auch nicht, alle wichtigeren
Typen zur Darstellung zu bringen. Ich beschranke mich deshalb auf
die Beschreibung derjenigen, die in einer gewissen Beziehung zu den
fruher angefuhrten Fallen stehen, bin mir dabei aber der Unvollstandig-
keit dieses Abschnittes besonders bewusst.
Ich mochte folgende vier Typen bringen:
1. solche Personen, die nacheinander manische und melancholische
Symptomenkomplexe als Persbnlichkeitsinhalt darbieten. Ich nenne sie
die Alternierenden;
2. solche, die mehr manische als depressive Symptome im Zustands-
bild aufweisen;
3. diejenigen, bei denen die depressiven Symptome uberwiegen und
4. periodisch Paranoide.
Dass diese Gruppierung eine kunstliche ist, weiss jeder, der solche
krankhaften Personlichkeiten geseben hat. Sie erhalt eine gewisse Be-
recbtignng nur dadurch, dass sie uns gestattet, einen tieferen Einblick
in die Vererbungsverbaltnisse zu gewinnen.
Archir f. Psjehi&trie. Bd. 60. Heft 3/3. 54
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Dr. A. H. Hvibner,
Mehrero Kinder, davon eine
Tochter depressive Anlage
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Ueber die manisoh-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaafer. 843
1. Die alternierenden Formen.
In Analogic za der ansgeprSgten periodischen Manie und Melan¬
cholic sowie dem zirkularen Irresein gibt es bei einzelnen Personen
Sehwanknngen des Charakters, die milder sind, nie den Eindruck einer
wirklichen GeistesstQrung erwecken und sich dabei docb nnr graduell
▼on den schweren Formen unterscheiden. Einen solchen Typus bildet
die Familie M. R., deren Stammbaum ich nebenstehend wiedergebe.
Znr Erlauterung des Stammbaumes habe ich folgendes hinzuzufugen:
Die als cyclothym bezeichneten Personen sind — von kleinen
Schattierungen abgesehen — dadurch gekennzeicbnet, dass depressive
und ganz leichte manische Zustande bei ihnen wechseln. Wahrend der
depressiven objektiv geringe kflrperliche Leistungsfahigkeit, standiges
Mudigkeits- and Schwachegefuhl, schlechter Schlaf, grosse Empfindlich-
keit anderen gegenuber, Lebensmudigkeit, manchmal Denkerschwerung,
Gefuhl innerer Unsicherheit, Skrupeln, Menschenscheu.
In den hyperthymen Zeiten leicbte motoriscbe Unruhe, sehr rege
gesellschaftliche Bet&tignng. Sie geben dann eine Reibe Gesellscbaften
hintereinander und besuchen solche gem. Im Hause wird grosses Reine-
machen inszeniert, wobei sie selbst sich mit ungewobnten Kraften be-
teiligen. Es bestebt Neigung zu kleinen Intriguen und Hetzereien, die
zu Auseinaodersetzungen mit dem Personal fuhren. Gelegentlicb- werden
unzweckm&ssige und unnOtige Einkaufe gemacbt. Mancbes, was ihnen
in den depressiven Zeiterf gleicbgultig ist, wird jetzt als begehrenswert
angeseben. Eine der in Betracht kommenden Personen drkngt sich
dann auch gern an HSherstehende heran. Es besteht Neigung zum
Flirten, Dnternehmungslust, Freude am Reisen.
Bei einigen weiblichen Mitgliedern sind daneben anch hysterische
Symptoms, wie vereinzelte Anfalle, psycbogene Darmspasmen (bei Tante
und Nichte), beobachtet worden, bei 2 d auch Uterusblutungen mit
gleichzeitigen Anfallen, die beide sofort sistierteo, als die Pat. aus
einer nnangenehmen Situation, in der sie sich befand, befreit wurde.
Bemerkenswert ist, dass im Fruhjahr und Herbst, manchmal aller-
dings auch ausserhalb die6er Zeiten, bei zwei von den Frauen sich deut-
lichere Depressionen, einzustellen pflegen.
Bei einer von diesen beiden treten in den Depressionen, aber auch
ansserhalb derselben, Gedanken an den Tod von Jahr zu Jahr starker
hervor. Es ist bei diesen beiden auch eine gewisse Progression, oder
richtiger ausgedruckt, eine mit den Jahren zunehmende Verstarkung der
pathologischen Charaktereigenschaften zu bemerken, ebenso bei 2 d,
die eimnal eine schwere Melancholie gehabt hat. (Pat. ist jetzt 31 J. alt).
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Dr. A. H. Hiibner,
Besonders interessant war es, ao Hand direkter Beobachtung and
der vorhandenen Familienbilder der Frage nachzugehen, wie weit RCrper-
bau und Gesicbtszuge einerseits, psychiscbe Eigenschaften andererseits
von jedem der Eltern vererbt waren.
Es zeigte sick z. B., dass 2 a das Temperament vom Vater, die
Neigung zur Adipositas. das breite Becken and einzelne charakteristische
Bewegungen von der Matter batte. 2 c entsprach in psychischer Be-
ziehung fast ganz der Mutter, der Rnochenbau gleichfalls. Es fehlte
die Adipositas. In den Gesichtszugen waren deutliche Uebereinstim-
mangen mit denen des Vaters zu erkennen.
2 e batte das Temperament vom Vater, den Rnochenbau und die
Neigung zar Adipositas von der Mutter, die Gesichtszuge teilweise vom
Vater.
2 a und e batten musikalische Neigungen und die Befahigung dazu
vom Vater ererbt.
In dem Zweig 5 ist die Debilit&t aus der Aszendenz des Vaters in
die Familie gekommen. Beide Sohne baben ROrperbau und eine ganz
cbarakteristiscbe Besonderbeit der Rdrperhaltung von ihm geerbt. Da¬
zu linden sicb bei 5 b zyklotbyme Pbasen durch Vererbung von der
Mutter.
Interessant ist ferner, wie sich die verschiedenen psychischen An-
lagen der Eltern bei 2 weiter vererben. Zwei TOcbter entsprecheu
dem Vater, zwei der Mutter, die funfie hat ein maniscbes Temperament.
Die Tdchter dieser ietzteren zeigen gleichfalls zur Halfte ein manisches
Temperament.
Schliesslicb ist aucb noch auf eine kOrperliche Erscbeinung binzu-
weisen, nUmlich auf das regelmUssige Auftreten einer Albuminurie nach
k5rperlichen Anstrengungen bei 2 b und 5 b. —
Zu den alternierenden Formen gehoren anch Fftlle, in denen w ah rend
der Depression eine Reihe korperlicher Bescbwerden im Vordergrunde
steben, dass sie die psychischen Symptome fast ganz verdecken. Die
endogene Entstehung, das Rezidivieren, das Auftreten hyperthymer
Phasen und auch die gleicbartige Belastung fubren die Diagnose auf den
richtigeu Weg.
Besonders erw&hnen muss ich weiter noch zwei Frauen (25 und
62 Jabre alt), bei denen sicb in den Depressionen ausserordentlich Starke,
die Rranken sebr bel&stigende Sensationen in den Genitaiien einstellten,
die zu haufigem Orgasmus fubrten, die die Pat. aucb zu onanistischen
Manipulationen veranlassten und gleicbzeitig Befurchtungen bei ihnen
erweckten, dass ibnen die Ietzteren schaden kOnnteu.
Eines zeicbnet die Vertreter dieser Gruppe von Miscbformen ganz
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 845
besonders aus, sie kommen im praktisclien Leben schlecht zurecht. Ihre
Ongleichmfissigkeit bewirkt, dass sie minderwertige, unzuverlassige
Arbeiter sind. Die wfihrend der hyperthymen Phasen bestehende Nei-
gung, sich fiber erlassene Vorschriften hinwegzusetzen und einmal ge-
trofFene Anordnungen grundlos umzustossen, macht sie zu unangenehmen
Vorgesetzten und schwierigen Untergebenen, letzteres besonders dann,
wenn wfihrend der Hyperthymie starke Selbstfiberschfitzung sich mit
Neigung zum Querulieren und Intriguieren verbindet
In mancben Stellungen, z. B. als Richter sind diese Kranken ge-
radezu unmfiglich, weil sie, wie obeu ausgeffihrt wurde, kein selbst-
st&ndiges Urteil haben, leicht beeinflussbar sind, heute die Parteien un-
verdient schlecht behandeln und wenige Wochen spfiter ein Spielball
in den Hfinden der Parteivertreter sind.
2. Ffille mit uberwiegend manischen Symptomen.
In der ersten Gruppe hatten wir Formen besprochen, die dadurch
ausgezeichnet waren, dass nacheinander dys- und hyperthyme Zustfinde
— wenn auch nicht in regelmfissigem Wechsel — sich ablfisten. Wir
haben nur diejenigen Ffille zu besprechen, in denen die hyperthymen
Symptome im Zustandsbilde fiberwiegen.
Auch dabei werden wir Gelegenheit haben, auf das Erblichkeits-
problem einzugehen.
P., jetzt 35 J. alt, Bruder von C. (s. Man. Anlage). Korperlich schwach-
lich. Zunachst in der geistigen Entwicklung nicht beeintrachtigt. Galt in
der Schule als liebenswurdiger und durchschnittsbegabter Schuler von guter
Erziehung.
1898 schwere Lungenentzundung. Einige Zeit skater stellten sich An-
zeichen psychischer Erschopfung ein. Er begann nachlassig zu werden, seine
Leistungen liessen nach. Oft trat ein eigentumliches Lacheln auf. Sein Wesen
wurde angeblioh zerfahren. Alle Versuche, ihn fiber das Einjabrige hinaus-
zubringen, misslangen. P. schlief „unnaturlich a viel und hatte fur den Unter-
richt keine Interesse.
Allmahlich erregt. Lief zu Hause nackt hermn, ohne Rucksicht auf
das Personal zu nehmen. Schlug die Mutter. Deshalb 1908 voriibergehend
Anstalt. Hier wechselnd. Machte viele Plane, die er alle wieder fallen Hess.
Wollte sich fur einen Beruf vorbereiten. Seine Arbeit machte aber den Eindruck
des Spielens. Starke Selbstfiberschfitzung. Hielt sich fur einen bedeutenden
Mann mit grosser Zukunff. Wollte grosser Sohauspieler werden, abet nur in
Stricken auftreten, die er selbst geschrieben hatte. Die Religion erklarte er
w obne Weiteres ffirUnsinn a . Goethe’sFaust war „nichts wieBlodsinn u . „Der
Kerl simpelt nur fiber Dinge, die jeder vernfinftige Mensch in seinem Katechis-
xnus lesen kann.“
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Dr. A. H. Hfibner,
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In seinem Aeusseren fibertrieben elegant, badete 4mal taglich, kleidete
sich auflallig, kaufte die teuerste Kosmetika in Mas sen, yersohleuderte grosse
Sammen. Wollte sein ganzes Vermogen mogliohst rasch ausgeben, am sioh _
dann aus eigenen Kraften eine Existenz zu schaffen.
Dabei ausgesprochene Schmutzfurcht. Berieoht alles, ob es stinkig ist,
will in bestimmten Wannen nioht baden. Ffirchtet sich aas Angst vor Schmatz,
anderen Menschen die Hand za geben. Hat er das getan, dann wascht er sich
oft die Hande. Schimpft auf Lehrer, Eltern, Erzieher in sehr despektierlicben
Ausdrficken. Treibt sich mit Halbweltdamen offentlich umher.
Naoh Abflanen der Erregung bleibt folgender Zustand zurdck, in dem er
sioh seit Jahren befindet.
P. zieht ruhelos von Ort zn Ort. Dabei bevorzugt er einsam gelegene
Gebirgsorte besonders, geht aber gelegentlich auoh in erstklassige Hotels, meidet
allerdings stets die Gesellschaft, welche er dort findet. Mit Vorliebe freundet
er sich mit Holzknechten, Bauern und ahnlichen Personlichkeiten an, denen
er gelegentlich auoh bei der Arbeit hilft. Bekleidet geht er, ohne Rdcksicht
auf die Umgebnng mit ganz kurzen Hosen und einem Hemd, wozu im Winter
ein grfiner Hut, Strfimpfe, ein Stock und Nagelschuhe kommen.
Hohe Selbsteinschatznng, grosse Empfindlichkeit. Gegen Bediente fast
stets hochfahrend. Politisch ultra-radikal. Gegen Behorden sehr erbitten.
Alles, was ihm nioht passt, belegt er mit den grobsten Ausdrficken.
Nimmt Luft-, Wasser- und Sonnenbader, wo es ihm gefallt. Stossen sich
Passanten an seinem unbekleideten Zustand, dann schimpft er in grober Weise.
Vor 1 1 / 2 Jahren lief er einem Gendarm der in deswegen aufgesohrieben hatte,
dnrch das ganze Dorf nach, ihm das blanks Gesass hinhaltend.
Abspringend im Denken. Wechselnd im Urteil.
Koine Stereotypien, koine Katalepsie, keine Zerfahrenbeit im Denken.
Grimassen und Manieren fehlen.
Hypochondrisch veranlagt. Die besondere Kleidung tragt er aus gesund-
heitliohen Grfinden, hat in yerschiedenen Gegenden Sfiddeutschlands Block-
hiitten, in denen er wohnt, wenn er dorthin kommt. Trainiert sioh systematisch.
Lebt sehr massig. Meidet Alkohol und Frauen ganz.
Dabei skrupulos. Denkt viel fiber religiose Fragen nach. Steht mit
mehreren Geistlichen in Korrespondenz, denen er seine Gewissensskrnpel aus-
einandersetzt. Geht sehr oft beichten. In pekuniarer Beziehung sehr sparsam.
Die Matter ignoriert er seit Jahren, weil sie ihm einige Male den Willen
nicht getan hat. Die Berater der Mutter erklart er ffir „finstere Genossen a ,
weil sie ihm nicht bedingungslos zustimmen.
Es ist interessant, den P. mit seinem Bruder C. zu vergleichen.
' W ah rend letzterer sein Lebenlang ausgesprochen hyperthym war, finden
wir in der ersten Jugend bei P. nichts Besonderes. Mit 14 Jahren setxt
dann ein Zustand ein, gekennzeichnet durch zunehmende Selbstuber-
schatzuog, Unruhe, Plfinemachen, Hang zu Aeusserlichkeiten und Ab-
lenkbarkeit, der sich vorfibergehend zu einer richtigen Manie auswfichst.
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Ueber die manisch-depressive Anlage und einige ibrer Auslaufer. 847
um dann einem Nebeneinander von manischen, depressiven and hypo-
chondrischen Erscbeiaungen Platz zu machen, der sich als Dauerzustaad
etabliert.
Wir haben motorische Unruhe, die sich darcb ein fortw&hrendes
Umberwandern mit h&ufigem Wechsel des Wohnsitzes zu erkennen gibt,
hohe Selbstubersch&tzung, heitere Stimmung verbunden mit grosser Reiz-
barkeit, Neigung zu masslosem Schimpfen, abspringendes Denken einer-
seixs, Skrupulosit&t, licherliche Sparsamkeit, Menscbenscbeu andererseits.
Dazu kommt noch die hypocbondrische Komponente seines Wesens, die
den Patienten veranlasst, tats&chlich die verschiedensten Liegekuren zu
machen und Luft-, Sonnen- und Wasserb&der zu nehmen, zu deren Aus-
fubrung er meilenweit lauft.
Es liegt also jetzt ein Nebeneinander von manisehen, depressiven
und hypochondrischen Symptomen vor.
Eine Schizophrenie kommt deshalb nicbt in Betracht, weil die Per-
sdnlichkeit des P. im Sinne einer Dementia praecox nicht verandert ist,
katatone Erscheinungen ganz fehlen, dcr Pat. ausserdem jede seiner Hand-
lungen zu motivieren vermag, wenn auch in seiner etwas verschrobenen
Weise.
Im Sinne nnserer oben angegebenen Diagnose spricht auch die
gleichartige Belastung und der Umstand, dass die Persdnlichkeit des
Binders in vieler Beziehung derjenigen des P. gleicht.
Es handelt sich also wirklich um eine Persdnlichkeit, deren wich-
tigste Eigenschaften aus nebeneinander bestebenden manischen und de¬
pressiven Symptomen zusammengesetzt ist.
Im Gegensatz zu dem Bruder C. bat P. im Laufe seines Lebens
erbebliche Wandlungen durchgemacht. Er hat aber mit C. und dem
Vater dauernd verschiedene Zuge, z. B. die Reizbarkeit und hohe Selbst-
einschatzung gemeinsam.
Von der Mutter haben P. und C. psychisch nichts Hervorstechendes.
Dagegen gleicht die Statur und Gesichtsbildung beider der Mutter auf-
fallend, wahrend eine bisher nicht erwahnte Tochter kdrperlich vorwie-
gend dem Vater, psychisch der Mutter gleicht. —
Erheblich wechselvoller und verwickelter, als in dem Falle P. ge-
staltet sich das Charakterbild bei einem Zweige der nun zu besprechen-
den Familie Ho.
A. Ha., Prof, der Medizin an einer Universitat (1771—1832). Heitere,
lebensfrohe Natur, beliebter Arzt. Den eigenen Angehorigen gegenuber strong
bis zur Grausamkeit. Bei seinen Strafen ging er geradeza raffiniert vor. Eine
Tochter, die spatere vereheliohte Ho., tat er naoh einem hauslichen Streit zu
einem armen Schuster.
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Dr. A. H. Hiibner,
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Ha. war zweimal verheiratet. Aus der ersten Ehe stammtWilhelmine Ho.
Ueber deren Deszendenz ist Folgendes bekannt:
5 Kinder starben in fruher Jugend, daranter litt eins an Hydrozephalus.
Der sechste Sohn starb als Soldat. Ueber die dbrigen Kinder gibt der nach-
stebende Stammbaum Aaskunft.
Wilhelmine Ho.
7. Madchen. 8. Madchen. 9. Madchen. 10. Sohn. 11. Sohn.
Nervos, Konnte im Leben Nervos, Nervos, Zirkular
weinerlich, nicht fertig werd. empfmdlich, wehleidig. In der Anstalt
iibelnehmerisch. Misstrauiscb. heiter. gestorben.
a) Sohn (Gym.-Prof). b) Sohn. c) Sohn.
Cyclothyme. Vagan t. Examensangst.
Ethisch J&hzornig, nervos.
| minderwertig.
a) Sohn. ft) Tochter. y) Sohn.
Zwangsvorstellung. Begabt, unliebens- Leicht schwachsinnig.
Cycloth. wiirdig, nervos. Zwangsvorstellung.
(Von dieser Grnppe habe iob a, a, y personlich antersuoht, von 11 die
Krankenakten eingesehen.)
Ueber Wilhelmine Ho. selbst wird berichtot, dass sie stets weinerlich ge-
wesen ist, und in einen Depressionszustand, in dem sie „Basse tun wollte u ,
verfiel, als ihr jungster Sohn in die Irrenanstalt gebracht wurde.
Die Deszendenten des A. Ha. aus zweiter Ehe boten folgendes
1. Sohn. 2. Sohn.
t an Herzschlag. Ueberbegabt. Erreicht
Naheres unbekannt. trotzdem im Leben nichts.
1. Sohn. 2. Sohn. 3. Sohn. 4. Sohn.
Musikalisch, unstet. Viel gereist, nichts Nichts Naheres be- Wunderliche Ehe,
Endet inAustralien. erreicht. f durch kannt.
Selbstmord.
5. Sohn. 6. Sohn. 7. Sohn. 8. Sohn.
Nervos. Wunderlich. Nervos. + durch Naheres unbekannt
Deserteur in Slid-. Selbstmord.
amerika f.
Wenn ich die Familie Ha. hier erw&hne, so geschieht es, weil der
Zweig a, mit den Deszendenten a—y auch in dies Kapitel gehort.
Der Vatek leidet seit Jahren an Zwangsvorstellungen und Depressionen.
Von Zeit zu Zeit werden diese letzteren durch hypomanische Zustande unter-
brochen. Als ich ihn zuletzt sah, war er hyperthym und hatte daneben
Zwangsvorstellungen.
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CJeber die.manisch-depressive Anlage und einige ihrer Auslaufer. 849
Der alteste Sohn (d) ist Student der Kunstgeschichte will Maler wer-
den. 22 Jahre alt.
Er zeigt deutlich gesteigertes Selbstgefiihl, posiert etwas, hat andere Men-
schen, auch hoherstehenden gegeniiber etwas wohlwollend Herablassendes.
Namentlich den Frauen fiihlt er sich sehr uberlegen.
Er beschreibt selbst, dass er meist — aber nicht standig — einen grossen
Ideenreiohtum besitze und dass in seinem Denken einGedanke den anderen jage.
Er habe auch beobachtet, dass, wenn er zu einem Bilde raehrere Skizzen ent-
werfe, die erste der zweiten, diese der dritten, die dritte der vierten in vieler
Beziehung gleiche. Wenn man aber die erste und vierte nebeneinander halte,
dann finde man wenig oder gar niohts Uebereinstimmendes.
Neben diesen eindeutig manischen Zugen klagt er andererseits dariiber,
dass er an allem zweifeln musse, was er beginne. Er musse jedeSaohe mehrere
Male anfangen.
Standig verspiire er eine so grosse Miidigkeit und musse so viel schlafen,
dass er erst um 12 Uhr aufstehe. Das Entsetzliohste seien iiberhaupt die
Morgen stunden.
Gesellschaft sei ihm im allgemeinen entsetzlich. Manchmal habe er go-
radezu einen Menschenhass. Wenn er sich mit einem Menschen angefreundet
habe, dann verkehre er anfangs mit ihm ziemlich viel. Bald stellten sich aber
negative Gefuhlstone ein, und dann sei es vorbei.
Alle die bisher geschilderten Erscheinungen bestanden nebeneinander.
Bald trate die eine, bald die andere mehr hervor. Daneben habe er Zeiten,
in denen eine „Hausse in der Produktivitat tt bestande, umgekehrt beherrsche
ihn manchmal das Gefuhl absoluter Sterilitat. Er konne dann uberhaupt
nichts tun.
Der jiingste Sohn hat spat sprechen gelernt und ist debil. Die Ver-
erbuDg der Debilitat stammt (wie der Yater spontan berichtet) aus der Familie
der Mutter. Korperlich bietet er einige Tics im Gesicht.
Psychisch finden $ich neben der Debilitat Zwangsvorstellungen. Pat.
muss alle Papierschnitzel, Zwirnsfaden usw., die er liegen sieht, aufheben.
Wenn er telephonieren soil,, wird er so aufgeregt, dass er nicht ordent-
lioh sprechen kann und auch nicht versteht, was der andere Teilnehmer sagt.
Fur die Schule arbeitet er sehr fleissig, trotzdem kommt es vor, dass er gut
vorbereitete Aufgaben am nachsten Tage nicht vortragen kann, weil er seine
„Gedanken nicht zu ordnen u vermag. Er wird dann unsicher, dass er zittert
und bebt. Auf experimentell-psychologischem Wege hat einer seiner Lehrer
bei ihm auch eine erhohte Ablenkbarkeit festgestellt.
Es gibt ferner Zeiten* wo er das Gefuhl hat, dass er nicht zurecht kom-
men kann.
Diesen Angaben, welche der Vater bestatigt, entspricht auch das scheue
Wesen des Kranken. Er tritt unsicher auf und macht einen angstlichen und
traurigen Eindruok. *
Was zun&chst das rein Klinische angeht, so ist am interessantesten
der Alteste Sohn des a, weil er ganz verwickelte Verhaltnisse darbietet.
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Dr. A. H. Hubner,
Wir haben neben- und durcheinander: Gesteigertes Selbstgefuhl,
Neigung zum Posieren, Deberproduktion an Gedanken and Andeutungen
von Ideenflacbt, Zweifelsucht, Erschwerung des Arbeitens, Mudigkeits-
gefuhl, Menschenscheu, Zwangsvorstellungen.
Diese Symptome treten in dem Cbarakterbilde des Patienten so
verschiedenartig und wechselnd hervor, dass der Kranke sich dem Be-
obachter alle Augenblicke anders prasentiert und v511ig unberechenbar
in seinen Entschlussen ist, der Familie auch nicht geringe Schwierig-
keiten bereitet.
Es handelt sich also aucb hier urn ein Nebeneinanderbestehen von
manischen und dysthymischen Symptomen, also um einen Mischzustand,
der, wie wir weiter gesehen haben, periodenweise durch mehrwdchige
Phasen rein depressiver oder hypertbymischer Art ersetzt werden kann,
so dass wir als Charakteranlage bei demselben Individuum alle
drei Gruppen von manisch-depressiven Komplexen linden, die man ge-
wdhnlich unterscheidet.
Bei diesen Fallen ist also das, was wir Charakter nennen, nichts
Stabiles, Dauerndes, sondern es wechselt, z. T. sogar kaleidoskopartig
und zwar nach Gesetzen, die wir nicht kennen, von denen wir nur eins
wissen, namlich, dass aussere Erlebnis.se keinen Einfluss auf diesen
Wechsel haben.
Icb habe diese Mischformen unter Kunstlern, Schauspielern und
Dichtern, sowohl den ernst zu nehmenden, wie denen, die sich un-
berecbtigter Weise so nennen, Ofters gefunden. Es sind die typischen
Bohemenaturen. —
Bezuglich des anderen Sohnes ist nur eines an dieser Stelle zn
sagen, namlich, dass die Debilitat aus Vererbung von einer Seitenlinie
herruhren soil. Dass er im ubrigen sichere manisch-depressive Symptome
hat, bedarf angesichts des subjektiven Insuffizienzgefuhles, der zeit-
weiligen Ablenkbarkeit, der Aengstlichkeit, der dfteren Erschwerung
seiner Denktatigkeit und der Zwangsvorstellungen keiner weiteren
Begrundung.
Wir wissen von der anderen Linie zwar nicht viel positive Tat-'
sachen und doch ist das, was wir ermitteln konnten, wenn wir die
ganze Familie betrachten, nichts weniger als belanglos.
Von 8 Geschwister enden 2 durch Selbstmord, swei weitere sind
durch die Unstetheit ihrer Lebensfuhrung, die sie bis in uberseeische
Lander fuhrte, aufgefallen. Auch der Dmstand, dass trotz guter Be-
gabung die meisten Mitglieder dieses Zweiges im Leben nichts erreicht
haben, ist erwahnenswert. Die sechs Kinder jenes Zweiges, von denen
wir uberhaupt Nachrichten haben, bieten demnach irgendwelche Be-
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Original fro-m
-€ORrNEtL UMIVER^--
Ueber die manisch-depressive Anlage und eitfige ihrer Auslaufer. 851
sonderheiten, von denen die Selbstmordneigung und das unruhige Herum-
ziehen besonders wichtig sind.
3. F&lle mit mehr depressiven als manischen Erscheinungen.
Schon in der Familie Ho. waren depressive Beimischungen deutlicher
als in dem Falle P. Es gibt nun ganze Familien, in denen die dysthymen
Erscheinungen dominieren. Von ihnen soil in diesem Abschnitt die
Rede sein.
Familie Ko.
Vater Ko. Typus des Kleinmiitigen. Mutter o. B.
1. Tocbter.
Stottert, depressiv,
unsicher, hypochon-
drisch.
2. Tochter.
Hat drei schwere
Attacken halluzi-
natorischer Ver-
wirrtbeit gehabt.
Aeussere Anlasse
fehlten.
3. Tochter.
Mischzustand mit
Skrupeln u. hypo-
chondrischen Er¬
scheinungen.
4. Tochter.
Depressiv, stottert.
Anfallsweise auftre-
tende psychasthe-
nische Komplexe.
5. Sohn. 6. Tochter. 7. u. 8.
Hyperthym. Hyperthym. Leicht hyperthym.
In dieser Familie ist zun&ckst bemerkenswert, dass die jungsten
Mitglieder alle eine heitere Stimmungslage aufweisen. Bei den beiden
jungsten (jetzt 10 und 12 Jahre alt) kann man diese Affektlage noch
nicht deutlich als zu unserer Veranlagung gehOrig erkennen.
Bei der unter 6 verzeichneten Tochter habe ich die charakteristische
Weiterentwickelung selbst beobachten konnen. Ich habe sie noch als heiteres
Kind gesehen, das niohts waiter, als eine harmlose Frohlichkeit bot. Mit etwa
15 Jahren begann, rasch fortschreitend, die korperliche Entwickelung, ins-
besondere das Einsetzen der ersten Menses, die Entwicklung der sekundaren
Geschleohtsmerkmale (Becken, Mammae). Gleichzeitig zunehmende Lebhaftig-
keit Pat, war zu Hause nicht zu halten, lief viel umher, besuchte Freundinnen,
putzte sich, war zur Hausarbeit nicht zu bewegen, log, intriguierte unter den
Geschwistern, verleumdete die Familie, gab unnotig Geld aus. Dabei allerlei
korperliche Beschwerden.
Ein ausserer Anlass fur diese Aenderung der Persdnlichkeit war nicht
zu ermitteln.
Etwa 2 Jahre spater zunehmende Unsicherheit. Skrupulos, angstlich,
allerlei korperliche Beschwerden wie Hautjuoken, Schwitzen, Kopfdruck. In
diesem Zustando befindet sie sich jetzt seit 4 Jahren.
Die unter 4 erwahnte Tochter ist, solange ich sie kenne, depressiv,
im Arbeiten nicht behindert, mitunter aber skrupulds. Sie hat vor dem Kriege
eine Zeit von etwa 8 Monaten durchgemacht, in der sie traurig angstlich war,
an Gewicht stark abnahm, schlecht schlief, sich zum Essen nicht zwingen
konnte; dasselbe widerstand ihr geradezu. Dazu schwitzte sie auffallend viel
und klagte fiber Hautjuoken, ohne einen Ausschlag zu haben, Nach Abklingen
dieser Phase nahm sie an Korpergewicht wesentlich zu, das Becken wurde
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Dr. A. H. Hiibner,
breiter, es trat eine gewisse Adipositas ein. Seit dieser Zeit ist sie meiner
Meinung riach auch etwas beweglicher. Das zeigt sich besonders daran, dass
sie in der letzten Stellung nicht mehr so viel innere und aussere Sohwierig-
keiten zu uberwinden hatte, wie in den friiheren.
Nr. 3 ist der interessanteste Fall der ganzen Familie.
Korperlich hat sie Zeichen von Rachitis. Im Alter von 18 Jahren bekam
sie nach einem Schreck einen Anfall, der sich spater noch in Abstanden von
2 Jahren wiederholte. Daneben gelegentlich Schwindel- und Globusgefuhl.
Viel Wachtraumereien z. T. erotischen Inhalts. Seit dem 17. Lebensjahr hat
sie Hautjucken, das durch keines der bisher angewandten Mittel zu bekampfen
war, in seiner Starke im iibrigen erheblich wechselte.
Psychisch war die Pat. immer ein Sorgenkind. Sie lernte schwer. war
ungewohnlicb unselbstandig. Im Haushalt war sie — was bei der schlechten
wirtschaftlichen Lage der Eltern doppelt ins Gewicht fiel — eine mindere
Arbeitskraft, musste meist beaufsichtigt werden. Selbstandig konnte man ihr
nicht viel uberlassen, einmal deshalb nicht, weil sie sehr umstandlich war,
bei jeder kleinen Verrichtung zehnmal und mehr fragte und sich Anweisungen
geben liess, ehe sie sie ausfuhrte, zum anderen aber deshalb, weil sie plotzlich
umschlug, nichts tat,ruhelos umherlief,Freundinnen besuchte, erotische Bucher
las, fur nichts dauernd zu interessieren war, einmal in einer kurzen Phase
dieser Art auch eine — platonische — Liebsohaft mit einem notorisch Geistes-
kranken begann. Auch in diesen Zustanden der Erregung war sie skrupulos.
1914 Depression mit Selbstmordversuch. Sei doch zu nichts nutze. Die
Familie habe nur Nachteile durch sie, konne sie auch gar nicht gut leiden.
Gehemmt.
Nach 3 Monaten Mischzustand. Einige Tage heiter, unruhig, kummert
sich urn alles, beobachtet alles. Intriguiert und hetzt. Dann Umsohlagen in
Depression mit Hemmung. Viel Skrupeln. Fragt beim Anziehen, wie sie es
machen soli, kommt dem Arzt und dem Pflegepersonal zwanzigmal binterein-
ander mit denselben Fragen. Appetit- und Schlaflosigkeit, Schmerzen im Leib.
Diese Phasen losen sich gegenseitig in 2—8tagigen Abstanden ab. Da-
zwischen kurz dauernde Zeiten, wo sie motorisch unruhig, aber deprimiert war
und sich Selbstvorwiirfe machto oder mit einer geradezu zwangsmassigen Un-
ruhe alles, was ihr begegnete, immer wieder besprach und das gesamte Per¬
sonal mit den lacherliohsten Fragen qualte. Dabei bestand ausgesprochene
Neigung zu hypochondrischen Befurchtungen.
Ihre Verwendbarkeit war infolgedessen nur eine relativ geringe. Sie ist
einige Male als Warteriq kleiner Kinder bescbaftigt worden, musste die Stellen
aber aufgeben, wenn langer dauernde Dysthymien einsetzten.
Auch hier haben wir wieder eine Familie mit manisch-depressiver
Anlage, die sich in den verschiedensten Formen zeigt.
Dasjenige Familienglied, welches ich am besten und l&ngsten be-
obachten konnte, zeigt nun diejenigen Erscheinungen, dio wir gerade
in diesem Abschnitt besonders besprechen wollen.
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Ueber die manisch-depressive Anlage and einige ihrer Aaslaufer. 853
Die Grundstimmung ist eine depressive. Neben ihr besteben raeist
Skrapeln, innere Unsicherheit, Umstandlichkeit und Langsamkeit bei
der Ausfuhrung eiafacbster Verrichtungen.
Daneben finden wir Zeiten, wo manische und depressive Zust&nde
alternieren und zwar in ganz kurzen, nur Tage wabrenden Abst&uden
und scbliesslicb haben wir ein Nebeneinandervorkommen von depressiven
Symptomen und motorischer LJnruhe, verbunden mit Rededrang.
Auf die neben und unabhangig von diesen manisch-depressiven
Symptomen bestebenden bysterischen Erscbeinungen sei bier nebenbei
bingewiesen. Ich betrachte sie als zufallige Beimiscbungen, die auf
ein afFektbetontes Gescbebnis im 18. Lebensjahr zuruckzufQbren sind.
Die hypocbondriscben Elagen sind dagegen mit den eben erwahnteu
psychogenen Erscbeinungen nicbt zu identifizieren, gehOren vielmehr in
diesem Falle, ebenso wie bei der 4. Tochter, zum manisch-depressiven
Symptomenkomplex.
Bei der eben genannten 4. Tocbter stellen die hypocbondrisch-
asthenischen Beschwerden, die mit eigenlumlicben korperlichen Sym¬
ptomen vergesellscbaftet waren (z. B. die periodische abnorme Schweiss-
sekretion), geradezu somatische Aequivalente der Melancholic dar, die
in ibrer Bedeutung einer dys- oder hyperthymen Phase gleicbzusetzen
sind. Dubois u. a. haben abnliche Beobachtungen bescbrieben.
Was nun die Erblichkeitsfrage anlangt, so zeigt die Familie Ko.,
dass fast alle vorkommenden Schattierungen des Maniscb-Depressiven
bei ihr vertreten sind. Besonders hinweisen muss ich dabei auf die
zweite Tochter, die nach den Krankengeschicbten (selbst babe ich sie
nicbt untersucht) drei Phascn „halluzinatorischer Verwirrtheit" durch-
gemacht hat, bei denen exogene Schadlichkeiten nicbt in Betracht kamen.
Nicht weniger interessant ist die Feststellung, dass je alter die
einzelnen Mitglieder der Familie wurden, desto mehr sicb die Charakter-
veranlagung dem Depressiven zuwandte.
Das Vorkoramen bypocbondrisch-asthenischer Symptomenkomplexe,
die Skrupeln, die Art der kOrperlicben Entwickelung, alles das deutet
darauf hin, dass bier auch wieder nicht nur die Krankheitsform iro
allgemeinen, sondern eiuzelne besondere Symptome oder Symptomen-
gruppen sich fortgeerbt haben.
Die mehr somatischen Erscbeinungen, denen wir nicht allein bei
der Familie Ko. begegnet sind, sondern auch sonst im Verlaufe unserer
Betrachtungen, legen uns immer wieder den Gedanken nahe, nach den
Ursachen, die sie hervorrufen, zu suchen. Ich mocbte mich hier damit
begnugen, darauf hinzuweisen, dass wir bei den Erkrankungen gewisser
Druseu abnliche Erscheiuungen beobacbten (die abnorme Schweiss-
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Dr. A. H. Hiibner,
sekretion z. B. bei Erkrankungen der Schilddriise). Es wird notwendig
sein, diesen kSrperlichen Abweichungen in Zukunft mehr Aufmerksam-
keit zn schenken und ihre Beziehnngen zur inneren Sekretion zu prufen.
Vielleicbt gelingt es auf diesem Wege, dem maniscE depressiven Irresein
eine Ahnliche pr&zise Umgrenzung zu geben, wie wir sie fur die Para¬
lyse durch die pathologische Anatomie und die Atiologischen Unter-
suchungen gefunden baben.
4. Die Paranoiden.
In dem Eapitel manische Anlage babe icb einen manischen Queru-
lanten gescbildert. Bei Besprechang seiner Vorgeschichte ist bereits
erwAhnt, dass zwei seiner Bruder gleichfalls zirkul&r seien und Neigung
zu zeitweiliger paranoider Verarbeitung ihrer Erlebnisse zeigten. Da
diese beiden Fille Mischzustande darstellen, mochte icb sie an dieser
Stelle beschreiben.
Z. Y., Geistlicher, 29Jahre (1 */ 2 Jahr beobachtet). War angeblich bis
zum Jahre 1905 gesnnd. Damals begann eine Veranderung mit ihm. Es setzte
ein Druck im Kopf ein, er mnsste riel griibeln, wurde reizbar und fublte sicb
nicbt verstanden. „Deshalb“ wochen- und monatelang verstimmt. Er ging
dann zu seinen Vorgesetzten, qualte dieselbon mit alien moglichen Fragen:
Ob er bei seiner sobwacben Konstitution uberhaupt in der Lage sei, bestimmte
Wissenscbaften zu betreiben, ob er fiber dies oder jenes religiose Problem
riobtig denke, ob er sich bei seiner seelsorgeriscben Tatigkeit richtig verhalten
babe und abnliohes. Mit solcben Fragen suobte er die Oberen dann haufig
auf, gab sicb mit einer Antwort nioht zufrieden, sondera fing von derselben
Sacbe obne Rucksicbt auf Zeit und Ort immer-.wieder an.
Seine Leistungsfahigkeit nabm ab, er hatte subjektiv das Gefuhl grosser
Sterilitat, musste viel ruhen, schlief schlecht und machte siob wegen seiner
Gesundbeit viel Sorgen. Heine Selbstvorwiirfe. Dagegen Gefuhl der Abnabme
des Gedachtnisses, Appetitlosigkeit, innere Leere, Verlangsamung des Denkens,
Entsohlusslosigkeit. \
Zu Zeiten anderte sich das Verhalten des Pat. nun. Er wurde dann,
, wie er es selbst ausdruckte, „wie sein Bruder“, d. h. er fuhlte sich von seiner
Umgebung „nioht verstanden", wurde misstrauiscb, glaubte, die Bruder und
Vorgesetzten spotteten uber ibn. Er beobachtete seine Umgebung scbarf, zog
aus bestimmten Vorkommnissen den Schluss, dass uber ibn gesprocben wurde,
dass man ibn fur krank hielt und ihm Scbwierigkeiten in den Weg legen
wollte, wurde unruhig. Er ging dann zu seinen Vorgesetzten, verlangte, dass
Abhilfe geschaffen wurde, beschwerte sich uber bestimmte Personen und brachte
so Unfrieden in das Haus.
Nach einigen Wochen bekam er Krankheitseinsicht. Immer wieder stellte
sich aber der alte Zustand ein, obne dass ein ausserer Anlass vorhanden
gewesen ware.
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Ueber die manisoh-depressive Anlage and einige ihrer Ausl&ufer. 855
In dem Falle Z. sehen wir zwei Zustandsbilder auf endogener
Grundlage iromer wiederkehren:
1. Depressionen mit Hemmnng, Entschlusslosigkeit, objektiver und
sabjektiver Insuffizienz, schleclitem Sch’laf, Appetitlosigkeit.
2. Vermehrte innere Unrube, Misstrauen, Neigang, die Vorg&nge
der Umgebang im Si one seines Misstraaens umzudeuten, Neigung zum
Qaerulieren und zu aggressivem Vorgehen gegen seinen vermeintlichen
Widersacber.
In beiden Zustinden wnrde der Patient von seiner Umgebung nicht
direkt fur geisteskrank gebalten, man nabm vielmehr an, dass es sicb
am Schwankungen des Charakters handelte. Diese Ansicht ist auch
zutreffend.
Fflr unsere Zwecke ergibt sich nun, dass die nnter 1 genannten
Erscheinungen den depressiven Zustanden gleicben, wahrend die unter
2 erwahnten mit der Hypertbymie das Vorhandensein einer, wenn auch,
nicbt sehr ausgepragten, motorischen Unrube, vielleicht auch eine ge-
wisse Reizbarkeit, vor allem die Neigung zu periodischem Auftreten ge-
meinsam haben.
In der zweiten Gruppe nun linden wir neben dem bisher erwahnten
maniscben Eomplex paranoide Symptome, d. h. der Patient beobachtet
seine Umgebung misstrauisch, entdeckt allerlei in ibr, was er auf sich
bezieht, ffihlt sich geradezu verfolgt and zieht aus diesen Vorstellungen
die Eonsequenz der Abwehr.
Derartige Falle sind als periodische Paranoia wiederholt beschrieben
worden. Ich erinnere aus den letzteu Jahren an die Arbeiten von
Eleist, Thomsen, Birnbaum, P. Schroeder.
Ihre ZugehOrigkeit zum manisch depressiren Irresein ist von ver-
sehiedenen Autoren bereits anerkannt. Auch in unserem Falle treten
die engen Beziehungen zum manisch-depressiven Irresein in Gestalt der
gleichartigen Belastung einerseits, der endogenen Schwankungen sowie
des Auftretens manischer und depressiver Phasen andererseits deutlich
hervor.
Interessant ist nun vom Standpunkt der Vererbungslehre aus, dass
ein dritter Bruder bis fast in die kleinsten Einzelheiten hinein die
gleiche Erankbeitsgeschicbte hat, wie die eben beschriebene.
Es bestehen also bei drei Brudern die gleicben paranoiden Eomplexe,
anscheinend vererbt vom Vater aus, und machen sich bei zweien peri-
odisch, beim dritten dauernd bemerkbar.
Leider ist unser Stammbaum nicht weiter zuruckzuverfolgen. Es
ware sehr interessant festzustellen, wie diese paranoische Beigabe in
die Familie hineingekommen ist, ob sie von jeher mit den manisch-
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depressiven Symptomen eng verbunden war, oder diese nur begleitet,
ohne atiologisch mit ihnen zusammenzugehoren.
Nach dieser Kichtung bin verdienten alle solche F&lle genauer
durchforscht zu werden. Es bedarf dazu aber eines umfangreichen
Materials an Stammb&umen, das uns heute noch ganz feblt, dabei auch
nur sehr schwer zu beschaffen ist.
Schluss.
Oer Zweck dieses ersten Teiles meiner Ausfiihrungen war einmal
der, zu zeigen, vdass das, was wir manisch-depressive Anlage nennen,
sehr vielgestaltig ist und dass infolgedessen die Menschen, welche diese
Aulage besitzen, sehr verschieden aussehen. —
In zweiter Linie wollte ich auf die Notwendigkeit einer ausgiebigeren
Familienforscbung hinweisen.
Scbon das wenige Material, welches in dieser Arbeit gebracht
worden ist, legt den Gedanken nabe, dass beim manisch-depressiven
Irresein nicht nur die Anlage zur Krankheit im allgemeinen vererbt
wird, sondern dass man bei einem Teil der Deszendenten auch spezielle
Einzelheiten findet, die dem klinischen Bilde des Aszendenten sein be-
sonderes Geprage verliehen batten.
Ich habe Stammbfiume ermittelt, in denen bei einzelnen Generationen
die Art der Vererbung sehr an das Mendei’sche Gesetz erinnerte. Leider
war das nur in einzelnen. Generationen der Fall und mir fehlten zu-
verl&ssige Mitteilungen fiber die Voreltern, die das abweichende Ver-
balten der fibrigen Familienmitglieder bezuglich der Vererbung hitten
erklfiren kounen, so dass diese Stammb&ume, die grossenteils auf jahre-
langer Beobachtung oder auf guten Anstaltskrankengeschichten beruhen,
noch viele Fragen ungelost lassen, weil sie nicht weit genug in die
Vergangenheit zurfickreichen.
Diese Tatsache sollte die Familienforschung gerade in solchen
Aerztefamilien, in denen die manisch depressive Anlage heimisch ist,
anregen. Es sollten vor alien Dingen aber auch die Chroniken und
Familienpapiere alter Geschlechter nach dieser Richtung hin genauer
durchforscht werden. Ich glaube, dass dabei manches Wertvolle heraus-
kommen wfirde. —
So hat denn mein Versuch einer Schilderung der hhufiger vor-
kommenden Typen in erster Linie gezeigt, wie wenig wir von alien
diesen Problemen wissen, und wie fiberall nur neue Zweifel und Fragen
auftanchen, zu deren Lfisung es uns an Material fehlt.
Ein positives Ergebnis haben diese Untersuchungen aber doch
wo hi gehabt, n&mlich das, dass alle die hier geschilderten Anlage-
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Ueber die manisoh-depressire Anlage and einige ihrer Auslaafer. 857
varialionen and die aasgesprochenen Phasea des manisch-depressiven
Irreseins htiologisch durcbaus zusammen gehoren. Jeder Yersuch einer
Trennung moss gerade bei Kenntnis der engen Beziehungen zwischen
Anlage and ausgesprocbener Psychose, namentlich bei Berucksichtigung
der zahlreichen Ueberg&nge als kunstlich, als eine Vergewaltigung der
klinischen Tatsachen angeseben werden.
Notwendig ist dabei nur, dass wir das M anisch-Depressive nicht
als eine Stimmungsanomalie allein ansehen, sondern als einen Komplex
von Krankbeitszeichen, in dem die Stfirungen des Denkens and Handelns
eine ebenso grosse Rolle spielen als die Yerstimmung.
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Gck igle
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CORNELL UNfVERSSTV
XXIX.
Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Konigs-
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer).
Ueber die Abnahme des Alkoholismus an der
psychiatrischen und Nervenklinik zu Kbnigs-
berg i. Pr. wdhrend des Krieges.
Von
Curt Fiirst,
approb. Arzt.
Im Jahre 1917 berichtet Bonhoeffer in den Monatsheften fur
Psychiatric und Neurologic Bd. 51, Heft 6 fiber die Abnahme von
Zug&ngen an alkoholischen Erkrankungen an der Charity wfihrend
des Krieges. Am Schlusse seiner Arbeit erklfirt er es fflr wunschens-
wert, wenn auch von anderer Seite fiber diesen Gegenstand Erfahrungen
bekannt gegeben wfirden. Im Folgenden soil fiber die Beobachtungen
an der Kdnigsberger Klinik berichtet werden.
Tabelle I gibt eine Uebersicht fiber die Alkoholerkrankungen
der Jahre 1904—1917. Um eine genaue Statistik fiber das Steigen
bezw. Fallen des Alkoholismus wfihrend des Krieges zu erreichen, habe
ich von vomberein mit dem 1. August 1904 begonnen, so dass das
erste Jahr vom 1. August 1904 bis 1. August 1905 lauft. Die ersten
elf Spalten geben die Zahl der fiberhaupt wegen Alkoholerkrankungen
Aofgenommenen nebst den Unterklassen an, getrennt fur Manner und
Frauen. Die Spalte 12 gibt die Gesamtaufnahmen fiberhaupt an, die
Spalte 13 den Prozentsatz der Alkoholisten im Vergleich zu den Gesamt¬
aufnahmen; Spalte 14 gibt den Prozentsatz der Deliranten und Spalte 15
den der pathologischen Rauschzustande und Alkoholreaktionen innerhalb
der Alkoholistenaufnahmen an; alles getrennt fur M&nner und Frauen.
Es sind in der Statistik s&mtliche Krankheiten enthalten, bei denen
sich in den Krankengeschichten der Vermerk „Alkohol“ fand, ganz ab-
gesehen davon, ob die Hauptkrankbeit Epilepsie, Paralyse, ImbezillitSt usw.
war. Voraussetzung war, dass ausgesprochene alkoholistische Stfirungen
▼orlagen.
In der Statistik macht sich sowohl bei Mfinnern als auch bei Frauen
bereits vor dem Kriege ein deutlicbes Sinken bemerkbar und ganz be-
aonders offensichtlich im Zusammenhange mit der erbfihten Alkohol-
besteuerang im Jahre 1910. Wfthrend noch im Jahre 1909/10 der
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CORNELL UNfVERSSTV
862
Curt Furst,
T»-
Jabr
Delirium
tremens
Alkohol. 1
Halluzinose
d
o
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o
■d
o
o
<
Alkohol.
Paranoia
Patholog.
Rausch
Dipsomanie
Korsakow
Delirium
Korsakow
1. 8—1. 8.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
1904—1905
9
3
1
_
27
8
5
_
1
_
_
_
2
_
2
_
1905—1906
17
—
2
—
35
4
7
2
1
—
1
—
2
—
—
—
1906—1907*
23
—
—
—
45
10
4
—
3
—
—
—
2
—
—
—
1907—1908 j-
4
3
1
—
63
23
5
4
—
—
—
—
—
—
—
—
1908-1909 *
ii
1
_
—
59
16
5
—
—
—
—
—
2
—
—
—
1909—1910
4
—
—
—
75
13
3
2
—
—
—
—
1
—
-•
—
1910—1911 v?
3
—
—
—
51
2
2
—
—
—
—
—
1
i
—
—
1911—1912 ■ ■
6
1
2
1
51
6
3
—
—
—
—
—
—
—
—
—
1912—1913 :
8
2
3
—
53
5
1
—
—
—
—
—
—
—
—
—
1913—1914
13
—
1 1
—
70
10
2
1
6
—
—
—
3
1
1
—
1914-1915
18
—
2
1
115
—
16
—
22
—
1
—
—
—
—
—
1915—1916
10
1
6
—
77
—
3
—
22
—
i -
—
1
—
—
1916—1917
4
—
7 |
—
32
—
1
—
11
—
—
—
—
—
—
Prozentsatz der Alkoholistenaufnahmen bei den Mannern 26,42 pCt. und
bei den Frauen 5,79 pCt. betrug, stellte er sich im Jalire 1910/11 nur
auf 16,15 pCt. bei den Mannern. bei den Frauen nur auf 1,28 pCt.
Das bedeutet ein Sinken bei den Mannern um 38,78 pCt., bei den Frauen
uni 77,89 pCt. In dem darauffolgenden Jabre macht sich zwar wieder
ein kleiner Anstieg bemerkbar, um mit den nachsten Jahren einem
stetigen Sinken Platz zu machen.
Das starkere Steigen der Gesamtaufnahmenziffer im Jahre 1913
erklart sich daher, dass in diesem Jahre die neue Rliuik mit den
erheblich vermehrten Raumen eroffnet wurde, wahrend sie bis dahin in
den Raumen des alten stadtischen Krankenbauses untergebracht war.
Die relativ viel hohere Aufnahmeziffer der Alkobolkrankheiten mit
Ausbruch des Krieges findet ihre Erklarung darin, dass ganz Ostpreussen
durch den Russeneinfall gefahrdet war und s&mtliche Ersatzbataillone
des I. Armeekorps in Konigsberg und Omgegend untergebracht waren.
Ebenso kamen die Psychosen aus den Armeekorps, welche in Ostpreussen
kiimpften, grosstenteils in der hiesigen Elinik zur Aufnahme. Erst im
Jahre 1916 wurden die Ersatztruppenteile an ihre alten Standorte
zuruckverlegt. Trotzdem betragt die Zahl der in der Garnisou Konigs¬
berg befindlichen Heeresangehorigen immer noch das drei- bis vierfache
der Friedenszeit; in der Hauptsache ja gerade derjenigen Altersklassen,
die vorzugsweise dem Alkoholismus verfallen. Trotzdem nun die Gesamt-
aufnahme sich von dem Jahre 1914/15 bis 1916/17 an um 1400 bewegt,
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Ueber die Abnahme des Alkoholismus usw.
863
belle I.
Alkohol.
Epilepsie
Alkohol.
Paralyse
Zu-
saramen
Gesamt-
auf-
nahmen
Prozentsatz
der Alko-
holisten
Prozentsatz
derDeliranten
innerhalb der
Alkoholisten-
aufnahmen
Prozentsatz
der patholog.
Rauschzust.
innerhalb der
Alkoholisten-
aufnahmen
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
M.
F.
1
_
2
_
50
11
230
198
21,74
5,56
18,0
27,27
2,60
_
, 1
—
1
—
67
6
247
210
27,13
4,29
25,39
—
1,49
—
4
—
1
1
82
11
267
198
30,71
5,56
28,05
—
3,70
—
5
—
1
—
79
30
271
230
29,15
13,04
5,19
10,0
—
—
5
—
—
—
82
17
293
229
27,99
7,42
13,41
5,88
—
—
1
—
—
—
84
15
318
259
26,42
5,79
4,76
—
—
—
—
—
—
—
97
3
353
234
16,15
1,28
5,26
—
—
—
4
1
—
—
66
9
365
242
18,08
3,72
9,09
11,11
—
—
1
—
—
1
66
8
400
302
16,50
2,65
12,12
25,0
—
—
5
—
—
—
101
11
603
487
16,75
2,26
13,86
—
5,94
—
6
—
—
—
180
2
1425
213
12,03
0,94
10,0
—
12,22
—
2
—
—
—
120
1
1525
309
7,87
0,32
8,33
—
18,33
—
—
—
—
—
55
—
1386
—
3,97
—
7,27
—
20,0
—
so ist die Ziffer der Alkoholkrankheiten doch von 180 auf 55 gesunken,
von 12,03 pCt. auf 3,97 pCt., d. h. um 75,31 pCt; gegen das letzte
Friedensjahr sogar von 16,75 pCt. auf 3,97 pCt., d. k. um 76,38 pCt.
Mit Ausbruck des Krieges wurde die Klinik in der Hauptsacke der
Militarverwaltung zur Verfiigung gestellt und Zivil nur in seitenen Fallen
aufgenommen.
Tabelle II gibt nun eine Uebersicht fiber die Alkoholerkrankungen
wahrend der Kriegsjahre, getrennt nach Militar- und Zivilaufnahmen.
Auch hier macbt sich unter den Militarpersonen deutlick eiu Sinken
der Alkoholerkrankungen bemerkbar, schon im zweiten Kriegsjahre von
11,89 pCt. auf 7,70 pCt., im dritten sogar auf 3,38 pCt., d. h. um
71,57 pCt. gegen die Zififer der Alkoholerkrankungen des ersten Kriegs-
jahres. Die relativ kohen Aufnakmeziffern erklfiren sich daraus, dass
fast alle forensischen Falle der Ersatzbataillone von Konigsberg und
Umgebung der Klinik zur Begutacktung fiberwiesen wurden. Aus diesem
Grunde stellt sick auch die Zakl der pathologischen Rauschzustande so
hoch. Auf die einzelnen Erkrankungen gehe ick spater naker ein.
Das relative Steigen der Alkoholerkrankungen unter den Zivilisten
erklfirt ja hinreichend das Steigen der Gesamtaufnahmeziffer um daa
Doppelte; trotzdem macht sich absolut prozentual auch deutlich ein
Sinken von 10,85 pCt. auf 6,46 pCt., d. h. um 40,5 pCt. bemerkbar.
Bei dem Forschen nach den Grfinden, die zum Alkoholismus geffihrt
haben, fand sich ffir 1913/14 als kochste Ziffer Vererbung mit nach-
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864
Curt Furst,
T»-
Jahr
Delirium
tremens
Alkohol.
Halluzinose
Alcoh. chron.
Alkohol.
Paranoia
Dipsomanie
*
o
r*
a
2
o
Alkohol.
Epilepsie
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
1914—1915
17
1
2
104
11
14
2
1
6
1915—1916
8
2
5
1
63
14
2
1
—
—
—
—
1
1
1916—1917
1
3
7
—
19
13
—
1
—
—
—
—
—
gewiesenen 30 Fallen = 29,71 pCt. In den meisten Fallen war der
Vater Trinker gewesen, in zwei Fallen die Mutter, in einigen waren
Vater oder Mutter oder beide Eltern nervenleidend, oline ausgesprochene
Trunksucht; an zweiter Stelle steht Verfiikrung, d. h. die „Gemutlicbkeit
der Gesellschaft 11 oder das schlechte Beispiel der Arbeitsgenossen. Hier
betrug die Zakl der Falle 9 = 8,92 pCt. An dritter Stelle kommt
Beruf: Gastwirt, Bierfahrer usw. mit 7 Fallen = 6,94 pCt., dann psycko-
pathiscke Veranlagung mit ebenfalls 7 Fallen = 6,94 pCt., hausliche
Sorgen mit 4 Fallen = 3,96 pCt. Dabei sind nicht die Falle mit-
gerechnet, in denen der Alkoholismus Anlass zu hauslicken Sorgen
gab. In den anderen Fallen lasst sicb eine Veranlagung oder aussere
Einwirkung nicht nachweisen.
Dnter den chronischen Alkoholisten fanden sich 18mal Eifersuchts-
wahn, bei anderen Fallen meist voriibergehende Wahnideen: „man
spracb iiber sie“, „wollte sie totschiessen“ usw. Nur in einem Falle
fuhlte sich der Kranke durch Rbntgenstrahlen beeintrachtigt. In einem
Falle bandelte es sich um einen Exhibitionisten. Von den pathologischen
Rauschzustanden beruhten 5 auf chronischem Alkoholismus, nur einer
hatte erst seit den letzten 14 Tagen in Gesellschaft getrunken. Sein
Leumund war fruher gut.
Dnter samtlichen Fallen war die Merkfahigkeit 17mal gestOrt
= 16,83 pCt. und zwar moistens so, dass die Patienten nach zwei bis
drei Fragen sich nicht erinnern konnten, eine Aufforderung, die Zahl
zu merken, erhalten zu haben.
1914/16 lasst sich Vererbung in 32 Fallen, d. h. in 17,78 pCt. 1 )
nachweisen; Verfuhrung durch schlechtes Beispiel in 9 Fallen = 6 pCt.,
Beruf in 5 Fallen = 2,87 pCt. Nachgewiesene psychopathische Ver-
1) Ganz genau sind diese Zahlen nicht, da bei Militarpersonen die
anamnestischen Angaben wenig sicher sind.
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Ueber die Abnahme des Alkoholismus usw.
865
belle II.
Patholog.
Rausch
Gesamt-
aufnahmen
Alkoholisten-t
aufnahmen
Prozentsatz
der Alko-
holisten
Prozentsatz
derDeliranten
innerh&lb der
Alkohoiisten-
aufnahmen
Prozentsatz
der patholog.
Rauschzust.
innerhalb der
Alkoholisten-
aufnabmen
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
Mil.
Ziv.
22
1896
129
166
14
11,89
10,85
10,24
7,14
13,25
22
—
1311
214
101
19
7,70
8,87
7,92
10,53
21,78
—
11
—
1123
263
38
17
3,38
6,46
2,63
17,65
28,95
—
anlagung fand sich in 18 Fallen = 18 pCt., von denen 3 auf Grand
eines in der Jugend erlittenen schweren Dnfalles berubten. In 6 Fallen,
3,33 pCt., wurden die • Anstrengnngen der Bahnfahrt und die des Feld-
zuges als Grand zu der allerdings auf jahrelangem Alkoholismus be-
rahenden akuten Erkrankung angegeben. Es handelte sich in der
grdsseren Mehrzahl um strafbare Handlungen, die zur Aufnabme fuhrten.
Entweder AufsHssigkeit gegen Vorgesetzte, Achtungsverletzung, plOtz-
liches Entfernen von der Trappe, Zanksucht mit Korperverletzung von
Kameraden, selbstandige militarische Massnahmen, die zur Gefahrdung
der Gesamtheit fuhren konnten. In 4 Fallen scbossen die Kranken
plGtzlich auf Russen, die sie zu seben glaubten, einmal auf Russen in
preussischer Uniform. Ein Patient, der sicb tagelang betranken bei
Bauersleuten herumgetrieben hatte, behauptete dauernd fest, er sei von
KGnigsberg in einem Automobil bis tief nach Russland binein entfuhrt
worden und sei dann von Moskau aus entflohen. Wegen seines eigen-
artigen Gebarens wurde er als Spion in Ostpreussen verhaftet. In
2 Fallen fublten sich die betreffeuden Patienten wegen Spionage verfolgt,
sollen auch ein entsprecbendes Gebaren zur Schau getragen haben.
Ein Patient behauptete, dass „die ja bekannten franzdsischen Ringe
seine Mutter beeintrachtigten und sie schliesslich zu Tode hetzen
wurden“, ein anderer glaubte am Tode einiger Schuld zu sein, weil er
Wasser mit Cholerabazillen veigiftot habe. Es sind im ganzen 10 Falle
unter 180, die deutlich durch die Kriogsvorgange beeinflusst sind. Ich
komme auf diese spater noch zu sprecben. A He Kranken konnten sich
angeblich nicht auf die Vorgange besinnen, die zu ihrer Verhaftung
gefuhrt hatten. Bemerkenswert war ein Fall von Dipsomanie. Der
Kranke suchte sich uberall nnd auf jede mSglicbe Art Alkohol zu ver-
schaffen und zwar den schlechtesten, den er erbalten konnte, Fusel
jeglicher Art, Betriebsstoff, Spiritus unter Verzicht auf Bier und Wein,
was fhr ibn leicht erreichbar war. Ein anderer Kranker gab an, ao
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866
Cart Fiirst,
\
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Trinkanf&llen zu leiden. Es g9.be Wochen and Monate, wo er alkoholfrei
lebe, dann stelle sich aber ein unbezahmbarer Drang nach Alkohol ein,
so dass er aus der Trunkenheit nicht mehr herauskame. Die Ver lei tang
zum Trinken sieht er in dem Trinkzwang in studentischen Verbindungen.
Nur ein Patient gab an, dass die Aufregungen des Feldzuges und
die Sorgen, die der Erieg mit sich brachte, ibn dazu gebracht hAtten,
sich starker dem Alkohol zu ergeben.
Eifersuchtswahn fand sich in 6 Fallen.
Unter den pathologischen Rauschzustanden bernhten 10 auf c-hro-
nischem Alkoholismns, in den anderen 12 Fallen handelte es sich
grOsstenteils urn Intoleranz bei nicht eigentlichen Trinkern, indem auch
nach Zengenaussagen nur 2—3 Glas Bier, sogar nur der Rum, der in
den Abendtee hineingetan wurde, zu einem Rauschzustand fuhrten. la
3 Fallen von diesen 12 waren es durch Kopfschuss Verletzte, in 5 Leute,
die in ihrer Jugend schwere Unfalle mit Schadelverletzungen erlitten
batten und „seit der Zeit immer erregt waren und gar nichts mehr
▼ertrugen 44 , deren Leumund durch Nachforschen aber als einwandsfrei
festgestellt wurde. In den ubrigen Fallen waren es Rauschzustande
nach einmaliger starkerer Unmassigkeit, wie sie in Friedenszeiten ja
taglich vorkommen, ohne zur Aufnahme zu gelangen. Bei diesen
handelte es sich eben um Vergeben, die sie sich in ihrem Rausch zu
Schulden kommen liessen.
Intoleranz bei chronischem Alkoholismus als Folge von in der
Jugend erlittenen Unfallen fand sich bei 19 Kranken = 10,56 pCt.,
davon 11 Schadelverletzungen. Hausliche Sorgen gaben 2 mal = 1,11 pCt
den Anstoss zum Alkoholismus. Die Merkfahigkeit war bei 12 Patienten
scbwer gestSrt = 6,67 pCt.
Im Jahre 1915/1916 lasst sich Vererbung in 25 Fallen, d. h.
20,83 pCt. nachweisen, darunter waren nur 2, in denen bei den Eltern
rein nervdse Leiden ohne Alkoholismus angegeben wurden, dagegen 4,
in denen auch bereits die Bruder Trinker waren. Verfuhrung lasst sich
in 6 Fallen nachweisen = 5 pCt., in denen 3 allein auf den Trink-
zwang in studentischen Verbindungen zuruckgefuhrt werden; hausliche
Sorgen und Todesfalle sind in 3 Fallen = 2,5 pCt. der Grand zum
Alkoholismus, und 4 Kranke = 3,33 pCt. fubren ihre Erregtheit und
die damit verbundenen Verfehlungen auf die Ueberanstrengungen des
Feldzuges zuruck. Die letztgenannten Kranken trinken allerdings auch
schon seit Jahren, nur scbien die Ueberanstrengung Erscheinungen her-
▼orgerufen zu haben, die eine Aufnahme in der Klinik notwendig machten.
Um Psychopathen handelte es sich in 20 Fallen = 16,67 pCt.,
▼on denen 8 in der Jugend schwere Unfalle, hauptsachlich Schadel-
Gck igle
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Ueber die Abnahme des Alkoholismas usw.
867
verletzungen erlitten batten. Beruf als Grand zum Alkoholismas wards
2mal = 1,67 pCt. angegeben. 6 Kranke ausserten Selbstmordideen
and hatten versucht, sich die Pulsadern oder den Hals zu durchschneiden.
Sie fdhlten sich verfolgt and „wollten lieber aaf diese Art sterben, als
von den eigenen Kameraden erschossen werden zu mussen". 2 gaben
an, deshalb so viet Alkohol zu trinken, weil sie damit ihren Schmerz
— es handelte sich jim Neuritis — betiuben kQnnten.
Eiu Eranker, ein Maurer, machte die Angabe, dass er nur immer
dann „ordentlicb trinke“, wenn er seiner Frau durchbrennen kdnnte,
die Gelegenheit benutzte er dann gleich, um mebrere Tage von Hause
fortzubleiben, mit immer wieder neuen Bekannteu eine „Bierreise“ zu
machen, bis er dann auf irgend einem Felde von der Gendarmerie auf-
gegriffen und seiner Frau zugefuhrt wurde. i
Ein 54jahriger Pfarrer litt infolge fruheren jahrelangen Alkoholismus
an starken sexuellen Erregungen. „Er kusse ganz besonders gern junge
Madchen von etwa 20 Jahren.“ Er stellte sich auf der Strasse vor ein
Fenster, binter dem 2 junge Frauen arbeiteten und begebrte unter L&rmen
Einlass, indent er sie mit nicht misszuverstehenden Gesten zum Beischlaf
aufforderte. Erst durch Polizeigewalt konnte er entfernt werden.
Ein Eranker betrank sich regelmassig, „wenn er Geld hatte u .
Rassen waren bei 4 Eranken, Spionage bei einem der Inhalt der
Wahnideen.
In den anderen Fallen handelt es sich um Verfolgungs- und Beein-
trachtigungsideen, Beleidigungen, Schiessen obne Befehl, Widersetzlich- ~-
keit, Entfernung von der Truppe; 3 mal bestand Eifersuchtswabn. Die
meisten der Eranken waren bereits sehr oft vorbestraft. Auch bier
waren es unter den chronischen Alkoholisten hauptsachlich forensische
Falle, die zur Begutachtung der Elinik uberwiesen waren. Unter den
pathologischen Rauschzustanden, 22 = 13,33 pCt., waren 8 auf chro¬
nischen Alkoholismus zuruckzufuhren, die Qbrigen 14 waren durch ein-
maligen ubermasigen Alkoholgenuss bei sonst nuchternen Menschen
bervorgerufen. Bei 4 davon fand sich Intoleranz infolge angeborener
Imbezillitat, bei 2 infolge Neurasthenic und bei 4 infolge Unfallen mit
Eopfverletzungen. Bei alien 14 war psychopathische Veranlagung nach-
zuweisen, sie konnten ausserdem alle „nicbt viel vertragen“.
Alkoholismus als Folge von in der Jugend erlittenen Unfallen,
davon 8 mal Schadelverletzungen, wurde 12 mal angegeben, = 10 pCt.
Die Merkfahigkeit war in 17 Fallen aufgeboben und in 6 stark
reduziert, im ganzen 16,67 pCt.
Im Jahre 1916/17 fand sich Vererbung, in samtlichen Fallen Potus
des Vaters, 10 mal, d. h. 18,18 pCt.; Verfuhrung durch schlechte Ge-
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868
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sellschaft 2mal = 3,64 pCt.; Beruf (alle 4 Kranke wareu Brauerei-
angestellte) 4 mal = 7,24 pCt. H&usliche Sorgen iafolge Todesfalls
1 mal = 0,91 pCt. Aueh in diesem Jahre kam weit uber die H&lfte
der Eranken infolge von Vergehen zur Aufnahme; es handelte sich um
diesel ben Delikte wie in den Vorjahren. Eifersuchts'wahn fand sich nnr
1 mal; 1 Eranker fuhlte sich von Russen verfolgt, die auf ihn schossen,
nnd 1 Eranker hflrte dauernd Stimmen, die vom Erieg erzahlten.
Selbstmordideen wurden nur in einem Falle ge&ussert. Psychopathische
Veranlagung fand sich in 10 Fallen = 18,18 pCt.
Unter den pathologischen RauschzustUnden, es waren 11, basierten
6 auf chronischem Alkoholismus, aber man lidrte immer wieder von
den Eranken, „sie konnten eben in letzter Zeit nichts mehr vertragen
und wurden schon nach einigen Glas Bier erregt“. Die anderen 5 be-
rubten auf Iutoleranz, bei 3 infolge psychopathiscber Veranlagung, bei
einem infolge StirnhOhlenoperation und bei einem infolge einer fruher
erlittenen Schadelverletzung. Nach Erkundigungen waren es sonst
nuchterne Leute. Alkoholismus als Folge von in der Jugend erlittenen
Unfallen, Schadelverletzungen fand sich 6 mal = 9,09 pCt.
Die Merkfahigkeit war bei 6 Eranken aufgehoben, bei 2 stark
reduziert, das sind 13,64 pCt.
Tabelle III.
Jahr
a Vererbung
it
§*t
n
cn ©
Pi
pCt.
\ ©
a
a
&
pCt.
bfi
a
2
2
© i
> 1
pCt.
1
©
OQ
pCt.
• ©
0 T3
2 ©
+* rv.
OQ
0 cl 1
«6 .2
i-* ^
©
a
© 3
D 3)
pCt.
©
S?
©
CO
pCt.
*0 Heine Ursache
r* festzustellen
1913—1914
29,71
6,94
8,92
6,94
3,96
43,53
1914—1915
17,78
18,0
10,56
5,0
2,87
3,33
7,11
41,35
1915—1916
20,83
16,67
10,9
5,0
1,67
3,33
2,5
40,0
1916—1917
18,18
18,18
9,09
3,64
7,24
3,33
0,91
39,43
Die Tabelle III gibt einen Ueberblick uber dieUrsachen, die
sum Alkoholismus gefhhrt haben, fur die Jahre 1913/14 bis
1916/17. Bemerkenswert ist dabei das starke Steigen der psycho-
pathischen Veranlagungen, das in engstem Zusammenhange mit dem
Steigen der pathologischen Rauschzust&nde steht. Es bestatigt die An-
sicht Bonhoeffer’s, dass in dem Steigen der Aufnahmen wegen patho-
logischer RauschzustSnde n das auch sonst zu bemerkende Manifestwerden
der psychopathischen Eonstitutionen im Gefolge der Eriegsverhaltnisse
zum Ausdrnck komme u .
Einen verhaltnismassig hohen Prozentsatz nehmen auch die Unf&lle
Gck 'gle
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CORNELL UNIVERSITY
Ueber die Abnahme des Alkoholismus usw.
869
ein, die ja in der Hauptsache Schfidelverletzungen sind, ein Beweis
dafur, dass gerade diese Leute leicht dem Alkoholismus verfallen, viel
mehr den Schadignngen des Alkobols ausgesetzt sind, und infolge ihrer
Intoleranz sich sehr bald zu strafbaren Handlungen hinreissen lassen.
Bei ihnen fand sich in alien Fallen vollstandige Unbesinnlichkeit auf
die Vorgange, die zur Yerhaftung ffihrten.
Ich komme jetzt noch einmal auf die Falle zuruck, in deren Ideen
die Eriegsverhaltnisse eine Rolle spielen, d. h. die im Zusammenhange
mit Russen, Franzosen und Spionage stehen. Es sind im ganzen
17 = 4,8 pCt. Nach Ansicht mancher soil sich Alkoholismus nur bei
Psychopatben und haltlosen Menschen linden, kurz, es soil nur geborene
Trinker geben. Bei Psychopatben bilden in der Regel die affektbetonten
Erlebnisse den Inhalt der Trugwahrnehmungen und Wahnvorstellungen.
Es miissten daher eigentlich nach obiger Ansicht unter den chroniscben
Alkoholisten die Ideen, welche in direktem Zusammenhange mit den
Eriegsereignissen stehen, einen grOsseren Prozentsatz ausmachen. In
der Tat betragt der Prozentsatz nur 4,8 pCt. Die Nichtbeeinflussung
des Gedankeninhalts bei Alkoholisten durch die Eriegsereignisse ent-
spricht einer gleichen Beobachtung bei nicht alkoholischen Dfimmer-
zustanden und Haftpsychosen, die in letzter Zeit zur Aufnahme kameu.
Auch bei diesen kam die Affektbetonung nicht zum Ausdruck.
Ein sicheres Urteil daruber, ob nur diejenigen Trinker werden, die,
um es kurz zu fassen, zum Trinker geboren sind, iasst sich deshalb
nicht abgeben, weil sich das Verbaltnis des endogenen zum exogenen
Faktor in bezag auf den Alkoholismus gegenfiber den Friedenszeiten
vollkommen verschoben hat. Er ist ja auf ein Geringes eingeschrankt.
Es ist daher gar nicht zu entscheiden, was aus den vielen Psychopathen,
die wir zu beobachten jetzt Gelegenheit hatten, bei gewOhnlichen
Trinkverhaltnissen geworden ware.
Unter den alkoholistischen Frauen — es sind von 1918/14 bis
1916/17 im ganzen 13 — fand sich Vorerbung 2 mal = 16,38 pCt.,
Verfuhrung und Sorgen je 1 mal = 7,69 pCt. Bemerkentwert ist nur,
dass die Merkfahigkeit in 5 Fallen = 38,46 pCt. stark reduziert war
imd die Halfte der Frauen bereits fiber 63 Jahre alt war. Von ihnen
wurde als Getrfink ganz besonders Eognak bevorzugt, wfihrend ja bei
den Mannern Bier und Schnaps die Hauptrolle spielten.
Die folgende Tabelle IV gibt eine Zusammenstellung aus
den Verfiffentlichungen der Autoren, die das gleiche Eapitel be-
arbeitet haben. Bonhoeffer-Berlin (B) 1 ), Oehmig-Dresden (Oe).
1) Die Abkurzungen hinter den Namen bedeuten die Abkurzungen ffir die
Namen der Autoren in den einzelnen Rubriken.
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CORNELL UNfVERSSTV
870
Curt Furst,
Ta-
Jahr
Prozensatz der Alkoholistenaufnahmen
Prozentsatz der Deli-
Alkoholisten-
Manner
F
r a u e n
Manner
B.
Oe.
W.
R.
F.
B.
Oe.
w.
1 R '
F.
B.
Oe.
W.
R.
F.
1904
26,1
38,3
30,3
1905
—
—
—
20,3
21,7
—
—
—
2,5
5.56
—
—
—
30,8
18,0
1906
—
—
—
21,0
27,1
—
—
—
3,0
4,3
—
—
—
39,8
25,4
1907
20,6
—
62,5
27,2
30,7
3,2
—
12,5
2,2
5,6
47,3
—
10,5
34,8
28,1
1908
17,8
38,4
59,4
25,1
29,2
2,7
5,7
9,1
3,3
13,0
35,3
19,9
11,2
31,0
5,2
1909
18,9
37,5
61,4
22,5
28,0
2,1
5,4
17,4
2,6
7,4
34,7
21,8
9,6
21,1
13,4
1910
18,6
31,2
56,8
18,2
26,4
3,1
7,1
8,6
1,7
5,8
22,3
14,5
5,3
21,3
4,S
1911
16,8
39,0
54,1
18,3
16,2,
2,1
6,3
11,5
2,7
1,3
29,5
21,9
8,4
11,0
5,3
1912
13,7
40,8
55,4
19,0 18,1;
2,6
3,9
11,4
2,6
3,7
25,8
14,2
6,7
18,4
9,1
1913
12,3
33,2
53,7
17,7
16,5
2,9
7,1
8,1
3,0
2,7
27,0
20,2
5,8
14,2
12,1
1914
14,0
—
53,1
—
—
2,8
—
—
—
28,0
—
5.2,
6,4
36,8
38,4
15,6
16,8
1,4
4,8
6,5
1,9
2,3
29,0
21,5
11,5 |
17,7
13,9
1915
7,2
25,8
29,6
11,0
12,0
1,3
4,4
5,1
1,1
0,9
25,5
21,0
6,0
22,4
10,0
1916
3,3
11,9
23,3
7,2
7,9
0
1,7
3,1
1,0
0,3
9,0
24,5
3.0|
18,3
3,3
1917
—
2,5
7,3
0,6
4,0
—
0,9
2,4
0,3
0
9,1
5,2
7,3
Weich brod t-Frankfurt a. M. (W), Robert-Kiel (R). Es sind die
Prozentsatze: erstens der Alkoholistenaufnahmen im Vergleich zu den
Gesamtaufnahmen, zweitens die der Deliranten 1 ) und drittens die der
pathologischen Rauschzustande iunerhalb der Alkoholistenaufnahmen,
getrennt fur Manner und Frauen. Der bessereu Uebersicht halber sind
die vom Verfasser gefundenen Zahlen unter F. hinzugesetzt, jedoch so,
dass das Jabr 1904/05 init seinen 7 Monaten im Jahre 1905 unter
1905, 1905/06 unter 1906 usw. gesetzt ist. Bemerkenswert an der
Tabelle ist, dass sich die Zahlen der Alkoholistenaufnahmen bei Weich-
brodt und Oehmig ganz besonders hoch, bei Weichbrodt auf
das vier- bis fiinffache gegen Bonhoeffer und das zwei- bis drei-
fache gegen Robert und Verfasser stellen. Bei Bonhoeffer da-
gegen ist die Zahl der Deliranten urn* das doppelte bis dreifache
grosser als bei Weichbrodt, Robert und Verfasser. Ein besonderer
Grund hierfur ist aus den Veroffentlichungen nicbt zu ersehen. Wenn
bei alien gleichzeitig im ersten Kriegsjahr der Prozentsatz der Deliranten
steigt, so ist das wohl in der Hauptsache auf die ausserordentlich
grossen ungewohnten Strapazen gerade im Anfange des Feldzuges, die
Anstrengungen der Iangen Bahnfahrten und die mit den Kriegsereignissen
1) Die Prozentsatze der Deliranten und pathologischen Rauschzustande,
veroflfentlicht von Oehmig und Weichbrodt, habe ich aus den angegebenen
Zahlen berechnet.
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Ueber die Abnahme des Alkoholismus usw.
871
belle IV.
ranten innerhalb der
aufnahmen
Prozentsatz der pathologischen Rauschzustande
innerhalb der Alkoholistenaufnahmen
Frauen
Manner
F
r a u e n
B.
Oe.
W.
B.
F.
B.
Oe.
W.
R.
F,
B.
Oe.
w.
R.
F.
■
_
-
_
_
_
_
_
7,0
_
.
13,1
_
.
. _
—
—
—
—
27,3
—
—
—
6,4
2,0
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
3.9
1,5
—
—
—
—
20
—
11,4
20,0
—
—
—
—
3,4
3,3
3,7
—
—
2,3
—
50
17,4
—
10,0
—
7,4
3,8
10,2
—
13,1
3,3
—
—
25
6,7
10,0
5,9
—
6,4
3,0
6,4
—
_
8,0
1,7
—
—
13
2,9
—
—
—
11,8
1,8
4,4
—
—
5,7
—
—
25
3,3
—
—
—
—
17,2
18,5
5,8
2,7
—
—
26,7
8,6
—
—
10
4,4
23,5
15,4
16,7
IM
12
1,2
5,3
—
—
26,1
1,9
—
—
19
1,9
26,7
25,0
13
14,2
0,5
3,1
! —
—
14,7
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
1,4
—
—
—
—
—
—
—
—
4,2
—
—
—
16
18,7
4,6
3,0
—
—
25,0
—
—
—
—
25,0
—
33,3
—
30
19,4
2,6
3,8
6,0
—
15,0
—
—
—
—
—
—
—
—
40
20,8
—
1,5
12,2
—
6,7
—
—
—
—
—
—
25,0
—
—
54,6
—
18,3
—
—
—
verbundenen Aufregungen zuruckzufiihren; dazu kommt noch die zwangs-
weise Alkoholabstinenz 1 ). Die hiesigen Falle waren besonders schwer.
Im Vordergrunde standen schwere Bewusstseinsstflrungen, nachher in
den meisten Fallen Amnesie, motorische Erregung, eine Beobachtung,
die sich bei Wollenberg 2 ) bestatigt findet. Bei den meisten Deliranten
finden sich hier allerdings unter anderem die ckarakteristischen Tier-
halluzinationen. Drei endeten einige Stunden nach der Aufnahme
tOdlicb.
Das spatere Sinken fuhrt Birnbaum auf die entgiftenden Eiuflusse
im Feld zuriick, korperliche Anstrengung und Aufenthalt in frischer Luft.
Bei Oehmi g und Robert bleibtnoch 1916 die hohe Ziffer bestehen,
w&hrend sie bei Bonhoeffer, Weichbrodt und Verfasser deutlich ab-
nimmt. Beach tenswert ist, dass sowohl bei Bonhoeffer wie bei Oehmig
und Verfasser der Prozentsatz der pathologischen Rauschzustande auf das
vier- bis sechsfache der Friedensjahre steigt, was sich bei Bonhoeffer wie
Verfasser mit der zahlreichen Zuweisung forensischer F&lle aus dem Heere
erklart. Zwar behauptet Oehmig in seiner Arbeit, dass die Zahl der
pathologischen Rauschzustande bei Bonhoeffer im Gegensatz zu ihm
1) Birnbaum, Sammelber. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr.
Heft 5, Jahrg. 1915.
2) Birnbaum, Sammelber. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr.
Heft 5, Jahrg. 1915.
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r
872 Cart Fiirst,
eine wesentliche Steigerung bringt. Prozentual steigt jedoch auch bei
ihm die Zahl, 1917 sogar auf 54. Da nun die Dresdener Anstalt keine
Soldaten aufnakra, die forensischen Falle aus dem Heere also fortfallen,
so findet sich auch bier die Ansicht Bonhoeffer’s bestatigt, n dass
hierin das auch sonst zu bemerkende Manifestwerden der psychopathischen
Konstitution im Gefolge der Kriegsverhaltnisse zum Ausdruck kommt. u
T a b e 11 e V.
1. Grafenberg
2. Acht
rhcinische
b) Alkohol¬
Jahr
a) Alko¬
holisten¬
aufnahmen
psychosen
u. Rausch-
zustande
1. 10. bis
1. 10.
c) Deli¬
ranten
Heil- und
Pflege¬
anstalten
1. 10. bis
1.10.
3. Stadtische Heil-
anstalt Breslau
pCt.
Manner
pCt.
Manner
pCt.
Manner
pCt.
Manner
pCt.
Manner
pCt.
Frauen
1912-1913
25,5
17,0
7,3
7,0
26,2
5,9
1913—1914
24,4
17,5
5,9
7,6
30,7
3,8
1914—1915
15,2
12,6
4,9
6,1
18,3
0,9
1915-1916
9,5
2,8
0,3
2,7
8,3
1,4
1.8.16 bis
1.8.16 bis
31.1.17
31.1.17
1916-1917
7,7
2,1
0,3
2,5
—
—
Es folgt dann in Tabelle V eine Zusammenstellung aus einer
Arbeit Peretti’s-Diisseldorf. 1. Aus der Heil-und Pflegeanstalt Grafen-
berg: a) Prozentsatz der Alkoholistenaufnahmen, b) Alkoholpsychosen
und Rauschzustande, c) Prozentsatz der Deliranten; 2. Aus den acht
rheinischen Heil- und Pflegeanstalten und 3. aus der stadtischen Heil-
anstalt Breslau. Aus den beiden ersten ist nur der Prozentsatz der
Manner veroffentlicht, aus den letzten auch der der Frauen. In alien
Tabellen kocamt augenfallig das ganz bedeutende Sinken der Alkohol-
erkrankungen auf den im allgemeinen 3. bis 4. Teil gegen das letzte
Friedensjakr, bei einigeu sogar 12. bis 15. Teil, zum Ausdruck.
Im folgenden gebe icli Berichte fiber Alkoholpsychosen wfihrend
des Krieges, die ich den Sammelreferaten von Birnbaum entnommen habe.
Gerver berichtet fiber ein Sinken der Alkoholpsychosen im
russischen Heere auf 1 pCt., was auf die strikte Durchfuhrung des
Alkoholverbotes zuruckzufuhren sein soil.
Kruse berichtet aus Trinkerheilstatten von einer sofortigen Ab-
nahme, ja gfinzlichen Stockung der Aufnahmen im Anfange des Krieges.
Die wenigen spfiteren Aufnahmen betrafen zum Teil solche Falle, wo
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Ueber die Abnahme des Alkoholismus usw.
873
die Kriegswirkungen den schon vorher Gefalirdeten — Zivilisten und
Militarpersonen — den letzten Halt genommen batten.
Im Gegensatz zu den Beobachtungen obiger Autoren stellt Weichsel-
baum eine Zunahme der Alkoholphychosen fest. Die Soldaten seien
nach seiner Ansicbt zum Dauertrinken gekommen, wObei der moderne
Artilleriekampf mit seinen Erschutterungen des Nervensystems die An-
reiznng zu Berohigungsmitteln abgab.
Hiibuer erw&hnt Kriegsteilnehmer verschiedener Chargen, zum
Teil jugendliche Soldaten, die unter dem Einfluss der Schiitzengraben-
neurastbenie dermassen ins Trinken gekommen waren, dass sie nicht
mehr zu gebranchen waren und entlassen werden mussten.
In dem Jahresbericht der Berliner Auskunft- und Fiirsorgestellen
Alkoholkranker wird als Kriegsfolge eine Zunahme trunksuchtiger Frauen
bemerkt, sowie solche des Trinkens von Brennspiritus mit Essigessenzen
in gewissen Berliner Bezirken.
Auch Levy-Suhl berichtet, dass an der Front unter den Psychosen
die alkoholistischen in verschiedenen Formen den 4. Teil ausmachten.
Ballei erkl&rt die 14,3 pCt. Alkoholisten uoch 1916/17 vor allem
aus dem Altersanfbau und der Trinkgelegenheit der Garnison.
Birnbaum stellt dagegen auch bei vielen anderen Autoren schon
1916 ein Abnehmen von Dauer unter den chronischen Alkoholisten fest.
Als Erkl&rung fur die Senkung der Alkoholkurve wird
von R5mer fast ausschliesslich, von Oehmig teilweise das Fehlen der
zum Heeresdienst einberufenen Jahresklassen in Betracht gezogen, die
in Friedenszeiten vorzugsweise erkranken. Rbmer 1 ) sagt in einem
Referat: Aus den Kurven ist zu ersehen, dass der Ruckgang der Zahlen
der Aufnahmeziffern nur auf Rechnung derjenigen Alterskategorien
kommt, von denen die Mehrzahl im Felde abwesend ist, dass dagegen
bei den ubrigeu Altersklassen eine Abnabme des Alkoholismus weder
unter dem Einfluss des Ernstes der Zeit noch unter der Abkurzung der
Polizeistunde nachzuweisen ist.
Die Garnison und Festung KOuigsberg mit ihren zahlreichen Schank-
statten, Destillationen, Restaurants, Stehbierhallen, Bierkellern bietet
doch gewiss eine reichliche Gelegenheit zum Genuss von Alkohol. In
dieser Garnison nun halten sich dieselben HeeresangehOrigen zusammen-
gedrangt auf, die ins Feld gehen, die aus dem Felde kommen und eine
grosse Anzahl, die nur zum Garnisondienst berangezogen werden kdnnen.
Somit haben wir bier ein genaues Abbild der Angehorigen des Feld-
heeres, die sicber, aus dem Felde gekommen, die vermehrte Gelegenheit
1) Berl. klin. Wochenschrift. 1915. 33. Ref.
ArehiT f. Psychiatric. Bd. 60. Heft S/3. 5g
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874
Curt Fiirst,
zum Genusse von Alkohol wabrnehraen. Wenn nun in der hiesigen
Klinik trotz der Aufnahmen von grosstenteils HeeresangehSrigen die
Alkoholkurve sinkt, so wird man wobl den von Romer ausschliesslich
geausserten Faktor mit Sicherheit ausscbliessen konnen, ganz abgeseben
davon, dass der Alkoholismus bei den Frauen auf Null gesunken ist,
Ein weiterer Beweis hierfiir ist die folgende Tabelle VI, welche zeigt,
dass die grOsste Zalil der Aufnahmen unter 40 Jabren liegt. Hiervon
bilden das vier- bis funfTache Militiirpersonen. Auch die Zahl der
Aufnahmen uber 45 Jahren ist gegeu das letzte Friedensjahr bedeutend,
fast urn den vierten Teil gesunken. Bei Peretti fiudet sich eine Be-
statigung dieser Wahrnelimung, wie die Tabelle zeigt.
T a b e 11 e VI.
Jahr
Alko-
holisten-
aufnahmen
uber
45 Jahre
Zusammen
Alko-
holisten*
aufnahmen
unter
45 Jahre
Zusammen
Deliranten
Peretti,
Grafenberg:
Alko-
holisten-
aufnahmen
unter
45 Jahre
iiber
45 Jahre
45 Jahre
unter
45 Jahre
Mil.
Zivil
Mil.
Zivil
Mil.
Zivil
Mil.
Zivil
1913-1914
27
27
74
74
9 ;
_
4
42
73
1914-1915
S
4
12
158
10
168
16
1
i
—
20
42
1915-1916
6
9
15
97
8
105
8
1
1
—
17 v
42
1916-1917
0
8
8
38
9
47
1
1 |
—*
2
10
14
Auch ein Sinken infolge vermehrter Arbeitsmbglichkeit mochte ich
von der Hand weiseu, da ja niemand am Abend mehr Zeit hat, als der
Soldat, und gerade in der N&he der Kasernen die Schankstatten sich haufen.
In der Hauptsache ist das Sinken wohl in der Beschrankung
der Gelegenheit zu suchen und dann in der abnormen Verteuerung
des Alkobols. Auf den Bahnhofen besteht teilweise Alkoholverbot,
in vielen Stadten war der Ausschank von Alkohol bis 4, ja bis 6 Uhr
nacbmittags verboten, desgleichen nacb 10 Uhr abends. Verschiedent-
licli durfte Alkohol an Militarpersonen gar nicht abgegeben werden.
In zweiter Liuie kommt die Schwierigkeit in der Beschaflfung von
Alkohol und die damit verbundene Teuerung in Betracht. Kostet doch
ein Korn, von dem man in Friedenszeiten zwei fur etwa 15 Pfennige
erhielt, jetzt 60—60 Pfennige, ein LikOr, fruher 10—15 Pfennige, jetzt
1,25 Mark; ein Glas Bier, fruher 5—10 Pfennige, kosret jetzt 25 bis
SO Pfennige, ein Glas Wein, fruher 40 Pfennige, jetzt 2,20—-2,50 Mark.
Auf Nachfrage erhalt man bei den Verkaufern die Antwort, dass die
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Ueber die Abnahme des Alkoholismas usw.
875
Leate wieder herausgebeu, da es ihnen zu teuer ist. Weiter kommt
hinzu, dass s&mtlicbe Getr&nke nor noch etwa den dritten Teil und
Docb weniger des Alkobolgebaltes baben gegenuber dem der Friedens-
zeiten. Das Ausschlaggebende ist meiner Ansicht nach die hoch-
gradige Teuerung. Wenn TeueruDg auch sonst als ein Uebel empfunden
wird, so kann man nur sagen, dass sie auf diesem Gebiete ein Segen
ist, einer der wenigeu, die uni der Krieg gebracht hat. Es wird ja
wieder eine Zeit kommen, in der infolge der Freigabe und Verbilligung
<ler Kohstoffe der Alkobol reichlicher fliessen und damit eine Ver- •
billigung der alkoholischen Getr&nke herbeigefuhrt werden wird.
Es ist daher unbedingt erforderlich, ebe es zu spat ist, dass der
Staat im Interesse der eigenen Erhaltung und zur Entlastung der All-
gemeinheit bier die Steuerschraube anzieht, indem er unter Beibehaltung
der jetzigen Preise den Differenzbetrag als Steuer einzieht. Schaden
tut er damit niemand. Wenn man sieht, welche Schaden der Alkohol
hervorruft, wie er die Grundfeste des Staates, das Familienleben, zer-
ruttet, Zank und Streit unter die Ehegatten sat und damit im engsten
Zusammenkang die Kinder der Vernachl&ssigung und Verwahrlosung
anheimfallen und dem Alkoholismus zug&nglich gemacht werden, wie
er zu Roheitsverbrechen und zur Gefahrdung der Aligemeinheit und
schliesslich zu jahrelangem Siechtum fuhrt, so wurde sich hier der
Staat einen Nutzen von unubersehbaren Folgen schaffen. Den Werde-
gang eines Alkoholisten gibt, gerade durch seine Kurze erschiitternd,
unter der Rubrik „Stand“ eines uuserer Diagnosenbucher wieder. Man
liest bier „Lehrer, Maschinenschreiber, Gelegenheitsarbeiter“. Da bedarf
es wobl weiter keiner Worte mehr. Gerade in der heutigen Zeit, wo
so viel fur Jugendpflege, Pflege des Familienlebens getan wird, wo die
Eltern angehalten werden sollen, mehr ihren Kindern zu leben, ist es
unumg&nglich nOtig, dem Alkoholismus, als dem, man kSnnte sagen,
grOssten Uebel auf diesem Gebiete durch die Massnahmen Einhalt zu
tun, die als eine absichtslose Notwendigkeit fast spielend erreicht baben,
-■ was jahrelanger Kampf und Aufkl&rung nicht erreichen konnten. Diese
Steuer wurden die Mussiggbnger und gerade diejenigen erfassen, die
sich auch sonst etwas leisten konnen, so dass man den Alkohol schliess¬
lich als Luxusgegenstand betracbten kOnnte. Da er selbst in mEssigen
Mengen genossen schadet, zum Leben absolut nicht notwendig ist, so
ist dem kleinen Manne nur damit gedient, wenn er fur ihn nicht
erreichbar ist. Er bringt dann eben das Geld, das er sonst zum grossen
Teile in den Schankst&tten vergeudet, den Seinen und schenkt so dem
Staate wieder gesunde und leistungsf&hige Kinder. Was der Staat
•dadurch an Einkommen aus den Branntweinbrennereien, Brauereien usw.
56*
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876 Cart Fiirst, Ueber die Abn&hme des Alkoholismus usw.
verlastig geht, das wird ihm so, man kSnnte fast sagen, hundertfacb
ersetzt, indem die Volksgesundheit erhalten und gest&rkt wird, die-
Arbeitskraft und Leistuugsfehigkeit des einzelnen und damit seine
Steuerkraft erhOht wird. Schliesslich steben obi gem Aosfall die Brspar-
nisse an Trinkerheilstatten, frubzeitiger Invalidenrente und an Onter-
stutzung von infolge Alkoholismas des Ernfihrers verelendeteu Familien
gegeDiiber. MOge auch der Staat von diesem Staodpunkte aus kr&ftig
den Eampf gegen den Alkoholismus aufnehmen uud mOge er damit
diese Segnung des Erieges, die ibm fast in den Scboss gefallen ist,
hinuberretten in Friedenszeiten, zar Er&ftigung und zum Wiederaufbau
unseres deutschen Vaterlandes.
Literaturverzeichnis.
Bonboeffer, Ueber die Abnahme des Alkoholismas wahrend des Erieges.
Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. 41.
Peretti, Ueber den Rdckgang der Alkoholistenaufnahmen in den Anstalten
seit dem Kriegsbeginn. Berliner klin. Wochensohr. 1918. Nr. 9. S. 211,
Oehmig, Weiteres fiber die Abnabme des Alkoholismas wahrend des Erieges.
Monatsschr. f. Psycb. a. Neurol. Bd. 43.
Weichbrodt, Ueber die Abnahme des Alkoholismas wahrend des Erieges.
Monatsschr. f. Psych, a. Nearol. Bd. 42.
Robert, Inaagaral-Dissertation. Ueber die Abnahme des Alkoholismus wahrend
des Erieges an der Koniglichen psychiatrischen and Nervenklinik za Kiel.
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XXX.
Aos der psychiatrischen und Nervenklinik zu Kiel.
Beitrag zur Verantwortliclikeit des Irrenarztes.
Von
E. Siemerling.
Vielfachen an mich ergangenen Aufforderungen Folge leistend, gebe
ich nachstehend die Darstellung fiber einen Fall von Wochenbettpsychose
auf psychopathischer Grundlage, in dessen Verlauf es im Anschluss an
^ine Kfirperverletzung, welche die Patientin sich durch Sprung aus dem
Fenster zugezogen hatte, zu einer Klage auf Schadenersatz gekommen ist.
Frau S. ist zweimal in der Nervenklinik behandelt worden.
1. Aufnahme. Frau S., Rodakteursehefrau, 20 J. alt, aufgen. 8. 11.
1903, entl. 16. 12. 1903.
, den 7. 11. 1903.
Attest.
Die Direktion der Universitats-Nervenklinik zu Kiel bitte ich, die Ehe-
frau des Redakteurs Herm S. aus I. aufuehmen zu wollen, weil sie an einer
puerperalen Psychose erkrankt ist.
Die Krankheit begann am letzten Montag, 2. 11., und zwar im An¬
schluss an eine grossere Aufregung, in welche sie versetzt wurde dadurch,
dass sie am Sonntag vorher mehr Besuch empfangen und bewirten musste.
Die ersten 3 Woohen des Puerperiums verliefen ungestfirt. Anamnestisch
ist noch zu bemerken, dass eine Urgrossmutter der Kranken geisteskrank
gestorben ist, die Mutter auch „nervos u ist, und dass die Kranke geistig
stets angestrengt gearbeitet hat. Sohwangersohaft normal verlaufen, die
Kranke stillte ihr Kind selbst, ich habe das Kind jetzt entwohnen lassen.
Die Krankheit ausserte sich zunachst in Halluzinationen, sie glaubte,
die Menschen reden schlecht yon ihr oder wollen ihr nicht wohl und ihr
Mann schutze sie nicht vor den Lenten. Zunachst eruierten sich ihre Vor-
stellungen gegen die Warterin, welche sie beschuldigte, dass sie ihr Kind
nicht genfigend pflege, und dass sie im Schlafe allerlei Ungunstiges fiber
sie gesprochen habe. Ich liess am nachsten Tage die Warterin nicht mehr
zu ihr, und nur den Mann im Zimmer bleiben, ohne wesentlichen Erfolg.
Depressionen, wo sie mit leeren Blicken vor sich hinstarrt und vielfach auf-
stohnt, wechseln mit aufgeregten Szenen, wo sie ruhelos im Zimmer herum-
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878
E. Siemerling,
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wandert, Nahrungsaufnahme nahezu vollig verweigert and aach nicbt in>
Bette za halten ist. Letzte Nacht bat sie gat geschlafen, war bente Morgea
ruhig, aber vollig apathisch, beute Abend jedooh wieder aufgeregt. Da es
bier an geeigneter Pflege mangelt and eine Heilang in einer Nervenheil-
anstalt mehr Aussicht aaf Erfolg entspricht, babe icb die Ueberfdhrang
dorthin angeordnet. gez. Dr. med. H.
Anamnese: Abgegeben vom Manne am 9. 11. 1903. Ref. ist seit
l x / 4 Jabr mit Pat. verheiratet; Mutter and Vater nervOs; Urgrossmutter litt
an Schwermat. Kein Trauma, keine Infektion, kein Potus. Pat. war vor ihrer
Verbeiratung in Hamburg aaf der Handelsakademie, war bier wegen Nervositat
in arztlicber Bebandlang. Wabrend der Ebe sonst nichts Auffalliges bemerkt,
war geistig ausserordentlioh entwickelt; mit den Verwandten, auch mit den
Eltem kam es oft zu Streitigfeeiten, mit dem Manne nie. Hatte Pat. eine
Kleinigkeit nicht ricbtig gemaobt, so konnte sie sioh Tage lang daruber au/-
regen, ihr Mann konnte boss daruber sein. Von friiheren ernstliohen Krank-
heiten ist Ref. nichts bekannt. Am 12. v. Mts. zum ersten Mai entbunden;
Entbindang war leicht, kein starker Blutverlast; Pat. nahrte das Kind selbst.
Wochenbett verlief normal; kein Fieber. Nach 10 Tagen stand Pat. aaf; be-
schaftigte sich mit leiohten hauslicben Arbeiten, zeigte kein abnormes Ver-
halten. Am 1. d. Mts. erwartete Pat. Besach von einer Freandin; dieselbe
• *
.traf anstatt, wie verabredet, am Nacbmittage, scbon gleich nach dem Mittag-
essen ein; Pat. warde sehr erregt, dass sie dem Besach kein Mittagessen mebr
anbieten konnte, and zeigte von da ab ein aussergewohnliches Verhalten;
weinte viel, kdmmerte sich urn ihren Besach wenig; aaf einem am Nacbmit-
tage gemeinsam unternommenen Spaziergang musste Pat. sich sehr oft aus-
rahen, verlangte schliesslicb, sie wollte mit ihrem Mann allein weitergehen.
Gegen Abend beruhigte sich Pat. wieder. Am nachsten Morgen sehr erregt;
hatte die Vorstellung, die Warterin habe sie schlecht behandelt, sei schroff
gegen sie gewesen; aaf Zureden des Mannes trat wieder Beruhigung ein; Pat.
blieb dann einige Zeit sich selbst dberlassen; als nach ungefahr einer Stands
die Warterin wieder ins Zimmer kam, fand sie Pat. und das Kind ausgezogen
auf dem Bett liegend, die Augen geschlossen. Pat. rief: Wo ist mein Mann?
Wo ist mein Junge? Mein Mann soil kommen usw. Nach ungefahr 2—3 Stun-
den schlug Pat. die Augen wieder aaf, sprach mit der Umgebung geordnet,
war nur etwas angstlich; schien sonst normal zu sein; verhielt sich den Tag
iiber and die folgende Nacht ruhig. Auch am folgendenTage (Dienstag) zeigte
Pat. nichts Auffalliges. In der Nacht vom Dienstag auf Mittwooh trat dann
grosse Unruhe ein; Pat. stand oft auf, ging an das Bett des Kindes, an das
des Mannes, in der Stubs umher usw., sprach nicht dabei; von Sinnestau-
schangen hat Ref. nichts bemerkt. Am nachsten Morgen schien Pat. dem
Manne nicht mehr ganz normal zu sein; sie hatte die Idee, die Warterin mache
sie schlecht, verbreite das Gerdcht, sie k5nne ihr Kind nicht ordentlich
pflegen, verstande es nicht. Beunruhigte sioh, sie konne ihrem Kind nicht ge-
nugend Nahrung geben. Sprach bei der Unterhaltang nar aber dieses Thema.
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
879
Pat. wurde von dieser Zeit an teilnahmlos gegen ibre gauze Umgebung, be¬
ach tete auch ihr Kind nicht mehr; ging am Wagen voruber, ohne sich um das
Kind za kummern, schien es vollstandig vergessen zu haben. Redete die Um¬
gebung nur mit Namen an, spracb sonst nicht. Auch mit dem Manne sprach
sie fast gar nicht, schien ihn auch zeitweise nicht zu kennen. Aeusserte die
Idee, sie wurde Ton den Lenten schlecht gemacht, ihr Mann nahme sie nicht
gehorig in Schutz, begunstige ihre Verfolger. Sagte zu ihrer Mutter, sie solle
ihrem Manne nicht trauen, der habe die ganze Familie ungliicklich gemacht.
Stand nachts auf, schien Jemand im Zimmer zu sehen, rief: „Was wollen Sie
hier? u Glaubte einmal, der Arzt stande hinter der Tur, der Mann wolle es ihr
nur nicht sagen. Wurde zuweilen sehr abweisend, schlug einmal dem Manne
eine Tasse Milch aus der Hand, sagte, es sei etwas dazwischen. — Pat. nahm
sehr wenig Nahrung; drehte meist, ohne etwas zu sagen, den Kopf ab; bei
wiederholten Versuchen gelang es zuweilen, ihr etwas fliissige Nahrung ein-
zuflossen. Nachte meist sehr unruhig; Schlafmittel, speziell Morphium, blieben
ohne Wirkung. Verdauung war bis Freitag gut, seit dieser Zeit keinen Stuhl-
gang gehabt. Menses waren fruher stets in Ordnung. Wahrend derSohwanger-
schaft traum te Pat. oft sehr iebhaft; glaubte sich in den Traumen verfolgt,
stand dabei auf, sprach im Traum, antwortete im Traum dem Manne auf
Fragen, war beim Erwachen dann die letzte Zeit sehr unruhig.
Selbstmordideen hat Pat. nie geaussert.
Anamnese: Abgegeben von der Mutter am 9. 11. Pat. fruher nie
emstlich krank gewesen. Mit 17 Jahren zum ersten Male menstruiert; Menses
regelmassig, haufig starker Blutverlust. In der Schule gut gelernt, war sehr
ehrgeizig; konnte keinen Tad el vertragen; wurde gelegentlich eines unbedeu-
tenden erhaltenen Tadels einmal in der Schule ohnmachtig; wusste mehrere
Stunden nicht, wo sie war. Spater bekam Pat. ofter aus geringen Anlassen,
infolgeAergers meistens, Anfalle, in denen sie sich auf die Erde warf, mit den
Handen um sich schlug und die Umgebung nicht zu kennen schien; horte,
was gesprochen wurde. Wahrend der Ehe hat Pat. solche Anfalle nicht ge¬
habt. Wahrend Pat. im Elternhause leicht erregt und schwer zu lenken war,
hat sie wahrend der Verheiratung nichts derartiges gezeigt.
9. 11. Wurde gestern Abend ll 1 ^ Uhr vom Manne gebracht; lasst sich
mit geringem Widerstreben auf die Abteilung bringen; gibt z. B. keine Ant-
wort. Halt sich wahrend der Nacht ruhig im Bett, schlaft nicht. Hat heute
Morgen 1 Becher Miloh getrunken. 1st sehr abweisend und widerstrebend, gibt
auf Aufforderung nicht die Hand, zeigt nicht die Zunge. Gibt auf Fragen,
auch auf energisches Zureden, keine Antwort. Als sie auf dem Wege zum
Klosett die Rapportbiicher auf dem Tisch liegen sah, sagte sie: „Das hab ich
doch nicht geschrieben u . Sonst bisher keine sprachliche Aeusserung. Der Ge-
sichtsausdruck ist meist matt und gleichgultig, zuweilen nimmt er einen
angstlichen Charakter an; sie sitzt ruhig im Bett, nestelt mit den Handen am
Bettzeug herum oder fasst an die Bettlehne. Auch die Beine warden zuweilen
unruhig hin und herbewegt. Passiven Bewegungen setzt sie uberall energischen
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880 E. Siemerling,
Widerstand entgegen. Nimmt an den Vorgangen der Umgebnng anscheinend
gar kein Interesse.
Status som. am 9. 11. Grosse and Gewicht konnte wegen heftigen
Straubens nicht festgestellt werden. Temperatur 37,1°. Pupillen etwas fiber
mittelweit, gleich, rund. Reaktion auf Licht vorhanden. Konvergenzreaktion
and Aagenbewegungen nicht genaa za prufen. Fazialis symmetrisch. Zunge
wird nicht gezeigt. Racheninspektion nicht zagelassen. Reflexe der oberen
Extremitaten wegen heftigen Spannens nicht auszulosen. Abdominal- and
Patellarreflexe vorhanden. Fusssohlenreflex vorhanden (Zehen plantarwarts).
Sensibilitat nicht za prufen. Leichtes vasomotorisches Nachroten. Patientin
ist von mittlerer Grosse, von etwas grazilem Korperbau. Maskulatar and Fett-
polster etwas schwach entwickelt. Mammae nooh geschwellt; auf Druok ent-
leert sich beiderseits milchige Fldssigkeit. Lungen, soweit bei dem heftigen
Strauben festzustellen ist, ohne path. Befand. Herztone leise. Pals etwa 120,
etwas klein, regelmassig. Abdomen nicht genauer zu untersucben. Urin: Re¬
aktion schwer. Eiweiss: Leichte Triibung, keine Zylinder. Kein Zucker.
Pat. hat wahrend der Untersuchung nur einmal geaussert: ^Lassen Sie mich
doch los a . Als Ref. weggeht, ruft sie ihm angstlich nach: ^Lassen Sie mich
doch heraus 44 .
10. 11. War gestern im 3 stundigen Dauerbad ruhig, wenig gegessen;
hat gar nicht geschlafen; fast die ganze Nacht aufrecht im Bett gesessen, da-
bei vollkommen ruhig. Heute morgen sitzt Pat. in hookender Stellung im
Bett, zupft mit den Handen an der Bettdecke herum oder greift nach der Bett-
lehne. Blickt mit zaweilen etwas angstlichem Gesicbtsdruck im Zimmer
herum; es macht den Eindruck, als ob sie etwas sagen wollte, aber nur selten
kommt es zu spontanen Aeusserungen, wie z. B.: „Was habt Ihr mir getan? u
Pat. gibt auf Aufforderung nicht die Hand; setzt passiven Bewegungen hef¬
tigen Widerstand entgegen. Auf Befragen gibt Pat. keine Antwort.
14. 11. Verlasst heute mehrmals das Bett and drangt aas der Tur; lasst
sich leicht wieder zuruckfiihren. Seit gestern Menses.
16. 11. Heute nmorgen nicht mehr so widerstrebend; gibt bei der Visite
die Hand. Half beim Bettmachen. Nimmt etwas besser Nahrung. ^och keine
sprachlichen Aeusserungen.
17. 11. Pat. isst seit gestern bei alien Mahlzeiten von selbst ausreichend.
Scheint auf die Umgebung etwas mehr zu achten.
(Krank?) „Nein 44 .
Spontan: Ich will aufstehen.
(Wie lange hier?) ^Das weiss ich nicht 44 .
Menses voriiber. Die am 16. 11. wegen einer im Verein mit der Blutung
eingetretenen abendlichenTemperatursteigerung vorgenommene gynakologische
Untersuchung ergab ganz normalen Genitalbefund.
17. 11. Versinkt nach kurzer Zeit wieder und antwortet nicht weiter.
Wird im L&ufe der Exploration wieder teilnahmloser; sagt spontan: „Lassen
Sie mich doch weggehen 44 .
19. 11. Pat. gibt heute, wenn auch zogernd, so doch auf die meisten
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Fragen Antwort. Weiss nicht, wie lange sie hier ist; weiss aber, wer sie
hergebracht hat. Fragt angstlich, wo ihr Mann ist; als ihr gesagt wird: zu¬
hause, fragt sie: „Wo zuhause? w
Als Pat. gesagt wird, sie sei in der Nervenklinik: „Das glanben Sie
wohl selbst nicht, ich kenne solche Anstalt nioht M .
(Krank?) ,,Nein, ich war nicht krank; ich fuhle mioh ganz gut; ich
mochte gem nach Hause u .
(Nicht Brief nach Hause schreiben?) „Ja, wo soil ich hinschreiben? 44
(Wie alt ist Ihr Kind8) „Am 12. 10. geboren 44 (richtig).
(Monat?) „November u .
(Datum?) „Weiss ich nicht 44 .
Macht im ganzen noch einen miiden Eindruok, bringt die Antworten
miihsam hervor, *gibt auf Aufforderung die Hand. Bei passiven Bewegungen
noch etwas widerstrebend.
20.11. Gibt heute auf die meisten Fragen, wenn auch immer noch etwas
zogemd, Auskunft, ist aber im ganzen etwas abweisend. Yerlangt energisch,
aufstehen zu diirfen. Weiss, dass sie den Arzt am Abend ihrer Aufnahme ge-
sehen hat, weiss aber nicht, wo sie sich befindet. Sagt wahrend der Unter-
haltung ofter znm Arzt: „Das haben Sie gestem ja auch schon zu mir gesagt 14
und ahnliches.
Spontan: „Warum haben Sie mir meinen Ring abgezogen? 14
Auf Vorhalt, dass sich Pat. in Kiel befindet: „Dass wir hier in Kiel
sind und wo wir sind, ist mir noch etwas unklar 44 .
21. 11. Zur Villa verlegt.
22. 11. Heute Besuoh des Mannes. Sie erkundigt sich mit Interesse naoh
ihren Angehorigen, fragt nach ihrem Kinde. Erkundigt sich zweifelnd bei
ihrem Manne, ob das hier auch Aerzte seien und ob sie sich wirklioh in einer
Klinik befinde; es sei ihr so vorgekommen, als ob sie in eine Mordergrube ge-
raten sei.
22. 11. Unterhalt sich in durchaus geordneter Weise mit dem Arzt, ist
in keiner Weise abweisend oder widerstrebend. Sagt auf Befragen, sie sei jetzt
vollkommen uberzeugt, dass sie sich in einer Kieler Klinik befinde, und dass
sie es mit richtigen Aerzten zu tun habe. Anfangs sei ihr hier alles so merk-
wurdig vorgekommen; sie habe gar nicht gewusst, wo wie war; habe ge-
glaubt, alle sollten umgebracht werden; zuhause habe sie geglaubt, Dr. Han-
sing wolle sie und ihre Familie umbringen; dariiber sei sie angstlich und
aufgeregt geworden. Stimmen habe sie zuhause nicht gehort; hier habe
sie ihre Angehorigen rufen horen. Pat. nimmt gut Nahrung und schlaft ohne
Mittel.
26. 11. Aromat. Eisentinktur 3mal tgl. 1 Essloflfel. Geht sehr gut. Halt
sich vollkommen geordnet. Mochte gerne aufstehen. Aus den Mammae entleert
sich keine Milch mehr.
30. 11. Pat. steht jetzt nachmittags einige Stunden auf, ist vollkommen
geordnet, hat nur in ihrem ganzen Wesen etwas Albernes an sich. Ermiidet
noch ziemlich schnell.
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6. 12. Steht jetzt den ganzen Tag auf, beschaftigt sich mit Lesen, Brief-
schreiben und Handarbeiten, ist sebr guter Dinge, mochte gerne bald nach
Hause. Sieht ein, dass sie krank war; glaubt, es sei durch Ueberanstrengung
gekommen; spricht dardber ganz ruhig und geordnet.
11. 12. Geht sehr gut. Ist gleichmassiger Stimmung. Geht mit den
anderen Damen spazieren usw.
16. 12. Pat. ist in letzter Zeit dauernd vollkommen geordnet, beschaftigt
sich mit Handarbeiten, hat voile Krankheitseinsicht. Wird vom Manne nach
Hause abgeholt.
2. Aufnahme: 12. 11. 1905. Entlassung: 8. 3. 1906.
Anamnese: Abgegeben vom Manne am 12. 11. 1905: Nach der Ent¬
lassung noch ziemlich erregt. Bekam ab und zu traurige Stimmungen.
Hatte viel mit dem Weihnachtsfest zu tun. Spater immer guter lustiger
Stimmung. Februar-Marz 1904 allein nach Hamburg gereist. Bekam einen
ihrer Anfalle. Lag 2 Stunden besinnungslos. Hatte Streit mit dem Bruder.
Wird erregt, legt sich hin mit geschlossenen Augen, ruft nach Mann und Kind.
Am nachsten Tag wieder gut, machte eine Kaffeegesellschaft mit. Mai 1904:
Influenza. Hatte wahrend derselben apathischen Zustand. Vollig teilnahmlos.
Alles zitterte an ihr. Schlief schleoht. Ging nach 4 Tagen wieder vordber.
Dann wieder ganz gesund. Vor Wochen Partus II. Gesunder Junge,
normals Geburt, leicht, keine starke Blutung, Wochenbett normal. Stillte das
Kind selbst bis heute, hatte anfangs viel Milch, dann wenig. 4. 11. Besuch
von der Mutter. Schlief schlecht. 6. 11. Abreise der Mutter. Pat. nachts
sehr unruhig, „wdhlte a . Phantasiert nicht. Hat traurige Stimmungen. Sagt,
sei schlechte Frau, mache den Ihren Kummer, tue nichts. Isst noch ganz gut.
Stuhlgang schlecht. Keine Suizidgedanken. Untcrwegs unruhig. Versuch,
aus dem Zug herauszuspringen. Ref. meint, es seien dieselben Sym¬
ptoms wie vor 2Jahren, nur milder. Heute weinen und ausnehmend traurig.
Behauptet, sie sei ganz gesund.
12. 11. Wird gegen 8 Uhr abends von ihrem Mann per Droschke ge-
bracht. Geht ruhig auf die Abteilung. Zu Bett gebracht, verlangt sie fort-
wahrend nach Hause, beruhigt sich jedoch bald. Schlaft auf Schlafmittel ziem¬
lich gut.
12. 11. Graziler Knochenbau. Schwachliche Muskulatur. Leidlich guter
Emahrungszustand. Grosser 1,51 m. Gewicht: kg. Temperatur: 37,8.
Macht alle Augenblicke Anstalten, das Aerztezimmer zu verlassen. Behauptet,
man habe sie nur zum Narren. Nach der Entlassung hier babe sie sich ganz
wohl gefdhl gefdhlt, sei auch ganz lustig gewesen. Auf Befragen, seit wann
sie so traurig sei, sagt sie nach langerem Zogern, sie sei ganz gesund, sie
mochte aufstehen, sie mochte nach Hause. Weint. Gibt zu, traurige Gedanken
gehabt zu haben. Oertlich und zeitlich gut orientiert. Gedruckter, weinerlicher
Stimmung. Hat in ihrem ganzen Wesen etwas Starres, sitzt wie traumhaft da.
Beantwortet die meisten an sie gerichteten Fragen entweder nicht oder nur ganz
kurz mit leiser Stimme. Verhalt sich der Untersuchung gegenuber ablebnend.
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Popillen unter mittelweit, gleich, rund. R. L. -}-• R. C. A. B. frei
Zunge wird nicht herausgestreckt. Reflexe der oberen Extremitaten lebhaft.
Patellarreflexe lebhaft. Zehen plantar. Gang sicher. Sprache, soweit zu
prufen, ohne Storung. Puls 80, regelmassig von mittlerer Spannung und
Fullung. Herztone leise, rein. Eingehende Untersuchung unmoglich, da
von Patient abgelehnt. Urin: — Ei weiss, — Zucker. Zunge gerade, gering
belegt. (Wie geht’s im Kopf?) „Gut u . (Wie ist es seit damals gegangen?)
„Ganz gut u . Antwortet nur sehr langsam, manchmal gar nicht. Isst mittags
fast gar nichts. Verlangt nachmittags ein Buoh zu lesen.
13. —14. 11. In der Nacht auf Schlafmittel ruhig geschlafen.
14. 11. Noch immer leicht gedriickter Stimmung. Liegt ruhig zu Bett.
Hat noch immer in ihrem Aeusseren etwas Traumhaftes. Isst etwas besser.
Tagliche Bader.
14. —15. 11. In der Nacht auf Schlafmittel gut geschlafen.
15. 11. Erscheint heute etwas freier. Fragt, ob sie nicht nach Villa ober
verlegt werden konne. Noch immer blutigen Ausfluss. Nach Villa II, zwisohen
5 und 6 Uhr abends. Freut sioh, wieder in Villa II zu sein. Liegt ruhig zu Bett.
16. 11. Geht morgens nach dem Klosett. Springt durch das Klosett-
fenster auf den Hof. Schlagt mit dem Gesass auf den Rasen auf. Als der
Arzt kommt, liegt Pat. blass im Bett, fast pulslos, nicht bewusstlos. Auf
Kampfereinspritzung (0,2) und Darreichung von Wein Puls etwas besser. Auf
dem Dorsum manus links Schwellung und blaurote Verfarbung (Blutergass).
Am Gesass oberflachliche Hautabschiirfung. Frisches Blut. Auch in derWasche
frisches Blut. Pat. klagt fiber heftige Schmerzen in der Lendenwirbelsaule.
Irgendwelche Verletzung an Sohadel, an don langen Rohrenknochen, an den
Rippen picht nachzuweisen. Die Untersuchung (Dr. Nosske) ergibt eine
Fraktur des Processus spinosus des III. Lendenwirbels. Deutliche Krepitation
an der Stelle nachweisbar, leichte Prominenz. Das reohte Bein wird aktiv
etwas bewegt, ebenso der Fuss und die Zehen. Bewegungen im linken Bein
nur minimal moglich, ebenso im Fuss. Besser die Bewegung der Zehen. Bei-
derseits kein Patellarreflex zu erzielen. Zehen schwach plantar. Koine Sensi-
bilitatsstorung. Nach Baracke 1. Ganz flach gelegt. Klagt andauernd uber
Schmerzen im Rucken, bittet um Schlafmittel. Erhalt mittags 6 Par. Schlaft
darauf nur wenig. Puls abends regelmassig, kraftig, frequent. Bis abends
noch kein Wasser gelassen, kein Stuhlgang. Aeussert am Abend auf Be-
fragen, sie habemicht mehr leben wollen, weil sie nicht mehr wert
§ei zu leben. Sei nicht gut zu ihrem Mann gewesen. Abends Mor-
phium 0,005. Spater noolimals Schlafmittel: 6 Pa. Lasst in der Nacht den
Arzt rufen, weil sie vor Schmerzen nicht schlafen konne. Erhalt nochmals
0,3 Veronal.
17. 11. Kein Urin. Kein Stuhlgang. Klagt immer noch uber Schmerzen
in der Wirbelsaule, die allerdings geringer sein sollen als gestern. Das rechte
Bein wird wenig bewegt, das linke Bein fast gar nicht. Linker Fuss und Zehen
gut beweglich. Sensibilitat ohne Stbrung. Kein Babinski. Fragt den Arzt,
ob ein Bein abgenommen werden musse. Dann wieder, sie werde wohl nicht
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besser werden, sie werde wohl ein Eriippel. Betont, sie mochte wieder gesund
werden. Morphium 0,0075. Urin per Katheter entfernt. Menge: 1000. Spez.
Gewicht: 1032. Auf Kocbprobe starker Eiweissniederschlag. 3 proUille nach
Esbach. Kein Blut. Indoxyl-}-- Auf Glyzerinklystier Stuhlgang abends ins
Bett. Nacb Untersuchung von Dr. Nosske keine Krepitation mehr nachweis-
bar. Konsolidierung hat begonnen.
17. —18. 11. Auf 8 Pa. mit Unterbrechung geschlafen.
18. 11. Keine Schmerzen in der Wirbelsaule mehr. Klagt tiber kolik-
artige Magenschmerzen. Sei gestern vom Weintrinken benebelt gewesen.
Wiinscht dunkles Bier. Psychisch freier. Fragt, ob ihr Mann geschrieben habe.
Schreibt an ihren Mann einige Zeilen. Kummert sich um dieVorgange in ihrer
Umgebung. Beinmasse: 10 cm oberhalb des oberen Patellarrandes rechts
39 cm, links 39 cm. 10 cm. untorhalb des unteren Patellarrandes rechts
28,5 cm, links 28,3 cm. Motilitat, Sensibilitat und Reflexe der Beine unver-
andert. Parasthesien: Kribbeln, taubes Gefiihl in den Beinen. Urin per
Katheter entleert. 350 Menge. 1030 spez. Gewicht. Sauer. 0. i. 0 Sangues.
Albumen: < */ 4 pM. Kein Zylinder. Pulsjnoch immer frequent. Stuhl an-
gehalten.
18. —19. 11. In dor Nacht trotz 0,75 Veronal schlecht geschlafen.
19. 11. Klagt fiber Schmerzen in den Kniekehlen. Watteunterlagen fur
Knie. Elektrischer Thermophor auf Blase. Gegen Mittag Urin spontan ins
Bett. Beine konnen beiderseits von der Unterlage nicht erhoben werden. Fusse
und Zehen werden beiderseits etwas bewegt. Keine Sensibilitatsstorung. Lage-
wahrnehmung intakt. Pateilarreflex beiderseits 0. Kein Babinski.
22. 11. Psychisch freier. Keine Schmerzen. Deutlich fiihibarer Gibbus
an der Frakturstelle. DurchWattepolster Gijbbus etwas hohl gelagert. Leichter
seroser Erguss im linken Kniegelenk. (Patella tanzt.) Beide Beine konnen
von der Unterlage nicht erhoben werden, auch nicht im Knie gebeugt werden.
Bei extremen intendierten Bowegungen erfolgen leichte Bewegungen durch
Beckenversohiebung. Patellarreflexe 0. Abdominalreflexe 0. Kein Babinski.
Keine Sensibilitatsstorung. Geringe Bewegungen in beiden Fiissen und Zehen
beiderseits moglich. Keine Parasthesien. Urinlassen spontan. Im Urin nur
noch Spuren Albumen. Keine Zylinder.
24. 11. Schlaf trotz Schlafmittel vielfach unterbrochen. Geringer seroser
Erguss auch im rechten Kniegelenk. Befund sonst unverandert. Beschaftigt
sich mit Lesen.
29. 11. Psychisch freier, gate Stimmung. Fiisse konnen beiderseits aktiv
besser bewegt werden, rechts mehr als links. Auch eine leichte Bewegung im
rechten Knie sichtbar. Auf Aufforderung, die Beine anzuziehen, deutlich sicht-
bare Kontraktion der Adduktoren des Oberschenkels. Keine Patellarreflexe.
Kein Babinski. Die Riickenlage im Bett durch Hohllagerung des Gibbus durch
Wattepolsterung zunachst noch beibehalten. Urin zeigt nur noch geringe Opa-
leszenz. Schlaf auf Schlafmittel etwas besser.
1. 12. Mitunter leicht gedriicktor Stimmung, macht sich Gedanken, dass
ihr Leiden noch lange dauere und sie Weihnachten noch hier verleben musse.
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2. 12. Beinmasse: 10 cm oberhalb des oberen Patellarandes rechts
39,5 cm, links 38,5 cm. 10 cm unterhalb des unteren Patellarrandes rechts
30,0 cm, links 30,2.
10. 12. Psychisch andauernd frei. Guter Stimmung. Appetit gut, mit-
unter bekomme sie naoh dem Essen Magenschmerzen. Urinfunktion in Ord-
nung, Urin eiweissfrei. Stuhlgang trage, durch Califig und Glyzerinklystiere
geregelt. Haut der Beine etwas trocken. Beiderseits noch leichter seroser Er-
gnss im Kniegelenk. Die Beine erscheinen in toto leicht odematos; Oedem
nicht direkt nacbweisbar. Die Motilitat insofern etwas besser als das rechte
Knie minimal gebeugt warden kann, so dass man mit der Hand zwischen Un-
terlage and Kniekehle hindurch kann. Das rechte Bein kann in toto ange-
spannt and soweit gehoben werden, dass gerade ein Finger zwischen Unterlage
and Ferse hindarch kann. Das linke Bein kann von der Unterlage nicht auf-
gehoben werden; man sieht links deutliche Kontraktion der Adduktoren des
Oberschenkels. Beide Fusse and samtliche Zehen werden gat bewegt, rechts
noch besser als links. Patellarreflex beiderseits auch bei Jendrassik 0. Sen-
sibilitat ohne Storung. Kein Babinski.
17. 12. Psychisch freier. Pat. ist imstande, das rechte Bein ungefahr
10 cm von der Unterlage emporzuheben, das linke etwas weniger. Patellar-
reflex fehlt.
19. 12. Leichtes Oedem am rechten Unterschenkel. Heute Bewegungs-
fahigkeit in den Beinen etwas schlechter als die Tage vorher.
21. 12. Bewegungsfahigkeit wieder besser.
27. 12. Rechtes Bein kann gestreckt etwa 15 cm von der Unterlage ge¬
hoben werden, es kann im Knie gebeugt werden and beim Beklopfen der
Patellarsehne ist eine Kontraktion des Quadrizeps zu fiihlen. Das linke Bein
kann aktiv von der Unterlage nicht erhoben werden, nur ein leichtes Anziehen
and geringe Beugung im Knie ist moglich. Bewegung im Fassgelenk rechts
ganz frei, links nur noch wenig beschrankt. Passiv kann das linke Bein im
Knie bewegt werden, ohne dass besondere Schmerzen geaussert werden.
30. 12. Patellarreflexe noch nicht auszulosen.
31. 12. Beinmasse: 10 cm oberhalb des oberen Patellarrandes rechts
37,7 om, links 36,7 cm; 10 cm unterhalb des unteren Patellarrajides rechts
29,3 cm, links 29,7 cm. Rechtes Bein bis 25 cm von der Unterlage erhoben.
2. 1. 1906. Patellarreflex rechts angedeutet.
8. 1. Von heute ab regelmassig Bad, Faradisieren. Faradische und
galvanische Untersuchung der Uuskeln and Nerven beider Beine ergibt normale
Zuckungsformel, aber quantitative Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit.
17. 1. In den letzten Tagen war Baden und Faradisieren wegen der
Menses abgesetzt. Als der Arzt vorsichtig naoh der Ursache ihres Suizid-
versuohes hier fragen will, weint sie and sagt, sie wolle nicht dartiber sprechen.
Gesprachsweise aussert sie der Schwester Gerda gegeniiber folgendes: sie habe
sich hier unten in der Baracke I schon sphr wohl gefiihlt and keinerlei Selbst-
mordgedanken gehabt. Als sie nach Villa 11 verlegt wurde, habe sie sich zu-
nachst gleich geangstigt vor einer Mitpatientin (Frau Dr. W.). Da sei ihr mit
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E. Siemerling,
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einem Ual der Gedanke gekommen, sich mit einem Messer das Leben zu nehmen.
Sie hatte es aber nicht ausfuhren konnen, weil zu viel Mensehen im Zimmer
waren. In der Nacht vom 15./16. ohne triibe Gedanken gesohlafen. Am
16. morgens sei ihr auch gut gewesen, ging urn 9 Ubr aufs Klosett ohne
Selbstmordgedanken. Hier offnete sie das Fenster, urn hinauszusehen. Da kam
ihr plotzlich der Gedanke, sie miisse sterben, es konne sie doch kein Mensch
leiden, stieg aufs Klosett, dann aufs Fenster und sturzte sich hinaus. Von da
an wisse sie nichts mehr, bis sie sich in ihrem Bett wiederfand.
22. 1. Allmahliche Zunahme der Bewegungsfahigkeit auch des linken
Beins. Patellarreflex nur rechts auszulosen. Schmerzen im oberen Drittel des
Ischiadikus beiderseits bei passiven Bewegungen. Seit gestern von Dr. Nosske
Hoherlegen des Kopfes angeordnet. Hat gestern eine kurze Zeit aufrecht im
Bett gesessen, mit Heraushangen der Beine. Wirbelsaule dicht unterhalb des
Gibbus druckempfindlich. 1st sehr lustig, soherzt viel mit den Oberinnen und
ihrer Mitpatientin.
27. 1. Richtet sich heote allein auf und sitzt seitlich im Bett mit heraus-
hangenden Beinen. Stutzkorsett angemessen (Dr. Nosske). Geht im Zimmer
einige Schritte auf und ab, an beiden Seiten unterstiitzt. 1st sehr erfreut
dariiber.
30. 1. Patellarreflex schwer auszulosen.
1. 2. Taglich kurze Gohversuche mit Unterstiitzung an beiden Seiten.
6. 2. Beinmasse: 10 cm oberhalb des oberen Patellarrandes rechts 40 cm,
links 39,5 cm; 10 cm unterhalb des unteren Patellarrandes rechts 29,3 cm,
links 29,8 cm.
9. 2. In den letzten Tagen Patellarreflex links nicht auszulosen, auch
bei Jendrassik nicht. Macht Gehiibungen am Gehapparat. Geht auch einige
Schritte allein. Linker Fuss stark nach auswarts gesetzt. Linkes Bein wird
geschont. Bei extremen Bougungen (passiven) des gestreckten Beines beider¬
seits Sohmerzen im Verlauf des obersten Drittels des Ischiadikus. Psychisch
sehr heiter, ausgelassen, lacht viel, macht Witze und Spasse. Appetit gut.
Schlaf ohne Schlafmittel gut.
10. 2. Nach Villa II.
16. 2. Muss wegen Menses zu Bett bleiben, weint deshalb. Nachher bei
Besuch vergniigt, feiert Geburtstag, lacht viel. Am recbten Oberschenkel starke
Herabsetzung des Schmerzgefuhls. Tastgefuhl stellenweise fast aufgehoben.
Parese links starker. Links an den Lendenwirbeln fuhlt man einen st&rken
Kallus, der druckempfindlich sein soil. Galvanisch findet sich an den Unter-
extremitaten uberall gate Zuckung. Quadrizeps links 5, rechts 4 MA., Nervus
peroneus links 1, rechts 1 MA., Muse, peroneus links 2, rechts 2 MA., Muse,
tibialis anticus links 3, rechts 2 MA., Nervus tibialis links 2, rechts 3 MA.,
Gastroknemius links 2, rechts 2 MA. Pat. kann am Gehapparat ganz gut gehen,
schont noch das linke Bein.
23. 2. Auffallend heiter, lacht sehr viel. Sagt, sie konne nachts nicht
schlafen, bittet urn Schlafpulver. Macht alberne Gedichte.
2. 3. Nachte wechselnd. Stimmung sehr heiter. Gang zunehmend besser.
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6. 3. Patellarreflex reohts deutlich, links nicht sicher. Beide Beine aktiv
bis znm rechten Winkel erhoben. Beim Gehen im Korsett kein Fuss geschleppt.
Vorderflache des rechten Oberschenkels analgisch und stark hypasthetisch.
Kein Babinski. Wirbelsaule im Lendenteil noch leicht druckempfindlioh.
Pat. ist heiter und hat keine Klagen, ausser dass das Korsett sie behindert.
Will nachts immer noch Sohlafpulver am Bett hingestellt haben. Drangt auf
Entlassung. Voile Krankheitseinsioht.
8. 3. Vom Mann abgeholt, „geheilt u entlassen. Sagt beim Fortgehen,
•sie habe Ausfluss, ob das nicht behandelt werden musse? Vorher nie geklagt.
Am 5. 12. 1907 erhob der Redakteur C. S. Klage gegen den Fiskus
auf Zahlung von 6110,79 M. nebst 4 pCt. Zinsen seit Klagezustellung.
Es wurde am 30. 3. 1908 beschlossen, Beweis zu erheben dariiber, ob
der Gesundheitszustand der Ehefrau des Klagers, Frau Agathe S. in I., die am
12. 11. 1905 wegen einer infolge einer Entbindung eingetretenen tvaurigen Ver-
stimmung in die Nervenklinik der Kieler Universitat aufgenommen wurde, am
14. 11. 1905 ein derartiger war, dass man es nicht fur gefahriioh erachten
konnte, sie aus der Ueberwachungsstation in das offene Haus zu uberfiihren,
oder damals noch, namentlioh mit Riicksicht darauf, dass Frau S. am 12. 11.
auf der Fahrt naoh Kiel einen Versuch gemacht hatte, aus dem Eisenbahnzuge
zu springen, die Gefahr nahe lag, dass sie Selbstmord veruben konne.
Es fanden die Vernehmungen der Aerzte statt.
Dr. Flatau gab bei seiner Vernehmung am 14. 5. 1908 folgendes an:
Soweit ich mich noch erinnern kann, war der Zustand der Frau S. am
14. 11. 1905 ein derartiger, dass man es wagen konnte, sie aus der Deber-
wachungsstation in das offene Haus zu uberfiihren. Der Zustand muss ein der¬
artiger gewesen sein, weil sonst diese Verlegung von Herrn Geh.-Rat Siemer-
ling nicht angeordnet worden ware. Der Ehemann, also Klager, hatte, wie ich
mich erinnere, auf die Verlegung nach dem olTenen Hause mit der eleganteren
Einrichtung, angenehmerenUmgebung und freieren Behandlung gedrangt. Doch
ware dieser Punkt fur die Verlegung allein nie bestimmend oder gar ausschlag-
gebend gewesen; geschweige denn, wenn man einen Selbstmordversuch der
Kranken noch geargwohnt hatte. Als Beweis dafiir, wie sorgfaltig man an der
Kieler Klinik bei der Verlegung von Patienten aus der Wachabteilung nach dem
offenen Hause verfuhr, fiihre ich an, dass derartige Verlegungen nur von dem
Direktor oder Oberarzt der Klinik angeordnet wurden. Der Stationsarzt der in
der 2. Etage gelegenen offenen Abteilung fur Kranke 1. und 2. Klasse war der
Oberarzt, also der erfahrenste der Assistenten, der seinerseits jederzeit, wenn
notwendig, Kranke wieder nach der Wachabteilung zuriickverlegte. Der Ver-
such der Frau, aus dem Eisenbahnzuge zu springen, braucht nicht unbedingt
in selbstmorderischer Absicht untornommen worden zu sein, ob er nicht viel-
mehr aus der Angst und dem Widerwillen heraus, wieder nach der Klinik ver-
bracht zu werden, entstanden sein mag, vermag ich heute nicht mehranzugeben,
da mir die Einzelheiten der Vorgeschichte der letzten Erkrankung aus dem Ge-
dachtnis entschwunden sind.
Ich will nicht unterlassen zu erwahnen, dass ich am 22. 8. 1906, an
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welchem Tage ich in I. vor der Strafkammer des Amtsgerichts als Sack-
verstandiger in einem Brandstiftungsprozess zu tnn hatte, den Klager und
dessen Gattin in ihrem Hans besuchte. Ich fand Frau S. ganz wohl aussehend,
in allerbester vergndgtester Stimmung, ioh sah sie per Rad nach Hause kommen
Tom Schwimmen oder Baden. Beide Ehegatten sprachen sich ganz befriedigt
fiber den damaligen Gesundheitszustand der Frau S. aus.
Bei der Vernehmung am 27. 6. 1908 gab Geh.-Rat Siemerling an:
Die Ehefrau des Klagers war bereits im Jahre 1903 in der Nervetaklinik unter-
gebracht, aus Anlass einer angstltchen Verstimmung, die sich auch d&mals an
das Wochenbett angeschlossen hatte. Sie erholte sich aber damals sehr schnell,
so dass sie schon nach kurzer Zeit als gebeilt entlassen werden konnte. Am
7. 11. 1905 war dann der Klager personlich bei mir behufs Besprechung wegen
der abermaligen Aufnahme seiner Ehefrau in die Anstalt. Er teilte mir ent-
weder damals oder am 12. 11., als er mir seine Frau selber brachte, mit, dass
seine Frau in der Zwischenzcit geistig durchaus normal gewesen sei, abgesehen
davon, dass ab und zu traurige Verstimmungen eingetreten seien. Die jetzige
Gemutskrankheit habe sich wiederum an das Wochenbett angeschlossen, sei
aber weniger schlimm („milder“) als das vorige Ual. Er erwahnte, als er seine
Frau herbrachte, auoh noch, dass dieselbe auch keine Selbstmordideen an den
Tag gelegt habe, abgesehen davon, dass sie wahrend der Herlahrt aus dem
Eisenbahnzuge habe herausspringen wollen. Ich meine auch, kann mich dessen
aber nicht bestimmt entsinnen, dass er damals denWunsch geaussert hat, seine
Frau mochte sobald als moglioh aus derUeberwachungsstation in die sogenannte
Villa gebracht werden. Die Ueberwachungsstation besteht aus 2 Salen, einer
Anzahl anschliessender Zimmer und Nebenraumen. Sie liegt zu ebener Erde
und die Fenster sind so eingerichtet, dass ein Entweichen aus denselben nur
mit erheblicher Kraftanstrengung moglich ist. Die sogenannte Villa (das offene
Haus) ist ein hiervon getrennt liegendes Gebaude, in welchem die Kranken-
zimmer far die Kranken 1. und 2. Klasse samtlich eine Treppe hocli liegen.
Hier befinden sich gewohnliche Fenster ohne besondere Schutzvorrichtungen.*
Die Frau S. wurde zunaohst in der Ueberwachungsstation untergebracht und,
wie ich annehme, anfanglich in einem der erwahnten Sale. Dann aber kam sie
in eines der zu der Ueberwachungsstation gehorenden einzelnen Zimmer. Ihr
Befinden besserte sich wiederum sehr schnell. Sie wurde sehr bald ruhig und
zeigte insbesondere keine Anzeichen, die auf Selbstmordideen hindeuteten. Zu-
gleich drangte sie sehr darauf, aus der Ueberwachungsstation in die sogenannte
Villa fiberffihrt zu werden, weil die Raume dort angenehmer sind als in der
Ueberwachungsstation, auch die ganzeUmgebung dort ruhiger ist. Insbesondere
ist auch in den Einzelzimmern der Ueberwachungsstation vielfach Gescbrei von
anderen Patienten zu horen, was in der sogenannten Villa wegfallt.
Am 15. 11. (nicht 14.) ausserte die Frau S., die sich damals jedenfalls
bereits in einem Einzelzimmer befand, bei der Visite personlich zu mir den
Wunsch, in die obere Villa verlegt zu werden. Mit Rucksicht auf die erwahnte
Besserung ihres Zustandes hegte ich kein Bedenken, diesem Wunsche statt-
zugeben und es erfolgte darauf auf meine Anordnung am spateren Nachmitt&g
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Beitrag zur Ver&ntwortlichkeit des Irrenarztes.
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■dieses Tages die Ueberfuhrung der Frau in die Villa. Sie war insbesondere an
•diesem Morgen durcbaus ruhig gewesen. Sie ausserte nach den rorhandenen
Aufzeicbnungen auoh noch ibre Freude dariiber, wieder in der Villa zu sein.
Moglich ist, dass der Klager bei der erwahnten Gelegenheit lediglich den
Wunsch ausgesproohen batte, dass seine Frau moglichst bald aus dem all-
gemeinen Saal in ein besonderes Zimmer, nioht speziell in die sogenannte Villa,
gebracht werden moge. Es ist mir auch nicht bestimmt erinnerlich, ob er, als
er seine Frau brachte, mit mir personlioh oder mit Dr. F. gesprocben hat. Er
ist alsbald wieder abgereist und wird keine Kenntnis davon erlangt haben, wie
seine Frau demnachst, vor ibrer Ueberfuhrung in die Villa, in ein Einzelzimmer
der Ueberwachungsstation gebraoht war. Die Angehorigen der Kranken aussern
in der Regel den Wunsch, dass die Kranken baldtunliohst aus dem allgemeinen
Saale in ein besonderes Zimmer, und, wenn sie die Verhaltnisse naher kennen,
auch, dass sie baldmoglichst in die sogenannte Villa gebracht werden.
Zur Zeit der Anordnung der Ueberfuhrung der Frau S. in die Villa hielt
ich die Gefahr eines Selbstmordrersucbes fur ausgeschlosson.
Unter dem 10.Mai 1908 erstattet Geh.Rat Flechsig-Leipzig folgendes
Gutachten.
In Sachen des Redakteurs S.
gegen den KOniglich Preussischen Fiskus Universitat Kiel erstatte
ich auf Grundlage des Aktenmaterials ein Gutachten, indem ich mich
dariiber ftussere, „ob der Gesundheitszustand der Ehefrau des Kl&gers,
die am 12. November 1905 wegen einer infolge einer Entbindung ein-
getretenen traurigen Verstimmung in die Nervenklinik der Kieler Uni-
wersitfit aufgenommen wurde, am 14. November 1905 ein derartiger war,
dass man es nicht fur gefahrlich erachten konnte, sie aus der Ueber¬
wachungsstation in das offene Haus zu uberfuhren, oder ob damals noch
namentlich mit Rucksicht darauf, dass Frau S. am 12. November auf
der Fahrt nach Kiel einen Versuch gemacht, aus dem Eisenbahnzuge
zu springen, die Gefahr nahe lag, dass sie einen Selbstmord veruben
k5nne w (A.-Bl. 25).
In der Klage wird geitend gemacht, dass die Ehefrau des Klagers
im Jahre 1903 nach einer Entbindung von einer melancholischen Ver¬
stimmung befallen wurde und einige Zeit als vorubergehend geisteskrank
in der Kdniglichen psychiatrischen und Nervenklinik zu Kiel behandelt
-wurde. Am 11. Novembar 1905 wurde sie neuerlich vom Klager der
Klinik mit der Dr. F. gegenuber gemachten Angabe zugefuhrt, dass die
Kranke auf der Fahrt nach Kiel wiederholt versucht habe, sich aus
dem Eisenbahnzuge zu sturzen. Am nAchsten Tage habe der Klager
fiber diesen Punkt noch mit Prof. Siemerling gesprochen, der ihm
xnitteilte, dass bei der Patientin ein Anfall von Schwermut vorliege, der
Arehir f. Psychiatrie. Bd. 60. Heft 2/3. 57
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E. Siemerling,
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anscheinend nar leicbt sei and in 2—3 Wochen geboben sein werde. Am
dritten Tag nach der Aufnahme sturzte sich Frau S. aus dem Fenster
eines Klosetts und zog sich dadurcb einen Bruch der Wirbels&ule zu. Fur
die Folgeu dieser Tat machte der KlUger deh Kflniglich Preussischen Fiskus
verantwortlicb, da er in der Cnterbringung seiner Frau in einem offenen
Hause ein Yerschulden der Beamten der Klinik erblickte (A.-Bl. 1—16).
Seitens des Beklagten wird erklart, dass ein Yerschulden desbalb
nicht anzunehmen sei, weil Frau S. in die modernen Anforderungen
entsprechend eingerichtete offene Abteilung erst dann uberfuhrt wurde r
nachdem sie sich beruhigt hatte und nach gewissenhafter sachverstan-
diger Ueberzeugung der Aerzte kein Bedenken gegen die vom Klager
selbst gewunschte Verlegung vorlag (A.-Bl. 11—13).
Aus dem Berichte des Direktors der Klinik ist zu entnehmen,.
dass Frau S. zum ersten Mai wegen angstlicher Erregung mit Sinnes-
tauscbungen in Bebandlung der Klinik stand, sich schon 12 Tage nach
der Aufnahme soweit beruhigt hatte, dass sie in die offene Abteilung
verlegt werden konnte und am 16. Dezember 1903 als geheilt entlassen
werden konnte. Nach ihrer Entlassung habe sie wiederholt an An fallen
trauriger Verstimmung gelitten, die jedoch immer rasch voruber gingen.
Bei der Aufnahme habe der Ehemann ausdrucklich erklart, die Syra-
ptome seien milder wie bei der ersten Erkrankung, die Patientin habe
zu Hause keine Selbstmordabsichten geaussert und nur unter-
wegs den Versuch gemacht, aus dem Zuge zu springen. In der Klinik
habe Frau S. sich rasch wieder beruhigt und am 14. November einen
so freien Eindruck gemacht, dass kein Bedenken gegen ibre Verlegung
nach dem offenen Hause vorlag. Am Abend desselben Tages erschien si&
ruhig und zufrieden und zeigte keine Spur angstlicher Verstimmung, auch
die Nacht verlief ruhig. Der Sprung aus dem Fenster sei in einem
momentanen Anfalle von Angst geschehen, wie er spater nicht mehr
auftrat (A.-Bl. 14—16).
Dr.Flatau gibt bei seinerVernebmung an, dass derZustand derFrauS.
am 14. November ein derartiger war, dass man es „wagen u konnte, sie
aus der Ueberwachungsstation ins offene Haus zu fuhren; zum Beweise
beruft er sich auf Prof. Siemerling, auf dessen Anordnung die Ver¬
legung geschah; auch weist er daraufhin, dass der Versuch von Frau S.,
auf der Fahrt aus dem Eisenbahnzuge zu springen, nicht in selbst-
mOrderischer Absicht geschehen sein musste, er kdnnte wohl auch aus
Angst und Widerwillen, nach der Klinik gebracht zu werden, unter-
nommen worden sein (A.-Bl. 31).
Prof. Siemerling erklart auch bei seiner Vemehmung als Zeuge
(Bl. 38 fg.), dass das Befinden von Frau S. sich bei ihrem zweiten Auf-
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enthalt in der Klinik sehr schnell besserte. Sie wurde sehr bald ruhig
und zeigte insbesondere durchaus keine Anzeichen, die anf Selbstmord-
ideen hindeuteten. Die Patientin babe sehr darauf gedr&ngt, aus der
Deberwaehungsstation in die Villa uberfuhrt zu werden, weil die R&ume
dort angenehmer sind, als in der Ueberw.achungsstation und die Um-
gebung dort rnhiger ist. Frau S. war am Tage der Ueberfuhrung durch¬
aus ruhig, so dass er keine Bedenken trug, sie in die Villa zu verlegen,
woruber sie Freude Susserte. Er babe zur Zeit der Anordnung der
Ueberfnhrung von Frau S. in die Villa die Gefahr eines Selbstmord-
versuches fur ausgeschlossen gehalten (A.-BI. 38—41).
Aus der w&hrend des zweiten Aufenthalts von Frau S. iu der Rieler
Klinik gefubrten Krankengescbichte ist zu entnehmen, dass sie Februar
bis M&rz 1904 allein nach Hamburg gereist war, wo sie einen ihrer
Anfalle bekam. Sie lag 2 Stunden besinnungslos, nachdem sie einen
Streit mit dem Bruder gehabt hatte; sie legte sich mit gescblossenen
Augen hin und rief nach dem Mann und Kind. Am n&chsten Tage
erschien sie wieder gut und machte eine Kaffeegesellschaft mit. Die
Geburt erfolgte 3 x /2 Wochen vor der zweiten Aufnahme; sie war normal
Patientin stilite selbst. Bei der Aufnahme am 12. November 1905 ging
sie ruhig auf die Abteilung; zu Bett gebracht verlangte sie fortw&hrend
nach Hause, beruhigte sich jedoch bald. Am 13. November machte die
Kranke w&brend der Untersucbung alle Augenblicke Anstalten, das
Zimmer zu verlassen, und behauptete, man halte sie bloss zum Narren.
Sie ausserte ganz gesund zu sein, wollte aufstehen und nach Hause
gehen, weinte dabei. Oertlich und zeitlich erschien sie gut orientiert,
war gedruckter Stimmung, hatte in ihrem Wesen etwas Starres, sass
traumbaft da. Auf Fragen antwortete sie entweder gar nichts Oder nur
ganz knrz, mit leiser Stimme, ablehnend. Am 14. November lag sie
ruhig im Bett, erschien noch immer gedruckter Stimmung, hatte in
ihrem Wesen noch etwas Traumhaftes. Am 14. November erschien sie
freier, am selben Tage wurde sie in die Villa verlegt, woruber sie sich
freute. Am 16. November sprang sie morgens aus dem Klosett auf
den Hof.
Bezuglich ihres Seelenzustandes unmittelbar vor dem Selbstmord-
versuch ausserte Frau S. nach der Krankengeschichte (Bl. 50 b) wohl
einem Arzt gegenuber: „sie habe nicht mehr leben wollen, weil sie
nicht mehr wert sei zu leben; sie sei nicht gut zu ihrem Mann gewesen“.
Spater ausserte sie angeblich (Bl. 54) zu einer Kralikenschwester, dass
sie sich schon auf der Baracke sehr wohl fublte und keinerlei Selbst-
mordgedanken hatte. Als sie auf die Villa verlegt wurde, habe sie
sich gleich vor einer Mitpatientin geangstigt; da sei ihr mit einem Male
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der Gedanke gekommen, sich mit einem Messer das Leben zu nehmen,
was sie aber in der Umgebung anderer nicbt ausfuhren konnte. In der
Nacht vom 15. auf den 16. habe sie oline trube Gedanken geschlafen,
auch am 16. morgens sei ihr gut gewesen, ebenso sei sie ohne Selbst-
mordgedanken ins Elosett gegangen, als sie aber dort das Fenster
flffnete, kam ihr pldtzlich der Gedanke „sie masse sterben, es kOnne sie
ja doch kein Mensch leiden".
Aus einem Zeugnisse des Dr. H. aus I. far die erste Aufnabme in
die Elinik entnebmen wir, dass die Urgrossmutter geisteskrank war and
ihre Matter nervOs ist. Ferner berichtet dieses Zeugnis, dass die erste
Erkrankung im Jahre 1903 ganz akut im Anschluss an eine Aufregang
aaftrat. Die Eranke halluzinierte, glaubte, dass die Leute schlecht
von ihr redeten, ausserte Beeintrachtigungsideen gegen die Warterin.
Sie war zeitweilig gehemmt, dann wieder erregt, wanderte ruhelos
herom.
Nach Angabe des Mannes bei der ersten Aufnahme war auch der
Vater der Patientin nervOs. Vor der Verheiratang stand sie, als sie
noch auf der Handelsakademie studierte, wegen Nervositat in arztlicher
Behandlung. Sie war geistig ausserordentlich entwickelt. Mit Eltern
und Verwandten hatte sie oft Streitigkeiten. Wahrend der ersten
Schwangerschaft traumte Patientin oft sehr lebhaft, glaubte sich im
Traum verfolgt, stand dabei auf, sprach und beantwortete dem Manne
aus dem Schlafe Fragen. Beim Erwachen war sie sehr unruhig. Die
Matter der Frau S. erzahlte, dass sie in der Schule sehr ehrgeizig war,
keinen Tadel vertragen konnte und einmal gelegentlich eines unbedeu-
tenden Tadels in der Schule ohnmachtig wurde und dadurch einige
Stunden nicht wusste, wo sie sich befand. Spater bekam sie Offers aus
geringen Anlassen moistens infolge Aergers Anfalle, in denen sie sich
auf die Erde warf, mit den Handen um sich schlug, die Umgebung
scheinbar nicht erkannte, aber hOrte, was gesprochen wurde.
Yon einem Selbstmord in der Familie der Frau S. ist nirgends
etwas erwahnt, so dass eine angeborene familiare Anlage zum Selbst¬
mord, angeborene Schwache des Selbsterhaltungstriebes nicht ange-
nommen werden kann. Im Anfang ihres ersten Aufenthaltes in der
Elinik erschien Frau S. verwirrt, ratios, etwas angstlich, zeitweilig war
sie erregt, drftngte fort und neigte zur Bildung von Wahnideen, die
eine gewisse pbantastische Farbung batten. Melancholisohe Wahnvor-
stellungen, lebhafte Angstaffekte und Selbstmordneigung traten in der
damaligen Beobachtung uberhaupt nicht hervor. Die Eranke gewann
allmahlich im Verlaufe von 14 Tagen die Orientierung und konnte nach
5 Wochen als geheilt entlassen werden.
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Gin Urteil fiber die Zul&ssigkeit der Behandlungsweise, welche
Frau S. in der Nervenklinik zu Kliel w&hrend ihres zweiten Aufent-
haltes erfuhr, kann sich nur auf eine genaue Eenntnis der hier vor-
handenen Krankheit grunden; tats&chlich kennen wir ja Erankheits-
zust&nde, bei denen das Ausserachtassen strengster Ueberwacbung des
PatieDten geradezu als Eunstfehler angesehen werden muss. Beziehungen
zu derartigen Erankheitsbildern sind nicht uur durch den von Frau S.
begangenen Selbstmord gegeben, sondem scheinen nhmentlich nach den
Yom Elfiger besonders betonten Momenten vorzuliegen. Das in den
Akten enthaltene, oben angeffihrte Tatsachenmaterial ist umfassend
genug, nm einen Einblick in das Wesen der von Frau S. 1905 durch-
gemachten Geisteskrankheit zu gestatten. Zur Cbarakterisierung ist es
notwendig, zunSchst eine Skizze der GesamtpersOnlickkeit und ihrer
psycho pat hi schen Zust&nde zu entwerfen.
Frau S. ist erblich belastet; ibre Urgrossmutter war geisteskrank,
beide sftern nervfis. Intellektuell scbeint sie sebr gut veranlagt, da sie
-eine hfihere Fachschule besuchte und nach Angabe des Mannes geistig
ausserordentlich entwickelt war. Freilich dfirfte die geistige Entwick-
lung auf Eosten der kOrperlichen und nervfisen erfolgt sein, denn
wir hOren, dass sie schon wfihrend ihrer Studien auf der Handels-
akademie wegen Nervositat in firztlicher Behandlung stand. Psycho-
pathiscbe Zfige lassen sich fibrigens schon bis in die Eindheit ver-
foigen; denn wie die Mutter angab, konnte das ehrgeizige M&dchen
keinen Tadel vertragen und fiel einmal, als man sie wegen einer gering-
fugigen Sache tadelte, in Ohnmacht. Auch traten die Anf&lle, von
denen wir beim vollentwickelten Individuum hdren, schon in der Jugend
auf; denn nach Angabe der Mutter warf sie sich, durch geringffigige
Anlfisse geftrgert, zur Erde, schlug mit den Hfinden um sich herum,
erkannte scheinbar die Umgebung nicht, hdrte aber, was gesprochen
wurde. Dass deraitige Affekt&usserungen, die ganz das Geprfige hyste-
rischer Anffille zeigen, keine ihre Heftigkeit entsprecbende Nachhaltig-
keit hatten, kfinnen wir aus der Angabe entnehmen, dass sie einmal
schon am folgenden Tage nach einem solche Anfalle, der 1904 im An¬
schluss an einen Streit mit dem Bruder auftrat, wieder heiter erschien
and eine Eafifeegesellschaft mitmachte. Dass ein so veranlagtes Indi¬
viduum in den Generationsphasen psychischen Schwankungen im be-
sonderen Masse ausgesetzt ist, linden wir ohne weiteres begreiflich. Ein
' neuer psychopathischer Zug offenbart sich in der ersten Schwangerschaft,
nfimlich die Neigung, in somnambule Zustfinde zu verfailen. Frau S.
trfiumte damals sehr lebhaft, sprach im Traume und antwortete aus dem
8chlafe heraus auf Fragen ihres Mannes. Bezeichnenderweise bildet ffir
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die erste Psychose, die nacb der ersten Geburt auftrat, eine Aufregung
das auslftsende Moment. Auch die zweite Psychose, in der die ver-
h&ngnisvolle Tat unternommen wurde, trat nacb einer Geburt und viel-
leicbt nach einer leicbteren Gemutsbewegung (Abreise der Mutter?) anf.
Aus dieser Schilderung geht klar hervor, dass Frau S. eine degene-
rativ veranlagte psycbopathische PersOnlichkeit ist, die dazu neigt, in
abnorme Bewusstseinszust&nde zu verfallen. Fast aus alien den er-
w&hnten abnormen Zugen tritt uns ein fur eine derartige Anlage
cbarakteristisches Grundmoment entgegen, nSmlich eine abnorme Ein-
drncksfAhigkeit des Individuums. Scbon in der Jugend reagierte
Frau S. auf gewisse EindrQcke in ganz ungewOhnlicher, wenn auch
keineswegs nacbhaltiger Weise; verh<nismSssig unbedeutende Ursachen
fuhrten bei ihr zu abnormen, ins Masslose gesteigerten Wirkungen.
Geht man im besonderen auf die von ihr durchgemachten Psychosen
ein, so findet man zunachst bei der ersten eine gewisse Anzahl von
Symptomen: Halluzinationen, Erregungs-, aber auch Hemmungszust&nde,
Angstaffekte, Wahnideen, insbesondere Beeintr&chtigungsvorstellungen,
Storung der Auffassung (Personen usw.); diese Erscbeinungen lOsen sich
einander vie! ab, ohne dass eine derselben dauernd das Rrankheitsbild
beberrschte. Es handelt sich um einen Krankheitszustand, wie wir ihn
nur bei belasteten, der Anlage nach psychopathischen Individuen zu
sehen gewohnt sind. Die zweite Attacke ist einfacher; Beeintr&chtigungs-
ideen treten allenthalben hervor, Andeutungen melancholischer Selbst-
anklagen werden in der Klinik nicht beobachtet. Dass sie vor der
zweiten Zufuhrung einmal zu Hause ge&ussert hatte, sie sei eine
schlechte Frau, mache den Ibrigen nur Rummer, tue nichts (Bl. 48 d. A.),
weist ja auf vorubergehcndes Auftauchen melancholischer Ideen hin,
tr> aber doch zu sehr einen episodiscben Charakter, als dass man den
Gesamtzustand danach benennen bzw. auffassen kSnnte. Mit Sicherbeit
lfisst sich bezuglich beider Geisteskrankheiten Frau S. sagen, dass sie
nicht zu jcnen gehOrten, denen eine hartn&ckige, andauernde Ten-
denz zum Selbstmorde wie bei Melancholic eigen ist und insofern
eine unterbrochene Ueberwachung des Rranken unbedingt zur Pflicht
machen. Wohl aber bestand eine gewisse Gefahr mit Rucksicht auf
ihre abnorme Eindrucksf&higkeit (plOtzlich ausgelOste heftige Affekte),
wobei zu erw&gen war, dass dieser Zug in dem besonderen Zustande,
in dem sie sich damals befand, noch mehr Geltung gewinnen konnte.
Die Rranke neigte ihrer ganzen Ronstitution nach zu Affekt-
handlungen. Wir finden es daber begreiflich, dass die Aerzte der Rieler
Rlinik die Angabe des Mannes, seine Frau habe sich auf der Fahrt aus
dem Eisenbahnzuge sturzen wollen, anders auffassten, als wie sie nach
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Ansicht des K lagers hatte bewertet werden sollen. Bei einer an Melan¬
cholia leidenden Kranken hatte eine derartige Tat als Beweis fur einen
dauernden Selbstmorddrang aufgefasst werden mussen und zu ent-
sprechender Vorsicht veranlasst. Bei Frau S. konnte sie als Ausdruck
eines momentanen durch irgendeinen unliebsamen Eindruck (bevor-
stehende Internierung) ausgelfisten Affekt angesehen werden. Ein der-
artiger Gedanke diirfte Dr. Flatau vorgeschwebt baben, als er bei
seiner Vernehmung bemerkte, dass der Versuch von Frau S. bei der
Fahrt wohl aus Angst und Widerwillen vor der Rlinik geschehen sein
konnte. Wir kdnnen ibm aber naturlich nicht recht geben, wenn er
daraus folgert, dass der Versuch darum nicht in selbstmbrderischer Ab-
sicht geschehen sein musse, da sich ja beides nicht ausschliesst. Wie
gestaltete sich nun die Wahrscheinlichkeit fur einen Selbstmordversuch
zur Zeit der Verlegung der Frau S. in das offene Haus?
Wir entnehmen der Rrankengeschicbte (und Prof. Siemerling gibt
dasselbe bei seiner Vernehmung an), dass der Zustand der Rranken nach
Einlieferung in die Rlinik sich rasch gebessert hatte, dass die Patientin
ruhiger und freier geworden war. Sie verlangte selbst in die Villa
uberfuhrt zu werden, weil es dort angenehmer sei als auf der Wach-
station. Diese Angabe allein musste die Diagnose Melancholie wider-
legen, da derartige Rranke auf ihre eigene Annehmlichkeit absolut nicht
bedacht sind, sich vielmehr das schlechteste wunschen. Die Annahme
aber, dass Fran S., als sie den Wunsch aussprach nach der offenen
Villa verlegt zu werden, nur dissimulierte, also von vornherein den
festen Plan, sich das Leben zu nehmen, hatte und die Aerzte mit jenem
Wunsch nur zu t&uschen versuchte, bis sie eine gunstige Gelegenheit
zum Seibstmord gefunden hsttte, ist besonders nach der von ihr sp&ter
der Rrankenscbwester gegebenen Motivierung (die Richtigkeit derselben
vorausgesetzt) hOchst unwahrscheinlich. Die Aerzte hatten tats&chlich
keinen rechten Anlass, in ihre Angaben Zweifel zu setzen, und konnten
sich sagen, dass bei dem ursprunglichen Widerwillen der Patientin gegen
die Rlinik ein derartiges Entgegerikommen und eine Erfullung ihrer
Wunsche den Rrankheitszustand gunstig beeinflussen wurde, worauf ja
schliesslicb auch der Umstand hinwies, dass sie die Verlegung in die
Villa freudig empfand. Die Ausfuhrung des Selbstmordversuches ist ein
neues Faktum und hat ihre besondere Ursache, die erst nach der Ver¬
legung in die offene Abteilung sich geltend machte. Eine derartige
Tat war nach dem Gesamttatbestande vor der Verlegung in die Villa
gewiss nicht auszuschliessen, aber nicht gerade wahrscheinlich
und, urn es nochmals zu betonen, durch das Rrankheitsbild nicht unbe-
dingt nahegelegt. In der Rrankengeschichte ist nichts von Pr&kordial-
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angst, heftigen Selbstvorwurfen u. dgl. bemerkt, wie sie gewOhnlich bei
selbstmordsuchtigen Melancholikem sich linden. In der Klinik hat
sie also hOchstwahrscheinlich diese Symptome nicht gezeigt, wie ja auch
die bei der ersten Erkrankung beobacbteten Einzelerscheinungen Melan¬
cholic ausgeschlossen und zur Bildung von Selbstmordideen nicht ge-
fdhrt hatten. HOchstwahrscheinlich hat Frau S. morgens auf dem
Klosett einen plOtzlichen Angstanfall gehabt, sie hat sich aber zu
schwankend daruber ge&ussert, als dass man ein vOllig klares Bild ge-
winnen kOnnte. Ihre Aeusserungen geben zu mannigfachen Zweifeln
Anlass. Es gibt nur ausserst wenig Menschen bzw. Geisteskranke,
welche sich umbringen, weil ihnen der Gedanke kommt, es kOnne sie-
kein Mensch leiden.
Also auch wenn die Aerzte gewusst batten, dass Frau S. dieser
Gedanke kommen werde, hatten sie daraus scbwerlich den Schluss ge-
zogen, dass sie sich desbalb umbringen wurde. Nun 1st es aber eine
heute durchaus gelaufige wissenschaftliche Anschauung, mit Rucksicht
auf das Wohlbefinden der Eranken und den Einfluss ihrer Umgebung
auf ibr Geistesleben nicht summarisch jede MGglichkeit des Selbstmordes
auszuschliessen, sondern nur da die lastige permanente Ueberwachung
anzuwenden, wo eine grOssere Wahrscheinlichkeit fur die Neigung,
wirklich zum Selbstmord zu schreiten, spricht. Eine grOssere
Wahrscheinlichkeit war aber bei Frau S. nach dem heutigen Stande der
medizinischen Wissenschaft zur Zeit ihrer Verlegung nach der Villa nicht
notwendigerweise anzunehmen. Wollte man hiergegen einwenden, dass
die Krankheit noch zu frisch war, als dass man den Versnch zu freier
Behandlung hatte wagen durfen, so ist darauf binzuweisen, dass die
Kranke sich frtiher haufig schon einen Tag nach schweren hysterischen
Erregungszustanden wieder dauernd beruhigt batte. Auch eine oder
zwei Wochen spater wtirde das Vorkommen eines Selbstmordversuches
nicht mit Sicherheit auszuschliessen gewesen sein. Frau S. gebOrt zu
den Naturen, welche auch in relativ gesunden Tagen vor einem
plOtzlichen Impuls zum Selbstmord nicht ganz sicher sind
und von denen der Arzt, solange Qberhaupt keine Neigung zu Be-
wusstseinstrubungen infolge von Affekt besteht, niemals mit Sicherheit
sagen kann: „Jetzt ist die Gefahr eines Selbstmordversuches voruber“.
Dieser Zeitpunkt ist tats&chlich uberbaupt nicht mit Sicherheit zu be-
stimmen. Derartige Naturen unternehmen durchschnittlich in ange-
nehmerer Umgebung weniger Ieicht einen Selbstmord als in Situa-
tionen, welche sie aufregen. Die Verlegung in die offene Villa musste
auch insofern ins Auge gefasst werden.
Ich fasse mein Gutachten dahin zusammen, dass der Gesnndheits-
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zustand von Frau S. zur Zeit ihrer Verlegung kein derartiger war,
dass man es unbedingt als gefahrlich eracbteu musste, sie aus der
Ueberwachungsstation in das offene Haus zu uberfuhreu. Ein zuver-
lissiges Wartepersonal vorausgesetzt, kann die Bebandlung derartiger
Krauker in einer offenen Abteilung kaum prinzipiellen Bedenken unter-
liegen.
gez. Prof. Dr. Flechsig,
KOniglich Sachsischer Geheimrat.
Unter dem 27. 9. 1909 erging der Beweisbeschluss:
Es soli weiter Beweis daruber erhoben werden, ob unter Beruck-
sichtigung der Erankengeschichten von 1903 — Bl. 73 — und von 1905
— Bl. 48 H —, sowie der Zeugenaussagen des Dr. Flatau — Bl. 31 f —
und des Geheimrats Siemerling — Bl. 38 H — der Gesundheits-
zustand der Ehefrau des K lagers, die am 12. 11. 1905 wegen einer
infolge einer Entbindung eingetretenen traurigen Verstimmung in die
Nervenklinik der Universitat zu Kiel aufgenommen war, am 14. 11.
vom Standpunkt des Arztes als ein derartiger erscheinen musste, dass
keine begrundeten Bedenken mehr vorlagen, sie von der Ueberwachungs¬
station in das offene Haus zu uberfuhren und ob, insbesondere auch
mit Rucksicht darauf, dass die Ebefrau des Klagers am 12. 11. auf der
Fahrt nach Kiel einen Versuch gemacht hatte, aus dem Eisenbahnzuge
zu springen, trotz des kurzen Aufenthalts der Ehefrau des Riggers in
der Nervenklinik von den Aerzten nach Lage der Sache nicht mit
einer Gefahr, dass sie Selbstmord veruben konne, gerechnet werden
musste, durch Vernehmnng eines weiteren gericbtlichen Sachverst&ndigen,
dessen Auswahl und Ernennung dem Berichterstatter ubertragen wird.
Unter dem 30. 11. 1909 erstattete Physikus Dr. Erman in Hamburg
folgendes Gutachten:
In der Elagesache des Redakteurs E. S. zu I. wider den Kdniglich
Preussischen Fiskus Universitat Kiel, vertreten durch den Universitats-
kurator in Kiel, beehre ich mich in Verfolg des Beweisbeschlusses vom
27. 9. d. Js. der Zivilkammer H des ESniglichen Landgerichtes zu Kiel
das Folgende zu berichten.
Ich beantworte die unter Beweis gestellten Fragen dahin:
1. dass unter Berucksichtigung der Erankengeschichten (Blatt 48
und 73 der Akten) sowie der Zeugenaussagen (Blatt 31 und
38 fT.) dm* Gesundheitszustand der Ebefrau des Klagers, die
am 12. 11. 1905 wegen einer infolge einer Entbindung ein¬
getretenen traurigen Verstimmung in die Nervenklinik der
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Universit&t zu Kiel aufgenommen war, am 15. 11. vom Stand-
punkt des Arztes aus als ein derartiger erscheinen musste,
dass begrfindete Bedenken vorlagon, sie von der Ueberwachungs-
station in das offene Haus zu fiberffihren,
2. dass insbesondere auch mit Rficksicht darauf, dass die Ehefraa
des Kl&gers am 12. 11. anf der Fahrt nach Kiel einen Versuch
gemacht batte, aus dem Eisenbahnzuge zu springen, bei dem
kurzen Aufenthalte der Ebefrau des Klagers in der Nerven-
klinik von den Aerzten nach Lage der Sache noch mit einer
Gefahr, dass sie Selbstmord verfiben kfinne, gerechnet werden
musste. ^
Ich stfitze diese meine Meinung durch die folgenden Darlegungen
des AkteDinbaltes.
Frau S, war melancholiscli verstimmt, als sie am 12. 11. zum
zweiten Male als Kranke in die Kieler Anstalt vom Ehemann eingebracht
wurde. (In der Aussage des Herm Prof. Dr. Siemerling — Blatt38 —
wird ihr Zustand „&ngstlicbe Verstimmung“ genannt; und in dem Briefe,
den Herr Professor Siemerling an Herrn Dr. Krfiger am 29. 11.
richtete — Seite 25 der Akte der Aufnabme der Frau S. — heisst es:
„Bei Frau A. S. bandelt es sich urn eine im Wochenbett aufgetretene
melancholische Verstimmung“).
Ueber die von dem Ehemann S. bei der Zufuhrung der Kranken
in der Kieler Klinik gegebenen anamnestischen Daten verzeichnet die
Krankengeschichte (Blatt 48/49) das Nachstehende:
Seine Frau sei vor 3 1 / 2 Wochen in regelmfissiger Weise von ihrem
zweiten Kinde entbunden worden und habe ein normales Wochenbett
gehabt. Nachdem ihre Mutter am 4. 11. zum Besuch eingetroffen war,
habe sie schlecht geschlafen. Nach der Abreise der Mutter am 6. 11.
sei seine Frau Nachts sehr unruhig gewesen, habe im Bett „gewuhlt“.
Sie phantasiere nicht, h&tte (aber) traurige Stimmungen. Sagte, dass
sie schlechte Frau sei — sie mache den Ihren Kummer — tue nicbts.
Suizidgedanken babe sie nicht gefiussert. Unterwegs im Zug habe
sie den Versuch gemacht, aus dem Zug heraus zu springen. Heute
weine sie und sei ausnebmend traurig.
Nach seiner Ansicht seien die Symptome der jetzigen Krankheit
seiner Frau dieselben wie vor 2 Jabren, nur milder.
Dass dieses Urteil des Mannes fiber die gleichartige Form der
Erkrankung seiner Frau in 1905 und 1903 ein zntreffendes war, ist aus
den Daten der in 1903 geffihrten und als Anlage zu Blatt 75 der Akte
vorliegenden Krankengeschichte zu ersehen. Zur Kennzeicbnung der
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damaligen angstlicben Verstimmung der Frau S., ihrer Erscheinungs-
weise und ihrer tieferen Bedeutung sei folgendes aus der genannten
Erankengeschichte hier referiert:
In dem Begleitschreiben vom 9. 11. 1903, welches der Dr. tned. H.
damals an die pirektion der Universitfitsklinik bei der Aufnahme der
Kranken richtete, heisst es: Frau S. ist an einer puerperalen Psychose
erkrankt. Die Krankheit begann am letzten Montag, dem 2. 11. Die
Erankheit fiusserte sich zunachst in Halluzinationen; sie glaubte, die
Menschen reden schlecht von ihr oder wollen ihr nicht wobl und ihr
Mann schfitze sie nicht vor den Leuten.
Depressionen wo sie mit leeren Blicken vor sich hinstarrte,
wdchselten mit aufgeregten Szenen, wo sie ruhelos im Zimmer umber
wandere. Nahrungsaufnahme wurde nahezu vfillig verweigert und Frau
S. sei auch nicht im Bett zu halten.
Der Ehemann seinerseits berichtete fiber das Yerhalten seiner Frau
vor der Biniieferung in die Elinik folgendes:
Seine Frau habe gefiussert: Die Warterin mache sie schlecht;
dieselbe verbreite das Gerficht, sie konne ihr Kind nicht ordentlich
pfiegen; vers tan de es nicht. Sie habe auch die Idee gefiussert, sie
werde von den Leuten schlecht gemacht, ihr Mann nehme sie nicht
gehfirig in Schutz, begfinstige ihre Verfolger.
Sie sei zuweilen sehr abweisend gewesen und teilnahmslos gegen
ihre ganze Umgebung. Sie hfitte sehr wenig Nahrung genommen; hfitte
meist ohne etwas zu sagen den Eopf abgedreht; bei wiederholten Ver-
suchen sei es zuweilen geiungen, ihr etwas flfissige Nahrung einzuflfissen.
Die Nachte seien meist sehr unruhig gewesen. Schlafmittel speziell
Morphium seien ohne jede Wirkung geblieben.
Der damalige Krankheitszustand der Fran S., der bei ihrer Ein-
lieferung am 9. November sich in einem abweisenden und widerstreben-
den Benehmen und durch Nichtsprechen und Nichtantwortgebcn mani-
festierte und von einem matten und gleichgfiltigen und zuweilen angst¬
lichen Gesichtsausdruck begleitet war, hielt unter allmfihlichem Nachlass
der Symptome etwa 12 Tage an.
Am 21. 11. wurde Frau S. zur Villa verlegt und nach einem am
22. 11. dort empfangenen Besuch ihres Mannes wurde sie teilnehmend
und erwachte zur Erkenntnis und zur richtigen Beurteilung ihrer Um¬
gebung. Die Eintragung der Erankengeschichte vom 22. 11. berichtet
hierfiber: Erkundigt sich zweifeld bei ihrem Manne, ob das hier auch
Aerzte seien und ob sie sich wirklich in einer Elinik befinde; es sei
ihr so vorgekommen, als ob sie in eine MSrdergrube geraten sei.
Von da ab (23. 11. 1903) nahm die Rekonvaleszenz, d. h. das
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Erwachen der Vernunft und die Rfickkehr zu einem geordneten Verhalten,
so raschen und guten Fortgang, dass Frau S. schou am 16. 12. 1903
aus der Anstalt entlassen werden konnte.
Sebr bemerkenswert 1st das, was Frau S. laut Kraukengeschichte
fiber ihre Angstempfindongen und fiber ibre irren Gedanken in den
ersten Wochen ihrer Krankheit auf Befragen am 23. 11. 1903 ver-
lauten Hess:
Sie sei — fiusserte sie damals — jetzt vollkommen fiberzeugt,
dass sie sich in einer Kieler Elinik befinde und dass sie es mit richtigen
Aerzten zu tun babe. Anfangs sei ihr hier alles so merkwfirdig vor-
gekommen, sie habe gar nicht gewusst, wo sie war; babe geglaubt, alle
sollten umgebracht werden; zu Hause habe sie geglaubt, Dr. H.
wolle sie und ihre Familie umbringen; darfiber sei sie fingstlich und
aufgeregt geworden. Stimmen habe sie zu Hause nicht gehdrt; hier
habe sie ihre Angehdrigen rufen hOren.
Wenn Frau S. diese vermutlich zutreffenden Mitteilungen nicht
gemacht hfitle, wfirde man aus ihrem Verhalten und aus ihren Aeusse-
rungen, wie solche in der Erankengeschichte vom 9.—20. 11. aufge-
zeichnet sind — niemals auf diese Art und Starke ihrer qualvollen
wahnhaften Vorstellung geschlossen haben.
In ihrem Gesichtsausdruck und in ihrer Haltung lassen Eranke,
wie Frau S., den sie beherrschenden traurigen Affekt zur Genfige er-
kennen, aber der Inhalt ihrer traurigen und ihr gesundes Selbstbewusst-
sein veruichtenden Gedanken bleibt dem Arzte verborgen, so lange der
Eranke sie demselben nicht durch Worte verrfit.
Deshalb sind und bleiben melancholisch verstimmte Personen, die
nicht mehr Rede und Antwort stehen, in ihrem Verhalten schwer zu
berechnende und wegen ihrer durch den traurigen Affekt des bfteren
hervorgerufenen impulsiven Handlungen unsichere und einer genauen
Ueberwachung bedurftige Anstaltskranke.
Wer die ’Aufzeichnung der Erankengeschichte der Frau S. fiber
ihren zweiteu Aufenthalt in der Eieler Anstalt nachliest (S. 48/49 der
Akte) wird ohne weiteres erkennen, dass Frau S. in den Tagen vom
12.—15. 11. nichts gefiussert hat, was ihren am 16. 11. dann verfibten
Selbstmordversuch fiberall angedeutet batte.
Sie sprach sich fiber den Inhalt ihrer traurigen Gedanken im Jahre
1906 ebensowenig aus, wie im Jahre 1903.
Am 13. 11. gab sie nur zu, traurige Gedanken gehabt zu haben.
An diesem Tage wird in der Erankengeschichte ihr Wesen so
charakterisiert: Sie hat in ihrem ganzen Wesen etwas Starres, sitzt
wie traumhaft da.
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
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Beantwortet die meistea an sie gerichteten Fragen entweder nieht
oder nur ganz kurz mit leiser Stimme. Verh< sicb der Untersuchung
gegenuber ablehnend.
Am 14.11. heisst es in der Krankengeschichte: Hat immer noch
in ihrem Aeusseren etwas Traumhaftes.
Am 15. 11. lantet die Gintragung: Erscheint etwas freier.
Sie fragt an, ob sie nicht nach Villa oben verlegt werden k5nne.
Zwischen 5 und 6 Uhr wird sie dann nach Villa II verlegt und
freut sich, wieder in Villa II zn sein. Liegt rohig im Bett.
Am 16.11. geht Frau S. dann morgens nach dem Elosett, springt
durch das Klosettfenster auf den Hof and schl> mit dem Gesass aof
den Rasen auf
Der bei dem Sturz erlittene Bruch des Domfortsatzes eines Lenden-
wirbels und eine Blutung in die Ruckenwirbelhohle zieht ein l&ngeres
Krankenlager nach sich, das glucklicherweise mit Herstellung endigt.
Ueber das Motiv ihres Sprunges aus dem Fenster befragt, Susserte
Frau S. am Abend ihres Unfalltages (S. 50 der Akte): Sie habe nicht
mehr leben wollen, weil sie nicht mehr wert sei, zu leben. Sie sei
nicht gut zu ihrem Mann gewesen.
Wenn man berucksichtigt, dass Frau S. vor ihrer Aufnahme in die
Kieler Elinik laut Bekundung des Mannes „traurige Stimmungen zu
Hause in der Zeit vom 6.—12. 11. hatte und in denselben schon kusserte,
dass sie eine scblechte Frau sei, dass sie den' lhrigen Eummer mache,
dass sie nichts tue“, so wird das von ihr angegebene Motiv fur ihren
Selbstmordversuch nicht wohl anzuzweifeln sein.
War der Selbstmordversuch von ihr zu erwarten?
Mit Bestimmtheit ganz gewiss nicht; er hatte ausbleiben kSnneu,
so gut wie er im Jahre 1903 bei der Eranken ausgeblieben ist und
bei der grossen Mehrzahl ahnlich erkrankter Personen auch glucklicher¬
weise ausbleibt.
Eonnte und musste an sein mogliches Gintreten gedacht, seine
tunliche Verhinderung, sei es durch Bewachung der Eranken, sei es
durch ihre weitere Verpflegung in einem gesicherten Raum, im Auge
behalten werden?
Ja, allgemein aus dem Grunde, dass bei derartigen melancholischen
Eranken ein unvermuteter Selbstmordversuch immer in der Mdglichkeit
liegt und im besonderen bei der Frau S. deshalb, weil sie kurz zuvor,
n&mlich am 12. 11. bereits den Versuch gemacht hatte, aus dem fahren-
den Gisenbahnzuge zu springen.
Dass dieser Versuch der Frau S., aus dem Zuge zu springen, nicht
unbedingt in selbstmbrderischer Absicbt geschehen zu sein brauche, dass
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G. Siemerling,
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er vielleicht der Augst und dem Widerwillen der Frau, in die Kieier
Anstalt gebracht zu werden, entsprungen sei, hat der Zeuge Herr
Dr. Flatau (S. 32) hervorgehoben. Diese Anschauung ist nacb der
weiteren Entwicklung des Falles der Frau S. nicht recht wahrscheiolich,
aber sie ist gewiss baltbarer als jene im Eingang seines Berichtes von
Herrn Dr. F. formulierte ErklSrung, dass der Zustand der Frau S. bei
der Verleguug notwendig kein gefabrdrohender (eiue nfthere Selbstmord-
gefabr in sicli tragender) gewesen sein kOune, weil andernfalls die Ver-
legung der Kranken von Herrn Geheimrat Prof. Dr. Siemerling nicht
angeordnet worden sein wiirde.
Aber wenn auch zugegeben ist, dass in 1905 Unklarbeit fiber das
wirkliche Motiv des versuchten Entspringens der Frau S. im Sinne des
Herrn Dr. Flatau unter den behandelnden Aerzten der Kieier Anstalt
vielleicht geherrscht hat und herrschen konnte, so verlaugte es dennoch
die notwendige Vorsicbt bei der Unterbringung und bei der Beaufsicb-
tigung der Kranken jenen Versuch als einen mfiglichen Selbstmord-
versuch zu berficksichtigen.
Dass solche Berucksichtigung'des quaest. von dem Ebemann S. rappor-
tierten Vorfalles eine ausreicbeude im Sinne der zur Begutachtung
gestellten 2. Frage nicht gewesen ist, gilt mir als sicher.
Der Aufenthalt der Frau S. in der Klinik war auch andererseits
noch zu kurz und ihr geistiger Krankheitszustand hatte sich in den
ersten vier Tagen noch zu wenig ge&ndert, um zur Zeit der Verlegung
in das offene Haus die Gefahr eines Selbstmordversuches nicht mehr
als naheliegend ausschliessen zu kfinnen.
Die am 15. November in die Krankengeschichte eingetragene Be-
merkung: „Erscheint etw as freier“ begrfindet die erheblichsten
Zweifel an der angenommenen ausreichenden Rfickbildung der gemfits-
kranken Verfassung der Frau S. und macht den vor ihr am 16. No¬
vember ausgeffihrten abrupten Selbstmordversuch auch verst&ndlich.
Selbstmordversuche von Kranken werden auch in den mit alien
erdenklichen Schutzmitteln eingerichtetcn Irrenanstalten immer einmal
vorkommen, aber wenn es richtig ist, dass die Fenster der Villa, in
der Frau S. am 15. November abends verlegt wurde, vfillig ungesichert
waren, so passte solche Unterbringung ffir den Zustand der Frau S.
nicht. Eine offeue Behandlung von Geisteskranken ist schfin und gut,
aber sie muss sich in Grenzen halten; sie darf beispielsweise nicht
kranken Personen, welche durch innerliche Angst und Verzweiflung und
durch selbstqufilende Selbstvorwfirfe zum Selbstmord instigiert werden,
Aufenthaltsrfiume anweisen, in denen unversicherte Fenster ihnen ein
Hiuaussturzen gestatten.
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Beitrag zur Verantwortliohkeit des Irrenarztes.
903
Die Gefahr, welche aus dem Nichtgesichertsein der Fenster in den
Villen oder Villa der Kieler Anstalt fur manche der dort behandelten
Eranken resultieren kann, wird in der Akte S. bereits durch einen
weiteren erfolgreichen Selbstmordversuch eines Patienten illustriert, und
wenn der Unterzeichnete ricbtig informiert ist, so bat vor wenigen
Monaten in der Kieler Anstalt eine einer Altonaer Familie gehOrige
geisteskranke Dame ebenfalls durch Sturz aus dem Fenster ihrem Leben
ein Ende gemacht. gez. Dr. Erin an, Physikus.
Naclistehende Erwiderung erfolgte unter dem 23. De-
zember 1909:
Nach diesseitiger AufFassung erscheint es zweifelhaft, ob Herr
Dr. Friedrich Bessel Erman als Physikus genugende praktische
psychiatrische Erfabrungen besitzt, urn die Erfordernisse eines Anstalts-
betriebs richtig zu wurdigen. Seine Ausfiihrungen sind zu allgemein
theoretischer Art, um sie ohne weiteres auf die in Betracht kommenden
Verhaltnisse anwenden zu lassen. Insbesondere ist seiner Behauptung
zu widersprechen, dass jede deprimierte Patientiu, auch wenn sie freier
geworden ist, ein .fur allemal unter dauernder Ueberwaehung in
gesicherten R&umen gehalten werden musste.
Unter Aufsteilung dieser hochst anfechtbaren Behauptung und mit
dem ebenso viel zu allgemein gebaltenen Satze, dass „bei derartigen
melancholischen Eranken ein uuvermuteter Selbstmordversuch immer in
der MOglichkeit liegt“, sucht Herr Dr. Erman zu beweisen, dass am
15. November 1905 an ein „m6gliches“ Eintreten eines Selbstmord-
versuches bei Frau S. „gedacht werden konnte und musste" — nicht
einfach ,,musste,“ wie es im Eingang seines Gutachtens bei Beantwortung
der unter Beweis gestellten Fragen lautete. —
Zu den Hauptfortschritten der modernen Psychiatrie geb6rt das
Bestreben, die Behandlung Geisteskranker im Interesse ihrer Heilung
mOglichst frei und ihrer Individualit&t angemessen zu gestalten. Gerade
bei Frau S. hatte sicb w&hrend ihres ersten Aufenthaltes in der Klinik
dieses Prinzip gl£nzend bewahrt. Freilich scheint Dr. Erman nach
seinen Ausfuhrungen dieser freieren Richtung weqig freundlich gegen-
nberzustehen. Soweit ich mich entsinne, haben auch bereits vor Jahren
hinsichtlich der Beurteilung seelischer Zustande grundsatzliche Meinungs-
verschiedenheiten zwischen ihm und der Direktion biesiger Klinik sich
herausgestellt, indem Herr Dr. Erman zwangsweise Unterbringung und
Ueberwaehung einer Dame in geschlossener Anstalt fttr geboten erachtete,
bei der bei Beobachtung in der Klinik das Bestehen einer Geisteskrank-
heit uberhaupt ausgeschlossen wurde. gez. Siemerling.
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904 E. Siemerling,
' Am 23. 2. 1910 wurde das nachstehende Zwiscbenurteil verkiindet.
Im Namen des Konigs!
In Sachen des Redaktenrs E. S.
— Prozessbevollmachtigte: R.-A. Stobbe and Dr. Hennings in Kiel —
gegen den
Koniglich Preussischen Fiskns Universitat Kiel, vertreten darch den
Universitatskarator in Kiel,
Beklagten,
— Prozessbevollmachtigte: R.-A. J. R. Niese and Jessen in Kiel —
wegen Schadenersatzes
hat die II. Zivilkammer des Koniglichen Landgerichts in Kiel aaf die miind-
liche Verhandlung vom 23.2.1910 nnter Mitwirkang des Landgerichtsdirektors
Geh. Justizrats Sander, des Landricbters Dr. Matthiessen and des Ge-
richtsassessors Haan far Recbt erkannt:
Der Klaganspruch ist dem Grande nach gereohtfertigt.
Tatbestand.
Die Ehefraa des Klagers, welche mit ihrem Ehemann in gesetzlichem
Gdterreobt lebt, wurde im Jahre 1903 nach der Entbindung von einer melan-
cholisohen Verstimmung befallen und aaf einige Zeit als vordbergehend geistos-
krank in der Koniglichen Psychiatrischen and Nervenklinik in Kiel arztlich
behandelt.
Am 12. 11. brachte der Klager seine Frau, bei weloher nach der einige
Wochen vorher erfolgten zweiten Entbindung ein Ruckfall in dasselbe Leiden
erfolgt war, wiederum dorthin. Sie wurde zuerst in die sog. Ueberwaohungs-
station untergebracht, aber bereits am 15. 11. 1905 auf Anordnung des Vor-
stehers der Nervenklinik, Geh. Uedizinalrats Prof. Dr. Siemerling, in die
sog. Villa, eine offene Station, dberfuhrt.
Hier machte die Ehefrau des Klagers am folgenden Horgen, am 16. 11.,
einen Selbstmordversuch, indem sie sich aus dem Klosettfenster stdrzle, wobei
sie sich einen Brach der Lendenwirbelsaule zuzog.
Diese Tatsachon sind nnter den Parteien ausser Streit.
Der Klager macht fur die Folgen dieses Unfalls den Beklagten verant-
wortlich and fragt vor:
Schon am 12.11.1905, als er seine Fran nach Kiel gebracht habe, habe
letztere mehrfach versucht, sich in selbstmorderischer Absicht aus dem Zuge
za sturzen. Er habe dieses bei der Einlieferang sofort dem Assistenzart Dr.
Flatau mitgeteilt, welcher es in den Krankheitsbericht diktiert habe. Er habe
weiter gefragt, ob es notig sei, dass seine Frau in den allgemeinen Kranbeu-
saal untergebracht werde, sie habe dort das letzte Hal able Eindrdcke gehabt,
woraaf Dr. Flataa erwidert habe, das sei nicht za vermeiden, die Kranke
masse zanachst aaf die Beobachtangsstation, wo stets Wache sei. Am
nachsten Tage sei Geheimrat Siemerling in einer Anssprache mit ihm auf
beide Punkte zuriickgekommen. Er habe bemerkt, es sei ihm interessant, zu
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
905
horen, dass Frau S. versucht habe, sich aas dem Eisenbahnzuge za stiirzen,
er bedauere, dass sie zunaohst auf die Beobachtungsstation gebracht werden
miisse, sobald ihr Zustand es erlaube, werde er ibr ein besonderes Zimmer
anweisen; es liege eine Anwandlung von Schwermut vor, die anscheinend nur
leicht, nnd in 2—3 Wochen gehoben sein werde. Unter diesen Umstanden sei
ein Verschulden der Anstaltsbeamten darin zn erblicken, dass die Schwer-
mutige, die soeben Selbstmord versucht gebabt habe, schon nach 3Wochen in
die offene Station und noch dazu in die erste Etage gebracht worden sei, zu-
mal letztere auf einem so hohen Unterhause ruhe, dass sie die gewohnliohe
Hohe eines zweiten Stockwerks erreiche. Es hatten auch in dem Erdgeschoss
Zimmer zur Verfiigung gestanden. Die Gefahr, dass die Kranke abermals
einen Selbstmordversuch machen werde, habe noch sehr nahe gelegen. Auch
sei ein Verschnlden darin zu erblicken, dass die Klinik nicht mit den ge-
brauchlichsten Einrichtungen versehen sei, welche geeignet seien, derartige
Unfalle zu verhiiten. Es sei durchaus geboten, die Raume, in denen derartige
Kranke sich aufhielten, insbesondere die Klosetts usw. mit Fenstern zn ver¬
sehen, welche ein Herausspringen nicht zuliessen. Derartige Einrichtungen
seien anderswo auch langst eingefuhrt. Fur die Kieler Klinik habe hierzu um
so mehr Grand vorgelegen, weil hier in den letzten Jahren wiederholt Kranke
aus dem Fens ter gesprun^en seien. Infolge Bruchs der Wirbelsaule und eines
Blutergusses in das Riickenmark sei bei seiner Frau eine Totallahmung alter
Korperteile mit Ausnahme des Kopfes, des Halses, der Arine und der Hande
eingetreten, die monatelang gedauert habe. Bis in den Marz 1906 habe die
Gefahr einer dauemden Lahmung der Beine und einer Verkruppelung des
Ruckgrats bestanden. Am 8. 3. 1906 sei seine Frau aus der Klinik entlassen
worden, dooh habe sie nur wenige Schritte gehen konnen und sonst gefahren x
werden miissen. Die Folge sei eine monatelange Kur gewesen, bestehend aus
taglichen Badern und Massage. Auch habe sie bis Anfang September 1906
einen Stutzapparat tragen miissen. Noch jetzt seien die Folgen des Unfalls
nicht vollig beseitigt. Er verlange daber von dem Beklagten Ersatz der ihm
infolge des Unfalls erwachsenen, in der hiermit in bezug genommcnen Auf-
stellung Bl. 6 und 7 der Akten berechneten Unkosten zum Gesamtbetrage von
2410,79 M., ferner fordere er fur seine Frau zunachst einmal vom 1. 9. 1906
bis 31. 12. 1908 eine jahrlicbe Rente von 300 M., zusammen also 700 M.
Seine Frau sei seit dem Unfall sehr viel nervoser als fruher und korperlich
viel hinfalliger. Bei jeder hauslichen Verriohtung bekomme sie so starke
Ruckenschmerzen, dass sie bald davon abstehen miisse. Auch konne sie wegen
der Sohwache keine grosseren Entfernungen zuriicklegen. Dazu kamen haufige
Krampfe in den Beinen, sowie dauernde Taubheit in den Gefiihlsnerven im
rechten Obersohenkel. Infolge dieser Umst&nde konne sie den Hausstand nicht
mehr wie fruher selbstandig versehen, musse vielmehr alle Arbeiten, die sie
sonst getan habe, dem Personal iiberlassen. Auch werde sie jahrlich zur Kraf-
tigung eines Badeaufentbalts bedurfen, damit sie nicht im Winter ganz zu-
sammenklappe. Schliesslich habe sie bis Ende 1907 an Kopfschmerzen und
Haarausfall gelitten, auch habe ihre Sehkraft gelitten. Unter diesen Umstan-
Arehir f. Psjohi*trie. Bd. 60. Heft 2/3. 5 g
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E. Siemerling,
den sei eine Rente von 300 M. ein sebr massiger Ersatz fiir die eingetretenen
Bediirfnisse. Endlich fordere er and seine Fran anf Grand des § 847 des
B.G.B. wegen desjenigen Schadens, der nicht Vermogensschaden sei, insbe-
sondere als Schmerzensgeld einen Betrag von 3000 M.
Der Klager beantragt daber,
den Beklagten kostenpflicbtig zu verurteilen, an den Klager
6110,79 11. nebst 4 pOt. p.- a. Zinsen seit Klagezustellung zu
zablen and das Orteil gegen Sicberheitsleistang far vorlaafig
vollstreckbar za erklaren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen, das Urteil — eventuell gegen Sicherheits-
leistung — far vorlaafig vollstreckbar za erklaren, im Falle der
Verarteilung dem Beklagten nachzalassen, durcb Sicberbeitsstel-
lung die Vollstreokung abzawenden.
Er bestreitet nicht, dass die Ehefraa des Klagers am 12. 11. 1905 anf
der Fahrt naoh Kiel versacht habe, sioh in selbstmorderischer Absicht aus dem
Zage za sturzen, tragt aber weiter vor: In der Klinik habe sich Fran S. rasch
wieder berabigt and schon am 14. 11. einen so freien Eindrack gemaoht, dass
keine Bedenken mehr vorgelegen haben, ihrem and des Klagers Drangen nach-
zugeben and sie, wie das erste Mai im Jahre 1903, aus der Ueberwachangs-
station naob dem offenen Haase za verlegen. Hier lagen die Zimmer 1. and
2. Klasse eine Treppe hoch, die Zimmer 3. Klasse im Erdgesohoss. Nach der
Verlegang sei Fraa S. manter and zafrieden erschienen uud habe aach abends
nach der Visite keine Spar von angstlicher Verstimmung mebr gezeigt. Die
Erregang sei soheinbar wieder abgelaafen gewesen. Aach die Nacht sei ruhig
verlanfen. Am folgenden Morgen friih sei sie dann plotzlicb aus dem Fenster
des Klosetts gesprangen. Spater habe sie angegeben, sie habe in einem mo-
mentanen Anfalle von Angst gehandelt. Weitere derartige Anfalle seien nie-
mals beobachtet worden. Besondere Schutzvorrichtungen an den Fenstern
seien in alien Raamen der Ueberwaohangsstation vorhanden, wahrend sie in
der offenen Station iiberall fehlten, am in den Patienten das der Heilang dien-
liche Gefuhl volliger Freibeit hervorzarafen. Irgend ein Verschalden der Aerzte
sei nicht ersichtlicb, insbesondere nicht dargetan, dass sie sohnldhaft der
Kranken eine Behandlung batten za toil werden lessen, die nach deu Grand-
satzen der arztlichen Wissensohaft and Erfahrang nicht gerecbtfertigt gewesen
sei. — Dass Fran S. infolge des Brachs der Wirbelsaule langere Zeit in arzt-
licher Behandlung gelegen, and dass ihr and dem Klager infolgedessen ein
Vermogensschaden erwachsen sei, werde nicht bestritten. Bemangelt werde
aber die Hohe des verlangten Sohadenersatzes and die Angemessenheit der
Rente and des Sohmerzensgoldes.
Der Klager widerspricht diesen An- and Aasfiihrangen.
Darch Beschlass des Gerichts ist die Verhandlung zanachst anf den
Grund des Ansprachs besohrankt worden.
In Gemiissheit der Beweisbesohlasse vom 30. 3. 1908 and vom 27. 9.
1909 sind der Direktor der Psychiatrischen and Nervenklinik der Universitit
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Leipzig, Geheimrat Prof. Dr. Flechsig daselbst, und der Physikus Dr. Er-
man in Hamburg eidlich als Sachverstandige vernommen worden.
Ihre schriftlichen Gatachten finden sich Bl. 90—100 und Bl. 130—134
der Akten und werden hier in Bezug genommen.
Ferner sind naoh dem Beschlusse vom 30. 8. 1908 der Geheimrat Prof.
Dr. Siemerling in Kiel und der Anstalts&rzt Dr. Flatau, jetzt Dresden, als
Zeugen vernommen worden, auf deren eidliche Aussagen in den gerichtlichen
Protokollen vom 14. 5. 1908 — Bl. 31 f. — und vom 27. 6. 1908 — Bl. 38ff.
— hier ebenfalls verwiesen wird.
Das Ergebnis der Beweisanfnahme ist von den Parteien vorgetragen, ins-
besondere auch die Krankengeschiohte der Frau S. aus den Jahren 1903 und
1905 — Bl. 73, Bl. 48ff. — zum Gegenstande der Verhandlung gemacht
worden.
Der Beklagte bemangelt das Gutachten des Dr. Erman, dessen Ausfiih-
rungen zu theoretischer Art seien. Es bestunden Zweifel, ob dieser Sachver¬
standige geniigende praktisohe psychiatrische Erfahrungen besitze. Im ein-
zelnen tragt er den Inhalt des Schriftsatzes vom 11.2.1910 vor — Bl. 137 f.—,
auf den verwiesen wird, und beantragt, als weitere Sachverstandige den Geh._
Medizinalrat Prof. Dr. Cramer in Gottingen und den Direktor der stadtischen
Irrenanstalt in Lichtenberg bei Berlin, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Mo el i,
zu horen.
Der Klager halt weiteren Sachverstandigenbeweis nioht fiir erforderlich
und die Bemangelung des Gutachtens des Dr. Erman fur verfehlt. Eventuell
beantragt er, ohrip Yernehmung anderer Gutachter ein Obergutachten von der
wissenschaftliohen Deputation fur das Medizinalwesen in Berlin einzuholen.
Entscheidungsgrunde.
Mit der Klage macht der Klager sowobl eigene Anspruche wie solcbe
seiner Ehefrau geltend.' Letztere Anspruohe kann er, da die Ehegatten un-
streitig nach gesetzlichem Guterrecht leben, gemass § 1380 des B.G.B. in
eigenem Namen gerichtlich geltend machen.
Die rechtliche Beurteilung ist aber hinsichtlich der verschiedenen geltend
gemachten Anspruche eine verschiedene.
1. Soweit der Klager eigene Sohadenersatzanspriiche erhebt, sind diese
aus einem zwischen ihm und dem Beklagten geschlossenen Vertragsverbaltnis
rechtlich begrundet. Der Klager hat seine Ehefrau am 12. 11. 1905 in die
staatliche psychiatrische und Nervenklinik zur arztlichen Behandlung und
Pflege gegen Entgelt gebracht und damit mit dem Beklagten einen Dienstver-
trag im Sinne des § 611 des B. G. B. geschlossen. Zu den Pflichten, die der
Beklagte durch diesen Vertrag iibernommen hat, gehorte ausser der arztlichen
Behandlung auch die erforderliche Beaufsichtigung und Ueberwachung der
Kranken. Er hatte insbesondere auch die nach Lage des Falles erforderlichen
Massnahmen zu treffen, urn korperliche Verletzungen der Kranken in der An-
stalt sei es durch Angriffe Dritter oder durch eigene Selbstentleibungsversuche
zu verhuten. Dem Beklagten lag es nach dem Vertrage ob, die Ehefrau des
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E. Siemerling,
Klagers in korperlich unversehrtem Zustande wieder aus dor Klinik zu ent-
lassen. , Diese ihm nach dem Vertrage obliegende Leistung ist durch den
Selbstmordversuoh der Ehefrau des Klagers unmoglich geworden. Die Ehefran
des Klagers hat, wahrend sie der Ueberwaohungspflicht des Beklagten unter-
stand, sich schwere korperliche Schadigungen zugezogen. Nach der Beweis-
regel des § 282 des B. 6. B. ist es daher Sache des Beklagten, zu beweisen,
dass die Unmoglichkeit, die Ebefran des Klagers ohne diese Schadigungen zu
entlassen, nicht die Folge eines von ihm zn vertretenden Umstandes ist. Hit
anderen Worten hat also der Beklagte gegeniiber der Schadensersatzanforderung
des Klagers wegen nicht gehoriger Erfiillung des Vertrages den Naohweis zu
fiihren, dass der Selbstmordversuch der Ehefrau des Klagers nicht durch ein
schuldhaftes Handeln seiner Aerzte oder seines Wachpersonals, fur welches der
Beklagte gemass § 278 des B. G. B. in vollem Umfange aufzukommen hat, er-
moglioht worden ist. Er hat insbesondere zu beweisen, dass die Ueberfuhrung
der Kranken in die offene Station trotz ihres einige Tage vorher auf der Raise
gemachten Selbstmordversuches vom arztlichen Standpunkt aus keinen be-
grundeten Bedenken mehr unterlag, und dass mit einem erneuten Selbstmord-
versuch bei Anwendung pflichtgemasser Vorsicht und Sorgfalt nicht mehr zn
rechnen war.
II/ Anders liegt jedoch die Sache, soweit der Klager weitere Anspruche
far seine Ehefrau, also fremde Anspruche geltend macht. Seine Ehefrau stand
zu dem Beklagten in keinem Vertragsverhaltnis. Sie kann daher Anspruche
nur auf ausserkontraktliches Verschulden des Beklagten oder seiner Vertreter
grunden. Nach den §§ 31, 89, Absatz 1 des B. G. B. ist der Staat fur den
Schaden verantwortlich, den ein verfassungsmassig berufener Vertreter durch
eine in Ausfiihrung der ihm zustehenden Verrichtungen begangene, zum Scha-
denersatze verpflichtende Handlung einem Dritten zufugt. Im vorliegenden
Falle sieht der Klager die zum Schadenersatz verpflichtende Handlung in einer
angeblich schuldhaften Anordnung des Vorstehers der Nervenklinik, die Ehe¬
frau des Klagers schon so kurze Zeit nach ihrer Einlieferung in die offene Villa
zu iiberfuhren.
Diese Anordnung ist unstreitig von dem Vorsteher der staatlichen An-
stalt, Geheimrat Dr.Siemerling, selbst getroffen worden. Es fragt sich daher,
ob dieser als ein verfassungsmassig berufener Vertreter des Beklagten anzu-
sehen ist, fur welchen der Beklagte nach den §§ 31, 89, Abs. 1 des B. G. B.
zu haften hat. Diese Frage muss bejaht werden. Das rechtliche Merkmal, dass
die „verfassungsmassig berufenen Vertreter 14 des Staates von den sonstigen
Angestellten unterscheidet, ist ihre Berufung zur Tatigkeit innerhalb eines Ge-
sohaftsbereiches durch die die Verwaltungsorganisation regelnden Bestim-
mungen. (Vgl. R. G. Bd. 53. S. 276.)
Zum Begriff des verfassungsmassig berufenen Vertreters ist nicht erfor-
derlich, dass die Person in alien Beziehungen zur Vertretung der juristischen
Person berufen ist; es geniigt, wenn sie auch nur in einer oder einzelnen Be¬
ziehungen die juristische Person im Wille vertritt. (Vergl. 0. L. G. Bd. 5.
S. 376.)
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Beitrag zur Verantwortiichkeit des Irrenarztes.
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Das trifft auf den Vorsteher einer staatlichen Heilanstalt zu. Einem
solchen ist innerhalb eines bestimmten Geschaftskreises eine selbstandige
leitende Stellung eingeraumt und er ist insoweit verfassungsmassig bemfener
Vertreter des Staates.
Vgl. ebenso speziell far den Leiter einer staatlichen Irrenanstalt 0. B. G.
Stuttgart im „Recht u . 1905. S. 563.
Danach wiirde eine Haftung des Beklagten fur ein Verschulden des Ge-
heimrats Siemerling im vorliegenden Falle gegeben sein, wenn dnrch ein
solohes der Ehefran des Klagers ein Schaden erwachsen ist. Dass letztere den
fraglichen Selbstmordversuch am 16. 11. 1905 nicht hatte vornohmen konnen,
wenn sie noch liber diesen Zeitpankt hinaus in der Ueberwachungsstation zu-
ruckgehalten ware, ist ohne weiteres anznnehmen. Der Selbstentleibungsver-
snch ist erst dnrch die Ueberfiihrung in die freie Station ermoglicht worden.
Fur die Frage des Verschuldens liegt fur die hier in Betracht kommenden
ausserkontraktlichen Anspriiche die Verteilung der Beweislast aber anders.
Hier muss der Klager ein Verschulden des Anstaltsleiters nachweisen, also
insbesondere den Beweis erbringen, dass die Ueberfiihrung der Kranken in die
offene Station am 15. 11. 1905 vom arztliohen Standpunkt aus nooh begriin-
deten Bedenken unterlag und dass mit einem emeuten Selbstmordversuch der
Kranken noch gerechnet werden musste.
Die ansserordentlichen Anspriiche, die der Klager fur seine Frau erhebt,
namlich auch eine Geldrente als Scbadensersatz fur die Vermehrung ihrer Be-
durfnisse and auf ein angemessenes Schmerzensgeld, sind naoh den §§ 843,
847 des B. G. B. an sioh begriindet.
Abgesehen von der fruhen Ueberfiihrung seinerEhefrau in die sogenannte
offene Station, hat der Klager dem Beklagten nooh zum Vorwurf gemaoht, dass
es in dieser offenen Station an den notigenVorrichtungen gefehlt habe, um den
von seiner Frau ausgefiihrten Selbstmordversuch unmoglich zu machen. Hierin
kann aber ein Verschulden nicht gefunden werden. Im Gegensatz zu der Ueber-
waohungsstation soli gerade die offene Station den Kranken den Eindruck
volliger Freiheit gewahren. Sie sollen nicht duroh Sicherheitsvorkehrungen
irgendwelcher Art an ihre Krankheit erinnert werden und sich irgendwie in
der Freiheit ihres Handeln beschrankt fiihlen. Umsomehr muss aber verlangt
werden, dass Kranke in diese freie Station erst uberfiihrt werden, wenn ihr
Zust&nd die ndtigen Garantien dafur bietet, dass sie von der ihnen eingeraum-
ten Freiheit einen verniinftigen Gebrauch machen werden.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme muss aber alserwiesen angesehen
werden, dass bei der Ueberfuhrang der Ehefrau des Klagers in die offene
Station seitens des Anstaltsleiters nicht mit der geniigenden Sorgfalt und Vor-
sicht zu Werke gegangen ist. Die Gutachten der beiden vernommenen Saoh-
verstandigen weichen zwar in der Beurteilung des Grades des Verschuldens
von einander ab. Zu der Feststeilung, dass dem Anstaltsleiter aber uberhaupt
keine Fahrlassigkeit zur Last gelegt werden kbnne, kommt auoh der Sach-
verstandige Dr. Flechsig nicht. Danach ersoheint es jedenfalls als aus-
geschlossen, den dem Beklagten gegeniiber dem eigenen Anspruche des
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E. Siemerling,
Klagers aus dem Vertragsverhaltnis gemass § 282 des B. G. B. obliegenden
Exkulpationsbeweis als erbracht anzasehen. Es ist aber auch sogar der im
iibrigen dem Klager obliegende Beweis des Verscbuldens als gefuhrt zu
erachten.
Der Sachyerstandige Dr. Flechsig fdhrt aus, dass die Ehefrau des
Klagers erbeblich belastet gewesen sei und dass sie nach ihrer nervdsen Ver-
anlagung, insbesondere in den Generationsphasen, psycbischen Schwankungen
im besonderen Masse ausgesetzt sei. Sie habe ihrer ganzen Konstitution nach
zu Affekthandlungen geneigt. Wenn ihre beiden Geisteskrankheiten im Jahre
1903 und 1905 auch nicht zu jenen gehorten, denen eine hartnackige Tendenz
zum Selbstmorde wie bei Melancholie eigen sei, so habe doch eine gewisse
Gefahr mit Riicksioht auf ihre abnorme Eindrucksfahigkeit bestanden, wobei
zu erwagen gewesen sei, dass dieser Zug in dem besonderen Zustande, in dem
sie sich damals befunden habe, noch mehr Geltung habe gewinnen kdnnen. Der
Versuch der Ehefrau desKlagers, sich wah rend der Eisenbahnfahrt aus dem Wagen
zu stiirzen, habe bei einer an Melancholie leidenden Kranken als ein Beweis
far einen dauernden Selbstmorddrang aufgefasst werden miissen. Bei Frau S.
habe er als Ausdruck eines momentanen duroh irgend einen unliebsamen Ein-
druck (bevorstehende Internierung) ausgelosten Affektes angesehen werden
konnen. Ein Selbstmordversuch sei naoh dem Gesamttatbestande vor der
Verlegung in die Villa gewiss nicht auszuschliessen gewesen, sei aber
nicht gerade wahrscheinlioh und durch das Krankheitsbild nicht unbedingt
nahe gelegt gewesen. Eine grossere Wahrscbeinlichkeit fur einen Selbst-
mordversuch sei nicht notwendiger Weise anzunehmen gowesen.
Bestimmter lasst sich das Gutachten des Sachverstandigen Dr. Erman
aus. Dieser Sachyerstandige fuhrt aus, dass mit Bestimmtheit ganz gewiss
ein Selbstmordyersuch von der Ehefrau des Klagers bei ihrer Verlegung in die
offene Station nicht zu erwarten gewesen sei. An sein mogliches Eintreten
habe aber gedacht werden miissen, insbesondere mit Rucksicht auf den Ver-
suoh der Kranken, am 12. November 1905 aus dem fahrenden Eisenbahnzuge
zu springen. Wenn auch Unklarheit dariiber geherrscht haben konne, ob dieser
Versuch gerade als Selbstmordversuch aufzufassen gewesen sei, so habe
dennoch die notwendige Vorsicht bei der Unterbringung und bei der Beauf-
sichtigung der Kranken verlangt, jenen Versuch als einen moglichen Selbst¬
mordyersuch zu beriicksichtigen. Der Aufenthalt der Frau S. in der Klinik
sei nooh zu kurz gewesen und ihr geistiger Krankheitszustand habe sich in
den ersten 4 Tagen noch ,zu wenig gehndert gehabt, um zur Zeit der Ver¬
legung in das offene Haus die Gefahr eines Selbstmordversuches als nicht
mehr naholiegend ausschliessen zu konnen. Die am 15. November in die
Krankengeschichte eingetragene Bemerkung: „Ersoheint etwas freier 44 be-
grunde die erheblichsten Zweifel an der angenommenen ausreichenden Ruck-
bildung der gemiitskranken Verfassung der Frau S. und mache den von ihr
am 16. November ausgefuhrten abrupten Selbstmordversuch auch verstandlicb.
Nach diesem Gutachten, das von dem Gericht fur durchaus uberzeugend
erachtet wird, ist zweifellos eine sohuldhafte Ausserachtlassung der durch die
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Beitrag zar Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
911
arztliche Wissenschaft und Erfahrung gebotenen Vorsicht festzustellen. Dies©
Feststellung ist aber auch auf Grand des Gutachtens des Sachverstandigen
Dr. Flechsig zu treffen. Der Sinn seiner Ausfuhrungen geht doch nor dahin,
dass dem Anstaltsleiter eine grobe Fahrlassigkeit nicht zur Last gelegt werden
konne, dass aber auch nach seiner Ueberzeugung die fruhe Ueberfuhrung der
Frau S. in die offene Station zum mindesten ein sehr gewagtes Experiment
war, dass mit einem Selbstmordversuch immer nooh gereohnet werden konnte
und es vorsichtiger gewesen ware, erst eine weitere Riickbildung der Krankheit
in der Ueberwachungsstation abzuwarten. Die Sohadenersatzpflicht des Be*
klagten setzt aber keineswegs eine grobe Fahrlassigkeit voraus. Sie ist yiel-
mehr schon begrandet, wenn uberhaupt ein Verschulden des Anstaltsvorstehers
und sei es auch nur ein geringes, festgestellt werden kann. Ein solches Ver¬
schulden ist aber auf Grand beider Gutachten als erwiesen anzunehmen.
Bei Unterbringung der Kranken in der offenen Station am 15. November 1905
ist nicht hinreichend beracksichtigt worden, dass der Versuoh der Frau S.,
sich aus dem Zdge zu sturzen, in selbstmorderischer Absicht vorgenommen
sein konnte und deshalb die Gefahr eines emeuten Selbstmordversuches durch
den Verlauf der Krankheit in den folgenden drei Tagen noch nioht mit hin-
reiohenderSicherheit als aufgehoben angesehen werden durfte. Die erforderliche
Vorsicht ist daher ausser Acht gelassen worden.
Sonach erscheint der Sohadenersatzanspruch in alien Teilen dem Grande
nach gerechtfertigt.
Da der Anspruoh auch dem Betrage nach streitig war, ersohien es gemass
§ 304 der Z. P. 0. angezeigt, wie geschehen, fiber den Grand vorab zu
entscheiden.
gez. Sander. Matthiessen. Haan.
Es wurde Berufung beim Oberlandesgericht eingelegt.
Nach dem Gerichtsbeschluss vom 28. Juni 1910 soil Beweis erhoben
werden, ob die Ueberfuhrung der Ehefrau des Klagers aus der Ueberwachungs¬
station in die offene Station der Kieler Nervenklinik am 15. November 1905
vom arztlichen Standpunkle aus keinem begriindeten Bedenken unterlag.
Unter Beriicksichtigung der Tatsachen, dass die Fenster der offenen
Station ohne besondere Sicherungen sind, dass eine standige Bewachung der
Kranken, insbesondere auf dem Klosett nioht stattfand und dass dem die Ueber-
fuhrang anordnenden Arzte bekannt war, dass die Kranke am 12. November
1905 auf der Fahrt nach Kiel versucht hatte, sich aus demEisenbahnabteil zu
sturzen.
Durch Einziehung eines Obergutachtens der K5niglichen Wissenschaft-
lichen Deputation fiir das Medizinalwesen in Berlin.
Das Uinisterium der geistlichen, Unterrichts- und Hedizinalangelegen-
heiten stellte am 26. September 1910 anheim, zunachst ein Gutachten des
Uedizinalkollegiums der Provinz Westfalen einzuholen.
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E. Siemerling,
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Dieses erstattete unter dem 13. Januar 1911 folgendes
Gutacbten.
Dem KQniglichen Oberlandesgericht 2. Zivilsenat erstatten wir unter
Bezognabme auf das urschriftliche Schreiben vom 5. Oktober v. Js. and
unter Ruokgahe von 2 Bd. Akten das von uns erforderte Obergutachten
darfiber,
„ob die Ueberfuhrung der Ehefrau S. aus der Ueberwachungs-
station in die offene Station vom arztlicken Standpiinkte aus
keinen begrundeten Bedenken unterlag unter Berucksicbtigong
der Tatsachen, dass die Fenster der offenen Station ohne be-
sondere Sicherungen sind, dass einc stAndige Deberwachung
der Eranken, iusbesondere auf dem Klosett nicht stattfand und
dass dem die Ueberfdkrung anordnenden Arzte bekannt war.
dass die Kranke am 11. November 1905 auf der Fahrt nacli
Riel versucht hatte, sbch aus dem Eisenbahnabteil zu sturzen ■'
im Nacbfolgenden ergebenst.
Geschicktserzaklung.
Der Redaktenr E. S. in I. reicbte am 5. 12. 1907 aus Aulass eines
seitens seiner Frau in der Kieler Nerveuklinik erlittenen Unfalls bei
dem E&niglichen Landgerichte die Elage gegen den preussischen Fiskus,
vertreten durch den Universit&tskurator in Kiel ein mit dem Antrage,
diesen kostenpflichtig zu verurteilen. Als Begrundungi fur seine Elage
fuhrte er an, dass seine Frau, die im Jahre 1903 nach eiuer Entbindung
wegen einer melancholischen Verstimmung als vorubergehend geisteskrank
in der Roniglichen psychiatrischen nnd Nerveuklinik behandelt sei, von
ihm am 11. 11. 1905 der Anstalt wicderum babe zugefuhrt werden
mussen. Dem Assistenzarzt Dr. Flatau habe er mitgeteilt, dass seine
Frau auf der Fahrt wiederholt versucht habe, sich aus dem Zuge zu
sturzen und habe er diesen auch befragt, ob seine Frau notwendig in
den allgemeinen Erankensaal untergebracht werden musse, da sie dort
fruher uble Eindrucke gehabt habe. Am folgenden Tage habe er dar-
uber auch mit dem Professor Dr. Siemerling gesprochen, der ihm
angegeben habe, dass bei der Patientin eine Anwandlung von Schwer-
mut vorliege, die anscheinend nur leicht sei und in 2—3 Wochen
wieder gehoben sein werde. Professor Dr. Siemerling habe auch be-
merkt, es sei ihm interessant zu horen, dass Frau S. versucht habe,
sich aus dem Zuge zu sturzen und er bedaure, dass sie zun&chst auf
die Beobacbtung8station gebracht werden musse, dass er ihr aber, sobald
ihr Zustand es erlaube, ein besonderes Zimmer anweisen werde. Zwei
Tage spiter sei seine Frau dann in das erste Stockwerk der Frauenvilla
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 913
gebracht, obwohl im Parterre Zimmer vorhanden waren, aber bereits
am folgenden Tage babe sie sich aus dem Klosettfeuster gesturzt und
die Wirbels&ule gebrochea. Fur die Folgen des Unfalles machte der
Klager den KSniglich Preussischen Fiskus bezw. die Universitat Kiel
verantwortlich: ein Verschulden der Anstaltsbeamten sei darin zu er-
blicken, dass die Schwermiitige, die soeben Selbstmord versucht habe,
in die offene Villa nnd in den ersten Stock gebracht wurde, sodann
aber ein Verschulden darin zn finden, dass die Klinik nicht mit den
gebrauchlichen geeigneten Einrichtungen versehen sei, derartige Unfalle
zn verbindern, da es geboten sei, R&ume, in denen sich derartige Kranke
ohne Anfsicht aufhalten, insbesondere Klosetts usw. mit Fenstern zu
versehen, welche ein Herausspringen nicht zulassen.
Hiergegen nahm der Beklagte Stellung, indem er hervorhob, dass
die psycbiatrische Klinik in alien ihren Einrichtungen den Grunds&tzen
der modernen Psychiatric entspreche, indem die Ueberwachongsstation
mit alien Schutzvorrichtungen versehen sei, in der Abteilung fur ruhige
Kranke jedoch derartige Massnahmen aus guten Grunden vermieden
seien. Ein Verschuldeu der Beamten liege ebenfalls nicht vor, da die
Fran S. erst nach eingetretener Beruhigung in die Abteilung fur rubige
Kranke uberfuhrt sei und da nach der gewissenhaften sachverstandigen
Ueberzeugung der Aerzte kein Bedenken mehr vorlag, dem Drftngen,
sie von der Ueberwachungsstation in das offene Haus zn verlegen,
nachzugeben. Fur die Aerzte habe durchaus keine Veranlassung zn der
Befurchtung der Wiederholung eines Selbstmordversuches vorgelegen,
da die Patientin sich beruhigt hatte.
Nach dem Berichte des Direktors der KQniglicheu psychiatrischen
Klinik Professor Dr. Siemerling ist die Frau S. am 8. 11. 1903 das
erste Mai in die Klinik aufgenommen: sie litt damals (nach ihrem
ersten Wocheabett w&hrend des Stillens erkrankt) an einer Sngstlichen
Erregung mit Sinnestauschungen, beruhigte sich bald, so dass sie am
20. oder 21. 11. (Bl. 72) nach der offenen Abteilung verlegt und am
16. 12. als geheilt entlassen werden konnte. Selbstmordideen hatte sie
niemals geaussert.. Nach ihrer Entlassung soli sie wiederholt an leicbteren
Anfailen trauriger Verstimmung gelitten haben, die jedoch immer rasch
voruber gingen.
Am 12. 11. 1905 wurde sie wieder zur Klinik gebracht, nachdem
sie im Anschluss an ihre zweite Entbindung ungefahr die gleichen
Symptome wie bei der ersten Aufnahme geboten hatte. Der Ehemann
habe ausdrucklich erklart, die Symptome seien milder wie bei der ersten
Erkrankung gewesen, sie habe zu Hause keine Selbstmordideen geaussert,
nur unterwegs habe sie den Versucb gemacbt, aus dem Zuge zu springeu.
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E. Siemerling,
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In der Elinik habe sicb die Frau S. rascb wieder beruhigt und am
14. 11. eineu so freien Eindruck gemacbt, dass kein Bedenken vorlag,
ihrena und des Ebemanns Dr&ngen nacbzugeben und sie, wie das erste
Mai, aus der Ueberwachungsstation nach dem offenen Hause zu verlegen,
in dem die -Zimmer 1. and 2. Elasse eine Treppe hoch liegen. Nach
der Yerlegung sei die Frau S. munter und zufrieden gewesen, habe
keine Spur von angstlicber Verstimmung gezeigt, am folgenden Morgen
fruh sei sie dann plotzlick aus dem Fenster des Elosetts gesprungen
— wie spater angegeben in einem momentanen Anfalle von Angst —
und habe sicb einen Bruch der Lendenwirbels&ule zugezogen. Scbutz-
einrichtungen fehlten im offenen Hause im Klosett so wie an sftmtlicben
Fenstern, da sie hier wenig Zweck hatteo, da keine dauernde Ueber-
wachung statthabe, die Eranken sicb daber, wenn sie selbstmordsuchtig
seien, auch sonst beschadigen konnten.
Der am 14. 5. 1908 vernommene Dr. Flatau gab an, dass der
Zustand der Frau S. am 14. 11. 1905 ein derartiger war, dass man
die Deberfuhrung aus der Ueberwachungsstation in das offene Haus
wagen konnte, andernfalls ware diese Yerlegung vom Geheimrat Professor
Dr. Siemerling nicbt angeordnet worden. Ein Selbstmordversuch der
Eranken sei weder verargwShnt noch erwartet: der friihere Versuch der
Frau S., aus dem Eisenbahnzuge zn springen, brauche nicht unbedingt
in selbstmbrderischer Absicht unternommen worden zu sein, kOnne auch
aus der Angst und dem Widerwillen, wieder nach der Elinik gebracht
zu werden, entstandeu sein.
Der Geheimrat Professor Dr. Siemerling bekundet bei seiner
Vernehmung am 27. 6. 1908, dass der Ehemann S. ihm erkl&rt babe,
dass seine Frau in der Zwiscbenzeit (seit dem 16. 12. 1903) geistig
gesund gewesen sei, abgesehen von einigen ab und zu eingetretenen
Verstimmungen. Die jetzige Gemutserkrankuug, infolge deren Fran S.
am 12. 11. 1905 wieder aufgenommen sei, habe sich wiederum an das
Wochenbett angeschlossen, sei aber weniger schlimm (milder) als das
vorige Mai. Selbstmordideen habe sie nicht an den Tag gelegt, ab¬
gesehen davon, dass sie wahrend der Herfahrt aus dem Eisenbahnzuge
habe herausspringen wollen. Frau S. sei zun&chst in der Ueberwachungs¬
station und zwar in einem Saale untergebracht, dann aber in eins der
zur Ueberwachungsstation gehOrigen einzelnen Zimmer gebracht. Ihr
Befinden habe sich wiederum sehr schnell gebessert und habe sie
durchaus keine Anzeichen gezeigt, die auf Selbstmordideen hindeuteten.
Sie habe sehr darauf gedrangt, in die Yilla iiberfuhrt zu werden, weil
die R&uine dort angenehmer sind, auch die ganze Umgebung ruhiger
ist als in der Ueberwachungsstation. Am 15. 11. babe die Fran S.,
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Beitrag zur Verantwortlichbeit des Irrenarztes.
915
„die sich damals jedenfalls bereits in einem Einzelzimmer befand“, ihm
bei der Visite personlich den Wunsch ge&ussert, in die obere Villa
verlegt zu werden nnd habe er mit Rucksicht auf die eingetretene
Besserung — „sie war insbesondere an diesem Morgen durchaus rnbig
gewesen“ — kein Bedenken gehabt, diesem Wunsche nachzugeben. Auf
seine Anordnung hin babe am Nacbmittag dieses Tages die Verlegung
dann stattgefunden, woruber die Frau S. sich gefreut habe. Zur Zeit
der Anordnung der Ueberfnhrung der Frau S. in die Villa babe er die
Gefahr eines Selbstmordversucbes fur ausgeschlossen angesehen.
Aus einem am 16. 11. 1905, am Tage des Ungliicksfalles, vom
Professor Dr. Siemerling an den Ebemann der Frau S. gerichteten
Briefe heben wir u. a. folgendes hervor:
„Die Kranke hatte sich hier dauemd ruhig gehalten, keinerlei
Erscheinungen von Angst oder Traurigkeit gezeigt, gut gegessen
und geschlafen, so dass ibrem wiederbolten dringenden Bitten,
aus dem Wachsaal nach der Villa verlegt zu werden, gestern
nachgegeben wurde. Sie war sehr erfreut daruber, scblief die
Nacht gut und trug auch heute Morgen ein vollkommen ruhiges
und geordnetes Wesen zur Scbau. Gegen 3 / i 9 Uhr begab sie
sich, als die Pflegerin gerade mit einer anderen Patientin be-
sch&ftigt war, auf das Klosett und sprang einen Stock hoch
aus dem Fenster.Auf Fragen nach dem Grande ihrer
Tat antwortete die Kranke hur, sie sei schlecht und babe
Schuld“ ....
In einem am 17. 11. 1905 geschriebenen Briefe wird u. a. an-
gegeben:
.... die Kranke verh&It sich ruhig, ist vfillig klar, aber
leicht gedruckter Stimmung; sie hat selbst den Wunsch wieder
gesund zu werden, w&hrend sie noch gestern als Grand fur
den Sprung angab, sie sei nicht wert zu leben, sei ibrem
Manne und Kinde zu wenig gewesen.
Professor Dr. Siemerling bezeichnet in seinem an den Dr. Kr.
zu I. gerichteten Brief vom 29. 11. 1905 die Erkrankungsform der
Frau S. als „melancholische Verstimmung 11 .
Aus der Krankengeschichte ist hervorzuheben, dass Frau S. nach
ihrer am 16. 12. 1903 erfolgten Entlassung aus der Klinik noch ziem-
lich erregt war, ab und zu traurige Stimmungen bekam, sp&ter jedoch
immer guter und lustiger Dinge war. W&hrend eines Aufenthaltes in
Hamburg von Februar bis M&rz 1904 bekam sie nach einem Streit mit
ihrem Brader einen ihrer Anf&lle, lag 2 Stunden besinnungslos, war
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E. Siemerling,
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leicht erregt, legte sich bin mit gesclilossenen Augen; am folgeuden
Tage wieder gutes Befinden, roachte eine Kaffeegesellschaft mit. —
Wahrend einer Influenza im Mai 1904 zeigte sie einen 4 Tage an-
haltenden apathischen Zustand, „alles zitterte an ihr“, dann wieder
ganz gesund. Gegen Mitte Oktober 1905 erfolgte die 2. Niederkunft
normal, leicht: Frau S. stillte selbst. Nach einem Besuche der Mutter
schlief sie vom 4./5. 11. schlecht, vom G./7. 11. war sie nachts sehr
unruhig, wuhlte, hatte traurige Stimmungen, sagte, sie sei eine schlechte
Frau, machte den Ihrigen Kummer, tue nichts, keine Suizidalgedanken.
Am 11. 11. „heute Weinen und ausnehmend traurig“. Auf der Reise
nach Kiel Versuch aus dem Zuge zu springen. Am 12. 11. wurde sie
abends gegen 8 Dhr von ihrem Manne zur Klinik gebracbt, verlangte,
zu Bett gebracht, fortw&hrend nach Hause, beruhigte sich jedoch bald,
schlaft auf Schlafmittel gut.
Am 13. 11. ist angegeben: Macht alle Augenblicke Anstalten, das
Aerztezimmer zu verlassen. Behauptet, man habe sie zum Narren . . .
Sie gibt zu, traurige Gedanken gehabt zu haben. Oertlich und zeitlich
gut orientiert. Bedruckte weinerliche Stimmung. Hat in ihrem ganzen
Wesen etwas Starres, sitzt wie traumhaft da. Beantwortet die meisten
an sie gerichteten Fragen entweder nicht oder nur ganz kurz mit leiser
Stimme. Eingehende Untersuchung unmdglich, da von Patientin ab-
gelehnt.
Vom 13./14. 11.: Auf Schlafmittel ruhig geschlafen.
Am 14. 11.: Noch immer leicht gedruckter Stimmung. Liegt ruhig
zu Bett. Hat noch immer in ihrem Aeusseren etwas Traumhaftes. Isst
etwas besser. Tigliche Bader.
Vom 14./15. 11.: Auf Schlafmittel gut geschlafen.
Am 15. 11.: Erscheint heute etwas freier. Fragt, ob sie nicht
nach Villa oben verlegt werden kdnne. — Nach Villa II zwischen
5—6 Uhr abends. Freut sich, wieder in der Villa zu sein. Liegt ruhig
zu Bett.
Am 16. 11.: Geht morgens nach dem Klosett. Springt durch das
Klosettfenster auf den Hof .... Aeussert am Abend auf Befragen, sie
babe nicht mehr leben wollen, weil sie nicht mehr wert sei zu leben.
Sei nicht gut zu ihrem Mann gewesen.
Am 18. 11.: Psycbisch freier. Fragt, ob ihr Mann geschrieben
habe; schreibt ihrem Manu einige Zeilen. Kummert sich um die Vor-
gSnge in ihrer Hmgebung.
Am 1. 12.: Mitunter leicht gedruckter Stimmung, macht sich Ge¬
danken, dass ihr Leiden noch lange dauere.
Am 17. 1. 1906: Als der Arzt vorsichtig nach der Ursache ihres
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Beitrag zur Verantwortliohkeit des Irrenarztes. 917
Suizidversuches fragen will, weint sie and sagt, sie wolle nicht darfiber
sprechen.
Gesprachsweise aussert sie der Schwester Gerda gegenfiber, sie
habe sich hier unten in Baracke I scbon sehr wohl geffihlt and keinerlei
Selbstmordgedapken gebabt. Als sie nach Villa II verlegt wurde, habe
sie sich zun&chst gleich geftngstigt vor einer Mitpatientin. Da sei ihr
mit einem Male der Gedanke gekommen, sich mit einem Messer das
Leben zu nehmen. Sie hatte es aber nicht ausffihren kdnnen, weil zu
viel Menschen im Zimmer waren. In der Nacht vom 15./16. 11. 1905
habe sie ohne trfibe Gedanken geschlafen. Am 16. 11. morgens sei
ibr auch wieder gut gewesen, sie ging urn 9 Uhr anfs Rlosett ohne
Seibstmordgedanken. Hier fiffnete sie das Fenster, urn hinaoszusehen.
Da kam ihr plfitzlich der Gedanke, sie mfisse sterben, es kfinne sie
doch kein. Menscb leiden; stieg aufs Elosett, dann aufs Fenster und
sturzte sich hinaas. Von da ab wisse sie nicbts, bis sie sich in ihrem
Bett wieder fand.
Am 9. 2. 1906: Psychisch sehr heiter, ausgelassen, lacht viel,
macht Witze and Spfisse.
Am 8. 3.: Geheilt entlassen.
Hinsichtlich der ersten Erkrankang im Jahre 1903 ergibt in sich
inbezug auf die allgemeine Anamnese, dass Vater und Mutter der Frau S.
nervfis waren, eine Urgrossmutter an Schwermut gelitten hat. In der
Schule hat sie gut gelernt, war sebr ehrgeizig, konnte keinen Tadel
vertragen, wurde gelegentlich wegen eines geringen Tadels ohnmachtig.
Spfiter bekam sie haufig aus geringffigigen Anlassen, moistens infolge
Aergers, Anfalle, in denen sie sich auf den Boden warf, mit den Handen
um sich schlug, die Umgebung scheinbar nicht kannte, hfirte, was
gesprochen wurde. Vor ihrer Verheiratung war sie wegen ihrer Nervosit&t
in Hamburg in arztlicher Behandlung. Im Elternhaus leicht erregt und
schwer zu lenken, mit Verwandten kam sie oft in Streitigkeiten, konnte
sich wegen Kleinigkeiten tagelang aufregen. W ah rend der Ehe sonst
nichts Auffalliges.
Bl. 73. Am 12. 10. 1903 erstmalige Niederkunft, Entbindung leicht.
Am 1. 11. 1903 infolge des erwarteten Besuches einer Freundin nach-
mittags sehr erregt, weinte dann viel, kfimmerte sich um ihren Besuch
wenig. Gegen Abend Berubigung. Am folgenden Morgen sehr erregt,
die W&rterin habe sie schlecht behandelt, sei schroff gegen sie gewesen.
In der Nacht vom 3.—4. November grosse Onruhe, stand oft auf, ging
umber, sprach nicht dabei; schien am 4. Morgens dem Manne nicht
raehr normal zu sein; hatte die Idee, die Warterin macbe sie schlecht,
beunruhigte sich, sie kfinne dem Kinde nicht genug Nahrung geben,
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E. Siemerling,
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Wurde teilnahmslos gegen ihre ganze Umgebung, beachtete auch ihr
Kind nicht mehr. Auch mit ihrem Manne sprach sie fast garnicht,
schien ihn'auch zeitweise nicht zu kennen. Aeusserte, sie werde von
den Leuten schlecht gemacht, ihr Mann begunstige ihre Verfolger.
Nahm sehr wenigNahrung, NEchte selir unruhig. Wah rend der Schwanger-
schaft trEumte sie oft sehr lebhaft, giaubte sich in den TrEumen ver-
folgt, stand dabei auf, sprach im Traum, antwortete im Traume dem
Manne auf Frageo. Selbstmordideen hat sie nie ge&ussert. Am 8.11.1903
wurde sie gegen 11 7 a Uhr der psycbiatrischen Klinik zu Kiel ubergeben,
aus der sie am 16.11. 1903 wieder entlassen wurde. Aus der Kranken-
geschichte ist zu entnehmen, dass Frau S. bei der Aufnahme auf Be-
fragen keine Antwort gab, wEhrend der Nacht nicht schlief, aber sich
ruhig verhielt. Es ist dann weiter verzeichnet:
Am 9. 11. Sehr abweisend und widerstrebend, gibt nicht die Hand,
zeigt nicht die Zunge. Gibt auch anf energisches Zureden keine Ant¬
wort Der Gesichtsausdruck meist matt und gleichgiiltig, zuweilen nimmt
er einen Engstlicben Charakter an, sie sitzt ruhig im Bett, nestelt mit
den Handen an dem Bettzeug herum oder fasst an die Bettlehne. Passiven
Bewegungen setzt sie uberall energischen Widerstand entgegen. Nimmt
an den VorgEngen in ihrer Umgebung anscheinend gar kein Interesse.
Am 10. 11. Hat garnicht geschlafen, fast die ganze Nacht aufrecht
im Bett gesessen, dabei vollkommen ruhig. Heute Morgen sitzt sie in
hockender Stellung im Bette, zupft mit den Handen an der Bettdecke.
Blickt zuweilen mit etwas Engstlichem Gesichtsausdruck im Zimmer
herum. Gibt auf Aufforderung die Hand, auf Befragen keine Antwort
Am 14. 11. Verlasst heute mehrmals das Bett und dr&ngt nach der
Tur, l&sst sich leicht wieder zuruckfuhren.
Am 15.11. Heute Morgen scheint sie nicht mehr so widerstrebend,
gibt bei der Visite die. Hand. Noch keine sprachlichen Aeusserungen.
Am 17. 11. Scheint anf die Umgebung etwas mehr zu achten.
Am 19. 11. Gibt heute wenn auch zdgernd, doch auf die meisten
Fragen Antwort. Weiss nicht, wo sie hier ist. [Macht im Ganzen noch
einen miiden Eindruck. Bringt die Antworten muhsam hervor. Bei
passiven Bewegungen nicht mehr so widerstrebend.
Am 20. 11. Gibt heute auf die meisten Fragen, wenn auch immer
noch etwas zdgernd, Auskunft, ist aber im Ganzen etwas abweisend.
Verlangt energisch aufstehen zu durfen, weiss aber nicht, wo sie ist,
„dass wir hier in Kiel sind und wo wir sind, ist, mir noch etwas un-
klar“.
Am 21.11. Zur Villa verlegt.
Am 22. 11. Heate Besuch des Maunes. Erkundigt sich mit Interesse
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
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nach ihren AngehOrigen, fragt nach ihrem Kiude. Erkundigt sich zweifelnd
bei ihrem Manne, ob das hier auch Aerzte seien und ob sie sich wirk-
lich in einer Elinik befinde, es sei ihr so vorgekommeo, als ob sie in
eine Mordergrube geraten sei.
Am 23. 11. Unterhalt sich in durchaus geordneter Weise mit dem
Arzte, ist in keiner Weise abweisend oder widerstrebend. Sagt auf
Befragen, sie sei jetzt vollkommen uberzeugt, dass sie sich in einer
Eieler Elinik befinde, und dass sie es mit richtigen Aerzten zu tun habe.
Stimmen habe sie zu Hause nicht gehbrt, hier habe sie ihre AugehSrigen
rufen hdren.
Am 16.12. 1st in letzter Zeit dauernd vollkommen geordnet^ hat
voile Erankheitseiusicht. Wird heute noch abgeholt.
In der Sitzung der II. Zivilkammer des KSniglichen Landgerichts
zu Eiel vom 4. 2. 1909 wurde dann beschlossen, den Prof. Dr. Flechsig
zu Leipzig um ein Gutachten daruber zu ersucben:
„ob der Geisteszustand der Ehefrau S. in I., die am 12. 11.1905
wegen einer infolge Entbindung eingetretenen traurigen Ver-
stimmung in die Nervenklinik der Eieler Universitht aufge-
nommen wurde, am 14. 11. 1904 („am 16. 11. 1906“) ein der-
artiger war, dass man es nicht fur gef&hrlich erachten konnte,
sie aus der Ueberwachungsstation in das offene Haus zu uber-
fuhren oder ob damals noch namentlich mit Rucksicht darauf,
dass Frau S. am 12. 11. auf der Fahrt nach Eiel einen Ver-
such gemacht hatte, aus dem Eisenbabnzuge zu springen,
die Gefahr nahelag, dass sie einen Selbstmordversuch veruben
k6nne“.
Diesem Ersucben entsprach der Geh. Rat Prof. Dr. Flechsig
in einem am 10. 6.1909 erstatteten ausfuhrlichem Gutachten, auf dessen
Ausfuhrung wir verweisen, und in dem er zu dem Schluss kommt:
„dass der Gesundheitszustand von Frau S. zur Zeit ihrer Ver-
legung kein derartiger war, dass man es unbedingt als ge-
fahrlich erachten musste, sie aus der Ueberwachungsstation in
ein offenes Haus zu uberfubren. Ein zuverlSssiges Warteper-
sonal vorausgesetzt kann die Behandlung derartiger Eranken
in einer offenen Abteilung kaum prinzipiellen Bedenken unter-
liegen“.
In der Sitzung der II. Zivilkammer des ESniglichen Landgerichts
zu Eiel vom 27.9.1909 wurde dann weiterhin beschlossen, Beweis daruber
zu erheben.
„ob unter Berucksichtigung der Erankengeschichten von 1903
und 1906 sowie der Zeugenaussagen des Dr. Flatau und des
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920 E. Siemerling,
Geh.-Rats Dr. Siemerling der Gesundbeitszustand der Frau S.,
die am 12. 11. 1906 wegen einer infolge einer Entbinduog
eingetretenen traurigen Verstimmung in die Nervenklinik der
Kieler Universitat aufgenomraen wurde, am 14.—15. 11. 1905
vom Standpunkte des Arztes aus als ein derartiger erscheinen
musste, dass keine begriindeten Bedenken mehr vorlagen, sie
von der Ueberwachungsstation in das offene Haus zu uberfuhren,
und ob, insbesondere auch mit Rucksicht darauf, dass die
Ebefrau S. am 12. 11.1905 auf der Fabrt nach Riel einen
Versucb gemacbt hatte, aus dem Eisenbabnzuge zu springen,
trotz des kurzen Aufentbalts der Ehefrau S. in der Nerven-
kiinik von den Aerzten nacb Lage der Sache nicht mehr mit
einer Gefahr, dass sie Selbstmord veruben kdnne, gerechnet
werden musste“.
Der in der Sitzung vom 21. 10. 1909 zum Beweissatze dieses
Bescblusses zum S&chverstandigen ernannte Physikus Dr. Erman in
Hamburg kam in seinem am 30. 11. 1909 erstattenen Gutachten zu
dem Schlass:
„dass I. der Gesundbeitszustand der Frau S. am 15. 11. 1905
vom Standpunkte des Arztes aus als ein derartiger erscheinen
musste, dass begrundete Bedenken vorlagen, sie von der Oeber-
• wachungsstation in das offene Haas zu uberfuhren, und
dass 11. insbesondere auch mit Rucksicht darauf, dass die
Ehefrau S. am 12. 11. 1905 auf der Fabrt nach Kiel einen
Versucb gemacht hatte, aus dem Eisenbahnzuge zu springen,
bei kurzem Aufentbalt der pp. in der Nervenklinik von den
Aerzten nach Lage der Sache noch mit einer Gefahr, da®
sie Selbstmord veruben konne, gerechnet werden musste 11 .
Darauf bin wurde, indem wir auf die Ausfubrungen des Dr. Erman
sowie auf die Gegenerklarung des Prof. Dr. Siemerling vom 23.12.1909
verweisen, in der Sitzung der II. Zivilkammer des K&niglichen Land-
gerichts zu Kiel vom 23.2. 1910 das Zwischenurteil verkundet.
Der Klageanspruch ist dem Gruude nach gerechtfertigt.
Gegen dieses Urteil wurde seitens des KOniglicb Preussiscben Fiskus
Universitat Kiel am 16. 4. 1910 Berufung eingelegt mit dem Antrag,
unter Abandoning des angefochtenen Urteils die Frage abzuweisen und
das Urteil hinsicbtlich der Kosten fur vorlaufig vollstreckbar zu erkl&ren.
Nach der am 22. 4. 1910 erfolgten Begrundung dieses Antrags und
der am 10. 6. 1910 erfolgten Gegenerklarung des Berufungsbeklagten
wurde vom KOniglichen Oberlandesgericht zu Kiel in der Sitzung vom
4. 10. 1910 beschlossen, das Medizinalkollegium der Provinz Westfalen
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Beitrag zur Yerantwortliohkeit des irrenarztes.
921
um ein Obergutachteu daruber zu ersuchen: „ob die Ueberfiihruug der
Frau S. aus der Ueberwachungsstation in die offene Station der Kieler
Nervenklinik am 15. 11. 1905 vom &rztlichen Standpunkte aus keinen
begrundeten Bedenken unterlag unter Beriicksicktigung der Tatsachen,
dass die Fenster der offenen Station ohne besondere Sicberungen sind.
dass eine standige Ueberwachung der Kranken insbesondere auf dem
Klosett nicbt stattfand und dass dem die Ueberfiibrung anordnenden
Arzte bekannt war, dass die Kranke am 11 . 11. 1905 (12. 11.?) auf der
Fabrt nacb Kiel versncht batte, sicb aus dem Eiscnbabnabteil zu
stiirzen“.
Gutachten.
Nacb den in den Akten erhaltenen Angabeu ist die Frau S., deren
Eltern als nerv6s und deren eine Urgrossmutter als geisteskrank be-
zeicbnet werden, als neuropatbisch belastet anzusehen: als Zeichen
dieser Belastung sind die schon in friiher Jugend bei ihr nachweisbare
leicbte Reizempfindiichkeit, pldtzlicber Wechsel der Stimmung, die in-
folge geringen ausseren Anlasses sicb einstellenden Anfalle, in denen
sie sicb auf die Erde warf und mit den Hauden um sicb schlug, sowie
ibre spatere Nervosit&t, wegen deren sie wahrend ihres Studiums auf
der Handelsakademie zu Hamburg iirztlich bebandelt wurde, anzufiihren.
Nach ihrer Verbeiratuug soil ihre Gemutsstimmung eine gleichmassigere
geworden sein, aber wahrend der ersten Scbwangerschaft machteu sicb
Zeicben bemerkbar, die ihre nervose Konstitution wieder erkennen lasseu,
indem sie damals im Jahre 1903 in lebbaften Traumen sicb verfolgt
glaubte, dabei aufstand und im Traume auch ihrem Manne auf Fragen
Antwort gab. Drei Wocben nach ihrer ersten Niederkunft, wahrend des
Laktationsgeschafts, wurde Frau S. iufolge eines sonst unbedeutcnden
ausseren Vorganges plotzlich erregt, bfekundete sehr bald Beeintrach-
tigungsvorstellungen und verfiel dann in ein Depressionsstadium, das
ihre Ueberfuhrung in die psychiatrische Klinik zu Kiel am 8. 11. 1903
erforderlicb machte. Der Krankheitszustaud mit seinen allgemeinen
Hemmungsvorgangen, sowobl auf dem psychischen wie motorischen
Gebiet, verbunden mit sichtlichen Angstvorstellungen, nahm einen
gunstigen Yerlauf, indem die Frau S. bereits nacb 14 Tagen, am
21. 11. 1903, wenngleicb noch unorientiert und in depressiven Wahn-
vorstellungen befangen, von der Ueberwachungsabteilung in die offene
Villa verlegt und dann unter scknell zunebmender Erholung nacb Yer¬
lauf von weiteren 3^2 Wocben, am 16. 12. 1903, nach Hause abgebolt
wergen konnte. Nervdse Missstimmungen machten sicb nacb der Ent-
lassung jedoch zun&chst nocb weiter bemerkbar, und wie scbwaukend
ihr Verhalten, wie reizempfindlich sie nocb war, ergibt sich aus den
Arehir f. Payehiatrie. Bd. 60. Heft 2/3. 59
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922 E. Siemerling,
in der Geschichtserzahlung angefuhrten, im Jahre 1904 stattgehabten
Vorg&ngen.
Etwa 3 Wochen nach ibrer zweiten, im Oktober 1905 erfolgten
Niederkunft, w&hrend der Laktationszeit and im Anschluss an eine
leichte Gemutsaufregung (Besuch and Abreise der Matter) zeigte Frau S.
am 7. 11. 1905 wiederum eine depressive Gemutsverstimmung, sie machte
sich Selbstvorwurfe und warde dann von ihrem Manne am 12. 11. abends
der psychiatriscben Klinik wieder zugefuhrt. Der gesamte Krankheits-
zustand, der von Prof. Dr. Siemerling als „eine melaucholische Ver-
stimmung" bezeichnet worden ist, lasst nach den in der Kfankengeschichte
enthaltenen Aofzeichnangen den Grundzug d$r Depression deatlich er-
kennen, hatte jedoch bei dem Fehlen erheblicher Hemmungserscbeinungen
einen bedeutend milderen Charakter als die im Jahre 1903 dberstandene
Psychose und liess die Annahme einer gunstigen Prognose am so mehr
als berecbtigt erscheinen, als die gleichfalls im Anschluss an das
Wochenbett w&hrend der Laktation entstandene erstmalige Erkrankung
trotz ibrer schweren Symptome einen verh<nism&ssig schnellen, gaten
Verlauf genommen hatte. Da die Depression am 15. 11. zu weichen
schien, indem in der Erankengeschichte an diesem Tage „erscheint
heute etwas freier u verzeichnet ist, und da Frau S. am Morgen dieses
Tages auch „durchaus ruhig“ sich verhalten hatte, so traf Professor
Dr. Siemerling die Anordnung, die Frau' S. ihrem Wunsche ent-
sprechend am 15. 11. nachmittags in die Villa zu verlegen; bier sturzte
sie sich am folgenden Morgen gegen 9 Uhr aus dem Fenster des Klosett-
raoms und zog sich einen Bruch der Wirbels&ule zu.
Dies vorausgeschickt bleibt nunmehr die Frage zu beantworten, ob
die Verlegung der Frau S., die auf der Fabrt nach Kiel am 12. 11.
versucht hatte, sich aus dem Zuge zu sturzen, in die offene Station, in
der die Fenster ohne Sicherungen sind and auch eine best&ndige Deber-
wachung, insbesondere auf dem Klosett nicht stattfand, vom Srztlichen
Standpunkt aus keinen begrundeten Bedenken unterlag.
Bei der Erdrterung dieser Frage muss zun&chst die wissenschaftlich
allgemein anerkannte Tatsache angefuhrt werden, dass an depressiven
Stimmungen und Vorstellungen leidende Kranke Hrztlicherseits besonderer
Vorsichts- und Aufsicbtsmassnahmen bedurfen, da derartige Kranke
infolge plQtzlich eintretender Angstzust&nde sehr leicht triebartig zu
gef&hrlichen, sich sch&digenden Handlungen schreiten kCnnen. Hiernach
wutde die Verlegung urn so mehr als bedenklich beurteilt werden
mussen, als die Frau S. wenige Stunden vor der Anstaltsaufnahme sich
aus dem Eisenbahnzuge zu sturzen versucht, erst 3 Tage auf der Wach-
abteilung sich befunden, alln&chtlich noch ein Schlafpulver erhalten und
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Beitrag zor Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 923
am 15. 11. aach ihre depressive StimmuDg noch nicht ganz verloren
hatte, wobei wir es bei dem Fehlen einer darauf bezuglichen Aeusserung
der Frau S. dahingestellt sein lassen, ob sie bei ibrem Versuche im
Babuzuge einen Selbstmord Oder nur eine EntweichuDg beabsicbtigte.
Die Verlegung wfirde auch als bedenklich angeseben werden mussen,
wenn das Pflegepersonal nicht auf besondere Beachtung der in ibrem
Verhalten noch unsicheren und verdachtigen kranken Frau S. geschult
gewesen wire.
So sehr berechtigt und dringlich derartige Vorsichtsmassnahmen
gerade bei Kranken mit depressiver Stimmung nach &rztlicber Erfahrung
im allgemeinen auch erscbeinen, so wird man andererseits doch auch
hervorheben mussen, dass die Behandlungsweise der depressiven Kranken
ebensowenig wie die anderer Kranker nach einer Schablone erfolgen
kann, dass sie vielmebr individualisieren und je nacb der Eigenart des
jedesmaligen Erkrankungsfalles sich richten muss. Die Erfahrungen,
die bei der erstmaligen Erkrankung, w&tyrend deren die Frau S. nach
einem 14 t&gigen Anstaltsaufenthalte noch vOllig unorientiert und noch
nicht frei von psychischen Hemmungserscbeinungen, in die offene Villa
verlegt wurde, gemacht waren, hatten mit dieser Yerlegung einen uber-
aus gunstigen Erfolg gezeitigt, so dass man Srztlicherseits bei der
zweitmaligen Erkrankung von einer mOglichst baldigen Yerlegung in
die Villa um so mehr einen gunstigen Erfolg auf das psychische Ver¬
halten anzunehmen berechtigt war, als der Charakter der Erkrankung
gegenuber dem der ersten Erkrankung ein erheblich milderer war. Die
Yerlegung konnte auch um so weniger bedenklich erscheinen, als Frau
S. weder in ihren fruheren Jabren noch auch w ah rend ihres erstmaligen
Anstaltsaufenthalts sowie in den 3 Tagen ihres zweitmaligen Anstalts-
aufentbalts jemals Selbstmordideen bekundet hatte und' nach ihrem
erfolglosen Yersuch w&hrend der Eisenbahnfabrt als von dahingehenden
Vorstellungen entlastet angesehen werden konnte.
Yom Arztlichen Stand punk te aus musste aber einer mOglichst baldigen
Yerlegung der Frau S. in die offene Villa auch desbalb eine grosse
Bedeutung zugemessen werden, als es darauf ankam, die Kranke, die
w&hrend ihrer erstmaligen Unterbringung auf der Aufnahmeabteilung
im Jahre 1903 unangenehme Eindrucke in sich aufgenommen hatte, bei
dem zweitmaligen Aufenthalte so schnell als tunlich der MOglichkeit
zu entziehen, ungunstige Vorstellungsbilder wieder zu empfangen, sie
vor etwaigem Wiederauftauchen der letzteren zu schutzen und durch
vollst&ndig ver&nderte Dmgebung sie von alien Reizen, die sie treffen
konnten, zu befreien. Die Gelegenheit hierzu war in der offenen Villa
gegeben, die nach ihrer gesamten Einrichtung um so mehr auf eine
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E. Siemerling,
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>
weitere Entlastung der fur Sussere Eindrucke sehr empfanglichen Frau
S. wirken konnte, als diese Verlegung dem eigeuen Wunschen und
Sehuen der Kranken entsprach und auch tatsachlicli zimUchst einen
giinstigen Einfluss anscheinend ausgeubt hatte. Ohne Aufsicbt war sie
w&hrend ihres Aufenthalts in der Villa nicht, und wenn sie am 16. 11.
vormittags infolge eines pldtzlich eintretenden, vorher nicht vorhaudeuen
oder doch nicht bemerkbaren Angstzustandes den Sprung aos dem
gebffneten Klosettfenster vollziehen konnte. so war dies in dem Begleit-
umstande begrundet, dass die Pflegerin, wie Prof. Dr. Siemerling in
seinem am 16. 11. geschriebenen Briefe hervorhebt, zu der Zeit, als die
Frau S. sich zum Klosett begab, ihre Aufmerksamkeit gerade einer
anderen Kranken zuwenden musste.
In dem vorliegenden Falle ware es zwar besser gewesen, wenn das
Fenster auf dem Klosett ein Durchlassen des Korpers nicht ermoglicht
h&tte, aber dann war die Vornahme einer sch&digenden Tat immerhin
noch auf andere Weise nicht ausgeschlossen, denn Unglucksfalle ahn-
licher Art konuen sich auch in den bestgeleiteten und besteingericbteten
Anstalten ereignen, wie auch Selbstsch&digungen und Selbstmorde schon
auf Wachabteilungen vorgekomroen sind, trotz standiger. bei Tag und
Nacht stattfindender Beaufsichtigung. Gitter und Eisenstangen, undurch-
steigbare Fenstereinrichtungen usw. schutzen die Anstalten und deren
Kranke nicht vor Dnglucksfallen, und wenn die heutige Behandlung der
Geisteskraoken von derartigen Einrichtungen soweit wie eben moglich
Abstand genommen bat, auch direkte Zwangsmassnahmen in der Be¬
handlung der Kranken zu meiden sucht, indem der fruhere mechanische
Zwang durch grossere dem Kranken zugewandte Aufsicht und intensivere
Beobachtung ersetzt wird, so geschieht dies im Interesse der Kranken
selbst, da die Erfahrung gezeigt hat, dass Zwangsmassnahmen fur eiue
nutzbringende Behandlung der Kranken meist nachteiiig sind, und dass
bei der freieren Behandlungsart viel weniger Unglucksfalle in den An¬
stalten sich ereignen, als in fruheren Zeiten, wo man durch bauliche
Schutzmassregeln der verschiedensten Art, durch vergitterte Fenster usw.
den Kranken vor Selbstsch&digungen undEntweichungen zu schutzen suchte.
Nach den vorstebenden Ausfuhrungen geben wir auf Grund des
Akteninhalts unser Gutachten dahin ab, dass die Ueberfuhrung der
Frau S. aus der Ueberwachungsstation in die offene Station der Kieler
Nervenklinik am 16. 11. 1905 nach dem Krankheitszustande der Frau S.
sowie nach den Einrichtungen der Villa nicht frei von begrundeten
Bedenken war, dass diese Ueberfuhrung jedoch bei sonst zuverl&ssigem
und gut geschultem Pflegepersonal vom Srztlichen Standpunkte aus zu-
lassig erscheinen konnte und grunds&tzlichen Bedenken kaum unterlag.
gez. von der Recke.
Go^ 'gle
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CORNELL UNfVERSSTV
Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
925
Am 27. 6. 1911 wurde folgender Beschluss verkiindet:
I. Es soli dariiber Beweis erhoben werden,
1. ob am 15. und 16. 11. 1905 in der Villa 11 der Koniglichen Psychi-
airischen und Nervenklinik in Kiel, d. h. in dem ersten Stock der Villa, in
der die Kranken I. und II. Klasse liegen, abgesehen von einigen Privat-
pttegerinnen fiir die Kranken I. Klasse, nur 2 Pflegerinnen, namens Auguste
und Liesbeth, vorbanden waren, ob diese samtliche Raume in Ordnung zu
halten, die Betterv zu machen, das Essen einzurichten und zu servieren, den
Tisch zu decken, den Kranken die verordneten Medizinen und Bader zu ver-
abfolgenund deshalb keine Zeit hatten, die einzelnen Kranken zu beobachten,
und ob von den genannten beiden Pflegerinnen die Pflegerin Liesbeth aus-
schliesslich zur Pflege einer bestimmten Kranken bestellt war,
Oder ob an den genannten Tagen in der Villa II 6 Pflegerinnen Dienst
hatten, von denen die Pflegerin A. Dietz die Aufsicht tiber die ganze Station,
die Pflegerin L. Geier die Ordnung in der Spiile hatte, wahrend die iibrigen
4, namlich L. Sieck, E. Wilhelmi, J. Swensen und M. Nowack unter Anleitung
der Stationspflegerin fur die Krankenpflege auf die einzelnen Zimmer naoh
Bedarf verteilt waren und ob die Oberin besonders fiir die Kranken in der
Villa II die Krankenschwester Garda Ehneroth beigegeben war,
ob in der Nacht vom 15. zum 16. 11. die 3 Pflegerinnen Sieck, Geier
und Wilhelmi Nacbtdienst in der Villa II gehabt haben, wahrend die Oberin
ebenfalls dort geschlafen hat,
ob Mitte November 1905 die Villa II mit 11 bis 12 Kranken belegt war, so
dass am Tage auf je 2 Kranke eine Pflegerin kam,
durch Vernehmung
a) des Geheimrats Prof. Dr. Siemerling in Kiel
b) der vom Beklagten noch zu benennenden Oberin
c) des Frauleins Lolly in Wyk a. F.
d) der Schwester Gerda Ehneroth in Stockholm, Vestmanpagaten 50 II
als Zeugen, zu a von beiden Parteien, zu c und d vom Klager benannt;
2. ob alle Pflegerinnen sofoft nach ihrem Eintritt mit den Bestimmungen
der Berufsordnung bekannt gemacht und regelmassig von einem Assistenzarzt
in der Krankenpflege unterrichtet, besonders in derBeobachtung, Ueberwaohung
und Pflege der Kranken ausgebildet werden, auch ihre Beobachtungen ifber
jede Kranke in Form eines Berichts niederschreiben miissen,
ob in den Dienst der Psychiatrischen Klinik in Kiel eingetreten waren
die Schwester Ehneroth am 1. 6. 1905,
„ Pflegerin Dietz am 15. 6. 1903,
„ „ Wilhelmi am 2.7. 1905,
„ „ Geier am 17. 10.1905,
„ „ Sieok am 15.6. 1905,
„ „ Nowack am 2. 7. 1905,
„ „ Swensen am 8.9. 1905,
ob sie bereits vor ihrem Eintritt in der Beobachtung und Pflege der Kranken
ausgebildet und zuverlassig waren,
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CORNELL UNIVERSE
926
E. Siemerling,
duroh Vernehmung
a) des Geheimrats Prof. Dr. Siemerling
b) der von dem Beklagten zu benennenden Oberin
and darch Vorlegang der ^kkten der Klinik dber die Pflegerinnen.
II. Sodann soil das Konigliche Medizinalkollegiam in Monster urn ein
Gatachten dardber ersncht werden, ob nach dem Ergebnis der Beweisanfnahmen
mit Rdcksicbt auf die Zaverlassigkeit, gate Schalang and Zahl des Pflege-
personals die Ueberfdhrang der Fraa S. in die offene Station der Xieler Nerven-
klinik am 15. 11. vom arztlichen Standpunkt aus keinem Bedenken anterlag.
Die 34jahrige Toni Lolly gab bei ihrer Vernehmung am 18. 10. 1911
in Wyk folgendes an:
Ich bin etwa Mitte November naoh Kiel in die Klinik zu Prof.Siemerling
gekommen and zwar habe ich im ersten Stock der sogenannten Damen -Villa
gewohnt. Ich bin im ganzen 4 Monate daselbst gewesen; wahrend der ersten
3 Wochen etwa habe ich fortwahrend im Bett gelegen. Ich weiss, dass der
Unfall der Klagerin einige Tage vor meiner Ankunft sich ereignet hatte.
Wieviel Pflegerinnen im einzelnen far den oberen Stock der Damen-Villa zor
Verfugang standen, kann ich genau nicht angeben. Wahrend der ganzen Zeit
ist die Oberpflegerin Auguste Dietz dort gewesen, wahrend die iibrigen Pflege¬
rinnen dort gewechselt haben. Ein Fraalein Kaufmann and spater auoh eine
Frau Dumas batten Privatpflpgerinnen. Ich meine, dass die Pflegerin Liesbeth
bei Fraalein Kaafmann war. Die Pflegerinnen batten far das Essen and far
das Ordnen der Betten, fur das Verabreichen der Medizin zu sorgen. Ich
erhielt elektrische Bader in einer Baracke. Dazu begleitete mich eine Pflegerin,
wahrend eine andere Pflegerin, die in der Baracke war, das Bad in Ordnung
maohte. Andere Frauen, die Zimmer Oder Betten in Ordnung machten, habe
ich nicht gesehen. Ieh habe ebenso wie die Damen, mit denen ich zasammeo
lag, mein Bett selbst gemaoht and auch die Wascbgeschirre gereinigt, weil
letzteres sonst nicht ordentlich gemaoht wurde. Als ich naohher nicht mehr
im Bett lag, habe ich wohl mal in der Kuche mehrere Pflegerinnen gesehen,
es konnen dies aber hdchstens 5 gewesen seiu mit den Privatpflegerinnen. Ich
erinnere mich, dass eine Pflegerin Lotte and anch eine Pflegerin Martha zu
Zeiten da war, die Krankenschwester oder Nachtwache Ehneroth dagegen, ass,
soviel ioh erinnere, nor in dem oberen Stock der Damen-Villa. Sonst meine
ich nicht, dass sie irgend welche Tatigkeit dort ausdbte.
Wie bereits hervorgehoben, kann ich genauere Angaben dber die Zahl
der Pflegerinnen, die za gleicher Zeit im oberen Stock beschaftigt waren, nicht
machen. Naoh meiner Erinnerung war die Aagnste Dietz immer da, ferner
die Liesbeth, die aber aassohliesslioh far Friiulein Kaafmann zu sorgen hatte,
eine Pflegerin fur die Frau Dumas, dann vermute ich, dass noch eine in der
Spule tatig war, die sich aber wohl nicht am die Kranken kummerte.
Naoh meiner Erinnerung war die Martha bis reichlich nach Weihnachten
als Privatpflegerin bei Fraa Dr. Dumas. Nachher kam eine Lotte.
Was den Nachtdienst anbetrifft, so schlief die Oberin stets im ersten
Stock der Damen-Villa, wahrend einer Krankheit der Frau Damas hat anch
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Beitrag zar Ver&ntwortlichkeit des Irrenarztes.
927
eine Pflegerin (Lotte) in einem Bett anf dem Korridor geschlafen. Perner hat
die Priyatpflegerin von Fraulein Kaufmann, jedenfalls zeitweise, bei derselben
geschlafen.
Wie stark die Belegnng zar Zeit meiner Ankanft war, kann ich nicht
sagen, zumal ich ja bestandig im Bett lag. Ich meine aber aus Gesprachen
gehort zu haben, dass die Station ganz besetzt war.
Die am 28.12. 1911 in Stockholm vemommene Oberin Gerda Ehneroth
gibt an:
Im November 1905 ist die Zeugin mit einer anderen Krankenpflegerin
namens Magdalene Erhardt als Vorsteherin bei den in der Villa II bei der
Kgl. Psychiatrischen und Nervenklinik in Kiel eingerichteten Abteilungen fur
weibliehe Patienten angestellt gewesen und hat in soloher Eigenschaft ab-
wechselnd mit Magdalene Erhardt die Aufsicht fiber die in die genannte
Abteilung aufgenommenen Patienten ausgeiibt. Nach dem, was Zeugin sich
erinnert, hatte eines Morgens im genannten Monat — den Tag konnte Zeugin
jetzt nicht naher angeben — Frau A. S., die damals in die Klinik aufgenommen
war, den Versuch gemacht, sich das Leben zu nehmen dadurch, dass sie sich
aus einem Klosettfenster stiirzte. Abgesehen von einigen Privatpflegerinnen,
deren Zahl Zeugin jetzt nicht angeben konnte, hatten, soweit Zeugin erinnert,
zur fraglichen Zeit in dem ersten Stockwerk der Villa nur 2 Pflegerinnen
Dienst getan, von denen eine namens Auguste Dietz die Aufsicht uber die
ganze Station hatte. Den Namen der 2. Pflegerin hatte Zeugin nunmehr ver-
gessen. Diese beiden Pflegerinnen, von denen, soweit Zeugin nun erinnert,
koine bestellt war, urn eine bestimmte Patientin zu warten, hatten zur Obliegen-
heit gehabt, die samtliohen Raume in Ordnung zu hatten, dieBetten zu machen,
die Patienten zu bedienen, mit dem Essen und ihnen die vorgeschriebenen
Arzneien und Bader zu geben, dagegen aber nicht den Patienten $peise zuzu-
bereiten. Die Arbeiten, die solchergestalt den fraglichen beiden Pflegerinnen
oblagen, hatten indessen Ansicht der Zeugin nioht den Umfang, dass diese
gehindert warden, die Aufsicht uber die betreffenden Patienten auszufiben, da
ein Teil der Patienten, fiie sich gewalttatigen Gemiits zeigten, von Privat¬
pflegerinnen gewartet warden.
Ob zu der Zeit oder nachst vor dem Selbstmordversuoh der Frau S. einige
Pflegerinnen mit Namen L. Geier, L. Sieck, E. Wilhelmi, J. Swensen und
M. Nowack in der Villa II Dienst taten, konnte Zeugin nunmehr naoh Verlauf
so langer Zeit sich nicht erinnern, noch weniger, wie dann das Verhaltnis war,
wonach die Arbeiten unter diese Pflegerinnen verteilt waren. Die Nacht nachst
dem gedachten Selbstmordversuch hatte die Zeugin in der Villa zugebracht
und in der fraglichen Nacht hatte Magdalene Erhardt ihre Schlafstelle in
derselben Etage gehabt. Welche Pflegerinnen in der zuletzt gedachten Nacht
im Dienst waren oder sonst — neben der Zeugin und Magdalene Erhardt —
dieNacht in der Villa zubrachten, konnte Zeugin jetzt sich nicht erinnern. Ebenso
wenig erinnert sich Zeugin, wieviele Patienten Mitte November in die Villa II
aufgenommen waren. Ueber Weiteres, als Zeugin nun ausgesagt hatte, konnte
sie in dieser Sache keine Auskunft geben.
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928
E. Siemerling,
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Der als Zeuge am 24. 2. 1912 vernommene Geheimrat Siemorling be-
richtet: Der Zeuge uberreichte den Plan des 1. Stocks der Franenvilla, der
sogenannten Villa II. Der Klager erkannte diese Zeichnung als richtig an. Der
Zeuge erklarte darauf: Am 15. und 16. 11. 1905 waren in der Villa II, d. h. im
1. Stock der Frauenvilla, 12 bis 13 kranke Damen mit Frau S. Frau S. schlief
in der Nacht in dem ersten Zimmer links von der Veranda, in dem ausser ihr
noch 2 Kranke schliefen.' In dieser Villa hatten Tagesdienst die Pflegerinnen
Auguste Dietz, Geyer, Sieck, Wilhelmi, Svensen und Nowack. Von diesen
waren die 4 letzten besonders zur Beaufsichtigung je einer bestimmten Dame
bestellt. Indessen bedurften diese Damen, mit Ausnabme der Frau E., die die
Pflegerin Nowack zu beaufsichtigen hatte, einer dauernden Aufsicht aber nicbt,
so dass die Pflegerinnen Sieck, Wilhelmi und Svensen sich auch den anderen
Kranken auf der Station widinen konnten. Ich iiberreiche eine Liste der damals
in der Villa II befindlichen Kranken, ausser Frau S., in der sich auch kurze
Notizen der Pflegerinnen liber ihr Verhalten befinden, aus denen zu entnehmen
ist, wie weit sie der Aufsicht und der Pflege bedurften. Diese Liste 1st eine
wortliche Abschrift aus den Borichten der Aerzte und Pflegerinnen. Die
Pflegerinnen hatten die Raume in Ordnung zu halten, die Betten zu machen.
das Essen zu servieren und erforderlichenfalls aufzuwarmeu, die Tische zn
decken, den Kranken verordnete Medizin und Bader zu verabfolgen, hin und
wieder auch in der Spiile eine kleinere Speise, wie z. K ein gekochtes Ei, her-
zustellen. Meines Erachtens lasst ihnen diese Tatigkeit genfigend Zeit zur Be¬
aufsichtigung der Kranken. Die Oberaufsioht fiber die Kranken hatten 2 Ober-
schwestern, Fraulein Ehrhardt und Fraulein Ehneroth, d. h. Tiber die samtlichen
kranken Frauen in der ganzen Anstalt. Diese besuohten die einzelnen Raume
und Kranken je nach Bedarf und begleiteten mich sowie den Assistenzam
bei den taglichen Besuchen in den verschiedenen Raumen. Die anderen
6 Pflegerinnen hielten sich dagegen standig in der Villa II auf, sofern sie
nicht eine Kranke auf dem Spaziergange begleiteten. Jede Pflegerin erbalt ein-
oder zweimal wochentlioh Urlaub fur den Nachmittag, jedoch tritt far sie ein
Ersatz ein, soweit dies notwendig ist. Am 15. 11. hatte keine Pflegerin von
der Villa II Urlaub, am 16. 11. Fraulein Dietz, wie ioh aus meinen Buchera
entnehme.
Die Tiiren in der Villa sind nicht verschlossen und stehen haufig auf. In
der Nacht schlief auf der Villa II die Oberin und ausserdem 3 Pflegerinnen; wo
sie schliefen, richtete sich nach den Umstanden. In der Regel schlief eine
Pflegerin in dem mit 3 Kranken belegten Zimmer oder in dem grossen Schlaf-
saal hinten, die zweite in dem nach diesem Schlafsaal fiihrenden Flur und die
dritte bei einer Kranken. Die Oberin schlief in dem Zimmer neben dem ge-
nannten Flur. Das Verzeichnis fiber den Nachtdienst der g^nannten Pflegerinnen
Bl. 73 d. A. ist vollig richtig. Es hatten danach also in der Nacht vom
15. zum 16. 11. die Pflegerinnen Sieck, Geyer und Wilhelmi geschlafen, ausser
der Oberin. Ein eigentliches Wachen fand unter gewohnlichen Umstanden
nicht statt, weil die Damen auf der dortigen Abteilung eine regelmassige Be-
wachung nicht notig hatten.
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
929
Ich iiberreiche kurze Notizen iiber die einzelnen Pflegerinnen, die aus
ihren Personalakten entnommen sind. Ich iiberreiohe auch diese Personal-
akten. Die Pflegerinnen erhalten sofort naoh ihrem Eintritt ein Exemplar der
Berufsordnung zu ihrer Verftigung, aus der sich ihre Pflichten, insbesondere
auch den Kranken gegeniiber, ergibt. Naoh 8—14 tagiger Tatigkeit in der An-
stalt nebmen sie an dem Unterricht teil, den ein Assistenzarzt wochentlich
1—2mal uber die Pflege und Bewachung der Nervenkranken erteilt, und in
dem auch insbesondere die Berufsordnung erklart wird. Sie mussen ihre
Beobachtungen uber die einzelnen Kranken taglich als Unterlage fur den Arzt
notieren.
Ich iiberreiche die iiber Frau S. aufgenommenen Pflegerberichte. Ueber
diejenigen Kranken, die eine spezielle Pflegerin hatten, berichtete diese, iiber
die anderen Kranken war eine bestimmte Pflegerin zur Abgabe des Berichts
nicht vorhanden. In der Regel berichtete die Stationspflegerin.
Ich iiberreiche mit Zustimmung des Herrn S. neun Pflegerinnenberichte
und einen vom Arzt angeordneten Stundenplan.
Auf Befragen des Klagers:
Das Oeffnen eines Fensters in einem Krankenzimmer, welches in
gewohnlicher Weise geschieht, wird im Nebenzimmer kaum gebort
.werden konnen, soweit ich annehme. Ob es im Tagesraum gehort
wird, mit dem die Zimmer durch eine Tiir verbunden sind, weiss
ich nicht.
In welchem Raum in der Villa II die Pflegerinnen sich am Tage auf-
hielten, richtete sich naoh den Umstanden. Eine Vorschrift, dass regelmassig
sich eine Pflegerin im Tagesraum aufhalten muss und dass die Tiir zur Spiile "
offenbleiben muss, besteht nicht.
Als Pflegerinnen werden nur Madchen mit guten Zeugnissen angenommen.
Und es gibt keine bestimmte Reihenfolge der Raume, in denen sie nacheinander
beschaftigt werden. In der Kegel kommen sie zunachst in den Wachraum, in
dem sich die neu aufgenommenen Kranken befinden, indessen kann es auch
vorkommen, dass sie gleich in der Villa II beschaftigt werden. Es liegt in der
Natur der Saohe, dass die Oberinnen besonders diese neuen Pflegerinnen be-
achten und mir dann nach einiger Zeit iiber ihre Tatigkeit berichten. Die
Schwester Eheneroth hatte neben anderen Tatigkeiten auch zu massieren, ich
weiss jedoch nicht, wie weit sie mit dieser Tatigkeit gerade Mitte November in
Anspruch genommen war.
Die Zeugin Oberin Ehrhardt gibt an: Wieviel Kranke am 15. und
16. 11. 1905 in der Villa II lagen, weiss ich nicht. Ich weiss auch nicht mehr,
welche Pflegerinnen damals dort beschaftigt waren. Fraulein Dietz und
Fraulein Wilhelmi haben mir jedoch auf Befragen erklart, dass damals aus-
nabmsweise viele Pflegerinnen in der Villa II tatig waren. Einzelne von ihnen
hatten einzelne Kranke besonders zu pflegen. Ich weiss jedoch nicht mehr,
inwieweit diese besondere Pflege ihre Tatigkeit in Anspruoh nahm. Gewohn-
lich haben solche Pflegerinnen noch Zoit genug, auch bei der Beobachtung
und Pflege der anderen Kranken zu helfen und sind auoh dazu verpflichtet.
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930
E. Siemerling,
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Die Pflegerinnen haben die Raume in Ordnung zu halten, Betten zu machen,
das Essen den Kranken zu bringen, nachdem es aus der allgemeinen Kfiche in
die Spfile gebracht war, den Tisch zu decken und den Kranken Medizin and
Bader zu verabfolgen. Diese Arbeiten liessen den Pflegerinnen meines Er-
achtens aber genfigend Zeit, um die Kranken sonst zu beobachten. Sie halten
sich den Tag fiber standig in der Villa auf und es kommt nur selten vor, dass
sie eine Kranke auf dem Spazierwege begleiten. Jede Pflegerin erhalt durch-
scbnittlich wochentlich einen Nachmittag Urlaub. Indessen wird an ihre Stelle
eine andere Pflegerin in die Villa hineingelegt, wenn es erforderlich ist. Ein
bestimmter Raum, in dem sie sich tagsuber aufhalten mfissen, ist ihnen nicht
angewiesen, sie halten sich eben da auf, wo sie nbtig sind, vielfach auch in
dem Tageraum. Ob die Tfiren zu den einzelnen Zimmern offenstehen, das
hangt yon den einzelnen Kranken ab. Es kommt aber auch vor, dass der Arzt
das Offenstehen der Tfiren anordnet, um eine bessere Beobachtung der Kranken
herbeizuffihren. In der Nacht findet ein eigentlicher Waohdienst in der Villa 11
nicbt statt. Ich schlafe jcdoch regelmassig dort, und zwar in dem neben der
Treppe belegenen Zimme.r. Gewohnlich schlaft mindestens noch eine andere
Pflegerin in der Villa und es Hangt von den Umstanden ab, wo sie ihr Bett
aufstellt. Die fibrigen schlafen anderswo. In der Nacht vom 15. zum 16.11.1905
schliefen nach den Bfichern ausser mir die Pflegerinnen Sieck, Geyer und
Wilhelmi noch in der Villa. Wo, weiss ich aus eigener Wissenschaft nicht
mehr. Fraulein Dietz und Fraulein Wilhelmi sagten mir jedoch, die eine hatte
auf dem Flur neben meinem Schlafzimmer, die zweite in dem Zimmer fur
3 Kranke Oder in dem hinteren Schlafsaal und die dritte bei einer Kranken ge-
schlafen. Aus welcher Veranlassung damals die 3 Pflegerinnen in der Villa
schliefen, insbesondere ob dies auf arztliche Anordnung gesohehen ist, weiss
ich nicht. Die Pflegerin, die bei der Kranken schlief, wird es jedenfalls auf
arztliche Anordnung getan haben.
Es werden nur solche Madchen als Pflegerinnen angenommen, die gute
Zeugnisse aufweisen konnen, und sie erhalten sofort ein Exemplar der Berufs-
ordnung, aus der sie sich fiber ihre Pflichten unterrichten mfissen. Kurze Zeit
nach Beginn ihrer Tatigkeit nehmen sie auch an dem Unterrioht teil, der
wochentlich 1- oder 2mal von einem Assistenzarzt in der Krankenpflege und
Ueberwachung der Kranken erteilt wird. Die Pflegerinnen haben auch taglich
morgens und abends fiber ihre Beobachtungen bei den Kranken zu berichten,
und zwar tut dies bei denjenigen Kranken, denen eine bestimmte Pflegerin zu-
gewiesen ist, diese, bei den anderen die sogenannte Stationspflegerin. Die
Pflegerinnen werden zuerst in dem sogenannten Wachsaal beschaftigt und
kommen erst spater in die Villa II. Ich kann mich nicht erinnern, dass eine
Pflegerin gleich nach ihrem Eintritt in die Villa II gekommon ist, ich glaube
es auch nicht.
Wann die einzelnen im Beweisbeschluss benannten Pflegerinnen in den
Dienst der Klinik eingetreten sind, weiss ich nicht mehr, es muss sich dies aus
den Person&lakten ergeben. Die Ehneroth, Dietz und Wilhelmi waren bereits
in der Krankenpflege ausgebildet, als sie zu uns kamen, ob auoh die fibrigen,
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Beitrag zar Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 931
weiss ich nicht mehr. Soweit ich mich erinnere, habe ich irgendwelche
Unzuverlassigbeiten bei ihnen nicht bemerkt. Der Svensen kann ioh mich
allerdings nor sehr wenig erinnern, weil sie nor kurz bei nns war.
Die Villa II ist eingerichtet far hochstens 12, 13 Kranke. RegelmSssig
sind dort 2 Pflegerinnen standig beschaftigt, andere Pflegerinnen nur, wenn
einer Kranken eine besondere Pflegerin zugewiesen wird. Sollten die beiden
standigen Pflegerinnen mit der Arbeit nicht fertig werden, dann schicke ich
ihnen noch eine oder zwei Pflegerinnen zar Hilfe. Seit wann die 6 Pflegerinnen
in der Villa tatig waren and wie lange dort ihre. Tatigkeit in Aassicht ge-
nommen war, weiss ich nicht.
Das EOnigliche Medizinalkollegium zu Munster erstattete unter dem
2. 4. 1912 folgendes
Gutacb^ten.
Dem Kfiniglichen Oberlandesgerichte ubersenden wir in Erledigung
des gefilligen orschriftlichen Schreibens vom 16. 3. d. J. das durch
Beweisbeschluss vom 27. 6. 1911 (Bd. J1 Bl. 4 Nr. II) das von nns er-
forderte Gutachten
„ob nacb dem Ergebnis der Beweisaufnahme mit Racksicbt
auf die Zuverlflssigkeit, gute Schulung und Zahl des Pflege-
personals die Oeberfuhrung von Frau S. in die offene Station
der Eieler Nervenklinik • am 15. 11. 1905 vom flrztlichen Stand-
punkte aus keinem Bedenken unterlag“
im nachfolgenden unter ftuckgabe von Bd.-Akten und Anlagen ergebenst.
Geschichtserz&hlung.
Am 12. 11. 1905 musste die Frau S. aus I., die wegen akuter nacb
der Entbindung aufgetretener geistiger Erkrankung (Melancholie) vom
8. bis 16. 11. 1903 in der Koniglichen psychiatrischen und Nervenklinik
in Kiel sich befunden hatte, wiederum wegen einer melancbolischen Ver-
stimmang, die sich an das zweite Wochenbett angeschlossen hatte, der
psychiatrischen Klinik zugefuhrt werden. Wahrend der Fahrt hatte sie
Versuche gemacht, sich aus dem Zuge zu sturzen, und wurde sie dann,
in Kiel abends angelangt, zunachat auf den allgemeinen Wachsaal (Be-
obacbtungsstation) der psychiatrischen Klinik untergebracht. Von diesem
Wachsaal wurde sie am 15. 11. nachmittags ihrem eigenen Wunscke
entsprechend, zumal sie nach der Angabe des Prof. Dr. Siemerling
„insbesondere am Morgen dieses Tages durchaus ruhig gewesen war u
(in der Krankengeschichte ist angegeben: „erscheint heute etwas freier u ),
in die Villa II verlegt. In dieser Villa, die im I. Stock fur ruhige
Kranke I. und II. Klasse bestimmt ist, sind besondere Schutzvorrich-
tungen fur die Kranken nicht getroffen. Am 16. 11. 1905 morgens
gegen */ 4 9 Uhr begab sie sich, als die Pflegerin nach Angabe des Pro-
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E. Siemerling,
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lessor Dr. Siemerling gerade mit einer anderen Patientin besch&ftigt
war, auf das Klosett, stfirzte sich aus dem Fenster daselbst und zog
sich durch den Sturz einen Bruch eines Lendenwirbels zu, ihre Tat
spater damit begrundend, „sie sei schlecht and habe Schuld“, „sie sei
nicht wert zu leben, sei ihrem Mann und Kinde zu wenig gewesen“.
In Erganzung der in unserem Obergutachten vom 13. 1. 1911 enthaltenen
Angaben heben wir aus den nunmehr uns vorgelegten Aufzeichnungen,
wie sie die Pflegerinnen der Beobachtungsstation fiber die daselbst unter-
gebrachten Kranken zu machen haben, folgende fiber das Verhalten der
Frau S. gemachten Angaben bervor:
13. 11. 1905: Patientin liegt ruhig zu Bett, spricht wenig, ist sehr
verstimmt, weinte morgens viel, wenig gegessen. Gut gescblafen.
14. 11.: Patientin liegt ruhig zu Bett, fragt oft, ob sie nicht bald
wieder nach Hause kommt, spricht sonst sehr wenig. Gut geschlafen.
15. 11.: Patientin liegt ruhig zu Bett, spricht sehr wenig, ist abends
nach Villa II verlegt. Gut geschlafen.
16. 11.: Patientin versuchte morgens zu entfliehen, ging in das
Klosett und sprang aus dem Fenster, wurde nach der Baracke verlegt.
Nach den von dem Geheiwrat Dr. Siemerling bei seiner am
24. 2. d. J. gerichtlichen Vernehmung gemachten Angaben waren am
15. und 16. 11. 1905 in der Villa II, d. h. im ersten Stock der Frauen-
villa 12—13 kranke Damen mit Frau S., die in der Nacht mit noch
zwei Kranken zusammen in dem ersten Zimmer links von der Veranda
schlief. „In dieser Villa hatten Tagesdienst die Pflegerinnen Dietz,
Sieck, Wilhelmi, Swensen und Notoack, von denen die vier letzteren
besonders zur Beaufsichtigung je einer bestimmten Dame bestellt waren.
Indessen bedurften diese Damen mit Ausnahme der Frau E., die die
Pflegerin Nowack zu beaufsichtigen hatte, einer dauernden Pflege oder
Aufsicht nicht, so dass die Pflegerinnen Sieck, Wilhelmi und Swensen
sich auch den anderen Kranken auf der Station widmen konnten. lch
ubergebe eine Liste der damals in der Villa II befindlichen Kranken
ausser Frau S. . . .; diese Liste ist eine wdrtliche Abschrift aus den
Berichten der Aerzte und Pflegerinnen. Diese Pflegerinnen hatten die
R&ume in Ordnung zu haltcn, die Betten zu machen, das Essen zu ser-
vieren und erfc/rderlichenfalls aufzuwarmen, die Tische zu decken, den
Kranken verordnete Medizin und Bader zu verabfolgen, hin und wieder
auch in der Spfile eine kleine Speise, wie z. B. ein gekochtes Ei her-
zustellen. Meines Erachtens lfisst ihnen diese Tfitigkeit genugend Zeit
zur Beaufsichtigung der Kranken. Die Oberaufsicht fiber die Kranken
hatten zwei Oberschwestern, Frl. Ehrhardt und Frl. Ehneroth, d. h. fiber
die s&mtlichen kranken Frauen in der ganzen Anstalt . . .
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
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Die Tiiren in der Villa II sind nicht verschlossen und stehen h&ufig
auf. In der Nacht schlief anf der Villa II die Oberin und ausserdem
drei Pflegerinnen; wo sie schliefen, ricbtete sich nach den Umst&nden.
In der Regel schlief eine Pflegerin in dem mit drei Eranken belegten
Zimmer oder in dem grossen Schlafsaal hinten. Die zweite in dem nach
diesem Schlafsaal fdhrenden Flur und die dritte bei einer Krankeu.
Die Oberin schlief in dem Zimmer neben dem genannten Flur. Es
batten in der Nacht vom 15. zum 16. 11. die Pflegerinnen Sieck, Geier
und Wilhelmi geschlafen ausser der Oberin. Ein eigentliches Wachen
fand unter gewdhnlichen Umstanden nicht statt, weil die Damen auf
der dortigen Abteilung eine regelm&ssige Bewachung nicht ndtig batten.
Die Pflegerinnen erhalten sofort nach ihrem Eintritt ein Exemplar
der Berufsordnung zu ihrer Verfugung, aus der sich ihre Pflichten ins-
besondere auch den Kranken gegenuber ergeben. Nach etwa 8—14 tagiger
Tatigkeit in der Anstalt nehmen sie an dem Unterrichte teil, den ein
Assistenzarzt wdchentlich 1—2 mal fiber die Pflege uud Bewachung der
Nervenkranken erteilt und in denen besonders auch die Berufsordnung
erkl&rt wird. Sie mfissen ihre Beobachtungen uber die einzelnen
Kranken t&glicli als Unterlage fur den Arzt notieren ... In welchem
Raume in der Villa II die Pflegerinnen sich am Tage aufhielten, ricbtete
sich nach den Umstauden. Eine Vorschrift, dass regelmassig sich eine
Pflegerin im Tagesraum aufhalten, und dass die Tfir zur Spfile offen-
bleiben muss, besteht nicht.“
Die Oberin in der Nervenklinik Alagdalene Ehrhardt sagt bei ihrer
Vernehmung, gebort zu haben, dass am 15. und 16. 11. 1905 ausnahms-
weise viele Pflegerinnen in der Villa II tatig waren, von denen jedoch
einzelne bestimmte Kranke besonders zu pflegen hatten. Inwieweit diese
besondere Pflege ihre Tatigkeit in Anspruch nahm, wisse sie nicht mehr,
aber gew5hnlich batten diese Pflegerinnen noch Zeit genug gehabt, auch
bei dor Beobachtung und Pflege der anderen Eranken zu helfen und
seien dazu auch verpflichtet. Sie halten sich den Tag uber standig in
der Villa auf, im Falle eines Urlaubs wird eine andere Pflegerin an die
Stelle der Beurlaubten in die Villa hineingelegt, wenn es erforderlich
ist. Ein bestimmter Raum, in dem sie sich Tags fiber aufhalten mussen,
ist ihnen nicht angewiesen, sie halten sich eben da auf, wo sie ndtig
sind, vielfach auch in dem Tagesraum. Ob die Tiiren zu den einzelnen
Zimmern offen stehen, das hangt yon den einzelnen Kranken ab. Es
kommt aber auch vor, dass der Arzt das Offenstehen der Tiiren an-
ordnet, um eine bessere Beobachtung der Kranken herbeizufiihren. In
der Nacht findet ein eigentlicher Wachdienst in der Villa II nicht statt.
Ich schlafe jedoch regelmassig dort. GewOhnlich schl&ft mindestens
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E. Siemerling,
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nocb eine andere Pflegerin in der Villa und es hfingt von den Dm-
standen ab, wo sie ihr Bett aofstellt. Die fibrigen scblafen anderswo.
In der Nacbt vom 15. zum 16. 11. schliefen nach den Bfichern ausser
mir die Pflegerinnen Sieck, Geier und Wilhelmi nocb in der Villa. Nach
Angabe der Pflegerinnen Dietz und Wilhelmi hat die eine auf dem Flur
neben dem Schlafzimmer der Ehrhardt, die zweite in dem Zimmer fur
drei Kranke Oder in dem binteren Schlafsaal und die dritte bei einer
Kranken geschlafen. Aus welcber Veranlassung damals die drei Pflege¬
rinnen in der Villa schliefen, 'insbesondere ob dies auf firztliche An-,
ordnung geschehen ist, weiss die Zeugin nicht, doch werde die Pflegerin,
die bei der Kranken schlief, es jedenfalls auf Srztliche Anordnung getan
baben. — Hinsichtlich der Beschaftigung und Ausbildung der Pflege¬
rinnen aussert sich die Zeugin gerade so wie Gebeimrat Siemer¬
ling. — „Die Villa II ist eingerichtet fur hdchstens 12, 13 Kranke.
RegelmSssig sind dort zwei Pflegerinnen st&ndig beschfiftigt, andere
Pflegerinnen nur, wenn einer Kranken eine besondere Pflegerin zuge-
wiesen wird. Sollten die beiden stfindigen Pflegerinnen mit der Arbeit
nicht fertig werden, dann schicke ich jenen noch eine oder zwei Pflege¬
rinnen zur Hilfe. Seit wann die sechs Pflegerinnen in der Villa II t&tig
waren . . weiss ich nicht."
Die Oberin Gerda Ehneroth, von Beruf Krankenpflegerin, trat im
Juni 1905 als Pflegerin in der psychiatrischen und Nervenklinik ein
und ist seit November 1905 Vorsteberin in den bei der psychiatrischen
und Nervenklinik eingerichteten Abteilungen fur weibliche Patienten
angestellt gewesen in dieser ihrer Tatigkeit abwechselnd mit Frl. Ebr-
bardt. Bei ihrer am 28. 12. vor dem Staatsgerichte Stockholm erfolgten
gerichtlichen Vemehmung gibt sie an, sich zu erinnern, dass die Frau S.
eines Morgens im Monat November 1905 den Versuch gemacht habe,
sich das Leben zu nehmen. Das Protokoll sagt ferner weiter: „Abge-
sehen von einigen Privatpflegerinnen, deren Zahl sie nicht angeben
konnte, hatten, soweit Zeugin sich erinnert, zur fraglicben Zeit in dem
ersten Stockwerk der Villa nur zwei Pflegerinnen Dienst getan, von
denen die eine, Auguste Dietz, die Aufsicht fiber die ganze Station
hatte, den Namen der zweiten Pflegerin hatte Zeugin nunmebr ver-
gessen. Diese beiden Pflegerinnen, von denen, soweit Zeugin sich nunmehr
erinnert, keine bestellt war, um eine bestimmte Patientin zu warten,
batten zur Obliegenheit gebabt, die sfimtlichen Rfiume in Ordnung zu
balten, die Betten zu machen, die Patienten zu bedienen mit dem Essen
und ihnen die vorgeschriebenen Arzneien und Bader zu geben, dagegen
aber nicht, den Patienten Speise zuzubereiten. Die Arbeiten, die solcber-
gestalt den fraglichen beiden Pflegerinnen oblagen, hatten indessen nach
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
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Ansicht der Zeugen nicht den Umfang, dass diese gebindert wurdeu,
die Aufsicht fiber die betreffenden Patienten auszufiben, da ein Teil der
Patienten, die sich gewalttfitigen Gemfits zeigten, von Privatpflegerinnen
gewartet wurden . .
Gutacbten.
In den uns vorgelegten Akten und Beiheften ist keine Angabe vor-
banden, die die Annabme rechtfertigen kfionte, dass die allgemeine
Scbulang des Pflegepersonals in der psycbiatrischen und Nervenklinik
zu Kiel nicht in ausreichender Weise erfolgte, da seine Ausbildnng nicht
nur praktisch auf den Krankenabteilungen sondern auch alsbald nach
dem Eintritt theoretisch durch einen besonderen von einem Arzte der
Klinik geleiteten Unterricht stattfindet. Von den 6 Pflegerinnen, die
die am 15. und 16. 11. 1905 tagsfiber in der Villa II anwesend waren,
waren 4 schon vor ihrem Eintritt in den Dienst der Klinik in anderen
Krankenh&usern, von diesen wieder 3 auch in der Irrenpflege tfitig ge-
wesen und es liegt kein Grand vor, ihre Zuverlftssigkeit zu bezweifeln.
Zwei Pflegerinnen, Louise Sieck und Maria Geier, deren Eintritt in den
Dienst der Klinik am 15. 6. bezw. 17. 10. 1905 erfolgt war, waren als
solche auf Grand ihrer guten Zeugnisse, die sie in ihren frfiberen Dienst-
stellungen erworben hatten, angenommen, batten sich aber vor ihrem
Eintritt in der Kranken- Oder Irrenpflege noch nicht besch&ftigt, was
wir nach Lage der Sache insbesondere von der Maria Geier hervorheben
mfissen, da diese am 16. 11. erst 4 Wochen in einer ihr somit noch
neuen unbekannten T&tigkeit sich befand und erst in der Ausbildung
zur Pflegerin begriffen war. Ibre dadurcb bedingte Dnkenntnis mit den
Scbwierigkeiten ihrer veranwortlichen Stellung wurde in Berficksichti-
gung der grossen Aozahl von Pflegerinnen, die tagsfiber in der Villa II
vorhanden waren, firztlicherseits wohl als belanglos angesehen werden
kfinnen, wenn die vorhandenen 6 Pflegerinnen ein gleiches gemeinsames
Ziel in der Beaufsichtigung der 12 oder 13 kranken Damen gehabt
batten und dadurch eine gleichmfissige Verteilnng auf diese mfiglich
gewesen wire, da die Hilfspflegerin Geier dann den anderen 5 Pflege-
,rinnen als Hilfe oder Stfitze in der Verrichtung einfacher Abteilungs-
arbeiten gedient haben wurde. Tats&chlich waren jedoch 4 Pflegerinnen
(Wilhelmi, Sieck, Nowack und Swensen) als Privatpflegerinnen ffir je
vier Kranke in Ansprach genommen und mfisste auf ihre Dienste, wenn
ihre Aufmerksamkeit von der Erffillung der ihnen fibertragenen Pfficht,
von der sorgsamen Beobachtung and Beaufsichtigung der ihnen aus
irgend einem Grand besonders zugewiesenen Kranken nicht abgelenkt
werden sollte, ffir die gleicbzeitige Erledigung einer anderen veranwor-
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tungsTollen T&tigkeit verzicbtet werden. Wir sagen „aus irgend eiueui
Grunde“: entweder waren sie als Privatpflegerinnen aus irzlichenGr unden
je einer Kranken zugewiesen wegen deren schwereu Erkrankung, dann
durften sie auch im lnteresse dieser Kranken ihren Beobachtungsplatz ohne
AblSsung oder Stellvertretung nicht verlassen, oder sie waren als Privat-
pflegerin eiuer Kranken zugewiesen auf Wunsch von deren Augehdrigen
gegen besondere Gntschadigung. In diesem Falie konnte und dnrfte
die Anspruchnahme fur eine anderweite, auf andere Kranke sicb er-
streckende Dionstleistung n,ur unter erfolgter Zustiinmung der Angehorigen
der betr. Kranken stattfinden, da diese wegen der von ihnen ubernommeue
Zablungsleistungen auch die voile Diensttatigkeit der Privatpfiegerin
fur die betreffende Kranke wunschen und beausprucben. Jedenfalls
entzog es sich einer vorhergehenden naberen Bestimmung, wann und
wie lange eine der Privatpflegerinneu die besondere Beaufsichtigung der
einzelnen ihr zugewiesenen Kranken unterlassen und ibre Aufmerksam-
keit auch der Beobacbtung anderer Kranken zuwenden k5nne.
In der Villa II waren nach Augabe der beiden Oberinuen Ebrbardt
und Ghueroth fur 12 oder 15 Kranke -regelm&ssig 2 Pflegerinnen be-
schaftigt, andere Pflegerinnen nur, wenn einer Kranken eine besondere
Pflegeriu zugewiesen wird. Die Oberin Ebrbardt gibt auch an, dass
sie beiden st&ndigen Pflegerinnen, wenn sie mit der Arbeit nicht fertig
werden konnten, noch eine oder zwei Pflegerinnen zur Hilfe schickte.
Auch wir bezweifeln nicht, dass zwei ausgebildete Pflegerinnen fur 4
einzelne Kranke im Stande sina, bei ricbtiger gleichm&ssiger Verteilung
die Arbeiten in Villa 11 inkl. Beaufsichtigung von 9 Kranken erledigen
zu konnen, in der Voraussetzung, dass unter dieseu 9 Kranken nicht
eine Kranke sich befindet, deren Krankheitszustand noch zu Befurch-
tungen Anlass gebeu kaun und somit noch einer bestimmten und ge-
regelten Beaufsichtigung bedarf, und hier erhebt sich die Frage, ob
durch die am 15. 11. 1905 erfolgte Verlegung der Frau S. von der Be-
obachtungsstation in die Villa II den beiden Pflegerinnen neue und be¬
sondere Pflichten erwuchsen.
Die Frau S. bedurfte nach ilirem Krankheitszustande, wie solcber
aus den arztlichen sowie auch aus den Aufzeichnungeu der betreffenden
Pflegerin in der Beobachtungsstation sich ergibt, bei ihrer Verlegung
in die Villa II noch der besonderen Berucksichtigung und Beaufsichti¬
gung; ihr Verhalten am 12. 11. nachmittags, einige Stunden vor der
Aufnahme in die psychiatrische Klinik, die erst dreit&gige arztliche
Beobachtung, die am 14. 11 . wiederholt geausserte Frage, ob sie nicht
bald wieder nach Hause komme, die am 15. 11. noch sichtlich vor-
handene depressive Stimmung, der noch bestehende Mangel an natur-
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Beitr&g zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 937
lichem Schlaf liessen Befurchtungeu fur die Zukanft uiclit ausschliessen,
wenn auch die Annahme eines bereits begonneaen Rekonvaleszenzstadiums
bei ihr nicht unbegrundet war. Vom arztlichen Standpunkt musste es
daher als mehr wie zweckmassig angesehen werden, das Pflegepersonai
bezw. eine bestimmte Pflegerin in der Villa 11 auf die in ihrem Ver-
haiten nock unsichere, in ihrer Stinimung wechselnde, psychisck nocli
nicht freie,. bei dem etwaigen Rintritt vort AngstzustSnden zu Befurch-
tungen Anlass gebeude Frau S. besonders aufmerksam zu macben und
mit deren ausreickenden Bcobachtung zu bctrauen. Ob und inwieweit
der geistige und kdrperliche Zustand der mit ikr in einem gemeinsamen
Zimmer gebetteten beiden Kranken eine begrundfete Hoffnung auf eine
Mitbeaufsichtigung der Frau S. aufkommen liess, entzieht sick der dies-
seitigen Beurteilung. Bei derartig Erkrankten wie Frau S. muss das
Pflegepersonai, das bei der Verlegung einer Kranken von einer Abtei-
lung auf eine andere sich ilndert, auf die Bedenken und Befurchtungen
hingewiesen werden, zu denen der Krankheitszustand nnd das Zustauds-
bild der Kranken nock Anlass geben. und wollen wir hervorheben, dass
die P. Geier in Berucksicktigung ihrer erst kurzen und geringen Krfak-
rung in der Krankenpflege zu einer sorgsamen, ausreickenden und ver-
antwortlichen Beobacbtung der Frau S. noch nicht als geeignet angesehen
werden kounte, wabrend die Pflegerin Dietz nack ihrer bereits langereu
Erfahrung in der Irrenpflege ein voiles Vertrauen verdiente. Wir durfen
dabei aber auch nickt unerwahnt lassen. dass die Frau S. die bedauerns-
werte Tat gerade wabrend einer Zeit — morgens 3 ,\9 Uhr — vorge-
nommcn bat, wo das Pflegepersonai durch die Erledigung der Morgeu-
arbeiten mit Arbeiten flberhiiuft nnd dessen Aufmerksamkeit durch die
Fertigatellung der letzteren besonders in Anspruch genommen war.
Nack den vorstekenden Ausfuhrungen geben wir uuser Gul-
acbten dahui ab, dass bei Berucksichtigung des in Villa II
am 15. 11. 1905 anwesenden Pflegepcrsonals die Ueberfuhruiig
der Frau S. in die offeue Station der Kieler Nerveuklinik vom
Arztlichen Standpunkt aus zu Bedenken Anlass bot, wenn nicht
dem Pflegepersonai genauere Anweisung zu deren besonderen
Beaufsichtigung und Beobachtung gegeben sein sollte.
L'ntereckrift.
der wissensckaft-
gericktet an den
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gez.
Unter dem 11. 6. 1912 wurde ein Gutacbten von
lichen Deputation eingefordert.
In einer scbriftlichen Erwideruug vom 6. 5. 1912,
Universit&tskurator fubrt Siemerling Folgendes aus:
ArtliiT f. Pajobiatne. Bd. 60. Heft 2/3.
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Das Gutachten des Medizinalkollegiums geht yon nicht zutreffenden
Voraussetzungen aus. Wenn die Ueberfu^rung der Frau S. in die
offeoe Station der Villa vom Hrztlicfaen Standpunkt aus zu Bedenken
Anlass geboten hatte, wire Frau S. fiberhaupt nicht von mir verlegt
worden. Ich glaube micb genau zu entsinnen, dass ich die Verlegung
erst nach reiflicher Ueberlegung unter Wfirdigung aller in Betracht
kommenden Momente des Erankheitszustandes, der mir von der ersten
Aufnahme her besonders gut bekannt war, angeordnet babe. Der
weitere Verlauf hat gezeigt, dass ein Irrtum meinerseits vorgelegen bat.
Die offene Abteilung bier in der Elinik ist naturgem&ss gar nicht daza
da, um derartige Unglucksfalle zu verhfiten.
Hatte bei mir die Beffirchtung bestanden, dass die Frau S. fur die Ver¬
legung noch nicht ganz geeignet ware, ware die Ueberfuhrung unterblieben.
Die Einrichtungen in der Villa und das Personal dort konnte ich
als ausreichend erachten, um die Verlegung im therapeutischen Interesse
vorzunebmen.
Es ist nicht richtig, wie im Gutachten ausgeffihrt ist, dass die
4 Pflegerinnen (Wilhelmi, Sieck, Nowack und Swensen) als Privat-
pflegerinnen fur je 4 Eranke in Anspruch genommen waren und auf
ihre Dienste fur die gleichzeitige Erledigung einer anderen verant-
wortungsvollen Tatigkeit yerzichtet werden musste. In der Vernehmung
habe ich ausgeffihrt, dass die 4 Damen, mit Ausnabme der Frau E.,
die die Pflegerin Nowack zu beaufsichtigeu hatte, einer dauernden Auf-
sicht oder Pflege nicht bedurften, so dass die Pflegerinnen Sieck,
Wilhelmi und Swensen sich auch den anderen Eranken auf der Station
widmen konnten. Die Pflegerin Wilhelmi z. B. weiss anzugeben, dass
sie dieses auch wirklich getan hat.
Es geht aus den beigefugten Abschriften der Berichte fiber die
einzeluen Eranken hervor, dass 3 der Damen keineswegs st&ndig ihre
Pflegerin braucbten. Es war auch ausdrucklich angeordnet, dass diese
Pflegerinnen sich an dem fibrigen Dienst beteiligten.
Die Ansichten, wie sie das Medizinalkollegium bezfiglich der Privat-
pflege vertritt, treffen auf die hier in der Elinik bestehenden Ein¬
richtungen nicht zu. Wird auf Wunsch der Angehfirigen bei schwerer
Erkrankung einer Elassenpatientin eine dauernde Aufsicht fur diese
Eranke allein eingerichtet, dann wird nicht eine Pflegerin dazu bestimmt,
sondern es werden 2 genommen, da ich es fur ausgeschlossen erachte,
dass eine Pflegerin allein l&ngere Zeit, nicht einmal fur die Dauer eines
Tages, eine solche Beaufsichtigung leisten kann.
Wollen oder kfinnen die Angehfirigen diese Eosten nicbt tragen,
dann lehne ich die Bewachung durch nur eine Pflegerin im Zimmer
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
939
allein ab. Die drei Damen L., K., P. batten ihre besondere Pflegerin
in erster Linie aua gesellschaftlichen Grunden. Es wird in solchen
Fallen den Angehorigeu auch bekannt gegeben, dass die Pflegerin nicht
ganz ausschliesslich zur alleinigen Verfugung der Eranken steht, sondern
zu den fibrigen Dienstleistungen mit beran gezogen wird. Das Befinden
der Damen L., E. und P. war in den Tagen des 15. und 16. Novembers
1905 ein solches, dass die Pflegerinnen, die ihnen zugeteilt waren,
Zeit genug hatten, den ubrigen Dienst mit zu versehen. Ich verweise
auf die eingereicbte Liste.
Das Medizinalkoilegium geht also bei seinen Schlnssfolgerungen
von nicht zutreffenden Voraussetzungen aus, nicht 2 Pflegerinnen waren
zur Verfugung, sondern 5.
Es ist keineswegs richtig, wie das Medizinalkoilegium annimmt,
dass es sicb einer vorhergehenden naheren Bestimmung entzog, wann
und wie lange eine der Privatpflegerinnen die besondere Beaufsicbtigung
der einzelnen ihr zugewiesenen Eranken unterlassen und ihre Aufmerk-
samkeit auch der Beobacbtung anderer Eranker zuwenden konnte. Es
war den Pflegerinnen sehr wohl bekannt und sie waren auch in diesem
Sinne belehrt, dass sie an anderen dienstlichen Verrichtungen sicb
beteiligen mussten. Es ist ausdrficklich hervorzuheben, dass bei dreien
der Damen nicht so sehr die besondere Beaufsichtigung, sondern fiber-
wiegend gesellschaftliche Grfinde in Frage kamen, welcbe zur Stellung
einer Privatpflegerin geffihrt hatten.
Das unter dem 17. Juli 1912 erstattete Gutachten lautet:
Eucr Exzellenz
erstatten wir hierunter in Sachen Staatsfiskus gegen S. unter Rfickgabe
der Akten (2. B. 18 Hefte und 16 Schriftstficke) ehrerbietigst das er-
forderte Gutachten fiber die an uns gerichtete Frage, ob die Ueber-
ffihrung der Ehefrau des Elfigers aus der Ueberwachungsstation in die
offene Station der Eieler Nervenklinik vom 15. November 1905 vom
firztlichen Standpunkt aus keinem Bedenken nnterlag, unter Berficksich-
tigung der Umst&nde, die sich aus der Beweisanfnahme und den An-
lagen hinsichtlich der Sicherung und Ueberwachung der Eranken in den
offenen Stationen und der Zuverlfissigkeit, Schulung nnd Zahl der
Pflegepersonen ergeben.
Der Sachverhalt ist folgender: Die in Frage kommende Patientin,
Fran S., ist zweimal in der Eieler Nervenklinik in Behandlung gewesen.
Das erste Mai vom 8. November 1908 bis 16. Dezember 1903, wo sie
geheilt entlassen worden ist. Es hatte sich um eine mit Sinnes-
t&uschungen einbergehende fingstliche d&mmerznstandartige Erregung
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940
E. Siemerling,
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gehandelt, die bald abklang, so dass die Kranke 12 oder 13 Tage nacb
ibrer Aufnahrae in die offene Abteilung verlegt werden konnte.
Selbstmordideen soil sie wahrend dieser Erkrankung nicbt ge&ussert
haben (Bericbt des Direktors der Elinik). Der Kieler Krankengeschichte
ist folgendes aus der Zwischenanamnese zu entnehmen: Nach der Ent-
lassung zeigte die Patientin ab und zo traurige Stimmungen, sp&terhin
war sie immer guter Stimmung. In der Folgezeit hatte sie im Jabre
1904 zweimal kurz dauernde Aniaile. Der erste wird folgendermassen
geschildert: Lag 2 Stunden besinnungslos, batte Streit mit dem Bruder.
wird erregt, iegt sich hin mit gescblossenen Augen, ruft nach Mann und
Kind. Am nachsten Tag wieder gut, macht eine Kaffeegesellscbaft mit.
Zirka 2 Monate sp&ter, Mai 1904, Influenza. Hatte wahrend der-
selben einen apathischen Zustand, vollig teilnahmslos. Alles zitterte
an ibr. Schlaf war scblecht. Der Zustand ging nach 4 Tagen voruber.
dann wieder ganz gesund.
Die zweite Aufnahme in die Kieler Klinik erfolgte am 12. November
1905, nachdem sie 3*/ 2 Wochen zuvor eine normale Geburt durch-
gemacht und bis zum Tage der Aufnahme ihr Kind gestillt hatte. Am
6. November wurde die Patientin anschliessend an die Abreise ihrer
Mutter nachts sehr unruhig, hatte traurige Stimmungen, sagte, sie sei
eine schlechte Frau, sie machc den Ihrigen Kummer uud tue nicbt*.
Sie ass gut, hatte angehaltenen Stuhl. Suizidgedanken hatte die Kranke
zu Hause nicht ge&ussert, dagegen ist notiert: Unterwegs im Zug, Yer-
such aus dem Zuge zu springen. Der Mann macht bei der Aufnahme
die Angabe, es seien dieselben Symptome wie vor 2 Jahren, nur milder.
Nach der Aufnahme in die Klinik ist notiert: Wird gegen Abend
8 Uhr von ihrem Mann zur Klinik gebracht. Geht ruhig auf die Ab¬
teilung. Zu Bett gebracht, verlangt sie fort wahrend nach Hause.
beruhigt sich jedoch bald, schlaft auf Schlaimittel ziemlich gut.
Am 2. Tag ist notiert: Macht alle Augenblicke Anstalteu, das
Aerztezimmer — wohl bei der Untersuchung — zu verlassen. Behauptet.
man lialte sie nur zum Narren. Auf Befragen sagt sie, sie sei ganz
gesund, sie mdchte aufstehen und wolle nach Hause. Gibt zu, traurige
Gedanken gehabt zu haben, ist gedruckter uud weiuerlicher Stimmung.
Hat im ganzen Wesen etwas Starres, sitzt wie traumhaft da, beaut-
wortet die meisten an sie gerichteten Fragen entweder nicht oder nur
ganz kurz mit leiser Stimme, verh< sich gegen die Untersuchung ab-
lehnend. Sie antwortet langsam, manchmal gar nicht. Isst mittags
nichts, verlangt nacbmittags ein Buch zu lesen.
Am 14. heisst es: Immer noch leicht gedruckter Stimmuug, liegt
ruhig zu Bett, bat noch immer in ihrem Aeusseren etwas Traumhaftes.
Isst aber besser.
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941
Am 15: Erscheint heate etwas freier. Fragt, ob sie nicht nach
der Villa verlegt werden kOnne. Wird uachmittags dorthin verlegt,
gibt 'ihrer Freude Ausdruck fiber die Verlegung und liegt dort ruhig
zu Bett.
Am 16. gebt sie nach dem Klosett und springt durch das Klosett-
fenster aus dem ersten Stock auf den Hof und zieht sich dabei ein^u
Wirbelbruch uud eine Paraparese der Beine mit BlasenlEhmung zu.
Ueber das Motiv Eussert sie sicb am Abend der Tat, siehabe nicht
mehr leben wollen, weil sie nicht mehr wert sei zu leben. Sie sei
nicht gut zu ihrem Mann gewesen. SpEterhin Eussert sie gesprEchs-
weise, sie habe sich in der Bnracke schon stets wohl geffihlt und
keinerlei Selbstmordgedanken gehabt. AIs sie nacb der Villa — offene
Abteilung — verlegt wurde, habe sie sich zunftchst gleich geEngstigt
vor einer Mitpatientin. Da sei ihr mit einem Male der Gedanke ge-
kommen, sich das Leben zu nehmen. Sie hEtte cs aber nicht aus-
ffihren kfinnen, weil zu viel Menschen im Zimmer waren. Sie habe
*
dann in der Nacht vom 15. zum 16. November ohne trfibe Gedankeu
geschlafen und auch morgens sei ihr gut gewesen, auch auf das Klosett
sei sie noch obne Selbstmordgedanken gegangen. Hier habe sie das
Fenster gefiffnet, um binauszusehen. Da sei ihr pldtzlich der Gedanke
gokommen, sie musse sterben, es kfinne sie docb kein Mensch leiden.
Am 8. 3. 1906 wurde die Patientin von der Psycbose geheilt ent-
lassen. Die Rfickenmarkserscheinungen gingen allmEhlich zurfick und
Dr. Flatau berichtet, dass er sie bei einem spEteren Besuch in bester
Stimmung auf dem Rade vom Schwimmen oder Baden nach Hause ge-
kommen, angetroffen habe.
Im Januar 1908 erhob der Gatte der Frau S. Klage auf Scha-
denersatz ffir die Folgen des Unfalls. Es sei ein Verschulden der An-
staltsbeamten darin zu erblicken, dass die Kranke nach wenigen Tagen
in die offene Abteilung fiberffihrt worden sei.
Die als Zeugen vernommenen Dr. Flatau und Geheimrat Siemer-
ling gaben beide an, dass sie bei der Verlegung im Hinblick auf die
stattgehabte Besserung die Gefahr eines Selbstmordversuches fur aus-
geschlossen hielten. Die Verlegung ist auf Anordnung des Leiters der
Klinik selbst erfolgt.
Die in der Angelegenheit gehorten SachverstEndigen komraen zu
keinem einheitlichen Urteil.
Der Leiter der psychiatrischenKlinik in Leipzig, Geheimrat Flechsig,
fasst sein Gutachten dahin zusammen, dass der Zustand der Frau S.
zur Zeit der Verlegung kein derartiger war, dass man es unbedingt als
gefahrlich erachten musste, sie aus der Ueberwachungsstation in ein
offenes Haus zu fiberffihren. Ein zuverlEssiges Wartepersonal voraus-
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942
E. SiemerliDg,
gesetzt, kdnne die Behandlung derartiger Patienten in einer offenen
Abteilung kaum prinzipiellen Bedenken unterliegen.
Der Physikus Dr. Erman in Hamburg kommt zu dent Resnltat,
dass der Gesundheitszustaod der Ehefrau des El&gers am 15. 11. 1905
als ein derartiger erscheinen musste, dass begrundete Bedenken vor-
l^gen, sie von der Ueberwachun gestation in das offene Haus zu uber-
fubren. Nach seiner Ansicht musste die Kranke in einem gesicherten
Raum oder unter Ueberwacbung gehalten werden, aus dem allgemeinen
Grunde, weil bei derartigen melancbolischen Kranken ein unvermuteter
Selbstmordversuch immer in der M5glicbkeit liege, und zweitens, weil
Frau S. wenige Tage zuvor den Versuch gemacht babe, aus dem fah-
renden Eisenbahnznge zu springen. Der Aufenthalt der Frau S. in
der Klinik sei noch zu kurz gewesen, ihr geistiger Zustand babe sich
in den ersten vier Tagen des Aufenthaltes noch zu wenig ge&ndert, am
die Gefahr des Selbstmordversuches als nicbt mebr naheliegend aus-
schliessen zu kdnnen. ,
Die Differenzen dieser Gutachten gab Veranlassung, das Votum des
Medizinal-Eollegiums der Provinz Westfalen anzurnfen. Diese gab sein
Gutachten dahin ab, dass die Ueberfuhrung der Frau S. aus der Ueber-
wachungsstation in die offene Station der Eieler Elinik nach dem Erank-
heitszustand der Frau S., sowie nach den Einrichtungen der Villa nicht
frei von begrundeten Bedenken war, dass diese Ueberfuhrung jedoch
bei sonst zuverlfissigera und gut geschultem Pflegepersonal vom first-
lichen Standpunkt aus zulfissig erscheinen konnte und grunds&tzlichen
Bedenken kaum unterlag. Insofern in diesem Gutachten die Unbedenk-
lichkeit der Ueberfuhrung in die offene Station von der Zuverlfissigkeit
und Schulung des Pflegepersonals abhfingig gemacht werde, warden
zunfichst gerichtliche Erhebungen nach dieser Richtung angestellt Das
Ergebnis dieser Feststellungen fuhrte das Uedizinal-Eollegium in einem
zweiten Gutachten zu dem Schlusse, dass bei der Berucksichtigung des
in der Villa II anwesenden Pflegepersonals die Ueberfuhrung der FrauS.
in die offene Station der Eieler Nervenklinik vom firztlichen Standpunkt
aus zu Bedenken Anlass bot, wenn nicht dem Pflegepersonal genauere
Anweisung zu deren besonderen Beaufsichtigung und Beobachtung ge-
geben sein sollte.
Gegen dieses Gutachten machte der Leiter der Eieler Elinik gel-
tend, dass das Gutachten des Medizinal-Eollegiums von nicht zutreffen-
den Voraussetzungen ausgehe. Die Verlegung nach der offenen Abtrei-
lung sei angeordnet worden, weil eine Suizidgefalir nicht fur vorliegend
erachtet worden sei. Hfitten Bedenken bestanden, so h&tte eine Ver¬
legung in die offene Abteilung uberhaupt nicht stattfinden durfen.
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des lrrenarztes.
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Gutachten.
Die von dem Medizinal-Kollegium diskutierte Frage, ob das Per¬
sonal auf der offenen Abteilang hinsichtlich der Selbstmordverhutung
die ndtige Sicherheit gew&hrte, kann ausser Betracht gelassen werden,
nachdem seitens des Direktors der Eieler Elinik ausdrucklich darauf
hingewiesen worden ist, dass, wenn die Kranke suizidverd&chtig war,
eine Verlegung nach der offenen Station uberhaupt nicht in Frage kom-
men konnte. Es handelt sich also lediglich darum, ob der klinische
Direktor in Erw&gung der ihm bekannten Yorg&nge berechtigt war, bei
der Eranken S. eine Suizidgefahr fur nicbt bestehend zu halten.
Der klinische Sachverhalt ergibt, dass bei Frau S. periodische
psychotische Zust&nde mit depressiver Affektlage bestanden haben. Mit
Recht wird von dem ersten Begutachter, Geheimrat Flecbsig, darauf
hingewiesen, dass es sich bei der Erkrankung der Frau S. nicht um
eine Erkrankung von gleichmassig melancholischem Charakter gehandelt
babe. Es tritt in den verschiedenen Erankheitszustanden der Frau S.
eine ausgesprochene Beeinfiussbarkeit durch ttussere Momente, vor
allem affektiver Art hervor. Dieser Dmstand, dann die traumbafte Be-
wusstseinslage wShrend der DepressionszustSnde und das Auftreten von
Ohnmachten und Delirien anschliessend an einen Wortwechsel mit dem
Bruder, weist auf eine psychogene-hysterische Eomponente hin. Bei
dem Ausbruch der ersten, wie der zweiten Erkrankung scheinen neben
dem puerperalen Prozess noch affektive Momente, Besuch einer Ver-
w and ten, Abreise der Mutter von ausldsender Bedeutung gewesen zu
sein. Auch die Aufhellung des ersten in dar Eieler Elinik durchge-
macbten traumbaften Zustandes schliesst sich an Aenderungen iusserer
Verb<nisse, die Verlegung nach der Villa und insbesondere den Besuch
des Mannes an.
Diese Feststellungen sirid wichtig, weil sie zeigen, dass eine sche-
matische Behandlung des Falles nach dem Schulbilde der Melancholie,
wie sie in dem Gutachten des Hamburger Ereisphysikus Herrn Dr. Erman
zum Ausdruck kommt, nicht geboten war. Nach dem, was der klinische
Direktor aos der Vorgeschichte seiner Patientin und seinen fruheren
Erfabrungen an ihr wusste, war es wohl gerechtfertigt, wenn er beson-
deren Wert darauf legte, mOglichst bald durch ihre Milieuver&nderung
eine gunstige Einwirkung auf den Erankheitszustand auszuuben.
Ohne die Angabe des Mannes, dass die Frau bei der Fahrt nach
Eiel aus dem Coupe zu springen versucht habe, wurden in den ana-
innestischen Daten keine Anbaltspunkte dafur zu gewinnen gewesen sein,
an der Zweckmassigkeit der Massnahme der Verlegung zu zweifeln.
Weder wahrend der fruheren Erkrankung, Doch w&hrend der krank-
haften Zust&nde, welche die Eranke zu Hause durchgeraacht hatte, sind
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E. Siemerling,
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Suizidabsichten ausweislich der Akten in Erscheinung getretcn. Ancb
eine famili&re, heredit&re, suizidialc Tendenz febit, wie mit Recbt in
<iem Gntachten der Leipziger Klinik bervorgehoben wird.
Die Frage, ob in der Angabe des Manues, dass seine Frau aus dem
Zuge zu springen versucbt babe, ein zwingendcs Moment erbiickt werden
musste, die Verlegung ins offene Haus so karze Zeit nach der Einliefe-
rung zn unterlassen, wfirde vielieicbt zu bejahen sein, wenn es sich urn
den erstmaligen Aufenthalt in der Klinik gehandelt hfitte. So aber
standen dem Reiter der Klinik die Erfahrungen fiber der Verlauf der letzten
Erkrankung zur Seite und wenn es sicb auch als irrtumlich erwies, so
konnte er doch nach Antezedentien des Falles mit einem gewissen Recbt
zu der firztlichen Ueberzeugung gelangen, dass der Vorfall w Ahrend der
Eiseobabnfabrt lediglich als eine durch die besondere Situation der Ver¬
legung nach der Klinik bedingte episodische, psychogene Steigerung
der Erregung aufzufassen sei und dass eine Suizidgefahr, nacbdem die
Kranke in die gleicbmfissige Dmgebupg der Klinik rerbracht und tat-
sachlich eine gewisse Aufliellung des traumhaften Zustandes eingetrcten
war, nicht vorlag.
Wir geben deshalb unser Gutachten dahin ab, dass nach den be-
sonderen UmstUnden und bei der besouderen Art der bei Frau S. vor-
liegenden Erkrankung der Massnahme der Verlegung nach der offenen
Station, obwobl der Erfolg der Erwartung nicht entsprach, nach der
klinischen Erfahrung die Arztliche Berechtigung nicht abgesprocben
werden kann.
gez. Kirchner, Dr. v. Olshausen, Rubner, Moeli, Heubner,
gez. Ohrt, Kraus, Gaffky, Bier, v. Scbjerning,
gez. Dr. Saenger, Dr. Krohne, Bonhoeffer.
Am 29. 10. 1912 warde folgendes Urteil verkfindet:
Im Namen des Konigs!
In Sachen des Koniglich Preussisoben Staatsfiskns, vertreten durch den
Kurator der Universitat Kiel,
Beklagten und Bcrufungsklagers,
— Prozessbevollmachtigte: Recbtsanwalte Justizrat Dr. Abraham nnd
Dr. Kahler in Kiel —
gegen den
Redakteur E. S. in 1.,
Klager und Berufungsbeklagten,
— Prozessbevollmachtigter: Reohtsanwalt Dr. Stahmer in Kiel —
wegen Sobadenersatzes
hat der II. Zirilsenat des Koniglichen Oberlandesgeriohts in Kiel auf die
mundliche Verhandlung vom 29. 10. 1912 unter Mitwirkung des Senatsprasi-
Go^ 'gle
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Beitrag zul* Verantwortlicbkeit des Irrenarztes.
945
denten, Goh. Oberjustizrates Schmid, der Oberlandesgerichtsrate Geh. Justiz-
rates Dr. Brandt, Dr. Marwitz und Lohmann, sowie des Landrichters
Frormann fur Reoht erkannt:
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Koniglichen Land-
gerichts, II. Zivilkammer in Kiel, vom 23. 2. 1910 dabin abgeandert:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Klager hat die Kosten des Rechtsstreites zu tragen.
Das Urteil ist vorlaufig vollstreckbar, doch wird dem Klager nach-
gelassen, die Zwangsvollstreckung durch Hinterlegnng yon 450 M. abzu-
wenden.
Tatbestand.
Der Beklagte hat gegen das vorbezeichnete Urteil Berufung eingelegt
und beantragt, v
die Klage abzuweisen.
Er hat den Inhalt des angefochtenen Urteils nebst den darin in Bezug
genommenen Beweisverhandlungen und der Krankheitsgeschichte der Frau S.
yorgetragen. Er hat die Wiirdigung der rechtlichen und tatsachlichen Ver-
haltnisse durch das Landgericht als unrichtig bezeichnet und hat geltend ge-
maoht, dass zwischen Dr. Erman und dem Professor Siemerling hinsicht-
lioh der Beurteilung seelischer Zustande grundsatzliohe Meinungsverschieden-
heiten bestanden. So babe Dr. Erman im Jahre 1902 besoheinigt, dass eine
Frau Walkboff aus Hamburg geisteskrank sei, wahrend ihre Untersucbung
in der Kieler Nervenklinik, in der sie sich vom 25. 11. bis 21. 12. 1912 be-
funden habe, weder Geisteskrankheit noch Geistesschwache ergeben habe.
Der Beklagte hat ferner bestritten, dass der Leiter der Nervenklinik oder
deren sonstige Angestellte seine verfassungsmassig berufenen Vertreter seien,
hat aber erklart, er wolle nicbt bestreiten, dass der erstere belugt sei, selbst-
standig Kranke in die Anstalt aufzunehmen und die Verpflegungskosten fest-
zusetzen. Er ist endlich der Ansicht, dass der Leiter der Klinik, soweit fur
die Behandlung der Frau S. seine Beziehungen zum Beklagten in Frage stiin-
den, in Ausiibung der offentlichen Gewalt gchandelt habe. Dass Beklagter bei
der Auswahl der behandelnden Aerzte die erforderliche Sorgfalt beobachtet
habe, konne nicht zweifelhaft sein.
Der Klager hat beantragt,
die Berufung zuriiokzuweisen und eventuell ihm naobzulassen,
die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung abzuwenden.
Er halt die Ausfiihrung des angefochtenen Urteils fur zutreffend und hat
den Inhalt seines Schriftsatzes vom 10. 6. 1910 (Bl. 171 d. A.) yorgetragen.
28. 6. 1910
Gemass dem Beweisbeschluss vom-—-
4. 10.
(Bl. 175, 184 R.) hat
das Konigliche Medizinalkollegium in Munster auf Grund der Akten ein aus-
fdhrlich begriindetes Gutachten dahin abgegeben, dass die Ueberfuhrung der
Frau S. in die offene Station am 15. 11. 1905 nach ihrem Krankheitszustande
sowie nach den Einrichtungen der Villa nicht frei von begrundeten Bedenken
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946
E. Siemerling,
geweseu sei, dass diese Ueberfiihrung jedoch bei sonst zuverlassigem and gut
geschultem Pilegeperson&l vom arztlichen Standpunkt aus habe zulassig er-
scheinen konnen.
Der Klager hat dieses Qutaohten bemangelt und hat angegeben, welches
Pflegepersonal im November 1905 in der Villa vorhanden war und welche Auf-
gaben dieses zu verrichten hatte. Auch hat er an einer Zeichnung die Lage
der einzelnen Raume in der Villa erlautert. Es wird deswegen auf den vor-
getragenen Inhalt des Schriftsatzes vom 3. 3. 1911 und auf die ZeichnuDg
Bl. 104 verwiesen. Der Beklagte hat die Behauptungen iiber das Pflegepersonal
bestritten and davon abweichende Angaben gemacht, auf die wiederum der
Klager erwidert hat. Es wird wegen der beiderseitigen Behauptungen in dieser
Beziehung auf die vorgetragenen Schriftsatze vom 23. 3., 2. und 15. 6. 1911
Bezug genommen.
Gemass dem Beweisbesohluss vom 27. 6. 1911 warden die darin be-
nannten Zeugen vernommen und es wird aaf ihre vorgetragenen Aussagen
verwiesen. Es warde ein ferneres Gatachten des Medizinalkollegiams in
Munster eingeholt, das dahin ging, bei Beruoksichtigung des vorh&ndenen
Pflegepersonals bote die Ueberfdhrung der Fr&u S. in die offene Anstalt zu
Bedenken Anlass, wenn nicht dem Pflegepersonal genauereAnweisung zu deren
besonderen Beaufsichtigung und Beobachtung gegeben worden sei.
Der Beklagte hat dieses Gutachten bemangelt und geltend gemacht, dass
die Ueberfiihrung der Frau S. in die offene Station von Prof. Siemerling
iiberhaupt nicht angeordnet worden ware, wenn diese Ueberfiihrung vom arxt-
lichen Standpunkt aus zu Bedenken Anlass geboten hatte. Er hat auch im
iibrigen die Aeusserung des Prof. Siemerling vom 6. 5. 1912 vorgetragen.
Es wurde sodann nach dem Beweisbesohluss vom 11. 6. 1912 ein Ober-
gutachten der Koniglichen Wissenschaftlichen Deputation fur das Medizinal-
wesen eingeholt. , Auf den vorgetragenen Inhalt dieses Gutachtens und der
beiden Gutachten des K5nigliohen Medizinalkollegiams wird verwiesen.
Der Klager hat das Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation be¬
mangelt und dazu den Inbalt seines Schriftsatzes vom 22. 10. 1912 vorge¬
tragen. Er hat es ferner fur unzuiassig erklart, dass die Wissenschaftliche
Deputation die Aeusserung des Prof. Siemerling vom 6. 5. 1912 berucksich-
tigt hat.
Griinde.
Da nach der eigenen Erklarung des Beklagten der Leiter der Kieler
Nervenanstalt kraft seiner Stellung befugt ist, selbstandig uber die Aufnahme
von Kranken zu entscheiden und die Verpflegungskosten festzusetzen, so ist er
der verfassungsmassig berufene Vertreter des Beklagten bei der Aufnahme und
Behandlung der Kranken. Es handelt sich dabei urn eine Tatigkeit, die auf
privatreohtlichem Gebiete liegt und bei der eine Ausiibang der offentlichen
Gewalt nicht in Frage kommt. Der Beklagte haftet demnach fur ein Verschul-
den des Geheimrats Siemerling bei der Behandlung der Frau S. nicht nor
nach § 278 B.G.B., soweit der Schadensersatzanspruch auf mangelh&fte Er-
fullung des mit dem Klager abgeschlossenen Vertrages gestutzt wird, sondera
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Beitrag zar Verantwortlichkeit des lrrenarztes. 947
auch nach §§ 31, 89 B.G.B., soweit der Schaden ausserhalb des Vertrages
verursacht ist.
Es kann jedoch dahingestellt bleiben, inwieweit dio erhobenen Anspruehe
vertraglicher and inwieweit sie ausservertraglicher Natur sind, ebenso welche
Partei die Beweislast fur das behauptete Versohulden trifft, denn es muss auf
Grand des Gatachtens der Wissenschaftlichen Deputation angenommen werden,
dass Prof. Siemerling nicht schuldhaft gehandelt hat, als er Frau S. in die ,
offene Anstalt verlegen liess. Dieses Gutachten berucksichtigt die Vorgeschichte
der Frau S. und die Erfahrungen, die bei ihren friiheren krankhaften Zustan-
den gemacht wurden, und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass nach den be-
sonderen Umstanden und bei der besonderen Art der bei Frau S. vorliegenden
Krankheit ihrer Verlegung naoh der offenen Station nach der klinischen Er-
fahrung die arztliche Berechtigung nicht abgesproohen werden k5nne. Die
Mitglieder der Wissenschaftlichen Deputation sind allerdings nicht samtlich
Psychiater, aber sie sind Autoritaten der medizinischen Wissenschaft und es
kann keinem Zweifel unterliegen, dass sie, auch soweit sie nicht Psychiater
sind, die Fahigkeit besitzen, die Richtung eines Gutaohtens fiber die ihnen
hier vorgelegte Frage zu beurteilen. Mit Unrecht wirft auch der Klager dem
Gutachten vor, dass es die Mangelhaftigkeit der Anlage der Anstalt selbst
unberuoksichtigt gelassen hat. Die Wissenschaftliche Deputation hat das Gut¬
achten mit Rucksicht auf den Sachverhalt erstattet, der sich ihr aus denAkten
ergab, und es ist selbstverstandlich, dass sie dabei auch die Beschaffenheit
der Villa, in die Frau S. verlegt wurde, berucksichtigt hat, insbesondere da in
dem am Anfang des Gutachtens wiedergegebenen Beweisbeschluss die Beriick-
sichtigung der Anlagen hinsichtlioh der Sicherung und Deberwachung der
Kranken besonders gefordert ist. Ihr Gutachten kann deshalb -nur dahin ver-
standen worden, dass der Verlegung der Frau S. in die offene Anstalt, so wie
sie am 15. 11. 1905 war, die arztliche Berechtigung nicht abgesprocben
werden k6nne.
Unbegrundet ist auch der weitere vom Klager gemachte Vorwurf, dass
das Gutachten die Mangelhaftigkeit des vorhandenen Pflegepersonals nicht be¬
rucksichtigt. Denn es geht davon aus, dass die Verlegung der Frau S. in die
offene Anstalt uberhaupt nicht in Frage gekommen ware, wenn ein Selbst-
mordverdacht vorgelegen hatte, und untersucht deshalb nur die Frage, ob
Prof. Siemerling berechtigt war, eine Selbstmordgefahr fur nicht bestehend
zu halten. Dazu war die Wissenschaftliche Deputation auch durchaus berech¬
tigt, da Geheimrat Siemerling in seinem eidlichen Zeugnis vom 27. 6. 1908
ausgesagt hat, er hatte bei der Ueberfuhrung der Frau S. die Gefahr eines
Selbstmordversuchs fur ausgeschlossen gehalten. Fur die im Gutachten beant-
wortete Frage aber war die Beschaffenheit des Pflegepersonals offenbar un-
erheblich.
Geheimrat Siemerling hat sich, wie sein eidliches Zeugnis vom 27. 6.
1908 ergibt, bei der Ueberfuhrung der Prau S. in die Villa von denselben Ge-
sichtspunkteft leiten lassen, wie die Wissenschaftliche Deputation. Man kann
deshalb mit Rucksicht auf den spateren Ausgang wohl sagen, dass er sich
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948
E. Siemerling,
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damals in einem Irrtum befunden hat, nicht aber, dass er bei seiner Anord-
nnng nicht alle Umstande sorgfaltig erwogen und deshalb schnldhaft ge-
handelt hat. Dass er dabei den Versuch der Frau S., sich auf der Fahrt
nach Kiel ans dem Eisenbahnwagen zu stiirzen, beruoksichtigt hat, ergibt
sein Zeugnis.
Hiernaoh hat Prof. Dr. Siemerling die ihm obliegende Verpflichtung
zur sachgemassen arztlichen Behandlung der Fran S. erfullt und die Klage
war deshalb unbegriindet, mag sie auf den Vertrag oder auf vertragliches Ver-
schulden gestiitzt sein.
gez. Schmidt. Brandt. Marwitz.
gez. Lohmann. Frormann.
Auf die eingelegte Berufung entschied am 18. 3. 1913 das Reichs-
gerich t:
Im Namen des Reiohs!
In Sachen des Redakteurs E. S. in I., Klagers und Revisionsklagers,
— Prozessbevollmachtigter: Rechtsanwalt Justizrat Dr. Bitter in Leipzig —
wider
den Preussiscben Fikus, Beklagten und Revisionsbeklagten,
vertreten durch den Kurator der Universitat Kiel,
— Prozessbevollmachtigter: RechtsanwaltGeh.Justizrat Boyens in Leipzig, —
hat das Reichsgericht, III. Zivilsenat, auf die rniindliche Verhandlung vom
18. 3. 1913, unter Mitwirkung: des Prasidenten Meyn, der Reichsgericbts-
rate v. Romeick, Dr. Strecker, Mansfeld, sowie der Oberlandesgericbts-
rate Kress, Oegg und Dr. Gunkel, fur Reoht erkannt:
Das Urteil des II. Zivilsenats des Konigiich Preussischen Oberlandes-
gerichts zu Kiel vom 29. 10. 1912 wird aufgehoben und die Sache zur ander-
weitigen Verhandlung und Entscheidung an den I. Zivilsenat des Berufungs-
gerichts zuruckverwiesen.
Die Entscheidung fiber die Kosten der Rcvisionsinstanz wird dem
Endurteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand.
1m Jahre 1903 war die Ehefrau des Klagers an „melancholischer Ver-
stimmung w erkrankt und in der psychiatrischen Klinik der Universitat Kiel
untergebraoht, von wo sie als geheilt entlassen wurde. Am 12. 11. 1905 braohte
der Klager sie wiederum in die Klinik. Unterwegs versuchte sie aus dem
Eisenbahnzug zu springen, der Leiter der Klinik, Prof. Siemerling, erhielt
hiervon Kenntnis. Sie wurde zunachst in der Beobachtungsstation, aber scbon
am 15. 11. auf Anordnung jenes Leiters in der o&enen Station, der sog. Villa,
untergebracht. Hier machte sie am Morgen des 16. 11. einen Selbstmord-
versuch. Sie sprang aus dem Fenster des im Obergeschoss befindlichen Klosetts
und verletzte sich schwer. Der Klager findet ein Verschulden darin, dass die
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Kranke schon am 15. 11. in die offene Station verlegt und dass diese nichtmit
den gehorigen Sicherheitseinrichtungen versehen sei, und verlangt Schaden-
ersatz. Das Landgericbt hat den Klageansprnoh dem Grunde nach fur be-
reohtigt erklart, das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Gegen das in
der Entscheidung naher bezeichnete Berufungsurteil bat der Klager Revision
eingelegt. Er hat den Sachverhalt vorgetragen, die oberlandesgerichtlichen
Entscheidungsgrunde verlesen und die Revision mit den Ausfiihrungen seines
Schriftsatzes vom 20. 1. 1913 begriindet. Sein Antrag geht dahin,
das angefochtene Urteil aufzuheben und nach seinem Berufungs-
antrage zu erkennen, im Falle der Zuruckweisung die Sacbe an
einen anderen Senat des Berufungsgerichts zuriiokzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zuriickzuweisen.
Entscheidungsgrunde.
Die Revision ist begriindet.
1. Der Klager nimmt den Beklagten zunachst wegon Verschuldens des
Leiters der Klinik als eines verfassungsmassig berufenen Vertreters auf Ersatz
des duroh dies Verschulden entstandenen Schadens in Anspruch. Das Ver-
schulden findet er in der Anordnung, dass die erst am 12. 11. 1905 in der
Beobachtungsstation aufgenommene Kranke schon am 15. 11. in die Villa ver¬
legt sei, obwohl deren Einrichtungen, wie dem Leiter der Klinik bekannt ge-
wesen 1st, nicht danach angetan gewesen seien, die Gefahr der Kranken fur
Leib und Leben auszuschliessen. Ob ein Verschulden vorliegt, ist eine vom
Richter zu entscheidende Rechtsfrage. Die von dem Berufungsgericht getroffene
Entscheidung lasst nach ihrer Begriindung Raura fur die Vermutung, dass ihr
eine rechtsirrtumliche Auffassung des Begriffs der Fahrlassigkeit zugrunde
liege. Jedenfalls hat das Berufungsgericht bei Verneinung der Rechtsfrage
nicht den gesamten zur Begriindung der Verschuldensbehauptung vorgebrachten
Streitstoff gewiirdigt. Es entnimrat die tatsachlichen Unterlagen fiir diese Ver¬
neinung lediglich deYn Gutachten der wissenschaftlichen Deputation fiir das
Medizinalwesen, ohne zu beachten, dass dieses Gatachten das Klagevorbringen
und das Ergebnis der vorangegangenen Beweisaufnahme nicht erschopfend
verwertet. Diese Verschuldensfrage hatte einer weiteren Erklarung durch das
Oberlandesgericht bedurft. Mit Recht vermisst die Revision in dem fiir die
Berufungsentscheidung massgebend gewordenen Obergutachten ein geniigendes
Eingehen auf den Inhalt der iibrigen Gutachten, namentlich das Gutachten
des Medizinalkollegiums in Munster. Wenn das Obergutachten die Moglichkeit
eines zum Selbstmordversuohe fuhrenden plotzlichen Stimmungswechsels, den
nach dem vorgetragenen Krankenberiohte noch am 13. und 14. 11. bei der
Kranken vorhandenen traumhaften Zustand, ihre eigenen, im Krankenberiohte
dargestellten Angaben iiber ihre Gedanken, schon am 15. — nach derVerlegung
in die Villa — Selbstmord zu veriiben, fur das Bestehen eines Selbstmord-
verdachtes nicht in Betracht zieht, so durfte doch das Berufungsgericht bei
Beurteilung der Verschuldensfrage diese Tatumstande nicht unerwogen lessen.
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E. Siemerling,
Dagegen geht der Revisionsangriff fehl, es seien die Bebauptungen fiber
die Geeignetheit der Deputation fur Abgabe des Obergutachtens nictft genugend
gewfirdigt. Die Tauglichkeit eines Sachverstandigen fur die Erstattung von
Gutaohten einer bestimmten Art ist Sache der dem Tatsacbenrichter zustehen-
den, einer Nachprufung im Revisionsverfahren nicht unterliegenden Beweis-
wurdigung. Diese ist im vorliegenden Falle insoweit ausreichend begrundet.
Mit Recbt aber macbt die Revision geltend, das Obergutacbten und danach
der fiber die Frage des Verscbuldens urteilende Berufungsrichter liessen ausser
acht, dass ffir ein Verschulden des Klinikieiters nacb dem Klagvorbringen
nicht nur in Betraoht komme, ob er obne Fahrlassigkeit annehmen konnte, die
Ehefrau des Klagers sei nicht mehr selbstmordverdachtig, sondern auch, ob er
mit der Moglichkeit eines Irrtums hatte rechnen mfissen. Die Ausffibrungen
des Oberlandesgerichts lassen die Prfifung vermissen, ob der Leiter der Klinik,
auch wenn er sie nicht mehr ffir selbstmordverdachtig hielt und zu halten
brauchte, nicht dennoohVorsichtsmassregeln zu treffen verpflicbtet war, nament-
lich mit Rficksicht auf die behaupteten, ihm bekannten Mangel in der Ein-
richtung der Villa. Die Feststellung fibrigens, dass der Prof. Siemerling
bei der Ueberffihrung der Kranken sich von der Ueberzeugung habe leiten
lassen, es bestehe keine Selbstmordgefahr mehr, ist nicht zu beanstanden. Sie
beruht auf seinem eidliohen Zeugnis, wonach er zur Zeit seiner Anordnung die
Gefahr eines Selbstmordversuches fur ausgeschlossen gehalten haben will. Nur
auf diese Aussage stfitzt das Berufungsgericht seine Feststellung; ob das
Gutachten auch die Aeusserung Siemerling’s gegenfiber dem Universitats-
kurator berficksichtigt, ist daher ohne Bedeutung.
Ob der Prof. Siemerling ohne Verletzung der imVerkehr erforderlichen
Sorgfalt zu jener Ueberzeugung gelangen konnte, das ist die zu entscheidende
Frage. Fur sie war von Wichtigkeit, was der Klager fiber frfihere Selbstmord-
versuche seiner Ehefrau unter Beweisangebot und fiber die Kenntnis des Klinik-
loiters von ihnen behauptet hatte.
So spraoh doch vor allem der Vorfall in der Eisenbahn, mag er auch der
Erregung fiber die Fortschaffuug von Hause in die Klinik zuzuschreiben sein,
ffir das Selbstmordvorhaben. Er hatte am 12. 11. stattgefunden, am 15. 11.
schon, nachdem inzwischen steteUeberwaohung in der Beobachtungsstation die
Wiederholung der Ausfuhrung solchenVorhabens ausgeschlossen hatte, erfolgte
die Verlegung in die offerie Station. Das aus der Kfirze dieser Zwischenzeit
sicb ergebende Bedenken musste das Berufungsgericht zu einer umfassenden
Aufklarung bestimmen.
Ob die Kranke ein- oder zweimal versucht hatte, aus dem Zuge zu
springen, war selbst bei der Auffassung des Obergutachtens von der Bedeutung
des Vorfalles in der Eisenbahn nicht gleichgultig. Der zweimalige Versuob
verrat eine besondere Energie des Selbstvemichtungswillens. Zwar nicht fur
den zweimaligen Versuch, aber ffir die Mitteilung davon an den Leiter der
Klinik ist Beweis — durch dessen Zeugnis — angetreten, er ware zu erheben
gewesen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass so gut wie die Erregung fiber die
Fortschaffung in die Klinik zu so energischer Betatigung des Seibstmord-
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willens im Eisenbahnzuge, so die Erregung uber die Festhaltung in der
Klinik zum*Selbstmordversuche dort fiihren konnte und dass die Feststellung
zweimaligen Versuchs anch geeignet ware, eine andere Auffassung auch bei
der saohverstandigen Deputation zu begriinden. Diese verwertet zwar gegen
das Bestehen der Selbstmordgefahr die Verbringnng in die gleichmassige Um-
gebung der Klinik — wovor sich iibrigens anf der Reise gerade die Kranke
gefurchtet haben soli — nnd den Eintritt einer „gewissen u Aufhellung des
traumhaften Zustandes. Es steht aber dahin, ob sie diesen Umstanden gegen-
dber jener Selbstmordenergie dieselbe entscheidende Bedeutnng wiirde boi-
gemessen haben.
Unrich tig ist in dem vorgetragenen Schriftsatze vom 22. 10. 1912 be-
merkt, das Gntachten der Wissenschaftlichen Deputation ubersehe, dass der
Kl&ger seinerzeit der Anstaltsleitung auch mitgeteilt habe, seine Frau habe bei
ihrer ersten Erkrankung (1903) verschiedontlich versucht, zuhause aus dem
Fenster zu springen. Das Gutachten ubersieht es nicht, ,denn vor seiner Er-
stattung war die Behauptung, soweit die Akten ergeben, noch niemals aufge-
stellt. AUein die Revision riigt auch nicht, dass das Gutachten die Behaup¬
tung ubersehe, sondern dass das Berufungsgericht die nach Massgabe des
Schrifts&tzes aufgestellte Behauptung nicht gewurdigt hat. Die Behauptung
konnte jedenfalls nicht ohne weiteres als unerheblich behandelt werden. Das
Obergutachten begrundet seine Verneinung der Selbstmordgefahr u. a. mit der
Erwagung, dass weder bei der fruheren Erkrankung, noch wahrend der krank-
haften Zustande, welche die Ehefrau des Klagers zuhause durobgemacht hatte,
Selbstmordabsichten in Erscheinung getreten seien. Nun hat der Professor
Siemerling eidlich als Zeuge bekundet, der KISger habe — abgesehen von
dem Eisenbahnvorfalle — bei der Einlieferung 1905 erwahnt, dass seine Frau
„auch keine Selbstmordideen an den Tag gelegt u habe. Damit ist aber noch
nicht widerlegt. dass sie 1903 solchen Gedanken gehabt, und dass der Klager
1903 dem Anstaltsleiter davon Mitteilung gemacht hat. Jedenfalls hat in
dieser Hinsicht das Berufungsgericht keinerlei Feststellungen getroffen. War
aber die Behauptung erheblicb, so hatte auf Bezeichnung der Beweismittel
hingewirkt werden mussen. Die auf Verletzong des § 139 der Zivilprozessord-
nung gestutzte Revisionsruge ist begrundet. Welcher Wert dem etwaigen Be-
weisergebnis gegeniiber auf die aus dem Krankheitsberiohte von 1903 ersicht-
lichen derzeitigen eigenen Angaben des Klagers zu legen ist, wird das Be-
rufungsgeriobt zu prufen haben.
II. Der Klageanspruch stutzt sich aber nicht nur auf ein bei der Anord-
nung der Ueberfiihrung begangenes Versehen des Anstaltsleiters, sondern auch
daranf, dass der Schaden verursacht sei durch die auf ein Verschulden ver-
fassungsmassig berufener Vertreter des Beklagten zunickzufuhrende Mangel-
haftigkeit in den Einrichtungen der Villa. Zutreffend macht die Revision gel-
tend, dass das Berufungsgericht diesen mit Beweiserbieten vertretenen Klage-
grund ub^rhaupt nioht berucksichtigt. Es ist geeignet, ganz unabhangig von
einem den Anstaltsleiter bei einer Anordnung etwa treffenden Verschulden,
den Klageanspruch zu begriinden.
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E. Siemerling,
Auch wenn der Anstaltsleiter ohne Fahrlassigkeit den Selbstmordverdacht
bei den Anstaltskranken fur vollig ausgeschlossen halt and halten darf, so
mass doch immerhin mit der Moglichkoit eines Irrtams gerechnet werden. Auf
diese Moglichkeit hin werden, soweit es sich mit dem Heilzwecke vereinigen
lasst, die Einrichtungen der offenen Station mit den erforderlichenSicherheits-
vorkehrungen versehen sein miissen. Der Beklagte nimmt die zum Teil hilf-
losen, in ihrer Einsicht und freien Willensbestimmung beeintrachtigten, oft-
mals nach Stimmungeu und Anwandlungen unberechenbaren Kranken zor Be-
wachung und Heilung in seine Anstalt auf. Er ist dafiir verantwortlich, dass
sie dort gegen Gefahren fur Leben and Gesundheit, auch fiir die Gefahr der
Selbstbesohadigung soweit gescbiitzt werden, als die zur Erreichung des Heil-
zwecks zu treffenden Massnahmen es zalassen. Es fragt sich, waram es in der
offenen Station, in der die Ehefrau des Klagers untergebracht wurde, an den
geeigneten Sicherheitsvorkehrungen gefehlt hat. Wenn es richtig ist, dass
gerade in den Klosetts sich am haufigsten Selbstmordversuche ereignen, so ist
nicht einzusehen, weshalb die Fenster des Klosetts im Obergeschoss nicht —
etwa als Drehfenster — so eingerichtet waren, dass das Hindarchschldpfen
einer Person nicht geschehen konnte. Auch ist nicht ersichtlicb, welche Om-
stande der Anwendung der ausseren Vorsicht^ gerade auch in Ansehung der
Ueberwachung der Kranken beim Aufsuchen des Klosetts, binderten. Regel-
massig liegt die Annabme eines Verschuldens nahe, wenn Sicherheitsmass-
regeln unterbleiben, obwohl ihre Anwendung mogiich ist.
Nach diesen Richtungen hin bedarf das Parteivorbringen der eingehen-
den Prufung durch das Berufungsgericht. Je nach deren Ausfall wird sich
ergeben, ob der Beklagte selbst dann scbadensersatzpflichtig ist, wenn die An-
ordnung der Ufeberfuhrung in die offene Station znm 15. II. als schuldh&ft
nicht angesprochen zu werden braucht.
gez. Meyn. Romeick. Strecker. Mansfeld.
Kress. Oegg. Gunkel.
Das Urteil ist in der offentlichen Sitzung vom 22. 4. 1913 verkiindet und
in das am 8. 5. 1913 ausgehangte Verzeichnis eingetragen.
gez. Beyer,
Gerichtsschteiber.
Unter dem 14. 7, 1913 erging folgender Beweisbeschluss:
I. Es soli Beweis erhoben worden
A. auf Ansteben des Klagers
1. daruber, dass der Klager, als er am 12. 11. 1905 seine Ehefrau
in die Konigliche Psychiatrische und Nerrenklinik in Kiel braohte.
dem Zeugen mitgeteilt hat, sie habe bei der Eisenbahnf&hrt nach
Kiel zweimal versucht, aus dem Zuge zu springen;
2. dass der Klager, als er im Jahre 1903 seine Ehefrau bei ihrer
ersten Erkrankung der Nervenklinik zufuhrte, dem Zeugen als
Anstaltsleiter mitgeteilt hat, dass seine Ehefrau verschiedentiich
versucht habe, zuhause aus dem Fenster zu springen,
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durch das Zeugnis des Prof. Dr. Siemerling in Kiel,
3. dariiber, dass in anderen, modern eingerichteten Nemnanstalten
Penster in vollig unauffalliger Weise angebracht sind, welche ein
Herausspringen unmoglich machen,
durch das Zeugnis des Anstaltsleiters Dr. Lien an in Hamburg;
B. aufAnstehen des Beklagten
dariiber, dass besondere Sicherungsvorkehrungen in der sog.
offenen Station nicht getroffen, insbesondere die Fenster nicht so
eingerichtet werden konnten, dass ein Herausschlnpfen unmog-
lich war, weil die Kranken nioht an die Art ihrer Krankheit er«
innert werden sollen und zur Porderung des Heilzweckes erfor-
derlich erschien, alles Auffallige in der Umgebung der in der
offenen Station untergebrachten Kranken zu vermeiden, dass aus
demselben Grunde (bzw. weshalb?) davon abgesehen wurde, die
Kranken beim Aufsuchen des Klosetts zu iiberwachen,
durch das Zeugnis des Prof. Dr. Siemerling in Kiel.
Bei seiner am 16. 12. 1913 stattgehabten Vernehmung gab Dr. Glasow,
der 1905 Assistenzarzt in der Nervenklinik gewesen war, an, er konne sich
nicht mehr darauf besinnen, was Klager damals iiber seine Frau gesagt habe.
Dr. Lienau gab bei seiner Vernehmung am 23. 11. 1913 in Hamburg
folgendes an:
Meine Anstalt zerfallt in eine gesohlossene und eine offene Abteilung.
In der geschlossenen Abteilung sind die Penster so verscblossen, dass es fur
einen Kranken unmoglich ist, sich aus dem Penster zu stiirzen. In der offenen
Abteilung sind dagegen irgendwelohe Sicherheitsmassregeln fur diesen Fall
nicht getroffen. Die Fenster lassen sich leioht offnen. Soweit es sich urn Dreh-
fenster handelt, sind die Zwischenraume zwisohen dem Drebpfosten und der
Verkleidung der Fensteroffnungen derartig breit, dass ein Mensch ohne Muhe
hindurchkommen kann. Die offene Abteilung macht durchaus den Eindruck
eines Hotels. Grossere Sicherheitsmassregeln als in einem solchen sind
nicht getroffen. Allerdings befindet sich die offene Abteilung im Hooh-
parterre.
In der geschlossenen Abteilung ist das grosse Mittelfenster — aus
dickem Glas — fest verriegelt, so dass ein Oeffnen desselben unmoglich ist.
Seitwarts befinden sich Drehflugel, die jedooh ein Hinausspringen nicht er-
moglichen. Die Kranken empfinden jedoch sehr bald, weshalb die Fenster der¬
artig eingerichtet sind und regen sich dariiber auf. Deswegen werden diese
Fenster in der offenen Abteilung vermieden.
Zeuge Geh. Med.-Rat Siemerling gab bei seiner Vernehmung ain
10. 1. 1914 an: Zum Beweisthema A 1 und 2 weiss ich aus eigener Erfahrqng
nichts. Ich kann nur Bezug nehmen auf die Krankheitsgeschichte, die fur die
in Betracht kommenden Jahre 1905 und 1903 von den damaligen Assistenz-
arzten sehr eingehend aufgenommen worden ist. Ich uberreiche diese Krank¬
heitsgeschichte fur die in Betraoht kommende Zeit in beglaubigter Abschrift.
ArohiY f. Psychifttrie. Bd. CO. Heft 2/3. 01
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E. Siemerling,
Als Assistenzarzt im November 1905 war Dr. Flatau tatig. Ich entsinne mich
bezuglich des Jahres 1905 noch personlich, dass ich nicht den Eindruck hatte,
dass die Patientin selbstmorderische Absichten hegte.
Zur Klarstellung bebe ich hervor, dass die Krankheitsvorgeschichte nicht
von mir, sondern von den Assistenzarzten, and zwar fur 1905 von Dr. Flat&a
und 1903 von Dr. Glasow herriihrt.
Zu B. des Beweisbesohlusses: Bei der Behandlang der Geisteskranken ist
man jetzt im allgemeinen dazu iibergegangen, offene Stationen zu erriohten und
dort die Kranken, soweit es mit ihrem Zustand vereinbar ist, unterzubringen,
damit sie die Empfindung haben, nicht unter einem Zwange zu stehen und weii
hieraus eine Forderung des Heilzweckes zu erwarten ist. Aus demselben
Grunde wird auch alles Auffallige in der Umgebung der in der offenen Station
untergebraohten Kranken vermieden. Es werden keine besonderen Sicherungs-
vorkehrungen getroffen, insbesondere die Fenster so eingerichtet, dass sie ein-
fach geoffnet werden konnen. Worden besondere Vorkehrungen getroffen, so
wiirde das die Kranken angstigen und ihrer Heilung abtraglich sein. Aus dem¬
selben Grunde wird auch in den Anstalten, insbesondere der meiner Leitung
unterstellten, davon abgesehen, die Kranken standig zu uberwachen, ins¬
besondere auch sie beim Aufsuchen des Klosetts zu uberwachen.
Aus demselben Grunde sieht man auch davon ab, Sicherungsvorkehrungen
an den Fenstern etwa in der Weise anzubringen, dass diese sich in horizontalar
Lage offnen lassen. Weil namlich die Kranken misstrauisch und erkennen
wiirden, dass die Einriohtung vom Normalen abweicht.
Der streitige Fall hat in unserer Anstalt keine Veranlassung dazu ge-
geben, irgendeine Aenderung in der Lage oder Einrichtung der offenen Station
vorzunehmen.
Unsere Anstalt ist nach dem Muster der Hallenser Anstalt gebaut. Auch
dort ist die offene Station zum Teil im ersten Stockwerk untergebracht. Ich
habe kein Bedenken daraus entnommen, die in gleicher Weise eingerichtete An¬
stalt zu ubernehmen. Dass die Gefahr eines Unfalls dadurch abgeschwacht
wird, dass die offene Station im Parterre eingerichtet ist, versteht sioh wobl
von selbst. Das Parterre in unserer Anstalt ist richtiger gesagt Hochparterre.
Darunter belegen sind noch Wohnraume, in welchen Dienstpersonal unter¬
gebracht ist.
Ich fuge noch hinzu, dass in England die Anstalten, wie ich mich durch
Augenschein uberzeugt habe, gerade so eingerichtet sind, insbesondere offene
Stationen auch im ersten Stock haben. Ebenso habe ich eine rheinische Privat-
anstalt besichtigt, in welcher die Einrichtung dieselbe ist. Fernet ist mir be-
kannt, dass auch offentliche Anstalten die offene Station zum Teil im ersten
Stockwerk haben.
Am 5. 3. 1914 erging folgender Beweisbeschluss: Die KgL Wissen-
schaftliohe Deputation fur das Medizinalwesen in Berlin soli ersucht werden,
mit Rucksicht auf die im Urteil des Reichsgeriohts vom 18. 3. 1913 (BI.I1I J.a)
erhobenen Ausstellungen, insbesondere unter naherer Berucksiohtigung des In¬
halts der ubrigen Gutaohten, ein Gutachten daruber zu erstatten:
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
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1. ob im Hinblick auf die besonderen Umstande des Falles, insbesondere
den ans der Krankheitsgeschiobte ersichtlichen Zustand der Frau S., es als ein
Verstoss gegen die anerkannten Grundsatze der arztlichen Wissenschaft an-
zusehen ist, dass Prof. Dr. Siemerling am 15. 11. 1905 ihre Ueberffihrung
in die offene Station angeordnet hat, ohne far eine besondere Beaafsichtigung
Sorge zu tragen;
2. ob die Beschaffenheit der offenen Station, insbesondere mit Rficksicht
darauf, dass sie im ersten Stock eingeriohtet war and besondere Anweisangen
far die Beobachtong und Bewaohung der Kranken nicbt getroffen waren, den
Anfordernngen entspricht, welche an die Unterbringung einer Kranken von der
Art der Frau S. zu stellen sind.
Die wissenschaftliche Deputation erstattete unter dem 14.6.1914 folgendes
Gutachten: *
Gutachten 1 ).
Eurer Exzellenz erstatten wir hierunter in Sachen Staatsfiskus gegen
S. das erforderte Erganzungsgutachten fiber die Frage
1. ob im Hinblick auf die besonderen Umst&nde des Falles ins¬
besondere dem aus der Krankengcschickte ersichtlichen Zustand der
Frau S. es als ein Verstoss gegen die anerkannten Grundsatze der
arztlichen Wissenschaft anzusehen ist, das Professor Dr. Siemerling
am 15. 11. ibre Ueberffihrung in die offene Station angeordnet hat,
ohne ffir besondere Beaufsichtigung zu sorgen;
. 2. ob die Beschaffenheit der offenen Station insbesondere mit
Rficksicht darauf, dass sie im ersten Stock eingerichtet war und
besondere Anweisung ffir die Bewachung und Beobachtung der Kranken
nicht getroffen waren, den Anforderungeu entspricht, welche an die
Unterbringung von Kranken von (fer Art der Frau S. zu stellen sind.
Wir haben uns am 12. 7. 1912 in derselben Sache gutachtlich
dahin gefiussert, dass nach den besonderen Urns tan den und bei der Art
der bei Frau S. voriiegenden Erkrankung, der Massnahme der Verlegung
nach der offenen Station, obwohl der Erfolg der Erwartung nicht ent-
spracb, nach der klinischen Erfahrung die arztliche Berechtigung nicht
abgesprochen werden kann.
Im einzelnen wird auf den Inhalt dieses Gutachtens verwiesen.
Gegen die daraufhin von dem Oberlandesgericht als Berufungsinstanz
erfolgte Abweisung der Klage wurde Revision eingelegt. Vom Reich s-
gericht wurde die Revision ffir begrfindet erkl&rt, das Urteil des Ober-
landesgerichtes aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an den I. Zivilsenat zurfickverwiesen. Die Ent-
1) Dieses Gutachten ist veroffentlicht in Vierteljahrsschr. f. ger. Med.
5. Folge. Bd. 49. H. 2.
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£. Siemerling,
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scheidungsgrunde des Reichsgerichts vermissen in unserem Gutachten
ein genfigendes Eingeben auf den In bait der fibrigen Gutachten, nament-
licb der Gutachten des Medizinalkollegiums. Das Obergutachten lasse
ausser acht, dass fur ein Verschulden des Eliniksleiters nach dem
Klagvorbringen nicht nur in Betracbt komme, ob er ohne Fabrlfissigkeit
annehmen konnte, die Ehefrau des KlSgers sei nicht mehr selbstmord-
verd&chtig, sondem auch ob er mit der MOglichkeit eines Irrtums babe
rechnen mussen. In den Ausffihrungen des Oberlandesgerichtes werde
die Prfifung vermisst, ob der Leiter der Klinik, wenn er die Kranke
nicbt mehr fur selbstmordverdachtig hielt und zu halten brauchte, nicht
dennoch Vorsichtsmassregeln zu treffen verpflichtet war, namentlich mit
Rficksicbt auf die behaupteten, ihm bekanhteu Mangel in der Ein-
richtung der Villa.
Die Feststellung, dass Professor Siemerling bei der Ueberffihruug
der Eranken sich von der Ueberzeugung babe lei ten lassen, es bestehe
keine Selbstmordgefahr mebr, sei nicbt zu beanstanden. Zu entscheiden
sei aber die Frage, ob Professor Siemerling obne Verletzung der im
Verkehr erforderlichen Sorgfalt zu jener Ueberzeugung gelangen konnte.
Es habe doch vor allem der Vorfall in der Eisenbahn, mfige er auch
der Erregung fiber die Fortschaffung von Hause in die Klinik eut-
sprungen sein, ffir das Selbstmordvorhaben gesprochen. Dieser habe
am 12. 11. stattgekabt and am 15. scbon, nachdem inzwischen stete
Ueberwacbung in der Beobachtungsstation die Wiederholung der Aus-
ffihrung solchen Vorhabens ausgescblossen habe, sei die Verlegung in
die offene Station erfolgt. Das aus der Kfirze dieser Zwischenzeit sich
ergebende Bedenken hat to das Berufungsgericht zu einer umfassenden
Aufkl&rung bestimmen mussen. Ob die Kranke ein- oder zweimal ver-
sucht habe, aus dem Zuge zu springen, sei selbst bei, der Auffassung
des Obergutachtens von der Bedeutung des Vorfalles in der Eisenbahn
nicht gleichgiltig. Der zweimalige Versuch verrate eine besondere
Energie des Selbstvernichtungswillens. Es hatte damals der Beweis
daffir angetreten werden sollen, dass dem Leiter der Klinik von einem
solchen zweimaligen Versuche — wie ibn der Kl&ger behauptet —
Mitteilung gemacht worden sei. Es sei nicht ausgeschlossen, dass so
gut wie die Erregung fiber die Fortschaffung in die Klinik zu so
energiscber Betfitigung des Selbstmordwiilens im Eisenbahnzuge, so die
Erregung fiber die Festhaltung in der Klinik zum Selbstmordversuche
dort habe ffihren kfinnen und dass die Feststellung zweimaligen Ver-
suchs auch geeignet sein kOnnte, eine andere Auffassung auch bei der
sachverst&ndigen Deputation zu begrfinden. Diese verwerte zwar gegen
das Bestehen der Selbstmordgefahr die Verbringung in die gleichmfissige
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Uragebung der Elinik — wovor sich ubrigens die Kranke auf der Eeise
gefurchtet baben solle — und den Eintritt einer „gewissen“ Aufhellung
des traumhaften Znstandes. Es stebe aber dahin, ob sie diesen Dm*
st&nden gegenuber jener Selbstmordenergie dieselbe entsclieidende Be-
deutung wiirde beigemessen baben.
Das Obergutachten begrunde seine Verneinung der Selbstmordgefahr
u. a. mit der Erw&gung, dass weder w&hrend der fruheren Erkrankung,
noch w&hrend der krankhaften Zust&nde, welche die Ehefrau des Kl&gers
zu Hause durchgemacht habe, Selbstmordabsicbten in Erscheinung
getreten seien.
Es h&tte deshalb von seiten des Berufnngsrichters zu der neuer-
lichen Behauptung des Kl&gers, Frau S. habe seinerzeit bei ihrer ersten
Erkrankung verscbiedentlich versucbt, zu Hause aus dem Fenster 24
springen, auf Bezeichnung der Beweismittel hingewirkt werden mussen.
In zweiter Linie stiltzt sich der Klaganspruch mit Recht darauf, dass
die Einrichtungen der Villa mangelhaft seien. Der Anstaltsleiter habe
mit der Mdglichkeit des Irrtums rechnen mussen. Auf diese MCglich-
keit bin wurden, soweit es sich mit den Heilzwecken vereinigen lasse,
die Einrichtungen der Villa mit den erforderlichen Sicherheitsvor-
kebrungen zu versehen sein. Der Beklagte nehme die zum Teil hilf-
losen, in ihrer Einsicht und freien Willensbestimmung beeintr&chtigten,
oftmals nach Stimmungen und Anwandlungen unberechenbaren Eranken
zur Bewachung und Heilung in seine Anstalt auf. Er sei dafur ver-
antwortlich, dass sie dort gegen Gefahren fur Leben und Gesundheit,
auch gegen die Gefahr der Selbstbescb&digung soweit gescbutzt werden,
als die zur Erreichuug des Heilzweckes zutreffenden Massnahmen es
zulassen. Es frage sich, warum es in der offenen Station, in der die
Ehefrau des Klagers untergebracht wurde, an den geeigneten Sicherbeits- ,
vorkehrungen gefehlt habe. Wenn es richtig sei, dass gerade in den
Klosetts sich am h&ufigsten Selbstmordversuche ereignen, so sei nicht
einzusehen, weshalb die Fenster der Elosetts im Obergeschoss niche
— etwa als Drehfenster — so eingerichtet seien, dass das Hindurcli-
schlupfen einer Person niebt geschehen konne. Auch sei nicht ersicht-
lich, welche Umst&nde die Anwenduug der aussersten Vorsicht, gerade
in Ansehung der Ueberwacbung der Eranken beim Aufsuchen des
Klosetts hinderten. Regelmassig liege die Annahme eines Verschuldens'
vor, wenn Sicherheitsmassregeln unterbleiben, obwohl ihre Anwendung
indglich sei.
Nach diesen Ricbtungen bedurfe dak Parteivorbringen der eiu-
gehenden Prufung durch das Berufungsgericht. Je nach deren Ausfali
werde sich ergeben, ob der Beklagte selbst dann noch schadenersatz-
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E. Siemerling,
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pflichtig 8ei, wenn die Anordnung der Ueberfuhrung in die offene Station
znm 15.11. als scbuldhaft nicht angesprochen zu werden brancbe.
In dem neuen Berufungsverfahren wurde entsprechend den Entscbeidungs-
grfinden des Reichsgerichts Beweis erhoben,
A. 1. darfiber, dass der Kltlger, als er am 12. 11.1905 seine Ehefrau in
die KOnigliche psycbiatrische und Nervenklinik in Kiel brachte, dem
Zengen mitgeteilt hat, sie babe bei der Eisenbahnfabrt nach Kiel
zweimal versucht, aus dem Zuge zu springen;
2. dass der Kl&ger, als er im Jahre 1903 seine Ehefrau bei ihrer
ersten Erkranknng der Nervenklinik zufiihrte, dem Zengen als Anstabs-
leiter mitgeteilt hat, dass seine Frau verschiedentlich versucht babe,
zu Hause aus dem Fenster zu springen;
3. daruber, dass in andern modern eingerichteten Nervenanstalteu
Fenster in vOliig unaufffilliger Weise angebracbt sind, welche ein
Herausspringen unmOglich machen;
B. daruber, dass besondere Sicheruhgsvorkebrungen in der sogeu.
offenen Station nicbt getroffen, insbesondere die Fenster nicht so ein-
gerichtet werden konnten, dass ein Herausschlfipfen unmOglich war,
weil die Kranke nicht an der Art ihrer Erkrankung erinnert werden
solle und es zur Forderung der Heilzwecke erforderlicb erschien, alles
Auffallige in der Umgebung der in der offenen Station untergebrachten
Kranken zu vermeiden, dass aus demselben Grande — beziehungsweise
weshalb — davon abgeseben wurde, die Kranke beim Aufsuchen des
Klosetts zu uberwachen. Die zu 1. und 2. vernommenen Zengen
Dr. Glasow und Professor Siemerling konnten aus eigener Erinnerung
fiber die neuerlichen von S. aufgestellten Behauptungen nichts angeben.
Professor Siemerling fiberreichte die beglaubigte Abschrift der
Krankengeschichte fiber die beiden Aufenthalte der Frau S. in der
Klinik nebst den von dem Mano, der Mutter der Patientin und dem
einweisenden Arzte gegebenen anamnestischen Daten.
Diese Krankengeschichte hat uus schon bei der ersten Begutachtung
vorgelegen. Es ergibt sich aus der nach den Angaben S. nieder-
geschriebenen Anamnese nichts fiber einen zweimaligen Versuch aus
dem Zuge zu springen. Der in Betracht kommende Schlusspassus der
Anamnese des Mannes sei hier nochmals wiederholt: „Isst noch ganz
gut. Stublgang schlecht. Keine Suizidgedanken. Unterwegs unruhig,
Versuch aus dem Zuge herauszuspringen. Ref. meint, es seien dieselben
Symptome, wie vor zwei Jahren, nur milder. Heute Weinen und aus-
nehmend traurig. Behauptet, sie sei ganz gesund u .
Was die von dem Gatten S. behauptete Su izidgeffih rlichkeit seiner
Frau wfihrend der ersten Erkrankung im Jahre 1903 und die Mitteilung
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davon an die Aerzte der Kieler Klinik anlangt, so findet sich in dem
ausffihrlichen Aufnahmeattest des Dr. med. H. kein Hinweis daranf.
Er begrflndet die Aufnahmebedfirftigkeit der Frau S. lediglich damit,
dass es zu Hause an geeigneter Pflege mangele and eine Heilung in
einer Nervenheilanstalt mebr Erfolg verspreche. Die recht ausffibrliche
Anamnese des Mannes, die ein anschauliches Biid von dem Verhalten
der Kranken bei ihrer ersten Erkrankung gibt, erw&hnt, dass die
Kranke zuweilen sehr abweisend gewesen sei, dass sie dem Mann ein-
mal eine Tasse ans der Hand gescblagen habe, dass die N&chte meist
sehr unrobig gewesen seien; es ist aber nirgends ein Versuch, aus dem
Fenster zu springen, erwahnt. Es heisst vielmehr ausdrucklich, Selbst-
mordideen hat Patientin nie gefiussert. Auch die von der Matter im
Jahre 1903 gegebene Anamnese enth< nichts fiber Suizidabsichten;
dagegen macbte sie eine im Hinblick auf die in unserem frfiheren Gut-
acbten zum Ausdruck gebrachte Aeusserung wichtige Angabe, dass ihre
Tochter frfiher aus geringen Anlfissen meistens infolge Aergers Anffille
bekommen habe, in denen sie sich auf die Erde warf, mit den Hfinden
urn sich scblug und die Umgebung scheinbar nicht kannte.
Auch die Krankengeschichte des damaligen Aufenthaltes enthalt
keinen Hinweis anf Suizidabsichten der Kranken. Die Patientin berichtet
in ihrer retrospektiven Betrachtung der Erkrankungszeit w&hrend der
Rekonvaleszenz wohl davon, dass ihr alles merkwfirdig vorgekommen
sei, dass sie geglaubt habe, alle sollten nmgebracht werden und fihn-
liches, aber nichts davon, dass sie selbst in irgend einer Weise Hand
an sich habe legen wollen.
Es sei aus der Krankengeschichte von 1903 noch bervorgehoben,
dass die Kranke am Tage vor der Verlegung nach der Villa und auch
nach der Verlegung noch nicbt zu einer sicheren Orientierung fiber die
Personen ihrer Umgebung und fiber den Ort ihres Aufenthalts ge-
iangt war.
Zu der 3. Frage des Beweisbeschlusses fiussert sich Dr. Lienau
als Zeuge dahin, dass seine Anstalt in eine geschlossene und eine offene
zerfalle. In der geschlossenen Abteilung seien die Fenster so ver-
schlossen, dass es ffir einen Kranken unmfiglicb sei, sich aus dem
Fenster zu stfirzen. In der offenen Abteilnng seien Massregeln ffir
dieseri Fall nicht getroffen. Die Fenster lassen sich leicht fiffnen,. die
offene Abteilung mache durchaus den Eindruck eines Hotels. Grfissere'
Sicherheitsmassregeln als in einem solchen seien nicht getroffen. Aller-
dings befinde sich die offene Abteilung im Hochparterre. Drehfenster-
flugel wfirden auf der offenen Abteilung vermieden, weil die Kranken
bald den Zweck bemerkten und sich darfiber erregten.
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E. Siemerling,
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Zu B. des Beweisbeschlusses bemerkt der als Zeage vernommene
Professor Dr. Siemerling, dass man bei der Behandlung Gemfits-
kranker allgemein da*u ubergegangen sei, offene Stationen zu errichten,
und die Kranken, soweit es mit ihrem Zustande vereinbar sei, dort
unterzubringen, damit sie die Empfindung haben, nicht unter einem
Zwange zu stebeu uud weil hieraus eine Ffirderung des Heilzweckes
zu erwarten sei. Sicherheitsmassregeln werden aus demselben Grunde
vermieden, auch von einer Ueberwachung beim Aufsucben des Klosetts
werde abgesehen. Es solle in der offenen Abteilung vermieden werden,
dass die Kranken misstrauisch und angstlicb gemacht wfirden. Dass
die offene Abteilung im ersten Stock untergebracht sei, teile sie mit
anderen Offentlichen und privaten Anstalten.
Gutach ten.
Zu Frage 1. Die vom Berufungsgericht anges tell ten neuen Er-
hebungen haben die in Beweis gestellte Behauptung, dass die Frau S.
auf der Fahrt nach Kiel zweimal versucbt habe, aus dem Zuge zu
springen, dass vor der ersten Erkrankung die Kranke mehrmals aus dem
Fenster zu springen versucht habe, nicht bestatigt.
Was zun&chst die Krankengeschichte der Klinik uber die erste Er¬
krankung anlangt, so enthfilt der Teil, welcher die Angaben des Kl&gers,
der Mutter der Patientin und des eiuweisenden Arztes wiedergibt, unter
den zahlreichen Einzelheiten, die er bringt, nichts von den Versuchen,
aus dem Fenster zu springen oder anderen ahnlich zu bewcrtenden Vor-
gfingen. Die Notiz „Selbstmordideen hat Patientin nie geaussert“ spricht
mit grosser Wabrscheinlichkeit daffir, dass in dieser Kichtung gefragt
worden ist, und es ist bei der im fibrigen sach vers tan dig und eingeheod
aufgenommenen Anamnese anzunehmen, dass, wenn so wichtige Punkte,
wie Selbstmordversuche durch Sturz aus dem Fenster erw&hnt worden
wfiren, diese aucb zur Registrierung gekommen waren.
Wie die Anamnese, so enthalt auch die Krankengeschichte des ersten
Aufenthaltes keiuen Hinweis auf Selbstbeschfidigungsversuche oder auf
Selbstmordabsichten der Kranken.
Auch die katamnestischenAngaben der Patientin in derRekonvaleszenz
enthalten nichts davon, dass sie suizidale Gedanken w&hrend der Er¬
krankung gehabt hatte.
Bemerkenswert ist, dass der psych ische Zustand der Kranken auch
zur Zeit der damaligen Verlegung auf die offene Villa noch keineswegs
vdllig frei war, da sie noch nicht zu einer sicheren Orientierung fiber
Ort und Person gelangt war.
Die eigentliche Rekonvaleszenz stellte sich damals, wie wir schon
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in unserom fruheren Gutachten ausgefuhrt haben, im Anschluss an die
Verlegung und den Besuch des Mannes ein. Auch fur die zweite auf-
gestellte Behauptung, dass die Frau S. auf der Fahrt zweimal versucht
babe, aus dem Zuge zu springen, 1st durch die Vernehmung kein Beweis
erbracht worden. Die den Bericlit des KlSgers wiedergebende Anamnese
entha.lt wieder die Notiz, dass zu Hause keine Suizidideen geSussert
worden sind, dass die Kranke nnterwegs unruhig geworden sei und aus
dem Zug herauszuspringen versucht habe; ein zweimaliger Versuch wild
nicht erw&bnt. Der Tenor der Anamnese, die wohl wie ublich die
Aensserungen des Referenten chronologisch wiedergibt und direkt binter
„uuterwegs unruhig, Versuch aus dem Zuge zu springen“ fortf&hrt,
„Ref. meint, es seien dieselben Symptome wie vor zwei Jahren, nur
milder 14 , scheint darauf hinzuweisen, dass der KlSger damals bei der
Angabe der Anamnese diesem Vorfall eine weniger erhebliche Bedeutung
beigelegt hat, als spater.
Fur den Leiter der Klinik lag die Beurteilung des Zustandes der
Frau S. zur Zeit der Verlegung in die Villa also unter Zugrundelegung
der Krankengescbichte folgendermassen: Bs war ihm bekannt, dass
Frau S. unter ganz Shnlichen Erscheinungen zwei Jahre zuvor erkrankt,
von dieser Erkrankung auf der offenen Villa genesen war, nachdem sie
zuvor etwa 11—12 Tage auf der Wachstation seiner Klinik gelegen
hatte. Die Genesung war damals sehr schnell anschliessend an die
Verlegung und den Besuch des Mannes eingetreten. Suizidale Tendenzen
hatten damals keine Rolle gespielt. Auch in der Zwischenzeit hatten
bei den leichteren Anfalien trauriger Verstimmung zu Hause keine
Selbstmordtendenzen bestanden, ebensowenig im Beginn der zweiten
Erkrankung. Nach der Schilderung war das Bild zur Zeit der zweiten
Erkrankung im wesentliclien dasselbe wie damals. Es bestand fur ihu,
als die Kranke um Verlegung nach der Villa bat, die Frage: 1st nach
dem Bericht des Mannes, dass die Frau unterwegs auf der Fahrt nach
Kiel aus dem Zuge springen wollte, ein l&nger dauerndes Bleiben auf
der Wachstation erforderlich wegen der darin zum Ausdruck kommenden
Selbstmordtendenz? oder war er berechtigt, den bei der Kraokeu be-
w&hrten Heilfaktor der Verlegung nach der offenen Villa schon jetzt
eintreten zu lassen? Zu dieser Frage ist zun&chst folgeudes zu sagen.
Wir haben schon in unserem fruheren Gutachten darauf hingewiesen,
dass es sich bei der Erkrankung der Frau S. nicht um ein Schulbild
der Melancholie gehandelt hat und dass die Beweisfuhrung des Kreis-
physikus Dr. Erman nicht als zwingend erachtet werden kann, der
eine Bewachung der Krankeu, beziehungsweise ein Verbleiben in einern
gesicherten Raum als notwendig erachtete, 1. weil ein unvermuteter
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962 B. Siemerling,
Selbstmordversuch bei derartigen Kranken immer in der Mbglichkeit
liege und 2. im besonderen bei Frau S., weil sie kurz zuvor, n&mlich
am 12. 11. bereits den Vereuch gemacht babe, aus dem fahrenden
Eisenbahnzug zu springen.
Demgegenuber ist auf die Tatsache, die jedem psycbiatrisch Er-
fahrenen bekaunt ist, hinzuweisen, dass die Mehrzahl melancholiscber
Depressionen und zwar aucb solcher mit Suizidideen de facto in offenen
Sanatorien bebandelt wird, und dass es in sebr vielen Fallen eine
erbebliche Scb&digung des Gesundheitszustandes bedeuten wurde, wenn
solche besonnenen depressiv Erkrankten einer geschlossenen Anstalt
uberwiesen wurden. Ein Schematismus derart, dass jeder depressiv
Erkrankte, der gelegentlich Suizidideen hat, sofort scharf uberwacht
oder einer geschlossenen Anstalt uberwiesen werden musste, wurde
therapeutisch verfehlt und eine undurchfuhrbare Grausamkeit sein. Es
ist Sache der sachverst&ndigen Beurteilung, im Einzelfall die Suizid-
gefahr und die Notwendigkeit der Behandlung in der geschlossenen
Anstalt abzusch&tzen. Auch die Tatsache, dass eine Kranke einige Tage
zuvor einen Yersuch aus dem fahrenden Eisenbahnzug zu springen ge¬
macht, erlaubt an sich nicht bierin ohne weiteres den Ausdruck be-
wusster und dauernder Selbstmordabsicht zu sehen und die Frage von
vornherein im Sinne der Notwendigkeit entsprechender Ueberwachung
zu beantworten. Der Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung ist
eine von den Angehdrigen, wie von den urteilsfehigen Patienten so
schwer empfundene Massnahme, dass der Klinikleiter schon aus diesen
Grunden zu der sorgf&Itigsten Prufung der Notwendigkeit des Aufenthalts
verpflichtet ist. Es ware psycbiatrisch als ein oberflachliches Yorgehen
zu verurteilen, lediglich deshalb, weil vor drei Tagen unter ausserlich
wesentlich anders liegenden Umstanden ein vielleicbt als Selbstmord¬
absicht aufzufassender Yorfall sich abgespielt hat, sich dieser Prufung
zu entzieben. — Wir haben in unserem fruheren Gutachten schon darauf
hingewiesen, dass bei Frau S. die Yerhaltnisse tats&chlich insofern
besonders lagen, und eine solche Prufung besonders nahelegten, weil
eine psychogene hysterische Komponente in dem Krankbeitsbilde un-
verkennbar ist. Dieser hysterische Einschlag ergibt sich aus der schon
in unserem fruheren Gutachten erwahnten Neigung der Patientin, auf
affektive Erlebnisse, z. B. einen Wortwechsel mit dem Bruder, mit
ohnmachtsartigen Anfallen und Delirien zu reagieren. Es ergibt sich
weiter aus der Angabe der Mutter der Frau S., dass die Patientin aus
geringen Anlassen infolge Aergers AnfSlle bekam, in denen sie sich zur
Erde warf, urn sich schlug, die Umgebnng nicht zu kennen schien, dabei
aber hOrte, was gesprochen wurde. Weiter spricht fflr einen solchen
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963
hysterischen Einschlag die eigenartige traumbafte Benommenbeit, wie
die ausgesprocbene Beeinflussbarkeit der Kranken wSLhrend ihrer beiden
Depressionszust&nde. Die Aufhellong der ersten in der Kieler Klinik
durchgemachten Erkrankung schliesst sich an die Verlegung nach der
Villa and an den Besuch des Mannes an; bei dem Ausbruch der ersten
Erkrankung, wie auch bei der zweiten, sind affektive Momente, Besuch
einer Verwandten, Abreise der Mutter von Einfluss auf die Gestaltung
der Erkrankung.
Das Vorhandensein eines solchen hysterischen Temperamentes ist
fur die praktiscbe Beurteilung des Falles in dreifacher Hinsicbt wichtig.
1. lag darin fur den behandelnden Arzt ein Hinweis fur die Beurteilung
der Affektintensitat der Depression. Der hysterische Affekt pflegt, wie
sich eben aus der Beeinflussbarkeit durch aussere Umst&nde ergibt, kein
nachhaltiger und kein sebr tiefgehender zu sein. Die Suizidgefahr
spielt bier erfahrungsgemass eine gauz untergeordnete Rolle, ja es kann
sogar therapeutisch geboten sein, Suizidausserungen zu ignorieren.
2. Das Vorhandensein hysterischer Symptoms konnte mit Recht zu der
Auffassung fubren, wie wir in unserem Gutachten schon ausfuhrten, in
dem Versuch aus dem Zuge zu springen, eine psychogene paroxysmale
Steigerung zu sehen, der fur die Dauerbeurteilung des Falles keine
wesentliche Bedeutung zukam. 3. machte es das Vorliegen hysterischer
Symptome und der Nachweis der Abhangigkeit der Intensitat der
Rrankheitserscheinungen von der Umgebung dem Arzte besonders zur
Pflicht, einer in dieser Hinsicht gunstigen Gestaltung der ausseren Um¬
gebung seine Aufmerksamkeit zu widmen.
Die Beriicksichtigung dieser drei Punkte konnte unseres Erachtens
den Kiinikleiter bei Erwagung der Verlegungsfrage mit Recht zu der
Entscheidung bringen, die Verlegung nach der offenen Station vorzu-
nehmen, umsomehr, als er bei der ersten Erkrankung den therapeutisch
gunstigen Einfluss beobachtet batte. Eine Suizidgefahr hielt er nieht
fur vorliegend, da er berechtigt war, in dem Vorfall im Zug eine
paroxysmale hysteTische Affektreaktion auf die mit der Verlegung nach
der Klinik verbundene Erregung zu erblicken, und weil der Verlauf
der frilheren Erkrankung und der in der Zwischenzeit sich abspielenden
leichten psychiscben StOrungen keine Anhaltspunkte fur Suizidneigung
bo ten. Das sich aus der Kurze der Zwischenzeit zwischen dem Vorfall
auf der Reise und der Verlegung ergebende Bedenken, auf das die
Reichsgericbtsentscheidung hinweist, braucbt fur den Kiinikleiter nicht
zwingend zu sein. Er konnte sich auf die Kenntnis des fruheren Vert
laufes, seine damaligen, wie der Erfolg zeigte, zutreffende Beurteilung
des Falles und auf die anerkannte klinische Erfahrung beziehen, dass
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E. Siemerling,
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im allgetneinen derartige hysterisch-depressive Erkrankungen in ihrem
Grundcharakter bei wiederholtem Auftreten sich nicbt Andern, wenigstens
nicht in der Altersphase, in der sich die Kranke befand.
Gegenuber dem weiteren Einwand des Reichsgerichts, der Rlinik-
leiter hatte sich sagen mussen, dass ebenso wie die Erregung iiber die
Fortschaffung in die Klinik, auch die Festhaltung in der Rlinik sum
Selbstmord fuhren konnte, ist zu bemerken, dass das Yerhalten der
Kranken in der Rlinik zu einer solchen Auffassung keine Veranlassung
gab. Es unterschied sich symptomatologisch nicht von dem Verhalten
bei der fruheren Erkrankung. Auch ist fur die Auffassung des Klinik-
leiters auf die Erfahrung zu verweisen, dass ganz ausserordentlich haufig
gerade bei solchen hysterisch-psychopathisch veranlagten Individuen mit
der Vollendung der Einlieferung in die Rlinik die vorher bestehende
Angst und Abwehrreaktion schnell abklingt. Es ist deshalb auch kein
Widerspruch, wie die Reichsgerichtsentsoheidung zu glauben scheint,
wenn in unserem Gutachteu von einera beruhigenden Einfluss des Auf-
enthalts in der Klinik die Rede ist, obwobl sich die Rranke auf der
Reise gerade vor der Verbringung dahin gefurchtet haben sollte. In
unserem friiberen Gutachten habeu wir fur die Berechtigung des Klinik-
leiters zu seiner Massnahme noch den F-intritt einer gewissen Aufhelluug
des traumhaften Zustandes angefuhrt. Weun in der Rritik der Reichs-
gerichtsentscheidnng, dass das Wort „gewissen u in Anfuhrungszeichen
gesetzt wird, zum Ausdruck gebracht werden soil, dass es eben doch
noch keine vollstandige Aufhelluug gewesen ist, so sei darauf hinge-
wiesen, dass auch bei der ersten Verlegung auf die Villa die Orien-
tierung der Kranken nocb beirrt war, und dass diese mit der hysteri-
* schen Grundverfassung in Zusammenhang stehende Bewusstseinstrubung
gerade ein Symptom war, dessen Beseitigung durch die von der Patientin
gewunschtc Verleguug auf die Villa mit Recht erwartet werden konnte.
Zu der Frage, ob der Leiter der Klinik, auch wenn er die Rranke
nicht mehr fur selbstmordverdachtig bielt und nicht mehr zu halten
brauchte, nicht dennoch Vorsichtsmassregein zu treffen verpflichtet war,
ist folgendes zu sagen.
Da Prof. Siemerling nach seiner Aussage die Kranke nicht mehr
fur selbstmord verd&chtig hielt und unseres Erachtens nach Lage der
ihm zur Verfugung stehenden Daten berechtigt war, sie nicht mehr fur
selbstmordverdachtig zu halten, so lasst sich die Frage dahin formu-
lieren, ob er befugt war, die Mbglichkeit eines Irrtums fur so unwahr-
scheinlich zu halten, dass er bei Verlegnng auf die offene Station auf
Sicherheitsmassregeln verzichten durfte. Von dem Medizinalkollegium
ist diese Frage verneint worden im Hinblick auf die VorgJUige vor der
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Aufnahme, auf die erst dreit&gige Beobachtung, die am 15. jioch vor-
handene depressive Stimmaog und den nocb bestehenden Mangel an
naturlichem Schlaf. Das Medizinalkol legium l&sst dabei ausser Be-
tracht, dass fur den klinischen Direktor zu der dreitagigen Beobachtung
die Kenntnis der fruheren Erkrankung und das ihm bekannt gewordene
Verhalten der Patientin in der Zwischenzeit binzukam, und beachtet
weiterhin uberhaupt nicht die hysterische Komponente in dem Zustands-
bilde der Kranken. Gerade diese Komponente liess eine andere Beur-
teilung der depressiven Stimmung und der Schlafstflrung zu und be-
rechtigte den Prof. Siemerling ans den mehrfach angefubrten Grunden,
den depressiven Symptomenkomplex den ubrigen Bebandlung er-
fordernden krankhaften Erscheinungen unterzuordnen. Er durfte des-
halb die Mdglichkeit eines Irrtums fur sehr gering balten. Mit einer
gewissen Mdglichkeit des Irrtums fiber den psychiscben Zustand ist a tier
bei der Unzul&nglichkeit menschlicher Erkenntnis selbstverstandlich
immer zu rcchnen. Es kann aber nicht die Aufgabe sein, dieses Be-
wnsstsein der Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnis an die Spitze
der arztlichen Massnahmen zu stellen. Ein erfolgreiches arztliches*
Handein ist in manchen Fallen in der Psychiatrie ebensowenig ohne ein
gewisses Wagnis denkbar wie in der Cbirurgie. Die Mdglichkeit eines
Irrtums in der Beurteilung der Selbstmordgefahr muss unter Umstandeu
zuruckgestellt werden durfen gegenuber den Erwartungen, die in thera-
peutischer Hinsicht von einer arztlichen Massnabme gehegt werden.
Gerade bei Erkrankungen, bei denen psychische Einflusse fur den Ver-
lauf einschneidende Bedeutung haben, also uberall wo hysterische und
andere psychogene Einschlage vorhanden sind, stellt die Behandlung
nicht selten den Klinikleiter vor ein gewisses Risiko. Der ungunstige
Einfluss, den der Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung oder uber¬
haupt das Bewusstsein einer besonderen Ueberwachting auf die Erkran¬
kung ausuben kann, kann fur den Arzt die Ndtigung erhalten, fruh-
zeitiger, als er sonst vielleicht tate, die Verlegung auf die offene un-
uberwachte Abteilung vorzunehmen. Es unterliegt keinem Zweifel,
dass eine solche Eutscbeidung nur von einem Psychiater, dem eine
grosse Erfahrung auf dem Spezialgebiet zur Seite steht, getroffen werden
kann. Es ist deshalb mit Recht fiblich, dass in den psychiatrischen
Kliniken die Verlegung von der geschlossenen nach der offenen Ab¬
teilung nur von dem Direktor selbst oder dem Oberarzt in seiner Ver-
tretung angeordnet wird. Dieser Forderung ist hier entsprochen worden.
Der Direktor selbst bat die Verlegung angeordnet, wie die Zeugenaus-
sagen ergeben. Es muss darauf hingewiesen werden, dass es einen
(Jnterschied bedeutet, ob ein in jahrzehntelanger spezialistischer Erfah-
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E. Siemerling,
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rang erprobter Kliuikleiter eine solche Anordnung trifft oder ein Arzt
mit geringer Spezialerfahrung. Dem ersteren wird, wenn Fahrl&ssigkeit
auszuschl lessen ist — and diese darf nach der sorgf<igen Fuhrung
der Krankengeschichte hier ausgeschlossen werden — eine Berncksichti-
gung von vielfaltigen Erfabrungen von vornherein zuzuerkennen sein,
welche dem weniger Sachverstandigen abgeben. Es liegt hier nicht
anders als in der Chirurgie. Eine misslungene Operation, die von der
Hand eines Fachchirurgen ausgefuhrt, berechtigt sein kann, kann, wenn
vou einem nicht oder weniger Sachverstandigen ausgefuhrt ein Ver-
scbulden bedeuten, wenn der Operateur sich sagen musste, dass die
technischen Anforderungen fiber seine Erfabrungen hinausgehen.
' Im vorliegenden Falle durfte der Direktor der Rlinik auf Grand
der Spezialkenntnis des Fades und der langj&hrigen kliniscben Er-
fahrang, die ihm in der Behandlung soicher Falle zur Seite stand, die
Mfiglichkeit eines Irrtams hirisichtlich der Selbstmordgefahr far so
geringffigig halten gegenfiber den Vorteilen, die er von der offenen Be¬
handlung erwartete, dass er sie vernachlfissigen durfte. Die Anordnung
einer Sonderbewachung auf der offenen Station wfirde gerade den Heil-
erfolg, der bei der von psychogeneu Einflfissen abhfingigen Kranken
durch die Verlegung auf die offene Station erzielt werden sollte, in
Zweifel gesetzt haben. Der Kliuikleiter durfte sich bei seiner Beur-
teilung des Falles mit der Beaufsichtigung begnfigen, wie sie auf einer
solchen Station durch das Zusammenliegen mit einer anderen Kranken,
durch das auf der Station vorhandene Pflegepersonal und die firztlichen
Besuche gegeben ist.
2. Die Frage, ob die Beschaffenheit der offenen Station, mit Ruck-
sicht darauf, dass sie im ersten Stock eingerichtet war und besondeny
Anweisungen fur die Bewachung und Beobachtung der Kranken nicht
getroffen wurden, den Anforderaugen entspricht, welche an die Unter-
briugung von Kranken von der Art der Frau S. zu stellen sind, 1st
dahin zu beantworten, dass die offene Station zur Behandlung selbst-
mordverdfichtiger Kranker an sich fiberhaupt nicht in Betracht kommen
soil. Es ist darin der Aeusserung des Prof. Siemerling, wie wir schon
in uuserem frfiheren Gutacliten sagten, zuzustimmen, dass er, wenn er
bei der Kranken mit der Mfiglichkeit eines Suizids hfitte rechnen mfissen,
sie fiberhaupt nicht auf die offene Station legen durfte. Weil wir diese
Ansicht vertreten, lag ffir uns kein Grand vor, in eine Prufung der
vom Medizinalkollegium diskutierten Frage einzutreten, ob das Warte-
personal und die Sicherungsvorrichtungen eine ausreichende Ueber-
wachung der offenen Station gewahrleisteten. Die Grfinde, aus denen
Professor Siemerling mit der Mfiglichkeit eines Suizids uud eines
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Beitrag zur Verantvortlichkeit des Irrenarztes. 967
Irrtums seiner Beurteilung nicht zu rechnen brauchte, sind oben dar-
gelegt.
Die Frage, ob lediglich auf die allgemeine Mfiglichkeit bin, dass
Irrtfimer in der Beurteilung der Suizidgeffihrlichkeit von Kranken mfig-
lich sind, die Ginrichtung der offenen Station rait Sicberungsvorkeh-
rungen zu versehen seien, ist in Betracbtung der Heilzwecke der offenen
Station zu verneinen. Die Grfindung offener Stationen an psycbiatrischen
Kliniken und Heilanstalten ist ein notwendiges Ergebnis der therapeuti-
schen Grfahrungen fiber die Bedeutung der Zwangsmassregeln in der
Bebandlung psychischer Erkrankungen. Es kann als ein durch die Er-
fahrungen des letzten Jahrhunderts gesicherter Satz gelten, dass mit
der zunehmenden Beseitigung der Zwangsmassregeln aus der Tberapie
der Geisteskrankkeiten die Heilerfolge binsichtlich der Heilung und
Sozialisierung Geisteskranker besser geworden sind. Es bat sick not-
wendig erwiesen, in einzelnen Fallen von psychischer Erkranknng von
einer geschlossenen Behandlung im Interesse der Heilung fiberbaupt
abzusehen. Es gibt Eranke, bei denen unter dem Einfluss der ge¬
schlossenen Behandlung und dauernden Ueberwachung die Neigung zu
Fluchtversuchen, zu Selbstbesck&digungen und Suizidversuchen geradezu
hervorgerufen wird. Weiterbin gibt es eine grosse Anzabl psychischer
Erkrankungszust&nde, fur welche zwar eine psychiatrische Behandlung
geboten, aber der Aufentbalt in der geschlossenen Anstalt nicbt er-
forderlich, ja unter UmstSndeu als direkt schadlich kontraindiziert ist.
Es gehfirt hierher die grosse Zahl der sogenannteu Grenzzustfinde,
Zwangsneurosen, leichte manisch-depressive Zustfinde, hysterische und
andere psychopathische Konstitutioneu. Bei alien solchen Kranken ist
unter Umstfinden mit dem episodischen Auftreten ausgesprochener
psychischer Stfirungen zu rechnen. Die Mebrzabl dieser Kranken wfirde
ebenso wie ihre Angehfirigen zur Einleitung der notwendigen Behandlung
sich nicht bestimmen lassen, wenn jiur die geschlossene Abteilung fur
die Behandlung in Betracht kfime.
Die offenen Stationen haben sich auch als notwendig erwiesen ffir
manche in der Rekonvaleszenz befiudliche psychische Kranke. Gerade
ibre Behandlung zeigt h&ufig den Wert der offenen Station augenf&Uig,
wenn eine Rekonvaleszenz, die unter dem Einfluss des geschlossenen
Regimes nicht vorwarts gehen will, durob Verlegung auf die offebe
Station rascbe Fortschritte macht.
Bei dem ausseren Ausbau der offenen Stationen ist, auch das hat
die Erfahrung gelehrt, an die Spitze zu stellen die grosse Empfindlichkeit
des Publikums gegen alles, was nach Freiheitsbeschrfinkung oder Geistes-
krankenbehandlung aussieht. Gerade bei den bier in Betracht kommenden
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E. Siemerling,
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Kranken und hftnfig aacli bei ihren Angehorigeu pflegt aus psycho-
logisch einleuchtendea Grunden diese Empfindlichkoit besonders stark
entwickelt zu sein. Nur eine den gewobnten and natfirlichen Wobn-
verh<nissen entsprechende Unterbringung ist geeignet, gesundheits-
9chSdigende Erregungen zu vermeiden und die therapeutischen Inter-
essen zu f5rdern. Es ist deshalb allerorten, wo offene Stationen ein-
gerichtet sind, mit Recht da von abgesehen worden, Tur- und Fenster-
verschlusse mit besonderer Sicberung und offene nicht verschliessbare
Klosettraume anzulegen.
Es ist kein Zweifel, dass durch die Einrichtung der offenen Stationen
fur die Aerzte eine orhebliche Erschwerung und eine Vermehrung der
Verautwortlichkeit erwachsen ist gegenfiber der Zeit, wo man die
psychiscb Kranken mehr oder weniger wahllos auf der geschlossenen
Abteilung hielt. Der Arzt muss cine sehr viel eingehendere Kenntnis
der einzelnen Patienten habeu, um ein Urteil fiber die Verlegungsfahig-
keit zu haben. Dass diese Notigung zu cingebender Kenntnisnahme
von dem Geisteszustande rfickwirkend von gunstigem Einfiuss ffir die
therapeutischen Massnahmen ist, ist selbstverstfindlich. Tatsfichlicb ist
keineswegs etwa eine Zunahme der Selbstmorde oder Selbstmordversucbe
in den mit solchen offenen Abteilungen versehenen Heilanstalten zu
verzeichnen. Es wfirde sonst nicht die Ansicht aller sachverstandigen
Kreise einheitlich dabin gehen, dass eine Beibehaltung der offenen
Stationen unbedingtes ■ Erforderuis einer sachgemassen psychiatrischen
Therapie ist.
Die Erfahrung, dass eine Zunahme der Selbstmorde in den psychi¬
atrischen' Kliniken und von Psychiatern geleiteten Anstalten trotz der
freien Bebandlung nicbt zu verzeichnen ist, ist wichtig im Hinblick auf
die in Laienkreisen und auch in der Reichsgerichtsbegrfiudung znm
Ausdruck kommende Anschauung von der Unbercchenbarkeit psychischer
Kranker. Gewiss kommen bei Geisteskranken auch dem Psychiater
unerwartetc Stimmuugsschwankungen, unberechnete lmpulsivhandlungeu
vor, — der vorliegende Fall ist ja gerade ein Beispiel daffir — aber
es ist durchaus die Regel, dass die psych iatriscbe Erfahrung und die
Analyse der im Einzelfall vorliegenden Krankheitssymptome die Vcr-
laufsprognose, soweit die Frage, ob offene oder geschlossene Bebandlung
indiziert ist, in Betracht kommt, richtig stellen lfisst. Die Unberechen-
barkeit der psychiscb Kranken ist mit dem zunehmenden Fortschreiten
der Kenntnis der Klinik der Geisteskranken geringer geworden, und sic
ist — das zeigen die Erfabrungen — zur Zeit keineswegs so erheblich.
dass die Behandlung in offenen Abteilungen als verfrflhter und gefSbr-
licher Versuch zu bezeichnen wfire. Es wfire im Interesse der weiteren
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Entwicklung der psycbiatrischen Therapie bedauerlicb, wenn vereinzelte
ans der Unvollkommenheit menschlicber Erkenntnis hervorgegangene
Dnglficksfalle dazu ffihren wfirden, eine erprobte Behandlungsweise durch
eine den tatsfich lichen Verh<nissen nicbt gerecht werdende Prononzierung
des Sicberheitsstandpunktes gegenuber'dem Heilzweck zn behindern.
Es ist auch gegenuber dem Bedenken, dass die offene Abteilung
im ersten Stock eingerichtet ist, dass das Klosettfenster wenigstens
hatte so eingerichtet werden sollen, dass ein Durchschlfipfen einer
Person hatte verhindert werden kOnnen, der Standponkt der klinischen
Erfahrnng geltend zu machen, dass wirkliche Sicherungsmassrcgeln auf
die offene Abteilung nicbt gehfiren, weil diese sonst ihren Zweck ver-
fehlt and dass halbe Sicherungen nicbts nfitzen. Wird tats&chlich in-
folge eines arztlichen Irrtums oder einer Fabrlassigkeit ein suizidgef&hr-
licber Eranker auf die offene Station verlegt, so kann er sicb beim
Sprang ans dem offenen Parterrefenster allerdings weniger leicht eine
schwere Scbadiguug zuffigen, als wenn er aus dem ersten Stock heraus-
springt, aber er wird andererseits auf der offenen Abteilung zahlreiche
andere Moglicbkeiten, sein Leben zu gefahrden, linden. Dasselbe gilt
▼on dem Klosettfenster. Ist das Fenster verschlossen, so bleibt dem
Kranken, indem ihm der Impuls erwacht, die Erhangungsmoglichkeit
im Elosett, es bleiben ibm die vielen nicht verschlossenen Fenster und
yieles andere.
Halbe Sicherungen baben, abgesehen davon, dass sie leicht den
notwendigen Eindruck der freien Behandlung wieder zerstoren kOnnen,
erfahrungsgemass das Bedenken, dass sie geeignet sind, falscben Vor-
stellungen fiber die Selbstmordsicberung auf einer gewissen Laxbeit in
der Auswabl der ffir die offene Station geeigneten Kranken Raum zu
geben, wfihrend es gerade von besonderer Wichtigkeit ist, dass ffir den
Arzt bei der Auswabl der Kranken keine Onklarheit darfiber besteht,
dass durch die baulichen Verhfiltnisse der offenen Station eine Sicherung
gegen Selbstmord oder Selbstbeschadigung nicht gegeben ist und nicht
gegeben sein soli.
Wir geben deshalb unser Obergutachten dahin ab,
1. dass es im Hinblick auf die besonderen Umstande des Falles,
insbesondere den aus der Krankengeschichte ersichtlichen Zustand der
Frau S. nicbt als Verstoss gegen die anerkannten Grandsatze der
firztlichen Wissenschaft anzusehen ist, dass Professor Dr. Siemerling
am 15. November ihre Ueberffihrung in die offene Station angeordnet
hat, ohne ffir besondere Beaufsichtigung zu sorgen,
. 2. dass die Beschaffenheit der offenen Station auch im Hinblick
darauf, dass sie im ersten Stock eingerichtet ist und besondere An-
ArehiY f. Psychiatric. Bd. 60. Heft 2/3. 02
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E. Siemerling,
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weisungen fiir die Bewachiing nicht getroffen waren, den Anforderungen
entspricht, welche an die Unterbringung von Kranken von der Art, wie
sie der kliniscbe Direktor — allerdings irrtumlich — bei der Fran S.
als vorliegend erachten durfte, zu stellen Bind.
gez. Kirchner, Rubner, Moeli, Orth, Kraus, Bumm, Bier,
Heffter, Dr. Saenger, Krohne, Strassmann, Bonhoeffer,
Ilildebrand, Loeffler.
Am 29. 10. 1914 wurde folgendes Drteil verkundet:
Im Namen des KOnigs!
In Sachen des Kbuigiich Preussiscben Staatsfiskus, vertreten durcb
den Kurator der Universit&t Kiel,
Beklagten und Berufungskl&gers,
— ProzessbevollmSchtigte: Justizrat Dr. Abraham und Dr. Kohler
. in Kiel —
gegen den
Redakteur E. S. in I.
KlSLger und Beruiungsbeklagten,
— Prozessbevollmachtigter: Rechtsanwalt Dr. Stahmer in Kiel —
wegen Schadenersatzes
hat der erste Zivilsenat des Kdniglicben Oberlandesgerichts in Kiel auf
die mundliche Verhandlung vom 22.10. 1914 unter Mitwirkung des
Oberlandesgerichtspr&sidenten Wirklichen Geheimen Oberjustizrat*
Kirchner und der OberlandesgerichtsrSte Luders, LOhmann, Dr.
Kirschstein, Dr. Bruck fur Recht erkannt:
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil der zweiten Zivil-
kammer des Kbniglichen Landgerichts in Kiel vom 23. 2. 1910 dahin
abge&ndert:
Der Kl&ger wird mit der erbobenen Klage abgewiesen und verur-
teilt, die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Dies Urteil ist vorl&ufig vollstreckbar, jedoch wird .dem Kl&ger
nacbgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung von
1200 M. — eintausendzweihundert Mark — abzuwenden.
Tatbestand.
Die Ehefrau des Kl&gers wurde am 12. 11. 1905, weil sie voruber-
gehend geisteskrank war, in die KOnigliche Psychiatrische Nervenklinik
der Universit&t Kiel gebracht, wo sie bereits im Jabre 1903 behandelt
war. Sie hat hier am 16. 11. 1905 morgens einen Selbstmordversuch
gemacht, indem sie sich aus dem Fenster des Klosetts auf der im
ersten Stockwerk der sogenannten Villa befindlichen offenen Station
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Beitrag zur Yerantwortlichkeit des Irrenarztes.
971
fainausatfirzte, wodurch sie schwere Verletzungen sich zuzog. Der Ehe-
mann der Yerletzten nimmt den Preussischen Staatsfiskus fur die Folgen
der entstandenen Verletzung in Ansprach, indem er behauptet, es liege
■ein Verschulden des Anstaltsleiters, des Geh. Med.-Rats Prof. Dr.Siemer-
ling vor, der die Kranke nicht habe auf die offene Station legen dfirfen,
und es liege eine mangelhafte Einrichtung dieser zum Aufenthalt von
Geisteskranken bestimmten Rfiumlichkeiten vor, insbesondere indem nicht
einmal im Klosett die Fenster so eingerichtet seien, dass ein Hinaus-
stfirzen unmOglich sei.
In erster Instanz ist die Klage dem Grande nach fur berechtigt
erklart worden. Gegen dies am 23. 3. 1910 zngestellte Drteil ist durch
einen am 16. 4. 1910 beim Oberlandesgericht eingereichten Schriftsatz
Berufung eingelegt. Hierauf ist in der zweiten Instanz in Abfinderung
des angefochtenen Urteils die Klage abgewiesen worden, dieses Urteil
ist aber im Wege der Revision vom Reicbsgericbt anfgehoben und die
Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidong an den jetzt
erkennenden Senat des Berufungsgerichts zuruckverwiesen.
In der weiteren Verhandlung hat der Beklagte beantragt, die Klage
abznweisen, wfihrend vom Klager der Antrag gestellt ist, die Berufung
zuruckzuweisen und fur den Fall der Zur tick weisung der Berufung dem
Klager nachzulassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung
abzuweisen.
Das angefochtene Urteil nebst der Krankengeschichte von 1903
und 1905 (Blatt 73 und Blatt 48—65, Band I) und dem Krankheits-
attest des Dr. H. vom 7. 11. 1903 sowie der erstinstanzlichen Beweis-
aufnahme ist vorgetragen und wird hierauf verwiesen.
Der Beklagte hat erklart, es werde bestritten, dass der Leiter
der Klinik verfassungsm&ssig berufener Yertreter des Fiskus sei, es solle
aber nicht bestritten werden, dass er berechtigt sei, selbstandig fiber
die Aufnahme und Entlassung der Kranken zu entscheiden und die
Yerpflegungskosten festzusetzen. Bei der Auswahl der behandelnden
Aerzte sei die erforderliche Sorgfalt angewendet.
Yom Anstaltsleiter sei im vollen Umfange die erforderliche Sorg¬
falt angewendet, auch sei die Anstalt sachgemfiss nnd entsprechend
den Vorschriften wie den Ergebnissen der Praxis und der Wissenschaft
gemiss eingerichtet, sodass keinerlei Verschulden vorliege. Wenn die
Ueberffihrung der Frau S. in die offene Station vom firztlichen Stand-
punkt aus zu Bedenken Anlass gegeben hfitte, so wire sie fiberhaupt
nicht veranlasst worden.
Das Pilegepersonal sei vOUig ausreichend und durchaus zuverl&ssig
gewesen. Dass demselben besondere Anweisung zu einer speziellen Be-
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E. Siemerling,
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aufsichtigung der Frau S. in der offenen Station gegeben sein, kOnne-
nicht behauptet werden. Im ubrigen sind hinsichtlich dee Pflegeper-
sonals die in den Schriftsatzen vom 23. 3. und 15. 6. 1911 enthaltenen
Behanptungen aufgestellt und die in den beiden uberreichten Ueber-
sichten (I. 73) enthaltenen Angaben gemacht; hierauf wird verwiesen.
Vom Elager sind die Ausfuhrungen des erstinstanzlichen Urteils
fur zutreffend erachtet. Seine Frau habe zur Zeit des Selbstmordver-
suchs einer sorgfaltigen Ueberwachung durch ein gut geschultes und
instruiertes Pflegepersonal bedurft, wie sich dies aus dem Gutachten
von Prof. Flechsig, von Dr. Erman und des Medizinalkollegiums in
Munster ergebe. Demgegenuber sei der Wissenschaftlichen Deputation
die geringere Autoritat beizumessen. Diese bestehe aus Vertretern aller
Zweige der medizinischen Wissenschaft und aus Verwaltungsbeamten
und es k5nne daher im vorliegcnden Fall nur der psychiatrische Re¬
ferent in Betracht kommen. Dagegen gehSrten dem Medizinalkollegium
in Munster der Direktor der dortigen Provinzial-Irrenanstalt, ein prak-
tischer Arzt, ein Geheimer Regierangs- und Medizinalrat und der Kreis-
arzt, der zugleich Medizinalassessor sei, an; Flechsig sei eine aner-
kannte Autoritat auf dem Gebiete der Psychiatric und Dr. Erman ein
angesebener Gerichtsarzt.
Wenn Frau S. nicht mehr als suizidverdachtig angesehen sei, so
batte doch die Mdglichkeit eines Ruckfalls und insbesondere eines
Irrtums berucksichtigt werden mussen und man habe daher nicht jede
Vorsicht ausser Acht lassen diirfen. Zu einer solchen Vorsicht habe
auch eine vertragsmassige Pflicht vorgelegen gegenuber dem Klager,
der sie in die Anstalt gebracbt habe, weil er sie zu Hause nicht habe
uberwackeu kSnnen. Prof. Siemerling habe Frau S. sicher nicht in
dem Bewasstaein in die Villa gelegt, dass dort auf Ueberwachung nicht
zu rechnen sei, sondern in der irrtumlichen Annahme, dass die Ueber¬
wachung dort eine ausreichende sei.
Das Pflegepersonal sei nicht ausreichend gewesen, insbesondere sei
auch eine besondere Beobachtung der Frau S. nicht angeordnet. Hin¬
sichtlich des Pflegepersonals sind die im klagerischen Schriftsatz vom
2. 6. 1911 aufgefuhrten Behauptungen vorgetragen sowie die Skizze
(Blatt 204) vorgelegt; hierauf wird verwiesen.
Der Klager habe bei der Aufnahme im Jahre 1905 dem Ante
Dr. Flatau gegenuber erklart, seine Frau habe auf der Fahrt nach
Kiel zweimal versucht, aus dem Zuge zu springen, und zwar einmal
durch Oeffnen der Tiir, und dann durch den Versuch, in das Klosett
zu fluchten, mit der offenbaren Absicht, dort den Versuch zu erneuern.
Ausserdem habe der Klager gelegentlich der ersten Einlieferung seiner
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Beitrag zur Verantwortliohkeit des Irrenarztes.
973
Frau im Jahre 1903 dem aufnehmenden Arzte Dr. Glasow berichtet,
seine Frau sei w&hrend der N&chte h&ufig plOtzlich nach dem Fenster
gelaufen, und er babe die Fenster mit Tischen verbarrikadiert aus Be-
sorgnis, sie werde zum Fenster hinausspringen. Auch werde behauptet,
dass die Aerzte hiervon dem Prof. Siemerling Mitteilung gemacht
haben. Ueber diese Angaben werde dem Beklagten der Eid zuge-
schoben, soweit nicht dem El&ger der ricbterliche Eid anvertraut werde,
warum in erster Linie gebeten werde.
Auch sei die Anlage selbst mangelhaft; der Febler best&nde vor
allem darin, dass sich die R¨icbkeiten ein Stockwerk hoch fiber
einem hochgelegenen Erdgeschoss beffinden und dass das Fenster im
Elosett ungesichert und so gross sei, dass ein Hinausspringen mfig-
lich sei. In der einsamen Klosettzelie sei ein weitgeOffnetes Fenster
geeignet, geradezu zu einer selbstmfirderischen Affektbandlung anzu-
reizen.
Da die moisten Klosetts nur schmale oder hochgelegene Fenster
oder nar LuftkJappen haben, so konne es die Patienten nicht beunrubigen,
wenn sie auf der Anstalt im Elosett kein weitgeOffnetes Fenster vor-
f&nden.
Ein Mangel der Anstalt liege auch darin, dass nur die Wahl zwischen
dem Wachsaal mit alien seinen abschreckenden Erscheinungen und der
offenen Abteilung im oberen Stock bestehe. Habe man in der geschlos-
senen Abteilung keine anderen geeigneten R&ume, so dfirfe man keine
Patienten aufnebmen, die gerade aus dem Grunde hineingebracht seien,
weil man sie zu Hause nicht genug uberwachen konne.
Die kl&gerische Ehefrau sei nocb nicht wieder vollst&ndig geheilt,
sie leide seit dem Sturz an periodischen L&hraungserscheinungeu in den
Beinen, Beweis: Gutacbten Sachverst&ndiger.
Der Beklagte hat bestritten, dass 1903 von Selbstmordabsichten
der Frau S. etwas mitgeteilt und dass vom Kl&ger angegeben sei, seine
Frau habe auf der Fahrt nach Eiel zweimal versucht, aus dem Zuge
zu springen und erklart, dass es auf den zugeschobenen Eid nicht an-
kommen werde, eventuell werde eine Erklarung hieruber, die oltne
n&here Instruktion nicht erfolgen kOnne, bis zur Auffordernng zur Er-
kl&rung durch das Gericht vorbehalten.
Die Einrichtungen der Klinik entspr&chen in jeder Beziehung den
modernen Anforderungen, seien auch so eingerichtet, dass man in jeder
Beziehung der verschiedenen Eigenart der Eranken bei der Behandlung
gerecht werde.
Die abweichenden Behauptungen der Gegenseite sind vom Beklagten
bestritten.
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E. Siemerling,
Die zweitinstanzliche Beweisaufnahme, wie sie sich aus den Proto-
kollen vom 18. 10. 1911 und 28. 12. 1911 (Bd. 2, Blatt 30), 24. 2. 1912,
23. 10. und 16. 12. 1913 und 10. 1. 1914, sowie aus den zweimaligen
Gutachten des Medizinalkollegiums in Munster und derWissenschaftlicben
Deputation fur das Medizinalwesen in Berlin ergibt, 1st vorgetragen und
wird hierauf verwiesen.
Der El&ger hat noch ausgefubrt, das Gutachten der Wissenschaft-
lichen Deputation beruhe auf einem fundamentalen Fehler, indem es
als wesentlichen Faktor in Prof. Siemerling’s Erw&gungen die fur ihn
gar nicht existierende „hysterische Eomponente u einstelle, die erst bei
der Beweisaufnahme 1913/14 entdeckt sei. Ausserdem operiere das
Gutachten mit einer unzutreffenden Parallele, indem es sage, dass ProL
Siemerling davon habe ausgehen kSnnen, die Entwicklung des Falles
sei derjenigen des Jahres 1903 entsprechend. TatsScblich habe Prof.
Siemerling 1903 den Fall anders beurteilt, er habe die Patientin
damals erst nach 12 Tagen in die ofifene Anstalt gelegt.
Yom Beklagten wird die Richtigkeit dieser Ausfuhrungen be-
stritten.
Grunde.
Die formell zulassige Berufung ist sacblicb begrundet.
Der Klaganspruch ist darauf gestutzt, dass Prof. Dr. Siemerling,
der Leiter der Elinik, schuldhaft gehandelt hat, als er am 15. 11. 1905
die Ueberfuhrung der Frau S. in die offene Station anordnete, und ferner,
dass die offene Station mangelbaft fur den Aufenthalt Geisteskranker
eingerichtet sei, und hierdurch eine Haftung des Staates wegen schuld-
hafter Dnterlassung gegeben sei.
Der Prof. Siemerling ist, wie unstreitig ist, als Anstaltsleiter zur
Aufnahme und Entlassung der Eranken, sowie zur Festsetzung der Ver-
pflegungskoBten selbstftndig befugt. Er ist hiernach berufen, durch die
ihm ubertragenen Obliegenheiten den Staat, der die Elinik betreibt,
Eigentumer der Anstaltsr&ume ist, und den Anstaltsleiter wie die ubrigen
Beamten angestellt hat, auf Grand der massgebenden Vorschriften der
Verwaltungsorganisation bei der Aufnahme und Behandlung der Eranken
zu vertreten. Der Staat haftet daher fur ein Verschulden des Prof.
Siemerling nicht nur soweit der Elagansprach auf mangelhafte Ver-
tragserfullung (ein zwischen den Parteien abgeschlossener Dienstvertrag)
gestutzt wird gemSLss § 278, sondern aucb insoweit ausservertragliches
Verschulden in Frage kommt, auf Grand der §§ 31, 89 B.G.B.
Die Frage der Beweislast, die hiernach yerschieden sein kann, mag
hier dahingestellt bleiben, es erubrigt sich, wenn durch die stattgehabte
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes. 975
Beweisaufnahme ein ursachliches Verschulden festgestellt ist oder sich
das Nichtvorhandensein eines Verschuldens ergeben hat.
Es fragt sich zun&chst, ob Prof. Siemerling ein Verschulden —
es kann sich hier nur nm Fahrl&ssigkeit handeln — zur Last fallt,
indem er Frau S. am 15. 11. 1905 auf die offene Station, in die soge-
nannte Villa verlegte.
Die Ueberfuhrung der Kranken, die wahrend der ersten Tage sich
in der Ueberwachungsstation befand, in die offene Station war eine
wichtige Anordnung, sie ist dementsprechend von dem Anstaltsleiter
selbst vorgenommen, und zwar in Uebereinstimmung mit dem Wunsche
der Frau S., die bereits 2 Jahre vorher einige Wochen in der Anstalt
war, und bei der sich damals die Ueberfuhrung in die offene Station
als sehr vorteilhaft fur den Heilungsprozess erwies. Bei diesem ersten
Aufenthalt der Kranken in der Anstalt sind irgendwelche Neigungen
zum Selbstmord (sog. Suizidgedanken) nicht hervorgetreten. Aucb in
dem arztlichen Antrag auf Ueberweisung, der vom Hausarzte verfasst
ist und den Krankheitszustand eingehend schildert, ist derartiges nicht
erwahnt, und bei der Aufnahme in die Anstalt selbst wird in der
Krankengeschichte als Angabe des Ehemannes, also des jetzigen Klagers,
berichtet: „Suizidgedanken hat Patientin nie geSussert. 1 * Nun wird vom
Klager behauptet, er babe dem aufnehmenden Arzte Dr. Glasow gegen-
uber, von dem die Krankengeschichte stammt, bei der Aufnahme von
Selbstmordversuchen gesprochen, die die Kranke zu Hause vorgenommen
habe, und Dr. Glasow babe dies dann auch dem Anstaltsleiter mit-
geteilt. Dr. Glasow weiss hieruber nicbts melir zu bekunden, es ist
erkl&rlicb, dass er sich nach 10 Jahren eines solchen Vorganges nicht
mehr entsinnt. Vom Klager ist hieruber dem Beklagten der Eid zuge-
scboben, das Gericht erachtet aber die Eideszuschiebung als unzulassig.
Schon der Umstand, dass in der eingehenden Dars tel lung des Dr. H.
von solchen, doch sehr- wesentlichen Tatumstanden nichts gesagt ist,
lasst die Behauptung als hdchst unwahrscheinlicb erscheinen. Es kommt
aber hinzu, dass in der eingehenden ErOrterung bei der Aufnahme mit
dem Ehemann, wie die vorliegende Krankengeschichte ergibt, uber die
Frage des Vorliegens selbstmSrderischer Gedanken gesprochen ist und
dazu klar und unzweideutig als Ergebnis vermerkt ist, dass Selbstmord-
ideen nicht geaussert sind. Es scheint ausgeschlossen, dass hier bei
einem solchen wichtigen Punkte eine unrichtige Beurkundung vorliegt
und das Gericht hat daher keine Bedenken, die klagerische Behauptung
als widerlegt anzusehen. Zur Vervollstandigung sei auch nocb darauf
hingewiesen, dass der Klager in diesem Prozess erst in zweiter Instanz
in dem nach Erstattung des ersten Gutachtens der Wissenschaftlichen
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£. Siemerling,
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Deputation eingereichten Scbriftsatz vom 22. 10. 1912 mit einer der-
artigen Behauptung gekommen ist. Es kaun daber unerfirtert bleiben,
ob fiberall die Eideszuschiebung rechtlich zul&ssig ist, denn der Assistenz-
arzt Dr. Glasow, dem der Klfiger die Mitteilung gemacht babeu soil,
war nicbt Vertreter des Fiskus im Sinne des § 445 Z.P.O. und beim
Mangel eines Beweises hierfur schwebt die weitere Behauptung, dass
Dr. Qlasow diese Mitteilung an den Anstaltsleiter weitergegeben babe,
vfillig in der Luft, abgesehen davon, wieviel durch solcbe im Jahre
1903 gemacbte Mitteilung fur die allein wesentliche Kenntnis dieser
Tatsache im November 1905 erwiesen ist, also nach einem Zeitraum
von 2 Jabren, in dem dem Anstaltsleiter ausserordentlich viele Kranken-
geschichten erzfihlt worden sind, so dass er sich der Einzelheiten, soweit
sie nicht scbriftlicb niedergelegt sind, schwerlicb entsinnen konnte.
Auch in der Anamnese des zweiten Falles (November 1905) heisst
es: „Reine Suizidgedanken 44 , es ist aber hinzugesetzt: „Unterwegs un-
ruhig. Versuch aus dem Zuge zu springen 44 . Wenn jetzt der Klager,
auf dessen Angaben bin dies damals aufgenommen ist, behauptet, er
habe bei der Aufnahme von 1905 mitgeteilt, dass seine Frau w&hrend
der Eisenbahnfahrt zweimal versucht habe hinauszuspringen, so bietet
die Niederschrift hierfur keinen Anhalt, widerlegt es aber doch nicht.
Professor Siemerling, wie der ebenfalls hier als Zeuge vernommene
Dr. Glasow wissen fiber die Frage nichts zu sagen. Das Berufungs-
gericht ist bei Prfifung der Sacblage zu der Ueberzeugung gelangt, dass
es unwesentlich fur die Beurteilung des Falles ist, ob der Kl&ger bei
der Aufnahme seiner Frau von einem ein- oder zweimaligen Versuch
der Kranken, sicb aus dem Zuge zu stfirzen, gesprochen hat. Einmal
behauptet er selbst gesagt zu haben, sie habe das erste Mai versucht,
durch Oeffnen der Tfir aus dem Zuge zu springen and sodann versucht,
nach dem Klosett zu flfichten, in der offenbaren Absicht, dort den Ver¬
such zu erneuern. Diese Schilderung l&sst einen sicheren Schluss darauf,
ob die Rranke bei dem Versuch ins Klosett zu kommen. tatsfichlich
eine Selbstmordabsicht verfolgt hat, nicht zu. Angeuommen aber man
will hierin auch einen Selbstmordversuch sehen, so ist nicht abzusehen,
wie der Dmstand, dass sie auf derselben Fahrt zweimal kurz nacbein-
ander sich hinauszustfirzen versucht, einen Beweis ffir die Ernstlichkeit
und Energie der Selbstmordabsicht bieten sollte, denn beide Versuche
unter denselben Verhfiltnissen und Eindrficken — Reise nach Kiel zor
Ueberfuhrung in die Anstalt — vorgekommen, also als Ausfluss desselben
Affekts zu betrachten. Der Normierung des Eides ffir den Vertreter dez
Beklagten wfirden im fibrigen auch hier die oben erfirterten Bedenken
entgegenstehen.
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CORNELL UNfVERSSTV
Beitrag zur Verantwortlicbkeit des Irrenarztes.
977
Die M5glichkeit eines pldtzlichen unerwarteten Stimmuugswechseis
ist an sich nicht in Abrede zu stellen, zumal nach dem Krankenbericht
vom 14. und 15. 11. die Aengstlichkeit und Depression der Fran S.
noch keineswegs vOllig gehoben war. Allein es erscheint die Aussage
von Professor Dr. SiemerliDg unbedenklicb glaubwurdig, dass er ernst-
iich die Frage erwogen liat, ob nocb Selbstmordgedanken vorhanden
oder zn befurchten seien, und dass er auf Grand sorgsamer ErwSgung
unter Berucksichtigung aller Umstande zur Verneinung gekommen ist.
Hierin kann in Uebereinstimmung mit den gutachtlichen Ausfubrungen
der Wissenschaftlichen Deputation eine Fahrlassigkeit, also ein Ausser-
achtlassen der im Verkehr erforderlicben, einem Anstaltsleiter obliegen-
den Sorgfalt nicbt gefunden werden. Professor Siemerling wusste,
dass vor zwei Jahren gerade die Verlegung in die Villa als ein sehr
wesentlicher Heilfaktor gewirkt hatte und er ging von der in der psy-
chiatrischen Wissenschaft vielfach vertretenen und in der Praxis in
vielen Anstalten praktisch zur Anwendung gebrachten Ansicht aus, dass
die Behandlung aller dazu geeigneter Kranker in der offenen Station
zn empfehlen sei und das Beste fur die FOrderung des Gesundungs-
prozesses verspreche. Die Wissenschaftliche Deputation weist in aus-
fuhrlicher Begrundung darauf hin, dass man es bei Frau S. nicbt mit
einem Schulbild der Melancholic zu tun hatte, und dass auch bei me-
lancholischen Depressionen eine Behandlung in offenen Stationen in
vielen Fallen und durchaus angezeigt erscheint. Es wird darauf hin-
gewiesen, dass bei Frau S. ein hysterischer Einschlag — eine psycho¬
gene hysterische Komponente, wie das Gutachten sich ausdriickt —
unverkennbar vorlag und daraus weiter gefolgert, dass die Affektinten-
sitat der Depression bei der Kranken rasch abklingt, dass der Versuch,
sich aus dem Zuge zu sturzen, als Steigerang des Aflfektes ohne Dauer-
bedeutung ist, und dass gerade die Abhangigkeit der Affekterscheinungen
von der Umgebung den Arzt veranlassen musste, eine mdglichst gunstige
und der Kranken zusagende Gestaltung der ausseren Umgebung herbei-
zufuhren. Ganz ahnlich spricht auch scbon Professor Flechsig in
seinem Gutachten von hysteriscben Anfallen, denen die Frau S. ausge-
war, von ihrer Neigung zu Affekthandlungen und meint, dass die Dia¬
gnose auf Melancholie nicht haltbar sei.
Wenn der Klager meint, dass das hier betonte hysterische Tem¬
perament erst durch die neuerliche Beweiserhebung „entdeckt w sei und
fur Professor Siemerling obne jede Bedeutung war, so ist dies vOllig
unhaltbar. Das Krankheitsbild ist durch die Beweisaufnahme in dieser
Richtung in keiner Weise verschoben. Dem Anstaltsleiter standen die
wesentlichen Unterlagdn, die jetzt fur die Beurteilung des Falles heran-
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E. Siemerling,
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gezogen werdeta, auch schon 1905 zu Gebote, soweit es sich nicht um
zeitlich sp&tere Ereignisse handelte, sie ergeben sich aus der Kranken-
geschichte, den ihm gemachten Mitteilungen und der eigenen Beobach-
tung der Kranken. Also die Art des Krankheitsbildes war dem Pro¬
fessor Siemerling vOllig. bekannt und er ist auf Grand dieser Er-
kenntnis zu demselben Ergebnis gelangt, welches die Wissenschaftlicbe
Deputation unter genauer Bezeichnung der hierfur sprecheoden Momenta
als richtig bezeichnet.
Wenn ferner vom Kl&ger hervorgehobeir wird, dass hierbei von
einer unrichtigen Parallele ausgegangen sei, indem immer auf die Ueber-
fuhrung in die offene Station im Jahre 1903 und deren gunstigen Erfolg
hingewiesen, dabei aber fibersehen werde, dass die Ueberfuhrung erst
nach 12—13t£giger Beobachtung in der Ueberwachungsstation erfolgt
sei, jetzt aber schon nach 3 Tagen, so kann auch dies als zntreffend
nicht anerkannt werden. Der zweifellos vorhandene bedeutende Zeit-
unterschied ist nicht verkannt w'orden, im iibrigen liegen aber beide
Falle ausserordentlich ahnlicb, wie denn anch der Klager bei der Auf-
nahme seiner Frau 1905 meint, es seien diesel ben Symptome wie vor
2 Jahren, nur milder. Die Erfahrung, dass die Verlegung in die Villa
so guten Erfolg gehabt hatte, lag vor und konnte somit den Anstalts-
leiter wohl berechtigen, jetzt schon bei' kurzerer Beobachtungsdauer zu
diesem Mittel zu greifen. Es ist richtig, dass die Kranke damals keines-
wegs schon frei von beangstigenden Eindrucken war, sie war aber auch
1903, als sie in die offene Station kam, noch nicht ordentlich orientiert
fiber ihre Lage, wie der Krankenbericht vom 20. 11. 1903 (am 20. 11.
erfolgte die Verlegung) ergibt, sie war also damals noch keineswegs
klar. Im Jahre 1905 hatte sich, wie Professor Siemerling bekundet
hat, ihr Krankheitszustand wiederum sehr schnell gebessert, sie war
sehr bald ruhig geworden und hatte insbesondere keine Anzeichen, die auf
Selbstmordideen hindenteten, gezeigt. Der Krankenbericht vom 15. 11.
1905 besagt, dass sie „etwas freier“ erscheine. Es lag also aile Ver-
anlassung vor, den Gesundungsprozess weiter zu fOrdern und hierzu
erschien die Verlegung in die offene Station als das geeignete Mittel.
Es ist also keineswegs richtig, dass der Vergleich mit 1903, wie der
Kl&ger meint, zu einem entgegengesetzten Schluss habe fuhren mfissen.
Die Angaben der Kranken, die am Tage nach dem Unfall ge&nssert sind
und dahin gehen, sie habe nicht leben wollen, weil sie nicht wert sei,
zu leben, besagen daruber, wodurch sie zur Ausfuhrang des SelbBtmord-
versuchs veranlasst ist, ffir die hier intereasierende Frage nicht und die Er-
zfihlung derSchwester Gerda gegenuber ist erst im Januar 1906, also lange
nachber erfolgt; es bandelt sich nur um eine gelegentliche Aeusserung,
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Beitrag znr Verantwortliohkeit des Irren&rztes.
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dem Arzt gegenuber hat sie damals jedei Auskunft verweigert. Gibt
ihre ErzShlung, was nicht nachprufbar ist, das Stimmungsbild der
Kranken vom 15.—16. 11. richtig wieder, so beweist dies — wie es
schon der Unfall vom 16. 11. selbst tut —, dass in der arztlichen Be-
urteilung der Kranken ein Irrtum obgewaltet hat und sie tats&chlich
nach der Aufnahme in die Anstalt wie insbesondere nach der Yerlegimg
in die Villa noch Selbstmordgedanken zuganglich war, die bei gunstiger
Gelegenheit so fort im Affekt zur Ausfuhrung gebracht wurden. Keines-
wegs erfolgt aber hieraus etwas dafur, dass sie sich andauernd mit
solchen Gedanken getragen, etwa gerade aus diesem Griinde gewunscht
hat, in die Villa uberzusiedeln, sie hat, wie sie angibt, in der Nacht
vom 15. auf 16. 11. ohne triibe Gedanken gescblafen und ihr ist am
nSchsten Vormittag, als sie auf dem Klosett das Fenster OfFnete, um
hinauszusehen, plOtzlicb der Gedanke gekommen, sie musse sterben,
es k5nne sie doch kein Menscb leiden.
Die MOglichkeit eines solchen Irrtums des Arztes wird vod keiner
Seite in Abrede gestellt, sie beruht in der Unzul&nglichkeit der mensch-
lichen Erkenntnis, die besonders bei der Beurteilung der Seelenvorg&nge
eines anderen und zumal eines geistig erkrankten Individuums nicht
verkannt werden kann. Allein Professor Siemerling betont bereits,
dass derartige MOglichkeiten nicht {lie Behandlung Geisteskranker be-
herrschen durfen, sonst wurde man aus dem strengen Ueberwachungs-
stadium, wo die Gefahr einer Selbstbeschadigung durch die Einrichtung
der R&ume und die fortgesetzte Ueberwachung mOglichst ausgeschlossen
wird, nicht herauskommen, sondern dass man mit der Erfahrung zu
rechnen babe, dass die freiere Behandlung der Kranken ganz wesentlich
zu ihrer Gesundheit beitragt und dass die Gefahr dorartiger durch das
Fehlen einer strengen Ueberwachung und Abgeschlossenheit begunstigten
Selbstmordgedanken nicht grosser ist, als bei der geschlossenen Stations-
behandlung, da das Gefuhl der Freibeit zur Kraftigung und Gesundung
und damit zum Widerstand gegen derartige krankhafte Anwandlungen
erheblich beitragt.
Wahrend das Medizinalkollegium in Munster die Frage vemeint,
dass der Anstaltsleiter bei der Unterbringung der Frau S. auf die offene
Station auf Sicherungsmassregeln verzichten konnte und zwar mit
Rucksicht auf das Krankheitsbild aus der Zeit vom 12.—15. November,
betont die Wissenschaftliche Deputation mit Recht, dass die Erkenntnis der
vor der Aufnahme liegenden Vorg&nge und die Eigenart der krankhaften
Veranlagung hinzukommt, deren Gesamtkenntnis dem klinischen Leiter
auf Grand seiner langjahrigen Erfahrungen berecbtigte, die MOglichkeit
eines Irrtums fur so gering zu halten, dass diese entfernte MOglichkeit
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gegenuber den Vorteilen, die in therapeutischer Beziehang von dem
Aufenthalt in der offenen Station verwertet werden durften, zuruck-
treten durfte und musste. Eine Sonderbewachung auf der offenen
Station, wie sie das Medizinalkollegium in Munster fur erforderlich
erachtet, wurde gerade den Heilerfolg bei den von psychischen Ein-
flussen abh&ngigen Kranken wieder vOllig in Frage stellen und so durfte
der Arzt sich auf das durch die Ueberfuhrung gesteigerte Wohlbefinden
der Kranken und auf die sich aus dem Zusammensein mit anderen
Personen, durch das Pflegepersonal und die firztlicben Besuche ergebende
Beaufsichtigung verlassen.
Nun wird zwar unter Berufung auf die ubrigen Gutachten die
Richtigkeit des von der Wissenscbaftlicheu Deputation erstatteten
Gutachtens vom K lager beanstandet und besonders hervorgehoben, daas
sich aus der Zusammensetzung dieses Kollegiums fur dessen Gutachten
eine geringere Autoritat ergebe als fur die anderen. Wenn es auch
richtig ist, dass die Mehrzahl der Mitglieder der Wissenschaftlichen
Deputation keine Psychiater sind, so besteht doch kein Zweifel, dass
sie s&mtlich die F&higkeit besitzen, die Richtigkeit eines Gutachtens
fiber die ihnen hier vorgelegte Frage zu beurteilen. Es besteht daber
kein Bedenken, dem von der Wissenschaftlichen Deputation erstatteten
Gutachten, das sich in Veranlassung der vom Reichsgericht angeregten
Zweifel und Bedenken erneut sehr eingehendmit den in Betracht kom-
menden Fragen befasst hat und seine Ansicht in uberzeugender Weise
begrundet bat, zu folgen. In wesentlichen Punkten stimmt das Gut¬
achten mit den Ausfuhrungen des Geheimrats Flechsig uberein, der
aber weniger weit geht und meint, dass das Krankheitsbild die Ver-
legung, ein zuverlassiges Wartepersonal vorausgesetzt, nicht unbedingt
als gefahrlich erscheinen liess. Wenn der SachverstAndige Dr. Erman
zu einer strikten Vemeinung der Frage kommt, ob die geschehene
Verlegung der Frau S. in die offene Station vom arztlichen Standpunkt
aus zul&ssig war, so ist bervorzubeben, dass dieser allzu einseitig
Gewicht darauf legt, dass die Krankheit sich als melancholische Ver-
stimmung ausserte und diese depressive Stbrung noch nicht genugend
beseitigt war, ohne die ubrigen -Begleitumst&nde und ErwSgungen, die
fur den dirigierenden Arzt entscheidend waren, genugend zu wurdigen.
Dagegen betont bereits das Medizinalkollegium die neuropsychopatbische
Belastung und die nervbse Konstitution der Kranken erklart, dass unter
den obwaltenden Umst&nden zwar eine Verlegung auf die offene Station
-fiicht frei von Bedenken sei, aber doch im Interesse der Kranken fur
zulassig erscheinen kdnne. Das Medizinalkollegium schrinkt dies aber
dahin ein, dass ein ausreicbendes, gut geschultes Pflegepersonal vor-
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handen sein musse, es entnimmt aus der Beweisaufnahme, dass solches
vorhanden war, meint aber, dass ferner erforderlich sei, dass das
Personal mit Rucksicht auf den Krankheitsznstand der Frau S. nock
besonders mit einer ausreichenden Beobachtung und Beaufsichtigung
dieser Eranken unter Hinweis auf die voriiegenden Befiirchtungen zu
beauftragen gewesen sei. Eine derartige Anweisung ist, wie der Be-
klagte selbst angibt, nicht gegeben worden, sie war aber auch nach
der auf das Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation gestiltzten
Ueberzeugung des Gerichts, wie bereits erortert ist, nicht erforderlich.
Wesentlich ist in dieser Beziehung vor allem der Punkt, dass Professor
Siemerling zur Zeit der Verlegung die Gefahr eines Selbstroord-
versuchs fur ausgeschiossen hielt und daber ihren Aufenthaft in der
offenen Station fur zulassig und fur die Fbrderung des Gesundungs-
prozesses fur geboten hielt.
Es erscbeint daher auch bei erneuter Prufung und unter Beruck-
sicbtigung der vom Reichsgericht aufgeworfenen Frage in Ueberein-
stimmung mit dem Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation din
Annahme berechtigt, dass dem Anstaltsleiter bei der Verlegung dor
Frau S. in die Villa eine Fahri&ssigkeit nicht zur Last fallt. Hierbei
ist auch noch darauf hinzuweisen, dass hinreickendes Pflegepersonal vor¬
handen war, wenn man mit Professor Siemerling davon ausgeht, dass
eine besondere Bewachung der Frau S. durch eine Whrterin nicht
erforderlich war. Uebrigens hatte eine solche Beaufsichtigung die Tat
nicht bindern konnen, da die Kranke auf dem Klosett allein war, wenn
ihr nicht etwa die Warterin auch dorthin gefolgt wire, worin aber eine
derartige starke Art der Bewachung zu finden ware, dass dadurch der
Eranken geradezu das Gefiihl der Freiheitsbeschrankung aufgedr&ngt
und der beabsiclitigte Heilerfolg auf das erustlichste gefahrdet wurde.
Es erbebt sick aber noch die zweite Frage, ob die offene Station
etwa* mangelhaft eingerichtet war und durch diese Mangel die Aus-
fuhrung der Tat ermoglicht ist. Ist in der Einrichtung, wie sie die
Sicherheit der sich dort aufhaltenden Geisteskranken nach den Erfah-
rungen der Praxis und der Erkenntnis der Wissenschaft fordert, etwas
vernachlassigt, das fur den eingetretenen Unfall ursachlich war, so lag
ein Verschulden der verfassungsmassig berufenen Vertreter des Fiskus
vor, die dafur zu sorgen hatten, dass die zur Aufnahme gemutskranker
Personen bestimmte Anstalt sicb in ordnungsmassigem Zustande
befand.
Ist man Anhanger einer im wesentlichen geschlossenen Anstalts-
behandlung Geisteskranker in alien Stadien des Erankheitsverlaufes,
so war die Einrichtung der Villa naturgemass unzureichend. Allein
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die Wissenschaftliche Deputation fuhrt aus und befindet sich damit nicbt
nur mit Prof. Siemerling und vielen Stimmen der Literatur iro Ein-
klang, sondern auch anscheinend im wesentlichen mit den Ansichten
des Geheimrats Flechsig und des Medizinalkollegiums in Munster,
dass die geschlossene Anstaltspfiege in vielen Fallen vOlIig versagt und
es sich als notwendig herausgestellt hat, fur manche Falle psychischer
Erkrankung und besonders fur Behandlung in der Rekonvaleszenz hier-
von abzusehen, da hierdurch die Heilung beeintr&chtigt, ja sogar haufig
geradezu gehindert wird. Charakteristisch ist, dass im rorliegenden
Fall die Eranke selbst, wie dies nach der Bekundung des Prof. Siemer¬
ling iiberaus haufig geschieht, auf die Verlegung auf die offene Station
gedrhngt hat und zwar augenscheinlich nicht etwa weil sie dort leichter
eine Gelegenheit zum Selbstmord finden werde, sondern weil ihr dort
der Aufenthalt in jeder Beziehung angenehmer und zusagender erschien.
Selbstverstandlich konnte dies die Eutschliessung des Austaltsleiters
nur insofern beeinflussen, als er sah, dass auch die Kranke sich aus
der Veranderung Gutes versprach und er hiervon eine giinstige Ein-
wirkuug auf das psycbische Befinden der Kranken erwarten durfte.
Es heisst denn auch in der Krankengeschichte: „Freute sich, wieder in
Villa II zu sein u . Die Wissenschaftliche Deputation betont, dass aus
den angefuhrten Grunden allgemein davon abgesehen wird, in der
offenen Station besondere Tur- und Fensterverschlusse und offene nicht
verschliessbare Klosettraume anzulegen, es wird hervorgehoben, dass
trotz der freien Behandlung eine Zunahme der Selbstmorde in den
psychiatrischen Kliniken erfahrungsgemass nicht zu verzeichnen ist und
dass die Unberechenbarkeit der psychisch Erkrankten, wenn auch un-
erwartete Stimmungsschwankuugen vorkommen konnen, mit der fort-
schreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis geringer geworden ist, so dass
keineswegs die Aufnabme in derartige offene Anstalten als unzul&ssig
angesehen werdeu kann. Mit halben Sicherungsmassregeln ist nichts
getan, sie nutzen nicht der Wohlfahrt der Kranken, denen immer in
j offenen Stationen vielfach Gelegenheit bleibt, eineu unerwarteter Weise
erwachenden Selbstmordgedanken zur Ausfuhrung zu bringen, sondern
sie gefahrden den regelm&ssig misstrauischen Kranken gegenuber den
verfolgten Heilzweck in erheblicbem Masse, wenn sie ihn gar nicbt ver-
eiteln. In der Villa befand sich die erste und zweite Klasse im oberen
Stockwerk und es war im Klosett ein grosses, frei zu Cffnendes Fenster
vorhanden. Diese Umst&nde waren weseutlich zur Ausfuhrung der Tat
und die Schwere der eingetretenen Folgen und hierin sieht der Kl&ger
die Mangelhaftigkeit der Einrichtung. Allein es wird nicht nur von
Prof. Siemerling bekundet, dass solche Einrichtungen sich in vielen
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Beitrag zur Verantwortliohkeit des Irrenarztes.
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derartigen mustergultigen Anstalten linden, sondern aucli die Wissen-
schaftliche Deputation erkl&rt, dass hiergegen nicbts einzuwenden sei,
dass dies eben die Folgen des Systems sind, dessen Zweckm&ssigkeit
in der Praxis erprobt und in der Wissenschaft anerkannt ist, woran
auch derartige Einzelerscheinungen, so bedauerlich sie sind, nichts
indern kounen. Die offene Station soli in dem Kranken den Eindrnck
erwecken, als ob er von jeder Ueberwachung und jedem Zwange frei
sei, und leistet gerade hierdurch fur die erstrebte Gesundung der sich
dort aufhaltenden Kranken, deren Auswahl naturgem&ss mit grdsster
Sorgfalt vorgenommen werden mass, die besten Dienste, so dass, trotz
solcher Einzelfalle, die Beibehaltung derartiger offener Stationen ein
unbedingtes Erfordernis sachgem&sser therapeutischer Behandlung Geistes-
kranker ist.
Das Berufungsgericht kommt auf Grund der vorstehenden Erwftgun-
gen zu der Ueberzeugung, dass eine unzweckm&ssige oder mangelhafte
Einrichtung der Anstaltsr&ume, die dem Beklagten zur Last zu legen
waren, nicht vorliegt.
Es ergibt sich hieraus, da der Klageansprucb sicb in beiden Rich-
tungen als unbegrundet berausgestellt bat, in Stattgebung der Berufang
Abweisung der Klage.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91, die Vollstreckbarkeitser-
aus §§ 708, 713 der Zivilprozessordnung.
gez. Kircbner, Liiders, Ldhmanu, Kirscbstein,
gez. Bruck.
Das war der Ausgang dieses 7 Jahre w&hreuden Prozesses, der viel
Lehrreicbes enthalt: Von. vorn herein habe ich micb auf den Stand-
punkt gestellt und diesen auch in den entsprechenden Vemehmungen
zum Ausdruck gebracht, dass die Verlegung in die offene Abteilung
ohne besondere Beaufsichtigung nur fur solche Patienten in Frage kommt,
bei denen nach Lage der ganzen Sache ein Verdacht auf Selbstmord
oder Selbstbescbadigung ausgeschlossen ist. Auf Grund der allgemeinen
Erfabrung fiber die oft sehr aufffillige Abhangigkeit mancher psychiscben
Symptome von ausseren Eindrucken und ibrer starken Beeinflussbarkeit
durch diese und auf Grund der besonderen Kenntnis des Falles, die
mir durch die frfihere Behandlung noch erleichtert wurde, erteilte ich
nach Erwagung aller in Betracht kommenden Momente die Anordnung,
Frau S. in die offene Abteilung zu verlegen. Die starke Abhangigkeit
des psychischen Verhaltens von ausseren Einflussen war schon das erste
Mai aus der Anamnese und bei der Beobachtung deutlich geworden.
Ohne weiteres habe ich stets zugegeben, dass ich mich in diesem Falle
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geirrt babe, der Erfolg erzielte nicht die -beabsichtigte Wirkung. Bei
dieser Sachlage erschien eine schnelle Beendigung des Prozesses nicht
aussichtslos, aber die weitere Verhandlung belehrte eines Anderen.
Von meinen personlichen Empfindungen w&brend des Verlanfs der
Yerhandlungen brauche ich hier kein Wort zu verlieren, jeder mit
seinem Beruf vertraute Arzt weiss, welche Bedeutung den Begriffen
„Fahrlfissigkeit“ und „Verschulden“ inne wohnt, ja, man wird ohne
weiteres voraussetzen kfinnen, dass bei dem Leiter einer Klinik das
VerstSndnis fur diese Begrifife ganz besonders entwickelt ist. Aber man
hiite sich, in solchen Erwfigungen einen Schutz vor etwaiger Klage
suchen zu wollen. Die Haftung des Arztes fur die dem Patienten durch
schuldhaite Behandiung zugefugten Schfidigungen ist in alien Rechten
anerkannt und zwar hat der Arzt dabei einzustehen nicht bios fur
Vorsatz, was sich von selbst versteht, sondern auch fur Fahrlfissigkeit.
Verschiedene Abhandlungen von juristischer Seite — ich nenne uur
E. Rabel, E. Ziteimann, Ebermayer, M. Rumelin — belehren in
eingehender Weise fiber die Haftpflicht des Arztes.
' Der mitgeteilte Fall illustriert die Verantwortlichkeit, welche dem
Arzt bei seinen Verordnungen obliegt, in ihrer ganzen Schwere und
lfisst die dem Irrenarzt obliegende Pfiicht ffir Beaufsichtigung and
Bewachung der ihm anvertrauten Kranken Sorge zu tragen in ihrer
ganzen Bedeutung hervortreten.
Gelegentlich eines besonderen Falles — ein ausserhalb der Klinik
beschfiftigter Kranker ffigte einem Schutzmann eine geringe Verletzung
zu — beschfiftigt sich Aschaffenburg mit der Verantwortlichkeit des
Irrenarztes, erwfibut auch die Aufmerksamkeit fiber selbstmordsuchtlge
Kranke als einer gesetzlich verlangten Aufmerksamkeit. Gamier be-
spricht die zivilrechtliche Verantwortlichkeit der Irrenanstaltsdirektoren
in Frankreich ffir den Schaden, der von den Anstaltsinsassen angerichtet
wird. Im wesentlichen bandelt es sich darum, ob der Anstaltsdirektor
als ein Auftraggeber im Sinne des betreffenden Paragraphen dem Wftrter
gegenfiber angesehen werden soil oder nicht, weil sich im ersteren Falle
auch eine Verantwortlichkeit ffir den Direktor ergeben wfirde, wenn ein
durch Unachtsamkeit eines Wfirters entwicbener Geisteskranker Jemandem
einen Schaden zuffigt.
Mit der Verantwortlichkeit des Irrenarztes in Fallen von Selbstmord
beschaftigt sich Christian. Ein Melancboliker mit Verfolgungsideen,
der schon einmal 1881 krank war, nach 7 Mona ten gesund wurde,
erkrankte 1891 von neuem, genas nach 10 Monaten. 1898 dritter An-
fall, schwerer als die frfiheren. Bei seiner Aufnahme in Charenton sehr
augstlich. Bei einem Spaziergang warf er sich unter das Rad eines
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Beitrag zur Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
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mit Holz beladenen Wagens, sofortiger Tod. Vorher batte er keine
Selbstmordgedanken geaussert. Die Tat wird als eine plotzliche im¬
pulsive Handlung angesehen. Die gerichtlicbe Klage auf Schadenersatz
wurde abgewiesen. Christian teilfc das Urteil in einem weiteren Falle
mit (Le Temps, 30. mars 1900). Hier batte das junge Madchen die
Pflegerin zuruckgestossen, sich im Rlosett eingeriegelt und am Fenster-
kreuz erh&ngt.
Der Arzt wurde zu 10000 Frank verurteilt. Im Urteil wird hervor-
gehoben, dass der Yater des jungen Madchens den Arzt auf das Ge-
fahrliche des Klosettverschlusses hingewiesen babe.
Reichel teilt einen Fall mit von Selbstmordversuck einer Patientin,
in dem der Arzt zur Schadenersatspflicht verurteilt wurde. Klagerin
war gemiitskrank und litt an Lebensuberdruss. Ihre Mutter verbrachte
sie deshalb 1909 in die Nervenheilanstalt des Beklagten. Man bewachte
sie sorgfaltig. Im April 1910 hatte sich ihr Zustand anscheinend ge-
bessert. Man gestattete ihr, eines Tages allein in den Garten zu gehen.
Sie benutzte den unbewachten Augenblick, sturzte sich in Suizidabsicht
vom Treppengelander des 2. Stockwerkes auf den unteren Hausflur, erlitt
dadurch mehrere Schenkelbriicbe und trug dauernde Verunstaltung davon.
Klage auf 60000 Kr. Schmerzensgeld und sonstigen Schadenersatz.
Zivillandesgericht Wien wies ohne Beweiserhebung ab. Auf Berufung
erfolgte Aufhebung und Zuruckverweisung in die erste Instanz. — Gut-
achten des Prof. Wagner von Jauregg-Wien: Selbstmorde zu verhuten
ist Hauptaufgabe der Anstalt, sie absolut auszuschliessen, ein Ding der
UnmOglichkeit. Das Raffinement der Selbstmordlustigen ist enorm.
VOllig sicbere Gewahr wurde nur dauernde Narkose gew&bren, die
naturlich sinnlos ware. Man muss sich also auf mOglichst genaue
Bewachung bescbranken. In Bezug auf die Intensitat dieser Ueber-
wachung einen Unterschied zwischen freiwillig und zwangsweise inter-
nierten Patienten zu raachen (wie Beklagter meinte) ist unangangig.
— Prof. Elz holz -Wien begutachtete im gleichen Sinn. — Darauf
Verurteilung- dem Grunde nach (unter Vorbehalt der Bezifferung des
Scbadens). Grunde: Das Personal des Beklagten, fur dessen Verhalten
Beklagter einzustehen hat, hat schuldhaft gehandelt. Vorubergehende
oder anscheinende Besserung schloss die Pflicht fortgesetzter Ueber-
wachung nicht aus. Klagerin hatte ibr Zimmer nur in Begleitnng von
Wartepersonal verlassen durfen. Eigenes Mitverscbulden der Klagerin
ist ansgeschlossen, da sie zurechnungsunfahig war. — Berufung verworfen
durch Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom Oktober 1916.
In welchem Umfange derartige Schadenersatzanspriiche gegen Aerzte
geltend gemacht werden, habe ich aus der mir zuganglichen Literatur
Arehiv f. PsychUtrie. Bd.60. Heft 3/3. gg
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nicht entnehmen kdnnen. Ich bin fiberzeugt, dass die meisten derartigen
Prozesse nicht zur Offentlichen Kenntnis gelangen.
Die Verhinderung der Suizidaltendenz psychiscb Oder nervOs Kranker
gehort mit zu den hochwichtigsten and vornehmsten Aufgaben des
Arztes. Ueberblirkt man die Anachauungen der Autoren, welche sich
mit dieser Frage besch&ftigt haben, so geht aus alien' Auslassungen
hervor, dass wir die Frage, ob Suizidien immer zu vermeiden sind, mit
einem Nein beantworten mfissen. Selbst die beste psychiatriscbe An-
stalt gewfihrt keine absolute Garantie fur die Verhutnug von Selbst-
morden und Selbstverstiimmelungen von Geisteskranken. Es ist heute
derselbe Standpunkt, wie er bereits in einer interessanten Diskussioo
anl&sslich eines Vortrags von Edel fiber das Suizidium in Irrenanstalteo
in der Versammlung des psyckiatrischen Vereins zu Berlin am 28. 6.1889
zum Ausdruck kommt. Es ist ein ideates, leider bisher nicht erreichtes
Ziel, was Placzek vorschwebt, wenn er im Eapitel 3 seines Buches
„Selbstmordverdacht und Selbstmordverhfitung w schreibt: „Gem gebe
ich zu, dass, so lange Menschen die Obhut fukreu, trotz sorgsamster
Anstaltsdisziplin infolge menschlicher Schwfiche kein absoluter Scbutz
gegeben ist, die Selbstmordabsicbten nicht immer zu vereiteln sein
worden. ~ Es muss aber bei der bewundernswerten Aufw&rtsentwicklung
unseres Irrenanstaltswesens der Hfihepunkt kommen, wo ein suizidaler
Kranker in der Anstalt auch wirklich geborgen ist, der Arzt nicht mehr
mit suizidalen Zwischenf&llen zu rechnen braucht 11 .
Es liegt in der Natur der vielgestaltigen komplizierten Verhaltnisse,
welche beim Zustandekommen eines Selbstmordes in Aktion treten, dass
eine rechtzeitige Unterdrfickung nicht immer mfiglich ist. Von ver-
schiedenen Autoren werden auch eingehende Hiuweise gegeben auf die
mehr odor weniger stark entwickelte Selbstmordneigung bei den einzelnen
Formen der Stfirungen, vor alien werden auch die Affekthandlungen
der Hysterischen betont, die zuweilen so impulsives Geprfige haben,
dass ein vielleicht gar nicht beabsichtigter Effekt zustandekommt. Jeder
mit diesen Kranken vertraute Arzt wird Beispiele aus eigener Erfahrung
anffihren kfinnen. Der vorliegende Fall ist ein ganz besonders beredtes
Beispiel ffir die grosse praktische und therapeutische Bedeutung,
welche dem Einschlag einer hysterischen Komponente im Krankheits-
bilde zukommt.
Was die Hfiufigkeit der Selbstmorde in den Anstalten betrifft, so
differieren darfiber, wie es begreiflich ist, die Angaben. Nach der Mit-
teilung von EdqJ in dem erw&hnten Vortrag (1889) variiOrt die Zahl
der Selbstmorde in einigen Anstalten (Kdnigslutter, Erlangen, Winnethal,
Heppenheim) von 2 bis 7 auf 1000 Kranke. Die Verschiedenheiten
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werden sich ungezwungen aus den Ortlichen Umstanden erklaren lassen:
je mehr frische Kranke eine Anstalt aufnimmt, desto intensiver wird
sich bei akut Erkrankten der Selbstmordtrieb Sussern and zur Geltung
bringen. Ed el verzeichnete in seiner Anstalt in den Jahren 1885—1890
auf 1200 Kranke 4 Selbstmorde.
Nach einer Zusammenstellung von Wickel ans Irrenanstalts-
berichten 1911—1913 sind auf<50—60000 Kranke 38 Selbstmorde ge-
kommen, also 0,63—0,76 auf Tausend.
Nach einer Zusammenstellung von Grunau sind in den Jahren 1875
bis 1900 in den dffentlichen Anstalten Preussens 865189 (462133 m.,
403056 w.) Falle verpflegt worden, in den Privatanstalten sind in
derselben Zeit 160667 m&nnliche und 118733 weibliche Verpflegungs-
falle vorgekommen. Bei alien Verpflegungsfallen zusammen 1115828
(602673 m., 513155 w.) kommen auf 100 mannliche 85,15 weibliche.
Geendet durch Selbstmord haben in den Anstalten 448 (303 m., 145 w.),
das sind 0,40 auf Tausend. Beachtenswert ist, dass diese Zahl weit onter
dem Durchschnitt zurfickbleibt, wie er sich fur die ganze BevSlkerung
in Preussen berechnet, namlich fur den Selbstmord auf 0,8 pM.
Nach einer Zusammenstellung von Benham aus den Irrenanstalten
in England und Wales wahrend der 12 Jahre von 1890—1902 waren
201 Selbstmordfalle (126 M., 75 Fr.) bei 788000 Kranken zu ver-
zeichnen. In Anstalten 135 Selbstmordfalle, darunter 51 Falle, in denen
ein schuldhaftes Versehen nachgewiesen wurde.
In der Kieler Klinik fallen auf 18984 Aufnahmen (11881 m.,
7103 w.) in den Jahren 1902—1918 9 Selbstmorde, also 0,47 auf
Tausend. Der letzte Fall ereignete sich bei den Frauen 1914, bei den
Mannern 1915.
Im Eidzelnen mag ja die Haufigkeit der Selbstmorde in den An¬
stalten Verschiedenheiten aufweisen, im Ganzen lehrt die Statistik, dass
die Selbstmordfalle in den Anstalten nicht zu-, sondem abgenommen
haben und das zu einer Zeit, in der sich die Behandlung der Kranken
immer freier entwickelt hat.
Ed el erwahnt in seinem Vortrage, dass in mehreren Fallen ein
gerichtlichea Verfahren gegen ihn eingeleitet worden ist. Auch
Jastrowitz berichtet fiber ein solches Verfahren in zwei Fallen, er
vertritt die Anschauung, dass die Erhebung derartiger Klagen in Privat¬
anstalten haufiger als in offentlichen statthat. Zur Beurteilung, ob diese
Auffassung auch jetzt noch zutreffend ist, fehlen mir die Unterlagen.
Es ist zu begrfissen, dass in unserem Falle das Gericht den mittel-
alterlichen Standpunkt abgewiesen hat, den Erman in seinem Gutachten
vertritt. Es gereicht mir zur Genugtuung, dass das Gericht der freien
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Behandlung der Kranken Toll and ganz bat Gerechtigkeit widerfahren
lassen. Bei genauerer Prufung aller einschl&gigen Verh<nisse habe
ich mich auch nicht entschliessen konnen, bei den baulicben Einrichtun-
gen der Elinik etnas zu hndern. Das Bestreben ist unablassig darauf ge-
richtet, ein moglichst zuverlassiges und gescbultes Personal heranznziehen.
Die unverkennbaren Wohltaten der freien Behandlung m5cbte ich
auf keinen Fall entbehren und ich befinde mich da in Uebereinstimmung
mit alien Aerzten, welche zu dieser Frage Stellung genommeu haben.
Die Forderung ist und bleibt, der Eigenart der Kranken gerecht zu
werden und ihnen das Mass von Freibeit zu gewhhren, das ihr Zustand
vertrhgt und das ihnen zur Wiederherstellung der Gesundheit er-
forderlich ist.
Ich gebe Gross vollkommen Recht, wenn er es nicht fur angebracht
h<, den gesamten Anstaltsbetrieb nur vom Standpunkt der Selbstmord-
und EntweichungsmSglichkeiten zu betrachten. „Dadurch erbalt dieser
Betrieb leicht etwas Misstrauisches und ArgwOhnisches, Unfreies und
Verantwortnngsscheues, welches im Ganzen genommen dem Wohle der
Kranken mehr schaden kann, als ein gelegentliches, auch sonst nicht
mit absoluter Sicherheit vermeidbares Ungluck."
Ich ziehe das Gefuhl der grOsseren Verantwortlichkeit, wie es mit
der freien Behandlung der Kranken verknupft ist, dem Bewusstsein vor,
sie durch allzu strenge Bewachung in ihrer Gesundheit und in ihrer
Heilung zu schadigen.
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26. Viellon, Suicide et folie. Annales mldico-psyohol. 1913. Vol. 17. p. 28,
55, 239. (Anf. in Bd. 16).
27. Wickel, Karl, Die Art des Selbstmordes von Geisteskranken in Irrenan¬
stalten. Die Irrenpflege. 1913. Nr. 6. S. 135.
28. Zitelmann, Ernst, Die Haftung des Arztes aus arztlicher Behandlung
(aus der D. M. W.). Leipzig 1908. G. Thieme.
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Druck tod L. 8chamacher in Berlin N.4.
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Archiv f. Psychiatrie 60. Bd.
Fig. 2.
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Fig. 4.
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Lichtdruck r4*inert-Htnniq Berlin S.42.
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Fig. 7
Lkhidruck tfeinert-hennig Berlin 5.42.
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LkHtdruck Mefnert'-i^tunlfl, 5, 4?
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Arcniv /. rsycniatrie. bU. bd.
Fig. I.
Fig. 2.
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Archiv f. fsycniatrie
60. Bd
Fig. 1.
Fig. 2.
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Archiv f. Psychiatrie. 60. Bd.
Fig- >.
Fig. 2.
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Taf. Vll.
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Archiv f. Psychiatrie. 60. Bd.
Taf. IX.
Fig. 14.
Fig. >5.
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Archiv f. Psychiatrie. 60. Bd
Inhalt des I. Heftes,
I. Aus der psychiatrischen Universitatsklinik Frankfurt a. M. (Di-
rcktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sioli).
Walther Riese, Dr.: Riickenmarksverlinderungen eines
Paralytikers. (Hierzu Tafeln I und II.)
1
II. Aus der Kgl. Psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat
Konigsberg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Mey er)
u dem I\gl. Festungshilfslazarett I (Chefarzt: Oberstabsarzt
Dr. Eekermann).
Frieda Reirlmiann; Dr.med. und Eduard Reichan, Taubstummen-
lehrer: Zur Ucbungsbehand!ung der Aphasien ... 8
III. Aus dem pathologischen Inst, der Yereinigten Friedrichs-Universitat
Halle-Wittenberg (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ben eke).
Neste, Dr., Die Beziehungen des Status thy mico-lym-
phaticus zuin Selbstinord von Soldaten. 43
IV. Harry Marcuse, Dr. (Ilerzberge), Stabsarzt d. R., zurzeit im Felde:
Aufsiitze zur energetischen Psychologie. (Schluss.) . 7ft
V. H&rald Siebert, Dr., Nervenarzt und leiteudem Arzt der psy¬
chiatrischen Abteilungam Stadtkrankenhaus in Libau: Ilyste-
rischc'Dam merzustiinde.
VI. Ernst Herzig. Dr. (Wicn-Steinhof): Ueber Krankheitsein-
siclit.
VII. S. Galaut, Dr. (Bern-Belp): Suggestion und psychische
Infektion . ;.
VIII. Friederich Kanngiesser: Zur Pathographie des Immanuel
Kant
IX. W. Heinicke, Medizinalrat Dr., Sachsische Heil- und Pflegeanstalt
Waldheim, friiher leitender Arzt der Nervenstation des Res.-
Lazaretts I Bautzen: Zur Kasuistik kriegshysterischer
Stdrungen
X. Albert Knapp, Dr., fr. Direktor und Privatdozent, z. Z. Komman-
danturarzt: Spraehstorungen bei Epilepsie .... 22ft
XI. Aus der psychiatrischen Nervenklinik Rostock-Gehlsheim (Direktor:
Prof. Dr. Klcist).
Gottfried Ewald, Dr. med., Assistcnt der psychiatrischen und
Nervenklinik Rostock-Gehlsheim: Untersuchungen fiber
fermentative Vorgange im Verlaufe der endogenen
Verblodungsprozesse vermittels des Abderhalden-
schen Di alysierverfahrens, und iiberdie diffential-
diagnostische und forensische Vcrwertbarkcit der
Methode in der Psychiatrie. 24ft'
XII. J. Raecke, Prof. Dr. (Frankfurt a. M.): Zur Abwehr .... 282
XIII. 21. Versammlung (K riegstagung) mitteldeutscher Psy¬
chiater und Neurologen in Leipzig am 27. Oktober
1918. (Offizieller Bericht.)
XIV. 43. Wanderversammlung der Slidwestdeutschen Neu¬
rologen und Irrenarzte am 25. und 26. Mai 1918 in
Baden-Baden
XV. Ludwig Edingerf •
XVI. Korbinian Brodman +
XVII. Referatc.. . . ..357
Einsendungen werden an die Adresse des Herrn Geh. Med.-Rat
Prof. Dr. Siemerling in Kiel (Nieraannsireg 147) direkt Oder an die
Verlagsbuchhandlung erbeten.
Druck von L. Schumacher hi Berlin N. 4.
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/
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AIICHIV
FUR
PSYCHIATRIE
UND
NERVENKRANKHEITEN.
BERLIN 1919.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
NW. VNTER DEN LINDEN 68.
Go gle
Verlag von August Hirschwald in Berlin NW. 7.
(Durch alle Buchhandlungen zu bezieheu.)
Soeben erschien:
Grundriss der psychiatrischen Diagnostik
nebst einem Anhang entbaltend die fiir den Psychiater wichtigsten Gesetzcs-
bestimmungen und eine Uebersicht der gebraucblichsten Schlafmittel
von Prof. Dr. J. Raecke.
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Siebente, umgearbeitete und verbesserteAufl. 1919. 8. Mit 14 Textfiguren. Gebd. 7 IL
Tafeln der spinalen Sensibilitatsbezirke der Haut
von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Goldscheider.
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Ein Lehrbuch fiir Aerzte und Studierende.
Mit Vorwort von Prof. Dr. G. Klemperer von Dr. Leo Jacobsohn.
1913. gr. 8. Mit 367 Textfiguren und 4 Tafeln in Farbendruck. 19 M. Gebd. 21 M.
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fiir Aerzte und Studierende.
Von Dr. Hans Hirsolifeld.
1918. gr. 8. Mit 7 chroinolitographischen Tafeln und 37 Textfiguren. Gebd. 32 M.
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der allgemeinen und speziellen Arzneiverordnungslehre.
Auf Grundlage des Deutschen Arzneibuches 5. Ausgabe und der neuesten auslandischeo
Pharmakopoen bcarbeitet von Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. A. Heffter.
Mit einem Beitrag von Prof. Dr. E. Friedberger.
Vierzehnte, ganzlich umgearbeitete Auflage. 1911. gr. 8. Gebd. 18 M.
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HERAUSGEGEBEN VON DR. A. SCHMIDTMANN,
PROF., WIRKL. GEH. OBER-MEDIZINAL- UND VORTBAGENDER BAT etc.
Dr. WACHHOLZ,
PROF. IN KRAKAU,
Db. PUPPE,
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UNTER MITWIRKUNG VON
Db. IIABERDA, Db. KOCKEL,
PBOF. IN WIEN, PBOF. IN LEIPZIG,
Db. ZIEMKE, Db. UNGAR,
PBOF. IN KIEL, GEH. MED.-RAT, PROF. IN BONN.
NEUNTE AUFLAGE DES CASPER-LIMAN’SCHEN HANDBUCHES.
Db. SIEMERLING,
GEH. MED.-BAT, PBOF. IN KIEL.
1. Bd.: Allgeraeiner Teil (Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sch midt mann). Spezieller Toil:
Streitige geschlechtliche Verhaltoisse (Prof. Dr. A. Haberda). Die nicht todlichen
Verlctzungen. Die gewaltsamen Todesarten (Prof. Dr. Kockel). Tod durch Ver-
giftung (Prof. Dr. Wachholz). gr. 8. 1905. Mit 40 Textfiguren. 24 M.
II. Bd.: Tod durch Trauma (Prof. Dr. Puppe). Tod durch gewaltsame Erstickung
(Prof. Dr. Ziemke). Kindesraord (Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ungar). Mit Gesamt-
Registcr des Werkes. gr. 8. 1907. Mit 63 Textfiguren. 15 M.
III. Bd.: Streitige geistige Krankheit bearbeitet von Geh. Med.-Rat Prof.
Dr. Siemerling. gr. 8. 1906. 16 M.
Inlialt dcs II. und III. Heftes.
Stitt
XVIII. A. Westphal (Bonn): Uober doppelseitigo Athetose und
verwandteKrankhoitszustande („stri ares Syndrom 4 *).
Ein Beitrag zur Lchre von den Linsenkernerkrankungen. (Mit
17 Textfiguren.).361
XIX. Aus dcr Provinzial-Hoil- und Pflcgeanstalt Bonn. (Direktor: Geh.
Rat Prof. Dr. Westphal.)
P. Sioli, Dr.t Die Spirochaete pallida boi dor progressi-
ven Paralyse. (Hierzu Tafeln III—VII.).401
XX. E. Meyer (Konigsberg i. Pr.): Einwirkung ausseror Ereig-
nisse auf psychogene Damraorzustande.46.5
XXI. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Konigs¬
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer.)
Max Kastan, Priv.-Doz. Dr., I. Assistent der Klinik: Beitrag
zur Kenntnis der mit Erhohung der Rigiditat der
Muskeln einhergehenden erworbonen Krankheiten
des Nervcnsystcms (Pseudosklcroso). (Mit 7 Textfig.) 477
XXII. J. Raecke, Prof. Dr. (Frankfurt a. M.):.Uebcr Aggravation
und Simulation geistiger Storung.521
XXIII. Monkemoller, Dr. (Langenhagen): Die Simulation psychi-
scher Ivrankhcitszustando in mi 1 itarforensischer
Boziohung.604
XXIV. Aus der psychiatrischen und Norvenklinik der Charity in Berlin.
K. Bonhoelfer: Einige Schlussfolgerungen aus dcr psy¬
chiatrischen Krankenbewegung wjih rend dosKrieges 721
XXV. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Konigs¬
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Moyer.)
Franz Pfabel, approb. Arzt: Zwei hull© von Raarausfall
nach Kopfschussverletzung.729
XXVI. Ernst Scliultze (Gottingen): Die Geverbesteuerpflich t der
Privatirrenanstalten. Ein Gutachten . ..742
/ XXVII. A. Westphal: Ueber eigonartige Einscbliisse in den
Ganglienzellen (Corpora amylacea) bei einem Falle
von Myoklonus-Epilepsie. Vorlaufige Mitteilung. (Hierzu
Tafeln VIII—X.).769
XXVIII. Aus der Klinik ftir psychisch und Nervonkranke der Universitat
Bonn. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Westphal.)
A. H. Hiibner, Prof. Dr., Oberarzt der Klinik: Ueber die
manisch-depressive Anlage und einige ihrer Aus-
laufer. I. Teil.. ..783
XXIX. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik dor Universitat Konigs¬
berg i. Pr. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Meyer.)
Cart Fiirst, approb. Arzt: Ueber dio Abnahme des Alko-
holismus an der psychiatrischen und Nervenklinik
zu Konigsberg i. Pr. wahrend des Krieges .... 861
XXX. Aus dec psychiatrischen und Nervonklinik zu Kiel.
E. Siemerling: Beitrag zur Verantwortlichkeit des
Irrenarztos. 877
Einsendungen nerden an die Adregse des Herrn Geh. Med.-Rat
Prof. Dr. Siemerling in Kiel (Niemannsweg 147) direkt odor an dU
Yerlagsbnchhandlnng erbeten.
Druck. ?on L. Schuinnrhor in Berlin N. i.
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