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Full text of "Archiv Für Klinische Chirurgie. V. 16.1874."

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ARCHIV 

FÜR 

KLINISCHE CHIRURGIE. 


HERAUSGEGEBEN 

VON 


Dr. B. von langenbeck, 

Geb. Ober-Medicinal-IUth und Professor der Chirurgie, Direetor des chirurgisch - 
ophthalmologischen Klinikums der UniTersitit etc. etc. 


KEDI6IRT 


Dl BILLROTH, und D«. GURLT, 

Prof, der Chirurgie in Wien. Prof, der Chirurgie in Berlin. 


SECHSZEHNTER BAND. 

(Mit 20 Tsfeln Abbildungen.) 

% 


BERLIN, 1874. 

VERLAG VON AUGUST HIRSOHWALL). 
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Inhalt. 

Seit© 


I. Ueber die Exstirpation ausgedehnter Zungeucarciuome von der 
Regio suprahyoidea aus. (Hierzu ein Holzschnitt.) Von Th. 

Billroth . 1 

II. Ueber die Schussfracturen, welche das Chassepot-Gowebr bei 
Schössen aus grosser Nähe hervorbringt. Von Prof. Dr. 

W. Busch.22 

III. Ueber einige weitverbreitete Mängel der kriegschirurgiscben Sta¬ 
tistik. Von Dr. E. Richter.36 

IV. Exstirpation einer Niere bei Steinkrankheit. Von Prof. Dr. 

G. Simon.48 

V. Ueber spontane Luxationen und einige andere Gelenkkrankhei¬ 
ten bei Ileotyphus. Von Dr. Paul Güterbock.58 

VL Ueber Perforation des Oesophagus durch fremde Körper. Von 

Dr. F. Busch.68 

VII. Ueber Radicalbehandlung der Prostatabypertrophie. Von Prof. 

Dr. C. Heine.7'.) 

VIII. Ueber moderne Methoden der Wundbehandlung. Von Prof. 

Dr. Carl Emmert.!>6 

IX. Die galvanokaustische Amputation der Glieder. Vcn Dr. Paul 

Bruns.115 

X. Beobachtungen über Hicrococcenembolien innerer Organe und 
die Veränderungen der Gefässwand durch dieselben. Vun Dr. 

Martini. 157 

XI. Bemerkungen über den äusseren Harnröhrenschnitt. Von Dr. 

Paul Güterbock.164 

XII. Untersuchungen über die feineren anatomischen Vorgänge bei 
einigen Formen von Geschwulstbildung im menschlichen Hoden. 

- Von Dr. Franz Steiner. (Hierzu Taf. I.).187 

XIII. Zur Casuistik subcutaner Rupturen der Muskeln und Sehnen. 

Von Prof. Dr. C. W. F. Uhde (Hierzu Taf. II. Fig. 7.). . . ‘202 

XIV. Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. Von 

Prof. Dr. Ernst Blasius.207 

XV. Die Neubildungen am Nabel Erwachsener und ihre opeiative 

Behandlung. Von Dr. Ernst Küster.234 

XVI. Anatomische Untersuchung von drei geheilten Gelenkresectio- 
nen. Von Dr. A. WeichseIbaum. (Hierzu Taf. III.) . . . 248 

XVII. Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. Von B. v. Lan- 

genbeck.263 

XVIII. Ueber die Endresultate der Gelenkresectioneu im Kriege. Von 

B. v. Langenbeck (Hierzu Tafel IV-X1V.).340 


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IV 


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Seile 

XIX. Mittheilungen aus der chirurgischen Gasuistik und kleinere Mit¬ 


theilungen. .471 

1. Milzbrand beim Menschen. Von Dr. Max Bartels . . . 514 

2. Deber einen mittelst Sehnenschnitts behandelten Fall von 

Myopachynsis lipomatosa (Griesinger’s Muskelhypertro¬ 
phie:. Von Prof. Dr. C. W. F. ühde.517 

3. Drei Fälle von Missbildung im Bereich der Extremitäten. 
Mitgetheilt durch Dr. K. v. Mosengeil. (Hierzu Tafel II. 

Figur 1—6.).521 


4. Luxation des Humeruskopfes mit Fractur des anatomischen 
Halses, reponirt und geheilt. Von Dr. E. v. Mosengeil . 524 

5. Fixationsmelhode des Fusses in einer erzwungenen Stellung 
beim Erhärten des Gypsverbandes. Von Dr. E. v. Mosengeil 525 

6. Zur Technik der Tracheotomie. Berichtigung. VonDr. H. Bose 526 
XX. Zur Mechanik der Schussverletzungen. Von Dr. M. Wahl. 


(Hierzu Tafel XV.).531 

XXI. Uebersicbt über die Wirksamkeit der Augen- und chirurgischen 

Elinik des Dr. Wilh. Eemperdick.575 

XXII. Die Beugung der Extremitäten als Blutstillungsmittel. Nachträge 

und Berichtigung. Von Prof. Dr. G. Adelmann.588 

XXIII. Ueber eine lipomatöse Muskel- und Nervendegeneration und ihre 
Beziehung zu diffuser Sarcombildung. VonDr. Carl Gussen- 

bauer. (Hierzu Tafel XVI, XVH.).602 

XXIV. Traumatische Luxationen. Von Dr. Max Bartels. (Hierzu 

Tafel XVIII. Figur 1, 2.).636 

XXV. Ein Fall von angeborener Makroglossie combinirt mit Hygroma 
cysticum colli congenitum. Von Dr. A. Winiwarter. (Hierzu 

Tafel XIX.).655 

XXVI. Spontane Dactylolyse, eine eigenthümliche Erkrankung der Finger. 

Von Dr. A. Menzel. (Hierzu Tafel XVIII. Figur 3—8.) . . 667 

XXVII. Mittheilungen aus der chirurgischen Casuistik und kleinere Mit¬ 
theilungen .681 

1. Ein Fall von angeborener schräger Gesichtsspalte, geheilt durch 
mehrere plastische Operationen. Von Dr. Hassel mann. 

(Hierzu Tafel XX. Figur 1—4.).681 

2. Phosphornekrose des ganzen Unterkieferknochens. Subpe¬ 
riostale Enucleation des ganzen Unterkiefers. Heilung. Von 

Dr. A. Obalinski.684 

3. Eine Spermatocele cystica. Mitgetheilt von Dr. Peitavy. 

(Hierzu Tafel XX. Figur 5.).687 

4. Partielle Atrophie des Skelets. Mitgetheilt durch Dr. E. v. Mo¬ 
sengeil. (Hierzu Tafel XX. Figur 6.).689 

5. Galvanische Zerstörung eines grossen Gavemoms. Mitgetheilt 

durch Dr. E. v. Mosengeil.692 


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Über die Exstirpation ausgedehnter Zungen- 
carcinome von der Regio suprahyoidea aus. 

Von 

l»r. Th. Blllrotli. *) 


Obgleich im Laufe des letzten Decenniums die Exstirpation 
der Zangen - Krebse darch die Einführung des Ecrasement, der 
Galvanocaustik und der vorausgehenden Unterbindung der A. lin- 
gualis bedeutend vervollkommnet ist, so dass man nach und nach 
nicht nur immer ausgedehntere Infiltrationen der Zunge herausnahm, 
sondern sich auch die Gefahr der Operation wesentlich verringerte, 
so werden doch jedem beschäftigten Chirurgen immer noch ziem¬ 
lich viele Fälle vorgekommen sein, in welchen auch mit Hülfe der 
eben genannten Operationsverfahren die vollständige Entfernung 
der kranken Theile nicht möglich war. 

Wenn ich die im Spitale und in der Privatpraxis gese¬ 
henen Fälle des leider so sehr häufigen Zungencarcinoms im 
Gedächtniss vorbei passiren lasse, so schätze ich die Zahl der 
mit den genannten modernen Hülfsmitteln vom Munde aus nicht 
operirbaren Fälle mindestens auf die Hälfte aller Zungencarcinome, 
welche mir überhaupt begegnet sind. 

Alle Fälle, in welchen sich die Infiltration, wenn auch nur 
einseitig, bis zu den Papillae circumvallatae erstreckt, sind vom 
Munde aus weder durch die galvanocaustische Schlinge noch 
durch das Ecrasement mit völliger Sicherheit vollständig zu 

*) Vortrag, gehalten in der 1. Sitzung des II. Congresses der Deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie, am IG. April 1873. 

v. Langenbeck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 

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2 


Dr. Th. Billroth, 


entfernen, weil man in dieser Tiefe nicht mehr im Stande ist, 
durch das Gefühl exact zu beurtheilen, wie weit die Infiltration 
vorgeschritten ist. Ist dann zugleich, wie in sehr vielen Fällen, 
auch der seitliche und untere Theil der Zunge und die Schleim« 
haut, welche sich von hier an das Zahnfleisch erstreckt, erkrankt, 
und so das Carcinom am Kiefer fixirt, so ist an eine erfolgreiche 
vollständige Entfernung mittelst Galvanocaustik oder Ecrasement 
vom Munde aus gar nicht mehr zu denken. Man könnte dann nur noch 
so operiren, dass man zunächst den infiltrirten Theil der Schleimhaut 
vom Kiefer mit Messer und Raspatorium abtrennt und auf diese 
Weise die Neubildung so weit beweglich macht, dass man die 
Platindrahtschlinge oder die Kette des Ecraseurs mittelst einer 
Nadel unter und hinter die Geschwulst führt, und dann nach ver¬ 
schiedenen Richtungen die Auslösung zu Stande bringt 

Hat man in einem solchen Falle zuvor die A. lingualis anf 
einer oder auf beiden Seiten vom Halse aus unterbunden, so mag 
die Operation auch ohne nennenswerthe Blutung glücklich zu Ende, 
gebracht werden, und ich habe mehrere Operationen in dieser 
Weise ausgeführt, doch habe ich dabei niemals die volle Ueber- 
zeugung gewonnen, dass alles Krankhafte wirklich vollständig 
entfernt war, ja ich habe mich sogar wiederholt überzeugen müs¬ 
sen, dass, trotz aller Sorgfalt, die Auslösung der Neubildung ent¬ 
weder ganz unmittelbar an ihrer Grenze erfolgt, oder dass sogar 
hier oder dort etwas zurückgeblieben war. 

Wie schwer es dann ist, in solchen Fällen hinten an der 
Zunge die Stelle genau aufzusuchen, wo etwa noch ein kleiner 
Fortsatz des Carcinoms in’s Gewebe hineingeht, brauche ich wohl 
kaum zu'sagen. Die grosse Tiefe des Operationsfeldes, sowie 
der Umstand, dass sich der mit Pincette oder Haken angefasste 
Zungenstumpf sehr heftig contrahirt und in die Tiefe versenkt, 
machen das Aufsuchen kleiner zurückgebliebener Reste von Infil¬ 
trationen, deren Erkenntniss selbst, wenn man das Gewebe un¬ 
mittelbar vor sich hat, sehr schwierig sein kann, — vom Munde 
aus geradezu zur Unmöglichkeit. 

Hat man das Ecrasement oder die Galvanocaustik, ohne vor¬ 
her die Ligatur der A. lingualis gemacht zu haben, angewandt, 
so ist ein solches Zerren und neues Hineinschneiden in die zu¬ 
sammengepressten, eventuell mit einem Brandschorf versehenen 

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Exstirpation ausgedehnter Zungencarcinome von der Regio Buprahyoidea. 3 


Gewebe noch dazu gefährlich, ja selbst das feste Anftupfen mit 
einem Schwamm auf die ecrasirten, oder mit der galvanocausti- 
sehen Schlinge znsammengepressten Flächen kann schon hin- 
reiehen, um die Gewebe wieder aaseinanderfahren und Blatangen 
eintreten za machen. 

Es sind aber nicht nur die weit nach hinten liegenden, son¬ 
dern fast eben so oft die ganz vorne, am Boden der Mundhöhle 
befindlichen Carcinome der Schleimhaut, des Zahnfleisches und 
der unteren Fläche der Zange, welche sehr schwer mit vollkom¬ 
mener Sicherheit za entfernen sind, zumal bei Individuen mit 
kleinem Monde, sehr langen vollständigen Zähnen und einem nach 
vorne fast spitzwinklig zusammengebogenen Kiefer, was Alles 
der Operation grosse Schwierigkeiten darbietet. Die hier sitzen¬ 
den Carcinome erstrecken sich sehr oft in gleicher Weise nach 
beiden Seiten, so dass nnr bei voransgehender Unterbindung bei¬ 
der Aa. linguales die Operation ohne zu grossen Blutverlust aus¬ 
geführt werden kann, wobei immer noch das Herabreissen des 
Zahnfleisches an der inneren Fläche des Kiefers, dann auch die 
Excision selbst schwer auszuführen ist. Man hat dann vorne 
im Munde eine grosse Wundhöhle, in welcher das Secret der 
Mundschleimhaut, Speichel und die genossenen Flüssigkeiten sich 
ansammeln, ohne dass der Patient im Stande wäre, sich derselben 
zu entledigen. 

Sind nun in solchen Fällen auch noch zu beiden Seiten des 
Unterkieferrandes Lymphdrüsen carcinomatös erkrankt, doch be¬ 
weglich genug, um noch eine sichere Exstirpation zuzulassen, so 
muss man auf beiden Seiten des Halses neue Schnitte machen, 
bei welchen die Durchschneidung der Aa. maxillares externae 
nicht immer vermieden werden kann, was für den durch die Zun¬ 
genoperation bereits angegriffenen Patienten, selbst bei relativ ge¬ 
ringem Blutverlust, nicht minder bedeutend ist, als die Länge der 
Zeit, welche eine solche dreifache Operation in Anspruch nimmt. 
Verschiebt man auch diese Drusenexstirpationen bis auf eine spä¬ 
tere Zeit, so wird der Patient sich doch nicht so bald entschlos¬ 
sen, diese neue Operation vornehmen zu lassen, wozu man auch 
kaum dringend zureden kann, da diese Patienten wegen der im¬ 
mer längere Zeit dauernden mangelhaften Ernährung nach der 
Zungenoperation gewöhnlich sehr angegriffen sind. Gewöhnlich 

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Dr. Th. Billrotb, 


handelt es sich ja um Leute jenseits 45 Jahren, und diese 
brauchen nach meiner Erfahrung nach operativen Eingriffen oben 
geschildeter Art mindestens drei Monate, bis sie sich soweit er¬ 
holt haben, dass man ihnen eine neue ausgedehntere Operation 
zumuthen könnte, ohne ihr Leben zu gefährden; in dieser Zeit 
aber können die früher operirten beweglichen Drüsen bereits un¬ 
beweglich, unoperirbar geworden sein. 

Man wird mir auf diese Schilderungen hin entgegnen, dass 
unseren operativen Leistungen immer irgendwo Grenzen gesteckt 
sind und dass bei ausgedehnten Carcinomen eine vollständige 
Heilung überhaupt nieht erreichbar sei, ja, dass die Schnelligkeit 
der Recidive gerade in solchen Fällen so gross ist, dass der Pa¬ 
tient keinen wesentlichen Vortheil von der Operation habe, um 
so weniger, als die Verstümmelung dabei so erheblich ist, dass 
die bedeutenden functionellen Störungen ihm die kurze vielleicht 
gewonnene Frist seines Lebens verbittern. Was den erstem 
Punkt betrifft, so weiss ich wohl, dass nicht alle Zungen- und 
Drüsencarcinome in weitester Ausdehnung exstirpirt werden kön¬ 
nen, glaube jedoch, dass mit Hülfe des später auseinanderzu¬ 
setzenden Verfahrens die Grenze unserer Leistungen doch etwas 
vorgeschoben werden kann. 

Die Verhältnisse, unter denen die einzelnen operirendeu 
Aerzte sich befinden, bringen es mit sich, dass die Art der ihnen 
zur Beobachtung kommenden Fälle mannichfcch verschieden ist 
Sowie nun überhaupt in meinem Wirkungskreise die als unheil¬ 
bar zu bezeichnenden Fälle etwa die Hälfte meiner gesammten 
chirurgischen Praxis betragen, so kann ich auch in Betreff der 
Zungencarcinome (wie Eingangs erwähnt) etwa nur die Hälfte 
als solche bezeichnen, welche vom Munde aus nach den bekann¬ 
ten Methoden erfolgreich operirbar sind. Es ist mir, wie gewiss 
auch vielen Anderen, wiederholt gelungen, diese Operation so 
vollständig zu bewerkstelligen, dass an der Operationsstelle über¬ 
haupt keine Recidive eintraten, wenn auch diese Individuen meist 
1—U Jahr später an den unzweifelhaft schon zur Zeit der Operation, 
wenn auch in geringster Ausdehnung, bestandenen Infiltrationen der 
Lymphdrüsen zu Grunde gingen. Der Anfang der Erkrankung 
mancher dieser Drüsen ist wegen ihrer tiefen Lage gar nicht zu 
erkennen; so kann die Erkrankung der tief hinter dem Unter- 


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Exstirpation ausgedehnter Zungencarcinome von der Regio suprabyoidea. 5 

kieferwinkel liegenden Lymphdrüsen kaum früher erkannt werden, 
als bis sie mehr als das 10 fache ihres normalen Umfanges er¬ 
reicht haben. Sind diese Geschwülste dann von aussen tastbar, 
so erscheinen sie gewöhnlich schon als nicht scharf begrenzte 
Infiltrationen und sind dort entweder gar nicht, oder nur nach 
Resection des Kiefers entfernbar; wagt man sich an solche Ope¬ 
rationen, so findet man die carcinomatösen Infiltrationen so innig 
mit den grössten Arterien und Nerven dieser Gegend verbunden, 
dass dadurch die vollständige Exstirpation wesentlich behindert 
wird. Besser zugänglich und vollständiger exstirpirbar sind die¬ 
jenigen Drüsen, welche dicht am Unterkieferrande zu beiden Sei¬ 
ten des Halses gelegen sind. Warum bald die erst-, bald die 
letztgenannten Drüsen erkranken, vermag ich nicht anzugeben. 

Die Meinung, dass die tiefliegenden Drüsen hinter dem 
Unterkieferwinkel besonders bei Carcinomen im hinteren Theile 
der Zunge erkranken, die am Halse gelegenen bei Carcinomen 
im vorderen Theil der Zunge und am Boden der Mundhöhle, kann 
ich nach meinen Erfahrungen nicht bestätigen, denn ich habe 
zwei Fälle beobachtet, in welchen bei Carcinomen an der vor¬ 
deren Hälfte der Zunge die mehr nach vorne gelegenen Lymph- 
drfisen am Kieferrande nicht erkrankten, während sich ein Car¬ 
dnom in den tiefen Lymphdrüsen hinter dem Kieferwinkel aus- 
bildete, in den gleichen Drüsen, welche zumal auch bei Carcinomen 
and Sarcomen des Bulbus inficirt zu werden pflegen. 

In Betreff des zweiten obigen Einwurfes, dass der curative 
Erfolg nach diesen Operationen ein äusserst geringer oder gar 
keiner sei, muss ich doch hervorheben, dass einer von meinen 
schon< ziemlich an der äussersten Grenze der Operationsmög¬ 
lichkeit stehenden Fälle dies doch widerlegt, indem der be¬ 
treffende Patient nach totaler Exstirpation der Zunge und vieler 
beiderseitiger submaxillarer Lymphdrüsen jetzt, 18 Monate nach 
der Operation, noch vollkommen gesund ist. Ich komme später 
noch auf diesen Mann zurück. 


Es bat nicht an Versuchen gefehlt, die Grenzen der Operation 
der Zungencarcinome immer weiter hinauszuschieben. Sddillot 
suchte durch Spaltung des Unterkiefers in der Mittellinie, M. 

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Dr. Tb. Billrotb, 


Jaeger und Hey fei der trachteten dnrch Spaltung der Wange 
Platz für die möglichst vollständige Exstirpation ausgedehnter 
Neubildungen der Zunge zu gewinnen. 

Cloquet war wohl der erste, welcher 1827 das Operations¬ 
feld von der Regio suprahyoidea angriff. Er machte eine Inci- 
sion unterhalb des Kinnes, nm von hier ans mit grösserer Sicher¬ 
heit Ligaturen um die Zunge anznlegen. Später haben Miranit, 
de Morgan, Nnnneley die gleiche Methode angewandt, theils 
nm Ligaturen, theils nm von unten her die galvanocanstische 
Schlinge oder die Kette des Ecrasenrs in einer Weise anznlegen, 
dass sie mit grösserer Sicherheit, als es vom Munde ans möglich 
ist, das Zungengewebe hinter der infiltrirten Partie fassen 
konnten. 

Regnoli ist der Begründer derjenigen Operationsmethode, 
von welcher ich hier ausführlicher sprechen will; durch einen 
ausgedehnten Schnitt, welcher die Regio suprahyoidea quer trennte 
und auf welchen in der Mittellinie ein nach abwärts verlaufender 
Längsschnitt geführt wurde, trennte er die Zunge von ihren Ver¬ 
bindungen an der Innenfläche des Kiefers und zog sie nach unten 
hervor, um in grosser Ausdehnung exact den erkrankten Tbeil 
zu entfernen. Er machte die erste Operation dieser Art im Jahre 
1838 und empfiehlt bereits, die Halswunde nicht ganz zu schlos¬ 
sen, damit der Schleim und Speichel unbehindert nach unten 
abfliessen könne. Er bat später diese Operation noch zweimal 
mit Erfolg ansgeführt. Nach seiner Methode operirte dann 1851 
auch Oiamattei. 

Ohne von diesen Operationen zu wissen, hatte mich der 
gleiche Operationsplan schon in der Zeit, als ich hier in Berlin 
meine ersten Operationscurse gab, vielfach beschäftigt. Bei Ver¬ 
suchen an der Leiche war ich jedoch zu der Ueberzeugung ge¬ 
kommen, dass ein Schnitt, welcher am unteren Rande des Kiefers 
verläuft, von einer A. maxillaris ext. zur anderen, ausserordent¬ 
lich wenig Raum hergiebt, nm die Zunge, selbst nach ausgedehn¬ 
ter Ablösung vom Kiefer, nach unten hervorzuziehen. Ich wagte 
nicht, den Schnitt noch weiter nach beiden Seiten hin zu führen 
in der Besorgniss, dass Haut und Muskeln sich dann so weit 
zurückziehen möchten, dass sie nicht wieder vorne anheilen wür¬ 
den und zugleich mit dem Bedenken, dass der Zungenrest, von 


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Exstirpation aasgedehnter Zungencarcinome von der Regio suprahyoidea. 7 

seinen Verbindungen am Kiefer vollständig gelöst, ganz nach hin¬ 
ten gezogen werden möchte und so Erstickungsgefahr herbeifüh¬ 
ren könnte. Ich überzeugte mich zugleich, dass ein einseitiger 
Schnitt vom Kiefer bis zum Kinn mit nachfolgender entsprechen¬ 
der Ablösung der Zunge vom Kiefer, ohne Ablösung des M. ge- 
mohyoideus und M. genioglossns von der Spina mentalis in¬ 
terna, gar keine Vortheile für das Hervorziehen der Zunge nach 
unten darbiete. Dennoch führte ich den ersterwähnten Schnitt 
in der Mittellinie am Unterkieferrande von einer A. maxillaris 
zur anderen im April des Jahres 1861 an einem Patienten aus, 
welcher an einem ausgedehnten Carcinom in der Gegend des 
Frenulnm linguae litt, dem ich vom Munde aus nicht beikommen 
konnte. Ich habe mich damals*) über diese Operation folgender- 
massen ausgesprochen: „Die Operation war sehr mühsam und 
langwierig; mit einem Raspatorium riss ich das Periost von der 
Innenfläche des Kiefers ab, da dasselbe verdickt und daher ver¬ 
dächtig erschien; ich glaube die Exstirpation rein bewerkstelligt 
za haben, doch liess mich die gewählte Methode höchst unbe¬ 
friedigt. Die Wunde wnrde durch Suturen geschlossen, die Hei- 
long erfolgte theilweise per primam; es blieb eine Fistel zurück; 
die ersten 14 Tage waren sehr quälend für den Patienten; Spei¬ 
chel, Secrete und alle genossenen Flüssigkeiten flössen aus der 
Fistel aus und wenn es sich in der Folge auch besserte, so er¬ 
folgte doch der Schluss der Fistel und damit die definitive Hei¬ 
lung erst am 22. Juni.“ 

Ich hatte, wie aus dieser Mittheilung hervorgeht, keinen 
sehr günstigen Eindruck von dieser Operationsmethode bekom¬ 
men und habe damals keine weiteren Versuche gemacht, die 
Technik derselben weiter auszubilden, sondern ging zu einer 
neuen Methode über, nämlich zur osteoplastischen Resection des 
Mittelstückes des Unterkiefers, wodurch begreiflicherweise sehr 
reichlich Platz für die Exstirpation der ganzen Zunge und der 
beiderseitigen submaxillaren Lymphdrüsen gewonnen wird. Ich 
gehe auf diese Operationsmethode, die ich später an dem gleichen 
Patienten ausführte, hier nicht weiter ein. Auch gestehe ich, 
dass eine Reihe ziemlich resultatloser Exstirpationen und Resec- 

*) Archiv für klm. Chirurgie. Bd. II. S. 652. 


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8 


Dr. Tb. Billrotb, 


tionen des Unterkiefers mit Theilen der Zange und Lymphdrüsen, 
mich überhaupt von allzu ausgedehnten Carcinomoperationen in 
dieser Gegend abschreckten, da ich mich durch consequent durch¬ 
geführte Nachforschungen überzeugte, dass diese Operirten, kaum 
von dem Eingriff der Operation hergestellt und in ihre Heimath 
zurückgekehrt, an Continuitäts-Recidiven erkrankten und bald zu 
Grunde gingen. Auch das unmittelbare Resultat dieser ausge¬ 
dehnten Operationen wegen Carcinom war kein günstiges. Ge¬ 
wöhnlich waren die Operirten zwischen öO und 60 Jahren alt, 
oder, falls sie jünger waren, bereits stark marantisch; es starben 
auch viele an den unmittelbaren Folgen der Operation. Wenn ich 
auch dem Princip: „Remedium anceps melius quam nullum“ durch¬ 
aus beipflichte, so fange ich doch an, in diesen Operationen, 
wenn die Krankheit in einem höheren Lebensalter bereits eine 
sehr grosse Ausdehnung erreicht hat, ein Remedium überhaupt 
nicht mehr zu sehen. 

Es wurde in der Folge meine Aufmerksamkeit auf die 
Zweckmässigkeit der Zungenexstirpationen, von der Regio supra- 
hyoidea aus, aufs Neue durch eine von meinem damaligen Assi¬ 
stenten, Herrn Professor Czerny in Freiburg, während der Fe¬ 
rien 1870 ausgeführte Operation der Art gelenkt. Der Schnitt, 
welchen Czerny ausführte, um die Zunge hervorzuziehen, weicht 
sowohl von demjenigen ab, welchen Regnoli wählte, als von 
dem, welchen ich bei oben erwähntem Patienten 1861 ausführte, 
sowie auch von den verschiedenen Schnittführungen, welche ich 
von 1871 an bis jetzt zur weiteren Ausbildung der Technik der 
Operation aus verschiedenen Gründen wählte. Ich führe hier die 
Beschreibung, welche Czerny*) selbst von seiner Operation giebt, 
an: »Ich unterband zunächst die linke Zangenarterie in dem 
Winkel zwischen dem grossen Zangenbeinhorn und hinterem 
Bauch des Digastricus, verlängerte dann den Hautschnitt, welcher 
dicht oberhalb des linken grossen Zungenbeinhornes verlief, längs 
des Zungenbeines bis zum ersten kleinen Horn. Senkrecht auf 
diesen Schnitt führte ich einen zweiten von der Mitte des Zungen¬ 
beines bis zum Kinn. Dadurch gewann ich einen grossen linken 
dreieckigen Hautlappen, den ich bis zu seiner Basis am Unter- 


*) Med.-Chirurg. Rundschau. December 1870. 

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J 

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Exstirpation ausgedehnter Zungencareinome von der Regio suprahyoidea. 9 


kieferrande hinauf löste und von einem Assistenten nach oben 
halten liess and einen kleinen rechten Lappen, der eben so be¬ 
handelt wnrde. Dem Unterkieferrande entlang wnrde nun die 
Beinbant durchschnitten und mit einem Elevatorium das ganze 
Periost von der Innenseite des Unterkiefers sammt allen Weich- 
theilen bis zu den Zahnrändern losgelöst und hier durchschnitten. 
Die Insertionen der Genioglossi, Hyoglossns und vordere Bauch 
des Digastricus mussten mit dem Messer gelöst werden. Nur 
die änssere Kieferschlagader blutete bei diesem Acte der Opera¬ 
tion und wurde rasch unterbunden, obwohl die Durchschneidung 
derselben vielleicht zu vermeiden gewesen wäre. Es gelang nun 
ohne grosse Mühe die Zunge durch die seitliche Halswunde mit 
einer Muzeux’ sehen Zange hervor zu ziehen und die Exstir¬ 
pation etwa von zwei Dritteln der Zunge bis zum Zungenbein 
sammt den die linke Hälfte des Mundhöhlenbodens bildenden 
Weichtheilen mit dem Messer zu vollenden. Weil der Schnitt 
bis ziemlich weit in die rechte Zungenhälfte gehen musste, war 
die Blutung aus den Zweigen der rechten Lingualis nicht unbe¬ 
deutend, allein die Gefässe zogen sich so rasch zurück, dass 
keine weitere Unterbindung nöthig wurde. Natürlich wurden 
durch diese Operation auch die linke Submaxillar- und Sublin- 
gaaldrüse sammt den infiltrirten Lymphdriisen entfernt. Es wurde 
non die Hautwunde bis auf eine fingerbreite Oeffnung des ganzen 
Schnittes über dem Zungenbein, in welche ein Streifen Leinwand 
eingeführt wurde, vernäht.“ 

Operationsmethode. Es hat sich nun durch neuere Er¬ 
fahrung ergeben, dass auf folgenden Momenten das Gelingen der 
Operation mehr oder weniger beruht: 

1. Der Mund des Patienten muss durch sorgfältige Reini¬ 
gung zur Operation vorbereitet werden. Hierzu bedarf es min¬ 
destens 3 Tage, oft mehr als eine Woche; die Zähne müssen 
von Weinstein und Zahnschleim völlig befreit werden; das Zahn¬ 
fleisch, die Oberfläche der Zunge, der Boden der Mundhöhle müs¬ 
sen ganz von Belag frei und blassroth sein, die Neigung zum 
Bluten verloren haben. Durch Gurgelwasser allein erreicht man 
dies nicht; einer meiner Assistenten hat sich zuweilen täglich 
eine volle Stunde und länger mit diesen Patienten beschäftigt 
und diese Reinigung auf mechanischem Wege ausgeführt. Es ist 

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10 


Dr. Tb. Billroth, 


ganz gleich, von welchem theoretischen Standpunkt man hier 
aasgeht, ob man die Pilz Vegetation, oder die fanlig stinkenden 
Körper als phlogogene Agentien betrachtet; Reinheit des Ope¬ 
rationsfeldes ist immer gnt and hier am so nöthiger, als eine 
sehr eingreifende tägliche Reinigung nach der Operation nicht 
möglich ist. 

2. Der Schnitt muss gross genug sein, um die Zunge fast 
bis zur ^Bpiglottis bequem hervorziehen zu können. 

3. Die Loslösung der Zunge vom Unterkiefer muss auf das 
zur Exstirpation bestimmte Maass beschränkt werden, weil eine 
zu späte Vereinigung der abgelösten Muskeltheile mit dem Kiefer 
den Mechanismus des Sehlingens sonst zu lange behindert, was, 
wie wir später sehen werden, gefährliche Folgen haben kann. 

4. Man muss vom Schnitt aus bequem auch das Periost des 
Unterkiefers an der Innenfläche, soweit es der Erkrankung ver¬ 
dächtig ist, ablÖ3en können; er darf aber auch nicht zu weit 
entfernt vom Kinn sein, damit man auch bei spitzwinkligen 
Unterkiefern die Ablösung des Genioglossus und Geniohyoideus, 
sowie des Zahnfleisches und Periostes von der Innenfläche des 
Mitteitheiles des Unterkiefers sicher bewirken kann. Die Form des 
Schnittes muss so angelegt werden, dass das Secret und der 
Speichel aus dem Munde des halbsitzenden Patienten bequem ab- 
fliessen kann. Es ist interessant, hervorzuheben, dass Regnoli 
schon bei seiner ersten Operation die grosse Wichtigkeit dieses 
Momentes für das Gelingen derselben richtig erkannte, wäh¬ 
rend wir später bei ähnlichen Operationen auf die sorgfältige 
Vereinigung per primam unnütz Gewicht legten und es als ein 
unangenehmes Accidens betrachteten, wenn die Heilung per pri¬ 
mam nicht immer vollständig gelang. Erst Trendelenburg 
hat vor einigen Jahren wieder auf die Zweckmässigkeit obigen 
Verfahrens, zumal nach Unterkieferresectionen, aufmerksam ge¬ 
macht. 

5. Man muss dahin trachten, dem Zungenstumpf durch Vor¬ 
nähen seiner Schleimhaut in dem Wnndwinkel eine Fixation zu 
geben, weil eine, wenn auch nur vorübergehende Anheftung des 
Zungenstumpfes nach vorne die Function des Herabschluckens des 
Schleimes, welcher in dem Pharynx gebildet wird, wesentlich er¬ 
leichtert. 


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Exstirpation ausgedehnter Zungencarcinome von der Regio suprahyoidea. H 


Allen diesen Anforderungen scheint mir folgende Schnitt- 
föhrang am meisten zu entsprechen. Ein 5—6 Ctm. langer 
Schnitt wird dicht am unteren Rande des Unterkiefers so ge¬ 
führt, dass die Mitte desselben genau der Mitte des Kinnes ent¬ 
spricht Von den Enden dieses Querschnittes wird ziemlich di¬ 
rect nach unten, mit nur wenig Abweichung nach aussen, auf jeder 
Seite ein Längsschnitt geführt, welcher in der ersten Anlage nicht 
mehr als 3 Ctm. Länge zu betragen braucht. Es ist selten nö* 
thig, diese Schnitte nach unten erheblich zu verlängern, ausser 
in denjenigen Fällen, in welchen das Zungencarcinom sehr weit 
nach hinten reicht. Muss man am Boden der Mundhöhle nach 
hinten die Schleimhaut neben der Zunge weit incidiren, so ist 
es gut, auch die Hautschnitte nach unten entsprechend zu ver¬ 
längern, damit hier nicht ein nach Retraction der Schleimhaut 
klaffender Sack entsteht, dessen Boden von lockerem Zellgewebe . 
gebildet wird, welches eine nachfolgende Entzündung von hier 



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12 


Dr. Th. Billroth, 


aus in den praevisceralen oder auch, der A. lingualis folgend, in 
den seitlichen Zellgewebesack nm die grossen Halsgefässe fort¬ 
leiten kann. In einem Falle erfolgte auch, wahrscheinlich dnrch 
den Verlanf A. thyreoidea inferior vermittelt, eine fibrinöse 
Phlegmone, welche am hinteren Rande des Sternocleidomastoi- 
dens zum Dnrchbrnch kam. Es hat die Entzündung diesen Weg 
wahrscheinlich von demjenigen Theile des mittleren Zellgewebe¬ 
sacks ans gefunden, in welchem die prae- nnd postvisceralen 
Säcke znsammenstossen. 

Diese Verhältnisse, auf welche wir durch die höchst inter¬ 
essanten anatomischen Untersuchungen von Henke aufmerksam 
gemacht wurden und die von König bereits in so erfolgreicher 
Weise praktisch verwerthet worden sind, haben für die keineswegs 
willkührlichen, sondern an bestimmte anatomische Verhältnisse 
•gebundene Ausbreitung der acuten, zumal eitrigen nnd fibrinösen 
Phlegmone mindestens eine ebenso grosse Bedeutung für die Ope¬ 
rationen am Halse wie die gleichen Verhältnisse am Becken für 
die Diagnostik der dort vorkommenden Abscesse und für die 
Technik des Steinschnittes. 

Der Querschnitt unter dem Kinn kann gleich bis auf den Unter¬ 
kieferknochen geführt werden, die beiden seitlichen Schnitte 
trennen zuerst Haut und Platysma. Nun ist es zweckmässig, 
zunächst mit einem Raspatorium das Periost der Innenfläche des 
Kiefers mit dem Zahnfleische, soweit der erwähnte Querschnitt 
reicht, abzureissen. Die Ablösung der Muskeln von der Spina 
mentalis interna (M. geniohyoideus, genioglossus, vorderer Bauch 
der M. digastricus) gelingt mit dem Raspatorium nicht leicht. 
Man muss dazu Scheere oder Messer zu Hilfe nehmen. 

Ist die Ablösung gelungen und die Perforation der Mundhöhle 
von unten noch nicht vollständig, so beendigt man sie mit Hülfe 
des Messers. Jetzt werden die Seitenschnitte bis in den Mund 
hinein geführt, während der vordere Theil des M. mylohyoideus 
und ein Theil der Schleimhaut des Bodens der Mundhöhle durch- 
trennt wird. Bei Verlängerungen der Seitenschnitte nach unten 
kommt man auf die stark herabgesunkene Gl. submaxillaris; ich 
habe keinen besonderen Werth darauf gelegt, dieselbe in allen 
Fällen zu schonen, weil in der Regel in der Nähe noch Lymph- 
drüsen zu exstirpiren waren, die oft genug innig mit ihr zusam- 

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Exstirpation ausgedehnter Zungencarcinome von der Regio suprah yoidea. 13 


menhingen, so dass es nicht zweckmässig gewesen wäre, sie za 
schonen. Es wäre gewiss möglich, sie in manchen Fällen intact za 
erhalten, indess hat dies keinen besonderen Werth. Ist sie am 
unteren Ende des Schnittes dnrchtrennt, so schadet es nichts, 
die beiden halben Stücke zarückzolassen, nur muss man sich 
wohl daran erinnern, weil diese Hälften nachträglich oft ziemlieh 
stark anschwellen and später als vergessene infiltrirte Lymph- 
drüsen imponiren können. Die Blutung bei diesem Theile der 
Operation, der lediglich ein Voract za der nan beginnenden Ex- 
cision der kranken Theile ist, pflegt nicht bedeutend zu sein. 

Man kann non die Zunge so vollständig nach unten hervor¬ 
ziehen, dass es selten nöthig ist, noch weitere Muskeldurchschneidun- 
gen zu machen. Zumal vermeide man es, den M. hyoglossus und 
stylogossus zu durchschneiden, wenn er nicht vom Carcinom 
durchsetzt ist. Um die Blutung bei der jetzt folgenden Exstir¬ 
pation des krankhaften Zungentheiles möglichst gering zu machen, 
kann man in zweierlei Weise verfahren. Man kann nämlich von 
den gemachten Seitenincisionen aus ohne Schwierigkeit auf beiden 
Seiten den Stamm der A. lingualis an dem Locus electionis 
unterbinden, da man den M. hyoglossus, sowie den Ramus ho- 
rizontalis nervi hypoglossi vor sich hat und von hier aus die Ar¬ 
terie leicht finden kann. Ich habe dies Verfahren bis jetzt nicht 
angewandt, sondern bin bei Auslösung der carcinomatösen Infil¬ 
tration der Art vorgegangen, dass ich zuerst hinter dieselbe 
einzudringen suchte, dann die Schleimhaut mit der Scheere 
einsc^nitt und nun theils mit der geschlossenen Scheere theils 
mit anatomischen Pincetten eine Gruppe Muskelbändel nach der 
andern so frei legte, dass ich sicher war kein grosses Gefäss 
zu treffen. Es ist mehrere Male gelungen, auf diese Weise den 
Stamm der A. lingualis und seine grösseren Aeste frei zu legen 
und sie vor der Durchschneidung zu unterbinden. Reicht das 
Carcinom sehr weit nach hinten und unten, so kann man nicht 
vorsichtig genug operiren und muss dabin trachten, jede Schnitt¬ 
fläche stets deutlich zu übersehen, da es bei der starken Ver¬ 
schiebung der Theile, theils durch das bedeutende Herabsinken 
des Zungenbeines und Kehlkopfes, theils durch das Vorziehen mit 
den in die Neubildung eingesetzten Haken gelegentlich Vorkom¬ 
men kann, .dass man Gefässe, die man bereits durchschnitten und 


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Dr. Th. Billrotb, 


unterbunden hatte, später an ihrem centralen Ende zum zweiten 
Male durchschneidet. Der wesentliche Vorth eil, den das beschrie¬ 
bene Verfahren bietet, besteht ja eben darin, dass man ganz ge¬ 
nau übersieht, wie weit die Erkrankung reicht, und ob man alles 
Erkrankte entfernt hat. Im Allgemeinen erinnere man sich daran, 
dass die hier in der Tiefe sitzenden Carcinome sich gewöhnlich 
weiter erstrecken, als man durch Inspection und Palpation fest¬ 
zustellen im Stande war. Bei der Bestrebung, festzustellen, bis 
auf welche Ausdehnung diese Operation wohl vorzuschieben sei, 
war ich in einem Falle auf einer Seite bis auf etwa 3 Linien 
an die Basis der Epiglottis vorgedrungen; ich glaubte sicher 
alles Kranke entfernt zu haben, jedoch fand sich bei der Obduc- 
tion eine, wie es schien, isolirte mit dem exstirpirten Theil der 
Zunge nicht zusammenhängende Infiltration in dem Reste der 
Zunge; in den übrigen Fällen war die Exstirpation der Neubil¬ 
dung eine vollständige. Was von Zungenresten nach Entfernung 
der kränken Partie übrig blieb, suchte ich gewöhnlich zu con- 
serviren und durch Nähte so aneinander zu fixiren, dass eine 
möglichst zungenähnliche Form wieder zu Stande kam. 

Nach Beendigung dieses Theiles der Operation untersuche 
man genau auf beiden Seiten, ob angeschwollene Lymphdrüsen 
zu fühlen sind. Man hat bei der oben beschriebenen Schnitt- 
führung Platz genug, alle Lymphdrüsen bis zum Unterkieferwinkel 
sicher zu entfernen. 

Ist die Blutung nun vollkommen gestillt, so wird am besten 
jetzt erst der Querschnitt am Kieferrande vollständig vereinigt, 
darauf versuche man die Schleimhaut von den Seiten des Zungen¬ 
stumpfes auf beiden Seiten vorzuziehen und in den unteren Win¬ 
keln der Seitenschnitte mit einigen Suturen zu befestigen. Es 
kann dies freilich nicht gelingen, wenn die Exstirpation der 
Zunge fast bis zur Epiglottis vorgedrungen ist, weil dann eine 
Zerrung der Epiglottis und des Kehlkopfes entsteht, die der Pa¬ 
tient nicht erträgt. Ist diese Anheftung der Schleimhaut möglich 
(man achte schon bei der Excision des Carcinoms darauf, etwas 
Schleimhaut zu diesem Zweck aufzusparen), so werden dadurch 
folgende Vortheile erzielt: Die Fixation des Zungenstumpfes nach 
vorne macht zuweilen das Schlingen entweder gleich, oder wenige 
Tage nach der Operation möglich; der Abfluss des Secretes über 

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Exstirpation ausgedehnter Zungencarcinome von der Regio suprahyoidea. 15 

die vorgenähte Schleimhaut, welche durch reichliche Absonderung 
von Schleim noch glatter als sonst wird, erleichtert das Abflies- 
sen der Flüssigkeiten aus dem Munde. Endlich deckt ein sol¬ 
cher Schleimhautlappen die Zellgewebssäcke nach unten hin und 
ist wohl im Stande, die Weiterverbreitung acuter Phlegmonen in 
jene Sficke hinein zu verhindern. Als ich diese Vorn&hung zum 
ersten Male mit vollständigem Erfolge ausf&hrte, was mir erst 
io dem letztoperirten Falle ganz nach Wunsch gelang, dachte 
ich wohl daran,' dass eine solche Verwachsung sich zu einer 
iippenförmigen Fistel ausbilden könne, doch war dies nicht der 
Fall Die Heilung der beiderseitigen Oeffnungen erfolgte zur ge¬ 
wöhnlichen Zeit. 

Ich halte es nicht für nöthig, die beiden nach abwärts gehen¬ 
den Schnitte vollständig unvereinigt zu lassen, sondern lege in 
der Regel in dem oberen Theil dieser Wunden noch eine oder 
zwei Suturen an, da es für die raschere Herstellung der Schling- 
fnnction sehr wichtig ist, dass die Vereinigung am Kieferrande 
eine vollständige sei und möglichst bald zu Stande komme. 

Es ist nicht wohl möglich, diese Operation in kurzer Zeit 
ganz exact auszuführen; sie kann 30 selbst bis 45 Minuten 
dauern, von Beginn der Narcose bis zur Anlegung der letzten 
Naht. Da es sehr leicht zu machen ist, dass das Blut 
frei nach aussen abfliesst, wenn man dabei auch oft in einer 
etwas unbequemen Stellung operiren muss, so habe ich im¬ 
mer die Narcose bis zur Anästhesie angewandt und dieselbe 
nur dann unterbrochen, wenn bei langer Dauer der Operation 
Puls und Respiration erheblich an Energie nachliessen. Auch 
sah ich mich einige Male genöthigt, um drohendem Collaps vor¬ 
zubeugen, noch vor dem Schluss der Wunde vom Munde aus 
die Schlundsonde einzuführen und dem Patienten etwas Cognac 
mit Wasser einzuflössen. Es ist auch zweckmässig, den voll¬ 
ständigen Verschluss der Wunde nicht eher zu machen, bis der 
Patient wenigstens etwas zu sich gekommen ist, damit man 
sicher ist, dass auch nach vollständiger Restitution der Herzkrait 
keine Blutung mehr auftritt. Ich habe stets die beiden Enden 
der Unterbindungsfäden kurz abgeschnitten und die zurückbleiben¬ 
den Knoten ihrem Schicksale überlassen. 

In Betreff der Nachbehandlung ist hervorzuheben, 


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16 


Dr. Tb. Billrotb, 


dass der Operirte sich in halbsitzender Stellung mit etwas vor¬ 
übergeneigtem Kopfe am besten befindet, indem dadurch eine 
Spannung der Wunde vermieden wird und der Abfluss der Flüs¬ 
sigkeiten aus dem Munde nach unten am ungehindertsten erfolgt. 
Um den Körper des Operirten vor zu starker Durchnässung za 
schützen, legt man dicke Gompressen an den oberen Theil der 
vorderen Brustwand an, welche zu beiden Seiten am Hemd fest¬ 
gesteckt werden können und oft erneuert werden müssen. Wenn 
die Patienten nicht gar zu arg von der Operation mitgenommen 
sind, so lernen sie sehr bald durch Unterlegen von Tüchern und 
Reinigung mit Schwämmen sich vor der Nässe zu schützen. 
Ueber einen allzu starken Wundschmerz nach dieser Operation 
habe ich selten Klage gehört. Es sind diese Kranken gewöhnlich 
durch die Schmerzhaftigkeit und schon lange bestehende Behinderung 
der Schlingfunction so sehr an das Leiden gewöhnt, dass ihnen die 
unmittelbaren Folgen der Operation nicht so lästig erscheinen. Manche 
dieser Patienten sind durch die vorangegangenen Leiden auch zuwei¬ 
len in einen solchen Zustand von Apathie verfallen und entschlossen 
sich zu dieser Operation schon wie zu einem Schritte der Ver¬ 
zweiflung, dass sie Alles über sich ergehen lassen. So hatte 
ich mir auch vorgestellt, dass die Ernährung dieser Patienten 
mittelst der Schlundsonde häufig auf Widerstand von Seite der 
Operirten stossen würde, um so mehr,#-als ihnen das Oeffnen 
des Mundes wegen Ablösung des vorderen Theiles des M. biventer 
vom Kiefer schwierig und schmerzhaft sein muss. Es gelingt 
indess die Ernährung dieser Operirten mittelst der Schlundsonde 
auffallend gut und ich habe nicht einmal den Eindruck gehabt, 
als wenn sie selbst die Versuche des Sehlingens besonders früh 
provocirt hätten. In denjenigen Fällen, in welchen diese Opera¬ 
tion wegen Carcinomen im vorderen Theile des Mundhöhlenbodens 
und der Zunge ausgeführt wurde, war einmal der Operirte im 
Stande, mit Hilfe der vorher beschriebenen Fixation des Zungen¬ 
stumpfes in der Wunde gleich nach der Operation, wenigstens 
Flüssigkeiten zu schlingen, während breiige Sachen wegen der 
Unmöglichkeit sie durch Zungenbewegungen zu einem Bissen zu 
formen erst im Anfänge der dritten Woche geschluckt werden 
konnten. In allen übrigen Fällen musste die Ernährung durch 
die Schlundsonde gewöhnlich bis in die dritte Woche hinein fort- 


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Exstirpation ausgedehnter Zungencarcinome von der Regio suprahyoidea. 17 

gesetzt werden, ja in einem Falle bis in die 5. Woche, in wel¬ 
cher der Patient an eitriger Bronchitis starb. 

Der Grnnd, weshalb das Schlingen nicht eher möglich wird, 
liegt nicht etwa in den am Halse bestehenden Oeffnungen der 
Mundhöhle; denn wenn diese bis znr 3. Woche noch nicht 
geschlossen sein sollten, was übrigens die Regel ist, 
so lernen die Kranken sehr bald diese Oeflhungen 
durch Gegendrücken eines Tnches, zumal durch Zusammen¬ 
drücken von der Seite her, so fest zu schliessen, dass dort 
nichts herausläuft. Die Unmöglichkeit des Sehlingens liegt we¬ 
sentlich darin, dass diejenigen Muskeln vom Unterkiefer abgelöst 
sind, mittelst welcher das Zungenbein und der Kehlkopf hinauf¬ 
gezogen werden, um den vorderen Thcil der Zunge gegen den 
harten Gaumen anzudrängen. Es würde für diesen Act kei¬ 
nen grossen Unterschied machen, wie viel von den vorderen Zwei- 
dritttheilen der Zunge etwa fehlt. Die Function wird erst dann 
wieder mehr oder weniger vollständig zu Stande kommen, wenn 
durch die Narbenwirkung nicht nur die abgelösten Muskeln wieder 
an die Innenseite des Kiefers angewachsen sind und zu gleicher 
Zeit der wulstartige Zungenstumpf durch die Contrjiction des 
in der Folge fast ganz aus Narbe bestehenden Mundhöhlenbodens 
bedeutend nach vorne gezogen wird. Wie erheblich gerade hier 
die Wirkung der Narbencontraction ist, dürfte jedem Chirurgen 
bekannt sein, welcher Abtragungen der Zunge gemacht hat und 
diese Patienten längere Zeit nach der Operation wieder sah. 

Eine sehr grosse Plage für die Operirten in der ersten 
Woche ist die enorme Schleimsecretion, welche gewöhnlich erst 
im Beginn der zweiten Woche nachzulassen pflegt; da dann auch 
die entzündliche Schwellung und Schmerzhaftigkeit bei den Be¬ 
wegungen nachgelassen hat und inzwischen die Suturen heraus¬ 
genommen sind, so wird der Zustand des Operirten dann von 
Tag zu Tage erträglicher. 

Was die Gefahr der Operation betrifft, so können in 
dieser Beziehung meine Erfahrungen noch nicht entscheiden, da 
gerade die Reihe von 10 Fällen, auf die sich dieselbe stützen, 
erst dazu beigetragen bat, die beschriebene Operation zu einer 
methodischen zu gestalten, und keinesweges bei allen Operirten 
alle diejenigen Yorsichtsmassregeln genommen werden konnten, 

Langenbeek, Arehif f. Chirurgie. XVI. J 


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18 


Dr. Th. Bill roth, 


/ 


auf die ich Sie hier aufmerksam gemacht habe. Denn gerade 
durch die ungünstig . verlaufenen Fälle bin ich auf manche der 
erwähnten Cautelen aufmerksam geworden,, die Ihnen zum Theil 
den Eindruck einer zu peinlichen Pedanterie gemacht haben 
werden. 

Ich habe bis jetzt 9 derartige Operationen gemacht, ziehe 
indess die Operation von Czerny, wie überhaupt alle Operationen, 
welche meine Herren Assistenten auf meiner Klinik machen, mit 
in meine Statistik, ganz abgesehen davon, ob sie gut oder schlecht 
verlaufen. Die Reihe von Operationen, worüber ich somit disponire, 
besteht also aus 10, von denen in Zürich eine von mir, eine von 
Czerny in Wien und acht von mir in Wien ausgeführt sind. Von 
diesen letzteren 8 kommen 5 auf die Hospital-, 3 auf die Privat¬ 
praxis. Im Ganzen sind von den 10 Operirten 6 genesen, 4 an den 
Folgen der Operation gestorben; von letzteren 3 im Spitale, 1 
in der Privatpraxis. — 8 von diesen Patienten standen im Alter 
zwischen 41 und 55 Jahren, 1 Patient war 27, einer 33 Jahre 
alt. Die Gestorbenen befanden sich im Alter von 33 , 41, 42, 
50 Jahren. Die Todesursachen waren 3mal Diphtherie, lmal 
mit multipler Pyohämie combinirt; 2 von diesen Patienten starben 
am 6. und 9., der letzterwähnte am 18. Tage. Einen dieser 
Patienten verlor ich an Bronchitis mit acuter Bronchiectasie am 

Ende der 5. Woche. 

! 

Von den Genesenen hat 1 einen diphtheritischen Process an 
der Wunde glücklich überstanden. Diese 4 Erkrankungen an 
Wunddiphtherie, für welchen Process ich zum Unterschied von 
der in Verlauf und Symptomen doch etwas abweichenden pha- 
gadaenischen Gangrän, dem Hospitalbrand lieber die Bezeich¬ 
nung „fibrinöse Phlegmone“ einführen möchte, haben für mich 
eine ganz besondere Bedeutung, weil sie die ersten sind, welche 
mir in Wien in dieser Form zur Beobachtung kamen, und weil 
Diphtheritis überhaupt, auch die Rachendiphtheritis als primäre 
und alleinige Erkrankung bis jetzt zum Glück zu den Seltenhei¬ 
ten in Wien gehört. Ich bin ebenso überzeugt, wie Sie alle, dass 
der diphtheriti8che Process in den meisten Fällen durch Infection 
oder Gontagion von Aussen hervorgerufen wird. Der eigentüm¬ 
liche Umstand indessen, dass in allen diesen 4 Fällen der P{ 0 - 
cess genau zu derselben Zeit, nämlich am 3. Tage begann (wäh- 


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Exstirpation ausgedehnter Zungenearcinome von der Regio suprahyoidea. 19 

rend gleiche Fälle bis in die neueste Zeit, wo eine ähnliche Er¬ 
krankung nach einer Herniotomie aut meiner Klinik erfolgte, 
nicht vorgekommen sind, scheinen mir doch schlagend zu be¬ 
weisen, dass gewisse rein locale Verhältnisse gerade dieser Wun¬ 
den wesentlich dabei in Betracht kommen. Denn es ist doch 
nicht anzunehmen, dass der Zufall der Infection hier so sonder¬ 
bar eingegriffen hätte, dass alle 4 Patienten gerade genau am 
.3. Tage angesteckt wären. Ich unterlasse es, auf diese wichtige 
Frage hier weiter einzugehen, die von dem Gegenstand, den ich 
hier zn besprechen habe, gar zu weit abführen könnte. 

Sehr interessant war der Sectionsbefund bei dem vierten der 
tödtlich verlaufenen Fälle; der 33jährige Mann hatte ein sehr 
weit nach hinten reichendes Carcinom der Zunge und es war 
diese Operation wohl eine der ausgedehntesten, die ich auf die¬ 
sem Gebiete gemacht habe. Von einem Lungenleiden waren bei 
ihm nie Symptome gewesen. Die Schlingfunctionen wollten je¬ 
doch, wie schon früher erwähnt, sich bei diesem Manne durchaus 
nicht wieder hersteilen, wozu der Umstand nicht unwesent¬ 
lich beigetragen haben mag, dass die Vereinigung des Quer¬ 
schnittes unterhalb des Kiefers nur zu einem kleinsten Theile per 
primam gelang, während der wieder auseinandergegangene Theil 
der Wunde durch die Narbencontraction von innen her eingerollt 
wnrde und nun unter dem Kinne eine Art von Längswulst ent¬ 
stand, der sich nur langsam der Länge nach zusammenzog. Dies 
bedingt, dass die zum Schlingen nothwendige Erhebung des 
Zungenbeines und des Kehlkopfes nicht zu Stande kommen kann. 
Trotz der sorgfältigsten Ernährung durch die Schlundsonde ma¬ 
gerte der Mann rasch ab und es konnten in der 4. und 5. Woche 
zur Zeit immer nur kleine Quantitäten von Eiern, Milch, Bouil- 
Üon und Wein in den Magen gebracht werden, weil sonst der 
Mageninhalt sofort durch antiperistaltische Bewegungen wieder 
nach oben entleert wurde. Wir nahmen noch ernährende Cly- 
mata zu Hülfe, trotzdem schritt die Abmagerung bei abendlichem 
Fieber, wie bei einem Phthisischen rapid fort, während der un¬ 
glückliche Patient den oft durch Husten bis in die Pharynxhöhle 
hinaufgetriebenen schleimig-eiterigen Inhalt der Bronchien ent¬ 
weder gar nicht oder nur unvollkommen herauszubefördern im 
Stande war. Die Section ergab, wie in anderen nach Unter- 

2 * 

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Dr. Th. Billroth, 


kieferresectionen ähnlich verlaufenen Fällen eine ausgedehnte In¬ 
filtration beider Lungen, besonders der linken, mit starker, sack¬ 
förmiger, cavernenartiger Ausdehnung der Bronchien mittleren 
Calibers. Dass die acute Entstehung solcher sackförmiger 
Bronchiectasien hauptsächlich das Resultat lobulärer Infiltration der 
Lunge bei einer gewissen Relaxation der Bronchien ist und durch viel¬ 
fache Hustenanfälle und schliesslich durch den gesteigerten negativen 
Respirationsdruck hervorgebracht wird, darüber scheint so ziem¬ 
lich eine Einigung unter den internen Klinikern stattgefunden zu 
haben. Ueber die Entstehung aber der lobulären Infiltrate, welche 
in den von mir beobachteten und mikroskopisch untersuchten 
Fällen nicht zu Abscessen geführt hatten, auch nicht das Resultat 
haemorrhagischer Infarcte waren, darüber vermag ich keinen 
sicheren Aufschluss zu geben. Gewöhnlich haben wir Chirurgen 
angenommen, dass das Hineinfliessen von Blut und Secreten aus dem 
Munde die Ursache dieser Formen von capillärer Bronchitis und lobu¬ 
lärer Pneumonie ist. Diejenigen, welche sich experimentell mit der 
Frage beschäftigt haben, ob das Eindringen von frischem, unzersetztem 
Blut Pneunomie, Bronchitis oder Abscesse zu erzeugen im Stande 
ist, haben sich ziemlich einstimmig gegen eine solche Annahme 
ausgesprochen. Es dürfte indess doch etwas Anderes sein, wenn 
faulig zersetzte Flüssigkeiten wirklich bis in die Lunge hinein¬ 
dringen sollten. Dass die Fäulnissbacterien und Pilzsporen dort 
sehr bald ausgehen eventuell nicht zur Keimung kommen, scheint 
nach den Resultaten neuerer Untersuchungen zweifellos. Man 
sollte auch wohl erwarten, dass das Einfliessen von Mundflüssig¬ 
keiten in den Kehlkopf nicht unerhebliche Hustenanfälle auslösen 
müsste; und wenn wir auch zugeben, dass dies bei sehr apa¬ 
thischen marastischen Individuen ausbleiben könnte, so dürfte 
man doch wohl erwarten, dass mit den Mundflüssigkeiten auch 
abgestossene Epithelien der Mund- und Zungenschleimhaut in die 
Respirationsorgane hineindringen. Ich habe nach diesen Gewebs- 
elementen, sowie auch nach Beimischungen von Speisen, welche 
bei der Regurgitirung aus dem Magen, auch bei künstlich ernähr¬ 
ten Patienten, mit in die Lungen hineingelangen könnten, in dem 
letzterwähnten Falle aufmerksam gesucht, jedoch weder in den 
Alveolen, die theils mit Eiterzellen, theils, wie bei gewöhnlichen 
Pneumonien, mit Fibringerinnsel gefüllt waren, noch in den bronchi- 


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Exstirpation ausgedehnter Zungenearcinome von der Regio suprahyoidea. 21 


ectatiscben Cavernen dergleichen Elemente gefunden. Positive 
Befände der Art liegen bisher nnr bei Individuen mit Lähmung 
eines oder beider Stimmbänder vor. — Vielleicht entstehen diese 
lobulären Infiltrationen, welche den Beginn der geschilderten Pro- 
cesse in den Lungen bilden, in ähnlicher Weise, wie bei manchen 
anderen marantischen und durch acnte Krankheiten erschöpften 
Individuen, die durchaus nicht im Munde operirt sind. Sie sind 
vielleicht das Resultat theils von circumscripten Circulations- 
störungen durch sogenannte Hypostase, welche mit einer auch 
zuweilen in Folge von Sepsis abgeschwächten Herzthätigkeit Zu¬ 
sammenhängen mag, theils von Atelectasen durch Anhäufung eines 
etwas zäheren, wenn auch noch nicht besonders abnormen Schlei¬ 
mes in den Bronchien. Hat bei einem Individuum, an welchem 
die hier in Rede stehende Operation ausgeführt wurde, die an¬ 
gedeutete Störung in der Lunge einmal begonnen, so wird durch 
die schwierige, endlich ganz unmögliche Entleerung des Secretes 
der pathologische Zustand bis zu einer sich immer steigernden 
Degeneration der Bronchien schliesslich tödtlich werden. 

Einer der Geheilten hat sich mir 18 Monate nach der Ex¬ 
stirpation fast der ganzen Zunge und den auf beiden Seiten ge¬ 
schwellten Lymphdrüsen vorgestellt Es findet sich keine Spur 
eines Recidivs bei ihm; die Sprache ist vollkommen deutlich. 
Das Schlucken gebt gut vor sich; nur kann der Mann nicht gut 
kauen, weil seine Zähne stark nach einwärts gewandt stehen 
(eine Folge des Fehlens der Zunge, auf welche ich bei einer an¬ 
deren Gelegenheit eingehen werde); auch ist es ihm schwer, die 
Bissen exact nach hinten zu schieben; er muss dazu mancherlei 
sonderbare Manöver mit den Hals- und Schlundmuskeln machen; 
er ist dennoch mit seinem Zustande ausserordentlich zufrieden. — 
Von den meisten Fällen fehlt es mir noch an Nachrichten über den 
jetzigen Zustand; ich werde darüber in meinem nächsten Jahres¬ 
bericht referiren, in welchem ich auch die Krankengeschichten in 
Kürze mittheilen werde, welche mir als Basis der mitgetheilten 
Erfahrungen gedient haben. 


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Ueber die Schussfracturen, welche das 
Chassepot-Gewelir bei Schüssen aus grosser 
Nähe hervorbringt. 

Von 

Prof. Dr. W. Busch*), 

in Bonn. 


In den Kriegsjahren 1866 und 1870—71 hatte ich, wie jeder 
meiner Collegen, eine Anzahl von Gewehrschüssen beobachtet, 
welche den Kopf der Tibia betroffen hatten. Bei einigen der¬ 
selben war eine Fractur der Condylen oder eine vollständige Zer¬ 
schmetterung derselben vorhanden, bei anderen hingegen war nur 
ein Lochschuss entstanden, ohne dass das Kniegelenk betheiligt 
erschien. Der Verlauf der letzteren Verwundungen, über welchen 
an einem anderen Orte berichtet werden wird, war meistens auf¬ 
fallend günstig. Entweder trat nach längerer Eiterung des Schuss- 
canales, zuweilen unter mächtiger Neubildung am oberen Ende 
der Tibia, eine Heilung ein, ohne dass die geringste Anschwel¬ 
lung des Kniegelenkes erfolgt wäre, oder es trat in den ersten 
Tagen nach der Verletzung ein seröser Erguss im Gelenke auf, 
welcher in kurzer Zeit wieder schwand und die Heilung erfolgte 
ohne Beeinträchtigung der Bewegung des Gelenkes. 

Soweit glaubte ich annehmen zu müssen, dass der von un¬ 
serem verehrten Meister in der Kriegsheilkunde, Stromeyer, 
aufgestellte Satz nicht richtig sei, nach welchem die Schusswunden 

*) Vortrag, gehalten in der 1. Sitzung des II. Congresses der Deutscheu 
Gesellschaft für Chirurgie ain IG. April 1873. 


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Fracturen durch Schüsse des Cbassepot-Gewehrs aus grosser Nähe. 23 

des Kopfes der Tibia sämmtlich die Amputation bedangen, weil 
sie mit Splitterung oder Fissur in das Gelenk hinein verbunden 
seien. Ich glaubte vielmehr nach meinen Beobachtungen zu dem 
Schlüsse berechtigt zu sein, dass eine grosse Anzahl der genann¬ 
ten Verwundungen, welche durch die neueren Präcisionswaffen 
veranlasst werden, das Gelenk ganz unbetheiligt lassen, während 
andere vielleicht nur eine feine Haarspalte im Knorpel erzeugen, 
welche hinreicht, einen serösen Erguss hervorzurufen, sich aber 
unter günstigen Umständen prima intentione schliessen kann, so 
dass die nachfolgende Eiterung des Schusscanales ohne Einfluss 
auf das Gelenk bleibt. Möglich wäre es auch gewesen, dass 
seröse Ergüsse ohne feine Fissuren nur durch die Erschütterung 
des Gelenkes hervorgerufen würden. Es scheint aber in dieser 
Hinsicht ein grosser Unterschied zwischen Femur und Tibia ob¬ 
zuwalten. Während bei dem ersteren Schussfracturen und auch 
subcutane Fracturen, welche in der unteren Hälfte liegen und 
nicht bis in das Kniegelenk reichen, fast ohne Ausnahme die 
Erschütterung so auf das Gelenk fortpflanzen, dass ein seröser 
Erguss entsteht, sehen wir zahlreiche Verletzungen des oberen 
Endes der Tibia, bei welchen das Gelenk ganz frei bleibt. 

Jedenfalls war es mir durch die betreffenden Beobach¬ 
tungen nahe gelegt worden, den Gegenstand experimentell zu 
prüfen, um entscheiden zu können, ob Schüsse durch den Kopf 
der Tibia das Gelenk unbetheiligt lassen und unter welchen Um¬ 
ständen dieses geschehe. Die ersten Experimente wurden mit 
Scheibenpistolen angestellt, welche einlöthige Kugeln schossen. 
Bei diesen Schüssen wurde in der That bemerkt, dass, wenn der 
Schusscanal über 2 Centimeter unterhalb des Knorpelrandes der 
Tibia blieb, das Gelenk gewöhnlich unbetheiligt war. Reichte der 
Schusscanal etwas höher hinauf, so war nur selten kein Sprung 
im Knorpel zu bemerken, in der Regel waren Fissuren vorhan¬ 
den und zuweilen war auch eine vollständige Fractur des oberen 
Tibiaendes entstanden. 

Sodann, als ich Gelegenheit hatte, ein Chassepot-Gewehr 
und dazu gehörige Patronen zu erhalten, Hess ich mit diesem 
Versuche anstellen. Obwohl ich aber in der Person meines jun¬ 
gen Freundes, Herrn Dr. Didolf, einen ausgezeichneten Schützen 
gefunden hatte, so konnte dieser es doch nicht unternehmen, die 


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Dr. W. Busch, 


Gegend der Tnberositas tibiae sicher in einer grösseren Entfer¬ 
nung als auf zehn bis zwanzig Schritte zu treffen. Es mussten 
daher die Schüsse in sehr naher Entfernung abgegeben werden 
und ich erwartete, da in dieser die Propulsionskraft der Engel 
die allerstärkste ist, noch reinere Schusscanäle zu finden, als bei 
den Pistolenschüssen bei welchen der Ausschuss zuweilen eine 
beträchtliche, fast 3 Centimeter im Durchmesser haltende Oeffnung 
zeigte. Wie gross war daher mein Erstaunen, als ich die furcht¬ 
baren Verwüstungen sah, welche die aus grosser Nähe abge¬ 
feuerte Chassepotkugel anricbtete. Es kam zwar zuweilen vor, 
dass, wenn der Einschuss unterhalb der Tnberositas tibiae lag, 
das Gelenk nicht geöffnet war, aber wie sah die Extremität aus! 
Der Einschuss in der Haut war zuweilen klein, zuweilen aber 
auch über einen Zoll lang, der Knochen dahinter aber in un¬ 
zählige Fragmente zersplittert und der Ausschuss über drei Zoll 
lang und breit, zuweilen selbst eine Spanne lang. Dieser führte 
dann in eine Höhle, in welche man eine Faust hineinlegen konnte. 
Die Verwüstung in Knochen und Weichtheilen war in allen Fällen 
so grossartig, dass, wäre die Verwundung am Lebenden gesche¬ 
hen, jeder Fall von jedem Chirurgen unbedingt zur Amputation 
verurtheilt worden wäre. 

Hätte ich nicht das verwundende Instrument gekannt, ich 
würde nach der vorliegenden Zermalmung und Zerreissung einige 
der Wunden für Granatwunden, andere für Wunden gehalten ha¬ 
ben, welche durch ein explodirendes Geschoss verursacht worden 
wären. Diese Resultate widersprachen nun den meisten Beob¬ 
achtungen, welche ich im Felde von Verwundungen durch Chasse¬ 
potkugeln gesammelt hatte. Im Ganzen und Grossen kann ich 
sagen, dass ich bei keinem anderen Projectile verhältnissmässig 
so viele reine Wunden gefunden habe, wie gerade bei der Chasse¬ 
potkugel. Mehr als bei anderen Gewehrschüssen sieht man 
Weichtheilwunden, welche fast ohne eine Spur von Eiterung unter 
dem Schorfe heilen. Ebenso kann man ausserordentlich günstig 
verlaufende Lungenschüsse beobachten. Der Canal, den die 
Kugel«in der Lunge gebohrt hat, liegt in dem zusammengefallenen 
Zustande der Lunge so, dass sich seine Wände berühren. Wenn 
er nun ohne Entzündung und Eiterung heilt, so sieht man, in 
dem Maasse, als Luft und Blut aus der Pleurahöhle resorbirt 


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Fractaren durch Schüsse des Chassepot-Gewehrs aus grosser Nähe. 25 

werden, die Lunge allmälig wieder ihren alten Platz ein- 
nehmen. ' 

Von Wunden des Kniegelenkes liegen mehrfache Beobach¬ 
tungen von Heilungen vor, welche ohne nennenswerthe Eiterung 
stattgefunden haben, ja selbst einige Oberschenkel-Schussfracturen 
sind vorgekommen, in welchen der Schusscanal durch die Weich- 
theile schon vollständig geschlossen war, ehe die Consolidation 
der Fractur erfolgt war. Derartige günstig verlaufende Verwun¬ 
dungen kommen aber nur dann vor, wenn die verwundende Kugel 
einen möglichst reinen Canal ohne grössere Zerreissung von Ge- 
* weben bewirkt hat. Deswegen fielen mir die Resultate dieser 
Schussversuche natürlich sehr auf. 

Anfangs glaubte ich, dass die furchtbare Zerstörung von der 
spröden Beschaffenheit der Knochen bei den marastischen Indivi¬ 
duen herrühre, welche meistens zur hiesigen Anatomie kommen; 
als aber an der Leiche eines 27jährigen Selbstmörders und an 
anderen sehr kräftigen Mannesleichen das Resultat ganz dasselbe 
war, musste der Grund anderweitig gesucht werden. Da bei der 
Chassepotpatrone die Verbrennung des Pulvers von hinten nach 
vorn geschieht, so lag die Möglichkeit vor, dass bei den Schüs¬ 
sen aus grosser Nähe etwas unverbranntes Pulver in die Schuss¬ 
öffnung hinein gerissen würde und dort erst zur Explosion käme, 
und in der That sehen die meisten Wunden so aus, als seien sie 
durch eine explodirende Kraft auseinandergerissen. Ich besprach 
mich deshalb mit meinem verehrten Freunde, Prof. Clausius, 
welcher es aber nach Exposition des Beobachteten für wahr¬ 
scheinlicher hielt, dass die durch die Hagenbach- So ein’ sehen 
Versuche nachgewiesene Erwärmung der Kugel durch die plötz¬ 
liche Hemmung der Bewegung von Einfluss sein könnte, indem 
sich dieselbe platt schlüge und nun die grossen Verwüstungen 
anrichte. Er rieth mir deswegen zunächst an einer Scheibe, 
welche einen genügenden Widerstand böte, aber die Kugel doch 
durchschlagen Hesse, Versuche zu machen. 

Ich Hess mir nun eine Scheibe von zollstarkem Eichenholze 
machen und dieselbe mit einem zwei Millimeter starken Eisen¬ 
bleche beschlagen. Die Kugeln gingen bei Schüssen auf 20 und 
auf 100 Schritt (über eine längere Schiessbahn ‘ konnte ich nicht 
disponiren) glatt hindurch. Das Eisenblech war einwärts ge- 


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Dr. W. Busch, 


schlagen und gewöhnlich mit einem feinen Kranze von geschmol¬ 
zenem Blei bedeckt. Der Ausschuss war weiter als der Ein¬ 
schuss und die Splitter des Holzes, welche nicht abgeschlagen 
waren, nach auswärts gekehrt. Das einwärts gekrämpte Eisen¬ 
blech zeigte eine nicht regelmässig kreisrunde Oeffnung, deren 
Durchmesser zwischen 1,6 und 1,8 Centimeter schwankte, so dass 
sie also um ungefähr 50 pCt. weiter war, als der Durchmesser 
der Kugel. Die Ausgangsöffnung im Holze war breiter als hoch, 
und hatte in ihrem stärksten Durchmesser zwischen 2 und etwas 
über 3 Centimeter im Lichten. Bei den auf 20 Schritt Entfer- ^ 
nung abgegebenen Kugeln war die Ausgangsöffnung nicht grösser 
als 2 Centimeter, während an den meisten auf 100 Schritt Ent¬ 
fernung abgefeuerten Kugeln die Ausgangsöffnung grösser war. 
Bei einigen der letzteren Schüsse kamen aber auch kleinere 
Ausgangsöffnungen vor, so dass der Unterschied nicht schlagend 
war und die grössere Distanz von 80 Schritt bei diesem Gewehre 
keine wesentliche Differenz verursachte. 

Da uns aber die Kugeln in dem hinter der Scheibe stehen¬ 
den Sandhaufen verloren gingen, so baute ich bei neuen Ver¬ 
suchen hinter der Scheibe eine *• Fuss dicke Wand von frisch mit 
Wasser geknetetem Thone, um in diesem zähen Materiale die 
durchschlagenden Kugeln aufzufangen, und stellte den ganzen 
Apparat vor einer gewölbten Nische auf, welche einen sehr guten 
Kugelfang abgab. Bei jedem Schüsse war hinter der Ausgangs¬ 
öffnung im Holze ein grosses Loch durch die Thonwand gerissen, 
welches innen ganz mit Holzsplittern und sehr wenigen kleinen 
ßleitröpfchen austapeziert war. Hatte die Kugel noch die Kraft, 
durch die Thonwand zu dringen, so zog sie die hintere Fläche 
derselben zu einem spiralig gedrehten Fortsatze aus. 

Beiläufig sei erwähnt, dass ich glaubte, die grosse Eingangs¬ 
öffnung im Thone hinter der Scheibe, welche wir später bei 
Schiessversuchen auf menschliche Gliedmassen ebenfalls stets 
fanden, sei hervorgebracht durch die auseinandersprühenden Holz- 
und Knochensplitter, aber als wir des Versuches halber eine 
Chassepotkugel auf 20 Schritte und eine auf 100 Schritte durch 
die freie Thonwand jagten, sahen wir zu unserem Erstaunen, dass 
die nur etwas über einen Centimeter im Umfange haltende Kugel 
ein Loch von mehr als einem halben Fusse Durchmesser in den 


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Fracturen durch Schüsse des Chassepot-Gewehrs aus grosser Nähe. 27 

Thoü riss. Dabei spritzte der Thon bis zum Punkte, von wel¬ 
chem der Schuss abgegeben war, zurück und um die riesige 
Eingang8öffnung stand ein Kraterrand mit nach aussen umgebo¬ 
genen Rändern. War aber ein die Kugel lähmendes Hinderniss 
(Scheibe oder Knochen) vor der Thonwand, so war die Ausgangs- 
öfihung in der Thonwand viel kleiner als die Eingangsöffnung, 
und, wenn die Kugel im Thone stecken blieb, so befand sie sich 
an der Spitze eines Kegels, dessen Basis die grosse Eingangs- 
Öffnung bildete. 

Wie ich nachträglich gesehen, haben schon Morin und Mei¬ 
sen s diese gewaltigen Löcher beobachtet, welche eine einfache 
Kugel im Thone hervorbringt. Der Letztere (Compt. rend. 1867 
und 1869) sucht sie dadurch zu erklären, dass die Kugel gleich¬ 
sam einen Ballen comprimirter Luft vor sich her triebe, welcher 
vor der Kugel eindränge. Wir können hier auf die Frage nicht 
näher eingehen, ob bei dem Eindringen in einen flüssigen oder 
festen Körper der Kugel nur Luft folgt oder ob auch Luft vor 
ihr her getrieben wird. Die Erscheinungen an der Thonwand 
erklären sich zwanglos ohne diese Annahme. Wie das Wasser 
von einem auf seine Fläche geschleuderten Steine zurückspritzt, 
ebenso thut es das zähVeiche Material des Thones, wenn die von 
der Kugel getroffenen Theile vorwärts getrieben werden und durch 
den Widerstand, welchen sie vorne finden, zum Ausweichen ge¬ 
zwungen werden. Die Grösse des Loches erklärt sich aber da¬ 
durch, dass die Kugel, während sie durch den Thon dringt, eine 
ausserordentlich schnell rotirende Bewegung um ihre Längsachse 
beschreibt. Ein jeder schnell rotirende Körper reisst das Medium, 
durch welches er sich bewegt, in der Tangentialrichtung fort. 
Wenn wir uns nun einen Querschnitt der Kugel denken, so wird 
jeder Punkt an der Peripherie dieses Querschnittes bei dem Ro- 
tiren der Kugel das ihm benachbarte Thontheilchen in der Tan¬ 
gentialrichtung fortschleudern. 

Würde die Kugel nur rotiren, ohne vorwärts zu dringen, so 
würden alle Thontheilchen also in gerader Linie fortbewegt wer¬ 
den und, da sie von der gleichen Kraft in Bewegung gesetzt 
werden und annähernd denselben Widerstand von dem benach¬ 
barten Thone finden, auf einer Kreislinie, welche dem Querschnitte 
der Kugel eoncentrisch wäre, zur Ruhe kommen. Da aber die 


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Dr. W. Busch, 


Kugel nicht nur rotirt, sondern auch gleichzeitig vorwärts dringt, 
so werden die Thontheilchen nicht nur seitlich, sondern auch 
nach vorn gedrängt, beschreiben also eine Spirale. Sehr deutlich 
wurde auch das Seitwärts-Ausweichen des Thones gesehen, wenn 
eine Kugel durch den oberen Rand der Scheibe und der Thon¬ 
wand drang. Der Thon spritzte dann seitlich und nach oben 
und umkränzte so den Eingang der Nische. 

Die Erscheinungen in der Thonwand geben uns ein vergrös- 
sertes Bild von dem, was die einem Schusscanale benachbarten 
Körpergewebe auszuhalten haben. Dank dem Baue unserer Ge¬ 
webe wird ein ähnliches Loch von einer einfachen Kugel auf 
hundert Schritt Distanz nicht gerissen, aber die Wände des 
Schusscanales haben der centrifugalen Kraft, mit welcher sie 
fortgerissen werden sollten, einen starken Widerstand entgegen¬ 
setzen müssen. Daher stammen wenigstens zum Theil die „Er¬ 
schütterungen“ , welche sich weit über den Schusscanal hinaus 
erstrecken und welche iu den Weichtheilen nachträgliche Nekro- 
tisirungen, in den Knochen weitgehende Splitterungen verursachen. 

Es zeigte sich jedoch bald, dass die Scheibenversuche andere 
Resultate geben, wie die Schüsse auf menschliche Theile, wegen 
der Verschiedenheit der Structur des Holzes und unserer Gewebe. 
Die Kugeln hatten immer an Gewicht verloreD, aber freilich nicht 
so viel, wie in den So ein’sehen Versuchen, weil bei diesen eine 
stärkere Abschmelzung stattfinden musste, da die Flugkraft der 
Kugel durch die undurchdringliche Scheibe vollständig gehemmt 
wurde, während in unseren Versuchen nur eine solche Wärme¬ 
menge erzeugt wird, welche der durch das Hinderniss verursach¬ 
ten Verringerung der Bewegung äquivalent ist. Die Kugeln 
waren stark abgeplattet, wobei ich aber bemerken muss, dass 
die Abplattung sich in der Thonwand noch verstärkt haben kann, 
da in den Socin’schen Versuchen sich die Kugeln auch in Weich¬ 
theilen abplatteten, welche die Kugeln auffingen. Es wird aber 
wohl unmöglich sein, ein Material aufzufinden, welches die Kugel 
in unverändertem Zustande auffängt, nachdem sie das Hinderniss 
durchschlagen hat. Dagegen war der Schusscanal im Holze in 
Bezug auf die Grossartigkeit der Verwüstung nie zu vergleichen 
mit den Canälen, welche wir an menschlichen Leichen gesehen 
hatten. Ferner theilte sich die Kugel wie in grössere Frag- 

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Fracturen durch Schüsse des Chassepot-Gewehrs aus grosser Nähe. 29 

mente, wahrscheinlich weil die breite and hohe Scheibe die er¬ 
weichte Kugel zusammenhielt, und endlich waren die oben er¬ 
wähnten kleinen Bleitröpfchen, welche die Scheibe passirt hatten, 
unter dem Trümmergewirr von Holzsplittern in dem Thone schwer 
aufzufinden. 

Ich kehrte deswegen zu meinen Versuchen an der Leiche 
zurück. Schon das erste Experiment gab den Schlüssel zu den 
beobachteten Thatsachen. Gegen eine circa einen Fuss dicke Thon¬ 
wand wurde ein Bein so gelehnt, dass der Unterschenkel an der 
glatten vorderen Fläche herabhing, während der Oberschenkel 
des im Knie gebeugten Beines auf der oberen Wand ruhte. Auf 
20 Schritt Distanz wurde Feuer gegeben. Die Kugel drang mit 
einer einen halben Quadratzoll grossen Oeffnung dicht unter der 
Tuberos. tibiae ein und schlug mit einem Loche aus, welches die 
ganze Wade zerriss. Die Tibia war in unzählige Fragmente zer¬ 
splittert. Auf der vorderen Thonwand fand sich wieder das be¬ 
kannte grosse Loch und in der Spitze des Trichters lag die noch 
warme, glatte und verkleinerte Kugel. Betrachtete man nun die 
Wände des Trichters in dem Thone, so fand man diese vollständig 
austapeziert mit kleinen Knochenfragmenten, Fett- und Bluttropfeu, 
sowie einer grossen Menge kleiner erstarrter Bleistückchen, welche 
aber in ihrer Form deutlich zeigten, dass sie geschmolzen ge¬ 
wesen. Da diese Bleistückchen in der Thonwand sassen, so 
waren sie also durch das Bein hindurch geschlagen. Die Kugel 
musste also in dem Augenblicke als sie die Hemmung durch den 
Knochen erlitt, so erwärmt worden sein, dass von ihr eine ge¬ 
wisse Menge in Tropfen abschmolz. Diese Tropfen befanden sich 
aber in dem Momente ihres Entstehens in der gewaltigen Vor¬ 
wärtsbewegung und gingen nun wie feine Schrotkörner Alles zer¬ 
malmend und zerreissend durch das Bein, bis sie in dem Thone 
sammt den von ihnen und dem Hauptstücke der Kugel herausgerisse¬ 
nen Gewebstheilen stecken blieben. Dass diese Bleitropfen, welche 
im Momente ihres Entstehens flüssig gewesen sein müssen, so 
zerstörend wirken konnten, liegt aber nur in der Schnelligkeit 
ihrer Bewegung, da ein weicher, sich schnell bewegender Körper 
einen viel härteren zertheilen kann. 

Da bei diesem Experimente das Bein, wenn auch lose, an 
der Thonwand gelehnt hatte, wodurch der Widerstand etwas ver- 


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Dr. W. Busch, 


mehrt war, so hing ich in den folgenden Versuchen die Leichen- 
theile in einem Rahmen vor der Thonwand auf. Einige Beine 
Hess ich frei herabhängen, so dass die Wirkung des Schusses 
so war, als hätte die Kugel ein emporgehobenes Glied getroffen, 
andere band ich mit ihrem unteren Ende noch an den unteren 
Balken des Rahmens fest, aber in den Resultaten blieben sich die 
Sch&sse gleich. 

Um nun nicht durch Aufzählung der einzelnen zahlreichen 
Experimente zu ermüden, bemerke ich, dass alle, mit Ansnahme 
von drei besonders zu erwähnenden Schüssen, annähernd das 
gleiche Resultat in Bezug auf die durch die Kugel hervorgebrachte 
Verwüstung darboten. Nur die Eingangsöffnung zeigte Verschie¬ 
denheiten; zuweilen war sie so klein, dass man mit Mühe eine 
normale Kugel hineindrängen konnte, zuweilen war sie fast zoll¬ 
lang und ebenso breit. Der Ausschuss hingegen war stets so 
colossal, dass Niemand ihn für eine durch eine Flintenkugel her¬ 
vorgebrachte Wunde gehalten haben würde. Wenn die Kugel 
sich in grössere Fragmente getheilt hatte, so konnte man zwei 
spannenlange und mehrere kleinere zerfleischte Wunden sehen, 
aus welchen flüssiges Fett abtropfte. In anderen Fällen bestand 
eine einzige gewaltige Oeffnung, in welcher die Gewebstrümmer 
lagen. Verhältnissmässig am stärksten waren die Verwüstungen 
bei Schädelschüssen. Bei zweien dieser Schädel, bei welchen das 
Gehirn herausgenommen war und bei welchen die Kugel genau an 
der Spina occipit. externa eindrang und durch das Keilbein austrat, 
fanden sich hinter dem kleinen Einschüsse zahlreiche Knochen¬ 
fragmente und Bleitropfen im Schädel, während an dem Aus¬ 
schüsse der ganze Gesichtsschädel auseinandergesprengt war und 
die Weichtheile des Gesichtes und der Zunge in zerrissenen Lap¬ 
pen herunterhingen. An einem anderen nicht enthirnten Schädel 
eines kräftigen, jugendlichen Weibes war die ganze Calvaria in 
zahllose grosse und kleine Fragmente zersprungen, welche die 
weichen Scbädeldecken zerrissen und welche danach mit Gehirn- 
theilen bis auf 20 Fuss seitlich herausgeschleudert wurden. Fer¬ 
ner war der ganze Oberkiefer weggerissen, so dass die Verwun¬ 
dung aussah, als sei der Hirnschädel von einer Granate abge¬ 
schlagen. 

Die drei Schüsse, welche ausnahmsweise kleine Ausgangs- 


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Fracturen durch Schüsse des Chassepot-Gewehrs aus grosser Nähe. 31 

Öffnungen boten, waren folgende: Ein Schuss durch den grossen 
Trochanter gab einen kleinen Einschuss und zwei nur wenig 
grössere Ausgangsöffnungen; im Innern war aber ebenfalls furcht¬ 
bare Verwüstung. Die zweite Kugel traf die Lendenwirbelsäule 
einer exenterirten Leiche am ersten Lendenwirbel. Der Einschuss 
im Knochen war 3 Centimtr. breit und 4} Centimtr. lang, der 
Ausschuss in der Haut nur 2% Centimtr. lang und 2 Centimtr. 
breit und trotz dieser kleinen Ausgangsöffnung war die dahinter 
stehende Thon wand ganz besät mit zerstreuten Knochen- und 
Gewebstrümmern. Noch weniger erklärlich war der dritte Schuss, 
welcher den vierten Lendenwirbel derselben Leiche traf. Beim 
Einschüsse war der Knochen auf Zollweite zerrissen und seine 
Ränder nach aussen gestülpt, der Ausschuss war ganz klein und durch 
dieses Loch waren ausser Gewebstrümmern die Kugel, ein grös¬ 
seres von ihr abgetrenntes Fragment und mehrere in der Thon¬ 
wand steckende Bleitröpfchen hindurchgeschlagen. 

Wenn wir uns nun nach dem Schicksale der Kugeln Um¬ 
sehen, welche die oben beschriebenen gewaltigen Verwüstungen 
angerichtet haben, so finden wir in einigen Fällen schon im 
Schusscanale des Gliedes zahlreiche abgeschmolzene Bleitröpf¬ 
chen. Besonders zahlreich sind diese, wenn sie auf die Mitte 
grosser Knochensplitter aufschlagen, welche sie bei ihrer geringen 
Masse nicht aus dem Ausschüsse herauszuschlagen vermögen. 
In anderen Fällen liegt entweder gar kein Blei, oder nur hier 
und da ein kleines Bleitröpfchen im Schusscanale und die Masse 
der Kugel ist daher ganz oder fast ganz durch das Glied hin¬ 
durchgegangen. Es ist mir nun nie gelungen, aus der Thonwand 
das ganze Gewicht der Kugel herauszugraben und zwar einmal 
deswegen, weil es nicht möglich ist, alle feinen Schusscanäle in 
derselben bis zu ihrem Ende zu verfolgen und zweitens, weil der 
Kegel, in welchem die Theile aus dem Ausschüsse heraussprühen, 
eine für seine Höhe sehr umfangreiche Basis hat, so dass Man¬ 
ches noch neben der c. 3 Fuss breiten und 2| Fuss hohen Thon¬ 
wand vorbeifliegt. Steht der Rahmen, in welchem der Körper¬ 
teil aufgehängt ist, etwa \ Fuss von der vorderen Fläche der 
Thonwand entfernt, so findet sich zwar das Meiste von Knochen- 
und Bleifragmenten in dem oben erwähnten grossen Loche der 
Wand, aber bis an die äussersten Ränder hin ist die Wand sieb- 


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Dr. W. Busch, 


förmig durchlöchert von kleinen eingedrungenen Knochenfrag¬ 
menten und einzelnen Bleitheilen. Steht der Rahmen aber un¬ 
gefähr 3 Fuss von der Wand entfernt, so spritzen einzelne Theile 
selbst 7—8 Fuss und zuweilen noch viel höher, wie wir an dem 
Mauerwerke des Einganges der Nische erkennen konnten. 

Die Kugeln oder Kugelfragmente verhalten sich nun sehr 
verschieden. Entweder bleibt die Hauptmasse der Kugel zusam¬ 
menhängend, schlägt sich platt und geht als breitere Scheibe 
durch die Wunde und es finden sich dann ausser ihr nur ganz 
kleine Bleitröpfchen in der Thonwand, oder aber die Kugel theilt 
sich bei ihrem Aufschlagen in eine grössere oder kleinere Anzahl 
von beträchtlicheren Fragmenten, welche dann in dem eben be¬ 
sprochenen Zerstreuungskegel durch das Glied hindurchschlagen. 
Als Beispiele reiche ich herum 1) eine Anzahl von kleinen ge¬ 
schmolzenen Bleitröpfchen, welche sich entweder in die Thonwand 
tiefer eingegraben oder sich nur eben an sie angespiesst hatten; 
2) eine durch den Kopf der Tibia gegangene Kugel, welche nur 
ein etwas grösseres Fragment abgegeben und sonst nur so wenig 
Tröpfchen ausgesprüht hatte, dass nur 3 Grammes ihres Gewichtes 
verloren gegangen sind; 3) die vier grösseren Fragmente einer 
Kugel, welche durch das Kniegelenk schlug und die Epiphysen 
des Femur und der Tibia zermalmt hatte (bei dieser fehlen etwa 
an elf Grammes Gewicht); 4) die sieben grösseren und kleineren 
Fragmente einer Kugel, welche den Oberschenkel zertrümmert 
hatten und welche von weit von einander entfernten Punkten der 
Thonwand ausgegraben wurden. Diese Hessen sich so sorgfältig 
sammeln, dass nur etwas über 4 Grammes in kleineren Blei¬ 
tropfen verloren ging. Diese Gewichtsangaben sind sämmtlich 
nur als annähernde zu betrachten, weil sich, wie der Augenschein 
lehrt, nicht aller Thon durch Schlämmen von den Bleifragmenten 
entfernen liess, indem einzelne Thontheilchen innig von dem Bleie 
umschlossen werden. 

An den meisten der herumgereichten Stücke ist der Schmel- 
zungsprocess ganz deutUch wahrzunehmen und, wenn ich nicht 
schon früher von der Richtigkeit der Hagenbach-Socin’sehen 
Theorie überzeugt gewesen wäre, so würden mich diese Experi¬ 
mente überzeugt haben. Man hat zwar gegen die Möglichkeit der 
Schmelzung der Kugel eingewendet, dass man die von ihr hinein- 

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Fracturen durch Schüsse des Chassepot-Gewebrs aus grosser Nähe. 3o 


gerissenen Tuch- und Leinenfetzen der Bekleidung nicht angesengt 
fände. A priori muss jedoch die Hemmung der Flugbewegung 
eines jeden Körpers Wärme erzeugen, und Blei schmilzt bekannt¬ 
lich bei 325 Grad, also bei einer verhältnissmässig geringen 
Wärme. Bei der Schnelligkeit, mit welcher die so weit erwärmten 
Bleitheile einen menschlichen Körpertheil passiren, können sie 
nicht leicht etwas ansengen. Ich wundere mich vielmehr darüber, 
dass wir doch zuweilen Wirkungen der Verbrennung sehen, z. B. 
den scheinbar versengten Rand eines Einschusses. Ebenso haben 
mir Bekannte, welche oft Rothwild jagen, versichert (ich selbst 
bin kein Nimrod), dass der Einschuss dadurch erkannt werde, 
dass die Haare an demselben abgesengt erscheinen. In unseren 
Experimenten hat sich die erhöhte Wärme, ausser durch die Form 
der Kugeltheile, noch dadurch gezeigt, dass die grösseren Blei¬ 
stücke immer noch warm aus dem Thone ausgegraben wurden, 
während die kleineren Tropfen natürlich ihre Wärme schon abge¬ 
geben hatten, und dass ein Paar Mal bei Leichen von wohlge¬ 
nährten Individuen flüssig gewordenes Fett aus dem 
Schusscanale abtropfte. 

Wir sehen also, dass die Chassepotkugel bei Schüssen aus 
grosser Nähe theils durch die gewaltige mechanische Kraft, mit 
welcher sie den Knochen trifft, theils durch die bei dem Auf¬ 
schlagen auf den Knochen erzeugte Wärme sich in mehrere Theile 
theilt, welche nun in einem breiten Zerstreuungskegel durch das 
Glied gehen und Alles zermalmen. Dieser Vorgang genügt voll¬ 
kommen, um die furchtbaren Zerstörungen zu erklären, aber es 
ist doch noch nicht fest bewiesen, ob nicht mit der Kugel etwas 
verbrennendes Pulver in die Eingangsöffnung hineingerissen wer¬ 
den könnte, welches durch seine Gasentwickelung zur Zerstörung 
beitragen könnte. Unverbrannte Pulverkörner findet man zuweilen 
in der Umgebung der Eingangsöffnung, wenn man auf ein breites 
Object, z. B. den Thorax, schiesst. Um diesen Punct zu eruiren, 
müsste man die gleichen Experimente mit einem Preussischen 
Zündnadelgewehre, bei welchem die Verbrennung des Pulvers in 
der Patrone von vorn nach hinten stattfindet, anstellen, ich habe 
mir aber bis jetzt ein solches nicht verschaffen können. 

Durch diese Experimente sind mir auch einzelne Schüsse, 
welche ich im Felde gesehen und bisher mir nicht erklären konnte, 

?. Langenbeck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 

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erklärlich geworden. Ich hatte ähnliche Verwüstungen beobachtet, 
welche ich für Granatwunden hielt, bei welchen mir aber die 
Verwundeten versicherten, dass sie bestimmt nur Kleiugewehr- 
feuer und aus grosser Nähe erhalten hätten. Ich half mir damals 
mit der Erklärung, dass die Kugel sich wahrscheinlich vorher auf 
einem harten Gegenstände platt geschlagen hätte, dann ricochet- 
tirend mit einer scharfen Kante eingedrungen und mit der breiten 
Fläche voran herausgeschlagen sei. Jetzt sehe ich diese Wunden 
natürlich anders an. Auffallend ist es mir ferner, dass wir aus 
Paris nichts von diesen furchtbaren Wunden gehört haben, wo 
doch bei den Massen * Executionen der Communards die Schüsse 
alle aus grosser Nähe abgegeben worden sind. Vielleicht erfah¬ 
ren wir aber später noch etwas hierüber durch einen Pariser 
Collegen. 

Noch einen Punct möchte ich berühren Schon Socin 
spricht, obwohl seine Schüsse nur auf undurchdringliche Körper 
abgegeben waren, die Vermuthung aus, ob nicht durch Schmel¬ 
zung von Kugelstücken die Wunden zu erklären sein möchten, 
von welchen man glaubte, dass sie durch explodirende Kugeln 
hervorgebracht seien. Einen Beweis, dass eine derartige Wunde 
nicht durch eine explodirende Kugel verursacht sei, vermag 
natürlich kein Mensch zu führen, aber dass derartige Wunden 
bei Schüssen aus grosser Nähe auch von einfachen Kugeln her¬ 
vorgebracht werden können, wissen wir jetzt. Die solide 
Bleikugel explodirt nämlich selbst, wie Sie an den 
herumgereichten Stücken sehen, indem * sie in eine Anzahl von 
Fragmenten zerspringt, welche wie Schrotkörner oder wie gehack¬ 
tes Blei in einem breiten Zerstreuungs- oder Explosionskegel 
durchschlagen. 

Fassen wir das Wichtigste unserer Beobachtungen zusam¬ 
men, so sehen wir, dass zunächst der alte Satz, dass Wunden 
durch Kleingewehrfeuer, abgesehen von ganz matten Kugeln, eine 
desto grössere Reinheit zeigen, mit je stärkerer Propulsionskraft 
die Kugel aufschlägt, keine allgemeine Gültigkeit hat. Ge¬ 
wehre, welche eine so weiche Bleikugel und mit solcher Pro¬ 
pulsionskraft abschiessen, wie das Chassepotgewehr, verwunden 
aus grosser Nähe in zermalmender Weise. Die Distanz, in 
welcher die reinen Wunden hervorgebracht werden, liegt weiter 


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Fracturen durch Schüsse des Chassepot-Gewehrs aus grosser Nähe. 3f) 

nach der Mitte der Flugbahn der Kugel. Die zerstörende Wir¬ 
kung der Schösse aus grosser Nähe lässt sich dadurch erklären, 
dass gerade die gewaltige Propulsionskraft, mit welcher die 
Kugel gegen einen festen Körper geschleudert wird, bei dem 
Aufschlagen eine so bedeutende Wärme erzeugt, dass die Kugel 
in mehrere Stucke sich theilt, welche in einem grossen Zer¬ 
streuungskegel auseinanderfahrend, die Zermalmung hervorbringen. 


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III. 

Ueber einige weitverbreitete Mängel der 
kriegschirurgischen Statistik. 


Von 

Dr. E. Richter*), 

In Breslau. 


Die kriegschirurgische Statistik ist trotz ihres noch jugend¬ 
lichen, 25 Jahre kaum übersteigenden Alters schon von Zahlen 
beherrscht, welche als allgemein gültig nicht angesehen werden 
können, die aber um so nachtheiliger wirken, als sie vermöge 
ihrer Grösse bei den Procentberechnungen der allgemeinen Heil¬ 
erfolge im Kriege von entscheidendstem Einflüsse sind. Ich meine 
die grossen Zahlen, welche der officielle französische Bericht von 
Chenu über den Krimkrieg liefert. Denn so günstig sich sonst 
bei Belagerungen für den Angreifer die Gesundbeits-, namentlich 
aber die chirurgische Pflege einrichten lässt, so vollkommen un¬ 
zureichend war sie in der französischen Armee vor Sebastopol; 
die allmächtige Intendantur fand sich nicht bemüssigt, die Mittel 
und Einrichtungen für eine bessere zu gewähren. Und so waren 
denn während dieses ganzen, blutigen Belagerungskrieges die 
armen Verwundeten den allerunglückseligsten Verhältnissen ans¬ 
gesetzt. Chenu selber berichtet darüber: Eine sehr grosse Zahl 
der Blessirten wie Amputirten habe man schon am Tage der Ver¬ 
letzung resp. der primär ausgeführten Amputation, allenfalls Tages 
darauf auf Cacolets oder Liti&res — einem bekanntlich nichts 
weniger als angenehmen Transportmittel — nach der Ambulance 
von Kamiesch transportiren müssen, wo sie wieder nur 1 oder 2; 

*) Vortrag, gehalten in der 2. Sitzung des II. Congresses der Deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie, am 17. April 1873. 


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Ueber einige weitverbreitete Mängel der kriegschirurgischen Statistik. 37 

höchstens 5—6 Tage verblieben, um dann weiter nach Constan- 
tinopel evacuirt zu werden. Dieser neue Transport über das Meer, 
in jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit ausgefuhrt, dauerte gewöhn¬ 
lich 4 Tage. Nur ganz ausnahmsweise dienten zu demselben 
Staatsschiffe, meist einfache Handelsschiffe, von welchen nicht 
eines zum Zweck solcher Transporte eingerichtet war, und in wel¬ 
chen sich daher die Verwundeten in der traurigsten Weise unter¬ 
gebracht sahen. Sehr oft fehlte jede ärztliche Kraft, nur die 
einfache Schiffskost konnte als Nahrung gereicht werden, kurzum 
es mangelte geradezu an Allem, was für die Pflege Blessirter 
nnd Kranker als Nothwendigstes verlangt werden muss. Die 
Mehrzahl auf Deck, die Amputirten im Zwischendeck, so lagen 
sie während der ganzen Fahrt wie Zinnsoldaten eingeschachtelt, 
Mann an Mann, Blessirte, Typhöse und Ruhrkranke, bunt durch¬ 
einander, iiicht einmal durch ein besonderes Lagergestell Nachbar 
vom Nachbar getrennt. Wo sie einmal hingepackt waren, da 
mussten sie unerbittlich während der ganzen Ueberfahrt lie¬ 
gen bleiben, mitten im eigenen und fremden Eiter, in den 
eigenen und des Nachbars diarrboischen Dejectionen, durch die 
stürmische See, durch Kälte, Wind und Wetter auf das schlimmste 
mitgenommen. Gypsverbände für Fracturen kannte man nicht, 
die eingelegten Apparate und Verbandmittel, nicht überwacht von 
Aerzten und Wärtern, geriethen bald in Unordnung, viele Bles¬ 
sirte erlagen den nur zu häufig eintretenden Blutungen, bei an¬ 
deren erzeugten die Witterungseinflüsse und weiteren Schädlich¬ 
keiten complicirende Bronchitiden, Pleuropneumonien und andere 
acute Krankheiten; Erysipel, Phlegmonen, Gangrän, Septhämie, 
Hospitalbrand fanden -den günstigsten Boden. Auch wurde nicht 
etwa eine Auswahl zur Evacuation getroffen: Perforationen des 
Schädels und der Brusthöhle, Oberschenkelfracturen und Knie¬ 
schüsse, Alles musste mit an Bord. War man endlich gelandet, 
hoffte nun der arme Soldat auf Besserung, so brachte der Trans¬ 
port zu den in öffentlichen Bädern und schlechten Kasernen er¬ 
richteten Hospitälern in und bei Constantinopel nur neue Schmer¬ 
zen, neue Schädlichkeiten. War man auf den Schiffen beengt 
gewesen, so war man es hier in kaum geringerem Grade; die 
neu Ankommenden vertrieben einfach die bis dahin Anwesenden 
aus ihren Lagern und wurden in die noch warmen Betten der so 


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Dr. E. Richter, 


eben Entlassenen oder jüngst Gestorbenen hineingelegt, ohne dass 
solche vorher neu hergerichtet worden wären. Dazu drohten dem 
Leben neue Feinde in Gestalt der Cholera nnd des endemischen 
Lazarethtyphus,. die in diesen Lazarethen nie ausgingen. Ja 
selbst die Schiffe, auf welchen die fast geheilten Blessirten endlich 
nach Frankreich geschafft werden sollten, waren von diesen Seu¬ 
chen inficirt, und Manchen, der, wenn auch als Invalide, nach so 
vielen überstandenen Strapazen und Gefahren in seine geliebte 
Heimath zurückzukehren hoffte, raffte noch auf dieser letzten 
Fahrt der todtbringende Typhus hinweg. 

Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, weshalb das Alles 
so und nicht besser war, wohl aber der, daran zu erinnern, dass 
die Engländer unter ganz denselben Verhältnissen, den gleichen 
Strapazen der Belagerung und Gefahren der Kämpfe, denselben 
Verwundungen durch die massenhaften groben, und die gerade 
damals auffallend grossen Gewehrgeschosse ausgesetzt, den glei¬ 
chen Einflüssen der Witterung unterworfen, sich weit besser als 
die Franzosen einzurichten verstanden und denn auch ganz andere 
Resultate, als sie erzielt haben. Allerdings kommt auch dieses 
Eine mit hinzu, dass die englischen Kriegschirnrgen nicht mehr 
so ausschliesslich der beraubenden Chirurgie huldigten, wie die 
französischen, welchen Resectionen fast unbekannte Operationen 
waren, wie auch dass sie, sobald sie sich zu Amputationen ge- 
nöthigt sahen, dabei sparsamer zu Werke gingen, als ihre Alliirten, 
welche zu der Blessirten Nachtheil — wie auch noch 1859, ja 
zum grossen Theil wohl noch 1870 und 1871 — die alten Ope¬ 
rationsweisen und namentlich das Operiren an den sogenannten 
Wablstellen den peripheren Amputationen gegenüber bevorzugten. 

So haben wir bei den Franzosen einen Complex von Schäd¬ 
lichkeiten, der die schlechten Heilresultate bei ihnen erklärt, aber, 
weil ein solcher in unserer Zeit und in unseren Ländern, wenig¬ 
stens für eine ganze Armee, w ie für die ganze Dauer eines Feld¬ 
zuges, nicht wieder in gleicher Weise eiugetreten ist, und kaum 
je wieder so eintreten wird, so sind wir nun auch berechtigt, die 
therapeutischen Resultate der Franzosen aus jenem Kriege als 
für uns und die allgemeine Kriegsstatistik brauchbar nicht gelten 
zu lassen, während wir dagegen die der Engländer in die allge¬ 
meine Kriegsstatistik mit aufzuuehmen berechtigt sind. Weit eher 


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üeber einige weitverbreitete Mangel der kriegschirurgisclien Statistik. ‘i9 


könnte man sich gedrungen fühlen, aus einer vergleichenden Sta¬ 
tistik der englischen und französischen Erfolge in festen Zahlen 
den Beweis dafür darzulegen, dass die oben genannten Schäd¬ 
lichkeiten das Leben der verschiedenen Kategorien von Verletzten 
in verschiedenem Grade bedrohen. 

Es werden wenige Angaben genügen, um zu zeigen, welche 
Aenderungen in den Zahlenwerthen der allgemeinen Kriegsstatistik 
eintreten, sobald die der Franzosen aus dem Krimkriege wegfal¬ 
len, Aenderungen, welche um so auffallender sind, als gerade 
diese Zahlen durch ihre Grösse bis jetzt das ganze Gebiet der 
kriegschirurgischen Statistik beherrscht haben. Hat dieselbe doch 
leider aus einem grossen Theil der seitdem geführten Kriege gar 
keinen, oder nur einen geringen brauchbaren Zuwachs erhalten. 

Mit den Zahlen der Franzosen erhalten wir als Resultat der 
Oberschenkel-Amputationen eine Mortalität von 74,6 pCt., ohne 
dieselben von 66,4 pCt. *), bei den primären Oberschenkel-Am¬ 
putationen beträgt die noch weit bedeutendere Differenz 22,4 pCt., 
da mit den Franzosen sich 78,6 pCt., ohne sie 56,2 pCt. Todes¬ 
fälle ergeben**). Hatten jene doch bei dieser Operation eine 
Mortalität von 92,3 pCt. (die Engländer von 62,1 pCt.). 

Bei den Unterschenkel-Amputationen giebt die Gesammt- 
snmme (4475 mit *2026 Todten) eine Mortalität von 45,2 pCt.; 
wenn man dagegen die Resultate der Franzosen, die 71,9 pCt. 
Mortalität erzielten (die Engländer 34,9 pCt.) abrechnet, 34,8 pCt., 
ein Unterschied also von 10,4 pCt. 

Dergleichen Fehler dürfen nicht weiter mitgeschleppt werden; 
denn die statistischen Zahlenwerthe, die ja um so mehr in’s Ge¬ 
wicht fallen, als wir durch sie unser chirurgisches Handeln lenken 
lassen, müssen von möglichst fundamentalem und allgemeingülti¬ 
gem Wertbe sein. Nur dann können wir mit Erfolg neue an sie 
anreihen, können früheren Resultaten die neu erlangten verglei¬ 
chend gegenüberstellen und aus den dabei erhaltenen Ergebnissen 
gültige Lehrsätze für unser Handeln erzielen. 

Ein zweiter Fehler unserer Kriegsstatistik ist der, dass 
häufig Zahlen vergleichshalber zusammengeordnet werden, denen 


*) 1870—71 betrug dieselbe nach den vorliegenden Berichten 63,0 pCt- 

**) 1870—71 44,7 pCt. 


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Dr. E. Richter, 


der richtige Vergleichungspunct fehlt. So stellt man den Aas¬ 
gang der Verletzungen eines Extremitätenabschnittes, z. B. des 
Oberschenkels, dem Ausgange der Amputationen in demselben, 
stellt den Erfolg einer Gelenkresection, Beispiels halber der Kuie- 
resection, dem der Amputation des central von dem Gelenk ge¬ 
legenen Extremitätenabschnittes, in diesem Falle wieder des 
Oberschenkels, gegenüber. 

Zunächst letzteren Fall, also die Knieresection und speciell 
die primäre Knieresection betreffend, so kann eine solche doch 
höchstens mit den Amputationen im unteren Drittel des Ober¬ 
schenkels und wieder speciell mit den wegen Knieschussverletzung 
primär gemachten Amputationen im unteren Drittel verglichen 
werden. Denn wir köunen hier doch nur solche Knieschussver¬ 
letzungen vergleichend einander gegenüberstellen, bei welchen es 
überhaupt in Frage kommen kann, ob wir bei ihnen Amputation 
oder Resection als Heilmittel anwenden sollen. Solche Ver¬ 
letzungen aber, die eventualiter auch noch die primäre Resection 
zulassen, werden nie eine primäre Amputation höher als im un¬ 
teren Drittel, nicht selten nur die trans- oder supracondyläre 
erfordern, namentlich neuerdings, wo wir uns nicht mehr scheuen, 
die stumpfbedeckenden Weichtheile peripher vom Schusscanal zu 
entnehmen. So sind denn allein die Heilresultate der Oberschen¬ 
kel-Amputation im unteren Drittel denjenigen der Resection im 
Knie vergleichend gegenüberzustellen. Und da erhalten wir denn 
allerdings ganz andere Zahlenverhältnisse, welche gewöhnlich als 
geltend aufgeführt werden, wie nicht zu verwundern. Denn die 
Oberschenkel-Amputation ist ja um so gefährlicher, je näher bei 
ihr die Durchtrennungsstelle von Knochen und Weichtheilen an 
den Rumpf herangerückt ist. Leider fehlen uns zur Zeit noch 
bedeutende Zahlenangaben über den Erfolg der primären Kriegs- 
Oberschenkel-Amputationen nach der Operationsstelle geordnet; 
aber soviel ich habe zusammenstellen können, betrug die Morta¬ 
lität für diese Operation 

im oberen Drittel 90,4 pCt., 
im mittleren „ 56,4 „ 

im unteren „ 55,7 9 

Noch weit günstiger aber gestaltet sich das Verhältniss, 
wenn man die wegen Knieschussverletzung primär Amputirten 

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Ueber einige weitverbreitete Mängel der kriegschirurgischen Statistik. 41 


allein rechnet, bei welchen in der Regel der dnrch die Verletzung 
selbst gesetzte Shock und Blutverlust nur gering ist, sich auch 
meist die entzündliche Reaction nur langsam entwickelt, so dass, 
mit wenigen Ausnahmen, eine auch noch am 2. Tage gemachte 
Operation den Werth einer primären beanspruchen kann. Leider 
sind auch hier die Zahlen, mit welchen zu rechnen ist, nur klein, 
weil — ebenfalls ein Mangel unserer Statistik — nur selten 
die die Amputation veranlassenden Verletzungen in den Berichten 
angegeben sind. Es beträgt aber nach meinen Zusammenstellun¬ 
gen die Mortalität der wegen Knieschussverletzungen gemachten 
primären Oberschenkelamputationen 39,8 pCt., und rechnen wir 
die durch besondere Verhältnisse bedingten ungünstigen Erfolge 
im Versailler Schloss ab, sogar nur 28,0 pCt. Meiner Ueber- 
zengung nach ist auch das wirklich erreichte Resultat ein besse¬ 
res, als 39,8 pCt; wenigstens haben uns 1866, wie im letzten 
Kriege, die wirklich primär gemachten Oberschenkelamputationen, 
wie von verschiedenen Seiten zugestanden wird, günstigere Re¬ 
sultate ergeben. Doch können wir die wirklichen Zahlen nur 
aus den officiellen Zusammenstellungen der von den Detache¬ 
ments und Feldlazarethen gelieferten Berichte schöpfen, und da 
solche weder über die Kriege von 1864 und 1866, noch einst¬ 
weilen über den der Jahre 1870 und 1871 vorliegen, so lässt sich 
diese Wahrscheinlichkeit noch nicht numerisch belegen. Neh¬ 
men wir aber auch die Mortalität von 39,8 pCt. als richtig an, 
so ist dies die Zahl, mit welcher die Sterblichkeitsziffer der pri¬ 
mären Kniegelenksresection verglichen sein will. Von diesen, 
wegen Schussverletzungen im Kriege ausgeführt, habe ich bis jetzt 
in der Literatur 104 auffinden können, von welchen 77 gestorben, 
3 im Resultat unbekannt geblieben sind, macht eine Mortalität 
von 74—77 pCt, wahrscheinlichst von 76 pCt. Aus dem letzten 
Kriege sind veröffentlicht 53 Fälle, von welchen 41 mit dem 
Tode endeten: eine Sterblichkeit von 77,5 pCt. (dabei rechne 
ich von Nussbaum’s Operirten 7 als genesen). Von diesen 
habe ich als primär resecirt zusammenstellen können 42 mit 30 
Todesfällen = 71,4 pCt. 

Solche Zahlen also würden einstweilen einander gegenüber- 
zastellen sein und der Satz demnach lauten: bei der primär ope¬ 
rativen Behandlung der Kuiegelenksschussvorletzungen im Kriege 


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Dr. E. Richter, 


hat bis jetzt die Amputation 39,8 pCt, die Resection 71,4 pCt. 
Todesfälle ergeben. — Wohin bis jetzt die Wage neigt, darüber 
kann man sich nicht täuschen. 

Ein zweiter ähnlicher Fehler der Statistik besteht, wie er¬ 
wähnt, darin, dass man die Verletzungen eines Extremitäten¬ 
abschnittes mit der Amputation desselben vergleichend zusammen¬ 
ordnet, dass man beispielsweise wieder die Oberschenkelamputa¬ 
tionen den Schussverletzungen des Oberschenkels und iu der 
Regel speciell den Fracturen desselben zur gegenseitigen Abwä¬ 
gung ihrer Gefährlichkeit gegenüberstellt. Als ob nicht auch 
andere, als die Verletzungen des Oberschenkels Ursache der 
Amput. femoris werden könnten, wie neben den schon besproche¬ 
nen Knieverletzungen, Abreissungen oder Zerschmetterungen des 
Unterschenkels, hoch hinaufgehende Phlegmonen, oder Gangrän 
desselben, hartnäckige Nachblutungen und ähnliche, die Existenz 
der Extremität und des Lebens bedrohende Leiden. 

Es ist überhaupt unlogisch, die Folgen einer chirurgischen 
Heiloperation mit den Folgen einer durch ein Geschoss gesetzten 
Verwundung zu vergleichen. Man kann die Wirkung des einen 
heilenden Momentes mit der des anderen heilenden, wie die des 
einen zerstörenden mit der des anderen zerstörenden vergleichen, 
kann fragen, wie viele Oberschenkelschussfracturen sind bei ex- 
pectativer, wie viele bei operativer Behandlungsweise gerettet 
worden; aber die Resultate aller Oberschenkelamputationen den 
Resultaten der expectativen Therapie der Oberschenkelschuss¬ 
fracturen zur Vergleichung gegenüberzustellen ist ungerechtfertigt. 
Und doch finden wir die Gegenüberstellung wohl in den meisten 
Büchern, welche von den Resultaten der Kriegschirurgie handeln. 

Aus dem eben Gesagten geht deutlich hervor — was 
eigentlich selbstverständlich ist — dass man der Statistik 
und namentlich der vergleichenden kriegschirurgiscben Stati¬ 
stik nur die Verletzungen selbst als hauptsächlichste Verglei¬ 
chungsmoraente zu Grunde legen darf. Sie sind und bleiben 
das Constante, wie auch die Zeiten und mit ihnen die verletzen¬ 
den Instrumente sich ändern mögen, welche Fort- oder Rück¬ 
schritte auch die Therapie mit Allem,- was dazu gehört, zu ver¬ 
zeichnen haben mag. Die letzte Frage lautet doch immer: Wie 
Viele sind nach dieser oder jener Verletzung gestorben, wie Viele 


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Ueber einige weitverbreitete Mängel der kriegschirurgiscben Statistik. 43 

sind erhalten? Erst in zweiter Linie fragen wir: erhalten wir 
jetzt mehr, oder sind früher mehr ßlessirte am Leben geblieben? 
and weshalb? Ist die Behandlangsweise daran Schuld, oder müssen 
wir andere Umstände zur Erklärung herbeiziehen? Und so fort. 
Nur auf diesem Wege können wir zu einem richtigen Urtheil 
kommen. Wenn wir aber anders Vorgehen, wie sollen wir z. ß. 
im Hinblick auf Ellenbogenschüsse aus den Resultaten einer Zu* 
sammenstellung der in der französischen Armee 1859 und der 
deutschen 1870 - 71 bei der Oberarmamputation erreichten Er¬ 
folge schliessen? Haben doch damals die Franzosen auch nicht 
Eine Ellenbpgengelenkresection gemacht, vielmehr die grösste Zahl 
der Ellenbogengelenkschüsse mittelst der Amputation behandelt, 
während wir letztere hierbei nur als Ausnahme kennen und nur 
bei ganz besonders schweren Verletzungen anwenden. Da kann 
es wohl kommen, dass uns die Amputation neuerdings schlech¬ 
tere Resultate giebt, als sie früher unter anderen Indicatiooen 
gegeben; und doch ist summarisch unsere Therapie der Ellen¬ 
bogenschussverletzungen jetzt eine bessere, w r eil wir bei der An¬ 
wendung der Resectiou und der einfachen Expeclative so gute 
Erfolge für die Erhaltung des Lebens erzielen. 

Werden wir weiter z. B. von einer in der alten Weise ge¬ 
übten Statistik eine Antwort auf die Frage bekommen, ob es 
besser ist, bei Nachblutungen aus grossen Gefässen früh mit der 
Amputation vorzugehen, oder es zunächst noch mit der Ligatur 
zu versuchen? Sicher nicht. Und doch sind solches die wich¬ 
tigsten Fragen der Kriegschirurgen, die durch die Statistik be¬ 
antwortet sein wollen. 

Wieder auf falschen Prämissen beruhen die vergleichenden 
Statistiken über die Erfolge der Expectative, der primären und 
secundären Operationen bei gleichen Verletzungen. Wir dürfen 
hier nur zweierlei Behandlungsweisen mit einander vergleichen, 
die expetative und die primär operative. Dabei kommt es zunächst 
nicht darauf an, ob wir jene erste absichtlich eingeschlagen haben, 
bei richtiger Diagnose, oder unbeabsichtigt, bald wegen mangel¬ 
hafter Diagnose, bald weil die Verletzten zu spät, erst zu einer 
Zeit in die Behandlung eingetreten sind, als die Gefahren eines 
operativen Eingriffes uns zu gross schienen, um einen solchen 
sofort zu unternehmen, endlich weil die Blessirten die Operation 


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Dr. E. Richter, 


nicht gestatteten. Eine gewisse Anzahl dieser expectativ Be¬ 
handelten wird nun ohne einen grösseren operativen Eingriff heilen, 
ein anderer dagegen wird sterben, ohne dass wir einen solchen 
Eingriff noch zu unternehmen gewagt haben; wir werden also 
sagen können, von den 100 etwa am Knie durch Schuss Ver¬ 
letzten ist es uus gelungen, bei 30*) diese Behandlung bis zu 
Ende durchzuführen, denselben Leben und Extremität zu erhalten; 
20 andere sind leider gestorben, ohne dass man den Versuch ge¬ 
wagt hätte, durch operative Entfernung der kranken Extremität 
das Leben zu erhalten. Dagegen hat man dies bei dem Rest 
der 40 Blessirten, die während einer gewissen Zeit expectativ 
behandelt worden waren, versucht, weil mau hierdurch dem un¬ 
günstig sich gestaltenden Verlauf eben dieser Behandlung eine 
für das Leben des Patienten günstigere Wendung geben zu kön¬ 
nen meinte; 20 wurden amputirt, 20 resecirt, von jenen starben 
10, von diesen 15, im Ganzen 25; es blieben von den 40 also 
15 am Leben. Das Totalresultat aber steht definitiv so: von 
100 durch Knieschuss Verletzten, bei welchen mit Expectative 
begonnen wurde, konnte solche bei 30 bis zu Ende durchgeführt 
werden; ausser diesen wurde weiteren 15 das Lebeu gerettet, 
5 mit Hülfe der Resection, 10 unter Verlust des Beines; 55 von 
den 100 sind gestorben. 

Bei 100 anderen Knieschussverletzten ging man sofort ope¬ 
rativ vor, 75 amputirte, 25 resecirte man; von jenen starben 30, 
von diesen 15; also wurden im Ganzen 55 gerettet, 45 unter 
Verlust des Beines, 10 mit Resection. 

Ich glaube, die einfache Betrachtung dieser einander gegen¬ 
übergestellten Zahlen, die sich alle, wie doch nothwendig, auf die 
Erfolge unserer Heilbestrebungen bei ein und demselben, stets 
gleichartig verletzten Körpertheil beziehen, zeigt, dass eine Ver¬ 
gleichung des Heilwerthes der primären und der secundären Am¬ 
putation als leben8retteuder Operation hierbei nur von sehr zwei¬ 
felhaftem Wertlie ist. Zunächst wird sie in beiden Fällen von 
sehr verschiedenen Indicationen bedingt: das eine Mal wissen wir 
das Leben des Blessirten, falls wir nicht operativ eingreifen, 

*) Die Zahlen sind nur Beispiels halber, ohne jeden reellen Werth für die 
Statistik der Knieschüsse gegeben. 


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Ueber einige weitverbreitete Mängel der kriegscbirurgischen Statistik. 45 


durch die Gefahren einer Gelenkentzündung bedroht und entfer¬ 
nen die Extremität von dem gesunden Körper, um diesen Ge¬ 
fahren vorzubeugen; im anderen Falle ist die gefahrdrohende Ent¬ 
zündung, Jauchung und Eiterung zur Entwicklung gekommen, 
bei einigen Verwundeten hat sie bereits den Tod herbeigeführt, 
die weniger schwer Ergriffenen sollen von dem nun dauernd flies¬ 
senden Quell ihrer Leiden befreit werden, deshalb operiren wir 
jetzt auch sie, die bereits schwer Erkrankten und Geschwächten, 
die in ihrer Zahl Verringerten. — An die Zahl dieser bereits 
vor der Operation Gestorbenen sind diejenigen Autoren zu er¬ 
innern, welche vorschlagen, überall die secundäre Operations¬ 
periode abzuwarten, weil diese bessere Resultate als die primäre 
gewähre. Denn lässt man sie aus der Berechnung hinaus, so 
kann man nicht sagen — worauf es doch allein ankommt —: 
Mit Hülfe der primären Amputation wurde soviel, durch die se¬ 
cundäre-soviel Blessirten mit Kniegelerikschussverletzung das Le¬ 
ben erhalten; denn bei jenen bedeutet die Zahl den Totalerfolg 
für eine bestimmte Behandlung Knieverletzter, hier aber ist das 
Contingent der Verletzten schon decimirt worden, ehe dieselben 
zur Operation kamen; man muss den vorläufigen Verlust also 
dem nach der Operation eingetretenen hinzuzählen, wenn man 
vollwerthige statistische Angaben bieten will. — Auf die Gegen¬ 
überstellung der primären und secundären Resectionen sind na¬ 
türlich dieselben Bemerkungen anzuwenden. 

Lässt man der Verletzung eiues jeden Körpertheils eine sta¬ 
tistische Behandlung nach angegebener Weise angedeihen, dann 
kann man für deren Therapie massgebende Antworten erhalten, 
kann aber natürlich die Fragestellung auch ihrem Umfange nach 
erweitern, neben den vitalen die functionellen Resultate der ein¬ 
zelnen Behandlungsweisen miteinander vergleichen, die Schwere 
der Verletzung, ihre Complicationen, den Einfluss des Transpor¬ 
tes etc. in Betracht ziehen, die Grenzen für die expectative und 
primäre operative Therapie genauer feststellen, die verschiedene 
Schwere der Läsion nach der Verschiedenheit in Grösse, Gestalt 
und Geschwindigkeit der Geschosse berechnen u. s. w., und so 
dem Gebiete der Statistik allmälig weitere Grenzen anweisen. 

Wieder ein bedeutender Mangel unserer landläufigen Stati¬ 
stik ist der, dass die Bezeichnungen „Primär-, Intermediär-, Se- 

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Dr. E. Richter, 


cundär-, Spätoperation“ so häufig ohne einen bestimmt umschrie¬ 
benen Inhalt angewandt werden. Im Allgemeinen wird ja gesagt, 
die primäre Periode dauert 2 Tage lang, die zwischen dem 3. 
und 7. Tage vorgenommenen Operationen sind intermediäre, alle 
spätere secundäre. Doch die Gebiete dieser einfachen Tages- 
eintheilungen differiren gewaltig bei den einzelnen Autoren; der 
eine Schriftsteller beschränkt das intermediäre Stadium auf den 
2. bis 5. Tag, ein anderer lässt es erst mit dem 5. Tage be¬ 
ginnen und sich bis in die dritte Woche hinein fortsetzen. Otis 
nimmt bei den Hüftgelenkschussverletzungen für das intermediäre 
Stadium einen Zeitraum von 1—3 Monaten in Anspruch. So 
schematisch einfach nach Stunden- und Tageseintheilung können 
wir demnach nicht Vorgehen, wir müssen uns nach den örtlichen 
und allgemeinen Zuständen der Verletzten richten, und, wie schon 
v. Langenbeck in Orleans vorgeschlagen, primär alle solche 
Operationen nennen, welche an noch nicht infiltrirten Theilen ge¬ 
macht werden, intermediär solche, wo Infiltrations- und Reactions- 
erscheinungen bestehen, aecundär diejenigen, welche wir nach 
völligem Eintritt der Eiterung und in der Regel nach Schwund 
von Fieber und sonstigen Reactionserscheinungen vornehmen, end¬ 
lich Spätoperationen solche, welche nach Jahr und Tag an¬ 
dauernder Eiterung und hectischen Fiebers halber unternommen 
werden, weil auf andere Weise die Erhaltung des Lebens nicht 
möglich erscheint. 

Primär in diesem Sinne ist ja nicht einmal jede Operation, 
die in den ersten 24 Stunden gemacht wird. Wenn z. B. das 
Geschoss einen Oberschenkel weitgehend zersplittert, die Splitter 
in die Weichtheile geschleudert und grössere Blutinfiltrationen 
derselben bewirkt hat, und in solchem Zustande ein Blessirter 
in wenig stützendem Verbände auf schlechtem Wagen und Wege 
Meilen weit bis zur Stätte der Operation hat transportirt werden 
müssen, so sind die Theile bei der hier sofort vorgenommenen 
Operation bereits so verändert, dass man diese unmöglich eine 
primäre nennen kann. — In anderen Fällen dagegen kann es 
wohl bis in die zweite Woche dauern, ehe diejenigen Erscheinun¬ 
gen auftreten, welche der intermediären Periode ihren besonderen 
Charakter aufprägen, wie ja namentlich von den Gelenkverletzun¬ 
gen bekannt ist. 

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lieber einige weitverbreitete Mängel der kriegschirurgischen Statistik. 47 


Um hier genügende Zusammenstellungen machen zu können, 
ist allerdings zu fordern, dass die Referenten nicht nur den Tag 
der Verwundung und den der Operation in ihren Referaten an¬ 
geben, sondern geradezu dem Bericht über eine jede Operation 
die Notiz hinzufügen, ob dieselbe als primäre, intermediäre oder 
secundäre gemacht worden sei. Kaum sollte es nöthig sein, her¬ 
vorzuheben, dass natürlich für jede dieser Rubriken die Mortalität 
isolirt angegeben werden muss; und doch geschieht dies bis in 
die neueste Zeit hinein häufig nicht; man giebt zwar die Zahl der 
primär Operirten und der secundär Operirten jede für sich an, 
fuhrt ihre Mortalitätszifier aber nur summarisch auf. 

Endlich möchte ich noch hinzufügen, dass für die Kriegs¬ 
chirurgie vollen Werth nur solche Statistiken haben können, 
welche die Gesammtzahl der Gefallenen, Blessirten und Kranken 
umfasst und dass solche aus dem einen oder anderen Lazareth 
nur Zahlen von sehr bedingter Richtigkeit gewähren. Es genügt, 
aus dem letzten Kriege auf die gewaltigen Unterschiede zwischen 
dem Kirchner’schen oder MacCormac’schen Bericht einer¬ 
seits und den von Schinzinger, Schüller, Heyfelder ge¬ 
lieferten andererseits hinzuweisen, um darzutbun, dass jeder für 
sich kein Bild von den relativen Zahlen des Totalverlustes giebt. 
Um so mehr ist es zu bedauern, dass der Bericht über den 
Schleswig - Holstein’schen Krieg noch immer nicht vollendet ist, 
dessen erschienene Abtheilung allein unter allen Kriegsberichten 
auch die sofort tödtlichen Verletzungen mit in’s Auge fasst, auf 
gesunder statistischer Basis beruht und auch die definitiven Er¬ 
folge der einzelnen therapeutischen Massnahmen auf Jahre hinaus 
verfolgt. Alle übrigen Schriftsteller jenes Krieges haben sich auf 
seine Vollendung verlassen. Um so mehr ist es wünschenswerth, 
dass der Verfasser diese in’s Werk setze, damit wir wenigstens 
eine fundamentale kriegschirurgische Statistik besitzen, an welche 
sich die weiteren Erfahrungen, namentlich aus dem letzten grossen 
Kriege, anznschliessen vermögen. 


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IV. 


Exstirpation einer Niere bei Steinkrankheit. 

Von 

Prof. Dr. G. Simon, 

io Heidelberg*). 


Meine Herren! Wenn ich es wage, in dieser Versammlung 
eine Krankengeschichte vorzutragen, so diene zu meiner Ent¬ 
schuldigung, dass es sich nm einen Fall handelt, in dem die 
Exstirpation einer Niere bei Steinkrankheit zum ersten Mal in 
Ausführung kam; so dass, abgesehen von dem Interesse des Falles 
an sich, die Krankengeschichte eine grössere Tragweite für die 
Beurtheilung der Zulässigkeit und die Indicationen der Nephrotomie 
in der Steinkrankheit haben dürfte. Vor 31 Jahren habe ich zur 
Heilung einer Harnleiter-Bauchfistel die Exstirpation einer normalen 
Niere ausgeführt**), nach welcher die Patientin genas, und sich 
jetzt noch des besten Wohlseins erfreut. Dieses glückliche Re¬ 
sultat ermuthigte mich 2 Jahre darauf, auch eine steinkranke 
Niere auszuschneiden, obgleich die Nephrotomie bei Steinkrank¬ 
heit bis in die neueste Zeit von den gewichtigsten Autoritäten 
verworfen wurde. Ray er sprach sich deshalb sehr entschieden 
gegen diese Operation aus, weil er sie wegen stets vorhan¬ 
dener fester Verwachsungen des erkrankten Organes mit der 
Umgebung für unausführbar hielt, und die neuesten Schrift¬ 
steller verwarfen sie, weil ihnen eine sichere Diagnose der Nie- 


*) Vortrag, gehalten in der 3. Sitzung des II. Congresses der Deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie, am 18. April 1873. 

**) S. Simon, Chirurgie der Nieren, I. Theil. Erlangen 1871. 


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Exstirpation einer Niere bei Steinkrankheit. 


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rensteinkrankheit*) — besonders aber der einseitigen — unmög¬ 
lich erscheint. Letztere stützen ihre Ansicht auf die Erfahrungen 
von Durham**) und Gunn***), welche im Jahre 1870 durch In- 
cisionen in das Nierenbecken Steine aus der Niere ausräumen 
wollten, die Operation aber aufgaben, als sie durch unmittelbare 
Betastung des blossgelegten Organes keine Steine fanden. Durch 
den folgenden Krankheitsfall hoffe ich Ihnen jedoch den Beweis 
von der Unrichtigkeit dieser Voraussetzungen zu liefern, und der 
Exstirpation der Niere künftigbin auch in der Steinkrankheit eine 
vollständig berechtigte Stellung zu sichern. 

Die Patientin, eine 30 Jahre alte verheiratete Dame aus Sa van nah, im 
amerikanischen Unionsstaate Georgien, litt seit ihrem 18. Jahre (angeblich in 
Folge zurückgetretener Uasem) an dumpfen Schmerzen in der linken Nieren- 
gegend, welche nach der Blase ausstrahlten und sich bei stärkeren Bewegungen, 
z. B. beim Reiten, vermehrten. Dabei hatte der Urin einen eitrigen Bodensatz 
Q ad ging sehr schnell in Zersetzung über. Fieber mit Frösteln und folgender 
Hitze trat öfters, aber immer nur für kurze Zeit auf und die Gesundheit der 
Patientin litt nicht ernstlich darunter. Im 6. Jahre nach Beginn des Leidens 
vermehrten sich die Nierenschmerzen und nahmen den Charakter von Nierenkoliken 
an, die jedoch nur alle 5—6 Wochen erschienen und nicht über G—8 Stunden 
anhielteo. In der Zwischenzeit befand sich Patientin vollkommen wohl. Des* 
halb hielt sie das Leideu immer noch nicht für bedenklich und ging 1( Jahre 
vor ihrer Reise nach Heidelberg die Ehe mit einem deutschen Kaufmanne ein. 
Aber nach der Verheiratbung steigerte sich das Leiden zu furchtbarer Höhe. 
Die Anfalle wurden weit häufiger und heftiger und erreichten eine Dauer von 
36—48 Stunden. Zweimal war die Patientin schwanger geworden, aber 
jedes Hai abortirte sie während eines Kolikanfalles; das erste Mal nach 
viermonatlichem, das zweite Mal nach vierwöchentlichem Bestehen der Schwan¬ 
gerschaft. Im eitrigen Urine erschienen jetzt auch kleine Steinchen, von der 
Grösse eines Stecknadelknopfes bis zu der einer Erbse, und kleine feste Blut- 
coagula; die zahlreichen medicamentösen Mittel, welche Jahre hindurch ange¬ 
wendet wurden, batten nicht den geringsten Erfolg. Die Patientin fühlte sich 
im höchsten Grade unglücklich. Denn sie lebte nicht allein in beständiger 
Angst vor dem Eintritt der furchtbaren Nierenkoliken, sondern sie wurde auch von 
dem drückenden Gedanken gepeinigt, mit siechem Körper geheirathet zu haben. 
Als sie daher zufällig erfuhr, dass ich eine Niere mit Glück ausgeschnitten 
habe, reiste sie im Juni 1871 nach Heidelberg, um sich zur Heilung des 
Leidens jeder Operation, eventuell sogar der Exstirpation der Niere zu unter¬ 
ziehen. 


*) S. Marduel, Etüde sur la Nephrotomie. Gazette medicale de Lyon 
Nr. 5. 


**) S. Marduel a. a. 0. 

***) Chicago medical Journal, Sept 1870; New York medical Journal, Dec. 1870. 

▼. Lun | cabeck, Archiv f. Chirurgie. XVI A 


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l)r. G. Simon, 


Wir fanden in der Patientin eine Dame von mittlerer Grösse und schlan¬ 
kem Wüchse. Das Gesicht war bleich, der Körper mager, Appetit gering, aber 
Verdauung und Menses regelmässig- Patientin klagte über schnelle Ermüdung 
bei der-geringsten Anstrengung, über häutige Kopfschmerzen und Gedächtniss- 
8chwäche. Auf der See hatte sie zwei heftige Kolikanfälle überstanden. — Bei 
der Untersuchung des Unterleibes konnte man trotz der Schlankheit der Taille 
weder von vorn durch die Baucbdecken, noch in der Lumbalgegend die geringste 
Auftreibung sehen oder fühlen, auch durch Percussion keine Vergrüsserung der Niere 
nachweisen. Bei Druck waren die linke Nieren- und Harnleitergegend schmerz¬ 
haft. Der trübe Urin hatte einen dicken gelben Bodensatz, reagirte sauer oder 
neutral, ging aber sehr schnell in ammoniakalische Zersetzung über. Der Boden¬ 
satz bestand hauptsächlich aus Eiter, einzelnen Blutkörperchen und Epithelzellen. 
Nach den Kolikanfällen wurden in ihm kleine feste Blutcoagula mit eingeschlos¬ 
senen Epithelzellen und Grieskömchen, und kleine, bis zu Kirschkerngrosse 
Steinchen gefunden. Der Gries und die Steinchen bestanden aus phosphorsau¬ 
rem Kalke. — Während der ersten 14 Tagen des Aufenthaltes der Patientin in 
Heidelberg beobachteten wir keine Kolikanfälle. Darnach aber traten sie 3 Mal 
in Zwischenräumen von 6—7 Tagen ein. Der erste derselben dauerte 3C, der 
zweite 24, der dritte 26 Stunden mit früher nie von mir beobachteter Heftigkeit. 
Oefters wiederholte Chloroformnarkosen, Morphium innerlich und subcutan und 
Chloralbydrat in Dosen von 4 Grammes vermochten nur auf wenige Stunden 
den Schmerz zu lindern und hatten noch den bedeutenden Nachtheil, dass sie 
heftige Kopfschmerzen erzeugten und das Erbrechen vermehrten. Nach den 
Anfällen war die Patientin längere Zeit sehr eischöpft und zu allen Beschäfti¬ 
gungen untauglich. 

Bei der Dauer des Leidens, der Hoffnungslosigkeit medica- 
mentöser Behandlung und den immer steigenden Qualen der Pa¬ 
tientin, glaubten wir den dringenden Bitten derselben nachgeben 
und auf operativem Wege die Heilung erstreben zu müssen. 
Selbst vor einem lebensgefährlichen Eingriffe brauchten wir nicht 
zurückzuschrecken, da das Leiden der Patientin das Leben zur 
Qual machte und die Kräfte derselben bereits aufzureiben drohte. 
Zur Entfernung der Steine aber konnten nur zwei Operationen 
in Frage kommen, die Incision in die Niere mit folgender 
Extraction der Steine, oder die Exstirpation der Niere. 
Die Incision konnte ihre Anwendung finden, wenn die Niere durch 
Eiter zu einem dünnwandigen, die Steine enthaltenden Sacke 
ausgedehnt war. Sie musste dagegen verworfen werden, wenn 
das Nierenbecken nur wenig ausgedehnt, die Substanz der Niere 
noch grösstentheils erhalten war; denn in diesem Falle musste 
sie voraussichtlich eine lebensgefährliche Blutung zur Folge ha¬ 
ben. — Die Verhältnisse schienen nun in unserem Falle der 


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Exstirpation einer Niere bei Steinkrankheit. 


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Incision nicht günstig; denn wir hatten, trotz der schlanken Taille 
der Patientin, weder durch Palpation noch durch Percussion eine 
Ausdehnung der Niere gefunden, wie sie die Pyonephrose mit 
sich bringt. Wenn wir daher auch die definitive Entscheidung 
der auszuführenden Operation bis zur Blosslegung der Niere ver¬ 
schieben konnten, so war doch hier mit höchster Wahrscheinlich¬ 
keit nur die Exstirpation angezeigt. Wir mussten daher vorzugs¬ 
weise diese Operation in’s Auge fassen und mussten untersuchen, 
ob ein glücklicher Erfolg derselben nicht durch Erkrankung bei¬ 
der Nieren oder durch sehr feste und ausgedehnte Verwachsungen 
der kranken, oder durch spätere Erkrankung der zurückgelassenen 
Niere vernichtet oder beeinträchtigt werden konnte. Eine Er¬ 
krankung beider Nieren war mit Gewissheit auszuschliessen. 
Für die Einseitigkeit des Leidens sprach schon der Umstand, dass 
die Eolikschmerzen von Anfang der Krankheit immer nur auf der 
linken Seite auftraten, und dass auf Druck auch nur die linke 
Niere schmerzhaft war. Jedoch durften wir auf diese Symptome 
allem die lebensgefährliche Operation nicht wagen; die rechte 
Niere konnte ja erkrankt sein, ohne dass es zu Schmerzen und 
Nierenkoliken auf dieser Seite kam. Aber unsere Bedenken wur¬ 
den gehoben durch die Untersuchung des Urins in den Kolik¬ 
anfällen, welche nachwies, dass der vorher abnorme Urin 
während der Anfälle vollkommen normal*) wurde. In allen 
Anfällen erhielten wir so viele Urinproben, dass wir uns aufs 
Bestimmteste von diesem Verhalten überzeugen konnten. Dieses 
Symptom, das normale Verhalten des Urines während 
der Kolikanfälle musste die Gewissheit geben, dass die rechte, 
zurückzulassende Niere gesund war. Denn es konnte nicht anders 
erklärt werden, als dass in dem Kolikanfall der Harnleiter der 
kranken Niere so verstopft wurde, dass nur der Urin der anderen 
Niere in die Blase gelangte. Da dieser nun vollständig normal 
war, so musste auch die entsprechende Niere gesund sein. Mit 
dem Aufhören der Nierenkoliken nahm der Urin seine frühere 
abnorme Beschaffenheit wieder an, weil darnach der Urin der 
kranken Niere wieder in die Blase floss. Auch ausge¬ 
dehnte und feste Verwachsungen glaubte ich nicht be- 

•) Der Urin wurde durch Hrn. Gcheimrath Kühne, Prof, der Physiologie, 
untersucht. 

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Dr. G. Simon, 


fürchten zu müssen. Denn nach meinen Beobachtungen begegnet 
man diesen nur dann, wenn die Niere zu einem grossen Eiter¬ 
sacke ausgedehnt ist, oder wenn der Eiter, nach Durchbruch der 
Niere und Bildung eines perinephritischen Abscesses, sich senkt, 
oder resorbirt wird, wonach es dann zu schwieliger Verdickung 
und sehr festen und ausgedehnten Verwachsungen der Abscess- 
wandungen, d. h. der Niere und ihrer Umgebung kommt. Aber 
bei unserer Patientin waren solche Vorgänge nicht beobach¬ 
tet. Es hatte sich niemals um eine schmerzhafte, von hefti¬ 
geren Fiebererscheinungen begleitete Geschwulst in der Nieren¬ 
gegend gehandelt; stets waren nur die characteristischen Kolik¬ 
anfälle aufgetreten, welche zwar mit Fieber verliefen, das aber 
augenblicklich sein Ende erreichte, wenn die den Harnleiter ver¬ 
stopfenden Körper in die Blase gelangt waren. Endlich mussten 
wir uns noch die Frage vorlegen, ob die Patientin nach über¬ 
standener Exstirpation der calculösen Niere auch nachhaltig 
geheilt sein, oder ob sich derselbe Process nicht sehr bald 
in der anderen Niere entwickeln würde. Denn nach An¬ 
nahme vieler Aerzte erzeugen sich die Steine nur aus eonstitu- 
tioneller Ursache, nämlich aus einer Ueberladung des Blutes mit 
Harnsäure. Aber abgesehen davon, dass diese Ansicht nicht 
stichhaltig ist, hatten wir im vorliegenden Falle nichts zu be¬ 
fürchten. Denn hier handelte es sich nicht um harnsaure oder 
oxalsaure Steine, sondern um phosphorsaure Kalksteine, für deren 
Erzeugung auch von den energischsten Anhängern der Steindia- 
these keine constitutioneile, sondern eine örtliche Ursache, näm¬ 
lich Katarrh der Schleimhaut des Nierenbeckens, mit folgender 
ammoniakalischer Zersetzung des Urins angenommen wird. — 
Somit durfte ich annehmen, dass keine Contraindication der Ex¬ 
stirpation entgegenstand, im Falle ich mich nach Blosslegung der 
Niere zu derselben entschliessen wollte. 

Nach diesen Erwägungen und Untersuchungen beschloss ich 
folgenden Modus procedendi: Durch den Lumbalschnitt sollte die 
Niere blossgelegt werden; im Falle ich die Niere oder das Nieren¬ 
becken ausgedehnt und Steine in demselben finden würde, wollte 
ich einschneiden, die Steine entleeren und durch Offenhalten der 
Wunde eine Nierenfistel herstellen. Fand ich das Nierenbecken 
nicht oder nur sehr wenig ausgedehnt, so wollte ich die Exstir¬ 
pation, und zwar ganz nach meiner früheren Methode ausführen. . 

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Exstirpation einer Niere bei Steinkrankheit. 


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Im Falle aber, gegen unsere Erwartungen, allzu feste und ausge¬ 
dehnte Verwachsungen die Auslösung der Niere aus der Umge¬ 
bung unmöglich machen sollten, beschloss ich, die Operation doch 
nicht aufzageben, sondern die 12. Rippe zu reseciren, die Gefässe 
in situ zu unterbinden und die Niere zu enucleiren. Denn auch 
unter diesen ungünstigen Verhältnissen schienen mir die Gefahren 
nicht so bedeutend, dass ich die schon begonnene Operation auf¬ 
geben sollte. 

Die Operation wurde am 28. August 1871, Nachmittags 2 Uhr, vor einem 
grossen Auditorium vou Studenten, Aerzten und Professoren ausgeführt, und ich 
will nicht verschweigen, dass sie einige höchst aufregende Momente bot, obgleich 
ich schon vorher die etwaigen Eventualitäten in Erwägung gezogen hatte. Schon 
der Umstand, dass die Exstirpation der Niere bei Steinkrankheit noch nicht 
ausgeführt, ja gerade für diese Erkrankung verworfen worden war, konnte diese 
Aufregung erklärlich machen, and der Gedanke, dass wir vielleicht doch die 
Verhältnisse finden könnten, auf die jene Autoren ihr verwerfendes Urtheil 
stutzen, verliess mich erst, als die Operation glücklich vollendet war. — Der 
Lumbalschnitt bis zur Niere wurde schnell und ohne Blutung ausgeführt und 
damit die Fettkapsel blossgelegt. Diese bildote aber eine zusammenhängendere, 
festere Membran als im Normalzustände, so dass ich in Zweifel kam, ob ich 
nicht das Bauchfell vor mir habe. Bei der Betastung fühlte ich unter dieser 
Membran einen unebenen, dünnen und schlaffen Körper, der das Gefühl gab, 
wie eine mit weichen Kothmassen gefüllte Darmscblinge. Ich zögerte daher mit 
dem Einschnitte. Aber iu Erwägung, dass ich den anatomischen Verhältnissen 
entsprechend die Fettkapsel der Niere vor mir haben musste, schnitt ich ein und 
legte damit das untere Ende der Niere bloss. Diese war, soweit man sehen und 
fühlen konnte, klein, durch Einschnürungen au der Oberfläche uneben und schien 
mit den umgebenden Theilen fester als im Normalzustände verwachsen zu sein. 
Sogleich suchte ich die Diagnose der Steinkrankheit auch durch unmittelbare Beta¬ 
stung zu bestätigen. Ich schob den Zeigefinger längs der Oberfläche des Organs 
bis zum Hilus und betastete damit das Nierenbecken, den Anfangstheil des Harn¬ 
leiters und die Niere selbst. Aber zu meiner höchst unangenehmen Ueber- 
raschung konnte ich ebenso wenig, wie Durham und Gunn Steine fühlen. 
Wie war nun dieser Umstand zu erklären? War unsere Diagnose auf Stein¬ 
krankheit falsch ? oder waren alle Steine bereits durch den Harnleiter abgegan¬ 
gen? oder Hessen sie sich nur nicht durchfühlen? Ersteres konnte unmöglich 
der Fall sein, aber die beiden anderen Annahmen lagen im Bereiche der Mög¬ 
lichkeit. Was aber nun thun? Sollte ich in der Unterstellung, dass alle Steine 
abgegangen seion, die Operation aufgeben, oder sollte ich bei der Annahme, 
dass die vorhandenen Steine nicht gefühlt werden konnten, die Operation fort¬ 
setzen? Ich beschloss die Fortsetzung, w r eil das Vorhandensein von Steinen höchst 
wahrscheinlich und die Niere offenbar erkrankt war. Welche Operation war 
mm aber angezeigt? Die Incision in das Nierenbecken und den Anfangstheil 
des Harnleiters waren in situ nicht ausführbar, weil sie nicht ausgedehnt und 
in der Tiefe so schwer zugängig waren, dass ich nur nach Auslösung und Vor* 


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Dr. G. Simon, 


ziehen der Niere mit Sicherheit hätte einschneiden können. Durch diese Aus¬ 
lösung musste aber die Operation eben so gefährlich, vielleicht gefährlicher 
wrden als die Exstirpation, weil die von ihrer Umgebung getrennten Niere 
voraussichtlich dem Brande, oder der Eiterung verfiel. Ich ging daher zur Ex¬ 
stirpation der Niere über und trennte mit den Fingern ihr unteres Ende von 
der umhüllenden Fettkapsel, was leicht gelang. Etwas grösseren Schwierigkeiten 
begegnete ich unter dem Rippenbogen, wo auch im Normalzustände die Aus¬ 
lösung der Niere weit mühsamer ist, als an dem unteren freiliegenden Ende, 
und hier riss die Nierenkapsel an einer kleinen Stelle ein. Da ich langsam 
verfuhr, war erst nach etwa einer Viertelstunde die Auslösung ohne jegliche 
Gewaltsanwendung gelungen. Eine geringe Blutung aus dem erwähnten Einrisse 
konnte unberücksichtigt bleiben. Jetzt vermochte ich die Niere soweit vor¬ 
zuziehen, dass sich der Stiel präsentirte. Dieser wurde mit der Pincette von 
Anhängseln der Fettkapsel gereinigt, wobei der Harnleiter vor seinem Uebergang 
in das Nierenbecken eine gabelförmige Theilung zeigte. Ein Doppelfaden wurde 
durch diese Gabel geführt und der Stiel nach beiden Seiten unterbunden. Hierauf 
trennte ich die Niere mit Zurücklassung eines Substauzstumpfes von dem Stiele 
und nun sollten wir erst von dem Alpe eines immer noch möglich gedachten Irrthums 
in der Diagnose befreit werden. Während des langwierigen Aktes der Auslösung 
hatte ich wiederholt die Niere von den verschiedensten und zuletzt vou zwei Seiten 
gleichzeitig betastet, jedoch keine Steine gefühlt; kaum aber hatte ich die Wand 
des Nierenbeckens durchschnitten, so trafen wir auf Steine. In diesem und in den 
Kelchen lagen 18—20 Steinchen von der Grösse einer Linse bis zu der eines 
Kirschkerns. Nach Entfernung der Niere blieb eine grosse Wundhöhle zurück, 
deren Boden sich mit der ln- und Exstirpation so stark hob und senkte, dass 
es einen förmlich beängstigenden Eindruck machte, indem man unwillkürlich an 
ein Platzen des Bauchfells und Vorstürzen der Gedärme denken musste. Einige 
Minuten nach der Operation, als wir schon im Begriffe waren die Wunde mit 
gewöhnlichem Gharpieverbände zu bedecken, gewahrten wir eine stärkere Blu¬ 
tung, welche, wie die nähere Untersuchung zeigte, aus dem Nierenstumpfe kam. 
Dieser wurde daher an den Ligaturfäden vorgezogen und die beiden Portionen 
des Stieles nochmals unterbunden. Das Aufsuchen der blutenden Stelle und 
die erneuerte Ligatur nahmen wenigstens 10 Minuten in Anspruch. Nach der¬ 
selben stand die Blutung. Die Wundhöhle wurde mit einem Charpietampon 
leicht ausgefüllt uud mit gewöhnlichem Charpie- und Heftpflasterverband und 
einer Leibbinde verschlossen. Die Operation hatte etwas mehr als eine halbe 
Stunde gedauert. Die ausgeschnittene Niere, welche ich Ihnen hier vorlege, 
ist kleiner als eine normale, sie wog nur 90 Grammes gegen 124 Grammes einer 
gesunden *). Ihre Oberfläche zeigt tiefe Einziehungen und ihre fibröse Kapsel 
war nur schwierig von der Substanz abzuziehen. Das Gewebe selbst orschien 
derb; die Corticalschichte nur 1 Cm. dick; die Pyramiden von den Kelchen aus 
mehr oder weniger zusammcngedrückt und zum Schwunde gebracht. An einer 

*) Nach Rayer's Untersuchung wiegt die normale Niere einer 30 Jahre 
alten Frau im Durchschnitte 3 Unzeu G D. bis 4 Unzen. 


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Exstirpation einer Niere bei Steinkrankheit. 


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Stelle, beiläufig in der Mitte der Niere, ist eine Pyramide ganz geschwunden 
und in eine konische Höhle umgewandelt, deren Basis an der Corticalsubst&nz, 
deren Spitze im Becken lag. In dieser Höhle und den erweiterten Kelchen 
fanden sich viele Steinchen, Gries und eine grosse Anzahl dunkelgefärbter, sehr 
fester, körniger und cylindrischer Blutcoagula, identisch mit denen, welche vor 
der Exstirpation nach den Nierenkoliken im Urine gefunden worden waren. 

Der Verlauf war bis zum 21. Tage ausserordentlich günstig, günstiger 
als bei meiner oben erwähnten, ersten Patientin, welche geheilt wurde. Urä¬ 
mische Erscheinungen traten nicht auf; Erbrechen, welches unsere erste Patientin 
3 Tage hindurch gequält hatte, kam in den ersten 24 Stunden nur 8 Mal vor 
und kehrte dann nicht wieder. Das nach der Operation aufgetretene Fieber war 
nicht hochgradig und am 7. Tage schon verschwunden. Die Temperatur war 
in den ersten 6 Tagen niemals höher als 38,8°, und der Puls in den zwei ersten 
Tagen 110, in den anderen nur 90. In den ersten 6 Tagen klagte Patientin 
über Schmerzen im Unterleibe, welche von der Wunde längs des linken Harn¬ 
leiters zur Blase ausstrahlten und welche sich bei 6 tägiger Verstopfung ver¬ 
mehrten. Sie verschwanden aber am 7. Tage nach einer reichlichen Stuhlent¬ 
leerung, welche auf ein Abführmittel von Calomel und Rbeum erfolgte. In den 
ersten 4 Tagen wurde nur flüssige Nahrung, aber vom 5. Tage an schon etwas 
gebiatenes Fleisch genommen. Nach der Stuhlentleerung stieg der Appetit 
sichtlich, und Patientin nahm täglich 4 weich gekochte Eier, 2 Mal etwas gebra¬ 
tenes Fleisch, Bouillon, Milch, Wein etc. — Der Urin war bei der zweiten Ent¬ 
leerung, welche in den drei ersten Tagen wegen schmerzhaften Drängens durch 
den Catheter geschehen musste, vollkommen normal und wurde in den ersten 
24 Stunden schon in einer Quantität von 590 Ccm. gelassen. In den nächst¬ 
folgenden Tagen nahm er bis zu 800 Ccm. zu und blieb dann auf dieser Zahl 
stehen. Diese Menge mochte der Norm entsprechen, da die Patientin weit we¬ 
niger Nahnmg zu sich nahm und mehr schwitzte als ein gesundes Individuum. 
Die Wunde sonderte Anfangs dünnen, blutig gefärbten, mit nekrotischen Ge- 
websfetzen gemischten Eiter ab, aber gegen den 6. Tag war er schon pus bo- 
num et laudabile und die Ränder bedeckten sich mit guten Granulationen. Die 
Ligaturen mit den Stielstümpfen lösten sich am 11. und 16. Tage. Schon am 
8. Tage konnte die Patientin ohne Schmerzen die Lage wechseln und vom 
12. Tage ab speiste sie immer im Sitzen Sie schrieb und empfing Briefe, sie 
hatte schon die Tage in Aussicht genommen, an welchen sie das Bett verlassen 
und Spazierfahrten machen wollte, uni! hatte ihrem Manne schon die baldige 
Rückreise in die Heimath angekündigt. Da trat aber am 21. Tage, 6 Stunden 
nach einer Untersuchung der Wunde mit dem Finger ganz plötzlich sehr erhöhte 
Temperatur mit Frösteln und grosser Hitze auf, welche zwei Tage hindurch 
anhielt, dann aber durch die consequente Application eines Neptungürtels bis 
zur Normalität gemindert wurde. Jetzt beging aber Patientin die Unvorsich¬ 
tigkeit, unreife Pfirsiche und Pflaumen zu essen, welche ihr von einer guten 
Freundin zugebraebt waren. Unmittelbar darauf stellten sich heftige Kolikanfälle, 
Nachmittags 3 Uhr ein halbstündiger Schüttelfrost ein und bald darauf ent¬ 
wickelten sich die Zeichen einer diffusen Peritonitis. Der Leib trieb sich auf, 


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56 


Dr. G. Simon, 


er wurde äusserst schmerzhaft, und heftiges Erbrechen quälte die Patientin. Am 
28. Tage gesellten sich die Symptome doppelseitiger Pleuritis hinzu und am 
31. Tage starb die Patientin aufs Aeusserste erschöpft. Das Aussehen der 
Wunde hatte sich mit Eintritt des Fiebers sehr verschlechtert. Die Ränder und 
die Granulationen bekamen ein anämisches Aussehen, letztere waren eingesun¬ 
ken, theilweise sogar zerfallen und der früher gute Eiter in eine dünne Jauche 
umgewandelt. 

Bei der Section fanden wir frische eitrige Peritonitis und frische beider¬ 
seitige Pleuritis mit yerhältnissmässig wenig serös-eitriger Flüssigkeit, aber sehr 
vielen Faserstoffgerinnseln. Die Gerinnungen waren sehr weich, sie hafteten 
nur lose auf gerotheten Stellen und lagen iu der Unterleibshohle besonders 
reichlich auf und unter dem grossen Netze, in den beiden Lumbalgegenden, in 
dem Gewölbe des Zwerchfells unter Leber und Milz und in den Peritoncalfalten 
des kleinen Beckens. In den Pleuren, in welchen sie noch weicher waren, als 
im Peritoneum zeigten sie sich besonders stark auf dem Pleurauberzuge des 
Zwerchfells, in weniger dicken Schichten auf den übrigen Theilen der Pleura. 
Nirgends fanden sich Auflagerungen, Verdickungen oder Adhäsionen älteren 
Datums, selbst nicht an den Stellen des Bauchfells und der Pleura, welche der 
herausgenoramenen Niere entsprachen. Die Wunde war in der Haut bis zur 
Länge von 7 Cm. vernarbt, und nur 2 Cm. tief, die Hohle, in welcher die Niere 
gelegen hatte, war vollständig geschlossen. Weder in der nächsten, noch in der 
weiteren Umgebung der Wunde trafen wir auf eine Eiterung oder eine Eiter¬ 
senkung. Die Nierenvenen, die grossen Venen der Extremitäten und des Unter¬ 
leibs enthielten weder feste noch vereiterte Thromben. Auch um den Harnleiter 
zeigte sich keine Spur von Eiter oder Schwielenbildung. Der Stumpf des Harn¬ 
leiters und der Nierengefässe, der Arterien und Venen war fest mit der Narbe 
verwachsen und nur an der Verwachsungsstelle geschlossen. Bis zu dieser waren 
alle drei durchgängig. Der Harnleiter dieser Seite, durch welchen sich früher 
Steine und Blutcoagula durchgedrängt hatten, war etwas weiter, als der auf der 
entgegengesetzten gesunden Seite. Die Gefässe dagegen waren enger, weil die 
erkrankte Niere* geschrumpft, die Ernährung entsprechend geringer war. Die 
rechte zurückgelassene Niere war, wie Sie an dem Präparate sehen, sehr 
vergrossert. Sie wog 196 Grammes und hatte eine Länge van Cm., eine 

Breite von 6$ Cm. und eine Dicke von 4 Cm. Sie war also beinahe noch ein¬ 
mal so gross als eine normale Niere und in allen ihren Theilen vollkommen 
gesund. Lunge, Leber und Milz waren normal. Das Herz war nicht vergros- 
sert. Es wog 231 Grammes (die Länge des linken Ventrikels 9 Cm., Dicke der 
Wandung l\ Cm.; Breite des linken Ventrikels 5 Cm., Dicke des Septum 
IV Cm.). — Die Patientin war demnach an septicämischer Infection mit diffuser 
eitriger Peritonitis und Pleuritis zu Grunde gegangen. 

Zur Beurtheiluog der Tragweite dieses Krankheitsfalles für 
die Zulässigkeit der Nephrotomie bei Steinkrankheit erlaube ich 
mir Ihre Aufmerksamkeit auf einige Punkte zu lenken. Vor Allem 
glgube ich hervorheben zu müssen, dass die Diagnose, welche den 
neuesten Schriftstellern unmöglich scheint, bis in’s kleinste 


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Exstirpation einer Niere bei Steinkrankbeit. 


57 


Detail durch den Operations- und Sectionsbefund be¬ 
stätigt wurde. Wie wir vorausgesetzt hatten, war nur die linke 
ex9tirpirte Niere erkrankt, während die zurückgelassene hypertro¬ 
phisch, aber sonst gesund gefunden wurde. Ferner war die Niere 
nicht durch Eiter zu einer grösseren Geschwulst ausgedehnt, und nur 
an einer kleinen Stelle etwas schwieriger auszulösen als im Normal¬ 
zustände. Peinlich war das Nichtauffinden der Steine bei unmittelba¬ 
rer Palpation der Niere. Künftighin wird aber auch dieses Gefühl 
nicht mehr bei mir autkommen, weil ich auf diesen Umstand vor¬ 
bereitet sein werde, und weil ich künftighin in einem solchen Falle 
die Acupunctur mit feiner langer Nadel in Anwendung bringen 

werde, durch welche die Steine wohl sehr leicht zu erkennen 

* 

sind. Auch die Wahl der Operationen hat sich als die rich¬ 
tige erwiesen. Die Incision in' ‘did Niere hätte, abgesehen von 
ihrer Gefährlichkeit im vorliegenden Falle, keinen Erfolg haben 
können, da selbst durch einen Halbirungsschnitt der Niere nicht 
alle Steine herausgenommen werden konnten. Ferner geht aus dem 
Falle hervor, dass die Exstirpation einer calculö sen Niere, 
trotz Rayer’s gegentheiliger Behauptung, unter günstigen Um¬ 
ständen ebenso leicht und nach dem selben Modus aus¬ 
führbar ist, wie die des normalen Organs. Denn mit 
Ausnahme einer kleinen Stelle, an welcher die Kapsel einriss, Hess 
sich die calculöse Niere ohne die geringste Gewalt aus der Umge¬ 
bung auslösen. Endlich dürfte es keinem Zweifel unterliegen, 
dass der Tod der Patientin nicht durch die Specificität 
oder Grösse des Eingriffs, sondern durch eine zufäl¬ 
lige Complication verursacht war, welche bei jeder andern 
Wunde in den Bauch wand ungen hätte Vorkommen können. Die 
schlimmsten Perioden des Eingriffs und der Wundheilung waren 
bereits überstanden, als die Infectionskrankheit mit ihren tödt- 
lichen Folgen auftrat. 

Durch die Darlegung dieser Details dürften nun, m. H., trotz 
des unglücklichen Ausgangs alle Einwürfe widerlegt sein, welche 
gegen die Nephrotomie bei Steinkrankheit erhoben wurden. Ich 
wenigstens und wohl auch alle Chirurgen von Fach würden keinen 
Anstand nehmen, unter ähnlichen Umständen eine Operation zu 
wiederholen, die bei lebensgefährlicher Höhe des Leidens allein 
noch Heilung zu bringen vermag. 


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V. 

Ueber spontane Luxationen und einige 
andere Gelenkkrankheiten bei Ileotyphus. 

Von 

Dr« Paul Gfiterbaek, 

Privttdoceot Io Berlio. •) 


Meine Herren! Zn denjenigen Infectionskrankheiten, zu denen 
am seltensten Gelenkaffectionen hinzuzutreten pflegen, gehört der 
Ileotyphus. Theilweise sind die Angaben der Autoren hierüber 
sehr dürftig*) **), theilweise stehen sie mit einander in directem 
Widerspruch. Auf der einen Seite wird eine specifische typhöse 
Gelenkentzündung beschrieben***), ganz in der Weise wie man 
eine gichtische oder scrophulöse Arthritis beschreiben würde. Von 
anderer sehr competenter Seite wird dagegen eine solche Speci- 
ficität der typhösen Gelenkentzündungen nicht erwähnt; es wer¬ 
den vornehmlich drei verschiedene Arten der Affectionen für die 
acuten Exantheme sowohl wie auch für den Typhus angenommen, 
nämlich gewöhnliche pyämische, dann mehr polyarticuläre, 
rheumatische und endlich monarticuläre (metastatische) 
Entzündungen, f) Letztere sollen beim Ileotyphus verhältniss- 
mässig häufig sein und namentlich an der Hüfte vorkommend, dort 


*) Vortrag, gehalten in der 2. Sitzung des II. Congresses der Deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie, am IS. April 1873. 

**) In dem bekannten Werk von Murchison über die typhoiden Krank¬ 
heiten werden trotz der sonstigen Vollständigkeit des Buches die typhösen Ge¬ 
lenkleiden gar nicht erwähnt. 

***) Stromeyer, Handbuch der Chirurgie. I. S. 40611. 
t) Volkmann, Krankheiten des Bewegungsapparates S. 502. 


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Spontane Luxationen und andere tielenkkrankheiten bei Peotyphus. 59 


za den bekannten spontanen Luxationen fuhren. Manche 
Autoren*) geben geradezu an, dass diese letztere Art von Ge¬ 
lenkleiden nicht ganz selten beim Typhus vorkommt, ein Aus¬ 
spruch, der im Folgenden noch näher erörtert werden soll. 

Was nun zunächst die Specificität der typhösen Gelenk- 
affectionen betrifft, so wird diese am besten dadurch widerlegt, 
dass man eigentlich alle Arten von Gelenkentzünpung, nicht nur 
jene drei vorher erwähnten Kategorien nach Typhus beobachtet 
bat. Namentlich hat man neuerdings auch Fälle beschrieben, in 
welchen bereits von vornherein die Knochen an der Ent¬ 
zündung der Gelenke betheiligt gewesen sind. So be¬ 
richtet z. B. Betz**) über einen Typhuskranken, welcher gleich¬ 
zeitig eine Synovitis des linken Kniegelenkes und Periostitis der 
Nachbarknocben hatte. Irrtbümlich bei dieser Beobachtung scheint 
mir nur, dass Betz sie als Typhus des membres bezeichnen 
möchte, ein Name, der vielfach auch für die Osteomyelitis acuta 
adolescentium angewandt wird, von welcher letzteren jedoch hier, 
wie die genaue Krankengeschichte darthut, nicht im Mindesten die 
Rede war. Ich selbst habe in einem Typhusfalle, neben ander¬ 
weitigen Gelenkleiden, ausser einer entzündlichen Exsudation im 
rechten Hüftgelenke eine besonders auf den entsprechenden 
Trochanter major beschränkte Periostitis gesehen. 

Wenn wir demnach von der Specificität der typhösen Gelenk¬ 
leiden gänzlich zu abstrahiren haben, so müssen wir eingestehen, 
dass im Uebrigen unsere Kenntnisse über die Art des ursäch¬ 
lichen Zusammenhanges zwischen dem Ileotyphus und diesen 
Affectionen nur sehr gering sind. Es wäre aber sicher zu weit 
gegangen, wenn man einen derartigen Zusammenhang deshalb 
überhaupt läugnen wollte. Für einen solchen spricht vielmehr, 
dass speciell die monarticulären Gelenkleiden oft sehr früh im Ver¬ 
lauf des typhösen Processes auftreten können; so im Betz’sehen 
Falle gleichzeitig mit den andern characteristischen Typbuser¬ 
scheinungen, in einem das Fnssgelenk betreffenden Bäumler¬ 
sehen***) Falle in der ersten Krankheitswoche; ebenso begannen 

*) Bardeleben, Lehrbuch der Chirurgie. 4*Ausg. Vol. II. S. 617. IV. 
S. 741. 

**) Memorabilien. Nr. 11. 1872. S. 407 ff. 

***) Deutsches Archiv für klin. Med. III. S. 565. 

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Dr. P. Güterbock, 


in dem oben erwähnten eigenen Falle von Affection der rechten 
Höfte, welche unter Anderem auch mit einer Spontanluxation der 
linken Hüfte combinirt war, die ersten Zeichen von Mitbetheiligung 
der Gelenke sich in der zweiten Krankheitswoche kund zu thun. 
Ferner traten in einem mir von Herrn Dr. Natanson hierselbst 
gutigst mitgetheilten, von ihm und Herrn Geheimrath Dr. Wilms 
behandelten Falle typhöser Coxitis die ersten Symptome des 
Höftleidens am elften Krankheitstage auf. Es ist diese letztere 
Beobachtung übrigens besonders erwähnenswerth, weil die äusseren 
Verhältnisse des Patienten eine ausnahmsweise genaue Zeitbe¬ 
stimmung des Anfanges und des weiteren Verlaufes des typhösen 
Processes zuliessen. 

Ferner giebt es ausser diesen Fällen von Monarthritis typhosa 
noch eine gewisse Klasse polyarthritischer Entzündungen, welche 
durch die Art und Weise ihres Auftretens zeigen, dass sie 
wirklich secundärer Natur, von einer constitutioneilen Krank¬ 
heit abhängig sind. Es sind dies die Fälle pyaemischer Ge- 
lenkaffection, welche man in einigen Epidemien von Blattern, 
Scharlach und Masern sehr häufig gesehen, beim Typhus aber immer 
nur als Ausnahmen kennt. Ich habe folgenden sehr characteristischen 
Fall von Polyarthritis pyaemica post typhum aufzuführen, einen 
Fall, der überdies noch dadurch merkwürdig wird, dass er in Ge¬ 
nesung endete. 

Es bandelte sich um ein junges Mädchen, welches am 5. October 1S71, 
gegen Ende der zweiten Woche eines Ileotyphus, in der hiesigen Krankenanstalt 
Bethanien Aufnahme fand. Der Typhus hatte eineu mittelschweren Verlauf und 
wurde anfänglich in gewöhnlicher Weise mit Bädern behandelt; später wurden die¬ 
selben ausgesetzt. Es trat dann in der 4. Woche eine hypostatische Pneumonie mit 
tingirten Sputis auf, und hierauf kam es zu mehrmals täglich wiederholten Schüt¬ 
telfrösten. Am 24. October zeigte sich eine entzündliche, sehr schmerzhafte An¬ 
schwellung der linken Schulter; diese besserte sich sehr schnell unter Applica¬ 
tion von Eis, während die Schüttelfröste fortdauerten und es zwei Tage später 
zu einer analogen Entzündung der linken Hüfte kam. Auch diese ging rasch 
zurück und zwei Tage nach ihrem ersten Auftreten kamen auch die Fröste nicht 
wieder. Das Fieber nahm nun einen Morgens remittireoden Character an und 
gerade 14 Tage nach dem letzten Frost war Pat. völlig fieberfrei*). 


*) Die näheren Daten über diesen Fall verdanke ich freundlicher Mitthei¬ 
lung des Herrn Dr. Dütsch, zurZeit ersten Assistenzarztes der Krankenanstalt 
Bethanien. 


ii. 


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Spontane Luxationen und andere Gelenkkrankheiten bei Ileotyphus. 61 


Es wäre 'sehr verfehlt, wollte man in diesem wie in den 
früher citirten Fällen, in denen eine directe ärztliche Beobachtang 
vorliegt, die ätiologische Bezeichnnng des Gelenkleidens als 
typhös anzweifeln; man könnte mit demselben Rechte die Diagnose 
irgend einer anderen selteneren Gomplication des Typhus bearg¬ 
wöhnen. Dagegen sind in der Literatur eine Anzahl von Gelenk¬ 
leiden als typhös bezeichnet worden, die diesen Namen vor einer 
strengeren Kritik wohl schwerlich behalten'dürften. Es sind dies 
meistens Fälle von älteren Luxationen im Hüftgelenke, bei wel¬ 
chen sich die ätiologische Diagnose lediglich auf die Erzäh¬ 
lungen der Patienten selbst stützt. Die Kranken berichten hier 
gewöhnlich, dass sie vor einiger d. h. längerer Zeit ein Nerven¬ 
fieber überstanden, und danach der Schenkelkopf aus der Pfanne 
gegangen sei. Eine so begründete Diagnose einer typhösen 
Spontanluxation ist in meinen Augen ziemlich werthlos und leider 
kann ich nichts Besseres von verschiedenen, angeblich typhöse 
Gelenkleiden betreffenden Angaben, namentlich früherer Autoren 
(Boyer, dann auch Hellwig*) sagen; selbst die hierher gehörige, 
sonst so interessante Beobachtung von Dittel**) scheint mir da¬ 
durch etwas unsicher, dass die Luxation eine relativ (5 Monate) 
alte war und nähere Einzelheiten über ihre Entstehung im Ver¬ 
laufe eines Ileotyphus nicht mitgetheilt sind. 

Die Zahl der wirklich sicheren typhösen Gelenkleiden, die 
nach Abzug aller dieser ungenau und unvollständig beobachteten 
Fälle übrig bleiben, ist eine verhältnissmässig sehr geringe. Ein¬ 
gehendere eigene Nachforschungen haben mir gezeigt, dass man 
von allen den bisher gang und gäben Ansichten über Frequenz 
und Nichtfrequenz der typhösen Gelenkerkrankungen völlig ab- 
sehen muss, und die letzteren als ausserordentlich viel 
seltener zu betrachten sind, als dies bis jetzt im Allgemeinen 
geschehen ist. Ich habe hier im Speciellen anzuführen, dass 
Herr Professor Roser seit seinen letzten aus dem Jahre 1857 her 
stammenden Mittheilungen über typhöse Spontanluxationen keinen 
eitrigen derartigen Fall mehr gesehen hat; allerdings hegt er die 

*) Marburg 1856. Dissertatio inauguralis. Ich beziehe mich hier auf das 
mir privatim mitgetheilte Urtheil des Herrn Prof. W. Roser; ich selbst kenne 
die Hellwig'sehe Arbeit leider nur aus Auszügen. 

**) Wiener med. Wochenschr. 1861. S. 200. 


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Dr. P. Güterbock, 


Vermuthung, dass manche ihm bekannte ans sogenannten rheu¬ 
matischen Fiebern hervorgegangene Luxation ebenso wie diese 
Fieber selbst als typhös aufgefasst werden musste, doch vermag 
er dafür keine speciellere casuistische Begründung beizubringen. 

In den Typhus-Abtheilungen grosser Krankenanstalten, wie 
der hiesigen Charitö und des Hamburger allgemeinen Kranken¬ 
hauses ist laut gütiger Mittheilungen der Herren Geheimrath 
Traube und Dr. Theod. Simon seit einer Reihe von Jahren 
so gut wie kein Gelenkleiden beim lleotyphus beobachtet worden; 
nur multiple, schnell vorübergehende Gelenkrheumatismen sind im 
Beginne der typhösen Affection im Hamburger allgemeinen 
Krankenhause in vereinzelten Fällen gesehen worden. Mein sehr 
verehrter Lehrer, Herr Geheimrath Wilms, kann aus seiner 
reichen Erfahrung nur ganz vereinzelte Beispiele typhöser Gelenk¬ 
entzündung beibringen, von spontanen Luxationen der Hüfte sind 
ihm bis jetzt nur zwei Fälle nach lleotyphus vorgekommen. 

Bestimmte Zahlenangaben über die Frequenz der Mitbethei¬ 
ligung der Gelenke beim lleotyphus stehen mir aus den Berichten 
des Wiener k. k. allgemeinen Krankenhauses zu Gebote. Es 
wurden hier von 1868 bis 1871 (inclusive) 3130 Ileotyphusfälle 
behandelt, von diesen 3130 bekamen nur zwei Gelenkentzündun¬ 
gen und zwar eine Gonitis und einen Rheumatismus articulorum 
acutus. Ich kann diesen Daten hinzufügen, dass die Proportionen 
zwischen Gelenkentzündung und Abdomnialtyphus in den anderen 
Wiener Hospitälern sehr ähnlich denen im k. k. allgemeinen 
Krankenhause sind. 

Jedenfalls wird durch Vorstehendes die Seltenheit der typhösen 
Gelenkleiden im Allgemeinen in einem viel höheren Maasse dar- 
gethan, als dies bis jetzt bei anderen Autoren geschehen ist. Im 
Speciellen die Frequenz oder vielmehr die Nichtfrequenz jeder 
einzelnen der verschiedenen Arten typhöser Gelenkkrankheiten 
näher zu begründen, ist daher eine sehr mühevolle Aufgabe. 
Theilt man diese Affectionen zunächst in monarthritische und 
polyarthritische, so hat es den Anschein, als ob die letzteren noch 
erheblich seltener Vorkommen, wie dieersteren. Von den poly- 
articulären Formen pyämischer Natur habe ich oben ein 
Beispiel angeführt; für die sogen, polyarticulären rheuma¬ 
tischen Entzündungen nach Typhus ist mir dies aus eigener 

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Spontane Luxationen und andere Geleokkrankheiten bei Iieotyphus. 63 


Erfahrung unmöglich. Wie so eben erwähnt, sind einzelne Fälle 
dieser Art bekannt, in denen der Gelenkrheumatismus gleich von 
vornherein den Iieotyphus complicirt hat. 

In einer mir voa Herrn Dr. T. Simon freundlicbst mitgetheilten Beobach¬ 
tung gehörte z. B. eine Affection beider Fussgelenke zu den ersten Krankheits¬ 
zeichen, so dass der betreffende 19jährige Patient Anfangs ganz den Eindruck 
machte, als litte er an einem gewöhnlichen acuten polyarticulären Rheuma¬ 
tismus; erst später sicherten genaue Berücksichtigung des Temperaturverlaufes, 
Auftreten von Milztumor und von Roseolaflecken am 5. Tage nach Aufnahme 
des Kranken in das Hospital und damit verbunden schnelles Schwinden der 
Gelenkerkrankungen die Diagnose eines Iieotyphus. Der Verlauf desselben war 
weiterhin ein mittelschwerer, in der Reconvalescenz complicirte er sich mit 
einer doppelseitiger! Pleuritis und näherte sich dadurch noch mehr dem Bilde 
eines acuten Rheumatismus. 

Ob diese Art von Verbindung des Iieotyphus mit Gelenk¬ 
rheumatismus unter bestimmten epidemischen Verhältnissen häu¬ 
figer vorkommt, vermag ich nicht anzugeben, da ein anderweitiges 
casuistisches Material mir hierfür nicht zu Gebote steht. Die 
Wiener Hospitalbericbte notiren zwar je einen Fall von Rheuma¬ 
tismus typhosus sowohl im Jahre 1869 wie 1870 (ersteren im 
k. k. allgemeinen Krankenhause, letzteren in der Rudolfstifbung), 
allein sie bringen keine Einzelheiten, namentlich auch darüber 
nicht, ob die rheumatische Complication sich im Beginne oder ob 
sie sich vielmehr erst nach Ablauf des typhösen Processes einge¬ 
stellt hat. 

Was nun die monarthritisehen Gelenkaffectionen beim 
Iieotyphus angeht, so wird ein bestimmtes Urtneil über ihr an¬ 
geblich häufigeres Vorkommen gegenüber dem der polyarticulären 
Entzündungen dadurch sehr erschwert, dass sie oft nur scheinbar 
wirklich monarthritisch' sind. Der Wahrheit nach erkranken 
nicht selten mehrere Gelenke eines und desselben Individuum, 
nur findet dies nicht immer zu gleicher Zeit statt, wie z. B. in 
dem Seitz’schen*) Falle erst die Hüfte mit spontaner Luxation 
erkrankte und dann sich, nachdem der Process hier noch nicht 
ganz abgelaufen, das Knie der entsprechenden Seite entzündete. 
Bisweilen sind mehrere Gelenke gleichzeitig afficirt, jedoch eines 
so sehr viel erheblicher als die anderen, dass diese darüber fast 
unbeachtet blieben. In dem Falle typhöser Spontanluxation, den 

*) Deutsche Klinik 1864. Nr. 11. 


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Dr. P. Güter bock, 


ich selbst gesehen, war diese letztere die Hauptsache, während 
Knie und Hüfte der anderen Seite in leichterem Grade entzündet 
waren. Endlich kommt es hin und wieder vor, dass der mon- 
arthritische Character der typhösen Gelenkaffection dadurch ver¬ 
loren geht, dass dieselben Gelenke auf beiden Seiten in gleicher 
Weise erkranken. Hierher gehören die Fälle von doppelsei¬ 
tiger Spontanluxation der Hüfte, für welche Herr Geheimrath 
Wilms vor längeren Jahren bereits ein Beispiel gesehen und 
von welchem auch Roser*) ein sehr charakteristisches Vorkomm- 
niss mittheilt. 

Hinsichtlich des näheren Zusammenhanges, den die typhösen 
Gelenkleiden mit der Grundkrankheit haben, ist bereits früher 
angedeutet worden, dass die pyämischen und wahrscheinlich ein 
Theil der rheumatischen Formen mehr secundär nach Ablauf 
letzterer auftreten, während sich die monarthritischen Affec- 
tionen gewöhnlich sehr früh zum typhösen Processe 
gesellen. Letztere Regel hat, wie wir hier besonders erwähnen 
wollen, inzwischen sehr häufige Ausnahmen. So zeigte z. B. der 
bereits erwähnte Seitz’sche Fall von Spontanluxation die ersten 
Symptome des Gelenkleidens lange nachdem der Process auf der 
Darmscbleimhaut abgelaufen. Ferner kam in den drei Fällen, 
welche Stromeyer berichtet, das Hüftleiden erst zum Vorschein, 
nachdem die typhösen Zufalle bereits 14 Tage gedauert hatten. 
Im Uebrigen bieten Verlauf und Ausgänge der typhösen Gelenk- 
affectionen meistens nichts Besonderes — es sind vollständige 
Wiederherstellungen, dann aber auch Heilungen in Anchylose 
und sogar selbst schnell tödtliche Fälle gesehen worden.**) 

Als eine Affection eigener Art, obschon auch hin und wieder 
bei anderen acuten Infectionsleiden beobachtet, stand bis jetzt die 
Spontanluxation da. C. Hueter***) betrachtet dieselbe als 
den Ausdruck einer Gelenkeiterung, eine Ansicht, der wir 
uns nicht anschliessen können. Wir können nur der classischen 
Darstellung Roser’ s bei treten, um so mehr, als dieselbe sich 
auf die wenigen bis jetzt vorhandenen Autopsien analoger Fälle 

*) W. Roser, Die Lehre von den Spontanverrenkungen des Oberschen¬ 
kels etc., Schmidt’s Jahrbb. 94. S. 120ff. 

**) Griesinger, Infections-Krankheiten. 2. Aiifl. S. 232. 

***) Klinik der Gelenkkrankheiten S. 686. 


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Spontane Luxationen und andere Geleukkrankheiteu bei lleotyphus. 05 


stützt. Nach Roser handelt’'es sich bei diesen sogenannten 
Distentions-Luxationen (Volkmann;*) um Ausdehnung 
der erschlafften Kapsel durch Anfüllung derselben mit wässe¬ 
rigem, nicht aber eitrigem Exsudate; in Folge hiervon entschlüpft 
der Gelenkkopf der Pfanne, ohne dass es zu einer Zerstörung 
oder Vereiterung letzterer oder anderer wichtiger Gelenk bestand- 
theile kommt. Charakteristisch ist die plötzliche Entstehung 
der spontanen Luxation beim Typhus Sie erfolgt durch eine 
Bewegung des Kranken in seinem Bette, durch eine zufällige 
Rotation des Schenkelbeines, ohne dass man vorher eine Ahnung 
von dem Bestehen einer Gelenkaffection gehabt hat. Reduction 
und Herstellung normaler Beweglichkeit gelingen dabei gewöhnlich 
auffallend rasch und leicht. 

Nicht ganz mit vorstehender Darstellung stimmt der von mir 
beobachtete Fall überein. Hier entstand nämlich die Luxation 
nicht plötzlich, sondern unter acut entzündlichen Symptomen all- 
mälig, wenn auch binnen eines relativ kurzen Zeitraumes, und 
es bildet hierdurch mein Fall ein Glied zwischen der Reihe der 
gewöhnlichen typhösen Gelenkentzündungen und den bis jetzt ganz 
isolirt dastehenden typhösen Spontanluxationen. 

Es handelte sich um einen 10jährigen unter guten Verhältnissen befindlichen 
Knaben. Derselbe erkrankte Ende October 1872 am Typhus abdominalis. Der Verlauf 
des Leidens war von vornherein ein schwerer, mit hohem Fieber, profusen Durch¬ 
fällen, starker Bronchitis etc. Dabei fiel schon von der zweiten Woche an eine 
grosse Empfindlichkeit verschiedener Gelenke, namentlich bei Berührung auf; 
von Beginn der vierten Woche steigerte sich diese Empfindlichkeit zur spon¬ 
tanen Schmerzhaftigkeit und concentrirte sich besonders auf die Knie- und 
Hüftgelenke beiderseits. Es entwickelten sich hier im rechten Knie eine seröse 
Exsudation, und an der rechten Hüfte ebenfalls ein Exsudat, verbunden mit 
einer auf den Trochanter major hauptsächlich beschränkten Periostitis; links zog 
Pat. von der sechsten Woche an das Bein allmälig so weit gegen den Bauch, 
dass bei der gleichzeitigen enormen Schmerzhaftigkeit von Hüfte und Knie eine 
genaue Untersuchung nicht möglich war. Schüttelfröste wurden zu keiner Zeit 
constatirt. — Als ich Ende December, also in der neunten Woche, Pat. zum 
ersten Male sah, bestand ein mässiges, Morgens ganz remittirendes Fieber, bei 
bedeutender Abmagerung und Schwäche. Beide Hüften und Kniee waren immer 
noch sehr empfindlich, rechts im Knie immer noch ein mässig reichliches Ex¬ 
sudat und rechts an der Hüfte eine eben solche periostitisebe Auftreibung des 
Trochanter mqor. Das linke Knie war frei, die ganze linke Unterextremität 


1. c. S. 658. 

v. Lii|tikiek, Archiv (. Chirurgie. XVI. 


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Dr. P. Güterbock, 


aber in der Stellung, die Sie bei der Lux&tio ili&ca kennen, also erheblich ad- 
ducirt, nach innen rotirt und in starkem Winkel flectirt. Glich man die Becken¬ 
verschiebung aus, so fand sich eine reelle Verkürzung gegen das rechte Bein 
von nahezu Handbreite. Bei der grossen Hagerkeit des Pat. war der normal 
contourirte Schenkelkopf leicht ausserhalb der Pfanne über ihrem oberen Rande 
etwas nach hinten auf dem Darmbeine zu fühlen. Die Luxatio iliaca war mithin 
zweifellos. Ein durch Herrn Geh.-Rath Wilms sofort in der Narcose angestellter 
Reductionsversuch gelang nicht ganz leicht, sondern erst unter Anwendung einiger 
Gewalt durch das gewöhnliche tfanoeuvre (Hyperflexion, Abduction und plötz¬ 
liche Extension), worauf eine genaue Messung völlig gleiche Lilnge beider Beine 
ergab. Der Schenkelkopf konnte nicht mehr durchgefüblt werden, dagegen war 
eine deutliche Ausdehnung der Kapsel durch Flüssigkeit — an der wohl der in 
Folge der bei der Reduction nothwendigen Gewalteinwirkung entstandene Blut¬ 
erguss auch sein Theil hatte — wohl zu constatiren. 

Den weiteren Verlauf des Falles erlaube ich mir nur in Kürze anzudeulen. 
Er war im Wesentlichen günstig. Es wurde gleich nach der Reduction der 
Verrenkung ein Gypsverband applicirt, Pat in einen Drahtkorb gelegt und ört¬ 
lich Eis, sowie an der rechten Hüfte und Knie Bepinselung mit Tinctura Jodi 
angewandt. Jetzt ist Pat schon seit einigen Wochen ausserhalb des Draht¬ 
korbes, die Gelenke sind völlig normal, nur noch etwas steif und werden deshalb 
der geeigneten orthopädischen Behandlung unterworfen. 

Ein* dem so eben anfgeföhrten Falle ähnliches Verhalten ist, 
wie bereits erwähnt, in der Regel nicht beobachtet worden. Die¬ 
jenigen Krankengeschichten, in denen eine analoge, nicht plötz¬ 
liche Entstehung der Spontanluxation beschrieben wird, sind leider 
von einer vorsichtigen Kritik nicht ohne Weiteres zu acceptiren. 
In dem bereits mehrfach citirten Seitz’schen Falle gingen aller¬ 
dings der Verrenkung vier Tage lang heftige entzündliche Symp¬ 
tome voraus, allein die Luxation trat erst klar zu Tage, als 
Patient, der wegen eines grossen Decubitus bis dahin die Bauch¬ 
lage eingenommen, auf den Rücken gewendet wurde; vorher soll 
nur eine leichte Rotation des betreffenden Fusses nach innen be¬ 
merkt sein. Ist hier also eine plötzliche Entstehung der Luxation 
gelegentlich der plötzlichen Umwendung des Kranken nicht ganz 
auszuschliessen, so sind es in einem Stromeyer’schen Falle von 
allmäliger Entwickelung der Luxation andere Momente, welche 
die Reinheit der Beobachtung trüben. Hier bildete sich nämlich, 
das Hüftleiden in Folge eines Trauma’s, bestehend in Fall des 
61 jährigen Mannes auf den Erdboden. Uebrigens war hier im 
Gegensatz zu meinem und dem Seitz’schen Falle die Reduction 
des luxirten Schenkels eine leichte zu nennen. Einen ferneren 


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Spontane Luxationen und andere Gelenkkrankbeiten bei Ileotyphus. 07 


Fall von allmäliger d. h. binnen wenigen Wochen ohne Eiterung 
oder Zerstörung des Gelenkes durch blosse Distention der Kapsel 
sich entwickelnden Spontanluxation der Hüfte, den ich selbst ge¬ 
sehen, kann ich nur in uneigentlicher Weise hier anführen, indem 
kein Abdominaltyphus sondern eine Scarlatina als Ursache vorlag. 
Ich will indessen erwähnen, dass die zur Zeit der Aufnahme der 
7jährigen Kranken in Bethanien 3 Monate alte Luxation sich hier 
unter sehr acuten Symptomen binnen wenigen Wochen entwickelt 
haben soll. Das Bett hatte das Kind zu keiner Zeit verlassen 
Localbefund und Art derBeduction waren übrigens ähnliche, wie 
in dem ausführlicher von mir mitgetheilten Falle. 

Als Schluss habe ich meinem Vorträge noch einige kurze 
Bemerkungen über die Betheiligung der verschiedenen Gelenke an 
den typhösen Entzündungen beizufügen. Ich habe namentlich zu 
betonen, dass fast ausschliesslich nur die grossen Gelenke in 
Folge des Typhus afficirt werden, am häufigsten wohl die Hüfte, 
dann das Knie, der Fuss, die Schulter etc. Spontanluxationen 
post typhum scheinen bis jetzt nur an der Hüfte, und zwar in 
der Form der Luxatio iliaca gesehen zu sein. Das von den 
traumatischen Verrenkungen so bevorzugte Schultergelenk ist 
offenbar ebenso wenig für die typhösen wie für die chronisch¬ 
entzündlichen Luxationen überhaupt disponirt.*) 


*) Durch die Güte meines Freundes, Herrn Dr. Meyerhoff hierselbst, sind 
mir inzwischen einige Notizen über eine Luxatio humeri typhosa zugegangen, 
die derselbe im Jahre 1868 im Garnison-Lazarethe zu Göttingen gesehen hat. 
Es handelte sich um eine Luxatio subcoracoidea, welche bei einem früher völlig 
gesunden Soldaten, in der vierten Woche eines ziemlich schweren Unterleibs¬ 
typhus, plötzlich beim Aufrichten des Patienten eintrat. Die Reduction geschah 
fast unmittelbar nachher in gewöhnlicher Weise, ohne dass sich ein Rückfall 
der Luxation oder sonst eine dauernde Störung an dem betreffenden Gelenke 
gezeigt hätte. 


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Ueber Perforation des Oesophagus durch 

fremde Körper. 

Von 

Dr. F. Busch, 

io Bsrlin.*) 


Meine Herren! Ich möchte an. einen Fall anknöpfen, welcher 
in der letzten Zeit in der hiesigen chirurgischen Universitäts-Klinik 
zur Beobachtung kam, in welchem bei einem kräftigen 35 Jahre 
alten Manne durch einen fremden Körper eine Perforation des 
Oesophagus hervorgerufen wurde, welche glücklich zur Heilung 
gelangt ist. Ich stelle Ihnen hiermit den Patienten vor. Der 
Fall ist folgender: 

Am 30. November ass der Patient in einer hiesigen Restauration sein Mit¬ 
tagessen, welches aus Hammelfleisch bestand, und merkte noch während er den 
Bissen im Munde hatte, dass sich in demselben ein spitzer Knochen befand. 
Die Schluckbewegung war jedoch bereits eingeleitet, und der Bissen glitt, ohne 
dass der Patient es hindern konnte, in den Oesophagus herunter. Gr empfand 
sofort einen lebhaften Schmerz tief in der Brust mit Angstgefühl. Er wartete 
Anfangs, ob dieser Schmerz sich wieder legen würde, was jedoch nicht eintrat. 
Später trank er Wasser, welches leicht in den Magen gelangte, ohne indessen 
die Schmerzen zu beseitigen. Nachmittags 5 Uhr kam er nach der Poliklinik. 
Ich führte darauf die Eischbeinsonde mit dem Bleiknopf ein, ohne auf irgend 
einen Widerstand zu gelangen, und, da die Sonde nicht so lang war, dass man 
mit Sicherheit annebmen konnte, sie sei in den Magen gedrungen, noch un¬ 
mittelbar darauf ein langes englisches Schlundrohr, ohne den geringsten Wider- 


*) Vortrag, gehalten am 4. Sitzungstage (19. April 1873) des Congresses 
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, im Auditorium der chirurgischen Uni¬ 
versitäts-Klinik. 


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Ueber Perforation des Oesophagus durch fremde Körper. 69 

stand zu finden. Dem entsprechend nahm ich an, dass der Knochensplitter eine 
wunde Stelle gerissen habe und dann weiter in den Magen geglitten sei. — 
Die Nacht verlebte der Patient angeblich ziemlich unruhig. Am nächsten Mor¬ 
gen stellte er sich wieder vor mit der Angabe, dass sich sein Befinden bis jetzt 
noch nicht gebessert habe. Da indessen auch jetzt noch keine Erscheinungen 
vorhanden waren, welche besonders Besorgniss erregend waren, gab ich ihm die 
beruhigende Versicherung, dass die Beschwerden sich legen würden und führte 
keine neue Untersuchung ans. Der Patient ging darauf wieder nach Hause und 
konnte während des ganzen Tages Flüssigkeiten schlucken. — Am Mittage des 
nächsten Tages des 2. December versuchte er auch feste Speisen zu sich zu 
nehmen und war im Stande, einige Bissen Fleisch und etwas Salat zu schlucken. 
Unmittelbar darauf jedoch empfand er die heftigsten Beklemmungen, welche ihn 
veranlassten, sofort nach der Klinik zu fahren. Hier langte er im Zustande 
hochgradiger Dyspnoe an. Das Gesicht war leicht livide, die Respiration sehr 
frequent und oberflächlich, der Puls klein und schnell. — Eine abermalige, von 
Herrn Geheimrath v. Langenbeck ausgeführte Untersuchung mittelst des 
Schlundrohrs gab wieder einen negativen Befund. Wegen der starken Dyspnoe 
wurde dem Patienten gerathen, sich aufnehmen zu lassen, und bei der Unter¬ 
suchung des Abends im Bett, liess sich ein rechtsseitiger Pneumothorax ohne 
erhebliches Exsudat constatiren. 

Die Dyspnoe hatte, seit der Patient im Bett lag, etwas abgenommen, jedoch 
konnte er nur die Lage mit stark erhöhtem Oberkörper ertragen; Puls klein, 120, 
Temp. 39,0. Die Fähigkeit, Flüssigkeiten zu schlucken, war ziemlich unbe¬ 
hindert. — Es war somit klar, was inzwischen geschehen war Das Knochen¬ 
stück hatte die Wand des Oesophagus perforirt, hatte das hintere Mediastinum 
eröffnet und von dort entweder mechanisch oder durch Verschwärung das un¬ 
mittelbar angrenzende parietale Blatt der rechten Pleura durchbrochen, und auf 
diese Weise zum rechtsseitigen Pneumothorax geführt. 

Für die Therapie trat nun die Frage auf, ob man den Patienten weiter fort 
Flüssigkeiten schlucken lassen dürfte, oder ob die Ernährung mit der Schlund¬ 
sonde anzuwenden sei.» In Anbetracht jedoch der grossen Qualen, welche für 
einen fiebernden Patienten entstehen mussten, wenn ihm jeder Tropfen Flüssig¬ 
keit durch die Schlundsonde beigebracht werden sollte; in Anbetracht ferner 
dessen, dqss durch das häufige Einführen der Sonde eine starke Reizung des 
Oesophagus entstehen musste, und dass eventuell die Spitze der Sonde in die 
Perforationsstelle eindringen konnte, in Anbetracht schliesslich, dass der Patient 
bereits 2 Tage lang Flüssigkeiten geschluckt halte, die jedenfalls zum grössten 
Theil in den Magen gelangt waren, schien es vorzuzieben zu sein, die Sonde 
nicht anzuwenden, sondern dem Patienten vorzuschreiben, stets nur kleine Quan¬ 
titäten Flüssigkeiten herunterzuschlucken. 

In den nächsten Tagen änderte sich das Befinden wenig. Die Fähigkeit, 
flüssige Nahrung zu nehmen, bestand fort, feste Speisen wurden nicht gestattet. 
Die Nächte verliefen, trotz Darreichung von Morphium, ziemlich unruhig mit wenig 
Schlaf. Besonders schlecht war die Nacht vom 7. December, in welcher der 
Patient, nach der Angabe des Wärters, lautes Trachealrasselu gehabt haben soll. 


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70 


Dr. F. Busch, 


Am Morgen des 7. December hatte die Dyspnoe entschieden zugenommen, so 
dass der Patient Mühe hatte, überhaupt zu sprechen. In der ganzen Ausdeh¬ 
nung der linken Lunge ergab die Untersuchung starkes Rasseln und in der 
rechten Thoraxbälfte hatte sich eine Dämpfung entwickelt, welche bei aufrechtem 
Sitzen bis über den Angulus scapulae in die Hohe reichte. Gegen diese Be¬ 
schwerden verursachten 8 blutige Schröpfköpfe nur eine sehr vorübergehende 
Erleichterung. 

Unter diesen Umständen schien es indicirt, die rechte Thoraxhöhle zu er¬ 
öffnen und dem dort befindlichen Exsudat freien Abfluss nach Aussen zu ver¬ 
schaffen, einerseits um zu verhindern, dass nicht durch Zunahme des Exsudates 
die Respiration noch mehr behindert würde, andererseits um einer septischen 
Intoxication durch Resorption von Exsudat Bestandteilen vorzubeugen. — Am 
7. December wurde dem entsprechend in der Axillarlinie im 6. Intercostalraum 
eine Incision von 5 Cm. Länge ausgeführt und nach scbichtweiser Durchtren- 
nuug der Weichtheile in der Tiefe derselben die Pleura in der Ausdehnung Ton 
ca. 3 Cm. durchschnitten. Aus der Incisionswunde strömte sofort unter grossem 
Druck eine Menge dünner grünlicher Flüssigkeit von putridem Geruch, welcher 
sich später beim Husten dicke, gelbe, fibrinöse Beschläge beimengten. Mit dem 
in die Brusthöhle eingeführten Finger fühlte man deutlich in der unmittelbaren 
Nähe der Wunde die convexe Fläche des Zwerchfells; von einem Knochen war 
nirgends etwas zu entdecken. — Die Thoraxhöble wurde alsdann mehrfach mit 
dünner, hellrosafarbener Lösung von Kali hypermanganicum ausgespült, alsdann 
ein mit Olivenöl befeuchteter leinener Streifen in die Wunde eingeführt, darüber 
Charpie, Guttaperchapapier und Heftpflaster. 

Unmittelbar nach der in der Chloroformnarkose ausgeführten Operation war 
keine wesentliche Aenderung in der Respiration zu bemerken; am Abend jedoch 
gab der Patient an, dass er sich viel wohler fühle. Die Nacht (mit 0,015 
Morph.) war ruhiger als früher. — In den folgenden Tagen wurde der Thorax 
täglich mit lauwarmer lprocentiger Lösung von Carbolsäure ausgespült, und 
zwar so, dass die bleierne Irrigatorspitze durch die Wunde in den Thoraxraum 
eingeführt wurde Der Irrigator wurde darauf auf 3—4 Fuss Höbe erhoben 
und mit diesem Druck floss die Flüssigkeit 1—2 Minuten in den Thoraxraum 
hinein. Dann wurde die Spitze entfernt, und die Flüssigkeit floss wieder theils 
mit gleichmässiger Geschwindigkeit, theils stossweise beim Husten aus der 
Brusthöhle heraus. Dies wurde so lange fortgesetzt, bis die ausfliessende Flüs¬ 
sigkeit vollkommen hell war. — Die Eiterung war Anfangs sehr reichlich und 
putride, nahm jedoch allmälig unter dieser Behandlung eine bessere Beschaffen¬ 
heit an. Das Allgemeinbefinden war ziemlich gut. Die Temperatur Abends 
38,5, Puls 106 — 110. Das Schlucken sowohl fester als flüssiger Nahrungsmittel 
vollzog sich vollkommen leicht, niemals enthielt der aus der Brusthöhle entleerte 
Eiter deutliche Speisetheile beigemengt. Man musste also annebmen, dass die 
Perforationsstelle sich geschlossen hatte. Wo sich der Knochen befand, war 
auch nicht annäherungsweise zu vermuthen. 

In der anderen Lunge bestand lebhafter Katarrh mit starkem Husten und 
reichen, dünnflüssigen Sputis. Etwa 2—3 Mal traten plötzlich, ohne nacbweis- 


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Ueber Perforation des Oesophagus durch fremde Körper. 


71 


bare Veranlassung schwere Collapszustände ein, mit Angstgefühl, blauer Färbung 
des Gesichts, schwachem unregelmässigem Pulse, welche vollständig einer be¬ 
ginnenden Agonie glichen. Dieselben gingen jedoch stets auf Anwendung von 
Reizmitteln wieder vorüber. Am Kreuzbein bildete sich ein mässig tiefer Decu¬ 
bitus. So verlief der Zustand ( bis zum 6. Januar. — Zu dieser Zeit war die 
aus dem Thorax ausfliessende Eitermenge ausserordentlich gering geworden, das 
Fieber hatte vollkommen aufgehört und es schien daher indicirt, die Heilung 
der Thoraxwnnde zu Stande kommen zu lassen, um dadurch für die Ausdehnung 
der rechten Lunge günstigere Verhältnisse zu schaffen. — Es wurde daher vom 
6. bis cum 12. Januar der Thorax nicht mehr ausgespritzt und die Wunde ein¬ 
fach mit Heftpflaster zusammengezogen erhalten. Während dieser Zeit stieg 
das Fieber wieder bis 39,0 Abends und darüber. Die subjectiven Beschwerden 
nahmen zu und in der Nacht vom 11. zum 12. öffnete sich die Wunde spontan 
und es entleerte sich aus dem Thoraxraum eine grosse Menge dünflüssige putride 
Flüssigkeit. — Seit dieser Zeit wurde dann der Tboraxraum wieder täglich mit 
lprocentiger Carboisäurelösung ausgespült. Sofort nahm hierauf der Eiterabfluss 
eine gute Beschaffenheit an und wurde spärlich, das Fieber sank, das subjective 
Befinden besserte sich, die Kräfte nahmen zu und der Decubitus begann zu 
heilen. 

Am 8. Februar (am 40. Tage seit dem Verschlucken des Knochens) wurde 
die letzte Einspritzung in den Thorax gemacht. Bei derselben flössen nach der 
beschriebenen Injectionsweise 220 Gr. Flüssigkeit aus den Thoraxraum wieder 
heraus. Die Wunde wurde jetzt durch Heftpflaster verschlossen. Von jetzt au 
steigerte sich das Fieber nicht mehr, es erfolgte kein spontaner Aufbruch der 
Wunde, das subjective Befinden litt nicht, im Gegentheil nahmen die Kräfte 
mehr und mehr zu, so dass der Patient täglich mehrere Stunden ausser Bett 
zubringen konnte, der Katarrh hörte auf, der Decubitus heilte. — Am 23. Fe¬ 
bruar wurde der Patient entlassen. Das Schlucken war damals unbehindert, die 
Respiration bei ruhigem Aufenthalt im Zimmer vollkommen ungestört. Von dort 
bis zum heutigen Tage, dem 18. April, hat sich nun das Befinden des Patienten 
auf das Befriedigendste gestaltet, so dass sich derselbe fast so kräftig wie vorher 
fühlt. Von Seiten der Schling- und Verdauungsorgane bestehen nicht die ge¬ 
ringsten Beschwerden. Was die Respirationsorgane anbetrifft, so klagt Patient 
über einen mässigen Grad von Husten, durch welchen heller Schleim entleert 
wird, und über Kurzathmigkeit nach stärkeren Anstrengungen. Die Untersuchung 
der Brust efgiebt rechts vorne bis zur vierten Rippe und hinten bis zur Spina 
scapulae rollen tiefen Ton ohne tympanitischen Beiklang, darunter Dämpfung. 
Die Dämpfungsgrenze ändert sich nicht bei Veränderung in der Lage des Ober¬ 
körpers. Die Auscultation in den oberen Theilen ergiebt abgeschwächtes vesi- 
euläres Athmen, welches in den unteren Theilen noch schwächer wird. — Es 
folgt daraus, dass die rechte Lunge sich grösstentheils wieder an die Innenfläche 
der Thoraxwand angelegt hat, jedoch bisher noch mangelhaft inspirirt. Der 
ganze untere Tbeil der rechten Thoraxhälfte ist durch derbe pleuritische Schwar¬ 
ten ausgefüllt. Flüssigkeit und Luft sind im Thoraxraum entschieden nicht mehr 
vorhanden. Die Incisionswunde hat sich fest und dauernd geschlossen. Von 
dem Knochen hat sich nie wieder etwas gezeigt. 


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Dr. F. Busch, 


Im vorliegenden Falle liegt also eine glücklich verlaufene, 
durch ein spitzes Knochenstück veranlasste Perforation des Oeso¬ 
phagus vor, zu welcher sich secundär eine Perforation des parie¬ 
talen Blattes der rechten Pleura gesellt hat. 

Ich habe in der ziemlich reichhaltigen Literatur über fremde 
Körper im Oesophagus keinen ähnlichen Fall aufgefunden. Wir 
besitzen über diesen Gegenstand eine ausserordentlich reichhaltige 
Zusammenstellung von Adelmann aus dem Jahre 1867 im 4ten 
Bande der Prager Vierteljahrschrift, welche 314 Fälle umfasst 
Aus diesem massenhaften Material sieht man, dass Perforationen 
des Oesophagus zwar stets in hohem Grade gefährlich sind, jedoch 
nicht immer tödtlich enden. So kommt es nicht selten vor, dass 
Nadeln den Oesophagus perforiren und dann, durch die Gewebe 
wandernd, an irgend einer Stelle, besonders an der Brust oder am 
Rücken unter der Haut anlangen. Diese Perforationen indessen 
sind wohl von den durch andere fremde Körper hervorgerufenen 
ganz abzutrennen, da feine Nadeln oft genug die Gewebe ausein¬ 
anderdrängen, ohne sie zu verletzen. 

Es kommt ferner bisweilen vor, dass fremde Körper im 
Pharynx und im Halstheil des Oesophagus festsitzen, die Wand 
dort durch Eiterung allmälig zerstören und schliesslich in einem 
Abscess an der Seite des Halses oder oberhalb der Incisura se- 
milunaris sterni zu liegen kommen, von wo sie dann nach Incision 
des Abscesses entfernt werden können. Fälle dagegen, in denen 
im Brusttheil des Oesophagus eine Perforation zu Stande kommt, 
verlaufen fast absolut lethal. Der einzige unzweifelhafte Fall, 
den ich in der Literatur habe auffinden können, in dem eine Per¬ 
foration des Brusttheils des Oesophagus glücklich verlaufen ist, be¬ 
trifft einen Patienten, bei dem Robert*) nach früheren vergeb¬ 
lichen Versuchen am 12ten Tage ein Knochenstück mit dem 
Graefe’schen Münzenfänger glücklich extrahirte, worauf Abscess- 
bildung im Medastinum mit Pleuro - Pneunomie und später Hei¬ 
lung folgte. Auch hier liegt jedoch keine primäre Perforation 
vor, sondern eine allmälig durch Druck und Eiterung hervor¬ 
gerufene, in welcher wegen der Verdichtung des ungeheuren Ge¬ 
webes die Aussichten sehr viel günstiger sein mussten. Jeden- 


*) Bulletin de Th6rapeutique 1856. Aoüt. 


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Ueber Perforation des Oesophagus durch fremde Körper. 73 

falls sind derartige Fälle so selten, dass es sich wohl der Mühe 
lohnt, dieselben durch einen neuen zu vermehren, besonders da 
dieser Fall Vieles darbietet, was ihn von allen früheren unter¬ 
scheidet. 

Die Eigenthümlichkeiten dieses Falles beruhen darauf, dass 
die Perforation in die Pleurahöhle erfolgte. Diese Richtung der 
Perforation ist keine gewöhnliche. 

• Unter 60 Fällen von Perforationen findet sich bei Adelmann 
die Perforation in die Pleurahöhle ohne gleichzeitige directe Mit¬ 
leidenschaft des Lungengewebes nur dreimal verzeichnet. In dem 
ersten Falle*) waren von einem 30jährigen Manne Glasstückchen 
verschluckt, derer} Extraction vergeblich - versucht wurde und bei 
der Section fand sich eine Perforation des Ohsophagus in der 
Höhe des Sterno-clavicular-Gelenks in die Brusthöhle. Die letzten 
beiden wurden von Demarquay**) beobachtet. In beiden 
Fällen handelte es sich um Geldstücke, die von Kindern beim 
Spielen verschluckt wurden und welche dann zur Perforation des 
Oesophagus mit Ausbildung einer längs der Wirbelsäule herab¬ 
steigenden Jauchung, die sich in die rechte Pleurahöhle fortsetzte, 
führten. Beide Fälle verliefen lethal, der eine am 7ten, der 
andere, bei dem die Münze am 8ten Tage durch die Oesophagotomie 
entfernt wurde, am Ilten Tage, und auch in einem dritten, den 
ich vor 3 Jähren in der hiesigen Klinik zu beobachten Gelegen¬ 
heit hatte, trat der Tod ein. 

Der Grund nun, warum in dem vorliegenden Falle die Hei¬ 
lung erfolgte, scheint mir besonders daran zu liegen, dass, als 
das Exsudat im Thorax zu steigen begann, die Thoracocentese 
ausgeführt wurde. 

Es würde mich zu weit führen, wollte ich hier auf die Frage, 
die ja übrigens vorherrschend der inneren Medicin angehört, ein- 
geheo, in wie weit pleuritische Exsndate die operative Entleerung 
indiciren. Jedenfalls muss dieselbe, abgesehen vom Empyema 
necessitatis auch in allen jenen Fällen vorgenommen werden, in 
denen die Resorption der Flüssigkeit von der Naturheilung ent¬ 
weder nicht mehr zu erwarten ist, oder sich doch auf einen gar 


*) Gazette des höpitaux 1854. p. 396. 400. 

**) Archives generales. Tom. VI. p. 8. Bournerie. 


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74 


Dr. P. Busch, 


zu langen Zeitraum erstrecken würde, wodurch die Reconvalescenz 
auf lange Zeit hinausgeschoben werden würde und der Kranke in 
die Gefahr käme, allmälig durch Erschöpfung zu unterliegen. 

Wenn aber ein solches Verfahren bereits indicirt ist bei ge¬ 
wöhnlichem Empyem aus inneren Ursachen, so wird man sich 
um so mehr dazu entschliessen müssen, falls ein eitriger Erguss 
in der Pleurahöhle durch eine Perforation des Oesophagus ver¬ 
anlasst ist, denn in diesem Falle handelt es sich von Anfang an 
um eine bereits in Zersetzung übergegangene Flüssigkeit, welche, 
abgesehen von den mechanischen Störungen, auch chemisch schäd¬ 
lich zu wirken im Stande ist. Hier ganz besonders sollte nicht 
zu lange mit der Incision in die Brusthöhle gezögert werden; 
dann wird es vielleicht gelingen, in manchem dieser Fälle noch 
einen glücklichen Ausgang herbeizuführen. 

Ich möchte jetzt noch auf zwei Punkte aufmerksam machen, 
welche bei Perforation des Oesophagus in die Pleurahöhle in Be¬ 
tracht kommen. Zuerst und besonders scheint es fast ausschliesslich 
die rechte Pleurahöhle zu sein, in welche die Perforationen er¬ 
folgen. In beiden Fällen von Demarquay sowie in beiden Fällen, 
die ich gesehen habe, war stets die rechte Pleurahöhle eröffnet; 
in dem einen Fall von Demarquay allerdings auch noch sub 
finem vitae die linke. In dem fünften Falle endlich fehlt die 
Angabe, welche Pleurahöhle eröffnet wurde. Für diese Verhält¬ 
nisse kommt es ja entschieden in hohem Grade auf Zufälligkeiten 
an, denn je nachdem der fremde Körper, wenn er sich im Brust- 
theil des Oesophagus festgesetzt hat, seine Schärfe nach rechts 
oder links wendet, wird er mit Wahrscheinlichkeit in die rechte 
oder linke Pleura perforiren. Erfolgt dagegen die Perforation 
höher oben am Halse durch die hintere Wand des Pharynx oder 
des Oesophagus, und erstreckt sich sodann längs der Wirbelsäule 
eine Jauchung in den Thoraxraum, welche secundär die Pleura 
perforirt, wie es in meinem zweiten Fall und in den beiden Fäl¬ 
len von Demarquay stattfand, so scheint es, als ob dann vor¬ 
herrschend die rechte Pleurahöhle eröffnet wird, wenigstens war 
das bisher in diesen drei Fällen stets der Fall. 

Der zweite Punkt betrifft das bisweilen auftretende Emphy¬ 
sem. Bekanntlich gilt ja Emphysembildung für eines der haupt¬ 
sächlichsten Zeichen der durch heftiges Erbrechen hervorgerufenen 


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Ueber Perforation des Oesophagus durch fremde Körper. 


75 


Ruptur des Oesophagus und in der letzten Zeit ist noch aus 
Leyden’s Klinik besonders darauf aufmerksam gemacht.*) In 
den wenigen Fällen von Ruptur des Oesophagus, die bisher be¬ 
kannt geworden sind, hat eben Emphysem nie gefehlt Bei den 
durch fremde Körper verursachten Perforationen ist dagegen 
Emphysem durchaus kein constantes oder auch nur häufiges Er¬ 
eigniss. Unter sämmtlichen 60 Perforationen, die in den von 
Adelmann zusammengestellten Fällen eintraten, wurde nur vier¬ 
mal Emphysem beobachtet und zwar einmal bei Perforation 
durch die hintere Pharynx wand (IX. 16.), einmal bei Perforation 
in die rechte Pleurahöhle (VIII. No. 5.), einmal bei Perforation 
in die Trachea (I. No. 89.) und einmal, wo der im Pharynx zu¬ 
rückgehaltene Birzel eines Welschhahnes durch heftiges Erbrechen 
ausgestossen wurde (IX. 24.) und wo eben aus dem Entstehen 
des Emphysems auf Perforation des Oesephagus geschlossen wurde. 
In den beiden von mir beobachteten Fällen fehlte das Emphysem. 
Es ist demnach Emphysem immerhin ein werthvolles Zeichen für 
Perforation des Oesophagus, wenn es da ist, ohne durch seine 
Abwesenheit irgendwie gegen das Vorhandensein einer Perforation 
zu sprechen. 

' Der oben erwähnte zweite Fall, in welchem eine Perforation 
des Oesophagus zum Pneumothorax geführt hatte, ist folgender: 

Am 19ten März 1870, Abends 8 Uhr, kam ein 53j&hriger Arbeiter, Albert 
Koebler, nach der Klinik. Er gab an, vor 8 Tagen plötzlich beim Essen die 
Empfindung gehabt zu haben, als ob ihm etwas in der Kehle stecken bleibe und 
seit dieser Zeit sei er nicht mehr im Stande gewesen, das Geringste zu essen 
oder zu trinken. Ausserdem hat sich in der letzten Zeit eine sehr erhebliche 
Behinderung der Respiration dazu hinzugesellt Ein Arzt, den der Patient con- 
snltirte, verordnete Blutegel in der Gegend des Kehlkopfes. Dieselben ver¬ 
schafften jedoch nur wenig Erleichterung und Patient wurde von seinem Arzt 
angewiesen, nach der Klinik zu gehen. Hier kam er in ziemlich aufgeregtem 
Zustande mit bleicher Gesichtsfarbe an. Der ganze Hals erschien leicht ge¬ 
schwollen und von den Blutegelstichen aus hatte sich eine ziemlich starke blu- 
'tige Diffusion über die vordere Fläche des Halses verbreitet. Nach einiger Zeit 
wurde durch die Ruhe im Bett die Respiration ruhiger, die Unfähigkeit zu 
schlucken blieb jedoch bestehen. Es wurde daher eine dünne, sehr weiche 
Schlundsonde eingeführt, die ohne die geringste Schwierigkeit berunterglitt 
und durch dieselbe ca. | Quart Wein eingegossen. — Die Nacht verging ziem- 


*) Grammatzki, Ueber die Rupturen der Speiseröhre. Dissertation. Kö¬ 
nigsberg 1867. Cannstatt’s Jahresbericht 1867. U. S. 144 

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Dr. F. Busch, 


lieh ruhig*. Gegen Morgen wurde der Patient sehr unruhig und aufgeregt. 
Am Vormittage des nächsten Tages war der Zustand wenig verändert. Es wurde 
abeimals die Schlundsonde eingefäbrt und durch dieselbe \ Quart Bouillon ein¬ 
gegossen. Gegen Mittag trat wieder etwas Aufregung ein und Patient mischte 
in sein übrigens verständiges Gespräch einige unsinnige Sätze. Durch seine 
Frau hatte er sich heimlich Bier besorgen lassen und soll nach Angabe der 
anderen in demselben Zimmer liegenden Patienten ziemlich ein volles Glas des¬ 
selben ohne Beschwerden heruntergetrunken haben. Am Nachmittage traten 
Delirien deutlicher hervor. Am Abende ass er seine Abendsuppe in meiner 
Gegenwart mit dem Löffel aus. — In der Nacht um 1 Uhr wurde er ausser¬ 
ordentlich unruhig, die Respiration sehr frequent jedoch nicht behindert, Puls 140, 
klein, öfters aussetzend, die Extremitäten kalt Am 21sten, Morgens 4 Uhr, er¬ 
folgte unter diesen Erscheinungen der Tod. — Die Section ergab Folgendes: 
Sehr kräftiger Körperbau. Das subcutane Gewebe des Halses und der Brust 
ist in grosser Ausdehnung blutig imbibirt. Bei Eröffnung der rechten Thorax¬ 
höhle entleert sich eine Menge übelriechender Luft mit zischendem Geräusch. 
Ausser mit Luft ist die rechte Pleurahöhle von einer grossen Menge schmutzig 
grauer,, stechend riechender Flüssigkeit erfüllt. Die Lunge ist als kleine unför¬ 
mige Masse gegen die Wirbelsäule gedrängt und steht nur noch durch einige 
lang ausgezogene Adhäsionen mit der Thoraxwand in Verbindung. Die Pleura 
costalis und pulmonalis sind von schmutzig grauen Belagmassen bedeckt Die 
linke Lunge ist bis über die linke Parastemallinie zurückgedrängt und füllt den 
linken Pleuraraum aus. — Das vordere mediastinale Bindegewebe ist in 
mässigem Grade blutig infiltrirt. - Die Präparation des Halses ergiebt eine gute. 
Beschaffenheit der Musculatur an der vorderen Fläche sowie der Glandula tby- 
reoidea. Die Vena jugularis ist beiderseits stark mit Blut gefüllt und in nor¬ 
males lockeres Bindegewebe eingebettet. Nach innen von der Vena jugularis 
ist dagegen beiderseits, vorherrschend jedoch links das Bindegewebe von speckiger 
Härte und grünlicher Farbe und nur mit Mühe gelang es, aus demselben Caro¬ 
tis und Vagus herauszupräpariren. Nach innen von den Carotiden gelangt man 
in eine grosse Jauchehöhle, welche unmittelbar auf der vorderen Fläche der 
Wirbelsäule liegt und sich nach aufwärts bis zur Basis cranii, nach abwärts bis 
in das Mediastinum posticum erstreckt. Von hier aus steht diese Jauchehöhle in 
directer freier Communication mit dem rechten Pleuraraum. — Nach Eröffnung 
des Herzbeutels zeigt sich die vordere Fläche des Herzens in grosser Ausdehnung 
mit demselben durch frische fibrinöse Abscheiduugen leicht verklebt. Das Heiz 
ist von normaler Grösse, die Höhlen von normaler Weite, mit dunklem geronne¬ 
nen Blut erfüllt, die Klappen sind zart, die Musculatur von guter Beschaffen- ä 
heit, — Der linke Pleuraraum ist leer, die Pleura costalis zart, die linke Lunge 
ist gut lufthaltig, die Oberfläche von normaler Beschaffenheit; nur der innere 
Rand, der an das Mediastinum grenzt, ist leicht missfarben und von kleinen 
Ecchymosen besetzt. Auf dem Durchschnitt erscheint das Gewebe schlaff, sehr 
reich an schwärzlichem Blut und lässt bei Druck ziemlich reichliche Mengen 
schaumigen, zähen, dunkel blutigen Serums ausfliessen - Die rechte Lunge wird 
im Zusammenhang mit der Trachea, dem Oesophagus und dem Boden der Mund- 


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Ueber Perforation des Oesophagus durch fremde Körper. 


77 


hoble herausgenommen. Die Schleimhaut der Zunge ist von normaler Beschaffen¬ 
heit, die des Pharynx ist dunkel geröthet, stellenweise missfarben. Die Schleim¬ 
haut des Oesophagus ist blass, leicht grünlich gefärbt. Bei der genauesten 
Untersuchung findet sieb am Oesophagus nur eine kleine linsengrosse Perforations- 
Stelle an der hinteren Wand desselben 3 Cm. unterhalb des Aditus ad laryngem. 
Hucosa und Muscularis sind hier schräg durchbohrt und die Perforation führt 
unmittelbar in die oben erwähnte, an der vorderen Fläche der Wirbelsäule gele¬ 
gene Jaucbeböhle. — Im Abdomen fand sich nichts Besonderes. Die Milz ist 
von normaler Grosse, beide Nieren in ihrer Rindensubstänz leicht getrübt, die 
Leber ist ziemlich klein, von glatter Oberfläche und guter Consistenz. Im Hegen 
findet sich wenig dicke gelbe Flüssigkeit, die Schleimhaut ist von zähem grauen 
Schleim bedeckt und enthält einzelne hyperämische Stellen. Der Dünndarm ist 
ziemlich leer, auch Coecun und Proc. vermiformis wie Colon und Rectum sind 
normal. Vergebens wird in dem ganzen Verdauungscanal nach einem fremden 
Körper gesucht, der möglicher Weise die Perforation des Oesophagus hätte be¬ 
wirken können. Ebenso ist das Suchen nach einem solchen Körper im rechten 
Pleuraraum und dem Mediastinum vollkommen vergeblich. — Es musste somit 
der perforirende Knochen entweder sehr klein sein, so dass er selbst durch ein 
sorgfältiges Suchen nicht aufzufinden war, oder bereits per anuin den Körper 
verlassen haben. 

Ich möchte hier noch einen Fall kurz erwähnen, welcher im 
Jahre 1856 in der Klinik zur Beobachtung kam und in welchem 
gleichfalls in Folge von Perforation des Oesophagus durch ein 
Knochenstück der Tod erfolgte. Der Fall unterscheidet sich von 
den beiden vorigen dadurch, dass die Perforation nicht in einen 
Pleurasack sondern in das hintere Mediastinum erfolgte. Die von 
demselben vorhandene Krankengeschichte lautet: 

Wilhelm Schindelhauer, 26 Jahre, Tischlerlehrliug, recip. am 30sten Novem¬ 
ber 1S56, gestorben am 8ten December 1856. Der sonst gesunde Patient empfand 
am Donnerstag, den 27sten Hai, beim Essen (Hammelfleisch und Bohnen) plötz¬ 
lich einen Schmerz im Halse und fühlte, dass der Bissen nicht ganz herunter¬ 
glitt. Er batte seitdem Schmerz beim Schlucken, konnte aber Gemüse und dünne 
Sachen herunterbekommen. Die Schmerzen nahmen bis Sonntag zu, wo Patient 
bierherkam. Beim Untersuchen mit dem Münzenfänger fühlte man etwa in der 
Mitte des Oesophagus einen barten fremden Körper, der gefasst und auch etwas 
in die Höhe gebracht wurde bis hinter den Larynx. Weiter war es nicht möglich. 
Der fremde Körper wurde auch mit der Spitze der Schlundzange gefühlt, war 
aber noch zu tief, um gefasst werden zu können. Bei einem späteren Versuch 
wurde der fremde Körper weder mit dem Hünzenfänger noch mit der Zange ge¬ 
fühlt — Ziemlich starke Schmerzen, besonders beim Schlucken, daher Blutegel 
und kalte Einwickelungen. Milch konnte Patient gestern am 3ten December 
leicht schlucken, heute wieder weniger gut. - Am 8ten December nahm der 
Collaps zu, es trat Lungenoedem ein und hierdurch der Tod. — Bei der Section 


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78 D r - F* Busch, Ueber Perforation des Oesophagus durch fremde Körper. 

fanden wir den Knochen in dem Mediastinum postictim und den Oesophagus an 
zwei Stellen etwa in der Mitte und hinter dem Kehlkopf perforirt, überdies 
brandig entzündet, Verjauchung im Mediastinum posticum. Infarcte und Abscesse 
in der rechten Lunge, keine Perforation in die Trachea. 

Abgesehen von diesen besonders schweren Fällen sind in den 
letzten 6 Jahren in der Klinik wenigstens 12 Fälle vorgekommen, 
in denen Knochenstficke nnd Münzen ans dem Pharynx und Oeso¬ 
phagus, meist mit dem Gräfe’schen Münzenfänger, leicht und ein¬ 
fach extrahirt wurden. Die Patienten entfernten sich dann stets 
sofort wieder und so existiren über diese Fälle keine schriftlichen 
Aufzeichnungen. 


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\ 


VII. 

Ueber Radicalbehandlung der Prostata- 

hypertrophie. 

Yon 

Prof« C. Heine, 

ln Innsbruck*). 


Meine Herren! Im Anschlags an einen Vortrag Aber „paren¬ 
chymatöse Injectionen in Geschwülste“, den ich in einer der 
Sitzungen des vorjährigen Congresses unserer Gesellschaft hielt, 
habe ich Ihnen mitgetheilt, dass ich vor bald zwei Jahren zum 
ersten Male den Versuch machte, die Methode der parenchy¬ 
matösen Einspritzung einer Jodlösung behufs Rückbildung 
hyperpl&stischer Organe auch auf die hypertrophische Pro¬ 
stata au8zndehnen. Von den beiden Fällen, über welche ich 
Ihnen damals berichtete, lieferte der eine den Beweis, dass die 
hypertrophische Prostata diese Einspritzungen erträgt, ohne dar¬ 
auf besonders zu reagiren, der andere zeigte, dass, wenn es 
gelingt, das vergrösserte Organ in seinem Volumen erheblich zu 
rednciren, damit auch die Chance gegeben ist, die consecutiven 
Krankheitserscheinungen der Blase etc. radical zu beseitigen. In 
diesem letzteren Falle war allerdings die Verkleinerung der Pro¬ 
stata auf dem Wege der Eiterung erreicht worden und der Kranke 
durch seinen Prostata-Abscess der Gefahr, pyämisch zu werden, 
ausgesetzt gewesen, während im ersten Falle die Einspritzung 
kurze Zeit vor dem mit Sicherheit erwarteten Tode, ohne Aus¬ 
sicht auf Erfolg, unternommen worden war. 

•) Vortrag, gehalten in der 4. Sitzung des II. Congresses der Deutsch« 
Gesellschaft für Chirurgie, am 19. April 1873. 


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80 


Dr. C. Heine, 


Es konnte somit aas diesen beiden Fällen noch kein Schloss 
auf den Heilwerth der Methode gezogen werden. Es galt noch 
erst den Nachweis za führen, einmal: „in welchem Häufig- 
keitsverhältniss der Eintritt von Eiterung nach Jodeinspritzang in 
die Prostata zu befürchten stehe“, dann: „ob sich eine Involution 
des Organ’s auch ohne Eiterung durch die Jodlösung erreichen 
lassen würde“, ferner: „ob durch eine solche Involution in einer 
grösseren Zahl von Fällen die definitive Beseitigung des secun- 
dären Blasenleidens bewirkt, oder doch wenigstens ein sicherer 
Weg dazu angebahnt werde“ und endlich: „ob der operative 
Eingriff von der Art ist, dass er im Greisenalter und bei herab¬ 
gekommenen Individuen, für welche er der Natur der Krankheit 
nach doch vorzugsweise bestimmt ist, ohne Bedenken gewagt 
werden kann“. 

Ueber diese zweifelhaft gebliebenen Punkte suchte ich mir 
durch weitere Erfahrungen, zu welchen mir die letztvergangenen 
Monate die Gelegenheit boten, Aufschluss zu verschaffen. Ich bin 
heute in der Lage, Ihnen über vier neue Kranke, welche an 
Prostatahypertrophie und deren Folgezuständen lit¬ 
ten und bei welchen ich zusammen 10 parenchymatöse Jod- 
injectionen vom Mastdarm aus vornahm, Bericht zu erstatten. 
Ich wollte dies um so weniger versäumen, als die dabei erzielten 
Resultate, wenn sie auch die oben aufgeworfenen Fragen noch 
nicht alle endgültig zu beantworten vermögen, doch zu einer 
Prüfung der Methode in einer grösseren Reihe von Fällen dringend 
auffordern. 

Von den vier erwähnten Kranken wurden drei auf meiner 
Klinik und einer von mir privatim behandelt. Sie worden nicht 
etwa zu dem Zwecke von mir unter anderen, weniger günstigen 
Fällen ausgewählt, sondern* so wie sie der Reihe nach kamen, 
siue discriraine, der Behandlung unterworfen und können, mit 
Ausnahme des letzten Kranken, geradezu als ungünstige Fälle 
(wegen der begleitenden Umstände) bezeichnet werden. Bei allen 
liess sich die Hypertrophie der Prostata als Grundleiden zweifel¬ 
los feststellen und glaube ich, bei der Einfachheit der Diagnose, 
die Beweisführung dafür mir und Ihnen ersparen zu können. Bei 
zweien dieser Kranken wurden je drei, bei den zwei anderen je 
zwei Injectionen in ebensovielen getrennten Sitzungen ausgeführt. 

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Ceber Radicalbehandlung der Prostatabypertrophie. 81 

Nach keiner dieser Injectionen trat Entzündung des 
Organs mit Eieber oder gar Eiterung ein. Bei einem der 
Kranken, welchem gleichzeitig mit der Injection die Catheterisirung 
vorgenommen wurde, erfolgte zwar am Abende des Operations¬ 
tages eine geringe Steigerung der Körpertemperatur; doch liess 
sich dieselbe mit gutem Gründe auf die Application des Catheters 
zurückführen, weil der Kranke auch früher schon jedes Mal nach 
dem Catherisiren einen leichten Fieberanfall bekommen hatte. Und 
bei einem zweiten, bei welchem die eingespritzte Jodlösung wahr¬ 
scheinlich zu einem kleinen Theil in die Pars prostatica urethiae 
und in die Blase durchgesickert war, trat eine 2—3 Tage 
dauernde Blasenreizung ein, welche mit abendlicher Tempe¬ 
raturerhöhung verbunden war. Vorsichts halber liess ich zu 
Anfang die Kranken am Tage der Injection und zum Theil 
auch an den nächstfolgenden Tagen das Bett hüten, später hielt 
ich diese Vorsicht für überflüssig. Bei keinem der Kranken 
wurde neben den Injectionen noch eine anderweitige örtliche Be¬ 
handlung des Blasen- und Prostataleidens in Anwendung gezogen. 
Alle wurden unter Regulirung der Diät und Auferlegung einer 
zweckmässigen Lebensweise einige Zeit hindurch, ehe mit den 
Injectionen begonnen wurde, der Beobachtung unterworfen. Bei 
keinem übte diese rein diätetische Behandlung, trotz zwei- und 
dreiwöchentlicher Dauer, einen nennenswerthen Einfluss auf den 
Complex der Krankheitserscheinungen aus, d. b. es trat in keinem 
Falle eine wirkliche Besserung derselben vor dem Beginn mit den 
Injectionen ein. Ausser in katarrhalischer Affection der Blase 
bestanden dieselben noch in unvollständiger Entleerung der Blase, 
zeitweiliger vollständiger Harnretention, unfreiwilligem Harnträufeln, 
häufigem und schmerzhaftem Uriniren etc. Bei den drei klinischen 
Kranken wurde die Injectionsbehandlung zu Ende geführt und er¬ 
gab, wie wir sehen werden, ein nach allen Beziehungen be¬ 
friedigendes Resultat. Der erste Privatkranke steht noch 
in meiner Behandlung, der er seit Kurzem erst theilhaftig wurde, 
und zeigt schon wesentliche Besserung seines Zustandes. 

Ich skizzire zunächst in der Kürze die Krankengeschichten 
der vier Fälle, um den Herren ein eigenes Urtheil über die Be¬ 
deutung der erzielten Erfolge zu ermöglichen und schliesse hieran 
nachträglich einige Bemerkungen über die Technik der kleinen 

T, Langenbeck, Archiv f. Chirorgi«. XVI. 0 


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82 


Dr. C. Heine, 


Operation und gewisse in Frage kommende anatomische Verhält¬ 
nisse der Prostata an, nebst einigen Zusatzbemerkungen über den 
Anspruch der neuen Behandlnngsmethode auf den Namen einer 
radicalen und deren mögliche Tragweite. 

Der erste Kranke, C. K. aus Innsbruck, war ein 73jähriger sehr decre- 
pider Greis, der häufig an Schwindel und convulsivischem Muskelzittern litt, ein 
geröthetes Gesicht und rigide geschlängelte Arterien zeigte und einen sehr un¬ 
sicheren Gang darbot. Er war seit mehreren Monaten von Harn- und Stuhl¬ 
beschwerden geplagt. Das Harnlassen ging nicht mehr so leicht und frei wie 
früher; es dauerte länger bis der Strahl kam und dann war derselbo ziemlich 
schwach Der Act wurde beendigt ehe die Blase vollständig entleert war. Der 
Drang zum Uriniren stellte sich nach und nach immer häufiger ein, so dass 
Patient in der Nacht 10—12 mal und während des Tages noch öfter uriniren 
musste. Zeitweilig steigerte sich dies zu ununterbrochenem Harnträufeln. Beim 
Uriniren empfand der Kranke breunende Schmerzen in der Urethra. Der Harn 
war gewöhnlich sehr trübe und sedimentirt Die Harnröhre war für Katheter 
No. 9 mit kurzem Schnabel durchgängig und bildete nur der prostatische Theil 
derselben beim Einführen einiges Hinderniss, das Vorsicht nöthig machte. Eine 
Strictur war nicht vorhanden (Patient hatte nie an Gonorrhoe gelitten) und in 
der Blase selbst liess sich nichts Abnormes fühlen. Blut war dem Urin nie 
beigemiscbt Der Stuhl pflegte retardirt und sehr hart zu sein; die Verstopfung 
dauerte oft 5—6 Tage. Die Digitaluntersuchung per anum ergab eine 
beträchtliche Vergrösserung der Prostata, welche beide Hälften des 
Organs ziemlich gleichmässig betraf. Der Längen-(Höhen-) Durchmesser, in der 
in meinem vorjährigen Vortrag angegebenen Weise gemessen, betrug 3!; Cm., 
der Breitendurcbmesser 3 Cm. 2 Mm. Nachdem so die Diagnose auf Prostata- 
hypertropbie mit Catarrh und Parese der Blase festgestellt war, wurde der am 
28sten Januar d. J. in die Klinik aufgenommene Kranke 3 Wochen unter Re¬ 
gelung seiner Lebensweise und Diät, einer zuwartenden Beobachtung unterworfen; 
die einzige Behandlung dabei bestand in mehrmaliger Bepinselung der Schleim¬ 
haut der vordem Mastdarmwand mit Jodtinktur. Eine Besserung seines Zustandes 
wurde dadurch nicht erreicht. Deshalb entschloss ich mich den 19. Februar d. J. ihm 
ei ne erstmalige parenchymatöse Injection eine rJod-Jodkalilösung 
(Kal. jod. drachm. 2, Tinct. Jodi unc.2, Aq. destill. unc. 6) in die Prostata zu 
machen. In jede Hälfte derselben wurde eine, 3 Theilstrichen einer gewöhn¬ 
lichen Pravaz’scben Spritze entsprechende, Quantität der Lösung (zwischen 12 
und 20 Tropfen) eingespritzt, nachdem die vordere Mastdarmwand mit Hülfe der 
Simon’scben Scheidenspiegel zugänglich gemacht worden war. Am Abende des 
Tages fühlte sich Patient vollkommen wohl und fieberfrei. Am folgenden Tage 
war er von Morgens 8 Uhr bis Abends 6 Uhr nur fünfmal genöthigt, seinen 
Urin zu entleeren (statt alle Stunden wie vordem). Am zweiten Tage konnte der 
untersuchende Finger die Injectionsstelle an einem weichen höckrigen Vorsprung 
der Rectalschleimbaut, der, so wie die ganze Prostata unempfindlich war, erkennen. 
Am 3ten Tage stand der Kranke auf, weil er sich g^nz wohl fühlte. Er hatte 


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Ueber Radicakehandlung der Prostatahypertrophie. 33 

in der Nacht vorher nur dreimal (an, Stelle von 10 bis 12 Halen in den der 
Einspritzung vorbergegangenen Nächten) uriniren müssen. In den folgenden 
Tagen wurde der Urin reiner und verlor sich das Brennen beim Uriniren. In 
der fünften Nacht nach der Injection urinirte Patient gar nur zweimal, eine 
Wobithat, die ihm seit vielen Monaten nicht zu Tbeil geworden war. Die Unter 
sucbung der Prostata liess jetzt schon eine deutliche Verkleinerung des Organs 
constatiren. Um diese noch etwas weiter zu führen, unternahm ich am 5ten März * 
eine zweite Einspritzung der gleichen Lösung (wiederum 3 Theilstrichen der 
Spritze entsprechend), aber diesmal nur in den rechten Prostatalappen, weil 
dieser sich in geringerem Grade zurückgebildet hatte als der linke. Auch dieses 
Mal stellte sich keine entzündliche Reaction in der Prostata ein. Der Zustand 
des Kranken besserte sich in Folge der zweiten Einspritzung noch weiter, so 
dass er nun die Blase regelmässig ganz entleeren konnte, nie mehr an Harn¬ 
träufeln litt und von seinen subjectiven Harnbeschwerden sich vollkommen be¬ 
freit fühlte. Auch der Stuhlgang regelte sich und das Allgemeinbefinden des 
Kranken war ein durchaus zufriedenstellendes. Derselbe urinirte in den letzten 
Tagen seines Aufenthalts in der Klinik in 24 Stunden durchschnittlich nur 7 
bis 8 mal (5 mal während des Tages und 3 mal während der Nacht). Wenn 
wir von einem gesunden Henschen bei regelmässiger Lebensweise ein 5maliges 
Uriniren in 24 Stunden als durchschnittliche Norm annehmen können und der 
geschwächten Muskelenergie des Greisenalters etwas zu Gute halten, so kann ein 
7—8maliges Uriniren bei diesem 73jährigen zitterigen Greise, dessen Urin zudem 
vollkommen klar und von Schleimflocken frei geworden war, nicht mehr als 
krankhaft bezeichnet werden. Der Kranke wurde daher auf seinen dringenden 
Wunsch am 18ten März d. J. entlassen. Die an diesem Tage zur Controle des 
erzielten Resultates neuerdings vorgenommene Messung ergab nunmehr einen Län¬ 
gendurchmesser von 2 Cm. 7 Mm. und einen Breitendurchmesser von 2 Cm. 9 Mm. 

Es war somit eine Verkleinerung der Prostata im Längendurch¬ 
messer um 8 Mm., im Breitendurchmesser um 3 Mm. erzielt 
worden. 

Der zweite- Kranke, F. H., 73 Jahre alt, trat am 4ten Februar d. J. in 
die Klinik ein. Er gab an, seit ca. einem Jahr viel häufiger als früher Drang 
zum Uriniren zn verspüren. Dieser Drang steigerte sich nach und nach so sehr, 
dass er in der letzteu Zeit alle Stunden, ja an manchen Tagen alle halbe Stunde 
seinen Urin entleeren musste. Dieser war trübe, wolkig und neigte zur Alkales- 
cenz, bei seiner Entleerung verursachte er heftige brennende Schmerzen in der 
Harnröhre. Zeitweilig währte es lange, bis die Entleerung in Gang kam, manch¬ 
mal trat vollständige Urinretention ein und andere Male ging der Urin tropfen¬ 
weise ab. Catheter No. 10. liess sich leicht in die Blase einfübren, doch war 
die Einführung sehr schmerzhaft und verursachte leicht Blutung aus der Harn¬ 
röhre. Der Stuhl war angebalten und hart. Die Prostata zeigte sich bei der 
Untersuchung per rectum in ihren beiden Lappen gleichmässig ver- 
grössert. Die Messung wies eine Höhe von 30 Mm. und eine Breite 
von 35 Mm. aus. In den ersten acht Tagen des Aufenthalts des Kranken in 
der Klinik wurde nur für Regelung der Diät und des Stuhlgangs Sorge getra- 

6 * 


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gen. Da hierdurch keine Aenderung in dem Blasenleiden bewirkt wurde, 
spritzte ich am 13ten Februar d. J , unter Zuhülfenahme der Spiegel, in 
jeden Prostatalappen von der oben erwähnten Jod-Jodkalilosung eine 2 Theil- 
strichen der Pravaz’schen Spritze entsprechende Quantität ein. Die Injection 
in den linken Lappen gelang wegen schlechten Schliessens des Spritzenstempels 
nicht so gut, wie die in den rechten. Am Tage nach der Einspritzung zeigte 
sich, ohne dass Fieber eingetreten wäre, nur eine mässige Empfindlichkeit der 
Prostata bei der Untersuchung. In der zweiten auf die Injection folgenden Nacht 
und ebenso in den nächstfolgenden Nächten urinirte der Kranke nur 5mal 
(statt 8—lOmal wie früher). Schon am dritten Tage schien die Prostata sich 
etwas verkleinert zu haben, und zwar der rechte Lappen mehr als der linke. 
Deshalb wurde am 19ten Februar eine zweite Injection (entsprechend zwei 
Theilstricben) in den linken Lappen allein gemacht, auch diesmal ohne fieber¬ 
hafte Reaction. In den nächsten vier Wochen besserte sich nun der Blasen¬ 
katarrh ganz erheblich, der Urin wurde klar, das Uriniren schmerzlos, der 
lästige Drang dazu und der periodische unfreiwillige Abgang verloren sich gänz¬ 
lich, ohne dass diese günstige Wendung durch eine örtliche oder allgemeine 
Behandlung des Blasenleidens (abgesehen von der Verordnung von Extr. graminis) 
unterstützt worden wäre. Da in der 5ten und 6ten Woche die Häufigkeit des 
Urinirens in 24 Stunden wieder etwa9 zuzunehmen begann und der rechte Pro¬ 
statalappen noch immer etwas vergrössert erschien, so wurde am 4. April eine 
dritte Einspritzung in den rechten Lappen allein, und zwar dieses Mal ohne 
Benutzung der Spiegel, nur unterLeitung des Fingers, mit einem langen 
Explorativtroisquart gemacht. Es wurde ein 2 Theilstriche der Pravaz’schen 
Spritze betragendes Quantum der Lösung eingespritzt, während ein Assistent 
mittelst eines in die Harnröhre eingefübrten Catbeters die Prostata dem im Mast¬ 
darm befindlichen Finger entgegenzudrängen beauftragt war. Diese Procedur 
erreichte ihren Zweck nicht in der gewünschten Weise, wurde dagegen der 
Anlass einer leichten Fieberbewegung am Abende der Injection sowie der 
Entleerung eines etwas blutig tingirten Urins. Am folgenden Tage fühlte sich 
der Prostatalappen härter an und war ziemlich schmerzhaft, Fieber war nicht 
mehr zugegen. Die Urinbeschwerdeu nahmen in den letzten 14 Tagen noch 
weiter ab, Patient urinirt jetzt nur noch durchschnittlich 8 mal in 24 Stunden 
ohne jede unangenehme Empfindung. Die zuletzt vorgenommene Messung der 
Prostata ergab eine Länge des Organs von 25 Mm., eine Breite von 32 Mm. 
Es war demnach durch die dreimalige Injection eine Verkleinerung des¬ 
selben um 5 Mm. im Höhen- und 3 Mm. im Breitendurchmesser her¬ 
beigeführt worden. Der Kranke, der sich übrigens ganz wohl fühlt, ist gegen¬ 
wärtig noch in Beobachtung auf der Klinik. 

Der dritte Kranke, 0. W., war ein 58jäbriger Mann, Wiener Lohnkutscher 
und Gewohnheitstrinker mit verräterischer weingerötheter Nase, der in jungen 
Jahren mehrere Gonorrhöen durchgemacht hatte, ohne davon eine Strictur zu¬ 
rückzubehalten. Vor 10 Jahren will er die Wassersucht in hohem Grade gehabt 
haben. Seit einem Jahre sah er sich genöthigt, seinen Harn sehr häufig zu ent¬ 
leeren. Der Harndrang wurde immer stärker, so dass er schon einige wenige 


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Ueber Radicalbehandlung der Prostatahypertrophie. 


85 


Tropfen Harns, die sich in der Blase angesammelt hatten, entleeren musste. 
Wenn der Reiz sehr heftig war, ging der Harn auch unfreiwillig ab, ehe der 
Kranke in die Lage kam, ihn willkürlich zu entleeren. Bei Nacht wurde der 
Kranke alle halbe Stunde durch das Bedurfniss zu uriniren aus dem Schlafe ge¬ 
weckt und dadurch in seinem Allgemeinbefinden sehr herabgebracht Das Uri¬ 
niren verursachte ihm jedesmal ein starkes Brennen in der ganzen Harnröhre, 
wie wenn dieselbe „im Innern ganz wund gewesen wäre“. Der Urin war trübe 
und sedimentirt, reagirte jedoch, frisch untersucht, neutral. Er enthielt eine 
ziemliche Menge Eiweiss. Schmerzen in den Nierengegenden waren nicht vor¬ 
handen. Catheter No. 10 konnte die Harnröhre bequem passiren. Die Pro¬ 
stata fühlte sich sehr derb an und war entschieden vergrössert, und 
zwar betrug, der Messung zufolge, ihr Höhendurchmesser 32 Mm., 
ihr Breitendurchmesser 30 Mm. 

Der Kranke, welcher am 17. Februar d. J. in die Klinik aufgenommen 
worden war, wurde in den ersten acht Tagen nur der Beobachtung unterworfen. 
Er urinirte in dieser Zeit unter Tages 10 mal und bei Nacht 16- 18 mal. Seine 
Diät wurde geregelt und Bicarb. Sod. in Wasser gelöst, ihm zum Getränk ver¬ 
ordnet, aber trotz Fernhaltung aller schädlichen äusseren Einflüsse änderte sich 
sein Zustand nicht, so dass ich mich entschloss, trotz der sehr wahrscheinlichen 
Bright’schen Entartung seiner Nieren, bei dem gesunden Zustand seiner übrigen 
inneren Organe ihn gleichfalls der Injectionsbehandlung zu unterwerfen. Ich 
injicirte am 25. Februar in beide Prostatalappen, unter Spiegelein¬ 
führung, je eine drei Theilstricben correspondirende Menge der 
obigen Jodlösung. Eine Reaction trat nicht ein. Schon am zweiten und 
den nächstfolgenden Tagen reducirte sich die Zahl der Uunentleerungon in 
24 Stunden von 28 auf 15 Male. Der Reiz zum Uriniren wurde geringer, das 
Harnträufeln vor dem einzelnen Acte verschwand. Den 6. März wurde eine 
zweite Injection wie die erste in beide Prostatahäl ften (je zwei 
Theilstrichen entsprechend) gemacht. Die Prostata war am folgenden Tage bei 
der Berührung ein klein wenig empfindlich, doch verursachte der Stuhl nicht die 
geringsten Beschwerden. Der Harndrang stellte sich von nun an nur noch des 
Morgens in geringem Grade ein. Der Urin wurde täglich reiner, ohne seinen 
Eiweissgehalt zu verlieren. Das damit verbundene Brennen hörte ganz auf. 
Patient, der in der letzten Zeit noch Buccotbee bekommen batte, entleerte schliess¬ 
lich nur noch 10 11 Mal (statt 26—28 Mal) in 24 Stunden seinen Urin und 

das in ganz normaler Weise und ohne Beschwerden, so dass er sich als geheilt 
betrachtete und am 25. März d. J. seinen Austritt verlangte. Die vor seiner 
Entlassung vorgenommene Messung constatirte, dass dieProstata 
in ihrem Längsdurchmesser auf 30 Mm., in ihrem Breitendurch¬ 
messer auf 26 Mm. reducirt worden war; die erzielte Verkleinerung 
betrug also 4 Mm. in der Breite und 2 Mm. in der Höhe. 

Der vierte Kranke ist ein amerikanischer College in den fünfziger 
Jahren, welcher sich vor drei Jahren in seinem Berufe in Chicago eine heftige 
Erkältung zuzog und in deren Folge an Behinderung seiner Harnentleerung zu 
leiden begann. Als Ursache derselben wurde schon gleich in der ersten Zeit von 


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86 


Dr. C. Heine, 


verschiedenen amerikanischen und europäischen Aerzten von Ruf eine Vergrös- 
serung der Prostata erkannt, welche auch ich constatirte und durch Messung 
genauer bestimmte und die ich der grösseren Weichhoit des Organs und der 
jüngeren Jahre des Kranken wegen, zum Unterschiede von den drei andern Fäl¬ 
len (in welchen eine fibro-myomatöse Hypertrophie vorlag), vorwiegend alseine 
drüsige Hyperplasie ansehen zu müssen glaube. Die verschiedensten Curen, 
welchen sich der Kranke unterzog (darunter eine längere in Wildungen und 
äussere und innere Jodeuren aller Art) blieben ohne Erfolg. Der Kranke, der 
sich aufs Genaueste beobachtet, ist nicht im Stande, beim Uriniren den in der 
Blase enthaltenen Urin vollständig zu entleeren. Es bleiben nach Beendigung 
jedes Actes, zu dessen Vornahme er häufiger als früher genöthigt ist, 3—4 Unzen 
Harns im Blasengrund zurück, welche er durch jedesmalige nachträgliche Appli¬ 
cation des Catheters entleert Unterlässt er dies, so wird der Harn trübe und es 
entwickeln sich alle Erscheinungen eines Blasenkatarrhs, der sich wieder ver¬ 
liert, sobald er der partiellen Urinretention, deren Grund er selbst in einem 
durch den hypertrophischen hinteren (E v. H o m e’scber) Lappen gesetzten ana¬ 
tomischen Hinderniss sucht, durch regelmässiges Nacbcatherisiren vorbeugt Die 
Entleerung des Harns durch den Gatheter erfolgt in ziemlich kräftigem Strahl. Bei 
freier Entleerung ist der Strahl schwach und dünn. Im Uebrigen ist Patient voll¬ 
kommen gesund. Ich habe ihm bisher drei Injectionen von Jod-Jodkali¬ 
lösung gemacht (zweimal mit Hülfe der Spiegel, davon einmal in der Chloro¬ 
formnarkose und einmal unter Leitung des Fingers). Alle drei Injectionen wur¬ 
den von ihm gut ertragen. Nur bei der ersten gab er eine eigenthümlicbe 
Empfindung an, als ob eine warme Flüssigkeit in die Blase hineinliefe. Er be¬ 
kam etwas stärkeren Reiz zum Uriniren und entleerte mit dem Harne im Laufe 
des Tages Spuren von Blut. Die Folge dieser Blasenreizung war eine an 
den ersten drei Tagen sich wiederholende geringe abendliche Steigerung der 
Körpertemperatur, welche gleichzeitig mit dem gereizten Zustande der Blase sich 
wieder verlor. Der Kranke fühlte sich durch die drei Injectionen, denen ich 
noch weitere binzuzufügen beabsichtige, schon wesentlich erleichtert Er ist noch 
gegenwärtig in meiner Behandlung, so dass sich von einem Endresultat dersel¬ 
ben noch nicht reden lässt, doch kann schon jetzt die durch die Injectionen, in 
Verbindung mit gleichzeitiger Application von Electricität auf die Blasengegend 
erzielte Besserung dahin präcisirt worden, dass er den früher deutlich empfun¬ 
denen Druck in der Prostatagegend nicht mehr verspürt und die Quantitäten 
Urins, welche nach jeder Entleerung in der Blase Zurückbleiben, merklich ge¬ 
ringer geworden sind, als vordem. — 

Ehe ich nun das Facit aus diesen vier Beobachtungen ziehe 
und die Frage beantworte, welche Hoffnungen die erzielten Re¬ 
sultate in die neue Methode zu setzen gestatten, muss ich einige 
Bemerkungen über die Technik der kleinen Operation und 
einige dabei in Betracht kommende anatomische Verhältnisse 
vorausschicken. Ich führte die Operation in der Mehrzahl meiner 


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Deber RatiicaJbehändlung der Prostatabypertrophie. 


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Iujectionen in der gleichen Weise aus, wie ich es in mei¬ 
nem vorjährigen Vortrage angab, nämlich unter Zuhülfenahme 
eines flalbrinnenspecnlums, das gegen die hintere Mastdarmwand 
angedrängt wird und zweier Seitenhebel. Die vordere Mastdarm¬ 
wand wird damit freigelegt und ihre Schleimhaut möglichst glatt 
gespannt, so dass die Prostata ein deutliches Haut-Relief bil¬ 
det. Das gelingt nicht immer, da die Mastdarmschleimbaut bei 
alten Leuten, zumal wenn sie sich in dem Zustand katarrhalischer 
Erkrankung befindet, häufig sehr schlaff, wulstig und byperämisch 
ist. Sie bildet dann, wenn der Kranke noch überdies presst, 
quere Falten über der Prostata, die sehr leicht bluten und welche 
von stark geschwellten Hämorrhoidalknoten ausgefüllt sein können. 
Unter diesen Umständen ist. die Wahl des Einstichspunktes nicht 
ganz leicht und muss man sich doppelt in Acht nehmen, keine 
der varicö9en Venen zu verletzen. 

Wichtiger noch als dies ist die Vermeidung der Verletzung 
einer kleinen Arterie, welche ich bis jetzt in jedem Falle 
von Prostätahypertrophie in der Mittellinie des Organs, an dessen 
dem Rectum zugekehrter Fläche wiederfand und an der Pulsation 
deutlich erkennen konnte. Ich habe mich vergeblich in den Hand¬ 
büchern der Anatomie nach dieser Arterie, die von der Basis der 
Prostata zu deren Spitze verläuft, umgeschaut, sie jedoch nirgends 
besonders aufgeführt gefunden. Offenbar wurde ihr keine weitere 
Aufmerksamkeit geschenkt, weil ihr bisher keine praktische Be¬ 
deutung zukam. Sie dürfte höchst wahrscheinlich ein Ast der 
A. vesicalis infer. oder der Pudenda comm. sein. Ihres constan- 
ten Lageverhältnisses in einer seichten Längsrinne in der Median¬ 
linie der unteren (hinteren) Fläche der Prostata wegen möchte 
ich Vorschlägen, sie A. prostatica mediana zu nennen. Man 
muss vor dem Einstechen der Spritze oder des Troisquarts jedes 
Mal die Arterie aufsuchen und dann rechts oder links von ihr 
seinen Einstich machen. Ich habe die Ueberzeugung, dass ich in 
dem vorjährigen zweiten Falle diese Arterie angestochen habe 
und dadurch einen Bluterguss in das submucöse Zellgewebe ver¬ 
ursachte, welcher zur Abscedirung führte. 

Der Einstich in die Prostata wird ca. lj—2'" tief gemacht, 
unter Führung des linken Zeigefingers, der das Organ fixirt. Man 
gewinnt einen Anhaltspunkt dafür, dass man mit der Nadel der 

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88 


Dr. C. Heine, 


Spritze in das Innere des Organs eingedrungen und nicht über 
dessen Grenzen hinausgerathen ist, an der Art und dem Grade 
des Widerstandes, den die Nadel findet, wie an der eigenthüm- 
lichen Empfindung, die man bekommt, wenn man die feststeckende 
Spritze hin und herbewegt. .Es folgt derselben dabei nämlich 
das ganze Organ, indem es die kleinen Excursionen im submucösen 
Zellgewebe mitmacht, ganz- wie eine an einer Nadel aufgespiesste 
Kastanie. 

Einer meiner Kranken und zwar der letzterwähnte, welcher 
als Arzt im Stande war, seine Empfindungen genau zu controliren 
und präcis anzugeben, machte mich, wie vorhin erwähnt, bei der 
ersten Injection darauf aufmerksam, dass er im Momente des 
Einspritzens ein Gefühl von „ warmem Ueberlaufen“ in der Harn¬ 
röhre und im Blasengrund gehabt habe und diesem Gefühl war 
später Drang zum Uriniren, Abgang einiger Blutstropfen mit dem 
Harn und leichtes Brennen bei der Entleerung desselben gefolgt. 
Diese Erscheinungen veranlassten mich, an der, im Zusammenhang 
mit den übrigen Beckenorganen in specie mit Blase und Mast- 
daim der Leiche entnommenen und in ihrem natürlichen Lage- 
verhältniss zu letzteren belassenen Prostata zu untersuchen, 
wie weit und wohin die in das Organ eingespritzte Flüssigkeit 
sich verbreitet. Die gelbe Färbung, die sie der Prostata¬ 
substanz verleiht, machten diese Beobachtung leicht. Ich 
spritzte an drei aus dem Innsbrucker pathologischen Institute er¬ 
haltenen Präparaten ganz in derselben Weise wie an Lebenden 
die gleiche Menge derselben Jodlösung mit einer Pravaz’schen 
Spritze durch die Mastdarmwand hindurch ein, nachdem ich zuvor 
die Urethra und den Blasenbals von oben eröffnet hatte. Während 
des Einspritzens (wobei natürlich die Spitze der Nadel im Innern 
der Prostata verborgen blieb) sah ich. wie mehrere kleine Tröpf¬ 
chen der Jodlösung durch die Mündungen der Ausführungsgänge 
der Prostata im Umkreise des Samenhügels hervorquollen und 
nach dem Blasenhals zu abliefen. Diese Wahrnehmung machte 
ich an allen drei Präparaten und wenn ich nachträglich die Pro¬ 
stata ihrer Quere nach und in jeder ihrer Seitenhälften der Länge 
nach spaltete, so konute ich constatiren, wie jedesmal die injicirte 
Hälfte in ihrem Centrum gelb gefärbt war, unter Ausschluss der 
peripherischen Schichten, und wie die Färbung nach der Ein- 


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Ueber Radicalbebandlung der Prostatahyperi rophie. 


89 


spritzaug in das Centrnm einer Hälfte, nicht über die Mittellinie 
in die andere Hälfte hinüberreichte. 

An denselben Präparaten suchte ich auch Gewissheit dar¬ 
über zn erhalten, inwieweit meine durch die Mastdarmschleim¬ 
haut hindurch an Kranken vorgenommenen Messungen der 
Prostata auf Genauigkeit Anspruch erheben können. Ich ver¬ 
schaffte mir darüber auf die Art Aufklärung, dass ich zu¬ 
erst ganz wie am Lebenden bei von hinten aufgeschnittenem 
Rectum, durch die unversehrte und mit dem Darm und der 
Prostata in natürlicher Verbindung gelassene vordere Mast- 
darmwand hindurch, die Prostata in ihrem Höhendurchmesser mit 
dem Lithotriptor, in ihrem Breitendurchmesser mittelst eines 
Zirkels mass, dann die Mastdarmschleimhaut abpräparirte, die Pro¬ 
stata bioslegte und nun das nackte Organ einer nochmaligen Mes¬ 
sung unterzog. Bei Vergleichung der beiden Messungsresultate 
fand ich, dass dieselben in allen drei Fällen bis auf 1 oder höch¬ 
stens 1 j Millimeter Differenz übereinstimmten. Diese Differenz 
erscheint fast als zu gering, wenn man erwägt, dass dieselbe 
eigentlich der doppelten Dicke der Mastdarmschleimhaut ent¬ 
sprechen sollte. Allein wenn man bei der Messung durch' die 
letztere hindurch die Mucosa gegen die Drüse etwas andrängt, 
wie dies behufs sicheren Anlegens des Messinstrumentes kaum 
vermieden werden kann, so erhält man entweder eben nur jene 
geringe Differenz oder selbst geradezu das richtige Maass der 
Prostatadurchmesser, von dem man nichts mehr abzuziehen 
nötbig hat 

Bei den wiederholten (im Anfang und am Ende der Behand¬ 
lung vorgenommenen) Messungen an einem und demselben Indi¬ 
viduum wird um so weniger eine Selbsttäuschung durch etwaige 
verschiedene Art zu messen, zu befürchten sein, als eine Com- 
pression des derben Organs mit dem Messinstrument nicht leicht 
ansgeübt werden kann, ohne dass man davon durch das Gefühl so¬ 
fort unterrichtet wird. — 

Die oben geschilderte Applicationsweise der parenchymatösen 
lnjectionen in die Prostata mit Hülfe der Mastdarmspiegel hat 
nun aber den einen grossen Uebelstand gegen sich, dass die Er¬ 
weiterung des Afters durch die Spiegel in dem Grade, dass ein 
bequemer Zugang zur Prostata gewonnen wird, dem Kranken sehr 


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Dr. C. Heine, 


schmerzhaft ist. Oie Schmerzempfindung, welche diese Procednr 
hervorrnft, ist bei einzelnen Individuen so gross, dass sie während 
der ganzen Dauer derselben, bis die Spiegel heränsgenommen sind, 
nicht aufbören zu schreien. Bei dem erwähnten Collegen war ich 
genötbigt, der Schmerzhaftigkeit wegen einmal die Chloroform- 
narcose zn Hülfe zu nehmen. Eine solche Notwendigkeit wäre 
nun, ebenso wie die Schmerzhaftigkeit des Eingriffs selbst, im 
Hinblick auf das Greisenalter, für welches unsere Operation be¬ 
stimmt ist, ein der häufigeren Ausführung derselben bei einem und 
demselben Kranken sehr abträglicher Umstand. Glücklicherweise 
sind wir im Stande, wie ich mich bei zwei Injectionen bereits 
überzeugte, den Eingriff in einer schmerzloseren und einfacheren 
Vf eise, ohne Spiegel auszufübren, ohne dass derselbe deshalb an 
Sicherheit einbüsst, oder, wie es mir wenigstens bis jetzt scheint, 
in seinen Folgen gefährlicher würde. Man bringt zu diesem Be- 
bnfe den Kranken in seinem Bette in die Seitenlage und lässt 
ihn bei stark flectirten Oberschenkeln mit dem Gesäss ganz an 
den Bettrand rücken. Will man in die rechte Seitenhälfte der 
Prostata einspritzen, so lässt man ihn die linke Seitenlage ein¬ 
nehmen, im umgekehrten Falle die rechte. Man führt nun in 
der linken Seitenlage des Kranken den linken, gut beölten Zeige¬ 
finger in das Rectum ein und legt seine Spitze an die betreffende 
Stelle der rectalen Prostatafläche an, in welche man seine Ein¬ 
spritzung machen will. Dann wird ein ca. 12 Cm. langer, feiner 
Explorati vtroisquart mit in die Canüle zurückgezogener Stachel¬ 
spitze auf dem Finger gegen die betreffende Stelle hingeleitet, 
angedrückt, der Stachel vorgestossen nnd der Troisqnart einge- 
stocben. Um sich zu überzeugen, dass er in das Parenchym des 
Organs weit genug eingedrungen ist, dilatirt man mit dem im 
Rectum verbliebenen Zeigefinger den After etwas gegen das 
Steissbein zu, so dass der Troisquart Luft bekömmt und macht 
nun mit demselben kleine Bewegungen, indess die Zeigefinger¬ 
spitze controlirt, ob die Prostata diesen Bewegungen folgt. Ist 
dies der Fall, so zieht man den Stachel zurück, schiebt in das 
ausserhalb des Anus gebliebene Ende der Canüle die mit der 
Jodlösung gefüllte und bereitgehaltene Pravaz’sche Spritze in der 
Länge ihrer Nadel ein und füllt so zunächst die Canüle mit der 
Lösung. Dann wird die Nadel von der Spritze abgenommen nnd 

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Ueber Radicalbehandlung der Prostatahypertrophie. 91 

deren Ansatz (welcher in die Oeffnung der Canüle gnt passen 
muss), in die Canüle eingesetzt und nnn die Einspritzung in der 
beabsichtigten Quantität vollzogen. Zum Schluss wird der Trois- 
quart sammt der Spritze vorsichtig drehend zurückgezogen, wäh¬ 
rend der Zeigefinger die Prostata fixirt. 

In der Meinung, durch einen in die Harnröhre eingeführten 
Catheter die Prostata für den Akt der Injection besser fixiren zu 
können, machte ich ein einziges Mal den Versuch, die Einspritzung 
bei eingelegtem Catheter unter Andrängen desselben gegen die 
Prostata auszufübren, überzeugte mich aber dabei, dass der Ca¬ 
theter der Verlaufsrichtung der Pars prostatica urethrae ent¬ 
sprechend die eine, weniger voluminöse Seitenhälfte des Organs 
niederdrückte, indess die andere (in welche ich meine Injection 
machen wollte) in die Höhe stieg und sich dabei von meinem 
Finger mehr entfernte. Es fand somit eine Drehung der Pro¬ 
stata um ihre Längsaxe statt, die wahrscheinlich unter dem Druck 
des lateral eingestochenen Instrumentes auch dann stattfinden 
dürfte, wenn der prostatische Harnröbrentheil bei beiderseits 
gleichmässiger - Hypertrophie genau in der Mittellinie des Organs 
eingebettet liegt. 

Darnach muss ich dabei bleiben, die Vornahme der In- 
jectionen unter einziger Leitung des Fingers mit Hülfe 
von Explorativtroisquart und Pravaz’schen Spritze 
als zweckmässigste Art der Ausführung derselben zu 
bezeichnen. 

Was nun die Schlussfolgerungen betrifft, welche wir aus den 
in unseren vier Fällen gemachten Wahrnehmungen auf die thera¬ 
peutische Tragweite unserer neuen Methode ziehen können, so 
glaube ich meine Ansicht hierüber in den folgenden Bemerkungen 
kurz znsammenfassen zu können: Zuvörderst kann jetzt mit 
grösserer Bestimmtheit, als früher, ausgesprochen werden, dass 
die parenchymatösen Injectionen einer mässig concentrirten Jod- 
Jodkalilösung in die Prostata in der von mir zuletzt empfohlenen 
Weise vorgenommen, einen harmlosen Eingriff darstellen, wel¬ 
cher auch von alten und schwächlichen Individuen gut ertragen 
wird. Sodann ist direct durch die Digitaluntersuchung und mehr 
noch durch die Messungen und indirect durch die Wiederherstel- 
Inng freier, unbehinderter Harnentleerung in unseren drei ersten 


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92 


Dr. C. Heine, 


Fällen der Nachweis geliefert, dass diese Jodeinspritzangen wirk¬ 
lich eine Verkleinerung des hypertrophischen Organs zu bewirken 
vermögen, ohne Vermittelung von Eiterung. Endlich ist es auch 
wahrscheinlich gemacht, dass in solchen Fällen, in welchen die 
Folgeerscheinungen der Prostätahypertrophie noch keinen hohen 
Grad erreicht haben und seit kurzer Zeit erst bestehen, die durch 
das Jod herbeigeführte Volumsabnahme des Organs in der Regel 
auch von einer Rückbildung der secundären Affectionen der Blase 
begleitet sein wird, ohne dass gegen diese eine besondere locale oder 
innere Behandlung einzuleiten wäre. Dagegen kann man nicht 
erwarten, dass ein eingewurzelter chronischer Blasencatarrh mit 
hochgradigen Veränderungen der Blasenschleimhäut oder eine Pa¬ 
rese oder Paralyse der Sphincter oder Detrusor vesicae, und noch 
viel weniger, dass consecutive Nierenleiden von einiger Bedeutung 
durch unsere Injectionen ohne weiteres Zuthun beseitigt werden 
können, mag die Prostata auch noch so sehr dadurch verkleinert 
werden, vielmehr wird es in solchen Fällen noch immer einer 
sorgsamen Specialbehändlung dieser Complicationen bedürfen, ge¬ 
rade wie bei einem idiopathischen Auftreten derselben, bei wel¬ 
chem sie auch oft genug an Hartnäckigkeit nichts zu wünschen 
übrig lassen. 

Insofern aber mit der Beseitigung der Prostatahypertrophie 
die Ursache jener consecutiven Krankheiten aus dem Wege ge¬ 
räumt und damit die einzig sichere Grundlage für eine erfolg¬ 
reiche Bekämpfung derselben geschaffen wird, ganz wie durch die 
Entfernung eines Blasensteins oder durch die Erweiterung einer 
Harnröhrenstrictur, kann man unserer Methode der parenchyma¬ 
tösen Jodinjectionen den Anspruch, eine radicale Behandlungs¬ 
methode der Prostatahypertrophie zu sein, nicht streitig machen. 
Sie ist es zum Unterschied von allen andern, bisher in Anwendung 
gezogenen, mochten sie in Jodsuppositorien oder Jodklystieren, 
oder in Jodbepinselungen der Mastdarmschleimhaut oder endlich 
in dem in früherer Zeit durch eigene Prostata-Depressoren aus¬ 
geübten instrumentalen Druck bestehen, Methoden, welche sich 
sämmtlich im Laufe der Zeit als nicht genügend wirksam oder 
als undurchführbar erwiesen haben. 

Demgemäss glaube ich heute schon, noch ehe mir selbst eine 
grössere Zahl von Erfahrungen mit einer längeren Beobachtungs- 

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lieber Radicalbehandlung der Prostatahypertropbie. 


93 


zeit zu Gebote stehen, den Herren Collegen die Prüfung der neuen 
Methode eindringlich empfehlen zu sollen, damit wir auf einer brei¬ 
teren Grundlage, als die Erfahrungen eines Einzelnen sie darstellen 
und in kürzerer Frist zu einem definitiven Urtheil darüber gelangen, 
ob wir in ihr eine werthvolle Bereicherung unserer chirurgischen 
Therapie zu erblicken haben, oder auf die erweckten Hoffnungen 
nachträglich wieder verzichten müssen. 

Zusatzbemerkung. Behufs genauerer Registrirung der 
Zahl der täglichen Harnentleerungen und um eine möglichst exacte 
Controle des mittelbaren oder unmittelbaren Einflusses der Jod- 
injectionen auf die Intensität des Harndrangs ausüben zu können, 
wurden von den Assistenten meiner Klinik Curventabellen ange¬ 
fertigt, welche die Schwankungen in der Häufigkeit der Harnent¬ 
leerungen sehr anschaulich machen Die Ordinaten repräsentiren 
die aufeinanderfolgenden Tage, welche in je zwei Abschnitte, einen 
von Morgens 7 bis Abends 7 Uhr, und einen von Abends 7 bis 
zum nächstfolgenden Morgen 7 Uhr abgetheilt sind und die Abscis- 
sen die Zahl der Harnentleerungen. leb erlaube mir solche Ta¬ 
bellen von unseren drei ersterwähnten Beobachtungen den Herren 
zur Einsicht vorzulegen. Natürlich haben dieselben nur einen 
Werth, wenn gleichzeitig auf die Menge des täglich genossenen 
Getränks und der eingenommenen flüssigen Nahrung, wie auf 
Steigerung der Körpertemperatur, Transpiration etc. gebührende 
Rücksicht genommen wird. 


Ueber den ferneren Verlauf der oben mitgetheilten Fälle füge 
ich noch folgende weitere Notizen hinzu: 

Der zuerst erwähnte Kranke, C. K., kehrte am 24. April in die Klinik 
zurück mit einer recidivirten Blasenentzündung, welche er sich durch eine sehr 
unregelmässige Lebensweise zugezogen hatte. Die Prostata halte noch densel¬ 
ben verkleinerten Umfang, wie bei seiner Entlassung. Nachdem die grössten 
Beschwerden des Kranken: die Urinretention, die paretische Dilatation der Blase 
.und die schlechte Beschaffenheit des Harns in etwas gebessert worden waren 
und das Allgemeinbefinden sich wieder etwas zu heben begonnen hatte, wurden 
von dem ersten Assistenten der Klinik, Herrn Dr. Läng, am 19. Mai, 23. Mai 
und 2 Juni drei weitere Jodinjectionen unter Leitung des Fingers in die Pro¬ 
stata gemacht. Auf die beiden ersten erfolgte keine Reaction. Zwei Tage nach 
der dritten trat ein Schüttelfrost ein, der sich mehrmals wiederholte und von 
welchem es fraglich war, ob er der eitrigen Cystitis oder der Einspritzung zu¬ 
zuschreiben sei. An der vorderen Mastdarmwand war nur eine geringe Schwei- 


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Dr. C. Heine, 


lang zu constatiren. Bald darauf gesellten sich die ausgesprochenen Erschei¬ 
nungen einer rechten Pneumonie hinzu und der Kranke wurJe auf die interne 
Klinik transferirt, wo er nach einigen Tagen starb. Die von Prof. Schott 
vorgenommene Section ergab: Eitrige Cystitis, Pyelitis und Nephritis, rechts hy¬ 
postatische Pneumonie und Fettherz. In dem Bindegewebe zwischen hinterer 
Prostataoberfläche und Rectum fand sich ein kleiner abgekapselter Abscess mit 
relativ gutem Eiter, der sich durch entsprechende Behandlung leicht hätte zur 
Heilung bringen lassen. Es ist möglich, dass die letzte der drei Einspritzungen, 
bei der der Kranke sehr unruhig war, in jene lockere Bindegewebslage an¬ 
statt in die Prostatasubstanz gemacht wurde. Jedenfalls war nicht der Abscess, 
sondern die eitrige Pyelo-Nephritis, im Verein mit der Pneumonie, die Todes¬ 
ursache. Metastatischo Processe fanden sich nirgends vor. Die Prostata wurde 
(ohne Zweifel in Folge der benachbarten Zellgewebsvereiterung) stärker durch¬ 
feuchtet und geschwellt, aber frei von jeden, auch den kleinsten Eiterherden 
gefunden; ihr Umfang war übrigens entschieden geringer als zur Zeit der ersten 
Messung von Beginn unserer Behandlung. 

Der zweite Kranke, F. H., der den 5. Mai in einem durchaus befriedi¬ 
genden Zustande aus der Klinik entlassen werden konnte, kehrte von da in 
eine Pfründneranstalt zurück, wo er unter den Schädlichkeiten einer feuchten 
Wohnung und unzweckmässigen Diät zu leiden hatte. Die Folge davon war, 
dass er neuerdings einen intensiven Blasenkatarrh nebst eitrigem Ausfluss aus 
der Harnröhre bekam. Dies bewog ihn wiederum, seine Aufnahme in der Klinik 
nacbzusuchen. Seine Prostata schien sich wieder etwas vergrössert zu haben. 
Es wurden daher neben einer Anfangs örtlichen, später ausschliesslich inner¬ 
lichen Behandlung des Blasenkatarrhs den 27. Mai und den 13. Juni zwei 
weitere parenchymatöse Jodinjectionen unter Leitung des Fingers in die Pro¬ 
stata gemacht, die von keinerlei reactiven Erscheinungen gefolgt waren. Die 
Behandlung des Blasenleidens bestand dabei nur in Verabreichung von Bucco- 
tbee und Bicarb. Sodae. Der Urin wurde in der Folge täglich reiner und 
seine Entleerung leichter und weniger häufig. Dabei besserte sich auch das 
Allgemeinbefinden ganz erheblich. Patient begehrte den 25. Juli seinen Aus¬ 
tritt, weil seine Beschwerden gleich Null waren. Die an diesem Tage vorge¬ 
nommene Untersuchung der Prostata ergab eine weitere beträchtliche Verklei¬ 
nerung des Organs. Patient urinirte in 24 Stunden nur 8—9 Mal. Sein Urin 
war rein und geruchlos. 

Dem dritten Kranken machte ich zu den drei ursprünglichen noch weitere 
vier Injeotionen in Intervallen von 8—14 Tagen, alle unter Leitung des Fingers. 
Keine derselben hatte irgend welchen unangenehmen Zufall in ihrem Gefolge. 
Gleichzeitig wurde die Application des constanten Stroms auf die Blasengegend 
fortgesetzt, da es immer wahrscheinlicher wurde, dass der Detrusor seine Con- 
tractionsfähigkeit theilweise eingebüsst habe Als der Kranke am 17. Juli aus 
meiner Behandlung austrat, war die Quantität des Urins, welche bei jeder Ent¬ 
leerung in der Blase zurückzubleiben pflegte, von 4 auf 2 Unzen zurückgegan¬ 
gen. Im Uebrigen fühlte sieb Pat. wobler, denn lange zuvor, konnte grössere 
Bergpartieen unternehmen und litt an keinerlei subjectiven Beschwerden mehr. 


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Ueber Radicalbehandlung der Prostatahypertrophie. 


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Die Prostata war, wie eine am letzten Tage vorgenommene Untersuchung ergab, 
so vollkommen geschrumpft, dass sie mir kleiner erschien als die nor¬ 
male Prostata eines Hannes von entsprechender Körpergrösse zu sein pflegt. 
Die Spitze des Zeigefingers konnte leicht in den sattelförmig excavirten oberen 
Rand des Organs eingelegt werden. Die Dicke desselben war, meiner Schätzung 
nach, gleichfalls nur noch sehr gering, so dass der unmittelbare Zweck unserer 
Behandlung vollständig erreicht wurde, wenn auch eine leichte Parese des De- 
trutor wegen zu langer Dauer sich nicht hatte beseitigen lassen. 

Ausser diesen Fällen wurde auf meiner Klinik noch bei einem fünften 
Kranken mit bedeutender Vergrösserung der Prostata in ihren beiden Hälften, 
einem 38jährigen Wiftbe, während meiner Abwesenheit in den Frübjabrsferien 
von Dr. Läng eine parenchymatöse Injection in die Prostata unter Leitung des 
Fingers ausgeführt, welche ebenfalls keine Reaction hervorrief. Der Kranke 
trat aber schon am dritten Tage wieder aus der Klinik aus, so dass über den 
etwaigen Erfolg der Einspritzung nichts mitgetheilt werden kann. C. Heine. 


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VIII. 

Ueber moderne Methoden der Wund¬ 
behandlung. 

Yon 

Dr. Carl Emmert, 

Professor io Bern. 


Bekanntlich hat die Wundbehandlung von jeher in der 
Chirurgie eine wichtige Rolle gespielt, und ist immer mehr oder 
weniger der Spiegel der Anschauungen gewesen über die Heilung 
der Wunden und die pathogenetischen Verhältnisse der wichtig¬ 
sten Wundcomplicationen. Salben und Pflaster, kaltes und war¬ 
mes Wasser, Ventilation und Drainirung der Wunden, hermetische 
Verschliessnng und Unbedecktlassen derselben u. s. w. bilden eine 
ununterbrochene Reihe von Wnndmitteln und Behandlungsmetho¬ 
den, welche im Laufe der Zeit als besonders wirksam und zweck¬ 
mässig empfohlen und dadurch öfters zu einer Modesache gemacht 
worden sind. Es ist nicht zu leugnen, dass dadurch mancherlei 
Fortschritt angebahnt wurde, aber immerhin tragen doch solche 
Empfehlungen den Character der Einseitigkeit an sich und ver¬ 
leiten zu einer solchen auch diejenigen, welche durch eigene 
Untersuchung und Beobachtung ein selbstständiges Urtheil zu ge¬ 
winnen, nicht im Stande sind. 

Eine Besprechung dieser Angelegenheit, wobei ich mich jedoch 
nur auf einzelne moderne Methoden der Wundbehandlung be¬ 
schränke, dürfte daher nicht ohne praktisches Interesse sein, 
zumal die gerade gegenwärtig von einzelnen Seiten so sehr em¬ 
pfohlenen Methoden einander mehr oder weniger entgegengesetzt 
sind, ich meine den Lister’schen antiseptischen Wund- 


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Ueber moderne Methoden der Wundbehandlung. 


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verband und die sogenannte offene Wundbehandlung, so 
dass hier Widersprüche bestehen, oder wenigstens zu bestehen 
scheinen, zu deren Lösung das Folgende Einiges beitragen dürfte. 

Schon die Bezeichnung der letzteren Methode als offene 
Wundbehandlung lässt erkennen, dass es sich hier nicht um ge¬ 
schlossene subcutane oder zu erster Vereinigung gänzlich schliess- 
bare Wunden, überhaupt nicht um leichtere Wundverhältnisse han¬ 
deln kann, sondern um grössere und grosse, gar nicht oder 
wenigstens nur theilweise schliessbare und mehr oder weniger 
complicirte Wunden, wohin einerseits die grösseren operativen 
Verletzungen, die Amputations-, Exarticulations-, Resections- und 
Exstirpationswunden, andererseits die Schussverletzungen und 
complicirten Knochenbrüche gehören, indem diese hauptsächlich 
zu den so lebensgefährlichen Wundcomplicationen gehören, welche 
zu verhüten eben Aufgabe einer rationellen Wundbehandlung ist. 

Von diesen Complicationen kommen als wichtigste Pyämie 
und Septicämie in Betracht. Weniger Bedeutung hat das 
primäre Wund- oder Entzündungsfieber, welches Einige 
von dem Gelangen sogenannter pyrogener Stoffe in’s Blut ent¬ 
stehen lassen wollen, während Stricker*) aus seinen Versuchen, 
die auch durch Ravitsch**) Bestätigung gefunden haben, schlies- 
sen zu müssen glaubt, dass man bis jetzt nicht berechtigt sei, 
das Wundfieber oder Entzündungsfieber auf die Resorption pyro¬ 
gener Substanzen zurückzuführen. Und in der That zeigt sich 
häufig genug ein Abfall des Fiebers nach Beseitigung mechani¬ 
scher oder chemischer Reizung der Wunden, also nach Beseiti¬ 
gung einer localen Irritation, womit wir aber keineswegs behauptet 
haben wollen, dass das primäre Wundfieber immer nur auf einer 
solchen localen Reizung beruhe. Seltenere Complicationen sind 
das Erysipel, von welchem in jüngster Zeit behauptet worden 
ist***), dass es eine Immunität gegen Pyämie begründe, sowie 
Diphtheritis und Nosocomialgangrän, so dass bei der 
Wundbehandlung hauptsächlich jene Nachfieber, das pyämi¬ 
sche und septicämische in Betracht kommen. 

*) Untersuchungen über das Wundfieber. Med. Jabrb. 1871. Hft. 1. S. 69. 

•*) Zur Lehre von der putriden Infection u. s. w. Berlin 1872. 

•**) Qirard, De l’influence de l’4rysipele sur le d4veloppemeut de la 
pyemie. Dissert. Strasbourg 1872. 

t. Langenbeck, Archiv I. Chirurgie. XVI. 7 

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98 


Dr. C. Emmert, 


Wie mörderisch mitunter diese Complicationen sind, ist be¬ 
kannt, und führe ich von neueren Belegen beispielsweise nur an, 
das Klebs*) bei Schussverletzungen den Verlust an acuter und 
chronischer Sepsis auf 70 pCt. angiebt, und damit stimmt auch 
eine Angabe von Socin**) überein, nach welchem von 93 Todes¬ 
fällen 72 auf Rechnung dieser Wundcomplicationen kamen. Ferner 
ist bekannt, dass bei Operationswunden die Frequenz dieser Com¬ 
plicationen einigermaassen im Verhältniss stebt zu der Grösse 
und Bedeutung jener. Bei Resectionswunden z. B. fand Bryk***) 
die Freqnenz der Nachfieber bei Büft- und Eniegelenkresectionen 
81,9 pCt., bei Fussgelenk- und Metatarsusresectionen 50 pCt., 
bei Resectionen in der Continuität der Knochen 33 pCt, bei Re- 
sectionen des Unterkiefers 30 pCt., bei solchen der Oberkiefer 
14 pCt. u. s. w. 

Bezüglich der pathogenetischen Verhältnisse der Pyämie 
und Septicämie wäre natürlich unendlich weit auszuholen, indessen 
liegt das nicht in meiner Absicht und ist für meinen zu bespre¬ 
chenden Gegenstand auch nicht nothwendig; ich beschränke mich 
daher auf einige, den gegenwärtigen Stand dieser Angelegenheit 
betreffende Bemerkungen. 

Zunächst sei erwähnt, dass Einige eine Unterscheidung von 
Pyämie und Septicämie nicht mehr für zulässig halten. So sagt 
t. B. Klebsf) geradezu: „Die Unterscheidung zwischen Pyämie 
und Septicämie muss fallen gelassen werdenindessen ist dieser 
kategorische Schluss mehr eine nothwendige Consequenz seiner 
vorausgehenden Behauptung: „dass die infectiösen Wundkrank¬ 
heiten durch parasitäre Pilze, das Microspofon septicum, erzeugt 
werden“. Etwas vorsichtiger drückt sich Klebsff) später aus, 
indem er sagt: „Wie weit das Gebiet der mycotischen Eiterungen 
und Entzündungen reicht, kann gegenwärtig noch nicht entschie¬ 
den werden“. Auf jenes Microsporou septicum komme ich später 


*) Beiträge zur pathologischen Anatomie der Schusswunden nach Beobach¬ 
tungen u. s. w. Leipzig 1372. 

**) Kriegschirurgische Erfahrungen in Carlsruhe 1870 -1871. Leipzig 1872. 

***) Beiträge zu den Resectionen. Dies. Archiv Bd. XV. 1873. S. 209. 
f) Die Ursache der infectiösen Wundkrankheiten. Schweiz. Corresp.-Blatt 
I. 1871. S. 341. 

ff) Beiträge u. s. w. 1872. S. 120. 


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Original frum 

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lieber moderne Methoden der Wundbehandlung. 99 

noch einmal zurück. Hier will ich nur feststellen, dass die voll¬ 
ständige Identificirung von Pyämie und Septicämie mir weder 
pathologisch-anatomisch, noch klinisch gerechtfertigt scheint, ob¬ 
schon sehr häufig Mischformen Vorkommen, und gewiss in deu 
meisten Fällen bei den Wundcomplicationen es sich um Impor- 
tation von putriden oder Putrescenz bedingenden Stoffeu oder 
Körpern bandelt, so dass mangelhafte organisatorische Vorgänge 
und putride Processe in den Wunden als Hauptveranlassungen 
jener Complicationen und überhaupt der putriden Infection, welche 
auch künstlich durch Injection septischer Stoffe herbeigeführt wer¬ 
den kann, angesehen werden muss, gegen welche eben eine ra¬ 
tionelle Wundbehandlung gerichtet sein muss. 

Eine nähere Kenntniss der Fäulnissbedingungen, der Fäul- 
nissvorgänge und des putriden inficirenden Princips, um dessen 
Erforschung sich nach Panum besonders die Dorpater Schule 
(Raison, Bergmann, Schmiedeberg, Schmid, Schmitz, 
Petersen u. AJ vom chemischen Standpuncte aus bemüht hat, 
wäre nun zunächst nothwendig, indessen gerade darüber sind 
unsere Kenntnisse noch sehr lückenhaft, wie aus einer Abhand¬ 
lung von R. Lex*), über Fäulniss und verwandte Processe, zu 
ersehen ist. 

Uebtigens sind für unseren Zweck zwei wesentlich verschie¬ 
dene Arten von Fäulniss- oder Zersetzungsvorgängen zu unter¬ 
scheiden, je nachdem die sich zersetzenden Massen freiliegen und 
der atmosphärischen Luft, sowie terrestrischer Feuchtigkeit aus¬ 
gesetzt oder aber eingeschlossen sind. Im ersten Fall ist der 
Zersetzung8process ein Fäulnissvorgang und stellt die sogenannte 
übelriechende oder stinkende Fäulniss dar, wohin grössten- 
theils die Wundsepsis gehört. Der letztere Fall wird am besten 
durch die ungeborenen todtfaulen Kinder illustrirt. 

Aus dieser ganz allgemeinen Verschiedenheit der Zersetzungs¬ 
vorgänge lässt sich sohliessen, dass bei der stinkenden Fäul¬ 
niss, um welche es sich hier hauptsächlich handelt, äussere 
Einflüsse eine wesentliche Rolle spielen müssen. 

Welches sind nun diese Einflüsse? Damit beschäftigt man 


S. 47. 


*) Deutsche Viertefjdferssch’rift für tifontlJchg .tstsundSeilspflege. IV. 1872. 


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100 


Dr. C. Emmert, 


sich gegenwärtig in der umfassendsten Weise. Der Sauerstoff 
der Luft oder andere Gehalte derselben mechanisch beigemengt, 
können hier allein in Betracht kommen. Dass es nicht der er- 
stere allein sein kann, auch nicht in seinem activen Zustande als 
Ozon, daran ist wohl nicht zu zweifeln. Dagegen gewinnt immer 
mehr und mehr Boden die Ansicht, dass Keime von Orga¬ 
nismen der niedersten Art bei diesen Ffiulnissvorgängen eine 
wesentliche Rolle spielen, und hiermit gelangen wir auf ein neues 
sehr schwieriges und zugleich noch sehr streitiges Gebiet, näm¬ 
lich das der niedersten Organismen und ihrer Beziehungen zu 
den Infectionskrankheiten, ein Gebiet, auf welches sich bereits 
eine ganz erhebliche Literatur bezieht. 

Das Wichtigste davon darf ich wohl als bekannt voraus¬ 
setzen, indessen will ich für den weniger Eingeweihten auf ein¬ 
zelne orientirende Arbeiten aufmerksam machen, und nenne unter 
diesen die Schrift von Eidam über den gegenwärtigen Stand- 
punct der Mycologie mit Rücksicht auf die Lehre von den Infec¬ 
tionskrankheiten, 2. Aufl. Berlin 1872, und einen von Dr. Böhi 
gehaltenen Vortrag über die niedersten Organismen und ihre Be¬ 
ziehungen zu den Infectionskrankheiten, welcher sich im Schweizer. 
Correspondenzblatt 1873. S. 102 und 129 findet. Indessen habe 
ich noch einiges Neuere beizufügen, nicht gerade weil es neuer 
ist, sondern weil es mir für die Erklärung der Wundsopsis be¬ 
sonders wichtig zu sein scheint. 

Nur beiläufig sei bemerkt, dass Klebs*) in einer dritten Auslassung über 
Micrococcen namentlich durch die Untersuchungen von Cohn und Sch röte r* # ) 
dazu veranlasst, von dem Namen Uicrosporon septicum abstrahirt, der Annahme 
verschiedener Bacterienformen sich anschliesst, die Kugel- und Stabchenbacterien 
Cohn’s als Microbacterien zusammenfasst, die sich aus farblosen oder 
schwach gefärbten, sehr kleinen, kugeligen oder ovalen Zellen (Micrococcen) 
entwickeln, nachdem sich dieselben zu vielzelligen Familien (Zoogloea) ver¬ 
einigt haben Die pathogenen Microbacterien können dann als Micrococcus 
diphtheriticus, septicus, variolae u. s. w. unterschieden werden u. 8. w. 

Von besonderer Wichtigkeit für die Wundsepsis scheinen 
mir die Untersuchungsergebnisse von Rindfleisch***) über die 


*) Beiträge zur Kenntniss der Micrococcen. Archiv für experimentelle Pa¬ 
thologie und Pharmacologie. I. Leipzig 1873. 8. 31. 

**) Ueber einige durch IJacterien gebildete Pigmente. Cohn, Beiträge zur 
Biologie der Pflaneejb. : Bros Inul 87?.: Heft 2. 

***) Archiv, für pathologische Anatomie u. 8. v. Bd. 54. 1872. S. 396. 


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Ueber moderne Methoden der Wundbehandlung. 


101 


Schizomyceten zu sein. Nach seinen Beobachtungen giebt es 
zwei Arten von Schizomyceten d$r Fäulniss, Bacterien und Micro- 
coccen. Nur die ersteren sind ein ständiger Begleiter der Fäul¬ 
niss. Auch hält er sich für berechtigt, die Bacterien als niederste 
Thiere, den Micrococcus als niederste Pflanze anzusprechen. Das 
ist natürlich mehr Sache der Anschauung bei der Unbestimmtheit 
der scheidenden Merkmale Wichtiger sind die Ergebnisse: 
1) dass die Bacterienkeime in enormer Menge in allen terrestri¬ 
schen Feuchtigkeiten enthalten sind, während die Luft für ge¬ 
wöhnlich zwar sehr viele Pilzsporen aber keine Bacterienkeime 
enthält, und 2) dass ohne Hinzutreten von Bacterien die ge¬ 
wöhnliche stinkende Fäulniss nicht auttritt, wenn auch sonst die 
Bedingungen für die Fäulniss so günstig gewählt werden, wie nur 
immer denkbar; 3) die nicht stinkende Zersetzung geschieht ohne 
Schizomyceten. 

Ueber diese letztere Art der Zersetzung und ihre möglichen 
Folgen im lebenden Körper erhalten wir einigen Aufschluss durch 
einzelne Versuchsresultate von Naunyn*) über Blutgerinnung im 
lebenden Thiere und ihre Folgen. Wurden nämlich durch Injec- 
tion von lackfarben (Auflösung der Blutkörperchen durch wieder¬ 
holtes Gefrierenlassen) gemachtem defibrinirten Blut in Arterien 
umfangreiche Thrombosirungen der peripherisch gelegenen Artc- 
rienstämme herbeigeführt, so bildeten sich in den von den throm- 
bosirten Arterien versorgten Geweben theils Herde vollständiger 
Anämie, theils umfangreiche Erweichungsherde mit breiartigen 
Massen aus körniger,, fettiger oder eiweissartiger Substanz, die 
keinen erheblichen widerlichen Geruch zeigten, auch keine Pilz¬ 
formen erkennen Hessen, gleichwohl aber einen sehr deletären 
Einfluss auf das Leben der Thiere ausgeübt zu haben scheinen, 
der wohl nur der Aufnahme von Zersetzungsproducten aus jenen 
Herden zuzuschreiben war, woraus sich ergeben würde, dass auch 
Producte von Zersetzungsprocessen im Organismus, welche nicht 
durch Einführung sogenannter Fäulnisserreger hervorgernfen sind, 
starke vergiftende Eigenschaften besitzen. 

Somit wäre denn auch experimentell erwiesen, was vom 


*) Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmacologie. I. 1. Leipzig 
1873. S. 1. 

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102 


Dr. C. Emmert, 


klinischen Standpuncte aus schon längst angenommen werden 
musste, dass bei der traumatischen Infection nicht bloss septische 
Stoffe, d. h. Producte der stinkenden Fäulniss in Betracht kom¬ 
men, sondern auch Producte einer meist septischen Zersetzung 
von eingeschlossenen abgestorbenen Geweben. Die Unterscheidung 
von Pyämie und Septieämie dürfte daher unter keinen Umständen 
ganz aufgegeben werden, und der septische Process würde stets mit 
der Gegenwart von Schizomyceten in wesentlicher Beziehung stehen. 

Da nun nach den Untersuchungen von Rindfleisch die 
Keime der Fäulnissbacterien nicht in der Luft, soudern in den 
terrestrischen Flüssigkeiten enthalten sind, so würde jedenfalls 
eine möglichst trockene Wundbehandlung der übelriechenden 
Wundsepsis mit Schizomyceten den geringsten Vorschub leisten. 

Doch auf diese trockene Wundbehandlung komme ich später 
noch einmal zurück, und wende mich jetzt der Lister’sehen 
antiseptischen Verbandmethode zu, einer Methode, welche von 
den Chirurgen, wenn man Kleines mit Grossem vergleichen darf, 
nicht minder verschieden beurtheilt worden ist, als die Darwin¬ 
sche Lehre von den Naturforschern, Philosophen und Theologen. 
Während eine Partie, und sie ist gegenwärtig die grösste, den 
Lister'schen Verband für einen überwundenen Standpunct halten, 
brechen Andere für denselben stets noch Lanzen und spricht erst 
kürzlich Volkmann*) noch von den grossartigen Erfolgen dieser 
Methode. 

Wir besitzen über die Ausführung dieser Methode eine Reihe 
von Mittheilungen, theils von Lister**) selbst, thoils von solchen, 
welche denselben in jüngster Zeit besucht und in seiner Thätig- 
keit kennen gelernt haben, wie namentlich Massini***) und 
Schultzef). 

*) In seiner Sammlung klinischer Vorträge. Nr. 52. Leipzig 1873. S. 26. 
Anmerk. 

**) Lancet I. 11. 12. 13. 17. II. 4. March, April, July 1867. — On the 
effects of the antiseptic System of treatment upon the salubrity of a surgical 
hospital. Edinburgh 1870. — Address in surgery, delivered at the 39th annual 
meeting of the British medical associat. held in Plymouth Aug. 8th, 10th, 
and 1 Ith 1871. British medical Journal 1871. 26. Aug. 

***) Li ster’s antiseptischer Verband. Schweizer. Corresp.- Blatt 1872. 
Nr. 15. 16. 

t) lieber Lister's antiseptische Wundbehandlung in Sammlung klinisch* 
Vorträge. Nr. 52. Leipzig 1873. 


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lieber moderne Methoden der Wundbehandlung. 


103 


Bekanntlich wurde Lister durch Pasteur's Untersuchun¬ 
gen über Gährung und Fäulniss zu seiner antiseptischen Methode 
geführt, durch welche die vermeintlich in der Luft befindlichen 
organischen Keime der Fäulnisserreger mittelst Desinfection der 
Lnft von der Wunde abgehalten werden sollten. Als Hauptdes- 
inficiens wandte er Carbolsäure an, änderte übrigens fortwährend 
seine Verbandweise ab. 

Den Angaben Schultze’s folgend, ist bei einer Amputation 
z. B. das Verfahren folgendes: Zuerst wird die Umgebung des 
Operationsfeldes sorgfältig mit concentrirter wässeriger Carbol- 
lösung (2 3 pCt.) mittelst eines Schwammes abgewaschen, und 
auch die Hände des Operateurs sowie alle Instrumente werden 
in Carboisäurelösung getaucht; alsdann wird während der 
Operation das ganze Operationsgebiet durch einen oder zwei Zer¬ 
stäubungsapparate in einem Staubregen von wässeriger Carbol¬ 
säure (1 pCt.) gehalten, die Unterbindung mit carbolisirtem 
Catgut gemacht und die Blutstillung auf das Sorgfältigste aus- 
geführt; die Seide, welche zum Nähen verwandt wird, ist natür¬ 
lich auch carbolisirt; zum Abflüsse des Wundsecretes der durch 
die Carbolisirung etwas gereizten Wunde wird eine Stelle der¬ 
selben offen gelassen und in dieselbe ein Stück Kautschuk-Drain¬ 
röhre gelegt, welche natürlich auch carbolisirt ist; schliesslich 
wird die Wunde und ihre ganze Umgebung mit carbolisirter, 
(durch eine Mischung von 1 Th. Carbolsäure, 8 Th. Paraffin und 
4 Th. burgundischem Harz) Gaze mehrfach bedeckt und zwischen 
hinein ein Stück Mackintosch gelegt u. s. w. Der Verbandwechsel 
geschieht unter einem Staubregen von wässriger Carbolsäure 
wie oben. Also überall und überall Carbolsäure. 

Man sieht, es ist das eine äusserst umständliche, aber 
auch äusserst sorgfältige Behandlungsweise des Operations¬ 
gebietes sowohl wie der Operationswunde, wie sie in der täglichen 
Chirurgie gewöhnlich nicht ausgeführt wird. Und auch die Re¬ 
sultate sind gut. Lister selbst hat zwar noch keine grosse 
Statistik aufzuweisen, aber doch immerhin etwas davon aus seiner 
früheren Wirksamkeit in Glasgow. Vor Anwendung der antisep¬ 
tischen Methode war die Mortalität bei Amputationen 45,7 pCt. 
(16 Todte auf 35 Fälle), während derselben nur 15 pCt. (6 Todte 
auf 40 Fälle). 


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104 


Dr. C. Emmert, 


Er stellt sich nun die Frage: ob diese günstigen Resultate 
wirklich auf Rechnung der Carbolsäure und der Art ihrer Ver¬ 
wendung zu bringen sind, oder vielmehr eben nur auf Rechnung 
der überaus sorgfältigen Behandlung der Wunde, wobei nament¬ 
lich in Betracht kommen würden, ausser strengen Indicationen für 
die Vornahme von Operationen, die ausserordentliche Reinhaltung 
des Operationsgebietes und der Operationswunde, die sorgfältige 
Unterbindung, die Beseitigung aller Blutgerinnsel, die Sorge für 
freien Abfluss der Wundsecrete, die sorgfältige Schliessung und 
Bedeckung der Wunde und damit die Entfemthaltung jeder me¬ 
chanischen Reizung derselben u. s. w r ., kurz die strenge Befol¬ 
gung ganz allgemeiner rationeller Regeln der Wund¬ 
behandlung, zu welcher das specifische Detail der Methode 
allerdings führt. 

Ich stehe nicht an, den zuletzt erwähnten Umstand für das 
Wichtigste und somit gerade das, was von Manchen für das We¬ 
sentliche gehalten wird, nämlich das ganze Verbanddetail mit der 
Carbolsäure für das Unwesentliche zu halten, und ich will ver¬ 
suchen es zu beweisen. 

Zunächst wird diese Anschauung eigentlich durch Lister 
und seine Anhänger selbst gestützt, indem von jenen die Ver¬ 
banddetails nicht nur fortwährend abgeändert, sondern auch jedem 
einzelnen derselben eine wesentliche Bedeutung abgesprochen wer¬ 
den, so dass am Ende vom ganzen Verbände gar nichts Wesent¬ 
liches mehr übrig bleibt. 

So sagt z. B. Massini*): „Es muss eben immer wieder 
gesagt werden, nicht die Carbolsäure ist das Wesentliche am 
Lister’schen Verbände“, und Schnitze: „Es ist klar, dass 
nicht etwa in der Anwendung des Zerstäubers, oder der Gaze 
oder des Protectivs (womit unter Umständen die Wunde vor Auf¬ 
legen der Gaze oder des Mulls bedeckt wird) oder der Carbolsäure 
das Verfahren besteht“, ferner: „Auch ist das Lister’sche Ver¬ 
fahren kein Occlusionsverfahren“. Ja Lister giebt sogar das 
Princip seiner Theorie auf, auf welcher seine ganze Verbandweise 
beruht, indem er nach Schnitze**) sagt: „Ich fordere nicht die 


•) a. a. 0. S. 339. 
*•) a. a. 0. S. 10. 


X 

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Original frum 

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Ueber moderne Methoden der Wundbehandlung. 


105 


Annahme, dass die septischen Partikelchen Organismen seien“. 
Wir brauchen ihn deshalb nicht zu tadeln, denn es geschieht das 
durch Schultze selbst, indem er bemerkt*): „Lister’s Verfah¬ 
ren kann nur richtig beurtheilt werden, wenn man auf die Idee, 
die demselben zu Grande liegt, näher eingeht. Man hört zwar 
mehrfach sagen, es käme auf die Theorie gar nicht an, die prac- 
tischen Erfahrungen seien maassgebend. Wie aber Lister sein 
Verfahren allein theoretisch gefunden, so muss es auch immer 
mit Hinsicht auf diese Theorie practisch ausgeführt werden“. 

Woher nun und wozu diese Inconsequenzen und Wider¬ 
spruche? Sie sind eben nothwendig geworden, um diese vielfach 
angegriffene Methode als solche zu erhalten und angriffslos zu 
machen, was eben nur durch Negirung der Wesentlichkeit jeder 
Einzelnheit geschehen kann. 

Wenn ich nun aber auch nicht die Anwendung der Carbol- 
säure, wie sie beim Lister’schen Verbände geschieht, sondern 
überhaupt die ganze Sorgfalt bei der Wundbehandlung für das 
Wesentliche derselben halte, worauf ihre günstigen Resultate be¬ 
ruhen, so will ich damit doch keineswegs der Phenylsäure anti¬ 
septische Wirkungen, sowie noch andere günstige Effecte bei 
gewissen Wundzuständen abgesprochen haben, aber sie theilt diese 
Eigenschaften mit noch anderen antiseptisch und desodorirend 
wirkenden Mitteln, wohin namentlich Chlorpräparate gehören. 
Auch will ich dem Lister’schen Verbände durchaus nicht einen 
practischen Werth absprechen, wenn seine pedantische Ausfüh¬ 
rung Diejenigen, welche eines solchen Hilfsmittels bedürfen, zu 
einer sorgfältigen Wundbehandlung führt; aber vom wissenschaft¬ 
lichen Standpuncte aus muss man sich hüten, den Wald vor 
Bäumen nicht zu sehen. 

Der Eintritt einer verderblichen Wundsepsis hängt haupt¬ 
sächlich von zwei Bedingungen ab, was bei jeder Wundbe¬ 
handlung berücksichtigt werden muss. Einerseits muss in der 
Wunde Zersetzungsmaterial vorhanden sein, wohin nament¬ 
lich der Mortification verfallene Gewebstheile, Blutgerinnsel, sowohl 
freie als intravasculäre, sich nicht organisirende und eiweisshaltige 
Wundflüssigkeiten gehören, denn lebendige Gewebe und sich orga- 


•) a. a. 0. S. 2. 


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106 


Dr. C. Emmert, 


nisirende plastische Massen faulen nicht. Andererseits ist für die 
stinkende Fäulniss die Gegenwart von Keimen der Fäulniss- 
erreger, der septischen Bacterien nothwendig, welche nach den 
angeführten Untersuchungen in allen terrestrischen Feuchtigkeiten 
in enormer Menge enthalten sind. 

Was nun die Fernhaltung oder Ertödtung der letzteren 
anbetrifft, so ist die vollständige Lösung dieser Aufgabe eigentlich 
eine Unmöglichkeit, theils wegen der ausserordentlichen Verbrei¬ 
tung dieser Keime, theils wegen der grossen Widerstandsfähigkeit 
derselben, theils endlich weil die sogenannten desinficirenden Mittel 
auf Wunden niemals in ausreichender Weise angewandt werden 
können, denn die Erfahrung hat bewiesen, dass selbst eine cau- 
terisirende Wundbehandlung, ganz abgesehen davon, dass eine 
solche durchaus nicht bei allen Wunden in Anwendung gebracht 
werden kann, der Wundsepsis nicht vorzubeugen im Stande ist, 
weil leicht ersichtlich das ätzende Desinficiens doch nicht in alle 
Tiefen grosser und complicirter Wunden eindringen kann und die 
Schorfe sich immer wieder lösen. Noch viel weniger können 
natürlich die desinficirenden Mittel in schwächeren Concentrationen 
wirken. Gewöhnlich betrachtet man die Carbolsäure als eines der 
stärksten antiseptischen Mittel, allein darüber sind die Acten noch 
keinesweges geschlossen; ist ja die Kenntniss von den Existenz- 
und Entwicklungsverhältnissen der Fäulnisserreger und pathogenen 
Keime erst im Werden, so dass eigentlich genaue Versuche hier¬ 
über noch gar nicht angestellt, und die bereits vorhandenen Un¬ 
tersuchungen bezüglich der Carbolsäure von Sanderson*), 
Hoppe-Seyler**), Calvert***) u. A. noch nicht als maass¬ 
gebend betrachtet werden können, was sich auch aus den wider¬ 
sprechenden Resultaten dieser Untersuchungen ergiebt. So fand 
Sanderson, dass 0,5 pCt. Carbolsäure die Bacterienbildung sicher 
verhindert, während nach Hoppe-Seyler erst nach Anwendung 
einer 2procentigen Lösung die Fäulnissprocesse stille stehen. Auch 

*) Further report of researches concerning the intimate pathology of con- 
tagiou public health. 13th report of the med. officer of the privy council 1870. 
London 1871. Append. Nr. 5. 

**', Ueber Fäulnissprocesse und Desinfection. Med.-cbemische Untersuchun¬ 
gen. Heft 4. 1871. 

***) Effect of various substances etc. British med. Journ. 1872. Jan. 20. 


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Ueber moderne Methoden der Wundbehandlung. 


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scheint die Carbolsänre gegenüber vegetabilischen Keimen nicht 
das stärkste Parasiticidum zn sein, wenigstens geht aus den Ver • 
suchen von. Wreden*) hervor, dass gegen Schimmelbildungen 
(Aspergillus) am wirksamsten eine Lösung von Calcaria hypo- 
chlorosa ist, dann folgt Solutio arsenicalis Fowleri, dann erst 
Pbenylsäure, spirituöse Tanninlösung u. s. w. Bezüglich der Wund¬ 
behandlung giebt es auch manche Beobachter, welche einen we¬ 
sentlichen Unterschied bei der Anwendung der Carbolsäure und 
anderer desinficirender Mittel nicht gefunden haben, und ich müsste 
mich denselben namentlich rücksichtlich der Chlorpräparate voll¬ 
kommen anschliessen. Nur einzelne Belege mögen genügen. 
Krönlein**) z. B. berichtet: Eine Carbollösung (1:100), welche 
im Jahr 1870 die Chlorkalklösung verdrängt hat (nämlich auf 
der klinischen Abtheilung im Züricher Cantonsspital) erwies sich 
als ein nicht minder gutes Desinficiens; doch gestatten unsere 
bisherigen Erfahrungen nicht, diesem Mittel auch nur einen 
Vorzug vor der Chlorkalklösung einzuräumen. Und Bryk***) 
sagt: „Nach meinen Erfahrungen kann ich die von vielen Seiten 
überschwänglich gerühmten Wirkungen dieser Wundtherapie (näm¬ 
lich der antiseptischen mit Carbolsäure) wie auch die daran ge¬ 
knüpften Hoffnungen, dadurch den accidentellen Wundkrankheiten 
unter allen Umständen wirksam zu begegnen, nicht bestätigen.“ 
Uebrigens geht aus den Reiseberichten von Schnitzet) 
hervor, dass die Li ater’sehe Methode weder in England noch in 
anderen Ländern eine grosse Verbreitung hat. ln Bezug auf 
England bemerkt Schnitze: dass, sobald man Edinburg ver¬ 
lässt, die Zahl der Anhänger des Lister’sehen Verfahrens fast 
im umgekehrten Verhältnis mit der Entfernung abnehme, und 
dass in London Lister wenig Anhänger habe; bezüglich anderer 
Länder bemerkt er, dass ihm auf dem Continente weder in Hol¬ 
land, noch in Belgien, noch in Süddeutschland, noch in Wien 


•) Die Myringomycosis aspergillina und ihre Bedeutung für das Gehör¬ 
organ. St Petersburg 1868. S. 51. 

**) Die offene Wundbehandlung nach Erfahrungen aus der chirurgischen 
Klinik zu Zürich. Zürich 1872. S. 24. 

***) Beiträge zu den Besectionen. Dies. Archiv Bd. XV. 1873. S. 213. 
t) a. a. 0 S. 356- 


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108 


Dr. C. Emmert, 


Gelegenheit gegeben war, das Lister’sche Verfahren genau aus¬ 
geführt zu sehen. 

Viel eher ist die andere Aufgabe der Wundbehandlung zu 
lösen, nämlich die Bildung und Gegenwart von Zer¬ 
setzungsmaterial zu verhüten und zu beschränken, 
denn dieses lässt sich erstreben und erreichen: durch sorgfältiges 
Operiren, namentlich durch Vermeidung aller quetschenden und 
zerrenden Einwirkungen, wodurch Anlass zur Mortification von 
Gewebstheilen Anlass gegeben werden kann, — durch sorgfältige 
Blutstillung, namentlich Unterbindung, damit nicht Nachblutungen 
entstehen und nicht Blutgerinnsel in Wundlücken sich bilden und 
Zurückbleiben — durch sorgfältige Reinigung der Wunden von 
allen abgestorbenen Gewebsresten, Blutgerinnseln und Fremdkör¬ 
pern — durch vorsichtige Anlegung der Naht und anderer Wund- 
schliessmittel, wenn solche den Wundverhältnissen nach geboten 
sind, damit nicht Druckbrand eintritt, was so leicht bei span¬ 
nenden Nähten geschieht, wenn bei Amputations- oder Exarticu- 
lationswunden durch Flüchtigkeit und mangelhafte Berechnung zu 
wenig Haut gelassen worden ist — durch Verhütung jeder An¬ 
sammlung und Stagnation von Wundproducten, indem man jeden 
unpassenden occludirenden Verband vermeidet und in den Wund¬ 
verhältnissen entsprechender Weise für freien Abfluss der Wund- 
producte und überhaupt für Reinhaltung der Wunde sorgt, mag 
das nun durch Abschwemmung der Wunde mit reinem oder car- 
bolisirtem Wasser, oder mit Chlorwasser, oder mit einer Chlor¬ 
kalklösung u. s. w., oder mit einem trockenen Gegenstände mit 
Baumwolle, Charpie u. dgl. geschehen, denn das ist Alles ganz 
gleichgültig und kommen dabei nur Berücksichtigung der Ein¬ 
fachheit, Bequemlichkeit u. s. w. in Betracht; der Hauptzweck ist 
Reinigung und Reinhaltung der Wunde, ohne sie dadurch zu in- 
sultiren. Die Ausführung dieser Maassregeln liegt im Bereiche 
der Möglichkeit und muss deshalb ihnen, wobei selbstverständlich 
auch noch richtige Indicationcn zu operativen Eingriffen und Be¬ 
achtung allgemeiner hygieinischer Anforderungen vorausgesetzt 
werden, die grösste Aufmerksamkeit geschenkt werden. Nicht 
das Specifische einer besonderen Methode birgt das Geheimniss 
einer guten Wundbehandlung, sondern die genaue Beachtung jener 
allgemeinen Regeln, die auch bei verschiedenen Behandlungs- 


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Ueber moderne Methoden der Wundbehandlung. 


109 


methoden in Ausführung gebracht werden können, nnd daraus 
erklärt sich, warum mit den verschiedensten, zum Theil einander 
ganz entgegengesetzten Methoden gute Resultate erzielt werden, 
warum in verschiedenen Spitälern so grosse Differenzen in den 
Mortalitätsverhältnissen sich ergeben, warum an einzelnen Orten 
Pyämie und Septicämie zeitweise so schrecklich bansen, während 
an anderen solche Epochen der Art gar nicht verkommen, und 
warum im Allgemeinen diejenigen Behandlungsmethoden die gün¬ 
stigsten Resultate ergeben, bei welchen die Methode selbst zu 
einer sorgfältigen Wundbehandlung führt. 

Weitere Beweise für die Richtigkeit dieser Anschauung wer¬ 
den sich noch aus der Besprechung der sogenannten offenen 
Wundbehandlung ergeben. Was darunter zu verstehen ist, 
wird sich dem Folgenden entnehmen lassen, auch werde ich dabei 
Gelegenheit finden, naebzuweisen, dass es anch hier nicht gerade 
das Offen- oder Unbedecktlassen der Wunde ist, welchem 
die günstigen Resultate dieser Methode zuzuschreiben sind, son¬ 
dern eben auch nur die grosse Sorgfalt in der Wundbehandlung, 
zu welcher die Methode, ähnlich wie bei dem Lister’schen Ver¬ 
bände, führt. 

Wie überaus günstig mitunter die Resultate der sogenannten 
offenen Wundbehandlung sind, mag sich aus einigen statistischen 
Angaben über die Leistungen dieser Methode ergeben von Seiten 
derjenigen, welche dieses Verfahren zuerst in Aufnahme zu brin¬ 
gen suchten. Es gehören dahin namentlich Vezin*), Bartscher 
sen. und jun.**) und Burow***). 

Nach den drei ersteren ergab sich bei SO Amputirten eine 
Mortalität von nur 10 pCt. und nach dem letzteren bei 94 Am¬ 
putirten sogar nur eine solche von 3,2 pCt., ein Resultat, mit 
welchem sich das Lister’sche mit einer Mortalität von 15 pCt. 
nicht messen kann. 


*) Ueber Behandlung der Amputationsstümpfe. Deutsche Klinik 1856. 
Nr. 6. 7. 

*•) Mittheilungen aus .dem Krankenhause zu Osnabrück. Deutsche Klinik 
1856. Nr. 81. 

***) Ueber die Ursache der häufigen Todesfälle nach Amputationen. Deutsche 
Klinik 1859. Nr. 21. 22. — Ueber den nachtheiligen Einfluss der Verbände bei 
Amputationen. Das. 1866- Nr. 24. 


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112 


Dr. G. Emmert, 


für den Wundverlauf ungünstiges Vorkommniss. Nur in der 
ersten Periode kamen nicht weniger als 22,8 pCt. Nachblutungen 
vor, in der zweiten nur 10,5 pCt. 

Ein fernes ungünstiges Ereigniss ist die HautgangrSn in 
Folge der Art der Nahtanlegung. Nun in der ersten Periode 
betrug das Vorkommen dieser Gangrän 40 pCt., in der zweiten 
nur 10,3 pCt., und dabei wird ausdrücklich bemerkt, dass jene 
Hautgangrän der ersten Periode weitaus in den meisten Fällen 
eine künstlich erzeugte Druckgangrän durch die constringirende 
Wirkung der Nähte, Heftpflaster und Binden war. Natürlich 
wird diese Druckgangrän am sichersten durch Weglassung aller 
Nähte, Heftpflaster und Binden vermieden, dass man aber mit 
Anwendung von Nähten gute Resultate erhalten kann, beweisen* 
die so überaus günstigen Erfolge von Burow, es kommt eben 
Alles auf die Art der Anlegung der Naht an und ob bei der 
Operation hinreichend Haut berechnet worden ist, dass die Wunde 
ohne Spannung geschlossen werden kann, kurz die Sorgfalt 
nach allen Richtungen ist hier das massgebende. 

Am auffälligsten jedoch zeigt sich die Bedeutung dieses 
Princips bei den complicirten Fracturen. Wir erinnern, dass bei 
diesen die Mortalität in der ersten Periode 41,8 pCt, in der 
zweiten 25,4 pCt. betrug, also bedeutend differirte. 

Berücksichtigt man dabei aber die verschiedenen Behandlungs¬ 
arten so erhält man dadurch ein sehr überraschendes Resultat. 
Diese Fracturen wurden nämlich in beiden Perioden theils con- 
servativ, theils operativ durch Amputation und Resection be¬ 
handelt. 

Bei den conservativ behandelten Fracturen, bei welchen 
die absolute Ruhe die Hauptsache ist und welche in beiden 
Perioden durch Verwendung des Gypsverbandes effectuirt wurde, 
so dass eine mehr gleichmässige Behandlung stattland, ist die 
Mortalitätsdifferenz durchaus nicht erheblich. Sie betrug in der 
ersten Periode bei 86 Fällen 25,5 pCt., in der zweiten bei 
65 Fällen 21,5 p('-t. 

Sofort aber stellt sich bei den operativ behandelten 
Fracturen, bei welchen wieder die Behandlung der Operations¬ 
wanden eine grosse Rolle spielt und eine sehr differente ist, eine 
grosse Mortalitätsdifferenz ein. Bei den durch Resection be- 


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lieber moderne Methoden der Wundbehandlung. 


118 


* 

handelten Fracturen betrag die Mortalität in der ersten Periode 
anf 6 Fälle 50,0 pCt., in der zweiten auf 7 Fälle nur 28,5 pCt. 
Ganz ähnlich verhält es sich bei den Amputationen und 
Exarticulationen, bei welchen eine Mortalität von 61,7 pCt. 
auf 68 Fälle in der ersten Periode, eine solche von 33,3 pCt 
auf 30 Fälle sich ergab. 

Diese Zahlen Verhältnisse, auch wenn sie nur als annähernd 
richtige angenommen werden, sind so sprechend, dass es keines 
weiteren Commentars bedarf. 

Wir haben oben bemerkt, dass bei dem Enthaltensein der 
Keime der Fäulnissbacterien in terrestrischen Flüssigkeiten ein 
wesentlich trockener Wundverband der Wundsepsis den ge¬ 
ringsten Vorschub leisten würde, und in der That findet diese 
Voraussetzung eine factische Begründung in der allbekannten Er¬ 
fahrung, dass, wenn frische Wunden frühzeitig geschlossen werden, 
durch Bildung von Blutkrusten die Heilung ähnlich wie bei subcu- 
tanen Wunden erfolgen kann. Diese Thatsache führte denn auch 
zu den vielen Versuchen, welche mit occludirenden Verbänden 
gemacht worden sind, worüber kürzlich Trendelenburg*; dan- 
kenswerthe Mittheilungen gemacht hat, doch wird es nicht mög¬ 
lich sein, diesen occludirenden Verbänden eine ausgedehntere An¬ 
wendung zu geben, indem der günstige Erfolg einer solchen 
Occlusion, auch abgesehen von der technischen Schwierigkeit der 
Ausführung wenigstens bei grösseren und unregelmässigen Wunden 
von Bedingungen abhängt, die eben nur in den seltneren Fällen 
gegeben sind. Occludirende Blutkrusten können sich nur bei 
frischeren kleineren und nicht allzu stark blutenden Wunden bil¬ 
den; ferner ist ein verschliessender Verband nur zulässig, wenn 
noch keine Wundsepsis und keine profusere Eiterung sich ge¬ 
bildet haben; ferner dürfen auch keine der Mortification verfallene 
Gewebstheile in der Wunde enthalten sein u. s. w., sonst treten 
alle Nachtheile der Verhaltung und Ansammlung von durch Re¬ 
sorption nicht entfernbaren Mortifications- und Absonderungspro- 
ducten ein, die bekanntlich den progredienten Entzündungen und 
Infiltrationen der Bindegewebszüge den grössten Vorschub leisten. 


*) Ueber die Heilung von Knochen- und Gelenkverletzungen unter einem 
Schorf. Dies. Archiv Bd. XV. 1873. S. 455. 

t. Langenbeck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 3 


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114 Pr. C. Emmort, Ueber moderne Methoden der Wundbehandlung. 

m 

Uebrigens kann anch bei frei gelassenen Wunden eine trockene 
Wundbehandlung insofern in Anwendung kommen, dass man sich 
darauf beschränkt, nur mit trockenem Verbandmaterial (Baum¬ 
wolle, Charpie), ohne Anwendung irgend einer Flüssigkeit, wie 
ich es seit geraumer Zeit gewöhnlich thue, die Wundflächen zu 
reinigen. Endlich ist es bekannt, dass auch bei Wunden im 
Stadium der Cicatrisation die Epidermisbildung durch eine 
trockene Wundbehandlung, d. h. durch Freilassen der Wund¬ 
fläche, so dass sich die austrocknende Wirkung der Luft geltend 
machen kann, gegenüber einem nassen Verbände oder einem 
solchen mit Salben und Pflastern, wesentlich gefördert wird. 


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Die galvanokaustische Amputation der 

Glieder. 

Von 

])r. Paul Bruns, 

ersUm AiiUteoxsrste der chirurgischen Klioik in Tubiogen. 


Amputation mittelst Glühhitze — wen erinnert nicht 
diese Bezeichnung der modernsten Amputationsmethode daran, 
dass auch diese eigentlich — nil novi ist? Wem steht hierbei 
nicht das glühende Messer, das Cauterium cultellare eines frü¬ 
heren Zeitalters vor Augen, welches* bei manchen chirurgischen 
Meistern bis in’s 17. Jahrhundert bei der Absetzung der Glieder 
im Schwange war? Findet sich doch als historisches Curiosum 
noch jetzt zuweilen diese Methode in den Handbüchern erwähnt, 
welche man nicht anstehen darf, als Vorläuferin der modernsten 
Amputationsmethode, der mittelst Galvanokaustik, zu betrachten, 
um so mehr, als in einer Parallele zwischen beiden eine spre¬ 
chende Signatur des Standpunctes der chirurgischen Wissenschaft 
beider Zeitalter gegeben ist. 

An welchen Namen sich die Begründung jener alten Me¬ 
thode, gleichsam mit Feuer und Schwert zugleich die Glieder 
abzusetzen, knüpft, scheint mir nicht bekannt; zum wenigsten 
erweisen sich die gebräuchlichen Angaben, welche das Glüh¬ 
messer stets in die Hände des Abul-Kasem oder Fabricius 
ab Aqua pendente legen, bei einer Durchsicht ihrer Schriften 

8 * 


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11G 


Dr. P. Bruns, 


als irrthümlich, da der Erstere*) dasselbe bei der Amputation 
gar nicht erwähnt, der Letztere** ***) ) sogar mit klaren Worten ver¬ 
wirft. Wohl aber hat die Methode einen gewichtigen Anhänger und 
begeisterten Lobredner in Fabricius Hildanus, welcher nach 
seinen eigenen Worten „auf Grund reicher Erfahrung die Vor¬ 
trefflichkeit derselben nicht hoch genug preisen kann.“ In seiner 
Abhandlung „De gangraena et sphacelo“ giebt er eine Abbildung 
seines Glühmessers (Caruterium cultellare), welches, um die Tem¬ 
peratur zu halten, einen mehr als Daumendicken Rücken besitzt, 
mit der Bemerkung: Cheirurgi cauterium cultellare excogitarunt, 
quo et ego multoties maximo cum fructu aegrorum usus sura*’*). 

Längst ist das Glühmesser zu den Curiosis der chirurgischen 
Rüstkammern geworfen und doch giebt im Wesentlichen derselbe 
Gedanke, welcher damals jenes Instrument erzeugte, heute den 
Anstoss dazu, wiederum die Glühhitze in ihrer vollendetsten 
Form, als Galvanokaustik, bei der Amputation der Glieder in 
Anwendung zu ziehen. Galt es doch in jenem Zeitalter, wo die 
Ligatur der Gefässe noch nicht geübt wurde, eine Methode der 
Amputation zu erfinden, durch welche die eminente Gefahr der 
Blutung vermindert werden konnte. Ohne Ferrum candens stand 
man ihr beinahe machtlos gegenüber und häufig genug erfolgte 
durch dieselbe ein unmittelbarer tödtlicher Ausgang während der 
Operation f). Lag es da nicht nahe, in der Combination von 
Schneide- und Glüh Wirkung in einem Instrumente Hülfe zu 
suchen, um die Blutung dadurch zu bekämpfen, dass gleich bei 
ihrer Durcbtrennuüg die Gefässe obturirt werden sollten? Und 
in der That rühmt Fabricius auf Grund seiner günstigen Erfolge 
sein Cauterium cultellare in folgenden, für die damalige Morta- 

*) In der mir vorliegenden Uebersetzung (La Chirurgie d’Abulcasis, tra- 
duite par le Dr. L. Ledere. Paris 1861. p. 220) findet sich ausdrücklich die 
Regel angegeben, bei der Amputation die Weichtheile mit einem breiten Bistouri 
zu durchscbneiden. 

**) H. Fabricii ab Aquapendente Op. chiiurg. Lugdun. Batav. 1723. 
Cap. XCVI. De sphaceli Chirurg, p* 628: Alii id ipsuin tentarunt, incidendo 
ferramento candenti ut uno tempore tum secetur tum crusta supra vasa indu- 

catur. Qui modus neque etiam valet. 

***) G. Fabricii Hildani op. Francofurt 164l>. p. 813. 

f) Fabric. Qildan. 1. c. p 812: multum saDguinis deperditur saepiusque 
aeger in ipsa operatione extinguitur. 


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Die galvanoknustische Amputation der Glieder. 


117 


litätsprognose bei Amputationen sehr bezeichnenden Worten: 
primum enim, ne sanguis impetuose profluat ac spiritus dissi- 
pentur impedit .... quandoqnidem incidendo carnem usqne ad 
os venas quoque et arterias simul cotnburendo coirugat. 

Und heute? Trotz der vervollkommnten Technik, trotz der 
exacten Ausübung der Ligatur und anderer mechanischer Blut¬ 
stillungsmittel ist die Gefahr der Blutung, namentlich bei der 
Amputation der grossen Gliedmaassen nahe dem Stamme nicht 
ganz beseitigt, vielmehr lässt sich nicht läugnen, dass selbst bei 
solcheu vollkommen lege artis ausgeführten Amputationen in 
einzelnen Fällen ein sehr beträchtlicher Blutverlust eintritt, wel¬ 
cher sogar unter Umständen unmittelbar das Leben zu gefährden 
im Stande ist. Man denke nur in solchen Fällen, selbst eine 
ganz exacte Compression vorausgesetzt, an die starke venöse 
Blutung beim Hautschnitte, an die theils parenchymatöse, theils 
aus zahlreichen Muskelästen stammende arterielle Blutung beim 
Muskelschnitte, man erinnere sich daran, wie es oft nothwendig 
wird, kleinere retrahirte Arterien durch Unterbrechung der Com¬ 
pression spritzen zu lassen, um dieselben auffinden, isoliren und 
unterbinden zu können. 

Angenommen auch, diese Fälle blieben gegenüber denjenigen, 
in welchen selbst hohe Amputationen nahe dem Stamme ohne 
nennenswerthen Blutverlust ausgeführt werden, in einer beschei¬ 
denen Minorität, so muss doch aus der einfachen Thatsache, dass 
eben in manchen Fällen von Amputation mit dem Messer die 
Einhaltung aller Regeln der Kunst und eine vollendete Technik 
das Eintreten eines bedeutenden Blutverlustes nicht mit voller 
Sicherheit zu verhindern im Stande ist, sich nothwendig die 
Aufforderung ergeben, mit allen Mitteln der Kunst eine grössere 
Sicherstellung gegen Blutung anzustreben. Dieser Schluss wird 
durch den Einwand nicht entkräftet, dass in der Regel der bei 
der Messeramputation allerdings unvermeidliche geringe Blutverlust 
in Betreff seiner nachtheiligen Folgen nicht allzu hoch anzuschla- 
gen ist; denn bei keiner der anderen sogenannten regelmässigen 
Operationen hat man es so häufig mit dem bereits vorhandenen 
Zustande extremer Anämie zu thun, als gerade bei der Ampu¬ 
tation der Glieder, da ja ein grosses Contingent für dieselbe von 
solchen Patienten gestellt wird, bei deuen entweder eine schwere, 


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118 


Dr. P. Bruns, 


mit Blutverlust verbundene Verletzung vorausgegangen ist, oder 
bei denen die Operation wegen langwieriger Knochen- und Ge¬ 
lenkkrankheiten mit hochgradiger Consumption als ultjmum refu- 
gium einem sicheren lethalen Ausgange Vorbeugen soll. In sol¬ 
chen Fällen kann die Entscheidung über die Ausführbarkeit der 
Operation allein von der Möglichkeit einer Sicherstellung gegen 
jede Blutung abhängig sein, sofern geradezu die Indicatio vitalis 
eine unblutige Operation verlangt. 

Solche Fälle sind es, für welche mir die Anwendung der 
galvanokaustischen Amputationsmethode auf Grund der vorliegen¬ 
den Beobachtungen, welche grösstentheils auf der hiesigen Klinik 
gemacht wurden, gewisse Garantien zu versprechen scheint, welche 
von keiner anderen Methode geboten werden, und in diesem Sinne 
möchte ich durch diese Zeilen die Aufmerksamkeit auf einen 
Gegenstand lenken, welcher bis jetzt noch fast gar nicht discutirt 
worden ist. Möge daher die Mittheilung zugleich die Auffor¬ 
derung zu weiteren Versuchen mit der Galvanokaustik enthalten, 
damit sich dann ein definitives Urtheil über den praktischen 
Werth dieser Methode, welches erst aus der Vergleichung eines 
grösseren Beobachtungs'materiales hervorgehen kann, feststellen 
lässt. 

Nur auf diesem Wege allein kann die Begründung einer 
rationellen Anwendung der galvanokaustischen Operationsmethode 
überhaupt, welche bis jetzt noch zum Theil auf sehr schwachen 
Füssen steht, einen sicheren Boden gewinnen, wenn dieselbe 
möglichst umfangreich in allen den Fällen angewandt wird, wo 
sie voraussichtlich einen Erfolg verspricht, und wenn dann auf 
Grund dieser Versuche eine vorurtheilsfreie Prüfung der Vortheile 
und Nachtheile gegenüber den anderen gebräuchlichen Methoden 
über ihren praktischen Werth entscheidet. 

In diesem Sinne ist die Galvanokaustik auf der hiesigen 
Klinik bereits bei den verschiedensten Operationen statt der ge¬ 
bräuchlichen Verfahren angewandt worden und so unübertrefflich 
sich dieselbe in bestimmten Fällen erwiesen hat, so dass hier 
ganz präcise Indicationen für ihre Anwendung normirt werden 
konnten, so wenig konnte man sich in anderen Fällen verhehlen, 
dass dieselbe anderen Verfahren gegenüber entweder geradezu 
nachsteht oder doch keine so erheblichen Vortheile darbietet, um 


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Die galvanokaustiscbo Amputation der Glieder. H<J 

die Verwelidung eines an sich viel complicirteren Instrumenten¬ 
apparates zu rechtfertigen. Als Beispiel für die Fälle der letzteren 
Kategorie möge die Anwendung der Galvanokaustik bei der 
Tracheotomie erwähnt sein, deren praktische Nachtheile ich vor 
Kurzem, gegenüber den von anderer Seite her gerühmten Vorzügen, 
auf Grand zweier Beobachtungen der hiesigen Klinik nachzuweisen 
versucht habe*). 

Bei dem Interesse und der Neuheit des Gegenstandes scheint 
es mir geboten, eine vollständige Zusammenstellung des Materials, 
soweit mir dasselbe bekannt wurde, mit Einhaltung der chrono¬ 
logischen Reihenfolge zu geben. An diese reiht sich eine Erörte¬ 
rung der einzelnen für die Würdigung und die technische Aus¬ 
führung der galvanokaustischen Amputationen maassgebenden 
Punkte, bei welcher ich mich vorzugsweise auf die Erfahrungen 
stütze, welche in den auf der hiesigen Klinik von meinem Vater 
ausgeführten galvanokaustischen Amputationen gemacht wurden, 
da diese zugleich weitaus die Mehrzahl der überhaupt bis jetzt 
vorliegenden Fälle ausmachen. Zum Schlüsse folgen die Beob¬ 
achtungen. 

Der Erste, welcher den Gedanken aussprach und wenigstens 
in seinen ersten Anfängen verwirklichte, die Galvanokaustik zur 
Amputation der Glieder zu verwenden, ist der .geniale Begründer 
der modernen Galvanokaustik, Middeldorpf. In seinem klassi¬ 
schen Werke „Die Galvanokaustik“ bezeichnete er dieselbe als „zu 
dieser Operation ganz vorzüglich geeignet“ und stellte zugleich, 
obgleich er selbst die Methode zur Amputation grösserer Glied¬ 
maas sen nicht angewandt hat, folgende Sätze auf, welche jetzt 
durch die praktische Erfahrung im Allgemeinen ihre volle Bestäti¬ 
gung erfahren haben: „die Amputation ganzer Gliedmaassen zur 
Vermeidung von Blutung, Pyaemie etc. mittelst der Galvanokaustik 
ist ausführbar. Der Knochen wird durchsägt. Man wählt den 
Draht so stark als möglich. Namentlich sind einröhrige Glieder 
geeignet. Grössere Arterien werden wohl unterbunden werden 
müssen“**). 

Middeldorpf führte die Methode bloss bei der Amputation 


•) Berliner klin. Wochenschr. 1872. Nr. 53. 

**) Middeldorpf, Die Galvanokaustik. Breslau 1854. S. 133. 


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Dr. P. Bruns, 


eines überzähligen Daumens bei einem halbjährigen fcinde am 
16. Juni 1853 aus. Der überzählige Daumen sass unbeweglich 
durch knöcherne Vereinigung zusammenhängend dicht unter dem 
Mittelhandphalangengelenk des rechten Daumens, war eben so gross 
und wohlgebildet. „Nachdem dicht an der Basis eine starke 
Platinschlinge umgeschnürt worden war, schnitt dieselbe erglühend 
nicht allein die Weichtheile, sondern auch den taubenfederkiel¬ 
dicken, kleinen Knochen glatt durch, ihn an seinem Rande leicht 
schwärzend. Die Blutung war sehr unbedeutend und wird durch 
Charpie gestillt. Die später üppig wuchernden Granulationen, 
ein Charakteristikum der Brandwunden, wurden mit Arg. nitr. 
bezwungen und der Kleine den 5. Juli aus der Behandlung ent¬ 
lassen“. *) 

Dies ist die erste Amputation, welche mittelst der Galvano¬ 
kaustik ausgeführt worden ist, und zugleich die einzige, welche 
Middeldorpf gemacht hat. Dass er ausserdem noch experi¬ 
mentelle Studien über diese Operation an Thieren angestellt hat, 
geht aus einem Berichte hervor, welchen Broca**) in der Sitzung 
der Pariser Societö de Chirurgie vom 5. November 1856 über 
die Middeldorpf’sche Galvanokaustik erstattet hat, und in 
welcher derselbe mehrere Amputationen an Kaninchen erwähnt, 
die Middeldorpf in seiner Gegenwart in Paris ausffthrte. Bei 
einer solchen Oberschenkelamputation am Kaninchen, welche 
innerhalb 6—7 Minuten ohne alle Blutung ausgeführt wurde, fand 
sich bei der Autopsie ein 1 Millimeter dicker gleichmässiger 
Schorf auf der Amputationsfläche und die Art. femor. durch einen 
5—6 Millimeter langen Pfropf geschlossen. 

Weitere Experimente wurden von See in Paris im Jahre 
1857 an der Leiche angestellt, um die technische Ausführbarkeit 
der galvanokaustischen Amputation grösserer Glieder zu consta- 
tiren. Derselbe berichtete in einem Briefe an die Pariser Soc. 
de Chir. vom 28. Januar 1857***) über die Amputation eines 
Oberarms und Vorderarms an der Leiche mittelst der galvano¬ 
kaustischen Schneideschlinge, welche er mit einer Batterie von 


*> 1. c. p. 129. 

**) Bulletin de la Soc. de Chir. de Paris. 1857. p. 205. 
**•) 1. c. p. 300. 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 121 

18 Bunsen’Bchen Elementen in 15 Minuten vollführte; der 
Knochen wnrde durchsägt. S6e begnügt sich mit der einfachen 
Constatirung der Ausführbarkeit, ohne practische Consequenzen 
hieraus zu ziehen, indem er ausdrücklich hinzufügt: „J’ai voulu 
simplement d^montrer, que ces op^rations sont executables, j’ignore 
quel avenir leur est reserve“. 

Im Jahre 1857 wurde auf der hiesigen Klinik von meinem 
Vater der Versuch einer galvanokaustischen Exarticulation des 
Oberarmes wegen eines enormen Medullarcarcinoms bei einem 
8jährigen aufs Aeusserste herabgekommenen und anämischen 
Knaben gemacht. Allein die Operation konnte wegen der starken 
Blutung bei der Bildung eines Hautlappens mit dem Galvanokauter 
und wegen des hochgradigen Collapses des Patienten nicht weiter 
fortgesetzt werden (s. 1. Beobachtung). Der geringe Erfolg der 
Galvanokaustik gegenüber der Blutung in diesem Falle liess für 
die nächste Zeit von einer wiederholten Anwendung derselben 
Abstand nehmen. 

Im Jahre 1858 wurde von Zsigmondy*) in Wien die erste 
Amputation einer grossen Gliedmaasse ,eine Oberschenkelamputation, 
mittelst der galvanokaustischen Schneideschlinge mit so gutem 
Erfolge ausgeführt, dass Zsigmondy hierüber schreibt: „in 
operativer Beziehung giebt dieser Fall ein schönes Zeugniss für 
den hohen Werth unserer Methode, welche uns die Möglichkeit 
gewährt, durch eine gehörige Handhabung der Schneideschlinge 
eine grosse Amputation beinahe ohne Blutverlust auszuführen“. 

Die Beobachtung ist in Kürze folgende: 

Bei einem 16jährigen Tischlerlehrlinge war nach einer acuten suppurativen 
Periostitis der Tibia mit nachfolgender Nekrose und Epiphysenloslösung der 
Tibia eine Perforation in’s Kniegelenk und totale ulceröse Zerstörung desselben 
eingetreten. Dabei bestand extreme Anämie und Schwäche, heftige Schmerz¬ 
haftigkeit, skeletartige Abmagerung und bereits manifeste Pyämie, welche sich 
durch 1—2 mal täglich sich wiederholende Schüttelfröste documentirte. „Die ein¬ 
ige, wenn auch sehr entfernte Möglichkeit der Erhaltung des Lebens bot eine 
Amputation des Oberschenkels, aber auch diese Operation war nach der gewöhn¬ 
lichen Weise nicht ohne sehr grosses Wagniss auszuführen, da man wegen der 
nothwendig damit verbundenen Blutung mit Recht besorgen musste, dass der 
Kranke bei seiner enormen Blutarmuth unter dem Messer bleiben könnte. Dieser 
Umstand und die vorhandene Pyämie gaben die Indication zur Anwendung der 


*) Wiener med. Wochenschr. 1858. Nr. 23. S. 395. 


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Dr. P. Bruns 


galvanokaustiscben Methode.“ Am 18. März 1858 wurde die Amputation des 
Oberschenkels an der Grenze des unteren und mittleren Dritttbeiles mit der 
galvanokaustischen Schneideschiingo in der Chloroformnarkose vollführt. Umfang 
des Gliedes an jener Stelle 27—28 Cm. Digitalcompression der Art. femoralis, 
ln Verbindung mit einer Zink-Platinbatterie wurde die Middeldorpf’sche 
Schneideschlinge um den Oberschenkel herumgelegt und massig fest zusammen¬ 
geschnürt. Nachdem die Haut und theilweise auch die oberflächliche Musculatur 
durchschnitten war, wurde die Haut mit den bereits durchschnittenen Muskeln 
stark zurückgezogen und zugleich der Draht mit einer Kornzange stark nach 
aufwärts geschoben, so dass die tiefere Muskellage in einem höheren Niveau 
durchtrennt wurde. Hierauf Durchsägung des Knochens. „Bis zu diesem Mo¬ 
mente war aus der Amputationswunde kein Tropfen Blut vergossen worden*, 
nur aus der Marksubstanz des Knochens drang etwas Blut hervor. Hierauf 
Unterbindung der Art. femoralis, nachdem dieselbe bei einem versuchsweisen 
momentanen Nachlassen der Compi ession gespritzt hatte. Ihr Lumen war deut¬ 
lich sichtbar, „überhaupt bildete der dünne Schorf nur einen so schwachen 
Schleier, dass es sogar möglich gewesen wäre, einzelne Nervenzweige hervor¬ 
zuholen“. Keine 'weitere Ligatur nöthig. „Bei näherer Besichtigung der Am¬ 
putationswunde zeigte sich, dass die Haut schön zirkelrund getrennt und die 
Manchette durchaus nicht zu kurz war, wenn schon auch die oberflächliche 
Musculatur grösstentheils in gleicher Höhe mit der Haut durchtrennt war“. — 
In den beiden ersten Tagen nach der Operation stellte sich eine entschiedene 
Besserung des Befindens in Folge des Aufhörens der heftigen Schmerzen und 
guter Appetit ein, jedoch am dritten Tage wiederholten sich die Schüttelfröste 
von Neuern, und am 5. Tage erfolgte der Tod. — Die Section ergab metasta¬ 
tische Absccsse in beiden Lungen. 

Aas den folgenden 12 Jahren sind mir keine weiteren Be¬ 
obachtungen bekannt; erst im Jahre 1870 wurde die Methode 
durch S^dillot*) wieder aufgenommen. Derselbe führte in 3 
Fällen die supramalleoläre Amputation des Unterschenkels mittelst 
der galvanokaustischen Schneideschlinge aus. In dem ersten 
Falle wurde die Operation allein mit der Schneideschlinge, ohne 
weitere schneidende Instrumente, vollendet, und zwar ohne alle 
Blutung und ohne Anlegung von Ligaturen. In den beiden 
anderen Fällen wurden bloss die am äusseren Umfang der Knochen 
gelegenen Weichtheile mit der Schneideschlinge getrennt, während 
die im Spatium interosseum befindlichen Gewebe mit dem Bistouri 
durchgeschnitten wurden, und beide Male Ligaturen angelegt. 


•) Gaz. hebdomad. 1870. Nr. 22 — 23. Dieselben Fälle sind mitgetheilt 
von Jaxa-Kwiatkowski, Amputation des membres par la melhode galvano- 
caustiquc. These. Strasbourg 1870. 


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Die galvanokaustiscbe Amputation der Glieder. 


123 


Die Indication zur Anwendung der galvanokaustiscben Methode 
gab hochgradige Anämie und Consumption. 

Das zur Beurtheilung dieser drei Fälle nothwendige Detail 
ist kurz folgendes: 

1. Fall. Supramalleoläre galvanokaustiscbe Amputation wegen Caries pedis 
bei einer 35jährigen stark anämischen und herabgekommenen Frau am 7. April 
1870. Digitalcompression der Art. femoralis. Batterie von Middeldorpf. Die 
Scbneideschlinge wird 3 Finger breit oberhalb der Malleolen um den Unter¬ 
schenkel umgelegt. Nach der Durchscbneiduug der Haut wird diese stark nach 
aufwärts gezogen und die Schneideschlinge, unter allraäligor Verkleinerung, gleich¬ 
falls nach aufwärts geschoben, um eine Manchette zu bilden. Die Durchtren¬ 
nung der Weichtheile bis auf die Knochen erfolgte ganz ohne Blutung („op^rant 
toujours h sec on arrive ainsi sur les os u ). Loslosung des Periostes rings herum 
4—5 Cm. weit nach oben mit dem Galvanokauter, Durchsägung der Knochen 
3 Finger breit über dem Niveau des Hautschnittes. Bei einem momentanen 
Nachlassen der Compressioa trat eine Blutung aus der Art. tibialis post, ein, 
welche durch direete Cauterisation des Arterienendes mit dem Galvanokauter 
dauernd sistirt wurde. Keine Ligatur. Dauer der Operation 48 Minuten. — 
Nach der Operation keine Nachblutung, wenig Schmerzen, geringe fieberhafte 
Reaction, mit Ausnahme einer Steigerung vom 15.—18. Tage, welche von einer 
Osteomyelitis abgeleitet wurde. Ablösung des Schorfes am 12. Tage vollendet. 
Nach 6—8 Wochen Abstossung der nekrotischen Sfigeflficben der Fibula und Tibia. 
Nach 8 Wochen Wundfläche noch von der Grösse eines 50 Centimesstückes, 
der Kräfte- und Ernährungszustand der Patientin sichtlich gehoben. 

2. Fall. Supramalleoläre Amputation des Unterschenkels am 11. Mai 1870 
bei einer 60jährigen Frau wegen Caries pedis; daneben ausgebreitete Ulcera- 
tionen in der Kreuz- und Trocbantergegend und Contractur im Hüft- und Knie¬ 
gelenk derselben Seite. Digitalcompression der Art. femoralis. Batterie von 
Middeldorpf. Nach der Durchschneidung der Haut und der am äusseren 
Umfange der Knochen gelegenen Weichtheile trat aus der Art tibialis post, und 
peronea Blutung ein, da die Comprcssion wegen der Contracturstellung im Hüft¬ 
gelenk nicht genügend ausgeübt werden konnte. Deshalb und wegen der Be¬ 
hinderung in der Handhabung des Instrumentes durch die spitzwinklige Anchy- 
lose im Knie wurde die Operation mit dem Messer vollendet und schliesslich 
die Art. tibialis post, und peronea unterbunden, während die Art. tibialis ant. 
durch den Schorf geschlossen war. — Verlauf nach der Operation günstig: 
wenig Schmerzen, fieberhafte Reaction bloss vom 5. bis 7. Tage, sichtliche Bes¬ 
serung des Allgemeinbefindens, Heilung nach 20 Tagen gesichert. 

3. Fall. Supramalleoläre Amputation des Unterschenkels am 30. Mai 1870 
wegen Caries pedis bei einer 72jährigen, aufs Aeussersto herabgekommenen und 
decrepiden Frau. Da in diesem Falle die grösste Vorsicht anzuwenden war, 
so wurde auf Grund der im vorigen Falle gewonnenen Erfahrung der Opera¬ 
tionsplan in der Weise festgesetzt und ausgeführt , dass mittelst der galvano¬ 
kaustischen Schneideschlinge bloss die Weichtheile rings herum bis auf die 


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Dr. P. Bruns, 


Knochen durchtrennt wurden, was innerhalb 15 Minuten ohne einen Tropfen 
Blut zu vergiessen gelang, worauf die Schneideschlinge entfernt und die Durch¬ 
schneidung der Weichtheile im Spat, interosseum mit dem Bistouri vollendet 
wurde. Nach dem Zurückschieben dos Periostes und Durchsägung der Kuocben 
wurden 3 Ligaturen angelegt und mit dem Galvanokauter die Wundfläche kau- 
terisirt. — Am 11. Tage Tod durch Erschöpfung. 

Im Anfang des Jahres 1872 wurde die galvanokaustische 
Amputationsmethode an der hiesigen Klinik wieder aufgenommen 
und innerhalb des seither verflossenen Jahres (Februar 1872 bis 
März 1873) in 10 Fällen in Anwendung gebracht. Diese Zahl 
entspricht, wenn auch nicht der Gesammtmenge, so doch der 
Mehrzahl der in diesem Zeiträume überhaupt vorgenommenen 
Amputationen, und es geht also schon hieraus hervor, dass die 
galvanokaustische Methode, um über dieselbe weitere Erfahrungen 
zu sammeln, auch in solchen Fällen angewandt wurde, in denen 
keine speciellen Indicationen für jene Vorlagen. 

Die 10 Fälle vertheilen sich auf die einzelnen Glieder in 
folgenden Verhältnissen: Die Amputation eines Fingers wurde-1 
mal, die Amputation des Vorderarmes 1 mal, des Unterschenkels 
2 mal, des Oberschenkels 6 mal ausgeführt. 

Die bei diesen Operationen gewonnenen Resultate, zusammen¬ 
gehalten mit denen der angeführten Autoren, lassen sich unter 
folgende wesentliche Gesichtspunkte zusammenfassen, unter denen 
in erster Reihe die für die Würdigung der Methode überhaupt 
maassgebenden Verhältnisse und in zweiter Reihe die die Ausführung 
und die Modalitäten der Technik betreffenden Fragen zu erörtern sind. 

Der Cardinalpunkt, mit dessen Entscheidung die galvano¬ 
kaustische Amputation steht und fällt, ist die Frage über die 
durch dieselbe gewährleistete Sicherheit gegen Blutung 
während und nach der Operation. 

Es muss hier vor Allem vorangestellt werden, dass die un¬ 
erlässliche Vorbedingung einer unblutigen Ausführung auf der 
gleichzeitigen exacten Compression des Hauptarterienstammes des 
betreffenden Gliedes oberhalb der Amputationsstelle beruht. Die 
Nothwendigkeit einer solchen ergiebt sich schon a priori aus der 
Beobachtung der ungleichen blutstillenden Wirkung des Glühdrahtes, 
je nachdem er als Galvanokauter oder Schneideschlinge in Anwendung 
kommt. Bei der Schnittführung mit dem Galvanokauter tritt, selbst bei 
geringer Intensität der Glühhitze, stets eine Blutung aus allen den 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 


125 


durchtrennten venösen und arteriellen Gefässen ein, welche mehr als 
1—2 Mm. Durchmesser besitzen. Die weitere Folge ist, dass 
durch das austretende Blut der Gluhdraht benetzt und abgekühlt 
wird und damit seine Wirkung momentan erlischt. Wird dagegen 
irgend ein Theil mit der Schneideschlinga fest zusammengeschnürt, 
so werden zugleich die darin eingeschossenen Gefässe an ihrer 
Trennungsstelle zusammengedrückt und blutleer gemacht; ihre 
Durcbtrennung erfolgt daher ohne Blutaustritt und ohne Abkühlung 
des Drahtes durch das flüssige Blut und man ist in den Stand 
gesetzt, eine vollkommen unblutige Trennung auch solcher Tlieile 
vorzunehmen, welche selbst grössere Arterienäste einschliessen. 
Es tritt nämlich dann an den durchtrennten Gefässenden, falls 
dieselben nicht ein gewisses Caliber überschreiten, auf die Weise 
ein unmittelbarer Verschluss ein, dass das Lumen theils durch 
die Verschorfung, theils durch die Verengerupg und Einziehung 
(Rebroussement) der Wandung obliterirt wird, welche durch die 
directe Einwirkung der Hitze auf die elastischen Elemente in 
Form eines mit der Spitze gegen das Ende des Gefässes ge¬ 
richteten Conus erfolgt. 

Die Vorbedingung einer wirklich hämostatischen Wirkung der 
Galvanokaustik ist also die vorgängige Sistirung des Kreislaufes 
in den zu durchtrennenden Gefässen. Diese wird zwar bei weniger 
voluminösen Theilen durch ein straffes Zusammenschnüren der 
umgelegten Drahtschlinge in hinreichendem Grade bewirkt, da¬ 
gegen genügt dies natürlich in den Fällen nicht, wo es sich um 
die Absetzung der grossen Gliedmaassen handelt. Hier ist es un¬ 
möglich, die Schlinge fest genug zusammenzuschnüren, um die 
grossen Gefässstämme bis zur Blutleere zu comprimiren und 
namentlich während des ungleichmässigen Einschneidens der 
Schlinge diese stets genau in dem gleichen Tempo anzuziehen 
und zu verkleinern. 

Es ergiebt sich hieraus die Nothwendigkeit bei der galvano¬ 
kaustischen Amputation eine gleichzeitige mechanische Com- 
pression des zuführenden Arterienstammes zu bewerk¬ 
stelligen, ja sie ist noch unerlässlicher als bei der Amputation 
mit dem Messer, da bei eintretender Blutung der Glühdraht 
durch die Abkühlung ausser Thätigkeit gesetzt und dadurch eine 
Unterbrechung der Operation bewirkt wird. 

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Dr. P. Bruns, 


Dieselbe Bedingung stellt auch Jaxa-Kwiatkowski, 
welcher in seiner These die Södillot’ sehen Fälle als Grundlage 
benutzt, mit der gleichen Bestimmtheit auf: „La compression des 
gros vaisseaux est indispensable pendant l’amputation par les 
cauteres electriques.“*) 

Wird nun die Compression während des Durchschneidens 
des Drahtes exact ausgeübt, so lehrt die Beobachtung weiter, 
dass in der That die Amputation selbst buchstäblich unblutig 
ausgeführt werden kann. Die Schnittfläche ist vollkommen trocken, 
mit eiuem durchscheinenden Schorfe bedeckt, welcher wie durch 
. einen zarten Schleier die einzelnen Gebilde auf dem Durchschnitte 
leicht erkennen lässt. Unterbricht man jetzt momentan die 
Compression, so dringt bloss aus dem offenen Lumen der grossen 
Arterienstämme ein Blutstrabi hervor, während sämmtliche kleine¬ 
ren Gefässe keinen Tropfen Blut austreten lassen. 

Bei der galvanokaustischen Amputation tritt also durch die 
directe Wirkung des Glühdrahtes ein unmittelbar bei ihrer Durch¬ 
trennung erfolgender Verschluss sämmtlicher Gefässe ein, mit 
Ausnahme der grösseren Arterienstämme, deren Enden wie nach 
der Durchscbneidung mit dem Messer offen bleiben. 

Dies ist im Allgemeinen das Resultat der vorliegenden Be¬ 
obachtungen, welches ich alsbald näher specialisiren werde. Es 
bestätigt in schönster Weise die schon von Middeldorpf aus¬ 
gesprochene Vermuthung, dass „grosse Arterien wohl unterbunden 
werden müssen“. Um so weniger motivirt erscheint hiergegen 
die Behauptung von Jaxa-Kwiatkowski, dass „durch die 
Galvanokaustik die grossen Arterien ebenso leicht wie die kleinen 
geschlossen werden, wenn dieselben nur blutleer sind“**), und 
man erstaunt billig über dessen endgültige Abschaffung der Li¬ 
gatur in der Chirurgie überhaupt, welche derselbe mit den Worten 
in Abgang decretirt: „La methode galvanocaustique ddfinitivement 
dispense le Chirurgien de faire des ligatures“. ***) Nur Schade, 
dass unter den 3 Fällen von galvanokaustischen Amputationen, 
welche jenen Autor zu einer solchen Entdeckung begeistert haben, 
in 2 Fällen Ligaturen angelegt werden mussten! 

*) 1. c. 

**) 1. c. p. 15. 

*••) 1. c. p. 13. 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 


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Statt solcher Phrasen will ich die Thatsachen sprechen lassen. 
Den besten Maassstab znr Benrtbeilnng über die hämostatische 
Macht des Glühdrahtes giebt eine Zusammenstellung der in jedem 
einzelnen Falle von galvanokaustischer Amputation angelegten 
Ligaturen. Ist auch die Anzahl derselben in verschiedenen Fällen 
von Amputationen der gleichnamigen Glieder natürlich nicht immer 
dieselbe — was ja auch bei der Amputation mit 1 dem Messer 
nicht der Fall und ausserdem auf Rechnung der mehr oder weniger 
exacten Ausführung der Compression, der verschiedenen Intensität 
der Glühhitze und so fort zu setzen ist —, so lasst sich doch 
aus einer solchen Zusammenstellung eine Anschauung darüber 
gewinnen, von welchem Caliber im Allgemeinen die Arterien sind, 
welche unmittelbar durch die-Galvanokaustik, und welche durch 
die Ligatur geschlossen werden. 

Die folgende Zusammenstellung begreift sämmtliche Fälle 
fremder und eigener Beobachtung: 

Die Amputation eines Fingers wurde in 2 Fällen aus¬ 
geführt: in dem ersten (Fall von Middeldorpf S. 120) wurde 
gar keine, in dem 2. (3. Beobachtung) 1 Ligatur angelegt. 

Die Amputation des Vorderarmes wurde in 1 Falle 
(9. Beobachtung) ausgeführt und 2 Ligaturen angelegt. 

Die Amputation des Unterschenkels wurde in 3 
Fällen ausgeführt; in dem 1. (Fall von Sedillot S. 123) wurde 
gar keine in dem 2. (11. Beobachtung) 1 und in dem 3. (2. Be¬ 
obachtung) 2 Ligaturen angelegt. — Hieran schliessen sich noch 
2 von Sedillot nur theilweise mit der Galvanokaustik ausge¬ 
führte Unterschenkelamputationen, bei denen 2 und 3 Ligaturen 
nöthig waren (S. 123). 

Die Amputation des Oberschenkels wurde in 7 Fällen 
ausgeführt: in 4 Fällen (Fall von Zsigmondy, 5., 8. und 10. 
Beobachtung) wurde nur 1 Arterie (Art. femor.), in 3 Fällen 
(4., 6. und 7. Beobachtung) 2 Arterien unterbunden. 

Diese Zahlen geben in der Tbat im Ganzen ein überraschend 
günstiges Resultat. Vergleicht man dieselben mit der bei den 
gewöhnlichen Amputationen der gleichnamigen Gliedmaassen noth- 
wendigen Anzahl von Ligaturen, so springt der Vortheil einer 
grösseren Sicherheit gegen Blutung auf Seiten der galvanokausti¬ 
schen Methode gerade für die grossen Amputationen deutlich in 


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Dr. P. Bruns, 


die Augen. Denn allerdings kann zwar die Anzahl der bei einer 
Reihe von Amputationen des gleichnamigen Gliedes angelegten 
Ligaturen nicht unmittelbar als Aequivalent der dabei stattgehabten 
Blutung angenommen werden, allein man ist doch gewiss be* 
rechtigt, dieselbe als ungefähren Vergleichungsw r erth zu benützen, 
sofern auch bei exacter Compression in allen Fällen mit sehr 
zahlreichen Unterbindungen ein grösserer Blutverlust unvermeid¬ 
lich ist. Ist man doch namentlich bei der Unterbindung zahl¬ 
reicher kleinerer Muskeläste, deren Enden sich in das umgebende 
Muskelfleisch retrahirt haben, nicht selten genöthigt, sie wieder¬ 
holt spritzen zu lassen, um sie auffinden und isoliren zu können. 
Und gerade diese Blutung aus den kleineren Gefässen, welche 
bei der Amputation mit dem Messer zuweilen recht beträchtlich 
ist, wird durch die Anwendung der Galvanokaustik mit Sicherheit 
verhindert, da eben jene, ehe sie einen Blutstropfen austreten 
lassen, schon verschlossen werden. Die Unterbindung der grossen 
Arterien jedoch kann, da ihr klaffendes Lumen auf der Schnitt¬ 
fläche frei zu Tage liegt, ohne jeden Blutverlust vorgenommen 
werden, so dass dann mit dem Aufhören der Compression sich 
keine Blutung mehr einstellt. 

Den prägnantesten Vergleich bietet nach den obigen Zahlen 
die Amputation des Oberschenkels. Bedenkt man, dass nach der 
Anwendung des Messers zu einer sorgfältigen (!) Blutstillung durch¬ 
schnittlich etwa 6, nicht selten 10—12 und in Ausnahmsfällen 
noch mehr Ligaturen erforderlich sind, um das Eintreten von 
Nachblutungen zu verhindern, so ist der Contrast gewiss sehr 
frappant gegenüber der galvanokaustischen Amputation, bei der 
unter 7 Fällen in 4 nur die eine Art. femor., in den übrigen drei 
Fällen je 2 Arterien unterbunden werden mussten. 

Auffallend erscheint dagegen bei einer Durchsicht der obigen 
Zusammenstellung, gegenüber der geringen Anzahl von Ligaturen 
an den grossen Gliedmaassen, die relativ weit grössere an den 
kleineren Gliedern, wie z. B. bei der Amputation eines Fingers 
1, bei der des Vorderarmes 2 Ligaturen notirt sind. Dieses 
offenbare Missverhältniss muss erst durch weitere Erfahrungen 
aufgeklärt, beziehungsweise berichtigt w r erden. Möglich ist, dass 
in den wenigen vorliegenden Fällen die Compression ungenügend 
ausgeübt wurde (bei der Fingeramputation wurde die Compression 

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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 


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gar nicht geübt), oder dass eben bei dem Umlegen der Schneide¬ 
schlinge um weniger voluminöse Theile dieselbe leicht in 
einem zu intensiven Grade erhitzt wird und daher zu ( 'rasch 
durchschneidet; nur der rothglühende Draht wirkt ja eigentlich 
hämostatisch. 

Es liegt der Gedanke nahe, die Anzahl der Ligaturen noch 
weiter dadurch zu reduciren, dass man die Enden der nicht schon 
durch die Schneideschlinge obturirten Gefässe durch isolirtes Be¬ 
tupfen mit dem Galvanokauter zu schliessen versucht. Mir 
scheint die Aussicht hiezu selbst für die Arterien mittleren Ca- 
libertf nicht sehr günstig zu sein. Wenigstens konnte man in 
dem Falle von Amputationen des Vorderarmes (9. Beobachtung) 
die Artt. rad. und uln., weiche sich nicht unmittelbar bei der 
Durchtrennung geschlossen hatten, durch wiederholtes Betupfen 
mit dem Galvanokauter nicht vollständig zur Schliessung bringen, 
so dass nach der Unterbrechung der Compression das Blut zwar 
nicht mehr im Strahle spritzte, aber doch tropfenweise hervor¬ 
sickerte und dass schliesslich die Unterbindung gemacht werden 
musste. 

Denselben Versuch stellte auch Zsigmondy*) mit unvoll¬ 
kommenem Erfolge an. Er versuchte in 2 Fällen von Unter- 
scbenkelamputationen mit dem Messer die Blutstillang mit dem 
Galvanokauter zu bewirken. In beiden Fällen gelang es, durch 
wiederholtes Berühren mit demselben die Blutung aus der Art. 
tibial. ant. dauernd zu stillen, wobei er vorsichtshalber in dem 
ersten Falle einen Umstechungsfaden lose umlegte, um ihn bei einer 
etwa eintretenden Nachblutung sofort zusammenzuschnüren. Da¬ 
gegen gelang die Blutstillung aus der Art. tibial. post, mit dem 
Galvanokauter nicht vollständig, so dass die Umstechung gemacht 
werden musste. 

Ein weiterer Punkt, welcher Erwähnung verdient, ist der bei 
der galvanokaustischen Amputation zuweilen vorkommende Aus¬ 
tritt von rückläußgem venösem Blute aus den grossen Venen¬ 
stämmen des abfallenden Theiles des Gliedes. Derselbe ist be¬ 
dingt durch die circuläre Einschnürung des Gliedes durch die 
umgelegte Schneideschlinge und kann wegen der längeren Dauer 


*) Wiener med. Wochenschr. 1858. Nr. 20. p 342. 

t. Laugeobcck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 


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Dr. P. Bruns, 


der Darchtrennung, gegenüber dem gewöhnlichen Verfahren, in 
erheblicherer Menge erfolgen und in so fern störend einwirken, 
als das flüssige Blnt den Draht abkühlt und in seiner Action 
beeinträchtigt. Ist diese Erscheinung auch nur in einigen Fällen 
in beachtenswerthem Grade beobachtet worden, so empfiehlt sich 
doch als prophylaktisches Gegenmittel, den ganzen abfallenden 
Theil des Gliedes von seiner Spitze an mit einer angefeuchteten 
leinenen Rollbinde fest einzuwickeln oder einen starken Bindfaden 
dicht unterhalb der Amputationsstelle fest um das Glied zusammen¬ 
zuschnüren. Natürlich kommt diese Vorsichtsmassregel namentlich 
bei der Amputation des Oberschenkels und allenfalls des Oberarmes 
in Betracht 

So viel über die Blutung während der Operation. 

Unmittelbar hieran schliesst sich die nicht minder wichtige 
Frage über die mit der galvanokaustischen Amputation verknüpfte 
grössere oder geringere Gefahr der Nachblutung. A priori 
möchte man wohl geneigt sein, die Gefahr für sehr naheliegend 
zu halten, dass entweder unmittelbar nach der Operation, oder 
mit der Lockerung des Schorfes sich Nachblutungen einstellen, 
wenn man bedenkt, dass die ganze Schnittfläche bloss mit einem 
dünnen Schorfe überzogen erscheint, und z. B. an einem amputirten 
Oberschenkel nur die Art. femor. unterbunden worden ist. Die 
Beobachtung beweist das Gegentheil: in keinem einzigen der 
vorliegenden Fälle ist eine Nachblutung eingetreten. 
Es zeigt sich nämlich, dass der einen zusammenhängenden Ueber- 
zug bildende Schorf bald nach der Operation zu einer viel be¬ 
trächtlicheren Dicke aufquillt und ungemein fest auf der Schnitt¬ 
fläche haftet, und dass, wie wir später sehen werden, die Ab- 
sto8sung desselben erst mehrere Tage nach der Operation be¬ 
ginnt, also zu einer Zeit, wo bereits ein vorläufiger sicherer 
Verschluss der Gefässenden sich eingestellt hat*). — Nur in 
einem Falle von galvanokaustischer Oberschenkel-Amputation 
(6. Beobachtung) trat erst in der 4. Woche eine starke Nach¬ 
blutung ein, welche natürlich in keiner Weise auf Rechnung der 

*) Die an der hiesigen Klinik bei Arterienunterbindungen gebräuchlichen 
Ligaturröhrchen werden bei Amputationen sämmtlich nach 18—36 Stunden, 
nur von der Art. femoralis erst am 3. Tage entfernt; s. Y. v. Bruns, Hand¬ 
buch der Chirurg. Praxis. Tübingen 1873. I. S. 258. 


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Die galvanokaustisehe Amputation der Glieder. 


131 


Amputationsmethode zu setzen ist, da zu dieser Zeit die Wund¬ 
fläche schon längst in eine Granulationsfläche uragewandelt war. 

In Betreff der anderweitigen charakteristischen Eigentüm¬ 
lichkeiten unserer Methode, so weit sie sich im weiteren Verlaufe 
nach der Operation ergeben, lassen sich folgende Punkte hervor¬ 
heben. 

, Der sog. Shock oder Wundstupor ist, wie bei allen 
galvanokaustischen Operationen, auffallend gering. Gerade in den 
Fällen von Oberschenkelamputationen machte sich unmittelbar 
nach der Operation in dem ganzen Befinden der Kranken der 
Eindruck auf das gesammte Nervensystem in weit geringerem 
Grade geltend, als wir diesen sonst nach einem so bedeutenden 
Eingriffe unter den bekannten Erscheinungen zu beobachten ge¬ 
wohnt sind. Die Kranken litten offenbar weit weniger unter 
den Empfindungen einer so grossen, frisch gesetzten Wunde und 
klagten auffallend wenig oder gar nicht über Schmerzen in der¬ 
selben. 

Die Erklärung dieser Thatsache liegt wohl einfach darin, 
dass bereits in dem Momente der Durchtrennung sämmtliche 
Theile der Schnittfläche durch den Schorf wie mit einer schützen¬ 
den Decke überzogen werden, welche gleichsam als Ersatz der 
äusseren Bedeckungen die unvermeidlichen Insulte, und seien 
es die mildesten, wie die durch den Contact mit ungünstig 
temperirter Luft, mit Verbandstücken u. s. f., abhält. Diese 
Erklärung wird auch bestätigt durch die weitere Beobachtung, 
dass nämlich nicht bloss unmittelbar nach der Operation, sondern 
mehrere Tage lang, so lange eben der Schorf noch haftet, eine 
auffallend geringe Empfindlichkeit der Wundfläche bei der Be¬ 
rührung, sowie die geringe spontane Schmerzhaftigkeit fortbesteht. 
Erst mit der Abstossung des Schorfes tritt, wie ich mich wieder¬ 
holt beim Verbände überzeugen konnte, eine grössere Empfind¬ 
lichkeit der Wundfläche ein, jedoch eben nur in demselben Grade, 
wie sie jeder granulirenden Fläche eigen ist. 

Dieselbe Beobachtung machte übereinstimmend auch Sedillot, 
welcher auf die Herabsetzung der Schmerzen mit Hülfe der 
Galvanokaustik sehr grossen Werth legt. In seiner oben citirten 
Abhandlung mit der Ueberschrift: „De la suppression de la 
douleur apres les op6rations“, in welcher er seine Fälle von 

ü* 

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Dr. P. Bruns, 


* 

galvanokaustischen Amputationen mittheilt, betrachtet er geradezu 
„die durch die Galvanokaustik bewirkte Beseitigung oder Ver¬ 
minderung des Schmerzes nach Operationen als eine Eweiterung 
oder Ergänzung der grossen Entdeckung der Anaesthetica“ *). 
Seine Begründung stützt sich auf die Analogie der Erscheinungen 
nach zufälligen Verletzungen durch Verbrennung: „L'id6e de 
supprimer la douleur ä la suite des opörations repose sur un 
fait pathologique dont on n’avait pas songe ä tirer parti: l’inscn- 
sibilitd des surfaces tögumentaires ou autres, brülees au troisiöme 
degr6, c’est-ä-dire ddsorganisöes et converties en eschares plus 
ou moins dpaisses. On est singuli&rement etonn6, quand on est 
tömoin pour la premi&re fois de voir des personnes atteintes de 
brülures de cette espfcce, tres-etendues et mortelles, n’accuser 
aucune douleur, conserver le sommeil et l’app6tit, et rester sans 
fievre jusqu’au moment de la rdaction inflammatoire“.**) 

Was im Allgemeinen den Modus der Heilung betrifft, so 
lassen sich in günstig verlaufenden Fällen kurz folgende locale 
Veränderungen beobachten: 

Die Wundfläche des Stumpfes wird Anfangs von dem Brand¬ 
schorf in Form einer zusammenhängenden gleichmässigen Schicht 
überzogen, welche unmittelbar nach der Operation so dünn und 
zart erscheint, dass die einzelnen Theile auf der Schnittfläche 
beinahe ebenso leicht, wie wenn sie mit dem Messer gesetzt wäre, 
zu erkennen sind. Sehr treffend bezeichnet dies Zsigmondy***) 
in der Mittheilung seines Falles mit den Worten: „überhaupt 
bildete der dünne Schorf nur einen so schwachen Schleier, dass 
es sogar möglich gewesen wäre, einzelne Nervenzweige hervorzu¬ 
holen“. Allein schon nach kurzer Zeit, etwa nach 6—12 Stunden, 
beginnt die Schorfdecke in Folge von Durchtränkung mit Gewebs- 
und Wundflüssigkeit — nicht durch Benetzung von aussen, da 
dies auch bei offener Wundbehandlung ohne jede Bespülung auf- 
tritt — beträchtlich aufzuquellen und so an Dicke zuzunehmen, 
dass jetzt innerhalb der gleichmässig grau-bräunlichen Schorffläche 
kaum eine Differenzirung einzelner Gewebstheile mehr möglich 


*) 1. c. p. 362. 

*•) 1. c. p. 342. 

♦**) 1. c. p. 397. 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 133 

ist. Die Abstossang des Schorfes beginnt am 3. — 4. Tage 
und geht ganz allmälig innerhalb 5—6 Tagen von Statten, indem 
sich unter dem Strahle des Irrigators einzelne Fetzen and Bröckel 
ablösen. 

Hat sich die Wandfläche, durchschnittlich etwa vom 8.—10. 
Tage an gereinigt und in eine Granulationsfläche amgewandelt, 
so hat sie damit ihre von der Wirkung der Galvanokaustik be¬ 
dingten Eigenthümlichkeiten verloren. Es gelang mir wenigstens 
nicht, die von Middeldorpf bei der galvanokaustischen Ampu¬ 
tation eines Daumens beobachteten ȟppig wuchernden Granu 
lationen, ein Charakteristikum der Brandwunden“*) zu constatiren. 
Vielmehr Hess sich in allen den Fällen, welche zur Heilung 
führten, die Wahrnehmung machen, dass die Entwickelung und 
Umbildung der Granulationen einen entschieden protrahirteren 
Verlauf nahm und überhaupt die Tendenz zur Vernarbung sich 
weniger deutlich und energisch manifestirte. 

Die Heilungsdauer nach der galvanokaustischen 
Amputation ist daher auch nach den vorliegenden 
Beobachtungen eine entschieden längere, als es durch¬ 
schnittlich nach der Amputation mit dem Messer der Fall ist. 
Zum Beweise führe ich folgende Thatsachen an: In dem Sedillot- 
schen Falle von Unterschenkelamputation hatte die Wundfläche 
nach Ablauf von 8 Wochen noch die Grösse eines 50 Centimes¬ 
stückes, nachdem sich die necrotischen Sägeflächen der. Tibia und 
Fibula exfoliirt hatten. Nach der Amputation des Vorderarmes 
(9. Beobachtung) bestand nach 8 Wochen noch eine nicht ver¬ 
narbte Stelle von Silbergroschengrösse. Unter den 3 Oberschenkel¬ 
amputationen mit günstigem Verlaufe hatte in dem einen .Falle 
(5. Beobachtung) nach 5 Wochen der periphere Narbensaum erst 
die Breite von 1 Ctm. erreicht, in dem 2. (6. Beobachtung) ist, 
allerdings, im Zusammenhänge mit einer ungünstigen individuellen 
Disposition, die definitive Vernarbung in Folge von wiederholtem 
ulcerativen Zerfalle der jungen Narbensubstanz bis jetzt (nach 
Jahren) noch nicht vollendet und in dem 3. Falle (8. Beob¬ 
achtung) war 8 Wochen nach der Operation die Vernarbung bis 
auf eine 1 Ctm. im Durchmesser betragende Stelle vollendet. 


*) 1. c. p 129. 


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Dr. P. Bruns, 


Eine besondere Erwähnung verdient noch die mit der Operation 
in directem Zusammenhänge stehende febrile Reaction. 
Dieselbe ist immer ausnehmend gering und von 
kurzer Dauer. Die sorgfältig vorgenommenen Messungen der 
Morgen- und Abendtemperatur in sämmtlichen fällen ergaben, 
dass in 3 Fällen, nämlich nach der Amputation eines Fingers 
(3. Beobachtung), des Vorderarmes (9. Beobachtung) und des 
Oberschenkels (5. Beobachtung) weder in den ersten Tagen nach 
der Operation noch überhaupt während des Verlaufes der Wund¬ 
heilung eine Steigerung der Temperatur über die Norm eintrat. 
In den übrigen Fällen — diejenigen sind natürlich ausgeschlossen, 
wo noch ausserdem ein mit der Operationswunde nicht in Zu¬ 
sammenhang stehender Eiterherd zugegen war — trat am 3. 
Tage eine Steigerung der Abendtemperatur um 1 — 1,5 Grad ein, 
welche bloss 2 bis höchstens 5 Tage anhielt. Von da an blieb 
die Temperatur entweder dauernd auf der Norm stehen, oder es 
trat mit dem Zeitpunkt der vollendeten Abstossung des Schorfes 
wieder eine leichte fieberhafte Bewegung ein. Uebereinstimmend 
hiemit bemerkt S6dillot*): „la fi&vre traumatique a 6t6 presque 
nulle .... au moment de l’&imination des eschares la röaction 
febrile manque ou est retardee et trös-affaiblie. Ainsi s’expliquent 
la continuation de la sante, de Papp^tit, du sommeil, et la sdcuritö 
ct la confiance des opöres“. 

Endlich haben wir noch einen Blick auf die in unseren 
Amputationsfällen beobachtete Mortalität zu werfen. Ich bin 
natürlich weit davon entfernt, aus dem kleinen Material eine 
Mortalitätsstatistik der galvanokaustischen Amputation construiren 
zu wollen, allein ich halte ein kurzes Resum6 über die Fälle mit 
lethalem Ausgange und über die specielle Ursache desselben an 
dieser Stelle schon deshalb für geboten, um zugleich durch 
dasselbe einiges Material zur Discussion der Frage über die 
grössere oder geringere Häufigkeit von Pyämie nach galvanokau¬ 
stischen Operationen beizubringen. 

Die Gesammtzahl der galvanokaustischen Amputationen ein¬ 
schliesslich je eines Falles von Middeldorpf, Zsigmondy 


*) J. c. p. 363. 


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Die galvanokaustiscbe Amputation der Glieder. 135 

und Sedillot*), beträgt 13. Die Anzahl der Todesfälle beträgt 
6. Von diesen kommen 2 auf die Amputation des Unterschenkels, 
welchen 1 Heilung gegenübersteht, und 4 auf die Amputation 
des Oberschenkels, gegenüber 3 Fällen von Heilung. 

Man sieht, dieses Resultat einer einfachen Zahlen-Statistik 
würde nicht sonderlich zu Gunsten unserer Methode sprechen. 
Anders verhält sich dagegen die Sache, wenn man erwägt, dass 
eben die meisten dieser Fälle solche waren, bei denen von vornherein 
die Chancen für den Erfolg der Operation überhaupt sehr un¬ 
günstig standen und gerade deshalb die Methode als eine weniger 
gefährliche gewählt wurde. Noch günstiger gestaltet sich natürlich 
das Mortalitätsverhältniss, so wie man diejenigen Fälle ausschliesst, 
in denen die Operation in Wahrheit als anceps auxilium vorge¬ 
nommen wurde und der lethale Ausgang nachweislich ohne ur¬ 
sächlichen Zusammenhang mit dieser eingetreten ist. Denn ohne 
eine solche Specialisirung der Fälle ist das Resultat einer ein¬ 
fachen Zahlen-Statistik durchaus trügerisch und für die Feststellung 
der Prognose werthlos. 

Von diesem Gesichtspunkte aus ergiebt die Sichtung der 
tödtlich verlaufenen Fälle, dass in 2 Fällen, nach der Ampu¬ 
tation des Oberschenkels (Fall von Zsigmondy) und des Unter¬ 
schenkels (11. Beobachtung) der tödtliche Ausgang die Folge 
einer bereits vor der Operation manifesten Pyämie war, welche 
sich durch wiederholte Schüttelfröste innerhalb mehrerer der 
Operation vorhergegangenen Tage constatiren liess. In einem 
weiteren Falle von Amputation des Unterschenkels (2. Beobach¬ 
tung) war die nachweisliche Todesursache die Entwickelung eines 
grossen Decubitus und Abscesses durch Aufliegen bei hochgradigem 
senilen Marasmus. In einem 4. Falle (Amputatio femor., 7. 
Beobachtung) Tod an doppelseitiger Pneumonie mit Ausgang in 
Abscessbildung. In den beiden übrigen Fällen (4. und 10. Beob¬ 
achtung) erfolgte der Tod an Pyämie, ausgehend von der Ampu¬ 
tationswunde. 

Somit lassen sich von den 6 Todesfällen im allerweitesten 


*) Die beiden anderen von Sedillot nur tbeilweise mit der Galvano¬ 
kaustik ausgeführten Amputationen werden hier nicht mitgerechnet. 


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136 


Dr. P. Bruns, 


Sinne nur 4 überhaupt in Verbindung mit der Operation bringen 
und unter diesen befinden sich 2 Fälle von Pyaemie. 

Ich constatire ausdrücklich die Beobachtung dieser beiden 
Fälle von ausgesprochener, durch die Section bestätigter Pyaemie 
nach galvanokaustischer Oberschenkelamputation, gegenüber den 
Angaben gewichtiger Autoritäten, welche in der Galvanokaustik ein 
unfehlbares Präservativ gegen deren Vorkommen erblicken. So 
schlägt namentlich Middeldorpf die galvanokaustische Ampu¬ 
tation der Glieder als Mittel „zur Vermeidung von Pyämie“ vor*) 
und Sddiilot schreibt in demselben Sinne: „les malades n’ont 
dprouvd aucun accident s^rieux de sorte que l’on ne saurait con- 
tester au moins l’innocuit6 de la mdthode si Ton n’en accepte 
pas tous les aventages .... Les eschares Seches, qui recouvrent 
et ferment tous les orifices vasculaires, mettent ä l’abri des 
contages et des complications infectieuses putrides et purulentes“ **). 

Ich komme nun zum zweiten Theile meiner Aufgabe, nämlich 
zur Erörterung der in Betreff der practischen Ausführung 
und Technik beachtenswerthen Punkte. 

Das wesentliche Erforderniss zur Vornahme einer galvano¬ 
kaustischen Amputation ist eine durchaus zuverlässige, ihren 
Dienst nie versagende galvanokaustische Batterie,**deren 
Glühwirkung bei der Amputation voluminöser Glieder eine sehr 
intensive sein muss. Als ein allen Anforderungen in jeder Weise 
am vollkommensten Genüge leistender Apparat hat sich in sämmt- 
lichen Fällen der hiesigen Klinik die Zink-Eisenbatterie***) 
bewährt. Die Anzahl der bei dieser Batterie erforderlichen 
Elemente beträgt je nach der Dicke des betreffenden Gliedes 
1-2; nur bei voluminösen Oberschenkeln könnte eine Verstär¬ 
kung um 1—2 Elemente zur Abkürzung der Dauer wünschens- 
werth erscheinen. So gelang es bei dem einzigen Versuche mit 
3 Elementen (8. Beobachtung), eine Oberschenkelamputation inner¬ 
halb 10 Minuten ganz zu vollenden. 

Der zur Schneideschlinge zu verwendende Platindraht muss 


*) 1. c. p. 133. 

**) 1. c. p. 363. 

***) S. deien Beschreibung bei V. v. Bruns, Handbuch der Chirurg. Praxis. 
Tübingen 1873. I. S. 575. — Der hiesige Mechanikus Albrecht liefert die 
Batterie aus 2 Elementen zum Preise von 25 Thalern. 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 


137 


möglichst stark gewählt werden. Man nimmt am besten einen 
Draht von 0,6-0,8 Mm. Dicke. Hat nämlich der Draht eine 
geringere Stärke, so besteht die Gefahr, dass derselbe, wenn die 
Schlinge bereits eine Strecke eingeschnitten hat nnd dem ent¬ 
sprechend verkleinert worden ist, in Folge der gesteigerten Glüh¬ 
hitze theils schmilzt theils zerreisst, wodurch natürlich immer 
eine sehr störende Unterbrechung der Operation herbeigeführt 
wird. Dieser Zwischenfall ereignet sich namentlich dann, wenn 
gegen das Ende der Durchtrennung die Schlinge an einer Stelle 
bereits bis auf den Knochen gedrungen ist, während sie sich im 
Uebrigen noch in Weichtheilen befindet, nnd dadurch sehr ungleich- 
mässig erhitzt wird. Es resultirt hieraus die Nothwendigkeit, 
emestheils im Beginne der Operation, entsprechend der Dicke des 
Drahtes nnd der Weite der Schlinge, einen sehr intensiven Strom, 
andemtheils im weiteren Verlaufe eine geringere Stromstärke zu 
verwenden. Mit anderen Worten: die Einrichtung der Batterie 
muss so getroffen sein, dass durch einen einfachen und raschen 
Wechsel die Anzahl der eingeschalteten Elemente beliebig verändert 
werden kann. Bei der Zink-Eisenbatterie lässt sich dies durch 
eine einfache Aenderung in der Anordnung der Verbindungsdräbte 
zwischen den Elementen herstellen. 

Die Technik bietet im Allgemeinen keine besonderen 
Schwierigkeiten dar. Sie hängt ab einestheils von der Wahl der 
Methode, anderntbeils davon, ob das betreffende Glied 1 oder 2 
Röhrenknochen besitzt. 

Was zunächst die Wahl der Methode betrifft, so hat 
man zwischen denselben Verfahren zu wählen wie bei der 
Amputation mit dem Messer, also namentlich zwischen dem 
Zirkelschnitt, dem Zirkelschnitt mit Hautlappen und dem Lap¬ 
penschnitt mit Muskellappen. Für die galvanokaustische 
Amputation muss unter diesen entschieden dem ein¬ 
fachen Zirkelschnitte der Vorzug gegeben werden. 
Denn die Bildung eines Hautlappens aus der vorderen 
Fläche des Gliedes (mit nachfolgendem Zirkelschnitt) gewährt hier 
durchaus nicht dieselben Vortheile, welche ihr bei der Amputation 
mit dem Messer unstreitig zuerkannt werden müssen. Es ist 
nämlich die unmittelbare Anheilung des Hautlappens an die 
Schnittfläche des Stumpfes durch prima unio, welche ich nach der 


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Dr. P. llruns, 


Operation mit dem Messer auf der hiesigen Klinik selbst am 
Oberschenkel wiederholt zu beobachten Gelegenheit hatte, in 
unserem Falle natürlich deshalb absolut unmöglich, weil die beiden 
einander zugekehrten Wundflächen mit Brandschorf überzogen sind. 
Während der Dauer der Abstossung des Schorfes bis zur gänz¬ 
lichen Reinigung der Wundflächen hängt daher der Hautlappen 
frei über die Schnittfläche des Stumpfes herab und schrumpft 
während dieser Zeit so bedeutend zusammen, dass er zu einer 
genügenden Bedeckung nicht mehr ausreichend ist. Ausserdem 
ist auch die Bildung des Hautlappens, da sie mit dem Galvano¬ 
kauter ausgeführt wird, mit grösserem Zeitverluste und einer be¬ 
trächtlicheren Blutung aus den Venen des Unterhautzellgewebes 
verbunden, welche bei der Durchschneidung der Haut mit der 
Schneideschlinge vermieden wird. 

Dies sind die Uebelstände bei dem Zirkelschnitt mit 
vorderem Hautlappen, wie sie sich bei der Ausführung in 
3 Fällen (2., 4. und 10. Beobachtung) ergeben haben, so dass 
eine weitere Wiederholung derselben nicht zu empfehlen ist. 

Ganz ungeeignet für die galvanokaustische Methode ist der 
Lappenschnitt mit Bildung von Muskellappen, was 
keiner näheren Ausführung bedarf. 

Somit bleibt der einfache Zirkelschnitt, welcher in der 
That die meisten Vortheile bietet: leichte Technik, grösste Sicher¬ 
heit gegen Blutung, möglichste Verkleinerung der Wundfläche 
durch die feste Einschnürung der Schneideschlinge. Besonders 
auch der letztere Vorzug, die Verkleinerung der Wundfläche, 
darf in -seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden und nicht mit 
Unrecht erinnert Sedillot daran, dass in dieser Hinsicht die 
Wirkung der Schneideschlinge gleichsam den combinirten Effect 
der Cauterisation und des lineären Ecrasement in sich vereinige, 
wenn er sagt: „On parviendra ä instituer ainsi une Sorte 
d’dcrasement lindaire ölectrothermique, capable de donner 
les resultats que les partisans de lecrasement lineaire simple 
n’ont fait qu’esperer“ *). 

Am einfachsten gestaltet sich die Ausführung bei den 
Gliedern mit einem Knochen. 


*) 1. c. p. 363. 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 


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Nachdem die oben besprochenen Vorkehrungen getroffen 
sind, nämlich die Compression des Hauptarterienstammes und die 
feste Ein Wicklung des abfallenden Theiles des Gliedes zur Ver¬ 
hinderung des Austrittes von rückläufigem venösem Blute, wird 
die Schneideschlinge um das Glied umgelegt und fest zusammen¬ 
geschnürt. Man legt die Schlinge am besten so an, dass die 
aus dem Schlingenschnürer austretenden Enden des Drahtes auf 
die Gegend des Arterienstammes zu liegen kommen, damit dieser 
zuletzt durchtrennt wird, da die Enden des Drahtes am schwäch¬ 
sten erglühen. Macht man den einzeitigen Zirkelschnitt, 
so lässt man die Schlinge in derselben Ebene von der Haut bis 
auf den Knochen einschneiden, indem man sie mittelst des 
Schlingenschnürers in dem entsprechenden Tempo anzieht und 
verkleinert. Nach dem Zurückschieben des Periostes wird der 
Knochen durchsägt*) und darauf sofort das freie Ende des Arterien¬ 
stammes unterbunden. 

Besseristes, statt des einzeitigen den zweizeitigen Zirkel¬ 
schnitt mit Bildung einer Hautmanchette vorzunehmen. 
Nachdem Haut und Unterhautzellgewebe ringsum durchtrennt und 
die Musculatur vollkommen freigelegt ist, wird durch Oeffnen der 
Kette die Action der Schlinge zeitweise unterbrochen und während 
dessen die Haut mittelst Finger und Spatel etwa 3 Ctm. weit 
nach oben zurückgezogen und umgekrämpelt. Hierauf wird die 
Schlinge bis zu derselben Höhe hinaufgeschoben und im Niveau 
der Basis der Hautmanchette, welche während dessen mit ihrer 
wunden Fläche nach aussen umgekrämpelt bleibt, die Muskulatur 
rings bis auf den Knochen durchtrennt. Wird dann das Periost 
gleichfalls 2—3 Ctm. weit mit dem Knochenmesser zurückgelöst, 
so erfolgt die Durchsägung des Knochens 5 — 6 Ctm. oberhalb 
des Randes der Hautmanchette und der Stumpf bekommt eine 
sehr gute Form. 

In dieser Weise, als zweizeitiger Zirkelschnitt wurde die Ober- 


*) Middeldorpf durchschnitt in seinem Falle von Amputation eines 
snpernumerären Daumens bei einem halbjährigen Kinde auch den Taubenfeder¬ 
kieldicken Knochen mit der Schneidescblinge. Bei Erwachsenen, nach vollen¬ 
deter Verknöcherung, gelingt dies nicht mehr, wie sich bei der Amputation eines 
Fingers (3. Beobachtung) und bei Versuchen an der Leiche ergab, und ist auch 
wegen Gefahr der Nekrose nicht angezeigt. 


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Dr. P. Bruns, 


Schenkelamputation in 2 Fällen (7. und 8. Beobachtung) ausge¬ 
führt und eine sehr günstige Form des Stumpfes erzielt, bei 
dem der Knochen vollständig ton der Muskulatur und diese hin¬ 
reichend von der Hautmanchette bedeckt war. 

Der Umfang der Oberschenkel an der Amputationsstelle 
schwankte in den 0 operirten Fällen zwischen 24 und 33 Ctm., 
die Dauer der ganzen Operation zwischen 10 und 50 Minuten. 

Es erübrigt noch zu erwähnen, dass bei den ersten Ver¬ 
suchen der galvanokaustischen Oberschenkelamputation (4. und 
5. Beobachtung), ehe man sich selbst von der Möglichkeit über¬ 
zeugt hatte, mit der Schneideschlinge so voluminöse Körpertheile 
mit einem Male abtrennen zu können, das Verfahren in der 
Weise instituirt wurde, dass die Masse der Weichtheile in 2 bis 
3 Portionen mit der Schlinge durchgetrennt wurde. Die einzel¬ 
nen Portionen wurden derart mittelst der Langenbeck’sehen 
Ligaturnadel in die Schlinge gefasst, dass jene 1—2 Mal durch 
den Oberschenkel hindurchgestochen wurde, und zwar so, dass 
annähernd gleiche Portionen resultirten. Auf Grund der weiteren 
Erfahrungen ging aus diesem umständlicheren Verfahren der ein¬ 
fache Zirkelschnitt hervor, welcher natürlich weitaus den Vorzug 
verdient. 

Complicirter als bei den einröhrigen Gliedmaassen ist die 
Technik bei den Gliedern mit zwei Röhrenknochen. 

Wählt man den einzeitigen Zirkelschnitt, so sticht man 
am besten zuerst eine Ligaturnadel durch das Spatium interos- 
seum von der vorderen zur hinteren Seite des Gliedes durch, 
zieht das eine Ende des Drahtes nach und fasst dann auf 2 Mal 
sämmtliche je um einen der beiden Knochen liegenden Weich¬ 
theile in die Schlinge und durchtrennt sie bis auf die Knochen. 
Auf diese Weise wurde die Amputation des Vorderarmes in der 
9. Beobachtung ausgeführt. 

Wählt man den zweizeitigen Zirkelschnitt, so trennt 
man zuerst mit der umgelegten Schlinge die Haut ringsum bis 
auf die Musculatur, zieht darauf die Hautmanchette zurück und 
sticht nun im Niveau der Basis derselben die Ligaturnadel durch 
das Spatium interosseum hindurch, um dann in derselben Weise 
durch zweimaliges Umlegen der Schlinge die um beide Knochen 
liegenden Weichtheile nach einander zu durchtrennen. 


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Die galvanokausti8cbe Amputation der Glieder. 


141 


Weniger empfehlenswerth ist das Verfahren von Sedillot, 
wegen der geringeren Sicherheit gegen Blutung. Derselbe durch- 
schnitt zuerst mit der umgelegten Schlinge die Haut und dann 
in höherem Niveau, unter Bildung einer Hautmanschette, die am 
äusseren Umfang der Knochen liegenden Weichtheile, bis der 
Draht bis auf die beiden Knochen vorgedrungen war. Zuletzt 
durchschnitt er die Weichtheile im Spatium interosseum mit dem 
Galvanokauter. 

Eine weitere Modification des Verfahrens, welche etwas com- 
plicirter erscheint, ist von Zsigmondy*) vorgeschlagen. Der¬ 
selbe will, nach Bildung einer Hautmanchette und Durchschnei¬ 
dung der Weichtheile ringsum bis auf die Knochen mittelst der 
Schlinge, „einen bereit gehaltenen neuen Platindraht mit einer 
krummen Nadel knapp an einem der beiden Knochen derart 
durchfuhren, dass in die neuzubildende Drahtschlinge nach Mög¬ 
lichkeit alle noch nicht durchtrennten Weichgebilde und der zweite 
Knochen zu liegen kommen. ... Bei dem interossealen Schnitte 
Hesse sich sogar das Umfassen des zweiten Knochens vermeiden, 
wenn man den Draht, wie oben angegeben, mit einer krummen 
Nadel zuerst an der Innenseite des einen Knochens, dann das 
andere Drahtende wieder mit einer krummen Nadel um die Innen¬ 
seite des zweiten Knochens herumführen würde; die Concavität 
der Nadel natürlich stets gegen den Knochen gerichtet.“ 

Wählt man, was nach der früheren Ausführung keinen be¬ 
sonderen Vortheil bietet, den Zirkelschnitt mit vorderem 
Hautlappen, so ist, nachdem der Hautlappen mit dem Galva¬ 
nokauter gebildet und zurückgeschlagen worden ist, das weitere 
Verfahren ganz analog wie bei dem zweizeitigen Zirkelschnitte. 
Oder man verfährt, etwas abweichend hiervon, in der Weise, dass 
man, wie bei der Unterschenkelamputation in der 11 . Beobach¬ 
tung, nach der Bildung des Hautlappens zuerst die Weichtheile 
an der vorderen und daun die an der hinteren Seite der Knochen 
nach einander in die Schlinge fasst und durchtrennt. Hierzu 
wird die Ligaturnadel 2 Mal, unmittelbar vor und hinter den 
Knochen, so in einer Bogenlinie quer von einer Seite zur anderen 
hindurchgestossen, dass sie möglichst weit zwischen jene beiden 

*) 1. c. p. 399. 


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Dr. P. Bruns, 


ein- und gegen die Membrana interossea vordringt, damit die 
interossealen Weichtheile möglichst mitgefasst werden. In die 
so umgelegten Schlingen kommen jetzt bloss Weichtheile zu liegen; 
nur muss dann zuletzt noch der Rest der interossealen Weich¬ 
theile mit dem Galvanokauter durchschnitten werden. 

Schon diese etwas complicirtere Technik bei den zweikno¬ 
chigen Gliedern berechtigt zu dem Schlüsse, dass die galvano¬ 
kaustische Amputation besser für Glieder mit einem 
Knochen geeignet ist. Dieses Resultat ist in sofern von 
geringerem Belang, als ja eben die Hauptvorzüge der Methode 
am meisten bei den Amputationen nahe dem Stamme in’s Ge¬ 
wicht fallen, so dass sich die Indicationen für die Anwendung 
derselben weit seltener bei den vom Stamme entfernteren Glie¬ 
dern ergeben werden. 

R e s u m 6. 

Obgleich weit entfernt von der Prätension, aus dem kleinen 
verarbeiteten Materiale schon jetzt ein in jeder Hinsicht endgül¬ 
tiges Urtheil über die galvanokaustische Amputationsmethode ab¬ 
geben zu wollen, halte ich mich doch für berechtigt, in derselben 
eine werthvolle Bereicherung der operativen Technik, namentlich 
für gewisse Fälle von Amputationen nahe dem Stamme, zu er¬ 
blicken, da dieselbe bei Zuständen hochgradiger Anämie und stark 
herabgesetzter Resistenzfähigkeit der Constitution einen weniger 
gefährlichen Eingriff darstellt, als das gewöhnliche Verfahren. 
So viel beweist mit Sicherheit das Facit aus den obigen Erörte¬ 
rungen der einzelnen maassgebenden Puncte. Denn ich habe 
mich bei diesen Erörterungen bestrebt, nur die einfachen Schluss¬ 
folgerungen aus den in den Beobachtungen enthaltenen Thatsachen 
zu ziehen und den so häufigen Fehler zu vermeiden, durch 
stärkeres Aufträgen der Lichtseiten und Vertuschen der Schatten¬ 
seiten der Darstellung eines beinahe neuen Gegenstandes ein 
besseres Relief zu geben und dessen Bedeutung hinaufzuschrauben. 
Eine solche phrasenhafte Uebertreibung ist gewiss der Schluss, 
welchen Jaxa-Kwiatkowski aus den drei Beobachtungen von 
Södillot zieht: „L’amputation des membres par la methode 
galvanocaustique a donn£ des r6sultats brillants, qui ne laissent 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 


143 


rien ä desirer“*), zumal wenn man sich erinnert, dass Södillot 
bloss eine einzige dieser drei Operationen ganz mittelst der Gal¬ 
vanokaustik zu Ende geführt hat. 

Die für die galvanokaustische Amputation characteristischen 
Momente, im Vergleiche zu dem gewöhnlichen Verfahren mit dem 
Messer, lassen sich unter folgende Puncte resumiren: 1) Sie lässt 
sich mit einem wesentlich geringeren Blutverluste, zuweilen buch¬ 
stäblich unblutig ausfübren. — 2) Sie beschränkt die Anzahl der 
Ligaturen auf die der grösseren Arterienstämme. — 3) In kei¬ 
nem Falle sind Nachblutungen beobachtet worden. — 4) Der 
Shock ist geringer, die Schmerzhaftigkeit der Wundfläche während 
der ersten Zeit fehlt beinahe ganz. — 5) Die febrile Reaction ist 
meist ausnehmend schwach und von kurzer Dauer und fehlt zu¬ 
weilen ganz. — 6) Die Dauer bis zur definitiven Heilung ist 
eine entschieden längere. — 7) Sie verhindert das Eintreten von 
Pyämie nicht. — 8) Für die Ausführung eignet sich am besten 
der zweizeitige Zirkelschnitt mittelst der Schneideschlinge. — 
9) Sie eignet sich besser für die Glieder mit einem als für die 
mit zwei Knochen. 

Ein Ueberblick über die aufgezählten Punkte lässt unstreitig 
manche Vorzüge unserer Methode erkennen, welche schwer genug 
in’s Gewicht fallen. Trotzdem darf man sich über ihre eigentlich 
practische Bedeutung keine allzu weit gehenden Illusionen 
machen; sie soll und wird natürlich nie als allgemeine Methode 
der Amputation das gewöhnliche Verfahren verdrängen, da dem 
schon allein der ungleich complicirtere und theuerere Apparat 
sowie die unbedingte Nothwendigkeit specieller Kenntnisse und 
Fertigkeit in der Handhabung desselben im Wege steht. Sie 
wird daher in der Zukunft wohl nur in vereinzelten Fällen zur 
Ausführung gelangen, wie ja auch ihre Indicationen sich eben 
auf die früher angedeuteten Umstände beschränken. In diesen 
Fällen aber — das halte ich nach den bisherigen Erfahrungen 
für evident — wird unsere Methode von keiner anderen über¬ 
troffen, ja man wird sogar mit Hülfe derselben im Stande sein, 
eine zum Versuch der Lebenserhaltung für nothwendig erachtete 
Amputation auch in Fällen noch auszuführen, wo man sie sonst 


•) 1. c. p. 44. 


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Dr. P. Brun8, 


als ein zu grosses Wagniss unterlassen musste. Und darin 
gipfelt ihre practische Bedeutung. 

Beobachtungen. 

1. Beginn einer Exarticulatio humeri galvanocaustica (24. Juli 
1857). B. U , Knabe von 8 Jahren, äusserst anämisch und zum Skelet abge¬ 
magert, wurde am 21. Juli auf die Klinik aufgenommen mit einem enormen 
medullären Carcinom, ausgehend vom linken Oberarmknochen und sich über die 
ganze Länge des Oberarmes von der Spitze des Acromion bis zur Ellenbeuge 
erstreckend. Umfang des Oberarmes um das 3—4 fache vermehrt. Die be¬ 
deckende Haut war von äusserst zahlreichen, geschlängelten, bis zu Federkiel- 
und sogar Kleinfingerdicke erweiterten Venen durchzogen. An vier Stellen 
ragten durch die perforirte Haut Apfel- bis Mannsfaustgrosse ulcerirte Krebs 
knoten hervor, an mehreren anderen Stellen fanden sich kleinere und grössere 
prominente Knoten, welche durch die verdünnte Haut bläulich durchschimmerten. 
Daneben bestanden heftigste Schmerzen, Schlaflosigkeit, rasch zunehmende 
Schwäche und Gollaps. 

Um noch einen Versuch zur Rettung des Knaben zu machen, wurde die 
Vornahme der Exarticulation des Oberarmes beschlossen, welche, in Anbetracht 
der zu erwartenden heftigen Blutung aus den zahlreichen, enorm erweiterten 
subcutanen Venen, mit der Galvanokaustik ausgeführt werden sollte, da durch 
einen einigermassen beträchtlichen Blutverlust ein unmittelbarer tödtlicher Aus¬ 
gang berbeigeführt werden konnte. 

Die Operation wurde damit begonnen, dass mit dem Galvanokauter aus der 
noch gesunden Haut des oberen Endes des Oberarmes ein nach unten convexer 
Lappen gebildet wurde. Hierbei erfolgte nicht bloss bei der Durchtrennung 
starker, sondern auch der kleinsten Venen eine mit dem Galvanokauter nicht 
zu stillende Blutung, welcher bloss durch Unterbindung, Anlegen von Serres 
fines u 8. f. Einhalt getban werden konnte. Während dessen trat jedoch ein 
so rascher Gollaps und sichtbare Abnahme der Kräfte des Patienten ein, dass 
von der Vollendung der Operation Abstand genommen werden musste, da ein 
länger fortgesetzter operativer Eingriff den unmittelbaren Tod zur nothwendigen 
Folge gehabt hätte. — Am 2. Tage nach dem Operationsversuche trat, unter den 
Erscheinungen eines zunehmenden Collapses, der Tod ein. 

2. Amputatio cruris galvanocaustica (13. Februar 1872). E. S, 
Frau von 70 Jahren, äusserst schwach und abgemagert, leidet seit 3 Jahren an 
Garies des Fussgelenkes. Die Indication zur Amputatio cruris giebt die fort¬ 
schreitende Entkräftung durch profuse Eiterung, heftige Schmerzen mit Schlaf¬ 
losigkeit, leichtes Fieber. 

Am 13. Februar 1872 galvanokaustische supramalleoläre Ampu¬ 
tation durch Zirkelschnitt mit vorderem Hautlappen. Umfang des 
Unterschenkels an der Amputationsstelle 29 Gm. (Schwellung durch Oedem). 
Zink-Eisenbatterie aus 2 Elementen. Digitalcompression der Art. femoralis. 
Chloroformnarkose. Zuerst wird ein rundlicher, nach abwärts convexer Haut¬ 
lappen aus der Vorderfläche des unteren Endes des Unterschenkels mit dem 
Galvanokauter gebildet und Iospräparirt, was in 5 Minuten ohne besondere Blu- 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 145 

tung ausgefährt ist. Nachdem der Hautlappen nach oben zurückgeschlagen ist, 
wird die Langenbeck’sche Ligaturnadel im Niveau der Basis des Haut¬ 
lappens von vorne nach hinten zwischen Tibia und Fibula hindurchgestossen. 
Durch die Canüle der Nadel wird nun das eine Ende des Drahtes durchgeführt 
und nach Entfernung der Canüle die Schlinge zuerst nach der äusseren Seite 
umgelegt und um die die Fibula umgebenden Weichtheile zusammengeschnürt; 
die Durchtrennung bis rings auf den Knochen erfolgt nach Schluss der Kette 
in 5 Minuten. Hierauf in gleicher Weise Umlegen der Schlinge um die die 
Tibia umgebenden Weichtheile und Durchtrennung bis auf den Knochen in 
8 Minuten. Nach Zurückschieben des Periostes mit dem Elevatorium 3 Cm. 
weit nach oben wird der Knochen durcbsägt. Bis dahin ist bloss eine ganz 
unbedeutende Blutung aus einigen Venenenden des abfallenden Theiles des 
Gliedes erfolgt, die Schnittfläche ist vollkommen trocken. Nach Unterbrechung 
der Compression kommt ein Blutstrahl aus der Art. tibial. post, und ant., welche 
sofort unterbunden werden, womit die Blutstillung beendet ist. Schliesslich 
wird die Spitze des Hautlappens mit dem Hautrand der hinteren Fläche des 
Unterschenkels durch zwei Knopfnähte lose vereinigt. — Dauer der ganzen Ope¬ 
ration 35 Minuten. 

In der ersten Zeit ist der Verlauf nach der Operation sehr-günstig: un¬ 
mittelbare Besserung des subjectiven Befindens, guter Appetit und Schlaf, keine 
Schmerzen, nur Abends Steigerung der Temperatur um h bis 1 Grad vom 
3.—8. Tage. Ablösung des Schorfes vom 5.—8. Tage, worauf sich die Wund- 
fläche mit guten Granulationen bedeckt und von den Rändern her zu benarben 
beginnt, während der Lappen grosstentheils geschrumpft ist. Allein nach 
14 Tagen entwickelt sich ein Decubitus in der Kreuzgegend, welcher sich durch 
fortschreitende gangränöse Mortification stetig vergrossert, und ausserdem durch 
Druck beim Liegen ein Abscess in der Trochantergegend, nach dessen Incision 
die Wunde gleichfalls einen gangränösen Charakter annahm. Von diesen beiden 
Wundflächen aus entwickelte sich, während das Aussehen der Amputationswunde 
bis zuletzt durchaus gut blieb und in deren nächsten Umgebung sich keinerlei Ver¬ 
änderungen einstellten, eine septicämische Infection, an der Patientin unter sehr 
raschem Collaps am 26. Tage starb. — Bei der Section bloss die Erscheinungen 
de9 senilen Marasmus, keine nietastatischen Herde. 

3. Amputatio galvanocaust. phalang. prim, indicis (25. März 
1872). F. 0., 60jähriger Weber, wird in die Klinik aufgenommen mit einem 
Enchondrom von der Grösse einer mittelgrossen Orange an der Volar- und 
Ulnarseite des linken Zeigefingers, welches seit 13 Jahren sich entwickelt hat. 
Dasselbe geht bloss aus von der zweiten Phalanx des Zeigefingers, mit Integrität 
der beiden anderen Phalangen und der beiden anstossenden Gelenke. 

Operation: galvanokaustische Amputation der ersten Phalanx 
des Zeigefingers durch Zirkelschnitt mit Hautlappen. Zuerst wird 
mit dem Galvanokauter ein rechtwinkliger Hautlappen aus der Radialseite der 
ersten Phalanx gebildet, welcher sich von der Mitte der Dorsal- bis zur Mitte 
der Volarfläche erstreckt. Der Lappen wird zurückpräparirt und dann im 
Niveau seiner Basis die Weichtheile ringsum bis auf den Knochen mittelst der 

t. Laogenbeok, Archiv f. Chirurgie. XVI. i A 


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Dr. P. Bruns, 


umgelegten Schneideschlinge durchschnitten. Hierbei Blutung aus einer Art. 
digitalis, welche auf Compression der Art. radialis steht Der Versuch, mit 
dem galvanokaustischen Sägedraht (Filum candens) den Knochen zu durch¬ 
trennen, misslingt. Schliesslich Anlegung einer Ligatur und Anheftung des 
Hautlappens durch eine Knopfnaht. 

Der Verlauf ist durchaus günstig, es tritt keine fieberhafte Reaction ein. 
Patient wird nach 20 Tagen mit beinahe vollendeter Vernarbung entlassen; der 
Hautlappen bedeckt den grössten Theil der Schnittfläche. 

4. Amputatio femoris galvanocaustica (13. Mai 1872). J. W., 
14jähriger Knabe, äusserst herabgekömmen, anämisch und schwach, zeigt bei 
seiner Aufnahme eine (aus einer acuten Periostitis seit 4 Wochen hervorgegan¬ 
gene) Nekrose der ganzen Diaphyse der Tibia, ulcerüse Zerstörung des Knie¬ 
gelenkes, an der Vorderfläche des Oberschenkels eine mit dem Kniegelenke 
communicirende Abscesshöhle, welche ihren Sitz innerhalb und zwischen den 
Muskeln des Oberschenkels hat und bis gegen das obere Drittel des Oberschen¬ 
kels in die Höhe reicht. Dabei Entleerung einer enormen Mengj jauchigen 
Secretes, Diarrhoe, starkes Fieber. 

Operation: Galvanokaustische Amputation des Oberschenkels 
im mittleren Drittel durch Zirkelschnitt mit äusserem Hautlap¬ 
pen. Umfang des Oberschenkels an der Amputationsstelle 28 Cm. Compression 
der Art. femoralis. Chloroformnarkose. Zink-Eisenbatterie aus 2 Elementen. 
Zuerst wird mit dem Galvanokauter an der äusseren Seite des Oberschenkels 
innerhalb 4 Minuten ein Hautlappen gebildet und dann im Niveau der Basis 
des Lappens die Haut in der übrigen Circumferenz mit dem galvanokaustischen 
Sägedraht (Filum candens) durchtrennt. Hierauf wird in derselben Ebene die 
gesammte Musculatur in drei Portionen durchschnitten: es wird nämlich ein 
Ligaturtroikart an 2 Stellen dicht am Knochen vorbei so durch die Musculatur 
hindurchgestochen, dass dieselbe in drei annähernd gleiche Abschnitte getheilt 
wird; diese werden nach einander in die Schlinge gefasst (mittelst Durchziehen 
eines Drahtendes durch die Canule des Troikarts) und getrennt. Hierbei dringt, 
da ungenügend comprimirt wird, Blut aus der Art. femoralis und aus einem 
Muskelaste, welche beide unterbunden w r erden. Schliesslich wird nach dem 
Ablösen des Periostes der Knochen durchsägt. — Die Schnittfläche ist mit einem 
trockenen gleichmässigen Schorfe versehen und von dem Hautlappen bedeckt. 
Blutverlust unbedeutend. 

Der Verlauf ist in der ersten Zeit nach der Operation sehr günstig: un¬ 
mittelbare Besserung des Allgemeinbefindens, des Appetits und Schlafes, Auf¬ 
hören der Schmerzen, Verschwinden der Diarrhoe, keine Nachblutung. Das vor 
der Operation vorhandene Fieber ist unmittelbar nach derselben abgeschnitten; 
hierauf tritt bloss am 2. und 3. Tage eine geringe fieberhafte Steigerung der 
Temperatur (Abends um $ — 1 Grad) ein, um dann wieder zur Norm zurück¬ 
zukehren. Ablösung der Schorfe vom 3.- 6. Tage, worauf sich die Wundfläche 
mit guten Granulationen bedeckt, während der Hautlappen beträchtlich zusam- 
raenschrumpft. — Am Ende der 2. Woche Allgemeinbefinden durchaus befrie¬ 
digend, Kräfte in sichtlicher Zunahme, Appetit, Verdauung, Temperatur normal. 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 


147 


— Vom Beginne der 3. Woche an ändert sich plötzlich die Scene: zugleich 
mit dem Auftreten eines missfarbigen Belages auf der Wundfläche, welcher sich 
trotz energischer Cauterisationen immer wieder erneuert, stellen sich, unter ho¬ 
hem Fieber, die Erscheinungen der Pyämie ein; nach wiederholten Schüttelfrösten 
erfolgt in der 4. Woche der todtliche Ausgang. — Bei der Section ergeben sich 
metastatische Abscesse in Lungen und Milz. 

5. Amputatio femoris galvanocaustica (28. Juni 1872). 0. H., 
Knabe von 2J Jahren, ziemlich gut genährt und kräftig, leidet seit einem Jahre 
an Caries des Kniegelenkes mit spitzwinkliger Anchylose, complicirt mit Nekrose 
des unteren Endes des Femur. 

Operation: Galvanokaustische Amputation des Oberschenkels 
an der Grenze zwischen dem mittleren und unteren Drittel mit¬ 
telst Zirkelschnitt in 3 Abschnitten. Umfang des Oberschenkels ander 
Amputationsstelle 25 Cm. Compression der Art. femoralis mit Tourniquet von 
Salt. Chloroforranarkose. Zink-Eisenbatterie aus 2 Elementen. Zuerst wird 
die Langenbeck’sehe Ligaturnadel von der vorderen Seite des Oberschen¬ 
kels dicht am Knochen vorbei nach der äusseren hin durchgestossen, hierauf 
das eine Drahtende durch die Canüle gezogen und nach Entfernung der letz¬ 
teren die Schlinge um die gefasste äussere Partie der Weichtheile umgelegt und 
diese ohne alle Blutuug durchtrennt. Hierauf wird die Nadel von der nu» ge¬ 
bildeten Furche aus dicht an dem freiliegenden Oberschenkelknochen vorbei nach 
hinten durchgestossen und dann in gleicher Weise die so gefassten Weichtheile 
mit der Schlinge ohne jede Blutung durchtrennt. Endlich wird nun die Schlinge 
in die an der äusseren und hinteren Fläche des Oberschenkels bis auf den 
Knochen dringende Furche eingelegt und die noch übrigen Weichtheile an der 
vorderen und inueren Fläche gleichfalls unblutig durchschnitten. Der Knochen 
liegt nun rings herum frei und wird nach Zurück schieben des Periostes durch¬ 
sägt Bis dahin Dauer der Operation 14 Minuten, keine Spur von Blutung. 
F*eim Nachlassen der Compression dringt aus der Art. femoralis ein Blutstrahl 
hervor, worauf sie sofort unterbunden wird; keine weitere Ligatur. Die ganze 
Schnittfläche ist mit einem trockenen Schorfe bedeckt und liegt vollkommen in 
einer Ebene wie nach dem einzeitigen Zirkelscbnitt. 

Der Verlauf nach der Operation ist sehr günstig: es folgt keine Spur einer 
fieberhaften Reaction, die Temperatur bleibt von Anfang an aut der Norm, keine 
Schmerzen in der Wundfläche, keine Nachblutung. Ablösung des Schorfes vom 
3. - 6. Tage, worauf sich die Wundfläche mit guten Granulationen bedeckt. 
Nach 5 Wochen wird der Knabe im besten Wohlsein und in einem beträchtlich 
verbesserten Kräfte- und Ernährungszustand entlassen; der periphere Narben¬ 
saum um die Wundfläche herum besitzt eine Breite von 1 Cm. 

6. Amputatio femoris gal vanocaustica (15. Juli 1S72). J. D., 
Mann von 29 Jahren, körperlich und geistig sehr schlecht entwickelt, leidet an 
einer Caries des linken Kniegelenkes. Daneben besteht Nekrose des Schaftes 
des linken Humerus und ausgesprochene Residuen von Rhachitis des ganzen 
Skeletes. 

Operation: Galvanokaustische Amputation des Oberschenkels 

10 * 


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Dr. P. Bruns, 


an der Grenze des unteren Drittels durch einzeitigen Zirkel¬ 
schnitt. Umfang des Oberschenkels an der Amputationsstelle 31 Cm. Com- 
pression der Art. femoralis mit Tourniquet von Salt. Chloroformnarkose. Batterie 
aus 2 Zink-Eisenelementen. Die Schneideschlinge wird um den Oberschenkel 
an der Grenze zwischen dem mittleren und unteren Drittel umgelegt, so dass 
die Ansatzstelle des Schlingenscbnürers an die innere Fläche zu liegen kommt 
Das Einschneiden erfolgt ungleichmässig, am raschesten entsprechend der Mitte 
der Schlinge, welche am stärksten glüht. Nach 20 Minuten ist der Draht theils 
auf, theils bereits innerhalb der Musculatur, nach weiteren 15 Minuten ringsum 
auf dem Knochen. Bis dahin ist kein Tropfen Blut ausgetreten. Nach dem 
Zurückschieben des Periostes wird der Knochen durchsägt. Die Schnittfläche ist 
vollkommen trocken, die auf derselben sichtbaren klaffenden Enden der Art. 
femoris und einer kleineren Arterie werden, ehe dieselben einen Tropfen Blut 
austreten lassen, unterbunden, worauf mit dem Aufhören der Compression keine 
Blutung mehr eintritt. Die ganze Schnittfläche ist mit einem gleichmässigen, 
derben, trockenen Schorfe bedeckt. 

Auf die Operation folgte nur eine ziemlich leichte fieberhafte Reaction vom 
3.—10. Tage ohne merkliche Störung des Allgemeinbefindens. Abstossung des 
Schorfes sehr langsam, vom 4.-14. Tage dauernd; auch im weiteren Verlaufe 
beginnt die Verkleinerung und Vernarbung der Wundfläche, bei übrigens gutem 
Ansehen und guter Eiterung derselben sehr langsame Fortschritte zu machen, 
was auf Rechnung der überaus schlechten Constitution des Patienten zu schieben 
ist. In der 4. Woche tritt eine beträchtliche arterielle Blutung ein, welche, da 
das unmittelbar in der Wundfläche befindliche Ende des Arterienastes zu morsch 
und brüchig war, erst nach Freilegung einer weiteren Strecke und Unterbindung 
der Arterie an einer etwas höheren Stelle dauernd sistirt werden kann. Die 
schliessliche vollkommene Vernarbung der Amputationswunde wird noch durch 
mehrmaligen ulcerativen Zerfall der jungen Narbensubstanz verzögert und ist 
sogar noch jetzt (nach % Jahren) nicht definitiv erfolgt. 

7. Amputatio femoris gal vanocaustica (17. December 1872). C. H., 
Mädchen von 22 Jahren, sehr blass und schlecht genährt, wird im October 1872 
in der Klinik aufgenommen wegen Contractur in beiden Kniegelenken. Die 
Contractur hatte sich erst vor einem halben Jahre sehr rasch in Folge eines 
Abscesses innerhalb der Bauchwand in der Reg. hypogastr. der linken Seite 
entwickelt, indem Patientin wegen der intensiven Schmerzhaftigkeit mehrere Wo¬ 
chen hindurch in derselben Lage mit stark flectirten Hüft- und Kniegelenken 
verharrte. Unmittelbar nach der mit der Incision des Abscesses eingetretenen 
Verminderung der Schmerzen war auch bereits eine Contractur in beiden Knieen 
in der Weise vorhanden, dass active und passive Extension über einen rechten 
Winkel vollständig aufgehoben war, dagegen noch stärkere Flexion bis zur nor¬ 
malen Gränze vorgenommen werden konnte. Bei der Aufnahme der Patientin 
werden als Ursache der Contractur, bei der vollkommenen Integrität der Gelenke 
selbst, Veränderungen in den extracapsulären Weichtheilen angenommen. 

In voller Narkose wird am 8. November die manuelle Geradestreckung beider 
Kniee vorgenommen, welche ohne bedeutende Gewalteinwirkung bis zur Horizon- 


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Die galvanokaustiscbe Amputation der Glieder. 


149 


talen gelingt. Im weiteren Verlaufe nach der Extension stellt sich, abgesehen 
von einer Anzahl von Sugillationen, welche spontan resorbirt werden, eine voll¬ 
ständige Aufhebung der Motilität und Sensibilität beider Unterschenkel und Fasse 
ein, so zw&r, dass nach abwärts von der Linea interarticularis genu beiderseits 
bei der Faradisation* weder die geringste Muskelzuckung ausgelöst wurde noch 
auch von der Patientin <Jie Application selbst eines sehr intensiven Stromes 
empfanden wurde. Diese in Anbetracht der geringen vorausgegangenen Gewalt¬ 
einwirkung und der vollkommen congruenten Doppelseitigkeit äusserst auffallende 
Erscheinung — Patientin will vor der Extension keine derartige Abnormität be¬ 
merkt haben, eine Veranlassung zu einer bezüglichen Untersuchung lag vorher 
nicht vor — wurde dadurch noch deletärer, dass sich 4 Wochen nach der Ex¬ 
tension ein . grosser Abscess in der linken .Kniekehle etablirte, welcher, trotz 
frühzeitiger Incision, sich ziemlich weit nach dem Oberschenkel ausbreitete und 
in das Kniegelenk perforirte. Dazu trat noch ein kleinerer Abscess auf dem 
rechten Fussrücken, daneben profuse Eiterung, hohes Fieber, starker Collaps 
mit Appetit- und Schlaflosigkeit. Deshalb Versuch der Lebenserhaltung durch 
Amputation des Oberschenkels. 

Operation: Galvanokaustische Amputation des Oberschenkels 
im unteren Drittel durch den zweizeitigen Zirkelscbnitt. Umfang 
des Oberschenkels an der Amputationsstelle 31 Cm. Compression der Art. fe¬ 
moralis mit Tourniquet von Salt. Zink-Eisenbatterie aus 2 Elementen. Zuerst 
wird die Schneideschlinge im unteren Drittel des Oberschenkels so umgelegt, 
dass die aus dem Schlingenschnürer austretenden Enden des Drahtes an die 
innere Seite, entsprechend dem Verlaufe der Arterie, zu liegen kommen. Der 
Draht schneidet ungleichmässig ein, am tiefsten an der vorderen und hinteren 
Fläche, am wenigsten an der äusseren Seite wegen eines daselbst vorhandenen 
Oedems. Nachdem der Draht in 18 Minuten ringsum bis auf die Musculatur 
vorgedrungen ist, wird die Haut mit Finger und Spatel 2 Cm. weit nach oben 
zurückgelöst und die Hautmanchette uragekrämpelt. Hierauf wird die Schneide¬ 
schlinge gleichfalls 2 Cm. höher um die Musculatur umgelegt und diese bis auf 
den Knochen in 15 Minuten durchtrennt. Nachdem das Periost 2 Cm. weit 
nach oben zurückgeschoben ist, wird der Knochen 4 Cm. oberhalb des Niveaus 
des Hautschnittes durchsägt Bis dahin Blutung sehr gering, nur aus einigen 
Venenenden des abfallenden Tbeiles stammend. Die Schnittfläche ist mit einem 
gleichmässigen trockenen Schorfe bedeckt; inderseiben sind die durchschnittenen 
Enden der Art. und Ven. poplit. mit klaffendem Lumen deutlich sichtbar; er¬ 
ster« wird sofort unterbunden. Nach dem Aufhören der Compression spritzt 
noch eine kleinere Arterie und wird unterbunden, worauf Blutstillung beendet. 
Blutverlust äusserst unbedeutend. Nachdem die Hautmanchette vorgezogen ist, 
zeigt der Stumpf eine sehr günstige Form, der Knochen wird durch die Muskel- 
manchette ganz bedeckt. 

In der ersten Woche nach der Operation entschiedene Besserung des All¬ 
gemeinbefindens, des Appetits und des Kräftezustandes; keine Nachblutung. In 
den ersten 3 Tagen ist die Temperatur normal, vom 4. Tage an tritt eine be¬ 
trächtliche Steigerung der Temperatur und Pulsfrequenz ein, mit zeitweisen 


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Dr. P. Br ms, 


starken Temperatursprüngen. Abstossung des Schorfes vom 4. - 9. Tage, worauf 
die Wundfläche ein schlaffes und blasses Ansehen ohne Tendenz zu deutlichen 
Granulationen zeigt. Nach 10 Tagen Erscheinungen einer Infiltration beider 
oberen Lungenlappen, welche den Ausgang in Abscedirung und Cavernenbildung 
nehmen, und gleichzeitig Abscessbildung am linken Sitzbeinhöcker. Nach 24 Ta¬ 
gen tödtlicher Ausgang. 

Bei der Section ergiebt sich ausgebreitete eitrige Infiltration und ( Javernen- 
bildung in beiden oberen Lungenlappen. Ueber dem Gipfel der Blase, welche 
mit dem grossen Netz und einem Convolut von Dünndarmschlingen verwachsen 
ist, ein mit eingedicktem Eiter erfüllter alter Abscessherd; desgleichen mehrere 
alte Abscesse im linken Ovariura. 

Als Ursache der completen motorischen und sensiblen Paralyse beider un¬ 
teren Extremitäten wird bei der mikroskopischen Untersuchung eine weit vor¬ 
geschrittene fettige Degeneration der Stämme des Nerv, ischiadicus und der 
Muskeln constafirt. In den Nerven- und Gefässstämmen der Kniekehle zeigt 
sich keine Spur einer Continuitätstrennung, Obturation oder sonstigen , mit un- 
bewaffnetem Auge wahrnehmbaren Veränderung, so dass also die forcirte Ex¬ 
tension in keinen ursächlichen Zusammenhang mit den darauf folgenden Er¬ 
scheinungen zu bringen ist. 

8. Amputatio femoris galvanocaustica (22. Januar 1873). C. A., 
Knabe von 8 Jahren, wird mit einer aus acuter suppurativer Periostitis hervor¬ 
gegangenen Nekrose der ganzen Diaphyse der rechten Tibia aufgenommen, zu 
welcher sich trotz wiederholter grosser Incisionen Symptome von Perforation in’s 
Kniegelenk mit sehr hohem Fieber und beträchtlicher Consumption hinzu¬ 
gesellen. 

Operation: Galvanokaustische Amputation des Oberschenkels im 
unteren Drittel durch zweizeitigen Zirkelsqhnit t. Umfang des Ober¬ 
schenkels an der Amputationsstelle (dicht oberhalb der Condylen) 24 Cm. Bat¬ 
terie aus 3 Zink-Eisenelementen, so combinirt, dass durch einfaches Versetzen 
der einen Leitungsschnur beliebig ein Element nach dem anderen ein- und 
ausgeschaltet werden kann. Feste Einwickelung des Gliedes von den Zehen 
bis zum Knie mittelst einer angefeuchteten leinenen Rollbinde. Compression 
der Art. femor. mit Tourniquet von Salt. Die Schlinge wird um das un¬ 
tere Ende des Oberschenkels so umgelegt, dass sich der Schlingenschnürer 
an der äusseren Seite befindet. Nach 3 Minuten ist der Draht ringsum 
bis auf die Musculatur eingedrungen , wobei buchstäblich noch kein Tropfen 
Blut ausgetreten ist. Hierauf Bildung einer 2—3 Centimeter langen Haut- 
manchette. Diese wird umgekrämpelt und die Schlinge an der Basis der 
Manchette um die Musculatur umgelegt, welche bis auf den Knochen in 4 Mi¬ 
nuten durchtrennt wird. Ablösung des Periostes und Durchsagen des Knochens. 
Die Schnittfläche ist vollkommen trocken, mit einem sehr dünnen Schorfe be¬ 
deckt; in derselben das Lumen der Art. femor deutlich sichtbar, w f elche sofort 
unterbunden wird. Nach Entfernung des Tourniquet tritt keine Spur von Blu¬ 
tung ein. — Im Ganzen Dauer der Action der Schlinge 7 Minuten, Dauer der 
ganzen Operation 10 Minuten. Blutverlust in toto ein kaum einen Theelöffel 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 


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füllendes Blutgerinnsel aus einem Venenende des abgefallenen Theiles des 
Gliedes. Form des Stumpfes sehr gut. Haut- und Muskelmanchette seh 
reichlich. 

Der Verlauf nach der Operation ist sehr günstig. Alsbald Besserung des 
Allgemeinbefindens, keine Schmerzen im Stumpf, geringe Empfindlichkeit der 
Wundfläche beim Verbände, keine Nachblutung. In den ersten 2 Tagen Tem¬ 
peratur normal (unmittelbar vor der Operation hohes Fieber), vom 3.—5. Tage 
geringe Reaction (Abendtemperatur um 0,5 Grad gesteigert). Abstossung des 
Schorfes vom 5—10. Tage, darauf Entwickeluug eines engen Senkungscanales 
an der inneren Fläche des Oberschenkels, mit dessen Schliessung nach 10 Tagen 
die Vernarbung ungestört fortschreitet. Nach 8 Wochen wird Patient mit kräf¬ 
tigem und blühendem Aussehen entlassen, die definitive Vernarbung ist bis auf 
eine 1 Cm. im Durchmesser betragende Stelle vollendet. 

9. Amputatio antibrachii galvanocaustiea (2D. Januar 1873). 
A. F., Frau von 64 Jahren, sehr schlecht genährt und decrepide, leidet seit 
2 Jahren an einer Caries necrotica der Handwurzel, welche bereits beinahe 
sämmtliche Carpalknochen ergriffen hat und mit einer äusserst profusen Eiter- 
secretion und anhaltenden Schmerzen verbunden ist, so dass der Schlaf vielfach 
gestört und das Allgemeinbefinden beträchtlich alterirt ist. 

Operation: galvanokaustische Amputation des Vorderarmes an 
derGrenze des mittleren und unteren Drittels durch Zirkelschnitt 
in 2 Abtheilungen mit Durchstechen zwischen beiden Knochen. 
Umfang des Vorderarmes an der Amputationsstelle 16 Cm. Batterie aus 2 Zink- 
Eisenelementen. Digitalcompression der Art. bracbialis. Zuerst wird die Li¬ 
gaturnadel an der oberen Grenze des unteren Dritttheiles durch die Mitte des 
Spatium interosseum von der" Dorsal- zur Volarfläche des Vorderarmes bindurch- 
gestossen und durch die Canüle das eine Ende einer Drahtschlinge durchgezogen, 
deren anderes Ende bereits im Schlingcnschnürer befestigt ist. Die Schlinge 
wird nun zuerst nach der Ulnarseite uragelegt und die Durchtrennung der 
Weichtheile um die Ulna vorgonommen, hierauf in gleicher Weise die der 
Weichtheile um den Radius in je £ Minute. Beide Male schmilzt der etwas zu 
dünne (0,5 Mm. dicke) Draht durch, nachdem er vom Spatium interosseum aus 
bis auf den Knochen vorgedrungen ist, so dass an der entgegengesetzten Seite 
des Radius und cftr Ulna noch einige Weichtheile nachträglich mit dem Galva¬ 
nokauter durchtrennt werden müssen. Zurückschieben des Periostes und Ab¬ 
sagen der Knochen. Bisher Blutung ganz unbedeutend: bei momentanem Nach¬ 
lassen der Compression spritzt die Art. radialis und ulnaris in einem sehr feinen 
Strahle und dies wiederholt sich selbst nach mehrmaligem Betupfen der sicht¬ 
baren Gefässcnden, so dass die Unterbindung beider vorgenommen wird. Die 
Form des Stumpfes ist gut, die Haut zirkelrund getrennt, Knochen von den 
Muskeln bedeckt. Dauer der Operation 15 Minuten. 

Der Heilungsverlauf der Amputationswunde geht vollkommen ungestört vor 
sich. Keine Nachblutung, Temperatur nie über die Norm erhöht, Schmerzen 
nach der Operation und während der ersten Zeit beim Verbandwechsel fast gar keine 
vorhanden (trotz einer übergrossen Empfindlichkeit der Kranken vor der Opera- 


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Dr. P. Bruns, 


tion). Abstossung des Schorfes vom 3.—10. Tage, Knochenflächen nirgends 
frei. Langsame Vernarbung vom Rande her, nach 8 Wochen bis auf eine 
Silbergroschengrosse granulirende Stelle vollendet. Das Allgemeinbefinden bes¬ 
sert sich alsbald, der Kräfte- und Ernährungszustand hebt sich zusehends. ' 

10. Amputatio femoris galvanocaustica (25. Februar 1873). 
J. D., Mann von 48 Jahren, von mittlerer Ernährung, mit Lungenemphysem und 
chronischem Bronchialkatarrh behaftet, leidet seit mehreren Jahren an Caries 
des linken Kniegelenkes und zieht die Amputation des Oberschenkels der vor¬ 
geschlagenen Resection des Kniegelenkes vor. 

Operation: Oalvanokaustische Amputation des Oberschenkels 
im unteren Dritttheil mit Bildung eines vorderen Hautlappens. 
Umfang des Oberschenkels an der Amputationsstelle 33 Cm. Batterie aus 
2 Zink-Eisenelementen. Compression der Art. femoralis mit Tourniquet von Salt 
Feste Zusammenschnürung des Gliedes dicht unter dem Knie mit einem starken 
Bindfaden gegen venöse Blutung aus dem abfallenden Theile des Gliedes. Zu¬ 
erst wird mit dem Galvanokauter ein Hautlappen von annähernd viereckiger 
Gestalt mit abgerundeten Ecken aus der Vorderfläche des Kniees gebildet, wel¬ 
cher sich durch einige seichte Züge mit dem Galvanokauter im Unterbautzell¬ 
gewebe so leicht ablosen lässt, dass an der wunden Fläche desselben kaum 
Spuren von Brandschorf sichtbar sind. Die Bildung des Lappens dauert 8 Mi¬ 
nuten und geschieht beinahe ohne alle Blutung. Hierauf Umlegen der Schlinge 
an der Basis des zurückgeschlagenen Lappens und Durchtrennung sämmtlicher 
Weichtheile bis rings auf den Knochen in 20 Minuten, wobei der Draht einmal 
reisst, resp. durchschmilzt. Hierbei gar keine arterielle Blutung, bloss Austritt 
von einigem venösen Blute aus dem peripherischen Ende der durchtrennten 
Venen. Sofort Unterbindung der Art. femoralis, womit Blutstillung beendet. Der 
Lappen hängt frei über die Wundfläche herab und bedeckt dieselbe im Ueber- 
schusse. 

Der Verlauf ist ungünstig. Gleich vom 2. Tage an ziemlich beträchtliche 
Temperatursteigerung (um 1 — 1\ Grad), welche mit geringen Schwankungen 
ziemlich continuirlich fortbesteht. Keine Nachblutung. Abstossung des Schorfes 
vom 4.—10. Tage. Von dem Lappen stösst sich bloss ein schmaler Saum am 
unteren Umfange gangränös ab, der übrige Theil schrumpft ziemlich zusammen, 
bleibt aber vollkommen lebensfähig und bedeckt sich an seiner hinteren Fläche 
mit Granulationen. Am 12. Tage entwickelt sich ein periarticulärer Abscess in 
der rechten Ellenbeuge, in der Folge eine Phlebitis und Abscessbildung in der 
rechten Achselhöhle und Supraclaviculargegend und hierauf, unter gleichzeitigen 
Symptomen von Infiltration beider unteren Lungenlappen, ausgesprochene Pyämie 
mit zahlreichen Schüttelfrösten und tödtlichem Ausgange, 4 Wochen nach der 
Operation. — Bei der Section zahlreiche metastatische Abscesse in beiden 
Lungen. 

11. Amputatio cruris galvanocaustica (25. März 1873). F. S., 
Mann von 29 Jahren, an Erscheinungen von Tuberculose der Lungen leidend, 
wird mit einer Caries necrot an der Aussenfläche beider Malleolen aufgenom¬ 
men. Nach der Incision der im Zusammenhänge mit dieser entstandenen 


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Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 


153 


Abscesse entwickelte sich eine diffuse jauchige Entzündung rings um die unteren 
Enden beider Unterschenkelknochen, sowie in der Fusssohle mit ausgebreiteter 
Nekrotisirung der Weichtheile und Entblössung des Knochengerüstes. Dabei 
sehr hohes Fieber, rasche Consumption, am 4. Tage vor der Operation heftiger 
Schüttelfrost, in den drei nächsten Tagen je ein leichter Frostanfall. — Auf 
Wunsch des Kranken wird der Versuch gemacht, die anscheinend bereits ein¬ 
getretene pyämische Intoxication abzuschneiden. 

Operation: Galvanokaustische Amputation des Unterschenkels 
an der oberen Grenze des unteren Drittels durch Zirkelschnitt 
mit vorderem Hautlappen. Unifang des Unterschenkels an der Amputa¬ 
tionsstelle 22 Cm. Batterie aus 2 Zink-Eisenelementen. Compression der Art. 
femor&l. mit Tourniquet von Salt. Zuerst wird mit dem Galvanokauter ein rund¬ 
licher Hautlappen aus der Vorderfläche des unteren Dritttbeils des Unterschen¬ 
kels gebildet. Das Umschreiben des Lappens dauert 3, das Zurückpräpariren 
desselben 4 Minuten. Hierbei bloss momentane Blutung aus einer Vene des 
Unterhautzellgewebes. Hierauf Durchtrennung der Weichtheile mittelst Durch¬ 
stechung in 2 Portionen im Niveau der Basis des Hautlappens. Zuerst wird 
die Ligaturnadel unmittelbar an der hinteren Fläche beider Untersehenkelkuocben 
so in einer Bogenlinie quer von einer Seite zur anderen hindurebgestossen, dass 
sie möglichst tief in das Spatium interosseum eiudringt. Hierauf wird die 
Schlinge durch die Canüle hindurch um die Weichtheile der hinteren Fläche 
umgelegt und diese in drei Minuten ohne Blutung durchtrennt Dann wird die 
Ligaturnadel in derselben Weise dicht an der Vorderfläche der Unterschenkel¬ 
knochen durchgestochen und die vor denselben gelegenen Weichtheile mit der 
Schlinge in 25 Secunden ohne Blutung durchtrennt. Auf diese Weise bleibt in 
dem Spatium interosseum bloss noch die Membrana interossea, welche mit dem 
Galvanokauter durchgeschnitten wird. Ablösung des Periostes mehrere Centi- 
raeter weit nach oben und Durchsägung des Knochens. Bisher geringe Blutung 
aus einigen Venen des abgetrennten Theiles. Unterbindung der Art. tib. ant.; 
das Ende der Art. tib. post, ist nicht sichtbar und blutet nicht. Keine weitere 
Ligatur. Der Hautlappen hängt frei über die Schnittfläche herab. Dauer der 
Operation 20 Minuten. 

Der Verlauf nach der Operation ist ungünstig: die pyämischen Erschei¬ 
nungen dauern fort, die Schüttelfröste wiederholen sich vom folgenden Tage an 
sehr zahlreich, dazu treten Erscheinungen einer exsudativen Pleuritis und am 
8. Tage erfolgt der tödtliche Ausgang. — Bei der Section metastatische Abscesse 
in den Lungen, suppurative Pleuritis, chronische Pneumonie und Miliartuberkel 
in den Lungenspitzen. 

Tübingen, April 1873. 


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Dr. P. Bruns, 


> ach trag. 

/ 

Xachdem die vorstehende Mittheilang bereits dem Drucke 
übergeben war, bin ich nachträglich in den Stand gesetzt, noch 
zwei weitere Beobachtungen hinzuzufügen. Beide Fälle betreffen 
galvanokaustische Amputationen des Oberschenkels und wird durch 
dieselben die Anzahl der an der hiesigen Klinik überhaupt aus¬ 
geführten galvanokaustischen Amputationen auf 12, speciell die 
des Oberschenkels auf 8 Fälle vermehrt. 

Beide Fälle sind geeignet, die obigen Ausführungen über die 
Eigenthümlichkeiten der Methode, welche gerade bei der Ampu¬ 
tation des Oberschenkels am augenfälligsten in die Erscheinung 
treten, zu bestätigen. Beide Male gab die Indication zur Anwen¬ 
dung der Galvanokaustik ein Zustand hochgradiger Anämie und 
Schwäche. Beide Male war' die Operation buchstäblich unblutig 
und nur die Unterbindung der Art. femoralis nothwendig. Beide 
Male folgte unmittelbar auf die Operation fast gar keine Reaction 
von Seiten des Allgemeinbefindens: es fehlte jede Spur von Shock 
sowie die abnormen und schmerzhaften Sensationen, welche sonst 
nie bei einer frischen mit dem Messer gesetzten Amputations¬ 
wunde des Oberschenkels ausbleiben, vielmehr boten die Kranken 
das mit dem vorausgegangenen bedeutenden Eingriffe auffällig 
contrastirende Bild vollkommener Euphorie dar. 

In Betreff der technischen Ausführung möchte «ich nochmals 
auf einen Punct aufmerksam machen, welcher neuerdings durch 
die Empfehlung von Esmarch allgemeinere Beachtung gefunden 
hat. Es ist dies die vorgängige centripetale feste Einwicklung 
des Gliedes bis zur Amputationsstelle, welche bereits in mehreren 
der obigen Fälle mit gutem Erfolge angewandt worden ist. Diese 
Massregel hat nämlich gerade für die galvanokaustische Ampu¬ 
tation noch eine erhöhte Bedeutung gegenüber der Amputation 
mit dem Messer; denn abgesehen davon, dass durch die Com- 
pression des abfallenden Theiles des Gliedes die entsprechende 
Menge Blut in den Körper zurückgedrängt und dem Kreislauf 
erhalten w r ird, wird hierdurch zugleich der venösen Blutung aus 
der peripherischen Schnittfläche während der Operation vorgebeugt, 
welche durch Abkühlung der glühenden Schneideschlinge deren 
Action wesentlich beeinträchtigen und stellenweise unterbrechen 


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Die galvauokaustischo Amputation der Glieder. 155 

kann. Die vorgängige Compressiveinwickelung des Gliedes muss 
daher als Regel für die galvanokaustische Amputation festgehalten 
werden. In den Fällen dagegen, wo diese nicht ausführbar ist, 
wie in der folgenden 12. Beobachtung, wo die Obersehenkel¬ 
amputation wegen eines enormen den ganzen Unterschenkel ein¬ 
nehmenden Tumors (Carcinoma medull.) ausgeführt wurde, muss 
aus dem zuletzt angeführten Grunde jedenfalls eine circulare Ein¬ 
schnürung dicht unterhalb der Amputationsstelle in der Weise 
angebracht werden, dass daselbst ein_starker Faden mittelst eines 
Constricteurs oder ein Gummischlauch herumgelegt und fest zu¬ 
sammengeschnürt wird. 

Die beiden Fälle sind in Kürze folgende: 

12. Beobachtung. Galvanokaustische Amputation des Ober¬ 
schenkels (1. Juli 1873). A. K., elfjähriges Mädchen, extrem abgemogcrt, 
schwach und anämisch. Der linke Unterschenkel wird von einem enormen Me- 
dullarcarcinom eingenommen, welches sich innerhalb 10 Monaten entwickelt 
hatte. Die Geschwulst umgiebt ringsum den Unterschenkel mit einem grössten 
Umfange von 70 Cm. und erstreckt sich von der Kniekehle aus an den Weich- 
theilen derselben noch mehrere Finger breit an der hinteren Fläche des Ober¬ 
schenkels in die Ilöhe. Die den Tumor bedeckende, stark gespannte und ver¬ 
dünnte Haut ist mit einem Netz bedeutend erweiterter Venen durchzogen, und 
an mehreren Stellen von hervorwuchernden Krebskuoten durchbrochen, von denen 
einer die Grosse zweier Mannsfäuste besitzt. Die Oberfläche dieser Protuberau- 
zen ist in Gangrän und Verjauchung begriffen und secernirt eine enorme Menge 
jauchiger Flüssigkeit. Das Allgemeinbefinden ist durch beinahe contiuuirliche 
heftige Schmerzen in der Geschwulst und durch Appetitlosigkeit stark beein¬ 
trächtigt. — Am 1. Juli wird die Amputation des Oberschenkels an der oberen 
Grenze des unteren Drittels durch deii einzeitigen Zirkelschnitt mittelst der 
galvanokaustischen Schneideschlinge ausgeführt. Umfang des Gliedes au der 
Amputationsstelle 23 Cm. Zink-Eisenbatterie aus 4 Elementen. Compression 
der Art. femoralis unterhalb des Poupart’scheu Bandes. Dicht unterhalb der 
Amputationsstelle wird ein starker Faden um das Glied hcrumgelcgt und mittelst 
eines Constricteurs fest zusammengcschnürt. Nach dem Umlegen der Schneide- 
schlinge geschieht die Durchtrcuiiung der Haut und des Unterhautzellgewebes 
bei Einschaltung von 4 Elementen, die der Musculatur bei Einschaltung von 
3 und schliesslich nur 2 Elementen. Die Duivhsehnciduug der Weicbtheile bis 
ringsum auf den Knochen dauert im Ganzen 7 Minuten und erfolgt ohne einen 
Tropfen Blut aus der centralen Schnittfläche, während aus der peripheren 
Schnittfläche einige Tropfen venöses Blut austreten. Nachdem das Periost 3 Cm. 
weit zurückgeschoben ist, wird der Knochen durchsägt und schliesslich die Art. 
femoralis unterbunden. Dauer der ganzen Operation Sh Minuten. — Der Ver¬ 
lauf nach der Operation ist günstig. In den ersten Tagen nach der Operation 
sind fast gar keine Schmerzen und eine auffallend geringe Empfindlichkeit der 


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156 Dr. P. Bruns, Die galvanokaustische Amputation der Glieder. 


Wundfläcbe vorhanden. Die Temperatur ist bloss am Abend des 2. und 3. Tages 
bis auf 38,5 vermehrt, sonst während der ganzen Heilungsdauer normal. Die 
Abstossung des Schorfes dauert vom 5. bis 10. Tage, worauf die Wundfläche 
mit guten Granulationen bedeckt ist und vom Rande her vernarbt Da das 
Knochenende allmälig etwas zu prominiren beginnt, wird der Szymanowskfsche 
Drahtbugei zum Vorziehen der Haut mittelst Heftpflasterstreifen angelegt und 
dadurch sofort die Trichterform der Wundfläche wieder hergestellt. Das Allge¬ 
meinbefinden hat sich nach der Operation alsbald gebessert, der Kräfte- und Er¬ 
nährungszustand bei starkem Appetit sich zusehends gehoben. Bei der Entlas¬ 
sung (5 Wochen nach der Amputation) hat sich die Wundfläche bis zur Grosse 
eines Guldenstückes verkleinert. 

13. Beobachtung. Galvanokaustische Amputation des Ober¬ 
schenkels (6. August 1873). M. K., 13jähriges Mädchen, von scrophulösem 
Habitus, sehr schlecht genährt und anämisch, wurde mit Caries des linken 
Kniegelenkes auf die Klinik aufgenommen. Wegen des schlechten Kräfte- und 
Ernährungszustandes der Patientin wurde der Amputation des Oberschenkels der 
Vorzug vor der Resection des Kniegelenkes gegeben. — Am 6. August wird die 
galvanokaustische Amputation des Oberschenkels im unteren Drittel durch den 
einzeitigen Zirkelschnitt vorgenommen. Umfang des Oberschenkels an der Am¬ 
putationsstelle 26 Cm. Zink-Eisenbatterie aus 4 Elementen. Die Extremität 
wird vom Busse bis zum Knie mit einer feuchten Rollbinde fest eingewickelt und 
dicht unterhalb des Kniees mit einem starken Faden mittelst eines Constricteurs 
zusammengeschnürt. Compression der Art. cruralis mit Tourniquet unterhalb 
des Poupart’sehen Bandes. Die Schneideschlinge wild dicht über den Con- 
dylen angelegt. Die Durchschneidung sämmtlicher Weichtheile bis auf den 
Knochen geschieht bei Einschaltung von 4 Elementen in 9 Minuten und gelingt 
ohne eine Spur von Blutung. Nach dem Zurückschieben des Periostes und der 
Durchsägung des Knochens wird die Art femoralis unterbunden und damit die 
ganze Operation in 12 Minuten vollendet. — In den unmittelbar auf die Operation 
folgenden Tagen befindet sich die sonst übermässig empfindliche Patientin frei 
von allen Schmerzen, der Schlaf und Appetit ist ganz ungestört Die Tempera¬ 
tur, welche am Abende des 1. bis 3. Tages bis auf 33,3 erhöht war, ist seither 
auf die Norm zurückgekehrt. Die Heilung geht ohne jede Störung vor sich, 
jedoch schreitet die Vernarbung so langsam vor, dass jetzt (7 Wochen nach der 
Amputation) die Wundfläche noch einen Durchmesser von 4 Cm. besitzt. 

Tübingen, den 25. September 1873. 


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Beobachtungen über Micrococcenembolien 
innerer Organe und die Veränderungen 
der Gefasswand durch dieselben. 

Von 

Dr. Martini, 

Prosector des Allgemeinen Krankenhauses tu Hamburg. *) 


Meine Herren! Auf dem vorjährigen Congress wurde der 
Wunsch ausgesprochen, dass diejenigen Mitglieder des Congresses, 
welchen Zeit und Material zur Untersuchung der durch Einwan¬ 
derung kleinster parasitärer Organismen in unseren Körper be¬ 
dingten pathologischen Veränderungen innerer Organe zu Gebot 
stände, bei der gegenwärtigen Zusammenkunft die gewonnenen 
Resultate vorlegen möchten. Obwohl bisher von keiner Seite die 
Initiative in dieser Richtung ergriffen ist, so habe ich doch ge¬ 
glaubt, das Wenige, was im Laufe der verflossenen Monate in 
meine Hände kam, nicht zurfickhalten zu sollen, da die hier in 
Rede stehenden pathologischen Processe einerseits von zu hohem 
Interesse, andererseits bisher von einer so geringen Zahl von 
Beobachtern gesehen sind, dass vielleicht manche unter den ge¬ 
ehrten Anwesenden der Demonstration ihr Interesse zuwenden 
werden. 

Was ich Ihnen vorzulegen vermag, ist im Grossen nnd Ganzen 
das, was Herr v. Recklinghausen in der Sitzung der Würz¬ 
burger naturforschenden Gesellschaft zuerst berichtet hat. Es 


*) Vortrag, gehalten in der 4. Sitzung des II. Congresses, der Deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie, am 19. April 1S73. 


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Dr. Martini, 


handelt sich iu den hierher gehörigen Präparaten um die Ver¬ 
stopfung kleinster Arterien an deren terminaler Auflösung in 
Capillaren oder letzterer an Umbiegungsstellen, Schlingen etc. 
durch Pfropfe, welche keine Beimengung von Fibrin, sondern als 
alleinigen Bestandtheil jene kleinsten Organismen zeigen, welche 
ich unter dem wenig präjudicirenden Namen Micrococcen zusam¬ 
menfassen will. 

Um zunächst mit den Nierenpräparaten zu beginnen, so 
finden Sie in der Corticalis derselben zahlreiche Glomeruli, welche 
alle Stadien der Embolie und ihrer Folgen zeigen. An die ein¬ 
fache Verstopfung des Vas afferens durch einen runden oder 
cylindrischen Pfropf an seiner Verengung beim Durchtritt durch 
die Kapsel, reihen sich andere an, in welchen 2—3 oder alle 
Schlingen des Glomerulus bereits mit den grauen Massen erfüllt 
sind, so dass ein solcher Glomerulus schon bei schwacher Ver- 
grösserung sehr unter den normalen seines Gleichen auffällt. — 
Bei weiterem Aufenthalt in denselben vermehren sich die Micro¬ 
coccen und nun finden wir die Erscheinungen der entzündlichen 
Reaction in und um den Glomerulus; es entsteht, ebenfalls wie¬ 
der, durch alle Stadien zu verfolgen, der periglomeruläre. (miliare) 
Abscess. Inzwischen sind die Contouren der einzelnen Gefäss- 
schlingen bereits völlig oder theilweise verschwunden, die Micro¬ 
coccen extravasiren in die Kapsel und erfüllen bald das von 
diesem Glomerulus sich fortsetzende Harnkanälchen. Ich bitte 
Sie bei der Betrachtung der Präparate diese Vorgänge aus der 
Corticalis in die Marksubstanz hinein zu verfolgen und Ihre be¬ 
sondere Aufmerksamkeit den Präparaten zuzuwenden, in welchen 
sich im Verlauf der grauen Harnkanälchen ampullenförmige Aus¬ 
dehnungen gebildet haben, welche durch Wucherung der einge¬ 
drungenen Parasiten bedingt sind. 

Gerade diese Bilder widerlegen wohl am besten den bei der 
ersten Mittheilung von botanischer Seite*) Herrn v. Reckling¬ 
hausen gegenüber gemachten Einwurf; es liegt hier, wie mir 
scheint, zweifellos eine locale Wucherung parasitärer Elemente 
vor, ich wüsste in der That keine andere für diese Präparate 
zulässige Deutung. Das Verhalten des Epithels in den Harn- 

*) Sitzung vom 10. Juni 1871. 


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Beobachtungen über Mlcrococeenembolien innerer Organe etc. 100 

kanälchen ist sehr gut an Querschnitten zu erkennen; die Micro- 
coccen dringen in dasselbe ein und bringen es zum Schwund. 
Es ist der eben besprochene Vorgang eine der Art und ,Weisen, 
nach welchen sich jene selten noch mit verkümmerten Epithelien 
behafteten, nur aus Micrococcen bestehenden, grauen, opaken 
Cylinder bilden, welche im frisch gelassenen Harn solcher Kran¬ 
ken beobachtet werden und welche immer dieselbe ausserordent¬ 
lich feine, typisch gleichmässige Punctirung zeigen. 

In den Leberschnitten liegen die Embolien meistens an den 
Stellen, wo sich ein interlobuläres Gefäss an der Peripherie eines 
Läppchens in die fast rechtwinklig abgehenden Cäpillaren auflöst. 
Es werden die nächsten Gefässmaschen dicht gefüllt und dadurch 
eine, wie es scheint, sehr schnell verlaufende Atrophie der insel- 
förmig eingescblossenen Leberzellen bewirkt. In einer anderen 
Reihe von Leberschnitten sehen Sie die Epithelführenden Gallen¬ 
gänge als Hauptsitz der Micrococcen-Einwanderung, welche letztere 
hier, vielleicht durch die Gunst der Verhältnisse, eine viel ent¬ 
wickeltere Form (Stäbchen) zeigen, als in den eben beschriebenen 
Präparaten. Ebenso wie in den Harnkanälchen geht durch wei¬ 
tere Wucherung das Epithel zu Grunde. Gehen wir weiter zum 
Herzen, so finden wir dasselbe bei den in Rede stehenden 
Krankheitsprocessen nicht selten sehr dicht durchsetzt von Em¬ 
bolien. Sind dieselben nicht mehr ganz jungen Datums, so 
kann schon makroskopisch das Aussehen des von weissen Punc- 
ten durchsetzten Herzfleisches an von verkalkten Trichinen durch¬ 
setzte Muskeln erinnern. In den Präparaten sehen Sie die Ca- 
pillaren, seltener kleine Arterien, im Längs- oder Querschnitt an 
zahlreichen Stellen mit den characteristischen grauen Pfropfen 
geschlossen; um dieselben herum findet sich zunächst Ausein¬ 
anderweichen der Muskelzellen, sodann der als wachsige Degene¬ 
ration bekannte Gerinnungsvorgang, später Ansammlung von 
Eiterkörperchen, endlich Auflösung des Gefässes und Ausschwär- 
men der Micrococcen in die Umgebung. Wohl finden Sie bei der 
Durchmusterung der Schnitte verstopfte Gefässe ohne umgebende 
Abscesse, nirgends aber einen Abscess, der in seinem Centrum 
nicht eine Micrococcencolonie enthielte. Meine Herren! ich bitte 
Sie mir nicht einzuwenden, dass in den Präparaten Abscessdurch- 
schnitte sind, welche keine Spur jener Organismen zeigen; die 


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160 


Dr. Martini, 


Gestalt dieser Abscesse ist kugelrund, davon können Sie sich an 
Quer- und Längsschnitten überzeugen; Schnitte also, welche nicht 
durch ,oder in die Nähe des Centrums fallen (durch einen 
grössten Kreis), welche nur einen peripher gelegenen Kugel¬ 
abschnitt darstellen, werden, wenigstens fcu einer Zeit, wo das 
centrale Gefäss noch nicht zerstört ist, grössere Micrococcen- 
mengen nicht zeigen können. 

Zur Controle in dieser Hinsicht eignen Bich besonders gut 
die Papillarmuskeln. Da, wo sich der Muskel* in einzelne, den 
Chordae tendineae zum Ansatz dienende kegelförmige Spitzen 
tlieilt, wo die aüfsteigenden Gefässe in Schlingen umbiegen, dort 
bleiben namentlich die kleinen Embolien sitzen. Zerlegt man die 
Spitze eines Papillarmuskels in aufeinanderfolgende, feine Schnitte, 
wie das bei der heute erreichten Vollendung der Microtomie eine 
immerhin leichte Aufgabe ist, thut man diese Schnitte in nume- 
rirte Uhrgläschen, so kann man sich, bei der dann der Reihen¬ 
folge nach vorgenommenen Untersuchung, leicht von der Richtig¬ 
keit der gegebenen Darstellung überzeugen. 

Die bisher erwähnten Präparate stammen von Kranken her, 
die an Endocarditis ulcerosa puerperalis, an Periostitis cranii ext. 
et int., an Pyämie etc. zu Grunde gingen. Ich reihe hier eine 
ganz vereinzelt stehende Beobachtung an, welche ich an einer, 
während Eklampsie an Uterusruptur gestorbenen Frau zu machen 
Gelegenheit hatte. Im subserösen und submucösen Gewebe des 
genannten Organs fanden sich zahlreiche, drehrunde, mit grauen 
Micrococcenmassen prall gefüllte Kanäle (Lymphgefässe?), in 
deren Umgebung nirgends eine Spur von Entzündung zu sehen. 
Die ganze Uterusmusculatur war durchaus normal und reichte die 
Micrococcen-Einwanderung nur an wenig Stellen bis in die Ma¬ 
schen derselben. Die Eklampsie hatte nur 23 Stunden gedauert. 
Sie wissen, dass in der Literatur einige 30 Fälle verzeichnet 
stehen, in welchen keine Nierenerkrankung bestand. Es kann 
mir nicht in den Sinn kommen, auf eine so vereinzelte Beobach¬ 
tung in ätiologischer Beziehung Gewicht legen zu wollen — da¬ 
gegen möchte ich mich ausdrücklich verwahren — allein ich halte 
es bei der Bedeutung der Sache wohl für gerechtfertigt, bei 
künftig vorkommenden Fällen von Eklampsie eine Revision der 


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Beobachtungen über Micrococeenembolien innerer Organe etc. 


161 


Beckenorgane in dieser Hinsicht vorznnehmen, um die eventuelle 
Zufälligkeit oder Constanz solcher Befunde zu constatiren. 

Ueber die Präparate von pyämischen Muskelabscessen brauche 
ich nichts hinzuzufügen; sie enthalten alle im Centrum eine, die 
grösseren, durch Zusammenflüssen mehrerer kleiner entstandenen, 
dem entsprechend mehrere Micrococcen-Colonien in allen Stadien 
der Verbreitung in der Umgebung. 

Zum Schluss möchte ich mir noch erlauben, Ihnen einige 
Beobachtungen über das Verhalten der Gefässwand gegenüber den 
parasitären Organismen vorzulegen. Nachdem wir gesehen, dass 
die Capillarwand' ein nur zu schnell überwundenes Hinderniss 
darstellt, liegt es nahe, zu untersuchen, wie sich grössere Arte¬ 
rien und Venen verhalten. 

Nicht selten hat man Gelegenheit zu sehen, dass Kranke, 
welche bereits längere Zeit an einer eitrigen Otitis med. und 
Perforation des Trommelfells litten, im weiteren Verlauf, nament¬ 
lich wohl in Folge ungünstiger Hospitalverhältnisse oder ander¬ 
weitiger Schädlichkeiten eine Aenderung ihres Zustandes in der 
Weise erfahren» dass der bis dahin harmlose Process einen pro¬ 
gressiven malignen Charakter annimmt. In oft sehr kurzer Zeit 
greift die bis dahin mässige, jetzt aber gesteigerte und höchst 
übelriechend gewordene Eiterung um sich; es erfolgen Sinus¬ 
thrombosen, in anderen Fällen acut eitrige Meningitis, in noch 
anderen, ohne dieses Zwischenglied, Hirnabscesse; in allen jedoch 
mehr oder minder schnell der Tod. In einem solchen, mit be¬ 
schränkter Sinuslhrombose und Meningitis einhergehenden Falle 
war die Eiterung im Perineurium der vom Felsenbein zur Hirnbasis 
ziehenden Nerven zunächst bis an die Art. basilaris gelangt und 
hatte in der Wand derselben eine Abscedirung hervorgerufen. 
Auf dem Durchschnitt sieht man zunächst die Adventitia von den 
grauen Micrococcenmassen durchsetzt; in der Media erfolgt die 
Bildung eines intraparietalen Abscesses, welcher die Lagen des¬ 
selben auseinanderdrängt und in ihrem Zusammenhang trennt, so 
dass die elastischen Schichten frei in den Abscess hineinflottiren. 
Ehe jedoch noch eine totale Zerstörung der Wand erfolgt, liegen 
bereits auf der Innenfläche der Intima dichte Massen von Micro- 
coccen auf, bereit das Material zu weiteren Embolien zu geben. 
Bei etwas längerer Dauer würde sich der Abscess zunächst in 

v. Langeobeck, Archiv f. Chirurgie. XVL 

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162 


Dr. Martini, 


den Blntstrom geöffnet und seinen Inhalt als intracraniell entstan¬ 
dene Embolie in die Circnlation des Gehirns entsandt haben. Die 
weitere Folge wurde eine aneurysmatische Ausdehnung des Ge- 
fässes und eine vermuthlich bald tödtliche Blutung an der Hirn¬ 
basis gewesen sein. Meine Herren! es kann wohl nicht zweifel¬ 
haft sein, dass wir es hier mit einem Vorgänge zu thun haben, 
der im höchsten Grade geeignet ist, das Interesse gerade der 
Chirurgen in mehr wie einer Hinsicht in Anspruch zu nehmen. 
In aller Kürze reihe ich noch einiges hierher Gehörige an. 

Eine nicht seltene Complication der Rachendiphtherie in ihrer 
schwersten Form ist, wie bekannt, das Auftreten zahlreicher zer¬ 
streuter Herde in den Lungen, welche, je nach ihrem Alter und 
ihrer Grösse, das Ansehen eines miliaren hämorrhagischen Herdes 
bis zu dem einer circumscripten Lungengangrän darbieten können. 
Man hat diesen Befunden in der Lunge eine sehr verschiedene 
Deutung gegeben; man hat dieselben vielfach als Folge tief aspi- 
rirter, diphtheritischer Massen, als eine Inhalations-Mycosis ange¬ 
sehen und noch in der letzten Zeit sind ja zur Prüfung dieser 
Anschauung experimentell-pathologische Untersuchungen angestellt. 
Auch meine Beobachtungen stellen mich ganz auf den Standpunct, 
welcher von Herrn Prof. Billroth in der Discussion über das 
Hineinfliessen und die Aspiration zersetzter Stoffe in die Lungen 
eingenommen worden ist; ich kann diesem Vorgänge nur eine 
sehr geringe Bedeutung zugestehen. 

Untersucht man in derartigen Fällen die tiefen Halsvenen, 
namentlich die zur Seite des Pharynx absteigenden und die Ton¬ 
sillen umgebenden Geflechte, so gelingt es bei gehöriger Sorgfalt 
und Geduld wohl, hier nachzuweisen, welches der Zusammenhang 
zwischen Lungenerkrankung und Rachen- oder Munddiphtherie ist. 
Von den Micrococcenmassen durchsetzt und daher verfärbt und 
gelockert, zerfällt die Venenwand; peripher scbliesst ein Throm¬ 
bus das Gefäss, aber die nächst tiefer einmündende Vene spült 
die in das geöffnete und mit dem diphtheritischen Jaucheherde in 
directer Communication stehende Gefäss hineinfliessenden Massen 
fort, dem Herzen zu, als ein reichliches Material zu Embolien 
der Lunge. Lebt ein solches Individuum lange genug, erreichen 
die progressiven mycotischen Pneumonien eine hinreichende Grösse, 
so wiederholt sich in den, von den Herden eingeschlossenen Lun- 


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Beobachtungen über Microooccenembolien innerer Organe etc. 


163 


genvenen der Process noch einmal und damit ist die Quelle für 
die embolischen Mycosen des Herzens und der Abdominalorgane 
gegeben. 

Es reihen sich hier ganz ähnliche Beobachtungen an, welche 
ich bei Osteomyelitis acutissima zu machen Gelegenheit hatte. 
Es giebt wenig Krankheiten, welche in dem höchst acuten Ver¬ 
lauf, in der Art des Auftretens ihrer Fieberbewegung und den 
anatomischen Veränderungen so sehr das Bild einer schweren 
Infection darbieten, wie diese Form der Osteomyelitis. Von dem 
ersten Auftreten eines stetig zunehmenden Schmerzes in einem 
der grossen Röhrenknochen, bis zum Eintritt comatöser Benom¬ 
menheit vergehen wenig Tage und nicht selten genügen G—7 
Tage vom ersten Beginn, um den deletären Ausgang herbeizu¬ 
führen. 

Die Section weist die mehr oder minder ausgedehnte Osteo¬ 
myelitis nach und das Mikroskop zeigt uns die erkrankten Par¬ 
tien des Knochenmarkes wimmelnd von Micrococcen; das parostale 
Gewebe in der Umgebung des kranken Knochens ist Anfangs nur 
an wenigen Stellen, später in grösserer Ausdehnung fest infiltrirt; 
ohne dass es, wenigstens in den acutesten Fällen, zu einer nen- 
ncnswertben Ansammlung freien Eiters kommt, kriecht nun der 
Process im Zellgewebe gegen die nächsten grösseren Venen, dem 
Lympbstrom folgend. An diesen wiederholt sich, was eben für 
die dipbtheritische Venenerkrankung gesagt ist. Es entstehen 
Anfangs röhrenförmige, wandständige zarte Beschläge, welche zu 
Gerinnungen Anlass geben, welche letztere jedoch, ihrer Genese 
gemäss, ebenso schnell zu weichen, im Blutstrom sich noch weiter 
zertheilenden Massen zerfallen, um als Embolie die besprochenen 
Mycosen hervorzurufen. 

Indem ich hiermit diese Mittheilung schliesse, erlaube ich 
mir noch hinzuweisen auf die Bedeutung dieser Vorgänge für die 
richtige Würdigung der Spätblutungen nach Secundäroperationen, 
und hoffe später auch hierüber in dieser Versammlung berichten 
zu können. 


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XL 

Bemerkungen über den äusseren Harn- 

rölirenschnitt. 

Von 

Dr« Paul Gfiterbock, 

Pnvatdocent In Berlin. 


Im Folgenden sollen einige die Urethrotomia perinaealis 
externa betreffende Puncte, die in den meisten Handbüchern 
und Monographien weniger genau berücksichtigt sind, näher be¬ 
sprochen werden. Als bekannt vorausgesetzt wird die Geschichte 
der Operation; hervorheben wollen wir nur, dass trotz der klaren 
Vorschrift von Sir Astley Cooper, in entsprechenden Fällen von 
aussen in der Mittellinie des Dammes auf die Verengerung ein¬ 
zuschneiden dieser Modus procedendi anfänglich nur in ganz ver¬ 
einzelten Fällen meist nur in England (Arnott)*) und Amerika 
(Stevens, Jameson, Physick etc.) **) befolgt wurde. Erst 
die Anwendung der Leitungssonde durch Sy me (4) machte die 
Operation allgemeiner bekannt, theils weil sie von einer Autorität, 
wie der verstorbene Sy me war, ausging, dann aber auch weil 
sie dem Arzte leichter, dem Patienten aber zu einer Zeit, in der 
die Anästhesie noch nicht allgemein gebraucht war, erträglicher 
gemacht war. Viele haben seitdem die Operation auch dort, wo 
sie ohne Leitungssonde gemacht ist, als Sy me’s Operation be¬ 
zeichnet, doch ist dies sicherlich nicht berechtigt, denn heut zu 
Tage wird die äussere Urethrotomie nicht bloss im Falle der 


•) Cfr. Coulson, Lancet. I, 19. 1853. 

•*) Cfr. S. W. Gross, A Syst, of Surg. 5. edit. II. p. 822. 


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Bemerkungen über den äusseren Harnröhrenschnitt. 


165 


Strictur, sondern auch bei Verletzungen der Dammgegend, spe- 
ciell bei Zerreissungen der Pars bulbomembranacea der Harnröhre 
angewandt, ja man hat ihren Wirkungskreis noch auf Fälle aus¬ 
gedehnt, die gar nichts mit einer Erkrankung der Harnröhre zu 
thun haben. Thiersch z. B. (13) hat die Eröffnung der Harn¬ 
röhre vom Damm aus als vorbereitenden Act der Eur der Blasen- 
ectopie und Epispadie gemacht. 

Freilich — und dies ist einer der Puncte, bei welchem wir 
länger verweilen wollen — ist die Indication zur äusseren 
Urethrotomie bei Verletzungen der Dammgegend keine 
unbestrittene. Es ist neuerdings wieder die Nützlichkeit des 
permanenten Katheterismus im Gegensatz zu der der peri- 
näalen Urethrotomie durch Hunt in Philadelphia (12) betont 
worden. Wenn nun auch manche der von Hunt zu Gunsten 
seiner Ansicht vorgebracbten Fälle — da in ihnen meistenteils 
zum Princip der perinäalen Incision zurückgekehrt werden musste — 
nicht viel beweisen, so sprechen doch von anderer Seite theore¬ 
tische Gründe scheinbar für Hunt. Es beruhen diese letzteren 
namentlich auf einigen Leichenexperimenten, welche vor Kurzem 
unter Ollier’s Leitung in Lyon unternommen worden sind (11). 
Olli er liess eine Leiche rittlings mit der Dammgegend mit 
voller Gewalt gegen eine Tischecke fallen. Die Urethra zeigte 
sich hierauf an der vorderen oberen Wand zerrissen. Wachs- 
bougies, die man vorher eingeführt, zeigten ebenfalls nur an dem 
nach oben und vorn gekehrten Theil ihrer Circumferenz einen 
lineären quer verlaufenden Eindruck. Die Ursache hiervon ist die 
Quetschung der Harnröhre gegen den freien, vom Lig. arcuatum 
durch einen dreieckigen Spalt getrennten Rand des in Frankreich 
als Lig. perin. Carcassonne bezeichneten fibrösen Gewebes, 
das bei uns als vordere Wand der Capsula pelvio-prostatica Retzii 
bekannt und von Henle als sehnige Verdickung der Binde des 
M. transvers. perin. prof. näher beschrieben ist. 

Es würde zu weit führen, wenn hier die Richtigkeit dieser 
Ollier’schen Versuche bestätigt oder widerlegt werden sollte. 
Olli er selbst hat zwar die sehr naheliegenden, die Nothwendig- 
keit der äusseren Urethrotomie unter ähnlichen Verhältnissen in 
vivo bestreitenden Schlussfolgerungen aus seinen Versuchen nicht 
gezogen, für diejenigen aber, welche dies thun und in Ollier’s 


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166 


Dr. P. Güterbock, 


Experimenten ein Beweismittel gegen die Operation zu sehen glau¬ 
ben, wollen wir hier betonen, dass die Verletzungen der Harn¬ 
röhre in der Wirklichkeit bei Weitem nicht so einfach sind, wie 
die inOllier’s Leichen versuchen. Abgesehen davon, dass in vivo 
Extravasationen von Blut und Urin eine Rolle spielen, 
handelt es sich gewöhnlich nicht bloss um Zerreissungen der 
musculösen Harnröhre, sondern auch um tiefe, oft sogar bis in 
den Blasenhals reichende Einrisse. In manchen Fällen ist ausser¬ 
dem die Umgebung der Harnröhre förmlich zertrümmert, 
so dass sie in einer von Blutgerinnsel und Gewebsfetzen gebil¬ 
deten Höhle wie durch anatomische Präparation frei ausgeschält 
daliegt. Letzteres fand sich unter Anderem in einem mir be¬ 
kannten, einen 14jährigen Knaben betreffenden Falle. Die Ursache 
der Dammquetschung war hier ein Sturz rittlings auf einen 
Zaun gewesen. Zrei bedeutende Chirurgen waren hierbei über 
die Behandlung verschiedener Meinung. Der eine, der den 
Kranken bald nach dem Unglücksfalle sah, liess sich mit 
Einführung und Liegenlassen eines silbernen Katheters zufrieden 
stellen; der andere, welcher zu dem Falle ein Paar Stunden 
später kam, machte, obschon die von aussen sichtbare Geschwulst 
der Dammgegend nicht zugenommen hatte, die perinäale Urethro- 
tomie, welche durch obigen Befund vollkommen gerechtfertigt war 
und nach der der qu. Patient ohne weitere Zwischenfälle genas. 
Hierher gehört auch der Verlauf eines Falles bei Birkett (10). 
Auch hier versuchte man zuerst mit dem permanenten Kathete¬ 
rismus auszukommen; aber am 3. Tage nach der Verletzung floss 
kein Urin mehr durch den Katheter ab und die äussere Urethro- 
tomie wurde dringend nothwendig. Bei dem Einschnitte in den 
Damm zeigte sich ein bedeutendes Extravasat in der Umgebung 
der Harnröhre, und die Ansicht, dass ein relativ grosses Gefäss 
mit verletzt sei, bestätigte sich durch eine am 6. Tage auftre¬ 
tende stärkere Nachblutung, trotz welcher übrigens Patient relativ 
schnell genas. 

An diese Fälle, in denen bei der Quetschung des Dammes 
mehr oder weniger erhebliche Nebenverletzungen ausser der Läsion 
der Harnröhre maassgebend sind, reihen sich solche, in denen es 
sich um eine so bedeutende Verwundung der Urethra 
selbst handelt, dass schon durch diese die Einführung 


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Bemerkungen über den äussereu Ilaruröhrenscbnitt. 


1G7 


eines Katheters unmöglich wird. Unter vielen hierher 
gehörigen Beispielen will ich nur eine Beobachtung De mar quay’s 
anführen. Hier war in Folge von Contusion des Dammes und 
nachfolgender Verjauchung eine so vollständige Trennung der 
Harnröhre vorhanden, dass sich ein Raum von zwei Querfinger¬ 
breite zwischen den beiden Enden des Kanales befand. Ein In¬ 
strument über diese Stelle der Trennung zu bringen, war ganz 
unmöglich (2ö). 

Wir können uns hiermit begnügen, die Unhaltbarkeit der 
Opposition gegen die Unumgänglichkeit der primären Urethrotomie 
in Fällen von Quetschung der Harnröhre bei nicht ganz leicht 
ausführbaremKathaterismus dargethan zu haben. Wir erachten 
es aber für unsere Pflicht, besonders darauf aufmerksam zu machen, 
dass eine derartige Opposition auch ihre gefährlichen Seiten hat; 
sie hält nämlich von einer nützlichen und relativ leichten Ope¬ 
ration ab zu Gunsten von nichts weniger als harmlosen Manipu¬ 
lationen einerseits und Verschiebung des Eingriffes andererseits 
auf Zeiten, in denen entweder wegen vorgeschrittener Harnin¬ 
filtration nicht mehr eine eigentliche Urethrotomie, sondern nur 
multiple Incisionen zulässig sind oder aber höchst ungünstige Bedin¬ 
gungen für die Operation bestehen. Der drastischen Schilderung, 
welche Birkett von den Proceduren giebt, denen die von Harn¬ 
verhaltung bei Strictur, bei falschen Wegen und anderen Verletzun¬ 
gen der Harnröhre Befallenen von messerscheuen Aerzten ausgesetzt 
werden, habe ich wenig hinzuzufügen. „Die Kranken kommen 
mit Retention und zum Aeussersten gefüllter Blase zum Arzt — 
was soll mit ihnen geschehen ?— Falsche Wege sind vielfach ge¬ 
macht, Opium in voller Dosis gereicht, dann ein warmes Bad 
und später wohl noch die Chloroformnarkose angewandt. Zwei, 
drei, selbst mehr Aerzte haben vergebliche Anstrengungen gemacht, 
den Katheter einzuführen; nicht ein Tropfen Urin ist aus der 
Harnröhre gekommen, dafür nur ein wenig Blut. Fragen wir 
den Patienten aus, so finden wir, dass er bereits seit vielen 
Jahren an Strictur gelitten, dass seit einigen Wochen der Harn 
abträufelte und zu Zeiten sogar nur einige wenige Tropfen ent¬ 
leert werden konnten. Ein Aufschub für die Entlastung der aus¬ 
gedehnten Blase ist nicht länger zulässig; schon das Klagen und 
das Drängen des Kranken treiben zu sofortigem Einschreiten. 


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168 


Dr. P. Güterbock, 


Man macht hoch einen weiteren Versnch, einen Katheter einzu¬ 
führen; allein, wenn man auch die Auswahl unter den verschie¬ 
densten Formen von Kathetern hat und die grösste Geschicklich¬ 
keit an den Tag legt, immer wird der Schnabel des Instrumentes 
doch in den falschen Weg gleiten, so dass derselbe etwa vom 
Mastdarm aus, vielleicht nahe der Vorsteherdrüse gefühlt werden 
kann. Durch Senken des Kathetergriffes und Anwendung einiger 
Gewalt, indem man vom Mastdarm aus mit dem Zeigefinger das 
Instrument dirigirt, kommt man dann wohl in die Blase. Nun 
fliesst der Harn frei ab und auf ein Mal ist Patient von seinen 
Leiden erlöst. Ist aber diese Erlösung eine dauernde? Freilich 
ist die Blase leer, aber ein falscher Weg ist gemacht, und auf 
diesem gelangt der Urin unaufhaltsam in das Zellgewebe zwischen 
den Beckenorganen, und der Fall wird von einer einfachen Re¬ 
tention zu einem von Harninfiltration. Der Zustand des Kranken 
ist mithin durch den obigen Eingriff nicht verbessert. “ 

Wie sehr die vorstehende Darstellung Birkett’s aus dem 
wirklichen Leben gegriffen ist, habe ich leider mehr als einmal 
erfahren müssen. Ich will hier nur den Fall eines 62jäh¬ 
rigen Kaufmannes erwähnen, welcher seit einigen Monaten bei 
einem leichten Blasenkatarrh in Folge einer geringen Prostata¬ 
hypertrophie mehrfach katheterisirt werden musste. In der letzten 
Zeit machte 'die Einführung des Instrumentes Schwierigkeiten, 
und schliesslich wurde Patient nach zweitägiger Urinretention mit 
falschen Wegen unter der ärztlichen Diagnose: „Steinbeschwerden 
und Phlegmone penis“ mir zur Behandlung übergeben. Der Kranke 
starb trotz multipler Incisionen und Einführung des Katheters 
vom Damme aus an hypostatischer Pneumonie, denn die Kräfte 
des bejahrten Mannes waren dem langen reparativen Process nach 
den erlittenen Verletzungen nicht mehr gewachsen; im Uebrigen 
aber ergab die Autopsie keine anderen als die bereits genannten 
localen Veränderungen. Die falschen Wege waren hier nicht 
das schlimmste; dies war vielmehr die Scheu der Umgebung 
des Kranken, ihn zur rechten Zeit den chirurgischen — gegen 
die Verletzungen des Dammes und der Pars membranacea zu 
richtenden Eingriffen zu überlassen. 

Fast noch trauriger ist die Geschichte eines anderen Kran¬ 
ken, eines 47jährigen Arbeiters, der seit langer Zeit an Strictur- 


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Bemerkungen über den äusseren Hamröhrenschnitt. 


169 


besehwerden leidend, anscheinend plötzlich von völliger Harnverhal¬ 
tung befallen wurde. Gegen diese wurde drei Tage lang mit allen 
möglichen inneren und äusseren Mitteln zu Felde gezogen. Am 
4. Tage soll hierauf einArzt einen Katheter eingefübrt haben, ob bis 
in die Blase, liess sich später nicht ermitteln. Inzwischen war eine 
hochgradige Harninfiltration eingetreten, aber trotzdem wartete 
man noch volle weitere drei Tage, ehe Patient dem Hospital und 
damit regelmässiger chirurgischer Behandlung übergeben wurde. 
Freilich waren hier auch die Zerstörungen von seltener Ausdeh¬ 
nung, nach hinten bis zur Crena clunium reichend, nach vorn 
knisterte die Bauchwand bis zur Grenze der Regio mesogastrica. 
Incisionen zeigten die Scrotalscheidewand und die übrigen Weich- 
theile der vorderen Dammgegend völlig zerstört, so dass die 
Corpp. cavernosa penis nackt dalagen. Wider Erwarten besserte 
sich Anfangs das Befinden des Patienten nach vielfachen Ein¬ 
schnitten und Anwendung desinficirender Verbandmittel; doch 
hielt diese Euphorie nicht lange an: 20 Tage nach Aufnahme 
in das Krankenhaus ging Patient unter pyämischen Erscheinungen 
zu Grunde. 

Es erübrigt nur noch eine andere Ursache zu betonen, um 
derentwillen mehrfach nach Dammquetschungen die frühzeitige 
Incision in den perinäalen Theil der Harnröhre unterlassen wird. 
Dies ist die Geringfügigkeit der unmittelbaren Symp¬ 
tome, welche selbst erheblichen Verletzungen der Urethra folgen 
können. Ich habe diese Geringfügigkeit, welche die Erscheinun¬ 
gen nach einem Falle oder Schlag auf die Dammgegend zeigen 
können, bei verschiedenen meiner Kranken notirt, und jeder Fach¬ 
genosse hat wohl Aehnliches nicht gerade selten gesehen. So führt 
z. B. der bereits citirte Chirurg des Guy’s Hospital, Birkett (10), 
einen hierher gehörigen Fall an. Manchmal entwickeln sich die con- 
secutive Strictur und mit ihr die bedrohlichen Erscheinungen so 
schleichend, dass Jahre und mehr nach der Verletzung verstreichen 
können, ehe die Kranken zur Operation kommen, welche letztere 
dann nicht selten unter höchst ungünstigen Verhältnissen zur Aus¬ 
führung gelangt. Es ist schwer zu sagen, ob man es in solchen 
verzweifelten Fällen, wie Billroth (15) will, darauf ankommen 
lässt, dass man doch vielleicht eine günstige Ausnahme vor sich 
hat und die Urethrotomia perinaealis um jeden Preis unternimmt, 

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170 


Dr. P. Güter bock, 


oder ob man der Erfahrung von Sir Henry Thompson (3) 
gehorcht, der zufolge „blutige Operationen im Verlauf der Harn¬ 
röhre ganz besonders schlecht von solchen Kranken vertragen 
werden“, und dieselben daher besser zu unterlassen sind. Es ist 
nicht zu läugnen: jeder dieser beiden Standpuncte hat seine 
Berechtigung; zu Gunsten von Thompson muss sogar noch 
hervorgehoben werden, wie dies z. B. bereits Velpe au gethan 
hat, dass Kranke mit vorgeschrittener Nierenaffection und bedeu¬ 
tenden localen Storungen der Harnentleerung sich bei einer ex- 
pectativen Behandlung oft noch in einem erträglichen Zustande 
halten können, während jeder noch so unbedeutende Eingriff, 
selbst nur der einfache Katheterismus den Tod zur directen Folge 
haben mag. Aber auf der anderen Seite giebt es genug Fälle, 
welche auch das Gegentheil beweisen. 

Ein 42jähriger Lehrer war vor 28 Jahren rittlings von einer Höhe von 15 
Fuss auf eine Häcksellade gefallen. Ausser einer starken Blutung aus der 
Harnröhre und einigem Schmerz beim Uriniren will er damals weiter keine Be¬ 
schwerden empfunden haben. Dieselben entwickelten sich erst allmälig und 
erst seit 3 Jahren bemerkto Pat. erheblichere Störungen beim Harnlassen. Zur 
Zeit der Aufnahme in das Krankenhaus waren diese Störungen bis zur Unerträg¬ 
lichkeit gesteigert. Der Harn floss nur in Tropfen und zwar continuirlich ab, 
war stark ammoniakaliscb, trübe, Schleim und Eiweiss haltend. Nachdem schon 
früher Schmerzen in der Nierengegend und Schüttelfröste aufgetreten, haben die¬ 
selben sich in der letzten Zeit täglich mehrfach wiederholt. Durch den perinaea- 
len Theil der Harnröhre konnten selbst die feinsten Bougies nicht dringen. 
Trotz aller dieser Symptome wurde die Urethrotomia externa am 4. Juni 18fi7 
unternommen, und Pat. ist — wenn sich gleich sehr bald ein übrigens leicht zu be¬ 
seitigendes Recidiv der Strictur einstellte — völlig geheilt worden. (Er soll bei 
guter Gesundheit noch heut am Leben sein). 


Eine andere Frage, welche sehr einfach zu beantworten 
scheint, aber in der That nicht ohne Schwierigkeiten ist, bezieht 
sich darauf, an welcher Stelle man die Harnröhre bei 
der Urethrotomia externa einzuschneiden hat. Wenn 
man mit der Leitungssonde operirt und sich an die höchst prä- 
cisen Vorschriften Syme’s hält, so erscheint es als ganz selbst¬ 
verständlich, dass mau, wie es bereits Sir Astley Cooper 
deutlich ausgesprochen, gerade in der Mittellinie auf die Strictur 
einschneidet und diese dann von hinten nach vorn durchschneidet. 
Sy me will ausserdem, dass man wo möglich nicht jenseits des 


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Bemerkungen über den äusseren Harnröbrenschuitt. 


171 


Bulbus die Harnröhre verletzt, damit die tiefe Dammfascie nicht 
getroffen wird; doch hat schon H. Lee (20) dargethan, dass es 
ganz unmöglich ist, hierin Sy me zu folgen, wenn man nicht 
viele — die Pars membranacea betreffende — Stricturen unoperirt 
oder aber nicht vollständig durchtrennt lassen will. Ueberhaupt 
passen keinesweges alle Stricturen auf das von Sy me aufgestellte 
Operationsschema; es giebt beispielsweise sehr erhebliche 
Abweichungen des Verlaufes der verengerten Harn¬ 
röhre, welche durch Narbenbildung, durch Infiltration und andere 
ähnliche Zustände bedingt sein können, und ich habe dergleichen 
Deviationen unter einer nicht gerade sehr grossen Zahl von 
Urethrotomien bereits 2 Mal gesehen. Ferner aber existiren trotz 
aller gegentheiligen Behauptungen wirklich impermeable Strictu¬ 
ren, in welchen eine anatomisch nachweisbare Oblitera¬ 
tion der Harnröhre vorliegt. Verschiedene hierher gehörige 
Präparate aus Londoner Museen sind in dem Thompson’schen 
Werke erwähnt und analoge Beobachtungen sind ausserdem von 
Robert (7), Blondeau (5), Coulson (6) u. A. berichtet wor¬ 
den. Für diese und ähnliche Fälle sind eine Reihe mehr oder 
weniger wichtiger Modificationen der alten Boutonniere vorge¬ 
schlagen und auch ausgeföhrt worden. 

Wir erwähnen hier zuerst die von Bourguet (d’Aix) ge¬ 
machte collaterale Incision und Neubildung eines Ure- 
thralcanales (9), und dann die von demselben Chirurgen 
geübte Excision der stricturirton Stelle. Ferner haben wir 
der von John Simon (8) und Cock (8a) aufs Neue empfohlenen 
Methode zu gedenken, der zufolge die ausgedehnte Harnröhre hinter 
der Strictur geöffnet und dann diese entweder von hinten nach 
vorn gespalten oder abgewartet werden soll, bis sie wieder 
durchgängig ist, worauf die Dilatation in gewöhnlicher Weise die 
Cur beendet. In neuester Zeit ist diese Methode durch Furneaux 
Jordan (8b) dahin modificirt worden, dass die Harnröhre hinter 
der Strictur nicht vom Damme, sondern vom Mastdarm dicht 
oberhalb der Afteröffnung geöffnet wird; hierdurch kommt das 
Verfahren immer mehr und mehr in ein und dieselbe Linie mit 
dem sogenannten Brainard’sehen Katheterismus, bei welchem 
die Blase (respective das Blasenende der Harnröhre) nicht vom 
Damm oder Mastdarm aus, sondern vom Bauche her durch die 


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172 


Dr. P. Güterbock, 


Punctio hypogastrica geöffnet werden soll, damit später, d. h. 
Tage oder Wochen nachher ein Instrument von der Pnnctions- 
stelle ans rückwärts dnrch die Strictur geführt wird. Im Grossen 
nnd Ganzen gilt nämlich von dem Brainard’sehen Kathe¬ 
terismus, ebenso wie von dem Simon’schen Verfahren nnd 
dessen Modificationen nnd auch der von Bonrgnet geübten 
Excision der Urethralstrictnr ein nnd dasselbe: es sind diese 
Methoden sämmtlich nur in Ausnahmefällen znlässig. Un¬ 
sicherheit des Operationsterrains, Nothwendigkeit oder wenig¬ 
stens Wahrscheinlichkeit wiederholter operativer Eingriffe nnd 
Ungewissheit in Bezug auf den endlichen Ansgang der Be¬ 
handlung werden ihnen mit Recht vorgeworfen. Es ist viel 
leichter nnd sicherer, auch in allen denjenigen Fällen, in denen 
die stricturirte Urethra zur Zeit der Operation nicht durchgängig ist, 
vor der Stelle der Verengerung nnd Erkrankung einznschneiden. 
Wenn man dann die Harnröhre entweder dnrch Häkchen oder 
besser noch dnrch eingelegte Fadenschlingen*) klaffend erhält, 
gelingt es häufig den feinen vorderen Eingang der Strictur sicht¬ 
bar zu machen nnd eine dünne Oehrsonde einzuführen; dort, wo 
dies dennoch Schwierigkeiten macht, kommt man oft dadurch 
zum Ziele, dass man den inzwischen aus der Narkose erweckten 
Patienten zum Uriniren auffordert, damit der Urinstrahl den 
Wegweiser für die Sonde und das geknöpfte Messerchen abgebe. 
In den Fällen, in welchen man zur Annahme einer völligen Obli¬ 
teration der Harnröhre Grund zu haben glaubt, bildet man der 
Mittellinie entsprechend eine neue Harnröhre, indem man das 
callöse oder anderweitig veränderte Gewebe genau in gerader 
Richtung mit dem Messer trennt. Es sichert dies erstlich gegen 
Verletzung irgend eines bedeutenden Gefässes (Thompson) im 
Bereiche des Bulbus, und ausserdem ist es für die Nachbehand¬ 
lung, die doch nie ohne zeitweilige Einführung eines Katheters 
vom Orific. ext. urethr. aus möglich ist, viel rationeller, sich an 
die Mittellinie zu halten und hier einen collateralen Kanal zu bil¬ 
den, der anderswo jene an und für sich häufig schon mühevolle 
Einführung eines Instrumentes unnöthig erschweren würde. 


*) Dieselben werden schon seit einer langen Reihe von Jahren mit sehr 
gutem Erfolge durch Herrn Geh.-R. Wilms angewandt. 


bv Google 


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Bemerkungen Aber den Äusseren HarnrAbrenscbnttt. 173 

Wir haben die im Vorstehenden näher begründeten Maass¬ 
regeln sowie die darauf von vorn nach hinten vorznnehmende 
äussere Trennung der Strictnr in einer ziemlichen Reihe selbst 
beobachteter Fälle als völlig ansreichend gefunden; nur einige 
unumgängliche Vorsichtsmaassregeln sind dabei nie zu vergessen. 
Zunächst hat man stets darauf zu achten, dass in den Fällen, in 
welchen der Kranke selbst durch den eigenen Harnstrahl den 
vorderen Eingang der Strictnr klaffen macht, alles übertriebene 
Drängen und Pressen, durch welches der Harn nicht 
bloss in die Verengerung, sondern auch in das Nach¬ 
bargewebe getrieben wird, zu vermeiden ist. — Ferner ist 
eine ganz besondere Sorgfalt der völligen Stillung der Blu¬ 
tung nach der Operation zu widmen. Die Pars membranacea 
uretbrae besteht, abgesehen von den musculösen Bestandteilen, 
bis zu einem gewissen Grade aus einem sehr weitmaschigen 
Bindegewebe, wenn gleich nicht aus einer eigentlichen schwam¬ 
migen Substanz; weite Venen und die geschlängelt verlaufenden 
Aeste der A. transvers. perin., sowie auch einzelne dünne Zweige 
der A. bulbo-cavernosa werden aber immer mitverletzt und be¬ 
dingen eine in der Regel sehr heftige parenchymatöse Blutung, 
so dass eine ausgiebige Anwendung der Kälte und genaue Tam- 
ponnade mit Watte oder mit Schwämmchen, die in styptische und 
gleichzeitig desinficirende Lösungen getaucht sind, indicirt werden. 
Die grosse Gefahr ist hier die, dass geronnenes Blut im lockeren 
Gewebe der Pars membranacea urethrae oder hinter der sei es von 
vornherein, sei es durch die Operation verletzten tiefen Dammfascie 
zurückgehalten und dort der Verjauchung überlassen wird. Dass 
diese Gefahr keinesweges übertrieben ist, ergiebt sich daraus, 
dass ich keinen einzigen Fall von Genesung eines Urethrotomirten 
nach einer secundären Blutung aus eigener Beobachtung an- 
führen kann. Alle solche mir persönlich bekannten Fälle mit 
einigermaassen erheblicher Nachblutung — es mögen dies 5 oder 
G sein — gingen pyämisch zu Grunde. 

Hat man die Operation beendet und die Blutung mit genü¬ 
gender Sorgfalt gestillt, so drängt sich eine andere Frage dem 
Chirurgen auf. Soll er einen Katheter einlegen? Soll 
dies von der Wunde aus oder vom Orificium ext. urethr. 
aus geschehen? Wollten wir uns streng an die ursprünglichen 


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174 


Dr. P. Güterbock, 


Vorschriften Syme’s halten, so müssten wir wenigstens in (len 
ersten 2—3 Tagen nach der Operation einen Katheter vom 
Orif. extern, aus einlegen. Andere, wie z. B. S£dillot (19), 
rathen dagegen, das Instrument bis zur völligen Vernarbung liegen 
zu lassen, und noch andere (Pitha) wählen einen Mitteltermin und 
wollen mit dem permanenten perinäalen Katheterismus auf acht 
Tage nach der Operation genug haben (die Details hierüber vergl. 
bei Dudon, 20). 

Alle diese Vorschriften verlieren sehr viel an Werth, wenn man 
vernimmt, dass in der Bonner Klinik (16) die Einlegung eines 
Katheters aufgegeben und nur die Vorsicht gebraucht wurde, die 
qu. Patienten jedes Mal unter warmem Wasser uriniren zu lassen. 
Ferner haben, ausser Verneuil und Ad. Richard, die amerika¬ 
nischen Aerzte van Buren (21) und Gouley (22), welche gerade 
in Hinsicht auf die Urethrotomia externa sehr bedeutende eigene 
Erfahrungen haben, in allen ihren späteren Fällen den permanen¬ 
ten Katheterismus verschmäht und dennoch sehr günstige Erfolge 
erzielt! Gouley verlor z. B. unter 25 Patienten nur 4 — und zwar 
waren zufällig diese sämmtlich auf der Leitungssonde nach Sy me 
Operirte, während d’Outrelepont in Bonn unter 22 Fällen — 
darunter sehr viele unter sehr ungünstigen Bedingungen Operirte 
— ß Todesfälle zählt. Freilich sind diese Statistiken nicht so 
günstig, wie die von Sir Henry Thompson und von Sy me selbst 
aufgestellten: Sy me verlor unter 105 eigenen Opcrirten nur 2 
und Thompson fand unter 219 Fällen eine Mortalität von nur 
6| pCt. Wir wollen hier aber nicht verschweigen, dass diese 
Letzteren alle auf der Leitungssonde Operirte sind, dass Syme 
(wie schon oben S. 171 angedeutet) weit in die Pars merabran. 
urethr. hineinreichende Stricturen nicht sehr häufig operirt zu 
haben scheint, und dass auch in anderen Beziehungen nach den 
von Syme und besonders von Thompson (s. o. S. 170) ausge¬ 
sprochenen Principien eine Auswahl der zu operirenden Fälle statt¬ 
gefunden hat. Dass unter entgegengesetzten Verhältnissen eine 
relativ grosse Zahl von Fällen lethal enden kann, lehren ausser 
der als Anhang dieser Zeilen beigegebenen casuistischen Tabelle 
die von Billroth berichteten Züricher Operationen und die un¬ 
günstigen Resultate im King’B College Hospital zu London. Aus 
letzterem berichtet Henry Smith (18) über 13 Operationen mit 
3 Todesfällen und 5 ungenügenden Erfolgen. 

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Bemerkungen über den Süsseren Harnröhrenschnitt. 


175 


Aus allen diesen Detailangaben ersehen wir, dass keine der 
bis jetzt vorhandenen Statistiken geeignet ist, zu Gunsten oder 
zu Ungunsten, sei es des Einlegens, sei es des Nichteinlegens des 
Katheters verwerthet zu werden? Sicher ist Gouley’s Ansicht die 
richtige, dass der permanente oder auch nur temporäre Katheteris¬ 
mus direct nach der Operation einen unter den ungünstigen Ver¬ 
hältnissen, in denen viele der Urethrotomirten sich schon vor der 
Operation befinden, sehr in’s Gewicht fallenden Reiz bildet, welcher 
in schlechten, mehr oder weniger durchseuchten Hospitälern ernste 
Folgen haben kann. Obwohl ich nun aus eigener Erfahrung nur 
die Nachbehandlung mit Einlegen des Katheters von der Wunde aus 
auf mindestens 48—72 Stunden kenne, so glaube ich doch, dass das 
Richtige in der Mitte liegt. Der Verlauf einer grossen Anzahl 
von Fällen wäre nämlich schwerlich ungünstiger ausgefallen, wenn 
ich die Patienten von vornherein ohne Katheter und durch die 
Dammwunde hätte uriniren lassen, wofern ich stets ein genügend 
zahlreiches und zuverlässiges Wartepersonal mir zur Seite ge¬ 
habt, welches die Patienten schnell und sorgfältig nach jedem 
Uriniren gereinigt hätte. Leider war dies bei meinen Fällen, wie 
in den meisten grossen Hospitälern, nicht immer vorhanden, sonst 
hätte ich namentlich dort, wo der Urin von Hause aus mehr oder 

weniger normal und unzersetzt war, es gerade so wie nach dem 

Steinschnitt — entsprechend den durch A. Menzel und G. Simon 
gewonnenen experimentellen Erfahrungen — auf einen vorüber¬ 
gehenden Contaot zwischen Urin und frischer Wunde ankommen 
lassen; eine längere Dauer dieses Contactes, so dass der Urin 

Zeit zu Zersetzungen bekommen hätte, würde für mich dagegen 

eine Indication zum permanenten Katheterismus vom Damm, 
in seltenen Fällen vielleicht auch vom Orific. ext. urethrae her 
gegeben haben. Dasselbe gilt ebenfalls von denjenigen Fällen, 
in welchen es sich weniger um Etablirung einer frischen Wunde 
als um einen Einschnitt in mehr oder weniger infiltrirtes und ver¬ 
jauchtes Gewebe gehandelt hat. Es sind diese letzteren meistens 
gleichzeitig Fälle, in welchen der Urin eine schlechte ammoniaka- 
lische, Eiter und Detritus führende Zusammensetzung bat. Hier 
würde ich wenigstens für so lange, bis sich durch die plastische 
Wundinfiltration ein förmlicher Wundcanal nach der Operation 
gebildet hätte, d. h. also 48 — 72 Stunden in der Regel, den Ka¬ 
theter vom Damm aus liegen lassen. 


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Gck igle 


Original fro-m _ 

UMIVERSITY OF CALIFORffl A 



176 


Dr. P. Güterbock, 


Noch viel unsicherer ist es, für die weitere Nachbehand¬ 
lung in allen Fällen völlig maassgebende Normen aufzustellen. 
Wollte man Sy me glauben, so wäre es nur die nicht stricte Be¬ 
folgung der von ihm nicht allein für die Operation, sondern auch 
speciell für die Nachbehandlung gegebenen Regeln, welche Schuld 
wäre, dass andere Aerzte nicht so glänzende Erfolge erzielt hät¬ 
ten, wie er selber. Es ist schwer zu sagen, wie weit Sy me 
mit dieser Behauptung im Rechte ist, indessen haben wir bereits 
oben (S..174) angedeutet, dass bei den Ergebnissen der Urethro- 
tomia externa, wie wohl überall bei Operationsresultaten, noch ganz 
andere Factoren mitsprechen, als einzig und allein der Modus 
procedendi. Für die Nachbehandlung spielen z. B. oft die äus¬ 
seren Verhältnisse der Kranken eine grössere Rolle, als die in¬ 
dividuelle Erfahrenheit des Operateurs, die bei Männern wie der 
verstorbene Sy me und Sir Henry Thompson allerdings auch 
nicht zu unterschätzen ist. 

Sicherlich liegt daher etwas Wahres in dem von Syme 
aufgestellten und von Thompson befürworteten Satze, dass man, 
nachdem man den Katheter nach Ablauf der ersten 
drei Tagen entfernt hat, dem Patienten einige Zeit 
— acht, zehn oder zwölf Tage Ruhe gönnt, ehe man 
ihn wieder, und zwar vom Orific. extern, urethr. aus, 
katheterisirt.*) Mit dieser Vorschrift verbindet man häuüg 
die Maassnahme, dass man in der Zwischenzeit durch Einlegen 
von Charpie oder Lint in die Dammwunde sowie durch vorsich¬ 
tiges Eingehen mit dem Finger in dieselbe zu schnelles und zu 
inniges Verkleben der Granulationen und zu starke Narbenbildung 
verhindert, damit dem späteren Katheterismus durch letztere 
nicht zu grosse Schwierigkeiten erwachsen. Diametral entgegen¬ 
gesetzt dieser Methode ist das namentlich durch verschiedene 
französische und amerikanische Krankengeschichten (cfr. Dudon, *20) 
bekannt gewordene Verfahren, dem zu Folge man von vorn¬ 
herein — gewöhnlich vom 3. Tage nach der Operation 
an — einen starken Metallkatbeter jeden 2 — 3. Tag neu 
einführt und dann auf eine verschieden lange, in manchen 
Fällen auf mehrere Stunden auszudehnende Zeit lie- 


*) Cfr. Pitha (I). 


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Bemerkungen über den äusseren Harnröhrenschnitt. 


177 


gen lässt. Wenn man letztere Methode nur unter einfachen, 
nicht auch unter complicirten Verhältnissen befolgt, so darf man, 
wie ich ans eigener Erfahrung bestätigen kann, auf eine prompte 
und vollständige Heilung rechnen. Wollte ein Arzt freilich stets 
und unabänderlich auf diese Weise verfahren, so würde er das 
Gesammtresultat seiner Operationen sehr beeinträchtigen. Dort, 
wo Infiltrationen mit Harn oder mit Entzündungsproducten, grosse 
Reizbarkeit, Neigung zu Blutungen und dergleichen bestehen, passt 
diese Methode nicht. Hier werden Reizungen einer noch nicht 
in allen Winkeln gereinigten Wunde, Verletzungen von jungen 
Granulationen und sogar falsche Wege, ferner Fieberanfälle sicher 
viel häufiger Vorkommen als bei strenger Durchführung des vor¬ 
her erwähnten, von Sy me und Thompson aufgestellten Principes 
des spaten Eatheterismus. Freilich zu einem unfehlbaren Dogma 
darf ebensowenig das eine wie das andere Verfahren erhoben wer¬ 
den. Man muss hier sehr individualisiren, und namentlich 
hat man zuweilen die Zeit der Ruhe, während der man weder 
vom Damm noch von der äusseren Mündung der Harnröhre aus 
ein Instrument einführt, auf Wochen und selbst Monate auszu¬ 
dehnen. Man vergesse niemals, dass viele der Urethrotomirten 
früher nie Katheter oder Bougies gebraucht hatten; nur dann 
wird man die grosse Empfindlichkeit der Harnröhre im concreten 
Falle verstehen. So habe ich z. B. bei einem meiner eigenen 
Kranken gesehen, dass derselbe — ein übrigens gesunder 
Mann — noch in der 4. Woche nach der Operation auf 
den Katheterismus durch einen Schüttelfrost reagirte. Etwas 
später war die Empfindlichkeit der Urethra dieses Patienten so 
weit herabgesetzt, dass er die Einführung von Instrumenten wie 
jeder andere vertrug. Der zu früh und dabei nur mit Schwierig¬ 
keiten ausgeführte Katheterismus hat, wie mich eigene Erfah¬ 
rung gelehrt, manchen anscheinend schon geretteten Kränken 
nicht bloss das Resultat der Operation, sondern sogar das Leben 
gekostet. Die Patienten reagirenin solchen ungünstigen Fällen meist 
zunächst mit einer ganz kleinen Blutung aus der Operationswunde. 
Gewöhnlich sind es nur einige Tropfen Blutes, welche Mancher, da 
sie von anscheinend gesunden Granulationen stammen, kaum be¬ 
achten wird; aber — wie die mit grosser Sicherheit in sehr kur- 

v. Laegeafceek, Archiv f. Chirurgie. XVL 

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UMIVERSITY OF CALIFOR-NIA 



178 


Dr. P. Güterbock, 


zer Zeit, höchstens nach Ablauf weniger Stunden den Blutungen 
folgenden Schüttelfröste zeigen — ist cs damit nicht abgethan. 
Oftmals wiederholen sich die Schüttelfröste häuiiger, und schliess¬ 
lich geht Patient unter ausgesprochenen pyämischen Erscheinun¬ 
gen zu Grunde. Die Autopsie ergiebt in der Kegel metastatische 
Infarcte in den Lungen, parenchymatöse Bindegewebsinfilträtionen 
in Leber und Milz, zuweilen auch Nierenabscesse frischen und 
älteren Datums. 

In der nachstehenden Krankengeschichte handelte es sich um eine trauma¬ 
tische Strictur frischen Dalums bei einem 44jährigen sonst gesunden Arbeiter. 
Die Urethrotomie wurde wegen Impermeabilität der Strictur ohne Leitungssonde 
gemacht, nach der Operation sorgfältig mit Watte tamponnirt und von der 
Wunde aus ein Zirmkatheter eingelegt, aus dem der Harn ohne Unterbrechung 
in ein zwischen die Schinkel de3 Pat. aufgestelltes Gefäss abfloss*). — Der Ver¬ 
lauf in den nächsten Tagen nach der Operation war ein günstiger, der letzte 
Wattetampon wunde am 5. Tage und gleichzeitig damit der Katheter aus der Wunde 
entfernt. Ein Versuch, das Instrument durch die äussere llarnröhrenmündung 
zu führen, missglückte; derselbe wurde am nächsten Tage deshalb mit einem 
elastischen Katheter wiederholt, ohne besser zu gelingen. Dabei trat eine ganz 
minimale Blutung aus der Wunde ein. Kurz darauf führte man den Katheter 
durch die letztere mit Leichtigkeit in die Blase, entfernte ihn aber wieder, 
nachdem man dieselbe ihres Urines entledigt hatte. Alles dies fand etwa um 
10j Uhr Vormittags statt; bereits am Mittag trat ein Schüttelfrost ein, der sich 
in der kommenden Nacht und am nächsten Morgen wiederholte. Es folgte darauf 
Schw r eiss und Pat. fühlte sich leidlich wohl, wie auch der Zustand der Wunde 
ein guter war. Dennoch wiederholten sich die Fröste wieder und Pat. starb 
unter dem gewöhnlichen Bilde der Pyämie am 29. Tage nach der Operation. 

Ich brauche wohl kaum hervorzuheben, dass eine vorsich¬ 
tige Anwendung des Katheters nicht nur in Hinsicht auf den 
Zeitpunkt seiner Einführung, sondern auch in Bezug auf die 
* Dauer der letzteren geboten ist. Freilich darf man sich dar¬ 
über keinen Täuschungen hingeben, dass Recidive der Stric¬ 
tur nach der Operation durch das verbältnissmässig 
späte und seltene Einführen eines Katheters vom 
Orific. ext. urethr. aus bis zu einem gewissen Grade 
begünstigt werden. Wie mir ein auch in anderen Punkten 

sehr instructiver Fall beweist, kann sich sehr bald — bin¬ 
nen wenigen Wochen -- eine Undurchgängigkeit der Harnröhre 

*) Dies ist die auf der Abtheilung des Herrn G.-R. Wilms übliche Behand¬ 
lung, welche sich nach verschiedenen Versuchen als relativ bester Schutz gegen 
Infiltration durch nebenbeifliessenden Urin ergeben hat. 


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Bemerkungen über den äusseren Harnrohrenschnitt. 179 

wieder hersteilen, ohne dass diese Undurchgängigkeit von den 
durch Roser (14 und 17) zuerst*) beschriebenen und aus Nar¬ 
benzug hervorgehenden Knickungen des Kanales an der Ope¬ 
rationsstelle herrührt. In dem eben erwähnten Falle lag wenig¬ 
stens eine solche Knickung nicht vor, denn die Urethra war nicht 
bloss für Instrumente, sondern auch für den Harn völlig undurch¬ 
gängig, indem letzterer bereits sechs Wochen nach der Operation 
sich vollständig durch die Dammwunde entleerte. Es war dies 
ursprünglich eine äusserst callöse mit einer grossen Fistel com- 
plieirte traumatische Strictur gewesen, und es wurde daher eine 
zweite sehr ausgiebige Spaltung dps frischen Narbengewebes noth- 
wendig, worauf vier Wochen später die Einführung einer nicht zu 
starken Bougie vom Orific. ext. urethr. aus gelang, und Patient 
schliesslich völlig geheilt entlassen werden konnte — mit der 
Weisung, sich alle 14 Tage mit einem starken Instrument 
(Nr. 18) selbst zu katheterisiren. Er ist bis jetzt — ca. 2 Jahre 
nach der Operation — ohne weiteres Recidiv geblieben. 

Glücklicher Weise sind Fälle von so schnellem Recidive wie 
der vorstehende, nur Ausnahmen. Wenn man gewisse Vorsichts¬ 
maassregeln beachtet und namentlich im Auge behält, dass 
häufig vor und hinter der früheren Strictur der Schnabel des 
Instrumentes aufgehalten wird, gelingt es einige Wochen nach der 
Operation gewöhnlich leicht, für’s Erste wenigstens dünne ela¬ 
stische Bougies von der äusseren Harnröhrenmündung bis in die 
Blase zu führen. Man lässt dieselben dann nur kurze Zeit, in 
der Regel nicht über 15 Minuten, liegen, und kann in bekannter 
Weise die graduelle temporäre Dilatation anwenden, ein Verfah¬ 
ren, welches hier oft von überraschend schnellem Erfolge gekrönt 
ist, da man es mit einem jungen, noch nachgiebigen Narbengewebe 
zu thun hat. 

Zum Schlüsse wären noch mit einigen weiteren Worten die Re- 
cidiv’e, welche die Strictur, trotz vorheriger Urethrotomia externa, 
erleiden kann, zu erwähnen. Es ist erst seit verbältnissmässig kurzer 
Zeit, dass man in dieser Hinsicht unsere Operation vorurtheilsfrei 
gewürdigt hat. Manches hat hierzu die vortreffliche Inaugural- 
abbandlung von Dudon (20), die wir bereits öfter citirt haben, 


*) Cfr. Bardeleben, Lehrb. d. Chirurgie. 4. Ausgabe. Vol. IV. S. 85. 

12 * 


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Qrifinal from 

UNIVERSITY OF CALIF 



180 


Pr. P. Gut er bock 


beigetragen. Dudon sammelte nämlich die von einer Reihe der 
hervorragendsten Pariser Chirurgen urethrotomirten Fälle und 
untersuchte dieselben nicht nur hinsichtlich des unmittelbar durch 
die Operation erzielten Resultates, sondern auch in Bezug auf 
das spätere Befinden des betreffenden Patienten. Hierbei ergab 
es sich nun zwar, dass die Zahl der für letzteres wirklich maass¬ 
gebenden Krankengeschichten eine ausserordentlich geringe war, 
so dass Dudon es ganz unmöglich fand, seine Schlussfolgerungen 
aus denselben durch bestimmte Zahlen zu formuliren. Allein 
nichts desto weniger konnte er es doch als ziemlich sicher hin- 
steilen, dass die Urethrotomia perinaealis externa, ebenso wie jeder 
andere, die Beseitigung einer Strictnr bezweckende Eingriff, Reci- 
dive der Strictur nicht ausschliesst, zumal wenn die Ope- 
rirten es unterlassen, später von Zeit zu Zeit wenig¬ 
stens ein Instrument in die Blase zu führen. Hiermit 
wäre nun scheinbar die ganze Frage nach den Recidiven beim 
äusseren Harnröhrenschnitt erledigt; allein bei einer so vielen 
Modificationen unterworfenen Operation, wie es die Urethrotomia 
ext. perin. ist, wäre es schwer verständlich, wenn das schliess- 
liehe Endresultat der ganzen Procedur nur von einem einzigen 
Factor abhängen sollte. In der That ist dem nicht so. Dagegen 
spricht schon der Umstand, dass die Recidive — in ihren ersten 
Anfängen wenigstens — meist nicht lange nach der anscheinend 
gelungenen Heilung zu folgen pflegen, wie ja auch dieselben in den 
mir persönlich bekannten Fällen stets vor Ablauf der ersten bei¬ 
den Jahre nach der Operation aufgetreten sind. Ausserdem hat 
F. Bron (24) in einer neueren Arbeit dargethan, dass unter 18 
von ihm Urethrotomirten, welche er in einem Zeitraum von 1 bis 
11 Jahren nach der Operation untersuchte und ohne Recidive fand, 
nicht weniger als 7 die Vorsicht, sich hin und wieder einen Kathe¬ 
ter einzuführen, unterlassen hatten. Es müssen mithin noch 
andere Momente für die Entstehung von Recidiven thä- 
tig sein, und in der That vermögen wir mehrere derselben aus 
eigener Erfahrung anzugeben. Wir wollen hier nur kurz andeu¬ 
ten, dass dies zunächst die Beschaffenheit der Strictur und ihrer 
Umgebung ist, dann aber auch die Art der Trennung der Strictur 
bei der Operation, welche für die Entstehung von Recidiven eine 
Rolle spielen. Den letzteren Punct hat namentlich van Buren 


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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Bemerkungen über den äusseren Harnröbrenschnitt. 


181 


in New York eingehend besprochen. Sy me giebt bekanntlich 
die Vorschrift, genau eben nur die Strictnr, diese aber gänzlich 
za spalten; wenn er aber anf der anderen Seite empfiehlt, wo¬ 
möglich dabei den Bulbus nicht za überschreiten, so räth im 
Gegentheil van Baren unbekümmert darum za einer ausgiebigen 
Trennung der verengerten Stelle bis in das gesunde Gewebe hinein, 
ein Modus operandi, der (unsere früheren Andeutungen ergän¬ 
zend) auch von uns befolgt ist, und wenigstens eine gewisse 
Garantie gegen zu schnelle Wiederkehr der Verengerung in der 
Mehrzahl der Fälle zu bieten vermag. 

Uebersicht 

der von mir benutzten, auf der unter Leitung des Herrn Gebeimrath Dr. Wilms stehen¬ 
den chirurgischen Abtheilung des Krankenhauses Betbanien in Berlin beobachteten Fälle 

von Strictur und Haminfiltration. 


No. 


Name, Alter, 
Tag der 
Aufnahmo etc. 

Frühere 

Krankheiten. 

Diagnose bei 
der Aufnahme. 

Operation. 


Bemerkungen 
über Ausgang. 


1 . 


la. 


W., Alb., Leh¬ 
rer ausKönigs- 
bergi.N., rec. 
31. Hai 1867. 


Vor 28 Jahren 
rücklings auf eine 
Häcksellade ge¬ 
fallen. Augen¬ 
blicklich Blutung 
u. Schmerz beim 
Uriniren, später 
keine Symptome 
bis vor 3 Jahren; 
seitdem sich ste¬ 
tig steigernde 
Harnbeschwer- 
den; in letzter 
Zeit Fröste. 


Fortwährendes 
Abtröpfeln ei¬ 
nes ammonia- 
kaliscb-schlei- 
migen Urines, 
Schmerzen in 
Blase und Nie¬ 
rengegend, 
Schüttelfröste 
mehrfach tägl. 

Strictur. im- 
permeabi- 
iis urethr. 
Inflamma- 
tio renum 
et vesicae 
chronica. 


4. Juni. Ure- 
throtomia 
externa 
ohne Sonde. 
Hinteres Ende 
schwer zu fin¬ 
den. Katheter 
vom Damm 
aus. 


Seit 12. Juni Katheter 
vom Orif. ext. und 
Katheter vom Damm 
entfernt 

14. Juni Frost. Nie¬ 
renschmerzen. 

6. Juli. Frost, desgl. 
1. Juli ausser Bett. 
31. Juli. Beim Urini¬ 
ren kommt Alles zum 
Orif. ext. heraus. 
Kleine oberflächliche 
Fistel. 

8. August. Exit. Fi¬ 
stel noch nicht ganz 
geheilt 


Idem, Decem- 
ber 1867. 


Kleines Re-,Graduelle In einigen Wochen 
cidiv der temporäre geheilt. 

Strictur. | Dilatation. 

Fistel ge- 1 
heilt. I 


2. 


Schw., Herrn., 
39 Jahre alt, 
Babnbeamter, 
rec. 22. Januar 
1870. 


Vor 8 Jahren mit 
dem Damm auf 
Geschirr gefal¬ 
len. Damals ärzt¬ 
lich behandelt, 
nicht operirt.AU- 
mälige Entste¬ 
hung von Fi- 


Strictur. im- 
permeabil. 
urethrae 
membran. 
Infiltratio 
urinosa. 


1. Februar. 

U rethroto- 
mia extern. 
ohneSonde. 
Granulations¬ 
gewebe der Fi¬ 
steln ausge¬ 
löffelt. 


3. Februar. Erysipel. 

5. Februar. Katheter 
entfernt. 

11. Februar. Versuch 
einen Katheter vom 
extern, einzuführen, 
misslingt. — 14.Fbr. 
gelingt in d. Narkose. 


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UNIVERSITY OF CALIFC 








182 


Dr. P. Gütörboek 


No. 


Name, Alter, 
Tag der 
Aufnahme etc. 


Frühere 

Krankheiten. 


Diagnose bei 
der Aufnahme. 


Operation. 


Bemerkungen 
über Ausgang. 


3. 


4. 


stein. Urin geht 
im Strahl durch 
diese wie durch 
das Orif. ext. 
urethr. 


M., Hermann, 
28 JaKVe alt, 
Schleifer, rec. 


Fall rücklings auf 
ein Treppenge-j 
länder kurz vor 
der Aufnahme. 


o. 


Franz Mus .., 
11 Jahre alt, 
aus Bromberg, 
rec. 14. Juli 
1870. 


Fall mit dem 
Damm auf einen 
Pfahl am 22. 
März 1870. 


J., August, 19 Fall auf einen 
Jahr alt, Bauer' Balken am 23. 


aus Neu-Le- 
bus, rec. 23. 
Juli 1870. 


Sept. 1869; seit 
26. Sept. 1869! 
Urinfistel, durch 
die aller Urin 
abfliesst. 


'15. Februar. Orchitis 
sinistra. 

12. Juli. Dammwunde 
oberflächlich. Es 
fliesst Alles zum Orif. 
ext heraus. Beim 
Sondiren zwei Hin¬ 
dernisse, im Beginn 
und zu Ende der 
Narbe, letzteres ist 
das stärkste. Exit. 
Abreissung 2. Mai. Ure-6. Mai. Katheter ent- 
der Harn : throtomia j fernt. Abscesse in 
rohre kurz extern, zum] der linken Hälfte des 
vor demj Theil auf ; Scrotums. 
Bulbus.Hae-| der Sonde. 21. Mai. Einlegung 
matoma peri- eines Zinnkatheters 

naei. vom Orif. ex. urethr. 

aus. 

31. Mai. Die Einfüh¬ 
rung misslingt. Frost. 
1. Juni wiederholt, 
desgl. 11. Juni. Gra¬ 
duelle Dilatation. 

30. Juni. Patient mit 
, Nr. XII (Windler) 

I entlassen. Haarfistel 
am Damm. 

'Völlig normaler Ver- 
! lauf. 

3. October. Patient 
katheterisirt sich 
selbst mit Nr. 4. — 
Exit. (ohne Fistel). 
Völlig normaler Ver¬ 
lauf. Seit 29. August 
angestellte Versuche, 
Sonden vom Orif. ext. 
einzuführen, misslin¬ 
gen; durch Orif. ext. 
wird auch spontan 
fast kein Urin ent¬ 
leert. 

15. October. Wie¬ 
derholung der 
Urethr. extern. — 
10. October. Nr. 2 
vom Orif. ext. ein¬ 
geführt. Graduelle 
Dilatation — später 


Stric tura im 
permeabil. I 
traumat. ! 
part. mein- 
brau. 

Rabenfeder¬ 
starke Urin- 1 
fistel in der 
Dammgegend, 
inmitten eines 
callösen Nar- 
bengcwebqs. 
Urethra in 
der Dammge¬ 
gend völlig 
undurch- I 
gängig. 


!25. Juli. Ure- 
I throt. ext. 
! ohne Sonde. 


t 

25. Juli. Ure¬ 
thr o t. ext. 
obneLeituugs- 
sonde, Urethra 
so cailös ver¬ 
ändert, dass 
die eiuzeinen 
Bestandteile 
nicht mehr ge¬ 
nau erkannt 
werden kön¬ 
nen. 


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Bemerkungen über den äusseren Harnröhrensclmitt. 


183 


No. 


Name, Alter, 
Tag der 
Aufnahme etc. 


Frühere Diagnose bei 
Krankheiten, der Aufnahme. 


Operation. 


Bemerkungen 
über Ausgang. 


6 . 


7. 


R., Wilhelm, 
Kaufmann, G2 
Jahre alt, rec. 
2. März 1871 


W., Heinrich, 
Arbeiter, 47 
Jahre alt, rec. 
1. Mai 1871 


8. jR., Aug., 48 
Jahre alt,Post¬ 
beamter, rec. 
3. Juli 1871. 


9. B., Georg, 65 
1 Jahre alt, Be¬ 
amter aus 
Freienwalde, 
rec. 26. Juli 
1871. 


Seit einigen Mo¬ 
naten Blasenbe¬ 
schwerden. Vor 
2 Tagen sind ihm 
gelegentlich eiyes 
Katheterismus i 
falsche Wege bei¬ 
gebracht. I 


Alte Striclurbe- 
schwerden; seit! 
25. April Urin-j 
retentionmitUm-: 
schlagen und in¬ 
neren Mitteln be¬ 
handelt, nur ein¬ 
mal am 28. April 
Katheterismus. 


Hochgradige 
Lj r i n i n f i 1 * 
tration. 


2. März. Inci- 
sionen, Ka- 
. theter vom 
Orif.ext, spfi 
ter vom Damm 
aus. 


permanente Vereite¬ 
rung des rechten Ho¬ 
den. 9. Januar 1871 
mit Katheter Nr. 18 
entlassen. — Keine 
Fistel. 

(iestrb. am 14. Marz 
1871 an Erschö¬ 
pfung. — Autopsie 


I 


Beschwerden beim 
Uriniren seit Mai 
d. J., seit 26. Mai 
1871 beginnende 
Infiltration, in 
den letzten Tagen 
4 Froste täglich. 

Alter Blasenca- 
tarrh bei Pro¬ 
statahypertro¬ 
phie. Vergebliche 
Versuche des Ka¬ 
theterismus. 


Hochgradige 
Urininfil¬ 
tration, Gan¬ 
grän bis zur 
Crena clunium 
und Regio mo-l 
sogastrica; ; 
Septum scroti] 
zerstört. I 


1. Mai. Inci 
s i o n e n, 
Chlorkalkum¬ 
schläge. 


Hochgradige 3. Juli. Inci- 
Urininfil- ; sioneu. 
tration. Pyä¬ 
mischer Zu¬ 
stand des Pat. 
bei der Auf¬ 
nahme. 

Verschiedene 


falsche We¬ 
ge in der Pars 
mobilis u. der 
Pars prostat. 
urethrae. 


Wiederholter 

Katheteris- 

inus. 


I bestätigt falsche We¬ 
ge, sehr geringe Pro¬ 
statahypertrophie, 
geringe ältere Ver¬ 
änderungen an Blase 
und Niere. Pneumo- 
i nia hypostatica. 

Seit 7. Mai leichtes 
Erysipel; am 15.Mai 
Nachblutung, 
wahrscheinlich aus 
der A. pudenda 
comra., von da ab 
wiederholte Fröste. 
— Gest, am 20. Mai 
pyämisch. — Autop¬ 
sie ergiebt frische 
Lungen- und Nieren- 
infarcte, Verjau¬ 
chung des linken 
Schultergelenkes. 

12. August 1872. 
Völlig geheilt, ohno 
Fistel entlassen. Uri- 
nirt in vollem Strahle. 


• 29. Juli plötzlicher 
Tod \ Std. nachdem 
eine Meuge blutigen 
Urins entleert. — 
Leere Blase mit hy¬ 
pertrophischer unver¬ 
letzter Schleimhaut, 
Nierenkelche erwei¬ 
tert; grosse Prostata, 
falsche Wege. — 
Lungenoedem, Herz 
normal. 


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Original fro-m 

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184 


Dr. P. Güterbock, 


No. 


10 . 


11 . 


12 . 


Name, Alter, 
Tag der J 
Aufnahme etc. | 


Frühere 

Krankheiten. 


| Diagnose bei 
: der Aufnahme. 


S.47Jahre,Vor 13 Wocbeu.Strictu ra 


alt, Arbeiter 
aus Schurow, 
rec. 30. Juli 
1871. 


verschüttet. Fi¬ 
stelbildung, die 
wieder zurück- 
geht. 


urethrae I 
membranac. 
impermeab. 
träum. 


U., Wilhelm, 
Weichenstell., 
39 Jahre alt, 

| rec 22. Sept. 
1871. i 


T., Carl, Kut¬ 
scher, 33 Jahr, 
alt, rec. 23. 
October 1871. 


Strictura 

urethrae 

impermeab. 

membranac. 


Infiltratio 
urinosa. — 
Strictura 
| permeabil. 


Aeltere nicht trau¬ 
matische Strictur. 
Seit ca 24 Stun¬ 
den beginnt Urin¬ 
infiltration. 


Operation. L 


Bemerkungen 
über Ausgang. 


i 


31. Juli. Ure- 
throtomia 
extern, ohne 
Leitungssonde. 


86. Sept. 1871. 
Urethroto- 
mia extern, 
ohne Sonde. 


23. October. 
Incisionen. 


Seit 4. August ohne 
Katheter; am 5. Au¬ 
gust Versuch, Ka¬ 
theter vom Orif. ext. 
urethr. einzuführen; 
darauf leichteBlu- 
tung und Frost. — 
Pyämie mit wieder¬ 
holten Frösten. — 
Gest. 2&. September. 
Schüttelfröste, Icterus 
mit Durchfällen. — 
Pyämie. 

Gest 9. October. Sec- 
tion ergiebt Pleuritis 
und Peritonitis sup¬ 
purativa; Blasen- 
diphtheritis. 

Ohne Zwischenfälle 
am 6. Novbr. 1871 
geheilt entlassen. 


13 . 


F., Aug., Schu¬ 
ster, 40 Jahre 
alt, 24. Nov. 


Aeltere nicht trau¬ 
matische Strictur, 
seit dem 19. No¬ 
vember kommt 
der Urin nur in 
Tropfen und In¬ 
filtration beginnt. 


Infiltratio uri¬ 
nosa, Abscess. 
periurethralis, 
Strictura 
impermeab. 
in part. 
membr. 


24. November. 
Multiplelnci- 
sionen, pe- 
rinaealer. 
Katheteris¬ 
mus. 


26. November. Ka¬ 
theter vom Orif. ext. 
urethr. aus einge¬ 
führt bleibt bis zum 
3. December liegen; 
am 5. December 
Nachblutung, von 
da an Fröste. 

Gest. 13. December 
1871 an Pyämie.*) 


*) Für die mir von Herrn Geb.-R. Wilms freundlichst gestattete Benutzung seines 
Materiales sowie für die mir bei Zusammenstellung obiger Tabelle durch gütige Mitthei- 
luug ausführlicher Krankengeschichten von meinen Herren Collegen Stiehl und Max 
Bartel8 geleistete Hülfe sage ich hiermit meinen ergebensten Dank. 


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Bemerkungen über den äusseren Harnröbrenschnitt. 


185 


Literatur • Verzeichnis«. 

Die in vorstehender Arbeit in einer () eingescblosseneu Ziffern entsprechen 
denen dieses Literatur-Verzeichnisses. 

Die mit einem * versehenen Schriften kenne ich nur aus den Referateu im 
Caunstatt'schen und Virchow-Hirsch’schen Jahresberichte. 

1. v. Pitha: Krankheiten der männlichen Harn- und Geschlechtsorgane. 

2. Aufl. 1864. 

2. Dittel: Stricturen der Harnröhre, aus dem Handb. der Chirurgie von 
Pitha-Billroth. III. 2, 6. 1872. 

3. Thompson, H.: The pathology and treatment of stricture of theurethra. 
London 1854. — Ed. 3d. 1868. 

4. Sy me, J.: On stricture. Edinburgh 1849 (Edinb. monthly Journ. April 
1855. p 327). 

*5. Blondeau: Union medicale. 1854. Nr. 155. 

*6. Coulson*. Stricture of the urethra and perineal section. — Lancet 1852. 
I p. 25. — *Idem: Lancet 1853. I, 19. 

*7. Robert: Annales de Therapeut. Novbr. 1847. 

*8. John Simon: Operations for retention of urine occasioned by inve- 
terate stricture. — Med. Tim. and Gaz. Apr. 1852. — *8a. Cock: On the bene- 
ficial effects upon intractable stricture* of opening the urethra behind them. — 
Med. Tim. andGaz. 1856. Nr. 338. — 8b. Furneaux Jordan (Birmingham): 
On the method of treating retention of urine and impermeable stricture. — 
Brit med. Journ. Novbr. 9. 1872. 

*9. Bourguet d’Aix: De l’urethrotomie externe par section collaterale et 
par excision des tissus pathologiques dans les cas de 1’oblileration ou de retre- 
cissement infranchissable de l’uretbre. (Rep. de Gosselin). Bull, de l’Acad. de 
med. XXVI. p. 714. May 1861. 

10 Birkett, J.: Injuries of the pelvis. - Holmes’ Syst, of Surg. ed. 2d. 

II. p. 708 sq. 

11. Poncet, Ant.: Note sur le siige pröcis des ruptures de l’urethre et 
sur leur mecanisme. — Lyon medical. No. 25. 1871. 

12. Hunt, W.: Traumatic rupture of urethra, recent and chronic. — Phi- 
ladelpb. med. Tim. 1871. Febr. 15. 

13. Thiersch, C.: Ueber die Entstehungsweise und operative Behandlung 
der Epispadie. Archiv d. Heilkunde 1869. Heft 1. p. 20 sq. 

14. Roser, W.: Handbuch der anatomischen Chirurgie. 6. Aufl. p. 505sq. 

15. Billroth, Th.: Chirurgische Erfahrungen. Zürich 1860 — 1867. VII. 
Harnorgane. Archiv für klinische Chirurgie XI. p. 522 sq. 

16. d’Outrelepont: Beitrag zu der Urethrotomia externa. Arch. f. klin. 
Chir. VII. p. 458 sq. 

17. Roser, W.: Zur Lehre vom äusseren Stricturenschnitt. Archiv der 
Heilkunde 1862. Heft 5. 

*18. Smith, Henry: Med. Tim. and Gaz. Aug. 21. (cfr. Smith, H.: On 
stricture. London 1857.) 


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186 Dr. P. Güterbock, Bemerkungen über den äusseren Harnröhrensehnitt. 

*19. S4dillot: Urethrotomie perineale appliquee au traitement des retre- 
cissements de l’urethre. — Comptes rendus de l’Acad. des Sciences XXXV. 

20. Dudon, J. B. Charles Eloi: De l’urethrotomie externe. These pour 
le doctorat. Paris 1867. 

21. van Buren, W. H.: Clinical lectures on traumatic stricture. — New 
York medical Record. Nr. 8 und 12. 1866. 

22. Gouley, J. W. S.: On external pernieal urethrotomy or an improved 
method of external division of the urethra in perinaeo for the relief of obsti¬ 
nate stricture with remarks on the preparatory and afler-treatment. — New 
York med. Journ. August 1868. 

*23. Lee, H.: Stricture of the urethra of twenty years Standing. Lancet 
1854. II. Nr. 21. 

24. Bron, Felix: De l’uröthrotomie. Lyon medical. 1872. Nr.21. p.237sq. 

*25. Demarquay: Union medicale. 1855. Nr. 26. 

Berlin, den 20. April 1873. 


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XII. 

Untersuchungen über die feineren anato¬ 
mischen Vorgänge hei einigen Formen von 
Geschwulstbildung im menschlichen Hoden. 

Von • 

l)r. Franz Steiner, 

Assistenzarzt an Professor Billroth’s Klinik in Wien. 

(Hierzu Tafel I.) 


1. Entzündung. 

Die abhängige Lage des Hodens und der damit verbundene 
starke Blutdruck in den Venen des Samenstranges und somit in 
den Capillaren des Hodens, müsste allem Anscheine nach schon 
bei geringen Anlässen, welche eine Behinderung der freien Circu- 
lation im Capillargebiete desselben zu verursachen im Stande 
sind, zu congestiven Processen führen und das gelegentliche Vor¬ 
kommen von Entzündungen dieses Organs begünstigen. Es ist 
dies theilweise auch in der That der Fall, wie jeder Chirurg 
weiss, -der in der Lage ist, diesbezügliche Erfahrungen in so 
grossem Maassstabe zu machen, wie es in der Ambulanz einer 
Klinik der Fall ist, doch findet es immerhin nicht so häufig 
statt, als man von vornherein annehmen möchte. 

Der Grund sowohl hierfür als auch für die meist rasche 
spontane Wiederherstellung des normalen Zustandes bei gewissen 
Formen von bereits eingetretener Entzündung des Hodens, dürfte 
hauptsächlich wohl in der Art der Verzweigung der Arter. sper- 
matica und des Plexus pampiniformis liegen. Lud wig und Tomsa 
haben darauf hingewiesen*), dass die Arter. spermat. gleichwie 

*) Sitzungsber. der Acad. der 'Wissenschaften, 46. Bd. 2. Abth. Wien 1862. 
S. 221u.ff. 


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188 


Dr. Fr. Steiner, 


der Plexus pampinif. im freien Theile des Samenstranges ansehn¬ 
liche Windungen machen, welche gegen den Hoden zu immer 
mehr und mehr zunehmen, so dass, wie Ludwig sich ausdruckt, 
„der blutgefässführende Theil des Samenstranges einem lancett- 
förmigen Blatte ähnelt, dessen breite Basis dem Hoden, dessen 
Spitze dem Leistencanale zusieht. “ Findet nun irgend ein stär¬ 
kerer Druck im arteriellen Systeme statt, so muss das Lumen 
der Venen geöffnet bleiben und zwar darum, weil die Windun¬ 
gen der Arterien durch den Druck auseinander gepresst werden; 
die Arterien aber umspannen den Raum, in welchem die Venen 
eingeschlossen sind, so dass eine Verhinderung des Blutabflusses 
auf diesem Wege nicht zu Stande kommt. Hierzu kommt noch 
der eigenthümliche Verlauf der Arterie am Hoden selbst. Diese 
tritt*) zum Hoden unmittelbar neben dem Austritte der Ducti 
efferentes an die Albuginea; sie läuft sodann, ohne Aeste abzuge- 
ben, unter dem Nebenhoden bis zum Schwänze desselben und 
durchbohrt auf diesem Wege die Sehnenhaut in schiefer Rich¬ 
tung, ähnlich wie der Ureter die Blasen wand. Ist sie am unte¬ 
ren Scheitel des elliptisch gestalteten Hodens auf die Innenfläche 
der Tunica albug. gelangt, so giebt sie dann erst ihre Zweige 
an die Samenkanälchen ab. Daraus folgt, dass jeder Druck, der 
von Innen her gegen die Albuginea wirkt, den Zufluss des 
Blutes vermindern wird. Jeder Ast der Arterie versorgt nur 
ein kleines Gebiet und jedem entspricht eine starke Vene, welche 
alsbald in gerader Richtung die Tunica durchbricht und dann 
auf die äussere Seite derselben, unmittelbar unter der serösen 
Decke bis zu der Stelle verläuft, an welcher die Arterie zum Ho¬ 
den gelangt. Hier lösen sich die schon stark gewordenen Venen 
in die feinen Aeste des Plex. pampinif. auf. Eine Ausdehnung 
der Sehnenhaut kann somit nur eine Erweiterung der abfüh¬ 
renden Lumina veranlassen. 

Die beiden Hauptformen der Hodenentzündung, die gonor¬ 
rhoische und die traumatische, bieten in ihrem frühesten, acuten 
Stadium ausser Eernwucberung und kleinzelliger Infiltration im 
intertubulären Bindegewebe und Erweiterung der Lymphlacunen, 
keine hervorhebenswertben Veränderungen des normalen mikrosko- 


*) a. a. 0. 

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Untersuchungen über die feineren anatomischen Vorgänge etc. 189 

pischenGewebsansehens. Das Parenchym des Hodens erscheint dabei 
bekanntlich serös infiltrirt und fast stets findet eine mehr oder 
minder bedeutende Exsudation in den Sack der Tunica vaginal, 
propria statt. Dieser Zustand des Hodenparenchyms, in welchem 
in der weitaus grösseren Anzahl der Fälle wieder die Rückkehr 
zar Norm stattfindet, ist auch artificiell leicht zu erzeugen, bie¬ 
tet aber pathologisch kein weiteres Interesse. 

Anders verhält es sich mit den Ausgängen der acuten Ent¬ 
zündung in chronische Induration und Abscessbildung, von welch' 
letzterer wir hier ganz absehen wollen. 

Ist nämlich die Entzündung von längerer Dauer, schwankt 
dieselbe eine geraume Zeit zwischen Zu- und 'Abnahme, dann 
kommt es gelegentlich zur Ausbildung jener indurativen Zu¬ 
stände im Hoden, welchen sich unser Interesse in der vorliegen¬ 
den Arbeit vornehmlich zuwendet. Rindfleisch*) beschreibt die 
feineren anatomischen Veränderungen im Hoden anlässlich des 
Vorwaltens einer chronisch entzündlichen Induration, folgender- 
maassen: „Eine Hyperplasie des Bindegewebes verengt einerseits 
das Lumen der Lymphgefässe, andererseits verdickt sie die binde¬ 
gewebigen Tunicae propriae der Samencanälchen durch äussere 
Apposition und beeinträchtigt dadurch auch das Lumen der 
Samencanälchen und die Samenepithelien. Ein gänzliches Eingeben 
der letzteren und eine Verkleinerung des ganzen Hodens ist da¬ 
her das gewöhnliche Endergebnis der indurativen Entzündung.“ 

Durch eingehende Untersuchung einer Reihe von Präparaten, 
welche ich menschlichen Hoden im Zustande von chronisch-ent¬ 
zündlicher Induration entnahm, bin ich jedoch bezüglich der Ver¬ 
änderungen , welche die Samencanälchen gelegentlich einer 
länger dauernden Entzündung des Hodenparenchyms unterliegen, 
zu einer von obiger Darstellung des Sachverhaltes abweichenden 
Anschauung gekommen. Wie wir nämlich aus der Betrachtung 
der Bilder der betreffenden Präparate ersehen werden, ist es 
nicht immer ein einfaches Erdrücktwerden der Samencanälchen 
durch die Hyperplasie des Zwischengewebes, was ein gänzliches 
Eingehen derselben herbeiführt, sondern es betheiligen sich mehr 


•) Rindfleisch, Lehrbuch der pathologischen Gewebelehre. 2. Aufl. 1871. 
S. 467 u. ff. 


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190 


Dr. Fr. Steiner, 


oder weniger gewisse, den Samencanälchen selbst angehörende 
Gewebstheile bei dem entzündlichen Processe im Hoden in einer 
Weise, dass gerade hieraus jene Veränderungen im normalen An¬ 
sehen der Samencanälchen hervorgehen, welche letztere kaum 
oder gar nicht mehr als solche erkennen lassen. 

Fig. 5 führt uns ein Bild aus dem oben erwähnten chronisch- 
entzündlichen Hodentumor, bei einer Vergrösseruug von Hartn. 
Syst 7, Oc. 3 vor Augen. Wir sehen hier bei (b) eine, unten 
und seitlich von mehr oder weniger ganz nofmalem Hodengewebe 
(a) begrenzte Stelle in demselben, welche ihre Deutung beim 
ersten Anblick nichts weniger als leicht erscheinen lässt. Das 
Präparat ist einer nahe dem unteren Scheitel des Hodens gelege¬ 
nen, mässig derb infiltrirten Partie desselben entnommen. Im We¬ 
sentlichen sehen wir an dieser Stelle ein Gewebe von vielfach 
sich durchkreuzenden und mit einander zusammenhängenden 
Bindegewebsfibrillen, in deren Lücken Zellen eingebettet sind, 
welche den in den normalen Samencanälen gelegenen Samenzellen 
vollkommen gleichen; einzelne Fibrillen stehen durch zellige Ge¬ 
bilde mit einander in Zusammenhang, welche durchaus das An¬ 
sehen von Bindegewebskörperchen an sich tragen. Auffällig stär¬ 
ker markirt tritt ein Zug von mit einander zusammenhängenden 
Bindegewebsfäden hervor (bei cc), der anscheinend einen engeren 
Kreis der mit einander vielfach verwebten übrigen Züge derselben 
umschliesst, im Gegensätze zu den äussersten Grenzen der be¬ 
sprochenen Stelle, wo dieses eigenthümliche Gewebe allmälig in 
das normale straffe intertubuläre Zwischengewebe übergeht. 

Dieses in der Fig. 5 ersichtliche herdförmige Auftreten von 
dergleichen abnormen Gewebsstellen ist im ganzen infiltrirten 
Hodenparenchym anzutreffen, an einzelnen Stellen erfüllen die¬ 
selben das ganze mikroskopische Gesichtsfeld und reichen auch 
noch beim Verschieben des Objectes continuirlich über weitere 
Strecken hinaus. Dieses herdweise Erkranken ist übrigens dem 
Hoden eigenthümlich, und in dessen anatomischem Bau begründet, 
es wäre mir aber nicht möglich geworden, dem eben besproche¬ 
nen Bilde irgend eine plausible Deutung zu geben, wenn ich nicht 
durch sorgfältiges Weitersuchen in einer Reihe von Schnittpräpa¬ 
raten dazu gelangt wäre, mich über die ersten Entwickelungssta¬ 
dien dieser Geschwulststellen zu unterrichten. 

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Untersuchungen über die feineren anatomischen Vorgänge etc. 191 


Vor Allem richtete sich meine Aufmerksamkeit auf ein 
Schnittpränarat, dessen Bild in Fig. 2 wiedergegeben ist. Es ist 
einer mehr gegen die Oberfläche der infiltrirten Hodenpartie ge¬ 
legenen Stelle der letzteren entnommen. In demselben erscheint 
bei einer Vergrösserung von Hartn. Syst. 5, Oc. 3 noch völlig 
normaler Hoden bei (d), daran stossen aber in ziemlich bedeuten¬ 
der Ausdehnung theils im Längs-, theils im Querschnitt, theils 
schief getroffene Samencanälchen, welche durch auffällige Hyper¬ 
plasie des von reichlichen Kernen durchsetzten fibrillären Zwischen¬ 
gewebes (a) von einander getrennt erscheinen. 

Bevor wir in die nähere Betrachtung des vorliegenden Bildes 
eingehen, möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers auf Fig. 1 
hinlenken, welche das vorliegende Bild bei einer sehr schwachen 
Vergrösserung wiedergiebt, um die Gewebsverhältnisse in über¬ 
sichtlicher Weise auf ein grösseres Areal hin darzustellen. Bilder, 
wie in Fig. 7 eines gegeben ist, sind an verschiedenen Stellen 
des infiltrirten Hodens, in den peripheren sowie in den centralen 
Theilen desselben aufzufinden gewesen. Wir sehen (in Fig. 1) 
in das normale Gewebe (c) hineinragend eine breite Lage von 
Bindegewebe (a), in welchem ziemlich entfernt von einander eher 
— im Vergleich zu den benachbarten normalen — erweiterte als 
verengte Samencanälchen (b) liegen, von denen insbesondere eines 
(in Fig. 1 mit e bezeichnet) Gegenstand einer eingehenden Be¬ 
achtung werden soll. Wenn wir nun, wieder zu Fig. 2 zurück¬ 
kehrend, die einzelnen im hyperplastischen Bindegewebe (a) ge¬ 
legenen Tubuli schärfer betrachten, so fällt uns schon bei der für 
dieses Bild gewählten schwachen Vergrösserung*) auf, dass sich 
von den Wänden der Samencanälchen aus zarte, mehr oder weniger 
scharf ausgeprägte Fibrillen erheben, welche zwischen die im Lu¬ 
men derselben gelegenen Samenzellen hineinragen und stellenweise 
auch unter einander sich verbinden. Dieser Befund, an den mit 
(b) bezeichneten Tubulis nur bei längerer scharfer Betrachtung 
constatirbar, ist an dem im vollen Längsschnitt getroffenen (e) 
ganz auffällig deutlich. Nebstbei wäre noch die bereits oben an¬ 
gedeutete stellenweise Verbreiterung der Samencanälchen hervor¬ 
zuheben. 


•) Hartnack, System 5, Oc. 3. 


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192 


Dr. Fr. Steiner, 


Wenn wir nnn, um die Genesis dieser Bindegewebsfibrillen 
zu erforschen, zu stärkeren Vergrösserungen greifen, so gelangen 
wir hierdurch zu Aufschlüssen, welche uns die Bilderdeutung der 
erstbetrachteten Schnittpräparate der vorliegenden Hodengeschwulst 
(s. Fig. 5 bei b) nahelegen. 

Fig. 3 stellt das Samencanälchen (c) von Fig. 2 bei einer 
starken Vergrösserung*) dar. Von der Innenwand, also unzwei¬ 
felhaft wohl von der Membrana propria des Samencanälchen s aus, 
welche in diesem Präparate nicht deutlich erkennbar zu Gesichte 
kommt, während sie sich späterhin in anderen Schnittpräparaten 
unverkennbar darstellen wird, erheben sich Fibrillen (b) mit deut¬ 
lichem Doppelcontour, so dass die Deutung auf blosse Fibrinfäden 
nicht zulässig erscheint. Dieselben theilen sich, in das Lumen 
des Samencanälchens hineinreichend, zwischen den Samenzellen 
(a) dichotomisch oder mehrfach und verbinden sich unter ein¬ 
ander stellenweise durch Dazwischenkunft eines zellenartigen Ge¬ 
bildes, welches der Form nach den Bindegewebskörperchen am 
meisten ähnelt. 

Bezüglich der Genesis dieser bindegewebigen in die Samen¬ 
canälchen hineinwuchernden Fibrillen ist wohl nur die eine Deu¬ 
tung möglich, dass sie das Product eines chronisch-entzündlichen 
Reizungszustandes der Membrana propria, deren bindegewebige 
Natur kaum einem Zweifel unterliegen kann, wie unten noch wei¬ 
ter erörtert werden soll, darstellen. 

% Ich erlaube mir an dieser Stelle eine kleine Abschweifung 
von der strengen Folge der weiteren Erörterungen, um dem Be¬ 
funde gewisser, in der neueren Zeit vielfach besprochener zeitiger 
Gebilde am normalen Samencanälchen eine kurze Besprechung zu 
widmen, und nebstbei für das frühzeitige Erlöschen der Produc¬ 
tion der Samenfäden im entzündlich indurirten Hodenparenchyme 
eine pathologisch-anatomische Erklärung zu bringen. 

Vor einiger Zeit hatte ich zum Zwecke des Studiums der 
von Sertoli zuerst gesehenen sogenannten „Stützzellen“ der Sa¬ 
mencanälchen eine Reihe von Präparaten angefertigt, theils Oxal- 
säurepräparate, um gemäss Merk el’s**) Rath die Membrana propr. 

•) Hartnack, Syst. 10 ä iimners., Oc. 3. 

*•) »Die Stützzellen des menschlichen Hodens*, von Dr. Merkel; in Rei¬ 
chert’s Archiv f. Physiol. und Anatom. Jahrg. 1871. S. 1 ff. 


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Untersuchungen über die feineren anatomischen Vorgänge etc. 193 


darzustellen, theils Schüttelpr&parate, um ein Bild von den Stütz¬ 
zellen zu gewinnen. Es ist mir nie gelungen, eine Membr. propr. 
zu isoliren, auch war ich nicht im Stande, mich von der epi¬ 
thelialen Nator derselben zu überzeugen. Unter diesen Präpara¬ 
ten befindet sich eines, welches sowohl die Membr. propr. als auch 
wandständige, eigentümliche Zellen, welche in innigem Zusam¬ 
menhänge mit der ersteren sind, auf das Schönste zeigt. Das 
Schnittpräparat hatte ich dem normalen, durch 3 Wochen in 
Müller’scher Flüssigkeit gelegenen Hoden eines zwölfjährigen 
Knaben entnommen, und es mit gleichen Theilen Glycerin und 
Wasser geschüttelt. Wie ich bei der Anfertigung diesbezüglicher 
Präparate leider oft genug erfahren, war auch in diesem der In¬ 
halt der Samencanälchen gänzlich berausgefallen, bis auf eines, 
welches sich in nicht ganz reinem Querschnitt getroffen präsen- 
tirte und mir in der oben angedeuteten Beziehung instructiv 
wurde. 

Fig. 4 giebt bei einer starken Vergrösserung*) ein Bild da¬ 
von. Bei (a) stellt sich die äussere Hülle des nahezu quer ge¬ 
troffenen Samencanälchens dar. Sein Inhalt an Samenzellen ist 
beim sanften Schütteln herausgefallen. Bei (b) sehen wir die wie 
schwach granulirt aussehende, doch eine unzweifelhafte fi¬ 
brilläre Streifung zeigende Membrana propria, in welche 
bei (c) zwei Kerne eingelagert erscheinen. Vom oberen Umfange 
der Membr. propr. erhebt sich ein säulenförmiger Fortsatz (d), der, 
in die Lichtung des Samencanälchens hineinragend, an seinem obe¬ 
ren breiten Ende, das wie abgerissen in Fransen ausgeht, einen 
Kern trägt. Am Fussende dieses Fortsatzes, das aus der Membr. 
propr. hervortritt, liegt wieder ein Kern. Ein ähnliches Gebilde 
sehen wir bei (e), nur erscheint dieses kürzer, an dem aus der 
Membr. propr. hervorhebenden Fussende einen Kern tragend und 
an dem nach einwärts reichenden Ende wie abgerissen. 

Ich glaube, dass diese in das Lumen des Samencanälchens 
bineinragenden beiden säulenförmigen Fortsätze bei dem Schütteln 
des Präparates sich von der Membr. propr. abgelöst haben, ihrem 
Wesen nach aber dem von v. Ebner beschriebenen w wandstän¬ 
digen Keimnetz“ angehören, zeitige Gebilde, welche Merkel**) als 


*) Hartnack, System 10 ä immers., Oc. 3. 
**) a. a. 0. 

v. Lnngcnbcck, Archiv f. Chirurgie. XVI 


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194 


Dr. Fr. Steiner, 


„Stützzellen“ auffasste. In neuester Zeit ist Prof. E. Neu- 
mann*) in Königsberg, auf Grand seiner in Gemeinschaft mit 
Dr. Blumberg gemachten Untersuchungen des Ratten-und Men¬ 
scheuhodens bezüglich dieser Gebilde der Hauptsache nach zu 
demselben Resultate wie v. Ebner gelangt, wonach dieselben die 
Brutstätte der Samenfäden wären, nur erkennt er das von 
v. Ebner beschriebene „Keimnetz“ nicht an, sondern betrachtet 
die von Letzterem als Fortsätze des Keimnetzes beschriebenen 
Spermatoblasten als Theile der obenerwähnten zelligen Gebilde, 
welche sich in Müller’scher Flüssigkeit leicht isoliren.**) 

Wieder zur Betrachtung von Fig. 3 zurückkehrend, glaube 
ich nun, dass unter den pathologischen Verhältnissen eines chro¬ 
nisch-entzündlichen Zustandes des Hodenparenchyms, welchem 
das in der vorliegenden Figur gegebene Bild entnommen ist, die 
Membrana propria, deren bindegewebige Natur ich nicht bezweifle, 
ähnlich wie das intertubuläre Zwischengewebe hyperplastisch wird 
und diesen Zustand in der Weise unseren Sinnen zur Erkenntniss 
bringt, dass Wucherungen von Bindewebsfibrillen von ihr aus in 
das Lumen der Samencanälchen hinein zur Entwickelang kom¬ 
men, wodurch die oben besprochenen zelligen Gebilde, die Brut¬ 
stätte der Samenfäden, förmlich erdrückt werden, so dass hier¬ 
nach es klar wird, dass die Samenfadenproduction im Hoden un¬ 
ter solchen Umständen erlöschen muss. 

Kehren wir wieder zu unserem oben verlassenen Thema zu¬ 
rück, und betrachten Figur 5, auf welche im Eingänge die Auf¬ 
merksamkeit des Lesers gelenkt wurde, so erklärt sich jetzt 
auch die Stelle (b) in derselben: wir sehen hier nämlich den Pro- 
cess der entzündlichen Bindegewebshyperplasie, welche sich in 
Fig. 2 und 3 (in letzterer bei b) in seinen Anfängen darstellte, 
so weit gediehen, dass an Stelle des Samencanälchens ein Gewebe 
von vielfach sich durchkreuzenden und mit einander stellenweise 
durch zellige Gebilde in Verbindung tretenden Bindegewebs- 
fibrillen erscheint; dazwischen eingelagert sind Zellen, welche den 
normalen Samenzellen vollkommen identisch sind. 


•) Ueber die Entwicklung der Samenfäden. Central bl. f. d. med. W. Nr. 5G. 

1872. 

**) a. a. 0. 


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Untersuchungen über die feineren anatomischen Vorgänge etc. 195 



Es ist klar, dass ein Samencanälchen, in welchem dieser 
Vorgang Platz greift, im Beginne erweitert werden wird, während 
der zellige Inhalt desselben durch die stets zunehmende Binde¬ 
gewebsneubildung mehr und mehr eingeengt, erdrückt wird und 
schliesslich ganz verschwindet. Dieses ist das Schicksal der Sa¬ 
menkanälchen unter solchen Umständen. 

Zn einer gewissen Zeit wird daher der erkrankte Hode, ge¬ 
mäss der bisherigen Schilderung der pathologischen Veränderungen 
seiner Gewebe eine bedeutende Vergrössernng zeigen; so wie aber 
das neugebildete Bindegewebe zu schrumpfen beginnt, verkleinert 
sich wieder das ganze Organ und wird hart. 

Die beschriebenen Veränderungen, welche an den Sämen- 
canälchen im chronisch-entzündlichen Zustande des Hodens sich 
vorfinden, sind jedoch nicht in jedem Falle leicht zu constatiren. 
So hatte ich ein Präparat vom Hoden eines jungen Polen in Hän¬ 
den, der an einer lange Zeit bestandenen jedem Heilversuehe wi¬ 
derstehenden käsigen Orchitis litt und schliesslich castrirt wurde. 
Schnittpräparate, welche aus der Nähe der käsigen Herde, dem 
makroskopisch scheinbar noch gesunden Gewebe entnommen 
wurden, zeigten neben Hyperplasie, reichlicher Cellulation und 
Eernwucherung des intertubulären Bindegewebes stellenweise im 
mässig erweiterten Lumen von Samencanälchen, die im Krank¬ 
heitsherde selbst lagen, eine eigenthümliche, blassgelbliche, wie 
eine erstarrte Flüssigkeitsschicht aussehende Masse, welche den 
Canälcheninhalt nur trübe durchschimmern liess oder denselben 
ganz unkenntlich machte. Es war durchaus unmöglich, diesen 
unzweifelhaft pathologischen Inhalt der Tubuli, welcher vielleicht 
mit der bestandenen Tripperorcbitis in Zusammenhang zu bringen 
ist, zu entferuen, und nur an den Stellen, wo der sonstige Inhalt 
der Samencanälchen noch etwas durchschimmerte, konnten die 
oben beschriebenen Bindegewebsfäden andeutungsweise erkannt 
werden. 

Um mich zu überzeugen, ob dieselben Veränderungen im Ho¬ 
dengewebe, wie ich sie bisher beschrieben, auch an einem arti- 
ficiell in Entzündung versetzten Hoden stattfinden, ex- 
perimentirte ich an einem grossen Hunde folgendermaassen: Ich 
zog ihm durch den linken Hoden einen Eisendraht, schnürte die- 

13* 

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196 


Dr. Fr. Steiner, 


sen fest zusammen, und zog täglich einmal recht ausgiebig daran. 
Am 3. Tage war der Hoden hoch geschwollen und ziemlich derb 
anzufühlen; am 5. Tage schnitt ich den Hoden heraus. Die Un¬ 
tersuchung ergab, dass nichts als saftige Schwellung des Or¬ 
gans in Folge des Trauma’s eingetreten war. Meine Bemühungen 
waren jetzt darauf gerichtet, durch einen wo möglich lange an¬ 
dauernden, wiederholt gesteigerten Reiz, das Stadium der Binde¬ 
gewebsneubildung in dem anderen Hoden zu erzeugen. Zu diesem 
Zwecke durchzog ich den Hoden kreuzweise mit zwei Eisendrfih- 
ten, die fest zusammengeschnürt wurden. Am 4. Tage zeigte sich 
sehr starke Schwellung; am 8. Tage geringere Anschwellung, 
Zerren der Drähte, festeres Zusammenscbnüren derselben und In- 
jection einer sehr verdünnten Chromsäurelösung in das Hodenpa¬ 
renchym. Am 14. Tage wurde der Hode herausgeschnitten. Der¬ 
selbe war ziemlich stark geschwollen und insbesondere an den 
Einstichstellen, wo die Drähte lagen, sehr derb. Nach¬ 
dem der Hode durch 14 Tage in Müller’scher Flüssigkeit ge¬ 
legen war, wurden Schnittpräparate aus jenen derb anzufühlen¬ 
den Stellen des Hodens, wo die Drähte gelegen waren, insbeson¬ 
dere den Einstichstellen, angefertigt. Die Scbnittpräparate wur¬ 
den mit Hämatoxylin*) gefärbt und in Glycerin gelegt. 


*) Ich will es nicht unterlassen, über die Benutzung des Hämatoxylins als 
Färbemittel von mikroskopischen üodenpräparaten hier ein Paar Worte einzu¬ 
schalten. Ich hatte zuvor stets mit Carmin gearbeitet und war meist zufiieden, doch 
versagte mir gerade bei den feineren Details der Hodenpräparate dieses Färbe¬ 
mittel seine guten Dienste, die es mir sonst geleistet, namentlich vermisste ich 
die nothwendige schärfere Differenzirung des Samencanälcheninhaltes, und meine 
Untersuchungen am Hoden nahmen erst dann einen befriedigenderen Fortgang, 
als ich mich des Hämatoxylins bediente. Dieses Färbemittel leistet in der Diffe¬ 
renzirung von zelligen Gebilden und Bindegewebsfasern Vortreffliches, freilich 
weit mehr an Alkoholpräparaten als an solchen die zuvor in Müller'scher 
Flüssigkeit gelegen hatten. Die zelligen Gebilde treten mit tiefblauer Färbung 
des Kerns und einer sehr schwach bläulichen des Protoplasmas hervor, während 
die Bindegewebsfasern wieder in auffälliger Farbendifferenz, blasser als der 
Zellenkern und doch wieder mehr gefärbt als das Zellenprotoplasma, sich mar- 
kiren. So ist dieses Färbemittel begreiflicher Weise zum Studium der oben be¬ 
trachteten Präparate, wo zeitige Gebilde und neugebildete, zarte Bindewebsfibril- 
pn als Inhalt der Samencanälchen erscheinen, vorzüglich geeignet. Zum Tech- 
nicismus bei den mit Hämatoxylin behandelten Präparaten will ich nur noch be¬ 
merken, dass die Anwendung des Tcrpenthins und Canadabalsams als Aufhellungs- 


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Untersuchungen über die feineren anatomischen Vorgänge etc. 197 


Fig. 6 giebt nns das Bild eines dieser Präparate bei einer 
Vergrössernng von Hartn. Syst. 5, Oc. 3. Wir sehen zwischen 
den sofort als solche zu erkennenden Samencanälchen (d und e) 
ein durch Hyperplasie ungemein verbreitertes Bindegewebe, in wel¬ 
chem es, insbesondere in der Nähe der Gefässe (b), so beispiels¬ 
weise links oben bei (a) zu einer massenhaften Wucherung von 
Kernen und Zellen gekommen ist. In dem Bindegewebe sehen 
wir stellenweise kleine Blutextravasate, so bei (c), welche wahr¬ 
scheinlich von der hier oder in der Nähe stattgehabten Gewebs¬ 
verletzung durch den Drahteinstich herrühren. 

Vor Allem ist das in der Mitte des Bildes gelegene Samen¬ 
canälchen (e) zu beachten, welches etwas schräg getroffen im obe¬ 
ren Umfange noch eine starke äussere bindegewebige Wand zeigt. 
Von der Innenwand derselben sehen wir, ganz wie in Fig. v*, 
deutlich doppelt contourirte Fibrillen (e) sich erheben und central 
in das Samencanälchen reichend in vielfache Astverbindungen 
unter einander treten, zwischen welchen sich, nur mehr in spär¬ 
licher Anzahl, Samenzellen (f) vorfinden. Im unteren Umfange 
insbesondere ist die intratubuläre Entwickelung von neugebildeten 
Bindegewebsfibrillen sehr vorgeschritten, so dass, da sich hier die 
äussere bindegewebige Hülle des Samencanälchens gar nicht mehr 
als solche markirt, die neugebildeten Fibrillen im Inneren des Sa¬ 
mencanälchens mit dem anliegenden Zwischengewebe bereits in 
ein Ganzes überzugehen scheinen. 

Ganz unten in diesem Bilde erscheinen die Querschnitte von 
drei Samencanälchen, in welchen die Entwickelung der gedach¬ 
ten intratubulären Fibrillen (e) in gleicher Weise wie oben 
Statt hatte. 


Wir kommen hiernach aus unseren im Obigen dargelegten 

Untersuchungen zu dem Schlüsse, dass bei gewissen Formen der 
* 

mittel nicht empfehlenswert erscheint, da die Färbung des Hämatoxylins da¬ 
runter alsbald verblasst und einem gleichmässigen Grau Platz macht, während 
bei der Anwendung des Glycerins zu dem gleichen Zwecke, dieser Uebelstand 
wegbleibt und die Färbung sich ziemlich lange Zeit unverändert erhält. Aller¬ 
dings wäre es wÜDsebenswerth ein Mittel zu besitzen, die Hämatoxylinfärbung 
auch im Terpenthin und Canadabalsam haltbar zu machen, doch ist mir ein sol¬ 
ches nicht bekannt. 


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198 


Dr. Fr. Steiner, 


chronisch-indurativen Entzündung des Hodenparenchyms das end¬ 
liche Aufgehen der Sameneanälchen in ein bindegewebiges Stroma 
nicht auf einem blossen Erdrücktwerden derselben durch die Hy¬ 
perplasie des intratubulären Bindegewebes beruhe, sondern dass 
hierbei im Inneren der Sameneanälchen selbst, ähnlich dem Vor¬ 
gänge im intratubulären Zwischengewebe, eine von der Membrana 
propria ausgehende Bindegewebswucherung, welche das Lumen der 
Sameneanälchen erfüllt und'dessen zelligen Inhalt durch Druck 
schwinden macht, zum Untergange derselben beitrage. Das be¬ 
troffene Hodenparenchym stellt, nachdem in der angegebenen 
Weise das normale Ansehen des Gewebes verschwunden ist, ein 
zeitiges, späterhin beim Eintreten des Schrumpfungsprocesses in 
demselben ein rein fibrilläres Bindegewebsstroma dar, so dass es 
in den früheren Stadien der chronisch-indurativen Entzündung 
einem kleinzelligen Sarcome, in den späteren einem Fibrome 
ähnelt. 

Das Naheliegende des Vergleiches zwischen chronisch-indura¬ 
tiven Processen im Hodengewebe mit Sarcorn- und Fibrombildung 
in diesem Organe wird anlässlich der kurzen Besprechung dieser 
Geschwulstformen im 2. Theile der vorliegenden kleinen Arbeit 
nochmals erörtert werdep. 


2. Tubereulose. 

Die tuberculöse Erkrankung des Hodens, rücksichtlich wel¬ 
cher ich zu den darüber bekannten Daten nur einen kleinen Zu¬ 
satz zu machen habe, erscheint bekanntlich in kleinen, käsigen 
Herden, welche allmälig zu grösseren Zusammenflüssen und meist 
zu fistulösen Durchbrüchen nach aussen führen. Es kann so ge¬ 
legentlich zur Ausstossung der erkrankten Partieen kommen, oder 
es erkrankt endlich das ganze Hodenparenchym in der gedachten 
Weise. 

Der Beginn dieser Erkrankung, welche nebenbei gesagt an 
Individuen, die mit vorgeschrittener Lungentuberculose behaftet 
sind, ungemein häufig zu beobachten ist, wird in den Handbüchern 
der pathologischen Gewebelehre gewöhnlich als eine rein intersti¬ 
tielle Erkrankung geschildert; es komme im intertubulären Binde - 
gewebe zu reichlicher Cellulation, zur Gefässerweiterung und Neu- 




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Untersuchungen über die feineren anatomischen Vorgänge etc. 199 


biidang von GefUssen, während nur die Samencanälchen allein 
sieh passiv verhalten. Erst an den Stellen, wo die Krankheit sich 
bereits als käsiger Herd präsentire, treffe man auf glasige Ver¬ 
quellung der Membrana propria der Samencanälchen, welche aber 
selbst in ihren änssersten Lagen kaum eine Spar von Kern- oder 
Zellenneubildnng zeige. *) 

Diesem Ausspruche kann ich nicht ganz beistimmen, sondern 
mass, im Hinblick auf Präparate, welche.ich dem tuberculösen Ho¬ 
den eines 25jährigen Mannes entnommen hatte, aussagen, dass 
sich die Samencanälchen bei der tuberculösen Erkran¬ 
kung des Hodens ebenfalls, wenn auch nicht in hervor¬ 
ragendem Grade betheiligen. 

Figur 7 giebt bei einer stärkeren Vergrösserung**) das Bild 
eines meiner Präparate. Es stammt von einer Stelle im Hoden, 
welche in ziemlicher Entfernung von den käsigen Herden makro¬ 
skopisch das Ansehen von ganz normalem Gewebe an sich trug. 
Das intertubuläre Bindegewebe erscheint, insbesondere dort, wo 
Gefässe in demselben auftauchen, wie bei (g), mit Kernen und mit 
Zellen, die das Ansehen von Wanderzellen (w) haben, reichlich 
angefüllt; überdies machen sich pigmentirte Bindegewebskörper- 
chen (b), welche im übrigen Antheile ihres Protoplasma’s stark 
gekörnt erscheinen, in auffälliger Menge bemerklieh. Die Samen¬ 
canälchen selbst betreffend muss vor Allem die bedeutende Ver¬ 
dickung der Membrana propria auffallen, welche sich in 
ihrem dem Epithel der Tubuli zugekehrten Antheile in einem fal¬ 
tigen Contour scharf abgrenzt, ein Bild, wie es Rindfleisch im 
Cystosarcom des Hodens der Membr. propr. der Tubuli eigen er¬ 
klärt. 

In den äusseren Lagen der Membrana propr. erscheint eine 
spärliche Kernbildung, während der zellige Inhalt der Samen¬ 
canälchen in manchen Präparaten — nicht in den vorliegenden — 
durch die enorme Verdickung der Membr. propr. comprimirt, nahezu 
ganz verschwunden ist. 

Mit dem Gesagten soll die in den späteren Stadien der Er¬ 
krankung an den käsigen Stellen erscheinende glasige Ver- 


*) Rindfleisch, a. a. 0. S. 478. 

**) Hartnack, System 8, Oc. 3. 


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200 


Dr. Fr. Steiner, 


qnellung der Membr. propr. *) durchaus nicht in Abrede gestellt 
werden, ein Zustand, welcher mit der von uns besprochenen und 
abgebildeten Verdickung der Membr. propr. in keinerlei Weise zu 
identificiren ist. 

Entzündung und tuberculöse Erkrankung sind, rücksichtlich 
der dabei stattfindenden feineren Veränderungen in den Geweben, 
wiederholt Gegenstand von Vergleichungen geworden, und in* der 
That Hessen sich auch am Hoden nabe Berührungspunkte dieser 
beiden Erankheitsprocesse hervorheben. So erinnert die Kern¬ 
wucherung und reichliche Zellenbildung im Bindegewebe, die Ge- 
ffi8serweiterung und Neubildung von Gefässen, so wie die Hyper¬ 
plasie der Membr. propr. der Tubuli des tuberculösen Hodens an 
entzündliche Zustände; ein Durchwachsen der Tubuli mit Binde- 
gewebsfäden von der Membr. propr. aus, wie es oben bei der 
Entzündung beschrieben wurde, ist hierbei jedoch nicht zu beob¬ 
achten. 

Die Entwickelung des Tuberkels im Hoden gehört strenge 
genommen nicht in den Rahmen der vorliegenden Untersuchungen; 
ich lasse es daher dahingestellt sein, ob dieselbe aus den Kernen 
der Bindegewebssubstanzen, oder aus den zeitigen Elementen der 
Gefässwandungen, oder aus den Endothelien der Lymphgefässe, 
wie in neuester Zeit von manchen Seiten angenommen wird, her¬ 
vorgehe; nur will ich nicht unterlassen, zu bemerken, dass mir 
bei der Durchsicht meiner Präparate vom tuberculösen Hoden an 
Stellen, welche den käsigen Herden nahe gelegen waren, wieder¬ 
holt Bilder zu Gesicht kamen, welche Folgendes zeigten: Im in¬ 
tertubulären Bindegewebe reichliche Blutcapillaren, an deren Wand 
stellenweise in grösserer Anzahl an einander, dann wieder nur zu 
zweien, dreien, Zellen anlagen, welche vom Ansehen der Wander¬ 
zellen, doch von verschiedener Grösse sich von einander weiter 
noch dadurch unterschieden, dass manche von ihnen eine auffällige 
Granulirung ihres Protoplasmas zeigten. Diese Zellen, welche, wie 
schon hervorgehoben, überall hauptsächlich der Wand der 
Capillargefässe folgten, zeigten sich stellenweise auch im 
Bindegewebe. Ich halte dieselben für Derivate der Gefäss- 


*) Rindfleisch, a. a. 0. S. 479. 


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Untersuchungen über die feineren anatomischen Vorgänge etc. 201 

wandungszellen und für den Herd der Tuberkelbildung 
im Hoden. 

Der zweite Theil der vorliegenden kleineta Arbeit, welcher 
einen Beitrag zu den Untersuchungen über Sarcom- und Carei¬ 
nombildung im Hoden darstellen soll, wird in einem später erschei¬ 
nenden Hefte dieses Archives gebracht werden. 

Erklärung der Figuren auf Tafel I. 

Figur 1. a, intertubuläre« byperplastisches Bindegewebe; b, Samencan&lcbcn 
darin; c, normales Hodengewebe; e, Samencanälchen mit intratubu- 
lären Bindegewebsfibrillen (Beginn der Durchwachsung des Samen- 
canälchens mit Bindegewebsfibrillen). 

Figur 2. a, intertubuläres byperplastiscbes Bindegewebe; b, Samencanälchen 
darin; c, Bindegewebsfibrillen - Entwickelung im Sameucanälcben; 
d, normales Hodengewebe. 

Figur 3. a, Samenzellen; b, Bindegewebsfibrillen. 

Figur 4. a, äussere, bindegewebige Wand des Samencanälchens; b, Membrana 
propria; c, Kerne; d, säulenförmiger Fortsatz von der Membr. propr. 
ausgehend, wie bei e, wo ein Kern liegt. 

Figur 5. a, normales Hodengewebe; b, pathologisch veränderte (chron. indurat. 

Process) Stellen im Hodengewebe; ccc, ein Bindegewebsfibrillenzug, 
kranzförmig die inneren umschliessend. 

Figur 6. a, kernreiches hyperplastiscbes Bindegewebe zwischen den Samen¬ 
canälchen; b, Gefässe, ganz durchschnitten; c, Blutextravasate; d, Sa¬ 
mencanälchen im Querschnitt; e, neugebildete Bindegewebsfibrillen im 
Lumen der Tubuli; e, ein etwas schräg getroffenes Samencanälchen; 
f, Samenzellen. 

Figur 7. b, Bindegewebskörperchen; g, Gefässquerschnitte; w, Wanderzellen; 
mp, Membrana propria der Samencanälchen. 


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* 


XIII. 

Zur Casuistik subcutaner Rupturen der 
Muskeln und Sehnen. 

Von 

»r. C. W. F. Hilde, 

in BrAunschweig. 

(Hierzu Tafel II. Figur 7.) 

Vier subcutane Rupturen der Muskeln und eine subcutane 
Sehnenzerreissung sind von mir beobachtet. Diese Verletzungen 
betrafen: den M. vastus externus nebst rectus femoris; den M. 
biceps brachii; den M. adductor femoris longus; den M. rectus 
femoris, und das Ligamentum patellare inferius. In der chirur¬ 
gischen Literatur gehört die subcutane Ruptur noch immer zu 
den ungewöhnlichen Vorkommnissen und dürfte deren Erwähnung 
daher gerechtfertigt erscheinen, ßemerkenswerth ist, dass bei 
keinem der Patienten Rheumatismus, Typhus, Trichinosis u. dgl. m. 
stattgefunden hatte. Die erste Verletzung ist durch directe Ein¬ 
wirkung eines schweren Eisenstücks entstanden; die übrigen ver¬ 
danken plötzlicher und übermässiger Muskelthätigkeit ihre Ent¬ 
stehung. In den Fällen 1. und 3. war die Veränderung der 
äusseren Form der betreffenden Gliedmaassen so auffallend, dass 
sie abgebildet werden konnten. 

1. Subcutane Ruptur der Mm. vastus externus und rectus 

femoris. 

Sch., zu Helmstedt, 27 Jahre alt, von zierlichem Körper und blassem Aus¬ 
sehen, trug am 14. Juli 18G0 mit acht anderen Männern einen 18 bis 20 Centner 
schweren eisernen Balken v°n kantiger Beschaffenheit. Er hatte diesen auf der 
linken Schulter liegen und fiel ihm de Selbe beim Herabrollen auf den Boden 

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Zur Casuistik subcutaner Rupturen der Muskeln und Sehnen. 203 

auf den mit einem Schurzfelle versehenen linken Oberschenkel, der etwa 
eine Hand breit über dem Condylus externus und der Patella getroffen wurde. 
Zunächst entstand an dieser Stelle eine Blutunterlaufung und als ich mehrere 
Tage später den Mann sab, befand sich daselbst an der vorderen und äusseren 
Seite der unteren Partie des Oberschenkels eine Lücke unter der Haut, in welche 
ich beide Daumen neben einander zu legen im Stande war; doch konnte ich an 
dem vorderen Winkel dieser Lücke noch deutlich die Continuität des M. rectus 
zu etwa ein Viertel, durcbfühlen. Der obere Rand der subcutanen Vertiefung 
war etwas nach aussen umgelegt. Sch. konnte das linke Bein weder strecken 
noch nach aussen wenden. Es verflossen viele Monate* bis er wieder arbeits¬ 
fähig ward. — Die Art der Einwirkung des kantigen Eisenstücks auf den linken 
Oberschenkel, die Lücke in den subcutanen Weichtheilen mit der theilweise 
stattfindenden Einheit der nach innen gelegenen Schichten des M. rectus; die 
besondere Beschaffenheit der Unbrauchbarkeit des Beines Hessen mich die be- 
zeichnete Muskelruptur als zweifellos annehmen. — Ruhige Lagerung des Beines, 
kalte Ueberschläge, Einwickelungen machten die Behandlung aus. — Im Januar 
1869 war die angegebene Lücke an 5 Centimeter breit. Es sollte noch Schwäche 
mit Unsicherheit beim Geben in dem linken Beine vorhanden sein. — Als im 
November 1872 mein Herr College Walkhoff zu Helmstedt das vorliegende 
Bild des Theils vom linken Beine gezeichnet bat, verhielten sich die beachtens- 
werthen Stellen an demselben wie folgt: Der Umfang des linken Oberschenkels 
oberhalb der subcutanen Muskelnarbe betrug 39 Cm., der des rechten an der 
entsprechenden Höhe 39 Cm. Die CircumfereDz des linken Oberschenkels in 
der Lücke der subcutanen Muskelzerreissung hatto 34,5 Cm., die des rechten 
an der correspondirenden Stelle 37,5 Cm. Sonst war an allen übrigen Theilen 
der beiden Oberschenkel ihr Umfang gleich. Der Abstand der Muskelenden 
belief sich auf 3 Cm. Es ist mir nicht bekannt geworden, dass gegenwärtig 
eine Schwäche in dem linken Beine noch fortbesteht (Fig. 7). 


2. Subcutane Ruptur des M. biceps an dem rechten Arme. 

Soe. aus Ottenstein, 43 Jahre alt, gesund und kräftig, erlitt am 3. Februar 
1863 an dem rechten Arm eine subcutane Ruptur des grossen und kleinen 
Kopfes des M. biceps in der Höhe des unteren Endes des M. deltoideus, als er 
während des Bajonnetirens im Begriffe stand, seinen Gegner zu treffen. Beim 
Stoss auf den Harnisch desselben hörte er nicht nur ein lautes klappendes Ge¬ 
räusch, sondern empfand es auch in seinem rechten Arme. Sofort fiel ihm der 
stark gestreckte Arm an dem Körper herab, baumelte, und S. war nicht ver¬ 
mögend, das Gewehr emporzuheben, die Finger zu bewegen und den Vorderarm 
zu flectiren. S. empfand an der äusseren und inneren Seite des M. biceps sehr 
heftige Schmerzen, welche sich über das Schultergelenk und über die hintere 
obere Seite der Omoplata, nach dem Hals und nach der Gegend des M. pecto- 
ralis major verbreiteten. — Die unteren Fragmente der Muskelbäuche hängen 
unter der Haut nach innen, nach dem Condylus internus zu, waren ganz schlaff 
anzufassen und konnten von unten nach oben — an ihren gewöhnlichen Platz — 


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204 


Dr. C. W. F. Uhde, 


gestrichen oder geschoben werden. An der Stelle der Muskelzerreissung bestand 
ein drei Finger breiter Zwischenraum. Die Gegenden des inneren und äusseren 
Randes des M. biceps waren mit Blut unterlaufen. — Es ward eine Dolabra 
ascendens an den flectirten Arm gelegt und ein schmales Kissen an dem Thorax, 
in der Hohe des durchgerissenen Muskels, befestigt, um durch Anlegen des 
Oberarmes an dasselbe das untere, nach oben in die Längsachse gerichtete 
Fragment sicherer dem oberen Muskelstücke nähern und in der gegebenen Rich¬ 
tung erhalten zu können. — Seit dem 5. März war S. im Stande, den Arm im 
Scbultergelenke zu heben und im Ellenbogengelenke zu beugen, sowie zu strecken. 
Doch gelang die Extension nur unvollständig. Bei der Flexion des Armes stand 
der untere Theil des M. biceps nach innen. Es war eine bandartige, feste, drei 
bis vier Finger breite, in den Muskelbauch sich tief hineinstreckende Narben¬ 
substanz deutlich zu fühlen. S. hatte noch immer an der äusseren und inneren 
Seite des M. biceps Schmerzen. 

3. Subcutane Ruptur des M. adductor femoris sinistri longus. 

J., aus Braunschweig, 21 Jahre alt, stürzte im März 1871 mit dem Pferde, 
wobei er eine Ruptur des M. adductor longus an dem linken Bein erlitt, die 
ihn unfähig machte, fernerhin zu reiten. Der linke Oberschenkel besass an der 
inneren oberen Partie eine Faustgrossc Geschwulst, unterhalb welcher eine tiefe, 
oben breite und nach unten hin spitz zulaufende Rinne, die vorn vom M. sar- 
torius und hinten vom M. gracilis gebildet ward, sich bemerkbar machte. 
J. konnte die muskelweiche und etwas über das Niveau der Umgebung sich 
erhebende Geschwulst durch den Willensimpuls in eine muskelharte, ziemlich 
stark hervortretende verwandeln. Dicht unterhalb der Geschwulst maass der 
linke Oberschenkel 16,5 Cm. im Umfange, während der rechte an der entspre¬ 
chenden Gegend 19 Cm. Umfang hatte. Als mein Herr College Frank die 
innere Seite des linken Oberschenkels faradisirte, manifestirte sich dabei deut¬ 
lich die Contractibilität der besagten Geschwulst, während unterhalb derselben 
nicht wie am rechten Oberschenkel eine Contraction des Adductor bewirkt wer¬ 
den konnte, vielmehr durch Tetanisirung der Mm. sartorius und gracilis die 
oben erwähnte rinnenartige Vertiefung sich weit stärker raarkirte. 

4. Subcutane Ruptur des M. rectus femoris sinistri. 

B., aus Braunschweig, 41 Jahre alt, fiel bei Frostwetter im April 1871 
dergestalt, dass ihm das linke Bein unter das rechte gerieth. Bei dem Unfälle, 
erzählte er, wäre ihm gewesen, als rollte sich etwas im Beine herum, und die 
Untersuchung ergab eine subcutane Ruptur der vorderen und äusseren Partie 
des M. rectus des linken Oberschenkels. Die abgerissene, etwa Faustgrosse, 
Muskelgeschwulst sass in sitzender Stellung des B. 22 Cm. oberhalb des Knies, 
das linke Bein maass um die Geschwulst 53,5 Cm., während das rechte an der 
entsprechenden Stelle nur 49,5 Cm. besass. Unterhalb jener Geschwulst hatte 
die Extremität 46,5 Cm. und die rechte in correspondirender Höhe 48,5 Cm. 
im Umfang. An der äusseren Seite des M. rectus femoris sinistri befand sich 


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Zar Casuistik subcntaner Rupturen der Muskeln und Sehnen. 205 


von der Geschwulst ab bis zur Kniescheibe eine tiefe lange Rinne, die an dem 
des rechten Beines fehlte. B. contrahirte beim Aufheben des ganzen Beines 
die aus abgerissenen Muskelbündeln bestehende Geschwulst und verursachte da¬ 
durch eine bedeutende Festigkeit derselben. Eine Schwäche in der Gliedmaasse 
ist nicht vorhanden. 

5. Subcutane Ruptur des Ligamentum patellare inferius 

dextrum. 

G., aus Berlin, 25 Jahre alt, gymnastischer Künstler, von mittlerer Grosse, 
zartem Knochenbaue, sehr starker Musculatur, mit Plattfüssen, sprang am 
6. August 1859 rücklings mit einem Luftsprunge voh einem Stuhle, der auf 
drei auf einander gestellten Tischen stand, auf einen mit einer hoben Sand¬ 
schicht belegten Erdboden. Derselbe kam gehörig auf die Füsse, sank aber 
beim Versuche, die Stelle zu verlassen, hin, indem der rechte Unterschenkei 
unter seinen Oberschenkel flectirt ward. Es war das Ligamentum patellare in¬ 
ferius des rechten Beines dicht unterhalb der Spitze der Kuiescheibe subcutan 
abgerissen, welche 6,5 Gm. durch die Mm. rectus, crureus, vasti an der vor¬ 
deren Fläche des Oberschenkels in die Höhe gezogen war. Das Knie bot ein 
breites aber flaches Ansehen dar, hatte in Folge von subcutanem Extravasate 
der Kniegelenkflüssigkeit und des Blutes der betreffenden zerrissenen Gefässe 
3 Cm. mehr Umfang, als das linke, und Hess eine auffallend tiefe, durch die 
drei mittleren Finger leicht zu bewerkstelligende Einschiebung seiner vorderen 
Haut zwischen die Gelenkflächen des Femur und der Tibia zu. Unter der Haut 
fühlte m\n deutlich das erschlaffte abgerissene Kniescheibenband G. klagte 
über Mnskelkrämpfe in dem rechten Oberschenkel, sowie über Taubheit, Ein¬ 
geschlafensein und Kribbeln in dem rechten Fusse. Das verletzte Bein war 
in dem Kniegelenke stark gestreckt und in dem Hüftgelenke flectirt, und in 
dieser Stellung auf einer mit Watte gepolsterten Schiene mittelst einer Binde 
so befestigt, dass durch Zirkeltouren die Kniescheibe dem abgerissenen Ende 
des Ligamentum patellare inferius fast ganz genähert war. Auf der Kniegegend 
wurde eine Eisblase angebracht. Der Puls hatte 80 Schläge. — Der Patient 
konnte aber wegen heftigster Muskelkrämpfe und sehr grosser Schmerzen diesen 
Verband nicht vertragen und musste der letztere gegen einen ähnlichen, doch 
weniger fest angelegten, vertauscht werden. Der Umfang des rechten Knie¬ 
gelenks betrug 7 Cm. mehr, als der des linken, und die Spitze der Kniescheibe 
war 2 Cm. von dem abgerissenen Kniescbeibenband entfernt. Erst am vierten 
Tage nach dem Unfälle bemerkte man eine intensive Sugillation an der ganzen 
hinteren Oberschenkelfläche. Um den 12. August war das Kniegelenk abge- 
schwollen und lag die Patella nahezu an ihrer normalen Stelle. Am 16. August 
wurde die Schiene entfernt, weil der Patient fortwährend über die heftigsten 
Muskelkrämpfe klagte und die gestreckte Lagerung des rechten Beines nicht 
mehr ertragen konnte. Er lag nun noch unruhiger als zuvor und versuchte 
oft wegen Schmerzen im Beine dieses im Kniegelenke zu flectiren. Um jedoch 
diesem Verhalten, welches möglicherweise eine abermalige Trennung des Knie- 


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206 Dr. Uhde, Zur Casui9tik subcutftner Rupturen der Muskel und Sehnen. 

\ 

Scheibenbandes zur Folge haben konnte, entgegenzutreten, wurde das Bein ge¬ 
hörig gestreckt und wieder mit einer Binde eingewickelt Indessen die bestän¬ 
digen Schmerzen in dem rechten Oberschenkel zwangen mich, die Binde wie¬ 
derum zu entfernen und nur gewöhnliche Spirituose Waschungen in Anwendung 
zu bringen: Umstände, welche dem Leidenden Veranlassung gaben, oft das 
Bein im Kniegelenke zu beugen. Im Anfänge des Monats September schien 
das Knie nebst Bandapparat nahezu normal zu sein, gleichwohl hatte G. noch 
immer heftige Schmerzen im rechten Oberschenkel Mit dem 6. September 
konnte der Patient an einem Handstock im Zimmer umhergehen. Ein Paar 
Tage später verliess derselbe das hiesige Krankenhaus. 



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XIV. 


lieber die traumatische Luxatio femoris 

supracotyloidea. 

Von 

Dr. Ernst Blasius, 

Gehtimen lltdlcloalrath und Professor in Halle. 


Alle Schriftsteller über tranmatische Schenkelluxationen be¬ 
trachten die ia der Ueberschrift genannte Art, wenn sie dieselbe 
überhaupt erwähnen, als die seltenste von allen; ich kann dies 
nicht für richtig halten, sondern muss nach meiner Eenntniss der 
speciellen Beobachtungen annehmen, dass die Lnxatio infracotyloi- 
dea die seltenste ist, wenn man auch alle die von Malgaigne 
angeführten Fälle als solche will gelten lassen. Es gehört in¬ 
dessen die Luxatio supracotyloidea immer zu den sehr seltenen 
Vorkommnissen und viele Autoren, auch unter den neuen und 
neuesten manche, kennen dieselbe gar nicht. Da ich wiederholt 
Gelegenheit gehabt habe, diese Verrenkung, sowohl die trauma¬ 
tische, wie die spontane zu beobachten und zu behandeln, so ver- 
anlasste ich meinen verstorbenen Sohn Richard den Gegenstand 
in seiner Inauguraldissertation zu behandeln; sie erschien in Halle 
1809 unter dem Titel: Ueber Luxatio femoris supracotyloidea 
traumatica und spontana, mit zwei Tafeln in Quart. Dieses 
Schriftchen hat das gewöhnliche Schicksal der lnauguralschriften 
gehabt, und damit nicht meines Solmes sehr sorgfältige Arbeit und 
meine Beobachtungen gänzlich verloren gehen möchten, habe ich 
die Beobachtungen über die spontane Luxation in meinem Auf¬ 
sätze: Beiträge zur Lehre von der Coxalgie, in diesem Archive 
Bd. 12, nochmals veröffentlicht, und in dem Nachstehenden werde 


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Dr. E. Blasius, 


ich diejenigen über die traumatische Luxation mittheilen, und 
nebst denen anderer Chirurgen für eine Darstellung dieser Ver¬ 
letzung zu verwerthen suchen. Die letztere, welche auch Luxatio 
ileospinalis und obere Vertical-Luxation genannt worden ist, wird 
von den wenigen Autoren (Malgaigne, Wernher, Pitha, Ha¬ 
milton, Emmert), welche auf sie nfiher eingehen, in einer von 
der meinigen mannichfach abweichenden Weise geschildert, und dies 
hat darin seinen Grund, dass sie ohne eigene Erfahrung haupt¬ 
sächlich einzelne Beobachtungen zur Darstellung der Lehre benutzt 
haben. 

Die Zahl der Beobachtungen, welche in der erwähnten 
Dissertation aufgeführt sind, beträgt 21. Es sind die von Mor¬ 
gan 1 ), Wormald*), Travers jun. *), Baron'), Cummins 8 ), 
einer aus dem St. Georges Hospit. 6 ), eine von Barrier 1 ), Cha- 
veriot®) Lente"), Skey 10 ), Cadge“), zwei Fälle von mir 1 *), 
einer vonMütter 1 *), Deville 1 *), Glase. Symes“) und Old- 
know 18 ). Dies sind alles frische Fälle, darunter 5 (von Wor¬ 
mald, Baron, St. Georges Hosp., Cadge, Deville) in denen 
es zur Section kam. Ausserdem sind 4 Fälle verzeichnet, in 
denen Bildung einer neuen Pfanne Statt gehabt hatte und nur das 
Präparat bekannt ist. Es sind die von Loder 11 ), der älteste un¬ 
ter den bekannt gewordenen Fällen, wenn nicht ein Fall von Pal- 

1) Guy’s Hospit. Reports 1836. Vol. I. p. 97. 

2) Lond. medical Gazette 1837. p. 657. * 

3) Medico-Chirurg. Transact. Yol. XX. 1837. 

4) Gazette med. de Paris. 1838. Nr. 40. 

5) Guy’s Hospit Reports. 1838. Vol. III. Nr. VI. p. 163, auch in A. Coo- 
per, On fractures and dislocations of the joints. Ed. V. p. 101. 

6) The Lancet. 1840—41. Vol. H. p. 281. 

7) Gazette m4d. de Lyon. 1846. p. 278. 

8) Gazette des höpitaux 1847. 

9) New York Journ. 1850. November, p. 314. 

10) Operative Surgery. Philadelph. 1851. 

11) Med.-cbirurg. Transact. 1855. Vol. 38. 

12) 1855 und 1862, s. die Krankengeschichten am Ende dieses Aufsatzes. 

13) Schmidt’s Jahrbücher der gesammlen Medicin. Bd. 126. S. 210. 

14) Bulletin de la societ4 anatom. de Paris. Vol. 18. 

15) Dublin Journ. Vol. 38. p. 272. 1864. Novbr. 

16) Schmidt’s Jahrbücher der gesammten Medicin. Bd. 126. S. 210. 

17) Loder, Cbirurgisch-medicinischeBemerkungen. Weimar 1794.1. S. 176. 


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Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 


209 


letta') aus dem Jahre 1781 hierher gehört (wovon sogleich), ein 
Fall aus der Sammlung des Guy’s Hospitals in London, welchen 
A. Cooper mittheilt*), einer aus dem Bonner anatomisch-patho¬ 
logischen Institut, welcher, nachdem bis dahin nur eine kurze, 
nicht ganz richtige Notiz darüber gegeben war, zuerst in der er¬ 
wähnten Dissertation von meinem Sohne nach eigener Anschauung 
und Untersuchung richtig und genau beschrieben ist, endlich einer 
von Cru veil hier*). 

Zu diesen Beobachtungen habe ich nur wenige hinzuzufügen. 
Zuerst sind zwei unsichere Beobachtungen zu erwähnen, die oben 
angeführte von Palletta, wo die Reposition der Luxation ge¬ 
macht wurde, die Art dieser aber nicht mit Sicherheit angegeben 
ist, ferner eine von S. Cooper*), welcher die Luxation als 
äusserst selten anführt, sie aber nicht genau nach dem Stande des 
Gelenkkopfes, sondern durch die Rotation des Gliedes nach aussen 
und die Rückwärtswendung des grossen Trochanters bezeichnet; 
er erwähnt eines Falles, welcher nicht weiter beschrieben ist und 
wahrscheinlich der Praxis eines anderen Chirurgen (vielleicht 
Wormald) angehört. 

In der neuesten Literatur habe ich nur noch zwei Fälle von 
traumatischer Luxatio supracotyloidea vorgefunden, vou Si- 
stach*) und Reeve*,). In dem ersteren wurde die Luxation 
bei einem Kinde von 8 Jahren, 77 Tage nach ihrer Entstehung, 
unter Zerreissung von Adhäsionen eingerichtet. In dem von 
Reeve wurden 7 Tage lang Repositionsversuche von verschiede¬ 
nen Aerzten gemacht, ohne zum Ziele zu führen, wie es scheint, 
sehr gewaltsam, denn als der Verletzte 24 Stunden nach dem 
letzten Repositionsversuche an Collapsus gestorben war, fand man 
sehr ausgedehnte Zerreissungen der weichen Theile. Die Stellung 
des Gelenkkopfes ist nicht ganz klar zu ersehen, die Luxation 


1) Palletta, Exercicationes pathol. Mediol. 1870. p. 72. 

2) Guy’s Hospit. Reports 1836. Vol. I. p. 97. 

3) Bulletin de la soci4te anatom. de Paris. Vol. 18. 

4) Handbuch der Chirurgie. Bd. I. S. 555. Weimar 1819. 

5) Gazette med. de Paris 1869. Nr. 76. p. 364. Virchow’s Jahresbe¬ 
richt. Jahrg. IV. f. 1869. Bd. 2. S. 349. 

6) Aus Philadelphia med. and surg. Rep. 1868. 19. Decbr. p. 490, in 
Virchow’s Jahresber. III. f. 1868. Bd. 2. S. 386. 

v. Laugeubeck, Archiv 1. Chirurgie. XVI. J^ 


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210 


Dr. E. Blasius, 


wird als pubica aufgeführt, aber bei der Section wurde der 
Schenkelkopf, wenn dieser überhaupt sich noch an der Ursprung* 
liehen Luxationsstelle befand, über dem Rande des Beckens direct 
aufwärts gerichtet gefunden, fast in gleicher Linie mit der inne¬ 
ren Ecke des Acetabulum; er war zwischen dem Nervus cruralis 
und den Gefässen durchgetreten. Dieser Fall ist zu unklar, um 
ihn weiter zu verwerthen; über die Symptome beim Lebenden 
fehlt jede Angabe und die Section entscheidet wegen der Reposf- 
tionsversuche auch nichts. 


Die anatomischen Befunde bei derLuxatio supracotyloi- 
dea gehen in Betreff des Gelenkkopfes dahin, dass dieser immer 
gerade über der Pfanne gefanden wird, das ist das Charakteri¬ 
stische dieser Verrenkung; aber die Entfernung des ersteren von 
der letzteren ist verschieden. Der Kopf kann gerade an der un¬ 
teren Darmbeingräte stehen, in anderen Fällen ist er heraufge¬ 
rückt gegen die Spina anterior superior, so dass er sogar in der 
Incisura semilunaris steht. Die erstere Stellung ist die häufigere, 
in 12 Fällen gegen 4, in denen er zwischen der oberen und un¬ 
teren Gräte stand. Der Unterschied ist kein ganz scharfer, da 
es Uebergänge giebt, z. B. in dem Präparate, welches Cooper 
aus dem Guy’s Hospital beschreibt und wo die neue Pfanne ober¬ 
halb der alten durch die Spina inferior und den Körper des Os 
pubis gebildet wird, aber bis zur Spina superior hinaufreicht. — 
Der vordere Rand der unteren Gräte verhält sich, abgesehen von 
der Luxation, verschieden; er bildet bisweilen eine kleine Fläche, 
welche mit ihrem unteren bis zu 6 Linien breiten Theile in den 
Pfannenrand übergeht; meistens ist der Rand schmal und über 
der Pfanne etwas ausgehöhlt oder abgesetzt, an seiner äusseren 
Seite hinter dem Ansätze des M. rectus femoris aber eine kleine 
rauhe Fläche von ziemlich dreieckiger Gestalt befindlich. An die¬ 
sen verschiedenen Stellen ist bei der Luxation der Schenkelkopf 
gefunden worden, manchmal gerade auf dem vorderen Rande der 
Spina, am häufigsten an der äusseren Seite der Gräte, mehr oder 
weniger nach aussen und hinten. Das sind Unterschiede, welche 
zu wenig scharf sind, um weiter in Betracht zu kommen. Ist die 
Luxation in die Incisura semilunaris erfolgt, so liegt der Schenkel- 


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Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 


211 


hals in derselben zwischen den beiden Gräten und der Gelenk¬ 
kopf ragt nach der Bauchhöhle hin hervor. 

Je nach dem tieferen oder höheren Stande des Gelenkkopfes 
hat Malgaigne zwei Arten der Luxation unterschieden, die un¬ 
vollkommene und die vollkommene. Die Benennung unvollkom¬ 
mene Luxation ist allerdings nicht zutreffend, weil in allen Fällen 
der Gelenkkopf die Pfanne ganz verlassen hatte, so auch in dem 
von Baron als unvollkommene Luxation beschriebenen Falle, wo 
sich der Gelenkkopf auf dem äusseren Drittheile des oberen Pfan¬ 
nenrandes stützte. Abgesehen hiervon ist zwar der Unterschied 
anzuerkennen, aber er ist ein fliessender, und für die Praxis auch 
deshalb nicht wichtig, weil man, "ob der • Gelenkkopf über, unter 
oder auf der Spina inferior steht, wegen Dicke, Geschwulst etc. 
der überliegenden Weichgebilde, auch wegen Knochenwucherung 
in veralteten Fällen, wie dem von Travers, nicht immer durch¬ 
zufühlen im Stande ist und weil auch die geringere oder stärkere 
Verkürzung des Gliedes einen bestimmten Anhalt nicht giebt (wo¬ 
von später). 

Eine Abbrechung oder Abreissnng von Knochen- oder Knor¬ 
pelstücken des Pfannenrandes ist bei Luxationen Lebender nicht 
nachgewiesen; es ist aber bekannt, dass statt der Zerreissung 
starker Ligamente, wie das Ligamentum ileofemorale ist, häufig 
eine Abreissnng derselben nebst einem Stück des Knochens, 
woran sie sich befestigen, erfolgt und bei Leichenexperimenten 
über Luxatio femoris hat man auch solche Abreissungen von 
Knochenstücken in der That beobachtet, so in dem nachher zu 
erwähnenden Experiment von Bonnet, welches zu einer Luxatio 
supracotyloidea führte. In meiner ersten Beobachtung musste aus 
den Erscheinungen bei der lebenden Person die Abtrennung eines 
Knochenstückes mit grösster Wahrscheinlichkeit angenommen 
werden. 

Die Gelenkkapsel fand man in denjenigen frischen Fällen, in 
denen die Section gemacht und der Zustand der Kapsel berück¬ 
sichtigt wurde, immer am oberen Theil zerrissen, so in dem Fall 
des St. Georgs-Hospitals und in dem von Deville. In Baron’s 
Fall war die Kapsel am ganzen oberen und unteren Umfange 
ganz nahe am Pfannenrande zerrissen und zerquetscht, während 
der untere Theil der Kapsel über die Pfanne gespannt war. Letz- 

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212 


Dr. E. Bl asius, 


teres verhielt sich in Deville’s Fall eben so, wogegen die Kapsel 
nur oben zerrissen war. 

Ueber den Zustand der Kapselbänder enthalten die Sections- 
berichte fast gar keine nähere Angaben, nur das Bonner Präparat 
von Pfannenneubildung giebt sichere Auskunft dahin, dass das Li¬ 
gamentum ileofemorale, über den Gelenkkopf ausgespannt, einen 
Theil der neuen Pfanne bilden half. Dass dieses sehr starke Band 
bei der Verrenkung ab- oder zerreissen könne, daran lässt sich nicht 
zweifeln, da in manchen Fällen die Kapsel rund herum abgerissen 
gefunden wurde, so in dem erwähnten Falle von Reeve; dass 
aber das Band wirklich zerrissen worden, darf man, wo es nicht 
bestimmt nachgewiesen und angegeben ist, seiner sehr bedeuten¬ 
den Stärke wegen nicht ohne grosse Vorsicht annehmen, und 
wenn es heisst, dass der obere Theil der Gelenkkapsel zerrissen 
war, so darf man daraus nicht auf gleichzeitige Zerreissung des 
betr. Ligaments schliessen. Nur bei Baron’s Fall ist dasselbe 
wohl jedenfalls als zerrissen zu betrachten; doch ist die Art der 
Zerreissung zweifelhaft. Die Kapsel war, wie bemerkt, am gan¬ 
zen oberen und inneren Umfange zerrissen und dadurch war auf 
Kosten ihrer vorderen und äusseren oberen Partie eine breite un¬ 
regelmässige Oeffnung entstanden, welche eine schiefe Richtung 
von aussen und oben nach unten und innen hatte und durch 
welche der Kopf hindurchgetreten war. Von dem oberen Theile 
der Kapsel war nur ein Lappen von wenigen Linien Breite un¬ 
zerrissen, und nach innen war eine 1 Zoll lange Kapselpartie, 
nach aussen eine von 3 — 4 Linien Breite stehen geblieben. 
Der Gelenkkopf war durch eine von den straffen inneren und 
äusseren Rändern der Oeffnung gebildete Art von Schlinge an 
den oberen Pfannenrand angedrückt. Die Frage ist nun diese, 
ob das Ligament quer durchrissen, oder ob, w as mir wahrschein¬ 
licher ist, der Gelenkkopf zwischen den beiden Portionen desselben 
durch die sie verbindende schwächere, übrigens immer noch starke 
Zwischenmasse durchgedrungen war, so einen Spalt erzeugt hatte 
und die Schlinge von dem vorderen und dem oberen Theil des 
Ligaments gebildet wurde. Wie dem auch sein mag, so gehört 
zu solcher Zerreissung eine äusserst gewaltsame Einwirkung und 
diese hatte bei dem betreffenden Menschen stattgefunden, in¬ 
dem derselbe von einer Maschine achtmal herum- und viermal 

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LTeber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 213 

durch eioe OefFnung von 20 Quadratzoll hindurch gerissen wor¬ 
den war. 

In anderen Fällen muss man annehmen, dass der Kapsel riss 
hinter dem Ligamentum ileofemorale Statt gefunden hat, denn 
dieses Band ist von der vorderen unteren Gräte bis zum oberen 
Pfannenrande angeheftet, und wenn die Kapsel vor ihm zerrisse, 
würde der Gelenkkopf durch den Riss auf das Schambein ge¬ 
langen, also nicht eine Luxatio supracotyloidea, sondern eine pu¬ 
bica entstehen. 

Das Ligamentum teres wurde abgerissen gefunden (Cadgo 
und St. Georges -Hospital), doch nicht in allen Fällen. In 
Baron’s Fall war dasselbe nur in seiner hinteren Hälfte zerris¬ 
sen, also in demjenigen Theile, welcher der Bewegung des 
Schenkelkopfes nach oben, der Adduction und bei flectirtem 
Beine der Rotation desselben nach aussen entgegensteht, also Be¬ 
wegungen, welche für die Enstehung unserer Luxation in Betracht 
kommen (wovon nachher). 

In dem Falle von Wormald wurde das Band zwar 
verlängert und abgeplattet gefunden, war aber sonst unverletzt, 
doch ist zu bemerken, dass erst 26 Jahre nach der Verletzung, 
wo sich eine neue Pfanne gebildet batte, die anatomische Unter¬ 
suchung Statf hatte, und dass nach vorliegenden Beobachtungen 
das abgerissene Ligament in einer neuen Pfanne wieder eine Ad¬ 
häsion gewinnen kann, vielleicht also auch in der alten, oder 
wenn es vom Gelenkkopf abgetrennt war, wieder an diesem. 

An den um das Schenkelgelenk gelegenen Muskeln war der 
Befund sehr unbeständig, am öfteren waren die Rotatoren und 
die Glutaei betheiligt. Der Glutaeus medius und minimus wurden 
eingeriesen gefunden, in Baron’s Fall durch den unter ihren vor¬ 
deren Rand gedrängten Gelenkkopf; in dem vom St. Georges-Ho¬ 
spital bestand an diesen Muskeln ein ansehnlicher Querriss und 
in Cadge’s Fall war der Glutaeus minimus sehr gespannt, wäh¬ 
rend der Gl. maximus erschlafft war. Von den Rotatoren fand 
Wormald den Obturator externus vom Schenkel abgerissen und 
in fettiger Entartung begriffen; die Gemelli und der Quadratus 
femoris waren in dem Präparate des St. Georges-Hospitals ein_e- 
rissen, ebenso bei Baron der Quadratus ein- und der Gemeiius 
inferior vom Trochanter abgerissen. Cadge fand, dass der M. 


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214 


Dr. E. Blasius, 


rectus femoris abgerissen gewesen, an die neue Pfanne aber wie. 
der angewachsen war. Eben dieser Muskel bedeckte in De- 
ville’s Fall den Schenkelkopf; bei Cadge war über letzerem der 
M. sartorius hingespannt. In Baron’s Fall, wo die meisten 
Angaben über die Muskulatur gemacht werden, lag der M. recfüs 
vor, der Tensor fasciae latae hinter dem grossen Trochanter, 
beide als straffe Stiänge, die vorderen Schenkelmuskeln wurden 
schlaff, die inneren dagegen gezerrt und mit Eccbymosen durch¬ 
setzt angetroffen. Vom lleopsoas waren Fasern, die sich auf die 
Kapsel erstreckten, mit dieser abgerissen, welche in diesem Falle 
allerdings eine ungewöhnlich starke Zerreissung erlitten hatte. — 
Das allgemeine Resultat ist, dass theils durch den gegengedräng¬ 
ten Schenkelkopf, theils durch heftige Rotation des Gliedes ein¬ 
zelne Muskeln zerrissen und eingerissen, auch von ihrer Insertion 
abgerissen wurden. Wormald giebt an, dass, abgesehen von der 
Abreissung des Obturator externus, alle Muskeln normal waren; 
ganz unverletzt war die Muskulatur in keinem der zur Section 
gekommenen Fälle. 

Von den Gefässen liegen die grossen Vasa cruralia ganz 
ausser dem Bereich der Verletzung und sind auch in keinem 
Falle beschädigt oder verschoben gefunden worden. Kleinere Ge- 
fässe werden durch die Zerreissung, Zerrung und Quetschung der 
Gewebe bei der Ausrenkung durch den Gelenkkopf und durch die 
äussere Gewalt begreiflicher Weise vielfach zerrissen und können zu 
ansehnlichen Blutergüssen Veranlassung werden. So war in meinem 
ersten Falle eine starke Ecchymose an der hinteren, besonders 
aber an der äusseren Seite des Oberschenkels vorhanden, die 
sich von der Darmbeingegend bis zur Kniekehle heraberstreckte, 
nahe unter dem Trochanter am bedeutendsten war und wesent¬ 
lich zu der vorhandenen starken Anschwellung der Weichgebilde 
beitrug. Baron fand auch einen starken Bluterguss in dem sub- 
cutanen Zellgewebe an der hinteren Seite, ausserdem zwischen 
dem M. glutaeus maximus und medius und unter der Fascia bis 
zum unteren Dritttheil des Schenkels herab. Dass auch Blut¬ 
ergiessungen in den zerrissenen und gequetschten Muskeln Vor¬ 
kommen, ist beiläufig erwähnt. 

Auch der Nervus cruralis bleibt bei der Verletzung unberührt 
und nur Cadge giebt an, dass derselbe bei der Bildung einer 

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Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 215 

neuen Pfanne an deren innerer Seite einen Bogen gemacht 
habe. 

Wenn die Verrenkung nicht eingerichtet wird, so bil¬ 
det sich wie bei anderen Schenkelverrenknngen ein neues Gelenk, 
und solches zu untersuchen, boten sechs von den Eingangs ange¬ 
führten Beobachtungen die Gelegenheit (Loder, Wormald, 
Cruveilhier, Cadge, Guy’s Hospital Museum, Bonner Samm¬ 
lung). Meistens wurde die Nearthrose in einer sehr vollkomme¬ 
nen Weise gefunden, so namentlich an dem Präparat der anato¬ 
misch-pathologischen Sammlung in Bonn, an welchem die Gelenk¬ 
höhle in mehr als balbkugliger Gestalt den Gelenkkopf vollkom¬ 
men amfasste. Die Stelle, wo sich die neue Articulation befand, 
ergiebt sich aus dem früher Gesagten; dieselbe wurde aber von 
der zur Bildung der neuen Pfanne abgesetzten Knochenmasse 
manchmal bedeutend überragt. So erstreckt sich in dem Präpa¬ 
rat des Guy’s Hospital Museum die neue Pfanne von oberhalb der 
alten bis zur oberen Darmbeingräte hinauf und in dem Fall von 
Travers (Cadge) ging die Knochenwucherung über den Becken¬ 
rand nach hinten und innen und über die Vasa iliaca fort, so dass 
sie nach vorn den Raum zwischen der vorderen unteren Darmbein¬ 
gräte und dem Schambeinstachel ziemlich ganz ausfüllte. An 
dem Bonner Präparat sitzt die neue Pfanne nestartig an der Stelle 
der vorderen unteren Gräte und ragt nach aussen, innen, oben 
und vorn stark hervor. — Die neue Formation verhielt sich im 
Wesentlichen wie bei den anderen veralteten Schenkelluxationen, 
und das neue Gelenk wird von den zerrissenen und verschobenen 
Theilen des alten unter Hinzutritt von neu abgesetzten Stoffen, 
Knochenwucherungen, Adhäsionen etc. hergestellt. Namentlich tra¬ 
gen zur Bildung der neuen Pfanne die das Gelenk jetzt um¬ 
gebenden Weichgebilde wesentlich bei, so das Ligamentum ileofe- 
roorale in dem Bonner Präparat. Für die Herstellung der neuen 
Pfanne kann auch (der Behauptung neuerer Schriftsteller ent¬ 
gegen) eine Absorption des Darmbeins an der betreffenden Stelle 
in Betracht kommen, so giebt Cadge an, dass der Darmbein¬ 
rand ausgehöblt war und in Loder’s Präparat ist die Spina in¬ 
ferior gänzlich absorbirt. 


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216 


Dr. E. Blasius, 


Ueber die Ursachen der Schenkelverrenkungen, auch der 
uns jetzt beschäftigenden, erfahren wir in der Regel von den Be¬ 
schädigten viel zu wenig für eine Aufklärung, w-ie die Verletzung 
entstanden. Um über die Richtung und Bewegung der Extremi¬ 
tät im Moment der Ausrenkung Auskunft zu geben, sind die be¬ 
treffenden Personen von dem Unfälle gewöhnlich viel zu sehr 
überrascht worden. Man ist deshalb in der Aetiologie dieser Lu¬ 
xationen zurückgegangen theils auf theoretische Ansichten, welche 
sich hauptsächlich auf die normale Anatomie des Schenkelgelenks 
stützen, theils auf die Ergebnisse der pathologischen Anatomie, 
theils auf Leichenexperimente. Es ist eine ältere Hypothese, dass 
alle Schenkelverrenkungen primär nach unten und innen Statt 
haben, indem man die Incisura acetabuli als die vorzugsweise 
oder allein für die Ausweichung des Gelenkkopfes geeignete Stelle 
ansah; die Stellung des Gelenkkopfes an jeder anderen Luxations¬ 
stelle sah man daher als secundär oder tertiär an. Behrend, 
der in seinem, übrigens äusserst fleissigen und nutzbaren Buch*) 
von jener Hypothese ausgehend, alle Arten der Schenkelluxatio¬ 
nen systematisirend darzustellen sucht, erklärt die Luxatio supra- 
cotyloidea für eine tertiäre Stellung und meint, sie sei offenbar 
nur ein höherer Grad der Luxatio pubica, indem der Gelenkkopf 
über die Eminentia ileopectinea hinüber etwas mehr nach hinten 
und höher hinauf getreten sei. Auch andere Autoren sehen sie 
nnr als eine Abart der Luxatio pubica an, von welcher die frü¬ 
heren Chirurgen sie gar nicht unterschieden. Wenn diese Ansicht 
richtig wäre, so müsste in allen Fällen das Ligam. ileo-femorale 
zerrissen gefunden worden sein, welches die Wanderung des Schen¬ 
kelkopfes von dem horizontalen Schambeinaste an oder hinter und 
über die vordere untere Darmbeingräte geradezu verhindert. Da¬ 
von die Ueberzeugung zu gewinnen ist man leicht im Stande, 
wenn man gute Präparate des genannten Ligaments betrachtet, 
wie ich sie durch die Güte meines Herrn Collegen W T elcker zu 
benutzen im Stande war. Was auf jene Weise allenfalls secun¬ 
där entstehen kann, das ist die Luxatio ileopubica, welche aber 
von der L. supracotyloidea wohl unterschieden werden muss. 


*) Ikonographische Darstellung der Beinbruche und Verrenkungen. Leipzig 
1845. fol. S. 114. 


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Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 


217 


Wenn die Luxation secnndär ans einer andern entstanden 
sein soll, was man als möglich immerhin zngeben mnss, so kann 
dies nnr ans einer Luxation nach hinten geschehen. In einem 
Falle von Lente ging eine Luxatio ischiadica bei einem Reductions- 
versuch in die L. supracotyloidea über. Eine viel grössere nach¬ 
barliche Verwandtschaft besteht aber zwischen der L. iliaca und 
der supracotyloidea und dies wird auch durch zwei Beobachtungen 
bei Reductionsversuchen dargetban. Die eine ist von Symes, 
welcher bei einem Einrichtungsversuch in flectirter Lage des Glie¬ 
des die L. supracotyloidea in eine iliaca übergehen fand, aus 
welcher der Gelenkkopf allmälig von selbst in die supracotyloide 
Stellung zurückging. Die zweite Beobachtung bietet mein erster 
Fall, in welchem bei dem zweiten Repositionsversuch, ebenfalls 
unter Flexion des Schenkels, der Gelenkkopf auf die äussere 
Fläche des Darmbeins auswich, aus dieser Stellung aber durch 
einen neuen Einrichtungsversuch leicht in die ursprüngliche zurück¬ 
geführt wurde. In diesen Fällen war also die secundäre Stellung 
nur eine vorübergehende. Roser glaubt, dass die L. supracoty¬ 
loidea eine secundäre sei, sich aus der Luxatio iliaca bilde, und 
nur eine Modification dieser sei, durch Rotation des Beines nach 
aussen erzeugt. Er stützt sich dabei auf ein Leichenexperiment, 
wovon nachher. Dass ein solcher Uebergang eintreten kann, be¬ 
greift sich aus den nicht seltenen Beobachtungen über Umwand¬ 
lung einer Luxationsstellung bei Repositionsversuchen; sein Vor¬ 
kommen ist aber thatsächlich noch nicht dargethan, vielmehr 
muss man nach der Art, wie man bisher bei Sectionen den Kapsel¬ 
riss gefunden hat, annehmen, dass die Verrenkung geraden Weges 
nach aufwärts stattgehabt hat, dass also die Stellung des Gelenk¬ 
kopfes eine primäre war. 

Es bleibt aber noch die Frage, ob nicht in einer Anzahl von 
Fällen die L. supracotyloidea die primäre gewesen, und aus dieser 
secnndär eine iliaca entstanden sei, welche Dauer und Festigkeit 
gewann. Denn es gehören jedenfalls sehr fest begrenzte Bedin¬ 
gungen dazu, wenn der Schenkelkopf auf der kleinen schmalen 
Stelle der Darmbeingräthe verbleiben und nicht auf die hintere 
Fläche des Darmbeins hinüber rutschen soll, wozu er bei Flexion 
des Schenkels geneigt ist, wie aus dem Gesagten hervorgeht. 
Ueber die Art, wie der Schenkelkopf bei einer solchen secundären 

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Original frum 

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218 


Dr. E. Blasius, 


Luxatio iliaca hier fixirt würde, fehlt ein empirischer Nach¬ 
weis; wenn aber obige Frage auf Grund von Beobachtungen be¬ 
jaht werden könnte, so würde das vielleicht als ein Grund für 
die Seltenheit unserer Luxation anzusehen sein. Das verhält sich 
ähnlich, wie bei der L. infracotyloidea, deren grosse Seltenheit 
vielleicht auch einen Hauptgrund darin hat, dass der Kopf von 
dem schmalen Raume, auf dem er bei jener steht, sehr leicht 
nach der einen oder anderen Richtung abweicht und dass so se- 
cundär eine andere Luxationsart entsteht. Dass dies hier vor¬ 
kommt, darüber kann kein Zweifel obwalten. Ich reponirte eine 
Luxatio iliaca nach der von meinem Lehrer Kluge erlernten Me¬ 
thode durch Flexion und Adduction mit darauf folgender Abduc- 
tion und Rotation nach aussen (jetzt nach verschiedenen Chirurgen 
benamt) und es gelangte dadurch der Kopf bis gerade unter die 
Pfanne, wo er sich zunächst feststellte ; als ich darauf das gerade 
nach vorn gerichtete Knie auf das Lager, auf dem sich der Ver¬ 
letzte befand, gerade herabdrückte (in Extension versetzte), ging 
der Schenkelkopf gerade aufwärts in die Pfanne und die Reduc- 
tion war vollendet. Hier war der Kapselriss jedenfalls am untern 
Umfange des Acetabulum und die Luxation war primär in der 
Richtung der L. infracotyloidea erfolgt. 

Leichenexperiraente, direct zur Aufklärung der Entstehungs¬ 
weise der Luxatio supracotyloidea unternommen, sind mir von 
Andern nicht bekannt. Bonnet*) brachte aber bei einer Leiche 
durch eine sehr starke Rotation des Schenkels nach aussen eine 
Verrenkung hervor, bei welcher nach Ausweis der Section der 
Gelenkkopf hinter und über dem Rande des Acetabulum, unmittel¬ 
bar . nach aussen von der vordem untern Darmbeingräte stand 
und von dem Pfannenrande unter der genannten Gräte ein Stück 
abgerissen, die Kapsel aber an ihrer äussern und hintern Seite 
abgetrennt war. Dies dürfte allerdings eine Luxatio supracoty¬ 
loidea gewesen sein; Bonnet nennt sie eine Luxation nach aussen 
und oben und findet sie so eigenthümlich, dass er sie auch in 
ihren Symptomen ausführlich beschreibt. Das Hüftgelenk war 
bei dem Versuch extendirt gehalten worden; machte man die Ro- 


*) Traite des malad, des articulations. T. II. p. 345. 


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Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 


219 


tation nach aussen bei halber Flexion des Gliedes, so erfolgte, wie 
Bonne t angiebt, gar keine Luxation. 

Roser*) erzeugte an der Leiche eine Luxatio iliaca, indem 
er die Kapsel neben und über der Sehne des M. pyriformis 
hin einschnitt, sie auch vom hinteren unteren Theile des Schenkel¬ 
halses etwas abtrennte, und konnte nun unter Rotation des Glie¬ 
des nach aussen, den Gelenkkopf leicht in die Gegend neben der 
vorderen unteren Darmbeingräte bringen. Dieser Versuch ent¬ 
scheidet in ätiologischer Hinsicht weiter nichts, da dem Gelenk¬ 
kopfe durch den Kapselschnitt ein bestimmter Weg angewiesen 
war, welchen er bei zufälliger Gewalteinwirkung zwar möglicher 
Weise nehmen kann, der vielleicht aber auch ein ganz anderer sein 
wird. — Die sehr beachtenswerten Versuche von Gelle**) ent¬ 
halten für unseren Gegenstand nichts Brauchbares. Was er näm¬ 
lich als Folge des Kapselrisses am oberen Pfannenrande angiebt, 
geht dahin, dass sieb der Gelenkkopf über den genannten Pfannen¬ 
rand stellt und die oberste Stelle der Fossa iliaca einnimmt oder 
auf die äusserste Partie des Schambeins rückt. Das Letztere 
würde nicht als eine Lux. supracotyloidea, sondern als eine L. 
ileopectinea zu betrachten sein; die erstere Stellung weiss ich 
nach unserem Begriff von der Fossa iliaca unter eine der ange¬ 
nommenen Luxationsarten nicht unterzuordnen. 

Mir ist es an der Leiche nicht ohne Weiteres gelungen, eine 
Luxation dadurch hervorzubringen, dass ich die Extremität in 
Hyperextension, starke Adduction und Rotation nach aussen ver¬ 
setzte, auch nicht durch Dotation nach innen. Wenn dagegen 
durch einen Längsschnitt an der äusseren Seite des M. sartorius 
das Gelenk blossgelegt, dann eröffnet und die Kapsel am obern und 
hintern Theil quer gespalten wurde, wobei das Lig. ileofemorale 
allerdings nicht ganz unverletzt blieb, so gelang durch die ange¬ 
gebene Bewegung des Gliedes die Luxation ohne Schwierigkeit, 
indem sich der Gelenkkopf an die äussere Seite der Spina ante¬ 
rior inferior stellte. Dass die Luxation nicht ohne Zerschneidung 


*) Archiv für physiologische Heilkunde. Jahrg. 1857. S. 61. 

**) Ueber die Rolle des Kapselrisses bei der Reduction frischer traumati¬ 
scher Verrenkungen im Hüftgelenk; in den Archives generales. 5. Serie XVII. 
p. 443, 605. Avril-Mai 1861. Schmidt’s Jahrb. d. Med. Bd. 114. S. 218ff.' 


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Dr. E. Blasius, 


der Kapsel gelang, schien daran zu liegen, dass die Leiche bei 
dem Versuche auf die Seite gelegt werden musste, um den Be¬ 
wegungen de3 Gliedes Raum zu geben, und dass sie in dieser 
Lage nicht sicher genug fixirt werden konnte, und es deshalb 
nicht gelang, die Bewegungen plötzlich und kräftig genug aus- 
zuföhren. 

Fragt man nun, bei welcher Richtung und Bewegung der 
Extremität die supracotyloide Ausreckung zu Stande kommt, so 
muss man jedenfalls annehmen, dass dies bei einer sehr starken 
Extension (Hyperextension) des Schenkels und einer Adduction 
desselben geschieht; dadurch kommt der Gelenkkopf an den Theil 
der Pfanne, an welchem die Zerreissung der Gelenkkapsel erfolgte. 
Eine gewaltsame Extension für sich hatte in Bonnet’s Leichen¬ 
versuchen eine Eröffnung der Kapsel der Länge nach an ihrem 
vorderen Theil zur Folge. Ob zur Bewirkung der Kapselzer- 
reissung, wie man sie bei L. supracotyloidea gefunden hat, noch 
eine Rotation des Gliedes kommen muss, und ob eine Rotation 
nach innen oder nach aussen, das ist zweifelhaft. Als ein con- 
stantes Zeichen der Lux. supracotyloidea ist die Auswärtswen¬ 
dung der Extremität zu betrachten und man hat daraus geschlossen, 
dass diese Rotation für die Ausrenkung concurriren müsse, indessen 
kann nach erfolgter Ausrenkung der Gelenkkopf auf der schmalen 
Fläche, worauf er gestellt ist, leicht eine Wendung nach vorn 
nehmen, der Fuss sich also nach aussen drehen. Erfolgt eine 
stärkere Rotation der Extremität nach innen, dreht sich also der 
Kopf nach aussen, so wird dieser nach hinten, auf die äussere 
Darmbeinfläche ausrutschen, besonders wenn dabei eine Flexions¬ 
bewegung des Gliedes eintritt, es wird also eine Luxatio iliaca 
die Folge sein, wie das bei Repositionsversuchen wirklich der 
Fall gewesen ist. Auch das hat man für die Concurrenz einer 
Auswärtsrollung der Extremität angeführt, dass man die inneren 
• Schenkelmuskeln bei der Leichenuntersuchung gezerrt und ecchy- 
mosirt gefunden hat. Andererseits würde man aus dem Umstande, 
dass die Rotatoren an der hintern Seite des grossen Trochanters 
zerrissen gefunden worden sind, schliessen können, dass eine Ein¬ 
wärtsrollung bei der Ausrenkung concurrirt, und auch die Zer¬ 
reissung und Quetschung der kleineren Glutaeen Messe annehmen, 
dass der Schenkelkopf an ihnen und über sie hingegangen ist. — 

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Ueber die traumatische Lusatio femoris supracotyloidea. 


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Man wird indessen ans diesen Mnskelzerreissnngen nicht allzuviel 
schlossen dürfen, da sie unter sehr entgegengesetzten Einwirkun¬ 
gen beobachtet wurden. Bon net fand bei seinen Leichenver- 
suchen nach einer sehr starken Rotation des Schenkels nach aussen 
den M. glutaeus medius und minimus, den pyriformis, die gemelli, 
den obturator internus und den quadratus (ohne Luxation) zer¬ 
rissen; der Schenkel befand sich bei diesem Versuche in halber 
Flexion, wobei jene Muskeln allerdings stärker gespannt sind, 
als in extendirter oder gar hyperextendirter Lage des Gliedes. 
Es kamen indessen diese Muskelzerreissungen auch bei Rotation 
in extendirter Lage des Gliedes vor, ebenso neben einer Luxatio 
ischiadica in Folge forcirter Rotation nach innen.. Ferner sah 
Bonn et bei einer Leiche nach forcirter Adduction in flectirter 
Lage den Glutaeus maximus und medius (nicht den minimus), 
die Mm. gemelli, den pyriformis, den obturator internus und einige 
Fasern des quadratus zerrissen, wobei die Kapsel unten und 
aussen vom Acetabulum abgerissen war. Endlich traf A. Cooper 
bei einer am Lebenden erfolgten Luxation nach hinten den M. 
pyriformis, die gemelli, die obturatores und den quadratus zerrissen 
an, und Billard fand bei einer auch am Lebenden entstandenen 
Luxation nach unten die Mm gemelli, den glutaeus maximus und 
medius zerrissen. 

Dass Hyperextension für die Entstehung unserer Luxation 
iu Anschlag kommt, das ergiebt sich aus einzelnen Beobachtungen. 
Oldknow’s Patient erlitt die Luxation dadurch, dass ihn der 
Sessel einer Schaukel in den Rücken schlug und ihn niederwarf; 
Morgan’s Patient fiel rückwärts die Treppe herab, wobei ein 
schwerer Korb auf die Weiche traf. Meine eine Patientin (siehe 
Krankengeschichte 2.) fiel mit einem schweren Korbe auf einer 
Treppe rücklings und nach der linken (der Luxations-) Seite nieder. 
Inwiefern Adduction des Beines und Rotation desselben nach aussen 
oder innen bei der Entstehung der Verrenkung statt fanden, geht 
aus den einzelnen Beobachtungen nicht hervor. — Was Streubel*) 
gegen die Entstehung durch Hyperextension einwendet, dass näm¬ 
lich in einem Leichenexperiment von Roser nach Einschneidung 
der Kapsel unter der Psoassehne der Gelenk köpf durch Hyperex- 


*) Schmidt’s Jahrbücher d. Med. Bd. 12G. S. 210. 


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Dr. £. Blasius, 


tension in die Fossa ileopectinea luxirt wurde, ist deshalb nicht 
zutreffend, weil bei unserer Luxation jedenfalls die Hyperextension 
allein nicht die hinreichende Veranlassung ist. Es muss mit ihr 
die Adduction des Gliedes Zusammenwirken, durch welche der 
Gelenkkopf mehr gegen die hintere Hälfte des obein Pfannen¬ 
randes hingeführt wird, und höchst wahrscheinlich kommt ein 
drittes Gausalmoment in der Rotation des Gliedes hinzu. Man 
wird vielleicht annebmen dürfen, dass sowohl die Rotation nach 
innen, wie die nach aussen für die Entstehung der Verrenkung 
concurriren könne, da durch beide Bewegungen während der Hy¬ 
perextension und Adduction der Gelenkkopf stärker gegen den 
oberen Theil ..der Kapsel gedrängt wird, am meisten allerdings 
bei der Rotation nach innen, wo sich der Schenkelhals nnd der 
angrenzende Theil des Schenkelknochens gegen den innern untern 
Pfannenrand und das Sitzbein legt nnd den Kopf aushebeln Jiilft. 

Die charakteristischen Zeichen der Luxatio supracoty- 
loidea, anderen Luxationsarten gegenüber, bestehen in dem an 
der vorderen Darmbeingräte fühlbaren Gelenkkopf, der Verkür¬ 
zung der Extremität, der Auswärtswendung und der Adduction 
derselben und in gewissen Veränderungen an den weichen Theilen. 
— Die Wahrnehmung des Gelenkkopfs gerade über der Pfanne, 
tiefer oder höher bis zur Incisur zwischen beiden Darmbeingrä¬ 
ten hinauf ist in den meisten Fällen für das Betasten deutlich 
gewesen und wird bei Bewegungen der Extremität deutlicher. 
Sie kann durch Geschwulst der bedeckenden Weichgebilde, auch 
bei inveterirter Luxation durch Knochenneubildung undeutlich ge¬ 
macht werden, alsdann würde nach den übrigen Symptomen nur 
die Luxatio pubica in Anfrage kommen, bei dieser aber der Ge¬ 
lenkkopf über dem horizontalen Schambeinaste fühlbar sein müssen. 
Auch für die Unterscheidung von der Fractura colli femoris, mit 
welcher unsere Luxation viele Aehnlichkeit hat, ist die Wahr¬ 
nehmung des Gelenkkopfes von entscheidender Wichtigkeit. Den 
grossen Trochanter fühlt man hinter dem Gelenkkopf meistens 
deutlich und mehr nach hinten gewandt und dem Darmbeinkamme 
näher. In Travers’ Fall, wo der Schenkelhals in der Incisura 
semilunaris lag, fühlte man den Trochanter gleich nach aussen 
und unten von der Spina ilei superior, und derselben auch genähert, 

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Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 


223 


was überall, wo jene Stellung des Gelenkkopfes Statt hat, der 
Fall sein muss, wogegen der ^Trochanter, wenn der Kopf an der 
Spina inferior steht, wegen seiner RQckwärtswendung von der 
Spina superior entfernter ist, als an der gesunden Seite. 

Die adducirte Stellung der Extremität wird in der Mehrzahl 
der Fälle angegeben; wo sie nicht angemerkt ist, fragt es sich, 
ob nicht die vordere obere Darmbeingräte höher als auf der an¬ 
dern Seite stand, und durch diese Verschiebung des Beckens die 
Adduction verdeckt wurde. Darüber enthalten die Beobachtungen 
fast aller Autoren gar nichts. Wenn Malgaigne und Hamilton 
eine geringe Abduction des Schenkels als Symptom angeben, so 
spricht dafür auch nicht eine einzige entscheidende Beobachtung. 
In Sistach’s Fall wird allerdings eine scheinbare Verlängerung 
der Extremität um 1 Centini. angegeben und diese muss wohl 
als von einer geringen Abduction abhängig betrachtet werden, 
doch war die Luxation 77 Tage alt und die Stellung des Beines 
wohl nicht mehr die ursprüngliche. Die Angabe Wormald’s, 
dass der verrenkte Schenkel vom andern etwas entfernt gewesen 
sei, lässt nicht ohne Weiteres auf das Vorhandensein einer Abduc¬ 
tion schliessen, sondern ebensowohl sich auf die nachher zu er¬ 
wähnende Aushöhlung der innern Schenkelseite deuten. 

Verkürzung der Extremität ist constant, ihr Grad wechselt 
natürlich, je nachdem der Gelenkkopf mehr oder minder herauf 
gerückt ist. Sie wird von den Autoren von 4—5 Linien (Baron) 
bis zu 3 Zoll (Cummins) angegeben, doch ist in dieser Bezie¬ 
hung zu bemerken, dass die wirkliche Verkürzung von der durch 
die Adduction des Beines und die damit verbundene Verschiebung 
des Beckens bewirkten scheinbaren keinesweges immer gehörig 
unterschieden worden ist. Sistach, der diese Unterscheidung 
macht, fand eine wirkliche Verkürzung von 2 Centim.; in meinen 
beiden Fällen betrug die wirkliche Verkürzung etwa einen halben 
Zoll, die scheinbare, welche sich nach dem Grade der Adduction 
richtet, etwa das Doppelte. Wenn die wirkliche Verkürzung nicht 
stärker ist, so muss der Gelenkkopf, dessen Durchmesser in der 
Verticallinie beim erwachsenen Manne durchschnittlich etwa \\ 
Zoll (46,3 Mm.) beträgt, zwar ausserhalb des Acetabulum, aber 
theilweise noch vor (neben) demselben liegen. Die Entfernung 
der vordem obern Darmbeingräte von dem oberen Pfannenrande 


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Dr. E. Blasius, 


beträgt etwa Zoll, es kann also, wenn der Gelenkkopf auch in 
die Incisnr zwischen den beiden Gräten getreten ist und nach 
der Bauchhöhle vorragt, die wirkliche Verkürzung kaum 3 Zoll 
betragen, wie sie Cummins für seinen Fall angiebt. Anderer¬ 
seits muss in dem Fall von Symes, wo der Schenkelkopf 2 Zoll 
unter der vordem obern Darmbeingräte gefühlt wurde, und die 
Verkürzung 2 Zoll betrug, der grössere Theil dieser eine schein¬ 
bare gewesen sein. Wenn der Schenkelkopf an der Spina inferior 
steht, so wird die wirkliche Verkürzung nicht mehr als 1 Zoll 
betragen können; steht er an der oberen Gräte, so betrug die 
Verkürzung bei Cadge 1|, bei Lente 2 Zoll, und dies muss 
nacli Messungen am Skelet wohl als die stärkste wirkliche Ver¬ 
kürzung angesehen werden. 

In Betreff der Rotation sind alle Beobachtungen übereinstim¬ 
mend, dass die Extremität nach aussen gerollt ist, selbst so sehr, 
dass die innere Seite derselben nach vorn gewandt, ja die Fuss- 
spitze sogar fast nach hinten gerichtet ist (Morgan). Nur in 
der übrigens sehr unsichern Beobachtung von Skey wird ange¬ 
geben, dass das Bein weder nach innen, noch nach aussen rotirt 
gewesen sei. — In dieser Rotation liegt ein unterscheidendes 
Zeichen von der Luxatio iliaca, andrerseits aber die Aehnlichkeit 
mit der Fractura colli femoris. 

Ob der Schenkel flectirt oder extendirt, darüber fehlen theils 
die Angaben, theils ist das Eine oder das Andere angemerkt. 
Meistens war volle Extension vorhanden (Barrier, Morgan, 
meine Fälle, Si stach); eine Flexion war immer nur gering, so 
bei Baron, wo der Kopf an der vordem untern Gräte stand. 
An dem Bonner Präparat allein ist eine starke Flexion vorhanden, 
doch kann sie für die Symptomatologie der frischen Verrenkung 
nicht massgebend sein, bei welcher eine starke Flexion wohl den 
Uebergang der Lux. supracotyloidea in die iliaca zur Folge gehabt 
haben würde. Dies gilt für diejenige Luxation, wo der Gelenkkopf 
an der vordem untern Spina stand; steht er in der Incisur, so lässt 
sich hier wohl eine stärkere Flexion ohne Ausweichung auf die 
äussere Fläche des Darmbeins denken, doch war in Cooper’s 
und Travers Fällen nur eine geringe Flexion vorhanden, und 
für die Angabe Wern her’s, dass bei dieser Stellung des Kopfes 


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Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 


225 


eine starke Flexion Statt habe, ist mir keine bestätigende Beob¬ 
achtung bekannt. 

Die Veränderungen, welche an den weichen Theilen wahr¬ 
genommen wurden, beruhen, abgesehen von Complicationen, wie 
starken Blutergiessungen, Entzündungen etc., auf der mit dem 
dislocirten Schcnkelknochen stattfindenden Verschiebung der Theile, 
der Entspannung und Anspannung von Muskeln und mit diesen 
zusammenhängenden Weichgebilde. Als solche Veränderungen habe 
ich namentlich zwei hervorzuheben, das ist eine auffallende Aus¬ 
höhlung der inneren Seite des Schenkels an seinem obern Theile 
und ein Paar kleine, sehr deutliche Hautfalten an der Stelle, wo 
der Schenkel in die Inguinal- und Perinealgegend übergeht. Beide 
Erscheinungen habe ich in meinen beiden Fällen beobachtet, und 
sie verminderten sich und verschwanden mit der Besserung der 
Stellung und der Reposition des Schenkels, znm Beweise, dass sie 
von dem dislocirten Knochen in der angegebenen Weise bedingt 
waren. Bei anderen Beobachtern habe ich jene Erscheinungen 
nicht erwähnt gefunden. 

Die Umgebung des grossen Trochanter erscheint geschwollen, 
die Wölbung der Hüfte hängt aber davon ab, ob der Trochanter 
mehr nach anssen oder nach hinten steht, denn in letzterem Fall 
erscheint die Trochantergegend eingesunken, wie bei Symes und 
Travers; im ersteren Fall ist die Hüfte gewölbter, wie in meinen 
beiden Beobachtungen, auch in Lente’s; der ganze Schenkel 
erscheint alsdann um etwa 1 Zoll nach aussen geschoben und es 
entsteht dadurch, in Verbindung mit der erwähnten Aushöhlung 
der innern Seite, der Anschein, als wäre der obere Theil des 
Schenkels nach aussen gebogen. Die Hinterbacke ist schlaff, breit 
und flach; ihre Falte steht höher und in meinem ersten Fall war, 
nachdem die entzündliche Anschwellung verschwunden, die eigent¬ 
liche Hinterbacke von der Hüftwölbung durch eine, hinter dem 
Trochanter abwärts laufende, flache Vertiefung geschieden. — 
Hervortretende Spannung und Erschlaffung gewisser Muskeln wird 
von den Autoren verschiedentlich angeführt; ich fand den Ad- 
ductor longus erschlafft, den Tensor fasciae latae gespannt und 
vorspringend, auch den M. sartorius und rectus hat man gespannt 
gefunden, jedoch war er es nicht immer. Die Beweglichkeit des 
Gliedes bei frischer Verrenkung war meistens nur gering, in Tra- 

T. Laogenbeek, Archiv /. Chirurgie, dtVI. 

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Dr. E. Blasius, 


vers Fall fehlte sie ganz, und in Morgan’s waren fast alle Be¬ 
wegungen möglich, ausser der Rotation. Diese war, sofern sie 
nach innen versucht wurde, in allen Fällen unausführbar, und 
auch nach aussen liess sich eine Rotation in Baron’s und meinem 
ersten Fall nur wenig und unter lebhaftem Schmerz herbeifübren. 
Gleiches gilt von der Ab- und Adduction des Beines, namentlich 
der ersteren, welche weniger möglich und schmerzhafter war, als 
die Adduction. Am meisten Beweglichkeit zeigte das Glied in 
der Flexionsrichtung. 

Für die Differentialdiagnose ist die Luxatio pubica, 
die einzige Schenkelluxation, mit der eine Verwechselung möglich, 
kaum zu erwähnen nothwendig; ihr Unterscheidungsmerkmal wurde 
schon vorher angegeben. Wichtiger ist die Unterscheidung von 
der Fractura colli femoris, wofür die Luxation gehalten worden 
ist (von Cruveilhier, von Gerdy in Baron’s Fall, auch in 
meinem ersten Fall wurde von anderer Seite her die Verletzung 
zunächst für einen Schenkelhalsbruch gehalten). Die Verwechslung 
ist um so eher möglich, wenn erstens bei Fractur die Dislocation 
sehr stark (ich sah sie so stark, dass der grosse Trochanter dicht 
hinter der Darmbeingräte und das untere Ende des Schenkel¬ 
halses durch die Weichgebilde durchzufühlen war) und der Tro¬ 
chanter überdies wohl noch aufgetrieben und mit Höckern und 
Vertiefungen versehen ist, wie in Baron’s Fall, und wenn zwei¬ 
tens bei Bewegungen des Gliedes Crepitation fühlbar wird, wie in 
meiner ersten Beobachtung. Die Unterscheidung muss sich auf 
eine genaue Palpation gründen, sowie darauf, dass bei Fractur 
die Beweglichkeit des Gliedes viel grösser, namentlich die Rota¬ 
tion nach innen möglich ist und dass durch die Rechtstellung der 
Extremität keine dauernde Reposition bewirkt wird. 


Die Prognose der Luxatio supracotyloidea ist derjenigen 
anderer Schenkelverrenkungen gegenüber, eine ziemlich günstige, 
denn die Reposition, wenn sie richtig angefangen wird und hin¬ 
dernde Complicationen nicht vorhanden sind, gelingt ohne Schwie¬ 
rigkeit, und nach den Beobachtungen, welche ich über Hüftver¬ 
renkungen überhaupt gemacht habe, leichter als bei den meisten 


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Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 


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andern Fällen dieser Luxation. Dem scheint allerdings der Um¬ 
stand zu widersprechen, dass unter den mitgetheilten Beobach¬ 
tungen nur 8 sind, in denen die Reposition gelang, während in 
11 Fällen keine Reduction bewirkt wurde. Darüber ist jedoch 
zu bemerken, dass erstens die meisten Chirurgen, welche die Re¬ 
position bewirkten, sie als eine ziemlich leichte angeben. Zweitens 
kann wohl kaum bezweifelt werden, dass sich unter den reponirten 
Schenkellnxationen eine Anzahl befinden, in denen die Art der 
Luxation ihrer Eigenthümlichkeit nach nicht erkannt wurde, eben 
so Fälle, in welchen die Verletzung für eine andere gehalten und 
behandelt wurde, so für die, auch jetzt noch mitunter mit der L. 
supracotyloidea zusammengeworfene Lux. pubica und ileopectinea 
oder für Schenkelhalsbruch, ohne dass es, wie in den Fällen von 
Cruveilhier und Baron nachher zur Aufklärung kam, wogegen 
da, wo es zur Section kam, was unter den nicht reponirten Fällen 
8 mal Statt hatte, durch dieselbe die Art der Luxation ausser 
Zweifel gestellt wurde. 

In Betreff der Complicationen, des Inveterirens u. s. w. kann 
nur auf die Prognose der Schenkelluxationen überhaupt verwiesen 
werden; es soll indessen nicht unerwähnt bleiben, dass Sistach 
eine Luxation (bei einem Kinde) noch nach 77 Tagen, freilich mit 
Schwierigkeit und nach gewaltsamer Zerreissung von Adhäsionen 
reponirte. Complicationen, und zwar schwere sind wiederholt 
beobachtet worden (Baron, Symes, Travers) und auch des¬ 
halb sehr begreiflich, weil der Gelenkkopf aus der Pfanne da, wo 
deren Rand am höchsten ist, herausgetrieben werden muss und 
dazu jedenfalls eine sehr heftige Einwirkung gehört. Bei den 
Verletzten des St. Georges-Hospitals, ebenso bei Devilles trat 
der Tod sehr bald ein, doch wohl in Folge gefährlicher Compli¬ 
cationen. 

Wo die Luxation unreponirt blieb, stellte sich der Gebrauch 
des Gliedes in manchen Fällen (Cooper, Oldknow) so weit 
wieder her, dass selbst weite Märsche, nur an einem Stocke und 
schmerzlos gemacht werden konnten, wogegen in andern (Travers 
und bei meinem ersten Fall) der Gebrauch von Krücken beim 
Gehen sich nothwendig machte. 


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Dr. E Blasius, 


Die Reposition ist in den Fällen, wo sie gelang, in ver¬ 
schiedener Weise bewirkt worden, doch bieten die Fälle gewisse 
gemeinschaftliche Punkte dar. Das Glied wurde in allen Fällen 
in Flexion gebracht, von Morgan und Cummins, nachdem es 
erst in Extension (von Cummins in starke) versetzt worden war. 
Die blosse Extension führte in keinem Falle zum Ziele. Die 
Flexion erscheint deshalb angemessen, um die an der vorderen 
Seite gelegenen Muskeln, Rectus, Tensor fasciae, Sartorius, welche 
bisweilen stark angespannt hervortraten, zu erschlaffen. Pit ha 
empfiehlt, die Flexion bis über den Rechtwinkel hinaus zu machen; 
man muss jedoch im Gegentheil mit ihr vorsichtig sein, da sie, 
wenn sie stark gemacht wird, bei Symes und bei mir, die Luxa¬ 
tion statt sie einzurichten, in eine Lux. iliaca verwandelt. Ueber- 
dies wird durch stärkere Flexion der untere, unzerrissene Theil 
der Kapsel straffer gespannt, und somit der Riss des obern Kapsel- 
theiles verengt, so dass durch diesen, besonders wenn er gering 
ist, der Rücktritt des Schenkelkopfes durch ihn hindurch verhin¬ 
dert und der Gelenkkopf gegen das Darmbein angepresst wird. 
— Ferner wurde die Extremität in den gelungenen Fällen wäh¬ 
rend der Reduction in Adduction versetzt und eine Rotation nach 
innen vorgenommen, ln Baron’s Fall ist zwar von einem Zuge 
nach unten, bei geringer Rotation nach aussen die Rede, doch ist 
damit wohl nur diejenige Rotation gemeint, welche das Glied bei 
der Luxation zeigte, und das ist um so wahrscheinlicher, als die 
Reposition von Gerdy in der Meinung unternommen wurde, dass 
eine Fractur des Schenkelhalses vorhanden sei. Von Morgan 
wird dagegen angegeben, dass nach Extension des Gliedes, plötz¬ 
lich eine Flexion und Rotation desselben nach aussen vorgenommen 
wurde, was vielleicht deshalb zum Ziele führte, weil der Gelenk¬ 
kopf mehr nach innen von der unteren Darmbeingräte, zwischen 
dieser und der Verbindung des Darm- und Schambeins auf der 
Beckenleiste stand und aufwärts nach dem Bauche ragte. — Da 
der Gelenkkopf immer über der Pfanne steht, so ist es selbst¬ 
verständlich, dass die Extremität nach unten gezogen werden muss 
und zu dessen Unterstützung fügte ich noch einen Druck mittelst 
der Hand auf den grossen Trochanter nach unten und innen 
hinzu. 

Um es kurz zusammenzufassen, so liess ich bei fixirtem 


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Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 


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Becken und nachdem die Extremität in eine mässige Flexion und 
Adduction versetzt war, am Fusse einen Zug nach abwärts und 
dann eine Rotation des Gliedes nach innen ausüben. Ganz ebenso 
verfuhr auch Sistach in seinem besonders schwierigen Falle mit 
Erfolg. Dies ist dasjenige Verfahren, welches sich auf rationelle 
Weise am meisten - empfiehlt. Ob der Schenkelkopf höher oder 
tiefer am vorderen Darmbeinrande steht, macht insofern einen 
Unterschied, als im ersteren Falle der Zug am Beine abwärts 
kräftiger geschehen muss, um den Gelenkkopf erst dem Kapsel¬ 
risse zu nähern. 

Die Vor- und Nachbehandlung, die Beseitigung besonderer 
Hindernisse der Reduction und die Kur der Complicationen ver¬ 
halten sich wie bei den Schenkelluxationen überhaupt. 


Erste Beobachtung. Frau F., 43 Jahre alt, aus Kutten, gerieth einer 
Dreschmaschine zu nahe, welche zunächst ihre Kleidungsstücke erfasste ^und sie 
dadurch zu Boden riss. Wie sie dabei getroffen und gefallen, wusste sie nicht 
anzugeben, doch liess eine starke Ecchymose an der hinteren äusseren Seite 
des obersten Theils des rechten Schenkels annehmen, dass diese Gegend vor¬ 
zugsweise von der Gewalt getroffen war. Der herbeigerufene Wundarzt erklärte 
zwar, dass eine Verrenkung der Hüfte vorhanden sei, liess aber nur kalte Um¬ 
schläge machen, und erst nach 5 Tagen (27. November 1855) kam die Frau in 
die Klinik zur Untersuchung. 

Die rechte untere Extremität war verkürzt, stark nach aussen rotirt und 
unbeweglich, so dass der Anschein einer Luxatio pubica vorhanden war, doch 
war auf dem Schambeine der Gelenkkopf nicht zu fühlen und die^Weiche frei, 
dagegen war die Hüfte auffallend gewölbt und dies rührte zu einem grossen 
Theile von einer Anschwellung der Weichgebilde her. Es war nämlich an 
der hinteren und auch noch an der äusseren Seite des Oberschenkels eine von 
der Darmbeingegend aus beginnende starke Ecchymose vorhanden, welche sich 
bis zur Kniekehle herab erstreckte, etwas unter dem Trochanter aber am stärk¬ 
sten war. Daneben waren die weichen Theile über das ganze Hüftgelenk nach 
aufwärts bis zum Darmbeinkamme, abwärts bis zur Mitte des Oberschenkels und 
zwar am meisten an der äusseren Seite, am wenigsten vorne geschwollen, ge¬ 
spannt, das Zellgewebe serös infiltrirt, so dass ein starker Fingerdruck eine 
Grube für einige Zeit zurückliess. Druck machte Schmerzen, die auch ohne 
ihn bestanden. — Die Verkürzung der Extremität betrug über 1 Zoll, wovon 
jedoch nur etwa die Hälfte eine wirkliche Verkürzung war, die andere von Auf¬ 
wärtsschiebung des Beckens an der kranken Seite abhing. Die Extremität lag 
ganz auf ihrer äusseren Fläche, mit der inneren nach vom gewandt und liess 
sich fast gar nicht nach innen, etwas, aber wenig mehr nach aussen rotiren, 


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Dr. E. Blasius, 


sehr wenig abduciren, wohl aber ohne Schwierigkeiten adduciren. Knie- und 
Hüftgelenk waren nicht flectirt, Hessen sich aber ohne Anstrengung flectiren. 
Der innere Rand des Oberschenkels zeigte an seinem obersten Theile eine leichte 
Concavität, der am anderen Schenkel deutlich sichtbare Vorsprung der Sehne 
des Adductor longus fehlte und liess sich die Sehne auch nicht durch die hier 
vorhandene Geschwulst durchfühlen; die kleinen Falten zwischen Schenkel und 
Damm zeigten sich stärker ausgeprägt, als auf der gesunden Seite. 

Dicht an der vorderen unteren Darmbeingräte, von ihr nach aussen, fühlte 
man durch die Geschwulst hindurch, jedoch nur undeutlich, eine knöcherne Wöl¬ 
bung, den Schenkelkopf, welcher sich bei Rotationen der Extremität bewegte, 
beim Aufheben der Extremität mehr verschwand, bei voller Extension derselben 
wieder hervortrat. Weiter nach hinten und etwas nach unten war der grosse 
Trochanter, jedoch sehr undeutlich zu fühlen; er lag von der vorderen oberen 
Darmbeingräte entfernter, dem Darmbeinkamme aber näher, doch liess sich 
dies nicht näher ausmessen, weil der Trochanter nicht scharf genug zu fühlen 
war. Die genannte Spina und die Incisura unter ihr waren deutlich und frei 
wahrzunehmen. Der Tensor fasciae latae trat als straffer Strang neben dem 
Schenkelkopf hervor, andere Muskelspannungen waren nicht zu fühlen, na¬ 
mentlich nicht der Rectus, wahrscheinlich wegen der grossen Geschwulst. Die 
Hinterbacke war an der Seite der Verletzung etwas flacher, als an der anderen, 
ihre Falte stark ausgeprägt und schräg nach aussen und aufwärts verlaufend. 

Wegen der Grösse und entzündlichen Beschaffenheit der Geschwulst wurde 
die Kranke zunächst nur ganz ruhig gelagert und die Hüfte mit lauwarmen 
Umschlägen von Bleiwasser belegt, worauf am folgenden Tage die Geschwulst 
etwas geringer, weicher und weniger schmerzhaft war und nunmehr die Repo¬ 
sition versucht werden konnte. -Es wurde in tiefer Ghloroformnarkose die Ex¬ 
tremität bei etwas verstärkter Adduction extendirt und einwärts rotirt; dies war 
vergeblich, es wurde dabei aber deutliche Crepitation bemerkt. Dann wurde 
die Reduction bei starker Flexion des Hüft- und Kniegelenks versucht, indem 
ein um den obersten Theil des Gliedes verschlungenes Handtuch stark abwärts 
gezogen, auf den grossen Trochanter ein Druck nach oben und innen ausgeübt 
und das Bein einwärts rotirt wurde. Bei .einer Wiederholung dieses Mannövers 
wich der Schenkel der Einwärtsdrehung, als aber das Glied wieder aufs Bett 
heruntergelegt war, zeigte sich, dass die Luxatio supracotyloidea in eine iliaca 
verwandelt war. Nunmehr machte ich ganz wie bei letzterer die Reposition 
durch starke Flexion und Adduction und demnächstiger Abduction und Rotation 
(nach Kluge’s Methode) und der Schenkelkopf wich auch aus seiner Lage, 
ging aber in die ursprüngliche zurück. 

In Berücksichtigung der starken entzündlichen Geschwulst musste dies¬ 
mal von weiteren Repositionsversuchen abgestanden werden; es trat eine be¬ 
deutende Reaction ein, mit stärkerer Schwellung, grosser Empfindlichkeit, Hitze 
und Röthung der Haut, es musste eine örtliche Blutentziehung gemacht werden, 
und auch am folgenden Tage mussten neue- Repositionsversuche unterbleiben. 
Diese wurden erst am nächsten Tage wieder aufgenommen und ein Paar Mal 
mit Modificationen, aber vergeblich ausgefübrt, wobei der Schenkelkopf bei Ro- 


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Ueber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 


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tation des Gliedes nach innen wieder die Neigung zeigte, auf die Darmbeinfläche 
zu gehen. Zuletzt machte ich noch einen Versuch, indem ich bei flectirtem Knie- 
und Hüftgelenk extendirte und das Knie langsam einwärts drehte, sorgsam darauf 
achtend, dass der Gelenkkopf nicht wieder auf die hintere Darmbeinfläche aus- 
weiche. Dies wurde auch vermieden und beim Niederlegen der Extremität auf 
die Matratze fand sich dieselbe mit den Zehen nach vorne gewandt und von fast 
gleicher Länge mit der gesunden, doch noch um £ Zoll kürzer. Der Gelenk¬ 
kopf war nirgends fühlbar, der grosse Trochanter an richtiger Stelle, aber 
nirgends vorspringend und die Hüfte gewölbter, als die andere. Die Sehne des 
Adductor war wieder fühlbar, wenn schon weniger straff, die innere Schenkel¬ 
seite war nur noch am obersten Ende wenig ausgehöblt, die Falten zwischen ihr 
und Damm ziemlich ausgeglichen. Der Schenkel war dabei beweglich, doch nicht 
so, als bewege sich der Kopf in seiner Gelenkhöhle, sondern als ob er auf einer 
Fläche ruhe und leicht wieder abrutschen könne. — Bei den Repositiodfever- 
suchen wnrde wiederholt sehr deutlich Crepitation wahrgenommen und man 
musste annehmen, dass ein Stück Knochen, wahrscheinlich vom Pfannenrande, 
losgebrochen sei und sich zwischen den Schenkelkopf und die Pfanne lege, 
welche überdies wohl mit Exsudat angefüllt sein mochte. 

Um die erlangte Stellung des Gliedes zu erhalten, wurde der Hagedorn- 
Dzondi’sche Apparat angelegt; ausserdem machte eine sehr heftige Reaction, 
wobei die Geschwulst stärker, roth, heiss, höchst empfindlich wurde, eine locale 
Antiphlogose mittelst Blutegel u. s. w. nöthig. Unter dieser Behandlung gingen 
im Laufe der nächsten 14 Tage die Reactionszufälle grösstentheils vorüber; die 
Extremität hatte sich wieder mehr verkürzt, fast auf 1 Zoll, die Fussspitze stand 
wenig mehr nach aussen; der grosse Trochanter, nach aussen und etwas nach 
hinten gewandt, sprang ziemlich stark vor, die Hüfte erschien daher gewölbter, 
der innere Schenkelrand war oben noch ausgehöhlt, die Falten am Damme noch 
etwas ausgeprägter, als an der anderen Seite, die Adductorsehne fühlbar, aber 
weniger gespannt; den Scbenkelkopf fühlte man jetzt deutlich unter der vorde¬ 
ren oberen Darmbeingräte, etwas nach aussen von ihr. Das Glied liess sich 
gut flectiren, nur nicht nach innen rotiren, und bei den Bewegungen fühlte man 
den Schenkelkopf bis zum Halse hin sehr deutlich, über ihm gegen den Darm¬ 
beinkamm hin bemerkte man noch eine Härte, anscheinend knöchern, die sich 
mit dem Scbenkelkopfe nicht bewegte. Durch ein Paar Reductionsversuche, die 
jetzt noch gemacht wurden, war nichts erreicht, als dass die Rotation nach 
aussen, welche die Extremität noch gezeigt, ganz gehoben und Fussspitze und 
Knie ganz normal gestellt wurden. Das Glied wurde dann noch durch den er¬ 
wähnten Apparat fixirt erhalten. 

Nachdem etwa 3 Wochen später die Geschwulst und Ecchymosen um die 
Hüfte herum vollständig verschwunden waren, war die Lage und Stellung des 
Schenkels ganz so, wie sie zuletzt geschildert, der deutlich fühlbare Schenkel¬ 
kopf stand unter der vorderen oberen und dicht nach aussen von der unteren 
Darmbeingräte auf der hier befindlichen kleinen rauben Fläche und es ist zu 
dem zuletzt gegebenen Bilde nur noch Folgendes hlnzuzufügen. Der grosse 
Trochanter stand in gleicher Höhe mit dem der anderen Seite, der Darmbein- 


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Dr. E. Blasius 


kämm aber um etwa | Zoll tiefer, der Trochanter also letzterem um ebenso 
viel genähert, dabei sprang derselbe sehr stark vor und gab der Hüfte eine auf¬ 
fallende Wölbung und Breite; die Hinterbacke war viel breiter als die gesunde, 
und zeigte hinter dem Trochanter eine abwärts verlaufende flache Vertiefung, 
durch welche die eigentliche Hinterbacke von der Hüftwölbung geschieden wurde« 
Die Hinterbackenfalte lag höher, als auf der gesunden Seite, hatte aber mit 
dieser eine gleiche Richtung. Die Weiche war abgeflacht, übrigens mit der 
anderen gleich gerichtet. Passive Bewegung des Schenkels war möglich, aber 
nicht sehr gross, active fehlte gänzlich. Nach Jahr und Tag ging die Frau 
mit Hülfe einer Krücke; eine nähere Untersuchung der betreffenden Hüfte er¬ 
laubten die augenblicklichen Umstände nicht. Die Frau starb im Herbst 1868, 
entfernt von Halle, und hat ihr interessantes Hüftgelenk leider mit in's Qrab 
genommen. 

.Zweite Beobachtung. Frau Friederike S., 63 Jahre, aus Halle, stieg 
mit einem schweren Tragkorbe auf dem Rücken eine Treppe hinab und kam 
dabei in's Gleiten, so dass sie die ganze Treppe hinabzufallen fürchtete. Sie 
spreizte deshalb die Beine, soweit es die Breite der Treppe erlaubte, ausein¬ 
ander und wandte sich nach links, um mit der mittlerweile vom Korbe freige¬ 
wordenen linken Hand das Geländer zu ergreifen, verhinderte dadurch auch das 
Ausgleiten, fiel aber nach links und rückwärts nieder und vermochte sich nicht 
wieder zu erheben. Sie batte bei dem Vorfälle einen heftigen Schmerz im linken 
Hüftgelenk und war an diesem noch nach ihrer am selbigen Tage (4. Januar 
1862) erfolgten Aufnahme in die Klinik sehr empfindlich. Der linke Schenkel 
lag ganz nach aussen rotirt, so dass seine innere Fläche zur vorderen geworden 
war, er war an seinem obersten Theil verbreitert und der grosse Trochanter 
sprang stärker nach aussen vor. Der innere Rand des Oberschenkels zeigte 
dicht am Damme eine Cacavität, und zwischen diesem und dem Schenkel be¬ 
fanden sich Falten. Ueber dem Acetabulum, zwischen dem horizontalen Aste 
des Schambeins und der vordem obern Darmbeingräte fühlte man deutlich den 
runden, bei Bewegungen der Extremität sich mit bewegenden Schenkelkopf, der 
Trochanter war nach oben und. hinten gerückt, die Hinterbacke etwas abgeflacht. 
An der vordem Seite waren die Weicbgebilde gespannt, die Arteria cruralis 
pulsirte nach innen vom Schenkelkopfe. Schmerzen von einem Druck auf den 
Cruralnerven waren nicht vorhanden. Die Extremität war um etwa 1 Zoll ver 
kürzt und wenig adducirt. Die weichen Theile um das Gelenk herum waren 
sehr wenig geschwollen und man konnte bei der überdies mageren Frau die 
knöchernen Theile sehr gut durcbfühlen. Es war eine unzweifelhafte Luxation 
des Schenkels gerade nach oben vorhanden, der Gelenkkopf stand am obern 
Rande der Pfanne und der Spina anterior inferior des Darmbeins. 

Nachdem gleich nach der Aufnahme der Frau ein vergeblicher Reductions- 
versuch gemacht worden war, wurde am folgenden Morgen die Reposition in 
der Weise bewirkt: Die chloroformirte Kranke lag auf der Matratze eines Bettes 
von gewöhnlicher Höhe, ein Gehilfe drückte mit seinen beiden Händen das Becken 
gegen die Unterlage, zwei andere Gehilfen bewirkten mittelst eines über den 
Damm weggefübrten Handtuches die Contraextension; nachdem alsdann die Ex- 


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lieber die traumatische Luxatio femoris supracotyloidea. 


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tremität etwas erhoben und das Hüftgelenk missig flectirt worden, wurde dieselbe 
von zwei Gehilfen in der leicht adducirten Stellung, welche sie hatte, kräftig 
nach abwärts gezogen, und unter einem starken Druck auf den grossen Trochan¬ 
ter nach unten und einwärts, nach innen rotirt, wobei die Einrichtung sofort und 
leicht erfolgte. Die Patientin wurde hierauf mit aneinander gebundenen untern 
Extremitäten horizontal gelagert und in dieser Lage fast eine Woche lang er¬ 
halten; die auf die Reposition eintretende Geschwulst wurde durch Blutegel und 
kalte Umschläge bald beseitigt und nach 10 Tagen konnten Gehversuche begonnen 
werden. Am 26. Januar, 22 Tage nach ihrer Aufnahme, konnte die Frau als 
geheilt entlassen werden. 




XV. 

Die Neubildungen am Nabel Erwachsener 
und ihre operative Behandlung. 

Von 

Dr« Ernst Küster, 

dirtgireodem Ante im Augusta-HospiUl &u Berlin. 


Neubildungen am Nabel Erwachsener sind seltene Vorkomm¬ 
nisse, so selten, dass sie bisher die Aufmerksamkeit der Chirur¬ 
gen höchstens ganz vorübergehend auf sich gezogen haben. Die 
meisten Lehrbücher der Chirurgie lassen sie daher gänzlich uner¬ 
wähnt, ja auch die pathologischen Anatomen schenken ihnen nur 
sehr sporadisch Beachtung. Und doch verdienen sie diese Ver¬ 
nachlässigung nicht; denn nach verschiedenen Andeutungen in der 
Literatur zu schliessen, können sie doch nicht so enorm selten sein, 
wie es scheint, sie sind ferner operativen Eingriffen sehr wohl zu¬ 
gänglich und können diese Eingriffe endlich mit zu den wichtig¬ 
sten werden, welche am menschlichen Körper unternommen sind. 
Um diese Behauptungen zu rechtfertigen, stelle ich zunächst zu¬ 
sammen, was sich in der Literatur über diesen Gegenstand findet 
und werde daran einige weitere Erörterungen knüpfen. 

Schon den Aerzten vor Celsus waren derartige Affectionen 
bekannt, wie dies aus des Autors eigenem Zeugniss hervorgeht*). 

*) Celsus (Lib. 7. Cap. XIV. De umbilici vitiis) sagt: Sunt etiam circa 
umbilicum plura vitia: de quibus propter raritatem inter auctores parum constat. 
.... Sostratus .... duobus iisdem adjecit carnem ibi interdum increscere; 
eamque modo integram esse modo carcinomati similem. . . . Caro . . . si vitiosa 
est easdem notas habet, quas in carcinomate exposui. Caro quoqne carcinomati 
similis cum periculo tractatur: itaque omittenda est. Sana excidi debet. 

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Die Neubildungen am Nabel Erwachsener und ihre operative Behandlung. 235 

Der erste aber, welcher einen solchen Fall genauer beschreibt, ist 
Fabriciiis von Hilden vom Jahre 1526*). Ich gebe dessen 
Beobachtung, nur etwas von veraltetem Beiwerk befreit, mög¬ 
lichst genau wieder. 

Fall 1. Ein Berner Patrizier Namens Lerber, 25 Jahre alt, stark und fett, 
stellte sich F. vor mit einer fungösen Excrescenz am Nabel, die in ca. 6 Mona¬ 
ten ohne nachweisbare Ursache aus dem Nabelcentrum hervorgewacbsen sein 
sollte. Die Geschwulst war wallnussgross, von liyider Färbung, massig hart und 
verbreitete einen Geruch nach faulem Käse. Anfangs schmerzlos, war die Neu¬ 
bildung all malig schmerzhaft geworden und quälte den Kranken in Intervallen 
ausserordentlich; auch traten zeitweilig Blutungen ein- F. hielt die Affection für 
Krebs, und versuchte, da er sich vor einem operativen Eingriff scheute, zunächst 
andere Mittel. Nach 2 Monaten aber entschloss er sich zur Operation und zwar 
wollte er die Unterbindung der Neubildung an der Wurzel vornehmen, die 
Fettleibigkeit verhinderte ihn indessen bis zur Wurzel zu gelangen, und erfand 
er daher ein schüsselförmiges Instrument mit ausgeschnittenem Loche, welches 
auf den Nabel gelegt und stark angedrückt bewirkte, dass der Grund des Nabels 
zu Tage trat Es zeigte sich nun, dass der Tumor aus 3 Theilen bestand, von 
denen jeder mit einem dünnen Stiele angeheftet war, F. unterband zunächst 
2 Stiele, indem er den Faden immer fester zog, endlich auch den dritten. Der 
Kranke wurde geheilt und war fünf Monate später noch völlig gesund. 

Ob die Geschwulst im vorstehenden Falle wirklich als Krebs anzusehen sei, 
dürfte wohl mit Grund bezweifelt werden, einmal wegen der sehr eigentüm¬ 
lichen und mit dem Wesen eines Krebses kaum zu vereinigenden Form, dann 
aber auch wegen des Ausbleibens eines Recidivs, obwohl die Entfernung bei der 
eingeschlagcnen Methode kaum eine ganz vollständige gewesen sein kann. Am 
nächsten liegt es, der Form nach an ein Papillom zu denken, wenngleich die 
Blutungen und periodischen Schmerzen dem zu widersprechen scheinen. Bedenkt 
man aber, dass bei der Fettleibigkeit des Patienten Retentionen aller Art im Na¬ 
bel möglich waren, dass dadurch eine Maceration von Epidermisschichten und 
Blosslegung der Gefässschlingen einer Seits und Gelegenheit zu entzündlichen 
Reizungen anderer Seits bedingt waren, so verliert die Annahme wohl an Un¬ 
wahrscheinlichkeit. v 

Fall 2 nach Civadier**). Eine 50jährige Frau trug am Nabel eine 
kindskopfgro8se gestielte Geschwulst (Krebs?), welche einen scheusslichen Ge¬ 
ruch verbreitete. Dieselbe wurde mit Erfolg exstirpirt***). 

*) Fabricii Hildani, Observationes chirurgicae. Cent. V. Observ. LXII. 

**) Journal de medecine, de Chirurg et de pharmacol. de Bruxelles. Tome 
IV. p. 374. 

***) Leider ist es mir trotz aller Mühe nicht gelungen, den Aufsatz von 
Civadier in die Hände zu bekommen und zwar, wie es nach den Berichten 
der Brüsseler Buchhändler scheint, weil die Angabe des Bandes nicht zutreffend 
ist Es ist mir dieser Umstand um so fataler, als die von Civadier beschrie¬ 
bene Geschwulst zu den wenigen gehört, welche operativ behandelt worden sind. 


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Dr. E. Küster, 


Fall 3 nach P. H. Berard*). Eine Frau, augeblicfa an Nabelbruch lei¬ 
dend, kam in’s Hospital Saint-Antoine. Die Untersnchung ergab, dass sie eine 
Nabelgeschwulst hatte von der Grösse eines massigen Apfels, glatt und wie ein 
Champignon gestielt, der Stiel aber ziemlich dick und von der Bauchwand nicht 
isolirbar. Die Farbe der Geschwulst war bräunlich, die Consistenz fest, die Be¬ 
deckung nicht hautähnlich und zwar deshalb, weil, wie B. glaubt, die Nabel¬ 
narbe selber eine Hypertrophie und krebsige Neubildung erlitten hatte (?). Die 
Kranke verweigerte die Operation. 

Fall 4. Secundärer Nabelkrebs nach Störer**). Bei einem 40jährigen 
Frauenzimmer, bei dem 6—7mal in kurzen Zwischenräumen die Punctio abdomi- 
nis gemacht war, bildete sich im Epigastrium ein deutlich hervortretender gänse¬ 
eigrosser Tumor, der sich bei der Section als Encephaloid der Leber ergab. 
Auch Netz, Peritoneum, Darm, Uterus und Ovarien zeigten krebsige Ablage¬ 
rungen. Am Nabel war stets ein umschriebener Tumor von der Grösse des letz¬ 
ten Daumengliedes bemerkt. Ein Durchschnitt zeigte, dass derselbe eine scharf 
begrenzte. Ablagerung erweichter Carcinommasse in der Substanz des Nabel¬ 
gewebes war. 

Fall 5 nach Hue und Jaquin***). Ein 45jähriger Cavallerist hatte am 
22. Mai 1867 nach einem Sturz mit dem Pferde einen heftigen Schmerz in der 
Brust gefühlt, der noch anbielt, als er am 6. Juni einen ganzen Tag zu Pferde 
zubringen musste. Abends bemerkte er zuerst eine nussgrosse Geschwulst im Be¬ 
reich des Nabels. Dieselbe wuchs schnell, wurde am 10. Juli eingeschnitten, 
doch entleerte sich nur dunkles Blut. Am 11. August, bei der Aufnahme in’s 
Val-de-Gräce, fand man eine etwa faustgrosse Geschwulst, welche im Centrum ein 
mehrere Centimeter tiefes Infundibulum trug. Die Hautdecken in der Umgebung 
waren bläulich entfärbt. Es traten heftige Blutungen auf, die Bauchwand unter¬ 
halb des Nabels wurde allmälig bretthart, von livider Färbung, endlich stellten 
sich Urinbeschwerden, häufiger Harndrang ein, und am 8. Juni 1868 starb der 
Kranke an Erschöpfung. - Bei der Section fand sich in unmittelbarem Zusam¬ 
menhang mit der Nabelgeschwulst eine gelatinöse Degeneration der Bauchwand 
der Art, dass von den geraden Bauchmuskeln keine Spur übrig geblieben war. 
Längs des Urachus, wie es scheint, hatte sich die gallertige Neubildung auf die 
Blase fortgesetzt, deren Cavität zu Dreiviertheilen von gelatinösen Massen erfüllt 
war. Sowohl an der Bauchwand als an der Blase hatte aber das Bauchfell eine 
Scheidewand gebildet, die an keiner Stelle übersprungen war. — Die mikrosko¬ 
pische Untersuchung ergab das Vorhandensein kleiner rundlicher oder leicht po- 
lyedrischer Zellen und freier Kerne in einer amorphen, mehr oder weniger reich¬ 
lichen Grundsubstanz. Die Verf. bezeichnen hiernach die Geschwulst als Colloid- 


*) Dictionnaire de medecine. Tome XXII. unter der Rubrik Ombilic. 

•*) Boston, Med. and Surg. Journ. 1864. Febr. 25. und American Journ 
of the med. Sciences New. Ser. Vol. 47. 1864. ref. von Gurlt, Jahresbericht 
in v. Langenbeck’s Archiv Bd. VIII S. 604. 

•**) Hue et Jaquin, Cancer colloide de rombilic et de la paroi abdo¬ 
minale anterieure ayant envahi la vessie. Union medicale 1867. Nr. 112. 


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ie Neub ildungen am Nabel Erwachsener und ihre operative Behandlung. 237 

krebs nach Laennec, als hyalines Myxom nach Virchow(?). Wenngleich die 
mikroskopische Untersuchung etwas unvollständig erscheint, so dürfte nach dem 
klinischen Verlauf zu urtbeilen, die erste Bezeichnung wohl die zutreffendere 
sein. 

Hiermit scbliesst die Zahl der in der Literatur verzeichneten Fälle von Neu* 
bildung am Nabel, doch bin ich in der Lage, 3 weitere, noch nicht beschriebene 
Beobachtungen hinzufügen zu können. 

Fall 6. Aus mündlicher Mittheilang de3 Herrn Wilms weiss ich, dass 
derselbe einen primären Nabelkrebs bei einem älteren Israeliten beobachtet hat, 
welcher sich als unoperirbar erwies. Der Fall endete tödtlich in Folge einer 
schlimmen Indigestion, welche sich der Kranke zugezogen hatte, die aber, wie es 
scheint, gänzlich ausser Zusammenhang mit dem Nabelkrebs stand. 

Fall 7. Dermoid am Nabel. Im Juli 1872 sah ich in der v. Langenbeck’- 
schen Klinik die Operation eines Falles, dessen kurze Krankengeschichte mir gü* 
tigst zur Verfügung gestellt wurde. 

Ein 21 jähriges Mädchen, Anna A. aus Friedeburg, wurde mit einer Ge¬ 
schwulst am Nabel aufgenommen, welche seit der Geburt bestehen, in letzter 
Zeit aber sich langsam vergrössert haben soll. Die Geschwulst war rundlich, 
weich und ging mit einer Art von Stiel in den Nabel hinein, in dessen links- 
wandigen Hautfalten sie angeheftet war. Ohne besondere Schwierigkeit wurde sie 
ausgeschält und die Wunde durch Nähte geschlossen. Heilung in einer Woche. 
Die allerdings nicht sehr genaue Untersuchung ergab, dass ein ziemlich dünn¬ 
wandiger, schlaffer Balg vorhanden war, welcher einen dünnen atheromatösen 
Brei, flüssiges Fett, Epithelialzellen und Cholestearinkrystalle enthielt. Mikro¬ 
skopische Untersuchungen der Wand sind nicht angestellt, doch spricht die Ge¬ 
nese und der Habitus der Geschwulst für Dermoid, nicht für Atherom. 

Fall 8. Eigene Beobachtung. Ein 36jähriger Kaufmann, Julius S. aus 
Sagan gebürtig, wurde Anfangs September 1871 von Herrn Dr. Goltz von hier 
an mich gewiesen. Der Kranke, ein gesunder, kräftiger Mann, hatte im Januar 
desselben Jahres ein specifisches Geschwür an der Eichel gehabt, welches in 14 
Tagen vollkommen heilte, ohne dass weitere Symptome sioh einstellten. 6—7 
Wochen, bevor ich den Mann sah, batte er bemerkt, dass sein Nabel ohne nach¬ 
weisbare Ursache zu nässen begann, und fand er beim Nachsehen, dass am lin¬ 
ken Umfange desselben eine kleine Geschwulst sich gebildet hätte. Da dieselbe 
ziemlich schnell wuohs, ihm unangenehme Gefühle machte und das Nässen sehr 
lästig war, so suchte er relativ schnell ärztliche Hilfe. Herr Dr. Goltz behan¬ 
delte ihn zunächst mit austrocknenden Mitteln, da aber dessenungeachtet die 
Neubildung ziemlich rasch zunabm, so sandte er ihn mir zu. Bei der ersten 
Untersuchung fand ich die linke untere Hälfte des häutigen Nabels von einer 
kleiufiugergliedgrossen, ungestielten Neubildung eingenommen, welche breit und 
wenig beweglich aufsass. Wie tief dieselbe in den Nabel hineinging, ob sie mit 
der Nabelnarbe verwachsen war, liess sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Die 
Oberfläche sonderte ein übelriechendes Secret ab und war bedeckt mit kleinen 
rothen Knöpfchen, offenbar den blossgelegtcn Papillen, so dass dieselbe dadurch 
ein etwas bimbeerähnliches Ansehen bekam. Auch Schmerzen waren zeitweilig 


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Dr. E. Küster, 


vorbanden. leb vermuthete einen beginnenden Nabelkrebs nnd schlag dem Kran¬ 
ken Exstirpation nnd zn dem Zwecke Aufnahme in’s Augusta-Hospital vor. Er 
ging darauf ein und trat am 10. September in’s Krankenbaus. Am 12. Septem¬ 
ber machte ich die Operation an dem narkotisirten Kranken. Ich spaltete zu¬ 
nächst die Hautfalte des Nabels jeder Seits einige Linien jenseits der Oienze des 
Erkrankten‘und wurde auf diese Weise der ganze Nabel ungefähr in 2 gleiche 
Hälften zerlegt Durch diesen Schnitt war es nun möglich, die Neubildung bis 
zn ihrer Basis zu übersehen und zeigte sich, dass nicht nur die Hauptmasse 
derselben bis in das Niveau der Nabelnarbe reichte, sondern dass auch auf der 
Narbe selbst kleine papilläre Auswüchse gleichsam als Yorhut der Hauptmasse 
sich gebildet hatten. Die Geschwulst wurde nun auch an ihrer äusseren Grenze 
Umschnitten und zuerst mit Hülfe des Messers, dann der flach aufgesetzten 
Cooper’scben Scheere exstirpirt. Ich war genöthigt, einen Rest stehen zu 
lassen, weil ich fürchten musste, bei dessen Entfernung das Bauchfell zu ver¬ 
letzen, .war aber fest entschlossen, ein etwaiges Recidiv sofort radical mit Er¬ 
öffnung des Bauchfells zu operiren. Den Rest der Geschwulst, sowie die Ex- 
crescenzen auf der Nabelnarbe ätzte ich mit Höllenstein und betupfte nach 
Tagen, als die Wunde ein unreines Ansehen bekam, die ganze Fläche leicht 
mit rauchender Salpetersäure. Die kleine Wunde wurde in den ersten Tagen 
mit Eis behandelt, später einfach verbunden. Die Heilung erfolgte ohne fieber¬ 
hafte Reaction und ohne jeden unangenehmen Zwischenfall. Am 23. September 
wurde der Kranke auf seinen Wunsch mit gut granulirender Wunde entlassen, 
stellte sich mir später aber als völlig geheilt wieder vor. Zuletzt sah ich ihn 
im Februar 1873. Der Nabel war ganz flach und ging nach unten in eine 
quergestellte schmale Narbe über, von einem Recidiv war keine Spur zu be¬ 
merken. — Die mikroskopische Untersuchung der Neubildung ergab, dass die¬ 
selbe aus vergrösserten Papillen mit dicht geschichtetem Epidermisbelag bestand ; 
in demselben fanden sich hier und da zwiebelartig geschichtete Epidermiskugeln, 
aber nur an Stellen, wo die Epidermis besonders dicht angehäuft lag. Die 
Geschwulst ist darnach als einfaches Papillom aufzufassen. 


Vorstehende 8 Beobachtungen, von denen nnr 4 einen opera¬ 
tiven Eingriff schildern, während 2 weitere einen Sectionsbefund 
bringen, sind ein zu geringes Material, um" daraus ein abgerunde¬ 
ten Bild der Nabelgeschwülste gewinnen zu können; indessen wer¬ 
den sich doch einige allgemeine Gesichtspunkte für die Pathologie 
und Therapie dieser Erkrankungen daraus gewinnen lassen. Zum 
genauen Verstfindniss derselben schicke ich einige anatomische Be¬ 
merkungen voraus*). 

Anatomie der Nabelgegend und des Nabels. Ob- 


Cf. Leguelinel de Lignerolles. Quelques recherches sur la rögion 
de l’ombilic. Tböse. Paris 1869. 


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Die Neubildungen am Nabel Erwachsener und ihre operative Behandlung. 239 

gleich wir uns im Folgenden nur mit dem eigentlichen Nabel zu 
beschäftigen haben, so muss doch auch die Anatomie der Nabel¬ 
gegend mit in den Kreis der Betrachtung gezogen werden, weil 
ohne diese der Bau des Nabels nicht verständlich ist. — Verbin¬ 
det man die beiden Spinae ant. super, sowie den unteren Band 
beider Rippenbogen durch je eine quere Linie und schneidet die¬ 
selben durch 2 Senkrechte, welche von der Mitte der Ingoinalfalte 
nach den Rippen hinauf gezogen werden, so wird dadurch in der 
Mitte des Bauches ein Viereck umschrieben, die Regio umbilica¬ 
lis, in deren Mitte sich der Nabel befindet. Die Schichten, aus 
welchen sich die Bauchwand an dieser Stelle zusammensetzt, sind 
folgende: 1) Haut, 2) die mehr oder weniger fettreiche Faseia 
superficialis, 3) oberflächliches Blatt der Scheide des geraden 
Bauchmuskels, 4) M. rectus abdominis, 5) tiefes Blatt seiner 
Scheide, welche übrigens 2—3 Querfinger unter dem Nabel mit 
einem scharfen, nach unten concaven Rande, der Don glas’sehen 
Linie aufhört, 6) subperitoneales Bindegewebe (Faseia propria), 
7) Peritoneum. — In der Mittellinie des Bauches werden die 
Schichten 3—5 ersetzt durch einen dichten bindegewebigen Strang, 
welcher durch den Zusammenfluss sämmtlicher Aponeurosen der 
Bauchwand zu Stande kommt, die sog. Linea alba. Dieselbe ist 
aber nichts weniger als eine Linie, da sie oberhalb des Nabels 
mehrere Centimeter breit sein kann, während sie gegen die 
Schamfuge hin sich mehr und mehr verschmälert Sie besteht 
aus einem dichten Geflecht aponeurotischer Fasern, welche im Be¬ 
reich des Nabels besonders dick und stark werden und hier eine 
Oeifnung umgeben, welche von vorn gesehen viereckig ; von hinten 
her rundlich anssieht, weil hier noch eigene halbkreisförmige Fasern 
auftreten, die sich mit den übrigen der Linea alba verflechten. 
Diese Oeifnung kommt also durch Auseinandertreten dev Fasern 
der Linea alba zu Stande. — An ihrer Hinterfläche trägt die 
weisse -Linie eine flache Rinne, welche sich vom Rande der 
Nabelöffnung 3—6 Cm. hoch über dieselbe hinauf erstreckt und 
nach hinten zu durch querlaufende aponeurotische Fasern in einen 
Canal nmgewandelt wird, den Canalis umbilicalis. Diese queren 
Fasern, welche sich bis zum inneren Rande de» Musculi reoti er¬ 
strecken, haben den Namen Faseia umbilicalis erhalten^ sind aber 
bei gut entwickelter Musculatur isolirt darstellbar. Der Canal 


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Dr. E. Küster, ' 


wird demnach vorne begrenzt von der Linea alba, hinten von der 
Fascia umbilicalis, dem snbperitonealen Bindegewebe und dem Pe¬ 
ritoneum, welches letztere von der oberen Mündung des Canals an eine 
Duplicatur bildet, die sieb bis zur Leber erstreckt und Lig. Sus¬ 
pensorium genannt wird. Sein Inhalt besteht aus der obliterirten 
Vena umbilicalis und fettreichem Bindegewebe, welches am un¬ 
teren Umfange des Canals besonders reichlich liegt; ausserdem 
enthält er einen Ast der Art. hepatica, welcher in Begleitung der 
Vena umbil. bis zur Nabelöffnung verläuft. 

Betrachten wir nun die Nabelöffnung noch einmal von vorn. 
Die Haut, welche in der Nabelgegend durch ein fettreiches Binde¬ 
gewebe mit den Fascien zusammenhängt, wird nach dem Nabel 
zu immer feiner, bildet om die Nabelöffnung eine oder mehrere 
unregelmässige Falten, ist an diese durch fettloses Bindegewebe 
(Fascia superficialis) angeheftet und geht schliesslich ohne scharfe 
Grenze in die Nabelnarbe über, welche den Nabelring nach vorne 
abschliesst. Sie kann hier nur schwer von dem Nabelringe oder 
der unterliegenden Fascia superfic. abpräparirt werden, während 
dies am oberen Umfange der vorderen Nabelöffnung ziemlich 
leicht geschieht. Wegen dieser straffen Anheftung der Haut und 
Unnachgiebigkeit der Nabelnarbe geschieht es, dass bei starker 
Fettanhäufung in der Nabelgegend der Nabel selber zu einem tie¬ 
fen Trichter umgeformt wird. Darchschneidet man die untere 
Hälfte der Nabelnarbe, so findet man, dass auch das Peritoneum 
fest mit der Narbe verwachsen ist, weniger fest am oberen Um¬ 
fange des Ringes, weil hier die untere Oeffnung des Canalis um¬ 
bilicalis liegt. — Die Narbe enthält die Stümpfe von 4 fötalen 
Gebilden, welche am Erwachsenen in 4 bindegewebige Stränge 
umgewandelt sind: 1) die Vena umbilicalis, welche durch den Ca¬ 
nalis umbilicalis und später im Ligament. Suspensorium zum Ein¬ 
schnitte der Leber verläuft, 2) und 3) die beiden Aa. umbilicales, 
welche vom Nabelringe schräg nach abwärts den Seiten der Harn¬ 
blase zustreben und sich tiefer im kleinen Becken mit den Aa. 
hypogastricae vereinigen, von welchen sie im Fötus entspringen; 
4) der Urachus verläuft vom Nabelringe gerade nach abwärts zum 
Scheitel der Harnblase. 

Wenig wichtiger als diese fötalen Gebilde sind die Arterien 
des Nabels am Erwachsenen. Sie stammen aus 4 Quellen: aus 

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Die Neubildungen am Nbe^l Erwachsener und ihre operative Behandlung. 241 


den Endästen der 2 Aa. epigastrieae ans den Aa. vesicales und 
aus der A. hepatica ein Ast, welcher in Begleitung der fötalen 
Vena umbil. im Lig. suspens. hepatis verläuft. Alle zusammen 
bilden durch zahlreiche Anastomosen einen arteriellen Ring um die 
Nabelöffnung, welcher theils im subperitonealen Bindegewebe ver¬ 
läuft, theils die Fascien und Muskeln durchbohrt und in der Haut 
des Nabels sein Ende findet. Beim Erwachsenen sind dieselben 
verbältnissmässig viel unbedeutender wie beim Kinde und kom¬ 
men für chirurgische Eingriffe wenig in Betracht. 

Die Lymphgefässe sollen sich theils in die Achseldrüsen, 
theils in die Inguinaldrusen ergiessen. Dies gilt aber nur von 
den oberflächlichen Nabelpartieen, während die tieferen wohl zum 
Theil in dem Lig. suspensor. ihren Weg zu den Retroperitoneal- 
drüsen Anden. Genaueres darüber ist indessen noch nicht be¬ 
kannt. 

Geschwulstformen, welche am Nabel Vorkommen, 
und Sitz derselben. Die Neubildungen des Nabels können, 
wie es scheint, von 3 Localitäten, welche sich histologisch scharf 
scheiden lassen, ihren Ursprung nehmen: von der Haut, der 
eigentlichen Narbe und von dem fettreichen Bindegewebe des Um- 
bilical-Canals. — Die Entstehung in der Haut versteht sich am 
leichtesten. Die mit allen Attributen der Hautdecke ausgestattete 
Nabelhaut kann selbstverständlich eben so gut erkranken, wie 
jede andere Hautpartie, ist aber aus dem Grunde noch mehr 
disponirt, da sie von grösserer Feinheit und leichter allerlei Rei¬ 
zungen ausgesetzt ist, als andere Hautstellen. Der bei fettleibigen 
Personen ungemein tiefe und schwer zugängliche Trichter ist ein 
sehr geeigneter Platz zur Anhäufung von Unreinlichkeiten, die 
sich selbst durch häuflge Bäder nicht entfernen lassen; dazu 
kommt das Secret der Talgdrüsen, welches nicht entfernt werden 
kann, demnach sich eindickt, verhärtet und so zur Bildung der 
sog. Nabelsteine beiträgt oder sich zersetzt und zur Entstehung 
eines ungemein stinkenden Ausflusses aus dem Nabel Veran¬ 
lassung giebt. Dass derartige Reizungen zur Entstehung von Neu¬ 
bildungen disponiren, versteht sich von selbst. Es können die¬ 
selben sich entwickeln aus der Epidermis, den Talgdrüsen und 
den Papillen. Ein Fall von Epithelialkrebs der Nabelhaut ist nun 
zwar in den mitgetheilten Beobachtungen nicht zu finden, doch 

v, Langenbcck, Archiv f. Chirurgie. XVI. Iß 


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zweifle ich nicht, dass dieselbe vorkommt und dass bisher nur 
die Aufmerksamkeit der Chirurgen für diesen Punkt gefehlt hat. 
Für die Entstehung aus den Papillen bringe ich ein Beispiel 
(Fall 8). Was hier den ersten Anstoss zur papillären Wucherung 
gegeben bat, ob vielleicht das Hineingelangen von syphilitischem 
Secret, liess sich anamnestisch nicht eruiren. Auffallend war das 
Uebergreifen der Neubildung auf die Nabelnarbe selber, auf wel¬ 
cher isolirte papilläre Auswüchse standen. Wenn man nicht an¬ 
nehmen will, dass in die Narbe eingeschlossene Hautpartikeln, wie 
Waldeyer*) annimmt, den Boden dafür abgeben, so wäre die 
Thalsache der Papillarbildung in einer Narbe etwas höchst Auf¬ 
fallendes. 

Den Fall 7 konnte man vielleicht als Atherom ansprechen 
und würde dann einen dritten Bestandtheil der Haut, die Talg¬ 
follikel haben, welcher der ursprüngliche Sitz einer Nabel¬ 
geschwulst werden kann. Da aber Atherome nie angeboren Vor¬ 
kommen und einen ganz anderen Habitus, dickere Wand und 
dickem Inhalt haben, als der beschriebene Tumor, so muss man 
denselben wohl als Dermoid ansehen. Es ist zu bedauern, dass 
eine genaue mikroskopische Untersuchung nicht stattgefunden hat. 

Der zweite Bestandtheil des Nabels, welcher der Sitz von 
Geschwülsten werden kann, ist die Nabelnarbe selber. Es ist 
oben schon erwähnt, dass in dem von mir beschriebenen Papillom 
die Auswüchse zum Theil auf der Nabelnarbe standen und würde 
es danach nichts Auffallendes haben, wenn die Narbe einmal der 
unmittelbare Ausgangspunkt eines Papilloms würfle. Es liegt 
nahe, den von Fabricius Hildanus (Fall 1) beschriebenen Tu¬ 
mor als ein solches Papillom der Narbe anzusehen; indessen er¬ 
hebt sich selbstverständlich diese Ansicht nicht über den Werth 
einer Hypothese. Häufiger scheinen nach Waldeyer **) die Krebse 
der Nabelnarbe zu sein, wie man aus folgendem Wortlaut zu 
schliessen berechtigt ist: „Ich erinnere an die Krebse der Nabel¬ 
gegend, welche nicht selten ihre Entstehung den in der Nabel¬ 
narbe abgekapselten Epithelien verdanken.“ Leider fehlt in der 
Literatur jede genauere Beschreibung eines solchen Falles. 

•) Waldeyer, [Jeher den Krebs. Sammlung klinischer Vorträge. Nr. 33. 
S. 183. 

**) 1. c. 


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Die Neubildungen am Nabel Erwachsener und ihre operative Behandlung. 243 


Die dritte Localität, welche der Ausgangspunkt von Neubil¬ 
dungen werden kann, ist der Umbilicalcanal mit seinem Inhalt. 
Eine Geschwulst, welche sich hier entwickelt, wird die Nabel¬ 
narbe vor sich her drängen und von derselben auch bei weiterem 
Wachsthum überzogen bleiben, so dass sie eine glatte, glänzende 
Oberfläche darbietet; sie wird ferner, da sie den Nabelring zu pas- 
siren hat, eine eigenthümliche Configuration annehmen, welche in 
den Beschreibungen als Champignon- oder als Pilzform bezeichnet 
wird. Freilich kann diese Form nicht als pathognostisch für den 
Sitz an genanntem Orte angesehen werden; denn wenn die Narbe 
besonders tief liegt, so wird auch wohl eine auf ihrer Oberfläche 
sprossende Neubildung zunächst eine Art von Stiel bekommen, 
um beim Ueberschreiten des Hautwulstes sich nach allen Rich¬ 
tungen auszubreiten, dann dürfte aber der glatte Ueberzug dem 
Gewächse fehlen. — Für diese Localität möchte ich die Fälle 2, 
3, 4 und 5, also drei primäre und eine secundäre Geschwulst in 
Anspruch nehmen, über deren histologischen Bau mit Ausnahme 
des .ziemlich sicher constatirten primären Gallertkrebses und über 
deren wahrscheinlichen. Ausgangspunkt sich nur ungefähr Ver¬ 
muthungen aufstellen lassen, die keinen Werth haben. Hier 
müssen spätere Beobachtungen Aufklärung schaffen und würde es 
mir zur Befriedigung gereichen, wenn meine doch immerhin man¬ 
ches Hypothetische enthaltenden Classificationen die Aufmerksam¬ 
keit der Beobachter auf die Punkte lenken, welche von wesent¬ 
lichster Bedeutung sind. — Das Gesagte stelle ich noch einmal 
übersichtlich zusammen. Es sind beschrieben an: 

I. Neubildungen der Nabelhaut: 

Papillom, 

Dermoid. 

' II. Neubildungen der Nabelnarbe : 

Papillom, 

Carcinom, 

III. Neubildungen des Umbilicalcanals: 

Sarcom ? < 

Carcinom, 

primär (Gallertkrebs), 
secund&r (Medullarkrebs). 

Therapie der Neubildungen des Nabels. Für die 
Geschwülste des Nabels gilt wie für die aller übrigen Körpertheile 
als oberster Grundsatz, dass dieselben möglichst rein und mög- 

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Dr. E. Küster, 


liehst vollständig entfernt werden sollen. So leicht diese Indien* 
tion bei gewissen Neubildungen der Nabelhaut erfüllt werden 
kann, wie z. B. das Dermoid sich dureh einfaches Anziehen mit 
seiner Basis in den Bereich des Messers bringen liess, so schwie¬ 
rig wird die Aufgabe bei tiefem Sitz des Tumors in der Narbe 
oder im Umbilicalcanal. Diese Schwierigkeiten beruhen einer¬ 
seits in der schweren Zugänglichkeit der Basis der Geschwulst, 
über deren Sitz und Ausdehnung man sich kein klares Bild 
verschaffen kann, andererseits in der sehr engen Nachbarschaft 
von Organen des Peritonealsackes und des Darmrohrs, deren Ver¬ 
letzung den Operirten in grosse Lebensgefahr bringen würde. 

Was die erste dieser Schwierigkeiten anbetrifft, so giebt es 
zwei Methoden, um derselben Herr zu werden, deren eine auf un¬ 
blutigem, die andere auf blutigem Wege zum Ziele zu kommen 
sucht. Der unblutige Weg wurde von Fabricius Hildanus er¬ 
sonnen und betreten. Durch ein eigenthümliches schüsselförmiges 
Instrument mit durchbrochenem Loche wird der Hautwulst des 
Nabels niedergedrückt, die Narbe in die Höhe-gepresst und zur 
Ansicht gebracht. Es leuchtet ein, dass auf diese Weise doch 
nur unvollkommen der Nabelgrund übersehen werden kann, und 
dass der Apparat für etwaige Operationen sehr hinderlich sein 
muss. Aus diesen Gründen kam ich auf die sehr nahe¬ 
liegende Idee, den Hautwulst bis auf die Linea alba zu 
spalten durch einen diametralen Schnitt, welcher der Nabel¬ 
narbe entsprechend im Centrum aussetzt und den Nabel in 
einer beliebigen Richtung in zwei gleiche Hälften theilt. Sofort 
wird es möglich, die Nabelnarbe in ganzer Ausdehnung zu 
übersehen und nach festgestellter Diagnose das operative Vor¬ 
gehen zu regeln. Jedenfalls ist dieser Schnitt auch zu> diagno¬ 
stischen Zwecken als durchaus gefahrlos zu empfehlen und bei 
Anwendnng des Chloroforms der complicirten älteren Methode 
vorzuziehen. — Das weitere Vorgehen wird nach dem Sitz der 
Neubildung verschieden sein. Eine gestielte Neubildung der Haut 
würde ohne Schwierigkeit sich durch Messer oder Scheere abtra¬ 
gen lassen. Weniger leicht gelingt dies bei breitaufsitzenden Neo¬ 
plasmen, Papillom oder Cancroid. Hat dieselbe den Hautwulst in 
seinem ganzen Umfange ergriffen, so kann man in Versuchung 
kommen, dieselbe äusserlich umschneiden und durch Vorziehen 

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Die Neubildungen am Nabel Erwachsener und ihre operative Behandlung. 245 

mit einer Hakenzange soweit zugänglich machen zn wollen, dass 
man sie durch flache Scheerenschnitte von ihrer Basis ablösen 
kann. Indessen habe ich mich durch Versuche an der Leiche 
überzeugt, dass diese Methode wohl ausnahmslos zur Eröffnung 
des Peritoneum führen muss, weil dasselbe mit der Nabelnarbe 
verwachsen ist und folglich trichterförmig vorgezogen wird. Besser 
würde auch in -einem solchen Falle der. diametrale Schnitt mit 
isolirter Abtragung beider Hälften sein, weil man dann die Na- 
belnarbe vor Augen hat und sie durch flaches Aufsetzen der 
Scheere mit Sicherheit vermeiden kann. Eben so hätte man zu 
verfahren, wenn mehr als die Hälfte des Nabelwulstes krankhaft 
entartet ist. Man würde dann den Anfang des Schnittes an die 
Grenze des Gesunden verlegen, zuerst die ganz degenerirte Hälfte 
abtragen und später von der gesunden so viel zurücklassen, als 
sich erhalten lässt. 

Schwieriger wird die Operation bei tieferem Ursprünge der 
Neubildung. Günstig ist es, wenn dieselbe einen Stiel besitzt. 
Es wird in einem solchen Falle immer erwünscht sein, über ihren 
Charakter eine möglichst klare Anschauung zu gewinnen durch 
die mikroskopische Untersuchung eines abgeschnittenen Stück¬ 
chens. Stellt sich dabei ihre relative Gutartigkeit heraus, so 
kann man, nach dem Vorgänge des Fabricins, den ziemlich un¬ 
gefährlichen Weg der Unterbindung wählen; nur würde ich die 
Durchstechung des Stieles, feste Unterbindung nach beiden Sei¬ 
ten und Abschneiden oberhalb des Fadens der langsamen Abtren¬ 
nung durch allmälig festeres Schnüren des Fadens vorziehen. 
Tritt aber ein Recidiv apf oder ist die Geschwulst bösartig, oder 
ist sie mit so breiter Basis aufsitzend, dass sie von der Nabelnarbe 
nicht isolirbar ist, dann tritt die Frage an den Chirurgen heran, 
ob er bei dem Charakter des Tumors eine Eröffnung der Bauchhöhle 
rechtfertigen kann. Diese Frage beantworte ich mit einem entschie¬ 
denen Ja. Die Laparotomie ist heutigen Tages eine häufige Operation, 
zum Theil wegen Leiden, welche das Leben des Kranken weniger 
schnell und unmittelbar bedrohen, als eine rasch wachsende Nabel¬ 
geschwulst; sie ist ausserdem eine Operation, welche bei kunst¬ 
gerechter Ausführung viel geringere Gefahren birgt, als man 
früher anzunehmen geneigt war. In den meisten Fällen wird es 
sich bei der Kleinheit der Nabeltumoren um eine wenig umfang- 


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Dr. E. Küster, 


reiche Eröffnung des Peritonealsackes handeln und würde ich in 
einem wohlconstatirten Falle von Nabelkrebs dieselbe in folgender 
Weise vornehmen: Die Geschwulst wird zunächst äusserlich 
durch zwei elliptische Schnitte umgrenzt, am besten ausserhalb 
der Hautwülste, weil deren Wegnahme eine glattere und mehr zur 
ersten Vereinigung neigende Wunde zu Wege bringt. Dann 
dringt man mit ganz flachen Messerzügen vor, bis an einer klei¬ 
nen Stelle das Bauchfell eröffnet ist. In diese Oeffnung schiebt 
man eine Hohlsonde, auf welcher man in der Richtung des Haut- 
schnittes erweitert, bis man einen Finger in die Bauchhöhle ein- 
bringen kann, welcher den Darm schützt, und auf welchem man 
ein geknöpftes Messer einschiebt, um mehr drückend als schnei¬ 
dend das umschriebene Stück ganz abzulösen. Ein zuverlässiger 
Assistent muss die Schnittwunde sofort comprimiren, um eine 
Blutung in die Bauchhöhle zu hindern. Am meisten Schwierig¬ 
keiten dürfte wohl das Lig. suspensor. hepatis machen, in wel¬ 
chem, wie oben auseinandergesetzt, ein Ast der Art. hepatica 
zum Nabel herabläuft. Dies Ligament müsste, wenn die Neubil¬ 
dung durch den ganzen Umbilicilcanal reicht, nach Abtrennung 
der Basis der Geschwulst so weit vorgezogen werden, dass man 
es mit in eine Naht fassen und auf diese Weise die Blutung mit 
Sicherheit stillen kann. Schlimmsten Falles würde ich die Arterie 
isolirt unterbinden und den Faden aus einem Wundwinkel hervor¬ 
hängen zu lassen oder mit Cat-gut unterbinden. Die übrige Wunde 
muss mit Nähten geschlossen werden, von denen einige tiefe 
das Bauchfell mitfassen, während dazwischen oberflächliche einen 
genauen Verschluss auch der Hautwunde zu Wege bringen. Ab¬ 
solute Ruhe, eine Eisblase auf die Wunde und innerlich Opium 
dürften weiterhin nöthig sein, um eine Peritonitis zu bindern, übri¬ 
gens aber die Nachbehandlung wie auch sonst bei Laparotomien 
zu leiten sein. 

Sollte diese Methode von manchem der Leser als zu kühn 
angesehen werden, so muss ich daran erinnern, dass zur Entfer¬ 
nung bösartiger Neubildungen viel gefährlichere Operationen unter¬ 
nommen werden, deren Prognose, auch abgesehen von der un¬ 
mittelbaren Gefahr, schlechter ist als bei Nabeltumoren, weil 
diese, wie es scheint, meistens in einem verhältnissmässig frühen 
Stadium in die Hände der Chirurgen zu kommen pflegen. Man 

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Die Neubildungen am Nabel Erwachsener und ihre operative Behandlung. 247 


kann demnach hoffen, den Kranken durch eine gelungene Opera- 
tion dauernd von seinem Leiden zu befreien und dürften für die¬ 
sen Preis die Gefahren der Laparotomie wohl nicht zu gross sein. 
Vorausgesetzt ist dabei freilich, dass der Kranke seine Zu¬ 
stimmung zu der Operation giebt, deren Gefahren ihm nicht ver¬ 
heimlicht werden dürfen, und glaube ich, dass die Schwierigkeit 
des Entschlusses, wegen eines scheinbar nicht bedeutenden Uebels 
sich einer lebensgefährlichen Operation zu unterwerfen das Haupt- 
hinderniss für eine häufigere und glückliche Ausführung derselben 
bisher gebildet hat und vielleicht auch in Zukunft bilden wird. 


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XVI. 

Anatomische Untersuchung von drei ge¬ 
heilten Gelenkresectionen. 

Von 

llr. A. Welchselbnuin, 

Assistenzarzt der chirurgischen Klinik des Josephinums in Wien. 

(Hierzu Tafel III.) 


Die Frage über die Dignität der Gelenkresectionen gehört in 
der neueren Chirurgie noch immer zu denjenigen, über welche die 
Meinungen stark divergiren, ja einander geradezu entgegengesetzt 
sind. Es verhält sich mit den Gelenkresectionen eben so wie 
mit vielen anderen Entdeckungen und neuen Heilmethoden in der 
Medicin; ein Theil der Aerzte, welcher zufällig damit mehrere gün¬ 
stige Resultate hintereinander erlangte, schwärmt für die neue 
Methode und sieht nur ihre Lichtseiten, während ein anderer 
Theil, dem hierbei das Glück nicht so günstig war, gleich geneigt 
ist, darüber den Stab zu brechen und so zu sagen, das Kind mit 
dem Bade zu verschütten. Eine so wichtige und so umfassende 
Frage wie die Resectionsfrage kann auch nicht innerhalb weniger 
Jahre und durch die Anstrengungen einzelner Forscher gelöst 
werden; es sind ausgedehnte vieljährige klinische Beobachtungen, 
statistische Zusammenstellungen, genaue anatomische Unter¬ 
suchungen gut und schlecht geheilter Fälle u. s. w. nöthig, um 
über den Nutzen der Gelenkresectionen im Allgemeinen und über 
die Vortheile und Nachtheile in Bezug auf die einzelnen Gelenke end- 
giltig zu entscheiden. Desshalb halte ich auch nachstehende Mit¬ 
theilung für gerechtfertigt, in welcher es sich um eine ana¬ 
tomische Untersuchung von drei in ihren Ausgängen verschiedenen 

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Anatomische Untersuchung von drei geheilten Gclenkresectionen. 249 


Reseetionen handelt. Ich will mit der Darstellung desjenigen 
Falles • beginnen, in welchem der anatomische Befund am ungün¬ 
stigsten war, nämlich einer mit Bildung eines Schlottergelenkes 
geheilten Resection im Schultergelenke. 

Es war ein in den zwanziger Jahren stehender Soldat, Fr. Maretscbnigg, 
an dem im Jahre 1866 während des österreichisch-preussischen Krieges wegen 
Schassverletzung des linken Schultergelenkes die Resection mittelst des Längs¬ 
schnittes ausgeführt wurde; die Heilung der Wunde ging ohne Anstand vor sich. 
Anfangs soll die betreffende Extremität in geringem Grade brauchbar gewesen 
sein; später bildete sich aber ein Schlottergelenk aus, weshalb der Soldat in’s 
Invalidenhaus in Wien aufgenommen wurde. Da er im Horbste des Jahres 1871 
ertrank, batte ich Gelegenheit, bei der Obduction desselben das resecirte Schulter¬ 
gelenk zu untersuchen. 

Schon äusserlich bemerkt man eine starke Abflachung der linken Schulter¬ 
gegend; der Oberarm kann nach allen Richtungen ganz frei bewegt werden. Die 
nähere Untersuchung des Resectionsstumpfes zeigt, dass der Humerus am unteren 
Ende des Sulcus intertubercularis, beiläufig 3—4 Ctm. oberhalb der Insertion 
des M. deltoides durchsägt, somit fast ein Drittel resecirt worden war; 
Knochenersatz hat fast gar nicht stattgefunden. Bei Vergleichung 
mit der andern Extremität ergiebt sich in der Länge des Knochens eine Diffe¬ 
renz von 11 Ctm. Der Resectionsstumpf ist in der Nähe der Sägefläche seitlich 
abgeplattet und zugeschärft, so dass eigentlich koine Resectionsfläche, sondern 
bloss eine Kante existirt. Diese hängt mit der Cavitas glenoidalis und den zu¬ 
nächst liegenden Partien des lateralen Schulterblattrandes durch eine 4 Ctm. 
lange, 4—5 Ctm. breite und 3—4 Millim. dicke Bandmasse zusammen, 
welche bloss in ihrem vorderen Rande einen hirsekorngrossen Knochenkerir be¬ 
herbergt. Die Cavitas glenoidalis erweist sich ganz flach, knorpellos und von 
der zuYorgenannten Bandmasse überwachsen; ihr Hals ist namentlich an der 
äusseren Seite durch Knochenneubildung aufgetrieben. 

Was das Verhältniss der Muskelenden betrifft, so geht der M subscapularis, 
der M. supraspinatus und infraspinatus, der M. teres minor und der lange Kopf 
des M. biceps in die Bandmasse über; der kurze Kopf des M. biceps inserirt 
sich mit dem M. coracobrachialis wie gewöhnlich am Processus coracoides. Der 
M. teres major setzt sich knapp unterhalb der Resectionskante an einen kleinen 
Höcker au, ist somit mit seiner Insertion etwas tiefer gewandert. 
Der M. anconaeus extemus inserirt sich an der Kante des Resectionsstumpfes, 
der M. anconaeus internus endet wie gewöhnlich, desgleichen der M. anconaeus 
longus, nur ist letzterer in der Nähe seiner Insertion durch Narbenmasse sowohl 
mit dem M. teres major, als mit der gemeinschaftlichen Bandmasse verwachsen. 
Der M. deltoides hat normalen Ansatz. Der M. pectoralis major endet mit seinen 
unteren Partien unterhalb der Resectionskante, also etwas tiefer als normal, 
während er mit seinen obern Partien in die gemeinschaftliche Bandmasse über¬ 
geht. Sämmtliche Muskeln sind gut entwickelt, aber theilweise in Verfettung 
begriffen. 


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Dr. A. Weichselbaum, 


Es fand somit in dem vorliegenden Falle nahezu gar keine Knochen¬ 
regeneration statt; dies, sowie der Umstand, dass ein so langes Stü(k vom 
Humerus resecirt worden war, haben wesentlich zur Bildung eines Schlotterge¬ 
lenkes beigetragen, ln Bezug auf letzteren Umstand könnte vielleicht die Be¬ 
hauptung aufgestellt werden, dass man eine so ausgedehnte Resection überhaupt 
nicht mehr vornehmen dürfe. Darauf ist zu erwidern, dass einerseits nicht un¬ 
ausweichlich nach einer so ausgiebigen Resection ein Schlottergelenk entstehen 
müsse, da unter anderen Heyfelder (Resectionen, p. 223) in einem Falle, in 
welchem er fast das ganze obere Drittel des Oberarmes resecirt hatte, schon nach 
einem Jahre, als der Patient starb, das fehlende Stück fast ganz ersetzt fand, 
und dass andererseits selbst eine so ausgedehnte Resection wegen ihrer gerin¬ 
geren Gefahr einer Exarticulation im Schultergelenke vorzuziehen sei. 

Der zweite Fall, bei welchem in viel kürzerer Zeit, nämlich 
in nicht ganz zwei Jahren, schon ein theilweiser Ersatz des rese- 
cirten Knochens stattgefunden hatte, ist eine partielle Resec¬ 
tion des rechten Handgelenkes. 

Sie wurde an einem 21jäbrigen Soldaten, Ludwig Krenner, wegen Garies, 
welche im März 1870 nach einem Schlage aufgetreten war, vom Regimentsarzte 
Dr. Jan da in Lemberg im December 1870 ausgeführt, und zwar wurde das untere 
Ende des Radius in einer Länge von 6 Ctm. abgesägt. An dem resecirten und 
macerirten Knocbenstücke (Fig. 1) sieht man, dass es namentlich in der Nähe 
der noch überknorpelten Gelenkflächen aufgetrieben ist und knapp oberhalb der 
letzteren an der Volarseite eine wallnussgrosse Höhle besitzt, deren Wände von 
sehr porösem Knochengewebe gebildet werden und in deren Umgebung die 
Knocbenoberfläche mit Osteophyten bedeckt ist; auch der Stylus radii ist durch 
Osteopbyten ersetzt. Nach der Operation wurde, wie der Patient erzählt, das 
Gelenk mittelst eines Schienenverbandes fixirt, welchen er durch drei Monate 
trug. Nach Hinwegnahme desselben bildete sich allmälig eine fehlerhafte Stel¬ 
lung der Hand aus, indem sie adducirt und leicht gebeugt wurde; im Hand¬ 
gelenke war keine Beweglichkeit vorhanden. Die Krankheit war aber 
trotz der Operation nicht erloschen; denn es kam wieder zur Bildung von Ab- 
scessen und Fistelöffnungen. Im März 1872 überstand er einen Typhus, während 
dessen er einmal aus dem Bette auf die kranke Hand fiel. Im Mai 1872 kam 
er in’s hiesige Invalidenhaus, wo nach längerem Aufenthalte alle Fistelöffnungen 
bis auf eine zuheilten; die Hand war aber in der adducirten und gebeugten 
Stellung vollkommen unbeweglich; desgleichen konnten auch die Finger nicht 
bewegt werden. Da der Kranke, der sonst sehr kräftig und blühend aussab, 
die Hand zu gar nichts gebrauchen konnte und es überdies aus einer Fistelöff¬ 
nung am Handrücken, die zum cariösen Kahn- und Trapezbeine führte, fort¬ 
während eiterte, so verlangte er dringend die Amputation, welche auch am 
17. October 1872 auf obiger Klinik mittelst des Zirkelschnitts ausgeführt wurde. 
Die Heilung ging sehr rasch und ohne alle Zwischenfälle vor sich und war am 
13. November vollständig beendet. Die amputirte Hand zeigt bei näherer Unter¬ 
suchung folgenden anatomischen Befund: In der Gegend des ehemaligen Carpo- 


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Anatomische Untersuchung von drei geheilten Gelenkresectionen. 251 

Radial-Gelenkes findet sich zwischen dem Radiusstumpfe und den Handwurzel- 
knocheo derbes Narbengewebe ausgespannt, welches aber keinen soliden Strang 
darstellt, sondern eine Gelenkhöhle einschliesst, welche sich vom Kahn- und 
Hondbein einerseits bis zum verlängerten Radiusstumpfe andererseits in einer 
Länge von 1—2 Gtm. erstreckt (Fig. 2, b). Ich nenne den Radiusstumpf des¬ 
halb verlängert, weil sich bereits von seiner Resectionsfläche aus ein 2* Ctm. 
langes Stück eines knorpelharten, weisslichen Fasergewebes von der Dicke des 
Radiusknocbens gebildet hat, welches mit einer schiefen, von Granulationen be¬ 
deckten Pseudo-Gelenkfläche in die neue Gelenkhöhle sieht (Fig. 2, a). Von Seiten 
des Garpus sind das Kahn- nnd Mondbein in das neue Gelenk einbezogen, welche, 
sowie überhaupt die ganze Innenfläche der Gelenkhöhle, mit weichen, tbeilweise 
im Zerfalle begriffenen Granulationen bekleidet sind. Das Ersatzstück am Ra¬ 
diusstumpfe beherbergt ulnarwärts ein 2 Gtm. langes und £ Gtm. dickes 
Knochenstück und an der äusseren Seite einen erbsengrossen Knochenkern; 
ebenso ist in das Narbengewebe auf der Dorsalseite eine kleine, dünne, etwas 
höckerige Knochenplatte eingeschaltet. Der Radiusknochen selbst ist an seinem 
untern Ende leicht aufgetrieben, an der Oberfläche etwas uneben, und fein porös, 
das Periost verdickt Die Dorsalfläche des Kahnbeins ist an einer Stelle, wohin 
die Fistel am Handrücken führt, entblösst; seine Substanz ist grösstentheils er¬ 
weicht grobschwammig und von röthlichen Granulationen durchsetzt. Die übri¬ 
gen Handwurzelknochen sind grösstentheils hart und fest, dagegen ist die Basis 
8ämmtlicher Metacarpusknocben erweicht und von sehr fettreichem Markgewebe 
durchsetzt — Das Köpfchen der Ulna, dessen Substanz übrigens unverändert 
ist ist mit dem Mond- und Pyramidenbeine knöchern verwachsen; dadurch 
war die Unbeweglichkeit im Handgelenke bedingt. Desgleichen sind mit Aus¬ 
nahme des Trapezbeins sämmtliche Handwurzelknochen untereinander und mit 
der Basis der Metacarpalknochen, den 4. und 5. ausgenommen, knöchern ver¬ 
wachsen. Das die neue Gelenkhöhle umschliessende Narbengewebe setzt sich 
an der Dorsalseite bis zu den Köpfchen der Mittelbandknocben fort und umhüllt 
daselbst die Strecksebnen, welcher Umstand die Steifigkeit der Finger erklärlich 
macht. — Was die Muskeln anbelangt, so ist der Muse, supinator longus fast 
ganz verfettet; seine Sehne geht in der Gegend des Processus styloideus radii 
in das zuvorgenannte Narbengewebe über, desgleichen die Sehnen der beiden 
Mm. radiales externi. Das Fleisch des M- abducens pollicis longus ist knapp 
oberhalb der Sehne etwas verfettet; die letztere kreuzt in der gewöhnlichen 
Weise die Sehnen der Mm. radiales, geht aber dann sogleich in das Narbenge¬ 
webe über. Der Muskelbauch des Extensor pollicis brevis ist stark verfettet 
und geht nach unten in einen Narbenstrang über, der nicht der normalen Lage 
der Sehne entspricht, sondern knapp neben und nach innen von den Sehnen 
der äusseren Radialmuskeln liegt und sich am unteren Ende des verlängerten 
Radiusstumpfes inserirt. Der M. extensor pollicis longus ist etwas verfettet 
und seine Sehne geht in das gemeinschaftliche Narbengewebe über. Der M. 
extensor digitorum communis und der M. uInaris externus zeigen nur geringe 
Fetteinlagerung, desgleichen die beiden gemeinschaftlichen Fingerbeuger und 
der M. quadratus, dagegen ist der Musculus flexor pollicis longus stark ver- 


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Dr. A. Weichselbaum, 


fettet. Der M. palmaris longus fehlt, der M. ulnaris internus und M. radialis 
internus sind unverändert. Das unterste Stuck des M. indicator ist an seiner 
radialen Seite mit dem Narbengewebe verwachsen Wir sehen somit, dass sämmt- 
liche Muskeln an der Radialseite des Vorderarms ihre früheren Angriffspunkte 
eingebiisst haben und auf dieselben nur mittelst des Narbengewebes, in das sie 
übergehen, wirken können; ob dies zufolge einer Verletzung während der Ope¬ 
ration, oder einer nachträglichen Vereiterung der Sehnen eingetreten ist, lässt 
sich natüilich jetzt nicht mehr nach weisen. 

Die Verfettung hat nicht allein in den Muskeln, sondern auch in den 
Nerven Platz gegriffen; es zeigen sich nämlich der Nervus radialis und ul¬ 
naris von Fettgewebe um- und durchwachsen und zwar derart, dass 
nicht nur in dem interstitiellen Bindegewebe, sondern in den Nervenfasern selbst 
Fett abgelagert ist. 

Was das Knocbenstück betrifft, welches in dem von der Resectionsfläche 
des Radius ausgehenden Fasergewebe liegt, so erweist es sich in hohem Grade 
porös. Das dasselbe umgebende Bindegewebe ist sehr derb, dichtfaserig und 
meist von sebnenähnlichem Baue; stellenweise finden sich aber schmalere oder 
breitere Spalten, die von kleinen Rundzellen erfüllt sind. In der unmittelbaren 
Nähe des Knochens verändert es seinen Charakter, indem die Faserung unregel¬ 
mässig oder undeutlich wird und die Zellen an Zahl zunehmen; in den darunter 
liegenden Knochen schickt es zahlreiche, entweder ganz kleine, halbkugelige oder 
grössere und konische Fortsätze hinein, von denen einige zu Havers’schen oder 
Markkanälen werden. An vielen Stellen kann man genau den allmäligen 
Uebergang dieses Gewebes in die Knochensubstanz studiren. Man 
sieht, wie hierbei die Zellen Fortsätze bekommen, mit denen sie anastomosiren 
Anfangs noch sehr nahe aneinander liegen, oft so dicht, dass sie sich gegenseitig ab¬ 
platten, weiter nach abwärts aber mehr auseinander rücken und zugleich au 
Grösse zunehmen und zwar derart, dass sie darin die älteren Knochenkörperchen 
übertreffen. Die Markräume des Knochens enthalten in einem lockeren, fein¬ 
faserigen Gewebe nebst spärlichen Fettzellen kleinere und grössere Rundzellen, 
die an den Wänden der Räume zu Osteoblasten werden, wobei sie dicht und 
oft so regelmässig wie Epithelien beisammen liegen; auch die Abkömmlinge dieser 
sind grösser und plumper, als die reifen Knochenzellen. 

Wir sehen somit, dass sich in dem eben besprochenen Falle 
die anatomischen Verhältnisse nach der Resection in einer Bezie¬ 
hung nicht so ungünstig gestaltet hatten; es wurde nicht nnr die 
Hälfte des resecirten Stückes, und zwar theilweise schon 
knöchern ersetzt, sondern es war auch zur Bildung einer Art 
Gelenkhöhle gekommen, und wäre nicht so frühzeitig eine 
knöcherne Verwachsung der Ulna mit den Handwurzelknochon er¬ 
folgt und die Caries in letzteren gänzlich erloschen, so würde 
wahrscheinlich ein bewegliches Gelenk resultirt haben, wenig¬ 
stens waren anatomischerseits die Bedingungen hierfür ganz günstig’. 


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Anatomische Untersuchung von drei geheilten Gelenkresectionen. 253 

Der Eintritt der Ankylose zwischen Ulna und Handwurzelknochen, 
der wahrscheinlich, wie aus der Angabe des Kranken hervor¬ 
zugehen scheint, schon während des Tragens eines immobilen 
Verbandes erfolgt war, hinderte die Vornahme von Bewegungen 
im Handgelenke und führte in natürlicher Folge zur Verfettung 
der Muskeln und Nerven. Es liegt hier die Frage nahe, ob nicht 
die partielle Resection die Ankylose begünstigte, um so mehr 
als gerade vom Handgelenke mehrere Fälle bekannt sind, wo nach 
partieller Resection Ankylose erfolgte. 

Wenn die zwei ersten Fälle wegen ihres ungünstigen Aus¬ 
ganges und wegen der Einfachheit der dabei obwaltenden Verhält¬ 
nisse weniger Beachtung finden dürften, so verdient dagegen der 
nachstehende Fall volles Interesse, und ich erlaube mir deshalb, 
denselben in seinem anatomischen Theile ausführlicher zu schil¬ 
dern; dabei bedauere ich, dass ich nur spärliche anamnestische 
Daten anzuführen in der Lage bin, welche ich übrigens der Güte 
des Herrn Regiraentsarztes Dr. Ficker verdanke. 

Joseph Kaintz, Invalide, erhielt im österreichisch - italienischen Feldzuge 
185l> in seinem 31. Jahre einen Schuss in’s rechte Glienbogengelenk, und 
es wurde deshalb die totale Resection des letzteren ausgeführt. Die Heilung 
scheint nur langsam vor sich gegangen zu sein; denn man sieht an der Rücken- 
fläche des Gelenkes ausser der Längsnarbe, die von dem Resectionsschnitte nach 
der Methode von v. Langenbeck herrührt, noch mehrere kleine, theils beweg¬ 
liche, theils mit den Knochen verwachsene Narben, die auf eine längere Eite¬ 
rung und mehrfachen Durchbruch des Eiters nach aussen deuten. Der Mann 
kam später zur Versorgung in’s hiesige Invalidenhaus. Als Dr. Ficker ihn 
sab, soll die Brauchbarkeit der betreffenden Extremität wohl keine sehr grosse 
gewesen sein; er konnte dieselbe nur zu leichteren Verrichtungen verwenden, 
bei schwereren musste er sie mit der gesunden Hand unterstützen. Streckung 
und Beugung im Ellenbogengelenke war möglich, aber nur in geringem Grade; 
auf Pro- und Supination war nicht geprüft worden. Ende 1871 kam der ge¬ 
nannte Invalide wegen Delirium tremens in’s hiesige Garnisonspital und starb 
daselbst am 4. Januar 1872; ich sah ihn leider erst, als er zur Obduction in 
die Leichenkammer gebracht wurde. Die Contouren des rechten Ellenbogen¬ 
gelenkes zeigen sich verbreitert und die Vorderarmknochen etwas nach aussen 
dislocirt; die Gelenklinie verläuft schief von aussen oben nach innen und unten. 
Der Vorderarm ist in einer Mittelstellung zwischen Pro- und Supination. An 
der Leiche ist die Streckung ohne allen Widerstand bis zu einem Winkel 
von circa 130° möglich, eine weitero Streckuhg wird durch die Spannung 
der Bicepssehne verhindert; die Beugung ist bis zu einem Winkel von 
circa 65° ausführbar, auch Pro- und Supination ist in geringem Grade mög- 


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Dr. A. Weichselbaum, 


lieb; dabei gehen die Bewegungen im Gelenke ganz glatt vor sieb, nur bei der 
Supination hört man ein leichtes Knacken. Eb lässt Bomit die passive 
Beweglichkeit an der Leiche kaum etwas zu wünschen übrig. Da¬ 
gegen zeigen einzelne Muskeln theils Atrophie, theils Verfettung. Die 
Mm. radiales externi sowie die Mm. Supinator longus et brevis sind schmal und 
dünn, der letztere grösstentheils verfettet, von den übrigen Muskeln der 
im Bereiche des Ellenbogengelenkes und Oberarms gelegene Abschnitt. Die 
Bicepssehne springt stark vor und ist mit dem M. pronator teres, dem M. bra- 
chialis internus und den Supinatoren durch derbe Fasermassen verwachsen, ein 
Umstand, welcher eine weitere Dehnung der Sehnen und somit eine weitere 
Streckung als die oben angegebene verhinderte. Der M. bracbialis internus ist 
gut entwickelt, aber theilweise verfettet Der Ansatz der genannten Mus¬ 
keln ist unverändert, ebenso der Ansatz des Caput commune ulnare, nur sind 
auch hier die einzelnen Muskeln zart und schmächtig. Der M. extensor digito- 
rum communis und der M. ulnaris externus setzen sich mit einer derben, in 
der Gegend des Ellenbogengelenkes durch Narbengewebe verstärkten Bandmasse 
am Oberarme an. Der M. anconaeus quartus ist vollständig in Fettgewebe 
umgewandelt; der M. anconaeus internus und die untere Hälfte des M. an¬ 
conaeus externus ist fast vollständig verfettet, die obere Hälfte des letz¬ 
teren zum grossen Theile. Das obere Ende des M. ulnaris internus erscheint 
wegen der Dislocation der Ulna nach aussen sehr verbreitert. — Der Nervus 
ulnaris ist sowohl im unteren Drittel des Oberarms, als auch an der Eintritts¬ 
stelle zwischen die beiden Köpfe des M. ulnaris internus, von reichlichem 
Fettgewebe eingehüllt, desgleichen der Nervus radialis im oberen Drittel 
des Oberarms und der Ramus profundus an seiner Eintrittsstelle in den M. 
supinator brevis. — Viel günstigere Verhältnisse als an den Muskeln und Ner¬ 
ven finden wir an den Gelenkenden. Es hat sich nämlich eine Art 
Doppelgelenk gebildet, d. h. ein Gelenk, welches durch eine fast hori¬ 
zontale Scheidewand aus Bindegewebe vollständig in zwei Hälften geschieden 
ist (siehe Fig. 3, d, e, f). Die in die obere Hälfte eingezogenen Gelenkflächen 
sind einerseits die vordere Fläche des verbreiterten und verdickten unteren 
Humerusendes (Fig. 4, i), mit Ausnahme eines am unteren inneren Abschnitte 
vorspringenden convexen Fortsatzes (Fig. 4, k), und andererseits eine annähernd 
viereckige, 2 Cm. lange und 3 Cm. breite Knochenplatte (Fig. 5, g), welche 
mittelst eines kurzen, aus zackigen Knochenstücken zusammengesetzten Stieles 
vom vorderen Rande der oberen Epiphyse der Ulna entspringt; sie vertritt 
gleichsam den Processus coronoides ulnae. Die erstere leicht ausgehöhlte Ge¬ 
lenkfläche nimmt die ganze Breite des unteren Humerusendes ein und erstreckt 
sich nach aufwärts in einer Länge von 21 Cm.; sie wird am äusseren Rande 
von einem 1—2 Cm. hohen Osteophytenwalle, am oberen und inneren Rande 
von einem sehr derben, knorpelähnlich harten Bindegewebsring (Limbus) über¬ 
ragt und dadurch zu einer .^rt Pfanne umgeschaffen. Sie trägt einen I—2 Mm. 
dicken, gefässreichen, röthlicbgrauen und mit klebriger Synovia bedeckten Ueber- 
zug, der für das freie Auge nur aus Bindegewebe zu bestehen scheint; bei der 
mikroskopischen Untersuchung zeigt sich aber, dass an vielen Stellen in das 


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Anatomische Untersuchung von drei geheilten Gelenkresectionen. 255 


dichte, fibrilläre Gewebe Knorpelzellen eingetragen sind, die theils schmal 
und mehr den Bindegewebszellen ähnlich, theils rund und von verschiedener 
Grösse sind und entweder einzeln oder zu Gruppen vereinigt liegen. Beson¬ 
ders reich an Knorpelzellen ist der Ueberzug in seinem unteren inneren Ab¬ 
schnitte, wo er sehr dünn und etwas zerfasert erscheint. Die Innenfläche der 
Gelenkkapsel sowie die Scheidewand ist desgleichen von einer Art Synovial - 
membran überzogen, welche allenthalben von klebriger, Synoviaartiger Flüs¬ 
sigkeit bedeckt erscheint. Ein Endothel ist jedoch mittelst der Silberbehand¬ 
lung nicht nachweisbar. Die correspondirende Gelenkfläche an der Ulna ist 
bedeutend schmaler und fast plan und trägt einen ähnlichen, aus Bindegewebs- 
knorpel bestehenden Ueberzug; was ihr an Ausdehnung gegenüber der Gelenk¬ 
fläche am Humerus abgeht, wird von der Scheidewand ergänzt, welche ebenfalls 
bei Bewegungen mit der letzteren in Contact kommt Die Scheidewand ist vom 
hinteren Rande des neuen Processus coronoides zum unteren Rande der Hu- 
merusgelenkfläcbe in leicht schräger Richtung ausgespannt; sie ist nicht voll¬ 
kommen eben, sondern es springen aus ihr dickere Bindegewebstrabekeln vor, 
zwischen denen kleine, verschieden tiefe Grübchen entstehen; in einer dieser 
findet sich eine erbsengrosse Oeffnung, durch welche beide Gelenkhälften com- 
municiren. — Die die untere Hälfte constitnirenden Gelenkflächen sind ein 
Knochenauswuchs am inneren Abschnitte des unteren Humerusendes (Fig. 4, k) 
und die obere Fläche der Ulna (Fig. 5), mit Ausnahme der an ihrem vorderen 
Rande gelegenen Knochenplatte. Der Knochenvorsprung am Humerus hat eine 
Länge von 2 Cm. und eine Breite von 2§ Cm. und stellt gleichsam eine neue 
Trochlea dar; nur ist seine Oberfläche anders geformt, indem ihre grossere 
äussere Hälfte nur sehr leicht gewölbt, die kleinere innere dagegen leicht concav 
ist. Letztere trägt in ihrer ganzen Ausdehnung einen theils feinzottigen, 
theils glatten, 1 Mm. dicken, grauweissen Ueberzug, der, wie später ausführ¬ 
licher beschrieben werden wird, aus Bindegewebsknorpel mit einge¬ 
streuten hyalinen Knorpelpartien besteht. Die übrigen Partien der 
Gelcnkfläche zeigen, mit Ausnahme der Ränder, den entblössten, glatten, elfen¬ 
beinähnlich harten, gelblichen Knochen, der nur hier und da kaum sicht¬ 
bare, grauweisse Knorpelinseln trägt; über die Ränder aber schiebt sieb, bald 
in grösserer, bald in geringerer Ausdehnung, ein kaum 1 Mm. dicker, sehr 
feinzottiger, grauweisser Ueberzug (Fig. 4, 1) von ähnlicher Zusammen¬ 
setzung wie der zuvor genannte. Die Gelenkfläche an der Ulna ist 3 Cm. lang 
und 2{| Cm. breit, und sowohl in der Richtung von vorne nach hinten als von 
einer Seite zur anderen ausgehöhlt. Die centralen Stellen besitzen nur einzelne 
mobn- bis hirsekerngrosse Inseln von faserigem, grauweissem Knorpel, zeigen 
dagegen im Uebrigen ebenfalls den glatten eburnirten Knochen (Fig. 5, n). 
Der innere Rand der Gelenkfläche wird verstärkt durch ein 2 Cm. langes und 
1 Cm. breites und fast ebenso dickes, schalenförmiges und bewegliches Kno¬ 
chenstück, welches an seinem unteren Rande durch kurze Fasermassen mit der 
Gelenkfläche zusammenhängt; seine untere Fläche ist uneben und warzig, seine 
obere trägt einen theils glatten, theils mehr zottigen Knorpelüberzug, welcher 
sich auch in den zwischen Ulna und Knochenstück befindlichen Spalt fortsetzt 


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und durch seine zölligen Auswüchse einen losen Zusammenhang zwischen bei* 
den herstellt. Den hinteren Rand der Gelenkfläche überwuchert eine 1 Cm. 
breite und \ Cm. dicke Fasermasse in Gestalt eines Meniscus (Fig. 5, m), 
welche ebenfalls einen zottigen Ueberzug trägt und in den Ueberzug des zuvor 
genannten Knochenstückes übergeht. Der vordere Rand der Gelenkfläche ist 
durch kleine warzige Erhabenheiten uneben und sowie der äussere Rand mR 
einem theils fein villösen, theils mehr platten, grauweissen Knorpel (Fig. 5 P) 
bewachsen; von demselben ziehen mehrere zarte grauweisse Fäden brückenartig 
zum Gelenkvorsprunge am Humerus. — Die fibröse Kapsel ist allenthalben derb 
und straff gespannt; die Innenfläche ihrer vorderen Wand trägt einfache und 
verästelte, meist feinzottige Auswüchse bis zu einer Höhe von \ Cm., und 
in der Nähe des vorderen Randes der Gelenkfläche der ülna ein bohnengrosses, 
kurz gestieltes und schon etwas bewegliches Knocbenstück, welches an seiner 
Oberfläche plattgedrückt und mit einem zartfaserigen, grauweissen Ueberzuge 
bekleidet ist, der mit dem Rande der Gelenkfläche sowie mit der Kapsel durch 
zottenartige Verlängerungen zusammenbängt. — Auch die untere Gelenkhälfte 
enthält klebrige, zähflüssige Synovia. — Der Bewegungsmodus in dem Doppel¬ 
gelenke ist der eines Charniergelenkes; die beiden Hälften betheiligen sich 
aber derart an den Bewegungen, dass bei der Beugung die Gelenkflächen der 
oberen Hälfte sich berühren, die der unteren auseinandertreten, während es sich 
bei der Streckung umgekehrt verhält. Zugleich zeigt sich hierbei, dass eine 
weitere Beugung als bis zu einem Winkel von 65° durch des Anstemmen des 
neugebildeten Processus coronoides an den Humerus, eine grössere Streckung 
als die oben angegebene nicht nur durch Spannung der ßicepssehne, sondern 
auch durch die sehr straffe Kapsel gehindert wird. 

Was die Configuration der übrigen Partien des unteren Humerusendes be¬ 
trifft, so ist schon angegeben, dass das untere Ende verbreitert und verdickt er¬ 
scheint. Der untere Rand verläuft schief von innen und unten nach aussen und 
oben und ist so wie die hintere Fläche mit einem dichten, innig anhaftenden 
Periost überzogen, nach dessen Abziehuug der Knochen uneben und rauh er¬ 
scheint. Eine Fossa supratrochlearis posterior ist vorhanden, ebenso ein Condy- 
lus internus. Bezüglich der Ulna ist noch hinzuzufügen, dass ihre äussere Kaute 
unterhalb der Gelenkfläche einen 2 Ctm. langen, stacheligen Fortsatz trägt und 
dass auch die übrigen an die Gelenkfläche grenzenden Partien mit kleinen, 
stacheligen und warzigen Osteophyten bedeckt sind. — Ein Radio-Humeral- 
gelenk und ein Radio-Ulnargele nk ist nicht vorhanden. Die obere Fläche 
des Radius ist oval (der längere Durchmesser verläuft sagittal), leicht uneben 
und mit einem dicbtfaserigeu Biudegewebsüberzuge bekleidet, welcher durch eine 
über 1 Ctm. lange, sehr derbe Fasermasse, in der auch kleine Knocheukerne 
sieb befinden, mit dem äusseren Abschnitte des unteren Humeiusrandes und 
dem Caput commune radiale zusammenhängt. — Was die feinere Structur des 
Knorpelüberzuges der Gelenkflächen betrifft, so wurde sie von der oberen Gelenk¬ 
hälfte bereits angegeben. In der unteren Hälfte ist der Ueberzug an den Rand¬ 
partien 1 — 1 4 MÜL dick (wenn man von den zottigen Verlängerungen absieht) 
und wird gegen die centralen Stellen immer dünner. An der Pseudotrochlea 


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Anatomische Untersuchung von drei geheilten Gelenkresectionen. 257 

kann man in demselben im Allgemeinen zwei Schichten unterscheiden, eine 
oberflächliche, schmale und eine tiefere, breite. In letzterer verhält sich die 
Grundsubstanz verschieden; entweder ist sie, was am häufigsten der Fall ist, 
senkrecht zur Oberfläche gestreift, stellenweise deutlich zerklüftet, oder ge¬ 
radezu fibrillär und mit meist solitären, seltener in Gruppen stehenden, klei¬ 
neren und grösseren, runden und ovalen Zellen bevölkert, oder es ist die Grund¬ 
substanz eine grössere Strecke weit ganz hyalin und homogen und enthält 
grosse, runde Knorpelzellen oder sie wird von Strecke zu Strecke durch tiefe, 
bis auf den Knochen reichende Klüfte unterbrochen und enthält dann, ähnlich 
wie bei der Arthritis deformans, grosse Zellengruppen und Zellenschläuche; die 
unmittelbar an den Knochen grenzende Lage dieser Schicht ist verkalkt. — Die 
oberflächliche Schicht wechselt ebenfalls in ihrem Aussehen; sie besitzt entweder 
eine streifige oder fibrilläre Grundsubstanz, wobei die Streifen oder Fibrillen 
immer parallel zur Oberfläche liegen; in derselben wechseln kleine rundliche oder 
elliptische, hie und da auch eckige Zellen mit grossen, mit dicken Kapseln ver¬ 
sehenen Zellen ab. An einzelnen Schnitten sieht man diese Schicht nach oben 
in eine Lage übergeben, in welcher die Gmndsubstanz wieder mehr hyalin oder 
undeutlich körnig erscheint und meist regelmässige, runde oder ovale Knorpel¬ 
zellen liegen; ebenso siebt man an einzelnen Schnitten zwischen die oberfläch¬ 
liche und tiefe Schicht noch eine dritte, schmale Schiebt eingeschoben, die nur 
aus kleinen, eckigen und zackigen, osteoiden Zellen, oder selbst aus entwickelten 
Knochenkörperchen besteht. Von der oberflächlichen Schicht sieht man an den 
meisten Stellen zottenähnliche oder keulenförmige Auswüchse abgehen, 
welche schon mit freiem Auge sichtbar sind und dem Ueberzuge seinen villösen 
Charakter verleiben. Dieselben besitzen entweder eine fibrilläre oder hyaline 
Grundsubstanz und zumeist schöne, runde oder elliptische Zellen mit deutlicher 
Kapsel und einem oder mehreren, einfachen oder in Theilung begriffenen Kernen, 
sowie auch kleineren und grösseren Knorpelmutterzellen. Die gleiche Structur 
zeigen die feinen Fäden, die brückenartig zwischen Ulna und Humerus ausge¬ 
spannt sind; diese sowohl als jene besitzen nicht selten noch kleinere kolbige 
oder blattähnliche Anhänge, ähnlich den gef&sslosen Anhängen der Synovial¬ 
zotten. — Das Verhalten der zwei Schichten ist gegen die centralen Stollen der 
Gelenkflächen zu, ein verschiedenes; entweder hört zuerst die oberflächliche 
Schicht auf, während die tiefere, immer schmaler werdend, sieb noch eine Strecke 
weit fortsetzt, dabei fast ganz hyalin oder stark zerklüftet erscheint; endlich 
verschwindet auch sie und es liegt der entblosste Knochen vor, der Anfangs 
noch hier und da kleine, von vielen Lücken durchbrochene, hyaline Knorpel¬ 
inseln trägt; oder es ist das Verhältnis umgekehrt, indem zuerst die tiefere 
Schicht aufhört. An den äussersten Randparticen ist bloss die oberflächliche 
Schiebt vortreten, welche daselbst in den darunterliegenden Knochen zahlreiche 
grössere und kleinere, halbkugelige oder kegelförmige Vorsprünge macht, von 
denen die grösseren selbst wieder an ihrer Peripherie häufig kleine, halbmond¬ 
förmige Ausbuchtungen zeigen; dem Knochen zunächst enthält diese Schicht 
zahlreiche osteoide Zellen. Es findet somit hier ein Uebergang der Zellen des 

y. L i n I f n b e r V , Archiv f Chirurgie. XVI 17 


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Bindegewebes und des Bindegewebsknorpels in Enocbenzellen statt, so wie diese 
Schiebt weiter nach aussen in das Periost und in die Gelenkkapsel übergebt. 

Der Ueberzug der correspondirenden Gelenkfläche an der Ulna ist ähnlich 
beschaffen; auch das den inneren Rand derselben verstärkende, schalenförmige 
Knochenstück besitzt sowohl auf seiner oberen, als an der der Ulna zngekehrten 
Fläche den vollkommen gleichen Ueberzug. Was den Knochen der Pseudo- 
Trocblea anbelangt, so ist er zum grössten Theile grob porös und in seinen 
weiten Markräumen reichliches Fett führend; nur in der unmittelbar an den 
Knorpelüberzug stossenden Schicht sind die Mark* und Gefässräume kleiner und 
von jungem, ossifleirendem Markgewebe erfüllt. An denjenigen Stellen, wo der 
Knochen bloss Jiegt, ist die oberste Schicht in einer Dicke von £— 1 Mm. 
compact, die meisten Gefässcanäle mit Knochengewebe ausgefüllt, einzelne 
von ihnen angeschliffen; das Gleiche gilt von der Ulna. — Das bohnengrosse 
Knochenstück auf der Innenfläche der Kapsel in der Nähe des vorderen 
Randes der Ulna wird allenthalben von einer 1—2 Mm. dicken, knorpeligen 
Kapsel umschlossen, die in ihrer Structur eine auffallende Uebereinstimmung 
mit dem Randüberzuge der Gelenkflächen aufweist; sie besteht nämlich auch 
grösstentheils aus zwei Schichten, wovon die tiefere, dem Knocbenkerne zunächst 
liegende, bedeutend breiter ist und einen Knorpel mit tbeils hyaliner, theils 
senkrecht zur Oberfläche gestreifter Grundsubstanz darstellt, während die ober» 
Sächliche Schicht entweder eine quergestreifte Knorpelsubstanz besitzt oder, wie 
es namentlich an der der Gelenkkapsel zugewendeten Fläche der Fall ist, ganz 
bindegewebig ist. In gleicher Weise wie bei dem Ueberzuge der Gelenkfläcben 
finden wir auch hier an der Oberfläche zottenibnliche oder keulenförmige Aus¬ 
wüchse. 

Fassen wir das Ergebniss der Untersuchungen zusammen, so 
müssen wir sagen, dass in diesem Falle die Verhältnisse an den 
Knochen sich sehr günstig gestaltet hatten, indem es zur 
Neubildung aller wesentlichen Bestandteile eines Gelenkes ge¬ 
kommen war; wir haben nämlich sowohl am Hamerns als an der 
Ulna neue Gelenkfortsätze nnd Gelenkflächen, einen Knorpel¬ 
überzug derselben und eine Gelenkkapsel mit einer Synovia se- 
cernirenden Innenfläche. 

Dabei ist aber auffallend, dass wir in der unteren Gelenk¬ 
hälfte die centralen Stellen der Gelenkflächen vom Knorpelüber- 
zuge entblösst und den Knochen sclerosirt finden, während 
der Randknorpel Auffaserung, Zerklüftung und zottiges Aus¬ 
wachsen zeigt, also gleiche Veränderungen, wie sie der Arthri¬ 
tis deformans zukommen. Es liegt daher der Schluss nahe, 
dass anfänglich die betreffenden Gelenkflächen in ihrer ganzen 
Ausdehnung einen vollständigen Knorpelüberzug trugen, und 
zwar schon grösstentheils oder ganz hyaliner Natur, dass aber 

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Anatomische Untersuchung von drei geheilten Gelenkresectionen. 259 

später eine Art deformirender Gelenkentzündung aufgetreten sei, 
in Folge welcher es znr Zerfaserung des Knorpels, zunächst an 
den centralen, später an den peripherischen Partieen gekommen 
ist, wobei die ersteren bis auf einige kleine Inseln vollständig ab¬ 
gerieben nnd zerstört worden, während die Randpartieen noch er¬ 
halten blieben; der im Centrom blossgelegte Knochen musste in 
Folge fortwährender Reibong sclerosiren. Mit der Annahme 
einer Arthritis deformans stimmt ferner die Tendenz des stehen¬ 
gebliebenen Knorpels zur Verknöcherung in seinen an den 
Knochen grenzenden Lagen, das Vorkommen von warzigen, über- 
knorpelten Exostosen am vorderen Rande der Ulna und die Bil¬ 
dung eines bohnengrossen, überknorpelten Knochenstückes oder 
Gelenkkörpers an der Innenfläche der Gelenkkapsel in der un¬ 
mittelbaren Nähe der Exostosen. Die auffallende Uebereinstim- 
mung, welche der knorpelige Ueberzug des Gelenkkörpers mit 
dem Ueberzuge der Gelenkflächen zeigt, legt die Vermuthung 
nahe, dass er sich am Rande der Gelenkfläche, mit dem er jetzt 
noch durch feine Zotten zusammenhängt, durch eine umschriebene 
Knochen- und Knorpelwucherung gebildet habe, also ursprüng¬ 
lich eine ähnliche warzige Exostose gewesen sei, wie 
die oben erwähnten, und sich erst, nachdem er eine gewisse 
Grösse erreicht hatte, allmälig vom Rande loslöste, und hierbei 
in seinem ganzen Umfange einen Knorpelüberzug bekam, ein Vor¬ 
gang, der bekanntermaassen bei der Arthritis deformans vorzu¬ 
kommen pflegt. Wenn wir aber diesen Bildungsmodus nicht gel¬ 
ten lassen wollen und die Entstehung des fraglichen Gelenkkör¬ 
pers von einer umschriebenen Knorpel- und Knochenwucherung in 
der Gelenkkapsel herleiten, so ist dies ebenfalls ein für die 
Arthritis deformans sprechendes Moment. Das Gleiche gilt von 
dem schalenförmigen Knochenstücke am inneren Rande der Ulna. 
Schliesslich spricht für Arthritis deformans das Vorkommen zahl¬ 
reicher Zotten auf der Innenfläche der Kapsel. 

Der Mangel aller dieser Veränderungen in der oberen Gelenk¬ 
hälfte sowie die Thatsache, dass in dem Ueberzuge der Gelenk- 
fläcben daselbst die bindegewebige Grundsubstanz noch stark ver¬ 
treten ist, berechtigen zu der Vermuthung, dass das obere Gelenk 
späteren Datums ist, als das untere und sich erst nach der Neu- 

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Pr. A. Weicbselbaum, 


200 

bildung des Processus coronoides uluae durch häufiges Reihen der¬ 
selben auf der Vorderseite des Humerus gebildet habe. 

Nach der oben dargestellten Configuration des neuen Ellen¬ 
bogengelenkes hätten wir eine grössere Functionstflchtigkeit des¬ 
selben erwarten können, als sie während des Lebens constatirt 
worden war; die Excursionen im Gelenke hätten eben so vollstän¬ 
dig sein sollen wie an der Leiche. Die Ursache dieser Differenz 
liegt hauptsächlich in der Verfettung mehrerer wichtiger 
Muskeln, welche aber mit der Resection in keinem directen 
Zusammenhänge steht, sondern eine solche der vernach¬ 
lässigten Muskelübung ist. Es ist dies nur ein neuer 
Fingerzeig, wie wichtig in der Nachbehandlung bei Resec- 
tionen die frühzeitige Vornahme von Bewegungen, die fleis- 
sige und lange andauernde Uebung und Kräftigung der Mus¬ 
keln ist. Die Unterlassung dieser Muskelexercitien ist gewiss 
in vielen Fällen ein Hauptgrund, weshalb der Anfangs schöne 
Erfolg einer Resection späterhin bedeutend abgeschwächt wird. 
Leider sind die den niederen Ständen angehörigen Kranken 
gewöhnlich so träge und stumpfsinnig, dass sie nach Entlas¬ 
sung aus der Spitalbehandlung, namentlich wenn sie in irgend 
eine Versorgungsanstalt, Invalidenhaus etc. kommen, wo sie auf 
ihrer Hände Arbeit weniger angewiesen sind, die ihnen anbe¬ 
fohlene Uebung der Muskeln unterlassen. Daraus dürfte sich zum 
Tbeile auch der grosse Widerspruch erklären, der zwischen den 
Behauptungen Löffler’s (Generalbericht über den Gesundheits¬ 
dienst im Feldzuge gegen Dänemark 1804) und Hannovers 
(Ueber die Endresultate der Resectionen im Kriege 1864 in den 
Unterklassen der dänischen Armee) gelegen ist. In unserem Falle 
dürfte auch die später aufgetretene Arthritis deformans einen un¬ 
günstigen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit des Gelenkes ausgeübt 
haben. Während eine solche Erkrankung nach Resectionen meines 
Wissens bisher noch nicht beobachtet wurde, sind in der Litera¬ 
tur über Bildung von wahren Gelenken nach Resectionen schon 
einzelne Beobachtungen verzeichnet und zwar von Textor (Ueber 
Erzeugung der Knochen), Sy me (Lancet 1855, 3. März), Dou- 
trelepont (De resectione articuli pedis. Dissertatio Berolini 
1858 und Archiv für klinische Chirurgie, Bd. 0, p. 911), Lücke, 


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Anatomische Untersuchung von drei geheilten Gelenkresectionen. 261 

Archiv für klinische Chirurgie, Bd. 3, p. 379) und Czerny (Ar¬ 
chiv für klinische' Chirurgie, Bd. 13, p. 225). 

Textor fand 6 Jahre nach der Resection des Ellenbogengelenkes die 
Trocblea vollständig ersetzt und das Radio-Ulnargelenk wie im normalen Zu¬ 
stande. 

Sy me beschrieb ebenfalls ein regenerirtes Ellenbogengelenk, wo an der 
unteren Fläche des Humerus durch Vorspringen je eines neugebildeten Con- 
dylus eine gabelförmige Vertiefung entstanden war, welche Ulna und Radius 
aufnahm; die erstere war mit dem Humerus ligamentös verbunden, während der 
Radius und der correspondirende Abschnitt des Humerus eine mit Faserknorpel 
überzogene Gelenkfläche trugen und so ein wahres Gelenk darstellten; auch zwi¬ 
schen Ulna und Radius war ein Gelenk, von einem Ringbande eingescblossen, 
vorhanden. 

Doutrelepont beschreibt in seiner Dissertation einen Fall, wo vier Jahre 
nach der totalen Resection des Sprunggelcnks sich ein kleiner Gelenkkopf am 
Unterschenkel und eine Art Pfanne am Calcaneus gebildet hatte, welche beide 
von Knorpel bedeckt und von einer Kapsel umgeben waren. 

Ein anderer von Demselben in diesem Archive erzählter Fall, in welchem 
die Regeneration der Gelenkenden noch viel vollständiger war, betrifft das Ellen¬ 
bogengelenk. Es hatte sich nach der totalen Resection an der Ulna ein Ole- 
cranon und ein Processus coronoides neugebildet, von welchen der letztere ein 
Gelenkköpfchen trug, das mit einer kleinen Pfanne am Humerus articulirte; 
unter dieser Pfanne war ein halbkugeliger, der Trocblea ähnlicher Knochenvor¬ 
sprung, der sich in der neuen Fossa sigmoidea der Ulna bewegte. Auch der 
Radius trug ein pilzförmiges Köpfchen, welches in einer grubigen Vertiefung 
am unteren Ende des Humerus articulirte. Sämmtliche Gelenkflächen trugen 
einen Knorpel Überzug, der grösstentheils aus Faserknorpel, stellenweise auch 
aus hyalinem Knorpel bestand. 

Lücke fand 2 Jahre nach der Resection des Schultergelenkes einen neu¬ 
gebildeten kleinen Humeruskopf und eine neue Gelenkfläche am Acromion, von 
einer vollständigen Kapsel eingeschlossen. 

Der von Czerny mitgetheilte Fall, den ich selbst zu untersuchen Gelegen¬ 
heit hatte, betrifft die Regeneration eines total resecirten Ellenbogengelenkes. 
Es war hier analog dem Syme’schen Falle am Humerus eine concave Gelenk¬ 
fläche vorhanden, welche von zwei neugebildeten Condylen überragt war und die 
neue Gelenkfläche der Ulna und des Radius gabelförmig umschloss. Durch ein 
senkrecht ausgespanntes Band zerfiel die mit einer Synovialmembran ausgeklei¬ 
dete Gelenkhöhle in zwei Hälften. Sämmtliche Gelenkflächen waren mit einem 
sehr schön entwickelten Knorpelüberzuge bedeckt, der in seinen tieferen Schich¬ 
ten aus Faserknorpel, in den oberflächlichen aus Hyalinknorpel bestand. 

Die eben mitgetheilten Fälle liefern den vollgiltigen Beweis, 
dass selbst nach einer totalen. Resection ein vollständiges 
Gelenk mit allen seinen wesentlichen Attributen sich 
bilden könne. Wenn auch dieses Ideal einer geheilten Gelenk- 


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262 


Dr. A* Weichsel bäum, Anatomische Untersuchung etc. 


resection bisher nur in wenigen Fällen anatomisch festgestellt 
werden konnte, so durfte es in Wirklichkeit viel häufiger Vorkom¬ 
men, und wahrscheinlich in der Mehrzahl der Fälle, wo ein höhe¬ 
rer Grad von Beweglichkeit znrückbleibt, vorhanden sein. Aber 
selbst, wenn diese vollkommenen Regenerationen wirklich selten 
wären, so würden sie doch schon berechtigen, die Gelenkresec- 
tionen als einen wesentlichen Fortschritt der neueren Chirurgie zu 
feiern, und alle jene Chirurgen glänzend widerlegen, welche die¬ 
selben als nutzlos verdammen. Freilich können sie nur dann ihre 
hervorragende Rolle behaupten, wenn bei ihrer Ansübung stets 
die drei Hauptregeln, nämlich Erhaltung des Periostes, 
möglichste Schonung der Muskeln während der Operation 
und fleissige Bewegungen im Gelenke während der Nach¬ 
behandlung strenge eingehalten werden. 


Erklärung der Abbildungen auf Tafel III. 


Figur 1. 
Figur 2. 


Figur 3. 


Figur 4. 


Figur 5. 


Resecirtes Stück des Radius von der Dorsalseite gesehen. 

Rechtes Handgelenk, 11; Jahre nach der Resection des Radius, au der 
Volarseite geöffnet. 

u = Ulna, r = Radiusstumpf, a = Ersatz für das resecirte Ra¬ 
diusstück, b = hintere Wand der neuen Gelenkhöhle, c = Hand¬ 
wurzelknochen. 

Das neugebildete Ellenbogengelenk von der Seite gesehen und halb 
geöffnet. 

h = Humerus, u = Ulna, r = Radius, d — obere Hälfte des 
Gelenkes, e = untere Hälfte, f = Scheidewand. 

Unteres Humerusende von vorne gesehen. 

i = die zur oberen Hälfte gehörige Gelenkfläche, k = Pseudo- 
Trochlea, 1 b zottiger Knorpelüberzug der Ränder. 

Oberes Ende der Ulna von oben gesehen. 

g = neugebildeter Processus coronoides, 1' = zottiger Knorpel¬ 
überzug an den Rändern der zur unteren Hälfte gehörigen Gelen k- 
fläche, m = das vom Körper entblösste Centrum, n *= Meniscus. 


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XVII. 


Ueber die Schussverletzungen des Hüft¬ 
gelenks.*) 

Von 

B« v. Langen becfe. 


Meine Herren! Wie es die Tagesordnung unseres ersten 
Congresses nach weist, hatte ich mir im vorigen Jahre die Auf¬ 
gabe gestellt, die Erfahrungen über Schussverletzungen der ver¬ 
schiedenen Gelenke mitzutheilen, welche ich in den verschiedenen 
Kriegen, an denen Preussen in den letzten 25 Jahren betheiligt 
war, und besonders in dem letzten grossen Kriege gewonnen 
habe, hoffend, dass dadurch eine Discussion hervorgerufen werden 
möchte, welche zu einer Einigung über die Principien führen 
könnte, nach welchen diese wichtigen Verletzungen zu behan¬ 
deln sind. 

Von dieser Aufgabe trete ich heute zurück, weil sie zu 
umfassend ist, um in der uns zugemessenen Zeit gelöst zu werden. 

Allgemeine Normen für die Behandlung der Schusswunden 
der Gelenke lassen sich meiner Ansicht nach überhaupt nicht 
aufstellen; die Behandlung muss vielmehr eine verschiedene sein 
bei den Verletzungen der verschiedenen Gelenke und bei jedem 
Gelenk wiederum bestimmt werden durch die Art und Schwere 
der Verletzung. 

Die Frage, nach welchen Principien die Schusswunden der 
grossen Gelenke, namentlich des Knie- und Hüftgelenks behandelt 


*) Vortrag, gehalten in der 4. Sitzung des II. Congresses der Deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie, am 19. April 1873. 


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264 


K. v. Landen beck 


werden sollen, und ganz besonders, welchen Platz die Amputa¬ 
tion und Resection dabei einzunehmen habe, lässt sich nach der 
vorhandenen Statistik mit Sicherheit nicht beantworten, und es 
durften noch viele Jahre vergehen, bevor dieses möglich sein 
wird. Zur Gewinnung einer brauchbaren Statistik ist die sorg¬ 
fältigste Kritik der einzelnen Fälle nothwendig und die genaueste 
Kenntniss nicht allein von der Art der Verwundung, sondern auch 
von den Verhältnissen, unter welchen der Verwundete bis zur 
Heilung oder bis zum Tode sich befunden bat. Die Schwierig¬ 
keiten, mit denen die Verwundetenpflege im Felde zu kämpfen 
hat, die plötzliche Anhäufung einer grossen Menge Schwerver- 
wundeter nach einer grossen Schlacht, die durch die nothwendige 
Krankenzerstreuung entstehende Unmöglichkeit den endlichen Ver¬ 
lauf der Wunden zu beobachten —, alle diese Umstände erschwe¬ 
ren es im höchsten Maasse, eine sichere Grundlage für die Sta¬ 
tistik zu gewinnen. 

Ganz besonders gilt dieses von den Schussverletzungen des 
Hüftgelenks, welche, man darf es wohl sagen, einer eingehenden 
Betrachtung bisher nicht unterzogen worden sind. 

Wie bei allen Gelenkverletzungen im Kriege, so treten auch 
hier uns die Fragen entgegen, welche Hüftgelenkwunden lassen 
den Versuch einer exspectativ-conservativen Behandlung zu, in 
welchen anderen Fällen dagegen ist die Resection oder Exartieu- 
lation im Hüftgelenk, und wann sind diese Operationen zu unter¬ 
nehmen ? 

Befragen wir die Geschichte der Kriegschirurgie, die ältere 
wie die neueste, so lautet die Antwort wenig befriedigend, wir 
erfahren, dass die Schussverletzungen des Hüftgelenks geradezu 
hoffnungslose Verwundungen sind, und dass die Verwundeten bei 
der einen wie bei der anderen Behandlungsweise mit den selten¬ 
sten Ausnahmen alle zu Grunde gehen. 

In der älteren kriegschirurgiBchen Literatur finden wir die 
Verwundungen dieses Gelenks nur selten besprochen, so dass es 
scheinen könnte, als seien sie nur höchst selten oder gar nicht 
vorgekommen. Diese Nichtbeachtung darf aber weniger auffallen, 
wenn man die grossen Schwierigkeiten berücksichtigt, welche sich 
der Diagnose zu einer Zeit entgegenstellen mussten, wo die Ge- 
lenkkrankheiten überhaupt noch wenig erforscht waren. Abge- 


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Ueber die Scbussverletzungen des Hüftgelenks. * 


265 


sehen von einem in dem klassischen Werke von Hennen (Ob- 
servations on some important points of milit. surgery. Edinb. 
1818. p. 172) mitgetheilten Fall und von mehreren bei Thomson 
(Beobb. a. d. Englischen Militairhospitälern in Belgien 1816) er¬ 
wähnten Hüftgelenk schlissen, welehe glücklich zu verlaufen schie¬ 
nen, aber nicht bis zur Heilung beobachtet wurden, finden wir 
keine Heilungen verzeichnet. 

Die neueren Kriege haben ebenfalls nur vereinzelte Fälle von 
Heilungen aufzuweisen. Pirogoff versichert, dass während des 
Krimkrieges alle Hüftgelenkschüsse tödtlich verlaufen seien. Aus 
dem letzten italienischen Kriege berichtet Dem me (Militair- Chi¬ 
rurg. Studien II. Abthlg. Würzburg 1864. 8. S. 349) über nur 
zwei Heilungsfälle, welche jedoch bis zur vollständigen Heilung 
von ihm nicht verfolgt worden sind; aus dem amerikanischen 
Kriege endlich erwähnt Hoff (Circular Nr. 7. Washington 1867. 
4. p. 74) zweier Hüftgelenkschüsse, welche durch conservative 
Behandlung geheilt wurden, nämlich einer Absprengung des Pfan¬ 
nenrandes mit Rinnenschuss des Schenkelkopfs und einer Schuss- 
fractur des Schenkelhalses. Weitere sicher constatirte Heilungen 
scheinen in dem grossen amerikanischen Kriege nicht vorgekom¬ 
men zu sein, ja Otis sagt in seiner klassischen Arbeit (Report 
on excisions of the head of the femur for gunshot iujury, Cir¬ 
cular Nr. 2. Washington 1869. 4. p. 122), es gebe kaum einen 
Fall von Heilung einer Schussfractur des Hüftgelenks durch ex- 
spectative Behandlung, der nicht in Bezug auf die Richtigkeit der 
Diagnose Zweifel zulasse, und gelangt daher consequenter Weise 
zu dem Schluss, dass die exspectative Behandlung in allen Fällen 
verworfen werden müsse, sobald eine Verletzung des Hüftgelenks 
nachgewiesen sei (a. a. 0. p. 123). Auf der anderen Seite erklä¬ 
ren die amerikanischen und nach ihnen die meisten neueren Chi¬ 
rurgen die primäre Exarticnlation im Hüftgelenk für hoffnungslos, 
und zeigt die Erfahrung, dass die Hüftgelenkresection im Kriege 
kaum ein günstigeres Mortalitätsverhältniss aufzuweisen hat. 

Bei solcher Sachlage darf es nicht Wunder nehmen, wenn 
den Schussverletzungen des Hüftgelenks von Seiten der Feldärzte 
häufig nicht die Aufmerksamkeit zugewendet worden ist, welche 
sie im Interesse der Humanität und zur Ehre der Chirurgie ge¬ 
bieterisch verlangen. In der That ist es mir in dem letzten wie 

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266 


B. t. Langeubeck, 


in den früheren Kriegen mehrfach vorgekommen, dass eine genaue 
Untersuchung dieser Verwundungen rechtzeitig überall nicht an¬ 
gestellt worden war, und dass man sich von der Möglichkeit einer 
Hüftgelenkverletzung entweder gar keine Rechenschaft gegeben 
hatte oder erst dann sich derselben klar geworden war, wenn 
eine kostbare Zeit verloren und der günstige Zeitpunct zum 
Handeln längst verstrichen war. Gewiss sind wir berechtigt an¬ 
zunehmen, dass die zahlreichen, in meinen Tabellen verzeichneten 
Fälle von Hüftgelenkwunden, welche einem Transport in fernge¬ 
legene Lazarethe unterworfen wurden, als solche nicht erkannt 
waren. 

Ich habe mir heute die Aufgabe gestellt, Ihnen zu zeigen, 
dass Schussverletzungen des Hüftgelenks und selbst die schwe¬ 
reren Fälle bei conservativer Behandlung heilen können, dass aus 
dem letzten Kriege eine nicht geringe Anzahl von sicher consta- 
tirten Heilungen hervorgegangen ist, und dass diese ohne Zweifel 
weit zahlreicher gewesen sein würden, wenn die conservirende 
Behandlung vom Augenblick der Verwundung an in rationeller 
Weise eingeleitet und consequent fortgeführt worden wäre, dass 
aber auch nicht wenig zahlreiche Schussfracturen des Hüftgelenks 
Vorkommen, bei denen eine frühzeitig (vor Ablauf der ersten vier¬ 
undzwanzig Stunden) ansgeführte Resection oder Exarticulation 
im Hüftgelenk zur Pflicht werden muss. 

Bei der tabellarischen Zusammenstellung, welche diesem Vor¬ 
trage als Grundlage dienen sollte, bin ich oftmals auf grosse 
Schwierigkeiten gestossen. Da es häufig vorkommt, dass Ver¬ 
wundete durch verschiedene Lazarethe hindurch gegangen sind, 
und über dieselben Fälle von verschiedenen Aerzten berichtet 
wird, so entsteht die Gefahr, einen und denselben Fall mehrfach 
zu verrechnen, sobald der Name des Verwundeten und das Laza- 
reth, in welchem er behandelt wurde, nicht angegeben worden ist, 
eine Gefahr, die ich durch sorgfältige Prüfung der Fälle zu ver¬ 
meiden gesucht habe. Es versteht sich auch von selbst, dass 
meine Tabellen nicht alle im letzten Kriege vorgekommenen 
Hüftgelenkschüsse enthalten; ich selbst habe sogar nicht alle von 
mir gesehenen Fälle aufführen können, weil ich das Unglück hatte, 
einen Theil meiner Notizen bei der Rückkehr aus Frankreich 
einzubüssen. Eine genaue Statistik der Hüftgelenkschüsse und 


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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


267 


ihres Verlaufes wird sich erst dann herstellen lassen, wenn die 
offiziellen Berichte aller am Kriege betheiligt gewesenen Armeen 
uns vorliegen werden. 

Für eine erfolgreichere Behandlung der Hüftgelenkschüsse 
ist es nothwendig, dass der Chirurg schon nach der ersten Unter¬ 
suchung entscheide, ob eine conservative Behandlung zulässig sei, 
oder ob operative Hülfe eintreten müsse. 

Allerdings gehört hierzu, dass man die Hüftgelenkverletzun¬ 
gen frühzeitig erkenne, und hier bieten sieb nicht selten erheb¬ 
liche Schwierigkeiten dar. Es giebt Schussverletzungen des Hüft¬ 
gelenks, von denen der objective Beweis vor Eintritt der Infiltra¬ 
tions- und Entzündungsperiode nicht geführt werden kann. Ich 
habe Schussfracturen des Hüftgelenks gesehen, von deren Exi¬ 
stenz wir fest überzeugt waren, bei denen es aber unmöglich 
war, die zum eingreifenden Handeln nothwendige objective Gewiss¬ 
heit zu gewinnen, und wo erst der weitere Verlauf der Gelenk¬ 
wunde oder auch die Section die Richtigkeit unserer Diagnose 
ausser Zweifel stellte. Zu den gleich nach der Verwundung 
schwer oder überall nicht sicher erkennbaren Hüftgelenkschüssen 
gehören die Schusscontnsionen des Hüftgelenks, manche Fälle von 
einfachen Kapselwunden, wo die Gelenkkapsel an unzugänglicher 
Stelle eröffnet ist, die Einkeilung der Kugel im Schenkel¬ 
hälse oder Schenkelkopf, die Lochschüsse des Schenkelhalses 
und die unvollständigen Fracturen des Schenkelhalses über¬ 
haupt, endlich die Absprengungen von Stücken des Pfannen¬ 
randes und die Verletzungen der Pfanne ohne Verletzung des 
Schenkelkopfs. 

Eine aufmerksame Betrachtung und Untersuchung der ver¬ 
letzten Gegend und eine sorgfältige Würdigung der anatomischen 
Lage des Hüftgelenks so wie der Richtung, in welcher der Schuss¬ 
kanal verläuft, wird aber bei diesen Verwundungen in den mei¬ 
sten Fällen genügen, um die Diagnose subjectiv festzustellen oder 
wahrscheinlich zu machen. Wirkliche Contourschüsse des Hüftgelenks 
habe ich niemals gesehen; sie dürften eben so selten sein, wie 
die so oft irriger Weise angenommenen Contourschüsse des Knie¬ 
gelenks, wie denn seit Einführung der Präcisionswaffen und in 
Folge der weit grösseren rasanten Flugbahn der jetzigen Geschosse 
die Contourschüsse überhaupt zu den Seltenheiten gehören. Da- 

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268 


B. v. Langenbeck, 


gegen sind mir Fälle vorgekommen, welche für Contourschüsse 
gehalten wnrden and erst später als Huftgelenkschüsse sich heraus- 
stellten. Auch der Fall No. 8 der Tab. 111 gehört in diese Kategorie. 

Bekanntlich lässt die Lage des Hüftgelenks sich veran¬ 
schaulichen, wenn mao ein Dreieck constrairt, dessen Basis 
den Trochanter major schneidet, dessen Scheakel auf der Spina 
anter. super, des Darmbeinkammes in einem spitzen Winkel zu- 
sammenstossen. Befindet sich die Ein- oder Ausgangsöffnung 
des Geschosses im Bereich dieses Dreiecks, oder fällt die Richtung 
des Schusskanals in den Bereich desselben, so kann das Hüft¬ 
gelenk getroffen sein. Am directesten wird das Gelenk getroffen, 
sobald die Kugel dicht unter Spina anter. infer., also etwa 4 Cm. 
unterhalb Spina anter. super, des Darmbeins unter rechtem Ein¬ 
fallswinkel eingedrungen ist. Der spongiöse Gelenkkopf wird in 
diesem Falle getroffen und in der Regel in viele Fragmente zer¬ 
trümmert. Ist das Geschoss unter offenem Winkel aufgeschlagen, 
so ist das Gebiet, in welchem das Gelenk getroffen sein kann, 
weit grösser und nimmt fast die ganze vordere Region des 
Oberschenkels von der Symphysis oss. pubis bis zum Trochanter 
ein. Beim Eintritt der Kugel dicht unterhalb und nach Aussen 
vom Tuberculum pubis und ihrem Austritt in der Gegend hinter 
dem Trochanter major derselben Seite wird in der Regel das 
Hüftgelenk und zwar mit Absprengung des Pfannenrandes getrof¬ 
fen sein. 

Befinden sich die Schussöffnungen vor oder hinter dem Tro¬ 
chanter major, so kann man auf Verletzung des Schenkelhalses 
natürlich mit Verletzung der Gelenkkapsel rechnen. Lochschüsse 
des Schenkelhalses, wie Lücke (Kriegschir. Fragen und Bemer¬ 
kungen. Bern 1871. S. 68) einen ohne alle Splitterung, aber 
selbstverständlich mit Eröffnung des Gelenks, beschrieben und 
abgebildet hat, Absprengungen kleiner Knochentheile, bisweilen 
mit Splitterungen bis in den Gelenkkopf, vollständige Abtrennun¬ 
gen des Collum fern, kommen bei dieser Schussrichtung vor. 

Schussverletzungen des Trochanter major und selbst die ganz 
oberflächlichen Streifschüsse dieses so bedeutend vorspringenden 
Knochentheils sollten stets mit der grössten Sorgfalt überwacht 
und jedenfalls wie Huftgelenkschüsse behandelt werden. Da die 
Spitze des Trochanter major in der Profilprojection das Centrum 

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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


269 


des Hüftgelenks bezeichnet, so kann die Kugel im Gelenk stecken, 
wenn dieselbe an jener Stelle eiugedrungen ist. Die dehnbare 
Knochensubstanz lässt die Kugel bis in das Gelenk Vordringen, 
ohne dass ein für die Sonde wegsamer Schusskanal im Knochen 
znrückbleibt, und man wird nur zu leicht zu der Annahme ver¬ 
leitet, dass das Geschoss aus dem anscheinend kurzen Schuss¬ 
kanal wieder herausgeschleudert oder gefallen sei. Im Jahre 
1864 behandelten wir einen unserer Soldaten, bei welchem eine 
Mintekugel genau auf der Spitze des linken Trochanter major 
eingedrnngen war. Der Verwundete behauptete, die Kugel sei 
wieder heräusgefallen, und es war in der That nicht möglich, mit 
der Sonde tief in den Hals des Oberschenkels einzudringen. Die 
Vermuthung, dass die Kugel im Gelenk stecke, weil die vordere 
Gelenkgegend eine begrenzte Anschwellung wahrnehmen liess, ver- 
anlasste uns zu wiederholter genauer Untersuchung. Die activen 
und passiven Bewegungen waren schmerzhaft aber vollkommen 
glatt, wie die eines gesunden Gelenks, und der Verwundete 
konnte vollkommen gut gehen. Der Tod erfolgte durch Septicaemie, 
und die Section ergab, dass die Kugel durch die ganze Länge 
des Schenkelhalses bis in das Acetabulum, die Kugelfläche des 
Gelenkkopfs kaum überragend und ohne Splitterungen zu veran¬ 
lassen, vorgedrungen war. (Das Präparat befindet sich in der 
Sammlung des K. Friedrich Wilhelms-Instituts). Ein ähnlicher Fall 
wird von Klebs (Tab. II. No. 51) im Obductionsbericht mitge- 
theilh Die auf die Spitze des Trochanter major aufschlagende 
Kugel batte, ohne einen zugänglichen Schusskanal zu hinterlassen, 
Hals und Kopf des Oberschenkels perforirt, ein rundliches Stück 
vom inneren Rande des Acetabulum abgeschlagen und das Foramen 
obturatorium durchdrungen. Schussverletzungen mit Absprengung 
von Stücken des Trochanters ohne Verletzung des Gelenks kön¬ 
nen bis in das Gelenk gehende Fissuren veranlässen und eine 
später auftretende tödtliche Gelenkeiterung zur Folge haben 
(Harald Schwarz, Beiträge zu der Lehre von den Schuss¬ 
wunden 1854. 8., S. 143). Ebenso glaube ich den von Golt- 
dammer beschriebenen Streifschuss des Trochanter major (Tab. 
I. 16), welcher eine Gelenkentzündung zur Folge hatte, auflas¬ 
sen zu müssen, und die Mittbeilungen von Klebs und Arnold 
(Tab. U., No. 52 — 63) liefern uns eine Reihe ähnlicher Fälle. 


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270 


B. v. Langenbeck, 


Nicht minder ist das Hüftgelenk von der ganzen Regio glu- 
taea aus zugänglich, vorausgesetzt, dass die Engel unter einem 
mehr oder weniger offenen Winkel eingedrungen ist. 

Besonders gross sind die Schwierigkeiten der Diagnose in 
denjenigen Fällen, wo das Geschoss von der Bauch- oder Becken¬ 
höhle aus das Hüftgelenk getroffen hat und nicht wieder ausgetre¬ 
ten ist. Harald Schwarz (a. a. 0. S. 143) beobachtete im 
Schleswigschen Kriege einen Fall, wo die Engel durch Incisura 
ischiadica major eingetreten war und das Acetabulum derselben 
Seite fracturirt hatte, und wo der Verwundete an Vereiterung des 
Hüftgelenks mit Eitersenkungen in die Beckenhöhle zu Grunde 
ging. Ich werde weiter unten eine ähnliche Verletzung ausführ¬ 
lich mittheilen. 

Eine sorgfältige Würdigung des Einfallswinkels des Geschos¬ 
ses und die Erwägung, dass die Präcisionsgeschosse der jetzigen 
Kriegführung von ihrer Flugbahn nur höchst selten abgeleitet 
werden, muss in diesen Fällen für den untersuchenden Arzt 
massgebend sein. 

Abgesehen von den grossen Gefässen der Schenkelbeuge, de¬ 
ren Verletzung wohl in den meisten Fällen schon auf dem Schlacht¬ 
felde rasch tödtlich wird, und dem Plexus femoralis, dessen Ver¬ 
letzung man an der vorhandenen Paralyse erkennt, können ne¬ 
ben dem Hüftgelenk noch andere Organe verletzt sein. Es sind 
diese besonders die Harnblase und der Mastdarm. Ich habe 
4 Fälle von dieser Verletzung gesehen, und zwar 3 von gleichzeiti¬ 
ger Verletzung der Harnblase und des Hüftgelenks (Tab. I. No. 1. 
Tab. III. No. 6), 1 mit gleichzeitiger Verletzung der Harnblase 
und des Mastdarmes (Tab. I. No. 3); ein 5. Fall von Verletzung des 
Hüftgelenks und des Mastdarms ist von So ein (Tab. II., No. 14) 
mitgetheilt. In dem einen 1866 von mir gesehenen Fall wurde 
die Verletzung des Hüftgelenks nicht erkannt und erst bei der 
Section entdeckt. Ich theile diesen Fall hier in extenso mit, 
weil die Zeichen der Gelenkverletzung in der That deutlich 
genug Vorlagen, und diese von uns hätte erkannt werden müssen, 
wenn wir unbefangener an die Untersuchung gegangen wären. 

J., Preuss. Major, wurde am 28. Juni 1866 bei Münchengrätz durch eine 
Mini4kugel verwundet. Das Geschoss war in schräger Richtung von links nach 
rechts und von oben nach unten aufgescblagen, hatte die Bauchwand an der 


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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


271 


linken Seite, nach innen und unten von der Spina anter. super, oss. ilium 
sinistri perforirt und var nicht ausgetreten. Die Entleerung von blutigem Harn 
auf natürlichem Wege und der Abfluss von Urin durch die Bauchwunde bald 
nach der Verwundung stellte die Verletzung der Harnblase ausser Zweifel. Der 
Verwundete wurde nach Zittau transferirt, wo er im August von mir gesehen 
wurde. Der Urin wurde theils durch die Harnröhre spontan entleert, theils floss 
er durch die Bauchwunde ab. Die Anfangs dagewesenen Erscheinungen von 
peritonealer Reizung hatten vollständig nachgelassen. Der durch die Bauch¬ 
wunde ausfliessende klare Urin war nur zeitweise und besonders bei Druck auf 
die rechte Leistengegend mit Eiter gemischt Dennoch hatte sich in der letzten 
Zeit wieder mehr Fieber eingestellt, und der Kranke war durch ausgedehnten 
Decubitus in der Sacralgegend etwas heruntergekommen. Dieser war haupt¬ 
sächlich durch die unbewegliche Lage entstanden, zu welcher Patient seit seiner 
Aufnahme in das Lazareth zu Zittau verdammt gewesen war. Jede Bewegung 
des Körpers verursachte nämlich die heftigsten Schmerzen im rechten Hüftgelenk 
und im ganzen rechten Bein und liess den Verwundeten jede Aenderung der 
Lage sorgfältigst vermeiden. Bei Untersuchung der rechten Schenkelbeuge fand 
ich den Oberschenkel in einem Winkel von etwa 45° flectirt und stark nach 
aussen rotirt. Bei dem Versuch passiver Bewegung äussert Patient lebhafte 
Schmerzen. Unterhalb Spina anter. inferior des rechten Darmbeins findet sich 
eine ziemlich scharf begränzte fluctuirende Anschwellung, durch welche die 
Schenkelgefässe hervorgedrängt sind, so dass die Arterie dicht unter der Haut 
pulsirt. Ich glaubte durch diese Fluctuation. hindurch eine begrenzte Härte zu 
fühlen, nahm an, dass die Kugel, nachdem sie die vordere Blasenwand verletzt, 
unter Ligam. Poupart vorgedrungen und unter den Schenkelgefässen stecken 
geblieben Bei, und rieth die Fluctuation einzuschneiden, um die Kugel zu ent¬ 
fernen. 

Wie Hr. Dr. Karstensen, der dirigirende Arzt der Abtheilung, mir später 
mitzutheilen die Güte hatte, war die fluctuirende Stelle bis zum 2. September 
bedeutend stärker hervorgetreten und die Haut auf derselben geröthet Der 
nunmehr gemachte Einschnitt entleerte neben vielem gutartigen Eiter Urin und 
grosse Mengen nekrotischen Bindegewebes. Der eingeführte Finger gelangte in 
eine weit ausgebuchtete Abscesshöhle und nach oben in einen langen Canal, 
welcher in der Richtung nach der Harnblase vertief, dessen Ende aber nicht zu 
erreichen war. Die hier erwartete Kugel wurde nicht aufgefunden. 

Von diesem Tage air entleerte sich der Urin nur aus dieser Oefinung, die 
spontanen Harnentleerungen aber hörten auf. 

Die Reinigung der Blase und der Harnfistel liess sich durch mehrfach 
täglich vorgenommene Irrigationen durch den Katheter sehr wohl ausführen, und 
der Eiter blieb mehrere Tage hindurch vollkommen gutartig; das Allgemein¬ 
befinden war befriedigend, der Decubitus verheilte, und passive Bewegungen im 
Hüftgelenk Hessen sich jetzt viel schmerzloser wie früher in ziemlich ausge¬ 
dehntem Maa8se ausführen. Da plötzlich verkehrte sich das Bild; ohne wesent¬ 
liche Vorboten befiel am Morgen des 6. Tages nach der Incision den Verwun¬ 
deten ein Schüttelfrost von ausserordentlicher Intensität und Dauer, leichtere 


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272 


B v. Langenbeck, 


Frostanfälle und Convulsionen folgten; der Ausfluss aus den Wunden wurde 
übelriechend, jauchig, sie selbst missfarbig und das Aussehen des Kranken erd¬ 
fahl: das Bewusstsein schwand alsbald, und in tiefem Coma verschied der Ver¬ 
wundete am Morgen des 13. September, am 77. Tage nach der Verwundung. 

Die Eröffnung der wohlgenährten und fettreiehen Leiche ergab, dass die 
Kugel, an der angegebenen Stelle durch die linke Seite der Bauchwand ein¬ 
dringend, den Blasenhals an seiner vorderen Seite gestreift und ein Loch von 
länglicher Form gebildet hatte, welches kaum den Finger hindurch liess. Darauf 
hatte sie sich, immer extraperitoneal bleibend, tiefer gewendet, das rechte Ace- 
tabulum an seinem oberen und vorderen Rande von innen heraus durchschlagen 
und das Hüftgelenk eröffnet. Beim Anschlägen an den ßeckenknochen musste 
die Kugel sich zerschnitten haben und abgeprallt sein, denn nur das grössere 
Stück, etwa zwei Dritttbeil des ganzen Geschosses, fand sich innerhalb des 
Beckens und unmittelbar am Knochen, etwa 3 Zoll unterhalb der Perforation 
des Acetabulum, in einer Art Tasche vor^ das fehlende kleinere Stück der Kugel 
konnte nicht aufgefunden werden. Das Hüftgelenk selbst war durchaus ver¬ 
jaucht; in der Umgebung ausgedehnte Infiltration der Weichtheile. An der 
hinteren und äusseren Seite des Femur bis zur Mitte seiner Länge eine Sen¬ 
kung von harnhaltiger Jauche. Ein Eindruck von der Kugel an dem durch 
Eiterung rauhen Gelenkkopf war nicht zu entdecken. 

Die Erscheinungen der Hüftgelenkverletzung, auf die ich noch 
zurückkommen' werde, wären hier in der That so scharf gezeich¬ 
net, dass es unbegreiflich erscheinen kann, wie es möglich war, 
dieselbe ganz zu übersehen. Allerdings war in der ersten Zeit, 
während die Schmerzen im Gelenk und im Schenkel so überaus 
heftig waren, und die Rotationsstellung bemerkt wurde, von den 
behandelnden Aerzten die Frage der Hüftgelenkverletzung vor¬ 
übergehend debattirt worden. Auch mir drängte sich diese Frage 
sofort auf, doch wurde ich durch die Annahme befangen erhal¬ 
ten, dass die in der Schenkelbeuge steckende Kugel dieselben Er¬ 
scheinungen hervorbringen müsse. 

Finden sich bei Hüftgelenkschüssen mit Verletzung der 
Harnblase oder des Mastdarms vollständige Schusskanäle mit 
Ein- und Ausgangsöffnung vor, so erleichtert der Austritt 
des mit Synovia gemischten Harns oder der Faeces durch 
die Gelenk wunde die Diagnose. Unmittelbar nach der Verwun¬ 
dung beobachtet man indessen das Hervortreten der genannten 
Excrete in der Regel nicht, und doch ist das frühzeitige Erken¬ 
nen dieser Complicationen von Wichtigkeit, weil die künstliche 
Entleerung des Harns oder der Faeces durch den Catheter oder 
durch Injectionen in das Rectum geboten ist. 


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lieber die Scbussverletzungen des Hüftgelenks. 


273 


Die Verletzung des Hüftgelenks und der Harnblase kann 
vermuthet werden, sobald die Schussöffnungen in einer Lini$ 
liegen, welche man sich von der vorderen Fläche des Oberschen¬ 
kels, in der Höhe der Spina anter. infer. oss. ilium, zur Incisura 
iscbiadica der entgegengesetzten Seite gezogen denkt. Dieselbe 
Verletzung kann vorliegen, wenn die Schussöffnungen in eine vom 
Tuberculum oss. pubis zur Incisura ischiadiea oder Tuber ischii 
derselben Seite gezogene Linie fallen. Verläuft der Schuss¬ 
kanal in der Richtung vom Rande des Os sacrum zum Tuberculum 
oss. pubis der linken Seite, so kann neben der Verletzung des 
Hüftgelenks und der Harnblase, zugleich der Mastdarm getroffen 
sein. Endlich kann Hüftgelenk und Mastdarm allein getroffen 
werden, die Harnblase aber verschont bleiben, sobald die Kugel 
* dicht unterhalb Ligament. Poupart., nach Aussen von der Arter. 
femoralis linker Seite ein- und durch Os sacrum wieder ausge¬ 
treten ist. (Tab. II. No. 14). 

Man sollte glauben, dass bei Verletzung der Harnblase vom 
Hüftgelenk aus dieses letztere stets in grosser Ausdehnung frac- 
turirt sein müsse, weil Gelenkkopf und Acetabulum im Bereich 
der Schusslinie liegen. Dem ist aber nicht so. In den beiden 
von mir gesehenen geheilten Fällen (Tab. I. No. 1. 3.) war eine 
comminutive Fractur des Kopfes gewiss nicht vorhanden, in einem 
dritten, von mir resecirten Fall war der Schenkelkopf sogar 
ganz unverletzt und nur die Pfanne durchschossen, obwohl das 
Geschoss (Miniekugel) von der Schenkelbeuge aus in das Gelenk 
eingedrungen war (Tab. III. No. 6). Dieser Fall erinnert leb¬ 
haft an die schönen Versuche Simon’s, welche zeigen, dass eine 
Kugel zwischen den Gelenkflächen des Femur und der Tibia hin¬ 
durchgehen kann, ohne sie zu verletzen. Bei dem so genau 
schlie8senden Contact aber, in welchem die Flächen des Hüftgelenks 
aneinanderstehen, erscheint es geradezu räthselhaft, wie eine Kugel 
nach Absprengung eines Stücks des Pfannenrandes in das Gelenk 
eindringen und die innere Wand des Acetabulum durchbohren 
kann, ohne den Schenkelkopf zu verletzen, und doch ist dieses 
unzweifelhaft möglich und durch die von uns vorgenommene Re- 
section,bewiesen worden. Möglicherweise wird in das durch Ab¬ 
sprengung des Pfannenrandes eröffnete Gelenk die atmosphärische 
Luft durch das Geschoss mit solcher Gewalt hineingepresst, dass 

▼. Langenbeek, Archiv f. Chirurgie. XVI. 

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274 


B. t. Langenbeck 


der Gelenkkopf aus dem Acetabulum hervorgedrängt und letz¬ 
teres für das Geschoss zugänglich wird, selbst wenn, wie in meinem 
Fall, das Lig. teres nicht zerrissen ist; Wenigstens gelang mir 
die Durchschneidung des Lig. teres und die Herausforderung des 
Kopfes mit überraschender Leichtigkeit. 

. Nicht weniger räthselhaft erscheint eine von Becher (Tab. 
II. No. 20) beschriebene Schussverletzung des Hüftgelenks, wo 
die Kugel von vorn und innen durch die Schenkelbeuge eintre¬ 
tend, ohne den Pfannenrand zu fracturiren, nur eine flache Schuss¬ 
rinne am Schenkelkopf erzeugt hatte und plattgedrückt zwischen 
Schenkelkopf und Pfanne in dem übrigens unverletzten Gelenk 
liegen geblieben war. 

Bei den Schussverletzungen des Hüftgelenks kommen blinde 
Schusskanäle häufig vor. In den 40 Fällen der Tabelle I. u. II.,' 
in welchen die Art der Wunde angegeben ist, fehlte die Aus¬ 
gangsöffnung in 31 Fällen, und das Geschoss steckte entweder 
in den Knochentheilen des Gelenkes, oder in der Beckenhöhle, 
oder endlich unter den das Gelenk umgebenden Weichtheilen. 
Wenn Lücke (a. a. 0.) meint, dass das Stecken der Kugel nicht 
viel zu sagen habe, so stimme ich ihm in Bezug auf die Gelenk¬ 
schüsse insofern bei, als ich zugestehe, dass eine Kugel im Gelenk 
znrückbleiben, und die Wunde heilen kann, ohne dass bedenkliche 
Erscheinungen durch ihre Gegenwart veranlasst werden. Einem 
Officier des 52. Infanterie-Regiments, Lieutenant W., entfernte ich 
am 16. Januar 1873 in meiner Klinik eine Kugel aus dem linken 
Kniegelenk, welche seit dem G. Augnst 1870 in demselben ge¬ 
steckt hatte. Das Geschoss war dicht oberhalb Capitulum fibulae 
auf den Condylus externus eingeschlagen, hatte den hinteren Kap¬ 
selraum, die hintere Fläche der Condylen streifend, vielleicht den 
Condylus internus absprengend, durchdrungen und w»ar an der 
Innenfläche des Condylus internus im Gelenk liegen geblieben. Die 
nachfolgende, ziemlich lebhafte Gelenkentzündung verlief günstig, und 
die Beweglichkeit des Gelenkes blieb so vollständig erhalten, dass 
der Verwundete im Herbst 1872 in den activen Dienst wieder 
eintreten konnte. Das Gelenk vertrug jedoch die anstrengenden 
Exercierübungen nicht gut, wurde darnach empfindlich, schwoll 
leicht an und bedurfte dann mehrere Tage der Ruhe, um wieder 
ganz brauchbar zu werden. Bei der Untersuchung fand ich den 

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lieber die Schussverletiungen des Hüftgelenks. 


275 


Querdurchmesser des Kniegelenks (wahrscheinlich in Folge Fractur 
des Condylus internus) erheblich stärker und die offenbar platt¬ 
geschlagene Kugel, einem flachen Gelenkkörper nicht unähnlich, 
auf der Innenfläche des Condylus internus, dicht oberhalb der Ge¬ 
lenkfläche der Tibia, in der etwas ausgedehnten Gelenkkapsel 
so beweglich gelagert, dass man sie mit dem Finger unter 
deutlich hörbarem klappenden Geräusch gegen den Knochen an¬ 
schlagen konnte. Dem auf die Kugel gemachten Einschnitt folgte 
der Austritt von etwa einem Theelöfiel voll Synovia, und die voll¬ 
kommen plattgeschlagene Kugel wurde mittelst des Elevatoriums 
herausgehoben. Die mit Heftpflastern genau verschlossene Wunde 
heilte, während die Extremität durch Gypsverband immobilisirt 
war, ohne Weiteres, und Pat. erträgt jetzt die Anstrengungen des 
activen Dienstes ohne jegliche Beschwerde. 

Gewiss ist es unter ähnlichen Verhältnissen möglich, dass 
auch das Hüftgelenk eine Kugel längere Zeit beherbergen kann, 
allein man wird das Stecken der Kugel immer als eine bedenkliche 
Coraplication betrachten und, wenn die Knochentheile verletzt 
sind, um so mehr die Resection in’s Auge fassen müssen. Un¬ 
sere Tabellen zeigen nämlich, dass unter 32 tödtlich verlaufenen 
Fällen die Kugel sechs und zwanzig Mal, unter 18 geheilten Hüft- 
gelenkschüsseif die Kugel nur sieben Mal in der Wunde zurück¬ 
geblieben, in II Fällen wieder ausgetreten war. 

Für die Behandlung würde es nun schon ausreichen, festge¬ 
stellt zu haben, dass bei der Lage und Richtung des Schuss¬ 
kanals das Hüftgelenk verletzt sein könne, vorausgesetzt, dass 
man alle solche Verwundungen als Hüftgelenkschüsso behandelt, 
d. h. sie vom weiteren Transport ausscliliesst und das Gelenk 
auf das sorgfältigste immobilisirt, für die frühzeitige Entscheidung 
der Frage aber, ob in dem vorliegenden Fall die conservative 
Behandlung einzuschlagen oder die primäre Resection auszuführen 
sei, wird es stets von der grössten Wichtigkeit bleiben, die Ver¬ 
letzung des Gelenks und die Art dieser Verletzung möglichst 
genau festzustellen. Da bei der Kleinheit der jetzt gebräuchli¬ 
chen Geschosse der Schusskanal dem untersuchenden Finger meist 
unzugänglich ist, die Einführung von Sonden etc. häufig auf nicht 
minder grosse Schwierigkeiten stösst, so werden wir besonders 
auf die Erscheinungen angewiesen, welche für die Gelenkver- 

18 * 

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276 


B. v. Langenbeck, 


letzung characteristisch sind. Diese sind dieselben, wie bei 
den Verletzungen und organischen Erkrankungen des Hüftgelenks, 
welche uns die Friedenspraxis bietet, und die Diagnose dieser 
letzteren ist in der That nicht leichter als die der Hüftgelenkver¬ 
letzungen im Kriege. 

Die Schussfracturen des Hüftgelenks mit vollständiger Ab¬ 
trennung des Kopfes oder des Schenkelhalses geben natür¬ 
lich dasselbe Bild, wie die Schenkelhalsfracturen im Frieden; 
der Verwundete fällt, vermag sich nicht zu erheben, die Fuss- 
spitze ist nach Aussen gefallen, Verkürzung der Extremität 
mehr oder weniger bedeutend vorhanden. Wie bei den unvoll¬ 
ständigen Schenkelhalsbrüchen im Frieden diese Erscheinungen 
vermisst werden, und so häufig diagnostische Fehler Vorkommen, 
so kann auch bei den Schussfracturen die Verletzung nicht sofort 
in ihrer ganzen Grösse erkennbar sein, wenn die zerschmetterten 
Knochentheile ihren Zusammenhang noch behalten haben. Dass 
bei solchen Verletzungen die active und passive Beweglichkeit im 
Gelenk in einem gewissen Grade noch erhalten sein kann, liegt 
auf der Hand, und es zeigt die Erfahrung, dass ausgedehnte 
Splitterungen des Schenkelhalses bei nicht vollständiger Abtren¬ 
nung desselben für einfache Weichtheilschüsse gehalten wurden, 
und ihre eigentliche Bedeutung erst mit der Bxfoliation von 
Knochenfragmenten klar hervortrat. Aber auch bei diesen Ver¬ 
letzungen fehlt es an characteristischen Erscheinungen nicht. Die 
passiven Bewegungen sind schon unmittelbar nach der Verwun¬ 
dung schmerzhaft, und es werden dabei meist sehr lebhafte 
Schmerzen im Gelenk selbst angegeben. Geht der Patient umher, 
so tritt er stets mit im Hüftgelenk etwas gebeugter- und nach 
Aussen rotirter Extremität auf und empfindet dabei Schmerzen im 
Gelenk oder im Knie, oder an beiden Orten zugleich. (Tab. I. 
No. 4. Tab. H. No. 4. 5.) 

Anders ist es freilich bei den einfachen Kapselschüssen ohne 
Verletzung der knöchernen Gelenktheile, bei denen sowohl Schmerz 
im Gelenk wie Functionsstörung Anfangs fehlen können. Die Ge¬ 
lenkkapsel setzt sich um den Band des Acetabulum, nur ein 
wenig rückwärts vom freien Rande des Labrum cartilagineum an 
und liegt dem Gelenkkopf nur so weit genau an, als derselbe 
vom Acetabulum nicht umfasst wird. In der ganzen Ausdehnung 


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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


277 


des Schenkelhalses umschliesst sie diesen nnr locker, und hier, 
also bis zur Insertion der Kapsel an den Hals, dicht oberhalb der 
Trochanteren, kommen ohne Zweifel Schussverletzungen der Ge¬ 
lenkkapsel vor, ohne dass die Knochentheile verletzt sind. Dass 
bei günstiger Lage der Schussöffnungen und verhindertem Zutritt 
der atmosphärischen Luft und bei ruhigem Verhalten des Ver¬ 
wundeten derartige einfache Kapselschüsse ohne weiteres heilen 
und folglich sich der Diagnose für immer entziehen können, darf 
wohl einem Zweifel nicht unterliegen. Aber wenn auch Entzün¬ 
dung und Ergüsse in die verletzte Gelenkkapsel eintreten, so be¬ 
finden sich Pfanne und Kopf doch von dem unteren Theil der 
Gelenkhöhle durch den Limbus cartilagineus so hermetisch abge¬ 
schlossen, dass die glatten Bewegungen der Gelenkfiächen anein¬ 
ander dabei Anfangs nicht alterirt zu sein brauchen. Sehr in- 
structiv in dieser Beziehung ist der von Lücke beobachtete Fall 
(Tab. II. No. 24) von Lochschuss des Schenkelhalses. Das Ge¬ 
lenk wurde erst am 20. Tage nach der Verwundung schmerz¬ 
haft, die Bewegungen aber blieben bis zu dem am 22. Tage er¬ 
folgten Tode vollkommen frei und glatt, obwohl die Gelenkkapsel 
mit trüber eiteriger Synovia gefüllt war. 

Der Ausfluss von Synovia aus der Wunde fehlt häufiger, als 
er beobachtet wird; man beobachtet ihn bei den von der Schenkel¬ 
beuge aus direct in das Gelenk gehenden Schussverletzungen, nicht 
aber bei denen, wo die Schussöffnungen ferner liegen, und es ist 
nicht zulässig, aus dem Nichtvorhandensein von Synoviaausfluss 
den Beweis führen zu wollen, dass das Hüftgelenk nicht verletzt 
sei. Erst bei beginnender Gelenkentzündung, wenn die Gelenk¬ 
kapsel durch die Entzündungsexsudate stärker ausgedehnt wor¬ 
den, gelingt es bisweilen durch Druck auf dieselbe den Austritt 
von Synovia zu veranlassen, oder ihre Beimischung zu dem Ent¬ 
zündungsexsudat zu erkennen. 

Ein für die Verletzung des Gelenks entscheidendes Zeichen 
ist dagegen die Anschwellung der Gelenkkapsel, welche in allen 
Perioden der Gelenkverletzung beobachtet wird und entweder 
von Ausdehnung der Gelenkkapsel durch Blut und Synovia, 
Jauche und Eiter oder von Anschwellung der fibrösen Ge¬ 
lenkkapsel abhängig ist. Sie wird dem aufmerksamen Beob¬ 
achter nicht leicht entgehen und tritt am deutlichsten an der 


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278 


B. v. Langenbcc-k, 


Gegend der Sehenkelbeuge hervor, wo die Gelenkkapsel am ober¬ 
flächlichsten liegt, und wo die sie deckenden dicken Mnskellagen 
Unterbrechungen zeigen, d. h. im Bereich der grossen Schenkel- 
gefässe, welche durch die mehr und mehr schwellende Kapsel stark 
emporgehoben werden, so dass die Schenkelarterie unmittelbar 
unter der Haut zu pulsiren scheint. Da der Schenkelhals sehr 
starke Arterien eintreten lässt, so kann die Blutung in das Ge¬ 
lenk sofort sehr beträchlich sein, und es muss die Ausdehnung 
der Gelenkkapsel um so deutlicher hervortreten, je weiter die Oeff- 
nungen des engen Schusskanals von dem Gelenk entfernt liegen, und 
das Ausfliessen des Blutes aus demselben dadurch erschwert ist. 
Seit der Zeit, wo meine Aufmerksamkeit auf diese Erscheinung 
gelenkt wurde (1866), habe ich sie unmittelbar nach der Ver¬ 
wundung beobachtet in einem Fall von Schussfractur des Schen¬ 
kelhalses, in mehreren Fällen aber so frühzeitig nicht gesehen 
und namentlich sie gar nicht wahrnehmen können, sobald eine 
bedeutende Schwellung der ganzen Seheiikelbeöge durch Infiltration 
eingetreten war. Dagegen habe ich sie niemals vermisst während 
der Eiterungsperiode und wenn acute Verjauchung des Gelenkes 
eingetreten war, und sie selbst längere Zeit nach vollendeter Hei¬ 
lung der Gelenk wunde noch vorgefunden. (Tab. I. 1. 2. 5. 7.). 

Während der Entzündungs- und Eiterungsperiode finden wir 
bei den Schussverletzungen des Hüftgelenks wiederum ganz analoge 
Erscheinungen, wie bei der Coxitis und Coxarthrocace der Frie¬ 
denspraxis, doch mit dem Unterschiede, dass sie mit weit grös¬ 
serer Heftigkeit hervortreten als bei den letztgenannten Affectionen. 

Die Schmerzen treten unter entsprechender Höhe des Fie¬ 
bers mit einer Heftigkeit auf, wie ich sie in der Friedenspraxis 
nur höchst selten beobachtet habe. Sie werden principaliter im 
Gelenk, gemeiniglich aber zugleich in der ganzen Extremität em¬ 
pfunden. In einem Fall von acuter Verjauchung nach Contusiou 
des Schenkelhalses waren die Schmerzen dieselben wie bei der 
heftigsten Ischias, so dass die Kugel in der Nähe des N. 
ischiadicus vermuthet wurde, was sich übrigens als irrig erwies (Tab. 
II., No. 21). Neuralgische Schmerzen ira Verlauf des N. ischiadicus 
wurden auch von Schinzinger (Tab. II., No. 9) beobachtet in 
einem Fall, wo die Hüftgelenk Verletzung ebenfalls während des Le¬ 
bens nicht erkannt, und wo die Kugel durch den oberen hinte- 

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I’eber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


279 


ren Theil des Acetabulum ia die Beckenhöhle gegangen und in M. 
psoas stecken geblieben war. In einem anderen, von Kirchner und 
G. Fischer beobachteten Full (Tab. II, No. 17) wurde der heftigen 
Schmerzen wegen eine Verletzung von Aesten des Nerv, cruralis 
angenommen; die Section ergab Splitterung des Schenkelkopfes 
mit Einkeilung der Kugel im Acetabulum. 

Ebenso bestanden sehr heftige Schmerzen im Gelenk in dem 
S. 270 geschilderten Fall von Verjauchung des Gelenks, obwohl auch 
hier nur die Pfanne verletzt, der Schenkelkopf unverletzt geblie¬ 
ben war. Stromeyer (Erfahrungen über Schusswunden im Jahre 
1866. Hannover 1867. 8., S. 52) sah dagegen einen Verwundeten, 
welcher noch am Tage vor seinem Tode den Schenkel im Hüft¬ 
gelenk beugen und strecken konnte, obwohl das Hüftgelenk 
ganz veijaucht war. Wie es scheint, lag hier eine Schuss¬ 
verletzung der Beckenknochen vor, von welcher aus Fissuren in 
das Acetabulum gingen, und Stromeyer zieht aus dieser Beobach¬ 
tung den Schluss, dass bei Fissuren der Pfanne die Zufälle der 
Coxitis und die Schmerzen viel weniger heftig seien, als bei den 
Schussfracturen des Schenkelhalses. 

Aber auch bei den Schussfracturen des Schenkelkopfes kön¬ 
nen die Schmerzen fehlen, und es ist überhaupt nicht zulässig, 
wegen fehlender Schmerzen und nicht aufgehobener Fähigkeit zu 
gehen anzunehmen, dass das Gelenk unverletzt sei, denn in 7 
Fällen vermochten die Verwundeten noch active Bewegungen im 
Gelenk auszuführen, zu stehen und zu gehen (Tab. I. No. 4. 
Tab. II. No. 3. 4. 6. 20. Tab. III. No. 8.), ja in einem von Fischer 
beobachteten Fall (Tab. II. No. 5), war der Verwundete noch ge¬ 
laufen und konnte 4 Tage vor dem Tode noch auf beiden Bei¬ 
nen stehen, obwohl der Schenkelkopf in zwei Fragmente gespal¬ 
ten war. In einem von Lücke beobachteten Fall endlich (a. a.. 
0. S. 65., No. 58) ging der von Saarbrücken nach Darmstadt 
transportirte Verwundete längere Zeit nach der Verwundung noch 
zu Fuss vom Bahnhof in Darmstadt nach Bessungen (Vorstadt 
von Darmstadt), obwohl die Pfanne zertrümmert, und ein Stuck 
des Oberschenkclkopfes abgesprengt war (Tab. II., No. 24). 
(Vergl. auch die Verhandlungen der Militärärztlichen Gesellschaft 
in Orleans 1871, in der Deutschen Militärärztlichen Zeitschrift. 
1. Jahrgang 1872., S. 478.) 


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280 


B. v. Langenbeck, 


Der bei chronischen Entzündungen des Hüftgelenks so be¬ 
rühmt gewordene Knieschmerz fehlt bei der traumatischen Coxi- 
tis recht häufig, besonders wenn diese mit grosser Heftigkeit auf- 
tritt. Dasselbe habe ich auch bei organischen Erkrankungen des 
Hüftgelenks beobachtet, sobald die Entzündungserscheinungen mit 
grösster Heftigkeit auftreten. Auch hier bezeichnen die Kinder 
die ganze Extremität und die Aussenseite des Oberschenkels als 
Sitz der heftigsten Schmerzen. 

Der etwa erhobene Einwurf, dass die von den Verwundeten 
meist eingehaltene ruhige Lage und die Sorge für zweckmässige 
Lagerung der verletzten Extremität die Ursache des gewöhn¬ 
lich fehlenden Knieschmerzes sei, wird durch den Umstand be¬ 
seitigt, dass ich ihn selbst bei starker Flexionsstellung nicht beob¬ 
achtet habe. Der Knieschmerz wird überhaupt, wie mir scheint, 
mit Unrecht auf Muskelspännung zurückgeführt. Ich habe ihn 
bei spontanen Hüftgelenkentzündungen, welche mit Gewichts¬ 
extension behandelt wurden, und wo von Muskelspannung und 
fehlerhafter Stellung der Extremität nicht die Rede sein konnte, 
auftreten und verschwinden gesehen, sobald die Entzündung exa- 
cerbirte oder nächliess. 

Es darf wohl angenommen werden, dass eine Schussver¬ 
letzung des Hüftgelenks unter günstigen Bedingungen heilen könne, 
ohne dass traumatische Coxitis eintritt. Bei einfachen Kapsel¬ 
schüssen und von Anfang an beobachteter unbeweglicher Lage¬ 
rung kann die Coxitis gewiss ebenso gut vermieden werden, wie 
bei penetrirenden Schussverletzungen des Kniegelenks, bei welchen 
ich in einer Reihe von Fällen die vollständige Heilung eintreten 
sah, ohne dass es zur Entzündung kam. Da aber in den mei¬ 
sten Fällen die Pott’sche Seitenlagerung eingeschlagen oder vom 
Patienten angenommen zu werden pflegte, und da auch während 
des letzten Krieges nicht Wenige dieser Verwundeten einem weiteren 
Transport unterworfen waren oder, weil die Verletzung des Hüft¬ 
gelenks nicht erkannt, ihnen umherzugehen gestattet wurde, so 
ist wohl schwerlich in irgend einem Falle die Entzündung ver¬ 
mieden worden. Es scheint mir aber die Annahme gestattet, 
dass alle die Fälle, in denen die Coxitis sehr spät nach der Ver¬ 
wundung ganz plötzlich auftrat, unter günstigeren äusseren Ver¬ 
hältnissen ohne Weiteres zur Heilung gelangt sein würden. 


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Ueber die SchussTerletzungen des Hüftgelenks. 


281 


Zu diesen gehört namentlich ein von Billroth beobachteter 
Fall, welcher so wenig Zeichen von Knochen- oder Gelenkver- 
letznng gab, dass ein einfacher Fleischschass angenommen wurde. 
Erst vier Wochen später, nach dem Transport von Weissenburg 
nach Mannheim, traten Erscheinungen von Gelenkerkrankung ein, 
an welchem der Kranke zu Grunde ging (Protokoll des II. Deut¬ 
schen Chirurgen - Congresses. Berlin 1873. S. 24. Berliner med. 
Wochenschrift. 7. Juni 1873). 

Uebrigens tritt die traumatische Coxitis zu sehr verschiedenen 
Zeiten und mit verschiedener Intensität auf, je nach der Schwere 
der Verwundung und nach dem Verhalten des Verwundeten, so 
dass es mir bis jetzt unzulässig erscheint, darüber bestimmte An¬ 
gaben zu machen. Nach meinen Beobachtungen möchte ich je¬ 
doch glauben, dass das Auftreten der Gelenkentzündung am häu¬ 
figsten in die Zeit vom 7. bis zum 15. Tage falle. Jedenfalls 
tritt bei den einfachen Kapselwunden und den Schussfracturen mit 
Eröffnung der Gelenkkapsel, besonders wenn die letztere durch 
massenhafte Blutextravasate gefülltr und gespannt ist, die Ent¬ 
zündung und zwar meistens in Form der jauchigen Synovitis viel 
frühzeitiger ein, als in den ebenfalls nicht seltenen Fällen, wo 
Knochenverletzungen sich als Fissuren in die Gelenkflächen fort¬ 
setzen, und erst von dem Knochengewebe aus das Gelenk selbst 
die Entzündung mitgetheilt erhält. Fissuren, welche durch den 
Gelenkknorpel gehen, sind der Heilung fähig und heilen ohne 
Zweifel sehr häufig, wenn die Hauptverletzung des benachbarten 
Knochentheils günstig verläuft. Da aber bei den Schussverletzun¬ 
gen der Knochendiaphysen die eiterige Osteomyelitis manchmal 
erst sehr spät eintritt, so kann das Gelenk, welches bis dahin für 
unverletzt gehalten wurde, noch nach Monaten in den Krankheits- 
process hineingezogen werden und vereitern. In dieser Beziehung 
dürfen sowohl die Schussverletzungen der Beckenknochen wie die 
des Trochanter major unter allen Umständen als gefährliche an¬ 
gesehen werden, weil in beiden Fällen Gelenkfissuren so häufig 
Vorkommen. Für die Gefährlichkeit der Schussverletzungen der 
Trochanteren haben wir bereits oben S. 269 Beläge beigebracht, 
und es enthalten unsere Tabellen eine Reihe derartiger Fälle. 

Ein spätes Auftreten der Coxitis, und zwar zu einer Zeit, 
wo man sich dessen nicht mehr versieht, beobachtet man eben- 

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B. v. Langenbeck, 


282 

alls bei (1er Secundärentzündung, welche bei ursprünglich ganz 
unverletzt gebliebenem Gelenk von der Marksubstanz der verletz¬ 
ten Obersckenkeldiaphyse auf dasselbe fortgeleitet werden kann. 
Diese Secundärentzündungen kommen an allen Gelenken vor, und 
es sind auch aus dem letzten Kriege lehrreiche Fälle dieser Art 
durch Lücke (a. a. 0. S. 65) mitgetheilt worden. Für das Hüft¬ 
gelenk sind die hohen Splitterbrüche des Femur dicht unterhalb 
der Trochanteren besonders gefährlich. Goltdammer (Bericht 
über die Garde-Ulanenkaserne in Moabit. Berlin, klin. Wochen¬ 
schrift 1871 No. 12) und Maas (Kriegschirurg. Beiträge. Breslau 
1869. 8. S. 41 No. 126) theilen derartige Beobachtungen mit. 
Aber auch die Schussfraeturen der Oberschenkeldiaphyse an der 
Grenze des oberen und mittleren Drittheils können, wie Georg 
Fischer (Dorf Floing u. Schloss Versailles Leipzig 1872 8. S. 76 
No. 47) gesehen, eine Secundärentzündung des Hüftgelenks zur 
Folge haben. Durch Güte des Herrn Oberstabsarzt Dr. Neu¬ 
bauer habe ich Mittheilung von vier, in diese Kategorie gehören¬ 
den Schussverletzungen erhalten, welche ich hier um so mehr 
mittheilen zu müssen glaube, weil einige derselben (No. 1, 2, 3.) 
wohl als Verletzungen des Hüftgelenks selbst (Splitterungen in 
das Gelenk) angesprochen werden müssen. 

1. Job. Albert, Grenadier 1. Garde-Rgmts. z. F., verwundet am 18. August 
1870 bei St. Privat. Schussfractur des rechten Trochanter major. Einschuss 
dicht unter und neben der Schambeinfuge. Kugel mit vielen Knochensplittern 
oberhalb des Trochanter major am 11. September 1870 ausgeschnitten. Per¬ 
manente Extension am 2. November mit Gypsverband vertauscht. Bei seiner 
Aufnahme in die Wilhelms-Heilanstalt in Wiesbaden im Sommer 1872 war der 
Oberschenkel um 4 Zoll verkürzt, in der Gegend des Trochanter major stark 
nach Aussen gebogen. Bewegungsfähigkeit im Hüftgelenk sehr beschränkt. 
Nach dem Gebrauch von 37 Thermalbädern hatte die Gebrauchsfähigkeit des 
Beins zugcuoinmen. 

2. Robert Wilde, Brandenb. Füsilier-Rgmt. Nr. 55. Vollständige Ankylose 
des linken Hüftgelenks in Folge von Zerschmetterung des Trochanter major. 
Gang nur mit zwei Stücken möglich. Keine Verkürzung. Grosse Schmerzhaf¬ 
tigkeit der Gegend des Hüftgelenks. Durch sechswochentliehe Badekur wurden 
die Schmerzen und die Gehfähigkeit bedeutend gebessert. 

3. Felix von Rentz, Lieutnant im 2. Hannoverschen Inf.-Rgmt. Nr. 77. 
Vollständige Ankylose des linken Hüftgelenks nach Schussfractur des Schenkel¬ 
halses. Verwundet am 6. August 1870 bei Spichereu. Geht mit zwei Stocken. 

4. Heinrich Feldtmann, Hessisches Füsilier-Rgmt. Nr. 80. Verwundet am 
6. August 1870. Schussfractur des rechten Oberschenkels, etwas oberhalb der 


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Ueber die Sohussverletzunjjcrt des ITüftgcienks. 


283 


Mitte. Einschuss an der Aussenseite des Oberschenkels. Kugel steckt. Bis 
zum 12. August in Sulz, dann in der Universitätsklinik zu Erlangen bis zum 
20. Mai 1872 behandelt. Nach langwieriger Eiterung wurden iu Erlangen nach 
und nach mehrere kleine Kugelstucke und 12 Knochensplitter extrahirt. Das 
Bein ist um 8 Ctra. verkürzt, llüft- und Kniegelenk vollständig ankylotisch, 
Oberschenkelknochen überall verdickt. Eine grosso Anzahl schwieliger, mit dem 
Knochen verwachsener Narben bedeckt den Oberschenkel und reicht über das 
Kniegelenk hinaus. Fistelgeschwür an der Aussenseite des Oberschenkels. Pat. 
geht an der Krücke. Erhebliche Besserung durch sechswocheutliehe Badekur; 
Ankylose der Gelenke nicht gebessert. 

Id der Regel hat, wie auch die eben citirten Fälle zeigen, die von 
der Diaphyse fortgeleitete Periostitis und Osteomyelitis den Charaeter 
der suppurativen und endigt mit Vereiterung oder Verjauchung des 
Hüftgelenks; ich habe jedoch einen Fall gesehen, wo die durch eine 
ausgedehnte Schussfractur des Oberschenkels in der Mitte, mit Längs¬ 
splitterung der Diaphyse und darin steckender Kugel, Monatelang 
unterhaltene Knochenentzündnng die Form einer plastichen Ostei¬ 
tis angenommen und zn erheblicher Vergrösserung des Schenkel¬ 
kopfes und Ausweitung der Pfanne, jedoch ohne alle Gelenkcite- 
rung, geführt hatte. Bei einem im ersten Schleswigsehen Kriege 
am 9. April 1848 verwundeten dänischen Soldaten machte ich 
gegen Ende Juni desselben Jahres in Flensburg die Exartieuiation 
des Oberschenkels wegen ausgedehnter Splitterung der Diaphyse 
in ihrem' mittleren und oberen Drittheil, welche durch profuse 
Eiterung und hektisches Fieber den jungen und früher sehr kräf¬ 
tigen Mann zu erschöpfen drohte. Nachdem ich die Gelenkkapsel 
dicht am Rande des Limbas acetabuli durchschnitten hatte, wollte 
der Schenkelkopf nicht heranstreten, und es bedurfte langer und 
sehr grosser Anstrengung, um ihn zu luxiren. Der Schenkelkopf 
zeigte sich, ähnlich wie bei der Arthritis deformans, erheblich ver- 
grössert mit überhängendem Randsaum, durch welchen er im Ace- 
tabnlum eingekeilt worden war (Meine Abhandl. über Sehussfrac- 
tnren der Gelenke. Berlin 1808 Tabelle II. No. 0. S. 20). 

Es bleibt mir noch übrig einige Worte über die traumatische 
periarticuläre Coxitis zn sagen, von der in (len Lehrbüchern der 
Kriegschirurgie gewöhnlich die Hede ist. Es verstellt sich von 
selbst, dass ein dicht am Gelenk fortlaufender Schusskanal zur 
Vereiterung des Hüftgelenks führen kann, besonders wenn das 
Gelenk durch das Geschoss contundirt, oder gar der unter dem 


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284 


B. v. Langenbeck; 


M. ileopsoas nach Innen vom Ligament, ileofemorale belegene 
Schleimbeutel zerrissen ist. Da die Bursa iliaca mit dem Gelenk 
häufig communicirt oder doch der hier sehr dünnen Gelenkkapsel 
genau anliegt, so muss ihre Verletzung einer Gelenkwunde so 
ziemlich gleichbedeutend sein. Ich möchte beide Verletzungen 
deshalb auch nicht periarticuläre nennen, sondern sie den Hüft¬ 
gelenksverletzungen zuzäblen. Die Bursa iliaca, von dem dicken 
Ileopsoas verdeckt und von der Seite her durch die vorspringende 
Darmbeinschaufel und den Trochanter geschützt, wird gewiss 
höchst selten getroffen werden können, ohne dass nicht das Gelenk 
selbst gleichzeitig mitverletzt ist. 

Die Verletzungen der Weichtheile in der Nähe des Hüftge¬ 
lenks aber verdienen, auch bei völlig intact gebliebenem Gelenk 
die grösste Beachtung, weil die nachfolgende periarticuläre Ent¬ 
zündung und Eiterung schliesslich zu Narbenbildungen und 
Schrumpfung der Bänder führt, welche die Function des Gelenks 
alteriren kann. 

S., Seconde-Lieutnant im Füsilierbataillon des 20. Infant.-Rgmts., wurde in 
einem der zahlreichen, der Schlacht vor Orleans vorhergehenden Gefechte am 
24. November 1870 verwundet. Die aus grosser Nähe treffende Chassepotkugel 
hatte den an seiner linken Seite hängenden Revolver zerschmettert und war, ein 
grosses Stück vom Griff und Schloss der Waffe mit fortreissend, an der Aussen- 
seite des linken Oberschenkels dicht unterhalb und vor dem Trochanter major 
eingedrungen und, wahrscheinlich von ihrem Lauf abgelenkt, an der hinteren 
Seite des Oberschenkels unter der Haut stecken geblieben und herausgeschnitten 
worden. Bei der Aufnahme des Verwundeten in der Jesuitenschule zu Pithiviers 
fanden wir eine grosse unregelmässige Eiugangsöffnung an der vorderen Seite 
des Oberschenkels, hart nach aussen vor der Art. femoralis. Die Blutung, welche 
beträchtlich gewesen war, stand, die ganze Schenkelbeuge aber war durch Blut¬ 
extravasat bedeutend angetrieben. Ein grosses Stück von dem zerschmetterten 
Revolvergriff wurde extrahirt. Unsere Besorgniss, dass die Schenkelarterie ge¬ 
troffen sein könnte, bestätigte sich nicht: der eingeführte Finger drang hinter 
den Schenkelgefässen, dem unteren Abschnitte des Hüftgelenkes sehr nahe, nach 
innen und hinten, vermochte jedoch das Ende des Schusskanals nicht zu erreichen. 
Die activen Bewegungen im Hüftgelenk vollkommen frei, das Gelenk offenbar 
nicht verletzt. Da nicht lange darnach unser Vormarsch auf Orleans begann, 
kam der Verwundete mir aus den Augen, und ich sah ihn erst in diesem Som¬ 
mer hier in Berlin geheilt wieder. Die Wunde hatte zu einer ausgedehnten 
Eiterung in der Schenkelbeuge geführt, und mehrere Incisionen, von denen die 
eine noch ein Stück vom Bügel des Revolvers, welches tief zwischen den Ad- 
ducteren gesteckt, zu Tage förderte, mussten gemacht werden. In der Schenkel¬ 
beuge befindet sich eine fast handgrosse Narbe von bedeutender Festigkeit, of- 


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Ueber die Sehussverletznngen des Hüftgelenks. 


285 


fenbar tief gegen das Hüftgelenk sich erstreckend. Das Hüftgelenk selbst, in 
dessen unmittelbarster Nähe die Eiterung bis zur Heilung verlaufen war, war 
von dem Entzündungsprocess nicht erfasst worden: Die Bewegungen im Gelenk 
sind vollständig glatt und frei und die Stellung des Gelenks ist die normale. Allein 
die Bewegungsexcursion im Gelenke ist, offenbar in Folge von Verwachsung 
der Narbe mit der fibrösen Gelenkkapsel und narbiger Schrumpfung der Bänder 
beschränkt, und namentlich die Streckung des Oberschenkels und seine Abduc¬ 
ion etwas behindert. 

Im Laufe der Hüftgelenkentzündung entwickelt sich, sobald 
der Patient sich selbst überlassen ist, d. h. immobilisirende Ver¬ 
bände nicht angewendet werden, eine Flexionsstellung der verletz¬ 
ten Extremität, fast ohne Ausnahme mit Rotation nach Aussen. 
Man kann diese Stellung schon sehr bald nach der Verwundung 
und selbst bei sehr leichter Arthromeningitis beobachten, sie aber 
ebenso leicht übersehen wie bei den Hüftgelenkkrankheiten der 
Friedenspraxis, weil der in der Rückenlage befindliche Verwundete 
sie leicht dadurch maskirt, dass er, um den verletzten Schenkel 
auf dem Lager aufruhen lassen zu können, die Wirbelsäule vom 
Lager erhebt und durch untergelegte Kissen in der Stellung der 
Lordose erhält. Da diese Stellung bei den Hüftgelenkverwundun¬ 
gen die constante zu sein scheint, so kommen Spontanluxationen 
auf die Aussenfläche des Darmbeins jedenfalls selten und vielleicht 
nur dann zu Stande, wenn der äussere Rand des Acctabulum ab¬ 
gesprengt worden war. 

Hoff (Circular No. 7 . p. 74) referirt über eine Heilung mit 
Spontanluxation nach Rinnenschuss des Schenkelkopfs mit Ab¬ 
sprengung des Pfannenrandes. Der Schenkelkopf war auf dem 
Dorsum oss. il. ankylotisch verwachsen, und die Extremität um 
5 Zoll verkürzt. Auch Berthold (Statistik d. invalide geworde¬ 
nen Mannschaften des 10. Corps, Deutsche militärärztl. Zeitschr. 
1. Jahrg. Hft. 11. 1872. S. 521) untersuchte zwei Invaliden (Tab. 
I. No. 9, 10), bei denen der Oberschenkel auf die Aussenseite 
des Darmbeins luxirt war. 

Ohne die Möglichkeit einer Spontanluxation auf das Darm¬ 
bein nach traumatischer Vereiterung des Hüftgelenks läugnen zu 
wollen, bemerke ich doch, dass in dem von Hoff wie in dem 
ersten der von Berthold untersuchten Fälle, Gelenkkopf und 
Acetabulum fracturirt und im Laufe der Eiterung viele Knochen¬ 
fragmente ausgestossen worden waren, so dass die Möglichkeit 

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28G 


B. v. Langeubeck, 


einer Spontanfractur des Schenkelhalses mit Ausweichen des 
unteren Fragments auf das Darmbein nicht ausgeschlossen 
bleibt. 

Eine andere Spoutanluxation nach traumatischer Coxitis, 
welche bei der vorwiegenden Neigung des verletzten Schenkels 
zur Flexion und Rotation nach Aussen leichter erklärt werden 
kann, ist die Luxation nach vorn und Innen gegen das Foramen 
obturatorium. Die Tabelle II. No. 2 zeigt einen von Ott secirten 
Fall, in welchem ein Rinnenschuss des Schenkelkopfs Gelenkver¬ 
eiterung, und diese Luxation zur Folge hatte; die Tabelle III. No. 
23 führt einen zweiten bemerkenswerthen Fall auf, in welchem 
der gegen das Foramen obturatorium lnxirte, vollständig abge¬ 
trennte Schenkelkopf mit dem halben Halse von Welker mit 
Glück extrahirt wurde. Es fanden sich dabei kolossale Callus- 
wucherungen, von der Regio trochanterica femoris ausgehend, welche 
den luxirten Schenkelkopf verdeckten und seine Extraction er¬ 
schwerten. Es scheint mir zweifelhaft, ob die vollständige Ab¬ 
trennung des Schenkelhalses hier nicht vielmehr durch Exfoliation 
zu Stande gekommen, nachdem der Schenkelkopf zuvor, in Folge 
der Gelenk Vereiterung, auf das Foramen obturatorium laxirt wor¬ 
den war, um so mehr, als Spuren von Blei an der Bruchfläche 
nicht aufgefunden werden konnten. 

Der constanteste Ausgang der heilenden Hüftgelenkschüsse 
ist, wie nach den Schussverletzungen ‘der anderen Gelenke, der 
in Ankylose. Die Gelenkverwachsung ist eine knorpelige und 
schliesslich knöcherne und dann selbstverständlich vollständige, 
wenn die Gelenktheile keine Defecte erlitten hatten, und Luxatio 
spontanea nicht zu Stande gekommen war. Ob es möglich ist, dass 
eine einfache Kapselwunde des Hüftgelenks mit Erhaltung der 
Beweglichkeit heile, vermag ich aus der Erfahrung nicht zu ent¬ 
scheiden. Ich zweifle indessen nicht daran, dass bei Kapselwnn- 
den des Hüftgelenks ebenso gut wie bei den gleichen Verletzun¬ 
gen des Schalter- und Kniegelenks, die traumatische Synovitis 
vermieden oder doch so beschränkt bleiben kann, dass die Be¬ 
weglichkeit des Gelenks keine erhebliche Störung erleidet. Folgt 
auf die Kapselwmnde eine Eiterung von längerer Dauer, so darf 
eine vollständige Ankylose mit Sicherheit erwartet werden. Unser 
ganzes Bestreben muss nur dahin gerichtet sein, diese Ankylose 


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Ueber die Sehussverletzungen des Düflgelenlis. 


287 


bei günstiger Stellung der Extremität zu Stande kommen zu lassen; 
denn die Erfahrung zeigt, dass bei Ankylose des Hüftgelenks in 
Streckung, die mit der Zeit noch zunehmende Beweglichkeit im 
Ileo-Sacralgelenk das verödete Hüftgelenk gewissermassen ersetzt, 
und so eine recht gute Brauchbarkeit der Extremität erreicht wer¬ 
den kann. 

Eine fibröse Ankylose und folglich Erhaltung eines gewissen 
Grades von Beweglichkeit im Gelenk darf erwartet werden, wenn 
nach Schussfracturen des Hüftgelenks Fragmente des Kopfs oder 
des Halses ausgestossen sind, und die Heilung unter Wahrung 
einer günstigen Stellung der Extremität erfolgt. Sind beträcht¬ 
liche Stücke des Schenkelkopfs oder Halses zur Exfoliation ge¬ 
langt, so wird ein gewisser Grad von Verkürzung der Extremi¬ 
tät nicht vermieden werden können. Da aber auf Knochenersatz 
stets gerechnet werden kann, so wird die Verkürzung wenige 
Centimeter niemals übersteigen, vorausgesetzt, dass Gewichtsex¬ 
tension bis zur vollständigen Heilung angewendet, und «auch in der 
späteren Nachbehandlung nichts versäumt wurde. Die Tabelle I. 
giebt uns (No. 2.4.5. 17. 22) die schlagendsten Beweise, dass die 
Function der Extremität in erfreulicher Weise erhalten werden 
kann, obwohl beträchtliche Knochenverluste stattgefunden hatten, 
und man darf stets erwarten, dass eine Verkürzung von 2 Ctm., 
weil sie durch Beckensenkung ausgeglichen wird, gar nicht zur 
Wahrnehmung gelange (Tab. I. No. 2), eine Verkürzung von 4 
und mehreren Ctm. durch entsprechende Erhöhung der Sohle er¬ 
setzt werden könne. Besonders instructiv in dieser Beziehung ist 
der von Windscheid behandelte und von mir gesehene Fall (Tab. 
I. No. 17), wo nach Extraction des in zwei Theile gespaltenen 
Schenkelkopfs und eines Stücks des Schenkelhalses eine Verkür¬ 
zung von nur 4 Ctm. entstand und diese durch eine höhere Sohle, 
bei sehr guter Gehfähigkeit ausgeglichen wurde. Hält man diese 
schönen Heilungsresultate zusammen mit den 11 weiteren Fällen, 
in denen das Leben zwar erhalten, die Heilung aber entweder mit 
Ankylose in Flexion (Tab. I. No. 1, 3, 6, 8, 9, 13, 14, 15) oder 
mit Spontanluxation des Oberschenkels (Tab. I. No. 10. 11. 25), 
also mit vollständiger Unbrauchbarkeit der Extremität zu Stande 
kam — ein Unglück, welches mit Sicherheit hätte vermieden wer¬ 
den können, — so wird man meiner Klage über mangelhafte Be- 


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Original fram 

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288 


B. v. Langenbeck, 


handlang der Hüftgelenkschüsse die volle Berechtigung zagestehen 
müssen. 

Die Schussverletzungen des Hüftgelenks nehmen in Bezug 
auf die Gefährlichkeit unter den Gelenkwunden unstreitig den 
ersten Platz ein. Sie sind gefährlicher als die Verwundungen des 
Kniegelenks, weil die Bedeutung der Verletzungen wächst mit 
der grösseren Nähe am Truncus, weil sie schwieriger zu erken¬ 
nen sind und, so häufig nicht erkannt, der rechtzeitigen Pflege 
entbehren, und weil die Immobilisirung des Gelenks, die Haupt¬ 
bedingung für eine erfolgreiche Behandlung der Gelenkwunden, 
auf grössere Schwierigkeiten stösst wie bei irgend einem anderen 
Gelenk. Dazu kommt, dass die Hüftgelenkkapsel, fast in ihrer 
ganzen Ausdehnung von den stärksten Bandmassen und dicken 
Muskelschichten eng umschlossen, weit weniger dehnbar ist als 
die Gelenkkapsel des Kniegelenks, und dass bei Ansammlung der 
Wundsecrete in dem Gelenk Druckverhältnisse entstehen müssen, 
welche die Resorption im höchsten Maasse begünstigen, um so 
mehr als die versteckte Lage des Gelenks und die verschiebbaren 
Muskelmassen den Abfluss durch die Schussöffnungen meistens 
unmöglich machen. Aus diesen Gründen treten auch die septi- 
caemischen Erscheinungen bei den Hüftgelenkschüssen weit früher 
ein als bei den Schussverletzungen der anderen Gelenke und na¬ 
mentlich des Kniegelenks. Ich habe bei Schussverletzungen des 
Hüftgelenks schon 30 Stunden nach der Verwundung eine faulige 
Infiltration aller Weichtheile in der Umgebung des Gelenks mit 
traumatischem Emphysem gesehen, und es haftete, nach ausgie¬ 
biger Dilatation der Schussöffnungen, an unseren Händen ein Lei¬ 
chengeruch wie nach einer Autopsie. Ein Blick auf die Tabelle 
II. zeigt uns, dass die grosse Mehrzahl der Hüftgelenkwunden an 
Septicaemie und Pyaemie zu Grunde geht. Von 39 Verwundeten 
nämlich, von denen die Todesursache angegeben ist, starben 34 
an Septicaemie oder Pyaemie, 3 an Venenthrombose und Lungen¬ 
embolie, 1 an Peritonitis und 1 an Erschöpfung durch Blutung. 
Bei den 17 an Septicaemie verstorbenen erfolgte der Tod in 12 
Fällen schon am G—25. Tage, während von den 18 an Pyämie 
verstorbenen der Tod 11 mal zwischen dem 13.—25., 7 malzwi¬ 
schen dem 28—51. Tage eintrat. 

Abgesehen von den umfangreichen Zerschmetterungen, welche 


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Original fro-m 

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lieber die Schussverletzungen des Uüftgeleuks. 


289 


als unbedingt tödtliche Verletzungen angesehen werden müssen, 
wächst die Gefahr der Hüftgelenkscbüsse nicht unbedingt mit der 
Ausdehnung und Complication der Verletzung. Wenn man unsere 
Tabellen als maassgebend ansehen könnte, so würden die einfachen 
Contusionen des Hüftgelenks die gefährlichsten Verletzungen sein; 
denn die vier zur Beobachtung gelangten Fälle (Tab. II. No. 21, 
29, 56, 58) von Quetschungen der Gelenkkapsel und Periostab¬ 
streifungen des Schenkelhalses sind durch Venenthrombose und 
Lungenembolie oder durch Septicopyaemie tödtlich verlaufen. 
Diese Fälle zeigen, von wie grosser Wichtigkeit die richtige Wür¬ 
digung der Direction des Schusskanals sein muss, und wie drin¬ 
gend nothwendig es ist, die möglichen Streifschüsse des Gelenks 
mit der grössten Sorgfalt zu behandeln; denn dass es vornehm¬ 
lich die Verhaltung der Jauche in der nicht geöffneten Gelenk¬ 
kapsel ist, welche die Gefahr bedingt, darf aus der Thatsache ge¬ 
schlossen werden, dass die einfachen Verwundungen der Hüftge¬ 
lenkkapsel in prognostischer Beziehung sich am günstigsten ge¬ 
stalten. Von 13 Hüftgelenkschüssen nämlich, welche entweder 
nur die Gelenkkapsel betroffen hatten, oder bei denen eine bedeu¬ 
tendere Knochenverletzung nicht nachzuweisen war (Tab. I. No. 

1, 3, 5, G, 8, 9, 10, 11, 15, Tab. II. No. 18. Tab. III. 8, 14, 
15), hatten nur 4 einen tödtlichen Ausgang. Weit ungünstiger 
stellt sich das Mortalitätsverhältniss bei den Hüftgelenkschüssen 
mit nachgewiesener Knochenverletzung, indem die Tabellen von 
75 Fällen nur 18 Heilungen neben 57 Todesffillen nach weisen. 
Aber auch hier finden wir, dass die Gefahr zunimmt mit der stär¬ 
keren Erschütterung des Gelenks, abnimmt bei grösserer Voll¬ 
ständigkeit und Reinheit der Schusskanäle. Denn von den 11 
Verletzungen des Acetabnlam, der Mehrzahl nach Absprengungen 
des Pfannenrandes, von denen man wohl sagen kann, dass sie 
den Gelenkquetschungen am nächsten stehen, ist kein einziger 
Heilungsfall vorgekommen, während von 10 Sehussfracturen des 
Schenkelkopfs 3, von 29 Sehussfracturen des Schenkelhalses 
(die schwersten Zertrümmerungen mitgerechnet) 5 geheilt wor¬ 
den sind. 

Dass die Hüftgelenkschüsse nicht absolut hoffnungslose Ver¬ 
wundungen sind, zeigt die Mortalitätsstatistik des letzten Krieges 
zur Evidenz. 

t. L»n*«nbeek, ArehW (. Chirurg!«. XVI. 19 


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290 


B. v. Langenbcck, 


Mortalitäts-Statistik der im Deutsch-Französischen Kriege 1870 
und 1871 conservativ und mit Resection behandelten Hüftgelenk¬ 
schüsse. 


Schussverletzungen 

des 

Hüftgelenks. 

Total¬ 

summe. 

Gebeilt. 

Gestorben. 

Zweifel¬ 

hafter 

Ausgang. 

Procent¬ 
satz d. Ge¬ 
storbenen. 

Conservativ behandelt . 
Mit Resection resp. Ex¬ 
traction des Schenkel¬ 

88 ! 

25 

63 

— 

71,59 

kopfs behandelt . . 

31 

4 

26 

1 

83,87 

Summa 

119 | 

29 

1 89 | 

1 1 

i 74,78 


Die Tabellen I. und II. zeigen uns von 88 conservativ be¬ 
handelten Hüftgelenk schössen 25 Heilungen. Findet man nun, 
dass in einer nicht geringen Anzahl von Fällen die Verwundung 
nicht erkannt und daher auch nicht als Gelenkverletzung behan¬ 
delt wurde, ja dass selbst die schwersten Verletzungen weiten 
Transporten ausgesetzt worden sind, so darf die Hoffnung gerecht¬ 
fertigt erscheinen, dass das Mortalitätsverhältniss derselben, bei 
nicht bloss exspectativer, sondern wirklich rationell conservirender 
Behandlung, in Zukunft sich weit günstiger gestalten werde. 

Für die Behandlung der Hüftgelenkschüsse müssen meiner 
Ansicht nach dieselben Principien gelten, wie sie zum Theil be¬ 
reits im Jahre 1868 (Die Schussverletzungen der Gelenke etc. 
S. 15—25) von mir aufgestellt worden sind. Es kann aber nicht 
genug hervorgehoben werden, dass von Seiten der Chirurgen eine 
weit grössere Achtsamkeit, Sorgfalt und Mühe dabei verlangt wer* 
den muss, als bei Behandlung der Verletzungen der anderen Ge¬ 
lenke. Vor allem dürfen wir nicht abwarten wollen, wie der Ver¬ 
lauf etwa sich gestaltet, sondern müssen, selbst auf die Gefahr 
uns zu irren, sofort activ auftreten und durch die genaueste Un¬ 
tersuchung feststellen, welchen Verlauf die Gelenkwunde muth- 
masslich nehmen wird, und was geschehen muss, um diesen Ver¬ 
lauf möglicher Weise günstig zu gestalten. 

Für die conservirende Behandlung sind zunächst alle die 
leichteren Hüftgelenkverletzungen auszuscheiden, bei denen es un¬ 
möglich ist, die objective Diagnose sofort nach der Verwundung 
festzustellen. Dahin gehören vor allem die nicht seltenen einfachen 
Kapselschüsse, welche die Gelenkkapsel vom Limbus acetabuli ab- 


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Ueber die Schussvcrletxungen des Hüftgelenks. 


‘291 


wärts bis zum Trochanter major und minor, wo sie den Schen¬ 
kelhals überall nur locker umsehliesst, betroffen haben. Es ist 
mir nicht wahrscheinlich, dass die 18 Hüftgelenkschüsse, welche 
ich als Kapsel wunden bezeichnet habe, weil eine Knochenverletzung 
nicht nachgewiesen ist, in der That nur solche gewesen seien, 
sondern ich halte es für möglich, dass Rinnenschüsse des Schen¬ 
kelkopfs und Halses so wie Absprengungen von Stücken des Ace- 
tabulum dabei vorhanden gewesen sein können. Dem sei aber 
wie ibm wolle, so ist doch anzuerkennen, dass diese Verletzungen, 
auch wenn sie als Hüftgelenkschüsse sofort erkannt worden sind» 
nur conservativ behandelt werden dürfen, weil nach der Tabelle I. 
von 10 conservativ behandelten Fällen dieser Art 9 geheilt wor¬ 
den sind. 

Die conscrvirende Behandlung ist ferner cinzuschlagen bei 
allen Verletzungen der Knochcntheile des Hüftgelenks, welche An¬ 
fangs gar nicht oder als leichtere Knochenverletzungen erkannt 
werden konnten. Allerdings stellt sich bei diesen Schussverletzun¬ 
gen das Mortalitätsverhältniss schon ungünstiger, indem von 75 
conservativ behandelten Fällen dieser Katogorie nur 18 Heilungen 
zu registriren sind. Stellt man aber diesen gegenüber die 31 Re- 
sectionen des Schenkelkopfs mit nur 4 Heiluugen, so darf man 
vorläufig wenigstens die Behauptung aufstellen, dass die conser- 
virende Behandlung auch bei diesen Knochenverletzungen den 
Vorzug verdiene. Es darf nicht auffallen, wenn ich die mit Ver¬ 
letzung der Harnblase oder des Mastdarms oder beider Organe 
complicirten Hüftgelenkscbüsse ebenfalls für die conservirende Be¬ 
handlung in Anspruch nehme, weil die Tabelle von 4 Verletzun¬ 
gen dieser Art aus dem letzten Kriege 2 Heilungen nachweist. 
Die extraperitonealen Schussverletzungen der Harnblase und des 
Mastdarms gehören überhaupt nicht zu den sehr schweren Ver¬ 
wundungen, vorausgesetzt, dass sie einer sorgsamen Behandlung 
sich zu erfreuen haben, und es ist nicht einzusehen, weshalb die 
Gefahr der Hüftgelenkverletzung durch diese Complication erheb¬ 
lich gesteigert werden sollte. 

Für die conservirende Behandlung nicht geeignet sind meiner 
Ansicht nach die Schenkelbalsfracturen, sowohl die intra- wie die 
extracapsulären, sobald die Continuität des Knochens vollständig 
aufgehoben ist. 

19* 


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Original fro-m 

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292 


B. v. Langenbeck, 


Da eine Heilung dieser Verletzungen ohne Gelenkeiterung 
kaum jemals Vorkommen wird, so darf die Consolidation derFrac- 
tur als unmöglich, und die Necrose des Schenkelkopfs, bei den 
intracapsulären Schussfracturen wenigstens, als unvermeidlich an¬ 
gesehen werden. Auf die rechtzeitige Ausführung der ßesection 
oder Extraction des abgetrennten Kopfes wird also unter allen 
Umständen Bedacht zu nehmen sein. 

Die Tabellen zeigen uns vier Schenkelhalsfracturen, zwei 
intra- und zwei extracapsuläre (Tab. I. No. 17, 18, 24. Tab. III. 
No. 23), welche glücklich verlaufen sind. In dem ersteren, von 
Dr. Windscbeid in Düsseldorf behandelten Fall, wurde der in 
zwei Theile gespaltene und zugleich quer abgetrennte Schenkel¬ 
kopf zwischen der (5. und 8. Woche extrahirt, worauf die Heilung 
mit sehr guter Gehfähigkeit erfolgte. In dem zweiten von Dr. 
Welker operirten Fall wurde der nekrotische Schenkelkopf mit 
dem halben Halse 6 Monate nach der Verwundung extrahirt, und 
es erfolgte die Heilung. Diesen 4 Fällen gegenüber stehen 
8 intracapsuläre (Tab. II. No. 7, 15, 28, 55, 59. Tab. 111. No. 4, 
10, 11, 1*2, 27) und zwei extracapsuläre Schenkelhalsfracturen, 
welche tödtlich verlaufen sind. In 3 Fällen wurde der ne¬ 
krotische Schenkelkopf extrahirt, aber zu einer Zeit, wo Er¬ 
scheinungen der Pyaemie oder Septicaemie bereits vorhanden 
waren. 

Rechne ich noch zwei im Jahre 1866 in Böhmen wegen 
Schussfractur des Schenkelhalses und Necrose des Kopfes von mir 
ausgeführte Spätresectionen (Die Schussverletzungen der Gelenke 
Tab. I. S. 46 No. 2, 3) hinzu, so haben wir 12 Schussfracturen 
des Schenkelhalses mit vollständiger Continuitätstrennung, welche 
tödtlich verlaufen sind. Da in allen diesen Fällen die Operation 
zu einer Zeit gemacht wurde, wo eine Aussicht auf Erhaltung 
der Kranken kaum noch vorhanden war, so würde es gewiss 
richtiger sein, sie den unter conservirender Behandlung tödtlich 
verlaufenen Fällen beizuzählen. 

Es scheint also geboten, die vollständigen Abtrennungen des 
Schenkelhalses wie die Splitterungen des Schenkelkopfs und Hal¬ 
ses von der conservirenden Behandlung auszuschliessen, und die 
Resection resp. Extraction des abgetrennten Kopfes entweder pri¬ 
mär, vor Ablauf der ersten 24 Stunden, oder unmittelbar nach 


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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


293 


Ablauf der Infiltrationsperiode nnd eingetretener Eiterung vorzu- 
nebmen. Ebenso halte ich die Schussfracturen der Pfanne, so¬ 
bald s’c Eiteransaramlungen in der Beckenhöhle veranlasst haben, 
für eine dringende Indication zur Resection des Schenkelkopfs. 
Volkmann (Samml. klin. Vorträge No. 51 S. 297) besteht mit 
Recht darauf, dass bei nach spontaner Coxitis entstandenen Eiter¬ 
durchbrüchen durch den Pfannenboden in’s Becken, sobald sie aus 
dem Erscheinen eines Iliacalabscesses diagnosticirbar werden, na¬ 
mentlich bei acuterer Entstehung, die sofortige Resection des Hüft¬ 
gelenks gemacht werde, und ich habe bereits im Jahre 1863, die¬ 
sem Grundsatz folgend, eine Hüftgelenk resection wegen Schuss- 
fractur des Acetabulum und Beckenabscess ausgeführt. (Die Schuss¬ 
fracturen der Gelenke S. IC Tab. 1. No. 1). 

Das Mortalitätsverhältniss der Hüftgeleukresect.ionen hat wäh¬ 
rend des letzten Krieges sich nicht viel günstiger gestaltet als 
früher. Unsere Tabelle zeigt von 31 Fällen 4 Heilungen und 1 
zweifelhaften Ausgang, während der Amerikanische Krieg, nach 
Angabe von Otis, von 63 Fällen 5 Heilungen der Böhmische 
Krieg von, wenn ich nicht irre, G Resectionen 2 Heilungen auf¬ 
zuweisen hatte. 


Statistik der wegen Schussverletzungen vorgenommenen Hüft- 

gelenkresectionen. 


Resectionen 

des 

Hüftgelenks. 


Vor 1861. 

Während des Araerica- 
nischen Krieges . . 

Während des Böhmi¬ 
schen Krieges . . . 

Von 1867—1870 
Während des Deutsch- 
Französischen^ Krieges 

Summa 



7 , 1 6 

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294 


B. v. Langenbeek, 


Es ist aber gewiss nicht zulässig, den Werth der Hüftgelenk- 
resection schon nach dieser Statistik beurtheilen zu wollen. Es ist 
ja begreiflich, dass die Resection, wenn sie während der Infiltra¬ 
tionsperiode oder bei schon vorhandener Infection vorgenommen 
wird, nicht günstigere Chancen bieten kann als die Exarticulation 
des Oberschenkels. Ich glaube aber behaupten zu dürfen, dass in 
dem letzten Kriege, mit Ausnahme eines von Beck operirten Falles, 
keine einzige primäre Hüftgelenkresection gemacht, d. h. keine 
vor Ablauf der ersten 24 Stunden zur Ausführung gekommen 
ist. Es muss in Zukunft das Bestreben der Feldärzte sein, 
die Resection des Hüftgelenks gleichzeitig mit den primären Am¬ 
putationen zur Ausführung zu bringen, niemals aber die Operation 
über den ersten Tag hinaus zu verschieben, nach Ablauf dieser 
Zeit aber die Eiterung der Wunde und den Abfall des Fiebers 
abzuwarten. 

Der unmittelbar durch die Operation gesetzte Eingriff ist 
nicht grösser als bei der Resection der anderen grossen Gelenke. 
Nur in zwei Fällen (Tab. III. No. 2, 3), welche beide wegen der 
ausgedehnten Splitterung für die Resection überhaupt nicht geeig¬ 
net waren, war der Eingriff der Operation ein sehr bedeutender, 
einmal wegen der sehr bedeutenden Blutung aus vielen, wahr¬ 
scheinlich in Folge von Yenenthrombose ausgedehnten Arter. per- 
forantes und Aesten der Art. glutaea, das andere Mal durch die 
mühevolle Extraction vieler und grosser Knochensplitter, welche 
nach allen Richtungen in die Weichtheile getrieben waren. In den 
anderen Fällen wurde die Operation nach dem 1867 von mir an¬ 
gegebenen Längenschnitt sehr leicht und schnell ausgeführt. Als 
Vortheile dieser Methode möchte ich bezeichnen: 'die Erhaltung 
aller, über das Gelenk verlaufenden Muskeln in Verbindung mit 
dem Periost des Trochanters oder der Diaphyse, die meistens 
auffallend geringe Blutung, weil der oberhalb der Incisura ischia- 
dica auf die Mitte des Trochanters verlaufende und zwischen den 
Bündeln der Mm. glutaei in das Gelenk eindringende Schnitt die 
Arterienstämme vermeidet, endlich die grosse Ausdehnung, in wel¬ 
cher das Gelenk frei gelegt und zugänglich gemacht wird. Die 
Durchschneidung des Ligamen. teres, welche in allen, im letzten 
Kriege von mir ausgeführten Hüftgelenkresectionen nothwendig 
war, war stets leichter auszuführen als bei den Operationsübun- 


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Ueber die Schussverlelzungen des Hüftgelenks. 


295 


gen am Cadaver. Ich führe zu dem Ende ein nicht zn kurzes 
schmales Messer von hinten und aussen in die Pfanne ein und 
führe den Schnitt, während der Oberschenkel stark flectirt und 
einwärts rotirt wird, nach innen und vorne. Das bei dieser Stel¬ 
lung des Schenkels stark gespannte Band trennt sich dann ohne 
Schwierigkeit. 

Ist der Schenkelhals abgeschossen, so fasse ich das obere 
Fragment mit meiner für die Resectionen angegebenen Hakeuzange 
oder, wenn dieses nicht möglich sein sollte, mit dem in den Kno¬ 
chen eingeschlagenen Resectionshaken, und lasse nun den Sehen¬ 
kelkopf in die oben angegebene Stellung der Flexion und Rotation 
nach einwärts drängen. Wäre der Schenkelhals hart an der 
Grenze des Kopfes, im Niveau des Pfannenrandes abgeSchossen, 
wie in dem von Seutin während der Belagerung von Antwerpen 
operirten Fall, in welchem die Extraction des Kopfes ausseror¬ 
dentlich schwierig war, so würden die eben genannten Instrumente 
nicht verwendbar sein, sondern man müsste entweder eine Kugel¬ 
schraube oder den Tirefond von Heine in den Kopf einbohren, 
um so zur Bewegung des Schenkelkopfs die nöthige Handhabe 
zu gewinnen. Bei den secundären 'Resectionen ist das Ligament, 
teres entweder vollständig zerstört oder so brüchig geworden, dass 
man es, wie Pagenstecher es gethan hat, abdrehen kann. Was 
die Schnittführung anbetrifft, so halte ich es für wichtig, sie nach 
einer bestimmten Methode zu machen, nicht aber der Lage der 
Schussöffnungen sie unter allen Umständen anzupassen. Diese 
Regel kann aber Ausnahmen erleiden, sobald es sich um die Ex¬ 
traction des nekrotischen Schenkelkopfs handelt, oder wenn nach 
Eröffnung eines grossen Gelenkabscesses die zu entfernenden Kno- 
chentheile frei zugänglich geworden sind. So entfernte Welker 
in dem bereits erwähnten Fall den nekrotischen Schenkelkopf 
durch einen geraden, 10 Ctm. langen Schnitt, welcher an der 
Aussenseite des M. rectus verlief, und machte Lücke (Bericht 
über die chirurgische Universitätsklinik in Bern 1865—72, Deutsche 
Zeitschrift für Chirurgie II. Bd.) bei einer Hüftgelenkreseetion 
einen vorderen Schnitt, weil hier ein grosser Abscess geöffnet wer¬ 
den musste, und der Finger sofort in das offene Gelenk eindrang. 

Ich glaube nicht, dass es sich empfiehlt, den Trochanter mit 
zu entfernen, wenn er erhalten werden kann, weil die Verletzung 


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296 


B. v. Langenbeck, 


bedeutender, und die Herstellung eines brauchbaren Gelenks we¬ 
niger gesichert ist. Eine Verlegung der Wundhöhle durch den 
nach der Operation hinanfruckenden Trochanter major, ein Uebel- 
stand, der eben die Veranlassung gewesen ist, die jedesmalige 
Entfernung des Trochanters zu empfehlen, ist auch bei dem Län¬ 
genschnitt nicht zu fürchten, sobald der Operirte sofort mit Ge¬ 
wichtsextension behandelt wird. Die Lagerung des Re§ecirten und 
die Nachbehandlung bereitet selbst bei dem ganzen Lazarettcom- 
fort des Friedens nicht geringe Mühe, stösst aber nach einer gros¬ 
sen Schlacht gewiss oft auf unüberwindliche Schwierigkeiten, und 
es tragen die dadurch veranlassten Uebelstände wohl einen guten 
Theil der Schuld a» den Misserfolgen der Hüftgelenkreseetion wie 
der conservirenden Behandlung. Bei den bis jetzt uns zu Gebote 
stehenden Transport-Verbandmitteln halte ich es für unmöglich, 
einen Hüftgelenkresecirten zu transportiren, und es können also 
diese Operationen auf den Truppen-Verbandplätzen des Schlacht¬ 
feldes nicht unternommen werden. Aber auch in den Feldlaza¬ 
retten, in welche die primären Hüftgelenkresectionen unbedingt 
verwiesen werden müssen, fehlt es um diese Zeit nicht selten noch 
an Allem, was zu einer guten Lagerung des Operirten unumgäng¬ 
lich nothwendig ist. Allerdings kann man, wenn Bettgestelle feh¬ 
len, den Operirten auf einem Strohsack lagern, wenn man die Re- 
traction der Muskeln durch Gewicbtsextension verhindert und den 
Abfluss des Wundsecrets durch Freihalten der Wunde und durch 
Drainage sicher stellt. Zu einer bequemen Lagerung der Rese- 
cirten und zur Verhütung des so leicht eintretenden Decubitus, 
zu einer sorgsamen Ueberwachung der Wunde sind Bettgestelle 
und die besten Matrazen erforderlich. Die Extension mit Gewich¬ 
ten, die ich vorläufig für den besten Verband nach Hüftgelenk- 
resection halte, habe ich in einem 1872 operirten Fall, wo in 
Folge des Hüftgelenkleidens ausgedehnter Decubitus entstanden 
war, bis zur Heilung der Wunde und des Decubitus anwenden 
können, während der Operirte die Bauchlage einnahm. 

Der Abfluss des Wundsecrets ist bei Ausführung des Längen¬ 
schnittes vollkommen gesichert, weil bei der Rückenlage die W T unde 
den am meisten abhängigen Theil bildet. Dabei empfiehlt es sich, 
den Verwundeten auf einem unter das Becken geschobenen huf¬ 
eisenförmigen Lochkissen so zu lagern, dass die Berührung der 


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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


297 


Wände mit dem Lager vermieden wird, und das Wundsecret in 
einen untergeschobenen, etwas Carbollösung enthaltenden, flachen 
Porcellanteller abfliessen kann. Nach geheilter Wunde habe* ich 
im Verlauf dieses Jahres in zwei Fällen die von Taylor in New r 
York gegen Coxitis angegebene Maschine angelegt und die Kran¬ 
ken sofort umhergehen lassen. Dieses gewährt den Vortheil, dass 
man die Kranken auftreten und gehen lassen kann, ohne dass die 
Entwickelung des neuen Gelenks gestört wird. Ist das Gelenk 
gehörig consolidirt, und ein Ausweichen des Femur nicht mehr zu 
befurchten, so lasse ich neben täglich angestellten passiven Be¬ 
wegungen die Electricität anwenden, um die Herstellung des Mus- 
keltonus zu befördern. 

Ueber den eigentlichen Werth der Hüftgelenkresection im 
Kriege müssen spätere Erfahrungen entscheiden Die schönen 
Erfolge, welche diese Operation in der Friedenspraxis manch¬ 
mal in anscheinend hoffnungslosen Fällen noch erreichen lässt 
(vergl. Protokolle des ll. Deutschen Chirurgen-('ongresses, Ber¬ 
liner klinische Wochenschrift 1873. Nr. 2i. S. 297), berech¬ 
tigen zu der Erwartung, dass eine sorgfältige Berücksichtigung 
der Indicationen und eine umsichtigere Auswahl der Zeit, in wel¬ 
cher operirt werden muss, bessere Erfolge, als bisher, erreichen 
lassen wird. Dass nicht die Schussverletzungen als solche, son¬ 
dern lediglich die ungünstigen Umstände, unter denen im Kriege 
so häufig operirt wurde, die ungünstigen Erfolge bedingen, hat die 
Erfahrung bereits dargethan. Nach dem Bericht von Otis (Cir¬ 
cular No. 2 p. 117; Circular No. 3 p. 232, No. 638, 640, 641) 
kamen nach Ablauf des Amerikanischen Krieges, d. h. von 1867 
bis 1870, vier Schussverletzungen des Hüftgelenks in den Ver¬ 
einigten Staaten vor, welche die Resection nothwendig machten. 
Von diesen vier Resecirten wurden drei geheilt, und zwar einer, 
bei welchem das Collum femoris in der Höhe des Trochanters ab¬ 
gesägt wurde, mit sehr guter Gchfahigkeit. In den beiden anderen 
Fällen musste unterhalb des Trochanter minor resecirt werden, 
die Heilung erfolgte mit Verkürzung von 31, und 6 Zoll, und die 
Patienten gingen mit Krücken. 

Von diesen 3 geheilten wurde einer (No. 640) primär, am 
Tage nach der Verwundung, die beiden anderen (No. 638, 64 \) 
secundär, 5 und 8 Wochen nach der Verwundung resecirt; in dom 

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298 


B. v. Langenbeck, 


tödtlich verlaufenen Fall musste die Operation, wegen unmittelbar 
nach der Verwundnng eingetretenen Delirium potatorum, bis zum 
26. Tage verschoben werden, und es erfolgte der Tod 20 Stun¬ 
den nach der Operation. 

Die Thatsache, dass die bisher durch Resection geheilten 
Hüftgelenkschüsse der grossen Mehrzahl nach secundäre Operatio¬ 
nen waren, darf gewiss nicht zu dem Schluss berechtigen, dass 
primäre Hüftgelenkresectionen zu vermeiden seien; es berechtigt 
vielmehr Alles zu der Annahme, dass die möglichst bald nach der 
Verwundung ausgeführten Operationen das günstigste Resultat ver- 
heissen. Der Ansicht von Beck (Chirurgie der Schussverletzun¬ 
gen, Freiburg 1873 8. S. 598), dass die primäre Hüftgelenkre- 
section auf grössere technische Schwierigkeiten stosse, als die se¬ 
cundäre, und deshalb verletzender sei, vermag ich nicht beizutreten. 
Eine Resection ist um so leichter auszuführen, je weniger die 
anatomischen Verhältnisse des Gelenks und seiner Umgebung durch 
Schwellung, Infiltration etc. gestört sind, und ich darf versichern, 
niemals eine Hüftgelenkresection so schnell und mit so geringer 
Verletzung ausgeführt zu haben als in den beiden, auf der Tab. 
III unter No. 4 und No. 6 verzeiehnetcn Fällen, welche in Be¬ 
treff der Technik als primäre Rcseetionen angesehen werden 
können. 

Kommen wir schliesslich zu den ausgedehnten Zertrümmerun¬ 
gen des Schenkelhalses bis über die Troebanteren hinaus, so fin¬ 
den wir, dass die 9 in unseren Tabellen verzeiehnetcn Verletzun¬ 
gen dieser Art insgesammt tödtlich verlaufen sind, und es kann 
nur die Frage discutirt werden, ob die primäre Exarticulation des 
Oberschenkels oder die Resection hier unternommen werden müsse. 

Die Erfolge des Amerikanischen Krieges mit ihren grossen 
Zahlen sind für die Beurtheilung der Oberschenkelexarticulation 
maassgebend geworden. Man hat sie als eine Operation bezeich¬ 
net, welche am besten von der Kriegspraxis auszuschliessen sei 
und höchstens als Reamputation in Betracht gezogen werden 
könne. 

In der That hat weder der Böhmische Krieg noch der Krieg 
von 187C/71 einen glücklich verlaufenen Fall von Exarticulation 
des Oberschenkels aufzuweisen. Ich selbst habe im Böhmischen 
Kriege diese Operation, wie ich früher mitgetheilt, nur in ganz 


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Uebcr (lio Schussverletzungen des Eiiftgeleuks. 


299 


hoffnungslosen Fällen ansgefuhrt und seit jener Zeit den Entschluss 
gefasst, sie während der Infiltrationsperiode und nach eingetrete¬ 
nen pyämischen und septicämischen Erscheinungen überall nicht 
mehr zu machen. Septicaemische und mit hohem Fieber behaf¬ 
tete Kranke vertragen Blutverluste ausserordentlich schlecht, so 
dass, neben dem bedeutenden Eingriff die unvermeidliche Blu¬ 
tung während der Operation aus den kleineren Gefässen schwer 
in die Wagschale fallen muss. Aber auch in den Fällen, wo die 
in dieser Wundperiode Exarticulirten nicht während oder gleich 
nach der Operation an Erschöpfung zu Grunde gegangen sind, 
wird der Verlauf gemeiniglich ein tödtlicker sein, weil ein Theil 
des fauligen Infiltrats in den das Hüftgelenk umgebenden Muskeln 
zurückbleibt und das Ferment für die weitergehende Septicaemie 
abgeben muss. Daher ist es gekommen, dass ich während des 
letzten Krieges keine Exarticulation des Oberschenkels gemacht 
habe, weil in allen dazu geeignet gewesenen Fällen der geeignete 
Zeitpunkt bereits verstrichen war, und die Operation den tödtli- 
chen Verlauf nur beschleunigt haben würde. Da es aber unzwei¬ 
felhaft ist, dass der septicaemische Process durch rechtzeitige 
Amputation der faulig infiltrirten Theile unterbrochen, und der 
Kranke gerettet werden kann, so ist es auch nicht statthaft, die 
Exarticulation des Oberschenkels während der Infiltrationsperiode 
ganz von der Hand zu weisen. Ich würde dann, wie ich es bei 
Exarticulation des Oberarms mit Erfolg gethan habe, einen gros¬ 
sen vorderen Hautlappen als Wundbedeckung verwenden, die 
Muskeln an der Beugeseite des Oberschenkels aber, nach vor¬ 
ausgeschickter Unterbindung der Art. femoralis senkrecht ab¬ 
trennen. 

Wie früher, so steht auch jetzt noch bei mir die Ueberzeugung 
fest, dass die Exarticulation des Oberschenkels aus der Kriegschirur¬ 
gie nicht verschwinden darf, und dass, wenn man nicht alle sehr 
schweren Schussfracturen des Hüftgelenks und des Oberschenkels 
von vorn herein verloren geben will, in allen diesen Fällen die primäre 
Exarticulation, wenn möglich vor Ablauf der ersten 12—24 Stun¬ 
den, gemacht werden muss. Ich kann in dieser Beziehung nur 
wiederholen, was ich im Jahre 1868 gesagt habe, und darf wie¬ 
derum hervorheben, dass die beiden einzigen primären Exarticu- 
lationen, welche ich ira Schleswigschen Kriege 1848 gemacht habe, 


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300 


B. v. Langenbeck, 


geheilt worden sind, und Einer dieser Operirten noch am Le¬ 
ben ist. (Meine Abhandlung über die Schussverletzungen der 
Gelenke). 

Leider vermissen wir bei der grossen Mehrzähl der im letz¬ 
ten Kriege gemachten Exarticulationen die Angabe der Art der 
Verwundung und der Zeit der Operation, ich möchte aber behaup¬ 
ten, dass keine dieser Operationen rechtzeitig gemacht worden 
ist. Die Exarticulation des Oberschenkels primär ausgeführt, ist 
meiner Erfahrung nach kein bedeutenderer Eingriff als die hohe 
Oberschenkelamputation, ln der Friedenspraxis machen wir die 
Exarticulation des Oberschenkels mit Erfolg selbst bei sehr schwa¬ 
chen und heruntergekommenen Kranken, im Kriege operiren wir 
ohne Erfolg an Individuen, welche auf der Höhe der körperlichen 
Kraftentwickelung stehen, uud es liegt auf der Hand, dass diese 
unglücklichen Erfolge noch durch andere Ursachen bedingt sein 
müssen, als durch die Schwere des operativen Eingriffs. 

Ist bei ausgedehnten Schussfraeturen des Hüftgelenks der 
günstige Zeitpunkt für die Exarticulation versäumt, so halte ich 
es für zulässig, die Resection, als einziges Mittel das Leben zu 
erhalten, mit der Aussicht vorzunehmen, die Exarticulation später 
unter günstigeren Verhältnissen des Patienten nachfolgen zu las¬ 
sen. Denn, dass nach Entfernung grosser Stücke der Diaphyse 
eine brauchbare Extremität erzielt werden sollte, halte ich für un¬ 
möglich, und die glückliche Ausführung der späten Exarticulation 
im Hüftgelenk während des Amerikanischen Krieges als Ream- 
putation dürfte diesen Versuch rechtfertigen. 

Es bleibt mir noch übrig, über die conscrvative Behandlung 
der Hüftgelenkschüsse zu reden, wie ich sie aufgefasst sehen 
möchte. Ich habe bereits oben hervorgehoben, dass diese Behand¬ 
lung nicht in einem Abwarten bestehen darf, wie etwa die Ver¬ 
wundung verlaufen will, sondern in der werkthätigsten Pflege vom 
Augenblicke der Verwundung an bis weit über die erfolgte Hei¬ 
lung der Wundöffnungen hinaus. 

Die erste und wichtigste Aufgabe ist die Immobilisirung 
des Gelenks und die zweckgemässe Lagerung des Kranken. Bei 
dem Standpunkte, den die Therapie der Gelenkkrankheiten 
bei uns einnimmt, dürfte kaum ein Chirurg gegen diesen Satz 


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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


301 


Einsprache erheben. Wohl aber kann mir der Einwarf gemacht 
werden, dass ich damit etwas bei der jetzigen Kriegführung häufig 
Unausführbares verlange. Während und nach einer grossen Schlacht 
ist es vor allem wichtig, die Schwerverwundeten nach den nahe- 
belegenen Feldlazarethen zu schaffen. Auf den Nothverbandplätzen 
ist es oft nicht möglich, zeitraubende Verbände anzulegen, weil 
alle Hände zu anderen, nicht minder wichtigen Hülfeleistungen 
(primäre Amputationen) in Anspruch genommen sind. In den 
meisten Fällen wird es sich nicht vermeiden lassen, die Verwun¬ 
deten ohne solche Verbände in die Feldlazarethe zu senden. Diese 
sind selbstverständlich oftmals noch nicht etablirt, so lange der 
Ausgang der Schlacht noch unentschieden ist, und es bleibt nichts 
Anderes übrig als den Verwundeten oft ohne jeglichen Verband 
zunächst auf Stroh oder auf dem Erdboden zu lagern. Bei der 
Ueberffiliung, die während und nach einer grossen Schlacht in 
den Feldlazarethen sehr bald sich geltend zu machen pflegt, drängt 
alles der zweiten, doch immer mehrere Meilen entfernten Etappe 
zu; der Verwundete selbst sehnt sich, der Heimath näher zu kom¬ 
men, die Fuhrleute der Verwundetenwa^en drängt es, sich mit 
ihren Gefährten vom Schlachtfelds möglichst weit zu entfernen, 
und so entsteht und wird immer der grosse Uebelstand entstehen, 
dass schwere Schassverletzungen der Extremitäten, von einer 
Etappe zur anderen geschleppt, Tage lang ohne die erforderlichen 
Verbände bleiben. Um diese Uebelstände zu mindern, denn ganz 
abzuhelfen ist ihnen nicht, wird es von der grössten Bedeutung 
sein, alle Sorgfalt auf die Herstellung zweckmässiger Lagerungs¬ 
apparate für die Schussfracturen der unteren Extremitäten zu ver¬ 
wenden, damit es möglich wird, die Verwundeten, wenn es sein 
muss, auch in weitere Ferne ohne zu grossen Nachtheil zu trans- 
portiren. Wiederum kann es aus strategischen Rücksichten ge¬ 
boten sein, die Verwundeten sofort möglichst weit vom Schlacht¬ 
felde zu entfernen oder aus den Feldlazarethen schleunigst zu 
evaeuiren. Man entgegne mir nicht, dass seit Abschluss der Genfer 
Convention solche Uebelstände nicht mehr Vorkommen können, 
dass das rothe Kreuz die Truppenverbandplätze und die Feldlaza¬ 
rethe neutralisire und also vor den feindlichen Kugeln sicher¬ 
stellen müsse. Bereits im Jahre 1867, auf dem internationalen 
Congress in Paris habe ich bei Discutirung dieser Fragen hervor- 


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302 


H. v. Langenbeck, 


gehoben, dass mau sich Illusionen hingebe, weun man glaube, 
es könnten derartige Stipulationen einen practischen Erfolg haben, 
und bereits der letzte Krieg hat dieses bestätigt. Gewiss ist es 
in den früheren wie in den letzten Kriegen nicht vorgekommen, 
dass Verbandplätze und Feldlazarethe des Schlachtfeldes unter 
Feuer genommen wären, weil Verwundete sich in denselben be¬ 
fanden, wohl aber ist es vorgekommen, und so wird es zu allen 
Zeiten geschehen, dass diese Orte unter Feuer genommen wurden, 
obgleich sie die Lagerstätte von Verwundeten waren. Wichtige 
strategische Zwecke können und dürfen niemals der Rücksicht 
auf das Wohl der Verwundeten geopfert werden, und der Feld¬ 
herr würde unverantwortlich handeln, welcher Bedenken trüge, 
eine wichtige feindliche Position zu beschiessen und zu nehmen, 
weil das rotho Kreuz sic als die Lagerstätte Verwundeter be¬ 
zeichnet. So ist es gekommen, und es konnte nicht anders sein, 
dass unsere am IG. August in Vionville angehäuften Verwundeten 
stundenlang das feindliche Geschützfener aushalten mussten, dass 
am 18. August ein mit Verwundeten belegter Mcierhof in Brand 
geschossen werden mu&te, ohne dass den Verwundeten Rettung 
zu Theil werden konnte, dass am 2. September die in der Nähe 
von Sedan, und am 3. December bei der Einnahme von Artenay 
die in diesem Städtchen aufgehäufteu Verwundeten unserem Feuer 
ausgesetzt gewesen sind. 

Ich habe diese Abschweifung nicht vermieden, weil es mir 
billig erschien, die Vorwürfe, welche von Fernerstehendeo der Ver¬ 
wundetenpflege auf dem Sehlachtfelde auch während des letzten 
Krieges gemacht worden sind, zu entkräften, und die Anforderun¬ 
gen und Erwartungen, welche sich an die Genfer Convention 
knüpfen, auf ihr richtiges Maass zurückzuweisen, besonders aber 
um auf die hohe Bedeutung einfacher und zweckentsprechender 
Lagerungsapparate für die Sclms3verletzungen der unteren Extre¬ 
mitäten die Aufmerksamkeit der Practiker zu richten. 

Wenn es, um auf die Lagerung und sofortige Immobilisirung 
der Hüftgelenkschüsse zurückzukommen, für das Wohl der Ver¬ 
wundeten oft von entscheidender Bedeutung sein wird, sie in dem 
nächstgelegenen Feldlazarett) zu belassen, so sollte der anf dem 
Schlachtfelds selbst herzurichtende erste immobilisirende Verband 
doch stets so eingerichtet sein, dass der möglicherweise unver- 


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lieber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


303 


racidliche weitere Transport in das Kriegslazareth erster Etappe, 
voranssichtlich auf Krankentransportwagen der Eisenbahn ohne 
grossen Nachtheil für die Wunde unternommen werden kann. Ein 
gut angelegter Gypsverband, welcher das Becken und die ganze 
Extremität urogiebt, würde diesen Anforderungen am besten ent¬ 
sprechen. Während einer grossen Schlacht aber kann ich dio 
Verwendung der Gypsverbände nicht für zweckmässig halten: Sie 
sind zu mühevoll, erfordern zu viel Zeit und zu viel kunstgeübte 
Hände und können, schlecht angelegt, die grössten Gefahren brin¬ 
gen. Zudem lässt der Gypsverband, auch wenn er den Wund¬ 
öffnungen entsprechende Fenster enthält, es nicht zu, das Hüft¬ 
gelenk von allen Seiten her zu übersehen und zu untersuchen, 
was für die weitere Wundbehandlung von der grössten Wichtig¬ 
keit ist. 

Es werden also für den ersten immobilisirenden Verband 
flache Hohlschienen, welche die Rückseite der ganzen verletzten 
Extremität und des Beckens umgeben, die vordere Gegend des 
Hüftgelenks aber freilassen, am meisten zu empfehlen sein. Die 
von Bonnet angegebenen Drahthosen sind in den Kriegen von 1848 
1864, 1860 und 1870 in unserer Armee vielfach zur Anwendung 
gekommen Sie nehmen aber einen zu grossen Raum ein, um für 
die unteren Extremitäten in genügender Anzahl auf das Schlacht¬ 
feld mitgeführt zu werden und bieten die Gefahr der Wundinfec- 
tion durch die so schnell eintretende Verunreinigung der Polste¬ 
rung. Am meisten würden mir unter den bis jetzt bekannten 
Apparaten die flachen Hohlschienen der 0österreichischen Feld¬ 
ausrüstung, oder die von Merchie angegebenen Schienen, natürlich 
mit Beckenstück versehen und nach dem Körper modcllirt, Zusagen, 
und könnten diese, nach denselben Körpergrössen wie die Uniform- 
stücke während des Friedens angefertigt, vermöge ihrer Leichtig¬ 
keit und ihres geringen Volumens in genügender Anzahl auf das 
Schlachtfeld mitgeführt werden. Noch wichtiger würde es sein, 
ein Material zu finden, welches leicht zu verpacken, der Verderb- 
niss nicht unterworfen und geeignet wäre, bei der erforderlichen 
Resistenz und Biegsamkeit den Körperformen ohne Zeitverlust auf 
das genaueste angefügt zu werden. Ich halte es für wahrschein¬ 
lich, dass die von dem K. K. Oesterreichischen Regimentsarzt 
Dr. Schön in Vorschlag gebrachten Zinktafeln diesen Anforderun- 


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304 


B. v. Langenbcck, 


gen am meisten entsprechen werden. Die Verbesserung der La¬ 
gerungsapparate für den Krieg müsste der Gegenstand fortwäh¬ 
render Studien und Berathungen sein, um so mehr als die Praxis 
der Friedenslazarethe in der neuesten Zeit in dieser Beziehung 
erfreuliche Fortschritte gemacht hat. 

Wenn unsere Tabellen den Nachweis liefern, dass von den 
geheilten Hüftgelenkschüssen der Tab. I. 9 Verwundete, von den 
tödtlich verlaufenen der Tab. II. und III. 23 Verwundete, zum 
Theil ohne jeden Verband, einen weiten Transport in die Kriegs¬ 
oder Reservelazarethe erdulden mussten, und dass nicht Wenige 
von den letzteren in hoffnungslosem Zustande an dem Ort ihrer 
Bestimmung aulangten, so ergiebt sich die hohe Bedeutung dieser 
Aufgabe von selbst. 

Eine andere für die Schussverletzungen des Hüftgelenks wie 
für die Schussfracturen des Oberschenkels gleich wichtige Ver¬ 
bandmethode ist die Distraction oder permanente Exten¬ 
sion durch Gewichte. Für die'meisten frischen Hüftgelenkschüsse 
im Allgemeinen wohlthätig wirkend, ist sie während der Entzündungs¬ 
periode und während der ganzen Behandlung der Schussfracturen 
des Hüftgelenks eine wahre Panacce und für den Krieg um so wich¬ 
tiger, als der dazu erforderliche Apparat, mit den einfachsten Mitteln 
überall und ohne Zeitverlust leicht hergerichtet, dem Verwundeten 
niemals einen dauernden Nachtheil zufügen kann. Eine Heft¬ 
pflasterschlinge, deren Enden an der Aussenseite und Innenseite 
des Unterschenkels anliegen und durch Bindentouren befestigt wer¬ 
den nimmt die Schnur auf, an welcher das Gewicht, 6-10 Pfd. 
schwer, angehängt wird. Im Felde kann man diesen einfachsten 
Extensionsapparat selbst dann herstellig machen, wenn Bettgestelle 
noch nicht vorhanden sind. Ein am Fussende des Strohsacks in 
den Boden gelassenes Holzstück lässt durch ein Loch die Schnur 
hindurchtreten, welche das Gewicht tragen soll. Recht häufig habe 
ich den mit Steinen gefüllten Brodbeutel des Verwundeten in die 
Heftpflasterschlinge eingehängt. Absolut immobilisirt wird das 
Hüftgelenk dabei nicht, doch lässt sich durch Sandsäcke der 
Neigung des Oberschenkels, nach Aussen rotirt zu werden, ent¬ 
gegenwirken. Die wohlthätige Wirkung der Gewichtsextension 
besteht darin, dass die Flexionsstellung, welche die Extremität 
stets, gemeiniglich mit Rotation nach Aussen einzunehmen strebt, 


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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


305 


verhindert oder beseitigt, und die Druckverhältnisse im Gelenk 
günstiger gestaltet werden. Bei Schussfracturen des Hüftgelenks 
und unterhalb des Trochanters habe ich die Gewichtsextension 
sofort angewendet und die heftigen Schmerzen, welche durch Mus- 
kelcontractionen und Reibung der Bruchflächen aneinander bedingt 
waren, sofort verschwinden sehen. Während der Entzündungs¬ 
und Eiterungsperiode beseitigt die Extension den intraarticulären 
Druck, welcher durch die Anhäufung der Exsudatmassen im Ge¬ 
lenk, durch die einseitige Stellung des Schenkelkopfs und die be¬ 
deutende Muskelspannung hervorgebracht wird. Arnold (Anatom. 
Beiträge zu der Lehre von den Schusswunden. Heidelberg 1873 
4. S. 86) fand, und ich kann dieses aus einer Reibe eigener Beob^ 
achtungen bestätigen, dass die entzündlichen Veränderungen und 
namentlich die Knorpel- und Knochenzerstörung im Hüftgelenk 
weit bedeutender ist in denjenigen Fällen, wo die Continuität des 
Schenkelhalses und Femur nicht aufgehoben war, weit geringer 
bei den vollständigen Schussfracturen des Halses. Ich habe in 
zwei Fällen bei secundären Resectionen, die wegen vollständiger 
Abtrennung des Schenkelhalses durch Schuss gemacht wurden, 
die Gelenkflächen vollkommen glatt und nicht usurirt, die Pfanne 
in ihrer Form unverändert gefunden, bei Schussverletzungen 
der Pfanne allein, Rinnenschüssen des Schenkelkopfs etc. die erheb¬ 
lichsten Veränderungen der Gelenkflächen gesehen. Ich schreibe 
diese Veränderungen aber nicht, wie Arnold, den Bewegungen 
des Schenkelkopfs im Acetabulum zu, sondern lediglich dem enor* 
men Druck der Gelenkflächen aneinander, welchen die Muskel- 
spannung hervorbringt, während bei Schussfracturen des Kopfes 
und des Halses die Muskelspannung auf die Gelenkflächen ohne 
Einfluss bleiben muss. 

Ist die Schusswunde geheilt oder in der Heilung begrif¬ 
fen, so ist die Gewichtsextension das beste Mittel, um die 
Flexionsstellung des Oberschenkels zu beseitigen, die etwa ein¬ 
getretene Verkürzung zu heben oder zu vermindern, und das zu 
Standekommen der Ankylose im Gelenk bei günstiger Stellung 
der Extremität zu sichern. 

Da bei mit Dislocation der Fragmente geheilten Schussfrac¬ 
turen die vollständige Consolidation des Callus erst nach Monaten 
eintritt, und da die Ankylose im Hüftgelenk ebenfalls längere Zeit 

t. Lnngcubcck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 20 


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306 


B. t. Langenbeck, 


eine fibröse bleibt, so kann die Extension znr Hebung der Ver¬ 
kürzung und znr Verbesserung der Stellung, und zwar mit An¬ 
wendung schwerer Gewichte (10—18 Pfd.) auch dann noch mit 
dem besten Erfolge angewendet werden. 

Ist die Gelenkwunde vollständig geheilt, und durch die Ex¬ 
tension erreicht, was erreicht werden kann, handelt es sich darum, 
den Verwundeten Gehversuche mit Krücken anstellen zu lassen, 
so halte ich eine längere Zeit fortgesetzte Immobilisirung des Ge¬ 
lenks durch Gyps- oder Kleisterverband für dringend geboten, 
weil das Gelenk noch lange schmerzhaft und geschwollen bleibt, 
und neue Entzündungsanfälle und Eiterungen noch lange nach er¬ 
folgter Heilung eintreten können. 

Dilatiren der.Wunden, Incisionen in das Gelenk. 
Splitterextractionen. Zu dem ausnahmslosen Dilatiren fri¬ 
scher Schussöffnungen, lediglich zu dem Zweck, um das Vorhan¬ 
densein oder Nichtvorhandensein einer Gelenkverletzung sicher zu 
stellen, habe ich mich niemals entschliessen können, ja ich halte 
sogar, wie ich bereits 1868 hervorgehoben, ein energisches Son- 
diren des Schusskanals für verwerflich. Es unterliegt ja keinem 
Zweifel mehr, dass Schussverletzungen der Gelenke ohne Eiterung 
heilen können, und ich halte das Sondiren des Schusscanals bei 
allen supponirten Kapselwunden und bei allen Gelenkwunden über¬ 
haupt, welche man conservirend zu behandeln entschlossen ist, 
für geradezu verwerflich. Das Arbeiten mit Finger und Sonden 
in dem Schusscanal befestigt die Diagnose in sehr vielen Fällen 
nicht, weil der Finger zu kurz ist, um an das Gelenk zu gelan¬ 
gen, die Sonde aber von den Muskeln, welche die Gelenkwunde 
verlegen, gefangen wird, verschlechtert aber die günstigen Chancen 
der Wundheilung ganz beträchtlich, weil der Schusscanal von 
Neuem insultirt und dem Zutritt der Luft ausgesetzt wird, und in 
der Regel Blutungen von Neuem entstehen. Nur wenn die in 
der Wunde steckende Kugel in der Nähe des Gelenks wahrge¬ 
nommen wird, halte ich die Extraction für geboten. In den mei¬ 
sten Fällen wird dann aber ein neuer, direct auf die Kugel ge¬ 
führter Einschnitt der Extraction mit Kugelzangen von der Ein- 
gangsöffhung aus vorzuziehen sein. Dagegen halte ich das Dila¬ 
tiren der Schussöffnungen und die Untersuchung mit Finger und 
Sonde für zulässig und sogar geboten, sobald es sich darum han- 


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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


307 


delt, bei unzweifelhafter Knochenverletzung des Gelenks operativ 
vorzugehen, und durch die Untersuchung zu entscheiden, ob die 
Resection oder die Exarticulation des Oberschenkels den Vorzug 
verdiene 

Ein Dilatiren der Schussöflhungen kann ferner geboten sein, 
um grössere Mengen von Blut, welche in dem Gelenk zurückge¬ 
halten werden, austreten zu lassen, weil darin das einzige Mittel 
gegeben ist, der unvermeidlichen ausgedehnten Infiltration der das 
Gelenk deckenden Weichtheile und der fauligen Zersetzung dieses 
Infiltrats vorzubeugen. Trifft man in der dilatirten Schusswunde 
Knochensplitter an, so halte ich die Extraction derselben nur dann 
für rathsam, wenn sie vollkommen abgetrennt in der Wunde lie¬ 
gen und besonders wenn sie den Wundcanal verlegen und den 
Abfluss des Wundsecrets hindern könnten. Anhaltende gewalt¬ 
same Versuche, Knochensplitter aus frischen Schusswunden zu 
entfernen, halte ich überhaupt für unzulässig. Jeder zu diesem 
Zweck gemachte bedeutende Eingriff fördert nur die Infiltration 
und septische Infection, weil darnach sehr leicht Venenthrombosen 
entstehen. In allen Fällen, wo eine ausgedehnte Splitterung sich 
herausstellt, würde ich der primären Resection den Vorzug geben. 

Von der grössten Bedeutung und immer noch zu häufig ver¬ 
säumt oder nicht zeitig und freigebig genug geübt sind die Inci- 
sionen, mögen sie im Dilatiren der Schussöffnungen oder in 
neuen Einschnitten bestehen, während der Infiltrations- und Eite¬ 
rungsperiode. Bei ausgedehnter septischer Infiltration mit trau¬ 
matischem Emphysem und bei dem acut purulenten Oedem sind 
die Einschnitte freilich ohne jeglichen Einfluss auf den Verlauf, 
weil sie das Infiltrat nicht herausfördern können. Die Verwunde¬ 
ten gehen ausnahmslos an acuter Septicaemie zu Grunde. Jauche¬ 
herde aber können mit dem schönsten Erfolge ausgeleert werden, 
und in keinem Fall, möge Fieber vorhanden sein oder nicht, sollte 
man mit Einschnitten säumen, sobald Fluctuation im Bereich des 
Gelenks wahrgenommen werden kann. Ergiebt sich dabei eine 
früher übersehene Fractur des Gelenks, so würde ich von einer 
sofortigen Resection noch Abstand nehmen und mit der exspecta- 
tiven Behandlung fortfahren, weil die Resectionen, in dieser Wund¬ 
periode unternommen, wenig Aussicht auf Erfolg geben. 

Weit sicherer im Erfolge sind die Incisionen während der 

20 * 


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308 


B. v. Langenbeck, 


eiterigen Coxitis und den, in der Regel durch Lösung von Se¬ 
questern veranlassten, oft sehr spät eintretenden Eiterungen. Er- 
giebt sich dabei im ersteren Fall eine ausgedehnte Splitterung 
und Vereiterung des Gelenks, so würde ich den, nach Entleerung 
des Eiters zu erwartenden Abfall des Fiebers benutzen, um die 
Resection auszuführen; finden sich einzelne gelöste Splitter vor, 
so kann die Extraction derselben genügen. 

Dass die übrige Behandlung der Hüftgelenkschüsse dieselbe 
sein muss, wie bei allen Gelenk- und Knochenwunden, darf als 
selbstverständlich vorausgesetzt werden. In Deutschland geben wir 
bei Behandlung der frischen Gelenkwunden der Eisbehandlung den 
Vorzug. Die Französischen Aerzte, welche den Standpunkt unver¬ 
rückt festgehalten haben, den Dupuytren bei Behandlung der 
Schusswunden und der Schussverletzungen der Gelenke einnähm, 
wandten sehr gewöhnlich zunächst in der Nähe der frischen Wunde 
Blutegel und später warme Cataplasmen an. Diese Therapie ent¬ 
spricht so wenig unseren Anschauungen, dass sie bei uns schwer¬ 
lich Eingang finden wird, obwohl die Tab. I. zwei geheilte Fälle 
enthält (No. 1. 7), welche Anfangs in dieser Weise behandelt 
wurden. 

Ueber den Werth der antiseptischen, nach der Li sterischen 
Methode ausgeführten Verbände im Felde wird nach dem letzten 
Kriege kaum mit Sicherheit entschieden werden können. Die 
grossartigen Erfolge, welche wir bei complicirten Fracturen im 
Frieden damit erzielen, fordern dazu auf, auch die Schussver¬ 
letzungen so zu behandeln. Auch kann ich versichern, die Hei¬ 
lung von zwei unzweifelhaften Schussfracturen des Kniegelenks 
unter dem Lister’schen Occlusionsverbände gesehen zu haben, 
ohne dass eine Gelenkentzündung eintrat. In beiden Fällen wur¬ 
den die Schussöffnungen mit in concentrirter Carbolsäure getränk-. 
ten Charpiebauschen bedeckt und der Gypsverband angelegt. Als 
wir nach 14 Tagen die Gypsverbände erneuerten, waren die 
Schussöffnungen durch fest anhängende Schörfe verschlossen, mit 
welchen die Charpiebauschen gleichsam eine Masse bildeten, und 
als nach abermals 14 Tagen die Charpiebauschen mit den Schärfen 
abgehoben werden konnten, waren die Schussöffnungen vollständig 
vernarbt. Ich glaube aber, dass nicht alle Schussverletzungen der 
Knochen und Gelenke für die L i s t e rische Wundbehandlung geeignet 

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Ueber die Scbussverletzungen des Hüftgelenks. 


309 


sind, und dass man eine sorgfältige Auswahl treffen muss, wenn 
man nicht Gefahr laufen will, sie ohne Erfolg anzuwenden. Die 
Bedingungen, welche man stellen muss, sind: die Möglichkeit, den 
Verband sehr bald nach der Verwundung und mit der erforderlichen 
Sorgfalt anzulegen, so wie die sofortige Immobilisirung der Extre¬ 
mität und die Vermeidung des Transports. Sind die Gewebe in 
grosser Ausdehnung gequetscht, oder war eine ausgedehnte blutige 
Infiltration sofort nach der Verwundung aufgetreten, so kann auch 
der sorgfältigst angelegte Lister’sche Verband die Jauchung in 
der Tiefe nicht verhindern. Auf das dringendste muss davor ge¬ 
warnt werden, dass man nicht, aus zu grosser Zuversicht zu der 
antiseptisohen Occlusion, eine tägliche genaue Untersuchung der 
Wundgegend und rechtzeitige Incisionen unterlasse. 

Tabelle 1. 

Scbussverletzungen des Hüftgelenks im Deutsch - Französischen Kriege durch conservirende 

Behandlung geheilt. 


No. 


Beobachter 

und 

Quelle. 


1. B. v. Lan- 
genbeck. 

(Protokolle der 
Verhandlun¬ 
gen der mili- 
tairärztl. Ge¬ 
sellschaft in 
Orleans. Sitz, 
v. 25. Januar 
1871. Deut¬ 
sche militair- 
ärztlicbe Zeit- 
schr. II. Jbrg. 
1873. S. 46. 
Dr. A. Chi¬ 
ps ult, Frac- 
tures par ar¬ 
mes & feu. 
Paris 1872. 8. 
theilt densel¬ 
ben Fall, ob- 
I serv.58.p.51, 

| mit I 


iName des Ver¬ 
wundeten. Da- 
|tum und Ort d. 
Verwundung. 


de Mermies, 
Capit. 38. frz. 
Inf.-Lin.-Rgt. 
verw. 2. Dec. 
1870 bei Ar¬ 
tenay. 

Zugang in der 
Ambulance d. 
rue de Recou- 
vrance in Or¬ 
leans einige 
Tage später. 


Art der Verwundung. Symptome. 
Wundverlauf und Behandlung. 


Bemerkungen. 


Schuss durch linkes Hüftgelenk und 
Harnblase. Einschuss 4 Ctm. unterhalb 
Spina anter. super, oss. ilium, hart an 
der Aussenseite der Art. femoralis. 
Die Kugel (Langblei) hat das Gelenk 
eröffnet, ist unter den Schenkelgefäs- 
sen in die Beckenhöble eingedrungen, 
hat die Harnblase extraperitoneal per- 
forirt und ist durch Incisura iscbiadica 
rechter Seite ausgetreten, wo sie 
unter der Haut stecken blieb und auf 
dem Schlacbtfelde ausgeschnitten wur¬ 
de. Anfangs starke Blutung aus der 
Wunde und wiederholte Entleerung 
von Blut aus der Harnröhre ohne 
Schmerzen; kein Austritt von Urin durch 
die Gelenkwunde, welcher vielmehr 
ohne Schmerzen durch die Harnröhre 
spontan entleert wird. Sehr heftige 
Schmerzen, hohes Fieber. Später, am 
15. December, Ausfluss von Eiter und 
Urin aus der Eingangsöffnung; der 
durch die Harnröhre entleerte Urin 
setzt viel Eiter ab. Bei Rückenlage 
in halbsitzender Stellung mit aufru- 


Vollständige Vernar¬ 
bung der Wunde am 
1. März 1871. Gelenk 
bereits ankylosirt, 
aber noch geschwol¬ 
len, sehr empfindlich 
gegen Druck. Pat. 
sehr heruntergekom¬ 
men , fiebert wieder 
etwas bei meinem 
letzten Besuch am 
8. März 1871. 


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310 


B. v. Langenbeck, 



Beobachter 

und 

Quelle. 


Name des Ver¬ 
wundeten. Da¬ 
tum und Ort d. 
Verwundung. 


Art der Verwundung. Symptome. 
Wundverlauf und Behandlung. 


Bemerkungen. 


hendem Oberschenkel und flectirtemj 
Knie stellt sich das Femur allmälig in! 

Flexion bis zu einem Winkel von 80°,i 
die Wirbelsäule in Lordose, Femur| 
stark nach Aussen rotirt Vordere Ge-j 
lenkgegend stark geschwollen, sehr 
schmerzhaft gegen Druck. Arteria 
femoralis, durch Gelenkgeschwulst her¬ 
vorgedrängt pulsirt oberflächlich; Kno- 
! chencrepitation in der Gelenkgegend . 

undeutlich gefühlt. Jede Bewegung 
im Gelenk, oder Versuch, die Lage zu 
verbessern, vom Patienten verhindert. 

Im Januar 1871 allmälige Abnahme 
der Eiterung, Urin beginnt auf nor¬ 
malem Wege zu fliessen. Wiederholt 
angerathene Extension durch Gewichte 
vom Patienten stets verweigert. 

2. B. v. L an -Conrad Riepe, Schussfractur des rechten Hüftgelenks Im Frühjahr 1872 kam 

genbeck. Füsilier im 5. durch Chassepotkugel. Einschuss dicht Riepe nach Berlin. 

Thüring. Inf.- unterTuberc.oss.pub rechter,Ausschuss Die Untersuchung im 
Regt. No. 94. hinter Trochanter maj. derselben Seite, kgl. Klinikum ergab: 
9. Comp, aus Gelenkverletzung Anfangs übersehen. Verkürzung des rech- 
Eisenach, ver- Ich fand unzweifelhafte Fractur des ten Schenkels um 
wund. 6. Jan. Schenkelhalses: Trochanter in die Höhe 2 Ctm., die durch 
1871 bei La gewichen, Extrem, um 6 Ctm. ver- Beckensenkung aus- 
Fourche, be- kürzt, Fussspitze etwas nach Aussen geglichen ist. Pat. 
handeltimLa- gedreht. Gelenk stark geschwollen, geht sehr gut, ohne 

zarethinEper- Arter. femoralis, stark hervorgedrängt, zu hinken und selbst 

nay (Fabrik- pulsirt oberflächlich. ohne Stock. Geringe 

gebäude von Anfangs in einfacher Rückenlage, vom Beweglichkeit im 
Moetu.Chan- 11- März 1871 an mit Gewichtsexten-j Hüftgelenk vorhan- 
don). sion behandelt. Später Gypsverband.i den. Die noch man- 

in welchem der Pat. 8 Wochen lag.) gelhafte Beweglich- 
Nach brieflicher Mittheilung des be- keit im Fuss- und 
handelnden Arztes Hrn. Dr. Ris aus Kniegelenk wurde 
Zürich dauerte die Eiterung des Ge- durch die Bäder in 
lenks bis August 1871. Durch wieder- Wiesbaden vollkom- 
holte Incisionen wurden Theile der men hergestellt. 
Pfanne, des Caput und Collum femo- (Neubauer, königl. 
ris extrahirt. Heilung der Wunden Wilhelmsheilanstalt 
vollendet im October 1871. in Wiesbaden 1872. 

S. 19, wo der Ver¬ 
wundete unter dem 
Namen Kiepe aufge¬ 
führt wird.) 

3. Derselbe. Friedr. Schar- Schussverletzung des linken Hüftgelenks, Vollständige Heilung 

rer, 3. kgl. der Harnblase und des Mastdarms, der Wunden 20. März 
Bayer. Inf.-| Einschuss hinten am linken Rande 1871. Hüftgelenk in 


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Heber die Schussverletzungen des Haftgelenks. 


311 


Nr. 


Beobachter 

und 

Quelle. 


Name des Ver-| 
vundeten. Da¬ 
tum und Ort dJ 
Verwundung. 


Art der Verwundung. Symptome. 
Wundverlauf und Behandlung. 


Bemerkungen. 


4. 


B. v. Lan 
genbeck. 


5. (Derselbe. 


7. 


Derselbe. 


Derselbe. 

(Dr. C. Brig- 
ham, Observ. 
chirurgicales. 
Paris 1872.8. 

p. 60.) 


Regt., verw 
2. Dec. 1871. 
Nach Darm¬ 
stadt in Prin- 
cess-Alice Ba¬ 
racken eva-| 
cuirt. 

Heinr. Mühl¬ 
bach , 108 

Inf.-Regt. aus 
Hellendorf, 
Kreis Gott¬ 
leuba , verw. 
2. Dec. 1870 
bei Brie. Nach 
Homburg v. d. 
H., Kronprin 
cessin-Barak- 
ke, evacuirt 
(Hofrath Dr. 
Deetz.) 

Beischlag, Un- 
terofficierkgl. 
Bayer. 12. 
Inf. - Regt., 
verw. 2. Dec. 
1870. 

Jung aus Gref¬ 
rath bei So¬ 
lingen. West- 
phäl. Ulanen- 
Regt. Nr. 5. 


A.Darettelong, 
27 Jahre alt. 
Franzos. 76. 
Rgt. de Ligne, 
verw. 18. Au¬ 
gust 1871 vor 
Metz. 


des Os sacrum. Ausschuss dicht unter 
Lig. Poupart. linker Seite, nach Aussen 
Aron Tuberc. oss. pubis. 

Vier Wochen lang Urinabfluss durch 
die Wunden, wenig durch Harnröhre 
entleert. Urin Anfangs blutig, dann 
mit Faeces gemischt durch beide 
Schussöffnungen austretend. 

Schussverletzung des linken Hüftgelenks. 
Einschuss 4 Ctm. unterhalb Spina 
anter. super, oss. ilium, ziemlich in 
der Mitte zwischen Trochanter und 
Spina linker Seite, Ausschuss in der 
Gegend des Ramus ascendens oss. 
ischii derselben Seite. Von Brie in 
die Kronprinzessin-Baracke nach Hom¬ 
burg v./H. evacuirt. In den ersten 
8 Tagen nach der Verwundung geht 
Pat. umher, klagt nur über Schmerz 
in Knie- und Hüftgelenk. Dann heftige 
Schmerzen im Hüftgelenk, hohes Fie¬ 
ber und starke Eiterung. Behandlung 
in Rückenlage mit Extensiou. 

Scbussverletzung d. linken Hüftgelenks. 
Einschuss durch Incisura ischiadica 
major linker, Ausschuss 5 Ctm. un¬ 
terhalb Spina anter. super, derselben 
Seite. 


Schussverletzung des rechten Hüftge¬ 
lenks. Einschuss 5 Ctm. unterhalb 
Tuberc. pubis rechter, Ausschuss zwi¬ 
schen Tuber ischii und Trochanter 
major derselben Seite. 


Schussverletzung des Trochanter maj. 
und des Hüftgelenks rechter Seite. 
Einschuss durch rechte Hinterbacke 
und Trochanter major. Kugel steckt 
unterhalb Spina anter. unter den das 
Gelenk deckenden Muskeln. Bei am 
8. September vorgenommeuer Dilata¬ 
tion der Schussöffnung dringt d. Fin¬ 
ger in ein Loch des Trochanter ma¬ 
jor. Die Kugel liegt 25 Mm unter? 
halb Spina anter. und wird entfernt. 
Warme Cataplasmen. 12. September 


Beugung beinahe 
vollständig ankylo- 
tisch. 


Wunden vollständig 
geheilt23. März 1871. 
Pat. geht schon recht 
gut. LäDge der Ex¬ 
tremitäten gleich. 
Beweglichkeit im 
Hüftgelenk fast ganz 
aufgehoben. 


Heilung der Wunden 
vollständig 23. März 
1871. Gelenk, noch 
geschwollen und ge¬ 
gen Berührung sehr 
empfindlich, zeigtge- 
ringe Beweglichkeit. 

Heilung der Wunden 
vollständig im März 
1871. Oberschenkel 
in beinahe recht¬ 
winkliger Beugestel¬ 
lung vollständig an- 
kylosirt. 

Am 13. März 1871 sah 
ich den Verwundeten 
im Spital zu Nancy. 
Vordere Gegend des 
Hüftgelenks ge¬ 
schwollen und sehr 
empfindlich, Ober¬ 
schenkel in Flexion 
und Adduction ge¬ 
stellt, schwer be¬ 
weglich. Ziemlich 
starke Eiterung, wel- 


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312 


B. t. Langenbeck, 


Nr. 


Beobachter 

und 

Quelle. 


Name des Ver¬ 
wundeten. Da¬ 
tum und Ort d. 
Verwundung. 


Art der Verwundung. Symptome. 
Wundverlauf und Behandlung. 


Bemerkungen. 


8 . 


9. 


10 . 


B. v. Lan 
genbeck. 


Dr.Berthold, 
General-Arzt 
d. 10. Armee 
corps. (Deut¬ 
sche militair- 
ärztl. Zeitungl 
1872. S. 521). 


Derselbe, 

ebendaselbst. 


Joh. Simon, 
12. Bayer. 
Inf. - Regt, 
verw. 2. Dec. 
1870. 


Abscess an der Stelle, wo die Kugel 
gelegen, später zwei andere weiter ab¬ 
wärts gelegene Abscesse geöffnet. 
Drainage. Heilung der Wunden am 
1. November 1870. Am 14. Novbr. 
geht Pat, nach Angabe des Dr. Brig- 
bam, welcher ihn in Nancy behan¬ 
delte, ohne Krücken schon ziemlich 
leicht, und mit geringer Verkürzung. 


Schussverletzung d. linken Hüftgelenks. 
Einschuss hinter linkem Trocbant. maj., 
Ausschuss dicht unter Ligament. Pou- 
part. 3 Ctm. vom Tuberculum oss. pu- 
bis derselben Seite entfernt. Enorme 
Anschwellung des Gelenks und des 
ganzen Schenkels. Seitenlage. Eisbe¬ 
handlung. 


Soeding, Füsi¬ 
lier im 16. 
Inf. - Regt, 
10. Aimee- 
corps, verw. 
16. Aug. 1870 
bei Mars la 
Tour. 


Neumann, 
Musketier 91. 
Inf.-Regt. 10, 
Armeecorps, 
verw. 16. Au¬ 
gust 1870 bei 
Mars la Tour. 


che ohne Zweifel aus 
dem Gelenk kömmt 

Möglicherweise ist die 
Gelenkeiterung erst 
spät, nachdem Dr. 
Brigham den Ver¬ 
wundeten abgegeben 
hatte, aufgetreten 
und durch Fissuren, 
welche von dem frac- 
turirten Trochanter 
in das Gelenk gin¬ 
gen, veranlasst wor¬ 
den. 

Heilung mit Ankylose 
bei Stellung desBeins 
in Flexion und Ro¬ 
tation nach aussen. 
In diesem Zustand 
nachDarmstadt trans- 
ferirt. Dr. Küchler 
machte die Resection 
zur Verbesserung der 
Stellung. Am 22. 
März 1871 sah ich 
Pat. geheilt Geringe 
Verkürzung. Hüft¬ 
gelenk noch sehr 
empfindlich. 


Schussverletzung des rechten Hüftge-Heilung im März 1871 
lenks. Einschuss auf der rechten Hin-| vollendet. Ober¬ 
terbacke. Das Geschoss drang wahr¬ 
scheinlich in das Gelenk und blieb 
im Schenkelhals stecken. In den La-' 
zarethlisten war der Fall als Knochen- 
contusion verzeichnet. 


Schussfractur des linken Hüftgelenks. 
Einschuss vorn, Ausschuss durch linke 
Hinterbacke. Gelenkpfanne und Kopfj 
theilweise fracturirt. Langwierige 
Eiterung mit Ausstossung vieler grös¬ 
serer und kleiner Knochenfragmente. 
Mehrfach angerathene Resection ver¬ 
weigert 


schenke! in halbflec- 
tirter Stellung im 
Hüftgelenk vollstän¬ 
dig ankylosirt. Ver¬ 
kürzung des Beins 
um 8 Ctm. Geben 
nur mit Krücken 
möglich. 

Im April 1872 besteht 
noch Eiterung aus Fi¬ 
stelöffnungen. Ober¬ 
schenkel nach oben 
und hinten luxirt, 
unbeweglich. Knie 
adducirt und etwas 
nach innen rotirt 
6 Ctm. Verkürzung. 


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Ueber di« Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


313 


Nr. 


Beobachter 

und 

Quelle. 


11 . 


Derselbe, 

ebendaselbst 


12 . 


Dr.Schinzin- 
ger, Prof, in 
Freiburg. 
(.Briefl. Hit* 
theilung. S. 
auch: Reser- 
velazaretb 
SchwezingenJ 
Freiburg 
1873. 8.) 


13. 'Dr. Becker, 
kgl. Pr. Ober- 
Stabsarzt 
(Ungedruckt. 
Bericht über 
Revision der 
Invaliden.) 


i 


Name des Ver¬ 
wundeten. Da¬ 
tum und Ort d. 
Verwundung. 


Art der Verwundung. Symptome. 
Wundverlauf und Behandlung. 


Bemerkungen. 


Hoppmann, 
Füsilier kgl. 
Preuss. 16. 
Inf.-Regt 10. 
Armeecorps, 1 
verw. 16. Au¬ 
gust 1870 bei 
Mars ia Tour. 


Schussverletzung des rechten Hüftge¬ 
lenks. Kugel steckt In den Laza- 
retblisten als Knochencontusion ver¬ 
zeichnet 


Renee Rous¬ 
seau, verw. 
18.Aug. 1870 
bei St. Marie 
aux Chenes. 

Zugang im Re- 
servelazareth 
Schwezingen 
87.Aug.l870. 


Rieb. Flügel, 
kgl. Preuss. 
Reservelieu¬ 
tenant im 47. 
Regt., verw. 
am 6. August 
1870 bei 
Wörth. 


Schussfractur des rechten Hüftgelenks. 
Einschuss vom 8 Ctm. unterhalb 
Spina anter. super, dextra und etwas 
nach Hinten. Kugel steckt. Schenkel 
einwärts rotirt und in starker Beu¬ 
gung fixirt. Druck auf Inguinalgegend 
und Bewegungsversuche machen die 
heftigsten Schmerzen. Hohes Fieber. 
Temp. 40. Am 29. August Eröffnung 
eines auf dem Glutaeus liegenden 
Abscesses und Entleerung von 300 
Qrammen Eiter. Reichliche anhaltende 
Eiterung. 14. September Extraction 
eines Knochensplitters aus dem Schuss¬ 
canal. 16. September Extraction eines 
Stücks der Kugel, und Abends des 
Restes der Kugel mit der Korazange. 
26. Sept. 3 kleine Knochenstücke aus 
der Nähe des Hüftgelenks extrahirt. 
25. Oct. Verminderung der Eiterung, 
i Bein im Hüft- und Kniegelenk ge¬ 
beugt. Allmälige Streckversuche. 
Scbussfractur des rechten Hüftgelenks. 
Ausserdem 2 Streifschüsse. Einschuss 
5 Ctm. oberhalb Trochanter major der 
rechten Seite. Die Kugel ist, hart 
am Collum fern, vorbeigehend, in’s 
Gelenk gedrungen, aus welchem sie 
am 20. Tage nach der Verwundung 
entfernt wird. 25. Nov. 1871 hat Pat 
das Bett noch nicht verlassen. Obere 
Hälfte des Oberschenkels stark ge¬ 
schwollen, Bein stark abgemagert. 
Rechter Trochanter major steht 4 Ctm. 
weiter von der Symphyse ab als links. 
Mehrere dem Acetabulum angehörige 


Allgemeinbefinden 
nicht befriedigend. 

Im März 1872 voll¬ 
ständig geheilt. Fe¬ 
mur , auf Aussen- 
Seite des Darmbeins 
luxirt, steht inFlexion 
und Rotation nach 
einwärts ganz unbe¬ 
weglich und um meh¬ 
rere Zolle verkürzt. 
Pat. geht nur mit 
2 Krücken. 

Am 10. Febr. 1871 ge¬ 
heilt in seine Hei- 
matb entlassen. 


Am 8. Februar 1873 
Heilung mitknöcher¬ 
ner Ankylose im 
Hüftgelenk consta- 
tirt, mit bedeutender 
Auftreibung derKno- 
chentheile des Ge¬ 
lenks. Bein um 4 Ctm. 
verkürzt. Becken 
zeigt die entspre¬ 
chende Schiefstel¬ 
lung. Bein in Knie- 
und Hüftgelenk leicht 
flectirt, stark nach 


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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 






314 


B. v. Langenbeck, 


Nr. 


Beobachter 

und 

Quelle. 


Name des Ver¬ 
wundeten. Da¬ 
tum und Ort d. 
Verwundung. 


Art der Verwundung. Symptome. 
Wund verlauf und Behandlung. 


Bemerkungen. 


14. 


15. 


16. 


17. 


Dr. König/Heimann, 105. 
Prof, in Ro-j Säcbs. Regt., 
stock. (Prot. 1 im Barackeu- 
der 2. Sitzung! l&zareth des 
desDeutschen : Berlin. Hülfs- 


Chirurgen- 
Congresses. 
Berlin 1873. 
S. 19.) 


Dr. Doutre- 
lepont.Prof. 
in Bonn. 


Vereins 

handelt. 


be¬ 


ton der Borgk, 
kgl. Pr. Lieut. 
verw. am 16. 
Aug.1870 bei 
Mars la Tour. 


Aussen rotirt Pat 
geht mit Krücken. 


Knochenstücke werden noch aus dem 
Schusscanal extrabirt. 

Schussfractur des Hüftgelenks. Kugel Heilung mitAnkylose. 
steckt. Um die retinirte Jauche zu ent¬ 
leeren, machte K. eine Dilatation jler 
Eingangsöffnung, wobei Locbschuss 
des Schenkelhalses entdeckt und meh¬ 
rere Knocbenstücke, von denen einige 
Tbeile des Gelenkkopfes waren, extra- 
hirt wurden. Die Kugel lag jehseitsl 
des Gelenks in den Weichtheilen uud| 
wurde extrahirt. 


Schussverletzung des Hüftgelenks. Ein¬ 
schuss hinter dem Trochanter major. 
Richtung des Schusscanals nach dem 
Hüftgelenk. Kugel steckt. Am 17. Sept. 
von Mars la Tour, wo ich Pat. wieder¬ 
holt gesehen, evacuirt Wunde geheilt. 


Dr.Goltdam- 
mer (Bericht 
üb. d. Thätig- 
keit d. Reser- 
velazaretbs d. 
Garde - Ulan.- 
Kaserno zu 
Moabit. BerlJ 
klin. Wochen-1 
schrift 1871. 1 
Nr. 12.) 


Streifschuss des Trocb. major. Eminente 
Schmerzhaftigkeit im Hüftgelenk bei 
Druck und bei passiven Bewegungen. 
Unfähigkeit das Bein zu beben. Schen¬ 
kel abducirt und nach Aussen rotirt. 
Glut&usfalte der kranken Seite tiefer) 
stehend. 


Dr. Wind¬ 
scheid in 
Düsseldorf. 1 
(Protok. des) 
2. Congresses 
Deutsch. Chi- 
rurgen.Berlin 
1873. S. 20.) 


Ein Bergmann, 
in Essen le¬ 
bend , verw. 
18. Aug. 1870 
bei Grave¬ 
lotte. 


Schussfractur des Hüftgelenks. Ein¬ 
schuss hinten. Der Verwundete wurde 
von Gravelotte nach Courcelles, von 
da nach Mainz und dann per Schiffj 
in das Lazareth zu Düsseldorf trans- 
portirt, wo er ohne Verband und 
mit handgrossem Decubitus anlangte. 
Zeichen d. Fractura colli fern. Gelenk 
geschwollen. Des Decubitus wegen 5 
bis 6 Monate lang in der Bauchlage 


Oberschenkel im Hüft¬ 
gelenk in Streckung 
ankylosirt Keine 
Verkürzung. 

Spina anter. super. 
3Ctm. höher gestellt 
Nach brieflicher Mit¬ 
theilung des Hm. 
Prof. D. thut Pat 
wieder Dienst in 
Cöln. 

Heilung des Wund¬ 
canals in wenigen 
Wochen. Nach fast 
5 Monaten war Pat 
noch ausser Stande, 
sich auf das Bein 
zu stützen. 

(Dieser Fall muss ge¬ 
wiss als primäre Hüft¬ 
gelenkverletzung — 
Fissuren in das Ge¬ 
lenk, vom verletzten 
Trochanter maj. aus¬ 
gehend — aufgefasst 
werden.) 

Vollständige Heilung 
mit Verkürzung von 
4 C-tm. Eine hohe 
Sohle cachirtdie Ver¬ 
kürzung sehr voll¬ 
kommen, so dass der 
Gang sehr gut ist 
Pat ist im März 1871 
in Düsseldorf von 
mir gesehen worden. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


315 


Nr. 


i 


Beobachter 

and 

Quelle. 


Name des Ver¬ 
wundeten. Da¬ 
tum und Ort d. 
Verwundung. | 


Art der Verwundung. Symptome. 
Wundverlauf und Behandlung. 


Bemerkungen. 


18. 


H. Fischer, 
Prof, in Bres¬ 
lau. (Kriegs¬ 
chirurg. Er¬ 
fahr. I. Theil. 
Erlang. 1872. 
4. S. 173. 


jL. v. Renz, 
] verw. 6. Aug. 
1870 bei Spi- 
cheren. 


Beob. 254.) 


19. 


Socin, Prof, 
in Basel. 
(Kriegschir. 
Erfahrungen. 

! Leipz. 1872. 
l 4. S. 135. Nr. 


J. C. Schaefer, 
82. Regmt, 
verw. 6. Aug. 
1870 bei 
Wörth. 


9. Vgl. auch 
S. 51 u. 166 
Abb. Taf.II.) 


erhalten. Zwischen 6. und 8. Woche 
wird das in zwei Theile gespaltene 
Caput fern, und ein Stück des Collum 
fern, extrahirt. 

Extracapsuläre Schussfractur des Col¬ 
lum femoris sinistri. Einschuss vorne, 
dicht über Trochanter major. Kugel 
steckt. Pat. wurde Eude September 
von F. zuerst gesehen. Heilung fast 
vollendet. Bein verkürzt und nach 
Aussen rotirt. Oberschenkel stark ge¬ 
schwollen. Wiederaufbruch der Wunde 
Ende November. Am 10. December 
Extraction der Kugel aus einer Spalte 
des Oberschenkelbalses, welcher einen 
extracapsulären Bruch zeigt. Fragmente 
des Collum noch etwas beweglich bei 
starker Rotation. Behandlung mit 
Extension. 

Schussfractur des Collum femoris und 
des Trochanter. Einschuss hinter Tro¬ 
chanter major. Ausschuss 5 Ctm. un¬ 
ter Lig. Poupart. Gypsverband. Bei 
copiöser Eiterung günstiger Verlauf. 
Dann nach Transport in ein anderes 
Lazareth am 94. Tage arterielle Blu¬ 
tung, welche die Unterbindung der 
Arter. femoralis nothwendig macht. 
Auch diese verlief glücklich. 


Heilung im März 1S71 
vollendet. Bewegung 
im Hüftgelenk sehr 
genirt. Fussspitze 
stark nach Aussen 
rotirt. 4 Ctm. Ver¬ 
kürzung. 


Heilung der Wunden. 
Pat. starb 4 Wochen 
später an Erysipelas. 
Die Section ergab 
l Fractur des Halses 
und Trochanters mit 
Fissur in’s Gelenk. 
Die Fractur consoli- 
dirt. Hüftgelenk fi¬ 
brös ankylotisch. 


20 . 


21 . 


22. 


Derselbe. (Pro- 
tok. des U. 
Deutsch Chi¬ 
rurgen - Con- 
gresses.) 

MacCormac, 
ord. Chirurg, 
des St Tho¬ 
mas - Hospü 
London (a. a. 
0. S. 99). 

Volkmann, 
Prof, in Halle. 
(Sammlung 
klin. Vorträge 
Nr. 51. Leip¬ 
zig 1873. 8. 
S. 301.) 


Ungenannter. 

Franz.Soldat 


Ungenannter, 
bei Toul Ver¬ 
wundeter. 


Schussfractur des Hüftgelenks. 


Intracapsuläre Schussfractur des Schen¬ 
kelhalses. Nicht erkannt. 


Socin sah den Fall 
geheilt. Pat. trug die 
extrahirten Splitter 
des Schenkelkopfs 
bei sich. 

Es wird nur angege¬ 
ben, dass von 3 pe- 
netrirenden Schuss¬ 
verletzungen des 
Hüftgelenks 1 geheilt 
sei. 

Nach Exfoliation ei¬ 
niger Knochenstücke 
erfolgte die Heilang 
mit relativ geringer 
Verkürzung. 


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Original from 

UNIVERSITY OF CAtfFORNIA 




316 


B. v. Langenbeck, 


Nr. 


Beobachter 

und 

Quelle. 


Name des Ver¬ 
wundeten. Da¬ 
tum und Ort d. 
Verwundung. 


23. 


Dr. B. Beck.W., verw. 30. 
(Chirurgie der Novbr. 1870. 
Schussver¬ 
letzungen etc. 

Freiburg i.Br. 


1873. 8. S. 
600). 


24. 


Dr. Neu¬ 
bauer, Ober- 
Stabsarzt. 


Bernau, Un- 
terofficier 7. 
Westph. Inf.- 
Regt. Nr. 56, 
verw. 27. Sep¬ 
tember 1870 
vor Metz, bei 
einem Ausfall 
d. Franzosen. 


25. 


Derselbe. 

1 (Die kgl. Wil¬ 
helmsheilan¬ 
stalt zu Wies¬ 
baden im J. 

1872. Deut¬ 
sche Militair- 
ärztl.Zeitschr. 

1873. Heft 4. 
S. 20.) 


Reinhold Beh¬ 
rens, Gefrei¬ 
ter, Magdeb. 
Husar.-Regt. 
Nr. 10, verw. 
30.Aug.1870. 
Zugang in 
Wiesbaden z. 
Kur 1872. 


Art der Verwundung. Symptome. 
Wundverlauf und Behandlung. 


Bemerkungen. 


Schussfractur des rechten Hüftgelenks.' 
Nach copiöser Eiterung und Extraction 
mehrerer Knochensplitter erfolgte Hei¬ 
lung mit unvollständiger Ankylose. 


Schussverletzung des linken Hüftge-j 
lenks. Einschuss durch linke Incisura 
ischiadica. Ausschuss in der Höhe des 
Trochanter major. Pat. stürzt sofort 
nieder, Fuss stark nach Aussen gefal¬ 
len. Die 12 Stunden nach der Ver¬ 
wundung angestellte Untersuchung 
soll ausgedehnte Zerschmetterung des 
Hüftgelenks ergeben haben. Vorge-, 
schlagene Exart fern, vom Verwun¬ 
deten verweigert. Extraction mehrerer 
grosser Knochensplitter; Gypsverband, 
später Planum inclinatum. 


Schussverletzung des rechten Hüftge- 
I lenks. 


'Als Pat. im Docember 
1871 invalidisirt 
wurde, bestanden 
noch mehrere Fistel¬ 
gänge , aus denen 
Eiter und Synovia¬ 
ähnliche Flüssigkeit 
entleert wurde. 
Schenkel noch ge¬ 
schwollen. Allge¬ 
meinbefinden gut 

Pat. befindet sich im 
September 1873 im 
Garnisonlazareth zu 
Wiesbaden. Linke 
Extremität etwa 6 bis 
8 Ctm. verkürzt 
Oberschenkelkopf auf 
Os ilium luxirt und 
hier vollkommen be¬ 
weglich. Die Gegend 
der Trochanteren 
durch massenhafte 
Callusbildung stark 
aufgetrieben. Zwei 
Fistelöffnungen füh¬ 
ren nach der Gegend 
des Gelenks. Allge¬ 
meinbefinden sehr 
befriedigend, Gang 
gut 

Nach sehr langem und 
schweren Kranken¬ 
lager, und nachdem 
Knochensplitter aus- 


gestossen, konnte 
Pat. 1872 mit Hülfe 
eines Stockes wieder 
gehen. V ollständige 
Ankylose im Hüft¬ 
gelenk , Schiefstel¬ 
lung des Beckens, 
Verbiegung der Wir¬ 
belsäule und scheinbare Verlängerung der 
rechten Extremität ist zurückgeblieben. Ein 
grosses fistulöses Geschwür 1!; Zoll unter 
dem Lig. Poupart, durch welches die Sonde 
3 Zoll tief eindringt, ohne auf Knochen zu 
stossen, heilte in Wiesbaden fast vollständig. 


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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


317 


Tabelle II. 

Schussverletzungen des Hüftgelenks, welche im Deutsch-Französischen Kriege unter conservi- 

render Behandlung tödtlich verlaufen sind. 




Name des 




Nr. 

Behandelnder 
Arzt Quelle. 

Verwundeten. 

Tag der 
Verwundung. 

Art der Wunde. Symp¬ 
tome. Wundverlauf. 

Behandlung. 

Todestag. Obduction. 


1 . 


2 . 


3. 


Dr. Ott, 
(Kriegschir. 
Mittheil. a. d. 
Ludwigsburg. 
Reservelazar. 
Stuttg. 1871. 
4. S. 51). 


Derselbe, 
(ebendaselbst. 
S. 53). 


H. Fischer, 
Prof, in Bres¬ 
lau. (Kriegs¬ 
chir. Erfah¬ 
rungen I.Th. 
Erlang. 1872. 
4. S. 134. 
Beob. 166). 


Noak, Füsilier 
im Westphäl. 
Inf. - Regmt. 
verw. 6. Aug. 
1870. Zugang 
22. Aug. 


Liere, kgl. Pr. 
Grenadier, 
verw. 18. Aug. 
1870 bei Gra¬ 
velotte. Zu¬ 
gang 27. Aug. 
1870. 


Daniel Henkel, 
3. Brandenb. 
Inf.-Regt. Nr. 
64, verw. 18. 
Aug. 1870 b. 
Gravelotte. 
Zugang in 
Neuenkirchen 
20. Aug. 


Dreifache SchussfracturExarticul. des 
des linken Oberschen-j Oberschen¬ 
kels dicht unterhalb kels verwei 
Trochanter maj. mit Er- gert Lage¬ 
öffnung des Hüftgelenks.! runginDraht- 
Kugel steckt. Streif-! hose. 
schuss am linken Ober¬ 
arm, Weichtbeilschuss 
am rechten Oberschen¬ 
kel. Hüftgelenkver¬ 
letzung nicht zu erken¬ 
nen. Starke Dislocation 
der Oberschenkelfrag¬ 
mente. Grosse Jauche¬ 
höhle. 

Schussverletzung des 
rechten Hüftgelenks. 

Rinnenschuss des Schen¬ 
kelkopfs. Einschuss vom 
unter Ligam. Poupart. 
dextr., nach Aussen von 
Art. fern. Kugel steckt. 

Durch d. Wunde sind 
Knochensplitter und rin 
nenförmiger Defect am 
Schenkelkopf fühlbar. 

Verjauchung in d. Tiefe. 

Schussverletzung d. rech¬ 
ten Hüftgelenks. Ein¬ 
schuss etwas rechts von 
Symphysis oss. pub. 

Schusscanal nach rechts 
und unten verlaufend. 

Kugel steckt. Druck auf 
Fossa ovalis entleert 
Menge von Eiter. Pat. 
steht noch und vermag 
einige Schritte zu gehen. 


3. September 
Kugel 6 Ctm 
unterhalb 
Spina anter. 
super, gefühlt 
und durch 
Einschnitt 
aus einer Jau- 
cbetasche üb. 
den Sartorius 
extrahirt. 

6. September 
Knieschmerz. 
Coxitis - Stel¬ 
lung im ersten 
Stadium. Ex¬ 
tension. Inci- 
sionen. 


Tod am 48. Tage an 
Septicämie. Linkes 
Hüftgelenk verjaucht 
Gelenk communicirt 
mit d. Jaucheheerd 
des Oberschenkels. 
20—30 Bleistücke v. 
Groschen- bis Sand¬ 
korngrösse tbeils in d. 
Gelenk höhle und im 
Acetabulum einge¬ 
bettet, tbeils frei in 
der Jaucheböhle. 


Tod am 4. Septemb. 
1870 an Septicämie. 
Gelenkkopf nach 
vom luxirt, etwas 
gesunken. Knorpel 
usurirt, Knochen 
rauh. Rinnenförmi¬ 
ger Defect am Rande 
des Scbenkelkopfs. 
Jaucheheerd im 
Bauchraum. Kugel 
nicht aufzufinden. 

Tod am 9. October 
1870 an Peritonitis. 
Diffuse Peritonitis u. 
purulentes Oedem im 
Becken. Abspren¬ 
gung des Pfannen¬ 
randes mit Fort¬ 
setzung d. Fractur 
in das Os pubis. 
Grund der Pfanne 
durch entzündliche 
Rarefaction perforirt. 


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Original frarn 

UMIVERSITY OF CALIFORNIA 



318 


B, v. Langenbeck, 


Nr. 



Name des 




Behandelnder 
Arzt. Quelle. 

Verwundeten. 

Tag der 
Verwundung. 

! 

Art der Wunde. Symp¬ 
tome. Wund verlauf. 

Behandlung. 

Todestag. Obduction. 


4. 


5. 


6 . 


Derselbe, 
a. a. 0. S. 199. 
Beob. 225. 


Derselbe, 
a. a. 0. S. 200, 
Beob. 327. 


H. Niemeyer, 
74. Regmt., 
verw. 6. Aug. 
1870 bei Spi- 
cheren. Zu¬ 
gang im Laza- 
reih Ziehwald 
15. Aug. 


Emmerich, 4. 
| Magdeb. Inf.- 
| Regt. Nr. 67, 
verw. 18. Aug. 
1870. Zugang 
in Ottweiler 
i 26.Aug.1870. 


I 


I 


L. Ru pp- Nicht genann- 
recht, kgl. ter Officier. 
Bayer. Ober- 
Stabsarzt. 

(Kriegschir. 

Erfahrungen 
a. d. Kriege. 


Schussverletzung d. rech¬ 
ten Hüftgelenks. Eingang 
in rechter Inguinalfalte. 
Kugel steckt. Pat. hat 
Schmerzen im Hüftge¬ 
lenk, bewegt jedoch das 
Bein. 19. Aug. ein Stück 
Kugel u. Hosenschnalle 
aus d. Wundcanal ex- 
trahirt. Profuse, jauchige 
Eiterung,Delirien, hohes: 
Fieber, Schweisse. | 

Schussverletzung d. linken; 
Hüftgelenks. Einschuss 
in linker Hinterbacke, 1 
3 Ctm. von Crena ani.j 
Der Finger dringt in' 
langen Schusscanal, wel-! 
eher die Richtung zum| 
Hüftgelenk bat. Kugel| 
steckt. E. war nach deri 
Verwundung noch gelau-j 
fen, steht am 20. August 
noch auf beiden Beinen.) 
Gelenk Verletzung als 
wahrscheinlich diagnosti- 
cirt. 26. Aug. heftigste 
Schmerzen und Unruhe. 
3. Sept. profuse Blutung, 
welche auf Tamponade 
steht Pat. geht noch 
am 3 September bis zu 
einem anderen Bett. 
Wenige Stunden darauf 
Tod durch Syncope (acute 
Septicämie). 

Schussfractur des rechten 
Hüftgelenks. Einschuss 
(Chassepotkugel) in der 
Mitte der rechten Ingui¬ 
nalgegend, nach Aussen 
von den Scbenkelgef&s- 
sen, dicht unter Liga- 


19. September 
Extension mit 
einfach. Fest¬ 
stellung des 
Gliedes ver¬ 
tauscht. 


Tod am 26. August 
1870. Ein Fragment 
der Kugel, welche 
sich getheilt, hat 
Caput femoris ge¬ 
streift und ist aof 
Os Ilium sitzen ge¬ 
blieben. Im Ober¬ 
schenkelkopf 2 Sub¬ 
stanzverluste. Eiter 
im Gelenk. 


Tod am 3 Septemb. 
au acuter Septicämie. 
Brandige Phlegmone 
unter den Muskeln 
der Hinterbacke. 
Hinterer Pfannen¬ 
randzersplittert. Ku¬ 
gel steckt in dem in 2 
Fragmente gespalte¬ 
nen Sehenkelkopf. 
Hüftgelenk wenig 
verändert. Blutung 
stammte aus Arter. 
Glutaea. 


Tod am 33. Tage nach 
der Verwundung an 
Pyimie. Ein Stück 
des Ramus borizont. 
oss. pubis abge¬ 
sprengt nnd in die 
Gesässmuskeln ge - 


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Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


319 


Name des 

Behandelnder Verwundeten. Art der Wunde. Symp- 
Arzt. Quelle. Tag der tarne. Wundverlauf. 
Verwandlung. 


1870—71. ! ment. Poupart. Kugel 

Würzb.1871)., steckt und wird hinter 

Trochanter maj. ausge- 
I schnitten, wobei Kno- 

| chensplitter fühlbar. Be¬ 

wegung im Hüftgelenk 
; frei und wenig schmerz¬ 

haft. Am 7. Tage hef¬ 
tige Schmerzen im Ge¬ 
lenk. Am 9. Tage Aus¬ 
fluss von Synovia mit 
Eiter, * anhaltendes Fie¬ 
ber, Delirien. Nach 3 
Wochen Frostanfälle. 

7. A. Schinzin- Adolph Hiedel, Schuss Verletzung d. rech- 
ger, Prof, in verw. 6. Aug. 1 ten Hüftgelenks. Ein- 

Freiburg.(Re- Zugang: 10. Schuss hinter Trochanter 

servelazareth Aug. 1870. major rechter Seite. Ku- 

Schwezingen.! gel steckt. Schenkel be- 

Freib. 1873.j deutend einwärts rotirt. 

8. S. 67.) ! Gelenkverletzung nicht 

I erkannt. 


8. Derselbe, Eduard Comte Schussfractur d. linken 
a. a. O. S. 20. aus Villito, Acetabulum. Einschuss 
Fmz. 73. Inf.- in link. Hinterbacke, 
Regt., verw. Kugel steckt. Bei der 
18. Aug. bei Aufnahme in d. Laza- 
Gravelotte. reth starke Schwellung 
des ganzen link. Beins 
vom Fuss bis über das 
Hüftgelenk hinaus (acu¬ 
tes purulentes Oedem). 
Diagnose nicht möglich. 


Behandlung. Todestag. Obduction. 


drängt, hatte hier 
grosse Abscesshohle 
gebildet. Oberer 
Pfannenrand gebro¬ 
chen. Eiterige Hüft¬ 
gelenkentzündung u. 
Osteomyelitis. 


— Tod am 9. Septemb. 

1870 an Pyämie. 
Hüftgelenk verjaucht. 
Schenkelkopf nekro¬ 
tisch. Hinter dem - 
selben sitzt die klei¬ 
nere Hälfte der Ku¬ 
gel, deren grossere 
Hälfte 3 Cm. unter 
Spina anter. super, 
auf d. Darmbein liegt. 
Verschiedene Tod am 2. Septemb. 
Incisionenent- 1870. Jauchiger 
leeren wenig Schusskanal durch 
jauchigeFlüs-j obere hintere Wöl- 
sigkeit. Stel-I bung der Gelenk- 
lenweis rasch pfanne verlaufend, 
fortschreiten-1 welche zerschmet- 
de Gangrän tert ist. Caput fern, 
der Cutis, ho- von Jauche umgeben, 
hes anhalten- unverletzt. Schuss- 
des Fieber, canal verläuft hinter 
(Temp. meist d. Rectum durch; 

über 40° C.) Kugel liegt in einer 
Trockene Impression im Kor- 
Zunge, Deli- per des 2. Sacral- 

rien. Wirbels. Entzündung 

des Peritoneum. 
Starke Verjauchung 
des ganzen Schen¬ 
kels. Keine Throm¬ 

ben in den Gelassen, 
keine Abscesse in 
den Lungen. 


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Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 





320 


B. v. Laagenbeck, 


Nr. 


Behandelnder 

Name des 
Verwundeten. 

Art der Wunde. Symp- 

Behandlung. 

Arzt. Quelle. 

Tag der 
Verwundung. 

tome. W undverlauf. • 


Todestag. Obduction. 


9. 


10 . 


11 . 


12 . 


13. 


Derselbe, 
a. a. 0. S. 67 


Th.Billroth, 
Prof, in Wien. 
(Cbir. Briefe 
aus d. Kriegs- 
lazarethen. 
Berlin 1872 
8. S. 227.) 
Derselbe, 
a. a. 0. 


Maderit Be 
ziers, verw, 
6. Aug. Zu¬ 
gang 10. Aug. 
1870. 


Derselbe, 
a. a. 0. S.228. 
Nr. 5. 


A. Socin, 
Prof, in Basel. 
(Kriegschir. 
Erfahrungen 
1870-71. 
Leipzig 1872. 
8. S. 168.) 


Sergi Benllen 
ni, Franzos 
1. Tirailleur- 
Regt., verw. 
4. Aug. 1870. 


Jean Galles, 
Frnz. 50. Inf. - 
Regt., verw. 
4. Aug. 1870. 


Binder, Lieute¬ 
nant kgl Pr 
58. Inf.-Regt, 


Claude Marie 
Driset, Franz. 
Armee, verw. 
6. Aug. 1870. 


Schussfractur des linken 
Acetabulum. Einschuss 
auf link. Oberschenkel, 
eine Handbreit unter! 
Trochanter major. Kugel 
steckt. Verletzung des 
Gelenks nicht zu erken¬ 
nen. 28. August Ein¬ 
schussöffnung heilt. Pat. 
klagt über neuralgische 
Schmerzen im Verlauf| 
d. Nerv, ischiadicus 
30. August Diarrhoen, 
Schüttelfröste, Pleuro- 
pneumonia sinistra. 


Schussverletzung d. rech¬ 
ten Hüftgelenks. Schuss 
von hinten in das Becken 
Kugel steckt. 


Schussverletzung d. rech¬ 
ten Hüftgelenks. Schuss 
von hinten rechts. Ku¬ 
gel steckt. 


Schuss durch linken Tro¬ 
chanter bis in’s Peri- 
naeum. Kugel steckt. 


Schussfractur des rechten 
Trochanter major mit 
Eröffnung der Gelenk¬ 
kapsel. Einschuss vorn 
rechts in der Höhe des 
Trochanter, Ausschuss 
hinten. Trochanter ge¬ 
splittert. 14 Tage ohne 
Reaction, dann plötzlich 
heftige Schmerzen mit 
hohem Fieber. Ober¬ 
schenkel in Beugungj 
fixirt. Sehr copiöse Ei¬ 
terung. 


12. August Ku¬ 
gel am rech¬ 
ten Rande des 
Os sacrum 
ausgeschnit 
ten. 

8. August Ku¬ 
gel am hinte¬ 
ren Pfannen¬ 
rande ausge¬ 
schnitten, 
letzterer war 
zerschmettert. 

11. August, 
Splitterex¬ 
traction. 


Erweiterung d. 
Wunden. 


Tod am 5. Septemb. 
1870 an Pyämie. 
Die Kugel geht durch 
oberen hinteren Theil 

der Gelenkpfanne, 
Os ischii und Os pu- 
bis zerschmetternd, 
und steckt, in ihrer 
Form sehr verändert, 
im M. psoas sinister, 
in der Höhe des 3. 
Lendenwirbels. Peri¬ 
tonitis in der linken 
Beckenhälfte, links¬ 
seitige Pleuritis, 
rechtsseitige Pleuro¬ 
pneumonie. 

Tod am 19. August 
an Pyämie. Hüftge¬ 
lenk von hinten er¬ 
öffnet, Pfannenrand 
gestreift. 


Tod am 17. August 
an Pyämie. 


Tod am 16. August 
an Septicämie. B. 
bezeichnet diesen 
Fall auf S. 23S als 
Hüftgelenkschuss. 

Tod an Pyämie 
28. August 1870. 
Trochanter maj. ge¬ 
splittert, Gelenkkap¬ 
sel hinten eröffnet. 
Das ganze Gelenk 
mit Jauche gefüllt. 
Knorpel getrübt. 


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Gck .gle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Ueber die Sckussverletzungen des Hüftgelenks, 


321 


Nr. 


Behandelnder 
Arzt Quelle. 


Name des 
Verwundeten. 

Tag der 
Verwundung. 


Art der Wunde. Symp¬ 
tome. Wund verlauf. 


Behandlung. Todestag. Obduction. 


14. Derselbe, 
(a. a. 0.) 


15. 


16. 


Augustin Ca* 
vaillis, Franz. 
Soldat, verw. 
6. Aug. 1S70. 


Schussfractur d. linken 
Hüftgelenks mit Perfo¬ 
ration des Mastdarms. 
Kugel tritt dicht unter 
Ligam. Poupart nach 
Aussen von den Schen- 
kelgefässen ein, zer¬ 
schmettert den Ober- 1 
schenkelkopf, gebt durch 
Acetabulum .in die: 
Beckenhöhle und tritt 
durch Os sacrum aus. 


Dr. C. Kirch¬ 
ner, kgl. Pr. 
Ober - Stabs¬ 
arzt. (Bericht 
über d. kgl.Pr. 
Feldlazareth 
im Palast zu 
Versailles.Er 

lang. 1872. S 
53. Fall 126) 
Dr. G. Fi 
scher (Han 
nover), Dorf 
Floing und 
Schloss Ver¬ 
sailles. Leip¬ 
zig 1872. 8. 
S. 75. Nr. 37. 


Angabe des 
Namens fehlt 
(Eichholz n. 
Fischer), 
verw. 21. Oct. 
1870 v. Paris. 


Schussfractur des linken 
Hüftgelenks. Einschussi 
links zwischen Spina 
anter. und Trochanter 
rnaj Kugel steckt. Fuss 
nach Aussen rotirt Pas¬ 
sive Bewegung schmerz¬ 
haft, active fehlt. Ober¬ 
schenkel stark infiltrirt. 
Spontane Schmerzen ge¬ 
ring. Knochensplitter in 
der Wunde fühlbar. 
Eiterung Anfangs gering, 
dann stärker. In der 3. 
Woche Schüttelfröste. 


Seitenlage. Iu- 
cisionen zur 
Förderung d. 
Eiterabflus¬ 
ses. 


Derselbe, Angabe 
(a. a. O. Fall Namens 
127). I (Kreischer n. 

Fischer, Fischer), 
(a.a.O.Nr.38)., verw.20. Nov. 


des Schussfractur des rechten 
fehlt, Oberschenkels 2 Ctm. 
unterhalb Trochanter 
inaj. mit Eröffnung des 
Gelenks. Einschuss dicht 


PottVsche Sei¬ 
tenlage. 22. 
Nov. Schiefe 
Ebene. 


Tod am 4. Tage nach 
der Aufnahme in d. 
Lazaretb, am 51. 
Tage nach der Ver¬ 
wundung, an Septi- 
cäraie. Hüftgelenk 
vorjaucht, Schenkel¬ 
kopf zerschmettert. 
An der linken Seite 
der Harnblase eine 
mit Koth, Eiter und 
K nochenfragmenten 
gefüllte Höhle. Mast¬ 
darm an seiner hin¬ 
teren Wand eröffnet. 

Tod am 24. Novemb. 
1870 an Pyämie. 
Die Kugel hat bei 
ihrem Eiutritt Spina 
anter. super, zer¬ 
schmettert, dann das 
Hüftgelenk geöffnet 
und das Collum fern, 
zertrümmert; Caput 
fern ganz abgetreimt. 
Gelenk verjaucht. 
Lig. teres missfar¬ 
big Nach unten 
reicht die Splitterung 
bis zur Grenze des 
oberen Drittheils d. 
Femur. Kugel,zackig 
deforrairt, liegt au 
der hinteren Fläche 
der Femurdiaphyse. 
Grosse Scbenkelge- 
fässefrei. Alte käsige 
Herde in d. rechten 
Lungenspitze Fri¬ 
sche pyämische In- 
farcte in den unteren 
Theilen d. rechten 
Lunge. Milz vergrös- 
sert. 

Tod am 26. Novbr. 
1870 an Septicärnie. 
Oberschenkel stark 
geschwollen, Unter¬ 
schenkel mit Brand- 


*. Lange nber k, Archiv f. Chirurgie. XVI. 


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4) 1 

* 1 J 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



322 


B. v. Langenbeck, 


v 


Nr. 



Name des 



Behandelnder 

Verwundeten. 

Art der Verwundung. 

Behandlung. 

Arzt. Quelle. 

Tag der 
Verwundung. 

Symptome. Wundverlauf. 



Todestag. Obduction. 


17. 


1870 vor Pa¬ 
ris. 


unter Trochanter major 
mit der Richtung zum 
Becken und bedeutender 
Zertrümmerung des Kno¬ 
chens. Kugel steckt. 
Verkürzung des Ober¬ 
schenkels. 24. Nov. Em¬ 
physem des Oberschen¬ 
kels, hohes Fieber, Gan¬ 
grän des Beins, Delirien. 


18. 


Derselbe, 

1 

Angabe des 

I 

j 

|schu8sfractur des linken 

i 

Seitenlage und 

(a.a.0. S. 54. 

Namens fehlt. 

Hüftgelenks. Einschuss 

gestreckteLa- 

Fall 128. Taf. 

verw. 19. Jan. 

unter d. Mitte des Lig. 

ge nicht ver¬ 

IL Fig. 11). 
Fischer, 
(a.a.O.S.68). 

1870 v. Paris. 

Poupart Kugel steckt. 
Anfangs für Fleisch¬ 
schuss des Oberschen¬ 
kels gehalten. Grosse 
Empfindlichkeit u. leb¬ 
hafte Schmerzen bei lei¬ 
sem Druck, Fractur d. 
Ram. horizontalis mit 
Verletzung des N. cru- 
ralis vermutbet. Am IG. 
Tage Schüttelfrost, wel¬ 
cher sich wiederholt. 

tragen, daher 
doppelt ge¬ 
neigte Ebene, 
welche der 
heftigen 
Schmerzen 
wegen wieder 
mit Streckung 
vertauscht 
werden muss. 

Derselbe, 

(a. a. 0. S. 54. 
Fall 129). 

/ 

Angabe des 
Namens fehlt, 
verw. 21.0ct. 
1870 bei Or¬ 
leans. Zugang 
in Versailles 

Schussfractur des linken 
Handgelenks. Zweiter 
Schuss in rechte Hinter¬ 
backe. Kugel steckt. 
Wunde unrein. Fieber. 
9. Novbr. Schüttelfrost. 

» 

j 


blasen bedeckt, livid. 
Femur etwa 2 Cm. 
unterhalb Trochanter 
major in viele Frag¬ 
mente zerschmettert 
und von Jauchehohle 
umgeben. Von da 
geht der Schussca¬ 
nal nach Innen und 
Oben, eröffnet das 
Gelenk an seiner 
vorderen unteren 
Seile. Synovialis in- 
jicirt und gelockert 
Iu einem flachen 
Knocheneindruck d. 
Kopfs ein Stückchen 
Blei. Mehrere Kugel¬ 
fragmente in der 
Muskelmasse der 
Adductoren, eingros¬ 
seres in der Bruch¬ 
stelle. Keine Throm¬ 
ben in d. Gefassen. 
Serös - eiteriger Er¬ 
guss im Kniegelenk, 
innere Organe frei. 
Tod am 2. Februar 
1871 an Pyämie. 
Vorderer Rand der 
Pfanne abgesprengt, 
Schenkelkopf etwas 
gesplittert ohne Auf¬ 
hebung der Conti- 
nuität. Chassepot¬ 
kugel steckt defor- 
mirt in der oberen 
Wand des Acet&bu- 
lum. Gelenk ver¬ 
jaucht, Knorpelüber¬ 
zug fast ganz zer¬ 
stört Im Ileopsoas 
pyämische Infarkte. 
Tod am 11. Novbr. 
1870 an Pyämie. 
Die Kugel ist hinter 
dem Caput femoris 
in das Gelenk ein¬ 
gedrungen und An- 


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Ueber die Schussverletzuugen des Hüftgelenks. 


323 


Nr. 


Behandelnder 
Arzt Quelle. 


Name des 
Verwundeten. 

Tag der 
Verwundung. 


Art der Verwundung. 
Symptome. Wundverlauf. 


Behandlung. 


Todestag. Obduction. 


19. 


29. October 
1870. 


20 . 


21 . 


Dr. G. Fi¬ 
scher (Dorf| 
Floing und 
Schloss Ver¬ 
sailles. Leip¬ 
zig 1872. 8 
S. 75.78. Nr. 
39). 

Dr. Becher, 
kgl. Pr. Ober- 
Stabsarzt. 
(Deutsche mi- 
litairärztliche 
Zeitschrift. 1. 
Jabrg. 1872. 
S. 478). 


B. y. Langen 
beck. (Ver 
handlungend. 
militairärztl. 
Gesellsch. in 
Orleans. 
Deutsche mi- 
lifcairnrztlicbe 
Zeitschrift. lJ 
Jahrg. 1872 
S. 476). 


Angabe des 
Namens fehlt, 
verw. 9. Jan. 
1871. 


Angabe fehlt. 


v. Poser, Lieu 
tenantkgl. Pr. 
36. Inf.-Regt., 
verw. 3. Dec. 
1870 vor Or¬ 
leans. Feldla- 
zar. Artenay. 


Schussfractur des linken 
[ Trocb. major., Anfangs 
' für Fleischschuss an¬ 
gesehen, aber nach 8 
Tagen entdeckt. Starke 
Blutungen aus der Hin¬ 
terbacke, durch Coin- 
pression gestillt. Ver 
jauchung. Fröste. 

Schuss in das Hüftgelenk. 
Einschuss von Innen her 
in der Schenkel beuge. 
Kugel steckt. Pat. geht 
eine Zeit lang umher, 
daher Gelenkverletzung 
nicht angenommen. 
Dann heftige Coxitis u. 
beträchtliche Eiterung. 
Dann starke Blutung, 
Septicämie. 

IContusion des rechten 
Hüftgelenks. Einschuss 
vorn, etwa 3 Ctm. unter¬ 
halb Ligament. Poupart. 
nach Aussen v. Plexus 
femoralis. Kugel steckt. 
Anfangs fehlen alle Er¬ 
scheinungen von Ge¬ 
lenkverletzung. Dann 
Schmerz im Gelenk; hef¬ 
tige neuralgischeSchmer- 
zen im Verlauf d.Nerv. 
ischiadicus veranlassen 
die Annahme, dass die 
Kugel auf den Nerven 
drücke. 5. Januar 1871 
hohes Fieher, Schüttel¬ 
fröste. Pat durch wü- 
thende Schmerzen im 
Verlauf des N. iscbia- 
dicus erschöpft. Sehen- 


Lage auf der 
gesund. Seite. 
Einschnittein 
die geschwol¬ 
lene und ver¬ 
jauchte Hin¬ 
terbacke und 
Drainage. 


5. Januar: Di¬ 
latation der 
Schussöffnungj 
nach oben u. 
unten. Dabei 
starke venöse 
(pyämische) 
Blutuug. Die 
Kugel, wel¬ 
che an der In¬ 
nenfläche des 
Schenkelhal¬ 
ses, oberhalb 
Trochanter 
minor gefühlt 
und extrabirt 
wird, ist platt 
«esch lagen 
mit concaver, 
derConvexitäi 
des Schenkel. 


det sich daselbst vor. 
Caput femoris massig 
zerstört. Pleuritische 
Ergüsse und Lungen¬ 
metastasen. Grosser 
Zellgewebsabscess in 
der rechten Brust¬ 
seite. 

|Tod am 29. Januar 
1871 an Pyämie. 
Hüftgelenk geöffnet 
und verjaucht. Ge- 
fässverletzungen 
nicht nachzuweisen. 


Todestag nicht ange¬ 
geben. Rinnenschuss 
des Schenkelhalses 
Die plattgedrückte 
Kugel liegt zwischen 
Schenkelkopf und 
Pfanne im Gelenk, 
ohne dass Verletzung 
der Gelenkflächen 
wabrzunebmen ist. 
Gelenk verjaucht. 
Tod am 12. Januar 
1871 an Septicopyä- 
mie. Die unverletzte 
Hüftgelenkkapsel 
enorm ausgedehnt, 
mit bräunlicher stin¬ 
kender Jauche ge¬ 
füllt, nach Innen, un¬ 
ter den Adductoren 
durchbrochen und 
mit einer grossen 
Jauchehöhle commu- 
nicirend. Knorpel¬ 
überzug des Scben- 
kelkopfs missfarben 
und getrübt. Gelenk¬ 
verletzung nicht auf¬ 
zufinden. Keine 
Thromben in den 
Schenkelvenen. 


21 * 


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324 


ß. v. Langenbeck, 


Nr. 


Behandelnder 
Arzt. Quelle. 


Namen des 
Verwundeten 
Tag der 
Verwundung. 


i 


22 . 


Derselbe. 


Damaske, 49. 
Regt, verw. 
2. Dec. 1870 
vor Orleans. 
Zugang im 
Lazareth zu 
Homburg 14. 
Pebruarl87l. 


23. 


|A. Lucke, 
Prof.inStrass- 
burg (Kriegs- 
Chirurg. Fra¬ 
gen u. Bern. 
S. 65). 


Wilh. Lang- 
schmid, kgl. 
Pr. 74. Inf.- 
Regt., verw. 
6. Aug. 1870 
bei Saarbrüc¬ 
ken. Ohne 
Verband nach 
Bessungen 
transportirt 


24. 


Derselbe, 
(ebendaselbst 
S. 68). 


L.B.,He8si8cb. 
Infanterist, 
verw. 18.Aug. 
bei St. Privat. 
Zugang in 
Darmstadt am 


24. Aug. 


| Art der Verwundung. 
Spmptome. Wundverlauf. 


kelbeuge aufgetrieben, 
scbmerzhaftgegenDruck. 
Schenkel steht in Flexion 
von 45° und Rotation 
nach Aussen. Active Be¬ 
wegung unmöglich, eben¬ 
so passive Bewegung 
durch Muskelspannung 
aufgehoben. Reichliche 
Eiterung aus der engen 
Einschussöffnung. Am 
5. Januar und den fol¬ 
genden Tagen Wieder¬ 
holung der Schüttelfröste. 

Schussfractur des linken 
Hüftgelenks. Einschuss 
3 Querfingerbreit unter¬ 
halb Spina anter. super. 
Ausschuss hinter Tro¬ 
chanter maj. Pat. fiel 
im Augenblicke der Ver¬ 
wundung um, konnte 
nicht aufstehen u. geben. 
Am 9. April steht der 
Oberschenkel flectirt u. 
nach Aussen rotirt. 

Schussfractur des Hüft¬ 
gelenks. Absprengung 
des Pfannenrandes. Ein¬ 
schuss hinter Trochanter 
major. Ausschuss vom, 
neben Spina anter. infer. 
oss. il. Hüftgelenk be¬ 
weglich, keine Schmer¬ 
zen. 


Lochschuas durch den 
rechten Schenkelhals in¬ 
nerhalb der Gelenkkap¬ 
sel. Einschuss vor dem 
rechten Trochanter. Ku¬ 
gel steckt. Freie, 
schmerzlose Beweglich¬ 
keit im Hüftgelenk. 
Kein Fieber. 


Behandlung. 


Todestag. 


halses genau 
entsprechen¬ 
der Berüh¬ 
rungsfläche. 
Gelenkkapsel 
unverletzt 


Obduction. 


Seitenlage. 


Im April 1871 sah 
ich den Patienten 
sterbend. 


Immobilisi- 
rung d. Beins. 
Drainage des 
Schusscanals 
weg. schlech¬ 
ter Eiterung. 
27. Aug. Ex¬ 
traction von 
Knochenfrag¬ 
menten des 
Acetabulum 
u. des Schen¬ 
kelkopfs. 
Ruhige Lage 
im Bett. An¬ 
fangs Septbr. 
wegen stärke¬ 
rer Eiterung 
der Wunde 
Debridement, 
wobei d. Loch¬ 
schuss ent¬ 
deckt wird. 


iTod am 1. September 
an Septicämie. Ver¬ 
jauchung um das 
Hüftgelenk. Pfanne 
zersplittert. Geringe 
Verletzung d. Kopfs. 


Tod am 10. September 
an Septicämie. Die 
Kugel hat den Schen¬ 
kelhals schräg ohne 
Splitterung perforirt, 
Foramen obturato- 
rium durchdrungen 
und liegt in einer 
Jauchehöhle neben 
dem Rectum. Hüft- 


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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


325 



Name des 

* "sr s ;:;:ä. o^. 

Verwundung. [ 


25. Dr. Koch (Ar- Kemp. 

ehiv für klin. 
Chirurgie.Bd. 

ML S. 510). 

26. Beek, Prof. Fl., 61. 

In Freiburg. | Regt., 
(Der Krieg 20. Jan. 
1870-71. S.l 

600. 601.) I 


I Schussverletzung des lin« 
| ken Hüftgelenks. Ein- 
, schuss hinten. 


Schussfractur des linken 
1 Schenkelhalses. Pat. hielt 
I Anfangs die Extremität 
j in gebeugter Stellung, 
! später nach einwärts ge¬ 
rollt. Geringe Eiterung, 
dann Schüttelfröste. 14. 
Februar starke Blutung 
aus der jauchenden 
i Wunde. 


8. Sept. zuerst 
Schmerz im 
Gelenk, bei 
völlig freier 
Beweglich¬ 
keit dessel¬ 
ben. Allge¬ 
mein septic- 
ämischer Zu¬ 
stand bei ra¬ 
schem Verfall 
der Kräfte. 


27. Derselbe, 
(a.a.O.b.Nr.2). 


P., 61. Inf.- 
Regiment, 
Zugang im 
Lazareth 24. 
Januar 1871. 


28. Derselbe, St., 43. Land¬ 
es. 0. S.603. | wehr-Regt. 
Nr. 3). 


29. Derselbe, IlM.Bad.Inf.- 
(a.a.0.Nr.4).l Regt.Nr.112. 


Schussfractur des Schen¬ 
kelhalses. Fissur des 
Femur bis zum oberen 
Dritttheil. Einschuss 
am Trochanter in der 
Richtung zum Hüftge¬ 
lenk. Kugel steckt. 

Schussfractur des linken 
Hüftgelenks. Einschuss 
dicht unter der Leisten¬ 
beuge, Ausschuss in der 
Hinterbacke. Oberschen¬ 
kel verkürzt, massig 
flectirt, stark nach ein¬ 
wärts gerollt. 

Streifschuss des Schen¬ 
kelhalses, mit Eröffnung 


gelenk mit trüber, 
eiteriger Synovia ge¬ 
füllt. Innere Fläche 
der Kapsel und die 
Gelenkknorpel glanz¬ 
los trüb. Kugel nicht 
deformirt. (S. die 
Abbildung.) 


Der Oberschenkelkopf 
durch eine zackig 
von oben nach unten 
verlaufende Bruch- 
linie scharf abge¬ 
trennt. 

Tod an Septicämie u. 
Blutung am 14. Fe¬ 
bruar 1871. Voll¬ 
ständige Abtrennung 
des Schenkelhalses 
durch die Kugel, wel¬ 
che mit Knochen¬ 
splittern im Wund¬ 
kanal liegt. Ligam. 
teres vereitert, so 
dass der Schenkel¬ 
kopf herausfallt. 
Knorpelüberzug zer¬ 
stört. 

Tod an Septicämie 
am 8. Februar 1871. 
Vollständige Verjau- 
j ehung der Weich- 
I theile u. d. Gelenks. 


Gypsverband. Tod an Septicämie 
(\ Wochen nach der 
Verwundung. 


Tod am 18. Tage nach 
! der Verwundung au 


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326 


B. v. Langenbeck, 


Name des 

Behandelnder Verwundeten. Art der Verwundung. 
r ’ Arzt. Quelle Tag der Symptome. Wundverlauf. 
Verwundung. 


der Gelenkkapsel (?). 
Einschuss dicht nach 
Aussen von Art. fern. 
Kugel steckt, wird spä¬ 
ter in zwei Stücken ex- 
trahirt. Geringe Schmer¬ 
zen u. Fieber. 


30. Derselbe, Ungenannter 'intracapsuläre Schuss- 
(a.a.O. Nr.5).! Verwundeter fractur des Schenkel¬ 
im 6. Feld- halses. 

| lazareth zu 

I Montbeliard. 


31 

Volkmann, — % 

_ 

bis 

Prof, in Halle. 


41. 



42. 

Dr. Berg- — 

mann, Prof, 
in Dorpat ! 


43 

Doutrele- | — 

— 

bis 

p o n t, Prof. 


45. 

in Bonn. 


46. 

Dr. Küster, 1 - 

— 


Berlin, Pro¬ 
tokolle. 


47 

Dr. Ph. F r a n k Vier penetri 

— 

bis 

(W. Mac rende ilüft- 


50. 

Cormac, a. gelenkwund. 

1 


a. 0. S. 123.) durch Pyämie 
tödtlich ver-j 
laufen, ehe 
eine secundä-| 
re Operation 
uiöglieh war. 

51. Dr. E. Klebs, Lecomte, verw. Schussverletzung d. llült- 
Prof, in Bern. 6. Aug. 1S70.| und Sehultergelenks. Of- 
(ßeiträge zur Im Lazareth 1 fenbar ist die Kugel 
pathol. Anat. zu Carlsrube durch die ganze Längen¬ 
der Schuss-1 behandelt. axe des Schenkelhalses 
wunden. i verlaufen, hat den Ge- 

Leipzig 1872.1 lenkkopf perforirt, ein 

8.S.29.Nr.20)J Stück vom Pfannenrande 


Behandlung. Todestag. Obduction. 


acuter Pyämie. Am 
Collum femor., zwi¬ 
schen den Trochan- 
teren findet sich Ab¬ 
streifung des Periosts 
und Knochenfissur. 
Hüftgelenk eröffnet, 
verjaucht. Acetabu- 
lum zeigt eine Fissur. 
Der Rest der diffor- 
men Kugel lag in 
den Muskeln der 
Aussenseite d. Ober¬ 
schenkels. Metasta¬ 
sen in den Lungen. 

Tod an Erschöpfung 
durch Blutung. 


11 12 Fälle, alle 

tödtlich verlaufen. 

1 tödtlich verlaufener 
Fall. 

Sah in Mars la Tour 
3 tödtlich verlaufende 
Fälle. 


Gestorbeuam i9_Aug. 
1870 an Septicämie. 
Einschuss auf der 
Spitze d. Trochanter 
maj., von dessen hin¬ 
terer Fläche ein Stück 
abgesprengt ist. Vom 
inneren Pfannen- 


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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




Ueber die Scbussverletzungen des Hüftgelenks. 


327 


Behandelnder 

Name des 
Verwundeten. 

Art der Verwundung. 

Behandlung. 

Arzt. Quelle. 

Tag der 
Verwundung. 

Symptome. Wundverlauf. 


Kr. 


Todestag. Obduction 


52. 


53. 


Derselbe, 
(ebendaselbst 
Nr. 21). 


Derselbe, 
(ebendaselbst 
S. 30. Nr. 22). 


54. Derselbe, 

(ebendaselbst] 
Nr. 23). 


55- Derselbe, 

I (ebendaselbst 
' S. 31. Nr. 24). 


56. 


Derselbe, 
(ebendaselbst 
S. 32. Nr. 25). 


Bertele, Würt- 
temb. Soldat 
verw. 6. Au¬ 
gust (?). 

Hilske, 47. Pr. 
Inf. - Regmt., 
verw. 6. Aug. 
Zugang in 
Carlsrube. 


Ch. M. Driset, 
verw. 6. Aug. 
1870. 


Seidlicb, verw. 
9. Aug. 1870. 


Jos. Gaillard, 
verw. 6. Aug. 


57. ;Derselbe, iLeroy, August, 
(ebendaselbst] verw.31. Aug. 


Nr. 26). 


58. 


1870. 


Dr. J. A rn o 1 d, 1 Jacob Grösslin, 
Prof, in Hei-] verw. wann? 
delberg (Ana¬ 
tom. Beiträge, 
zu der Lehre! 


abgesprengt u. ist durch 
Foramen Obturator, wei¬ 
ter gegangen. 


Schussfractur des rechten 
Trochanter mit Spren¬ 
gung in das Hüftgelenk. 
Einschuss auf der rech¬ 
ten Hinterbacke. 
Rinnenschuss des Tro¬ 
chanter, Collum und Ca-; 
put femoris, mit Fissu 
ren in den Gelenkkopf. 
Kugel steckt fest in der 
Schussrinne des Ober¬ 
schenkelkopfs. 
Schussfractur des rechten 
Trochanter maj. mit Ab¬ 
sprengung eines Kno¬ 
chenstücks des Schenkel¬ 
halses bis an die Knor¬ 
pelfläche des Kopfs. 
Schussfractur des linken 
Schenkelhalses mit Ab¬ 
trennung des Kopfs. 
Einschuss unter Tro¬ 
chanter maj. Ausschuss 
unter Spina anter. super. 
Streifschuss des rechten 
Schenkelhalses. Ein¬ 
schuss Handbreit unter 
Trochanter maj., Aus¬ 
schuss in der Gegend 
der Afterfalte. 


Schussfractur des rechten 
Oberschenkels im oberen 
Drittel mit Sprengung 
in das Hüftgelenk. 
Schussverletzung des lin¬ 
ken Trochanter major. 
Einschuss hinter Troch. 
Gelenkkapsel wahr¬ 
scheinlich nur gestreift. 


Kugel mit] 

grosser Mühe 
durch Dr. 
v. Molitor 
extrahirt. 


rande ein rundlicher 
Defect ausgebrochen. 
Von diesem aus Fis¬ 
sur durch das Ace- 
tabulum. 

Tod an Septicämie am 
22. August 1870. 


Tod an Septicämie am 
25. August 1870. 


Tod an Septicämie am 
28. August. 


Tod am 30- August 
1870 an Septicämie. 


Tod am 30. August 
an Venenthrombose 
und Lungenembolie. 
An der hinteren 
Fläche des Schenkel¬ 
halses eine durch die 
Kugel bewirkte Ab¬ 
streifung des Perio 
stes. Der hier bloss¬ 
liegende Knochen 
missfarbig und rauh. 

Tod am 28. September 
1870. Venenthrom¬ 
bose und Lungen¬ 
embolien. 

Gestorben 14. Februar 
1871 an Lungen¬ 
embolien. Gelenk¬ 
kapsel mit Jauche 
gefüllt, an ihrem 


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328 


B. v. Langenbeck, 


Behandelnder 

Name des 
Verwundeten. 

Art der Verwundung. 

Behandlung. 

Arzt. Quelle. 

Tag der 

Symptome. Wundverlauf. 

< j r» i i 

Verwundung. 



Nr. 


59. 


60. 


61. 


62. 


63. 


m. Tf. Heide! 
berg 1873. 4. 
S.82.Nr. 165). 
Derselbe, 
(ebendaselbst 
Nr. 32). 


’Sebast. Thum, 
verw. 6. Aug. 
1870. 


[Derselbe, 'Gottlieb Klos, 
(ebendaselbst verw. 16. Aug 
S. 83. Nr. 60). bei Mars la 
Tour 


Derselbe, 
(ebendaselbst 
Nr. 102). 


Derselbe, 
(ebendase!bst| 
Nr. 50). 


Derselbe, 
(ebendaselbst 
S. 85. Nr. 51\ 


Fried r. Maass, 
verw. 16. Aug. 
18 70 bei Mars 
la Tour. 


Wilb. Brehe, 
verw. 18. Aug. 
b. Gravelotte. 


Schussfractur des Caput 
und Collum fern, dextri. 
Oeffnuugen des Schuss- 
kanals unter Ligament. 
Poupart. und hinter Tro¬ 
chanter rechter Seite. 

Rinnenschuss des Schen¬ 
kelkopfs. Einschuss hin¬ 
ter rechtem Trochanter. 
Kugel steckt im Gelenk. 

Schussfractur des linken 
Trochanter, Caput und 
Collum femori8. Ein¬ 
schuss auf linkem Tro 
chanter. Kugel steckt 
im Schenkelkopf. 


Schussfractur des linken 
Oberschenkelkopfs und 
des Acetabulum. Ein¬ 
schuss über und vor dem 
linken Trochanter maj. 
Kugel steckt an der In-j 
nenfläcbe des linken! 
Ramus adscendens oss. 
ischii. 


Andr. WorfJSchussfractur des rechten 


verw. 4. Aug 
1870 b. Weis 
senburg. 


Acetabulum, Rinnen¬ 
schuss des Schenkel¬ 
kopfs. Einschuss am 
rechten Rande des Os 
sacrum. Ausschuss an 
der inneren Seite des 
rechten Oberschenkels. 


1 


Todestag. Obductiön. 


hinteren Abschnitt 
jauchig infiltrirt und 
zerstört 

|Tod am 29. Augu9t 
1870. VonderBruch- 
fläche des Halses aus 
gehen Fissuren inden 
Kopf. Schenkelkopf 
ganz abgetrennt Ge¬ 
lenk mit Eiter gefallt 

iTod am 13. September 
1870 auPyämie. Ge¬ 
lenk mit Jauche ge¬ 
füllt 

Gestorben 26. October 
1870 an V enenthrom- 
bosen. Eitrige Osteo¬ 
myelitis. Oberschen¬ 
kelkopf fast ganz 
abgetrennt Gelenk¬ 
kapsel durch ein 
Knochenfragment 
zerrissen. Trocban- 
teren abgesprengt 
Schenkelhals zer¬ 
trümmert. Gelenk¬ 
kapsel verdickt Ge- 
lenkknorpel defect 

[Gestorben 10. Septbr. 
1870 an Pyämie. 
Die Gelenkkapsel mit 
Eiter und Knochen¬ 
splittern angefüllt 
Vordere Fläche des 
Gelenkkopfs zersplit¬ 
tert Acetabulum in 
seinem inneren Ab¬ 
schnitt defect Zell¬ 
gewebe um die Blase 
vereitert 

[Tod am 11. Septbr. 
1870 an Pyämie. 
Das rechte Acetabu¬ 
lum ist in der Mitte 
defect Zellgewebe 
des kleinen Beckens 
auf der rechten Seite 
eiterig infiltrirt, und 
hier eine grosse Ei¬ 
terhöhle. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 


Ueber die Schuss Verletzungen des Hüftgelenks. 


329 


Tabelle in. 

Schussverletzungen des Hüftgelenks, welche im Deutsch - Französischen Kriege 1870—71 mit 
Resection des Scbenkelkopfs behandelt worden sind. 


Nr. 

Operateur und 
Quelle. 

1 

Name des 
! Verwundeten. 
TagundOrtder 
Verwundung. 

Art der Verwundung. 
Symptome. Wund¬ 
verlauf. 

Operation. 

Gebeilt 

oder 

gestorben. 

Bemerkungen. 

1. 

B.v.Langen- 

Petit. Franzos. ^Schussf ractur des rech- 

Resect. capitis 

Gestorben 



beck, Prof. 

67. Lin.-Rgt., 

ten Hüftgelenks. Ein- 

femor. durch 

15. Sept. 



in Berlin. 

verw. 16. Au- 

schuss vor Tuber 

Längsschnitt 

an Pyä- 




gust 1870. 

ischii, Ausschuss vorn 

am 30. Aug. 

mie. 





an der Aussenseite 

1870. 






der Art. femoralis. 




2. 

Derselbe. 

Roma, Lieut. 

Schnssfractur des lin- 

Resection des 

Gestorben 

— 



im 9. Franz. 

ken Hüftgelenks. Ein- 

Schenkel- 

4. Sept. an 




Inf. - Regmt., 

schuss unter Tro- 

kopfs u. Tro- 

Erscbö- 




verw. lS.Aug. 

chanter major, Aus- 

chanter roaj. 

pfung. 




Zugang im 

schuss in rechter Hin- 

Längsschnitt 





Feldlazarett) 

terbacke. Fuss nach 

31. Ang.1870. 





Villeres aux 

Aussen rotirt. Extre- 

Ausgedehnte 





Bois 20. Aug. 

mität um 2 Ctm. ver- 

Splitterung d. 





1870. 

kürzt, stark geschwol- 

Scbenkelhal- 






len. Kein Fieber. 

ses bis in den 






Seitenlage. Vom 24. 

Schaft des Fe- 






August au starkes 

mur hinein. 






Fieber, Zunahme der 

Circa 9 Ctm. 






Anschwellung, jau- 

vom Knochen 






cbige Absonderung 

entfernt. 






der Wunde. 




3. 

Derselbe. 

PierreCongacz, 

Schus8fractur des lin- 

Resection des 

Gestorben 

— 



23 Jahre alt, 

ken Schenkelhalses 

Scbenkelkopfs 

8. Septbr. 




aus Labertry, 

mit Eröffnung des 

mit 7 Ctm. 

1870 an 




Franz. Garde- 

Gelenks. Kugel 

langem Stück 

Erschö¬ 




Gren. - Regt., 

steckt. Ausserdem 

der gesplit- 

pfung. 




verw. 16. Aug. 

Schuss in die Brust 

; terten Dia- 





1870. Barak- 

mit Verletzung der 

physe am 1 





kenlazareth 

linken Lunge, end- 1 

Septbr. 1870. 





in Gorze 

lieh Zerschmetterung Operation sehr 





! 

des linken Fusse.s schwierig,weil 





j 

durch GranatschussJ 

zahlreichedis- 





! 

Schenkel nach Aussen 

locirte Kno- 




1 


rotirt, stark verkürzt. 

cbenfragmen- 




| 


Enorme Schwellung 

te schwer zu 




1 


der Gelenkgegend. 

entfernen. 



4. 

Derselbe. 

Jean Müller, 

Schussfractur des lin- 

Resection des 

Gestorben 

Wogen unseres 


1 

i 

aus d. Glsass, 

ken Hüfgelenks. Ein- 

Oberschen- 

12. Decbr. 

Ausmarscbes 



verw. 28. No¬ 

schuss hinter Tro- 

kelkopfs am 

1870 an 

aus Pitbiviers 



vember 1870 

chanter, Ausschuss 

1. December 

Pyämie. 

am 2. Decbr. 



bei Beaune ia 

dicht unterhalb Tu- 

1870. Längs- 


sah ich den 



Rolande. Zu¬ 

berculum pubis lin- 

schnitt. Das 

. 

Verwundeten 



gang im La- 

ker Seite. Fuss nach 

fracturirte 


nicht wieder. 



zareth zu Pi- 

Aussen gefallen. Ver- 

Collum fern. 




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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




330 


B. v. Langenbeck, 


Name des 

N Operateur und Verwundeten. 
Quelle. TagundOrtder 
Verwundung. 


thiviers am 
30. Novembr. 


5. Derselbe. Petit, 67. Frz. 

Rgt.deLigne, 
verw. 16,Aug. 
1870 bei Mars 
la Tour. Feld- 
lazareth in St. 
Apolline. 


6. )Derselbe (Pro- Heinartz, Un- 
tokolled.mili- teroffizier, 
tairärztlichen 23 Jahre alt, 
Gesellsch. in 75 Inf.-Regt., 
Orleans. Sitz. verw. 9. De- 
vom 28. De- cember 1870. 
cember 1870 ; Zugang in der 
Deutsche mi- Ambulance 
litairärztliche Anglo - Ame- 
Zeitschrift 1. ricaine(Eglise 
Jahrg Berlin St. Eubert in 
1872. S. 63). Orleans) am 
13 Decemberl 
1870. 


Art der Verwundung 
Symptome. Wund- Operation, 
verlauf. 


kürzung 3 Ctm. Ge- dicht am Tro- 
ringe Schwellung des chanter abge- 
Gelenks, Schmerzen sägt, 
nur bei Bewegung. Operation auf- 
Gutes Allgemeinbe- fallend leicht 
finden, kein Fieber, und wenig 
verletzend. 

Gewichtsex¬ 
tension. 

Schussfractur des rech-Resection mit Gestorben — 
ten Hüftgelenks. Ein- Längsschnitt 10. Dec. 
schuss vor Tuber am 30. Aug. 1870 an 
ischii. Ausschuss hart 1870. Collum Septico- 
an der Aussenseite femor.inmeh- py äm ie- 
der Art. femoralis, rere Frag- . 

30. August stark mente zer- 
verkürzte Extremität schmettert, 
nach Aussen rotirt. Trochanter 
Heftige Schmerzen fracturirt;Ab- 
im Gelenk, welches sägung dicht 
stark geschwollen. unterhalb 
Troch. maj. 

Schussverletzung des 14. December Gestorben Pat. erholt sich 
rechten Hüftgelenks 1870 Dilata-20. Decbr. nach der Ope- 
und der Harnblase, tion der Ein- 1870. ration. Am 

Die Kugel (Minie) ist scbussöffnung 17. December 

etwa 5 Ctm. unter- und Explora- Frost an fälle. 

halbSpinaanter.su- tion mit dem Stirbt an Sep- 

per. rechter Seite, n. Fingerergiebt ticopyämie. 

Aussen vom Plexus Absprengung 
fern, eingetreten, in eines Stücks 
schräger Richtung des inneren 
nach innen und etwas Randes des 
nach unten, und nabe Acetabulum 
am Tuber ischii lin- u. Eröffnung 
ker Seite ausge- des Gelenks, 
schnitten worden. Resect. durch 
Urinfliesst, mitSyno- Längsschnitt 
via gemischt, durch mit grosser 
Eingangsöffnung ab, Leichtigkeit 
nur wenig blutiger ausgeführt. 

Urin durch Urethra Die Kugel hat 
willkürlich entleert, ein Stück vom 
sobald Pat. sich auf innern Rande 
die linke Seite legt. d. Acetab. ab- 
14. Decbr. Gegend gesprengt, ist 
der Scbenkelbeuge in das Gelenkt 
stark geschwollen u. eingedrungen. 


Geheilt 

oder Bemerkungen, 
gestorben. 




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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


331 


Nt. 


Operateur und 
Quelle. 


Name des 
Verwundeten. 
TagundOrtder 
Verwundung. 


Art der Verwundung. 
Symptome. Wund 
verlauf. 


Operation. 


Geheilt 

oder 

gestorben. 


Bemerkungen. 


8 . 


Dr. Zmula, 
kgl. Preuss. 
Stabsarzt. 
(Deutsche mi- 
litairärztliehe 
Zeitung 1872. 
S. 409.) 


Dr.Hüpeden, 
in Hannover 
(Sch ul I er, 
Kriegscbir. 
Skizzen. Han* 
noverl871.8. 
S-62.) 

Stromeyer, 
(Mac Cor- 
m&c, Notiz.u. 
Erinnerungen 


Franz Pirczo, 
Musketier im 
l.Oberschles. 
Inf.-Regt. Nr. 
22. 24 Jahre 
alt, aus Mit¬ 
tel - Lazisk, 
Kreis Pless, 
verw. 23. Sep¬ 
tember 1870 
vor Paris. 


Friedrich John, 
23 Jahre alt 
aus Berlin, 
1. Brandenb. 
Leib - Gren.-j 
Regt. Nr. 8. 
verw 6. Aug. 
beiSpicheren. 


emphysematisch. 
Druck entleert Urin 
mit Gasblasen und 
Synovia. Oberschen¬ 
kel leicht flectirt und 
nach Aussen rotirt, 
Active Bewegung im 
Gelenk unmöglich, 
passive schmerzhaft. 
Hohes Fieber. Pat. 
vom Transport nach 
Orleans sehr er¬ 
schöpft. 


Schussverletzung des 
rechten Hüftgelenks. 
Kugel steckt im 
Schenkelkopf. 


Schussverletzung des 
rechten Hüftgelenks. 
Einschuss 3 Ctm 
unterhalb Spina an-i 
ter. super, dextra. 1 
Ausschuss durch 
rechte Hinterbacke, 
eine Handbreit von! 
der Mitte des Kreuz-j 
beins. Wird för Con- 
tourschuss gehalten.l 


ohne den 
Schenkelkopf 
zu verletzen 
und bat die 
innere Wand 
des Acetabul. 
perforirt und 
in mehrere 
Fragmente 
zersplittert. 
Der Schenkel¬ 
kopf zeigt| 
keine Spur 
einer Verlez- 
zung. Durch 
d. Perforation 
der Pfanne 
dringt der 
Finger in die 
Beckenhöhle. 
Urin und Jau¬ 
chedringtaus 
derselbenher- 
vor.Gewichts- 
extension. 

Resection des 
Oberschen¬ 
kelkopfs. An¬ 
gabe des Ta¬ 
ges der Ope¬ 
ration fehlt. 
Schnitt wahr- 
scheinlicbBo- 
geuschnitt n. 
White. 


Resection mit Geheilt im 
Bogenschnitt Mai 1871. 
nach White. 
Schenkelkopf 
durch Caries 
bedeutend 
usurirt, Ace- 
tabulum er¬ 
weitert und 
stellenweise 
cariös. Pat. 


Geheilt, 
wann, ist 
nicht an¬ 
gegeben 


Pat. geht 1872 
m. 2 Krücken. 
ResecirtesGe- 
lenk aetiv gar 
nicht, passiv 
im Winkel 
v. 30° beweg¬ 
lich, entbehrt 
jeder Festig¬ 
keit. Extre¬ 
mität um 10 
Ctm. verkürzt, 
abgemagert. 

Gebrauchsfä- 
fähigkeit des 
Beins nicht 
angegeben. 


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Original fro-m 

UMIVERSITY OF CALIFORNfA 



332 


B. v. Langenbeck, 


Nr. 


Operateur und 
Quelle. 


Verwundeten. ! A * de . r Verwundung. 
TagundOrtder 
Verwundung. ! verlaut - 


9. 


eines Ambu¬ 
lanz - Chirur¬ 
gen. S. 165). 


Gäbde, kgl. 
Preuss. Ober- 
Stabsarzt. 
(Protokolled. 
militairärztl. 
Gesellschaft 
! in Orleans, 
| Deutsche mi- 
; litärärztlicbe 
, Zeitschrift. 1. 
] Jahrg. Berlin 
1 1872. S. 65). 


W. Liesegang, 
Musketier im 
4. Brandenb. 
Inf.-Regt. Nr. 
24, verw. am 
16. Aug. 1870 
bei Mars la 
Tour. I 


18. August von Saar¬ 
brücken nach Han¬ 
nover transportirt 
Hüftgelenk nicht ge¬ 
schwollen, vollkom¬ 
men frei beweglich. 
Allgemeinbefinden 
gut, geht mit Stock. 
12. Septbr. Zunahme 
d. Eiterung. Schmerz 
hinter Trocbant. maj. 
Beugestellung im 
Hüftgelenk. 21.Sept. 
Sonde trifft raube 
Knochenstelle. Strek- 
kung des Beins in 
Cbloroformnarkose. 
Gypsverband. Ab¬ 
nahme der Schmer¬ 
zen. 25. Sept. Zu¬ 
nahme des Fiebers. 
Abnahme des Gyps- 
verbandes, Lagerung 
in Drahthose. 4. Nov. 
Erweiterung der Ein¬ 
gangsöffnung und Ex¬ 
traction eines abge- 
sprenglen Stücks des 
oberen äusseren Pfan-| 
nenrandes. Vollstän¬ 
dige Vereiterung des 
Gelenks entdeckt. 

Scbussfractur des lin¬ 
ken Schenkelhalses. 
Einschuss durch linke 
Hinterbacke, in der 
Mitte zwischen Tro¬ 
chanter und Basis 
des Os coccygis. Ku¬ 
gel steckt. L. war im 
Augenblick der Ver¬ 
wundung zusammen¬ 
gebrochen, dann ein¬ 
fach auf Stroh gela¬ 
gert. 20. August in 
die Kirche zu Vion- 
ville gebracht. Potl’- 
sche Seitenlage. Bein 
ziemlich stark ge- 


Operation. 


Geheilt 

oder 

gestorben. 


Bemerkungen. 


verlässt 90 
Tagenach der 
Operation das 
Bett und ist 
im Mai 1871 
vollständig 
geheilt, blü¬ 
hend u. kräf¬ 
tig. Gelenk 
etwas beweg¬ 
lich. 


Resect. durch 
Längsschnitt 
am 2. Sept. 
Scbenkelkopf 
und Hals mit 
4Ctm. langem 
Stück des 
Schafts, stark 
gesplittert, 
werden ent¬ 
fernt. 


Gestorben 
2. Sept. 
1870. 


Der durch die 
Blutung vor 
der Operation 
sebrerschöpf- 
te Krankekam 
aus der Nar¬ 
kose nicht 
wieder zum 
Bewusstsein 
und starb 5 
Stunden nach 
der Opera¬ 
tion. 


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Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


383 


Nr. 


Operateur und 
Quelle. 


Name des 
Verwundeten. 
TagundOrtder 
Verwundung. 


Art der Verwundung 
Symptome. Wund¬ 
verlauf. 


Operation. 


Geheilt 

oder 

gestorben. 


Bemerkungen. 


10 . 


11 . 


12 . 


Dr. Th. Bill¬ 
rot h, Prof, in 
Wien. (Chi¬ 
rurg. Briefe 
aus d.Kriegs- 
lazarethen 
Berlin 1872. 
8.S.227.Nr.3). 

Derselbe, 
(a.a.0. S.228). 


Derselbe, 
(a.a.0. S.241) 


Charles Pacot, 
Franzos. 50. 
Inf. - Regmt., 
verw. 4. Aug. 
1870. 


Eduard Geier, 
kgl. Bayer. 
9. Inf.-Regt. 


Ungenannter 
Verwundeter 
im Lazareth 
zu Bergza¬ 
bern. 


schwollen, nament¬ 
lich in der Gegend 
des Gelenks, nach 
Aussen rotirt, massig 
verkürzt. Active Be¬ 
weglichkeit aufgeho¬ 
ben. Starke Jauchungj 
der Wunde. 27. Au¬ 
gust. Verbände sehr 
schmerzhaft. Daher 
Fixirung des Beins 
an dem gesunden 
durch ein zwischen 
die Schenkel gelegtes 
Spreukissen. 2.Sept. 
Ziemlich starke ar¬ 
terielle Blutung aus 
der Wunde, durch 
Tamponnade gestillt. 
Bei Wiederkehr der 
Blutung Dilatation 
der Wunde, wobei 
ausgedehnte Fractura 
colli fern, entdeckt 
wird. 

Schussfractur des rech¬ 
ten Schenkelhalses 
Einschuss hinten, 
Kugel steckt. 


Schuss von hinten 
durch das Hüftge 
lenk. Gelenkver¬ 
letzung nicht, er¬ 
kannt. 

Schussfractur desHüft- 
gelenks. Einschuss 
vorn in der Höbe des 
Hüftgelenks, dicht am 
Nerv, femoralis. Ku¬ 
gel steckt Alle Er¬ 
scheinungen wie bei 
Fractura colli fern, 
extracapsularis. 


Resection des Gestorben 


Cap.fem.dex- 
tr. am 20. 
Aug. 1870. 


28. Sept. 1870. 
Extraction d. 
nekrotischen 
Schenkel¬ 
kopfs. 

Extraction der 
Kugel u. des 
abgetrennten 
Oberschen¬ 
kelkopfs, wei¬ 
cherverjaucht 
ist, mittelst 
Dilatation der 
Wunde nach 
oben etwa 3 
Wochen nach 


20. Aug. 
an Pyä- 1 
mie. 


Gestorben 
27. Octbr. 


Gestorben 
24 Stund, 
nach der 
Opera¬ 
tion. 


An erschöpfen¬ 
den Durch¬ 
fällen. 


Pat. war zur 
Zeit der Ope¬ 
ration schon 
septicämisch, 
hatte ausge¬ 
dehnten De¬ 
cubitus. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 







334 


B. v. Langenbeck, 


Nr. 


Name des 
Operateur und Verwundeten. 


Quelle. 


Tag und Ort der 
Verwundung. 


Art der Verwundung. 
Symptome. Wund- 
.verlauf. 


Operation. 


Geheilt 

oder 

gestorben. 


Bemerkungen. 


13. 


14. 


15. 


GeneralarztDr. 
W egner. 
(Dr.C. Kirch¬ 
ner a. a. 0. 
S. 53). 


Ungenannter, 
verw. 19. Sep¬ 
tember 1870, 


Dr. Küster, 
Berlin (Prot, 
des II. Deut¬ 
schen Chirur¬ 
gen -Congres 
ses. Berliner 
klin. Wochen¬ 
schrift 1873. 
Nr.22.S.260). 


Ungenannter. 


H. Fischer, 
Prof, in Bres¬ 
lau. (a. a. 0. 
S. 200. Beob. 
326). 


Weinert, Un- 
terofficier im 
Ostpr. Drag.- 
Regt. Nr. 10, 
verw. 14.Aug. 
1870. Zugang 
18. Aug. im 
Lazarett] zu 
Neunkirchen. 


|Schus8fractur des lin¬ 
ken Schenkelhalses 
Einschuss hinter lin¬ 
kem Trochanter, Aus¬ 
schuss an der Innen¬ 
seite des linken Ober¬ 
schenkels dicht unter 
Schambeinfuge. Bein 
4Ctm. verkürzt. Fuss 
nicht nach Aussen 
rotirt Crepitation in 
der Gegend des Tro¬ 
chanters. Knochen¬ 
splitter im Schuss¬ 
kanal. Geringe 
Schmerzhaftigkeit. 

Schussverletzung des 
Beckens, secundäre 
Vereiterung des Hüft¬ 
gelenks (?). Einschuss! 
in linkerHinterbacke. 
Kugel hatte sich im 
Knochen getbeilt, ein 
Theil war nach vorn 
gegangen u. an Spina 
anter. super, entfernt 
worden, der andere 
Theil hatte Os ilium 
perforirt und war in 
das Becken einge¬ 
drungen. Die Wunde 
heilt bis auf eine Fi¬ 
stel, der Kranke gebt 
umher, plötzlich Er¬ 
scheinungen heftiger 
Hüftgelenkentzün¬ 
dung. 

Schussverletzung des 
linken Hüftgelenks. 
Einfacher Kapsel - 
schuss. Einschuss' 
dicht über Trochant. 
major, etwas nach 
innen. Kugel stecktJ 
Die heftigen Schmer¬ 
zen im Gelenk durch 
Extraction der Kugel, 


der Verwun¬ 
dung. 

20.0ctbr.1870. 
Längsschnitt 
hinter Troch. 
major. Absä 
gung unter 
Trochanter. 
Gelenk voll 
Eiter. Becken 
unverletzt. 
Behandlung 
mit perma¬ 
nenter Exten¬ 
sion , später 
auf doppelt 
geneigter 
Ebene. | 
Resection mit 
Zurücklas¬ 
sung des Tro¬ 
chanters. 
Spätresection. 
Schenkel köpf 
zur Hälfte zer¬ 
stört. 


Gestorben 
28. Octbr. 
1870 an 
Pyämie. 


6. Sept. 1870. 
Durch Bogen¬ 
schnitt über 
Trocbnt. maj. 
Hüftgelenk 
zerstört. Kopf| 
und Hals ent¬ 
fernt. Scheu- 
kelkopf 
verletzt, 


un- 


Gestorben 
8 Tage 
nach der 
Opera¬ 
tion. 


Gestorben 
13. Sept. 
1870. 


Pat. erholt sich 
nach der Ope¬ 
ration, am 10. 
Septbr. neuer 
Schüttelfrost. 


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Original fro-m 

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Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


335 


Operateur n°d tZm! Art d “ Verwunduug 

Q»=l!e. TagundOrtder ^“t.Ta'uf 
Verwundung. au ’ 


Geheilt 

Operation. oder Bemerkungen, 
gestorben. 



16. A. Lücke, | 
Professor in 
Strassburg. I 
(Eriegschir. j 
Fragen und| 
Bemerkungen 
S. 65). 


17. Hueter, Prof, 
in Greifswald. 
(Protokolle d. 
II. Deutschen 
Chirurgen- 
Congresses. 
Berliner klin. 
Wochenschr. 
S. 250). 

18 Dr. Heppner 
und in St. Peters- 

19. bürg (ebenda¬ 
selbst S.260). 

20, Volkmann, 
21 Prof, in Halle, 
und (Samml. kli- 
22. niscber Vor¬ 
träge. Nr. 51. 
S.301. Beck 
a. a. 0. S. 895. 
Nr. 3.) 


E. W. Hoff- 
mann, Preuss. 
Gardist, verw. 
18. Aug. 1870 
bei St. Privat. 
Zugang im 
Lazareth zu 
Darmstadt 
(ohne Lage¬ 
rungsver¬ 
band) am 27. 
August. 

Verwundeter 
der kgl. Würt¬ 
temberg. Di¬ 
vision. 


dicht über dem Hüft¬ 
gelenk, gemindert. | 

31. Aug. Schüttet- j 

frost, Knieschmerz, 

Empfindlichkeit des 

Hüftgelenks gegen ( j 

Druck. 6. Sept. Zwei- ; 

ter Schüttelfrost. j 

Schussfractur deslin- Extensionsver- Gestorben | 
ken Oberschenkel- band. Resec- 3 Tage! 
kopfs, des rechten tion 5. Sept.! nach der! 

Oberkiefers. Streif- Schenkelkopfj Opera- ( 


kopfs, des rechten tion 5. Sept. nach 
Oberkiefers. Streif- Schenkelkopf Open 
schuss der Brust, in mehrere tion. 
Einschuss vor linkem Splitter zer- 
Trochanter major. sprengt. Star- 
Ausschuss durch lin- ke (pyämi- 
ke Hinterbacke. Emi- sehe) venöse 
nente Empfindlich- Blutung wäh- 
keit des linken Beins, rend der Ope- 
Gute Eiterung.Wenig ration. 

Fieber. 

— Resection des — 

Schenkel¬ 
kopfs. 


23. Dr. Welker, 
(Beck, Prof, 
in Freiburg. 


B., 2. Z.-Regt.,'Schussfractur des!Extraction des Gebeilt 

verwund, bei Schenkelhalses ober-l nekrotischen 1 
Wörth, be- halb des Trochanter Schenkel- 


Unbekannter 
j Ausgang. 


2 Spätresectio- Gestorben 
nen in den 2 
Lazaretben zu 
Saarbrücken 
ausgeführt. 

— Gestorben 
3 


2 dieser Resec. 
starben vor¬ 
wiegend an d. 
Folgen schon 
vorhandenen 
Decubitus.Bei 
dem 3. fand 
sich ausge¬ 
dehnte Zer¬ 
trümmerung 
des Beckens. 


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Original fram 

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336 


ß. t. Langenbeck, 


Operateur und 
Quelle. 

Name des 
Verwundeten, 
tag und Ort der 
Verwundung. 

Art der Verwundung. 
Symptome. Wund¬ 
verlauf. 

• 

Operation. 

Geheilt 

oder 

gestorben. 

f 

Bemerkungen. 

Der Krieg 
1870-71. S. 
890-893.) 

handelt im 
Lazareth zu 
Bischweiler. 

major. Einschuss in 
die vordere Seite des 
Oberschenkels. Kugel 
steckt. Heilung der 
Wunde bis auf zwei 
Fisteln, durch welche 
die Sonde auf rauhen 
Knochen stosst. Fuss 
stark nach einwärts 
rotirt. Verkürzung. 

kopfs mit dem 
halben Halse 
6 Monate nach 
der Verwun¬ 
dung. 

• 


Nicht genann¬ 
ter Operateur. 
(Beck a.a.0. 
S. 892. Nr. 2). 

P., 4. W. Inf.- 
Regt. Nr 17. 

Schuss in rechtes Hüft¬ 
gelenk. Kugel steckt 
im Oberschenkelkopf. 

Spätresection 
d. Oberschen¬ 
kelkopfs. 

Geheilt 

Pat wurde ge¬ 
heilt. Es bil¬ 
dete sich eine 
Art Gelenk, 
das activ und 
passiv, wenn 
auch nur in 
geringemGra- 
de, beweglich 
war. Extremi¬ 
tät um 7 Ctm. 
verkürzt. 

Czerny, Prof, 
in Bern. (Aus 
den Kriegs- 
lazaretben. 
Wiener med. 
Wocbenschr. 
1870. Nr. 49.) 


i 

i 

Resection des 
Oberseben- 
kelkopfs. 

1 

Gestorben 


A. Wagner, 
weil. Prof, in 
Königsberg. 
(Dr. Koch, 
Archiv für kli- 
niscbeChirar- 
gie Bd. XIU. 
S. 510) 

Piasetzky, 
verw. 8. Aug. 
1870. 

Schussfractur des lin¬ 
ken Schenkelhalses. 

Resection des 
Schenkel¬ 
kopfs. 28. 

Septbr. 1870. 
bei beträcht¬ 
licher Infiltra¬ 
tion d. Weich- 
tbeile und 

hohem sept. 
Fieber. 

Gestorben 

Der Tod er¬ 
folgte 10 Tage 
nach der Ope¬ 
ration. 

Graf, dirigir. 
Arzt d. Kran¬ 
kenhauses in 
Elberfeld. 
(Protokolle). 


i 

! 

Extraction des 
Schenkel¬ 
kopfs. 

Gestorben 


Dr. B. Beck, 

St., 3. Pr. F.- 

Schussfractur des Tro- 

Resection des Gestorben 

Tod am 9. Tage 

(a.a.O.S 893). 

1 

Pion.-C. 

chanter major und 1 Oberscben- 
des Schenkelhalses kelkopfs am 
linker Seite. Kugel Abend der 
auf dem Verbandplatz, Verwundung. 


nach der Ver¬ 
wundung und 
Operation au 
Septicämie. 


Nr. 


24. 


25. 


26. 


27. 


28. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


337 


Nr.: 

1 

i 

Operateur und 
Quelle. 

Name des 
Verwundeten. 
TagundOrtder 
Verwundung. 

Art der Verwundung. 
Symptome. Wund¬ 
verlauf. 

Operation. 

Geheilt 

oder 

gestorben. 

Bemerkungen. 




an der linken Hinter¬ 
backe durch Incision 
entfernt. 

Lagerung der 
Extremität in 
gestreckter 
Stellung. 


Verjauchung 
der Weich- 
theile um die 
Wunde. Lun¬ 
genödem und 
Infarcte an 
beiden Seiten. 

29. 

Dr. Pagen¬ 
stecher, 
(Becka.a.0. 
S. 894'. 

P., 58. Inf.- 
Regt., verw. 
6. Aug. 1871. 

Schussfractur des lin¬ 
ken Schenkelhalses 
und des Trochanter 
major. Einschuss 

durch linke Hinter¬ 
backe. 

i 

Resection des 
Schenkel- 
kopfs und des 
i Trochanter 
am 1. Sept., 
nachdem sehr 
starke Ver¬ 
jauchung der 
Weich theile 
bereits vor¬ 
handen war. 

Gestorben 

Am 2. Tage 
nach derOpe¬ 
ration bereits 
Schüttelfrost. 
Am 9. Tage 
Tod an Pya- 
mie. 

30. 

Dr. B. Beck, 
(a.a.O.S 894. 
Nr. 2). 

B., Sergeant- 
Maj. 3. Franz. 
Lin.-Inf.-Rgt. 
verw. 6. Aug. 
1870. 

Schussfractur des rech¬ 
ten Trochanter und 
Schenkelhalses bis in 
die Diaphyse hinein. 
Kugel steckt. Dis¬ 
location durch Lage-] 
! rang auf Planum 
inclinatum nicht ge¬ 
hoben. 22. August. 
Entfernung eines 

Stücks der Kugel und 
mehrerer Knochen¬ 
splitter. Gypsverband 
nicht lange ertragen. 
Decubitus. Verfall 
der Kräfte. 

Resection des 
Schenkel- 
kopfsmit dem 
oberen Pritt- 
theil des Fe¬ 
mur. Günstige 
Einwirkung 
derOperation. 
Pat. kann in 
derBauchlage 
wieder schla¬ 
fen, und die 
Kräfte heben 
sich. 

Gestorben 

Tod an Pyämie. 

31. 

Dr. Battleh¬ 
ne r in Karls¬ 
ruhe. (K1 e b s 
a. a. 0. S. 33. 
Nr. 26.) 


Schussfractur des Os 
femoris mit Abspren¬ 
gung des Schenkel¬ 
kopfs. 

Resection des 
Oberschenkel¬ 
kopfs bis über 
Trochanter 
hinaus. 

Gestorben 

I 

1 

Die entfernte 
Knochenpar- 
thie besteht 
aus 3 Stücken, 
dem dicht an 
seinem Rande 
abgespreng¬ 
ten Gelenk¬ 
kopf, dem 
Trochant.maj. 
und dem ab¬ 
gesagten 
Stück derEpi- 
phjse. 


v. Langeobtck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 22 


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338 


B. v. Langenbeck, 


Tabelle IV. 

Schussverletzungen mit Exarticulatio femoris behandelt. 



Name des 


Operateur und 

Verwundeten. 

1 

Quelle. 

Tag der 
Verwundung 


Nr. 


Resultat. 


1 . 


Ott, Kriegs- Ilarles, Franz. 
Chirurg. Mit- Soldat, verw 


2 . 


3 u 

4. 


theilungen a. 
d.Reservelaz. 
Ludwigsburg. 
Stuttg. 1871. 
4. S. 52 


16.Aug.1870. 
Zugang 26. 
August. 


Mundy, Rap- Deschamp, 2. 
port sur 1’am-' Zuaven-Regt. 
bulance de 1 
ancien corps I 
lcgislat. du 
19. Septbr. 

1870. au 31. 

Janvier 1871. 

Bohme(Gäh- 
de, Deutsche 
militarärztl. 

Zeitschrift. I. 

S. 60). 


femoris 
Decbr. 


0.-St.-A.Rüp-} — 

pel (ebenda-! 
selbst). 

Simon. Franz. Officier. 

Uueter, Prof. Franz.Verwun- 
in Greifswald, dctcr. 
(Protokolle d. 

II. Deutschen! 

Chirurgen- 
Congresses. 

1873. S. 19. 

W. Busch, 

Prof, in Bonn 
(ebenda¬ 
selbst). 


Vollständige Zertrümme- Exarticul. fern, 
rung des rechten Os fein, mit vorderen 
dicht unter Troch. maj. Lappen, 24. 
Zustand des Hüftgelenks Septbr. 1870. 
zweifelhaft. Eröffnung Blutung un- 
des Hüftgelenks und bedeutend, 
Luxation des Schenkel- doch zu stark 
kopfs wahrscheinlich, für den er- 
Jauekung. Exart. früher schöpften 
verweigert. Kräfte ge- Kranken, 
sunken, Oedemd. Beine.] 

Schussfractur des rechten;Exart. 
Oberschenkels mit Ver¬ 
letzung der grossen Ve¬ 
nen und des Hüftgelenks 
durch Granatschuss. 

Frost-Gangrän. 


Schussfractur des oberen Exart. femoris. 
Endes des Femur unter Ovalairme- 
Trochanter. Starke arte-1 thode. 
rielle Blutung. Unter¬ 
bindung der Femoralis. 

Blutung kehrt wieder. 

Vom 2. Fall fehlen die 
Angaben. 

Ausgedehnte Verletzung Exart. fern, 
der Weichtheile des 
Oberschenkels. 

Schrägbruch des Ober- Exart. fern. 
Schenkels. 

Ausgedehnte Zerschmet-!Exart. fern, 
temng des Oberschen¬ 
kels. 


Tod wenige Stunden 
nach der Operation 


Tod 12 Stunden nach 
der Operation. 


2 Exarticula- 
tionen des 
Oberschen¬ 
kels. 


Tod während der Ope¬ 
ration an Blutverlust 


Tod nach einigen Ta¬ 
ffen. 

Tod bald nach der 
Operation. 

Tod am 3. Tage nach 
der Operation. 

Tod am Tage nach 
der Operation an 
Haemorrhagie. 


Todtlicher Ausgang. 


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Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Ueber die Schussverletzungen des Hüftgelenks. 


339 


Nr. 


i Name des 

Operateur und Verwundeten. 
Quelle. ; Tag der 
j Verwundung. 


Art der Verwundung. 
Wundverlauf. 


Behandlung. 


Resultat. 


9 a 

10 . 


11 . 


12 . 


13. 


Dr. Philipp 
Frank, da¬ 
mals Arzt der 
Anglo ameri- 
kan. Ambu¬ 
lanz iu Balan 
und Bazeilles. 
(Mac Cor- 
mac a. a. 0. 
S. 67.) 

iMr. Blewitt 
(Mac Cor- 
mac a. a. 0. 
S. 67) 


1 primäre, 1 Tddtliclier Ausgang. 
secundareEx- 
articulation | 
des Ober-; 

Schenkels. 


W. Mac Cor 
mac. Notizen! 
u. Erinnerun-' 
gen eines Am- 
bulenz-Cbirg.. 
a.d.Engl. von 
Dr. Louisj 
Stromeyer.j 
Hannover ; 

1871. I 

Derselbe (a. a. Liprendre. 
0. 30. Fall). ! 


Guerieri, Ma- 
rinesoldat, 
verw. 4. Sep¬ 
tember 1870j 
bei Sedan.' 
Zugang in As-j 
feld 10 Sept.i 


Ausgedehnte Zertrümme 
rung des linken Ober 
Schenkel knochens dicht 
an den Trochantereu; 
und der linken Tibia.j 
Pat. sehr erschöpft, er-! 
holt sich etwas bis zum 1 
18. September. 


Exarticulation 
des Hüftge¬ 
lenks in Balan 
(nach der 
Schlacht bei 
Sedan). 

Exarticulatio 
fern, am 18. 1 
Spt. Vorderer 
Lappen. Ar- 
ter. femoralis 
torquirt. 


Tödtlicher Verlauf. 


Tod bald nach der 
Operation. Mac Cor- 
mae meint (wohl 
nicht mit Unrecht), 
dass das Chloroform 
an dem schnellen 
Tode mit Schuld ge¬ 
wesen sei. 


Ausgedehnte Zerreissung Nachdem zu- 
der Weichtheile von der! erst der Ver- 
Aussenseite des linken such gemacht 
Oberschenkels. Knochen! worden, die 
und Hauptgefasse un-; Extremität zu 
verletzt. | erhalten, 

machte Mac 
Cormac am 
18. Sept. die 
Exarticulation 
d. Oberschen¬ 
kels mit gros¬ 
sem vorderen 
Lappen. Fe¬ 
moralis tor- 
quirt. 


Tod an Erschöpfung 
am 6. Tage nach der 
Operation. Pat. hatte 
sich nach der Opera¬ 
tion erholt, Puls 120, 
kräftig, Appetit und 
Schlaf gut. Am 6. 
Tage, wo der fran¬ 
zösische Infirmier da¬ 
von gelaufen, hatte 
L. weder Nahrung 
noch Wein erhalten, 
war sehr schwach u. 
starb in der Nacht. 


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Gck igle 


22 * 

Original from 

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XVIII. 


Ueber die Endresultate der Gelenkresec- 
tionen im Kriege*). 

Von 

H. v. Ijangenbeck. 

(Hierzu Tafel IV-XIV.) • 


Wer den grossen Aufschwung verfolgt hat, den die Gelenk- 
resectionen in den letzten 25 Jahren in Deutschland, England und 
Italien, nicht nur in der Civilpraxis, sondern auch in der Kriegs¬ 
chirurgie genommen haben, wird nicht wenig erstaunt sein, dass 
es heute noch nothwendig wird, in eine Discnssion über den Werth 
dieser Operationen einzntreten. Das Ideal, welches die Heilkunde 
anstrebt, ist die Heilung äusserer Gebrechen ohne Operation, und 
vor Allem die Vermeidung der verstümmelnden Operationen. Das 
ganze Bestreben der neueren und neuesten Chirurgie ist darauf 
gerichtet zu erhalten, und nicht leicht blickt ein Chirurg noch 
mit Stolz auf seine Amputationsstümpfe, sondern vielmehr mit 
Wehmuth über die Unvollkommenheit seiner Kunst. 

Man sollte nun meinen, dass der Vorzug, ein Glied zu er¬ 
halten, besonders bei den Verwundeten im Kriege ein so fassbarer 
und unzweifelhafter sei, dass kaum ein Arzt sich getrauen würde, 
das Amputationsmesser in die Hand zu nehmen, wo es durch die 
Resections-Instrumente ersetzt werden kann. Und doch sind es 
gerade die Gelenkresectionen im Kriege gewesen, welche diese 
Operation wiederum in eine Phase gebracht haben, wie sie deren 


*) Vortrag, gehalten in der 3. Sitzung des II. Congresses der Deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie, am 18. April 1873. 


ed by 


Gck igle 


Original frum 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


341 


seit ihrem kaum hundertjährigen Bestehen in der Wissenschaft 
schon mehrere erlebte, und durch welche sie nicht ohne Mühe sich 
hindurch gearbeitet hat. 

Zuerst wurde von Hannover in CopenhageD, in demselben 
Jahre, in welchem die Resection ihren hundertjährigen Geburtstag 
feierte, eine Arbeit veröffentlicht, in welcher er, gestützt auf die 
Erfahrungen, welche er bei Revision der Dänischen Invaliden aus 
dem Kriege 1864 gewonnen hatte, über die Gelenkresection den 
Stab bricht, und sie in allen Fällen durch die Amputation oder 
die conservirende Behandlung ersetzt zu sehen verlangt. Ich ge¬ 
stehe, dass ich nicht wenig überrascht war zu sehen, dass nicht 
ein einziges der günstigen Resultate, welche wir im Jahre 1848 
und 1864 bei Dänischen Verwundeten durch Gelenkresectionen 
erreicht hatten, zu Hannovers Kenntniss gekommen war; denn 
wäre dies der Fall gewesen, so würde Hannover, besonders als 
Nicht-Chirurg, gewiss Anstand genommen haben, sein Urtheil über 
die Resectionen so zu formuliren, dass jede weitere Diskussion 
unnöthig erscheinen könnte. Ich hatte im Jahre 1848 in Schles¬ 
wig bei dem K. Dänischen Major von Westergaard die Resection 
des Ellenbogengelenks gemacht. Als ich den Verwundeten im Juli 
desselben Jahres geheilt in seine Heimath — Copenhagen — entliess, 
war schon eine active Beweglichkeit im Ellenbogengelenk vorhanden, 
die Hand aber zu allen Functionen schon vollkommen brauchbar. 
Dieser Fall, ohne Zweifel wohl die erste Ellenbogengelenkre- 
section im Kriege, hatte, wie Herr v. W. mir wiederholt schrieb, 
in Copenhagen unter den Aerzten grosses Aufsehen erregt, „weil 
die Brauchbarkeit seines Armes nichts zu wünschen übrig lasse“. 
Ebenso hatte ich in derselben Zeit bei einem Dänischen verwun¬ 
deten Soldaten die Resection des Oberarmkopfes gemacht (Fall 
No. 23). Als dieser zu Anfang August 1848 in seine Heimath 
entlassen wurde, war die active Beweglichkeit im Schultergelenk 
selbstverständlich noch eine geringe, Hand und Vorderarm aber 
bereits so vollkommen gebrauchsfähig, dass das besto Resultat 
sich Voraussagen liess. Allerdings erhebt Hannover an verschie¬ 
denen Stellen seiner Arbeit gegen die Preussischen Aerzte den 
Vorwurf, dass sie bei Beurtheiluug ihrer Resections-Resultate viel 
zu voreilig gewesen seien, dass die Unbrauchbarkeit der Extre¬ 
mität erst später hervortrete und mit den Jahren zunehme. Er 

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342 


B. x. Langenbock, 


vergisst aber, dass unter den im Jahre 1848 und 1864 Resecirten 
auch Preussische Verwundete sich befanden, von denen ein Theil 
in unserer Beobachtung verblieben ist, und dass die Preussischen 
Aerzte aus der ihnen zu Gebote stehenden Erfahrung vollkommen 
berechtigt waren, aus dem Zustande der Extremität unmittelbar 
nach vollendeter Heilung, unter Voraussetzung einer rationellen 
weiteren Behandlung, auf ein günstiges Endresultat zu schliessen. 

Bei Besprechung der Schultergelenkresection werde ich jenen 
1848 operirten Dänischen Soldaten namhaft machen; vielleicht ge¬ 
lingt es noch, festzustellen, was nach 25 Jahren aus ihm gewor¬ 
den ist. Zu meiner Freude bin ich aber auch in der Lage, Resec- 
tionen des Oberarmkopfs aus demselben Kriege vorzuführen, welche 
ich bis auf die neueste Zeit im Auge behalten habe, so dass ein 
Vergleich der Endresultate möglich sein wird. 

Von den Verwundeten, bei denen ich während des Krieges 
1864 die Resection des Fussgelenks gemacht habe, gehörten drei 
der K. Dänischen Armee an. Als ich diese Fälle veröffentlichte, 
(Ueber Resection des Fussgelenks bei Schussfracturen desselben. 

• Berl. kl. Wochschr. 1865 No. 4), konnte ich von den Meisten nur die 
gelungene Heilung constatiren. Jetzt kann ich berichten, dass diese 
Operirten sich der vollständigsten Gebrauchsfähigkeit des resecirten 
Fusses erfreuen. Zwei von ihnen, von denen ich die Photographie 
geben werde, lebten zeitweise in Copenhagen. Einer derselben 
(Hr. Leth), bei welchem ich 10 Ctm. der Tibia und die obere 
Gelenkfläche des Talus resecirt hatte, besuchte mich im Sommer 
1872 in Berlin. Er kehrte aus der Schweiz von einer Fussreise durch 
das Hochgebirge, auf welcher er u. A. auch den Monte Rosa bestie¬ 
gen hatte, zurück. Sein Gang war — 8 Jahre nach überstan¬ 
dener Resection — ein nahezu normaler, da die geringe Verkür¬ 
zung von 2 Ctm. durch Beckensenkung ausgeglichen wurde. 

Ueber die während des Krieges 1866 Resecirten liegen offi- 
cielle Berichte und die Ergebnisse der Invaliden-Untersuchung 
nicht vor, und ich werde mich damit begnügen müssen, über einige 
von mir Resecirte, welche ich bis auf den heutigen Tag nicht aus 
den Augen verloren habe, bei Besprechung der Resectionen der 
verschiedenen Gelenke zu berichten. Ein um so grösseres Ma¬ 
terial liegt uns nunmehr aus dem Deutsch-Französischen Kriege 
1870/71 vor. Zuerst benutzte Kratz, Oberstabsarzt des West- 


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Original fro-m 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


343 


phäl. Artillerie-Regiments No. 7, die ihm obliegende Untersuchung 
der Invaliden der 25. und 26. Infanterie-Brigade, um über den 
Zustand der unter ihnen befindlichen Resecirten zu berichten 
(Kratz, Resultate der während des letzten Feldzuges ausgeführ¬ 
ten Gelenkresectionen. Deutsche militairärztliche Zeitschrift 1. Jahr¬ 
gang 1872 S. 399—409). Dieser Bericht veranlasste den Heraus¬ 
geber der Deutschen militairärztl. Zeitschrift, Herrn Dr. Leut¬ 
hold, Oberstabsarzt am Invalidenhause in Berlin, die mit Unter¬ 
suchung der Invaliden aus dem letzten Kriege betrauten Ober- 
militairärzte zu gleichen Mittheilungen aufzufordern, und so liegen 
uns jetzt die Berichte über die Invaliden vom 10. Armee-Corps 
vom Generalarzt Dr. B erthold, und über die Invaliden aus dem 
grössten Theile des I. Armee-Corpsbezirk vom K. Bayerischen 
Bataillonsarzt Dr. Seggel, sämmtlich in der Deutsch, militair¬ 
ärztl. Zeitung Jahrgang I. 1872 S. 399, 496, 505, 563, 590, und 
Jahrgang II. 1873 abgedruckt vor. 

Diese Berichte, welche mehrere Hunderte von Resectionen 
der verschiedenen Gelenke umfassen, lauten, gleich den Hanno¬ 
verschen, so überaus traurig, dass jeder mit Resectionen nicht 
vertraute Arzt zu dem Schluss gelangen muss, die Gelenk¬ 
resectionen seien, aus der Kriegschirurgie wenigstens, auf ewige 
Zeiten zu verbannen. Denn wenn man z. B. erfährt, dass von 6 
im Ellenbogen-und Schultergelenk Resecirten, wie Kratz angiebt, 
nur Einer über die Erhaltung seines Armes erfreut ist, alle an¬ 
deren dagegen der Ansicht sind, dass sie mit einem Amputations- 
stumpf besser daran sein würden, so wird man sich für berechtigt, 
vielleicht für verpflichtet halten müssen, von den Gelenkresectionen 
in Zukunft Abstand zu nehmen, um so mehr, als die Gelenkre¬ 
sectionen dem Arzt eine weit mühevollere Pflege auferlegen und 
zu ihrer Heilung in der Regel mehr Zeit erfordern, als die Ampu¬ 
tationen, und es statistisch noch nicht einmal sicher bewiesen ist, 
dass die ersteren mehr Menschenleben erhalten als die letzteren. 

Ich bin der Ansicht, dass die genannten Aerzte, indem sie 
die Mängel der Gelenkresectionen aufdecken und zur Sprache brin¬ 
gen, sich um Wissenschaft und Humanität in gleichem Maasse 
verdient gemacht haben. Denn ihnen wird es mit zu danken sein, 
wenn die Resectionen in den folgenden Kriegen nicht weniger 
häufig, jedenfalls aber mit besseren Erfolgen ausgeführt werden. 


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344 


B. y. Langenbecb, 

* 

Es muss und wird den Aerzten zum Bewusstsein kommen, dass 
mit der Ausführung der Operation nicht alles gethan ist, dass die 
Arbeit nun erst beginnt und Monate lang unverdrossen fortgeführt 
werden muss. 

Wenn eine Gelenkresection der Friedenspraxis bei einem mit 
Lungentuberculose behafteten ein ungünstiges, bei einem gesunden 
Individuum ein besseres Resultat liefert, so kann das nicht gerade 
befremden. Bei den im Kriege Verwundeten dagegen sind alle 
Verhältnisse (Verletzung, Lebensalter, Pflege) so gleichartig, dass 
man a priori schliessen dürfte, es müsse bei allen Gelenkresectio- 
nen das gleiche Resultat, d. h. die gleiche Brauchbarkeit der Ex¬ 
tremität erreicht werden können. Wenn ein im Schultergelenk 
Resecirter 3 Jahre nach der Operation fähig ist, als Frontofficier 
einen Krieg durchzumachen, wie der von 1870/71 war, wo die 
volle Leistungsfähigkeit verlangt werden muss, und wenn ein im 
Fussgelenk Resecirter im Stande ist, mit gewöhnlichen Alpen¬ 
schuhen den Monte Rosa zu besteigen, was ist die Veranlassung, 
dass dieselbe Operation an Individuen gleichen Alters, und in der¬ 
selben Weise ausgeführt, so traurige Ergebnisse liefern kann, wie 
die Invalidenlisten sie als Regel zeigen? 

Zur Beantwortung dieser wichtigen Frage muss zunächst 
hervorgehoben werden, dass der Wortlaut der militairärztlicben 
Atteste, welche den Invaliditätsgrad des Verwundeten bezeichnen, 
den Grad der Gebrauchsfähigkeit eines resecirten Gelenks nur 
unvollständig wiedergeben kann, weil derselbe sich innerhalb be¬ 
stimmter gesetzlich festgestellter Normen bewegen muss. Der 
Gesetzgeber und der nach dem Wortlaut des Gesetzes aburtheilende 
Militairarzt steht hier auf einem anderen Boden als der Chirurg. 
Es handelt sich für den superarbitrirenden Militairarzt nicht darum, 
zu entscheiden, was eine Resection leisten kann oder in dem vor¬ 
liegenden Fall geleistet hat, oder nachzuweisen, in wie weit die 
erhaltene Extremität geeignet ist, dem Verwundeten seine Existenz 
angenehm und ihn für die gewönlichen Lebensverhältnisse brauch¬ 
bar zu machen, sondern lediglich darum, ob der Verwundete im 
Sinne des Gesetzes Invalide ist, und welche der gesetzlich festge¬ 
stellten Kategorien für die Versorgung der Invaliden auf ihn an¬ 
gewendet werden muss. 

Das Gesetz, betreffend die Pensionirung und Versorgung der 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 345 

Militairpersonen des Reichsheeres und der Kaiserlichen Marine vom 
27. Juni 1871, ein Gesetz, dessen Erscheinen gewiss von uns 
allen mit der lebhaftesten Freude begrösst worden ist, bezeichnet 
diejenigen verwundeten Mannschaften als Ganzinvalide, welche 
zu keinerlei Militairdienst mehr tauglich sind. Wer die Anfor¬ 
derungen kennt, welche der active Militairdienst an die Mann¬ 
schaften stellt, und den Kraftaufwand bemisst, dessen alle Glieder 
fähig sein müssen, wird zugeben, dass jeder Resecirte, und wäre 
die Brauchbarkeit seiner Extremität für die gewöhnlichen Lebens¬ 
verhältnisse die vollkommenste, als Ganzinvalide im Sinne des 
Gesetzes beurtheilt werden muss. 

Eine zweite Frage, welche in dem Invalidenattest zu beant¬ 
worten ist, betrifft den Grad der durch die Verwundung entstan¬ 
denen Erwerbsunfähigkeit, nach welchem die Höhe der Pen¬ 
sionszulage bemessen ist. Da die Mehrzahl der verwundeten 
Mannschaften der arbeitenden Klasse angehört, ein resecirtes Ge¬ 
lenk aber, auch bei dem vollkommensten Heilungsresultat, für 
schwere Arbeit, welche bedeutenden und anhaltenden Kraftauf¬ 
wand erfordert, schwerlich geeignet sein kann, so wird der begut¬ 
achtende Militairarzt nicht umhin können, jeden Resecirten für 
mehr oder weniger erwerbsunfähig zu erachten. Dass durch 
die Resection Glieder erhalten werden, welche für viele Gewerbe 
als vollkommen arbeitstüchtig anzusehen sind, dass beispielsweise 
ein Kaufmann mit resecirtem Hüftgelenk, ein Klempner mit re- 
secirtem Handgelenk, ein Eisenbahnbeamter mit resecirtem Schul¬ 
ter- oder Ellenbogengelenk für sein Gewerbe gerade so tauglich 
sein kann wie zuvor, kann hier nicht in die Wagschale fallen. 
Der begutachtende Arzt kann auf so subtile Unterscheidungen 
nicht eingehen, ohne Gefahr zu laufen, den Verwundeten zu schä¬ 
digen. 

Endlich hat der begutachtende Militairarzt zu befinden, ob 
der Invalide als verstü mmelt anzusehen sei, oder nicht, weil die 
Gewährung der sehr erheblichen Verstümmelungszulage (sechs 
Thaler monatlich) von der Beantwortung dieser Frage abhängig 
ist. Als Verstümmelung gilt aber nach §. 27 c. des Pensio- 
nirungsgesetzes „die Störung der activen Bewegungsfähigkeit einer 
Hand oder eines Armes, sowie eines Fusses in dem 


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346 B. v. Langenbeck, 

Grade, dass sie dem Verluste des Gliedes gleich zu 
achten ist.“ 

Dieser Paragraph, der an Weisheit und Humanität gewiss 
nichts zu wünschen übrig lässt, hat ohne Zweifel schon manchem 
Militairarzt Eopfbrechen gemacht. Wann ist die Störung der 
activen Bewegungsfähigkeit eines Gelenks dem Verluste des Glie¬ 
des gleich zu achten? Gesetzt der im Fussgelenk Resecirte, wel¬ 
cher als Tourist den Monte Rosa besteigt, wäre ein Ballettänzer, 
so würde er nicht besser daran sein, als wenn er, am Unterschenkel 
amputirt, einen Stelzfuss trüge — sein resecirter Fuss würde dem 
Verluste desselben gleich erachtet werden müssen. Dasselbe würde 
sich mutatis mutandis auf alle Gelenkresectionen anwenden lassen. 

Das so eben Gesagte wird sich am besten durch einige aus 
dem Leben gegriffene Beispiele klar machen lassen. 

No. 1. E. F., Polytechniker, 20 Jahre alt, guter Constitution, erhielt, wie 
der E. Bayerische Bataillonsarzt Dr. Seggel (Deutsche militairärztliche Zeitschr. 
II. Jahrgang 1873 Heft 6, S. 326 No. 21) mittheilt, im Orte Bazeilles am 1. Sep¬ 
tember 1870 als freiwilliger Verwundetenträger einen Gewehrschuss in das rechte 
Ellenbogengelenk. Wenige Stunden nach der Verletzung wurde im Schlosse da¬ 
selbst, wo der Verbandplatz für die 1. Division etablirt war, vom Herrn Gene¬ 
ralstabsarzt Dr. v. Nussbäum die Resection des Gelenks gemacht, und der Ver¬ 
wundete am folgenden Tage in’s Feldlazareth No. II- zu Remilly sur Meuse ver¬ 
bracht. Eine sehr beträchtliche Anschwellung des ganzen Armes hatte den be¬ 
handelnden Arzt schon zur Vornähme der Amputation bestimmt, als die zufällige 
Dazwischenkunft des genannten Operateurs es verhinderte. 

Bei der Untersuchung am 24. Februar 1872 war nach vollständig erfolgter 
Heilung die Rotationsbewegung (Pro- und Supination) im verletzten Gelenk zwar 
aufgehoben, jedoch Beugung und Streckung in demselben fast normal. Der Arm be¬ 
findet sich dabei in der mittleren Stellung zwischen Pro- und Supination, die 
Muskulatur des Oberarmes atrophirt. Die Bewegung der Finger und der Hand 
normal, so dass Hr. F. nicht nur mit der rechten Hand zeichnen sondern 
auch Zither spielen kann. „In Beziehung seiner gewählten Berufsthätigkeit 
als Mechaniker z. B. für Arbeiten an der Drehbank, dem Schraubstock, ist seine 
Erwerbsfähigkeit allerdings als eino solche zu erachten, wie sie durch den 
gänzlichen Verlust des rechten Armes bedingt wäre“. 

No. 2. Berkhauer, Lieutenant im 48 . Regiment, wurde am 16. August 1870 
in der Schlacht bei Mars la Tour verwundet. Ein Granatstück hatte die Aussen- 
seite des rechten Unterschenkels und Fusrgelenks getroffen und einen handgrossen 
Defect der Weichtheile geschaffen, in welchem die zertrümmerten Knochen zu 
Tage lagen. Am 17. August legte ich in Gorze, wohin der Verwundete vom 
Schlachtfelde während der Nacht in ein Privathaus gebracht worden war, einen gefen¬ 
sterten Gypsverband an, welcher den Fuss in rechtwinkliger Stellung vollkommen 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 347 

jmmobilisirte, die grosse Wunde aber vollständig freiliess. Unter desinficirender 
Behandlung mit Chlorwasser erfolgte bei sehr geringer Schwellung und geringem 
Fieber die brandige Abstossung der zermalmten Weichtheile, und trat bis zum 
25. Aug. eine reichliche Eiterung ein. Ende August erfolgte aber eine Steigerung 
des Fiebers bei den heftigsten Schmerzen in der granulirenden Wunde und täg¬ 
lich wachsender Empfindlichkeit des Kranken. Am 2. September machte ich 
die Resection des Fussgelenks. Die Fibula wurde 7 Ctm. oberhalb des Malleolus 
extern, mit der Stichsäge durchsägt und unter möglichster Schonung des Periosts 
entfernt. Dieser Knochen war in 4 Fragmenten zertrümmert. Sodann wurde 
der an seiner Aussenfläche eingedrückte Astragalus ganz heraus gelöst, das voll¬ 
ständig zertrümmerte Os cuboides entfernt und die ebenfalls fracturirte obere 
Gelenkfläche des Calcaneus der Läuge nach resecirt. Der longitudinal fractu¬ 
rirte Malleolus internus wurde zurückgelassen, und ein gefensterter Gypsverband 
sofort angelegt. Bis Ende September füllte sich die grosse Wundhöhle mit Gra¬ 
nulationen aus, und begann die Heilung, so dass Patient Anfangs October nach 
Berlin transportirt werden konnte. Als ich im Frühjahr 1871 aus Frankreich 
zurückkehrte, fand ich die Wunde geheilt, die Formen des resecirten Gelenks in 
Folge von Knochenneubildung nahezu normal, den Fuss in rechtwinkliger Stel¬ 
lung knöchern ankylosirt, die Muskulatur der Wade etwas atrophisch. Genaue, 
wiederholte Messungen wiesen eine Verkürzung von nicht ganz 2 Ctm. nach. 
Ich liess nun den Patienten einige Monate mit einem Scbienenstiefel gehen, wel¬ 
cher den Druck der Körperlast auf das resecirte Gelenk verminderte. Im Spät¬ 
sommer 1871 wurden die Bäder in Rehme mit sehr gutem Erfolge für die Stär¬ 
kung des Beins gebraucht. Am 1. November 1871, an welchem Tage ich den 
Patienten in der Sitzung der Berliner med. Gesellschaft vorstellte, ging derselbe 
bereits ohne zu hinken, in gewöhnlichen Schuhen und mit nicht verstärkter Sohle. 
Am 13. April 1872, bei Gelegenheit des hier tagenden Deutschen Chirurgen- 
Congresses stellte ich den Operirten ebenfalls vor, wie auch die durch die Re¬ 
section entfernten Knochen. (Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für 
Chirurgie. Erster Congress. Berlin 1872. 8. S. 48). Kraft und Brauchbarkeit 
des resecirten Fusses sind seit jener Zeit unverändert geblieben, nr. B. geht 
stundenlang ohne zu hinken und ohne zu ermüden. Vgl. die Photographie Taf. VIII. 

Das für Herrn B. bei der Revision am 10. Mai 1872 ausgestellte Invaliden¬ 
attest lautet: „Unterschenkel 1 Zoll verkürzt. Vollkommene Ankylose im Fuss- 
gelenk. Abmagerung des Unterschenkels. Dauernd ganz Invalide.“ 

Nr. 3. „Ernst Nagel, Soldat, 3. Bad. Inf.-Regts. Schuss in das linke Ellen¬ 
bogengelenk, geheilte Resectionswunde, Schlottergelenk, Arm nicht in ho¬ 
hem Grade atrophisch“, so lautet der aufgenommene Befund (Deutsche 
militairärztliche Zeitschrift Jahrg I. 1872 S. 594 No. 34). In dem ersten 
Heft des II. Jahrgangs derselben Zeitschrift 1873 S. 61 schildert Herr Ge¬ 
neralarzt Dr. Beck, welcher den Ernst Nagel wahrscheinlich 1 Jahr später 
untersuchte, den Zustand des Armes folgendcrmaassen: „es bat sich ein voll¬ 
ständiges künstliches Golenk gebildet, welches active Beugung und Streckung, 
Pro- und Supination gestattet. Die Muskulatur des linken Arms ist gut ent¬ 
wickelt, pp. Nagel bebt einen Stuhl mit der linken Hand fusshoch vom Boden, 


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348 


B. v. angenbeck, 


scbliesst und öffnet die Hand rasch und ohne welches Schmerzgefühl bei allen 
diesen Bewegungen zu äussern, vermag auch seine linke Hand bis auf den Scheitel 
zu bringen, giebt endlich an, schon seit mehreren Monaten leichte Haus- und 
Feldarbeiten unter Zuhülfenabme der linken Hand verrichtet zu haben.“ 

Abgesehen von dem ärztlichen Gutachten, welches, meiner An¬ 
sicht nach, ohne ungerecht und hart zu werden, nicht anders, als 
für Verstümmelung entscheiden kann, ist es gerade dieser Para¬ 
graph, welcher die Resectionsresultate so überaus ungünstig er¬ 
scheinen lässt. Je bedeutender und vollkommener die Störung 
der activen Bewegungsfähigkeit bei der Revision der Invaliden be¬ 
funden wird, um so sicherer ist ihre Aussicht auf die Verstümme¬ 
lungszulage. Die Uebungen, welche der Arzt als das einzige 
Mittel, um die Gebrauchsfähigkeit des Gliedes herzustellen drin¬ 
gend empfiehlt, sobald er den Resecirten aus seiner Behandlung 
entlässt, laufen also dem Interesse des Invaliden zuwider, und es 
ist begreiflich, dass er sie vernachlässigt oder gar vermeidet. Ich 
könnte eine Reihe von Erfahrungen aus meiner Kriegspraxis an¬ 
führen, welche die Richtigkeit dieser Annahme beweisen, und ich 
trage kein Bedenken zu behaupten, dass die häufigen Klagen der 
Invaliden über ihre resecirten Arme, die ihnen nur zur Last seien, 
und ohne welche sie mit einem Amputationsstumpf besser daran 
sein würden, in dem so eben Erörterten ihre Motive finden. 

Die geringe Sorgfalt für Kräftigung und Uebung der resecir¬ 
ten Glieder ist jedoch keineswegs die einzige Ursache der schlech¬ 
ten Resectionsresultate im Kriege, sondern- die in der Regel so 
überaus mangelhafte Nachbehandlung trägt zum grossen Theil die 
Schuld, wenn das Glied vollkommen unbrauchbar geblieben ist. 
Den schlagendsten Beweis für diese Behauptung geben die Fuss- 
gelenkresectionen, welche, so weit aus den Revisionsberichten es 
sich ersehen lässt, in dem letzten Kriege mit den seltensten Aus¬ 
nahmen so beklagenswertbe Resultate geliefert haben, dass die 
Operirten mit einem Amputationsstumpf weit besser daran sein 
würden. Eine Fussgelenkresection, welche den Fuss zwar erhält, 
ihm aber eine Spitz- oder Klumpfussstellung bei ankylosirtem 
Sprunggelenk giebt, raubt dem Invaliden für immer den Gebrauch 
seines Gliedes und verdammt ihn zeitlebens zum Gebrauch der 
Krücke, weil es keine Maschinenvorrichtung giebt, welche bei die¬ 
ser Stellung des Fusses die Gehfäbigkeit herstellen könnte. An 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


349 


diesem beklagenswerthen Endresultat hat die Nachlässigkeit der 
Operirten keinen Theil, die Schuld ist vielmehr ganz allein der 
ärztlichen Behandlung beizumessen. Ich werde weiter unten den 
Beweis liefern, dass die Fussgelenkresection unter allen Gelenk¬ 
resectionen im Kriege am constantesten die besten Resultate liefert. 
Während diese Operation, wegen organischer Erkrankungen des 
Gelenks und besonders wegen lange bestandener Caries unter¬ 
nommen, häufig unvollkommene Resultate giebt und nicht selten 
zur nachträglichen Amputation zwingt, liefert die wegen Trauma 
unternommene Fussgelenkresection die glänzendsten Resultate. 
Bei sorgfältiger Nachbehandlung übersteigt die eintretende Ver¬ 
kürzung 2 Ctm. niemals, so dass der Operirte ohne Verstärkung 
der Sohle gleich einem Gesunden gehen kann. Vergleicht man 
die Endresultate meiner Fussgeienkresectionen mit denen der Re¬ 
visionsberichte, so wird man sich über die grosse Verschiedenartigkeit 
beider nicht eben wundern, wenn man die ganz verschiedenen äus¬ 
seren Umstände erwägt, unter welchen diese Operirten sich befunden 
haben. Meine Resecirten aus dem Jahre 1864 und die oben mit- 
getheilte Fussgelenkresection von 1870 wurden von der Operation 
an bis zur Heilung der Wunde in Gyps verbänden behandelt, 
welche das Zustandekommen beträchtlicher Verkürzungen hinder¬ 
ten und den Fuss bis zur beginnenden Ankylose in der recht¬ 
winkligen Stellung erhielten, während alle jene unglücklichen Re¬ 
sultate des Deutsch-Französischen Krieges von einem Lazareth in 
das andere transportirt werden mussten und mit wenigen Aus¬ 
nahmen alle ohne immobilisirende Verbände behandelt wurden. 
Ich bin der Ansicht, dass man in kommenden Kriegen von der 
Fussgelenkresection lieber ganz Abstand nehmen und sie durch 
Amputation des Unterschenkels ersetzen soll, wenn nicht Mittel 
gefunden werden können, um ihr die Pflege zu sichern, welche sie 
verlangt; dass dieses Postulat aber manchmal nicht zu erfüllen 
ein wird, ergiebt sich sofort, wenn ich sage, dass der am 2. Sept. 
c 1870 Resecirte (S. 346 No. 2) bis zu seiner, Anfang October er¬ 
folgten Uebersiedelung nach Berlin in derselben ärztlichen Be¬ 
handlung verblieb, und dass bei den täglichen Verbänden eine 
barmherzige Schwester und 3 Aerzte thätig waren. 

Man könnte mir entgegnen, dass die mühevolle Pflege der 
Resecirten, wie ich sie verlange, eine vergebliche Arbeit bleiben 

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350 


B, v. Langenbeck, 


müsse, wenn die Behauptung Hannover’s, dass der Zustand der 
Resecirten sich mit den Jahren verschlechtere, begründet sei. 
Hannover wirft uns Preussischen Aerzten und besonders dem 
Generalarzt Dr. Löffler, welcher die Resectionsresultate aus dem 
Kriege 1864 veröffentlicht, vor, dass wir über unsere Resections¬ 
resultate vorschnell geurtheilt, und weist nach, dass der bei Re¬ 
vision der Invaliden von ihm constatirte Zustand der Gelenke und 
Glieder der von uns, bei Entlassung der Verwundeten aus unserer 
Behandlung gegebenen Schilderung niemals entsprochen habe. 

- Er sagt (a. a. 0. S. 110): „Das wahre Resultat der Resec- 
tion zeigt sich selten gleich, sondern in der Regel erst nach meh¬ 
reren Jahren, und es liegen in dieser Beziehung offenbare Täu¬ 
schungen der Preussischen Aerzte vor. Es hat sich niemals im 
Laufe der Zeit irgend eine Besserung gezeigt, sondern der Zu¬ 
stand hat sich entweder unverändert erhalten oder hat sich in 
einem so hohen Grade verschlechtert, dass der resecirte Arm dem 
Invaliden eine Hinderung und eine Last geworden ist.“ 

Auch Billroth sagt in Bezug auf das Endresultat seiner 
Ellenbogengelenkresectionen aus der Civilpraxis (Aus den Kriegs- 
lazarethen. Endresultate der Gelenkresectionen. Berlin 1872 
S. 319): „die Laxität der Gelenke 2—3 Jahre nach der Resec- 
tion ist viel grösser, als man erwarten sollte, wenn man diese 
Patienten 6—8 Monate nach der Resection entlässt, in welcher 
Zeit das Resultat der Operation am günstigsten zu sein pflegt.“ 
Ich habe einmal dieselbe Erfahrung gemacht bei einem 11jährigen, 
sehr kümmerlich entwickelten Knaben, welchem ich wegen Caries 
das rechte Ellenbogengelenk resecirt hatte. Obwohl der Knabe 
schon sehr bald nach der, fast ganz per primam intentionem er¬ 
folgten Heilung der Operationswunde entlassen werden musste, so hatte 
ich doch ein sehr gutes Resultat erwartet. Genau ein Jahr nach 
der Operation zeigte er sich in der Klinik wieder mit einem voll¬ 
ständigen Schlottergelenk. Während Hand und Vorderarm voll¬ 
kommen kräftig und brauchbar (Pat schrieb sehr gut) geworden 
waren, hatte sich in dem resecirten Gelenk keine Spur von Gin- 
glymus entwickelt, und die Bänder waren so lax geworden, dass 
bei der activ vollkommen ausführbaren Beugung und Streckung 
des Vorderarms die resecirten Knochenenden seitlich auswichen, 
und die Bewegung schwankend wurde. Aehnliche Erfahrungen 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


351 


habe ich bei den wegen Schussverletzungen von mir Resecirten 
niemals gemacht, wohl aber Schlottergelenke bei fleissigem Ge¬ 
brauche der Extremität, auch ohne alle ärztliche Behandlung, all- 
mälig sich consolidiren und mit der Zeit vollkommen brauchbar 
werden gesehen. Ich werde weiter unten derartige Fälle mittheilen 
und die photographische Abbildung eines 1864 im Ellenbogenge¬ 
lenk primär von mir Resecirten geben, bei welchem nach Resec- 
tion aller 3 Knochen in der Länge von 13 Ctm. eines der schlimm¬ 
sten Schlottergelenke entstand, welches ich jemals gesehen habe, 
und der jetzt ('April 1873) sich eines activ vollkommen beweg¬ 
lichen Gelenkes und sehr kräftigen Armes erfreut, obwohl er seit 
dem Winter an Erscheinungen der Lungentuberculose erkrankt 
ist und sich deshalb im Königin-Augusta-Spital in ärztlicher Be¬ 
handlung befindet (vergl. Taf. VIII. Thiele). 

Da ich nunmehr über Erfahrungen gebiete, welche 25 Jahre 
alt sind, so kann ich mit der grössten Bestimmtheit behaupten, 
dass die von Hannover angenommene, erst längere Zeit nach 
der Resection eintretende und allmälig zunehmende Unbrauchbar¬ 
keit des Gelenks und der ganzen Extremität überall nicht vor¬ 
kommt, es sei denn, dass der Patient, sei es aus Indolenz oder 
Leichtsinn, oder aus anderen Gründen die Extremität ganz ausser 
Gebrauch gestellt hatte. Hannover hat es ganz übersehen, dass, 
wie uns die tägliche Erfahrung zeigt, jede länger dauernde voll¬ 
ständige Quiescirung einer Extremität nicht nur eine Rigidität und 
Empfindlichkeit der verletzt gewesenen, sondern auch aller übrigen 
Gelenke derselben Extremität in höherem oder geringerem Grade 
zur Folge hat. Jeder Chirurg hat es erfahren, dass nach einer 
vollkommen kunstgerecht behandelten und glücklich geheilten Frac- 
tur im Ellenbogengelenk nicht nur die active Beweglichkeit dieses 
Gelenks anfangs nahezu ganz aufgehoben ist und Monatelang man¬ 
gelhaft bleiben kann, sondern dass auch das Hand- und die Finger¬ 
gelenke und sogar das Schultergelenk anfangs steif und unbrauch¬ 
bar erscheint. Wir heilen solche Zustände durch täglich wieder¬ 
holte passive Bewegungen und, indem wir den Patienten zu activen 
Bewegungen veranlassen, durch Anwendung der Electricität, Ther¬ 
malbäder etc.; was würde aber daraus geworden sein, wenn der 
Arm, nach geheilter Fractur, wie es bei den von Hannover re- 
vidirten Invaliden der Fall war, 4 Jahre lang in einer Tragkapsel 

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352 


B. v. Langenbeck, 


in vollkommen unbeweglicher Stellung geblieben wäre? Wir wür¬ 
den ohne Zweifel ein ähnliches Bild vor uns haben, wie es die 
von Hannover revidirten und auf S. 127—134 geschilderten 
Ellenbogengelenkresectionen boten, nachdem der Arm 4 Jahre lang 
in einer Armbinde oder Tragkapsel getragen oder durch einen 
Riemen an den Thorax festgeschnallt geblieben war. Die Schil¬ 
derung dieser Fälle ist ziemlich gleichlautend: Bedeutende Ab¬ 
magerung der ganzen Extremität, Kälte der Hand, Steifheit der 
Finger- und anderen Gelenke, vollkommen unbrauchbare Extremi¬ 
tät, die nur zur grossen Last ist, die der Besitzer amputirt sehen 
möchte, zu deren Entfernung aber schliesslich sich keiner bereit 
findet. Da alle diese Invaliden, wie es scheint, in Gopenhagen 
versammelt waren, so müssen wir uns wundern, dass Keiner der¬ 
selben Gegenstand einer Nachbehandlung gewesen zu sein scheint, 
welche selbst noch nach Jahren die Brauchbarkeit der Extremität 
herzustellen vermag. Das hatten wir allerdings vorausgesetzt, als 
wir unsere Dänischen Resecirten im Herbst 1864 aus unserer Be¬ 
handlung entliessen, und sowohl Löffler, (Generalbericht über 
den Gesundheitsdienst im Feldzuge gegen Dänemark, I. Theil Ber¬ 
lin 1867) wie auch Ochwadt (Kriegschirurgische Erfahrungen etc. 
Berlin, 1864) haben dieser Voraussetzung Ausdruck gegeben, in¬ 
dem sie die Erwartung ausspracben, dass „bei entsprechender 
Uebung eine weitere Kräftigung und grössere Brauchbarkeit der 
Extremität zu erwarten sei.“ Leider befinden wir uns nicht in 
der günstigen Lage, alle unsere Resecirten um uns versammelt 
zu sehen, wie unsere Dänischen Collegen, und ich vermag dem¬ 
nach nicht anzugeben, nach wie vielen Jahren ein schlechtes Re- 
sectionsresultat durch entsprechende Behandlung noch gebessert 
werden kann; ich werde aber weiter unten Gelegenheit finden, zu 
zeigen, dass 2 Jahre nach der Resection es noch gelingt, die von 
Inactivitätsparalyse befallenen Muskeln durch Anwendung der 
Electricität überraschend schnell (z. B. in 5 Sitzungen) wieder zu 
beleben. 

Die Vorstellung Hannovers (S. 110), dass progressive 
Muskelatrophie nach der Gelenkresection auftrete und die mit den 
Jahren sich steigernde Gebrauchsunfähigkeit bedinge, ist eine irr- 
tbümliche. Ich habe niemals Derartiges beobachtet und behaupte, 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


353 


dass alle so aufgefassten Muskelzustände einfache Inactivitätspa- 
ralysen waren. 

Die von Hannover revidirten Invaliden motivirten ihre Klage, 
dass der erhaltene Arm ihnen zur grossen Last sei, und ein Am¬ 
putationsstumpf ihnen lieber sein würde, mit der Behauptung, 
dass die Hand kalt und gefühllos, die Extremität Sitz unerträg¬ 
licher Schmerzen sei — Erscheinungen, welche Hannover als 
durch die Resection veranlasste krankhafte Nervenzustände, Para¬ 
lyse und Neuralgie zu deuten geneigt ist. Ich brauche nicht erst 
daran zu erinnern, dass Kälte der Extremität, Taubsein und man¬ 
gelhaftes Tastgefühl in höherem oder geringerem Grade die con- 
stanten Begleiter der sogen. Inactivitätsparalyse sind und bei den 
verschiedenartigsten Leiden beobachtet werden. Es versteht sich 
auch von selbst, dass Lähmungen und Neuralgien an resecirten Extre¬ 
mitäten Vorkommen, wenn das Geschoss neben dem Gelenk zu¬ 
gleich einen Nerven (Plexus brachialis, Nerv, ulnaris) verletzt 
(zerrissen oder gequetscht) hatte, oder wenn bei der Resection 
ein Nerv (N. ulnaris, radialis) durchschnitten war; dass aber die 
Herausnahme von Gelenktheilen oder eines Gelenks an sich solche 
Nervenzustände im Gefolge haben sollte, muss ich auf das Ent¬ 
schiedenste in Abrede stellen. Allerdings kommen nach Schuss¬ 
verletzungen, und zwar am häufigsten nach sehr unbedeutenden 
einfachen Fleischschüssen, sehr wunderbare Neurosen vor, die bald 
in der Form von Neuralgien in der verwundeten Extremität, bald 
als langsam vorschreitende Abmagerung aller Muskeln derselben, 
bald als reflectorische krankhafte Erregung des Cerebrospinal¬ 
systems auftreten; nach Gelenkresectionen aber habe ich derar¬ 
tige Zustände niemals beobachtet, und ich vermuthe, dass Han¬ 
nover von seinen Invaliden einfach getäuscht worden ist. 

Es ist von Billroth (a. a. 0. S. 306) die Frage aufgewor¬ 
fen worden, ob die Differenz der Urtheile über den Werth der 
Gelenkresectionen etwa in der Wahl der Methode oder in der Aus¬ 
wahl der Fälle begründet sei? 

Was die Auswahl der Fälle anbetrifft, so glaube ich nicht zu 
irren, wenn ich behaupte, dass die primären Gelenkresectionen 
meistens bei den Schussfracturen gemacht worden sind, welche so¬ 
fort als schwere erkannt wurden, die secundären dagegen in den 
Anfangs für zweifelhaft oder weniger bedeutend gehaltenen Fällen, 

?, Laagenbtok, Archiv f. Chirurgie XVI. 

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354 


B. v. Langenbeck, 


sobald die Heftigkeit der Entzündong und Eiterung dazu nöthigte. 
Nach diesen Indicationen bin ich in der Regel verfahren, und ich 
glaube auch, dass in dem letzten Kriege die meisten Feldärzte 
dieser Richtschnur gefolgt sind. Man kann also wohl nicht an¬ 
nehmen, dass von einigen Chirurgen nur die günstigeren Fälle, d. h. 
die weniger schweren für die Resection ausgewählt, die ganz 
schweren dagegen amputirt worden seien, während andere nur bei 
schweren Verletzungen resecirt hätten. 

Die Wahl der Methode scheint mir in der That weniger ent¬ 
scheidend für den späteren Erfolg, als die schonende Ausführung 
der Operation. Ich habe es zum öfteren gesehen, und Stromeyer 
rügt dieses mit vollem Recht, dass Chirurgen, in der Absicht sub¬ 
periostal zu reseciren, sich für verpflichtet halten, bei Resectionen 
des Schulter- oder Ellenbogengelenks das Elevatorium nicht aus 
der Hand zu lassen, und damit Zerreissungen und Quetschungen 
zu Wege bringen, welche den Verlauf ungünstiger gestalten müs¬ 
sen. Es kann für den Anfänger im Operiren nicht stark genug 
betont werden, dass es subperiostale Gelenkresectionen im eigent¬ 
lichen Sinne überall nicht giebt, weil diq Gelenkenden ja von 
Beinhaut nicht bedeckt sind. Ich verstehe unter subperiostaler 
Gelenkresection nichts Anderes, als die vollständige Erhal¬ 
tung aller in der Näh e des Gelenks sich festsetzenden 
Sehnen und Muskeln in Verbindung mit dem Periost 
der Di’aphyse, und in diesem Sinne lege ich das grösste Ge¬ 
wicht auf die subperiostalen Gelenkresectionen. Es gewährt diese 
Methode zunächst den eminenten Vortheil, dass nicht sofort nach 
vollendeter Resection ein Schlottergelenk vorhanden ist, d. h. dass 
die resecirten Knochenenden nicht den Gesetzen der Schwere oder 
dem einseitigen Muskelzug folgen und von einander abweichen, 
sondern in der entsprechenden Lage zu einander erhalten werden. 
Durchschneidet man z. B. bei Resection des Oberarmkopfs mit 
der Gelenkkapsel alle an die Tubercula sich festsetzenden Muskeln, 
so folgt die Humernsdiaphyse dem Zug des M. pectoralis major 
und rückt nach einwärts unter den Processus coracoides. Die 
Möglichkeit der Wiederherstellung eines Gelenks mit an einander 
sich bewegenden Gelenkflächen ist damit aufgehoben. Man täuscht 
sich nun sehr, wenn man glaubt, bei primären uud intermediären 
Schulterresectionen die Ansätze des M. supra-infraspinatus und 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


355 


teres, sowie des Subscapularis mit dem Elevatorium abreissen 
zu können. Die sehnigen Muskelansätze senken sich überall zwi¬ 
schen die Enochenfasern in den Knochen ein und können daher 
nur mit dem Messer abgetrennt werden. Erst wenn die Ablösung 
der Muskelansätze bis dahin vorgeschritten ist, wo das Collum 
chirurgicum mit Beinhaut bedeckt zu werden anfängt, erst dann 
kann man zum Elevatorium greifen, um den Zusammenhang beider 
zu erhalten. Auf die rechtzeitige Vertauschung des Messers mit 
dem Elevatorium und umgekehrt kommt bei diesen Operationen 
alles an. Am Fussgelenk verstehe ich unter subperiostaler Re- 
section die Ablösung des Faserlagers der Tibia- und Fibula-Epi¬ 
physe mit den Bandmassen, welche sich an die Knochenenden 
festsetzen, mit dem Periost und der Membrana interossea, so¬ 
bald in grösserer Ausdehnung resecirt werden muss. Bei der 
Schulter- und Fussgelenkresection hängt die Wiederherstellung 
einer vollkommen brauchbaren Extremität zum grossen Theil von 
dem stricten Einhalten dieses Verfahrens ab, weniger bei den an¬ 
deren Gelenkresectionen, wie ich weiter unten zeigen werde. 

Man wurde übrigens irren, wenn man glauben wollte, dass 
nach einer subperiostalen Resection das neue Gelenk sich von 
selbst formen müsse, und dass eine sorgsame gymnastische Nach¬ 
behandlung überflüssig sei. Diese muss auch hier den Erfolg si¬ 
chern. Nicht weniger würde man sich getäuscht finden, wenn man 
glauben wollte, dass nach subperiostalen Resectionen Schlotterge¬ 
lenke überall nicht Vorkommen könnten, oder dass diese Methode 
die Eutstehung der Ankylose wesentlich fördern müsse. Das letz¬ 
tere möchte ich nur vom Fussgelenk behaupten. Bei den anderen 
Gelenken scheint die subperiostale Resection eher das Zustande¬ 
kommen der Ankylose zu verhindern, weil die ebenfalls vollstän¬ 
dig erhaltene Synovialkapsel und die schon bald nach Heilung der 
Wunde wieder auftretende synoviale Absonderung dem Verwachsen 
dor Knochenenden mit einander entgegen zu wirken scheint. Der 
Einfluss des Periosts auf das Zustandekommen der Ankylose ist 
jedenfalls ein sehr untergeordneter, und ich möchte glauben, dass 
eine entzündliche Reizung der reseciiten Knocbenenden mit plasti¬ 
scher Wucherung von Knochensubstanz die Hauptrolle dabei spielt. 

Es liegt nicht im Entferntesten in meiner Absicht, die Inva¬ 
lidenberichte, und namentlich die von Hannover gegebenen, einer 

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356 


B. v. Laagenbeck, 


Kritik zu unterwerfeu, um so weniger, als dieses durch Löffler 
(Archiv für klinische Chirurgie Bd. XII. Berlin 1871. S. 305) 
bereits geschehen ist. Ich kann es jedoch nicht vermeiden, im 
Laufe dieser Arbeit auf die von Hannover aufgestellten Thesen 
wiederholt zurückzukommen, weil sie zum Theil Anknüpfungs¬ 
punkte für meine Erörterungen abgeben. 

Was nun Hannover sich gedacht hat, wenn er (S. 110) 
schreibt: „Der Grund der Verschlimmerung (in dem Zustande des 
Gelenks) liegt sicherlich theils in der beständig fortschreitenden 
Muskelatrophie, theils in der übermässigen Knochenneubildung 
einerseits oder der mangelhaften Ankylose andererseits; sehr viel 
beruht wahrscheinlich auch auf der angewendeten Methode, der 
Erhaltung der Beinhaut und der Muskelinsertionen“ u. s. w., ist 
mir vollständig unverständlich. Abgesehen davon, dass in dem 
Kriege von 1864 wohl viele Resectionen gemacht worden sind, 
welche den Namen der subperiostalen nicht verdienten, ist es mir 
unklar geblieben, ob Hannover meint, dass die Erhaltung der 
Beinhaut und der Muskelinsertionen die Entstehung der Ankylose 
begünstige oder verhindere, oder ob er glaubt, dass die von ihm 
angenommene „beständig fortschreitende Muskelatrophie“ auf jene 
Methode zurückgeführt werden müsse. Von einem im Fache der 
pathologischen Anatomie so ausgezeichneten Forscher wie Han¬ 
nover hätte ich den Verdacht, dass eine sorgfältige Erhaltung 
des Periostes und der das Gelenk umgebenden Weichtheile den 
Anlass zur Entstehung von Schlottergelenken und von Muskel¬ 
atrophie geben könne, am wenigsten erwartet. Die pathologische 
Anatomie liefert ja den Beweis, dass die Regeneration der Ge¬ 
lenke möglich ist, und dass vollkommen bewegliche Gelenke am 
Unrechten Ort gebildet werden können. Die Erfahrungen, dass 
nach spontaner nekrotischer Exfoliation der Gelenkenden neue, 
activ vollkommen bewegliche Gelenke wieder gebildet werden 
können, sind bereits sehr alt. Unter den hierher gehörenden 
Fällen müssen wir zunächst den berühmten Fall von Charles 
White in Manchester erwähnen, welcher bekanntlich den ersten 
Anstoss zu den Gelenkresectionen gegeben hat. White entfernte 
im Jahre 1768 den in Folge acuter Osteomyelitis nekrotisch ab¬ 
gelösten Oberarmkopf bei einem vierzehnjährigen Knaben. Nach 
der Resection exfoliirte sich noch ein Stück der Diaphyse, so dass 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


357 


das obere Ende des Humerus in der Länge von 5 Zoll verloren 
gegangen war. Der Knochenersatz war in diesem Fall ein so 
vollkommener, dass der operirte Arm nur 1 Zoll kürzer blieb als 
der gesunde, und der Knabe ihn nicht allein in die Höhe heben, 
sondern auch rotiren konnte. White konnte demnach mit vollem 
Recht sagen: „I think, I may safely say, the head, neck and part 
of the body of the os humeri are actually regenerated.“ (Char¬ 
les White, Cases in surgery; Holländische Uebersetzung: Heel- 
kundige gefallen door Charles White, Amsterdam 1773. 8. 

p. 60. Philosophical Transactions. Vol. 59. for the year 1769. 
London 1770, p. 39: An acount of a case in which the upper 
head of the os humeri was sawed off, a large portion of the 
booe afterwards exfoliated, and yet the entire motion of the limb 
was preserved, by Mr. White, communitated by Mr. Watson). 

Chaussier (Magasin encyclopedique. An V. T. VI. No. 
24; abgedruckt in Hufeland, Schreger und Harless Journ. 
d. ausländ, med. Literatur 1. Bd. S. 251) beobachtete bei einem 
jungen Manne die spontane Ausstossung des Oberarmkopfes. Es 
bildete sich ein neues Gelenk, indem aus der Scapula ein con¬ 
vexer Gelenkkopf hervorgewachsen war, im oberen Ende des Hu¬ 
merus dagegen eine Cavitas glenoidea sich gebildet hatte. In 
diesem neuen Gelenk hatten alle Bewegungen vollkommen frei 
stattgefunden. 

Die Sammlung des Königl. Klinikums besitzt ein, dem von 
Charles White abgebildeten sehr ähnliches Präparat, nämlich 
das 10 Centimeter lange obere Ende des rechten Humerus eines 
14jäbrigen Knaben, welches in Folge acuter Osteomyelitis und 
Gelenkeiterung nekrotisch geworden und spontan ausgestossen war. 
Der rechte Arm des jungen Mannes, den ich 10 Jahre später, 
im Jahre 1860, im hiesigen katholischen Krankenbause zu unter¬ 
suchen Gelegenheit hatte, war etwa 3 Centimeter kürzer, im 
Schultergelenk aber activ vollkommen beweglich und eben so 
brauchbar wie der linke Arm. 

An die Wiedererzeugung des Schultergelenks nach spontaner 
Ausstossung der abgelösten Epiphyse schliessen sich die Fälle an, 
in welchen der mit einem Stück der Diaphyse spontan abgelöste 
Oberarmkopf in einer neugebildeten Knochenlade eingeschlossen ge¬ 
funden wurde. Ein solcher Fall ist von Bromfield (Chirurg. 


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358 


B. v. Langenbeck, 


Wahrnehmungen. A. d. Engl. Leipzig 1774. 8. Tab. IV. Fig. 5., 6), 
leider ohne Notizen über den Krankheitsverlauf, abgebildet worden. 
Der nekrotische Oberarmkopf mit einem Stück Diaphyse, in der Form 
ganz unverändert, steckt in einer dicken Knochenlade vollständig ein¬ 
geschlossen. Diese Knocbenlade endigt am anatomischen Halse, und 
man kann sich leicht vorstellen, dass, bei rechtzeitiger Extraction 
des Sequesters die Callusproduction im Gelenk einen ausreichenden 
Gelenkkopf hergestellt haben würde. Ein noch höheres Interesse 
bietet ein von Sy me (Principles of Surgery. Ed. 4. London 1856. 
p. 230) ebenfalls sehr unvollständig mitgetheilter Fall. In der 
Todtenlade des oberen Humerusendes lagen Stücke des Gelenk¬ 
kopfes eingeschlossen. Wenn die Möglichkeit der Wicdererzeügung 
eines Gelenkkopfes nach Epiphysenabtrennung also unzweifelhaft 
ist, so entsteht nur noch die Frage, von wo aus die Knochen¬ 
neubildung erfolge. 

Es ist mir nicht unwahrscheinlich, dass bei acuter Knochen¬ 
entzündung mit Epipbysenabtrennung das durch die Eiterung ab- 
geiöste Periost der Diaphyse eine Wucherung eingeht, welche über 
die abgestorbene Epiphyse binauswächst und die sie einschliessende 
Todtenlade bildet, oder, wenn der Sequester spontan ausgestossen 
oder rechtzeitig extrahirt worden, das Material für den neuen 
Gelenkkopf abgiebt. 

Dieser Regenerationsmodus wird wahrscheinlich durch die 
Art der Knochenneubildung bei Phosphornekrose des Unterkiefers. 
Die pathologische Sammlung des Klinikums besitzt einen wegen 
Phosphornekrose von mir entfernten Unterkiefer, welcher in einer 
vollständigen Knochenlade eingeschlossen ist. Diese Knochenlade 
umgiebt nicht allein den ganzen horizontalen und aufsteigenden 
Ast des Unterkiefers, sondern umschliesst auch in gleicher Weise 
den Gelenkkopf desselben in Gestalt einer die unveränderte alte 
Gelenkfläche überziehenden abhebbaren glatten Knochenkapsel, 
welche einen vollkommenen Abguss des alten Gelenkkopfes bildet 
und mit glatter Knochenfläcbe der Gelenkgrabe des Schläfenbeins 
anliegt. Denkt man sich den ursprünglichen Unterkiefer aus dieser 
Knochenlade herausgenommen, so würde ein in seinen Formen 
gleicher Unterkiefer mit neugebildetem Gelenkkopf zurückgeblieben 
sein. In später von mir operirten Fällen habe ich denn auch diese 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


359 


Knochenlade in Verbindong mit dem Periost abgehoben und zurück¬ 
gelassen, wie Bill rot h es zuerst vorgeschlagen hat. 

Da die Beinhaut am Halse des Unterkiefers aufhört, seine 
Gelenkfläche aber von Faserknorpel überzogen ist, so ist es denk¬ 
bar, dass das während der ganzen Dauer der Krankheit stark 
angeschwollene Periost über die Gelenkfläche hinaus wuchert und 
zu einem neuen Gelenkkopf verknöchert. 

Dass Gelenkkapsel und Muskelansätze nebst dem Periost zur 
Regeneration des Gelenkes nothwendig sind, zeigen auch die Ver¬ 
suche an Tbieren. 

Nachdem von Charles White zu den Gelenkresectionen 
beim Menschen der erste Anstoss gegeben war, wurden gegen 
Ende des achtzehnten Jahrhunderts die ersten Versuche an Tbieren 
in Frankreich gemacht. Diese von Chaussier (a. a. 0.) und 
Vermandois (Journal de M6d., Chirurgie et Pharmacie. Janvier— 
Mars 1786. T. 66.) an Hunden angestellten Versuche blieben 
jedoch ohne Erfolg, weil Periost und Gelenkkapsel dabei nicht ge¬ 
schont wurden, ja sie führten mit den um dieselbe Zeit von 
Moreau an Kranken verrichteten Gelenkresectionen zu der in 
Frankreich noch jetzt allgemein herrschenden Ansicht, dass be¬ 
wegliche Gelenke durch Resection überhaupt nicht erzielt werden 
könnten, und dass der günstigste Erfolg die Ankylose sei. 

Subperiostale Gelenkresectionen sind ohne allen Zweifel zu- , 
erst in den dreissiger Jahren dieses Jahrhunderts von dem ver¬ 
ewigten Bernhard Heine in Würzburg (B. Heine in v. Gräfe < 
und Walther’s Journal d. Chirurgie Bd. 24, Heft 4; Comptes 1 
rendus 183t; Chirurgische Bilder zur Instrumenten- und Opera¬ 
tionslehre von Feigel, vollendet von Textor, Würzburg 1851) 
an Hunden gemacht worden. Die grosse Anzahl werthvoller Prä¬ 
parate, wie sie nur durch unermüdlichen Fleiss hergestellt werden 
konnte, befindet sich in der anatomischen Sammlung zu Würzburg, 
ist aber viel zu wenig gekannt und studirt worden. Diese Prä¬ 
parate beweisen, dass nach subperiostaler Resection jedes Gelenk 
des Hundeskelets, sowohl in seiner Form wie in seiner Function 
sehr vollkommen wiedererzeugt werden kann. 

Die Versuche von Heine lieferten das für die Resectionen 
beim Menschen wichtige Ergebniss, dass die Regeneration am voll¬ 
kommensten wird, wenn nur einer der das Gelenk ausmachenden 
Knochentheile entfernt worden ist. Die Entfernung des ganzen 


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360 


B. v. Langenbeck, 


Os humeri, unter sorgfältiger Schonung der Beinhaut und der Ge¬ 
lenkkapsel (Präparat No. 203 der Würzburger Sammlung) bei 
einem Hunde ergab, dass nach 8£ Monaten ein neuer Oberarm¬ 
knochen wiedererzeugt war. Der bedeutend kürzere, neue Knochen 
enthält einen in seinen Formen vollständig entwickelten, aber 
kleineren Gelenkkopf, welcher mit der Gelenkfläche der Scapula 
beweglich articulirt. In ähnlicher Weise ist, nach subperiostaler 
Resection des oberen Endes des Femnr eines Hundes (Präp. No. 

' 256) 5 Monate und 9 Tage später ein neuer Trochanter und Ober¬ 
schenkelkopf, beide zwar kleiner, in ihren Form Verhältnissen aber 
den ursprünglichen Knochentheilen sehr ähnlich, und letzterer in 
der Pfanne articulirend wieder erzeugt worden. Die operirten 
Hunde hatten den Gebrauch des Beins sehr vollständig wieder er¬ 
langt, bevor sie getödtet wurden. Die von Heine gemachto Ge¬ 
genprobe zeigte, dass wenn ein Gelenkende sammt den umgebenden 
Weichtheilen (Gelenkkapsel, Periost und Bandapparat) entfernt 
wurde, jede Spur von Regeneration des Gelenks ausgeblieben, und 
nur ein Schlottergelenk entstanden war. 

Der Werth der Heine’sehen Versuche ist von den Chirurgen 
nicht genug gewürdigt worden, weil die von Heine gegebene 
Schilderung derselben mangelhaft ist, und die von Feigel gelie¬ 
ferten Abbildungen vieles zu wünschen übrig lassen. Die Demon¬ 
stration dieser Präparate, welche Heine in der Pariser Academie 
gab (Comptes rendus 1834), veranlassten die bekannten Versuche 
von Flourens (Theorie experimentale de la formation des os. 
Paris 1847. 8.), in welchen jedoch die Regeneration der Gelenke 
kaum eine Berücksichtigung erfahren hat. Auch die Arbeiten von 
01 Her, dem das grosse Verdienst gebührt, die osteogene Eigen¬ 
schaft des Periostes ausser Zweifel gestellt zu haben (Ldopold 
Olli er, Gazette hebdomadaire 1858,#Des moyens chirurgicaux 
de favoriser la röproduction des os aprds les rdsections articulaires; 
und: Recherches expdriment. sur la production artificielle des os 
au moyen de la transplantation du pdrioste, Journ. de Physiologie 
T. II. No. 5. Janvier 1859), haben die Heine’schen Versuche 
nur bestätigt, unsere Kenntnisse über die Regeneration der Gelenke 
aber nicht viel weiter gefördert. 

Meine subperiostalen Resectionen, zu denen ich durch die 
Präparate, welche ich 1840 bei Heine in Würzburg gesehen hatte, 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 361 

die erste Anregung erhielt, datiren vom Jahre 1842. Damals 
habe ich bereits ganze (nicht nekrotische) Knochen subperiostal 
exstirpirt und Knocbentheile mit Erhaltung des Periosts entfernt. 
Im Jahre 1844 exstirpirte ich das in Folge einer Verletzung hyper¬ 
trophste Os metacarpi pollicis der rechten Hand mit nachfolgen¬ 
der vollständiger Regeneration des Knochens. Der neue Knochen 
articulirte vollkommen beweglich mit Os multangulum maj. und 
mit der ersten Phalanx des Daumens, und die Brauchbarkeit des 
Fingers war ganz wiederhergestellt (Amtlicher Bericht über die 
24. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Kiel 
im September 184G. Kiel 1847. 4. S. 167.). 1845 habe ich 

Fingergelenke subperiostal, d. b. mit Erhaltung aller, das Gelenk 
umgebenden Weichtheile resecirt und in einem Fall ein activ 
vollkommen bewegliches Gelenk zwischen 1. und 2. Phalanx des 
Mittelfingers wieder hergestellt. Die ersten Versuche, auch die 
grösseren Gelenke subperiostal zu reseciren, d. h. die Gelenk¬ 
kapsel mit allen an die Gelenkenden sich festsetzenden Sehnen 
und Muskeln in Verbindung mit dem Periost der Diaphyse zu 
erhalten, habe ich im Jahre 1859 gemacht. Der junge Mann, 
welchem ich im Juni 1859 den rechten Oberarmkopf wegen Caries 
resecirte, und bei dem ich den die Ansätze der Mm. supraspina- 
tus, infraspinatus und teres minor umfassenden Theil der Gelenk¬ 
kapsel in Verbindung mit dem Periost der Diaphyse vollständig 
erhielt, während die Erhaltung des Ansatzes des M. subscapularis 
nicht vollkommen gelang, starb zwei Jahre später im Katholischen 
Krankenhause hierselbst an Lungentuberkulose. Durch Güte der 
Aerzte des Krankenhauses erhielt ich das Präparat, welches von 
Lücke untersucht und beschrieben ist (A. Lücke, Beiträge zur 
Lehre von den Resectionen, Archiv für klinische Chirurgie 3 Bd. 
Berlin 1862. S. 348. No. 112. G. 379. Beob. 8. Abbild. Taf. II. 
Fig. 2.). Es fand sich am oberen Ende des resecirten Humerus 
ein kleiner mit hyalinem Knorpel überzogener, mit der Fossa 
glenoidalis scapulae articulirender und von einer Synovialkapsel 
umschlossener Oberarm köpf wieder gebildet vor. Lücke glaubt, 
dass in diesem Fall die Ansätze der Muskeln an die Tu¬ 
bercula von mir noch durchschnitten worden seien; da ich aber 
die wenige Stunden nach der Operation niedergeschriebenen Notizen 
noch besitze, so kann ich versichern, dass ich in diesem Falle 




362 


B. v. Langenbeck 


den ersten Versuch gemacht habe, das Schnltergelenk snbperiostal 
zn reseciren. 

Jedenfalls repräsentirt dieses in der Sammlung des königl. 
Klinikums aufbewahrte Präparat den ersten Fall einer vollstän¬ 
digen Regeneration des Schultergelenks nach Resection des Ober¬ 
armkopfes beim Menschen. Ist aber die Möglichkeit dieser Re¬ 
generation nachgewiesen, so ist auch die Annahme zulässig, dass 
in Fällen, wo die Function des Gelenkes mit glatten »Bewegungen 
vollständig wieder hergestellt ist, wie bei den in No. 16, 17, 18 
geschilderten Resecirten, die Regeneration des Gelenkes stattge¬ 
funden haben müsse. 

Die Veröffentlichungen von nach Resection neugebildeten wirk¬ 
lichen Gelenken haben sich in neuester Zeit in erfreulicher Weise 
gemehrt, und es steht zu erwarten, dass diese Frage in nicht zu 
ferner Zeit zur Entscheidung gelangen werde. 

Es ist wahrscheinlich, dass die Regeneration der Gelenkenden 
nach subperiostalen Resectionen in ähnlicher Weise erfolgt, wie 
nach der S. 358 besprochenen spontanen Exfoliation der Epi¬ 
physen, indem theils von der Markhöhle des resecirten Knochens, 
theils von dem abgelösten Periost die Neubildung zu Stande kommt. 
Auch A. Wagner (Ueber den Heilungsprocess nach Resection der 
Knochen. Berlin 1853. 8. S.57—78) hat die Analogie der Regenera¬ 
tion der Gelenk köpfe mit dem Heilungsprocess der Knochenbrüche 
hervorgehoben und Verschluss der Markhöhle durch Callus und 
Callusauflagerung unter dem Periost an dem resecirten Diaphysen- 
ende beobachtet. Dass übrigens nach subperiostalen Resectionen 
beim Menschen die Knochenbildung nicht immer in derselben Ex¬ 
tensität erfolgt, ja zu Zeiten ganz ausbleiben kann, werde ich 
weiter unten (Ellenbogengelenk) zeigen. 

Offenbar sind auf die mehr oder minder vollständige Regene¬ 
ration der Gelenke sehr verschiedene Umstände von Einfluss. Ab¬ 
gesehen von dem, bei verschiedenen Individuen sehr verschiedenen 
Regenerationsvermögen, ist es zunächst die Art der Erkrankung 
oder der Verletzung, welche in Betracht kommt. Zerschmetterung 
der Gelenkenden in zahllose kleine Fragmente, natürlich mit aus¬ 
gedehnten Zerreissungen der Gelenkkapsel, der Muskelansätze 
und des Periosts, dürfen nach meinen Erfahrungen als ungünstige 
Umstände angesehen werden, unter denen eine ausgiebige Rege- 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


363 


neration mit Sicherheit nicht erwartet werden kann. Die secun- 
dären und Spätresectionen haben mir günstigere Resultate gegeben 
als die primären, and man könnte glaaben, dass die znm öfteren 
ausgesprochene Ansicht, das Periost müsse, in ähnlicher Weise 
wie bei der Nekrose, durch den Entzündungsprocess erst verdickt 
werden, um neuen Knochen zu liefern, ihre Berechtigung habe. Ich 
kann diese Ansicht nicht für richtig halten. Die subperiostalen 
Resectionen an Thieren haben ja den unwiderleglichen Beweis ge¬ 
liefert, dass auch das gesunde Periost zur Knochenbildung fähig 
ist, und ich habe nach primärer Resection des Fass- und Ellen- 
bogengelenks nach Verletzungen beim Menschen sehr reiche Knochen¬ 
bildung beobachtet. Ich glaube vielmehr den Grund darin suchen zu 
müssen, dass primäre Resectionen meist durch die schwersten Zer¬ 
störungen der Gelenke veranlasst werden, während bei den leichteren 
Verletzungen, bei denen die Diagnose oft zweifelhaft ist, bis zur Eite¬ 
rungsperiode gewartet wird. Ferner ist eine primäre Resection weit 
schwieriger und, weil die Gewebe durch den Entzündungsprocess 
nicht verdichtet und in ihrer Verbindung mit dem Knochen noch 
nicht gelockert sind, weit verletzender, so dass auch bei schonender 
Handhabung der Instrumente, Quetschungen und Zerreissungen 
des Periosts leichter Vorkommen. Es kann auch nicht auffallen, 
dass der Wandverlauf einen merklichen Einfluss auf den Regene- 
rationsprocess ausübt, und dass dieser nach langen erschöpfenden 
Eiterungen sich mangelhaft gestalten kann. 

Ich muss es aber immer wiederholen, dass die schlechten 
Resultate zumeist in mangelhafter Nachbehandlung ihren Grund 
haben. Die entsprechende Configuration der neuen Gelenke ist, 
wie es schon a priori verrauthet werden konnte, von rechtzeitig 
angestellten passiven und activen Bewegungen wesentlich abhängig, 
und es darf die Herstellung eines Gelenkes auch nach subperi¬ 
ostalen Resectionen nicht erwartet werden, wenn das Glied nicht 
rechtzeitig in Thätigkeit gesetzt wird. Es ist bekannt, dass die 
Gelenke des Körpers verkümmern und ihre Beweglichkeit ein- 
büssen, wenn sie zu langer Ruhe verdammt werden: der Diarthro- 
dialknorpel schwindet, die Synovialkapsel schrumpft, die Abson¬ 
derung schleimiger Synovia hört auf, und es kann selbst Ver¬ 
wachsung der Gelenkflächen mit einander eintreten. Teissier 
(Gazette m6d. de Paris 1841. No. 39, 40) fand bei einem jungen 


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364 


B. v. Langenbeck, 


Manne, der wegen Bruch des Unterschenkels 22 Monate ruhig 
liegen musste und dann amputirt wurde, die‘Knochenflächen des 

\ Kniegelenks durch fibröse Adhäsionen miteinander verwachsen, 
die Knorpelschicht geschwunden, in der Gelenkkapsel ein röth- 
liches Serum an Stelle der Synovia. In demselben Zustande be¬ 
fand sich das Fussgelenk. Ganz ähnliche Veränderungen fand ich 
bei einem 19jährigen hydrocephalischen Idioten, welcher in Folge 
paralytischer Contracturen beider Hüft- und Kniegelenke vier Jahre 
lang das Bett gehütet hatte und im Jahre 1842 in meiner Klinik 
zu Kiel starb. Die Bursa praepatellaris beider Kniegelenke ist 
verschwunden, und ein laxes Bindegewebe ohne Höhlung und ohne 
eine Spur von Synovia an ihre Stelle getreten. Ebenso sind die 
Bandscheiben — Cartilagines falcatae — beider Kniegelenke in dünne 
Schichten laxen Bindegewebes umgewandelt. Die Gelenkkapsel 
enthielt wenige Tropfen röthlichen Serums. Der Knorpelüberzug 
der Gelenkflächen des Femur und der Tibia war stellenweise 
vollständig geschwunden. Der Qaadriceps femoris beider Extre¬ 
mitäten auffallend atrophisch und grösstentheils fettig entartet, 
ebenso die Wadenmuskeln, während die Beuger beider Unterschen¬ 
kel diese Veränderungen nicht zeigen. 

Aus diesen Vorgängen, welche in neuester Zeit durch ß. 
Volk mann (Berlin, klin. Wochenschrift 1870. No. 30, 31), A. 
Menzel (Archiv f. klinische Chirurgie Bd. XII. S. 990) und C. 
Reyher (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie III. Bd. S. 190) ge¬ 
nauer erforscht worden sind, ergiebt sich, dass der Bestand der 
Gelenke an Bewegung derselben gebunden ist, und dass sie, dau¬ 
ernd in Ruhe versetzt, der Inactivitätsatrophie anheimfallen. 

Andererseits sehen wir Gelenke, welche nach langer Ruhe 
ohne Zweifel derartige Veränderungen erlitten hatten, wieder be¬ 
weglich und functionsfähig werden durch Bewegung, ja es ent¬ 
stehen ganz neue Gelenke am Unrechten Ort, sobald Knochen 
krankhafter Weise mit einander in beweglichen Contact gerathen. 
Die Bildung neuer Gelenke am Unrechten Ort illustrirt zu augen¬ 
fällig, was wir nach Gelenkresectionen erreichen können und 
müssen, als dass ich sie hier übergehen könnte. 

Nach gewaltsamen Luxationen des Oberschenkelkopfs auf das 
Darmbein kann im Laufe der Jahre, dnrch die functionelle Rei¬ 
bung des Schenkelkopfs gegen diese Knochentheile die Bildung 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectioaen im Kriege. 


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einer Gelenkpfanne zu Stande kommen, welche den luxirten Kopf 
vollständig umfasst und, wenn auch durch die Stellung beschränkte, 
doch vollkommen glatte Bewegungen desselben vermittelt. Eine 
an ihrer Innenfläche glatte, nach Aussen mit den umliegenden 
Weichtheilen verwachsene Bindegewebskapsel umschliesst das neue 
Gelenk, und der Grund der neuen Pfanne zeigt eine mehr oder 
weniger glatte Knorpelfläche, welche glatte Bewegungen des 
ebenfalls mit Knorpelüberzug versehenen Gelenkkopfs zulässt. 
In einem Falle von Luxatio iliaca bei einer unbekannten Leiche 
fand ich die neue Gelenkpfanne an ihrer Innenfläche mit einem 
mehrere Linien dicken Knorpelüberzuge bedeckt, welcher sich nicht 
wie ganz reiner hyaliner Knorpel verhielt, sondern zwischen Netz¬ 
knorpel und Faserknorpel in der Mitte zu stehen schien. 

Die Bildung des neuen Acetabulum nach langjähriger Luxa¬ 
tion im Hüftgelenk ist in der Regel eine sehr vollständige; ja man 
findet die Tiefe desselben nicht selten grösser, so dass der Schen¬ 
kelkopf bis zu seinem Halse ganz eingeschlossen erscheint. Auch 
bei der Luxatio pubica kann es, wie ein im Besitze meines Freun¬ 
des Textor in Würzburg befindliches trockenes Präparat zeigt, 
zur Bildung einer, der normalen an Tiefe gleichen, knöchernen 
Gelenkpfanne kommen, in welcher verhältnissmässig freie Bewe¬ 
gungen stattgefunden haben müssen. 

Für unsere Betrachtung wichtig ist es, dass ein Gelenkkopf 
nothwendig zu sein scheint, wenn es zur Bildung einer Gelenk¬ 
pfanne am Unrechten Orte kommen soll. In der alten Hovius’- 
schen Sammlung zu Amsterdam befindet sich (No. 48—50) das 
Becken eines Mannes, der in Folge einer doppelseitigen spontanen 
Luxation der Schenkelköpfe von Jugend auf gehinkt haben soll. 
Der rechte-Oberschenkelkopf erscheint normal, ist, seiner glatten 
Rundung nach zu schliessen, nicht cariös gewesen und wahrschein¬ 
lich in Folge acuter Gelenkvereiterung luxirt worden. Ihm ent¬ 
spricht ein an seiner Basis fingerdickes, napfförmig gestaltetes, 
ziemlich tiefes neues Acetabulum auf der Aussenseite des Darm¬ 
beins. Der linke Schenkelkopf ist in Folge von Caries ganz zer¬ 
stört, und an dieser Seite hat sich kein neues Acetabulum gebil¬ 
det, sondern es findet sich nur eine dünne Knochenauflagerung 
auf der Aussenseite des Darmbeins. Die ursprüngliche Pfanne 
ist an beiden Seiten in der bekannten Weise verödet. In der von 

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B. t. Langenbeck, 


Scbroeder van der Kolk binterlassenen Sammlung sab ich za 
Utrecht ein nicht bezeicbnetes Becken mit Luxation des rechten 
Scbenkelkopfes auf das Darmbein. Ans der ganz normalen Be¬ 
schaffenheit des luxirten Schenkelkopfes and dem Aussehen der 
verödeten ursprünglichen Pfanne kann geschlossen werden, dass 
eine gewaltsame Luxation vorliegt; auch findet sich ein geheilter 
Bruch des Ramus ascendens ossis iscbii derselben Seite vor. Eine 
sehr starke und feste Gelenkkapsel umschliesst den luxirten Schen¬ 
kelkopf vollständig, dessen vollkommen glatte Gelenkfläche sich 
durch eine, in der neuen Gelenkkapsel angelegte Oeffnung über¬ 
sehen lässt. Die neue Pfanne besteht aus einer napfförmig ge¬ 
stalteten, sehr dicken Production von Knochencallus, welche an 
ihren Rändern allmälig dünner wird und in die fibröse Kapsel 
stellenweise übergreift. Der Kopf lässt sich vollkommen glatt 
und ausgiebig in der nenen Gelenkpfanne bewegen. 

Die Veränderungen, welche die Entstehung einer neuen knö¬ 
chernen Gelenkpfanne zur Folge haben, lassen sich an nicht repo- 
nirten Luxationen verschiedenen Alters sehr gut verfolgen. Der 
auf die Aussenfläche des Darmbeins luxirte Schenkelkopf veran¬ 
lasst durch Reibung gegen die Knochenfläche beim Gehen und 
durch Druck der auf ihm ruhenden Körperlast eine Verdickung 
und Wucherung des Periosts, welche zu einer mehr und mehr 
vom Knochen sich abhebenden, kammartig aufsteigenden Callus- 
bildung verknöchert. Periostwucherung und Callusbildung tritt 
natürlich an der Peripherie der Druckstelle am stärksten hervor 
und kann sich über den ganzen Schenkelkopf ausdehnen. Der 
Schenkelkopf gräbt sich gleichsam in diese neue Knochenbildung 
ein, oder vielmehr es wächst diese letztere über ihn hinweg. Da 
Synovialapparate und Knorpel überall gebildet werden, wo Kno¬ 
chenflächen sich an einander oder an Weichtheilen dauernd reiben, 
so kann das neue Gelenk allmälig bis zur Vollständigkeit ent¬ 
wickelt werden. 

Eine so vollständige Gelenkbildung, wie bei veralteten Luxa¬ 
tionen des Oberschenkels, scheint nach Luxationen des Oberarm¬ 
kopfes nicht zu Stande zu kommen, weil die Hauptbedingung, mög¬ 
lichst ausgiebige Bewegung des luxirten Kopfes an der entsprechenden 
Knochenfische, hier fehlt. Die grosse Beweglichkeit der Scapula 
macht es, dass die Bewegungen des luxirten Kopfes beschränkt 

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Ueber die Endresultate der Gelenkrescctionen im Kriege. 


367 


bleiben, und man findet daher das neue Gelenk, welches sich in 
den meisten Fällen an der inneren Fläche des Collum scapulae 
vorfindet, nur sehr unvollständig gebildet. 

Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass die Regenera¬ 
tion wahrer Gelenke nach Resectionen nur dann erwartet werden 
darf, wenn die resecirten Knochenenden unter mehr oder weniger 
vollständiger Knochenbildung mit einander in beweglichen Contact 
gebracht und durch Uebung oder Gebrauch des Gliedes in dem¬ 
selben erhalten werden. Da dieses nur möglich ist, wenn die über 
das Gelenk gehenden Muskeln in Verbindung mit der Gelenk¬ 
kapsel und dem Periost der Diaphyse erhalten werden, so liegt 
es auf der Hand, dass ein gutes Resultat nur durch subperiostale 
Resection erreicht werden kann. 

In allen Fällen, wo nach Gelenkresection die Knochenenden 
dauernd ansser Contact bleiben, findet man sie nur durch eine 
fibröse Zwischenmasse, nach Art der Pseudarthrose mit einander 
verbunden, und selbstverständlich ein Schlottergelenk hergestellt, 
welches im ungünstigsten Fall über die Eigenschaft eines, wie 
Löffler es passend genannt hat, passiven Schlottergelenks nicht 
hinausreicht. Ein solches Gelenk kann jedoch mit der Zeit erheb¬ 
lich gebessert und in ein activ bewegliches Gelenk umgestaltet 
werden, wenn die Muskeln mit der Diaphyse in Verbindung er¬ 
halten, durch electrische Behandlung wieder belebt und durch Ue- 
bungen gestärkt werden. Es ist unzweifelhaft, dass eine solche 
Verbesserung der Gelenke noch sehr spät eintreten kann. Nach 
einer weiter unten zu besprechenden primären Ellenbogengelenk- 
resection, welche ich vierzehn Stunden nach Erstürmung der Düp- 
peler Schanzen (19. April 1864) gemacht hatte, sah ich den Ver¬ 
wundeten im Sommer 1865 mit hochgradigem Schlottergelenk 
wieder. Durch Tragen einer Armschiene, welche durch ange¬ 
brachte Spiralfedern die active Beugung unterstützte und das Aus¬ 
weichen des Vorderarmes nach hinten verhinderte, und durch elec¬ 
trische Behandlung trat eine sehr wesentliche Besserung ein. Dann 
verlor ich den Patienten aus den Augen. Im Sommer 1873 er¬ 
hielt ich durch Herrn Oberstabsarzt Dr. Leut ho Id die Nachricht, 
dass dieser Resecirte wegen Brustleidens sich im Königin-Augusta- 
hospital befinde, und dass sein Ellenbogengelenk vollkommen 
brauchbar geworden sei. In der That fand ich den ganzen Arm 


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368 


B t. Langenbeck, 


sehr kräftig entwickelt und zu jeder activen Bewegung fähig. Nur 
bei Pro- und Supination zeigte sich noch ein geringes seitliches 
Ausweichen in dem früheren Schlottergelenk (Taf. VIII). Auch bei der 
Hüftgelenkresection, welche der verewigte Wagner in Königsberg 
während des Böhmischen Feldzuges 1866 ausgefübrt hatte, scheint 
eine ähnliche nachträgliche Besserung eingetreten zu sein. Dieser 
Fall ist mehrfach besprochen und wohl gegen die ausgedehnte 
Hüftgelenkresection (Wagner hatte unterhalb Trochanter minor 
resecirt) angeführt worden. Die Extremität war nach Aussage aller 
Aerzte, welche den Resecirten gesehen, vollkommen unbrauchbar, weil 
ein Schlottergelenk sich entwickelt hatte, welches jede active Be¬ 
wegung ausschloss. Von diesem Verwundeten berichtet nun Neu - 
dörfer (Handbuch der Kriegschirurgie. Leipz. 1872. 8. Bd. 2. 
S. 1459) sechs Jahre später, dass derselbe „ohne Stock anstands¬ 
los auf jedem Boden gehen und Treppen auf- und niedersteigen 
könne.“ Ich würde es für eine lohnende Aufgabe halten, die aus 
dem letzten Kriege hervorgegangenen zahlreichen Schlottergelenke 
noch jetzt einer sorgsamen Behandlung zu unterwerfen und die 
gewonnenen Resultate zu berichten. 

Zu einer förderlichen Discussion über den Werth der Gelenk- 
resectionen bei Schussverletzungen und zur Feststellung der Indi- 
cationen für dieselben ist es nothwendig, die verschiedenen Ge¬ 
lenke gesondert zu besprechen. 

Ich werde es versuchen, diesem so objectiv als möglich zu 
thun. Obwohl ich der erste zu sein glaube, welcher es versucht 
hat, methodische Gelenkresectionen in die Kriegspraxis einzuführen, 
und meine Vorliebe für diese Operationen sehr gross ist, so würde 
ich doch sofort bereit sein, von denselben zurückzutreten, wenn 
ich die Ueberzeugung gewönne, dass die in den Invalidenberichten 
verzeichneten Endresultate nicht vermieden oder gebessert werden 
könnten. 

1. Resection des Oberarmkopfs. 

Da während eines Infanteriegefechts die Kämpfenden ihre 
linke Schulter am meisten exponiren, während die rechte durch den 
anruhenden Gewehrkolben geschützt ist, so sind die Schussverletzun¬ 
gen der ersteren häufiger. In der Mehrzahl der Fälle dringt das 
Geschoss von der Thoraxseite aus in das Gelenk, und findet man 

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Ueber die Eudresultate der Gelenkresectioueu iin Kiiege. 3(>9 

die Eingangsöffnung dicht unter oder nach aussen vom Processus 
coracoides, die Ausgangsöffnung an der äusseren hinteren Seite 
des Gelenks im Bereich des M. teres minor oder latissimus 
dorei. Bei dieser Schussrichtung wird in der Regel der Gelenk¬ 
kopf dicht oberhalb der Tubercula getroffen und fracturirt, manch¬ 
mal in zahllose Fragmente zersplittert. Befindet sich der Eingang 
des Geschosses höher, so dass die Schusslinie dicht unter dem 
Acromion liegt, so kann der Oberarmkopf nur gestreift sein, es 
entstehen die nicht seltenen Rinnenschüsse seiner Gelenkfläche, 
von minimalen Abstreifungen des Knorpelüberzugs an bis zu einer 
vollständigen Schussrinne, jedoch meist ohne weitergehende Frac- 
turen oder Fissuren des Knochens. Es ist mir unzweifelhaft, dass 
Geschosse in dieser Höhe das Gelenk durchdringen können, ohne 
die Knochen zu verletzen. Ich habe im Kriege 1866 zwei Fälle 
gesehen, in welchen die Eröffnung des Gelenks sofort constatirt 
wurde: die Kugel musste, nach der Richtung des Schusscanals 
zwischen beiden Gelenkflächen durchgegangen sein. Die später 
auftretende profuse Eiterung mit Senkungen nach der Achselhöhle 
hin zwang zur Resection des Oberarmkopfs am 21. und 26. Tage 
nach der Verwundung, und wir konnten dabei constatiren, dass 
die durch die Eiterung noch nicht zerstörten, nur etwas getrübten 
Diarthrodialknorpel beider Gelenkflächen vollkommen intact ge¬ 
blieben waren, obwohl das Geschoss zwischen beiden Gelenkflächen 
durchgegangen sein musste. 

Wird der spongiöse Humeruskopf aus grosser Nähe getroffen, 
so kann er in zahllose feine und feinste Knochenfragmente zer¬ 
sprengt werden, welche in die benachbarten Weichtheile und be¬ 
sonders in den M. deltoides eindringen. Bei einer intermediären 
Resection, welche ich 1866 bei einem im Dorfgefechte Rosberitz 
verwundeten Oesterreichisehen Soldaten machte, fand ich den Ge¬ 
lenkkopf in Tausende von kleinen Fragmenten zersprengt und den 
M. deltoides mit den feinsten Knochentheilchen, wie mit Säge- 
spähnen imprägnirt. Matte Kugeln können in dem Oberarmkopf 
stecken bleiben. In einem 1848 in Flensburg von mir primär 
resecirten Fall war die Kugel in der Höhe der Tubercula auf dem 
Sulcus intertubercularis eingedrungen, hatte die Bicepssebne zer¬ 
rissen, den Oberarmkopf in zwei Hälften gespalten und war in 
der spongiösen Substanz desselben stecken geblieben. Aehnliche 

t. Langenbcok, Archiv f. Chirurgie. XVI. 94 


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370 


B. v. Langcnbcck, 


Fälle sind von Legouest (Traite de Chirurgie d’armöe. Paris 
1803. 8. p. Gl7) mitgetheilt. Bekannt ist das in der Sammlung 
des Val-de-Gräce in Paris befindliche Präparat von einem Oberarm¬ 
knochen, in dessen Kopf eine Kugel 36 Jahre gesteckt hatte. Der 
Soldat war in der Rhein-Campagne verwundet und mit Erhaltung 
der vollständigen Beweglichkeit des Schultergelenks geheilt worden. 
Sechs und dreissig Jahre später zog er sich durch schweren Fall 
auf die Schulter eine Vereiterung des Schultergelenks zu und 
wurde von Larrey (dem Vater) im Schultergelenk exarticulirt. 
Die Kugel fand sich in der spongiösen Substanz des Oberarmkopfs, 
durch dessen hintere Fläche sic eingedrungen war, vollkommen 
beweglich eingeheilt, der Gelenk köpf war im Uebrigen unverletzt 
(H. Larrey, Bulletin de l’Academie imp. de Med. Mai 1860). 

Ist das Geschoss durch die Aussenfläche der Schulter einge¬ 
drungen und nicht wieder ausgetreten, so muss man stets auf die 
Möglichkeit einer Verletzung der Brusthöhle gefasst sein. In Or¬ 
leans secirten wir einen Soldaten, bei ■welchem die Kugel das 
linke Schultergelenk durchbohrt hatte und nicht wieder ausgetre¬ 
ten war. Wiederholte genaue Untersuchungen gaben über den 
Sitz der Kugel keine Aufklärung. Der Verwundete ging au jau¬ 
chiger Pleuritis zu Grunde, und die Section ergab, dass die Kugel, 
nachdem sie den Oberarmkopf fracturirt, unter dem M. pectoralis 
maj. die Thoraxwand durchbohrt hatte und in dem Saccus pleurae 
liegen geblieben war. In einem anderen, im Schleswjgschen Kriege 
1864 von uns secirten Fall war das Geschoss aus grosser Nähe 
durch den linken Oberarmkopf ein- und, die oberen Lungenlappen 
beider Lungen durchsetzend, durch den rechten Oberarmkopf wie¬ 
der ausgetreten. Die Sonde gelangte sowohl rechts als links 
durch den zerschmetterten Oberarmkopf tief in die Brusthöhle, 
und bei den Athembewegungen trat jedesmal ein Luftstrom durch 
die Schulterwunden hervor. 

Endlich sind in dem letzten Kriege Lochschüsse des Ober¬ 
armkopfs ohne weitere Fractur oder Fissur, und zwar durch 
Chassepotkugeln, welche aus Kernschussweite kamen, wiederholt 
vorgekommen. Hr. Dr. Bockenheimer (Leistungen der Chirurg. 
Klinik. Frankfurt a. M. 1871. 8. S. 36 No. 17, S. 48 Abbildung) 
behandelte und resecirte in seiner Privatklinik in Frankfurt a. M. 
einen Officier des 40. Inf.-Regmts. v. B., welcher am 6. August 


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lieber die Endresultate der Oelenkresectionen im Kriege. 


371 


1870 verwundet worden war. Die Kugel war von aussen durch 
M. deltoides und Tuberculum majus in den rechten Oberarmkopf 
ein- und durch die Innenfläche des Gelenkkopfs, genau im anato¬ 
mischen Halse wieder ausgetreten, einen ziemlich glatten, scharf- 
randigen Knochencanal hinterlassend, von welchem aus keine Fis¬ 
suren in die Substanz des Gelenkkopfa gehen. Nach ihrem Aus¬ 
tritt aus dem Oberarm köpf war die Kugel unter der Scapula wei¬ 
ter gegangen und in der Nähe der Wirbelsäule stecken geblieben. 
Da die Gelenkkapsel eröffnet war, so hatte sich bis zum 28. Oc- 
tober eine eiterige Gelenkentzündung mit ausgedehnten Eitersen¬ 
kungen entwickelt und der Pat. war sehr heruntergekommen. Bei 
der Resection des Oberarmkopfs fand sich der Gelenkknorpel voll¬ 
ständig zerstört und der Knochen usurirt. Ich habe im März 1871 
dieses seltene Präparat und den geheilten Patienten gesehen, des¬ 
sen resecirter Arm bereits eine sehr vollkommene Brauchbarkeit 
bei freier activer Beweglichkeit zeigte. Ich werde weiter unten 
ähnliche, ohne Resection geheilte Fälle mittheilen. 

Trifft das Geschoss den Oberarmknochen unterhalb des chi¬ 
rurgischen Halses oder noch weiter abwärts, so pflegt die Con- 
tinuität des Knochens in der Regel ganz getrennt undausgedehnte 
SplitteruDg vorhanden zu sein. In der Mehrzahl der von mir ge¬ 
sehenen Fälle ging die Splitterung in doppelter Richtung, sowohl 
nach aufwärts bis in das Gelenk wie nach abwärts in die Diaphyse 
weiter, so dass der Knochen in der Ausdehnung von 6—10 Ctm. 
fracturirt war. Ausnahmsweise ist aber bei den Oberarmschüssen 
in dieser Höhe nur die Diaphyse fracturirt, das Gelenk unverletzt 
geblieben. Ich habe in dem letzten Kriege eine grosse Reihe sehr 
schöner Heilungen, theils unter alleiniger Anwendung des Gyps- 
verbandes, in welchem die vollständige Consolidation fast zu der¬ 
selben Zeit wie bei einer einfachen Fractur erfolgte, theils nach 
Extraction zahlreicher Knochensplitter während der Eiterungsperiode 
zu Stande kommen gesehen. Es kann aber auch in Fällen, wo 
das Schultergelenk gar nicht verletzt und wo die Humerusfractur 
sich nicht in den Gelenkkopf fortsetzt, das Gelenk in späterer 

Zeit ergriffen werden und vereitern. 

* 

Nachdem ich so eine kurze Uebersicht der verschiedenen Schuss¬ 
verletzungen des Schultergelenks gegeben habe, gehe ich zu der 
Beantwortung der Frage über, welche Behandlung dieser Ver- 

24 * 


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372 


B. v. Langenbeck, 


letzungen in zukünftigen Kriegen einzuschlagen sein wird, und ob die 
durch die Superrevision der Invaliden nachgewiesenen Endresultate 
der Schultergelenkresection dahin führen müssen, diese Operatio¬ 
nen für die Zukunft zu verlassen. Wir betrachten zuerst die End¬ 
resultate der co ns er vir enden Behandlung der Schulter¬ 
gelenkschüsse. 

In der überwiegend grossen Mehrzahl der Fälle von Schuss¬ 
verletzungen des Schultergelenks, welche ich behandelt, oder auf 
deren Behandlung ich Einfloss gehabt habe, ist zunächst die con- 
servirende Behandlung eingeleitet worden. Primäre Resectionen 
habe ich nur dann gemacht oder angerathen, wenn die Nothwen- 
digkeit der Entfernung des zerstörten Gelenks unzweifelhaft vor¬ 
lag. Daher kommt es, dass meine Beobachtungen sich zumeist 
auf secundäre oder intermediäre Resectionen beziehen, welche fast 
ohne Ausnahme durch Vitalindication geboten waren. Es kann 
mir also gewiss nicht der Vorwurf gemacht werden, dass ich aus 
Befangenheit oder aus Operationslust die conservirende Behandlung 
vernachlässigt habe. Bei zunehmender Kriegserfahrung bin ich 
jedoch immer mehr zu der Ueberzeugung gelangt, dass, bei der 
manchmal so zerstörenden Wirkung der neueren Geschosse, der 
primären Resection ein grosses Feld eingeräumt werden muss. 

Die Erhaltung und Wiederherstellung eines beweglichen und 
vollkommen brauchbaren Gelenks gelingt hier seltener, wie bei 
den Schussverletzungen des Kniegelenks. Die Muskeln, welche 
den Oberarm an den Thorax fixiren, Mm. pectoralis major und 
latissimus überwiegen so bedeutend, dass die Heber des Arms — 
M. deltoidesund supraspinatus — vom Augenblicke der Verwundung 
an sich passiv verhalten müssen, und das Gelenk bis zur Heilung 
der Wunde vollkommen unbeweglich bleibt. Dazu kommt die nach 
Bewegungsstörungen im Schultergelenk sehr bald eintretende Ato- 
nie und der Schwund dieser Muskeln, und die grosse Beweglich¬ 
keit des Schulterblatts selbst. Bei dem besten Willen, den Ober¬ 
arm im kranken Schultergelenk zu heben, lässt der Patient 
stets nur den M. trapezins und serratus antic. maj. wirken und 
bringt so die Verschiebung der Scapula zu Stande, durch welche 
bis zu einer gewissen Höhe der Oberarm erhoben wird. Der’ 
Kranke kann lange Zeit in der Täuschung leben, er bewege 
den Arm im Schultergelenk, während dieses in der That ganz 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 373 

unbeweglich bleibt. Auf diese Weise kommen also in den mei¬ 
sten Fällen Gelenkverwachsungen zu Stande, um so mehr, 
weil selten daran gedacht wird, rechtzeitig etwas zu unternehmen, 
wodurch die Beweglichkeit des Gelenks erhalten oder wieder her¬ 
gestellt werden könnte. Die nachstehenden Beobachtungen zeigen 
aber, dass auch hier noch vieles zu erreichen ist, und weisen 
auf die Nothwendigkeit hin, in Zukunft bei der Nachbehandlung 
auf die Erhaltung beweglicher Schultergelenke grössere Sorgfalt 
zu verwenden. 

No. 4. Carl Dinger, 1. Rheinisches Dragoner-Regmt. No. 5. Schussver- 
letzung des linken Schultergelenks. Kapselschuss. Verw. am 12. Nov. 1870. 
Einschuss 2 Clm. unterhalb der linken Achselhöhle, am inneren Rande des M. 
biceps, Ausschuss in Fossa infraspinata. Offenbar ist der der Achselhöhle zuge¬ 
wendete Abschnitt der Gelenkkapsel durchschossen. Ausfluss von Synovia durch 
die Ausgangsöffnung des Schusscanals. Es folgte eine heftige Gelenkentzündung 
mit starker Kapselschwellung und Eiterung. Die vollständige Heilung erfolgte 
zu Anfang März 1871. Die active Beweglichkeit ist schon eine recht gute, die 
Bewegungen im Gelenk vollkommen glatt. 

No. 5. Naumann, Lieutenant 1. Posensches Inf.-Landwehr-Regmt. No. 19. 
Lochschuss des linken Oberarmkopfs. Verw. 7. October 1870. Einschuss hart 
an der Aussenseite des Processus coracoid. Kugel an der hinteren Seite des 
Oberarms herausgeschnitten. Die Einschussnarbe ist lochförmig und tief in die 
Knochensubstanz des Oberarmkopfs hineingezogen, so dass das Geschoss mitten 
durch den Oberarmkopf in der Höhe der Tubercula hindurchgegangen sein muss, 
wahrscheinlich ohne Splitterung des Knochens. Der Verwundete meint, es sei 
Synovia ausgeflossen. Eine heftige Gelenkentzündung folgte. Die Htilung war 
im März 1871 vollendet und die passiven Bewegungen vollkommen und glatt, 
die active Erhebung wegen Muskelschwund noch mangelhaft. 

No. 6. Zahlmeister Hartwig. Sehussverletzung des rechten Schultergelenks, 
wahrscheinlich Rinnenschuss des Oberarmkopfs. Einschuss hinten dicht unter¬ 
halb Acromion; Kugel vorn, dicht unterhalb Pars acromialis claviculae herausge- 
schnitten. Der Schuss ist offenbar durch den oberen Abschnitt des Gelenks ge¬ 
gangen. Synoviaausfluss und starke Schwellung des Gelenks folgte. Die active 
Beweglichkeit im Gelenk ist vollständig erhalten. 

No. 7. Richa, 92. Inf.-Regt. Sehussverletzung des linken Oberarmkopfs am 
16. December 1870 bei Vendome. Einschuss durch Fossa infraspinata, Austritt 
der Kugel vorn im Sulcus iutertubercularis. Aus der hinteren Eingangsöffnung 
sind Knochensplitter, wahrscheinlich der Scapula angehörend ausgestossen. Die 
Bicepssehne ist ohne Zweifel durchschossen, die Hautnarbe der Ausgangsöffnung 
tief gegen den Knochen eingezogen. In der Richtung des Sulcus intertubercu- 
laris hat sich eine Eitersenkung gebildet, welche wahrscheinlich mit der Gelenk¬ 
kapsel communicirt, aber in der Heilung begriffen ist. Das Gelenk ist noch ein 
wenig geschwollen, aber ganz schmerzlos und passiv frei beweglich. 


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374 


B. v. Langenbeck, 


No. 8. Borsutzki, 23. Schlesisches Inf.-Regmt. Lochschuss des rei hten Ober¬ 
armkopfs. Am 30. September vor Paris durch eine Cbassepotkugel auf 300—400 
Schritte Entfernung verwundet. Am 11. October nach Homburg evacuirt, wo er 
in Behandlung des Hofrath Dr. Deetz bis zur Heilung verblieb. Einschuss 2 
Ctm. unterhalb des äusseren Randes des Acromion. Ausschuss in der Gegend 
der Fossa infraspinata. Pat. langte mit sehr starker Schwellung des Gelenks in 
Homburg an. Lange dauernder Ausfluss von Synovia und Eiter. Im März 1871 
sah ich den Verwundeten vollständig geheilt in Homburg. Die Narbe der Ein¬ 
gangsöffnung ist tief in den kleinen, kreisrunden Knochendefect des Oberarmkopfs 
hineingezogen, das Schultergelenk activ vollkommen beweglich. 

No. 9. Schmidt, Lieutenant, 85. Holsteinsches Inf.-Regmt. Lochschuss des 
linken Oberarmkopfs. Verwundet 1. Sept. bei Noisseville durch Chassepotkugel 
auf etwa 150 Schritt. Einschuss durch Tuberculum majus; Ausschuss 2 quer¬ 
fingerbreit unterhalb des hinteren Randes Scapula. Es folgte keine Gelenkent¬ 
zündung. Die Heilung erfolgte mit vollständiger activer Beweglichkeit des 
Gelenks. 

No. 10. Kobertzki, 1. Garde-Grenadier-Regmt. 2. Comp. Lochschuss des 
rechten Oberarmkopfs. Verwundung durch Chassepotkugel am 18. August 1870, 
Schlacht bei Gravelotte. Einschuss aussen und vom mitten durch Tubercul. 
majus, Ausschuss in der Achselhöhle hart an der Innenseite des M. latissimus 
dorsi. Es folgte eine nicht unerhebliche Gelenkentzündung, jedoch, wie es scheint 
ohne Eiterung. Der Verwundete wurde im Lazaretb zu Heidelberg behandelt. 
Am 17. März 1871 sah ich ihn vollständig geheilt. Die passive Beweglichkeit im 
Gelenk ist nach allen Richtungen beinahe vollkommen, nur die Erhebung etwas 
behindert. Die activen Bewegungen sind noch mangelhaft, werden aber sicher 
ganz wieder hergestellt werden. 

No. 11. Schulz, K. Preuss. 9. Jägerbataillon. Lochscbuss durch den rechten 
Oberarrakopf in der Höhe der Tubercula. Gelenkentzündung war in diesem 
Fall überall nicht eingetreten. Die active Beweglichkeit im Schultergelenk voll¬ 
ständig. 

Aebnliche vollkommene Heilungen mit Erhaltung der activeu 
Beweglichkeit habe ich in den früheren Kriegen nicht gesehen, und 
ich bringe sie zum Theil mit auf Rechnung der in diesem Kriege 
zum ersten Male verwendeten kleinen Chassepotkngeln. Gewiss 
müssen derartige Verletzungen immer zunächst Gegenstand der 
conservirenden Behandlung bleiben; man würde sich aber getäuscht 
finden, wenn man stets auf so günstige Resultate rechnen wollte, 
und ich habe mehrere einfache Kapselschüsse und Rinnenschüsse 
der Gelenkfläche des Oberarmkopfs gesehen, bei welchen die ein¬ 
tretende profuse Eiterung mit Eitersenkungen die Resection noth- 
wendig machte. 

Bei den Schnssfracturen des Oberarmkopfs, besonders bei den 
nicht weiter abwärts reichenden Splitterungen der Gelenkfläche 



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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


375 


ist die Heilung erreichbar, wenn man die gelösten Splitter recht¬ 
zeitig extrahirt, doch folgt fast ohne Ausnahme eine mehr oder 
weniger vollständige Ankylose. Nur wenn der Gelenkkopf ganz 
abgeschossen ist und während der Eiterungsperiode als Sequester 
extrahirt wird, wird man die Wiederherstellung eines beweglichen 
Gelenks mit einiger Sicherheit erwarten dürfen. 

Ob bei Durchführung der conservirenden Behandlung von 
Schultergelenkschüssen während der letzten Kriege besondere Mühe 
auf die Erhaltung oder Wiederherstellung eines beweglichen Schul¬ 
tergelenks verwendet worden ist, weiss ich nicht, möchte es aber 
bezweifeln, weil ich mehrfach gefunden habe, dass die Aerzte, 
zufrieden, dem Patienten das Leben und den Arm erhalten zu ha¬ 
ben, die methodische Anstellung von passiven Bewegungen sehr 
fürchteten. Die obeu mitgetheilten Fälle von durch conservirendc 
Behandlung erzielter vollständiger, activer Beweglichkeit im Schul¬ 
tergelenk (No. 4—U) enthalten gewiss die Aufforderung, dieser 
Seite der conservirenden Chirurgie eine grössere Aufmerksamkeit 
zuzuwenden, um so mehr als die Invalidenberiehte leicht zu der 
Ansicht führen könnten, dass Ankylose das bei allen Schussver¬ 
letzungen des Schultergelenks anzustrebende, beste Endresultat 
sei. Es wird vergeblich sein, darauf aufmerksam zu machen, dass 
die Invalidenberichte doch eine Reihe von Ankylosen im Schulter¬ 
gelenk aufweisen, wo die Extremität als vollkommen unbrauchbar 
geschildert wird, und dass andererseits es möglich ist durch Re- 
section vollkommen brauchbare Extremitäten hcrzustellen. Der Sta¬ 
tistiker, der nur nach den ihm vorliegenden Zahlen urtheilt uud 
auf die Nebenumstände, unter welchen diese Zahlen entstanden, 
keine Rücksicht nehmen kann, wird stets zu dem Facit gelangen, 
dass die Schultergelenkresection zu verwerfen sei, weil die Inva¬ 
lidenberichte eine so grosse Anzahl von Fällen geliefert haben, in 
welchen die Extremität ganz unbrauchbar, ja für den Invaliden so 
lästig erschien, dass eine Exarticulation im Sohultergelenk vor¬ 
zuziehen gewesen wäre. 

In 44 Fällen von Reseetionen des Oberarmkopfs, von denen 
die Revisionsberichte vorliegen kamen nur zwei sehr gute Re¬ 
sultate, dagegen 3t Schlottergelenke mit vollständiger Unbrauch¬ 
barkeit der Extremität vor. In den meisten dieser Fälle fehlte 
jede active Beweglichkeit im Gelenk, und es waren ausserdem das 


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B. v. Langenbeck, 


Ellenbogengelenk, Hand- und Fingergelenke vollständig unbrauch¬ 
bar. Diesen Fällen gegenüber stehen 51 Ankylosen im Schulter¬ 
gelenk, von denen 43 nach conscrvirender Behandlung zurück- 
bliebeD, 8 nach Resection des Oberarmkopfs zu Stande gekommen 
waren. 

In Bezug auf den Werth der Schultergelenkresection im Ver¬ 
gleich mit der conservirenden Behandlung gelangen die Aerzte, 
welche Revisionen von Invaliden gemacht haben, alle so ziemlich 
zu demselben Resultat, nämlich, dass durch conservirende Be¬ 
handlung günstigere Verhältnisse erzielt worden seien, als durch 
die Resection. 

Mossakowski (Statistischer Bericht über 1415 Französische 
Invaliden des Deutsch-Französischen Krieges 1870— 1871. Deutsche 
Zeitschrift für Chirurgie Bd. I. Hft. IV. Leipzig 1872. S. 322), 
fand bei den aus Metz entlassenen und in Basel von ihm unter¬ 
suchten Französischen Invaliden 29 Verletzungen des Schulterge¬ 
lenks, von welchen 17 conservirend behandelt und durch Splitter¬ 
extractionen mit Ankylose geheilt, 6 durch Resection des Ober¬ 
armkopfs operirt waren. Im Allgemeinen hatte M. den Eindruck, 
dass die cjnscrvirend Behandelten und mit Ankylose Geheilten 
zur Zeit ihrer Durchreise durch Basel bessere functioneile Resul¬ 
tate gaben, als die Resecirten aufzuweisen hatten. Ebenso hält 
der Generalarzt Dr. Bert hold die Resultate der conservirenden 
Behandlung für günstiger als die der Schultergelenkresection, weil 
auf 11 Resecirte des 10. Armeekorps 7 Verstümmelte, auf 25 con- 
servativ Behandelte und mit Ankylose im Schultergelenk Geheilte 
nur 9 Verstümmelte kamen. Zu demselben Schluss gelangt der 
K. Bayer. Stabsarzt Dr. Seggel (Deutsche militairärztliche Zeit¬ 
schrift 1873. Heft 6. S. 315). Unter 16 Schultergelenkresectionen, 
welche yon dem 1. K. Bayerischen Armeecorps, grösstentheils im 
Jahre 1871 zur Superrevision gelangten, fanden sich 8 Schlotter¬ 
gelenke und 6 Ankylosen mit Verstümmelung, unter 12 conser- 
vativ Behandelten nur 4 Ankylosen mit Verstümmelung und da¬ 
gegen 6 Ankylosen ohne Verstümmelung. Bei den Resecirten 
wurde active Beweglichkeit des resecirten Gelenks nur einmal, 
active Beweglichkeit der Ellenbogen-, Hand- und Fingergelenke 
nur 3 mal constatirt, während diese letzteren Gelenke bei 6 con- 
servativ Behandelten activ beweglich geblieben waren. Diesen 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


377 


Thatsachen gegenüber erklärt sich auch Billroth für die Erzie¬ 
lung der Ankylose nach Gelenkresectionen, welche er als den gün¬ 
stigeren Ausgang ansehen zu müssen glaubt. 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass bei der oberen 
Extremität das Hauptgewicht auf die Brauchbarkeit der Hand und 
der Finger gelegt werden muss. Das Schultergelenk kann anky- 
lotisch oder schlotternd, das Ellenbogengelenk im rechten Winkel 
ankylotisch sein, so wird der Arm für den Invaliden doch stets 
ein unschätzbares, durch kein prothetisches Mittel zu ersetzendes 
Gut sein, sobald er den vollen Gebrauch seiner Hand behalten 
hat. Ich glaube zwar nicht, dass es den von Hannover und 
Kratz untersuchten Invaliden, welche erklärten, sie wünschten 
lieber amputirt als von ihren „gelähmten Gliedern“ belästigt zu 
sein, damit Ernst gewesen ist, und ich glaube ebenso wenig, dass 
ein Arzt, ganz abgesehen von der Gefahr der Operation, sich ent- 
schliessen würde, wegen Lähmung und vollständiger Unbrauchbar¬ 
keit eines Arms die Exarticulation im Schultergelenk zu machen; 
denn der gelähmte Arm, welcher bei den Körperbewegungen macht¬ 
los als Pendel hin und herschwingt, dient noch dazu, das Gleichge¬ 
wicht des Körpers zu erhalten. Ich habe einem sehr angesehenen 
Mann in Holstein vor etwa 30 Jahren, als er noch ein wilder 
Knabe war, drei Knochenbrüche geheilt, welche sein in Folge von 
Kinderparalyse vollständig gelähmter linker Arm zu drei verschie¬ 
denen Malen erlitten hatte. Weder den Eltern des Knaben noch 
mir ist jemals der Gedanke gekommen, dass es wohl besser sein 
würde, diesen Arm im Schultergelenk zu amputiren. 

Wir würden also bei Behandlung der Schussverletzungen des ^ 
Schultergelenks stets die Verpflichtung haben, auf Erzielung der 
Ankylose hinzuwirken, wenn es richtig ist, dass bei Ankylose im 
Schultergelenk die Brauchbarkeit der übrigen Extremität, und na¬ 
mentlich der Hand eine vollständigere ist. 

Die Beobachtung zeigt, dass die Gebrauchsfähigkeit des Arms 
vorläufig um so mehr verloren geht, je schwerer die Schussver¬ 
letzung des Schultergelenks, je ausgedehnter die Resection. je län¬ 
ger die Dauer der Eiterung der Wunde und des schweren Kran¬ 
kenlagers ist, und die definitive Heilung verzögert wird. Dass 
bei so ungünstigen Verhältnissen der Wunde eine ganz besondere 
Sorgfalt nothwendig sein wird, um das „gelähmte“ Glied wieder 

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378 


B. v. Langenbeck, 


zu beleben, Hand und Finger wieder brauchbar zu machen, ja 
dass der Arm, ohne jede Behandlung vom Verwundeten Jahre 
lang in der Tragkapsel oder Mitella getragen vielleicht für immer 
„gelähmt“ bleiben kann, halte ich für möglich, obwohl ich eine 
solche Erfahrung niemals gemacht habe. Die Schussverletzungen 
des Schultergelenks, welche mit Ankylose heilen, sind in allen 
Beziehungen die leichteren, mag die Gelenkverwachsung nach Re- 
section oder bei conservirender Behandlung eintreten, und es liegt 
auf der Hand, dass die Ernährung und Function der übrigen Ex¬ 
tremität niemals in dem Grade alterirt werden wird, als nach den 
•schweren Verwundungen und den dabei durch Vitalindication ge¬ 
botenen Resectionen. 

Die Annahme, dass Ankylose nach Schultergelenkresection 
oder nach conservirender Behandlung eine bessere Gebrauchsfähig¬ 
keit des Arms bedinge als ein, wenn gleich unvollkommen beweg¬ 
liches Schultergelenk, beruht auf einer Täuschung, welche dadurch 
entstand, dass man die sehr verschiedenartige Bedeutung der 
Schultergelenkschüsse nicht berücksichtigt hat. 

Man findet bei durch conservirende Behandlung erzielten An¬ 
kylosen im Schultergelenk, sobald das Krankenlager ein sehr 
schmerzhaftes, die Eiterung eine sehr lange dauernde gewesen 
ist, denselben lähmungs'artigen Zustand der Extremität, wie nach 
einer mit Schlottergelenk geheilten Resection, bei welcher der 
Wundverlauf dieselben ungünstigen Bedingungen dargeboten hatte. 
Die Superrevisionsberichte zeigen uns eine Reihe von conservativ 
erzielten Schulterankylosen, wo derselbe Grad von Verstümmelung 
(Unbrauchbarkeit der Hand und des Vorderarms) vorlag, wie bei 
den Schlottergelenken nach Resection, und ich habe selbst der¬ 
artige Fälle gesehen. 

No. 12. Alexandri, Lieuten. 31. Regiment de Marche aus Corsica, erhielt 
bei der ersten Einnahme von Orleans, im October 1870 einen Gewehrschuss 
durch das linke Schultergelenk. Die Kugel war von hinten und aussen durch 
das Gelenk gegangen, dicht unter dem Processus coracoides wieder ausgetreten. 
Eine Knochenverletzung wurde nicht nachgewiesen. Ausfluss von Synovia be¬ 
stand längere Zeit, dann folgte, etwa 14 Tage nach der Verwundung, eine sehr 
heftige Gelenkentzündung mit profuser Eiterung und Eitersenkungen. Im Januar 
•1871 sah ich den Patienten in Orleans, wo er sich in Privatpflege befand. Das 
Schultergelenk ist vollständig ankylotisch aber noch sehr schmerzhaft. Die 
Muskeln der ganzen Extremität im höchsten Grade abgemagert. Ellenbogen-, 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


379 


Hand- und Fingergelenke activ ganz unbeweglich. Der Versuch passiver Be¬ 
wegungen wird vom Patienten nicht gestattet, weil er die Schmerzen fürchtet. 
Eine geriuge active Beweglichkeit findet nur in der Gelenkverbindung der Me- 
tacarpalknochen statt. Die ganze Extremität ist kühler als die rechte, und wird 
dicht an den Thorax angedrückt vom Pat. in einer Tragkapsel getragen. 

An das so eben Erörterte schliesst sich die Frage an, ob 
man bei conservirender Behandlung der Schnssverletznngen des 
Schultergelenks und nach verrichteter Resection dieses Gelenks 
das Zustandekommen der Ankylose fördern solle oder nicht? 
Ich habe oben (S. 373) bereits eine Reihe von Fällen mitgetheilt, 
welche zeigen, wie vollkommen die Brauchbarkeit des Arms wer¬ 
den kann, wenn ein bewegliches Schultergelenk durch conservi- 
rende Behandlung hergestellt ist, und ich kann in dieser Beziehung 
jede weitere Beweisführung füglich unterlassen. Ich will nur noch 
hervorheben, dass eine Schultergelenkankylose niemals die volle 
Gebrauchsfähigkeit des Arms zulässt und hinter einem, durch Re¬ 
section des Oberarmkopfs erzielten activ beweglichen Gelenk be¬ 
deutend zurücksteht. 

Im Gefolge der Ankylose findet sich stets ein vollständiger 
Schwund der an den Oberarmkopf sich festsetzenden Muskeln, so 
wie überhaupt aller Muskeln, welche dnrch die aufhörende Be¬ 
wegung im Schultergelenk in Ruhezustand versetzt werden. Der 
Schwund dieser Muskeln ist in allen Fällen bedeutender als bei 
einem durch Resection erzielten activ beweglichen Gelenk. Da 
bei Schultergelenkankylose die Erhebung des Arms nur durch 
Verschiebung der Scapula und auch dann nur bis zu einem Winkel 
von 30—40° erreicht werden kann, so empfindet der Patient beim 
Schreiben, Zeichnen und überhaupt bei allen Functionen, welche 
eine dauernde Erhebung des Arms bis zu einem gewissen Winkel 
erheischen, das Gefühl einer sehr bald eintretenden schmerzhaften 
Ermüdung, weil die Muskeln, welche die Erhebung und Verschie¬ 
bung der Scapula beschaffen müssen (Levator scapulae, Rhom- 
boides, Trapezius, Serrat. auticus maj.) übermässig in Anspruch 
genommen werden. Ans diesem Grunde wünschen die Ankylo- 
sirten nicht selten um jeden Preis ein bewegliches Schultergelenk 
wieder zu erlangen. 

Die Versuche, welche ich mit gewaltsamer Trennung und Mo- 
bilisirung von Schulterankylosen nach entzündlichen Gelenkaffec- 

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380 


B. v. Langenbeck, 


tionen und Caries (Caries sicca) gemacht habe, sind niemals von 
Erfolg gewesen. Was man in der Chloroformnarkose erreicht, 
wird durch die nachfolgende Gelenkreizung, welche die Mobilisi- 
rung durch passive und active Gelenkbcwegungen verhindert, 
stets wieder zu nichte gemacht. Wohl aber ist es möglich, bei 
Ankylosen, welche nach Fracturen und Luxation zurückgeblieben 
sind, ein vollkommen bewegliches Gelenk wieder herzustellen. 

No. 13. Baron v. M. ein grosser Hippologe und leidenschaftlicher Jäger, 
zog sich im Jahre 185*», durch Sturz mit dem Pferde eine Verletzung des lin¬ 
ken Schultergelenks zu. Eine genaue Diagnose dieser Verletzung wurde nicht 
gestellt, ich vermuthe aber, dass eine Längsfractur des Oberarmkopfs, vielleicht 
auch Fractur der Fossa glenoidalis vorhanden gewesen ist. Nachdem der Arm 
sechs Monate la\g in Mitella getragen, und die Bäder in Teplitz und Wildbad 
gebraucht werden, bestand eine knöcherne Ankylose, deren Beseitigung Patient 
im Jahre ^858 von mir verlangte. Er befand sich in der für ihn schmerzlichen 
Lage, der Jagd entsagen zu müssen, weil die Erhebung des linken Arms durch 
Locomotion der Scapula nicht ausreichte, um das Gewehr zu stützen, und das 
Schiessen mit dem rechten Arm allein, welches er mit grosser Consequenz geübt 
hatte, die wünschenswerte Sicherheit des Schusses nicht erreichen Hess. Wäh¬ 
rend das Schulterblatt von Gehülfen fixirt wurde, zerbrach ich die Ankylose, 
welche sich mit lautem Krach trennte. Nachdem die nachfolgende, sehr geringe 
Reaction vorüber gegangen, begannen passive Bewegungen und active Uebungen 
nebst electrischer Behandlung, und es gelang in einigen Monaten ein activ voll¬ 
kommen, bis zur verticalen Erhebung bewegliches Gelenk wieder herzustellen. 
Noch im Jahre 1867, ein Jahr vor dem Tode des Pat., vermochte ich zu con- 
statiren, dass eine vollständige active Beweglichkeit im Gelenk erhalten, und 
die Gebrauchsfähigkeit des Arms der normalen durchaus gleich geblieben war. 

Man täuscht sich sehr, wenn man glaubt, dass ein ankylo- 
tisches Schultergelenk auch nur für die gewöhnlichen Beschäfti¬ 
gungen eines Gebildeten ausreiche. Ich behandle noch jetzt einen 
jungen Techniker, bei dem eine ohne nachweisbare Veranlassung 
entstandene Caries sicca des rechten Schultergelenks unvollständige 
Ankylose zurückgelassen hat. Der junge Mann hat es zu wieder¬ 
holten Malen ausgesprochen, dass er gezwungen sei, seinen ihm 
sehr lieb gewordenen Beruf aufzugeben, wenn es nicht gelingen 
sollte, die Beweglichkeit des Gelenkes wieder herzustellen. Das 
Schreiben, Zeichnen und alle feineren mechanischen Arbeiten ge¬ 
lingen ihm in dem für seinen Beruf erforderlichen Grade von Voll¬ 
kommenheit nicht. Die im Verlauf eines Jahres häufig in der 
Chloroformnarkose vorgenommenen passiven Bewegungen haben 
nur wenig genützt, und doch werde ich stets gebeten, dieselben 
zu wiederholen und häufiger anzustellen. 


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Ueber die Eudresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 381 

Es muss also bei conservirender Behandlung der Schussver- 
let/ungen des Sehultergelenks, wie nach der Resection desselben 
unser ganzes Bestreben daliin gerichtet sein, ein bewegliches Ge¬ 
lenk herzustellen. In Fällen aber, wo bei conservirender Be¬ 
handlung Ankylose entstanden, und der Verwundete für seinen 
Beruf untauglich geworden ist, kann die nachträgliche Resection 
indicirt sein, weil die Erfahrung zeigt, dass eine zu den grössten 
Kraftäusserungen, wie zu den feinsten Bewegungen fähige Ex¬ 
tremität dadurch wieder hergestellt werden kann. (Vergl. Fall 
No. 17.) 

Ich komme nun zu der für die Zukunft der Resection des 
Oberarmkopfs entscheidenden Frage, welche Bedeutung ein Schlot¬ 
tergelenk für die Ernährung und Gebrauchsfähigkeit des Armes 
hat. Eine vollständige, der ursprünglichen in allen Beziehungen 
gleiche Gebrauchsfähigkeit des Arms, und die Fähigkeit zur acti- 
ven vertikalen Erhebuug, also die Wiederherstellung einer voll¬ 
kommen freien Arthrodie ist bis jetzt nur erreicht worden, wenn 
die Resection nicht sehr weit unter dem chirurgischen Halse statt¬ 
gefunden hatte, das resecirte Knochenende die Länge von G—8 
Ctm. nicht überstieg, und die Muskelansätze au den Humeruskopf 
(Supra-, Infraspinatus, Teres minor und Subscpularis) in Verbim 
düng mit dem Periost der Diaphyse erhalten waren (No. 17. 
Taf. VI; No. IG. Taf. XIV; No. 18.); in allen bisher bekannt 
gewordenen Fällen, wo die oben genannten Bedingungen nicht 
erfüllt waren, ist ein mehr oder weniger schlotterndes, d. h. 
zu activer Erhebung des Oberarms unfähiges Gelenk, und zu¬ 
gleich angeblich eine so hochgradige Gebrauchsunfähigkeit des 
ganzen Arms entstanden, dass dieselbe im Sinne des Gesetzes 
dem Verluste des Gliedes gleich zu erachten war; ja es wird von 
Hannover und Kratz die Ueberzeugung ausgesprochen, dass 
das Bedauern der Invaliden, im Schultergelenk nicht exarticulirt 
worden zu sein, seine volle Berechtigung habe. Von Hannover 
(a. a. 0. S. 110) wird die Vermuthung ausgesprochen, dass diese 
vollkommene Gebrauchsuufähigkeit des Arms erst längere Zeit 
nach der Resection sich entwickele und mit den Jahren zu¬ 
nehme. 

Man könnte sich ja vorstellen, dass eben die Herausnahme 
des Gelen ks einen nachtheiligen Einfluss auf die Ernährung der 


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B. v. Langenheck, 


ganzen Extremität ausübe und eine Art von progressiver 
Atrophie veranlasse, welche, erst spät nach der Resection her¬ 
vortretend, mit den Jahren zunehme, und durch welche die Cir- 
culation, die Innervation und die Ernährung des Gliedes schliess¬ 
lich auf ein Minimum reducirt werde. Die Erfahrungen, welche 
wir mit den wegen organischer Erkrankung in der Civilpraxis 
unternommenen Resectioneu machen, und die hier gewonnene Tbat- 
sache, dass resecirte Gelenke erst allmälig durch Uebung und Ge¬ 
brauch activ beweglich werden und ihre Brauchbarkeit auch nach 
10—20 Jahren nicht verlieren, stimmen freilich nicht zu dieser 
Auffassung; aber es wäre ja denkbar, dass die Ernährungsver¬ 
hältnisse nach den, wegen Schussverletzungen unternommenen Ge¬ 
len kresectionen andere seien. 

Es stehen mir Beobachtungen zu Gebote, Beobachtungen, 
gegen deren Alter Hannover schwerlich etwas einwenden kann, 
welche unwiderleglich beweisen, dass diese Auffassung in allen 
Richtungen eine falfcbe ist. 

Der durch Schussverletzung und Resection entstandene Ver¬ 
lust, nicht nur aller Enochentheile des Schultergelenks, sondern 
aller das Gelenk umgebenden Weichtheile, mit alleiniger Ausnahme 
der grossen Gefässe und Nerven, des M. triceps brachii, latissi- 
mus dorsi und der Haut der Achselhöhle, beeinträchtigt die Ernäh¬ 
rung der Extremität in keiner Weise und lässt die Wiederherstel¬ 
lung der vollen und dauernden Gebrauchsfähigkeit des Ellenbogen¬ 
gelenks, des Vorderarms, sowie der Hand und Finger zu. Dieser 
Satz wird durch nachstehende Beobachtung bewiesen: 

No. 14. v. Petersdorf, Lieutenant im 1. Garde-Regmt. z. F. wuide am 
3. Juli 18CG in der Schlacht bei Königgrätz mehrfach verwundet. Ein Gewehr¬ 
schuss (Miniekugel) hatte die vordere Bauchwand dicht unterhalb Spina anter. 
super, der rechten Seite perforirt und, ohne die Bauchhöhle zu eröffnen, einen 
Contourscbuss bewirkt, dessen Ausgang sich hinten, etwa 4 Ctm. von der Wir¬ 
belsäule befand. Eine zweite Kugel gleichen Kalibers hatte die Aussenseite des 
linken Oberschenkels in seiner Uitte getroffen, die ganze Fleischmasse des sehr 
kräftigen Schenkels, dicht hinter dem Knochen durchgehend perforirt, war in 
der Nähe des Perinäums ausgetreten und hatte schliesslich die rechte Hinterbacke 
nahe am Tuber ischii durchsetzt. Während v. P., von diesen Wunden zu Boden 
geworfen, auf dem Kirchhofe zu Chlum auf der Erde lag, wurde seine rechte 
Schulter von einem Granatsplitter getroffen und fortgerissen. Das Granatsbuck 
von bedeutendem Umfang halte auf dem Processus coracoidea rechter Seite auf¬ 
gesetzt, den ganzen oberen Theil des M. pectoralis maj. fortgerissen, das Acro- 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 383 

mion abgebrochen, sammtliche Weichtheile der Schulter bis auf Fossa infraspi- 
nata mitgenommen und den Oberarmkopf in grosser Ausdehnung zerschmettert. 
Vom Schlachtfelde wurde der Verwundete in das Feldlazarett! zu Koniginhof 
gebracht. Eine bedeutende Erschöpfung in Folge des Blutverlustes aus den 
zahlreichen Wunden war die Veranlassung, dass von der sofortigen Exarticula- 
tion des Arms Abstand genommen wurde. 

Bis Ende Juli war der grosse Wunddefect der Schulter mit Granulationen 
ausgefüllt, aus denen die zerschmetterten Knochen, Acromion, Process. coracoides 
und Oberarmkopf hervorsahen. Anfang August wurde unter stetem Fieber die 
Eiteiung profuse, und die Kräfte des Pat. sanken sichtlich, besonders, weil ein 
hartnäckiger Magenkatarrh eine gute Ernährung nicht zuliess. Dieser letztere 
besserte sich jedoch bis zum 10. August, und, da eine Abstossung der zer¬ 
schmetterten Knochen nicht eintreten wollte, der Oberarmkopf Eiterverhaltungen 
begünstigte, so wurde am 13 August die Resection des Oberarmkopfes ausge- 
fübrt. Vom zerschmetterten Acromion führte ich den Schnitt in der Richtung 
des Sulcus intertubercularis durch die Granulationsmasse bis in den Knochen 
und loste das Periost, so weit es noch vorhanden war, mit dem Elevatorium 
ohne Schwierigkeit ab. Die Absicht, nur Fragmente des Knochens zu extrahiren, 
wurde bald aufgegeben, weil mehrere Knochenfissuren sich in die Diaphyse wei¬ 
ter abwärts zogen und eine Abtrennung des Kopfs nicht vorhanden war. Es 
wurde demnach das Periost auch von der ganzen inneren Fläche des Humerus 
abgelöst, der Knochen an der unteren Grenze des Defects durchsägt uni heraus¬ 
gehoben. Schliesslich wurde der zertrümmerte Processus coracoides und das 
Acromion mit der Knochenscheere entfernt, und Fragmente des Gelenkfortsatzes 
der Scapula extrahirt. Abgesehen von einer starken Blutung aus der beim 
ersten Schnitt getrennten Art. circumflexa anter., welche unterbunden werden 
musste, war der Blutverlust nicht bedeutend gewesen. Der entfernte Knochen (Tab. IV.) 
hat eine Länge von 10 Ctm. Von der zerschmetterten, tief eingedrückten und 
nach verschiedenen Richtungen zerklüfteten Substanz des Oberarmkopfs gehen 
mehrere Fissuren bis in die Diaphyse abwärts. An der Sägefläche erscheint der 
Knochen gesund, doch geht eine feine Knochenfissur in der Diaphyse noch wei¬ 
ter abwärts. Der weitere Wundverlauf wurde durch keine Zwischenfälle gestört, 
und Patient konnte gegen Ende September nach Berlin transferirt werden. Die 
definitive Heilung der Wunden erfolgte Ende October. 

Nicht ohne Sorge dachte ich daran, wie der Arm vom Körper getragen 
werden solle, da er mit diesem nur durch die Weichtheile der Achselhöhle, ein 
dünnes Bündel vom Brusttheil des M. pectoralis major, durch M. latissiraus dorsi 
und teres maj. in Zusammenhang geblieben war. In derThat wurde der erste, im 
November gemachte Versuch, aufzustehen, sofort unteibrochen, weil Pat. das 
Gefühl hatte, als w r erdc der Arm vom Körper gerissen, und er einer Ohnmacht 
nahe war. 

Ich Hess nun durch den Bandagisten Lutter eine Tragkapsel machen, 
welche, Vorderarm und nand freilassend, nur das Ellenbogengelenk stützte und 
auf der linken Schulter durch Riemen befestigt war, welche schräg über Brust 
und Rücken liefen. Dieser Apparat erwies sich als vollkommen ausreichend. 


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384 


B. v. Langenbeck, 


Pat machte tägliche Spaziergänge, wobei er deu Stock in der rechten Hand trug 
und die Wirkung der Tragkapsel unterstützte. Die activen Bewegungen der 
Hand und Finger hatten durchaus nicht gelitten, da Hr. v. P. den Rath, sie 
während des ganzen Krankenlagers täglich zu bewegen, mit grosser Consequenz 
befolgt hatte. Ebenso wenig war die Beweglichkeit im Ellenbogengelenk erheb¬ 
lich alterirt worden Passive und active Bewegungen, eine vier Wochen laug 
fortgesetzte electrische Behandlung und Spirituose Waschungen reichten aus, um 
die vollständige active Beweglichkeit und Brauchbarkeit der Hand und Finger 
wieder herzustellen, und bereits im Januar 1867, sieben Monate nach der Ver¬ 
wundung, erhielt ich einen langen, mit der rechten Hand in sehr guter Hand¬ 
schrift geschriebenen Brief, welcher mir die Leistungsfähigkeit des Arms bewei¬ 
sen sollte. Im Sommer desselben Jahres, welcher zu stärkenden Bädern benutzt 
wurde, bedurfte Hr. v. P. der Tragkapsel nicht mehr. Im Herbst 1868 erhielt 
ich von ihm die auf Taf. IV. wiedergegebene Photographie. Im Juli 1870 trat 
Hr. v. P. in den activen Militairdienst wieder ein und wurde als Adjutant bei 
der Commandantur der Festung Mainz angestellt. Der sehr anstrengende Dienst 
während der Dauer des Krieges verursachte Herrn v. P., wie er später ver¬ 
sicherte, keine Beschwerden, und namentlich vermochte seine rechte Hand die 
ihm obliegenden, oft sehr umfangreichen schriftlichen Arbeiten ohne Beschwerde 
zu bewältigen. Im Januar 1873 traf ich Herrn v. P. auf einem Fest in Berlin 
und war freudig überrascht, ihn in der Uniform des 1. Garde-Regiments wieder 
zu sehen; er war seit dem Kriege im activen Dienst verblieben und in seinem 
alten Regiment zum Hauptmaun und Compagniefübrer avancirt. Beim Dienst 
vor der Fiont, den Herr v. P. zu Pferde versehen muss, führt er den Degen 
in seiner rechten Hand, indem er den Arm an den Körper fest andrückt. Er 
behauptet, dass sein Arm, abgesehen von der Unmöglichkeit der Erhebung im 
Schultergelenk und dem mit ihm nicht ausführbaren militairiscben Grass, zu allen 
Functionen fähig ist. Beim Aufsteigen auf das Pferd hebt er die rechte Hand 
mit der linken auf den hinteren Rand des Sattels und schwingt sich hinein, beim 
Carriere-Reiten im Dienst geräth sein rechter Arm leicht in durch eigene Muskel¬ 
kraft nicht zu verhindernde pendelartige Schwingungen, und trägt er, um diese 
zu verhindern, den Oberarm durch einen Kautschukzug am Thorax fixirt. Mit 
einem Gewicht von 20 Pfund in der rechten Hand vermag er den Vorderarm 
bis 45° zu beugen. 

Ich durfte die ausführliche Mittheilong dieses Falls nicht unter¬ 
lassen, weil wichtige Principien in demselben ihre Stütze finden 
müssen. Zunächst geht daraus hervor, dass die alte, von allen 
Kriegschirurgen acceptirte Regel, dass Schussfracturen der Gelenke 
mit ausgedehnter Abreissung der Weichtheile die sofortige Ampu¬ 
tation indiciren, beim Schultergelenk wenigstens nicht aufrecht 
erhalten werden kann. Es kamen in der Schlacht bei König- 
grätz noch zwei, der vorstehenden ganz gleiche Schussverletzun¬ 
gen des Schultergelenks vor, welche beide, der eine von Prof. W. 


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[Teber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


385 


Busch in Bonn, durch Resection des Oberarmkopfs geheilt worden 
sind. Beide verhiessen dasselbe günstige Endresultat, sind aber, 
nachdem die Heilung der Wunde vollendet war, mir aus den 
Augen gekommen. 

Ferner beweist dieser Fall, dass die Ansicht, es müsse nach 
Resection des Oberarmkopfes durch den meistens nicht zu ver¬ 
meidenden Verlust der Bicepssehne die Fähigkeit, den Vorderarm 
im Ellenbogengelenk zu beugen, verloren gehen, unrichtig ist, und 
dass sogar der Verlust beider Köpfe des M. biceps diese Function 
nicht aufhebt, der M. brachiaeus internus also zu einer kräftigen 
activen Beugung im Ellenbogengelenk ausreicht. Ich kann auf 
das Bestimmteste versichern, dass in der grossen Anzahl von Re- 
sectionen des Oberarmkopfs, welche ich wegen organischer Erkran¬ 
kungen und wegen Schussverletzungen ausgefübrt habe in Fällen, 
wo die Bicepssehne durch Eiterung oder durch das Geschoss zer¬ 
stört war, eine Mobilitätsstörung des Ellenbogengelenks mir bis¬ 
her noch nicht vorgekomraen ist. Da der M. brachiaeus internus 
ausschliesslich Beuger ist, und auf das Charniergelenk der Ulna 
allein Einwirkung hat, so ist es begreiflich, dass dieser starke 
Muskel zur kräftigen Beugung des Vorderarms ausreicht, selbst 
w'enn der M. biceps ganz zu Grunde gegangen ist, um so mehr, 
w r eil die von demselben eingeleitete Beugung des Vorderarms 
durch den M. brachioradialis (Supinator longus) kraftvoll unter¬ 
stützt wird. 

Endlich zeigt jene Beobachtung, dass die Annahme Hanno- 
ver’s, die Gebrauchsunfähigkeit des Arms zeige sich erst län¬ 
gere Zeit nach erfolgter Heilung und nehme nach Art der pro¬ 
gressiven Paralyse mit den Jahren zn, eine irrthümliche ist. 
Dass die Brauchbarkeit des Arms und der Hand in den sieben 
Jahren, welche seit der Resection verflossen sind, nicht abge¬ 
nommen hat, zeigt schon der Umstand, dass Herr v. P. im Jahre 
1870 in den activen Dienst wieder eingetreten ist, als Hauptmann 
seine Compagnie führt und folglich felddienstfähig ist. 

Es steht mir aber eine noch ältere Beobachtung zu Gebote, 
welche den Beweis liefert, dass die einmal gewonnene Gebrauchs¬ 
fähigkeit des Arms auch nach Ablauf eines Vierteljahrhunderts 
noch unverändert bleibt. 

v. Langenbeck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 

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386 


B. v. Langenbeck, 


Nr. 15. v. Zastrow, Lieutenant im 31. Inf.-Regt., 20 Jabre alt, von zartem 
Körperbau, wurde beim Beginn des Gefechts bei Schleswig am 23. April 1848 
an der linken Schulter verwundet Das Geschoss, dänische Rundkugel, war in 
der Gegend des Sulcus intertubercularis des Oberarmkopfs ein- und hinten durch 
Latissimus dorsi wieder ausgetreten. Anfangs, da die active Beweglichkeit im 
Schultergelenk erhalten war, wurde ein Oontourschuss des Schultergelenks ange¬ 
nommen, und der Verwundete vom Schlachtfelde nach Rendsburg in das Garni- 
sonlazareth transportirt. Wenige Tage nach der Verwundung zeigte sich jedoch 
Anschwellung der ganzen Gelenkgegend, die active Beweglichkeit hörte auf, der 
Versuch zu passiven Bewegungen verursachte unerträgliche Schmerzen, und der 
Patient fieberte. Bei Lösung der Escbara der Eingangsöffnung zeigte sich reich¬ 
licher Ausfluss einer trüben Synovia, welcher beim Versuch passiver Bewegungen 
und bei Druck auf das stark geschwollene Gelenk vermehrt wurde und Luft¬ 
blasen beigemengt enthielt. Der durch die Eingangsöffnung des Schusskanals 
eingeführte Finger dringt in die Substanz des Oberarmkopfs ein. Die Eiterung 
wurde nun, unter sehr hohem Fieber, profuse und übelriechend, und es stellte sich 
erschöpfende Diarrhoe ein. Die mehrfach in Frage gekommene Exarticulation 
des Oberarms würde ohne Zweifel zur Ausführung gekommen sein, wäre nicht 
bei dem bedenklichen Kräftezustand des jungen Mannes, welcher durch aphthösen 
Zustand der Mund- und Rachenschleimhaut und mangelhafte Ernährung von Tag 
zu Tag sich verschlechterte, die sichere Aussicht vorhanden gewesen, dass er 
diese Operation nicht überstehen werde, ln diesem Zustande sah ich am 8. Mai 
1848 den Verwundeten, zu dem ich von Schleswig, wo ich damals stationirt war, 
gerufen worden war. Obwohl ich damals bereits zwei Schultergelenkresectionen 
bei Verwundeten in Schleswig ausgeführt hatte, wurde es mir doch nicht leicht, 
das Widerstreben der Gollegen, welche diese Operation für nicht viel weniger 
verletzend als die Exarticulation erachteten, zu überwinden. Am 12. Mai führte 
ich die Resection des Oberarmkopfs, mit dem vom äusseren Rande des Acro- 
mion über die Schulterwölbung gerade nach abwärts steigenden Längsschnitt in 
der Chloroformnarkose aus. Dieser Schnitt traf die Eingangsöffnung des Schuss¬ 
kanals. 

Da die Gelenkkapsel von Eiter stark ausgedehnt war, so konnte ich, fast 
wie bei einer Abscessöffnung, mit einem Schnitt in das Gelenk eindringen und 
die Operation bei sehr geringem Blutverlust rasch vollenden. Der Gelenkkopf 
wurde mit meiner feinen Stichsäge 4 Ctm. unterhalb der Tubercula abgesägt, 
die Wunde durch Nähte bis auf. den unteren, freigelassenen Wundwiukel ver¬ 
einigt. Bereits am Abend zeigte sich ein bedeutender Abfall des Fiebers, wel¬ 
ches auch in der früheren Höhe nicht zurückkehrte. Die Reconvalescenz schritt 
bei guter Eiterung langsam aber stetig fort, und die Heilung der Wunde erfolgte 
Ende August. Der Verwundete siedelte sodann nach Kiel über und blieb dort 
bis zu meinem Abgang nach Berlin (October 1848). Die Kräfte kehrten, bei 
guter Luft und Nahrung, vollständig zurück. Während v. Z. den resecirten Arm 
in der Mitella trug und warme Seebäder gebrauchte, wurden passive Bewegun¬ 
gen täglich angestellt und bald auch zu activen Uebungen, welche mit grosser 
Consequenz betrieben wurden, übergegangen. Die active Beweglichkeit der Hand 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 387 

und des Ellenbogengelenks hatte überhaupt niemals aufgehört und wurde sehr 
bald wieder eine vollständige. 

Im Sommer 1849 gebrauchte Herr v. Z. die Bader in Rehme und kehrte 
dann zum activen Dienst bei seinem Regiment, welches in Erfurt stationirt war, 
zurück. 

Im December 1849 sah ich Herrn v. Z. auf Urlaub zum Besuch von Ver¬ 
wandten in Berlin zum ersten Male wieder. Die Muskeln des Schulterblatts 
(Supra-, Infra-spinatus und Teres minor) sind vollständig atrophisch und reagiren 
auf den Inductionsstrom nur schwach; der M. deltoides ist gut erhalten, ziemlich 
kräftig, wenn gleich schwächer als der rechte, auf electrische Reizung lebhaft 
reagirend. Die linke Schulter ist abgeflacht, Acromion spitz vorspringend, weil 
das resecirte Humerusende nach einwärts gerückt ist und dicht unter dem Pro¬ 
cessus coracoides, als kugelige Anschwellung deutlich sichtbar (vergl. d. Abbil¬ 
dung Taf. V), articulirt. 

Die passive Erhebung ist bis zur Horizontalen, die active nur bis zu einem 
Winkel von 40° möglich; die active Erhebung des Arms über diesen Winkel 
hinaus wird durch Locomotion der Scapula ermöglicht. Die Ernährung des gan¬ 
zen Arms ist die normale, nur der M. biceps dünner als der rechte. Die active 
Bewegung des Ellenbogengelenks, Handgelenks und der Finger ist normal, der 
Druck der Hand kräftig. Die linke Hand hebt ein Gewicht von 50 Pfund ohne 
Mühe und ohne unangenehme Empfindung im Schultergelenk vom Erdboden auf. 

Mit einem Gewicht von 15 Pfund kann der Vorderarm im Ellenbogengelenk activ 
flectirt und in dieser Stellung 10 Minuten erhalten werden. Der resecirte Arm 
wird zu allen Functionen, welche eine stärkere Erhebung als zur Horizontalen 
nicht erheischen, gebraucht. Herr v. Z. kleidet sich ohne fremde Beihülfe an, 
gebraucht beim Anziehen der Stiefel, beim Zuschnallen der Militaircravatte die 
linke Hand wie die gesunde, führt dieselbe zum Munde u. s. w. 

Bis zum Jahre 1869 habe ich Herrn v. Z. in jedem Jahre während der 
Weihnachtszeit in Berlin gesehen und seinen Arm untersuchen können. Die 
Brauchbarkeit des Arms war unverändert dieselbe geblieben. Meine letzten No¬ 
tizen über den Zustand des Arms datiren vom 2. Januar 1868, und ich trage 
aus ihnen noch Einiges nach. Die Muskeln der Scapula sind vollständig ge¬ 
schwunden , von Supra-, Infraspinatus und Teres keine Spur zu entdecken. Der 
M. deltoides ist recht kräftig entwickelt und allein thätig bei Erhebung und 
Rotation des Oberarms. Diese Bewegungen sind, wie früher, unvollkommen. 

Die Erhebung nach Aussen ist nur bis zu einem Winkel von 45° möglich, da¬ 
gegen kann nach vorn der Arm so weit erhoben werden, dass die Hand den 
Mund bedeckt. Der übrige Arm ist relativ eben so kräftig wie der rechte. Die 
Humerusdiaphyse, welche unter dem Processus coracoideus steht, bewegt sich 
hier offenbar in einem neuen Gelenk, bei dessen Function ein glattes Reibungs¬ 
geräusch wahrgenommen wird, als befinde sich eine Bandscheibe zwischen den 
Pseudo-Gelenkfläcben. Die in Taf. V gegebene Photographie datirt von der 
Zeit dieser letzten Untersuchung. 

Bei dieser Resection, wie bei allen Oberarmkopfresectionen, 
welche ich im Kriege 1848 ausgeführt habe, waren die an die 

25* 

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388 


B. v. Langenbeck, 


Tubercula sich inserireuden Muskeln mit der Gelenkkapsel durch¬ 
schnitten worden. Dieser Fall und die ihn illustrirende Photor 
graphie ermöglicht nu^ einen guten Vergleich mit dem, was sub¬ 
periostale Resectionen des Oberarmkopfs leisten, wenn man ihn 
mit den beiden nachstehenden Fällen zusammenhält und die Pho¬ 
tographien vergleicht. 

Nr. 16. Subperiostale Resection des rechten Oberarmkopfs. Herstellung 
der vollen Gebrauchsfäbigkeit des Arms. 

v. Borcke, 67. Landwehr-Infant.-Regt., von nicht kräftigem Körperbau, er¬ 
hielt am 3. Juli 1866 in der Schlacht bei Königgrätz einen Schuss durch das 
rechte Schultergelenk. Die (Oesterreichische Minie-) Kugel war in Fossa infra- 
spinata, genau unter der Stelle, wo die Spina scapulae in Acromion ausläuft, 
ein- und vorn, hart an der Aussenseite des Processus coracoides ausgetreten. 
Vom Scblachtfelde nach dem Städtchen Horic transportirt, bot der Verwundete 
so wenig die Erscheinungen der Gelenkverletzung dar, dass diese nicht ange¬ 
nommen wurde. Im Verlauf der ersten 8 Tage trat jedoch eine bedeutende 
Anschwellung des Schultergelenks mit heftigen Schmerzen und Fieber eiu. Bei 
Druck auf die fluctuirende Gelenkkapsel entleerte sich trübe Synovia in Menge, 
und es folgte unter andauerndem Fieber eine profuse Eiterung. Die grossen 
Mengen dünnen Eiters entleerten sich jedoch unbehindert durch die ziemlich 
weiten Schussöffnungen, und Eitersenkungen traten nicht ein. Am 21. Juli 
wurde von uns eine Vereiterung des Gelenks und spontane Luxation des Hume- 
ruskopfes gegen die Achselhöhle constatirt: die bis dahin sehr heftigen Schmerzen 
hatten plötzlich nachgelassen, die Schulter ist abgeflacht, der Oberarmkopf herab¬ 
gesunken, die Extremität um reichlich 3 Ctm. länger als die linke, der Oberarm¬ 
kopf lässt sich, unter Austritt grosser Eitermengen durch die Schussöffnungen, 
nach allen Richtungen hin und her schieben. Wiederholt aufgetretene leichte 
Frostscbauer deuten die Gefahr einer pyämischen Infection an. 

Resection des Oberarmkopfs am 29- Juli 1866. Der vom vorderen Rande des 
Acromion 10 Ctm. lang nach abwärts geführte Längsschnitt verläuft nach vorn von 
der Ausgangsöffnung des Schusskanals, um diese für den späteren Abfluss des 
Wundsecrets offen erhalten zu können. Die Ablösung des Periosts mit den ge¬ 
lockerten Muskelansätzen konnte ich ungewöhnlich leicht und sehr vollständig 
ausführen. Den Humeruskopf aus der Wunde hervortreten zu lassen, war un¬ 
möglich; ich sägte daher die Diaphyse mit der Stichsäge in der Wunde ab. Die 
Länge des resecirten Knochenstücks beträgt 10 Ctm. Die Gelenkfläche ist in 
zahllose kleine und kleinste Fragmente zersplittert, von denen viele in die Sy¬ 
novialkapsel eingesprengt sind, so dass diese sich wie mit Stacheln besetzt an¬ 
fühlt. In der Gegend der Tubercula ist der Knochen der Länge nach gespalten. 
Am unteren Rande der Fossa glenoidalis scapulae befindet sich ein von der 
Kugel herausgeschlagener rinnenförmiger Defect, jedoch keine weitergehende 
Splitterung. Das Geschoss war also in der Richtung von hinten und oben nach 
unten und vom durch das Gelenk hindurchgegangen. 

Die Operation8wnnde wird durch Suturen genau vereinigt, durch die Schuss- 

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lieber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 389 

Öffnungen ein Leinwandstreifen hindurcbgeführt, um den Abfluss des Wund- 
secrets zu sichern. 

Abgesehen von der Arteria circumflexa humeri anter., welche unterbunden 
wurde, hatte kein Gefäss gespritzt; der Blutverlust war also sehr gering gewesen. 

Der erste Abfall des Fiebers nach der Operation war nicht von Bestand; 
schon am Abend des zweiten Tages fieberte Patient wieder stärker, und es traten 
bald auch wieder kleine Frostschauer ein. Der pyämische Zustand wurde un¬ 
zweifelhaft, und der Kranke verfiel mehr und mehr. Der Gesundheitszustand 
in Horic war damals nicht gut; Cholera und Nosocomialgangrän machten sich 
bemerklich. Dem unvergesslichen Grafen Eberhard zu Stolberg-Wer- 
nige rode, der stets zu helfen bemüht war, klagte ich, dass v. B. sterben 
werde, und erhielt das Anerbieten, den Verwundeten in einem Verwundeten wagen 
des Johanniterordens nach Schlesien fahren zu lassen. Das wurde sofort ange¬ 
nommen und ausgeführt. Der Verwundete, von einem Pfleger begleitet, fuhr 
durch das Böhmische Gebirge, bei herrlichem Wetter im langsamen Schritt nach 
Salzbrunn und von dort nach Dresden. Ich bin überzeugt, dass er dadurch 
allein gerettet worden ist. Das Fieber Hess schon auf der Reise nach, und als 
ich ihn Ende August in Dresden sah, fand ich ihn in voller Reconvalescenz und 
die Wunde der Heilung nahe. Im September ging v. B. nach Kosen und für 
den Winter nach Halle, wo er angestellt war. Hier hatte er Anfangs 1867 
einen schweren Abdominaltyphus zu überstehen, von welchem er nur langsam 
reconvalescirte. 

Ara 14. August 1868 stellte Hr. v. B. sich mir in Berlin vor. Der rechte 
Arm ist fast 2 Ctm. kürzer als der linke; das Uebrige fehlende ist durch Kno¬ 
chenneubildung ersetzt. Das obere Ende des Humerus, an welchem ein Gelenk¬ 
kopf nicht durcbgefühlt werden kann, artikulirt vollkommen glatt mit der Fossa 
glenoidalis scapulae, steht aber um ein wenig zu weit nach einwärts, weshalb 
die Schulter etwas abgeplattet erscheint. Ohne Zweifel ist diese tielenkstellung, 
welche ich nach subperiostalen Resectionen sonst nicht gesehen habe, der vor 
der Operation bestandenen spontanen Luxation zuzuschreiben. Die ganze Ex¬ 
tremität ist gut genährt, eben so kräftig wie die linke. Nur die Muskeln des 
Schulterblatts sind weniger stark entwickelt, wie die der linken Seite. 

Alle Bewegungen des Arms sind vollkommen frei. Herr v. B. erhebt den 
Arm bis zur Verticalen, legt die Hand auf den Kopf, führt sie hinter den Nacken 
und gebraucht den Arm überhaupt wie vor der Operation. 

Die Hand ist zum kräftigsten Händedruck fähig und ermüdet beim Schrei¬ 
ben nicht. Patient geht von Berlin zum Gebrauch der Bäder nach Aachen und 
Ostende. 

Am 25. December 1869 sah ich Herrn v. B. hier in Berlin wieder. Der 
rechte Arm ist seit der letzten Untersuchung kräftiger geworden und wird zu 
alleu Verrichtungen wie ein gesunder Arm gebraucht Nur beim Essen kann 
es Vorkommen, dass, wenn er den Löffel rasch zum Munde führt, von der Suppe 
etwas verschüttet wird. Die Kräftigung des Arms ist namentlich auch daran zu 
erkennen, dass derselbe activ ganz langsam bis zur Horizontalen erhoben, in 
dieser Stellung erhalten und dann eben so langsam und gleichmässig bis zur 


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390 


B. y. Langenbeck, 


Vertikalen aufgerichtet werden kann. Das resecirte Ende des Humerus ist in 
Folge der Kraftzunabme in den Muskeln des Schulterblatts besser gestellt, be¬ 
wegt sich an der Fossa glenoidalis und weicht nur noch bei sehr rascher Er¬ 
hebung des Arms etwas nach Innen aus. 

Herr Prof. Richard Volkmann in Halle, der die Güte gehabt, die in der 
Abbildung (Taf. XIV) wiedergegebene Photographie mir zu überlassen, schreibt 
mir am 6. November 1873, also 7 Jahre nach ausgeführter Resection, Folgendes: 

„Leider ist der vertikal emporgehobene Arm in der Photographie ziemlich 
verwischt und undeutlich, weil Herr v. Borcke den Arm nicht so lange als der 
Photograph es verlangte, vollständig frei und nicht unterstützt, ohne schliesslich 
zu zittern und ihn etwas zu senken, empor halten konnte, das Bild aber, wenn 
ich den Kranken z. B. eine über seinem Kopfe befindliche Schnur hätte anfassen 
lassen, jeden Werth verloren hätte. So beweist es unu mstösslich —was 
ich sehr oft constatirt — dass Herr v. Borcke seinen Arm activ 
und ohne jede Schleuderbewegung bis zur Vertikalen erheben 
kann.“ 

Dieser Fall bietet noch ein besonderes Interesse dadurch, 
dass er beweist, was nach einer ausgedehnten, unter den ungün¬ 
stigsten Verhältnissen unternommenen Resection des Oberarmkopfs 
durch den alltäglichen Gebrauch des Arms allein erreicht werden 
kann, denn Hr. v. B. hat, ohngeachtet meiner dringenden Bitte, 
systematische Uebungen des Arms niemals angestellt und auch 
die Auwendung der Electricität unterlassen. 

Nr. 17. Subperiostale Resection des rechten Oberarmkopfes. 
Heilung mit vollständiger activer Beweglichkeit, v. Koppenfels, Prem.- 
Lieut., jetzt Hauptmann im 67. Infanterie-Regiment, ein sehr kräftiger Mann, er¬ 
hielt in der Schlacht bei Langensalza am 27. Juni 1866 einen Gewehrschuss 
durch das rechte Schultergelenk. Die Kugel war an der Aussenseite des Process. 
coracoides ein- und dicht unter dem hinteren Rande des Acromion wieder aus¬ 
getreten. Die Kugel muss nach der Richtung der Schussöffnungen und nach 
der von dem Verwundeten gegebenen Schilderung des Verlaufes der Verwundung 
nur die Gelenkfläche des Oberarmkopfs, vielleicht auch die Gelenkfläche der Sca¬ 
pula verletzt haben. 

Der Verwundete schob die rechte Hand in seinen Waffenrock, blieb noch 
5 Stunden im Gefecht und ging zu Fuss von Langensalza nach Gotha, wo er 
Nachts um 12 Uhr anlangte. Die active Beweglichkeit des Gelenks war unmög¬ 
lich, die passiven Bewegungen dagegen konnten ohne grosse Schmerzen ausge¬ 
führt werden. Die Rückenlage vermochte v. K. nicht zu ertragen, ohne dass 
Kissen unter die verletzte Schulter geschoben wurden. Anderen Tags wurde er 
in das elterliche Haus nach Erfurt transferirt, wo die Eisbehandlung eingeleitet 
wurde. 

Es folgte eine heftige Entzündung und Eiterung des Gelenks mit Ausstossung 
vieler kleiner Knochensplitter, welche offenbar dem spongiösen Gelenkkopf ange- 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


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horten. Als Herr v. K. im Januar 1867 nach Berlin kam, bestand eine Eiterung 
aus der noch nicht geschlossenen Eingangsöffnung des Schusskanals, und cs 
wurden kleine Knochenstückchen auch jetzt noch von Zeit zu Zeit ausgestossen. 
Das Gelenk war durch knöcherne Ankylose bereits ganz unbeweglich. Als ich 
dem Pat. bemerkte, dass der ganze Habitus des Gelenks eine baldige Heilung 
iu Aussicht stelle, und von den Mitteln sprach, welche angewendet werden könn¬ 
ten, um die Heilung zu beschleunigen, erwiederte er mir, er sei nur nach Berlin 
gekommen, um von mir zu erfahren, ob.es möglich sei, durch Resection die Be¬ 
weglichkeit seines Schultergelenks wieder herzustellen; er habe den Wunsch, 
als activer Officier der Armee weiter anzugehören, was bei dem jetzigen Zu¬ 
stande seines Armes unmöglich sei. Der Oberarm war durch Spannung des M. 
pectoralis maj. an die Brustwand dicht angepresst und konnte nur in der Rich¬ 
tung nach vorn und hinten bewegt, dagegen activ nur sehr wenig vom Thorax 
abgehoben werden. Der ganze Arm war beträchtlich abgemagert, die Schulter 
abgetiacht, wahrscheinlich in Folge von spontaner Subluxation des Humeruskopfs 
gegen die Achselhöhle, von welcher aus derselbe deutlicher gefühlt werden konute, 
als in der Norm. Die Muskeln des Schulterblattes und M. deltoides in hohem 
Oracle atrophisch. Hand und Ellenbogengelenk vollkommen brauchbar, doch weniger 
kräftig als zuvor. Nachdem die Operationsfrage ausführlich discutirt worden, er¬ 
klärte ich mich bereit, die Resection auszuführen. Subperiostale Resection 
des Oberarmkopfs am 16. Januar 1867 in der Königl. Klinik. Vorderer 
Längsschnitt; sehr sorgfältige Ablösung des Periosts vom Halse und der Mus¬ 
kelansätze von den Tubercula, so dass die Verbindung der Muskeln mit dem 
Periost vollständig erhalten wird. Der Finger gelangte nun in einen ziemlich 
tiefen Defect der Gelenkfläche des Kopfes, in welcher noch mehrere lose Knochen¬ 
stückchen lagen, und auf die knöcherne Verwachsung des letzteren mit der Ge¬ 
lenkfläche der Scapula. Es wurde nun sehr schwer dem Gelenkkopf beizukom¬ 
men, da dieser, wie ich vorher erwartet hatte, gegen die Achselhöhle subluxirt 
war. Nachdem das Periost auch von der hinteren Fläche des Collum humeri 
sorgfältigst abgelöst worden, musste ich zunächst die Ankylose sprengen, was 
mit einiger Anstrengung gelang, dann das Collum humeri in der Wunde mit 
der Stichsäge durchsägen. Der resecirte Knochen, welcher an seiner Gelenk- 
fläche zahlreiche Defecte zeigte, mass 6 Ctm. in der Länge. Die Durchsägung 
hatte dicht unter der Tubercula stattgefunden. Die Operationswunde wurde 
durch die Naht vereinigt, während ein durch die Schussöffnung eingelegtes 
Drainrohr den Abfluss des Wundsecrets sicher stellte. Der Wundverlauf bot 
nichts Bemerkenswerthes dar. Nachdem die Wunde geheilt, wurde in der Klinik 
6 Wochen lang der Inductionsstrom angewendet, verbunden mit passiven Be¬ 
wegungen im Gelenk. Ende April 1867 verliess Herr v. K. die Anstalt mit 
schon recht freier passiver Beweglichkeit des Schultergelenks. Die Fortsetzung 
der passiven Bewegungen neben baldigst zu beginnenden activen Uebungen und 
die Anwendung der Electricität wurde dringend anempfohlen. 

Am 12. Januar 1868 theilte Herr v. K. in einem mit sehr schöner Hand¬ 
schrift geschriebenen Briefe mir mit, dass sein Arm so brauchbar wie vor der 
Verwundung geworden sei, und dass er sich bald iu Berlin vorstellen werde. 


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392 


B. v. Langenbock, 


Am 19. desselben Monats hatte ich die Freude, Herrn v. K. hier zu untersuchen, 
meinen Zuhörern in der Klinik vorzustellen und die Photographie (Taf. VI) von 
ihm zu erhalten. Zur weiteren Anwendung der Electricität hatte sich keine Ge. 
legenheit geboten, dagegen waren active Uebungen mit grosser Beharrlichkeit 
gemacht worden. Namentlich hatte v. K. die Kreisbewegungen des Arms im 
Schultergelenk fleissig geübt, während ein 10 Pfund schweres Gewicht in der 
Hand gehalten wurde. 

Der rechte Arm ist höchstens 1 Ctm. kürzer als der linke, kräftig genährt 
und sehr muskulös. Die Schulter hat die frühere Abflachung verloren und ist 
fast normal gewölbt. Die Muskeln des Schulterblatts sind noch etwas schwächer 
als die der anderen Seite, wirken aber vollkommen kräftig. Das obere Ende 
des Humerus läuft in einen ziemlich umfangreichen Kopf aus, welcher mit der 
Scapula ein vollkommen glatt bewegliches Gelenk bildet. Der Kopf weicht selbst 
bei sehr rascher Erhebung des Arms oder Rotation im Schultergelenk von der 
Fossa glenoidalis nach keiner Richtung hin ab. Die Erhebung des Arms bis 
zur Horizontalen geschieht ruhig und ohne Bewegung des Schulterblattes. Die 
Erhebung des Arms bis zur Vertikalen ist eine vollständige. Es bedarf keiner 
Erwähnung, dass der rechte Arm, einem gesunden gleich, zu allen Functionen 
gebraucht wird. 

Im Sommer 1868 trat v. K. in den activen Militairdienst seines Regiments 
wieder ein. Im Sommer 1872 besuchte Hr. v. K. mich wieder. Er hatte als 
Führer seiner Compagnie den Feldzug in Frankreich von Anfang bis zu Ende 
mitgemacht, hatte 16 Wochen lang den sehr anstrengenden Vorpostendienst vor 
Pfalzburg geleistet und später beim Heranrücken der Fiourbaki’schen Armee bei 
der heftigsten Kälte Streifpatrouillen in den Vogesen geführt. Ohngeachtet der 
grossen Anstrengungen, welche dieser Krieg den Officieren wie den Mannschaften 
auferlegte, ist der resecirte Arm stets in derselben Diensttüchtigkeit verblieben 
und hat niemals eine Beschwerde verursacht. Das Gefühl der Ermüdung ist 
nicht stärker wie in dem gesunden Arm hervorgetreten, und Schmerzen, welche 
von Hannover bei den dänischen Invaliden so constant hervorgehoben werden, 
sind bei Herrn v. B. niemals vorhanden gewesen. 

Im Herbst 1873 ersuchte ich Herrn v. K. um Nachricht, wie 
die Gebrauchsfähigkeit seines rechten Arms sich bis jetzt erhalten 
habe, und erhielt nachstehende ausführliche Schilderung, welche 
ich hier mittheilen zu müssen glaube: 

„Im Allgemeinen, schreibt Herr v. K. am 21. November 1873, kann ich be¬ 
haupten, dass der Arm mich in keiner Weise die Operation fühlen lässt. leb 
gebrauche den Arm wie vor der Verwundung, und die Gelenkigkeit im Schulter¬ 
gelenk ist so gross, dass ich jegliche Verrichtung im alltäglichen Leben ohne 
Behinderung ausführen kann. Meine Bewegungen sind so frei, dass selbst Aerzte, 
welche auf meine Resection aufmerksam gemacht worden sind, nicht bestimmen 
können, an welchem Arm die Operation vorgenommen ist. Um die Leistungs¬ 
fähigkeit des Arms bei grösserem Kraftaufwand darzuthun, führe ich folgende 
Uebungen an: An einem Sprungkasten, wie er beim militairischen Turnen ge- 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 393 

braucht wird, habe ich mit Anlauf und Aufsetzen der beiden Hände den Ueber- 
schlag gemacht, ferner bei einer Entfernung des Sprungbrettes von 6 Fuss vom 
Kasten Wende und Kehre: am Paartau habe ich 3—4 Klimmzüge gemacht, eben¬ 
so am Reck.“ 

„Beim Schwimmen genirt mich der Arm eine Wenigkeit, aber trotzdem kam 
ich bei einem Wettschwimmen, wo es darauf ankam eine Strecke von 100 Schritt 
so rasch als möglich zu durchschwimmen, bei 8 recht guten Schwimmern als 
Dritter am Ziele an.* 

„Der rechte (im Schultergelenk resecirte) Arm ist was Kraft anbetrifft, 
stärker als der linke, während die Muskulatur bei beiden Armen ganz gleich 
ist. Nur die Muskulatur des rechten Schulterblattes ist entschieden geringer als 
die des linken. Was das Kraftmaass des rechten Arms anbetrifft, so hebe ich 
ein 120 Pfund schweres Gewicht mit dem rechten Arm von der Erde auf und 
halte es £ Minute lang in der Schwebe. Ich hätte es auch noch länger halten 
können, wenn mir nicht die Finger durch den schlechten Griff zu sehr zusammen¬ 
gepresst worden wären. Schmerzen oder Unbequemlichkeit im Arm oder Schul¬ 
tergelenk habe ich dabei nicht im Geringsten gehabt. Ferner hebe ich ein 20 
Pfund schweres Gewicht vom Erdboden auf und bringe dasselbe bis zur Höhe* 
der Augen, höher aber nicht. Ich halte einen mir in die Hand gegebenen halben 
Centner bei vollständig gekrümmtem Vorderarm 10 Secunden lang und stelle 
dieses Gewicht auch allein wieder auf die Erde. Bei horizontal ausgestrecktem 
Arm halte ich 15 Pfund 6 Secunden lang in der Hand, alsdann beuge ich den 
Vorderarm im rechten Winkel, lege 35 Pfund auf den Oberarm und halte beide 
Gewichte 10 Secunden lang. Zum Schluss strecke ich den Vorderarm, setze 
ein Gewicht von 30 Pfund in’s Ellenbogengelenk und halte dasselbe 15 Secunden 
lang. Alle diese Uebuugen führe ich rasch hinter einander aus, ohne die ge¬ 
ringste Unbequemlichkeit hinterher in Gelenk oder Arm zu spüren.“ 

„Das Aufsteigeu aufs Pferd macht mir nicht die geringste Schwierigkeit, 
ich verspüre nicht einmal Unbequemlichkeit und gebrauche dabei meinen rechten 
Arm wie jeder Andere. “ 

„Bis ohngefähr 18G9 hat sich mein Arm fortwährend gestärkt, von da ab 
aber ist Stillstand eingetreton. Einen Rückschritt iu der Brauchbarkeit des Arms 
habe ich zu keiner Zeit wahrgenomraen, sowie ich auch nie Rheumatismus oder 
Schmerzen in demselben verspürt habe.“ 

Die Nothwendigkeit einer vorzugsweise gymnastisch-orthopä¬ 
dischen Nachbehandlung ist bereits von mir hervorgehoben worden. 
Diese muss jedenfalls lange Zeit, wie lange vermag ich nicht an¬ 
zugeben, fortgesetzt werden. Der Resecirte No. 17 behauptet, 
dass sein Arm während zweier Jahre nach der Operation au Kraft 
stets zugenommen habe, dann aber ein Stillstand eingetreten sei. 
Wäre dieser eine Fall massgebend, so würde also eine sehr lange 
Fortsetzung der gymnastischen Uebungen anzurathen sein. Wird 
die Nachbehandlung zu früh unterbrochen, so macht die gewon- 


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UMVERSITY OF CALI 



394 


B. v. Langenbeck, 


nene Brauchbarkeit des Gelenks wieder Rückschritte. Eine von 
Neuem aufgenommene Behandlung stellt daon die frühere Brauch¬ 
barkeit sehr bald wieder her. Der nachstehende Fall giebt dafür 
einen interessanten Belag. 

No. 18. Julius Wagner, Unteroffizier im 7. Ostpreuss. Inf.-Regmt. No. 44. 
erhielt am 19. Januar 1871, bei St. Quentin eine Schussfractur des linken Ober¬ 
armkopfs. Am 4. Febr. wurde er in die, unter Direction des Herrn Dr. Max 
Müller stehende, chirurgische Abtheilong des Marien-Spitals in Cöln aufgenom¬ 
men Die nachstehenden interessanten Notizen, welche Hr. Dr. Müller mi r 
mitzutheilen die Güte hatte, gebe ich ausführlich wieder: 

Die Kugel war in der Gegend des Process. coracoides eingedrungen und 
ungefähr in gleicher Höhe am hinteren Gelenkumfange wieder ausgetreten. Am 
6. Febr. untersuchte Hr. M. die Wunde mit dem Finger von der Ausgangsöff¬ 
nung des Scbusskanals aus und extrahirte bei dieser Gelegenheit ein pflaumen¬ 
kerngrosses Knochenstüsk, das in der Grösse eines Zweigroschenstücks Knorpel¬ 
überzug trug. Der eingeführte Finger bestrich den im Uebrigen unverletzten 
Gelenkkopf und fand die Pfanne unverletzt. Die Verwundung hatte bei abdu- 
cirtem, horizontal erhobenen Arm (Gewehr im Anschlag) stattgefunden, die Kugel 
die hintere Kapselwand zerstört und das erwähnte ganz lose Knochenstück aus 
dem Gelenkkopf herausgeschlagen. Eine reichliche Eiterung des Gelenks war 
bei Ankunft des Patienten vorhanden. 

Subperiostale Resection des Oberarmkopfs durch vorderen Längsschnitt 7. Fe¬ 
bruar 1873. „Für die Operation bestimmte mich, schreibt Hr. M, einmal die 
im günstigsten Fall ohne Resection zu erwartende Ankylose, dann die Vitalindi- 
eation, da eine von mir anfangs des Krieges behandelte Schussfractur des Schul¬ 
tergelenks bei längerem Zuwarten pyämisch geworden war und so die beabsich¬ 
tigte Resection unterbleiben musste/ 

Die Operation geschah mit Erhaltung der nicht verletzten Sehne des M. 
biceps und ganz subperiostal. Die Absägung erfolgte im oberen Theil des 
Collum chirurgicum. Verband mit Carbolöl mit Einführung mehrerer Drainröh¬ 
ren in die Operationswunde und durch Ein- und Ausschussöffnung. Achselkissen 
bei etwas spitzwinklig gebeugtem Ellenbogen 

Eiterung und Wundfieber bei fortgesetztem Chiningebrauche (0,72—1,0 Grm. 
per diem), sehr gering, und schien die Operation apyretisch gewirkt zu haben. 
In 8 Wochen Schluss der Wunden. Ende der 10. Woche konnte Pat. 15 Pfund 
mit ziemlicher Kraft schwingen, die verletzte Hand zum Gesicht bringen, damit 
den Nacken umspannen, die Hand bei rechtwinklig gebogenem Ellenbogen auf 
den Rücken legen. Die meiste Nachhülfe bedurfte er, um den Arm in die ho¬ 
rizontale Erhebung zu bringen, sowohl in der Richtung nach vorn wie in der 
Abductionsrichtung. Am 9. Mai 1871 wurde Pat. nach Danzig entlassen. Am 
6- October berichtet Pat., dass er bei herabhängendem Arm mit Leichtigkeit 25 
Pfund hebt, bei Stützung des gesunden Armes auf das gesunde Knie 50 Pfund 
etwa £ Fass weit hebt, vom Fussboden auf einen mittelhohen Tisch 20 Pfund 
hebt, bei frei nach aussen erhobenem Arm nur 3 Pfund einen Augenblick lang 


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Ueber die Endresultate der Oelenkresectionen im Kriege. 395 

halten kann, dass er die unbeschwerte Hand bei extendirtem Ellenbogen mit 
Leichtigkeit in Abductionsstellung zur Horizontalen erbebt, dass er endlich die 
Arme unterschlagen, die Hand auf den ltücken legen, den Rücken umspannen, 
die Halsbinde binden, damit essen, Fleisch schneiden, sich kämmen, sich allein 
anziohen und andauernd schreiben kann.“ 

Der von 0. St-A. Dr. Frentzel (Deutsche militairärztl. Zeitschrift 1. Jabrg. 
1872. S. 407. 2.) am 9- Mai 1871, unmittelbar nach der Entlassung aus dem 
Lazareth in Cöln aufgenommene Superrevisionsbefund lautet: „der linke Oberarm 
kann selbstständig ein wenig vom Rumpf abgehoben werden. Bewegung im Hand- 
und Ellenbogengelenk frei, Musculatur wenig abgemagert, Druck der Hand .sehr 
kräftig.“ 

Am 10. April 1873 kam der, jetzt bei der Königl. Ostbahn als Bureaubeam¬ 
ter angestellte W. zu mir, um meinen Rath einzuholen. Ich fand den Arm 
genau in demselben Zustande wie er zwei Jahre früher bei der Entlassung aus 
Cöln und etwas später von Dr. Frentzel bei der Superrevision geschildert wird, 
und stellte W. in diesem Zustande dem hier versammelten Deutschen Chirurgen- 
Congress am 18. April 1873 vor (Berlin, klin. Wochenschrift 1873 No. 28. 
S. 333). 

Die am 18. April 1873 constatirte Gebrauchsfähigkeit war weniger gut als 
in der eigenen Schilderung des W. vom 6. October 1871 angegeben wird. W. 
gab nun zu, dass er seit dem Herbst 1871 für seinen Arm gar nichts mehr ge- 
than und keine Uebungen mehr angestellt habe, weil er bei der erlangten vollen 
Gebrauchsfähigkeit dieses nicht mehr für nöthig gehalten habe. 

Wagner begann nun auf meinen Rath die electriscbe Behandlung unter 
Leitung des Herrn Dr. Hitzig hierselbst. Nach der 5. Sitzung kam W. hoch¬ 
erfreut zu mir; er war im Stande, seinen Arm, den er am 18. April „nur ein 
wenig vom Rumpf abheben konnte“, am 1. Mai bis zur Horizontalen zu erheben, 
ohne dass das Schulterblatt mitbewegt wurde, und in dieser Stellung einige Mi¬ 
nuten zu erhalten. Nach abermals 5 Sitzungen mit Anwendung des Inductions- 
stroms stellte W. sich wieder vor: er vermochte den Arm fast bis zur Verti- 
calen zu erheben, ohne dass eine schleudernde Bewegung dabei wahrgenom¬ 
men wurde. 

Aehnliche schöne Erfolge finden wir bei mehreren der in den 
Snperrevisionen geschilderten Invaliden; es ist nur zu beklagen, 
dass ein genauer Befund der wiederhergestellten Functionen sich 
niemals verzeichnet findet, während die Functionsstörungen der 
schlechten Resultate gemeiniglich mit grosser Ausführlichkeit, 
ja man könnte glauben, manchmal mit Vorliebe registrirt werden. 
Zu den guten Erfolgen rechne ich die nachstehenden Fälle: 

Nr. 19. F. Knorr, stud. jur., Freiwilliger im 2. Garde-Regt. z. F., ver¬ 
wundet durch Granatsplitter an der linken Schulter am 18. August 1870. Am 

12. September nach dem Barackenlazareth Nr. 1 in Berlin transferirt. Am 

13. September resecirte Professor Esmarch den Gelenkfortsatz der Scapula 


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396 


B. v. Langeübeck, 


und eztrahirte Splitter des Ober&rmkopfs. Die Superrevision sagt, leider in 
lakonischer Kürze: „Gelenk vorzüglich“ (Deutsche Milit. Zeitschr. 1872. 
S. 407. Nr. 1). 

Nr. 20. Greiff, Lieutenant im 2. Hannov. Inf-Regt. Nr. 77. Ausgedehnte 
Schussfractur des rechten Oberarms dicht unter dem Gelenkkopf, am 6. August 

1870 bei Saarbrücken. Am 15. August Resection des Oberarmkopfs im Laza- 
reth zu St. Johann durch Professor W. Busch (Bonn). Oberarmkopf nebst 
6 Ctm. langem Stück der Diaphyse entfernt Anfang März 1871 Heilung der 
Wunde. Dann 7 Woeben lange Kur in Wiesbaden, wo noch mehrere Knochen¬ 
splitter entfernt werden mussten. Der von Herrn Ober-Stabsarzt Dr. Leuthold 
mir gütigst im Hanuscript mitgetheilte Revisionsbericht sagt: „Musculatur des 
rechten Arms ebenso kräftig wie die des linken. Beweglichkeit im Schulter¬ 
gelenk vollkommen frei. Freie active Beweglichkeit des Oberarms nach vorn 
und hinten. Active Erhebung nur wenig über die Horizontale mög¬ 
lich. Pat. schreibt, kleidet sich selbst an.“ 

Nr. 21. Bernhard Rixfelder, Musketier im 6. Westphäl. Inf.-Regt. Nr. 55. 
Verwundet am 18. August 1870 bei Gravelotte. Schuss durch linke Schulter. 
Im Reservelazareth zu Dessau, wo Pat. vom 26. August 1870 bis zum 25. März 

1871 verpflegt wurde, war die Resection des Oberarmkopfes gemacht worden. 
Bei der am 24. Januar 1873 vorgenommenen Superrevision findet sich eine un¬ 
erhebliche Verkürzung des Arms, Kopf und Tubercula des Humerus deutlich 
entwickelt (?). Der Arm abgemagert, M. deltoides atrophisch. Pat. bewegt den 
Arm activ nur in der Richtung nach vorn und hinten. Passive Beweglichkeit 
frei, auch die Erhebung bis zur Horizontalen. Vorderarm von kräftiger Muscu¬ 
latur, Handdruck kräftig. 

Hält man diese 8 Fälle von Resection des Oberarmkopfs, in wel¬ 
chem für die gewöhnlichen Lebensverhältnisse ausreichende, ihrer 
Function nach vollkommen brauchbare Extremitäten durch die 
Operation erhalten wurden, mit den 6 von Kratz revidirten Re- 
secirten zusammen (a. a. 0. S. 403), von denen nur einer sich 
freut, seinen Arm wenigstens behalten zu haben, während die an¬ 
deren 5 erklären, ihre Arme seien ihnen nur zur Last, und sie 
würden amputirt besser daran sein, so drängt sich zunächst die 
Wahrnehmung auf, dass die schönen Resultate fast ohne Aus¬ 
nahme den gebildeten Ständen angehören, welche ein Verständniss 
dafür haben, dass zur Wiederherstellung der Brauchbarkeit eines 
verletzten Arms Uebung oder wenigstens Gebrauch der Extremi¬ 
tät eine nothwendige Bedingung sei. Ganz abgesehen von dem 
Geldgewinn, welcher durch Erwerbsunfähigkeit und sogenannte 
Verstümmelung dem Invaliden in Aussicht gestellt ist, stossen wir 
bei den Ungebildeten häufig auf einen so hohen Grad von Leichtsinn 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 397 

und Indolenz, dass alle unsere Bemühungen dadurch vereitelt 
werden. 

Eine andere Thatsache, welche durch die von mir mitgetheil- 
ten Fälle bewiesen wird, ist die, dass die sehr schönen Resultate 
durch subperiostale Resectionen erzielt worden sind, und die grosse 
Anzahl von ungewöhnlich schlechten Resultaten den Fällen ange¬ 
hört, in denen subperiostal sicher nicht resecirt, sondern die Ver¬ 
bindung der Schulterblattmuskeln mit dem Knochen durchschnitten 
wurde. Vergleicht man den Fall No. 15. Taf. V., in welchem diese 
Muskeln durschnitten, mit No. 16. und 17. (Taf. XIV. und VI.), in 
welchen diese Muskeln sorgfältigst erhalten wurden, so tritt die 
Verschiedenheit in der Configuration der Schulter sofort in die 
Augen: in dem ersteren Fall ist die Schulter abgeflacht, und tritt 
das Acromion wie bei einer Luxation spitzig hervor, in den bei¬ 
den letzteren ist die normale Schulterwölbung vorhanden. In 
allen Fällen nun, in welchen die Superrevision Abflachung der 
Schulter und spitzigen Vorsprung des Acromion registrirt, — und 
diese Fälle bilden die überwiegend grosse Mehrzahl —, ist subperio¬ 
stal nicht resecirt worden. Subperiostale Resectionen des Ober¬ 
armkopfs können, wie ich demnächst zeigen werde, arge Schlotter¬ 
gelenke hinterlassen, wenn sehr viel vom Knochen entfernt wird, 
die Knochenneubildung ganz ausbleibt, und die Nachbehandlung 
unzureichend gewesen ist, ein spitziger Vorsprung des Acromion 
mit starkem Eingesunkensein der Schulterwölbung kann darnach 
niemals Vorkommen, weil die unverletzt erhaltenen Muskeln des 
Schulterblatts (Supra-, Infraspinatus und Teres min., Subscapularis) 
das Ausweichen des Humerus nach Innen, unter Process. cora- 
coides, oder in der Richtung zur£Achselhöhle nicht zulassen. 

Man könnte den Einwurf erheben, dass das überaus günstige 
Resultat in den von mir mitgetheilten Fällen der geringen Aus¬ 
dehnung der resecirten Knochenenden beizumessen sei, und dass 
die ungünstigen Erfolge der vielen, in den Superrevisionen ge¬ 
schilderten Resectionen, bei denen die Länge der entfernten Kno¬ 
chen in der Regel nicht angegeben ist, vielleicht auf Rechnung 
sehr grosser Knochenverluste gebracht werden müssen. Um die¬ 
sem Einwurf zu begegnen, will ich eine Reihe von Fällen mitthei¬ 
len, in welchen sehr grosse Stücke vom oberen Ende des Hume¬ 
rus entfernt werden mussten. Es wird dabei zugleich die wich- 


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398 


B. v. Langenbeck 


tige Frage zur Erörterung gelangen, wie viel vom oberen Ende 
des Humerus überhaupt entfernt werden könne, ohne Gefahr zu 
laufen, dass eine ganz unbrauchbare und sogar lästige Extremität, 
d. h. ein Arm mit activ ganz bewegungslosen Ellenbogen-, Hand- 
und Fingergelenken zurückbleibe. Ich will sogleich von Vorn 
herein bemerken, dass diese letztere Frage gar nicht beantwortet 
werden kann. Es kann der ganze Oberarmknochen mit sammt 
dem Ellenbogengelenk entfernt werden müssen, und dennoch ein 
sehr brauchbarer Arm erhalten werden, wie in dem Fall No. 25, 
vorausgesetzt, dass eine ausgedehnte Knochenneubilduug stattfindet. 
Es wird sich diese Frage, so weit sie überhaupt entschieden wer¬ 
den kann, am besten noch dadurch erledigen, dass die Resultate 
sehr ausgedehnter OberarmreSectionen mit den oben referirten, 
bei denen weniger ausgedehnte Knochenverluste eintraten, vergli¬ 
chen werden. Ich beginne mit den ältesten Erfahrungen, welche 
mir zu Gebote stehen. 

Nr. 22. Carl Otto, Grenadier im kgl. Preuss. Kaiser Franz-Regiment, 
erhielt am 23. April 1843 in dem Gefecht bei Schleswig eine Schussfractur des 
linken Oberarmkopfs mit ausgedehnter Splitterung der Diapbyse (F. Pe- 
truschky, De resectione articulorum extremitatis super. Dies, inaugur. Berol. 
1851. 4. p. 32. Tab. I. Fig. 4;. Eine ausgedehnte phlegmonöse Schwellung 
der ganzen Extremität und eine profuse dünne Eiterung führte zur Erörterung 
der Frage, ob die Exarticulation im Schultergelenk nicht vorzuziehen sei. Am 
10. Uai 1848 machte ich die Resection des Oberarmkopfs mit dem vorderen 
Längsschnitt. Das Periost der Diapbyse wurde sorgfältigst abgelöst so weit die 
Splitterung reichte, die Uuskelansätze an die Tubercula aber, wie in allen 
übrigen damals von mir ausgeführten Oberarmkopf-Resectionen, mit der Gelenk¬ 
kapsel durchschnitten. Nur die Bicepssehnö wurde aus der geöffneten Sehnenscheide 
herausgehoben und erhalten. Das Geschoss (dänische Rundkugel), welches 2 Ctm. 
unterhalb Processus coracoides eingedrungen war, während das Gewehr im Anschlag 
gehalten wurde, hatte die Axillarseite des Collum chirurgicum in grosser Ausdeh¬ 
nung fracturirt und zahlreiche Fissuren veranlasst, welche theils nach aufwärts 
in den Gelenkkopf, theils tief abwärts in die Diapbyse reichten. Die Diaphyse 
wurde noch im Bereich feiner tiefer abwärts gehenden Fissuren mit der Stich¬ 
säge durchsägt, und das obere Ende des Humerus (welches sich in meinem Be¬ 
sitz befindet) in der Länge von 12 Ctm. entfernt. Ich gestehe, dass während 
der Operation mich der Gedanke nicht wenig quälte, dass die Exarticulation im 
Schultergelenk wohl vorzuziehen gewesen wäre. Es zeigte sich indessen bald die 
günstige Einwirkung der Operation durch sofortigen Abfall des Fiebers und ein- 
trotende gute Eiterung, und der Wundverlauf bei dem sehr gesunden und intelli¬ 
genten jungen Mann wurde in keiner Weise unterbrochen. Die Beweglichkeit 
in Ellenbogen-, Hand- und Fingergelenken, welche in Folge der phlegmonösen 


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Ueber die Endresultate der Gelenkreseetionen im Kriege. 399 

Infiltration der ganzen Extremität sehr gelitten hatte, kehrte rasch zurück, da 
Pat. noch im Bette, und bevor die Wunde geheilt war, die Bewegungen der 
Hand und Finger mit grossem Eifer übte. Nachdem die Wunde fest geschlossen 
war, Ende Juli, ging Pat., den Arm durch eine Tragkapsel gestützt, im Freien 
umher und führte stets einen ziemlich schweren Stock in der linken Hand. Als 
Otto im August 1848 aus Schleswig entlassen wurde, war die Wunde vollstän¬ 
dig geheilt, sein Aussehen blühend, der Vorderarm sehr kräftig, die active Be¬ 
weglichkeit des Ellenbogengelenks, Handgelenks und der Finger vollkommen. 
Im Winter 1849 konnte ich Otto meinen Zuhörern in der Klinik vorstellen. Der 
resecirte Arm ist nur 3 Gtm. kürzer als der rechte, vollkommen musculos und 
kräftig genährt. Der resecirte Knochen ist durch eine resistente Bandmasse mit 
mit Fossa glenoid. scapulae verbunden. Alle Bewegungen des Arms, mit Aus¬ 
nahme der nicht ausführbaren Erhebung bis zur Horizontalen, sind frei. Pat. 
führt die Finger in den Hund, fasst seine Nasenspitze, bebt einen Stuhl auf 
und hält ihn eine Zeit lang bei flectirtem Vorderarm. Die Kugel steckt noch, 
wahrscheinlich unter dem Schulterblatt (sie wurde im Sommer 1850 am unteren 
Winkel der Scapulae ausgeschnitten). 

Im Sommer 1856, als ich, auf einer Krankenreise begriffen und Postpferde ver¬ 
langend in das Postbureau eines Städtchens der Uckermark trat, wurde ich von 
dem als Postsekretair dort angestelten Otto freudig begrüsst, welcher mir seine 
linke Hand mit dem Bemerken darbot, dass dieser wohl das Vorrecht gebühre, 
meine Rechte zu schütteln. Die nur sehr flüchtige Untersuchung ergab eine Ver¬ 
kürzung des linken Arms um etwa 3 Ctm. Der offenbar in grosser Ausdehnung 
ersetzte Oberarmknochen steht mit seinem oberen Ende auf dem inneren Ab¬ 
schnitt der Gelenkgrube des Schulterblatts. Deltoides abgeplattet. Acromion 
spitzig vorspringend, wie bei Taf. V. Der Arm kann activ nicht bis zur Hori¬ 
zontalen erhoben werden, ist aber nach vorn und hinten sehr kräftiger Bewe¬ 
gungen fähig. 0. führt die Hand zum Munde, legt sie auf den Rücken, kleidet 
sich selbst an und behauptet 50 Pfund vom Erdboden aufheben und schwingen 
zu können. Bei der sehr kraftvollen activen Beugung des Vorderarms fühlt 
man in der Tiefe, in der Richtung der Operationsnarbe eine Spannung, welche 
ich der erhaltenen Bicepssebne zuschreibe. Im Ganzen erhielt ich den Eindruck, 
dass der Arm leistungsfähiger sei, wie bei dem Pat. No. 15. Eine ärztliche 
Ueberwachung und Behandlung hatte, seit der Zeit, wo Pat. Schleswig verlassen, 
nicht stattgfunden, doch versicherte er, meinen damals ertheilten Rath, den Arm 
fleissig zu üben, dadurch befolgt zu haben, dass er mit der linken Hand viel 
Holz gesägt, und dass er darin eine grosse Fertigkeit erlangt habe. 

No 23. Peter Hannsen aus Tlybierglille, K. Dänisches 2. Jägercorps 4. Comp., 
27 Jahre alt', von sehr kräftigem Körperbau, erlitt in der Schlacht bei Schleswig 
am 23. April 1848 eine Schussfractur des linken Oberarmkopfs. (Petrusehky, 
a. a. 0. S. 33. Tab. II. Fig. 2.) Die Kugel war etwa 3 Ctm. unterhalb Pro- 
cess. coracoides eingedrungen und am 3. Tage nach der Verwundung nahe dem 
Winkel der Scapula ausgeschnitten worden. 

Active Bewegungen im Schultergelenk unmöglich, passive schmerzhaft. Vor¬ 
derarm kann im Ellenbogengelenk flectirt, ebenso Hand und Finger frei bewegt 


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B. v. Langepbeck, 


werden. Mit der durch die vordere Oeffnung des Schusscanals eingeführten 
Sonde gelangt man auf das stark gesplitterte Collum humeri; die Continuität 
des Knochens ist nicht aufgehoben. Athembeschwerden mit blutigen Sputis, 
welche schon am Abend der Verwundung aufgetreten, werden einer Contusion 
des Thorax durch die Kugel zugeschrieben. Nach Anwendung von Blutentziehun¬ 
gen und Natr. nitric. verschwinden diese Erscheinungen bis zum 3. Mai. Der 
verletzte Arm schwoll stark an, und es entstand bis zum 12. Tage nach der 
Verwundung hohes Fieber mit abendlichen Exacerbationen und profuser, schlech¬ 
ter* Eiterung, wodurch der Verwundete sehr erschöpft wurde. 

Resection des Oberarmkopfs mit dem oberen Drittheil der Diaphyse des Hu¬ 
merus am 15. Mai 1848, 23 Tage nach der Verwundung, in der Chloroformnar¬ 
kose. Längsschnitt, am vorderen Rande des Acromion beginnend und in der 
Richtung des Sulcus intertubercularis nach abwärts geführt. Sehnenscheide des 
langen Bicepskopfs bis in das Gelenk geöffnet. Die unverletzt gefundene Sehne 
wird erhalten, das Periost der Diaphyse sorgfältigst abgelost, die Schulterblatt¬ 
muskeln mit der Gelenkkapsel durchschnitten. Die fast das ganze obere Dritt- 
theil des Humerus betreffenden Knochenfissuren zwangen mich, den Schnitt 
durch die Weichtheile wiederholt zu verlängern. Die Durchsägung des Knochens 
wird im Bereich der Insertion des M. pectoralis major mit der Stichsäge ausge¬ 
führt. Art. circumflexa humeri anter. musste unterbunden werden. Die sehr 
grosse Hautwunde wird durch Nähte vereinigt bis auf das untere Ende, welches 
durch einen bis in die Wundhöhle eingeführten Leinwandstreifen für den Ab¬ 
fluss des Wundsecrets offen eihalten wird. Eine zwischen Oberarm und Thorax 
fixirte, bis in die Achselhöhle hinaufreichende, mit Watte stark gepolsterte Papp¬ 
schiene verhinderte das Ausweichen des Humerus nach einwärts. Das von mir 
aufbewahrte obere Ende des resecirten Humerus ist reichlich 10 Ctm. lang. Un¬ 
terhalb des chirurgischen Halses hat der Knochen eine ausgedehnte Zertrümme 
rung erlitten, von welcher Fissuren in den Gelenkkopf und weiter abwärts in die 
Diaphyse ziehen. 

Schon am Tage nach der Operation zeigte sich ein bedeutender Abfall des 
Fiebers, und am 3. Tage war der Puls normal und der Appetit zurückgekehrt 
Die Heilung der Wunde erfolgte ungewöhnlich schnell; schon nach 14 Tagen 
konnte Pat aufstehen und im Garten umhergehen. 

Die active Beugung im Ellenbogengelenk und die Beweglichkeit der Hand 
und der Finger, welche unmittelbar nach der Operation von uns constatii t wurde, 
erhielt sich unverändert, und es wurden diese Bewegungen bei jedem Verbände 
geübt. Während er, den Arm in der Tragkapsel, umherging, trug er stets einen 
Stock in der Linken. Als der Verwundete im August 1848 nach Dänemark 
zurückkehrte, war die active Beweglichkeit des Vorderarms, der Hand und Finger 
vollkommen frei, die Erhebung des Oberarms im Schultergelenk aber unmöglich 
und nur die Bewegung nach vorn und gegen den Rücken ausführbar. 

Nr. 24. Scharfberg, K. Preuss. 31. Rgtm., Füsilier-Bataillon. Schussfractur 
des linken Oberarms mit ausgedehnter Splitterung in das Gelenk. Verwundet 
23. April 1848 in dem Gefecht bei Schleswig. Das Geschoss war unterhalb 
Processus coracoides ein- und durch den Latissimus dorsi ausgetreten, hatte den 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 401 

Humerusschaft dicht unterhalb des chirurgischen Halses in grosser Ausdehnung 
zerschmettert und eine bis in die Axillarseite des Gelenks reichende Splitterung 
veranlasst. Der Verwundete war am 23. April vom Schlachtfelds nach Rendsburg 
transportirt worden, und machte ich dasei bst die Resection am 18. Mai 1848. Dieser 
Fall war in allen Beziehungen dem vorhergeschilderten so ähnlich, dass ich die 
weitere Schilderung unterlassen kann. Auch die Sehne vom langen Kopf des 
Biceps konnte erhalten werden. Der Knochen musste aber in weit grösserer 
Ausdehnung resecirt werden. Das in meinem Besitz befindliche resecirte obere 
Ende des Humerus misst fast 14 Ctm. (Petruschky, a. a. 0., Tab. II. Fig. 1). 
Als ich Ende Juli den Verwundeten in Rendsburg wiedersab, war die Wunde 
fast geheilt, die volle active Beweglichkeit der Hand und der Finger erhalten, 
der Druck seiner Hand sogar ziemlich kräftig. Die Beweglichkeit im Ellenbogen¬ 
gelenk und die Bewegungen im Schultergelenk habe ich damals nicht geprüft, 
weil S. den Arm in der Tragkapsel trug, und später habe ich ihn leider nicht 
wiedergesehen. 

Denselben günstigen Verlauf nahm eine vom Generalarzt Dr. 
v. Lauer in Schleswig ausgeführte Oberarmkopfresection, bei wel¬ 
cher der Knochen ebenfalls in grosser Länge mit einem Stück des 
Gelenkfortsatzes des Schulterblattes entfernt werden musste. Auch 
bei diesem habe ich, als er Schleswig geheilt verliess, die volle 
active Beweglichkeit des Ellenbogengelenks so wie der Hand und 
Finger zu constatiren vermocht. Allerdings habe ich die letztge¬ 
nannten Resecirten nach vollendeter Heilung nicht wieder gesehen, 
und man könnte den Einwurf Hannover’s hier geltend machen, 
dass unsere Beurtheilung dieser Fälle voreilig gewesen sei. Wenn 
aber in einem diesem sehr ähnlichen Fall, wie der No. 22 ge¬ 
schilderte ist, nach Ablauf von 8 Jahren eine so brauchbare Ex¬ 
tremität hergestellt worden ist, wie oben angegeben, und zwar 
ohne dass eine Nachbehandlung stattgefunden hat, so darf die 
Erwartung berechtigt sein, dass das Endresultat dieser 3 Fälle 
ein gleich günstiges gewesen sein müsse. 

Als vollkommen entscheidend dürfte aber der nachstehende 
Fall gelten, in welchem nach der ausgedehntesten Oberarmkopf¬ 
resection später die nekrotisch gewordene Humerusdiaphyse ex- 
trahirt und schliesslich das Ellenbogengelenk resecirt werden 
musste, und in welchem nach einer wunderbaren Reihe von Un¬ 
glücksfällen der Arm doch so brauchbar geworden ist, dass der 
noch jetzt von mir beobachtete Verwundete beabsichtigt, zu Ostern 
1874 in den activen Militairdienst wieder einzutreten. 

v. laagenheek, Archiv f Chirurgie. XVI. 


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402 


B. v. Laugenbeck, 


Nr. 25. Freih. v. Röll, Sec.-Lieut. im 35. Inf.-Regt., erhielt am 16. August 
1870 in der Schlacht bei Mars la Tours eine Scbussfractur der rechten Oberarm* 
diaphyse. Das Geschoss (Cbassepotkugel) var am Ende des oberen Drittheils 
in der Gegend des Ansatzes des M. deltoides an die vordere Fläche der Oberarm- 
diaphyse ein-, und durch den H. triceps wieder ausgetreten. Vom Schlachtfelde 
war der Verwundete nach Gorze in die Behausung des Dr. Petitgand geschafft 
und mit grösster Sorgfalt gepflegt worden. Bis zum 24. August war der ge¬ 
brochene Arm auf einer Pappschiene ruhig gelagert gewesen. In den letzten 
Tagen war unter steigendem Fieber eine bedeutende Schwellung des ganzen Arms 
eingetreten, und die Schmerzen so heftig geworden, dass der genannte Arzt mich 
herbeirief. Am 26. August machten wir gemeinschaftlich eine genaue Unter¬ 
suchung des Arms in der Chloroformnarkose und constatirten eine ausgedehnte 
Zerschmetterung der Humerusdiapbyse mit nach allen Richtungen hin in die 
Weichtheile eingesprengten Knochensplittern. Aus der Einschussöffnung floss 
ein blutig - jauchiges Wundsekret in Menge aus. Nachdem die Wunde dilatirt 
worden, stiess der eingeführte Finger auf vollständig abgetrennte, in den Weich- 
theilen steckende grössere und kleinere Knochensplitter, von denen 7 extrahirt 
wurden. Die Grösse der entfernten Splitter Hess die ohngefähre Schätzung zu, 
dass die Diaphyse in der Länge von mindestens 6 Ctm. zerschmettert war. Da 
aber der Bruch ziemlich tief unterhalb der Insertion des M. pectoralis maj. sein 
Ende erreichte, so durften wir hoffen, dass das Schultergelenk in keiner Weise 
betheiligt sei. Es wurde ein dickes Wattelager zwischen Oberarm und Thorax¬ 
wand gelegt, und der Arm bei gebeugtem Vorderarm durch Gypsverband am 
Thorax unbeweglich fixirt, sodann den Wundöffnungen entsprechende, grosse 
Fenster eingeschnitten. 

27. August. Die Schmerzen haben ganz nachgelassen und seit mehreren 
Tagen zum ersten Male die Nachtruhe nicht gestört. Fieber gemindert Diese 
günstige Veränderung blieb bis zum 10. September von Bestand; der Kranke 
war, bei reichlicher Eiterung der Wunde, frei von Schmerzen und Fieber, ver- 
liess täglich das Bett und ging im Zimmer umher. Bei den zweimaligen Ver¬ 
bänden täglich konnte die Wunde mit Hülfe des Irrigators leicht vollständig ge¬ 
reinigt werden, der Arm war abgeschwollen und Eitersenkungen nicht eingetreten. 
Dann aber zeigte sich, vielleicht in Folge eines Diätfehlers, Diarrhoe und Fieber, 
die Eiterung wurde schlecht, die Wunde gereizt und sehr empfindlich, und es 
trat am 14. September ein starker Schüttelfrost ein. Nach Abnahme des Gyps- 
verbandes fanden wir die starke Eiterung von oben, von dem sehr stark ge¬ 
schwollenen Schultergelenk herkommend, und der Oberarmkopf war im Gelenk 
so verschiebbar geworden, dass eine Vereiterung des Gelenks unzweifelhaft 
erschien. 

16. September. Eine ausgiebige Erweiterung der Wunde lässt eine aus¬ 
gedehnte Splitterung in der Richtung nach oben wahmehmen, und konnten 8 
grosse, vollkommen gelöste Knochensplitter extrahirt werden. Sodann wurde ein 
Schnitt vom vorderen Rande des Acromion bis in die schon bestehende Wunde 
geführt, die Bicepssehne herausgehoben, und der Oberarmkopf mit dem noch 
restirenden Theil des oberen Diaphysenendes, unter vollständiger Erhaltung der 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 403 

Muskeln des Schulterblatts in Verbindung mit dem abgelösten Periost beraus- 
geboben. Es zeigte sieb, dass das obere Bruchende eines der extrahirten Knochen¬ 
splitter bis in die Axillarseite des Gelenks reichte, welches vereitert war, der 
Oberarmkopf aber, abgesehen von starker Trübung des Knorpelüberzugs, keine 
Verletzung erlitten hatte. 

Mit Einschluss der extrahirten Sequester war das obere Ende des Humerus 
in Länge von 16 Ctm. verloren gegangen. 

Die Reaction nach diesem bedeutenden Eingriff war keineswegs bedeutend; 
die Eiterung nahm ab, und die zur Entfernung des Oberarmkopfs gemachte 
Schnittwunde heilte in grösster Ausdehnung per primam, so dass die N&bte am 
22. September entfernt werden konnten. Dann aber entstan<tounter neuem Fie¬ 
ber eine Infiltration des Oberarms nach abwärts, und die Wunde im Bereich der 
früheren Schussöffnungen bekam ein diphtheritisches Aussehen. Die Oeffnung 
kleinerer Eiterheerde im Bereich des unteren Theils des Oberarms änderte nichts; 
der Arm des sehr heruntergekommenen Kranken blieb geschwollen, hart und 
empfindlich, und es lag die Besorgniss nahe, dass auch das Ellenbogengelenk in 
den, offenbar in einer Osteomyelitis begründeten Krankheitsprocess mit hinein* 
gezogen werde. Dieser Zustand erhielt sich unverändert bis zu der im October 
1870 erfolgten Uebersiedelung nach Berlin. Mein Assistent, Herr Oberstabsarzt Dr. 
Groethnysen, welcher den Verwundeten in Gorze mit mir behandelt hatte 
und ihn mit einem Verwundetenzag nach Berlin geleitete, war während der 
Reise gezwungen, Incisionen am unteren Ende des Oberarms zvr machen und 
Eiteransammlungen zu entleeren. 

Der Verwundete, in Berlin Anfang November in das Königin-Augusta-Spital 
aufgenommen, ging in die Behandlung des Herrn Prof. Dr. Schönborn (jetzt 
in Königsberg) über. Bald stellte es sich heraus, dass das Ellenbogengelenk 
vereitert war. Gegen Ende November resecirte Schönborn das Ellen¬ 
bogengelenk und extrahirte gleichzeitig die ganze, noch übrige, 
nekrotisch gewordene Diaphyse des Humerus. 

Gern würde ich die Abbildung des in meinem Besitz befindlichen oberen 
Endes des Humerus und die Photographie des nun geheilten v. R. gegeben ha¬ 
ben, wenn die von Hrn. Schönborn entfernten und in seinem Besitze befind¬ 
lichen Knochen mir zu Gebote gestanden hätten. 

Im Herbst 1871 sah ich Hrn. v. R. in Berlin wieder. Der entfernte ganze 
Oberarmknochen ist vollständig regenerirt und bildet einen recht starken Kno¬ 
chenschaft. Das Ellenbogengelenk ist in Form und Function so vollkommen 
wieder erzeugt, dass man die deutlich sichtbare Resectionsnarbe ansehen muss, 
um sich zu überzeugen, dass das Ellenbogengelenk wirklich entfernt worden ist. 
Hand und Vorderarm sind zu allen Bewegungen und Leistungen vollkommen 
befähigt. Mein dringender Rath, nunmehr mit einer regelmässigen electrischen 
und gymnastischen Behandlung des Schultergeleuks zu beginnen, blieb unbefolgt, 
und Pat. ging, den Arm in Mitella, umher. 

Im November 1871 zog Hr. v. R. sich (jurch einen schweren Fall auf 
der Strasse einen Querbruch des neugebildeten Oberarmknocbens dicht ober¬ 
halb des EUenbogengelenks zu. Ich legte sofort den Gypsverband an, und 

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B. v. Langenbeck, 


als dieser nach 5 Wochen abgenommen wurde, war die Fractur vollständig con- 
solidirt. Derselbe Unfall wiederholte sich bis zum Frühjahr 1872 noch 3 mal; 
der neue Knochen war stets an einer anderen Stelle, in der Mitte, am Ende des 
oberen Drittheils und zuletzt im Anfänge des oberen Drittheils, nicht weit unter- 
halb des neuen Gelenkkopfs quer gebrochen. Die Heilung erfolgte ebenso wie 
das erste Mal im Gypsverbande. Diese vier Oberarmbrücbe hatten jedoch die 
schlimme Folge, dass der Arm, bis zum Frühjahr 1872 fast unausgesetzt im 
Gypsverband getragen, dem Gebrauch ganz entzogen wurde, und dass an eine 
gymnastische Nachbehandlung nicht gedacht werden konnte. 

Ich glaube nicht, dass die Entstehung dieser Knochenbrüche der schwäche¬ 
ren Entwickelung «der grösseren Brüchigkeit des neugebildeten Knochens zuge¬ 
schrieben werden kann, sondern nur der Schwere des Falles auf der Strasse ver¬ 
bunden mit der Unbeholfenheit, welche ein in Mitelia getragener Arm nothwen- 
dig bedingt. 

Am 24. Mai 1873, etwa 6 Wochen nach Abnahme des letzten Gypsver- 
bandes, ergab die vorgenommene genaue Untersuchung Folgendes: die ganze 
rechte Extremität erscheint etwas kleiner, wahrscheinlich weil sie an der seit 
dem August 1870 weiter vorgeschrittenen Entwickelung des Skelets weniger 
Antheil genommen hat. Besonders merklich- ist die Kleinheit des rechten 
Schulterblatts, welches in allen Dimensionen gegen die linke Scapula etwas 
zurückgeblieben ist. Weit weniger tritt dieses Zurückgebliebensein im Wachs¬ 
thum der übrigen Extremität hervor, und es erscheint der rechte Vorderarm und 
die Hand sogar kräftiger entwickelt als an der linken Seite. Der rechte Ober¬ 
arm, vom Rande des Acromion bis zum Gondyl. externus gemessen, ist fast um 
4 Ctm. kürzer als der linke, und seine Muskulatur etwas schwächer; der neue 
Knochen ist um ein weniges dünner und lässt die vier geheilten Bruchstellen 
als ebenso viele Knochenanschwellungen wahmehmen. 

Die Schulterwölbung ist vorhanden, der M. deltoides verbaltnissmässig kräf¬ 
tig entwickelt Der neue Humerus läuft in einen ziemlich volnminösen Kopf 
aus, welcher bei den gewöhnlichen Bewegungen des Arms eine vollkommen glatte 
Articulation mit der Fossa glenoidalis scapulae bildet. Die active Beweglichkeit 
des Oberarms nach vorn und hinten ist eine recht ausgiebige. Pat bringt die 
Hand in den Mund, bedient sich derselben stets zum Essen, zum Zuschnallen der 
Cravatte, bringt sie auf den Rücken etc. Die active Erhebung des Oberarms 
nach aussen, welche niemals geübt worden, ist sehr mangelhaft und ohne Mit¬ 
bewegung des Schulterblatts nicht möglich. Wird das Schulterblatt fixirt, so 
lässt der Arm sich passiv fast bis zur Horizontalen nach aussen erheben, wäh¬ 
rend die Extremität nach vorn bis zur Verticalen erhoben, und die Hand auf den 
Kopf gelegt werden kann. In Folge der nicht angestellten Uebungen hat sich 
die Gelenkfläche des neuen Humeruskopfs offenbar mangelhaft, und zwar nur für 
die Bewegungen nach vorn und hinten entwickelt; denn während diese letzteren 
vollkommen glatt von statten geben, fühlt man bei der passiven Erhebung eine 
Reibung unebener Knochenflächen an einander. 

Die activen Bewegungen im Ellenbogengelenk sind die normalen und sehr 
kräftig. Pat. flectirt den Vorderarm langsam und sicher, während er einen 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 405 

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Stuhl aufhebt. Die vollkommen normalen Formen des Olecranon und des Ra¬ 
diusköpfchens lassen mich vermuthen, dass bei der Resection, von welcher man 
die Narbe in ihrer ganzen Länge an der Streckseite des Gelenks wahrnimmt, 
nur der Humerus, nicht aber Olecranon und Radiusköpfchen entfernt wurden. 
Der Vorderarm steht in halber Pronation und kann nicht supinirt werden, weil 
auch diese Bewegung niemals geübt worden ist. 

Die rechte Hand ist zu den feinsten Bewegungen der Finger, wie zu gros¬ 
ser Kraftäusserung fähig. Pat. schreibt, ohne zu ermüden, spielt vorzüglich gut 
Billard, und der Druck seiner rechten Hand ist bis zum Unerträglichen kräftig. 
Bei der letzten, Anfang November 1873, vorgenommenen Untersuchung fand ich 
den Zustand genau so wie am 24. Mai d. J., doch ist der Arm seit jener Zeit 
kräftiger geworden, und die Bewegungen im Schultergelenk gehen leichter von 
statten. Ich hoffe, dass die nun verbeissenen gymnastischen Uebungen und dio 
electrische Behandlung die Function des Schultergelenks noch verbessern werden. 
Im April des nächsten Jahres wird Hr. v. Roll in den activen Dienst wieder 
eintreten. 

Weit weniger günstig ist das Resultat in dem folgenden Fall 
von ausgedehnter Resection des Oberarmkopfs. Ich theile ihn mit, 
weil er ebenfalls beweist, was durch mangelhafte Nachbehandlung 
und unterlassene Uebung einer resecirten Extremität verdorben 
werden kann. Zugleich will ich bemerken, dass ein schlechteres 
Resultat mir bis jetzt noch nicht vorgekommen ist. 

No. 26. Dibelius, Seconde-Lieutenant der Reserve des 64. Infanterie-Regts., 
Postsecretair, wurde am 30. Novbr. 1870 in einem Vorpostengefecht bei Nancroy 
verwundet, am 1. December nach Pithiviers gebracht und in das Feldlazareth 
des III. Armeekorps aufgenoramen. Die Kugel (Chassepot) war vorn 5 Ctm. 
unterhalb des Acromion linker Seite ein- und, den Oberarm in grosser Ausdeh¬ 
nung zerschmetternd, durch M. latissimus hinten wieder ausgetreten. Die Ge¬ 
gend des Schultergelenks bis zur Insertionsstelle des M. deltoides stark geschwollen, 
Knochencrepitation überall fühlbar. Am 1. Decbr. resecirtc ich das obere Ende des 
linken Humerus in der Länge von 16 Ctm. Der Oberarmknochen wurde am 
Ende des oberen Drittheils, in der Hohe des Ansatzes des M. deltoides an die 
vordere Fläche des Oberarmknochens abgesägt. Der Oberarmkopf und das obere 
Drittheil der Diaphyse war in viele Fragmente zerschmettert. Die Erhaltung des 
Periosts konnte nicht vollständig sein, weil mehrere Knochenfragmente mit ihrem 
Periostüberzug vollständig abgesprengt waren. Auch die Verbindung der Ge¬ 
lenkkapsel und der Insertion des M. subscapularis mit dem Periost der Diaphyse 
konnte nicht erhalten werden, weil Tuberc. minus vollkommen abgesprengt war. 
Die Bicepssehne wurde unverletzt erhalten. 

Da wir am frühen Morgen des 2. Decembers den Vormarsch zur Schlacht 
bei Orleans antraten, sah ich den Verwundeten nicht wieder. 

Der erste, von Dr. Loe we n hardt gegebene Superrevisionsbericht vom 
8. Juli 1871 lautet: Schlottergelenk. Die Hälfte des resecirten Knochens ist re- 
generirt. Oberarm um 5 Ctm. verkürzt, abgemagert. Der zweite, von Dr. Pflug- 


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macher am 2. Septbr. 1872 gegebene Superrevisionsbericht sagt: Erhebung 
des Arms im Schultergelenk ganz unmöglich. Schlottergelenk. Zwischen Sca¬ 
pula und Humerus besteht ein 5 Ctm. langer Zwischenraum. Der resecirte 
Arm ist um 7 Otm. kürzer als der gesunde. Die Beugung des Vorderarms ist 
unvollkommen, nur bis 145° möglich. Dauernd Ganziuvalide. 

Im Mai 1873 wurde ich zu Hrn. D. gerufen und erfuhr dadurch zuerst, dass 
er sich in Berlin befinde. Es batte sich die Resectionswuude in ihrem unteren 
Winkel wieder geöffnet, einige kleine Enochenstücke ausgestossen, verursachte 
ihm viele Schmerzen und wollte nicht heilen. Da diese Beschwerden schon seit 
dem Winter bestanden, so hatte der Arm eine Reibe von Monaten in Mitelia ge¬ 
tragen werden müssen- Die Gebrauchsfäbigkeit des Arms war bedeutend schlech¬ 
ter, als die revidirenden Aerzte im Juli 1871 und im September 1872 gefunden 
hatten. In diesem Zustande würde ich den Invaliden für verstümmelt erklärt 
haben. Genau genommen aber war seit dem Tage der Resection für den Arm 
gar nichts getban worden; Uebungen waren nicht gemacht, und die Electricität 
nicht angewendet worden. D. hatte den Arm stets, also seit 2{[ Jahren, ruhig 
in Mitelia getragen und seit dem Winter auch die Hand nicht gebraucht, die er 
im Sommer 1872 schon zu den gewöhnlichen Verrichtungen, wenn gleich unvoll¬ 
kommen zu gebrauchen pflegte. 

Die Muskeln des Schulterblatts sind ganz atrophisch, M. deltoides dagegen 
gut entwickelt, die Wölbung der Schulter gut, Acromion nicht vorspringend. 
Der ganze Arm ist abgemagert, im Scbultergelenk eine vollkommene Schlotter¬ 
verbindung vorhanden. Das obere Ende der Humerusdiapbyse steht 5 Ctm. weit 
von der Fossa glenoidalis scapulae ab, ist aber durch einen festen Sebneustrang, 
welcher, wenn ich nicht irre, auch die Sehne vom langen Kopf des Biceps in 
sich aufgenommen hat, mit derselben verbunden. Der linke Oberarm ist um 
6 Ctm. kürzer als der rechte. Nach diesen Maassen müsste also die resecirte 
Diaphyse nicht, wie Dr. Loewenhardt angiebt, zur Hälfte, sondern nur etwa 
in der Länge von 5 Ctm. regenerirt sein. Die passive Beweglichkeit im Ellen¬ 
bogengelenk ist erhalten, die active höchst mangelhaft. Bei dem Versuch, den 
Vorderarm im Ellenbogengelenk zu beugen, lässt D. ihn alsbald wieder macht¬ 
los herabsinken. Handgelenk und Finger sind activ und passiv beweglich, der 
Druck der Hand aber unvollkommen und die Finger kraftlos. 

Am 11. November 1873 suchte ich Herrn D., von welchem ich nichts wieder 
gehört hatte, auf. Mein im Mai d. J. gegebener dringender Rath, mit Anwen¬ 
dung der Electricität und regelmässigen gymnastischen Uebungen sogleich vor¬ 
zugehen, war nur theilweise befolgt worden. D. hatte den Inductionsapparat bis 
Juni, etwa vier Wochen lang einige Male wöchentlich anwenden lassen und halte 
sodann seine Functionen als Geh. Secretair beim K. General-Postamt wiederan¬ 
getreten ; Uebungen irgend welcher Art waren nicht angestellt worden, weil der 
ganze Tag mit den Arbeiten im Bureau in Anspruch genommen war. 

Der Zustand des linken Arms war folgender: die Ernährung ist bedeutend 
gebessert, M. deltoides, biceps und triceps haben an Volumen zugenommen. 
Die Functionen des Oberarms sind jedoch nur in so weit wieder hergestellt, als 
die ununterbrochenen Arbeiten am Schreibtisch dieselben beanspruchen. Eine 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 407 

active Erhebung des Oberarms nach aussen ist nicht ausführbar; ebensowenig 
vermag D. die Hand auf den Rücken zu legen. Die Erhebung des Oberarms 
nach vorn ist dagegen eine recht vollkommene, indem die Hand ohne Schwie¬ 
rigkeit zum Munde und die Finger bis in die Hohe der Augen geführt werden. 
Das Schultergelenk hat in so weit aufgehort Schlottergelenk zu sein, als unwill¬ 
kürliche Bewegungen im Gelenk bei Veränderungen der Körperlage nicht mehr 
stattünden, dieselben treten aber gelegentlich ein, wenn der Arm zu grosseren 
dauernden Kraftäusserungen in Anspruch genommen wird. Der Vorderarm ist 
verbältnissmässig sehr kräftig und gebrauchsfähig geworden; Beugung und 
Streckung im Ellenbogengelenk, Pro- und Supination wird mit ausreichender 
Kraft ausgeführt. Hand und Finger sind vollkommen brauchbar und im Ver¬ 
gleich zu der geringen Leistungsfähigkeit des Oberarms sogar sehr kräftig ge¬ 
worden. Auf meine Frage, ein wie schweres Gewicht mit der Hand vom Erd¬ 
boden aufgehoben werden könne, erhielt ich zur Antwort, das vermöge er nicht 
anzugeben, weil er Versuche der Art niemals angestellt habe. D. hob sodann 
auf meine Veranlassung ein etwa 10 Pfund schweres Atenbündel ohne Mühe 
vom Boden auf und hob es durch Beugung des Vorderarms auf seinen Arbeits¬ 
tisch. D. vermag die Arbeitslampe in der linken Hand zu tragen und von einem 
Tisch auf den anderen zu setzen; sobald dieses Geschäft aber ohne eine gewisse 
Aufmerksamkeit ausgeführt wird, kann es sich ereignen, dass durch unwillkür¬ 
liche Rotationsbewegung im Schultergelenk die Sicherheit verloren geht, und die 
Gefahr entsteht, die Kuppel der Lampe auf die Erde zu schleudern. 

Durch die vorstehenden Beobachtungen glaube ich bewiesen 
zu haben, dass die nach Resection des Oberarmkopfs beobachteten 
„gelähmten Glieder“ nichts weiter als Kunstproducte einer 
mangelhaften Nachbehandlung sind, an welcher besonders die Ver¬ 
wundeten mit ihrer Indolenz die Schuld tragen, die Verhältnisse 
des Krieges aber und die durch die Krankenzerstreuung so oft 
unterbrochene ärztliche Beaufsichtigung einen nicht geringen An- 
theil haben. Der grosse Unterschied dieser Inactivitätsparalyse und 
einer Nervenlähmung ergiebt sich schon dadurch, dass die erstere 
durch eine entsprechende Behandlung, Reizmittel und Gymnastik, 
rasch beseitigt wird, während die Leitung der gelähmten Nerven 
und der bei Paralysen vorkommende Muskelschwund in der Regel 
durch kein Mittel geheilt werden kann. 

So schlimme Inactivitätsparalysen nach Resection des Ober¬ 
armkopfs, wie die Invalidenberichte sie vielfach schildern, habe 
ich überhaupt nicht gesehen, und ich kann auf das bestimmteste 
versichern, dass eine Unbrauchbarkeit der Hand nach Resection 
wegen Schussverletzung von mir niemals beobachtet ist. 

Dass bei Schussverletzungen des Schultergelenks gleichzeitig 


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B. v. Langenbeck, 


Verletzungen des Plexus brachialis Vorkommen können, und dass 
die dadurch bedingte Paralyse dann auch nach der Resection zu¬ 
rück bleibt, versteht sich von selbst. Zum Glück aber sind Zer- 
reissungen des Armgeflechts durch die Geschosse, welche den 
Oberarmkopf verletzen, sehr selten. Nicht so ganz selten aber 
kommen Lähmungen des Plexus brachialis bei Luxation des Ober- 
armkopfis gegen die Achselhöhle vor, welche auf Druck und Quet¬ 
schung, seltener wohl auf Zerreissung der Nerven durch den 
luxirten Humeruskopf zurückgeführt werden müssen. 

Bei veralteten irreponibelen Luxationen empfehle ich die Re¬ 
section, sobald Druckparalysen oder durch Druck des Kopfes be¬ 
dingte neuralgische Zustände vorhanden sind. In zwei Fällen 
verschwand nach Rpsection des in die Achselhöhle luxirten Kopfes 
die Lähmung der Hand- und Vorderarmmuskeln vollständig nach 
kurzer electrischer Behandlung, in einem dritten Fall hatte die 
Resection auf die bestehende Medianusparalyse keinen Einfluss, 
und die Finger blieben unbeweglich gegen den Handteller flectirt. 

Unerklärlich sind mir die nach Resection des Oberarmkopfs 
beobachteten knöchernen Ankylosen des Schultergelenks, welche 
mir weder in meiner Civilpraxis noch nach den Resectionen im 
Kriege jemals vorgekommen sind. Auch wenn man die an die 
Tubercula sich ansetzenden Muskeln nicht durchschnitten, sondern 
in Verbindung mit dem Periost der Diaphyse erhalten und nur 
den Gelenkkopf resecirt hat, findet man bis zur Heilung der Wunde 
stets einen Abstand zwischen Fossa glenoidalis und resecirter Dia¬ 
physe, welcher erst dann kleiner wird, wenn die activen Bewe¬ 
gungen in dem neuen Gelenk beginnen, und der Tonus der Schul¬ 
terblattmuskeln einigermassen wiederhergestellt ist. Wie nun gar 
eine knöcherne Ankylose eintreten soll, wenn jene Muskelansätze 
mit der Gelenkkapsel vollständig abgeschnitten, und grössere Stücke 
vom Oberarm resecirt worden sind, ist mir ganz unverständlich. 
Ich gestehe gern, dass ich bis jetzt der Ansicht gewesen bin, 
dass Schultergelenkankylosen nach Resection überall nicht zu 
Stande kommen könnten, weil es so schwer ist, das resecirte Ge¬ 
lenk zu immobilisiren, und weil, wenn der Operirte aufsteht und 
umhergeht, Bewegungen im neuen Gelenk die Entstehung der 
Ankylose verhindern werden. Ich kann nur annehmen, dass wäh¬ 
rend des Krankenlagers der resecirte Arm durch eine sehr straff 


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Ueber die Endresultate der Oelenkresectionen im Kriege. 409 

aogezogene Mitella stark in die Höhe and gegen Fossa glenoidalis 
scapnlae fest angepresst gehalten worden, und so die Knochen- 
verwacbsnng zu Stande gekommen ist. 

Ich gehe schliesslich an die Beantwortung der Frage, welchen 
Antheil die befolgte Operationsmethode an den Endresultaten der 
Gelenkresectionen habe ? 

Ich stehe nicht an, zu behaupten, dass bei der Schulterge- 
lenkresection auf die Wahl der Methode und die Ausführung der 
Operation sehr vieles ankommt, sobald es sich darum bandelt, 
activ bewegliche Gelenke herzustellen. Will man Ankylose nr- 
zielen, und ist man sicher eine solche wirklich zu erreichen, so 
möge man operiren, wie man will. Die Durchschneidung und Ab¬ 
hebung des M. deltoides in Form eines Lappens nach dem Vor¬ 
gänge von Moreau und Dupuytren, die Durchschneidung der 
Gelenkkapsel mit allen Muskelansätzen an die Tubercula wird den 
ankylosirten Arm nicht weniger brauchbar machen. Aber wie, 
wenn die Erreichung der Ankylose nur von einem Zufall abhinge, 
und wenn es sich schliesslich herausstellen sollte, dass ein be¬ 
wegliches Gelenk nach Oberarmkopfresectionen die Regel ist? Man 
würde dann nur Schlottergelenke erreichen, wie der letzte Krieg 
deren so viele geliefert hat, und im günstigsten Fall Resultate, 
wie bei dem Verwundeten der Taf. IV., bei welchem alle Weich- 
theile des Schultergelenks durch einen Granatsplitter fortgerissen 
waren. Ein Vergleich, den Longmore (Statistical sanitary and 
medic. Reports vol. V. for the year 1863. London 1865. 8. pag. 
564) an Invaliden anzustellen in der Lage war, hat auch gezeigt, 
dass die Rcsection mit Lappenbildung eine weit schlechtere Brauch¬ 
barkeit des Gelenkes giebt, als der Längsschnitt. Ich fürchte 
nicht dem Einwurf zu begegnen, dass man im Kriege nicht von 
jedem Arzt verlangen könne, dass er im Besitz der vollendeten 
Technik der schwierigsten Operationen sein solle, weil während 
des Friedens ihm Zeit und Gelegenheit gefehlt haben kann, die¬ 
selben zu üben. Allerdings stelle ich das Verlangen, dass die 
Aerzte, welche im Kriege zu operiren berufen sind, die operative 
Technik im allgemeinen bis zu einem gewissen Grade der Voll¬ 
kommenheit beherrschen, wie es ja von der kampffähigen Jugend 
verlangt wird, in der Handhabung der Waffen geübt zu sein. Ich 
stelle diese Forderung aber nicht speciell in Bezug auf die Re- 


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B. v. Langenbeck, 


sectionen, deren exacte Ausführung in der That weniger schwierig 
ist als die der meisten Amputationen. 

Bei der Resection des Schultergelenks ist es vielleicht von 
grösserer Wichtigkeit wie bei den anderen Gelenken, alle das Ge¬ 
lenk umschliessenden Weichtheile unverletzt und in Verbindung 
mit dem Periost der Diaphyse zu erhalten, weil es nur dadurch 
möglich wird, die freie active Beweglichkeit des Gelenks mehr 
oder weniger vollkommen wieder herzustellen. 

Die geringe Ausdehnung und Tiefe der Fossa glenoidalis sca- 
pulae lässt es nicht zu, dass das Humernsende mit ihr in sicherem 
Contact bleibe, wenn die Muskeln, welche bestimmt sind den Ge¬ 
lenkkopf an dieser Stelle zu fixiren (Mm. supra- und infraspinatus, 
teres minor, subscapularis),* mit Durchschneidung der Gelenk¬ 
kapsel in Wegfall gekommen sind. Sind diese Muskeln alle durch¬ 
schnitten und ein grosses Stück vom Oberarm resecirt worden, 
und hat sich eine ligamentöse Verbindung des Letzteren mit der 
Gelenk fläche der Scapula nicht hergestellt, so entsteht ein Schlotter¬ 
gelenk, welches, abgesehen von der Unmöglichkeit der activen 
Bewegungen, noch den Nachtheil hat, dass, wenn der Operirte 
den Vorderarm beugt, das obere Humerusende durch Wirkung des 
M. pectoralis major und coracobrachialis gegen den Thprax luxirt 
t wird. Um diesem Uebelstande abzubelfen und die Bewegungen 
im Ellenbogengelenk zu sichern, liess Meyer (Bremen, Deutsche 
Militairärztl. Ztschr. 1872) das Schlottergelenk durch eine, mit einer 
Stahlschiene versehene Lederkappe stützen, welche das Ausweichen 
des Knochens verhinderte und den Vorderarm zu vielen Verrich¬ 
tungen brauchbar machte. Ist kein Schlottergelenk zu Stande ge¬ 
kommen, so stellt sich das Humerusende, dem Zuge des M. pec¬ 
toralis major und coracobrachialis folgend, unter den Processus 
coracoides und bildet hier ein mehr oder weniger kümmerliches 
Gelenk (Taf. V.). Dieser Zustand kann in allen Fällen constatirt 
werden, wenn man das Acromion spitzig vorspringend und die 
Schulterwölbung verschwunden findet. Eine Erhebung des Arms 
bis zur Horizontalen ist dabei eben so wenig möglich, wie bei 
Luxation des Oberarmkopfs in dieser Richtung. Erhält man da¬ 
gegen die ganze Gelenkkapsel und jene Muskeln in Verbindung 
mit dem Periost der Diaphyse, so kann diese niemals ganz von 
der Fossa glenoidalis abweichen, die Schulter behält ihre Wölbung 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


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auch dann, wenn ein unbrauchbares Schlottergelenk zu Stande 
gekommen war (No. 26), und die Function des Gelenks stellt sich, 
bei consequenter Nachbehandlung und Uebung bis zu dem Grade 
der Vollkommenheit wieder her, dass der Arm activ fast bis zur 
Verticalen erhoben werden kann (Taf. VI. Taf. XIV.) und zu den 
feinsten Bewegungen wie zu bedeutender Kraftäusserung leistungs¬ 
fähig wird. Ich vermag die hohe Bedoutung dieser Muskeln für 
das Schultergelenk nicht besser zu schildern, als es in der vor¬ 
trefflichen Darstelllung von W. Henke (Anatomie und Mechanik 
der Gelenke. Leipzig 1863. S. 128) geschehen ist: 

„Die eigentliche Pfanne des Schultergelenks ist sehr klein 
im Verhältniss zum Kopfe, und beide sind nur durch eine sehr 
schlaffe Gelenkkapsel an einander geheftet. In der Umgebung 
dieses eigentlichen Gelenks aber ist das dicke Ende des Oberarms 
zugleich noch von einer weiteren pfannenartigen Höhle umfasst, 
die von den Fortsätzen des Schultergürtels über der eigentlichen 
Pfanne gebildet und so viel weiter als diese ist, dass an ihren 
Rändern die des eigentlichen Gelenkkopfes nicht anstossen und 
dadurch in der Bewegung gehemmt sind, in der es aber doch wie 
in einem wirklichen Gelenkflächencontacte fest einschliesst, da die 
Zwischenräume, welche es in derselben nicht erfüllt, durch Mus¬ 
keln geschlossen sind, die zugleich das eigentliche Gelenk statt 
straffer Bänder rings umschliessen.“ 

Die sorgfältige Erhaltung dieser Muskeln ist also das einzige 
Mittel, um die Luxation des resecirten Humerus nach einwärts, 
oder die Bildung eines passiven Schlottergelenks zu verhindern. 
Welchen Vortheil die Erhaltung der Bicepssehne für die Neuge¬ 
staltung des Schultergelenks gewährt, bin ich nicht im Stande 
anzugeben, weil die Verwundeten, bei denen sie erhalten werden 
konnte, mit Ausnahme der in No. 18, 22, 25, 26 geschilderten 
Fälle, meiner Beobachtung entzogen wurden. Bei den Resectionen 
wegen organischer Erkrankungen des Schultergelenks findet man 
die durch die Gelenkhöhle verlaufende Sehne ohne Ausnahme zer¬ 
stört. Resecirt man während der Eiterungsperiode, so ist die 
Bicepssehne entweder zerstört oder geht aller Wahrscheinlichkeit 
nach später zu Grunde. Dennoch glaube ich, dass ihre Erhaltung 
für die spätere Function von Bedeutung ist, weil sie dem Gelenk 
mehr Festigkeit geben wird. 


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B. t. Langenbeck, 


Es versteht sich von selbst, dass die Erhaltung aller dieser 
Muskeln bei Schnssverletznngen sehr oft unmöglich ist, wenn die 
Tubercula des Oberarmkopfs abgesprengt sind, oder wenn die Bi- 
cepssehue durch das Geschoss zerrissen ist. In solchen Fällen 
bin ich aber stets bemüht gewesen, die Gelenkkapsel mit den 
Muskelansätzen von den zertrümmerten Tubercula abzupräpariren 
und zu erhalten (No. 26). In zwei Fällen habe ich die letzteren 
in Verbindung mit den Muskelansätzen zurückgelassen, nur die 
losen Knochentrümmer entfernt und die Bruchfläche der Diaphyse 
abgesägt. Die Heilung erfolgte, ohne dass jene Knochenfragmente 
ausgestossen wurden, und das Resultat schien ein sehr gutes zu 
werden. «Ist der Gelenkfortsatz des Schulterblattes vorwiegend 
verletzt, so kann man, wie ich in einem Fall es mit Erfolg ge- 
than, den Oberarmkopf ganz zurücklassen, oder, wie Esmarch, 
nur die losen Fragmente des Kopfes entfernen (S. 395. Fall Nr. 19). 

Ohngeachtet der sorgfältigsten Erhaltung aller das Gelenk 
umgebenden Weichtheile kann ein Sohlottergelenk das Endresultat 
sein, wenn sehr grosse Knochenstücke resecirt wurden, Knochen¬ 
neubildung ganz ausbleibt, und für die Herstellung des Gelenks 
durch Gymnastik gar nichts geschehen ist. 

Ich schildere die Resection des Oberarmkopfes so wie sie an 
der Leiche eingeübt werden kann. 

Subperiostale (subcapsuläre) Resection des 
Oberarmkopfes. 

Der Verwundete befindet sich in der Rückenlage, die zu reseci- 
rende Schulter wird durch untergelegte Kissen hervorgedrängt, der 
Oberarm so gelagert, dass Condylus externus nach aufwärts sieht. 
Der Hautschnitt beginnt hart am vorderen Rande des Acromion, 
dicht nach aussen von Junctura acromio - clavicularis und steigt 
6—10 Ctm., je nach der zu erwartenden Ausdehnung der Resec¬ 
tion, in gerader Linie nach abwärts. Der zweite Schnitt, in der¬ 
selben Länge und Richtung geführt, dringt zwischen den Muskel¬ 
bündeln des Deltoides bis auf die fibröse Gelenkkapsel ein. Die 
Sehnenscheide des langen Bicepskopfes, welche in der Schnitt¬ 
linie zwischen beiden Tubercula vorliegt, wird mit einer Haken- 
pincette aufgehoben und von Aussen nach Innen vorsichtig ein- 
geschnilten, und, sobald die glänzende Bicepssehne zu Tage 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 413 

getreten, in der ganzen Länge der Wnnde, bis in das Gelenk 
hinein gespalten, so dass die Gelenkfläche des Oberarmkopfs mit 
der anf ibr liegenden Sehne erkannt wird. Es ist darauf zn achten, 
dass die Gelenkkapsel vollständig bis an den Rand des Acromion 
aufgeschnitten werde, und nicht etwa Brücken derselben stehen blei¬ 
ben, welche die spätere Herausförderung des Kopfes sehr hindern 
würden. Jetzt folgt die Periostablösung von der inneren 
Fläche des Collum humeri. Ein starkes Knochenmesser, in der 
Verlängerung des inneren Randes der Kapselwunde, genau auf 
Spina tuberculi min. aufgesetzt, trennt das Periost, welches mit 
einem feinen glatten Elevatorium vorsichtig abgehebelt wird. Das 
in der vollen Faust kurz gefasste Elevatorium darf den Knochen 
nie verlassen und nicht ausgleiten, wenn jede Quetschung des Pe¬ 
riosts vermieden werden soll. Ist die Periostablösung bis zum 
Tuberc. minus vorgeschritten, so wird das Elevatorium bei Seite 
gelegt, zu Messer und Hakenpincette gegriffen, und die Sehnen¬ 
fasern des M. 8ubscapularis hart am Knochen abgeschält, die Ver¬ 
bindung der fibrösen Gelenkkapsel mit dem abgelösten Periost 
dabei sorgfältigst erhalten. Je weiter die Ablösung der Muskel¬ 
insertion zur Axillarseite des Gelenks vorschreitet, um so mehr 
rotirt ein Gehülfe den Oberarm um seine Axe nach aussen. Sehr 
oft muss von Neuem zum Elevatorium gegriffen werden, um ad- 
härente Theile des Periosts von der inneren Fläche des Oberarm¬ 
halses abzuhebeln, und dann wieder zum Messer, um die in den 
Knochen sich einsenkenden Gewebe, namentlich die Synovialkapsel 
abzupräpariren. Nun erst wird unter sanfter Erhebung des 
Oberarms und Rotation nach Aussen, die Bicepssehne aus 
der Sehnenscheide hervorgehoben und in die Gelenkhöhle 
versenkt. Es folgt die Periostablösung von der äusseren 
Fläche des Collum humeri in Verbindung mit den 
drei Mnskelinsertionen an das Tuberculum majus. Da das 
Periost hier sehr dünn, so ist seine Ablösung mit dem Elevato- 
rium an der Leiche und bei primären Resectionen bisweilen sehr 
schwierig. Ist die Ablösung bis zu den Muskelinsertionen vorge¬ 
schritten, so werden diese wiederum mit dem Messer vom Knochen 
abgeschält. Nachdem nun die Stelle, wo abgesägt werden soll, 
bestimmt, und die Periostablösung, wenn nöthig, bis dahin vervoll- 


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B. v. Langenbeck, 


st&ndigt worden, lässt der Gelenkkopf sich aus der Wunde her¬ 
vordrängen und mit Bogen- oder Blattsäge absägen. 

Braucht nur der Gelenkkopf, etwa im oberen Ende der Tu¬ 
bercula resecirt zu werden, was stets die besten Resultate ver¬ 
spricht, so kann von einer Periostablösung nicht die Rede sein. 
Man schält dann, von der Gelenkhöhle aus, die Muskelansätze so 
weit als erforderlich vom Knochen ab und achtet fiur darauf, dass 
eie nicht quer abgescbnitten werden, sondern ihre Verbindung mit 
dem Knochen behalten. In diesem Fall empfiehlt es sich, die 
Durchsägung mit meiner feinen Stichsäge oder mit der Ketten¬ 
säge von der Wunde aus zu machen, weil der Humerus aus der 
Wunde nicht hervorgedrängt werden kann. 

Resecirt man bei Luxation des Oberarmkopfes nach Innen 
und vorn (Luxat. subcoracoidea), so empfiehlt es sich, den von 
Maisonneuve angegebenen Schnitt, welcher von der Aussen- 
seite des Process. coracoides zwischen M. deltoides und pectoral. 
major gerade herabsteigt, auszuführen, weil es sonst sehr schwierig 
ist, dem luxirten Kopf beizukommen und die an die Tubercula sich 
inserirenden Muskeln zu schonen. 

Die Instrumente, welche ich bei Resection des Oberarmkopfes 
gebrauche, sind dieselben, wie ich sie im Kriege 1848 angegeben 
habe (Petruschky, De resectione articulorum extremitatis supe- 
rioris. Diss. inaugur. Berlin 1851. 4. Tab. II.); nur das Ra- 
spatorium zur Periostablösung habe ich ganz bei Seite gelegt und 
durch feine glatte Elevatorien ersetzt. 

Beim Absägen fixire ich den Oberarmkopf am liebsten mit 
meiner linken Hand; die 1848 von mir angegebene Hakenzange 
(Petruschky a. a. 0. Tab. II. Fig. 5, 6.) gebrauche ich nur 
noch ausnahmsweise. Handelt es sich darum, einen ganz abge¬ 
schossenen Kopf zu entfernen, so bediene ich mich meines Knochen¬ 
hakens, welcher, in die ßruchfläche eingetrieben, den Kopf sehr 
sicher fixirt (Petruschky a. a. 0. Tab. II. Fig. 12). Stumpfe 
Wundhaken gebrauche ich bei Resectionen nicht mehr, weil sie 
so häufig abgleiten und dadurch nur verletzen. Etwas stärkere 
Schieihäkchen sind zum Auseinanderziehen der Weichtheile am 
meisten geeignet. Gefässunterbindungen kommen in der Regel 
nur vor, wenn bei ausgedehnter Resection die Artt. circumflexae 
humeri durcbgeschnitten werden mussten. 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


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Sind zwei Schussöffnungen vorhanden, so schliesse ich die 
Resectionswände durch Knopfnähte genau und lege ein Drainrohr 
durch die Schussöffnungen. Die Möglichkeit der Eiterverhaltung 
und Eitersenkung von der Wundhöble aus verdient die sorgfäl¬ 
tigste Beachtung. Um diesem Uebelstande zu begegnen, habe ich, 
wenn nur eine Schussöffnung vorhanden war, die Wundhöhle an 
ihrer hinteren äusseren Seite durchstochen und das Drainrohr durch 
diese, an der Innenseite des M. latissimus dorsi gelegene Oeff- 
nung heraustreten lassen. 

Die Lagerung des operirten Arms ist für den Wundverlauf 
nicht ohne Bedeutung. In den meisten Fällen empfiehlt es sich, 
ein dickes Lager Watte oder ein weiches Kissen zwischen Arm 
nnd Thorax, und den Arm in Mitella zu legen, die Rückseite des 
Oberarms durch untergelegte Kissen zu stützen. Der gefensterte 
Gypsverband, welcher Arm und Thorax der operirten Seite, wie 
beim Schlüsselbeinbruch mit einer Gypskapsel umgiebt, und 
den ich während der ersten Zeit nach der Operation wohl 
angewendet habe, ist für den Operirten am angenehmsten, weil 
er den Arm am sichersten und vollständigsten immobilisirt, passt 
aber nur für die Resectionen nach minder schweren Verletzungen, 
nach* welchen Infiltration und Eitersenkung weniger zu fürchten 
ist. Sobald eine gute Eiterung hergestellt, und die Wunde nicht 
mehr empfindlich ist, passt der Gypsverband nicht mehr, weil um 
diese Zeit schon kleine täglich vorgenommene Veränderungen der 
Lage des Arms für die Entwickelung des neuen Gelenkes von 
Bedeutung sind. Sobald der Verwundete nicht mehr fiebert, und 
die Heilung der Wunde fortschreitet, lasse man ihn aufstehen und 
nach Belieben im Zimmer umhergehen. Nach ausgedehnten Re¬ 
sectionen muss dabei der Arm durch Mitella genau gestützt wer¬ 
den, während man nach Entfernung kleiner Knochenstücke das 
Gewicht des Arms den Schulterblattmuskeln schon überlassen kann. 
Die eigentlichen passiven Bewegungen, welche aber nur der Hand 
des Arztes anvertraut werden dürfen, können mit Vorsicht auf¬ 
genommen werden, sobald die Wunde geheilt ist, oder Bewegungen 
des resecirten Gelenks nicht mehr schmerzhaft sind. Besonders 
wichtig ist es, den Verwundeten zu kleinen activen Bewegungen, 
zunächst der Finger, der Hand und des Ellenbogengelenks schon 
frühzeitig aufzumuntern und dieses bei keiner Visite zu unter- 

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B. v. Langenbeck 


lassen. Geschieht dieses regelmässig, so wird man Inactivitäts- 
paralyse der Hand und des Vorderarms niemals beobachten. Ist 
die Wunde geheilt, so beginne man mit Anwendung der Electri- 
cität, verbunden mit täglichen immer ausgiebigeren passiven Be¬ 
wegungen. In Fällen, wo in Bezug auf die energischen activen 
Hebungen dem Patienten nicht zu trauen ist, stelle man einen 
Gymnastiker an. 

Wenn ich die Frage der Mortalität nach Resectionen des 
Oberarmkopfes in Vergleich mit den Ergebnissen der conserviren- 
den Behandlung und der Exarticulation hier nicht bespreche, so 
geschieht es, weil das Material zu einer vergleichenden Mortali¬ 
tätsstatistik mir nicht zu Gebote steht. Von der grossen Anzahl 
der wegen Schussverletzungen von mir ausgeführten Oberarmkopf- 
resectionen habe ich mit wenigen Ausnahmen nur die Fälle mit- 
getheilt, von denen ich das Endresultat beobachten konnte. Die 
überaus wichtige Arbeit einer Mortalitätsstatistik dieser Resec¬ 
tionen wird erst dann aufgenommen werden können, wenn die 
officiellen Berichte aus den beiden letzten grossen Kriegen vor¬ 
liegen. 

Wenngleich, wie ja schon Larrey gezeigt hat, die primäre 
Exarticulation des Oberarms im Vergleich zu der Amputation des 
Oberschenkels wenig gefahrvoll ist, so glaube ich doch behaupten 
zu dürfen, dass sie schon wegen der oft nicht zu vermeidenden 
Blutung gefährlicher sei, als die primäre Resection. Aber gesetzt 
auch, beide Operationen böten eine gleich grosse Gefahr, würden 
die Widersacher der Resection sich dazu entschlossen, in jedem 
Fall von ausgedehnter Schnssfractor des Schultergelenks den Arm 
zu exarticuliren ? Ich höre die Erwiderung: Nein, aber man werde 
die conservirende Behandlung einschlagen. Die conservirende Be¬ 
handlung kann bei den schweren Schussfracturen, wie es die mei¬ 
sten der von mir Resecirten waren, niemals durchgeführt werden; 
man wird über kurz oder lang, während der Infiltrations- oder 
während der Eiterungsperiode sich wieder vor der Alternative be¬ 
finden, entweder die Resection oder die Exarticulation anszuführen, 
wenn man nicht den Verwundeten sterben lassen will. 

Nun ist aber die Sachlage wesentlich verändert. Die inter¬ 
mediären und secundären Exarticulationen des Oberarms sind sehr 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


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viel gefahrvoller, als die während dieser Wnndperiode ausgeführten 
Resectionen. 

Die Exarticulationen im Schultergelenk, welche ich während 
der Infiltrationsperiode ansführte oder ausführen sah, sind alle 
tödtlich verlaufen. Von den 6 Oberarmkopfresectionen dagegen, 
welche ich in dem letzten Kriege bei fortschreitender septischer 
Infiltration, zum Theil mit ausgedehntem traumatischen Emphysem 
verbunden gemacht habe, sind nur 2 tödtlich verlaufen. Während 
der Eiterungsperiode unternommen, ist die Resection des Oberarm¬ 
kopfs in der That wenig gefährlich, jedenfalls weniger gefährlich 
als die Exarticulation. Im Holsteinschen Kriege 1848 habe ich 
von 7 secundären und 1 primären Resection des Oberarmkopfs 
keinen Kranken verloren, und der 9. Verwundete, welchem von 
Lauer Oberarmkopf und Gelenkfortsalz der Scapula entfernte, 
wurde ebenfalls geheilt. Von zwei im Schultergelenk Exarticu- 
lirten, und zwei conservativ Behandelten dagegen starb je einer. 
Ich halte diese kleine Statistik für nicht ganz bedeutungslos, 
weil diese 13 Schussverletzungen des Schultergelenks die einzigen 
waren, welche meines Wissens in diesem Kriege vorkamen. Im 
zweiten Schleswigschen Kriege 1849 bis 1851 hatten nach Es- 
march (Ueber Resectionen nach Schusswanden. Kiel 1851. 8.) von 
8 Schus8fracturen des Schultergelenks, welche conservirend behan¬ 
delt wurden, 5 einen tödtlichen Ausgang, und die 3 überlebenden 
Verwundeten waren nach 6 Monaten noch nicht geheilt, während 
von 19 Resectionen des Oberarmkopfs nur 7 tödtlich verliefen. 
Baudens (Comptes rendus 1855) berichtet über 14 wegen Schuss¬ 
verletzungen von ihm verrichteten Schultergelenkresectionen, von 
denen nur eine tödtlich verlief. Longmore (Statistical sanitary 
and medical Reports vol. V. for the year 1863. London 1865. 8) 
berichtet über 6 in dem Kriege in Neu - Seeland ausgeführte 
Resectionen des Oberarmkopfes, welche sämmtlich zur Heilung 
gelangten. Die in dem Royal Victoria Hospital zu Netley auf¬ 
genommenen Invaliden zeigten alle eine sehr vollkommene Brauch¬ 
barkeit des Arms. 

In dem Italienischen Kriege 1859 kamen nach Dem me (Mi- 
litair-Chirurg. Studien II. Abtheil. Würzburg 1864. S. 305) 26 
Oberarmkopfresectionen mit 17 Heilungen und 9 Todesfällen vor, 
während von 43 conservativ Behandelten 29 starben, 14 genasen, 

V, Langenbeek, Archiv f. Chirurgie. XVL 27 

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B. t. Langenbeck, 


von 21 Exarticulationen des Oberarms 12 geheilt wurden und 9 
tödtlich verliefen. 

Eine amtliche Zusammenstellung der bei den Strassenkämpfen 
in Berlin, in den Märztagen 1848 Verwundeten, welche ich besitze, 
ergiebt dagegen, dass von 6 Amputationen des Oberarms 5, von 
4 Exarticulationen im Schultergelenk 3 tödtlich verlaufen sind, 
Ich führe diese Zahlen nicht an, um eine Statistik zu geben, son¬ 
dern lediglich um zu beweisen, dass meine Ueberzeugung von 
der weit grösseren Gefahr der Exarticulation wohl die richtige 
sein wird. 

Fasse ich das im Vorstehenden Erörterte noch einmal kurz 
zusammen, so gelange ich zu folgenden Schlüssen: 

1. Alle leichteren Schussverletzungen des Schultergelenks 
rechtfertigen den Versuch der conservirenden Behandlung, unter 
der Voraussicht, dass in vielen dieser Fälle die secundfire Resec- 
tion nothwendig sein wird. 

2. Alle ausgedehnten Schussfractnren des Schultergelenks 
indiciren die primäre Resection. 

3. Zerschmetterungen des Schultergelenks mit Abreissung 
der Weichtheile indiciren an sich die Exarticulation nicht, sondern 
die secundäre Resection. 

4. Die Aufgabe der conservirenden Behandlung ist, beweg¬ 
liche Schultergelenke herzustellen, Ankylose zu vermeiden. 

5. Nach eingetretener Ankylose im Schultergelenk kann die 
Gebrauchsfähigkeit des Arms durch nachträgliche Resection des 
Oberarmkopfs verbessert werden. 

6. Die Bildung eines neuen, activ beweglichen Schulterge¬ 
lenks wird durch die subperiostale Resection am meisten sicher¬ 
gestellt. 

7. Nach subperiostaler Resection ist die sorgsamste Nach¬ 
behandlung erforderlich, um brauchbare Gelenke herzustellen. 

8. Eine mit der Zeit zunehmende Verschlechterung, etwa 
durch fortschreitende Muskelatrophie kommt nach Resection des 
Oberannkopfs nicht vor. Der sogenannte „lähmungsartige Zustand“ 
ist nichts Anderes als eine Inactivitätsparalyse. 

9. Diese Inactivitätsparalyse kann durch die geeignete 
Behandlung noch lange nach der Resection wieder beseitigt, 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 419 

und die Brauchbarkeit der Extremität nachträglich hergestellt 
werden. 


II. Resection des Ellenbogengelenks. 

Larrey (Clinique Chirurg. T. 3. 18*29 p. 397) meint, dass 
die Schusswunden des Ellenbogengelenks eine schlechtere Prog¬ 
nose geben, als die des Schultergelenks: „Produites par des 
armes ä feu, elles exigeut presque toujours l’amputation du 
merabre; je n’ai raeme point d’exemples de leur guerison quand 
cette articulation a 6te profondement lesee par des projectiles,“ 
und es ist nicht zu verkennen, dass neben den Gefahren, welche 
die Eröft'nung der Gelenke überhaupt mit sich bringt, auch die 
anatomischen Verhältnisse dieses Ginglymusgelenks geeignet sind, 
den Wundverlauf in nachtheiliger Weise zu beeinflussen. Seine 
Umhüllung mit straffen Fascien, das dicke Muskellager an der 
Beugeseite, durch welches mit Incisionen bis in das Gelenk vor¬ 
zudringen wegen der hier gelegenen Art. brachialis und Nerv, 
medianus nicht unbedenklich ist, vor allem aber das die Gelenk¬ 
höhle nach hinten abschliessende Olecranon — alle diese Umstände 
tragen die Schuld, dass die Verwundungen des Ellenbogengelenks 
denen der anderen grossen Gelenke an Gefährlichkeit wenig nach¬ 
stehen. 

Die Gefahr kann hier nicht unbedingt nach der Geringfügig¬ 
keit oder Ausdehnung der Verletzung beurtheilt werden, indem 
die Erfahrung zeigt, dass einfache Eröffnungen der Gelenkkapsel 
und Schussverletzungen mit Abtrennung der Tricepssehne bei ganz 
fehlender oder unbedeutender Verletzung des Olecranon die 
schlimmsten Zustände herbeiführen können. Unter diesen Um¬ 
ständen wird es begreiflich, dass Esmarch (Ueber Resectionen 
nach Schusswunden. Kiel 1851. 8. S. 77, 89) und Stromeyer 
(Maximen der Kriegsheilkunst. 2. Aufl. Hannover 1861. 8. S. 491) 
bei den Schussfracturen des Ellenbogengelenks die primäre Re¬ 
section als Regel empfehlen, ja, dass Harald Schwartz (Bei¬ 
träge zu der Lehre von den Schusswunden, gesammelt in den 
Feldzügen 1848, 1849 und 1850. Schleswig 1854. 8. S. 219) 
den Rath ertheilt, die Resection in allen Wundperioden, und un¬ 
bekümmert um das Allgemeinbefinden des Verwundeten vorzu¬ 
nehmen. Wenn ich dieser letzteren Ansicht auch nicht unbedingt 

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B. v. Langenbeck, 


-beitreten möchte, so meine ich doch, dass die primäre Resection 
bei den Wunden des Ellenbogengelenks in den Vordergrund treten 
muss, und dass man bei den schweren Schussverletzungen wenig¬ 
stens durch dieselbe mehr Menschenleben erhalten wird, als 
durch exspectative Behandlung. Die so eben erwähnten Structur- 
verhältnisse des Ellenbogengelenks mögen die Veranlassung sein, 
dass nach an sich unbedeutenden Verletzungen des Gelenks, be¬ 
sonders unter Mitwirkung ungünstiger äusserer Umstände, eine 
Wundinfiltration zu Stande kommt, welche zur intermediären Re¬ 
section zwingt, es sei denn, dass man es zur Exarticulation im 
Schultergelenk kommen, oder die Verwundeten zu Grunde gehen 
lassen will. 

Die conservirende Behandlung der Verwundungen 
des Ellenbogengelenks. 

Die Frage, bei welchen Ellenbogengelenkschüssen der Versuch 
der conservirenden Behandlung zu machen sei, ist nur auf dem 
Wege der Statistik zur Entscheidung zu bringen. Eine brauch¬ 
bare Statistik ist aber nur erreichbar, wenn die verrechneten Fälle 
in Betreff der Ausdehnung der Verletzung u. s. w. möglichst ge¬ 
nau bekannt sind. Ich theile daher eine Reihe anscheinend leich¬ 
ter Verwundungen mit, bei welchen dennoch die Resection nicht 
vermieden werden konnte. 

No. 27. Stichwunde des rechten Eli enbogengelenks. Inter¬ 
mediäre Resection. Tod an Pyämie. Joseph Müller, 54 Jahre alt, Tisch¬ 
lermeister in Berlin, erhielt am 22. Febr. 1857 auf der Strasse eine Hiebwunde 
in der Gegend des Hinterhaupts, welche nur die Kopfscbwarte trennte, ausser¬ 
dem eine Stichwunde in das linke Ellenbogengelenk, welche angeblich sehr stark 
geblutet hatte. Bei der Aufnahme des Verwundeten in die Klinik fand sich 
nach Entfernung des angelegten Compressiv verbandes eine erbsengrosse Wunde 
dicht oberhalb Gondylus externus humeri, aus welcher Blut und Synovia aus- 
fliesst. Gelenk ziemlich stark, Arm nicht angeschwollen. Die Gelenkwunde wird 
durch Heftpflaster genau verschlossen, der Arm eingewickelt, in rechtwinkliger 
Stellung in einer Blecbschiene unbeweglich erhalten und mit Eisblase bedeckt 
25. Febr. Die Gelenkwunde entleert noch immer blutig gefärbte Synovia; die 
Umgegend ist geschwollen, Pat. fiebert. Vom 27. Febr. ab, unter hohem Fieber, 
zunehmende Infiltration des Arms mit ausgedehnter Phlegmone. Die Umgegend 
des Gelenks ist sehr geschwollen, hart, durch die Wunde entleert sich dünner, 
mit Synovia vermischter Eiter. Einreibungen von Ungt. einer., warme Cataplas- 
men, tägliche Localbäder, wiederholte Incisionen, welche stets nur wenig Eiter 
entleeren, sind ohne Erfolg; der Arm bleibt straff gespannt, am das Doppelte 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


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geschwollen, die Eiterung schlecht; von der einen Incisionswunde aus hat sich 
Hautgangrän entwickelt. 

6. März Resection des Ellenbogengelenks. Wunde nicht vereinigt; schmale 
Leinwandstreifen in die Wundwinkel eingelegt. Schiene, welche das Gelenk frei 
lässt. Bis zum 9. März vollständiger Abfall des Fiebers, bis zum IG. gute 
Eiterung und Granulation der Wunden, nachdem grosse Stücke der Armfascie 
nekrotisch ausgestossen worden. Pat. verlässt am 21. März das Bett. Am 
23. März Abends leichtes Fieber mit katarrhalischen Erscheinungen, Husten und 
Rasselgeräuschen in der linken Lunge. 30. März Schüttelfrost von zweistündiger 
Dauer, welcher sich bei Gebrauch von Chinin, sulphuric. erst nach 8 Tagen wie¬ 
derholt, dann aber bis zu dem am 11. April erfolgten Tode täglich wiederkehrt. 

Die Section ergiebt: Pyämische Herde in den Lungen und in dem Binde¬ 
gewebe der vorderen Blasenwand, Eiter im linken Schultergelenk. Der resecirte 
Humerus in Länge von 2 \ Zoll nekrotisch, das Markgewebe des Knochens mit 
Jaucheherden durchsetzt. 

No. 28. Wunde des linken Ellenbogengelenks mit Bruch des 
Olecranon. Resection. Heilung. Fritz Finkeide, kräftiger Arbeiter, 22 
Jahre alt, wurde am 3. Januar 18G9 durch Hufschlag eines Pferdes an der 
Streckseite des linken Ellenbogengelenks verletzt, wobei nur eine kleine Wunde 
in der Gegend des Olecranon entstanden sein soll. Erst am 2. März, also 58 
Tage nach der Verwundung, kam Patient in die Klinik. Er will bis dahin die 
Wunde mit nassen Tüchern umwickelt und fast ohne Unterbrechung gearbeitet 
haben. Vierzehn Tage nach der Verwundung habe die Wunde sich vergrössert, 
und ein Stück Sehne (necrotische Fascie) sich abgelöst; es sei dann Synovia 
ausgeflossen. Dem ohngeachtet arbeitete Pat. weiter und nahm nur Abends ein 
Chamillenbad. Vor 3 Wochen trat zuerst eine Blutung aus der Wunde ein, die 
sich dann noch zehnmal in ziemlich bedeutender Stärke (pyämische Blutung?) 
wiederholte. Durch die grosse, quer verlaufende Hautwunde sieht man das ab¬ 
gebrochene Olecranon in Verbindung mit der Tricepssehne nach aufwärts gezo¬ 
gen und die unveränderten Gelenkflächen zu Tage liegen. Dünner, mit Synovia 
gemischter Eiter fliesst in Menge aus. Umgebung des Gelenks und Arm mässig 
geschwollen, stellenweise geröthet, oedematös. Mässiges Fieber. 

2. März 1869 Resection des Ellenbogengelenks mittelst eines kurzen, von 
der queren Wunde nach aufwärts geführten Längsschnitts. Nur die Gelenkfläche 
des Humerus wird abgesagt, die Gelenkfläche des Radius und das in die Höhe 
gezogene Olecranon nicht enfernt. Da Pat. die Anwendung des Chloroforms ver¬ 
weigerte, so war die Operation durch Muskelspannung und starke Infiltration sehr 
erschwert. Knorpelüberzug unverändert, nicht getrübt; Synovialis stark geschwol¬ 
len und intensiv geröthet. Die nicht bedeutende Blutung steht von selbst. Wunde 
nicht vereinigt. Einhüllung des Arms mit Watte, Gypsverband in leicht ge¬ 
beugter Stellung mit grossem Fenster. Wegen Zunahme der Anschwellung wird 
der Gypsverband am 7 März durch einfache Schiene ersetzt. Hobes Fieber. 
Beträchtliche phlegmouöse Schwellung des ganzen Arms, stellenweise mit Blasen¬ 
bildung. Nachdem mehrere Incisionen gemacht worden, schwoll der Arm unter 
reichlicher Eiterung allmälig ab, und Pat. verliess am 22. Mai die Anstalt mit 


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6. v. Langenbeck, 


noch nicht ganz geheilter Wunde. Im Spätherbst 1870 (während meioer Ab¬ 
wesenheit von Berlin) stellte Pat. sich in der Klinik wieder vor. Die active 
Beweglichkeit des Ellenbogengelenks war zufriedenstellend und schmerzlos, ob¬ 
gleich die noch nicht ganz geschlossene Wunde von Zeit zu Zeit kleine Kno¬ 
chensplitter ausstösst. Im Winter 1870 entfernte Hr. Prof. Dr. Schönborn 
necrotische Stücke des unteren Endes des Oberarmknochens, und Pat. wurde 
am 20. December 1870 mit freier Beweglichkeit im Ellenbogengelenk wieder 
entlassen. Etwa 1 Jahr später soll Pat. an Lungenphthise gestorben sein. 

No. 29. Eröffnung des rechten E llenbogengelenks durch 
Schuss, mit Abtrennung der Spitze des Olecranon. SecundäreRe- 
section. Heilung, v. Rheinbaben, Prem.-Lieuten. 4. Brandenb. Inf.-Regmts. 
No. 24., erhielt bei der Einnahme der Insel Alsen, am 29. Juni 1864 früh einen 
Gewehrschuss, welcher die Tricepssehne mit einem kleinen Stück der Spitze des 
Olecranon abgerissen, das übrige Gelenk unverletzt gelassen hatte (die in Löff- 
ler’s General bericht S. 268. Fall 13 gegebene Schilderung, nach welcher Split¬ 
terung des Humerus und der Ulna vorhanden gewesen sein soll, ist nicht exact 
und beruht wahrscheinlich auf einem mangelhaften Referat in den Listen des 
Johanniter-Lazareths). Ich sah den Verwundeten unmittelbar nach der Verwun¬ 
dung. Blutung sehr gering. Die Ränder der sehr reinen Wunde werden sofort 
durch Heftpflaster in die genaueste Berührung gebracht, der Arm mit nasser 
Binde eingewickelt und durch eine, der Volarseite des Gelenks angefügte Holz¬ 
schiene immobilisirt, dieser Verband Nachmittags in Satrupholz mit einem Gyps- 
verband vertauscht, und der Verwundete nach dem 3 Heilen entfernten Flens¬ 
burg in das Jobanniterlazareth übergeführt. Eisblase über das Fenster des 
Gypsverbandes. Während der ersten 8 Tage nach der Verwundung war v. R. 
ohne Schmerzen. Obwohl das Gelenk unter dem Heftpflasterverbande, welcher 
unverändert liegen geblieben, etwas angeschwollen war, schien die vereinigte 
Wunde in der ganzen Ausdehnung unmittelbar heilen zu wollen. Vom 10. Tage 
ab traten jedoch spannende Schmerzen im Gelenk mit Fieber ein, bei leichtem 
Druck auf das angeschwollene Gelenk öffnete sich die anscheinend bereits ge¬ 
heilte Wunde und entleerte eine beträchtliche Menge trüber Synovia und Eiter. 
Die Wunde wird offen gelassen, zweimal täglich mit verdünnter Chlorkalklösung 
'rrig'rt und der Arm im Gypsverbande so suspendirt, dass das Wundsekret sich 
von selbst entleert. Da trotzdem das Gelenk nicht abschwillt, die Weichtheile 
vielmehr durch das grosse Fenster des Gypsverbandes sich hervordrängen, wird 
dieser am 12. Juli entfernt, und der Arm auf einer Holzscbiene gelagert. Unter 
stetem Fieber mit abendlichen Exacerbationen und sehr reichlicher dünner Eite¬ 
rung nahm die Anschwellung besonders am Oberarm zu, und es mussten durch 
den behandelnden Arzt Dr. Ressel drei grosse Incisionen gemacht werden, um 
in der Umgebung des Gelenks entstandene Eiterherde zu entleeren. Auch das 
hatte nur einen vorübergehenden Erfolg. Die Anschwellung des Arms nahm bald 
wieder zu, und es trat bei bedeutendem Sinken der Kräfte ab und an leichtes 
Frösteln ein. 

Subperiostale Resection des Ellenbogengelenks am 22. Juli. 
Gelenkfläche des Humerus und Rest des Olecranon abgesägt. Knorpelüberzug 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 423 

der Gelenkflächen stellenweise getrübt, erweicht und ulcerirt. Im Ganzen waren 
nur 6 Ctm. vom Gelenk entfernt worden. Gypsverband mit Fenster. Es folgte 
ein fast vollständiger Abfall des Fiebers, der Arm schwoll ab, und die Kräfte 
fingen an bei gutem Schlaf und Appetit sich zu heben. Da trat nach einem 
heftigen Gewitter mit orkanähnlichem Sturm, welcher das Zelt, in welchem der 
Verwundete lag, umzuwerfen drohte, plötzlich kaltes und rauhes Wetter und zu¬ 
gleich am Morgen des 30. Juli ein Schuttelfrostanfall ein, welcher sich bis Mitte 
August 14 Mal wiederholte. Ober- und Vorderarm schwollen wieder oedematös 
an, es bildeten sich an verschiedenen Stellen Abscesse, welche geöffnet wurden, 
und die Kräfte des Pat. sanken. Unter stetem Chiningebraucb, guter Nahrung 
und Wein nahm jedoch das Fieber allmälig ab, und die Frostanfälle hörten bis 
zum 20. August auf. Als ich den Kranken am 24. August verliess, war die 
Eiterung reichlich aber gut, und das Fieber hatte aufgehört. Während des Win¬ 
ters 1864/65 wurde v. R. in einem Berliner Krankenhause behandelt und hatte 
hier seiner Angabe nach drei verschiedene Anfälle von Wunderysipel zu über¬ 
stehen. Die Resectionswunde heilte nicht, Ober- und Vorderarm blieben ge¬ 
schwollen und schmerzhaft. Im Sommer 18C5 gebrauchte v. R. die Bäder in 
Rehme. Der grosse Schwächezustand, in welchen Pat. durch das lange Kranken¬ 
lager verfallen war, besserte sich erheblich, der Zustand des Arms aber blieb 
unverändert. Im Januar 1866 sah ich v. R. zum ersten Male wieder. 

Der Oberarm, vom resecirten Ellenbogengelenk an bis über die Insertions¬ 
stelle des M. deltoides aufwärts, ist beträchtlich geschwollen, hart, jedoch wenig 
und nur an einzelnen Stellen schmerzhaft gegen Druck, wobei sich dann Eiter 
aus der von der Resectionswunde noch re^tirenden Oeffnung zu entleeren pflegt. 
Eine ähnliche, doch weniger umfangreiche Anschwellung zeigt der Vorderarm. 
Die Resectionswunde ist bis auf zwei, von oedematösen Granulationswällcn um¬ 
gebene Oeffnungen geheilt, durch welche die eiugeführte Sonde auf die freilie¬ 
gende Sägefläche des Oberarraknochens gelangt. Es war klar, dass eine durch 
traumatische Osteomyelitis veranlasste, ausgedehnte Nekrose der Oberarmdiaphyse 
vorlag, und dass die wiederholten, vom Patienten als Wunderysipel geschilderten 
Entzündungsanfälle darauf zurückgeführt werden mussten. 

16. Januar 1866. Operation der Nekrose. Von den bestehenden Fistel¬ 
öffnungen aus wird die Resectionsnarbe gespalten, und es gelangt der einge¬ 
führte Finger auf die ganz freiliegende Resectionsfläche des Oberarmkuochens, 
welcher total abgestorben in einer umfangreichen Todtenlade als beweglicher 
Sequester vorliegt. Nicht ohne Mühe, und nachdem hindernde Callusmassen mit 
dem Meissei entfernt worden, gelang es, die ganze necrotische Ilumerusdiaphyse 
in der Länge von 18 Ctm. mit der Sequesterzange zu extrahiren. Die Festig¬ 
keit der als Periostverknöcherung zurückgebliebenen Knocheulade liess nichts zu 
wünschen übrig, und letztere stellte einen etwas unförmlichen aber durchweg soliden, 
neuen Humerus dar. Die weitere Untersuchung ergab, dass auch die SägeflAche 
der Ulna, von starken Callusmassen umgeben, von der früheren Resectionswunde 
aus erreicht werden konnte, und es wurde das obere Ende der Ulna in Länge 
von 7 Ctm. ebenfalls extrahirt. Auch in der Umgebung dieses Sequesters hatte 
sich eine reichliche Knochenneubildung hergestellt, welche, mit der Tricepssehue 


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B. v. L&ngenbeck, 


zusammenhängend, ein, auch in der Form sehr vollkommenes neues Olecranon 
repräsentirte. Der Arm schwoll nun rasch ab, und die Wunde heilte. Am 
17. Februar entdeckten wir, dass auch das obere Ende des Radius nekrotisch 
war, und die vorgenommene Sequestrotomie förderte ein 4 Ctm. langes Knochen¬ 
stück zu Tage. 

Es war nun von dem ursprünglichen Skelet des rechten Arms nicht viel 
übrig geblieben, die Knochenneubildung aber eine so vollständige gewesen, dass 
die Verkürzung der ganzen Extremität, wie mir schien, nicht viel mehr als 6 
Ctm. betrug. Ende März 1866 verliess v. R. Berlin, um aufs Land zu gehen 
und später die Bäder in Rehme wieder zu besuchen. Die Operationswunde war 
noch immer nicht ganz geheilt, der Arm aber mehr und mehr abgescbwollen, 
die activen Bewegungen der Hand und Finger sehr vollkommen, und auch in 
dem Ellenbogengelenk eine Wiederkehr der activen Beweglichkeit bemerkbar. 
Im Sommer 1867 trat v. R. in den activen Militairdienst wieder ein, und zwar 
als Hauptmann der König]. Schlosswache. Ich fand die Hand sehr kräftig und 
zu allen Verrichtungen vollkommen brauchbar, die active Beugung im Ellen¬ 
bogengelenk bis zum spitzen Winkel möglich, die Streckung beinahe vollständig; 
die Pro- und Supination mangelhaft Im Bereich der Operationswunde bestand 
noch ein Fistelkanal, durch welchen die Sonde auf einen, anscheinend sehr klei¬ 
nen Sequester vom Radius gelangt. Ich habe Herrn v. R. seitdem, eine flüch¬ 
tige Begegnung mit ihm in Versailles im März 1871 ausgenommen, nicht wieder 
gesehen, höre aber, dass er sich in activem Dienst befindet. 

Nr. 30. Schussfractur des Condylus extern, humeri rechter 
Seite. Kugel im Oelenk. Secundäre Resection des Condylus ex- 
ternus. Heilung mit Beweglichkeit (Petruschky a. a. 0. S. 36). 
Hauptmann v. S. wurde am 23. April 1848 in dem Gefecht bei. Schleswig ver¬ 
wundet. Die Kugel war dicht oberhalb und nach aussen vom Olecranon durch 
Condylus externus humeri eingedrungen und im Gelenk stecken geblieben. Da 
am Tage der Verwundung die active Beweglichkeit des Gelenks frei und nur 
wenig schmerzhaft war, so hoffte man, dass das Gelenk unverletzt geblieben sei. 
Im Verlauf von 8 Tagen entwickelte sich jedoch eine Synovitis, welche zunächst 
starke Anschwellung des ganzen Gelenks und Ausfluss von Synovia durch die 
Schussöffnung, dann, unter steigendem Fieber, profuse Gelenkeiterung und aus¬ 
gedehnte phlegmonöse Anschwellung des Oberarms bis zum Schultergelenk zur 
Folge hatte. 

Am 17. Mai 1848 machte ich in Rendsburg, wo der Verwundete in einem 
Privathause lag, die Resection des Condylus externus, indem ich von der nach 
aufwärts und abwärts dilatirten Schussöffnung aus seine noch bestehende Ver¬ 
bindung mit dem Humerus mit der Stiebsäge trennte, nachdem die Muskeln und 
Bänder mit Sorgfalt vom Knochen abgelöst worden waren. Die sehr difforme 
Kugel steckte zwischen den Gelenkflächen und wurde mit dem Knochen ent¬ 
fernt; Fieber und Infiltration des Arms verlor sich sehr bald nach der Operation. 
Am 25. Mai verliess Herr v. S. Rendsburg mit noch nicht vollständig geheilter 
Wunde, um sich in seine Heimath Stettin zu begeben. Hier wurde er von 
einem schweren gastrischen Fieber befallen. Bis nach vollendeter Reconvales- 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 425 

cenz von dieser ziemlich lange dauernden Krankheit geschah für die Herstellung 
der Beweglichkeit des Gelenkes nichts, und auch später hatte Patient den ihm 
von einem Homöopathen ertheilten Rath, jede Bewegung zu vermeiden, gewis¬ 
senhaft befolgt Als ich den Arm wiedersah (1854), ging die active Flexions¬ 
fähigkeit des Vorderarms nur bis zum rechten Winkel, und die Extension konnte 
nicht vollständig gemacht werden. Patient ist in den activen Dienst wieder 
eingetreten, hat den Krieg 1866 und 1870 -71 mitgemacht und bekleidet augen¬ 
blicklich einen hohen railitairischen Posten hier in Berlin. Der rechte Arm ist 
sehr kräftig und wird zu allen Functionen gebraucht. 

Nr. 31. Absprengung des Epicoudylus internus linker Seite. 
Secundäre Resection des Ellenbogengelenks. Heilung mit guter 
Gebrauchsfähigkeit, v. Westergaard, Kgl. Dänischer Major, verwundet am 
23. April 1848 in dem Gefecht bei Schleswig. Die Kugel war auf der Beugeseite 
des Epicondylus internus ein- und, den inneren Rand des Olecranon streifend, 
hinten wieder ausgetreten. Bis Ende April starke Anschwellung der Gelenk¬ 
gegend mit hohem Fieber. Am 2. Mai wird die Schussöffnung dilatirt und der 
vollkommen abgesprengte Condylus internus humeri mit sorgfältiger Ablösung 
der Muskelansätze extrahirt. Anfangs Nachlass aller Erscheinungen, dann aber 
sehr starke phlegmonöse Anschwellung des ganzen Oberarms bis zum Schulter¬ 
gelenk, so dass die Exarticulation im Schultergelenk von uns besprochen, jedoch 
unterlassen wurde, weil sie bei dem grossen Schwächezustand und dem nicht 
mehr jugendlichen Alter des Verwundeten wenig Aussicht auf Erfolg zu bieten 
schien. Am 13. Mai 1848 machte ich die totale Resection des Gelenks mit 
Längsschnitt über die Mitte des Olecranon, auf welchen ein durch die hintere 
Schussöffnung verlaufender kurzer Querschnitt aufgesetzt wurde. Die Triceps- 
sehne wird quer abgeschnitten, Nerv, ulnaris geschont, Ansatz des Brachiaeus 
internus erhalten. Lange der resecirten Knochentheile 4 Ctm. (Petruschky 
a. a. 0. Tab. II. Fig. 3). Arm zunächst in leichter Flexionsstellung auf gepol¬ 
sterter Holzschiene, später in Bonnet’scher Drahtschiene gelagert. Prompter 
Abfall des Fiebers, aber reichliche, erschöpfende Eiterung. Patient konnte erst 
Ende Juni das Bett verlassen und bei sehr schönem Wetter im Freien sitzen. 
Heilung Mitte Juli vollendet. Als v. W. im August nach Copenhagen entlassen 
wurde, war schon eine gute active Beweglichkeit des Ellenbogengelenks wahr¬ 
zunehmen, die Gebrauchsfähigkeit der Finger und der Hand vollkommen frei. 

Wenn aus diesen Beobachtungen hervorgeht, dass es sehr 
schwer, vielleicht unmöglich ist, nach der Art der Verletzung im 
Voraus zu bestimmen, ob die conservirende Behandlung von Er¬ 
folg gekrönt sein wird, oder nicht, so zeigen doch die aus den 
letzten Kriegen hervorgegangenen zahlreichen Heilungen, dass es 
manche Schussverletzungen des Ellenbogengelenks geben muss, 
bei welchen die Resection vermieden werden kann, und es ist nur 
zu beklagen, dass wir von den so geheilten Fällen die Art der 
Verletzung gemeiniglich nicht erfahren. 


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B. v. Lnngenbeck, 


Die Beschaffenheit des Ellenbogengelenks and die Leichtig¬ 
keit, dasselbe während der Heilung unbeweglich zu stellen, macht 
es, dass, wenn einmal Gelenkeiterung zu Stande gekommen ist, 
es nur ganz ausnahmsweise gelingt, die Beweglichkeit des Ge¬ 
lenks zu erhalten. Es gelingt dieses wohl nur dann, wenn die 
Gelenkflächen von der Entzündung verschont bleiben und Knorpel- 
ulcerationen nicht zu Stande kommen. Bei den Schussfracturen 
der Gelenkflächen wird man wohl nur ganz ausnahmsweise auf 
Erhaltung eines beweglichen Gelenks rechnen können, während 
bei den einfachen Eapselschüssen und besonders bei den Schnitt- 
und Hiebwunden eine solche Erwartung schon eher zulässig ist. 

Biefei (Kriegschirurg. Aphorismen von 1866, Archiv f. klin. 
Chirurgie Bd. XI. 1869. S. 432) führt 11 Heilungen von Ellen¬ 
bogengelenkwunden an, von denen eine (Hiebwunde mit Eröffnung 
des Gelenks an der Aussenseite) mit vollständiger, die anderen 
(Schussverletzungen) mit beschränkter Beweglichkeit, und nur eine 
mit vollständiger Ankylose erfolgte. H. Fischer (Kriegschirurg. 
Erfahrungen. I. Thl. Erlangen 1872. S. 151. Beob. 206) berichtet 
über eine Schussfractur des linken Ellenbogengelenks, bei welcher 
nach Extraction von 34 Knochensplittern gute Beweglichkeit er¬ 
reicht wurde. Da die leichteren Verletzungen wohl nur durch 
Zufall in den Feldlazarethen zurückgehalten, sondern sofort den 
Kriegslazarethen zugesandt werden, so habe ich nur wenige eigene 
Erfahrungen über die Erfolge der conservirenden Behandlung 
machen können. Ich tbeilc jedoch die beiden folgenden Beobach¬ 
tungen mit. 

No 32. Schuss mit Rehposten, von denen 3 in das linkeEllen- 
bogengelenk eingedrungen sein müssen. Heilung mit vollständi¬ 
ger Erhaltung der Gelenkbewegungen. Einer unserer Füsiliere wurde 
im Walde von Orleans Ausgangs Deceraber 1870 von einem Franctireur aus ge¬ 
ringer Entfernung geschossen. Der Schuss hatte die linke Seite des Rückens 
und das linke Ellenbogengelenk getroffen. Aus den Rückenwunden gelang es, 
zwei etwas deformirte Rehposten zu extrahiren. Drei Geschosse gleichen Kalibers 
mussten in das linke Ellenbogengelenk eingedrungen sein, denn es befanden 
sich dicht oberhalb des Olecranon, in der Ulnarisfurche dicht oberhalb Condylus 
j ntern. humeri und an der Aussenseite der Bicepssehne drei entsprechende Oeff- 
nungen. Die Gelenkkapsel war, 2 Tage nach der Verwundung bei der Aufnahme 
in die Ambulance anglo-americaine, geschwollen und deutlich fluctuirend. Active 
und passive Bewegungen erhalten, aber schmerzhaft. Beim Versuch passiver 
vollständiger Streckimg äussert Pat. lebhaften stechenden Schmerz oberhalb des 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 427 

Olecr&non, und nahmen wir hier den Sitz eines Rehposten im Gelenk an. Bei 
ruhiger Lagerung der Extremität und Eisnberschlägen heilten die kleinen Wun¬ 
den vollständig, und Pat. verliess nach Ablauf yon 14 Tagen mit noch etwas 
genirter, aber doch freier Beweglichkeit des Gelenks das Lazareth. 

No. 33. Prellschuss des rechten Ellenbogengelenks durch Gra¬ 
natsplitter, secundäre Eröffnung des Gelenks durch Gangrän. 
Heilung mit guter Be weglichk eit. Bauer vom 11. Artillerieregiment wurde 
am 1. September 1870 bei Sedan verwundet. Ein Granatstück hatte an der 
Aussenseite des rechten Ellenbogengelenks Haut und Muskeln in grosser Aus¬ 
dehnung zerrissen, die Gelenkkapsel aber uneroffnet gelassen. Während die 
Wunde Mitte September sich in guter Eiterung befand, stiess sich die blosslie¬ 
gende Gelenkkapsel necrotisch ab, und die Gelenkfläcben lagen zu Tage. Zuerst 
reichlicher Ausfluss von Synovia, dann Gelenkeiterung und schliesslich Heilung 
der grossen Wunde durch Granulationen. Am 23. März 1871 sah ich in Frank¬ 
furt a. M. im Lazareth „Senckenbergsches Stift“ den Verwundeten vollständig 
gebeilt. Die active Beweglichkeit des Gelenks ist beinahe vollständig erhalten, 
nur die Streckung nicht ganz vollkommen wegen Spannung der grossen Narbe. 

Die Zahl der in dem letzten Kriege durch conservirende Be¬ 
handlung mit Ankylose geheilten Schussverletzuugen des Ellen¬ 
bogengelenks ist ziemlich gross. Mossakowski (a. a. 0.) fand 
unter den Französischen Verwundeten, welche von Metz nach 
Basel kamen, 38 conservativ mit Ankylose Geheilte und nur 5 
reaecirte Ellenbogengelenke. Berthold fand unter 37 Invaliden 
des 10. Armeekorps 26 conservativ mit Ankylose Geheilte und 
11 Resecirte. Seggel endlich fand unter den Invaliden des 
1. Armeekorps 28 conservativ geheilte und 21 resecirte Ellen¬ 
bogengelenke. Das Urtheil der drei genannten Aerzte lautet ein¬ 
stimmig dahin, dass die Gebrauchsfähigkeit des Arms (Hand und 
Finger) bei den conservativ Behandelten früher wieder hergestellt 
und im allgemeinen vollkommener gewesen sei, als bei den Resecirten. 

Dass bei den unter conservativer Behandlung mit beschränk¬ 
ter Beweglichkeit oder mit Ankylose Geheilten die Gebrauchs¬ 
fähigkeit der Hand und Finger früher wieder hergestellt wird, 
kann nicht überraschen, wenn wir bedenken, dass ihre Verwun¬ 
dungen jedenfalls die leichteren waren, und dass der verwundete 
Arm bis zur Heilung in mehr oder weniger gebeugter Stellung 
behandelt wurde, wobei die Bewegungen der Hand und Finger 
möglich waren, während die weit schwerer verletzt oder erkrankt 
gewesenen Resecirten ziemlich allgemein auf Schienen gelagert 
worden sind, auf welchen das Handgelenk fast gestreckt, Hand 
und Finger in der Regel doch 4—3 Wochen unbeweglich gelagert 

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6. v. Langenbeck, 


waren. Ist die Wunde mit Ankylose des Ellenbogengelenks ge¬ 
heilt, so beginnen die activen Bewegungen der Hand und Finger 
fast un willkürlich, während das resecirte Gelenk oft noch lange 
Zeit in der Tragkapsel getragen wird, und die Finger ebenfalls 
unbeweglich gelagert bleiben. Wurde der resecirte Arm, wie es 
nach den Invalidenberichten nicht selten vorgekommen ist, bis znr 
erfolgten knöchernen Ankylose in Streckung oder leichter Beugung 
behandelt, so versteht es sich von selbst, dass von einer Brauch¬ 
barkeit der Hand nicht die Rede sein wird. 

Wenn also bei oberflächlicher Betrachtung und bei alleiniger 
Berücksichtigung der Zahlen die Wagschale zu Gunsten der con- 
servirenden Behandlung auszuschlagen scheint, so finden wir doch 
bei genauerer Prüfung sofort, dass es mit den Endresultaten der 
Ellenbogenresection nicht so schlimm steht. Zunächst ist nämlich 
zu bedenken, dass die Ellenbogenresection weniger gefährlich ist, 
als eine in derselben Wundperiode ausgeführte Amputation oder 
Exarticulation des Oberarms, dass also, was doch immer die Haupt¬ 
sache bleibt, eine Reihe von Menschenleben erhalten worden ist, 
welche bei weiter geführter conservativer Behandlung verloren ge¬ 
wesen wären. Sodann ist nicht zu übersehen, dass, wie Bill- 
roth mit Recht hervorhebt, ein Theil der tödtlich verlaufenen 
Ellenbogengelenkresectionen auf Rechnung des zu langen Ab¬ 
wartens, nicht aber auf Rechnung der unter den ungünstig¬ 
sten Verhältnissen ausgeführten Resection gebracht werden darf. 
Eine genaue Durchsicht der Invalidenbericbte ergiebt ferner, 
dass unter den schlechten Resectionsresultaten eine nicht geringe 
Anzahl von Fällen sich befindet, welche unserer Erfahrung nach, 
entweder durch den gewöhnlichen Gebrauch, oder durch zweck¬ 
mässige Nachbehandlung und Uebung sich zu sehr günstigen Re¬ 
sultaten gestaltet haben würden, vorausgesetzt, dass die Tragkap¬ 
sel abgelegt oder der Arm, wie bei einigen der Dänischen Inva¬ 
liden, nicht jahrelang an den Körper festgeschnallt bleibt; und 
ich versichere auf das bestimmteste, dass die in den Invalidenbe¬ 
richten so häufig constatirte „Unbrauchbarkeit der Finger und der 
Hand“ nach Resection des Ellenbogengelenks und, wie ich es be¬ 
weisen werde, auch bei dem schlimmsten Schlottergelenk an und 
für sich nicht Vorkommen kann, es sei denn, dass N. medianus 
oder ulnaris durch das Geschoss verletzt, oder der letztere Nerv 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


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bei der Resection durchschnitten wäre. Der nach Resection beob¬ 
achtete „lähmungsartige Zustand der Hand“ ist also, wie nach 
der Oberarmkopfresection, mit den seltensten Ausnahmen immer 
ein Kunstproduct mangelhafter Nachbehandlung oder schlechten 
Verhaltens der Resecirten. 

Sehen wir nun, wie es mit der Gebrauchsfähigkeit der Hand 
bei den ohne Operation mit Ankylose Geheilten steht, so stossen 
wir zunächst wieder auf eine grosse Anzahl von Invaliden, bei 
denen die „Verstümmelung“ ausgesprochen, der ankylosirte Arm 
also dem Verluste der Extremität gleich geachtet werden musste. 
Seggel führt unter 28 conservativ geheilten Ellenbogenschüssen 
12 Ankylosen mit Verstümmelung, 9 ohne Verstümmelung bei 
gänzlicher Erwerbsunfähigkeit, und 7 Heilungen mit beschränkter 
Beweglichkeit auf, welche nur „grösstentheils erwerbsunfähig“ 
machte. Berthold fand bei den Invaliden des 10. Armeekorps 
ein weniger ungünstiges Verhältniss, indem von 25 conservativ 
und grösstentheils mit Ankylose Geheilten nur 9 als „verstümmelt“ 
angesehen werden konnten. 

Die Brauchbarkeit eines im Ellenbogengelenk ankylosirten 
Arms wird durch die Winkelstellung bedingt, in welcher der Vor¬ 
derarm sich befindet. Ein in Streckung ankylosirter Arm ist für 
die gewöhnlichen Lebensverhältnisse unbrauchbar, selbst wenn Hand 
und Finger ihre active Beweglichkeit wieder erlangen; denn auch 
in diesem günstigen Fall kann er nur zu sehr wenigen groben 
Verrichtungen gebraucht werden. Nicht viel besser steht es mit 
einem in sehr offenem Winkel ankylosirten Arm, wie er bei einer 
ziemlich grossen Anzahl unserer Invaliden angetroffen wurde. Die 
Gebrauchsfähigkeit der Extremität beginnt genau genommen erst 
mit der Ankylose im rechten Winkel, und auch bei dieser Stel¬ 
lung ist der Arm zu manchen, für das gewöhnliche Leben wich¬ 
tigen Functionen nicht zu gebrauchen: die Hand kann nicht bis 
an den Mund gebracht, nicht auf den Nacken gelegt werden etc. 

Die Frage, ob ein ankylosirtes Ellenbogengelenk einem re¬ 
secirten vorzuziehen sei, würde an Bedeutung gewinnen, wenn die 
Beobachtung Berthold’s (a. a. 0. S. 509), dass das rechte Ellen¬ 
bogengelenk von Schussverletzungen häufiger betroffen wird, als 
das linke, allgemeine Bestätigung finden sollte. Berthold fand 
nämlich bei 213 Invaliden des 10. Armeekorps, welche an der 


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B. v. Langenbeck, 


oberen Extremität verwundet worden, das rechte Ellenbogengelenk 
28 Mal, das linke nur 19 Mal getroffen. Ich kann dieser Beob¬ 
achtung in so fern beitreten, als die von mir wegen Schussver¬ 
letzungen ausgeführten Ellenbogengelenkresectionen ebenfalls die 
rechte Seite häufiger betroffen haben. 

Das günstige Urtheil nun, welches die Verfasser der Invaliden¬ 
berichte über die Gebrauehsfähigkeit der mit Ankylose conserva- 
tiv Geheilten fällen, scheint mir vornehmlich aus den bei recht¬ 
winkliger oder stumpfwinkliger Stellung des Vorderarms erfolgten 
Heilungen gebildet zu sein. Allerdings kann bei diesen Anky¬ 
losen die Gebrauchsfähigkeit des Arms und der Hand eben so gut, 
ja besser sein, wie bei vielen Schlottergelenken, sie ist aber stets 
sehr viel unvollkommener, als bei dem durch Resection erzielten, 
activ beweglichen Ellenbogengelenk. Dagegen ist die Gebrauchs¬ 
fähigkeit des Arms bei einer in offenem Winkel oder gar in 
Streckung erfolgten Ankylose sehr viel geringer als bei dem aus¬ 
geprägten passiven Schlottergelenk, vorausgesetzt, dass dasselbe 
durch eine Armschiene gestützt wird (Taf. VII). An dem in 
Streckung oder offenem Winkel ankylosirten Arm verfallen die 
Vorderarmmuskeln stets in eine nicht zu bessernde Inactivitäts- 
paralyse, weil active Bewegungen ja nicht angestellt werden kön¬ 
nen, während selbst bei dem schlaffsten Schlottergelenk, falls es 
unheilbar sein sollte, der Gebrauch der Hand bei Anwendung 
einer Armschiene gesichert ist. Es kommt aber bei den conser- 
vativ mit Ankylose Geheilten nicht selten ein anderer Uebelstand 
vor, welcher jede Gebrauchsfähigkeit der Hand und Finger für 
immer aufhebt, ich meine die während der Heilung allmälig sich 
entwickelnde Contractur der Fingerbeuger. Sie kommt 
vorzüglich dann zur Entwickelung, wenn während der Eiterungs¬ 
periode, wie es ja so häufig der Fall ist, Eiterverhaltungen unter 
den von dem Condylus intern, humeri entspringenden voluminösen 
Beugemuskeln entstehen, und wiederholte Incisionen durch diesel¬ 
ben nothwendig werden. Bei der Narbencontraction verkürzen 
sich die durch Eiterung und Scalpel lädirten Muskelbänche mehr 
und mehr und stellen die Finger in die stärkste Flexion. Diese 
nach Eiterung des Ellenbogengelenks entstandene narbige Con¬ 
tractur der Fingerbeuger durch gewaltsame oder allmälige Streckung 
und orthopädische Behandlung zu beben, halte ich für unmöglich. 

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lieber die Endresultate der Gelenkreseetionen im Kriege. 


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Man kann mir den Einwurf machen, dass die eben geschil¬ 
derten schlechten Resultate der conservativen Behandlung durch 
grössere Sorgfalt und eine mehr rationelle Verbandmethode ver¬ 
mieden werden könnten, weil es sich ja von selbst verstehe, dass, 
wenn man eine Schussfractur des Ellenbogengelenks conservativ 
mit Ankylose heilen will, der Vorderarm in einem rechten Win¬ 
kel flectirt erhalten werde, bis die Heilung erfolgt sei. Ich gebe 
zu, dass bei manchen Ankylosen es möglich gewesen wäre, eine 
günstigere Winkelstellung zu erreichen, kann aber versichern, 
dass dieses keineswegs immer gelingen wird. Zwei französische 
Verwundete, welche mit noch eiterndem Ellenbogengelenk der 
Ankylose in beinahe vollständiger Streckung entgegen gingen, er¬ 
widerten auf meinen Rath, den Arm in der Chloroformnarkose 
günstiger stellen zu lassen, sie seien zufrieden, dass der Arm so 
heile, und würden sich wohl hüten, sich von Neuem Schmerzen 
bereiten zu lassen. Zwei Collegen, in deren Behandlung ich auf 
Schienen in beinahe vollständiger Streckung gelagerte Ellenbogen¬ 
schüsse vorfand, erwiederten mir auf denselben Rath, sie hätten 
wiederholt den Versuch gemacht, den Arm günstiger zu stellen, 
seien aber jedesmal durch Rückfälle heftiger Gelenkentzündung 
dafür gestraft worden. Es wird also wohl rathsam sein, sobald 
man die Verletzung conservirend behandeln will, dem Arm gleich 
nach der Verwendung die günstige Winkelstellung zu geben, weil 
dieses später möglicherweise nicht mehr gelingt. 

Der letzte Krieg hat, wie ich aus eigener Anschauung ver¬ 
sichern kann, und wie es die Invalidenberichte zeigen, eine grosse 
Anzahl von Ankylosen des Ellenbogengelenks geliefert, durch 
welche der Arm zu den gewöhnlichen Verrichtungen unbrauchbar 
geworden ist. Dass in solchen Fällen die Brauchbarkeit der Ex¬ 
tremität durch nachträgliche Resection noch wiederhergestellt wer¬ 
den kann, werde ich später zeigen. 


Die Endresultate der Ellenbogengelenkresectionen. 

W T ir sind gewohnt, durch die Ellenbogengelenkresection in der 
Civilpraxis so überaus günstige Erfolge zu erzielen, dass wohl 
wenige der lebenden Chirurgen sich entschliessen würden, wegen 
Eiterung oder Caries des Ellenbogeugelenks den Oberarm zu 


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B. v. Langenbeck, 


amputiren. Wir erreichen in der grösseren Mehrzahl der Fälle 
ein activ bewegliches Gelenk, mit so bedeutender Kraftentwick- 
lung des Arms, dass er in der Gebrauchsfähigkeit dem gesunden 
wenig nacbsteht. 

Eine junge Frau, welcher ich wegen puerperaler Vereiterung 
des rechten Ellenbogengelenks die totale Resection gemacht hatte, 
ist zehn Jahre lang meine tüchtigste Krankenwärterin in der Kli¬ 
nik gewesen. Sie trug mit dem Arm die schwersten Lasten, z. 
B. einen grossen mit Eis gefüllten Eimer, und leistete Alles, was 
mit einem gesunden Arm nur geleistet werden kann. Es hatte 
eine sehr vollkommene Regeneration des Gelenks mit glatter Beweg¬ 
lichkeit stattgefunden und die Condylen des Oberarmknochens und 
das Olecranon waren auch der Form nach recht vollkommen wieder 
hergestellt; nur die Supination wurde nicht so vollkommen ausge¬ 
führt. Aehnliche, eben so vollkommene Resultate habe ich, am 
häufigsten bei Kindern und jungen Leuten, hin und wieder auch 
bei älteren Individuen erzielt, und wenn auch in seltenen Aus¬ 
nahmen das neue Gelenk ankylosirte (3 Mal) oder sich zu einem 
Schlottergelenk gestaltete, so wurde doch in allen Fällen eine 
vollkommen brauchbare Hand erhalten. Und diese Erfolge sind 
ja nicht neu, sondern in ähnlicher Weise bereits vor dreissig 
Jahren von dem verewigten Gajetan Textor in Würzburg und 
von Syme berichtet worden. Eine lange Friedenszeit, deren 
Deutschland sich erfreute, liess es nicht zu, die Ellenbogengelenk- 
resection bei Schussverletzungen zu erproben, und erst im Früh¬ 
jahr 1848 hatte ich Gelegenheit, dieselbe und zwar ebenfalls mit 
gutem Erfolg in Ausführung zu bringen. In weit grösserer Aus¬ 
dehnung wurde dann von Stromeyer und Esmarch, meinen 
Nachfolgern in den Schleswigschen Kriegen 1849—1851, die Ellen- 
bogengelenkresection gepflegt, und die Erfolge hatten nichts zu 
wünschen übrig gelassen. 

Ich habe Gelegenheit gehabt, zwei von Esmarch Resecirte 
8 Jahre nach der Operation zu sehen und die vollkommene active 
Beweglichkeit des Gelenks, sowie die Gebrauchsfähigkeit der Hand 
zu constatiren. Ich habe beinahe 20 Jahre lang in meinen Vor¬ 
lesungen gelehrt, dass bei Schussverletzungen des Ellenbogenge¬ 
lenks der Arm mit seltenen Ausnahmen immer durch Resection 
erhalten werden könne, und bin in den Krieg von 1864 mit dem 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


433 


guten Glauben eingetreten, dass diese Lehre nicht erschüttert 
werden könne. 

Und doch hat dieser Krieg mit den nachfolgenden grossen 
Kriegen der neuesten Zeit diesen Glauben erschüttert, und wir 
laufen Gefahr, den von Guthrie und Hennen anfgestellten Satz, 
dass im Grossen und Ganzen jede Schussfractur der Gelenke die 
Amputation anzeige, wieder anzunehmen. Ohne zu untersuchen, 
worin die in den letzten Kriegen beobachteten Misserfolge ihren 
Grund haben mögen, und ohne auch nur die Frage zu berühren, 
ob es keine Mittel gebe, dieselben zu verhindern, durchschneidet 
man den Gordischen Knoten und setzt das Amputationsmesser in 
die Alleinherrschaft wieder ein. 

Wie bei Resection des Oberarmkopfs, so haben wir jetzt zu 
untersuchen, was die Veranlassung zu den schlechteren Erfolgen 
der Ellenbogengelenkresection im Kriege gewesen ist. 

In dieser Beziehung ist zunächst hervorzuheben, dass bei 
den Schussverletzungen des Ellenbogengelenks nicht selten Neben¬ 
verletzungen Vorkommen, durch welche die Wiederherstellung der 
vollen Gebrauchsfähigkeit des Arms unmöglich wird. Abgesehen 
von der glücklicher Weise nicht sehr häufigen Zerreissung der 
Art. cubitalis, welche bei gleichzeitig vorhandener, ausgedehnter 
Schussfractur die primäre Amputation des Oberarms indicirt, 
können N. medianus und ulnaris verletzt werden. Die Verletzung 
des letzteren, in unmittelbarster Berührung mit den Knochen- 
theilen des Gelenks, zwischen Condylus internus humeri und Ole- 
cranon verlaufenden Nerven kommt am häufigsten vor. Verletzun¬ 
gen des N. ulnaris schliessen die Wiederherstellung der Func¬ 
tion der Hand keineswegs aus, doch bleibt diese in allen Fällen 
unvollkommen, weil der M. flexor carpi ulnaris und flexor digitor. 
profundus zum Theil, die kleinen Muskeln der Hand aber, Mm. 
interossei, flexor brevis, adductor dig. minimi, adductor polli- 
ci8 vollständig gelähmt bleiben. Die groben Bewegungen der 
Finger können erhalten sein, aber die Beugung der ersten 
Fingerglieder, die Bildung der Hohlhand ist ^möglich geworden, 
die Hand ist bedeutend schwächer und hat ihre Fähigkeit zu 
den feineren Verrichtungen eingebüsst. Die nach Verletzung die¬ 
ses Nerven zurückbleibende Anästhesie des 5. und 4. Fingers ist 
von geringerer Bedeutung. Da der N. ulnaris auch bei der Re- 

t. LaDgtnbtek, Arohiv f. Ohlmrgit. XVI. 

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B. V. Langenbeck, 


section des Ellenbogengelenks leicht verletzt werden kann und 
von weniger Geübten wohl ab und zu verletzt worden ist, so ist 
die bei einigen ßesecirten Vorgefundene, entsprechende Functions¬ 
störung der Hand erklärlich. 

Der Nerv, ulnäris ist bei den älteren Resectionen des Ellen¬ 
bogengelenks wahrscheinlich immer durchschnitten worden. Bei 
dem am meisten geübten Lappenscbnitt Moreau’s wurde der 
von einem Condylus humeri zum andern über das Olecranon ver¬ 
laufende Querschnitt sofort bis auf den Knochen geführt, und die¬ 
ser Nerv dabei durchschnitten. Erst 1834 etwa machte Michael 
Jäger (Erlangen) den Versuch, den Ulnarnerven zu erhalten, in¬ 
dem er ihn durch einen zwischen Olecranon und Epicondylus 
internus verlaufenden Längsschnitt freilegte und heraushob und 
bis zur Vollendung der Operation mit stumpfen Haken halten liess , 
("Jäger in Rust’s Handb. d. Chirurgie. Bd. V.; Ried, Die Re¬ 
sectionen der Knochen. Nürnberg 1847. 8. S. 337). Dieses Ver¬ 
fahren, wenn es auch hin und wieder als zu subtil verworfen 
wurde, weil der Ulnarnerv ja überhaupt nicht viel bedeute, und 
es nicht der Mühe lohne, ihn zu erhalten, ist bis zum Jahre 1849 
auch von mir in den Fällen befolgt worden, in welchen es mir 
nothwendig schien, den Moreau’schen Schnitt auszuführen. 
Obwohl es mir damals schon klar war, dass es für die Erhaltung 
der Function des Nerven gefährlich sein könne, ihn herauszulösen 
und bis zur Heilung in einer eiternden Wundhöhle liegen zu lassen, 
so musste ich doch erst durch einen Unglücksfall auf ein ratio¬ 
nelleres Verfahren hingeführt werden. 

Im April 1849, als ich von Berlin aus auf einer Ferienreise 
den Kriegsschauplatz in Schleswig wieder aufgesucht hatte, machte 
ich in Flensburg bei einem Verwundeten des Sächsischen Contin- 
gents die totale Resection des rechten Ellenbogengelenks. Der 
ausgedehnten Knochenverletzung wegen hatte ich einen etwas 
modificirten Moreau’schen Schnitt angewendet und den Nerv, nl- 
naris herausgelöst. Nach 3 Wochen war die Heilung der Wunde 
so weit vorgeschritten, dass der Verwundete mit dem Arm in 
einer Tragkapsel in Flensburg umhergehen konnte. Plötzlich 
wurde er von Trismus und Tetanus befallen. Die sofort ausge¬ 
führte Amputation des Oberarms unterbrach den Starrkrampf nur 
auf wenige Stunden, und dieser verlief am dritten Tage tödtlich. 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege- 


435 


Die Untersuchung der mit jungem Narbengewebe ausgefüllten Re- 
sectionswunde ergab, dass von der Gegend des resecirten Epicon- 
dylus internus aus eine Knochenwucherung ausgegangen war, von 
welcher der Nerv, ulnaris eingeschnürt wurde. Der Nerv war 
bei seinem Eintritt in diesen Knochenkanal kolbig angeschwollen 
und dunkel geröthet, und es lag nahe zu vermuthen, dass diese 
Einschnürung auf die Entstehung des Trismus nicht ohne Einfluss 
gewesen sei. Diese traurige Erfahrung brachte mich dahin, einen 
ohnehin weit einfacheren Weg einzuschlagen und den Ulnarnerven in 
Verbindung mit den Weichtheilen vom Knochen abzulösen. 

Abgesehen von den so eben besprochenen Nebenverletzungen, 
können die von den Condylen des Oberarms entspringenden Mus¬ 
keln durch das Geschoss, durch die auseinander gesprengten 
Knochen oder durch eine nicht mit der nothwendigen Schonung 
ausgeführte Resection in der Ausdehnung verletzt sein, dass die 
Wiederherstellung ihrer Function unmöglich wird. Wir haben in 
dem letzten Kriege mehrere ausgedehnte Schussverletzungen des 
Ellenbogengelenks gesehen, bei welchen diese Muskeln, als wären 
sie durch ein Explosivgeschoss getroffen worden, in grosser Aus¬ 
dehnung zertrümmert, in der Tiefe der t>—7 Ctm. im Durchmesser 
haltenden, kraterförmigen Schussöffnung lagen. Diese Verletzun¬ 
gen haben wahrscheinlich immer eine unbrauchbare Hand zurück¬ 
gelassen, es sei denn, dass während der Bildung der Muskelnarbe 
auf die Stellung der Hand und Finger die grösste Aufmerksam¬ 
keit verwendet wurde. 

Ein nach den Ellenbogengelenkresectionen der letzten Kriege 
häufig beobachteter Misserfolg ist das Schlotter gelenk. Ich 
halte es für nützlich, die von Löffler gebrauchte Nomenclatur 
des activen und passiven Schlottergelenks hier beizubehalten. 
Ein actives Schlottergelenk würde also denjenigen Zustand 
des resecirten Ellenbogengelenks bezeichnen, bei welchem die ac- 
tive Beugung und Streckung des Vorderarms möglich, diese Be¬ 
wegungen aber keine stetigen und sicheren sind, weil die er¬ 
schlafften Seitenbänder bei brüsken oder zu kraftvollen Bewegungen 
ein geringes seitliches Abweichen der sich berührenden Knochen¬ 
flächen nicht verhindern können. Der Resecirte ist zu allen activen 
Bewegungen des Arms befähigt, diese Bewegungen entbehren aber 
der wünschenswerthen Sicherheit und Energie; der Arm würde 

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436 


B. v. Langenbeck, 


zu grosser Kraftäussernng und anhaltender schwerer Arbeit un¬ 
tauglich sein. 

Weit schlimmer ist dagegen der Zustand des passiven 
Schlottergelenks. Die resecirten Knochenenden stehen hier 
bei keiner Stellung des Arms in Berührung miteinander. Der 
Arm hängt schlaff am Körper herab und geräth in pendelartige 
Schwingungen, wenn der Pat. sich rasch bewegt. Da für eine 
Flexionsbewegung im Ellenbogengelenk eine Anstützung der Vor¬ 
derarmknochen gegen das untere Ende des Humerus nothwendig, 
diese aber hier nicht vorhanden ist, so vermögen die Beuger des 
Vorderarms ihre Hebelbewegnng nicht auszuführen. Bemüht der 
Resecirte sich den am Körper herabhängenden Arm dennoch zu 
beugen, so verkürzt sich die Extremität, ähnlich einem Schlangen¬ 
körper, oder, wenn unter günstigeren Verhältnissen eine Art Beuge¬ 
stellung des Vorderarms zu Stande kommt, so weichen die Vor- 
derarmknochen nach hinten aus, und es entsteht in der Ellen¬ 
bogenbeuge eine tiefe Faltung der die Pseudarthrose deckenden 
Weichtheile. Ich sage hier kein Wort mehr von den in den In¬ 
validenberichten häufig erwähnten Bewegungsstörungen in anderen 
Theilen der Extremität, sowie von der Herabsetzung der Sensibi¬ 
lität und der Temperatur, weil sie, wie ich bei der Resection des 
Schultergelenks bewiesen habe, nothwendige Begleiter des Schlotter¬ 
gelenks nicht sind, sondern entweder auf Nebenverletzungen oder 
auf Inactivitätsparalyse zurückgeführt werden müssen. Ich werde 
den Beweis liefern, dass diese Functionsstörungen selbst bei dem 
schlimmsten passiven Schlottergelenk des Ellenbogens nicht vor¬ 
handen zu sein brauchen und, wenn ihnen mit den geeigneten 
Mitteln rechtzeitig entgegengetreten wird, noch nachträglich ge¬ 
heilt werden können. 

Es versteht sich aber von selbst, dass, wenn der schlotternde 
Arm jahrelang gar nicht gebraucht, in der Tragkapsel unbeweg¬ 
lich getragen wird oder an den Körper festgeschnallt bleibt, bei 
der nothwendig eintretenden Atrophie und Verfettung der Muskeln 
und Nerven diese Zustände mit der Zeit unheilbar werden müs¬ 
sen, und ich bin gern bereit, unter dieser Voraussetzung auch 
eine progressive Atrophie und Paralyse zuzugeben. 

Die Ursachen, welche nach der Ellenbogengelenkresection 
zur Entstehung eines Scblottergelenks führen, sind verschieden- 


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üeber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


437 


artige. Zunächst und vor allen kommt hier die Ausdehnung 
der Resection und die mangelhafte Knochenreproduction 
in Betracht. 

Werden die Knochentheile des Gelenks in grosser Ausdeh¬ 
nung bis zu der Länge von 12—16 Ctm. entfernt, und bleibt die 
Knochenreproduction aus, so wird zwischen Vorder- und Oberarm¬ 
knochen ein mit Narbengewebe ausgefüllter Zwischenraum ent¬ 
stehen, welcher den Contact dieser Knochen und folglich die ac- 
tiven Bewegungen unmöglich macht. Es bedarf aber der Entfer¬ 
nung so grosser Knochentheile nicht, und es kann sogar eine Re¬ 
section, bei welcher die Länge der resecirten Knochen nicht über 
6 Ctm. betrug, ein Schlottergelenk hinterlassen, vorausgesetzt, 
dass jede Knochenreproduction ausbleibt, und die resecirten Kno¬ 
chenenden einfach atrophiren. Vielleicht ist das Ellenbogengelenk 
in dieser Beziehung ungünstiger gestellt, als die anderen Gelenke. 

Nach meinen Erfahrungen scheint es, dass Knochenreproduc¬ 
tion am reichlichsten auftritt an denjenigen Endpunkten der Ex¬ 
tremitätenknochen, welche zum Längenwachsthum der Extremität 
am meisten beitragen, und deren Epiphysenknorpel am spätesten 
verschwindet. Man kann sich vorstellen, dass diejenige Knochen¬ 
epiphyse, von welcher aus das Längenwachsthum eines Röhren¬ 
knochens vorzugsweise stattfindet und am spätesten aufhört, auch 
später, nachdem sie mit der Knochendiaphyse längst verschmolzen 
ist, von der Natur gewissermassen bevorzugt bleibe und zu einer 
stärkeren Knochenreproduction fähig sei. 

Die Intensität des Längenwachsthums von den Epiphysen 
der Röhrenknochen aus ist, wie Duhamel (Möm. de l’acadömie 
roy. des Sciences 1743. M6m. V. p. 111.) zuerst an der Tibia, 
L. Olli er (De la part proportionnelle qui revient ä chaque extrö- 
mit6 des os des membres dans leur accroissement en longeur. Paris 
1801) durch zahlreiche Thierversuche von den anderen Knochen 
nachgewiesen hat, an den Knochen der oberen und unteren Ex¬ 
tremitäten, wie an den Knochenabschnitten derselben Extremität 
keineswegs gleieh, sondern an die verschiedenartig reiche Ent¬ 
wickelung und längere Persistenz des Epiphysenknorpels gebunden. 
Während für das Längenwachsthum der unteren Extremität die 
beiden, das Kniegelenk zusammensetzenden Epiphysen und beson¬ 
ders die untere Epiphyse des Femur am meisten beiträgt, findet 


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438 


B. v. Langeubeck, 


an der oberen Extremität das entgegengesetzte Verhältniss statt, 
indem die unteren Epiphysen des Radius und der Ulna in erster, 
die obere Epiphyse des Humerus in zweiter Reihe zu stehen 
kommt, die drei Epiphysen aber, welche das Ellenbogengelenk bil¬ 
den, den geringsten Beitrag zum Längenwachsthum liefern. An 
der unteren Epiphyse des Humerus und an den beiden oberen des 
Radius und der Ulna verschwindet der Epiphysenknorpel am frü¬ 
hesten, und erreicht das Längenwachsthum von hier aus bei 
% Thieren (Kaninchen und Hunden) schon wenige Monate nach der 
Geburt seine Endschaft. Die grössere Leistungsfähigkeit für das 
Längenwachsthum würde also nach folgender Scala bestimmt wer¬ 
den können: Untere Epiphyse des Femur, obere der Tibia, 
untere Epiphyse der Fibula und Tibia, obere Epiphyse des 
Femur, untere Epiphyse des Radius und der Ulna, obere des Hu¬ 
merus, endlich untere Epiphyse des Humerus und die oberen des 
Radius und der Ulna. Die Untersuchungen von Georg Weg- 
ner (Ueber hereditäre Knochensyphilis bei Kindern, Virchow’s 
Archiv für pathol. Anatomie Bd. L.) haben ergeben, dass die Scala 
der Wachsthumsintensität der Extremitätenknochen beim Menschen 
nahezu dieselbe ist. Die der Osteochondritis syphilitica hereditaria 
eigenthümliche Knorpel Wucherung tritt, wie W. nachweist, am 
frühesten an den Epiphysenknorpeln auf, welche an dem Längen¬ 
wachsthum der Diaphyse in hervorragender Weise betheiligt sind, 
so dass die verschiedenen Stadien des Krankheitsprocesses von 
der beginnenden Knorpelwucherung an bis zur Epiphysenablösnng 
an den verschiedenen Knochen desselben Individuums vorgefunden 
werden. Am meisten vorgeschritten findet sich die Erkrankung 
an den unteren Epiphysen des Femur, der Tibia und Fibula, des 
Radius und der Ulna, weniger stark an der oberen Epiphyse des 
Femur und der Tibia, noch weniger an der oberen Epiphyse des 
Humerus. Sehr viel geringer erscheint die Erkrankungsintensität 
an der oberen Epiphyse des Radius und der Ulna, und endlich 
als constant am geringsten betroffener Theil die untere Epiphyse 
des Humerus. 

Ueberblicke ich die Ergebnisse der von mir ausgeführten Re- 
sectionen, so will es mir scheinen, dass das Regenerationsvermögen 
der verschiedenen Gelenkenden nach derselben Scala bezeichnet 
werden könne. Abgesehen von dem Kniegelenk, über welches die 
erforderliche Anzahl von Erfahrungen mir fehlt, habe ich die 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 439 

reichste Knochenreproduction constant beobachtet nach wegen 
Trauma vorgenommener Resection der unteren Enden der Tibia 
und Fibula, des Radius und der Ulna, weniger reichlich nach Re¬ 
section des Oberarm- und Oberschenkelkopfs, am schwächsten end¬ 
lich nach Resection des Ellenbogengelenks. 

Sollten diese Wahrnehmungen eine weitere Bestätigung finden, 
so wurde man zu der Vorstellung gedrängt werden, dass den Epi¬ 
physen der Röhrenknochen nach'längst vollendetem Wachsthum 
das Reproductionsvermögen in derselben Abstufung gewahrt bleibe, 
welche ihnen bei der ersten Entwickelung angewiesen ist. Hieran 
würde sich noch eine Reihe anderer Betrachtungen über die Ent¬ 
stehung und Bedeutung der Gelenkerkrankungen anknüpfen lassen. 
Es Hesse sich denken, dass in den Gelenkenden, von denen ein 
grösserer Einfluss auf das Längenwachsthum und folglich eine 
grössere Bildungsthätigkeit nachgewiesen ist, Krankheitsprocesse 
häufiger zur Entwickelung gelangen und destructiver auftreten, als 
in den anderen Gelenken. Ich erinnere nur daran, dass die ver¬ 
schiedenartigen Pseudoplasmen am häufigsten in den beiden grossen 
Epiphysen, welche das Kniegelenk bilden, nächst diesen im oberen 
Ende des Humerus, am seltensten aber wohl in den Epiphysen 
des Ellenbogengelenks zur Entwickelung gelangen, und dass die 
Knochenentzündungen im Kniegelenk, Hand- und Fussgelenk de¬ 
structiver aufzutreten scheinen, als in den anderen Gelenken. Ich 
bin noch niemals in der Lage gewesen, auf eine wegen Caries aus¬ 
geführte Resection des Schulter- oder Ellenbogengelenks die Am¬ 
putation folgen lassen zu müssen, bin dagegen unter einer weit 
kleineren Anzahl von Hand- und Fussgelenkresectionen schon in 
5 FäUen gezwungen worden, nachträglich zu amputiren, weil die 
Heilung der resecirten Knochen nicht eintreten wollte. 

Ist es richtig, dass die Knochenproduction nach Resection des 
Ellenbogengelenks eine geringere ist, so werden wir die Verpflich¬ 
tung haben müssen, so wenig als möglich zu reseciren, und na¬ 
mentlich bei Kindern die Epiphysenknorpel zurück zu lassen, 
wenn diese nicht etwa die Ausgangspunkte der Erkrankung ge¬ 
wesen sind. 

Bei Schussfracturen werden freilich ausgedehnte Resectionen 
nicht zu vermeiden sein, wenu man nicht den Arm opfern will; 
aber auch bei diesen wird manchmal in grösserer Ausdehnung 


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B. y. Langenbeck, 


resecirt, als nothwendig ist, und gerade hier sollte jede Linie 
Knochen, welche erhalten bleiben kann, gespart werden. Man ver¬ 
fällt leicht fast unbewusst in den Fehler, oberhalb der Epicondylen 
die Diaphyse abzusägen, weil der Gebrauch der Bogensäge ein 
weiteres Hervortreten des Knochenendes wünschenswerth macht. 
Die günstigen Resultate, d. h. eine Art von Regeneration eines 
soliden, activ beweglichen Gelenks erreicht man, wenn die Ge¬ 
lenkfläche des Humerus im Bereich der Epicondylen, das Olecranon 
im Niveau des Processus coronoides abgesägt wird. Diesen letz¬ 
teren, sowie die Gelenkfläche des Radius kann man füglich 
zurücklassen, sobald beide von der Schussfractur nicht betroffen 
sind. Es ist aber auch unbedenklich, die Gelenkflächen des Radius 
und des Processus coronoides mit fortzunehmen, vorausgesetzt, 
dass das Ligament, annulare, welches den Radius an der Ulna 
fixirt und durch seine Verbindung mit dem Ligament, laterale 
externum die Gelenkfläche desselben mit der Eminentia capitata 
des Humerus in Contact erhält, unverletzt bleibt, und der M. 
brachiaeus intern, seine Anheftung an die Basis des Processus 
coronoides nicht ganz einbüsst. 

Weiterhin kann die Entstehung von Scblottergelenken veran¬ 
lasst werden durch Verletzung der von den Condylen ent¬ 
springenden Muskeln und der Seitenbänder. Auch hier 
ist es wiederum die subperiostale Resection, welche die Wiederher¬ 
stellung des neuen Gelenks am meisten sichert. Die über das 
Gelenk verlaufenden Muskeln und die Seitenbänder 
sollen in Verbindung mit dem Periost erhalten wer¬ 
den. Werden die von den Condylen des Oberarms entspringenden 
Muskeln quer durchschnitten, so kann der Effect derselbe sein, 
wie nach Zerreissung derselben durch das Geschoss oder heraus- 
geschleuderte Knochensplitter. 

Am meisten wird aber die Entstehung des Schlottergelenks be¬ 
günstigt durch ausgedehnten Knochenverlust, mag die Resection eine 
totale oder nur eine partielle gewesen sein. DieReproduction 
von Knochen kann auch nach der vollkommensten sub¬ 
periostalen Resection ganz ausbleiben. Leider vermag ich 
die Bedingungen, unter welchen dieses vorkommt, mit Sicherheit nicht 
anzugeben, weil ich nicht weiss, welchen Antheil in den von mir sub¬ 
periostal resecirten Fällen die mangelhafte Nachbehandlung an der 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


441 


Entstehung des Schlottergelenks gehabt haben mag. Ich kann nur 
versichern, dass auch die vollkommenste subperiostale Resection 
(No. 35, Taf. VII) vor Entstehung eines argen Schlottergelenks nicht 
schützt. Bekanntlich kommt es auch bei der durch Osteomyelitis 
veranlassten Nekrose, nach welcher in der Regel eine so vollstän¬ 
dige Regeneration des Knochens beobachtet wird (vergl. die eben 
mitgetheilten Fälle No. 25, 29.), ausnahmsweise nicht zur Bildung 
der Todtenlade, sondern es bleiben die Knochenenden wie bei der 
Pseudarthrose durch eine fibröse Masse mit einander verbunden. 
Auch nach subperiostaler Exstirpation des ganzen Unterkiefers 
wegen Phosphornekrose, mit und ohne Erhaltung der neuen Kno¬ 
chenauflagerungen habe ich in zwei Fällen eine vollkommene Re¬ 
generation des Unterkiefers, in » einem Fall das Ausbleiben von 
Knochenneubildung nnd in einem vierten sogar den nachträglichen 
Schwund der mit dem Periost abgelösten Knochenauflagerungen 
beobachtet. Man kann sich vorstellen, dass unter gewissen Be¬ 
dingungen, z. B. nach lange bestandener Knocheneiterung die 
osteogene Eigenschaft des Periosts zu Grunde gehen kann; die 
sichere Kenntniss dieser Verhältnisse geht uns gänzlich ab, und 
wir vermögen ja auch in den meisten Fällen nicht zu erfinden, 
aus welchen Gründen die Heilung der Knochenbrüche manchmal 
gar nicht zu Stande kommt. Ich kenne nur ein Knochenleiden, 
bei welchem, wenn man subperiostal resecirt hat, die Regeneration 
constant auszubleiben scheint, das ist die chronische scrophulöse 
Osteomyelitis der Fingerglieder und der Metacarpalknochcn. Ich 
gebe also zu, dass nach Resection des Ellenbogengelenks unter 
gewissen Bedingungen die Entstehung eines Schlottergelenks mög¬ 
licherweise nicht verhindert werden kann, behaupte aber vorläufig 
noch, dass wir gar nicht in der Lage sind, zn bemessen, welchen 
Antheil die mangelhafte Nachbehandlung an diesen schlechten Er¬ 
folgen hat, und dass essehr häufig möglich ist, hochgra¬ 
dige Schlotter gelenke in activ bewegliche und vollkom¬ 
men brauchbare umzuwandeln. 

Nr. 34. Primäre Resection des Ellenbogengelenks. Passives 
Schlottergelenk. Nachträgliche Herstellung der activen Beweg¬ 
lichkeit (Taf. VIII}. Hermann Thiele, Musketier im 60. Inf.-Regt., 22 Jahre 
alt, aus Berlin. Verwundet 18. April 1864 beim Sturm der Düppelor Schanzen. 
Das Geschoss (Kartätscbenkugel) ist an der Aussenseite des linken Oberarms, 
etwa 3 Ctm. oberhalb Condylus exlemus ein- und etwa 4 Gtm. unterhalb Con- 


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B. v. Langenbock, 


dylus internus wieder ausgetreten. Die Untersuchung mit dem Finger lässt von 
beiden weiten Scbussöffnungen aus eine ausgedehnte Zertrümmerung der Gelenk- 
enden wahrnehmen. Blutung steht, Puls der Radialarterien fühlbar. Sensibilität 
der Finger erhalten. 

Am 19. April Morgens machte ich im Feldlazarett zu Stenderup mit Herrn 
Stabsarzt Dr. Claus (jetzt dirig. Arzt der Chirurg. Abtheilung des Kranken¬ 
hauses in Elberfeld) die primäre Resection des Ellenbogengelenks. Wegen 
starker blutiger Infiltration der Weichtheile und ausgedehnter Zertrümmerung 
war die Operation mühsam. Der Längsschnitt musste zu verschiedenen Malen 
verlängert werden. Die durch das Geschoss in grosser Ausdehnung zerrissenen 
Muskelansätze wurden von den Fragmenten der Condylen mit möglichster Scho- 
nu ( g des Periosts abgelost. Die Länge des resecirten Humerusendes betrug 
beinahe 4 Zoll, die der Yorderarmknochen 3* Zoll, so dass, unserer Schätzung 
nach, reichlich 16 Ctm. von den Knocbentbeilen des Gelenks entfernt wurden. 
Lagerung auf Esmarch’scher Schiene, vier Wochen später im Feldlazareth 
Baurup Gypsverband mit grossem Fenster. In diesem Verbände wurde Th. 
9 Wochen später nach Magdeburg und von dort nach Berlin transferirt. Die 
Heilung der grossen Wunde war Anfang Juli vollendet, und nur eine Fistel 
zurückgeblieben, welche erst im November, nach beendigter Badekur in Teplitz, 
zur definitiven Heilung gelangte. Im Frühjahr 1865, wo ich Th. zum ersten 
Male wiedersah, bestand ein passives Schlottergelenk, wie ich es niemals 
stärker gesehen habe. Das Ellenbogengelenk war ganz unbrauchbar, dieactive 
Beweglichkeit und G.ebrauchsfähigkeit der Hand und der Finger 
aber vollständig erhalten. Ich unterlasse die weitere Schilderung der 
Zustände des Arms, weil ich das Ergebniss der vom Oberstabsarzt Dr. Gähde 
20 Monate nach der Operation — December 1865 — vorgenommenen sehr ge¬ 
nauen Untersuchung (Loeffler, Generalbericht etc. 1. Thl. Berlin 1867. 8. 
S. 263) nur wiederholen konnte. Ich Hess nun, aus den von Privaten mir zur 
Verfügung gestellten Mitteln, durch den Bandagisten Lutter einen bei mehreren 
Invaliden zur Anwendung gekommenen (in Taf. VII, Fröbrodt, abgebildeten) 
Schienenapparat anfertigen und die electrische Behandlung beginnen. Im Mai 
1873 hatte Herr Ober-Stabsarzt Dr. Leuth old die Güte, mir nachstehende 
Schilderung von dem Arm des, wegen Brustleiden im Konigl. Augusta-Hospital 
hierselbst in Behandlung befindlichen Thiele zuzusenden: 

«Die Gebrauchsfähigkeit des resecirten Arms ist jetzt derartig, dass sich 
Patient vollständig selbst bedient, namentlich ist der Gebrauch von Hand und 
Fingern ungestört. Der gesunde rechte Arm misst vom Processus coracoides 
bis zur Spitze des Mittelfingers 74 Ctm , der linke resecirte nur 65 Ctm. Im 
Ellenbogengelenk fühlt man für gewöhnlich keine Lücke, sondern die Knochen 
berühren sich; bei starker Extension entsteht eine 1,50 Ctm. breite Knochen¬ 
lücke. Die Bewegungen im Ellenbogengelenk, insbesondere die Beugung, erfolgen 
fast mit normaler Kraft, desgleichen die Rotation des Vorderarms. Wird der 
Arm, iro Ellenbogengelenk gestreckt, wagerecht erhoben, so vermag Th. nur 
'i Pfund in der Hand zu tragen; bei stärkerer Belastung tritt Hyperextension 
ein. Wird der Arm bis zur Horizontalen erhoben und dann im Ellenbogen- 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


443 


gelenk gebeugt, so tritt, wenn Th. nicht Acht giebt, leicht eine Verschiebung 
im Ellenbogengelenk ein.“ 

Bei meinem Besuch im Kgl. Augusta-Hospital fand ich diese Angaben in 
allen Punkten bestätigt, und Thiele versicherte mich, dass sein Arm zu allen 
gewöhnlichen Verrichtungen, vorausgesetzt, dass sie keinen grossen Kraftauf¬ 
wand erheischen, vollkommen brauchbar sei. 

Nr. 35. Spätresection des rechten Ellenbogengelenks. Hei¬ 
lung mit Schlotterverbindung Wilb. Fröbrodt, Brandenburg. Pion.-Bat. 
Nr. 3. Scbussfractur des rechten Ellenbosrengelenks am 18. April 1864. Das 
Geschoss war an der Vorderseite des rechten Humerus, 3 Ctm. oberhalb Con- 
dylus internus ein- und hinten und aussen durch die Streckseite des Ellen¬ 
bogengelenks wieder ausgetreten. Der Arm war von Anfang an auf einer 
Schiene gelagert gewesen. Der Verwundete war am 5. Juli in das L^zaretb nach 
Broagger transferirt, wo ich ihn am 7. Juli zuerst sab. Die ganze Extremität 
war stark geschwollen, und Patient war durch andauerndes Fieber und sehr 
profuse Eiterung aus den Schussöffnungen und verschiedenen Incisionen sehr 
heruntergekommen. Am 13. Juli wurde von mir (nicht vom Stabsarzt Dr. Ha¬ 
ge mann, wie in Loeffler’s Generalbericbt S. 259 angegeben ist) die sub¬ 
periostale Resection des Ellenbogengelenks gemacht. Ich muss die Ehre dieser 
Operation für mich in Anspruch nehmen, weil sie das schlechteste Resultat 
geliefert hat, welches mir jemals vorgekommen ist. 

Da voraussichtlich viel von den Knochen resecirt werden musste, so ver¬ 
wendete ich die grösste Sorgfalt auf Erhaltung des Periosts. Dies war um so 
leichter und vollständiger möglich, als das sehr verdickte Periost in Verbindung 
mit den Muskelansätzen und Bändern mit Hülfe des Elevatoriums ohne Schwie¬ 
rigkeit abgehoben werden konnte. Ich habe niemals eine so vollständig sub¬ 
periostale Ellenbogengelenkresection gemacht und bewahre die Knochen, ohne 
dass sie roacerirt worden, noch in getrocknetem Zustande so auf, wie ich sie 
herausgenommen habe (vgl. die Abbildung Taf. VII). Die Länge des entfernten 
Humerusendes beträgt 12 Ctm., die des mit dem Processus coronoides abge¬ 
sagten Olecranon 5 Ctm.; vom Radius ist nur die tellerförmige Grube oberhalb 
Ligam. annulare abgesägt worden. Die Verletzung bestand ia einem Schräg¬ 
bruch des unteren Humerusendes mit vollständiger Abtrennung der Epiphyse 
und Absprengung eines Theils des Olecranon. Diarthrodialknorpel durch Kno- 
cheneiternng vollständig zerstört, Gelenkflächen raub. 

Im Frühjahr 1865 Hess ich einen Scbienenapparat anlegen, wie die untere 
Abbildung der Taf. VII zeigt. Ich übergehe die weitere Schilderung des Schlotter¬ 
gelenks, weil diese in Loeffler’s Generalbericht S. 259 durch Ober-Stabsarzt 
Berkofsky sehr ausführlich und genau gegeben ist, und bemerke nur, dass der 
Arm, sich selbst überlassen, am Körper schlaff herabhängt, dass beim Versuch 
ihn im Ellenbogengelenk zu beugen, die Extremität sich ähnlich einem Schlan¬ 
genkörper verkürzt. Dem ungeachtet ist die Hand sehr kräftig und voll¬ 
kommen brauchbar geblieben. Bei angelegtem Stützapparat gebraucht F. die 
Hand zu allen leichteren Verrichtungen, zum Schreiben, Zuknöpfen u. s. w. 


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B. v. Langenbeck 


Einer consequenten Nachbehandlung hat F. sich stets entzogen, und es wurde 
der Stützapparat sehr unregelmässig getragen. 

Nr. 36. Schussfractur des rechten Ellenbogengelenks mit Ver¬ 
letzung des N. ulnaris. Primäre Resection. Schlottergelenk. 
Feldwebel Hartmann, 53. Inf.-Regt., verwundet 18. April 1^64. Das Geschoss 
war oberhalb Condylus externus, diesen absprengend ein- und oberhalb Condy- 
lus internus, den Nervus ulnaris zerreissend ausgetreten. Die weitere Schilde¬ 
rung des Falls, welche von Loeffler (S. 266) sehr genau gegeben ist, übergehe 
ich hier ganz und beschränke mich auf einige wenige Bemerkungen. Der Ver¬ 
lauf der von A. Mitscherlich ausgeführten Resection war ein ungewöhnlich 
günstiger. Schon gegen Ende Mai war die Wunde geheilt, und wurden Bewe¬ 
gungsversuche angestellt. Diese wurden im Juli in Hamm, wohin H. transferirt 
worden, eifrig fortgesetzt, wobei besonders die Extension schwer zu erzielen 
war. Es war also damals die passive Beweglichkeit beschränkt) und H. be¬ 
hauptet, dass seit einer forcirten Streckung, durch welche man die Beweglichkeit 
berzustellen versuchte, der Arm schlotternd geworden sei. Im October 1873 
sah ich H., welchem ich 1865 den Stützapparat hatte anfertigen lassen, zum 
ersten Male wieder. Der Zustand ist derselbe, wie bei der vom Ober-Stabsarzt 
Dr. Gaehde (Loeffler a. a. 0. S. 266) vorgenommenen Superrevision, das 
Ellenbogengelenk jedenfalls noch schlaffer geworden. Die resecirten Knochen¬ 
enden stehen in keiner Berührung mit einander; das atropbirte untere Ende 
des Humerus springt bei berabhängendem Arm nach innen vor, während die 
oberen Enden der Vorderarmknocben nach hinten ausweichen. Die Hand bietet 
das Bild der Ulnarisparalyse; die kleinen Muskeln der Hand sind atrophirt, der 
Druck der Hand deutlich aber schwach, die Fingerbewegungen vollkommen frei 
aber wenig kraftvoll. 

Seit dem Jahre 1866 ist, wie H. zugesteht, für den Arm gar nichts ge¬ 
schehen. Er hat vielmehr den Stützapparat abgelegt, weil dieser gedrückt habe, 
und ist mit baumelndem Arm umhergegangen. Meiner Aufforderung, sich mir 
öfter zu zeigen, ist er jetzt ebenso wenig wie früher nachgekommen. 

Aus diesen Beobachtungen ergiebt sich, dass ein nach sehr 
ausgedehnter Ellenbogen gelenkresection entstandenes passives 
Schlottergelenk (No. 34) sich noch spät consolidiren und brauch¬ 
bar werden kann, vorausgesetzt, dass eine entsprechende Behand¬ 
lung stattfindet, und der Arm nicht ausser Gebrauch gesetzt wird. 
In dieser Beziehung ist die rechtzeitige Aufnahme der electrischen 
Behandlung besonders wichtig, wie.ich bei der Schlotterverbindung 
nach Resection des Schultergelenks bereits angegeben habe. Der 
Abstand der schlotternden Knochenenden von einander wird ge¬ 
ringer in demselben Maasse, als durch Anwendung des inducirten 
Stromes der Muskeltonus zurückkehrt, und es können schon we¬ 
nige Sitzungen ausreichen, um die ganz geschwundene active Be¬ 
weglichkeit des Gelenks wieder herzustellen. In einem Fall von 


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Ueber die Endresultate der Geleukresectionen im Kriege. 


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Schussfractur des Ellenbogengelenks war nach der dnrch Matecki 
in Posen ansgeführten Resection von reichlich 7 Ctm. eine der in 
Nr. 35 geschilderten ähnliche Schlotterverbindung zurückgeblieben. 
Der Zwischenraum zwischen den resecirten Rnochenenden betrog 
1 Jahr nach der Operation über 2 Zoll, und die gemeinschaftliche 
Contraction des M. biceps und triceps hatte, wie bei meinem Re¬ 
secirten, keine andere Wirkung, als dass der Vorderarm gegen den 
Oberarm in senkrechter Richtung gehoben wurde; dasselbe ge¬ 
schah, sobald die genannten Muskeln durch den inducirten Strom 
gereizt wurden. Die von Herrn Dr. Hitzig eingeleitete electri- 
sche Behandlung hatte den Erfolg, dass unmittelbar nach der 
ersten Sitzung die Kranke ihren Vorderarm activ bis zu einem 
offenen Winkel, nach 38 Sitzungen aber so weit beugen konnte, 
dass sie Nasenspitze und Ohr mit der Hand zu fassen vermochte. 
In demselben Maasse, als die active Beweglichkeit zunahm, wurde 
der Abstand der Knochenenden von einander kleiner und die Ex¬ 
tremität kürzer. (E. Hitzig, Ueber das Resultat electrischer Be¬ 
handlung eines Schlottergelenks. Verhandlungen der Berliner med. 
Gesellschaft in den Jahren 1869—1871. Berlin 1872. 8. S. 69). 

Eine bedeutende Verkürzung der Extremität, selbst bis zu 
9 Ctm., wie sie bei den Resecirten Nr. 29 und 34 constatirt wurde, 
hat also, wie man a priori leicht erwarten könnte, eine Insuffi- 
cienz der verkürzten Muskeln nicht zur Folge, sondern es bleiben 
dieselben selbst nach einer so bedeutenden Annäherung ihrer In¬ 
sertionspunkte nach wie vor zu der, für eine kraftvolle Beugung 
des Vorderarms erforderlichen physiologischen Verkürzung noch 
befähigt, vorausgesetzt, dass die Berührung der Gelenkenden nicht 
verloren gegangen ist. 

Es ist nun die Frage, ob man bestrebt sein solle, nach Re¬ 
section des Ellenbogengelenks Ankylose herbeizuführen, oder 
ein bewegliches Gelenk zu erreichen? Meiner Ansicht nach 
lässt diese Frage sich zur Zeit noch nicht endgültig entscheiden, 
w'eil wir nicht wissen, ob jedes Schlottergelenk durch rechtzeitige 
Pflege in ein activ bewegliches umgewandelt werden kann. Dass 
ein ankylosirtes Ellenbogengelenk einer Schlotterverbindung, 
wie sie bei den Resecirten Nr. 35 und 3G bestand, weit vor¬ 
zuziehen ist, unterliegt keinem Zweifel. Sollte es aber möglich 
sein, nach jeder Ellenbogengelenkresection ein so gutes Resultat 

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B. v. Langenbeck, 


zu erreichen, wie z. B. in den Fällen Nr. 25, 29 und 34, so würde 
ein bewegliches Gelenk vorzuziehen sein. Wenn Löffler (a. a. 
0. S. 270) meint, man werde sich wohl entschliessen müssen, 
die Heilung der Ellenbogengelenkschüsse mit Ankylose weniger 
zu missachten, ja als ein unter Umständen erstrebenswerthes Re¬ 
sultat der Resection selbst anzuerkennen, so trete ich ihm voll¬ 
kommen bei, jedoch nur unter der ausdrücklichen Voraussetzung, 
dass die erzielte Ankylose mindestens eine rechtwinkelige sei. 
Der in Streckung oder in einem offenen Winkel ankylosirte Vor¬ 
derarm ist weniger brauchbar als eine Schlotterverbindung, bei 
welcher im ungünstigsten Falle die Hand durch einen Stützappa¬ 
rat noch fanctionsfähig gemacht werden kann. 

Bei Ankylose im Ellenbogengelenk nach Schussfracturen und 
irreponibelen Luxationen habe ich in einer Reihe von Fällen 
die Resection gemacht und bewegliche Gelenke bergestellt. Ich 
theile von den ersteren zwei Fälle mit. 

Nr. 37. Gustav Pietsch, Lieutenant zur See, 24 Jahre alt, wurde im Jahre 
1856 bei Cap tres Forcas in dem Gefecht mit den Riffpiraten verwundet Die 
Kugel war an der vorderen Seite des linken Ellenbogengelenks eingedrungen, 
hatte Epicondylus internus fracturirt und war durch Olecranon wieder ausge¬ 
treten. Nach Gibraltar transportirt, batte er eine heftige Gelenkeiterung zu 
überstehen, es wurden mehrere kleine Knochenfragmente ausgestossen, und die 
Heilung erfolgte im October mit knöcherner Ankylose in einem Winkel von 139°. 
Im März 1857 kam P. nach Berlin. Die Hand war unbrauchbar, die activen 
Bewegungen der Finger zwar erhalten, doch konnten dieselben weder vollständig 
gestreckt noch gebeugt werden. Die ganze Extremität sehr abgemagert und 
schwach. Sensibilität der Finger erhalten. Den dringenden Bitten des Patienten, 
die Resection vorzunehmen, weil er den Wunsch habe, in den activen Seedienst 
wieder einzutreten, glaubte ich nachgeben zu müssen. 

Am 10. März 1857 subperiostale Resection des Ellenbogengelenks durch 
Längsschnitt. Periost mit den Muskeln in Verbindung sorgfältig abgelöst, Hu- 
meius dicht oberhalb der Condylen mit der Kettensäge durchschnitten, Radius 
und Ulna dicht unterhalb Capitulum und Piocessus coronoides durchsägt, im 
Ganzen 5 Ctm. vom Gelenk entfernt. Die G lenkflächen sind durch soliden 
Callus fest verlöthet; an der Innenseite des Geleuks und im Olecranon unregel¬ 
mässige Knochendefecte. 

Bis zum 23. März wird der Arm, leicht gebeugt auf einer Schiene gelagert, 
den Tag über im Wasserbade von 10—15° R., dann von 27® behandelt. Nachts 
trocken verbunden. Die Heilung der Wunde erfolgt ohne Zwischenfälle bis zum 
18. April, und Patient wurde aus dem Klinikum entlassen. Durch Anwendung 
des Inductionsstroms und sehr emsige Uebungen batte Patient die active Beweg¬ 
lichkeit des Ellenbogengelenks und der Finger vollständig wieder erlangt, nur 

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üeber die Endresultate der Gclenkresectionen im Kriege. 447 

die Supination war noch nicht ganz vollständig und bei den passiven Bewe¬ 
gungen schmerzhaft Ende April stiess sich ein kleines Stück der Sägefläche 
vom Condylus externus ab, und Patient ging nach Teplitz. Sehr gekräftigt und 
mit vollkommen brauchbarem Arm kehrte P. im Juni von Teplitz zurück, hatte 
aber das Unglück durch Fall auf den linken Ellenbogen sich einen Bruch des 
Oberarms zuzuziehen. Bei rechtwinkliger Stellung des resecirten Oelenks legte 
ich den durch Guttapercbasfhienen verstärkten Kleisterverband an. Nach ge¬ 
heilter Fractur hatte die Beweglichkeit des resecirten Gelenks bedeutend gelitten, 
die Gebrauchsfähigkeit der Hand war jedoch unverändert geblieben. Die elec- 
trische Behandlung und die Uebungen wurden nun von Neuem aufgenommen 
und vom Pat mit solchem Eifer betrieben, dass das Verlorene bald wieder ge¬ 
wonnen wurde. Bei der letzten Untersuchung im Herbst 1857 fand ich den 
Arm um 2 Ctm. verkürzt, die active Beugung des Vorderarms vollkommen, die 
Streckung und Supination beinahe vollständig, Druck der linken Hand sehr 
kräftig, die Beweglichkeit der Finger vollkommen hergestellt. P. trat in den 
Seedienst wieder ein und schrieb mir, noch kurz vor dem Auslaufen der Arcona, 
dass er zum Dienst vollkommen tüchtig sei, und zur Stärkung seines Arms 
fleissig die Strickleiter übe. Er ging bei dem Schiffbruch der Arcona mit vielen 
hoffnungsvollen Seeleuten zu Grunde. 

Nr. 38. v. Strombeck, Lieutenant im 91. Inf.-Regt, 24 Jahre alt, wurde 
am 16. December 1870 in dem Gefecht bei Vendöme vierfach verwundet. Ausser 
einer Schussverletzung des linken Fussgelenks, welche mit geringer Störung der 
Beweglichkeit heilte, und zwei Fleischschüssen beider Oberschenkel, war das 
linke Ellenbogengelenk durch eine Cbassepotkugel zerschmettert worden. Gleich 
naeh der Verwundung soll eine Ausrenkung der Vorderarmknochen bestanden 
haben, deren Einrichtung auf dem Schlachtfelde versucht wurde. Während der 
Wundheilung wurden mehrere Knochensplitter, darunter ein Zolllanger aus- 
gestossen. Am 13. November 1871 wurde Patient in das Königl. Klinikum 
aufgenommen. 

Die Form des linken Ellenbogengelenks ist bedeutend verändert, Vorder¬ 
armknochen seitlich ausgewichen, Radius auf die Aussenseite des Condylus 
externus luxirt In der Ellenbogenbeuge fühlt man die untere Gelenkfläche des 
Humerus, wie bei Luxation, als kugelige Knocbenmasse durch die atrophirten 
Weichtheile durch. Der Arm ist im Ellenbogengelenk ankylosirt, steht in bei¬ 
nahe vollständiger Streckung, kann aber bis zu einem Winkel von 125° flectirt 
werden. Beim Versuch der Pro- und Supination fühlt man geringe Beweglich¬ 
keit des luxirten Radiusköpfchens. Hand und Vorderarm stehen in Pronation. 
Der Vorderarm ist um fast 2 Ctm. verkürzt, stark abgemagert; Beweglichkeit 
der Finger gering, Sensibilität unverändert 

15. November subperiostale Resection des Ellenbogengelenks 
durch Bilateralscbnitt nach Hueter. Zuerst wurde der radiale Längs¬ 
schnitt, oberhalb und etwas nach hinten vom Condylus externus beginnend etwa 
4 Ctm. lang nach abwärts und überall bis in den Knochen geführt, Periost mit 
den Weicbtheilen nach beiden Seiten bin mit Elevatorium abgelöst, und Radius- 
köpfcben dicht oberhalb Tuberositas abgesägt. Dann innerer Schnitt, etwas vor 


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B. v. Langenbeck, 


und oberhalb Condylus internus beginnend, in derselben Länge herabsteigend 
and bis in den Knochen geführt. Sodann Periostablösung nach innen und hin¬ 
ten, unter sorgfältiger Erhaltung des Nervus ulnaris und der Tricepssehne, end¬ 
lich Periostablösnng an der Beugeseite, bis das Elevatorium durch den Radial¬ 
schnitt hervortritt. Durch diesen letzteren Act der Operation war ein dicht 
unterhalb des Processus coronoides verlaufender Querbruch der Ulna zu Tage 
getreten, deren unteres Fragment durch straffe Bandmasse mit dem oberen, an 
der Rückseite der Humerusepiphyse durch Gallus verwachsenen Bruchende be¬ 
weglich verbunden war. Durch diese Pseudarthrose war die oben erwähnte, dem 
Anschein nach im Ellenbogengelenk stattfindende geringe Beweglichkeit vermittelt 
worden. Mit einem starken Knochenmesser trennte ich nun die feste Bandmasse 
der Pseudarthrose, drängte durch starke Adduction des Vorderarms das mit dem 
Humerus ankylotisch verbundene obere Fragment der Ulna durch die Radial¬ 
wunde hervor und sägte den Humerus in der Höbe der Gondylen mit der 
Stichsäge ab. Die untere Bruchfläcbe der Ulna wurde nicht abgesägt sondern, 
wie sie war, zurückgelassen. Die Operation war, wenn auch nicht ohne Mühe, 
doch vollkommen subperiostal ausgeführt worden. 

Da an vielen Stellen des Gelenkes die Haut mit den Knochen narbig ver¬ 
wachsen gewesen war, so besorgte ich, dass eine Gangrän dieser Hautstellen 
eintreten könnte, und ich unterliess deshalb die sofortige Anlegung des Gyps- 
verbandes. Eine Drainröhre wurde von den Seitenschnitten aus durch die 
Wundhöble gelegt, die ersteren durch Suturen geschlossen, und der Arm in 
leichter Beugung in einer gepolsterten Hohlschiene gelagert. Da indessen am 
zweiten Tage nach der Operation die Haut nur mässig gerötbet und geschwollen, 
im Uebrigen von gutem Aussehen war, so legte ich nunmehr den Gypsverband an, 
durch dessen seitliche Fenster die Drainröhre hervortrat. Die Fenster wurden 
mit Carboiläppchen verhängt, und der Arm suspendirt. 

Der Wundverlauf war ein günstiger. Das Fieber, mit einer Temperatur 
von 37,5 bis 39,7°, hatte am 14. Tage nach der Operation ganz aufgehört. 
Der Gypsverband konnte schon in der 6. Woche fortgelassen, und der Arm in 
einer Hoblschiene gelagert werden, mit welcher Patient im Zimmer umherging. 
Ende December wurde mit vorsichtigen passiven Bewegungen und Anwendung 
des Inductioosstromes begonnen. Nachdem Anfang Januar noch zwei kleine 
Knocbenstückchen vom Condylus externus ausgestossen worden, erfolgte die de¬ 
finitive Heilung. 

Bei dem Austritt des Patienten aus der Anstalt, am 15. Januar 1872, war 
der Zustand des resecirten Arms folgender: Das linke Ellenbogengelenk bildet 
eine vollkommen bewegliche, nach keiner Richtung hin schlotternde Verbindung. 
Die Form des Gelenkes ist gut. Vom unteren Ende des Humerus hat offenbar 
Knochenneubildung stattgefunden; nicht aber von Seiten der Vorderarmknochen. 
Das frühere untere Bruchende der Ulna (welches mit dem oberen resecirten 
pseudartbrotisch verbunden gewesen) ist unverändert geblieben; eine Regenera¬ 
tion ist nicht eingetreten. Die active Streckung des Vorderarms ist noch man¬ 
gelhaft, doch streckt Patient den Arm willkürlich, indem er ihn durch die eigene 
Schwere aus der Beugestellung in vollständige Streckung herabsinken lässt. 


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lieber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


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Den in vollkommener Streckung am Körper herabhängenden Arm 
vermag Patient nunmehr activ so weit zu beugen, dass die Fin¬ 
gerspitzen die vordere Fläche des Halses berühren. Bei der noch 
beschränkten Pro- und Supination dreht sich nicht der Radius um die Ulna, 
sondern beide (in Folge der früheren Pseudarthrose der Ulna) um das untere 
Ende des Humerus. Seitlich ist passiv eine geringe Beugung ausführbar, das 
Gelenk übrigens so fest, dass der im Schultergelenk bis zur Horizontalen erho¬ 
bene Arm, in dieser Stellung gehalten zur Beugung und Streckung fähig ist. 
Hand und Vorderarm sind vollkommen functionsfähig und kräftiger als vor der 
Operation. Patient geht aufs Land, um sodann in den activen Dienst zurück¬ 
zutreten. 

Wenn ich also vorläufig noch der Ansicht bin, dass im All¬ 
gemeinen es die Aufgabe sein muss, bewegliche Ellenbogengelenke 
zu erzielen, und dass bei einer in ungünstiger Winkelstellung 
entstandenen Ankylose die Resection gerechtfertigt ist, so gebe 
ich doch zu, dass diese Fragen noch einer weiteren Diskussion 
unterliegen können. Sollte es sich nämlich aus weiterer Erfah¬ 
rung ergeben, dass nach ausgedehnter Resection auch bei der 
sorgfältigsten Nachbehandlung ein passives Schlottergelenk nicht 
vermieden werden kann, so würde man suchen müssen, eine an- 
kylotische Verwachsung der resecirten Knochenenden bei recht¬ 
winkliger Stellung des Vorderarms zu erreichen. 

Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, die verschiedenen 
Methoden der Ellenbogenresection einer kritischen Besprechung 
zu unterwerfen, doch werde ich der Schilderung der subperiostalen 
Gelenkresection, wie ich sie in den gewöhnlichen Fällen ausführe, 
einige Bemerkungen nachfolgen lassen. 

Subperiostale Resection des Ellenbogengelenks. 

Als Vorbereitung zur Operation wird man in Zukunft die 
von Esmarch angegebene Constriction des Arms mit Gummi¬ 
binden, vielleicht mit der von mir empfohlenen Modification (Berl. 
klin. Wochenschrift 1873. Nr. 52. Sitzung der Berl. med. Gesell¬ 
schaft. 17. December 1873) in Anwendung ziehen müssen, weil 
bei dem unblutigen Operiren die Aufgabe, alle das Gelenk um¬ 
gebenden Weichtheile unverletzt vom Knochen abzutrennen, weit 
sicherer gelöst werden kann. 

Der beiläufig 8 Ctm. lange Längsschnitt verläuft etwas 
nach Innen von der Mitte des Olecranon über die Streckseite des 
Gelenks und dringt überall bis auf die Knochen ein. Eine sorg- 

v. Lang©nbeck, Archiv U Chirurgie. XVI. 29 


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B. v. Langenbeck, 


fältige Dissection trennt nun die Weichtheile zunächst in der 
Richtung zum Condylus internus ab. Hakenpincette und Scalpell 
können hier nur ausnahmsweise durch Elevatorien ersetzt werden. 
Das Faserlager auf dem Olecranon, welches hier die Stelle des 
Periosts veitritt muss in Verbindung mit Vorderarmfascie und 
Haut so vom Knochen abgelöst werden, dass die Verbind nng der 
Tricepssehne mit diesen Theilen und mit der Gelenkkapsel er¬ 
halten bleibt. Beim weiteren Fortschreiten der Präparation nach 
Innen dürfen die Instrumente den Knochen niemals verlassen, da¬ 
mit der in Verbindung mit allen Weichtheilen abzulösende Nerv, 
ulnaris nicht verletzt werde. Diese Verletzung würde möglich 
sein, wenn das Scalpell, am unteren Ende des Schnittes angelangt, 
den Knochen verliesse. 

Sobald die Präparation dem Epicondylus intern, näher rückt, 
handelt es sich um die Erhaltnng der Verbindung der Muskelan¬ 
sätze und des Ligament, laterale intern, mit dem Periost. Die 
starke Hervorragung des Epicondylus intern, macht diesen Theil 
der Operation etwas schwierig, und es kann erforderlich sein, den 
Hautschnitt nach oben oder unten etwas zu verlängern, wenn die 
Haut zu sehr gespannt werden sollte. In dem Maasse wie die 
Ablösung der Theile vom Epicondylus intern, vorschreitet, lässt 
man den Vorderarm mehr und mehr beugen. 

Nachdem auf diese Weise der ganze innere Abschnitt des 
Gelenks offen zu Tage liegt, wird, nachdem die abgelösten Weich¬ 
theile wieder in ihre frühere Lage gebracht sind, nun in der Richtung 
zum Condylus externus und zum Radialgelenk in derselben Weise 
vorgegangen. Hier handelt es sich besonders darum, den an der 
äusseren Fläche der Ulna sich festsetzenden M. anconaeus quart. 
nicht zu zerfetzen und mit den übrigen vom Condylus externus 
entspringenden Muskeln und dem äusseren Seitenband so abzu¬ 
lösen, dass alle diese Theile ihre Verbindung mit einander und 
mit dem Periost des Humerus behalten. Während dieser Opera¬ 
tionsacte halten Assistenten die abgelösten Weichtheile mit etwas 
solider gearbeiteten Schieihäkchen zur Seite. Dieses Verfahren 
ist weit schonender als die Verwendung der stumpfen Wandhaken, 
durch deren häufiges Abgleiten die Weichtheile zu sehr insultirt 
werden. 

Nunmehr lässt man unter starker Beugung des Vorderarms 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


451 


das untere Gelenkende des Humerus aus der Wunde hervortreten 
und sägt dasselbe dicht unterhalb der Epicondylen oder im Be¬ 
reich derselben ab. Bei nicht sehr starker Schwellung der Weich- 
theile kann man das Gelenkende des Humerus aus der Wunde 
hervortreten lassen und mit der Bogen- oder Blatts&ge abtragen. 
Im anderen Falle empfiehlt es sich, die Stichsäge zu gebrauchen. 
Bei Kindern und nicht über die Gelenkflächen hinausreichender 
Knochenerkrankung kann man die letzteren sehr gut mit der 
Mathieu’schen Knochenscheere reseciren, indem man die kranken 
Theile schichtweise herausschneidet, bis man in gesunden Knochen 
gelangt, und die Epicondylen möglichst erhält. Bei noch knor¬ 
peliger Epiphyse ist die Periostablösung unmöglich und nur da¬ 
durch zu beschaffen, dass man die oberflächlichen Knorpelschichten 
mit dem Messer abschneidet und in Verbindung mit dem Periost 
zurücklässt. Bei Abtragung der Gelenkfläche kann hier die Säge, 
wie Billroth empfohlen hat, durch das Messer ersetzt werden. 

Nun folgt die Absägung der Gelenkenden der Vor¬ 
derarmknochen. Auch hiert^i befolge ich den Grundsatz, so 
wenig als möglich vom Knochen zu entfernen. Bei Schussver¬ 
letzungen genügt häufig die Resection des Olecranon allein in der 
Ebene der Gelenkfläche des Processus coronoides, welche man 
sammt dem Köpfchen des Radius, vorausgesetzt, dass beide un¬ 
verletzt sind, zurücklassen kann. 

Weit mühevoller ist die Resection des Ellenbogengelenks bei 
irreponibelen Luxationen mit oderohne Bruch der Condylen 
und bei knöcbernerAnkylose. Bei irreponibeler Luxation der 
Vorderarmknochen nach hinten beginne ich, nachdem die Weich- 
theile abgelöst sind, mit Absägung des Olecranon, stelle sodann 
den Vorderarm in starke Beugung, lasse die Gelenkfläche des Hu¬ 
merus aus der Wunde hervortreten und säge sie zuletzt ab. Den¬ 
noch können die Schwierigkeiten, dem gegen die Ellenbogenbeuge 
stark vorgetriebenen unteren Ende des Humerus beizukommen, 
sehr gross sein, und ich musste den Letzteren einmal in der 
Tiefe der Wunde mit der Stichsäge durchschneiden. Bei Ankylose 
mache ich zunächst die oberen Enden der Vorderarmknochen frei, 
nachdem das Periost mit dem Elevatorium abgelöst ist, und durch¬ 
säge sie in der Höhe des Processus coronoides mit der Ketten¬ 
oder Stichsäge. Nun folgt die Periostablösung nach Oben; das 

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n 


452 B. v. Langenbeck, 

mit den abgesägten Enden der Vorderarmkuochen verschmolzene 
untere Ende des Hamerns wird aus der Wunde hervorgedrängt 
und unterhalb der Epicondylen abgesägt. Auch bei ausgedehnten 
Schussfracturen mit Verschiebung der Knochenfragmente kann die 
Operation recht schwierig sein, doch wird man mit dem Längs¬ 
schnitt stets aaskommen, wenn man ihn hinreichend lang macht. 

Zur Vermeidung einer nachträglichen Schlotterverbindnng ist 
es von der grössten Bedeutung, die Muskelansätze und die Seiten¬ 
bänder, namentlich das äussere Seitenband mit dem Ligament, 
annulare radii unverletzt und mit dem Periost in Verbindung zu 
erhalten. Ist das Letztere durchschnitten und die feste Verbin¬ 
dung der beiden Vorderarmknochen miteinander dadurch aufge¬ 
hoben, so kann, wie ich zweimal gesehen, eine Luxation des 
Radius nach vorne die Folge sein, und die Function des neuen 
Gelenkes sehr beeinträchtigt werden. 

Die operative Technik der Gelenkresectionen ist bisher nicht 
sorgfältig genug stndirt worden. Bei so subtilen Operationen, wo 
es darauf ankommt, alle das Gel#nk umgebenden Theile intact zu 
erhalten soll kein Schnitt unbedacht geführt, und vor allem jede 
Quetschung und unnöthige Verletzung der Weichtheile sorgfältigst 
vermieden werden. 

Wir müssen es daher dankbar anerkennen, dass Hueter in 
neuerer Zeit einen weiteren Fortschritt angebahnt und die Erhal¬ 
tung der ganzen, von mir der Länge nach gespaltenen Triceps- 
sehne angegeben hat. Der von Hueter sogenannte radiale 
Längsschnitt (Deutsche Zeitschrift f. Chirurgie II. Bd. S. 68), 
den man übrigens ebenso gut den bilateralen Längsschnitt 
nennen könnte, beginnt mit einem kleinen, mehr am volaren Rand 
des Epicondylus intern, geführten Schnitt, welcher die Mnskelin- 
sertionen und das Ligament, laterale intern, abtrennt. Sodann 
folgt ein längerer radialer Schnitt, welcher oberhalb des Epi¬ 
condylus extern, beginnt und, in gerader Linie herabsteigend das 
Ligament, laterale externum der Länge nach, das Ligament, annu¬ 
lare radii senkrecht mit der Gelenkkapsel durchschneidet. Das 
nun zugänglich gewordene Collum radii wird mit der Stichsäge 
durchschnitten, und das Radiusköpfchen herausgehoben. Nachdem 
von diesem Schnitt aus Gelenkkapsel und Periost zuerst von der 
Yolaren, sodann von der dorsalen Fläche des unteren Humerus- 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


453 


endes abgelöst worden, laxirt man den Vorderarm nach Innen, 
so dass der Gelenkkörper des Hamerns durch den radialen 
Schnitt hervortritt und ausserhalb der Wunde abgesägt werden 
kann. Nun drängt man das Olecranon in die radiale Wunde hin¬ 
ein, schält die Tricepssehne von der Knochenfläche ab und durch¬ 
sägt schliesslich das aus der Wunde bervorgetretene Olecranon 
in der Ebene des Processus coronoides. 

Ich sehe die Erhaltung der ganzen Tricepssehne als einen 
Fortschritt an, weil ich annehme, dass die Regeneration eines 
neuen Olecranon dadurch gefördert werden könne. Für die spä¬ 
tere Function des Gelenks und für die Vermeidung einer Schlot¬ 
terverbindung dürfte die totale Ablösung der Tricepssehne weniger 
in’s Gewicht fallen, weil, wie ich an den beiden von Esmarch 
mittelst des von Liston angegebenen Schnittes Resecirten, deren 
ich oben S. 432 Erwähnung gethan, gesehen habe, die Möglich¬ 
keit der activen Extension auch nach querer Durchscbneidung der 
Tricepssehne fortbestehen kann. 

Ich halte es für möglich, bei dem Hueter’schen Schnitt die 
Muskelansätze und die Seitenbänder unverletzt und mit dem ab¬ 
gelösten Periost in Verbindung zu erhalten. Als einen vielleicht 
nicht zu umgehenden Nachtheil der Operation muss ich aber die 
Durchschneidung des Ligament, annulare radii und das tiefere Ab¬ 
sägen des Radius ansehen, von welchem doch in den meisten Fäl¬ 
len nur die tellerförmige Gelenkfläche geopfert zu werden braucht. 

Als besonders nützlich dürfte der Huetor’sche Schnitt bei 
partiellen Resectionen des Ellenbogengelenks sich er¬ 
weisen. In Fällen, wo nur die untere Epiphyse des Oberarm¬ 
knochens zerschossen, die Gelenkenden der Ulna und des Radius 
unverletzt geblieben sind, muss es die Aufgabe sein, diese letzteren 
und besonders das obere Ende der Ulna zu erhalten. Für die 
Erhaltung des Olecranon ist aber mein Längsschnitt wenig geeig¬ 
net, weil dieser Knochen, nachdem die Tricepssehne von ihm ab¬ 
geschält worden, in der Wunde freiliegt und das Bestreben hat, 
aus derselben bervorzntreten. Die ersten Acte der Hueter’schen 
Operation, d. h. Durchschneidung des Ligament, laterale intern., 
extern., Resection des Radiusköpfchens und des hervorgedrängten 
Gelenkkörpers des Humerus würden geeignet sein, jenen Uebel- 
stand zu vermeiden. Uebrigens habe ich den Hueter’schen 


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B. t. Langenbeck, 


Schnitt nur einmal und noch dazu bei Ankylose ausgeführt, wo 
von einer ganz vorschriftsmässigen Ausführung der Operation 
selbstverständlich nicht die Rede sein konnte (s. oben Fall No. 37). 
Ein weiteres Eingehen auf die partiellen Resectionen des Ellen- 
bogengelenks glaube ich hier unterlassen zu müssen, weil ich über 
das Endresultat dieser Operationen gar nichts berichten kann. 
Ich habe in einer ziemlich grossen Anzahl von Schussverletzun¬ 
gen bald nur die untere Epiphyse des Humerus, bald nur die 
oberen Enden der Vorderarmknochen, von diesen, je nachdem sie 
verletzt waren, nur den Radius oder die Ulna, endlich nur einen 
der Oberarmcondylen entfernt, wenn der andere mit den übrigen 
Knochentheilen unverletzt geblieben war. Von allen diesen Ope- 
rirten aber, mit alleiniger Ausnahme der auf S. 424 No. 30 mit- 
getbeilten Resection des Condylus extern., ist das Endresultat mir 
unbekannt geblieben. Ich bin also nicht in der Lage anzugeben, 
in welcher Ausdehnung die partiellen Resectionen des Ellenbogen¬ 
gelenks anwendbar sind, und ob die Entstehung der Ankylose oder 
die Erhaltung eines beweglichen Gelenks durch sie gefördert wird. 
In zwei Fällen von sehr ausgedehnter Schussfractur des oberen 
Endes der Ulna und bei einer ausgedehnten Verletzung beider 
Vorderarmknochen habe ich das unverletzte untere Ende des Hu¬ 
merus zurückgelassen. Die Heilung erfolgte stets ohne Zwischen¬ 
fälle, doch habe ich von der schliesslichen Brauchbarkeit des Arms 
keine Kenntniss. 

Ueber die Zeitperiode, in welcher resecirt werden soll, habe 
ich noch einige Worte nachzutragen, besonders um hervorzuheben, 
dass bei den ausgedehnten Schussfracturen des Ellenbogengelenks 
jeder Versuch einer exspectativen Behandlung gefährlich ist, und 
dass man hier der primären Resection stets den Vorzug geben 
muss. Vielleicht sind die zahlreichen über das Ellenbogengelenk 
verlaufenden Gefässe die Veranlassung, dass die Erscheinungen 
der Stase und Infiltration früher und in weit grösserer Ausdeh¬ 
nung eintreten, wie beispielsweise bei den Schussverletzungen des 
Schultergelenks, und es wird das Ellenbogengelenk in dieser Be¬ 
ziehung nur noch von dem Hüftgelenk übertroffen. Operirt man 
in dieser Wundperiode, bei ausgedehnter fauliger Infiltration oder 
acutem purulenten Oedem, so werden die Kranken in der Regel 
zu Grunde gehen. Die Operation leistet hier nicht, was man von 



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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 455 


der während der Eiterungsperiode ausgefübrten Resection mit 
einiger Sicherheit erwarten darf; das Fieber fällt nicht ab, und 
zn wiederholten Malen habe ich unmittelbar nach intermediären 
Resectionen einen beunruhigenden Collapsus und den ersten 
Schüttelfrost auftreten gesehen. Dio antipyretische Wirkung der 
Operation kann hier nicht hervortreten, weil das die Weichtheile 
in grosser Ausdehnung durchsetzende faulige Infiltrat durch die 
Operationswunde nicht herausgefördert werden kann. Dazu kommt 
der in dieser Wundperiode leicht verderblich werdende mecha¬ 
nische Insult der Operation. Die Venen in der Umgebung des 
Gelenks sind meistens mehr oder weniger mit Thromben ausgefüllt, 
welche durch die doch nicht unbedeutende Zerrung der infiltrirten 
Weichtheile während der Operation zum Zerfall gebracht werden 
können. Allerdings theile ich die Ansicht Socin’s (Kriegschirurg. 
Erfahrungen. Leipzig 1872. S. 151), dass man auch in dieser 
Wundperiode reseciren muss, weil die Operation doch hin und 
wieder ein Menschenleben erhalten kann, und ohne dieselbe der 
Tod in sicherer Aussicht steht, ich besorge aber, dass die Wärme, 
mit der Socin und auch Hueter (a. a. 0. S. 77, Anmerkung) 
der intermediären Resection das Wort reden, die Folge haben 
könnte, dass man die Operation in dieser Wundperiode als zu 
günstig ansieht und das bequemere exspectative Verfahren zu 
häufig einschlägt. Ich habe während des letzten Krieges bei acu- 
tester Wundinfiltration, wie man sie wohl nur in der Nähe des 
Schlachtfeldes zu sehen bekommt, vier Ellenbogenresectionen ge¬ 
macht und keinen dieser Verwundeten erhalten. 

Was die Nachbehandlung anbetrifft, so lege ich ein Drain¬ 
rohr in die Wunde und schliesse diese vorläufig durch Suturen. 
Sind zwei günstig gelegene Wundöffnungen vorhanden, so kann 
das Drainrohr durch diese hindurchgeführt und, nach primärer 
Resection, die Wunde definitiv geschlossen werden. Resecirt man 
in der Infiltrationsperiode, so empfiehlt es sich, die Wunde ganz 
offen zu behandeln, und die Suturen durch das sofort angelegte 
Fenster des Gypsverbandes wieder zu entfernen. Der letzte Krieg 
hat mich in der Ueberzeugung befestigt, dass der Gypsverband 
vor allen Lagerungsapparaten den Vorzug verdient, weil er dem 
Verwundeten die gräulichen Schmerzen spart, welche sonst jeder 
Verband und jede neue Lagerung des Arms mit sich führt. Noch 

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6. v. Langenbeck, 


auf dem Operationstisch, nnd bevor der Operirte ans der Narkose 
erwacht, werde daher der Gypsverband angelegt. Während der 
resecirte Arm in leichter Flexion, Hand und Vorderarm in halber 
Pronation gehalten werden, lege ich den Gypsverband von der 
Vola manus bis znr Insertion des M. deltoides an. . Geber die 
Bengeseite der Extremität werden schmale Schienen von Schuster¬ 
span oder in Gypsbrei getränkte Leinwandlonguetten gelegt, und 
das Ganze durch Touren von Gypsbinden und Gypsbrei befestigt. 

Sobald der Verband erhärtet, schneide man ein grosses 
Fenster ein, durch welches die Operationswunde vollständig über¬ 
sehen werden kann. Bei starker Wundinfiltration entfernt man 
die Suturen sofort. Um das Hineinfliessen von Blut nnd Wund- 
secret in den Gypsverband zu verhindern, schiebt man Röllchen 
von Watte unter die Ränder des Fensters und überzieht dieselben 
mit Collodium oder mit einem Lager Glaserkitt. Müssen mehrere, 
etwa den Schussöffnungen oder geöffneten Eiterherden entsprechende 
Fenster angelegt, und der Verband dadurch mehrfach unterbrochen 
werden, so lege ich ganz schmale Schienen von Schusterspan an 
verschiedenen Stellen des Arms auf, um dem Verband die erfor¬ 
derliche Solidität zu sichern. Sodann hänge ich den Arm in der 
Schwebe auf. Diese in verschiedener Weise, z. B. durch um den 
Gypsverband geschlungene Bindentouren, oder durch eingegypste 
Schienen aus Telegraphendraht, welche nach Art der Anterior 
splint von Smith mit verschiebbaren Riegeln versehen sind, zu 
bewerkstelligende Suspension ist dringend zu empfehlen, weil sie 
den Abfluss des Wundsecrets am meisten sicherstellt und dem Ver¬ 
wundeten jede Bewegung im Bette gestattet. Dieser erste Ver¬ 
band kann in den meisten Fällen bis Ende der dritten oder vierten 
Woche liegen bleiben. Bei Erneuerung des Verbandes ändert 
man die Winkelstellung des Arms, lässt von nun an die Hand 
frei und hält den Pat., zu fleissigen Fingerbewegnngen an. 

Es kann Vorkommen, besonders wenn man bei starker Wund¬ 
infiltration oder Eiterung, oder wegen umfangreicher Zerschmette¬ 
rung der Knochen resecirt hatte, dass der Gypsverband wieder 
entfernt werden muss, sei es, dass in der Anlage etwas verfehlt 
war, oder dass sich unter demselben Eitersenkungen gebildet hatten. 
Diese Uebelstände sind wahrscheinlich die Veranlassung, dass der 
Gypsverband bei Schussverletzungen des Ellenbogens von Vielen 

~k_ 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


457 


gefürchtet ist. Allerdings verlangt der Verband hier grössere 
Vorsicht und Sorgfalt als in der Civilpraxis. Bei Infiltration des 
Arms suche man besonders jeden Druck zn vermeiden, indem man 
die Haut mit feinen Flanellbinden und Watte umgiebt. Klagt der 
Operirte über Schmerzen, oder fängt er zu fiebern an, so muss 
der Verband sofort aufgeschnitten werden. Man kann ihn dann 
der Länge nach in zwei Hälften trennen, um event. die Gypskap- 
sel wieder anzulegen. 

Nach ausgedehnter Reseetion gestattet man den das Gelenk 
umgebenden Weichtheilen die nötbige Retraction, indem man sie 
nicht anspannt; ist dagegen wenig vom Gelenk resecirt, so ver¬ 
meide man jede zu grosse Annäherung der Sägeflächen an ein¬ 
ander durch Anspannung des Arms, ln keinem Fall dürfen die- 
* selben sich berühren, weil dadurch Schmerzen entstehen und 
Verhaltung des Wundsecrets veranlasst werden könnte. 

Nach vollendeter Heilung der Wunde beginne man mit pas¬ 
siven Bewegungen in der schonendsten Weise. Diese Bewegungen 
sollen Anfangs nur in Veränderung der Stellung des Vorderarms 
bestehen und dürfen niemals Schmerzen verursachen. Allmälig 
gehe man damit weiter vor und achte besonders auf Pro- und 
Supinations-Bewegungen des Vorderarms, weil diese am leich¬ 
testen unvollkommen bleiben. Die Anwendung der Electricität 
und active Uebungen sind, wie nach Reseetion des Oberarmkopfes, 
so auch hier zur Herstellung eines brauchbaren Gelenks unum¬ 
gänglich nothwendig. Droht ein Schlottergelenk sich zu ent¬ 
wickeln, so ist darauf zu achten, dass der Arm niemals eine 
Stellung einnehme, bei welcher die resecirten Knochen ausser Be¬ 
rührung gelangen. Man vermeidet dieses durch Anlegen einer 
articulirten Schiene oder durch einen mit Spiralfedern an der 
Beugeseite versehenen Stützapparat (Taf. VII). Niemals darf das 
Gelenk unfixirt bleiben, und dem Resecirten gestattet werden, 
mit am Körper herabhängendem, baumelndem Arm umherzugehen. 
Eben so verderblich für das in der Entwickelung begriffene Ge¬ 
lenk ist aber auch die vollständige Immobilisirung des Arms in 
einer Tragkapsel oder Armbinde. 

Die auf diese Weise gewonnene Gebrauchsfähigkeit des Ge¬ 
lenkes geht weniger leicht wieder verloren, wie nach Reseetion 
des Oberarmkopfes, es sei denn, dass der Resecirte absichtlich 

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458 


B. r. Langenbeck, 


den Arm ausser Gebraneh stellt. In dieser Beziehung wird gnter 
Rath und Mähe des Arztes oft vergeblich verschwendet sein, wie 
bei den Resecirten Nr. 35, 36, oder wie bei einem von Socin 
(a.a. 0. S. 165, Nr. 12) resecirten Franetirenr, welcher, als er mit 
aetiv beweglichem Schlottergelenk und mit einem Stützapparat 
von Basel entlassen wurde, wiederholt äusserte (A. Hngels- 
hofer, Ceber die Endresultate der Ellenbogengelenkresection. In- 
auguraldissert. Leipzig 1873. 8. S. 30. 8. Fall), „dass es ihm 
gar nicht darum zu thun sei, einen gut brauchbaren 
Arm zu bekommen, sonst erhalte er keine so reich¬ 
liche Pension.“ 

III. Resection des Handgelenkes. 

Ceber die Schussverletzungen des Handgelenks habe ich auch 
in den beiden letzten Kriegen nur wenig erfahren, weil die grosse 
Mehrzahl dieser Verwundeten vom Schlachtfelde sofort in die 
weiter rückwärts gelegenen Lazarethe transportirt zu werden 
pflegt. Ich bin daher auch nicht in der Lage, anzugeben, 
bei welchen Verletzungen die Resection etwa primär gemacht 
werden muss und wann die conservirende Behandlung zu¬ 
lässig ist. Die Beantwortung dieser Frage muss der Zukunft 
überlassen bleiben. Ich schreibe dieses mit dem Gefühl des 
Schmerzes, weil es mir nicht beschieden sein kann, an der Lö¬ 
sung einer der schönsten Aufgaben der Kriegschirurgie, an der 
allgemeinen Einführung derHandgelenkresection in die Feld¬ 
praxis mitzuarbeiten. Die Gegner der Resectionen, welche die 
Amputation in ihre alten Rechte wieder einsetzen möchten, haben 
nicht bedacht, was die Erhaltung des edelsten Theiles der mensch¬ 
lichen Gliedmassen, der Hand, welche, wie Quinctilian sagt, 
„selbst spricht, während die übrigen Körpertheile den Redner 
bloss unterstützen“, zu bedeuten hat, und dass der Werth der 
Schulter- und Ellenbogenresection erst in der Erhaltung einer 
brauchbaren Hand seinen Höhepunct erreicht. Aber die humanen 
Bestrebungen der conservirenden Chirurgie müssen, wenn auch 
nach längeren Kämpfen, schliesslich dennoch obsiegen, und ich 
stehe nicht an zn behaupten, dass die Handgelenkresection der¬ 
einst eine der lohnendsten und häufig angewendeten kriegschi¬ 
rurgischen Operationen sein wird. Ich kann hier nur mit flüch- 

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Ueber die Endresultate der 6elenkresectionen im Kriege. 


459 


tigen Zügen andenten, welche hohe Bedeutung die Handgelenk- 
resection einmal gewinnen muss, ich werde aber dennoch glauben 
mit dieser Arbeit etwas Gutes geleistet zu haben, wenn dieselbe 
zur Folge haben sollte, dass den Verletzungen dieses Organs die 
Theilnahme der Fachgenossen in höherem Maasse zugewendet 
werden, und bei der nicht kleinen Anzahl von Invaliden, welche 
aus dem letzten Kriege mit vollkommen unbrauchbarer Hand 
hervorgegangen sind, die Resection noch nachträglich zur Aus¬ 
führung gelangen sollte. Vielleicht wird die von vornherein ge¬ 
gebene Versicherung dazu mitwirken, dass diese Operation unter 
allen Resectionen die geringsten Gefahren und die sicherste Aus¬ 
sicht auf Erfolg bietet, vorausgesetzt, dass die zur Function der 
Hand nothwendigen Theile nicht durch die Verwundung zerstört, 
die Operation in schonender Weise ausgeführt und die Nach¬ 
behandlung richtig geleitet wird. 

Die SchussVerletzungen des Handgelenks kommen verhält- 
nissmässig häufig vor. Hannover (Die Dänischen Invaliden 
1864. Archiv f. klin. Chirurgie. Bd. XII. S. 413) fand unter 2716 
Invaliden 20 unheilbare Ankylosen des Handgelenks und zwar 
am häufigsten des rechten. Mossakowski (a. a. 0.) zählte 
unter 1415 Französischen Invaliden, welche nach ihrer Entlassung 
von Metz durch Basel kamen, 24, welche am Handgelenk ver¬ 
wundet gewesen waren. Bei diesen waren zweimal nur die 
Weichtheile verletzt, 22 Mal Handgelenk und Carpalknoc.hen 
gebrochen gewesen. Von diesen waren 19 am Oberarm oder 
Vorderarm amputirt, nur 3 conservativ behandelt und mit Anky¬ 
lose geheilt worden. 

Die conservirende Behandlung ist wohl in allen Kriegen und 
auch in den Kriegen der neuesten Zeit in grösster Ausdehnung 
geübt worden, sobald das Handgelenk durch kleinere Geschosse 
verletzt war. Die Leichtigkeit, die verletzte Hand gut zu lagern 
und zu immobilisiren, die dünne Schicht von Weichtheilen, welche 
das Gelenk deckt und die rechtzeitige Ausführung von Incisionen 
begünstigt —, diese Umstände drängen den Arzt fast unwillkür¬ 
lich znm Abwarten hin. Man würde aber irren, wenn man hier¬ 
aus den Schluss ziehen wollte, dass die Handverletzungen über¬ 
haupt von untergeordneter Bedeutung seien. Ausgedehnte phleg¬ 
monöse Entzündungen und Eiterungen mit allen ihren Conse- 

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460 


B. v. Langenbeck, 


quenzen kommen hier eben so häufig zur Beobachtung, wie nach 
den Schussverletzungen der anderen Gelenke. 

Die complicirten Gelenkapparate, welche die Handbewegungen 
vermitteln, und die wir functionell als Ein Gelenk aufzufassen 
gewohnt sind, haben insofern eine ungünstige Configuration, als 
sie mit einander in mehr oder weniger genauer Verbindung ste¬ 
hen, und Verletzungen der einen Gelenkabtheilung fast nothwendig 
die anderen in Mitleidenschaft ziehen müssen. Die Synovial- 
kapsel des Radio-Carpalgelenkes, des Handgelenks im en¬ 
geren Sinne bildet zwar in der Regel einen vollkommen abge¬ 
schlossenen Sack, welcher mit den Carpalgelenken in keiner 
directen Verbindung steht. Eine eiterige Synovitis aber, welche 
nach Verletzung jener Gelenkkapsel entsteht, wird sehr leicht 
Vereiterung der Ligamenta intercarpea, welche die drei 
Knochen der ersten Carpalreihe mit einander verbinden, zur Folge 
haben, und damit ist dann das gemeinschaftliche Carpal¬ 
gelenk oder untere Handgelenk geöffnet. Dieses steht aber 
wiederum mit der untersten Abtheilung,, dem gemeinschaft¬ 
lichen Oarpo-Metacarpalgelenke, durch einen zwischen 
den Contactfiächen des Os multangnlum minus und capi- 
tatum befindlichen Gelenkspalt in offener Verbindung. Wird 
die, die concave Gelenkfläche des Radius ulnarwärts vervollstän¬ 
digende Cartilago triangularis zerstört, oder communicirt 
das Radio-Carpalgelenk ausnahmsweise mit der Höhle des 
Radio-Ulnargelenks, so wird auch dieses von dem Entzün- 
dungsprocess mit ergriffen werden. Nur die Gelenkverbindun¬ 
gen des Os metacarpi pollicis mit dem multangnlum majus und 
des Os triquetrum mit dem pisiforme werden durch Synovialkap¬ 
seln umhüllt, welche mit dem Handgelenk nicht in Verbindung 
stehen, und aus diesem Grunde ist es bei totalen Handgelenk- 
resectionen nicht selten zulässig, beide letztgenannten Carpalkno¬ 
chen zurückzulassen und die wichtigen Insertionen des M. flexor 
carpi radialis und ulnaris zu erhalten. 

Bei diffuser traumatischer Synovitis, welche auf Verletzung 
einer Abtbeilung des Handgelenkes folgt, wird also stets die 
Gefahr vorhanden sein, dass der ganze Gelenkapparat zerstört 
werde. In der That sehen wir naclr Verletzung der Basen eines 
der vier letzten Metacarpalknochen, z. B. der Basis des Os meta- 


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lieber die Endresultate der Gelenkresectioueu im Kriege. 


461 


carpi dig. 5, wobei zunächst nur die Gelenkverbindung dieses 
Knochens mit dem Hakenbein verletzt ist, Vereiterung des ganzen 
Handgelenks Zustandekommen. 

Eine besondere Bedeutung erhalten die Schussverletzungen 
der Hand noch durch gleichzeitige Verletzung der Synovial- 
scheiden, namentlich der Synovialscheiden der Finger¬ 
beuger. Die eminente Gefahr, welche aus zufälligen, oder zu 
operativen Zwecken unternommenen Verletzungen dieser, bis über 
das Handgelenk nach aufwärts reichenden Synovialsäcke hervor¬ 
gehen kann, ist zu wohl bekannt, als dass ich weiter darauf ein¬ 
zugehen brauche. 

Diese anatomischen Verhältnisse machen es erklärlich, dass 
nach an sich geringfügigen Schussverletzungen der Hand die ge¬ 
fahrvollsten Zustände sich entwickeln können, besonders wenn 
eine diffuse Synovitis auf die Bindegewebsumhüllungen der tieferen 
Vorderarmmuskeln übergreift und mit Eiterung — acutem puru¬ 
lenten Oedem — verläuft, ein Zustand, bei welchem die Amputa¬ 
tion oder Exarticulation des Oberarms sehr oft das allein noch 
übrig bleibende Rettungsmittel ist. Wäre es möglich, eine genaue 
Mortalitätsstatistik der Handgelenkschüsse aufzustellen, so würde 
wahrscheinlich sich ergeben, dass die Zahl der Todesfälle eine 
auffallend grosse ist. Löffler (a. a. 0. S. 219) berichtet über 
10 Handgelenkschüsse aus dem Schleswig’scben Kriege, von denen 
3 (Zermalmungen der Hand durch grobes Geschütz) amputirt, 7 
conservativ behandelt wurden. Von diesen 7 verliefen 3 t&dtlich. 
Löffler wirft mit vollem Recht die Frage auf, ob man in Be¬ 
handlung dieser Verletzungen nicht vielleicht zu conservirend ver¬ 
fahren sei, und ob nicht die Resection hier dieselbe Bedeutung 
gewinnen müsse, wie bei den Verletzungen der anderen Gelenke. 
Beck (Chirurgie der Schussverletzungen. Freiburg 1873. 8. S. 
Ö92) dagegen entscheidet sich nach seinen Erfahrungen aus dem 
letzten Kriege für die exspectativ conservirende Behandlung, weil 
unter 32 von ihm beobachteten Handgelenkschüssen nur 3 secun- 
där Amputirte zu Grunde gingen und, 25 ohne Operation geheilt 
wurden. 

Nach der kleinen Anzahl von Erfahrungen, welche ich be¬ 
sitze, muss ich der Ansicht Löffler’s in Bezug auf die schwe 
reren Handgelenkschüsse aus vollster Ueberzeugung beitreten. 


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462 


B. v. Langenbeck, 


Die Schussfracturen der Vorderarmepiphysen und der Carpal¬ 
knochen, ausgedehnte Zerschmetterungen dieser letzteren allein, 
besonders mit darin steckendem nnd in anderer Weise nicht zn 
entfernendem Geschoss, indiciren gewiss die primäre Resection. 

Bei den einfachen Perforationen des Handgelenks nnd dos 
Carpus würde ich zunächst abwartend verfahren aber auch hier 
ohne Zaudern zur Resection übergehen, sobald die beginnende In¬ 
filtration durch Einschnitte nicht aufgehoben werden kann und auf 
den Vorderarm überzugehen droht. Die Resection während der 
Infiltrationsperiode bietet hier mehr Aussicht auf Erfolg, weil das 
Handgelenk von dicken Muskellagern nicht verdeckt ist, und das 
jauchige Infiltrat durch die Operationswunde vollständiger entleert 
werden kann. Der Resection muss unter diesen Umständen der 
Vorrang eingeräumt werden, und zwar aus drei verschiedenen 
Gründen. Zunächst sind ausgiebige Incisionen nicht unbedenklich, 
weil sie, abgesehen von der manchmal unvermeidlichen Verletzung 
wichtiger Theile, durch welche die feine Mechanik der Handbe¬ 
wegungen gefährdet wird, niemals das leisten können, was die 
Resection mit einem Schlage schaßt: eine reine Wundhöhle, in 
welcher Verhaltung von'Wundsecreten nicht mehr stattfinden kann. 
Sodann ist eine methodisch ausgeführte Handgelenkresection sehr 
wenig verletzend und gefährlich. In beiden Fällen, welche ich 
im letzten Kriege resecirte, wirkte die Operation vollständig anti¬ 
pyretisch, und nach vier, wegen fungöser Handgelenkentzündung 
und Caries in der Civilpraxis ausgeführten Resectionen trat Fieber 
bis zur Heilung überall nicht ein (die Temperatur stieg niemals 
über 37,5). Der dritte, gewiss nicht zu unterschätzende Grund 
ist die bei zweckmässiger Nachbehandlung recht sichere Aussicht, 
durch Resection die Brauchbarkeit der Hand zu erhalten, während 
diese bei conservirender Behandlung und lange dauernder Eiterung 
fast ohne Ausnahme verloren geht. Prüft man die von verschie¬ 
denen Seiten berichteten Handgelenkschüsse, welche durch con- 
servirende Behandlung zur Heilung gelangten, so finden wir fast 
nnr Ankylosen mit gemeiniglich vollständiger Unbeweglichkeit der 
Finger. Ausser den von Hannover und Mossakowski be¬ 
richteten Fällen referirt Berthold (a. a. 0. S. 517) über 15 
conservativ geheilte Handgelenkschüsse, welche mit Ankylose heilten 
nnd Unbrauchbarkeit der Hand zurückgelassen hatten. Nur in 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


463 


2 dieser Fälle wurde eine unvollständige Beweglichkeit der Finger 
beobachtet. Beck (a. a. 0. S. 592) theilt 12 Handgelenkschüsse 
mit, von denen 9 mit vollständiger Ankylose, 2 mit unvollstän¬ 
diger Beweglichkeit heilten. Günstigere Resultate wurden von H. 
Fischer (Chirurg. Erfahrung. I. Th. Erlangen 1872. 4. S. 156) 
erzielt, indem in den 8 von ihm beobachteten und geheilten Fällen 
zwar Ankylose stets erfolgte, aber die Brauchbarkeit der Hand 
5 Mal erhalten wurde. 

In der grossen Mehrzahl der Fälle wird die Ankylose des 
Handgelenks eine vollständige, die Beweglichkeit im Radio-Carpal- 
wie im gemeinschaftlichen Carpalgelenk aufgehoben, und es kommt 
nicht nur Verschmelzung der Gelenkflächen der Vorderarmknochen 
mit der ersten Carpalreibe, sondern zugleich aller Carpalknochen 
unter einander und mit den Basen der Metacarpalknochen zu 
Stande. In zwei Fällen von Resection des ankylotisehen Hand¬ 
gelenks, welche ich vor Jahren ausführte, und wo die Ankylose 
einmal nach traumatischer, das andere Mal nach puerperaler Ver¬ 
eiterung zurückgeblieben war, konnte ich die Verschmelzung aller 
jener Gelenkflächen in eine solide Enochenmasse und gleichsam 
zu einem Knochen während der Operation constatiren. Eine 
knöcherne Ankylose des Handgelenks hebt indessen die Gebrauchs- 
fäbigkeit der Finger nicht nothwendig auf, dieselbe kann vielmehr 
für den gewöhnlichen Lebensbedarf vollkommen ausreichen, voraus¬ 
gesetzt, dass die Hand in Streckung ankylotisch geworden und 
in Folge von Zerstörung der Bandapparate nicht nach der einen 
oder andern Richtung von der Gelenkfläche des Radius (Spontan- 
Luxation) abgewichen ist. Wenn also bei Ankylose der Hand in 
Streckung die Beweglichkeit der Finger, mögen diese in Streckung 
oder Beugung gestellt sein, dauernd aufgehoben, und die Hand 
vollkommen unbrauchbar geworden ist, so müssen andere Ver¬ 
änderungen die Veranlassung sein. Eine Steifheit der Finger¬ 
gelenke, wie sie nach jeder Immobilisirung der Hand vorüber¬ 
gehend beobachtet wird, kann hier nicht in Frage kommen. 
Inactivitätsparalyse, wenn sie auch bei Ankylose des Handgelenks 
in einem gewissen Grade und für eine gewisse Zeitdauer sich 
immer geltend macht, kann do< h die Fingersehnen und die kleinen 
Muskeln der Hand nicht in dem Grade treffen, dass sie durch 
Uebung nicht wieder beseitigt werden könnte. Sehr wahrschein- 


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UMIVERSITY OF CALIFOP^W 



464 


B. v. Langenbeck, 


lieh müssen diese Zustände in den meisten Fällen auf Verwach- 
sung der Sehnen mit den Sehnenscheiden zurückgeführt 
werden. 

Es entsteht nun die Frage, ob derartige, während der con- 
servirenden Behandlung der Handgelenkschüsse entstandene Bewe¬ 
gungsstörungen nicht verhindert, oder, wenn sie vorhanden sind, 
nicht wieder beseitigt werden können ? Die conservirende Behand¬ 
lung soll sich doch nicht allein mit Erhaltung des Gliedes als 
Masse begnügen, sondern zugleich bemüht sein, dasselbe auch 
als Organ in seiner Function zu erhalten. Ich glaube nicht, 
dass in dieser Richtung das Erforderliche geleistet ist. Die 
Behandlung eines in der Heilung begriffenen Handgelenkschusses 
soll dieselbe sein, wie die Nachbehandlung nach Resection des 
Handgelenks; man müsste versuchen, ob es nicht möglich ist die 
Ankylose zu verhindern, und durch Lagerung der Hand, etwa auf 
der Lister’schen Schiene, sowie durch bei jedem Verbände zu 
widerholende passive Bewegungen der Finger die Verwachsun¬ 
gen in den Sehnenscheiden zu verhindern oder wieder zu besei¬ 
tigen. Dabei müsste auf die rechtzeitige Extraction von Seque¬ 
stern oder der durch Vereiterung aus ihren Verbindungen getrennten 
Carpalknochen Bedacht genommen werden. Ich bin überzeugt, 
dass es dadurch möglich sein wird, in manchen Fällen eine theil- 
weise Beweglichkeit im Handgelenk mit den Fingerbewegungen 
zu erhalten. 

Die ersten Versuche, das Handgelenk zu reseciren, dürfen 
für die Deutsche Chirurgie in Anspruch genommen werden. Der 
Preussische Stabsarzt Beyer entfernte, wie Bilguer (Chirurg. 
Wahrnehmungen S. 443) erzählt, im Jahre 1762 einem in der 
Schlacht bei Freiburg verwundeten Soldaten, welchem durch eine 
Haubitze die rechte Hand zerschmettert worden war, beide unteren 
Epiphysen der Vorderarmknochen, sowie die Trümmer der Ossa 
carpi und metacarpi. Wenngleich diese Operation als methodische 
Handgelenkresection nicht bezeichnet werden kann, und die Brauch¬ 
barkeit der Hand dadurch auch nicht hergestellt wurde, so hätte 
sie doch um so mehr zur Nachahmung auffordern müssen, als 
das von Beyer eingeschlagene Verfahren durchaus correct war, 
und eine ganz unbewegliche Hand immer noch nützlicher ist, als 
ein Amputationsstumpf des Vorderarms. Sehr oft kann es ge- 


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Ueber die Endresultate der Gelenkre9ectionen im Kriege. 465 

lingen,. einzelne Theile der Hand noch brauchbar zu erhalten, und 
man darf behaupten, dass die conservirende Behandlung in ähn¬ 
lichen Fällen nicht leicht zu weit getrieben werden kann. 

Die methodische Handgelenkresection soll den Zweck ver¬ 
folgen, die Beweglichkeit und Brauchbarkeit der Hand zu 
erhalten oder wieder herzustellen, und es kann hier nur Aufgabe 
sein, zu untersuchen, in wie weit und in welcher Weise dieses 
möglich ist. Es muss demnach zunächst die Frage uns beschäftigen, 
wie viel von dem Handgelenk resecirt werden kann oder muss, 
um eine brauchbare Hand zu erhalten. In dieser Beziehung ist 
es von entscheidender Wichtigkeit, hervorzuheben, dass das Hand¬ 
gelenk sich geradezu entgegengesetzt verhält, wie die anderen Ge¬ 
lenke. Wenn, wie ich zu zeigen versucht habe, bei den Schuss¬ 
verletzungen des Sehultergelenks es die Aufgabe sein muss, nur 
einen Theil des Gelenkes, und von diesem so wenig als möglich 
zu reseciren, und wenn bei den Schuss Verletzungen des Hüft-, 
Knie- und Fussgelenks dasselbe Princip gewahrt werden muss, 
auch beim Ellenbogengelenk die Resection über ein gewisses Maass 
nicht hinausgehen darf, wenn nicht eine Schlotterverbindung ent¬ 
stehen soll, so verlangt das Handgelenk wahrscheinlich 
in den meisten Fällen eine Totalresection. 

Eine partielle Resection, welche unter Umständen zulässig 
sein kann, ist die Resection der unteren Epiphyse der Ulna, weil 
die Gelenkkapsel des Radio-Ulnargelenks, manchmal wenigstens 
mit dem Radio-Carpalgelenk nicht communicirt. In Fällen also, 
wo das letztere Gelenk nicht erkrankt ist, halte ich die Entfer¬ 
nung der Ulna allein für geboten. Möglicher Weise wird auch 
die Exstirpation der Carpalknochen allein mit Erfolg ausgeführt 
werden können. Alle weiteren partiellen Resectionen, z. B. die 
des Radius, oder des Radius mit der Ulna, führen nach meiner 
Erfahrung unter allen Umständen zur Ankylose. Die Handgelenk¬ 
resection hat bisher nicht zur Geltung gelangen können, weil die 
partiellen Resectionen mit Vorliebe geübt worden sind. 

Ich weiss sehr wohl, dass ich mit dieser Behauptung gegen 
die Ansichten vieler Chirurgen verstossen werde. Hat doch selbst 
Ollier (Des resections des grandes articulations. Lyon 1869. 8. 
S. 23) sich dahin ausgesprochen, dass die Handgelenkresection bei 
Caries zu verwerfen sei, weil in diesem Fall die Carpalknochen 

v. Lftngenbfck, Archiv f. Chirurgie. XVI. ßQ 


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B. v. Langenbeck, 


stets gleichzeitig erkrankt seien. Um den jedenfalls noch erfor¬ 
derlichen weiteren Erfahrungen nicht vorzugreifen, will ich daher 
den obigen Satz lieber so formuliren, dass eine vollkommen 
activ bewegliche und brauchbare Hand bisher nur 
dann erreicht worden ist, wenn das ganze Handgel enk 
(Epiphysen der Vorderarmknochen mit den Carpal¬ 
knochen) resecirt worden war. 

Ich habe bereits oben, S. 439, hervorgehoben, dass die 
Enochenreproduction nach Resection der unteren Epiphysen der 
Vorderarmknochen eine auffallend starke sei, und dass in dieser 
Beziehung nur noch das Fussgelenk auf gleicher Linie stehe. 
Hiervon dürfte es abhängen, dass nach einer wegen Knochen¬ 
eiterung oder Caries ausgeführten Resection der Vorderarmepi¬ 
physen allein oder mit der oberen Reibe der Carpalknochen ein 
bewegliches Handgelenk niemals hergestellt werden kann. In drei 
Fällen von Ankylose des Handgelenks mit Unbrauchbarkeit der 
Finger habe ich durch Resection der mit der oberen Carpalreihe 
in eine Knochenmasse verschmolzenen Epiphysen der Vorderarm¬ 
knochen in der Länge von 3 ‘ — 4 Ctm. niemals ein bewegliches 
Gelenk sondern stets wieder Ankylose entstehen sehen. Auf der 
anderen Seite zeigt die Erfahrung, dass, wenn mehr als die obere 
Carpalreihe mit den Vorderarmepiphysen resecirt wurde, eine mehr 
oder weniger vollkommene Gebrauchsfäbigkeit der Hand und der 
Finger erreicht werden kann, vorausgesetzt, dass es an der er¬ 
forderlichen Nachbehandlung und an dem guten Willen des Pat. 
nicht fehlt. 

J. Lister (On excision of the wrist for caries, Lancet 1865. 
March 25. p. 309, April 8. p. 362), dem wir auch in Bezug auf 
die Handgelenkresection so Vieles verdanken, resecirte einer 40- 
jährigen Arbeiterin, wegen nach Quetschung der Hand entstan¬ 
dener Vereiterung des Handgelenks, die unteren Enden der Vor¬ 
derarmknochen, exstirpirte die Ossa carpi, sägte die Enden der 
Ossa metacarpi ab und entfernte im Ganzen 2|" Knochen. 
Die Heilung erfolgte nach 7 Wochen, die Pat. verliess aber das 
Spital, weil sie die passiven Bewegungen scheute, und kehrte 
nach 5 Monaten mit ganz steifen Fingern zurück. Pas¬ 
sive Bewegungen in der Cbloroformnarkose und Uebungen stellten 
sehr bald die Gebrauchsfähigkeit der Hand in dem Grade wieder 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


467 


her, dass Pat. mit der Hand strickt, 16 Pfand Gewicht hebt und 
alle Fingerbewegungen in der grössten Vollkommenheit ausführt. 
In Bezug auf weitere 6 von Li st er ausgeführte Re8ectionen ? 
welche dem soeben mitgetheilten Fall sowohl durch Ausdehnung 
der entfernten Knochen wie durch glänzendes Endresultat voll¬ 
kommen gleichen, muss ich auf die Abhandlung selbst verweisen, 
und bemerke ich nur noch, dass von den 15 durch Lister aus¬ 
geführten Handgelenkresectionen nur zwei, eine an Pyämie, die 
andere durch Lungenphthise, tödtlich verlaufen sind. Von den 13 
geheilten Fällen lieferten 12 ein sehr schönes Resultat und nur 
einer eine unbrauchbare Hand. Ebenso resecirte Hulke (Lancet 
1868. II. Nr. 15) das ganze Handgelenk nebst den Gelenkenden 
der Metacarpalknochen. Die Heilung erfolgte mit Erhaltung sehr 
guter Gebrauchsfähigkeit, so dass Pat. ein Jahr nach der Opera¬ 
tion seinem Beruf als Kutscher wieder vorstehen konnte. Diesen 
so überaus glänzenden Erfolgen kann der von mir erzielte (Nr. 
42. Tafel IX.) als vollkommen ebenbürtig zur Seite gestellt 
werden. 

Es bedarf indessen noch sehr zahlreicher und sorgfältiger 
Beobachtungen, um definitiv festzustellen, nicht wie viel, sondern 
wie w f enig man von dem Knochengerüst der Hand entfernen darf, 
um ein brauchbares Glied zu erhalten. Ich glaube, dass man von 
den Carpalknochen das Os multangulum majus und Os 
pisiforme, welche beide mit dem Handgelenk nicht in directer 
Verbindung stehen, an seiner Erkrankung oftmals nicht betheiligt 
sind und wichtigen Muskeln zum Ansatz dienen, häufig zurück¬ 
lassen kann, ja ich halte es für möglich, dass in dem gewiss sel¬ 
tenen Fall, wo nur die Carpalknochen krankhaft verändert, die 
Epiphysen der Vorderarmknochen gesund wären, man diese zu¬ 
rücklassen und mit Exstirpation der 6 mittleren Carpalknochen 
(Os naviculare, lunatum, triquetrum, multangulum minus, capita- 
tum, hamatum) sich begnügen darf, ohne das gute Endresultat 
in Frage zu stellen. Dazu kommt, dass wir von dem Werth einer 
primären Handgelenkresection noch sehr wenig wissen, und dass 
bei einer solchen die partiellen Resectionen möglicherweise 
häufiger zulässig sind. Mehrere bekannt gewordene Fälle 
sprechen für diese Vermuthung. Verbeeck (Bull, de l’academ. 
roy. de möd. de Belgique. T. III. p. 29) resecirte einem 14jähr. 

30* 

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B. t. Lnngonbeck, 


Knaben das luxirte und durch die Haut hervorgetretene nntere 
Ende des Radius mit so glücklichem Erfolg, dass der Pat. später 
zum Militärdienst tauglich befanden wurde. 

Just (De resectione epiphysium cum decapitationis utriusque 
radii exemplo. Leipzig 1840) resecirte in der chirurgischen Klinik 
zu Leipzig einem 15jährigen Maurer, welcher durch Fall aus be¬ 
deutender Höhe eine complicirte Luxation beider Handgelenke er¬ 
litten hatte, am 16. August 1838 die zolllang aus den Wunden 
hervorgetretenen Gelenk enden beider Speichen, und die Heilung 
erfolgte mit Wiederherstellung der vollkommenen Beweglichkeit 
der Hände und Finger. Lister endlich entfernte 1863 einem 
17jährigen jungen Menschen wegen complicirter Luxation und 
Fractur des linken Handgelenks beide 1±" weit aus der Wunde 
hervorgetretene Vorderarmepiphysen mit glücklichem Erfolge, und 
es war nach 5 Monaten die Hand fast eben so beweglich und 
kräftig als die gesunde. 

Man wird den Einwurf erheben, dass meine Ansicht von der 
hervorragenden kriegschirurgischen Bedeutung der Handgelenkre- 
section durch die Erfahrungen des letzten Krieges wenigstens nicht 
gerechtfertigt erscheine, und dass aus diesem der Beweis nicht 
geführt werden könne, dass die Brauchbarkeit der resecirten 
Handgelenke besser sei, als die der conservativ mit Ankylose 
geheilten. Man könne ja mit demselben Rechte annehmen, dass 
bei der durch conservirende Behandlung erreichten Handgelenks¬ 
ankylose die Brauchbarkeit der Finger noch nachträglich ge¬ 
bessert worden sei. 

So weit ich es zu übersehen vermag, wurden in dem letzten 
Kriege 10 Handgelenkresectiönen ausgeführt. Von diesen verliefen 
zwei (eine von Hueter in Pont-ä-Mousson gemachte partielle, 
und eine von mir in Orleans gemachte totale Resection) tödtlicb 
durch Pyämie, welche schon vor der Operation unzweifelhaft zur 
Entwickelung gekommen war. Von den übrigen wurden 7 Operirte, 

1 von Goltdammer, 1 von Schüller (Kriegschirurgische 
Skizzen 1871. S. 55), 2 von Berthold (Deutsche militairärztl. 
Zeitschr. I. 1872. S. 517. S. 595), 1 von Uh de (Nr. 39) und 

2 von Beck (a. a. 0. S. 591) geheilt. Der achte, von mir 
mit totaler Resection operirte Fall (Nr. 41) war in der Heilung 
begriffeu, als ich Orleans verliess. Ueber die Ausdehnung, in 


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Ueber die Endresultate der (.ieleukresectioneu im Kriege. 


469 


welcher resecirt wurde, vermag ich nur in 5 Fällen zu be¬ 
richten; in dem von Goltdammer operirten Fall wurden die 
Epiphysen des Radius und der Ulna resecirt, und es folgte An¬ 
kylose mit Unbeweglichkeit der Finger, Schüller entfernte dio 
Epiphyse des Radius und das Os lunatum (Handgelenk fast 
steif), in den anderen Fällen fehlt die genauere Beschreibung 
der Operation. Diese war in der Mehrzahl der Fälle während 
der Eiterungsperiode gemacht und hatte zweimal Ankylose, ein¬ 
mal Schlotterverbindung und fünfmal Unbrauchbarkeit der Finger 
hinterlassen. Was schliesslich aus diesen Resecirten noch gewor¬ 
den ist, vermag ich nicht anzugeben, und es muss zugegeben 
werden, dass keiner der neueren Kriege Resultate geliefert hat, 
welche für die Handgelenkresection sprechen könnten. Wenn aber 
traumatische Handgelenkresectionen so vollkommene Resultate 
liefern können, wie es soeben mitgetheilt wurde, so ist wohl 
die Erwartung gerechtfertigt, dass bei Schussverletzungen dasselbe 
Resultat erreichbar sein werde. 

Ich glaube, dass man durch weitere Erfahrung dahin kommen 
muss, bei Verletzungen des Handgelenks der primären Resection 
den Vorzug einzuräumen, weil diese ein günstigeres Mortalitäts- 
verhältniss und zugleich eine bessere Gebrauchsfäbigkeit der Hand 
und Finger geben dürfte. Die grössere Neigung der unteren Vor¬ 
derarmepiphysen zur Knochenproduction und die nach Schuss- 
fracturen dieser Gegend eintretende sehr ausgedehnte plastische 
Osteitis verhindert eben so leicht die guten Erfolge der conser- 
virenden Behandlung wie der Resection. In den Revisionsberichten 
finden wir oft die Angabe, dass bedeutende Knochenwucherung 
an der verletzt gewesenen Gegend, Auftreibiing der Metacarpal¬ 
knochen u. s. w. sowohl bei den resecirten wie bei den exspec- 
tativ behandelten Handgelenkschüssen vorgefunden wurde. 

Andererseits ist wohl die Behauptung zulässig, dass die con- 
servirende Behandlung weder in Bezug auf Erhaltung des Lebens 
noch auf Wiederherstellung der Function mehr geleistet hat. Denn 
die Steifigkeit und Unbeweglichkeit der Finger, welche nach lange 
dauernder Eiterung mit Entstehung der Ankylose im Handgelenk 
zurückbleibt, kann manchmal, wie ich in zwei Fällen gesehen, auch 
durch die noch später aufgenommene sorgfältigste Nachbehandlung 
(Electricität, passive Bewegungen) nicht mehr beseitigt werden. 


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470 


B. v. Langenbeck, 


Von den verschiedenen Operationsmethoden ist der 
Bilateralschnitt am häufigsten zur Anwendung gekommen. 
Ich habe seit einer Reihe von Jahren in ähnlicher Weise wie 
List er operirt, den Radialschnitt, am radialen Rande des Os 
metacarpi indicis beginnend über die Rückseite des Radins nach 
aufwärts geführt, den Ulnarschnitt mehr nach der Volarseite ver¬ 
legt, zuerst die Epiphyse der Ulna, dann die des Radius resecirt 
und endlich die Carpalknochen herausgenommen, deren Entfer¬ 
nung von Lister der Resection der Vorderarmepiphysen voraus¬ 
geschickt wird. Wenn bei der Handgelenkresection die Aufgabe 
zu erfüllen wäre, nur Radius und Ulna zu reseciren, so würde 
der Bilateralschnitt ohne Bedenken die rationellste Methode ge¬ 
nannt werden können. Für die Total resection des Hand¬ 
gelenks hat diese Methode mich niemals ganz befriedigt; denn 
abgesehen davon, dass die Sehne des Extensor pollicis longus in 
schräger Richtung durch das Operationsfeld des so angelegten 
Radialschnittes verläuft und, um zu den Knochen zu gelangen, 
mit stumpfen Haken hin und her gezerrt wird, fällt dieser Schnitt 
direct auf die Art. radialis (Princeps pollicis), während von dem 
ulnaren Schnitt aus der Ramus volaris nerv, ulnaris verletzt 
werden kann. Endlich kann die Herauslösung der Carpalknochen 
von diesen Seitenschnitten aus in schonender Weise schwer ausge¬ 
führt werden, weil man sie nicht zu Gesicht bekommt und sie 
gewissermaassen subcutan herausfördern muss. 

Die Anforderung, welche wir an eine methodische Hand¬ 
gelenkresection stellen müssen, ist, dass die Verletzung der Seh¬ 
nen und Sehnenscheiden, sowie der Hauptarterien und Nerven 
mit Sicherheit vermieden werde. Ein Dorsalschnitt, welcher 
mitten zwischen den Strecksehnen eindringt und ihre gemein¬ 
schaftliche Sehnenscheide eröffnet, wie der von Maisonneuve 
(Gazette des Höpitaux 1852), oder ein Dorsal- und Volarschuitt, 
welcher zugleich die Sehnenscheiden der Fingerbeuger öffnet, wie 
es bei der von Simon (Chirurg am St. Thomas Hospital in 
London) angegebenen Methode geschieht (Lancet 1854. p. 100), 
verbietet sich also von selbst. Ebenso wenig kann es zulässig 
sein, der grosseren Bequemlichkeit wegen das Handgelenk durch 
einen dorsalen Lappenschnitt frei zu legen und dabei die Streck¬ 
sehnen des 2. bis 5. Fingers zu durchschneiden, wie Velpe au, 


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Ueber die Endresultate der lieleukresectionen im Kriege. 


471 


v. Adelmann (Roser und Wunderlich, med. Vierteljahrs¬ 
schrift 1846. S. 416), Gudpratte und Batcher es gethan ha¬ 
ben (Dublin Journal 1855). Die in dieser Weise von Simon, 
Gudpratte und Butcher ausgeführten Operationen verliefen 
durch Pyämie tödtlich; die von Adelmann Operirte wurde ge¬ 
heilt mit Beweglichkeit der Finger, konnte dieselben aber selbst¬ 
verständlich nicht strecken. 

Der von Chassaignac empfohlene ulnare und der von 
Danzel ausgeführte radiale Seitenschnitt verdient gewiss Nach¬ 
ahmung, sobald es sich darum handelt, die Epiphyse der Ulna 
oder des Radius allein zu entfernen; für die Resection des ganzen 
Handgelenks dürften diese Methoden in den meisten Fällen nicht 
ausreichen. 

Nachdem ich den Bilateralschnitt in einer guten Anzahl von 
Totalresectionen des Handgelenks geprüft und in meinen Ope- 
rationscursen diesen Gegenstand vielfach besprochen hatte, bin 
ich endlich bei einer Methode stehen geblieben, welche ich der 
Schnittführung wegen Dorso-Radialschnitt nennen möchte. 
Von den 5 im Laufe des Jahres 1873 wegen Caries nach dieser 
Methode Resecirten musste einer wegen des grossen Umfangs der 
Knochenzerstörung nachträglich im Vorderarm amputirt werden, 
worauf die Heilung erfolgte. Die vier anderen wurden geheilt, 
zwei mit guter, die beiden anderen noch in Behandlung befind¬ 
lichen mit mangelhafter Gebrauchsfähigkeit der Hand und Finger. 
Als Vortheile dieser Schnittfübrung darf ich die Leichtigkeit der 
Ausführung und die Sicherheit, mit der Nebenverletzungen ver¬ 
mieden werden, besonders hervorheben. 

Subperiostale Handgelenkresection mittelst des 
Dorso-Radiälschnittes. 

Das unblutige Operiren gewährt hier die grösste Erleichte¬ 
rung, um so mehr, da die Blutung bei Handgelenkresectionen 
gemeiniglich sehr stark ist, und das Operationsfeld dabei nicht 
übersehen werden kann. Ich kann demnach die Constriction des 
Gliedes mit Gummibinden, mit der Modification, dass der von 
Esmarch angegebene Gummischläuch durch eine zweite, am 
Oberarm liegen bleibende Gummibinde ersetzt werde, als Vor¬ 
act der Operation dringend anempfehlen. In beiden Fällen, in 

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472 


•B. v. Langeubeck, 


denen ich in dieser Weise operirte, konnte die Handgelenkresec- 
tion eben so bequem wie an der Leiche ausgeführt werden. 

Nachdem die untere, Hand und Vorderarm einschnürende 
Binde entfernt worden, während die obere Binde, welche den Ober¬ 
arm dicht unterhalb der Insertion des Deltamuskels umschnürt, 
liegen bleibt, lagert man die Hand des auf dem Operationstisch 
chloroformirten Patienten auf einem neben diesen gestellten klei¬ 
nen Tisch so, dass sie dem auf einem Stuhl sitzenden Operateur 
frei zugänglich ist. In den Operationsübungen lasse ich das Glied 
im Oberarm amputiren und sodann die Resection der auf einem 
Tisch gelagerten Hand ebenfalls in sitzender Stellung des Ope¬ 
rateurs ausführen. 

Der Dorsalschnitt beginnt hart am Ulnarrande des Os 
metacarpi indicis, etwa der Mitte dieses Knochens entspre¬ 
chend, während die Hand leicht in Abduction gestellt ist, und 
steigt etwa 9 Ctm. lang bis über die Dorsalfläche der Radiusepi¬ 
physe nach aufwärts. In die Tiefe vorschreitend, verläuft dieser 
Schnitt an der Radialseite der Strecksehnen des Zeigefingers, 
deren Sehnenscheide nicht verletzt wird, trifft, weiter hinaufsteigend 
den ulnaren Rand der Sehne des M. extensor carpi radialis brevis 
da, wo dieselbe an die Basis des Os metacarpi digit. medii sich 
inserirt, und endigt an der Epiphysengrenze des Radius, nachdem das 
Lig. carpi dors. genau zwischen der Sehne des Extens. long. pollicis 
und der Strecksehne des Zeigefingers bis auf die Knochenfläche 
des Radius durchschnitten worden ist. Während die Weichtheile 
des Handrückens von der Wunde aus mit feinen Wundhaken ul- 
narwärts gezogen werden, dringt der Operateur gegen das Radio¬ 
carpalgelenk vor, dessen Gelenkkapsel der Länge nach gespalten 
und in Verbindung mit den Bandapparaten von den Knochenthei- 
len abgelöst wird. Die fibrösen Scheiden, welche die in Knochen¬ 
furchen des Radius verlaufenden Sehnen (Exteusor pollicis longus, 
Extensor carpi radialis longus und brevis, Abductor pollicis longus 
und brevis, Brachioradialis) mit dem Knochen verbinden, werden 
mit dem Periost von dem Knochen abpräparirt resp. mit dem 
Elevatorium abgehebelt. Nachdem die Sehnen der Fingerstrecker 
sammt dem sie umhüllenden Fach des Ligament, carpi dorsale in 
derselben Weise (unter Erhaltung der Verbindung mit Periost und 
Gelenkkapsel) abgelöst und ulnarwärts verzogen worden, liegt das 


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Ueber die Endresultate der (ielenkresectionen im Kriege. 473 


Radio-Carpalgelenk geöffnet vor. Die Hand wird in Beugung ge¬ 
stellt, und dadurch die Gelenkfläche der oberen Carpalknochen in 
der Wunde zugänglich. Zunächst löst man Os naviculare aus seiner 
Verbindung mit dem multangulum majus; sodann Os lunatum und 
triquetrum, indem man die entsprechenden Ligg. intercarpea durch¬ 
schneidet und den zu entfernenden Knochen mit einem feinen 
Elevatorium sanft hervorhebelt. Os multangulum majus und pi- 
siforme werden (wenn es zulässig ist) zurückgelassen. Nun löst 
man die Knochen der vorderen Carpalreihe heraus. Während 
der Operateur die kugelige Gelenkfläche des Os capitatum mit 
den Fingern seiner linken Hand fixirt, ein Gehülfe den Daumen 
in Abduction stellt, trennt das Messer die Gelenkverbindung des 
Os multangulum minus mit dem majus und sucht von hier aus 
nlnarwärts in das Carpo-metacarpalgelenk einzudringen, indem es 
die Bandmassen an der Streckseite der oberen Enden der Meta¬ 
carpalknochen durchschneidet, während ein Gehülfe die letzteren 
in Beugung drängt. Auf diese Weise kann es gelingen, die drei 
Carpalknochen der vorderen Reihe (Multangulum minus, Capi¬ 
tatum et Hamatum) in Verbindung mit einander herauszuheben. 
Die in die Wunde vorspringenden Gelenkflächen dieser Knochen 
etwa mit der schneidenden Zange abzutragen, um ihre vorderen 
Gelenkflächen in Verbindung mit den Metacarpalknochen zurück¬ 
zulassen, empfiehlt sich nicht, weil das Metacarpalgelenk ja schon 
vorher geöffnet war, und die zurückgelassenen Knochenreste heraus¬ 
eitern müssten. Schliesslich lässt man, während die Hand volar- 
wärts verdrängt wird, die Epiphysen des Radius und der Ulna 
aus der Wunde hervortreten, um dieselben abzusägen. Diesem 
Acte der Operation muss eine sorgfältige Ablösung der Seiten- 
bänder mit dem Periost vorausgehen, und zugleich' darauf geachtet 
werden, dass der starke Ramus dorsalis arter. radialis, welcher 
über das Os multangulum majus zum ersten Interstitium inter- 
carpeum zieht, um von hier aus in die Tiefe der Vola manus vor¬ 
zudringen, nicht angeschnitten werde. 

Die Operation ist so geschildert worden, wie sie an der Leiche 
oder bei einer primären Totalresection des Handgelenks ausge¬ 
führt werden kann. Um die Carpalknochen allein zu exstirpiren, 
oder um die oberen Enden der Metacarpalknochen mit zu ent¬ 
fernen muss der Dorsalschnitt nach vorn etwas verlängert, und 


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474 


B. v. Latigenheck, 


die Periostablösung an den Vorderarmepiphysen möglichst be¬ 
schränkt werden. 

• Als Vortheile dieser Methode darf ich besonders hervorheben: 
die Vermeidung der Verletzung der Sehnenscheiden und der Sei¬ 
tenbänder des Handgelenks, die Sicherheit den Ram. volaris, Nervi 
ulnaris und die Art. radialis nicht zu verletzen und überhaupt 
die grosse (Übersichtlichkeit des Operationsfeldes, bei welcher jede 
Quetschung und Zerrung der Theile vermieden werden kann. 

Ob bei Ankylose des Handgelenks der bilaterale Seitenschnitt 
meiner Schnittführung nicht vorzuziehen ist, vermag ich nicht zu 
entscheiden. 

Ueber die zu empfehlende Lagerung der resecirten Hand 
hoffe ich noch weitere Erfahrungen machen zu können. In der 
Mehrzahl meiner Handgelenkresectionen habe ich die vonLister 
angegebene Lagerungsschiene gebraucht und die Hand in leichter 
Beugestellung auf derselben fixirt. In einem Falle habe ich Hand 
und Vorderarm in Supinationsstellung eingegypst, sodann an der 
Rückseite des Handgelenks ein grosses Fenster eingeschnitten, die 
Operationswunde ganz offen gelassen und den Arm an einer, 
an der Volarseite mit eingegypsten Schiene aus Telegraphendraht 
suspendirt, so dass jeder Tropfen Wundsecret aus der, den ab¬ 
hängigsten Theil bildenden Wunde in ein untergestelltes Porcellan- 
becken abfliessen musste. Diese Lagerung verdient, wie ich glaube, 
weiter versucht zu werden. Dass der Verband je nach der Lage 
der Verletzung Modificatiouen erleiden kann, und dass man bei¬ 
spielsweise bei einer Schussöftnung in der Vola manus ein zweites 
volares Fenster oder bei seitlich gelegenen Schussöffnungen auch 
seitliche Fenster anlegen und Drainröhren durch die Wundhöhle 
legen wird, versteht sich von selbst. 

Sobald die Wunde mit Granulationen aus gefüllt und in Hei¬ 
lung begriffen ist, habe ich einmal, und wie es schien mit sehr 
gutem Erfolg, dem Bestreben der Fingersehnen, die Hand mehr 
und mehr dem Vorderarm zu nähern, dadurch entgegen zu treten 
gesucht, dass ich eine Gewichtsextension, welche an Metacarpus 
und Fingern ihre Angriffspunkte hatte, zur Anwendung brachte. 

Die Enden der für jeden einzelnen Finger bestimmten Heft¬ 
pflasterschlinge werden in der Höhe des oberen Endes des ent¬ 
sprechenden Metacarpalknochens aufgeklebt, jede einzelne Heft- 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


475 


4 


pflasterschlinge an dem Finger, für welchen sie bestimmt ist, 
durch spiralige Heftpflastertouren fixirt und, wenn nöthig, mit 
feuchten Gazebinden noch umwickelt. Durch die Oesen der 5 
Heftpflasterschlingen wird ein über * eine am unteren Ende der 
Lagerungsschiene befestigte Rolle verlaufendes Fadenbändchen ge¬ 
führt, und diesem das Gewicht angebängt. Die Hand liegt in 
leichter Beugung auf der Schiene, während die gleichmässige 
Distraction eine zu grosse Annäherung der Resectionsflächen ver¬ 
hindert 

Für das wünsckenswerthe Endresultat entscheidend ist das 
Verhalten des Pat. und die gymnastische Behandlung nach der 
Operation. Die Letztere beginne so früh als möglich. Die 
active Beweglichkeit der Finger wird durch die Operation nicht 
aufgehoben; ich habe sie wiederholt unmittelbar nach beendeter 
Resection eben so vollkommen gefunden, wie sie vor der Operation 
gewesen war. Bei jedem Verbände lasse man den Operirten leichte 
active Fingerbewegungen ausführen. Nach geheilter Wunde be¬ 
ginnen mit Schonung angestellte passive Bewegungen der Hand- 
und Fingergelenke und active Uebungen unter gleichzeitiger An¬ 
wendung des Inductionsstroms auf Vorderarm und Hand. Die 
Uebung feiner Fingerbewegungen, wie sie beim Schreiben, Zeichnen 
und Clavierspielen nothwendig sind, führen am raschesten zum 
Ziel. Sind Hand und Finger einigermassen erstarkt, so lasse man 
während mehrerer Stunden des Tages ein Gewicht von entsprechen¬ 
der Schwere mit der operirten Hand tragen. Diese Uebungen, 
bei welchen die Unterstützung durch den Eifer des Operirten die 
unerlässliche Beihülfe ist, müssen 2-4 Monate lang und oftmals 
noch länger fortgesetzt werden. Ist die Beweglichkeit der Finger¬ 
gelenke wiederhergestellt, die active Beweglichkeit durch Binde- 
gewebsverwachsungen in den Sehnenscheiden aber noch mangelhaft, 
so empfiehlt es sich, von Zeit zu Zeit in der Chloroformnarkose 
ausgiebigere passive Bewegungen anzustellen, um jene Verwach¬ 
sungen zu veröden. 

Eine consequento Durchführung dieser Nachbehandlung ver¬ 
mag die active Beweglichkeit der Hand noch dann wiederherzu¬ 
stellen, wenn diese durch lange Dauer der Krankheit vollständig 
erloschen war. 

Der Mittheilung einer von Hin. Prof. Uh de in Braunschweig 


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ß. v. Laugenbeck, 


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wegen Sehussverletznng ausgeföhrten Handgelenkresection, welche 
dieser mir . zuznsenden die Güte hatte, schliesse ich 3 von mir 
resecirte Fälle an. 

Nr. 39. Durchgehende Schusswunde am rechten Handgelenk mit 
Bruch des Processus styloides ulnae. Secund&re Totalresection, 
Heilung. Jean Durand, Franzos. 40. Lin.-Inf.-Regt., 26 Jahre alt, aus Cecieux, 
Dep. Isere, verw. bei Spicheren am 6. August, ins Reservelazaretb Nr. 1 zu Braun¬ 
schweig aufgenommen am 14. August 1870. Das Geschoss (Langblei) ist an 
der Radialseite des Gelenks ein-, an der Ulnarseite ausgetreten und hat Pro¬ 
cessus styloides ulnae zerbrochen. In der Gegend des Gelenks und Cacpus 
starke entzündliche Schwellung, heftige Schmerzen und Fieber. 19. August 
Incision durch den Handrücken, Eis, Morphium acetic. 21. August Schmerzen 
furchtbar, kein Schlaf, starke Eiterung der Wunde. Morphium acetic., Handbad. 
23. August Handgelenkgegend, Vorderarm und Hand gerötbet, oedematös ge¬ 
schwollen. Die in der Cbloroformnarkose vorgenommene Sondirung der Wunde 
ergiebt Zertrümmerung der Carpalknochcn. 

Resection des Handgelenks durch Bilateralschnitt. Prof. Uhde 
machte an der Ulnarseite einen 11 Ctm., an der Radialseite einen 9 Ctm. langen 
Längsschnitt, resecirte von der Ulna sowohl wie vom Radius ein 1,75 Ctm. 
langes Stück und entfernte die Carpalknochen mit Ausnahme des Os multan- 
gulum majus und minus, welche erhalten werden konnten. Verband mit wäs¬ 
seriger Carbollösung. Gypsverband. Kräftigende Diät. Am 3. September zeigte 
sich eine kleine nekrotische Stelle der Ulna. Ein am rechten Oberschenkel 
entstandener Abscess musste geöffnet werden. 

Gegen Ende September wurde D. von Diarrhoe befallen, welche mit Tinct. 
tbebaic. bekämpft wurde. Die Heilung erfolgte langsam. Bis zum 10. April, 
an welchem Tage D. geheilt entlassen wurde, hatte sich die Beweglichkeit der 
Hand und Finger wieder hergestellt, so dass an der demnächstigen Brauchbar¬ 
keit des Handgelenks nicht gezweifelt werden konnte. 

Nr. 40. Schussfractur des rechten Handgelenks. Secundäre To¬ 
talresection. Tod an Pyämie. Berblinger, 85. Holsteinsche6 Inf.-Regt., aus 
Ploenin Holstein, verw. 11. Januar 1871 bei Le Mans. Das Geschoss ist an der 
Radialscite des Handrückens eingedrungen und an der Volarseite im Bereich der 
unteren Epiphyse des Radius stecken geblieben und herausgesebnitten worden; 
das extrabirte Geschoss repräsentirt jedoch nur die Hälfte einer Chassepotkugel, 
welche sich gespalten haben muss. Die bei der Aufnahme des Patienten in das 
Lazaretb Sacre-Coeur zu Orleans vorhandene sehr starke phlegmonöse Anschwel¬ 
lung der Hand und des Vorderarms vermindert sich bis Ende Januar und macht 
einer reichlichen Eiterung Platz. 

Am 2. Februar sah ich den Verwundeten zum ersten Male. Die phlegmo¬ 
nöse Anschwellung der ganzen Hand und des Vorderarms bat seit vier Tagen 
wider zugenomtnen. Finger stark geschwollen und fast unbeweglich. Vorderarm 
bis zur Mitte stark geschwollen und gcröthet. Die angewendeten warmen Local¬ 
bäder werden nicht vertragen. Hohes Fieber mit wiederholt eingetretenen Frost- 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 477 

schauern. Der durch die Schnittwunde an der Volarseite des Handgelenks ein- 
geführte Finger stösst in der Tiefe auf Fragmente des Radius. 

3. Februar 1871. Subperiostale Resection durch Bilateral¬ 
schnitt. Der ulnare Längsschnitt legt Handgelenk und Epiphyse der Ulna in 
der Länge von 9 Ctm. frei. Nach sorgfältiger Ablösung des Periosts durcbsägte 
ich den letzteren Knochen dicht oberhalb seiner Epiphyse. Sodann 11 Ctm. 
langer Schnitt an der Radialseite des Gelenks, vom radialen Rande des Os me- 
tacarpi indicis in gerader Richtung bis durch die Einschussöffnung nach auf¬ 
wärts steigend und an der Grenze der Radiusepiphyse endigend. Die Enden 
der vom Geschoss zerrissenen Sehne des Extensor long. pollicis liegen in der 
Schussöffnung frei und werden mit der Scheere abgetragen. Sodann Durch¬ 
schneidung des Ligamentum dorsale bis auf den Knochen und Ablösung des 
Periosts mit den Sehnenscheiden vom Radius, welcher in 6 Fragmente zertrüm¬ 
mert ist und in der Länge von 6 Ctm. abgesägt wird. Nachdem ich die Ra¬ 
diusepiphyse herausgehoben hatte, fühlte ich in der Tiefe der Wunde einen 
glatten beweglichen Körper, welcher sich als die kleinere Hälfte des Geschosses, 
in der Hessingplatte eines Uniformknopfes eingebettet auswies. Die Kugel hatte 
den oberen Knopf des Waffenrockärmels mitgenommen, sich wahrscheinlich am 
Knochen gespalten und in die zusammengerollte Metallplatte des Knopfes tief 
eingebettet und war mit dieser im Handgelenk stecken geblieben, während ihre 
grössere Hälfte bis zur Volarseite des Gelenks vorgedrungen und hier unter der 
Haut stecken geblieben war. Ich extrahirte nun das vom Geschoss gestreifte 
Os naviculare, lunatum und triquetrum. Die vordere Reihe der Carpalknochen 
sowie Os multangulum majus und pisiforme wurde zurückgelassen. Der Arm 
wird anf einer gepolsterten Schiene mit leichter Beugung der Hand gelagert. 

Die Resection war ungewöhnlich leicht, ohne jede Nebenverletzung und mit 
geringer Blutung zu Ende geführt, und ich erinnere mich nicht, jemals eine 
Handgelenkresection mit so wenig Schwierigkeit gemacht zu haben. 

Patient war schon am Abend nach der Operation frei von Schmerzen, und 
es fand in den ersten Tagen nach derselben Abschwellung des Arms und be¬ 
deutende Abnahme des Fiebers statt. Aber schon am 4. Tage zeigte sich ein 
Schüttelfrostanfall, welcher sich bis zu dem, wenn ich nicht irre, am 12. Februar 
erfolgten Tode fast täglich wiederholte. 

Nr. 41. Schussfractur des rechten Handgelenks. Secundäre Re¬ 
section. Heilung. Hathes, 2. Thüringsches Inf.-Regt. Nr. 32, wurde am 2. De- 
cember 1870 vor Orleans verwundet. Das Geschoss (Chassepotkugel) ist auf der 
Rückseite des Metacarpalknocbens des Mittelfingers eingetreten, hat die Strecksehne 
dieses Fingers zerrissen, den Knochen zerbrochen und ist, den Carpus in schrä¬ 
ger Richtung durchbohrend, aufwärts gegangen und im Bereich des Os trique- 
trunr, hart am Processus styloides ulnao ausgetreten. Eine Fractur der Vor¬ 
derarmepiphysen war nicht nachzuweisen. Bis Anfang Januar bedeutende 
Anschwellung der ganzen Hand und profuse Eiterung, welche mehrere Ein¬ 
schnitte an der Rückseite des Handgelenks notbwendig machte- Darnach prompte 
Abnahme der Geschwulst und des Fiebers. Ende Januar neue Exacerbation 
der Gelenkentzündung und des Fiebers, mit bedeutender fungöser Schwellung 


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B. v. Langenbeck, 


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der Gelenkkapsel. Am 2. Februar wird ein Fragment des zertrümmerten Meta¬ 
carpalknochens ausgezogen. Die Finger sind activ ganz unbeweglich, die Beu¬ 
gung der ersten Fingerglieder ist auch passiv nicht zu erreichen. 

8. Februar 1871. Totalresection des Handgelenks durch Bila¬ 
teralschnitt, in derselben Weise wie im vorhergehenden Fall ausgeführt Um 
die vorhandenen Verwachsungen der Sehnenscheiden zu lösen, machte ich vor 
Beginn der Operation in der Chloroformnarkose forcirte Fingerbewegungen. Dann 
wurde nach vollständiger Ablösung des Periosts, und ohne dass die Sehnen¬ 
scheide der Extensoren geöffnet worden, zuerst das Köpfchen der Ulna, dann 
die Gelenkfläche des Radius in der Länge von 2 \ Ctm. mit der Stiebsäge ab¬ 
gesagt. Beide Gelenkenden waren ihres Knorpel Überzuges beraubt, rauh, und 
die Knochensubstanz stark hyperämisch. Es ergab sich nun eine ausgedehnte 
Zertrümmerung der Carpalknochen, welche grössten!heils in einen mit Eiter 
vermischten Brei umgew&ndelt waren und, mit Ausnahme des unverletzt geblie¬ 
benen Os multangulum raajus und pisiforme, entfernt wurden. Die Operation 
war ohne Nebenverletzung beendigt, und bei einer ziemlich starken, jedoch zu¬ 
meist capillären Blutung keine Gefässunterbindung nothwendig geworden. Gyps- 
verband mit Fenstern. Schon am anderen Morgen hatte Patient fast normale 
Temperatur, und die Schmerzen waren verschwunden. Die Heilung verlief un¬ 
gestört, und die Wunde war fast geschlossen, als ich am 9. März Orleans ver- 
liess. Active Fingerbewegungen waren schon ausführbar, passive Bewegungen 
aber noch nicht angestellt. Configuration und Stellung der Hand sehr gut. 
Ueber die schliessliche Wiederherstellung der Function fehlen mir leider die 
Nachrichten. 

Nr. 42. Caries des rechten Handgelenks und der Carpalknochen. 
Totalresection. Heilung mit Wiede Herstellung der vollständigen 
Gebrauchsfähigkeit der Hand und Finger (Taf. IX. Fig. 1—4). Herrn. 
Matika, 29 Jahre alt, Schlossermeister aus Muskau, wurde am 10. August 1869 in 
das Kgl. Klinikum aufgenommen. Der übrigens gesunde, aber zart gebaute und 
schwächlich aussehende Mann ist im Frühjahr 1869 von Variola befallen, von 
welcher sein Gesicht noch deutlich sichtbare Spuren trägt. Während der Reeonva- 
lescenz von dieser Krankheit ist eine heftige Entzündung des rechten Handgelenks 
aufgetreten, welche in Eiterung überging und mehrere Abscessöffnungen im Bereich 
des Gelenkes zurückgelassen hat. Durch mehrere an Dorsal- und Volarfläche 
des Carpus befindliche Fistelöffnungen gelangt die Sonde auf rauhe Knochen 
und eine weiche Granulationsmasse. Das ganze Handgelenk ist sehr stark ge¬ 
schwollen, die active Beweglichkeit der Hand ganz, die der Finger beinahe voll¬ 
ständig aufgehoben. 

Subperiostale Resection des Handgelenks durch Bilateral¬ 
schnitt nach der in dem Fall Nr. 40 geschilderten Methode am 19. April 1869 
ausgeführt. Ich entfernte die untere Epiphyse des Radius und der Ulna mit 
der Stichsäge und löste 6 zum Theil cariöse Carpalknochen, von denen mehrere 
nur als kleine Knochentrümmer vorhanden waren, heraus (vergl. die Abbildung 
der Knochen auf Taf. IX). Os multangulum m&jus und pisiforme wurden zu¬ 
rückgelassen. Lagerung auf Listerscher Schiene. Verband mit Carbollösung. 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresecüonen im Kriege., 479 

Bis zum 26. August hohes Fieber mit schlechter Eiterung und schlechtem Aus¬ 
sehen der Wunde, aus welcher wiederholte Blutungen eintraten, und welche von 
Nosocomialgangrän, von der weitere Fälle in der Anstalt bis dabin nicht vor¬ 
gekommen waren und auch später nicht vorkamen, befallen wird. Ich wendete 
sofort ausgedehnte, energische Cauterisation der ganzen Wundhöhle mit Glüh¬ 
eisen an. Die Wunde reinigte sich nun rasch und war an der Radialseite bis 
Ende September vollständig vernarbt. Der Verschluss der Ulnarwunde erfolgte 
erst Anfang November, nachdem von der Sägefläche der Ulna ein ringförmiger 
Sequester losgestossen war. 

Als Patient am 12. November die Anstalt verliess, vermochte er die Finger 
activ zu beugen und zu strecken. Die passive Beweglichkeit im Handgelenk ist 
frei, die active nur in geringem Grade vorhanden. Bei horizontal gehaltenem 
Arm hängt die Hand etwas nach der Volarseite herab und kann activ nicht 
vollständig gestreckt werden. Sensibilität der Hand und Finger normal. 

Hitte Januar 1S70 Hess Matika, welcher in Geschäften nach Berlin gekom¬ 
men war, auf meinen Rath sich in das Klinikum wieder aufnehmen. Er hatte 
Bewegungen der Hand und Finger fleissig geübt, dieselbe sogar bei leichteren 
Arbeiten gebraucht, die vollständige active Streckung der Hand war indessen 
noch nicht möglich und die Vorderarmmuskeln relativ schwach. Es wurden nun 
tägliche passive Bewegungen im Handgelenk angestellt, und der Inductionsstrom 
angewendet. 

Am 2. Februar 1871 stellte ich U. in der Berliner med. Gesellschaft vor 
(Verhandlungen der Berliner med. Gesellschaft. 1870. 8. S. 86). Die active Be¬ 
weglichkeit der Finger ist vollständig. Patieut vermag dieselben vollständig zu 
strecken und zu beugen. Die active Beugung der Hand ist beinahe, die 
Streckung der Hand noch nicht ganz vollständig. Die Hand ist bereits sehr 
brauchbar und kräftig geworden. Er wickelt die von seinem Arm abgenommene 
Flanellbinde (welche er seit November 1869 ohne Grund noch immer trägt) 
selbst wieder auf, schreibt mit der rechten Hand, bebt einen Stuhl vom Boden 
auf und hält ihn eine Zeitlang schwebend etc. 

Im Sommer 1870 stellte M. sich hier wieder vor. Der Arm war bedeutend 
kräftiger, und die Hand brauchbarer geworden. M. versichert seine rechte Hand 
fast so gut, wie vor ihrer Erkrankung bei seinen Scblosserarbeiten gebrauchen 
zu können. Die drei auf Taf. IX wiedergegebenen Photographien, welche um 
diese Zeit aufgenommen wurden, stellen die Hand in denselben Verrichtungen 
dar, welche M. bei seiner Vorstellung in der med. Gesellschaft ausgeführt hatte. 


IV. Die Resection des Fussgelenks. 

Die Resection des Fassgelenks ist erst vor wenigen Jahren 
in die Kriegschirargie eingefübrt, und man darf nicht behaupten, 
dass sie in derseben das Bürgerrecht schon erworben habe. Es 
sind vielmehr gewichtige Stimmen gegen diese Resection laut 
geworden, und auch die Erfolge des letzten Krieges sind im 


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480 


B. v. Lanpcnbock, 


Ganzen wenig geeignet, die Zahl ihrer Anhänger zu vermehren. 
Stromeyer hat sowohl nach dem Kriege von 1866 (Erfahrun¬ 
gen über Schusswunden im Jahre 1866. Hannover 1867. 8.), wie 
nach dem letzten Kriege (Notizen und Erinnerungen eines Am¬ 
bulanz-Chirurgen von W. Mac Cormac, aus dem Englischen 
übersetzt und mit Bemerkungen versehen von Dr. L. Stro- 
meyer. Hannover 1871. 8. S. 168) über die Fussgelenkresection 
das Verdammungsurtheil ausgesprochen. Ich habe bereits bei 
einer anderen Gelegenheit (Ueber die Schussfracturen der Gelenke 
und ihre Behandlung. Berlin 1868. 8. S. 43) hervorgehoben, dass 
es mir inconsequent erscheine, wenn Stromeyer bei Schuss¬ 
verletzungen des Schulter- und Ellenbogengelenks, unter 
Verwerfung der conservirenden Behandlung, stets die primäre 
Resection verlange (Maximen der Kriegsheilkunde. Hannover 
1861. S. 487—494), bei den von allen Chirurgen als weit gefähr¬ 
licher angesehenen Fussgelenkschüssen dagegen die Resection 
verwerfe. In den Bemerkungen zu Mac Cormac’s Schrift, 
wie in seinen Erfahrungen aus dem Jahre 1866 lässt Stro¬ 
meyer zwischen den Zeilen lesen, dass die Fälle, in welchen ich 
das Fussgelenk resecire, durch conservirende Behandlung 
geheilt werden könnten, während ich doch bereits in meiner 
ersten Mittheilung (Ueber Resection des Fussgelenks bei Schuss¬ 
fracturen, Berliner klin. Wochenschrift 1865. Nr. 4) ausdrücklich 
es betont habe, dass die conservirende Behandlung bei Schuss¬ 
verletzungen des Tibio - Tarsalgelenks in grösster Ausdehnung 
Anwendung finden müsse, und dass selbst „Schüsse, welche 
quer durch dieMalleolen und den Talus gegangen sind 
und diese Knochen fracturirt haben, unter zweckmässiger Be¬ 
handlung, durch rechtzeitige Incisionen und Extraction der Kno¬ 
chensplitter geheilt werden können“. Der Verwundete (Tambour 
Werkmeister), bei welchem ich die erste Fussgelenkresection im 
Felde am 1. Mai 1864 mit Herrn Stabsarzt Dr. Baum ausführte, 
sollte an demselben Tage im oberen Dritttheil des Unterschenkels 
amputirt werden, als ich von dem Höchstcommandirenden den 
Befehl erhielt, nachzusehen, ob es nicht möglich sei, dem jungen 
Mann, der bei Erstürmung der Düppeler Schanzen durch Tapfer¬ 
keit sich ausgezeichnet hatte, das Bein zu erhalten. Ebenso darf 
ich in Bezug auf alle weiteren, in diesem wie in den beiden spä- 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectioneu iin Kriege. 


481 


teren Kriegen von mir ausgeführte Fussgelenkresectionen auf das 
Zeugniss der Aerzte, welche den Operationen beigewohnt haben, 
mich berufen, dass ich nur in solchen Fällen resecirt habe, wo 
die Amputation des Unterschenkels unvermeidlich und durch Vi- 
talindication geboten erschien. 

Eben so wenig gerechtfertigt ist es, wenn Stromeyer (Be¬ 
merkungen zu Mac Cormac S. 170) mir die Absicht unterschiebt, 
durch die Resection bewegliche Fussgelenke zu erzielen. 
Ich habe einen solchen Versuch niemals gemacht, sondern, wie 
die 1868 (Ueber die Schussfracturen der Gelenke etc. S. 46. 
Tab. IV.) gegebene Zusammenstellung meiner Fussgelenkresec¬ 
tionen nachweist, in allen Fällen rechtwinklige Ankylose zu 
erzielen gesucht und erzielt und dort S. 50 und 51 nur 
angegeben, dass ich in einer Reihe von conservativ behan¬ 
delten Schussfracturen des Tibio-Tarsalgclenks die Heilung 
mit Erhaltung der Beweglichkeit beobachtet habe. 

In Betreff der Schussfracturen des Tibio-Tarsalgelenks befinde 
ich mich noch heute ganz auf demselben Standpunkt wie damals, 
indem ich meine, dass die conservirende Behandlung bei denselben in 
grösster Ausdehnung angewendet werden kann, dass aber in einer 
nicht kleinen Reihe von schweren Verletzungen die Resection an die 
Stelle der Unterschenkel-Amputation treten muss. Ich brauche 
wohl kaum hervorzuheben, dass die definitive Entscheidung dieser 
Frage von der höchsten Bedeutung ist, und dass dieselbe von allen 
* Seiten vorurteilsfrei discutirt werden sollte. Stromeyer meint, 
die Amputation werde nicht immer zu vermeiden sein, weil „wo 
Brand und Septicämie uns drohend gegenüberständensubperiostal 
nicht resecirt werden könne (Mac Cormac S. 160). Dass die 
Amputation nicht ganz zu vermeiden sein wird, davon sind wohl 
alle Chirurgen überzeugt. Was den nachfolgenden Satz aubetrifft, 
so ist er mir unverständlich geblieben, weil ich nicht verstehe, 
wie drohender Brand oder Septicämie die Ausführung einer sub¬ 
periostalen Fussgelenkresection unmöglich machen sollte, 
wenn ich auch zugestehe, dass man unter solchen Aussichten nicht 
gern reseciren wird. 

•Was die geschichtliche Entwicklung der Operation anbetrifft, 
so will Neudörfer (Handb. der Kriegschir. Bd. 2. Leipzig 1872. 

v. Langenbeck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 3]^ 


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482 


B. v. Laugenbeck, 


8. S. 1718) die zahlreichen Resectionen der bei complicirter Luxa¬ 
tion im Spranggeleok durch die Haut hervorgetretenen Malleoli, 
welche besonders durch Sir Astley Cooper (Treatise on Dislo¬ 
cations and Fractures of the Joints. London 1842. 8. p. 285) so 
warm empfohlen und mit so glänzendem Erfolg ausgeführt wor¬ 
den sind, ohne Weiteres den Resectionen des Tibio-Tarsalgelenks 
beigezählt wissen, und er verlegt die. erste dieser Operationen in 
das Jahr 1758. Neudörfer meint, dieselben hätten in Deutsch¬ 
land keine Anhänger gefunden, mich allein und ihn selbst aus¬ 
genommen, indem er diese Operation mehr als ein Viertelhundertr 
mal ausgefuhrt habe. Ich glaube nicht, dass es zulässig ist, die 
Abtragung der durch die Haut hervorgetretenen Malleoli, die in 
Deutschland so gut wie in England, von mir aber noch niemals 
gemacht worden ist, als methodische Gelenkresection hinzu¬ 
stellen, wenn sie schliesslich auch manchmal dasselbe geleistet 
haben mag. Um gerecht zu sein, hätte'Neudörfer dann Cel- 
sus den Vater der Resectionen nennen müssen, weil w f ir bei ihm 
bereits angegeben finden, man solle die lnxirten und durch die 
Haut hervorgetretenen Gelenkenden absägen: „ideo quod ex- 
cedit, abscindendum est.“ Methodische Gelenkresectionen 
wurden vor 1768 (Charles White) überhaupt nicht und erst 
1792 von Moreau wegen Caries am Fussgelenk ausgeführt. 
Methodische Gelenkresectionen des Schulter- und Ellenbogenge¬ 
lenks wegen Schuss Verletzungen sind zuerst im Jahre 1848 
von mir gemacht worden, denn die Larrey dem Vater mehrfach 
zugeschriebenen, angeblich in dem Feldzuge in Egypten ausge¬ 
führten Resectionen des Oberarmkopfes waren, wie Longmore 
(Statistical Sanitary and Medical Reports Vol. V. for the year 
1863. London 1865. S. 561) richtig hervorhebt, nur Extractionen 
von Knochensplittern oder des ganz abgetrennten Humeruskopfes, 
und Larrey selbst sagt (Campagne d’Egypte, Memoires Tome II. 
p. 172): „Mais je n’ai point ä m’occuper de la rösection de la 
tete de l’humerus, que je n’ai pas eu occasion de pratiquer.“ 
Ebenso habe ich in Bezug auf die Resection des Tibio-Tarsalge¬ 
lenks bereits früher (Ueber Resection des Fussgelenks bei Schuss- 
fracturen, Berliner klin. Wochenschr. 1865. Nr. 4) nachgewiesen, 
dass dieselbe vor 1864 niemals gemacht worden ist, und dass 
die Angabe Velpeau's (Med. opdrat. edit. 2. T. II. pag. 739), 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 483 

Read habe nach der Schlacht bei Fontenoi wegen einer Schuss¬ 
verletzung des Fussgelenks die unteren Enden der Tibia und 
Fibula abgesägt, Fragmente des Talus entfernt und dadurch einen 
brauchbaren Fuss erhalten, auf einem Irrthum beruhe. Demohn- 
geachtet wird diese nach der Schlacht von Fontenoi (11. Mai 
1745) von Read ausgeführte, so vielfach citirte und von 0. Hey¬ 
felder (Operationslehre und Statistik der Resectionen. Wien 1861. 
8. S. 152) sogar in das Jahr 1819 verlegte Operation, welche 
in nichts Anderem als ausgedehnter Splitterextraction aus dem 
durch eine Kanonenkugel zerschmetterten Fussgelenk bestand, 
noch jetzt bisweilen als Totalresection des Fussgelenks angeführt. 
Die Verletzung selbst, welche Read zu der fraglichen Operation 
veranlasste, gleicht so vollkommen der Zerschmetterung des Fuss¬ 
gelenks, bei welcher ich vor Metz die ausgedehnte Resection aus¬ 
führte (8. oben S. 346. Nr. 2. Taf. XIII), und redet ausserdem 
der conservirenden Behandlung so entschieden das Wort, dass 
ich die von Faure gegebene Schilderung, welche ich meinem ge¬ 
lehrten Freunde Gurlt verdanke, hier wiedergeben zu müssen 
glaube. 

Faure erzählt in seiner Abhandlung für den Preis des Jahres 1756, be¬ 
titelt: , L’amputation etant absolument necessaire dans les plaies compliquees 
de fracas des os, et principalement celles qui sont faites par armes ä feu, de- 
terminer les cas oü il faut faire l’operation sur le champ, et ceux oü il con- 
vient de la diff^rer etc.“ (Prix de l’Academie roy. de Chirurgie. Edit. in 4to. 
T. III. 1759. p. 513. obs. 2. Ausgabe in 8vo. T. VIII. 1759. p. 50. obs. 2. 
Neue Ausgabe in 8vo. 1819. T. III. p. 352. obs. 2), diese Operation wie folgt: 
„Le nomme Charles d’Amiens, soldat de la compagnie de Guverduc au Regi¬ 
ment de Beauvoisis fut frappe par un boulet de canon ii la meme alTaire 
(Schlacht bei Fontenoi)', qui lui emporta toute la partie inferieure du perone; 
le fracas fut meme si eonsiderable que le corps du tibia et une partie de son 
extremite inferieure etaient en pieces; l’astragal se trouva leze de meme que les 
ligamens, les tendons et la membrane capsulaire. L’impression de cette plaie 
ne presentait qu’un fracas de presque toutcs les parties de l’articulation, de 
teile sorte que le pied etait renverse vers la partie laterale interne de la jambe, 
et semblait etre detache de son articulation. Le premier objet de M. Read fut 
de proceder sur le champ ii l’amputation, mais les instances du blesse, aucun 
accident pressant ne s’etant encore manifeste, suspendirent l’operation. On 
s’appliqua des-alors k tirer les portions d'os detachees au moyen des incisions 
indiquees; le tiers du perone fut enleve, ainsi que plusieurs pieces de la partie 
inferieure du tibia, et quelques fragmens de l'astragal; on pansa la plaie, les 
parties furent mises en Situation, et maintenues par un appareil convenable, qui 

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484 


B. v. Langenbeck, 


resta quatre jours sans etre leve. Le blesse fut saigne ;buit fois dans les Pre¬ 
miers jours, des boissons adoucissantes, une diete rigoureuse furent presentes: 
on avait attention de fomeuter souvent la partie lezee avec la lessive de cendres 
de sarment, dans laquelle on ajoutait un peu d’eau de vie. II ne survint 
aucun accident fächeux pendant tout le cours de )a eure, qui s’obtint au bout 
de quatre mois. Le Soldat est sorti de l’bopital de Valenciennes pour aller aux 
Invalides, marebant sans canne ni bäton. La partie du perone, qui fut 
detruite, ne s’est point regenerce; le suc osseux qui s'est epanche, a forme une 
eapecc de croüte, qui s’est unie au tibia; et le tout ne faisait qu’un seul os.“ 
(Read diente, nach Dezeimeris, Dictionnaire histerique de la medecine an- 
cienne et moderne. T. III. 1836. p. 789, einige Zeit in der Armee und wurde 
ungefähr 1765 Arzt des Hospitals zu Uetz.) 

Während des Amerikanischen Krieges scheint die methodi¬ 
sche Resection des Sprunggelenks nicht zur Anwendung gekommen, 
die fraglichen Operationen vielmehr späte Splitterextractionen und 
Nekrosenoperationen gewesen zu sein. In den Amerikanischen 
officiellen Reports (Circular Nr. G. Philadelphia 1866. 4. S. 57) 
wird zwar angeführt, dass unter 22 bei Fussgelenkschüssen vor¬ 
genommenen Operationen 8 Resectionen des Tibio-Tarsalgelenks 
sich befunden hätten, der Verfasser giebt indessen seinem Zweifel 
dadurch Ausdruck, dass er binzufügt: „they seem to have been 
formal resections,“ und die Angabe, dass Meissei und Knochen- 
scheere bei Ausführung derselben verwendet wurden, macht es in 
der That unwahrscheinlich, dass diese Operationen, über welche 
leider alle weiteren Angaben fehlen, wirkliche Resectionen des 
Sprunggelenks gewesen sind. 

Auf die während des Böhmischen Krieges 1866 und die im 
Deutsch-Französischen Kriege 1870/71 ausgeführten Resectionen 
werde ich weiter unten zurückkommen. 

Die traurigen Erfahrungen über den Verlauf der complicirten 
Luxationen und Fracturen des Fussgelenks, welche die Friedens¬ 
praxis zu allen Zeiten gemacht hatte, konnten auf die Beurthei- 
lung der Schussverletzungen dieses Gelenkes nicht ohne Einfluss 
bleiben, und wir sehen in der That, dass die Feldchirurgen aller 
Zeiten dieselben den gefährlichsten Schussverletzungen beizählen, 
sie, wie z. B. Hennen und Thomson, sogar in eine Kate¬ 
gorie mit den Schussverletzungen des Kniegelenkes stellen und 
die sofortige Amputation dabei ausgeführc wissen wollen. B i 11- 
roth berechnet die Mortalität der Fussgelenkschüsse, die Behänd- 


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CJeber die Endresultate der Gelenkresectionen im. Kriege. 


485 


lang möge gewesen sein, welche sie wolle, auf 34 pCt.-, So ein 
nach eigener Statistik auf 38 pCt. Ich glaube, dass diese Be¬ 
rechnung so ziemlich' zutreffend sein wird. Bis wir aber über 
eine umfassendere Statistik verfügen, wird jeder Arzt wohl nach 
dem eigenen Gesichtskreise die Sache beurtheilen, was denn be¬ 
greiflicher Weise zu Trugschlüssen führen muss. Die Mortalität 
der Fussgelenkschüsse wird, bei exspectativer wie bei operativer 
Behandlung, eine sehr verschieden hohe sein, je nach der Schwere 
der Verletzung und nach den äusseren Verhältnissen, in welchen 
die Verwundeten sich befanden. Eine schwere Schussfractur des 
Fussgelenks, welche keinem Transport ausgesetzt ist und sofort 
immobilisirt wird, bietet weit günstigere Chancen als eine leichte, 
welche ohne jede Lagerung in weit entfernte Lazarethe transpor- 
tirt wird. Biefel (Archiv' für klin. Chirurgie. Bd. XI. S. 102) 
hatte im Reservelazareth zu Landshut im Jahre 1866 unter seinen 
aus Böhmen dorthin transportirten 5 Schussverletzungen des Fuss¬ 
gelenks 3 Todesfälle, weil die Verwundeten nach 4—9 tägigem 
Transport zum Tbeil ohne Verband und mit Schüttelfrost bei ihm 
anlangten. H. Fischer (a. a. 0. S. 210) verlor von 10 Fuss- 
gelenkschüssen 5, Schi'nzinger von 10 nur 2, und Lücke end¬ 
lich von 8 nur einen Verwundeten. Noch günstiger stellte sich 
das Mortalitätsverhältniss bei Beck, welcher von 60 Fussgelenk- 
schüssen nur 11 verlor. Von diesen wurden 42 conservativ be¬ 
handelt mit 8 Todesfällen, 3 primär und 4 secundär Resecirte 
sämmtlich geheilt. Ich habe diese Zahlen nur angeführt, um zu 
zeigen, dass es nicht zulässig ist, das Fussgelenk ohne Weiteres 
für weniger vulnerabel als die anderen grossen Gelenke zu er¬ 
klären, wie Neudörfer es gethan hat (a. a. 0. S. 1598), und 
dass die Gefahr der Fussgelenkschüsse sowohl durch die Art und 
Ausdehnung der Verletzung wie durch die äusseren Verhältnisse 
wesentlich mit bestimmt ist. Ich will hier nur beiläufig erwähnen, 
dass ich die ausgedehnten Verwundungen der Tarsalgelenke, wie 
sie zu entstehen pflegen, wenn das Geschoss den Tatsus in querer 
oder longitudineller Richtung durchbohrt, für weit gefährlicher 
halte, als z. B. die Schussfracturen des Sprunggelenks. Es ist 
schwer, den zahlreichen Gelenken, besonders an der Plantarfläche 
mit Incisionen beizukommen, und die Eiter-Senkungen und Ver¬ 
haltungen in der letzteren Richtung werden leicht verderblich. 

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48t; 


B. v. Landen heck 


Die beiden Schlachttage vor Orleans haben uns eine Reihe solcher 
Verwundungen geliefert, welche, weil die meisten Verwundeten 
bei einer Kälte von G—8 0 die Nacht auf freiem Felde zubringen 
mussten und mit halberfrorenen Füssen in die Lazarethe gelang¬ 
ten, zum grössten Theil durch Septicämie tödtlich verliefen. Auch 
Socin hat ähnliche Erfahrungen gemacht, indem er von 8 Schuss¬ 
verletzungen des Tarsus 4 tödtlich verlaufen sah. Eine Zusam¬ 
menstellung dieser Verletzungen dürfte ergeben, dass es, bei 
ungünstigen äusseren Verhältnissen wenigstens, rathsam sein wird, 
sofort zu amputiren. Dass unter günstigen Umständen dagegen 
ausgedehnte Verwundungen des Tibio-Tarsalgelenks und der Tar¬ 
salgelenke durch Resection oder conservirende ßehandlung geheilt 
werden können, zeigen die von Read und mir (S. 34G. Nr. 2. 
Taf. XIII) mitgetheilten Fälle. 

Ich habe bereits 1865 und 1868 es besonders hervorgehoben, 
dass die exspectati v-conservirende Behandlung bei den 
Schussverletzungen des Tibio-Tarsalgelenks in grösster Ausdeh¬ 
nung Anwendung finden könne, weil dieses Gelenk für die in 
Frage kommende chirurgische Behandlung: vollständige Immobi- 
lisirung in rechtwinkliger Stellung des Fusses, Incisionen und 
Splitterextraction, besonders zugänglich ist. Die Knochentheile 
des Gelenks liegen so oberflächlich und sind von vorn 
wie von beiden Seiten und von hinten, neben der Achilles¬ 
sehne, so leicht zu erreichen, dass die letztgenannten Opera¬ 
tionen selten auf erhebliche Schwierigkeiten stossen werden, 
um so weniger, als eine ängstliche Schonung der Sehnen und 
Sehnenscheiden hier weit weniger in Frage kommt, wie beim 
Handgelenk. Während bei diesem die Herstellung einer activ 
beweglichen Hand das vorgesteckte Ziel sein muss, hat 
der Chirurg am Fussgelenk die Aufgabe, ein solides, wenn¬ 
gleich unbewegliches Gelenk zu erhalten. Lediglich Stütze und 
Fortbewegungsorgan des Körpers, bedarf der Fass nur einer so¬ 
liden Anfügung an die Unterschenkelknochen, einer richtig ge¬ 
stellten Sohlenfläche als Angriffspunkt für den Erdboden und 
beweglicher Zehen, um den Fuss vom Boden abzuwickeln und den 
Körper vorwärts zu schieben. Die Function eines rechtwinkelig 
ankylosirten Fusses ist allerdings keine ganz vollkommene, für 
die meisten Lebensverhältnisse aber vollkommen ausreichend. Der 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


487 


im Tibio-Tarsalgelenk Ankylotische geht z. B. sehr viel besser, 
als der mit Plattfass mässigen Grades Behaftete. Schon Sir 
Astley Cooper hat hervorgehoben, dass man bei dem gewöhn¬ 
lichen ruhigen Gang es nicht wahrnehmen könne, dass ein Fass 
ankylotisch sei, weil für die fehlende Beweglichkeit im Sprung¬ 
gelenk die Tarsalgelenke eintreten. In der That ist der Gang 
eines mit rechtwinkeliger Ankylose im Sprunggelenk Resecirten 
nicht weniger elastisch als der eines gesunden, und man sieht 
ein leichtes Schleppen des Beins nur dann, wenn er sich unbe¬ 
achtet glaubt und nachlässig geht. Den vollkommensten Gang 
zeigt der erste Resecirte aus dem Jahre 1864 (Werkmeister Nr. 
44), welcher das ganze Fussgelenk, und der 1870 in Gorze 
Resecirte (S. 346. Nr. 2. Berkhauer), welcher den Malleolus ex- 
ternus, den ganzen Talus, obere Hälfte des Calcaneus und Os 
cuboides verloren hat. Der erstere dient als Königlicher Lakai 
und muss bei festlichen Gelegenheiten in Schuhen und seidenen 
Strümpfen auf glattem Parket sich bewegen. Es versteht sich 
von selbst, dass sein Gang nicht fehlerhaft sein und kein Gebre¬ 
chen zur Schau tragen darf. 

Ich habe beide Resecirte zu wiederholten Malen in der Klinik 
vorgestellt und gehen lassen, und keiner meiner klinischen Zu¬ 
hörer hat jemals anzugeben vermocht, welcher Fuss der leidende 
gewesen war. 

Weit mangelhafter ist der Gang, wenn der Fuss des mit 
Ankylose Geheilten nicht vollkommen rechtwinklig steht oder gar 
in Pronation oder Supination gestellt ist. Ein kaurfl wahrnehm¬ 
bares Ausweichen des Fusses in Plantarflexion und in einen of¬ 
fenen Winkel hat schon zur Folge, dass der Ankylotische bei 
raschem Gehen leicht mit der Fussspitze anstösst. Der Resecirte 
(Nr. 46. Taf. X), dessen Fass in einer etwas grösseren Photo¬ 
graphie wiedergegeben ist, um die guten Form Verhältnisse zu 
zeigen, stand in einem leicht offenen Winkel, und man erkannte 
beim Gehen sofort, dass am Bein etwas fehle. Um nicht mit der 
Fussspitze anzustossen, muss er beim Gehen das Bein etwas in 
Abduction stellen, und sein Gang ist ähnlich wie bei einem mit 
Coxitis und scheinbarer Verlängerung der Extremität Behafteten. 
Sehr unvollkommen ist der Gang, und das Glied sogar hinder¬ 
lich, wenn der mit Ankylose geheilte Fuss in mehr oder weniger 

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488 


B. v. Langenbeck, 


starker Rotation um seine Längsaxe, in Pronation oder 
Supination steht. Die in Nr. 50. geschilderte Resection des 
Malleolus externus und Talus ist lediglich dadurch nothwendig 
geworden, dass der nach einer geheilten Fractur des ersteren 
Knochens in leichter Supination gestellte Fuss nur mit dem äus¬ 
seren Fussrande auftrat und zu längerem Gehen untauglich war. 

Die conservirende Behandlung wie die Nachbehandlung der 
im Fussgelenk Resecirten muss also ihr Augenmerk zugleich 
darauf richten, dass der Fuss bis zur vollendeten Heilung die 
richtige Stellung niemals verlasse, und vor Allem von dem rech¬ 
ten Winkel niemals abweiche, und man sollte ein Winkelmaass 
gebrauchen, um leichte Deviationen zu erkennen, wenn man der 
Schärfe seines Auges nicht trauen zu können glaubt. Die Inva- 
lidenbericbte zeigen zur Genüge, dass die bereits von Celsus 
(Curationes propriae articulorum) gegebene Vorschrift: „Collo- 
cari quoque membrum quod ictum est, ratione certa debet; sin 
in inflammatione est, ut in neutram partem inclinatum sit“, 
an deren Vervollkommnung die neue Chirurgie so rastlos gear¬ 
beitet hat, noch immer nicht in ihrer ganzen Bedeutung zum 
Bewusstsein gelangt ist. Die durch conservirende Behandlung 
mit Ankylose im Sprunggelenk geheilten Invaliden sind mit we¬ 
nigen Ausnahmen auf den Gebrauch der Krücken angewiesen, 
weil sie entweder nur mit der Ferse oder mit der Fussspitze 
auftreten konnten, oder der mit Rotation nach einwärts oder 
nach auswärts ankylosirte Fuss ein Auftreten überall nicht 
gestattete, weil die heftigsten Schmerzen dann sofort eintraten. 
Ich habe bereits oben hervorgehoben, wie mühevoll die Behand¬ 
lung einer Schussfractur des Sprunggelenks oder einer Fuss- 
gelenkresection in der Regel ist, erkenne es auch vollkommen 
an, dass der Transport von einem Lazareth in das andere, und 
endlich der Umstand, dass auch diese Verwundeten nach Hei¬ 
lung der Wunde in der Regel sich jeder ärztlichen Aufsicht zu 
entziehen suchen, die Hauptursache jener Misserfolge ist; aber 
ich habe auch viele Fussgelenkschüsse gesehen, bei denen die 
Immobilisirung des Gelenkes gar nicht berücksichtigt, und dem 
Fuss gestattet war, die fehlerhafteste Stellung anzunehmen. 

Die Frage, in welchen Fällen die exspectativ-conservirende 
Behandlung einzuscblagen und in welchen anderen Resection oder 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


489 


Amputation in Anssicht zn nehmen sei, kann meiner Ansicht 
allgemein gar nicht beantwortet werden. Ich halte es sogar für 
gefährlich, in dieser Beziehung Vorschriften zu formnliren, wie 
z. B. „Eine Schnssfractnr des Sprunggelenks, bei wel¬ 
cher alle drei Knochen verletzt sind, erheischt die 
primäre Amputation“, weil der junge Feldarzt, welcher den 
ersten Verwundeten sieht, leicht die Verpflichtung fühlen könnte, 
nach diesem Dogma zu handeln. Auch kann ich versichern, in 
drei Fällen von Schussverletzung aller drei Knochen, wo es mir 
möglich war, wenige Stunden nach der Verwundung den Gyps- 
verband anzulegen, die Heilung mit Ankylose und vollständiger 
Gebrauchsfähigkeit des Fusses erreicht zu haben. Ein Rath, den 
ich aber geben möchte, ist, bei Zertrümmerung des Fuss- 
gelenks durch Geschosse schweren Calibers exspec- 
tativ zu verfahren, und nicht etwa primär zu reseci- 
ren, sondern unter sorgfältiger Immobilisirung des Gelenkes und 
offener Wundbehandlung die rechtzeitige secundäre Resection 
in Aussicht zu nehmen. 

Die Zertrümmerung des Hüft- und Kniegelenks mit 
ausgedehnter Abreissung der Weichtheile indicirt, meiner Erfahrung 
nach, die primäre Amputation oder Resection. Alle derarti¬ 
gen Schussverletzungen des Kuiegelenks, welche ich gesehen habe, 
sind tödtlich verlaufen, wenn die primäre Amputation verweigert 
und secundär amputirt oder resecirt wurde. Die wenigen in 
diese Kategorie gehörigen Hüftgelenkschüsse gingen bei inter¬ 
mediärer Amputation oder Resection'alle zu Grunde. Ganz anders 
gestaltet sich aber die Prognose bei ausgedehnten Zerreissungen 
des Schultergelenks, wie ich oben S. 382. Nr. 14 (Taf. IV) gezeigt 
habe, des Ellenbogengelenks, sobald die Streckseite des Gelenks 
fortgerissen ist, so wie bei Zermalmungen der Hand und des 
Fussgelenkes. Drei Verwundungen des Fussgelenks durch Gra¬ 
natsplitter, bei deren Behandlung ich den oben hingestellten 
Grundsatz befolgte und dann zur secundären Resection gezwungen 
wurde, sind geheilt worden mit der vollkommensten Gebrauchs¬ 
fähigkeit des Fusses. Die exspectative Behandlung ist hier 
zunächst geboten, weil es unmittelbar nach der Verwundung sich 
niemals bemessen lässt, wie bedeutend die erschütternde und 
quetschende Einwirkung des Geschosses auf die ganze Extremität 

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490 


B. v. Langenbeck, 


gewesen sein mag. Man würde durch Ausführung der primären 
Resection Gefahr laufen, in Theilen operirfc zu haben, welchen 
Nekrose in Folge der Verletzung bevorsteht, und man hat bei 
der secundären Resection ein weit sichereres Urtheil über den Zu¬ 
stand der Enochentheile des Gelenkes, welche erhalten werden 
können. 

Die einfachen Kapselwunden und die im letzten Kriege 
häufig vorgekommenen Lochschüsse der Knöchel oder des 
Talus allein müssen von vorn herein als für die conservirende 
Behandlung in Anspruch genommen werden. Aber selbst wenn 
beide Knöchel abgeschossen und der Talus zerbrochen war, habe 
ich, nachdem mehrere Knochensplitter durch Eiterung ausge- 
stossen oder extrahirt worden, die Heilung mit Ankylose und 
vollständiger Erhaltung der Function erfolgen sehen. 

Je früher nach der Verwundung man den Gypsverband an- 
legen kann, um so milder wird der Verlauf sein. Ich habe zwei 
Fälle gesehen, wo die kleinen Schussöffnungen so gut wie per 
primam heilten, und Fieber, wie bei den subcutanen Fracturen 
der Friedenspraxis, gar nicht eintrat. In einem Fall von schwerer 
Schussfractur beider Knöchel und des Talus mit bedeutender 
Dislocation des Fusses konnte der gefensterte Gypsverband, den 
ich wenige Stunden nach der Verwundung unter genauester Re¬ 
position der Fragmente angelegt hatte, drei Wochen lang liegen 
bleiben. Bei der nun vorgenommenen Erneuerung des Gypsver- 
bandes fand ich die Fractur geheilt, dann aber bildeten sich unter 
heftigen Schmerzen Abscesse an der Innenfläche des Talus, von 
welchem feine Knochensplitter in Menge ausgestossen wurden. 
Die Heilung erfolgte nach Ablauf von G Wochen, und der nun 
entfernte Gypsverband zeigte ein ankylotisches Fussgelenk. Der 
Fuss lässt keine Verkürzung wahrnehmen, und die Gebfähigkeit 
ist vollkommen. 

Wie bei der conservirenden Behandlung der anderen Gelenk¬ 
schüsse, so sind die rechtzeitigen Incisionen in das Gelenk zur 
Entspannung wie zur Entleerung der Wundsecrete von 
grösster Bedeutung. Für die Ausführung derselben sind Fieber 
und Schmerzen weit dringendere Indicationen als Anschwellung 
und Fluctuation ohne jene Erscheinungen. Die Festigkeit und 
geringe Nachgiebigkeit der starken Bänder, welche das Sprung- 


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Ueber die Endresultate der Gelcnkrcseetioneu im Kriege. 


491 


gelenk, besonders an beiden Seiten und vorn umgeben, verhindert 
eine palpable Ausdehnung der Gelenkkapsel durch acute Ergösse; 
um so heftiger aber pflegen die Schmerzen zu sein, und das 
gleichzeitig acut aufgetretene Oedem im Bereich des Gelenkes 
deutet gebieterisch auf die Notbwendigkeit der Incisionen hin. 

Wo diese Incisionen gemacht werden sollen, lässt sich all¬ 
gemein nicht bestimmen. Fallen dieselben hinter Malleolus in¬ 
ternus, so ist sowohl die Sehnenscheide des M. tibialis postic., 
wie auch Art. tibialis postic. zu schonen. Bei den Schussver¬ 
letzungen des Tains empfehlen sich dringend die Incisionen 
an der vorderen Seite des Gelenks. Wenn es erforderlich sein 
sollte, etwa zur Extraction von Knochensplittern oder des im 
Talus steckenden Geschosses grössere Incisionen zu machen, so 
kann man hier das Sprunggelenk in grosser Ausdehnung frei 
legen und für Finger und Instrumente zugänglich machen, ohne 
dass Nebenverletzungen zu furchten sind. Ich führe den Haut¬ 
schnitt hart an der Innenseite der Strecksehne der zweiten Fuss- 
zehe und dringe, nöthigen Falls mit Durchschneidnng des Liga¬ 
mentum cruciatum unter sorgfältiger Dissection in das Sprung¬ 
gelenk ein. Man Jäuft nicht Gefahr, Art. tibialis antic. und Nerv, 
peroneus, welche beide weiter einwärts, hart an der Aussenseite 
des Extensor hallucis liegen, zu verletzen, und es lassen sich 
Talussplitter durch die grosse Incision auffallend leicht und scho¬ 
nend berausfördern. Ja mau kann, wenn es nothwendig sein 
sollte, diesen Schnitt zum Talo - Naviculargelenk berabföbren 
und den in seinen Gelenkverbindungen vereiterten Talus extra- 
hiren. 

Die Resection des Sprunggelenks hat meiner Ansicht nach 
die ebenso wichtige als leicht zu lösende Aufgabe, knöcherne 
Ankylose bei rechtwinkliger Stellung des Fusses her¬ 
beizuführen. Ich halte es für möglich, dass nach dieser Opera¬ 
tion ein gewisser Grad von Beweglichkeit erhalten werden könne, 
und habe dieses in zwei Fällen nach zwei partiellen Spätresec- 
tionen des Malleolus internus, welche ich wegen complicirter 
Fractur mit Luxation ausgeführt hatte, unter Wiederherstellung 
sehr vollkommener Gebrauchsfähigkeit des Fusses beobachtet. Nach¬ 
dem ich aber die Erfahrung gemacht hatte, dass rechtwinkelige 
Ankylose im Sprunggelenk die Gebrauchsfähigkeit des Gliedes so 

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B. v. Langenbeck, 


gut wie gar nicht beeinträchtigt, und der Fuss dabei fähig bleibt, 
die grössten Anstrengungen zu ertragen, habe ich durch lange 
und sorgfältige Immobilisirung des Gelenks stets dahin gestrebt, 
die Entstehung der Ankylose zu begünstigen, und passive Bewe¬ 
gungen niemals angestellt Da es sich bei den wegen Schuss¬ 
verletzungen unternommenen Resectionen manchmal um die Ent¬ 
fernung grosser Knochenstdcke handelt, und der Fuss vollständig 
unbrauchbar werden müsste, wenn Knochenreproduction ausbliebe, 
diese letztere aber durch Bewegung verhindert, durch Ruhe ge¬ 
fördert werden kann, so glaubte ich mit dem obigen Verfah¬ 
ren den sichereren Weg einzuschlagen. Die Entstehung eines 
Schlottergelenks am Fuss würde doch unter allen Umständen 
vollständige Unbrauchbarkeit bedeuten und die nachträgliche Am¬ 
putation unvermeidlich machen. Aber wenn auch kein Schlotter¬ 
gelenk entstehen sollte, so würde doch die Besorgniss nahe liegen, 
dass die Bandapparate nicht den Grad von Solidität wiedergewin¬ 
nen oder behalten könnten, welcher erforderlich ist, um eine solide 
Eörperstütze abzugeben. Es kommt ja nach Distorsionen des 
Fussgelenks und nach Fracturen der Knöchel so häufig vor, dass 
eine Schwäche im Sprunggelenk. zurückbleibt, welche das Tragen 
eines Schienenstiefels mit Verlegung des Stützpunktes für die 
Körperlast an den Condylus internus tibiae (unter das Kniegelenk) 
unvermeidlich macht. Als ich nach der ersten totalen Fussgelenk- 
resection im Jahre 1864 einen schlotternden leeren Beutel von 
Weichtheilen vor mir hatte, an welchem der Fuss hin und her 
baumelte, war ich nicht wenig betroffen und dachte nur, wann es 
wohl am besten sein werde, die Amputation zu machen. Ich hielt 
es für unvermeidlich, dass eine beträchtliche Verkürzung entstehen 
müsste mit einer Schlotterverbindnng, welche jeden Gebrauch des 
Gliedes ausschliessen würde. Die Erfahrung hat gezeigt, dass 
die Function der ankylosirten Füsse, die ich zum Theil nun schon 
eine Reihe von Jahren beobachte, gar nichts zu wünschen übrig 
lässt, und dass sie zu den grössten Anstrengungen befähigt sind, 
ohne dass Schwäche oder Schmerzen darnach jemals eingetreten 
wären. Meine Resecirten gehen, wie ich von der Mehrzahl der¬ 
selben versichern kann, mit gewöhnlichen Schuhen oder Stiefeln 
ohne Stutze und ohne Verstärkung der Sohle, weil die geringe 


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lieber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


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Verkürzung von 2—3 Ctm. durch Beckensenkung ausgeglichen 
wird, und ohne dass der Gang irgendwie mangelhaft erscheint. 

Nach diesen Erfahrungen muss es also unsere Aufgabe sein, 
nach Resection des Tibio-Tarsalgelenkes Ankylose zu erzielen 
und Verkürzung möglichst zu verhindern, und es fragt 
sich, wie die Operation am besten einzurichten sei, um beide Ziele 
sicher zu erreichen. 

Meine Erfahrungen zeigen, dass durch partielle wie durch 
totale Resection des Sprunggelenks dieselben vollkommenen Er¬ 
folge erreicht werden können. Sollten weitere Erfahrungen dieses 
bestätigen, so würde man sich veranlasst sehen müssen, in allen 
Fällen so wenig als möglich zu reseciren, weil nach partieller 
Resection die Nachbehandlung leichter ist, und namentlich Ver¬ 
kürzung sicherer vermieden werden kann, als nach Entfernung 
grosser Enochenenden oder aller 3 das Gelenk bildenden Knochen. 
Ein Malleolus, den man stehen lassen kann, ist für den Fnss von 
vornherein eine werthvolle Stütze, gewährt für die Anlegung 
der immobilisirenden Verbände oder Apparate immer eine grosse 
Erleichterung und bezeichnet mit grösserer Sicherheit die Länge, 
welche das Glied haben muss, als wenn die Weichtheile nach to¬ 
taler Resection allen Halt eingebüsst haben und gewissermassen 
einen leeren Beutel bilden. Ich habe bei der Fussgelenkresection 
bisher die folgenden Grundsätze befolgt, deren Prüfung ich meinen 
Fachgenossen an’s Herz lege: 

1. Bei Caries des Fussgelenks habe ich mit wenigen 
Ausnahmen stets beide Malleoli und die obere Gelenkfläche des 
Talus resecirt, oder, wenn letzterer tiefer erkrankt erschien, ihn 
mit Hohlmeissel oder scharfem Löffel nahezu ganz entfernt. 

2. Bei Schussfracturen beider Malleoli und des Talus mit 
ausgedehnter Splitterung dieser Knochen habe ich stets die Total- 
resection gemacht, von dem Letzteren aber meistens nur die obere 
Gelenkfläche abgesägt. 

3. Bei Schussfracturen des Malleolus internus 
allein habe ich nur das untere Ende der Tibia resecirt, die 
anderen beiden Knochen zurückgelassen (Nr. 45. 49). 

4. Bei Schussfractur der Fibula habe ich, mit einer Aus¬ 
nahme, stets den Malleolus extcrnus mit der oberen Ge- 


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494 


B. v. Langenbeck. 


. lenkfläche des Tains entfernt, wenngleich diese Letztere ge¬ 
sund war. 

5. Wenn alle 3 Knochen verletzt, der eine Malleolns aber 
durch das Geschoss nur einfach gebrochen, nicht in viele 
Fragmente zersplittert war, so habe ich diesen stets zurückge¬ 
lassen (Nr. 2. Taf. XIII). 

G. Bei ausgedehnter Schussfractur des Talus (mit darin¬ 
steckendem Geschoss) habe ich den ganzen Talus exstirpirt, die 
unverletzten Malleoli zurückgelassen. 

Da ich bei meinen traumatischen Fussgelenkresectionen von 
der Ueberzeugung geleitet wurde, dass rechtwinkelige Ankylose 
die meiste Bürgschaft für einen soliden, brauchbaren Fuss geben, 
und dass die Erreichung dieses Zieles durch grössere Verkürzung 
oder Scblotterverbindung am meisten gefährdet sein müsse, so 
musste ich zu partiellen Resectionen gedrängt werden, weil ich 
mir sagte, dass, je weniger Knochen man entferne, Ankylose um 
so sicherer erreicht, und Schlottergelenk um so sicherer vermieden 
werden könne. 

Es war aber zugleich eine andere wichtige Rücksicht zu 
nehmen, nämlich den Abfluss des Wnndsecrets zu si¬ 
chern, und aus diesem Grunde liess ich auf Resection der Fibula, 
wenn diese allein verletzt war, stets die Resection der oberen Ge¬ 
lenkfläche des Talus folgen, weil ich fürchtete, dass die genaue 
CharnierVerbindung des Tains mit der Tibia zur Verhaltung des 
Wnndsecrets in der inneren und hinteren Abtheilung der eitern¬ 
den Gelenkkapsel führen könnte. Nur in einem Fall, bei einer 
Schussfractur des Malleolus externus ohne weitere Verletzung der 
beiden anderen Gelenktheile, habe ich auf den Wunsch der assi- 
stirenden Collegen den Talus zurückgelassen. Der Operirte starb 
drei Wochen später an Pyaemie; der Gelenkkopf des Talus 
war nekrotisch geworden und in der Exfoliation begriffen, so dass 
er wahrscheinlich bald hätte extrahirt werden müssen. Wenn ich 
auch weit entfernt bin, den unglücklichen Verlauf der Erhaltung 
des Talus zuzuschreiben, denn die gefürchtete Verhaltung des 
Wnndsecrets in der vor der Operation durch Eiter sehr stark aus¬ 
gedehnten Gelenkkapsel hatte in der That nicht stattgefunden, so 
bin ich dadurch doch von weiteren Versuchen abgeschreckt wor¬ 
den. Sollten weitere Erfahrungen dennoch zeigen, dass die Er- 

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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


495 


haltung der Gelenkfläche des Talus von grosser Bedeutung ist, so 
würde man durch sofort angelegte grosse Einschnitte durch die 
Gelenkkapsel an der inneren oder hinteren (zu beiden Seiten der 
Achillessehne) Seite des Gelenks die Verhaltung des Wundsecrets 
verhindern müssen. 

Findet man bei Schussfractur des ganzen Gelenks den einen 
der verletzten Unterschenkelknochen nur einfach fractürirt, 
nicht zersplittert, so kann man ihn zurücklassen. Ich habe, 
ich gestehe es, in dieser Beziehung sehr viel gewagt, bin aber 
stets glücklich gewesen. In dem Fall von ausgedehnter Zertrüm¬ 
merung des Fussgelenks durch Granatsplitter, wo ich gezwungen 
war die Fibula, den ganzen Talus, Os cuboides und den grössten 
Theil des Calcaneus zu entfernen (s. oben Nr. 2. S. 346), fand 
sich Malleolus internus durch die Wucht des Geschosses der Länge 
nach gespalten, so dass der fünfte Finger von der Wundhöhle aus 
in den Spalt eindringen konnte; dennoch liess ich den Knochen 
zurück, weil ich fürchtete, dass bei dem ohnehin schon so ausge¬ 
dehnten Knochenverlust durch Entfernung der Tibia die Erhaltung 
des Fusses noch mehr in Frage gestellt werden könne. In der 
That glaube ich, dass die so vollkommene Wiederherstellung der 
Function mit so schönen Formen des Fusses in diesem Fall der 
Erhaltung der Tibia zugeschrieben werden muss. In einem an¬ 
deren Fall von ausgedehnter Zerschmetterung der Tibia, welche 
in Länge von 12 Ctm. resecirt werden musste (Nr. 45. Taf. XI), 
liess ich die gleichzeitig quer gebrochene Fibula und den durch 
Eiterung seines Knorpels beraubten Gelenkkopf des Talus zurück, 
und dieser Fuss ist der leistungsfähigste von allen geworden. 
Hueter hat neuerdings, wie mir scheint aus mehr theoretischen 
Gründen, der Totalresection des Fussgelenks bei Schussfrac- 
turen das W r ort geredet. Ebenfalls ausgehend von dem Grund¬ 
sätze, dass Ankylose im Sprunggelenk das zu erstrebende End¬ 
resultat sein müsse, andererseits, dass auf die freie Entleerung 
des Wundsecrets das grösste Gewicht zu legen sei, glaubt er bei¬ 
des am sichersten durch die Totalresection erreichen zu können. 
Ich glaube nicht, dass das Zurücklassen einer der grossen Gelenk¬ 
flächen z. B. des Talus oder der Tibia die Entstehung der An¬ 
kylose verhindern wird, und ich habe diese sogar in einem Falle 
entstehen sehen, wo ich bei ganz gesunden Gelenkflächen rese- 

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B. v. Laagenbeck, 


cirte, und wo die Heilung der Wunde ziemlich rasch erfolgt war 
(Nr. 50). Eine Verhaltung des Wundsecrets habe ich nach meinen 
partiellen Resectionen niemals beobachtet. Es scheint, dass nach 
partieller Fussgelenkresection, wo doch meist eine längere Eite¬ 
rung nicht vermieden werden kann, und eine grosse Wundhöhle 
mit Granulationen ausgef&llt wird, der Knorpelüberzug der zurück- 
gelasäenen Gelenkfläche stets abgestossen wird oder allmälig ver¬ 
ödet Auch nach theilweiser Resection des Schaltergelenks ist 
ja nicht selten Ankylose entstanden, obgleich die intacte Knorpel¬ 
fläche der Scapula znr&ckgelassen war, und dieses Gelenk weit 
schwerer zu immobilisiren ist, wie das Sprunggelenk. Wenn bei 
conservirender Behandlung der FussgelenkVerletzungen Beweglich¬ 
keit im Gelenk in einem gewissen Grade manchmal erreicht wor¬ 
den ist, so ist das wohl mehr dem Umstande zuzuschreiben, dass 
die knorpeligen Gelenkflächen durch frühzeitige Verlöthung von 
den verletzten Theilen abgeschlossen werden können und vor dem 
Untergange bewahrt bleiben, oder dass hier Bewegungen zuge¬ 
lassen werden, während wir diese nach der Resection durch voll¬ 
ständige Immobilisirung verhindern. Dieselbe Erklärung dürfte zu¬ 
lässig sein, wenn nach partiellen Spätresectionen wegen compli- 
cirter Luxation im Sprunggelenk, wie ich auch zweimal gesehen 
habe, Beweglichkeit im Gelenk beobachtet wurde. Jedenfalls ist 
es wünschenswerth, noch weitere Erfahrungen zu sammeln und 
namentlich genaue Beobachtungen über die dauernde Func¬ 
tionsfähigkeit des Gelenks beizubringen, wenn dieses beweg¬ 
lich geblieben war. 

Sehr überraschend ist die reiche Knochenreproduction, 
welche nach traumatischen Resectionen des Sprunggelenks, nach 
partiellen wie nach totalen beobachtet wird, und durch welche 
selbst die äusseren Formen des Gelenks so vollständig wieder 
hergestellt werden, dass man glauben könnte, es habe ein Kno¬ 
chenverlust überhaupt nicht stattgefunden. Die vollkommenste 
Wiederherstellung der Formen habe ich nach der ersten, im Jahre 
1864 gemachten Totalresection beobachtet, wo alle drei Knochen- 
theile des Gelenks in Länge von 7 Ctm. entfernt wurden. Ich 
habe die Photographie dieses Resecirten (Nr. 44) nicht gegeben, 
weil ich die Zahl der Abbildungen nicht zu sehr vermehren durfte, 
und weil der in Berlin lebende Patient auch jederzeit gesehen 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


497 


werden kann. Nicht minder vollkommene Formen zeigt aber 
anch der Fuss (Taf. XI), von welchem die Tibia in Länge von 
12 Ctm., und der in Taf. X, bei welchem Tibia und Tains in 
Länge von 9 Ctm. resecirt worden sind. Anch in dem S. 346 
Nr. 2 referirten und in der Photographie Taf. XIII dargestellten 
Fall, in welchem die zertrümmerte Fibnla in Länge von minde¬ 
stens 7 Ctm. nebst mehreren TarsalknGchen entfernt wnrde, ist 
die Regeneration des Malleolus externns eine sehr vollkommene. 
Am wenigsten vollkommen ist die Wölbung des neuen Malleolus 
internus in Taf. XII. Nr. 49, in welchem die Tibia in Länge von 
7 Ctm. resecirt wurde. In diesem Fall war der Knochen durch 
einen Granatsplitter fracturirt, und die Haut mit dem Periost des 
Malleolus internus in grosser Ausdehnung fortgerissen worden. 

Bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse über Kno¬ 
chenwachsthum und Regeneration kann es doch wohl keinem 
Zweifel unterliegen, dass, abgesehen von den oben S. 438 angedeute¬ 
ten Gründen, die so überaus reiche Knochenreproduction nach Re- 
section der Malleoli auf die Erhaltung des Periosts zurück¬ 
geführt werden muss. Ich habe aber bereits 1865 (Ueber Re- 
section des Fussgelenks bei Schussfracturen. Berliner klin. Wo¬ 
chenschrift 1865. Nr. 4) hervorgehoben, dass hier wahrscheinlich 
noch andere Momente in Betracht kommen, und dass möglicher¬ 
weise der mit dem Faserlager der Knöchel abgelöste Band- 
apparat und jedenfalls die sorgfältigst erhaltene Membrana 
interossea an der reichlichen Knochenbildung mit betheiligt ist. 
Die starke, von den oberen bis zu den unteren Epiphysen zwi¬ 
schen beiden Unterschenkelknochen ausgespannte, fibröse Mem¬ 
brana interossea cruris ist offenbar dem Periost nahe verwandt 
und hat wie dieses die Eigenschaft zu verknöchern. Reizungs¬ 
zustände der Unterschenkelknochen, ja der Weichtheile des Unter¬ 
schenkels, z. B. chronische Beingeschwüre, veranlassen sehr häufig 
Verknöcherung dieser Membran, so dass dieselbe in eine manch¬ 
mal Messerrückendicke solide Knochenplatte nmgewandelt er¬ 
scheint. In allen pathologischen Sammlungen finden sich zahl¬ 
reiche Präparate, an welchen diese Verknöcherung, nach ver¬ 
schiedenartigen Ursachen entstanden, gesehen werden kann. 

Nach alten Fracturen der Unterschenkelknochen, selbst wenn 
diese ohne Dislocation der Bruchenden geheilt sind und Callus 

v. Langenbeclt, Archiv f. Chirurgie. XVI. QO 


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498 


P>. v. Langenbeck, 


nicht mehr wahrzunehmen ist, findet man die Bruchstellen beider 
Knochen durch eine solide Knochenbrücke, die verknöcherte Mem¬ 
brana interossea vereinigt. Von besonderem Interesse für die 
Fussgelenkresection ist diese, wie es scheint, gewöhnlich eintre- 
tende Verknöcherung bei Erkrankungen des Sprunggelenks von 
längerer Dauer. In der anatomischen Sammlung zu Leyden und 
in der Sammlung des Dr. Henderiks in Zuyderburg habe ich 
3 Fälle von nach Caries entstandener vollständig knöcherner An¬ 
kylose im Sprunggelenk gesehen, mit gleichzeitiger Umwandlung 
der ganzen Membrana interossea in eine solide Knochenplatte. Es 
lässt sich erwarten, dass nach Schussfracturen wie nach Resection 
dieses Gelenkes dieselbe Ossification eintrete, und ich habe mir 
stets die Aufgabe gestellt, die Membrana interossea in Verbindung 
mit dem abgelösten Periost zurückzulassen, um einer stärkeren 
Knochenproduction sicher zu sein. 

Für besonders geboten halte ich die sorgfältige Schonung der 
Membrana interossea, w'enn nach ausgedehnter Resection der Ti¬ 
bia die zurückgelassene dünne Fibula die Körperlast allein zu 
tragen hat. Nach der ersten durch Scbussverletzung des Sprung¬ 
gelenks veranlassten Resection, in welcher ich die Tibia mit dem 
Talus in Länge von 10 Ctm. entfernte, hatte ich \\ Jahre später, 
nach dem bei seiner zufälligen Anwesenheit in Berlin erfolgten 
Tode des Pat., Gelegenheit das resecirte Gelenk zu untersuchen. 
Die das ankylotische Sprunggelenk und die ihrer Form nach un¬ 
regelmässige neue Tibia darstellende Knochenmasse erschien mir 
umfangreicher als an der rechten Extremität. Die Fibula war 
bedeutend verdickt, durch Osteophyten uneben und ging an der 
oberen Resectionsstelle in eine dicke Knochenplatte (Membrana 
interossea) aus, welche hier beide Unterschenkelknochen mit ein¬ 
ander verband. Leider war es mir nicht gestattet das Präparat 
herauszunehmen und aufzubewahren. 

Ich habe es bereits früher ausgesprochen, dass, gegenüber 
den sehr schönen Erfolgen und der überaus reichen Knochenre- 
production nach traumatischen Gelenkresectionen, die wegen Ca¬ 
ries unternommenen Resectionen w'eit weniger günstige Resultate 
liefern. Ich kann auch hier nur beiläufig erwähnen, dass ich von 
8 wegen Caries ausgeführten Totalresectionen (nur in einem Fall, 
Knabe von 5 Jahren, Hess ich die Fibula zurück), noch keine ein- 

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Ueber die Endresultate der Oclenkreseetionen im Kriege. 499 

zige Heilung aufzuweisen habe. Bei einem wegen aeuter Ver¬ 
jauchung des Sprunggelenks resecirten 60jährigen Herrn erfolgte 
der Tod 14 Tage später an nietastatischer Pneumonie; eine 70 
jährige Frau heilte bis auf eine in das Gelenk führende Fistel 
und wurde aus der Klinik entlassen, soll aber einige Monate später 
gestorben sein. Ein junger Mann von 18 Jahren, seit 10 Jahren 
an ausgedehnter Caries des linken Fussgclenks leidend, erholte 
sich nach der Resection, heilte aber nicht und starb 6 Monate 
später an Lungentuberculose. Ein Knabe und 3 junge Leute, 
welche ich in der Klinik resecirte, mussten später amputirt werden 
und heilten nun, während vorher die Eiterung der Resectionswunde 
kein Ende nehmen wollte und die Patienten erschöpfte. Der 8. 
vor 2 Monaten resecirte Fall endlich befindet sich noch in Be¬ 
handlung; die Oporätionswunde ist geheilt, aber es führen noch 
Fistelgänge in das Gelenk. Aehnliche trübe Erfahrungen sind 
auch von Anderen gemacht worden. Sir James Paget sagte 
mir, dass die Fnssgelenkreseetion wegen Caries in England sich 
keines guten Rufes erfreue, und Richard Volkmann sagte mir 
neuerdings, er sei nahe daran diese Operation ganz aufzugeben 
und durch die Amputation des Fusses zu ersetzen. Neudörfer 
(a. a. 0. S. 1604) erzielte unter 12 pathologischen Resectionen 
nur 2 Heilungen, und 6 seiner Operirten starben. Diese Resul¬ 
tate sind so entmuthigend, dass bei cariösen Erkrankungen des 
Fussgelenks möglicherweise die Amputation die einzige Hülfe 
bleiben dürfte. Worin liegt aber der Grund dieser Misserfolge? 
Neudörfer (a. a. 0. S. 1717) sagt, man habe bei cariösen Er¬ 
krankungen constitutionelle Leiden vor sich, und es müsse 
bei Beurthcilung dieser Fälle in erster Linie sich darum handeln, 
zu entscheiden, ob die vorhandene Erkrankung der Ausdruck eines 
allgemeinen Leidens oder eine rein locale Erkrankung sei. Die¬ 
ser Rath nimmt in einem Handbuch sich ganz gut aus, dürfte 
aber in der Praxis kaum verwerthet werden können. Woran soll 
man dieses Allgemeinleiden erkennen, wenn, wie es bei meinen 
Kranken der Fall war, die physikalische Untersuchung aller Or¬ 
gane negative Resultate liefert; und wenn die im Fussgelenk 
Resecirten durchaus nicht heilen wollen, durch nachträgliche 
Amputation aber geheilt werden, wie kann da von einem All¬ 
gemeinleiden die Rede sein, welches nach der ersteren Operation 

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B. v. Langenbeck, 


die Heilung verhindert, nach der Letzteren aber zu Stande kom¬ 
men lässt? Ich vermag in dieser auffallenden Erscheinung nur 
den Beweis zu finden, dass es rein locale Ursachen sein müssen, 
welche nach pathologischen Fussgelenkresectionen die Heilung ver¬ 
hindern. Ich habe bereits hervorgehoben (S. 439), dass ich in 
einer weit grosseren Anzahl von Resectionen des Schultergelenks 
und Ellenbogengelenks noch niemals in der Lage gewesen sei, 
nachträglich amputiren zu müssen; wenn auch mehrere dieser 
Operirten nach Jahren an Lungentuberculose zu Grunde gegangen 
sind, so war doch die Resectionswunde zur Heilung gelangt, das 
neue Gelenk sogar ein sehr gutes geworden. Selbst am Hand¬ 
gelenk, welches doch in allen Beziehungen ein dem Fussgelenk so 
analoges Verhalten zeigt, ist, wenn ich nach Jahrelang bestan¬ 
dener Caries resecirt hatte, die Heilung erfolgt, und es ist nur 
einmal nothwendig geworden, nachträglich zu amputiren, weil die 
Heilung nicht eintreten wollte. Es scheint mir, dass diese Wider¬ 
sprüche nur durch die Annahme erklärt werden können, dass an 
den unteren Epiphysen der Tibia und Fibula die Erkrankungs¬ 
intensität in den meisten Fällen eine grössere ist, und die Mög¬ 
lichkeit der Heilung dadurch ausgeschlossen wird. Ich werde die 
Fussgelenkresection bei Caries vorläufig noch nicht ganz aufge¬ 
ben, halte es aber doch für Pflicht, den Kranken die Verhältnisse 
klar zu legen, und ihnen anheimzustellen, ob sie die Chancen der 
Nichtheilung nach Resection und einer nachträglichen Amputation 
auf sich nehmen wollen. Die eingehendste Prüfung dieser Ange¬ 
legenheit ist dringend erforderlich, um so mehr als Hueter (Berl 
klin. Wochenschr. 1870. Nr. 7) im Gegentheil von guten Erfolgen 
berichtet und durch 7 wegen Erkrankung des Fussgelenks in der 
Greifswalder Klinik ausgeführte Resectionen, welche zur Heilung 
gelangten (darunter 2 mit Beweglichkeit im Gelenk und Repro- 
duction der Malleoli), die Ueberzeugung gewonnen hat, dass die 
wegen organischer Erkrankung unternommenen Fussgelenkresec¬ 
tionen, bei richtiger Indication und Ausführung nicht weniger gün¬ 
stige Erfolge geben, als die traumatischen. Wir müssen der Ver¬ 
öffentlichung dieser Fälle mit Spannung entgegensehen und hoffen 
dass diese hochwichtige Frage dadurch ihrer definitiven Lösung 
näher gerückt werden möge. 

Die Resultate der Fussgelenkresectionen des letzten Krieges 

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Ueber die Eudresultate der tieleukresectioneu im Kriege. 


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dürfen im Ganzen wohl nicht erfreuliche genannt werden. Ab¬ 
gesehen davon, dass in den Revisionsberichten der Invaliden die 
entstandene Ankylose im Sprunggelenk als schlechtes 
Resultat hervorgehoben wird, was wir als zulässig nicht anerken¬ 
nen, war der Fuss in den meisten Fällen fehlerhaft gestellt, so 
dass die Gebrauchsfähigkeit in Zweifel gezogen werden muss. 
Nur in 2 Fällen (Müller, Hauptm. im 48. Linien-Inf.-Regt., von 
Hueter resecirt, und v. Rottkay, Lieut. der Reserve im 2. Schles. 
Gren.-Regt. Nr. 11) muss meiner Ansicht nach das Resultat als 
ein gutes bezeichnet werden. Sehr schöne Resultate erreichte 
So ein (a. a. 0. S. 18) in zwei Fällen von Totalresection des 
Sprunggelenks, in welchem das Endresultat zu seiner Kenntniss 
gelangte. In dem einen war die Heilung mit Ankylose erfolgt, 
in dem anderen mit Erhaltung der Beweglichkeit bei so 
vollkommener Wiederherstellung der Function und der Formen des 
Gelenks, dass So ein glaubt, es werde mancher Arzt an der ge¬ 
schehenen totalen Resection Zweifel hegen. Von meinen in dem 
letzten Kriege Resecirten, mit alleiniger Ausnahme des unter Nr. 
2. (Taf. XIII) geschilderten, fehlen mir alle Nachrichten. Ich 
glaube deshalb auch auf jede Besprechung dieser Fälle vorläufig 
verzichten zu müssen. 

Die Resultate der conservirenden Behandlung sind nach 
den Invalidenberichten gewiss nicht günstigere zu nennen, in¬ 
dem mit den seltensten Ausnahmen in allen Fällen der ankylo- 
tische Fuss so gestellt war (Spitzfuss-, Pferdefuss-, Klump- 
fuss-Stellung), dass er zum Auftreten niemals gebraucht werden 
kann. So und nicht besser wird es in jedem grossen Kriege 
sein, wenn nicht besondere Massregeln in Bezug auf Ueberwachung 
und Nachbehandlung der Resecirten getroffen werden sollten. So 
lange die Resecirten, wie es bisher der Fall gewesen ist, bis zur 
Heilung der Wunde von einem Lazareth in das andere wandern, 
nach Heilung der Wunde aus der Behandlung entlassen und nicht 
weiter unter ärztliche Obhut gestellt werden, darf man darauf rech¬ 
nen, bei der Mehrzahl derselben unbrauchbare Glieder anzutreffen. 

Die Fussgelenkresection ist in so weit günstiger gestellt wie 
die anderen Resectionen, als nach einmal geheilter Wunde und 
erfolgter knöcherner Ankylose eine weitere Nachbehandlung nicht 
erforderlich ist, und der Operirte sich selbst überlassen werden 


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B. v. Langcnbeck, 


kann. Dafür verlangt aber der Verband und die Lagerung des 
resecirten Fusses eine weit grössere Sorgfalt und Mübe. Sehr 
viel leichter wird die Nachbehandlung werden, wenn man in den 
geeigneten Fällen zur primären Resection sich entschliessen 
wird, weil nach dieser ausgedehnte EiterSenkungen, welche die 
Behandlung mit Gypsverbänden sa sehr erschweren, weniger leicht 
Vorkommen werden. 

Die subperiostale Resection des Sprunggelenks 
wird durch vorausgeschickte Constriction des Gliedes mit Gummi¬ 
binden, von denen die obere, den Oberschenkel in seiner Mitte 
zusammenschnürende liegen bleibt, bis die Operation beendigt ist, 
ausserordentlich erleichtert. Soll das ganze Gelenk resecirt 
werden, so lege ich den Malleolus externus zuerst durch 
einen Längsschnitt frei und durchsäge ihn mit meiner Stichsäge, 
nachdem das Periost in Verbindung mit Membrana interossea und 
den Bändern sorgfältigst abgelöst worden ist. Sodann säge ich 
die obere Gelenkfläche des Talus von der Wunde aus mit 
der Stichsäge ab, während ein über die vordere Fläche des Ta¬ 
lushalses eingeführtes Elevatorium Gelenkkapsel und Sehnen ab¬ 
hebt und vor Verletzung schützt. Endlich folgt ein Längsschnitt 
auf die Mitte der Tibia, sorgfältige Ablösung des Periosts mit den 
Bändern und der Membrana interossea und Durchsägung dieses 
Knochens mit der Stich- oder Kettensäge. Nun erst wird die 
vorher abgesägte obere Gelenkfläche des Talus herausgehoben, 
und die Operation ist beendigt. 

Die Absägung der oberen Gelenkfläche des Talus, 
als zweiter Act der Operation, vor Absägung der Tibia ausge¬ 
führt, gewährt grössere Sicherheit, weil, wenn der Malleolus in¬ 
ternus einmal herausgenommen ist, der Fuss an dem leeren Sack 
der Weichtheile hin- und herschwankt, und die Stichsäge nicht 
mehr sicher gehandhabt werden kann. Den so abgesägten Talus 
lasse ich aber vorläufig zurück und hebe ihn mit Elevatorien 
erst heraus, nachdem der Malleolus internus beseitigt worden ist, 
weil seine Extraction durch den äusseren Seitenschnitt schwieri¬ 
ger ist. 

In der soeben geschilderten Weise lasse ich die Fussgelenk- 
resection auch am Cadaver einüben. 

Soll bei der partiellen Resection nur die Fibula mit der 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


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oberen Gelenkfläche des Talus resecirt werden, so genügen selbst¬ 
verständlich die beiden ersten Acte der soeben geschilderten 
Operation. Die Resection der Tibia allein ist schwieriger wegen 
der grossen Breite des unteren Endes dieses Knochens. Dem auf der 
Mitte der Tibia geführten Längsschnitte füge ich deshalb in der Regel 
einen nach unten convexen, die Contouren desMalleol. intern, umkrei¬ 
senden halbmondförmigen Schnitt hinzu, so dass die ganze Wunde 
eine Ankerform erhält. Den Knochen durchsäge ich, der grös- 
• seren Leichtigkeit wegen in der Regel in schräger Richtung, in¬ 
dem ich die Stichsäge zunächst auf den inneren Winkel und die 
hintere Fläche der Tibia aufsetze und nun von Oben und Innen 
nach Unten und Aussen säge, während die Weichtheile mit 
Elevatorien vom Knochen abgedrängt und vor Berührung mit der 
Stichsäge geschützt werden. 

Soll mit beiden Knöcheln der ganze Talus entfernt 
werden, was nach Resection des Malleolus externus wohl meistens 
schon entschieden werden kann, so säge ich die obere Gelenk¬ 
fläche des Talus selbstverständlich nicht ab, lege den Anker¬ 
schnitt an der Innenseite so an, dass sein unteres, mehr horizon¬ 
tal verlaufendes Ende in querer Richtung auf das Sustenta- 
culum Tali fällt, und nach Ablösung der Weichtheile die ganze 
innere Fläche des Talus nebst seiner vorderen und unteren Ge¬ 
lenkfläche zugänglich wird. Sollte das Sustentaculum Tali wegen 
Geschwulst der Weichtheile nicht zu fühlen sein, so kann man 
es doch nicht verfehlen, wenn man den unteren horizontal verlau¬ 
fenden Schnitt zwei Querfinger breit unterhalb der Spitze des 
Mälleolus internus anlegt. 

Zur Splitterextraction des Talus führe ich einen Längs¬ 
schnitt über die Dorsalfläche des Sprunggelenks bis auf den Fuss- 
rücken herab, halte mich mit dem Schnitt stets an der Innenseite 
der Strecksehne der 2. Fusszehe (um Art. Tibialis antic. und N. 
peroneus nicht zu verletzen) und mache, indem die Sehnen nach 
auswärts verzogen werden, den Talus zugänglich. Sollte sich 
nun die Nothwendigkeit der Exarticulation des ganzen Knochens 
herausstellen, so lege ich durch den zuletzt beschriebenen I 
Schnitt die Innenfläche des Talus frei, um in den Sinus Tarsi 
leichter eindringen zu können. 

Im Ganzen bin ich, wie man sieht, von den früher beschrie- 

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B. v. Langenbeck, 


Benen Schnitt führungen (Ueber Resect. des Fussgelenks. Berliner 
klin. Wochenschr. 1865. Nr. 4) wenig abgewichen, abgesehen von 
kleinen Modificationen, welche durch die Art der Verletzung ver¬ 
anlasst wurden. 

Nebenverletzungen können bei diesen Operationen kaum 
Vorkommen und sind mir niemals begegnet. Bei der Periostab¬ 
lösung vom Malleol. extern, und intern, darf das Elevatorium oder 
das Messer den Knochen niemals verlassen, um die Sehnenscheide 
für Peroneus longus und Tibialis postic., oder gar beide Sehnen 
selbst nicht zu verletzen. Die Periostablösung von der hinteren 
und besonders von der äusseren Fläche der Tibia, der schwie¬ 
rigste Theil der Operation, ist mit besonderer Vorsicht auszu¬ 
führen , um die Verbindung mit Membrana interossea cruris nicht 
zu zerstören. Die Höhlung der Tibia, welche den Malleolus ext. 
aufnimmt, ist mit sehr dickem Periost überkleidet, und dieses 
hängt mit kurzen Bändern, gleichsam Fortsetzungen der Mem¬ 
brana interossea zusammen, welche beide Knochen mit einander 
verbinden. 

Nach der Resection lege ich sofort ein Drainrohr in oder 
durch die Wunde, und den Gypsverband an, welcher letztere, mit 
Vorsicht hergerichtet, Alles leistet, was man nur wünschen kann. 
Keiner der jetzt bekannten Lagerungsapparate vermag die Retrac- 
tion der Sehnen und die dann unvermeidliche bedeutendere Verkür¬ 
zung der Extremität so sicher zu verhindern, und die bei jedem 
Verbände unvermeidliche Bewegung des Fusses wird ohnehin 
leicht verderblich. Sollte wegen umfangreicher Eitersenkungen 
es erforderlich sein, den Gypsverband zu entfernen, so kann es 
ausreichen, nur die eine Seitenhälfte des Verbandes fortzunehmen, 
während die durch Bindentouren um das Glied befestigte andere 
Hälfte das Glied noch genugsam fixirt. Der Resecirte, dessen 
Geschichte auf Seite 346, Nr. 2, gegeben worden, ist bis zur 
Heilung fast ausschliesslich in einem solchen Verbände behandelt 
worden. 

Für die bequeme Lagerung des Operirten empfiehlt sich 
die Suspension der Extremität mittelst der Volkmann’schen 
Schiene oder der Schiene aus Telegraphendraht in den meisten 
Fällen. 

Ist das Fussgelenk geheilt und in dem Grade solide gewor- 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectioneu im Kriege. 50f> 

den, dass das Auftreten gestattet werden kann, so lasse ich die 
ersten Gehversuche in einem Schienenstiefel anstellen, welcher, 
indem er den Stützpunkt für die Körperlast unter das Kniege¬ 
lenk verlegt, das Fussgelenk vor zu starkem Druck schützt, und 
das Abweichen von seiner rechtwinkeligen Stellung verhindert. 

Bei allen längere Zeit nach der Operation von mir beobach¬ 
teten Resecirten hat eine Regeneration der entfernten Malleoli 
stattgefunden. Diese zeigen sogar in der Regel ein grösseres 
Volumen wie in der Norm. Im Laufe der Jahre aber verschwin¬ 
det diese Hyperostose mehr und mehr, so dass schliesslich auch 
die Formverhältnisse des ankylotischen Sprunggelenks nahezu nor¬ 
mal erscheinen (vergl. Taf. X). 

Da es hier nur meine Aufgabe ist, die Endresultate der 
Fussgelenkresection und ihren Werth für die Feldpraxis 
festzustellen, so bin ich gezwungen, dieselben Fälle, welche be¬ 
reits früher veröffentlicht wurden, hier wieder mitzutheilen, die 
Mehrzahl der Resectionen aus dem letzten Kriege aber, von denen 
der endliche Verlauf mir noch unbekannt ist, hier unbesprochen 
zu lassen. Aus meiner Civilpraxis habe ich nur eine Resection 
mittheilen zu müssen geglaubt, welche den Beweis liefert, dass 
auch das gesunde Sprunggelenk zur Beseitigung einer fehler¬ 
haften Stellung des Fasses mit dem schönsten Erfolg rese- 
cirt werden kann, und die Hoffnung rechtfertigt, dass auch die 
primäre Fussgelenkresection eine Zukunft haben wird. 

Nr. 43. v. Kwizinsky, Kaiserl. Russischer Generallieutenant, 68 Jahre alt, 
verwundet in der Schlacht an der Alma 1854. Ausser zwei Weichtheilschüssen, 
welche die rechte Brustseite und die rechte Schulter getroffen hatten, war das 
linke Fussgelenk durch eine Miniekugel in grosser Ausdehnung zerschmettert 
worden. Der Malleolus internus war fracturirt mit Spaltung des Knochens bis 
in die Diaphyse, Talus in mehrere Fragmente, Fibula einfach gebrochen ge¬ 
wesen. Die nachfolgende sehr starke Knocbeneiterung batte die Kräfte des 
nicht sehr starken Mannes in dem Grade erschöpft, dass die Yon den Aerzten 
in Sebastopol für nothwendig erachtete Amputation unterbleiben musste. Im 
Verlauf des sehr langen Krankenlagers mussten mehrfache Incisionen gemacht 
und Knochensplitter, namentlich kleine Fragmente des Talus extrahirt werden. 
Im Winter 1858 sah ich den Pat. zuerst in Warschau. Die Wunden waren 
geheilt, doch fand aus zwei auf die Tibia führenden Fistelöffnungen noch eine 
reichliche Eiterung statt. Dabei wurde Pat. unablässig von den heftigsten 
Schmerzen im Bein gequält, welche ihm den Schlaf raubten und das Gehen mit 
Krücken unmöglich machten, weil der Fuss die abhängige Lage nicht vertrug. 


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B, v. Laugenbeek, 


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Der im Sprunggelenk vollständig ankylotische Fuss steht in starker Plantar¬ 
flexion und etwas nach Innen rotirt. Die Tibia ist durch Knochenauflagerung 
stark aufgetrieben. Die durch die Fistelöffnungen eingeführte Sonde gelangt in 
die Markhöhle der Tibia und in eine weiche, höchst empfindliche Granulations¬ 
masse, ohne auf Sequester zu stossen. Fiss und Unterschenkel sehr abgema¬ 
gert. Die heftigen Schmerzen im Unterschenkel machten ganz den Eindruck 
der neuralgischen, und ich glaubte annehmen zu müssen, dass Druck der star¬ 
ken Knochenauflagerungen auf die Knochennerven sie veranlasse. Da der 
Kranke die Amputation des Unterschenkels verweigerte, so brachte ich die Re- 
section in Vorschlag, welche sofort angenommen wurde. Im Frühjahr 1859 
kam Pat. nach Berlin. 

Resection der Tibia und des Talus. 30. Mai 1859. Die Ab¬ 
lösung des verdickten Periosts könnte überall sehr leicht und vollständig aus¬ 
geführt werden. Nachdem die Tibia mit der Stichsäge durchsägt, mussten 
Knochenverbindungen mit der Fibula durch Hammer und Meissei getrennt 
werden. Schwierig war die Entfernung des mit der Tibia in eine Knochenmasse 
verschmolzenen Talus, welcher aus seinen Knochenverbindungen mit der oberen 
Fläche des Calcaneus mit Hülfe des Meisseis gelöst werden musste. Der Fuss 
Hess sich nun ohne Schwierigkeit gerade und in einen rechten Winkel stellen. 
Gefensterter Gypsverband. 

Die reichlich 10 Ctm. lange und sehr voluminöse Knochenmasse, welche 
sich in meinem Besitz befindet, repräsentirt den ganzen mit der Tibia sehr fest 
verlötheten Talus. Dieser hat von seiner oberen Gelenkfläche offenbar durch 
frühere Knochenexfoliaiion sehr erhebliche Verluste erlitten. Der Taluskopf, wel¬ 
cher aus seiner Gelenkverbindung mit dem Os naviculare exarticulirt worden, 
zeigt keine Veränderung. Der übrige, mit der Tibia in eine unregelmässige 
Knochenmasse verschmolzene Knochen ist in seinen Formen nicht zu erkennen. 
Die Contouren des Malleolus internus sind ziemlich vollständig erhalten. An 
Stelle des Sprunggelenks befindet sich eine, offenbar durch Exfoliation 
von Talusfragmenten entstandene unregelmässige Höhle, welche sich in die 
Markhöhle der Tibia fortsetzt und mit weichem Granulationsgewebe ausge¬ 
füllt ist. Die Knochenwandungen dieser Höhle zeigen überall einen hypero- 
statischen, stellenweise wie verwittert aussehenden Knochen. Sequester fanden 
sich an keiner Stelle vor. Die zurückgelassene Fibula, welche aus ihrer Kno¬ 
chenverwachsung mit der Tibia losgemeisselt worden, zeigt ebenfalls eine sehr 
beträchtliche Verdickung, ist aber offenbar nur einfach quer gebrochen gewesen. 

Die Heilung erfolgte ohne Zwischenfälle theils im Gypsverbande, theils 
unter täglicher Anwendung prolongirter Localbäder und war Ende Juni vollendet 
Der vollkommen normal gestellte Fuss lässt an der Operationsstelle eine reich¬ 
liche Knochenreproduction nachweisen und ist ankylotisch. Nachdem ein Schie¬ 
nenstiefel angelegt worden, machte Pat. die ersten Gehversuche mit Krücken 
und ging sodann Anfang Juli nach Teplitz, von dort nach sechswöchentlicher 
Badekur nach Warschau. Im Spätsommer 1860 kam Pat. wieder hierher, um 
über Berlin nach Teplitz zu gehen. Er hatte den Winter gut verbracht, den 
Schienenstiefel aber nicht abgelegt. Die früheren Schmerzen waren nicht 


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Uebdr die Endresultate der Gelenkresectioueu im Kriege. 


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wiedergekehrt. Zu Anfang des Sommers hatte sich Oedem beider Fasse ent¬ 
wickelt, und die vorgenommene Untersuchung des Harns ergab beträchtlichen 
Albumingehalt Der resecirte Fuss war vollkommen solide; eine Verkürzung 
konnte mit Sicherheit nicht nacbgewiesen werden. Pat. geht im Zimmer ohne 
Scbienenstiefel, kann aber nicht dazu bewegt werden ihn ganz abzulegen. Auf 
einem seiner täglichen Spaziergänge im Thiergarten sehr erhitzt, hatte er sich 
durch Sitzen in der Abendluft eine doppelseitige Pneumouie zugezogen, welcher 
er erlag. Bei der flüchtigen Untersuchung des resecirten Fusses, welche mir 
nur gestattet wurde, fand ich die Fibula mit unregelmässigen ziemlich umfang¬ 
reichen Knocbenmassen, welche offenbar durch Periostverknöcherung entstandet! 
waren, verschmolzen. 

Nr. 44. Werkmeister, Tambour im Kgl Preuss. Leib-Grenadier-Regt. Nr. 8, 
24 Jahre alt, war am 18. April 1864, beim Sturm der Düppeler Schanzen durch 
Gewehrschuss aus grosser Nähe verwundet worden. Die Miuiekugel war durch 
die Mitte des Malleolus internus linker Seite ein- und, den Talus zerschmetternd 
durch Malleolus externus wieder ausgetreten. Starke Dislocation des Fusses; 
Lagerung in Heister’scher Beinlade. Es folgte eine heftige Entzündung uud 
Eiterung mit phlegmonöser Anschwellung bis zur Mitte der Wade, so dass die 
Amputation des Unterschenkels im obereu Dritttheil beschlossen war. 

1. Mai 1864. Subperiostale Resection des ganzen Fussge- 
lenks im Feldlazarett] zu Rinkenis mit Herrn Stabsarzt Dr. Baum. Es wurde 
zuerst der in drei Fragmente zerbrochene Malleolus externus in Länge von 
7 Ctm. resecirt, dann die zertrümmerte obere Geloukfläche des Talus und 
schliesslich die in mehrere Fragmente zersplitterte Tibia in der gleichen Höhe 
abgesägt. Bei der sehr bedeutendeu Ausdehnung der Gelenkkapsel war die 
Operation verhältnissmässig leicht und vollkommen subperiostal ausgeführt wor¬ 
den. Gefensterter Gypsverband. Schon anderen Tages zeigte sich bedeutende 
Abnahme des Fiebers. Erst am 24. Mai, als ich von einer Dienstreise von 
Kopenhagen zurückkehrte, sah ich W. wieder. Der junge kräftige Mann war 
durch starke Eiterung der Wunde und durch Eitersenkuogen am Unterschenkel, 
welche mehrere Incisionen nothwendig gemacht hatten, sehr heruntergekommen, 
aber fieberfrei. Der wegen der Eitersenkuugen entfernte Gypsverband wurde 
mit grosser Sorgfalt wieder angelegt, und der Verwundete brachte boi milder 
Sommerluft den ganzen Tag im Freien zu. 

Als ich gegen Ende August 1864 W. hier in Berlin wiedersah, waren die 
Wunden vollständig geheilt, die Formen der Malleoli in überraschender Weise 
wieder hergestellt, nur voluminöser wie an dem gesunden Bein, das Sprung¬ 
gelenk noch etwas beweglich. Pat. fing uun an in einem Schieneustiefel, zuerst 
mit Hülfe von Krückeu Gehversuche zu machen. Die Krücken wurden jedoch 
sehr bald bei Seite gelegt, und W. ging viel in der Stadt umher. Bei einer 
neuen im December 1864 angestellten Untersuchung fand ich das Fussgelenk 
vollständig ankylosirt, den Fuss in rechtem Winkel gestellt und die Zehen activ 
vollkommen beweglich. Es wurde nun der Schienenstiefel abgelegt, und W. 
ging in Schuhen umher. Ende December 1864 trat er als Königlicher Lakai 
in Dienst. Am 10. Januar 1865 stellte ich ihu in der Berliner med. Gesell- 


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B. v. Langenbeck, 


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scbaft vor, und ich habe seit der Zeit sehr häufig Gelegenheit gehabt, ihn wie* 
der zu untersuchen und meinen Zuhörern in der Klinik vorzustellen. 

Der ankylotische Fuss giebt in der Gebrauchsfähigkeit dem gesunden kaum 
etwas nach. W. ist durch seinen Dienst gezwungen viel Treppen zu steigen, 
lange zu stehen, auf glattem Parket rasch zu gehen und empfindet davon kei- 
nerlei Beschwerde. Die Knöchel und die ganze Knochenneubildung in der 
Gegend des resecirten Gelenks hat jetzt, 9 Jahre nach der Resection an Masse 
und Umfang etwas abgenommen; die Configuration des Gelenks erscheint nun¬ 
mehr vollkommen normal. 

Nr. 45. Königl. Dänischer Freiwilliger, Lieutenant Leth (Candidat der 
Theologie, ans Horne bei Faaborg, Fünen), erlitt am 29 Juni 1864 bei der 
Einnahme der Insel Alsen eine Schussfractur beider Malleoli des rechten Fusses. 
Die Kugel (Langblei) war auf Kernschussweite durch die Crista tibiae dicht 
oberhalb Ligamentum cruciatum ein- und den Knochen in viele Fragmente zer¬ 
trümmernd (vergl. die Abbildung des Knochens Taf. XI) am äusseren Rande 
der Achillessehne wieder ausgetreten. Vom Schlachtfelde wurde L. in das nahe 
Lazarcth Schloss Augustenburg geschafft, die sehr bedeutende Dislocation des 
Fusses in der Chloroformnarkose gehoben, und das Bein in Bonnet’scher 
Drahtschiene gelagert. Aller Sorgfalt ungeachtet war es jedoch unmöglich, den 
Fuss in der richtigen Lage zu erhalten. Unter den heftigsten Schmerzen ent¬ 
stand eine sehr starke phlegmonöse Anschwellung des Fusses mit schlechter 
Jauchung und hohem Fieber. Der Fuss wurde im warmen Wasserbad gelagert 
und blieb 14 Tage in demselben, weil Pat. darin am wenigsten Schmerzen hatte. 
Am 26. Juli sah ich den Verwundeten. Die Gegend des Sprunggelenkes und 
das untere Dritttheil des Unterschenkels ist enorm angeschwollen, der Fuss mit 
den abgebrochenen Knöcheln ganz nach Aussen dislocirt und erheblich verkürzt 
Seit 8 Tagen leidet Pat. an erschöpfender Diarrhoe und ist durch schlaflose 
Nächte und heftiges Fieber sehr heruntergekommen. 

29. Juli 1864. Resection der Tibia durch inneren Lappen- 
s'chnitt mit Herrn Oberstabsarzt Dr. Geisler und Stabsarzt Dr. Vogelsang. 
Von der oberen Grenze der Einschussöffnung beginnend führte ich den Schnitt 
in der Richtung der Crista tibiae gerade herab, umschrieb die Contouren des 
Malleolus internus und endigte, wieder hinaufsteigend, den Schnitt in der Aus¬ 
gangsöffnung. Beide Schnitte, bis auf den Knochen geführt, wurden so lange 
nach oben verlängert, bis ich das Ende der ausgedehnten Fractur erreichte. 
Das Periost, so weit es noch vorhanden war, wurde mit Elevatorium sehr sorg¬ 
fältig abgelöst, und die Tibia mit der Stichsäge quer durchsägt. Die Heraus¬ 
forderung der in 14 grössere und viele kleine Fragmente zersplitterten Tibia 
war mühsam. Die obere Gelenkfläche des Talus war ihres Knorpels 
beraubt, rauh; der Malleolus externus einfach quer gebrochen; 
beide Knochen wurden zurückgelassen. Die Operationswunde bis auf 
ihr unteres Ende, welches offen bleibt, durch Suturen vereinigt Ein geölter 
Leinwandstreifen wird durch die Schussöffnungen geführt, um den Abfluss des 
Wundsecrets zu sichern. Gypsverband mit grossem inneren Fenster, welches 
die ganze Wunde freilässt. 


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Ueber die Endresultate der Gelenkreseetionen im Kriege. 


509 


Die resecirte Tibia (Taf. XIa.) ist reichlich 11 Ctm. lang, ihre Gelenk¬ 
fläche (Taf. XI b.) in vier Fragmente zertrümmert. 

Am 1. August war Pat. fieberfrei, Appetit und Schlaf wiedergekebrt; Diar¬ 
rhoe hat abgenommen. Durch die Abschwellung des Beins ist der Gypsverband 
etwas locker geworden, bleibt aber liegen. Die sorgfältige Reinigung der Wund- 
höble durch Irrigation mit verdünntem Chlorwasser von den Schussöffnungen 
aus war leicht zu beschaffen, und unter der hingehenden Pflege des leider zu 
früh verstorbenen Stabsarztes Dr. Vogelsang heilte die grosse Lappenwunde 
in grösster Ansdehnung per primam intentionem. 

Am 30. Juni 1865 schrieb Herr Leth mir, dass er meinem Rath gemäss 
mit einem Schienenstiefel recht gut gehe; - der Fuss sei steif, habe jedoch eine 
gute Stellung; die Beweglichkeit der Zehen sei noch mangelhaft; „der innere 
Knöchel sei nicht wiedergekommen“ (in Folge der ausgedehnten Zerstörung des 
Periosts durch das Geschoss). 

Ende Oetober 1867 theilte Herr L. mir mit, dass er, von einer längeren 
Reise durch die Schweiz und Oberitalien zurückgekehrt, mich in Berlin aufge¬ 
sucht, aber verfehlt habe (ich war auf einer Ferienreise abwesend). Sein Fuss 
habe sieb so gekräftigt, dass er Stundenlang ohne Beschwerde gehen könne. 
„Die Tibia ist wieder gut hervorgewachsen und immer stärker 
geworden.“ Im Frühjahr 1868 sandte Herr L. mir seine, in der Uniform, 
in welcher er verwundet worden, aufgenommene und in Taf. XI wiedergegebene' 
Photographie. Im Sommer 1873 endlich hatte ich die Freude, HerrnL. hierin 
Berlin wiederzusehen. Er kehrte von einer Fussreise aus der Schweiz zurück 
und hatte auf dieser in gewöhnlichen Alpenschuhen den Monte Rosa bestiegen. 

Die Verkürzung des rechten Fusses beträgt nicht ganz 3 Ctm. und wird 
durch Beckensenkung vollständig ausgeglichen. Im Sprunggelenk ist eine sehr 
geringe Beweglichkeit vorhanden, die Form des Fusses eine sehr gute. Malleolus 
internus sehr vollkommen wieder hergestellt und von beinahe normaler Wölbung. 
(L. behauptet, dass der Malleolus internus noch 1865, wie er mir auch schrieb, 
gefehlt habe und erst später hervorgewachsen sei.) L. geht in gewöhn¬ 
lichen Stiefeln, ohne Erhöhung der Sohle. Sein Gang erscheint vollkommen 
normal. 

Nr. 46. König). Dänischer Freiwilliger Graf v. Wedell-Jarlsberg aus Nor¬ 
wegen. Verwundet am 29. Juni 1S64 bei Einnahme der Insel Alsen. Schuss- 
fractur des rechten Fussgelenks durch Schuss aus grosser Nähe (Langblei). Das 
Geschoss war dicht unterhalb Malleolus externus ein- und in der Mitte des 
Malleolus internus ausgetreten. Im Lazareth „Schulhaus“ in Broagger 
wurde während der ersten 8 Tage die Eisbehandlung eingeschlagen, dann aber 
wegen heftiger Schmerzen und Anschwellung des Fusses das warme Wasserbad 
angewendet, in welchem der Fuss bis zum 29. Juli blieb. Das Allgemeinbe¬ 
finden des sehr kräftigen Mannes war gut, kein Fieber. Von dieser Zeit an 
begann der Fuss aber zu schwellen und phlegmonös geröthet zu werden, und 
es entstand eine reichliche Eiterung, durch welche Pat. mehr und mehr erschöpft 
wurde. ^ 

19. August 1864. Subperiostale Resection des unteren Endes 


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510 


R. v. Langenbeck, 


der Tibia und der oberen Gelenkfläche des Talus. Nachdem eine 
Gefahr drohende C'hloroformasubyxie glücklich beseitigt worden, führte ich einen 
Längschnitt durch die Ausschussöffntmg auf der Mitte der Tibia bis auf die 
innere Fläche des Talus herab und fügte hier einen Querschnitt hinzu. Nach¬ 
dem das Periost vollständig abgelöst worden, durchsägte ich die Tibia mit der 
Stiebsäge und dann, durch einen concaven Sägenschnitt die obere Gelenkfläche 
des Talus. Aus einer erweiterten Arterio des Periosts fand eine starke Blutung 
statt, welche die Unterbindung nothwendig machte. Gypsverband. 

Die Länge der resecirten Tibia beträgt 7, die Dicke der entfernten Talus¬ 
fläche 2 Ctm. 

Im Herbst 1865 besuchte Herr V. W. mich hier in Berlin. Der resecirte 
Fuss hat sehr vollkommene Formen mit vollständig regenerirtem Malleolus in¬ 
ternus. Die Verkürzung beträgt 2 Ctm. und wird beim Gehen durch Beckensen¬ 
kung vollkommen ausgeglichen. Der Fuss steht aber nicht ganz im rechten 
Winkel, weshalb die Fussspitze beim Gehen leicht anstösst. Da eine geringe 
Beweglichkeit im Sprunggelenk vorhanden war, so machte ich in der Chloroform¬ 
narkose die forcirte Dorsalflexion, und es gelang den Fuss fast rechtwinkelig 
zu stellen. Gypsverband. Dann Schienenstiefel, welcher den Fuss in der recht¬ 
winkeligen Stellung fixirt, und in welchem Pat- viel umhergeht. Nachrichten 
über die spätere Gebraucbsfäbigkeit des Fusses habe ich nicht erhalten. 

Nr. 47. Groen aus Hadersleben, 5. Kgl. Dän. Infant.-Rgt., wurde am 29. 
Juni 1864 bei Einnahme der Insel Alsen verwundet. Das Geschoss war auf 
Malleolus internus des linken Fusses eingeschlagen, hatte ihn ganz abgetrennt, 
den Talus in grosser Ausdehnung fracturirt und war an der Spitze des Malleo], 
extern., diese abbrechend, wieder heransgetreten. Die bedeutende Dislocation 
des Fusses nach einwärts konnte der heftigen Schmerzen wegen nicht gehoben 
werden, und es folgte eine sehr bedeutende Anschwellung des Fusses und des 
Unterschenkels unter heftigem Fieber, so dass wir längere Zeit schwankten, ob 
die Amputation des Unterschenkels der Resection nicht vorzuziehen sei. 

15. Juli 1864. Subperiostale Resection der Tibia und Fibula, 
und Exstirpation des ganzen Talus mit Herrn Stabsarzt Dr. Vollmer 
im Lazareth Windmühle Nr. 2 in Sonderburg. Zuerst resecirte ich durch Längs¬ 
schnitt den Malleolns extemus, dann durch einen ,1, Schnitt, dessen horizontaler 
Theil in der Höhe des Sustentaculum Tali verlief, den Malleolus internus. So¬ 
dann folgte die wegen bedeutender Schwellung der Theile sehr schwierige Ex¬ 
stirpation des ganzen Talus, welcher in viele Fragmente zertrümmert war. Die 
Sehne des M. tibialis posticus war durch das Geschoss zerrissen worden, die 
Blutung während der Operation nicht unbeträchtlich. Gefensterter Gypsverband. 
Die Operation war in dem Grade mühsam und, wie mir schien, verletzend ge¬ 
wesen, dass ich es bereute, nicht amputirt zu haben. Trotzdefa war der Wund¬ 
verlauf ein sehr günstiger, Fieber und Anschwellung verloren sich sehr bald, und 
die Heilung der Wunde war bereits Anfang October vollendet. 

Die in meinem Besitz befindlichen resecirten Knochen enthalten beide Mal- 
leoli in der Länge von 4 Ctm. und den ganzen Talus. 

Die letzte Nachricht über den in Hadersleben wohnenden Patienten erhielt 


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Ueber die Endresultate der Gelenkresectionen im Kriege. 


511 


ich durch einen dort stationirt gewesenen militairärztlichen Collegen im Jahre 
1867. Nach derselben geht Groen stundenlang in gewöhnlicher Fussbekleidung 
und ohne zu hinken. Das Fussgelenk ist ankylotisch. Verkürzung 2 Ctm. 

Nr. 48. Fitzner, Kgl. Preuss. 46. Inf.-Rgt., 24 Jahre alt, verwundet 3. Juli 
1866 in der Schlacht bei Königgrätz (Taf. XII). Zerschmetterung der 
rechten Tibia durch Granatschuss mit ausgedehnter Abreissung 
der Haut des Unterschenkels. Das Sprengstück der Granate bat die In¬ 
nenseite des Malleolus internus getroffen, die Haut in der Ausdehnung von 7 
Ctm. fortgerissen und den Knochen zertrümmert. Vom Schlachtfelde war F. in 
das Reservelazareth nach Liegnitz transportirt worden. Die Weichtheile zwischen 
Achillessehne und Knöchel wurden nekrotisch, und die durch das Geschoss zer¬ 
rissene Sehne des M. tibialis postic. freigelegt. Es entsteht eine heftige Ent¬ 
zündung und Eiterung des Sprunggelenks, welche mehrere Incisionen nothwendig 
machte und den Pat. in hohem Grade erschöpfte. 

Resection des Malleolus internus am 7. August 1866 im Lazareth 
zu Liegnitz. Die Bedeckungen der Innenfläche der Tibia, so weit sie vom Ge¬ 
schoss nicht zerrissen waren, wurden in Form eines Lappens Umschnitten und 
mit dem Periost, an welchem eine Schicht neuer Knochenauflagerung haften 
blieb, vom Knochen abgelöst. Sodann wurde das Periost mit der Membrana 
interossea von der äusseren und von der hinteren Fläche der Tibia abgelöst, 
diese mit der Stichsäge durchgesägt und herausgehoben. Fibula und Gelenk- 
flächeL des Talus waren unverletzt, und der Knorpelüberzug des letzteren unver¬ 
ändert. Der Wundlappen wurde durch Nähte genau wieder angebeftet, da der 
Ausfluss des Wundsecrets durch den Hautdefect gesichert war. Gypsverband 
mit Fenster. 

Die Länge des resecirten unteren Endes der Tibia beträgt 7 Ctm. Die Cor- 
tkaUchicht des Knochens ist durch das Geschoss tbeils fortgerissen, theils tief 
in die Markhöble hineingetrieben (Taf. XII). 

Im September 1866 wurde F. noch in demselben Gypsverbande, welchen 
ich in Liegnitz angelegt hatte, hierher in das Kgl. Klinikum gebracht. Die 
Wunde war mit Granulationen ganz ausgefüllt, der Pat. fieberfrei. Die Erneu¬ 
erung des Gypsverbandes wurde nur noch einmal nothwendig. Nachdem die 
Heilung der Wunde im November vollendet, wurden Anfang December die ersten 
Gehversuche in einem Schienenstiefel gemacht. 

Als Pat. im Februar 1867 aus der Anstalt entlassen wurde, vermochte er 
schon ohne Schienenstiefel sehr gut und ohne Hinken zu gehen; indessen wurde 
ihm anempfohlen den Stiefel noch einige Monate zu tragen. Die Verkürzung 
beträgt nach wiederholten Messungen 1,50 Ctm. und wird durch Beckensenkung 
vollständig ausgeglichen. So weit das Periost bei der Operation erhalten worden, 
hat sich neuer Knochen sehr reichlich wieder erzeugt. Der neue Knöchel zeigt 
aber eine tiefe Einsenkung in der ganzen Ausdehnung der früheren Zerreissung 
des Periosts durch das Geschoss. 

Nr. 49. Carl Standinger aus Bitterthal, 21 Jahre alt, Kgl. Preuss. 31. Inf.- 
Rgt. 10. Comp., wurde am 3. Juli 1866 in der Schlacht bei Königgrätz durch 
Granatsplitter verwundet und in das Lazareth nach Horic gebracht. Das Ge- 


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512 


B. v. Langenbeck, 


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schoss hatte Sämmtliche Weichtheile an der Innenseite des rechten Fassgelenks 
fortgerissen und eine, der im vorhergehenden Fall geschilderten sehr ähnliche 
Verletzung hervorgebracht. Malleolus internus war zertrümmert und aus dem 
geöffneten SpruDggelenk floss Synovia aus. Die Ränder der grossen Weichtheil- 
wunde stiessen sich gangränös ab, und die Wunde füllte sich unter reichlicher 
Eiterung aus dem Gelenk mit Granulationen. Eine bedeutende Anschwellung 
des Fusses und Unterschenkels trat nicht ein, und Pat. fieberte während der 
ersten Zeit nicht. Nach Ablauf der 2. Woche aber entstanden sehr heftige 
Schmerzen in der Wunde, es bildete sich in der Nähe der Achillessehne eine 
Eitersenkung, welche geöffnet werden musste, und Pat. begann zu fiebern. 

Rescction desMalleolus internus und der oberen Gelenkfläcbe 
des Talus am 31. Juli 1866 mit Herrn Oberstabsarzt Dr. Hahn. Die Opera¬ 
tion wurde, wie im vorhergehenden Fall, mit Erhaltung des Periosts, so weit 
dieses durch das Geschoss nicht zerstört war, ausgeführt, nur dass die fracturirte 
obere Gelenkfläche des Talus ebenfalls resecirt werden musste. Gypsverband. 
Die Länge des resecirten Malleolus internus, von welchem aus noch mehrere 
feine Knochenfissuren in die Tibia weiter nach aufwärts gehen, beträgt 5, die 
der oberen Talusfläche 2 Gtm. 

Im Sommer 1867 sah ich S. hier in Berlin. Er hat Schienenstiefel nie ge¬ 
tragen, geht aber vollkommen gut in gewöhnlicher Fussbekleidung. Die Ver¬ 
kürzung mochte etwa 2 Ctm. betragen. 

Nr. 50. Schiefstellung des Fusses in Rotation nach Aussen 
nach Bruch der Malleoli. Subperiostale Resection der Fibula 
und der oberen Gelenkfläche des Talus. Heilung mit vollkom¬ 
mener Gebrauchsfähigkeit. 

Job. Tintelot, 35 Jahre alter Maurer aus Paderborn, wurde am 8. Jannar 
1867 in das Kgl. Klinikum aufgenommen. Patient verletzte sich am 13. Fe¬ 
bruar 1866 durch Sturz aus einer Höhe von 12 Fuss, wobei er auf beide 
Füsse zu stehen kam. Da im Lazareth zu Paderborn seiner Angabe nach beide 
Füsse in einen Schienenverband gelegt worden sind, so darf angenommen wer¬ 
den, dass beide eine Knocbenvetletzvng erlitten hatten. Als nach 12 Wochen 
die Verbände entfernt wurden, und Pat. Gehversuche zu machen anfing, zeigte 
es sich, dass der linke Fuss in Rotation nach Aussen (halber Supinatiou) stand. 
Diese fehlerhafte Stellung soll durch den Gebrauch des Fusses sich allmälig 
verschlimmert haben, so dass Pat. anhaltend nicht zu gehen vermag. 

Der linke Fuss steht in halber Supination, so dass beim Auftreten die äussere 
Seite des Fusses den Erdboden berührt. Der innere Knöchel ist aufgetrieben, 
wahrscheinlich in Folge einer Längsfractur, die Fibula dicht oberhalb des äusse¬ 
ren Knöchels gebrochen gewesen und mit Dislokation der Fragmente nach Aussen 
geheilt Glatte Beweglichkeit im Sprunggelenk in der Richtung der Beugung 
und Streckung, aber Unmöglichkeit die nach einwärts gerichtet) Planta gerade 
zu stelleu. Ebensowenig gelang dieses unter Anwendung grosser Gewalt in der 
Chloroformnarkose. 

29. Januar 1867 subperiostale Resection der Fibula und des 
Talus durch äusseren Längsschnitt. Die Periostablösung war an der geheilten 


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Ueber die Endresultate der Geleukresectionen im Kriege. 513 

Bruchstelle der Fibula sehr mühsam. Nachdem die Fibula dicht oberhalb des 
Malleolus mit der Stichsage getrennt und herausgenommen worden, gelang die 
Geradestellung des Fusses noch nicht. Ich resecirte demnach die obere Gelenk¬ 
fläche des Talus in der Richtung von vorn nach hinten. Der Fuss konnte nun 
vollkommen gerade gerichtet werden. Die Kuorpelflächen der Tibia und des 
Talus zeigten sich vollkommen normal. Gefensterter Gypsverband Die Heilung 
der Wunde erlitt zweimal Unterbrechungen, indem gegen Mitte Februar Diph- 
theritis auftrat, und später Eitersenkungen an der Innenseite des Fussgelenks 
geöffnet werden mussten. Die Heilung war Ende März vollendet. 

Als Pat. Ende April die Anstalt verliess, war der Fuss vollkommen richtig 
gestellt, und konnte er ohne Schienenstiefel gehen. Der resecirte Malleolus ex- 
ternus ist vollständig wieder erzeugt, eine geringe Beweglichkeit im Sprungge¬ 
lenk erhalten, Verkürzung mit Sicherheit nicht nachzuweisen. 

Erklärnng der Abbildungen auf Tafel IV—XIV. 

Tafel IV. Secundäre Resection des Oberarmkopfes nach ausgedehnter Zerreis- 
8ung der Weichtheile durch Granatsplitter. Zeichnung des zertrüm¬ 
merten Oberarmkopfs in der Nebenfigur. (Nr. 14. S. 382.) 

Tafel V. Secundäre Resection des linken Oberarmkopfs wegen Schussfractur. 
Der resecirte Kopf. (Nr. 15. S. 386.) 

Tafel VI. Subperiostale Resection des rechten Oberarmkopfs (Nr. 17. S.390.) 
Tafel VII. Schlottergelenk nach subperiostaler Resection des rechten Elleu- 
bogengelenks. Derselbe Resecirte mit Stützmaschine. Die resecirten 
Knochen. (Nr. 35. S. 443.) 

Tafel VIII. Primäre Resection des linken Ellenbogengelenks (Nr. 34. S. 441.) 
Tafel IX. Totalresection des rechten Handgelenks. (Um die Aufnahme eines 
scharfen photographischen Bildes zu ermöglichen, musste Arm und 
Hand durch ein Stativ gestützt werden.) a. Der resecirte Radius, 
b. Ulna. c. d. e. Os lunatum, capitatum, Trümmer vom Os navicu- 
lare. (Nr. 42. S. 478.) 

Tafel X. Subperiostale Resection der rechten Tibia und der oberen Gelenk- 
fiäche des Talus. (Nr. 46. S. 509.) 

Tafel XI. Subperiostale Resection der rechten Tibia. Die vom Photographen 
angebrachte Unterlage unter dem rechten Fuss ist zu stark, und der 
Resecirte dadurch gezwungen gewesen, das Bein in Abduction zu 
stellen, a. Die resecirte Tibia, b. Die untere Gelenkfläche der Tibia. 
(Nr. 45. S. 508.) 

Tafel XII. Subperiostale Resection der rechten Tibia. Der durch ein Granat¬ 
stück zertrümmerte Knochen (Nr. 48. S. 511.) 

Tafel XUI. Ausgedehnte Zertrümmerung des rechten Fussgelenks durch Gra¬ 
natschuss. Secundäre Resection der Fibula mit Entfernung des gan¬ 
zen Talus, der oberen Hälfte des Calcaneus und des Os cuboides. 
(Nr. 2. S. 346.) 

Tafel XIV. Subperiostale Resection des rechten Oberarmkopfs. Der in activer 
verticaler Erhebung photographirte Arm ist durch die unvermeidlichen 
Schwankungen undeutlich geworden. Der fracturirte Knochen. (Nr. 16. 
S. 388.) 

▼. Lange ob eck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 

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XIX. 

Mitteilungen aus der chirurgischen 

Casuistik 

und 

kleinere Mittheilungen. 


1. Milzbrand beim Menschen. 

Von 

Dr. Max Bartels. 

Am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages 1870 wurde im Diakonissen¬ 
hause Bethanien in Berlin für die Abteilung des Herrn Geh.-Ratb Wilms 
während dessen Abwesenheit im Felde ein ziemlich kräftig entwickeltes Mäd¬ 
chen von 14 Jahren mit der Diagnose Carbunkel aufgenommen. Sie hatte etwa 
vor 4 Tagen auf ihrer rechten Schulter einen kleinen Pickel bemerkt, welcher, 
ohne ihr besondere Schmerzen zu verursachen, all mal ig wuchs. Am 24. De 
cember ist statt des Pickels eine Blase entstanden. Die folgende Nacht war 
sehr unruhig, so dass am anderen Morgen zum ersten Male ein Arzt gerufen 
wird. Dieser erklärte das Leiden für einen Carbunkel und ordnete die Ueber- 
führung in ein Krankenhaus an. 

Als ich die Patientin sah, fand ich sie sehr blass, träge im Antworten. 
Temp. 40,5, die Zunge mässig gelbweiss belegt. Stuhlgang soll seil einigen 
Tagen fehlen. Oben auf der rechten Schulterböbe befindet sich eine deprimirte, 
schmutziggraue, gangränöse Haulstelle von noch nicht 1 Cm. im Durchmesser, 
an deren Grenze sich eine erbsengrosse Blase erhebt mit gelbem Serum gefüllt. 
Die ganze Schulter mit dem oberen Theile des Oberarms ist stark geschwollen, 
teigig, blassroth, nicht schmerzhaft. Es konnte bei dem oben beschriebenen 
Befunde ein gewöhnlicher Carbunkel nicht vorliegen, der ja auch schon bei dem 
jugendlichen Alter der Patientin sehr merkwürdig gewesen wäre. Ich verord- 
nete daher für’s Erste 01. Ricini, ein Chinadecoct und ein Kataplasma, um am 
anderen Morgen bei Tageslicht noch einmal eine genaue Untersuchung voran- 
nehmen. Die Nacht verlief sehr unruhig, die Kranke versuchte mehrmals auf¬ 
zustehen. 


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Milzbrand beim Menschen. 


515 


Am anderen Morgen, 26. December, liegt die Kranke bei einer Temperatur 
von 38,3 apathisch da. Die rechte Gesichtshälfte nebst den Augenlidern ist 
teigig geschvollen und livide geröthet. Am Halse findet sich keine Anschwel¬ 
lung. Diejenige aber des Armes und der Schulter hat zugenommen, und sich auf 
die obere Brust- und Rückengegend und abwärts bis zum Ellenbogen ausge¬ 
dehnt. Die Rothe ist stärker als gestern. Die gangränöse, deprimirte Hautstelle 
ist herzförmig, etwa um das Dreifache vergrössert, graugelblich, in der Mitte 
grauschwarz und rings von grösseren und kleineren Blasen in einem ununter¬ 
brochenen Kranze umgeben. Die kleinsten dieser Blasen haben die Grösse von 
Linsen, die grössten sind mehr als Bohnengross. Alle haben einen dunkelgel¬ 
ben, durchsichtigen serösen Inhalt. Die Blasen erheben sich hart am Rande 
des Brandschorfs auf der noch nicht mortificirten Haut; diese ist von der Eschara 
durch einen blaurothen Rand geschieden. Die Schmerzhaftigkeit ist mässig. 

Es konnte hiernach kein Zweifel mehr bestehen, dass es sich um einen 
Milzbrandcarbunkel bandelte, so unwahrscheinlich eine solche Erkrankung 
bei einem jungen Mädchen, das Berlin nicht verlassen hatte, auch erscheinen 
musste. 

In Narkose führte ich dem Vorschläge von Koränyi (Pitha-Billroth; 
Chirurgie L 2. Abth. S. 182) gemäss, parallel dem Faserverlauf des M. deltoi- 
deus sechs Incisionen durch den Carbunkel bis in das Gesunde. Die Schnitte 
sind 3 - 4 Zoll lang, 1 Zoll tief. Das Gewebe ist auf den Schnittflächen 

fest infiltrirt, schmutzig grau, von zahlreichen dunklen Blutpunkten durchsetzt, 
an Speck erinnernd. Die Schnittflächen werden darauf mit Ac. nitricum fumans 
energisch geätzt Die Kranke wurde isolirt und erhielt eine Eisblase auf die 
8chulter. Die benutzten Messer wurden vernichtet. Hinterher lag die Kranke 
viol im Halbschlaf, antwortet aber auf Anreden vollständig klar. Abends war 
die Temperatur auf 36,7 gefallen; am anderen Morgen war sie normal (37,6), 
stieg am Abend noch einmal auf 38,2, um von da ab die Norm nicht mehr zu 
überschreiten. 

Die Nacht war gut Am Tage nach den Incisionen ist die Patientin sehr 
munter. Die Zunge ist immer noch gelblich belegt Das Oedem des Gesichts 
hat etwas nachgelassen, die Augenlider sind nicht mehr betheiligt, aber die 
rechte Gesichtshälfte ist noch stark livide geröthet. Die Schulter, die obere 
Partie des Rückens rechts und die rechte Brusthälfte inclusive der Mamma sind 
noch stark geschwollen, aber nicht geröthet. Die Anschwellung des rechten 
Oberarms bis zum Ellenbogen hat noch zugenommen. Der Oberarm ist intensiv 
roth, in seiner unteren Abtheilung circumscript und fleckig, genau von dem 
Ansehen eines wandernden Erysipels. Es ging aber kein Frost oder Frösteln 
vorher und es besteht Normaltemperatur. Der Arm ist nicht schmerzhaft und 
kann fast bis zu einem rechten Winkel gehoben werden. (Garbolöl auf die 
Wunden, zweistündlich Chlorwasser-Umschläge, Arm in Watte gehüllt.) Der 
Urin ist ziemlich reichlich, leicht wolkig getrübt, stark sauer. Specifisches Ge¬ 
wicht 1028. Beim Kochen entsteht eine gleichmässige Trübung durch Erd¬ 
phosphate. 

Am zweiten Tage nach der Aetzung war die Zunge ganz rein. Die Schwel- 

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516 


Dr. M. Bartels, 


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lu n g des Gesichtes war völlig geschwunden, nur die intensive Röthe hielt sich 
noch einen Tag länger. An Brust und Rüchen nahm das Oedem allmllig ab, 
so dass es bis zum 30./12. ganz beseitigt war. Die erysipelasäbnlicbe Röthe 
des Armes hielt sich nur einen Tag. Die Anschwellung des Armes wanderte 
langsam nach abwärts, verliess bald den Oberarm gänzlich, nahm aber dafür den 
ganzen Vorderarm vom Ellenbogen bis zum Handgelenk inclusive ein, in Form 
einer starken, blassrothen, teigigen Geschwulst. Am längsten hielt sich diese 
im oberen Drittheil des Vorderarms, war aber bis zum 9. Tage nach der Ope¬ 
ration auch vollständig geschwunden. 

Die Lösung der Aetzschorfe begann am 4. Tage und war in 2 \ Woche 
gänzlich vollendet. Es bleibt eine grosse flache Granulationsfläche zurück, welche 
bis zum Anfang des Februar bis auf Tbalergrösse vernarbt ist, so dass die Pa¬ 
tientin zu fernerer poliklinischer Behandlung entlassen werden kann. Bis zum 
Anfang des März war die Wunde geschlossen. 

Später entwickelte sich aus der Narbe ein Keloid von i Cm. Höhe. Durch 
mehrfach wiederholtes Bepinseln mit Jodglycerin wurde es im Laufe mehrerer 
Monate vollständig beseitigt. 

Üeber die im Anfänge vollständig dunkle Aetiologie war es mir möglich ge¬ 
worden, im Laufe der Behandlung durch wiederholte Aufnahme anamnestiscber 
Daten in’s Klare zu kommen. An demselben Tage, an welchem das Mädchen 
zuerst den Pickel auf der Schulter bemerkte, soll bei ihrem Bruder ein eben 
solcher an der Oberlippe sich gebildet haben. Dieser heilte aber, ohne das 
letztere anscbwoll, von selbst. Vierzehn Tage vorher war ein Knabe ihrer Be¬ 
kanntschaft mit einem Geschwür des Gesichts erkrankt und in wenigen Tagen 
gestorben. Vor acht Tagen habe sich bei einem erwachsenen Mädchen eben 
solches Geschwür im Gesicht nahe dem Kinn gebildet, woran dieselbe noch 
immer leide. Ich konnte über diese Kranke, die sich in Behandlung eines Kur¬ 
pfuschers befand, nichts Näheres erfahren. 

Diese Patienten, welche nicht in demselben Hause, sondern sogar in ver¬ 
schiedenen Strassen wohnten, hatten nichts Gemeinsames mit einander unter¬ 
nommen, bezogen auch das Fleisch von verschiedenen Schlächtern. Sie beschäf¬ 
tigten sich aber sämmtlich mit dem Zupfen von Rosshaaren für eine und die¬ 
selbe Rosshaarspinnerei. Aus dieser erhielten sie das Material Centnerweise und 
verarbeiteten es in ihren Wohnungen. Auf meine Frage, ob sie an den Haaren 
in letzter Zeit etwas Besonderes bemerkt hätten, gaben sie mir an, dass ihnen 
aufgefallen wäre, wie stark die letzte Sendung gestaubt hätte. Wahrscheinlich 
also waren die Rosshaare mit Kuhhaaren gemischt worden. Die beiden erkrank¬ 
ten Mädchen und der Knabe, der dem Geschwür erlag, hatten selbst bei dem 
Zupfen geholfen. Der Bruder unserer Patientin hatte nur des Abends, wenn er 
von seiner Arbeit zuruckgekebrt war, sich in dem Raume, in welchem das Zupfen 
stattfand, aufgehalten. Es erklärt sich hierdurch vielleicht der abortive Character 
seiner Erkrankung, wenn nicht die Efflorescenz an seiner Lippe überhaupt nur 
ein zufälliges Ereigniss war. Wunderbar ist es aber immerhin, dass nicht noch 
andere beim Zupfen betheiligte Familienglieder erkrankt sind. Jedenfalls muss 
man wohl annehmen, dass die Haare eines oder mehrerer milzbrandiger Tbiere 


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Fall von Myopacbyusis lipomatosa. 


517 


mit in Verwendung gekommen waren und dass die Infection durch Aufnahme 
mittelst der Respirationsorgane vor sich gegangen ist. 


2. Geber einen mittelst Sehnenschnitts behandelten Fall von lyo- 
pachynsis lipomatosa (Griesinger’s Hnskelhypertrophie). 

Von 

Dr. C. H. F. llhde, 

ln Braanschwelg. 


Die Griesingers’cbe Muskelhypertrophie (Archiv der Heikunde VI. Jahrg. 
Leipz. 1865) hat die verschiedensten Benennungen erhalten. Ich stimme der 
Beurtheilung der letzteren, wie Fried re ich (Ueber progressive Muskelatrophie. 
Ueber wahre und falsche Muskelhypertrophie. Berlin 1873) siegegeben hat, im Gan¬ 
zen bei; nur kann ich auch die Fried reich'sehen Bezeichnungen: Atrophia 
musculoram progressiva pseudohypertrophica, Pseudohypertrophia musculorum, 
Pseudohypertrophia, falsche Muskelhypertrophie, wegen der Znsätze von „Pseudo“ 
„falsche" nicht für zutreffend erachten, weil durch diese Beiwörter das Eigen- 
thämliche des Krankheitszustandes, um welchen es sich hier handelt, nicht präcis 
ausgedrückt wird. Die Bezeichnung SeidePs: Atrophia musculorum lipomatosa 
(Die Atrophia musculorum lipomatosa. Jena 1867) entspricht dem mikroskopisch¬ 
anatomisch festgestellten Krankbeitsprocess, involvirt aber bei dem Beobachter 
des fraglichen Zustandes an dem Kranken insofern ein Paradoxon, als die be¬ 
hafteten Muskeln vor Allem ihre Verdickung, Festigkeit und Contraction in die 
Sinne fallen Hessen. Nach meinem Dafürhalten muss in den Namen für 
diese Krankheit die am meisten auffallende Erscheinung derselben: Die Zu¬ 
nahme des Muskels, sowie die pathologisch-anatomische Veränderung, durch 
welche dieselbe bedingt ist, mit aufgenommen werden. Und diesen Erforder¬ 
nissen scheint mir in den Worten: Myopachynsis lipomatosa — durch Fettan- 
häufung verursachte Verdickung des Muskels — Rechnung getragen zu sein. 

(Ich folge hier im Wesentlichen dem von Hrn. Dr. Willrich geführten 
Journale). Der 11jährige Walther zu Hötensleben stammte aus einer gesunden, 
von erblichen Krankheiten verschont gebliebenen Familie und hat- bei der Geburt 
woblgeformte Füsse und Beine gehabt. Derselbe wurde, wie seine übrigen 7 
Geschwister, von welchen er der vierte ist, an der Mutterbrust genährt. Als er 
6 Wochen alt war, bezogen seine Eltern mit diesem Kinde ein neu erbautes 
Haus. Die Zahnperiode des Knaben ist leicht und ohne Krampfzufälle vorüber- 
gegangen. Nachdem er ein halbes Jahr alt gewesen, ward er von einer Lungen¬ 
entzündung mit einem Rückfälle heimgesucht, durch welche er lange Zeit sehr 
geschwächt gewesen sein soll. Mit \\ Jahren konnte er, an Meublen und Wän¬ 
den sich festhaltend, allein gehen, indessen mit Jahren ging und lief er ohne 
sich an irgend einem Gegenstände zu halten. Im 5. oder 6. Jahre bemerkten 
die Eltern, dass des Knaben Wadenbaut ein bläulich röthliches Ansehen erhielt 


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Original frorri 

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518 


Dr. C. W. F. Uhde, 


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and die Waden selbst auffallend dick wurden; sowie, dass derselbe immer mehr 
auf die Zehen und den äusseren Fussrand trat “und einen unsicheren Gang be¬ 
kam. Im 7. Jahr ist er von den Masern leicht befallen gewesen, welche aber 
keinen Einfluss anf die schon umfangreichen Beine desselben oder dessen be¬ 
schränkte Fähigkeit sum Gehen gehsbt haben. Es stand nur fest, dass er ebenso 
ungern und wenig ging, als vor der Masernkrankheit. Nachdem er 10 Jahre alt 
geworden, litt er abermals an einer Lungenentzündung, mit welcher er sein ge¬ 
ringes Gehvermögen fast ganz einstellte und auf Knieen und Händen zu kriechen 
anfing. Etwa seit Ostern 1872 musste der lOjjährige Knabe den Schulbesuch 
aufgeben, weil sein Gehvermögen ganz und gar verschwunden war und er sieh 
nur durch Kriechen von einer zur anderen Stelle fortbewegen konnte. Seine 
Intelligenz soll übrigens niemals gelitten haben. 

Die jetzige Wohnung der Walther'schen Familie ist trocken, geräumig, rein¬ 
lich gehalten; Thür und Fenster Bind nach Süden gelegen. 

Des Knaben Krankheitszustand gab dem Herrn Dr. Baum garten in Schö¬ 
ningen Veranlassung, das Kind in dem Helmstedter ärztlichen Kreisverem vor¬ 
zustellen, über dessen Paralysie myo-sclerosique (Duchenne) einen Vortrag zu 
halten und dasselbe dem Herzogi Krankenhause zuzuweisen. 

Am 7. Juli 1872 wurde der Knabe von seinem Vater Huckepack hierher zur 
vorläufigen Untersuchung gebracht. Dieser stellte jenen bei der Abnahme vom 
Rücken nicht etwa auf den Fussboden des Zimmers, sondern setzte ihn auf einen 
Stuhl, weil er platterdings nicht im Stande wäre, zu stehen oder zu gehen. Beim 
Sitzen hielt er sich auf seinem Gesässe durch Hin- und Herfassen mit den Hän¬ 
den, wobei der Bauch hervortrat und das Gesicht den Ausdruck eines ängstlichen 
Kindes zeigte. 

Nach der vollständigen Entkleidung und passenden Lagerung des Knaben 
fielen seine Pedes varo-equini und umfangreichen Waden in die Augen. Jeder 
Versuch, denselben auf die Füsse zu stellen, blieb ohne allen Erfolg. An den 
Füssen in die Höbe gehoben, vermochte er sich mit Hülfe seiner Wadeninuskeln 
emporzuziehen. — 

Von der Idee ausgehend, dass die mit der Zeit immer mehr zunehmende 
Contraction der verhältnissmässig sehr verdickten Wadenmuskeln die Veranstal¬ 
tung und Unbrauchbarkeit der Füsse verursacht hätten, wurde dem Vater des 
Knaben der Rath ertheilt, diesen behufs subcutaner Durchscbneidung der betref¬ 
fenden Sehnen bald möglichst hierher zu schaffen. 

Am 15. October 1872 ward der Knabe zur Behandlung in das Hzgl Kranken¬ 
haus aufgenommen. Bei dessen Untersuchung fiel die athletische Musculatur 
beider Unterschenkel bei dem Bestehen von Pedes varo-equini auf; zumal da 
solche bei den Figuren 1, 2, 3, 4, 6, 11, von Duchenne (Archives generales 
de Medecine. Janvier 1868. Vol. I. VI. Ser. Tome 10. Paris 1868) nicht gezeich¬ 
net waren und sonst bei jener Fussstellung atrophische Unterschenkelmuskeln 
beobachtet werden. Die Muskeln des Gesichts waren schlaff, wodurch dieses ein 
gleichgültiges, ausdruckloses Ansehen ohne Minenspiel bekam. Die Zunge und 
Halsmuskeln boten nichts Besonderes dar; hingegen trat von den Rückenmuskeln 
der M. sacro-lumbalis stark hervor, während die übrigen Muskeln des Rumpfes 


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Fall von Myopachynsis lipomatosa. 


519 


hinter dem gewöhnlichen Mittel zurückgeblieben zu sein schienen. Die Muskeln 
der oberen Extremitäten waren welk und gerjng entwickelt, wogegen die der 
Beine, namentlich die der Unterschenkel, athletisch gebildet erschienen. Bei Be¬ 
wegungsversuchen traten die starken Wülste der Mm. glutaei deutlich abgerundet 
hervor; vor Allem aber sprangen die Wadenmuskeln beider Unterschenkel: die 
Köpfe und Bäuche der Mm. gastrocnemii hervor, als grosse, dicke, scharf um¬ 
schriebene, bei Bewegungsversuchen sehr harte Wülste auf fettloser Haut. Die 
Muskeln der Slreckseite der Unterschenkel waren ebenfalls verdickt, nur nicht 
in dem Maasse, wie die an der Beugeseite derselben. Diesem Verhältnisse ent¬ 
sprechend, hatten die Fasse eine Pferdefussstellung mittleren Grades. Bei voller 
Erschlaffung bildete der Fussrücken mit der Vorderffäche des Unterschenkels 
einen sehr stumpfen Winkel. Neben der Pferdefussstellung war noch eine Varus- 
stellung mittleren Grades zugegen, bei welcher die Einwärtsdrehung der Füsse 
in die verticale Axe besonders stark hervortrat. Die übrigen Bewegungsapparate, 
Gelenke und Knochen, waren in gutem Stande. Die Organe der Respiration, 
Circulation, Digestion und Uropoesis functionirten gehörig. 

Der Patient war nicht im Stande zu gehen, auch nicht einmal mit Hülfe 
von Unterstützungen aller Art und konnte die Beine dazu gar nicht gebrauchen. 
In der Rückenlage konnte er die Beine nicht aufheben, allenfalls nur auf der 
Unterlage ein wenig hin und her bewegen. Eine Dorsalflexion der Füsse Hessen 
die übergrossen Wadenmuskeln nicht zu und bei Plantarflexion der Füsse oder 
bei anderen Bewegungen derselben waren jene ausserordentlich contrahirt und 
hart. Der Knabe konnte sich im Bette nur mit Hülfe von mancherlei und bei¬ 
läufig unzweckmässigen Bewegungen aufrichten. Die Arme waren frei und voll¬ 
kommen nach Willkür zu bewegen, obgleich im Ganzen schwach. Ergriff man 
den Knaben unter den Armen, um ihn in die Höhe zu heben, so zogen sich 
die Schultern desselben hoch bis an die Ohren dermaassen, dass der Kopf zwi¬ 
schen den Schultern zu stecken schien, während der Rumpf nicht nacbfolgte. 
Dabei waren Störungen im Nervensystem ebenso wenig in den centripetalen wie 
in der centrifugalen Leitung zu entdecken. 

Der Patient konnte einem jeden Muskel seinen Willen mittheilen, nur 
stellte der Muskel seine Functionen ein. 

Die gleichzeitig zur Erscheinung kommende auffallende Umfangszunahme 
und bedeutende Kräfteabnahme der Muskeln kann nur auf die Weise erklärt 
werden, dass etwas Anderes, als das contractile irritable Muskelgewebe, die Ver¬ 
mehrung des Muskelvolumen verursacht habe. Da nun die verdickten Muskeln 
ganz und gar ihre gewöhnliche Form behalten haben, so muss das neu gebildete 
Gewebe gleichmässig in denselben vertheilt, entweder zwischen den Muskelpri¬ 
mitivbändeln, oder innerhalb der einzelnen Muskelfasern enthalten sein. Das neu¬ 
gebildete Gewebe ist vermutblich Fett, daher die Diagnosis: Muskelbypertrophie 
(Griesinger’s), und die am 13. Januar 1873 angestellte mikroskopische Un¬ 
tersuchung eines aus der linken Wade mittels Harpune hervorgeholten Muskel¬ 
stückes bestätigte die Diagnosis insofern, als die Muskelfasern selbst normal 
waren, dagegen viel fettreiches Bindegewebe zwischen denselben lag. 

Die Behandlung des Patienten bestand in nahrhafter Diät, Uebungen der 


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UMIVERSITY OF CA LI F ORMA 



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520 Dr. C. W. F. Uhde, 

Gliedmaassen, Far&disation derselben. Der electrische Strom loste die Contrac- 
tionen an den verdickten Muskeln aus, wie an normalen ohne erheblichen Unter¬ 
schied. Bei der Anwendung der Electricität schrie das Kind sehr. 

Da sich der Zustand des Patienten durch die angegebene Behandlung in 
nichts geändert hatte, wurde am 29. October die bei seiner ersten Untersuchung 
beabsichtigte subcutane Durchscbneidung der Achillessehnen und Plantarfascien 
unternommen. Bei den Sehnendurchschneidungen, besonders bei derjenigen der 
rechten Achillessehne, nahm man ein ziemlich laut krachendes Geräusch wahr. 
Nach der Operation konnte man die Füsse ohne Dehnung der Muskeln in nor¬ 
male Stellung drehen. Es ward ein einfacher Verband angelegt. 

1. November. Die rechte Wade geschwollen und gerothet. Cataplasmata. 
Abends Temperatur des Körpers 39,9° C. Die linke Wade ohne alle Reaction. 

2. November. Incision in die rechte Wade; beträchtliche Eiterentleerung. 
Cataplasmata. Temp. Morgens 37,6, Abends 39,2. 

6. November. Abermalige Incision in die rechte Wade wegen Eiterverhal¬ 
tung. Temp. Morgens 36,6, Abends 38,5. 

13. November. Patient hat sich Magencatarrh zugezogen. Knappe Diät. 
Die rechte Wade eitert nur noch wenig. Temp. M. 37,9, Abends 39,6. — Am 
20. November war die Körpertemperatur wieder normal. Gegen Ende des Mo¬ 
nats November und im Anfänge des Monats December machte der Knabe schon 
im Bette kleine Uebungen mit den Beinen, er konnte diese gestreckt aufheben, 
beugen, wieder strecken, und die Füsse annähernd normal stellen. Er begann 
ausserhalb^ des Bettes Uebungen im Stehen sowie auch Versuche zum Gehen 
zwischen den Bettstellen zu machen. Tägliche Faradisation fand statt. 

Weihnachten war er schon im Stande, .an den Wänden entlang zu gehen. 
Kleine Gedichte lernte er mit ziemlicher Leichtigkeit auswendig und schrieb 
auch gut und leserlich. 

15. Januar. Der Knabe ging zum ersten Male, freilich mühsam, eine Treppe 
hinauf. Er stand allein und ohne sich an irgend einem Gegenstände zu halten. 

Im März war Patient so weit gebessert, dass er sich durch eigene Kraft in 
den Garten brachte und darin umherging. An einem Stocke konnte er nicht 
gehen, sondern er stützte sich beim Gehen mit den Händen auf seine Hüften, 
und zwar so, dass sich der Oberkörper uach der Seite des Standbeines neigte, 
wodurch ein wiegender Gang entstand. 

In der zweiten Hälfte des Monats März trat der Knabe auf die ganze Sohle 
beider Füsse. Die Drehung derselben um die verticale Axe war allerdings noch 
immer ein wenig vorhanden, so dass derselbe (wenn er nicht besonders darauf 
aufmerksam gemacht wurde), sehr einwärts gehen konnte. Mit blossen Füssen 
giug er nicht so sicher, als in Schuhen. 

Die Waden waren entschieden weicher als vorher. Während dieselben vor 
der Operation 30 Ctm. im Umfang hatten, mass nach der Operation zur Zeit, 
als der Knabe gehen konnte, die rechte Wade 27 bis 27,9 C. und die linke 
28 bis 28,5 C. Auch liess sich nicht erkennen, dass die übrigen krankhaft affi- 
cirten Muskeln an den Beinen verhältnissmässig dünner geworden waren. 

Eine andere Gangart, als ein ruhiger, vorsichtiger, noch immer wiegen- 


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Drei Fälle vou Missbildung im Bereich der Extremitäten. 


521 


der Schritt war bislang nicht zu erzielen. Nach Zurücklegung von 20—30 
Schritten musste der Knabe sich im Stehen wieder zu neuer Kraft ausruhen. 
Barfass stehend mass er in seiner Körperlänge 129,5 Ctm. 

Aus diesem Falle kann entnommen werden: 

1. Dass die in Folge von Gontraction der durch Fettanhäufung verdickten 
Muskeln verursachten Pedes varo-equini mittelst Scbnenscbnitt geheilt 
werden; 

2. dass solche Muskeln, nachdem deren Sehne durchschnitten ist, nicht nur 
in Folge conseeutiver Entzündung des Zellgewebes, sondern auch für sich 
an Umfang verlieren; 

3. dass die übrigen, ebenso beschaffenen Muskeln derselben Gliedmaasse ver- 
hältnissmässig dünner werden; 

4. dass die Bewegungsfäbigkeit und Fortbewegung des Patienten durch den 
subcutanen Sehnenschnitt, welcher entweder als Heilmittel zur Beseitigung 
der Pedes varo-equini, oder als Storungsursache der Ernährungskrankheit 
der Muskeln wirkt, wieder ermöglicht wird; 

5. dass die Faradisation den Erfolg der operativen Behandlung unterstützt. 


3. Drei Fälle von Missbildung im Bereich der Extremitäten. 

Mitgetbeilt durch 

Dr. K. v. Hoaencell, 

Asiistenxarxt der chirurgischen Klinik so Bonn. 

(Hierzu Tafel II. Figur 1—6.) 


I. Ein Fall von Dcfectbildung hinsichtlich der Perone des 
einen Unterschenkels betraf einen Knaben, Anton Peperhouen aus Dülmen, 
welcher im siebenten Jahre von seinem Vater zur Klinik gebracht wurde. Das 
sonst kräftige und wohlgebildete Kind hatte, wie Fig. 1. zeigt, an seinem rechten 
Unterschenkel eine Missgestaltung. Dieser lief, sich konisch verjüngend nach 
unten zu, die Patella sass weiter nach aussen gedreht, als normal gewesen wäre, 
der Unterschenkel war zum Oberschenkel etwas nach aussen rotirt, und der Fuss 
stand im Fussgelenk in starker Valgusstellung zu dem sehr dünnen unteren 
Ende des Unterschenkels. Während man am Knie in gehöriger Stellung deut¬ 
lich das Köpfchen des Wadenbeins fühlte und dieses selbst unter dem hier sehr 
dünnen Polster der Weichtheile etwa ein und einen halben Zoll weit nach unten 
verfolgen konnte, nahm man, weiter nach unten tastend, Nichts mehr wahr; zu¬ 
mal war kein äusserer Malleolus zu palpiren. Der Talus sass in keiner seine 
Lage befestigenden Gabel, woher seine bei Tritt* oder Stützversuchen sofort ein¬ 
tretende Valgusstellung erfolgte. Der innere Malleolus war kräftig ausgebildet, 
und unter ihm war deutlich der innere obere, etwas abgeplattete Rand des Talus 


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K v. Mosengeil, 


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zu fühlen, anf welchen der Knabe, indem 6ich der Fuss dabei vollständig seit¬ 
lich nach aussen bog, beim Geben trat, und über welchem sich eine Schwiele in 
der Haut gebildet hatte. Auf derselben Seite mit dem unteren Ende der Tibia, 
zwischen dem Malleolus internus und dem etwas nach aussen zu verlagerten Tendo 
Achillis war eine sehr dünne feste Leiste zu fühlen, die man als eine rudimen¬ 
täre Knochenspange, vielleicht aber als ein falsch placirtes und mangelhaft ausge¬ 
bildetes unteres Ende der Fibula, ansprechen konnte. Durch Gypsverbinde und 
orthopädische Maschinen suchte man eine bessere Stellung des Fusses zu be¬ 
wirken. Es sollte, wenn dies gelänge, ein Stiefel mit doppelten Seitenscbienen 
getragen werden. Wie in der Zeichnung angegeben, war eine geringe Calcaneus- 
stellung zugleich vorhanden und waren die Zehen, mit Ausnahme des Hallux 
umgescblagen. — Der Fall dürfte sich an den von Duval beschriebenen an 
reihen, in welchem die Fibula und zugleich drei Zehen fehlten. Dass in diesem 
vorliegenden Falle das Volumen des Unterschenkels ein sehr geringes war gegen¬ 
über dem kräftig entwickelten normalen, dürfte sowohl in einem angeborenen 
Fehlen einzelner betreffender Muskeln, als in der dürftigen Entwickelung der 
vorhandenen beruhen. 

C 

II. Ein Fall von Syndactylie an den vier Extremitäten. Der Knabe, 
welcher diese Missbildung an sich trug, war der Sohn eines Waldwärters aus 
Münstermaifeld. Er war sieben Jahre alt und zeigte am Kopfe gleichfalls Un¬ 
regelmässigkeiten. Zunächst fiel hier die cubische, ungeschlachte Scbädelbildung 
auf, die Schläfenschuppen prominirten nach aussen, der Unterkiefer nach vorn. 
In den Oberkieferknochen fehlten die mittleren Schneidezähne, die aber früher 
vorhanden und nur ausgefallen sein sollten. Die beiden stehen gebliebenen 
Scbneidezäbne convergirten nach unten zu. Das Gaumengewölbe vertiefte sich 
nach oben spitzbogenförmig und machte den Eindruck, als ob ein früher be¬ 
standener Defect, eine knöcherne Gaumenspalte, zusammengewachsen wäre. (Fig. 
3, 4'. Die Gestaltung der Hände wird durch die beigegebene Skizze verdeutlicht: 
Es ist eine vollständige Syndactylie aller Finger an jeder Hand vorhanden. 
Palpatorisch kann man sich überzeugen, dass die Metacarpalknochen isolirt aus¬ 
gebildet sind, bei beiden Händen sind es auch die Phalangen der fünften Fin¬ 
ger und bei der einen Hand die der Daumen. An den übrigen Fingern ist je¬ 
doch eine ziemlich innige knöcherne Verschmelzung der Phalangen vorhanden. 
Eine Syngryphosis der Nägel ist gleichfalls zu constatiren, doch findet sich an 
einzelnen Stellen eine weniger starke, nämlich ein feiner Nahtstreifen zwischen 
den scharf aneinander stossenden Nagolpartien. Bei Fig. 4 a muss ein nicht mit- 
gezeicbnetes durch Punkte angedeutetes Appendiculargebilde ergänzt werden 
Dasselbe scheint nur aus einer Hautdupplicatur zu bestehen, krümmt sich haken¬ 
förmig in die Höhe und sitzt in der Mitte unter dem breiten Nagel. Der Knabe 
bediente sieb seiner gewissermaassen wie einer Häkelnadel, schob es z. B. beim 
Binden einer Schleife unter seine Schuhbänder und hob diese damit in die Höbe 
Ueberhanpt war die Geschicklichkeit überraschend, welche das Kind mit seinen 
mangelhaften Händen entfaltete. Es konnte mit der Gabel essen, freilich nicht 
mit Gabel und Messer. Es ersetzte oft den Mangel einer genügenden Opposi¬ 
tionsfähigkeit der Fingerrudimente durch Fassen der Gegenstände zwischen beide 


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Drei Fälle von Missbildung im Bereich der Extremitäten. 523 


Hände. — Bei den Fussen zeigte sich gleichfalls Syndactylie und Syngryphosis 
an den sämmtlicben Zehen. Mit Ausnahme der kleinen Zehen schienen auch 
hier knöcherne seitliche Verschmelzungen der Phalangenknochen bei sämmtlicben 
übrigen Zehen vorhanden zu sein. Dabei standen die Zehen in stärkster Dor¬ 
salflexion, theilweise waren sie ganz zurückgelegt, oder wie sich ein Student, 
dem ich den Fall in der Poliklinik zeigte, ganz significant ausdrückte, „umgc- 
krämpelt/ Fig. 2 zeigt den einen Fuss. — Von einer Operation, behufs deren 
Ausführung der Vater den Knaben zur Anstalt brachte, wurde Abstand genom¬ 
men, da die Geschicklichkeit, mit welcher die rudimentären Hände benutzt wur¬ 
den, so gross war, dass man kaum eine grossere erwarten konnte. 

III. Ein fernerer Fall von Missbildung an oberen und unteren 
Extremitäten fand sich bei einem bald nach der Geburt zur Klinik ge¬ 
brachten Knaben, Max Schmidt aus Bonn. Am rechten Fuss zeigte sich Agry- 
phosis und Fehlen der obersten Phalanx der ersten vier Zehen. Am obersten 
Ende der defecten Zehen ist in der Haut eine kleine Vertiefung, in welche die 
Haut trichterförmig eingezogen ist. Der linke Fuss, welcher schon bei der Ge¬ 
burt ein wenig grösser als der rechte war, wuchs relativ beträchtlich schneller 
als dieser, so dass er einen monströsen Macropus vorstellte. Die zwei ersten 
Zehen fehlten, wie Fig. 5 zeigt, ganz, und war eine kleine Hauteinziehung an 
der unteren Seite, die aber bei vorhandener starker Dorsalflexion des ganzen 
vorderen Fussrandes mehr nach oben als unten sab, vorhanden. Die dritte und 
vierte Zehe waren mit nach oben gebogen, die fünfte am wenigsten. Diese tru¬ 
gen Nägel. Ueber den Malleolen, wo sonst bei kräftigen Kindern nur eine 
Einschnürung vorhanden zu sein pflegt, waren hier zwei, und zwar sehr starke, 
zwischen denen die Haut stark gewulstet hervorquoll. Die rechte Hand (Fig. 6) 
hatte keinen einzigen völlig entwickelten Finger. Am besten gestaltet war der 
Daumen, aber zum grössten Theile mit dem Index häutig verwachsen. Diesem 
und einem mit ihm verschmolzenen Gebilde, welches den drittem und den an¬ 
scheinend nur in der Basalphalanx vorhandenen Finger zu repräsentiren schien, 
fehlte das obere Ende. Auf ihrem Dorsum hatte ein, durch die punctirte Linie 
angedeutetes kugelrundes Gebilde von Haut mit einer etwa den vierten Theil 
ihres Mittelschnittes einnehmenden Basis gesessen. Diese Geschwulst wurde 
durch einen Faden an ihrem Stiele fest umschnürt und darüber abgescbnitten. 
Eine glänzende Narbe, in der Figur durch schattige Schraffirung angedeutet, blieb 
zurück. Der fünfte Finger war gleichfalls nur durch ein kleines dactyloides 
Gebilde vertreten. Ausser dem Daumen waren alle Finger stark nach innen 
gebogen und mehr oder minder mit der Vola manus verwachsen. Von einer be¬ 
sonderen weiteren Encbeirese kann vorläufig nicht die Rede sein. Sollte der 
eine Fuss in zu bedeutender Weise hypertrophiren, so könnte man vielleicht zu 
einer methodischen Einschnürung greifen, um nach Art der Chinesen ein rela¬ 
tives Aufhalten des Wachstburas zu erzielen. 


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UNiVERSITY OF CALIFORNIA 


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524 


Dr. K. v. Moscngoil, 


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4. Luxation des Hnmernskopfes mit Fractor des anatomischen 
Halses, reponirt nnd geheilt. 

Mitgetheilt durch 

Dr« BL« v. nosengell. 


Ein Babnbeamter hatte, wahrscheinlich in statu ebrietatis, im Dienst eine 
Luxation des linken Qumeruskopfes mit Fractur des anatomischen Halses (schräg 
von unten und innen nach oben und aussen gehend) und Absprengung des un¬ 
teren Theiles der Cavitas glenoidalis scapulae erfahren. Die insultirende Ge 
walt war eine derartig complexe, dass ihre Einwirkung nicht näher zu analysiren 
und ihre Intensität nur nach dem Resultat zu beurtheilen war. Der betreffende 
Bahnarzt batte vergeblich manipulirt und brachte mir den Patienten mit sehr 
geschwollenem Arme, der starke Sugillationen zeigte. Nachdem bei dem Pa¬ 
tienten, einem Potator, mit grosser Mühe eine Narcose eingeleitet worden, konnte 
man untersuchen und deutlich die Art der Verletzung diagnosticiren. Die decken¬ 
den Weichtheile Hessen sich, obwohl Patient ein starker, musculöser Mann mit 
ziemUcb entwickeltem Panniculus adiposus war und reichlich Bluterguss in die 
Gewebe stattgefunden hatte, doch sehr gut in die Tiefe hinein durchtasten. Das 
Blut war noch nicht geronnen und so die Geschwulst durchaus weich. Der 
Kopf stand ziemlich tief nach unten verrückt, mit seiner convexen Fläche etwas 
nach vorne sehend, mit seiner Bruchfläche am Schaft des Humerus nach unten und 
vorne gerutscht. Von hinten her konnte man palpirend die Ueberzeugung gewinnen, 
dass die untere Partie der Cavitas glenoidalis abgebrochen, mit Crepitation am 
Hauptstück beweglich, aber damit wohl noch durch Weichtheile unten ziemlich 
fest verbunden war. Von oben her liess sich die Cavitas glenoidalis in ihrem 
unverletzten Theile gut durchtasten, wenn man am Ellenbogen den Oberarm etwas 
hob und das Humerusfragment oben nach vorne neigte; es wurde so den pal- 
pirenden Fingerspitzen die Cavitas frei von dem durch das Hinaufheben davor¬ 
stehenden Humerusschaft und durch das Heben die sonst gespannten Weichtheile 
eindrückbar gemacht. — Mehrfach machte ich vergebliche Repositionsversuche, 
wobei ich stets den Arm erheben liess und selbst den Kopf zu dirigiren ver¬ 
suchte. Ich erinnerte mich eines ähnlichen Falles, den ich während meiner 
Studienzeit in Berlin erlebte: Ein gebildeter Herr kam in die Poliklinik und bat, 
ihm einen Verband anzulegen, er habe auf der Eisenbahn eine Luxation des Hu¬ 
meruskopfes und Fractur des Halses erlitten; ein Professor, der zufällig auf dem 
Zug gewesen, wenn ich nicht irre, Herr Prof. Volkmann, habe ihm die Luxa¬ 
tion sofort reponirt, mit Taschentüchern provisorisch den Arm fixirt und ihn an¬ 
gewiesen, sogleich in Berlin in die Poliklinik zu gehen. Die Art der Reposition 
beschrieb der Patient ganz deutlich; es sei ihm der Arm emporgehoben und bei 
verschieden grossem Elevationswinkel und schliesslich erfolgreich versucht wor¬ 
den, den Kopf wie beim Kuipsen mit einem Kirschkern an seine Stelle zu brin¬ 
gen. Das gleiche Manöver probirte ich. Um jedoch den nöthigen Raum zu 
schaffen, damit der Kopf zwischen Cavitas glenoidalis und Fracturfläche des 
Humerus einrücken konnte, half Elevation des Armes und Extension desselben 


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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Fixationsmethode des Fusses in einer erzwungenen Stellung etc. 525 

in der Schulter nichts; schnell führte es mich jedoch zum Ziel, als ich den Arm 
ein kleines Wenig abduciren und bei alsdann fixirt gehaltenem Ellenbogen den 
Humerus durch an der Innenseite des Armes oben angebrachten nach aussen 
wirkenden Druck mit seiner Bruchfläche, respective mit seinem Schaft seitlich 
nach aussen von der Bruchfläche des centralen Fragments abheben Hess. Vor 
dem Patienten stehend fasste ich den runden Kopf zwischen dem Daumen der 
linken Hand einerseits und Zeige- und Mittelfinger andererseits; hebend, drückend 
gelang es mir, plötzlich den Kopf an seine Stelle zu bringen. Der Arm wurde 
nach Zwischenlegung eines Wattepolsters in stark adducirter Stellung am Thorax 
geschient und durch einen Gypsverband befestigt. Das Resultat war, wenn auch 
der Patient noch klagte, für den Arzt ein sehr zufriedenstellendes. Die Fracturen 
heilten fest, ohne durch Calluswucherungen bedeutende Bewegungshemmungen 
abzugeben. Patient konnte den Arm bis zu einem halben rechten Winkel er¬ 
heben, ohne das Schulterblatt mitzubewegen. Eine kleine Convexität bestand 
an der äusseren Partie oben am Humeruskuochen, die Luxation blieb geheilt 
und Patient war zu Kraftäusserungen beträchtlichen Grades fähig. 


5. Fixationsmethode des Fasses in einer erzwangenen Stellung 
beim Erhärten des Gypsverbandes. 

Mitgetheilt durch 

Hr. ü. v. lHoseit(ell. 


Seit einiger Zeit bediene ich mich bei Behandlung von Pes equinus und beson¬ 
ders Pes varus mittelst des Gypsverbandes einer höchst einfachen Fixationsmethode, 
die sicherer wirkt, als das Manualfixiren durch einen Assistenten und überhaupt 
einen solchen entbehrlich macht. Diese Methode wurde mir von dem durch 
seine Massage-Behandlung verschiedener, besonders mancher Gelcnkleiden, be¬ 
kannt gewordenen Dr. Mezger aus Amsterdam mitgetheilt. Dieser hat dieselbe, 
soviel ich weiss ersonnen, und schon seit einem oder zwei Jahreu mit Yortheil 
in seiner Praxis angewandt. Um sie auszuführen, legt man eine dünne Watten¬ 
lage auf den Rücken des Fusses in die Fussbeuge, wickelt mit einer dünnen 
Flanellbinde den Fuss von der Spitze bis etwa 4—G Zoll über dem Gelenk ein, 
nimmt dann eine von beiden Seiten gut mit Gypspulver eingeriebene Binde von 
weichem aber dünnem und lose gewebtem Flanell, die man entweder vor dem An¬ 
legen in Wasser legt oder trocken anlegt und dann mit ganz dünnem Gypsbrei 
befeuchtet Den Patienten hat man auf einen festen Sitz gesetzt, der niedriger 
sein muss, als die Höhe seines Unterschenkels. Der Fuss wird darauf mit der 
Fusssohle auf den ebenen, vielleicht vorher angefetteten Boden gestellt, durch 
Umgreifen des Fussrückens von oben her flach aufgedrückt erhalten und das 
Knie derartig gestellt, dass der Fuss möglichst in die beabsichtigte Dorsalflexion 
und Correction der ursprünglich vorhandenen Yarusstellung kommt. Beiden 
wird am besten durch möglichst starke Beugung im Kniegelenk genügt, da so 
Ursprungs- und Ansatzpunkt der Suralmuskeln am meisten sich genähert werden. 


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526 


Pr. H. Bose 


v 

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Alsdann drückt man von oben her auf das Knie, dieses um so mehr nach vom schie¬ 
bend, je stärker man das Fussgelenk in Dorsalflexion beugen will. Man hält 
alsdann das Knie so fest, bis der Verband erhärtet ist Ich habe auf diese Weise 
schon ganz allein ohne irgend eine Hülfe Contentiv verbände gelegt, wobei im 
Verbände eine von der ursprünglich vorhanden gewesenen perversen Stellung 
total verschiedene erzielt wurde. Wer die Unbequemlichkeit des Haltens kennt, 
wenn vielleicht noch gar das Widerstreben der meist kindlichen Patienten zum 
an und für sich Ermüdenden des mit Kraftanstrengung in verstellter Lage 
Fixirens hinzukommt, wird diesen einfachen Modus dankbar annehmen. Oft 
passirte es mir, dass die gerade beim Erstarren so bröckligen Gypsverbände we¬ 
gen Ermüdung des Assistirenden zerbrachen und ich beim Anlegen des unmit¬ 
telbar nach dem ersten zu legenden Verbandes selbst den Fuss hielt, um sicher 
vor neuen Zeit- und Müheverlusten zu sein. Das einfache Drücken auf das 
Knie ist leichter und von Jedermann ohne besondere Kraftanstrenguug auszu¬ 
führen. Bei einem widerspenstigen, verzogenen Kinde hielt ich mit der einen 
Hand den Fuss auf den Boden leicht angepresst, mit der anderen das Knie nach 
vom, aussen und unten gedrückt und konnte so die schönsten Verbände legen, 
was sonst nur in der Narkose möglich war. Die Wirkung der Methode quood 
des Erzwingens der Dorsalflexion ist viel grösser, als beim Anwenden der Hand. 
— In Fällen, wobei die Patienten im Verbände herumgehen sollten, schmierte 
ich über den Verband, mit Ausnahme der auf dem Boden noch fest aufstebenden 
Fusssohle, noch eine dickere Lage Gypsbrei und fand, dass die Verbände dann 
recht gut hielten, so dass Patienten öfter 3 Wochen lang mit einem Verbände 
gingen; die feste Stütze, welche die an der Sohle mehrfach über einander ge¬ 
legten Bindenstreifen an den festen, seitlich sich befindlichen Gypsmassen fanden, 
reichte hin, den Fuss in der erzwungenen Stellung fixirt zu erhalten, auch nach¬ 
dem der sehr geringe, dünne Gypskitt zwischen den Bindenpartien an der Fuss¬ 
sohle abgebröckelt worden. — In analoger Weise würde man auch bei Valgus- 
stellung verfahren können. — In einem Falle von Equinus paralyticus, welcher 
in spitzwinkliger Dorsalflexion längere Zeit erhalten werden musste, ging Pa¬ 
tientin auf ihrem Verbände, der zwischen der flanellenen Unterbinde und der 
Gypsbinde einen mit der Basis nach der Fussspitze sehenden Korkkeil trug. — 
Dr. Mezger bedient sich zum Anlegen der beschriebenen Verbände eines höher 
und tiefer stellbaren Sesselbrettes und zum Festhalten des Knies eines darüber 
gespannten breiten Lederriemens, der zu beiden Seiten an dem Fussbrett be- 
estigt ist. 


Zur Technik der Tracheotomie. Berichtigung. 

Von 

Dr. H. Bose. 

In dem vorigen Hefte dieser Zeitschrift (B.XV. S.735) sagt Hr. Dr. M. Mül¬ 
ler bei Beschreibung einer Tracheotomie: „Bei dieser Gelegenheit will ich dar¬ 
auf aufmerksam machen, dass die neuerdings von H. Bose (d. A. B. XIV. H. 1 


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Original fram 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Zur Technik der Tracheotomie. Berichtigung. 


527 


1872) beschriebene Methode der Tracheotomia superior genau dieselbe ist, welche 
ich schon 1870 in v. Langenbeck’s Archiv B. XII. S. 440 und 441 veröffent¬ 
licht habe. Da meine hierauf bezüglichen Angaben auch von späteren Autoren 
über Tracheotomie, wie C. Hüterund Lotzbeck keine Berücksichtigung ge¬ 
funden haben, so muss ich wohl daraus schliessen, dass meine Beschreibung (in 
Bezug auf das Punctum saliens der Methode), nämlich — Eröffnung der die 
Thyreoidea und den Ringknorpel überziehenden Fascie am unteren Rand des 
Ringknorpels und Verziehen der Thyreoidea nach unten sammt dieser Fascie, 
durch stumpfes Vergrössern der gemachten Oeffnungen — entweder zu kurz, oder 
unverständlich gewesen ist.* 

Da die beiden betreffenden Abhandlungen in diesem Archiv erschienen sind, 
so würde ich es denjenigen Lesern, welche Interesse an dieser Sache haben, 
überlassen können, selbst nachzusehen, wenn nicht die obige Behauptung so apo- 
dictisch wäre, dass ich befürchten müsste, bei solchen, welche sich die Mühe des 
Nachschlagens nicht nehmen mögen, in den Verdacht zu kommen, als habe ich 
mir etwas angeeignet, was eigentlich Herrn Müller gehört. Diese Rücksicht 
zwingt mich, auch meine Ansicht über die Identität der beiden Methoden an 
dieser Stelle auszusprechen. 

Wiederholen wir zunächst die frühere Beschreibung des Herrn Müller, 
soweit sie sich auf den Hauptpunkt der Operation bezieht: „Genau an dem un¬ 
teren Rande des Ringknorpels wird die, die Glandula thyreoidea und den Ring¬ 
knorpel bedeckende, ziemlich feste Zellschicht mit einer Hakenpincette in der 
Mittellinie fixirt und mit einem dicht unter der Pincette angesetzten Schieihaken 
durch Ziehen nach unten eine Oeffnung in dieser Bindegewebshaut gebildet; 
sowie auch nur eine kleine Oeffnung entstanden, so genügt das Einsetzen von 2, 
8 oder 4 Schieihaken, um dieselbe durch kräftiges Ziehen nach unten und den 
Seiten so zu vergrössern (womit gleichzeitig die Thyreoidea nach unten ver¬ 
schoben wird) um die Trachea frei zu legen.* 

Da Herr Müller auf das, was mit der Schilddrüse geschieht, so wenig Werth 
legt, dass er sie bei Beschreibung einer neuen Tracheotomiemethode so ganz 
nebenbei erwähnt, so muss ich dieselbe etwas eingehender berücksichtigen 
und einige, wenn auch bekannte, allgemeine Gesichtspunkte ausdrücklich be¬ 
tonen. 

Beim Freilegen der Trachea giebt es nur ein Hinderniss, welches Schwierig¬ 
keit macht, die Anwesenheit des Scbilddrüseuisthmus, resp. seiner Gefässe, und 
alle Methoden der Tracheotomie, deren Schwerpunkt in diesem ersten Tbeile der 
Operation liegt, sind nichts weiter, als verschiedene Wege, welche man aufge¬ 
sucht hat, um an diesem Steine des Anstosses glücklich vorbei zu kommen, oder 
ihn aus dem Wege zu räumen. Wenn die Schilddrüse keinen Isthmus hätte, so 
würJe die Tracheotomie auch nicht eine ganze Reihe von Methoden aufzuweisen 
haben. Was mit der Schilddrüse geschehen soll, das ist also das Grundprincip 
für eine jede von diesen Methoden, und durch die verschiedene Art und Weise, 
wie die Schilddrüse behandelt wird, wird deshalb am Wesentlichsten die Ver¬ 
schiedenheit der einzelnen Methoden charakterisirL So haben diejenigen, welche 
die Schilddrüse umgehen wollten, das Lig. conoideum eröffnet, die Cricotracheo- 


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Dr. H. Bose, 


tomie oder die Tracheotomia inferior ausgefübrt, und diejenigen, welche die 
Schilddrüse aus dem Wege räumen wollten, haben dazu auch verschiedene Me¬ 
thoden gewählt. Diese letzteren kann man im Allgemeinen in drei Kategorien 
bringen. Die einen haben den Isthmus gespalten (durchschnitten, unterbunden, 
durchgebrannt), die anderen haben versucht, denselben von der Luftröhre los zu 
präpariren, und endlich wieder andere haben es so gemacht, wie es auch Herr 
Müller gemacht bat, sie haben die Schilddrüse weder gespalten, noch abgelöst, 
sondern sie haben dieselbe nach Trennung der Fascia media soweit nach unten 
geschoben, als die übrigen Verbindungen und die natürliche Verschieblichkeit 
der Drüse dies zulassen. Beschreibungen dieser letzten Kategorie sind der von 
Herrn Müller gelieferten so ähnlich, dass ersieh nicht wundem darf, wenn die 
seinige nicht als etwas wesentlich Neues citirt wird. Ich will eine solche hierher 
setzen, ln der Linhart’schen Operationslehre, Ausgabe von 1867 heisst es 
Seite 697: „Tracheotomie über der Schilddrüse. Die schicbtenweise Durchtren¬ 
nung geschieht ebenso, wie bei der Laryngotomie, sieht man den oberen 
Rand der Schilddrüse, so isolirt man denselben durch Zerreissen des Zellgewebes 
und lässt ihn mit einer Hohlsonde oder einem flach gekrümmten Wundbaken 
nach abwärts drücken.“ 

Die Müller’sehe Operation gehört in diese dritte Kategorie, meine Methode 
dagegen gehört in die zweite. Während also Herr Müller sich um die Schild¬ 
drüse nicht weiter kümmert, sondern über derselben ein Loch in die Fascia media 
macht und dann den Raum benutzt, welchen man, weil die Schilddrüse ein wenig 
verschieblich ist, durch Auseinanderziehen dieser Oeffnung gewinnt, habe ich 
mit der grössten Bestimmtheit und ganz unzweideutig überall in meiner Beschrei¬ 
bung ausgefübrt, dass die Schilddrüse von der Luftröhre abgelöst werden 
soll. Grösse und Lage der Schilddrüse sind variabel, ich habe deshalb 
nicht das Recht, daran zu zweifeln, dass es Individuen giebt, bei welchen 
durch Verschieben der Drüse genügend Raum geschafft wird, dass viel¬ 
leicht an gewissen Orten eine solche Entwickelung die Regel ist, hier in Berlin 
aber kann man, soweit meine Erfahrung reicht, in den meisten Fällen ohne Ab¬ 
lösung der Schilddrüse dio Luftröhre nicht gehörig freilegeu. Von den bisherigen 
Versuchen, die hintere Fache der Schilddrüse von der Luftröhre abzupräpariren, 
unterscheidet sich nun meine Methode durch Folgendes Ich habe darauf hinge¬ 
wiesen, dass die beiden Fascienblätter, deren eines vor, das andere hinter der 
Schilddrüse liegt, dieselbe so umkapseln, dass sämmtliche Gefässe, deren' Ver¬ 
letzung eine nennenswerthe Blutung zur Folge haben könnte, von dieser Kapsel 
mit umschlossen werden, dass man desshalb über dieser Kapsel auf dem Ring¬ 
knorpel einschneiden und von da aus zwischen dem hinter der Drüse gelegenen 
Fascienblatt und der Luftröhre nach abwärts Vordringen soll, dass folglich die 
vordere Fläche der retrothyreoidalen Fascie mit der Drüse in Verbindung bleiben 
soll, während die hintere Fläche der Fascie von der Luftröhre getrennt und dadurch 
die Ablösung der Drüse bewerkstelligt wird. Wie Hr. Müller auf den Gedanken 
kommen kann, dies sei genau dasselbe, was er beschrieben habe, ist mir unbe¬ 
greiflich. Um es noch einmal zu wiederholen: nicht in dem Verschieben 
der Schilddrüse durch Auseinanderzerren eines Loches der Fascia media mit 


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Zur Technik der Tracheotomie. Berichtigung. 


529 


stumpfen Instrumenten liegt das Eigentümliche meiner Operation, sondern 
darin, dass ich die Schilddrüse von der Luftröhre ab löse und zwar ohne sie 
dabei aus ihrer natürlichen Fascienumhüllung herauszuschälen. Heine Operation 
unterscheidet sich also von der Müller’schen bereits in dem Grundprincip, sehen 
wir nun noch, wie es sich mit dem Detail der Ausführung verhält. 

Hr. Müller lässt die Kinder einwickeln, um ihren Widerstand zu überwinden; 
ich chloroformlre dieselben. H. M. legt nach dem Hautscbnitte das Messer bei Seite, 
dringt, indem er das Qewebe mit Pincetten zerreisst, in die Tiefe bis er durch die 
Muskulatur hindurch und auf der Fascia media angekommen ist Ich gebrauche zu 
diesem Vordringen das Messer und reisse nichts ein. — H. M. lässt inzwischen 
die Wunde von Gebülfen auseinander halten; ich benutze dazu einen federnden 
Sperrhaken. — H. M. reisst nun an dem unteren Rande des Ringknorpels ein 
Loch in die Fascia media; ich trenne diese Membran auf der Kuppe des Ring¬ 
knorpelbogens durch einen von links nach rechts verlaufenden Querschnitt. — 
H. M. zieht dieses Loch mit mehreren stumpfen Häkchen nach verschiedenen 
Richtungen auseinander und bat dadurch die Trachea genügend frei liegen. Ich 
schiebe von jenem Querschnitt aus, unmittelbar auf der Oberfläche der Luft¬ 
röhre, zwischen dieser und der retrothyreoidealen Fascie eine Hohlsonde nach 
abwärts bis hinter die Schilddrüse und löse durch vorsichtige Hebelbewegungen, 
ähnlich wie man bei einer subperiostealen Resection das Periost vom Knochen 
trennt, die retfothyreoideale Fascie und damit zugleich die Schilddrüse von der 
Oberfläche der Luftröhre ab. Der abgelöste Isthmus wird nach unten geschlagen 
und in dieser Stellung ganz ohne Gewalt mit einem stumpfen Häkchen festge¬ 
halten. — H. M. schneidet die freiliegende Trachea ein, ohne dieselbe weiter zu 
fixiren, als mittelbar durch die in der Fascienöffnung liegenden stumpfen Häk¬ 
chen geschieht und setzt schliesslich 2 von diesen in die Trachealwunde, um 
dieselbe vollständig auseinander -zu ziehen. Ich flxire zuerst die Trachea durch 
2 scharfe Häkchen, die von beiden Seiten her in dieselbe eingelegt werden, 
schneide zwischen den Häkchen ein und ziehe mit ihnen, ohne ihre Lage wechseln 
zu müssen, die Wunde auseinander. 

Diese möglichst ausführliche Gegenüberstellung zeigt, dass auch zufällige 
Uebereinstimmungen in den Einzelheiten der Ausführung, welche vielleicht Herrn 
Müller zu seiner Behauptung veranlasst haben könnten, meiner Meinung nach 
durchaus nicht vorhanden sind. 


Gedruckt bei Julius 8ittenfeld in Berlin. 


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XX. 

Zur Mechanik der Schussverletzuugen. 

Von 

Dr. 91. Wahl, 

in Essen. 

(Hierzu Tafel XV.) 


Unter Mechanik der Schuss Verletzungen begreife ich 
den eigentümlichen Modus der Entstehung derselben mit Berück¬ 
sichtigung der dabei in Frage kommenden Factoren und deren 
gegenseitigen Beziehungen unter einander. 

Man hat im Allgemeinen bisher den Grundsatz festgehalten, 
dass es überhaupt unmöglich sei, die Entstehung der Schusswun¬ 
den auf allgemeine mechanische Gesetze zurückzuführen. Es liegt 
das in der Schwierigkeit, die Wirkungsgrenzen und Modificationen 
der einzelnen Factoren der Schusswunden, welche so mannichfach 
sind, zu bestimmen. Man ist zwar in der Lage, die Geschwin¬ 
digkeit des Geschosses zu messen, allein für den Eft’ect des Wi¬ 
derstandes des Körpers haben wir keine nur annähernd mathema¬ 
tisch genauen Aequivalente, da derselbe, bei der Zusammen¬ 
setzung des Körpers aus verschiedenen Geweben, einem steten 
Wechsel unterliegt, abgesehen von anderen noch zu berücksichti¬ 
genden Zufälligkeiten. 

Wenn ich es nun im Folgenden wage, näher auf dieses 
Thema einzugehen, so geschieht es zunächst nicht in dem Be¬ 
wusstsein, etwas Neues zu geben, sondern bloss in der Absicht, 
durch eine Zusammenstellung älterer und neuerer Beobachtungen 
Gesichtspunkte aufzufinden, von denen aus eine Sichtung des in¬ 
zwischen so enorm angehäuften Materiales, eventuell auch die Ver- 

?. Langenbock, Archiv f. Chirurgie. AVI. OA 


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532 


Dr. M. Wahl, 


wertbang etwaiger späterer Beobachtungen vielleicht zu ermög¬ 
lichen wäre. 

Die ersten genaueren Andeutungen über Mechanik der 
Schusswunden finden sich in „Hunter’s Buch von den Schuss¬ 
wunden“. Hunter macht Bemerkungen über den Unterschied, den 
die verschiedene Geschwindigkeit des Geschosses in seinen Wirkun¬ 
gen macht, und über den Widerstand, den es auf seinem Wege 
findet. Später haben Dupuytren, Larrey und Baudens ihr 
Augenmerk auf dieses Thema gerichtet, und in neuerer Zeit wa¬ 
ren es v. Langenbeck in seinen „Bemerkungen zu Hunter’s 
Buch von den Schusswunden“, Simon in seinen „Schusswunden“ 
und Stromeyer in den „Maximen der Kriegsheilkunde“, welche 
allgemein gültige Anhaltspunkte gaben. Die Einführung der so¬ 
genannten cylindro-conischen Geschosse rief verschiedene 
Betrachtungen hervor, von denen namentlich die vonLongmore 
und Legouest hervorzuheben sind. Die neuesten kriegschirur- 
gisehen Werke enthalten eigentlich bloss vorübergehende kurze Be¬ 
merkungen über die physikalische Seite der Kriegschirurgie. Die 
ersten Andeutungen über die Bedeutung der ballistischen Mo¬ 
mente giebt Demme in seinen „Militärchirurgischen Studien“ 
durch besondere Betonung der Kaliberfrage. Ausführlicher sind 
Neudörfer’s und Fischer’s Betrachtungen über diesen Theil 
der Kriegsheilkunde in der „Allgemeinen Kriegschirurgie“ des 
ersteren und in „Billroth’s und Pitha’s Chirurgie.“ 

Es lässt sich nicht verkennen, dass die physikalische Seite 
der Kriegschirurgie im Allgemeinen sich keiner besonderen Wür¬ 
digung zu erfreuen gehabt hat. Dabei haben sich oft An¬ 
schauungen Eingang verschafft, welche geradezu unrichtig sind, 
wie z. B. die Behauptung, dass das Langblei um seine kürzere 
Querachse rotire, ein Umstand, der, wenn er wirklich wahr wäre, 
den ganzen ballistischen Effekt des Zündnadelgewehres annulliren 
müsste. 

Durch die Veröffentlichung und besondere Deutung der Ver¬ 
suche von Hagenbach und Tyndall durch Socin und Mühl- 
häuser ist durch Betonung der Erhitzung und Abschmelzung 
der Projectile ein neues Interesse entstanden, welches jedenfalls 
eine nähere Betrachtung der bei dem Zustandekommen der Schuss¬ 
wunden in Frage kommenden mechanischen Momente rechtfertigt. 


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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


533 


Wenn die Schusswunden im Allgemeinen durch die Einwir¬ 
kung der Geschosse, oder durch von jenen in Bewegung gesetzte 
Körper, die sogenannten indirecten Geschosse erzeugt wer¬ 
den, so habe ich bei den folgenden Betrachtungen wesentlich die 
durch Gewehrprojectile erzeugten Verletzungen in’s Auge gefasst. 
Die charakteristischen Merkmale der Schusswunden lassen sich 
bei ihnen am Eclatantesten naclnveisen, während sie bei Ver¬ 
letzungen durch grobes Geschütz, bei Granatwirkungen und bei 
Verletzungen durch indirecte Geschosse weniger deutlich und kei- 
nesweges typisch hervortreten. Die Verwundungen dieser Katego¬ 
rie bestehen wegen der meist grossen Flächeneinwirkung der Ge¬ 
schosse zum grossen Theil aus Abreissungen ganzer Glied- 
maassen oder Theile derselben und bieten daher für die Würdi¬ 
gung der bei den Schusswunden zu berücksichtigenden mechani¬ 
schen Momente der Beobachtung nicht jene feinen Nüancirungen, 
wie sie bei den in den Körper eindringenden kleineren Gewelir- 
projectilen sich zeigen. 

Auch ist dabei zu berücksichtigen, dass die Zahl der durch 
Gewehrprojectile hervorgerufenen Verletzungen die auf Rechnung 
von Geschützfeuer kommenden bedeutend überwiegt. Das In¬ 
fanteriegewehr hat den Hauptantheil an der blutigen 
Arbeit des Schlachtfeldes. 

Die einzelnen Berichten entnommenen statistischen Zu¬ 
sammenstellungen ergeben bezüglich des Amerikanischen, Dä¬ 
nischen und Böhmischen Krieges für die Verwundungen 

durch Infanteriegewehro 80 pCt. 

durch Geschützfeuer und blanke Waffen 18 „ 

durch unbestimmte Ursachen 2 „ 

Löffler (s. dessen Bericht) zählte unter 2355 Schusswun¬ 
den 487 (20 pCt.) von Artilleriewaffen her rührende Verletzungen. 
— Die Dänen verloren nach einer Angabe im Militär-Wochen¬ 
blatt (38. 18G8) 1864 10 pCt. durch Geschützfeuer, 84 pCt. 
durch das Zündnadelgewehr, während 6 pCt. auf blanke Waffen 
und andere Ursachen kamen. — Beck (s. dessen Bericht) 
hatte bei 238 Verwundeten 32 (13,5 pCt.) durch grobes Ge¬ 
schütz Getroffene. — Die Oesterreicher verloren 1866 nach 
den Angaben des Militär-Wochenblattes durch Artillerie 3 pCt., 
durch blanke Waffen 4 pCt., durch nicht nachweisbare Ursachen 

35* 


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UNlVERSITY OFCALIFO : 



534 


Dr. M. Wahl, 


3 pCt. und 90 pCt. durch das Zündnadelgewehr. — Im Feldzuge 
der Main-Armee erzeugten, nach derselben Angabe, die Preussi- 
schen Waffen: Artillerie 5 pCt., Zündnadelgewehr 90 pCt., blanke 
Waffen 3 pCt. Verwundungen, während 2 pCt. auf nicht näher 
nachzuweisende Ursachen kommen. — v. Plönnies und Wey¬ 
gand (Deutsche Gewehrfrage, 17) zählen bei 6830 Verwun¬ 
dungen aus der Schlacht von Gravelotte 364 durch Artillerie, 
70 durch blanke Waffen und 6 durch Mitrailleusen Verletzte, also 
für Infanteriegewehr 94 pCt., für Artilleriegeschosse 5 pCt. und 
für blanke Waffen 1 pCt. — Beck führt in seiner „Chirurgie 
der Schussverletzungen“ unter 7182 Verletzungen beim Werder’- 
schen Corps 70 Hiebwunden, 0,8 pCt., an. 

Neben der geringen Procentzahl der Verletzungen durch Ar¬ 
tilleriewaffen ist der minimale Procentsatz der Verwundungen 
durch blanke Waffen auffallend. Beiläufig ist dabei zu erwähnen, 
dass nur der Italienische Krieg 1859 ein anderes Resultat gab, 
indem unter 12,6*9 Verwundeten beider Armeen in den Laza- 
rethen von Mailand, Brescia, Pavia, Turin und Vercelli 2100 
durch blanke Waffen Verletzte (16,7 pCt.) sich befanden. Nach 
v. Plönnies erklärt sich dieses Verhältnis dadurch, »weil in 
jenem Feldzuge ein unvollkommenes gezogenes Gewehr noch vor¬ 
zugsweise durch die glatte Muskete bekämpft wurde, weil dem¬ 
nach der geringe Effekt des Feuers gebieterisch zur Anwendung 
des Bajonnettes und der blanken Waffe trieb, um erheblichen Er¬ 
folg zu erreichen.“ — Der Amerikanische Krieg ergab bloss 
0,2 pCt. Von 87,882 Verwundungen kommen bloss 249 auf Rech¬ 
nung der blanken Waffe. — Stromeyer führt an (Nachtrag 
zu den Maximen 1867), dass unter 1072 Verletzten bei Langen¬ 
salza 15 (1,4 pCt.) durch blanke Waffen verwundet waren. — 
Es muss dabei allerdings bemerkt werden, dass ein grosser, wenn 
nicht der grösste Theil der durch Artilleriegeschosse und blanke 
Waffen Verletzten nicht in Betracht gezogen ist, da wegen der 
unmittelbaren Tödtlichkeit jener Verwundungen, welche ja zum 
Theil in Abreissungen ganzer Gliedmaässen, in Zermalmungen 
oder Verletzungen mit nachfolgenden tödtlichen Blutungen, oder 
in penetrirenden, von Lanzen- und Bajonnetstichen herrührenden 
Wunden bestehen, ein grosser Theil das Schlachtfeld als Leichen 
deckt. Eine Todtenstatistik des Schlachtfeldes allein könnte dar- 


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Zur Mechanik der Scbussverletzungen. 


535 


über genügenden Ausweis geben. Einstweilen müssen wir uns 
mit den Zahlen begnügen, welche aus den Beobachtungen in den 
Lazarethen zusammengestellt sind. Aus denselben geht unzwei¬ 
felhaft die „souveräne Bedeutung des Infanteriege wehr¬ 
feuer s“ hervor, dessen positive Wirkung derjenigen der Artillerie 
5—9 mal, der der blanken Waffe 30—50 mal überlegen ist. 
(v. Ploennies und Weygand a. a 0. S. 9.) 

Je nach der Gefechtsweise stellen sich diese Zahlen natürlich 
hier und da für einzelne Kämpfe anders. Der Belagerungskrieg 
giebt andere Resultate als die Feldschlaeht. Unter 268 Franzosen, 
welche während der Belagerung von Strassburg verwundet waren 
und von mir im Militairhospital daselbst in Behandlung übernom¬ 
men wurden, waren 189=70,5 pCt. durch Granatsplitter verwun¬ 
det. Unter 518 später hinzugehenden Verwundeten waren 461 
= 89,0 pCt. durch Gewehrprojectile, 57 = 11,0 pCt. durch Gra¬ 
natsplitter verletzt worden. Bei 205 Verwundungen in einem 
Gorzer Feldlazarethe behandelte ich 17 = 8,2 pCt. durch grobes 
Geschütz Getroffene. Letztere waren in den Schlachten um Metz 
verwundet, während die 57 im Strassburger Militairlazareth später 
aufgenommenen durch Granaten Verwundeten aus den Belagerungs¬ 
kämpfen von Beifort grossentheils kamen. 

Noch auffallender als die überwiegende Zahl der Verletzun¬ 
gen durch Kleingewehrfeuer ist der geringe Procentsatz der Tref¬ 
fer. Die Anzahl derselben ist mit der Vervollkommnung der 
Gewehre grösser geworden, daher auch die Zahl der Verwundun¬ 
gen in den modernen Kriegen bedeutender ist. Wilford erzählt, 
dass von 80,000 an einem Tage im Kaffernkriege abgeschossenen 
sphärischen Geschossen nur 25 trafen. 3000 Schüsse der Eng¬ 
länder hatten hei Salamanca nur 1 Treffer. Die Treffföhigkeit der 
modernen Waffen ist grösser. Ina Krimkriege wurden (Fi sch er’s 
Kriegs-Chirurgie a. a. 0.) nach Chenu 89,595,363 Gewehrpro¬ 
jectile und 1,109,241 grobe Geschosse von den Franzosen abge¬ 
feuert. Die hohe Zahl der Verwundungen während dieses Krieges 
nahe an 200,000, ist daher erklärlich. Bei Solferino wurden 11,500 
Franzosen, 5,300 Piemontesen und 21,000 Oesterreicher verwundet. 
Bei Chickamanga giebt Moses die Zahl der Verwundungen auf 
27,500 (von 120,000 Mann) an. v. Ploennies und Weygand 
(a.a.O. S. 13) geben für die Campagne 1864 die durchschnittliche 


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Dr. M. Wahl,- 


Präcision des Zündnadelgetfehres auf 1,5 pCt. an. Was die Waffe 
übrigens unter günstigen Umständen auf nahe Distanzen zu leisten 
vermochte, zeigt das Gefecht von Lundby, wo G4 Preussen durch 
750 Schüsse 88 Dänen (11,7 pCt. Treffer) ausser Kampf setzten. 
Für die Maincampagne stellt sich die Wirkung des Zündnadelge¬ 
wehres bloss auf 0,9 pCt. Treffer. Bei Langensalza rechnete man 
von den Kämpfenden 13 pCt. Todte und Verwundete, im Böh¬ 
mischen Kriege 6—7 pCt. Was das Resultat der Infanteriegewehr¬ 
wirkung im letzten Deutsch-Französischen Kriege anlangt, so be¬ 
merken v. Ploennies und Weygand darüber Folgendes: „Sagen 
wir 70 pCt. der Gesammtwirkung und taxiren wir diesen Betrag auf 
70,000 durch Bleigeschosse verwundete Franzosen, so ist unsere 
Schätzung gewiss hoch gegriffen, um durch künftige Aufklärungen 
in keinem Falle überboten zu werden. Gehen wir ferner von der 
äusserst geringen Annahme aus, dass während der ganzen Cam¬ 
pagne von Deutscher Seite durch eine halbe Million Infanteristen 
im Ganzen nur je 50 Schuss per Mann, also 25 Millionen Patro¬ 
nen gegen den Feind abgeschossen worden seien, so wird Jeder¬ 
mann zugeben, dass diese Schätzung der verbrauchten Munition 
eine sehr mässige, ja offenbar zu geringe ist. Hieraus würde 
aber für die Kriegsleistung der Deutschen Gewehre sich nur der 
minimale Betrag von 0,28 pCt. berechnen. Mag nun auch die 
Truppenzahl und die verbrauchte Patronenmenge auf Grund spä¬ 
terer Aufklärungen noch weiter zu verringern, die Zahl der ge¬ 
troffenen Franzosen dagegen noch höher anzunehmen sein, — 
immerhin wird die Deutsche Infanteriewaffe für diesmal höchstens 
die gewöhnliche Leistung von etwa 0,7 pCt. oder höchstens * pCt 
erreicht haben. Die Leistung des Chassepotgewehres dürfte sich 
kaum wesentlich davon unterscheiden. Es betrugen unsere Ge¬ 
fechtsverluste nach amtlichen Angaben während des letzten Feld¬ 
zuges bei einer Armeestärke von 887,876 Mann 113,240=12,8 
pCt. an Todten und Verwundeten. Gleich todt auf dem Schlacht¬ 
felde blieben 17,570 = 1,8 pCt. der Gesammtstärke der Armee, 
15,5 pCt. des Gesammtverlustes durch Kriegswaffen; an den Wun¬ 
den starben später 10,707 = 1,2 pCt. der Gesammtstärke und 
11,1 pCt. der Gesammtzahl der Verwundungen nach Abzug der 
Todten; im Ganzen 28,277 Todte durch Kriegswaffen, 32,2 pCt. 
der Armeestärke und 24,9 pCt. der Gesammtverwundungen“. 


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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


537 


Facioren der Schussverlefzimgeii. 

Bei der Entstehung der Schussverletzungen sind verschiedene 
Factoren zu berücksichtigen: das treffende Projectil und der 
getroffene Körper. Von den gegenseitigen, oft durch das 
Hinzutreten äusserer Umstände modificirten Beziehungen derselben 
unter einander hängt die physische Beschaffenheit der Verletzun¬ 
gen ab. Es sind daher folgende Gesichtspunkte als wesentlich 
hervorzuheben: das Projectil in Beziehung auf Masse und 
Form und die ihm eigene lebendige Kraft, der Körper in 
Beziehung auf die durch die verschiedenen Gewebe bedingte Re¬ 
sistenzkraft, sowie auf seine durch gewisse äussere Zufällig¬ 
keiten hervorgerufene Stellung im Momente der Verwun¬ 
dung. 


Das treffende Projectil. 

Masse und Form des Projectils. 

Die Projectile werden aus dem unelastischen, durch eine ge¬ 
wisse Weichheit und leichte Schmelzbarkeit (330'* C.) sich vor 
anderen Metallen auszeiclmenden Blei angefertigt. Während bis 
vor nicht gar langer Zeit das Giessen der Kugeln allgemein war, 
werden die Geschosse jetzt zum Theil aus langen gegossenen 
Bleistangen geprägt. Hier und da werden Mischungen mit An¬ 
timon oder Zink vorgenommen, um das Blei härter zu machen. 
Daher ist auch die Weichheit der Geschosse oft verschieden. So 
zeichnete sich 1870 und 1871 das Französische Chassepot- 
projectil durch besondere Weichheit aus, während mir 1864 im 
Schleswigschen Feldzuge und 1866 bei Langensalza die besonders 
harte Consistenz des Bleies der Dänischen und Hannover¬ 
schen Projectile auffiel. — Pirogoff beschreibt in seinem „Rap¬ 
port med. d’un voyage en Caucase 1849“ und in seinen „Grund¬ 
zügen der allgemeinen Kriegschirurgie“ Kugeln aus Kupfer und 
Stein, welche bei den Tscherkessen gebräuchlich waren. Eiserne 
Kugeln findet man in Kartätsch- und ausnahmsweise auch wohl 
in Schrapnell-Ladungen, die neue Preussische Kartätsche ist aus 
Zink gefertigt. 


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538 


Dr. M. Wahl, 


Die Gruppirnng der Masse nach bestimmten Gesetzen, die 
Form des Projectiles, bildet einen der wichtigsten Momente in 
der Ballistik. Von der ersten Anwendung der Schusswaffen seit 
Erfindung des Schiesspulvers hat die Kugelform des Projectiles 
sehr lange die Alleinherrschaft gehabt. Sphärische Projectile wur¬ 
den noch theilweise im Amerikanischen Kriege gebraucht. In den 
Europäischen Kriegen wurden dieselben bis zu den Kämpfen im 
Jahre 1848 und bis zum Krimkriege grossentheils noch angewen¬ 
det. Die sphärischen Geschosse waren verschieden in Grösse und 
Gewicht, der übliche Geschossdurchmesser war 17 -18 Mm bei 
26—32 Gr. Gewicht und 9—11 Gr. Pulverladung, während in 
früheren Zeiten die Kugeln viel schwerer und grösser waren. Die 
Flintenkugel rotirt auf ihrer Flugbahn um ihren Schwerpunkt, 
und da derselbe in Folge äusserer Zufälligkeiten bei derselben 
(z. B. durch Fehler im Guss) selten oder wohl nie genau in dem 
mathematischen Centrum gelegen ist, so war die Rotation dieser 
Geschosse eine höchst variable. Der Mangel an Rotationsstabilität 
war aber der Grund der minimalen Trefffähigkeit der sphärischen 
Geschosse, und der hieraus resultirende geringe militairische Effect 
musste nothwendig Reformen herbeiführen. Man suchte die Ro¬ 
tation durch Einführung der gezogenen Gewehre, zuerst mit gera¬ 
den Zügen, zu regeln, erreichte indess erst einen wesentlichen 
Effect nach Anwendung der schraubenförmig-gewundenen 
Züge und der hierauf folgenden Benutzung der Langgeschosse. 
Die Anwendung der langen Projectile regelte die Rotation nach 
bestimmten Gesetzen. Das Geschoss erhält durch das Einpressen 
in die Züge des Gewehres eine schraubenförmige, bohrende Be¬ 
wegung und behält dieselbe auf seiner Flugbahn bei. Dadurch 
werden die zufälligen Einflüsse auf die Bewegung beseitigt, das 
Geschoss erhält Rotationsfestigkeit und dadurch eine regelmässige 
Flugbahn. Wey ga n d(„Technische Entwickelung der modernenPrä- 
cisionswaffen der Infanterie“ S. 9) hebt hervor, „dass sich hieraus 
eine normale Anfangsrichtung und eine normale weitere 
Entwickelung der Bahncurve, mithin eine grosse Regulari- 
tät der Flugbahn ergebe, indem die Geschosse stets um dieselbe 
vorher bestimmte Rotationsachse, nach derselben durch die Mün¬ 
dung der Züge gegebenen Richtung, und mit derselben vorher 


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Zur Mechanik der Schussverlelzungen. 


539 


durch den Grad der Windung der Züge (Drall) bekannte Win¬ 
kelgeschwindigkeit sich bewegen.“ Durch besondere Einrichtungen 
am Geschosse verbesserte man nun die Rotationsfestigkeit und er¬ 
reichte so mehr die beabsichtigten Effecte, grössere Rasanz, Trag¬ 
weite und Trefffähigkeit. Nach dem Vorgänge von Minie brachte 
man am hinteren Theile des ursprünglichen Vollgeschosses Can- 
nelirungen, seitliche zirkelförmige Einschnitte, an und verlegte 
dadurch den Schwerpunkt des Projectiles nach dessen Längen¬ 
mitte. Man erreichte so ein leichteres Eintreten in die Züge des 
Gewehres, eine sogenannte intime Führung des Geschosses 
durch die Züge des Rohres. Fischer (Lehrb. der allgem. Kriegs- 
chirurgie 7) sagt bezüglich der Cannelirungen: „Sie wirkeu wie 
die Federn eines Pfeiles, sie fixiren das Projectil in der Direction 
seines Austrittes aus dem Laufe, daher es stets mit der Spitze 
vorweg an’s Ziel kommt.“ Noch grösseren Effect erreichte man 
durch Anwendung des Principes der Expansion der Geschosse 
durch die Action der Pulvergasc. Man verwandelte das ursprüng¬ 
liche Vollgeschoss in ein Hohlgeschoss, indem man einen 
conischen Hohlraum im hinteren Theile desselben anbrachte, um 
durch die Expansion der explodirenden Pulvergase bei der Ent¬ 
ladung des Gewehres eine Ausdehnung des Projectiles in dem be¬ 
treffenden Abschnitte mit darauf folgender forcirter Einpressung 
in die Gewehrzüge und eine daraus resultirende grössere Rotations¬ 
festigkeit zu erzeugen. Minie erfand den Treibspiegel, Cu- 
lot (Fig. 19a), ein conisches Hütchen aus geprägtem Eisenblech 
„als vermittelnden Regulator zwischen dem wandelbaren Material 
des Projectiles und den rapiden Einwirkungen der Gase.“ Das 
Culot wird durch die Gewalt der explodirenden Gase bis auf den 
Grund der conischen Höhlung eingetrieben, und die dadurch be¬ 
zweckte Ausdehnung des Geschosses treibt dasselbe in die Züge 
des Gewehres. Dieses Expansionssystem wurde in Frank¬ 
reich, Italien, Belgien, Russland und Dänemark vielfach angewen¬ 
det. Pr i teil et construirte ein Geschoss für das Enfieldgewehr 
mit einem Treibspiegel aus hartem Holz (Buehsbaura-, Buchenholz, 
Fig. 53). Derartige Geschosse wurden 1870 und 1871 viel bei 
der Loire-Armee gebraucht. Aehnlich ist das Boxergescboss für 
das Henrygewehr mit einem Treibspiegel aus gepresstem Thon. 
Durch Lorenz - Wilkinson wurde das Compressions- 


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540 


Dr. M. Wahl, 


System eingeführt. Hierbei ist der Schwerpunkt des Geschosses 
durch die Verminderung der Masse im Basaltheil nach der vor¬ 
deren Hälfte verlegt. Dadurch wird bei der Explosion des Pul¬ 
vers derselbe, während der vordere Theil noch in Ruhe beharrt, 
in die Züge eingepresst. Dieses System ist lange in Oesterreich 
gebräuchlich gewesen. Nach der Construction von Thouvenin 
und Delevigne wurde bei den sogenannten Dorngewehren 
das Geschoss durch den eisernen an der Spitze ausgehöhlten Lade¬ 
stock auf einen im unteren, zur Aufnahme der Ladung bestimm¬ 
ten Raum, der Seele, des Gewehres befindlichen, in den Hohl¬ 
raum des Geschosses passenden Stachel, Dorn, getrieben und 
so durch Stauchung in seinem hinteren Theile in die Züge ge¬ 
presst. Timmerhans benutzte zu diesem Zwecke einen abge¬ 
stumpften kegelförmigen Zapfen. Nach diesem System sind die 
Geschosse von Enfield-Springfieldgewehren, die früheren 
Projectile der Preussischen Pioniere und zum Theil die Dä¬ 
nischen Geschosse von 1864, sowie einzelne ältere Schweizer 
Geschosse. 

Die grössten Effectsteigerungen in der Geschosswirkung wur¬ 
den durch die Regelung und Normirung der Verhältnisse 
zwischen Kaliber und Gewicht des Geschosses erreicht. — 
Man erkannte die Bedeutung der Kaliberfrage. Kaliber heisst 
der Durchmesser der Bohrung des Gewehres, und 
je nach dem Constructionssystem des letzteren weicht der 
Querdurchmesser des Geschosses mehr oder weniger von 
jenem ab. Dieser ist z. B. bei den neuerdings gebrauchten 
Hinterladern grösser als das Kaliber. Je grösser die Masse für 
die Einheit des Querschnittes ist, desto leichter wird der Luft¬ 
widerstand überwunden. Der Widerstand der Luftschichten ist 
einer grösseren Fläche des Geschosses gegenüber von grösserem 
Einflüsse als da, wo ein Geschoss von kleinerem Durchmesser 
die Luft durchschneidet. Man trug daher diesen Verhältnissen 
durch die geeignete Belastung des Querschnittes des Ge¬ 
schosses Rechnung und griff zur Anwendung eines möglichst 
langen Geschosses mit möglichst kleinem Querdurch¬ 
messer. Man erreichte durch diese grösste Belastung des 
Querschnittes in Verbindung mit oben angegebenen Verhält¬ 
nissen und besonderen hier nicht näher zu erörternden Verände- 

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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


541 


rangen an den Gewehren selbst hohe Rasanz, Tragweite und Treff¬ 
fähigkeit bei gleichen Ladungsverhältnissen. Man hatte bisher 
drei Kaliberstufen, grosses, 17—18 Mm, mittleres, 14—15 
Mm., und kleines 10-11 Mm. Zwischen diesen Schwankungen 
von 18—10 Mm. hat sich die Kaliberfrage lange Zeit bewegt, bis 
vor Kurzem das sog. Schweizerische Kaliber von 10,5 Mm. „als 
das allenthalben anerkannte Ideal einer vorzüglichen Schusswaffe“ 
acceptirt und dem entsprechend in fast allen Militairstaaten die 
Einführung des Kleinkalibers zur Wirklichkeit wurde, weil das¬ 
selbe bei gleicher Pulverladung eine grössere Geschwindigkeit und 
Tragweite erzielt. 

Die jetzt zumeist in Gebrauch genommenen Projectile haben 
eine längliche, cylindro-ogi vale Gestalt. Dabei ist die Spitze 
oft mehr oder weniger abgetlacht, was mau wegen des grösseren 
zu überwindenden Luftwiderstandes beiläuBg für die Dauer der 
fortschreitenden Bewegung des Geschosses nicht für vortheilhaft 
hält. Nach Weygand ist die Abflachung der Spitze mehr für 
die Stabilität der Rotationsachse förderlich. Jedes der mannich- 
fachen Systeme hat sein eigen geformtes Projectil. Beigehende 
Tafel giebt die schematische Darstellung der Typen der Projec¬ 
tile, wie ich sie in den Schleswigschen Lazarethen 1864, 
in den Lazarethen 1866 in Langensalza und in denen der 
Main-Armee, und 1870 und 1871 in Frankreich gesehen 
habe, sowie derer, wie sie gegenwärtig in den bedeutendsten Mi¬ 
litairstaaten in Gebrauch sind. 

Der letzte Französische Krieg zeichnete sich durch eine grosse 
Mannichfaltigkeit in der Form der Projectile aus. Socin (s. d. 
„Kriegschirurg. Erfahrungen“) giebt 22 verschiedene von ihm beob¬ 
achtete Geschossformen an. Die Geschosse der neuesten in Ge¬ 
brauch genommenen Hinterladungsgewehre stecken in Pa¬ 
tronenhülsen von Metall (Kupfer, Messing), oder Pappe, während 
die älteren die Pulverladung in Papierhülsen haben (Pr. Zünd¬ 
nadelgewehr, Chassepot). Das Preussische Langblei, ein Vollge¬ 
schoss von eichelförmiger nach hinten sich verjüngender Gestalt, 
wie v. Ploennies sagt, „mit dem Busen des Schwanes, der Brust 
der Ente und dem Fluge des Adlers,“ hat einen Spiegel aus Pappe 
als Führung für das Geschoss. Derselbe begleitet dasselbe auf eine 
Distanz von 50—100 Schritt und kann selbstverständlich in dieser 


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542 


Dr. M. Wahl, 


Entfernung mit verwunden. Daher wurden zu Manöverzwecken 
Spiegel aus besonders weicher Pappe angefertigt. 

Der Längendurchmesser der Geschosse variirt in der 
angegebenen Tabelle von 15—40 Mm. Das Gewicht schwankt 
zwischen 17 Gr. und 50 Gr. Das Minimum desselben wird nach 
Fischer (a.a.O. S. 9) durch die Forderung bestimmt, dass durch 
das Geschoss noch auf eine möglichst weite Distanz ein Mensch 
kampfunfähig gemacht wird, während das Maximum begrenzt wird 
durch die Rücksicht auf die Handlichkeit der Waffen und die 
Transportfähigkeit möglichst vieler Patronen. Das Gewicht ist 
insofern von Einfluss auf den ballistischen Effect eines Geschosses, 
weil ein grösseres Gewicht unter Umständen leichter die Wider¬ 
stände überwindet und weit grössere Tragweite und Treflfähigkeit 
erzielt als ein leichtes Geschoss. Um daher den Eftect der zu 
überwindenden Widerstände nicht noch durch eine grosse Fläche 
des Geschosses zu vergrössern, griff man zur möglichsten Be¬ 
lastung der Einheit des Querschnittes. Dazu ist aber gerade das 
Blei wegen seiner speci fischen Schwere besonders geeignet Ver¬ 
suchsweise wurden auch Projectile aus Gussstahl angefertigt. Die¬ 
selben sind aber leichter als Blei, ausserdem nehmen sie wegen 
der ausserordentlichen Härte keine Führung im Rohr wie die weit 
weicheren Bleiprojectile und erreichten daher nicht jene Tragweite 
und Trefffähigkeit als die letzteren. 

Auf der beifolgenden Tafel ist das Projectil der Französischen 
Mitrailleuse und der Kartätschpatrone mit angegeben. Beide haben 
in Form, Grössendurchmesser und Gewicht grosse Aebnlichkeit 
mit den Gewehrprojectilen. 

Noch sind hier die Explosivgeschosse zu erwähnen. Die¬ 
selben sind von der Grösse und dem Aussehen gewöhnlicher Projectile 
mit einer Sprengladung im Innern, welche beim Aufschlagen des 
Geschosses explodirt und dasselbe zersprengt. Fig. 54 zeigt ein 
Englisches Explosionsgeschoss, welches im vorderen Theile eine 
Messingröhre mit Knallsatz und im hintern einen Treibspiegel aus 
gepresstem Thon hat. Dr. Henri Pernet beschreibt in der 
Gazette des Höpitaux No. 16 ein von einem Soldaten nach einem 
Gefechte im December bei Serpigny angeblich aufgehobenes Ex¬ 
plosivgeschoss folgendermaassen: „Cette balle, que le colonel 
Thomas a conservee, se composait de trois segments: 1° une balle 


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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


543 


ovoide ordinaire ä l’exterieur, longue de deux centimetres, et plate 
ä sod extremite inferieure, qui est percee d’un trou se prolongeant 
dans les deux tiers de la balle; 2° un segment införieur ayant 
un centimfctre de hauteur. Du milieu de cette partie s’eleve uue 
tige cylindrique s’adaptant parfaitement ä la cavite du premier 
segment; 3° uue mince roudelle en fer-blanc, convexe sup^rieure- 
ment, concave inferieurement, percee d’un trou central et placee 
entre les deux parties precedentes. Le mecanisme de cette balle 
est tres-simple. Une fois lancee, quand la balle rencpntre un 
obstacle, la partie antcrieure est arretee dans sa course. La force 
acquise continuant d’agir, la partie posterieure comprime la ron- 
delle, l’aplatit, et la tige frappant avec force le fond de la cavitä, 
fait dclater un m&ange detonnant qui s’y trouve place.“ In 
v. Ploennies und Weygand’s Werk die „Deutsche Gewehr¬ 
frage“ findet sich S. 32 die Behauptung, dass man Französischer- 
seits die bleiernen Sprenggeschosse des Kalibers 11 Mm. 1870 
und 1871 in Anwendung gebracht habe. A. Tardieu behaup¬ 
tet, (Gazette des Höpit. No. 4. p. 29) dass am 30. September 
vor Chevilly et l’Hay von den Preussen Explosivgeschosse ge¬ 
braucht worden seien, auf Grund eigener Beobachtungen bei 
einem Soldaten mit einer ausgedehnten Oberschenkelschuss- 
fractur und in Folge mündlicher Mittheilungen von Soldaten. 
Es ist eine noch zum Theil ungelöste Streitfrage, ob im letz¬ 
ten Kriege, der vor einigen Jahren abgeschlossenen Petersburger 
Convention zuwider, wirklich Explosivgeschosse in Gebrauch ge¬ 
kommen sind. Aus der Beschaffenheit der Wunden lässt sich das 
nicht immer schliessen, da, wie weiter unten zu ersehen ist, andere 
complicirte Erscheinungen hier in’Frage kommen. Fig. 61 stellt 
das Explosivgeschoss des v. Dreyse’schen Granatgewehres dar. 
Der Erfinder versprach sich viel von den militairischen Effecten 
dieses besonders construirten Gewehres, wie ich aus seinem eige¬ 
nen Munde zu vernehmen Gelegenheit hatte. Dasselbe ist indess 
in der Preussischen Armee, wie überhaupt auch andere Sprengge¬ 
schosse von weniger als 450 Gr. Gewicht, gar nicht zur Anwendung 
gekommen. Das Geschoss steckt in einem Pappspiegel, welcher die 
Führung hat. Die Explosion erfolgt durch das Einschlagen des 
Nadelbolzens in die im hinteren Theile angebrachte Zündpille, in 
welche derselbe unfehlbar eindringt, wenn das Geschoss auf seiner 


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544 


Dr. M. Wahl, 


Bahn einem Hinderniss begegnet. Das eiserne Hohlgeschoss war 
46 Mm. lang, 20 Mm. breit, bei einem Gewichte von 58 Gr. nnd 
einer Ladung von 10,5 Gr., Tragweite und Trefffähigkeit ganz enorm, 
und sollte das Geschoss in erster Linie zur Zerstörung feindlicher 
Munitionswagen benutzt werden. Die Petersburger Convention 
hat jede Anwendung desselben im Kriege abgeschnitten, was man 
im Interesse der Humanität nur gutheissen kann. 

Was die völkerrechtliche Zulässigkeit der einzelnen Geschossfor¬ 
men anlangt, so hat man das Preussische Langblei wegen seiner mas¬ 
siven Beschaffenheit, seiner glatten Oberfläche und der nach beiden 
Seiten verjüngten Gestalten das am wenigsten grausame Geschoss 
genannt. Aehnlich ist auch das Chassepotprojectil. Zu beanstan¬ 
den wären nach v. Ploennies und Weygand jene Geschosse, 
die aus mehreren heterogenen Körpern bestehen, wie die von den 
Engländern in Abyssinien gebrauchte Boxerpatrone, bei der jedes¬ 
mal mit dem bleiernen Projectil noch ein Sykomorenholzstift und 
ein Tbontreibspiegel in den schwarzen Leib der unglücklichen 
Abyssinier gejagt wurde. Es ist übrigens nach denselben Autoren 
keines unserer modernen Kriegsmittel grausamer, als die älteren, 
es wird durch alle Verbesserungen nichts Anderes erreicht, als die 
schnellere Ausbreitung des Waffeneffects auf eine grosse Zahl von 
Gegnern und die Ausdehnung desselben auf grössere Entfernungen. 

Nächst der ursprünglichen Form des Projectiles ist nun 
die accidentelle zu betrachten, die Deformation des Geschos¬ 
ses. Dieselbe entsteht durch die Einwirkung der lebendigen Kraft 
einerseits und der Widerstandskraft des getroffenen Körpers an¬ 
dererseits auf die ursprüngliche Form desselben. Die Form und 
Beschaffenheit der Masse des Projectils, Hohlräume im Basaltheile, 
grosse Weichheit des Bleies, sowie Fehler im Gusse begünstigen 
die Gestaltabweichungen. Die lebendige Kraft des Geschosses 
wirkt, wenn sie in Folge entgegenstehender intensiver Hindernisse 
ihre zerstörende Wirkung nicht vollständig entfalten kann, zer¬ 
störend auf die Form des Geschosses zurück und erzeugt an dem¬ 
selben eine mehr oder weniger beträchtliche Abweichung von seiner 
ursprünglichen Gestalt. Dieselben sind um so grösser, je bedeuten¬ 
der die lebendige Kraft des Geschosses, je fester und härter der 
getroffene Widerstand ist, und je leichter die Form und Festigkeit 
des Geschosses zu Deformationen hinneigt. Man findet bei Ge- 

‘'w 

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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


545 


schossen mit hervorragender lebendiger Kraft viel häufiger De¬ 
formationen. Der Widerstand fester und harter Gegenstände äus- 
sert sich um so mehr, je härter und fester der Gegenstand ist, 
auf den das Geschoss aufschlägt. Steine, eiserne Waffen und 
Uniformstücke, Münzen und derartige Gegenstände, sowie im 
menschlichen Körper die Knochensubstanz, sind daher besonders 
günstig für das Hervorrufen von Deformationen. 

Einen ganz besonderen Einfluss hat die Form des Projectiles 
auf die Gestaltveränderungen. Pirogoff erwähnt, dass sphä¬ 
rische Projectile sehr wenig zu Deformationen incliniren, gleiche 
Beobachtungen anderer Autoren heben dasselbe hervor. Besonders 
häufig sind die Deformationen erst seit Einführung der gezogenen 
Gewehre mit den Langgeschossen beobachtet worden. 1859 wurde 
das Französische Projectil als besonders zu Deformationen geeig¬ 
net dargestellt, am Preussischen Langblei hat man ebenfalls die 
Häufigkeit seiner Gestaltabweichungen hervorgehoben Vorzüglich 
reich an derartigen Beobachtungen ist der letzte Krieg. Das 
Chassepotgeschoss inclinirt wegen der ursprünglichen Weichheit 
und, wie Beck annimmt, schlechten Pressung seiner Masse, 
sowie in Folge der ihm durch grössere Pulverladung über¬ 
kommenen grösseren lebendigen Kraft vorzüglich leicht zu De¬ 
formationen. Viele Geschosse verlassen schon deformirt den Ge¬ 
wehrlauf. Die mit Hohlräumen und Canuelirungen versehenen 
Minteprojectile bieten oft eine hutkrämpenförmig umgebogene Ge¬ 
stalt dar. Im Italienischen Feldzuge 1859 hat man das zumeist 
an den Französischen Projectilen gesehen, so dass Legouest 
dieses Phänomen als constant und normal bezeichnet. 18<56 habe 
ich solche Deformationen in Langensalza und im letzten Kriege 
vielfach bei Projectilen der Tabatieregewehre gesehen. Der un¬ 
genügende Widerstand, welchen die den Hohlraum umgebenden, 
oft verhältnissmässig schwachen Wandungen der gewaltsamen 
Wirkung der Expansion der Gase entgegenstellen, ist der Grund 
der Deformation bei diesen Geschossen, welche oft in dem hin¬ 
teren Theile zerreissen und hochgradige Theilungen darbieten. 
Aehnliche Deformationen entstanden, nach Zechmeister, beiden 
Geschossen der Dorngewehre in Folge der Stösse des eisernen 
Ladestockes. 

Andere Geschosse bieten in Folge der directen Metallführung 


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546 


Dr. M. Wahl, 


durch die Züge immer eine etwas rauh gewordene Aussenfläche 
dar, mit Ausnahme des Preussischen Langbleies, welches in Folge 
seiner Spiegelführung seine glatte Oberfläche behält. — Die De¬ 
formationen des Geschosses treten nun in verschiedener Weise zu 
Tage, als Abweichungen von der ursprünglichen Form 
des Geschosses ohne Gewichtsverlust und als Continuitäts- 
trennungen des Projectiles. 

Erstere anlangend, hat man die verschiedensten Formen beob¬ 
achtet, und jedes neu erscheinende Werk über Kriegschirurgie 
bringt neue Beobachtungen. Man sieht unförmliche, dem gehack¬ 
ten Blei ähnliche Massen, Stücke vom Aussehen gerollter Spähne, 
breitgeschlagene, scharfkantige, runde, dem Aussehen von Münzen 
gleichende Formen und kleine unregelmässige Stücke, die wie 
eine feinkörnige Masse oft in die Weichtheile eingestreut zu 
sein scheinen. Socin beschreibt Massen, welche erstarr¬ 
ten Bleitropfen gleichen und breitgedrückte Stücke mit irisirenden 
Farben. Cohn erwähnt in Fischer’s „Kriegschirurgischen Er¬ 
fahrungen (vor Metz)“ einen Fall, wo angeblich ein Bleitropfen 
in ein Brillenglas eingescbmolzen war. Es bieten sich die mannich- 
faltigsten Formen mit allen erdenklichen Modificationen der Beob¬ 
achtung dar. Dabei zeigen sich oft die merkwürdigsten Abdrücke 
vom Gewebe der Kleidung oder anderer Gegenstände, auf welche 
das Geschoss gerade aufschlug. Ein eclatantes derartiges Bei¬ 
spiel sah ich während des letzten Feldzuges bei einem Preussi¬ 
schen Landwehrmann, der am 15. Januar 1871 durch ein Chasse- 
potprojectil am Halse verwundet worden war. An der vorderen 
Seite der Trachea zeigte sich eine kleine, fast groschengrosse 
Wunde. Dieselbe imponirte Anfangs für einen Streifschuss. Das 
Geschoss war indess in die Tiefe gedrungen, und ich extrahirte 
dasselbe mit dem Cravattenbaken und verschiedenen Tuchstücken 
aus der Nähe der grossen Gefässe oberhalb des Schlüsselbeines. 
Das sehr deformirte Projectil zeigte an der einen Seite den voll¬ 
ständigen Abdruck des Cravattenhakens (Fig. 7). In Folge des 
Aufschlagens auf feste Körper, Steine, Metall ausserhalb, oder 
Knochensubstanz innerhalb des Körpers, spaltet sich das Projectil 
oft in mehrere Theile. Namentlich in Italien hat man 1859 viel¬ 
fache Theilungen in 4, 5, 6 Stücke beobachtet. Derartige hoch¬ 
gradige Theiluogen habe ich nie gesehen, sondern nur Abreissun- 

•v 

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Zur Mechanik der Schus8verletzungen. 


547 


,gen kleinerer Massen beobachtet. Sehr anschaulich sind die ver¬ 
schiedenartigsten Deformationsformen in Fischer’s Allg. Kriegs¬ 
chirurgie abgebildet. 

Was die Projectile des groben Geschützes anlangt, so 
hat man ähnliche Umwandlungen der Form wie bei den Gewehr- 
projectilen vorgenommen. Die früher so allgemein gebrauchten 
Voll- und Hohl kugeln (Granaten) sind durch die weit tragen¬ 
den und präciser treffenden Langgeschosse verdrängt. Die 
jetzt allgemein gebrauchten Granaten sind Geschosse von cy- 
lindro-ogivaler Gestalt mit Hohlräumen zur Aufnahme der Spreng¬ 
ladung. Dieselben haben verschiedene Grösse und Gewicht. Die 
Granate der Feldgeschütze wiegt 4,3 und 0,8 Kilogramm, das Ge¬ 
schoss der Festungs-, Schiffs- und Küstengeschütze oft bis zu 
500 Kilogramm. Dem entsprechend gross ist auch die Pulver¬ 
ladung, so dass die Anfangsgeschwindigkeit meistens 400 bis 
500 Meter beträgt. Zur genauen Metallführung durch das ge¬ 
zogene Geschützrohr aus Bronce oder Gussstahl (System Krupp), 
hat man an dem cylindrischen Theile des Geschosses einen Blei¬ 
mantel angebracht. Bei einer neueren Construction wird die Füh¬ 
rung von einem Kupferdraht, welcher um den cylindrischen Theil 
des Geschosses herumläuft, übernommen. Die Explosion dieser 
Geschosse geschieht vermittelst sogenannter Percussionszünder, 
(früher Zeitzünder). Die schweren, zum Durchschlagen der Panzer¬ 
platten verwendeten Granaten explodiren in Folge der Flächen¬ 
reibung des Pulvers der Sprengladung, welche beim Durchschlagen 
in Folge der dabei entstehenden grossen Erschütterung erzeugt 
wird. — Die Zahl der Grauatsprengstücke ist oft sehr bedeutend, 
bis 50 und mehr. Die Gestalt und'Grösse ist eine höchst variable, 
von der Grösse gewöhnlicher Gewehrprojectile bis zu hand- und 
faustgrossen Stücken dabei kommen die unregelmässigsten For¬ 
men vor, so dass eine Beschreibung derselben nicht gut ausführ¬ 
lich sein kann. Die nur im Festungskriege aus Mörsern ge¬ 
worfenen Bomben sind grosse Hohlkugeln mit Sprengladung 
und Zeitzünder. Die Sprengstücke gleichen denen der Granaten 
sehr. Shrapnells sind Geschosse vom Aussehen der Granaten 
mit dünnen Wänden. Der Hohlraum birgt die Sprengladung 
und eine grosse Menge von sphärischen Gewehrprojectilen. Sie 
explodiren durch einen Zeitzünder vor dem Ziele in der Luft und 

v. Langenbeck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 

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548 


Dr. U. Wahl, 


streuen die Engeln centrifugal ans. Kartätschen sind Engeln, 
von Eisen oder Zink in verschiedener Grösse. Dieselben werden 
in blechernen Buchsen in verschieden grosser Anzahl geschossen 
und halten, nachdem die letztere innerhalb des Laufes zersprengt 
ist, anf ihrer Flngbahn ähnlich wie die Schrotkörner der Jagdge¬ 
wehre einen bestimmten Strennngskegel inne. 

Ferner sind hier noch die im Feldzüge von 1864 von den 
Dänen gebrauchten Wallbüchsen- und Espignolengeschosse 
zu erwähnen. Die ersteren sind nach Heine 31 Mm. lange cy- 
lindro-ogivale Bleigeschosse mit Zinkspitze, welche 60 Gr. wogen. 
Die Espignolenkngeln, nach Fischer kurze, bleierne coniscbe 
Vollgeschosse von 15 Mm. Querdurchmesser, 17 Mm. Länge und 
24 Gr. Gewicht, wurden in einer Ladung in der Anzahl von 30 
Stuck hinter einander aus dem Laufe abgeschossen, durch eine 
besondere Drehvorrichtung lässt sich die Richtung des Geschütz¬ 
rohres während der Entladung beliebig ändern. 

Die Französische Mitrailleuse schiesst ebenfalls ver¬ 
mittelst eines besonderen Abfeuerungsapparates 25 in einer Lade¬ 
platte befindliche Geschosse kurz nach einander oder in beliebigen 
Zwischenräumen. Bei einem Durchmesser von 12,6 Mm. ist 
das Geschoss (Fig. 28) 40,0 Mm. lang und wiegt 50 Gr. Man 
rüstete das Geschütz am Ende des Krieges 1870 — 71 mit der 
Kartätschpatrone aus und konnte so eine ganz enorme Masse 
von kleinen Geschossen in kürzester Zeit auf den Feind schleu¬ 
dern. Die Kartätschpatrone enthält 3 massive Bleiprojectile von 
18 Gr. Schwere mit 12,0 Mm Breiten- und 15,0 Mm. Längen¬ 
durchmesser. Dieselben haben eine längliche cylindrische Gestalt 

Die indirecten^G eschosse sind Körper, welche, vom Ge¬ 
schosse getroffen, einen Theil dessen lebendiger Kraft erhalten, 
so dass sie entweder vom Projectile selbst mit fortgerissen, oder 
in einer seitlichen Richtung hinweggeschleudert werden. Hierher 
gehören alle Gegenstände der Natur, wie Steine, Erdmassen, 
Theile von abgerissenen Aesten etc., ferner Waffen und Monti- 
rungsstücke, Tuch, Gegenstände, welche die Soldaten bei sich 
trugen, Uhrketten, Münzen, etc. Die Art der indirecten Geschosse 
ist daher oft vom Terrain des Kampfes abhängig. Eine grosse 
Reihe von Verwundungen im Krimfeldzuge entstand durch von 
Geschossen aufgeschleuderte Steine. Während der Belagerung von 



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Zar Mechanik der Schussverletzungen, 


549 


Strassbarg wurden daselbst viele Civilisten and Soldaten darch in 
Folge des Bombardements herabstfirzende Steine und Balken ver¬ 
wundet. Die Form und Grösse der indirecten Geschosse ist da¬ 
her wegen der grossen Mannichfaltigkeit eine sehr verschiedene, vom 
kleinen Holzsplitter an, der durch die Cornea in’s Auge dringt, 
bis zu den mächtigen Steinmassen, welche die Granaten von der 
Gothik des Strassburger Münsters herabschlugen. 

* Die Literatur zählt reiche Beispiele der durch die verschie¬ 
denartigsten Körper hervorgerufenen Verletzungen auf. Stro- 
meyer fand den Reichsapfel des Deutschen Doppeladlers bei 
einem Soldaten im Gebirn, einen hohlgeschlagenen Thaler im Dick¬ 
darm. Im letzten Kriege fand man oft Münzen in den Schuss¬ 
canälen. Bei einem Französischen Corporal, welchem wegen Gra¬ 
natzerschmetterung beide Unterschenkel amputirt worden, fand ich 
in einem weiten gerissenen blinden Schusscanal am Kreuzbein ein 
3 Ctm. langes Stück Horn, einem Taschenkamm entstammend. 
Stücke von Waffen und Tuchfetzen finden sich nicht selten im 
Körper. Larrey extrahirte ein Stück Säbelspitze aus dem Ober¬ 
arm, Fischer beschreibt ein mit einem Sächsischen Jägerscboss 
von der Gewehrbekleidung abgerissenes Stück, ein Preussisches 
Langblei, in dem ein Stück Draht eingeklemmt ist. Aehnliches 
sah ich am Chassepotprojectil (Fig. 71). Im Strassburger Lazareth 
behandelte ich einen Soldaten, welcher am Oberschenkel durch 
eine Tabatiferekugel verletzt war, die ein Stück der messingenen 
Uhrkette eingeklemmt und mit fortgerissen hatte. Longmore 
extrahirte ein in die Conjunctiva eingedrungenes Stück eines frem¬ 
den Schädels, bei einem anderen Soldaten war der Backenzahn des 
nebenstehenden Kameraden in den Augapfel gedrungen. Derselbe 
Autor erzählt, dass ein Stück Oberkiefer von einem durch eine 
Kugel zerschmetterten Soldaten in den Gaumen eines anderen ge¬ 
drungen war. In Langensalza sah ich einen Artilleristen, welcher 
durch einen Knochensplitter verletzt war, der dem Unterkiefer 
seines durch ein Granatstück getödteten Nebenmannes entstammte. 

Schliesslich erwähne ich noch, dass ein jedes Geschoss eine 
Partie Luft mit sich fortreisst. Man kann das genau beim 
Schiessen in’s Wasser beobachten, wo nach jedem Schuss deut¬ 
liche Luftblasen zum Vorschein kommen, eine Erscheinung, die 
ich in Thüringen beim Schiessen auf Fische oft gesehen habe. 

36* 

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550 


Dr. M. Wahl, 


Nähere Beobachlangen über dieses Phänomen überhaupt fehlen 
uns noch, vielleicht lassen sich auf diese Weise manche bisher 
unerklärlich rasche Todesfälle bei Schusswunden, etwa durch Ein¬ 
tritt der Luft in die Venen, erklären. 

Lebendige Kraft des Projectiles. 

Der Hauptfactor beim Zustandekommen der Schussverletzun¬ 
gen ist die lebendige Kraft des Geschosses. Propulsiv-, 
Penetrations-, Percussionskraft waren Bezeichnungen, de¬ 
ren man sich bediente. Dieselben sind indess ungenau. Das von 
Leibnitz eingefuhrte jetzt allgemein gebräuchliche Wort „leben¬ 
dige Kraft“, vis viva, giebt einen bestimmten mathematischen 
Begriff. 

Die lebendige Kraft des Geschosses ist das halbe 
Product aus der Masse und dem Quadrate der Ge¬ 
schwindigkeit. 

W = MV* 

2 

Die Masse des Geschosses ist constant, die Geschwindigkeit 
hängt von der Anfangsgeschwindigkeit ab, und diese steht wiederum 
im Verhältniss zu der Pulverladung und zu der bezüglichen Con- 
struction des Gewehres. Die frühere Annahme, die auch Stro- 
meyer in seinen Maximen (51) festhält, „dass man Kraft und 
Geschwindigkeit mit einander identificiren könne,“ dürfte daher 
wohl nicht ganz richtig sein. 

Anfangsgeschwindigkeit (auch Ausgangsgeschwin¬ 
digkeit), heisst die Geschwindigkeit, welche das Geschoss beim 
Austreten aus dem Gewehre, also am Beginne der Flugbahn be¬ 
sitzt. Sie ist das Resultat der Pulverladung, welche in qualita¬ 
tiver und quantitativer Beziehung von Einfluss ist. 

Nach den angestellten Versuchen hat die Körnergrösse 
des Pulvers einen Einfluss auf die Anfangsgeschwindigkeit, 
(v. Ploennies und Weygand 28). Von Pulversorten, bei wel¬ 
chen auf 1 Gr. 

15 Körner geben, war die Anfangsgeschwindigkeit 454 M. 


79 , 

T) 

474 * 

647 * 

9 

, 557 „ 

1000 „ 

J> 

„ 581 „ 

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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


551 


Mit der Abnahme der Körnergrösse des Pulvers ist also eine 
Zunahme der Anfangsgeschwindigkeit in gewissen Grenzen ver¬ 
bunden. 

Ausserdem hängt dieselbe von der Quantität der Pulverladung 
ab. Grosse Pulverladung giebt eine grössere Anfangsgeschwin¬ 
digkeit, ein Grund, weshalb die alten glatten Musketenkugeln so 
eminente Anfangsgeschwindigkeit hatten. Dieselbe ist beiläufig 
bei den jetzt gebrauchten cylindro-ogivalen Geschossen wegen der 
geringeren Pulverladung noch nicht erreicht und wird neuerdings 
erst wieder angestrebt. Auf folgender Tabelle sind die Anfangs¬ 
geschwindigkeiten einiger Gewehre im Verhältniss zu Querdurch- 
messer, Geschossgewicht und Pulverladung näher bezeichnet. 



Querdurch¬ 

Geschoss¬ 

Pulver- 

Anfangs- 


messer. 

gewicht. 

ladung. geschwindigkeit. 

Franz. Tabatiere-Gewehr 

18,4 

Mm. 

36,0 Gr. 

4,5 Gr. 

290 M. 

Preuss. Zündnadelgewehr 

13,6 

- 

31,0 - 

4,9 - 

296 - 

Bayer. Podewilsgewehr 

13,6 

- 

29,1 - 

4,3 - 

296 - 

Franz. Büchse (Nessler). 

17,2 

- 

47,5 - 

5,2 - 

295-320 

Whitwortbgewehr 

11,2 


31,0 - 

5,5 - 

320 M. 

Franz. Infanteriegewehr 

17,2 


36,0 - 

5,2 - 

310-330 

Russisches Miniegewehr 

14,8 


33,0 - 

4,5 - 

348 M. 

Ploenniesgewehr 

13,5 


28,0 - 

4,0 - 

378 - 

Chassepotgewehr 

11,0 


25,0 - 

5,6 - 

420 - 

Wenzlgewehr (Oesterreich). 

11,3 


20,2 - 

4,0 - 

436 - 

Werdergewehr 

11,5 


21,0 - 

4,3 - 

446 - 

Buchholzgewcfhr (Schweiz). 

10,5 

- 

18,2 

4,1 - 

450 - 

Schweizer Jägergewehr 

10,0 

- 

17,0 - 

5,0 - 

500 - 

Ruestow giebt in 

seinem 

Werke (Die 

gezogenen 

Infanterie- 


gewehre) die Anfangsgeschwindigkeit des mittleren Kalibers je 
nach dem System auf 260 — 290 M. an. Die grösste Anfangs¬ 
geschwindigkeit haben die Geschosse vom Kleinkaliber (Schweizer-, 
Cbassepot-, Werder-). 

Man kann die Anfangsgeschwindigkeit vermittelst besonderer 
elektrischer Apparate messen. Dieselbe nimmt sehr rasch an Inten¬ 
sität ab und bildet daher nur einen kleinen Theil der Flugbahn. Die 
Geschwindigkeit nimmt in Folge des Einflusses des Luftwiderstandes 
Anfangs sehr rasch ab, das Geschoss bewegt sich mit geringerer 
Geschwindigkeit, aber in grosser, beharrlich fortschreitender Be¬ 
wegung auf dem weiteren Tbeile seiner Bahncurve. Bei zuneh¬ 
mender Distanz werden die Verluste an Geschwindigkeit und le- 


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552 


Dr. M. Wahl, 


bendiger Kraft immer geringer, weil der Widerstand der Luft 
weniger Einfluss, als zu Anfang besitzt. Diese beharrlich 
fortschreitende Bewegung des Geschosses erstreckt sich auf den 
grossen Theil der Flugbahn. In der Verlängerung derselben beru¬ 
hen zum Tbeil die ballistischen Effecte der Neuzeit, und hierher 
fallen hauptsächlich die militärischen Erfolge der Geschosswirkung. 

Die maximale Tragweite der cylindro-ogivalen Geschosse ist 
2000—2250 Meter, und das Geschoss besitzt da noch lebendige 
Kraft genug, um einen Menschen erheblich zu verletzen, was sich 
aus dem äusserst langsamen Abnebmen der Geschwindigkeit er¬ 
klärt. Am Ende der Flugbahn hört die Geschwindigkeit auf, mit 
ihr erlischt auch die lebendige Kraft des Geschosses. Die Ge¬ 
schwindigkeit ist daher auf den verschiedenen Zonen der Flugbahn 
eine verschiedene, sie ist eine andere als Anfangsgeschwindigkeit, 
oder auf der Mitte, oder am Ende der Flugbahn. 

Da nun die lebendige Kraft das (halbe) Product aus der 
Masse und dem Quadrate der Geschwindigkeit ist, so muss auch 
die lebendige Kraft des Geschosses auf den verschiedenen Theilen 
der Flugbahn eine andere sein, wie sich das aus der Betrachtung 
der Geschosswirkung ergeben wird. 

Die Flugbahn des Geschosses ist das Resultat der Zusam¬ 
menwirkung der ihm durch die Pulverexplosion verliehenen Ge¬ 
schwindigkeit und der natürlichen Folgen des Newton'schen 
Gravitationsgesetzes. Die Bahncurve hat daher eine an¬ 
nähernd parabolische Gestalt und heisst eine rasante, ge¬ 
streckte, wenn sie zu einer auf der Ebene gedachten geraden 
Linie in annähernd paralleler Richtung verläuft, d. h. wenn die 
Scheitelhöhe der Curve eine möglichst geringe Ausdehnung hat, 
und ein grosser Theil der Flugbahn in der Zielhöhe bleibt. Auf 
der Rasanz der Flugbahn beruht der quantitative Effect der Ge¬ 
schosswirkung, der in militärischer Beziehung von so hoher Wich¬ 
tigkeit ist. Geschosse mit rasanter Flugbahn werden auf gewisse 
Distanzen feindliche Truppenmassen in grösserer Ausdehnung be¬ 
streichen, als Geschosse mit weniger Rasanz dies vermögen. Die 
Wirkung ist um so grösser, je grösser der sogenannte bestri¬ 
chene oder gefährliche Raum ist. Es ist dies der Theil 
der Flugbahn, der sich zwischen einer Parallele auf Mannshöhe 
und dem Horizont befindet. Die so massenhaften Verwundungen 


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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


553 


auf gewisse grosse Distanzen im letzten Kriege von Seiten des 
Chassepotprojectiies sind auf diese Weise zu erklären. Man schätzt 
das Pins der Verwundungen auf unserer Seite, welche bloss auf 
Rechnung der grösseren Rasanz des Chassepotprojectiies kommen, 
auf beiläufig nahe an 30,000. 

Die Flugbahn wird wesentlich beeinflusst durch die Rota¬ 
tion des Geschosses. Das cylindro-ogivale Projectil verlässt 
den Lauf des Gewehres in Folge des Durchpressens durch die 
Züge desselben in einer um seine Längsachse stattfindenden ro- 
tirenden Bewegung. Das Geschoss rotirt indess nicht um seinq 
geometrische Achse, sondern die Rotationsachse beschreibt im 
Raum einen Kegel, dessen Spitze im Schwerpunkt des Geschosses 
liegt. Der Weg des Geschosses gleicht daher einer lang gezoge¬ 
nen Spirale. Der Haupteffect der durch die lange Form des Ge¬ 
schosses und die besondere Construction des Gewehres bedingten 
Rotation der cylindro-ogivalen Projectile besteht darin, dass das 
Verhältniss des Gewichtes zum Querschnitt auf der ganzen Flug¬ 
bahn zur Geltung gelangt. Hierdurch wird eine grössere Trag¬ 
weite und Trefffähigkeit erzielt, und darin liegt der alten Muskete 
gegenüber der ballistische Fortschritt. 

Durch die Hindernisse, welche das Projectil auf seiner 
Bahn zu überwinden hat, wird die lebendige Kraft vermindert und 
zuletzt aufgehoben: durch den Luftwiderstand, die Attractionskraft 
der Erde oder die eigene Schwere des Geschosses, sowie durch den 
Widerstand fester Körper, auf welche das Projectil aufschlägt oder 
welche es durchdringt. Die Wirkung des Luftwiderstandes 
verzögert die fortschreitende Bewegung des Geschosses und ver¬ 
längert daher die Zeit bis zur Ankunft auf gegebene Distanz. 
Der Luftwiderstand wächst ungefähr im Quadrate der Geschwin¬ 
digkeit des Geschosses; daher ist derselbe der Anfangsgeschwin¬ 
digkeit desselben gegenüber am grössten; je mehr die Entfernung 
zunimmt und die Geschwindigkeit nachlässt, desto weniger kommt 
derselbe zur Geltung, bis er am Ende der Flugbahn bei erlöschen¬ 
der Geschwindigkeit und lebendiger Kraft ganz minimal ist. Der¬ 
selbe wächst ferner mit der Projection des Geschosses auf eine 
Fläche senkrecht zur Flugrichtung; wenn die Geschossachse in 
der Flugbahn-Tangente liegt, ist diese Projection gleich dem Quer¬ 
schnitt, und es wird deshalb dieser in der Regel zum Vergleich 


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554 


Dr. M. Wahl, 


benutzt. Neben der Querschnittfläche ist die Form des 
Gescho8skopfes von Einfluss auf den Widerstand der Luft, 
derselbe ist einer abgeplatteten Spitze gegenüber grösser, als 
bei einer sogenannten Spitzkugel. Wenn zwei Langgeschosse 
mit gleicher Form des Kopfes dasselbe Gewicht und gleiche An¬ 
fangsgeschwindigkeit, also gleiche lebendige Kraft haben, so wird 
dasjenige Geschoss von Beiden die grösste Endgeschwindigkeit, 
also die grösste lebendige Kraft behalten, welches den kleinsten 
Querschnitt hat. Je kleiner der Querschnitt und je grösser die 
Masse für die Einheit desselben ist, desto leichter geschieht die 
Ueberwindung des Luftwiderstandes. Nach den mir früher gewor¬ 
denen mündlichen Mittheilungen des verstorbenen Herrn Nie. v. 
Dreyse, des geistreichen Erfinders des Zündnadelgewehrs, hat 
auch die Zunahme der Dichtheit der Luftschichten einen gewissen 
Einfluss auf die Bewegung des Geschosses. Nach den Schiess¬ 
versuchen in Vincennes soll die Anfangsgeschwindigkeit des 
Nesslergeschosses je nach der Jahreszeit 310—330 M. betragen 
und im Sommer viel bedeutender als im Winter sein. 

Vermittelst verschiedener an den Gewehren angebrachter Vor¬ 
richtungen (Visir) ist man nun im Stande, durch besondere Ein¬ 
stellung der letzteren auf gewisse Distanzen im Moment der Ent¬ 
ladung die Flugbahn so zu bestimmen, dass sie an gewissen 
Punkten durch bestimmte Hindernisse unterbrochen werden kann 
(Zielen). Man kann auf diese Weise den gefährlichen Raum näher 
stellen. Hierin liegt der berechnete Effect der Geschosswirkung. 
Man nennt die Geschwindigkeit, welche das Geschoss in dem 
Momente besitzt, wo es durch einen Körper auf seiner Bahn auf¬ 
gehalten wird, die Endgeschwindigkeit. 

Die lebendige Kraft des Geschosses änssert sich einem Körper 
gegenüber in doppelter Weise; sie zerstört den getroffenen Körper, 
bis sie durch die andauernde Widerstandskraft desselben allmfilig ver¬ 
nichtet wird, — oder dieselbe wirkt, wenn die Bewegung durch einen 
festen harten Widerstand plötzlich unterbrochen wird, je nach dem 
Grade der Festigkeit desselben zerstörend auf das Geschoss selbst. 
Die lebendige Kraft des Geschosses wird daher theilweise durch Zer¬ 
störung des Ziels, theilweise durch Geschossdeformation verzehrt. 

Wenn durch plötzliche Unterbrechung die Bewegung des 
Geschosses vollständig aufhört, so findet durch Umsetzung der 


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Zur*Mechanik der Schussverletxungen. 


555 


lebendigen Kraft eine Entwickelung von Wärme statt, welche oft 
so hochgradig ist, dass man bei dem grossen Widerstände, welchen 
Stahl- und Eisenplatten den abgeschossenen Bleiprojectilen gegen¬ 
über äussern, Abschmelzungen am Projectile gefunden hat. 
Nach der mechanischen Wärmetbeorie ist dies genau zu bestimmen 
und die nöthige Geschwindigkeit, die entwickelten Hitzegrade, so¬ 
wie die Menge der Abschmelzungen zu berechnen. Auf Grund 
dieses durch Versuche constatirten Factnms der Abschmelzung, 
gleichzeitig gestützt auf angebliche Beobachtungen aus dem letzten 
Kriege, bat man neuerdings diese Verhältnisse auch mit den Schuss¬ 
wunden am menschlichen Körper in Beziehung bringen zu müssen 
geglaubt. Die Annahme der Erhitzung der Geschosse ist nicht 
neu. Sie findet sich zuerst bei Wirtz (Billroth, Histor. Studien 
über Beurtheilung und Behandlung der Schusswunden). Später 
eiferte Par6 dagegen. Einen warmen Vertreter fand diese Theorie 
in Velpeau, welcher die Schusswunden mit Wunden verglich, 
welche „durch das Stossen eines glühenden Stabes durch ein Glied 
erzeugt würden,“ während unter den deutschen Chirurgen sich 
keine Anhänger fanden. Die Frage ist erst neuerdings anlässlich 
der Beobachtungen im letzten Kriege wieder angeregt worden. 
Man fand Projectile, welche in ihren Deformationen angeblich 
auf Abschmelzungen schliessen Hessen. So ein (Kriegschirurg. 
Erfahrungen 15) fand Massen [vom Aussehen „erstarrter Blei¬ 
tropfen“ und Formen mit irisirenden Farben. Cohn erzählt in 
Fischer’s Kriegschirurgischen Erfahrungen einen Fall, wo bei 
einer Schussverletzung am Auge in dem zerschlagenen Brillenglase 
des getroffenen Freiwilligen ein „eingeschmolzener Bleitropfen“ 
sich vorfand. Einjge Fälle von deformirten'Langbleiprojectilen, 
welche auf Abschmelzungen bindeuteten, beschreibt Coze in der 
Gazette hebdomadaire de M6decine et Chirurgie. No. 5. p. 13. 
Durch angestellte Versuche bemühte man sich nun den Beweis 
der als Abschmelzungsformen gedeuteten Deformationen zu liefern. 
Von Interesse dürften die neuerdings veröffentUchten Versuche 
von Socin, Sutter und Hagenbach sein (Socin, Kriegschir. 
Erfahrungen. — Poggendorf’s Annalen. Bd. CXL. 486 und 
CXLIII. 153). 

Die Erwärmung des Geschosses durch Reibung im Gewehr 
und in der Luft wird auf 100° geschätzt. Bei plötzlicher Unter- 

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556 


Dr. H. Wahl, 


brechung des Fluges durch einen festen Körper, wird die¬ 
ser Hitzegrad oft bis zum Schmelzgrade des Bleies erhöbt 
(330® C.). Tyndall giebt die Erhitzung bei einer Fluggeschwin¬ 
digkeit von 400 Meter in der Secunde auf 582° C. an. Hagen- 
bach fand an den eisernen Scheibenständen das geschmolzene 
Blei des aufscblagenden Geschosses „sternförmig“ verspritzt und 
erklärt dieses Phänomen durch die mechanische Wärmetheorie 
(Socin’s Kr. Erf. p. 12): 

„Nach der mechanischen Wärmetheorie muss die lebendige Kraft des Ge¬ 
schosses, sobald dieselbe durch Widerstände aufgehoben wird, entweder sich 
anderen Körpern mittheilen, oder in Molecularbewegungen, i. e. Wärme, sich 
umsetzen. Damit aber diese Wärme eine Abschmelzung des Bleies hervor¬ 
bringe, muss die Umsetzung in einer ungeheuer kurzen Zeit stattfinden, welche 
eine merkliche Abgabe der Wärme an die umgebenden Theile auf dem Wege 
der Leitung und Strahlung nicht erlaubt. Beim Eindringen in die Gewebe 
kann nun das Geschoss einen Theil seiner lebendigen Kraft anderen Körpern 
mittheilen, Stucke der Kleidung, der Weichtheile mit sich reissen, Knochen¬ 
splitter vor sich herschleudern, Sehnen und Bänder in Spannung versetzen. 

Auf eine Entfernung von 100 Meter beträgt die Geschwindigkeit der bei 
den Versuchen gebrauchten Geschosse 

für das Kleinkaliber 435 M. 
für das Grosskaliber 350 M. 

Bedeutet die Geschwindigkeit v, die Masse m, das Gewicht p, und die Be¬ 
schleunigung der Schwerkraft g, so ist die lebendige Kraft w gegeben in der 
Formel: 

m v 2 

w = “T* 

wobei 

p , 

g 

Nach dieser Formel erbalten wir für das Kleinkaliber eine lebendige Kraft 
von 197 Kilogrammeter, für das Grosskaliber 250 Kilogrammeter. Berechnet 
man die ganze lebendige Kraft nach Wärmeeinheiten, so sind die 

197 Kilogrammeter des Kleinkalibers = 0,465 Wärmeeinheiten, 

250 „ „ Grosskalibers = 0,59 „ 

Die weitere Rechnung ergiebt, dass diese 

0,465 Wärmeeinheiten 37 Gramm, 

0,59 „ 47 Gramm Blei schmelzen können, 

unter der Voraussetzung, dass das Blei eine Anfangstemperatur von 100° hatte 
und somit vor der Schmelzung von 100° bis zur Temperatur des Schmelz¬ 
punktes musste erwärmt werden. Da aber in Wirklichkeit bei dem Versuch 
vom Kleinkaliber nur 17,5 Gramm, vom Grosskaliber 27,3 Gramm abschmelzen 
(nach dem Resultate der später vorgenommenen Wägungen der Geschosse), so 
bleiben 53 pCt. und 42 pCt der lebendigen Kraft übrig, welche nicht zur 


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Zur Mechanik der Schuss Verletzungen. 


557 


Schmelzung verwendet werden. Davon muss aber noch ein bedeutender Theil 
in Wärme umgewandelt, zur Erhitzung des nicht geschmolzenen Theiles des 
Geschosses und zur Deckung des Wärmeverlustes durch Strahlung und Leitung 
dienen. Der Rest kommt als lebendige Kraft beim Zurückprallen des Ueber- 
bleibscls und Auseinanderspritzen des Geschmolzenen zur Verwendung. 

Die mechanische Wärmetbeorie erklärt demnach in befriedigender Weise die 
vom Experimente nachgewiesene Abschmelzung. 

Gleiche Resultate ergeben die Experimente am thierischen Körper. 

Aus den Versuchen ergab sich unzweifelhaft dar, dass ein Projectil in 
vollem Laufe durch Weichtbeile allein aufgehalten werden kann. Die dabei 
verrichtete mechanische Arbeit ist so gering, dass der grössere Theil der leben¬ 
digen Kraft sich nothwendig in Wärme umsetzen muss. Geschieht dies plötz¬ 
lich, so tritt Schmelzung des Bleies ein, was bei kleinkalibrigen Projectilen 
leichter stattfindet, weil sie eine grössere Geschwindigkeit haben und somit auf 
die gleiche Masse eine grössere lebendige Kraft kommt.“ 

Zweifellos gelten hier die Gesetze der mechanischen 
Wärmeentwicklung. — Wärme wird fiberall da erzeugt, wo 
intensive Flächenreibung zwischen zwei Körpern stattfindet. Es 
findet eine Verdichtung, eine Umsetzung der molecnlaren Kräfte 
in Wärme statt. Die Mechanik zeigt nns viele derartige Beispiele. 
Die primitivste Form der Feuererzeugung durch Reibung zweier 
Holzstficke ist bekannt, ein rasch durch die Hand gezogener Faden 
erzeugt hohes Wärmegeffihl und unter Umständen eine Brand¬ 
wunde. Jeder Chirurg kennt die Hitze des Sägeblattes nach 
Amputationen. Ferner wird Hitze auch durch gesteigerten Druck 
erzeugt, also beim Hämmern von Metallplatten, beim Prägen der 
Münzen, man schmilzt das Eis durch Compression; endlich auch 
durch Verbindung von Druck and Reibung, beim Bohrer, wie das 
berühmte Rnmford’sche Experiment so eclatant gezeigt hat. 
R. brachte beim Bohren von Kanonenrohren in einem damit in 
Verbindung gesetzten Apparate Wasser zum Sieden (Tyndall, 
Die Wärme betrachtet als eine Art Bewegung. 15. 71. — Rnm- 
ford, An enquiring concerning the sonrce of the heat which is 
excited by friction 1798.) 

Die Aerolithen, welche, allerdings mit einer planetaren Ge¬ 
schwindigkeit von beiläufig 18—30 englischen Meilen per Secnnde, 
die Luft durchfliegen, werden nach den Beweisen von Chladni 
und Joule durch die Reibung in der Atmosphäre in Weissglüh¬ 
hitze versetzt. Schon Aristoteles spricht von der Erwärmung 
der Pfeilgeschosse durch die Luft. Auf gleichen Gesetzen be- 


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558 


Dr. U. Wahl, 


ruht auch nun die Erwärmung des Projectiles durch die Reibung in der 
Luft. Ein gewisser Hitzegrad des Geschosses wird durch die bei der 
Entladung des Gewehres stattfindende Pulverexplosion vorbereitet. 
Demnächst tritt beim Durchpressen durch die Züge des Gewehrs 
eine höchst intensive Friction mit den Wandungen des Rohres ein. 
Die rapide Geschwindigkeit, mit welcher das Geschoss vorwärts 
getrieben wird, bedingt in den durchdrungenen Luftschichten einen 
ebenfalls durch Friction erzeugten Hitzegrad, welcher nach der me¬ 
chanischen Wärmetheorie beim Aufschlagen und Durchdringen fester 
Massen noch vergrössert wird. Eine auf diese Weise erzeugte Erhitzung 
des Geschosses lässt sich daher keineswegs in Abrede stellen. Dieselbe 
wächst nach Tyndall (a.a.O. S. 55) wie das Quadrat der Geschwin¬ 
digkeit des Geschosses. Wenn dieselbe auch nun im Stande ist, viel¬ 
leicht am menschlichen Körper unter Umständen bestimmte Verände¬ 
rungen zu erzeugen, so erreicht sie’aber in demselben doch nicht jenen 
hohen Grad, der eben zur Schmelzung nöthig ist (330 w ). Aus 
den nach dieser Richtung hin auf dem Krupp’schen Etablissement 
gemachten Versuchen ergiebt sich Folgendes: Ein Bleiprojectil, 
welches mit einer Endgeschwindigkeit von mindestens 400 Meter, 
also einer Geschwindigkeit von 400 Meter per Secunde im 
Momente des Aufschlagens, auf eine Eisen- oder Guss¬ 
stahlplatte geschossen wird, fällt deformirt zu Boden, mit 
bedeutender Abgabe von Gewicht. Der Rest ist geschmolzen und 
sternförmig auf der Scheibe verspritzt. Die fortschreitende Be¬ 
wegung des Geschosses wird plötzlich aufgehoben, und 
durch die dadurch bedingte plötzliche Umsetzung der molecu- 
laren Kräfte geschieht eine so bedeutende Wärmeentwicklung» 
welche ausreicht, einen Theil des Projectiles zu schmelzen. Bei 
den Schiessversuchen auf Panzerplatten mit Granaten hat man an 
jenen geschmolzene Bleimassen vom Mantel des Geschosses ge¬ 
funden. Beim Schiessen auf Bleiplatten wurde bloss ein Ein¬ 
druck auf der Platte und eine Deformation und Theilung des Ge¬ 
schosses wahrgenommen. Holzplatten wurden durchschossen, 
je nach der Festigkeit des Holzes hatte das Loch einen grösseren 
oder kleineren Durchmesser, zeigte aber keine Spur von Verbren¬ 
nung der Ränder, was bei einem Hitzegrade von 330°, dem 
Schmelzgrade des Bleies, doch der Fall sein müsste. 

Es handelt sich also hier um drei verschiedene Widerstände 


’s 


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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


559 


dem Geschosse gegenüber: Eisen-, Blei- and Holz-Platten, Gegen¬ 
stände, welche eine grössere, eine gleiche und eine geringere 
Festigkeit als das Geschoss besitzen. Die Wirkung des Geschosses 
diesen drei Gegenständen von verschiedener Dichtigkeit und Festig¬ 
keit gegenüber ist eine sehr verschiedene: Bei der grösseren 
(Eisen) durch plötzliche Aufhebung der lebendigen Kraft: inten¬ 
sive Wärmeentwicklung und Abschmelzung des Projectiles; bei 
der gleichen (Blei): Eindruck auf der Bleiplatte, Deformation 
and Tbeilung; bei der schwächeren (Holz): Durchbohrung der 
Platte, Ueberwindung des Widerstandes. 

Bei einer geringeren Endgeschwindigkeit als 400 Meter fehl¬ 
ten beim Schiessen auf Eisenplatten die Zeichen der Abschmelzung, 
das Projectil prallte deformirt zurück. 

Aus diesen Versuchen geht unzweideutig hervor, dass zur 
Erzeugung des zur Abschmelzung des Bleiprojectils nöthigen 
Hitzegrades die plötzliche Anhaltung der Bewegung bei 
einer bestimmten grossen Geschwindigkeit des Geschosses 
erforderlich ist. Dies kann aber nur durch den höchsten 
Widerstand eines Körpers geschehen, dessen Festigkeit die 
des Projectils so bedeutend übertrifft, dass die Geschwindig¬ 
keit sofort aufbört (Eisen- und Stablplatten). Die Möglich¬ 
keit der Erzeugung des zur Abschmelzung nöthigen Hitze¬ 
grades fällt aber hinweg, wenn der Widerstand der Art ist, dass 
das Geschoss hindurchgeht (Holzplatte), oder Veränderungen am 
getroffenen Körper selbst hervorgerufen werden (Eindruck der 
Bleiplatte). Weil die Möglichkeit der Erzeugung jenes zur Ab- 
scbmelzung nöthigen Hitzegrades nun von der intensiven Festig¬ 
keit des getroffenen Körpers abhängt, so müsste, wenn derartige 
Abschmelzungen auch bei den Schusswunden am menschlichen 
Körper Vorkommen sollen, in erster Linie die Knochensubstanz 
wegen ihrer hervorragenden Festigkeit unter den Geweben des 
Körpers jene Erscheinungen hervorzurufen im Stande sein. Der 
Knochen wird aber schon von einem Geschosse mit einer weit 
geringeren Endgeschwindigkeit als 400 Meter durchschossen, 
und, wenn das Geschoss in seinem Laufe durch einen mit 
Weichtheilen bedeckten Knochen oder durch Weichtheile allein auf¬ 
gehalten wird, so geschieht dies bei einer so viel geringeren Ge¬ 
schwindigkeit, dass überhaupt eine Abschmelzung nicht möglich 


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560 


Dr. M. Wahl, 


ist. — Um der Frage näher zu kommen, wurden Versuche mit 
Projectilen gemacht, welche aus einer Legirung von Zink, Wis- 
mnth und Blei gegossen waren und zu gleichen Theilen einen 
Schmelzgrad von 100 °, und bei überwiegender Wismuthmischung 
von bloss 70° haben. Die Projectile hatten wegen ihrer Härte 
keine Führung im Rohr und erreichten nicht das Ziel, indem in 
Folge unregelmässiger Rotationsbewegungen ihre lebendige Kraft 
bald erlosch. Theilweise fanden auch schon Abschmelzungen 
im Rohr statt. Es lässt sich daher bezüglich der Abschmelzung 
der Projecftle beim Aufschlagen Folgendes feststellen: 

Wenn bei mindestens 400 Meter Endgeschwindigkeit die Ge¬ 
schwindigkeit des Bleiprojectiles durch einen intensiven Wider¬ 
stand derartig unterbrochen wird, dass sie plötzlich aufhört, so 
tritt durch moleculare Umsetzungen der lebendigen Kraft ein 
solcher Hitzegrad ein, dass Abschmelzungen am Geschosse statt¬ 
finden (Tyndall liat hierüber genauere Berechnungen angestellt). 
Dies geschieht aber nur durch Eisen- oder Stahlplatten. Bei Ge¬ 
genständen von gleicher Consistenz tritt Deformation und Thei- 
lung des Geschosses ein, und solche von geringerer Festigkeit 
werden durchdrungen, bis durch den andauernden Widerstand die 
lebendige Kraft des Projectils getödtet ist. (Dabei können auch 
Gestaltabweichungen des Geschosses nach Umständen Vorkommen.) 

Bei den Schusswunden am menschlichen Körper sind Abschmel¬ 
zungen der gewöhnlichen Bleiprojectile daher nicht denkbar, weil 
derselbe durchschossen wird, oder weil die Geschwindigkeit des 
Geschosses niemals plötzlich, sondern nur allmälig beim Vordrin¬ 
gen mit einem gewissen Zeitaufwande aufgehoben wird. Das Ge¬ 
schoss wird bloss deformirt, und die dabei durch Friction und 
moleculare Umsetzungen der lebendigen Kraft erzeugte Wärme ist 
zu niedrig, um Abschmelzungen am Bleiprojectile hervorzubringen. 

Schliesslich ist noch zu bemerken, dass man nicht im Stande 
ist, mit jedem Gewehre an der eisernen Scheibe jene Abschmel¬ 
zungen hervorzurufen. Socin und Hagenbach schossen mit 
Schweizerkaliber, welches eine Ausgangsgeschwindigkeit von 450 
Mtr. hat. Das Zündnadelgewehr mit seiner geringen Ausgangs¬ 
geschwindigkeit von 296 M. würde jene Abschmelzungen, die man 
nur bei mindestens 400 M. Endgeschwindigkeit sah, hervorzurufen 
nicht im Stande sein. Geschosse, welche eine geringere Aus- 


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Zur Mechanik der 8chussverletzungen. 


561 


gangsgeschwindigkeit als die erforderliche Endgeschwindigkeit 
haben, taugen daher nicht zu diesem Experiment.*) 


*) Es ergiebt sich das aus folgender Rechnung: Setzt man, wie oben, für 
lebendige Kraft L, für Gewicht P, für Geschwindigkeit V, für Beschleunigung 

P 

der Schwerkraft G, und bedeutet M die Masse = -q-, so ist: 


MV 3 PV* 

L — 2 " 20 1 

es ergiebt sich daher für das Chassepotgeschoss: 

P = 25,0 Gramm = 0,025 Kilogramm, 

V = 420 Meter (Ausgangsgeschwindigkeit), 

G = 9,808 Meter (constant), 

es ist also 

0,025 . 420 3 

L = - 2 —9*808- = Kilogrammmeter. 

424 Kilogrammeter entsprechen 1 Wärmeeinheit, d. h. sie erwärmen 1 Kilo¬ 
gramm Wasser um 1 Grad C., daher entwickeln 225 Kilogrammeter beim Um¬ 
setzen in Wärme circa j WE (genau 0,53 WE), also würde diese Wärme 0,53 
Wasser um 1 Grad wärmer machen. Sollen aber 0,025 Kilogramm Wasser er¬ 
wärmt werden, so werden diese 21 mal so warm, weil 0,025 21 mal in 0,53 
enthalten ist. Lässt man nun statt 0,025 Kilogramm Wasser ein gleiches Ge¬ 
wicht Blei erwärmt werden, so wird, da die specifische Wärme des Bleies i| 3 t 
ist, die Temperatur um 21 mal 31 Grad «»651 Grad steigen, vorausgesetzt, 
dass die ganze Wärme dem Geschoss zu Gute käme, was jedenfalls nicht voll¬ 
ständig der Fall ist, da ein Theil der Wärme an die Scheibe verloren geht. 
Für das preussiscbe Lang bl ei ergiebt sich folgende Rechnung: 

P = 0,031 Kilogramm, 

V = 296 Meter (Ausgangsgeschwindigkeit), 

G = 9,808 Meter, 

es ist daher 


L = 


0,031 . 296 3 
2 . 9,808 


= 139 Kilogrammeter 


= 1 WE (genau 0,328). 


Eine ähnliche Rechnung ergiebt die Erwärmung des Geschosses unter den¬ 
selben Umständen wie oben um 300 Grad C. 

Weil nun der Schmelzpunkt des Bleies 330 Grad C. beträgt, so folgt da¬ 
raus, dass am preussischen Langblei Abschmelzungen überhaupt nicht stattfinden 
können, selbst dann nicht, wenn man die Temperaturgrade, welche das Geschoss 
beim Austritte aus dem Rohre hat und welche auf Grund oben angeführter Ver¬ 
suche, nach den Abschmelzungen im Rohr bei den Projectilen aus Zink und Wis* 
mutb zu schliessen, doch mindestens auf 70 Grad G. anzuschlagen sind, mit in Rech¬ 
nung bringt, da ein wesentlicher Tbeil der Wärme an die Scheibe übergeben muss. 


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562 


Dr. M. Wahl, 


Die Versuche von Professor L. Meisens haben ähnliche Re¬ 
sultate ergeben (Comptes rendus, I. 74. April 1872. — Ding- 
ler’s Polytechnisches Journal. Bd. 205. Heft 1. S. 36. — Jour¬ 
nal de mödecine de Bruxelles. Juni- und Septemberheft 1872. — 
Allgemeine Militairärztliche Zeitung. Wien. Nr. 29 und 30. — 
Notiz von Dr. Pundschu). Derselbe schoss Bleiprojectile mit 
250 - 400 Meter Geschwindigkeit auf Bleiplatten, Kalksteine und 
Holzstücke, Gegenstände, welche zum Theil grösseren Widerstand 
als die Gewebe des thierischen Körpers bieten. Die Projectile 
zeigten keine Abschmelzungen. Dasselbe Resultat ergab sich bei 
Schiessversuchen auf Knochen. Meisen8 kommt daher auch zu 
dem Schlüsse der (Jnmöglickeit der Schmelzung der Bleiprojectile 
in den Schusswunden. Beim Schiessen auf einen eisernen Am¬ 
bos zeigten sich andere Erscheinungen. Eine Abschmelzung von 
Blei kann nach Me Isens nur geringen Umfang haben, er behaup¬ 
tet, dass „sich das weiche Blei in Pulver verwandelte, ein Theil 
dieses Pulvers sei sehr zart, dieser Staub enthalte Bleioxyd, wel¬ 
ches sich in verdünnter Essigsäure löst, während das zu diesen 
Schiessversuchen verwendete Blei frei von Oxyd gewesen sei.“ 
Was die letztere Thatsache anlangt, so ist jedenfalls die Qualität, 
etwaiges Legirungsverhältniss des Bleies, von Belang. Ausserdem 
ist aber zu constatiren, dass Bleimassen in dünnen Schichten sehr 
leicht Oxydationsprocesse eingehen. Immerhin ist ein derartiger 
Process bei einer hochgradigen Deformation, wie sie jedenfalls 
beim Schiessen auf einen eisernen Ambos am Bleiprojectile zu 
beobachten ist, wo also auch dünne Schichten Vorkommen können, 
sehr leicht möglich. Durch Versuche und durch Berechnung nach 
den Formeln der mechanischen Wärmetheorie lässt sich die Masse 
des vom Projectile beim Schiessen auf Stahl und Eisenplatten 
abgeschnolzenen Bleies näher .bestimmen. 

Von rein chirurgischem Interesse bleibt die constatirte 
Thatsache, dass eine Abschmelzung der Bleiprojectile bei den 
Schusswunden, also durch Aufhalten des Geschosses im Knochen, 
in dem Seimen- und Muskelgewebe, nach den Gesetzen der mecha¬ 
nischen Wärmetheorie nicht möglich ist, weil die Geschwindigkeit 
nicht plötzlich aufgehoben wird. Es muss aber die Möglichkeit 
zugegeben werden, dass eine Abschmelzung am Projectile beim 
Aufschlagen desselben auf einen sehr festen Körper ausserhalb 


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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


563 


des menschlichen Körpers stattfinden kann. So kann z. B. ein 
mit voller Kraft auf das Gussstahlrohr einer Kanone aufschlagen¬ 
des Chassepotprojectil theilweise abgeschmolzen und deformirt 
werden und beim Zurückprallen noch einen am Geschütz stehen¬ 
den Mann verwunden. Man findet dann also möglicher Weise 
im Schusskanale ein deformirtes und Spuren der Abschmelzung 
darbietendes Projectil. In dieser und ähnlicher Weise siud viel¬ 
leicht die Beobachtungen von Socin, Cohn und Coze zu deuten. 

Viele der neuerdings auch von anderen Autoren als Ab¬ 
schmelzungen beschriebenen Formen sind nur als Deformations¬ 
formen aufzufassen. Bei Schiess versuchen mit „Chassepot-, 
Werder- und Zündnadelgewehr“ habe ich in Bezug hierauf Fol¬ 
gendes beobachtet: 

Die Abschmelzungen, welche nur mit Chassepot- (420 Meter Ausgangsge¬ 
schwindigkeit) und Werdergewehr (446 Meter Ausgangsgeschwindigkeit) auf einer 
13 Mm. starken Eisenplatte (in Distanz von 16 Schritt) hervorgebracht w r urden, 
zeigten sich als deutliche sternförmige Auflagerungen an der Aufschlagsstelle 
des Projectiles. Dieselben hatten ein weissgraues, mattes Aussehen, eine rauhe, 
aber regelmässige und keinesw r eges gezackte oder gerissene Oberfläche, sie adhä- 
rirten fest mit der Eisenplatte. Zum Theil war diese äussere Beschaffenheit 
auch an dem deformirten Kopf des vor der Scheibe liegenden Projectiles zu 
constatiren. 

Es fanden sich vor der Scheibe viele kleinere Bleipartikel von unregel¬ 
mässigem, beinahe körnigem Aussehen, theils mit ungleichförmiger Oberfläche, 
zackigen, gerissenen und zum Theil wie aufgerollten Rändern, theils deutliche 
Druckrinnen darbietend. An keinem einzigen konnte ich die characteristische 
Beschaffenheit der an der Aufschlagsstelle befindlichen sternförmigen Abschmel¬ 
zungen wahniehmen. 

Eine Platte aus dünnem Zinkblech, welche auf einer 2', Mm. starken Eisen¬ 
platte befestigt war, wurde durchschossen. An den eingebogenen Rändern des 
18 Mm. im Durchmesser haltenden Loches in der Eisenplatte fand sich ein 
dünner, wie aufgeschlagener Bleisaum mit deutlichen Druckrinnen. Derselbe 
liess sich leicht loslösen und zerbrach leicht in kleine Stückchen. 

Beim Durchschiessen von harten Röhrenknochen eines Pferdes fanden sich 
hie und da an den abgesprengten Knochenstücken oder, wo die einzelnen Stücke 
durch Weichtheile noch lose zusammenhingen, im Schusskanale kleine Bleipar¬ 
tikel mit unregelmässigen, zackigen Formen und deutlichen Druckrinnen. 

Beim Chassepot- und Werdergewehr wurde die Ausgangsgeschwindigkeit 
des Geschosses durch entsprechende Verminderung der Pulverladung auf 300 
und 200 M. herabgesetzt. Es zeigten sich mit Ausnahme der Abschmelzungs¬ 
formen an der 13 Mm. starken Eisenplatte jene zackigen, kleinen, unregel¬ 
mässigen Bleipartikelchen vor der Scheibe, jene leicht zu entfernenden dünnen 

v. L/tngenbcck, Archiv f. Chirurgie. XVI. 

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564 


Dr. M. Wahl, 


Druckformen, wenn auch weniger deutlich ausgesprochen, an der durchschossenen 
2£ Um. starken Zink-Eisenplatte, auch einige kleine an den abgescbossenen 
Knochenstückchen adhärirende Bleipartikelchen, in geringerem Grade als bei 
jener höchsten Geschwindigkeit. 

Bei den Schiessversuchen mit dem Pr. Zündnadelgewehr (296 M. A. 9) habe 
ich keine Abschmelzungen an der Eisenplatte, auch nicht jene mancbettenartig 
an den eingebogenen Rändern des Loches in einer durchschossenen Eisenscheibe 
eingefügten dünnen Bleiabdrücke, wohl aber kleine, oft lamellenartige, abge¬ 
rissene Partikel, wenn auch in geringerem Grade vor der Eisenplatte und an 
den abgeschossenen Knocbenstücken adhärirend gefunden. 

Bezüglich des Unterschiedes zwischen Abscbmelzungs- und Deformation*- 
formen bin ich daher auf Grund der Resultate obiger Versuche zu der Annahme 
gelangt, dass die Abschmelzungsformen nur an der Scheibe und weniger deutlich 
am deformirten Geschosskopfe zu sehen sind, dass dieselben überhaupt nicht 
von der Eisenscheibe abspringen, sondern an dieser fest adhäriren, dass die 
kleinen Bleipartikel nichts Identisches mit den Abscbmelzungen haben, sondern 
wegen ihrer charakteristischen äusseren Beschaffenheit (Druckrinnen) als Defor¬ 
mationsformen gelten müssen. Es ist das um so eher anzunebmen, als sie, 
wenn auch in geringerem Grade, auch bei einer geringeren Geschwindigkeit, 
(300, 200 M.), und bei geringeren Widerständen (Knochen), Vorkommen, wo 
nachgewiesener Maassen eine Abschmelzung nicht möglich sein kann. 

Was nun noch die irisirenden Farben anlangt, so ent¬ 
stehen dieselben an den Metallen bekanntlich durch moleculare 
Schwingungen io Folge hoher Hitzegrade. Diejenige Farbe, welche 
die niedrigsten Schwingungen hat, zeigt sich zuerst (gelb), und 
mit dem Wachsen der Hitzegrade geht eine allmälig in die andere 
über. Der zur Erzeugung jener Farben nötbige Hitzegrad ist 
bei den verschiedenen Metallen ein verschiedener. Man kann 
sich durch Versuche überzeugen, dass beim Blei der Irisspiegel 
erscheint, nachdem es bereits geschmolzen ist und noch einige 
Zeit der Hitze ausgesetzt bleibt. Es sind also mehr als 330° 
Hitze nöthig, um diese Erscheinungen am Blei zu erzeugen, 
und darin liegt schon der Beweis, dass das Vorkommen bei den 
Schusswunden nicht denkbar ist. Beck (a. a. 0.) erklärt diese 
Veränderung an den Projectilen auf Grund chemischer Unter¬ 
suchungen für Schwefelverbindungen. (!) 


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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


565 


Der getroffene Körper. 

# 

Resistenzkraft des getroffenen Körpers. 

Zur weiteren Würdigung der bqi den Schusswunden in Frage 
kommenden mechanischen Momente sind die getroffenen Körper 
zu berücksichtigen, bezüglich ihrer dem Geschosse entgegenstehen¬ 
den Widerstandskraft und ihrer Stellung im Momente 
des Getroffenwerdens. 

Hier erwähne ich zuerst jene Dinge, welche, ausserhalb des 
menschlichen Körpers gelegen, das Projectil auf seiner Bahn zu¬ 
fällig trifft. Es sind das Gegenstände «in der Natur, Bäume, 
Steine, sowie ganz besonders Kriegsgeräthe, Waffen- und Uniform¬ 
stücke, und Gegenstände, welche die Soldaten zufällig bei sich 
führen, Uhren, Münzen, Notizbücher etc., und welche, indem sie 
das Geschoss oft ganz oder theilweise mit hinwegreisst, oft zu 
indirecten Geschossen werden. Bekannt ist, wie oft die Kleidungs¬ 
stücke die Kugeln aufhalten. Nicht selten finden sich steckenge¬ 
bliebene Projectile in den Tornistern der Soldaten oder beim 
Oeffnen der Kleider. Pirogoff erwähnt aus Schiffstauen gefertigte 
Massen, welche bei der Belagerung von Sebastopol zum Schutz 
der Russischen Batterien zwischen den Geschützen placirt waren 
und die feindlichen Kanonenkugeln aufhielten. Je nach dem Grade 
der Festigkeit und je nach der dichten xVnordnung der einzelnen 
Molecüle ist der Widerstand der getroffenen Körper ein sehr ver¬ 
schiedener. Piof. Meise ns hat vielfache Experimente über die 
Resistenzkraft der einzelnen Körper den andringenden Geschossen 
gegenüber gemacht (Zeitschr. für die Schweizer Artillerie S. 62 ), 
welche immer von der molecularen Cohaerenz der ge¬ 
troffenen Theile abhängt. 

Da nun der menschliche Körper aus verschiedenen Gewebs- 
elementen von grosser und geringer Festigkeit besteht, so ist 
der seinerseits dem eindringenden Geschosse gegenüber zur Wir¬ 
kung kommende Widerstand höchst variabler Natur. 

Bei der näheren Würdigung der Beschaffenheit dieser Gewebs- 
elemente ist zunächst die quantitative und qualitative An¬ 
ordnung derselben zu berücksichtigen. Der Widerstand des Ge¬ 
webes ist verschieden, je nachdem die einzelnen homogenen 

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560 


Dr. U. Wahl, 


Gewebselemente eine mehr oder weniger dichte, multiple Zusam¬ 
mensetzung zeigen. Der Widerstand eines schwachen Muskels 
wird vom Geschosse leichter überwunden, beim Eindringen in dicke 
Muskulatur stehen dem Projectile durch Anhäufung gleicher oder 
Steigerung verschiedener Widerstandsmomente grössere Hinder¬ 
nisse entgegen. Der quantitative Muskelwiderstand des fächer¬ 
förmig sich am Thorax ausbreitenden Pectoralis wird ein gerin¬ 
gerer sein, als wenn ein Projectil in die dicken Muskelbündel der 
Glutaeen eindringt. Die quantitative Anhäufung einzelner homo¬ 
gener Widerstandselemente bedingt daher die Vergrösserung des 
Widerstandseffectes, und derselbe hängt demnach zum Th eil 
von der anatomischen Anordnung der Gewebe ab. 

Bezüglich der Qualität des Widerstandes ist es von Belang j 
wie sich die einzelnen Gewebe zu einander verhalten. Parenchy¬ 
matöse Gewebe wie Leber-, Milz- oder Lungensubstanz, ferner 
die weiche Hirnmasse besitzen eine geringere Widerstandskraft, 
als die darch grosse moleculäre Cohaerenz sich auszeichnenden 
elastischen Gewebe. Von diesen wird wiederum die Muskelsub- 
stanz geringere Resistenzkraft entwickeln, als Sehnen, Bindege¬ 
webe oder Haut, während das Enochengewebe den intensivsten 
Widerstandgiebt. Der qualitative Widerstandseffect wird 
daher durch die histologische Beschaffenheit des Ge¬ 
webes gesteigert. Der Effect der anatomischen und histo¬ 
logischen Anordnung wird aber durch physiologische Mo¬ 
mente vermehrt. Der Turgor vitalis des Gewebes, die Spannungs¬ 
verhältnisse desselben während der Action sind hier zu berücksichti¬ 
gen. Schlaffe Haut und Muskulatur ist weniger widerstandsfähig, als 
straffes, gut entwickeltes Gewebe. Die Widerstandsenergie con- 
trahirter Muskeln oder gespannter Sehnen ist effectvoller, als wenn 
dieselben im Zustande der Inactivität und Erschlaffung sich be¬ 
finden. Die physiologische Spannung erhöht die Resi¬ 
stenzkraft des Gewebes. In wie weit hierbei besondere Ver¬ 
hältnisse, wie constitutioneile oder krankhafte Zustände berück¬ 
sichtigt werden müssen, lässt sich nicht bestimmen. Bei einem 
fettig entarteten Muskel, dem Knochensystem eines mit Syphilis 
behafteten Soldaten dürfte wohl eine geringere Resistenzkraft un¬ 
ter Umständen zu vermuthen sein. 

Diese Resistenz des Gewebes, welche also von der molecu- 

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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


567 


laren Cohaerenz der einzelnen Theile abbängt and durch die 
anatomische und histologische Anordnung und physiologische 
Spannung derselben vergrössert wird, kommt nun dem andrin¬ 
genden Geschosse gegenüber in einer doppelten Weise zur Gel¬ 
tung, als absolute Festigkeit und als rückwirkende Kraft 
des Gewebes. Die erstere ist constant, man kann sie eigentlich 
als einen passiven Widerstand bezeichnen, der je nach den Struc- 
turverhältnissen und dem Grade der lebendigen Kraft des Ge¬ 
schosses mehr oder weniger leicht, und zuletzt gar nicht mehr 
überwunden wird. Die andere ist nicht constant, sondern steht 
in genauem Verhältnisse zur lebendigen Kraft des Geschosses. 
Sie bildet den eigentlichen activen Widerstand für die lebendige 
Kraft des Geschosses. 

Die lebendige Kraft des Projectiles wird zum Theil dazu ver¬ 
braucht, einem im Verhältniss zur Grösse der aufschlagenden 
Fläche des Geschosses stehenden Theile des Gewebes seine fort¬ 
schreitende Bewegung mitzutheilen, indem es dasselbe aus dem 
Zusammenhänge mit den Nachbartheilen herausreisst und zwingt, 
der Richtung seiner Flugbahn zu folgen. Dieser Theil ist um 
so grösser, je grösser die aufschlagende Fläche des Geschosses 
ist, daher spitze Geschosse bei gleicher lebendiger Kraft weniger 
abreissen als breitköpfige Frojectile oder Sprengstücke. Indem das 
Geschoss diesen herausgeschlagenen Theil auf seiner Bahn mit 
fortreisst, wird an die daneben und vor ihm gelegenen Molecüle 
durch das keilartige Vorschieben und die bohrenden Rotationsbe¬ 
wegungen des Geschosses ebenfalls ein Theil der lebendigen Kraft 
abgegeben. Die lebendige Kraft dieser Theile äussert sich nun 
durch Auseinanderweichen der betreffenden Molecüle. Die¬ 
selben wirken auf das anliegende Gewebe, welches sie durch 
dieses Zusammendrängen zunächst verdichten. Ein Theil der 
lebendigen Kraft dieser seitlich verdrängten Partikel wirkt da¬ 
durch indirect auf die Oberfläche des Geschosses, der lebendigen 
Kraft desselben entgegen, wird aber, weil diese grösser ist, seit¬ 
lich verschoben. Diese Verhältnisse sind in „Traite de ballistique 
par le göndral Didion“ sehr anschaulich dargestellt (S. 286). 
Dieser Widerstand des Gewebes wird daher erst durch die 
lebendige Kraft des Geschosses erzeugt, indem jenes einen 
Theil von der lebendigen Kraft des Projectiles erhält, ver- 


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568 


Dr. M. Wahl, 


möge welcher es zu einer der Flugbahn des Geschosses ent¬ 
sprechenden Bewegung gezwungen wird, oder seitlich ausweicht 
und dem Geschosse entgegenwirkt. Das Gewebe wird daher ge- 
wissermassen in einen activen Zustand versetzt und man kann 
demnach den Widerstand desselben als eine Kraft betrachten, 
welche dem Geschosse entgegenwirkt. Die Resultirende liegt aber, 
da die lebendige Kraft des Geschosses grösser ist, in der Rich¬ 
tung der letzteren, nach dem statischen Gesetze, nach welchem, 
wenn zwei ungleiche Kräfte in gerader Richtung auf 
einander wirken, die Resultirende gleich der Differenz 
der beiden ist und in der Richtung der grösseren liegt; 
wirken dieselben in einem Winkel aufeinander, so 
wird die Resultirende nach dem Gesetze des Paral- 
lelogrammes der Kräfte zu finden sein. Der Wider¬ 
stand des Gewebes verhält sich einem mit intensiver Geschwin¬ 
digkeit eindringenden Projectile gegenüber anders, als wenn der¬ 
selbe schon bedeutend von seiner lebendigen Kraft verloren hat, 
oder bereits matt ist. Wenn man einen Stab mit intensiver Kraft 
und Geschwindigkeit in einer bestimmten Richtung durch das 
Wasser schlägt, so fühlt man in der Hand die Kraft des Wider¬ 
standes, den das Wasser entgegenstellt. Derselbe fällt aber hin¬ 
weg, wenn derselbe Stab langsam durch die Wassermasse bewegt 
wird. Die führende Hand fühlt keine gegenwirkende Kraft. Der 
Widerstand ist um so grösser, je grösser die lebendige Kraft ist. 
Ebenso verhält es sich mit dem Widerstande des Gewebes im 
thierischen Körper. Derselbe wächst mit der Geschwin¬ 
digkeit und lebendigen Kraft des Geschosses, d. h. er 
ist der Anfangsgeschwindigkeit gegenüber am intensivsten, nimmt 
ab mit dem Geringerwerden der lebendigen Kraft und ist beim 
Erlöschen derselben nur noch minimal. Die moleculare Cohaerenz 
des Gewebes wird zuletzt vom Geschosse gar nicht mehr über¬ 
wunden, weil die lebendige Kraft im Erlöschen ist. Deshalb 
kann auch kein dem Geschosse entgegenwirkender Widerstand 
erzeugt werden. Das Gewebe wird eben wegen seiner absoluten 
Festigkeit, die man dem Geschosse gegenüber als ein passives 
Hinderniss betrachten kann, nicht mehr durchdrungen, weil die 
lebendige Kraft des Geschosses getödtet ist. Die bisher auch in 
neueren kriegschirurgischen Werken noch ausgesprochene Ansicht, 

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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


569 


„nach welcher der Widerstand des Gewebes im Verhältniss zu 
der Abnahme der lebendigen Kraft stetig wachse,“ so dass der¬ 
selbe bei der Anfangsgeschwindigkeit des Geschosses am gering¬ 
sten sei, mit der Abnahme der lebendigen Kraft immer grosser 
werde, bis er zuletzt dieselbe ganz überträfe“, dürfte daher als 
unrichtig aufzufassen sein. 

Der in gerader Richtung auf das eindringende Geschoss 
wirkende Widerstand des Gewebes vermindert die fortschrei¬ 
tende Bewegung des Geschosses und vernichtet sie allmälig 
durch quantitative und qualitative Steigerung der W T iderstands- 
elemente. Die rotirende Bewegung des Projectils wird 
durch die seitliche Wirkung der Widerstandskräfte verändert 
und aufgehoben. Durch den Einfluss eines seitlichen Widerstandes 
auf das Geschoss entstehen grössere Schwingungen. Der Winkel 
des Rotationskegels, den das Geschoss in seiner Bewegung inne 
hält, wird grösser, und der Rotationskreis nimmt an Umfang zu, 
das Geschoss macht pendelnde Bewegungen, in Folge deren die 
lebendige Kraft schliesslich erlöscht. 

Der seitlich auf das Geschoss wirkende Widerstand ist die 
Ursache der Ablenkung des Geschosses von seiner Bahn (De¬ 
viation). Liegt derselbe ausserhalb des menschlichen Körpers, 
so prallt das Geschoss ab, es ricochetirt beim Vorhandensein 
eines gewissen Grades von Elasticität nach einem statischen 
Gesetze im nämlichen Winkel, in welchem es aufschlug. Dringt 
das Geschoss in den menschlichen Körper ein, so erfährt es auf 
seinem Wege durch plötzlich sich entgegenstellenden intensiven 
seitlichen Widerstand oft die mannichfachsten Ablenkungen, wie 
die vielfachen Modificationen in der Richtung der Schusscanäle 
bezeugen. Ausserdem erleidet das Geschoss nach dem Gesetze, 
nach welchem Körper beim Eindringen aus minder dichten in 
dichtere Medien durch Verminderung ihrer Geschwindigkeit ihre 
Bahn ändern, durch den anhaltenden seitlichen Druck und Wi¬ 
derstand des Gewebes auch allmälig eine mehr oder weni¬ 
ger bedeutende Ablenkung von seiner ursprünglichen Bahn. 
Bei Schiessversuchen mit grossen Langgeschossen (Artillerie), 
welche in einem stumpfen Winkel in die Erde schlugen, hat man 
beobachtet, dass die in die Erde geschossenen Projectile nicht in 
der ursprünglichen Richtung der verlängerten Flugbahn fort- 


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Dr. M. Wahl, 


schreiten, sondern in Folge des anhaltenden Druckes der anlie¬ 
genden Erdschichten nach oben abweichen, so dass sie schliesslich 
mit nach oben gerichteter Spitze stecken bleiben. Der in der 
Erde beschriebene Schusscanal bildet einen mit der convexen Seite 
nach unten stehenden Bogen, ein Umstand, der nach dem Urtheil 
eines Artilleristen die Wirkung derartiger Geschosse auf sogenannte 
bombenfeste, d. h. mit Erde überdeckte Gewölbe, sehr illusorisch 
machen könnte. Aehnliches ist auch beim Schiessen mit langen 
Gewehrprojectilen auf dicht zusammengelegte Pappscheiben beob¬ 
achtet worden. Am Ende des die einige Fuss dicke Pappschicht 
durchdringenden Schnsscanals befand sich eine nach oben gerich¬ 
tete höblenartige Ausbuchtung, in welcher sich das Projectil mit 
nach oben stehendem Kopfe befand. In Folge des seitlichen 
Widerstandes im thierischen Organismus weicht das Geschoss 
oft nach der Richtung hin aus, wo es die geringste mole- 
culare Cohaerenz des Gewebes zu überwinden hat, so dass 
oft die merkwürdigsten Abweichungen in der Richtung der 
Schusscanäle Vorkommen. Neben der Deviation, welche 
der Widerstand des Gewebes bezüglich der Flugbahn des Ge¬ 
schosses erzeugt, wird durch denselben je nach dem Grade der 
Festigkeit und neben dem Einflüsse der lebendigen Kraft auch 
die Gestalt des Geschosses verändert. Die Deformation 
ist um so grösser, je grösser die lebendige Kraft des Geschosses 
und je fester der Widerstand der Gewebe ist. Daher übt vor 
allen die Knochensubstanz wesentlichen Einfluss auf dieselbe aus. 

Die Energie der Resistenzkraft des Gewebes kommt dem¬ 
nach in einer dreifachen Weise zur Geltung: sie vermindert 
oder vernichtet allmälig die lebendige Kraft des Geschosses 
durch Hemmen der fortschreitenden und Verändern der rotiren- 
den Bewegung desselben, so dass das Geschoss durch das Durch¬ 
dringen des menschlichen Körpers matter wird, oder nach Töd- 
tung der lebendigen Kraft in demselben stecken bleibt; sie lenkt 
das Geschoss von seiner ursprünglichen Bahn ab, Deviation, 
und begünstigt dessen Formveränderungen, Deformation. 

Stellung des Körpersim Momentedes Getroffenwerdens. 

Die Stellung des getroffenen Körpers im Momente des 
Getroffenwerdens ist bei der Beurtheilung der Widerstandskraft 


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Zur Mechanik der Schussverlet/.ungeu. 


571 


der einzelnen Gewebstheile, daher anch bei der Wirkung des 
Projeetiles im Allgemeinen, oft von besonderer Wichtigkeit. 

Die Riehtungslinie der Flugbahn des Geschosses steht zu der 
Oberfläche des getroffenen Theiles entweder in fast paralleler 
Richtung, oder sie bildet beim Einschlagen mit derselben einen 
Winkel, den Einfallswinkel. Im ersteren Falle handelt es sich 
um einen Streifschuss, die Oberfläche des getroffenen Theiles 
ragt dann seitlich in die Tangente der Flugbahn des Geschosses, 
welches nur mit einem kleineren Theile seines queren, aber mit 
dem grössten seines Längsdurchmessers einwirkt. Der Einfalls¬ 
winkel des eindringenden Geschosses ist sehr verschieden, und 
die Grösse dieses Winkels bedingt unter Umständen besondere 
Modificationen in den Wirkungen desselben. Die Wider stauds- 
energie der Gewebe tritt mehr hervor, wenn der Ein¬ 
fallswinkel ein stumpfer ist und die Kraft des ein¬ 
schlagenden Geschosses ist um so weniger von Effect, 
je grösser sein Einfallswinkel ist. Ein Beispiel aus dem 
gewöhnlichen Leben zeigt Aehnliches. Ein kleiner, in sehr flachem 
Winkel auf eine Wasserfläche geworfener Stein wird vom Wasser 
ricochetirt, so lange bis seine fortschreitende Bewegung erlöscht 
und derselbe vermöge seiner Schwere in das Wasser einsinkt. 
In rechtem, oder bedeutend weniger stumpfem Winkel die Wasser¬ 
fläche treffend, sinkt derselbe sofort unter. Unter sehr stumpfem 
Winkel den Körper treffende Geschosse werden aber deshalb noch 
wesentlich in ihren Wirkungen beeinflusst, weil der Widerstand 
des Gewebes zum Theil seitlich auf das Geschoss wirkt, und 
daher durch Störung der Rotationsbewegung dasselbe leichter von 
seiner ursprünglichen Bahn abgelenkt und ricochetirt wird. Aus 
diesem Grunde erleiden auch die in einem stumpfen Winkel in 
den Körper einschlagenden Projectile durch die oft markirt hervor¬ 
tretende seitliche Wirkung des Widerstandes der Gew r ebe viel 
leichter Ablenkungen, als die rechtwinklig den Körper durch¬ 
dringenden Geschosse. Ferner werden durch gewisse Bewegungen 
manche Theile des Körpers, Gelenke, besonders gestellt, Muskeln 
und Sehnen in Spannung versetzt, im Innern des Körpers verändern 
manche Organe bei der Functionirung mehr oder weniger ihre 
Lage, und in solchen Momenten eindringende Geschosse erzeugen 
in Folge des mannichfachen und veränderlichen Widerstandes der 


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572 


Dr. M. Wahl, 


einzelnen Gewebe Verletzungen, welche man nur verstehen und 
wördigen kann, wenn man die eigene Stellung des Körpers im 
Momente des Getroffen Werdens in’s Auge fasst. Die Richtung 
solcher Schusscanäle zeigt daher oft die merkwürdigsten Verlaufs¬ 
arten, und ist es eine alte praktische Regel in der Kriegschirurgie, 
beim Untersuchen eines Schusscanales, zur besseren Würdigung 
desselben, den Soldaten möglichst die Stellung innehalten zu lassen, 
in der er im Momente des Getroffenwerdens beharrte. Auch muss 
noch erwähnt werden, dass die Form der Eingangsöflfnung des 
Schusscanales oft durch das seitliche Eintreten des Geschosses 
modificirt wird. 

Das Nähere hierüber ist gelegentlich der Betrachtung über 
die Richtung der Schnsscanäle zu erörtern. Ebenso ist es erklärlich, 
wie in den wechselnden Momenten des Gefechtes, zum Theil bedingt 
durch die Verschiedenheit der Kampfesart, theils abhängig von 
den Eigentümlichkeiten des Terrains des Kampfplatzes, wo durch 
heftige, rasche und vielseitige Bewegungen des Körpers so mannich- 
fache Modificationen in der-gegenseitigen Winkelstellung zwischen der 
Körperfläche und der Flugbahn des Geschosses geschaffen werden, 
wo durch die Spannung oder Erschlaffung von Sehnen und Muskeln 
und durch anderweitige Verhältnisse quantitative und qualitative 
Steigerungen der Widerstandsenergie des Gewebes teilweise in 
gerader, teilweise in seitlicher Richtung dem eindringenden Ge¬ 
schosse gegenüber zu Geltung kommen, — im Allgemeinen die 
Wirkung der Geschosse bei gleicher lebendiger Kraft und bei 
gleichen Distanzen bei den verschiedenen Soldaten eine höchst 
verschiedene sein muss. Man sieht daher Streifschüsse, leichte 
und schwere Verwundungen, Abreissungen, Schussfracturen neben 
einander. 

Bei Beurteilung der Wirkung der Geschosse einesteils und 
der Widerstandskraft des Gewebes andernteils muss daher die 
Stellung des Körpers im Augenblicke der Verwundung als von 
ganz besonderem Einflüsse gewürdigt werden. 

Nachdem ich in Vorstehendem mich über die.Factoren der 
Schussverletzungen verbreitet habe, hoffe ich in einer späteren 
Arbeit auf die Schussverletzungen selbst, also auf die Ein¬ 
wirkung der Geschosse auf den menschlichen Körper in mechani¬ 
scher Beziehung, zurückzukommen. 


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Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


573 


Erklärung der Abbildungen auf Tafel XV. 


Figur Name des Geschosses 

1 Altes sphärisches Projectil . . . 

2 Geschoss der Preussischeu Land¬ 

wehr 1866 . 

3 Geschoss der Preussischen Pio¬ 
niere 1864 . 

4 Preussisches Langblei. 

4a. .Erste Form des Preuss. Langbleies 

5 Geschoss der Hannoveraner bei Lan¬ 
gensalza 1866 . 

6 Schirmgeschoss (Hannover) . . . 

7 Sächsisches Jägergeschoss 1866 . 

8 Bayerisches Podewilsgeschoss 1866 

9 Podewilsgeschoss. 

10 Werdergeschoss (Bayern).... 

11 Plönniesgeschoss (Hessen, Württem¬ 
berg 1866) .. 

12 Oesterreichisches Jägergeschoss 1866 

13 Oesterreichisches Expansionsge¬ 
schoss (PodewUs). 

14 Oesterreichisches Compressionsge- 
schoss (Lorenz-Wilkinson) . . . 

15 Oesterreichisches Werndlgeschoss . 

16 Oesterreichisches Waenzlgeschoss ■ 

17 Dänisches Geschoss von 1864 . . 

18 Dänisches Geschoss von 1864 . . 

19 Französisches Ordonnanzgeschoss, 

Minie. 19a. Culot. 

20 Französisches Geschoss (Nessler) . 

21 Französisches Geschoss (Nessler) . 

22 Französisches Geschoss (Nessler) . 

23 Französisches Geschoss (Nessler) . 

24 Französisches Tabatieregeschoss 

25 Französisches Chassepotgeschoss . 

26 Französisches Geschoss, Delvigne- 

Minie. 

27 Französisches Geschoss, Tamisier . 

28 Französisches Mitrailleusengeschoss 

29 Französische Kartätschpatrone für 

Mitrailleuse. 

30 Französisches Geschoss für die nach 
Snider umgearbeiteten Gewehre 

31 Spanisches Geschoss. 

32 Belgisches Ordonnanzgeschoss (Tim- 

merhans). 

33 Belgisches Albinigeschoss . . . 

34 Beaumontgeschoss. 

35 Holländisches Geschoss .... 

36 Holländisches Dawgeschoss . . . 

36a. Holländisches Geschoss .... 
36b. Holländisches Geschoss Petrowitsch 

37 Holländisches Geschoss 1863 . . 


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Quer- Läugen- 
durchm.durcbm. 

Gewicht 

Pulver* 

laduug. 

Mm. 

Mm. 

Gr. 

Gr. 

17—18 

— 

26—32 

— 11 

18,0 

27,0 

— 

— 

15,0 

25,0 

25 

— 

13,6 

28,0 

31 

4,8-4,9 

— 

— 

- 

— 

16,0 

23,0 

27 

4,2 

16,2 

25,5 

34,5 

4,0 

18,0 

20,0 

27,0 

4,5 

14,2 

21,0 

27,6 

4,65 

13,6 

22,3 

29,1 

4,3 

11,5 

25,0 

21,0 

4,3 

13,5 

25,0 

28,0 

4,0 

14,0 

15,0 

17,4 

4,0 

13,3 

22,0 

27,5 

4,3 

13,6 

25,0 

30,1 

4,0 

11,3 

23,0 

20,2 

4,0 

14,4 

20,0 

29,7 

4,4 

16,5 

28,0 

— 

— 

13,0 

22,0 

— 

— 

18,0 

28,0 

— 

— 

17,0 

20,0 

34,0 

4,2 

17,2 

24,0 

36,0 

5,2 

17,2 

24,0 

47,5 

5,2 

10,0 

25,1 

— 

— 

18,4 

23,0 

36,0 

4,5 

11,0 

25,0 

25,0 

5,0 

18,6 

32,5 

— 

— 

18,0 

23,5 

— 

— 

12,6 

40,0 

50,0 

— 

12,0 

15,0 

18,0 

— 

17,3 

25,0 

49,0 

4,0 

14,0 

22,5 

31,0 

4,0 

17,0 

30,0 

45,5 

4,5 

11,6 

25,0 

25,0 

5,0 

11,7 

23,7 

21,7 

4,2 

18,0 

26,0 

40,0 

5.0 

18,4 

27,0 

36,0 

4,5 

18,0 

25,0 

55,0 

5,0 

16,4 

23,0 

35,9 

5,0 

12,3 

25,0 

23,2 

4,5 


Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 















574 Dr. M. Wahl, Zur Mechanik der Schussverletzungen. 


38 

Italienisches Geschoss 1857 . . . 

17,0 

28,0 

45,0 

4,5 

39 

Italienisches Zündnadelgeschoss. . 

17,2 

24,5 

36,0 

4,5 

40 

Russisches Geschoss, Minie . . . 

14,8 

27,0 

33,0 

4,5 

41 

Russisches Karlgeschoss .... 

15,2 

26,0 

35,5 

5,0 

42 

Russisches Rerdangeschoss . . . 

10,87 

27,0 

24,0 

5,0 

43 

Schwedisches Geschoss 1856 . . 

14,4 

23,5 

32,3 

5,3 

44 

Schwedisches Geschoss 1851 . . 

15,5 

22,0 

34,7 

5,3 

45 

Norwegisches Geschoss 1860 . . 

11,0 

27,0 

24,2 

4,8 

46 

Amerikanisches Peabodygeschoss . 

13,5 

23,0 

— 


47 

Englisches Boxergeschoss für Henry- 
gewehr. 

11,4 

31,0 

31,1 

5,5 

48 

Spencergeschoss. 

12,5 

23,0 

— 

— 

49 

Whitworthgeschoss . 

11,2 

34,8 

31,0 

5,5 

50 

Geschoss des Enfieldgewehres . . 

14,5 

26,5 

— 

— 

51 

Geschoss des Springfieldgewehres . 

12,5 

26,5 

— 

— 

52 

Boxergeschoss für Snidergewehre, 
die vordere Höhlung ist mit ge¬ 
presstem Thon gefüllt, der Treib¬ 
spiegel ebenfalls aus Thon . . . 

14,5 

25,0 

31,1 

4,5 

53 

Englisches Expansivgeschoss, Prit- 
chet. (mit Holztreibspiegel) . . . 

14,0 

26,0 



54 

Englisches Explosionsgeschoss (im 
vorderen Theil Messingröhre mit 
Knallsatz, Treibspiegel aus ge¬ 
presstem Thon). 

14,4 

27,0 

34,0 

4.0 

55 

Aeltercs Schweizer Stauchungsge¬ 
schoss . 

11,2 

11,1 

25,0 


• 

56 

Schweizer Stauchungsgeschoss . . 

23,5 

— 

— 

57 

Schweizer Stauchungsgeschoss . . 

11,1 

23,5 

— 

— 

58 

Schweizer Stauchungsgeschoss . . 

10,0 

24,0 

— 

— 

59 

Buchholzer Geschoss, Schweiz . . 

10,5 

27,0 

18,2 

4,1 

60 

Schweizer Geschoss für das Kaliber 
von 10,5 Mm. 

10,8 

26,0 

20,4 

3, <5 

61 

Explosivgeschoss des Dreyseschen 
Granatgewehres. 

20,0 

46,0 

58,0 

10,5 


62 Dorngeschoss nach 4 Stössen mit dem Ladestock (Fischer 13). 

63—66 Deformirtes Langblei. 

67 Getrenntes Stück vom Langblei. 

68 Abgerissene Stücke eines Haunöverscheu Projectiles mit eingekeilten Kno¬ 
chenstücken. 

69, 70 Deformirtes Chassepotprojectil. 

71 Deformirtes Chassepotprojectil mit eingedrücktem Cravattenhaken. 

72 Deformirtes Tabatieregeschoss. 


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Original ftom 

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XXI. 

Uebersicht über die Wirksamkeit der 
Augen- und chirurgischen Klinik 

des 

Dr* Wllh. Hemperdick, 

*u Colmar im Blaaas 

im Jahre 1872—73. 

Als Chef- und Stabsarzt des Militär-Spitals in Colmar wäh¬ 
rend der Monate December 1870 bis Mai 1871 — welches da¬ 
mals immerwährend einen Bestand von circa 200 vorzugsweise 
chirurgischen Kranken hatte — wurde ich bei Bekanntwerden 
meiner Thätigkeit im Lazareth, besonders in der letzteren Zeit, 
vielfach von Personen aus Colmar und Umgegend consultirt, und 
bot sich mir mannichfache Gelegenheit zu Augenoperationen dar. 
Auf diese Weise lernte ich das dringende Bedürfniss der Bevöl¬ 
kerung nach einem Special-Arzt für Augenkranke kennen, da die¬ 
selbe genötbigt war, sich Hülfe suchend nach Strassburg, Freiburg 
oder Basel zu wenden. Dieser Umstand rief in mir den Gedan¬ 
ken wach, nach Beendigung des Krieges mich in Colmar als Spe¬ 
cial-Arzt für Augen- und chirurgische Krankheiten niederzulassen, 
welcher Vorsatz durch den Tod des Augenarztes Prof. Stöber in 
Strassburg noch mehr befestigt wurde. Ohne mir die Schwierig¬ 
keiten meines Unternehmens zu verhehlen, glaubte ich doch, ge¬ 
stützt auf eine sechszehnjährige reiche Erfahrung auf diesem 
speciellen Gebiete, sowie als langjähriger Leiter und dirigirender 
Arzt des allgemeinen städtischen Krankenhauses in meiner früheren, 
sehr industriellen und volkreichen Heimath Solingen, ferner als 
Schüler v. Graefe’s, diesen Schritt mit Hoffnung auf Erfolg wagen 
zu dürfen. Anfangs des Jahres 1872 nahm ich meine Ueber- 
siedelung nach Colmar, in der Absicht der Errichtung einer Pri- 
vat-Anstalt vor, ging aber bald von diesem Gedanken wieder ab, 
da mir ein Öffentliches Handeln zweckmässiger schien, mir auch 
in dem hiesigen Maison de santä bereitwilligst die Unterbringung 

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576 


Dr. W. Kemperdick, 


von Kranken gestattet wurde, nnd ich für die Zukunft durch die 
eleganten Neubauten und comfortable Einrichtung derselben hin¬ 
reichenden und passenden Raum zur Unterbringung meiner Kranken 
zu erhalten hoffen durfte. Nachdem ich nun während des Zeit¬ 
raumes von \\ Jahren in Colmar auf diesem Gebiete thätig ge¬ 
wesen bin, glaube ich eben so sehr im Interesse der Sache, wie dem 
wiederholt ausgesprochenen Wunsche meiner Freunde gemäss zu 
handeln, wenn ich, dem Beispiele vieler meiner Collegen folgend, 
im Nachstehenden eine kurze Darstellung der Ergebnisse meiner 
seitherigen Praxis auf dem operativen Gebiete der Augenheilkunde 
und Chirurgie veröffentliche. Vorab fühle ich mich gedruogen, 
die aufopfernde und sorgfältige Pflege meiner Kranken von Sei¬ 
ten der Schwestern im hiesigen Maison de sante zu erwähnen und 
zugleich in dankbarer Gesinnung der wohlwollenden und aufmun¬ 
ternden Anerkennung, sowohl der deutschen als auch elsässischen 
Collegen zu gedenken, welche dieselben eines Theils durch die 
Ehre ihrer Anwesenheit, andern Theils durch thätige Beihülfe bei 
den Operationen gegen mich bethätigt haben, insbesondere der 
Herren: Reg.- und Medic.-Rath Dr. Boening, Assist.-Arzt Dr. 
Conrad, Ober-Stabs- und Regt.-Arzt Dr. Ertelt, Assist.-Arzt 
Dr. Keller, Reg.- und Medic.-Rath Dr. Mücke, Ober-Stabs- 
und Regt.-Arzt Dr. Rebenstein, Assist.-Arzt Dr. Weigand, 
Dr. de Witt. 

Ohne eine casuistische Zusammenstellung des Gesammtmate- 
rials nnd Zahlen-Angaben der überhaupt behandelten Kranken und 
Krankheiten zu geben, was mich zu weit führen würde, will ich 
zunächst eine Uebersicht der vorgenommenen grösseren und sel¬ 
teneren Operationen folgen lassen, welche zum Theil im Mai¬ 
son de sante, theils in den Wohnungen der Patienten und in 
meinem Hause vorgenommen worden sind. 

Grössere Operationen wurden ausgeführt: 


Name der Operationen. Summa. 

A. Augenoperationen. 

1. Staaroperationen. 25 

a) durch peripherische Linear-Eztracüon.18 

b) durch Discision. 5 

c) Nachstaaroperationen. 2 

2. Iridectomieen. 67 

a) bei Pupillenverwachsung, Leucom etc.52 

b) als Heilmittel bei Entzündungen.12 

c) bei Qlaucom. 3 


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Ueber die Wirksamkeit der Augen- und chirurgischen Klinik. 577 


3. Schieioperationen. 

a) bei Strabismus convergens.11 

b) Muskel-Vorlagerung. 3 

c) Rectus superior. 2 


4. Thränenfistoloperationen. 

5. Ectropium-Operationen. 

G. Entropium-Operationen. 

7. Staphylom-Abtragungen.. . . 

8. Symblepharon-Operation. 

9. Enucleatio bulbi. 

10. Operation einer retrobulbären Geschwulst. 

11. Operationen des Flügelfells. 

12. Abtragung grösserer Irisvorfälle. 

13. Thränendrüsen-Exstirpation. 

14. Exstirpation von Cysten in den Lidern. 

15 Krebsgeschwulst-Operationen mit Transplantation (resp. Neu¬ 
bildung von Augenlidern). 


a) an dem unteren Augenlide. 4 

b) an dem oberen Augenlide. 1 


c) an dem unteren und oberen Augenlide. 1 

B. Chirurgische Operationen. 

16. Amputation des rechten Oberschenkels wegen Krebsgeschwulst 

des Kniegelenks. 

17. Resection des rechten Unterkiefers wegen Carcinom . . . 

18. Entfernung einer Krebsgeschwulst an der linken Schläfe mit 

Transplantation. 

19. Entfernung einer grossen Krebsgeschwulst auf der linken 

Wange mit Transplantation. 

20. Entfernung zweier Krebsgeschwülste auf der rechten Ge¬ 

sichtsseite . 

21. Totale Rhinoplastik wegen Krebs der Nase. 

22. Partielle Rhinoplastik wegen Zerstörung der Nase und des 

Auges durch Granatsplitter. 

23. Lippenkrebs. . 

24. Punction einer grosser Krebsgeschwulst im Unterleibe . . 

25. Carcinoma mammae. 

26. Operation des Empyem’s (Thoracentesis). 

27. Resectionen des Hüftgelenkes .. 

28. Operation (Exstirpation) einer grossen Fettgeschwulst in der 

rechten Leistengegend. 

29. Operationen von grösseren Balggeschwülsten. 


a) auf dem Rücken. 1 

b) auf dem Kopfe. 2 

c) am Oberschenkel. 2 

d) am Knie. 1 


30. Sehnendurchschneidungen in der Kniekehle beiderseits (Mm. 

semitendinosi und semimembranosi). 

31. Wasserbruchoperationen (radicale). 

32. Hemiotomie. 

33. Ovarientumor (Punction mit Injection). 

34. Gebärmutterpolypen. 

35. Evidement des os bei Caries. 


a) des Hüftgelenks. 3 

b) des Ellenbogengelenks. 1 


15 


15 

5 

12 

3 

1 
X 

2 

1 

6 
<; 

i 

3 

G 


1 

1 

1 

1 

2 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

2 

1 

6 


2 

3 

1 

1 

3 

4 


Original f 

UNIVERSfTY OF 


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578 


Dr. W. Kemperdick, 


36. Operationen der Nasenpolypen (einmal 2 und einmal 21 in 


einer Sitzung bei 2 Personen). 2 

37. Necrosis des Mittelhandknochens. 1 

38. Grossere Narben- und Drüsen-Ausschneidungen .... 3 

39. Eröffnung des Kniegelenks wegen Eiterung. 2 

40. Tonsillotomieen. 7 

4L Hamröbren-Fi8tel. 1 

42. Naevusoperation. 1 

43. Operation der Circumcision. 4 

44. Mastdarmfistel. . 2 

45. Speichelfistel. 1 

46. Pes vanis (Tendo Achill, und Tib. anticus). 2 

47. Instrumentelle Entfernung von 308 im Rectum eingeklemm¬ 

ten Kirschensteinen bei einem 8jährigen Knaben . 1 

48. Operation des Kropfes an beiden Seiten des Halses ... 1 

49. Operation der Hasenscharte verbunden mit Wolfsra chen. . _ 1 


Gesammt-Summe 232 

Es wurden demnach im Ganzen 232 grössere Operationen 
gemacht, die alle, wie sowohl die oben angeführten Herren Colle- 
gen, als auch die Assistenz im Maison de sante weiss, ohne 
einen Unfall von Statten gegangen sind und sämmtlich von dem 
besten Erfolge begleitet waren. 

Von sämmtlichen Operirten starb nur ein 78jähriger Mann, 
N. Levy aus Hattstadt, an welchem die Entfernung des linken 
oberen Augenlides wegen Krebs mit Wiederersatz gemacht worden 
war. Es waren ihm, weil er, seinem Glauben gemäss, die Kost 
im Hause nicht geniessen durfte, von auswärts unverdauliche 
Nahrungsmittel gebracht worden, worauf er sofort brach und an 
Brechdurchfall am 5. Tage starb. 

Zur Würdigung und zum genaueren Verständniss der vor¬ 
stehenden Uebersicht will ich in Kürze einige Erklärungen folgen 
lassen und daran einige der wichtigsten Krankengeschichten an¬ 
reihen. 

A. Augen-Operationen. 

1) Von den 25 Staar-Operationen sind 18 nach der v. Graefe’- 
schen Methode durch die peripherische Linear-Extraction gemacht 
worden, indem ein gerader Schnitt von dem Durchmesser der 
Cornea wie eine Tangente den oberen Rand der Cornea berührt, 
worauf Irideetomie und die Herausbeförderung der Linse folgt. 
Keinen Verlust eines Bulbus habe ich zu beklagen. Von den 18 
Operirten bekamen 14 ein Sehvermögen von S=4—einzelne 


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Original fro-m 

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Ueber die Wirksamkeit der Augen- und chirurgischen Klinik. 579 


sogar volle Sehschärfe, so dass die Patienten also naittelgrosse und 
kleinste Schrift lesen konnten. In keinem Falle trat eine gefähr¬ 
liche Entzündung ein. In einem Falle bildete sich in Folge man¬ 
gelhaften Schlusses der Ausstichsöffnung eine kleine Scleralectasie. 

— Nicht geringe Schwierigkeiten verursachte mir folgender Fall: 
Einem Manne, Math : as Rinkenbach aus Andolsheim, 68 Jahre alt, 
welcher vor 4 Jahren rechterseits mit der Nadel operirt worden 
war und gänzlich den Bulbus verloren hatte, war vor 9 Jahren 
im Walde ein Stück Holz in’s linke Auge geflogen und dasselbe 
in Folge dessen an Cataract erblindet. Nach der Atropinisirung 
zeigte sich der untere Theil der Linse braunroth, Mydriasis war 
unvollkommen. Diagnose: Verflüssigung des Glaskörpers; quan¬ 
titative Lichtempfindung ziemlich gut. W r ie es hier geboten, wurde 
mit sehr grosser Vorsicht die peripherische Extraction gemacht. 
Nach dem Schnitt erfolgte jedoch in Folge zu starken Druckes 
des Assistenten mit der Fixir-Pincette sofort Ausfluss von Glas¬ 
körper und beim Versuch der Irideetomie Blutung in die vordere 
Kammer; alle Anstrengungen, die Linse zu entbinden, blieben er¬ 
folglos, der Bulbus collabirte vollständig, so dass, die Cornea ganz 
tief concav nach hinten eingesunken war, und die Operation sistirt 
wurde. Nach 6 Stunden war der Bulbus wieder vollständig ge¬ 
füllt, nach drei Tagen, nachdem die vordere Kammer sich aufge¬ 
hellt, fand sich die zerstückelte Linse nach unten am Pupillar- 
rande festsitzend und die Iris nach dem Schnitte hin Colobom- 
artig verzogen, so dass also nach oben und innen das Pupillarge- 
biet frei war. Nach 4 Wochen wurde Patient grosse Schritt (mit 
-j- lesend entlassen. — Zwei Nachstaaroperationen wurden mit 
Erfolg nach der Bowman’scben Angabe mit zwei Nadeln ge¬ 
macht. 

2) Pupillenbildungen wurden 67 verrichtet. Die grosse 
Zahl erklärt sich wohl daher, dass, weil die Leute meistens nur 
mit einem Auge erblindet waren, sie nicht so sehr das Bedürf- 
niss hatten, behufs Operation des kranken Auges grosse Reisen 
zu machen. Es hatten 56 Operationen, die hauptsächlich zu 
dem Zwecke gemacht wurden, um dem Lichtstrahl zum 
Augenhintergrunde Zugang zu verschaffen, einen guten Erfolg. 

— Bei den 67 Operationen trat einmal Regenbogenhaut-Entzün¬ 
dung ein, bei einem armen Menschen, der sich auf der Reise er- 

▼. hangeober k, Archiv f. Chirurgie. XVI. 


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580 


Dr. W. Kemperdick, 


kältet hatte und zugleich auch noch an einer Lungenentzündung 
erkrankte. Nach seiner Genesung ging er nach Beifort, um später 
zur nochmaligen Operation zurückzukebren. (Georg Volph aus 
Montreux.) 

3) Schieloperationen wurden nur 15, jedoch mit gutem 
Erfolge, gemacht, nnd glaube ich den Grund der geringen Zahl 
darin suchen zu müssen, dass gegen diese ungefährliche und 
wenig schmerzhafte Operation noch ein Yorurtheil besteht, welches 
dadurch entstanden ist, dass viele Personen, an welchen diese Ope¬ 
ration gemacht worden, als abschreckende Beispiele herumwandern, 
indem bei ihnen statt der Sehnenablösung von herumreisenden 
Schieioperateuren die gänzliche Muskeldurchschneidung verrichtet 
worden, nnd dadurch hochgradiges Schielen nach der entgegen¬ 
gesetzten Seite eingetreten ist. 

4) Bei den übrigen Operationen wandte ich die neueren be¬ 
kannten Methoden an. — Hinsichtlich der Operation des 
Entropium’s will ich noch eine von mir mehrere Male mit dem 
günstigsten Erfolge ausgefübrte Operationsweise erwähnen. Es 
kamen mir nämlich einige Fälle von hochgradigem Entropium 
mit Verengerung der Lidspalte und Verkrümmung des Lidknor¬ 
pels vor, die bereits anderwärts ohne Erfolg operirt worden 
waren, und bei welchen ich einsah, dass weder die Cramptoni¬ 
sche noch Ja es che’sehe Operationsweise, noch auch die Spal¬ 
tung der Lidspalte und Einnähung eines dreieckigen Bindehant- 
lappens in die neue Lidkante Erfolg haben würden. Ich machte 
deshalb von der äusseren Commissur aus mit der Scheere zwei 
starke Einschnitte durch Haut und Conjunctiva, den einen etwas 
nach oben, den anderen etwas nach unten von der horizontalen 
Linie. Die Spitze des so entstandenen dreieckigen herumge¬ 
drehten Lappens nähte ich mit einigen Suturen sorgfältig in die 
Spitze des durch den oberen Scheerenschnitt entstandenen Win¬ 
kels. Durch den Wulst des umgeschlagenen Lappens bildete sich 
nach erfolgter Verwachsung auf diese Weise eine Art Stütze, auf 
welcher das obere Lid ruhte und der Lidrand vom Auge entfernt 
gehalten wurde. Das Einwachsen der Lidhaare und die Veren¬ 
gerung der Lidspalte durch Wiederverwachsung von der äusseren 
Commissur aus war nun gründlich verhindert, und der Tarsal- 
Yerkrümmung, der hauptsächlichen Ursache des Entropium und 


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Ueber die Wirksamkeit der Augen- und chirurgischen Klinik. 581 


seiner Folgen, war Zeit und Möglichkeit der Rückbildung gegeben 
(Mathias Schneider ans Mülhausen). Durch diese Operations¬ 
weise wurde es mir in folgendem Falle allein möglich, die 
gänzliche Verwachsung der Lidspalte zu verhindern. 

Wegen Epithelial - Krebs musste das ganze obere und untere Augenlid ent¬ 
fernt werden, und wurde Blepharoplastik des oberen und unteren Augenlides zu 
gleicher Zeit gemacht, wozu die Ersatzbedeckungen aus der Schläfen- und Wan¬ 
gengegend genommen wurden. Trotzdem die sorgfältigsten Yorbeugungs- 
massregeln gegen eine Verwachsung der Lider, vor Allem durch Umsäumung der 
Lider mit äusserer Haut, getroffen worden waren, trat dennoch, nachdem die 
neuen Lider beiderseits prima intentione sehr hübsch angeheilt waren, von der 
äusseren Gommissur her Verwachsung der Lider mit der Gefahr des gänzlichen 
Ueberwachsens des Bulbus ein. Eine Spaltung der äusseren Gommissur und 
Umsäumung der Schnittfläche mit Schleimhaut, — wie Dieffenbach dieses bei 
der Operation der Verwachsung der Mundspalte tbat, War, iu Ermangelung der¬ 
selben, nicht möglich; obige Operationsweise half mir sehr glücklich (Gabriel 
Frechard deFreland, 58 Jahre). 

5) Von den Angenoperationen will ich noch die Operation 
einer retrobulbären Geschwulst erwähnen. 

Dieselbe betraf den frere instituteur Hopfner, 40 Jahre alt, aus Strassburg. 
Der rechte Bulbus war gegen den linken 18 Mm. prominenter, die Mobilität des 
Bulbus bedeutend beschränkt, und konnte derselbe leicht vor die Lider luxirt 
werden. Das linke Auge hatte Myopie — 4* Auf dem rechten Auge war das 
Sehvermögen auf quantitative Lichtempfindung herabgesunken, und fand 
sich bei intraocularer Untersuchung Atrophie des Nervus opticus, jedenfalls 
durch Zerrung desselben entstanden- Vor 5 Jahren hatte die Krankheit ange¬ 
fangen und hatte der Patient die bedeutendsten Pariser Aerzte consultirt, welche 
behufs Entfernung der Geschwulst, vorher die Eutfemung des Bulbus vornehmen 
wollten Interessant war die Beobachtung des Patienten, dass vor 5 Jahren das 
rechte Auge so kurzsichtig wie das linke war Durch Druck auf den Bulbus war 
derselbe also abgeplattet worden. Dann wurde er mit dem rechten Auge weit¬ 
sichtig, er konnte in die Ferne ganz gut sehen und ohne Glas (concav — 4) 
lesen, weshalb er sich beim Ausgehen vor das rechte Auge ein Planglas ver¬ 
setzte. Die Operation wurde, abweichend von der gewöhnlichen Methode der 
Spaltung der äusseren Gommissur, in der Weise verrichtet, dass, in der Nähe 
der äusseren Gommissur beginnend, ein mit dem Arcus supraorbitalis verlaufender 
bogenförmiger Schnitt gemacht, das orbitale Fett bis zur Geschwulst wegpräpa- 
rirt und unter sorgfältigem Schutze des Nervus opticus die an der Aussenseite 
des Foramen opticum sitzende Geschwulst mit einer sehr stark auf die Fläche 
gebogenen Scheere entfernt wurde. Die Geschwulst hatte, wie die freundliche 
Untersuchung des Herrn Prof. v. Recklinghausen ergab, eine cavernöse, gut¬ 
artige Structur. Unter Druckveiband kehrte der Augapfel nach und nach in 
seine frühere Lage zurück, nachdem vorher noch eine fast central auftretende 

38* 


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582 


Dr. W. Kemperdick, 


Keratitis, die ich durch eine mangelhafte Ernährung in Folge von Circulations- 
störung erklären möchte, grosse Gefahren bereitet hatte. Nach später erfolgter 
Operation einer Ptosis, deren Entstehung besonders der langjährigen Zerrung des 
oberen Lides und nicht etwa der bei der Operation sorgfältig vermiedenen Durch¬ 
schneidung des Levator palpebrae sup. zuzuschreiben war, ist ein Zustand in 
dem Auge eingetreten, der hinsichtlich der Cosmetik befriedigend ist. 

Ich erlaube mir hier zu bemerken, dass in diesem, wie anch 
in den späteren Fällen die mikroskopischen Diagnosen von mir 
und Herrn Dr. Keller gemeinsam gemacht wurden. 

B. Chirurgische Operationen. 

1) Amputation des rechten Oberschenkels wegen Epithelial- 
Cancroid. J. Düringer aus Walbach, 56 Jahre alt, gerieth vor 36 Jahren 
unter einen Schlitten, wobei er den rechten Unterschenkel brach. Nach 6 

. Wochen wurde das Bein unter dem Knie ohne Anwendung eines Messers mit 
der Säge abgesägt. Die Wunde heilte nie zu, und stiessen sich bis zur jüngsten 
Zeit noch immer Knochenstücke ab. In den letzten sechs Jahren entwickelte 
sich an der Wunde bis zum Knie hinauf ein menschenkopfgrosses Krebsgescbwür, 
welches zuweilen sehr stark blutete. Der Mann war am 25. December 1872 bei 
meinem ersten Besuche in Folge seiner Leiden und des Blutverlustes sehr ab¬ 
gemagert, blassgelb von Hautfarbe. Am 3. Januar 1873 verrichtete ich im 
oberen Drittel des Oberschenkels die Amputation, und am 14. Januar, also nach 
11 Tagen, war vollständige Verheilung eingetreten. Durch Bildung eines Fett¬ 
ringes und eine vollständig fettige Degeneration der Muskulatur oberhalb des 
Kniegelenks und an der Amputationsstelle, war die Resorption der Krebsjauche 
in’s Blut verhütet worden. Der Mann ist jetzt blühend und gesund. Der ent¬ 
fernte Tbeil wog A\ Kilogramm. 

2) Entfernung einer Krebsgeschwulst an der linken Schläfe 
mit Transplantation. Frau Grundier aus Münster, 70 Jahre alt, litt an 
einer ulcerirenden Krebsgeschwulst an der linken Schläfe, welche den äusseren 
Augenwinkel und einen Theil des oberen Augenlides ergriffen und in der Tiefe 
das Periost des Os zygomaticum angegriffen hatte. Durch drei, ein rechtwink¬ 
liges Dreieck bildende Schnitte) dessen Hypotenuse nach dem Schläfentheile 
des behaarten Kopfes, dessen eine Gathete horizontal unterhalb des Os zygoma¬ 
ticum lag, und dessen andere Catbete senkrecht den äusseren Angenwinkel ab¬ 
trennte, wurde die Geschwulst und mit ihr das Periost des Os zygomaticum ent¬ 
fernt, und der Defect durch einen Lappen aus dem Schläfentheil des behaarten 
Kopfes ersetzt. Der transplantirte behaarte Hautlappen heilte an, die der Hant 
beraubte Stelle war verheilt, an dem oberen Augenlide jedoch wieder ein 
kleines Recidiv eingetreten, was eine recht baldige Nachoperation erforderlich 
macht. 

3) Entfernung einer grossen Krebsgeschwulst auf der linken 
Wange mit Transplantation. Clement Scbiffmann aus Walbach, 71 Jahre 
alt, welcher früher an Lupus der linken Wange litt, kam am 22. Septbr. 18’« 2 


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Ueber die Wirksamkeit der Augen- und chirurgischen Klinik. 583 

mit einer seit 5 Jahren bestehenden offenen Krebsgeschwulst an dieser Stelle 
zu mir. Auf der Wange war dieselbe beweglich, unter dem linken Auge sass 
dieselbe am Knochen fest, der entblösst dalag. Alles Mögliche durch theilweise 
Excision, Ferrum candens und Pate de Canquoin war geschehen. Am 24. Sep¬ 
tember wurde in folgender Weise die Operation verrichtet: Durch einen drei¬ 
eckigen Schnitt, welcher an der Nasenwurzel begann, den Nasenflügel streifte 
und gerade zum Unterkiefer führte (9 Ctm. lang), von dort zum Os zygomaticum 
aufstieg (7 Ctm. lang) und unter dem Augenlide her an der Nasenwurzel, dem 
Ausgangspunkte, endigte (5 Ctm. lang) wurde die Geschwulst entfernt. Sodann 
wurde der Margo infraorbitalis resecirt, und der entstandene Hautdefect durch 
einen Hautlappen, der durch einen bis in’s Ohr reichenden und von da nach der 
Mitte des Corpus mandibulae gerichteten Schnitt erlangt war, bedeckt. Durch 
prima intentio erfolgte Verheilung. 

4) Krebsgeschwulst unter dem rechten Auge. Carl Wernert, 23 
Jahre alt, in Colmar, hatte unter dem rechten Auge auf dem Thränensacke eine 
stark bohnengrosse, auf die Seitenwand der Nase übergehende, seit 10 Jahren 
bestehende epidermoidale Geschwulst, welche seit zwei Jahren ein offenes Ge¬ 
schwür geworden war. Am 10. December 1872 fand die Operation der Entfer¬ 
nung durch zwei ovale, bis zur Nasenwurzel hinauf- und auf die Wange herab¬ 
reichende Schnitte statt. Die Haut musste in der Umgebung durch flache Schnitte 
gelöst werden, um die Schnittränder an dieser concaven Stelle bequem vereinigen 
zu können. Eine cosmetisch gute Verheilung war am 24. December, also nach 
14 Tagen erfolgt. — Wegen der Schwierigkeit der Vereinigung der Ränder an 
dieser Stelle wurde in folgendem ähnlichen Falle bei einer 

5) Krebsgeschwulst auf der rechten Wange neben der Nase 
eine Transplantation von der Wange her gemacht. Frau Kirchmeyer, 70 Jahre 
alt, hatte seit 4 Jahren eine epidermoidale offene Krebsgeschwulst 3 Ctm. hoch 
auf der rechten Gesichtshälfte. Operation den 25. März 1873, schön geheilt 3. 
April 1873. 

6) Totale Rhinoplastik wegen krebsiger Zerstörung der ganzen Nase. 
Frau Fritsch geb. Haberer, 64 Jahre alt, aus Günsbach (operirt 4. Juli, ent¬ 
lassen 7. August 1873). Die ganze Nase, ausgenommen einen kleinen Theil 
des rechten Nasenflügels, nebst dem Periost der Nasenbeine, in welchem sich in 
der Höhe des linken Augenwinkels ein Loch befindet, ist krebsig entartet Diese 
Zerstörung geht bis an den linken Augenwinkel und über die linke Wange bis 
unter die Mitte des Augenlides. Die Lappenbildung wurde aus der Stirn ge¬ 
macht. Die vollständige Anheilung der Nase mit zwei Nasenlöchern, durch 
deren jedes bequeme Athmung stattfindet, erfolgte in drei Wochen. Der Defect 
in der Stirn war am 6. Septbr. verheilt. 

7) Rhinoplastik. In der Schlacht von Gravelotte am 16. August 1870 
war dem französischen Soldaten Louis Lohberger vom 2. Garde-Grenadier-Regt, 
ein Granatsplitter in’s Gesicht geflogen. Die ganze Nase mit den Nasenbeinen 
bis auf die Nasenflügel fehlt. Man sah durch die hier befindliche grosse Oeff- 
nung weit in die Nasenhöhle hinein. Das linke Auge war in seiner Höhle zer¬ 
stört, ebenfalls das linke untere Augenlid, und befindet sich dort eine rothe, 


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584 


Dr. W. Kemperdick, 


wuchernde Fleischmasse, die zum Theil von dem schlaff herabhängenden oberen 
Augenlide bedeckt wird. Ein grosser narbiger Einriss ging quer über die linke 
Wange bis zum Winkel des Unterkiefers. Durch eine weitere Operation wurde 
das linke obere Augenlid gehoben und die Granulationen der Augenhöhle, welche 
darnach einschrumpften, durch Bildung eines unteren Augenlides vermittelst 
Transplantation gedeckt. Die Nasenspitze wurde dann durch Hebung und Heran¬ 
ziehung der Nasenflügel gebildet. Es erübrigt jetzt noch die Deckung resp. Er¬ 
setzung des Nasendefectes durch einen kleinen ovalären Stirnlappen. Ich hoffe 
später Gelegenheit zu haben, das glücklich erreichte Endresultat der verschie¬ 
denen Operationen photographisch mitzutheilen. 

8) Carcinoma mammae. Frieder. Vogt aus Münster litt seit 4 Jahren 
an einer melanotischen offenen Krebsgeschwulst der linken Brust. Entfernung 
der Geschwulst durch zwei ovale Schnitte, von denen jeder 18 Ctm. lang war. 
Am 10. December operirt, am 30. Decbr. 1872 gebeilt entlassen. 

9) Thoracentesis. Dieselbe wurde an dem 8jährigen Mädchen Emilie 
Jaegle aus Günsbach verrichtet. Das Kind war bereits ein halbes Jahr krank 
gewesen und sehr abgemagert. Es hatte zuerst „am Schleimfieber gelitten, er¬ 
krankte dann, als dasselbe noch nicht vorbei war, an Brustkrankheit, wozu noch 
schliesslich iuflammation des intestins trat.“ Bei meiner Untersuchung waren 
alle Erscheinungen des, nicht näher zu beschreibenden Empyems vorhanden. 

Indem ich hinsichtlich der verschiedenen Modificationen der 
Operation nnd der Nachbehandlung auf die Arbeiten von Piorry, 
Hoppe-Seyler, Dieffenbach, Quincke und besonders auf 
die schOne Abhandlung von L. Lichtheim in Nr. 43 der 
R. Volkmann’schen Vorträge verweise, will ich mir erlauben, 
mein Verfahren in dem vorliegenden Falle anzugeben, indem ich 
glaube, dass es das ungefährlichste ist, und dass es jedem prak¬ 
tischen Arzte den Math giebt, diese sehr gefürchtete Operation 
zu vollziehen. Bei der Operation sind die wichtigsten Gesichts- 
puncte die völlige und nicht zu schnelle Entleerung des Eiters, 
dann die Reinigung der Höhle und endlich die Verhütung der 
Zersetzung des Eiters, besonders in der ersten Zeit. Mein Ver¬ 
fahren war kurz folgendes: 

Einen dicken Explorativ-Troicart Nr. 2 stach ich, um ihn später besser an 
der Brust befestigen zu können, durch ein plattes Stück eines Korkpfropfens. 
Ueber das hintere Ende der Canüle zog ich ein dünnes, einen halben Meter 
langes Gummirohr und steckte dann das Stilet durch das Rohr in die Canüle. 
Alsdann fertigte ich mir eine Flasche, in welcher durch den Pfropfen zwei Glas¬ 
röhren bis auf den Boden reichten, welche in dem Pfropfen luftdicht befestigt 
waren. Die Flasche war fast ganz mit Wasser gefüllt. An das eine der aus 
dem Pfropfen bervorstehenden Glasröhrchen befestigte ich das andere Ende des 
mit dem Troicart in Verbindung stehenden Schlauches, an das zweite Glasröbr- 


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Ueber die Wirksamkeit der Augen- und chirurgischen Klinik. 585 

eben befestige ich ein neues Gummirobr, welches in ein unter dem Bette stehen¬ 
des Gefäss geleitet war, und gleichsam als Heber dienen sollte. Nachdem nun 
im 6. Intercostalraume in der Mitte zwischen Axillar- und Mamillar-Linie der 
Troicart eingestossen, das Stilet herausgenommen und behufs Vermeidung des 
Lufteintritts das durchstochene Ende des Gummirohrs noch weiter auf die Canäle 
geschoben und sorgfältig befestigt war, begann der Ausfluss des Eiters in 
die Flasche und die Verdrängung des Wassers aus derselben in das unter dem 
Bett stehende Gefäss. Beschleunigt wurde der Ausfluss des Eiters durch Saugen 
an dem Ausflussrohr, wodurch in der Flasche eine Luftverdünnung stattfand. 
Ist die Flasche mit Eiter gefüllt, so muss das Einflussrohr behufs Reinigung der 
Flasche und Vermeidung des Lufteintritts zugebunden, oder besser noch durch 
einen angebrachten Hahn verschlossen werden. Unter prächtigem Wohlbefinden 
des Kindes und sehr erfreulichen objectiven Besserungserscheinungen, indem der 
obere Lappen zn functioniren begann, floss der Eiter 4 Tage ab Als der Aus¬ 
fluss dann stockte, was ich der Dickflüssigkeit desselben und den Gerinnseln zu* 
schrieb, als wieder Fieber-Erscheinungen eintraten, hielt ich den Zeitpunkt für 
gekommen, zum Schnitt überzugehen. Ich verrichtete denselben in der Weise, 
dass ich mit einem feinen geknöpften Bistouri in die Stichöffnung einging und 
dasselbe in einem Winkel nach aussen und unten und innen und unten herab¬ 
zog. Durch diese Schnittfübrung wird am sichersten der sehr unangenehmen 
zu frühen Verwachsung der Operationsöffnung, die Dieffenbach durch einen 
senkrechten Schnitt zu vermeiden suchte, vorgebeugt. Nachdem nun die dicken 
Massen durch Einspritzen möglichst entleert waren, suchte ich meine Absicht, 
unter Luftabschluss die bestmöglichste Reinigung zu bewerkstelligen, auf folgende 
Weise zu erreichen: Ich verfertigte mir ein 6 Gtm. langes silbernes Röhrchen, 
ä double courant, welches eine nach der Convexität der Brustwandung gebogene 
Platte — behufs Befestigung des Instrumentes um die Brustwand — durchbohrte. 
Nach aussen hatte das Röhrchen zwei Aeste, deren einer durch ein Gummirohr 
mit einem Irrigator, welcher warmes, mit Carbolsäure versetztes Wasser enthielt, 
in Verbindung stand, deren anderer durch ein gleiches Rohr mit oben erwähn¬ 
ter Luftabsperrungsflasche in Vereinigung gesetzt war. Nachdem das Instrument 
mit Heftpflastern luftdicht an die Brustwand befestigt, und der Hahn des Irriga¬ 
tors geöffnet war, erfolgte zuerst der Luftanstritt aus der Brust, dann der des 
eitrigen Wassers. Es war auf diese Weise ein permanentes internes warmes 
Wasserbad bergestellt, was natürlich hinsichtlich des Zuflusses genau geregelt 
werden musste. Während 14 Tagen wurde mit Unterbrechung diese Ausspülung 
angewandt, dann in die wenig secemirende Wunde eine Wieke eingelegt. Mitte 
Januar ging das Kind mit verheilter Wunde nach Hause. 

10) Zwei Resectionen des Hüftgelenks. Maria Trepell von Herlis- 
beim, 8 Jahre alt, stellte sich mir am 8. Mai 1873 mit einer kleinen fluctuiren- 
den Geschwulst an der vorderen Seite des linken Oberschenkels vor, nachdem 
sie wegen geringer Anschwellung der Hüfte bereits drei Monate ärztlich behan¬ 
delt worden war. In der Familie ist Scropbulose. Aus der Geschwulst wurden 
subcutan zwei Unzen gelben Eiters entleert, und ging das Kind nach drei Tagen 
ohne Schmerzen eine halbe Stunde Weges nach Hause. Dort füllte sich unter 


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586 


Dr. W.. Kemperd ick, 


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Fieber die Abscesshöhle wieder an, welche dann den 19. Mai durch Schnitt er¬ 
öffnet wurde. In geringem Grade dauerte die Eiterung bis zum 19. Juli, als 
spontan eine Luxation des Oberschenkels eintrat. Die Untersuchung mit der 
Sonde liess keine Rauheit des Knochens antreffen- Am 2. August, als die Ope¬ 
ration der Resection des Hüftgelenks gemacht wurde, war das Bein 10 Ctm. 
kürzer. Bei der Operation fand sich nach Eröffnung des Gelenkes, dass der Kopf 
des Oberschenkels gänzlich verschwunden, der Limbus acetabuli cariös und nach 
der Entfernung der Epiphyse mit dem Trochanter, dass die Knochenhöhle sehr 
osteoporös war. Der Rand des Acetabulum wurde darauf resecirt und durch 
Evidement die Knochenhöhle gereinigt, worauf Gypshose und Streck verband 
folgte. Die Osteoporose des Knochens hat bis jetzt die Heilung sehr verzögert, 
da er noch immer die Eiterung unterhält, doch ist gute Aussicht vorhanden, dass 
die Heilung mit geringer Verkürzung und einem brauchbaren Gliede erfolgen 
wird. Merkwürdig war gewiss die vollständige Resorption des Gelenkkopfes und 
Halses, nachdem das Kind drei Monate vorher noch gut auf dem Beine mar- 
schirt war, und ohne dass Knochenfragmente nach aussen entleert worden waren. 

Die zweite Gelenkresection des Oberschenkels betraf das 7 Jahre alte Kind 
Fritz Ulrich aus Münster, bei welchem der Process bereits seit 4 Jahren bestand. 
Die Hüfte und der Oberschenkel waren sehr bedeutend angeschwollen, und be¬ 
fanden sich auf demselben grosse Fistelgeschwüre und Zerstörungen der Haut 
bis zi/m Knie herab. Die obere Hälfte des Oberschenkelknochens schien bedeu¬ 
tend erkrankt zu sein, jedoch war mit der Sonde kein cariöser Knochen zu er¬ 
reichen. Oberschenkel und Unterschenkel waren unbeweglich stark nach dem 
Unterleibe zu flectirt. Am 4. September wurde die Operation durch einen Längs¬ 
schnitt über den Trochanter mit Spaltung der Fistelgeschwüre verrichtet Wegen 
der Verknorpelung und Verdickung der Kapsel verursachte das Eindringen in’s 
Gelenk einige Schwierigkeit. Nach der Resection des Gelenkkopfes mit dem 
Trochanter, welche hart beim Durcbsägen waren, zeigte sich, dass der Boden des 
Acetabulum ganz zerstört war, und wurden drei denselben bildende lose Knochen¬ 
stücke leicht entfernt. Der resecirte Gelenkkopf war auf seiner Entwicke¬ 
lung vor 4 Jahren stehen geblieben, des Knorpels beraubt, aber hart. — 
Sechs Tage nach der Operation, als die Eiterung nachgelassen, wurde unter 
Chloroform die gewaltsame Streckung des Hüft- und Kniegelenks vorgenommen 
und Gypshose mit Streckverband angelegt. Bis heute; Ende August, ist merk¬ 
würdiger Weise die ganze Wunde fast verheilt, eine gute Beweglichkeit in der 
Hüfte und im Kniegelenk vorhanden, der Fuss um 3 Ctm. verkürzt, was ich 
durch eine nochmalige Streckung noch zu vermindern hoffe. Das sonst elende 
Kind hat sich fast zur Unkenntlichkeit erholt, und hoffe ich, dass dasselbe in 
kurzer Zeit Geh-Versuche beginnen und dann auch bald ein gutes, brauchbares 
und wenig verkürztes Bein erhalten wird. 

11) Eine Hasenscharten-Operation bedeutenden Grades verbunden 
mit Wolfsrachen, verrichtete ich an dem 3 Monate alten Kinde Andreas Haeberle 
aus Weyer im Thal in folgender Weise, indem ich gleichsam dieMalgaigne- 
sehe Operation mit dem Mirault-Langenbeck'schen Verfahren verband. Nach¬ 
dem ich nach der Malgaigne’schen Methode, ohne überhaupt etwas wegzu- 


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Ueber die Wirksamkeit der Augen- und chirurgischen Klinik. 587 

schneiden, einen Rüssel gebildet hatte, wurde nach 3raal 24 Stunden, nachdem 
die Nadeln entfernt waren und der Rüssel etwas eingeschrumpft war, von der 
Seite desselben, nach welcher er sich hingencigt hatte, mit einem schräg auf¬ 
wärts gehenden Schnitte ein Stück ganz fortgeschnitten und dann, dieser Schnitt¬ 
fläche entsprechend, von dem gegenüberliegenden Lippensaume ein entsprechen¬ 
des Stückchen mit einem ähnlichen Schnitte, welcher den ersteren in einem 
spitzen Winkel traf, gleichfalls entfernt und nun beide wunde Flächen mit zwei 
feinen Suturen vereinigt. Im gegenwärtigen Falle wurde ein Resultat erzielt, 
wie ich es schöner vorher wieder selbst erreicht, noch auch von Anderen ge¬ 
sehen habe. 

Wenn ich zum Schluss die Hoffnung auszusprechen wage, dass 
manchen Collegen im alten wie im neuen deutschen Reiche die Mitthei¬ 
lungen über die Fortgänge einer unter nicht leichten Verhältnissen 
begonnenen Praxis im neuen Reichslande nicht uninteressant sein 
werden, so werde ich nach einiger Zeit von meiner weiteren 
Thätigkeit Mittheilungen veröffentlichen und werde daran auch 
Notizen yber Land und Leute, über die ärztlichen Verhältnisse 
hierselbst und über die weiteren Resultate der in Nr. 10 der 
Berliner med. Wochenschrift publicirten Behandlung . des Typhus 
durch interne Kühlung mit der Kühlsonde anschliessen. 


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XXII. 

Die Beugung der Extremitäten als Blut¬ 
stillungsmittel. 

Nachträge und Berichtigung. 

Von 

Dr. €*• Adelinann, 

Prof, emerit, in Berlin. 

ln dem dritten Bande dieses Archives s. S. 21 nnd 23 n. f. 
habe ich zuerst das Durwell’sche Verfahren: traumatische Bla¬ 
tongen in der Gegend des Handgelenkes zu stillen — in drei 
Fällen bewährt gefunden; in dem zehnten Bande desselben Archives 
(1869) S. 349 u. f. habe ich die Literatur über dieses Verfahren 
zu sammeln gesucht und sechs unterdessen zu meiner Kenntniss 
gekommene neue Fälle an Menschen, zwei an Thieren (Hunden) 
nachgetragen, und die Zahl derselben S. 870—872 noch um 4 
vermehrt. Ich glaubte durch diese Veröffentlichungen meinen deut¬ 
schen Collegen den Werth der Flexionsmethode empirisch darge¬ 
legt zu haben. Meinen russischen Collegen gegenüber veröffent¬ 
lichte ich im Wöenno Medicinski Journal 1867 Juniheft, einen Auf¬ 
satz über denselben Gegenstand, und für die französisch redenden 
Wundärzte eine längere Abhandlung in dem Bulletin de TAcadömie 
royale de Medecine de Belgique. Annöe 1868. T. II. Nr. 10. 
Bruxelles 1868. 

Diese Abhandlung zog die Aufmerksamkeit des Präsidenten 
des Gesundheitsrathes der französischen Armee, Dr. Baron Larrey, 
auf sich und er drückte mir seinen Wunsch aus, ich möchte in dem 
Recueil de Mödecine, de Chirurgie et de Pharmacie militaires einen 
ähnlichen dahin bezüglichen Aufsatz niederlegen, da er das Fiexions- 


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Die Beugung der Extremitäten als Blutstillungsmittel. 


589 


verfahren gegen Blutungen für die Militärpraxis für sehr wichtig 
halte, wobei er mir zwei einsehlagende Beobachtungen aus seiner 
Erfahrung mittheilte. Ich willfahrte seinem Wunsche durch 
Ueberschickung eines Resnmes der schon veröffentlichten That- 
sachen nebst den Resultaten von physiologisch-chirurgischen Ver¬ 
suchen an Leichen, welche ich im Vereine mit Professor Stieda 
zu Dorpat ausgeführt hatte, im Januar 1870. Die verhängniss- 
vollen Kriegsereignisse für das französische Heer und die Stadt 
Paris in diesem und dem folgenden Jahre haben den Abdruck 
meines Manuscriptes verhindert, vielleicht ist es den Weg des Pe¬ 
troleum gewandert. Unter diesen Verhältnissen ist es mir erlaubt, 
in den folgenden Zeilen darzulegen, was ich seit dem Jahre 1869 
in Bezug auf die permanente Beugung der Extremitäten als Blut¬ 
stillungsmittel selbst erfahren und von Anderen mitgetheilt erhalten 
habe. 

I. Empirische Thatsachen. 

Bevor ich die mir weiter bekannt gewordenen Fälle nach Ver¬ 
öffentlichung der 16 in diesem Archive weiter führe, halte ich es 
für angemessen den Fall IX. des Dr. v. Boehlendorff (Bd. X. 
S. 360) nach den mir später mitgetheilten Notizen desselben zu 
ergänzen. 

Ein Arbeiter in einer Gasfabrik zu St. Petersburg hatte sich die linke ITand 
versengt, so dass ganze Ilautlappen an der Volarfläche der Hand bis über das 
Handgelenk hinaus fehlten. Dr. v. B. wurde von dem Oberarzte seines Hospitales 
ersucht, den Flexionsverband anzulegen, da der Patient Gefahr laufe, zu verbluten. 
Patient war äusserst anämisch, wachsgelb, bei geschlossenen Augen eiuer Leiche 
ähnlich. Der Verband des Patienten bestand zur Zeit aus mit Ferr. sesquichlorat. 
getränkter Charpie. Die Blutung kam aus A. ulnaris, das Blut sickerte aus der 
zerfetzten und durch Ferr. sesquichl. gefärbten Muskulatur unaufhörlich hervor. 
Eine Unterbindung war weder in loco, noch in continuitate unternommen worden. 
Seit der Verwundung soll die Blutung nicht gestanden haben, v. B. legte den 
ihm bekannten Verband an mit Flexion im Ellenbogen- und Handgelenke. Die 
Hand wurde der Scbulterhöhc genähert. Da es hier darauf ankam, die Blutung 
schnell und sicher zu stillen, legte v. B. zur Verstärkung der Wirkung in den 
Ellenbug einen Charpiebauscb. Der Verband lag unverändert 24 Stunden, dann 
wurde er gelockert, da Vertaubung der Extremität eingetreten war, die sich bald 
verlor. Die Blutung stand vollkommen. Der weitere Verlauf der Krankheit ist 
v. B. nicht bekannt geworden. 

XVII. Beobachtung. Samuel Lillep, 17 Jahre alt, Bauernknabe von kräftiger 
Muskulatur, gut genährt, wird den 31. Decembcr a. St. 1868, Morgens 2 Uhr 


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Dr. G. Adelmann 


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in die chirurgische Klinik zu Dorpat aufgenommen. Die untere Hälfte des linken 
Unterarmes ist mit blutdurchtränkten Binden verbunden. Nach Abnahme der¬ 
selben zeigt sich 14"' oberhalb der Flezionsseite des Handgelenkes eine 1 i" 
lange Schnittwunde, welche über dem H. flexor carpi radialis beginnend quer 
nach Aussen über den Radialrand des Unterarmes verläuft. Die Wunde lüafit 
massig, ist mit Blutgerinnseln erfüllt, aus welchen nach aufgehobener Compression 
der A. brachialis sofort Blut in einem ziemlich starken Strome fliesst. Die Tiefe 
der Wunde und die wahrscheinliche Verwundung der A. radialis wurden nicht 
näher untersucht, weil man sonst die die Wunde ausfallenden Blutgerinnsel hätte 
entfernen müssen. Der vordere Ast des Nerv, radialis superficialis mochte noch 
am ehesten durchschnitten sein. Der ganze Arm ist oedematös, Schmerz nur in 
der Wunde selbst Patient hat vor 24 Stunden sich mit einem Hackemesser ein- 
gehauen, worauf sogleich Blut bervorgespritzt sein soll, dessen Menge Patient 
auf ungefähr ein Liter berechnet, bis der Nothverband angelegt wurde. Nach 
Entfernung desselben entstand neue Blutung, und da A. supraclavicularis 
nicht gehörig comprimirt werden konnte, wurde ein Toumiquet an A. brachialis 
gelegt, worauf die Blutung vollkommen stand. Hierauf forcirte Flexion im 
Ellenbogengelenke und Abnahme des Toumiquets ohne folgende Blutung. 
Die über den Wundrändern angebäuften Blutgerinnsel werden abgeschnitten, die 
tiefer liegenden nicht gerührt und die Wundränder mit Seidenfäden vereinigt. 
Flexionsverband vom Unterarme zum Oberarme, Mitelia triangularis, halbsitzende 
Lage im Bette. ^ Port. Wein. 

31. December, 6 Uhr Morgens, kleine Blutung. Schmerz im Ellenbogen¬ 
gelenke. Um 9 Uhr Oedem der Hand. Appetit gut. Puls 37, 3—8. Temp. 
Morgens 72, Abends 92. Der Verband wird ausser der Mitella nicht gewechselt. — 
1. Januar 1869. Um 2 Uhr Nachts Blutung. Die Flexionsbinde ist locker ge¬ 
worden; es wird ein zweiter festerer Verband überden ersten gelegt, worauf die 
Blutung sofort steht. Um 9 Uhr Morgens abermalige Blutung. Entfernung der 
Verbände, und da die Blutung trotz der Flexion nicht schweigt, Tourniquet an 
A. brachialis. Nach Reinigung des Armes zeigt sich derselbe oedematös ge¬ 
schwellt. Die Wundränder liegen mittelst der Suturen regelmässig an einander, 
doch ohne jegliche Verklebung. Unterhalb der unteren Wundcommissur be¬ 
findet sich eine schmerzhafte Geschwulst, bei deren Druck Blut durch die Wund¬ 
ränder sickert. Die Haut derselben etwas sugillirt. Da auch nach Entfernung 
der Aderpresse die Blutung schweigt, so wird der frühere Verband wieder ange¬ 
legt mit Zugabe einiger Bindentouren, durch welche der Arm an den Thorax 
befestigt wird, weil Patient zuviel Bewegung macht. Im Verlaufe des Tages 
einige Schmerzen im Ellenbogen und in der Wunde. Temp. Morgens 37,5, 
Abends 38,5. Puls 116 kräftig. Nachts 12 Uhr kleine Blutung nach starkem 
Schnauben, welche durch Auflegen einer Eisblase leicht gestillt wird. — 2. Januar. 
Ausser Schmerz in der Wunde keine Veränderung. Temp. Morgens 38,3, 
Abends 38,6. Puls Morgens 100, Abends 103. — 3. Januar. Obgleich der Ver¬ 
band vollständig rein geblieben, wird derselbe doch geöffnet, weil die Temp. 39,0 
bei 92 Pulsen den Beginn einer Abscessbildung nahe legte. Es erschien kein Blut, 
selbst nicht beim Nachlassen der Flexion, nur beim Streichen gegen die Wund- 


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Die Beugung der Extremitäten als Blutstillungsmittel. 


591 


ränder hin lassen sich einige Bluttropfen ausdrücken. Nach Entfernung der 
mittleren Sutur klaffen die Wundr&nder sofort und man gewahrt in der Tiefe 
der Wunde dunkle Blutcoagula, welche durch eine ziemlich lebhafte Pulsation 
bewegt werden. Patient hustet zuweilen, liegt in fortwährendem leichten Schweisse, 
seine Wangen sind schwach geröthet, Augen glänzend, Kopfschmerz zugegen, 
Appetit sehr rege, Stuhlgang normal. Im linken unteren Lungenlappen ver¬ 
schärftes vesiculäres Athmen. Die Wunde wird mittelst eines Heftpflasterstreifens 
leicht geschlossen und Flexionsverband wieder angelegt. Temp. 40,0, Abends 
Puls 116 voll. — 4. Januar. Ruhige Nacht, Schmerz in der ödematösen bläulich 
gefärbten Hand. Nach Entfernuug des Deck Verbandes pulsirt die Wundstelle 
stark, die Ränder klaffen und quillt zwischen ihnen dicker Eiter hervor, welchem 
bald ein Blutstrahl mit dünnflüssigem Eiter folgt. Compression der A. brachial, 
stillt die Blutung. Unter diesen Erscheinungen entschlossen wir uns zur Unter¬ 
bindung der Arteria radialis. Oberhalb der Hiebwunde, längs des inneren Randes 
des Supinator longus wurde die Haut getrennt, wobei eine starke venöse Blutung 
eintrat. Nach Trennung der Fascie und Verlängerung der Incision in die 
Hiebwunde fand sich im Verlaufe der A. radialis ein dünner leerer arterieller 
Strang, welcher der Vorsicht halber dennoch unterbunden wurde. Nach Auf¬ 
hebung des Druckes auf die A. brachial, strömte Blut an dem Ligament carpi 
volare von unten her in continuirlichem Strahle und ebenso von oben. Der der 
Blutung nachfor8cbende Finger drang in einen Raum bis zum Ligamentum 
interos8eum; die umgebenden Gewebe waren dunkelblutig getränkt* und ent¬ 
leerten bei Druck dünnflüssigen blutigen Eiter. Dieser Befund rechtfertigte die 
Annahme, dass die A. radialis gar nicht verletzt war, wohl aber A. interossea 
flexoria und das Gefässnetz, welches zwischen ihr, der A. radialis und ulnaris 
nabe am Ligament, carpi volare besteht, dass wir also hier ein sogenanntes 
Aneurysma spurium diffusum vor uns batten. In den Hohlraum wurde ein mit 
Solut Ferr. sesquichlorat. getränktes Schwammstückcbän gesteckt, die Wunde 
wieder durch Suturen geschlossen, der Ellenbogen in eine Flexion von mehr als 
einem rechten Winkel, das Handgelenk in eine möglichst starke Flexion gebracht. 
Temp. 39,3 Morgens, Puls 104, 38,5 Abends, 128. Ferr. lactic. Wein. — 5. Jan. 
Nachts ziemlich ruhiger Schlaf. Schmerz in der Wunde. Schwellung der Hand 
bis zum Oberarme. Gefühl grosser Schwäche. Die Flexionsbinde mit wenig 
blutig gefärtem Eiter durchtränkt wird entfernt und dafür eine lockere ange¬ 
legt, wonach während des Tages die Schwellung des Armes noch zunimmt. 
Temp. 38,7 Morgens, Puls 120, 39,1 Abends, 116. Der Arm wird in eine 
Kapsel gelegt. Eisbeutel auf die Wunde. Bier und Wein. — 6. Januar. Guter 
Schlaf. Eiter reichlicher, weshalb zur Begünstigung des Ausflusses eine Sutur 
entfernt wird. Temp. 37,8 Morgens, Puls 100, 38,5 Abends, 96. Warme Fomente. 
— 7. Januar. Ruhige Nacht, starker Eiterausfluss, Schwellung und Schmerzhaftig¬ 
keit des Oberarmes. Die Ränder der Operationswunde liegen gut an, die der 
Hiebwunde haben sich bedeutend zurückgezogen und bilden einen Wundraum 
von 1", in welchem die Sehne des M. palmaris longus entblösst liegt. Das 
durch die Eiterung gelockerte Schwammstückchen wird entfernt. Abends starker 
Schweiss. Temp. 37,5 Morgens, Puls 100, 37,6 Abends 108. Fortsetzung der 


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592 


Dr. 0. Adelmann, 


varmen Fomente, Lösung der Ligatur der A. radialis. — 8. Januar. Guter Schlaf. 
In der Macht zwei dünnflüssige Stühle, welchen im Verlaufe des Tages noch 
einer folgt Harn trübe, ohne Eiveiss. Temp. 37,8 Morgens, Puls 96, 37,2 
Abends, 88. — 9. Januar. Der früher blutfarbige, schlecht riechende Eiter wird 
dick und weiss; in der Tiefe der Wunde keimen Granulationen empor. Flexion 
der Finger und des Handgelenkes kann activ ausgeführt werden, wenn auch 
nur wegen Schmerzhaftigkeit in geringem Maasse. Temp- 37,8 Morgens, Puls 
76, 37,4, Abends 96. — 10 bis 24. Januar. Da die Wundränder nirgends durch 
Verklebung vereinigt wurden, wurden alle Suturen entfernt und durch Heft¬ 
pflasterstreifen Annäherung bewirkt. Bei der Entlassung des Patienten pulsirte 
A. brachial, vollkommen, A. radial, gar nicht, der Dorsalast derselben nur 
schwach. Zehn Monate später habe ich den blühenden Jüngling wiedergesehen; 
die Handbewegungen sind normal, Pulsation der A. radialis gering, doch die 
Hand gut genährt. 

XVIH. Fall. Beobachtung des Herrn Dr. Kelterborn in Dorpat. Est¬ 
nischer Bauer, Schnittwunde am unteren Ende des linken Unterarmes, Zerschnei¬ 
dung einiger Sehnen nahe am Handgelenke und der A. radialis, deren oberes 

Ende sieb mit dem zerschnittenen Flexor carpi radialis zurückgezogen batte. 

Wiederholte Blutungen bis zur Anämie aus dem unteren Stumpfe der Radialis. 
Ob Art. ulnaris auch verletzt war, bleibt unbestimmt. Sutur der Hautwunde, 

’ forcirte Flexion des Hand- und Ellenbogengelenks mittelst gewöhnlicher Lein¬ 
tücher — auf der Landstrasse. Mach halbstündiger Beobachtung, als keine Blu¬ 
tung mehr eintrat, setzte Dr. K. seine Reise fort. — Drei Jahre lang hörte Dr. 
K. nichts mehr von dem Patienten, bis sich der Bauer bei Gelegenheit eines 
Jahrmarktes ihm vorstellte und erzählte, dass der Verband fünfzehn Tage ge¬ 
legen und die Heilung gut vor sich gegangen, so dass Pat alle ländlichen 

Arbeiten verrichtet. Durch die Narbencontractur ist das Handgelenk jedoch 

mässig gebogen. 

XIX. Fall. Student E. verletzte sich beim Oeffnen einer Liqueurflasche 
den Handteller. Starke Blutung. Forcirte Flexion, welche aber schon nach 
einer Stunde schmerzhaft, nach 24 Stunden unerträglich wird. Mach Aufhebung 
der Flexion keine weitere Blutung. 

XX. Fall. Carl Koppel, 13 Jahre alt, sticht sich am 25. December 1869 
mit einem Messer, welches ihm beim Schneiden von Grünstrauch ausglitt, in Art. 
radial, sinistra, ohngefähr an der Stelle, wo Art. superficial, radial, abgeht, am 
inneren Rande des Flex. carpi radialis, 6 —8‘" oberhalb des Handgelenkes. 
Blutstrom von der Dicke einer Stricknadel erfolgt stossweise, mit öfterer Wieder¬ 
holung bei ungenügendem Mothverbande von Seiten der Eltern. Dr. Kelterborn, 
hinzugerufen, bewirkt Flexion mittelst Leinwandfetzen im Ellenbogengelenke, die 
der Hand macht Patient selbst, oder verspricht wenigstens dies zu thun. Den 
30. December sehe ich Patient zum erstenmale. Die Compresse auf der Wunde 
mit etwas getrocknetem Blute durchtränkt, die Wunde verklebt Die Pulsation 
der A. radialis reicht bis in die Mähe der Wunde. Verband: geöltes Wund¬ 
läppchen, Flexion des Ellenbogens und der Hand mittelst einer Binde. — 3. Januar 
1870. Kein Tropfen Blut entflossen, die Schnittstichwunde in Vernarbung. 


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Die Beugung der Extremitäten als Blutstillungsmittel. 


593 


Erneuerung des Verbandes aus Vorsicht, da Patient ambulatorisch behandelt wird. 
— 7. Januar. Keine Blutung, Wunde in Vernarbung. Flexion im Ellenbogen 
ausgesetzt. Das Handgelenk flectirt der gelehrige Patient freiwillig. Leichter 
Deckverband. — 13. Januar. Vollständige Heilung; leichte Extension aller Gelenke, 
A. radialis sin. pulsirt deutlich, wenn auch schwächer als die rechte. Entlassen. 

XXI. Fall. Im Juli 1870 wendet sich an Professor Stieda ein Mann, welchem 
durch krampfhaftes Anhalten einer Pferdeleine die ganze Sehne des Flexor indicis 
mit dem betreffenden Nagelphalanx abgerissen worden war. In der darauf 
folgenden Nacht entstand plötzlich eine sehr bedeutende Blutung. Permanente 
Flexion im Ellenbogengelenke, sofortiges Stehen der Blutung; baldige Heilung. 

XXII. Fall. Ein Kind von 3 Jahren verletzte durch einen Fall seine Hand 
bedeutend. Nach zwei vergeblichen Versuchen, die Arterie zu unterbinden, wurde 
die Hand an die Schulter befestigt, und so 26 Stunden gehalten. Es entstand 
Mortification und ging ein Finger verloren. Der Chirurg wurde auf Schadenersatz 
verklagt, jedoch freigesprochen. (Medical Times and Gazette 1870 September 
p. 341.) 

Drei Fälle von arterieller Blutung nach Verwundung, in wel¬ 
chen directe Compression, forcirte Beugung und intermittirende 
Fingercom pression zugleich angewendet wurden, berichtet Del- 
peuch (Gazette des höpitaux 1869 p. 326). 

II. Versuche an der Leiche. 

In meinen früheren Mittheilungen über die Flexion der Ge- 
leuke*) habe ich bemerkt, dass das Feld der Hydrostatik, deren 
Gesetze in unserem in fiede stehenden Thema thatsächlich zur 
Geltung kommen könnten, von physiologischer Seite noch wenig 
oder gar nicht bearbeitet worden ist. Ich vermutbete als Fac- 
toren der Blutstillung bei Flexionen die Knickung, die Abplattung 
der Arterie und die Coagulationsfähigkeit des Blutes bei Stauungs¬ 
verhältnissen desselben, ich schlug vor, zum Zwecke des Studiums 
der physiologischen Vorgänge bei Gefässknickungen Frösche, Fle¬ 
dermäuse, Kaninchen zu verwenden, welche zu ähnlichen Ver¬ 
suchen über Circulation8verhältnisse schon mannichfach benutzt 
worden sind. In Erwartung dieser physiologischen Versuche blieb 
dem Chirurgen übrig. Versuche an Leichen anzustellen, deren Er¬ 
folge freilich nur als halbe Beweise gelten können, weil in den¬ 
selben ein Factor: das Blut nebst der Herzpropulsion eliminirt 
werden muss. Merlateau**) hat zuerst diesen Weg eingescblagen, 

*) Bd. X. S. 362 dieses Archivs. 

*•) Des mouvements forces et de leur emploi en therapeutique. These. 
Paris 1867. A. Parent, Imprimeur. 


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s 

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694 


Dr. G. Adelmann, 


indem er sich des Talges als Injectionsmasse bediente, aber weder 
die Zahl seiner Versuche (einer), noch das Material, dessen er 
sich bediente, noch die übergrosse Kraft, welche er bei der In- 
jection selbst anwendete, sind geeignet, Schlüsse aus dem Ver¬ 
suche zu ziehen. Bei der Injection des Talges in Art. brachialis 
gelangte derselbe in die Arterien des Unterarmes und der Hand, 
aber die Injectionskraft war so bedeutend, dass einzelne Arterien¬ 
berstungen entstanden. Nichts desto weniger ist hervorzuheben, 
dass der Querabscbnitt der A. brachialis von vorne nach hinten 
abgeplattet war, und A. cubitalis sich in der Weise geschlängelt 
hatte, dass der Baum, welcher die Brachialis bis zur Abzweigung 
der Interossea durchläuft, wenigstens das Doppelte im Verhält¬ 
nisse einer geraden Arterie betragen würde. Ich glaubte da¬ 
her einen anderen Weg einschlagen zu müssen, indem ich vor¬ 
erst nur die eine Frage studirte: ob eine forcirte Beugung ein¬ 
fach einen Compressionsmechanismus in der Umgegend der Beu¬ 
gung erzeuge, gleichviel ob derselbe durch Druck seitens der Mus¬ 
keln oder der Aponeurosen ausgeübt würde. Zu diesem Zwecke 
nahm ich die thätige Beihülfe meines Collegen, Professors Dr. 
Stieda in Anspruch, welcher die Injection leitete, während ich 
selbst die Versuchsarterien in grösserer oder geringerer Ausdehnung 
centripetal blosslegte und die Beugungen besorgte. 

Die Cadaver lagen auf dem Bücken; es wurde sowohl 
die Aorta, sowie andere grössere Arterien blossgelegt und die In- 
jectioncanüle bei Versuchen an den oberen Extremitäten nach oben, 
bei denen an den unteren Extremitäten nach unten gerichtet ein¬ 
gesetzt. Um jeden coagulirenden Stoff zu vermeiden, bedienten 
wir uns zur Injection Brunnenwassers mit Carmin geröthet und 
experimentirten an folgenden Arterien: 

1. A. dors&lis pedis. 

(Männlicher in Verwesung vorgeschrittener Cadaver.) 

a. Eröffnung der Arterie unmittelbar am Sprunggelenke, so dass die Wunde 
gerade in den offenen Winkel der Articulation fällt, welcher wegen Starrheit des 
Unterhautbindegewebes nur unvollkommen gebogen werden kann. 

Injection durch A. poplitea: Ausfluss aus der Fussrückenarterie. 

(Cadaver eines alten Mannes). 

b. Eröffnung der A. dorsal. unterhalb der Articulation. Injection durch 
Aorta abdominal.: 

In gewöhnlicher Richtung des Fusses. — Ausfluss. 


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Die Beugung der Extremitäten als Blutstillungsmittel. 595 

In forcirter Extension des Fusses gegen die Tibia in spitzem Winkel. 
— Kein Ausfluss. 

Im rechten Winkel. — Ausfluss. 

In forcirter Flexion des Fusses nach unten. — Kein Ausfluss. 

2. A. poplitea. 

a. Wunde der Arterie, Injection durch A. iliaca externa. 

Flexion des Oberschenkels gegen die Bauchwand, Extension des 
Kniees. — Ausfluss. 

Flexion im Höft- und Kniegelenke. — Ausfluss. 

3. A. tibialis postica, im oberen Dritttheile. 

Wunde der Arterie, Injection durch Aorta. Flexion im Kniegelenke. — 
Ausfluss. 

Flexion des Kniegelenkes mit Einlage einer Bindenrolle in fossa 
poplitea. — Kein Tropfen Ausfluss. 

4. A. tibialis antica. 

Stichwunde in der Mitte, Injection durch Aorta 

Flexion im Kniegelenk. — Ausfluss 

Flexion im Kniegelenke mit Einlage einer Bindenrolle in fossa poplitea. — 
Kein Ausfluss. 

5. Arteria femoralis. 

Ligatur beider Artt. hypogastricae, Injection durch Aorta. 

Arterienwunde im Scarpa’schen Winkel, einfache Flexion im Hüftgelenke — 
Ausfluss. 

Flexion mit Bindenrolle in der Inguinalgegend. — Ausfluss. 

Hyperextension der beiden Oberschenkel nach hinten. — Ausfluss. (Mer- 
lateau S. 31'. 

6. Hohlhandbogen. 

Incisionen der Hohlhand bis auf die Metatarsalknochen, Entblössung der 
A. bracbialis in der Ausdehnung eines Zolles. Injection in A. subclavia. 

Flexion des Handgelenkes in spitzem Winkel. — Kein Ausfluss. 

Flexion des Handgelenkes in rechtem Winkel. — Kein Ausfluss. 

Derselbe Erfolg wird erlangt durch Flexion im Ellenbogengelenke verbunden 
mit der gleichen des Handgeleukes. 

Die Armarterie ist durch die Injectionsflüssigkeit bedeutend ausgedehnt. 

7. Arteria radialis. 

Wunde im unteren Dritttheile, Injection durch A. subclavia. 

Spitzwinkel. Flexion im Ellenbogengelenke. Kein Tropfen Ausfluss. 

Rechtwinkel. Flexion im Ellenbogengelenke. Ausfluss, 

Die Kraft der Injection, Anfangs schwach eingeleitet, wurde allmälig in dem 
Grade vermehrt, dass das injicirte Wasser durch die Venen zurückfloss Der 
Erfolg blieb indessen derselbe. 

Die Anzahl dieser Versuche ist viel zu gering, nm ans ihren 
Erfolgen bindende Schlüsse ziehen zn dürfen. Beachtet man in* 
dessen, dass diese Versnobe unter den ungünstigsten Verhältnissen 
angestellt wurden: Abwesenheit der lebendigen Elastieität der 

v. Langenkeck, Archiv f. Chirurgie. XVI. jjy 

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596 


Dr. G. Adel mann, 


Gefässwandungen und der Zurückziehbarkeit ihrer Stampfe bei 
querer Durchschneidung —, Abwesenheit der Elasticität des um¬ 
gebenden Bindegewebes —, Abwesenheit einer coagulablen Flüssig¬ 
keit —, stärkere Propulsion der Spritze als des Herzens, nament¬ 
lich bei Patienten, welche schon eine gewisse Menge Blut ver¬ 
loren, so ist es doch wenigstens erlaubt, die am Cadever erlangten 
Resultate mit denen bis jetzt an lebenden Menschen beobachteten 
zu vergleichen. Vielleicht würde das Leichenresultat ein noch 
günstigeres gewesen sein, wenn eine dem Blute ähnlichere Flüssig¬ 
keit angewendet worden wäre: Wasser mit Ei weis, Gummi, Blut 
aus dem Cadaver selbst oder von einem lebenden Thiere. 

Der Versuch 1. (A. dors. pedis) entspricht vollkommen den 
Beobachtungen XII. und XIV. (Archiv X. S. 368, 371.) 

Der Versuch den Ausfluss aus A. tibial. postica zu stillen, 
entspricht der Beobachtung XIII. (S. 870); nur bleibt noch die 
Frage zu beantworten, ob eine solche Stillung in jeder Höhe 
der Tibia erfolgen kann; je höher, desto vermuthlich unwahr¬ 
scheinlicher. Die Zugabe der Bindenrolle oder eines festen Charpie- 
tampons in die Poplitealgrube nach der von Dr. v. Boehlendorff 
angewendeten Weise wird eine grössere Sicherheit geben. 

Die Frage über A. tibialis antica steht noch offen, weil 
bislang noch nicht durch die Beobachtung an Menschen gestützt; 
der Versuch an der Leiche und das kleinere Lumen der Arterie 
im Verhältnisse zur A. tib. postica versprechen jedoch Erfolg. 

Der negative Erfolg bei Verwundung der A. poplitea, sowie 
ein gleicher der A. dorsal, pedis unmittelbar auf dem Sprung¬ 
gelenke können zu dem Bedenken Veranlassung geben, ob Flexion 
in der nächsten Nähe eines Gelenkes anwendbar ist. In der 
Kniekehle sprechen die anatomischen Verhältnisse nicht dafür. 

Der Misserfolg an A. femoralis lässt die Frage über die 
Zweckmässigkeit der Flexionen im Hüftgelenke noch offen, da der 
von Vidal nach Hörensagen angeführte Fall*) keine Beweiskraft 
besitzt. 

Die Flexion gegen Blutungen der Unterarmarterien und 
der Hoblhandbogen hat sowohl durch das Experiment, als durch 
die Beobachtungen, welche ich in diesem Archive niedergelegt habe, 
so feste Stützen erhalten, dass sie kaum erschüttert werden könnten. 

•) Dieses Archiv Bd. X. S. 355. 


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1 >ie Beugung der Extremitäten als Blutstillungsmittel. 


597 


III. Zur Würdigung der gewaltsamen Beugung als 
Stillungsmittel bei arteriellen Blutungen derselben. 

Unter dieser Aufschrift hat Herr Dr. Burow jun. in Königs* 
berg einen Aufsatz in dem XII. Bande dieses Archivs, S. 1073 
u. f. veröffentlicht, in welchem er durch eine Krankheitsgeschichte 
den Beweis zu liefern sucht, dass die permanente Flexion ein 
nicht ungefährliches Verfahren sei und zur Vorsicht auffordere. 

So sehr ich dem Herrn Verfasser dankbar bin, dass er meine 
Bitte, welche ich an alle Chirurgen richtete, sich für die Beugung 
als blutstillendes Mittel zu interessiren und darüber gelegentlich 
zu berichten nachgekommen ist, so kann ich doch nicht umhin, 
zu bekennen, dass Herr Dr. B. unter dem ersten Eindrücke eines 
misslungenen Heilverfahrens geurtheilt hat. 

Dass ich die Beugung dringend empfohlen, wird mir kein 
nicht voreingenommener Wundarzt verargen, nachdem er meine 
Beobachtungen darüber richtig gelesen, ebenso wird er finden, 
dass ich keinesweges die Beugung allen anderen hämostatischen 
Mitteln vorziehe, sondern nur rathe, dieselbe als einfachstes Mittel 
erst zu versuchen, ehe man zu eingreifenderen übergeht. Es be¬ 
ginnt also der Aufsatz des Herrn Dr. Burow mit Voraussetzun¬ 
gen, welche sich bis zu dem Ende desselben fortziehen. Um dies 
zu beweisen, muss ich aus der Krankheitsgeschichte einige Stellen 
herausgreifen. 

Ein kräftigor Mann von 25 Jahren halte eine Verwundung der Hohlhand 
durch ein Glasstück, welches ausgezogen wurde. Da nach mehr als 24 Stunden 
eine beträchtliche arterielle Blutung entstand, wurden „einige Unterbindun¬ 
gen“ angelegt, ohne Angabe der Gefässe, darauf ein Compressivverband 
mit dem Epitheton „lege artis“ angelegt. Dieser letzte Ausdruck verdeutlicht 
übrigens nicht, aus was der Verband bestand, noch wo er angelegt war, und 
aus dem späteren Verlaufe geht hervor, dass eine Chirotheca nicht angelegt 
war, welche zur lex artis gehört, wann ein Druckverband weiter oben am Unter¬ 
arme angelegt werden soll. . Dass ein solcher Compressiyverband sehr häufig 
Blutungen aus den Handtellern nicht stillt, zeigen die Beobachtungen eines 
Jahrhunderts. Und eine Blutung wiederholte sich auch. Da verfuhr min Herr 
Dr. Burow, wie er schreibt, nach Adel mann; er legte einen Compressiv- 
Verband auf, machte eine Doppelflexion, indem er den Arm durch ein 
Handtuch an den Thorax befestigte, und legte den Kranken zu Bette. 

Gegen diese Procedur, deren Taufpathe ich ohne mein Wissen 
geworden bin, kann ich mich nur verneinend verhalten, denn sie 

39* 


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598 


Dr. G. Adelmann, 


gleicht der von mir Bd. III. S. 29 angegebenen fast in keinem 
Punkte, und bitte ich Herrn Dr. B. die Vaterschaft derselben 
selbst zu übernehmen Denn erstens weiss ich nichts von einem 
CompresBivverbände; ich halte ihn für unnöthig und in dem in 
Bede stehenden Falle wirkte er sogar schädlich. 

Zweitens weiss meine Verbandform nichts von einer Be¬ 
festigung des flectirten Armes an den Brustkasten, sondern be¬ 
rührt nur die Streckseite des Ober- und Unterarmes. Die später 
zugelegte Mitella triangularis dient nur zur Bequemlichkeit des 
Patienten, um eine Stütze für den Ellenbogen zu erlangen. In 
der Beobachtung XVII. (sogenanntes Aneurysma spurium diffusum) 
sah ich mich einmal genöthigt, den Arm an den Thorax zu be¬ 
festigen, weil Pat. zu starke Excnrsionen mit demselben voraahm. 

Ein jeder Thoraxverband, wenn er zu dem angegebenen 
Zwecke wirken soll, hindert die respiratorischen Bewegungen, und 
thut er dies nicht, so ist er unnütz, wenn nicht gar durch seine 
fortgeleitete Bewegung schädlich. 

Drittens lege ich den Patienten nach beendigtem Verbände 
nie sogleich zu Bette, sondern lasse ihn, wo immer möglich, in 
einer verticalen Stellung während einiger Zeit. . Im Bette erhält 
er eine sitzende Lage. Ambulatorische Kranke gehen nach Hause. 

Nachdem die B.’sche Verbandform: Flexion und Compression 43 Stun¬ 
den gelegen hatte, wurde der Compressivverband abgenommen, wo sich schon 
„etwas Anschwellung, Röthung und entzündliches Oedem an den 
Fingern, sowie eine geringe Anästhesie zeigt'«. Indessen auf A’s 
Versicherung bauend, dass man diesen Verband ruhig 9 Tage 
liegen lassen könne“ u. s. w. wurde die Flexion fortgesetzt, und dauerte 
im Ganzen 67 Stunden. So lange die Flexion gehalten wurde, trat keine Blu¬ 
tung ein, kehrte aber nach Ablassen derselben wieder. 

Dieser Satz ist die Basis der Beweisführung des Herrn Dr. 
B., dass die Flexion die Schuld an der Entstehung der Gangrän 
der Hand trägt, indem er mich als Gewährsmann für eine neun¬ 
tägige Flexion anführt. Dabei hat er jedoch nicht beachtet, dass 
ich nur von der Möglichkeit, oder besser Wahrscheinlichkeit 
sprach, dass nach diesem Zeiträume die verletzte Arterie kein 
Blut mehr ergiessen würde; von dem Nichtaushaltenkönnen des 
Verbandes von Seiten des Patienten oder von anderen Nachtheilen, 
z. B. Gangrän ist nicht die Rede, weil ich nie welche beobachtet 
habe, und ich setzte noch in einem Nachsatze hinzu, dass bei 


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Die Beugung der Extremitäten als Blutstillungsmittel. 


599 


Verwundungen stärker calibrirter Arterien die Flexion verhält- 
nissmässig längere Zeit fortgesetzt werden müsse, nnd habe über¬ 
dies den Rath gegeben, selbst wenn noch keine Eitemng der Haut¬ 
wunde eingetreten, den Verband jeden dritten Tag, also nach 48 
Stunden zu erneuern und die Winkelstellung des Ellenbogens 
mässig zu verändern. 

Wenn Herr Dr. B. der Ueberzeugung war, dass die Flexion 
das Oedem an den Fingern u. s. w. erzeuge, so musste er aus 
rationellen Gründen den Flexionsverband aufgeben und sich durch 
die Furcht vor neuen Blutungen nicht davon abbalten lassen. Ein 
jurare in verba magistri ist hier nicht am Platze, besonders wenn 
diese Worte einen andern Gegenstand berühren. 

Um jedoch den Lesern einen Beweis zu geben, dass selbst 
eine mehr als neuntägige Flexion Gangrän nicht hervorbringt, 
gebe ich nachstehend eine Statistik der Flexionsdauer aus den 
von mir veröffentlichten Beobachtungen. 

Der Verband wurde gelöst nach 24 Stunden (Beob. XIX.) 

nach 3 Tagen (Beob. III. 1 ) 

»4 „ ( » XI. 2) 

, 5 , < , XU. 3) 

, 6 * ( » XIII. 4) 

» s » ( , xvn.) 

» 9 » ( » IV. 5 ) VIII. 6) 

»13 , ( » XX.) 

,15 , ( » XVIII.) 

»18 , ( , V. 7) 

»19 , ( „ VU. «) 

Die von mir aufgenommene Beobachtung XXII ist so lücken¬ 
haft, dass nichts daraus geschlossen werden kann. Das Verdict 
mass wenigstens dem behandelnden Wundarzte keine Schuld zu. 

Wenn nun nach diesen Voranstellungen die Wahrscheinlich¬ 
keit, dass die Flexion den Brand hervorgebracht habe, sich auf 
Null reducirt, ganz abgesehen von der Art und Weise, in welcher 
dieselbe ausgeführt wurde, so drängt sich unwillkürlich die Frage 
auf, welches dann nun die Ursache des Brandes der Hand war, 
wodurch eine Amputation im Unterarme indicirt erschien. 

1) Archiv für Chirurgie Bd. UI. S. 30. 

2) Ebendas. Bd. X. S. 871. 

3) Ebendas. S. 363. 

41 Ebendas. S. 356. 

5) Ebendas. S. 370. 

6) Ebendas. S. 359. 

7) Ebendas. S. 356. 

8) Ebendas. S. 357. 


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(300 


Dr. 0. Atieluiann, 


Zur Beantwortung dieser Frage dienen zwei Hauptpunkte 
der Krankheitsgeschichte: der Compressivverband und der Flexions¬ 
verband. Der Compressivverband wurde am 15. October ange¬ 
legt und am 18. entfernt, hat als ohngefähr drei Tage gewirkt, 
worauf Oedem der Finger und die übrigen Prodromi der Gangrän 
constatirt wurden (S. 1080). Der Flexionsverband wurde am 
16. October angelegt und am 19. entfernt, da die Wunde schon 
einen foetiden Geruch hatte und jauchte. Die Dauer einer jeden 
der beiden Verbandformen war also 3 Tage. Compressiou mit 
Flexion verbunden 2 Tage. Die tägliche Erfahrung zeigt, dass 
bei Verwundung der Handteller häufig bedeutendes Oedem der 
ganzen Hand, oft verbunden mit reichlicher Eiterung stattfindet, 
das aus der Unnachgiebigkeit der Handaponeurosen sattsam er¬ 
klärt wird, und dass in manchen Fällen, wo weder Compression 
noch Flexion angewendet wurde, Gangränescirung eintrat. Lympha- 
titen und Schüttelfröste traten sogar nach Verletzungen einzelner 
Finger auf. Um wieviel mehr müssen solche Spannungs- und 
.Stauungsverhältnisse eintreten, wenn mit den eine Wunde be¬ 
gleitenden physiologischen Stauungen eine künstliche Compression 
verbunden wird? 

Meine fünfte Beobachtung (Bd. X. S. 356 d. Arch.) hat sehr 
viel Aehnlichkeit mit der B.’schen, sowie auch die sechste mit 
herbeigezogen werden könnte. Es wurde in beiden Fällen keine 
Compression angewendet, die Flexion im fünften Falle 18 Tage 
lang fortgesetzt, und es trat keine Gangrän ein. 

In einigen Fällen, z. B. Beobachtung II. (Bd. III. S. 356 d. 
Arch.) III. (ibid. S. 31) ist Oedem der Finger verzeichnet; in der 
siebenten Beobachtung (Bd. X. S. 359 d. Archivs) ist der ganze 
Arm bis zur Stelle des früher angelegten Tourniquets hinauf stark 
geschwollen und schmerzhaft und wird dennoch forcirt flectirt und 
mit Theden’scher Einwicklung umgeben — und es entsteht 
keine Gangrän. In der Beobachtung XVII entsteht bald Oedem 
der Hand, am 4. Januar sogar bläulich gefärbt, am 5. I. Schwel¬ 
lung der Hand bis zum Oberarme und nach Lockerung des Flexions¬ 
verbandes noch stärkere Anschwellung des Armes bei gleichzeitiger 
Eiterung; am 7. I. Schwellung und Schmerzhaftigkeit des Ober¬ 
armes — und doch keine Gangrän! Und die Flexion hatte 
acht Tage gedauert. 

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Die Beugung der Extremitäten als Blutstillungsmittel. 


601 


In der Beobachtung XII (Bd. X. S. 363 ,d. Archivs) sind 
während der Flexion von fünf Tagen die Granulationen der Schuss¬ 
wunde sehr blass; zwei Stunden nach Abnahme des Flexionsver¬ 
bandes wird die Röthe derselben vermehrt; Beweis, dass durch 
die Flexion wohl die Durchgängigkeit der grösseren, nicht aber 
die der feineren Gefässe aufgehoben wird, welche zur Ernährung 
des Gliedes vorderhand hinreichen. 

Nach dieser Gegenüberstellung der beiden in dem B.’schen 
Falle angewendeten Verbandformen: Compression und Flexion 
überlasse ich den Collegen zu entscheiden, welche von ihnen die 
Gangrän der Wunde verursacht hat. 

So sehr ich Herrn Dr. B. für die Veröffentlichung seiner Be¬ 
obachtung bei Flexion dankbar bin, weil dadurch die Durwell- 
sche Methode, bisher von den Chirurgen unverdienter Weise ver¬ 
nachlässigt, wieder einmal von Neuem in ihr Forum gezogen 
worden ist, so kann ich dieselbe doch nicht als stricten Gegen¬ 
beweis ansehen, ebenso wenig als wir uns über die Wirkung eines 
Arzneimittels aussprechen dürfen, wenn dasselbe mit einem Corri- 
gens oder Adjuvans dispensirt worden ist. Deshalb endlich 
kann ich auch den Schlussfolgerungen des Herrn Dr. Burow nicht 
beistimmen. Ob bei einer Verletzung der Handtellerbogen die Ar¬ 
terien an- oder durchgeschnitten sind, ist für die Anwendung der 
Flexion einerlei; wir können dies nicht diagnosticiren. Bei seiner 
Lehre: bei Verletzungen der Hand nicht zu comprimiren und 
nicht zu flectiren, möchte ich das Amendement einbringen: 
„nicht zu flectiren“ zu streichen zugleich mit dem letzten 
Satze (S. 1032). 

Demgemäss möchte ich meinen sechs Thesen eine siebente 
zusetzen, wenn zwischen Gesetzen und Verboten ein so gewaltiger 
Unterschied bestände: Man comprimire nicht, sondern flectire 
bloss, und wenn dies keinen Erfolg hat, gehe man zur Unterbin¬ 
dung der Arter. princeps über. 

Und wenn eine Flexion die Blutung gestillt hat, warum soll 
der Chirurg dieselbe doch lösen und „nach den oben genannten 
Regeln der Blutung Herr zu werden suchen“, wo keine 
Blutung mehr ist? (Solches geschah in meiner XVI. Beobachtung. 
Bd. X. S, 872). 


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XXIII, 

Ueber eine lipomatöse Muskel- und Nerven¬ 
degeneration und ihre Beziehung zu 
diffuser Sarcombildung. 

Von 

Dr. Carl Gussenbauer, 

Assistenzarzt an Professor Billroth’s chirurgischer Klinik in Wien. 

(Hierzu Tafel XVI, XVII.) 

Mit Bezugnahme auf den von Herrn Prof. Billfoth im XIII. 
Bande, S. 395 dieses Archivs mitgetheilten Fall: „Einseitige 
Pseudo-Hypertrophie einiger Oberschenkelmuskeln, 
einen Tumor vortäuschend,“ gebe ich im Nachfolgenden die 
Resultate der mikroskopischen Untersuchung. Objecte der Unter¬ 
suchung waren erstlich die von Fett durchwachsenen und theil- 
weise ganz in ein Fettgewebe umgewandelten Muskeln, ferner die¬ 
jenigen Abschnitte der erkrankten Muskeln, welche an Volumen, 
(im Querschnitt betrachtet) zwar zugenommen hatten, an denen 
aber mit freiem Auge nicht zu erkennen war, ob diese Volumen- 
Zunahme durch Fetteinlagerung im Perimysium internum bedingt 
war oder nicht. Es wurden von diesen Muskelstücken solche 
ausgewählt, welche einerseits im Vergleiche mit normalen Mus¬ 
keln dem freien Auge eben merkbar verändert erschienen, anderer¬ 
seits den fortschreitenden Process der Fettdurchwachsung und 
Vernichtung der Muskelfasern erkennen liessen. Als Vergleicbs- 
objecte wurden normale Muskeln des linken Oberschenkels und 
die gleichnamigen des rechten zur Untersuchung bestimmt. 

Ausserdem wurde der Nervus ischiadicus sin., welcher 
in einer Länge von 4 Zoll von einer theils sehr stark mit Fett 


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Ueber eine liporaatöse Muskel- und Nerveiulegeneration etc. 


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durchwachsenen, theils ganz in ein Fettgewebe umgewandelten, 
leicht zerreisslichen Bindegewebshülle umgeben war und mit den 
in Fettgewebe verwandelten Muskelbäuchen innig zusammenhing, 
untersucht, weil er auch in seinen Nervenbündeln makroskopisch 
nicht näher bestimmbar verändert erschien. Als Vergleichsobject 
diente der Nervus ischiadicus dexter im gleichen Verlaufsstücke. 
Sämmtliche Objecte wurden in Müller’scher Flüssigkeit aufbe¬ 
wahrt. Die nachfolgenden Beschreibungen beziehen sich auf Prä¬ 
parate, welche ohne Behandlung mit Reagentien in Glycerin zur 
Anschauung gebracht und eingeschlossen wurden. Obwohl im 
Verlaufe der Untersuchung es sich herausstellte, dass der Process, 
welcher in den Muskeln und im Nerven die Umwandlung des 
Bindegewebes in Fettgewebe verursachte, morphologisch beti achtet, 
derselbe war, und demnach die Veränderungen in den Muskeln 
und im Nerven theilweise ganz dieselben sind, so werde ich den¬ 
noch, dem Gange der Untersuchung entsprechend, zuerst die Be¬ 
funde an den Muskeln, und dann erst an dem Nerven mittheilen, 
weil auf diese Weise die Eigenthümlichkeiten der Veränderungen 
an den Muskeln und Nerven besser betrachtet werden können. 
Andererseits wird es bei der Beschreibung der Veränderungen im 
Nerven, um Wiederholungen zu vermeiden, nur nöthig sein, auf 
die gleichartigen in den Muskeln zu verweisen. 

Veränderungen der zu einem Tumor angeschwollenen 

Muskeln. 

Zunächst muss bemerkt werden, dass die Muskeln, ent¬ 
sprechend dem sehr bedeutenden Fettgehalte des Bindegewebes 
im ganzen Körper, stark von Fettgewebe durchwachsen waren. 
Das Perimysium internum war meist, mit Ausnahme der Blutge¬ 
fässe, zu Fettgewebe metamorphosirt und in Folge dessen leicht 
zerreisslich, so dass die Muskelfasern sehr leicht isolirt werden 
konnten. Eine weitere Folge der Fettmetamorphose des Muskel¬ 
bindegewebes war Atrophie der Muskelfasern, welche an vielen 
untersuchten Muskelstücken sehr erheblich war. 

Von dieser Fettmetamorphose des Muskelbindegewebes und 
der consecutiven Atrophie der Muskelfasern soll bei der Beschrei¬ 
bung der vorliegenden Geschwulst ganz abgesehen werden, weil 
diese Abweichungen von dem normalen Zustande der Muskeln 


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604 


I)r. C. Gussenbauer, 


auch an denjenigen des rechten Oberschenkels kaum in minderem 
Grade zu beobachten waren. Es muss ferner schon hier hervor¬ 
gehoben werden, dass nach den Resultaten der mikroskopischen 
Untersuchung die Umwandlung der Muskeln in Fettgewebe nicht 
etwa durch gewöhnliche Fettmetamorphose des Muskelbindegewebes 
mit consecutiver Atrophie der Muskelfasern geschah, und der 
Vorgang nicht als ad maximum ausgeprägte Form desselben Pro- 
cesses aufzufassen sei, wenn auch, die Besichtigung mit freiem 
Auge eine solche Annahme wahrscheinlich erscheinen liess, da 
ausser den Muskelfasern und einem mehr oder weniger dichten Bin¬ 
degewebe nur Fettgewebe in der Geschwulst wahrzunehmen war. 

Eine Fettmetamorphose der Muskeln in so hohem Grade, wie 
in dem vorliegenden, würde wohl einer kurzen Erwähnung, aber 
keiner genaueren Beschreibung bedürfen. 

Hier handelt es sich, wie im Nachfolgenden gezeigt werden 
soll, um einen Vorgang anderer Art, der, mag er nach den ana¬ 
tomischen Befunden und den daraus gezogenen Folgerungen wie 
immer benannt werden, gewiss ein seltener und für die Lehre der 
Geschwulstentwickelung von Bedeutung ist. 

. Anknüpfend an die im Sectionsbefunde (1. c.) gegebene kurze 
Beschreibung bemerke ich, dass schon mit freiem Auge, besser 
mit der Loupe an den veränderten Muskeln drei durch ihr Aus¬ 
sehen verschiedene Stadien der Erkrankung zu unterscheiden wa¬ 
ren, die sich ausserdem durch verschiedene Gewebsdichtigkeit und 
Festigkeit auszeichneten. Die Muskelstücke, an welchen durch 
Vergleichung der Beginn und das Ende des Processes wahrzu¬ 
nehmen war, hatten nicht selten wohl alle Uebergangsformen der 
Metamorphose nebeneinander aufzuweisen, doch war zwischen dem 
Anfänge der Veränderung und dem gänzlichen Aufgehen der Mus¬ 
kelfasern in Fettgewebe ein so auffallender Unterschied vorhanden, 
dass scheinbar zwei ganz differente Geschwulstbildungen in den 
Muskeln Vorlagen. 

Während beim Beginne der Erkrankung die Muskelfaser¬ 
bündel und Muskelbäuche durch Verdickung des Muskelbindege¬ 
webes an Volumen zugenommen hatten, war an ihnen eine be¬ 
sondere Fettentwickelung im Bindegewebe nicht wahrzunehmen, 
es schien vielmehr der an den normalen Muskeln beobachtete 
Fettgehalt vermindert zu sein. Die Verdickung des Bindegewebes 

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lieber eine lipomatüse Muskel* mul Nervcmiegeueratioii etc. 605 

hatte die Consistenz der betreffenden Muskeln und die Cohaerenz 
ihrer Fasern vergrössert. Mit der Vollendung des Processes hin¬ 
gegen war zwar das Volumen der Muskelbäuche noch mehr ver¬ 
grössert, aber die Consistenz derselben und die Cohaerenz ihrer 
Fasern vermindert und ihre Zahl so herabgesetzt, dass die in 
einander coniluirenden Muskelbäuche mehr als eine Fettgeschwulst 
anzusehen waren, welche diffus in die Muskeln überging, denn 
als Muskeln, welche in ein Fettgewebe umgewandelt seien. Dies 
gilt besonders von den zu einer tumorartigen Masse umgewandelten 
Adductoren. Zur Vereinfachung der Darstellung, und um über 
den Process selbst einen besseren Ueberblick zu gewinnen, sollen 
die beobachteten Veränderungen an den Muskeln so zusammen¬ 
gestellt werden, dass sie auf einander folgend erscheinen und 
einem Anfangs-, Mittel- und Endstadium eines conti- 
nuirlichen Processes entsprechen. Wenn auch manche der 
beobachteten Veränderungen gleichzeitig sich entwickelt haben mö¬ 
gen, was indessen von den wichtigeren keine Geltung hat, so dürfte 
doch auf diese Weise die Beschreibung auch der zeitlichen Auf¬ 
einanderfolge der Veränderungen am nächsten kommen. 

I. Stadium der Zellenneubildung. 

Als geringste und deshalb in diesem Falle wohl auch als erste 
Abweichung von der normalen Structur des Muskels war eine Ver¬ 
dickung des Perimysium internum bemerkbar, welche an 
manchen Muskelstücken einen solchen Grad erreichte, dass sie schon 
beiLoupenvergrösserung aus dem weiteren Abstande der Muskelfasern 
(gegenüber den normalen Vergleichsobjecten) wahrzunehmen war. 
Die Verdickung des Perimysium internum war abhängig von einer 
Verdickung der Blutgefässwandungen, zumeist der der 
Capillaren und mikroskopischen Arterien, an welche sich als noch 
weiter fortgeschrittene Veränderung auch eine Verdickung des 
lockeren Bindegewebes, welches die Blutgefässe und die Muskel¬ 
fasern umgiebt, hinzugesellte. Die Verdickung der Blutgefäss¬ 
wandungen und des lockeren Bindegewebes war durch eine Zellen¬ 
neubildung bedingt, welche von den Gefässwand- und den 
Bindegewebszellen ihren Ursprung genommen hatte. Die Zellen¬ 
neubildung ist wahrscheinlich von den Capillarwandzellen und 
denen der kleinsten Arterien zuerst ausgegangen und dann erst, 




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600 


Dr. C. Gassenhauer, 


wenigstens der Hanptmasse nach, von den Bindegewebszellen, weil 
sehr häufig eine Proliferation an den Gefässwänden ohne eine 
solche im Bindegewebe zu beobachten war. 

Der auffälligste und constanteste Befund war folgen¬ 
der: An Querschnitten mit wenig oder unveränderten Muskelfasern 
sind die Gefasslumina erweitert, die Begrenzung der Lumina aber 
von dicht aneinandergereihten Endothelzellen gebildet, welche theils 
klein und dem Begrenzungscontour der Capillaren oder der Intima 
kleinster Arterien dicht anliegend, theils gross, mehrkernig, selten 
mit Fortsätzen versehen, in das Lumen selbst hineinragen und 
dasselbe verengen, oder vollständig obturiren. 

Eine genauere Detailuntersuchung dieser Endotbelwucberung, welche auch 
schon durch die Betrachtung der Bilder an Schnittpräparaten über alle Zweifel 
sicher ist, ergab alle Uebergangsformen zwischen normalen und angeschwollenen 
Endothelzellen und Theilungsformen derselben in solcher Häufigkeit, dass die 
zu beobachtende Menge neugebildeter, dem Begrenzungscontour der Gefasslumina 
anliegenden Zellen auch dadurch mit der grössten Wahrscheinlichkeit auf die 
Proliferation der Endothelien zu beziehen war. 


Ich muss hier ausdrücklich bemerken, dass eine grosse, wenn 
nicht die Mehrzahl der kleinsten Blutgefässe ungeachtet der Ver¬ 
engerung durch die Zellenneubildung und die abnorme Endothel¬ 
auskleidung nicht thrombirt waren, sondern, wie dies an Längs¬ 
schnitten auf grosse Strecken verfolgt werden konnte, entweder 
leer oder nur ganz vereinzelt rothe Blutkörperchen haltend ge¬ 
funden wurden. 

Ein grosser Theil dieser kleinsten Blutgefässe 
aber war thrombosirt. Diese Thrombose war nebst der 
Proliferation der Endothelien die erste und constanteste Erscheinung 
in den vom normalen Bau am wenigsten abweichenden Muskel¬ 
abschnitten. 

Gefässe, dicht gefüllt mit normalen oder wenig veränderten Blutkörperchen, 
wie sich solche in frischen Thromben vorfinden, waren vorzugsweise an solchen 
Muskelabschnitten zu beobachten, an welchen das Bindegewebe entweder nicht 
oder nur spärlich von neugebildeten Zellen durchsetzt war. Mit der Vermehrung 
der Zellen im Muskelbindegewebe und in den Wandungen der Gefässe desselben 
aber waren frische Thromben nicht mehr zu beobachten. 

Es fanden sich vielmehr jene Erscheinungen vor, welche auf retrograde Me* 
tamorphosen frischer Thromben hinweisen, wie sich dieselben bei der Entzündung 
und den eigentlichen Geschwulstbildungen stets vorfinden. 

An den Capillaren batten die aufgeschwollenen Wand- und Adventitialzellen 


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Heber eine lipomatöse Muskel* und Nervendegeneration etc. 607 


hiufig den Blutfarbstoff in Form brauner Körnchen aufgenommen, welche mehr 
oder weniger dicht ihr Protoplasma durchsetzten. 

Häufig war eine netzförmige Anordnung noch zusammenhängender verschie¬ 
den gestalteter Zellen wahrzunehmen, welche mit braunem, körnigem Pigment 
erfüllt, sich dadurch als Abkömmlinge von Gefässwandzellen kennzeichneten, dass 
sie mit unzweifelhaften, wenn auch veränderten Blutgefässen in Contiuuität standen. 

Oder es war Hämatoidin in mannichfach geformten Schollen und Klumpen, 
häufig der Gestalt nach den Zellenformen ähnlich, zwischen den neugebildeten 
Zellen und den Bindegewebsfasern oft in sehr bedeutender Menge vorhanden. 

Für die Bildung des Hämatoidin konnten, nach den beobachteten Bildern 
zu urtheilen, ebensowohl die ziemlich häufig beobachteten mikroskopischen Blut¬ 
extravasate im Perimysium internum, als die thrombosirten und proliferirenden 
Blutgefässcapillaren in Betracht kommen. 

In gleicher Weise, wie das Endothel der Blutge¬ 
fässe, proliferirten auch die Gefässwandzellen der 
Media und Adventitia der kleinsten Arterien. Besonders 
die glatten Muskelzellen derselben betheiligten sich am lebhaftesten 
an der Zellenneubildung. In der Regel war an den kleinsten Arterien 
zuerst Endothelwucherung und dann erst Wucherung der übrigen Ge¬ 
fässwandzellen zu beobachten, dann aber meist in dem Masse, dass 
ihre Wandungen auf das 3- und 6- und mehrfache normaler Gefäss- 
wandungen von gleichem Durchmesser verdickt waren, in welchem 
Zustande das geformte Binde- und elastische Gewebe durch den Druck 
der Zellen verschwand und nur noch die Anordnung der neugebildeten 
Zellen sowie der Gefässinhalt (retrograde metamorphosirter Thrombus 
oder Rest eines solchen) das Erkennen sicherten. Aber nicht nur 
die Blutgefässe in ihren zeitigen Elementen waren die Quelle der 
Zellenneubildung, sondern auch die Zellen des Muskelbindegewebes, 
welches tbeils in mächtigen Strängen die Muskelbäuche und Faser¬ 
bündel begrenzt, theils als Fortsetzung dieser die einzelnen Muskel¬ 
fasern und Blutgefässe umgiebt. Es war an Schnitt- und Isolirungs- 
präparaten mit Leichtigkeit nachzuweisen, dass die Bindegewebskör- 
per in Proliferation übergegangen waren und eine zweite Quelle 
der Zellenneubildung wurden, welche die Faserbündel und 
Fasern des Bindegewebes anfänglich nur auseinanderdrängte, mit der 
Zunahme der Neubildung und ihrer Vermehrung aus sich selbst 
aber dieselben vernichtete. Nach Umwandlung in eine feinkörnige 
Substanz nahmen die Faserbündel an Umfang ab, bis sie endlich 
durch Druck zur Resorption gebracht, oder vielleicht auch in diesem 
veränderten Zustande, gekörntem Protoplasma ähnlich, direct als 


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608 


Dr. C. Güssenbauer, 


Nabrnngsmaterial für die Zellen-Neubildung dienten, durch welche 
sie verdrängt wurden. 

Die Zellenneubildung war im Allgemeinen in Fol¬ 
gendem charakterisirt. In der überwiegenden Mehrzahl wa¬ 
ren die Zellen klein, den Granulationszellen oder denen kleinzelliger 
Sarcome entsprechend, doch waren auch zahlreich Zellen zu beob¬ 
achten, welche farblose Blutkörperchen um das 3 - 5fache und mehr 
übertrafen. Die meist rundlich geformten Zellen waren in ihrem 
Protoplasma, mehr noch im Kerne granulirt, ein Theil derselben 
etwas glänzend. In der Regel waren die Zellen einkernig, doch 
waren solche mit zwei und mehreren Kernen häufig zu finden. 

Der Gesammteindruck der Zellenneubildung war ein sehr ver¬ 
schiedener, je nachdem die Zellen gross oder klein, viel- oder nur 
einkernig, wenig oder stark, fein oder grob granulirt erschienen. 
Die beschriebenen Bilder entsprachen ganz dem eines kleinzelligen 
Sarcomes (Granulationssarcom), oder auch dem einer Zellenin¬ 
filtration des Muskelbindegewebes mit Zerstörung seiner Fasern, 
wie sie bei chronischen Entzündungen zu beobachten sind. Ich 
vermag es nicht aus der Betrachtung der Zellenneubildung für 
sich allein Unterschiede anzugeben, welche die eine oder die an¬ 
dere der beiden Bezeichnungen passender erscheinen Hessen. 

Die Muskelfasern selbst verhielten sich bei dem 
ganzen Processe der Zellenbildung nahezu passiv. Es 
waren an den Muskelfasern weder Kernwucherung, wie dieselbe 
bei acuter und chronischer Muskelentzündung beinahe ausnahms¬ 
los sich vorfindet, noch eine Vermehrung der Muskelkörperchen 
und die daraus zum Theil resultirende Bildung von Muskelzellen- 
scbläuchen noch die bei der Entzündung oder gelegentlich in 
Muskelgeschwülsten vorkommenden Veränderungen der contractilen 
Substanz wahrzunehmen. Mit wenigen Ausnahmen Hessen die 
Muskelfasern keine anderen Veränderungen erkennen, als die durch 
Druck hervorgebrachten. Atrophie der Fasern bei vollkommen 
oder nahezu normaler Structur der contractilen Substanz war 
überall dort zu finden, wo dieselben durch die aus dem Perimy¬ 
sium intemum bervorgegangenen Zellen theils von einander ge¬ 
drängt, theils comprimirt wurden. Es fanden sich allerdings ver¬ 
einzelt auch Muskelfasern, deren contractile Substanz fein gekörnt 
erschien, doch war auch diese Abweichung vom normalen Zustande 


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Ueber eine lipomatose Muskel- und Nervendegeneration etc. 609 


nie erheblich. Hingegen die durch Gerinnung in der conträctilen 
Substanz erzeugten Formen mit scholligem Zerfall und partiellen 
Resorptionen, wie sie der eigentlichen Myositis zukommen, fanden 
sich niemals vor. Als seltenen Befund muss ich folgenden an¬ 
geben. Es fanden sich Muskelfaserquerschnitte, welche mehr oder 
weniger in der Mitte von einer fettglänzenden Substanz erfüllt waren, 
während eine Zone w enig veränderter contractiler Substanz inner¬ 
halb eines normalen Sarcolemmas dieselbe umgab. Die Configu- 
ration dieser sehr blassen fettglänzenden Substanz entsprach zum 
Theil den Querschnitten der Muskelkörperchen, nur war der Um¬ 
fang derselben meistens ein grösserer, bisweilen so, dass nur mein¬ 
em schmaler Saum der Muskelfaser an der Peripherie erhalten 
war. Zum Theil aber warfen die glänzenden, ganz wie Fettzellen 
erscheinenden, bald rundlichen, bald ganz unregelmässig begrenzten 
Körper in der Mitte der Muskelfasern vereinzelt oder mehrere 
durch contractile Substanz getrennte neben einander zu beobachten. 
Es hatte dann den Anschein, als seien diese Körper aus der con- 
tractilen Muskelsubstanz selbst hervorgegangen. Es waren diese 
Querschnittsbilder der Muskelfasern ähnlich den bei der Muskel¬ 
entzündung zu beobachtenden, wo ebenfalls in der Mitte der Fa¬ 
sern bald nur rundliche, bald aber auch verästigte Zellen Vor¬ 
kommen, die theilweise aus den Muskelkörperchen hervorgehen, 
theilweise aber aus der conträctilen Substanz selbst sich zu ent¬ 
wickeln scheinen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass 
die hier vorkommenden Formen Fettglanz hatten. Durch viel¬ 
faches Betrachten solcher Muskelfaserquerschnitte bildete ich mir 
die Vorstellung, dass solche Bilder entweder durch Fettmetamor¬ 
phose der Muskelkörperchen oder aus der Muskelsubstanz selbst 
hervorgegangener Zellen und Druckatrophie der Fasern durch die 
wachsenden Fettzellen entstehen. Es gelang mir auch Uebergangs- 
formen aufzufinden, an denen unzweifelhaft eine Fettzellenbildung 
in den Muskelfasern selbst vorhanden w T ar. In Fig. 5 Taf. XVI. 
sind mehrere derselben, deren Zahl ich noch um einige vermehren 
könnte, abgebildet. Die mit a bezeichneten Formen haben grosse 
Aehnlichkeit mit Knochenkörperchen, wenn sie in ihrem Proto¬ 
plasma Fett aufgenommen haben, während die mit b bezeichneten 
als isolirte deutliche Fettzellen zu erkennen sind. In einer an¬ 
deren Faser (c) hat sich in der Mitte derselben eine ganze Gruppe 


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610 


Dr. C. Gussenbauer, 


solcher fettglänzenden Körper gebildet, welche in einem ans fein- 
gekörnter Substanz gebildeten Netzwerk eingeschlossen sind, ganz 
gleich wie in Entwickelung begriffene Fettzellen, an denen die 
einzelnen Fetttropfen vor ihrer Verschmelzung in einander noch 
durch Protoplasmaschichten getrennt sind. Ich glaube durch diese 
Beobachtungen dargethan zu haben, dass sich auch aus Muskel¬ 
körperchen ebenso wie aus Knorpel, Knochen und Bindegewebszellen 
Fettzellen entwickeln können. Wiederholtes Nachsuchen an Längs¬ 
schnitten der Muskeln liess mich, wahrscheinlich wohl wegen der 
Seltenheit dieser Bildungen, in dem vorliegenden Objecte keine 
Fasern finden, in deren Mitte unzweifelhaft eine Bildung von Fett¬ 
zellen stattgefunden hätte. Meist stellte es sich heraus unter sorg¬ 
fältiger Handhabung der Schraube, dass den Muskelfasern, deren 
Oberfläche oft mannicbfach geformt ist, dicht Fettzellen anlagen, 
welche den Schein erweckten, dass sie in den Fasern selbst ein¬ 
geschlossen seien. Dagegen fand ich Bilder, welche geeignet sind, 
nicht nur das passive Verhalten der Muskelfasern bei der Zellen¬ 
entwickelung im Perimysium internum zu beweisen, sondern auch 
klar die Druckwirkung zu veranschaulichen. 

Ia Fig 6 Taf. XVI ist eine Muskelfaser abgebildet mit ganz besonders deut¬ 
licher Querstreifung, welche, allseitig von der Zellenneubildung umgeben, in ihrer 
contractilen Substanz keine Aenderung erfahren bat, aber an einer Stelle, genan 
entsprechend der Oberfläche einer Fettzelle und einer Zahl von Zellen rings¬ 
herum jählings im Querdurchmesser abnimmt, während das Sarcolemma ganz 
wohl erhalten ist und in diesem verdünnten Faserabschnitt eine feingranulirte 
Substanz einschliesst. Da die Muskelfaser in einem Schnittpräparate liegt und 
allseitig von Geweben umgeben ist, so kann an eine Trennung bei der Präpara¬ 
ten, welche indessen auch schon durch den Anblick auszuscbliessen ist, nicht 
gedacht werden. Da die Faser in ihren übrigen Abschnitten zu beiden Seiten 
der verengten Stelle ganz normal ist, so kann die plötzliche Volumsabnabme der 
Faser bei vollkommen intactem Sarcolemma wohl auf nichts Anderes als Druck¬ 
wirkung der umgebenden Zellen bezogen werden, wofür schon der erste Anblick 
entscheiden möchte. 

In die Abbildung wurde die unter und über der Faser gelegene Zellenneu¬ 
bildung nicht aufgenommen, um $0 Zeichnung nicht zu compliciren; es war aber 
leicht möglich selbst bei der stärksten Vergrösserung die Zellen und ihre An¬ 
ordnung genau zu betrachten. 

Durch die oben erwähnte Bildnng von Fettzellen in den 
Muskelfasern selbst wurden dieselben in den betreffenden Ab¬ 
schnitten in der Continuität unterbrochen. Doch konnte ich nie¬ 
mals beobachten, dass eine Muskelfaser in einem längeren Ab- 


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Ueber eine lipom&tose Muskel* und Nervendegeneration etc. 611 

schnitte, als welchen die beobachteten Fettzellen erfüllten, in eine 
Röhre umgewandelt worden wäre, und auf diese Weise eine Form 
dargestellt hätte, wie sie Martini*) beobachtet haben musste, 
um seine „seröse röhrenförmige Atrophie* aufzustellen. Die von 
Martini gegebene Beschreibung kann auch auf die von mir be¬ 
obachteten Formen angewendet werden, wenn hinzugesetzt wird, 
dass die Spalten in den Fasern mit Fettzellen erfüllt waren. 
Ob der Inhalt in den von Martini beobachteten Spalten ein 
serÖ8-albuminÖBer formloser war, möchte ich sehr bezweifeln, 
da mir Bilder aus entzündeten Muskeln bekannt sind, welche ganz 
der von Martini gegebenen Beschreibung entsprechen, an welchen 
aber mit sehr starken Vergrösserungen nachgewiesen werden kann, 
dass nicht eine eiweissartige Flüssigkeit, sondern Zellen, und 
zwar grossentheils verästigte die Spalten erfüllen, welche sich bei 
schwachen Vergrösserungen der Beobachtung entziehen. Vielleicht 
ist dann auch diese sogenannte seröse „röhrenförmige Atrophie* 
keine Species der Atrophie, sondern vielmehr das Resultat einer 
Zellenbildung in den Muskelfasern selbst, welche wie bei der 
Mnskelentzündung als mehr oder minder verästigte Zellen die Fasern 
durchsetzten, oder sich, wie in dem vorliegenden Falle, in Fettzellen 
umwandeln, in beiden Fällen aber die Continuität der Faser mit 
dem zunehmenden Wachsthum unterbrechen. Weiterhin konnte 
ich auch, wenn auch selten die Abspaltung der Muskelfasern, 
wie sie zuerst von Neumann**) bei der Muskelentzündung erwiesen 
und seitdem wiederholt beobachtet wurde, an den untersuchten 
Muskeln beobachten. Es sind dieselben Bildungen, welche auch 
Knoll***) bei seinen Untersuchungen pseudohypertrophischer Mus¬ 
keln fand und abbildet. Ich verweise auf Fig. 3, 4, 5 seiner Abbil¬ 
dungen. Es gelang mir auch den Beginn dieser Abspaltung der 
Muskelfasern und der bindegewebigen Durchwachsung derselben 
aufzufinden und die allmälige Theilung der Fasern durch die 
Uebergangsformen zu verfolgen. An Querschnitten sieht man zu¬ 
erst von den Muskelkörperchen einen Fortsatz gegen die Mitte 


*) Centralblatt für med. Wissenschaft Nr. 41, 1871. 

**) Ueber den Heilungsprocess nach Muskelverletzungen. Archiv für mikrosk. 
Anatomie von Max Schultze, 1868, IV. Bd. 

***) Ueber Paralysis pseudobypertrophica Med. Jabrb. 1872, 1. Heft. 

v. Lflnpcnbeck, Archiv f. Chirurgie. XVI AQ 


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612 Dr. C. Gussenb&uer, 

der Fasern hineinragen, and dadurch die Faser vom Contour des 
Sarcolemmas aus bis auf ein Drittel oder die Hälfte iu zwei Ab¬ 
theilungen getheilt. Mit der Vergrösserung einer solchen Zelle, 
oder wenn deren mehrere zur Entwickelung kamen, durch das 
Wachsthum dieser and Verschmelzung ihrer Fortsätze untereinander 
wird die Theilung der Muskelfaser eine immer vollständigere, bis 
endlich aus einer zwei oder wohl auch drei Fasern geworden sind. 
Während dieser Abspaltung hat die Faser in der contractilen 
Substanz keine merkbare Veränderung erlitten. Es ist mir klar, 
dass diese Abspaltung der Fasern in Folge der von den Muskel¬ 
körperchen ausgehenden Bindegewebsdurchwachsung und die Ver¬ 
nichtung der Muskelfasern durch die aus den Muskelkörperchen 
und deren Derivaten bervorgegangenen Fettzellen ganz analoge 
und gleichwerthige Vorgänge mit denen des Bindegewebes sind, wo 
ebenfalls aus einer Zellenneubildung des Bindegewebes einerseits 
Bindegewebsfasern, andererseits Fettzellen sich entwickeln können. 
Dass es sich hier nicht um Aufnahme von Fettkömchen in die 
Muskelfasern selbst handelt, wie sie bei der eigentlichen fettigen 
Degeneration der Muskeln vorkommt, ist wohl kaum nöthig hervor¬ 
zuheben. Der vorhergehenden Beschreibung entsprechend war so¬ 
mit das Anfangsstadium der Geschwulstbildung durch eine von den 
Blutgefässen und dem Bindegewebe ausgehende Zellenneubildung 
mit vielleicht vorhergehender oder gleichzeitiger Thrombosirung 
eines Theiles der Muskelcapillaren, kleinsten Arterien und Venen 
charakterisirt. In Fig. 3 ist einer der häufigsten Befunde abge¬ 
bildet, welcher den Charakter der Zellenneubildung und die Be¬ 
theilung der Blutgefässe veranschaulicht. In Fig. 4 sind bei 
starker Vergrösserung die Querschnitte zweier kleinster Arterien 
(vielleicht auch Venen) dargestellt, welche die Wucherung der 
Endothel- und übrigen Wandzellen ganz deutlich erkennen lassen. 
Ich erwähne hier auch noch, dass in gleicher und oft in noch viel 
grösserer Massenhaftigkeit beinahe sämmtliche Blutgefässe im Muskel¬ 
bindegewebe an der Production der Zellenneubildung Antheil hatten. 

II. Stadium der Binde- und Fettgewebsentwickelung. 

Die Gewebsveränderungen im zweiten Stadium der Geschwulst- 
bildung waren nun durch die weiteren Veränderungen dieser Zellen¬ 
neubildung einerseits und die retrograden Metamorphosen der Blut- 


N. 


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lieber eine lipomatöse Muskel- und Nervendegeneration etc. 


*613 


gefässthromben andererseits gekennzeichnet. Ans der Betrachtung 
und Vergleichung zahlreicher Präparate (meist continuirlicher Quer¬ 
schnitte) ergab sich nun ferner, dass sich aus den neugebil¬ 
deten Zellen theils faseriges Bindegewebe, theils Fett¬ 
gewebe entwickelt hatte. Die Bindegewebsentwicklung ge¬ 
schah in der Regel in der Weise, dass die Zellen in zwei ent¬ 
gegengesetzten Richtungen auswuchsen und zu mehr oder minder 
mächtigen Fasern sich umwandelten. An Blutgefässen war häufig 
zu beobachten, dass die Zellen mehr oder weniger dicht aneinander¬ 
gelagert in paralleler Richtung auswuchsen und dadurch das Ge- 
fäss (hauptsächlich Capillaren) nach vorhergehender Obliteration 
des Lumens in einen Strang von parallelfaserigem Bindegewebe 
umgewandelt wurde. Doch geschah das Auswachsen der Zellen 
häufig auch nach verschiedenen Richtungen hin, so dass schliess¬ 
lich ein Netzwerk vielfach sich kreuzender Bindegewebsfasern her¬ 
gestellt war. Soweit ich an Schnitt- und Isolirungspräparaten den 
Vorgang der Faserbildung verfolgen konnte, so war er ganz ana¬ 
log dem im Narbengewebe, wo die Zellen auch meist Spindelform 
annehmen und durch Auswachsen Fasern bilden, an denen keine 
Fibrillen erkennbar sind. Doch fand ich, wenn auch selten, Zellen, 
deren Protoplasma selbst durch Differenzirung sich zu Binde- 
gewebsfibrillen umgewandelt hatte. 

Durch die Entwickelung von faserigem Bindegewebe aus der 
Zellenneubildung entstand nun eine Verdickung des Bindegewebes, 
welches die Muskelfasern und Faserböndel umgiebt, oft in so hohem 
Grade, dass der Muskelfaserabstand viel mehr als den doppelten 
und dreifachen Durchmesser normaler Muskelfasern betrug. Die 
grössere Dichtigkeit solcher Muskelstücke und die grössere Co- 
haerenz ihrer Fasern war eben von dieser Bindegewebsverdickung 
des Perimysium internum abhängig. Die Dichtigkeit sowohl als 
die vermehrte Cohäerenz der Muskelfasern war gegenüber den 
normalen Muskeln um so auffallender, als in diesen die bedeutende 
Fetteinlagerung im Perimysium internum die Isolirung der Muskel¬ 
fasern begünstigte. Diejenigen Muskelabschnitte, in welchen die 
Umwandlung der Zellen zu faserigem Bindegewebe zu Stande ge¬ 
kommen war, hatten gleiche Structnr mit Fibrosarcomen oder ent¬ 
zündlichen Bindegewebsverdickungen. Zellen und Faserzahl ver¬ 
hielten sich immer umgekehrt proportional. In diesem neugebil- 

40* 


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614 ' 


Dr. C. Gussenbauer, 


deten, meist fibrillären, häufig aber auch aus mächtigeren Fasern 
und Faserbfindeln bestehenden Bindegewebe war sehr häufig mit¬ 
unter sehr massenhafte Haematoidinbildung zu beobachten, welche 
dem Gewebe dann mehr den Charakter einer entzündlichen Binde- 
gewebsneubildnng verlieh. Mit der Bindegewebsentwickelung ein¬ 
hergehend oder ohne dieselbe war aber auch eine Metamorphose 
der neugebildeten Zellen zu Fettzellen zu beobachten. Die Zellen 
enthielten dann ausser den feinen Körnchen im Protoplasma auch 
noch kleinste Fetttröpfchen, welche sich Anfangs nur durch einen 
stärkeren Glanz zu erkennen gaben und erst mit ihrer Vergrös- 
serung oder Verschmelzung in einander sich als deutliche Fett¬ 
anhäufungen in den Zellen erwiesen. Es fanden sich alle jene 
Formen, die bei der Fettmetamorphose des Bindegewebes zu be¬ 
obachten sind. Meist die Zellen um die Blutgefässe herum zuerst, 
oder die in ihren Wandungen und in ihrem Lumen neugebildeten 
selbst wurden zu Fettzellen, wie dieses auch Flemming in seiner 
bekannten Arbeit*) angiebt. 

Anfänglich hatten die kleinen runden fetthaltigen Zellen noch 
Kerne oder Protoplasmareste aufzuweisen, mit ihrer Vergrösserung 
aber war an ihnen eine Structur nicht mehr wahrzunehmen; das 
Fett erfüllte gleichmässig die ganze Zelle. Häufig fanden sich Fett¬ 
zellen mit einer gelblich-röthlichen Färbung. Auch gelblich-röth- 
liches freies Fett in meist kleinen, zu Gruppen vereinigten Kugeln 
war im Bindegewebe vorhanden. Die Grösse der Fettzellen vari- 
irte zwischen der der neugebildeten Zellen mit den grössten hy¬ 
pertrophischen mit deutlichen Membranen versehenen Fettzellen, 
im Allgemeinen waren sie um so kleiner, je mehr sie noch das An¬ 
sehen neugebildeter Zellen hatten, und noch keine deutlichen Zellen¬ 
membranen vorhanden waren. Die oben beschriebenen Verän¬ 
derungen der thrombosirten Blutgefässe, die retrograden Metamor¬ 
phosen des Gefässinhaltes, waren auch noch mit der Binde- und 
Fettgewebsentwickelung, wenn auch nicht mehr in so hohem Grade, 
zu beobachten. Die Muskelfasern selbst verhielten sich auch im 
Stadium der Binde- und Fettgewebsentwickelung im Grossen und 
Ganzen passiv. Nur das Auseinanderweichen der Fasern und 


•) üeber Bildung und Rückbildung der Fettzelle im Bindegewebe. Archiv 
von H. Schultze VII. S. 32 und 328. 

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Ueber eine lipomatöse Muskel- und Nervendegeneration etc. 615 


die Druckatrophie derselben nahm gegenüber der im I. Stadium 
beobachteten noch mehr zu und in Folge dessen die Zahl der 
Muskelfasern ab. 

In Fig. 1, Taf. XVI. ist ein Muskelquerschnitt abgebildet, an 
welchem der Beginn der Binde und Fettgewebsentwickelung im 
Perimysium internum deutlich zu verfolgen ist. Einzelne Partien 
sind schon in ein stark von Fettzellen durchwachsenes Binde¬ 
gewebe verwandelt (bei a). In Fig. 2, Taf. XVI. ist bei etwas 
stärkerer Vergrösserung aus demselben Abschnitte ein weiter vor¬ 
gerückteres Stadium abgebildet, in welchem das Fettgewebe zum 
Theil das verdickte Bindegewebe schon überwiegt. Von der 
Zellenneubildung ist bei der relativ schwachen Vergrösserung nur 
in der Umgebung der verdickten Blutgefässe etwas wahrzunehmen, 
während die Bindegewebszüge im Fettgewebe schon zellenarm 
sind. Mit starken Vergrösserungen sind im Präparate noch allent¬ 
halben Zellen zu linden, welche die verschiedenen Phasen der Fett¬ 
zellen erkennen lassen. 

III. Stadium der diffusen Fettgewebsentwickelung. 

Als drittes und zugleich als Endstadium des Processes der 
Geschwulstbildung endlich kann angesehen werden die vollständige 
Umwandlung der Zellenneubildung in ein Fettgewebe, in welchem 
auch keine Muskelfasern mehr vorhanden waren. Während im 
Beginne der Fettentwickelung im II. Stadium, wie sich dies an 
Längsschnitten sehr anschaulich darstellen liess, die Muskelfasern 
durch die Fettzellen einfach auseinandergedrängt wurden und mit 
der Vermehrung derselben zu ganz schmalen, oft kaum T ' T Durch¬ 
messer der normalen betragenden Fasern durch Druck verschmä¬ 
lert waren, fand sich in den zu vollkommenem Fettgewebe um¬ 
gewandelten Muskelabschnitten auch nicht mehr eine Spur von 
Muskelfasern. Das Bindegewebe hatte an solchen zu Fettgewebe 
metamorphosirten Muskelbäuchen im Allgemeinen zwar noch die 
Verlaufsrichtung der vernichteten Muskelfasern beibehalten, doch 
war an vielen Partien auch dies nicht mehr der Fall. Es kam 
dadurch ein Fettgewebe zu Stande, welches, überwiegend aus 
grossen Fettzellen bestehend, nur spärlich Biudegewebe und Blut¬ 
gefässe führte. Von den neugebildeten oft mächtigen Bindegewebs- 
strängen, wie sie im Stadium der Binde- und Fettgewebsent- 


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616 


Dr. C. Gusscnbaucr, 


Wickelung häufig zu beobachten waren, fanden sich nur selten 
noch Ueberreste. Die Bindegewebsbündel, welche bald aus wellig 
angeordneten Fibrillen, bald aus breiteren, anscheinend homogenen 
bandartigen Fasern zusammengesetzt waren, hatten gleich den 
Muskelfasern durch den Druck der Fettzellen an Volumen abge¬ 
nommen; sie waren atrophisch oder vollständig zum Schwund ge¬ 
bracht worden. Die Ueberreste derselben führten dann wohl auch 
noch Haematoidin oder körniges braunes Pigment theils in den 
Spalträumen der Bündel und Fasern, theils in noch vorhandenen 
Zellen. Die spärlichen Blutgefässe des Fettgewebes, der über¬ 
wiegenden Mehrzahl nach Capillaren, hatten sehr zarte Wandungen, 
in denen in der Regel nur an den Knotenpunkten Kerne zu sehen 
waren. Ein anderer Unterschied dieses 3. Stadiums der Ge¬ 
schwulstbildung liegt darin, dass das Wachsthum des vollendeten 
Fettgewebes nur mehr durch Vergrösserung, Hypertrophie der 
Fettzellen, stattfinden konnte, während mit dem Beginne der 
Fettgewebsentwickelung auch noch eine Zellenneubildung einher¬ 
ging, welche, wenn sie auch nicht ausschliesslich wie im I. Sta¬ 
dium der Geschwulstbildung die Volumszunahme bedingte, immer¬ 
hin ein doppeltes Wachsthum der Geschwulst ermöglichte. Dem¬ 
gemäss charakterisiren sich diese 3 Stadien der Geschwulst auch 
durch das verschiedene Wachsthum sehr wohl von einander. Im 
I. Stadium war die Geschwulstbildnng ausschliesslich durch die 
Zellenneubildung zu Stande gebracht, während im zweiten ein 
doppeltes Wachsthum der Geschwulst, durch Zellenneubildung 
einerseits, durch Binde- und Fettgewebsentwickelung andererseits 
zu beobachten war, im 3. Stadium hingegen das Wachsthum nur 
mehr durch Hypertrophie der bereits gebildeten Fettzellen ge¬ 
schah, und gleichen Schrittes die Atrophie der Muskelfasern zur 
vollständigen Vernichtung derselben führte. Um Missverständ¬ 
nissen vorzubeugen, sei hier ausdrücklich bemerkt, dass die be¬ 
schriebenen Veränderungen in den Muskeln bei der Darstellung 
nur insofern von einander getrennt und als dreien verschiedenen 
Entwickelungsphasen eines continuirlichen Processes angehörig 
hingestellt wurden, als die zeitliche Aufeinanderfolge ganz sicher¬ 
lich die angegebene ist, nämlich zuerst Zellenneubildung, dann 
Binde- und Fettgewebsentwickelung und endlich vollkommenes 
Fettgewebe. Räumlich hingegen war, wie dies schon oben kurz 



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Ueber eine lipom&töse Muskel- und Nervendegeneration etc. 617 


angedeutet wurde, die Abgrenzung der verschiedenen Stadien 
keine so scharfe, dass nicht stellenweise in manchen Muskelab¬ 
schnitten neben der Zellenneubildung auch Binde- und Fettgewebs- 
entwicklung und vollendetes Fettgewebe nebeneinander gewesen 
wäre. 

Die zahlreichen Beobachtungen der verschiedenen Ent¬ 
wickelungsstadien neben einander mit den allmäligen Uebergängen 
der Zellenneubildung in Binde- und Fettgewebe gaben vielmehr 
die Anhaltspuncte, um die zeitliche Aufeinanderfolge derselben zu 
erschlossen. Für die Betrachtung der Geschwulst als Ganzes 
aber sind die angegebenen Resultate der mikroskopischen Unter¬ 
suchung sehr beachtenswert!}, weil die Entwickelung des die 
Muskelbäuche diffus durchsetzenden und die Muskelfasern selbst 
vernichtenden Fettgewebes zurückgeführt wurde auf eine Zellen¬ 
neubildung, welche selbst wieder als erste Veränderung der Mus¬ 
keln nachgewiesen werden konnte. 

Ich werde weiterhin Gelegenheit nehmen, die Untersuchungs¬ 
resultate dieser klinisch wie anatomisch gleich merkwürdigen Ge¬ 
schwulst für die Lehre von den Geschwülsten in Kurzem zu ver- 
werthen, vorerst aber die gefundenen Veränderungen am Nerven 
mittheilen. 


Veränderungen im Nervus ischiadicus. 

Bei der Präparation des Nervus ischiadicus fiel zunächst auf, 
dass er in einer Strecke von 4 Zoll mit der umgebenden Fett¬ 
masse innig verwachsen und nur an einigen Stellen noch durch 
eine grösstentheils in Fettgewebe umgewandelte Bindegewebshülle 
von der Fettmasse abgegrenzt war. Am Querschnitt betrachtet, 
waT zuerst der weite Abstand der Nervenstämme und Nerven¬ 
bündel auffällig, welcher durch die Einlagerung von Fettgewebe 
zwischen die Nervenstämme und Nervenbündel bedingt war. Da 
indessen auch am Nervus ischiadicus dexter entsprechend der 
Fettmetamorphose des Bindegewebes im ganzen Körper, in seiner 
Bindegewebshülle und den von derselben ausgehenden Fortsetzungen, 
welche die Stämme, Faserbündel und Fasern umgeben, eine nicht 
ganz gewöhnliche Fetteinlagerung zu beobachten war, so konnte 
diese Fettgewebsentwickelung im Nervus ischiadicus sinister, ob¬ 
wohl sie sein Volumen in diesem Abschnitte auf mehr als das 


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618 


Dr. C. Gussenbauer, 


Doppelte spindelförmig anschwellte, dennoch nnr als eine ganz 
besonders excessive angesehen werden, wie dies auch bei Vor¬ 
nahme der Obduction geschah, und deshalb nicht beachtet wurde. 
Bei der genaueren Untersuchung zeigte es sich sehr bald, dass 
auch im Nerven keine einfache Fettgewebsmetamorphose des Binde¬ 
gewebes stattgefunden habe, sondern ein Vorgang, der in seinem 
Wesen dem an den Muskeln beschriebenen ganz gleich war, dessen 
Eigentümlichkeiten für den Nerven nun kurz erörtert werden sollen. 
Die Vergleichung der Nervenquerschnitte (Nerv. isch. dx. u. sin.) 
mit der Loupe betrachtet lehrte, dass (abgesehen von der Fett¬ 
gewebsmetamorphose) im Bindegewebe des linken Nervus ischia- 
dicus über den ganzen Querschnitt vertheilt, Blutklümpchen vor¬ 
handen waren, welche bald punktförmig, mit der Loupe eben wahr¬ 
nehmbar, bald erhebliche, auch schon mit freiem Auge sichtbare 
verschieden gestaltete, solchen in thrombosirten Gefässen oder den 
Extravasaten ähnliche Blutanhäufongen bildeten. Es war mit der 
Loupe nicht zu entscheiden, ob man es mit Extravasaten oder 
Blutgefässthromben zu thuu habe. 

Zur Veranschaulichung der Unterschiede sind in Fig. 7 der 
Tafeln die Querschnitte der Nervi ischiadici (a dextr., b sin.) bei 
Loupenvergrösserung abgebildet. Die Untersuchung mit dem Mi¬ 
kroskope wies indessen bald nach, dass diese Blutaohäufungen auf 
verschiedene Weise zu Stande gekommen seien. Die grössten 
Blutgefässe, Arterien und Venen, welche am Querschnitte als Ge- 
webslücken auch schon mit freiem Auge zu sehen waren, hatten 
mit wenigen Ausnahmen kein Blut in ihrem Lumen. Die kleinsten 
Arterien und Venen aber und die Capillargefässe waren in diesen 
Abschnitten des Nerven mehr oder weniger dicht mit Blut erfüllt. 
Die Capillaren und Venen waren erweitert, oft in sehr erheblichem 
Grade. Die umfangreicheren Blutanhäufungen aber gehörten theils 
ganz enorm ausgedehnten Venen an, theils aber einem System 
von Hohlräumen, welches von einem Netz von Bindegewebsbalken 
begrenzt ganz das Aussehen eines cavemösen Gewebes hatte. 
Diese Blutanhäufungen waren in jedem Querschnitte des Ischiadi- 
cus innerhalb einer Strecke von zwei Zoll entsprechend der 
spindelförmigen Anschwellung wahrzunehmen. Ueber diese Strecke 
hinaus central und peripher, waren nur ganz vereinzelt solche 
Blutansammlungen zu finden. Ueber jene 4 Zoll seines Verlaufes, 


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Ueber eine lipomatöse Muskel- uud Nerteudegeneration etc. 619 

in welchen der Ischiadicns mit der Fettmasse verwachsen war, 
hinaus war der Nerv central und peripher vom normalen Baue 
nicht mehr abweichend. Es beziehen sich demnach alle folgenden 
Beschreibungen nur auf Praeparate aus dem erwähnten Nerven¬ 
abschnitte. 

Betrachtet man nun zunächst an Nervenquerschnitten als die 
am meisten auffallende Erscheinung die Blutanhäufungen, so zeigt 
sich, dass das Blut, welches die Gefässe erfüllt, .von sehr ver¬ 
schiedener Beschaffenheit ist. Bald hat es das Aussehen wie in 
frischen Thromben. Die dichtgedrängten rothen Blutkörperchen 
haben keine anderen Veränderungen erlitten, als diejenigen sind, 
welche die Müllersche Flüssigkeit gewöhnlich zu bewirken pflegt. 
Die Untersuchung vieler Praeparate belehrte aber, dass nicht nur 
frische und diesen ähnliche Blutgefässthromben, sondern auch 
solche in Rückbildung begriffene häufig aufzufinden waren. Es 
war dadurch die Annahme, als seien diese Thromben sämmtlich 
post mortem entstandene, ausgeschlossen. Weiterhin ergab die 
Untersuchung, dass auch im Nervenbindegewebe die retrograde 
Umwandlung der Thromben an denjenigen Blutgefässen am wei¬ 
testen fortgeschritten war, an welchen die Proliferation der Wand¬ 
elemente am erheblichsten war. Die Proliferation der Ge- 
fässwandzellen war auch im Nervenbindegewebe eine ganz 
eminente und betraf bald mehr das Endothel kleinster Arterien 
und Venen, bald die Muskel- und Adventitialzellen derselben oder 
die der erweiterten Capillaren. Nebst der Zellenneubildung aus 
den Blutgefässwandzellen war aber auch eine Proliferation der 
Zellen des Nervenbindegewebes selbst in grosser Ausdehnung und 
Massenhaftigkeit vorhanden. In den mächtigen Bindegewebssträngen 
sowohl, welche von der gemeinschaftlichen Hülle des Nervus 
ischiadicus abgehen und die einzelnen Nervenbündel und Nerven 
umgeben, als in den letzten die einzelnen Nervenfasern einhüllenden 
Abzweigungen desselben war eine Zellenneubildung von derselben 
Beschaffenheit wie in den Muskeln vorhanden, und zwar bis in 
die kleinsten Details so gleich, dass der einzige Unterschied in 
den beobachteten Bildern nur in der Ab- und Anwesenheit von 
Nerven und Muskelfasern bestand. 

In Figur 8 der Tafeln ist aus einem Nervenquerschnitte ein 
häufiger Befand abgebildet. Um ein in seinen Wandelementen 


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Dr. C. Gussenbauer, 


proliferirendes Gefäss ist eine Zellennenbildang vorhanden, welche 
das Bindegewebe theils verdrängte, theils vernichtete. Das Ge- 
fäss selbst nahezu vollständig dnrch die Zellennenbildang obturirt 
Einige der Zellen kennzeichnen sich bereits als Fettzellen. Mehr¬ 
mals fand ich in Blutgefässen selbst Fettzellen, welche sich allem 
Anscheine nach aus den neugedildeten Zellen der Endothelien ge¬ 
bildet hatten, z. B. in Fig. 8 bei b. 

Auf das Stadium der Zellenneubildung folgte auch im Nerven 
Binde- und Fettgewebsentwickelung in ganz gleicher Weise wie 
im Muskel. Ausserdem war im Nerven eine Blntgefässneubildnng 
vorhanden, welche wegen der oft ausserordentlichen Zahl von Ge- 
fässquerschnitten in den Nervenpraeparaten sich viel bemerkbarer 
machte, als in denen der Muskeln, in welchen sie nur eine mehr 
untergeordnete Erscheinung war. 

Die Blutgefässneubildung in Verbindung mit der oft sehr be¬ 
trächtlichen Ectasie alter und neugebildeter Blutgefässe charak- 
terisirte im Nerven ausser der Binde- und Fettgewebsentwicklung 
ganz besonders das zweite Stadium der Geschwulstbildung im 
Nerven. Die Ektasie der Blutgefässe war namentlich an Venen 
oft eine so beträchtliche, dass ihre Wandungen zum Theil voll¬ 
ständig zum Schwund gebracht und die übriggebliebenen Reste 
derselben mit dem Zwischenbindegewebe zu einem Mascheuwerk 
aus mehr oder minder dicken Balken verwachsen waren und auf 
diese Weise ein System von bluterfüllten Lücken begrenzten, 
welches ganz dem eines cavernösen Gewebes entsprach. 

Die Bindegewebsbalken des Maschenwerkes führten Blutge¬ 
fässe. Die bluterfüllten Lücken waren meist mit einem aus spin¬ 
delförmigen Zellen bestehenden Endothel ausgekleidet. Ausserdem 
aber konnte nicht so sehr selten die Communication dieser blut¬ 
erfüllten Hohlräume mit Venen nachgewiesen werden, welche zwar 
in ihren Wandungen in Folge der Ektasie verdünnt aber doch 
noch als solche erkennbar waren. Das Blut in diesem caver¬ 
nösen Gewebe war in der Regel so wie in frischen Thromben 
beschaffen. Die meisten Blutanhäufungen, welche in der mit 
Hülfe der Loupe angefertigten Zeichnung als dunkle Punkte an¬ 
gedeutet sind, gehörten diesem cavernösen Gewebe im Nerven- 
bindegewebe an. Wie schon aus der Zeichnung ersichtlich, ist 
dasselbe über den ganzen Nervenquerschnitt ausgebreitet. In einer 


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Ueber eine lipomatöse Muskel- und Nervendegeneration etc. 621 


Länge von zwei Zoll waren die continuirlichen Nervenquerschnitte 
von gleichem Aussehen. Die Untersuchung ergab ferner, dass 
dieses cavernöse Gewebe sich nicht nur im Bindegewebe um die 
Nerven herum, sondern auch innerhalb der Nerven selbst ent¬ 
wickelt habe. Die Bedeutung desselben war dann begreiflicher 
Weise eine sehr verschiedene. Im ersteren Falle entwickelte sich 
das cavernöse Gewebe mehr auf Kosten von Bindegewebe, wel¬ 
ches dadurch rareficirt wurde, im letzteren Falle' aber auf Kosten 
der Nervenfasern, welche mit der Ausbreitung des cavernösen 
Gewebes innerhalb seiner Bindegewebshülle theils direct durch 
Druck, theils /indirect durch die vorausgehende und begleitende 
Zellenneubildung verdrängt, zur Atrophie und zum Schwund ge¬ 
bracht wurden. Dies lehrte nicht nur die aufmerksame Beob¬ 
achtung vieler Nervenquerschnitte, an denen die Nervenfaser¬ 
atrophie bis zum vollständigen Schwund deutlich zu verfolgen 
war, sondern wurde auch durch Zählungen der Nervenfasern in 
verschiedenen continuirlichen Nervenquerschnitten ausser allen 
Zweifel gestellt. 

In den Fig. 10 und 11 der Tafeln sind Abbildungen dieses 
cavernösen Gewebes gegeben. In Fig. 10 breitet sich zwischen 
zweien Nerven im Bindegewebe ein theilweise noch mit Blut er¬ 
fülltes Maschenwerk, dessen bindegewebige Balken zum Theil 
Gefässe führend stellenweise noch mehr das Stadium der Zellen¬ 
neubildung, stellenweise aber auch Binde- und Fettgewebsent- 
wickelung erkennen lässt. In Fig. 11 ist die Entwickelung des 
cavernösen Gewebes innerhalb eines Nerven abgebildet, dessen 
Fasern in der Mitte theils durch Zellenneubildung, theils durch 
Bindegewebsverdickung, hauptsächlich aber durch das in Ent¬ 
wickelung begriffene cavernöse Gewebe vernichtet wurde. Die 
Betrachtung dieses abgebildeten und ganz ähnlicher Nervenquer¬ 
schnitte mit starken Vergrösserungen liess bis in die feinsten 
Details die Faseratrophie und deren gänzlichen Schwund durch 
Beobachtung der Uebergangsformen ganz genau verfolgen. Die 
Entwickelung dieses cavernösen Gewebes sowie die von Binde- 
und Fettgewebe war aber nicht überall eine gleich bedeutende. 
Bald war das cavernöse Gewebe, bald mehr das Bindegewebe 
entwickelt, bald anch wieder das Fettgewebe. Je nachdem eines 


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Dr. C. Gussenbauer, 


dieser Gewebe mehr entwickelt war als die anderen, war ancb 
der Charakter in den Bildern ein verschiedener. 

In Fig. 12 der Tafeln ist der Querschnitt eines Nerven ab¬ 
gebildet, in dessen Mitte ein an Blutgefässen reiches Bindegewebe 
nebst der stellenweise noch erhaltenen Zellenneubildung die Ner¬ 
venfasern zur Atrophie und zum Schwund gebracht hat, während 
auch von der Peripherie von der Bindegewebshülle aus durch 
innigere Verwachsung derselben, mit dem die einzelnen Nerven¬ 
fasern einhüllenden Bindegewebe eine Verdrängung und theilweise 
Vernichtung stattfand. In Fig. 9 ist dieselbe Verdickung des 
Nervenbindegewebes an einem anderen Nervenquerschnitt mehr 
von der Peripherie wahrzunehmen. 

Demnach waren die Befunde bald einem Lipoma cavernosum, 
bald einem Fibroma cavernosum, bald aber nur einem einfachen 
Fibrom oder Sarcom entsprechend, wenn auch im Grossen und 
Ganzen das neugebildete Binde- und Fettgewebe den meisten 
Antheil an der spindelförmigen Nervenanschwellung hatten. 

Die Detailuntersuchung über die Atrophie der Nervenfasern 
an Längs-, Querschnitten und Isolirungspräparaten lehrte über¬ 
einstimmend, dass mit der Verdickung der Bindegewebshüllen der 
Nervenfasern, welche Anfangs durch Proliferation der die Nerven¬ 
fasern umspinnenden Blutgefässcapillaren und der Bindegewebs¬ 
zellen, weiterhin durch Faserbildung aus der Zellenneubildung 
bewirkt wurde, zwar eine Veränderung der Nervenfasern eintrat, 
aber keine solche, welche als ein activer Vorgang aufzufassen 
wäre, sondern rein passiv. 

Die Schwann’sche Scheide liess keine Kernwucherung wahr¬ 
nehmen, ihr Contour war an den meisten Fasern wohl erhalten. 
Auch der Axencylinder war vollkommen deutlich an den Nerven¬ 
fasern zu erkennen, nur das Mark war an den von verdicktem 
Bindegewebe umgebenen Fasern verändert. Bald hatte das Mark 
einfach an Masse abgenommen und dann umschloss die noch er¬ 
haltene Schwann’sche Scheide in den meisten beobachteten Formen 
einen anscheinend noch normalen Axencylinder. 

Die Verschmälerung solcher Nervenfasern war dann einfach 
durch den Schwund des Markes bedingt. Bald war aber das 
Mark in eine mehr oder weniger fein gekörnte mattglänzende 
Substanz verwandelt, welche innerhalb der noch erhaltenen 


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Ueber eine lipomatöse Muskel- und Nervendegeneration etc. 623 


Schwann’schen Scheide verschmälerte stellenweise in der Conti- 
nnität unterbrochene Axencylinder einschloss und dann war die 
Verschmälerung der Fasern nicht nur auf Kosten des Markes, 
sondern auch der Axencylinder geschehen. 

In Fig. 13 der Tafeln sind die gewöhnlichsten Befunde ab¬ 
gebildet. Nach vollständigem Schwund des Markes, Axencylinders 
und der Schwann’schen Scheiden war statt der Nervenfaser nun¬ 
mehr ein Bindegewebsstrang vorhanden. Auf diese Weise wurden 
ganze Nerven in bestimmten Verlaufsstrecken in einem grossen 
Theile ihrer Fasern in Bindegewebe verwandelt, während nur ein 
kleiner Theil der Nervenfasern noch erhalten war. Ausser den 
angegebenen Veränderungen war im Nervus ischiadicus auch Bil¬ 
dung von Haematoidin und braunem körnigen Pigment, wenn 
auch nicht in so grosser Menge wie im Muskel zu beobachten. 
Die Fettgewebsentwickelung im Nerven war zwar nirgends so 
hochgradig, dass alle Nervenbündel im Ischiadicus in irgend einer 
Schnittebene der untersuchten 4 Zoll langen Strecke vernichtet 
gewesen wären, aber immerhin so bedeutend, dass in einzelnen 
Schnittebenen ein Theil der Bindegewebshüllen der Nerven und 
Fasern derselben in Fettgewebe umgewandelt war. Dadurch war 
mancher Querschnitt des Ischiadicus so gestaltet, dass innerhalb 
der zu Fettgewebe umgewandelten Hülle nur wenige an Zahl der 
Fasern rareficirte Nerven in der Peripherie gruppirt waren, wäh¬ 
rend in der Mitte ausser Spuren von Nervenfasern nur Fett, 
Binde- und cavemöses Gewebe anzutreffen war. 

Es fanden sich somit am Nerven ausser der genetisch und 
morphologisch mit der an den Muskeln beobachteten ganz glei¬ 
chen Zellenneubildung, der aus dieser hervorgehenden Binde- und 
Fettgewebsentwickelung auch noch eine Blutgefässneubildung, 
welche in Verbindung mit der Ektasie alter und neugebildeter 
Blutgefässe weiterhin zur Entwickelung eines cavernösen Gewe¬ 
bes führte. 


Ueberblickt man nun die Ergebnisse der Untersuchung des 
Nerven und der Muskeln, so ergiebt sich in Kurzem folgendes: 
Die Volumenzunahme der Muskeln und des Nerven in den er¬ 
krankten Abschnitten war durch Binde- und vorwiegend durch 
Fettgewebe bedingt, welches an Masse so weit zugenommen hatte, 

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Pr. C. Gussenbauer, 


dass es die Muskel- und Nervenfasern durch Druck vollständig 
(in vielen untersuchten Stücken) oder nahezu (in sämmtlichen 
Muskeln und Nervenabschnitten) zum Schwund oder Atrophie 
brachte, weshalb die Zahl der Muskel- und Nervenfasern absolut 
und relativ (gegenüber den normalen Vergleichsobjecten) ver¬ 
mindert war. 

Die Entwickelung des Binde- und Fettgewebes wurde auf 
eine Zellenneubildung im Muskel- und Nervenbindegewebe zurück¬ 
geführt, welche durch Proliferation der Bindegewebskörper, der 
6efä8swandzellen, nicht aber der Muskelkörperchen oder der 
Kerne der Schwann’schen Scheiden entstanden war. Die Zellen¬ 
neubildung war begleitet von der Erscheinung der Blutgefass- 
thrombose, welche in den Muskeln und im Nerven über 
ausgedehnte Bezirke stattgefunden hatte, immer mit der 
Zellenneubildung, häufig auch schon vor derselben wahrzu¬ 
nehmen war, mit der massenhaften Zellenvermehrung aber die 
retrograden Veränderungen der Thromben erkennen Hess. Mikro¬ 
skopische Extravasate, deren Rückbildung, Hämatoidinbildung 
und Ansammlung von braunem körnigem Pigment, waren Erschei¬ 
nungen, welche mit der Zellenneubildung, häufiger aber mit der 
Entwicklung des Binde- und Fettgewebes oft über ausgedehnte 
Abschnitte zu beobachten waren. Endlich muss die Blutgefäss¬ 
neubildung in den Muskeln und Nerven und in den letzteren auch 
noch die Entwickelung cavernösen Gewebes zu denjenigen Vor¬ 
gängen gezählt werden, welche die Geschwulst bildeten und ihren 
Character bestimmen. — Diese, die Structur und Entwicklung der 
Geschwulst in den Muskeln und im Nerven in befriedigender 
Weise aufklärenden Ergebnisse der mikroskopischen Untersuchung 
beanspruchen aber auch noch eine aufmerksamere Betrachtung, 
um zunächst die Stellung der untersuchten Geschwulst in dem 
nach den bisherigen Kenntnissen aufgestellten Schema der Ge¬ 
schwulstbildungen zu bestimmen und eine den gefundenen Merk¬ 
malen entsprechende Bezeichnung zu wählen, andererseits aber, 
um die Befunde der Untersuchung für die üblichen Anschauungen 
über Geschwulstbildung im Allgemeinen kritisch zu verwerthen. 

Aus den Beschreibungen der mannichfachen Veränderungen in 
den Muskeln und im Nerven geht wohl schon zur Genüge her¬ 
vor, dass der Process in den Muskeln mit einer einfachen Lipo- 


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Ueber eine lipomatöse Muskel- und Nervendegeneration etc. 625 


masie derselben, keine Identification zulässt, wenn auch das End- 
product des Processes, Fettgewebe, und die von demselben be¬ 
wirkte Druckatrophie der Muskelfasern makroskopisch ganz gleiche 
Beschaffenheit erzeugten, so dass der Anblick der veränderten 
Muskeln zwar eine Fettgewebsentwicklung zwischen den Muskel¬ 
fasern lehrte, aber nichts über die Art und Weise der Entwicklung. 

Die an den meisten Muskelabschnitten ganz regelmässige Ein¬ 
lagerung von Fettzellen, sowie der Umstand, dass selbst an weiter 
erkrankten Muskeln die Einlagerung der Fettzellen im Perimysium 
internum den parallelen Verlauf der Muskelfasern für das freie 
Auge nicht aufgehoben hatte, konnten das Urtheil begründen, dass 
es sich im vorliegenden Falle um eine Volumszunahme der Mus¬ 
keln durch Fettmetamorphose des Muskelbindegewebes handle, 
welche anatomisch das Wesen jener Erkrankung ausmacht, die 
unter dem Namen Pseudohypertrophie der Muskeln verstanden 
wird. Nicht nur für die Untersuchung mit freiem Auge, sondern 
auch bei der mikroskopischen Untersuchung jener Muskelabschnitte 
mit eminenter Fettgewebsentwicklung, w’ar ein Unterschied zwischen 
den Veränderungen bei der Pseudohypertrophie und den im vor¬ 
liegenden Falle vorhandenen in vielen Bildern gar nicht wahrzu¬ 
nehmen, wie aus der in Fig. 2, Taf. XVI. gegebenen Abbildung 
aus dem Stadium der Binde- und Fettgewebsentwicklung zu er¬ 
sehen ist. 

Die Resultate der mikroskopischen Untersuchung pseudohyper¬ 
trophischer Muskeln, wie sie zuerst von Billroth*) bekannt ge¬ 
macht und in der Folge in gleicherweise von mehreren Forschern 
bestätigt wmrden, lassen sich ganz gut auf das Endstadium des 
beschriebenen Processes, theilw^eise auch mit dem der beginnen¬ 
den Fettgewebsentwicklung vergleichen. Eine Vergleichung der 
von Billroth gegebenen Abbildungen aus pseudohypertrophischen 
Muskeln mit der in Fig. 2 dargestellten beweist dies zur 
Genüge. 

Die Untersuchung pseudohypertrophischer Muskeln (ich meine 
hier diejenigen Fälle, bei denen nach den bisherigen Beobachtungen 
stets mehrere Muskeln an verschiedenen Körperregionen erkrank¬ 
ten) hat in neuerer Zeit den Beweis geliefert, dass der Fettge- 


*) Archiv für Heilkunde VI. S. 7. 


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Dr. C. Gussenbauer, 


websentwicklung in den Muskeln Bindegewebsentwicklnng in den 
früheren Stadien der Erkrankung vorausgehe, was auch schon 
Billroth nach seinen Untersuchungen des von Griesinger be¬ 
obachteten Falles vermutbete. 

Kn oll*) zeigte durch die Untersuchung excidirter pseudo¬ 
hypertrophischer Muskeln, dass die Volumszunahme der Muskeln 
nicht ausschliesslich durch Fett- sondern auch Bindegewebe be¬ 
dingt war. In gleicher Weise wies die mikroskopische Unter¬ 
suchung in dem von Rakowac**) veröffentlichten Falle Wuche¬ 
rung des interfibrillären Bindegewebes nach, welches in manchen 
Gesichtsfeldern der Präparate beinahe ausschliesslich die Volums- 
Zunahme verursachte. Aehnliche Beobachtungen werden auch von 
Rüssel***), Charcotf), Cohnheim ff) und Anderen ange¬ 
geben, welche bei manchen Differenzen in Einzelheiten dennoch 
die der Fettgewebsbildung vorausgehende oder sie begleitende 
Wucherung des interfibrillären Bindegewebes constatiren. Einige, 
und unter diesen besonders C har cot und Kn oll beobachteten 
in dem verdickten Bindegewebe auch einen grossen Reichthum an 
Kernen und Zellen. — Es wäre überflüssig, hier auf die diesbe¬ 
zügliche Literatur genauer einzugehen, da in den erwähnten Ar¬ 
beiten und ganz besonders in der erst vor ganz kurzer Zeit er¬ 
schienenen umfangreichen und ausführlichen Arbeit von Fried- 
reich fff) nicht nur die über Pseudohypertrophie angewachsene 
Literatur vollständig und eingehend berücksichtigt wird, sondern 
auch das Wesen der Erkrankung klinisch, anatomisch und im 
Vergleich mit den verwandten Erkrankungen der willkürlichen 
Muskeln, der progressiven Muskelatrophie und der wahren Muskel- 
hypertrophie in kritisch erschöpfender Weise abgehandelt wird. 
— Soviel geht aus der Vergleichung der oben mitgetheilten Be¬ 
funde mit den an pseudohypertrophischen Muskeln von den ver¬ 
schiedenen Beobachtern gewonnenen mit Sicherheit hervor, dass 


*; l. c. 

**) Wiener med. Wochenschrift 1872. Nr. 12. 

***) Med. Times and Gaz. 1869. May. 
f) Arch. de Physiol. 1872. Nr. 2. p. 228. 
ff) Verhandlungen der Berliner med. Gesellschaft. 2. Heft. 1866. S. 11 
fff) Ueber progressive Muskelatrophie, über wahre und falsche Muskelbyper- 
trophie von Dr. N. Friedreich. Berlin 1873. Hirschwald. 


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Ueber eine lipomatöse Muskel- und Nerveudegeneration etc. 


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bei aller Aehnliclikeit der Erscheinungen, der Binde- und Fett- 
gewebsentwicklung im Muskelbindegewebe, dennoch sehr erhebliche 
anatomische Differenzen zwischen dem vorliegenden Falle und der 
sogenannten Pseudobypertrophie der Muskeln bestehen. 

Es ist dem Gesagten zufolge sowohl eine sogenannte Pseudo¬ 
hypertrophie als ein gewöhnliches diffuses Lipom auszuschliessen. 
Soll der beschriebene Process der Geschwulstbildung einer der 
allgemein angenommenen Bezeichnungen untergeordnet werden, so 
kann hier nur zweierlei in Frage kommen. Entweder der Pro¬ 
cess ist ein chronischer Entzundungsprocess, seine Producte sind 
Entzündungsproducte, oder der Process ist eine Geschwulstbildung 
im engeren Sinne des Wortes, wobei zu bemerken, dass die Be¬ 
zeichnung diffuses Lipom bereits ausgeschlossen wurde. Die (mikro¬ 
skopischen) Gefässthrombosen, Proliferation der Gefässwand und 
Bindegewebszellen, eine Zellenneubildung von dem beschriebenen 
Charakter sowie die consecutiven Veränderungen der Bindegewebs- 
böndel, ihre Atrophie und Umwandlung' in körnige, Protoplasma- 
ähnliche Massen, die Ruckbildung der Gefässthromben, Pigment¬ 
bildung, alles das sind Erscheinungen, welche wohl geeignet sind, 
eine Entzündung zu charakterisiren. Eine Myositis chronica, bei 
welcher hauptsächlich nur das Muskelbindegewebe betheiligt, die 
Muskelfasern selbst rein passiv sich verhielten, nicht einmal eine 
Kernwucherung beobachten liesse, dürfte wohl als grosse Selten¬ 
heit zu betrachten sein, wenn es gleichwohl zugegeben werden 
muss, dass nicht bei jeder Myositis die Muskelfasern selbst sich 
activ betheiligen. Aber bei so hochgradigen Veränderungen des 
Muskelbindegewebes, wenn man dieselben als Producte eines chro¬ 
nischen Entzündungsprocesses (im gewöhnlichen Sinne des Wortes) 
ansieht, eine nahezu vollständige Passivität der Muskelfasern anzu¬ 
nehmen, wäre gegen alle bisherigen Beobachtungen. Die ausser¬ 
ordentliche Gefässwandverdickung durch Proliferation der Wand¬ 
elemente der Capillaren und kleinsten Arterien im Anfangsstadium 
des Processes findet aber bei der Muskelentzündung nach den bis¬ 
herigen Beobachtungen kein Analogon. Es gilt dies ganz beson¬ 
ders von der traumatischen, der beststudirten, sowie denjenigen, 
welche im Gefolge des Typhus und anderer acuter Erkrankungen 
und den metastatischen Processen beobachtet werden. Wenn neu- 
estens Friedreich auch die progressive Muskelatrophie, die 

v. Laftftabieh, Archiv f. Chirurgie. XVI. A t 


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Dr. C. Gussenbauer, 


Pseudohypertrophie der Muskeln und die wahre Muskelhypertrophie 
als primäre Myopathien auffasst und diese Erkrankungen den ana¬ 
tomischen Befunden gemäss mit Muskelentzöndung identificirt, da 
sie nur in der Quantität der einzelnen Producte verschieden, im 
Wesentlichen aber mit der Myositis chronica dieselben Verände¬ 
rungen an den Muskelfasern und dem Bindegewebe erkennen Hessen, 
so könnte auch der vorliegende Fall als ein gleicher angesehen 
werden, da ja, wenn auch ganz vereinzelt, solche Muskelfasern 
aufgefunden wurden, welche Veränderungen, wenn auch nur wenig 
ausgeprägt, zeigten, die denjenigen bei der Entzündung gleich¬ 
kommen. 

Es muss andererseits auch hervorgehoben werden, dass bei 
der Myositis chronica die Muskelfasern stets in ihrer Structur sich 
verändert finden. Entweder Trübung der contractilen Substanz 
bis zum Verschwinden der Querstreifung, Umwandlung in eine 
stark glänzende, homogen erscheinende, oder in eine körnige Masse, 
Zerfall in Schollen, Resorptionsbilder sind nie fehlende Erschei¬ 
nungen, wenn auch die Kernwucherung an den Muskelkörperchen 
oder Vermehrung dieser selbst, zuweilen mitten in den Fasern 
und Muskelzellenschläuchen nicht zu beobachten sind. Anderer¬ 
seits möchte ich hier hervorheben, dass auch die Quantität der 
Veränderungen zur Beurtheilung der Processe wie sie den Gewebs- 
erkrankungen zu Grunde liegen nebst der Zeit, die sie zur Ent¬ 
wicklung beanspruchen, in kaum minderem Masse berücksichtigt 
werden müsse, weil sonst Gewebserkrankungen zusammengeworfen 
und für identisch gehalten werden müssten, die nach den ursäch¬ 
lichen Momenten und dem zeitlichen Verlaufe ganz verschieden 
sind, aber gleiche Endproducte geben können. So ist die Inacti- 
vitätsatrophie der Muskeln morphologisch betrachtet in keiner Weise 
verschieden von der bei der progressiven Muskelatrophie zu be¬ 
obachtenden. 

Dieselben Veränderungen an den Muskelfasern, dieselben im 
Muskelbindegewebe und in gleicher Aufeinanderfolge kommen in 
beiden Erkrankungen vor und zwar bis in die kleinsten Details. 
Und dennoch dürfte wohl Niemand die Inactivitätsatrophie und 
die progressive Muskelatrophie und diejenige, welche im Gefolge 
einer Myositis im strengen Sinne des Wortes gelegentlich sich ein¬ 
findet, für identische Erkrankungen erklären, weil eben die mor- 


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lieber eine liponiatüse Muskel- und Nervendegeneration etc. 629 


phologische Betrachtung nur zum Theil jenen Cyclus aufeinander¬ 
folgender Vorgänge aufzudecken vermag, welche insgesammt erst 
das Wesen einer Erkrankung bestimmen. 

Es sprechen daher ausser der klinisch beobachteten langen 
Dauer des Processes, sowie der Abwesenheit irgend welcher ent¬ 
zündlicher (im klinischen Sinne) Erscheinungen während des Le¬ 
bens (die Schmerzen mussten vielmehr als neuralgische im Gebiete 
des Ischiadicus aufgefasst werden) auch die Ergebnisse der mikros¬ 
kopischen Untersuchung gegen die Annahme eines chronischen 
Entzündungsprocesses (im gewöhnlichen Sinne des Wortes). 

Vielmehr stimmen die mikroskopischen Befunde mit der klini¬ 
schen Diagnose eines Sarcoms überein, welche nach den äusseren 
Erscheinungen fast unabweisbar war. Nur die mangelhafte Ab¬ 
grenzung der zu einem Tumor herangewachsenen Neubildung so¬ 
wie die ausgebreitete Fettgewebsbildung in den angeschwollenen 
Muskeln Hessen am Operations- und Sectionstische die ursprüng¬ 
liche, klinische Diagnose als irrig erscheinen, obwohl die Entstehung, 
der Verlauf und der Symptomencomplex der Geschwulst dafür 
sprachen, weil an eine Umwandlung einer Geschwulst im engeren 
Sinne des Wortes in Fettgewebe, als einen gewiss exquisit sel¬ 
tenen Vorgang, zunächst nicht gedacht werden konnte. — Die 
mikroskopische Untersuchung wies einen solchen Vorgang in der 
That nach, indem es nicht nur möglich war, den Beginn des Pro¬ 
cesses in einer Zellenneubildung aufzufinden, welche das Binde¬ 
gewebe nebst den Blutgefässen zur Matrix hatte, die Metamorphose 
dieser Zellenneubildung in Binde- und Fettgewebe zu verfolgen 
und dadurch die Vorstufen jenes Endstadiums des Processes auf¬ 
zudecken, in welchem von den durch Druck zur Atrophie ge¬ 
brachten Muskelfasern kaum mehr Spuren aufzufinden waren und 
das Fettgewebe ausschliesslich die Geschwulst bildete. Für die 
Sarcombildung ist aber gerade die Wucherung der Gefässwand- 
zellen von vielen Seiten beschrieben und ganz besonders hervor¬ 
gehoben worden. Auch die übrigen Erscheinungen, Thrombosirung 
der Blutgefässe, Bildung von Hämatoidin und braunem körnigen 
Pigment finden sich gelegentlich in Sarcomen. 

Was die Metamorphose im Fettgewebe anlangt, so ist sie 
zwar ein seltener, doch immerhin zu beobachtender Vorgang. Ich 
hatte wiederholt Gelegenheit, in Sarcomen, welche von Fascien 

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Dr. C. Gussenbauer, 


ihren Ursprung nahmen und in Muskeln hineinwucherten, oder an 
solchen in Muskeln selbst entstandenen partiell Fettgewebsent- 
wicklung zu beobachten. Nur die excessive Fettgewebsentwick- 
lung in dem weitaus grössten Theile der vorliegenden Geschwulst 
ist wohl eine ganz ausserordentlich seltene Erscheinung. Die Sel¬ 
tenheit solcher Geschwulstbildungen dürfte wohl auch den Mangel 
an diesbezüglichen Angaben in der Literatur erklären. 

Ein anderer wichtiger Umstand, der für die Auffassung eines 
Sarcoms spricht, ist der, dass auch der Nervus ischiadicus in einem 
Abschnitte von 4 Zoll in die Geschwulst nicht nur eingebettet, 
sondern mit seiner Bindegewebshülle und einem grossen Theile 
seiner Nervenbündel und Fasern aufgegangen war, so dass stellen¬ 
weise eine Continuitätstrennung durch die Zellenneubildung und 
das an deren Stelle getretene Binde- und Fettgewebe erfolgte. 

Die grossen Nervenstämme participiren gleich den grossen 
Blutgefässen an chronischen Entzündungen der Umgebung nur 
selten, und in der Weise wohl niemals, dass ihre Continuität 
durch eine entzündliche Geschwulstbildung aufgehoben würde. 
— Der Umstand, dass die Nervenfasern gleich den Muskelfasern 
sich passiv verhielten und nur die Erscheinungen des Druckes er¬ 
kennen Hessen, während das Nervenbindegewebe mit den Blutge¬ 
fässen auch hier wieder die Hauptquelle der Neubildung war, 
stimmt sehr wohl mit anderen Beobachtungen von S&rcomen um 
und an grossen Nervenstämmen überein. Es versteht sich von 
selbst, dass jenes Stadium der Geschwulst, in welchem das Fett¬ 
gewebe die Hauptmasse derselben bildete, nicht mehr den Ban 
eines Sarcomes aufweisen kann. Als Sarcom kann die Geschwulst 
nur aufgefasst werden, inwiefern sie im Anfangsstadium ihrer Ent¬ 
wicklung alle jene Charaktere an sich trägt, die den Sarcomen 
zukommen, und wenn man wegen der oben angeführten Gründe 
es unterlässt, die Geschwulst als Product einer chronischen Ent¬ 
zündung im gewöhnlichen Sinne des Wortes aufzufassen. 

Wenn ich im Vorhergehenden die Merkmale hervorhob, welche 
im vorliegenden Falle für und gegen die Auffassung eines chro¬ 
nischen Entzündungsprocesses und für die einer Sarcombildung 
verwerthet werden können, so bin ich weit entfernt darin sehr 
Verschiedenes zu erblicken, oder mit diesem Namen Anschauungen 
über das Wesen beider Vorgänge zu verbinden, welche einander 


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Ueber eine liporoatöse Muskel- und Nervendegenerrtion etc. 631 


ebenso ausschliessen, als es scheinbar die allgemein gebrauchten 
Bezeichnungen „Sarcom und chronische Entzündung“ thun. Ganz 
im Gegentheil glaube ich vielmehr, dass der vorliegende Fall 
einer der geeignetsten ist, die innige Verwandtschaft der Vor¬ 
gänge zu beweisen, welche wir mit Entziindungs- und Geschwulst¬ 
bildung im engeren Sinne, speciell mit Sarcorabildung bezeichnen. 
Nicht nur die Symptomatologie, welche der klinischen Diagnose 
einer Geschwulst im engeren Sinne des Wortes zu Grunde lag 
und klinisch einen Entzündungsprocess ausschloss, sowie der 
makroskopische Befund bei der Obduction konnte keine Sicherheit 
gewähren, wie die Geschwulst nach dem mehr oder weniger all¬ 
gemein gebräuchlichen Schema zu bezeichnen wäre, so dass man 
schliesslich am Leichentische nach der makroskopischen Beur¬ 
teilung mit gleicher Berechtigung sagen konnte, es sei eine 
Pseudohypertrophie der erkrankten Muskeln, oder eine diffuse 
Lipombildung, oder vielleicht ein in Fettgewebe umgewandelter 
Tumor im engeren Sinne. Auch die oberflächliche mikroskopische 
Untersuchung konnte hierüber keine Gewissheit geben, wenn auch 
soviel sich bald herausstellte, dass eine einfache Lipomasie aus¬ 
geschlossen werden konnte. 

Aber auch mit Hülfe der genauen Detailuntersucbuug kann 
nur per exclusionem einiger unwesentlichen, mehr in der Quantität 
gelegenen Unterscheidungsmerkmale für die Annahme einer Sar- 
combildung entschieden werden, weil dem Entziindungsprocesse, 
als einem allgemeineren Vorgänge, gewisse Merkmale (die so be¬ 
deutende Gefässzellenneubildung, die Combination mit cavernösem 
Gewebe im Nerven) fehlen, während sie gerade bei Sarcombil- 
dung Vorkommen. Andererseits ist darauf wohl ganz besonderes 
Gewicht zu legen, dass der genau erhobene anatomische Befund 
in seiner Anlage, Entwickelung und Ausbildung genau seine Stütze 
in der klinisch beobachteten Symptomatologie des Tumors findet. 

Die einfache Bezeichnung Sarcom aber reicht ebenso wenig 
aus, um den Charakter dieser Geschwulst auszudrücken, als es 
der Name diffuses Lipom zu thun vermag. Die Geschwulst ist 
nach den angegebenen Befunden ebenso wohl ein Sarcom als ein 
diffuses Lipom, doch nicht in dem Sinne, als wäre sie eine Com¬ 
bination beider Geschwulstarten auf einem gemeinschaftlichen 
Mutterboden. Es wurde ja durch die Untersuchung nachgewiesen, 


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632 


Dr. C. Gussenbauer, 


dass das Fettgewebe aus der Zellenneubildung, also, wenn man 
so sagen kann, das Lipom ans dem Sarcom sich erst entwickelte. 
Demnach ist die Bezeichnung Sarcom nicht nnr für den zur Zeit 
der Untersuchung noch als Zellenneubildung bestehenden Theil der 
Geschwulst zutreffender, sondern hätte vielleicht in einem frü¬ 
heren Stadium für die ganze Geschwulst gewählt werden müssen, 
da es nach den an der bereits mehrere Jahre bestehenden Ge¬ 
schwulst gemachten Beobachtungen nicht unwahrscheinlich ist, 
dass die Zellennenbildung in einer früheren Zeit allein die Ge¬ 
schwulst verursachte. — Es würde sich demnach mit Rücksicht 
auf die Bindegewebs- und darauf folgende diffuse Fettgewebsent- 
wickelung empfehlen, die Geschwulst als Sarcoma fibrosum lipo- 
matosum diffusum zu bezeichnen. 

Was die Geschwulstbildung im Nervus ischiadicus anlangt, 
so ist dieselbe, wie schon oben kurz bemerkt wurde und ans den 
beschriebenen Befunden leicht ersichtlich ist, im Wesentlichen ganz 
dieselbe wie in den Muskeln, eine Zellenneubildung aus dem 
Bindegewebe mit consecutiver Binde- und Fettgewebsentwickelung. 
Nnr die Entwickelung des cavernösen Gewebes ist eine Eigen- 
thümlichkeit der Nervengeschwulst. Die Entwickelung von ca- 
vernösera Gewebe in einer Geschwulst, welche an derselben Kör¬ 
perstelle und histogenetisch ganz in gleicher Weise (aus Binde¬ 
gewebe) sich bildete und auch in ihren weiteren Entwickelungs¬ 
phasen keine Abweichung erkennen Hess, inwiefern die Binde- 
und Fettgewebsentwickelung im Nervenbindegewebe ebenso wie 
im Muskel vor sich ging, ist weiterhin eine bemerkenswerthe 
Erscheinung. Vielleicht ist es der losere Zusammenhang der 
Nervenbündel und Fasern gegenüber dem der gleichartigen Ge¬ 
bilde in den Muskeln, der die Erweiterung der Blutgefässe und 
dadurch auch die Bildung von cavernösem Gewebe begünstigte, 
oder mag sonst ein unbekanntes Verhältnis die Production von 
cavernösem Gewebe verursacht haben; immerhin ist es auffäUig, 
dass es in der Muskelgeschwulst fehlt, obschon in allen übrigen 
Merkmalen beider Geschwülste Uebereinstimmung herrscht. — 
Während in den Muskeln neben der Zellen- und Bindegewebs- 
nenbildung, Blutgefässthrombose und die daraus hervorgehende 
Bildung von Haematoidin und braunem körnigen Pigment die 
einzigen begleitenden Erscheinungen, und die Neubildung von Blut- 


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lieber eine lipomatose Muskel- und Nervendegeneration etc. 633 


gefässen viel spärlicher war, treten im Nerven in hervorragender 
Weise Blutgefässneobildung und Entwickelung von cavernösem 
Gewebe auf, während Pigment- und Haematoidinbildung in eben 
demselben Maasse abnehmen. — Durch die Thrombosirung der 
Blutgefässe, die Haematoidin- und Pigraentbildung, ist die Ge¬ 
schwulst in den Mnskeln so recht eigentlich dem Gebiete der 
entzündlichen Processe nahe gerückt, während das cavernöse Ge¬ 
webe im Nerven die sonst ganz gleich zusammengesetzte und 
auf gleiche Weise aus dem gemeinsamen Boden gleichwerthigen 
Bindegewebes hervorgegangene Geschwulst im Nerven den eigent¬ 
lichen Tumoren einreiht. 

Oaveruöses Gewebe findet sich, ganz abgesehen von den 
eigentlichen Gefässgeschwülsten, auch in Sarcomen, Fibromen und 
Lipomen, oder Combinationen dieser vor. Mit Rücksicht auf die 
mächtigere Bindegewebsneubilduug im Nerven gegenüber den 
Muskeln, und das cavernöse Gewebe, wäre die Nervengeschwulst 
als Fibrosarcoma cavernosum lipomatosum zu bezeichnen. 

Diese Auseinandersetzungen stimmen wohl im Wesentlichen 
mit den Anschauungen überein, welche sich im Verlaufe der letz¬ 
ten zwei Decennien über die Stellung der eigentlichen Geschwülste 
zu den Producten der Entzündung und unter einander geltend 
gemacht haben, seitdem die engen Beziehungen zwischen Ge- 
schwulstbilduug im engeren Sinne und den entzündlichen Processen 
durch Virchow’s Arbeiten und seine Schule immer mehr auf- 
gedeckt wurden. Es wäre überflüssig, hier auf die diesbezüglichen 
Arbeiten einzugeben, da wiederholt ganz ähnliche Anschauungen 
in klarer Weise ausgesprochen wurden. Aber wenn auch öfters 
zwischen dem Granulationsgewebe der chronischen Entzündung 
und den Sarcomen Vergleichungen angestellt wurden, so fand sich 
doch meines Wissens kein Beispiel einer Geschwulst, welche die 
Charaktere der entzündlichen Neubildung, des Granulationsgewebes 
oder eines Granulationssarcomes, eines Fibroms und Lipoms und 
ihre allmälige Entwickelung auseinander in einer so anschaulichen 
Weise hätte nachweisen lassen können. Das bleibende Gewebe 
eines diffusen Lipoms ging hervor aus einem vielleicht lange /eit 
stationär gebliebenen, in seiner ersten Entwickelung mit der ent¬ 
zündlichen Neubildung ganz gleichwerthigen Sarcomgewebe. 


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Dr. C. Gussenbauer, 


Erklärung der Abbildungen anf Tafel XTI und XYII. 

Fig. 1. Ein feiner Muskelquerscbnitt ans dem Stadium der beginnenden Binde- 
und FettgewebsentWickelung. Die dunkeln Punkte stellen die Quer¬ 
schnitte der Muskelfasern dar. Die hellen Zwischenräume sind ton 
Zellen-, Binde- und Fettgeweben erfüllt. Loupenvergrösserung. 

Fig. 2. Eine kleine Partie des Fig. 1 abgebildeten Muskelquerscbnittes mit Hilfe 
von Hartn. Object 4, Ocul. 3 gezeichnet Man sieht zwischen den 
Muskelfaserquerschnitten Fettzellen auftreten, wie bei a. Zahlreiche 
Gefässquerschnitte sind in dem verdickten Bindegewebe wahrzunehmen 
(b). Bei c ist noch vorzugsweise Bindegewebsverdickung vorhanden. 

Fig. 3. Veranschaulicht die Zellenneubildung im Muskelbindegewebe, a Quer¬ 
schnitte von proliferirenden Blutgefässen; b ein Längsschnitt eines 
Blutcapillargefässes. Hartn. Obj. S. 8, Ocul. 3. 

Fig. 4. Die Querschnitte zweier erweiterter kleinster Muskelarterien mit Wuche¬ 
rung der Wandelemente, a lässt vorzüglich Endothelwucherung, b aber 
auch Wucherung der übrigen Wandzellen erkennen. Hartn. Obj. S. älm. 
Nr. 10, Ocul. 3. 

Fig. 5. Stellt die Querschnitte von Muskelfasern dar, in denen Fettzellenbildung 
wahrzunehmen ist. Bei a ist der Beginn der Fettansammlung in den 
Zellen zu sehen; b sind Fettzellen. Bei c ist das Fett in einem Netz¬ 
werk eingeschlossen. Hartn. Obj. S. ä Im. Nr. 10, Oc. 3. 

Fig. 6. Veranschaulicht eine Muskelfaser a, welche bei b durch die Fettzelle c 
und die umliegenden Zellen comprimirt wird, wobei das Sarcolemma 
noch vollkommen erhalten ist. Hartnack, Object S. ä Im. Nr. 10, 
Ocul. 3. 

Fig. 7. Stellt die Querschnitte des rechten (b) und linken (a) Ischiadicus dar. 

Die Querschnitte der grösseren Blutgefässe (a) sind an beiden am linken 
viel zahlreicher und grösser als am rechten zu sehen. Die schwarzen zu 
Gruppen vereinigten Punkte am Querschnitte (a) deuten die Blutan¬ 
häufungen im cavernösen Gewebe und den erweiterten Blutgefässen an. 
Die Querschnitte der Nerven am linken Ischiadicus sind von einem 
Bindegewebe umgeben, welches viel mehr Fettgewebe enthält, als das 
des rechten. Loupenvergrösserung. 

Fig. 8. Veranschaulicht eine kleinste proliferirende Arterie aus dem Nerven- 
bindegewebe mit der Zellenneubildung in der Umgebung. 

a eine Fettzelle im Gefässe, b solche in der Umgebung, c ein Ueber- 
gangsgefäss (Vene) proliferirend. Hartn. Object S. ä Im. Nr. 10, 
Ocul. 3. 

Fig. 9. Ein Nervenquerschnitt aus dem Ischiadicus mit verdickter Bindegewebs¬ 
hülle. a Bindegewebsverdickung zwischen den Nervenfaserbündeln. 
Die Nervenfaserbündel b und c sind bereits rareficirt. Hartn. Obj. S. 
Nr. 4, Ocul. 3. 

Fig. 10. Cavernöses Gewebe im Bindegewebe zwischen zwei Nervenquerschnitten 
U- a Bindegewebsbalken, b mit ßlutcoagulis erfüllte Lücken, c throm- 


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Ueber eine lipomatöse Muskel- uud Nervendegeneration etc. 635 

bosirte Blutgefässe, d Blutgefässe in Bindegevebsbalken. Hartn. Obj. 
S. 4, Ocul. 3. 

Kig. 11. Nervenquerscbnitt mit cavernösem Gewebe in seiner Mitte, a Binde 
gewebshülle, b Bluterfüllte cavemöse Räume und erweiterte Gefässe. 
Um dieselben herum noch eine Zone von Nervenfaserquerschnitten, 
welche an manchen Stellen von Zellen umgeben sind. Hartn. Object. 
S. 5, Oc. 3. 

Fig. 12. Nervenquerscbnitt mit gefässreicher Bindegewebsentwickelung in der 
Mitte und von der Bindegewebshülle aus. Zahlreiche tbrombosirte und 
proliferirende Blutgefässe sowohl im Nerven als in der Bindegewebs¬ 
hülle und zerstreute Anhäufungen von braunem Pigment sind wahr- 
zunebmen. a Verdickte Bindegewebshülle, b Blutgefässe. Hartn. Obj. 
S. 5, Oc. 3. 

Fig. 13. Comprimirte und atrophische Nervenfasern aus Isolirungspräparaten. 

In der Faser a bei der Continuitätstrennung des verdickten Axency- 
linders die Nervenscheide e erhalten, b und c häufige Formen von 
atrophischen Fasern mit Schwund des Markes und stellenweiser Ver¬ 
schmälerung des Axencylinders. Hartn. Obj. S. k Im. Nr. 10, Oc. 3. 


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XXIV. 

Traumatische Luxationen. 


Von 

Dr. Max Barteig, 

i a Berlin. 

(Hierzu Taf. XVII. Fig. 1, 2.) 


Auf der Station des Herrn Geb.-Rath Wilms im Diakonis¬ 
senhause Bethanien in Berlin hatte ich seit dem April 1869 Ge¬ 
legenheit, eine grössere Anzahl traumatischer Luxationen zu 
beobachten. Wie es in allen publicirten Statistiken der Fall ist, 
so war auch bei uns die Luxation des Oberarmes bei Weitem 
häufiger, als diejenigen aller anderen Gelenke zusammengenommen. 
Unter ihnen überragte die Luxatio subcoracoidea um Vieles alle 
übrigen Formen der Schulterverrenkung. 

Die Luxatio humeri bot in den meisten Fällen, wenn sie 
frisch zur Behandlung kam, der Reposition keine besonderen 
Schwierigkeiten dar. Dieselbe wurde gewöhnlich nach der Mo- 
the’scheu Methode ausgeführt. Die Patienten wurden, wenn sie 
nicht besonders um die Aufnahme in das Krankenhaus petitio- 
nirten, poliklinisch behandelt. Mit einer durch einige Binden¬ 
touren unterstützten Mitelia lagerten wir den kranken Arm der¬ 
artig, dass die Hand auf der gesunden Schulter fixirt war. Nach 
ungefähr acht Tagen wurde diese Bandage mit einer einfachen 
Mitella in rechtwinkliger Stellung vertauscht. Nach 14 Tagen 
bis 3 Wochen waren die Kranken geheilt. Stand mir zufällig 
nur ein Assistent zu Gebote, so pflegte ich die Reduction auf 
folgende Weise vorzunehmen. Der ausgestreckte Arm, dessen 


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Traumatische Luxationen. 


637 


Volarseite dem Körper zugekehrt ist, wird bis zu einem Winkel 
von circa 45 Grad elevirt und in dieser Richtung möglichst stark 
extendirt. Der Assistent fixirt von der gesunden Seite aus über 
den Patienten hinweg dessen Brustkorb, so dass die der Achsel¬ 
höhle zunächst befindliche Hand dem Humerus als Hypomochlion 
dient. Die Reduction gelang auf diese Weise jedesmal leicht. 
Bei zwei jungen Leuten in dem Alter von 25—35 Jahren aber 
Hessen uns alle Methoden im Stich, bis endlich eine einfache 
Extension bei rechtwinklig elevirtem Arme gleich bei dem ersten 
Versuche zum Ziele führte. 

Der Mechanismus, durch welchen die Luxation zu Stande 
gekommen war, wurde fast von allen Patienten, gleichgültig ob 
die Subcoracoidea oder die Axillaris vorlag, auf dieselbe Weise 
beschrieben. Es handelte sich meist um einen Fall von irgend 
einem erhöhten Punkte (Leiter, Gerüst, Treppe etc.) mit der 
Vorderseite des Körpers voran. Ein Arm wurde etwas elevirt 
und ausgestreckt, um den Körper zu halten. Die Hand stützte 
sich dabei gegen irgend einen festen Punkt und wurde hier fixirt, 
so dass bei dem weiteren Fallen des Körpers eine Hyperelevation 
des Armes erzeugt wurde. Hierdurch wurde der Kopf von der 
Gelenkfläche abgehebelt und die Gelenkkapsel an ihrer der Achsel¬ 
höhle zugekehrten Seite gesprengt. Hörte die Fixation der Hand 
auf — beim vollendeten Fall oder beim Aufstehen —, so fiel der 
Arm durch seine eigene Schwere herab, trat nun aber nicht durch 
den Kapselriss zurück, der sich bei dieser Bewegung verengte, 
sondern angestemmt gegen den unteren Rand des Processus gle- 
noidalis, blieb er unter diesem fixirt — Luxatio humeri axillaris — 
oder glitt an ihm in die Höhe bis gegen den Processus coracoi- 
deus — Luxatio humeri subcoracoidea. Bei einem 44 Jahre alten 
Kutscher war eine Luxatio subcoracoidea dadurch hervorgerufen, 
dass er beim Ausspannen einen Hufschlag gegen die hintere 
Fläche des Oberarmes — oberes Dritttheil — erhielt. Die Re¬ 
duction wurde 12 Stunden nach dem Unfall nach Cooper aus¬ 
geführt. 

Veraltete Luxationen des Oberarmes kamen 11 Mal 
zur Beobachtung. Die Verletzung war meist von Pfuschern be¬ 
handelt, zuweilen auch wobl von Aerzten für eine einfache Con- 
tusion angesehen worden. Es ist wobl nur ein Zufall, dass diese 


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638 


Dr. M. Bartels, 


11 Patienten sämmtlich das 40. Lebensjahr bereits überschritten 
batten. Es waren nämlich: 

zwischen 40 und 50 Jahr 4 Patienten 

. 50 „ 60 „ 3 

. 60 , 70 , 1 

„ "0 , 80 » 3 

Das Alter des Trauma, zugleich mit dem Alter und Ge¬ 
schlecht der Kranken und dem Erfolge der Behandlung ergiebt 
folgende Uebersicht: 


Luxation 

seit 2 

Wochen, Frau 

73 Jahre 

Geheilt 

w 

V 

3 

„ Mann 

53 

9 

yy 

n 

n 

4 

7f 

yy 

74 

V 

y, 

n 

yy 

4 

» Frau 

45 

1i 

n 

r> 

n 

4 

n 


45 

Ti 

yy 

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yy 

5 

n 

V 

64 

n 

yy 

» 

y> 

5 

» 

yy 

72 

yy 

yy 


* 

11 

n 

yy 

50 

yy 

» 


V 

20 

„ Mann 

42 

yy 

yy 

» 

Ti 

21 

n n 

42 

» 

Ungeheilt 


yy 

53 

n 

yy 

50 

9 

r> 


Ich will hier nicht ausführlich über die Veränderungen spre¬ 
chen, die sich an den Gelenken nach Luxationen bilden, deren 
Einrenkung nicht zu Stande kam. Dieselben sind hinreichend 
bekannt. Von besonderer Wichtigkeit sind die Adhäsionen, die 
den Gelenkkopf in seiner neuen Lage fixiren. Dieselben sind 
natürlich um so fester und ihre Zerreissung gelingt um so 
schwerer, je länger die Luxation schon besteht, je stärkere Ent¬ 
zündung der Druck des Kopfes in seiner Umgebung hervorrief. 
Demgemäss ist die Redaction auch jedesmal geglückt, wenn die 
Luxation vor höchstens 5 Wochen entstanden war. Selbst ein 
Fall wurde nach 11, ein anderer noch nach 20 Wochen glücklich 
geheilt. Alle Versuche missglückten einmal nach einer Dauer 
von 21 Wochen, einmal nach 53 Wochen, also mehr als einem 
Jahre. Bei diesen Patienten musste man sich darauf beschrän¬ 
ken, durch methodische, passive Bewegungen, Anwendung von 
Electricität etc. den Arm in seiner neuen Stellung möglichst be¬ 
weglich zu machen und die Bildung einer Nearthrose zu be¬ 
fördern. 


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Der Patient, dessen Luxation bereits 53 Wochen bestand, ein Landmann, 
jjurde in höchst jammervollem Zustande aufgenoramen. Der Arm war in der 


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Traumatische Luxationen. 


639 


Schulter absolut unbeweglich. Durch Druck des Humemskopfes auf die grossen 
Gefässe und den Plexus brachialis war der ganze Arm ödematos, die Haut ver¬ 
dickt, wie bei beginnender Elephantiasis. Die Finger, in den Grundphalangen 
gestreckt, waren in den Mittel- und Nagelphalangen möglichst weit gebeugt und 
ebenso wie der Oberarm vollkommen unbeweglich. Es gelang in etwa 2 Mo¬ 
naten , dem Kranken die active Elevation des Armes bis zu einem Winkel von 
circa 70—80 Grad zu ermöglichen und zugleich einige Beweglichkeit der Finger 
zurückzugeben, so dass die Hand zum Greifen grösserer Gegenstände benutzt 
werden konnte. Das chronische Oedem liess sich aber nicht beseitigen. 

Das Alter der Patienten giebt bei den inveterirten Luxatio¬ 
nen des Oberarmes nach unseren Erfahrungen kein besonders er¬ 
schwerendes Moment für die Reduction ab. Nur müssen die 
Reductionsversuche mit einiger Vorsicht ausgeführt werden, Rück¬ 
sicht nehmend auf die grössere Brüchigkeit der Knochen im Alter. 

Gerade die vier ältesten unserer Patienten, von denen einer 64, 
die drei anderen sogar 72—74 Jahr alt waren, sind geheilt. 

Uebrigens mag auch die geringe Productivität der Gewebe im 
Alter die Ursache für die Bildung spärlicherer und weniger straf¬ 
fer Adhäsionen abgeben. Eine bestimmte Methode der Reduction 
wurde in diesen Fällen nicht bevorzugt. Es wurden nach und 
nach alle möglichen verschiedenen Methoden versucht, und Hessen 
sie alle im Stich, so wurde der Turnus wieder von Neuem begon¬ 
nen, bis der Gelenkkopf wieder an die normale Stelle getreten 
war. Jede der angew-endeten Reductionsmethoden hatte, w T enn 
sie auch nicht vollständig gelungen war, doch wenigstens das Ver¬ 
dienst, dass sie durch Zerreissen zahlreicher Adhäsionen den Ge¬ 
lenkkopf immer freier und freier machte. Es wurde übrigens je¬ 
der dieser Reductionsversuche damit begonnen, dass durch starke 
Streckung mit rechtwinklig elevirtem Arm im Schneider-Me n- 
nel’schen Extensionsapparate die festesten Adhäsionen gesprengt 
wurden. Ueble Zufälle, wie andre Autoren sie erwähnen, Einrei¬ 
sen oder Abreissen der Haut, Zersprengung der grossen Blutge¬ 
fässe etc. habe ich nach diesen forcirten Extensionen niemals ge¬ 
sehen. Man fühlt bei aufgelegter Hand und hört selbst auf einige 
Entfernung das Einreissen der Pseudoligamente, ähnlich wie man 
das bei forcirter Streckung ankylosirter Gelenke wahrzuneh¬ 
men pflegt. 

Die Nachbehandlung auch dieser inveterirten Luxationen be¬ 
stand in einfacher Fixation des Armes, die Hand auf die gesunde 

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t)r. M. Bartels, 


Schulter gelegt, durch Binden und Mitella auf 4 bis 8 Tage; da¬ 
zu ruhige Lage im Bett unter Eis oder Bleiwasser. Nach 8 bis 10 
Tagen wurde der Arm in eine einfache Mitella gelegt und alle Tage 
vorsichtige passive und später auch active Bewegungen ausgeführt. 
Die Heilungsdauer war eine verschieden lange, je nach dem Eifer, 
mit dem die Kranken die activen Bewegungen übten. Gewöhn¬ 
lich konnten die Patienten in 3 bis 4 Wochen geheilt entlassen 
werden. 

Die Verrenkung der Clavicula kam nur einmal zur 
Beobachtung. Ein Knabe von 7 Jahren war überfahren worden. 
Ausser einigen Quetschungen an verschiedenen Stellen des Kör¬ 
pers und Sugillationen an der linken Schulter ergab die Unter¬ 
suchung eine Luxatio claviculae epiacromialis sinistra. 
Das Akromialende des Schlüsselbeins bildet eine deutliche Promi¬ 
nenz am Akromion, deren Zusammengehörigkeit zur Clavicula 
die Palpation ergiebt. In der ersten Zeit musste von Repositions¬ 
versuchen der Sagillationen wegen Abstand genommen werden. 
Später war die Reduction wohl möglich, die Retention misslang 
aber immer, wie das bei diesen Luxationen meist der Fall ist. 

Die Luxationen im Bereiche des Ellenbogengelenks 
kamen nicht so selten vor, als man gewöhnlich annimmt. Obgleich 
auch hier, wie bei den Verrenkungen des Oberarmes, die meisten 
Kranken poliklinisch behandelt wurden, sind doch noch 11 Kranke 
auf ihren oder ihrer Angehörigen Wunsch im Krankenhause ver¬ 
pflegt worden. Die Reduction der frischen Verrenkungen war 
hier meist noch leichter, als am Schultergelenk, weil die zur Re¬ 
duction nothwendigen Bewegungen durch directen Fingerdruck 
auf die Gelenkenden unterstützt. werden konnten. Nach erfolgter 
Einrenkung wurde der kranke Arm auf etwa 6—8 Tage in einen 
Gyps- oder Pappverband gelegt; in 14 Tagen war meist die Hei¬ 
lung erfolgt. Diejenige Form der Verrenkung, welche am häufig¬ 
sten vorkam, war die Luxation beider Vorderarmknochen nach 
hinten, oben. Nächstdem war die Luxation der Ulna allein nach 
innen am häufigsten. Einmal beobachtete ich auch die Luxatio 
antibrachii lateralis externa bei einem 14 Jahre alten 
Knaben. Der Arm war verkürzt, in der Gegend des Ellenbo¬ 
gengelenkes stark verdickt, der Vorderarm schien lateralwärts 
vom Oberarm zu liegen. Man fühlte das Gelenkende des Hume- 


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Traumatische Luxationen. 


641 


ras vorn innen, dasjenige der Ulna stand oben hinten und das 
Radiusköpfchen oben aussen. Die Reduction war sehr leicht. 
Der Patient wurde nach vier Tagen zur ferneren poliklinischen 
Behandlung mit einem Gypsverband entlassen und ist vollständig 
geheilt. Besonderes Interesse boten auch hier die Fälle von ver¬ 
alteten Luxationen. Sie wurden dreimal beobachtet. 

Der erste Fall betraf einen 28 Jahre alten Arbeiter, der vor 4 Wochen 
durch einen Fall auf den Ellenbogen eine Fractur des Condylus internus mit 
gleichzeitiger Luxation des Vorderarmes nach hinten acquirirt hatte. 
Der Arm stand in Streckung und war nur in geringem Maasse beweglich. Durch 
forcirte Beugung bis zu einem spitzen Winkel gelang es Herrn Geh.-Rath Wilms 
die Luxation zu reduciren. Nach 4 Wochen wurde der Kranke mit guter Be¬ 
weglichkeit geheilt entlassen. 

Der zweite Kranke war ein Husar, der in Frankreich durch einen Sturz 
vom Pferde sich eine Luxation des Vorderarmes nach hinten vor 4 
Monaten zugezogen hatte. Der Arm stand fast rechtwinklig gebeugt und war 
so gut wie unbeweglich. Es wurden daher in Narkose Reductionsversuche 
gemacht, nachdem durch den Schneider Mennel’schen Extensionsapparat die 
bestehenden Adhäsionen etwas gelockert waren. Die Versuche missglückten. 
Nach einigen Tagen wurden dieselben wiederholt, jedoch abermals vergeblich, 
die Verwachsungen waren bereits zu fest geworden. An eine Resection konnte 
nicht gedacht werden, da der Arm in einem günstigen Winkel stand. Der 
Kranke wurde auf seinen Wunsch nach 10 Tagen entlassen und ihm eine 
Blanc’sche Maschine mitgegeben, damit er durch methodische Uebungen die 
Beweglichkeit des Gelenkes noch etwas bessern könnte. 

Drittens endlich wurde ein Knabe von 10 Jahren recipirt, der vor etwa 
6 Monaten aus einem Kiuderwagen auf den Ellenbogen gefallen war. Die Aerzte 
seiner Heimath waren uneinig gewesen, ob eine Luxation oder eine Fractur Vor¬ 
lage, hatten es jedoch als letztere behandelt. Da immer noch eine Behinderung 
der Bewegung bestand, suchte der Knabe in Bethanien Hülfe. — Die Unter¬ 
suchung ergiebt eine vollständige Luxation des Antibrachium nach hin¬ 
ten.*) Der Vorderarm erscheint etwas verkürzt, die Gelenkpartie ist verdickt. 
Der Arm steht fast rechtwinklig gebeugt — in einem Winkel von 95 Grad —; 
der in der Norm ziemlich scharf ausgesprochene Winkel der Ellenbogenbeuge 
erscheint hier abgerundet. Die Axe des Humerus trifft den Vorderarm weiter 
nach vorn als gewöhnlich, dieser ragt um 3 Cm. weiter nach hinten als sonst. 
Der M. triceps wird dadurch in seiner unteren Abtheilung vom Humerus abge¬ 
hoben, so dass sich zwischen ihnen eine deutliche Furche markirt, ähnlich der¬ 
jenigen zwischen der Achillessehne und dem Unterschenkel. Nach unten wird 
diese Furche breiter und tiefer und erscheint nach vom in ihrem untersten Ende 
durch eine halbkreisförmige Erhöhung begrenzt, welcher auf ihrer anderen Seite 
eine seichte Vertiefung folgt. Dieser prominirende Halbkreis wird durch die 


*) S. Taf. XVII, Fig. 1. 

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Dr. M. Bartels, 


Circumfereutia articularis des Capitulum radii gebildet, dessen Delle die erwähnte 
Furche zu verbreitern scheint. Durch die Palpation kann map sich sehr bequem 
über die Lage der Gelenkenden orientiren, da keine Schwellung die Unter¬ 
suchung erschwert. Olecranon und Fossa sigmoidea nebst dem Radiusköpfchen 
fühlt man, in ihrer gegenseitigen Lage unverändert, sehr deutlich hinter dem 
Humerus, dessen Gelenkende auf den Diaphysen der Vorderarmknochen durch 
die mäBsig starke Muskulatur sich erkennen lässt. — Die Stellung des Armes 
in fast einem rechten Winkel war eine sehr günstige. Da noch eine Beweglich¬ 
keit um etwa 20 Grad erhalten war, so wurde von einer Resection selbstver¬ 
ständlich, aber auch von dem Versuche einer Reduction bei diesem Kranken 
abstrahirt. Es war ja nicht abzusehen, ob die Reduction nach so langer Zeit 
zum Ziele führen würde. Und gelang sie auch, so war es immer noch fraglich, 
ob durch die zu der Reduction nothwcndige Gewalt nicht eine starke Entzündung 
hervorgerufen würde, durch welche die Beweglichkeit des Gelenkes ganz ver¬ 
loren ginge. Bei dem schon bestehenden Grade der Beweglickeit aber liess sich 
erwarten, dass man durch methodische Uebungen dieselbe noch bedeutend ver¬ 
bessern könne. Wie bei dem vorigen Patienten wurde daher, ausser manuellen 
Bewegungen, auch hier die Blanc’sehe Maschine angewendet. — Es gelang in 
etwa 4 Monaten den kleinen Patienten so weit zu bringen, dass er den Arm activ 
zu einem Winkel von 80 Grad, passiv bis 70 Grad beugen; activ bis 150 Grad, 
passiv bis 155 Grad strecken konnte. Er wurde auf Wunsch der Eltern ent¬ 
lassen und setzte zu Hause die begonnenen Uebungen fort. 

Wenn man nach diesen drei Krankengeschichten auch kein end¬ 
gültiges Crtheil zn fällen vermag, so lässt sich doch darans lernen, 
dass der Redaction veralteter Luxationen des Ellenbogengelenkes 
sich grössere Schwierigkeiten entgegenstellen, als der Wieder- 
einrichtang derjenigen der Schalter. Bei einem Kranken, bei dem 
die Verrenkung erst vor 4 Wochen entstanden war, bei dem es 
Pflicht war, die Einrenkung zu versuchen, da der Arm in mög¬ 
lichst ungünstiger Stellung, in völliger Streckung stand, gelang 
die Reduction noch, während sie bei dem zweiten Patienten, 4 
Monate nach der Verletzung schon unmöglich geworden war. 
Am Oberarm gelang die Reduction einmal noch 5 Monate nach 
der Verletzung. Der zuletzt beschriebene Fall liefert den Beweis, 
dass auch bei bestehender Luxation die Beweglichkeit des Ellenbo¬ 
gengelenkes bei regelmässiger Uebung eine sehr befriedigende wer¬ 
den kann. Es ist daher wohl der Erwägung werth, ob man, falls 
seit dem Trauma schon eine lange Zeit verflossen, der Winkel 
günstig und noch etwas Beweglichkeit vorhanden ist, nicht besser 
von vorne herein auf Reductionsversuche verzichten soll, aus den¬ 
selben Gründen, welche im obigen Falle zur Richtschnur dienten. 


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Traumatische Luxationen. 


643 


Eine höchst eigenthümliehe Form von doppelseitiger ha¬ 
bitueller Luxation des Radius, bei Streckung und 
Pronation entstehend, bei Beugung und Supination 
sich von selbst reducirend, möge sich hier anschliessen. 
Nirgends in der Literatur gelang es mir, etwas Aehnliches auf¬ 
zufinden, so dass der auch sonst noch höchst interessante Kranke 
wohl als ein Unicum zu betrachten ist. 

Ein Schuhmacher von 43 Jahren, der sich einer sehr schweren complicirten 
Fractur des Unterschenkels wegen in Bethanien in Behandlung befand, theilte mir 
eines Tages mit, dass seine Arme anders gebildet wären, als bei anderen Menschen. 
Bis zu seinem 10. Jahre wären die Arme normal gewesen. Dann hielt ihn sein 
Vater zu sehr anstrengender Arbeit an; besonders musste er gewöhnlich eine sehr 
schwere Karre schieben. Er empfand nach kurzer Zeit in der Ellenbogenregiou 
sehr heftige Schmerzen, die von Tage zu Tage sich steigerten. Zugleich wurden 
die Arme dicht unter dem Ellenbogengelenk sehr verdickt, indess die Oberarme 
abmagerten. Er wollte die Arbeit einstellen, wurde aber von seinem Vater mit 
Schlägen von Neuem dazu getrieben. Nach Ablauf eines Zeitraumes, dessen 
Länge nicht mehr zu eruiren ist, nafm dann die Kraft und Ernährung des 
Oberarmes wieder zu, wie er glaubt, durch die wirksame Besprechung einer alten 
Frau. Die Verdickung der Unterarme in der Gelenkgegend sei aber geblieben. 
— Die Untersuchung der Arme in gestreckter Stellung ergiebt, dass der sonst 
am weitesten nach aussen hervorspringende Punkt der Ellenbogengegend, gebil¬ 
det durch den äusseren Rand des Epicondylus externus humeri, hier von einer 
Erhöhung noch bedeutend überragt wird, welche bereits dem Vorderarm ange¬ 
hört. Am deutlichsten markirt sich diese Erhöhung, wenn der gestreckte Arm 
auch noch pronirt wird, so dass also die Hohlhand dem Tische aufliegt. *) Ein 
kreisförmiger scharfer Rand, senkrecht zur Längsaxe gestellt, markirt sich durch 
die Hautbedeckungen. Der palpirende Finger gleitet von diesem Rande, der Cir- 
cumferentia articularis radii, aus in die grosse Dellenartige Vertiefung des Ra¬ 
diusköpfchens. Die Ulna steht an ihrer normalen Stelle. Nirgends sind an ihr 
Spuren einer früheren Fractur nachzuweisen. Dieses Verhalten ist an beiden 
Armen das Gleiche. Der Patient hat hiernach jederseits eine Luxatio radii 
nach aussen. Diese Form der Vorderarmverrenkung ohne gleichzeitige Fractur 
der Ulna ist schon au einem Arme eine sehr grosse Seltenheit. An beiden 
Armen zugleich ist sie bis jetzt meines Wissens überhaupt noch nicht beschrieben 
worden. — Der Radius berührt mit seiner der Ulna zugewendeten Abtheilung 
der Circumferentia articularis den äussersten Theil des Processus cubitalis hu¬ 
meri, er ist also vollständig nach aussen abgewichen. Auf diese Weise entsteht 
natürlich auch eine Diastase zwischen Radius und Ulna in ihren oberen Ab¬ 
theilungen, da letztere an ihrem Platze blieb, während der erstere nach aussen 
dislocirt wurde. Entsprechend dieser Diastase bemerkt man an dem oberen Theile 
der Dorsalseite des Vorderarmes eine abnorme Längsfurche, welche sich sehr 


*) Vergl. Tafel XVIII. Fig. 2. 

v. Lun genbock, Archiv f. Chirurgie. XVI. 


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644 


Dr. M. Bartels, 


deutlich zwischen den beiden Vorderarmknochen markirt, und den eigentlichen Ellen¬ 
bogen abnorm verlängert erscheinen lässt. Aus der eben gelieferten Beschrei¬ 
bung des völlig gestreckten und pronirten Armes geht schon hervor, dass die 
Extension und Pronation durch diese Verrenkung in nichts behindert wurde. 
Eben so vollständig war es möglich, die Flexion und Supination auszuführen. 
Die Arme waren dabei kräftig und zn den schwersten Arbeiten brauchbar. Es 
trat aber bei der Bewegung der Arme folgende Veränderung in der Stellung 
der Radii ein: Schon wenn man den Vorderarm aus der gestreckt pronirten in 
die einfach gestreckte Stellung zurückführte, ist die durch das Gapitulum radii 
erzeugte abnorme Erhöhung nicht mehr so deutlich, als vorher. Die Gelenk- 
fläche des Radius tritt theilweise auf den Processus cubitalis humeri zurück, so 
dass jetzt nur noch eine Subluxatio radiorum vorliegt. Lässt man nun die Arme 
langsam beugen, so wird durch allmäliges Heraufrücken der Radii auf das Ca- 
pitulum humeri die Subluxation eine immer geringere, bis in rechtwinkliger 
Beugung endlich die Radii vollkommen ihre normale Stellung wieder er¬ 
reicht haben. 

Wir haben hier also das merkwürdige Bild einer bilateral¬ 
symmetrischen Luxation der Radii, welche jedesmal spontan bei 
jeder Extension und Pronation sich erzeugt, ohne irgend welche 
Beeinträchtigung der Kraft nnd Brauchbarkeit der Arme — der 
Patient war beim Herabbefördern eines vollen Stückfasses in den 
Lagerkeller eines Weinhändlers verunglückt — während bei jeder 
Beugung von selbst die Rednction der Verrenkung sich bewerk¬ 
stelligt. Entsprechend dieser Reduction ist der Umfang des Vor¬ 
derarms in seinem obersten Abschnitt um 1£ Cm. kleiner bei 
gebeugtem als bei gestrecktem und pronirtem Arme. Ueber den 
Mechanismus, welcher diese Luxation hervorrief, lässt sich ans 
der Anamnese so gut wie nichts erschlossen. Die bedingende 
Ursache ist hier wohl nicht ein plötzliches, sondern ein auf 
beide Arme in derselben Weise allmälig, aber anhaltend einwir¬ 
kendes Trauma gewesen. Es handelt sich um eine vollkommene 
Luxation, da ja das Radiusköpfchen in seiner ganzen Breite von 
dem Capitulum humeri heruntertritt. Allerdings wird wohl nicht 
eine Zerreissung, sondern nur eine starke Ausdehnung der Ge¬ 
lenkkapsel vorliegen. 

Von den übrigen Luxationen an der oberen Extremität kom¬ 
men hier noch diejenigen der Finger in Betracht. Bei einer 
alten Frau von 81 Jahren, welche überfahren worden war, fand 
sich ausser mehreren Fracturen auch eine Luxation des rech¬ 
ten Daumens auf das Dorsum des Metacarpus. Die so- 

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Traumatische Luxationen. 


645 


fortige Reduction durch Hyperextension mit darauf folgender 
starker Extension und Flexion bot mir keinerlei von den sonst 
bei dieser Form der Verrenkung gefürchteten Schwierigkeiten, 
sondern gelang gleich bei dem ersten Versuche. Zur Retention 
wurde die Hand in Fauststellung mit eingeschlagenem Daumen 
durch eine Rollbinde fixirt. Nach wenigen Tagen war diese Ver¬ 
letzung geheilt und die Kranke konnte nach einiger Zeit entlassen 
werden. 

Bisher wohl auch noch nicht beobachtet ist eine Luxation 
zweier Phalangen an demselben Finger. 


Ich sah dieselbe bei einer Dame von 25 Jahren, welche beim Abnehmen der 
Gardinen mit der Stehleiter umgefallen war. Nur an dem kleinen Finger hatte 
sie sich eine sehr schmerzhafte Verletzung zugezogen, derentwegen sie meine 
Hülfe suchte. Der Finger war um \ Zoll verkürzt, in der Mitte unförmlich dick, 
die Flexion nicht völlig aufgehoben, aber nur in sehr geringem Grade ausführ¬ 
bar. Die Untersuchung ergab eine Luxation der Nagelphalanx auf das 
Dorsum der Mittelphalanx und eine Luxation dieser letzteren 
auf das Dorsum der Grundphalanx. Alle vier Gelenkflächen waren deut¬ 
lich fühlbar, die beiden convexen auf der Volarseite, die beiden concaven auf 
der Dorsalseite. Die Haut war unverletzt, aber bereits stark geschwollen, ob¬ 
gleich die Kranke sofort nach dem Trauma sich vorgestellt hatte. Die Reposi¬ 
tion gelang sehr leicht in Narkose durch Beugung und Zug an beiden Gelenken 
in derselben Weise. Der Finger wurde in Streckung durch einen Pappverband 
fixirt. Als ich die Patientin das letzte Mal sah, etwa 14 Tage nach der Ver¬ 
letzung, war die Beugung der Gelenke noch etwas behindert. 

Der Mechanismus dieser Verrenkung ist sehr merkwürdig. 
Jedenfalls muss die Gewalt, welche im Stande war, die Luxation 
eines Gelenkes herbeizuführen, auch nach vollendeter Luxation 
noch in ähnlicher Weise fortgewirkt haben. Die Patientin glaubt, 
dass sie beim Herabfallen mit der Hand eine Kommode berührt 
habe. Es scheint demnach, dass die Luxation der Nagelphalanx 
die primäre gewesen ist. Die vorgestreckte Hand blieb mit demNagel- 
gliede an der Kommode hängen und dieses wurde durch die fernere 
Gewalt des Falles zuerst in Hyperextension gestellt und dann auf das 
Dorsum der Mittelphalanx luxirt. Indessen nun der Körper seinen 
Fall fortsetzte, glitt voraussichtlich der Finger auf der polirten 
Kommode etwas vorwärts, so dass der Kopf der Mittelphalanx 
der Gewalt einen neuen Angriffspunkt darbot. Auch sie wurde 
in derselben Weise wie die Nagelphalanx zuerst hyperextendirt 
und dann auf den Rücken der Grundphalanx verrenkt. Beide 

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Dr. M. Bartels, 


Phalangen sind nach derselben Seite luxirt, weil di,e Gewalt auf 
beide in derselben Richtung einwirkte. Es würde gar nicht anf- 
fallen, wenn die Kranke bei diesem Sturze durch ein ferneres 
Hängenbleiben des Armes auch noch eine Luxatio humeri axilla¬ 
ris oder subcoracoidea acquirirt hätte. 

Verweilen wir bei Besprechung der. Verrenkungen der 
unteren Extremitäten zuerst bei denjenigen des Kniege¬ 
lenkes, so ist hier über drei Luxationen zu berichten. Die erste, 
eine Luxatio verticalis patellae dextrae interna ist da¬ 
durch von besonderem Interesse, dass sie bei einem sogenannten 
Kautschukmann von 17 Jahren vorkam, bei dem man das Ent¬ 
stehen einer Verrenkung ohne sofortige spontane Reduction nicht 
für möglich halten sollte. 

Die Trappe, der er angehörte, war mit dem Aufpacken ihrer Habseligkeiten 
beschäftigt. Unser Patient hatte fleissig geholfen und war viel hin und her ge¬ 
laufen. Hierbei that er einen Fehltritt in eine ganz seichte Erdvertiefung, welche 
als Feuerstätte gedient hatte. Er fiel zu Boden und konnte nicht wieder auf¬ 
stehen. Han brachte ihn sofort nach Bethanien und dort constatirte ich die 
Luxation. Das rechte Bein stand in völliger Streckung und konnte nur um etwa 
3—4 Grad flectirt werden. Die vordere Partie des Knies ist statt abgeflacht, 
kammartig erhoben. Die Palpation lässt deutlich die senkrecht auf ihren me¬ 
dialen Rand gestellte Patella als Ursache dieser kammartigen Erhebung erkennen. 
Hielt der Patient das Bein still, so batte er keine Schmerzen. Bevor ich zur 
Reposition schritt, Hess ich mit Bewilligung des Kranken einen Gypsabguss von 
seinem Knie nehmen. Durch die Schwere des Gypses wurde die zuvor ganz 
senkrecht stehende Kniescheibe ein wenig herabgedrückt, so dass sie einen Winkel 
von etwa 80 Grad bildete. Als die Form entfernt war, machte der sehr un¬ 
ruhige Kranke plötzlich eine kurze stossende Bewegung mit dem Bein — ganz 
leichte Flexion im Knie- und Hüftgelenk mit schnell darauf folgender forcirter 
' Extension. — Dabei schnappte die Patella an ihren normalen Platz zurück. Es 
wurde auf 8 Tage ein Gypsverband angelegt und 10 Tage nach der Verletzung 
konnte der Patient mit voller Beweglichkeit im Kniegelenk entlassen werden. 

Die beiden anderen Fälle betreffen Lnxationen des eigent¬ 
lichen Kniegelenkes. 

Ein 54 Jahre alter Brettschneider wurde von einem Stoss Bretter, der zu¬ 
sammenstürzte, umgeworfen und die Bretter fielen ihm gegen die obere vordere 
Abtheilung des rechten Unterschenkels. Durch die Gewalt des Anpralls ^wurde 
der Kopf der Tibia nach hinten getrieben, die Condylen haben sich zwischen 
Tibia und Fibula hineingedrängt, so dass die letztere aussen, die Condylen vorn 
zu fühlen sind. Es ist also eine Luxatio cruris nach hinten, mit Ein¬ 
keilung des Femur zwischen die beiden Unterschenkelknochen entstanden. Das 
Bein erscheint etwas verkürzt und hyperextendirt. Von dem Verhalten der Ge- 


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Traumatische Luxationen. 


647 


lenkenden kann man sich durch das Gefühl leicht orientiren. Das Trauma hatte 
sich einige Meilen von Berlin ereignet und die dortigen Aerzte batten ver¬ 
gebliche Reductionsversuche angestellt Im Schneider-Mennel’ sehen Ex¬ 
tensionsapparat gelang es, durch manuelles Vorwärtsdrängen des Caput tibiae 
und Rückwärtsschieben des unteren Femurendes die Reduction zu vollenden. 
Die Fibula jedoch liess sich nicht genau reponiren und wich auch stets wieder 
mit ihrem Köpfchen nach aussen ab. Es wurde ein entsprechend gepolsterter 
Gypsverband in Streckung angelegt. Als er entfernt wurde, zeigte sich trotz 
der Wattirung ein Decubitus, hervorgerufen durch das Andrängen des Capitulum 
fibulae. Hierdurch wurde der Kranke lange Zeit an das Bett gefesselt. Erst 
nach drei Monaten war seine Entlassung aus der Anstalt möglich. Im Kniege¬ 
lenk besteht nur ein geringer Grad von Beweglichkeit; das Gehen ist dem Kranken 
sehr erschwert, da das Bein oft seinen Dienst versagt. Es wurde daher eine 
Kniestützmaschine gearbeitet, mit welcher der Patient ohne Anstrengung umher¬ 
gehen konnte. 

ln diesem Falle erscheint es nicht schwer, sich ein Bild von 
der Art and Weise za machen, aaf welche die Luxation za Stande 
kam. Dem Patienten, welcher selbst im Fallen begriffen ist, fällt 
eine Last mit grosser Gewalt gegen den Kopf der Tibia, densel¬ 
ben direct nach hinten drängend. Die Stelle, gegen welche der 
Anprall erfolgte, ist dorch eine leichte Depression gekennzeichnet. 
Das Gewicht des fallenden Körpers treibt indessen das untere 
Ende des Femur zugleich nach unten und vorwärts, so dass das¬ 
selbe, begünstigt durch die Rückwärtsbewegung des Tibiakopfes, 
schnell über den letzteren hinweggleitet. Hierbei muss ein Theil 
des Condylus extemus sich gegen das Capitulum fibulae ange¬ 
stemmt und dasselbe nach aussen von der Tibia abgedrängt ha¬ 
ben. Auf diese Weise enstand die Einkeilung des Femur zwischen 
die Knochen des Unterschenkels. 

Der letzte Fall endlich betrifft einen 26 Jahre alten, kräftigen Zimmermann. 
Derselbe war beim Decken eines höheren Stockwerks auf einem Neubau durch 
eine Treppenluke herabgestürzt und wurde mir sofort nach dem Unfall gebracht. 
Als ich ihn noch angekleidet auf dem Krankenstuhle sab, auf welchem die neu 
Recipirten auf die Station getragen werden, fiel mir schon auf, dass der Unter¬ 
schenkel mit dem Oberschenkel einen flachen, nach der Medianlinie offenen Win¬ 
kel bildete. Oberhalb der Patellargegend fühlte man durch das Beinkleid eine 
tiefe Einsenkung, so dass ich zuerst glaubte, einen Abbruch des unteren Endes 
des Femur vor mir zu haben. Das Bein war um mehrere Zoll verkürzt. Als 
der Patient entkleidet war, liess sich sofort eine Luxation des rechten 
Unterschenkels nach vorn diagnosticiren. Das Caput tibiae und fibulae 
sind nach vom und oben geglitten, die Patella vor sich herschiebend, so dass 
dieselbe wie ein Deckel der oberen Gelenkfläche der Tibia aufliegt. Das Liga¬ 
mentum patellare ist dabei nicht zerrissen. Die Condylen des Femur sind hinter 


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648 


Dr. M. Bartel8, 


den Kopf der Tibia getreten. Die ganze Kniegelenksgegend bildet dadurch eine 
unförmliche Masse. Die Haut ist überall stark über die Knocbenenden gespannt 
— Ich Hess den Patienten zu Bett bringen und den in der Hüfte gebeugten 
Oberschenkel durch einen Wärter fixiren, während ich den Unterschenkel zuerst 
ein Wenig flectirte und darauf stark extendirte. Hierdurch wurde die Luxation 
sofort reponirt Das Bein wurde in Gyps gelegt und für die ersten Tage eine 
Eisblase auf die Kniegegend applicirt Nach acht Tagen wurde der Verband 
entfernt, nach 14 Tagen stand der Kranke zuerst mit Krücken auf. Drei Wochen 
etwa nach der Verletzung wurde er mit vollkommener Beweglichkeit im Knie¬ 
gelenk entlassen. 

Ueber die Entstehung dieser Verrenkung lässt sich nichts Näheres aus- 
sagen, da sowohl der Kranke, als auch seine Mitarbeiter weder angeben konntet, 
wie derselbe gefallen ist, noch auch in welcher Lage sie ihn unten gefunden 
hätten. Es würden sich also nur unfruchtbare Hypothesen entwickeln lassen. 
Bemerkenswerth ist jedenfalls aber noch, dass eine so schwere Verletzung in 
dem kurzen Zeiträume von drei Wochen ohne irgend welche zurückbleibende 
Störung der Function wieder ausgeheilt ist. 

Traumatische Luxationen des Hüftgelenks hatte ich 
10 Mal zu beobachten Gelegenheit; sie vertheilen sich, wie wir 
später sehen werden, auf 9 Kranke. Die gewöhnlichste Form der 
Verrenkung war die Luxatio femoris iliaca; sie kam unter 
den 10 Fällen 7 Mal vor. £s ist hierbei von ganz besonderem 
Interesse, zu sehen, wie die seltenen Formen der Luxationen auch 
durch ätiologische Momente hervorgerufen wurden, welche eben¬ 
falls sehr selten vorzukommen pflegen. Die veranlassenden Ur¬ 
sachen für alle unsere Fälle der gewöhnlichen Form der Verren¬ 
kung der Hüfte, der Luxatio iliaca, hingegen, einen einzigen aus¬ 
genommen, ist eine im Leben so häufige Situation, dass es nur 
verwundern kann, die Luxatio iliaca nicht noch häufiger zur Beob¬ 
achtung zu bekommen. Die Veranlassung für die Luxatio iliaca 
war immer ein plötzliches Pariren des Körpers; die Patienten 
hatten stets den Versuch gemacht, ihrem Körper, während sie 
sich in einer bestimmten Richtung eilig fortbewegten, plötzlich 
und unerwartet eine andere und zwar meist grade entgegengesetzte 
Richtung zu geben. Das kam zum grössten Theile bei Leuten 
vor, die, im Begriff über den Damm zu eilen, sich plötzlich dicht 
vor einem Wagen erblickten und nun den Körper zum Stehen 
und wo möglich zum schnellen Rückwärtsbewegen bringen wollten. 
Der Schenkel war bei dem schnellen Gehen in der Hüfte gebeugt 
Der Körper kam bei der beschriebenen Bewegung zu Falle, w&h- 


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Traumatische Luxationen. 


649 


rend gleichzeitig das energische Aufrichten des Oberkörpers ver¬ 
sucht wurde. Aus diesen Bewegungen resultirt ein Vorwärtsglei- 
ten des Beckens über den Schenkelkopf hinweg. Letzterer, der 
schon bei der gebeugten Stellung des Schenkels dem hinteren 
Pfannenrande näher stand, als dem vorderen, überschreitet jenen, 
zersprengt die Kapsel und gleitet in die Höhe auf die Darmbein¬ 
schaufel. Auch beim Ausgleiten auf glatt gefrorener Strasse kann 
sich dasselbe ereignen. Auch hierbei sucht man den beim schnel¬ 
len Marsche mehr oder weniger vorwärtsgebeugten Körper plötz¬ 
lich und gewaltsam gerade zu richten. In einem Falle war die 
Ursache das Verfehlen einer Treppenstufe, wobei ja ein ganz ähn¬ 
licher Complex von Bewegungen zu Stande kommt. Bei dieser 
Kranken, einem 14 Jahre alten Dienstmädchen, war es übrigens 
nicht zu einer vollständigen Verrenkung sondern nur zu einer 
Subluxatio femoris nach hinten, oben gekommen. Der 
rechte Schenkel stand nach dem Falle in der für die Luxatio iliaca 
charakteristischen Stellung, in der Hüfte und dem Knie etwas 
gebeugt, adducirt und einwärts gerollt. Er liess sich nicht aus¬ 
strecken und in der Hüfte bestand grosse Schmerzhaftigkeit. 
Während ich die Kranke vom Stuhl auf den Operationstisch legen 
liess, schnappte der Schenkelkopf mit einem Ruck in die Pfanne 
zurück. Nach 11 Tagen wurde die Kranke vollkommen geheilt 
entlassen. 

Für die Reduction der Luxatio iliaca wurde immer die 
Flexionsmethode angewendet. Flexion in Knie und Hüfte 
bis zu einem spitzen Winkel, vorsichtige Abduction in rechtwink¬ 
liger Flexionsstellung mit darauf folgender vollständiger Streckung. 
Dieses Verfahren führte mit einer Ausnahme stets zum Ziele. 
Alle Patienten wurden in einem Zeitraum von \\ bis 3 Wochen ge¬ 
heilt entlassen, bis auf zwei, bei denen begleitende Verletzungen 
die Entlassung verzögerten. Die Ausnahme betraf ein 20 altes 
kräftiges Mädchen, bei welchem der erste Reductionsversuch mit 
der erwähnten Flexionsmethode nicht gelang. Es wurde darauf bei 
fixirtem Becken in der Rückenlage das Bein in Knie und Hüfte 
rechtwinklig gebeugt und in dieser Stellung das Bein einfach nach 
oben extendirt; also in der Richtung der Axe des Femur senk¬ 
recht zu der des Körpers. Schon bei mässigem Zuge schlüpfte 
der Kopf in die Pfanne zurück. 


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650 


Dr. M. Bartels, 


Ein Theil der Kranken wurde gleich nach der Reduction in 
einen Gypsverband gelegt, der nach 8 Tagen wieder entfernt 
wurde. Ein andrer Theil wurde ganz ohne Verband auf glatter 
Matratze gelagert. In Bezug auf das Resultat stellte sich kein 
Unterschied heraus. Die Heilungsdauer war dieselbe, ebenso auch 
die Gehfähigkeit. Nur war bei denjenigen, welchen ein Gypsver¬ 
band applicirt worden war, bei den ersten Aufstehversuchen die 
Bewegung im Kniegelenk ein wenig erschwert. 

Aus jüngster Zeit schliesse ich hier noch einen Fall von 
traumatischer Lux^t io femoris iliaca sin. an, der sowohl 
durch seine Aetiologie, als auch besonders durch das jugendliche 
Alter der Patientin bemerkenswerth ist. 

Die kleine Kranke, ein kräftiges Kind von 11 Monaten, war zu einem 
Schuhmacher gebracht worden, um die ersten Schuhe anzuproben. Sie sass da* 
bei auf dem Schoosse des Dienstmädchens, während die vor dem Kinde sitzende 
Frau des Schuhmachers sich bemühte, dem Kinde einen zu kleinen Schub auf 
den Fuss zu zwängen. Hierbei schrie das Kind unaufhörlich und es musste 
schliesslich von dem Kauf der Schuhe Abstand genommen werden. Das Kind 
wurde wieder nach Hause getragen und als bald darauf die Mutter Gehversuche 
mit ihm anstellen wollte, bemerkte sie, dass es das linke Bein nicht ansetzte. 
Am Tage darauf constatirte ich mit dem Hausarzt eine Luxatio femoris iliaca 
mit den gewöhnlichen Symptomen. Die Reduction war hier bei den zarten Thei- 
len, die man bei etwas festerem Zufassen zu fracturiren besorgt sein musste, 
ziemlich schwierig, sie gelang aber nach mehreren Versuchen mit der Flexions¬ 
methode. Es kann kein Zweifel sein, dass durch die rohen Manipulationen der 
Schuhmacherfrau das Bein aus der Pfanne gehebelt worden ist, da jedes andere 
Trauma ausgeschlossen werden konnte. 

Ein Kranker, welcher ohne Gypsverband behandelt wurde, 
verdient dadnrch noch einige Aufmerksamkeit, dass bei ihm nach 
Reduction der ersten Luxation durch unruhige Lage im Bett eine 
neue Verrenkung der Hüfte und zwar eine andere Form als vor¬ 
her entstand. 

Er hatte durch einen Fall, im Begriff einem Wagen auszubiegen, eine 
Luxatio femoris iliaca dextr. acquirirt. Schenkelkopf und Trochanter 
major waren deutlich auf der Hüftbeinschaufel zu fühlen. Die Empfindlichkeit 
des Kranken war so gross, dass jedes Berühren oder auch jeder subjective Ver¬ 
such das Bein zu bewegen, eine krampfartige Muskelstarre hervorrief. Der Pa¬ 
tient konnte auch in Folge dieser hohen Empfindlichkeit nur aufrecht sitzend 
im Bette aushalten, so dass das Bein in der Hüfte fast rechtwinklig gebeugt 
war. Es ist dabei ein Knie gestreckt und nach innen rotirt, so dass die Wade 
nach aussen und die Kniescheibe nach innen gekehrt ist. Der Condylus int. 
femoris und der Malleolus int. liegen der Matratze auf; das Bein ist verkürzt 


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Traumatische Luxationen. 


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Die Verreqkung wird reponirt, der Kranke ohne Verband gelagert. Er liegt 
sehr unruhig, die Schwellung der Hfiftgegend, welche vom Rade gestreift war, 
entwickelte sich sehr stark. 7 Tage nach der Reduction findet sich Morgens das 
Bein im Knie leicht flectirt, in der Höfte gestreckt, massig nach innen rotirt. 
Rotation nach aussen ist unmöglich. Der Scbenkelkopf ist auf dem Foramen 
iscbiadicum deutlich fühlbar. — Zur Reduction dieser Luxatio femoris 
ischiadica wurde ein Stapes um das Knie gelegt und daran ein starker Zug 
nach oben ausgeübt, — Patient befindet sich in der Rückenlage auf der Erde —; 
dabei wird stark flectirt und nach innen gerollt, darauf stark abducirt und ge¬ 
streckt. Hierdurch gelang es, den Schenkel wieder einzurenken. Der Kranke 
wurde wieder ohne festen Verband gelagert, konnte nach 11 Tagen aufstehen 
und wurde 22 Tage nach der ersten, und 15 Tage nach der zweiten Reduction 
mit vollkommener Beweglichkeit in dem Hüftgelenk geheilt entlassen. 

Es sind mm nur noch zwei der selteneren Formen der Ver¬ 
renkung des Hüftgelenkes zu besprechen, welche mir jede einmal 
zur Beobachtung kam. 

Die erste, eine Luxatio femoris sin. suprapectinea, acquirirte ein 
47 Jahre alter, sehr kräftiger Kutscher bei dem Abladen einer colossalen Kiste 
mit Schaufensterscheiben. Zwei Arbeiter trugen die Kiste vom, während unser 
Patient allein das hintere Ende trägt. Jene sind zu schwach, die Last zu be¬ 
wältigen, und lassen los. Der Kutscher sucht die Kiste zu halten, damit sie 
nicht auf die Arbeiter stürzt. Dabei fällt sie auf ihn und er bricht mit ihr zu¬ 
sammen. Er wurde gleich nach Bethanien gebracht und dort zuerst eine Ver¬ 
letzung des rechten Fusses — Fractur des untersten Endes beider Unterschen¬ 
kelknochen mit Verschiebung des Fusses nach aussen — sofort eingerichtet und 
eingegypst. Das linke in der Hüfte verrenkte Bein ist ungefähr um 8 Gm. ver¬ 
kürzt — eine ganz genaue Messung war unmöglich — und steht in so vollstän¬ 
diger Rotation nach aussen, dass es mit dem ganzen äusseren Fuss- und Knie¬ 
scheibenrand die Tischplatte berührte. Die Kniescheibe ist gerade nach aussen, 
ihr medianer Rand gerade nach oben gerichtet, ebenso auch der Musculus vastus 
internus. Das Bein ist ganz gestreckt und bis zur Normalstellung adducirt. 
Die Leistenfurche ist verschwunden; statt ihrer besteht eine diffuse Geschwulst, 
welche vom Oberschenkel allmälig aufsteigend bis zur oberen Grenze des linken 
Hypogastrium reicht In dieser geschwollenen Gegend fühlt man auf dem Lig. 
Pouparti, respective auf dem Pecten pubis, den Schenkelhals. Der Schenkelkopf 
steht entsprechend höher auf den Bauchdecken; er markirt sich als kleine Her* 
vorwölbung. Er ist medianwärts und etwas nach vom und oben gedreht, so dass der 
grosse Trochanter, nach hinten gerichtet, nicht gefühlt werden kann. Desto voll¬ 
ständiger kann man den Kopf umgreifen und die Fossa capitis, aus der das Li¬ 
gamentum teres herausgerissen ist, als Delle fühlen. 

Die Contouren des Schenkels sind besondors auch auf der Hinterfläche 
bedeutend alterirt. Auf dieser bemerkt man nämlich die nach aussen liegende, 
sonst seichte Furche, welche die Strecker vom Vastus ext trennt, sich als 
eine tiefe Rinne markiren, die bis zum oberen Drittheil des Femur reicht. 
Hier trifft sie auf die Gesässschenkelfurche und bildet im Kreuzungspunkt 


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Dr. M. Bartels, 


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eine tiefe Grube von der Grosse eines halben Gänseeies. Die Hinterbacke 
scheint viel nach hinten verlängert za sein. Beugung in der Hüfte ist ganz 
unmöglich, die Rotation nach innen sehr beschränkt. Weder am Femur noch 
am Becken besteht eine Fractur. 

Vergegenwärtigt man sich die Stellung, welche der Patient eingenommen 
haben muss, als das Trauma auf ihn einwirkte, so begreift es sich leicht, dass 
hier, falls überhaupt nicht eine Fractur, sondern eine Luxation zu Stande kam« 
eben eine Verrenkung nach vom entstehen musste. Der Mann stand da mit 
vor dem Leib gefalteten Händen, mit denen er die schwere Kiste an der Schmal* 
seite unterstützte. Die Beine waren mässig gespreizt, um dem Körper eine 
grössere Widerstandsfähigkeit gegen die enorme Last zu schaffen. Der Ober* 
körper war aus demselben Grunde ein wenig nach hintenüber gebeugt Hierbei 
schon war der Schenkelkopf gegen den vorderen Theil der Gelenkkapsel ange¬ 
drängt. Als nun die beiden vorderen Träger das vordere Ende der Kiste fallen 
Hessen, unser Kranker aber dieselbe zu halten versuchte, so wurde durch den 
Anprall der Last der Rumpf mehr nach hinten, dadurch aber der Schenkelkopf 
noch mehr gegen die vordere Kapselwand gedrängt. Letztere zerriss und nun 
wurde der Oberkörper einfach über den Schenkelkopf hinweggeschoben und als 
ihm die Stütze des Beines fehlte, berabgedrückt, so dass der Schenkelkopf vor 
dem Becken in die Höhe steigen musste und sich endlich auf dem horizontalen 
Schambeinaste festhakte. Das andere Bein, das mit diesem vermuthlich nicht 
in derselben Ebene gestanden hatte, erlitt statt einer Luxation eine Fractur der 
beiden Unterschenkelknochen. 

Es boten sich der Reduction bei unserem Patienten ganz ausserordent¬ 
liche Schwierigkeiten dar. Ich begann die Einrenkungsversuche folgendermaassen: 
Der Kranke wurde so in der Rückenlage auf dem Operationstisch gelagert, dass 
das Becken gerade den Tischrand berührte. Das Bein wurde darauf in Hyper¬ 
extension gebracht und möglichst nach aussen rotirt und auf diese Weise wurde 
es erreicht, den Schenkelkopf mehrere Centimeter über das Niveau des Scham¬ 
beines zu erheben, wobei derselbe die Bauchhaut stark hervorwölbte. Gelang 
es nun, einen hinreichend starken Zug an dem hyperextendirten Beine auszu¬ 
üben, so musste das Femur, ohne am Schambein mit dem Kopfe hängen zu 
bleiben, sich unter dasselbe herabziehen lassen. Leider genügte die verwend¬ 
bare Kraft nicht, diesen nothwendigen Zug zu vollführen und auch ein directes 
Nachschieben an dem leicht zugänglichen Schenkelkopf hatte keine Wirkung. 
Nach mehrfacher Wiederholung musste daher endlich von dieser Methode, gegen 
die sich theoretisch wohl nichts einwenden lässt, Abstand genommen werden. — 
Es wurde noch im Schneider-Mennel’sehen Extensionsapparat eine starke 
Extension ausgeübt Die Zugkraft hätte jetzt hingereicht; da sich aber bei der 
Zugrichtung des Apparates die für die Reduction nothwendige Hyperextension 
nicht hersteilen Hess, so hakte sich immer nur der Scbenkelkopi an dem Scham¬ 
bein fest und es musste auch diese Methode aufgegeben werden. — Da der 
Kranke von dem schweren Trauma und den besprochenen Manipulationen sehr 
angegriffen war, so hielt ich es für erforderlich, von fernerer Cbloroformnarkose 
abzustehen und ihm erst hinreichende Ruhe zu gönnen. Es ist dieses der 


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Traumatische Luxationen. 


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einzige mir vorgekommene Fall von frischer Verrenkung, bei dem die ange¬ 
strebte Reduction nicht erreicht wurde. — Es entwickelte sich ein starkes Blut¬ 
extravasat und grosse Schwellung, welche erst nach 6 Tagen zu verschwinden 
begann. Der immer noch in der oben beschriebenen Weise nach aussfen rotirte 
Schenkel wurde jetzt im Knie leicht gebeugt gehalten. — Acht Tage nach der 
Verletzung versuchte Herr Geh. Rath Wilms die Reduction von Neuem. Es 
wurde jetzt zuerst die Flexionsmethode angewendet. Das Bein wurde in Knie 
und Hüfte mit grosser Gewalt gebeugt und dann in dieser Stellung nach oben 
extendirt. Als die Zugkraft zu gering erschien, wurde der Extensionsapparat 
wieder benutzt. Der Schenkelkopf wurde hierdurch sehr beweglich, aber die 
Reposition gelang nicht, weil der Kopf sich stets gegen das Pecten pubis 
anstemmte. Es wurde nun noch die von W. Busch empfohlene Rotations¬ 
methode versucht: Extension mit starker Abduction und Rotation nach aussen, 
dann immer extendirend Adduction und Rotation nach innen. Zweimal miss¬ 
lang der Versuch, beim dritten Male aber wurde endlich die Reduction erreicht, 
so dass wir wohl in ähnlichen Fällen von vorn herein dieser Methode den 
Vorzug geben würden. Der Kranke wurde in Gyps gelegt und mit Reizmitteln 
behandelt. Ein colossales Blutextravasat ging vom Scrotum und der Leisten¬ 
furche allmälig auf die ganze linke Bauchhälfte über bis zum Nabel. Eine 
Stelle begann nach und nach deutlich zu fluctuiren. Bei grosser Ruhelage 
trat aber Resorption ein und es bildete sich eine brettartig harte Infiltration 
des Hypogastrium und der Inguinalfurche. 

Vierzehn Tage nach gelungener Reduction bildete sich eine Thrombose der 
linken Vena cruralis. Es ist dieselbe, da sie sich so lange Zeit nach der Ein¬ 
renkung entwickelte und bei dem grossen Schwächezustand des Patienten, wohl 
nicht als Folge der Reduction, sondern als eine marantische zu betrachten. Die 
Fractur am rechten Beine heilte in der gewöhnlichen Weise; die Anschwellung 
des linken Beines besserte sich, die starre Infiltration der Leistenfurche wurde 
theilweise resorbirt und der Kranke konnte nach 2£ Monat geheilt entlassen 
werden. Sein Gang war noch erschwert und er musste sich eines festen Stockes 
als Stütze bedienen. Die Flexion in dem Hüftgelenk war ungefähr bis zu einem 
halben rechten Winkel möglich. Die Rotation nach aussen war so gut wie 
aufgehoben und das Bein hatte stets die Neigung sich nach innen zu rotiren, 
so dass die linke Fussspitze einwärts gewendet war. Der Grund hierzu ist 
wohl in der Infiltration zu suchen, welche in der Umgebung des Hüftgelenkes 
noch bestand. 

Der letzte zu besprechende Fall betrifft einen 19 Jahre alten Arbeiter, der 
unter der Last eines Getreidesackes zusammenbrach. Ein herbeigerufener Arzt 
schickte ihn mit der Diagnose Oberschenkelfractur nach Bethanien. Ich fand 
bei dem Kranken eine Luxatio femoris dextri perinealis. Das rechte 
Bein war im Knie und in der Hüfte flectirt und soweit abducirt, dass es fast 
in Pott’scher Seitenlage sich befand. Flexion war möglich, ebenso die Exten¬ 
sion bis zu einem Winkel von 150 Graden; die Bewegungen sind jedoch alle 
sehr schmerzhaft. Der Schenkelkopf lässt sich an der Innenseite des Beines 
auf dem aufsteigenden Aste des Sitzbeines dicht an der Grenze des abstei- 


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Dr. M. Bartels, Traumatische Luxationen. 


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genden Schambeinastes deutlich fühlen. — Die Reduction der Verrenkung 
führte ich durch die Flexionsmethode aus. Bei fixirtem Becken wurde das Bein 
möglichst flectirt und dann hyperadducirt, so dass das rechte Knie lateralwirti 
von dem oberen Drittheil des Femur des gesunden Beines stand. Hierauf wurde 
sanft extendir(. Bei dem zweiten Male sprang der Kopf mit laut hörbarem 
Geräusch in die Pfanne zurück. Der Patient wurde in Gyps gelegt und konnte 
nach 17 Tagen mit vollkommener Beweglichkeit im Hüftgelenk geheilt entlassen 
werden. — Die genauere Anamnese ergab für die Aetiologie der Verrenkung 
Folgendes, wodurch auch zugleich der Mechanismus derselben erklärt wird. Der 
junge Mann hatte den schweren Sack quer über den Hals auf beiden Schultern 
getragen und war unter der Last zusammengebrochen und auf das linke, gesunde 
Knie gefallen. Dabei rutschte der Sack von der Schulter und fiel gegen den 
rechten Schenkel, so dass dessen oberster Theil medial- und vorwärts, das Knie 
nach hinten gedrängt wurde. Der Schenkelkopf wurde also eigentlich durch 
directen Schlag aus der Pfanne gedrängt, ähnlich wie bei dem oben erwähnten 
Kutscher eine Luxatio bumeri durch einen Hufschlag gegen die Hinterfläche 
des Oberarmes erzeugt wurde. Allerdings kommt bei der Entstehung der vor¬ 
liegenden Hüftgelenksverrenkung wohl auch noch die fallende Bewegung des 
Rumpfes als wesentlich unterstützendes Moment in Betracht. 


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XXV, 

Ein Fall von angeborener Makroglossie 
combinirt mit Hygroma cysticum colli 

congenitum. 

Von 

Dr. Wlniwarter, 

Assistenzarzt an Professor Billroth's chirurgischer Klinik in Wien. 

(Hierzu Tafel XIX.) 


Ueber angeborene Zungenhypertrophie, sowie über Hygroma 
cysticum colli congenitum existiren [zahlreiche Angaben in der 
Literatur, es sind beides pathologische Zustände, die verhältniss- 
mässig nicht so selten sind, dass es gerechtfertigt wäre, jeden 
einzelnen Fall besonders zu registriren, um so mehr, als die Be¬ 
funde im Ganzen ziemlich immer dieselben sind. Viel weniger 
häufig scheint die Combination beider im Wesen analogen Krank¬ 
heitsformen beobachtet worden zu sein, ich finde zum mindesten 
in den chirurgischen Lehrbüchern hiervon wenig oder gar nichts 
erwähnt. Ein ausführlicher beschriebener Fall von Makroglossie 
mit Cystenhygrom und Angiom ist von Valenta*) veröffentlicht 
worden. Vielleicht gehört äuch hierher ein von Virchow**) ci- 
tirter, der übrigens nicht genauer untersucht worden zu sein 
scheint. Ich theile deshalb in Kurzem die Krankengeschichte eines 
auf unserer Klinik beobachteten analogen Falles mit und knüpfe 


*) Cystenhygrom am Halse combinirt mit cavernosem Angiom und Makro¬ 
glossie. Oesterr. Jahrb. für Pädiatrik II. Bd. S. 35. 1871. 

**) Ueber Makroglossie und pathol. Neubildung quergestreifter Muskelfasern. 
Vircbow’s Archiv. Bd. VII. S. 126. 


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UNIVERSITY OF CAÖlWftfr 


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Dr. A. Winiwartef, 


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hieran die Ergebnisse, welche ich dnrch die mikroskopische Unter¬ 
suchung über Structur und Genese der angeborenen Zungenhyper¬ 
trophie erlangt habe. 

Am 16. Mai 1872 wurde ein 14 Monate alter Knabe auf die hiesige Klinik 
gebracht, der von Geburt an eine abnorm grosse Zunge gehabt batte. Sie ragte 
damals noch nicht aus dem Munde heraus und scheint die Ernährung nicht 
wesentlich beeinträchtigt zu haben. Nähere Daten über das Wachsthum der 
Zunge, sowie über die gleich zu erwähnende Geschwulst am Halse waren von 
den Angehörigen nicht mit gehöriger Sicherheit zu ermitteln. Die Schwierig¬ 
keit, das Kind zu ernähren, hat die Leute jetzt bewogen, ärztliche Hilfe zu 
suchen. Der Knabe ist sehr schwächlich gebaut, äusserst herabgekommen und 
anämisch aussehend. Aus seinem Munde ragt die Zunge in Form eines über 
Zoll langen und ebenso viel im Durchmesser haltenden Zapfens hervor; sie ist 
excoriirt und dort, wo sie mit den Zähnen in Contact gerätb, mit dicken Borken 
belegt. Die Mundspalte ist durch diesen Prolapsus linguae sehr stark gespannt, 
so dass es nur mit Mühe gelingt, einen kleinen Löffel in die Mundhöhle zu 
bringen und auf diese Weise das Kind zu ernähren. Aussor dieser Abnormität 
zeigt sich an der linken Seite des Halses, herübergreifend über die Medianlinie, 
eine mannsfaustgrosse, weich elastische Geschwulst, auf ihrer Unterlage nicht 
verschiebbar, von stark gespannter, theilweise gerötheter, mit der Geschwulst 
verwachsener Haut bedeckt; an einzelnen Stellen ist deutliche Fluctuation des 
Tumors nachzuweisen. Auch diese Geschwulst ist, wie die Eltern mit Bestimmt¬ 
heit angeben, angeboren. Die Diagnose wurde nach diesem Befunde auf 
Makroglossie und Cystenhygrom gestellt. Da es vor Allem darauf ankam, wenn 
man überhaupt etwas unternehmen wollte, die Möglichkeit einer genügenden 
Ernährung des Kindes zu schaffen, so schritt man zur Abtragung der hyper¬ 
trophischen Zunge, welche am 16. Mai mittelst der galvanocaustischen Schlinge 
ausgeführt wurde. Die Zunge wurde vorgezogen, ein Platindrath so weit als 
möglich nach rückwärts geschoben, und, unter Anwendung nur Eines Elementes, 
die vordere Zungenpartie, ein fast zwei Zoll langes Stück, abgetragen. Die 
Blutung war eine kaum nennenswert!«. Schon jetzt konnte man sich mittelst 
des Fingers überzeugen, dass der ganze zurückgebliebene Rest der Zunge auf 
gleiche Weise hypertrophirt war und dass der Raum nach hinten gegen die 
Rachenhöhle hin noch immer sehr beengt sei. 

Die Ernährung wurde von nun an mit der Schlundsonde vorgenommen, die 
ohne grosse Beschwerde einzuführen war. Die ersten Tage ging Alles erträglich; 
am 20. Mai (G Tage nach der Operation) fing das Kind an sehr unruhig zu 
werden, der zurückgebliebene Stumpf der Zunge schwoll stark an und an der 
Geschwulst am Halse war eine deutliche Vergrösserung nachzuweisen. Der 
Schorf haftete noch theilweise; wo er abgefallen war, zeigte sich eine missfarbige, 
reactionslose Wundfläche. 

Die Schwellung des Zungengrundes machte das Einführen der Schlundsonde 
wieder viel mühsamer, das Kind fieberte und schon in den nächsten Tagen 
trat, in dem Grade als sich der Brandschorf ablöste ein ausgedehnter Wund¬ 
zerfall ein, man wendete verschiedene Mittel an, um demselben entgegenzuwirken, 


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Ein Fall von angeborener Makroglossie. 


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jedoch ohne allen Erfolg. Am 26. Mai Abends stellte sich ein Schüttelfrost 
ein, das Kind wurde immer schwächer und starb unter zunehmenden Collaps- 
erscheinungen am Abend des 28. Mai (12 Tage nach der Operation). Der 
Tumor am Halse hatte seit der ersten Intumescenz langsam an Volumen zuge¬ 
nommen. 

Die Obduction wurde nicht ausgeführt, jedoch die Geschwulst am Halse 
samrnt dem Boden der Mundhohle, Zungenstumpf, Gaumenbogen u. s. w. als 
Ganzes herausgenommen. Der Tumor bestand aus einem Conglomerate von 
Cysten, deren grösste etwa das Volumen eines kleinen Apfels hatte; ihr Inhalt 
war eine theils klare gelbliche, theils braune (haemorrhagische) Flüssigkeit. Die 
Cysten erstreckten sich zwischen die Muskeln des Bodens der Mundhöhle, 
umhüllten Larynx und Trachea vollständig und gingen unmittelbar über in das 
cavernöse Gewebe des zurückgebliebenen Zungenstumpfes. Die Cysten schienen 
nicht in grösserer Ausdehnung mit einander zu communiciren, wenigstens gelang 
es nicht, bei einem am frischen Präparate vorgenommenen Injectionsversuch 
(durch Einstich) benachbarte Hohlräum^ von der angestochenen Oyste aus zu 
füllen. Der zurückgebliebene Stumpf der Zunge war zwei Zoll lang, etwa 
1 \ Zoll und darüber dick und über Zoll breit. Er ragte so weit nach aufwärts, 
dass eben noch der kleine Finger mit seiner Spitze zwischen Zunge und weichem 
Gaumen passiren konnte. Die Consistenz war sehr derb, am Dnrchschnitte der 
ganzen exstirpirten Masse konnte mau sehr deutlich den unmittelbaren Ueber- 
gang des Cystengewebes in die Zunge wahrnehmen, so dass eine scharfe Grenze 
zwischen beiden nicht zu ziehen war. Dies ist ein nicht gewöhnlicher Befund. 
Virchow giebt ausdrücklich an, dass der Zungengrund bei der Makroglossie an 
dem pathologischen Processe nicht theilnehme, und hierauf beruht ja die Mög¬ 
lichkeit einer Heilung durch Abtragung des vorderen hypertrophirten Stückes. 
In unserem Falle hätte sich selbstverständlich, wenn auch der Exitus lethalis 
nicht eingetreten wäre, in kurzer Zeit der vor der Operation vorhandene Zustand 
wieder hergestellt. Im Uebrigen unterschied sich der Zungenstumpf in nichts 
von dem früher exstirpirten Stücke. Einzelne Lymphdrüsen von der Halsgegend 
schienen dem makroskopischen Ansehen nach normal zu sein. 

Ich will über die Untersuchung der Cystengeschwulst am Halse nur das 
anführen, dass ich die Ergebnisse, zu welchen Köster*), dessen Arbeit die 
neueste über diesen Gegenstand ist, gekommen ist, durchaus bestätigen kann. 
Es gelang mir an der Cystenwandung, die in Müller’scher Flüssigkeit conservirt 
worden war, das von ihm beschriebene Endothel nachzuweisen, und wenn ich 
auch die von ihm beobachtete Entwicklung aus den Lymphgefässen nicht Sehritt 
für Schritt verfolgen konnte, so muss ich doch nach meinen Beobachtungen 
seine Erklärung als übereinstimmend mit den Thatsachen bezeichnen. Ich 
glaube auch, dass die später zu besprechenden Resultate meiner Untersuchung 
der Zungenhypertrophie im guten Einklang mit dem steht, was Köster für das 
Cystenbygrom nachgewiesen hat. Als einzig bemerkenswerthen Befund will ich 


*) Ueber Hygroma cysticum colli congenitum. (Separ.-Abdr. aus den Ver- 
handl. der pbysic.-medic. Gesellschaft zu Würzburg. N. F. UJ. Band.) 


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Dr. A. Winiwarter, 


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das Vorkommen von ganz kleinen cavernösen Bluträumen zwischen den Cyslexi 
erwähnen, weil ihre Entstehung aus venösen Gefässen nachweisbar war. Sie 
hatten übrigens auf den Habitus des Tumor weiter keinen Einfluss. 

Das abgetragene Stück der Zunge wurde in Alcohol gehärtet und die Schnitte 
in Glycerin untersucht Das gehärtete Object zeigte schon makroskopisch ein 
fein poröses Aussehen, welches jedoch gegen die untere Fläche der Zunge zu 
einer dichteren, resistenteren Gewebsanordnung Platz machte. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung erkannte man sogleich das oft 
beschriebene Bild der Makroglossie: verschieden geformte, lücken-spaltförmige, 
an Grösse sehr differente Hohlräume, welche zum Theil mit einem körnigen 
Gerinnsel, zum Theil aber mit Blutkörperchen und lymphoiden Zellen erfüllt 
waren; ein bindegewebiges, die einzelnen Hohlräume von einander abgrenzendes 
Gerüstwerk; an anderen Stellen Zelleninfilfration im Gewebe. Zwischen den 
Hohlräumen verliefen Muskelbündel und Gefässe, die Papillen der Zungen - 
schleimhaut waren bedeutend hypertrophirt, ihr Epithelbelag mindestens um das 
Vierfache verdickt. Schon bei oberflächlicher Betrachtung konnte man wahr¬ 
nehmen, dass die Vergrösserung der Zunge nicht durch Massenzunabme der 
Muskulatur zu Stande gekommen sei; im Gegentheil hatte es den Anschein, ab 
ob die Muskelbündel durch das Auftreten der pathologischen Bildungen zwischen 
ihnen auseinandergeworfen und in ihrer Existenz beeinträchtigt worden seien. 
Ich habe überhaupt in der Literatur nur drei Fälle von angeborener Zungen¬ 
hypertrophie gefunden, in welchen es sich um eine wahre Massenzunahme der 
Muskulatur handelte, und von diesen scheint mir der Fall von G. 0. Weber*), 
was seine Deutung betrifft, nicht über jeden Einwand erhaben zu sein. Der 
zweite ist mir nur nach dem Citate von Bardeleben zur Kenntniss gelangt 
Derselbe erwähnt nämlich in seinem Handbuch der Chirurgie**) einen von ihm 
selbst operirten Casus von Makroglossie, bei welchem durch die Untersuchung 
Grohe’s in der Zunge hypertrophische Muskelbündel nachgewiesen wurden. 
Ausserdem erwähnt Valenta in seinem oben citirten Befunde eine Hyperplasie 
der Muskelfasern. In allen übrigen mir bekannt gewordenen Fällen wird eine 
Hypertrophie der Muskulatur ausdrücklich in Abrede gestellt 

Es handelte sich bei der genaueren Untersuchung hauptsäch¬ 
lich um die Frage: Wie kommen die Hohlräume in der Zunge zu 
Stande, und haben wir ein Recht, die Makroglossie als besondere 
Form von Lymphangiom aufzufassen? Die naheliegendste Ablei¬ 
tung der Lymphräume von ectatischen Lymphgefässen hat Vir* 
ehow***) in seiner ersten Arbeit über diesen Gegenstand bereits 


*) Anatomische Untersuchung einer hypertrophischen Zunge. Virchow's 
Archiv. Bd. VH, S. 115. 

**) III. Band, S. 331, 6. Auflage. 

***) Ueber Makroglossie u. Neubildung quergestreifter Muskelfasern. Vir- 
chow’s Arcb. VH. Band, S. 126. 


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Ein Fall von angeborener Makroglossie. 


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vermuthungsweise gegeben; in der Besprechung desselben Gegen¬ 
standes in seinen Vorlesungen über Geschwülste leitet er die 
Hohlräume mit Bestimmtheit von den Lymphgefässen ab; ähnlich 
sprechen sich Buhl*], Billroth*), Lücke*) u. a. aus; die 
jüngste Beobachtung von C. Arnstein**) hat den Verfasser zu 
demselben Resultate geführt. Volkmann***,) hat in der hydropi- 
schen Degeneration der Zungenpapillen den Grund des Zustande¬ 
kommens der Hohlräume vermuthet. Ich kann die eben erwähn¬ 
ten Beobachtungen nur bestätigen, es kommen unzweifelhaft Cysten¬ 
räume zu Stande durch Erweiterung praeexistirender Lymphge- 
fässe in ganz ähnlicher Weise, wie es Köster f) für die ange- 
bornen Cystenhygrome des Halses nachgewiesen hat. Man findet 
in verhältnissmässig normalem Gewebe an einzelnen Stellen röh¬ 
renförmige, varicöse Räume von verschiedenen Durchmessern (von 
der Dicke eines Capillarrohrs bis zu der einer kleinen Arterie), 
deren Wandungen sehr dünn, fast structurlos sind; sie enthalten 
in ihrem Lumen feinkörniges Gerinnsel, in ihm eingeschlossen ein¬ 
zelne Lymphkörperchen oder Reste von solchen; es ist kein Zwei¬ 
fel, dass man sie als erweiterte Lymphgefässe zu deuten habe. 
Schritt für Schritt kann aus diesen^Lymphgefässen die Entstehung 
grössererer Hohlräume verfolgt werden, so zwar, dass es nicht 
gerade selten ist, zu sehen, wie sich ein Antheil eines solchen 
Gefässes zu einer kugeligen Blase ausgedehnt hat, während in 
dieselbe noch ein Ast von fast drehrunder Conformation, ein noch 
annähernd normales Lymphgefäss einmündet. Fig. 1 giebt bei 
schwacher Vergrösserung ein ziemlich anschauliches Bild dieses 
Vorganges, ff) 

Es ist aber im Ganzen die Entwickelung der Lymphgefässe 
zu Cystenräumen bei der Makroglossie ein nebensächlicher Befund, 
die Mehrzahl der Hohlräume entsteht auf eine viel complicirtere 


*) Hecker u. Buhl. Klinik der Geburtskunde. Leipzig 1861, S. 323. 

*•) Zur Casuistik der Makroglossie. Virchow’s Arcb. Bd. LIV, S. 319. 

***) Zeitschrift für rationelle Medicin 1857, Heft II. 
t) a. a. 0. 

tt) Virchow erinnert gewiss mit Recht an die Aebnlichkeit dieses Befundes 
mit den bei Elephantiasis der Haut vorkommenden Erweiterungen der Lymph- 
babnen. 

t. Langen bock, Archiv f. Chirurgie. XVI. 


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Dr. A. Winlwarter, 


Weise, deren Beobachtung anf die eigentliche Genese des ganzen 
pathologischen Processes zu führen geeignet ist. Untersucht man 
nämlich Stellen, welche anscheinend normal sind (besonders auf 
der oberen Fläche der Zunge), bei stärkeren Vergrösserungen, so 
bemerkt man Vorgänge von Zelltheilung im Bindegewebe. Die¬ 
selbe beginnt damit, dass sich einzelne Bindegewebszellen ver- 
grössem und rundlich werden. Ihre Kerne vermehren sich, als¬ 
bald findet man zahlreiche Theilungsformen der Zellen und end¬ 
lich sieht man Gruppen von drei bis vier ziemlich grossen, rund¬ 
lichen, einen verhältnissmässig grossen Kern mit deutlichen Kern¬ 
körperchen einschliessenden Zellen, die zwischen den Fibrillen des 
Bindegewebes liegen und aus den Bindegewebszellen hervorge¬ 
gangen sind. An diesem Wucherungsprocesse betheiligen sich 
aber auch in hervorragender Weise die Gefässe und zwar die 
kleinsten Arterien und besonders die Capillaren. Die Adventitia- 
zellen insbesondere sind es, welche sich vergrössern, sich theileo, 
so dass an einzelnen Stellen drei bis vier Zellen wie eine buckel¬ 
artige Vortreibung an der Wand des Gefässes sitzen; ausserdem 
nehmen auch die übrigen Wandelemente an dem Proliferations- 
vorgange Antheil; in den Capillaren ragen die vergrösserten Zel¬ 
len sowohl nach aussen als nach innen vor; in einzelnen Fällen 
bleibt von dem ganzen Capillarrohr nur mehr ein solider, mit Zel¬ 
len dicht besetzter Strang übrig, in welchem einzelne Blutkörper¬ 
chen liegen. — Die nächste Folge des eben beschriebenen Wuche- 
. rungsprocesses ist eine Massenzunahme des Bindegewebes. Das¬ 
selbe erscheint an solchen Stellen verbreitert, es ist durchsetzt 
von einer grossen Menge neugebildeter Zellen, die, wenigstens an 
manchen Stellen, direct zur Herstellung von fibrillärem Bindegewebe 
führen. Sie nehmen bald die Spindelform an und erzeugen neue 
Bindegewebsfasern. Auf diese Weise kommt ein dichtes, gefass- 
armes, fibröses Gewebe zu Stande, wie man es hauptsächlich an 
der unteren Fläche der Zunge findet, in welchem die Musculatur 
fast vollständig untergegangen ist. 

An anderen Stellen entwickelt sich aber aus der anfänglichen 
Zellwuchernng ein ganz verschiedenes Bild. Die runden, zwischen 
den Bindegewebsbündeln liegenden Zellen treten nach und nach 
zu einzelnen Haufen zusammen, die sich Anfangs noch parallel 
der Faserrichtung in länglichen Formen anordnen, aber nach und 


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Ein Fall von angeborener Makroglossle. 


661 


nach zu runden, von den auseinandergedrängten Bindegewebsbün- 
deln kapselartig eingeschossenen Körpern werden. Sie bestehen 
ganz und gar aus dicht gedrängten lymphoiden Zellen, zwischen 
denen spärliche Fasern zurückgeblieben sind. Von Gefässen ist, 
es sei denn, dass sich die Zellen um ein präexistirendes Gefass 
angesammelt haben, in diesem Stadium keine Spur zu finden. 

In weiteren Entwickelungsstufen bekommt das Ganze immer 
mehr das Aussehen eines kleinen Lymphfollikels. Einzelne Zellen 
bekommen Fortsätze, die rundlichen Zellen rücken etwas ausein¬ 
ander, nach und nach entsteht ein Netzwerk von feinen Fasern, 
welches zwar nicht die Vollständigkeit des Gerüstes einer Lymph- 
drüse erreicht, aber doch in seiner Bedeutung als Stützgewebe 
nicht zu verkennen ist; in dem so weit entwickelten Gebilde fin¬ 
det man nun auch Capillaren, und es hat somit die Wucherung 
der Bindegewebselemente in dem Zustandekommen eines Lymphom¬ 
knotens ihren vorläufigen Abschluss erreicht. Jetzt beginnen re¬ 
trograde Veränderungen, auf die ich später zurückkomme. 

Nicht immer kommt die erwähnte Entwicklung eines Lymphom¬ 
knotens so vollkommen zu Stande, an vielen Stellen tritt bereits 
viel früher eine rückgängige Metamorphose ein. Es beginnt näm¬ 
lich in dem Zellenconglomerate selbst und zwar immer in der 
Mitte ein moleculärer Zerfall, der zur Bildung eines central ge¬ 
legenen, von Zellen umgebenen Hohlraumes führt. Der Hohlraum 
ist gefüllt mit seröser Flüssigkeit, in welcher die moleculären 
Zellreste als feinkörnige Fragmente enthalten sind. Wie der Zer¬ 
fall gegen die Peripherie zu weiter greift, vergrüssert sich der 
Hohlraum und wird endlich zu einer rundlichen, von dem kapsel¬ 
artig verdickten, gewöhnlich auch noch von Zellen durchsetzten 
Bindegewebe begrenzten kleinen Cyste mit serösem Inhalt. Dieser 
ganze Vorgang ist mit grosser Sicherheit an zahlreichen Stellen 
zu verfolgen, und die auf diese Weise entstandenen Cysten lassen 
sich meistens endlich leicht unterscheiden von den durch Lymph- 
gefassectasien zu Stande gekommenen Hohlräumen; die ersteren 
sind, wie erwähnt, wenigstens im Anfänge, immer rund, während 
die ausgedehnten Lymphgefässe, wenn sie auch an einzelnen Stel¬ 
len kugelig erweitert sind, doch gewöhnlich noch in der Nähe 
annähernd normale Partieen zeigen; dann fehlt in der unmittelbaren 
Umgebung der Lymphgefässcysten gemeiniglich auch die Zellinfil- 

43* 

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Dr. A. Winiwarter, 


tration des Bindegewebes, welche aus den oben besprochenen Grün¬ 
den gerade um jene durch Zerfall zu Stande gekommenen Hohl¬ 
räume auffallend massenhaft ist. 

Es gehen ferner Hohlräume hervor aus den lymphomartigen 
Wucherungen, welche ich früher geschildert habe, und zwar durch 
das Auftreten eines eigenthümlichen Durchtränkungsprocesses des 
Gewebes mit Serum. In den Lymphomknötchen rücken nämlich 
die zelligen Elemente aus einander, etwa so als ob man eine 
Flüssigkeit durch Einstich in das Gewebe injicirt hätte; hierdurch 
entstehen Zwischenräume zwischen den Zellen, wie bei einem un¬ 
vollkommenen Schüttelpräparat einer Lymphdrüse, die Fasern des 
Stützgewebes werden besser sichtbar; die zelligen Elemente gehen 
fettige Degeneration ein und geben zur Entstehung von grossen 
Körnchenzellen Veranlassung; viele zerfallen ganz, während die 
Fasern des Reticulums noch persistiren. Man hat jetzt einen 
von zahlreichen feinen Bindegewebsfasern und einzelnen Gerüst¬ 
zellen mit ihren Fortsätzen durchzogenen Raum vor sich, dessen 
Maschen körnig geronnenes Serum und einzelne rundliche lym- 
phoide Zellen oder Reste solcher enthalten; endlich verschwindet 
auch das Reticulum und die einzelnen Maschenräume fliessen zu 
einem gemeinschaftlichen Cavum zusammen. 

An den Papillen der Zungenoberfläche findet man diese „hy- 
dropische Degeneration“ am deutlichsten ausgeprägt. Tritt sie 
schon früher ein, bevor noch die Zellenentwickelung eine grössere 
Intensität erlangt hat, dann sind die normalen Gewebsbestand- 
theile noch theilweise gut zu erkennen, namentlich sind die Ge- 
fässe wie frei präparirt und es sind solche Stellen namentlich 
zum Studium der Veränderungen an den Gefässwandzellen zu 
verwerthen. Figur 7 zeigt ein hierher gehöriges Bild. 

Aus dem Vorausgehenden ist ersichtlich, dass der Wuche¬ 
rungsvorgang im Bindegewebe gerade wie die Lymphgefässerwei- 
terungen schliesslich zur Herstellung von im Ganzen rundlichen 
Hohlräumen führt. Je grösser dieselben werden, desto mehr 
beeinträchtigen sie sich gegenseitig, sie platten sich ab, die Zwi¬ 
schenwände dehisciren, werden durchbrochen, und es entstehen 
auf diese Weise jene ganz unregelmässigen, spalt- und lückenför- 
migen Räume, durchzogen von Maschen- und Fachwerken des 
Bindegewebes, wie man sie bei geringer Vergrösserung an jedem 

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Ein Fall von angeborener Makroglossie. 


663 


Schnitt ans der hypertrophischen Zange za Gesicht bekommt. 
Die Septa sind theilweise noch mit Zellen infiltrirt und enthalten 
die noch zurückgebliebenen Gefässe. Sehr häufig trifft man Stellen, 
an denen die Hohlräume statt mit Lymphe mit Blut gefüllt sind. 
Offenbar entstehen durch die Erweiterung der ursprünglichen 
Lympbcysten zahlreiche Communicationen mit Blutgefässen, na¬ 
mentlich mit grösseren Venen; Beobachtungen dieser Art sind 
wiederholt an Lymphangiomen anderer Organe gemacht worden, 
namentlich hat Lücke einen exquisiten Fall von Hygroma cy- 
sticum colli congenitum beschrieben, bei welchem die Umwand¬ 
lung in ein eigentlich cavernöses Angiom während des Lebens 
zu beobachten und nachzuweisen war. Solche mit Blut gefüllte 
Hohlräume geben natürlich vollständig das Bild des Tumor ca¬ 
vernosus. Von diesem Blutgehalt sind offenbar abzuleiten die 
Schollen von rothbraunem und die Körner von schwarzrothem 
Pigment, welche man sowohl im Inhalte einzelner Cystenräume 
als in den Maschen des Gewebes und in den zelligen Elementen 
selbst abgelagert findet. 

Wahre Blutgefässectasien sind in der Zunge wenigstens nur 
in geringer Ausdehnung vorhanden, die Capillaren an der Zungen¬ 
oberfläche sind vielleicht etwas mehr ausgedehnt, aber nirgends 
tritt die Gefässneubildung in den Vordergrund; die eben erwähn¬ 
ten Bluträume haben in ihrer Entstehung mit den Gefässen selbst 
nichts zu thun. 

Nachdem beim Cystenhygrom die Auskleidung der Hohlräume 
von einem Endothel durch Köster*) mit Sicherheit nachgewiesen 
worden ist, handelte es sich darum, zu entscheiden, ob die Lympb- 
räume bei der Makroglossie ähnlich beschaffen seien. Ich habe 
die Silberfärbung nicht in Anwendung ziehen können, konnte mich 
aber selbst am Alkoholpräparate mit vollster Gewissheit von der 
Existenz einer Endothelauskleidung überzeugen. Dieselbe ist so¬ 
wohl an Durchschnitten als von der Fläche aus zu sehen. Es 
lösen sich nämlich hier und da Fetzen von der Cystenwandung 
ab, die frei in den inneren Raum hineinhängen, so dass man 
Flächenansichten des Endothels gewinnen kann. Die Grenzen 
der einzelnen Zellen sind nicht mit Sicherheit zu unterscheiden, 


*) a. a. 0. 

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Dr. A. Winiwarter, 


man erkennt aber mit grosser Deutlichkeit rundliche Kerne mit 
Kernkörperchen in einem feingranulirten Häutchen. Dieselbe Art 
der Auskleidung zeigten die noch als solche erkennbaren Lymph- 
gefässe. Natürlich war es nicht an allen Stellen möglich, das 
Endothel zur Anschauung zu bringen. So lange die Hohlräume 
noch mit Zellen gefüllt sind, oder wenigstens das umgebende 
Bindegewebe noch dicht mit Zellen infiltrirt ist, kann man über 
eine eigentliche Auskleidung wenig aussagen, es ist mir aber 
wahrscheinlich, dass durch Metamorphose der Bindegewebselemente 
mit der Weiterentwickelung des Hohlraumes zugleich eine Aus¬ 
kleidung von endothelartigen Zellen geschaffen wird. Nachweisbar 
ist dieselbe, wie gesagt, immer nur an den weit entwickelten 
Hohlräumen oder an solchen, die unmittelbar aus der Ectasie 
eines Lymphgefässes hervorgegangen sind. 

Ich habe bereits erwähnt, dass die Muskeln der Zunge durch 
den im Bindegewebe sich abspielenden Wucherungsvorgang er¬ 
drückt und zum Schwinden gebracht werden. Die Art und Weise, 
wie dies geschieht, ist analog einem auch anderwärts, namentlich 
bei Geschwnlstbildungen zu beobachtenden Vorgänge. Wie die 
Zellen des Bindegewebes, fangen auch die des Perimysium an zu 
wuchern, die Muskelfaser erscheint eingeschlossen von einem von 
zahlreichen Kernen durchsetzten Schlauch. Endlich werden die 
Zellen des Perimysium zu lang gezogenen, dicht gedrängt liegen¬ 
den spindelförmigen Körpern, während die Muskelfaser immer 
mehr zusammengedrückt wird. Bald wird ihre Querstreifung un¬ 
deutlich, die Muskelsubstanz geht auf dem Wege des körnigen 
Zerfalls zu Grunde, während das zurückgebliebene zellenreiche 
Bindegewebe, hervorgegangen aus dem Perimysium, die Form des 
Muskels noch mit Bestimmtheit erkennen lässt. An Querschnitten 
solcher degenerirter atrophischer Muskelbündel sieht man dann 
nur mehr Durchschnitte von derbem, stark lichtbrechenden, fibrö¬ 
sen Gewebe, von der Muskelsubstanz fast keine Spur. Auch im 
Muskel sind die Capillaren der Sitz von Proliferationsvorgängen, 
ihre Wandelemente zeigen die oben beschriebenen Erscheinungen 
von Theilung und Zellneubildung. 

Was die Theilnahme der Zungenschleimhaut an dem patho¬ 
logischen Vorgänge betrifft, so ist hierüber Folgendes zu sagen: 
Die untersten Schichten der Schleimhaut sind zum grossen Theil 


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Ein Fall von angeborener Makroglossie. 


665 


durchzogen von dichten zelligen Infiltraten; die Gefässe, besonders 
die Capillaren, an einzelnen Stellen erweitert. Die Papillen der 
Zungenoberfläche zeigen hie und da den früher erwähnten Vor¬ 
gang der ödematösen Schwellung und hydropischen Degeneration, 
andere schliessen einen handschuhfingerförmigen Hohlraum ein, der 
entweder mit Serum und lymphoiden Zellen, oder ganz mit dicht¬ 
gedrängt liegenden Blutkörperchen erfüllt ist. Die Capillarschlingen 
der Papillen lassen bereits deutlich die Wucherung der Wandele¬ 
mente erkennen, ganz analog den Vorgängen, welche in den tie¬ 
feren Schichten der Zunge zur Beobachtung kommen. 

Wenn es sich nach den besprochenen Beobachtungen darum 
handeln sollte, das Wesen der Makroglossie und ihre Stellung 
unter den pathologischen Formen näher zu bestimmen, so glaube 
ich etwa Folgendes aussagen zu können. Die Makroglossie ist 
ein chronischer Entzündungsprocess, der sich dadurch characteri- 
sirt, dass er im Bindegewebe abläuft, dass seine Producte bald 
gewisse retrograde Metamorphosen eingehen, die insofern eigen- 
tbümlich sind, als sie im Zerfall der Zellen zu einer körnig trü¬ 
ben serösen Flüssigkeit ihren Abschluss finden, wodurch im Ge¬ 
webe Lymphräume zu Stande kommen, ungefähr so wie im Binde¬ 
gewebe die Eiterzellen zu einem Abscess zusammenfliessen. 

Die Analogie des ganzen Vorganges mit lymphatischen Wu¬ 
cherungen an anderen Orten ist in die Augen fallend. Auch bei 
diesen ist die Unterscheidung, ob Geschwulstbildung oder chroni¬ 
scher Entzündungsprocess nicht zu ziehen. Auffallend ist bei der 
Makroglossie die Entwicklung der Zellenwucherung bis zum voll¬ 
ständigen Lymphomknoten, welche im Wesentlichen vollkommen 
übereinstimmmt mit der normalen Histogenese der Lymphdrüsen, 
wie sie in neuerer Zeit von Sertoli*) beschrieben worden ist. 
Nach seinen Untersuchungen tritt im Bindegewebe ein Wuche- 
rungsprocess auf, und es entwickeln sich einzelne Zellhaufen zu 
folliculärer Drüsensubstanz. Ob die Erweiterung der normalen 
Lymphgefässe bei der Makroglossie das Primäre ist, das bin ich 
ausser Stande zu entscheiden; diese Frage müsste an früheren 
Stadien geprüft werden. 


•) Sitzungsberichte der k. k. Akademie der Wissensch. zu Wien. Bd. LIV. 
1868. 


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666 Dr. A. Winiwarter, £in Fall von angeborener M&kroglossie. 


Erklärung der Abbildungen auf Tafel XIX. 

Fig. 1. Schnitt aus der hypertrophirten Zunge. Ectatische Lympbgefässe in 
dichtem Bindegewebe liegend. Hartnack Ocul. 10, Object 4. 

Fig. 2. Zungenhypertrophie, aaa, Quergestreifte Muskel faserbündel im Quer¬ 
schnitte umgeben vou ziemlich verdickten Bindsgewebsscheiden, b, Hohl¬ 
raum mit rothen Blutkörperchen angefüllt c c, Hoblränme theils leer, 
tbeils mit körnigem Gerinnsel (Serum) gefüllt d, Lymphgefäss in 
einen spaltförmigen Hohlranm mündend, ee, Zellenwucherung in 
Bindegewebe. Hartnack Oc. UI, Obj. 5. 

Fig. 3. Beginnende Zellenwucherung im Bindegewebe. Hartnack, Ocul. 3, 
Obj. 10 h. Immers. 

Fig. 4. Schnitt aus der hypertrophirten Zunge, a, Zellenanhäufung im Binde¬ 
gewebe in der Mitte zu einer körnigen Masse zerfallend; b, ein etwas 
weiteres Stadium; im Innern ist ein kleiner Hohlraum gebildet; 
c, lymphoide Räume; d, Hohlraum mit Blut gefüllt Hartnack 
Ocul. HI, Obj. 10 ä Immers. 

Fig. 5. Horizontalschnitt durch eine Papille an der Oberfläche der Zunge. Stern¬ 
förmige Bindegewebszellen mit langen Fortsätzen. In der Mitte ein 
Capillargefäss, zweimal im Querschnitt getroffen, zum Theil in der 
Scbnittebene liegend. Wucherung der Wandzellen. Der Raum zwi¬ 
schen den Gewebselementen ist von einer äusserst feinkörnigen Masse 
erfüllt zu denken. Hartnack Ocul. IU, Obj. 10 ä Immers. 

Fig. 6. Endothelauskleidung der Cystenräume aus der Zunge. Alcoholpräparat 
Hartnack Ocul. III, Obj. 10 ä Immers. 

Wien, April 1873. 


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XXVI. 

Spontane Dactylolyse, 

eine eigentümliche Erkrankung der Finger. 

Beobachtet von 

■Ir. Arthur Menzel, 

Primärehirarg in Triest. 

(Hierzu Tafel XVIH. Figur 3—8.) 


Den 23. Februar 1873 kam in mein Ambulatorium ein Weib mit einer 
ganz eigenthümlichen Erkrankung der rechten Hand. Schon von der Feme fiel 
mir eine klein hühnereigrosse Oeschwulst am rechten Mittelfinger auf (s. Taf. XVIII, 
Fig. 3). Im ersten Augenblicke dachte ich an eine Neubildung. Als ich aber 
die Geschwulst näher betrachtete, die andern Finger, die andere Hand und die 
Füsse besah, musste ich sehr bald diesen Gedanken aufgeben. — Ich will mit 
der Beschreibung des Fingers anfangen, welcher das hauptsächlichste Interesse 
in Anspruch nimmt, dann die sonstigen Anomalieen an Händen und Füssen 
erwähnen, lasse dann die Anamnese folgen, füge hierauf den anatomischen Befund 
bei und setze zum Schluss meine Ansicht und Beurtheilung des Falles. Als 
Nachtrag gewissermaassen wird das Wenige aus der Literatur erwähnt, das mir 
hierherzugehören schien. 

Der rechte Mittelfinger verschmächtigt sieb, entsprechend der Mitte der 
1. Phalanx, ganz plötzlich zu einem federkieldicken, überaus kurzen Stiel, welcher 
eine klein bühnereigrosse runde Geschwulst trägt Die 1. Phalanx setzt sich 
nicht in den Stiel fort, indem sie etwas höher oben zugespitzt aufhört. Der Stiel 
besteht demnach nur aus Weichtheilen. Bei horizontal gehaltener Hand hängt 
die Geschwulst senkrecht herab, der Stiel ist überhaupt trotz seiner Kürze so 
nachgiebig, dass man die Geschwulst nach beiden Richtungen vollkommen um 
die Achse drehen und nach jeder Seite verschieben kann. Die Geschwulst selbst 
ist ebenso wie der Stiel durchweg von Haut bedeckt; nirgends ist ein noch so 
kleines Geschwür nachweisbar. Die Epidermis scheint überall verdickt, an der 
dem Stiel zugewandten Seite ist sie vielfach gefaltet, etwas verschiebbar 
(8. Taf. XVHI, Fig. 3). Mit Ausnahme dieser Epidermisfalten ist die Oberfläche 
der Geschwulst glatt; die Consistenz überall gleich teigig. Von einem Finger¬ 
nagel ist nichts zu bemerken. Die äusserste Grenze der Geschwulst, welche der 
Spitze des Fingers entspräche, steht um einen Zoll hinter der Spitze des Zeige- 


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668 


Dr. A. Menzel, 




Angers zurück. Bei Druck auf die Geschwulst entsteht Schmerz; Nadelstiche 
werden hingegen nicht empfunden, ja man kann die Nadel durch die ganze 
Geschwulst hindurchstossen, ohne dass dies der Kranken zum Bewusstsein kommt 
Dahingegen entstehen spontan oft sehr heftige Schmerzen. Der rechte Zeige- 
Anger ist vollkommen ausgebildet, besitzt alle 3 Phalangen mit ganz freier 
Beweglichkeit. Nur in dem 2. Interphalangealgelenke ist die Beugung beschränkt. 
Der Nagel ist krallenförmig. Merkwürdig ist eine Furche, welche entsprechend 
der Mitte der 2. Phalanx den Finger ringförmig einschnürt. Die Furche ist am 
tiefsten (1'") an der Ulnar-und Dorsalseite, weniger ausgesprochen an der Volar¬ 
seite; kaum erkennbar an der Radialseite. Unmittelbar über der oberen Furchen- 
lefze sitzt eine erbsengrosse, erhabene, glatte, nicht pigmentirte Hautwarze. — 
Ueber die übrigen Finger kann ich mich viel kürzer fassen: Der Daumen der¬ 
selben Hand ist vollkommen normal, der 4. und 5. Finger fehlen bis auf einen 
kleinen Stumpf der 1. Phalanx vollkommen. 

An der linken Hand ist ebenfalls Daumen und ZeigeAnger vollkommen aus¬ 
gebildet Vom 3. und 4. Finger sind nur Rudimente der 1. Phalanx fühlbar, 
welche von einer unebenen, derben Haut bedeckt ist. Vom 5. Finger existirt 
die 1. Phalanx ganz und ein Rudiment der 2., welches eine nage)ähnliche Epi¬ 
dermisverdickung trägt. Der linke Fuss beAndet sich in leichter Varusstellung. 
Sämmtliche Zehen sind so mit einander verwachsen, dass ihre Trennungslinien 
nur durch ganz seichte Furchen angedeutet sind. Zwischen Hallux und 2. Zehe 
ist bloss die Plantarhaut verwachsen, so dass von dorsalwärts eine recht tiefe, 
schmale Furche zwischen beiden Zehen sichtbar ist Die Nägel der 1., 2. und 
3. Zehe fehlen vollständig. — Am rechten Fuss fehlen ebenfalls die Nägel der 
1., 2. und 3. Zehe. Hallux und 2. Zehe scheinen in der 1. Phalanx knöchern 
mit einander verwachsen. Im Uebrigen sind beide Füsse vollkommen aus¬ 
gebildet. 

Die Eigenthümerin dieser sonderbaren Extremitäten ist ein kräftiges Bauern¬ 
weib, Namens Joh. Czernatz, 44 Jahre alt, ledig, gebürtig und wohnhaft in Lanischic, 
im Innern von Istrien*). Sie kam mit den defecten Händen und Füssen zur 
Welt. Auch der rechte MittelAnger zeigte schon bei der Geburt eine der jetzi¬ 
gen ähnliche Verunstaltung; nur war die Geschwulst damals verhältnissmässig 
kleiner; auch war sie bis vor 6 Monaten nicht hängend, sondern unbeweglich. 
Als das Weib vor 6 Monaten mit ihren Händen am Boden beschäftigt war, trat 
ihr eine Ziege auf die Geschwulst, sie vernahm ein Krachen, einen intensiven 
Schmerz und seit jenem Augenblicke war die Geschwulst hängend. Es unter¬ 
liegt demnach keinem Zweifel, dass der Knochen sich bis vor 6 Monaten durch 
den Stiel der Geschwulst fortsetzte und erst bei der erwähnten Gelegenheit 
entzweibrach. — Von Kindheit an hatte die Kranke immer mässige Schmerzen 
in dem Finger gehabt; seit dem Ziegentritt steigerten sich diese zuweilen zu 
grosser Intensität und nur den Schmerzen haben wir es zu verdanken, dass die 


*) Die Einwohner Gentral-Istriens sind slavischen Stammes und ihrer Be¬ 
schäftigung nach grö8stentheils Kohlenbrenner. 


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Spontane Dactylolyse. 


669 


Kranke sich an uns wandte. Die Furche am rechten Zeigefinger soll schon bei 
der Geburt dagewesen sein und soll an Tiefe keine Fortschritte machen. 

Der Fall schien von so grossem Interesse, dass ich die Kranke trotz ihres 
Widerstrebens nöthigte, sich in’s Spital aufnehmen zu lassen. — Die Geschwulst 
wurde auf ein Brettchen gelagert aus Besorgniss, dass sie bei einer unvor¬ 
sichtigen Bewegung abrisse, bevor ich den Fall im ärztlichen Verein demonstrirt 
hatte. — Dies schonende Verfahren hatte zur Folge, dass die Geschwulst binnen 
wenigen Tagen um ein Drittheil ihrer Grösse einbüsste, während gleichzeitig die 
Haut runzlig wurde. — Am 6. Tage nach der Aufnahme schnitt ich den dünnen 
Stiel mit einem Scheerenschlag entzwei. Aus der Schnittfläche sickerte etwas 
Blut, doch spritzte keine Digitalarterie. Die Schnittfläche selbst war weich, 
blassfleischroth gefärbt. — Die Geschwulst wurde alsbald in eine radiale und 
ulnare Hälfte so durchschnitten, dass die Schnittfläche des Stiels gerade halbirt 
wurde (Taf. XVIII, Fig. 5.) Auf dem Durchschnitt sah die Geschwulst gleich- 
mässig gelb, feucht aus. Der Stiel schien sich in die Geschwulst eine Strecke 
weit fortzusetzen und hörte vor dem Gentrum mit einem bohnengrossen Knochen¬ 
kern auf (Fig. 5 b). — Ausser dem auffälligen dunklen Knochenkern markirte 
sich die Fortsetzung des Stieles durch derberes Gefüge und blässere Farbe, Die 
Cutis war durchaus dick und die Papillen mit freiem Auge leicht erkennbar. — 
Die Geschwulst wurde in Müller’scher Flüssigkeit erhärtet und sodann mikrosko¬ 
pisch untersucht — Die Epidermis war dick, die tiefem Lagen derselben und 
der Mucus Halpighi fast durchgehends aus reizenden Stachelzellen bestehend. — 
Die Papillen waren knapp aneinander gereiht, sehr lang und häufig zwei- bis 
dreigetheilt. Die Sch weissdrüsen fanden sich in normaler Anzahl vor und waren 
vollkommen gut erhalten; nur erschien ihr Ausführungsgang nicht korkzieher¬ 
artig gewunden, sondern gerade gestreckt. Die sonstige Hauptmasse der Ge¬ 
schwulst bestand aus lockigem Bindegewebe, in manuichfachen Zügen durch- 
flochten, häufig durch Reihen grosser, krystallhaltiger Fetttropfen unterbrochen. 
Nirgends war eine Zellenwucherung, eine zellige Infiltration nachweisbar. Han 
hatte das Bild des subcutanen Bindegewebes vor sich. — Die Gefässe, besonders 
die Venen zeigten eine erhebliche Verdickung der Gefässwand, welche häufig 
4—6mal so breit war als das Lumen des Gefässes. — Mehrfach fanden sich 
an den verschiedensten Stellen der Geschwulst kleine Blutextravasate verschie¬ 
denen Alters. — Der Knochen war groblückig; die Lücken selbst waren meist 
von lymphoiden Zellen und Blutgefässen erfüllt, ganz vereinzelt hier und da 
jedoch von Spindelzellen durchzogen. Die Knochenbälkchen waren schmächtig. 
Entsprechend ihrer Längsaxe war die Knochentextur normal, mehr nach aussen 
wie fein bestäubt, noch mehr nach aussen war die Knochentextar zwar gut 
erhalten, die Kalksalze jedoch fehlend und endlich unmittelbar an die lymphoi¬ 
den Zellen der Lücken grenzend sass eine Reihe grösserer, rundlicher oder poly¬ 
gonaler, fein granulirter Zellen mit einem grösseren, ovalen scharf begrenz¬ 
ten Kern. 

Am meisten gespannt war ich begreiflicher Weise auf die Untersuchung des 
Stieles selbst, oder vielmehr der Wundfläche, da der ohnehin minimal kurze 
Stiel schon unmittelbar nach der Operation, noch mehr in Folge der späteren 


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670 


Dr. A. Menzel, 


Erhärtung bis unter das übrige Niveau der Geschwulst sich zurückgezogen batte. - 
Die Schnitte wurden parallel zur L&ngsaxe des Stieles geführt. Einen solchec 
Schnitt stellt uns Fig. 6 vor. — Wie aus diesem ersichtlich, besteht der Stiel ir 
der Amputationsstelle ausschliesslich aus Bindegewebe, ohne Knochen. Ita 
Bindegewebe selbst ist massig kernreich, und gerade an der Amputationsstelle 
vorwiegend der Längsaxe des Stieles parallel gefasert. Die Anordnung der Binde- 
gewebszüge und Gefässe erinnert an die Anordnung der Gefässe und Bälkchec 
im Knochen. — Die Cutis selbst bietet an dieser Stelle mehrere Eigenthümlich- 
keiten dar. Das Eigenthümliche liegt nicht im Cutisgewebe, im Mucus oder b 
der Epidermis; insbesondere sind letztere durchaus nicht verdünnt, viel eher ver¬ 
dickt Das Eigenthümliche liegt in den Papillen. Da Anden sich kaum ange¬ 
deutete Papillenzwerge neben breiten, plumpen und diese wieder neben ganz 
schmächtigen langen, selbst dreigetheilten Papillen. Vollkommene Längsschnitte 
finden sich andererseits unmittelbar neben vollkommenen Querschnitten. — Ent¬ 
sprechend der Unregelmässigkeit der Papillen verhalten sich die Papillenthiler, 
oder sagen wir die Epidermiszapfen ganz eigentümlich. Da siebt man sie lang, 
nadelförmig, hier konisch, dort kolbig, bald spitz, bald abgerundet, bald glatt- 
randig, bald mit zitzenförmigen Fortsätzen. 

Dies der anatomische Befand und nun ein Versuch zur Er¬ 
klärung dieses räthselhaften Falles. Vor Allem setze ich voraus, 
dass Jeder überzeugt ist, dass es sich nicht um ein Neoplasma 
handelt. Erinnern wir uns an das klinische Bild, so ist kein 
Zweifel, dass es sich hier um eine angeborene Einschnürung des 
Fingers handelt, welche im Verlaufe der Jahre zunahm und höchst 
wahrscheinlich zum spontanen Abfall der Geschwulst geführt hätte. 
Es handelt sich nur zu entscheiden, warum diese Einschnürung, 
wodurch ist sie bedingt? Meiner Ansicht nach, sind a priori nur 
zwei Möglichkeiten *) denkbar: entweder ist es das Bindegewebe, 
welches dnrch narbige Retraction die Cutis zur Furche einzieht, 
oder es ist umgekehrt das Epithel, welches sich in das Gewebe 
einsenkt. Die erste dieser Möglichkeiten, d. i. eine Einschnürung 
dnrch Retraction des Bindegewebes, hat, wie mir scheint, wenig für 


*) Da nicht die geringste Spur einer Ulcer&tion und nicht das geringste 
Anzeichen einer zeitigen Infiltration vorlag, ist somit an eine Lepra mutilans 
nicht zu denken. — Die Möglichkeit, dass die Affection durch eine Umschnü¬ 
rung von aussen, etwa durch einen Ring entstanden sei, ist hier ausgeschlossen. 
Die Affection ist angeboren. An der Haut ist nicht die Spur einer Narbe erkenn¬ 
bar. Auf der Klinik des Herrn Hofrath Billroth sah ich ein Weib, bei welchem, 
ein zu enger Ring die Haut durchschnitten und unter derselben eingeheilt wai 
d. h. die durchtrennte Haut batte sich über dem einschnürenden Ring vollkom¬ 
men wieder vereinigt. Der Finger war gar nicht ödematös. 


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Spontane Dactylolyse, 


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sich. So sehr mir diese Ansicht von Anfang an plausibel erschien, 
wurde sie in mir von dem Augenblicke der Amputation schon sehr 
erschüttert. Es fand sich an der Amputationsfläche nicht ein 
starres, weisses, unter dem Messer kreischendes Gewebe, wie man 
von einer Narbe erwarten möchte, die einen Knochen zum 
Schwunde bringt, sondern ein Gewebe, welches an Resistenz dem 
Catisgewebe am nächsten stand. Ferner sollte man erwarten, 
dass Fasern, welche einschnüren sollen, doch ringförmig, ich meine 
senkrecht zur Längsaxe des Stieles, verlaufen sollten. Ein Blick 
auf die Zeichnung (Fig. 6) hingegen lehrt, dass die Richtung der 
Fasern fast ausschliesslich der Stielaxe parallel verläuft. Endlich 
muss ich hinzufügen, dass dieses Bindegewebe gegen die Ge¬ 
schwulst zu unmittelbar in Knochengewebe übergeht, dass es selbst 
durch die Anordnung der Gewebszüge und der Gefässe an Knochen¬ 
textur erinnert und somit wahrscheinlich die in Bindegewebe um¬ 
gewandelte Phalanx darstellt. Aus den besagten Gründen er¬ 
scheint mir die Hypothese einer narbigen Constriction nicht 
stichhaltig. 

Es bleibt somit, wie mir scheint, nur die andere Ansicht zu¬ 
lässig, das$ die epitheliale Einsenkung das Primäre sei. Wie 
ich glaube, wird diese Anschauung durch mehrfache Umstände 
gestützt. Es spricht schon für dieselbe das makroskopische Bild. 
Wir sehen die Geschwulst durch eine ungemein enge, steile, tiefe 
Furche vom Fingerstumpf getrennt. Narbengewebe ist jedoch, in 
der Regel nicht scharf begränzt und schickt zahlreiche Fortsätze 
in’s umliegende Gewebe. Würde die Furche durch Narbengewebe 
bedingt, so sollte sie nicht so fein geschnitten, sie sollte breiter, 
sanfter aufsteigend, hier tiefer, dort seichter erscheinen. Direct 
für unsere Ansicht sprechen die mannichfach gestalteten Fortsätze, 
welche das Epithel in das Gewebe um den Stiel und in den Stiel 
selbst aussendet. Die Thäler zwischen den Papillen, d. i. eben 
die Epithelzapfen, sind nicht gleichmässig abgerundet, nein, sie 
sind sich untereinander ganz unähnlich, das eine nadelförmig, das 
andere breit, mit Zacken versehen. Es wäre schwer, sich diese 
Bilder durch Schrägschnitte zu erklären, ja ich kann sie aus- 
schli essen, da sich in aufeinanderfolgenden Schnitten nahezu die¬ 
selben Bilder darstellten, insbesondere präsentirt sich der erste 
Epitheizapfen (Figur 6) auf mehreren aufeinanderfolgenden 


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Dr. A. Menzel, 


Schnitten, ich möchte sagen, congruent. Ferner ist es son¬ 
derbar, dass alle Papillen mit der Basis gegen den Stiel, nnd mit 
der Spitze vom Stiele weggewendet sind. An den Papillen ist 
doch die Spitze der beweglichere, nachgiebigere Theil, die Basis 
der unbeweglichere. Thatsächlich sehen wir in unmittelbarer Um¬ 
gebung stärkerer Narben die Papillen mit ihren Köpfen gegen die 
Narbe gucken. Auch in unserm Falle sollte man dasselbe er¬ 
warten, wenn die Einschnürung durch Narbencontraction vor sich 
ginge. Nun sitzen aber die allernächsten Papillen dem Stiele mit 
ihrer Basis gerade senkrecht auf. Umgekehrt jedoch wird man 
gerade einen, dem unsern analogen Befund erwarten müssen, 
wenn man annimmt, dass das Epithel gegen den Stiel sich ein¬ 
senkt, und dass die Papillenbildung etwas Secundäres sei. Auch 
darf ich nicht zu erwähnen vergessen, dass ich in den Zellen des 
Mucus und zwischen ihnen, insbesondere in der Nähe des Stieles 
häufig Pigment fand. Ich besitze ein Präparat, in welchem in 
ziemlicher Ausdehnung die ganze Kittsubstanz der Mucuszellen 
durch feinkörniges Pigment schwarz gefärbt erscheint. Jede Zelle 
ist wie eine Trauerkarte schwarz umsäumt, und so entsteht durch 
regelmässige Anordnung der Zellen ein ungemein zierliches Bild. 
Nur ist Pigment in und zwischen den Mucuszellen kein so sel¬ 
tener Befund; in unserem Falle scheint mir dies mit für die Ein¬ 
senkung des Epithels in bluthaltige Gewebe zu sprechen. In eben 
diesem Sinne könnte vielleicht auch der Umstand verwerthet wer¬ 
den, dass die Furche angeboren war. Die Idee einer Epithel¬ 
einsenkung als Ursache der Fingereinschnürung wird vielleicht 
weniger befremdend erscheinen, wenn es wahrscheinlich oder ge¬ 
wiss wäre, dass die Epitheleinsenkung bei der physiologischen 
Formung der Finger eine der wichtigsten Rollen spielt. Denken 
wir nur an die erste Entwicklung der Finger selbst, so wären 
a priori zwei Möglichkeiten denkbar, nämlich: die Finger wachsen 
jeder einzeln aus der Hand hervor, als von Anfang an von ein¬ 
ander unabhängige Individuen, oder die Finger wachsen vereinigt 
hervor und schnüren sich nachträglich von einander ab. 

Es führt Kölliker in seiner Entwicklungsgeschichte (S. 
221) an, dass man in der 7. Woche des Fötallebens an Hand 
und Fuss 4 schwache Einschnitte bemerkt, welche die ersten An¬ 
lagen der Finger und Zehen bezeichnen. Dieser Befund von 4 


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Spontane Daetylolyse. 


673 


Einschnitten lässt sich aber ebensogut dahin erklären, dass die 
5 Finger von einander gesondert und unabhängig hervorwachsen, 
als, dass das Epithel sich an 4 Stellen einstülpt und dadurch die 
formlose Hand in 5 Finger spaltet. Unzweifelhaft in diesem Sinne 
müssen die betreffenden Zeilen in Förster’s Handbuch der path. 
Anatomie (Extremitäten), gedeutet werden. Er sagt wörtlich: 
„In den Anfangs glatten und gleichmässigen ersten Anlagen der 
Hände und Füsse bilden sich bei der physiologischen Entwicklung 
des Menschen und der Säugethiere ungefähr in der 7. Woche 
vier Längsfurchen, welche allmälig tiefer werden, bis endlich 
durch dieselben Finger und Zehen getrennt erscheinen.“ Was 
sind nun diese Längsfurchen, welche immer tiefer und tiefer wer¬ 
den? Sie können nichts Anderes sein, als der Ausdruck von Epi¬ 
theleinsenkungen. 

Warum fällt es in diesem physiologischen Beispiele Nieman¬ 
dem ein, Narben anzunehmen, welche durch allmälige Retraction 
die Auseinanderspaltung der Finger bewerkstelligen? Die Antwort 
auf diese Frage lautet: weil Niemand derartige Narben gesehen 
hat, und weil die Epitheleinsenkung vollkommen zur Erklärung der 
Spaltung genügt. Genau dasselbe muss ich für meinen Fall be¬ 
haupten. Auch ich habe keine Spur von Narben gefunden, und 
die epitheliale Einsenkung scheint mir ein hinreichender Erklärungs¬ 
grund. Dass aber die Behauptung Förster’s, d. i. die nach¬ 
trägliche Theilung der Finger durch Längsfurchung, die richtige 
ist, erhellt auch daraus, dass sie die einzig ausreichende ist zur 
Erklärung der mannichfachen Formen der Syndactylie. 

Bei der Syndactylie sind die Finger nicht zusammengewachsen 
und der Ausdruck Verwachsung der Finger ist wohl unrichtig. 
Richtiger ist es zu sagen, die Finger sind ganz oder theilsweie 
ungetrennt geblieben wegen theilweise oder gänzlich ausgebliebener 
Epitheleinsenkung. Wie wollte man anders die Fälle erklären, wo 
die Finger der 1. und 3. Phalanx verwachsen und an der 2. voll¬ 
kommen frei sind? (Förster 1. c.) Die Auffassung der Epithel¬ 
einsenkung als Motiv der Fingertheilung ist auch die einzig con- 
sequente. Bei der Bildung der Papillen wird doch nicht behaup¬ 
tet, dass das Bindegewebe zapfenartig in das Epithel hinein¬ 
wächst, sondern umgekehrt, dass das Epithel sich zapfenartig in 
das Bindegewebe einsenkt und dadurch zur Bildung von Papillen 


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Dr, A. Menzel, 


Anlass giebt. Abgesehen von den directen oben angeführten Be¬ 
obachtungen sollte man auch schon aus Oonsequenz bei unseren 
Riesenpapillen, den Fingern, dieselbe Auffassung theilen. Um 
nun zu unserer Geschwulst zurückzukehren, so haben wir ge¬ 
sehen , dass tiefe dnrchtrennende Epitheleinsenkungen an den 
Fingern physiologisch Vorkommen. Es wäre demnach das beson¬ 
ders Auffällige in unserm Falle, dass die Epitheleinsenkung am 
Finger quer, ja ringförmig eintrat. Aber auch für quere tiefere 
Epitheleinsenkung haben wir gerade an den Fingern an der Furche 
des Nagelfalzes ein physiologisches Paradigma. 

Kehren wir zur Fig. 3 zurück, so stellt die tiefe Furche am 
rechten Zeigefinger, wie ich glaube, den Anfang des Leidens dar. 
Auch diese Furche ist angeboren und soll seit der Geburt sta¬ 
tionär geblieben sein. 

Was nun die übrigen Fingerstümpfe dieser und der andern 
Hand betrifft, so tritt zunächst die Frage auf, ob die betreffen¬ 
den Finger auch durch epitheliale Abschnürung verstümmelt wur¬ 
den? Sollte nicht der Zeigefinger das erste, der Mittelfinger das 
zweite, der vierte und fünfte Finger das Endstadium ein und des¬ 
selben Processes darstellen? Gewiss muss diese Möglichkeit zu¬ 
gegeben werden. Wenn sie wirklich stattfand, so war dies wohl 
in einer Periode, wo der Finger bloss ein kleines Zellenaggregat 
war und es wird demnach wohl Niemand erwarten, dass mau 
im Fruchtwasser die amputirten Finger antreffe. Auch durfte 
man nicht Narben an den Fingerstümpfen erwarten, ebensowenig 
als wir solche an den einander zngekehrten Fingerseiten suchen. 
In unserm Falle fehlen Narben vollkommen. 

Jedenfalls sollte man in Zukunft bei angebomen Fingerstüm¬ 
pfen nicht ausschliesslich eine kümmerliche Entwicklung anneh¬ 
men, sondern man wird auch an die Möglichkeit einer Abchnü- 
rung durch Epitheleinsenkung denken müssen. 

Ich habe in den wichtigeren chirurgischen Handbüchern eine 
gleiche Erkrankung der Finger nicht verzeichnet gefunden. Eine 
ähnliche ist von Dr. 0. Wucherer in Virchow’s Archiv (56. Bd. 
3. Heft) beschrieben unter dem Titel r „Ueber Ainhum, eine der 
afrikanischen Race eigenthümliche Krankheitsform 0 . Diese Er¬ 
krankung betrifft constant die kleine Zehe, tritt nur in Erwach- 

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Spontane Dadylolyse. 


675 


senen der afrikanischen Race, häufiger bei Männern als Weibern 
auf. Die Krankheit hat stets den gleichen Verlauf und gleichen 
Ausgang. Wucherer giebt davon folgende Beschreibung: 

„Es wird zuerst an der innern Seite der kloinen Zehe, da, wo sie an den 
Metatar 9 us grenzt, eine seichte Querfurche bemerkt, welche sich auf die untere 
Seite derselben erstreckt und weniger als den halben Umfang der Zehe ein¬ 
nimmt. Entzündung und Schmerz fehlen gänzlich, die kleine Furche ist nicht 
alterirt und wird kaum beachtet. Allmälig dehnt sich die Furche weiter aus, die 
kleine Zehe entfernt sich wirklich oder scheinbar von dejr 4. Der Zwischen¬ 
raum zwischen ihrem Grunde wird grosser, wenn auch das vordere Ende der 
kleinen sich mehr der 4. nähert, sie sieht dann wie nach innen geknickt aus. 
Nach und nach delint sich die Furche in der Umfangslinie der Zehe immer 
weiter aus, schreitet auch auf der obem Seite der Zehe fort und wird tiefer. — 
Gleichzeitig wird die Zehe dicker, grosser, abgerundeter und schmerzhaft oder 
wenigstens empfindlicher, als im Normalzustände. Diese Veränderungen schreiten 
fort, bis die Furche von oben und unten an die äussere Seite gelangt und den 
ganzen Umfang der Zehe einnimmt, diese um das 2 — 3 fache vergrössert ist 
und die Furche so tief wird, dass man deren Grund nur mit Mühe oder gar 
nicht bei starkem Auseinanderziehen ihrer Wände absehen kann. In seltenen 
Fällen bildet die Furche keinen vollkommenen Kreis, indem sie an der äussem 
Seite durch einen kleinen Hautstreifen unterbrochen ist. Die Haut der Zehe 
wird während dieses Processes rauh, diese selbst bekommt eine unregelmässig 
eiförmige Gestalt und sieht einer kleinen Kartoffel sehr ähnlich. Hat die Furche 
eine grosse Tiefe erreicht, so wird die Zehe an dem sie noch haltenden dünnen 
Stiel sehr beweglich und verändert ihre Stellung so, dass der übrigens ganz 
unversehrte Nagel nach aussen, statt nach oben, sieht; die Zehe erleidet eine 
Viertelsrotation um ihre Axe nach aussen. In diesem Zustande hat das Uebel 
seinen höchsten Grad erreicht. Die Beweglichkeit der Zehe ist so gross, dass 
man sie an ihrem Stiel mehr oder weniger um ihre Axe drehen kann, dass sie 
bei aufgehobenem Fuss herabbängt, hin- und herschlendert, wenn der Fuss be¬ 
wegt wird und das Gehen beschwerlich macht, so dass der Gang auf de; Hacke 
mit erhöhter Fussspitze nothwendig wird. Die Zeit, welche darüber vergeht bis 
zur Erreichung dieses Zustandes, ist sehr verschieden, kann 1 —10 Jahre be¬ 
tragen. Die Erscheinungen sind immer absolut dieselben. 

Die Zehe bewahrt ihr normales Gefühlsvermögen, das Streichen derselben 
zwischen den Fingern, das Anstechen mit einer Nadel wird mit der normalen 
Lebhaftigkeit empfunden Bei Stössen und Zerrungen leidet 4&r Kranke immer 
an heftigen Schmerzen, welche ihn hauptsächlich veranlassen, die Entfernung 
der Zehe zu beanspruchen. Die Ursachen dieser sonderbaren Krankheit sind 
ganz unbekannt.“ 

Zu dem Aufsatze von Wucherer findet sich ein kleiner 
Nachtrag von Prof. Schüppel in Tübingen, welchem W. eine 
kranke amputirte Zehe zur anatomischen Untersuchung übermit¬ 
telt hatte. Aus diesem entnehmen wir, dass sich eine Ab- 

v. Langen beek, Archiv f. Chirurgie XVI, AÄ 


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Dr. A. Menzel, 


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bildtmg dieses Leidens in den: Transactions of tbe pathol. 
Soc. of London Vol. XVIII. PL 8 vorfindet. Schüppel beschreibt 
die Zehe folgendermassen: 

„Die Zehe ist von kugeliger Gestalt und sieht aus, wie eine rauhschalige 
Kartoffel von der Grösse einer mittleren Kirsche. Der Nagel der Zehe ist nor¬ 
mal. Die der Einscbnörungsfurche entsprechende Ebene,' also die Stelle, mit 
welcher die Zehe am Fusse hing, bevor sie vollends abgeschnitten wnrde, ist 
rundlich und nicht ganz 1 Quadratlinie gross, wenn man von der stark verdick¬ 
ten Epidermis absieht. Auf einem Längsschnitt, welchen man von dem einge¬ 
schnürten hintern Ende der Zehe durch die Mitte des Nagels senkrecht von 
oben nach unten legt, erkennt man an dem mir vorliegenden Präparate, dass 
die 3. Phalanx intact, und dass das Gelenk zwischen der 2. und 3. Phalanx ver¬ 
ödet ist Von der 2. Phalanx ist nur das vordere Ende vorhanden, der Best 
ist zu einem dünnen, fibrösen Strange umgewandelt Von der 1. Phalanx ist 
keine Spur vorhanden. — Der Stiel, durch welchen die Zehe mit dem Fusse 
zusammenbing, entbehrte also gänzlich einer knöchernen Grundlage. Auffal¬ 
lend ist die massige Epidermisproduction an der eingescbnürten 
Zehe. Die Dicke der Epidermis wechselt von \ — 1 Linie, am dicksten 
ist sie in der Nähe der Einschnürung. Hier ist auch eine massige 
Verlängerung der normal dicken Hautpapillen vorhanden. Die 
Cutis und das zwischen ihr und dem Knochen liegende Zellgewebe sind frei von 
jeder Abnormität, namentlich ist mit Hülfe des Mikroskops weder in der Nähe 
der Einschnürung noch an irgend einer andern Stelle die geringste Spur von 
einer Zelleneinlagerung zu sehen, welche auf einen entzündlichen Process oder 
auf eine lepröse Neubildung bezogen werden könnte. Die Fettzellen zwischen 
Haut und Knochen sind verhältnissmässig spärlich vorhanden. Das fibröse Ge¬ 
webe in der Nähe der Einschnürung ist zu einer homogenen, horoartigen Masse 
eingetrocknet, wie man es an Präparaten sieht, welche einige Zeit an der Luft 
gelegen haben und dann in starken Alkohol gelegt worden sind. — Aus der 
vorstehenden Schilderung des Krankheitsverlaufes, sowohl wie aus der anatomi¬ 
schen Betrachtung der Zehe geht somit zur Evidenz hervor, dass das Ainhum 
mit dem leprösen Process schlechterdings nichts zu thun hat. Alles macht viel¬ 
mehr den Eindruck, als ob eine Scbnurschlinge straff an die Wurzel der Zehe 
gelegt und diese unter starkem Drucke abgeschnürt worden sei. Bei dem höchst 
allmäligen Fortgang des Leidens lässt es sich allenfalls begreifen, dass das 
knöcherne Gerüst der Zehe der Stelle des Druckes entsprechend verhältniss¬ 
mässig früh verschwindet, während die Empfindung und der Kreislauf erhalten 
bleibt. Auf welche Weise aber wird die Einschnürung an der Wurzel der Zehe 
bewerkstelligt? Es scheint, als ob sich zunächst eine Rhagade, eine Zerklüftung 
der Epidermis bildete, welche sich allmälig ringförmig um die Zehenwurzel aus¬ 
breitet. Im Grunde der Rhagade trocknet und schrumpft das Cutisgewebe ein und 
bildet einen harten Ring, welcher auf das unterliegende Gewebe drückt und das¬ 
selbe zur Atrophie bringt. Aber es bildet sich entsprechend dem Grande der 
Furche in der blossgelegten Cutis ein Narbenring, welcher durch fortschreitende 
Schrumpfung eine immer zunehmende Einschnürung an der Zehe bedingt und 

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Spontane Dactylolyse. 


677 


zunächst das Schwinden des Knochens zur Folge hat. Obschon nun, wie mir 
scheint, sich gegen diesen Erklärungsversuch keine erheblichen Bedenken ein¬ 
wenden lassen, so muss ich doch zugeben, dass damit dem als Ainbum bezeich- 
neten Uebel nichts von seiner Merkwürdigkeit und seinem befremdlichen Wesen 
genommen wird. Das Befremdliche würde aber darin liegen, dass es immer 
nur die kleine Zehe und immer nur bei Negern ist, welche von der Krankheit 
befallen wird. — Die von Dr. Wucherer erwähnte Mittheilung, dass Dr. Silva 
Lima durch longitudinale Einschnitte, welche er durch die Einschnürungsfurche 
legte, das Uebel zum Stillstand zu bringen vermocht hat, stimmt übrigens mit 
meinem Erklärungsversuche recht gut überein und scheint ihn zu unterstützen.“ 

Die Hypothese, welche Schüppel aasspricht, dass das Uebel 
mit einer Rhagade begänne, welche sich circular aasdehnt and 
zu einem ringförmigen Narbenring der Cutis Veranlassung gäbe, 
ist zwar möglich, doch stimmt sie durchaus nicht mit dem klini¬ 
schen Bilde überein. Wucherer hebt hei der typischen Beschrei¬ 
bung ausdrücklich hervor, dass die Furche nicht ulcerirt 
ist (S. 375), und auf der folgenden Seite giebt er allerdings zu, 
dass zuweilen die Furche ulcerirt sein kann. Auch von einem 
Narbenringe wird nichts erwähnt, und wenn er da wäre, so müsste 
man ihn doch fühlen, oder anatomisch nachweisen können. Wu¬ 
cherer erzählt jedoch, er habe die kleine Zehe eines Negers se- 
cirt, welche einen Anfang von Ainhum zeigte, und nichts (also 
auch keinen ringförmigen Narbenring) gefunden, das ihm einen 
Aufschluss gäbe. Wucherer suchte nach einer Ursache der 
Furche, d. i. der epithelialen Einsenkung, während wohl die epi¬ 
theliale Einsenkung selbst die Ursache der Furche war. Mir 
wenigstens ist es aus dem klinischen und anatomischen Bilde des 
Ainhums höchst wahrscheinlich, dass es sich um denselben Pro- 
cess handelt, wie in meinem Falle. Für die Anschauung der 
epithelialen Einsenkung spricht insbesondere der positive Befund 
von Schüppel: „Auffallend ist die grosse Epidermisproduction 
an der eingeschnürten Zehe. Die Dicke der Epidermis wechselt 
von \—1 Linie, am dicksten ist sie in der Nähe der 
Einschnürung. Hier ist auch eine mässige Verlänge¬ 
rung der Hautpapillen vorhanden.“ Diese Verlängerung 
der Papillen, die auch in meinem Falle bestand, ist wohl nur 
scheinbar. Nicht die Papillen sind gewachsen, sondern das Epithel 
zwischen ihnen hat sich tiefer eingesenkt. Man könnte einwenden, 
dass eine Einsenkung des Epithels ohne Furchenbildung ganz gut 

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Dr. A. Menzel, 


stattfinden könnte, wie wir dies z. B. beim Epithelialcarcinom in 
in der Regel sehen. Ich kann zur Antwort nur auf den oben 
besprochenen physiologischen Vorgang der Längsspaltung der Finger 
hinweisen, bei welchen ebenfalls sich eine glatte, tiefe, steile 
Furche bildet. Die Frage, ob sich eine glatte Furche bildet oder 
nicht, hängt, wie ich glaube, mit dem Verhalten der Epidermis 
innig zusammen. Senkt sich die Epidermis mit in die Tiefe, ent* 
steht demnach ein Epidermisscbacht, in welchem sich die Epider- 
•miszellen wie an der Hautoberfläche stets erneuern und ab- 
stossen, so ist eben durch diesen Epidermisscbacht die Furche 
thatsächlich schon gegeben. 

Was den Namen der Krankheit betrifft, so habe ich den 
barbarischen Laut „Ainhum“ nicht angewendet. Ainhum war 
ausschliesslich ein Leiden der kleinen Zehe der afrikanischen Race. 
Ich habe den Namen „spontane Dactylolyse“ substituirt. Die¬ 
ser Name giebt einen Begriff von dem Vorgänge der Fingerablö¬ 
sung, ohne irgendwelche Anschauung zu präjudiciren. Sollte die 
Richtigkeit der Ablösung durch epitheliale Einsenkung sich bestä¬ 
tigen, dann wäre der Name „epitheliale Dactylolyse, epitheliale 
Fingerabschnürung“ wohl der zweekmässigste. 

Triest, 30. Juni 1873. 


Anhang. 

Nachdem ich schon vor längerer Zeit mein Manuscript „Ueber 
spontane Dactylolyse“ abgesendet hatte, kam heute (15. Oetober 
1873) ein zweiter Fall in meine Ambulanz (Fig. 7, 8). Ich will 
ihn kurz skizziren: 

D’Este, Giovanni Bartolo, 38 Tage alt (geboren den 5. September 1873), 
aus Isola in Istrien, ein gesunder, kräftiger Knabe. Die Mutter gebar vor die¬ 
sem drei Kinder, alle vollkommen wohlgebildet Schwangerschaft und Geburt 
verliefen vpllkommen regelmässig. Merkwürdig sind die beiden Hände. Be¬ 
trachten wir zunächst die rechte Hand (Fig. 7). Daumen, Zeige- und Ring¬ 
finger sind vollkommen normal. Am Mittel- und Ringfinger bemerkt man ent¬ 
sprechend der 1. Phalanx eine tiefe, steile, ringförmige Furche, die durchaus 
mit normaler Haut bedeckt und nirgends im Geringsten excoriirt ist Der 
Pbalangenknocben selbst ist unversehrt. — Die beiden Finger sind unterhalb 
der Furche dicker, doch von normalem Anfühlen, nicht weich ödematös. Sie 
sind durch ans mit normaler Haut bedeckt und laufen konisch zugespitzt aus. 
Die beiden Finger sind kürzer als die homonymen der anderen Seite. Der 


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Spontane Dactylolyse. 


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rechte Mittelfinger ist sogar ein gut Theil kürzer als der rechte Zeigefinger. 
Die Nägel an den beiden eingeschnürten Fingern sind viel kleiner als an den 
übrigen. Die Finger sind übrigens activ und passiv anscheinend normal be¬ 
weglich. 

Fassen wir den Befund in wenig Worten zusammen, so können wir an den 
beiden Fingern Folgendes constatiren, ausser der erwähnten Einschnürung: 
a ) Zurückbleiben im Längenwachsthum (und Atrophie der Nägel}, ß) Zunahme 
im Dickendurchmesser. An der linken Hand sind alle Finger vollkommen nor¬ 
mal bis auf den Mittelfinger. Dieser bietet ebenfalls, entsprechend der Hälfte 
der 1. Phalanx, auch eine ringförmige Einschnürung dar, genau so wie der 
rechte Mittelfinger. Nur ist er, was Länge uud Dicke und Nagelbildung anbe¬ 
langt, vollkommen normal. Ich lasse nun die Maasse der Länge und Circum- 
ferenz der einzelnen Finger folgen. 

Rechte Hand Linke Hand 

Länge des Index an der Ulnarseite 2,2 Gm. 2,2 Cm. 


Mittelfinger.2 „ 2,5 „ 

Ringfinger.1,7 „ 2,3 , 


Ohrfinger (Radialseite).1,1 » 1,9 „ 


Grösster Umfang des rechten Mittelfingers.3,7 Cm. 

Kleinster • » » „ (in der Furche) 3,1 , 

Grösster „ „ „ Ringfingers.2,5 „ 

Kleinster „ „ , „ (in der Furche) 2,1 „ 

Grösster „ „ linken Mittelfingers.3,0 , 

Kleinster „ , „ „ (in der Furche) 2,5 „ 

Die Mutter sagt, das Kind sei mit dem Fehler zur Welt gekommen. Nur 
behauptet sie, die Furche am rechten Mittelfinger sei noch tiefer gewesen, „sie 
sei so tief gewesen, dass sie jeden Augenblick befürchtete, der Finger möchte 
abfallen.“ — Die Füsse des Kindes sind ganz normal. 


Vergleichen wir diesen Fall mit dem vorher beschriebenen, 
so kann über die Identität der Krankheit wohl kein Zweifel ob¬ 
walten. Interessant ist es, dass auch hier an allen drei Fingern 
die Einschnürung entsprechend der Mitte der 1. Phalanx statt¬ 
fand. Anch in dem früheren Fall befand sich die Einschnürung 
oder die vollkommene Loslösung ebenfalls entsprechend der Mitte 
der 1. Phalanx bei drei Fingern (3., 4., 5.). Nur beim Zeige¬ 
finger der Czernatz war die Einschnürung entsprechend der 2. 
Phalanx. Wenn ich auch nicht Gelegenheit hatte, diesen Fall 
anatomisch zu untersuchen, so zweifle ich doch nicht, dass es 
auch hier sich nicht um constringirende Narbenringe handelt, 
sondern dass lediglich eine abnorme epitheliale Einsenkung der 
Einschnürung zu Grunde liegt. Sollte die Behauptung der Mutter 
wahr sein, dass am Mittelfinger die Furche bei der Geburt tiefer 


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Dr. A. Menzel, Spontane Dactylolyse. 


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gewesen sei, als jetzt, so müsste man scbliessen, dass wenigstens 
bis zu einem gewissen Grade eine Rückbildung der Furchen mög¬ 
lich sei. 


Erklärung der Abbildungen auf Tafel XY11I. 

Figur 3. Czeruatz, Johanna, spontane Dactylolyse, rechte Hand. 

Figur 4. Linke Hand derselben. 

Figur 5. Längsschnitt durch die Geschwulst, den Stiel halbirend. 

a. Weicher Stiel. 

b. Knochenkern. 

Figur b. (Hartnack Oc. 3. Ubj. 4). Längsschnitt durch den Geschwulststie- 

a. coagulirtes Blut (Amputationslinie). 

b. Bindegewebe des Stiels. 

c. Corpus papillare. 

d. Epidermis. 

Figur 7, 8. D'Kste, Giovanni Bartolo aus Isola in Istrien, 38 Tage alt: spon¬ 
tane Dactylolyse. 


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XXVII. 

Mittlieilimgen aus der chirurgischen 

Casuistik 

und 

kleinere Mittheilungen. 


1. Ein Fall von angeborener schräger Gesichtsspalte, geheilt dnrch 
mehrere plastische Operationen. 

Von 

Dr. Hasaelniann, 

in Segeberg (Holstein). 

(Hierzu Tafel XX. Figur 1—4.) 

Der nachstehend erzählte Fall dürfte in mehrfacher Hinsicht das Interesse 
der Fachgenossen in Anspruch nehmen, einesteils wegen der Seltenheit des 
Vorkommens dieser Missbildung überhaupt, und namentlich bei einem sonst 
völlig wohlgebildeten und lebensfähigen Kinde, anderenteils wegen des in die¬ 
sem Fall erzielten chirurgischen Erfolges. Dass solche Fälle schon früher Gegen¬ 
stand chirurgischer Operationen geworden sind, ersehe ich aus dem chirurgischen 
Sammelwerk von v. Pitha und Billroth, aber leider ist es mir bei meiner 
Entfernung von grösseren literarischen Hülfsquellen nicht möglich gewesen, von 
den angezogenen Operationen der Herren Guersant und Broca etwas Näheres 
zu erfahren. Es ist mir überhaupt, soweit mir die Literatur zugänglich war, 
nicht gelungen, einen einzigen dem meinigen analogen Fall aufzufinden, und das 
ist der Grund, weshalb ich zur Publication schreite. 

Im October 1867 wurde mir die einige Tage alte uneheliche Tochter des 
Mädchens W. aus Muggesfelde gebracht, welche folgende Missbildung zeigte: 
Die linke Gesichtshälfte wurde von einer schrägen Spalte durchzogen, welche 
ungefähr von der Mitte der linken Hälfte der Obenlippe beginnend sich neben 
der Nase durch die Weicbtheile der Wange bis zum inneren Augenwinkel er¬ 
streckte, und dann an der Grenze des äusseren Dritttheils vom oberen Augenlid 
wieder anfangend schräg durch die Augenbraue und Schläfe bis zur Grenze des 
Haupthaars verlief. Wie bei allen derartigen Spaltbildungen war auch hier 


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Dr. Hasselmann, 


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durch das Ausbleiben der Vereinigung eine Verzerrung der ihre natürlichen 
Stutzpunkte nicht findenden Weichtheile entstanden. Die Nasalseite der Ober¬ 
lippe war hinauf- und der dem oberen Lide gehörende Theil des inneren Augen¬ 
winkels nach abwärts gezerrt, weiter der Rand des medianen Tbeils vom oberen 
Augenlid nach aufwärts verzogen, so dass die normalen Winkel in eine rundlich 
schräge Linie umgebildet waren. Auch war der untere Theil der Nase nach 
rechts hin abgewichen. Noch auffälliger war die Verzerrung am äusseren Spalt¬ 
rand. Der abgetrennte äussere Theil der Oberlippe mit dem dazu gehörenden 
Wangentheil war gewulstet und mit dem unteren Augenlid nach aussen und 
unten verzogen, nur der durch einen knöchernen Stutzpunkt befestigte äussere 
Augenwinkel hatte seine normale Lage, während wieder der äussere Theil des 
oberen Augenlids bogenförmig nach oben und aussen verzogen war. Der äussere 
abgetrennte Theil der Augenbraue war so verdreht, dass er mit dem medianen 
Theil derselben einen rechten Winkel bildete. Mitten in dieser Spalte lag das 
anscheinend wohlgebildete Auge, welches, da es schon durch Entzündung ge¬ 
trübt war, keine genaue Untersuchung mehr zuliess; dasselbe war umgeben von 
wulstig geschwellter Conjunctiva. 

Im Wesentlichen beschränkte sich die Spaltbildung auf die Weichtheile, 
doch war der Processus alveolaris der Spalte der Weichtheile entsprechend ein¬ 
gekerbt, und die Wölbung des Gaumens derart unregelmässig, dass der Scheitel 
der Wölbung von dem Ende des Spalts anfangend links neben der Mittellinie 
verlief, sich nach hinten derselben immer mehr nähernd. Es war also ein schiefes 
Spitzgewölbe, und die Spitze des Gewölbes schloss sich an die Spalte an, ohne 
eine eigentliche Narbe erkennen zu lassen. Der obere Theil der Spaltbildung 
liess ebenfalls eine Spalte im Knochen entdecken, und zwar so, dass der knö¬ 
cherne Augenbrauenbogen wirklich eingekerbt erschien, während die Spalte 
weiter nach der Schläfe hin nur eine leichte Depression im Knochen darstellte. 
Uebrigens schien der Knochen dort auch im Allgemeinen im Wachsthum zurück¬ 
geblieben zu sein, da die Wölbung der linken Stirnschläfengegend wesentlich 
flacher erschien, als die der rechten (Fig. 1). 

Da das Kind einigermassen kräftig zu sein schien und ich eine möglichst 
frühzeitige Schliessung der Spalte für das Zweckmässigste hielt, so operirte ich 
das Kind am nächsten Tage. Ich schloss die ganze Spalte bis etwas über den 
Augenbrauenbogen hinaus durch ausgiebige Anfrischung der Ränder und sorg¬ 
fältige Vereinigung durch die blutige Naht, welche durch mehrere Carlsbader 
Nadeln unterstützt wurde. Bei dieser Operation war ich genöthigt, ein Stück 
von dem äusseren Theil des oberen Augenlides wegzuschneiden, sonst wurde 
Alles erhalten, und dem Verlauf der Spalte entsprechend eine Vereinigung in 
schräger Linie erzielt. Leider sprang am 5. Tage nach der Operation die ganze 
Naht der Länge nach wieder auf, und das Kind musste, um die völlige Heilung 
und Vernarbung abzuwarteq, wieder entlassen werden. 

Das Auge, welches wegen mangelnder Bedeckung durch die Lider der Ent¬ 
zündung zum Opfer fiel und allmälig atrophirte, enucleirte ich gegen Ende des 
Winters, weil ich fürchtete, dass ein dort bestehender Reizzustand die prima 
intentio bei erneuter Operation stören könnte. 


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Ein Fall von angeborener scbräger Gesichtsspalte. 


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Nachdem der Reiz auch dieser Operation gänzlich überwunden war, schritt 
ich am 21- April 1868 zum zweiten Mal zur Schliessung der Spalte. Diesmal 
begnügte ich mich damit, den Theil von der Oberlippe bis zum inneren Augen¬ 
winkel nach gehöriger Anfrischung der Ränder mittelst sorgfältiger, durch Carls- 
bader Nadeln unterstützter Naht zu vereinigen, und hatte auch die Freude, 
vollständige Heilung zu erreichen. Nur ganz oben im inneren Augenwinkel 
erreichte ich nicht prima intentio, sondern Heilung durch Granulation. Man 
siebt dies in der beigefügten Abbildung angedeutet: statt der gesunden Haut 
befindet sich dort breitere Narbensubstanz und eine strangformige Brücke (Fig. 2). 

Die nächste Aufgabe war nun die, den zu tief stehenden inneren Augen¬ 
winkel an seinen richtigen Platz zu versetzen, und dadurch das untere Augenlid 
aus seiner schrägen Stellung in die normale gerade zu bringen. 

Diese Aufgabe suchte ich am 12. April 1870 in folgender Weise zu lösen: 
Zunächst exstirpirte ich die oben erwähnte Narbensubstanz, und löste durch 
einen nach der Nase zu convexen Bogenschnitt hart am Augenwinkel beginnend 
das obere Augenlid von seiner Verbindung mit der Nase ab, gab dann durch 
eine genaue Nabt dem Winkel des oberen Augenlides seinen richtigen Platz, 
und vereinigte den längeren Augenlidwundrand mit dem kürzeren Nasenwund¬ 
rand durch verhaltene Naht. Sodann führte ich, vom inneren Winkel des un¬ 
teren Augenlides beginnend, einen nach unten stark convexen Schnitt durch die 
Wangenhaut, und löste mir einen starken Lappen, der das untere Augenlid ent¬ 
hielt, so ab, dass er ganz frei beweglich wurde. Zu diesem Zweck wurde es 
nöthig, dem Ende des Bogenschnitts einen rechtwinklig nach unten und aussen 
verlaufenden Entspannungsscbnitt anzufügen. Nun konnte ich das untere Augen¬ 
lid ganz an seine normale Stelle setzen, nähte den inneren Winkel desselben 
dicht unter dem entsprechenden des oberen Lides fest, und fuhr von dort aus nach 
abwärts fort, den Lappen durch sorgfältige Nähte soweit zu befestigen, als es 
ohne Spannung geschehen konnte. Den unteren äusseren Wundwiukel auf der 
Wange liess ich offen. Zuletzt befestigte ich den Lappen noch durch 2 tief 
durchgeführte Garlsbader Nadeln. 

Der Erfolg dieser Operation war ein vollkommener, alle Nähte heilten durch 
erste Vereinigung, und die offengelassene Wunde, von der keine schädlichen 
Narbencontractionen ausgehen konnten, heilte durch Granulation (Fig. 3\ 

Es war nun noch übrig, auch das obere Augenlid normal wieder herzu¬ 
stellen. Das suchte ich am 7. October 1871 auf folgende Weise zu erreichen: 
Zuerst löste ich den medianen Theil des oberen Augenlides nach Anfrischung 
des Spaltrandes durch einen auf der Stirn bogenförmig nach rechts geführten 
Schnitt lappenförmig ab, verfuhr dann am äusseren Rande der Spalte mit dem 
äusseren Theil des Lides ebenso, nur dass der Schnitt dort bogenförmig nach 
aussen und unten in die untere Schläfengegend geführt wurde. Beide Lappen 
löste ich soweit ab, dass ich sie ohne Spannung herumdrehen und in der Mitte 
vereinigen konnte. Dann exstirpirte ich die Narbensubstanz im Grunde der 
Spalte und bildete, um die Spalte auch nach der Schläfe bin decken zu können, 
und um einen Stützpunkt von oben her für die Vereinigungsstelle der beiden 
Augenlidlappen zu bekommen, aus der Stirnhaut oberhalb des vorhin erwähnten 


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Dr. A. Obalinski, 


Bogeuschnitts einen dritten Lappen, dessen Basis nach oben lag. Nun ver¬ 
einigte ich die beiden Augenlidlappen in einer senkrechten Linie genau durch 
die Naht, legte den dritten Lappen von oben her daran und vereinigte ihn durch 
sorgfältige Nähte mit beiden Augenlidlappen. Der Erfolg auch dieser Operation 
war ein durchaus günstiger, Alles heilte prima intentione, nur in dem Vereini- 
gungspunkt der drei Lappen entstand eine kleine Oeffnung, die sich aber bald 
durch Granulation schloss (Fig. 4;. 

Ein Blick auf die Abbildungen zeigt, welcher Effect durch diese drei Operationen 
erzielt ist; ich bin mir aber sehr wohl bewusst, dass das eigentlich Interessante 
dieses Falles nicht sowohl in den chirurgischen Operationen, zu denen er Gele¬ 
genheit darbot, als vielmehr in der Eigenthümlichkeit der Missbildung selbst liegt 
Die völlige Vereinigung des Stirnlappens und des Oberkieferlappens ist hier an 
der linken Seite ausgeblieben. Man sollte nun denken, dass diese Missbildung 
dazu beitragen könnte, Aufklärung darüber zu geben, welche Theile des Gesichts 
von dem Stirnlappen, und welche von dem Oberkieferlappen gebildet würden. 
Soviel mir bekannt, nimmt man allgemein an, dass das obere Augenlid durch 
den Stirnlappen gebildet wird. Hier aber wird noch der äussere Theil des 
oberen Augenlides durch den Oberkieferlappen gebildet. Zu bemerken ist ferner, 
dass der durch die Einkerbung im Alveolarfortsatz als Zwischenkiefer charakterisirte 
Alveolartheil nur einen Schneidezahn trägt, während der zweite schief der Spalte 
zugeneigt aus dem von dem Oberkieferlappen gebildeten Alveolartheil hervor¬ 
wächst. Hier hat also gleichfalls der Oberkieferlappen Bildungen übernommen, 
die in der Regel aus dem Stirnlappen hervorgehen. Man wird demnach nicht 
umhin können, anzunehmen, entweder dass die bisherigen Vorstellungen über 
die Bildungsprovinzen der quäst. Lappen falsch waren, oder dass, wenn der 
eine Lappen im Wachstbum zurückbleibt, der andere dessen Bildungsprovinz 
theilweise übernehmen kann. 


2. Phosphornekrose des ganzen Unterkieferknochens. Snbperiost&ie 
Enncleation des ganzen Unterkiefers. Heilnng. 

Von 

Dr« Alfred Obalinski, 

Primararzt der Chirurg. Abtheilong des St. Lazar-Spitals in Krakau. 


Josef Sekoronia, 24 Jahre alt, aus Oberzuschütz in Steiermark gebürtig, 
kam auf die chirurgische Abtheilung des obengenannten Spitals am 19. Harz 
1873. Patient weiss sich keiner wichtigeren Krankheit zu erinnern, die er 
uberstanden hätte; in der Jugend litt er einmal an Zahnschmerz, in Folge 
dessen 6r sich einen Backenzahn im linken Unterkiefer ausziehen liess. Von 
seinem 20. Lebensjahre an diente er durch 3 Jahre beim Genie-Corps; als Re¬ 
servist wurde er Arbeiter in der hiesigen Zundhölzchenfabrik, wo er mit Zube¬ 
reitung der Phosphormasse beschäftigt, somit beinahe den ganzen Tag der 
Einwirkung der Phosphordämpfe ausgesetzt war. — Sechs Monate nach dem 


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Phosphornekrose und subperiostale Euueleatiou des ganzen Unterkiefers. 685 

Eintritte in die Fabrik empfand Patient zum ersten Male einen Zahnschmerz, 
in Folge dessen er sich den ersten Backenzahn rechts unten ausziehen liess, 
wobei jedoch die Wurzeln abgebrochen und im Kiefer geblieben sein sollen. 
Seit der Zeit empfand S. an dieser Stelle einen Schmerz, der »sich mit jedem 
Tage vergrössecte und ausbreitete, so dass er genothigt war, auch den näcbst- 
liegenden Backenzahn zu opfern. Da er aber unausgesetzt in der Fabrik weiter 
arbeitete, so half ihm dies selbstverständlich nichts, sondern verschlechterte sich 
sein Zustand derart; dass er im genannten Spitale um ärztlichen Rath ansuchen 
musste. 

Die am 20. März 1873 vorgenommene Untersuchung ergab Folgendes: Die 
rechte Backen- und Unterkiefergegend ziemlich stark angeschwollen, gerothet 
und heiss anzufühlen. In der Mundhohle sieht man an der Stelle des fehlenden 
ersten und zweiten Backenzahnes im rechten Unterkiefer eine Geschwulst, die, 
auf das dieser Gegend entsprechende Zahnfleisch sich erstreckend, mehrere kleine 
Oeffnungen aufweist, die schon bei gelindem Druck auf die genannte Geschwulst 
dünnen übelriechenden Eiter austreten und die Sonde auf entblössten Knochen 
gelangen lassen. Die beiden nächstliegenden Mahlzähne so wie der Eckzahn 
waren wacklig. — Hauttemperatur 39° 0. — Der Schmerz stark und beinahe 
unausgesetzt, somit schlafraubend. Ernährung erschwert. Die Untersuchung 
der inneren Organe erwies bei dem sonst rüstigen Manne nichts Erhebliches. — 
Nun warf sich mir die Frage auf, ob ihm der Unterkiefer gleich resecirt, oder 
gewartet werden sollte, bis der acute Vorgang sein Ende erreicht hat. — 
Wiewohl die Angaben Paget’s (Med. Times and Gaz.) und die trefflichen An¬ 
deutungen Billroth’s (Chirurgische Erfahrungen. Zürich 1860—1S67) schon 
für das letztere Verfahren plaidirten, so benahmen mir doch erst die wissen¬ 
schaftlich begründeten und durch zahlreiche Beispiele erläuterten Sätze meines 
hochverehrten Lehrers Prof. Bryk (Archiv für klin. Chirurgie Bd. XV. Heft 2) 
jeden Zweifel. — Die latente Periostitis, meint er, sei Schuld daran, dass man 
von den zu frühen Resectionen so oft schlechte Resultate aufzuweisen hat — 
sie zu eruiren, hilft ihm das Thermometer. — Darauf gestützt, beschloss ich 
nun, meinen Patienten erst dann zu operiren, bis eine ausgesprochene und an¬ 
haltende Abnahme in den täglichen Temperaturerhöhungen zu bemerken sei. 
Während der Zeit beschränkte ich mich auf fleissiges Ausspülen der Mund¬ 
höhle mit einer dünnen Lösung von Kali hypermanganicum, nötigenfalls auf 
Behebung von Eiterretentionen, Linderung der Schmerzen mittelst bypoderma- 
tischen Morpbiuminjectionen und endlich auf eine den localen Verhältnissen an¬ 
gemessene kräftige Diät. — In der Zeit vom 20. März bis zum 3. August 
schwankte die Morgentemperatur zwischen 37 und 39°, dagegen die Abend¬ 
temperatur zwischen 38 und 39,7°, während der Process immer weiter vorschritt, 
so dass nach Ablauf der genannten Zeit der obere Rand des Unterkieferkörpers 
zahnlos und entblösst zwischen den Zabnfleischhälften sichtbar wurde; der all¬ 
gemeine Kräftezustand war der eines mit ausgeprägter Cachexie Behafteten. 

Erst am 4. August wurde zum ersten Male eine niedrigere Abendtempe¬ 
ratur (37,7°) constatirt, und als das Thermometer in den nächsten Tagen noch 
kleinere Ziffern auf wies und die Apyrexie sich zu erhalten schien, schritt ich 


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Dr. A. Obalinski, Pbospbornekrose. 


am 9. August 1873 zur totalen Enucleation des Unterkiefers, nachdem ich Tages 
zuvor mittelst Sonde die Ueberzeugung gewounen batte, dass der Knochen bei¬ 
derseits bis zum Gelenkfortsatze denudirt sei. 

Gestützt auf die Erfahrungen Billroth’s (I. c.) und Sch uh’s (Oesterr. 
Zeitschrift für pract. Heilkunde 1S60), wollte ich die Enucleation bei unver¬ 
sehrten Weichtheilen ausführen; da jedoch die Unterlippe so stark angeschwollen 
war, dass ihre Herabbringung nicht vollständig gelingen wollte, theilte ich sie 
durch einen verticalen Schnitt in zwei gleiche Hälften, um desto leichter den 
nekrotischen Knochen mit der Ketteusäge durchsägen zu können. Die Ablösung 
des Periosts ging leicht von statten und nun versuchte ich die linke Kiefer¬ 
hälfte aus ihrer Schale herauszuheben; dies sollte aber nicht so leicht gelingen; 
denn nach einigen vergeblichen Versuchen musste ich auf einen Erfolg, die 
Operation bei gänzlicher Unversehrtheit der Weichtheile durcbzuführen, verzich¬ 
ten, und führte demnach einen horizontalen bogenförmigen Schnitt vom linken 
Ohre längs der unteren Kieferkante bis zum verticalen Lippenschnitt reichend 
aus, worauf der halbe Knochen nach einigen Drehungen mit Leichtigkeit beraus- 
gelöst wurde. Rechterseits gelang es mir doch, den Knochen nach dem anfäng¬ 
lichen Plane, d. i. bei unversehrten Weichtheilen, herauszunehmen. Die Blutung 
war sehr gering, und diese meistentheils aus den auf der linken Seite ange¬ 
schnittenen Weichtheilen; das dicke und stellenweise schon ossificirende Periost 
erhielt die Zunge in ihrer natürlichen Lage, verhinderte somit das störende 
Umschlagen derselben. Die schon durch den Nekrotisirungsprocess geschiedenen 
Zahnfleischhälften wurden mit Eisendrabtnähten, die äusseren Weichtheile durch 
umschlungene Nähte verbunden. Die ganze Procedur währte so kurz, dass ich 
es nicht bedauerte, den Patienten ohne Chloroformnarkose operirt zu haben. 
Was übrigens die Schmerzen während der Operation anbelangt, so hatte nach 
Aussage des Patienten dieser sich dieselben viel heftiger vorgestellt, was als 
ein weiterer sehr beachtenswertber Vortheil dieser Methode hervorgehoben zu 
werden verdient, zumal es doch in anderen Fällen gelingen sollte, den Knochen 
bei unversehrten Weichtheilen berauszunehmen. 

9. August Abends 38,9° C. 

10. „ früh 37,4, Abends 37,9, 

11. i „ 36,8, « 37,6, 

12. „ „ 37,5, , 40,5, 

und Schüttelfrost als Vorbote eines Rothlaufes, der 14 Tage lang anhielt. — 
Kaum genesen vom Erysipel, erkrankte Patient an der dazumal epidemisch auf¬ 
getretenen Cholera, die er jedoch glücklich überstand. — Als ich ihn einen 
Monat später in einer Sitzung der Gesellschaft der Aerzte vorstellte, waren die 
Wunden bis auf eine kleine Fistel geheilt, das zurückgelassene Periost zu einem 
förmlichen Knochen erstarkt und die Entstellung so gering, dass ihr durch ein 
eingesetztes falsches Gebiss gänzlich abgeholfen wurde. 


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Eine Spermatocele cystica. 

3. Eine Spermatocele cystica. 

Mitgetbeilt von 

Dr, Peltavy, 

Assisteuz&rzt der chirurgischen Klinik za Freiburg i. Br. 

(Hierzu Tafel XX. Figur 5.) 


In dem flüssigen Inhalte der Hydrocele findet man bisweilen Spermatozoon; 
über den Ursprung derselben wurden sehr verschiedene Erklärungen gegeben. 
Steudener*) führt die Literatur über Spermatocele ausführlich an, er stellt 
darnach drei Gruppen von Hydrocele spermatica auf: 1) spermatische Cysten am 
Nebenhoden ausserhalb der Höhle der Tunica vaginalis propria testis; 2) sper¬ 
matische Cysten am Nebenhoden innerhalb der Höhle der Tunica vaginalis 
propria testis; 3) eigentliche Hydrocelen mit Samenfäden in der Flüssigkeit. 

Ein von ihm beobachteter Fall veranlasst ihn, eine vierte Gruppe aufzu¬ 
stellen: Cysten, welche sich von den Drüsenkanälchen des Hodens selbst ent¬ 
wickelt haben. Es fand sich nämlich eine elastische Geschwulst über dem 
rechten Hoden, mit welchem sie an einer dem Rete testis entsprechenden Stelle 
zusammenhing. An dieser Stelle zeigten sich im Innerefi der Cyste sehr feine 
Oeffnungen. Die Drüsenkanälchen des Hodens konnte Steudener von hier aus 
nicht sondiren. 

Rosenbach**) beobachtete einen ähnlichen Fall, in welchem auf beiden 
Hoden spermatische Cysten aufsassen. Es gelang ihm, durch Injection von 
Luft und Wasser linkerseits eine directe Communication mit den Maschen des 
Rete testis nachzuweisen. Steudener hält die spermatischen Cysten in der 
Mehrzahl für Retentionscysten; die Entstehung nach Luschka***) durch cy- 
stische Entartung der Morgagni’schen Hydatiden lässt er auch zu. Die 
Uhde’scbef) Erklärung referirt er, ohne sie ausdrücklich anzuerkennen. 

Im Juni 1873 kam hier ein Fall zur Beobachtung, der in Steudener's 
erste Gruppe einzureihen ist: J. B , 80 Jahre alt, trat am 11. Juni wegen einer 
Geschwulst des Hodensackes in die Klinik ein. Es fand sich auf der rechten 
Seite zunächst eine Leistenhernie; nach Reposition derselben waren dann zwei 
Tumoren zu fühlen, die sich deutlich vom Hoden abgrenzen Hessen. Dieselben 
waren jede von der Grösse eines kleinen Apfels, Hessen sich durch Druck weder 
verkleinern, noch zurückdrängen und zeigten deutliche Fluctuation. Patient gab 
an, dass diese Geschwulst erst seit einem Jahre bestehe. Am 13. Juni wurde 
die Punction gemacht, und es entleerten sich zunächst 2 Unzen einer trübeu, 
milcbähnlichen Flüssigkeit; die zweite Cyste musste durch einen neuen Einstich 
von der Höhle der ersten Cyste aus ohne neue Hautverletzung geöflnpt werden 


*) v. Langenbeck’s Archiv Bd. X. S. 3G2. 

**) Ebendas. Bd. XIII. S. 220. 

***) Virchow’s Archiv Bd. VI. S. 317. 
f) Deutsche Klinik 1853. Nr. 19. 


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688 


Dr. Peitavy, Spermatocele cystica. 


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und entleerte dann etwa die gleiche Menge Flüssigkeit von demselben Aussehen. 
Die mikroskopische Untersuchung zeigte eine Menge von Spermatozoon; Bewe¬ 
gung konnte an denselben nicht wahrgenommen werden. Von einer Injection 
in die Cysten wurde wegen des Alters des Patienten Abstand genommen. Pa¬ 
tient zeigte nach dem unbedeutenden Eingriffe eine auffallende Reaction; er 
fieberte ziemlich beträchtlich, wurde somnolent; dabei trat Husten auf mit 
schleimig-eitrigem Auswurfe. Patient collabirte trotz zeitiger Anwendung von 
Stimulantien und starb am 28. Juni. 

Bei der Section zeigte sich Atherom der grossen Gefässstämme. In beiden 
Lungen zahlreiche miliare Tuberkel, ebenso in den beiden Nieren. Der locale 
Befund war: ein vor dem Leistenring liegender, daselbst mit der Umgebung 
verwachsener leerer Bruchsack von etwas über Wallnussgrösse. Am Samen¬ 
strang nichts Abnormes. Die eröffnete Tunica vaginalis propria frei von flüs¬ 
sigem Inhalte. Ausserhalb derselben zeigen sich zunächst zwei Cysten, eine 
grössere von etwa 3 Cm. im längsten Durchmesser, dem Nebenhoden anliegend, 
eine kleinere dem Hoden. Bei der ersten, die ziemlich prall gefüllt ist, schim¬ 
mern durch die dünne Wandung dunkle Flocken durch; sie enthält ausserdem 
serösen Inhalt und einige entfärbte Blutgerinnsel. Die zweite ist weniger prall 
gefüllt und enthält nur klare Flüssigkeit. Beide lassen sich von der Unterlage 
lospräpariren bis auf einen dünnen Stiel, der dem Kopfe des Nebenhodens an 
der grössten Convexität aufsitzt. Nach Loslösung dieser Cysten wird jetzt noch 
eine dritte sichtbar, die an der hinteren Seite des. Kopfes vom Nebenhoden lose 
befestigt ist; sie ist von derselben Grösse wie die zweite und enthält neben 
seröser Flüssigkeit einige entfärbte Gerinnsel. — Die ungestielte Morgagni’- 
sche Hydatide sitzt dem Hoden auf, 1 Cm. vom Ursprung der Cysten entfernt; 
sie ist platt, von nicht ganz Linsengrösse. — Die Wandung der Cysten ist sehr 
dünn, glatt; die Form oval, ohne jede Bucbtung. Das Epithel besteht aus 
polygonalen platten Zellen mit sehr grossen Kernen und Kemkörperchen. — 
In der Cystenflüssigkeit finden sich ausser abgelöstem Epithel nur in Cyste I. 
runde Zellen von der Grösse eines weissen Blutkörperchens, sowie einzelne von 
der vierfachen Grösse mit feinkörnigem Inhalte. Spermatozoen finden sich in 
keiner Cyste. Eine Communication mit den samenführenden Gängen kann weder 
durch Sondirung, noch durch Quecksilberinjection nachgewiesen werden. 

Ich glaube, dass es auch im vorliegenden Falle gerechtfertigt ist, die Cysten als 
durch Retention aus Samenkanälchen entstanden zu betrachten, wenn cs auch 
nicht gelungen ist, eine Communication mit den Canälchen des Nebenhodens, 
noch den Ort des Hindernisses nachzuweisen; denn letzteres ist vielleicht nur 
möglich, wenn dasselbe im Vas deferens selbst sitzt. Die ehemals vorhandene 
Communicationsöffnung kann sich wieder vollständig verschlossen haben. Es 
scheinen dafür solche Fälle zu sprechen, in denen bei der ersten Punciion 
Samenfaden entleert werden, während die Wiederholung derselben ein negatives 
Resultat ergab. Die Entstehung aus Hydatiden ist bei der Lage der Cysten 
ausserhalb der Tunica vaginalis propria undenkbar. Dass es sich nicht um 
erweiterte Vasa aberrantia handelt, dafür spricht die glatte Oberfläche der 
Cysten gegenüber den Buchtungen an Uhde’s Cysten. 


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Partielle Atrophie de9 Skelets. 

Erklärung der Abbildung auf Tafel XX. 

Figur 5. a. Testikel mit Fetzen der Tunica vaginalis, 
b. Epididymis. 

cl. und c2. sind zwei Cysten, durch welche die dritte verdeckt wird. 

d. Vas deferens. 

e. Funiculus spermaticus. 


4. Partielle Atrophie des Skelets. 

Mitgetheilt durch 

Dr. H. v. Hoaenfell. 

(Hierzu Tafel XX. Figur G ) 


Ein höchst eigentümlicher Fall stellte sieb mir im Sommer 1871 vor. Frl. 
E. aus B. kam mit der Klage zu mir, dass sie seit einigen Jahren immer kleiner 
werde, mindestens um einen halben Fuss an Länge abgenommen habe und nun 
sehr leide, gar nicht mehr gut Stehen und langes Sitzen vertragen könne, Ver¬ 
dauungsbeschwerden habe und sich untfobl und im höchsten Grade schwach 
fühle. In Kleidung sah die Person wie eine verwachsene aus, bei der man nur 
der Geschicklichkeit der Toilette halber keine Rückgrats Verkrümmung bemerken 
könne. Die Taille sass sehr hoch, die Hüfte schien breit zu sein. Der Kopf 
war oben breit und spitzte sich en face gesehen nach dem Kinn hin zu. Als 
die Patientin ausgezogen war, sab man auf einem sehr kräftig entwickelten 
unteren Theile einen halb infantilen Oberkörper; der Kopf war grössteutbeils 
stark entwickelt. Beckenknochen und untere Extremitäten waren sehr kräftig, 
breit und hoch gebaut, wie einem sehr starken Frauenzimmer angebörig, und 
wie Mutter und Schwester der Patientin aussagten, war sie auch früher sehr 
gross gewesen. Die gesammte Körpermasse von der Maxilla inferior an (diese 
inbegriffen) bis zum knöchernen Becken war atrophisch. Während im kräftig 
entwickelten Processus alveolaris des Oberkiefers gesunde Zähne fest sassen, 
sahen aus dem verdünnten Unterkiefer die Wurzeln locker sitzender Zähne her¬ 
vor, soweit diese noch nicht ausgefallen waren. In Höhe und Dicke war der 
Unterkieferknochen atropbirt. Die geringe Schulterbreite bei dem bedeutenden 
Transversaldurchmesser des Beckens fiel auf; der knöcherne Schultergürtel be¬ 
stand aus durchweg relativ zu kleinen Knochen. Die Wirbelsäule des Halses 
schien verbältnissmässig nicht stark afficirt, dagegen die gesammte übrige Wir¬ 
belsäule, besonders die der Lendengegend, sehr stark. Es war keine grosse 
Veränderung in dem Axenverlaufe der Columna vertebrarum vorhanden; nur die 
physiologische kyphotisebe Krümmung im oberen Theile der Brustwirbelsäule 
war geringer, als sie gewöhnlich ist, so dass der Verlauf der Axe der Senk¬ 
rechten sich mehr näherte. Besonders — und es bedingte dies überhaupt die 
auffallendste Veränderung am Skelet — war aber die Höhe der gesummten Wirbel 
eine verringerte, so dass der kleine Oberkörper zwischen Kopf und Becken zn- 


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690 


Dr. K. v. Mosengeil, 


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sammengestaucht erschien. Die unteren Rippen sassen inwendig im Becken. Es 
war dies bei dem in jeder Richtung geringen Durchmesser des Thorax sehr 
leicht möglich. Nothwendig mussten bei den Wirbeln nicht allein die Körper 
atrophirt sein, sondern gleichmässig alle Partieen, da sonst eine das ganze Rück¬ 
grat betreffende kyphotische Krümmung die Folge gewesen wäre. Die Weich- 
theile über den atrophirenden Knochentheilen waren gleichfalls wenig ausge¬ 
bildet. Ich glaubte deshalb Anfangs an ein Infantilbleiben derselben, doch gab 
die Hutter ausdrücklich an, dass ihre Tochter früher sehr kräftig habe arbeiten 
können, starke Arme und grössere Brüste gehabt habe. Die Länge der Arme 
schien relativ am wenigsten abgenommen zu haben. Dieselbe war für die Höhe 
des Rumpfes eine bedeutende, freilich auf die Länge der unteren Extremitäten 
bezogen eine verhältnissmässig geringe, doch immer noch innerhalb der Grenze 
des physiologischen Vorkommens. So ergeben sich bei Messung meiner eigenen 
oberen und unteren Extremitäten etwa dieselben Verhältnisszahlen; jedoch habe 
ich auch relativ sehr kurze Arme. Die Person war nicht verheirathet, hat nie 
ein Kind gehabt und soll in ihrer Sexualsphäre über Nichts zu klagen gehabt 
haben. Ihr Alter war etwa Hitte der Dreissig. Die Uüdigkeit und Schwäche, 
an welcher sie litt, erstreckte sich nicht nur auf die oberen Extremitäten, son¬ 
dern auch auf die Beine. Die Patientin hatte vielfach mit der Nähmaschine 
gearbeitet, wobei Hände und Füsse gleichmässig angestrengt waren. Die Zeit¬ 
dauer, in welcher das Arbeiten möglich war, wurde immer kürzer, und zwar 
ermüdeten nicht die verkümmerten Arme zuerst, sondern die kräftig muskula- 
risirten Beine. Allerdings lassen sich bei der vorhandenen Verkümmerung der 
ganzen Wirbelsäule mechanische Homente denken, die ebenso wohl die Nerven 
der unteren, als der oberen Extremitäten insultiren und in ihren Functionen 
stören konnten. Auffallend bleibt es dabei nur, dass die Muskeln der Beine 
noch kräftig und für momentane Kraftäusserungen brauchbar geblieben. Auf 
electrischen Reiz, directen und indirecten, antworteten alle Muskeln, doch schien 
die motorische Reizbarkeit etwas geschwächt, die sensible etwas erhöht. — Der 
Panniculus adiposus war nirgends besonders, doch über den atrophischen Par¬ 
tieen schwächer als anderen Ortes entwickelt. — Ausser über schnelle Ermat¬ 
tung bei geringfügigster Anstrengung und förmlich schmerzhafte Müdigkeit in 
den Gliedern klagte Patientin noch über Schmerzen im Leibe. Durch diese war 
sie verleitet, sehr aller nahrhafteren Kost sich zu enthalten und gemäss der im 
Publicum vielfach verbreiteten Ansicht, dass Pflanzenkost und minder n&hrungs- 
werthe Stoffe die bei Krankheit zuträglicheren seien, sich möglichst irrationell 
zu nähren. Die Schmerzen waren bei ihrem ersten Auftreten gering gewesen 
und nicht die directe Folge von eingenommener Speise; später kehrten sie nach 
immer kürzeren Pausen wieder, wurden heftiger und folgten direct den Mahl¬ 
zeiten. Sie mögen wohl durch rein mechanische Verhältnisse zu erklären sein; 
der Druck des in das Becken sinkenden Oberkörpers, die dadurch bedingte 
Raumverminderung des Abddmen, welche natürlich nach Speiseaufnahme relativ 
auch vorhanden war, sind hinreichende Momente. Dass bestimmte Sorten von 
Speise besonders schlimm wirkten, wusste Patientin auch nicht sicher anzugeben. 
Der Stuhlgang war ein sehr retardirter und erfolgte meist nur bei schmerzhafter 


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Partielle Atrophie des Skelets. 


69 J 


Anstrengung der Bauchpresse. — Das Knochenskelet des Beckens und der un¬ 
teren Extremitäten war kräftig und in keiner Hinsicht deformirt, zumal muss 
jede an Osteomalacie des Beckens erinnernde Defiguration ausgeschlossen wer¬ 
den; doch stand das Mädchen, als ich es zuerst sah, mit etwas gekrümmten und 
in Valgusstellung gehalteneu Knieen, nicht aber mit im Hüftgelenk nach innen 
rotirten Beinen. Was die Diagnose betrifft, so lässt sich nur von einer Atrophie 
einzelner Körperpartieen reden, wobei wohl primär das Knochensystem in einer 
der senilen Atrophie ähnlichen Weise befallen war. Ueber Prognose und The¬ 
rapie liess sich bei dem Ungewöhnlichen der Sache noch weniger bestimmen. 

Ich liess zunächst, um die mechanischen Schädlichkeiten zu verringern, die einem 
Zusammenpressen der erkrankten Theile günstig waren, Sitzen und Stehen 
meiden, empfahl horizontale Lage und regelte die Diät, hioss die Patientin öfter 
des Tages etwas zu sich nehmen, und zwar leicht, verdauliche, ober nahrhafte, 
nicht voluminöse Nahrung. Zugleich gab ich Wegner’sche Pbosphorgaben, 
Anfangs in Oel gelöst, ganz nach Kurzem aber genau nach dem Wegner’- 
schen Recept zubereitete Phosphorpillen, wobei der Phosphor eine möglichst 
starke Verreibung und Zertheilung erfahren. *) Der Erfolg war befriedigend. 

Schon nach dreiwöchentlichem Gebrauch der Phosphorgaben in Oel zeigte es 
sich, dass die Krankheit, welche bis dahin stetige Verschlimmerung, besonders 
in der letzten Zeit, ehe Patientin sich vorstellte, gezeigt, im Weiterschreiten \ 
sistirte. Die subjectiven Beschwerden verringerten sich sehr, besonders nach¬ 
dem erst eine Zeit lang die Pillen genommen worden waren. Aus dieser Zeit 
stammt die von mir beigegebene Zeichnung, welche freilich keinen Anspruch 
auf Portraitähnlicbkeit machen kann und nur die Figur der Patientin zeigt, wie 
ich sie in meinem Skizzenbuch gezeichnet hatte. Die Stellung der Beine ist 
eine festere, sicherere und geradere, als im Anfang, besonders aber eine der¬ 
artige, dass man aus ihr schon osteomalacische Vorgänge ausschliessen kann, 
da ja gerade für dies Leiden dieselbe so characteristisch ist. Der Wunsch der 
Patientin, dass sie wieder eine restitutio ad integrum erfahren möge, scheint 
freilich auch mit der Zeit nicht erfüllt zu sein, doch konnte sie wieder etwas 
arbeiten und ihre subjectiven Beschwerden hatten sich sehr gebessert. Die Ver¬ 
dauung war regelmässiger, die Schmerzen und Müdigkeit geringer. 

Wenn ich in diesem Falle den Phosphordosen eine grosse Wirkung zu¬ 
schreibe, so kann ich, da ich mechanische und diätetische Mittel zu Hülfe nahm, 
und also allerdings kein reines Experiment vorliegt, meine Ansicht nicht st riet 
beweisen. Doch hat das Mädchen, da ihr das viele Horizontalliegen unbequem 
und selbst oft schmerzlich war, dasselbe bald unterlassen, oder wenigstens die 
dafür bestimmte Zeitdauer sehr abgekürzt. — Wie es ira späteren Verlauf mit 
dem Zustand der Patientin geworden, wciss ich nicht anzugeben. Der Bruder 
derselben hat mir zuletzt, etwa fünfviertel Jahr nachdem ich sie zuerst gesehen, 


*) Rp. Phosphori puri 0,05, fiat pulv. subtiliss. ope, Syr. simpl. 7,5, 
oalefactis et conquassatis usque ad refrigerat. adde Pulv. rad. Glycyrrbiz. 10,0, 
Gummi arab. 5,0, Tragacantb. 2,5, M. f. pil. No. 300. DS. 3 mal tägl. 2 Stück. 

v. Langen bock, Archiv f. Chirurgie. XVI Aq 


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Dr. K. v. Mosengeil, 


brieflich mitgetbeilt, dass cs zwar besser gehe, aber die frühere Gesundheit noch 
nicht wieder erlangt sei. 

Ein Fall, den ich anhangsweise wegen der sehr erfolgreichen gleichen me- 
dicamentösen Behandlung hier flüchtig berühren möchte, betraf eine Person mit 
exquisiter Osteomalacie. Sie hatte dieselbe post puerperium erworben und 
wurde mir von einem Collegen wegen Hüftleidens geschickt Sie konnte nicht 
anders als unter Schmerzen mit grösster Anstrengung Fuss vor Fuss setzend 
gehen. Beim Stehen zeigte sich die eigenthümliche Stellung der Beine Osteo- 
malacischer: Die Beine nach innen rotirt, die Fussspitzen nach innen, die Fersen 
nach aussen stehend, die Kniee gekrümmt und vorne aneinander fest gepresst 
Die Schambeine stiessen in einem scharfen Schnabel vorne aneinander und waren 
zur Seite der Symphyse nach innen gepresst, in analoger Weise die Darmbeine 
deformirt und sogar das Kreuzbein war afficirt. Es war stärker gebogen in 
seiner unteren Partie und die Steissbeinwiibel zeigten eine Deviation nach der 
linken Seite. In der Gegend unten am Kreuzbein batte die Patientin den 
grössten Schmerz. Führte man den Zeigefinger bei Seitenlage der Patientin mit 
der Pulpa nach hinten sehend in den Anus, so konnte man deutlich einen Ein¬ 
knickungswinkel des Kreuzbeins fühlen und das seitlich neben der Interglutaeas- 
falte stehende Os coccygis hin und her bewegen. Die Patientin bekam Phos¬ 
phorpillen und schon nach drei Wochen befand sie sich auffallend besser, nach 
sechs Wochen fast frei von allen Beschwerden, konnte gut gehen und gerade 
stehen. Die Difformität der Beckenknochen bestand weiter. 


5. Galvanische Zerstörung eines grossen Gavernoms. 

Mitgetheilt durch 

Dr. K. t. IHoiengeil. 


Ein Kind von 11 Jahren hatte ein Cavernom, das die linke Seite des Ge¬ 
sichtes zum grössten Thei) einnahm, theilweise die ganze Dicke der Weichtheile 
betraf, theils nur in der Oberfläche, theils aber, ohne bis zur Oberfläche ge¬ 
drungen zu sein, in der Tiefe sass und an einzelnen Stellen, wie den Schleim¬ 
häuten, des Mundes, der Nase und des Auges, wahrgenommen werden konnte, 
ohne überall entsprechende Veränderungen, z. B. Hervorwölbungen auf der 
äusseren Haut zu zeigen. An eine Exstirpation, selbst bei häufigster Wieder¬ 
holung und gefolgt von ausgedehntesten plastischen Operationen, wäre nicht zu 
denken gewesen. Nur aus der unförmlich geschwollenen Oberlippe war ein Keil 
exstirpirt worden. Es wurde durch Herrn Geh.-Rath Busch die Galvanokaustik 
angeordnet und durch folgendes Verfahren ein sehr zufriedenstellendes Resultat 
erzielt. Es wurde zuerst der Platindraht einer galvanokaustischen Batterie vom 
rothen Lippensaum der Mitte der linken Oberlippenhälfte aus schräg nach oben 
und aussen in die Geschwulst gestochen und über der Mitte des Jochbeins 
wieder herausgeführt. Darnach wurde die Kette geschlossen, etwa eine halbe 
Minute lang der Draht glühend erbalten und dann berausgezogen. Die beiden 


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Galvanische Zerstörung eines grossen Cavernoms. 


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Oeffnungen schienen erst trotz des Aetzschorfs stark bluten zu wollen, doch 
stand die Blutung nach kurzem Verschluss durch die Fingerspitzen. Es trat 
eine kaum merkliche Eiterung und schnelle Heilung ein, wobei sich sofort 
zeigte, dass eine bedeutende narbige Schrumpfung folgte, welche auch die dem 
Narbenfaden nahe gelegenen Partieen mit consolidire und ihnen den cavernös 
schwellbaren Character nehme. Etwa zehn Tage nachdem dieses Verfahren zum 
ersten Male bei dem Kinde ausgeführt worden, behandelte man die Oberlippe in 
fast ihrer ganzen Breite auf dieselbe Weise. Auch hier stand die im Strahle 
nach Art einer spritzenden Arterie dem ausgezogenen Drahte folgende Blutung 
nach Digitalcompression, welche die kleine Patientin hier wie später stets selbst 
besorgte, bald. Als auch diese „Brandfistel“ ausgebeilt war, was noch schneller 
als bei der vorigen ging, da nur die Orificien in geringem Grade eiterten, zeigte 
sich eine beträchtliche Volumverringerung der Oberlippe. Diese war zuvor ein 
grosser Wulst unter der Nase gewesen, jetzt zeigte sich, obwohl das Ganze 
noch eine sehr bedeutende Vergrösserung hatte, doch der Längsaxe des einge¬ 
führt gewesenen Drahtes folgend, eine der natürlichen ähnliche Excavation der 
Lippenoberfläche unter der Nase. Darunter fühlte man festes Narbengewebe in 
der weichen Masse der Gefässgeschwulst. Verbunden wurden die Stichöffnungen 
mit Carbolcharpie, welche unmittelbar nach Ausziehen des Drahtes aufgelegt 
wurde, dann vom Kinde angedrückt, und nach einiger Zeit durch einen etwas 
comprimirenden Verband befestigt, die ersten Tage nur je einmal gewechselt 
wurde. Das fernere Verfahren bestand nun nicht mehr in Anwendung des gal¬ 
vanokaustischen Platindrahtes, sondern nur in Electropunctur. Wir hatten zu 
der Zeit gerade das von Neftel angegebene Verfahren zur Behandlung von 
Carcinomen (ich möchte es wenn nicht „Galvanokaustik“, galvanisches Zerstören 
nennen) mittelst des constanten Stromes angewandt, und bediente ich mich im 
vorliegenden Falle einer ähnlichen, nur einfacheren Methode. Ich versenkte 
eine spitze Nadel als Kathode in diejenige Partie des Cavernoms, welche ich 
besonders angreifen wollte und hielt aussen auf der Haut eine kleine Schwamm¬ 
anode darüber fest. Ich begann mit schwachem Strom von nicht mehr Ele¬ 
menten, als das übrigens sehr standhafte Kind ohne zu grosse Schmerzen aus- 
halten konnte, schaltete allmälig mehr Elemente ein (bis zu 14 und 16 der 
kleinen Stöhrer’schen Zink-Kohlenbatterie), und liess die ganze Sitzung etwa 
2—3 Minuten dauern. Alle 4—6 Tage erneuerte ich sie. Es war auffallend, 
wie schnell Besserung eintrat. An den Stellen, durch welche der Strom ging, 
contrahirten sich die Weichtheile so stark, dass der palpirende Finger ein ganz 
festes Gewebe zu fühlen glaubte; dabei wurde das Blut so aus den betreffenden 
Partieen entleert, dass diese ganz weiss aussahen. Nach der Entfernung der 
Nadel oder einfachem Oeffnen des Stromes trat keine plötzliche Füllung mit 
Blut und, wie ich erwartet hatte, Erschlaffung der Gefässmusculatur ein, es 
blieb vielmehr anscheinend sofort ein geringes Verdichtetsein des Gewebes zu¬ 
rück, das in den nächsten Tagen noch zunahm. Die Wirkung des Stromes 
erstreckte sich über die von der Nadel getroffenen und ihr zunächst liegenden 
Partieen um ein nicht Unbeträchtliches hinaus, so dass ich nicht nur wie bei 
der vorher angewandten Galvanokaustik ein Zerstören der Theile, sondern eine 


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G94 Dr. K. v. Moseng eil, Tralvamscbe Zerstörung eines grossen Cavemoms. 

Aenderung ihres quasi erectilen Cbaracters unter der Einwirkung des Stromes 
annehmen muss. Das Gesnmmtresultat war ein sehr zufriedenstellendes. Selbst 
in der Conjunctiva des Auges, in welche Gegend man wegen des Schmerzes 
in den Trigeminuszweigen gar nicht hatte kommen dürfen, waren die dicken 
rothen Wülste sehr verkleinert, ebenso die in der Nasenhöhle sitzenden, welche 
früher oft solche Verengerung der Respirationswege mit sich brachten, dass das 
Athmen auf der betreffenden Seite gehemmt war. Die gingivalen und p&latinen 
Partieen waren bequem einer directen Behandlung zugänglich gewesen und 
hatten schnell sich gebessert. Ueberhaupt machte es den sonderbaren Eindruck, 
als ob die in Schleimhautpartieen liegenden Tumortheile schneller der Therapie 
wichen, als die mit der strafferen Cutis überzogenen in der äusseren Haut. — 
Soweit es möglich war, den ferneren Verlauf zu beobachten, trat keine neue 
Vergrösserung der Cavernomreste nach Aufhören der Behandlung ein; doch war 
die Zeit der nachträglichen Beobachtung eine zu kurze, um durchaus davor ge¬ 
sichert zu sein. Sollte es jedoch erfolgen, so steht jederzeit Wiederholung des 
Verfahrens frei, und möchte ich doch dasselbe bei den nicht so seltenen, jede 
Excision durch ihre Grösse und Sitz unmöglich machenden, analogen Vorkomm¬ 
nissen empfehlen. Der Schmerz ist freilich gewiss sehr gross, doch auszuhalten; 
m Nothfall könnte man ja Narkosen zu Hülfe nehmen. Die Localanästbesie 
mittelst des Richardson’scben Apparates würde vielleicht, wo sie sich anwenden 
lässt, dabei durch Contraction der Gefässe und Entleerung des Blutes schaden, 
da möglicher Weise Blutgerinnung beim Heilungsvorgang von Wichtigkeit ist 


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