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ARCHIV
FÜR
KLINISCHE CHIRURGIE,
BEGRÜNDET VOR
Dr. B. von LANGENBECK,
weil. Wirklichem Geh. Rath und Professor der Chirurgie.
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr. W. KÖRTE, Dr A. Frei* von EISELSBERG,
Prof, in Berlin. Prof, der Chirurgie in Wien.
Dr. O. HILDEBRAND, Dr. A. BIER,
Prof, der Chirurgie in Berlin« Prof, der Chirurgie in Berlin.
VIERUNDNEUNZIGSTER BAND.
Bit 13 Tafeln und zahlreichen Textfiguren.
BERLIN 1911.
VERLAG VON ADGUST HIRSCHWALD.
N.W. Unter den Linden Ho. 68.
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I. Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus einsehI.
der Anastomosen zwischen Galiensystem und Intestinis. (Aus
der chir. Privatklinik des Geh.-Rath Prof. Dr. Kehr iu Halber¬
stadt.) Von Dr. Wilhelm Eichraeyer. (Schluss.) .... 1
II. Beitrag zur Lehre von der typischen und supracondylären Radius-
fractur. Von Privatdocent Dr. Hermann Zuppinger ... 49
III. Ueber Blasenhernien. (Aus der Königl. Chirurg. Universitäts-
Klinik in Halle a. S. — Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr.
v. Bramann.) Von Dr. Richard Felten. (Hierzu Tafel I.) 68
IV. Die Behandlung der angeborenen Blasendivertikel und ihre klini¬
sche Bedeutung. (Aus dem männlichen Obuchow - Hospital in
St. Petersburg.) Von Dr. B. N. Cholzoff. (Hierzu Tafel IL
und 1 Textfigur.).89
V. Massendosirung bei Tumoren. (Aus dem Röntgeninstitut des
Rirdolf Virchow - Krankenhauses zu Berlin. — Leitender Arzt:
Prof. Dr. Levy-Dorn.) Von Dr. A. Hessmann.110
VI. Metastatischer Pleuratumor nach primärem traubigem Cervix¬
sarkom des Uterus. Von Dr. A. Heddäus. (Hierzu Tafel III.) 117
VII. Weiterer Bericht über die Erfolge der chirurgischen Behandlung
der diffusen Bauchfellentzündung. (Aus der Chirurg. Abtheilung
des Stadt. Krankenhauses am Urban zu Berlin. — Director:
Geh.-Rath Prof. Dr. W. Körte.) Von Dr. H. Sehraid. (Mit
1 Textfigur.) .. 130
VIII. Ueber homoioplastische Epithelkörperchen- und Schilddrüsen¬
verpflanzung. (Aus der I. Chirurg. Universitäts-Klinik in Wien.
— Vorstand: Prof. Dr. Freiherr von Eiseisberg.) Von Dr.
H. Leischner und Dr. R. Köhler.169
IX. Ueber Knochenechinokokkus. Von Dr. I. Titow.186
Zum Gedächtniss Franz König’s.VII
X. Beitrag zur Rückenmarkschirurgie. Von Otto Hildebrand.
(Hierzu Tafel IV—VI.).203
XI. Arbeiten aus dem Gebiet der Knochenpathologie und Knochen¬
chirurgie. (Aus der Chirurg. Universitätsklinik der Kgl. Charite
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zu Berlin. — Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Hildebrand.)
Von Privatdocent Dr. Georg Axhausen. (Hierzu Tafel VII
und VIII und 19 Textfiguren.).241
XII. Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen und die künst¬
liche Calluserzeugung an Thieren und beim Menschen. (Aus der
chirurgischen Universitätsklinik der Königl. Charite zu Berlin. —
Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Hildebrand.) Von Stabs¬
arzt Dr. Conrad Pochhammer. (Hierzu Tafel IX—XII.). . 352
XIII. Experimentelle Studien über tryptische Digestion. (Aus der
chirurgischen Universitätsklinik der Königl. Charitd zu Berlin. —
Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Hildebrand.) Von Dr.
Fr. Rosenbach. (Mit 5 Textfiguren.).403
XIV. Kleinere Mittheilungen.
Ein Beitrag zur Casuistik der posttraumatischen Verknöcherung
des Lig. trapezoideum und conoideum. (Aus der Chirurg.
Abtheilung der Academie für practische Medicin des Bürger¬
hospitals zu Cöln. — Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Barden¬
heuer.) Von Dr. Grüne. (Mit 3 Textfiguren.) .... 476
XV. Experimenteller Beitrag zur Pathogenese des Ulcus rotundum.
Von Dr. Fr. Rosenbach und cand. med. Eschker .... 481
XVI. Experimentelle Untersuchungen über Tetanie. (Aus der chirurgi¬
schen Universitätsklinik zu Strassburg i. E. — Director: Prof.
Dr. Madelung.) Von Privatdocent Dr. Guleke.496
XVII. Benigne Epithelheterotopie als Ursache eines Mastdarratumors.
(Aus der Chirurg. Abtheilung des Krankenhauses der jüdischen
Gemeinde zu Berlin. — Dirig. Arzt: Prof. Dr. J. Israel.) Von
Dr. Alfred Cahn. (Hierzu Tafel XIII.).533
XVIII. Ueber die Technik ausgedehnter Magenresectionen. Von Dr. J.
Schoemaker. (Mit 4 Textfiguren.).541
XIX. Zur Behandlung der acuten eitrigen Appcndicitis mit circum-
scriptcr oder diffuser Peritonitis. (Aus der Chirurg. Abtheilung
des St. Marien-Krankenhauses zu Frankfurt a. M.) Von F. Sasse 549
XX. Beitrag zur Mechanik der Luxation der einachsigen Gelenke.
Von Privatdocent Dr. H. Zuppinger. (Mit 8 Textfiguren.). . 570
XXI. Vergleichende Desinfectionsversuche mit Jodtinctur und Alkohol.
(Aus dem hygienischen Institut der Universität Berlin.) Von
Dr. F. Brüning.587
XXII. Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate.
(Aus der I. Chirurg. Universitätsklinik in Wien. — Vorstand:
Prof. Dr. Freiherr von Eiseisberg.) Von Privatdocent Dr.
Hans von Haberer. (Mit 15 Textfiguren.).606
XXIII. Der schnellende Finger. Von Prof. Dr. Kr. Pouisen . . . 657
XXIV. Prolaps des Fettlagers der Niere, eine Hernia lumbalis vortäu¬
schend. (Aus dem Städt. Krankenhause zu Brandenburg a. H. —
Chefarzt: Dr. K. Appel.) Von Dr. Duncker. (Mit 1 Textfigur.) 692
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XXV. Kleinere Mittheilungen:
1. Ueber Wundbehandlung mit Novojodin. (Aus der ehirurg.
Abtheilung des k. k. Kaiser Franz Josef-Spitals in Wien. —
Vorstand: Primararzt Docent Dr. G. Lotheissen.) Von
Dr. Alfred Deutsch.698
2. Ueber die spontane Rückbildung des Hautepithelioms. (Aus
dem Krankenhaus von Persiccto, Bologna.) Von Dr. Joseph
Bolognesi. (Mit 4 Textliguren.).705
XXVI. Darm Verschluss bei und nach Perityphlitis. (Aus der Chirurg.
Abtheilung des Stadt. Krankenhauses am Urban zu Berlin. —
Director: Geh.-Rath Prof. Dr. Körte.) Von Dr. Ernst Rüge.
(Mit 9 Textfiguren.).711
XXVII. Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreis¬
lauf. (Aus der Chirurg. Abtheilung des Israelitischen Kranken¬
hauses zu Breslau. — Primärarzt: Prof. Dr. Gottstein.) Von
Dr. S. II ad da. (Mit 20 Textfiguren.).761
XXVIII. Ueber Fusswurzclsarkome. (Aus der ehirurg. Abthoilung des
Israelitischen Krankenhauses zu Breslau. — Primärarzt: Prof.
Dr. Gottstein.) Von Dr. Carl Stern.805
XXIX. Beiträge zur freien Knochenplastik. (Aus der Königl. ehirurg.
Universitätsklinik in Halle a. S. — Director: Geh. Med.-Rath Prof.
Dr. v. Bramann.) Von Prof. Dr. A. Stieda. (Mit 6 Textfiguren.) 831
XXX. Ein Fall von Resection des linken Leberlappens. (Aus der chir.
Abtheilung des Alt - Ekatherinenkrankenhauses in Moskau. —
Vorstand: Priv.-Doc. P. A. Herzen.) Von Dr. N. Krön. (Mit
2 Textfiguren.).857
XXXI. Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkran¬
kungen. (Aus der chir. Abheilung des Gouvernementskranken¬
hauses in Smolensk. — Vorstand: Dr. S. Spassokukotzky.)
Von Dr. J. Galpern.870
XXXIL Zur Frage der primären Dickdarmresection, (Aus der I. ehirurg.
Universitäts-Klinik in Wien. — Vorstand: Prof. Dr. Freiherr
von Eiseisberg.) Von Privatdoccnt Dr. Hans von Haberer. 907
XXXIII. Einige Bemerkungen zur Technik der Sehnennaht. (Aus der I.
ehirurg. Universitäts-Klinik in Wien. — Vorstand: Prof. Dr. Frei¬
herr von Eiselsbcrg.) Von Dr. Otto von Frisch. (Mit
2 Textfiguren.) . ,.928
XXXIV. Das toxische Verhalten von metallischem Blei und besonders
von Bleigeschossen im thicrischen Körper. Von L. Lewin. (Mit
5 Textfiguren.).937
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I.
(Aus der chirurgischen Privatklinik des Geh.-Rath Prof.
Dr. Kehr in Halberstadt.)
Beiträge zur Chirurgie des Choledochus
und Hepaticus einschl. der Anastomosen
zwischen Gallensystem und Intestinis.
Von
Dr. Wilhelm Eichmeyer,
Assistenten der Klinik.
(Schluss.)
Im nächsten Abschnitt werde ich die Operationstechnik, wie
sie bei den vorliegenden Fällen in Anwendung kam, und die In-
dicationen zu den verschiedenen Operationsmethoden be¬
sprechen.
Bei unseren 161 Laparotomien (134 Operationen am Chole¬
dochus und Hepaticus, 22 Anastomosen, 6 anderweitige Nach¬
operationen) wurden folgende Einzeleingriffe ausgeführt:
Tabelle VII.
A. Eingriffe am Gallensystem.
Cystostomie. 5
Resection der Gallenblase. 1
Cystektomie.102
Cysticotomie. 1
Cysticektomie.13
Choledochotomie mit Naht. 4
Hepaticus- und Choledochusdrainage.123
Dehnung der Papille nach Czerny . 8
Freilegung der Papille durch Duodenotomie. 1
Transduodenale Choledochotomie. 2
Latus 260
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft I.
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2
Dr. W. Eichmeyer,
Transport 260
Choledocho-Duodenostomia interna. 1
Ketroduodenale Freilegung des Choledochus durch Mobilisirung des
Duodenum nach Kocher. 9
Ketroduodenale Gholedochotomie. 1
Choledochusfege. 2
Resection des Choledochus. 3
Choledocho-Hepaticostomie. 1
Choledochoplastik. 4
Hepaticotomie. 2
Hepaticus-Naht. 5
Cysto-Gastrostomie. 12
Cysto-Duodenostomie. 1
Choledocho-Duodenostomie. 2
Hepatico-Duodenostomie. 4
Hepato-Cholangio-Gastrostomie. 1
Hepato-Cholangio-Cysto-Gastrostomie. 2
Extraction einer Echinococousblase aus dem Choledochus .... 1
Unterbindung der Arteria hepatica propria. 1
Ilepatopexie. 4
Eröffnung intra- und perihepatischer Abscesse. 1
Summa der Einzeleingriffe am Gallensystem = 317
I). Eingriffe an Pankreas, Magen, Darm etc., welche die
Operationen am Gallensystem complicirten oder secundär
ausgeführt wurden.
Incision des Pankreas bei acuter Pankreasnekrose. 1
Excision eines Ulcus pylori. 1
Pyloroplastik. 2
Naht einer Pylorusfistel. 1
Gastroenterostomie nach v. Hacker . 5
Resection des Duodenum. 1
Beseitigung von Fisteln zwischen Gallensystem und Intestinis ... 15
Appendicektomie. 6
Netzresection. 2
Netzplastik.10
Herniotomie und Hernienexcision. 4
Eröffnung eines subphrenischen Abscesses (Kippenresection) .... 1
Summa der Eingriffe an anderen Organen der Bauchhöhle . . = 49
Summa der gesammten Einzeleingriffe.— 366
Wie aus den angeführten Zahlen hervorgeht, war der häufigste
Eingriff an den grossen Gallengängen die Choledochotomie mit
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Uepaticus etc.
3
nachfolgender Hepaticns- und Choledochusdrainage: unter
134 Fällen (ausschliesslich der Anastomosen) 123 mal = 92 pCt.
Die Drainage unterblieb also nur 11 mal, und zwar bei Verletzung
des Choledochus bezw. Hepaticus und secundären plastischen Ope¬
rationen in der Mehrzahl der Fälle (Verletzung des Hepaticus,
Naht oder Tamponade: No. 131, 132, 133, 134; Choledocho-
plastik: No. 124, 125, 126; Choledocho-Hepaticostomie: No. 128),
ferner dann, wenn sich die grossen Gallengänge nach der Er¬
öffnung völlig frei von Concrementen und entzündlichen Erschei¬
nungen erwiesen und keine nennenswerthen Pankreasveränderungen
festgestellt werden konnten (No. 1, 2, 3 — Choledochotomie mit
Naht).
Die Indication zur Hepaticusdrainage war in den betreffenden
123 Fällen während der Operation durch folgende Factoren ge¬
geben:
1. Steine in den grossen Gallengängen, meist gleichzeitig mehr
oder weniger hochgradige Cholangitis (darunter 67 mit Chole¬
cystitis calculosa combinirte Fälle).98 Fälle
2. Cholangitis mit gleichzeitiger Cholecystitis calculosa und Pan¬
kreatitis chronica, No. 12, 21; 83, 85 (bei den letzten beiden
Fällen beträchtliche Dilatation des Choledochus) .... 4 „
3. Cholangitis sine concrementis, No. 110 (Gallenblase früher ent¬
fernt. Steinabgang kurz vor der Secundäroperation?), No. 130
(Strictur des Choledochus nach Gktomie bezw. Choledochoplastik) 2 „
4. Cholangitis und Cholecystitis sine concrementis, No. 9 . 1 Fall
5. Pankreatitis chronica bei gleichzeitiger Cholecystitis calculosa,
No. 10, 11, 13—20; 105, 106, 108 (bei den letzten 3 Fällen
Dilatation des Choledochus).13 Fälle
6. Pankreatitis chronica sine concrementis, No. 100 (biliäre Leber-
cirrhose!).1 Fall
7. Pankreascarcinom, No. 23 (gleichzeitig Cholecystitis calculosa) 1 „
8. Strictur des Hepaticus (wahrscheinlich maligner Natur) bei
Carcinom der steinhaltigen Gallenblase, No. 22 (Pankreatitis
chronica, biliäre Lebercirrhose!).1 „
9. Verdacht auf Choledochusstein, der durch eine vergrösserte
Drüse des Lig. hepato-duodenale vorgetäuscht wurde, No. 84 . 1 „
10. Echinococcus-Einschwemmung in den Choledochus, No. 113 . 1 „
In 102 Fällen von Drainage der grossen Gallengänge wurde
gleichzeitig die Oystektoraie ausgeführt. Bringen wir jene 10 Fälle
von Secundäroperation, bei denen die Gallenblase bereits durch
den früheren Eingriff entfernt war, in Abrechnung, so ergiebt sich,
1 *
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4
Dr. W. Eiohmeyer,
dass unter 113 Fällen von Hepaticusdrainage 102 mal (= 90pCt.)
die Combination der Drainage mit Ektomie in Anwendung kam.
Die Exstirpation der Gallenblase war auf Grund nachstehender
Momente indicirt:
1. Cholecystitis calculosa (darunter 66 mal Combination mit Chole-
docholithiasis).84 Fälle
2. Gallenblasenfistel nach Cystostomie, No. 109 (Gallenblase frei
von Concrementen, Choledochussteine).1 Fall
3. Gallenblasen-Intestinalfisteln, No. 86, 87, 88, 89, 90 (Gallenblase
in sämmtliohen Fällen frei von Concrementen, Choledocholithiasis),
No. 84 (Gallenblase und Choledochus frei von Steinen) ... 6 Fälle
4. Hydrops der Gallenblase, No. 123 (Gallenblase ohne Concre-
mente, eingekeilter Papillenstein).1 Fall
5. Cholecystitis und Cholangitis sine concrementis, No. 9 . ly,
6. Schrumpfblasen von morscher Consistenz oder derartiger sonstiger
Beschaffenheit, dass nicht genügend Sicherheit für einen Stillstand
des infectiösen Processes geboten war, No. 24—32 .... 9 Fäll
Bei einem Theil der in der letzten Serie genannten Fälle
kommt für die Entfernung der Gallenblase in erster Linie der
Umstand in Betracht, dass die Ektomie keinerlei Schwierigkeiten
bereitete und ohne Gefahr für den Kranken erfolgen konnte. Da
durch die histologischen Untersuchungen exstirpirter Gallenblase»
hinlänglich erwiesen ist, dass auch bei anscheinend normaler Be¬
schaffenheit des Organs doch bereits* erheblichere Veränderungen
bestehen können (insbesondere Anhäufung von Entziindungsproducten
und kleinsten Concrementanlagen in den Luschka’schen Gängen) r
wird in hiesiger Klinik bei der Ausführung der Choledochotomie
und Hepaticusdrainage speciell in Fällen von Choledocholithiasis
die Gallenblase principiell entfernt, sofern nicht besondere Contra-
indicationen (tiefe, versteckte Lage der Gallenblase zumal bei
Personen mit fettreichen Bauchdecken, schlechte Narkose besonders
bei Männern, Gefahr cholämischer Blutung, schwerste Kachexie etc.)
vorhanden sind. Wir können also nach dem Gesagten die
Drainage der tiefen Gallengänge in Combination mit der
Cystektomie als unser Normalverfahren bei Choledocho*
lithiasis bezeichnen. Wenn man übrigens die exstirpirten
Gallenblasen unserer Fälle auf ihre pathologischen Veränderungen
hin betrachtet, so wird man allerdings zugeben müssen, dass bei
derartigen Befunden an eine Erhaltung des Organs in der weitaus
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Beiträge zur Chirurgie des Choledoohus und Hepaticus etc. 5
überwiegenden Mehrzahl der Fälle ohnehin nicht zu denken ge¬
wesen wäre. Die Gallenblase blieb nur in wenigen der vorliegenden
Fälle, im Ganzen 11 mal, verschont, und zwar bei No. 4—8, wo
ein leeres stark geschrumpftes Organ ohne Aussenfistcl oder Per¬
foration nach dem Magendarm vorlag, bei No. 114 (hier war die Gallen¬
blase überhaupt nicht mehr auffindbar, vergl. oben ßd. 93 S. 925),
ferner in Fall 100 und 127. Bei No. 100 (Pankreatitis, lang¬
gestreckte Gallenblase ohne Steine, Lebercirrhose) hätte die Ektomie
der kaum veränderten Gallenblase den ohnehin grossen Eingriff (Hepa-
lieusdrainage, Appendicektomie) nur unnöthig verlängert und damit
die Gefahren für die schwächliche kachektische Patientin wesentlich
erhöht, in Fall 127 wurde die etwas geschrumpfte, aber im Uebrigen
leidlich erhaltene Gallenblase zur Choledochoplastik verwendet.
Die Hepaticusdrainage war 3 mal mit Cystostomic combinirt
(No. 82, 83, 119; im letztgenannten Fall gleichzeitig mit
Cysticotomie und Duodenotoraie). In allen diesen Fällen lagen
hochgradige Pankreasveränderungen vor. Bei No. 88 und 119
waren Gallenblasenconeremcnte vorhanden. Wenn in diesen Fällen
neben der Hepaticusdrainage, die durch Choledocholithiasis bezw.
eitrige Cholangitis und auch mit Rücksicht auf die schwere Pankreas¬
erkrankung indicirt war, die Cystostomic ausgeführt wurde, so
musste dieser leichtere Eingriff anstelle der Ektomie in erster
I.inie deswegen gewählt werden, weil sich alle 3 Kranke in sehr
desolatem Zustande befanden (No. 82 und 119 Cholämie; No. 83
Lebercareinom und diffuse Cholangitis).
Im Uebrigen kam die Hepaticusdrainage noch bei nachstehen¬
den Eingriffen zur Verwendung: mit gleichzeitiger Ektomie bei
trans- und retroduodenaler Choledochotomie (No. 120, 121, 122,
123), ohne Ektomie bei Vereinigung der beiden Gallengangenden
nach Resection des Choledochus (No. 129, 130; Gallenblase hier
bereits früher entfernt) und bei plastischer Bildung der vorderen
Choledoehuswand aus der Gallenblase (No. 127). Abgesehen von
der Ableitung der inficirten Galle bietet der Hepaticus- bezw. Cho-
ledochusschlauch bei den letztgenannten Operationsmethoden den
grossen technischen Vortheil, dass sich die Naht über dem Schlauch
weit exacter anlegen lässt.
Bezüglich der Cystektomie sei noch kurz erwähnt, dass wir
möglichst radical verfahren, d. h. den Cysticus in toto mitentfernen.
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6
Dr. W. Eichmeyer,
Nur so kann man den Operirten vor Pseudorecidiven, die sich mit
Vorliebe aus zurückgelassenen Cysticusconcrementen bilden, schützen.
Bei der Excision des Gallenblasenausführungsganges ist die Isolirung
des Ductus und der Arterie von grösster Wichtigkeit. Wer beide
Gebilde gemeinsam ohne vorherige Präparation abklemmt und ligirt,
wird häufig genug den Cysticus und mitunter noch einen Theil des
Gallenblasenhalses stehen lassen und andererseits Gefahr laufen,
die grossen Gallengänge zu verletzen. Bisweilen, insbesondere bei
tiefer Einmündung des Cysticus in die grossen Gallengänge oder
bei inniger Verwachsung mit dem Hepaticus bleibt allerdings auch
nach sorgfältigster Freilegung ein beträchtlicher Theil des Aus¬
führungsganges zurück, der dann nachträglich noch exstirpirt werden
muss. So kam in unseren Fällen die Cysticektomie 13 mal zur
Anwendung.
Die Drainage der grossen Gallengänge wurde im Einzelnen
folgendermaassen ausgeführt: Hepaticusdrainage mit Schlauch 50mal,
mit dicker Uterussondc 1 mal (No. 22; wegen Stenosirung des
Hepaticus war das Einführen des Schlauches hier unmöglich):
Choledochusdrainage 4 mal, und zwar mit Schlauch 3 mal (No. 34,
102, 118), mit p-Rohr 1 mal (No. 16); gemeinsame Hepaticus-
und Choledochusdrainage 8 mal durch Doppelschlauch (No. 35, 47,
82, 94, 104, 110, 115, 119), 60 mal durch "j"-Rohr. Letzteres
wird in unserer Klinik seit Ende 1908 (cf. Kehr, Zur Hepaticus¬
drainage, Centralbl. f. Chir. 1909, S. 3) fast ausschliesslich zur
Drainage der tiefen Gallengänge verwendet. Der im Hepaticus
liegende Schenkel des Querstücks wird dabei im Allgemeinen 1,5
bis 2 cm, der für den Choledochus bestimmte Schenkel dagegen
nur Vz—1 cm lang gelassen. Eine Ausnahme bildete der erwähnte
Fall No. 16, bei dem der Hepaticus ein abnorm enges Lumen
aufwies; der Hepaticustheil des Querstücks wurde hier hart am
Längsschenkel abgeschnitten, der Choledochustheil aber blieb 2 ctn
lang. Das Rohr hatte also in diesem Falle f”-Form und wirkte
ähnlich wie der gefensterte Schlauch (cf. Kehr’s Technik der
Gallensteinoperationen Fig. 50, S. 223); in gewissem Maasse wird
ja auch auf diese Weise sowohl eine Drainage des Choledochus als
des Hepaticus erzielt. Bezüglich der Technik der "f -Drainage ist
noch zu bemerken, dass die Choledochusincision sorgfältig mit
feinstem Catgut über dem Rohr vernäht und die Nahtstelle ergiebig
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
7
(gewöhnlich mit 2 Streifen Yioformgaze) tamponirt wird. Der
Längsschenkel pflegt von uns neuerdings 8 Tage (früher 6 Tage)
nach der Operation abgeklemmt zu werden, wonach die Galle theil-
weise, mitunter sogar nahezu vollständig durch das Querrohr in
den Darm abgeleitet wird. Die Entfernung des Schlauches erfolgt
in der Regel 14 Tage post operationem und gelingt gewöhnlich
ohne besondere Schwierigkeit, da ja der eine Abschnitt des Quer-
schenkels sehr kurz ist. Einige Male musste das Querstück aus
technischen Gründen (weil es sonst aus den grossen Gallengängen
herausglitt) zumal bei grossen (’holedochusincisionen beiderseits
gleich lang gelassen werden. Die Entfernung des Rohrs geschieht
in solchen Fällen am besten erst nach 3 Wochen, da bei früh¬
zeitigerem Herausziehen die Choledochusnaht leicht aufgerissen wird.
Wir sind mit der “f-Drainage ausserordentlich zufrieden und haben
in letzter Zeit nur noch 1 mal (bei No. 118) die Drainage mit
einfachem Schlauch ausgeführt (und zwar in diesem Falle die Cho-
ledochusdrainage); es kam hier lediglich darauf an, dem stark
dilatirten, mit Steinbröckeln angefüllten Choledochus Abfluss zu
verschaffen.
Die secundäre Choledochotoraie mit nachfolgender
Drainage kann mitunter insbesondere bei intensiven Verwachsungen
der Organe des rechten Oberbauches erhebliche Schwierigkeiten
bereiten. Wenn indess in der Literatur davon berichtet wird, dass
cs zumal bei Fehlen der Gallenblase hin und wieder unmöglich
sei, die tiefen Gallengänge frei zu lassen 1 ), so können wir dem¬
gegenüber mit Genugthuung feststellen, dass ein derartiges Vor-
kommniss in keinem unserer zahlreichen Fälle von Secundäropera-
tion zu verzeichnen war. Die secundäre Hepaticusdrainage kam
in unserer Klinik während der letzten 3 Jahre 15mal zur Aus¬
führung, und zwar 4mal bei noch vorhandener Gallenblase (No. 107.
108, 109; 127), 4mal nach primärer Ektomie (No. HO, 111, 112,
113), 5mal nach primärer Ektomie und Hepaticusdrainage (No. 115,
116, 117, 118; 129); ferner je lmal nach primärer Hepaticus¬
drainage (No. 114, Gallenblase hier nicht mehr aufzufinden) und
nach früherer Ektomie mit gleichzeitiger Choledochoplastik (No. 130).
l ) Vergl. z. B. eine derartige Aeussemng Lejar's, Centralbl. f. Chirurgie.
1909. No. 21. S. 762 bezw. 763. Bericht über den 21. französischen Chirurgcn-
congress.
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8
Dr. W. Eichmeyer,
In den Fällen, wo die Gallenblase noch erhalten war, hatte eine
primäre Cystendyse (No. 107) oder Cystostomie (No. 108, 109)
stattgefunden. Abgesehen von Fall No. 130, bei dem von vorn¬
herein der Verdacht auf postoperativ entstandene Choledochus-
strictur vorlag, war fast in allen übrigen Fällen die Secundär-
operation durch die klinischen Erscheinungen des Steinrecidivs, bei
No. 115 vorwiegend durch die Cholangitis, in Fall 113 durch Ein¬
schwemmung einer Echinococcusblase in den Choledochus indicirt.
Bei No. 127 und 129 lautete die Diagnose auf Steinverschluss der
grossen Gallengänge; heim secundären Eingriff ergab sich neben
Concrementen bez. Cholangitis eine Choledochusstenose, die durch
Verletzung bei den früheren Operationen entstanden war. In 5 Fällen
wurde die Secundäroperation durch Fisteln (bei No. 113, 117, 118
Choledochusfistel, bei No. 127 und 129 incomplete Fistel) com-
plicirt.
Die Choledochotomie mit Tamponade kann mitunter bei
sehr engem Lumen der grossen Gallengänge in Frage kommen. In
unseren vorliegenden Fällen wurde diese Methode nicht angewendet.
Die Choledochotomie mit Naht kam nur in 3 unserer
Fälle zur Ausführung (No. 1, 2, 3), bei denen der Choledochus
eröffnet wurde, weil die Anamnese auf Steine in den grossen Gallen¬
gängen hindeutete, sich aber weder Concreraente noch Cholangitis
oder Pankreasveränderungen vorfanden. Es ist zu empfehlen, die
Anwendung dieser Methode auf Fälle wie die eben erwähnten zu
beschränken, im Uebrigen aber die Hepaticusdrainage unter allen
Umständen dem Verschluss der Choledochusincision durch Naht
vorzuziehen.
Besondere Sorgfalt beansprucht die Entfernung der retro-
duodenal gelegenen Choledochussteine. Man wird sich zu¬
nächst in allen Fällen von Choledocholithiasis durch die Sondirung,
die freilich nicht immer eine genügende Orientirung bietet, oder bei
erweiterten Gallengängen, wenn möglich, durch Austastung davon
überzeugen, ob noch retroduodenal oder in der Papille Concremente
vorhanden sind. Die Steine werden nun nach Möglichkeit mit
Kornzange und Löffel entfernt. Sodann versucht man, die Papille
zu sondiren, was allerdings auch bei Freisein derselben nicht in
allen Fällen gelingt. Namentlich wenn der Choledochus stark
dilatirt ist, lässt sich die kleine Mündungsöffnung mitunter nur sehr
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc. 0
schwer auffinden; man sollte daher in derartigen Fällen mit weitem
Choledochus die Austastung nie verabsäumen. Hat eine dicke Uterus-
sonde die Papille passirt, so kann man eventuell mit schlanker
Kornzange die Dehnung nach Czerny vornehmen, wie es in 8
unserer Fälle geschah.
Sind die retroduodenal gelegenen Steine eingekeilt oder stecken
sie gar in der Papille fest, so bereitet ihre Lösung und Entfernung
dem Operateur unter Umständen die erheblichsten Schwierigkeiten.
Zunächst soll man natürlich kein Mittel unversucht hissen, auf
unblutige Weise zum Ziele zu kommen. Oft gelingt es noch, den
Stein durch Umgreifen mit Daumen und Zeigefinger und vorsich¬
tigen Druck emporzuschieben. Kehr empfiehlt, hierzu eventuell
die linke Hand in die Bauchhöhle einzuführen und den von ihm
angegebenen Handgriff anzuwenden, d. h. „der Operateur dreht
dem Gesicht des Kranken den Rücken zu, nimmt eine bückende
Stellung ein und umfasst den Stein mit dem Zeigefinger und Daumen
der linken nach rückwärts geführten Hand u . Weiterhin räth Kehr,
in solchen Fällen das bimanuelle Verfahren zu versuchen: man
lixirt mit der einen Hand den Stein und übt mit der anderen von
der Bauchhöhle oder von den Bauchdecken her einen leichten Druck
aus. Ein derartiges Verfahren ist jedenfalls weit schonender und
ungefährlicher als der forcirte Versuch, mit Kornzange und Löffel
die Extraction des eingekeilten Steines zu erzwingen. Führen die
genannten Methoden nicht zum Ziel, so wird in unserer Klinik,
•■he man die directe Incision auf den versteckt liegenden Stein aus¬
führt, stets noch der Versuch gemacht, nach retroduodenaler Frei¬
legung des Choledochus den Stein hochzudrücken. Kocher hat mit
der Mobilisirung des Duodenum ein Verfahren geschaffen, das
für die Gallensteinchirurgie, insbesondere für die Inangriffnahme
der retroduodenal gelegenen Concremente und der Papillensteine
von grösster Bedeutung ist. Namentlich dürfte diese Methode
wegen ihrer relativen Ungefährlichkeit auch für solche Fälle ge¬
eignet sein, bei denen die Diagnose zweifelhaft bleibt, ob that-
sächlich ein Stein vorliegt oder durch indurirte Pankreasläppchen,
altes Duodenalulcus, Carcinom etc. vorgetäuscht wird.
In unseren Fällen wurde die Mobilisirung des Duodenum 9 mal
ausgeführt. Bei No. 21, 95, 148, 149 fühlten sich die Läppchen
des verhärteten Pankreas genau wie Steine an, und erst die retro-
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Dr. W. Eichmeyer,
duodenale Freilegung des Choledochus brachte Gewissheit. In
Fall 81 gelang es, nach Mobilisirung des Duodenum den fest¬
sitzenden Papillenstein hochzudrücken. Dagegen führte bei No. 110.
120, 121, 123, bei denen säramtlich eingekeilte Papillensteine an-
getroffen wurden, die Kocher’sche Methode nicht zum Ziel. In
Fall 119 konnte nach Freilegung der Papille durch Dim-
denotomie der Stein mit der Kornzange extrahirt werden. Bei
No. 120 und 121 wurde die transduodenale, bei No. 123 die
retroduodenale Choledochotomie ausgeführt. Von vornherein
kam die directe Incision in Fall 122 (transduodenale Choledocho¬
tomie bezw. Choledocho-Duodenostomia interna) zur Anwen¬
dung. Im Allgemeinen bevorzugt Kehr die transduodenale Me¬
thode gegenüber der retroduodenalen, weil bei letzterer die Wund¬
versorgung erheblich grössere Schwierigkeiten macht, insbesondere
wegen Gefahr der Duodenalknickung eine ausreichende Tamponade
der Choledochusnahtstelle kaum stattfinden kann und dadurch die Ent¬
wickelung einer retroduodenalen Phlegmone begünstigt wird. Wenn¬
schon bei der transduodenalen Choledochotomie der Kranke durch
eventuelle Insufficienz der Duodenalnaht in nicht unbeträchtlichem
Maasse gefährdet wird, so lässt sich doch diese Complication mit
ziemlicher Sicherheit dadurch verhüten, dass die Nahtstelle ausserhalb
des Tamponadebercichs 1 ) zu liegen kommt. Andererseits sind die
Vortheile dieser Methode, bequemere Zugängigkeit und grössere
Uebersieht, gegenüber der retroduodenalen Choledochotomie so
wesentliche, dass sie den erwähnten Nachtheil reichlich überwiegen.
Das retroduodenale Verfahren ist natürlich bei schwartigen Ver¬
wachsungen des Duodenum mit Pankreas und Choledochus völlig
unbrauchbar, weil in solchen Fällen beim Ablösen des Duodenum
die Darmwand schwer geschädigt werden kann.
Bezüglich der Technik der Duodenotomie und trans¬
duodenalen Choledochotomie ist noch zu beachten, dass die
quere Incision des Duodenum dem Längsschnitt vorzuziehen ist,
um das Gefässsystera der Darmwand möglichst zu schonen, ferner
dass man die Incision medial von der Einmündungsstelle der Pa¬
pille, also nach dem Pylorus zu, anlegt, damit die Nahtstelle mög¬
lichst weit vom Tamponade bereich entfernt bleibt. Die Darmnaht
*) Da io der Regel die retro- und tr&nsduodenale Choledochotomie mit
Hepaticusdrainage combinirt wird, ist die Tamponade im allgemeinen unerlässlich.
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
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soll exact ausgeführt und, wenn angängig, mit einem Netzzipfel
bedeckt werden, den man durch einige Suturen fixirt (cf. No. 120,
122). Ist die Längsincision der Darmwand vorgenommen, so wird
man die Wunde, um einer Verengerung des Darmlumens vorzu¬
beugen, quer vereinigen (vgl. Fall 122). Gelingt es nach der Er¬
öffnung des Duodenum nicht, den Stein aus der Papille mittels
Kornzange zu entfernen, wie es bei Fall 119 möglich war, so
bleibt nur übrig, die Papille auf dem Steine zu incidiren (Papillo¬
tomie) oder bei grösseren Concrementen auch die Choledochuswand
noch auf eine kurze Strecke hin einzuschneiden (cf. No. 120, 121,
122). Kehr empfiehlt in Fällen, wo die Incision etwa 1 cm Länge
erreicht, die Schleimhaut des Choledochus mit der des Duodenum
durch 4 bis 6 Nähte zu vereinigen, damit nicht ein freier Spalt
zwischen Duodenum und Choledochus zurückbleibt, der zu schweren
Complicationen führen könnte. Diese Operationsmethode, welche
der Kocher’schen Choledocho-Duodenostomia interna entspricht,
kam bei Fall No. 122 zur Anwendung.
Um mit Sicherheit auch die kleinsten Steine oder Steinreste
aus dem retroduodenalen Choledochusabschnitt zu entfernen, hat
Kehr ein als „Choledochusfege“ bezeichnetes Verfahren an¬
gegeben, das in hiesiger Klinik bisher 3mal ausgeführt war.
Weiterhin wurde die Choledochusfege in den letzten 3 Jahren 2 mal
gelegentlich der transduodenalenCholedochotomie angewendet (No. 120
und 121). Das Verfahren besteht darin, dass von der supraduo¬
denalen Incision des Choledochus aus ein feuchter Gazestreif mit
einer Kocher’schen Bruchsackklemme in das Duodenum durch¬
gezogen wird. Diese Procedur wiederholt man so lange, bis der
Choledochus völlig gesäubert ist (vgl. Kehr’s Technik, I. Th., S. 238).
Die Resection des Choledochus kommt bei benignen
Stricturen bezw. Obliterationcn und Gallengangtumoren, besonders
Carcinomen (vgl. ob. Bd. 93, S. 932) in Frage. Bei den ersten Ope¬
rationen dieser Art, die von Doyen 1 ) und Kehr (Technik der Gallen¬
steinoperationen, No. 151) ausgeführt wurden, war die Indication durch
Stein bezw. Obliteration des Choledochus infolge Druckusur durch
Stein gegeben. Es handelte sich indess bei Doyen’s Fall nicht
*) Doyen, Quelques operations nouvelles sur les voies biliaires. Arch.
prov. de chir. No. 2. Aoüt 1892. Cit. nach Kehr, Technik der Gallenstein¬
operationen. I. Theil. S. 246; II. Theil. S. 331, 837.
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Dr. W. Eichmeyer,
eigentlich um eine Resection, sondern lediglich um eine circulare
Naht des Choledochus, und auch von Kehr wurde nur ein gering¬
fügiges Stück des Ganges resecirt. Die erste grössere Resection
des Choledochus stammt von Kehr aus dem Jahre 1902, und zwar
betraf dieser Fall ein primäres Gallengangcarcinom (Kehr’s Technik,
No. 152). Der Kranke wurde geheilt aus der Klinik entlassen und
erfreute sich über 2 Jahre völliger Gesundheit, bis er unter den
Symptomen eines durchbrechenden Leberabscesses erkrankte und
zu Grunde ging (vgl. die Bemerkung zu diesem Falle in Kehr,
Liebold, Neuling, Drei Jahre Gallensteinchirurgie, S. 408).
Weiterhin ist die Choledochusresection in unserer Klinik noch 4 mal
wegen postoperativer Narbenstrictur bezw. völliger Obliteration des
Ganges vorgenommen worden (Kehr, Liebold, Neuling, 1. c.,
Fall 229 und No. 127, 129, 130 der vorliegenden Arbeit). Der
Kranke des Falles No. 129 (cf. Tabelle I) erlag einer schweren
eliolämischen Nachblutung; bei den anderen Patienten war der
Operationserfolg ein vollständiger. Die Resection des Choledochus
wurde im Uebrigen noch von folgenden Chirurgen ausgeführt:
wegen Gallengangcarcinoms von Mayo 1 ), Jaboulay 2 ), Riese
[2mal] 3 ), Verhoogen 4 ), Doberauer 5 ); wegen gutartiger Tumoren
des Choledochus (Adenofibrom bezw. Papillom) von Rotter 6 ) und
Tedenat 7 ). Es kamen also bisher im Ganzen 15 Resectionen des
Choledochus zur Ausführung; darunter befinden sich 6 Fälle Kehr’s.
Ferner hat man auch die Papilla duodenalis in Angriff genommen,
und zwar ausnahmslos wegen Carcinoms. Derartige Radicalopera-
x ) Cit. nach Lapointe et Raymond, Le cancer du canal hepatique et
du confluent h6pato-choledocho-cystique. Arch. gener. de Chirurgie. Bd. II.
H. 3 u. 4. Ref. CentralbL f. Chirurg. 1908. S. 808.
2 ) Pätel, Neoplasme des voies biliaires, noyau juxta-pancreatique; resec¬
tion des voies biliaires; aoastomose du canal hepatique et du cholcdoque. Soc.
de m6d. Lyon ra6dicai. 1903. No. 52. Ref. Hildebrand’s Jahresbericht. 1903.
S. 754 u. 756.
ö ) Riese, Verhandlungen der Freien Vereinigung der Chirurgen Berlins.
Jahrg. 1904. II. Th. S. 45 bezw. 52.
4 ) De Graeuwe, Ueber die Resection des Choledochus. CentralbL f.
Chirurg. 1908. S. 790.
5 ) Doberauer, Ueber die Carcinome des Ductus choledochus. Beitr. z.
klin. Chirurg. Bd. 67. S. 472.
6 ) Volmer, Ein Adenofibrom in der Wand des Ductus choledochus. Arch.
f. klin. Chirurg. Bd. 86. S. 160.
7 ) Tedenat, XXL franz. Chirurgencongr. Ref. CentralbL f. Chirurg.
1909. S. 763.
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
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tionen des Papillenkrebses sind 7mal ausgeführt [Halsted, Czerny,
Körte (2mal), Gebrüder Mayo (2mal), Morian 1 )].
Wegen der unmittelbaren Nähe der Arteria hepatica und
gastro-duodenalis sowie der Vena portarum stellt die Resection
des Choledochus hohe Anforderungen an die technische Gewandtheit
des Operateurs, zumal die anatomischen Verhältnisse bei den in
Frage kommenden Fällen von Narbenstrictur oder Tumoren der
grossen Gallengänge meist sehr wenig übersichtlich sind. Bei Lo-
caiisation des Carcinoms an der Vereinigungsstelle der 3 Gallen¬
gänge wurden in der Regel Gallenblase, Choledochus und angren¬
zender Hepaticustheil im Zusammenhang excidirt (so in den Fällen
von Kehr, Jaboulay, Verhoogen).
Nach ausgeführter Resection des Choledochus wurde im Ein¬
zelnen folgendermaassen verfahren. Bei den in früheren Jahren
von Kehr operirten Fällen kam je lmal die Naht der hinteren
Wand mit gleichzeitiger Hepaticusdrainage (Kehr’s Technik, No. 151),
ferner die circulare Vereinigung des Hepaticus- und Choledochus-
stumpfes (No. 229 von Kehr, Liebold, Neuling) und endlich
die Hepatico-Duodenostoraie nach Uebernähen und Versenken des
duodenalen Choledochusendes (Kehr’s Technik, No. 152) in An¬
wendung; im letztgenannten Falle war wegen Carcinoms ein nahezu
4 cm langes Stück des Choledochus und benachbarten Hepaticus-
theils resecirt. In der eben angegebenen Weise muss nach Kehr
dann vorgegangen werden, wenn infolge sehr ausgedehnter Resec¬
tion die Vereinigung der beiden Gallengangenden unmöglich wird
und gleichzeitig die Gallenblase fehlt. Ist diese dagegen noch vor¬
handen und der Cysticus durchgängig, so besteht das einfachere
Verfahren darin, dass man den centralen*und peripheren Stumpf,
jeden für sich, durch Naht verschliesst und eine Anastomose
zwischen Gallenblase und Intestinis anlegt (vgl. darüber Kehr’s
Technik, I. Th., S. 246). Selbstredend lässt sich diese Methode
nur dann verwenden, wenn die Strictur bezw. Obliteration den
Gallengangstheil unterhalb der Cvsticuseinmündung, also den eigent¬
lichen Choledochus betrifft, und kommt demnach nur für die sel-
') Morian, Ueber das Choledochuscarcinom an der Papilla Vateri.
Deutsche Zeitschr. f. Chirurg. Bd. 89. S. 366. Hier findet sich eine voll¬
ständige Literaturübersicht über Papillencarcinome in Ergänzung der Zusammen¬
stellung Schüller’s (Beitr. z. klin. Chirurg. Bd. 31. S. 683).
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Dr. W. Eichmeyer,
tencren tiefsitzenden Choledochuscarcinome, aber nicht bei dein
gewöhnlichen Sitz an der Vereinigungsstelle der 3 Gallengänge in
Frage.
Bei den von anderer Seite ausgeführten Choledochusresectionen
kam nachstehendes Verfahren in Anwendung: die circulare Naht
([Doyen], Jaboulay); die Naht der hinteren Wand mit Drainage
(Riese [2 Fälle], Doberauer); Versenkung des duodenalen Chole-
dochusendes und „Neocholedochoduodenostomie“ (Tödenat); Spal¬
tung des Choledochus bis in das Duodenum, Resection des un¬
tersten Choledochusabschnittes bis etwa 1 cm an die Papille heran,
Choledocho-Duodenostomie, Drainage (Rotter); Einlegen eines
Schlauches unter Verzicht auf jede Nahtvereinigung der beiden
Gallengangstümpfe (Verhoogen). Von Mayo’s Vorgehen bei der
Choledochusresection fehlen nähere Angaben in dem Referat der
Arbeit Lapointe’s und Raymond’s (s. S. 12). Doberauer
brachte nach Resection eines 4 cm langen carcinösen Oholedochus-
theils die hintere Wand der beiden Enden eben noch zusammen
und legte in die klaffende Oeffnung der vorderen Wand nach oben
und unten einen Drainageschlauch ein. Verhoogen verfuhr laut
Bericht de Graeuwe’s bei einem Gallengangdefect von 6 cm
Länge, der nach ausgedehnter Resection wegen Carcinoms ent¬
standen war, in der Weise, dass er ein Gummirohr in das duo¬
denale Choledochusende einschob und in der Tiefe bis an die He-
paticusöffnung heranführte; der Schlauch wurde hier durch die
Tamponade winklig abgeknickt und dann aus der Bauchwunde
herausgeleitet. Der Eintritt der Galle in das Rohr wurde durch
eine an der Convexität der Biegungsstelle angebrachte Oeffnung
ermöglicht; die Galle konnte auf diese Weise sowohl nach aussen
als nach dem Duodenum abfliessen. Der Versuch glückte; die
betreffende Kranke wurde 4 Wochen nach der Operation als geheilt
entlassen und erfreute sich noch nahezu 1 Jahr später andauernden
Wohlbefindens. Man muss also wohl annehmen, dass sich von der
Schleimhaut der beiden Gallengangstümpfe aus ein epithelisirter
Canal um den Schlauch herum gebildet hat. Noch eklatanter ist
in dieser Beziehung ein von Jenckel operirter und mitgetheilter
Fall, bei dem zwar keine Resection des völlig obliterirten Gallen¬
ganges ausgeführt, aber in ähnlicherWeise eine Verbindung zwischen
Hepaticus und Duodenum hergestellt wurde. Es fand sich hier
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
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nach 8y, Monate zuvor erfolgter Cystektomie eine vollständige
Obliteration des Choledochus- und Hepaticusstammcs bis zur Bi-
furcation. Da eine Nahtvereinigung des Hepaticus mit dem Duo¬
denum bei dem enormen Abstande von 8 cm undenkbar war, wurde
ein kleinfingerdickes Gummirohr oben in den rechten Hepaticus
geschoben und dort mit einer Catgutsutur fixirt, das untere Ende
des Schlauches indess durch einen schräg verlaufenden Darmwand¬
canal (nach Witze Fs Methode) in das Duodenum geleitet. Das
Drainagerohr wurde nach 3 Wochen gewechselt und nach weiteren
11 Tagen vollständig entfernt. Am zweiten Schlauch war zur Ab¬
leitung der Galle aus dem linkeu Hepaticusast eine seitliche Oeff-
nung angebracht. Trotz verschiedener schwerer Complicationen
während der Nachbehandlung (Einreissen der Duodenalwand beim
Schlauchwechsel, Cholangitis; bildete sich ein zeigefingerdicker Canal
in erster Linie durch Epithelwucherung von der Darmschleimhaut
aus, so dass nach secundärem Verschluss der Wundhöhle durch
Etagennaht ein vollständiger Erfolg erzielt wurde. Es stellten sich
zwar bei der Kranken nach der Entlassung, die 8 Wochen post
Operationen! erfolgte, anfangs noch mit Schüttelfrost und Kopf¬
schmerzen einhergehende Schmerzattacken ein (Cholangitis). Später
aber war Patientin völlig beschwerdefrei und befand sich nach Ver¬
lauf von 4 Jahren in bestem Gesundheitszustände.
Unsere 3 letzten, in vorliegender Arbeit mitgetheilten Fälle
betrafen postoperative Narbenstricturen der grossen Gallengänge,
die auf Verletzungen gelegentlich der Cystektomie (No. 129, 130/
bezw. Freilegung des Choledochus (No. 127) zurückzuführen waren.
Der Kranke des Falles 129 hatte bereits zwei auswärtige Opera¬
tionen durchgemacht (I. Ektomie, n. Choledochus- und Hepaticus-
drainage); bei dem dritten, in hiesiger Klinik ausgeführten Eingriff
wurde eine völlige Obliteration des Choledochus in der Gegend der
ehemaligen Cystieuseinmündung angetroffen. Ganz ähnlich lagen
die Verhältnisse bei Fall 127, der von einem russischen Chirurgen
operirt war (Cystostomie, Freilegung der tiefen Gallengänge, die
dabei wahrscheinlich durchtrennt wurden). Der Choledochus war
liier in 3 cm Länge nahezu obliterirt. In Fall 130 hatte auch die
Choledochoplastik, welche von Kehr wegen Verletzung der vorderen
f holedochuswand sofort im Anschluss an die Ektomie ausgeführl
wurde, die Ausbildung einer Gallengangstenose nicht verhüten
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Dr. W. Eichmeyer,
können. Die Auffindung des duodenalen Choledochusendes bot bei
No. 127 und 129 grosse Schwierigkeiten. Die stricturirtc bezw.
obliterirte Partie wurde bei den Fällen 129 und 130 in einer Aus¬
dehnung von 1—2 cm excidirt und dann die Vereinigung des cen¬
tralen und peripheren Choledochusstumpfes in der Weise vorge¬
nommen, dass man die hintere Wand und seitlichen Theile durch
einige Suturen in Verbindung brachte, die vordere Wand dagegen
offen liess und zur Hepaticusdrainage verwandte. In Fall 127,
wo der Choledochus in 3 cm Ausdehnung resecirt wurde, war nur
die directe Vereinigung der hinteren Wand durch Naht möglich,
während der grosse Defect der Vorderwand durch Implantation der
gespaltenen Gallenblase gedeckt wurde (s. w. u.). Auch hier kam
gleichzeitig die Hepaticusdrainage zur Ausführung. Wie bereits
erwähnt, erfolgte bei No. 129 der Exitus infolge cholämischer Blu¬
tung; bei den anderen beiden Fällen wurde ein vollständiger und
definitiver Erfolg erzielt (vgl. Tabelle I).
Bezüglich der Technik der Operation ist noch nachzutragen,
dass früher in unseren Fällen zur Naht Seide verwendet wurde
(die Fäden blieben lang), in letzter Zeit aber lediglich Catgut in
Gebrauch war. Die Tamponade lässt sich natürlich, sobald eine
gleichzeitige Hepaticusdrainage stattfindet, unter keinen Umständen
vermeiden. Aber auch in allen Fällen von circulärer Naht empfiehlt
es sich, einen Gazestreif einzulegen, um den Kranken vor schweren
Oomplicationen zu schützen.
Die secundäre Vereinigung des Hepaticus mit dem Chole¬
dochus durch circuläre Naht (Choledocho-Hepaticostomie)
wurde nach Verletzung des Hepaticus (Durchtrennung und Resection
gelegentlich der Cystektomie) bei No. 134 bezw. 128 ausgeführt
(vgl. die Mittheilung Volkmann’s, Centralbl. f. Chirurgie, 1908,
S. 1333).
Eine Radicaloperation bei Papillencarcinom ist bisher
in unserer Klinik noch nicht vorgekommen. Hinsichtlich des ope¬
rativen Vorgehens in derartigen Fällen sei hier nur kurz erwähnt,
dass 2 mal die Querresection des Duodenum in Papillenhöhe zur
Ausführung kam (Halsted, Körte), 3mal der transduodenale
Weg gewählt wurde, und zwar je lmal in Combination mit der
Cystostomie (Czerny), mit gleichzeitiger Drainage der grossen
Gallengänge und der Gallenblase (Körte) und mit vorausgehender
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
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Cvstenterostomie (Morian). Von dem Verfahren, welches die <ie-
bröder Mayo in Anwendung brachten, liegen keine Angaben vor
icit nach Morian). Abgesehen von den aufgezählten Methoden,
kann man auch in der Weise operiren, wie Rotter bei Inangriff¬
nahme einer tiefsitzenden Choledochusgeschwulst vorgegangen ist,
nämlich den Gallengang bis in das Duodenum hinein spalten und
so die Papillengegend freilegen (vgl. S. 14).
Chirurgische Eingriffe am Ductus hepaticus gehören
selbst bei unserem grossen Material zu den Seltenheiten. Hepa-
ticussteine lassen sich im Allgemeinen von der Choledochusincision
aus mit der Kornzange oder durch Spülungen während der Nach¬
behandlung entfernen. Nur in 2 Fällen der letzten 3 Jahre (No. 127
und 129) wurde eine ergiebige Spaltung des Hepaticus (Hepatico-
tomie) im Anschluss an die Eröffnung des Choledochus vorge-
nommen. Man wird in derartigen Fällen die ausgedehnte Incision
der tiefen Gallengänge bis auf eine kleine Oeffnung zum Heraus¬
leiten des Schlauches wieder vernähen. Ist die Sutur aus techni¬
schen oder sonstigen Gründen nicht ausführbar, so kann man
trotzdem auf eine Spontanheilung rechnen. Hat doch Kehr sogar
nach Spaltung der grossen Gallengänge in ihrer ganzen Ausdeh¬
nung spontanen Verschluss eintreten sehen! Die Hepatieo-
stomie (Thornton, Nicolayson) und Hepatocholangiostomio
(Kocher, Langen buch u. A.) kamen in unseren Fällen nicht zur
Anwendung. Hirschberg’s Verfahren, wobei die Cholangitis
lediglich durch Eröffnung der Lebergallengänge in Angriff genommen
wird, dürfte kaum noch Beachtung finden (vgl. Kehr’s Technik,
1. Th., S. 249 bezw. 251). Dagegen mag nach dem Vorschläge
Haasler’s bei Anhäufung von Lebersteinen auf einem kleinen Be¬
zirk und eventuell auch bei Cholangitis der feineren Hepaticusver-
zweigungen die Incision eines grösseren peripheren Gallenganges
von der Leberoberfläche aus bei gleichzeitiger Choledochotomic und
Hepaticusdrainage in praxi immerhin in Erwägung gezogen werden.
Kehr warnt indess dringend davor, in derartigen Fällen, w'o fast
immer hochgradiger Icterus besteht, die Gefahr der cholämischen
Blutung zu unterschätzen (vgl. Kehr, Liebold, Neuling, 1. e..
•S. 526). Von der Anastomosenbildung zwischen Hepaticus bezw.
I.ebcrgallengängen und den Intestinis wird weiter unten die Rede sein.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 1. 9
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Dr. W. Eichmeyer,
Verletzungen der tiefen Gallengänge insbesondere auch
des Hepaticusstammes gelegentlich der Cystektomie werden auch
dem erfahrenen Gallensteinchirurgen nie gänzlich erspart bleiben.
Da der Ductus cysticus in seinen Ausbuchtungen zwischen den
Heister’schen Falten sehr häufig Concremente und Entzündungs-
producte enthält, muss natürlicherweise das Bestreben des Ope¬
rateurs darauf gerichtet sein, diesen Gang möglichst in toto bei der
Cholecystektomie mit zu entfernen. Hierbei kommt es leicht auf
nachstehende Art zu Verletzungen der tiefen Gallengänge. Beim
Hervorziehen der Gallenblase werden Cholcdochus und Hepatieus
emporgehoben; der Operateur fasst nun beim Abklemmen des
Ductus cysticus ein Stück der Vorderwand der grossen Gallengänge
mit und ligirt bezw. excidirt diese Partie unterhalb der angelegten
Klemme (No. 124, 125). Die Defecte bei derartigen Verletzungen
betreffen also in der Regel die Einmündungsstelle des Cysticus und
sind gewöhnlich von runder oder ovaler Gestalt; sie haben bei er¬
heblicher Dilatation der Gallengänge keinerlei Nachtheil im Gefolge,
führen indess bei normalem oder gar verengtem Lumen leicht eine
Stcnosirung herbei. In besonders ungünstigen Fällen bleibt es nicht
bei einer Läsion der Vorderwand, sondern es werden zumal bei sehr
kurzem Cysticus die „faltenförmig“ mit hervorgezogenen tiefen
Gallengänge quer durchtrennt und resecirt (vergl. den Fall Körte s.
Dieses Archiv, Bd. 89, S. 22 mit sehr instructiver Abbildungi.
Ein anderer Verletzungsmodus ist dadurch gegeben, dass der Cys¬
ticus auf einer bisweilen mehrere Centimeter langen Strecke mit
dem Hepatieus eng verwachsen ist und mitunter noch obenein an
abnorm tiefer Stelle in den Choledochus einmündet. Es gehört die
grösste technische Fertigkeit dazu, in solchen Fällen bei der Cyst¬
ektomie auch den Ductus cysticus ohne Verletzung des Hepatieus
radical zu entfernen (vergl. z. B. No. 9 und 34). Innige Ver¬
wachsungen zwischen Cysticus und Hepatieus lagen in den meisten
unserer Fälle von Hepaticusverletzung vor (s. Tabelle I), nament¬
lich bei No. 67 und 134. Im letzteren Falle waren die topo¬
graphischen Verhältnisse ausserordentlich complicirt, so dass man
zunächst annahm, einen accessorischen Cysticus oder einen aceesso-
rischen Ast des Hepatieus durchtrennt zu haben, und das fragliche
Gebilde unterband. Erst durch den weiteren Verlauf ergab sich,
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
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dass man den sehr zarten Hepaticus durchschnitten und das proxi¬
male Ende abgebunden hatte (vergl. die Mittheilung des Falles von
Volkmar, Centralbl. f. Chir. 1908, S. 1333). Erwähnenswerth
ist noch, dass in einem unserer Fälle (No. 132) durch Fassen der
Arteria cystica mit Bergmann’scher Gefässklemme eine kleine
Rissverletzung des Hepaticus zu Stande kam. Auch dann, wenn
der Ductus cysticus erst nachträglich cxcidirt wurde (Cysticektomie),
liess sich eine Schädigung der Gallengangwand nicht immer ver¬
meiden. zumal bei inniger Verwachsung des Cysticus und Hepaticus
< vergl. Fall 18).
Beabsichtigt man ohnehin, die Choledochotomie bezw. Hepatieus-
drainage auszqführen, so wird man die Incision der grossen Gallen-
gänge zweckmässig von der lädirten Stelle aus vornehmen und
eventuell den Defekt über dem Schlauch vernähen. In dieser Weise
wurde bei No. 48, 67 und 106 verfahren. Im Uebrigen fand die
Hepaticusnaht noch in Fall 132 und 133 statt, während die un¬
erheblichen Risse bei No. 18, 61 und 133 lediglich taraponirt
wurden. Bezüglich der nach Gallengangverletzungen ausgeführten
plastischen Operationen (No. 124, 125) s. w. u. Von der secun-
dären Choledocho-Hepaticostomie (Fall 134 bezw. 128) ist bereits
oben S. 16 die Rede gewesen.
Im schweren Verletzungen der grossen Gallengängc nach
Möglichkeit vorzubeugen, sollte Kehrs oft wiederholter Rath, bei
der Excision der Gallenblase Arteria cystica und Ductus cysticus
sorgfältig zu isoliren und gesondert zu unterbinden, stets genau
befolgt werden. Wenn sich trotzdem Läsionen des Choledochus
und Hepaticus gelegentlich der Ektomie nicht gänzlich vermeiden
lassen, so darf unseres Erachtens die Aussicht auf eine eventuelle
derartige Complication doch kein Grund sein, auf die vollständige
Excision des Cysticus zu verzichten. Denn nur bei gleichzeitiger
radiealer Entfernung des Cysticus bietet die Ektomie der Gallen¬
blase die grösstraöglichste Garantie, dass sich kein Steinrecidiv
wieder einstellen wird (vergl. S. 5f.).
Plastische Operationen der grossen Gallengänge kom¬
men nach Verletzungen und wegen bereits vorhandener benigner oder
maligner Stenosen bezw. Obliterationen (meist nach vorhergehender
Resection) in Betracht. Die einfachste Methode, die sich besonders
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Dr. W. Eichmeyer,
für die gewöhnlichen kleineren ovalen Defecte eignet, ist die quere
Vereinigung des Längsspaltes nach Art der Heinecke-Mikulicz-
schen Pyloroplastik. Ein derartiger Fall von Choledochoplastik
ist bereits aus unserer Klinik mitgetheilt (Kehr, Liebold, Neu¬
ling, 1. c. S. 411). Unter dem vorliegenden Material finden sieh
2 analoge Operationsfälle (No. 124, 125). Aehnlich war das Ver¬
fahren bei No. 126 bezw. 65 (secundäre Choledochoplastik). Es
hatte sich hier nach primärer Ektomie und Hepaticusdrainage eine
leichte Knickung der tiefen (iallengänge an der Drainagestelle aus¬
gebildet, wodurch eine Choledochusfistel unterhalten wurde. Nach
Dilatation des verengten duodenalen Choledochusabschnitts mittelst
Kornzange w'urde die vordere Wand des Hepaticus mit der des
Choledochus durch Naht quer vereinigt. Eine weitere bequeme
Methode der Plastik, die früher einmal in hiesiger Klinik zur An¬
wendung kam, besteht darin, dass man nach dem Vorgänge von
Braun ein leicht erreichbares Stück Netz auf den Defect aufpflanzt
und hier durch einige Nähte fixirt (s. Kehr’s Technik, I. Th.,
S. 276). Auch Enderlen und Justi (Deutsche Zeitschr. f. Chir.
Bd. 61, S. 235) sind in dieser Weise vorgegangen. Choledocho¬
plastik durch Lappenbildung aus dem Magen oder durch Im¬
plantation der gespaltenen Gallenblase ist von Kehr empfohlen
und auch in praxi 2 mal mit Erfolg durchgeführt. Im ersten
Falle (s. Kehr’s Technik, I. Th., S. 279) wurde zur Deckung
eines Choledochusdefects, der in Folge Ektomie einer car-
cinösen Gallenblase entstanden war, ein Serosa-Musculari.s-
lappen aus dem Magen verwendet. Der 10 cm lange, 2 1 /* cm
breite Lappen hatte seinen Stiel an der kleinen Curvatur in der
Nähe des Pylorus, seine Basis war der grossen Curvatur zugekehrt.
Das abpräparirte Stück der Magenwand wurde nun in der Weise
aufgepflanzt, dass nach Stieldrehung die wunde Fläche auf den
Choledochusdefect zu liegen kam. Die Patientin ging am 7. Tage
post operationem an einer Pneumonie zu Grunde. Die Section
ergab, dass der implantirte Lappen gut erhalten und vollständig
aufgeheilt war. Kehr empfiehlt als zweckmässiger, in künftigen
Fällen den Magenwandlappen umzuklappen, so dass seine Serosa-
fläche nach dem Choledochuslumen zu gerichtet ist. Eine Lappen¬
bildung aus säidmtlichen Schichten der Magenwand hält er dagegen
wegen der Complication des Eingriffs (Eröffnung des Magens) und
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc. 21
der erhöhten Infectionsgefahr im Allgemeinen für weniger geeignet.
Inzwischen hat v. Stubenrauch 1 ) in einem Falle von Choledochus-
und Gallenblasenfistel einen der ganzen Dicke der Magen- und
Duodenalwand entnommenen Lappen zur Schliessung des Chole-
dochusdefectes und gleichzeitigen Herstellung einer epitheltragenden
Brücke zwischen Gallenblase und Magen bezw. Duodenum mit
gutem Erfolg verwendet, lieber den zweiten Kehr’schen Fall
(Implantation der Gallenblase auf einen Choledochusdefect), der in
vorliegender Arbeit als No. 127 angeführt wird, ist bereits von
Liebold [Centralbl. f. Chir. 1908, S. 500 2 )] ausführlich berichtet
worden. Wie schon oben S. 16 erwähnt, liess sich nach Resection
der 3 cm langen obliterirten Choledochuspartie nur die hintere
Wand durch Naht vereinigen, während auf den grossen Defect der
Vorderwand die vom Leberbett abgelöste, median gespaltene Gallen¬
blase aufgepflanzt wurde, und zwar in der Weise, dass ihre leid¬
lich gut erhaltene Schleimhaut nach dem Choledochuslumen zu
liegen kam. Selbstredend wurde beim Abpräpariren der Gallen¬
blase von der Leber die Arteria cystica geschont, um nicht die
Ernährung des Lappens in Frage zu stellen. Die gleichzeitige
Hepaticusdrainage war wegen Vorhandenseins von Concremcnten
nothwendig. Es trat völlige Heilung ein (vergl. Tabelle I).
Anastomosen zwischen Gallensystem und Intestinis
kamen während der letzten 3 Jahre 22 mal in unserer Klinik zur
Ausführung.
In 13 Fällen wurde eine Communication der Gallenblase mit
dem Magendarmcanal hergestellt. Kehr hat mehrfach darauf hin¬
gewiesen, dass er die Verbindung der Gallenblase mit der Pylorus-
gegend des Magens einer solchen mit Duodenum und namentlich
Üeum, Jejunum oder gar Colon transversum vorzieht. Wenn andere
Chirurgen einen entgegengesetzten Standpunkt einnehmen und z. B.
Kocher (s. Chirurgische Operationslehre, 5. Aufl., S. 806) die
Anastomose zwischen Gallenblase und Magen für die „ungeeignetste“
Methode erklärt, so können wir derartigen Behauptungen gegenüber
nur immer wieder entgegenhalten, dass in unseren zahlreichen
*) v. Stubenrauch, Ueber plastische Anastomosen zwischen Gallenwegen
und Magendarmcanal zur Heilung der completten äusseren Gallenfistel. Yerh.
d. Deutsch. Gesellsch. f. Chir. 35. Congr. 1906. II. Th. S. 39.
2 ) Yergl. auch Kehr, Gallensteine. Referat, gehalten auf d. II. intemat.
Chirurgen-Congr. in Brüssel. 1908. S. 51.
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22
Dr. \V. Eichmeyer,
Fällen von Cysto-Gastrostomie (im Ganzen etwa 40) weder galliges
Erbrechen noch Appetitlosigkeit oder sonstige Beschwerden in Folge
Einfliessens der Galle in den Magen zur Beobachtung kamen. Zun»
Vergleich kann hier keinesfalls der so sehr gefürchtete Circulus
vitiosus nach Gastro-Enterostomie herangezogen werden, weil unter
derartigen Verhältnissen Pankreassecret der Galle beigemischt ist
(vergl. Kehr, Technik, S. 268). Die Vortheile der Cysto-Gastro-
storaie den anderen Methoden gegenüber bestehen nach Kehr darin,
dass sich der Pylorustheil des Magens in den meisten Fällen am
bequemsten an die Gallenblase anlegen und die Naht wegen der
dickeren Wandung des Magens leichter und exacter ausführen lässt.
Vollständig verwirft Kehr die von Mayo Robson bevorzugte
Anastomose zwischen Gallenblase und Quercolon, da es einerseits
hinsichtlich der Verdauung nicht gleichgültig sein kann, dass die
Galle nur noch im Endtheil des Darmes zur Wirksamkeit kommt,
und andererseits die Infectionsgefahr vom Colon aus wegen des
höheren Bakteriengehalts in den unteren Darmabschnitten ent¬
schieden gesteigert ist. Aus den oben genannten Gründen kommt
in unserer Klinik principiell die Cysto-Gastrostomie an erster Stelle
zur Ausführung (No. 135—146). Nur in vereinzelten Ausnahme¬
fällen, bei denen sich Gallenblase und Magen wegen Adhäsionen
oder aus anderweitiger Ursache nicht bequem aneinander legen
lassen, wird die Verbindung zwischen Gallenblase und Duodenum
gewählt (No. 147). Es steht den 12 Cysto-Gastrostomien
des vorliegenden Materials also nur 1 Cysto-Duodeno-
stomie gegenüber. Aehnlich lagen die Verhältnisse bei den
Fällen der Jahre 1904—1906 (cf. Kehr, Liebold, Neuling, 1. c.
S. 526).
Vorbedingung für die Herstellung einer Gallenblasen-Magen-
darmfistel ist völlige Durchgängigkeit des Ductus cysticus, ferner
annähernd normale Beschaffenheit der Gallenblase. Ein grosses,
sonst nicht erheblich verändertes Organ bildet keine Contraindication.
Dagegen sind z. B. alle ulcerösen Formen mit morscher brüchiger
Wand völlig ungeeignet zur Anastomosenbildung. Die Incisionen
sollen nach Kehr’s Vorschrift nicht zu klein sein und eine Länge
von mindestens 1—IY 2 cm aufweisen. Am Magen wird der Schnitt
einige Centimeter oberhalb des Pvlorus in der Mitte zwischen
beiden Cnrvaturen angelegt, zweckmässig in querer Richtung, weil
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
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das Lumen so am besten klafft. Die Incision des Duodenum erfolgt
aus dem gleichen Grunde besser in der Längsrichtung. Hingegen
kann der Einschnitt der Gallenblase sowohl längs als quer aus¬
geführt werden, und zwar verwenden wir zur Anastomose stets
nur den Fundustheil. Die Vereinigung zwischen Gallenblase und
Magendarm geschieht in der für Entero-Anastomosen üblichen
Weise durch Serosa-Muscularisnähte (Seidenknopfnähte), wovon eine
einzige Reihe vollständig genügt. Früher wurde nur ausnahms¬
weise, in letzter Zeit regelmässig auch die Schleimhaut durch
einige Knopfnähte (Catgut!) aneinander gebracht. Von einer Ver¬
wendung des Murphyknopfes bei der Anastomosenbildung zwischen
Gallenblase und Intestinis räth Kehr entschieden ab (vergl. Technik.
I. Th., S. 265). Die Ablösung der Gallenblase vom Leberbett
wird im Gegensatz zu Riedel von Kehr verworfen, weil bei dem
meist vorhandenen hochgradigen Icterus die Gefahr der cholämischen
Blutung herauf beschworen und in Folge der in solchen Fällen un¬
vermeidlichen Tamponade viel leichter eine Infection bezw. Insuf-
ficienz der Naht herbeigeführt wird.
Die Modificationen der Cyst-Enterostomie nach Fedor
Krause (Entero-Anastomose 18 cm unterhalb der mit der Gallen¬
blase in Verbindung gebrachten Darraschlingc), sowie nach Kru¬
kenberg (Drehung der Gallenblase um ihre Längsachse) sind in
unserer Klinik bisher nicht zur Anwendung gekommen. Beide Ver¬
fahren bezwecken eine Herabsetzung der Infectionsgefahr für die
Gallenblase. Während die Methode Krause’s ihren Zweck er¬
füllen mag, erscheint die Modification nach Krukenberg im Hin¬
blick auf die eventuelle Behinderung des Gallenabflusses sehr ge¬
wagt (vgl. Kehr’s Technik T. I, S. 273). In neuester Zeit ist
noch ein weiteres Verfahren, durch welches ebenfalls das Kin-
fliessen von Darminhalt in die Gallenwege vermieden werden soll,
von Monprofit 1 ) vorgeschlagen: nach dem Vorbilde von Roux’
I-förmiger Gastro-Enterostomie wird eine hochgelegene Jcjunum-
schlinge durchtrennt und das abführende Ende in die Gallenblase
implantirt, das zuführende Ende dagegen in den abführenden
*) Vergl. Monprofit, On cbolecystentuostomy in the form of a Y. Brit.
med. journ. 1908. October 3. Ref. Centralbl. f. Chir. 1909. S. 23. Der Vor¬
schlag Monprofit’s stammt indes aus noch früherer Zeit, da Dclagenierc
bereits Anfang 1907 eine Operation nach dieser Methode ausgeführt hatte
(s. w. u.).
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24
Dr. W. Eichmeyer,
Schenkel eingepflanzt. Nach der Methode Montprofit’s haben
Delageniere 1 ), Dahl 2 ) und Cholin 8 ) (2 Fälle) operirt. Ferner
hat Brentano*) eine neue Modification der Cyst-Enterostomie in
Anwendung gebracht, die ein Analogon zur Gastro-Enterostomia
retrocolica darstellt und als „Cholecystenteroanastomosis re¬
trocolica“ bezeichnet wird. Es soll hierbei die oberste Jejunum-
schlinge durch einen Schlitz im Mesocolon transversum an die
Gallenblase herangezogen und mit ihrer Unterfläche vereinigt werden.
(Näheres siehe in der Originalmittheilung). Brentano glaubt, auf
diese Weise die Nachtheile der gewöhnlichen Cyst-Enterostomie
(Zerrung der Gallenblase und Verlagerung der Darmschlingen) ver¬
hüten zu können. Wir haben die Cholecystenterostomia retrocolica
bisher aus dem einfachen Grunde nicht angewendet, weil wir mit
unseren Erfolgen der Cystogastrostomie ausserordentlich zufrieden
sind und nie derartige Nachtheile beobachtet haben, wie sie von
Brentano geschildert werden und sich eben dann einstellen, wenn
zur Anastomose nicht der Magen oder obere Theil des Duodenum,
sondern der Dünndarm benutzt wird.
Die Cystico-Enterostomie bezw. -Gastrostomie (vergl.
Fall No. 160 in Kehr’s Technik) ist in den letzten Jahren nicht
mehr zur Ausführung gekommen. Diese Art der Anastomose hat
keine praktische Bedeutung und wird am besten durch die nach¬
stehende Operation ersetzt.
Die Choledocho-Duodenostomie, die ira Gegensatz zur
transduodenalen Choledochotomie mit Umsäumungsnaht (Choledocho-
Duodenostomia interna Kocher’s) auch als Choledocho-Duodeno-
stomia externa bezeichnet wird, stellt in der Regel eine latcro-
laterale Anastomose dar und lässt sich bei stark dilatirtem Chole-
dochus relativ bequem ausführen. Die Eröffnung des Gallenganges
erfolgt im Allgemeinen durch Längsschnitt dicht am Duodenum;
bei hochgradiger Erweiterung kann man auch quer incidiren. Am
!) Delagdniere, De la cholecystenterostomie en Y. Une Observation,
suivie de guerison. Arch. prov. de chir. 1907. No. 1. Ref. Centralbl. f. Chir.
1909. S. 770.
*) Dahl, Eine neue Operation an den Gallenwegen. Centralbl. f. Chir.
1909. S. 266.
*) Cholin, Zur Technik der Cholecystenterostomie. Russki Wratsch.
1909. No. 39. Ref. Centralbl. f. Chir- 1909. S. 1769.
4 ) Brentano, Die Cholecystenteroanastoraosis retrocolica. Centralbl. f.
Chir. 1907. S. 681.
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochas and Hep&ticas etc.
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Duodenum legt maD, um ein besseres Klaffen der Wundränder zu
erzielen, den Schnitt am geeignetsten in der Längsrichtung an. Im
Uebrigen verfährt man genau so wie bei der Cyst-Enterostomie.
Es sei hier noch erwähnt, dass Fullerton 1 ) die Anastomosc
zwischen dünndarmstark dilatirtem Oholedochus und Duodenum
mittels Murphyknopfes herstellte.
In unserer Klinik kam die Choledocho-Duodenostomia externa
bisher in 4 Fällen (Kehr’s Technik No. 161—164) zur Anwen¬
dung, und zwar je zweimal wegen Duodenal- bezw. Papillencarcinoras
und wegen hochgradiger Pankreasinduration. Aus den letzten drei
Jahren können wir zwei weitere Fälle hinzufügen, die bereits in
den Grenzgeb. d. Med. u. Chir. Bd. 20, S. 65 u. 95 publicirt
sind (No. 148 u. 149 der vorliegenden Arbeit; bei beiden Combina-
tion mit Cystostomie, bei No. 149 zuvor Resection des Gallen¬
blasenfundus). Die Etablirung einer Cholcdochus-Duodenalfistel
wurde in diesen Fällen der einfachen Cholodochotomie mit Hepa-
ticusdrainage aus dem Grunde vorgezogen, weil sich die Papille
nicht sondiren liess und daher mit der Möglichkeit gerechnet werden
musste, dass Papillensteine zurückgelassen waren. Andererseits
ist es ja eine bekannte Thatsache, dass gerade bei starker Er¬
weiterung des Choledochus das Auffinden der Papille mit der Sonde
häufig misslingt, und ferner erklärt die hochgradige Pankreasindu¬
ration dieser beiden Fälle allein schon zur Genüge die Stauung
und Infection im Gallenwegsystem. Immerhin dürfte für solche
diagnostisch nicht ganz einwandfreie Fälle die Choledocho-Duodeno-
stomie zumal bei gleichzeitiger Dilatation des Ganges indicirt sein.
Die Einpflanzung des quer durchtrennten Choledochus bezw.
seines proximalen Endes in den Darm, also die termino-laterale
Eholedocho-Duodenostomie, kann bei benignen oder malignen
Stenosen im duodenalen Theile des Ganges in Frage kommen (vgl.
den Fall Tedenat’s, S. 14). Im Allgemeinen wird indess bei
postoperativen oder carcinösen Stricturen bezw. Obliterationen der
grossen Gallengänge der Choledochus zur Anastomose nicht zu ver¬
wenden sein, sondern es muss unter Ausschaltung oder nach Re¬
section des Choledochus der Ductus hepaticus mit dem Duodenum
. _ W
*) Fullerton, Anastomosis betweeo the common biie duct and the
duodenum for obstructive jaundice. Brit. med. journ. 1907. October 26. Rcf.
Centralbi. f. Chir. 1908. S. 246.
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Dr. W. Eichmeyer,
in Verbindung gebracht werden. Eine derartige Hepatico-Duo-
denostoroie kam in den früheren Jahren einmal nach Reseetion
eines an der Vereinigungsstelle der drei Gallengänge localisirten
Gallengangcarcinoms in unserer Klinik zur Ausführung (Kehr s
Technik, No. 152; s. oben S. 13). Unter den vorliegenden Fällen
findet sich die Implantation des Hepaticus in den Darm 4 mal ver¬
zeichnet (No. 150, 151, 152, 153). In Fall 150 war die Opera¬
ration durch Pankreascarcinom, bei No. 152 durch Stenosirung des
duodenalen Choledochustheils in Folge Abknickung des Ganges
(Choledochusfistel nach Ektomie und Hepaticusdrainage), in Fall 151
und 153 durch Strictur an der Einpflanzungsstelle nach voraus¬
gehender Hepatico-Duodenostomie indicirt. Mit Ausnahme von
No. 150 handelte es sich also bei allen übrigen Fällen um secuu-
däre Eingriffe. Die Technik der Hepatico-Duodenostomie findet
sich gelegentlich der Besprechung des erwähnten früheren Kehr¬
seiten Falles genau beschrieben (man beachte besonders die sehr
instructiven Abbildungen). Lassen sich Hepaticus und Duodenum
gut aneinander bringen, so stellen sich der Vereinigung durch eine
hintere und vordere Reihe von Catgutknopfnähten zumal bei er¬
weitertem Hepaticus gewöhnlich keine grösseren Schwierigkeiten
entgegen. Nur bei stärkerer Spannung und zarter Wandung des
Hepaticus kommt es leicht zum Durchschneiden der Fäden. Cat¬
gut ist in derartigen Fällen überhaupt nicht zu verwenden, und
man wird sich mit einigen Fixationsnähten (am besten langgelassene
Seidenfäden!) begnügen müssen. Eventuell kann durch Mobi-
lisirung des Duodenums nach Kocher die Anastomose zwischen
Hepaticus und Duodenum noch ermöglicht werden (vgl. die Abbil¬
dung Mavo’s in Kocher’s Operationslehre, 5. Aufl., S. 820).
Eine sehr beachtenswcrthe Modification des üblichen Verfahrens
bei der Hepatico-Duodenostomie wurde von Mayo angegeben und
kam auch in unseren Fällen No. 152 und 153 zur Anwendung
(s. dieses Archiv Bd. 89, S. 160 — 162). Es wird hierbei folgen-
dermaassen vorgegangen. Man durchtrennt die grossen Gallen¬
gänge an der Grenze zwischen Choledochus und Hepaticus und
präpari rt den letzteren auf eine Strecke von ca. 1 cm frei. So¬
dann eröffnet man das Duodenum und legt etwas lateral und
hinten von der ersten Incision ein zweites, ganz kleines Loch an.
durch das der Hepaticusstumpf hindurchgezogen wird. Die Fixa-
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
27
tion des implantirten Gallenganges erfolgt durch einige Knopfnähte:
die Duodenalincision wird in der üblichen Weise geschlossen.
Die Tamponade wird man bei der Choledocho- und Hepatic*»-
Duodenostomie nicht ganz vermeiden können, da die Sutur nie
völlig abdichtet, sich aber im allgemeinen auf einen feinen Gaze¬
streif beschränken, der ausserhalb des eigentlichen Nahtbereichs
zu liegen kommt. Auch bei gleichzeitiger Net/.plastik ist es nicht
empfehlenswert!!, gänzlich auf die Tamponade zu verzichten.
Heber den eigenartigen Fall Jenckel’s, bei dem wegen voll¬
ständiger GalLengangobliteration eine Verbindung zwischen Hepa¬
ticus und Duodenum durch Einschalten eines Schlauches hergestellt
wurde, ist bereits im Capitel über Oholedochusresection berichtet.
Von der Choledoeho-Duodenostomia interna war oben
S. 11 die Rede. Bei Resection der Papille wegen maligner
Tumoren oder bei der Radicalopcration des Pankreasearei-
noms kommt in der Regel eine mehr oder weniger ausgedehnte Kx-
cision des untersten Choledochusabschnittes und Nahtvereinigung
des Gallenganges mit dem Duodenum in Frage (vgl. S. 16f.). Dass
man bei kleinen Papillencarcinomen, wie in den Fällen von Hal¬
sted, Czerny, Körte etc., unter sonstigen günstigen Umständen
eine wirklich radicale Entfernung der erkrankten Partie ausführen
kann, ist durch die Operationserfolge Halsted’s, der Gebrüder
Mayo und Morian’s erwiesen. Dagegen erscheint eine Inangriff¬
nahme des Pankreascarcinoms durch partielle oder totale Excisionen
(Franke, Codivilla, Tricomi, Körte, Tuffier, Duval,
Michaux, Mayo Robson, Sauve) abgesehen von frühzeitig ope-
rirten Fällen mit Beschränkung des malignen Processes auf den
Schwanz des Pankreas sowohl in ihrer Durchführung als ihren Er¬
folgen recht zweifelhaft. In der Kehr’schen Klinik kam bisher
auch nicht ein einziger derartiger Fall zur Beobachtung, bei dem
eine Radicaloperation überhaupt durchführbar gewesen wäre (vgl.
Kehr, Grenzgeb. der Med. u. Chir., Bd. 20. S. 52). Kehr ist der
Ansicht, dass man im Allgemeinen in solchen Fällen mit Palliativ¬
operationen (Anastomosen zwischen Gallensystem und Intestinis)
den grösseren Nutzen bringt; denn die Kranken führen nach dem
operativen Eingriff ein erträgliches Dasein und können noch bis zu
- Jahren am Leben erhalten werden.
Bei hochsitzendem Hepaticusscirrhus, dessen radicale Entfer-
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28
Dr. W. Eichmeyer,
nung wohl kaum je möglich sein dürfte, kommen als Palliativ¬
eingriffe die Anlegung einer äusseren Leber-Gallenfistel (Hepato-
Cholangiostomia externa nach Kocher oder Hirschberg,
vgl. S. 17) und die Verbindung der Lebergallengänge mit einem
Abschnitt des Magendarmcanals (Hepato-Cholangio-Entero-
stomie), eventuell nach Halsted’s Vorgänge mit Zwischen¬
schaltung der Gallenblase (Hcpato-Cholangio-Cyst-Entero-
stomie) in Betracht. Aehnlich liegen die Verhältnisse, wenn
das Carcinom die Vereinigungsstelie der 3 Gallengänge betrifft
und sich nicht radial excidiren lässt. Man könnte in solchen
Fällen mitunter wohl noch eine Hepatico - Duodenostomie aus¬
führen, muss aber von diesem complicirten Eingriff meist im
Hinblick auf die schwere Kachexie und Cholämie der Kranken
Abstand nehmen. Auch bei tiefer gelegenen, im Choledochus-
bcreich localisirten benignen oder malignen Gallengangstenosen
bezw. -Obliterationen kommen unter Umständen nur noch die
oben genannten Operationsmethoden in Frage, nämlich dann,
wenn sowohl die Resection der stricturirten Partie als die Chole-
docho- oder Hepatico-Duodenostomie nicht durchführbar erscheinen
und zugleich die Gallenblase fehlt. Die (’holangiostomia externa,
für die Kocher energisch eintritt, stellt zwar einen relativ ein¬
fachen Eingriff dar, hat aber unzweifelhaft die Nachtheile und
Widerwärtigkeiten aller completen äusseren Gallenfisteln im Gefolge.
Aus diesem Grunde perhorrescirt Kehr die Cholangiostoraie, hat
dagegen als einer der Ersten die von Baudouin, Langenbuch
und Ullmann empfohlene Cholangio-Enterostomic zur Ausführung
gebracht x ). Die Operation in einer Sitzung erscheint uns empfehlens-
werther als der zweizeitige Eingriff nach Kocher’s 2 ) Vorschlag (zu¬
nächst die Cholangiostomia externa und später die Verbindung der
Lebergallengangfistel mit dem Darm).
Die Hepato-Cholangio-Enterostomie kam während der letzten
3 Jahre 3 mal, also einschliesslich des früheren Falles bisher im
Ganzen 4 mal in der Kehr’schen Klinik zur Ausführung, davon
2 mal mit Zwischenschaltung der Gallenblase. Die Indication zu
*) Kehr, Die Hepato-Cholangio-Enterostomie. Centr&lbl. f. Chir. 1904.
S. 185. Vergl. auch Kehr’s Technik der Gallensteinoperationen. I. Th. S. 258.
2 ) Kocher, Chirurg. Operationslehre. 5. Aufl. S. 822.
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Beiträge zur Chirurgie des Cboledochus and Hepaticus etc.
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diesem Eingriff war durch nachstehende Momente geboten: Ver¬
schluss der untersten Choledochuspartie durch entzündliche Schwielen
auf der Basis eines Ulcus duodeni, dabei Fehlen der Gallenblase
(der frühere im Centralbl. f. Chir. 1904 und in Kehr’s Technik
raitgetheilte Fall); Gallengangcarcinoro, und zwar 2mal an der ßi-
furcation des Hepaticus und Cvsticus (No. 154, 155), lmal hoch¬
sitzender Hepaticusscirrhus (No. 156). Die Gallenblase war in dem
früheren Falle, bei dem die Anastomose secundär ausgeführt wurde,
bereits durch die primäre Operation entfernt; bei No. 154 konnte
das Organ wegen hochgradiger Veränderung (eiterige Cholecystitis
ealculosa) keine Verwendung finden und musste exstirpirt werden.
In den beiden anderen Fällen aber wurde der technisch schwierig»*
Eingriff dadurch wesentlich erleichtert, dass man die Gallenblase
als Zwischenbehälter einschaltete (No. 155, 156). Die Verbindung
der Lebergallengänge wurde bei dem früheren Falle mit dem Duo¬
denum (Hepato-Cholangio-Duodenostomie), bei den in den
letzten 3 Jahren operirten Fällen mit dem Pylorustheil des Magens
hergestellt (No. 154: Hepato-Cholangio-Gastrostomie; No. 155
156: Hepato-Cholangio-Cysto-Gastrostomie).
Bezüglich der Technik der Cholangio-Entero- bezw.
Gastrostomie ist noch Folgendes zu bemerken. In dem früheren
Falle wurde ein 6 cm langes, 2—3 cm breites elliptisches Stück
aus dem unteren Leberrande excidirt und derDefeet mit dem Pa-
»luelin vertieft, hierauf das Duodenum in einer Länge von 6 cm
eröffnet und mit einigen Seidenknopfnähten an die Ränder der
Leberwunde fixirt. Bei No. 154 benutzte man nach der Cystek-
tomie das Leberbett der Gallenblase, das in der ehemaligen Fundus¬
gegend bis l‘/ 2 cm Tiefe incidirt wurde, zur Anastomose mit den»
Magen. Die Cholangio-Cysto-Gastrostomie kam in nachstehender
Weise zur Ausführung. Nach Eröffnung der Gallenblase durch
ausreichende Längsspaltung wurde bei No. 155 die Hinterwand
incidirt und eine Kornzange ins Lebergewebe gestossen, bei No. 156
mit dem Paquelin ein zweimarkstückgrosscs Loch durch die hintere
Gallenblasenwand in das Lebergew'ebe gebrannt; sodann erfolgte in
typischer Weise die Vereinigung zwischen Gallenblase und Magen.
Tamponirt wurde nur in Fall 154, da hier eine gleichzeitige Cvst-
ektomie stattgefunden halte.
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30
Dr. W. Eichmeyer,
Der Verlauf war bei der ersten von Kehr ausgeführten Cliol-
angio-Enterostomie zunächst günstig. Der Icterus ging erheblich
zurück, und die Kranke wurde 4 Wochen nach der Operation mit
geheilter Wunde entlassen. Später erfuhr Kehr durch Zufall, dass
die Patientin 5 Wochen nach ihrem Fortgange aus der Klinik ge¬
storben sei. Angaben über die klinischen Erscheinungen ante
exitum fehlen. Auch wurde leider vom behandelnden Arzt eine
Section nicht vorgenommen. Von den 3 während der letzteh drei
Jahre operirten Fällen ging eine Patientin (No. 154) 17 Tage nach
der Operation an Carcinomkachexie und Inanition infolge Naht¬
insuffizienz zu Grunde, die beiden anderen Kranken erlagen am
zweiten Tage post operationem der profusen cholämischen Blutung.
Vor Kehr hat bereits Czerny 1 ) die Cholangio-Enterostomie
bei Choledochuscarcinom ausgeführt. Es handelte sich hier aller¬
dings um die secundäre Vereinigung einer durch frühere Operation
entstandenen Lebergallengangfistel mit dem Darm. Die Patientin
starb 2 Tage nach dem Eingriff an Peritonitis. In neuester Zeit
haben ferner Ehrhardt 2 ) wegen Aplasie aller grossen Gallenwege
und Garrc 3 ) wegen Hepaticusobliteration nach traumatischer Zer-
reissung die Anastomose zwischen Lebergallengängen und Darm
hergestellt. Im letztgenannten Falle wurde völlige Heilung erzielt.
Das von Ehrhardt operirte 6wöchige Kind starb am 8. Tage nach
dem operativen Eingriff an Enteritis.
Betrachten wir nun einmal die bisher operirten Fälle daraufhin,
in wie weit der Beweis erbracht werden kann, dass durch die Ver¬
bindung der Lebergallengängc mit den Intestinis ein dauernder
Gallenabfluss auf diesem künstlich gebildeten Wege thatsächlich
erreicht worden ist! Hirschberg 4 ) stellt auf dem Chirurgencongress
15)04 in der Discussion über den ersten Fall Kehr’s die Behaup-
*) Merk, Beiträge zur Pathologie und Chirurgie der Gallensteine. Grenz¬
gebiete d. Med. u. Chir. Bd. 9. S. 445 bezw. 566. Vergl. auch die Mittheilung
Petersen’s, Verhandl. der Deutschen Gesellsch. f. Chir. 33. Congr. 1904.
1. Th. S. 80.
2 ) Ehrhardt, Hepato - Cholangio - Enterostomie bei Aplasie aller grossen
Gallenwege. Centralbl. f. Chir. 1907. S. 1226.
3 ) Garre, Traumatische Hepaticusruptur, geheilt durch eine Cholangio-
Enterostomie. Beiträge zur Physiologie und Pathologie. 1908. Ref. Centralbl.
f. Chir. 1909. S. 470. Vergl. auch den Bericht Garre’s auf d. XXI. franz.
ChirurgencoDgr. 1908. Ref. Centralbl. f. Chir. 1909. S. 763.
4 ) Hirschberg, Verhandl. d. Deutschen Gesellsch. f. Chir. 33. Congr.
1904. I. Th. S. 77.
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
31
nmg auf. der Rückgang des Icterus sei nicht auf den Abfluss
der Galle durch die Anastomosenöffnung zu beziehen, sondern
höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass der Choledochus
infolge Abklingens des duodenalen Entzündungsprocesses wieder
wegsam geworden sei. Dieser Annahme ist entgegenzuhalten,
dass sich derartige schwielige Veränderungen des Duodenum auf
der Basis eines Ulcus, die in unserem Falle sogar ein Carcinom
vortäuschten, wohl kaum zurückbilden.
Auch die Thierexperimente Enderlen’s 1 ), durch die Hirsch-
herg in seiner Auffassung bestärkt wird, lassen sich nicht ohne
Weiteres auf die Verhältnisse, wie sie bei chronischer Gallenstauung
vorliegen, übertragen. Enderlen giebt dies selber zu mit den
Worten: „Es ist sicher, dass bei chronischem Choledochus Verschluss
die Verhältnisse günstiger sind wegen der bestehenden Erweiterung
der Gänge.“ Dass sich äussere Lebergallengangsfisteln bei Ver¬
legung des Choledochus bezw. Hepaticus durch Stein, Tumor oder
Narbengewebe lange Zeit hindurch offen halten können, beweist
das von Kehr angeführte Beispiel (s. Technik, I. Th., S. 262 1 .
ferner der erwähnte Fall Czerny’s (vergl. die Originalmittheilung
Merk’s). Aus welchen Gründen ist daher die Annahme berechtigt,
dass die mit dem Darm bezw. Magen in Verbindung gebrachten
Ubergallengänge unter sonst gleichen Verhältnissen obliteriren?!
Einen einwandsfreien Beweis für den dauernden Abfluss der Galle
auf dem durch die Cholangio-Enterostomie geschaffenen Wege
liefert ferner Garre’s Fall, bei dem nahezu 2 Jahre nach trau¬
matischer Hepaticusruptur eine vollständige Narbenobstruction des
Ganges angetrofifen und dauernde Heilung erzielt wurde. Nach
Garrt hat zu diesem Erfolge vielleicht auch der Umstand beige¬
tragen. dass die Anastomose am linken Leberlappen angelegt war,
der sich nach Haasler’s Untersuchungen besser hierzu eignet als
der rechte. Die übrigen bisher ausgeführten Cholangio-Enterostomien
können bei Beurtheilung der gestellten Frage nicht verwerthet
"erden, weil die Operirten innerhalb kurzer Zeit nach dem Eingriff
zu Grunde gingen.
') Enderlen führte bei Thieren nach doppelter Unterbindung und Durch-
trennung des Choledochus eine Cholangio-Enterostomie mit dem Resultat aus,
dass der Leberdefect nach 14tagiger Versuchsdauer völlig geschlossen war
Yerhandl. d. Deutschen Gesellsch. f. Chir. 33. Congr. 1904. I. Th. .S. 77.)
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32
Dr. W. Eichmeyer,
Aus dem Gesagten geht unseres Erachtens zur Ge¬
nüge hervor, dass man keineswegs berechtigt ist, die
Cholangio-Enterostnmie principieil zu verwerfen. Man
wird vielmehr in verzweifelten Fällen von Hepaticuscarcinom und
hochsitzender Narbenstrictur der grossen Gallengänge, auch in de¬
solaten Fällen benigner oder maligner C'holcdochusobliteration bei
gleichzeitigem Fehlen der Gallenblase und gänzlicher Undurchführ¬
barkeit der Hepatico-Duodcnostoraie immer noch einen letzten
Versuch mit der (’holangio-Enterostomie wagen dürfen, ehe man
den Kranken seinem Schicksal und der Morphiumspritze überlässt 1 X
Sind die Operationsresultate bei Gallengangcarcinom (Czerny’s
Fall und unsere 3 in vorliegender Arbeit mitgetheilten Fälle) bisher
auch sehr ungünstige gewesen, so wird man vielleicht in Zukunft
noch mehr bestrebt sein müssen, besonders der Blutung Herr zu
werden. Bei der hochgradigen Kachexie und Cholämie der Car-
cinomkranken genügt die prophylaktische Chlorcalciumdarreichung
nicht immer, und es müssen locale Maassnahmen eingeleitet
werden, die darauf abzielen, die profuse Blutung aus
dem mittelst Messer oder Paquelin gesetzten Leberdefect
zum Stehen zu bringen. So kann man, wie das bereits in
unserem Falle No. 154 geschehen ist, einen kleinen Gazetampon
fest in die Leberwundc hineindrücken und dort liegen lassen. Der
Tampon soll sich nach Aufhören der Blutung in den Magendarm-
canal abstossen, wird jedoch in der Regel sehr bald fortgeschwemmt
und verfehlt dann natürlich seinen Zweck. Kehr bringt daher
gelegentlich einige beachtenswerthe Vorschläge, die diesem Uebel-
stande abhelfen sollen. So schildert er bei der kritischen Besprechung
des Falles 155 (s. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. Bd. 20, S. 52) fol¬
gendes Verfahren, das eventuell in zukünftigen Fällen ausgeführt
werden soll:
„Zwecks Blutstillung lege ich ein rundes Gazetampönchen
in den Leberdefect und befestige den Tampon mit 4 feinen
Catgutsuturen am Lebergewebc, damit er nicht hcrausfällt und
ordentlich tamponirt. Um den Tampon kommt eine Seidenschlinge.
>) Ob sich in derartigen Fällen das Verfahren Jen ekel’s bewähren wird,
wie es in einem verzweifelten Falle von vollständiger Obliteration der grossen
Oallengänge mit gutem Erfolge zur Anwendung gekommen ist (s. S. 14f.), werden
erst weitere Erfahrungen lehren müssen.
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Beiträge zur Chirurgie des Choledoohus und Hepaticus etc.
33
an der ein Murphy-Knopf oder eine Bleikugel hängt, die ich durch
die Anastomosenöffnung des Magens und Pylorus bis in das Duo¬
denum vorschiebe. So stille ich die Blutung. Nach 3—4 Tagen
geht der Tampon sammt Kugel ab“.
Ferner schlägt Kehr in der Epikrise unseres Falles No. löti,
de>sen ausführliche Krankengeschichte bisher nicht veröffentlicht
ist, nachstehende Methode vor:
„Zur Vermeidung der Blutung (nach Cholangio-Cysto-Gastro-
storaie) empfiehlt es sich in kommenden Fällen, durch die die
i lallenblase bedeckende Leberpartie einen Gang zu brennen, so dass
man von der Gallenblase aus einen Gazestreifen zwecks exacter
Blutstillung nach aussen ziehen kann. Diesen Gazestreifen wird
man nach 5—8 Tagen entfernen; durch zweckentsprechende Aus¬
stopfung wird man dann die aus den feinen Lebergängen aus-
lliessende Galle zwingen, in die Gallenblase zu fliessen; also eine
Kombination einer Lebergangsfistel mit einer ('holangio- Entero-
storaie.“
Nachdem die einzelnen Methoden der Anastomosen besprochen
sind, dürfte eine Zusammenstellung der Indicationen zu diesen Ein¬
griffen von Interesse sein.
Die Verbindung zwischen Gallensystem und Intestinis
kam in den 22 Fällen vorliegender Arbeit auf Grund fol¬
gender Indicationen zur Ausführung:
Pankreatitis chronica interstitialis 10 mal (Cysto-Gastrostomie
8 mal, Choledocho-Duodenostomie 2 mal);
Pankreascarcinom 4 mal (Cysto-Gastrostomie 3 mal, Hepatico-
Duodenostomie 1 mal);
Postoperative Stricturen der grossen Gallengänge 3 mal, und
zwar Stenose des duodenalen Choledochusabschnitts lmal (Hepatico-
Puodenostomie), Strictur bezw. Obliteration des Hepaticus an der
Kinpllanzungsstelle in den Darm 2 mal (Hepatico-Duodenostomic):
Stenosirung bezw. Abknickung des Choledochus durch
schwartige Adhäsionen wahrscheinlich auf der Basis chronischer
Cholangitis 1 mal (Cysto-Duodenostomie. Fall No. 147. vergl.
Bd. 93, S. 911);
’) Vergl. auch Kehr, Gallensteine. Referat a. d. II. intern. < hir.-Congr.
Brüssel. 1908. S. 60.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 1. o
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34
Dr. W. Eichmeyer,
Hepaticuscarcinom 3 mal (Hepato-Cholangio-Gastrostomie lmal,
Hepato-Cholangio-Cysto-Gastrostomie 2 mal);
Ulcus bezw. Narbe am Duodenum 1 mal (Cysto-Gastrostoinie.
Fall No. 135).
Bei dem zuletzt aufgezählten Falle wurde gleichzeitig mit der
Gastroenterostomie die Verbindung zwischen Gallenblase und
Magen hergestellt, um einerseits Entleerung der stark gestauten
Gallenblase herbeizuführen, andererseits einer eventuellen Verenge¬
rung der untersten Choledochuspartie durch weiter fortschreitende
narbige Schrumpfung des Duodenum vorzubeugen.
Unter den Indicationen zur Anastomosenbildung stehen
also an erster Stelle Indurationen und Carcinome des
Pankreas (im Ganzen 14 Fälle). In den übrigen Fällen handelt
es sich 7 mal um benigne und maligne Stricturen bezw. Oblitera¬
tionen der grossen Gallengänge; 1 mal wurde die Anastomose vor¬
wiegend prophylaktisch bei Ulcus bezw. Narbe am Duodenum aus¬
geführt.
Gallenblasenconcremente waren in 3 Fällen von Cysto-Gastro-
stomie vorhanden: Bilirubinklümpchen bezw. Steinschotter bei
No. 141 und 142, grössere solide Steine lediglich bei No. 144.
Schleimhaut und Wandung der Gallenblase zeigten sich in den
ersten beiden Fällen intact, im letzten bestand mässige Wand-
verdickung. Bei No. 150 (Hepatico-Duodenostomie) und 154
(Hepato-Cholangio-Gastrostomie) wurde die hochgradig veränderte
stcinhaltige Gallenblase vor Ausführung der Anastomosenoperation
ektomirt. Choledochussteine fanden sich in keinem der Fälle von
Anastomosenbildung vor. Allerdings liess sich bei No. 148 und
149 die Anwesenheit von Papillensteinen nicht gänzlich aus-
schliessen, da die Papille nicht sondirbar war, und es wurde hier
aus diesem Grunde die Herstellung einer Coramunication zwischen
Choledochus und Duodenum der Hepaticusdrainage vorgezogen
(vcrgl. S. 25). Wennschon man in derartigen Ausnahme¬
fällen die schwierige retro- oder transduodenale Chole-
dochotomie durch eine Anastomosenbildung mal umgehen
kann, so ist doch im Allgemeinen dringend davon abzu-
rathen, sich bei Vorhandensein von Choledochussteinen
principiell mit der Cystenterostomie zu begnügen. Gegen¬
über v. Bardeleben, der eine solche Umgehungsoperation bei
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Beiträge zur Chirurgie des Choledoohus und Hepaticus etc.
35
Choledocholithiasis bevorzugt, vertritt Kehr energisch den Stand¬
punkt, dass bei Choledochussteinen in erster Linie die Incision mit
Hepaticusdrainage und „erst ganz zuletzt“ die Cystenterostomie in
Betracht kommt (vergl. Kehr, Liebold, Neuling, 1. c. S. 519
und 520). Der im Choledochus zurückgelassene Stein stellt stets
eine Gefahr für seinen Träger dar, weil dadurch ein dauernder
Reizzustand der grossen Gallengänge unterhalten und ein geeigneter
Boden zur Infection vom Darm aus geschaffen wird. Man be¬
schränke daher die Anastomosenoperationen nach Möglichkeit auf
Fälle, die frei sind von Choledochussteinen. Soll die Gallenblase
zur Anastomose Verwendung finden, so wird man thunlichst alle
Fälle ausschalten, bei denen Schleimhaut oder Wandung der Gallen¬
blase hochgradigere Veränderungen aufweisen und infectiöser oder
schleimiger und seröser Inhalt (Cysticusverschluss!) vorhanden
ist. Gallenblasenconcremente bilden an sich zwar keine strikte
Contraindication gegen die Verwendung der Gallenblase zur Ana¬
stomose: man sei indess sehr vorsichtig in der Auswahl derartiger
Fälle. Das hauptsächlichste Gebiet für die Cystenterostomie werden
nach dem Gesagten die chronischen Pankreasaffectionen ohne
gleichzeitige Cholelithiasis bleiben 1 ).
Gelegentlich der Operationen an den grossen Gallengängen
kamen einige anderweitige Eingriffe am Gallensystem bezw. an der
Arteria hepatica zur Ausführung.
Die Fixation der Leber an die vordere ßauchwand (Ilcpato-
pexie) vrurde nur in wenigen hochgradigen Fällen von Hepatoptose
(No. 25, 33, 86, 133) mittels einiger Peritoneum und Fascia trans¬
versale einerseits, Leberoberfläche andererseits durchgreifender Su-
turen hergestellt. Als Nahtmaterial diente hierzu in letzter Zeit
lediglich Catgut. Im Allgemeinen ist die Hepatopexie bei den
Gallensteinoperationen, da ja in der Regel die Tamponade in An-
*) Ausgesprochene Pankreasveränderungen bei Cholecystitis calculosa werden
in unserer Klinik in der Regel mit Hepaticusdrainage behandelt (vergl. S. 3).
Da sich die steinhaltige Gallenblase gewöhnlich nicht erhalten lässt, kommt die
Cystostomie im Allgemeinen bei derartigen Fällen nicht in Frage. Kann man
von einer Ectomie der Gallenblate Abstand nehmen, so ziehen wir der Cysto¬
stomie die Anastomosenbildung vor. Bei Choledocholithiasis und gleichzeitiger
Pankreatitis chron. interstit. bezweckt man mit der Drainage der tiefen Gallen¬
gänge, neben der Ableitung der Galle auch die Pankrcasaffection günstig zu
beeinflussen. Bezüglich unserer Fälle No. 82, 83 und 119, bei denen die Hepa¬
ticusdrainage mit der Cystostomie combinirt war (s. S. 5).
3 *
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Dr. \V. Eiohmeyer,
Wendung kommt, zumal in Fällen von Choledochotomie mit Hepa-
ticusdrainage, bei denen sehr ergiebig tamponirt werden muss, ein
überflüssiger Eingriff. Denn durch die Tamponade allein wird
schon eine hinreichende Yerlöthung der Leber mit der Bauch wand
erreicht, wovon man sich gelegentlich der Secundäroperationen noch
nach Jahren überzeugen kann.
Die Eröffnung zweier über wallnussgrosser Abscesse
an der Leberpforte und der Oberfläche des rechten Leberlappens
(Fall 115) erfolgte beim Lösen der schwartigen Verwachsungen.
Den Fall von Unterbindung der Arteria hepatica pro-
pria wegen unstillbarer Blutung aus der Arteria cystica hat Kehr
ausführlich in der Münchener medicinischen Wochenschrift 190.9.
S. 237 mitgetheilt.
Bezüglich der Eingriffe an Pankreas, Magen, Darm etc..
welche die Operationen am Gallengangsystem complicirten oder
secundär ausgeführt wurden (cf. Tab. VII, S. 2), ist im Einzelnen
nur wenig nachzutragen.
In Fall 99 [Incision des Pankreas bei acuter Nekrose] 1 ) wurde
zunächst links von der Mittellinie unterhalb der grossen Magen-
curvatur stumpf mit der Kornzange durch das an dieser Stelle
reichliche Fettgewebsnekrosen auf weisende grosse Netz hindurch¬
gegangen, worauf schmutzigbrauner Eiter hervordrang und abge¬
storbene Pankreastheilchen zum Vorschein kamen. Sodann erfolgte
die Freilegung der Bauchspeicheldrüse oberhalb der kleinen Cur-
vatur; auch hier entleerte sich aus der Tiefe nach Eingehen mit
der Kornzange mit nekrotischen Gewebsfetzen untermischte eitrig-
sanguinolente Flüssigkeit. Nach weiterhin ausgeführter Cystektomie
und Hepaticusdrainage wurden die Pankreasincisionen für sich er¬
giebig tamponirt und die Gazestreifen an besonderer Stelle aus der
Wunde herausgeleitet.
Die Gastroenterostomie nach v. Hacker kam 5mal zur Aus¬
führung, 2 mal (No. 112, 135) gleichzeitig mit der Operation am
Gallensystem, 3mal (No. 158, 159, 160) als secundärer Eingriff,
und zwar nach 13 Tagen bei No. 133 bezw. 159 (Behinderung der
Pyloruspassage infolge Excision eines Ulcus pylori und Pyloro-
plastik), nach 3 1 / 2 Monaten bei No. 85 bezw. 158 (hier war das
0 Wegen der Sclinittführung s. S. 39.
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc. 3 7
Duodenum bei Lösung der Adhäsionen theilweise von Serosa ent-
blösst worden), nach 15y 2 Monaten bei No. 3 bezw. 160 (schon
vor der ersten Operation Magenbeschwerden, die sich später stei¬
gerten). Recht complicirt lagen die Verhältnisse in Fall 112, wo
es gelegentlich der secundären Choledochotomie infolge Lösung der
sehr festen schwartigen Verwachsungen zu ausgedehnter Abschä¬
lung der Duodenalserosa gekommen war. Da hierdurch die Er¬
nährung dieses Darmabschnittes in Frage gestellt wurde, entschloss
man sich zur Resection des Duodenum bis nahe an die Papille
heran und liess eine Gastroenterostomie nach folgen.
Eine Pyloroplastik kam, abgesehen von dem erwähnten Falle
No. 133 bezw. 159, wegen Pylorus- resp. Duodenalverengerung auf
Crund eines alten Ulcus bei No. 147 zur Ausführung.
Sehr interessant war der Fall 157, bei dem sich im Anschluss
an Cvstico-Gastrostomie eine Pylorusfistel gebildet hatte. Durch
Naht des Pylorusdefectes wurde ein definitiver Verschluss der Fistel
erzielt, nachdem sie nahezu 12 Jahre bestanden hatte 1 ).
Bei Gallenblasen-Intestinalfisteln (No. 84—98) wurde stets die
Gallenblase in toto entfernt und der Darm- bezw. Magendefect
durch einige Serosanähte geschlossen. Eine besondere Vereinigung
der Schleimhaut machte sich in der Regel nicht nothwendig.
Die Appendicektomie complicirt den Eingriff am Gallensystem
mitunter recht erheblich, namentlich wenn gleichzeitig ausgedehnte
' erwachsungen der Ileocoecalgegend gelöst werden müssen. Sind die
Kranken obenein durch ihr doppeltes Leiden, Choledocholithiasis und
Appendicitis, hochgradig geschwächt und hat besonders das Herz an
Widerstandskraft eingebüsst, so steigert sich die durch den grossen
operativen Eingriff bedingte Gefahr beträchtlich (cf. Fall 103, chron.
Empvera der Appendix). Es ist daher unseres Erachtens nicht
angebracht, den Wurmfortsatz bei Gelegenheit der Gallenstein¬
operation ohne hinreichende Indication zu exstirpiren. Unter dem
vorliegenden Material haben wir 6mal eine Appendicektomie zu
verzeichnen (No. 100—104, 143).
Zur Deckung und Sicherung der Naht wurde in 10 Fällen ein
bequem erreichbares, gut entwickeltes Nctzstück vom Omentum
') Patientin war während dieser ganzen Zeit ohne ärztliche Behandlung
gewesen und hatte es auch nicht für nöthig gehalten, sich wegen der massig
laufenden „Gallenfistel“ mal wieder in der Klinik vorzustellen.
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38
Dr. W. Eichmeyer,
majus oder minus auf die Nahtstelle implantirt und hier mit einigen
Suturen fixirt (Netzplastik), und zwar 4 mal bei Darm- bezw. Magen¬
naht (No. 91, 93 nach Zerstörung einer Gallenblasen-Duodenal-
resp. Pylorusfistel; No. 120, 122 nach transduodenaler Choledocho-
tomie), 6 mal in Fällen von Cysto-Gastrostomie (No. 135, 137.
139, 142, 144, 146). Kehr giebt in seiner Technik (I. Th., S. 275)
an, dass sich auch das am Ligamentum teres wie ein Hahnen¬
kamm herabhängende subseröse Fett in geeigneten Fällen gut ver¬
wenden lässt. Besonders wichtig ist die Deckung der Nahtstelle
durch Netz, wenn die Operation am Gallensystem die Tamponade
nothwendig machte (Hepaticusdrainage, Ektomie, Cystostomie etc.).
Ausgedehntere Netzresectionen fanden in Fall No. 36 und 157
wegen Verwachsungen mit Gallenblase bezw. Bruchsack statt.
Bei den Ilernienoperationen handelte es sich 2mal (No. 105.
106) um Excision eines Nabelbruchs (im ersteren Falle nach vor¬
ausgehender Herniotomie), 2mal (No. 129, 157) um Beseitigung
eines Bauchwand- bezw. Narbenbruchs.
Die Eröffnung eines subphrenischen Abscesses (Rippenresectiom
betraf den Fall No. 161, bei dem sich der Abscess im Anschluss
an Ektomie und Hepaticusdrainage im Verlauf mehrerer Monate
ausgebildet hatte (s. Tab. I).
Was die Schnittführung bei den vorliegenden Gallenstein¬
operationen betrifft, so kam fast ausschliesslich der Kehr’sche
Wellenschnitt zur Verwendung. Es erübrigt sich, auf die Vorzüge
dieses Schnittes näher einzugehen. Hervorheben möchte ich nur.
dass sich diese Methode der Bauchdeckenincision bei den Opera¬
tionen an den grossen Gallengängen, zumal wenn es sich um stark
gespannte und sehr fettreiche Bauchdecken handelt, kaum entbehren
lässt. Denn so gelingt es unter allen Umständen, den Choledochus
und Hepaticus vollständig frei zu legen und sich die Uebersicht.
zu schaffen, die zwecks Durchführung einer exacten und dabei doch
nach Möglichkeit schnellen Operation unbedingt erforderlich ist.
Die Rippenresection nach Lannelongue oder Marwedel war bei
keiner einzigen der vorliegenden Operationen nothwendig. Auch
gelegentlich der Secundäroperationen haben wir in der Regel den
Wellenschnitt benutzt und in jenen Fällen, wo bereits beim pri¬
mären Eingriff in derselben Weise incidirt war, die frühere Schnitt¬
richtung beibehalten; die Narbe wird dabei excidirt und eine even-
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Beiträge zur Chirurgie des Cboledochus und Hepaticus etc.
39
tuelJ bestehende Fistel Umschnitten. Nur ausnahmsweise, wie bei
d.em bereits von anderer Seite operirten Fall No. 127, kam Czerny’s
llakenschnitt in Anwendung. Umgekehrt (im Sinne des Spiegel¬
bildes) wurde der Wellenschnitt im Fall No. 114 (Secundäroperation
bei Situs in versus completus) ausgeführt, und zwar auch hier in
der alten, durch die Narbe gekennzeichneten Schnittrichtung. Bei
No. 99 wurde zwecks Inangriffnahme des Pankreas vom oberen
Winkel des Welleüschnittes aus eine schräge Incision des linken
Musculus rectus hinzugefügt, so dass der Schnitt in seiner Ge-
sammtheit die Form eines umgekehrten Y erhielt. Diese Schnitt¬
führung eignet sich auch für gleichzeitig mit den Gallensteinopera¬
tionen ausgeführte Gastroenterostomien, wenn die Zugängigkeit
infolge ßauchdeckenspannung oder Fettleibigkeit erschwert ist.
Sehr wichtig für den Erfolg der Choledochotomic bezw. Ile-
paticusdrainage ist nach unserer Ansicht eine ausgiebige Tampo¬
nade. Die Austrittsstelle des Schlauches am Choledochus, die
ohnehin durch Catgutsuturen thunlichst abgedichtet ist, wird durch
zwei zu beiden Seiten des Rohres eingeführte Vioformgazcstreifen
gesichert; der eine Tampon kommt zweckmässig zugleich in das
Foramen Winslowii zu liegen. Dass die Intestini, insbesondere
Magen und Duodenum, während des Tamponirens gut zurückgchalten
werden müssen, um eine Abknickung zu vermeiden, ist selbstver¬
ständlich. Bei gleichzeitiger Ausführung einer Darmnaht oder
Anastomose zwischen Gallensystem und Intestinis soll, wie bereits
erwähnt ist, die Nahtstelle möglichst nicht in den Tamponade¬
bereich mit hineinbezogen und eventuell durch Aufpflanzung von
Netz geschützt werden.
Ueber das Nahtmaterial ist bei Besprechung der verschie¬
denen Operationsmethoden bereits das Nothwendigste gesagt. Im
Allgemeinen haben wir in letzter Zeit bei versenkten Suturen und
Abbindungen (Cysticusstumpf) bezw. Gefässunterbindungcn Catgut.
bei Darmnaht und Anastomosenbildung zwischen Gallensystem und
Intestinis natürlich Seide feinster Stärke benutzt. Die Seidenknopf¬
nähte werden indess nach Möglichkeit nicht durch die Schleimhaut
der Gallenblase und Gallengänge mit hindurchgeführt. Macht sich
eine besondere Vereinigung der Schleimhaut bei Herstellung der
Anastoraosen zwischen Gallenwegen und Magendarm nothwendig.
so kommt die feinste Nummer Catgut zur Verwendung. Ebenso
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Dr. W. Eichmeyer,
gebrauchen wir zur Naht des centralen und peripheren Gallengang¬
endes nach Resection des Choledochus und bei plastischen Opera¬
tionen in den meisten Fällen lediglich Catgut. Nur wenn die
Spannung zu gross ist, lassen sich durchgreifende Seidenknopfnähte
bei derartigen Operationen nicht ganz vermeiden; die Seidenfäden
bleiben dann aber lang, damit sie sich nicht in die Gallenwege
abstossen und andererseits während der Nachbehandlung leicht
entfernt werden können.
Der Verschluss der Bauchwunde wurde wie bisher ge¬
wöhnlich mittelst Durchstichknopfnähte nach Spencer-Wells her¬
gestellt. In letzter Zeit haben wir in einer grösseren Reihe von
Fällen auch die Etagennaht ausgeführt. Der Vortheil dieser Naht¬
methode, sorgfältigere Adaption der einzelnen Gewebsschichten,
wird dadurch wieder aufgehoben, dass sie zu viel Zeit beansprucht
und bei starker Bauchdeckenspannung nicht durchführbar ist; auch
wird die Infectionsgefahr gesteigert, da die reichliche Menge ver¬
senkten Catguts einen günstigen Nährboden für bakterielle Invasion
bildet. Mittelst Durchstichknopfnaht wird dagegen vor allen Dingen
in denkbar kürzester Zeit ein Verschluss der Bauchwunde erzielt,
und das ist besonders wichtig nach so ausgedehnten Eingriffen, wie
sie unsere grossen Operationen an den tiefen Gallengängen dar¬
stellen. Hernien werden sich auch durch die Etagennaht nicht
gänzlich vermeiden lassen, da sie sich meist in der Gegend der
ehemaligen Tamponadestelle entwickeln. Auf Grund unserer eigenen
Erfahrungen wenden wir daher die Etagennaht bei Operationen am
Gallensystera nur noch unter folgenden Voraussetzungen an:
1. Wenn die Cystcktomie ohne Eröffnung der Gallenblase
stattfindet,
2. keine schwere Infection der Gallenwege vorliegt,
3. keine zu grosse Bauchdeckenspannung vorhanden ist,
4. die eigentliche Operation am Gallensystem nicht ohnehin
zu lange Zeit in Anspruch nimmt und die Patienten durch
schwere und langdauernde Krankheit nicht schon zu sehr
geschwächt sind.
Bezüglich der Vorbereitungen zur Operation sind gegen¬
über den Angaben, wie sie Kehr in seinem Referat über „Gallen¬
steine“ auf dem Brüsseler Chirurgencongress gemacht hat, keine
wesentlichen Aenderungen eingetreten. Nur ist hervorzuheben, dass
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
41
wir seit ca. 1 Jahr in erster Linie bei Männern, mit Auswahl auch
bei Frauen 2 Stunden und 1 Stunde vor der Operation je 0,01
Morphium und 0,0005 Scopolaminum hydrobromic. subcutan ver¬
abfolgen, um eine tiefe und ruhige Narkose unter möglichster Ein¬
schränkung des Chloroformverbrauchs zu erzielen. Bei cholämischen
Patienten wird wie bisher 5—6 Tage vor der Operation Calcium
ohiorat. purissim. 1,5 per os in Oblaten oder 3,0 per rectum
3 mal täglich als Prophylacticum gegen Blutung dargereicht 1 ).
Complicationen während des Wnndverlanfs
kommen natürlicher Weise bei einem so grossen Material schwieriger
Eingriffe an den Gallenwegen, wie es in vorliegender Arbeit zu-
saramengestellt ist, relativ häufig zur Beobachtung. Da man gerade
an den Störungen und Abweichungen des normalen Verlaufs seine
Kenntnisse und Erfahrungen bereichern kann, dürfte es sich lohnen,
die Complicationen und die dabei ergriffenen therapeutischen Maass¬
nahmen zu besprechen und die wichtigsten Punkte eingehender zu
erörtern.
Ein gefürchtetes Ereigniss ist die postoperative Magen-
blutung. Erschwert wird die rechtzeitige Diagnose in nicht sel¬
tenen Fällen dadurch, dass kein Erbrechen auftritt und nur gering¬
fügige Magenbeschwerden (Völle, Druckgefühl, Aufstossen) vorhanden
sind; ja, es können nach unseren Beobachtungen auch die letzt¬
genannten Symptome völlig fehlen. Der Bluterguss in den Magen
zeigt sich in derartigen Fällen lediglich durch einen auffallend
kleinen, stark beschleunigten Puls an. Verabfolgt man Excitantien
(Campher, Coffein, Digalcn und dergl.), Kochsalzinfusionen etc., so
ist man erstaunt über den gänzlich ausbleibenden Erfolg. Kommt
ein solcher Fall zur Obduction, so findet sich ein hochgradig er¬
schlaffter Magen vor, der von oben bis unten mit Blutmassen an-
x ) Wenn sich neuerdings Moynihan (Brit. med. journ. 1909. 2. October.
Ref. Centralblatt f. Cbir. 1910. No. 21. S. 768) dabin äussert, dass Chlor-
calcium als Yorbeugungsmittel gegen cholämische Blutung zwecklos sei, so
können wir dieser Ansicht in keiner Weise zustimmen. Denn wir haben uns
in Gegentheil durch zahlreiche Beobachtungen bei Operationen cholämischer
Patienten davon überzeugen können, dass das Blut nach Chlorcaliumdarreichung
sehr schnell gerinnt und gelatinös erstarrt. Hinsichtlich sterilen Pferdeblut-
wums, welches Moynihan und andere Chirurgen nach dem Erfahrungssatz,
dass jede Zufuhr fremdartigen Serums die Gerinnungsfähigkeit des Blutes er¬
höht, bei Cholämischen prophylaktisch injiciren, fehlen uns bisher eigene
^ersuche.
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42
Dr. W. Eichmeyor,
gefüllt ist. Auf Grund derartiger Erfahrungen wird in unserer
Klinik schon seit Jahren bei Symptomen von Herzcollaps, die sich
in solchen Fällen gewöhnlich am 2. oder 3. Tage post operationem
einstellen, principiell zunächst der Magen ausgehebert, auch wenn
kein Erbrechen oder Aufstossen besteht. Als typisches Beispiel
führe ich den Fall No. 13 an.
Die 36jährige kräftige, nicht ikteriscbe Fran, bei der keinerlei patholo¬
gische Herzveränderungen festzustellen waren, wies am 2. Tage nach der
Operation (Ektomie, Hepaticusdrainage) die Symptome eines schweren Collapses
auf: hochgradige Blässe, OhnmachtsanwandluDgen etc., kleinen kaum fühl¬
baren, stark beschleunigten Puls (140 Schläge in der Minute). Dabei weder
Erbrechen und Uebelkeit noch Aufstossen. Temperatur Vormittags 38,6, Nach¬
mittags 37,9. Nachdem der Schlauch in den Magen eingeführt war, entleerten
siob grosse Mengen flüssigen und geronnenen Blutes. Magenspülung, Koch¬
salzinfusion, Digalen. Da am nächsten Tage der Puls noch frequent war
(120 Schläge; Temperatur 38,2—38,0) wurde zur Sicherheit eine zweite Magen¬
ausheberung vorgenommen, die indess kein Blut mehr herausbeförderte. Die
Herzaction war während der folgenden Tage noch wenig beschleunigt; die
Temperatur ging innerhalb dreimal 24 Stunden zur Norm herunter. Weiterer
Verlauf complicationslos.
Erbrechen von Blutmassen, das sogenannte „schwarze Er¬
brechen“, erfolgte nach der Operation am Gallensystem bei 10
unserer Fälle (No. 17, 18, 47* 102, 109, 110, 121, 144, 155, 156):
sämmtliche Patienten mit Ausnahme des Falles 18 wiesen mehr
oder weniger beträchtlichen Icterus auf, 3 waren krebsleidend
(No. 144 Pankreascarcinom, No. 155 und 156 Scirrhus des Hc-
paticus). Das profuse ßlutbrechen führte in den letztgenannten
beiden Fällen den Exitus herbei, während Fall 144, bei dem die
Blutung nur mässig war, unter cholämischen Intoxicationserschei-
nungen zu Grunde ging. Ferner wurde von der Kranken des
Falles 24 mehrfach Galle erbrochen, die zeitweise mit etwas Blut
untermischt war; auch bei No. 133 trat Erbrechen leicht sanguino¬
lenten Mageninhalts auf. Ausheberung und Spülung dos
Magens bei gleichzeitiger Entziehung der Nahrung per os und
Flüssigkeitszufuhr per rectum brachten in den meisten Fällen die
Blutung baldigst zum Stillstand; nicht selten genügte sogar eine
einzige Spülung. Nur bei den hochgradig kachektischen und cholä¬
mischen Patienten mit Hepaticuscarcinom (No. 155 und 156) war
diese Behandlungsmethode gänzlich erfolglos. Zweifelsohne wurde
• hier der Magen auf dem Wege der Anastomose (Oholangio-Cvsto-
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepaticus etc.
43
Gastrostomie) immer wieder mit Blut nachgefüllt, das dem Leber-
defect entströmte (vgl. den Sectionsbefund des Falles 156: reich¬
liche Blutmassen in Gallenblase, Magen und Duodenum). Bei
No. 144 stammte die Blutung aus der Magen- bezw. Gallenblasen¬
ineision (Cysto-Gastrotomie); die Obduction ergab hier Blut in
Gallenblase und Magen. Auch die Hämatemesis des Falles 121
ist wahrscheinlich durch die Duodenalwunde (transduodenale Chole-
dochotomie) herbeigeführt. Bei den übrigen Fällen wurde das
schwarze Erbrechen durch Blutungen aus dem operativ nicht in
Angriff genommenen Magen bedingt. Worin die Ursache des post¬
operativen Blutbrechens im einzelnen Falle zu suchen ist, lässt sich
natürlich schwer entscheiden. Zerrungen an den Intestinis insbe¬
sondere an Magen und Duodenum sind bei den Operationen am
Gallensystem namentlich gelegentlich der Eingriffe an den tiefen
Gallengängen nicht zu vermeiden, ebenso Netzunterbindungen in
Folge der häufigen Verwachsungen insbesondere mit Gallenblase
kaum zu umgehen, sodass in vielen Fällen eine retrograde Embolie
der Magenwand von Thromben der Netz- oder Mesenterialvenen,
wie Billroth, v. Eiseisberg u. a. annehmen, vorliegen mag.
Auch das Chloroform kommt mitunter als Ursache der Blutung in
Frage (Kehr, Landow). In den leichteren Fällen ist die post¬
operative Magenblutung nach Kehr’s Ansicht vielleicht lediglich
durch Stauung im Venensystem des erschlafften Magens hervorgerufen,
wofür das schnelle Aufhören des blutigen Erbrechens nach Aus¬
heberung des Magens spricht (vgl. Kehr’s Technik, I. Th., S. 359).
Cholämische Nachblutungen aus den Bauchdecken
bezw. der Tamponadestelle (auch häufig Blutabgang durch den
Schlauch) stellten sich in 15 Fällen ein (No. 25, 2.7, 29, 36, 45,
53, 80, 90, 96, 120, 127, 129, 141, 146, 154). Bei dem inter¬
essanten Falle No. 90 ist die profuse Blutung aus der Wunde, die
9 Tage nach der Operation auftrat, in erster Linie auf die Unter¬
bindung der Arteria hepatica propria (geringfügige Lebernekrose!)
zurückzuführen. Gleichzeitiger Blutabgang in den Darm licss
sich in den Fällen No. 25 (vgl. Obductionsbefund) und No. 29
(schwarze Ausleerungen) nachweisen.
Ferner ergab die Section der Fälle 94 und 95 ausgedehnte
Blutergüsse in die Bauchhöhle (s. Tabelle I). Bauch¬
deckenhämatome fanden sich weiterhin bei No. 43 und 119.
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44
Dr. \V. Eichmeyer,
Bezüglich der tödtlichen Ausgänge in Folge cholämischer
Blutung s. Bd. 93, S. 896.
Die Behandlung der Nachblutungen aus der Wunde
besteht in fester Ausstopfung, wozu man eventuell mit Gelatine
oder Adrenalin getränkte Tampons, Stypticiugaze oder dergl. ver¬
wenden kann, in subcutanen Gelatineinjectionen etc. Dagegen
sind Kochsalzinfüsionen wegen eintretender Erhöhung des Blut¬
drucks nicht immer zweckdienlich. Prophylaktisch wird in unserer
Klinik bei hochgradiger Cholämie auch während der ersten 5 bis
6 Tage nach der Operation Chlorcalcium (gewöhnlich als Klysma)
weiter verabfolgt.
An sonstigen schweren Störungen von Seiten des Magendarm -
tractus sahen wir acute Pylorusstenose (acute Magendilatation)
bei No. 85 und arterio-mesenterialen Darmverschluss bei
No. 91 (vcrgl. Kehr’s Technik, I. Th., S. 356). In beiden Fällen
kam man mit der üblichen Behandlung (Magenspülungen, Lage¬
rung auf die rechte Seite bezw. auf den Bauch, Entfer¬
nung der Tamponade) sehr bald zum Ziel. Hinsichtlich der
postoperativen Pylorusstenose der Fälle 158, 159, 160 (bezw. 85,
133, 3) s. Bd. 93, S. 938 f.
Complicationen von Seiten der Respirationsorgane
stellten sich in folgenden Fällen ein:
Bronchitis (meist altes Leiden) No. 1, 38, 70, 73, 78, 79,
114, 139, 152;
Pneumonie No. 29, 34, 55, 71, 100, 121, 153, 157 (in den
letzten beiden Fällen auf der Basis einer alten Tuberculose);
Pleuritis sicca No. 96, exsudativa No. 89.
Die Pneumonie betraf lediglich die rechte Seite, und zwar den
Unterlappen bei No. 29, 34, 55, 153, 157, den Unter und Mittel¬
lappen bei No. 121 (Cholangitis diffusa, Sepsis). Eine doppelseitige
katarrhalische bezw. hypostatische Lungenentzündung kam bei den
sehr geschwächten älteren Patientinnen No. 100 und 124, von
denen die erstere an biliärer Cirrhose litt, zur Entwicklung. In
Fall 71 (Cholangitis diffusa, Sepsis, Myodegeneratio cordis) wurde
durch die Section eine pneumonische Infiltration beider Unterlappen
und des rechten Mittellappens festgestellt. Die Pleuritis war in
beiden Fällen rechtsseitig. Worauf die relativ häufig nach Gallen¬
steinoperationen vorkommende vorwiegende oder ausschliessliche
t
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Beiträge zur Chirurgie des Cboledochus und Hep&ticus etc.
45
Betheiligung der rechten Lungenhälfte zurückzuführen ist, lässt
sich nicht ohne Weiteres sagen. Vielleicht könnte man mit Kehr
annehmen, dass möglicherweise vom Operationsterrain Infections-
keime durch die Stomata des Zwerchfells hindurch zuerst in die
rechte Pleurahöhle gelangen (s. Technik, I. Th., S. 353). Eine
andere plausible Erklärung ist die, dass in Folge Schmerzen und
Spannung in der Gegend der Operationswunde die rechte Thorax¬
seite während der Respiration reflectorisch ruhig gestellt wird und
es so zur Infiltration des ungenügend ventilirten Lungenbezirks
insbesondere des Unterlappens kommt. Jedenfalls wird man auf
Grund derartiger Beobachtungen die Kranken möglichst bald in
halbaufgerichtete Lage bringen und sie immer wieder zu fleissiger
Athemgymnastik anhalten.
Durch übermässiges Anwenden der Bauchpresse in Folge
Hustens wurde 2 mal Netzprolaps (No. 38, 73: Bronchitis),
1 mal ein geringfügiger Netz- und Lebervorfall verursacht (No. 29:
Pneumonie). In Fall 12 verschuldete die Patientin selber durch
ihre grosse Unruhe beim ersten Verbandwechsel einen Netzprolaps.
Entzündliche Parotisschwellung kam 3 mal (No. 12,
80, 154), abscedirende Parotitis 1 mal (No. 93) zur Beob¬
achtung; die Fälle 12, 93 und 154 betrafen Schwerkranke (Sepsis
in Folge Cholangitis diffusa, Hepaticuscarcinom). Um einer In-
fection der Ohrspeicheldrüse von der Mundhöhle aus vorzubeugen,
empfehlen sich häufige Mundspülungen besonders in den ersten
Tagen nach der Operation. Auch ist es im Hinblick sowohl auf
eventuelle Parotitis als Lungencomplication rathsam, vor der Ope¬
ration durch den Zahnarzt das Gebiss der Patientin revidiren zu
lassen, wie es in unserer Klinik stets geschieht.
Acuter Blasenkatarrh trat 5 mal auf, 4 mal bei Frauni
(No. 13, 54, 108, 160), 1 mal bei Männern (No. 136). Bei No. 54
(biliäre Cirrhose, Cholangitis) war der beim ersten Katheterismus
entnommene Urin fast rein eitrig. Die Frauen hatten durchweg
bereits früher an acuter oder chronischer Cystitis gelitten; auch
war während der Nachbehandlung nicht t in allen Fällen kathete-
risirt worden.
Septische Nephritis wurde bei No. 121 (Cholangitis diffusa)
festgestellt. Die Anurie des Falles 150 ist wahrscheinlich auf
Chloroforraintoxication zuriiekzuführen.
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Dr. W. Eichmeyer,
Beiderseitige Thrombose der Vena femoralis entwickelte
sich bei dem schweren Falle von Cholelithiasis und acuter Pankreas¬
nekrose (No. 99). dm Allgemeinen verhütet man derartige post¬
operative Störungen durch Hochstellen des Fussendes des Bettes
nach Lennander’s Vorschlag, durch frühzeitige passive und active
Bewegungen sowie Massage der unteren Extremitäten.
Zu erwähnen ist noch, dass sich Bauchdeckenabscesse
bezw. Fasciennekrosen nach der Operation in Fall 35, 95, 107,
137, 139 ausbildeten. Diese Fälle betrafen fast ausnahmslos sehr
geschwächte, zum grössten Theil cholämische Patienten. Bei
No. 95 handelte es sich um ein erweitertes Hämatom; auch in
Fall 139 ist wahrscheinlich die Fasciennekrose auf Durchblutung
der Gewebe mit nachfolgender Infection zurückzuführen. Bei
No. 107 erfolgte ein Spontandurchbruch des ßauchdeckenabscesses
in die Tamponadestclle hinein. In den übrigen Fällen wurde
nach Entfernung der Nähte in mehr oder weniger grosser Aus¬
dehnung stumpf eröffnet. Bei No. 137 machte sich die nachträg¬
liche Spaltung einer Bauchdeckenfistel nothwendig, und es fanden
sich hier ausser nekrotischen Fascientheilen auch einige Gazefädchen
in der Tiefe vor (vergl. Tabelle 1).
Koliken stellten sich während der Nachbehandlung bei
No. 51 und 66 (hier 2 mal) ein. Es liess sich indess nicht ent¬
scheiden, ob es sich dabei um Steinabgang oder Verstopfung der
Papille durch einen Schleimpfropf handelte. In Fall 66 war durch
Iiepaticusspülung nachträglich noch ein Concrement entfernt worden.
Beide Fälle wurden übrigens als geheilt entlassen, und es ist uns
bisher auch keinerlei Nachricht über erneute Beschwerden zu¬
gegangen.
Ueber den Ausgang der Fälle von Cholangitis diffusa, Leber-
cirrhose und Cholämie unter septischen bezw. cholämischen In-
toxicationserscheinungen oder unter dem Bilde der Urämie ist oben
bei Besprechung der Todesfälle berichtet (vergl. Bd. 93, S. 895f.).
Auch über den Exitus in Folge schwerer Herzstörungen ist das
Nothwendige mitgetheilt worden (Bd. 93, S. 894f.).
Es bleibt noch übrig, bezüglich der Hepaticusdrainage
Einiges nachzutragen.
Nachdem Schlauch und Tamponade entfernt sind (gewöhnlich
14 Tage post Operationen!), beginnt die eigentliche Nachbehand-
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Beiträge zur Chirurgie des Choledochus und Hepatious etc.
47
lung, die Spülung der tiefen Gallengänge. Der Ulzmann’sche
Katheter wird dabei sowohl in den Hepaticus als in den Chole¬
dochus eingeführt. Wie erfolgreich die Spülungen sind, erkennen
wir nicht nur aus dem Rückgang der Cholangitis, sondern nament¬
lich auch aus dem nachträglichen Steinabgang durch die Chole-
dochusincision. So wurden in 13 unserer vorliegenden Fälle meist
mehrere, mitunter sogar zahlreiche Concremente durch Spülungen
herausbefördert (No. 33, 34, 59, 65, 66, 67, 69, 89, 93, 111,
118, 119, 127). Bei einem weiteren Falle hatte sich ein Steinchen
in den Schlauch eingeklemmt (No. 88). Bisweilen ist allerdings
wie bei No. 60 u. a. das Einführen des Metallkatheters in die
grossen Gallengänge wegen nicht genügender Weite der Tamponade-
steile oder zu grosser Tiefe der Wunde unmöglich. Aber auch in
solchen Fällen soll man wenigstens den Tamponadetrichter gründ¬
lich ausspülen, weil auch so immerhin ein Theil der Spülflüssig¬
keit durch den Schlitz im Choledochus in die Gallengänge vor¬
dringt. Sondirung und Bougirung der Papille von der C-hole-
dochusincision aus wurde bei No. 85 und 105, nach vorausgehender
Erweiterung der Fistel mit Laminariastift bei No. 123 und 128
vorgenommen. In der Regel wird man bei verzögerter Heilung
der Choledochusfistel auf diese Weise zum Ziele kommen. Gute
Wirkung hat mitunter bei Knickung des Gallenganges die „Stöpse-
liing“ der Fistel (vergl. Kehr’s Technik, S. 320). Wir haben
erst vor kurzem mit dieser Methode in einem entsprechenden Falle
einen geradezu verblüffenden Erfolg erzielt.
Im Allgemeinen lassen wir neuerdings unsere Pa¬
tienten 14 Tage nach der Operation aufstehen, und zwar
dann, wenn die Nähte gezogen und eventuell Tamponade und
Schlauch entfernt worden sind. In den Fällen von primärem Ver¬
schluss der Bauchwunde, also insbesondere nach Anastomosen-
operationen, haben wir einigemal den Kranken gestattet, bereits
nach Ablauf von 6—8 Tagen das Bett zu verlassen, sind aber in
letzter Zeit doch wieder von diesem Modus abgekommen, da wir
Heizungen der Stichcanäle infolge des Frühaufstehens beobachteten
und zumal bei starker Bauchdeckenspannung ein Auseinanderweichen
der Wundränder befürchteten. Auch auf dem 22. französischen
Chirurgencongress zu Paris (cf. Centraibl. f. Chir. 1910. No. 14.
8. 505) erhoben sich in der Discussion auf Grund ungünstiger Er-
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48 Dr. W. Eichmeyer, Beiträge z. Chirurgie d. Choledochus u. Hepaticus etc.
fahrungen und schwerer Complicationen (besonders Embolie) zahl¬
reiche warnende Stimmen gegen das Frühaufstehen Laparotomirter.
Aus voller Ueberzeugung unterschreiben wir daher die nachstehenden
Worte Potherath’s: „Die Bettruhe ist möglichst auf 12—14 Tage
zu beschränken. Das frühere Aufstehen wird häufig gut vertragen:
es ist aber gefährlich, es zum Grundsatz zu erheben.“
Werfen wir einen Rückblick auf das in vorliegender Arbeit
publicirte reiche Material grosser und schwerer Operationen am
Gallensystem, so glaube ich mit der Veröffentlichung dieser Fälle
der Kehr’söhen Klinik die Literatur der Gallensteinchirurgie um
einen gewissen Beitrag bereichert zu haben. Der Chirurg, soweit
er sich näher mit den Gallensteinoperationen befasst, wird unter den
zahlreichen Krankenskizzen, dem ausführlichen Bericht des patho¬
logischen Befundes nach Eröffnung der Bauchhöhle und der eingehen¬
den Besprechung der Operationstechnik etc. hier und da Angaben
finden, die sich für seine eigenen operativen Fälle verwerthen lassen.
Der praktische Arzt aber, der einen Einblick in diese Mittheilung thut
und besonders den ersten, allgemeinen Theil einer Durchsicht unter¬
zieht, wird vielleicht die Lehre daraus entnehmen, dass gerade in
der rechtzeitigen Ueberweisung der schweren Fälle, insbesondere der
icterischen Kranken, an den Chirurgen sein grösstes Verdienst be¬
steht. Kein Patient, und sei er anscheinend noch so hoffnungslos,
sollte von vornherein aufgegeben werden. Man denke immer daran,
dass sich der vermeintliche Gallenblasenkrebs als relativ harmlose
Kalkgeschwulst, das vermeintliche Gallengangcarcinom als benigner
Choledochusverschluss durch Stein oder chronisch entzündetes Pan¬
kreas nach Eröffnung der Bauchhöhle heraussteilen kann und auch
dem erfahrensten Diagnostiker Fehldiagnosen nach dieser Richtung
hin immer wieder mal unterlaufen! So schliesse ich denn meine
Arbeit mit den Worten Kehr’s, die er gelegentlich eines Fort¬
bildungsvortrages in der Gesellschaft der Aerzte von Halberstadt
und Umgegend aussprach:
„Das Wissen und Können des Einzelnen wird erst dann zum
Segen, wenn es Allgemeingut aller Aerzte wird.“
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II.
Beitrag zur Lehre von der typischen
und supracondylären Radiusfractur.
Von
Privatdocent Dr. Hermann Zuppinger (Zürich).
Es ist über diese Fracturen bereits so viel geschrieben, dass
es gewagt erscheint, die Literatur noch um ein Stück zu vermehren.
Sieht man sich ein einziges neueres Lehrbuch der Chirurgie oder
eine neuere Fracturlehre an, so bekommt man den Eindruck, dass
die Bruchgenese, die Symptomatologie, die Prognose und die The¬
rapie bereits fertige Dinge seien, an denen weder etwas zu ändern
noch zu verbessern sei. Vergleicht man aber etwa 10 Autoren,
welche über dieses Thema geschrieben haben, so sieht man, dass
die Meinungen, wenigstens was Prognose und Therapie betrifft, weit
auseinandergehen. Das ist bereits ein Grund, die herrschenden
Ansichten und Methoden einer Prüfung zu unterziehen. Dazu kommt
aber noch eine praktische Erwägung: die Heilungsresultate sind
eben doch nicht durchweg so gute, dass man sich nicht die Frage
vorlegen dürfte, ob denn die bisherige Therapie wirklich eine
rationelle sei, und ob nicht der eine oder andere Bestandteil der
verschiedenen Methoden abzuändern sei.
Um Beispiele anzuführen seien erwähnt die Supinationsstellung
und die Ulnarabduction nach der Reposition. Roser 1868 verlangt
eine leichte Pronationsstellung, Friedrich 1907 die vollständige
Supinationsstellung, Bockenheimer 1909 die forcirte Pronations¬
stellung. Und jeder der Autoren bezeichnet seine Stellung als die
beste. Weiter können die Meinungen nicht auseinandergehen. Aehn-
lich verhält es sich mit der Stellung der Hand in Ulnarabduction
Archiv fBr klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 1. ^
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Dr. H. Zuppinger,
nach der Reposition. Roser sagt, dass sie zur Verhütung der
Dislocation nichts beitrage; Pickering Pick empfiehlt 1887 die
Ulnarabduction vermittelst der Nelaton’schen Schiene; Hoffa 1904
und Friedrich verlangen durchaus Ulnarabduction, Leser 1907
nur dann, wenn Neigung zu Radialabduction bestehe; Bocken-
heimer verlangt Radialabduction, meint aber nach der Illustration
Ulnarabduction (dabei übersieht er auch noch gleich, dass bei
seiner rechtwinkligen Volarflexion Pronation und Ulnarabduction iden¬
tisch sind).
Im Folgenden werde ich mich nicht auf die typische Radius-
epiphysenfractur beschränken, sondern auch diejenigen Fracturen
des Radius und der Ulna in der Nähe des Handgelenkes mitbe¬
rücksichtigen, die auf die nämliche Art entstehen wie die erste re
und ebenso zu behandeln sind. Diese letzteren Fracturen werden
in der Regel zu den Schaftfracturen gerechnet und gehören topo¬
graphisch auch dazu. Für die Praxis ist es aber unzweifelhaft
besser, auf ihre Verwandtschaft mit der typischen Radiusfractur
hinzuw r eisen.
Bruchgenese.
Seit Nclaton und Linhart gilt die typische Radiusfractur
nicht nur als eine Abreissungsfractur durch übermässige Dorsal-
flexion, sondern geradezu als das Paradigma der Abreissungsfractur.
Erst neuerlich gewinnt die Vorstellung Raum, dass sie nicht nur
durch die übermässige Spannung der volaren Ligamente, sondern
gleichzeitig durch den Stoss in der Längsrichtung des Vorderarms
erzeugt werde. Gegen den einen wie gegen den andern Bruch¬
mechanismus spricht Verschiedenes. Ich will nur zwei Punkte er¬
wähnen. Eine Rissfractur trennt nicht mehr als ein corticalcs
Fragment an der Band- oder Sehneninsertion ab. Entsteht aber
durch übermässige Dorsalflexion der Hand unter Spannung der
volaren Ligamente eine Fractur, welche ihren Anfang 1—2 cm von
der Bandinsertion nimmt, so handelt es sich allenfalls um eine
Biegungs-, nicht aber um eine Abrissfractur. Die Form der typischen
Radiusfractur aber kann nicht leicht anders gedeutet werden, denn
als eine fractur, die unter Schubwirkung auf der volaren Seite
beginnt und als Biegungsbruch auf der dorsalen Seite endet. Damit
stimmt dann auch die Anamnese einiger hundert Fälle, die mir
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Beitrag zur Lehre von der typischen u. supracondylären Radiusfractur. 51
Zugringen: nicht ein einziger ist darunter, der eine starke Dorsal¬
flexion beim Fallen auf die Hand angab. Alle Patienten, die
überhaupt Auskunft geben konnten, erklärten, sie hätten die Hand¬
ballen und das Handgelenk auf den Boden aufgeschlagen, während
auch der Ellbogen fast schon den Boden berührte. Es erklärt sich
so auch die Abreissung des Proc. styl, ulnae, die ja fast nie fehlt,
sehr einfach. Der Vorgang dürfte sich demgemäss so abspielen:
Beim Fall auf die ziemlich stark pronirte Hand, welche zum
Schutze rasch vorgestreckt wird und deshalb auf den Boden mit
grösserer Geschwindigkeit aufschlägt als der übrige Körper, trifft
ein Stoss von der volaren Seite her am heftigsten die Tuberositas
navieularis, das Multangulum majus und den volaren Rand der
radialen Gelenkfläche, weniger stark die Fingerspitzen, oder bei
geballter Hand auch die Dorsalseite der beiden distalen Phalangen.
Es sind ja doch fast immer die Finger mehr oder weniger flectirt,
die Hand in leichter Dorsalflexion und deshalb prominirt die Hand¬
gelenksgegend auf der volaren Seite, und empfängt den Stoss. Der
Stoss hat aber nur ein äusserst geringes Drehungsmoment in Bezug
auf die physiologische Flexionsachse des Handgelenks, dagegen treibt
er Carpus und distales Radiusende dorsalwärts, und cs kommt
zum Bruch an der schwächsten Stelle. Diese befindet sich 1—2 cm
proximal vom volaren Gelenkrandc des Radius. Auch in Bezug
auf diese Stelle ist das Moment des Stosses ein sehr kleines, es
tritt deshalb eine quere Schubfractur ein, welche fast senkrecht
auf der Oberfläche des Knochens steht. Nach dem allgemein
gültigen Gesetze, dass der Bruch so verläuft, dass zu seiner Bildung
der geringste Arbeitsaufwand erforderlich ist, sucht sich das
Drehungsmoment zu vergrössern, indem die Bruchfläche rasch um¬
biegt und mehr centripetal verläuft, während das sich abtrennende
distale Fragment mit anhängender Hand eine geringe Dorsalflexion,
nicht im Handgelenk, sondern um die fortschreitende Fractur
und schliesslich um deren dorsalen Ausgang ausführt. Eben diese
Dorsalflexion um eine Achse, welche in der Radiusdiaphyse
lijegt, lässt die Abreissung des Proc. styl, ulnae leicht verstehen.
Altersunterschiede.
Nun fallen gewiss Menschen jeden Alters in der Weise, dass
sie Handballen und Gelenkgegend auf den Boden aufsehlagen; das
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Dr. H. Zuppinger,
jüngste Individuum aber, bei dem ich eine typische Radiusfractur
mit der bekannten Bruchform und Dislocation gesehen habe, ist
ein 15jähriger Knabe. Mit 16 Jahren wird die Fractur schon
etwas häufiger, bleibt aber doch noch stark in Minderheit gegen¬
über den anderen Fracturformen in dieser Region. Mit zunehmendem
Alter wird dann allmählich die Radiusepiphysenfractur von der
typischen Art häufiger, und etwa vom 20. Jahre aufwärts beobachtet
man nach Fall mit Aufschlagen der Hand nur noch die typische
Radiusepiphysenfractur.
Unter dem 20. Lebensjahre treffen wir nach dem nämlichen
Trauma einige andere Fracturformen, welche ich aequivalente nenne.
Bis zum 11. Jahre überwiegt weitaus die subperiosteale Fractur
von Radius und Ulna, 1—4 cm oberhalb der noch knorpeligen
Epiphysenfuge, selten ist die isolirte subperiosteale Radiusfractur.
Bei beiden besteht winklige Dislocation mit der Convexität nach
der Volarseite. Vom 8. Jahre aufwärts aber kommt bereits die
complete Fractur des Radius mit Verschiebung des distalen Frag¬
mentes dorsalwärts vor, der Bruch verläuft schräg volar-distal nach
dorsal-proximal, und die beiden Radiusfragmente sind leicht gegen¬
einander verdreht im Sinne der Pro-Supination.
In der Periode vom 11. bis 14. Jahre rückt die Continuitäts-
trennung distalwärts, und wir finden nach Fall mit Aufschlagen der
Hand fast ausschliesslich Epiphysenlösungen am Radius, auch an
Radius und Ulna. Häufig besteht keine Dislocation, und die Lösung
ist nicht complet; bei den completen ist in der Regel ein dorsales
Stück der Diaphyse abgetrennt, wodurch eine Annäherung der
Bruchform an die typische Radiusfractur entsteht.
Im 15. bis 19. Jahre trifft man am häufigsten die Radius¬
fractur, circa 3 cm oberhalb der Epiphyse mit Verschiebung des
distalen Fragmentes auf die dorsale Seite des Schaftes. Daneben
kommt in abnehmender Häufigkeit noch subperiosteale, und mit zu¬
nehmender Häufigkeit typische Radiusfractur vor.
Ich nehme also die subperiostealen und die completen Schaft-
fracturen mit der Epiphysenlösung und der typischen Fractur zu¬
sammen in eine Gruppe. Ich weiss wohl, dass nach dem gewöhn¬
lichen Eintheilungsprincip diese Fracturen nicht zusammengehören,
und auch, dass die Infraction und die complete Radiusschaftfractur
am unteren Ende reine Biegungsbrüche sind, während die typische
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Beitrag zur Lehre von der typischen u. supracondylären Radiusfractur. 53
Fractur und die Epiphysenlösung schon durch die Form des Bruches
verrathen, dass sie durch Schub wenigstens eingeleitet werden. Da
aber lediglich Festigkeitsverhältnisse die Stelle des Bruches be¬
stimmen, da allen diesen Fracturen ferner das nämliche Trauma
gemeinsam ist, und da namentlich die Anforderungen, die sie an
die Therapie stellen, übereinstimmen, so scheint mir ihre Zusammen¬
fassung gerechtfertigt.
Symptome.
l’eber die Symptome dieser Fracturen habe ich nur wenig zu
sagen; über diese herrscht fast völlige Uebereinstimraung. Ich
möchte nur auf eine unpassende Bezeichnung einer Dislocation auf¬
merksam machen und nachher eine nicht angeführte Art der Pal¬
pation empfehlen.
Durchweg liest man, das distale Fragment bei der typischen
Fractur sei radialwärts verschoben, deshalb prominire die Radius¬
epiphyse radialwärts über den Schaft hinaus, und deshalb sei auch
die Hand radialwärts verschoben. Es ist aber ein ziemlich seltenes
Vorkomiriniss, dass die Verbindung der Radiusepiphyse mit dem
Cap. ulnae gelöst wird; und wenn sie, wie in der grossen Mehr¬
zahl der Fälle, erhalten ist, so ist eine radiale Verschiebung, also
eine Verschiebung von der Ulna weg, einfach unmöglich. That-
säehlich handelt es sich um zwei verschiedene Dinge. Die Pro¬
minenz der Radiusepiphyse radialwärts über den Schaft hinaus
kommt zu Stande hauptsächlich durch die relative Pronation des
proximalen Radiusfragmentes und oft durch eine Annäherung des¬
selben an die Ulna. Die Hand aber ist bei der frischen Fractur
meist in Radialflexion, hie und da aber auch radialwärts verschoben.
Dem liegt eine Drehung (nicht Verschiebung) der Epiphyse im Sinn
einer Radialllexion zu Grunde, welche von der Hand entweder mit-
gemacht oder durch eine kleine ulnare Flexion so ausgeglichen
wird, dass nur die radiale Verschiebung der Hand übrig bleibt.
Diese Frage ist wegen der Beurtheilung der Reposition nicht ganz
unbedeutend.
Typische Fracturen, Epiphysenlösungen, Infraction, tiefe Schaft-
fraeturen ohne Dislocation oder Deformität sind nicht selten. Für
die Diagnose sind dann ausser der Röntgenuntersuchung fast nur
die subjectiven Symptome und die Anamnese zu verwenden. Ich
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54
Dr. H. Zuppinger,
pflege seit Jahren die Fracturen dieser Gegend in der Weise zu
untersuchen, dass ich die Volarseite der Grundphalanx und Meta-
carpus meines Zeigefingers an die volare Seite des zu untersuchenden
Armes, etwa 10 cm oberhalb des Handgelenkes anlege, die Tast¬
fläche meines Daumens an die Dorsalseite des Armes. Ich streiche
damit, unter Vermeidung jedes Druckes, welcher mein Gefühl ab-
stumpfen würde, vorwärts gegen die Hand des Patienten. Ich ge¬
winne so nicht nur eine gute Vorstellung einer vorhandenen Dislo¬
cation, sondern fühle auch bei fehlender Dislocation längs der
Bruchlinie der Volarseite, die dem Extravasat entsprechende grössere
Resistenz, welche die Beugesehnen hindert, ebenso meinem leisen
Druck auszuweichen, wie die Nachbarschaft. Die Methode hat hier
einigen Anklang gefunden; ich kann mich nicht erinnern, dass sie
mich je zu einer Fehldiagnose geführt hätte. Ihr Vortheil ist ferner
die völlige Schmerzlosigkeit.
Die Prognose
wird von den Autoren ziemlich übereinstimmend als eine gute
bezeichnet, wenn die Behandlung eine richtige war. Einige Autoren
fügen hinzu, wenn der Patient nicht nnfallversichert ist. Ferner
lasse das vorgeschrittene Alter eher Bewegungseinschränkungen und
Arthritis deformans erwarten.
Dieser Darstellung gegenüber frappirt die Aufstellung Gole-
biewsky’s, die allerdings aus dem Jahre 1894 stammt. Danach
waren
bei Spitalbehandlung.49 pCt.
„ poliklinischer Behandlung . . . 4Ö „
„ Behandlung durch die Kassenärzte 48 „
der Fälle ungünstig.
Seitdem soll das Verhältniss besser geworden sein.
Ich selber habe über das Verhältniss der günstig abgelaufenen
Fälle zu den ungünstigen kein Urtheil. Ich weiss nur, dass mir
in den letzten 12 Jahren eine grosse Zahl von geheilten Radius-
ephiphysenfracturen zugegangen sind, welche Functionsdefecte,
theils schwerer Art, aufwiesen. Und die meisten waren angeblich
richtig behandelt worden. Die gut abgelaufenen Fälle fremder
Provenienz bekomme ich nicht zu sehen und habe deshalb keine
Vorstellung über ihre Zahl.
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Beitrag zur Lehre von der typischen u. supracondylären Radiusfractur. 55
Die mit Defect geheilten Fälle lassen sich folgendermaassen
gruppiren:
1. geringe Deformität, gute Function;
*2. mittlere Deformität, gute Function;
3. starke Deformität, ziemlich gute Function;
4. keine Dislocation, Function fast bis ganz aufgehoben;
5. massige bis starke Dislocation, Function vermindert bis 0.
Forscht man der Behandlungsweise nach, so bemerkt man,
dass die Fälle, die sich selbst mit blosser Mitella behandelten, die
verschiedensten Grade der Dislocation, aber meist eine ziemlich
gute Function erreichten.
Die Fälle, die von Anfang an massirt wurden, zeigen zum
Theil übermässige Callusbildung und schlechte Function, zum Theil
starke Dislocation, aber gute Function.
Die grösste Zahl der ungünstigen Fälle war während 2 bis
4 Wochen mit Gyps- oder Wasserglas-Verband immobilisirt
worden. Unter diesen consolidirten Fracturen findet man alle Ab¬
stufungen der Dislocation und Functionsstörungen und völlig ver¬
lorener Function. Darunter ist eine Anzahl junger, unversicherter
heute. Manchmal waren Fingerbewegungen möglich, nie kräftig
allerdings, das Handgelenk aber unbeweglich, Pronation und Supi¬
nation unmöglich. Dann eine grosse Anzahl mit völliger Unbeweg¬
lichkeit von Fingern und Hand, trotz langer mechanischer Nach¬
behandlung.
Muskellähmungen sind mir nicht zu Gesicht gekommen, meist
war die Ursache der Functionsstörung Sehnenfixation, sehr starke
Dislocation, selten Arthritis.
Auffallend ist bei all’ diesen Fracturen, dass, wenn nach der
Keposition die Hand längere Zeit, d. h. eine Woche oder länger,
in Volarflexion gehalten wird, sei es durch Schiene, Gyps oder
auch nur Bindenverband, die Schliessung der Hand zur Faust
länger nicht ausgeführt werden kann, als wenn die Hand in Streck¬
steilung oder Dorsalflexion gehalten wurde. Ferner scheint es, dass
hei Yolarllexion sich häufiger die Verkürzung des Radius wieder
einstellt.
Die Ulnarabduction, die nach der Reposition innegehalten
wird, macht wohl in jedem Falle eine bleibende Deformität: Die
Hand wird nachher fast immer in Ulnarabduction gehalten, so dass
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Dr. H. Zuppinger,
die Achse des Radiusschaftes und des dritten Fingers einen ulnar-
wärts offenen Winkel bilden. Wird aber activ oder passiv die Hand
in Mittelstellung zwischen Ulnar- und Radialabduction gebracht, so
stehen nun freilich die Achsen parallel; aber die ganze Hand ist
radialwärts verschoben. In sehr vielen Fällen mit ursprünglicher
Dislocation der Fragmente wird augenscheinlich nach der Repo¬
sition bei Ulnarabduction die Radialabduction der Epiphyse ge¬
steigert.
Es scheint daraus hervorzugehen, dass erstens der circulare
Verband, selbst wenn er nicht zu eng angelegt wird, häufiger eine
schlechte Heilung im Gefolge hat, als irgend eine andere Methode,
selbst als die Nichtbehandlung. Diese völlig immobilisircnden Ver¬
bände werden mit Recht nicht mehr empfohlen; leider sind sie
aber im ärztlichen Publicum so sehr eingebürgert, dass ihr Ver¬
schwinden noch in weiter Aussicht steht.
Zweitens, dass die Stellung der Vorlarflexion nach der Repo¬
sition die Gebrauchfähigkeit der Hand hinausschiebt und auch die
Dislocation mindestens nicht verhindert.
Drittens, dass die Ulnarabduction nach der Reposition eine
Deformität macht und wohl auch die Function vermindert.
liebliche Therapie.
Es soll die normale Form des Knochens wieder hergestellt
und die normale Bewegung und Kraft wieder erreicht werden in
kürzester Zeit und auf schmerzloseste Weise.
Wenn nicht Form und Function zusammen wieder herzustellen
sind, so ist jedenfalls die Function das Wichtigere. Es ist eine
völlige Reposition so rasch als möglich anzustreben, weil die
Schwierigkeiten sofort wachsen. Dann ist für Erhaltung der Re¬
position zu sorgen; aber auch nichts zu versäumen, was die Wieder¬
gewinnung der Function fördern könnte und namentlich alles zu
vermeiden, was Wiedereintritt der Dislocation oder Behinderung der
Beweglichkeit begünstigen könnte.
Dieses Ziel wird auf verschiedene Weise zu erreichen gesucht.
Lucas Championniere will einfach vom ersten Tage an massiren
und passive Bewegungen, dazwischen Mitella. Calluswucherungen
mit Sehnenfixation machen aber dann leicht die Hand unbrauchbar.
Wird aber regelmässig vom ersten Tage an massirt und zwar
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Beitrag zur Lehre von der typischen u. supracondylären Radiusfractur. 57
so zart und geschickt, dass die Fragmente sich nicht ver¬
schieben, und zwischen hinein fixirt, so resultirt, wenn nicht
eine erhebliche Dislocation bestand, eine merkwürdig gute Function
in sehr kurzer Zeit. Sogar wenn eine starke Dislocation unreponirt
gelassen worden ist, kann die Function eine recht befriedigende
werden. Ich meine, diese Methode eignet sich nicht für alle
Aerzte und sollte nur angewendet werden bei Fracturen ohne Dis¬
location.
Alle übrigen Methoden verlangen erst die Reposition aller der¬
jenigen Fracturen, bei denen eine Dislocation besteht; bei ein¬
gekeilten Fracturen solle reponirt werden, wenn eine Deformität
bestehe. Sonst soll keine Reposition unternommen werden. Da¬
gegen ist gewiss nichts einzuwenden. Neuerlich verlangt BOcken¬
heim er, dass alle Infractionen und subperiostalen Fracturen erst
in lose Fracturen verwandelt werden; diese Forderung ist so un¬
geheuerlich, dass zu hoffen steht, Niemand werde sich verleiten
lassen, weder am Vorderarm, noch am Femur.
An die Reposition schliesst sich bei allen gebräuchlichen Me¬
thoden ein Verband an, welcher die Fragmente in der richtigen
Lage erhalten soll, sei diese ohne Weiteres vorhanden gewesen
oder erst durch Reposition gewonnen worden. Hier gehen die
Wege auseinander: die einen Autoren wechseln den Verband
während 3—4 Wochen mehrmals und lassen dann Massage und
Bewegungscur folgen; andere massiren bereits in der zweiten oder
dritten Woche. Den Schluss bildet, wenn nöthig, eine mehr oder
weniger lang dauernde Bewegungcur.
a) Reposition.
Es seien erst die verschiedenen Repositionsmanöver einer Be¬
sprechung unterzogen. Ueber die Schwierigkeit derselben hat die
Auffassung sich erheblich geändert; noch Roser (1868) meint, die
Reposition vollziehe sich fast von selbst, ein Längszug genüge
jedenfalls. Und doch ist er mit seinen Heilungen ungefähr so zu¬
frieden, wie die heutige Zeit. Seit etwa 40 Jahren ist dann für
die typische Radiusepiphysenfractur eine Reposition ganz allgemein
üblich geworden, welche jedes Element der Dislocation durch eine
besondere Stellung der Hand während des Zuges corrigiren will,
also die Verkürzung des Radius durch den Zug in der Längsachse
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Dr. II. Zuppinger,
des Vorderarms, die Radialabduction der Hand durch Zug an der
ulnarabductirten Hand, die Dorsalflcxion der Radiusepiphyse durch
Zug an der volarflectirten Hand, die dorsale Verschiebung der
Epiphyse durch Druck und Gegendruck auf die beiden Fragmente.
Aus diesem Verfahren haben sich verschiedene Abarten ent¬
wickelt, theils ist die Volarflcxion der Ulnarabduction vorgestellt
worden, theils wurde statt der anfänglich starken Supinations¬
stellung eine mittlere Stellung eingehalten. Einige, namentlich
Leser, halten den Zug in Ulnarflexion nur für nöthig, "wenn starke
Radialabduction besteht. Wenn in einigen Schriften mehr der Zug,
in anderen mehr die Stellung der Hand als das Wesentliche
hervorgehoben wird, so ist das wohl eher als ein Mangel der Dar¬
stellung, denn als eine abweichende Auffassung zu nehmen.
Neu kommt dann bei Leser der Rath, den Zug bisweilen mit
einer Rronationsbewegung zu verbinden. Bockenheimer (1909)
verlangt äusserste Pronationsstellung und Abduction der Hand bei
rechtwinkliger Volarflexion. Es ist schon für die Reposition nicht
ersichtlich, ob er abduciren will und statt dessen pronirt, oder ob
er die Pronation selbst beabsichtigt und Abduction zu erhalten
glaubt. Merkwürdig ist auch, dass Bockenheimer diese Stellung
der forcirten Volarflexion, der äussersten Pronation und der Ab¬
duction verlangt für Radiusepiphysenfracturen ohne Dislocation, an
Stelle der Reposition, die ja unnöthig ist.
Genau ebenso wie die Radiusepiphysenfracturen werden die
Epiphysenlösungen reponirt.
Die supracondylären Fracturen des Radius allein oder beider
Knochen sollen nach den Lehrbüchern reponirt werden unter Längszug
bei Supinationsstellung. Bei der blossen Winkelstcllung der In-
fraction wird auf die Convexität, also auf die volare Seite ein
Druck ausgeübt. Bei der Verschiebung des distalen Fragmentes
nach der dorsalen Seite soll dieses durch Supinationsbewegungen
frei gemacht und durch Druck von der dorsalen Seite her reponirt
werden.
Diese Repositionsmethoden sind sehr hübsch ausgedacht, haben
sich nun auch viele Jahre erhalten, und es kann nicht bewiesen
werden, dass durch sic eine Reposition nicht ausgeführt werden
könne, oder dass die ungünstigen Heilungen dieser Methode zur
Last fallen. Doch darf gesagt, werden, dass sie wenigstens theo-
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Beitrag zur Lehre von der typischen u. supracondylären Kadiusfractur. 51)
retiseh an zwei grossen Mängeln leiden. Sie basiren nämlich auf
der Vorstellung, die Längsachse der Hand müsse durchaus in die
Richtung des jeweiligen Zuges fallen.
Zur Behebung der Verkürzung sei die Hand gerade gestreckt,
zur Correctur der Radialabduction sei die Hand in Ulnarabduetion
zu bringen; zur Aufhebung der dorsalen Aufrichtung der Epiphyse
sei Volarflexion im Handgelenk nicht zu entbehren. Das ist ein
böser Irrthum.
Der zweite noch schlimmere Fehler ist die Verkennung der
Rolle, welche die Zugelemente, Muskeln und Bänder bei der
Reposition spielen. Unter der Nichtbeachtung dieses Umstandes
ist ja immer noch gebräuchlich, dass der Arzt sich die Reposition
einiger Fracturen und Luxationen erschwert oder geradezu unmöglich
macht. Es sei erinnert an die Versuche, die Verkürzung bei einer
l nterschenkelfractur auszugleichen bei gestrecktem Knie und recht¬
winklig gestelltem Fuss. Erst wird durch diese Stellungen
mit grosser Kraft die Verkürzung gesteigert und die Wadenmuscu-
latur gespannt, und nun soll eine Verlängerung hervorgobraeht
werden! Oder: Es wird bei der Kieferluxation das Kinn aufwärts
gedrängt und damit das Scitenband extrem gespannt; die armen
Daumen sollen dann das unnachgiebige Band länger machen. Ein
Beispiel liefern auch die Coxitiden, die bei gestrecktem Hüftgelenk
extendirt werden; hier wird der intraarticuläre Druck durch die
Stellung vielleicht um 10, vielleicht um 20 kg gesteigert und
durch das angehängte Gewicht um 2—3 kg vermindert!
Was geschieht nun bei der Ausführung der gebräuchlichen
Reposition der Radiusepiphysenfractur und ihrer Abarten?
Der Vorderarm wird mit der Ulna auf das Knie des Arztes
gelegt, also bei supinirter Hand. Das geschieht, um bei der
Unarabduction ordentlich abwärts, d. h. gegen die Unterlage ziehen
zu können. Vielleicht hat man dabei die Absicht, das mehr dorsal
gelegene distale Fragment vom Schafte zu trennen. Es wird in
dieser Supinationsstellung erst ein Zug in der Richtung des Vorder¬
arms ausgeführt, während die Hand gestreckt, d. h. weder volar
noch dorsal flectirt ist. Dieser Längszug. in dieser Weise ausgeführt,
wird, wenn er -kräftig und stetig genug ist, die Verkürzung und
auch die Radialabduction der Epiphyse und ebenso die dorsal-
flectorische Dislocation derselben beseitigen können. Die Supinations-
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Dr. H. Zuppinger,
Stellung nützt dabei nichts, wird aber, da sie ja nur kurze Zeit
dauert, kaum etwas schaden. Die Muskeln, welche die Fractur
überschreiten, und verlängert werden müssen, verlaufen
geradlinig und sind vermöge der Gelenkstellungen wenig gespannt.
Nun folgt der Zug nach der ulnaren Seite. Dieser Zug hat,
so viel ich sehe, selten eine Berechtigung, deshalb, weil das
distale Fragment nicht radialwärts verschoben wird, sondern nur
im Sinne einer Radicalabduction gedreht ist. Diese Radicalabduction
wird durch den ersten Längszug völlig corrigirt. Nun kommt
aber das Schlimme. Um diesen ulnaren Zug ausführen zu können,
glaubt man, es sei nöthig, die Hand in Ulnarabduction zu stellen.
Das ist ganz und gar unnöthig und schädlich dazu. Durch diese
zwangsweise herbeigeführte extreme Stellung werden die Muskeln
stark gedehnt, und es ist nicht unmöglich, dass die Muskeln nun
die Hand in toto radialwärts ziehen, dem äussern Zuge des Arztes
zum Trotz, und nun die Radialabduction der Epiphyse steigern
oder wieder herstellen. Die bereits corrigirte Verkürzung aber kann
sich wieder einstellen unter dem Einfluss der hohen Muskelspannung,
und weil der Längszug aufgehört hat. Man merke wohl, nicht
der Zng nach der ulnaren Seite ist verwerflich, wohl
aber die Stellung der Ulnarabduction.
Es folgt dann programmgemäss der Zug volarwärts an den
Fingern der volar gebeugten Hand. Der Zug in dieser Richtung
kann sehr nützlich sein, doch ist es bereits wenig zu empfehlen,
die Fingerphalangen als Angriffspunkt zu benutzen. Was aber
durchaus verwerflich ist, das ist die Volarflexion; denn in dieser
Stellung sind die Fingerstrecker so stark gespannt, dass eine Zug¬
wirkung nicht zu erwarten ist, dagegen während des volar gerichteten
Zuges sogar Gefahr besteht, wieder zu verlieren, was beim Längs¬
zug gewonnen worden ist. Der volare Zug wird übrigens nicht
mehr in Supinations-, sondern in einer Mittelstellung ausgeführt.
Das wäre zu loben; aber die schädliche Wirkung der Volarflexion
ist weit überwiegend.
Darauf wird noch das distale Fragment volarwärts, das untere
Ende des Schafts dorsalwärts gedrängt, eben weil der volare Zug
bei Volarflexion die Reposition fast nie bewirkt. Auch dieser
Druck und Gegendruck lässt häufig im Stich, weil die durch
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Beitrag zur Lehre von der typischen u. supraoondylären Radiusfractur. 61
Volarflexion und Ulnarabduction gespannten Muskeln wieder eine
Verkürzung bewirkt haben.
Zum Schlüsse wird meist noch supinirt.
Die supracondylären Fracturen werden bisher reponirt durch
Längszug und Supinationsbewegungen. Dass durch diese wohl
eine Trennung der Fragmente, nicht aber eine Reposition zu er¬
reichen ist, sollte an und für sich klar sein und bestätigt sich
fast in jedem Falle.
Nach mehr oder weniger gelungenen Repositionen der dislo-
cirten Brüche und ebenso bei den Fracturen ohne Dislocation
beginnt nun die Aufgabe, für Wiederherstellung der Function zu
sorgen und zugleich die Fragmente vor neuer Dislocation zu
schützen.
b) Retention.
Dem zweiten Postulat wird bisher durch einen Verband genügt.
Der Gipsverband wird von den Autoren nicht mehr empfohlen,
aber von den Praktikern zu Stadt und Land immer noch vorzugs¬
weise angewendet. Daneben sind verschiedene Schienenverbände
im Gebrauch und endlich in neuester Zeit auch blosse Binden¬
verbände. Das Gemeinsame aller dieser Verbände ist die Stellung
in Volarflexion und Ulnarabduction. Supinationsstellung wird
von den Einen, Mittelstellung von den Andern empfohlen. Mit
Ausnahme von Bardenheuer setzt niemand die Muskeln unter
Längszug.
Auch die typischen Fracturen ohne Dislocation werden in
dieser Stellung fixirt.
Die supracondylären Fracturen erhalten Schienen- oder Gips¬
verbände in Supination und mässiger Volarflexion.
Radiographirt man sowohl die frische als auch die Fractur
nach Ablegung des Verbandes, so findet man in vielen Fällen die
Stellung der Fragmente unverändert, recht selten verbessert, aber
sehr oft erheblich verschlechtert. Namentlich hat sich häufig die
Verkürzung und die Radialabduction der Epiphyse gesteigert.
Auch die supracondylären Fracturen zeigen oft eine grössere
Verkürzung und dorsale Verschiebung des distalen Fragmentes.
Es kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass die
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Dr. H. Zuppinger,
Reposition, so wenig rationell sie sich zeigt, ohne Einfluss oder
gar schädlich für die Fractur gewesen sei. Die Sache erklärt
sich sehr viel einfacher und sicherer:
Durch die Abduetionsstellung und die Volarflexion werden
eine Anzahl Muskeln stark angespannt und zwar zunächst passiv.
Solange diese passive Spannung durch den Zug bei der Reposition
aufgenommen und die Retraction verhindert wird, mögen die
Fragmente in Ruhe bleiben. Hört aber der Zug der Reposition
auf, ohne dass er durch einen permanenten Extensionszug ersetzt
wird, stellen sich gar active Muskelcontractionen ein, so werden
die Fragmente in Bewegung gesetzt, da weder Schienen- noch
(«ipsverband im Stande ist, solche zu verhindern. Die Extensoren,
welche durch die Volarflexion gespannt werden, ziehen die Hand
sammt Epiphyse dorsalwärts und ccntripetal, machen also Ver¬
kürzung und steigern die ßajonettstellung. Die Muskeln, welche
durch die Abduction gespannt werden, drängen den Carpus radial-
wärts und bewirken Radialabduction der Epiphyse. Das Aus¬
weichen des Capitatum, welches ja die Achsen des Handgelenkes
trägt, nach der radialen Seite macht dann später die Deformität,
welche dieser Behandlung eigen ist.
Wird gar über die Hand oder über die Fingerrücken eine
Binde gezogen, welche die Volarllexion steigern soll, so unterstützt
sie die schädliche Wirkung der gespannten Extensoren.
Die Supinationsstellung der Hand und des distalen Fragmentes
ist deshalb nicht günstig, weil es einmal eine extreme Stellung
ist, dann aber, weil wir kein Mittel haben, auch den Radius-
schaft in dieser Supinationsstellung zu halten. Der Barden-
.heuer’sehe Apparat giebt schon anatomisch bessere Resultate,
weil bei ihm diese extremen Stellungen in der Regel vermieden
werden, und weil der Federzug die schädliche Wirkung der Muskel¬
spannung auf hebt.
e) Bewegung.
Aber auch die Forderung, die Function wieder herzustellen,
ist eine dringende vom Zeitpunkt der Reposition an. In neuerer
Zeit werden Fingerbewegungen vom ersten Tag an gefordert,
Massage und Bewegung im Handgelenk und den Radio-Ulnar-
gelenken von der 2., 8., 4. Woche an.
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Beitrag zur Lehre von der typischen u. supracondylären Kadiusfractur. 63
Da zeigt sieh nun so recht der Fehler des Gypsverbandes, der
sieh nicht leicht abnehmen lässt, aber nicht weniger das Verfehlte
der Retention in Volarflexion. In dieser Stellung sind die Finger
gestreckt und können activ kaum gebeugt werden, passive Finger-
beugungen aber sind von schädlichem Einfluss auf die Fractur.
Wartet man mit den Fingqrbeugungen eine Woche, bis der Verband
gewechselt und die volare Flexion vermindert wird, so hat oft die
Sehnenfixation bereits eingesetzt und ist nicht mehr ganz zu beseitigen.
Ebenso verhält es sich mit der Massage. Im Gypsverband,
aber auch bei den Verbänden, welche die Volarflexion aufrecht er¬
halten sollen, ist die Massage nicht auszuführen, obwohl sie neben
den aetiven und passiven Bewegungen das einzige Mittel ist, die
völlige Function rasch herzustellen.
Aus diesen Gründen sind sowohl der Gypsverband als
auch Volarflexion und Ulnarabduction durchaus nicht zu
empfehlen.
Meine Methode.
In Erinnerung der grossen Zahl schlechter Heilungen und in
Consequenz meiner Bestrebungen, die Knochenbrüche, wenn immer
möglich, in der Stellung geringsten Muskelzuges zu reponiren und
retiniren, konnte ich es nicht müssig finden, die Behandlung der
typischen und supracondylären Radiusfracturen zur revidiren und
umzugestalten. Seit bald fünf Jahren wurden nun in der hiesigen
chirurgischen Klinik fast alle diese Fracturen nach einem andern
Plane reponirt und weiter behandelt, und die Resultate waren ohne
Ausnahme so günstige, dass ich mit der Empfehlung der Methode
nicht länger zögern darf. Es galt zuerst, die Gelenkstellungen
mit geringster Spannung aller der Muskeln, welche die Radius¬
epiphyse überschreiten, festzustellen. Dabei ist zu bedenken, dass
die Kingergelenke durchaus in halbgebogener Stellung sich befinden
müssen, einmal, weil die Fingerbeuger und -Strecker alsdann das
Minimum der Gesammtspannung aufweisen, dann aber auch, weil
das im schlimmsten Falle die brauchbarste Stellung wäre. Aus
dem subjectiven Gefühle und aus Messungen ergiebt sich, dass für
die genannte Fingerstellung eine leichte Dorsalflexion im
Handgelenk die gesuchte Stellung geringster Muskel¬
spannung ist. Von der radialen Seite aus gesehen, geht bei
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Dr. H. Zuppinger,
dieser Stellung die verlängerte Radiusachse zwischen Metacarpus
I und II. In dieser Stellung ist auch am normalen Handgelenk
die Haut weder auf der Dorsal- noch auf der Volar¬
seite gespannt. In dieser Stellung der Hand und Finger wird
einem Zug sowohl in longitudinaler als auch volarer und ulnarer
Richtung die grösste Wirkung zugetraut werden dürfen. Es war
also zu erwarten, dass sämmtliche Dislocationselemente, bis auf
Eines, sich durch Zug nach verschiedenen Richtungen bei Inne¬
haltung dieser Handstellung würden corrigiren lassen; das
letzte Element, die Dislocation ad peripheriam, würde dann durch
extreme Pronation unter Längszug sich beseitigen lassen. Es liess
sich aber auch hoffen, dass dabei der Radiusschaft aus seiner An¬
näherung an die Ulna zurück geholt werden könne, was bis jetzt
ja nie gelungen ist.
Nach der Reposition wird die Neigung zur Dislocation bei der
Handstellung des geringsten Muskelzuges kleiner sein als bei irgend
einer andern Stellung in Hand- und Fingergelenken. Der Schienen¬
verband wird deshalb einfach und leicht abnehmbar sein können.
Für Fingerbewegungen vom ersten Tage an ist die Stellung die
günstigste. Massage und passive Bewegungen können bei einiger
Vorsicht ebenfalls in den ersten Tagen beginnen. Und damit hoffte
ich die Heilungsdauer stark abkürzen zu können.
Nach den Erfahrungen sowohl an den klinischen als auch an
einigen Privatpatienten kann ich sagen, dass meine Erwartungen
sich erfüllt haben, sowohl was die Correctur der Dislocation als
auch die Gebrauchsfähigkeit der Hand und die Heilungsdauer betrifft.
Die Ausführung macht sich wie folgt:
Die Reposition wird, da sie nicht lange dauert’und viel weniger
schmerzhaft ist als nach der bisherigen Methode, in der Regel
ohne Narkose ausgeführt. Nur bei sehr empfindlichen, bei wider¬
spenstigen oder sehr muskelkräftigen Individuen wird besser nar-
kotisirt. Der Patient sitzt also gewöhnlich auf einem festen Stuhl;
er soll die Fractur rechts haben. Links neben dem Stuhl steht
eiu Schemel, auf weichen der Arzt seinen linken Fuss setzt,
während er vor der linken Seite des Patienten steht. Der rechte
Arm wird im Ellbogen rechtwinklig gebeugt und das Handgelenk
mit der Volarseite auf das Knie des Arztes gelegt. Es ist dann
also der Daumen des Patienten gegen dessen Gesicht gerichtet.
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Beitrag zur Lehre von der typischen u. supracondylären Kadiusfractur. 65
Oberhalb der Ellenbogenbeuge wird ein Zügel angelegt, der ent¬
weder von einem Assistenten festgehalten, lieber aber an einem
festen Gegenstand (Haken, Riegel etc.) festgemacht wird.
Der Arzt umfasst nun die rechte Hand des Patienten mit
seinen beiden Händen so, dass die Daumen in der Vola,
die übrigen Finger auf dem Dorsura der erfassten Hand
liegen; die Finger des Patienten ausser dem Daumen bleiben frei.
Es wird zunächst die Hand im Handgelenk massig dorsalflcctirt;
— aber man merke wohl, es muss eine entschiedene
Dorsalflexion sein — und nun wird kräftig und stetig in der
Richtung des Vorderarmes gezogen; wenn das distale Fragment
auf diesen einfachen Zug nicht frei wird und ihm folgt (was deut-
ich zu fühlen ist), so kann die Dorsalflexion vorübergehend etwas
gesteigert werden, oder der Zug wird, ohne dass die Dorsal¬
flexion aufgehoben würde, mehr volar- oder ulnarwärts ge¬
richtet. Das geht sehr leicht, und es gelingt immer, die Einkeilung
zu losen und die Verkürzung und Radialabduction zu beseitigen.
Nun wird unter Längszug die dorsalflectirte Hand so weit pro-
nirt, bis der Handrücken nach der rechten Schulter schaut. Dabei
tritt wohl jedesmal deutliche Crepitation ein.
Es wird nun der Längszug ausgesetzt und die Hand in Mittel¬
stellung zwischen Pronation und Supination zurückgedreht. (Bei
der Pronation drängt erst das distale Fragment den Schaft in die
äusserste Pronationsstellung und die grösstmögliehc Annäherung
an die Lina, darauf holt ihn die Epiphyse ein. Der nun auf¬
hörende Längszug gestattet der gespannten Musculatur die Bruch¬
fläche der Epiphyse an diejenige des Schaftes zu drücken, und bei
der folgenden Supinationsbewegung führt die Epiphyse den Schaft
in gleicher Rotationsstellung der Fragmente wieder von der
Lina ab.)
Muss die Reposition am liegenden Patienten vorgenommen
werden, so wird der Vorderarm über den Rumpf gelegt und die
Fracturstelle von unten durch ein kleines Polster oder dergleichen
gestützt. Der Zug wird von der gesunden Seite her ausgeführt.
Bei der Infraction am Radius hat man sich hauptsächlich
davor zu hüten, dass durch zu kräftiges Ziehen oder Drücken eine
lose Fractur entstehe; damit ginge die beste Chance ver¬
loren. In der Regel genügt leichtes Anziehen bei dorsalllectirter
Archiv ftr klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 1.
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Dr. H. Zuppinger,
Hand und eine kleine Pronationsbewegung, wobei ein Finger die
Fracturstelle von der Volarseite her zurückhält.
Die supracondylären Fracturen mit winkliger und diejenigen
mit dorsaler Dislocation des distalen Fragmentes werden reponirt
wie die typischen Fracturen, durch Zug an der dorsalflectirten
Hand mit folgender Pronation. Da es sich um jugendliche Pa¬
tienten handelt, ist auch kleinere Kraft anzuwenden. Eine gleich¬
zeitige tiefe Ulnafractur ist namentlich bei der Pronationsbewegung
zu berücksichtigen.
Nach der Reposition ist der Ellbogen rechtwinklig gebogen,
die Hand leicht dorsalflectirt, zwischen Pronation und Supination,
die Finger halb flectirt. In dieser Stellung bleiben nun die Ge¬
lenke im Verband, und in diese Stellung sind auch die Fracturen
ohne Dislocation zu bringen. Der Verband wird angefertigt aus
einer gepolsterten Cramer’schen Schiene, welche der Volarseite der
Mittelhand, des Handgelenkes und des Vorderarmes anliegt und
nach vom bis an die Metacarpusköpfchen heranreicht, nach hinten
nicht ganz in die Ellbogenbeuge hinein. Die Schiene soll etwas
breiter sein als das Handgelenk. Nachdem die Dorsalseite des
Vorderarmes und die Mittelhand mit Watte bedeckt ist, wird die
Schiene mit einer Baumwollbinde in Zirkeltouren befestigt. Die
Finger bleiben frei. Der Vorderarm kommt bis zum Köpfchen des
5. Metacarpus in die Mitelia. Der Patient wird ermahnt die Fin¬
ger fleissig vollständig zu krümmen und zu strecken; bei leicht
dorsalflectirter Hand ist das wohl in jedem Falle leicht und aus¬
giebig möglich. Die Röntgenaufnahme zeigt nach dieser Art der
Reposition nur noch geringe Dislocation; der Patient hat über un¬
bequeme bis unerträgliche Stellung oder Druck niemals zu klagen.
Um nun die Sehnenfixation, die bereits in der ersten Woche
sich zu bilden anfängt, und auch Gelenkversteifungen nicht auf-
komraen zu lassen, wird bereits am dritten oder vierten Tage mit
der Massage der Fracturstelle, etwa zwei Tage später mit passiven
Bewegungen im Handgelenk begonnen. Dazu muss täglich zwei¬
mal der Verband abgenommen und wieder angelegt werden. Die
Massage muss anfänglich sehr zart und mit Verständniss
ausgeführt werden, eine Bewegung der Fragmente darf
nicht Vorkommen, sonst ist wieder Deformation und Callus-
wucherung zu gewärtigen. Für die Herren Collegen mit der
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Beitrag zur Lehre von der typischen u. supracondylären Radiusfractur. 67
eisernen Hand ist das keine Beschäftigung. Es ist aber diese täg¬
lich zweimalige Massage von den ersten Tagen an unentbehrlich,
wenn die Heilung schnell und tadellos erfolgen soll. Ebenso
wichtig ist aber auch, dass zwischen den Sitzungen der Verband
getragen und die Stellung geringsten Muskelzuges eingehalten und
die Finger fleissig geübt werden.
Wie bemerkt, werden vom 5., 6. Tage ab passive Bewegungen
im Handgelenk nach dem Massiren gemacht. Auch dabei ist
äusserste Vorsicht geboten, und die Radiusepiphyse wird dabei mit
Daumen und Zeigefinger der linken Hand umfasst. Supinations-
beweguugen sind am längsten schmerzhaft und dürfen erst in der
dritten Woche ausgiebiger passiv vorgenommen werden.
Bei jüngeren Individuen ist die Beweglichkeit fast immer am
Ende der dritten Woche eine vollkommene, die Kraft aber kehrt
erst im Laufe weiterer 4—5 Wochen wieder. Bei älteren Patienten
kehrt sowohl Beweglichkeit als Kraft erst später zurück. Bis
jetzt ist mir aber kein Fall vorgekommen, der bei stricter Be¬
folgung der hier gegebenen Vorschriften nicht nach ca. fünf Wochen
die Finger bis zur Berührung mit den Metacarpi activ flectiren, im
Handgelenk volar- und dorsal flectiren und in genügendem Umfang
pro- und supiniren gekonnt hätte.
Der Schienen verband wird 3—4 Wochen getragen.
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III.
(Aus der Königl. Chirurg. Universitätsklinik in Halle a. S. —
Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. v. Bramann.)
Ueber Blasenhernien.
Von
Dr. Richard Felten,
Assistenunt der Klinik«
(Hierzu Tafel I.)
Bei den „Blasenhernien“ tritt ein Theil der Blase durch
irgend eine Lücke in der musculösen vorderen Bauchwand nach
aussen unter die Bauchhaut. Dabei ist es gleichgültig, ob der
vorliegende Blasentheil von Peritoneum überkleidet ist oder nicht.
Es braucht sich also streng genommen nicht immer um eigentliche
Hernie zu handeln. Gehört doch zum Bilde einer solchen sonst,
dass der ausgetretene Eingeweidetheil, mit visceralem Peritoneum
überklcidet, in einer Peritonealausstülpung, eben dem Bruchsack,
gelegen ist. Das kann aber bei der Blase wegen der anatomischen
Verhältnisse nur unter ganz bestimmten Bedingungen cintreten.
Das Peritoneum überzieht bekanntlich nur die oberen und
seitlichen Partien der Blase, ist mit ihr zumeist durch ein lockeres
Bindegewebe verbunden, während eine festere Verbindung sich in
der Regel nur an drei Stellen, vorne an dem Lebergang des Liga¬
mentum umbilicale medium in die Blase und hinten unten seitlich
an den Einmündungsstellen der Ureteren, findet. Dieser Peritoneal¬
überzug der Blase stellt somit nur einen Theil des parietalen
Blattes des Peritoneums dar und geht in dieses in einer nicht
immer deutlich ausgeprägten Umschlagsfalte über. Ferner ist auch
dies parietale Peritoneum an der Beckenwand nicht fixirt, sondern
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Ueber Blasenbernien.
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überaus leicht verschieblich. Nur am lateralen Rande der Fovea
inguinalis lateralis hat bisweilen eine etwas festere Verbindung statt.
Die leere Blase erreicht unter normalen Verhältnissen keine
der gewöhnlichen Bruchpforten. Erst wenn sich die Blase aus¬
dehnt, rückt sie an diese heran. Und deshalb ist eine solche ver¬
mehrte Blasenfüllung fast stets als Vorbedingung zur Entstehung
einer Blasenhernie nothwendig, falls nicht andere pathologische
Veränderungen — Verwachsungen oder Divertikelbildung — vor¬
liegen.
Karewski 1 ) hat durch seine Versuche an Leichen dargethan,
dass schon eine verhältnissmässig geringe Füllung genügt, um die
Blase an die Bruchpforten heranzubringen. So fand er schon bei
einer Blasenfüllung von 150 ccm den medialen Rand der lateralen
Leistenbruchpforte erreicht. Bei stärkerer Füllung findet jedoch
nach Karewski’s Untersuchungen keine weitere Breitenausdehnung
der Blase statt, sondern eine solche in der Sagittalebene. Bei
praller Blasenfüllung ist es sogar kaum möglich, durch directen
Zug eine Ausstülpung der Blase durch eine Bruchpforte zu erzielen.
Dabei ist jedoch zu bemerken, dass diese Versuche nicht ohne
Weiteres auf die Verhältnisse am Lebenden zu übertragen sind,
weil einmal der Druck der Eingeweide von oben her, sodann der
allgemeine intraabdominelle Druck fehlt. Das erste Moment ver¬
suchte Karewski in Fall 6 seiner Versuchsreihe dadurch zu er¬
reichen, dass er nach Eröffnung des Abdomens von oben her einen
Druck auf die Blase ausübte und dadurch natürlich eine grössere
Ausdehnung in querer Richtung erzielte. Einwandsfrei werden diese
Wrhältnisse am Lebenden durch die Untersuchungen von Völeker
und Lichtenberg 2 ) dargethan, welche die Gestalt der Blase bei
verschiedenen Füllungszuständen röntgenographisch darstellten.
Wird nun die Blase einem vermehrten Füllungszustand unter¬
worfen. so wird auch ihre vom Peritoneum überkleidete Oberfläche
grösser. Diese Vergrösserung geschieht nur zu einem geringen
Theil durch Dehnung des schon vorhandenen Ueberzuges, mehr
dagegen durch Einbeziehen des benachbarten eigentlich parietalen
Peritoneums; das Peritoneum wird von der Beckenwand auf die
') Karewski, Archiv für klin. Chir. Bd. 75.
2 ) Völeker und v. Lichtenberg, Beiträge zur klinischen Chirurgie.
Bd. 52.
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Dr. R. Felten,
Blase abgestreift. Es ist das wegen der schon erwähnten lockeren
Verbindung des Peritoneums mit der Beckenwand möglich, nament¬
lich weil auch an der Umschlagsfalte für gewöhnlich eine feste
Anheftung des Peritoneums nicht vorhanden ist. Kommt nun die
Blase bei weiterer Füllung an die Bruchpforte heran, so hat ein¬
mal sie selbst an der anliegenden Wand keinen Peritonealüberzug
mehr, andererseits ist aber auch das parietale Peritoneum nach
oben geschoben, so dass keine Möglichkeit für die Bildung eines
peritonealen Bruchsackes mehr vorhanden ist. Buchtet sich nun¬
mehr die ßlasenwand durch die Bruchpforte vor und tritt durch
die musculöse Bauchwand nach aussen unter die Haut, so ist an
keiner Stelle Peritoneum mit in der Bruchgeschwulst vorhanden.
Man bezeichnet diese Form deshalb als rein extraperitoneale
Blasenhernien (Tafel I, Fig. 3).
Aber nicht immer liegen die Verhältnisse so einfach. So kann
sich nachträglich ein Peritonealsack neben der Blase durch die ja
nun schon offene Bruchpforte vorstülpen, in den sich dann auch
weiter Eingeweide senken können. Doch tritt dieser Zustand auch
auf andere Weise, gleichsam primär, ein. In Folge der erwähnten
bisweilen recht innigen Verwachsung des peritonealen Ueberzugs
der Blase am lateralen Rande der Fovea inguinalis lateralis kann
dasselbe nicht mehr weiter abgeschoben werden und wird dann
beim Austreten der Blase mit nach aussen gezogen werden können.
Die Blase selbst liegt dann allerdings auch noch extraperitoneal,
doch findet sich ein Peritonealsack an einer Seite, meist wird es
die laterale sein, sind nicht durch Verwachsungen in Folge früherer
Entzündungen die Verhältnisse getrübt. Man bezeichnet sie als
paraperitoneale Blasenhernien (Tafel I, Fig. 4).
Die Möglichkeit, dass sich andere Eingeweidetheile in den nun
ja schon vorhandenen Bruchsack senken, ist hier eher gegeben als
bei den extraperitonealen Blasenhernien. Ucbrigens sind die para¬
peritonealen Hernien nicht auf die lateralen Leistenhernien be¬
schränkt, da auch bisweilen schon eine Fixation des Peritoneums
an der Fovea inguinalis medialis oder an anderen Bruchpforten
stattfinden kann.
Ja es kann das Peritoneum schon an der Umschlagsfalte fixirt
sein. Dehnt sich in solchen Fällen die Blase aus, so kann sie
nicht das parietale Peritoneum mit zur Vergrösscrung ihres perito-
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Ueber Blasenhemien.
71
nealen Ueberzugs heranziehen, sondern es muss sich der bereits
vorhandene Peritonealüberzug dehnen. Kommt die Blase nun an
die Bruchpforte heran, so ist sie einerseits selbst noch vom Peri¬
toneum bedeckt, andererseits muss sie auch erst einen Peritoneal¬
sack ausstülpen, will sie die Bauchhöhle verlassen. Dann liegt eine
echte Hernie, die sogenannte intraperitoneale Blasenhernie
vor (Tafel I, Fig. 6). Dabei sind natürlich die Bedingungen für das
gleichzeitige Austreten anderer Eingeweide besonders günstig, wie
umgekehrt z. B. eine am Blasenfundus adhärente Darmschlinge beim
Hinabtreten in einen Bruch leicht die Blase nach sich ziehen kann
(Tafel I, Fig. 8). Dabei kann der betreffende ßlasentheil zu einem
langen Schlauche ausgezogen werden, der sich secundär erweitern
kann, so dass es fast zu einer Doppelbildung der Blase kommt.
Es ist nun nicht erforderlich, dass beide Schichten der Blasen¬
wand — Schleimhaut und Muscularis — austreten. Es kann viel¬
mehr die Schleimhaut durch eine Lücke der Muscularis durchtreten
und dann allein in der Bruchgeschwulst gefunden werden. Wegen
der eigenthümlich netzartigen Anordnung der Blascnmusculatur ist
diese „Divertikelbildung“ nicht unbedingt an die Durchtrittsstelle
von Gefässen gebunden, wie das Graser 1 ) für die Darmdivertikel
nachgewiesen hat. Es sind das jene Fälle, in denen auch ohne
vermehrte Blasenfüllung eine Blasenhernie zu Stande kommen kann,
indem das leicht bewegliche Divertikel genau so wie Darm oder
Netz durch die Bruchpforte austritt. — Doch kann auch die Mus¬
cularis secundär schwinden und so eine scheinbare Divertikelbildung
vorliegen. Die Entscheidung wird dann nur durch mikroskopische
Untersuchung der Blasenwand zu treffen sein, da bei secundärem
Muskelschwund sich wohl immer noch Reste von Muskelfasern
werden nach weisen lassen.
Häufiger als reine Blasenhernien finden sich solche, die mit
anderen Hernien combinirt sind, dass man also von einer Blasen-
hemie als von einem Theil einer Hernie sprechen kann. Man hat
diese Zustände auch wohl als Enteroeystocele, Epiplocystocele etc.
bezeichnet, je nachdem Darm, Netz oder andere Eingeweide Vor¬
lagen. Gelegentlich können jedoch, unabhängig von der Blasen¬
hernie, andere Eingeweidehernien bestehen, so neben einer directen
') Graser, Münchener med. Wochenschrift. 1899. No. 22.
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Dr. R. Felten,
Leistenblasenhernie eine indirecte Darmhernie. Eggenberger 1 )
bezeichnet diese als paraperitoneale Blasenhernien mit doppelter
Bruchpforte. Doch handelt es sich ja der Genese nach eigentlich
um extraperitoneale Blasenhernien (Tafel I, Fig. 7).
In der grossen Mehrzahl der Fälle tritt die Darm- bezw. Netz-
hcrnie weit in den Vordergrund, während die Blasenhernie daneben
nur als Anhängsel besteht. So sind auch die Symptome diejenigen
der Darmhernie, während die gleichzeitig bestehende Blasenhernie
gar keine oder nur ganz geringe Symptome macht. So kommt es
auch, dass die Blasenhernie vor der Operation so selten erkannt,
und dass die Blase während der Operation so häufig verletzt wird,
ein Umstand, der der ßlasenhernie ihre grosse Wichtigkeit verleiht
und die oben schon angedeutete Eintheilung nach dieser Richtung
hin empfiehlt, d. h. 1. reine Blasenhernien und 2. Blasenhernien,
die mit anderen Eingeweidehernien combinirt sind. Dabei kann die
Betheiligung der Blase entweder das Primäre oder Secundäre sein.
In der Praxis wird sich das nicht immer entscheiden lassen. Nur
dann, wenn neben einem grossen Blasentheil ein kleiner Theil Darm
oder Netz liegt, wird man den Blasen bruch als das Primäre an-
sehen müssen, während man andererseits alle jene Fälle, bei denen
sich neben einem überwiegenden Eingeweidebruch im oberen Ende
ein Theil der Blase findet, als primäre Darmbrüche ansprechen
muss. Da muss man annehmen, dass in die sich immer mehr
vergrössernde Bruchpforte die Blase durch ihre Schwere mit hin¬
einfällt.
Sonst sind wir über die Aetiologie der Blasenhernien nur
wenig unterrichtet. Angeboren scheint die Lageveränderung nicht
vorzukommen, obwohl die anatomischen Verhältnisse bei neugeborenen
Kindern wegen der relativen Grösse der Blase für das Entstehen
der Hernie eher günstig sind. Doch ist dem entgegenzuhalten,
dass die Blase bei Kindern eine grössere Höhenausdehnung hat.
Das Alter des jüngsten operirten Patienten betrug 18 Monate.
Doch würde man zweifellos auch bei Kindern häufiger die Blase
finden, wenn schon im Kindesalter mehr Hernien operirt würden.
Die Hauptzahl der Befunde fällt bei Männern zwischen das 50.
und 60., bei Frauen zwischen das 30. und 40. Jahr. Diese Diffe-
*) Eggenberger, Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 94.
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Ueber Blasenhernien.
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renz hat man dadurch erklärt, dass bei Frauen im Alter der meisten
Geburten die günstigste Gelegenheit zur Ausbildung von Hernien
im Allgemeinen wegen des Schwundes des Fettgewebes, der schlaffen
Bauchmuskeln gegeben ist, von Blasenhernien im Besonderen da¬
durch. dass während der Gravidität der Uterus bezw. der Kopf
des Kindes die Ausdehnung der Blase nach oben verhindern. That-
»ächlich konnten V ölcker und Lichtenberg 1 ) bei graviden Frauen
rnntgenographisch nachweisen, dass die sich füllende Blase sich
breit schalenförmig an der Beckenwand ausbreitet. — Das höhere
Alter der Männer mit Blasenhernien erklärt sich aus der infolge
Prostatahypertrophie vermehrten Blasenfüllung. Gueterboek 2 ) hat
freilich darauf hingewiesen, dass die Blasenhemie im Vergleich zur
Häufigkeit der Prostatahypertrophie äusserst selten sei. Das ist
schon richtig, aber es wird dadurch nur bewiesen, dass eben auch
noch ausserdem die anderen Bedingungen für die Enstehung einer
Hernie vorhanden sein müssen, wie z. B. abnorme Dehnbarkeit des
Peritoneums, wenn es sich um intraperitonealc Hernien handelt
oder abnorme Weite der Bruchpfortc.
Dass primäre Blasendivertikel besonders leicht sich in eine
Hernie senken können, leuchtet wegen ihrer grossen Beweglichkeit
ohne Weiteres ein.
Dass die mit Blasenhernien combinirten Hernien oft schon
»ehr lange bestanden hatten, wird von einigen Beobachtern erwähnt.
Auch das ist verständlich, da ja der allmählich sich vergrössernde
Bruch die Bruchpforte weitet und somit leichter auch die Blase
mit vor die Bauchwand gezogen werden kann, zumal Verwachsungen
des Peritoneums mit der Unterlage in derartigen Fällen stets er¬
heblich zu sein pflegen. Völcker und Lichtenberg bringen in
ihrer schon mehrfach citirten Arbeit Röntgenbilder von Blasen,
deren Träger mit Hernien behaftet waren. Dabei sieht man deut¬
lich, wie die Blase nach der Seite der Hernie verzogen ist.
Bei directen Blasenhernien liegt natürlich, wie bei allen directen
Brüchen, die Hauptbedingung in der ßruchpforte, da jene sich nur
hei abnormer Nachgiebigkeit der Bauchwand bilden kann.
Früher bestand die Ansicht, dass die Blasenhernien bei Frauen
ungleich seltener vorkämen als bei Männern. In der neueren Lite-
») 1. c. S. 20.
2 ) Gueterboek, Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 32.
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74
Dr. R. Felten,
ratur finden sich jedoch auch zahlreiche an Frauen gemachte Beob¬
achtungen, und dies erklärt sich wohl daraus, dass Harnienopera-
tionen in den letzten Jahren auch an Frauen häufiger ausgeführt
werden.
Was die Häufigkeit der Blasenhernien im Allgemeinen anbe¬
trifft, so gehören sie zu den seltenen Befunden. Brunner 1 ) fand
in einer Statistik über 1841 Hernienoperationen in etwa 0,9 pCt.,
Eggenberger 2 ) in einer solchen von 6778 Operationen in 1,1 pCt.,
L|otheissen 3 ) dagegen unter 187 Operationen in 3,2 pCt. diese
Gomplication vor.
Wir beobachteten an der hiesigen chirurgischen Klinik unter
307 Hernienoperationen (Inguinal- und Cruralhernien) in den letzten
3 Jahren dreimal Blasenhernien, d. h. in annähernd 1 pCt. Dabei
muss ich bemerken, dass nur jene Fälle gezählt sind, in denen
ausgesprochene Blasenhernie vorlag, während alle jene Fälle, in
denen während der Operation einmal die Blase im oberen Bereiche
des Bruchsackes zu Gesicht kam, ausgeschieden sind. Allerdings
sind auch solche Fälle bisweilen als „Blasenhernien“ publieirt
worden. Es ist Brunner’s*) Verdienst, darauf nachdrücklich hin¬
gewiesen zu haben. Er spricht von einem „Hervorziehen der Harn¬
blase bei Hernienradicaloperationen“.
Weil man nämlich bei der ßassini'sehen Operation bemüht
ist, den Bruchsack möglichst hoch oben abzutragen und ihn dem¬
entsprechend häufig unter gleichzeitiger Spaltung der vorderen Wand
des Leistencanals möglichst weit vorzuziehen, kann man leicht die
Blase mit vorziehen und zu Gesicht bekommen. Anders bei der
Kocher’schen Methode. Bei ihr fehlt einmal die Spaltung des
Leistencanals, andererseits wird auch der Peritonealsack niemals
so weit vorgezogen und isolirt. Brunner lässt deshalb nur die¬
jenigen Fälle als Blasenhernien gelten, in denen die Blase auch
beim Nachlassen des Zuges auch noch vor der Bauchwand sichtbar
bleibt. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes kommt er zu
dem Schluss, dass in 3—6 pCt. der Hernienradicaloperationen die
*) Brunner, Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 47.
2 ) Eggenberger, 1. c.
3 ) Lotheissen, Beiträge zur klin. Chir. Bd. 20.
4 ) Brunner, Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 101.
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Ueber Blasenhernien.
75
Blase zu Gesicht kommt, in 0,5 pCt. jedoch nur eine eigentliche
Blasenhernie vorliegt.
Die grosse Zahl der Hernienoperationen übt in sofern auch
einen gewissen Einfluss auf die Häufigkeit der Blasenhernien aus,
als bei Recidivoperationen, die ja auch bei der sonst vorzügliche
Resultate gebenden Bassini’schen Operation bisweilen nöthig sind
— nach der grossen Statistik von Sertoli 1 ) in 4,29 pCt. —, bis¬
weilen die Blase gefunden wird. Man spricht dann von postopera¬
tiven Blasenhernien. Diese Fälle aus der Casuistik der Blasen¬
hernien auszuschliessen, ist man nicht berechtigt. Zugegeben mag
ja werden, dass das bei der ersten Operation geübte weite Vor¬
ziehen des Bruchsaekes die Entstehung der Blasenhernie begünstigt.
Als Hauptursache wird aber dabei Verwachsung bczw. Narbenzug
zu beschuldigen sein. Diese Ursachen spielen aber auch bei der
Entstehung sonstiger Blasenhernien, wie wir gesehen haben, eine
Rolle. Im Uebrigen haben sie praktisch dieselbe Bedeutung. Ja
die Orientirung pflegt bei Recidivoperationen in der Regel schwieriger
zu sein, und dementsprechend ist die Gefahr der Blasenverletzung
noch grösser.
Wie schon mehrfach erwähnt, ist die Diagnose einer Blasen¬
hernie sehr schwierig und daher auch nur in einem geringen
Procentsatz der Fälle gestellt worden. Auch für die Diagnose
wird man zweckmässig Fälle reiner Blasenhernie von solchen, die
durch andere Eingeweidehernien complicirt sind, unterscheiden, weil
bei jenen eben die Symptome viel ausgeprägter sind. Ja in einigen
Fällen waren die Beschwerden der Patienten so prägnant, dass diese
schon mit der Diagnose zum Arzt kamen.
„Die Bruchgeschwulst wird gross, hart und gespannt, wenn
der Kranke den Urin zurückhält. Sie verschwindet, wenn der
Kranke den Urin lässt. Oder, wenn sie nicht verschwindet, wie
oft geschieht, empfindet der Kranke, der eben den Urin gelassen
hat, sogleich von neuem einen heftigen Trieb, den Urin zu lassen,
sobald man die Bruchgeschwulst drückt. Wegen des Reizes, dass
die Blase in dieser widernatürlichen Lage vornehmlich im Bauch¬
ringe leidet, empfindet überhaupt der Kranke einen öfteren Trieb,
') Sertoli, Dieses Archiv. Bd. 89.
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Dr. R. Felten,
Urin zu lassen. Da die Blase immer stark zur Seite und folglich
die Harnröhre schief gezogen wird, ist der Abgang des Urins immer
mehr oder weniger erschwert“ [Richter 1 )].
Das Hinüberfliessen des Urins aus dem verlagerten Abschnitt
in den Hauptraum der Blase kann auch ohne Druck durch ent¬
sprechende Lagerung — auf die der Bruchgeschwulst entgegen¬
gesetzte Seite bezw. auf den Rücken — erreicht werden. Tritt
also nach der Blasenentleerung bei geänderter Lage im obigen
Sinne erneuter Harndrang mit Entleerung unter gleichzeitiger Ver¬
kleinerung der Bruchgeschwulst auf, so muss eine Blasenhemie
vorliegen. Doch ist der negative Ausfall dieses Versuches kein
Beweis gegen das Bestehen eines Blasenbruches. Bisweilen besteht
nämlich keine offene Communication mehr zwischen beiden Blasen-
theilen, sei es nun, dass die Verbindungsstelle durch eine ventilartig
sich vorlegende Schleirahautfalte, sei es, dass sie durch einen
Schleimpfropf verschlossen ist. Es ist dann nicht einmal möglich,
künstlich eine stärkere Füllung des vorliegenden Blasentheils von
der Blase aus zu erzielen, ja es ist das bisweilen nicht einmal
während der Operation gelungen, wobei man doch alle Schleimhaut¬
falten durch Zug ausgleichen konnte.
Die Schmerzen am Schlüsse der Miction sind durch Zerrungen,
welche die im Bruchsack fixirte Blase erleidet, zu erklären.
Mehrfach ist angegeben worden, das Abweichen des eingeführten
Katheters nach der Bruchpforte hin sei ein sicheres Zeichen für
Blasenhemie. Das dürfte jedoch nicht immer zutreffend sein, da
man dies häufig bei Prostatikern in Folge ungleichmässigcr Ver-
grösserung der beiden Prostatalappen beobachten kann.
Dass. bei einem Blasenbruch leicht eine Cystitis auftreten kann,
erklärt sich aus der Stauung in dem abgeschnürten Theile. Da¬
durch sind aber auch die Bedingungen zur Concrementbildung ge¬
geben. Thatsächlich sind auch bei Blasenhernien Steine sowohl in
der Hernie selbst, wie auch im Hauptraum der Blase gefunden
worden. Grossen diagnostischen Werth haben aber beide Erkran¬
kungen deswegen nicht, weil sic auch sonst häufig beobachtet
werden.
Es ist zu betonen, dass auch bei reinem Blasenbruch Ein-
') Cit. nach Eggenberger, 1. c. S. 538.
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Ueber Blasenhernien.
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Hemmungen Vorkommen und dann Darm-Incarcerationssymptome
eintretcn können. Es ist das ja auch nicht verwunderlich, da ja
häufig das Peritoneum mit betheiligt ist und eine Reizung dieses
an der einschnürenden Bruchpforte den Incarcerationserscheinungen
gleiche Beschwerden auslöst. Martin 1 ) hat jedoch an der Hand
eines selbst beobachteten Falles und 27 in der Literatur verstreuter
weiterer Fälle darauf hingewiesen, dass bei genauer Beobachtung
eine Unterscheidung möglich sei. Die stets vorhandene Durch¬
gängigkeit des Darmcanals, das Fehlen von Erbrechen fäculenter
Massen, nur geringes Aufgetriebensein des Abdomens in Folge
leichter reflcctorischer Darraparese sind beim Befunde heranzuziehen,
um einen Darmbruch auszuschliessen. Aber auch Darmwand und
Vetzbrüche können ähnliche nur leichte Incarcerationserscheinungen
machen. So kommt es, dass bei der relativen Seltenheit der
Blasenhernien meist auch jene angenommen wurden, falls nicht
daneben positive Zeichen auf eine Blasenhernie hinwiesen.
Alle angeführten Symptome lassen eben im Stich, wenn nicht
reine Blasenhernie vorliegt, sondern Gombination mit andern Ein¬
geweidehernien. Zum mindesten wird man dann über eine Wahr¬
scheinlichkeitsdiagnose kaum hinauskommen.
Um so wichtiger ist es daher, wenigstens rechtzeitig während
der Operation die Blase zu erkennen. Da sind nun allerdings
zwei Befunde zu erwähnen, welche häufig vorhanden sind, und
somit in vielen Fällen wenigstens die Diagnose intra operationetn
ermöglichen. Das ist einmal die eigenartige Musculatur der Blase,
sodann die Anhäufung von Fettgewebe in der Umgebung. Meist
soll es eine eigenthümlich goldgelbe Farbe haben. Beide Symptome
sind aber durchaus nicht constant. So findet sich das Lipom nur
etwa in der Hälfte der Fälle. Aber auch die Musculatur fehlt
häufig, sei es nun, dass primär, wie oben auseinandergesetzt
worden ist, nur eine Ausstülpung von Schleimhaut stattfand, sei
es, dass die Musculatur secundär geschwunden ist. Besteht Ver¬
dacht auf Blasenhernie, so empfiehlt Lotheissen 2 ), das betreffende
Gebilde zwischen den Fingern zu rollen. Man hat dann das Ge¬
fühl, als ob sich zwei glatte Flächen — eben die Mucosaflächen
gegen einander verschieben.
J ) Martin, Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 54.
2 ) Lotheissen, 1. c.
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Dr. R. Felten,
Trotzdem aber wird es nicht immer möglich sein, die Blase
zu erkennen und ihre Verletzung zu vermeiden, ganz abgesehen
von den Fällen, in denen eine Verletzung wegen der Zartheit der
Blasenschleimhaut nicht zu umgehen ist. Häufig ist auch die Blase
als zweiter ßruchsack angesehen und eröffnet worden.
Bei den rein intraperitonealen Blasenhernien besteht die Gefahr
der Verletzung niemals, da man ja erst nach Eröffnung des ßruch-
sackes auf die Blase stösst. Die praktisch übrigens belanglose
Diagnose vor der Operation wird sich dann nach Eröffnung des
Bruchsackes auf die eigenthümliche Form des Bruchsackinhaltes,
die Wanddicke, vor Allem das Fehlen des Mesenteriums stützen.
Selbstverständlich kann man bei dem einmal vorliegenden
Verdacht auf Blasenhernie auch schon vor der Operation cysto-
skopisch eine Ausbuchtung der Blase feststellen. Bewiesen ist
damit freilich noch nicht, dass die Ausstülpung nun auch wirklich
im Bruche liegt, da die Tiefenbestimmung, zumal bei enger Com-
municationsstclle, sofern eine solche besteht, stets schwierig ist.
Unter Berücksichtigung aller dieser Schwierigkeiten in der
Diagnostik wird man es verstehen können, dass so häufig die
Blase unbeabsichtigt verletzt und erst nach der Eröffnung er¬
kannt wurde.
Bisweilen wird aber auch die Blasenversetzung während der
Operation nicht erkannt.
Das rechtzeitige Erkennen der Blase ist aber von grossem
Einfluss auf die Prognose. Deshalb sind auch die intraperitonealen
Hernien sowie die reinen Blasenhernien die prognostisch günstigsten,
wenigstens soweit es sich um freie Hernien handelt. Anders ver¬
hält es sich, wenn eine Incarceration eingetreten ist. Je nach dem
Grade derselben ist die Prognose verschieden. Ist die Störung in
der Ernährung der Blasenwand noch keine hochgradige, erholt sich
die Blasenwand nach Lösung des Schnürringes, so ist auch die
Prognose durchaus günstig. Ist aber bereits totale Gangrän ein¬
getreten, so ist die Gefahr einer im Beckenboden fortschreitenden
jauchigen Phlegmone wegen des leichten Eindringens des inficirten
Urins im lockeren Gewebe sehr gross.
Hat während der Operation eine ßlasenverlctzung nicht ver¬
mieden werden können, so wird die weitere Prognose davon ab-
hängen, ob das Peritoneum bereits geschlossen war oder nicht.
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Ueber Blasenhernien.
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Läuft — möglicherweise bei bestehender C'ystitis — schon inficirter
Urin in die Bauchhöhle, so ist die Gefahr der Peritonitis gross,
während nach Schluss des Peritoneums nur eine Infection des
Beckenbindegewebes erfolgen kann — mit möglicherweise eben¬
falls tödtlichem Ausgange.
Doch nicht allein diese localen Veränderungen bedrohen das
Leben, auch urämische Zustände in Folge reflectorischer l’rin-
retention mit letalem Ausgange sind beobachtet.
Natürlich sind alle diese Gefahren dann am grössten, wenn
auch während der Operation die Verletzung der Blase nicht bemerkt
wurde. Bleibt infectiöser Urin in der Bauchhöhle, kann eine tödt-
liche Peritonitis die Folge sein. Andererseits kann sich unter der
geschlossenen Naht die Infection unbemerkt relativ w’eit ausdehnen,
zumal aus der Blasenwunde andauernd grosse Mengen inficirten
Urins nachfliessen und eine Urininfiltration hervorrufen können.
So sind die Gefahren, denen Patienten mit Blasenhernien
ausgesetzt sind, gross und vielseitig.
Die Grundsätze für die Behandlung lassen sich kurz folgender-
maassen formuliren:
In den Fällen reiner uncomplicirter Blasenhernie ist, auch
wenn keine erhebliche Beschwerden bestehen, wegen der Gefahr
der Cystitis, Steinbildung, der möglichen Einklemmung stets
dringend zur Operation zu rathen, falls nicht Contraindication
gegen eine Hernienoperation überhaupt, wie stark reducirter All¬
gemeinzustand, schwere andere Erkrankungen, namentlich Nephritis,
vorliegen. Bei bestehender Incarceration fallen selbstverständlich
auch diese Bedenken fort. Die Bruchpforte ist wie gewöhnlich
freizulegen und nach Reposition der Blase lege artis zu schliessen.
Bei Gangrän der Blasenwand ist im Gesunden die Resection der
Blase auszuführen mit nachfolgender exacter Blasennaht. In allen
Fällen, in denen eine Blasennaht erforderlich ist, wird es sich
auch empfehlen, durch einen für mindestens 2 Wochen eingelegten
Verweilkatheter dem Urin freien Ablauf zu verschaffen und dadurch
der Blasenwand Zeit und Ruhe zur festen Verheilung zu geben.
Eine Drainage der Wunde, wenigstens für die ersten 3—4 Tage,
ist immer dann zu empfehlen, wenn die Blase eröffnet wurde.
Ausser bei Gangrän kann aber auch dann eine Reposition
der Blase nicht vorgenommen werden, wenn die Blasenwand ander-
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Dr. R. Felten,
weitig verändert ist, namentlich dann, wenn Divertikelbildung vor¬
liegt, wie wir das auch an unsern Fällen beobachten konnten.
Einmal besteht die Gefahr der Ruptur eines so dünnen Häutchens,
wie es die Wand eines Divertikels darstellt, sodann aber kann es
nach der Reposition zur Abknickung, Stagnation und Zersetzung
des Inhaltes kommen.
Bei Combination der Blasenhernie mit andern Hernien bietet
die operative Behandlung nichts Besonderes.
Hat eine Verletzung der Blase nicht vermieden werden können,
so ist bei noch offenem Peritoneum der anliegende Peritonealraum
energisch zu reinigen, eventuell, hat es sich um inficirten Urin
gehandelt, zu spülen und zu drainiren. Auf primären Verschluss
der Bruchpforte muss man dann natürlich verzichten.
Meist erfolgt die Verletzung der Blase erst nach Schluss des
Peritoneums beim weiteren Isoliren des Samenstrangs. Auch dann
ist die Umgebung tüchtig zu säubern und die Blasennaht anzulegen.
Ob man dazu, wie in einem unserer Fälle, eine Erweiterung des
Schnittes in den Rectus nöthig hat, wird von den Verhältnissen
des speciellen Falles abhängen.
In den Fällen, die freilich heute wohl kaum noch Vorkommen
dürften, in denen die Blasenverletzung nicht bemerkt wurde, wird
erst die in der Tiefe einsetzende Eiterung auf die Gefahr auf¬
merksam machen. Schleunige weite Eröffnung der Naht ist das
einzige Mittel, das dann noch Bettung bringen kann.
Ist eine Blasenfistel entstanden, so kann man diese zunächst
sich selbst überlassen, da häufig ein spontaner Verschluss eingetreten
ist. Tritt er jedoch nach einigen Wochen nicht ein, so ist opera¬
tiver Verschluss nach dem üblichen Verfahren — Excision der
Fistel, genügend weite Isolirung der Blase, Naht — angezeigt.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen gehe ich noch auf die
3 in der hiesigen Klinik beobachteten Fälle ein.
1. S. L., 58 Jahre alt, Landwirth aus Grast. Aufnahme 15. 9. 07. Pat.
war früher stets gesund. Im Herbst 1906 bemerkte er in der linken Leisten¬
gegend eine haselnussgrosse Geschwulst, die sich zeitweise beim Husten-und
Pressen stärker vorwölbte, zeitweise aber auch ganz verschwand, dem Pat.
keine nennenswerthe Beschwerden verursachte. Im Frühjahr 1907 traten jedoch
Beschwerden beim Urinlassen auf. Der Urin floss nur unter starkem Pressen
in unterbrochenem Strahl ab, auch hatte Pat. dabei brennende Schmerzen in
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Ueber Blasenhernien.
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der Unterbaacbgegend. Pat. musste häufig Urin lassen, auch Nachts, doch
wurde jedesmal nur wenig Urin entleert. Die Geschwulst veränderte dabei ihre
Grösse nicht. . Nach etwa 2 Wochen schwanden die genannten Beschwerden
von selbst wieder.
Am 11. 9. 07 traten jedoch wieder Schmerzen in der linken Leistengegend
auf und gleichzeitig stellten sich die beschriebenen Beschwerden von Seiten
der Blase wieder ein. Stuhl- und Urinverhaltung, häufig Aufstossen, kein Er¬
brechen. Die Geschwulst in der Leistenbeuge vergrösserte sich etwas.
Ein hinzugezogener Arzt stellte einen eingeklemmten Bruch fest und
überwies den Patienten in die Klinik.
Status praesens: Mittelgrosser Mann in gutem Ernährungszustände.
Puls kräftig, regelmässig, nicht beschleunigt.
Innere Organe ohne Besonderheiten.
In der linken Leistengegend eine hühnereigrosse pralle Geschwulst, die
sich nach oben bis in den Leistencanal hinein fortsetzt. Die Geschwulst ist
druckempfindlich, lässt sich nicht zurückbringen oder verkleinern. Der Samen¬
strang liegt unten aussen von der Geschwulst.
15. 9. 07. Operation (Dr. Schwarz). Chloroform-Sauerstoff-Narkose.
Schnitt parallel dem Lig. Poup., Freilegung der Geschwulst. Nach Durch¬
trennung der Fascie kommt ein reichlich mit Gefässen durchsetztes Fettgewebe
zum Vorschein in Gestalt einer Birne. Dasselbe wird in der Längsrichtung
stumpf und scharf durchtrennt. Schliesslich entleert sich nach Durchschneidung
einer ganz in der Tiefe der Fettgeschwulst liegenden Bindegewebsschwiele eine
grosse Menge bernsteingelber klarer Flüssigkeit. Der eingeführte Finger ge¬
langt in die Blase, in welcher deutlich stark vorspringende Balken zu
fühlen sind.
Nach Einlegen eines Verweilkatbeters in die Urethra Nabt der Blasenwand
in 3 Etagen, ohne dass die Schleimhaut mitgefasst wird.
Beim weiteren Hervorziehen der Fettgeschwulst erscheint auch das Peri¬
toneum im oberen Wundwinkel. Abtragen des Fettes, Rücklagerung der ge¬
nähten Blase. Schluss der Bruchpforte ohne Verlagerung des Samenstrangs.
Drainage. Verweilkatheter.
20. 9. 07. Verbandwechsel. Einige Nähte entfernt. Katheter gewechselt.
23. 9. 07. Sämmtliche Nähte entfernt. Ueber den weiteren Verlauf ist
noch zu sagen, dass hin und wieder hohe Temperatursteigerungen auftraten,
ohne dass sich eine besondere andere Ursache dafür auffinden liess und die
deshalb als sog. Katbeterfieber aufgefasst wurde. Der Urin war stets klar, der
Katheter wurde am 14. 10. definitiv entfernt, die Wunde schloss sich langsam.
Am 6. 11. 07 konnte L. als geheilt mit völlig verschlossener Bruchpforte und
ohne jeglichen Beschwerden aus der Klinik entlassen werden.
Hier handelte es sich also um eine rein extraperitoneale un-
'omplicirte Blasenhernie, welche durch die laterale Leistenbruch¬
pforte ausgetreten war.
Archiv für klin- Chirurgie. Bd. 94. Heft 1. g
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Dr. R. Felten,
Ueber die Aetiologie derselben sind wir hier ziemlich im Un¬
klaren, möglicherweise schuf die vorhandene Balkenbildung die
Disposition zu divertikelartiger Ausstülpung. — Die Symptome
waren, weil eben eine reine Blasenhernie ohne Complication mit
anderer Eingeweidehernie vorlag, derartig, dass man immerhin an
die Möglichkeit einer Blasenhernie hätte denken können. Aber die
vorhandenen, einer Darmincarceration so sehr ähnlichen Erschei¬
nungen, standen so im Vordergründe, dass Darm- bezw. Netzhernie
angenommen wurde. Es beweist eben dieser Fall, entgegen den
Ausführungen Martin’s 1 ), dass auch bei reinen Blasenhernien —
wahrscheinlich reQectorisch — Darmincarcerationserscheinungen, wenn
auch vielleicht nicht so ausgesprochen, ausgelöst werden können.
Die Behandlung war im vorliegenden Falle relativ einfach, eine
Drainage war, wie früher dargethan, zu empfehlen. Der Erfolg
war durchaus gut, Patient konnte geheilt entlassen werden.
2 . F. W., Arbeiter, 75 Jahre alt, aus Merseburg. Aufnahme 21. 3. 08.
War niemals ernstlich krank, will schon seit vielen Jahren einen rechtsseitigen
Leistenbruch gehabt haben, der angeblich durch sohweres Heben entstand.
Ein Bruchband hat P. nicht getragen, weil er niemals stärkere Beschwerden
von dem Bruch gehabt hat.
Vor 5 Tagen trat der Bruch ohne jede Ursache stärker heraus, Patient
hatte heftige Schmerzen, konnte spontan keinen Urin lassen, sodass er jeden
Tag katheterisirt werden musste. Stuhl angehalten, Aufstossen besteht seit
gestern, kein Erbrechen. Da die Haut über dem Bruche sich röthete, die
Schmerzen heftiger wurden, suchte Patient die Klinik auf.
Status praesens: Alter gebrechlicher Mann, Puls beschleunigt, un¬
regelmässig, über beiden Lungen ausgedehnte feuchte Rasselgeräusche. Tem¬
peratur 38,2.
In der rechten Inguinalbeuge ist eine etwa faustgrosse ziemlich pralle Ge¬
schwulst, die sich etwas herab in das Scrotum erstreckt. Die Haut über der
Geschwulst ist gespannt, geröthet und sehr druckempfindlich. Bei der Per¬
cussion ist über der Geschwulst gedämpfter Schall, im Abdomen kein Erguss
nachzuweisen. Die Geschwulst lässt sich nach oben in den Leistenoanal hin
verfolgen, lässt sich durch Druok nicht verkleinern.
Therapie: 21. 3. 08 Operation (Dr. Schwarz) Chloroform-Sauerstoff-
Narkose. Schnitt über die Höhe der Geschwulst. Nach Durchtrennung der
Haut und der oberflächlichen Fascie kommt man auf ein graugelbes nekrotisches
Gewebe. Bei stumpfer Durchtrennung dieses Gewebes läuft plötzlich hellgelbe
Flüssigkeit in grosser Menge heraus. Man erkennt durch Betastung, dass die
>) Martin, 1. c.
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Ueber Blasenhernien.
83
Blase eröffnet ist. Die Schleimhaut der Blase ist in dem eingeklemmten Theile
nekrotisch, in derUmgebung hämorrhagisch infarcirt. Die nekrotischen Blasen¬
partien werden abgetragen and die Blasenwunden durch drei Reihen Muscu-
larisnähte geschlossen. Neben der Blase liegt noch ein leerer Bruchsack, eben¬
falls durch die mediale Leistenbruchpforte ziehend. Abtragen des Bruchsackes
in gewöhnlicher Weise, Naht der Fascie, Drainage und Tamponade nach der
Stelle der Blasennaht. Hautnaht. Dauerkatheter.
Verlauf: 26. 3. 08. Verbandwechsel, einige Nähte entfernt, ebenfalls
Drainage und Tamponade.
28. 3. 08. Verbandwechsel: Aus der Wunde entleert sich Urin.
Aus dem weiteren Verlaufe ist noch hervorzuheben, dass sich diese Fistel
nur langsam schloss. Eine bestehende Cystitis wurde durch Urotropin und
Blasenspülungen beseitigt. Am 27. 6. 08 konnte W. geheilt aus der Klinik
entlassen werden.
Hier lag also eine paraperitoneale Blasenhernie vor, bei der
der eigentliche Bruchsack jedoch leer gefunden wurde. So waren
auch hier Symptome, vorhanden, welche auf das Bestehen einer
Blasenhernie hindeuteten. Was aber bei diesem Falle von be¬
sonderem Interesse war, war der Umstand, dass die Einklemmung
der Blase schön so lange bestanden hatte, dass eine Ernährungs¬
störung der Blasenwand bereits eingetreten war. Auch hier hatte
die schwere Blaseneinklemmung Darmincarcerationssymptome her¬
vorgerufen. Das operative Vorgehen konnte, wie aus den all¬
gemeinen Ausführungen hervorgeht, nur das eingeschlagene sein.
Bass sich eine Blasenfistel bildete, nimmt bei dem phlegmonösen
Zustand der Blasenwand nicht Wunder. Der Endausgang war aber
auch hier gut, die Fistel schloss sich spontan, Patient konnte
geheilt entlassen werden.
3 . F.H., Geschirrführer, 44 Jahre alt, aus Wansleben. Aufnahme 9.10.09.
Anamnese: Patient war niemals ernstlich krank.
Seit 23 Jahren leidet er an einem linksseitigen Leistenbruoh, der hin und
wieder austrat, sich aber meist leicht zurückbringen und durch ein Bruchband
zorückballen liess. Nur vor einigen Jahren trat dabei einmal eine Schwierig¬
keit ein, sodass Patient ärztliche Hülfe zur Reposition in Anspruch nehmen
musste.
Heute Morgen war Patient mit Kohlenschaufeln beschäftigt. Auf dem
Wege nach Hause hatte er Schmerzen in dem Bruch, welcher jetzt ausgetreten
war. Patient konnte ihn eicht zurückbringen und legte sich deshalb ins Bett.
Da auch jetzt der Bruch nicht zurücktrat, liess Patient einen Arzt rufen, welcher
ebenfalls vergeblich Repositionsversuche machte. Da Patient weiterhin zweimal
erbrach, schickte der Arzt ihn in die Klinik. Stuhl- und Urinentleerung stets
ohne Besonderheiten, auch heute Morgen noch.
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84
Dr. R. Felten,
Statas praesens: Mittelgrosser Mann in leidlichem Ernährungszu¬
stände, kommt zu Fuss in die Klinik, klagt über Schmerzen in der linken
Leistenbeuge. Es besteht hier ein sioh nach oben in die Gegend dos äusseren
Leistenringes mit breitem Stiel fortsetzender reichlich faustgrosser Tumor von
prall elastisoher Consistenz. An der Geschwulst lässt sich unten der Testikel
deutlich abtasten. Der Percussionschall ist überall gedämpft.
Diagnose: Hernia inguinalis lateralis sinistra- incarcerata mit vor¬
wiegender Betheiligung des Netzes und wahrscheinlich reichlicher Bruchwasser¬
ansammlung.
9. 10. 09. Operation in Morphium-Chloroform-Sauerstoff-Narkose. (Dr.
Felten.) Etwa 12 cm langer Hautschnitt in der Richtung des Samenstranges
etwas über dem äusseren Leistenring beginnend nach abwärts. Spaltung der
vorderen Wand des Leistencanals. Isolirung des Bruchsackes; derselbe zeigt
sich von einer dicken Schwiele bedeckt. Nachdem auch der in diese derben
Schwielen theilweise eingebetteteSamenstrang abgelöst ist, Eröffnung desBruch-
sackes. Es iliesst ziemlich reichlich klares Bruchwasser ab. Dasselbe erweist
sich, wie die spätere bakteriologische Untersuchung zeigt, als steril. Der In¬
halt des Bruchsackes wird weiter gebildet von einer Dünndarmschlinge, welche
blauroth verfärbt ist, aber noch glänzende Serosa zeigt, sich auch nach Lösung
des einklemmenden Ringes rasch erholt. Reposition des Darmes. Etwas ober¬
halb des Brucbsackhalses zeigt sich an der hinteren Fläohe Dickdarm breit
adhärent. Tabaksbeutelnaht, Abtragung des Stumpfes.
Die vorher abgelösten Schichten stellen eine derbe feste etwa 1 / z cm dicke
theilweise mit etwas Fett durchsetzte Schwiele dar, welche auffallender Weise
sehr weit medial, etwa in die Gegend der Fovea epigastrica medialis zieht.
Beim weiteren Isoliren des Samenstranges kommt man in der Schwiele an eine
schlaffe weissliche Cyste, deren äusserst dünne Wand sofort einreisst. Im Mo¬
mente war es klar, dass es sich nur um einen Theil der Blase bandeln konnte.
Der eingeführto Finger gelangt durch eine runde Oeffnung in einen mit Schleim¬
haut ausgekleideten Hohlraum hinter der Symphyse und kommt in Contact mit
einem in die Urethra eingeführten Katheter. Die Cyste stellt eine etwa 10 bis
12 cm lange nur von Schleimhaut gebildete Ausstülpung der Blase dar, deren
Communication mit der Blase für einen Finger eben durchgängig ist. Muskel¬
fasern wurden auch nachträglich in der Schwiele nicht gefunden. Die Blasen¬
ausstülpung ist duroh dieFovea inguinalis medialis ausgetreten, denn der Bruch¬
sack und die Blasenausstülpung divergiren nach oben.
Wegen der äusserst leichten Zerreissliohkeit gelingt die Isolirung der
ganzen Schleimhautausstülpung nur sehr schwer. Um den Uebergang in den
Haupttheil der Blase deutlich zu Gesicht zu bekommen, ist es erforderlich, den
Musculus rectus etwas einzukerben. Nach Abtragung des grössten Theiles des
Divertikels Naht der Blasenschleimhaut mit Catgut, doch schneiden die Fäden
ziemlich stark ein, sodass durch den Katheter eingelassenes Borwasser aus der
Wunde austritt. Es wird deshalb die benachbarte Blasenmusculatur mit einem
Theil der vorher abgelösten Schwiele, die sich in das perivesicale Bindege-
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Ueber Blasenhernien.
85
webe fortsetzt, in mehreren Etagen über der Schleimhaut vernäht. Nunmehr
eingelassenes Borwasser wird durch den Katheter wieder exprimirt. Schluss
der Bruchpforte ohne Verlagerung des Samenstrangs. Dünnes Gummidrain in
die Gegend der Blasennaht. Im übrigen wird die Wunde vollkommen geschlossen.
Dauerkatheter.
Verlauf: 10. 10. 09. Nacht leidlich ruhig, Puls voll und kräftig. Der
alle zwei Stunden gesondert aufgefangene Urin ist allmählich immer klarer ge¬
worden, aber noch leicht blutig tingirt, entfärbt sich im Laufe des Tages ganz.
16. 11. 09. Verbandwechsel: Wunde reactionslos, Drain ontfernt. Ver¬
weilkatheter gewechselt.
20. 11. 09. Verbandwechsel. Nähte entfernt. Etwa bohnengrosse granu-
lirende Fläche an der Drainagestelle. Abklemmen des Katheters für 1 —2 Stunden,
um die Blase an die vermehrte Capacität zu gewöhnen.
21. 11. 09. Katheter wird endgültig entfernt. Urin wird in genügender
Menge spontan gelassen, ist leicht trübe gefärbt infolge Urethritis anterior. Die
Höchsttemperatur nach der Operation betrug 37,3°. Bei wiederholten cysto-
skopischen Untersuchungen sieht man an der linken Blasenwand die incrustirten
weissglänzenden Catgutfäden. Die Stichcanäle in der Schleimhaut klaffen etwas.
Bei einer 3. cystoskopischen Untersuchung am 10. 11. 09 wurden die Fäden
nicht mehr gesehen, die Nahtstelle bot keine Besonderheiten mehr.
Bei der Entlassung am 11. 11. 09 fühlte der Patient sich vollkommen
wohl, hatte keine irgendwelche Urinbeschwerden. Die etwa 13 cm lange in der
Mitte, an der früheren Drainagestelle, mitdendarunterliegendenGewebsschiohten
etwas verwachsene Narbe ist nicht druckempfindlich, geringe Verdickung entlang
dem Samenstrang. Bruchpforte fest verschlossen.
In dem vorliegenden Falle handelte es sich also um eine
Blasenhemie bei einem Manne, bei dem schon sehr lange eine
Hernie bestanden hatte, die wohl in Folge schwerer körperlicher
Anstrengung so unglücklich ausgetreten war, dass sie einge¬
klemmt wurde. Dieses lange Bestehen der Hernie müssen wir als
ätiologisch von Bedeutung ansehen, indem Verwachsungen in Folge
leichter Entzündungsvorgänge in der Nähe der Bruchpforten die
Divertikelbildung verursachten. Die nur in mässigem Grade vor¬
handene Prostatahypertrophie kann hier als bedeutungslos ange¬
sehen werden.
Bei der Operation fand sich eine Hernia inguinalis lateralis
incarcerata mit einer Darmschlinge als Inhalt. Daneben lag in
der Bruchgeschwulst extraperitoneal ein lang ausgezogenes Blasen¬
divertikel, welches durch die mediale Leistenbruchpforte ausge¬
treten war. Zwar wurden die Vasa epigastrica nicht gesehen,
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86
Dr. R. Felten,
doch liess sich das getrennte Austreten des Brucksackes und des
Blasendivertikels deutlich nachweisen. Auch wurde die laterale
Bruchpforte von einem engen Ring gebildet, der eben die Incarce-
ration bewirkt hatte, während die mediale Bruchpforte weit war,
und dem Divertikel Raum genug liess, mit dem Hauptraum der
Blase weit zu communiciren.
Es fand sich weder das Lipom noch auch die typische Blasen-
musculatur, diese nicht einmal mikroskopisch, wie die Unter¬
suchung eines excidirten Stückes im hiesigen pathologischen Institut
ergab. So war die Diagnose auch während der Operation sehr
erschwert. Eine Verletzung der Blase war wegen der leichten
Zerreisslichkeit der überaus dünnen Schleimhaut nicht zu vermeiden.
Aus demselben Grunde gestaltete sich auch die Blasennaht sehr
schwierig und war nur nach Erweiterung der Bruchpforte nach
oben innen möglich.
Die Gefahr der Infection des Peritoneums war durch früh¬
zeitigen Verschluss vermieden, die Infection des Bindegewebes
durch ausgiebige Säuberung der Wunde.
Der Erfolg war auch hier durchaus gut. Die Blasennaht
hielt, der Patient ist von seinem Blasendivertikel wie von seiner
Hernie befreit und die Bruchpforte fest verschlossen.
So gehören unsere drei Fälle zwei verschiedenen Gruppen von
Blasenhernien an, einmal lag eine paraperitoneale, zweimal extra¬
peritoneale Blasenhernie vor. Doch haben alle drei Fälle ihre
Besonderheiten. In dem Falle 1 lag eine extraperitoneale laterale
reine Blasenhernie vor. Dementsprechend deuteten die Symptome
auf das Vorhandensein einer Blasenhernie hin. — In Fall 2, in
dem es sich um eine paraperitoneale Hernie handelte, war der
Bruchsack jedoch leer, die Blase war eingeklemmt, die Blasenwand
bereits gangränös geworden. Auch hier deuteten die Symptome
auf Blasenhernie, nur dass in Folge der Nähe des Peritoneums im
Bruchsack die entzündliche Reizung von der gangränösen Blasen¬
wand auf dieses relativ stürmischere Erscheinungen machte.
In Fall 3 endlich spielte die Blase eine mehr untergeordnete
Rolle, hier nahm das Hauptinteresse zunächst wenigstens, der ein¬
geklemmte Darm in Anspruch.
Trotz der ungünstigen Verhältnisse, namentlich in Fall 2 und 3,
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Ueber Blasenhernien.
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war der Erfolg in allen Fällen gut, die Patienten konnten völlig
geheilt entlassen werden.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Geheimrath v. ßramann,
danke ich für die Erlaubniss, die obigen drei Fälle aus seiner
Klinik veröffentlichen zu dürfen.
Herrn Oberarzt Prof. Stieda, unter dessen Assistenz ich den
3. Fall operirt habe, bin ich für die Anregung zu dieser Arbeit zu
Dank verpflichtet.
Literatur.
Eingehende Literatarangaben bis 1907 finden sich in der mehrfach er*
wähnten Arbeit von Eggenberger, Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 94.
— Seitdem sind noch folgende Arbeiten über das gleiche Thema erschienen:
Bakunin, Doppelseitige Leistenhernie der Harnblase. Chirurgie 1907. No. 121.
ref. Centralbl. 1907. S. 676.
Hansen, Ueber Blasenbrüche. Nord. med. Arbir. Bd. 38. Abth. 1. No. 16.
ref. Centralbl. 1907. S. 676.
Provera, Un caso di ernia crurale dell’ uretere. ref. Centralbl. 1907. S. 1105.
Galassi, Süll’ ernia dell’ uretere. ref. Centralbl. 1908. S. 721.
Mastrosimone, L’ernia della vescica. ref. Centralbl. 1909. S. 1359.
Charrier, Une cystocele inguinale etranglöe suivie de spbacele etendu de la
vessie. ref. Centralbl. 1909. S. 941.
Charrier et Charbonnel, Un nouveau cas de cystocele ötranglee. ref.
Centralbl. 1910. S. 52.
Brunner, Das Hervorziehen der Harnblase bei Hernienradicaloperationen.
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 101.
Caccia, L’uretörocele. ref. Centralbl. 1910. S. 339.
Smitten, Zur Casuistik der Verwundungen der Harnblase bei Herniotomien.
ref. Centralbl. 1910. S. 484.
Morone, Süll’ ernia dell’ uretere. ref. Centralbl. 1910. S. 589.
Erklärung der schematischen Abbildungen 1 ) auf Tafel I.
1. Normale Verhältnisse, Blase massig gefüllt.
2. Blase stark gefüllt, hat das Peritoneum zurückgeschoben, so dass die
Blasenwand direct der Bruchpforte anliegt.
3. Die Blase hat sich durch die Bruchpforte nach aussen vorgewölbt =
rein extraperitoneale Blasenhernie.
*) Die Anfertigung der Zeichnungen hat Frl. Käthe Wange rin-Halle
übernommen.
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88
Dr. R. Felten, Üeber Blasenhernien.
4. Das Peritonenm war an der Brnchpforte fixirt, konnte in Folge dessen
nicht weiter hinanfgeschoben werden, tritt mit der Blase durch die Bruch¬
pforte = paraperitoneale Blasenhernie.
5. Das Peritoneum ist schon an der Umschlagsfalte fixirt. Die Blase
dehnt sich aus und gelangt an die Bruchpforte, während sie selbst noch Peri¬
tonealuberzug besitzt und auch die Bruchpforte mit Peritoneum überkleidet ist
Dann kommt es zur
6. intraperitonealen Blasenhernie.
7. Neben einer directen Blasenhernie eine indirecte Eingeweidehemie, die
Vasa epigastrica liegen zwischen beiden = paraperitoneale Blasenhernie mit
doppelter Bruchpforte (Eggenberger) — besser extraperitoneale
Blasenhernio.
8. Mit der Blasenwand adhärenter Darm zieht die Blase nach sich =
besondere Form der intraperitonealen Blasenhernie.
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IV.
(Aus dem männlichen Obuchow-Hospital in St. Petersburg.)
Die Behandlung der angeborenen ßlasen-
divertikel und ihre klinische Bedeutung.
Von
Dr. B. N. CholzolF (St. Petersburg),
dirigirender Arzt.
(Hierzu Tafel II und 1 Textfigur.)
1. Znr Anatomie der Divertikel.
Zu den Anomalien der Blase, die ein grosses klinisches Inter¬
esse beanspruchen, gehören die localen Ausstülpungen der Blasen¬
wand, die sogen. Divertikel. Letztere können erworbene und an¬
geborene sein.
Die erworbenen sind häufiger und entstehen gewöhnlich im
Anschluss an lange bestehende Erschwerung der Harnentleerung
bei Männern verschiedensten Alters: im Anfang beobachtet man
eine Hypertrophie der Blasenwand und Dilatation der Blase, steht
aber die Blase längere Zeit unter erhöhtem Druck, so kommt es
zu partieller Ausstülpung der Blasenwand da, wo sie arm an
Muskelgewebe ist, d. h. zwischen den einzelnen Muskelbündeln.
Die Wandungen so entstandener Divertikel müssen demnach haupt¬
sächlich aus Mucosa und vereinzelten Muskelfasern der äusseren
längs verlaufenden Muskelschicht der Blase bestehen. Diese Diver¬
tikel sind meist multipel und von verschiedener Grösse — von der
einer Erbse bis zu der eines Hühnereies und noch grösser. In
solchen Divertikeln können sich secundär Steine bilden. Blasen¬
steine, die an irgend einer Stelle der Harnblase fixirt sind, können
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90
Dr. B. N. Cholzoff,
durch den Druck, den sie ausüben, zu Divertikelbildung führen,
besonders, wenn die Blase unter erhöhtem Druck steht, In solchen
Fällen können in den Divertikelwandungen alle Elemente der Blasen¬
wand nachgewiesen werden.
Bedeutend grösseres klinisches Interesse beanspruchen die
seltener vorkommenden angeborenen Harnblasendivertikel. Ungeachtet
dessen, dass in letzter Zeit einige Autoren [Cathelin et Sempe (1),
Englisch (2), Pagenstecher (3), Wagner (4), Meyer (5)] sorg-
fältigst alle Fälle von angeborenen Harnblasendivertikeln ge¬
sammelt haben, ist ihre Zahl doch nicht gross. Aus der Literatur
sind etwa 70 Fälle bekannt. Zu diesen gehören auch die FäUe
von doppelter Harnblase. Darunter versteht man zwei nebenein¬
ander gelegene Blasen, von denen jede mit der allgemeinen Harn¬
röhre communicirt. Es kommt aber auch vor (sehr selten!), dass
jede Blase ihre eigene Harnröhre besitzt (Pean). Bei Blasen mit
Divertikeln sind die Mündungen der Harnleiter meist an normaler
Stelle zu finden, doch kommt es vor, dass ein Harnleiter in die
Blase, der andere aber in das Divertikel mündet.
Einige Autoren (Cathelin et Sempö) sprechen nun solche
Divertikel als doppelte Harnblasen an, obwohl dieselben nicht mit
der Harnröhre direct, sondern mit der Hauptblase communiciren.
Wie dem auch sei, aber vom klinischen Standpunkt ist es äusserst
wichtig, den Umstand im Auge zu behalten, dass ein Harnleiter in
ein Divertikel münden kann.
Gewöhnlich weist die Blase ein Divertikel auf, nur selten
werden sie multipel beobachtet. Die angeborenen Divertikel
kommen an verschiedenen Stellen der Blasenwand vor. Ihrer
Localisation nach unterscheidet Englisch die am häufigsten vor¬
kommenden Divertikel der hinteren Blasenwand, die selteneren
Divertikel der Scitenwände und endlich die noch selteneren Diver¬
tikel der vorderen Blasenwand und des Vertex. Im Gegensatz zu
den erworbenen Divertikeln communiciren die angeborenen mit der
Blase vermittelst einer mehr oder weniger engen Mündung und
weisen ihre Wandungen dieselben Elemente auf, wie diejenigen der
Blasenwand. Je nach seiner Localisation kann das Divertikel von
aussen her vollkommen oder nur theilweise vom Peritoneum bedeckt
sein. Wie einige Präparate von Englisch zeigen, kann das Diver-
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Die Behandlung der angeborenen Blasendivertikel etc.
91
tikel mit seiner äusseren Fläche mit dem Peritoneum, dem Rectum,
der Beckenwand, der Blase, dem Vas deferens, den Samen¬
bläschen u. s. w. verwachsen sein. Praktisch ist das intime Ver¬
hältnis des entsprechenden Harnleiters zu den Divertikeln, die
von den Seitenwänden der Blase oder von ihrer hinteren Wand
ausgehen, von grösster Bedeutung: Der Harnleiter liegt der Wand
(der vorderen, hinteren oder seitlichen) des Divertikels an oder ist
sogar in einer Rille der Divertikelwandung eingebettet, nicht
selten ist der Harnleiter mit der Wand des Divertikels verwachsen.
Ich habe 6 Fälle von angeborenen Blasendivertikeln beob¬
achtet, die mit Hülfe der Cystoskopie diagnosticirt wurden. In
einem dieser Fälle befand sich die Communication des Divertikels
mit der Blase an ihrer hinteren Wand, gleich hinter dem hinteren
Rande des Trigonum Lieutaudii, in einem anderen (operirten) Falle
an der Mündungsstelle des linken Harnleiters, im dritten Falle be¬
fand sich die Mündung des Divertikels gleich hinter der Mündungs¬
stelle des rechten Harnleiters, im vierten erüffnete sich das Diver¬
tikel in die Blase, einen Querfinger nach hinten und aussen von
der rechten Ureterenmündung, im fünften Falle handelte es sich
um mehrere Divertikel, die an verschiedenen Stellen zwischen und
hinter den Uretermündungen lagen und endlich im sechsten Falle
lag die Oeffnung des Divertikels gleich hinter der linken Harn¬
leitermündung. Ein Mal (im operirten Fall!) handelte es sich um
einen Mann von 26 Jahren, 3 mal um Leute mittleren Alters und
2 mal um Leute von über 60 Jahren. Kein Mal lag ein mecha¬
nisches Hinderniss zur Harnentleerung vor. Dieser Umstand ebenso
wie das cystoskopische Bild lassen es keinen Moment zweifelhaft
erscheinen, dass es sich in den von mir beobachteten Fällen um
angeborene Divertikel handelte.
Im weiteren Verlaufe dieser Arbeit habe ich nur die ange¬
borenen Blasendivertikel im Auge, die ich vom Standpunkte ihrer
klinischen Bedeutung betrachten will.
2. Das klinische Bild.
Was für Beschwerden verursacht ein uncoraplicirtes Divertikel?
In dieser Beziehung ist unser Wissen sehr lückenhaft, da die
meisten in der Literatur angeführten Beobachtungen zufällige
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92
Dr. ß. N. Cholzoff,
Sectionsbefunde sind, andererseits die Kranken mit Complicationen
zur Beobachtung kamen, die die ausschliesslich vom Divertikel
verursachten Beschwerden vollständig verwischten.
Da sich die Communication des Divertikels mit der Blase
meistentheils durch eine enge Oeffnung vollzieht, und da diese
Oeffnung in der Mehrzahl der Fälle so gelegen ist, dass der Rück¬
fluss des Harnes aus dem Divertikel in die Blase erschwert ist,
so muss es zu einer mehr oder weniger starken Harnretention im
Divertikel kommen. Handelt es sich um ein grösseres Divertikel,
so kann dieser Umstand zur Bildung eines Tumors und zu Störungen
in der Harnentleerung führen. Thatsächlich liess sich in einigen
Fällen im unteren Abschnitt des Abdomens bei seitlichen und vor¬
deren Divertikeln ein elastischer Tumor durchfühlen, wogegen sich
bei hinteren Divertikeln ein solcher per rectum palpiren liess. Diese
Tumoren wurden nach der Harnentleerung kleiner und vergrösserten
sich bei lang dauernder Harnverhaltung. Besonders deutlich waren
sie als prall-elastische Tumoren fühlbar bei artificieller Füllung der
Blase.
Die Störungen in der Harnentleerung sind 1. das Gefühl der
nicht vollen Befriedigung nach dem Uriniren, 2. ist die Entleerung
der Blase erschwert, nicht selten von Anspannung der Bauchpresse
begleitet, und 3. lässt sich manchmal ein charakteristisches Uriniren
in 2 Tempis beobachten: nachdem eine grössere Menge Harnes im
Strahl entleert ist, fliesst der Harn einige Minuten lang tropfen¬
weise und dann wiederum im Strahl, der bei Druck auf den Tumor
voller wird.
Manchmal stellt sich vollständige oder theilweise Harnverhaltung
ein, letztere ist dann mit häufigem Harndrang verbunden. Dieser
Harnverhaltung ohne augenscheinliches Hinderniss im Verlaufe der
Harnröhre und des Blasenhalses giebt Pagen Stecher folgende
Erklärung: Der Inhalt der Blase gelangt direct durch die Harn¬
röhre nach aussen, der Inhalt des Divertikels aber vorher in die
Blase; während des Urinirens, wo sich sowohl die Musculatur der
Blase, wie die des Divertikels im Zustande der Contraction be¬
findet, muss der Harn aus dem Divertikel sich in einen Raum
ergiessen, in dem Dank der Contraction seiner Wandungen ein
positiver Druck besteht; zur Ueberwindung dieses Hindernisses ist
eine starke Anspannung der Divertikelrausculatur nothwendig, diese
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Die Behandlung.der angeborenen Blasendivertikel etc.
93
wird hypertrophisch, aber mit der Zeit stellt sich eine Insufficicnz
derselben ein: das Divertikel ist dann nicht mehr im Stande, sich
seines Inhaltes zu entäussern, es kommt zu Stagnation und all¬
mählicher Dilatation des Divertikels. Da nun die Blase meisten¬
teils vor dem Divertikel liegt und letzteres meistens der unteren
hinteren oder unteren seitlichen Wand der Blase anliegt, so kann
das dilatirte Divertikel zu einer mehr oder weniger starken Knickung
und Corapression der Harnröhre führen. Nicht vollständige Com-
pression der Harnröhre hat partielle Harnretention mit häufigem
Harndrang zur Folge. Der häufige Harndrang bei Nicht Vorhanden¬
sein einer absoluten Harnverhaltung kann dadurch erklärt werden,
dass der Harn nach jedesmaliger Leerung der Blase nicht nur aus
den Nieren, sondern auch aus dem dilatirten Divertikel in die
Blase gelangt; somit füllt sich die Blase schneller und der Harn¬
drang stellt sich früher als gewöhnlich ein; bei Contraction der
Blase endlich fliesst nicht aller Harn durch die Harnröhre nach
aussen, sondern ein Theil desselben gelangt in das Divertikel.
Nach casuistischen Mittheilungen zu urtheilen, sind diese
Störungen nur selten so classisch ausgeprägt, vielmehr dürfte man
annehmen, dass sie erst bei einer gewissen Grösse des Divertikels
mehr oder weniger deutlich in den Vordergrund treten. Meisten-
theils aber sind diese Störungen in der Harnentleerung lange Zeit
gar nicht vorhanden oder so schwach ausgeprägt, dass die Patienten
ihnen so lange keine Aufmerksamkeit zuwenden, bis sie hinzu¬
tretende Complicationen dazu zwingen.
Diese werden fast immer durch eine hinzutretende Infection
ausgelöst, wozu der Retentionsharn im Divertikel einen nur zu
günstigen Boden bietet. Inficirt wird die Blase durch bei Harn¬
verhaltung häufig ausgeführten Katheterismus, wie überhaupt durch
jegliche instrumentellc Untersuchung der Harnwege. Manchmal
jedoch wird die Infection der Harnwege auch ohne vorhergegangene
instrumentelle Untersuchung beobachtet. Je nach dem Charakter
der Infection stellen sich die Symptome einer acuten oder chro¬
nischen Cystitis ein: trüber Harn, häufiger und schmerzhafter Harn¬
drang, Schmerzen in der Gegend der Blase und des Divertikels.
Die Cystitis kann auch, wie in dem von mir weiter beschriebenen
Fall, einen hämorrhagischen Charakter annehraen. Eine Blasen¬
blutung kann aber auch bei nicht inficirter Blase Vorkommen: diese
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lässt sich dann mit Circulationsstörungen in causalen Zusammen¬
hang bringen, die durch Dehnung der Divertikelwandung durch
stagnirenden Harn hervorgerufen werden. Nicht selten beobachtet
man bei Divertikeln und Cystitis Fieber. Der Blasen- und Diver¬
tikelkatarrh nehmen manchmal alkalischen Charakter an: im Diver¬
tikel fallen die phosphorsauren Salze aus und es kann secundär
zu Steinbildung kommen. Da im Divertikel die festeren morpho¬
logischen Bestandteile des Eiters stagniren, so kann man bei
länger dauernden Entzündungen manchmal beobachten, dass zum
Schluss der Harnentleerung oder beim Katheterisiren in den letzten
Portionen der Harn mehr Eiter enthält oder sogar reiner Eiter ab-
fliesst. Daher kommt es auch bei Blasenspülungen manchmal vor,
dass, nachdem die Spülflüssigkeit schon vollkommen klar abge¬
flossen ist, sie plötzlich wieder trübe wird.
Sehr häufig sind inficirte Blasendivertikel von Pyelonephritis
und Pyonephrose begleitet. Stagnirt nämlich der Ham in der
Blase und im Divertikel, so hat dies auch eine Harnretention in
den höher gelegenen Harnwegen und eine Verbreitung der Infection
nach oben zur Folge. Andererseits aber sieht man diese Compli-
cation auch bei vollkommen freiem Harnabfluss aus der Blase cin-
treten. In solchen Fällen muss man die Erklärung in dem intimen
Verhältniss des Divertikels zum Ureter suchen; dieser verläuft längs
der Divertikelwand, manchmal mit ihr fest verwachsen. Dieser
Theil des Ureters ist dann abgeflacht, wodurch sein Lumen auch
verkleinert ist. Dieses führt zunächst zu einer Hydronephrose der
entsprechenden Seite und nach Infection derselben zu Pyelonephritis
oder Pyonephrose. Thatsächlich ist auch in vielen Fällen bei der
Autopsie eine Dilatation des Harnleiters und des ganzen Nieren¬
beckens der dem Divertikel entsprechenden Seite gefunden worden;
in den Fällen aber, wo doppelseitige Erkrankung vorlag, war sie
jedesmal auf der Seite des Divertikels deutlicher ausgeprägt.
3. Diagnose.
Für die Diagnose eines Blasendivertikels hat von den klinischen
Symptomen nur die manchmal vorkommende Harnentleerung in
zwei Absätzen eine Bedeutung, die anderen Erscheinungen haben
nichts Specifisches und können bei den verschiedensten Erkran¬
kungen der Harnwege Vorkommen.
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Die Behandlung der angeborenen Blasendirertikel etc.
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Wirkliche Bedeutung für die Diagnose eines Blascndivertikcls
haben nur die Resultate der physikalischen Untersuchung. Ein
Tumor im Unterleib, der Lage der Harnblase entsprechend, der bei
Injeetion von Flüssigkeit in die Blase sich vergrössert und sich
nach Abfluss der Flüssigkeit wieder verkleinert, ist schon ein ge¬
nügender Hinweis auf das Vorhandensein eines Divertikels. Dieses
Symptom kann aber nur bei einer gewissen Grösse des Divertikels
deutlich ausgeprägt sein, und zwar deutlicher bei den vorderen,
weniger deutlich bei den seitlichen Divertikeln. Nur in seltenen
Fällen lässt sich bei sehr grossen hinteren Divertikeln mit Hilfe
der bimanuellen Untersuchung das Vorhandensein eines Tumors im
Interleibe nachweisen [Hofmokl (6), Wagner]. Bei Vorhanden¬
sein eines Divertikels entleert sich manchmal aus dem Katheter
bei Druck auf den Tumor mit Eiter vermischter Harn, während
bei Wegfallen des Druckes der Harn nur sehr geringe Mengen
Eiter enthält. Manchmal lässt sich ein deutliches charakteristisches
Geräusch über der Blase nachweisen, das durch Eindringen der
injicirten Flüssigkeit aus der Blase in das Divertikel resp. umge¬
kehrt, d. h. aus dem Divertikel in die Blase bei Druck auf das
Divertikel ausgelöst wird [Pielicke (7)].
Fehlen die oben angeführten Symptome, so lässt sich doch
das Vorhandensein eines Divertikels durch die cystoskopische Unter¬
suchung nachweisen; meistens ist ein ßlasendivertikel ein zufälliger
cvstoskopischcr Befund. Im cystoskopischen Bilde sehen wir eine mehr
oder weniger runde, deutlich abgegrenzte, dunkle Oeffnung, an deren
Rändern die Mucosa in radiären Falten liegt. Manchmal kann man sehen,
wie aus dieser Oeffnung spontan oder bei Druck auf das Divertikel
reiner, trüber oder hämorrhagischer Harn, auch Eiter fliesst. Ferner
muss man im Auge behalten, dass bei Cystitis mit Oedem der
Mucosa das Bild derart verzerrt sein kann, dass es nur bei wieder¬
holt ausgeführter Cystoskopie gelingt, die Oeffnung zu Anden. So
war es auch in meinem Fall, wo die Oeffnung erst bei der zweiten
cystoskopischen Untersuchung gefunden wurde. Dann ist auch
nicht zu vergessen, dass beim gewöhnlichen Füllen der Blase
zwecks einer cystoskopischen Untersuchung (150 ccm) ein Theil
der injicirten Flüssigkeit oder auch die ganze Flüssigkeit in das
Divertikel gelangt und das Cystoskop in die fast leere Blase ein¬
geführt wird. Es ist verständlich, dass bei der unter solchen Um-
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ständen ausgeführten Cystoskopie (Fall Pagenstecher) man nur
einen dunklen Fleck oder ein undeutliches Bild der Mucosa sieht.
Dieser Umstand ist nicht zu vergessen, und liegt Verdacht auf da«
Vorhandensein eines Divertikels vor, so soll die Blase stärker als
üblich gefüllt werden, sofern dem nicht die erhöhte Empfindlichkeit
der Blase hindernd im Wege steht.
In dem einen von mir beobachteten Fall war das cystosko-
pische Bild ein ganz eigenartiges: die Communicationsöffnung des
Divertikels mit der Blase zeigte deutliche Contractionen, verengerte
sie sich, so sah man, wie bereits oben beschrieben, einen dunklen
Punkt, erweiterte sie sich aber, so konnte man beobachten, wie
der dunkle Fleck sich allmählich rosa verfärbte und wie bei Er¬
weiterung der Communicationsöffnung ad maximum die dunkelrothe
Mucosa des Divertikels sichtbar wurde. Die wechselnde Grösse
der Oeffnung stand augenscheinlich mit der Contraction und dem
Erschlaffen des die Oeffnung umgebenden Sphincters in Zusammen¬
hang. Czerny (8), Zachrisson (9) und Pagenstecher konnten
in ihren Fällen nach Eröffnung der Blase und Einführung des
Fingers in die Divertikelmündung deutlich die Contraction des
Sphincters wahrnehmen. Im Israel’schen (10) Fall hatte die Di¬
vertikelmündung ganz die Form eines normalen Blasenhalses.
Im Allgemeinen kann man sagen, dass es nicht schwer fallen
dürfte, ein Divertikel zu diagnosticiren, vorausgesetzt, dass in allen
Fällen, auch wo es sich um geringe Harnbeschwerden handelt,
cystoskopirt wird. In einigen Fällen, wo nicht cystoskopirt werden
konnte oder die cystoskopische Untersuchung nicht gelang, wurde
die Diagnose bei der Sectio alta gestellt. Es sei hier bemerkt,
dass nur in den seltensten Fällen zwecks Diagnosenstellung cysto¬
skopirt worden ist, denn meistens sind die Indicationen für eine
Cystostomie Harnverhaltung bei Undurchgängigkeit der Harnröhre
oder ein schwerer Blasenkatarrh. Ein Divertikel ist dann ein zu¬
fälliger Operationsbefund.
4. Verlauf und Prognose.
Ein Blasendivertikel bedeutet für den Kranken, wenn eine Ent¬
zündung hinzutritt, eine grosse Gefahr. Nach der Statistik von
Englisch (47 Fälle) beträgt die Sterblichkeit bei Blasendivertikel¬
entzündung ohne Steinbildung 83,1 pCt. Als nächste Todesursache
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Die Behandlung der angeborenen Blasendivertikel etc.
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sind anzusehen die infolge unmittelbaren l'ebergreifens des entzünd¬
lichen Processes auf das Peritoneum oder durch Perforation des Diver¬
tikels in die Bauchhöhle entstehende Peritonitis, septische Proeesse
und Urämie bei Erkrankung der Nieren. Somit kann auch eine
leichte Infection in Anbetracht der besonderen anatomischen Ver¬
hältnisse eines Blasendivertikels für den Träger verhängnisvoll sein.
Kommt eine Infection häufig vor?
Da die klinischen Beobachtungen meist an Erwachsenen und
alten Leuten gemacht sind, ferner, da die nicht complicirten Fälle
der angeborenen Blasendivertikel niemals klinisch beobachtet sind,
muss man annehmen, dass Blasendivertikel lange Zeit ohne Gefahr
für den Träger bestehen können. Vielleicht entleert sich in jugend¬
lichem Alter der Inhalt der Divertikel noch vollständig in die Blase
und die Bedingungen zum Zustandekommen einer Infection sind
somit ungünstige! Im Laufe derZeit aber tritt infolge der erhöhten
Ansprüche an die in der Divertikelwandung gelegene Musculatur
eine Insufficienz derselben ein und es kommt zu einer Dilatation
des Divertikels und Harnretention in demselben. Dann stellen sich
Harabeschwerden ein und eine hinzutretende Infection birgt in sich
die Gefahr einer secundären Infection der höher gelegenen Harn¬
wege, sofern diese nicht schon früher erkrankt waren.
5. Therapie.
In Anbetracht dessen, dass sogar unbedeutende Beschwerden,
die durch ein Divertikel hervorgerufen werden, über kurz oder lang
eine grosse Gefahr für den Kranken bedeuten, sollten alle Kranken,
wenn der Allgemeinzustand und die localen Veränderungen nicht
hoffnungslos schlecht sind, einer operativen Behandlung unterworfen
werden, die in vollständiger Beseitigung des Divertikels zu bestehen
hätte. Ist dieses nicht möglich, so muss man zum mindesten be¬
strebt sein, solche Verhältnisse zu schaffen, dass eine Harnverhal¬
tung im Divertikel nicht mehr möglich ist.
Bevor ich zur Besprechung der verschiedenen Operations-
methoden bei Harnblasendivertikel übergehe, möchte ich den von
mir operirten Fall beschreiben.
Kranker J. F., 26 Jahre alt, tritt am 15. 11.08 ins Krankenhaus ein.
Bis zum 20. Lebensjahr urinirte er vollkommen normal. Vor etwa 6 Jahren
konnte er plötzlich scheinbar ohne jeden Grund, nur mit grösster Anstrengung
Arebiv für klin. Chirurgie. BdL SK. Heft 1. n
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uriniren. Der Harn ontleerte sich unter starkem Pressen, tropfenweise and es
bestand häufiger Harndrang (etwa alle 1 / 2 Stande), auch enthielt der Harn
Blut. Patient wurde mit Katheterisiren behandelt. Dieser Zustand dauerte
2 Monate; die nächsten 4 Jahre war Patient vollständig gesund, er urinirte
ohne Beschwerden, nicht zu häufig, auch war der Urin wieder rein. Vor
5 Jahren machte Patient eine Gonorrhoe duroh, die normal, ohne Complica-
tionen, verlief. Vor einem Jahr stellten sich nach einem Bade wieder die oben
beschriebenen Beschwerden ein und dauerten einen Monat. Er wurde wieder
mit Katheterisiren behandelt. Die nächsten 5 Monate urinirte Patient ohne Be¬
schwerden, bloss etwas häufiger als normal. Ein 1 / 2 Jahr vor Eintritt ins
Hospital fing Patient über das Gefühl einer gewissen Schwere in der Gegend
der Blase zu klagen, der Harndrang wurde immor häufiger, der Urin immer
unreiner, manchmal sogar mit Blutbeimengung. 3 Jahre vor Eintritt ins Hos¬
pital bestanden im Verlaufe von 3 Wochen starke Schmerzen der linken Seite,
vor 2 Jahren stellten sich auch unbedeutende Schmerzen der rechten Seite ein,
die bis auf den heutigen Tag anhalten.
Normal gebaut, gut ernährt, anämisch, fiebert. Harnentleerung sehr er¬
schwert, kann stehend gar nicht uriniren, sondern nur in hockender Stellung.
Harndrang häufig: Tags 7—8, Nachts 3—4mal. Herz und Lungen ohne Be¬
sonderheiten. Leib etwas aufgetrieben, unbedeutende Empfindlichkeit in der
rechten Nierengegend, linke Nierengegend unempfindlich. Nieren nioht palpabel.
Harnröhre ohne Besonderheiten. Die Prostata erweist sich bei der rectalen
Untersuchung ein wenig vergrössert, hauptsächlich der linke Lobus. Nach
dem Uriniren gelingt es vermittels eines Katheters noch 100 ccm Harn in der
Blase naohzuweisen. Urin sauer, mit reichlichem eitrigen Bodensatz. Die
Menge des in 24 Stunden producirten Urins schwankte zwischen 1800 und
2500 ccm, das specifische Gewicht zwischen 1009 und 1019, die Menge des
Eiweisses betrug 1 / i pM. Bei der mikroskopischen Untersuchung des Harn¬
sedimentes werden in grossen Mengen Eiterkörperchen, viel oxalsaure Calcium-
krystalle und vereinzelte harnsaure Krystalle gefunden. Diese morpholo¬
gischen Bestandtheile sind nach Spülung der Blase in der Spülflüssigkeit nicht
mehr zu finden.
Am 19. 11. 08 wird Patient cystoskopirt. Da es jedoch nicht gelingt,
die Blase vollständig rein zu spülen, so ist auch das cystoskopische Bild ein
sehr undeutliches: es ist eigentlich nur eine stark ödematöse und hyper¬
trophste Mucosa zu sehen. Es werden tägliche Blasenspülungen mit Borsäure
und Lapis vorgenommen, um den bestehenden Blasenkatarrh günstig zu beein¬
flussen.
Nachdem der Blasenkatarrh einigermaassen besser geworden war, wurde
am 6. 1. 09 die 2. cystoskopische Untersuchung vorgenommen, obgleioh auch
diesmäl es nur mit Mühe gelang, die Blase rein zu spülen. Das Ergebniss der
cystoskopischen Untersuchung war folgendes: die Prostata ist gleichmässig
und ziemlich stark vergrössert, ferner sieht man auf der die Prostata bedecken¬
den Mucosa kleine Bläschen (Oedema bullosum); die Mucosa des Blasenbodens
in seinem hinteren Theil liegt in deutlichen Falten, wobei diese parallel dem
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Die Behandlung der angeborenen Blasendivertikel eto.
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Ligamentum interuretericum verlaufen. Daher hat das Trigonum Lieutaudii ein
ganz anderes Aussehen und die Ureterenmündungen sind nicht zu sehen. Die
Fähigkeit der Hucosa ist auch an anderen Stellen zu sehen. Ueberall ist sie
sehr stark und ungleichmassig ödematös und hypertrophisch. An der Blasen¬
wand links hinten, ungefähr der Lage des linken Ureters entsprechend, sieht
man folgendes Bild: näher zum Blasenhals liegt eine deutlich ausgeprägte
Falte, hinter der eine OefTnung als dunkler Punkt zu sehen ist. Die Mucosa
schiebt sich von den Seiten und von hinten über diese Oeffnung, so dass letztere
sich unter dem Niveau der übrigen Mucosa befindet, welche stellenweise deut¬
lich ausgeprägte Faltenbildung zeigt; die Öffnung ist von länglich ovaler Form
und (im cystoskopischen Bilde) in ihrem Querdurchmesser, dem grössten,
l 1 /, cm und in ihrem Längsdurcbmesser, dem kleinsten, s / 4 —1 cm lang
(s. Tafel II).
Die Röntgenuntersuchung konnte in der Blase und in den Nieren keine
Goncremente nachweisen.
Nachdem der Allgemeinzustand und der Blasenkatarrh etwass besser ge¬
worden waren, wurde Patient am 5.2.09 operirt. Die Blase wird durch Sectio
alta eröffnet. Links hinten an der Blasenwand wird ungefähr der Lage des
linken Ureter entsprechend eine Oeffnung gefunden, die bequem 2 Finger
passiren lässt. Durch diese Oeffnung gelangt der Finger in eine hinter der
Blase befindliche Höhle, deren Grösse mit Hülfe einer Kornzange bestimmt
wurde, die sich in der Richtung nach oben 12 cm weit, in der Richtung nach
unten (zum Perineum) 3—4 cm weit einführen liess. Die Mündung des rechten
Ureters wird gefunden, die des linken zu finden gelingt aber nicht und es sieht
so aus, als ob an seiner Stelle die Oeffnung des Divertikels sich befindet (s. die
schematische Zeichnung). Um besseren Zugang zum Divertikel zu erhalten, wird
ein Hilfsschnitt am Perineum angelegt. Das Rectum wird von der Prostata
und dem Blasenboden, richtiger gesagt vom Divertikel, das sich zwischen
Rectum und Blase befindet, gelöst. Nach Ablösung des den grössten Theil der
hinteren Fläche des Divertikels bedeckenden Bauchfelles nach Möglichkeit nach
oben, wird der linke Ureter, der längs der hinteren Divertikelwand verläuft
und in seinem unteren Theil mündet, sichtbar. Der Ureter wird an seiner
Mündungsstelle in das Divertikel durchschnitten und in die Blase implantirt.
Dazu wird eine kleine Oeffnung in die Blase geschnitten, in die das Ende des
Ureters versenkt und mit Catgut und Seidenfäden fixirt wird; in Anbetracht
der Spannung des Ureters musste die Implantation in der Nähe der Mündungs¬
stelle des Divertikels in die Blase vorgenommen werden. Das Divertikel wird
an seiner weitesten Stelle durch einen Schnitt eröffnet; danach wird in das
Divertikel ein Drain eingeführt, das in der Perinealwunde fixirt wird. Die
Ränder der Blasenwunde werden mit der Haut vernäht. Tamponade der Blase.
Das äussere Ende des Drains wird in einen Harnfänger versenkt.
Nach der Operation fieberte der Kranke noch im Verlaufe von l 1 /, Mo¬
naten, obgleich freier Harnabfluss geschaffen war; auch war der Allgemein-
rustand ein schlechter. Die Perinealwunde wuchs langsam zu, es bildete sich
aber, in Folge beständigen Liegen? der Drainage, cm 'Perineum eine Lippen-
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fistel, die in die Divertikelhöhle führte. Ueber der Symphyse bildete sich gleich*
falls eine Lippenfistel der Blase.
Ende März 1909 hörte das Fieber auf, nur hin und wieder kam es zu
leichten Temperatursteigerungen, der Allgemeinzustand besserte sich allmäh¬
lich, guter Appetit stellte sich ein und die von früher her bestehende Anämie
wurde wesentlich besser.
Nachdem der Kranke sich vollständig erholt hatte, schritt ioh am 28.5.09
zur zweiten Operation, um, wenn irgend möglich, das Divertikel radical za ex-
stirpiren; ich wählte den Weg durch die vorderen Bauchdecken. Unter Chlo¬
roformnarkose wird an der Haut- und Epithelgrenze um die Lippenfistel ein
kreisförmiger Schnitt geführt, darauf wird die Blase oben und zu beiden Seiten
auf einige Entfernung freigelegt, wobei oben mit besonderer Vorsicht das Bauch¬
fell abpräparirt wird, danach wird ohne besondere Mühe das Peritoneum und
Unterhautzellgewebo sowohl von der linken Seite der Blase, wie auch von
seiner hinteren Wand, bis an das Divertikel gelöst. Jedoch erwies sich ein
Manipuliren am Divertikel in solcher Tiefe unmöglich, daher wurde dieWunde
durch einen queren, nach links 10—12 cm weit gezogenen Schnitt erweitert,
wobei der Rectus durchschnitten und der Obliquus angeschnitten wurde. Ob¬
gleich danach die äussere seitliche und die hintere Blasenwand besser zugäng¬
lich wurden, musste man doch eifi.se'he’i. da'ss' a’uf diesem Wege das Divertikel
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Die Behandlung der angeborenen Blasendivertikel etc.
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in tote auszuschälen, ohne ein gewaltiges Trauma zu setzen, unmöglich war,
hauptsächlich deswegen, weil es nicht gelang, mit Bestimmtheit den linken
Ureter zu finden; zwar war seinem Verlauf entsprechend ein Strang zu sehen,
da aber an diesem peristaltische Bewegungen nicht wahrnehmbar waren, so
konnte er nicht mit absoluter Gewissheit als Ureter angesprochen werden. loh
musste den Gedanken an ein Exstirpiren des Divertikels aufgeben, wollte aber
noch einen Versuch machen, von Seiten der Blase die Communication zwischen
dieser und dem Divertikel aufzuheben, jedoch erwies es sich, dass, obgleich ein
grosser Theil der Blase freigelegt und dadurch mobilisirt war, ein Manipuliren
am Divertikel von Seiten der Blase aus doch unmöglich war. Um die Com*
municationsstelle mir zugänglicher zu machen, erweiterte ich die Blase nach
oben 5cm weit; da auch dieses wenig half, durchschnitt ich die Blase8—10cm
weit in querer Richtung, wonach die Communicationsöffnung des Divertikels
zugänglicher wurde. Die Blasenschleimhaut wurde nun um die Communications*
Öffnung herum Umschnitten, worauf diese mit 4 Catgutnähten geschlossen
werden konnte. Darauf Naht der queren und theilweiser Verschluss der in
sagittaler Richtung gelegten Blasenwunde. Olfen blieb die frühere Lippenfistel,
in die ein Drain eingeführt wurde. Tamponade. In die Perinealfistel wird ein
Katheter eingeführt, worauf dieser, sowie auch das Blasendrain in einen Harn*
receptor geleitet werden.
24 Stunden nach der Operation 29. 5. 09 ist der Atlgemeinzustand ein
befriedigender, kein Fieber, Puls 120, von guter Füllung, Neigung zu Er¬
brechen. Aus dem Perinealkatheter ist kein Harn geflossen, dagegen 900 ccm
aus dem Blasendrain.
Am 3. Tage — 30. 5. 09 — waren durch das Blasendrain 900 ccm,
durch den Perinealkatheter 100 ccm geflossen; am 4. Tage betrug die Harn¬
menge 700 ccm und 800 ccm, am 5. 500 ccm und 620 oem und so weiter.
Augenscheinlich war der Versuch, die Communication zwischen Blase und Di¬
vertikel zu beseitigen, missglückt. — Im weiteren Verlaufe wäre noch eine
Hautnekrose des Blasenfistelrandes zu vermerken, im Uebrigen granulirten die
Wunden gut, der Kranke fieberte nicht und erholte sich schnell nach der Ope¬
ration. Ueber der Symphyse bildete sich wieder eine Lippeofistel, und gleich
links von ihr hielt sich lange eine tiefe eiternde Fistel.
Ohne die spontane Schliessung dieser eiternden Fistel abzuwarten, schloss
ich am 19. 11. 09 unter Chloroformnarkose (Rückenmarksanästhesie gelang
nicht) die Lippenfistel und kratzte die eiternde Fistel nach Spaltung derselben
aus. Die Wunden heilten tbeils per primam, theils per granulationem.
Jetzt ist der Allgemeinzustand des Kranken ein guter. Der ganze Harn
entleert sich durch die Perinealfistel, in die mit Hülfe einer uncomplicirten
Prothese ein N£latonk atheter, der von Zeit zu Zeit gewechselt werden muss,
fixirt ist.
Da die Gefahr eines Divertikels hauptsächlich in ITarnretcntion
im Divertikel besteht, so muss die Aufgabe der Therapie auf Be¬
seitigung dieser Retention gerichtet sein. Dieses lässt sich auf
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zweierlei Art erreichen: entweder durch Schaffung freien Harn¬
abflusses nach aussen, oder durch radikale Entfernung des Diver¬
tikels.
Niemals darf man, wie es Englisch annimmt, bei angeborenen
Divertikeln damit rechnen, dass sie nach langdauerndem Offen¬
bleiben der Blase collabiren und veröden. Dieses kann nur bei
erworbenen Divertikeln Vorkommen, deren Wandungen fast aus¬
schliesslich aus ausgestülpter Mucosa bestehen. Zur Beseitigung
dieser Divertikel kann es schon genügen, nach Eröffnung der Blase
die suprasymphysäre Blasenfistel zwecks Herabsetzung des endo-
vesicalen Druckes lange offen zu halten. So war es auch in einem
von mir beobachteten Fall von erworbenem Divertikel (durch
Prostatahypertrophie entstanden). Bei kleinen erworbenen Diver¬
tikeln genügt manchmal schon die Entfernung des Hindernisses
zur Harnentleerung wie z. B. der hypertrophischen Prostata, einer
Harnröhrenstrictur u. s. w. Die angeborenen Divertikel aber, die
ebenso wie die Blase gebaut sind, können nicht verschwinden nach
Beseitigung des endovesicalen Druckes durch eine Sectio alta: sie
können sich ein wenig verkleinern, die frühere Grösse annehmen,
das ist aber auch alles. Da man durch ein Drainiren der Blase
von oben keinen vollständig freien Harnabfluss schaffen kann, so
hat dieses Verfahren auch nur einen relativen Werth: cs kann und
soll angewandt werden im Sinne einer vorbereitenden Operation
zur Beseitigung der Harnretention in der Blase, ferner auch im
Hinblick auf die günstige locale und allgemeine Beeinflussung vor
der eigentlichen radicalen Operation.
Will man den Harn aus dem Divertikel nach aussen leiten,
so muss man eine directe Verbindung des Divertikels mit der
Aussenwelt hersteilen. Daher kann man, wie es Englisch
empfiehlt, bei den vorderen und den grossen seitlichen, aus dem
Becken herausragenden Divertikeln, einen kleinen Schnitt an der
vorderen Bauchwand, der Lage des Divertikels entsprechend, an-
legen, das Divertikel in die Bauchwunde einnähen, dann spalten
und drainiren. Bei den hinteren und den nicht aus dem Becken
herausragenden seitlichen Divertikeln legt man den Schnitt lieber
am Perineum an, wie ich cs in meinem Falle that, dann eröffnet
man, nach genügend weiter Lösung des Rectums vom Divertikel,
dieses an seiner unteren (perinealen) Wand, zieht es nach Möglich-
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Die Behandlung der angeborenen Blasendivertikel etc.
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keit bis in die Hautwunde, und führt dann vom Perineum aus
ein Drain oder einen Katheter, die fjxirt werden müssen, in die
Divertikelhöhle ein; lässt sich aber der untere Theil des Diver¬
tikels nicht genügend weit heranziehen, so muss man einen Ka¬
theter oder einen Drain durch die Wunde in die Divertikelhöhle
führen, und so lange darin halten, bis sich eine in die Divertikel¬
höhle führende Lippenfistel formirt hat. Eine in den Bauchdecken
angelegte Divertikelfistel garantirt nicht, da sie nicht am tiefsten
Punkte liegt, vollständig freien Abfluss des Divertikelinhaltes, da¬
her bestehen auch Harn Stagnation und Druck auf die Divertikel¬
wände in geringem Maasse weiter fort; bei einer Perinealfistel da¬
gegen besteht vollständig freier Abfluss des Divertikelinhalts und
daher beseitigt sie vollkommen die mit Harnstagnation im Diver¬
tikel verknüpften Gefahren. Bei den angeborenen Divertikeln kann
man, in Anbetracht ihres anatomischen Baues, niemals, so wie es
Englisch annimmt, damit rechnen, dass sie eventuell veröden und
verschwinden können; im günstigsten Falle kann man nur mit
einer gewissen Verkleinerung und Schrumpfung des Divertikels
rechnen.
Die Mitte zwischen palliativem und radikalem Verfahren
nehmen die therapeutischen Maassnahmen ein, die in ihren Fällen
Lennander, Serralach und Ljunggren angewandt haben.
Lennjander erweiterte bei einem Jungen von 1% Jahren nach Er¬
öffnung der Blase durch Sectio alta die Comraunicationsöffnung
zwischen Blase und Divertikel, indem er die Ränder der Oeffnung
mit Ligaturen und Torsionspincetten abtrug; der Kranke starb
einige Zeit darauf an einer linksseitigen Pyonephrose *). Serra¬
lach (11) eröffnete die Blase per sectionem altam und machte,
um die Communicationsöffnung zwischen Blase und Divertikel zu
erweitern, einige Einschnitte in die Ränder der Oeffnung: Der
Kranke wurde zwar gesund, aber das functioneile Resultat blieb
ein negatives. Ljunggren (12) legte bei einem 12jährigen Knaben
mit einem grossen hinteren, tumorartig in die Bauchhöhle ragenden
Divertikel zuerst eine Divertikelfistel an der vorderen Bauchwand
an; nach einiger Zeit aber, als mit farbigen Flüssigkeiten nach¬
gewiesen werden konnte, dass eine Communication zwischen Blase
*) Von Zachrisson beschrieben.
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und Divertikel nicht bestehe, legte er eine Anastomose zwischen
ihnen (Blase und Divertikel) an. Bei der Operation zeigte es sich,
dass der linke Ureter in das Divertikel mündet. Nach Anlegung
der Anastomose wurde die Fistel geschlossen. Der Kranke genas.
Die von Lennander angewandte Methode ist kaum nach-
ahmenswerth, da sie einerseits nicht zuverlässig ist, andererseits
sie aber auch durchaus nicht ungefährlich ist, da das Peritoneum
zwischen Ligaturen und Torsionspincetten gefasst werden kann.
Das Anlegen einer Anastomose zwischen Blase und Divertikel in
den Fällen, wo die vorhandene Oeffnung nicht dem freien Harn¬
abfluss aus dem Divertikel genügt, wird auch nur selten einen
wesentlichen Nutzen bringen, es sei denn, dass es gelingt eine ge¬
nügend weite Anastomose am tiefsten Punkt des Divertikels an¬
zulegen und somit eine Harnstagnation im Divertikel auszu-
schliessen.
Am zweckmässigsten ist es ein Blasendivertikel radikal zu
entfernen.
Aus der Literatur sind 5 Fälle bekannt. In einem Falle
(Eiseisberg) handelte es sich um ein grosses, in die Bauchhöhle
hineinragendes Divertikel der oberen, seitlichen Blasenwand. Durch
einen vorderen Bauchschnitt gelangte er durch die Bauchhöhle bis
an das Divertikel, löste es vom Peritoneum und exstirpirte es. In
einem anderen Falle, wo cystoskopisch 2 seitliche (ein rechtes und
ein linkes) und ein hinteres Divertikel bestimmt wurden, ging
Eiseisberg wieder durch die freie Bauchhöhle, kam aber nur bis
an das eine seitliche Divertikel heran. Die Operation blieb un-
beendigt und der Kranke starb nach 3 Monaten.
Im Falle Riedel (13) handelte es sich um ein Divertikel der
rechten Seitenwand der Blase. Er begann die Operation, um sich
besser orientiren zu können, mit einer Sectio alta. Darauf führte
er einen Längsschnitt durch den rechten Rectus und ging durch
die freie Bauchhöhle direct aufs Divertikel, löste es allseitig, stülpte
es in die Blase ein und schnitt es ab, darauf versorgte er den
Divertikelsturapf mit äusseren und inneren Blasennähten. Die
Operation dauerte 3 Stunden und der Kranke starb im Collaps.
Czerny und Wulf (14) gingen extraperitoneal vor, indem sie
den Schnitt tief anlegten und parallel dem Poupart’schem Bande
führten. Czerny war der erste, der ein Divertikel exstirpirte (im
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Die Behandlung der angeborenen Blasendivertikel etc. 105
Jahre 1897): er eröffnete die Blase, wie üblich, per sectionem
altam, und fand der Lage des linken Ureters entsprechend eine in
ein grosses Divertikel führende Oeffnung; nach einiger Zeit exstir-
pirte er das Divertikel: er führte vom unteren Wundwinkel aus
einen queren, den linken Rectus durchtrennenden Schnitt, löste mit
vieler Mühe in der Tiefe das Divertikel und durchschnitt es an
seinem Collum; darauf durchschnitt er den ins Divertikel mün¬
denden linken Ureter und nähte ihn in die nach Entfernung des
Divertikels entstandene Blasen wunde ein; darauf Naht dieser, wie
auch der bei der ersten Operation gesetzten Blasenwunde; Dauer¬
katheter. Der spätere Verlauf wurde durch eine diphtherische Ent¬
zündung der Wunden complicirt; es bildete sich eine Blasenfistel,
die schliesslich spontan heilte; zum Schluss musste noch die stark
veränderte linke Niere exstirpirt werden. Im Falle Wulff, wo
ein rechtsseitiges Divertikel gleich neben dem rechten Ureter in
die Blase mündete, wurde die Operation ungefähr ebenso aus¬
geführt: Heilung.
Pagenstecher schlug in seinem Fall den sacralen Weg ein.
Zuerst eröffnete er aber, um sich besser zu orientiren, die Blase
per sectionem altam und fand der Lage des linken Ureters ent¬
sprechend, eine in ein Divertikel führende Oeffnung; ferner fand er,
dass das Divertikel fast die Grösse der Blase hatte und der rechte
Ureter in die Blase mündete; nach 3 Wochen entfernte er das
Divertikel auf sacralem Wege nach temporärer Resection des Os
sacrum; das Lösen des Divertikels war sehr schwierig, es wurde
mitten durchschnitten und die beiden Hälften einzeln entfernt; der
in das Divertikel mündende linke Ureter wurde durchschnitten und
in das durch die Abtragung des Divertikels entstandene Loch in
der Blase implantirt, worauf dieses vernäht wurde. Es trat
Heilung ein, jedoch blieb hinten eine kleine Fistel zurück, die sich
nach 6 Monaten noch nicht geschlossen hatte.
Im FaUe von Pöan (15), den ich der Vollständigkeit halber
za erwähnen nicht unterlassen will, handelte es sich um eine echte
Doppelblase: bei einem 15jährigen Mädchen, das von Kindheit an
an Incontinentia urinae litt, lag vor der Harnblase noch eine zweite
Blase, deren eigene Harnröhre in das vordere Scheidengewölbe
mündete; diese Blase wurde mit der zu ihr gehörenden Harnröhre
vom Scheidengewölbe aus exstirpirt, worauf der Defect in der zu-
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Dr. B. N. Cholzoff,
rückgelassenen Blase vernäht wurde. Dieser Defect entstand da¬
durch, dass die beiden Blasen miteinander communicirten. Patientin
genas und auch die Incontinentia urinae kehrte nicht mehr wieder.
Bei der Wahl des Weges, den man wählt, um sich an ein
Divertikel heranzuarbeiten, es allseitig zu lösen und endlich zu
exstirpiren, soll man nie vergessen, dass es vordere, seitliche und
hintere Divertikel giebt. Unter den seitlichen Blasendivertikeln
muss man auch noch die Divertikel der oberen und die der unteren
Scitenwand unterscheiden; letztere communiciren mit der Blase
nahe der Mündungsstelle des entsprechenden Harnleiters und nähern
sich ihrer anatomischen Lage nach mehr den hinteren Blasen¬
divertikeln.
Bei den vorderen und oberen seitlichen Divertikeln kann man
den Weg durch die vorderen Bauchdecken wählen. Auf diesem
Wege kann man sich an sie, falls sie nicht zu gross sind, sogar
extraperitoneal heranarbeiten. Bei den grossen Divertikeln der
vorderen Blasenwand aber, ebenso wie bei den Divertikeln des
Vertex und den grossen Divertikeln der oberen Seitenwand muss
man durch die freie Bauchhöhle gehen. So haben es auch
Eiseisberg und Riedel in ihren Fällen gethan. Ebenso hängt
es von der Localisation des Divertikels ab, ob man den Schnitt
in der Mittellinie oder seitlich führt.
Bei den seitlichen Divertikeln, die nicht allzu tief mit der
Blase communiciren, soll man den extraperitonealen Weg vorziehen,
indem man, wie es Czerny und Wulff thaten, den Schnitt tief
und dem Poupart’schem Bande parallell anlegt und den Rectus
durchtrennt. Der Czerny'sehe Fall gehört zu den hinteren Di¬
vertikeln, während der Wulff’sche zu den unteren seitlichen ge¬
hört. Obgleich in beiden Fällen die Exstirpation gelang, so war
sie doch mit grossen Schwierigkeiten verbunden. Czerny meinte
sogar, dass es in seinem Falle vielleicht zweckmässiger gewesen
wäre, den sacralen Weg zu wählen. In meinem Falle, der dem
Czerny’schen vollständig ähnlich ist, gelang die Exstirpation auf
diesem Wege nicht.
Augenscheinlich ist es bei den hinteren und unteren seitlichen
Divertikeln am zweckmässigsten den sacralen Weg zu gehen, den
auch Pagenstecher in seinem Falle (hinteres Divertikel) wählte.
Da Kranke mit Harnblasendivertikeln meistens erst dann zum
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Die Behandlung der angeborenen Blasendivertikel etc.
107
Arzte kommen, wenn die durch eine Infection hervorgerufenen
Störungen, als da sind häufiger Harndrang, Fieber, allgemeine
Schwäche etc. sie dazu zwingen, so muss der radicalen Operation
eine suprasymphysäre Eröffnung der Blase vorausgeschickt werden.
Nach einiger Zeit, wenn dank dem freien Harnabfluss und dank
der täglichen Durchspülung des Divertikels die allgemeinen und
localen Erscheinungen sich gebessert haben, kann man zur Ent¬
fernung des Divertikels schreiten. Eine suprasymphysäre Eröffnung
der Blase ist auch noch von dem Standpunkte aus berechtigt, als
sie die Möglichkeit giebt, genau die Lage, Grösse und die übrigen
Eigenschaften des Divertikels zu bestimmen und den richtigen Weg
zur Entfernung desselben zu wählen.
Zusammenfassung.
1. Die Blasendivertikel können angeborene und erworbene sein.
Letztere entstehen bei lange dauernder Behinderung der Harn¬
entleerung.
2. Bei angeborenen Divertikeln mündet der eine Ureter
manchmal in das Divertikel.
3. Die angeborenen Harnblasendivertikel kommen häufiger
einzeln vor.
4. Ihrer Localisation nach unterscheidet man die am häufigsten
vorkommenden Divertikel der hinteren Blasenwand, die etwas
selteneren der Seitenwände und die am seltensten vorkommenden
Divertikel der vorderen Wand und des Vertex.
5. Das klinische Bild der nicht complicirten Blasendivertikel
ist ein sehr unbestimmtes: bei grossen Divertikeln lässt sich ein
Tumor palpiren, die Harnentleerung kann erschwert sein, in zwei
Absätzen sich vollziehen, manchmal stellt sich häufiger Harndrang
ein, vollständige oder theilweise Harnretention. Bei kleinen, nicht
complicirten Divertikeln können Harnbeschwerden ganz fehlen.
6. Bei Hinzutreten einer Infection treten die Symptome einer
acuten resp. chronischen Cystitis in den Vordergrund. Ebenso sind
Hydronephrose, Pyelonephritis oder Pyonephrose eine häufige Com-
plication eines Harnblasendivertikels.
7. Für die Diagnose können das manchmal vorkommende
Iriniren in 2 Absätzen und das Vorhandensein eines Tumors im
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Dr. B. N. Cholzoff,
unteren Theile des Abdomens, der bei Injection von Flüssigkeit in
die Blase sich vergrössert und nach Abfliessen derselben sich ver¬
kleinert, von Bedeutung sein. Letzteres Symptom fällt besonders
bei sehr grossen Divertikeln ins Auge; am deutlichsten ist es bei
den vorderen Divertikeln ausgeprägt, weniger deutlich bei den seit¬
lichen und fast nie ist es bei den hinteren Divertikeln vorhanden.
8. Ein Divertikel nachzuweisen gelingt am leichtesten mit
Hülfe des Cystoskops.
9. Ein Blasendivertikel bedeutet für den Kranken, wenn es
durch eine Infection complicirt wird, eine grosse Gefahr; nach der
Statistik von Englisch beträgt die Sterblichkeit 83,1 pCt.
10. Da die Gefahr eines Divertikels hauptsächlich in der
Stagnation von Harn in demselben beruht, so muss die Therapie
auf die Beseitigung der Harnretention gerichtet sein. Dieses kann
erreicht werden entweder, indem freier Harnabfluss aus dem Di¬
vertikel nach aussen geschaffen wird oder durch radicale Entfernung
des Divertikels. Wo nur möglich, soll letzteres bevorzugt werden.
11. Um ersteres zu bewerkstelligen, muss man die vorderen
und die grossen aus dem Becken herausragenden seitlichen Diver¬
tikel von der vorderen Bauchwand aus eröffnen und einen be¬
ständigen Harnabfluss aus dem Divertikel nach aussen herstellen;
an die hinteren und die nicht aus dem Becken herausragenden
seitlichen Divertikel aber muss man vom Perineum aus herangehen.
12. Zur radicalen Entfernung der vorderen und oberen seit¬
lichen Divertikel muss man durch die vorderen Bauchdecken gehen;
handelt es sich um grosse Divertikel, so muss auch die freie
Bauchhöhle eröffnet werden, an kleine Divertikel aber kann man
sich auch extraperitoneal heranarbeiten. Die radicale Entfernung
der hinteren und unteren seitlichen Divertikel soll auf sacralem
Wege nach temporärer Resection des Steissbeines vorgenommen
werden. Erweist sich während der Operation, dass der eine Ureter
in das Divertikel mündet, so muss er durchschnitten und in die
Blase implantirt werden.
13. Sind Harnblasendivertikel durch eine Infection complicirt,
so muss der radicalen Operation eine suprasymphysäre Eröffnung
der Blase vorausgeschickt werden; diese ermöglicht auch mehr
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Die Behandlung der angeborenen Bl&sendirertikel etc.
109
oder weniger genau die Grösse und den Charakter des Divertikels
zu bestimmen. Nach einiger Zeit, wenn dank dem freien Harn¬
abfluss die localen und allgemeinen Erscheinungen sich gebessert
haben, kann man zur radicalen Entfernung des Divertikels schreiten.
Literatur.
1. Cathelin et Semp4, La vessie double. Annales des mal. des org.
genito-urin. 1903. p. 339.
2. Englisch, Isolirte Entzündung der Blasendivertikel und Perforations¬
peritonitis. Dieses Arch. 1904. Bd. 73. H. 1. — Idem, Taschen und
Zellen der Harnblase. Wiener Klinik. 1894.
3. Pagen Stecher, lieber Entstehung und Behandlung der angeborenen
Blasendivertikel und Doppelblasen. Dieses Arch. 1904. Bd. 74. H. 1.
4. Wagner, Zur Therapie der Blasendirertikel, nebst Bemerkungen über
Complicationen derselben. Dieses Arch. 1905. Bd. 76. S. 525.
5. F. Meyer, Ein Fall von angeborenem grossen Blasendivertikel. Central¬
blatt f. d. Krankheit der Harn- und Sexualorgane. 1905. S. 289.
6. Hofmokl, Ein Fall eines selten grossen Divertikels der Harnblase beim
Weibe. Dieses Arch. 1898. S. 202.
7. Pielicke, Ein Fall von Blasendivertikel. Allgem. med. Centr.-Zeitg.
1904. S. 362.
8. Czerny, Resection eines Blasendivertikels. Beitr. zur klin. Chir. 1896.
Bd. 19.
9. Zachrisson, Citirt nach Pagensteoher. 1. c. S. 225.
10. Israel, Bericht über die chirurgische Abtheilung des jüdischen Kranken¬
hauses. Dieses Arch. Bd. 20. S. 43.
11. Serralach, Diverticule väsical eto. Annales des mal. dos org. genito-
urin. 1905. S. 852.
12. Ljunggren, Citirt nach Pagenstecher. 1. c. S. 229.
13. Riedel, Ueber Excochleatio prostatae. Deutsche med. Wochenschr.
1903. No. 44. S. 801.
14. Wulff, Ein durch Operation geheilter Fall von genitalem Blasendivertikel.
Münchener med. Wochenschr. 1904. No. 24. S. 1055.
15. Pean, Vessie et urethre surnumäraires. Gazette des höp. 1895. No. 63.
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V.
(Aus dem Röntgeninstitut des Rudolf Virchow-Krankenhauses
zu Berlin. — Leitender Arzt: Prof. Dr. Levy-Dorn.)
Massendosirung bei Tumoren. 1 *
Von
Dr. A. Hessmann,
ehemaligem Assistenten des Instituts, jetzt leitendem Arzt der Röntgenabtheilung
des Krankenhauses am Urban zu Berlin.
Als in der dosirungslosen Zeit so mancher maligne Tumor auf
eine der Grösse nach unbekannte Strahlungsenergie zurückging,
schien die Behandlung der Geschwülste mit Röntgenstrahlen für
die Praxis das geeignete Mittel zu sein. Ein Umschlag dieser
Meinung musste eintreten, als die fehlende Dosirung des differenten
Mittels zu mehr oder weniger schweren Hautschäden führte. Die
Folge war eine Verabreichung zu kleiner Dosen und ein Rück¬
schritt in der Behandlung der Tumoren mit Röntgenstrahlen.
Mit dem Erscheinen der Dosimeter setzte dann wieder ein
Fortschritt ein. Konnte doch nunmehr die Strahlungsenergie un¬
beschadet der Hautoberfläche wenigstens bis zu einer Grösse ab¬
gemessen werden, welche der Röthung der Haut entspricht.
Darüber hinaus war in der Folgezeit therapeutischem Handeln eine
Grenze gezogen, da bei stärkerer Dosis die Gefahr einer Haut¬
verbrennung mit ihren für Arzt und Patienten unangenehmen Folgen
drohte.
Von diesem Gesichtspunkt aus ist es zu verstehen, wenn in
der Literatur im Allgemeinen die Ansicht vertreten wird, über-
*) Nach einem auf dem VI. Röntgencongrcss gehaltenen Vortrage.
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Massendosirung bei Tumoren.
m
trieben starke Dosen auch den Tumoren gegenüber zu vermeiden.
In der Praxis gilt demgemäss heute jede Dosis als übertrieben stark,
welche die Erythemdosis 1 ) überschreitet.
Dabei wird vergessen, dass die der Hautröthung entsprechende
Röntgenlichtmenge nur der Reactionsstufe der normalen Haut ent¬
spricht, die für die verschiedenen Körpergegenden in geringen
Grenzen in der Regel zwischen 10 —15 x schwankt. Diese
praktisch ungemein wichtige Dosirungsgrenze für die Haut auf die
qualitativ und quantitativ so verschieden aufgebauten Massen der
Tumoren zu übertragen, entspricht aber keineswegs der Sache;
denn im Problem hat diese ziemlich eng umschriebene Reactions-
grösse der Haut mit der in Folge ihrer Zusammensetzung noth-
wendig viel weiter umschriebenen Reactionsgrössc der Tumoren
nichts zu thun.
Daran kann die tägliche Erfahrung nichts ändern, dass eine
nicht sehr kleine Anzahl von Tumoren auf die Reactionsdose der
Haut hin mehr oder weniger zurückgeht. Das bedeutet nur,
dass die Reactionsstufe solcher Geschwülste entsprechend ihrem
elementaren Aufbau unter oder in der Höhe der Hautreactions-
grösse liegt.
Dieser speciellcn Eigenschaft der Tumoren, auf die Erythem¬
dose hin deutliche Veränderungen einzugehen, eine allgemeine Be¬
deutung unterzulegen, wie das geschehen ist, liegt keine Noth-
wendigkeit vor. Denn über die Röntgenempfindlichkeit der Ge¬
schwülste jenseits der Erythemdosis ist damit nichts gesagt.
Es ist daher an der Zeit, das Problem der Tumorenbehandlung
auch nach dieser Seite hin mit aller Präcision zu stellen.
Die allgemeine Lösung des Problems müsste — eine beliebige
Steigerung der Dosis vorausgesetzt — in der Praxis schliesslich
an der Hautreactionsstufe scheitern, sofern noch intacte Haut über
dem Tumor vorhanden ist, und die Hautreactionsstufe respectirt
wird. Thatsächlich geben auch säramtliche bisher ausgearbeiteten
Bestrahlungsmethoden wegen dieser aus äusseren Gründen auf¬
gerichteten Dosirungsschranke praktisch keine allgemein befrie¬
digenden Ergebnisse. Immerhin haben sie den Fortschritt gezeitigt,
dass den Geschwulstheilchen durch die ganze Dicke des Tumors
l ) Nach Sabouraud und Noire = 10 x (Kienböck’schc Einheiten).
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112 Dr. A. Hessmann,
hindurch möglichst die ganze Oberflächen- bezw. Hautreactionsdosis
zugeführt werden kann.
Die grundlegenden, mit Rücksicht auf eine zweckmässige
Tiefenbestrahlung gemachten Versuche stammen von Perthes.
Einen wesentlichen Fortschritt der Methodik bedeutet die fast zu
gleicher Zeit von Levy-Dorn empfohlene „radiäre Bestrahlung“
bei gleichzeitiger Compression.
Dessauer erreicht eine gleichmässige Wirkung in die Tiefe
mit Hülfe eines Verfahrens, das er Homogenbestrahlung nennt.
Den gleichen Zweck verfolgt Holzknecht mit der sogen. Central¬
bestrahlung.
Schmidt will die Thermopenetration der Bestrahlung voraus¬
schicken in der Absicht, die Empfindlichkeit der Zellelemente gegen
die Röntgenstrahlen zu erhöhen. Den ersten Versuch, die Ober-
flächenenergieraenge über die Grenze der Volldosis zu steigern,
ohne die Haut zu schädigen, hat Schwarz gemacht. Wie er ver-
muthet, kann derzeit die Grenze bis zur dreifachen Erythemdosis
verschoben werden. Am weitesten kommt der Lösung des Problems
in der Theorie noch Köhler entgegen, der die 10—50fache Voll¬
dosis durch die besonders armirte Haut hindurch verabreichen will.
Praktische Erfahrungen liegen aber darüber noch nicht vor.
Die Schwierigkeit, welche die Hautreactionsstufe rein technisch
bietet, fällt fort, wenn das Problem von einem rein praktischen
Gesichtspunkt aus betrachtet wird. Die Lösung des Problems
liegt dann nämlich in einer der chirurgischen Praxis angepassten
Indicationsstellung für die Röntgenbehandlung der Tumoren.
Danach gehört der radical operable Tumor dem Chirurgen. Der
nicht mehr radical zu beseitigende Tumor mit Drüsenmetastasen
dem Chirurgen und Röntgenologen zur combinirten Behandlung,
sämmtliche nach Aussage des Chirurgen inoperablen Fälle zunächst
dem Röntgenologen. Wird der Tumor durch die Röntgenbehandlung
operabel, so müssen beide wieder Zusammenarbeiten.
Diese Indicationsstellung schafft durch das Zusammenwirken
mit dem Chirurgen praktisch die beste Möglichkeit, das Hinderniss
der Hautreactionsstufe auszuschalten. Bei den Tumoren, die noch
operabel sind, liegt die Sache am einfachsten. Durch die Operation
ist die Haut aus dem Wege geräumt. Nach Entfernung der Haupt¬
masse der Geschwulst mit dem Messer können die Reste malignen
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Massendosiruog bei Tumoren.
113
Gewebes bei noch offener Wunde im Operationssaal oder, wo das
nicht angängig ist, so bald wie möglich bei offen gehaltener Wunde
mit einer wirksamen Dosis bestrahlt werden 1 ). Bei inoperablen
Fällen kann von einer Schwierigkeit dann keine Rede mehr sein,
wenn die Tumormassen die Haut bereits in grösserem Umfange
zerstört haben. Uebrig bleiben die in der Praxis gar nicht seltenen
Fälle, in denen die inoperable Geschwulst noch von unversehrter
Haut bedeckt, oder wo sie nur zu einem sehr kleinen Theile zer¬
fallen ist. Dann empfiehlt es sich, mit dem Messer so viel von
der Haut wegzunehmen, dass nach einem etwaigen völligen Zurück¬
gehen des Tumors die Hautränder sich wieder vereinigen können.
Voraussetzung für ein derartiges Vorgehen ist natürlich, dass die
Geschwulstmassen unter der Haut liegen 2 ).
Ist aber die Haut und damit die Hautrcactionsstufe ausgc-
schaltet, so stebt einer Behandlung mit Energiegrössen über die
Erythemdosis hinaus — einer Methode, die ich als Massendosirung
bezeichnen will — eine Schranke nicht mehr im Wege. Principiell
muss dann die zur Reaction nothwendige Energiemenge in jedem
Falle ermittelt werden. Die Nothwendigkeit, so zu verfahren, lehrte
ein gegen die Bestrahlung zunächst refractärer Fall von Carcinoma
mammae. Die betreffende Kranke hatte vor zwei Jahren die ersten
Spuren einer Neubildung bemerkt. Als sie dem Röntgeninstitut
des Rudolf Virchow-Krankenhauses überwiesen wurde, war eine
bandtellergrosse, grössentheils zerfallene Geschwulst mit harten,
wallartigen Rändern zu behandeln. Auf der Fascie Hessen sich
die Tumormassen nicht mehr verschieben. In der zugehörigen
Achselhöhle waren wallnussgrosse Drüsen fühlbar. Ein lang¬
dauernde, lebhafte und foetide Secretion hatte im Verein mit
heftigen Kreuzschmerzen den Kräftezustand der Patientin derart her-
amergebracht, dass jeder Eingriff bei dieser Sachlage chirurgischer¬
es abgelehnt worden war. Durch die Röntgenbehandlung, die
fast sechs Monate lang durchgeführt wurde, schwand die Ulceration
'} Bei noch offener Wunde und sehr dünner Schiebt kranken Gewebes darf
die Röotgenenergiegrösse 10—15 x zunächst nicht überschreiten.
2 ) Inoperable Tumoren, die tiefer gelegene Organe des Körpers ergriffen
M*d, müssen erst durch eine Operation der Bestrahlung zugänglich gemacht
verdeo. falls sie noch nicht zu weit in die Umgebung hineingewuchert sind.
Die zu verabreichende Dosis richtet sich dann nach der Röntgenempfindlichkeit
und der Schichtdicke des kranken Gewebes.
Archiv Ar klin. Chirurgie« Bd. 94- Heft 1. g
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114
Dr. A. Hessmann,
völlig; der Tumor ging bis auf geringe, narbenähnlichc, abgrenz-
bare und auf der Fascie verschiebliche Reste zurück, deren Mitte
die noch etwas unregelmässig vergrösserte Mammille einnahm. Die
Drüsen der zugehörigen Achselhöhle waren erheblich kleiner ge¬
worden. Dringend wurde ihr nunmehr chirurgischerseits zur Ope¬
ration gerathen. Des guten Befindens wegen lehnte aber jetzt die
Kranke den Eingriff ab.
Erreicht wurde die Operabilität durch allmähliche Steigerung der
Dosis von 10 auf 40 x in 5 Turnus x ). Die Reactionsschwelle
des Tumorgewebes lag bei der Emissionsgrösse 20 x. Unange¬
nehme Erscheinungen seitens der Haut wurden dadurch vermieden,
dass diese nur bis zur Emissionsgrösse 12 x belichtet wurde.
Darüber hinaus erhielt nur die ulcerirte Geschwulstoberfläche von
Turnus zu Turnus steigende Dosen. Auch bei der schliesslich ver¬
abfolgten vierfachen Erythemdosis sind irgendwelche Nebenerschei¬
nungen seitens der im Bereiche der Gesammtstrahlenmcnge liegenden
Organe — wie Pleura, Lunge und Herz — nicht aufgetreten. Ein
am Schluss der Behandlung gefertigtes Röntgenbild der beiden
Thoraxhälften wies nachweisbare Veränderungen nicht auf.
Die Technik der Massendosirung erfordert keine besonderen,
bisher nicht schon bekannten Hilfsmittel. Um sie ausüben zu
können, ist aber die Beherrschung sämmtlicher Dosirungsfactoren
und peinliche Sorgfalt in der Abdeckung der zu schützenden Körper-
theile nothwendig. Bei den in Betracht kommenden kräftigen
Dosen ist die sogenannte Secundentherapie empfehlenswerth. Um
die erforderlichen grossen Strahlungsenergien zu erzeugen, eignen
sich die jetzt vielfach gebräuchlichen AVechselstromtransformatoren.
Doch ist die Secundentherapie ebenso gut durchführbar mit grösseren
Inductorapparaten sogar älterer Construction 2 ). In Verbindung
mit dem Wehneltunterbrecher und einem Stift von entsprechender
Länge und Dicke werden durchaus zureichende Strahlungsenergicn
erzielt 3 ). Besondere Therapieröhren sind dann nicht einmal nöthig.
! ) Das Bestrahlungsprotokoll folgt am Schluss.
2 ) Im Röntgeninstitut des Krankenhauses am Urban ist ein 60 cm Inductor
ohne Intensivstromwickelung im Gebrauch.
3 ) Der Wehneltstift ist so eingestellt, dass er bei etwa 60 Ampere an¬
spricht und den Strom in der Secunde 1—2 mal unterbricht. Bei einem Focus¬
hautabstand von 15 cm, einem Härtegrad des Röhrenlichtes von 6—7 Walter-
bezw. 9 — 10 Wehneltcinheiten und einer Stromstärke von 5—6 Milliampere ge¬
nügt eine Belichtung von 50 Secunden zur Erythemdosis.
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Massendosirung bei Tumoren. 115
Es genügt der gewöhnliche als Intensivstromrohr bekannte Trocken¬
rohrtyp.
Im einzelnen Falle empfehle ich folgendes Verfahren. Um eine
Radiosensibilität im gewöhnlichen Sinne festzustellen, wird zunächst
die Dosis 10 x mit einem Rohr von 8—10 Wehnelt- bezw. 6 bis
7 Waltereinhciten gegeben. Zeigt sich während der zweiten Woche
kein deutlicher Zerfall der Tumormassen, so werden im Anfang
der dritten Woche gleich 20 x verabreicht. — Der Röhrenökonomie
halber empfiehlt es sich, in jeder Sitzung nur eine Erythemdosis
zu verabreichen. Auch wird nach einer Belichtung von 30 Secunden
zweckmässig eine gleich lange Pause eingeschaltet. — Dann warte
man principiell drei Wochen ab. In den meisten Fällen wird
dann eine deutliche Reaction des malignen Gewebes schon einge¬
treten sein, wo nicht steigere man die Dosis immer in einem
Zwischenraum von mindestens 3 Wochen, jedesmal um die Emis¬
sionsgrösse 10 x. Die vorläufige Grenze bildet die Dosis 60 x
nach folgender Uebcrlegung:
Für die Oberflächendose 40 x, die in dem beschriebenen
Falle schliesslich verabreicht worden ist, beträgt die 5 cm Tiefen¬
dose bei hartem Röhrenlicht etwa 10 x. An dieser Verminderung
der Lichtmenge in der Tiefe betheiligen sich entsprechend ihrer
Wirksamkeit zwei Werthe, nämlich die Zunahme der Distanz und
die Absorption durch das Gewebe. Wird die Oberflächendose
40 x in vier Sitzungen gegeben — jedesmal zu 10 x — so sinkt
die 5 cm Tiefdose weiter auf etwa 7—8 x.
Unter gleichen Voraussetzungen ergiebt die Rechnung für die
10 und 15 cm Tiefendosis Werthe, die weniger als eine halbe bezw.
eine Drittel-Erythemdosis betragen. Mit diesen Ergebnissen würde
das Fehlen jeder Reaction seitens der im Bereiche der Gesammt-
Hrahlenmenge liegenden Organe übereinstimmen. Auch ist zu be¬
rücksichtigen, dass in den für Massendosen geeigneten Fällen das
Geschwulstgewebe der oberflächlichen Schichten im allgemeinen
mehr Licht absorbirt, wie gewöhnlich in Rechnung gesetzt wird.
Die Tiefendosen sind daher im einzelnen Falle wahrscheinlich noch
kleiner, als sie oben verzeichnet sind. Schliesslich darf nicht ver¬
gessen werden, dass bei Patienten, die einer Massendose bedürfen,
die Röntgenbestrahlung meist die ultima ratio bedeutet.
Bei Oberflächendosen von 50 und 60 x sind in 5 cm Tiefe
8 *
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116
Dr. A. Hessmann, Massendosirung bei Tumoren.
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noch Energien von etwa */ 3 bezw. 4 / 3 Erythemdosen wirksam. Es
empfiehlt sich daher vorläufig nicht, in der Praxis über eine Strahlen¬
menge von 60 x an der Oberfläche hinauszugehen.
Literatur.
Perthes, Fortschritte a. d. Gebiete d. Röntgenstrahlen. 1904. Bd. 8. S. 12.
Lery-Dorn, Verhandlungen der Berliner medic. Gesellschaft. 1904. Bd. 35.
S. 213.
Dessauer, Medic. Klinik. 1905 und Verbandlangen der deutschen physical.
Gesellschaft. IX. Jahrgang. No. 3.
Holzknecht, Verhandlungen der deutschen Röntgen - Gesellschaft. 1908.
Bd. 4.
Schmidt, Fortschritte a. d. Gebiete d. Röntgenstrahlen. Bd. 13. S. 134.
Schwarz, Münchener medic. Wochenschr. 1909. No. 24.
Köhler, Fortschritte a. d. Gebiete d. Röntgenstrablen. Bd. 14. S. 27.
Bestrahlungsprotokoll.
Frau E. V., 46 Jahre alt.
I. Turnus vom 17.—22. 7. 09 mit Glasfilter.
L. Mamma 10 x.
L. Achselhöhle lOx.
Bereich der Lendenwirbelsäule 6x.
II. Turnus vom 9.—11. 8. 09 ohne Glasfilter.
L. Mamma 20x.
L. Axilla lOx.
III. Turnus vom 3.—10. 9. 09 mit Glasfilter.
L. Mamma (Ulcus) lOx (mit 2 cm Hautrand).
-j- lOx (ohne Hautrand).
L. Achselhöhle lOx.
Bereich der Lendenwirbelsäule lOx.
IV. Turnus vom 1.—13. 10. 09 mit Glasfilter.
L. Mamma (Ulcus) lOx (mit 1 cm Hautrand).
-j- 20x (ohne Hautrand).
L. Achselhöhle lOx.
R. Bauchseite lOx.
R. Rückenseite 10 x.
V. Turnus vom 29. 12. 09 bis 6. 1. 10.
L. Mamma 14 x (mit Hautrand).
-{- 26x (ohne Hautrand).
R. Bauchseite 7x.
R. Lendengegend 10 x.
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VI.
Metastatischer Pleuratnmor nach primärem
traubigem Cervixsarkom des Uterus.
Von
Dr. A. Heddäus (Heidelberg),
Specialarzt für Chirurgie und Frauenkrankheiten.
(Hierzu Tafel III.)
Das traubige Sarkom des Uterus hat von jeher das Interesse
der Autoren erregt, und man geht wohl nicht fehl in der Annahme,
dass fast sämmtliche vorgekommenen Fälle früher oder später in
der Literatur erschienen sind. Seitdem Weber im Jahre 1867 den
ersten derartigen Fall mitgetheilt hat, sind zahlreiche Veröffent¬
lichungen geschehen, die uns ein mehr oder weniger genaues Bild
dieser eigenthümlichen Geschwulstart geben. Zwar erscheint sie
meist unter verschiedenen Namen, je nachdem der betreffende
Autor die eine oder andere Gewebsform als vorwiegend oder be¬
sonders charakteristisch erachtete. - So lesen wir von „Polypöser
Geschwulst der Cervix, Sarcoraa rotundo-cellulare, Fibroma papillare
cartilaginescens, Sarcoma hydropicum papillare, Chondrosarkom,
Chondro - Myxo - Fibrosarkom, Myxochondrosarkom, Sarcoma bo-
tryodes, Stromatasarcoma botryodes (enchondromatodes)“ etc. Trotz
dieser verschiedenartigen Namen, die indessen, wie ersichtlich, doch
manches Gemeinsame haben, ist man sich darüber einig, dass diese
Geschwülste der Geschwulstgruppe der Sarkome zuzurechnen sind
und nennt sie wegen der verschiedenartigen Gewebe Mischsar¬
kome. Sie charakterisiren sich als eine typische Geschwulst
(Pick) 1. makroskopisch durch ihre Traubenform, 2. mikrosko¬
pisch durch die Verschiedenartigkeit des Gewebes, 3. durch
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118 Br. A. Heddäus,
ihre excessive Malignität, 4. durch die Seltenheit entfernter
Metastasen.
In vorliegendem Fall interessirt uns hauptsächlich der vierte
Punkt. Wilms sagt in seiner Monographie über Mischgeschwülste:
„entfernte Metastasen kommen fast niemals zu Stande“. Aehnlich
äussert sich Pick: „wie wir bei dem polypösen Sarkom der kindlichen
Scheide nirgends Metastasen notirt fanden, so besteht auch bei dem
traubigen Cervixsarkom der Kinder und Erwachsenen die Neigung
zu sprungweiser entfernter Metastasenbildung, also in erster Linie
zur Bildung von Sarkomknoten in Leber und Lunge, so gut wie
gar nicht.“
Die bisher in der Literatur verzeichneten Metastasen seien hier
kurz skizzirt. Kunert fand bei einem Fall von Mischsarkom in
der linken Brusthöhle zwischen dem unteren Rand der 7. und dem
oberen Rand der 9. Rippe seitlich unmittelbar neben der Wirbelsäule
einen fast hühnereigrossen, mit der Längsachse quergestellten Tumor.
Die 7. und 8. Rippe waren in den anliegenden Theilen usurirt, die
9. fast vollständig in Tumor aufgelöst. Die Untersuchung des meta¬
statischen Tumors ergab Rundzellensarkom. Spiegelberg fand
Metastasen auf dem Peritoneum der hinteren Blasen wand und dem
S romanum, Pernice zwischen Blase und Symphyse, in der freien
Bauchhöhle und dem kleinen Becken, Rein in den Beckenlymph-
drüsen, Peham an der vorderen Fläche des Kreuzbeins (vielleicht
Contactmetastase). ln einem zweiten Falle, der durch Anämie
infolge beständig recidivirender Blutungen zum Tode führte, fand
Peham Metastasen im Peritoneum und im Grosshim. Curtis be¬
richtet von grossen Metastasen in den inguinalen Lymphdrüsen,
aufgebaut aus Spindel- und Rundzellen, auch Riesenzellen dabei.
In allen genannten Fällen handelte es sich um Metastasen nur
in Form eines richtigen Sarkoms, nie um die traubige Form
der sarkomatösen Mischgeschwulst. Nach Pfannenstiel
fehlt den regionären Metastasen die polypöse traubige Form der
Muttergeschwulst, aber sie ist nach der obigen Zusammenstellung bis¬
her auch bei den entfernten Metastasen nicht beobachtet worden.
Einen von dieser Regel abweichenden Fall von traubigem Cer¬
vixmischsarkom möchte ich in Folgendem mittheilen, bei dem
sich in der Pleura ein wohl einzig dastehender grosser Trauben¬
tumor entwickelt hatte, der durch seinen histologischen Bau für
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Metastatischer Pleuratumor nach primärem traubigem Cervixsarkom etc. 119
die Genese der Mischsarkome von besonderem Interesse ist.
Die Krankengeschichte des Falles ist folgende:
Frau S. ans Z., 48 Jahre alt, Kaufmansfrau. Früher stets gesund, mehrere
Gehörten, letzte vor 15 Jahren. Periode bis vor 2 Jahren regelmässig, dann
hartnäckige Blutungen, wegen deren von dem behandelnden Arzt ein Polyp
entfernt wurde, der bindegewebige Structur aufwics. Nach 5 Monaten kam die
Pat. mit einem Recidiv. Die mikroskopische Untersuchung führte zur Annahme
einer malignen Neubildung. Die Pat. wurde deshalb Herrn Prof. Leopold
(Dresden) überwiesen, der auf Grund dos Befundes Totalexstirpation des Uterus
per vaginam vornahm. Die Pat. befand sich darnach iy 2 Jahre wohl. Im
September 1908 erkrankte sie mit Husten und Stichen in der rechten
Brustseite und wurde wegen dieser Erkrankung von dem Hausarzt behandelt.
Als sich nach einer Reihe von Wochen keine Besserung einstellte, im Gegen-
theil ein langsam wachsendes pleuritisches Exsudat entwickelte, wurde ich
zugezogen zur Vornahme einer eventuellen Punction.
Der damalige (15. 11. 09) Status lautete: Grosse, kräftige, ziemlich gesund
aassehende Frau. Massige Athemnoth, etwas livide Verfärbung der Lippen.
Leber der rechten Thoraxhälfte von unten bis aufwärts zur 3. Rippe absolute
Dämpfung bei vollkommen erloschenem Stimmfremitus. Ueber der Lungenspitze
verschärftes Athmen und bronchitische Geräusche. Die linke Lunge ohne Be¬
sonderheit.
Die Probepunction rechts constatirt ein stark hämorrhagisches dünn¬
flüssiges Exsudat. Die sofort angeschlossene Punction entleert nur 50 ccm
derselben Flüssigkeit. Eine Ursache für die mangelhafte Entleerung ist zunächst
nicht eruirbar.
Die Diagnose lautete demnach auf malignen Tumor der Lunge
oder Pleura mit hämorrhagischem Exsudat.
Versuchsweise und u. a. f. wurde zunächst Jodkali verordnet, aber nach
wenigen Tagen trat vermehrte Athemnoth ein, die eine erneute Punction er¬
forderte. Diesmal wurden s / 4 Liter derselben hämorrhagischen Flüssigkeit
entleert. Die Pat. war diesmal wesentlich erleichtert, doch traten sohon nach
mehreren Tagen erneute Druckerscheinungen auf und die Athemnoth nahm be¬
trächtlich zu. Eine Röntgen-Aufnahme constatirte einen intensiven Schatten,
der den Dämpfungsgrenzen genau entsprach, nur fiel auf, dass der Schatten
fassen sich höher erstreckte als medial, so dass demnach nicht die ganze
Dämpfung auf Exsudatbildung zu beziehen war, sondern die Diagnose eines
malignen Tumors festigte.
Es wurde zur gründlichen Entleerung des bedrohlichen Exsudates
Thorakotomie beschlossen und in leichter Chloroformnarkose die 10. Rippe
rechts in der hinteren Axillarlinie in Ausdehnung von 10 cm resecirt und die
Pleura eröffnet: Es entleerten sich ca. 2—3 Liter hämorrhagischen Serums. Als
Ursache der Exsudatbildung präsentirte sioh eine eigenthümliche Trauben-
molengeschwulst, zusammengesetzt aus zahllosen grossen und kleineren
Cysten von glasigem Charakter, die der Pleura dicht gedrängt aufsassen und im
Wesentlichen von dem diaphragmalen Theil zu entspringen schienen. Einige
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120
Dr. A. Heddäus,
Cysten Hessen sich mit dem Finger loslösen, ohne zu platzen, nnd worden zur
genaueren Untersuchung entfernt. Im Uebrigen erschien die Entfernung der
diffus ausgebreiteten Bildung aussichtslos. Da es aus dem Traubenconvolut,
namentlich an dem abgelösten Cystenbett, ziemlich stark blutete, wurde die
Pleurahöhle mit langen sterilen Compressen tamponirt und diese nach aussen
geleitet. Die rechte Lunge war bedeutend geschrumpft, die Pleura pulmonalis
eigenthümlich schwartig verdickt, indessen athmete die Lunge trotz des offenen
Pneumothorax ziemlich kräftig.
Verlauf: Die Tamponade wurde in den nächsten Tagen nach und nach
entfernt. Die Absonderung aus der Pleurahöhle war dabei enorm. Trotz dicker
mehrfacher Schichten aufsaugender Holzwolle ist der Verband beständig durch¬
tränkt und muss mindestens 2 mal am Tage gewechselt werden. Nach Ent¬
fernung der Tamponade werden 2 dioke Gummidrains eingelegt. Da die
Secretion fötiden Charakter annimmt, wird während mehrerer Tage ausgiebige
Spülung mit H 2 0 2 vorgenommen und nach dieser 10 ccm 4proc. Collargollösung
eingespritzt. Damit gelingt es die Secretion fast geruchlos zu machen, sie
bleibt aber profus wie bisher. Da die starke Secretion und die häufigen Ver¬
bände die Pat. ausserordentlich schwächen, wird die Drainage entfernt und
nur täglich eine Collargolinjection in die Höhle gemacht, was durch den sich
schnell zusammenlegenden Pleuraschlitz ohne Schwierigkeit gelingt, und dar¬
über dicker Verband angelegt. Dadurch genügt einmaliger Verband am Tage.
Trotz aller Sorgfalt in der Pflege war ein leichter Decubitus nicht zu vermeiden.
14 Tage nach der Operation wird die Pat. in ihre Wohnung überführt, woselbst
sie nach weiteren 14 Tagen unter raschem Verfall starb.
Eine Section wurde leider nicht gestattet.
Der bei der Operation festgestellte Befund gab mir Veranlassung,
Herrn Geh.-liath Leopold um Mittheilung der anatomischen Diagnose
des früher exstirpirten Uterus zu bitten; diese lautete: „Chondro¬
sarkom der Mucosa uteri, enorme Wucherung von Knorpelzellen in
stark entzündlich geschwollener Schleimhaut.“ Leopold fügte
hinzu, „vielleicht liegt ein aus früherer Zeit zurückgebliebener
Embryonalrest zu Grunde“. 5 Monate vor der letzten Erkrankung
hatte er die Patientin sehr wohl und frei von Recidiv gefunden.
Indessen ist wohl anzunehmen, dass die Metastasenbildung in der
Pleura, die, wie im Weiteren gezeigt werden soll, nicht nur makro¬
skopisch, sondern auch mikroskopisch ausser Zweifel steht, wohl
schon in der Entwicklung war. Sie muss dann enorm rasch ge¬
wachsen sein, wie es für diese Geschwulstart charakteristisch ist,
und beweist auch durch diese Malignität ihre Zugehörigkeit zu der
primären Mischsarkomform.
Auf die histologische Zusammensetzung des primären Uterus¬
tumors weiter einzugehen, erübrigt sich für mich, da der erst be-
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Met&st&tischer Pleuratumor nach primärem traubigem Cervixsarkom etc. 121
handelnde Arzt Dr. Rudolph-Zittau und Geheimrath Leopold
sieh die Bearbeitung dieses Tumors Vorbehalten haben 1 ). Ich
werde mich also im Folgenden auf die Beschreibung der Pleura¬
metastase beschränken, möchte aber hier nicht versäumen, den
genannten Herren für die mir freundlichst zur Orientirung
überlassenen Präparate des primären Tumors meinen Dank auszu¬
sprechen.
Die Präparate des metastatischen Tumors sind von Herrn
Professor Schmorl in Dresden angefertigt und danke ich auch
ihm für die Ueberlassung derselben. Leider standen mir zur Be¬
arbeitung keine grösseren Mengen des Präparates zur Verfügung.
Es sind aber aus den mir überlassenen Präparaten so viel inter¬
essante histologische Details zu entnehmen gewesen, dass die Arbeit
ohne Schwierigkeit durchgeführt werden konnte.
Die makroskopische Betrachtung des einen der mikrosko¬
pischen Schnitte (Tafel HI, Fig. 1) lässt einen Durchschnitt durch
ein diffuses Gewirr von collabirten Zottenwandungen der polypösen
traubigen Geschwulst erkennen, gewissermaassen einen Horizontal¬
schnitt in einer gewissen Höhe einer Reliefkarte. Der Schnitt
dürfte in einiger Höhe über der Basis der Geschwulst liegen. Man
sieht Windungen, die vollkommen abgeschlossen sind (a), neben
solchen, die nur zum Theil im Gesichtsfeld liegen (b) oder deren
Kuppe allein getroffen ist (c) und schliesslich eine den grössten
Theil der Abbildung einnehmende Generalwindung, die das Haupt¬
massiv des Gebirges in sich schliesst (d). Das letztere ist als
flüssige Masse ausgefallen und deshalb nur als leerer Raum vor¬
handen, dessen Wandungen stehen geblieben sind, in einem anderen
(nicht abgebildeten) Präparat ist durch Färbung der Inhalt als fast
homogene gallertige Masse sichtbar. An einer Stelle (Tafel III,
Fig. la), die vergrössert dargestellt ist, finden sich 2 Wandungen in
directer Verwachsung, vergleichbar mit der Passhöhe zweier von beiden
Seiten einschneidender Thäler. Wieder an einer anderen Stelle sieht
man (g) an dem gemeinsamen Grundstock eine Schlingenbildung
hinausragen, die breitbasig aufsitzt und deren beide Fusspunkte
dicht nebeneinander aber doch getrennt einmünden.
*) Nach neuerer Mitteilung Leopold’s ist der primäre Tumor nunmehr
als Dissertation bearbeitet worden: (i. Pietzold, Zur Casuistik des Vorkommens
an Knorpelgewebe in Uterustumoren. Inaug.-Dissert. Leipzig 1910, E. Lehmann.
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Dr. A. Heddäus,
Alle die genannten Zottenwände haben im mikroskopischen
Bild genau denselben histologischen Aufbau und zeigen eine unten
näher zu beschreibende Schichtung.
Während die bisher genannten Stellen Beispiele einer gleich-
mässigen und gleichartigen Structur der Tumorbildung darstellen,
sind anderweit abnorme Wucherungen eines Theiles der Zotten zu
linden (e, f), in denen (f) man mikroskopisch den Uebergang in
die Sarkomnatur in Gestalt übermässiger und unregelmässiger Zellen -
Wucherung verfolgen kann.
So „mannigfaltig“ im buchstäblichen Sinne des Wortes, wie
sich das 1. Präparat makroskopisch präsentirt, so vielseitig ist es
mikroskopisch. Ich greife einzelne Stellen heraus, in denen der
histologische Aufbau besonders lehrreich und die Entwicklung der
einzelnen Gewebsarten besonders markant ist.
In Figur 2 auf Tafel III ist der vergrösserte Durchschnitt
durch die breitbasig aufsitzende Zotte im Ganzen gegeben. Gerade
hier erkennt man, dass der Grundstock, auf den sich die Schlingen-
oder Zottenbildungen aufsetzen, eine Dreischichtung des Gewebes
ist und dass diese Schichtung in der ganzen Schlinge beibehalten
wird. Sie bildet das Charakteristicum der histologischen
Zusammensetzung der Traubenwände. Man sieht (Tafel III,
Fig. 2 a) eine aus dicht gedrängten, unregelmässig gelagerten, mit
ausserordentlich zahlreichen intensiv gefärbten Kernen versehenen
Zellen bestehende Schicht sowohl auf der Aussen- wie auf der
Innenseite der Wand. Die innere Schicht scheint meist lockerer
und zeigt noch weniger geordnete Zusammenlagerung der Zellen
wie die äussere. Die Kerne sind rundlich und cubisch, liegen
stellenweise sehr dicht und sind im Allgemeinen so gross, dass
ein Zellprotoplasma kaum zu erkennen ist. Die Intercellularsub¬
stanz besteht aus jungem, fibrillärem Bindegewebe. Die Grenze
gegen die mittlere Schicht wird meist von zellärmerera myxoma-
tösem Gewebe gebildet, das stellenweise sich zu Spaltbildungen
lymphatischer Art erweitert. Die mittlere Schicht der Wand
erinnert an Muskelstructur und Muskelfaseranordnung, indem die
Kerne regelmässiger geordnet meist quer zur Richtung der äusseren
Wandschichten stehen und auch mehr längliche Form haben. Die
Grundsubstanz ist junges Bindegewebe, zum Theil ausgesprochen
fibrilläre Züge, zuweilen in langgestreckten, längsgeriehteten, zu-
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Metastatischer Pleuratumor nach primärem traubigem Cervixsarkom etc. 123
weilen in kürzeren querstehenden Wellen angeordnet. Die Kerne
stehen im Ganzen weniger dicht wie die der äusseren Schichten.
Die Anordnung in 3 Schichten erinnert uns an analoge fertige
Gewebsbildungen, wie z. I». die Darmwand, doch fehlt den beiden
Randschichten der epitheliale Charakter. Statt dessen ist der ßindc-
gewebstypus so deutlich ausgeprägt, dass diese Bildung die A b-
stammung vom Mesenchym des mittleren Keimblattes nicht
verleugnen kann. In der stellenweise sehr stark ausgeprägten
fibrillär-elastischen Grundsubstanz mag ein Ucbergang zu glatten
.Muskelfasern gegeben sein.
In Figur 3 und 4 auf Tafel III sehen wir abnorme Wuche¬
rungen einzelner Schichten dieses jungen Gewebes.
In Figur 3 auf Tafel III erkennt man, wie plötzlich an einer
Stelle die äussere (oder innere) Wandschicht durch eine starke
Wucherung der mittleren Gcwebsschicht vorgebuchtet wird. Die
entsprechende Wandschicht wird vorgeschoben und verdünnt. Fs
entsteht eine pilzförmige Wucherung, die breitbasig dem Grundstock
aufsitzt. Durch diese Basis ziehen die mittleren Gcwebsschichten
hindurch und breiten sich aussen fächerförmig aus. An der die
Basis etwas einschnürendcn Stelle ist starke Vermehrung auch der
Zellen der Wandschicht bemerkbar. Die Structur der Wucherung
behält noch genau den fibrillären Bindegewebscharakter bei^ die
Zellkerne sind gross, aber wohl kaum verschieden von der primären
Mittelsubstanz.
In Figur 4 auf Tafel III hört die Regelmässigkeit der Structur
ganz auf und weicht dem Sarkomcharaktcr. Man sieht die
innere Wandschicht (a) sich unter starker Zunahme der Gefässe
in üppige Zellwucherungen auflösen, die bald rundlichen, bald spindel¬
förmigen Charakter annehmen und durch einzelne Züge strafferer
Anordnung sich bündelweise gruppiren. Auch die mittlere Schicht
ist an dieser Stelle in vermehrtes Wachsthum unglcichmässiger
Art übergegangen und cs ist eine bestimmte Grenze zwischen den
ursprünglichen Schichten stellenweise nicht mehr zu erkennen.
Einzelne Kernhaufen, die zwischen sich kein oder nur sehr wenig
Protoplasma erkennen lassen, imponiren als Riesenzellen. Ferner
erscheinen in diesem gewucherten Gewebe Anhäufungen von Blut¬
pigment (Hämosiderin) (Tafel III, Figur 4 a), das in kleinen
Mengen auch an anderen Stellen in gefässreicher Umgebung erscheint.
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Dr. A. Heddäus,
Während die mittlere und die innere Randschicht in der be¬
schriebenen Weise an dieser Stelle in einander aufgelöst sind, zeigt
auch die andere (b) Wandschicht starke Verbreiterung zunächst mit
weniger dichter Zellanhäufung und mehr mit dem Charakter des
weitmaschigen Myxomgewebes. In diesem sind junge embryonale
Gefässbildungen in grosser Zahl erkennbar, weiterhin wird die
Zellwucherung auch hier dichter.
In einem anderen Präparat (Tafel III, Figur 5) kommt zu
den bisherigen Gewebsarten zum ersten Mal die im primären Uterus¬
tumor so sehr reichlich ausgebildete heterologe Gewebsart, das der
primären Geschwulst ihren Charakter aufdrückende Knorpel¬
gewebe. Die Grundsubstanz erschcit myxomatös mit grossen
rundlichen und ovalen Kernen. Aus ihr heben sich stellenweise
zellarme Herde heraus von homogenem Aussehen mit seltenen
Kernen. Die Randpartien weisen einen grösseren Zellreichthum auf
(Perichondrium). Die Abgrenzung ist noch nicht so scharf wie
bei den älteren Knorpelherden im primären Tumor des Uterus.
Die Knorpelbildung ist noch in ihrer ersten Entstehung erkennbar.
Die Kerne der in die bereits fertige Knorpelabscheidung hinein¬
ragenden Zellen nehmen andere Gestalt an, sind weniger rundlich
oft halbmondförmig und lassen die hyaline Abscheidung in der
Zelle deutlich hervortreten. An einzelnen Stellen desselben Prä¬
parates sind auch vereinzelte zur Knorpelabscheidung übergegangene
Zellen mitten im myxomatösen Sarkomgewebe zu finden (nicht ab¬
gebildet).
Betrachten wir den vorliegenden Fall vergleichend mit den
bisher in der Literatur beschriebenen Fällen von Cervixmisch¬
sarkom, denen der primäre Tumor in unserem Fall ziemlich genau
entspricht, so finden wir eine in jeder Hinsicht auffallende Achn-
lichkeit. Die oben genannten Cardinalsymptome sind auch hier
vertreten.
Was zunächst die Traubenform angeht, so war sie makro¬
skopisch so ausgeprägt, wie sie in den bekannt gewordenen Fällen
nicht excessiver sein konnte. Die Pfannenstiel’sche Abbildung
(1. c.) des in die Scheide ragenden Traubenconglomerates ist in
verkleinertem Maasse eine getreue Abbildung des' vorliegenden
Pleuratumors. Ueber die Ursache der Traubenform bestehen nur
Vermuthungen, von Kahlden meint, die Art des „traubigen Auf-
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Metastatischer Pleuratumor nach primärem traubigem Cervixsarkom etc. 125
tretens sei zwar eine häufig beobachtete, aber für das Wesen der
Erkrankung doch mehr accidentelle und durch äussere anatomische,
vor Allem räumliche Verhältnisse bedingte.“ Pick suchte ihre
Begründung 1. in einer papillären Vorforra der einzelnen Beeren,
2. in der Entwicklung in einem präformirten dehnungsfähigen Raum,
3. in einer Tiydropischen durch Stauung bedingten Quellung des
Geschwulstgewebes. Aus Wilms hält die polypöse Form für eine
Folge localer Wachsthumsbedingungen und sieht den Haupt¬
grund in dem mangelnden Widerstand in einem Hohlraum. Die
in die Ligamente und das kleine Becken hineinwuchernden und
die in umschlossenem Gewebe (Drüsen) liegenden regionären Meta¬
stasen stellten nur diffuse oder knotenförmige Infiltrate dar und
nur der frei in die Scheide wuchernde Theil entwickelte sich
traubenförmig. Einen Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung,
dass ein präformirter dehnungsfähiger Hohlraum vorhanden sein
muss, dürfte unser Fall liefern: im Pleuraraum waren die genannten
Vorbedingungen zweifellos gegeben und dementsprechend geschah
das Wachsthum der Metastase in exquisit traubenförmig-polypöscr
Art. Dass auch, wie Keitler ausführt und andere Autoren be¬
stätigen, im Corpus uteri Geschwülste von ausgesprochener Trauben-
form, die histologisch und klinisch mit den Cervixsarkomen über-
einstiramen, Vorkommen, ist meines Erachtens kein Gegenbeweis
für diese Auffassung, da schliesslich das Uteruscavum auch ein
dehnbarer Hohlraum ist, der allerdings durch seine dickeren Wan¬
dungen vermehrten Widerstand leistet, aber vielleicht mit dem ne¬
gativen Druck im Pleuraraum in Parallele zu stellen ist.
Was den 2. Cardinalpunkt betrifft, die Verschiedenartig¬
keit des Gewebes, so ist auch hier die Uebereinstimmung mit
den bisherigen histologischen Beschreibungen ohne Weiteres er¬
sichtlich. „Die mangelnde Specifität, die Charakterlosigkeit des
jüngsten Gewebes, des ersten Keiragewebes, ist das Charakteristicum
der jugendlichen Zellformen“, sagt Wilms. In der That finden
wir fast alle jungen Gewebe vertreten. Wir sehen die verschiedenen
Formen des jugendlichen Bindegewebes, bald myxomatöser, bald in
weiterer Differenzirung fibrillärer Natur, stellenweise mit elastischen
Faserzügen und Uebergang zu glatten Muskelfasern oder fibrösem
Bindegewebe, ferner Entstehung von heterologem Gewebe mit Knorpel,
welch’ letzterer in seiner Entwickelung in besonders anschaulicher
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126
Dr. A. Heddäus,
Weise zu verfolgen ist, sich herausbildend aus einem mit grossen
Kernen versehenen Myxom ge webe, theils in Gruppen schon weiter
sich differenzirend, theils in einzelnen hyalinen Zellen auftretend,
daneben rundzelliges Keimgewebe wuchernd zu den Formen des
Rund- und Spindelzellensarkoms. Die epitheliale Differenzirung
des mittleren Keimblattes, die quergestreifte Musculatur, finden wir
in unserem Tumor, wenigstens in den mir zur Verfügung stehenden
Präparaten, nicht vertreten. Es sind lediglich die Ableitungspro-
ducte des Mesenchyms zu erkennen.
Es dürfte von Interesse sein, kurz auf die Genese dieser
Mischgeschwülste einzugehen und zu prüfen, in wie weit unsere
Erfahrung für die eine oder andere der seitherigen Auffassungen
inklinirt.
Die Cohnheim’scheThcorie möchte zur Erklärung nicht genügen.
Aus der Vielgestaltigkeit des Gewebes ist von vornherein ersicht¬
lich, dass es sich nicht um eine Keimversprengung fertiger Zellcn-
elcmente handeln kann. Auch die Metaplasie im Sinne Pfannen-
sticl’s ist wohl nicht vereinbar mit unserer Betrachtung. Wir
sehen zwar an einer Stelle, dass aus einem schwer zu definirenden
myxomähnlichen Gewebe mit grossen Kernen der Knorpel sich
förmlich hcrausbildet, so dass der Gedanke an eine Metaplasie auf-
treten kann. Es macht aber nicht den Eindruck, als ob das vor¬
handene Gewebe sich umwandle, sondern als ob eine weitere,
anderer Richtung folgende Differenzirung des jungen, den Grund¬
stock bildenden Myxomgewebes stattfände, dass also durch Zwischen¬
lagerung von hyaliner Substanz aus dem Grundgewebc sich Knorpel
entwickelt. Wir möchten, wie angedeutet, den Vorgang im Sinne
von Wilms als eine weitere Differenzirung des ursprünglichen em¬
bryonalen Keimgewebes auffassen. Ebenso scheint mir für die
ganze Herkunft des Mischtumors die Wilms’schc Verirrungstheorie
am wahrscheinlichsten. Wilms nimmt bekanntlich für die pri¬
mären Cervix- etc. Sarkome an, dass „vom Wolff’schen Gang
ein undifferenzirtcr embryonaler Keim ausgeschaltet, bei Seite ge¬
schoben worden ist, den Anschlus an die seiner Entwickelungs¬
stufe entsprechenden Zellen nicht erreicht hat, und nun früher oder
später bei seinem Wachsthumsversuch sich einem Gewebe und Be¬
dingungen gegenübersieht, die ihm eine normale Differenzirung
nicht ermöglichen“. Es kommen so Wucherungen von allen mög-
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Metastatischer Pleuratumor nach primärem traubigem Cervixsarkom etc. 127
liehen Geweben ohne bestimmte Ordnung zur Beobachtung und
daraus resultiren die sogenannten Mischtumoren.
Dass in der vorliegenden Gcschwulstbildung als einer fernen
Metastase zweifellos die verschiedenen Gewebsarten in ihrer
ersten Differenzirung aus dem Keimgewebe erkennbar sind,
darin liegt meines Erachtens der Beweis, dass eine Metastasirung
in Form undifferenzirter Keimzellen geschehen kann, und
zwar auch noch in einem späteren Stadium der Ge¬
schwulst w’ueherung. Es ist meines Wissens noch in keinem
Fall seither in so eklatanter Weise an der Hand eines in allen
weiteren Differcnzirungen mit dem primären Tumor übereinstim¬
menden metastatischen Tumors der Nachweis einer wirklich als
Metastase aufzufassenden Verschleppung einer Keimanlage gelungen.
Die anderen bisher beschriebenen metastatischen Tumoren vereinigten
niemals auch schon äusscrlich die Cardinaleigenschaften des pri¬
mären traubigen Sarkoms in so ausgesprochener Weise. Mit dem
vorliegenden Fall bekommt also meines Erachtens die Wilms’sche
Theorie gegenüber der Cohnheim’schcn eine sehr sichere Stütze.
Die letztere dürfte angesichts dessen, dass man die allmähliche
Entwickelung verschiedener Gewebsarten aus einem primären
embryonalen Gewebe erkennen kann, wie bereits erwähnt, für
diese Tumoren unhaltbar sein.
Als 3. Cardinalpunkt hatten wir die excessive Malignität
kennen gelernt. Warum eine so enorme und rasche Wucherung
dieser Gewebe stattfindet, darüber sind bis dato keine sicheren ur¬
sächlichen Vorstellungen möglich. Pick nahm für das Cervix¬
sarkom „ausser einer vielleicht essentiell grösseren Virulenz der
Keime eine leichtere Kcimverschleppung durch den schnell circu-
lirenden subepithelialen Saftstrom“ an. Für unsere Metastase, die
enorm gewuchert war und die durch den auf die Pleura ausgeübten
Heiz und auch wohl durch eigene Secretion zur Bildung eines
grossen, die Lunge comprimirenden Exsudates geführt hatte, giebt
diese Ansicht keine genügende Erklärung. Uns scheint am wich¬
tigsten der mangelnde Widerstand, den sonst die Zellen im geord¬
neten Gewebecomplex entsprechend dem natürlichen normalen
Aufbau des Körpers haben. Dieser fehlt hier vollkommen und so
ist dem schrankenlosen Wachsthumstrieb, der „Virulenz“ Pick’s,
freier Spielraum gelassen.
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128
Dr. A. Heddäus,
Bemerkenswerth ist, dass im vorliegenden Fall circa zwei
Jahre nach der scheinbar radicalen Operation ohne locales Recidiv
diese maligne und rasch zum Exitus führende Metastase auftrat.
Es dürfte daher für diese Tumoren vielleicht noch in höherem
Maasse wie für das Uteruscarcinom eine möglichst weitgehende
Ausräumung des Beckens nach Schauta-Wertheim am Platze
sein. Bisher ist noch kein dauernd geheilter Fall in der Literatur
verzeichnet. Es scheint aber auch von höchster Wichtigkeit zu
sein, dass bei verdächtiger Erkrankung des Endometriums, vor
Allem im Bereich der Cervix, möglichst genaue mikroskopische
Untersuchung erfolgt. Durch die Versäumniss einer derartigen Unter¬
suchung führte ein von Bäcker und Minnich mitgetheilter Fall,
der nach Amputation der Cervix 5 Jahre recidivfrei geblieben war,
durch ein unheilbares rasches Recidiv zum Tode, sonst wäre dieser
Fall vielleicht der erste geheilte gewesen. Die möglichst frühzeitige
und radicale Operation ist auch deswegen dringend indicirt, weil
bekanntermaassen die Verschleppung der Sarkomkeime meist nicht
wie beim Carcinom auf dem Wege durch dio regionären Lymph-
bahnen, sondern auf dem Blutwege erfolgt. Nur so dürfte auch
in unserem Fall die regionäre Recidivfreiheit zu erklären sein. Es
muss demnach im vorliegenden Fall angenommen werden, dass die
Verschleppung bereits vor der radicalen Operation durch Leopold
geschehen war. Der metastatische Tumor scheint anfangs langsam,
dann aber rapid und unaufhaltsam gewachsen zu sein.
Auf den 4. Cardinalpunkt, die Fernmetastasen, unserer Dispo¬
sition entsprechend hier noch weiter einzugehen, erübrigt sich, da
er im Vorhergehenden, namentlich unter Punkt 2, erschöpfend er¬
örtert wurde. Die anderen in der Literatur verzeichneten Fern¬
metastasen haben eine ausführliche Bearbeitung nicht erfahren,
wohl weil sie in ihrem klinischen und histologischen Bilde keine
besondere Berücksichtigung forderten und, wie schon erwähnt, meist
das typische Bild des Rund- oder Spindelzellensarkoms boten.
Zum Schlüsse ist cs mir eine angenehme Pflicht, Herrn Prof.
Ernst, (pathol. Institut Heidelberg) für die freundliche Durchsicht
dieser Arbeit meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.
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Metastatischer Plearatumor nach primärem traabigem Cervixsarkom etc. 129
Literatur.
Wilms, Die Mischgeschwölste. 1899.
Pfannenstiel, Virch. Arch. Bd. 127.
von Franque, Zeitschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 40 und Centraibl. f. Gyn. 1893.
von Kahlden, Ziegler’s Beitr. zur path. Anat. Bd. 14.
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Pebam, Monatsschr. f. Geb. 1903. Ref. Revue de gyn. T. 3. 1904.
K eitler, Monatsschr. f. Geb. 1903.
Bosse, Monatsschr. f. Geb. Bd. 17.
Cnrtis, Transact. obstet, soc. London. Vol. 45.
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Kamann, Rcf. Centraibl. f. Gyn. 1906. No. 26 u.38.
Kehrer, Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 22.
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Sehrt, Beitr. z. Geb. u. Gyn. Bd. 10.
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Spencer, Ref. Centraibl. f. Gyn. 1906. No. 11.
Bäcker u. Minich, Hegar’s Beitr. Bd. 10.
Michel u. Hoche, Ref. Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. 1907. H. 5.
Piltz, Ref. Mönch, med. Wochenschr. 1907. No. 49.
Bauereisen, Ref. Mönch, med. Wochenschr. 1904. No. 29.
Kestler, Menatsschr. f. Geb. u. Gyn. 1903.
Rosenstein, Virch. Archiv. Bd. 92.
Richter, Inaug.-Dissert. Greifswald 1892.
Heinze, Inaug.-Dissert. Wörzburg 1893.
Archi? für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft
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Original fro-m
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VII.
(Aus der chirurg. Abtheilung des Stadt. Krankenhauses am
Urban zu Berlin. — Director: Geh.-Rath Prof. Dr. Körte.)
Weiterer Bericht über die Erfolge
der chirurgischen Behandlung der diffusen
Bauchfellentzündung.
Von
Dr. H. Schmid,
ehemaligem Assistenzarzt des Stadt. Krankenhauses am Urban zu Berlin.
(Mit 1 Textfigur.)
Auf den beiden letzten (38. und 39.) Congressen der deutschen
Gesellschaft für Chirurgie hat sich in den reichhaltigen Vorträgen
von Nötzel, Nordmann, Kümmcll u. A. über die Behandlung
der diffusen Peritonitis, sowie in der daran anschliessenden Debatte
und weiteren Veröffentlichungen und Vorträgen gezeigt, dass nach
den grossen Wandlungen in der Stellungnahme der Chirurgie zu
dieser Erkrankung ein gewisser Abschluss erzielt ist, und zugleich
wenigstens in den Hauptpunkten der Indicalion und Behandlung
eine gewisse Uebcreinstimmung erreicht ist.
Die jetzt ziemlich allgemein gültige Ansicht ist in kurzen
Worten folgende:
1. Die Peritonitis diffusa jeder Aetiologie ist als chirurgische
Erkrankung zu betrachten, wird dementsprechend auch
von interner Seite in chirurgische Behandlung gegeben.
2. Wenn die Symptome der diffusen Peritonitis vorhanden
sind, wird die Laparotomie vorgenommen, insofern keine
Gegenindication vorhanden ist. Der Eingriff wird gemacht,
auch ohne dass der Nachweis von Eiter erbracht ist.
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Ueber die Erfolge der chir. Bebandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 131
3. Zweck der Operation ist: Beseitigung der Ursachen der
Peritonitis, Entfernung alles erreichbaren infectiösen und
toxischen Materials aus der Bauchhöhle und möglichste
Wiederherstellung der physiologischen Verhältnisse.
Weniger Einigkeit erzielt wurde über die Methode, wie dieser
Zweck bei der Operation erreicht wird.
Zahlreich sind die Mittheilungen über die Resultate der Peri-
tnnitisoperationen aus Kliniken und grossen Krankenhäusern. .Sehr
auffallend ist die grosse Verschiedenheit der erzielten Resultate.
Diese Verschiedenheit ist oft sogar da vorhanden, wo geübte Ope¬
rateure bis in die Details gleiche oder ähnliche Methoden anwenden.
Für diese merkwürdige Thatsache giebt es verschiedene Erklärungen,
die wohl meistens zusammen wirken. Der Hauptgrund — diese
Erkenntniss wurde auch auf dem letzten Chirurgencongress ausge¬
sprochen — scheint in einer weitgehenden Verschiedenheit in der
Auffassung des Begriffes „diffuse Peritonitis“ zu liegen.
So unverkennbar das ausgesprochene Bild der diffusen Peri¬
tonitis für den Kliniker ist, ein Abgrenzen des Begriffes ist bei
näherem Zusehen doch recht schwer.
Die bekannten Symptome der Bauchfellentzündung, wie gleich-
massige Spannung der Bauchdecken, Meteorismus, Schmerzhaftigkeit
des ganzen Bauches, Fieber, flatternder Puls, trockene belegte Zunge,
Facies abdominalis können im Beginn der Erkrankung nahezu alle
fehlen, und man ist erstaunt, bei der Operation doch eine gleich-
massige und eitrige Entzündung der gesammten Bauchhöhle zu finden.
Eine weitere Einigung, ob Grenzfälle, beginnende Entzündung,
trübe, nicht riechende Ergüsse bei gutem Allgemeinbefinden als
Peritonitis aufzufassen sind, erscheint nach den bisherigen Debatten
unwahrscheinlich. Noch schwieriger ist die Frage, ob eine Peri¬
tonitis wirklich diffus ist, oder ob sie nur den grösseren Theil der
Bauchhöhle einnimmt. Schonendes Operiren wird stets empfohlen.
Zur Entscheidung der Frage müsste in jedem Einzelfalle die ganze
Bauchhöhle der abtastenden Hand und dem Auge zugänglich ge¬
macht werden, was sich mit der Forderung schonenden Operirens
nicht vereinigen lässt. Wie schwierig die Frage der Definition ist,
geht auch aus der neuesten Arbeit von Rotter 1 ) hervor.
’) Dieses Archiv. Bd. 93. H. 1.
9*
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132
Dr. H. Schmid,
Seine Einteilung der diffusen Peritonitis in
A. Leichte Form.
a) Friihstadium,
b) Spätstadium.
B. Schwere Form.
a) Frühstadium,
b) Spätstadium
ist bei dem Mangel an markanten Grenzen nur werthvoll, wenn
derselbe Autor sämmtliche Fälle eintheilt.
Als leichte diffuse Peritonitis bezeichnet Rotter Fälle, bei
denen die Erkrankung in der Hauptsache nur den Unterbauch ein¬
nimmt, während bei schweren diffusen Peritonitiden auch der Ober¬
bauch befallen ist. Darin liegt ein gewisser Widerspruch mit dem
Begriff diffuse Peritonitis. Und warum sollte es nicht auch leichte
wirklich diffuse Peritonitiden geben, bei denen die Virulenz der
Infectionserreger eine geringe ist.
Aber wenn auch diese Eintheilung vielleicht nicht besonders
geeignet erscheint, als Basis für weitere vergleichende Statistiken
zu dienen, so zeigt doch die Arbeit von Rotter klar und deutlich,
dass die scheinbar glänzenden Resultate der operativ behandelten
Peritonitiden in den Veröffentlichungen einzelner Autoren in der
Hauptsache durch das Hinzuziehen von Peritonitiden im Früh¬
stadium bedingt sind. Die ausgesprochene Peritonitis der alten
Kliniker mit Trommelbauch und septischen bezw. toxischen Er¬
scheinungen ist nach wie vor eine Erkrankung mit vorwiegend un¬
günstiger Prognose, deren Mortalität nur wenig herabgedrückt
werden konnte.
Ich glaube bestimmt, dass bei Statistiken mit einer Mortalität
unter 15 pCt. bei diffuser Peritonitis viele beginnende oder nur
partielle Entzündungen mitgezählt werden.
Da diese beginnenden Peritonitiden bei operativer Beseitigung
der Aetiologie eine günstige Prognose haben, wurde auf dem
34. Chirurgencongress von Körte die Friihoperation so dringend
empfohlen, um dadurch dem Auftreten der genannten schweren
Symptome zuvorzukoramen.
Die Gründe dafür, dass der eine Operateur mehr, der andere
weniger Frühoperationen unter seinem Material hat, mögen zum
Theil auch in localen Verschiedenheiten der Arbeitsgebiete liegen,
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Ueber die Erfolge der chir. Bebandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 133
wie z. B. in der Grösse, dem Wohlstand der Bevölkerung, Kassen¬
verhältnissen, zum Theil vielleicht auch in den Anschauungen der
praktischen Aerzte über den Werth der chirurgischen Behandlung
der Peritonitis und ihrer ätiologischen Erkrankungen.
Möglich ist es auch, dass die Bevölkerung der Städte mit ver r
sehiedenen Lebensgewohnheiten und -Bedingungen auf ein und die¬
selbe Krankheit verschieden reagirt, wie es ja auch von andereu
Krankheiten bekannt ist, dass sie in verschiedenen Gegenden ver¬
schieden bösartig auftreten.
Dafür, dass das Krankenmaterial local verschieden ist, spricht
der Umstand, dass, während sich die Veröffentlichungen aus den
verschiedenen Anstalten Gross-Berlins in ihren Resultaten nahezu
decken, — sowohl die von verschiedenen Operateuren stammenden
Veröffentlichungen, als auch die Resultate im Krankenhaus am
Urban und in der Privatklinik des Herrn Geheimrath Körte, —
auf der anderen Seite die aus verschiedenen Städten stammenden
statistischen Arbeiten sehr differiren.
Für Differenzen von 10—15 pCt. in der Mortalität ist es
denkbar, dass Unterschiede in der Technik und gewisse locale
Verschiedenheiten den Grund abgeben können. Wenn dagegen
5—10 pCt. Mortalität auf der einen Seite und 40 pCt. auf der
anderen vorhanden sind, dann glaube ich, kann man mit Recht
annehmen, dass hier Auffassungsverschiedenheiten über den Begriff
Peritonitis, vielleicht auch über die Indication zur Operation vor¬
liegen.
Wer peritoneale Reizungen mit diffuser hyperämischer Injection
der Darmserosa oder das so häufige strohgelbe Exsudat der freien
Bauchhöhle bei Perityphlitis als Peritonitis mitzählt, bekommt
grössere Zahlen und kleinere Mortalitätsziffern. Wer auch die ver¬
zweifelten Fälle noch operirt, wird mehr Todesfälle haben. Dies
alles erscheint selbstverständlich, aber es ist kaum anders denkbar,
als dass in diesen Punkten zum Theil die Erklärung für die ge¬
nannten Differenzen liegt.
Eine weitere Einigung über den Begriff Peritonitis zu er¬
zielen, ist nach dem, was die ausgiebigen Discussionen über dieses
Thema ergeben haben, nicht wahrscheinlich. Dagegen sollte bei
Veröffentlichungen über Peritonitis und deren Behandlung zu Beginn
eine möglichst genaue Angabe vorausgeschickt werden, was als
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134
Dr. H. Schmid,
Peritonitis klinisch und anatomisch angesehen wurde, und welche
Indication für und gegen den operativen Eingrifl angenommen
wurde.
Es ist ferner wichtig, anzugeben, wie gross das Verhältniss
der Perityphlitisperitonitis zur einfachen Perityphlitis im Material
des Autors ist 1 ). Daraus Hessen sich bis zu einem gewissen Grade
Vergleiche anstellcn, ob an einer Stelle eine grössere oder geringere
Neigung besteht, zweifelhafte Fälle als Peritonitis mitzurechnen
oder nicht.
Aus den angegebenen Gründen scheint ein einfacher Vergleich
der Operationsresultate nicht mit Sicherheit die Ueberlegenheit
einer Operationsmethode zu beweisen. Werthvoller ist es, die Er¬
fahrungen eines und desselben Operateurs mit den verschiedenen
Methoden an demselben Material zu hören.
Dieser Arbeit liegen sämmtliche Fälle von Peritonitis zu
Grunde, die vom 1. April 1897 bis 1. Juni 1910 auf der I. chir¬
urgischen Abtheilung des städtischen Krankenhauses am Urban und
in der Privatklinik des Herrn Geheimrath Koerte entweder ope¬
rativ oder exspectativ behandelt worden sind.
Der Vollständigkeit halber sind in den Tabellen, die in den
beiden Arbeiten von Herrn Geheimrath Koerte über dasselbe Ge¬
biet aus den Jahren 1892 und 1897 angegebenen Zahlen mit an¬
geführt, so dass die Veröffentlichung einen Ueberblick über die
hier gemachten Erfahrungen auf dem Gebiet der operativen Be¬
handlung der Peritonitis in den letzten 20 Jahren giebt.
Bei den exspectativ Behandelten d. h. Nichtoperirten wurde
die Diagnose Peritonitis gestellt, wenn die ldinischen Symptome
so ausgesprochen waren, dass ein Zweifel nicht mehr bestand, oder
wenn die Diagnose durch die Section gestellt oder bestätigt wurde.
Die ausgesprochene Peritonitis ist durch die allgemein be¬
kannten typischen Symptome nie schwer zu diagnosticiren.
Es haben nun aber die Erfahrungen der letzten Jahre, beson¬
ders durch die Frühoperation der Perforationsperitonitiden (e peri-
phlitide und aus anderen Ursachen) gezeigt, dass diese klassischen
Symptome einige Zeit zur Entwicklung brauchen.
l ) Wie es z. B. Sprengel in seiner Beteiligung an der Discussion auf
dem 38. Congress der Deutschen Gcsellsch. für Chir. vorschlug und that, auch
Kotter in seiner neuesten schon citirten Arbeit.
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Ueber die Erfolge der chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 135
Wir finden durchaus nicht selten bei Patienten, welche nur
die brettharte Spannung des Bauches und heftige Schmerzen auf¬
weisen. bei ruhigem Pulse, niederer Temperatur und noch wenig
gestörtem Allgemeinbefinden, nach Eröffnung des Bauches alle
pathologischen Zeichen einer schweren Entzündung der Serosa:
starke Röthung, Blähung der Därme, Fibrinbeläge, eitriges oder
selbst jauchiges Exsudat vor. — Die Entzündung der Serosa kann
also schon vorhanden sein, ehe der Organismus durch die bekann¬
ten Allgemein- und Localsymptome darauf reagirt.
Diese Thatsache ist durch die Frühoperation bei Perityphlitis,
Magenperforation so sichergcstellt, dass sic eine wichtige Stütze
für die Indication der Frühoperation abgiebt. Wird dies Ini¬
tialstadium, wo nur Schmerz und Spannung der Bauchdecken be¬
steht, abgewartet unter Darreichung von Nareoticis, so hat man
dann nach 24—48 Stunden die klassischen Peritonitis-Symptome:
Aufstossen, Erbrechen, geblähten, gespannten Bauch, fliegenden
Puls, beschleunigte Athmung, den ängstlichen, unruhigen Gesichts¬
ausdruck, vor sich. In diesem Stadium ist die Chance der Ope¬
ration bereits sehr verschlechtert. Daraus haben wir eine wesent¬
liche Stütze zur Frühoperation gewonnen.
Wer abwartet, bis die klassischen Symptome heraus sind, oder
wer die Patienten in solchem Zustande erst zur chirurgischen Be¬
handlung bekommt, der wird unter wesentlich ungünstigeren Ver¬
hältnissen arbeiten, als derjenige, welcher schon im Frühstadium
operirt.
Allerdings ist manchmal die Peritonitis im Frühstadium nicht
so leicht zu erkennen, wie im Spätstadium und bei der Durchsicht
der Symptome, die auch im Frühsladium für die diffuse Erkran¬
kung des Peritoneums charakteristisch sind, kommt man zu dem
Schluss, dass es, genau besehen, kein Symptom giebt, das nicht
im Frühstadium fehlen könnte.
Wenn man die Erscheinungen bei Peritonitis dem Handbuch
der praktischen Chirurgie (Erkrankungen und Verletzungen des Peri¬
toneum von Prof. W. Koerte, Berlin) folgend, in allgemeine und
locale Symptome eintheilt, so besteht unter den Allgemeinerschei-
nungen wohl stets ein schweres Krankheitsgefühl, selbst im Beginn
der Erkrankung und bei den leichtesten Formen derselben. Auch
die Pulsbeschleunigung ist bei den von mir daraufhin durchgesehenen
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136
Dr. H. Sclimid,
Krankenjournalen stets vorhanden. Sehr häufig ist der Gesichts¬
ausdruck in der als Facies abdominalis bezeichneten Richtung etwas
verändert, doch fehlt bei Kindern und ganz zu Beginn der Erkran¬
kung hier und da dieses Symptom. Wohl stets ist die Thätigkeit
des Magen-Darmcanals in irgend welcher Weise gestört, zum Min¬
desten besteht als Ausdruck dafür eine dick belegte, bei den
schweren Formen braune, trockene Zunge und Ructus; oft beginnt
die Erkrankung mit Erbrechen. Obstipation ist das Gewöhnliche,
dieselbe kann bis zur Lähmung der Darmmuskulatur und schwerem
Meteorismus in Folge der Verhaltung von Darmgasen gehen. Fieber
ist häufig, jedoch giebt das Fehlen desselben kein Recht, die Dia¬
gnose in Frage zustellen.
Unter den localen Symptomen ist das constanteste und
sicherste die Druckempfindlichkeit und die reflectorische Bauch¬
deckenspannung. Die Druckempfindlichkeit ist ein subjectives
Symptom, sie tritt mehr oder weniger stark hervor, je nachdem
das erkrankte Individuum mehr oder weniger empfindlich ist, stär¬
ker oder schwächer auf Schmerzen reagirt. Es kann also immer¬
hin täuschen, besonders bei kleinen Kindern, welche schreien, so¬
bald eine fremde Hand den Bauch berührt. Auch bei solchen aber
kann man Schlüsse ziehen aus der Art des Schreiens. Bei aus¬
geprägter peritonealer Schmerzhaftigkeit wimmern die Kinder, ver¬
meiden lautes und angestrengtes Schreien.
Auch bei sehr alten Leuten, bei sehr fetten Individuen kann
die locale Schmerzhaftigkeit am deutlichsten sein. Ferner bei sehr
tiefer Lage des Entzündungsherdes, wenn dieser durch vorgelegte
Darmschlingen gedeckt ist, und wenn die Entzündung das Periton.
parietale noch nicht erreicht hat.
Wohl das wichtigste, objectiv nachweisbare Symptom ist
die reflectorische Bauchdeckenspannung, welche von der Entzün¬
dung des Periton. parietale ausgelöst wird. Dieselbe tritt unwill¬
kürlich ein und zeigt an, dass im Bauchraum pathologische Vor¬
gänge sich abspielen (Entzündung oder Blutung).
Die Bauchdeckenspannung tritt sehr früh ein, schon wenn an¬
dere Anzeichen von Entzündung noch fehlen.
Sie fehlt sehr selten ganz. In den Fällen, wo der Entzün¬
dungsherd sehr tief hinter Darmschlingen oder im kleinen Becken
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L'eber die Erfolge der cbir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 137
liegt und wo das Peritoneum parietale noch frei von Entzündung
ist. tritt sie erst später ein.
Zu beachten ist noch, dass die reflectorische Bauchdeckcn-
spannung auch vorhanden sein kann bei den Erkrankungen, die
mit dem Abdomen direct nicht in Beziehungen stehen, das ist die
croupöse Pneumonie und die Meningitis. Bei der ersteren Er¬
krankung tritt oft, besonders im Beginn der Krankheit, ausge¬
sprochene Bauchdeckenspannung auf, in der unbewussten Absicht,
das Diaphragma ruhig zu stellen, um durch möglichst oberfläch¬
liche Athmung jedes Reiben der mitenzündeten Pleura zu vermeiden.
Die bei Meningitis, besonders der tuberculösen Meningitis der
Kinder, so oft beobachtete Bauchdeckenspannung beruht auf der
universellen Ueberempfindlichkeit dieser Patienten. Die Spannung
kann dabei so ausgesprochen sein, dass bei dem schweren Krank¬
heitsbild und oft völlig negativem sonstigen Befund die Diagnose
Peritonitis auf den ersten Anblick zweifellos erscheint, besonders
da die tuberculöse Meningitis oft von abdominalen Symptomen, wie
Erbrechen. Verstopfung oder Durchfall begleitet ist.
Immerhin ist die Spannung der Bauchdecken das für die Früh¬
diagnose der Peritonitis wichtigste Symptom. Wenn dasselbe vor¬
handen ist und eine der beiden eben erwähnten Erkrankungen aus¬
geschlossen werden kann, wird man immer annehmen können, dass
Entzündung oder Blutung im ßauchraum vorhanden sind, die beide
die Operation erfordern.
Dass Schmerzhaftigkeit und Bauchdeckenspannung fehlen, habe
ich in den Krankenjournalen unseres Peritonitismaterials nicht ver¬
zeichnet gefunden.
Meteorismus tritt oft ein als Folge einer Lähmung der
Darmmuskulatur bei länger bestehender Peritonitis, kann jedoch
im Beginne fehlen, selbst wenn eitriges Exsudat vorhanden ist.
Nach diesen kurz erwähnten Gesichtspunkten wurden die Dia¬
gnosen hier vor der Operation gestellt und bei den geheilten, nicht
operirten Fällen in die Listen aufgenommen.
Die schon oben erwähnten zweifelhaften Fälle von Peritonitis,
hei denen sich in der Umgebung des entzündeten Wurms zwar
Eibrinbildung findet und in der übrigen Bauchhöhle häufig nicht
riechendes strohgelbes Exsudat, dessen bakteriologische Unter¬
suchung, nach den hier gemachten Untersuchungen und ander-
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138
Dr. H. Sohmid,
wärts meist Sterilität ergab 1 ), wurden nicht mitgerechnet. Diese
Fälle sind unserer Erfahrung nach als peritoneale Reizung
aufzufassen. Meist verschwinden die eventuell vorhandenen peritoni-
tischen Symptome in den ersten Tagen nach der Operation völlig
wieder. Leukocytenzählungen wurden in früheren Jahren hier eben¬
falls gemacht. Jedoch konnte Nordmann in seiner eben erwähnten
Arbeit über die Behandlung der Perityphlitis und ihrer Folgeer¬
krankungen den von Cürschmann und Sonnenburg behaupteten
diagnostischenWerth der Hyperleukocytose bei seinen Untersuchungen
nicht bestätigt finden. Hyperleukocytose zeigt nur das Vorhanden¬
sein eines Entzündungsherdes im Körper, aber ob Abscess oder ein¬
fache Infiltration vorliegt, geht nicht aus der Zählung der Leuko-
cyten hervor, ebensowenig ein Schluss auf die Prognose. Nur wenn
differentialdiagnostisch Typhus abdomin. in Frage kommt, so wird
zur Unterstützung der Entscheidung, ob Perityphlitis oder Typhus
vorliegt, eine Leukocytenzählung vorgenommen. Leukopenie unter
6000 bei zweifelhafter Diagnose spricht für Typhus, und mit der
Operation muss abgewartet werden.
Die Resultate der vorliegenden Zusammenstellung hat Herr
Geheimrath Koerte in der Sitzung der freien Chirurgenvereinigung
am 13. Dec. 1909 im Langenbeckhaus in kurzem in der Discussion
über den von Rotter gehaltenen Vortrag über seine Resultate der
chirurgischen Behandlung der Peritonitis mitgetheilt. Die Zusammen¬
stellung wurde nachher bis zum 1. Juni 1910 fortgesetzt, sodass
jetzt das gesammelte Peritonitismaterial der letzten 20 Jahre
(vom 1. Juni 1890 bis 1. Juni 1910) der I. Chirurg. Abtheilung,
Director: Herr Geheimrath Koerte, vorliegt. In die Zahlen der
folgenden Tabelle sind die Resultate der Privatklinik des Herrn
Geheimrath Koerte mit eingerechnet, dieselben decken sich fast
völlig mit denen des Krankenhauses.
Demnach wurden in der ganzen Zeit vom 1. Juni 1890 bis
1. Juni 1910 529 Fälle von diffuser Peritonitis operativ behandelt,
von denen 288 geheilt und 241 gestorben sind, das ist eine Morta¬
lität von 45,5 pCt. Von 142 nicht operirten sind 31 geheilt und
111 gestorben, das ist eine Mortalität von 78 pCt.
J ) M. Cohn, Dieses Archiv. 1908. Bd. 85. — 0. Nord mann, Dieses
Archiv. 1906. Bd. 78.
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Ueber die Erfolge der chir. Beliandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 139
Uebersicht über sämmtliche vom 1. Juni 1890 bis 1. Juni 1910 behandelte Fälle
von Peritonitis diffusa.
Ursache
Operirte
Fälle
Nicht
operirte Fälle
Erst exspec-
tat. bchaud.
dann Absc.
incidirte Fälle
Mortalltat der
o
r* Operirten
C rz
o ^
*3
Ge-
storb.
c N
Geheilt
,
o »r
ftm O
3
& "ri
Geheilt
i .
1,2 o
r •
Wurmfortsatz ....
392
225
167
65
17
48
22
8
14
42.6
Mähren und Duodenum .
49
28
21
19
19
—
—
—
42.8
Der übrige Darm . . .
25
7
18
10
10
—
—
I
72,0
Gallenblase.
11
5
6
10
1
9
2
—
o
md
54.5
Pankreas .
3
2
1
1
—
1
—
—
—
33,3
Weibliche Genitalien. .
31
9
22
27
10
17
8
7
l
70,9
Unsicherer Ausgang . .
14
9
5
7
3
4
—
—
—
35,7
Verschiedene Ursachen .
5
4
1
3
_
3
—
—
—
20,0
Summa Suramarum 1890
bis 1910.
529
288
241
142
31
m
32
15
17
45,5
Davon Material v. 1. Apr.
|
1897 bis l.Juni 1910
458
263
195
114
1 ~' r)
i 89
32
15
1 17
1
42,5
Vom 1. April 1897 bis 1. Juni 1910 wurden 458 diffuse
Peritonitiden mit 263 Heilungen und 195 Todesfällen operirt, das
ergiebt eine Mortalität von 42,5 pCt. Darunter sind 358 Wurm¬
fortsatzperitonitiden mit 212 Heilungen und 146 Todesfällen, also
40,7 pCt. Mortalität.
Von den nicht Operirten entfallen auf die Zeit vom 1. April
1897 bis 1. Juni 1910 114 Peritonitiden mit 25 Heilungen und
89 Todesfällen, also 78 pCt. Mortalität.
Eine 3. Kategorie von Peritonitisfällen kann weder den Ope¬
rirten, noch den nicht Operirten zugezählt werden. Dies sind die¬
jenigen Fälle, welche erst exspectativ behandelt wurden, entweder
weil die Operation verweigert wurde oder w r eil sie im Lähmungs¬
stadium mit stark aufgetriebenem Bauch aufgenommen wurden
und für die Operation in diesem Stadium zu ungünstige Chancen
boten.
Bei einzelnen dieser zunächst mit Magenausspülungen und
Rectal- und subcutanen Kochsalzinfusionen behandelten Patienten
kam es dann in der Folge doch noch zu einer Abkapselung der
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140
Dr. H. Schmid,
Entzündung und zu Abscessen, welche dann später eröffnet wurden.
Von dieser Art habe ich in unserem Material vom 1. April 1897
bis 1. Juni 1910 im Ganzen 32 Fälle gefunden, mit 15 Heilungen
und 17 Todesfällen, d. h. mit einer Mortalität von 53,1 pCt. in
der Mitte zwischen den principiell operirten und den durchaus in¬
tern oder exspectativ behandelten.
Die Indication zu dieser Art der Behandlung entsprang jeweils
bestimmten Verhältnissen. Einige dieser Fälle schienen bei der
Einlieferung zu elend zur Operation, erholten sich jedoch unter
Kochsalzinfusionen, Excitantien, Magenspülungen wieder. Bei diesen
konnten dann öfter späterhin localisirte Eiterherde eröffnet werden,
ebenso bei einigen, die sich nicht sogleich zur Operation entschlossen
hatten. Eine zweite Gruppe von Fällen der Art hatte zu Hause
wochenlang an Peritonitis gelitten und die Patienten kamen ins
Krankenhaus, nachdem der behandelnde Arzt einen Eiterherd ent¬
deckt und die Incision für nöthig erachtet hatte. Häufig gelang
es jedoch nicht, alle Herde zu erreichen und viele der Patienten
starben an Entkräftung nach wochenlangem Krankenlager. Bei der
Section fanden sich dann meist noch mehrere Abscesse entweder
zwischen den Darmschlingen oder im Subphreniura.
Genau genommen gehören die Fälle also zu den nichtoperirten,
d. h. zu den aus irgend einem Grunde im acuten Stadium der
Peritonitis exspectativ behandelten.
Wie Herr Geheimrath Koerte in seiner Zusammenstellung des
damaligen Materials aus dem Jahre 1897 betonte, ist es nicht an¬
gängig, die nichtoperirten Fälle als die Resultate interner Therapie
zu betrachten und mit den Resultaten der operativen Behandlung
zu vergleichen, da beide einem ganz verschiedenen Material ent¬
stammen.
Bei über 2 /s der nichtoperirten Fälle findet sich die Begrün¬
dung für das Ablehnen der Operation in dem elenden Zustande der
Patienten, die aller Voraussicht nach den operativen Eingriff nicht
überstanden hätten. Erwogen wurde die Operation in jedem
Fall. Als Gegenindication gegen die Operation wurde ein Zustand
angesehen, der die Symptome schwerster Intoxication mit Herz¬
schwäche bot, d. h. kühle, cyanotische Extremitäten, kaum oder
nicht fühlbaren Radialpuls, schnappende Athmung, sowie die sep¬
tische Form der Peritonitis, bei der die Sepsis das Bild beherrschte.
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(Jeher die Erfolge der ohir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 141
Wie schwierig es übrigens ist, eine Prognose bei der Peritonitis
zu stellen, zeigt der Umstand, dass unter den als aussichtslos nicht
Operirten 3 ohne Operation als geheilt entlassen wurden. In der
Begründung der Ablehnung der Operation war in den Kranken¬
geschichten ausdrücklich erwähnt, dass wegen des elenden Zu¬
standes von der sofortigen Operation Abstand genommen wurde.
Bei einer weiteren Anzahl von Fällen wurde nicht operirt, da
der Anamnese nach bereits eine Besserung eingetreten war, und die
Abkapselung von Abscessen bereits im Gange zu sein schien. Dies
wurde besonders bei Fällen mit Douglassabscess beobachtet. Die
Patienten hatten zuerst das Bild schwerer Allgemcinentzündung
geboten, dann zeigten sich die Symptome von Abscessbildung im
kleinen Becken, nach deren Entleerung per rectum oder per vagi-
nam schnell Besserung eintrat.
Bevor ich zur Besprechung der nach einzelnen Gruppen ein-
getheilten Peritonitiden übergehe, möchte ich noch einige Worte
über die Differentialdiagnose sagen. Dieselbe erscheint nach
3 Richtungen der Möglichkeit von Irrthümern ausgesetzt. Einmal
ist die Peritonitis leicht zu verwechseln mit einer Reihe anderer
abdominaler und sonstiger Erkrankungen. Unter ersteren kommt
vor Allem in Frage der Darmverschluss. Im paralytischen Sta¬
dium der Peritonitis, in dem der Leib aufgetrieben ist, der Patient
fäculente Massen erbricht, ist die Differentialdiagnose häufig nur
mit Wahrscheinlichkeit für die eine oder andere Erkrankung zu
stellen. Findet man in einer Bauchpartie mehr Darmsteifungen
wie in einer anderen, sind überhaupt die Darmreliefs sehr deutlich
und zeigen Peristaltik und Darmgeräusche, so spricht das für Ileus-
spannung. Schmerzhaftigkeit, Puls, Temperatur lassen hier im Stich,
ebenso oft die Anamnese. Der Nachweis der vermehrten, gegen
das Hinderniss Sturm laufenden Peristaltik ist deshalb von Wichtig¬
keit bei diesen fraglichen Fällen. Uebrigens ist, selbst wenn eine
Peritonitis und ein Darm Verschluss verwechselt werden, der Schaden
für den Patienten gering, da bei beiden Erkrankungen die Opera¬
tion indicirt ist. Nach Eröffnung der Bauchhöhle wird sich der
Sachverhalt bald klären. Weiterhin kommt hier und da eine ge¬
platzte Tubargravidität als Bauchfellentzündung zur Aufnahme.
Falls man an die Möglichkeit denkt, wird man mit Hilfe einer
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142
Dr. II. Schmid,
exacten Anamnese in den meisten Fällen eine richtige Diagnose
stellen. Immerhin kann eine geplatzte Tu bensch wangersehaft, wie
auch andere Blutungen in die freie Bauchhöhle ausgesprochene
Bauchdeckenspannung und eine gewisse Schmerzempfindlichkeit des
Peritoneums zur Folge haben. Offenbar übt das massenweise er¬
gossene Blut auf das Peritoneum einen gewissen Reiz aus. Weiter¬
hin kommt diffentialdiagnostisch in Betracht die Stieldrehung
eines Ovarialtumors, sowie Netztorsion, und einmal kam hier
eine Verwechslung von Peritonitis mit einer acuten Magendila¬
tation vor.
ln allen diesen Fällen bringt ein Irrthum dem Patienten kaum
einen Schaden, da ein operativer Eingriff indicirt war. Anders
liegen die Verhältnisse bei abdominalen Erkrankungen, die operativ
nicht anzugreifen sind, wie z. B. Typhus, Darmtuberculose,
Bleikolik. Es giebt Fälle von Typhus, in denen die Differential¬
diagnose gegen Peritonitis nicht ganz leicht zu stellen ist. Diese
Verwechslung ist möglich, wenn die Anamnese des Typhus
atypisch ist und ausnahmsweise durch dolente Drüsenschwellungen
im Abdomen oder eine leichte peritoneale Reizung Bauchdecken¬
spannung besteht. Auch kann eine Drüseninfiltration der Ileo-
eoccalgegend ein perityphlitisehcs Infiltrat Vortäuschen, ein Fall,
der sich vor Kurzem hier ereignete. In diesen Fällen ist die Zäh¬
lung der weissen Blutkörperchen von Werth. Sind die Leukocytcn
unter 6000, so soll man den chirurgischen Eingriff aufschieben,
bis andere differentialdiagnostisehc Untersuchungen auf Typhus ab¬
geschlossen sind.
Auch Darmtuberculose und Bleikolik können in seltenen
Fällen zu Verwechslung Veranlassung geben, jedoch kaum, wenn
unter genügender Berücksichtigung der Anamnese an die Möglichkeit
gedacht wird.
Ausser den erwähnten Erkrankungen, die ihren Sitz im Ab¬
domen haben, giebt es noch eine Reihe Krankheiten, die ausge¬
sprochen peritoneale Symptome machen können; das ist vor Allem
die croupöse Pneumonie [Melchior 1 )] und die Meningitis infolge
ihrer oben besprochenen Neigung zu Bauchdeckenspannung. In
ähnlicher Weise wie letztere kann eine Urämie Peritonitis vor-
>) Mittheil, aus den Grenzgeb. der Med. u. Chir. Bd. 20. 1909.
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lieber die Erfolge der chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 143
täuschen, durch den schweren Allgemeineindruck, Bauchdecken-
spannung und Druckempfindlichkeit des Leibes, Erbrechen, zuweilen
Durchfalle. Auch die Kolik durch Nierensteine wird manchmal
mit Appendicitis und den Folgeerkrankungen verwechselt.
Zuletzt sei noch die Hysterie erwähnt, die mit ihrem
Reichthum an imitirten Erscheinungen jedes peritonitische Symptom
naturgetreu copiren kann, so dass, selbst wenn man an die Mög¬
lichkeit denkt, eine Peritonitis nicht immer mit Sicherheit ausge¬
schlossen werden kann. Besonders die Form der hysterischen
Pseudomagenperforation kann gelegentlich einmal zur Verwechslung
führen [Koerte 1 )].
In allen diesen möglichen Verwechlungen steht die Diagnose
der Peritonitis in Discussion. Uebrigens sind thatsächliche Irr-
thümer bei einiger Erfahrung doch ziemlich selten.
Schwieriger ist es sehr häufig, die Aetiologie der Peritonitis
anzugeben. Je ausgesprochener die Peritonitis ist, desto
mehr tritt die ätiologische Erkrankung zurück und wird
in ihren Erscheinungen verdeckt und ihre Erkenntniss erschwert.
Hier tritt dann die ätiologische Diagnose zurück und die Frage
nach der Indication zur Operation in den Vordergrund. Dann wird
der Patient keinen Schaden haben, selbst wenn der Ausgangspunkt
der Peritonitis nicht ganz klar liegt.
In solchen Fällen wird die Laparotomie durch einen Schnitt
in der Mittellinie gemacht und zwar so, dass der Nabel in dessen
Mitte liegt und die Bauchhöhle in etwa 10 cm Länge eröffnet
wird. Dieser Schnitt gewährt meist genügend Ueberblick, um die
genaue Diagnose stellen zu können, und man kann von diesem
Schnitt aus durch Erweiterung nach oben oder unten oder seitlich
die meisten Organe, welche als Ausgangspunkt in Betracht kommen,
erreichen. Findet man die Ursache der Peritonitis in einer per-
forirten Gallenblase, so wird zwischen 2 zufassenden Fingern
ein senkrechter Schnitt nach rechts auf den Längsschnitt gesetzt.
Bei einer Magenperforation wird er nach oben bis zum Proc.
xvphoideus verlängert. Der Darm ist durch den ersten Schnitt
w r ohl stets genügend zugängig. Auch der Wurmfortsatz ist von
der Mitte her nicht allzu schwer zu entwickeln und zu exstirpiren.
l ) Dieses Archiv. Bd. 81. H. 1. 1906.
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144
Dr. H. Schmid,
Beim Ausgang der Peritonitis von den weiblichen Genitalien wird
der Schnitt nach unten zu verlängert, falls ein Befund einen Ein¬
griff nothwendig macht. Dieser Schnitt wird auch stets angelegt
bei Schussverletzungen oder Traumen mit Verdacht auf Organ¬
verletzungen. Ist die Diagnose Peritonitis nicht ganz sicher, so
tritt die Frage nach der Laparotomia exploratoria auf; diese ist
indicirt, wenn die Diagnose zwischen 2 Möglichkeiten schwankt,
die beide die Operation fordern.
Das im Folgenden besprochene Material entstammt der Zeit
vom 1. April 1897 bis 1. Juni 1910 aus dem Krankenhaus am
Urban und der Privatklinik von Herrn Geh.-Rath Koerte. Ueber
% aller operirten Peritonitiden dieser Zeit gingen vom entzündeten
Wurmfortsatz aus, nämlich 358 Fälle mit 212 Heilungen und
146 Todesfällen, d. i. eine Mortalität von 40,7 pCt.
So zahlreich diese Art der Peritonitis in allen Kliniken und
Krankenhäusern vertreten ist, so genau ihre Pathologie und Bak¬
teriologie und ihre Symptomatologie bekannt ist, es ist bis jetzt
nicht gelungen, bestimmte Merkmale zu finden, die sie von Peri¬
tonitiden anderen Ursprungs principiell trennen. Aus dem bakte¬
riologischen Befund kann weder für die Prognose noch den Ur¬
sprung ein sicherer Schluss gezogen werden. Aehnlich liegen die
Verhältnisse mit den pathologisch-anatomischen Formen der Peri¬
tonitis. Entsprechend den verschiedenen Arten der Entstehung
einer Wurmfortsatzperitonitis kommen auch alle Formen der Peri¬
tonitis vor. Vorherrschend ist allerdings die diffus eitrige Form
mit dem ausgesprochenen Coligeruch des reichlichen fötiden Ex¬
sudates, deren Entstehung eine Folge der Perforation des Proc.
vermiformis ist. Die Prognose dieser Form ist zu Beginn eine
günstige. Bei ihr hat die Frühoperation die schönsten Erfolge.
Die Gefahr dieser Form liegt in der massenhaften Resorption von
toxischen Substanzen. Seltener ist die fibrinös-eitrige Form mit
wenig fade oder gar nicht riechendem Exsudat. Diese Formen
finden sich in unserem Material etwa im Verhältniss 2:1. Die letztere
Form hat etwas mehr Todesfälle, wie die erstere.
Uebrigens ist die Grenze zwichen diesen beiden Formen nicht
immer deutlich. Eine 3. Form, die trockene septische Peritonitis
fand sich sehr selten. 3 mal fand ich sie als Sectionsdiagnose bei
nicht operirten Fällen und nur 5 mal in Journalen der operirten
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lieber die Erfolge der chir. Befaandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 145
Fälle. 4 kamen ad exitum, einer wurde geheilt. Es fand sich
gar kein Exsudat in der Bauchhöhle, die Serosa der Därme war
überall intensiv geröthet und samraetartig aufgelockert, wenig oder
kein Fibrin; starker Meteorismus bestand in 3 Fällen, in den
3 anderen septische Diarrhoen. Im klinischen Bild herrschte die
Sepsis vor.
Die Frage, ob ein zweifelhaftes, trübes, nicht riechendes Ex¬
sudat bei einer Perityphlitis der ersten Tage ein Zeichen von
Peritonitis ist, muss der bakteriologische Befund entscheiden. Die
Verhältnisse liegen ähnlich wie bei Pleuraexsudaten; finden sich
Bakterien, so ist es ein Empyem und in der Bauchhöhle eine
Peritonitis. Wenn nicht, sollte der Fall nicht zu den Peritonitiden
gerechnet werden. Hier wurden solche zweifelhaften Fälle mit
Exsudat ohne bakteriologischen Befund nicht mitgercchnet.
Vom 1. Juni 1890 bis 1. Juni 1910 wurden im Krankenhaus
am Urban 2116 Perityphlitiden operirt, darunter 1258 im acuten
Stadium. Auf diese kommen 277 Peritonitisfälle, das sind 22,2 pCt.
Unter den Begriff „acutes Stadium“ habe ich auch die Abscess-
incisionen einbegriffen. In diesem Fall deckt sich unser Verhältnis«
der Peritonitis zur Perityphlitis annähernd mit den Angaben
Sprengel’s, der nach meiner Berechnung 24,3 pCt. Peritonitis¬
fälle unter seinen Perityphlitiden hat. Dieser auffallend hohe
Procentsatz von Peritonitisfällen unter den acuten Peritonitiden liegt
wohl in dem Umstand, dass in den 90er Jahren kaum Operationen
im acuten Stadium der Perityphlitis, dagegen Peritonitisoperationen
gemacht wurden. Die Procentzahlen der letzten 5 Jahre sind
wesentlich kleiner.
Nötzel und Rehn sprachen sich auf dem 38. Congress der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie gegen die Eintheilung der
Peritonitiden in Tage aus und nachher äussertc sich ähnlich Roth-
Uübeck mit der Begründung, dass die Angaben der Patienten in
Bezug auf den Beginn der Erkrankung sehr ungenau seien. Es
wurden Beispiele für Irrthümer angegeben. Unserem Eindruck
nach ist trotz dieser natürlich nie zu vermeidenden Irrthümer die
Eintheilung in Tage nach dem Beginn der Erkrankung nicht werth¬
los, denn einestheils sind diese Irrthümer überall ungefähr dieselben
und dann glauben wir, dass sie gerade bei der Peritonitis die Aus¬
nahme bilden. Den Beginn einer Bauchfellentzündung übersieht
Arehir ftr klin. Chirurgie. B<L 04* Heft 1.
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146
Dr. H. Schmid,
der Träger in den meisten Fällen nicht. Das Krankheitsgefühl ist
fast stets sehr gross, plötzlich einsetzend. Die Fälle, in denen das
nicht der Fall ist, sind selten.
Unsere Zusammensstellungen in der Perityphlitisstatistik seit
nun über 10 Jahren basiren ebenfalls auf dieser Eintheilung in
Tage nach dem Beginn der Erkrankung und wir glauben in der
grossen Uebereinstimraung der Erscheinungen und der Resultate in
den verschiedenen Jahren eine Bestätigung der ungefähren Richtig¬
keit der Angaben unserer Kranken zu sehen.
Dass, wie Koerte schon früher betonte, die Frühoperation
von grösster Wichtigkeit ist, ergiebt auch das nach Tagen hier
zusammengestellte Material des Krankenhauses und der Privat¬
klinik des Herrn Geheimrath Koerte.
Am I. Tag operirt 29, davon geheilt 26, gestorb. 3,Mortalität 10,3pCt.
71 U- „
r?
00
3
, 70,
» 19,
71
21,3 „
„ in. „
n
67, „
„ 46,
* 21,
77
31,3 „
„ iv. „
V
174, „
71 71,
„ 103,
71
59,1 „
Man
sieht,
wie rasch
die Mortalität steigt,
sowie
der 2. und
3. Tag überschritten sind. Daraus folgt, dass jede Perityphlitis
mit irgend welchen peritonealen Symptomen sobald w r ie möglich
der Operation zuzuweisen ist.
Noch dringlicher reden die Zahlen der nachher zu besprechen¬
den Perforationsperitonitis.
Interessant ist auch die Zusammenstellung nach einzelnen Jahr¬
gängen. Dieselbe besteht nur aus den Fällen des Krankenhauses
am Urban: 278 operirtc Wurmfortsatzperitonitiden.
Allerdings sind die einzelnen Zahlen verhältnissmässig klein,
aber die ganze Zusammenstellung giebt doch ein gewisses Bild
über die Mortalität und deren Beziehung zur Frühoperation.
Aus diesen Zahlen geht ziemlich klar hervor, dass die Früh¬
operation bei Perityphlitisperitonitis den entscheidenden Einfluss
auf die Mortalität ausübt. Wenn man bedenkt, dass es unter den
peritonitischen Infectionen selbst noch verschiedene Grade der
Schwere giebt, dass die Virulenz der Infectionserreger nicht gleich
ist, und dass trotz dieser Verschiedenheit der einzelnen Fälle im
Grossen und Ganzen das Sinken der Mortalität fast parallel mit
dem Sinken des Antheils der Spätoperationen an der Gesammt-
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Ueber die Erfolge der chir. Bchandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 147
Uebersicht über die aus dem Krankenhaus am Urban
stammenden Fälle von Peritonitis e perityphlitide, nach Jahren ein-
getheilt. mit dem Antheil der Spätoperationen (IV. Tag und später).
Summa
der op.
Fälle
Davon
später
operirt
Ge¬
heilt
Gestor¬
ben
Mortalität
pCt.
1897
6
6
2
4
66 Vs
1898
16
16
6
10
62,5
1899
9
9
2
7
77,7
1900
13
13
4
9
69,2
1901
11
8
5
6
54,5
1902
24
15
10
14
58,3
1903
37
27
17
20
54
1904
27
13
18
9
38'/ 3
1905
27
12
17
10
37
1906
15
5
9
6
40
1907
31
7
24
7
22,5
1908
29
8
17
12
41,3
1909
23
12
19
4
17,3
1910»)
19
3
18
1
5,2
Jahrescurven der Mortalität und des Antheils der Spätoperationen
an der Gesammtziffcr der operirten Fälle.
*) Vi Jahr umfassend.
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148
Dr. H. Schmid,
ziffer der Operirten geht, so glaube ich, dass man zur Erklärung
der auffallenden Verschiedenheit in den Resultaten mancher Ver¬
öffentlichungen den verschieden grossen Antheil der Frühoperationen
an der Gesammtziffer der Operationen annehmen darf. Dass Zahlen
von 25—30 Fällen zu gering sind, um ein Urtheil über die
Operationsmethode abzugeben, ist aus diesen Zahlen auch zu er¬
sehen.
Im Jahre 1909 hatten wir im Krankenhaus am Urban eine
Mortalität von 17,3 pCt. unter den Wurrafortsatzperitonitiden, trotz¬
dem über die Hälfte davon Spätoperationen waren. Im Jahre 1908
waren nur 28 pCt. der Operirten Spätoperationen und trotzdem
hatten wir eine Mortalität von 41,3 pCt.
Was die Technik der Operation der Peritonitis e pcri-
typhlitide anbelangt, so hat die Schnittführung gewechselt. Früher
wurde als Regel der Rectusrandschnitt gemacht. Dieser giebt sehr
guten Ueberblick. Die seitlich eintretenden Nerven zu den Mm.
recti werden bei der Operation principiell geschont und mit
stumpfen Haken bei Seite gehalten. Sie ertragen diese Dehnung
aber offenbar nicht immer, ferner kann die nachfolgende Eiterung
in der Bauchwunde ihnen noch gefährlich werden; es treten daher
Lähmungen und folgende Atrophien in den unteren Rectuspartien
nicht selten auf. Deshalb wurde in letzter Zeit mehr der Schräg¬
schnitt parallel dem Beckenrand gewählt. Wird dieser Schnitt unter
stumpfer Durchtrennung und Auseinanderziehen der Muskeln quer
zur Faserrichtung ausgeführt, dann giebt er jedoch für die Peri¬
tonitis nicht immer genug Raum. Ausserdem ist die durch den
Zickzackschnitt erzeugte unregelmässige Durchtrennung der Bauch¬
decken leicht der Infcetion durch den überlaufenden Peritonitiseiter
ausgesetzt. Daher ist, wenn man mit Sicherheit eine Eiterung im
Abdomen zu erwarten hat, eine scharfe Durchtrennung der Muskeln
mittelst Schrägschnitt parallel der Richtung der Nerven besser
geeignet.
Der Schnitt wird so lang gemacht, dass die Forderung eines
guten Ueberblicks dadurch erfüllt wird. Da die Indication zur
Peritonitisoperation eine vitale ist, so erscheint eine Verlängerung
des Operationsschnitts gegenüber einem kleinen Appendektomie¬
schnitt um 2 cm nicht so sehr von Bedeutung, dass deswegen auf
die Hülfe des Auges bei der Operation verzichtet werden müsste.
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Uober die Erfolge der chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 149
Es wird zunächst der meist gangränöse und perforirte Wurm¬
fortsatz aufgesucht. Dann wird das Coecum und der Wurmfort¬
satz nach Möglichkeit mobilisirt und freigelegt, nach den Seiten
und unten die Bauchhöhle mit feuchten Compressen abgestopft und
dann der Wurm in der üblichen Weise entfernt und übernäht.
Dann wird die Gaze fortgenommen, die Bauchhöhle mit platten
Haken aufgehalten und nun mit der behandschuhten Hand einge¬
gangen, die erreichbaren Verwachsungen gelöst und alle Recessus
für die Spülung zugängig gemacht. Besonders die Region des
kleinen Beckens wird abgesucht, weil dort in der Regel grössere
Eiterungen liegen, sodann die Darmbeingrube und der Recessus
lateral vom Colon ascendens.
Von einem gewöhnlichen Blinddarmschnitt aus kann man aller¬
dings nicht die ganze Bauchhöhle abtasten uiyl versteckte Eiter¬
herde entleeren. Wenn diejenigen Adhäsionen gelöst werden, die
einzelne Abschnitte der Bauchhöhle der Spülung unzugänglich
machen, so genügt das unseres Erachtens; die zwischen den Darm¬
schlingen bestehenden Verklebungen sind bei manchen Formen der
Peritonitis ohne sehr zeitraubende, das Leben gefährdende Arbeit
nicht zu bewerkstelligen. Welche Formen der Bauchfellentzündung
zu dauernden bindegewebigen Verwachsungen und zur Strangbildung
führen, ist nicht ganz geklärt. Vor 1 1 / 2 Jahren wurde hier ein
Sjähriger Junge mit einer diffusen Peritonitis e perityphlitide ein¬
geliefert und exspectativ behandelt, da man beginnende Localisation
annahm. Es wurde denn auch im weiteren Verlauf ein Rectalabscess
and ein subphrenischer Abscess mit Pleuraempyem eröffnet und
schliesslich der Junge geheilt entlassen. Nach einem halben Jahre
kam er wieder zur Aufnahme mit erneuten Schmerzen in der
Blinddarmgegend. Der behandelnde Arzt gab an, dass in der
Zwischenzeit verschiedene mit Fieber einhergehende Anfälle statt¬
gefunden haben und schlug die Operation im Intervall vor. Die
Laparotomie ergab, dass trotz der sehr schweren, mit Abscess-
bildung einhergegangenen Peritonitis schon nach einem halben Jahr
keine Spur von Verwachsungen mehr vorhanden waren. Der Wurm
zeigte eine alte Perforationsnarbe und eine Strictur. Ein anderer
fall bot ein gegenteiliges Bild. Ein junger Mensch von 20 Jahren
kommt mit kolikartigen Schmerzen und subacuten Ileuserschei-
nungen ins Krankenhaus; 8 Tage nach dem ersten Anfall dieser
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150
t)r. R. Schmid,
Art trat ein zweiter auf und eine Laparotomie zeigte das Vor¬
handensein eines ganzen Convoluts von Verwachsungen und ent¬
zündlichen Strängen, die den Darm an verschiedenen Stellen stark
einengten und von denen vermuthlich bald dieser bald jener Strang
Einklemmungserscheinungen hervorgerufen hatte. Die Stränge wurden
doppelt unterbunden und resecirt und nach Möglichkeit die physio¬
logischen Verhältnisse wiederhergestellt (Operateur: Geheimrath
Körte). Trotzdem der junge Mensch mit Bewusstsein keine Peri¬
tonitis durchgemacht hatte, so giebt es doch wohl kaum eine
andere Aetiologie für diese merkwürdige Erscheinung. Für Tuber¬
kulose war kein Anhaltspunkt. Diese beiden Beispiele für viele.
Die Frage der besten Reinigungsmethode — ob Tupfen
oder Spülen — ist noch strittig, jedoch sind nach den Mittheilungen
der letzten Jahre doch wohl die meisten Chirurgen zur Spülung
übergegangen.
Auch die hier gemachte Erfahrung spricht dafür, dass die
Spülung das schonendste und zugleich vollkommenste Verfahren
ist; dass sie schonender für die Serosa des Darmes ist, als das
Tupfen und Wischen, wird wohl von niemand bestritten; dass sie
eine vollkommenere Reinigung erzielt als das Tupfen, ist sehr leicht
zu demonstriren. Wenn man eine Abscesshöhle oder die perito-
nitische Bauchhöhle austupft, sie mit Gaze möglichst exact reinigt,
so wird, wenn man nachher dieselbe Höhle spült, noch eine Menge
Spülflüssigkeit nothwendig sein, um die betreffende Höhle klar zu
bekommen. Um die hier ausgesprochene Erklärung für die Spülung
zu begründen, habe ich das Material des Krankenhauses und der
Privatklinik von Herrn Geheimrath Körte nach den Resultaten der
beiden Methoden zusammengestellt.
Die Art und Weise, wie hier gespült wird, ist folgende: Die
Laparotomiewunde wird mit flachen Haken oder seitlich einge¬
setzten Fingern breit aufgehalten, so dass deren Umgebung frei zu
Tage liegt. Bei der Spülung wird Werth darauf gelegt, dass die
Spülflüssigkeit sofort wieder abfliesst. Entweder geht der Ope¬
rateur mit der behandschuhten Hand in die Tiefe ein, drängt die
Darmschlingen zurück und leitet nun den Strahl der Flüssigkeit
aus der Giesskanne oder dem Irrigatorschlauch mittelst eines
dicken gebogenen Glasrohres in die Tiefe, in der Art, dass die
Flüssigkeit mit dem Eiter zusammen unter der Hand gut zurück-
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Ceber die Erfolge der chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 151
fliessen kann. Wo die Finger nicht mehr hinreichen, z. B. ins
kleine Becken, werden zwei dicke Glasrohre oder Gummidrains
nebeneinander eingeführt, der eine zum Zulauf, der andere, wo¬
möglich noch weitere, zum Ablauf. Durch vorsichtige Plätscher¬
bewegungen kann man die lose sitzenden Beläge, ohne die Serosa
zu schädigen, mitentfernen.
Ara Schluss wird das kleine Becken nochmals gereinigt, da
sich während der Reinigung der übrigen Bauchhöhle hier oft kleine
Exsudatreste wieder angesammelt haben. Gespült wird bis die
Flüssigkeit aus allen Theilen der Bauchhöhle klar zurückkommt.
Als Spülflüssigkeit wird 40 0 warme physiologische Kochsalzlösung
benutzt. Zusätze irgend welcher Desinficientien werden nicht ge¬
macht. Eine Desinfection der Bauchhöhle gelingt doch nicht und
die angewandten chemischen Antiseptica schädigen sicher das
Peritoneum. Mit dem heissen Kochsalzwasser wird eine starke
aetive Hyperämie erzeugt, bekanntlich das beste Hülfsmittel zur
Bekämpfung von Infectionskeimen. Ob der kranke Körper nach
der Reinigung der Bauchhöhle mit den noch zurückbleibenden
Keimen fertig wird, ist eine Frage der Widerstandsfähigkeit des¬
selben. Dafür ist es aber gerade wichtig, dass das Endothel der
Bauchhöhle möglichst wenig geschädigt wird. Alle wirksamen
Antiseptica sind eben giftig, wenn sie massenhaft verwendet werden,
und reizen das. Bauchfell.
V on 358 operirten Perityphlitisperitonitiden wurden 235 ge¬
spült und 123 durch Austupfen nach Möglichkeit von dem eitrigen
Exsudat gereinigt.
Bei den 235 gespülten Fällen beträgt die Mortalität
40 pCt.
Bei den 123 ausgetupften Fällen beträgt die Mortalität
42,2 pCt.
Der Unterschied zwischen den Resultaten erscheint ver¬
schwindend gering, jedoch fällt es für die Beurtheilung ins Ge¬
wicht, dass die schweren Fälle stets gespült wurden, während sich
bei den leichten Fällen Herr Geheimrath Körte häufig mit dem
Austupfen begnügte.
Merkwürdiger Weise verhalten sich die Früh- und Spät¬
operationen dabei verschieden. Von den in den ersten drei Tagen
operirten und gespülten starben 25,7 pCt., von den in diesen
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Original frorm
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152
Dr. H. Schmid,
Tagen bei der Operation getupften 25 pCt., d. h. es besteht in
den ersten drei Tagen kein wesentlicher Unterschied zwischen
Spülen und Tupfen oder mit anderen Worten, auf die schon in den
ersten Tagen ungünstig verlaufenden Fälle hat die Operations-
methode weniger Einfluss, es genügt hier meist die Entfernung
der Aetiologie und eine approximative Reinigung der Bauchhöhle.
Grösser ist der Unterschied bei den Spät Operationen. Von
den am vierten Tage und später mit Spülung behandelten starben
55,4 pCt., von den Getupften 69,2 pCt. Dieser Unterschied ist
doch zu gross, um übersehen zu werden und spricht entschieden
für die Ueberlegenheit der Spülmethode, besonders bei den schon
länger bestehenden Fällen oder den in einem späteren Stadium der
Perityphlitis, meist durch die Perforation des Wurms oder eines
Abscesses entstandenen Peritonitiden.
Mehr noch als Erwachsene scheinen Kinder durch die Spülung
günstig beeinflusst zu werden. Von 47 Kindern unter 12 Jahren,
die mit Spülung behandelt wurden, starben 19, d. i. eine Morta¬
lität von 40,5, von 32 mit Tupfen gereinigten 22, d. h. 68,7 pCt.
Einen unserer Erfahrung nach entschieden günstigen Einfluss
hat die Spülung der Bauchhöhle auf den Allgemeinzustand.
In zahlreichen Fällen wurde bei schweren Peritonitiskranken
das auffallend gute Befinden am Tage nach der mit Spülung ver¬
bundenen Operation bemerkt. Auch während der Operation glaub¬
ten wir eine belebende tonisircnde Wirkung der Spülung auf den
Puls zu bemerken.
Da von den Gegnern der Spülung dieser zum Vorwurf gemacht
wird, dass sie infectiöses Material in der Peritonealhöhle in Gegen¬
den trage, die vorher nicht inficirt waren, so habe ich unser Kranken¬
hausmaterial daraufhin durchgesehen, ob ein vermehrtes Auftreten
von subphrenischen Absccssen nach der Spülung zu bemerken
war. Dabei ergab sich, dass von 8 subphrenischen Abscessen, die
nach der Peritonitisoperation aufgetreten waren, 7 bei mit Spülung
behandelten gefunden wurde. Dies scheint zunächst den erwähnten
Vorwurf der Anhänger der Tupfmethode zu bestätigen. Die Be-
rachtung der einzelnen Fälle lässt jedoch einige von den 7 in
Wegfall kommen.
In einem Fall war schon im Operationsbericht gesagt, dass
unter der Leber massenhaft jauchiger Eiter hervorgekommen sei,
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Ueber die Erfolge der chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 153
so dass eine subphrenische Eiterung schon vor der Operation wahr¬
scheinlich war. Im 2. Fall fand sich ein Kothabscess mit Perforation
des Coecums. Ausserdem wird schon am Tag nach der Operation
von Erscheinungen in der rechten Pleura und Lunge gesprochen.
Da nun bei Perforationsperitonitiden meist eine völlig diffuse Peri¬
tonitis besteht, da sich bei der Plötzlichkeit der Ueberschwemmung
des Peritoneums mit infectiösem Material keine Verwachsungen
bilden können, so halte ich es für weniger gezwungen, anzunehmen,
dass der subphrenische Abscess eine Folge der in nächster Nähe
stattgehabten Perforation war, als eine Wirkung der Spülung. Der
Patient starb. In einem 3. Fall war die Bauchhöhle geschlossen
worden und musste wegen eines grossen Abscesses wieder geöffnet
werden. Diese Relaparotomie konnte jedoch nicht verhindern, dass
eine foudroyante Sepsis einsetzte, mit einer ganzen Reihe von meta-
statischen Eiterherden, eitriger Pleuritis und Pericarditis und neben
anderen Abscessen im Bauch auch ein subphrenischer. Letzterer
war mit den übrigen Eiterbildungen aufgetreten und so wird wohl
auch dieser Fall kaum auf die Rechnung der Spülung zu setzen
sein. Diese drei Fälle scheinen mir für die Frage, ob die Spülung
Schuld ist an subphrenischen Eiterungen, auszuscheiden.
Von den übrigen vier Fällen, von denen drei in Heilung aus¬
gingen, ist die Möglichkeit, dass die Spülung Keime in den sub¬
phrenischen Raum gebracht hat, nicht völlig auszuschliessen. Für
gesichert halte ich die Schuld der Spülung jedoch nicht, selbst
wenn man von der Möglichkeit absieht, dass geringe Mengen von
Infectionsträgern hegen blieben, auskeimten und so nachträglich eine
zweite Entzündung hervorriefen. In dem einen Falle von den eben
erwähnten vier traten die ersten Zeichen der Eiterung 14 Tage
nach der Operation auf. In einem zweiten nach 12 Tagen. In
einem dritten wurde der Abscess bei der Section gefunden. Der
Tod war 15 Tage nach der Operation eingetreten. Im 4. Falle
waren volle 4 Wochen verstrichen zwischen der 1. Operation und
dem Zeitpunkt, in dem der subphrenische Abscess diagnosticirt
werden konnte.
Diesen vier Fällen steht ein Fall von einem subphrenischeu
Abscess im weiteren Verlauf einer getupften Peritonitis gegenüber.
Wenn man nun berücksichtigt, dass die Zahl der Gespülten zu den
Getupften wie 2 : 1 (235 : 123) ist, so ist der Unterschied bei den
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Dr. H. Schmid,
kleinen Zahlen, kaum gross genug, dass man deshalb die Spül¬
methode als gefährlich hinstellen könnte.
In der viel umstrittenen Frage der Drainage (ob? und wie?)
wurde hier folgender Standpunkt eingenommen: Wurmfortsatzperi¬
tonitiden mit Eiter wurden principiell drainirt, und zwar 1. die
Stelle des Ausgangs der Entzündung, d. i. das Lager des Wurms,
2. die Stelle des tiefsten Punktes, d. i. das kleine Becken, event.
mit zwei Drains, 3. der seitliche Rccessus, die rechte lateral vom
Coecum gelegene Tasche, dann die linke Darmbeingrube, mit Gegen-
incision an der linken Spina ilei sup. Dies ist die typische Drai¬
nage der schweren eitrigen Wurmfortsatzperitonitis. Allerdings
wird dieselbe auch hier in letzter Zeit wesentlich vereinfacht, meist
werden nur das Lager des Wurms und das kleine Becken drainirt.
An der Drainage der Coecalgegend wird jedoch immer fest¬
gehalten, weil die entzündeten Flächen des Bettes des W'urms am
längsten die Eiterung unterhalten und letztere hier am längsten in-
fectiös bleibt. Die Drainage des kleinen Beckens beruht auf der
Erfahrungsthatsache, dass hier am häufigsten die letzten Rest-
abscesse nach diffusen Peritonitiden zu finden sind.
Als Drains werden hier verwendet Gummirohre von Bleistift-
bis Kleinfingerdicke, die mit kleinen seitlichen Oeffnungen versehen
werden. Die Verbindung der Gazeausstopfung mit der Drainage
ist vollständig aufgegeben, weil die Gazestreifen zu ausgedehnten
Verklebungen der serösen Flächen führen und ausserdem leicht
Stauung des Secretes hinter der Gaze eintritt. Läuft aus den
Drains gar nichts nach, so werden dieselben nach 24—48 Stunden
entfernt. In der Regel erfolgt aus den eingelegten Röhren beson¬
ders aus den das Wurmfortsatzlager beherrschenden, einige Zeit
lang eitrige Absonderung. Dasselbe wird dann mit dem Nach¬
lassen der Secretion langsam gekürzt und dünnere Caliber gewählt.
Die Durchgängigkeit der Röhren muss beim Verbandwechsel con-
trolirt werden. Eingicssen von etwas Wasserstoffsuperoxyd dient
dazu am besten.
Durch die Drainage kann man stets nur beschränkte Partien
der Bauchhöhle beherrschen, keineswegs kann man durch die Röhren
die ganze Bauchhöhle von Secret befreien, wie etw T a die Pleura¬
höhle. Schon nach 24 Stunden sind, wie autoptische Befunde er¬
geben, in der Umgebung des Drains feste Verklebungen vorhanden,
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Ueber die Erfolge der chir. Bebandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 155
die eine CommunicatioD der Drains mit der grossen Bauchhöhle
verhindern. Aus dieser Thatsache jedoch das gänzliche Fortlassen
der Drains bei der Operation zu folgern, hält Herr Geheimrath
Koerte nicht für richtig. Es werden ja gerade die Stellen drai-
nirt und somit offen gehalten, an welchen noch eitrige Absonderung
der Serosa stattGnden kann, also vor allem das Lager des Wurms.
Dass um diese Stellen Verklebungen entstehen, ist nur günstig.
Setzt in diesen Gegenden keine Eiterung ein, dann kann das Drain
nach einigen Tagen entfernt werden, und hat jedenfalls nichts ge¬
schadet. Eitert es, dann hat das Drain seine Berechtigung. Im
ersteren Fall ist es eine Art von Sicherheitsventil. Wer das pri¬
märe Nähen der Bauchdecken nach Abscessen und eitrigen Peri¬
tonitiden mehrfach versucht hat, dem bleiben Erfahrungen, wie sic
Nord mann auf dem letzten Congress der Deutschen Gesellschaft
für Chirurgie in zwei Fällen vorgetragen hat, nicht erspart. Wie
oft erlebt man, dass nach 4 oder 5 Tagen, manchmal noch später
plötzlich aus den Drains eine grosse Menge Eiter hervorquillt, —
ein Abscess zwischen den Darmschlingen ist gegen die draimrtc
Stelle hindurchgebrochen. Das Vorhandensein eines solchen Abscesses,
nach dem Schluss der Bauchdecken zu constatiren, ist oft recht
schwierig und eine Wiederöflfnung der Naht vorzunehmen, ist ein
wesentlich grösseres Risiko als die Drainage, da man bei dem
Wiederaufmachen und beim Aufsuchen des Abscesses leicht
die freie Bauchhöhle inficiren kann. Dass die Drainage an sich
Kothfisteln verursacht, kann ich nach unserem Material nicht an¬
nehmen, die Tamponade mit Gaze ist in dieser Richtung gefähr¬
licher.
Eventrirt wurde in der Regel bei Wurmfortsatzperitonitiden
nicht, da sich der Beckenrandschnitt dazu nicht eignet. Wird
jedoch in der Mitte incidirt, da vielleicht vor der Operation eine
andere Diagnose als möglich in Betracht gezogen worden war, so
wird, um eine gründliche Reinigung zu erreichen, auch eventrirt
und jede Darmschlinge einzeln mit heisser NaCl-Lösung übergossen.
Als Regel wurde dies jedoch nur bei den Perforationsperitonitiden
des Magens und Darms gemacht.
Ueber das Coecum und das Bett des Wurms wurde meist
Netz gelegt und eventuell durch eine oder zwei Nähte darauf
fiiirt.
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156
Dr. H. Scbmid,
Besondere Schwierigkeiten bietet die Behandlung der Bauch¬
wunde. Der Peritonitiseiter, in specie der Perityphlitis-Peritonitis¬
eiter ist für die Gewebe der ßauchdecken nicht gleichgültig. Nicht
selten sieht man, dass das Peritoneum die Eiterung ganz überwun¬
den hat, die Gewebe der Bauchdecken, besonders das Fettgewebe
und die Fascie jedoch nicht. Für die Bauchwunde wäre das breite
Offenlassen bis die Eiterung im Peritoneum aufgehört hat und sie
selbst mit Granulationen bedeckt ist, mit nachfolgender exacter
Secundärnaht der Bauchdecken, das beste. Aber ein Abschluss
der Bauchhöhle nach der Operation ist nothwendig, um das Her¬
vorquellen der Eingeweide zu verhindern und den physiologischen
Druck in der Bauchhöhle wieder herzustellen. Dazu kommt das
Bestreben, die Narben mit dem Abnehmen der Mortalität bei der
Peritonitisoperation besser zu gestalten. Während man früher, als
man anfing Peritonitiden zu operiren, froh war, wenn die Patienten
überhaupt am Leben blieben, ist jetzt schon bei der Operation das
Augenmerk auf die Schaffung günstiger Verhältnisse zur Vermei¬
dung von Hernien gerichtet.
Die Versorgung der Bauchwunde hat bei uns im Laufe der
Jahre gewechselt. Völlige Naht bis auf das Drain ergiebt häufig
Abscesse und Phlegmonen in den Bauchdecken, die zu Wieder¬
öffnung der Naht zwingen. Die Verhältnisse sind dann ungün¬
stiger, als wenn gar nicht genäht war (v. Brunn, Nordmann,
Rehn).
Die Eiterung in der Bauchwand ist meist eine begrenzte und
steht nach der Entfernung der Nähte, deren sorgfältige Ueber-
wachung eine Hauptaufgabe der Nachbehandlung bildet. Immerhin
kommt es vor, dass umfangreichere Einschmelzung von Fascien-
gewebe in Folge der Bauchwandphlegmone eintritt, welche die
Heilung sehr verzögert, und die Herstellung einer widerstandsfähigen
Narbe in Frage stellt. Direct lebensgefährlich ist die Bauchwand¬
eiterung bei Perityphlitis-Peritonitis in unseren Fällen nicht ge¬
wesen, wohl aber in einigen Fällen von Magenperforation.
Zur Vermeidung der Bauchwandeiterung kommen folgende
Methoden zur Anwendung:
1. Es wird nur das Bauchfell bis auf das Drain genäht und auf
eine primäre Vereinigung der Bauchdecken bei der Operation ganz
verzichtet. Es wird dann später eine Etagennaht nach Freilegung
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lieber die Erfolge der chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 157
der verschiedenen Schichten ausgeführt. Das hat den Vorzug einer
ziemlich grossen Sicherheit gegen ein unbemerktes Fortkriechen
der Phlegmonen und Abscesse, dagegen den Nachtheil, dass, falls
die Eiterung aus der Bauchhöhle event. sehr lange dauert, sich
während dessen die einzelnen Schichten der Bauchdecken oft weit
zur&ckziehen und später manchmal recht schwierig wieder anein-
der zu bekommen sind.
Ein zweites Verfahren, das in früheren Jahren häufig geübt
wurde, ist das Zusammennähen der Bauchdecken in ihr ganzen
Dicke mittelst tiefer, durchgreifender Nähte aus Draht, Silkworm,
Seide oder Zwirn. Die Vereinigung dieser Nähte geschieht über
Gaze und in Schleifen. Stellt sich keine Bauchdeckeneiterung ein,
so wird am 5. oder 6. Tage die Gaze entfernt und die vorhan¬
denen Fäden unter guter Adaption der Wundränder in Knoten ge¬
knüpft. Halten sich die Nähte und tritt keine Eiterung in den
Stichcanälen ein, so ist das Verfahren gut und geeignet, eine
feste Naht zu bekommen. Oft aber drangen die Eitererreger
an den Fäden entlang in die Stichcanäle ein, die Fäden mussten
dann gelöst werden und die offene Behandlung eingeleitet
werden.
In den letzten Jahren — vielleicht in Folge der Zunahme
der Frühoperationen unter dem Peritonitismaterihl und damit Ab¬
nahme der Infectiosität des Peritonitiseiters — wurde in der Regel
Peritoneum und tiefe Fascie genäht, event. auch Muskel und Sehne
des Obliq. abd. ext., während die Hautwunde offen blieb und Gaze
zwischen die Wundränder kam. Halten die tiefen Schichten, so
bekommt man in der Regel eine gute haltbare Narbe.
Auf Grund unserer Erfahrungen ist es also zweckmässig, auch
hier einen gewissen Unterschied in der Behandlung der Bauchwunde
zu machen, je nach dem Stadium der Peritonitis. Im Frühstadium,
d. h. bis zum HI. Tage kann man mit vollem Recht die Naht
sämmtlicher Etagen mit Ausnahme der Haut versuchen. In spä¬
teren Stadien, besonders bei den jauchigen Formen der Peritonitis
erschien es uns am sichersten, nur das Peritoneum und Fascia
transversa zu nähen, die andern Schichten offen zu lassen. Natürlich
wird bei der Operation nach Möglichkeit die Bauchwunde vor der
Berührung mit infectiösem Material geschützt, aber einen völligen
Schutz bei dem massenhaften Hervorquellen von Eiter aus dem
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158
Dr. H. Schmid,
Peritoneum giebt es eben nicht, was auch Nordmann hervor¬
hebt !).
Bauchbrüche oder wenigstens schwache Stellen in den
Narben (Drainageöffnung) kommen immer wieder vor und können
später noch zu Hernien führen. Es ist wohl nicht zu bestreiten,
dass jede Bauchwunde, welche länger als 48 Stunden drainirt
werden musste, eine schwache Stelle behält oder nicht so fest wird,
wie eine völlig vernähte und so primär geheilte Wunde. Auch
dies spricht also für die Frühoperation, bei der die Drainage oft
ganz entbehrt werden kann, und wo sie nöthig erschien, meist sehr
früh entfernt werden kann, so dass die Wunde sich elastisch zu¬
sammenzieht.
Als wichtiges Hilfsmittel bei Collapszuständen während und
nach der Operation erwähne ich die Kochsalzinfusion, bezw. Instil¬
lation, von der hier ziemlich ausgiebig und zu grosser Zufriedenheit
Gebrauch gemacht wird. Alle 3 Wege der Anwendung wurden
dabei benutzt.
Intravenöse Infusionen mit Adrenalinzusätzen nach Heiden¬
hain wirken bei acuten Collapszuständen eclatant, aber nicht an¬
haltend. Die gute Einwirkung auf Puls und Allgemeinbefinden
lässt meist schnell nach. Sie kommen meist im letzten Theil von
schwierigen, langdauernden Operationen in Anwendung.
Subcutan wird die Kochsalzlösung ebenfalls rasch resorbirt;
um so rascher, je grösser der Flüssigkeitsverlust und der Gewebs-
durst war. Sie werden bei elenden Patienten in den ersten Tagen
nach der Operation mehrfach wiederholt.
Per rectum, in der Form von Tropfinstillation, kann sie eben¬
falls sehr gut wirken, sie ist aber nur wenige Tage anwendbar, da
meist das Rectum nach einiger Zeit die Aufnahme weiterer Flüssig¬
keit versagt.
Allerdings hat die Arbeit von A. Thies (Mittheil. a. d. Grenz¬
gebieten d. Med. u. Chir. 31. Bd. H. 2.) über die Kochsalz¬
resorptionen und deren Gefahren es rathsam erscheinen lassen, bei
grösseren und öfter wiederholten Infusionen die Kochsalzmengen
möglichst klein sein zu lassen, man kann ja ruhig unter den Prozent-
0 Nordmann, Erfahrungen über die chirurgische Behandlung der difiusen
Peritonitis. Dieses Archiv Bd. 89.
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Ueber die Erfolge der chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 150
gehalt der physiologischen Lösung gehen, oder durch Zusatz von
Kali- und Calciumsalzen die schädliche Wirkung cornpensircn, wie
es z. B. in der Ringcr’schen Lösung geschieht.
Ist vor und auch nach der Operation anhaltendes Erbrechen
vorhanden, so bekämpfen wir dasselbe hier wirksam mit Magen¬
spülungen. Dadurch wird der Magen und wohl auch noch die
oberste Dünndarmschlinge, wenigstens das Duodenum entlastet und
vom zersetzten Inhalt befreit, die Spannung des Bauches wird
etwas vermindert, wohl auch die Peristaltik angeregt.
Die Nahrungszufuhr wird, solange Erbrechen besteht, ausge¬
setzt, die nöthige Flüssigkeitsmenge subcutan oder per rectum zu¬
geführt. Danach wird flüssige Diät gegeben.
Die Darmthätigkeit wird mit Klysmen angeregt: Kamillen¬
wasser mit Glycerin oder Seifenwasser und Oel, oder Sesaraöl allein.
Auch Physostigmin subcutan gegeben wirkt manchmal. Die Wirkung
ist jedoch sehr unsicher. Abführmittel per os kommen erst nach
Ablauf der acuten Erscheinungen zur Anwendung.
Die Erfahrungen über Magen- und Duodenumperforation
sind in besonderen Veröffentlichungen von Körte x ) und Bren¬
tano 2 ) schon früher mitgetheilt.
Die Mortalität sämmtlicher operirten Fälle beträgt 35,7 p(’t.;
sie sind bis auf 3 alle gespült, von den 3 nicht gespülten sind
2 gestorben. Wenn schon bei der Wurmfortsatzperitonitis alles
Heil in der Frühoperation zu liegen scheint, so ist bei den eben
genannten Perforationsperitonitiden der Werth derselben noch ein¬
leuchtender.
Von 10 nach dem I. Tage operirten kam einer durch. Die
innerhalb der ersten 24 Stunden operirten haben eine Mortalität
von 25pCt. im Durchschnitt, von den innerhalb der ersten 12 Stunden
operirten starb keiner an der Peritonitis.
Die Zeitberechnung ist hier eine sehr bestimmte, weil die Per¬
foration eines Magengeschwürs fast immer sehr markante Erschei¬
nungen macht.
3 ) Körte und Herzfeld, Ucber die chirurgische Behandlung des Magen¬
geschwürs und seiner Folgczustände. Dieses Archiv. Bd. 63. 1901. Körte,
Beitrag zur Operation des perforirten Magengeschwürs. Dieses Archiv. 1906.
Bd. 81. I.
2 ) Brentano, Zur Klinik und Pathologie der Magengeschwürsperforation.
Dieses Archiv. 1906. Bd. 81. I.
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160
Dr. H. Schmid,
16 nichtoperirte Fälle dieser Art starben säramtlich. Sic
waren alle moribund eingeliefert worden.
Die operirten Fälle setzen sich folgendermaassen zusammen:
32 Ulcera ventriculi pcrforata (22 geheilt, 10 gestorben), eine Stich¬
verletzung des Magens (gestorben^ 6 Schussverletzungen des Magens
(5 geheilt, 1 gestorben), 2 Ulcera duodeni perforata (beide ge¬
storben).
Bei der Operation wurde durch einen hinlänglich grossen
Schnitt vom Proc. xiphoid. bis. unterhalb des Nabels die Bauchhöhle
eröffnet, die Perforationsöffnung gesucht, übernäht, dann eventrirt,
die Bauchhöhle ausgiebig und pünktlich gereinigt, und die even-
trirten Därme gesäubert. War ein Ulcus ventriculi der Ausgangs¬
punkt der Peritonitis, so wurde meist am Schluss eine Gastro-
entcrostomia retrocol. posterior angeschlossen. Desgleichen bei den
beiden Ulcera duodeni perforata. 2 mal wurde das Ulcus bei der
Operation nicht gefunden, beide Pat. starben, in einem Fall davon
wurde die Scction verboten. Im andern Fall war eine Wurmfort¬
satzperforation angenommen und erst bei der Section die Diagnose
Ulcus ventrie. perfor. gefunden worden.
Die Prognose der genannten Peritonitiden ist also nach dem
oben Gesagten günstig, sowie es sich um eine Frühoperation in den
ersten 12—24 Stunden nach der Perforation handelt; jedoch wird
dieselbe getrübt durch 2 Gefahren; diese sind der subphrenische
Abscess und die Phlegmone der Bauchdecken. Der ersterc fand
sich in 4 Fällen, letztere 5 mal schwer, und in fast allen Fällen
(rat mehr oder weniger ausgedehnte Secretion in der Bauchnaht ein.
Von den mit subphrenischen Abscessen complicirten Fällen ist
einer gestorben, derselbe war bei der Operation nicht gespült
worden. Zwei Patienten starben in Folge von Sepsis von der
Bauchdeckenphlegmone aus.
Von der Drainage wurde nach Operation von Magenperfo¬
rationen Abstand genommen, das Peritoneum vielmehr nach gründ¬
licher Spülung sich selbst überlassen. Die Bauchdeckenwunde
machte oft Schwierigkeiten, es wurden die oben angegebenen Ver¬
fahren zur Vermeidung von Phlegmonen angewendet, aber nicht
immer mit Erfolg. Die aus der Bauchhöhle herausgeschwemmten
Keime können zu leicht einmal in dem lockeren Fett- oder im
Fasciengewebe haften und eine Infection herbeiführen.
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Ueber die Erfolge der chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 161
Die Operationen wegen Perforation des Dünn- und Dick¬
darmes ergaben schlechtere Resultate als die analogen Operationen
am Magen und Duodenum.
Von 14 Operirten sind 3 geheilt, 11 gestorben, das ergiebt eine
Mortalität von 78,4 pCt. Die Zahlen sind klein, decken sich jedoch
ungefähr mit den Berichten anderer (Rehn, v. Eiseisberg, Rotter).
Unter den operirten Fällen wurden 11 gespült, 3 ausgetupft.
Von ersteren starben 8 und kamen 3 durch, die ausgetupften
starben alle.
Die Fälle setzen sich zusammen aus 3 Bauchschüssen, 1 Ulcus
typhös, perforatum, 1 Ulcus jejuni pepticum, 1 Darraperforation
nach brüsker Reposition einer Hernie, 1 Perforation des Jejunums
in Folge innerer Einklemmung und 7 traumatischen Darrarupturen.
Von den 3 Darmschüssen ist einer geheilt. Die Operation
erfolgte 2 Stunden nach der Verletzung. Es fand sich je ein Loch
im Colon ascendens und transversum, die vernäht wurden, eine
Zertrümmerung einer Dünndarmschlinge, die in Ausdehnung von
30 cm resecirt wurde, und eine Verletzung der Leber, die genäht
wurde. Ausgiebige Spülung und Drainage der Bursa omentalis.
Patient wurde nach 31 Tagen geheilt entlassen.
Ein 2. Fall hatte ebenfalls eine mehrfache Durchlöcherung
einer Dünndarmschlinge, die durch Resection beseitigt wurde.
Ausserdem bestand eine Zertrümmerung des Pankreaskopfes, an
der er in der Nacht nach der Operation starb. Die Operation war
4 Stunden nach dem Trauma ausgeführt worden.
Im 3. Fall hatte das Projectil 2 mal das Colon transversum,
lmal das Jejunum perforirt. Naht der Verletzungen bei der drei
Stunden nach der Verletzung vorgenommenen Operation. Patient
starb in der Nacht. Bei der Section fand sich noch eine Zer¬
trümmerung der linken Niere, wohl die Causa mortis.
Ein Pat. mit Ulcus typhosum perforatum starb 3 Tage nach
der Operation an diffuser Peritonitis, die Darmnaht hatte in dem
brüchigen Darm nicht gehalten.
Bei einem Ulcus jejuni pepticum war bei der Operation die
kleine Perforationsöffnung nicht gefunden worden. Der Patient
starb am Tage nach der Operation.
Bei einem weiteren Fall war bei einer brüsken Hernienreposition
eine Jejunalschlinge eingerissen worden. Einlieferung ins Kranken-
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft I. n
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Dr. H. Schmid,
haus und Operation erfolgten am Tage nach der Zerreissung. Die
Perforationsöffnung wurde genäht, die Bauchhöhle ausgetupft. Sechs
Tage nach der Operation trat der Exitus ein an Peritonitis diffusa
mit Abscessen zwischen den Darmschlingen.
In einem Fall war die Perforation des Jejunums als Folge
einer inneren Einklemmung erfolgt. 11 Stunden danach wurde die
Naht der Perforationsöffnung vorgenommen. Die Peritonitis heilte.
Am 21. Tage starb Patient plötzlich an Lungenembolie. Bei der
Section ergab sich, dass die Peritonitis völlig geheilt war. (Der
Fall wurde deswegen in der Peritonitisstatistik unter den Geheilten
mitgerechnet.)
Von 7 traumatischen Darmrupturen (durch Ueberfahrung, Stoss,
Quetschung und ähnliche stumpfe Gewalten verursacht) sind 6 ge¬
storben, obgleich mit einer Ausnahme alle innerhalb des 1. Tages
operirt worden waren. Der am frühesten (2 Stunden nach der
Perforation) zur Operation gelangte Patient wurde geheilt. Alle
diese Fälle waren gespült worden und alle haben auch die Ope¬
ration überstanden. 2 starben in der Nacht nach der Operation,
die anderen sämmtlich an der Peritonitis. Offenbar ist der Inhalt
der tieferen Darmschlingen wesentlich infectiöser, als der des Magens,
bei dessen Perforation es in den ersten Stunden gelingt, die Peri¬
tonitis durch exacte Spülung und Beseitigung der Perforationsöffnung
zu coupiren.
Von 10 seit dem Jahre 1897 wegen Peritonitis c perforata
cholecystidc l ) Operirten sind 5 geheilt und 5 gestorben (Kranken¬
haus am Urban und Privatklinik). Davon sind 5 gespült und 5
getupft. Von den ersteren sind 2 gestorben, von den letzteren 3.
Von 10 Niehtoperirten sind 9 gestorben. Erschwerend für die
Prognose der Gallenblasenperitonitis ist meist der Umstand, dass
die Patienten oft infolge schon länger bestehenden Icterus und
Cholecystitis sehr heruntergekommen sind und eine schwache Herz-
thätigkeit haben. Die gefürchtete Complication der Cholangitis mit
Lcberabsccsscn erhöht die Mortalität. Der Beginn scheint sich
auch nicht so bestimmt zu markiren, wie etwa bei der Magenper¬
foration. Unsere Fälle kamen mit einer Ausnahme alle nach dem
Körte, Dieses Archiv. Bd. 69 und 89. — Beiträge zur Chirurgie der
Gallenblase und Leber. Berlin 1905.
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Ueber die Erfolge der chir. Bebandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 163
ersten Tage zur Operation und der eine am ersten Tage Operirte
starb an peritonitischer Herzschwäche.
Nach unseren Erfahrungen mit 50 pCt. Mortalität hat die
Peritonitis in Folge von Gallenblasenperforation keineswegs eine
günstige Prognose, was ja auch Noetzel in seiner letzten Arbeit
betont hat.
Dreimal wurde wegen Pankreatitis mit Peritonitis operirt.
Davon wurden 2 geheilt, 1 starb. Die 3 Fälle sind nicht gleich¬
artig. Die beiden geheilten waren acute Pankreatitiden mit ausge¬
sprochen peritonitischen Symptomen, anatomisch einer entzündlichen
Injection der Serosa, einem serosanguinolenten Exsudat der freien
Bauchhöhle und den für Pankreatitis typischen Fettge websnekrosen.
Die peritonitischen Symptome verschwanden einige Tage nach der
Operation. Der 3. war ein Fall von Pankreasabscess, der in die
freie Bauchhöhle durchgebrochen war und zu einer eitrigen Perito¬
nitis geführt hatte.
Bei einem Fall, der nicht operirt war und ad exitum kam,
fand sich, wie in den beiden geheilten operirten Fällen, eine acute
Pankreatitis mit einer Peritonitis serosa haemorrhagica und zahl¬
reichen Fettge websnekrosen. Der Tod war durch Lähmung des
sehr geschwächten Herzens erfolgt.
Die bei den geheilten und dem nicht operirten Fall gefundene
Peritonitis ist ja von den übrigen Kategorien der Veröffentlichung
verschieden. Da jedoch in den genannten Fällen die ausgesprochen
peritonitischen Symptome (aufgetriebenes schmerzhaftes Abdomen
mit starker Spannung und Schmerzhaftigkeit, Erbrechen, Zeichen
von Darmlähmung) mit einer deutlichen diffusen Peritonitis serosa
haemorrhagica einhergingen, so habe ich die Fälle mitgezählt.
Von 17 diffusen Peritonitiden, deren Ausgangspunkt die weib¬
lichen Genitalien waren, hatten wir 11 Todesfälle, d. h. 64,7 pCt.
Mortalität, das ist eine auffallend hohe Zahl für die gynäkologische
Peritonitis, die ja im Allgemeinen als prognostisch günstig ange¬
sehen wird. Dies erklärt sich daraus, dass auch wir hier die Er¬
fahrung gemacht haben, dass die von periraetritischen Processen
im weiteren Sinn ausgehenden Peritonitiden relativ oft ohne Ope¬
ration heilen, besonders die von gonorrhoischen Erkrankungen der
(ienitalien ausgegangenen. Diese Fälle wurden daher in der Regel
exspectativ behandelt und nur dann zur Operation geschritten, wenn
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164
Br. H. Sohmid,
die Peritonitis fortschritt und ein Eingriff als ultimum remedium
erschien. 13mal unter den 17 Fällen war ein geplatzter Abscess
der Adnexe der Ausgangspunkt der Peritonitis (10 Todesfälle).
Fälle von puerperaler Peritonitis befinden sich unter unseren
operirten nicht. Bei den Fällen von puerperaler Peritonitis, welche
zur Behandlung kamen, bestanden stets so ausgesprochene sep¬
tische Allgemeinerscheinungen, dass von einer Operation Abstand
genommen wurde. Koblanck 1 ) berichtete allerdings, dass er von
22 Fällen diffuser puerperaler Peritonitis 4 durch Operation ge¬
heilt hat.
. Bei den oben genannten operirten Fällen wurde nur 3 mal die
rupturirte Pyosalpinx bei der Operation entfernt, alle 3 starben.
Im Uebrigen beschränkte sich die Operation auf gründliche
Spülung und Drainage der Bauchhöhle, die beiden nicht gespülten
starben.
Unter 9 nicht operirten Fällen von geplatzten Abscessen der
Adnexe starben 5. Von 8 weiteren Fällen der Art, die anfangs
exspectativ behandelt wurden, bei denen dann im späteren Verlauf
Eestabscesse entleert wurden, kamen 7 durch. Es scheint, dass
auch die diffuse eitrige Form der gynäkologischen Peritonitis bei
der abwartenden Behandlung eine relativ günstige Prognose hat.
Die hier gemachte Erfahrung spricht demnach dafür, Perito¬
nitiden mit gynäkologischem Ursprung a priori exspectativ zu be¬
handeln, selbst wenn über die diffuse Ergriffenheit des Peritoneums
kein Zweifel sein kann. — Sehr gross ist die Zahl der Pelveoperi-
tonitiden, die im Verlauf der Erkrankung einen oder mehrere Tage
Symptome von diffuser Reizung des Peritoneums, wie Schmerz¬
haftigkeit und Spannung des ganzen Abdomens bieten; diese sind
hier nicht mit aufgezählt.
Unter den als „verschiedene Ursachen“ in der Tabelle auf
S. 139 genannten Peritonitiden sind 3 Kinder im Alter von 2,
und 5 Jahren mit Pneumokokkenperitonitiden. 2 davon waren
wegen enteritischer Symptome 14 Tage intern behandelt worden;
bei einem, dem 2 jährigen, war bereits eine fistelförmige Perforation
am Nabel eingetreten, als das Kind zur Aufnahme kam. Alle 3
wurden dann durch Mittellinienschnitt operirt, die Bauchhöhle mit
l ) Koblanck, Zcitschr. f. Geburtsh. u. Gynäkol. Bd. 46. Heft 3.
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Ueber die Erfolge der chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 1(55
reichlichen Mengen von physiologischer Kochsalzlösung gespült und
von dem copiösen gelben, geruchlosen Pneumokokkeneiter befreit;
alle 3 wurden geheilt. Einmal ging die Peritonitis bei einem
Sy^jährigen Knaben von einer verkästen Mesenterialdrüse aus.
Nach Mittellinienschnitt Eventration, die gut ertragen wurde und
Spülung, darauf Schluss der Bauchdecken ohne Drainage. Es er¬
folgte Heilung. Eine Peritonitis nach einer traumatischen Blasen¬
ruptur beim Turnen bei einem 12jährigen Knaben ca. 34 Stunden
nach dem Unfall endete 12 Stunden nach der Operation (Naht der
Blase) letal im Shock, bei der Scction fand Moh eine Peritonitis
diffusa purulenta. In einem weiteren Fall wurde bei der Operation
-— es handelte sich um ein Kind — keine Erklärung für die
schwere Peritonitis gefunden; der Fall starb, bei der Section fand
sich dann eine schwere Enteritis, die allein als Ursache anzu¬
sehen war.
Von 8 weiteren Fällen mit unsicherem Ausgangspunkt wurden
5 geheilt. Bei der Operation konnte die Ursache für die Perito¬
nitis nicht gefunden werden und bei den 3 gestorbenen klärte auch
die Section diese Frage nicht.
Die Enterostomie und Entcropunction fand hier Anwen¬
dung bei anhaltender Darmatonie mit starker, die Athmung in be¬
drohlicher Weise erschwerender Auftreibung der Därme. Sie ist
nicht zu umgehen, wenn die Auftreibung der Darmschlingen so
gross ist, dass eine Reposition derselben ohne Entleerung der Gase
nach der Laparotomie nicht möglich ist.
In diesen Fällen und wenn die Hoffnung vorhanden war, dass
nach Beseitigung der Ueberdehnung die Peristaltik der Musculatur
wieder in Action tritt, wurde die Enteropunction vorgenommen.
Dieselbe wird in folgender Weise ausgeführt. Vorziehen einer tiefen
Dünndarmschlinge oder der am meisten geblähten Darmschlinge
zwischen Mosettigbattist, Umstopfen der weiteren Umgebung mit
feuchten Compressen. Die vorgezogene, mit Compressen und Mo-
settig geschützte Schlinge wird an den Rand des Operationsfeldes
gebracht, mit Gaze zwischen den Fingern fixirt und eine dicke
Punctionscanüle cingeführt. Durch vorsichtiges Ausstreichen der
Darmschlingen nach der punctirten Schlinge zu hinter den Ab¬
stopfungen werden genügend Gas und flüssiger Darminhalt entleert
bezw. in Wasser geleitet. Einige Uebernähungen schliessen die
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166
Dr. H. Schmid,
feine Oeffnung. Bei einfachen Punctionen ist die Gefahr einer
Kothfistel sehr gering. Dieselbe wird hier bei jeder starken Ueber-
dehnung des Darras in Folge von Peritonitis oder Darmverschluss
ausgeführt; bei der angegebenen Technik und pünktlicher Um¬
stopfung kann die punctirte Darmschlinge ohne Gefahr versenkt
werden. Ist die Naht wegen der Brüchigkeit der Darmwand un¬
sicher, in Folge von Ueberdehnung oder Entzündung brüchig, so
wird ein Netzzipfel auf die Nahtstelle gelegt und fixirt, oder aber
die Schlinge an der Bauchwand so befestigt, dass der eventuelle
Durchbruch nach aussen erfolgt.
Gelingt es nicht, durch die Hohlnadel den Darm zu entleeren,
so wird der Darm unter sorgfältigem Schutze incidirt und ein Gummi¬
rohr (Magensonde) möglichst weit eingeführt und dann der Darm aus¬
gestrichen. Auch diese Oeffnung kann wieder vernäht und nach sorg¬
fältiger Reinigung mit heisser steriler Kochsalzlösung versenkt werden,
oder sie kann erhalten und in die Bauchwunde eingenäht werden
(Enterostomie), so dass der Darminhalt durch ein Rohr abgeleitet wird.
Die Enterostomie wurde bei 15 Fällen (12 Wurmfortsatz¬
peritonitiden, 3 gynäkologischen Peritonitiden) vorgenommen, von
welchen 6 Patienten geheilt wurden. Der Eingriff wurde nur bei
den schwersten Fällen von Darmlähmung ausgeführt als ultimum
refugium. Die Methode versagte in den Fällen vollkommener Darm¬
lähmung. Da entleert sich nur die eröffnete Schlinge, die anderen
bleiben gebläht und gelähmt und die Peritonitis geht ihren Gang
weiter. In den geheilten Fällen jedoch hatte man den Eindruck,
dass die Darmeröffnung direct lebensrettend gewirkt hatte. Von
dem Moment an, wo durch das Darmrohr reichliche Entleerung
des gestauten Inhaltes bewirkt wurde, besserte sich das Befinden
in bemerkenswerther Weise.
Wenngleich also die Methode bei completer Darmlähmung un¬
wirksam bleibt, so ist sie doch in schweren Fällen als letztes
Hülfsmittel zu versuchen und kann da in einzelnen Fällen noch
eine günstige Wirkung entfalten. Allerdings immer nur dann, wenn
eine totale irreparable Lähmung des Darmrohres noch nicht er¬
folgt ist, sondern wenn nur einzelne Partien des Darmrohres
paretisch sind. Alsdann übt die Entlastung des geblähten Darmes
eine günstige Wirkung auf das Allgemeinbefinden und auf den Ver¬
lauf der Krankheit aus.
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Ueber die Erfolge der chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung. 167
Zusammenfassung.
Die Erfahrungen, welche an dem erweiterten Materiale gemacht
worden sind, haben im Grossen und Ganzen die Ansichten bestätigt,
welche Geheim-Rath Koerte in seinen früheren Arbeiten ausge¬
sprochen hat.
Der Hauptfortschritt in der operativen Behandlung der
Peritonitis liegt in der Frühoperation bei derjenigen Erkrankung,
welche erfahrungsgemäss am häufigsten zur Peritonitis führt, das
ist die Entzündung des Wurmfortsatzes. Hier können und müssen
wir der Entstehung der Bauchfellentzündung Vorbeugen, indem
wir das entzündete Organ entfernen, ehe die Infection auf das
Bauchfell fortgeschritten ist. Das gelingt in den meisten Fällen
bei rechtzeitiger Operation. In den selteneren Fällen, wo die nach¬
weisliche Erkrankung gleich mit der Perforation des vorher schon
kranken, aber latent gebliebenefi Organes beginnt, müssen wir
darnach trachten, einzugreifen ehe die Entzündung der Sc-
rosa schwerere Grade erreicht hat. *
Die Erfahrungen der Frühoperation der Appendicitis haben
uns gerade am klarsten gelehrt, dass bis zur Entwickelung der
klassischen Symptome der ausgesprochenen Peritonitis eine gewisse
Zeit vergeht, in welcher fast nur localer Schmerz und vor allem
die Bauchdeckenspannung die Gefahr anzeigt, in welcher der
Kranke schwebt. Die Operation findet oft in diesem Stadium be¬
reits hochgradige Entzündung und eiteriges Exsudat in der Bauch¬
höhle. Durch frühzeitige Entleerung des Exsudats und Entfernung
des entzündeten perforirten Wurmfortsatzes können wir aber in
einer grossen Zahl von Fällen der Krankheit Herr werden. Wird
in diesem Stadium jedoch durch Opium oder Morphium eine trüge¬
rische Besserung der Schmerzen herbeigeführt, dann geht der günst ige
Zeitpunkt zur erfolgreichen Operation vorüber. Es erscheint dann
bald das nur zu wohlbekannte typische Bild der Peritonitis mit
Darmlähmung etc. und in diesem Stadium sind die Chancen für
operative Heilung viel schlechter.
Genau die gleichen Erfahrungen haben wir bei der Magen¬
perforation gemacht. Wer hier wartet, bis das klassische Bild
der Bauchfellentzündung erscheint, oder wer die Patienten erst in
diesem Stadium zur Operation empfängt, der wird nur wenige
günstige Erfolge erzielen. Auch hier ist die brettharte Spannung
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168 Dr. H. Schmid, Die chir. Behandl. der diffusen Bauchfellentzündung.
der Bauchmuskeln das wichtigste Symptom, welches die drohende
Gefahr anzeigt, und sofortiges Eingreifen erfordert.
Die beiden genannten Formen der Bauchfellentzündung sind die
weitaus häufigsten, und geben die relativ beste Prognose. Die Perfora¬
tion der tiefer gelegenen Darmabschnitte ergiebt wegen der höheren
Infectiosität des Darminhaltes weitaus schlechtere Resultate, u. zw.,
was wichtig ist, auch bei denjenigen Operateuren, welche bei der
Wurmfortsatzperitonitis so überraschend gute Resultate mittheilen.
Die Technik der Operation ist für den Erfolg offenbar viel
weniger entscheidend, als der Zeitpunkt, an welchem dieselbe
vorgenommen wird.
Die Spülung ist nach unseren Erfahrungen immer noch die
schonendste und gründlichste Methode zur Entfernung des krank¬
haften Inhaltes. Die Drainage haben wir bei der eiterigen Wurm¬
fortsatzperitonitis noch beibehalten zur localen Secretableitung. Bei
den Magenperforationen haben wir nach gründlicher Spülung und
Reinigung die Drainäge fortgelassen. In jedem Falle ist die Be¬
seitigung des Krankheitsherdes oder der Organperfo¬
ration, von welcher die Peritonitis ausgegangen ist, ein dringendes
Erforderniss für den Erfolg.
Für das lockere Zellgewebe, das Fettgewebe und für die Fascien
der Bauchwand ist der Peritonitiseiter eine erhebliche Ge¬
fahr, gegen welche wir bisher ein sicheres Mittel nicht haben.
In der Nachbehandlung ist die Unterstützung der Kräfte des
Organismus durch Zuführung von Kochsalzlösung, und durch An¬
wendung von Analepticis in jeder Form wichtig für den Erfolg.
Am meisten aber hängt der Letztere davon ab, dass das Bauch¬
fell noch nicht zu intensiv erkrankt ist, noch nicht eine allgemeine
Infection des Körpers erfolgt ist. Mit kleinen Resten kann das
Bauchfell durch eigene Kraft fertig werden, ist mehr zurückge¬
blieben, als dasselbe zu bewältigen vermag, dann erliegt der
Kranke. Darum ist Vorbeugung und Frühoperation der
springende Punkt bei der Bekämpfung- der Peritonitis, durch welche
wir eine beträchtliche Anzahl von Fällen zu retten vermögen.
Meinem hochverehrten Chef und Lehrer, Herrn Geheirarath
Koerte, danke ich auch an dieser Stelle herzlich für die Anregung
zu der Arbeit und die gütige lleberlassung des Materials.
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bv Goi gle
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(Aus der I. chirurgischen Universitäts-Klinik in Wien.
Vorstand: Prof. Dr. Freiherr von Eiseisberg.)
Ueber homoioplastische Epithelkörperchen-
und Schilddrüsenverpflanzung. 1 )
Von
Dr. H. Leischiier, und Dr. R. Köhler,
Assistenten der Klinik, Operateur der Klinik.
Die physiologische Aufgabe der Drüsen mit innerer Secretion
entzog sich wohl am längsten von allen Organen des thierischen
Körpers der Erkenntniss. Erst exaete und mühevolle Thicrexperi-
mente der letzten Deccnnien brachten Klarheit in dieses unbekannte
Gebiet und berichtigten manche bisher geltenden Vorstellungen.
Unter andern war dies bei der Schilddrüse der Fall, deren Function
man schon lange genau zu kennen glaubte, indem einerseits Kachexie,
andererseits Tetanie als Folgeerkrankung bei Verlust dieses Organes
galt, bis vor nicht zu langer Zeit vollständig einwandfreie Thier¬
experimente erwiesen, dass von den Epithelkörperchen allein die
Tetanie abhängig ist, während mit Schilddrüsenausfall Kachexie in
Zusammenhang steht. Die praktischen Schlüsse dieser Forschungs¬
resultate waren weiter bei den so häufigen Kropfoperationen nicht
nur functionsfähige und genügende Schilddrüsenreste zurückzulassen,
sondern auch die Operation so zu gestalten, dass die Epithel¬
körperchen weder mitentfernt noch in einer anderen Weise geschädigt
werden. Nachdem aber diesen letztgenannten Bedingungen durch
die Operationsmethoden selbst nicht unter allen Umständen und in
x ) Auszugsweise vorgetragen in der 82. Versammlung Deutscher Natur¬
forscher und Aerzte in Königsberg i. P., September 1910.
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Dr. H. Leischnor und Dr. R. Köhler,
allen Fällen stets entsprochen werden konnte, weil das für die
Schonung der Epithelkörper günstigste Verfahren, die intracapsuläre
Enucleation, wegen Beschaffenheit des Kropfes nur in gewissen
Fällen möglich ist, so zog man als therapeutische Maassnahme bei
postoperativen Tetanien Epithelkörperchentransplantationen in Be¬
tracht.
Die Möglichkeit, resp. Wirksamkeit solcher Ueberpflanzungen
stützte sich auf Thierexperimente.
Einer Reihe von Forschern war es gelungen, diese kleinen
Dröschen entweder allein oder im Zusammenhang mit Schilddrüsen¬
stückchen bei ein und demselben Thiere zu reimplantiren, und ihr
unversehrtes anatomisches Erhaltenbleiben im neuen Mutterboden
konnte noch nach sehr langer Zeit nacbgewiesen werden (Camus,
Christiani, Ferrari, Biedl, Walbaum etc.). Ja es schien
sogar, dass die Epithelkörperchen bei der Autotransplantation viel
besser einheilten als das Thyreoideagewebe (Enderlen, Payr).
Durch die von Einem von uns (Lei sehn er) bereits mitge-
theilten Experimente an Ratten konnte der Nachweis erbracht
werden, dass Reimplantationen von Epithelkörperchen nicht nur
anatomisch gelingen, sondern dieselben auch ihre specifische
Function beibehalten, d. h. dass nach Entfernung des eingeheilten
Drüschens wieder Tetanie in typischer Weise auftritt. Diese That-
sache wurde auch von anderer Seite bestätigt (Pfeiffer) und gilt
derzeit als unzweifelhaft feststehend.
Kurz in Erinnerung gebracht bostanden die Versuche darin, dass Ratten,
die nur zwei Epithelkörperchen, jedersoits in der Schilddrüse oder derselben
anliegend, besitzen, beide Drüsen nach einander in einer Zwischenzeit von
10 Tagen bis 1 Monat in die eigenen Bauchdecken verpflanzt wurden, wobei
der Ortswechsel ohne irgend welche Ausfallserscheinungen vor sich ging,
während nach gleichzeitiger Ueberpflanzung beider typische Tetanie auftrat.
Wurde dann 3—4 Wochen später das die Drüschen enthaltende Bauphwand-
stück entfernt, so kam es in allen Fällen zu Tetanie geringeren oder stärkeren
Grades.
Gemäss diesen Erfahrungen wurde von Leischncr der Vor¬
schlag gemacht, bei Kropfoperationen stets das exstirpirte Kropf¬
stück sofort im sterilen Zustand auf anhaftende Epithelkörperchen
zu untersuchen, um dieselben lebensfähig bei den Patienten reim¬
plantiren zu können und so Folgeerscheinungen bedrohlichen Grades
zu vermeiden; weiter bei schon bestehenden Tetanien Epithel-
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lieber homoioplastische Epithelkörperchen- u. Schilddrüsen Verpflanzung. 171
körperchen von einem anderen Individuum zu transplantiren, analog
den von anderer Seite schon öfter ausgeführten Schilddrüsenüber¬
pflanzungen bei Cachexia strumipriva, Myxödem und Cretinismus.
Schon damals aber fügte er hinzu, dass die Frage, ob Homoio-
transplantationen der Epithelkörperchen möglich und die Folgen
bereits bestehender Tetanie hierdurch hintanzuhalten seien, durch
seine Versuche noch nicht entschieden ist.
Seither sind eine Anzahl von Fällen postoperativer Tetanie
bekannt geworden, die durch Epithelkörperchentransplantationcn
scheinbar günstig beeinflusst wurden.
So der Fall v. Eiselsberg’s, der durch 25 Jahre an post¬
operativer Tetanie litt und seit der Implantation eines Epithel¬
körperchens vor 3 Jahren noch derzeit so weit gebessert ist, dass
keinerlei subjective Beschwerden bestehen. Nur das Chvostek-
sche Phänomen hält weiter an.
A. L. *), 45 Jahre alt, Büglerin.
Bei der damals 17 Jahre alten Pat. wurde im Jahre 1882 an der Bill-
roth'sehen Klinik wegen eines beide Lappon der Schilddrüse betreffenden
Kropfes, der starke Athembeschwerden machte, die Totalexstirpation der Schild¬
drüse vorgenommen. Am 3. Tage post operationem setzte eine Tetanie ein und
hielt 2 Jahre hindurch an. Zur Zeit der Menstruation waren die Krämpfe stets
stärker. Hierauf trat duroh einige Jahre Kühe ein, bis sich die Frau 1892
wegen einer Periproctitis operiren lassen musste. Im Anschluss an diesen Ein¬
griff trat wieder heftige Tetanie mit typischer Geburtshelferstellung der Hände
auf. Bei starken Krämpfen wurden auch die unteren Extremitäten und die
Augenmuskeln befallen. Während dreier Graviditäten keine besondere Zunahme
der Symptome. Auch in den Monaten Februar und April wurden die Krämpfe
nicht stärker. Alkoholgenuss beeinflusste das Leiden ungünstig. 1898 wurde
die Pat. wegen einer Ovarialcyste operirt. Die Krämpfe traten dann Jahre hin¬
durch bald leichter, bald schwerer auf. Pat. stand während der ganzen Zeit
unter Aufsicht neurologischer Fachleute.
Mehrere Curen mit Schilddrüsentabletten blieben erfolglos, eine Verab¬
reichung von 3 Epithelkörperchentabletten pro die per os durch mehrere Mo¬
nate blieb ebenfalls ohne Wirkung.
Anfangs Januar 1907 wieder heftige tetanische Krämpfe, die sich bis zu
epileptiformen Anfällen steigerten. Oefteres Auftreten von Stimmritzenkrämpfen.
Im Februar 1907 wurde deshalb die Implantation eines Schilddrüsenstückes
vorgenommen, ohne dass Besserung eintrat. Aus diesem Grunde wurde der
Pat. im Mai 1907 ein Epithelkörperchen, das unmittelbar vorher bei einer
') Siebe v. Eiseisberg, Uebcr Vorkommen und Behandlung der Tetania
paratbyreopriva beim Menschen. Beitr. z. Physiol. u. Patbol.
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Dr. H. Leischner und Dr. R. Köhler,
Kropfoperation gewonnen worden war, in eine Tasche zwischen Peritoneum
und Fascie verpflanzt.
Seit dieser Zeit trat wesentliche Besserung auf. Pat. fühlte sich subjectiv
ziemlich wohl, objectiv ist nur das Chvostek’sche Phänomen und leiohte
Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit im Gebiete des Nervus ulnaris
nachweisbar.
Weiter sind die Fälle von Garre (Einpflanzung von Epithel¬
körperchen in die Tibia bei Tetanie nach Operation einer Basedow-
Struma), von Böse-Lorenz und Danielsen (Implantationen eines
Epithelkörperchens bei postoperativer Tetanie) zu erwähnen. Pool
hat durch Einpflanzung von 5 der Leiche entnommenen Epithel¬
körperchen eine Tetanie zur Heilung gebracht. Er meint aber,
dass in diesem Fall noch eigenes Epithelkörperchengewebe bei der
Kropfoperation zurückgelassen worden war und dass die Implan¬
tation nur die Heilung der Tetanie unterstützt habe.
Diesen günstig lautenden Fällen müssen wir zwei weitere Be¬
obachtungen aus der v. Eisclsberg’schen Klinik hinzufügen, bei
denen die Transplantation ohne Einfluss blieb.
Bei einem seit 20 Jahren an postoperativer Tetanie leidenden
Manne wurde im Vorjahre als er wieder an starken Krämpfen litt,
ein Epithelkörperchen präperitoneal implantirt. Darauf trat während
eines halben Jahres sowohl subjectiv als objectiv wesentliche
Besserung ein, später aber kam es wieder zu den alten Zu¬
ständen, die vor 6 Monaten eine neuerliche Implantation von Epithel¬
körperchen nothwendig machten. Der Erfolg hielt auch jetzt nur
kurze Zeit an.
J. K., 43 Jahre, Schuhmacher.
1890 Exstirpation beider Kropfhälften, so dass ein kaum taubeneigrosses
Stück entsprechend dem Isthmus zurückblieb, das bei der langen Operation
gewiss stark geschädigt wurde und ausserdem auf beiden Seiten einen Brand*
schorf von der Abtragung mit dem Glüheisen aufwies. Reactionsloser Wund¬
verlauf.
3 Tage post operationem Tetanie. Kriebeln, Zittern in den oberen und
unteren' Extremitäten, Geburtshelferstellung der Hand, deren Typus jedoch in¬
sofern abwich, als die Daumen stark in die Hohlhand eingeschlagen waren und
nicht wie meistens gestreckt adducirt waren. Gleichzeitig nervös’e Unruhe,
Chvostek’sches und Trousseau’sches Phänomen. Nach 8tägiger Dauer
Besserung, später wieder Verschlimmerung. Nach Ausbruch einer starken
Schweissseoretion wieder für einige Tage ein Nachlassen der Symptome, am
17. Tage p. o. war die Tetanie vollkommen ausgebildet und erst hernaoh kam
es zu länger dauernder Besserung. Entlassung am 28. Tage p. o. Zu dieser
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Ueber homoioplastiscbe Epithelkörperchen- u. Schilddrüsenverpflanzung. 173
Zeit bestand noch immer Chvostek’sches und Trousseau’sches Phänomen
und leichte Krampfanfalle, starke Herabsetzung des Gescblechtstriebes.
In den folgenden Jahren litt Pat. 2—3 mal wöchentlich an leichten
Krämpfen, besonders im Winter, bei feuchter Witterung oder nach grösseren
körperlichen Anstrengungen. Während er früher eine ausgesprochene Vorliebe
für Fleischspeisen hatte, nährte er sich jetzt fast aussohliesslich von Vegeta-
bilien und Milch. Im ersten Winter nach der Operation verlor er ohne äussere
Veranlassung alle Haare, dieselben wuchsen aber später wieder nach. Die
Nägel aller Finger mit Ausnahme des kleinen stiessen sich alljährlich ab, re-
generirten jedoch wieder. Dieser Process begann stets im Monat Januar. Ge¬
dächtnis- und Gemüthsstimmung blieben unverändert. Nach Wasohungen mit
kaltem Wasser fühlte er sich bedeutend wohler, doch dürfte diese Besserung
auf eine schon damals bestehende Vergrösserung des Kropfrestes, die an der
Klinik constatirt wurde, zurückzuführen sein. 1891 beiderseitige Staroperation
an der Augenklinik, 1892 fühlte sich Pat. körperlich und geistig vollkommen
frisch, zeigte jedoch noch immer Ch vostek’sches und Trousseau’sches Phä¬
nomen, Krämpfe traten selten auf.
In den späteren Jahren, besonders im Winter, bestanden neben leichten
tetanischen Anfällen, noch Krämpfe anderer Art, die er nicht näher beschreiben
kaon. Dieselben traten in 4 Wochen zweimal auf, dauerten 1—2 Sunden und
er war während derselben bewusstlos. Einige Maie wiederholten sie sich zwei
Tage hinter einander. Nach denselben entstanden sehr schmerzhafte Anschwel¬
lungen in den Fuss- und Handgelenken.
1904 nahm er durch 4 Monate Schilddrüsentabletten, dieselben ver¬
schlimmerten jedoch sein Leiden. Denn im Sommer darauf — um welche
Jahreszeit es ihm sonst stets gut ging — litt er öfter als je an Krampfanfällen
mit Bewusstseinsverlust. Eine Kaltwassercur 1905 verschaffte angeblich Besse¬
rung. Die epileptiformen Anfälle stellten sich bis 1906 nicht wieder ein und
nur selten litt er an leichten tetanischen Krämpfen. Die Vorliebe für Fleisch¬
speisen hatte wieder zugenommen und auch die Libido sexualis war gesteigert.
Ende 1906 eine Cur mit Epithelkörpercbentabletten per os ohne Erfolg. Ende
des Jahres 1907 stellten sich wieder Krämpfe ein, die eine solche Intensität
annahmen, dass Pat. im Mai 1908 die Klinik aufsuchte. Es wurde ihm die Im¬
plantation menschlicher Epithelkörperchen vorgeschlagen, auf die Pat. auch
einging. Die Verpflanzung von zwei menschlichen Epithelkörperchen in die
Baucbwand blieb jedoch ohne dauernden Erfolg.
Wegen neuerlicher starker Krämpfe wurden dem Pat. zwei Epithelkörper¬
chen vom Affen implantirt, wieder ohne Erfolg (Januar 1909).
Im März 1910 suchte Pat. wegen seiner Beschwerden die Klinik abermals
auf. Neuerlichelmplantation zweier menschlicher Epithelkörper. Anfangs leichte
Besserung, nach einiger Zeit stellten sich aber leichte Krämpfe wieder ein (die
Implantation geschah immer präperitoneal).
In dem zweiten Fall kam es nach einer schwierigen, sehr blut¬
reichen, beiderseitigen Kropfoperation (die entfernten Kropfstücke
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Dr. H. Leischner und Dr. R. Köhler,
waren leider nicht auf Epithelkörperchengewebe untersucht worden)
bei einem 22jährigen Manne zu heftiger Tetanie, weshalb am 5. Tag
nach dem Eingriffe ein fremdes menschliches Epithelkörperchen ira-
plantirt wurde. Dasselbe lag jedoch, bevor man es hinter den
Musculus rectus brachte, einige Minuten auf einem sterilen Tupfer.
Die Krämpfe hielten mit kurzen Unterbrechungen von 1—2 Tagen
an und er starb zwei Monate nach dem Eingriff an Tetanie. Die
Untersuchung der Implantationsstelle ergab vollständige Nekrose
des implantirten Gewebes. Ob und wieviel von den eigenen Epithel¬
körperchen bei der Operation zuröckgelassen wurde, wird die Durch¬
musterung der Halsorgane in Serienschnitten zeigen, die jedoch
noch nicht abgeschlossen ist. Es wäre hier die Möglichkeit nicht
auszuschliessen, dass dieser Patient überhaupt nur 2 oder 3 Epithel¬
körperchen hatte.
I. G. 22 Jahre, Schlosser.
Seit seinem 16. Lebensjahre bemerkt Patient das Auftreten eines Kropfes
der rechten Halsseite. Die Schwellung trat bald auch links auf und wuchs
langsam und gleichmässig bis zur jetzigen mannsfaustgrossen Geschwulst heran.
Seit vier Jahren blieb sie stationär, bereitete dem Patienten jedoch durch Druck
auf die Luftröhre Beschwerden, sodass schon bei geringer körperlicher Anstren¬
gung heftige Athemnoth eintrat.
Laryngealer Befund: Starke Compression der Trachea von rechts.
Röntgenbefund: Compression der Trachea oben von rechts, in der
Höhe der Thoraxapertur von links.
Am 19. 5. 1910 Exstirpation der rechten Kropfhälfte und Resection des
linken unteren Poles. 5Tage post Operationen) Auftreten von leichten Zuckungen
um den Mund, Oscillationen der Zunge, Schlingkrämpfe. Lidspalte beiderseits
eng, Chvosteksches Phänomen positiv. Die Beuger des Unter- und Ober¬
armes, des Oberschenkels und dieAdductoren zeigen fibrilläreZuckungen. Beide
Hände in Geburtshelferstellung, willkürliche Bewegungen der Finger nicht mög¬
lich. Deshalb neuerliche Operation, die in Einilanzung eines Epithelkörperchens
besteht, das bei Entfernung einer Colloidstruma entnommen wurde. Am
nächsten Tag Zunahme der tetanischen Erscheinungen, völlige Schlaflosigkeit,
heftige Würgkrämpfe, anhaltende tonische Krämpfe in der Extremitätenmusku¬
latur, fibrilläre Zuckungen derselben. Patient erhält Chloralhydrat in Klysmen,
Morphium und eine Tablette Parathyreoidin. Hierauf einige Tage scheinbares
Wohlbefinden.
Am 4. 6. neuerliche Krämpfe am ganzen Körper, Stöhnen und Schaum¬
austritt aus dem Mund. Unter leichten Schwankungen dauern die Krämpfe, trotz
der eingeschlagenen Therapie (Parathyreoidintabletten, Brom, Chloralhydrat)
bis zu dem am 13. 7. erfolgten Tod an.
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üeber homoioplastische Epithelkörperchen- u. Schilddrüsenverpflanzung. 175
Durch diese Fälle veranlasst, stellten wir neuerdings Thierver¬
suche bei Ratten an, um die Frage zu klären, ob bei Homoio-
transplantationen die Epithelkörperchen wirklich längere Zeit er¬
halten werden können, und ob die Tetanie dadurch beeinflusst wird.
Bevor wir auf unsere Versuchsreihen und deren Ergebnisse
eingehen, müssen wir kurz den Verlauf der Rattentetanie in Er¬
innerung bringen, gemäss der Schilderung in Erdheim’s umfassender
Arbeit, die sich mit unseren eigenen zahlreichen Erfahrungen voll¬
ständig deckt. Nach Entfernung der beiden Epithelkörperchen treten
bei Riitten meist schon am nächsten Tage, manchmal früher oder
auch viel später (nach Erdheim’s Beobachtungen einmal sogar erst
nach drei Wochen) typische Erscheinungen auf. Dieselben äussem
sich in Tremor der Extremitäten, Zucken und Zittern des ganzen
Körpers, Laufen auf geballten Pfoten, Streckkrämpfen der Extremi¬
täten, endlich kommt es bei einer Anzahl von Thiercn zu epilepti-
formen Anfällen. Diese Symptome sind mehr oder minder ausge¬
prägt, halten einen bis mehrere Tage an, können sich in der weiteren
Zeit wiederholen, oder bleiben in der Folge vollständig aus. Es
unterscheiden sich dann diese Thiere kaum von normalen. Im
zweiten oder dritten Monat nach dem Verlust der Epithelkörperchen
kommt es zu trophischen Störungen an den Zähnen, dieselben
brechen ab oder fallen aus und die entsprechenden Zähne des anderen
Kiefers werden sehr lang. Nach Erdheim’s Untersuchungen soll
der Beginn der Veränderungen am Dentin und Schmelz schon am
10. Tage nach der Epithelkörperchenexstirpation mikroskopisch
nachweisbar sein. Schliesslich gehen die Thiere infolge Ernährungs¬
behinderung an Kachexie zu Grunde.
Man ersieht aus dieser Schilderung, dass eine Beeinflussung
der tetanischen Zustände durch irgend welche Massnahmen wegen
ihres Auftretens in verschiedenen Zeiträumen und ihrer variablen
Dauer nur mit Vorsicht behauptet werden darf.
Die Technik unserer Versuche gestaltete sich folgendermassen:
Es wurden nicht zu junge Ratten im durchschnittlichen Ge¬
wicht von 150—250 g verwendet. Dieselben wurden zunächst in
Aethernarkose am Hals und am Bauche rasirt. Nach gründlicher
Reinigung des Operationsfeldes mit Alkohol und Sublimat, Schnitt
in der Mittellinie des Halses vom Zungenbein bis gegen das Manu-
brium sterni durch Haut- und Unterhautzellgewebe. Stumpfe Durch-
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I)r. H. Leischner und Dr. K. Köhler,
trennung der Halsmuskulatur und Seitwärtsverziehung der beiden
Mm. sternocleidomastoidei und der grossen Speicheldrüsen mittelst
Häkchen. Im Wundbett ist nun die Schilddrüse deutlich sichtbar.
Hebt man mit der Pincette die Seitenlappen der Schilddrüse etwas
aus ihrer Lage, so werden in den meisten Fällen die Epithel¬
körperchen sichtbar.
Die Lage derselben variirte bei den einzelnen Thieren, bald
lagen sie mehr am oberen Pol, bald mehr gegen die Mitte zu, in
einzelnen Fällen an der Hinterfläche, in anderen an der Seiten¬
kante. Schwierigkeiten machte die Aufsuchung derselben selten 1 ),
wurden sie nicht ganz deutlich gesehen, so wurde das Thier zum
Versuch nicht verwendet. Einzelne zur Controle vorgenommene
histologische Untersuchungen zeigten, dass stets Epithelkörperchen¬
gewebe genommen wurde. Die aul diese Weise zugänglich ge¬
machten Dröschen liessen sich mit einer feinen gebogenen Scheere
leicht exstirpiren. (In einzelnen Fällen wurde auch ein Stückchen
Thyreoidea mitverpflanzt.) Eine allfällig eingetretene Blutung konnte
immer durch Compression und durch Betupfen mit einem mit Adre¬
nalin getränkten Bäuschchen gestillt werden.
Während an der einen Ratte dieser Eingriff ausgeführt wurde,
wurde bei der anderen ein ca. 2 cm langer Schnitt über einen
Musculus rectus angelegt. Der Muskel selbst dann mit der Scheere
gekerbt und hierauf die Spalte mit einer Pincette erweitert. Bei
diesem Acte ist eine gewisse Vorsicht am Platze, um eine Ver¬
letzung des Peritoneums zu vermeiden. In die so gebildete Muskel¬
tasche wurden die exstirpirten Epithelkörperchenstücke gebracht,
der Schlitz mittelst Seidennaht geschlossen, die einerseits das Her¬
ausfallen des Implantatum verhinderte, andererseits bei Exstir¬
pation der Implantationsstelle das Aufsuchen derselben erleichterte.
Den Abschluss bildete die Naht der Haut. Der Eingriff selbst
wurde von den Thieren immer gut überstanden.
Die Versuchanordnungen und deren Resultate waren folgende:
I. Bei einer grösseren Anzahl von Ratten wurden beide Epithel¬
körperchen wechselseitig in die Bauchwand implantirt. Am nächsten
Tag waren die bekannten tetanischen Symptome vorhanden, die
nach 4—5 tägigem Bestand wieder schwanden. Eine Zeitlang zeigten
l ) Der eine von uns, Leischner, hatte schon früher zahlreiche Epithel¬
körperchenexstirpationen bei Ratten ausgeführt.
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Ueber homoioplastische Epithelkörperchen- u. Schilddrüsenverpflanzung. 177
die Thiere dann normales Verhalten. Ein Theil ging zu Grunde,
ohne irgend welche Erscheinungen vorher geboten zu haben, bei
anderen stellte sich nach längerer Zeit Zahnausfall und Kachexie
ein, bei einer dritten Gruppe kam es nach 4—5 Wochen zu neuer¬
lichen tetanischen Symptomen. Während dieses Recidivs wurden
wieder fremde Epithelkörperchen implantirt, nachdem die alte Ein¬
pflanzungsstelle zwecks histologischer Untersuchung exstirpirt worden
war. Die acuten Erscheinungen schwanden zwar rasch nach der
neuerlichen Implantation, jedoch gingen auch diese Thiere an chro¬
nischer Tetanie später ein. Die histologischen Befunde der Im¬
plantationsstellen waren stets negativ.
Hier so wie in der Folge werden aus den zahlreichen Ver¬
suchen, da dieselben einander völlig gleichen, nur einige besonders
typische als Beispiele gebracht.
Weisse Ratte; operirt am 12. 4. 1910. Die deutlich sichtbaren Epithel¬
körperchen werden exstirpirt und einer anderen Ratte implantirt. Der Ratte
selbst werden die Epithelkörperchen einer anderen Ratte eingepflanzt.
13. 4. starke Krämpfe. 14. 4. ebenso. 15. 4. geringer Rückgang der Er¬
scheinungen. 16. 5. deutlicher Rückgang. 17. 4. fast normal. Ab 18. nor¬
males Verhalten. 2. 5. Tod.
Section ergibt normale Verhältnisse. Exstirpation der Implantationsstelle.
Makroskopisch ist dieselbe in blutig suffundirtes Gewebe eingebettet sichtbar.
Histologisch nur Detritus nachweisbar.
Grau-weisse Ratte; operirt am 14.5. Beide Epithelkörperchen einwands¬
frei exstirpirt. Implantation von Epithelkörperchen einer anderen Ratte.
15.5. leichte Erscheinungen. 16.—20.5. typische Tetanie. 21.5. Erschei¬
nungen geringer. 22.5. ganz geringe Streckkrämpfe. 23.5. normal.
Seither zeigt das Thier keine Erscheinungen mehr.
Juli: das Thier ist mager, Zähne etwas kürzer.
September: Thier lebt noch, sehr stark abgemagert, Zähne abgebrochen.
Weisse Ratte; operirt am 12. 4. 1910. Epithelkörperchen beiderseits sehr
deutlich, einwandsfrei exstirpirt, Implantation von Epithelkörperchen einer
anderen Ratte.
Am 12.4. Nachmittags: Krämpfe in der rechten Vorderpfote, Trousseau
nicht sehr deutlich. 13. 4. starke Tetanie. Zittern beim Heben am Nacken,
deutliches Muskelschwirren, Gehen auf geballten Vorderpfoten. Trousseau
deutlich positiv. 14. 5. idem. 15. 4. Zittern beim Aufheben am Nacken,
Krämpfe etwas geringer. 16.4. Krämpfe wieder etwas stärker. Ab 18.4. gehen
die Erscheinungen bedeutend zurück. Ab 20. 4. normales Verhalten bis 22.5.
22. 5. Das Thier ist äusserst bissig und schreckhaft. 23. Steifigkeit, Zittern.
29.5. Neuerliches Einsetzen schwerer, tetanischerSymptome, wieZittern, Steifig¬
keit etc. 30. 5. neuerliche Implantation eines Epithelkörperchens, Exstirpation
ArehiT für klio. Chirurgie. Bd. 94. Heft 1. io
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Dr. H. Leischner und Dr. R. Köhler,
der alten Implantationsstelle. 31. 5. bedeutende Besserung. Ab 1. 6. Wohl¬
befinden. 3. 6. ein unterer Zahn beginnt sich zu lockern. 7. 6. Fehlen eines
unteren Zahnes. Das Thier magert ab. 25. 6. Tod.
Sowohl die erste als die zweite Implantationsstelle histologisch negativ.
II. Es wurden fremde Epithelkörperchen auf Ratten verpflanzt,
die bereits nach Exstirpation ihrer eigenen Epithelkörperchen sich
im tetanischen Zustand befanden. Die Tetanie nahm weiter nor¬
malen Verlauf und endete mit Zahnausfall und Kachexie. Nur in
denjenigen Fällen, bei welchen die Schilddrüsen mit den Epithel¬
körperchen von ganz jungen Ratten stammend zur Implantation
verwendet wurden, war es auffällig, dass die manifeste Tetanie am
nächsten Tage geschwunden war. Die histologische Untersuchung
der Implantationsstelle ergab nach dem Tode der Thiere nichts von
Drüsengewebe.
Weisse Ratte; operirt am 23. 6. 1910.
Beide Epithelkörperchen einwandsfrei entfernt.
25. 6. Starke typische Tetanie. Implantation von Schilddrüse -f- Epi¬
thelkörperchen junger Ratten. 26. 6. Das Thier zeigte normales Verhalten.
Keinerlei tetanische Erscheinungen bis August 1910, wo Zähneausfall und Ab¬
magerung auftritt. Exitus im September.
Histologische Untersuchung der Implantationsstelle ist negativ.
Grau-weisse Ratte; operirt am 4. 7.
Einwandsfreie Exstirpation der Epithelkörper.
5. 7. Starke Tetanie. 6. 7. Idem. Implantation von Schilddrüsen plus
Epithelkörperchen junger Ratten. Ab 7. 7. normales Verhalten.
September: Chronische Tetanie, Lockerung und später Ausfall der Zähne
und Exitus.
Histologisch kann kein verpflanztes Drüsengewebe gefunden werden.
III. Von zwei Thieren, denen im tetanischen Anfall fremde
Epithelkörperchen eingepflanzt wurden, die mehrere Stunden in
physiologischer Kochsalzlösung im Brutofen bei Körpertemperatur
gelegen waren, ging das eine 10 Tage später in acut tetanischem
Zustande zu Grunde, das andere Thier lebte noch 4 Wochen, wäh¬
rend welchen sich die Tetaniesymptome in ganz kurzen Pausen
wiederholten. Mikroskopisch fand sich kein Epithelkörperchen¬
gewebe.
Weisse Ratte; operirt am 15. 4. 1910.
Epithelkörperchen einwandsfrei entfernt. Implantation von Epithelkör¬
perchen eines anderen Thieres, die in Kochsalzlösung gelegen, ln den nächsten
Tagen deutliche Tetanie.
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lieber homoioplastische Epithelkörperchen* u. Schilddriisenverpflanzung. 179
Ab 20. 4. normales Verhalten. 28. 4. Leichte Versteifung. 2. 5. Ganz
steif, äusserst bissig. 4. 5. Steifigkeit zugenommen. 6. 5. Das Thier liegt auf
dem Röcken, mit steif vom Körper abgehaltenen Extremitäten. Aufgescheucht
bewegt es sich mühsam vorwärts, fällt jedoch zur Seite. Implantation von
zwei Epithelkörperchen, die 24 Stunden bei 37° in physiologischer Kochsalz*
lösung gelegen haben. 9. 5. Krämpfe dauern an. 10. 5. Idem. 18. 5. Das
Thier stirbt unter heftigen tetanischen Krämpfen.
Sectionsbefund normal. An der Implantationsstelle mikroskopisch kein
Epithelkörperchengewebe nachweisbar.
IV. Mehreren tetanischen und bereits implantirteu Thieren
wurden die Epithelkörperchen -f- Schilddrüse enthaltenden Theiie
der Bauchwand in verschiedenen Zeiträumen wieder exstirpirt. Es
zeigte sich, dass nach Entfernung der 8—14 Tage bestehenden
Implantationen abermals starke manifeste Tetanie einsetzte, wo¬
gegen die Beseitigung älterer Implantationsstellen keinerlei Erschei¬
nungen hervorrief. Bei den ersteren war mikroskopisch Epithel¬
körperchengewebe und Schilddrüsenreste noch nachweisbar, bei
letzteren nicht mehr.
Weisse Hatte: operirt am 23. 6.
Beide Epithelkörperchen einwandsfrei entfernt.
24. 6. Tetanie, Krämpfe. 25. 6. Tetanie stärker. Implantation von
ganzen Schilddrüsen plus Epithelkörperchen junger Ratten. 26. 6. Geringe
Erscheinungen. 27. 6. Normal. 4. 7. Exstirpation der Implantationsstelle.
Am nächsten Tage typische starke Tetanie, die nach 4 Tagen langsam ab¬
klingt. Ab 12. 7. Thier normal.
August: Thier lebt noch im Zustande chronischer Tetanie mit Zahn¬
ausfall.
Histologisch sind an der am 4. 7. exstirpirten Implantationsstelle Epi-
thelkörperchenreste zu sehen.
Weiss-schwarze Ratte; operirt am 23. 6.
Beide Epithelkörperchen einwandsfrei entfernt.
24. 6. Zittern, geringe Steifigkeit. 25. 6. Typische starke Tetanie. Im¬
plantation von ganzen Schilddrüsen plus Epithelkörperchen junger Ratten.
26. 6. Keine Erscheinungen. Thier bleibt normal bis 9. 7. 9. 7. Implanta¬
tionsstelle excidirt. 10. 7. Starke Tetanie, anhaltend bis 16. 7., von da ab ab¬
klingend. 23. 7. Tod unter leiohten Krämpfen.
Histologisch an der am 9. 7. exstirpirten Implantationstelle Epithelkör¬
perchenreste zu sehen.
Weisse Ratte; operirt am 25. 5.
Exstirpation beider deutlich sichtbaren Epithelkörperchen, Implantation
zweier anderer Epithelkörperchen.
26. 5. Zittern. 27. 5. Starke Krämpfe, typische Tetanie.
12 *
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180
Dr. H. Leischner und Dr. R. Köhler,
An den folgenden Tagen deutlicher Rückgang.
Ab 2. 6. normales Verhalten. 9. 7. Exstirpation der Implantationsstelle.
10. 7. Keine Erscheinungen.
September: Thier lebt noch mit den Erscheinungen der chronischen Te¬
tanie, Zahnausfall, Kachexie.
Histologische Untersuchung der Implantationsstelle negativ.
V. Endlich wurden gegenseitige Transplantationen bei para¬
biotischen Ratten versucht. Die Vereinigung der Thiere geschah
meist in der Weise, dass man von einem seitlichen Flankenschnitt
aus das Cavum peritonei eröffnete. Hierauf wurden mittels fort¬
laufender circularer sero-seröser Naht und ebensolcher von Muscu-
latur und Haut die Thiere an einander fixirt. Unterstützt wurde
die Verbindung noch durch eine Haut und Subcutangewebe fassende
Naht am Nacken nnd in der Gesässgegend.
Um eine gegenseitige Verletzung der Thiere hintanzuhalten,
wurden die verschiedensten Maassregeln, wie Einschaltung einer
Zwischenwand aus Holz, Pappe, Fixirung durch Gypsbinden etc.
getroffen. Trotz alledem bissen sich die Thiere, kaum dass sie
aus der Narkose erwacht waren. Halbwegs erträglicher Friede
konnte nur bei Verwendung ganz junger Thiere erzielt werden.
Man kam, obwohl Versuche mit mehr als 30 Paaren unternommen
wurden, zu keinem sicheren Resultat, da es nicht gelang, die Thiere
entsprechende Zeit am Leben zu erhalten, wobei sie noch mehr¬
malige Eingriffe hätten überstehen müssen. Nur bei zwei Paaren
kam es zur Verpflanzung überhaupt, nachdem sie bereits 10 bis
12 Tage in Parabiose gelebt hatten. Es wurden dann der einen
Ratte die eigenen Epithelkörperchen entfernt und der anderen ein¬
gepflanzt. Innerhalb von 8—10 Tagen gingen sie aber ein (Ileus?).
Tetanie konnte bei keinem der epithelkörperchenlosen Thiere be¬
obachtet werden. Bei einem dritten Parabiosenpaar wurden der
einen Ratte die Epithelkörperchen exstirpirt und der anderen nicht
implantirt. Auch bei diesem Versuch trat bei keinem der Thiere
Tetanie auf. Daraus Schlüsse über den Einfluss der Parabiose auf
die Tetanie zu ziehen, ist wohl wegen der kurzen Beobachtungs¬
zeit und der geringen Zahl der Versuche nicht berechtigt.
Paar I. Vereinigung am 16. 4. 1910.
1. 5. Einwandsfreie Exstirpation der Epithelkörperchen des einen und
Implantation in die Bauchwand des anderen Thieres.
Die Thiere zeigen weiterhin durchwegs normales Vorhalten.
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üeber homoioplastische Epithelkörperchen- u. Schilddrüsenverpflanzung. 181
9. 5. Morgens ist die eine Ratte todt. Bei der Seotion zeigen sich die
Därme hochgradig gebläht (Ileus?). Sonst kein pathologischer Befund.
Histologisch ist Epithelkörperchengewebe nachweisbar.
Paar II. Vereinigung am 23. 4.
7. 5. Der einen Ratte werden beide Epithelkörperchen einwandsfrei ex-
stirpirt nnd der anderen nicht implantirt.
Die Thiere bleiben andauernd normal.
7. 5. werden beide Thiere todt aufgefunden. Die Därme mit der Bauch-
wand an der Vereinigungsstelle verwachsen, hochgradig gebläht (Ileus?).
Unsere Versuche zeigen, dass weder frische Epithelkörperchen
und um so weniger solche, die bereits einige Zeit dem Mutterboden
entnommen waren, auf Thiere derselben Gattung dauernd über¬
pflanzt werden können, und dass dieselben auch nicht im Stande
sind, bei einem Thiere mit gänzlichem Verlust der Epithelkörperchen
die Tetanie und ihre Folgeerscheinungen hintanzuhalten. Jedoch
scheinen die tetanischen Zustände momentan abgekürzt zu werden,
namentlich dann, wenn man Material von ganz jungen Thieren ein¬
pflanzt. Es könnte daran gedacht werden, dass mit der langsamen
Resorption eine Aufspeicherung des Secrets der Epithelkörperchen
im thierischen Körper vor sich geht. So lange dieses Saftmaterial
in genügender Menge im Blute resp. Serum enthalten ist, bleiben
die üblen Folgeerscheinungen aus. Geht die Secretmenge zur Neige,
so stellen sich langsam die tetanischen Zustände ein, um beim
völligen Verbrauch mit dem Tode des Thieres zu enden.
Dass implantirte körperfremde Drüsen temporär, so lange sie
erhalten sind, eine Beeinflussung ausüben, scheint auch aus den
Versuchen hervorzugehen, bei welchen die Implantationsstelle nach
kürzerer Zeit wieder exstirpirt wurde, indem die Thiere nach Ent¬
nahme des fremden Drüsengewebes nur dann mit acuter Tetanie
reagirten, wenn im Bauchwandstück histologisch noch Drüsenreste
nachweisbar waren. Dass der Eingriff selbst dabei eine Rolle
spielt, ist nach unseren Erfahrungen nicht anzunehmen.
Wurde die Exstirpation erst nach Wochen oder Monaten vor¬
genommen, so trat keine acute Tetanie auf. (Mikroskopisch war
dann auch im exstirpirten Bauchwandstück keine Spur vom Epi¬
thelkörperchen mehr zu sehen.) Dies mag mit der völligen In¬
differenz des entfernten Bauchwandstückes Zusammenhängen, da
dasselbe ja keine Epithelkörperchen mehr enthielt, und den Schluss
gestatten, dass mit der völligen Resorption der transplantirten
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182
Dr. H. Leischner und Dr. R. Köhler,
Epithelkörperchen eine für kurze Zeit genügende Menge des Epi¬
thelkörperchenstoffes aufgespeichert war. Chronische Tetanie stellte
sich später immer ein.
Für einen temporären Einfluss fremder Epithelkörperchen
spricht auch folgende Mittheilung von Iselin: Er fand, dass
schwarzweiss gefleckte Ratten auf Tetanie stärker reagiren als
weisse, indem erstere bei doppelseitiger Epithelkörperchenentfernung
zu Grunde gingen. Er konnte diese Thiere nur dann am Leben
erhalten, wenn er bei ihnen die Exstirpation in zwei Zeiten vor¬
nahm und beim ersten Act fremde Epithelkörperchen in die Milz
einpflanzte.
Es resultirt also aus unseren Experimenten, dass
Homoiotransplantationen der Epithelkörperchen auf die
Dauer nicht gelingen, indem das körperfremde Gewebe
nach einiger Zeit resorbirt wird, man jedoch annehmen
muss, dass sich die Wirkung des fremden Drüsengewebes
im Organismus so lange geltend macht, als sich das¬
selbe dort vorfindet. Dasselbe gilt auch für die homoio-
plastische Verpflanzung der Schilddrüse, denn in unseren
Versuchen waren meist kleinere oder grössere Schild¬
drüsenstücke mitverpflanzt worden, und auch diese
schienen nach einiger Zeit vollständig aufgebraucht.
Aber insofern wirken auch sie, worauf v. Eiseisberg seiner
Zeit aufmerksam gemacht, während ihres Bestandes
günstig, als inzwischen die eigenen Schilddrüsenreste
hypertrophiren können.
Dieses Verhalten der Thyreoidea stimmt mit anderweitigen
Versuchen und den Erfahrungen bei Schilddrüsenverpflanzungen zu
therapeutischen Zwecken überein. So erzielten Borst und En¬
de rlen, die Thyreoideaverpflanzungen mittels Gefässnaht Vor¬
nahmen, bei der Autotransplantation tadellose Resultate, bei der
Homoiotransplantation dagegen war einmal schon nach 17 Tagen
die Drüse sammt der mitverpflanzten Carotis total resorbirt. Bei
den anderen Versuchen der gleichen Art trat entweder acute Ne-
crose oder allmähliche Verödung resp. Resorption nach längerer
Zeit auf. Wir möchten wohl diesen Autoren beipflichten, die an-
nahmen, dass diese Misserfolge durch biochemische Unterschiede
bedingt werden.
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Ueber homoioplastische Epithelkörperchen- u. Schilddrüsenverpflanzung. 183
Die zahlreichen anderen, in der Literatur beschriebenen Thier-
experiraente, welche von ausgezeichneten Transplantationsresultaten
der Thyreoidea berichten, sind ebenfalls durchwegs Reimplantationen
gewesen, aus deren Gelingen man nicht auf die Möglichkeit einer
erfolgreichen Homoiotransplantation schliessen kann. Daher auch
die temporären Erfolge der Schilddrüsenverpflanzung am Menschen.
Beispielsweise seien nur folgende Beobachtungen angeführt:
Kocher konnte, wie er seiner Zeit berichtete, bei derartigen
Ueberpflanzungen nur vorübergehende Besserungen bei Cachexia
strumipriva sehen.
H. Bircher theilte 1890 einen Fall von Cachexia strumipriva
mit, bei dem nach Schilddrüsenimplantation 4 Wochen lang Besse¬
rung zu beobachten war, hierauf wurde abermals implantirt, nach
3 Monaten trat wieder ein Reeidiv ein.
Beweisend sind auch die im Vorjahre von E. Bircher mit-
getheilten Fälle von Kretinismus, denen Schilddrüsenstücke ins
Halsbindegewebe eingepflanzt wurden. Es waren nur normal aus¬
sehende Strumenstücke von jugendlichen Individuen genommen und
ins Unterhautzellgewebe eingeführt worden. Dieselben heilten auch
ein und waren unter der Haut des Halses gut zu palpiren. Ihre
Grösse nahm jedoch im Laufe der Zeit ab und nach 7—12 Wochen
war davon nichts mehr palpabel. Im psychischen Verhalten der
Pat. trat keine Aenderung ein.
Auch Payr’s Fall mit Schilddrüscnüberpflanzung von der Mutter
in die Milz eines Kretins hatte keinen dauernden Erfolg gehabt.
Es wurde bei einem 6jährigen total verblödeten Kinde mit schwerem in¬
fantilem Myxödem ein grosses Stück ganz gesunden, der Mutter des Kindes
frisch entnommenen Schilddrüsengewebes in die Milz verpflanzt.
Während eine vorhergehende «i 1 /«, Jahre dauernde Schilddrüsentabletten¬
fütterung ohne jeden Erfolg geblieben war, war der EITect der Transplantation
anfänglich sowohl somatisch als auch intellectuell äusserst befriedigend. Das
Kind zeigte bedeutendes Längenwachsthum, fing zu gehen und zu sprechen an.
Der Erfolg scheint jedoch kein dauernder gewesen zu sein, denn schon
3 Jahre später berichtet Payr auf dem Chirurgencongress, dass dio rapide
Besserung nicht angehalten habe, dass dieselbe nach kaum zwei Jahren schon
langsamer vorgeschritten und in psychischer Beziehung sogar ein Rückschlag
zu verzeichnen sei.
Desgleichen blieben 3 an der v. Eisclsberg’schen Klinik
vorgenommene Schilddrüsenverpflanzungen bei Kretinismus, resp.
Myxödem ohne Erfolg.
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184
Dr. H. Leischner und Dr. R. Köhler,
Wie stimmen nun die günstigen klinischen Erfahrungen von
Epithelkörperchentransplantationen bei postoperativen Tetanien mit
unseren Thierexperimenten überein?
Eine bestimmte Antwort auf die Frage, in wie weit die über¬
pflanzten Drüsen dabei eine Rolle spielten, ist unseres Erachtens
wohl nicht zu geben, weil die Constatirung, ob und wieviel Epithel¬
körperchengewebe bei den operirten Pat. zurückblieb, unmöglich ist
und weiters das Schicksal des transplantirten Materials nicht con-
trolirt werden kann. Gemäss unseren Thierversuchen wäre aber
für die Fälle, bei welchen homoioplastische Epithelkörperchentrans¬
plantation bei acuter Tetanie günstig wirkte, wohl die Erklärung
anzunehmen, dass bei der Kropfoperation ein Theil des Epithel¬
körperchengewebes, wenn auch mehr oder weniger geschädigt zu¬
rückblieb und das überpflanzte Dröschen so lange in seiner Wirkung
ausreichte bis die eigenen Epithelkörper sich wieder erholt hatten
und wieder ausreichend functionirten. Unsere Ergebnisse entsprechen
also der Ansicht Pool’s, dass die Implantation die Heilung der
Tetanie bloss unterstützt.
Dagegen ist aber kein Erfolg zu erwarten, wenn dauernde
Ansprüche an das überpflanzte körperfremde Epithelkörperchen¬
material gestellt werden. Es zeigen dies die früher erwähnten
Fälle von chronischer und acuter Tetanie, die an der v. Ei seis-
berg’schen Klinik zur Beobachtung kamen. Damit im Widerspruch
steht scheinbar der zuerst von v. Eiseisberg publicirte Fall, bei
welchem bei einmaliger Epithelkörperchentransplantation vor drei
Jahren die seit 25 Jahren bestehende heftige Tetanie die Pat. jetzt
nicht mehr belästigt und objectiv nur mehr das Chvostek’sche
Phänomen nachweisbar ist. Ob es sich hier um eine latente Periode
der Erkrankung handelt, wie es bisweilen vorkommt, muss dahin¬
gestellt bleiben.
Literatur.
E. Bircher, Die Implantation von Schilddrüsengewebe bei Kretinen. Deutsche
Zeitschr. f. Chir. 1909. Bd. 98. S. 75.
H. Bircher, Das Myxödem und die kretinische Degeneration. Volkmann’s
Sammlung klinischer Vorträge. 1900. No. 357.
Boese und Lorenz, Kropf, Kropfoperation und Tetanie. Wienermed. Wochen- •
schrift. 1909. No. 38.
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Ceber homoioplastiscbe Epithelkörperchen- u. Schilddrüsenverpflanzung. 185
Borst und Enderlon, Ueber Transplantationen von Gelassen und ganzen
Organen. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1909. Bd. 99. S. 54.
Camus, Sociötö de Biologie. 1905. 11 mars.
Christiani, De la persistance de grelles des glandes parathyroides. Compt.
rend. hebdom. des söances et mömoires de la Sociötö de Biologie. 1905.
I. p. 754.
Christiani et Ferrari, De la nature des glandul. paratbyroid. Sociötd de
Biologie. 1897. 9. Dec.
Danielsen, Erfolgreiche Epithelkörperchentransplantation bei Tetania para¬
thyreopriva. Bruns’ Beitr. 1910. Bd. 66. S. 85.
Danielsen und Landois, Transplantation von Epithelkörperchen. Med.
Klin. 1910. No. 19 u. 20.
v. Eiseisberg, Ueber Vorkommen und Behandlung der Tetania paratbyreoi-
priva beim Menschen. Beitr. zur Pbys. u. Path. — Epithelkörperchen¬
transplantationen. Verhandl. d. deutschen Gesellsch. f. Chir. 1908.
Enderlen, Untersuchungen über die Transplantation der Schilddrüse in die
Bauchhöhle von Katzen und Hunden. Mittheil, aus d. Grenzgeb. der
Med. u. Chir. 1898.
Erdheim, Tetania parathyreopriva. Mittheil, aus d. Grenzgeb. d.Med.u.Chir.
1906. Bd. 16.
Garre, Epithelkörperchentransplantationen. Verhandl. der deutschen Gesell¬
schaft f. Chir. 1908.
Iselin, Wachsthumshemmung in Folge Parathyreoidektomie bei Ratten.
Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 43. S. 494.
Leischner, Ueber Epithelkörperchentransplantationon und deren practisohe
Bedeutung in der Chirurgie. Dieses Archiv. Bd. 84. H. 1. — Sitzungs¬
bericht der Gesellsch. f. innere Med. u. Kinderheilkunde. Wiener med.
Wochenschr. 1906.
Minkiewitsch, Tetania parathyreopriva und Hyperparathyreosis. 1908.
1. u. 2. Bd.
Payr, Transplantation von Sohilddrüsengewebe in die Milz. Dieses Arch.
1906. Bd. 80. S. 731.
Pfeiffer und Mayer, Experimentelle Beiträge zur Epithelkörperchenfunction.
Mittbeil, aus den Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1907. Bd. 18.
Poole, Epithelkörperchentransplantation bei Tetanie. Annal of surgery. 1907.
Walbanm, Untersuchungen über die Bedeutung der Epithelkörperchen beim
Kaninchen. Mittheil, aus d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1903. Bd. 12.
S. 208.
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Ueber Knochenechinokokkus.
Von
Dr. I. Titow,
Prosector dos Krankenhauses Kaiser Nicolai II. zu Kiew.
Die Echinokokkencyste ist die Jugendform eines Parasiten,
der im Darmcanal bestimmter Thiere lebt. Beim Hunde, Wolf,
Fuchs, Schakal, Dingo wird dieser Parasit besonders häufig vorge¬
funden. Die Häufigkeit des Vorkommens der Taenia echinococcus
im Hundedarm wird durch folgende Statistik Braun’s illustrirt:
In Island wurde die Taenia echinococcus im Hundedarm in
28 pCt. aller daraufhin untersuchter Hunde gefunden. In Lyon
ergab die Untersuchung 7,1 pCt., in Zürich 3,9 pCt., in Berlin
1,8 pCt., in Kopenhagen 0,4 pCt. und in Leipzig 0 pCt.
Wenn man die Häufigkeit des Vorkommens der Echinokokken
beim Menschen mit der Verbreitung des Hundes als Hausthier ver¬
gleicht, lässt sich hierin gewissermaassen eine Parallele ziehen.
Island, Australien, Tasmanien, Süd-Russland und einige Theile
Deutschlands sind Gegenden, in denen es verhältnissmässig viele
Hunde giebt und in denen verhältnissmässig häufig Echinokokken
beim Menschen beobachtet werden. Bei uns in Südrussland hat
jeder Chirurg einige, zuweilen auch einige Zehner von Fällen von
Echinokokkotoraie zu verzeichnen, während Prof. Roux in Lausanne
bei seinem umfangreichen Krankenmaterial nur vereinzelte Fälle
von Echinokokken zu verzeichnen hat.
Dieser Parasit ist gewöhnlich nicht länger als 4 mm und be¬
steht aus dem Kopf und 3 Gliedern, von denen das dem Kopf
benachbarte Glied die Geschlechtstheile enthält, die beiden übrigen
Glieder beherbergen den Uterus, der mit reifen Eiern überfüllt ist.
bv Google
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Ueber Knochenechinokokkus.
187
Der kleine Kopf des Parasiten trägt an seinem vorderen Ende eine
doppelte Hakenreihe (44), hinter der 4 Saugnäpfe gelegen sind.
In der beschriebenen Form lebt der Parasit im Darmcanal seines
Wirthes; von Zeit zu Zeit trennt sich sein letztes Glied ab und
gelangt mit den Excrementen ins Freie, wo der Körper des Gliedes
zerstört wird und Tausende von vollständig reifen Eiern die Umgebung
übersäen; der grössere Theil derselben geht, in schlechte Lebens-
bedingungen gelangt, zu Grunde, ein kleinerer Theil aber gelangt
durch Speise oder Trank in den Magen von Thieren oder Menschen
und beginnt dann seine weitere Entwicklung. Unter den Thieren,
die besonders zu einer Infection mit diesen Eiern incliniren, sind
am bekanntesten das Schaf, das Schwein und das Rind, in ge¬
ringerem Maasse Hunde, Katzen, Pferde u. a. Es werden also
Hunde, die ja die häufigsten Träger der Taenia echinococcus sind,
verhältnissmässig selten mit der Jugendform dieses Parasiten —
der Echinokokkencyste — inficirt. Dieser Umstand lässt die An¬
nahme auftauchen, dass eine Infection des Wirthes einer Taenia
echinococcus mit den Eiern derselben entweder gar nicht oder nur
in Ausnahmefällen vorkommt, worauf auch die Beobachtungen
Hansemann’s augenscheinlich hinweisen.
Das Echinokokkenei erreicht eine Grösse von 70 n und besitzt
zwei Hüllen; eine äussere, weiche Eiweisshülle und eine innere
harte Hülle, die dem ovalen Zellkörper des Embryo dicht anliegt;
der Embryo ist mit 3 Hakenpaaren versehen und übersteigt nicht
die Grösse von 25—30 /».
Mit den Nahrungsmitteln in den Magen gelangt, verliert das
Ei der Taenie bald seine Häute und der befreite Embryo beginnt
sein Leben: vermittels seiner Haken durchbort er die Gefässwände
des Verdauungscanales und wird, in den Blutkreislauf gelangt, in
das eine oder andere Organ verschleppt, wo er stecken bleibt und
seine weitere Entwicklung beginnt. Hier muss erwähnt werden,
dass in letzter Zeit einzelne Autoren auf Grund ihrer Beobach¬
tungen zu dem Schluss gelangt sind, dass es bei einer Infection
mit einer Echinokokkencyste durchaus nicht nothwendig ist, dass
das Ei der Taenie erst den Magen durchwandert; ihrer Ansicht
nach ist der Magensaft für die Eier ebenso gefährlich wie für
Mikroorganismen und bewahrt vor einer Infection, indem er die
Eier der Taenie abtödtet. Die von diesen Autoren angeführten
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188
Dr. I. Titow,
Beobachtungen sind in der That äusserst interessant, lassen aber
sehr wohl eine Entgegnung zu. So beschreibt z. B. Meinert einen
Fall von Echinokokkencyste der Schilddrüse, die sich entwickelt
hatte, nachdem ein Hund eine am Halse befindliche Wunde beleckt
hatte. Der Autor ist der Ansicht, dass das durch die Zunge des
Hundes in die Wunde gelangte Ei hier seine Häute e.ingebüsst hat
und dass der Embryo, in ein Gefäss gelangt, die Schilddrüse er¬
reicht hat, wo er sich zu einer Cyste entwickelte. Dieser Fall
kann aber auch anders erklärt werden: der Echinokokkenembryo
ist auf dem gewöhnlichen Wege in die Schilddrüse gelangt und
hat sich hier, wie es ihm eigen ist, sehr langsam entwickelt; die
zufällige Wunde am Halse, die eine Entzündung und Hyper¬
ämie der umgebenden Gewebe bedingt hatte, hat nur die schnellere
Entwicklung der Cyste begünstigt, wie das ja z. B. beständig bei
Echinokokken, Tuberculose und anderen Erkrankungen der Knochen
beobachtet wird, bei denen einem Trauma eine bedeutende Rolle
zugeschrieben wird. Diese Frage unterliegt also noch einer weiteren
Bearbeitung und zwar hauptsächlich auf experimentellem Wege,
denn nur auf diesem Wege können derartige Entgegnungen wider¬
legt werden; bis dahin müssen wir an der beschriebenen, alten
Ansicht festhalten. Ausser der Verbreitung auf dem Wege des
Blutkreislaufes muss in einigen Fällen auch noch das Vorhanden¬
sein eines anderen Weges, auf dem der Echinokokkenembryo in
das eine oder das andere Organ gelangt, zugegeben werden, und
zwar ist dieses der Weg durch das Lymphgefässsystem. Das
Steckenbleiben des Embryo an einer bestimmten Stelle kann nur
durch mechanische Bedingungen erklärt werden und zwar durch
den Umfang des Embryo und die Enge des Gefässrohres, durch
das es hindurch soll. Es ist möglich, dass hierbei die Haken auch
eine gewisse Rolle spielen. Nach mehr oder minder langer Zeit
beginnt der Embryo sich zu entwickeln. Allmählich bildet sich
auf seiner Oberfläche eine geschichtete, cuticuläre Hülle, der sich
unmittelbar eine parenchymatöse Schicht anschliesst; im centralen
Theil entsteht eine Höhle, die mit einer besonderen Flüssigkeit
angefüllt ist. In welchem Theil des Organes der Embryo seine
Entwicklung beginnt, ist bisher noch nicht festgestellt, obgleich
Leuckart der Ansicht ist, dass der Embryo seine Entwicklung
stets im interstitiellen Bindegewebe beginnt. Wenn eine derartige
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Ueber Knochenechinokokkus.
189
Finne eine gewisse Grösse (ungefähr die einer Nuss) erreicht hat,
kann sie, wie man sagt, unfruchtbar bleiben, oder sie vermehrt
sich in Form einer ganzen Reihe von Köpfchen. Warum ein Theil
der Finnen unfruchtbar bleibt, ist bisher noch nicht genau fest¬
gestellt und es existirt nur eine Annahme, dass die Erkrankung
des Organs, in der sich die Finne befindet, die von einer Er¬
nährungsstörung desselben begleitet wird, die Unfruchtbarkeit der
Finne nach sich zieht. Was die Bildung der Köpfchen anbetrifft,
so giebt es zwei dominirende Ansichten, die von Leuckart und
Naunyn. Nach der Ansicht beider Autoren bilden sich die
Köpfchen nicht direct auf der Oberfläche der Embryohülle, sondern
in besonderen aus der letzteren hervorwachsenden Embryoblasen,
wobei sich nach Leuckart auf solch einer Embryoblase erst eine
hohle, nierenförmige Vorwölbung der Wände bildet, worauf sich
auf der Innenseite derselben die Saugnäpfe und Haken entwickeln;
späterhin wird dieses nierenförmige Gebilde in die Blase hinein¬
gestülpt und stülpt sich jetzt in die Blase vor, so dass eine neue
nierenförmige Vorwölbung, jetzt auf der Innenfläche der Blase,
entsteht, auf deren Oberfläche sich die Haken und Saugnäpfe be¬
finden.
Nach Naunyn bilden sich die Köpfchen aus, in das Innere
der Blase vordringenden, Vorwölbungen der Wand. Auf der Spitze
dieser bimförmigen Vorwölbung bilden sich dann späterhin die
Saugnäpfe und Haken.
Gleichzeitig mit der Bildung der Scolices geht in der Echino¬
kokkencyste die Bildung von Tochtercysten vor sich, die der
Muttercyste vollständig ähnlich sind. Was die Art der Entstehung
dieser Tochtercysten anbetrifft, so giebt es hierüber ebenfalls mehrere
verschiedene Ansichten; einige Autoren sind der Ansicht, dass es
Gebilde der Scolices sind; andere erblicken in ihnen abgeschnürto
Embryoblasen, andere endlich, unter ihnen hauptsächlich Leuckart,
beschreiben die Tochtercysten als Ansammlung kleiner Tröpfchen
zwischen den Schichten der Cuticula, die sich späterhin mit einer
eigenen Hülle umgeben, weiter wachsend entweder die äussere oder
innere Schicht der mütterlichen Cuticula durehreissen und entweder
auf die Aussen- oder Innenfläche der Muttercyste gelangen. Durch
letzteres wird auch die bestehende endo- und exogene Vermehrung
des Echinococcus erklärt.
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Dr. I. Titow,
Aus dem oben Erwähnten ist es ersichtlich, dass es in der
Entwickelungsgeschichte des Echinokokkenembryo noch sehr viele
dunkle, unaufgeklärte Punkte giebt, die ein reiches Material für
weitere Untersuchungen darbieten. Die Bearbeitung dieser Fragen
gehört nicht in den Rahmen meines gegenwärtigen Aufsatzes, dessen
Zweck es ist, eine Beschreibung des Wachsthums des Echinococcus
im Knochen und die Besonderheiten seines Baues in demselben zu
geben. Als Einleitung sehe ich mich veranlasst, einige Worte über
den histologischen Bau der Echinokokkenwände im Allgemeinen und
über die chemische Zusammensetzung der die Echinokokkencyste
füllenden Flüssigkeit zu sagen.
Bei seiner Entwickelung in dem einen oder anderen Organ
ruft der Echinococcus, als eingedrungener Fremdkörper wirkend,
eine Reaction von Seiten des localen Bindegewebes hervor, die sich
in der Bildung einer mehr oder weniger dicken Kapsel, aus
faserigem Bindegewebe mit einer geringen Anzahl junger, runder
Bindegewebszellen um die Cyste herum documentirt. In einigen
Fällen erreicht diese Kapsel eine Dicke von einigen Centimetern,
z. B. beim sogenannten alveolaren Echinococcus, in der Mehrzahl
der Fälle aber ist die Kapsel dünn und misst nicht mehr als einige
Millimeter. Dieser Bindegewebskapsel liegt zuweilen unmittelbar
eine mit ihr fest verlöthete cuticuläre Kapsel an, die dem Parasiten
angehört. Diese halbdurchsichtige, elastische, weissgraue Hülle ist
zuweilen 2 mm dick und besteht bei der mikroskopischen Unter¬
suchung aus übereinandergeschichteten, structurlosen Lagen, die
ihrer chemischen Zusammensetzung nach am meisten an Chitin
erinnern (Lücke). Auf welche Weise diese Hülle entsteht, ist uns
nicht sicher bekannt, man muss aber annehmen, dass sie das
Product einer besonderen Substanz ist, die vom Embryo ausge¬
schieden wird. Was die Flüssigkeit anbetrifft, die die Echino¬
kokkencyste anfüllt, so sind unsere Kenntnisse in dieser Beziehung
bedeutend vollständiger. Die durchsichtige, farblose oder leicht
gelblich gefärbte Flüssigkeit hat ein specifisches Gewicht von 1,005
bis 1,015 und besteht aus Wasser, Kochsalz, Phosphorsäure, Kalk-
und Magnesiasalzen, Leucin, Tyrosin, Inosit und Bernsteinsäure.
Eine so verschiedenartig zusammengesetzte Flüssigkeit kann
natürlich keine vollständig sichere Daten für die Diagnose eines
Echinococcus liefern, trotzdem weist Malenjuk darauf hin, dass
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Ueber Knochenechinokokkus.
191
man auf Grund einer Untersuchung der Flüssigkeit schliesslich
doch ihre Zugehörigkeit zu einem Echinokokken diagnosticiren
kann. Die Hauptdaten hierfür sind:
1. Das niedrige specifische Gewicht der Flüssigkeit spricht
für Echinococcus.
2. Das Fehlen von Eiweiss spricht ebenfalls für Echinococcus.
3. Die Gegenwart von Mucin und Paralbumin spricht gegen
Echinococcus.
4. Das Vorhandensein von Mineraltheilen in der Asche spricht
fast mit Sicherheit für Echinococcus und schliesslich
5. spricht die Gegenwart einer grösseren oder geringeren
Anzahl von Epithelzellen absolut gegen Echinococcus.
Diese Flüssigkeit ist für den Organismus nicht belanglos, die
Resorption dieser Flüssigkeit ergiebt Urticaria, Gelenkschmerzen,
erhöhte Temperatur, Synkope und führt sogar den Tod unter den
Erscheinungen einer allgemeinen Intoxication herbei. Augenschein¬
lich enthält diese Flüssigkeit irgend eine giftige Substanz, deren
Wesen uns noch unbekannt ist, obgleich bereits Versuche gemacht
worden sind, dieselbe festzustellen. So fanden Moursson und
Schlagdenhauffen in der Echinokokkenflüssigkeit eines Bockes
ein Ptomain, das ihrer Ansicht nach ein Abspaltungsproduct des
Eiweisses darstellt. Boinet schied aus der Echinokokkenflüssigkeit
ein besonderes Toxin aus, von dem geringe Dosen für Mäuse,
Kaninchen und Meerschweinchen tödlich waren. In letzter Zeit ist
auf die Eosinophilie bei Echinococcus hingewiesen worden. Auf
Grund des Falles von Prof. R. Wagner, über den er in der
Kiewer physico-medicinischen Gesellschaft Vortrag gehalten hat,
muss man annehmen, dass die Eosinophilie erst dann entsteht,
wenn der Organismus die Echinokokkcuflüssigkeit zu resorbiren
beginnt; es ist möglich, dass besondere Substanzen, die in dieser
Flüssigkeit enthalten sind, ein Reizmittel für diejenigen Organe
darstellen, die die Eosinophilie produciren.
Nach dieser flüchtigen Besprechung des Echinokokkus im All¬
gemeinen will ich jetzt zu der uns speciell interessirenden Frage
— dem Knochenechinokokkus übergehen.
Es sei hier bemerkt, dass der Echinokokkus, der in den ver¬
schiedensten Theilen des menschlichen Körpers vorgefunden werden
kann, dennoch gewisse Organe besonders bevorzugt und in denen
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192
Dr. I. Titow,
er am häufigsten vorkommt; zu diesen Organen gehört unter an¬
derem die Leber; in den übrigen Körpertheilen, so z. B. auch
in den Knochen, wird er verhältnissmässig selten vorgefunden.
Alexinsky, der 1950 Fälle von Echinokokkus aus der Literatur
gesammelt hat, fand nur in 37 Fällen den Echinokokkus im Knochen
localisirt; Gangolphe fand auf 3000 Echinokokkenfälle nur
52 Knochenechinokokken; in Procenten ausgedrückt betragen die
Knochenechinokokken nur 1,4 pCt. Auf die Frage, warum der
Echinokokkus in der Leber besonders häufig und in den Knochen
im Gegentheil selten vorgefunden wird, finden wir die Antwort
leicht, wenn wir berücksichtigen, auf welchem Wege der Echino¬
kokkus in den Organismus gelangt. Der Echinokokkenerabryo, der
nicht über 28 fi gross ist, gelangt, nachdem er die Darmwand
durchbohrt hat, in das System der Vena portae und wird von hier
aus vom Blutstrom in die Leber getragen, wo er auch grössten-
theils stecken bleibt, da die Breite der Lebercapillaren nicht 20 fi
übersteigt. In seltenen Fällen wird der Echinokokkenembryo vom
Blutstrom durch die Lebercapillaren hindurchgedrängt und gelangt
in die Vena cava superior, von wo er in den rechten Herzventrikel
und endlich in die Lunge gelangt. In der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle findet in Folge des engen Lumens der Lungencapillaren
(6—7 fj) die Reise des Echinokokkenembryo in den Lungen ihren
Abschluss und es sind ganz ausnahmsweise Bedingungen erforder¬
lich, damit der Embryo durch die Lungen hindurch den grossen
Kreislauf erreichen kann. Wenn man in Betracht zieht, dass das
Lymphgefässsystem und dessen Hauptgang — der Ductus tho-
racicus — nur in seltenen Fällen dem Echinokokkenembryo als
Reiseweg dient, so wird es verständlich, warum wir den Echino¬
coccus besonders häufig in der Leber und verhältnissmässig sehr
selten in anderen Organen vorfinden. Wenn der Echinokokkus auf
die eine oder andere Weise in den grossen Kreislauf gelangt ist,
kann er natürlich in jedem beliebigen Organ und unter anderem
auch in einem Knochen stecken bleiben. Der Grund des Stecken¬
bleibens des Echinokokkus im Knochen darf nicht in der Enge der
Lacunen, die ja verhältnissmässig breit sind, sondern in dem stark
verlangsamten Blutstrom, der ein Niedersinken der im Blut sus-
pendirten Partikel begünstigt, gesucht werden.
In der beigefügten Tabelle sind alle Fälle von Knochenechino-
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Ueber Knocheneohinokokkus.
193
kokkus, die in der mir zugänglichen Literatur beschrieben sind,
zusammengestellt. Es stellt sich heraus, dass die Zahl derselben
durchaus nicht gross ist, wenn man die beschriebene verhäitniss-
mässig grosse Anzahl von Echinokokken in anderen Körpertheilen
mit in Betracht zieht. Diese Seltenheit muss theilweise durch die
Schwierigkeit, mit der der Echinokokkenembryo in den grossen
Kreislauf gelangt und theilweise durch die Länge des Weges, den
er zurücklegen muss, ehe er bis zum Knochen gelangt, erklärt
werden. Aber auch die verschiedenen Knochen werden nicht
gleich oft befallen: so vertheilen sich die Knochenechinokokken¬
fälle nach Gangolphe’s und unserer Statistik folgendermaassen:
Benennung der Knochen
Gangolphe
Titow
Femur.
6
9
Tibia.
8
8
Humerus.
11
8
Phalangen.
1
1
Sehädelknochen.
4
7
Beckenknochen .
11
—
Schulterblatt.
1
—
Sternum.
1
—
Rippen .
1
—
Wirbelsäule.
8
—
Aus dieser Tabelle ist es ersichtlich, dass die Beckenknochen
und die langen Knochen (Femur, Tibia und Humerus) häufiger als
die anderen befallen werden. In den langen Knochen wird zu aller¬
erst gewöhnlich die Epiphyse befallen, und von hier aus verbreitet
sich die Affection weiterhin und ergreift gewöhnlich die ganze
Knochenmarkshöhle.
Von den flachen Knochen werden hauptsächlich diejenigen be¬
fallen, deren Sinus nach Gangolphe’s Ansicht „une sorte de
lac sanguin“ bilden. Die vorzugsweise Loealisation der Echino¬
kokken in den Epiphysen der langen Knochen und in den flachen
Knochen, die besondere Blutcirculationsbedingungen haben, muss,
wie schon bemerkt, durch eben diese Bedingungen erklärt werden,
die ein Sitzenbleiben des im Blut circulirenden Embryo begünstigen.
In Anbetracht dessen, dass in der Mehrzahl der bisher beschriebenen
Fälle von Knochenechinococcus auf ein Trauma hineewiesen wird,
das der Erkrankung vorangegangen ist, muss dieser Umstand be-
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 1. 13
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I)r. I. Titow,
194
räcksichtigt werden, und man muss sich vielleicht sogar mit der
Ansicht Döbbelin’s einverstanden erklären, die darin besteht, dass
der Bluterguss an der Stelle des Traumas die Aussaat des Echino¬
coccus begünstigt, andererseits muss aber auch bemerkt werden,
dass das Trauma und die dasselbe begleitenden entzündlichen Er¬
scheinungen nur das energischere Wachsthum des bereits hängen
gebliebenen Embryo begünstigen können. Sowohl in den flachen
als auch in den langen Knochen verbreitet sich der Echinococcus
von seiner Ansiedlungsstellc weiter und erfasst über kurz oder lang
den ganzen Knochen und dringt sogar in die Gelenke vor. Es ist
selbstverständlich, dass eine derartige Ausbreitung nur einem mehr-
kamraerigen Echinococcus möglich ist, der ja auch am häufigsten
in den Knochen beobachtet wird. Der Echinokokkus breitet sich
also von seiner Ansiedlungsstelle im Knochen nur auf die benach¬
barten Theile aus, und eine Ausbreitung auf entfernter liegende
Knochen und Organe ist bisher nicht beobachtet worden. In den
seltenen Fällen, in denen ein Echinococcus gleichzeitig in Knochen
und anderen Organen gefunden wurde, haben wir keinen Grund,
eine Uebertragung aus einem Organ in das andere anzunehmen
und können eher die selbstständige Entwicklung zweier in den
Organismus eingedrungener Embryonen zugeben. Was das makro¬
skopische Aussehen der afficirten Knochen anbetrifft, so sind die¬
selben grösstentheils verdickt, und zwar erscheinen sie so ausschliess¬
lich dadurch, dass ihre Knochenmarkshöhle erweitert ist, die
Knochenwände hingegen sind meist verdünnt und zwar zuweilen
in recht bedeutendem Maasse. Gangolphe sagt: „La surface ex-
terieure d’un os, qui contient dans son epaisseur des hydatides,
est absolument reguliere, lisse, depourvue de vegetations ostöo-
phytiques“. Derartig ist das makroskopische Bild des uncompli-
cirten Knochenechinokokkus; bei Complicationen hauptsächlich in
Form von Entzündungen der Knochenhaut ist die Knochenhaut zu¬
weilen sehr bedeutend verdickt. In der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle kommt es durch eine zufällige Ursache (Fall, Trauma)
zu einer Continuitätstrennung der Knochenwand, und die Echino¬
kokkenblasen treten in das umgebende Gewebe aus und besiedeln
dasselbe. Am häufigsten wird ein Knochenbruch an der afficirten
Stelle beobachtet. Weil bis zum Moment des Knochenbruches ob-
jective und subjective Anzeichen einer Knochenerkrankung fast
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Ueber Knochenechinokokkus.
195
vollständig fehlen, wird der Bruch meist für einen Zufall gehalten,
und erst die lange Zeit ausbleibende Heilung des Knochens und
die Erscheinungen der Dissemination des Echinokokkus lassen die
wahre Ursache des Bruches erkennen. Ein Querschnitt durch
solch einen Knochen zeigt, dass sowohl die Knochenmarkshöhle
als auch der spongiöse Theil des Knochens von einer grossen An¬
zahl verschieden grosser Blasen angefüllt sind, deren Wände dicht
aneinander stossen oder durch verdünnte Knochenlamellen von ein¬
ander geschieden werden, so dass sie gleichsam in Zellen liegen.
Dank der Zunahme des Umfanges der einzelnen Blasen und dank
des beständigen Drucks auf die trennenden Lamellen atrophiren
diese. Wenn die Atrophie der Knochenlamellen nicht gleichmässig
in ihrer Gesamratausdehnung vor sich geht, kann es Vorkommen,
dass die Scheidewand an der Basis atrophirt, frei zwischen zwei
Echinokokkenblasen liegt; bei einer grossen Anzahl solcher
Sequester gelingt es zuweilen Crepitation zu constatiren. Durch
eine gleiche Atrophie des Knochens kann bei einem nach einer
bestimmten Richtung gehenden Wachsthum der Echinokokkenblasen
die Entstehung von verhältnissmässig grossen Sequestern im
Knochenhohlraum erklärt werden. In vereinzelten Fällen wurde
in den Knochen eine sehr grosse Blase gefunden, die bis 2 1 / t Liter
Flüssigkeit enthielt und von theilweise abgesonderten und theil-
weise mit ihr communicirenden kleineren Blasen umgeben war.
Dieser Umstand brachte Virchow auf den Gedanken, die Ent¬
stehung der kleinen Blasen durch ein einfaches Durchdringen der
Wand der Mutterblase in die benachbarten Knochenzellen zu er¬
klären. Es ist möglich, dass ein Theil der Blasen in der That auf
diese Weise entstanden ist, die Mehrzahl ist aber auf endogenem
Wege entstanden, der sich fast ausschliesslich bei der Vermehrung
des Echinokokkus ira Knochen vorfindet. Auf Grund der bisher
gesammelten Beobachtungen muss gesagt werden, dass der Knochen¬
echinokokkus immer vielkammerig ist.
Was den Bau der Wände der Echinokokkenblasen im Knochen
anbetrifft, so haben dieselben bei kleinen jungen Blasen das ge¬
wöhnliche Aussehen: sie sind halbdurchsichtig, elastisch und charak¬
teristisch geschichtet. In den grossen, also auch älteren Blasen
ist die Wand fester, trüb, wenig elastisch und meist mit der
Knochenkapsel verwachsen. Besonders fest ist diese Verwachsung
13 *
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196
Dr. I. Titow,
bei entzündeten Echinokokken und wird hauptsächlich durch das
um die Hüllen der Blase entstandene Granulationsgewebe hervor¬
gerufen. Küster beschreibt mit folgenden Worten den Bau der
Blasenwand in seinem Falle: „Die Höhle war mit einer gelblichen,
glatten, nur an einzelnen Stellen mit flachen, warzigen Erhaben¬
heiten gezierten Membran ausgekleidet, welche der Umgebung fest
anhaftete. Es lag nahe, in derselben die Mutterblase des Echino¬
kokken zu vermuthen; indessen widersprach das Mikroskop dieser
Annahme, indem sie sich aus dichtgedrängten, rundlichen Granu¬
lationszellen zusammengesetzt zeigte, zweifellos also die durch die
Entzündung veränderte Bindegewebshülle der Blase darstellte.“
Im Knochengewebe werden bei Knochenechinokokkus gewöhn¬
lich keinerlei reactive Erscheinungen vorgefunden und alle Ver¬
änderungen tragen einen regressiven Charakter. Selbstverständlich
ändert sich das Bild in denjenigen Fällen bedeutend, in denen der
Echinokokkus vereitert, meistenteils wird dann Osteomyelitis vor-
gctäuscht und nur hier und da erhaltengebliebene Häute ge¬
statten es, eine richtige Diagnose zu stellen. Die Flüssigkeit des
Knochenechinokokkus bietet keinerlei Besonderheiten, es sei hier
nur darauf hingewiesen, dass in derselben nur selten Scolices und
Häkchen vorgefunden werden.
Das klinische Bild des Knochenechinokokkus bietet keine charak¬
teristischen Besonderheiten. Die zuweilen vorhandenen Schmerzen
sind gewöhnlich nicht deutlich ausgeprägt und treten meist in den
späteren Stadien der Krankheit auf. Die Vergrösserung des Um¬
fanges des Knochens, die immer sehr langsam vor sich geht (bis
zu 40 Jahren), kann an und für sich nicht als Anzeichen von
Echinococcus dienen. Nur Knochenbrüche (der langen Knochen),
die nach sehr imbedeutenden Insulten auftreten und bei den ge¬
wöhnlichen Behandlungsmethoden nicht heilen, berechtigen dazu
einen Knochenechinokokkus zu vermuthen.
Prof. Bergmann weist noch auf einige Anzeichen hin, die einen
Knochenechinokokkus vermuthen lassen, dieselben haben aber keinen
specifischen Charakter, sondern werden nur durch die Beziehungen des
afficirten Knochens zu den benachbarten Organen und Geweben bedingt.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen gehe ich zur Beschrei¬
bung des Falles über, der im Krankenhause Kaiser Nicolai II zu
Kiew beobachtet wurde.
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Ueber Knochenechinokokkus.
197
Am 10. Mai 1906 wandte sich das 19jährige Bauernmädchen E. A. aus
dem Tschernigower Gouvernement an das Krankenhaus um ärztliche Hilfe.
Patientin klagt über eine Geschwulst des rechten Schulterblattes. Aus der
Anamnese geht hervor, dass sie die Geschwulst vor ungefähr 6 Jahren zum
ersten Male bemerkt bat; von diesem Zeitpunkt an wurde die Geschwulst, wenn
auch langsam, so doch beständig grösser und erreichte allmählich ihren gegen¬
wärtigen Umfang. Schmerzen hat die Geschwulst nie verursacht und schmerzt
auch jetzt nicht, Patientin fühlt aber beständig eine gewisse Schwere im Schulter¬
gürtel, der rechte Arm ist schwach und beim Liegen muss Patientin beständig
die Geschwulst berücksichtigen.
Status praesens: Patientin ist befriedigend ernährt, normal gebaut,
nur etwas schlaff. Im Gebiet des rechten Schulterblattes und dessen Umgebung
ist eine ovalgeformte Gesohwulst, von der Grösse einer grossen Wassermelone,
sichtbar; die Haut über der Geschwulst ist verdünnt, blass, gut verschiebbar
und lässt einige erweiterte Hautvenen durchscheinen. Bei der Palpation er¬
weist sich die Geschwulst als vollständig glatt und knochenhart, ausser dem
oberen äusseren Winkel der Scapula lassen sich keine einzelnen Theile derselben
durchfühlen. Die Percussion über verschiedenen Geschw’ulstabschnitten ergiebt
Töne von verschiedener Höhe. Bei Versuchen die Geschwulst nach oben und
nach unten hin zu bewegen wird eine Dislocation des Schlüsselbeines und des
ganzen Schultergelenkes bemerkbar. Das Gebiet des M. deltoideus auf der
Schulter ist, in Folge der starken Atrophie des Muskels abgeflacht. Auch die
übrigen Muskeln des rechten Armes sind im Vergleich zu denen des linken
Armes etwas atrophirt. Die Kraft der rechten Hafld ist bedeutend geringer als
die der linken; Patientin kann ihren rechten Arm nicht bis zur Horizontallinie
erbeben. Von Seiten der inneren Organe sind keinerlei Abweichungen von der
Norm bemerkbar. Auf Grund dieser Daten musste angenommen werden, dass
es sich im gegebenen Falle höchstwahrscheinlich um eine gutartige Knochen¬
geschwulst handelt, die möglicherweise (Percussion) einen cystösen Charakter
hat und sich aus der rechten Scapula entwickelt bat, die fast vollständig in
die Geschwulst umgebildet worden ist. Da die Patientin sich mit einer Ope¬
ration einverstanden erklärte wurde nach den üblichen Vorbereitungen der
Kranken und des Operationsfeldes die Entfernung der Geschwulst vorgenommen.
Ueber dem mittleren Theil der Geschwulst wurde oben an der Basis derselben
beginnend bis unten zur Basis derselben hin ein spindelförmiger Hautlappen
mit spitz zulaufenden Enden Umschnitten, dessen breitester Theil etwa 12 cm
im Durchmesser hatte. Vom Rande dieses Hautlappens aus wurde dio Haut
mit dem Raspatorium bis zur Basis der Geschwulst abgeschoben, worauf mit
Hülfe der Säge die Geschwulst mitsammt dem Hautlappen abgetragen wurde.
Die Schnittfläche wurde möglichst nahe an der Basis der Geschwulst angelegt,
trotzdem blieb aber ein Theil der Geschwulst zurück und hatte ein äusserst
eigenthümliches Aussehen; das Ueberbleibsel der Geschwulst bestand aus ver¬
schieden grossen Höhlen (von Erbsen- bis Kinderfaustgrösse), die von der Echino¬
kokkenmembran ausgekleidet wurden. Dieser Theil der Geschwulst musste mit
einem breiten, flachen Meissei abgetragen werden und nach Entfernung aller
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198
Dr. I. Titow,
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verdächtigen Theile blieb eine feste Knochenplatte mit Resten von Knochen¬
haut und der obere äussere Rand des Schulterblattes zurück. Die Spina Scapu¬
lae und das Acromion waren gleichsam in der Geschwulst untergegangen und
waren mit derselben entfernt worden. Die Mm. supraspinatus und infra-
spinatus waren vollständig atrophirt. Der Heilungsverlauf war ein vollständig
glatter, die Wunde heilte per primam und am 28. 5., d. h. 12 Tage nach der
Operation verliess Patientin das Krankenhaus; die gestörte Function des rechten
Armes hatte sich nicht gebessert.
Die entfernte Geschwulst hatte eine unregelmässig halbkugeliormige Ge¬
stalt mit einem Durchmesser von ungefähr 22 cm. Die Knoohenkapsel ist in
ihrer ganzen Ausdehnung mit Periost bekleidet und ist in ihren verschiedenen
Theilen nicht gleich dick (Maximum 1 / 2 cm, Minimum von Schreibpapierdicke).
Die Geschwulst besteht aus einzelnen, theilweise selbstständigen, theilweise
miteinander communicirenden, runden Kammern von verschiedener Grösse;
die grösste von diesen Kammern, die im unteren Tbeil der Geschwulst gelegen
ist, hat ungefähr den Umfang von 2 Fäusten und sehr dünne Wände, besonders
in den am stärksten vorgewölbten Theilen. Die obere Hälfte der Geschwulst
wird von einer ganzen Reihe von Cysten eingenommen, die zwischen Wallnuss¬
grösse und Erbsengrösse (auch noch kleiner) schwanken. Die einzelnen
Kammern werden voneinander duroh Knochenwände getrennt, die stellenweise
sehr dünn sind, stellenweise aber auch 1 / 4 — 1 / 2 cm dick werden. Die Innen¬
fläche der Cysten ist mit einer Membran ausgekleidet, deren Charakter sich mit
der zunehmenden Grösse der Cysten ändert. Während die Membran in den
kleinen Cysten wasserhell und elastisch ist und sich, von der Knochenwand
abgelöst, in ein Röhrchen zusammenrollt, ist sie in den grösseren Cysten weniger
elastisch und bat endlich in der oben beschriebenen grossen Cyste einen fibrösen
Charakter und ist mit der Knochenwand fester verwachsen. Alle diese Cysten
waren mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt, die stellenweise an Gelöe
erinnert. In der grossen Cyste wurden in der Flüssigkeit einige Cysten von
Haselnussgrösse und viele Membranen gefunden, die an die in den kleinen
Cysten befindlichen Membranen erinnerten. Bei der mikroskopischen Unter¬
suchung erwiesen sich diese Membranen als geschichtete, kernlose Gebilde.
Alles Suchen nach Scolices und Häkchen blieb erfolglos, das Aussehen der
Blasen aber und der Charakter des Baues der Membranen liess keinen Zweifel
darüber aufkommen, dass wir es mit Echinokokkenblasen zu thun hatten. Was
die ursprüngliche Localisation unseres Echinokokken anbetrifft, so muss ange¬
nommen werden, dass es die Spina scapulae war; in dieser letzteren wachsend,
verwandelte der Echinococcus die Spina scapulae in ein halbkugelformiges Ge¬
bilde, das vielleicht in Folge seiner Schwere einen Theil des Schulterblattes
einnahm, wobei beide Periostfläcben, die sich anfangs nur berührten, späterhin
miteinander verwuchsen; nur auf diese Weise lässt es sich erklären, dass, nach
Entfernung der Geschwulst, noch Ueberreste von Periost gefunden wurden.
Für die mikroskopische Untersuchung wurden an verschiedenen
Stellen Stückchen entnommen und decalcinirt. Das mikroskopische Bild war
äusserst einfach; die Echinokokkenbläschen mit ihrer charakteristischen, ge-
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Ueber Knochenechinokokkus.
199
schichteten Membran lagen mitten im Knochengewebe, das nar stellenweise
den Baa eines compacten Knochens aufwies, grösstentheils zeigte sich ein recht
dickes Netzwerk von dünnen Bälkchen, die in verschiedener Richtung verliefen
und verschieden geformte, verschieden grosse Zellen bildeten; irgend welche
Zellelemente waren nicht sichtbar und nur an der Peripherie der grössten Blase
waren Anhäufungen von tbeilweise runden und theilweise länglichen Zellen von
Bindegewebscharakter bemerkbar, die der Echinokokkenmembran unmittelbar
anlagen. Die äussere Knochenkapsel der Geschwulst, die, wie oben erwähnt,
stellenweise papierdünn war, besteht aus recht dicken Fasern (im decalcinirten
Präparat), die zur Knochenoberfläcbe meist parallel liegen; stellenweise sind
zwischen diesen Fasern Höhlen sichtbar, die mit rothen Blutkörperchen ge¬
füllt sind. Knochenkörperchen waren nur selten aufzufinden und batten eine
längliche, gleichsam abgeflachte Form. Die Armuth des afflcirten Knochens an
Zellelementen wies auf das Fehlen eines neoplastischen Processes hin; die Ver¬
dünnung der Knochenbälkchen und der äusseren compacten Schicht muss ledig¬
lich durch eine Atrophie des Knochens erklärt werden, der da ja duroh das
Wacbsthum der einzelnen Echinococcusblasen und durch die Anzahl derselben
unter beständigem Druck gestanden hatte.
Unser Fall bestätigt also nochmals die Beobachtung Gan-
golphe’s, dass „les elcments constitutifs de l’os ne reagissent pas
en presence des hydatides“.
Literatur.
No.
Autor
M.
W.
1
1
Baudeloque .
1
l 7
i
—
Os sphenoideura
; Cit. nach Viertel. Langenbeck’s
Arch. f. klin. Chir. Bd. XVIII.
1 875.
Cit. nach Viertel.
2
Dupuytren .
junges
Mädchen ,
Os temporale
3
Keate .
i
18 :
Os frontis
Cit. nach Viertel.
i
Langenbeck .
—
1
do.
' Cit. nach Viertel.
5
Verdalle.
nicht
genannt
i
do.
1 Cit. nach Gangolphe, Mala-
dies infectueuses et parasi-
taires des os.
6
Anionin.
21 ,
- |
Os parietale
Presse medicale. 1904.
7
Stolz .
38
1
Knochen des Schädel¬
gewölbes
Strassburger med. Zeitg. 1904.
8
Cruveilhier.
nicht
genannt
Scapula
Dictionnaire en 30 vol. Cit.
nach Gangolphe.
9
Virchow.
do. 1
Sternum
Berliner klin. Wochenschr. 1883.
10
H. Garaud et R. Mignot
54
- 1
7. Costa
i Revue de Chirurgie. Vol. 23.
11
Talini.
—
- ,
5. Costa
! Cit. nach Gangolphe.
12
Nadejdine .
30
— 1
Mandibula
Russky Chirurg. Archive. 1895.
Traite d’anatomie pathol. göne-
] rale. 1849.
1
13
Cruveilhier .
!
Vertebrae dorsales
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300
Dr. I. Titow,
No.
Autor
M.
W.
14
Guy’s Hospital ....
17
—
Vertebrae lumbales
Cit. nach Reczey. Deutscl
Ztchr. f. Chir. Bd. 70.
15
Chaussier.
—
26
do.
Gurlt, Path. Aanat. der G
lenkkrankheiten. 1853.
16
Ollivier.
—
—
Vertebrae dorsales
De la raoelle epiniere. 1824.
17
Trendelenburg ....
30
—
Ossa pelvis
Cit. nach Hahn. Berliner kli
Wochenschr. 1884.
18
Stanley .
—
54
Os ilium et sacrum
Gurlt, Path. Anat. der G
lenkkrankheiten.
19
Fricke.
60
—
Os innominatum
Cit. nach Viertel.
20
Rokitansky.
42
Os innominatum et sacr.
Handbuchjd. path. Anat. Bd. 1
21
Gurlt.
—
—
Os ilium
Gurlt, Path. Anat. der G
lenkkrankheiten.
22
Viertel .
25
Os innominatum et sacr.
Langenbeck’s Arch. f. klin. Chi
1875. Bd. XVIII.
23
Reczev .
—
25
Os ilium et sacr.
Deutsche Zeitschr. f. Chir. 70
24
Baradouline.
—
35
do.
Medicinskoie obosreniie, 1904,
25
Gonteharow.
40
do.
Medicinskoie obosreniie. 1902
26
Bardeleben.
—
23
Os ilium
Berliner klin. Wochenschr. ISS
27
Hermann .
—
—
Ossa pelvis
Lancet. 1896. No. 21.
28
Küppers.
—
do.
Inaug.-Diss. Greifswald. 1897
29
Denonvilliers ....
47
Os pubis
Cit. nach Döbbelin.
30
P6ban .
27
—
Os ilium
Bull, de la soc. anat. 1860.
31
Archangelskoia . . .
—
33
Os innominatum
Chirurgitcheskaia Letopis. 189
32
Tzander .
50
—
Os ilium
Chirurgitcheskiy Vcstnik. 189
33
Döbbelin.
35
—
do.
Dtsch. Zeitschr. f. Chir. No. 4
34
Brentano .
61
—
Ossa pelvis
Ref. Centralbl. f. Chir. 1899.
35
Gräupner .
—
—
do.
Rcf. Centralbl. f. Gynäk.
36
Wilms.
20
—
do.
Beiträge z. klin. Chir. Bd. 2
37
St. Georges Hosp. Mus..
59
—
Os ilium
Cit. nach Döbbelin.
38
Fischer.
—
—
Ossa pelvis
Cit. nach Viertel.
39
Conti.
—
—
do.
i
Gazz. degli ospedali delle cli
1897.
40
Thomas.
—
33
Os ilium et sacrum
Cit. nach Döbbelin.
41
Mazet.
—
—
Os sacrum
Cit. nach Döbbelin.
42
Duplay et Morat . . .
—
63
do.
Arch. generales de m6d. 1873
|
43
Gangolphe et Palaillon
—
33
do.
44
Wood.
—
45
do.
> Cit. nach Döbbelin.
45
Froriep.
—
—
Os ilium
1
46
Trendelenburg ....
20
—
Ossa pelvis, sacrum
Schmidt’s Jahrbücher. 1897.
47
Guy’s Hosp. Mus. . . .
38
—
do.
Cit. nach Döbbelin.
48
Schwartz .
40
—
Os ilium, femur
Arch. generales de med. 188
49
Schnitzler .
i 28
Ossa pelvis et femur
Internat, klin. Rundschau. 189
50
Pericie u. Lalic . . .
i
do.
Wiener med. Presse. 1897.
51
Abee .
42
—
do.
Virchow’s Arch. Bd. 157.
52
Sklifosowsky ....
26,
Femur
Zusammenfassung klin. Arbeite
1884-1890.
53
Kolli .
—
42
do.
Vratchebnii sapiski. 1895.
54
Cholmelev .
—
—
do.
Brit. med. journ. 1904.
55
Kanzow-Virchow . . .
35
—
do.
Virchow’s Arch. Bd. 79.
56
Lesser .
80
do.
Berliner klin. Wochenschr. 188
57
Rame et Escaraguel . .
38
—
do.
\ Cit. nach Viertel.
58
Guy’s Ho sp. Mus. . . .
! - ,
—
do.
59
Boyer et Roussin . . .
- 1
i 1
do.
i
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Ueber Knochenechinokokkus.
201
No.
Autor
M.
i w -
60
Hahn.
_
52
Femur et tihia
61
Webster.
—
—
Tibia
62
Hunter's Mus.
—
do.
63
{
Coulson.
_
25
do.
64
CooperAstley . . . .
—
do.
65
Cruveilhier.
—
—
do.
66
Sichert .
—
do.
67
Wickham.
—
30 J
do.
68
Bergmann.
32
_
do.
69
K üs ter . . ‘.|
32
— ;
Humerus
70
Deraarquay .
53
l —
do.
71
Dupuytren.
23
—
do.
72
Sevestre.
21
| .— 1
1 do.
73
Dickenson .
—
27
do.
74
St. Thomas Hospit. .
—
| -
do.
75
G uy’s Hospital . . . .
—
_
do.
76
Müller.
—
1
do.
77
C h a r v o t.
24
—
Phalanx indicis
7S
Titow.
i
I ly
Scapula
: Berliner klin. Wochenschr. 1884.
I Cit. nach Ergebnisse der path.
| Anat. 1907.
Nach Davaine, Traite des en-
tozoaires. 1860.
1 Cit. nach Ergebnisse der path.
/ Anat. 1900/1901.
Traite d’anatom. path. generale.
1849.
Virchow- Hirsch, Jahresbericht.
- 1868.
Lond. med. and phys. journal.
Vol. 57.
Berliner klin. Wochenschr. 1887.
Berliner klin. Wochenschr. 1870.
(?az. des höpit. 1899.
J Cit. nach Viertel.
\ Cit. nach Reczev.
Beiträge zur klin. Chir. Bd. 2.
\ Cit. nach Viertel.
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Druck von L. Schumacher in lierliii N.24.
•
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X.
Beitrag zur Rückenmarkschirurgie. 1 )
Von
Otto Uildebrand (Berlin).
(Hierzu Tafel IV—VI.)
M. II.! Die Rückenmark.schirurgie ist meinem lüindruck nach
hinter der Entwicklung anderer Zweige der Chirurgie etwas zurück¬
geblieben. Der Zweck meines Vortrages ist, durch Discussion und
Anregung einiger Fragen, wenn sie auch Allen bekannt sind, für
ein etwas activeres Vorgehen zu plaidiren.
Als erste Frage möchte ich die aufwerfen: Sollen wir
bei Verletzungen der Wirbelsäule mit Schädigung des Rücken
marks operiren? Können wir durch die Operation etwas nützen,
können wir dadurch schaden? Wenn man sich überlegt, was
als Folge einer Wirbelverletzung am Rückenmark auftreten kann,
so ist es folgendes: es kann eine Einengung des Canals zustande
kommen und dadurch ein Druck auf das Rückenmark; es können
Verletzungen des Rückenmarks und seiner Häute selbst er¬
zeugt werden, schliesslich Blutungen in und um die Iläute. Ich
möchte hervorheben, dass ich in den Fällen, die ich operirt habe,
eine ziemliche Anzahl von solchen Blutungen in die Iläute beob¬
achtet habe, 4 Fälle von extraduralem Bluterguss, davon 3 bei
Halswirbel Verletzungen, eine bei Brustwirbelverletzung. Ich betone
das, weil von manchen Seiten bestritten wird, dass das häufiger
vorkäme. Es sind oft Blutungen aus Venen, aber auch aus Arterien,
die in der Hauptmasse an der Knickungsstelle sitzen und meist
nicht sehr erheblichen Umfang erreichen. Also Blutergüsse in
1) Zum T heil vorbei ragen auf dem Deutschen < 'liinirgencongress
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2.
14
1010.
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Dr. 0. Hildebrand,
•204
die Häute, extra- und intradurale, und Verletzungen des
Rückenmarks selbst, Contusionen, die entweder total sein
können oder partiell, je nach der Kraft und der Richtung des
Traumas und der Dislocation, und schliesslich noch ein Vorgang,
der nicht so selten ist, die sträng- und röhrenförmige Blutung im
Rückenmark selbst, die Hämatomyelie, die man manchmal von
aussen gar nicht wahrnimmt und erst bemerkt, wenn man das
Rückenmark aufgeschnitten sieht, die besonders durch Zerrung bei
stärkster Hyperflexion zu Stande kommt und deshalb auch an der
Halswirbelsäule der Erwachsenen, bei Distorsionen am häufigsten
beobachtet wird, ohne dass erhebliche Quetschungen des Marks sie
compliciren müssen. Bei der Dehnung, die das Rückenmark in
der Längsachse bei Knickungen und Distorsionen erfährt, kann es
natürlich zu intramedullären Gewebszerreissungen kommen.
Eine functionell den klinischen Symptomen und auch dem
mikroskopischen Bilde nach totale Querschnittsläsion ist aber selbst
nach Eröffnung des Duralsackes oft nicht erkennbar. Ja selbst
auf Querschnitten ist wenig zu sehen. Manchmal eine umschriebene
Veränderung des Umfanges, die sich noch durch eine starke Ge-
fässinjectiou und bläuliche Verfärbung äussert. Die Ausdehnung
der Qucrläsion ist verschieden gross, ist aber naturgemäss in Folge
der scharf umschriebenen Localisation der Wirbelfractur meist auf
2, höchstens 3 Segmente beschränkt, wenn auch zu der directen
Zerquetschung des Marks noch eine ischämische Nekrose in Folge
von Circulationsstörungen hinzukommt. Andererseits sagen Wagner
und Stolpe wohl mit Recht: Würde man jede Rückenraarksnarbe
nach totaler Quetschung, die für das blosse Auge als ein fibröses
Gewebe erscheint, sorgfältig mikroskopiren, so würde man
überrascht sein, wie oft man noch wohlerhaltene Nervenfasern in
demselben findet. Bei den partiellen Läsionen des Rückenmarks
ist es von grosser Bedeutung, dass Quetschungen eines Theiles
des Markumfanges bestehen können, ohne erhebliche Continuitäts-
trennung der langen Bahnen, ohne weitgehende Zerstörung der
Ganglienzellen und andererseits umschriebene Continuitätstrenn-
ungen der langen Bahnen mit gleichzeitiger Zerstörung der Ganglien¬
zellen.
Sie sehen, dass diese Dinge in ihrer Bedeutung sehr ver¬
schieden sind, und deshalb ist natürlich für den Practiker die Be-
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Beitrag zur Rückenmarkschirurgie.
205
antwortung der Frage voll grosser Bedeutung: Können wir die ein¬
zelnen Zustände diagnosticiren, und können wir aus der Diagnose
etwas für den handelnden Chirurgen entnehmen? Nun ist es eine
bekannte Thatsaehe, dass bei vollständiger Querläsion die Er-
>eheinungen ungefähr folgende sind: Es besteht eine Congruenz
zwischen der motorischen und der sensiblen Störung und für ge¬
wöhnlich, bis auf wenige Ausnahmen, auch eine Symmetrie dieser
Erscheinungen. Es kommt ferner in Betracht, dass gewöhnlich
bei der Querläsion eine schlaffe Lähmung vorhanden ist und jeg¬
liche Reizsymptome im Lähmungsbezirk fehlen. Dann weiter: es
fehlen die Patellarreflexe vollständig, und in den meisten
Fällen besteht auch Blasen- und Mastdarmlähmung. Und zwar
erlöschen bei wirklichen Totalquerschnittsunterbrechungen diePatcllar-
rellexc beiderseits sofort und bleiben erloschen. Die Lähmungs¬
erscheinungen gehen nicht zurück.
Nun, dem gegenüber sind die Erscheinungen bei den parti¬
ellen Rückenmarkscontusionen etwas anderes. Erstens In-
vongruenz der motorischen und sensiblen Erscheinungen, es über¬
wiegen gewöhnlich die motorischen Störungen. Die Theil-
nahme der verschiedenen Empfindungsqualitäten ist eine ungleiche.
Ferner Asymmetrie: sie decken sich nicht vollständig in der Aus¬
dehnung auf beiden Seiten. Weiter beobachtet man im Gegensatz
zur totalen Querschnittsläsion Reizerscheinungen sowohl im
motorischen als im sensiblen Gebiet. Die Patellarreflexe sind
mit wenigen Ausnahmen erhalten, meistens gesteigert, fehlen nie
dauernd, Blase und Mastdarm können ebenso gut in ihrer Func¬
tion gestört sein wie in den anderen Fällen. Es erfolgt eine voll¬
ständige oder theilweisc Wiederherstellung der Functionen in der
ersten oder zweiten Woche.
Die meningealen Blutergüsse bedingen allein keine irrepa¬
rablen Läsionen, sie machen nur Erscheinungen des Druckes,
die allmählich in Folge der Resorption des Ergusses nachlassen,
während die Erscheinungen der Hämatomyelie abhängig sind
einerseits von der gleichzeitigen Gewebszerreissung im Mark und
andererseits von dem Druck des Blutergusses und der Ischämie der
Gewebe.
Nun aber ist es von Bedeutung, zu berücksichtigen, dass diese
Dinge sich keineswegs im Anfang immer gleich unterscheiden
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206
Dr. 0. Hildebrand,
lassen. Wir haben manchmal im Anfang die Erscheinungen einer
totalen Läsion, und doch ist es keine totale, sondern nur eine
partielle, zu der noch verschiedene Faktoren, z. B. die Blutung,
hinzukommen, um das Bild in den ersten Tagen als das einer
totalen Läsion erscheinen zu lassen, und andererseits kommt die
complete Markverletzung nicht immer als solche zu Stande, sondern
wird erst im Laufe der nächsten Zeit dazu, in Folge des weiter¬
wirkenden Druckes und der dadurch bedingten Ischämie und
Stauung.
Wenn das nun so ist, so ist, trotzdem das Rückenmark eine
Raumbeschränkung des Wirbelcanals bis zu einem gewissen Grade
zu vertragen vermag, doch die Frage berechtigt, ob wir durch Weg¬
räumung der schädigenden Momente, wie Knochen oder Blut, die
auf das Mark drücken, nicht etwas nützen können. Nun sagt man
gewöhnlich, ist eine Bogcnverletzung da, so spricht das für par¬
tielle Rückenmarkscontusion, und erklärt die Operation für indicirt,
während man bei den Wirbelkörperverletzungen sehr zurückhaltend
ist, besonders weil man meint, die Operation könne nichts nützen.
Aber können wir denn immer die Bogenverletzungen von den
Körperverletzungen unterscheiden und schafft die Laminektomie
nicht die Möglichkeit des Ausweichens des gedrückten Markes nach
hinten? Andererseits steht natürlich dem gegenüber die Frage:
Können wir durch einen operativen Eingriff etwas schaden? Es
wird uns leicht von Neurologen entgegen gehalten, dass die Blutung,
z. B. die Hämatomyelie, die vorhanden ist, durch den Eingriff ver¬
stärkt werden könnte. Nun, wenn man vorsichtig operirt, wenn
man nicht zu viel hämmert, glaube ich nicht, dass eine wesent¬
liche Vermehrung der Blutung eintreten wird. Etwas anderes aber
ist von Bedeutung — und das muss man sich genau überlegen —,
dass, wenn man, z. B. bei Halswirbelverletzungen, die Lamin¬
ektomie macht und dabei Dornfortsätze und Bögen fortnimmt,
ein grosser Verlust an Festigkeit und Halt eintritt. Der Wirbel¬
körper ist zerstört und der Bogen wird auch noch weggenommen.
Das ist bei der Halswirbelsäule von entscheidendem Einfluss.
Trotzdem bin ich für den operativen Eingriff, weil ja doch die
meisten dieser Patienten sonst verloren sind, wenn sie so schwere
Erscheinungen haben. Sie gehen zu Grunde an den Lähmungen
von Blase und Mastdarm. Die Blasenlähmung führt zu auf-
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Beitrag zur Rückenmarkschirurgie.
207
steigender Infektion, sie bekommen eine eitrige Pyelonephritis und
sterben dann. Nur selten kommt es zu einer eitrigen Entzün¬
dung des Rückenmarks und seiner Häute als Metastase von einem
Decubitus.
Nun ist ja gewiss schon öfter der operative Standpunkt ver¬
treten worden, aber man hat gesagt, man soll nicht gleich ope-
riren, sondern abw’arten; da manchmal eine theilweise Wiederher¬
stellung der Functionen in der ersten und zweiten Woche erfolgt,
so soll man 3 Wochen warten. Ja, da muss ich wiederum fragen:
ist es nicht möglich, dass in den 3 Wochen, trotz all unseres
orthopädischen Tuns, die Schädigungen weiter einwirken und die
Erscheinungen sich steigern? Ich glaube daher, dass wir uns nicht
abhalten lassen sollen, bald, d. h. in den ersten Tagen einzugreifen,
die Laminektoraie zu machen und so zu einem besseren Resultat
zu kommen. Freilich, wenn ich Ihnen meine Fälle berichte, so
werden Sie sagen, dass sie eigentlich nicht gerade sehr be¬
weisend sind.
Ich habe 4 Halswirbelverletzungen operirt. Davon halten 2
die Erscheinungen einer totalen Querläsion, 2 waren partielle Ver¬
letzungen. 3 wurden einen Tag nach dem Unfall operirt und
starben bald danach an Lungenödem, Embolie der Lungenarteric etc.
Die eine partielle, 16 Tage nach dem Unfall operirt, wurde ge¬
bessert, starb aber 4 Monate später.
Ich habe weiter 5 Brustwirbelverletzungen operirt. 4 scheinbar
totale Querläsionen, eine partielle. Die Fälle wurden erst 2 bis
3 l / 2 Wochen nach dem Unfall operirt. Bei dreien trat unwesentliche
Besserung ein, sie starben etwa ein Jahr später. Bei einer, wie
es schien, totalen Querläsion schwand die Blasen- und
Mastdarmlähmung vollständig, während die Motilität der
Beine nur wenig gebessert wurde. Man fand bei der Lamin-
ektomie das Rückenmark durch eine feste Narbe in seinem Um¬
fange sehr reducirt. Es sind jetzt 2 l / 2 Jahre her, der Mann ist
am Leben geblieben, weil die Blasenlähmung zurückging, während
die motorische Lähmung der Beine auch heutigentags noch fast in
vollem Umfang besteht. Aber er befindet sich ganz wohl und hat
mir einen sehr zufriedenen Brief geschrieben. Die partielle Brust¬
wirbelverletzung wurde zwar gebessert, Pat. starb aber 3 1 /« Monat
später an der Blasenlähmung.
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Dr. 0. Hildebrand,
Dann eine Verletzung der Lendenwirbelsäule. Da fanden sieb
bei der Operation ausgedehnte Verletzungen der Wurzeln. Die
Motilität besserte sich, die Blasenlähraung aber blieb bestehen, in
Folge dessen starb der Mann nach einem Jahr.
1. K., 33 J. 28. 3. 08. Sturz 4 Stufen hoch herab, mit Gesäss und
Hinterkopf aufgeschlagen. — Sitz der Verletzung: Untere Halswirbel. Fractur.
— Motilität: Vollständige Lähmung der Beine. Parese der Arme, links stärker
als rechts. Blasenlähmung. — Sensibilität: Anästhesie und Analgesie von den
Brustwarzen abwärts. — Reflexe erloschen. — Befund bei der Operation: Proc.
spin. des 7. Halsw. gebrochen. Lig. interspinosum zerrissen. Bluterguss nach
oben zu extradural, sonst nichts. — Verlauf: 30. 3. gest. unter dem Bilde der
Athmungslähmung. Fractur des 4. Halsw. Blutung im Rückenmark, degener.
Erweichung des Rückenmarks. Lungenödem.
2. S., 27 J. 18.10.09 Sturz von der Leiter (4 m) rückwärts, mit Rücken
und Schultern aufgeschlagen, 14. 10. — Sitz der Verletzung: Untere Halsw.
Fractur (sicher nur partielle Markläsion). — Motilität: Paraplegie der unteren
Extremitäten. Bewegungen im Zehen- und Fussgelenk etwas möglich. Bewe¬
gungen der Arme nur im Schulter- und Ellenbogengelenk. Fingerbewegungen un¬
möglich. — Sensibilität: Berührungen überall empfunden, spitz und
stampf links bis zur Brustwarze nicht unterschieden, desgl. nicht auf beiden
Armen. Analgesie am linken Vorderarm und Hand. Hypalgesie am linken
Abdomen. — Reflexe: Babinski 0, Fussclonus 0, Cremaster sehr schwach,
Bauch 0, Patellar- und Achillessehnen stark gesteigert. — Sonstige klin.
Erscheinungen: Priapismus. Athmung sehr langsam. Temperatur sehr er¬
höht. — Befund bei der Operation 18. 10.: 4. Halsw. bis 2. Dorsalw. 6., 7.
Bogen entfernt. Cerebrospinal fl üssigkeit unter hohem Druck. — Verlauf:
19. 10. gest. Lockerung der Bänder der ganzen Halswirbelsäule. Querer Er¬
weichungsherd im Rückenmark, entsprechend dem 6. Halsw. von 2 cm Aus¬
dehnung. Viel Spinalflüssigkeit. Blutung im Rückenmarkcanal bis. zum 4.
Brustwirbel.
3. S., 68 J. 22. 12. 09. 21. 12. von einem Baum gestürzt, bewusstlos.
— Sitz der Verletzung: Untere Halsw. bis 1. Brustw. Fractur. Querläsion
des Rückenmarks. — Motilität: Lähmung der unteren Extremitäten. Lähmung
der oberen Extremitäten, ausgenommen Triceps. Lähmung der Blase und des
Mastdarms. Lähmung der Athemmusculatur, ausgenommen Zwerchfell. —-
Sensibilität: Wegen des Zustandes des Patienten nicht zu prüfen. — Patellar-
reflexe fehlen. — Sonstige klinische Erscheinungen: Temp. 38,5°. Puls 98.
Schlaffer Priapismus. Muss katheterisirt werden. — Befund bei der Opera¬
tion: 6. Halsw. bis 1. Dorsalw. Dura stark gespannt. Kein Bluterguss.
Viel Liquor. Am Rüokenmark nichts Abnormes zu sehen. — Verlauf: 24. 12.
gest. Zerreissung der Bandscheibe 7. Halsw. und 1. Brustw. Embolie der
Lungenarterie rechts. Schlaffes Herz. Pyloruscarcinom.
4. B., 22 J. 25. 9. 02. 14. 9. Sturz beim Turnen angeblich auf die
rechte Schulter. — Sitz der Verletzung: Dorn des 7. Halsw. sehr prominent.
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Beitrag zur Kückenmarkschirurgie.
209
Zwischen 7. Halsw. und 1. Brustw. sehr grosse Distanz im Küntgenbild.
7. Halsw. lnxirt? — Motilität: Schlaffe Lähmung der unteren Extremitäten.
Linker Arm gut, rechter Arm etwas weniger Kraft. Keine spontane Urinent¬
leerung. Schwere Verstopfung. — Sensibilität: Leichte Berührung mit
Watte überall sofort wahrgenommen und exact localisirt. Thermosensibilität
und Schmerzsensibilität absolut fehlend bis zur 4. Rippe. Sensibilität an den
Armen normal. — Reflexe der unteren Extremitäten 0. Gremaster 0. Abdo¬
minal 0. — Sonstige klinische Erscheinungen: Abdomen aufgetrieben. Temp.
40,6 (25. 9.). — Befund bei der Operation 30. 9.: 4.-7. Halsw. und
1. Brustw. Bogen weggenommen. Extradurales llaematom. Luxation zwischen
7. Halsw. und 1. Brustw. Rückenmark frei und scheinbar normal. — Verlauf:
Reflexe kommen wieder. Contraction des Quadriceps. Etwas Adduction und
Flexion am Knie. Hohe Temperatur. Wunde geheilt. 26. 1. 03 gest. Erwei¬
chung des Rückenmarks.
5. M., 38 J. 3. 2. 04. Vor 16 Tagen 8 m hoch vom Dach herunter auf
den Rücken gefallen.— Sitz der Verletzung: 5. u.6.Brustw.— Motilität: Beine
schlaff gelähmt. Blase und Mastdarm gelähmt. Bauchmuskeln gut.
— Sensibilität: Anästhesie bis zum Rippenbogen und Analgesie. — Patellar-,
Cremaster-, Bauchdeckenreflexe fehlen. — Sonstige klinische Erscheinungen:
Bauch aufgetrieben. Urin trübe, inßcirt. Decubitus. — Befund bei der Ope¬
ration 5. 2.: 4., 5. Dorn gebrochen. 5. Bogen Sprung. 6. Bogen gebrochen.
Dura blutig infiltrirt. Rückenmark ohne Besonderheit. Keine Compression. -
Verlauf: Parästhesien. Wärmegefühl. Athemnoth bei Anstrengungen. Wunde
geheilt. 1. 3. entlassen ohne wesentliche Besserung.
6. R., 29 J. 14. 6. 01. 2. 6. (vor 12 Tagen) Sturz mehrere Meter hoch
herab. Lähmung gleich. — Sitz der Verletzung: 4.-6. Brustw. Fractur.
Starke Lordose in der Lumbalgegend. - Motilität: Schlaffe Lähmung der
Beine. Untere Bauchmuskeln gelähmt, obere Partie der Recti erhalten. Läh¬
mung von Blase lind Mastdarm. — Sensibilität: Vollständige An¬
ästhesie bis zum Rippenbogen. Scharfe Grenze. — Patcllarreflex fehlt.
Cremasterreflex fehlt. — Sonstige klinische Erscheinungen: Eitrige Cystitis.
Decubitus. — Befund bei der Operation 22. 6. (20 Tage später): 4.-9.
Dorsalw. Dura normal. Rückenmark normal. Naht der Dura. — Verlauf:
Glatte Heilung der Wunde. Keine Aenderung. 25. 9. nach Hause.
7. R., 50 J. (progr. Paralyse). 23. 7. 0(8. Vor mehreren Tagen aus dem
Fenster gestürzt. — Sitz der Verletzung: Untere Brustw. — Motilität: Voll¬
ständige Lähmung beider Beine. Lähmung von Blase und Mast¬
darm. Lähmung des Detrusor. — Patellarreflex fehlt. - Sonstige klinische
Erscheinungen: Stark eitriger Urin (Katheter). Befund bei der Operation
23. 7.: Bogen des 9. und 10. Brustw. zertrümmert. Markläsion. Abknickuiiü
des Rückenmarks. — Verlauf: 29. 7. gest.
8. M., 37 J. 3. 10. 07. Vor 3 l / 2 Wochen von einem Neubau ;> l / 2 m
hoch gefallen, mit der Wirbelsäule auf einen Hammer. Sitz der Verletzung:
Gibbus. 12. Brustw. — Motilität: Vollständige Lähmung beider Beine.
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210
Dr. 0. Hildebrand,
Incontinenz von Blase und Mastdarm. — Sensibilität: Totale An¬
ästhesie der unteren Extremitäten rechts bis zur Leistenbeuge, links bis zwei
Finger unter dem Lig. Poup. — Patellar-, Achillessehnenreflexe 0.
Bauchdeckenreflex gesteigert. — Sonstige klinische Erscheinungen: Gibbus
sehr schmerzhaft. Decubitus. Röntgen. Compression des 12. Brustw. —
Befund bei der Operation 10. 10.: Bogen des 12. Brustw. Harte Stelle im
Rückenmark, dieses bis auf einen dünuen Strang abgequetscht durch einen
Knochenvorsprung. — Verlauf: 26. 12. 09 Beine gelähmt bis auf kleine Be¬
wegungen. Blase und Mastdarm in Ordnung.
9. H., 28 J. 1. 2. 04. Eine 2 m hohe Wand (Mauer) stürzte auf ihn
nnd drückte ihn langsam zu Boden. Sofort konnte er die Beine nicht mehr
bewegen. Heftige Schmerzen. — Sitz der Verletzung: 12. Brustw. Sehr druck¬
empfindlich. — Motilität: Beine schlaffgelähmt, nur die M. sartorii
nicht. Bauchmusculatur gut. Urin kann nicht gelassen werden. — Sensi¬
bilität: Bis oberhalb der Kniee fast weg. Von Zehen bis über Fussgelenk voll¬
ständig, von da bis über die Kniee spitz und stumpf, warm und kalt nicht
unterschieden. Um die Genitalien gestört. — Patellarreflex 0. Bauoh-
deckenreflex undeutlich. Cremasterreflex angedeutet. — Befund bei der Ope¬
ration 3. 2.: 11., 12. Brustw. und 1. Lendenw. 12. Brustw. steht nach hinten
vor. Viel Liquor. — Verlauf: Etwas Besserung der Motilität. Parästhesien.
Schmerzen. Blase etwas besser. Wunde geheilt. Decubitus. Allmähliches
Erlöschen. 15. 5. gest.
10. M., 21 J. 10. 12. 07. Sturz 1 Stock hoch herunter mit dem Rücken
auf Asphalt. — Sitz der Verletzung: 2. Lendenw. Fractur des Wirbelbogens.
— Motilität: Vollständige Lähmung der Beine. M. detrusor vesic. ge¬
lähmt (Katheter). Incontinentia alvi. — Sensibilität: Ungestört. Auf der
Hinterseite des Gesässes Differenz zwischen spitz und stumpf links öfters ver¬
wechselt, rechts oft kalt und warm verwechselt. — Reflexe: Erloschen 0.
Patellar- rechts 0, links schwach. Achillessehnen- 0. *— Sonstige klinische
Erscheinungen: Muss katheterisirt werden. — Befund bei der Operation: 11.12.
Körper und Bogen des 1. Lendenw. 8 Caudastränge zum Theil gequetscht,
zum Theil zerrissen. — Verlauf: Bewegt beide Füsse und die Kniee etwas.
Blasenlähmung bleibt. Eitrige Cystitis. Sensibilität unverändert. Decubitus
besser. 11. 12. 08 gest. Eitrige Pyelonephritis, Pneumonie.
Ich komme zu meiner zweiten Frage: Sollen wir, und wann
sollen wir bei spondylitischen Lähmungen, resp. Riickenmarks-
erscheinungeu operiren?
Der Verlauf der spondylitischen Rückenmarksstörungen ist
gewöhnlich der: es tritt zuerst eine Schwäche in den Beinen ein,
dann eventuell Lähmung. Es kommen dann später Sensibilitäts¬
störungen dazu bis zum vollständigen Erlöschen. Die Reflexe sind
meistens gesteigert, bei hochgradigen Fällen fehlend, Blase und
Mastdarm sind manchmal gelähmt, manchmal nicht. Wenn Sie
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Beitrag zur Rückenmarkschirurgie.
211
das überlegen, anfangs die Schwäche in den Beinen, dann Läh¬
mungen, erst später Sensibilitätsstörungen, so deutet das ohne
Weiteres ein gewisses Fortschreiten des Druckes von vorn nach
hinten an, denn es entspricht dem primären Sitz des tuberculöscn
Processes in dem Wirbelkörper vor dem Rückenmark und der Aus¬
bildung des Gibbus. Im Allgemeinen herrscht die Vorstellung, dass
diesen Störungen bei spondylitischen Lähmungen meist eine Circu-
lationsstörung, eine Compression durch Stauung und seröse Durch-
triinkung zu Grunde liege. Dem muss ich widersprechen. Ich
habe 10 Laminektomien gemacht bei spondylitischen Lähmungen,
selbstverständlich, nachdem ich orthopädische Maassnahmen ver¬
sucht habe, und darunter waren fünf, bei denen ich einen total
anderen Befund erhoben habe. In fünf Fällen fanden sich aus¬
gedehnte tuberculöse Granulationsmassen im Wirbelcanal, in meh¬
reren Fällen fast walnussgrosse Tumoren. In anderen Fällen waren
die tuberculösen Massen flächenhaft um das Rückenmark herum
entwickelt und comprimirten es; in einem sechsten Fall fand sich
eine circuläre Schnürfurche und nur drei zeigten allein Stauungs-
erscheinungen. M. H., das ist w r ohl klar, dass man, wenn solche
tuberculöse Tumoren in einem Wirbelcanal sind, mit Extension
nichts machen kann. Sie comprimiren genau wie ein anderer
Tumor und lähmen das Rückenmark bis zu vollständiger Lähmung,
und wenn wir nur orthopädisch behandeln, so werden wir den
Libbus strecken, aber die Lähmung geht nicht weg. Ich würde
nun ohne Weiteres für die Operation dieser Fälle plädiren, wenn
wir nur zu jeder Zeit die Unterscheidung leicht machen könnten
zwischen solchen Fällen, w'o eine granulirende Tuberculöse im
Wirbelcanal ist, und solchen, wo nur Stauung vorhanden ist. Aber
das ist eine Schwierigkeit, über die wir vielfach nicht hinwegkommen.
Andererseits hat bei den Granulationsmassen jedes lange Hinaus¬
schieben der Operation schwere Folgen.
Daraus entnehme ich die Regel, die orthopädischen Maass¬
nahmen nur für kurze Zeit anzuwenden und wenn nicht bald
Besserung eintritt, zu operiren. Ich habe einen Fall, wo schon
neun Wochen nach dem ersten Auftreten der ersten Rückenmarks¬
erscheinungen und 4y 2 Wochen nach dem Beginn der orthopädi¬
schen Behandlung ein walnussgrosser Tumor sich durch irreparable
Störungen geltend gemacht hat. Dass die Operation etwas nützen
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"212 Dr. 0. Hildebrand,
kann, ist also wohl a priori klar, aber sie darf nicht zu spät .ge¬
macht werden.
Nun, von meinen 10 Fällen sind bei vier die Rückcnraarks-
störungen ohne jede Besserung geblieben, bei 4 mehr oder weniger
gebessert, bei einem sind die Rückenmarkserscheinungen geschwun¬
den, aber die Tuberculose des Wirbels ist nicht ausgeheilt, und in
einem Fall ist absolute Heilung eingetreten. Das ist ein
Kind, das Lähmungen der Beine, der Blase und des Mastdarmes
hatte, durch einen walnussgrossen Tumor im Rückgratscanal, der
das Rückenmark comprimirte. Der Tumor wurde exstirpirt. Das
Kind ist jetzt seit mehreren Jahren vollständig gesund. Ich habe
es controlirt. Es hat absolut keine Lähmungen mehr. Auch die
Blasenlähmung ist schon lange verschwunden. Die Tuberculose
ist ausgeheilt. Alle übrigen sind nach längerer Zeit (1 Jahr und
mehr) an den Folgen der Lähmungen und der Tuberculose ge¬
storben. An der Operation aber ist kein Patient zu Grunde
gegangen.
1. Christine L., 24 J. 17. 6. 1900. Mutter Lungentuberculose. Vor
4 Jahren Myelitis transversalis mit spast. Paralyse, Sensibililätsstörung, Incon¬
tinentia urinae. 10. Dorsalw. war schmerzhaft, ohne Gibbus. 4 Monate später
entlassen ohne Beschwerden. October 1899 Schmerzen, Gürtelgefübl, Gehen
erschwert. Incont. alvi. Allmähliche Zunahme der Motilitäts- und Sensibili¬
tätsstörungen. Gypsbett, Extension ohne jede Besserung. — Motilität: Völlige
Lähmung der Beine. — Sensibilität: Complete Anästhesie bis zum Angul. Sca¬
pulae und den Mamillen. — Sonstige klin. Erscheinungen: Wirbeltuberculose.
7. Dorsalw. Gibbus. 6.—9. — Operation 14. 8. 1900: Laminektomie auf dem
Gibbus.— Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Incision der Dura. Rücken¬
mark von einem harten graubraunen Granulationsgewebe umgeben von
der Dicke von 5—6 mm. Nach Exstirpation desselben fliesst Cerebrospinal-
tliissigkeit ab. Rückenmark erscheint normal. Kein Eiter. — Verlauf: Ende
August Wunde geheilt. Weder Motilität noch Sensibilität gebessert. Später
Zunahme der Störungen. Decubitus. Incontinentia alvi et urinae. — Resultat:
Beträchtliche Abmagerung. 8. 1. 01 zu den Ungeheilten. Spast. Paralyse.
Vollständiger Verlust der Sensibilität der unteren Extremitäten. Sphincter der
Blase und des Mastdarms gelähmt. Decubitus.
2. Elise 0., 24 J. 21. 1. 02. Gesund bis zum letzten Sommer, da zum
erstenmale Schmerzen im Rücken. Viel Anstrengungen. Vor 4 Wochen Schwäche
und Unsicherheit in den Beinen, schliesslich bettlägerig. Gleichzeitig wieder
Schmerzen. Vor 10 Tagen Sensibilitätsstörungen, fast complete Lähmung der
Beine und schmerzhafte Contractionen. Störungen im Urinlassen, bei der De-
fäcation. Extension ohne jeden Erfolg. — Motilität: Völlige Lähmung der
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Beine. — Sensibilität: Complete Anästhesie der Beine bis zum Lig. Poupartii.
— Patellarreflexe links leicht, rechts 0. Fussclonus von kurzer Dauer. Plantar¬
reflex, Achillessehnonrenex sehr leicht. Babinski. — Sonstige klin. Erschei¬
nungen: Wirbeltuberculose. 4. u. 5. Dorsalw. prominent. Gibbus. — Operation
25. 2.: Laminektomie 4., 5. Dorsalw. — Operations- u. pathol.-anatom.
Befund: Dura mater und Rückenmark erscheinen normal. Nach Beiseiteziehen
des Rückenmarks findet sich ein Granulationsknoten auf dem 4. Wirbel. Wall¬
nussgrosser Tumor von tuberculösen Granulationen zwischen 4. u. 5. Wirbel.
Wegnahme des Tumors. Abfliessen von Cerebrospinalflüssigkeit. — Verlauf:
Mä rz Wunde glatt verheilt. Nervenstatus derselbe. — Resultat: Sept., Oct.
Urinieren viel schlechter, Katheter. Beträchtliche Schwäche. Decubitus. Keine
Besserung. 10. 11. 02 zu den Unheilbaren.
3. Georg W., 27 J. 3. 1. 03. Juli 01 Pleuritis. Später Testistuberculose.
Lungentuberculose. 14. 12. 02 grosse Mühe beim Urinlassen. 23.12. Unmöglich,
die Beine zu bowegen. Schmerzen. Unwillkürliche Contractionen. — Motilität:
Völlige Lähmung der Beine. — Reflexe gesteigert. Fussclonus, Babinski. Harn-
retention. Decubitus. — Sonstige klin. Erscheinungen: Wirbeltuberculose.
4.-6. Dorsalw. 5. Wirbel am meisten prominent. - Operation 5. 1. 03: La¬
minektomie. 4., 5., 6. Dorsalw. — Operations- u. pathol.-anatom. Befund:
Rückenmark beschreibt einen Bogen nach hinten entsprechend dem Gibbus.
Mark weich. Es findet sich nirgends etwas von Tuberculose. Schluss der
Wunde. — Verlauf: Wunde geheilt. Ohne irgend eine Besserung. Decubitus.
— Resultat: 4. 2. gest. Grosser Senkungsabscess vom 2. -8. Dorsalw. 6. Dor¬
salw. total verkäst. Ausgedehnte Tuberculose innerer Organe.
4. Wilhelm B., 19 J. 9. 6. 03. Juni 03 Schwäche in den Beinen. Nicht
Herr seiner Bewegungen. Frühe Ermüdung. Im April konnte er noch gehen.
Trotz Extension Paralyse schlimmer. Keine Blasenstöiung. Extension.
Motilität: Völlige Lähmung der Beine. Muskelcontractionen. — Sensibilität:
Complete Anästhesie bis zum Nabel für Berührung. Thermo- und Schmerz¬
sensibilität vorhanden, aber unvollständig. — Reflexe gesteigert. Patellarreflex
gesteigert. Fussclonus. Babinski. — Sonstige klin. Erscheinungen: Wirbeltuber¬
culose. 7. u. 8. Dorsalw. — Operation 20. 6. 03: Laminektomie. 6., 7., 8. Dor¬
salw. — Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Rückenmark beschreibt einen
Bogen nach hinten entsprechend dem Gibbus. Keine Compression. Keine
Spuren von tuberculöser Granulation in der Länge von 10 cm. — Verlauf:
Wunde glatt geheilt. 3. 7. 03: Tritt aus. — Resultat: 31. 7. 03 ohne jede
Besserung. Complete Lähmung. Sehr häufige spast. Contractionen. Gestei¬
gerte Reflexe. Keine Berührungssensibilität. Decubitus.
5. Anna M., 17 J. 20. 6. 02. Februar 02 Schmerzen im Rücken, beim
Gehen vermehrt. 10. G. Gefühl von Schwäche in den Beinen. Keine Direc-
tion, muss im Bett liegen. Lähmungen stärker, 20. G. vollständig. Extension.
— Motilität: Völlige Lähmung der Beine. — Sensibilität anfangs normal, ver¬
mindert sich etwas. -- Reflexe sehr gesteigert. Patellarreflex gesteigert. Fuss¬
clonus. Babinski. 8. 7. Incontinentia urinae. 19. 7. Decubitus. — Sonstige
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214
Dr. 0. Hildebrand,
klinische Erscheinungen: Wirbeltuberculose. 4., 5., 6. Dorsalw. sehr
schmerzhaft. Keine Difformität. 12. Dorsalw. prominent. Gibbus. — Opera¬
tion 21. 7. 02: Laminektomie. 3.—7. Dorsalw. Tuberoulöse Granulationen.
Käsiger Absoess. Proc. spinös, des 6. Wirbels vom Bogen abgetrennt, se-
questrirt. 3., 4., 5., 6., 7. Bogen resocirt. — Operations- und pathol.-anatom.
Befund: Rückenmark umgeben von einer Masse von Fungositäten und Granu¬
lationen, hinten und zur Seite dicker als vorn, 2 mm dick. Abschälung dieser
Masse. Mehrere Sequester von dem Wirbelkörper entfernt. Zum Schluss
liegt das Rückenmark ganz frei. — Verlauf: Wunde glatt geheilt. — Resultat:
Motilität kein Fortschritt. Sensibilität vermindert. 16 Monate später gutes
Befinden, starke Spasmen der Beine. Incontinentia alvi et urinae. Motilität
erloschen. Sensibilität gering, besser für Thermosensibilität. Schmerzempfin¬
dung fast intact.
6. M. S., 45 J. 11. 1. 06. 1901 mit schwerem Sack einen Bahnwagen
bestiegen, fiel. Heftige Sohmerzen im Rücken. 1 Jahr später kleiner Buckel
auf dem Rücken. Corset. Weiter gearbeitet. Seit September Schmerzen,
nicht gearbeitet. Corset. Vor 8 Wochen Zunahme der Schmerzen und der
Vorwölbung. Lähmung des linken Beines. Seit 7 Wochen Bettruhe. Allmäh¬
liche Verschlimmerung. Zuerst vordere Wurzeln comprimirt. Complete
schlaffe Lähmung der Beine. Sensibilität intact. Patellarreflex
rechts scbw'ach, links fehlend. Cremaster- und Bauchdeckenreflexe fehlen.
Blase und Mastdarm normal. Lues. 11. 6. Besserung. Entlassen. Kann die
Beine gestreckt heben, beugen und strecken. l / 2 Jahr später völlige Lähmung.
— Motilität: Völlige Lähmung der Beine. — Sensibilität: Anästhesie bis hand¬
breit über die Symphyse, 4. 1. bis zur 12. Rippe. Tenesmen des Mastdarms.
— Reflexe fehlen. Urin, Koth spontan ab. Cystitis. — Sonstige klin. Er¬
scheinungen: Wirbeltuberculose. Wiederholte Extensionen und Corsett ohne
Erfolg. — Operation 11. 1.: Laminektomie auf dem Gibbus. — Operations- u.
pathol.-anatom. Befund: Rückenmark zeigt am Knickungswinkel eine circuläre
Furche, um so deutlicher, je mehr freigelegt wird. Nichts besonderes gefunden.
— Verlauf: 13. 1. Etwas motorische Erscheinung in der Oberschenkel-
musculatur. Sensibilität besser. Blase und Decubitus schlechter.
Kachexie. 29. 3. gost. — Section: Myelitis dorsal, transv. Cystitis purul.
Pyelonephritis. Bronchiektasie. Schlaffes Herz.
7. Lisbeth J., 2 x / 4 J. 8. 11. 06. Juni 06 schlecht gegangen. Wirbel¬
säule krümmte sich. Zunehmende Schwäche in den Beinen. — Motilität:
Beine gelähmt, können nicht bewegt werden. Das Kind kann nicht stehen.
— Reflexe: Patellarreflex gesteigert. Fussclonus -|-. Babinski -{-.
Oppenheim-)-. Störung von Seiten der Blase und des Mastdarms.
— Sonstige klinische Erscheinungen: Wirbeltuberculose der oberen Brustw.,
3.-6. Brustw. Extension ohne Erlolg. — Operation 24. 11. 06: Lamin¬
ektomie über dem Gibbus. — Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Rüoken-
mark nach der Seite verschoben, so dass die rechten Wurzeln deutlich erkenn¬
bar sind. Unterhalb derselben im Canal eine 3 cm lange spindelige Anschwell¬
ung, von der sich das Rückenmark glatt abheben lässt. Derbe graurothe Kapsel.
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Beitrag zur Rückenni&rkschirurgie.
215
Taberoulöse Granulationen mit Eiter noch etwas nach oben und unten sich
erstreckend. Ausgeschabt. — Verlauf: Blase und Uastdarm nach
14 Tagen in Ordnung. Geheilt. — Resultat: 19. 1. 10: Seit 2 Jahren be¬
wegt sie die Beine, seit 1 / 2 Jahre geht sie gut und sicher. Alles in Orduung.
Narbe kaum sichtbar. Corset.
8. Kurt K., 20 J. 8. 4. 10. Lungenkrank, Rippenfellentzündung. Auf
der Fahrt nach Berlin Gürtelschmerzen unter dem Nabel. Kriebeln in den
Füssen. — Motilität: Linkes Bein mit Mühe von der Unterlage zu heben.
Rechtes Bein bis zur Horizontalen bei starkem Schwanken. 10. 4. linkes Bein
gar nicht mehr gehoben, rechtes wenig. — Keine Sensibilitätsstörung. — Ober¬
bauchdeckenreflexUnterbauchdeckenreflex—. Cremasterreflex -j-. Pa-
tellarreflex gesteigert l.]>r. Patellarclonus. Achillessehnenreflex gesteigert
I.J>r. Babinski links -j-, rechts angedeutet. Oppenheim -j-. Urinentleerung
erschwert. — Sonstige klin. Erscheinungen: Wirbeltuberculose. 12. Brustw.
und 1. u. 2. Lendenw. springen etwas vor. — Operation 15. 4.: Laminektomie.
12. Brustw., 1. u. 2. Lendenw. Bögen resecirt. Dura freigelegt und eröffnet. —
Operations- u. pathol.-anatoro. Befund: Dura prall gespannt Aus dem Dura-
sack entleert sich reichlich helle klare Flüssigkeit. Keine tuberculöscn Granu¬
lationen. Doch sieht man die vordere Vertebralis prall gefüllt im Rückenmarks¬
canal. — Verlauf: Motilität nicht gebessert. Reflexe wie früher. Harnlassen
verschlechtert. 26. 4. 10.—12. Dorsalsegment comprimirt? Reflexe schwach
angedeutet. 3.5. Urin spontan entleert. Wunde geheilt. — 3. 6. 10 gestorben
an allgemeiner Tuberculose.
9 . Karl R., 28 J. 7. 4. 08. Scrophulose und Lupus. Ellenbogentuber-
culose. September 07 Schmerzen in der Wirbelsäule, besonders beim Bücken,
in der Gegend der unteren Brustw. Allmählich zunehmende Schwäche der
Beine. Seit 14 Tagen vollkommene Lähmung. Blase intact. — Motilität: Voll¬
ständige Lähmung beider Beine. — Keine Sensibilitätsstörung. — Patellar-
reflex gesteigert. Fussclonus -|-. Babinski -j-. Blase und Mastdarm in¬
tact. — Sonstige klin. Erscheinungen: Wirbeltuberculose in Höhe der unteren
Brustw. und oberen Lendenw. — Operation 13.4.08: Laminektomie über dem
Gibbus. 2. u. 1. Lendenw. — Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Neben
dem am meisten vorspringenden Dornfortsatz ein Abscess. Der Dornfortsatz
tuberculös. Dura stark gespannt. Incision. Grosse Menge Cerebrospinal¬
flüssigkeit. Rückenmark etwas flacher als normal. — Verlauf: Am folgenden
Tage Beine etwas gehoben. Zunahme der activen Beweglichkeit
der Beine. 1 Woche post op. beide Beine etwas gestreckt gehoben, Beugung
im Knie bis zum rechten Winkel. Noch Spasmen. — Resultat: Motilität
besser, aber der allgemeine tuberculose Zustand sehr verschlechtert. 8. 3. 10
grosse Senkungsabscesse, starke Progression derTuberculose seit 8—lOWochcn.
Blase und Mastdarm vollständig gelähmt. Grosser Decubitus. Motilität er¬
loschen. — Tod 2 1 / i Jahre nach der Operation.
10 . Leo W., 39 J. 14. 2. 10. Seit September 09 Schmerzen am linken
Fass am Mall. int. Druck um die Hüften herum. Massiger Ernährungszustand.
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Dr. 0. Hildebrand,
216
— Motilität: Keine ausgesprochene Lähmung der Beine, aber leichte Parese
des linken Beines. — Sensibilität: Schmerzen an der Innenseite des linken
Fusses, in beiden Füssen, im Oberschenkel links. Pat. kann Rückenlage nicht
einnehmen wegen heftiger Schmerzen. — Reflexe: Babinski links —, sonst
nichts. — Sonstige klin. Erscheinungen: Tuberculose der unteren Lendenw.
Leichte Kyphose der Lendenwirbelsäule. Zerstörung des 4. u. 5. Lendenw.
5. Lendenw. eingesunken. — Operation 21. 2. 10: Laminektomie. 4. und
5. Bogen. — Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Abscess neben dem Dorn¬
fortsatz an den Bögen. Wegnahme der Bögen. Blosslegen der Dura. Schmutzig¬
graue Granulationen im Wirbelcanal im Bereiche des 4. u. 5. Wirbels. Vor
der Wirbelsäule links käsiger Abscess. Ausräumung. Dura normal glatt. —
Verlauf: 23. 2. Schmerzen weg. 1. 3. Babinski 0. Harnverhaltung. Wunde
gut gereinigt. — 30. 3. verlegt, später gestorben.
Nun, viel einfacher liegt die Sache in vieler Beziehung bei
den Ruckenmarkstnmoreii. liier ergiebt sich die Indication ohne
Weiteres aus der Diagnose. Es handelt sich bei der Diagnose
zunächst um die Entscheidung, ob Tumor oder nicht, dann, ob
extramedullär oder intramedullär. Die Unterscheidung der Tumoren
von anderen Rückenmarkserkrankungen lässt sich in den meisten
Fällen machen. Dabei muss man aber absehcn von der sogenannten
Meningitis serosa, die durchaus einen Tumor Vortäuschen kann.
Nicht immer aber ist die Unterscheidung zwischen den extra¬
medullären und den intramedullären Tumoren so ohne Weiteres
gemacht. Denn, wenn es auch sicher ist, dass die extrame¬
dullären Tumoren meistens Wurzelsymptome machen, besonders
der hinteren Wurzeln, da sic meist hinten sitzen — namentlich
intensive Störungen neuralgischer Art, oft einseitige Parästhesien
—, und erst später durch Compression des Markes starke Reflex¬
erregbarkeit, Lähmungen und Anästhesien, Lähmungen der Blase
und des Mastdarms, so giebt es doch davon Abweichungen, beson¬
ders wenn der Tumor vorn sitzt. Deshalb möchte ich doch im
Allgemeinen rathen, die Diagnose solcher Dinge lieber dem gewiegten
Neurologen zu überlassen.
Die Indicationsstellung ist abhängig von der Segmentdiagnosc
und da möchte ich betonen, dass auch diese solche Fortschritte
gemacht hat, dass die erfahrenen Neurologen in der Segment¬
diagnose ausserordentlich sicher sind. Unter den 17 Fällen von
Tumoren des Rückenmarks, die mir von der neurologischen Klinik
als solche zugingen und die ich operirt habe, ist nur zweimal eine
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Beitrag zur Rückenmarkschirurgie.
217
Fehldiagnose gemacht worden. Es wurde ein extramedullärer
Tumor angenommen, und es fand sich ein intramedullärer. Bei
einzelnen wurde es zweifelhaft gelassen, ob Tumor oder Meningitis
•>erosa. Im übrigen waren aber alle Diagnosen bestimmt und
richtig, und zwar nicht nur, dass es ein Tumor, resp. eine Menin¬
gitis serosa war, sondern auch die Segmentdiagnose stimmte
jedesmal. In drei weiteren Fällen war die Diagnose zweifelhaft
und blieb es auch nach der Probelarainektomie. Ich führe sie am
•Schlüsse der Tabelle auf. Unter meinen 17 Fällen waren vier im
bereich der Halswirbelsäule, 10 im Bereich der Brustwirbelsäule,
drei im Bereich des Lenden- und Sacraltheiles. Ausser den zwei
intramedullären erwies sich noch einer wegen allzugrosser Aus¬
dehnung als inoperabel. Von 14 operablen Fällen starben an den
Folgen der Operation zwei, eine alte, decrepide Patientin im Collaps,
<‘ine Patientin drei Wochen nach der Operation bei geheilter Wunde
;m Meningitis. Ein Patient starb in Folge einer eitrigen Mittel-
Ohrenentzündung. ein anderer später an einer Blutung aus einem
I leus duodeni. Es leben jetzt noch 10 Patienten in mehr
oder weniger geheiltem Zustande, fünf sind vollständig ge¬
heilt und leistungsfähig; und zwar ein Patient 3 s / 4 Jahr, einer
2 1 /, Jahr, zwei \ l / 2 Jahr, einer 1 Jahr. Darunter sind mehrere
Endotheliome und ein Sarkom, das seit 2y 2 Jahren nicht recidivirt
ist. Die Rückenmarkserscheinungen können natürlich nur insoweit
zurückgehen, als das Rückenmark sich noch erholen kann. Das
hängt von dem Grad der Compression vor der Operation ab,
andererseits von der Schnelligkeit der Drucksteigerung, wie sie
durch das verschieden rasche Wachsthum des Tumors bedingt ist.
Wenn wir die Fälle früh bekommen, gehen die Erscheinungen voll¬
ständig zurück. In einem Fall begann die Sensibilität, die voll¬
ständig erloschen war, schon wenige Tage nach der Operation
zurückzukehren, von oben her absteigend, in einem andern erst
am y. Tage, während die Rückkehr der Motilität erst später zu
beobachten war, oftmals erst 3 Wochen p. op., meist nachdem an¬
fänglich ein unbestimmtes Schmerzgefühl, gesteigerte Contractionen
und erhöhte Reflexe sich gezeigt hatten. Blasen- und Mastdarm¬
lähmung schwand einige Male ziemlich rasch und frühzeitig. Ich
verfüge, wie gesagt, über 5 Patienten, die absolut gesund geworden
sind, denen Sie kaum etwas anmerken, die durchaus leistungsfähig
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Dr. 0. Hildebrand,
sind. Und da möchte ich noch auf einen Punkt aufmerksam
machen, der sich auf die Leistungsfähigkeit nach solchen Opera¬
tionen bezieht. Man könnte sich fragen: ist denn die Lamin-
ektomie als solche nicht ein Eingriff, der auf die Festigkeit der
Wirbelsäule so einwirkt, dass sie schwer geschädigt wird? Das
ist nicht der Fall. Ich bin selber darüber erstaunt gewesen, weil
ich früher den Standpunkt eingenommen habe, dass es eine schwere
Schädigung sei. Ich habe vor kurzem jene 5 Patienten gesehen.
Sie stehen, gehen, sitzen ganz gerade, sie bewegen die Wirbelsäule
frei, ohne jede Schwierigkeit, sie arbeiten — einer hat sogar stunden¬
lang Feldarbeit in diesem Sommer gemacht —, gleichgültig welchen
Abschnitt der Wirbelsäule die Operation betraf und wieviel Bögen
(bis zu 4) weggenommen wurden.
1. Marie Sp., 37 J. 14. 2. 08. Im Winter 02/03 Sturz auf den Kücken.
Seit 4 Jahren Parästhesien im Nacken. Kriebeln, Ameisenlaufen. Seit 3 Jahren
bohrendo Schmerzen, die seit 9 Monaten nicht aufgehört haben. Seit 8 Monaten
Steifheit im Schultergelenk. Seit 4 Wochen Steifheit im Nacken. Seit 1 Tag
Aphasie. — Motilität: Bei offenen Augen Taumeln, Pallen nach links hinten¬
über. Kopfbewegungen weder activ noch passiv. Störungen der Motilität in
den Armen. Bewegen der Beine mit geringer Kraft. Schleift die Füsse. Auf-
irchten ohne Hilfo der Hände 0. Hinlegen: fallt zurück. — Sensibilität: Stö¬
rungen am linken Arm. Hypästhet. und hypalgetischer Zone an der Dorsalfläche
der Hand und Volarfläche des Endgliedes des Mittelfingers. Leise Berührungen
der rechten Hand nicht gefühlt. Ueberall rechts falsch localisirt, links besser.
Rechtes Bein falsche Localisation. Linkes Bein etwas herabgesetzt, ebenso
rechtes.— Reflexe: Ancon.-, Rad.-, Ulnar- gesteigert. Epigastr.-j-. Patellar-
sehr gesteigert. Plant.- 0. Babinski 0. Fussclonus -|- gering. — Sonstige
Win. Erscheinungen: Kann den Urin nicht lassen. Etwas Athemnoth. — Ope¬
ration: Lamiriektomie. Halsw. 2 u. 3. — Operations- u. pathol.-anatom. Be¬
fund: Sulzige Massen aus dem Wirbelcanal. Dura gespalten. Auf der Vorder¬
seite zwischen Dura und Knochen graurother Tumor, sehr weich, nur unvoll¬
ständig zu entfernen. — Verlauf: 10 Stunden später Tod. Ausserhalb des
Wirbelcanals länglich ovale, wallnussgrosse Geschwulst, weich gallertig,
/.wischen 2. und 3. Wirbel mit der Geschwulst im Wirbelcanal in Verbindung
stehend, rechts bis zum Occiput verlaufend, so dick wie kleiner Finger.
2. Anna H., 40 J. 1.7. 08. Vor 9 Jahren Treppe 18 Stufen hinabgestürzt
auf Seite und Kopf. Schwindelanlalle und Kopfschmerzen. Nicht bewusstlos.
Keine Blutung. Vor 2 Jahren Kriebeln in der linken Hand, später im linken
Arm bis linke Schulter, dann Kriebeln im rechten Arm. Vor 1 Jahr Schmerz¬
gefühl in den Armen, links mehr als rechts. Vor 6 Monaten Schmerzen in
beiden Schultergelenken und Schultern, krampfartig. Steigerung der Be¬
schwerden. Sehr heftige Schmerzanfälle. Oefters Erbrechen. — Motilität:
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219
Kopfdrehen nur spurweise. Schulterheben wenig ausgiebig. Ellenbogengelenk:
grobe Kraft sehr herabgesetzt. Pro* und Supination rechts und links geschwächt.
Hand- und Fingerbewegungen frei. Spasmen in den Streckmuskeln. Leichte
Spasmen in beiden Knien. Lähmungen werden stärker. Beide Arme unbe¬
weglich. — Sensibilität: Nervenstämme des Armes sehr druckempfindlich.
Linke Schulter und linker Arm Nadelstiche als stumpf empfunden. Kalt und
Warm nicht unterschieden. Schmerzen nehmen zu. — Tricepssehnenreflex
beiderseits lebhaft. Epigastr. Reflex —. Patellar- und Ancon.-Reflex beider¬
seits gesteigert. Babinski beiderseits -}-. — Sonstige klin. Erscheinungen:
Oedem der Hände. Atbembeschwerden. Urin, Koth geht nicht mehr spontan
ab. Schluckbeschwerden. — Diagnose: Tumor in der Höhe des 1. u. 2. Hals¬
wirbels, die Med. spinalis von der linken Seite her comprimirend. — Operation:
Laminektomie im Bereich des 1. u. 2. Halsw. Spaltung der Dura. — Opera¬
rations- u. pathol.-anatom. Befund: Rückenmark mässig derb, grauröthlich.
Oberhalb viel Cerebrospinalflüssigkeit, die abstürzt. Tumor intramedullar. —
Verlauf: Plötzlich Tod 20 Stunden post op. Entsprechend der Halsanschwel¬
lung Rückenmark dick. Hellgraue, im Centrum gelegene Gesohwulst, noch
2 Querfinger breit nach unten, nach aufwärts bis hoch in die Medulla oblongata,
bis 1 cm unter Pons. — Mikroskopisch: Gliosarkom. Sehr zellreich, Rund-
und Spindelzellen. Filzwerk feiner Fäden. Einzelne grosskernige Zellen
darunter.
3. B., 31 J. 28. 10. 09. Vor 2 Jahren Kreuzschmerzen und Steifigkeit
im Genick und Schwäche der Arme. Vor 2 Monaten Lumbalpunction, seitdem
Schwäche der Beine. — Motilität: Arme beiderseits völlig gelähmt. Untere
Extremitäten Motilität fast 0. — Sensibilität: an den Armen normal. Sensi¬
bilitätsstörung. Feinste Berührung wurde in der intramamillären Zone aus¬
gelassen. Warm und Kalt in dieser Zone und 3. Rippe bis zum Rippenbogen
verwechselt. — Patellarreflex beiderseits gesteigert. Fussclonus beiderseits
links > rechts. — Diagnose: Tumor im Bereich des 6. u. 7. Halsw., der sich
von rechts nach links entwickelt hat. — Operation: Laminektomie am 5. und
6. Halsw. Später 4. Halsw. weggenommen. — Operations- u. pathol.-anatom.
Befund: Rückenmark erscheint geschwollen. Dura gespaften. Es fliesst kein
Tropfen ab. ln der Arachnoidea röthlicher Tumor. Endotheliom. — Verlauf:
Stumpfe Ausschälung. Tamponade. Collaps. Glatter Verlauf. — Resultat:
Juli 1910 Heilung vollständig. Kann alle Bewegungen machen, versorgt
ihre Hauswirthschaft in jeder Beziehung. Kopf frei beweglich. Nacken normal.
October 1910: Heilung dauert an.
4 . M., 71 J. 5.4.09. Seit iy 4 Jahr reissende Schmerzen im Genick
und in den Armen. Kein Trauma, keine Infectionskrankheit. Vor 17 Monaten
Kriebeln in allen Fingern rechts beginnend, rechts stärker. Dann Schwäche
erst rechts und rechts stärker. Seit 1 Jahr taubes Gefühl erst rechts in den
Zehen, dann beiderseits im ganzen Fuss. Stetige Zunahme. Beine ganz steif.
Keine Himerscheinungen. — Motilität: Beide Arme activ nur ganz wenig er¬
hoben. M. biceps, pect, mag., triceps, brachioradialis, Supinator paretisch, links
mehr als rechts. Keine Entartungsreaction. Hand- und Fussbewegungen = 0.
Areki? fBr klin« Chirurgie. Bd. 94. Heft 2. i *
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Dr. 0. Hildebrand,
Rumpfaufrichten ohne Hilfe anmöglich. Partielle Beinbewegungen. — Sensi¬
bilität: Nadelstiohe vom Ellenbogen ab schwach gefühlt. Unteres Drittel des
Mastdarms Thermohyperästhesie. Lagegefühl in Fingern und Hand schwer
gestört. Am Rumpf Sensibilität intact. Diffuse Thermohyperästhesie. Lage¬
gefühl in den Zehen etwas gestört. — Reflexe: Triceps beiderseits sehr lebhaft.
Patellarreflex gesteigert. Achillessehnenreflex normal. Links geringer Fuss-
clonus. ‘Babinski, Oppenheim beiderseits -j-. — Sonstige klin. Erscheinungen:
5. u. 6. Halsw. sehr druckschmerzhaft. Oedem beider Hände. — Diagnose:
Tumor in der Höhe des 4. u. 5. Halsw. — Operation 13. 5. 09: Laminektomie.
5. u. 4. Bogen weggenommen. 3 Proc. spin. weggenommen. Spaltung der
Dura. Aus den zarten Maschen der Arachnoidea entleeren sich 20 ccm klaren
Liquors. Naht. Kein Tumor. — Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Am
Rückenmark nichts Besonderes, aber Meningitis serosa circumscripta. — Re¬
sultat: Heilung vollständig. Juli 1910 vollständig gesund, kann alle Be¬
wegungen ausgiebig ausführen. Kopf frei beweglich. Nacken normal. October
1910: Heilung dauert an.
5. L., 57 J. 5. 12. 06. Vor 3 Jahren Kältegefühl, dann Schwere¬
gefühl in den Beinen, ansteigend. Seit 1 Jahr linkes Bein gelähmt, rechtes
schwach, später dieses auch gelähmt. Seit */ 2 Jahre starke Schmerzen in den
Beinen. — Motilität: Active Beweglichkeit unmöglich, passive nur gering.
Contractur in den Beinen. — Sensibilität erloschen in beiden unteren Extre¬
mitäten für feuchte Berührung, für Warm und Kalt. Bis zum Rippenbogen
circul. Sohmerz weniger geschädigt. — Patellarreflex 0 (wegen Spannung?).
Babinski -|-. Fussclonus -}-. — Sonstige klin. Erscheinungen: Wirbelsäule
druckempfindlich 5.—6. Brustw. — Diagnose: Tumor in der Höhe des 4. bis
6. Brustw. — Operation 12. 1. 07: Laminektomie. 4., 5., 6. Brustw. Exstir¬
pation des Tumors. — Operations- u. pathol.-anatom.Befund: Tumor zwischen
Knochen und Dura, besonders nach links. Knochen etwas ausgehöhlt. 3 cm
lang. Rückenmark zur Seite gedrängt, comprimirt und weich. Gut und voll¬
ständig ausgeschält. Endothel, fibr. — Glatter Verlauf trotz schwerer Bron¬
chitis. — Resultat: Zur Zeit Beine noch contract. Patellarreflex etwas ge¬
steigert. Babinski links -(-, rechts ?. Fussclonus -f-. Fuss und Zehen wieder
beweglioh. 30. 10. 07 im Siechenhaus. Juli 1910 geheilt, bewegt sich gut
umher, Beine in Ordnung. October 1910: Heilung dauert an.
6. A. D., 44 J. 24. 3. 09. Vor 1 Jahre taubes Gefühl in der linken
Brustseite, 6.—8. Rippe. Weihnachten 08 konnte er nur noch am Stock gehen.
In den letzten Wochen Gürtelgefühl, Uebelsein. — Motilität: Active Bewe¬
gungen in den Beinen unmöglich. — Sensibilität: Bis drei Finger breit über
dem Nabel für alle Qualitäten beträchtliche Herabsetzung. — Patellar¬
reflex 0. Achillessehnenreflex -(-. Oppenheim Babinski -|-. — Sonstige
klin. Erscheinungen: Wirbelsäule über dem 6. Brustw. druckempfindlich. —
Diagnose: Tumor in der Höhe des 4.—6. Brustw. — Operation: Laminektomie.
4.—6. Brustw. 26. 3. 09 Exoision in mehreren Stücken. Blutung. — Ope¬
rations- u. pathol.-anatom. Befund: Pflaumengrosser Tumor etwas nach links
von der Mittellinie, extradural. Sarkom. — Verlauf: Wunde gut geheilt.
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Lässt Stuhl und Urin unter sich. Decubitus. 3. 4. Eiterung aus dem Ohr.
Paracentese. 8. 4. Plötzlioh hohe Temperatur. 14. 4. Tod. Eitrige Menin¬
gitis. Streptokokken vom Ohr? Kirschgrosse Metastase in der Leber.
7 . D. D., 49 J. 21.4.09. October 08 Harnverhaltung. Schmerzen
in den Fusssohlen. Gang unsicher. Lähmung des linken Beines. Zuckungen
in den Beinen. Lähmung des rechten Beines. Kriebeln in den Armen. Sprache
wird unsicher. Gürtelgefühl. LancinirendeSchmerzen.—Motilität: Untere Ex¬
tremitäten Muskeln atrophisch. Gang unmöglich. — Sensibilität: Leichte
Berührungen des rechten Beines, des Bauches bis zum Nabel und dem oberen
Theil des linken Oberschenkels 0. Kalt und Warm, Spitz und Stumpf 0. —
Reflexe gesteigert. Babinski -|-. Obere Extremitäten Reflexe gesteigert. —
Sonstigo klin. Erscheinungen: Wirbelsäule 5. u. 6. Brustw. empfindlich. Urin¬
verhaltung. Dauerkatheter. Decubitus. — Diagnose! Tumor in der Höhe des
5. u. 6. Brustw. — Operation 8. 6.': Laminektomie. 5. u. 6. Brustw. — Ope-
rations- u. pathol.-anatom. Befund: Dura prall gespannt, vorgewölbt. Nach
Incision 20 ccm mit Blut gemischter klarer Flüssigkeit. Rückenmark glatt,
normale Farbe und normale Consistenz, sonst nichts. — Verlauf: Wunde heilt
gut. Eitrige Cystitis. Decubitus. Schüttelfrost. Hohe Temperatur. 28. 6. Tod.
— Sectionsbefund: Eitrige Entzündung der Rückenmarkshäute. Gefässe stark
gefüllt. Im oberen Tbeile des Brustmarks erscheinen die Hinterstränge etwas
grau bis zum unteren Theil des Brustmarks. Kein Tumor.
8. R. P. B., 17 8 / 4 J. 21. 12. 09. 27. 10. 09 Müdigkeit in den
Beinen am anderen Tag noch Dienst, dann zusammengebrochen. 30. 10.
ziehende Schmerzen in den Beinen. In den nächsten 14 Tagen verlor sich
die Motilität der Beine vollkommen. Ende November plötzliche Harnverhaltung,
Katheter. Ab und zu Incontinenz. Sensibilität der Blase gestört. Kothstauung.
— Motilität der unteren Extremitäten unmöglich. Reil. Contractionen.
— Sensibilität: Anästhesie für Pinsel bis zur Mamillarlinie. Analgesie
für Nadelstiche. Kalt und Warm ebenso. — Patellarreflex 0. Achillessehnen¬
reflex 0. Babinski -f-. Fussclonus 0. Oppenheim — Sonstige klin. Er¬
scheinungen: Wirbelsäule 5.—7. Brustw. empfindlich bei Druck. — Diagnose:
Tumor in der Höhe des 4.-6. Brustw. — Operation 27. 12.: Laminektomie.
4., 5, 6. Brustw. — Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Dunkelbraunrothe
Masse, die den Canal hinten ausfüllt, leicht zerreisslich, reicht bis zum 7. Bogen
unten und nach oben bis 3. Bogen, der 4. wird noch entfernt. Tumor hinten
und rechts, reicht rechts auch nach aussen zwischen 5. u. 6. Wirbel, also über
gut 3 Bögen. — Verlauf: Glatte Heilung der Wunde. Hier und da Schüttel¬
fröste. Harnverhaltung. Cystitis. — Resultat: Sensibilität etwas besser ge¬
worden. Urin sehr trübe. Hier und da spontan Urin gelassen, wohl mit Bauch¬
presse. Etwas Motilität an den Zehen. Decubitus. Kothstauung. 18. 3. 10:
Wird elender. Ins Lazareth entlassen.
9 . A.B., 61J. 1.4.08. Herbst 06 Mattigkeitsgefühl in den Beinen.
Herbst 07 Hypästhesien in den unteren Extremitäten, bis zur Anästhesie.
Spannung in den Beinen. Februar 08 Blasen- und Mastdarmstörungen.
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Harnretention. — Motilität: Active Bewegang der Beine fast unmöglich. —
Sensibilität: An den Beinen und dem Rumpf bis handbreit über dem Nabel für
alle Qualitäten vollständigerloschen. — Bauchdeckenreflex 0. Rectusreflex -f—
Patellarreflex -f- symmetr.gesteigert. Fussclonus --f-. Babinski -|-. —
Sonstige klin. Erscheinungen: Elende, abgemagerte Frau. Eitriger Auswurf.
Wirbelsäule im 9. Brustw. druckempfindlich. Harnretention. — Operation
11. 4. 08: Laminektomie. 5., 6., 7. Brustw. Dura gespalten. — Operations-
u. pathol.-anatom. Befund: 2 cm langer ovaler Tumor breit auf dem Rücken¬
mark in einer kleinen Mulde desselben sitzend. Tumor mit der Dura leicht
verwachsen. Endothel, psammos. durae matris.— Verlauf: Während der Ope¬
ration Collaps. Nach l x / 2 Stunden Tod. — Sectionsbefund: Schwere Bronchitis.
10 . H.F. , 51J. 13.3.08. 1902/03 erste Anzeichen. Kreuzschmerzen,
Gürtelschmerz. April 06 Schmerzen in den Beinen. Später Taubheit
der Füsse. Ataxie. Weihnachten 07 Beinlähmung. — Motilität: Lähmung
der Beine, bis zur Nabelquerlinie, hinten 9. Brustw. — Sensibilität: Abge¬
schwächt in den Beinen. — Reflexe stark gesteigert. Babinski -(-. — Sonstige
klin. Erscheinungen: Blase und Mastdarm incontinent. Cystitis. — Operation
18. 6. 08: Laminektomie. 5.-9. Brustw. — Operations- u. pathol.-anatom.
Befund: Intradurale Cyste auf dem Rückenmark gelegen im Bereich des 5.
Brustw., lässt sich leicht stumpf ausschälen, reicht bis zur Mitte des 4. Brustw.
Klare gelbe Flüssigkeit in der Cyste. Da, wo die Cyste lag, Rückenmark zu
einem dünnen Strang comprimirt, der nach links gedrängt ist. — Verlauf:
24. 6. Schwere Bronchitis. 10. 7. Besserung der Blase und der Sensibilität.
Wunde geheilt. 13. 7. plötzlich Tod. Verblutung aus einem Ulcus
duodeni.
11. 0. D., 43 J. 2. 4. 08. November 07 plötzlich Schmerzen im Kreuz
und Fussschmerzen. Kriebeln und Ameisenlaufen. Gürtelschmerz. Taubheit
in den Lenden bis zu den Füssen. Unsicherheit im Gehen. — Motilität: Para¬
lyse bis zum Nabel. Contraoturen. — Sensibilität: Anästhesie. Analgesie. —
Kniereflex wechselnd, schwach auslösbar. Babinski -j-. — Sonstige klin. Er¬
scheinungen: Decubitus. Stuhlgang und Harnlassen nicht immer willkürlich.
— Operation 10. 4. und 11. 5, 08: Laminektomie. 5., 6., 8., 9. Brustw. —
Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Graue, blutreiche, weiche Massen
zwischen den Bögen hüllen das Rückenmark ein 5 cm lang. Der anstossende
Wirbelfortsatz cariös, resecirt. Unterhalb des Tumors Flüssigkeitsstauung.
Endothelioma malignum. Sarkom.—Verlauf: 2 Tage nach der Operation
Besserung der Sensibilität. Blase und Mastdarm wieder normal. 20 Tage naoh
der Operation beginnt“'Motilität. Glatte Heilung der Wunde. — Resultat:
Ende 09 geheilt. Kann gehen. Sensibilität gut. Juli 10 vollständig geheilt.
Kein Gibbus. (Statt zur Vorstellung in die Klinik zu kommen, kneipt er mit
seinen Freunden.)
12 . H., 64 J. 6.3.09. October 07 Stiche in der Brustwirbelsäule.
Schmerzhafte Gürtelzone. Neujahr 09 Kriebeln in den Beinen. Später Ge¬
fühlsstörungen am Rumpf und an beiden Beinen. Seit Februar 09 kann er
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223
schlecht gehen, knickt ein. — Motilität: Bewegungen der Beine mit ver¬
minderter Kraft, links kräftiger als rechts. Im rechten Bein nur noch eine
kleine Bewegung der grossen Zehe. Im linken Bein auch fast nichts mehr. —
Sensibilität: Bis zur Spitze des Proc. ensif. Nadelstiche als stumpf. Störungen.
— Patellarreflex -J-. Achillessehnenreflex Babinski -}-. Oppenheim -J-.
Fussclonus -}-. — Sonstige klin. Erscheinungen: Wirbelsäule 9.—12. Brustw.
schmerzhaft. Keine Incontinenz der Blase und des Mastdarms. Keine Reten¬
tion. — Operation 10. 3. 09: Laminektomie. 9.—12. Brustw. — Operations-
u. pathol.-anatom. Befund: In der Höhe des 10. Brustw. kirscbgrosser Tumor,
2 cm lang, 1 y 2 cm breit, s / 4 cm dick, von Dura bedeckt. Tumor gefässreich.
Fibromatöses Angiom. — Glatter Verlauf der Wunde. 15. 3. Beginn
der Motilität. 19. 3. Beginn der Sensibilität. — Resultat: Geheilt. Juli 10
vollständig geheilt, macht stundenlang Feldarbeit. Kein Gibbus.
13. R. K., 12 J. 18. 6. 06. Juli 05 Fall aufs Gesäss. Schmerzen in
der Wirbelsäule und Schmerzen beim Gehen, Sitzen, Liegen, Schmerzen beim
Harnlassen und Harndrang. — Motilität der Beine rechts erloschen, links im
Fuss- und Zehengelenk erhalten. — Sensibilität intact. — Patellarreflex 0.
Cremasterreflex-}-. Bauchdeckenreflex -(-, lebhaft. Achillessehnenreflex 0.—
Sonstige klin. Erscheinungen: Wirbelsäule in der Höhe des 2.-4. Lendenw.
Hervorwölbung. Sehr abgemagert. Steifigkeit der Wirbelsäule. — Operation
7. 7.: Laminektomie. 2.-4. Lendenw. — Operations- u. pathol.-anatom. Be¬
fund: Dura gespalten. Arachnoidea eingeritzt. Es quellen nun ganz weiche
Tumormassen vom Aussehen blutreicher Granulationen heraus, nach oben bis
zum 1. Lendenw. reichend, nach unten sehr weit. Abschälung und Auslöffe¬
lung. — Verlauf: 10. 7. Ischuria paradoxa. Incontinentia alvi. 24. 8.
Pat. kann plötzlich Urin lassen. Patellarreflex-}-. Fusssohlenreflex-f-. 14.9.
Pat. stebt auf, kann am Gehstuhl einige Schritte geben, fühlt, wenn er Stuhl¬
gang hat. — Resultat: 11. 11. mit Corset entlassen. Kann ohne Unterstützung
gehen. Sommer 1910: Pat. lebt noch, hat aber noch viel Beschwerden.
14. E. K., 55 J. 8. 4. 08. Weihnachten 07 Gefühl des Hindernisses
beim Stuhl. Schmerzen beim Sitzen. 28. 4. Perineale Anästhesie. Sphincter
vesicae gelähmt. Incontinenz. Reflexsteigerung an den Beinen. Urinbeschwerden
seit einiger Zeit. — Sensibilität: Perineale Anästhesie. Am rechten Bein bis
zur halben Höhe des Oberschenkels Wärme-, Kälteanästhesie. Reithosenform.
— Reflexe hocbgesteigert. Linker Achillessehnenreflex 0. Babinski rechts 0.
Babinski links. — Sonst, klin. Erscheinungen: Prolapsus ani. Urinbeschwerden.
— Operation 20. 5. 08: Laminektomie über 4. u. 3. Sacralw. — Operations-
u. pathol.-anatom. Befund: Knochen sehr dünn, blättert ab. Grauröthlich bis
bläulich durchscheinender Tumor. Stückweise entfernt. Schliesslich faust¬
grosse Höhle in dem blasig aufgetriebenen Sacrum. Enchondrom. — Verlauf:
Glatt. 28. 7. geheilt entlassen. 16. 1. 10 Recidiv. — Resultat: W'enig geän¬
dert. Wieder operirt.
15 . P. M., 25 J. 21. 5. 08. Januar 04 heftiger Schmerz in der unteren
Lendenwirbelgegend. Februar 04 Schmerzen sehr heftig. SommerOG Moorbäder.
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Sommer 07 Schmerzen im Boin links. Weihnachten 07 Schmerzen in der Kreuz-
beingegend unerträglich. Zunehmende Schwäohe der Beine. Urinbeschwerden.
— Motilität: Gang rechts hinkend. Schwäche der Beine. — Sensibilität: Glu*
täalgegend und Hinterseite des Oberschenkels anästhetisch. Reithosenform. —
Patellarreflex rechts -j-, links 0. Achillessehnenreflex 0. Fussclonus 0. Cre¬
masterreflex -J-. Bauchdeckenreflex -J-. — Sonstige klin. Erscheinungen:
Urinbeschwerden. Heftige Schmerzen. — Operation 2. 6. 08: Laminektomie
über 3. Kreuzbeinw. — Operations-u.pathol.-anatom.Befund: Knochen äusserst
dünn, stark vorgetrieben, zum Theil defect. Bis zum oberen Rand des Kreuz¬
beins bläuliche Geschwulst. Inoision der Dura. Entleerung einer grossen
Menge braunrother Flüssigkeit. Höhle 10 cm lang, 5 cm breit, innen glatt-
wandig, enthält die Nerven. — Verlauf: Glatt. 23. 6. Die Continentia urinae
nimmt immer mehr zu. 20. 7. entlassen. — Resultat: Anästhesie bedeutend
zurückgegangen. Besserung der Blasen- u. Mastdarmfunction. Januar 10 noch
nicht in Ordnung. Urinbeschwerden.
16 . Sch., 58 J. 23. 6. 10. Hexenschussartige Schmerzen im Rücken
und Körperinneren. Seit 6 Wochen Schwere in den Beinen. Gang unsicher.
Schwindelanfälle. Kopfsohmerzen. Schlaflosigkeit. Reizbarkeit. Häufiger
Harndrang, aber keine Incontinenz. — Motilität: Rechtes Bein in Rückenlage
nur mit Mühe etwas zu erheben. Linkes Bein unbeweglich. Pat. kann nicht
stehen. — Sensibilität für Pinsel bis zum Nabel richtig, unterhalb verschieden.
Nadel an den Beinen überall nur als Berührung empfunden. Lagegefühl in
den Zehen gestört. Für Spitz und Stumpf im Rücken 3 verschiedene Grenzen,
von denen die erste dem 6. Brustwirbeldorn, die zweite dem 8. und die dritte
dem 9. Brustwirbeldorn entspricht. — Diagnose: Tumor im Bereich des 5.
Brustw., mehr links. — Operation 12. 7. 10: Laminektomie. 4., 5., 6. ßrust-
wirbelbogen. Exstirpation des Tumors. — Operations- u. pathol.-anatom. Be¬
fund: Nach Fortnahme des 5. Bogens weiches Tumorgewebe. Flacher weicher,
röthlicher Tumor vorzugsweise auf der linken Seite, nach vorn bis zur Mittel¬
linie herumgewachsen. Dura und Knochen überall intact. Vorn muss er aus-
gelöfielt werden. — Verlauf: 3Tage nach der Operation Tampon weggenommen.
Anfangs Schmerzen in den Beinen. 18. 7. Schmerzen haben nachgelassen.
25. 7. Beugung und Streckung der Beine, besonders des rechten, haben zuge¬
nommen, ebenso die Zehenbewegung, besonders rechts. — Resultat: 10. 10.
Kann das rechte Bein gestreckt heben, das linke auch etwas, aber nicht ebenso.
— 17. 12. 10 wegen Recidivs noohmals operirt.
17 . E. K., 60 J. 30. 6. 10. Vor 3 Jahren Reissen in beiden Beinen,
l.^>r., nach und nach Beine schwächer. Kriebeln, Jucken und erhebliche Ge¬
fühllosigkeit in beiden Beinen bis an den Leib. Seit Weihnachten 09 Beine
nicht mehr zu heben. Schmerzen im Kreuz. Kriebeln und erhebliche Gefühl¬
losigkeit in den Händen. Nie Gürtelschmerzen. Blasenbeschwerden (heftig
pressen). Stuhlbeschwerden (sehr angehalten). Sehkraft abgenommen. Ohren¬
sausen.— Motilität: Alle Bewegungen in Knie und Hüfte möglich, aber schmerz¬
haft, im Fussgelenk fast unmöglich. Nur die grosse Zehe macht ausgiebige
Bewegungen. Adduction nicht so stark wie Abduction. Linkes Bein schwächer.
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225
— Sensibilität: Stiche mit der Nadelspitze auf dem Fassrücken rechts mehr
gefühlt, ebenso mit dem Nadelknopf. Nadelstiche in dem Hypochondrium
ebenso stark gefühlt wie in Dl bis D3. Kalt dagegen weniger intensiv. Warm
nur links in Dl bis D3 intensiver empfunden als im Hypochondrium. Inter*
costalnerven rechts und links vom zweiten bis zum letzten druckempfindlich.
Obere Extremitäten beiderseits etwas druckschmerzhaft. — Bauchdeckenreflexe
nicht auszulösen. Patellarreflexe beiderseits lebhaft. Achillessehnenreflexe
beiderseits clonisch gesteigert. Dauer-Babinski links deutlich, rechts angedeutet.
— Sonstige klin. Erscheinungen: Dornfortsätze vom 9. Brustw. bis in die obere
Sacralgegend druckempfindlich. Ebenso Percussion derselben Wirbel empfind¬
lich. — Diagnose: Tumor im Bereich des 5. Brustwirbels vorwiegend links.
Intramedullärer Sitz kann nicht ausgeschlossen werden. — Operation 25.7. 10:
Laminektomie. 2.—5. Brustw. — Operations- u. pathol.-anatom. Befund:
Nach Eröffnung der Dura zeigen sich die Maschen der Arachnoidea prall mit
klarer seröser Flüssigkeit gefüllt. Arachnoiditis serosa. Die Maschen werden
eröffnet und die Flüssigkeit zum Ausfliessen gebracht. Sonst nichts. — Ver¬
lauf: 28. 7. Pat. apathisch, klagt über Schmerzen. Appetitlos. Muss kathete-
risirt werden. Kann die Beine nicht bewegen. 10. 10. Zustand unverändert.
18 . A. M., 49 J. 28. 6. 10. Seit mehreren Jahren heftige Schmerzen
im linken Bein. Seit iy 2 Jahren kann Patientin nicht mehr gehen. Beim
Urinlassen stark pressen. — Motilität: Beine stark adducirt. Rechtes Bein nach
aussen rotirt. 1m linken Hüftgelenk unüberwindliche Contracturen. Die Beine
fest gegen die Unterlage gepresst. Das linke Bein ist völlig gestreckt im Knie¬
gelenk, das rechte noch etwas beweglich. Lähmungen. Im linken Bein ist
keine Einzelbewegung möglich, im rechten sind die Bewegungen sehr unaus¬
giebig. — Sensibilität: Berührungen werden nicht immer richtig angegeben.
Es besteht eine Sensibilitätsstörung ohne genaue Grenzen. Lage fühl rechts
intact, links oft Verwechselungen. — Keine Bauchdeckenreflexe. Patellar¬
reflexe wegen der Spannung nicht zu prüfen. Achillessehnenreflex ebensowenig.
Babinski beiderseits -(-. — Sonstige klin. Erscheinungen: Röntgenbild zeigt
eine Verschwommenheit des 10. u. 11. Brustw. — Diagnose: Compressions-
myelitis, wahrscheinlich durch einen extramedullären Tumor med. spin. im
Bereich des 8.—12. Brustw. Wegen Fehlens scharfbegrenzter Sensibilitäts¬
störungen genauere Localisation unmöglich. — Operation 2. 7. 10: Laminek¬
tomie. 6.—9. Brustw. Dura gespalten. — Operations- u. pathol.-anatom. Be¬
fund: Rückenmark in einer etwa 2 Querfingerbreiten Partie leicht verdickt,
zeigt eiue weissliche Farbe und leichte Vermehrung der Resistenz. Intra¬
medullärer Tumor. — Verlauf: 20. 7. Gut, ohne Veränderungen.
19 . A. G., 58 J. 15. 6. 10. Seit l 1 / 2 Jahren Rückenschmerzen in der
Nierengegend beiderseits, besonders links. Heftige Gürtelschmerzen. No¬
vember 08 wegen Schmerzen im Krankenbause, ebenso Ostern 09 (Rheumatis¬
mus). August 09 Schwäche in den Beinen, Parästhesien. Lähmung in den
Beinen bis vor 4 Monaten fortgeschritten, dann Stillstand. Blasenstörung (ln-
continenz). Potenz seit l 1 /« Jahren erloschen. — Motilität: Beide Beine im
Kniegelenk rechtwinklig gebeugt, können passiv nicht gestreckt werden, nur
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Dr. 0. Hildebrand,
etwa 50° weiter gebeugt werden. Muskeln enorm atrophisch. Adduction des
Oberschenkels beiderseits möglich, Abduction des Oberschenkels beiderseits
unmöglich. Im Knie leichte Beugung möglich. Fussstreckung und «Beugung
beiderseits in geringem Grade möglich, ebenso Zehenbewegung. — Sensibilität:
Pinselberührung und Nadel an den Beinen richtig. Penis und Scrotom Schmerz¬
empfindung. Am Rumpf für Nadel eine massige, aber deutliche Hypalgesie in
oberer Nabelgegend beginnend, ebenso am Rücken. Lagegefübl an der grossen
Zehe deutlich gestört. — Kniereflexe beiderseits lebhaft. Fussclonus beiderseits.
Babinski beiderseits. Cremasterreflex 0. Obere Bauchreflexe -J-. — Sonstige
klin. Erscheinungen: Contour des 11. Wirbelkörpers und unteren Theiles des
10. weniger scharf als die umgebenden. — Diagnose: Extramedullärer Tumor,
dessen obere Grenze entsprechend der Sensibilitätsstörung in Höhe des 10. Dor¬
salsegments gelegen ist. — Operation 7. 7. 10: Laminektomie. 7., 8., 9. Brust¬
wirbelbogen. Sohluss der Dura durch Naht. — Operations- u. pathol.-anatom.
Befund: Weder ausserhalb noch innerhalb der Dura nach Eröffnung derselben
ein Tumor nachzuweisen. Nicht die geringste Abweichung vom normalen Bild.
Sondirung nach oben und unten frei möglich. Also wohl intramedullärer Tu¬
mor. — Verlauf: 27. 7. Glatt. Zustand unverändert. Pat. muss alle 4 Stunden
katheterisirt werden. 10. 10. Zustand unverändert.
20 . E. F., 50 J. 17. 2. 10. Frühjahr 05 Kriebeln in beiden Beinen bis
zum Knie. Allmählich schmerzhafte Contraotionen. Kann seit Februar 09 nioht
gehen. Seit Mai 09 bestehen in beiden Beinen Contraoturen. Pat. sah im
Mai 09 doppelt. — Motilität: Untere Extremitäten starke Spasmen. Adductions-
contractur in der Hüfte. Flexionscontraotur im Knie. Rechtwinklige Stellung
im Fussgelenk. Plantarflexion der Zehen. — Sensibilität: Lagefühl und Sensi¬
bilität intact. Boi passiver Streckung der flexionscontracturirten Beine starke
Schmerzen. — Reflexe sehr lebhaft. Fussclonus beiderseits. Babinski. —
Sonstige klinische Erscheinungen: An beiden Beinen Decubitalgeschwüre. —
Diagnose: Spastische Paraparese? Sclerosis multiplex. Tumor med. spinalis.
— Operation 4. 7. 10: Laminektomie. 5.—7. Brustw. Schluss der Dura. —
Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Extradural zeigt sich nichts. Nach
Eröffnung der Dura fliesst sehr reichlich Liquor ab unter starkem Druck. Die
dem Rückenmark aufliegenden Venennetze sind sehr stark gefüllt. — Verlauf:
Wunde glatt geheilt. Zustand ohne Veränderung. (Siehe No. 5 der Wurzel¬
durchschneidungen.)
Ueber Meningitis serosa nnd die pathologische Anatomie meiner
ßfickenmarkstnmoren.
Wie aus meinen Angaben hervorgeht, befanden sich unter
meinen mit der Diagnose Tumor operirten Kranken zwei, bei denen
wir bei und nach der Operation die Diagnose auf Meningitis serosa
stellten. Diese Meningitis serosa ist ja ein umstrittenes Gebiet.
Findet man nach der Eröffnung der Dura keinen Tumor, dagegen
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Beitrag zur Rückenmarkschirurgie.
227
aber eine Flüssigkeitsansammlung mehr oder weniger scharf um¬
schrieben in den Arachnoidealsäcken, so ist man geneigt eine
Meningitis serosa als Ursache der Rückenmarkserscheinungen an¬
zunehmen, ohne freilich in jedem Falle irgend eine bestimmte Vor¬
stellung von dem Zustandekommen dieser Krankheit zu haben.
Giebt es überhaupt eine Meningitis serosa spinalis als selbstständiges
Leiden und als Ursache von schweren Rückenmarkserscheinungen?
Auch im Hirn rechnen wir gelegentlich mit dieser Krankheit.
Zweifellos sieht man am Hirn oft sackartige Flüssigkeitsansamm¬
lungen, von denen es freilich schwer zu sagen ist, ob sie nur auf
Stauung oder auf einer Art bindegewebiger Abkapselung beruhen.
Besonders am Kleinhirn ist das schwer zu beurtheilen. Anderer¬
seits haben wir doch regulär bei der Epilepsie den Befund einer
mehr oder weniger ausgebreiteten Meningitis fibrosa serosa mit cir-
cumscripter Flüssigkeitsansammlung in den Maschen, die wir mit
allem Recht als wesentliches Moment, als Ursache der Epilepsie an¬
sprechen können. Und ferner sieht man nach Verletzungen des
Schädels — ohne Meningenverletzung — mit Temperatursteigerungen,
das Bild einer Meningitis serosa sich entwickeln, die sich bei der Trepa¬
nation sicher nachweisen und heilen lässt. Ich verfüge über zwei
solcher Fälle. Wenn man nun auch sehr skeptisch sein muss in
der Annahme einer Meningitis serosa chronica, so spricht, glaube
ich, doch mancherlei, besonders in dem einen meiner Fälle für die
^tatsächliche Existenz einer solchen als Ursache schwerer Rücken¬
markserscheinungen. Der eine Fall kam leider drei Wochen nach
der Operation zur Section, und da erwies es sich, dass kein Tumor
da war, bei der Operation fand man die Dura prall vorgewölbt
und in den Maschenräumen der Arachnoides ca. 20 ccm klarer
Flüssigkeit sackartig abgegrenzt. Das Rückenmark, das bei der
Operation normal in Farbe und Consistenz erschien, zeigte aber
bei der Section des Brustmarkes die Hinterstränge etwas
grau bis zum unteren Theil des Brustmarkes. Hier bleibt
also noch die Möglichkeit, dass die Flüssigkeitsansammlung nur
ein Begleitprocess der Rückenmarksveränderung war, die die Ur¬
sache der klinischen Erscheinungen war. Dieser Fall wird noch
durch genaue mikroskopische Untersuchung klargestellt werden. Im
andern Fall, wo bei einer 71jährigen Frau seit D /4 Jahr eine
schwere Sensibilitäts- und Motilitätsstörung in allen 4 Extremitäten
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Dr. 0. Hildebrand,
sich entwickelt hatte, fand sich im Bereich der unteren Halswirbel
ebenfalls eine circumscripte sackartige Ansammlung von viel klarer
Flüssigkeit in der Arachnoides, ohne dass sich weiter etwas Ab¬
normes nachweisen liess. Und dieser Fall ist vollständig gesund
und leistungsfähig geworden. Es sind jetzt 17 2 Jahre seit der
Operation. Bei diesem langen Bestand der Heilung glaube ich
kein Recht zu haben an der wirklichen Existenz einer einen Tumor
vortäuschenden Meningitis serosa zu zweifeln. Damit ist freilich
über den eigentlichen Process und seine Aetiologie nichts gesagt.
In der Anamnese findet sich weder ein Trauma noch eine Infections-
krankheit.
Unter den wirklichen Tumoren, die sich bei meinen Lamin-
ektomien fanden, sind zwei Gruppen zu unterscheiden, erstens
solche, die von den Wirbelknochen ausgingen — also vertebrale
— und solche von den Rückenmarkshäuten, resp. dem Rücken¬
mark selbst: intravertebrale.
Zu den von den Wirbelknochen ausgehenden rechne ich zu¬
nächst den Fall Sp., No. 1, von der Halswirbelsäule (3.—1. Hw.).
Im Wirbelcanal fanden sich sehr weiche sulzige Massen eines grau-
röthlichen Tumors, die auf der Vorderseite des Rückenmarks
zwischen Dura und Knochen sassen, vom 3. Halswirbel bis zum
Hinterhaupt reichten, die sich aber auch ausserhalb des Wirbel¬
canals zu einer länglich ovalen wallnussgrossen Geschwulst ent¬
wickelt hatten. Zwischen 2. und 3. Wirbel coramunicirten beide
Geschwülste miteinander. Bei der mikroskopischen Untersuchung
ergab sich ein gemischtzeiliges Sarkom mit myxomatösen Ver¬
änderungen. Der Wirbel selbst war frei, aber arrodirt. Der Aus¬
gangspunkt war wohl das Periost.
Ebenfalls zu den mit Sicherheit vom Knochen ausgehenden Ge¬
schwülsten gehört ein riesiges Enchondrom des Kreuzbeins (Fäll
K., No. 14), das den Bau eines gewöhnlichen Enchondroms hatte.
Das Kreuzbein ist ja nicht so sehr selten Sitz solcher Enchondrome.
Betheiligt war der Knochen auch in einigen anderen Fällen,
wenn er auch nicht der Ausgangspunkt war. Das war der Fall
bei einigen Geschwülsten, die innerhalb des Wirbclcanals also intra-
vertetral aber extradural sassen, die aber den Knochen stellenweise
angefressen hatten und auch etwas nach aussen durch die Bögen
gewuchert waren.
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Beitrag zur Rückenmarkschirargie.
229
Dahin gehört zunächst der Fall D., No. 11. Da quollen bei der
Operation graue blutreiche, weiche Massen zwischen den Bögen des
5. u. 6.Brustwirbels hervor. Diese Massen hatten sichinkleineKnochen-
höhlen der Wirbel hineingepresst und hüllten das Rückenmark,
bezw. die Dura in der Länge von 5 cm auf der Rückseite ein.
Der anstossende Wirbelfortsatz war cariös. Die mikroskopische
Untersuchung ergab ein gefässreiches Rundzellcnsarkom.
Grosse protoplasmareiche Zellen mit theils runden, theils
ovalen Kernen und Mitosen und zahlreiche capilläre Bluträume.
Als weiterer Beweis, dass der Tumor nicht vom Knochen ausging,
kann die Thatsache dienen, dass der Patient jetzt 2y 2 Jahre nach
der Operation gesund ist, ohne dass doch der Knochen wegge¬
nommen wurde (Fig. 1).
Ferner der Fall Schw., No. 16. Hier fand sich im Bereich des
4.—6. Brustwirbels auf der Aussenseite der Dura aufsitzend, eine
flache, weiche, blaurothe Geschwulstmasse, die hinten von der
Mittellinie beginnend nach rechts herum bis zur Vorderseite in das
umgebende Fett hineingewachsen war und den einen Bogen arrodirt
hatte. Mikroskopisch war es ein Rundzellensarkom mit meist
grösseren protoplasmareichen Rundzellen (Fig. 2 und 3).
Es gehört weiter dazu der Fall L., No. 5: Hier war der 3 cm
lange Tumor von hinten zwischen Knochen und Dura besonders
nach links hineingewachsen, hatte den Knochen etwas ausgehöhlt
und das Rückenmark beiseite gedrängt, comprimirt und erweicht.
Bei der mikroskopischen Untersuchung stellte es sich als ein
Endothelioma fibrosum mit Psammomkörpern heraus. Auch
hier ist der Ausgangspunkt von den Häuten, und nicht vom Knochen,
noch dadurch sichergestellt, dass die Pat. seit 3y 2 Jahren geheilt
ist, ohne dass der Knochen weggenommen wurde (Fig. 4).
Ferner der Fall B., No. 8. Bei ihm füllte eine dunkelblau-
rothe, leicht zerreissliche Masse den Canal hinten in der Ausdehnung
von 2 Bögen aus, war rechts zwischen den Bögen etwas nach
aussen gewachsen und hatte einen kleinen Knochendefeet gemacht.
Die mikroskopische Untersuchung ergab ein Sarkom der Rücken¬
markshäute. Zahlreiche neugebildete Gefässe, theils mit Höfen radiär
angeordneter bläschenförmiger Endothelzellen, theils mit hyalinen
Höfen liegen in grossen Mengen rundlicher Gesclnvulstzcllen. An
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230 Dr. 0. Hildebrand,
manchen Stellen erinnert das Bild sehr an das von Endotheliomen
(Fig. 5 und 6).
Ganz unberührt blieb der Knochen in dem Fall D., No. 6, in
dem sich hinten etwas nach links von der Mittellinie ebenfalls extra-
dural ein pflaumengrosser blaurother Tumor fand, der zum Knochen
keine Beziehung hatte. Bei ihm handelte es sich um ein Fibro-
sarkora. Mikroskopisch: Längs und quergetroffene öfters scharf
abgegrenzte Bündel von Spindelzellen. Bei c eine Riesenzelle. Sehr
bemerkenswerth ist es, dass sich bei ihm eine kirschgrosse Me¬
tastase in der Leber fand (Fig. 7).
Es folgen nun eine Reihe von intraduralen, extramedullären
Tumoren sehr verschiedener Art.
Zunächst ein fibromatöses Angiom.
Das ist der Fall H., No. 12. Da fand sich entsprechend dem
10. Brustwirbel ein über kirschgrosser, 2 cm langer, l 1 / 2 cm breiter,
s / 4 cm dicker gefässreicher Tumor von weicher Consistenz, der
mikroskopisch folgendes Bild darbot:
Zahlreiche erweiterte, zum Theil blutgefüllte, zum Theil ob-
literirte Gefässe, umgeben theils von homogenen Ringen, theils von
starken Zügen circulär angeordneten derben Bindegewebes (Fig. 8
und 9).
Ferner der Fall B., No. 9.
Da sass im Bereich des 5. und 6. Brustwirbelbogens ein 2 cm
langer, ovaler Tumor links auf dem R.-M. in einer kleinen Mulde
des R.-M. und war mit der Innenseite der Dura leicht verwachsen.
Mikroskopisch war es einFibro-Endothelioma psaramosum. Um
die sehr zahlreichen äusserst vermehrten Gefässe finden sich opake
Höfe und Zellringe von endothelialem Charakter mit Einschluss
zahlreicher typischer geschichteter Kalkkörperchen. Viele Gefässe
sind obliterirt. Zwischen den Gefässen liegen Haufen von Zellen mit
rundlichen und ovalen Kernen. Hier und da finden sich auch
endotheliale Schichtungskugeln (Fig. 10).
Ferner der Fall B., No. 3: (4.—7. Halswirbel).
Hier erschien das R.-M. geschwollen, nach Spaltung der Dura
floss kein Tropfen ab. Es lag eine gelbliche verfettete Masse vor,
die sich nach beiden Seiten abziehen liess, und nun lag in der
Arachnoides ein dunkelgraublauer weicher Tumor vor, der die
Höhle ganz tamponirte, sich aber gut stumpf ausschälen liess. Bei
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Beitrag zur Rückeomarkschirurgie.
231
der mikroskopischen Untersuchung fand sich folgendes: Maassgebend
für die Gestaltung des Tumors sind die zahlreichen neugebildeten
Gefässe, die von Zellmänteln umgeben sind, die stellenweise zu
rundlichen Bezirken vereint und abgegrenzt voneinander sind, stellen¬
weise aber ineinander übergehen. Die Gefässe haben einen breiten
Ring, hyalindegenerirte Wand. Während die Endothelien, die das
Lumen begrenzen, als solche sehr deutlich sind, haben die Zellen
in der Umgebung der hyalinen Mäntel rundliche Form und mehr
oder weniger rundliche, bezw. ovale Kerne. Stellenweise sind die
Zellen strahlenförmig um die hyalinen Gefässmäntel angeordnet.
An einzelnen Partien findet sich zartmaschiges Gewebe mit wenig
Kernen. Bei a liegt ein mit fast cylindcrförmigem Endothel aus¬
gekleideter mit Blut gefüllter Spaltraum. Es handelt sich also um
ein sehr gefässreiches Endotheliom (Fig. 11 und 12).
Ferner der Fall K., No. 13 (2.—4. Lendenwirbel):
Nach Incision der Dura quellen ganz weiche Tumormassen
vom Aussehen blutreicher Granulationen heraus, die nach oben bis
zum 12. Brustwirbel und nach unten weit ins Kreuzbein reichen.
Sie überziehen die Stränge der Cauda cquina und lassen sich nur
abschaben und auslöffeln, ohne dass eine vollständige Wegnahme
möglich wäre. Es handelt sich also um einen diffusen resp. um
multiple Tumoren der Arachnoides der Caudastränge.
Bei der mikroskopischen Untersuchung ergibt sich das Bild
eines zottenförmigen, papillären Endo- resp. Perithelioms
der Arachnoides. Aeusserst zarte lockere Bindegewebsstränge,
von rundlicher oder ovaler Form auf dem Querschnitt, im Innern
derselben zarte Gefässe, die zum Theil einen breiten homogenen
Mantel um sich haben, auf dem nach aussen ein Besatz von
spindeligen und rundlichen Zellen sitzt, an manchen Stellen direct
von einem Band von spindeligen Endothelzellen als Begrenzung
überzogen. Also wie Papillen. Auch das an die Gefässe an-
stossende Bindegewebe ist zum Theil hyalin verändert. Die Zell¬
überzüge stehen stellenweise so dicht einander gegenüber, dass
dann drüsenartige Gebilde von freilich irregulärer Form vorgetäuscht
werden. Stellenweise ist das Endothel stark vermehrt in 5 bis
6 Schichten aufeinander. Nur an einzelnen Stellen stehen die Zellen
radiär und haben cylindrische Form (Fig. 13).
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232
Dr. 0. Hildebrand,
Es zeigt sich auch in unseren Fällen, dass die Endotheliomc
meist intradural und extramedullär sitzen.
Nicht klargestellt wurde der Fall M., No. 15.
Da war die hintere Kreuzbeinwand äusserst verdünnt, sodass
man direct einbrach und nach Entfernung des Knochens eine bläu-
lich-rothe Schwellung sah. Es liess sich zunächst eine zarte Mem¬
bran ablösen und dann kam eine bläulich grüngelbe feste Hülle
zum Vorschein, die incidirt eine grosse Menge braunrother Flüssig¬
keit entleerte. In der Höhle verliefen die Nerven, die Höhle war
glattwandig. Die feste Hülle war also die Dura, die mit viel
freier braunrother, also bluthaltiger Flüssigkeit gefüllt war und so
den Eindruck einer grossen Cyste machte. Ein Tumor fand sich
nicht, doch möchte ich annehmen, dass doch ein Tumor vorliegt.
Leider habe ich den Patienten nicht zu einer nochmaligen Unter¬
suchung bekommen können.
Und schliesslich der Fall F., No. 10, der meines Wissens ein
Unicum darstellt.
Hier fand sich etwa in der Höhe des 5. Brustwirbels intradural
eine kleinwallnussgrosse Cyste, hinten, mitten und etwas nach
rechts auf dem R.-M. gelegen, die in der Arachnoides sass und
das R.-M. zu einem dünnen Strang comprimirt und nach links
gedrängt hatte. Die Cyste enthielt klare, gelbe Flüssigkeit, war
ziemlich dickwandig, die Wand bestand scheinbar aus mehreren
Schichten. Sie liess sich leicht ohne jede Gewalt stumpf aus¬
schälen, und hing, wie es schien, mit dem R.-M. oder den Wurzeln
nicht inniger zusammen.
Schnitte durch die Wand ergaben der Hauptsache nach zwei
Schichten, aussen derbe, wellige Bindegewebszüge, wie Dura oder
veränderte Arachnoides, innen glioraatöses Gewebe, mit ziemlich
viel Gefässen, zwischen beiden vielfach grosse Gefässe. Schon
makroskopisch sieht man auf der Cystenwand viele Gefässe. Das
gliomatöse Gewebe ist sehr feinmaschig; specifische Rückenmarks-
zellen, Ganglienzellen sind nicht zu sehen, aber an einzelnen Stellen
grosse Zellen mit mehreren grossen ovalen Kernen, wie sie in
Gliomen gelegentlich beobachtet wurden.
Wie ist diese Cyste zu erklären? Wenn man bedenkt, dass
die Cyste ein gliomatöses Gewebe hatte, und dass der Tumor hinten
in der Mittellinie lag, so liegt wohl die Erklärung nahe, dass wir
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Beitrug zur Rückenmarkschirurgie.
233
es mit einer Cyste zu thun haben, die aus einem Keim von Rücken¬
marksgewebe entstanden ist, der beim Schluss des R.-M. vom
R.-M. abgetrennt und in den Häuten liegen geblieben ist. Dieser
Rückenmarkskeim hat sich dann zu einem cystischen Gliom ent¬
wickelt, in dem die Cyste immer mehr wuchs, die R.-M.-Substanz
aber immer mehr schwand. Irgend ein Analogon in der Literatur
habe ich nicht finden können (Fig. 14, 15 und 16).
Von den zwei Fällen von intramedullären Tumoren erwies
sich der eine als ein Gliosarkom, das aus einem Filzwerk feiner
Fäden und zahlreicher Rund- und Spindelzellen bestand. Auch
einzelne grosskernige Zellen waren darunter. Der andere kam
nicht zur Section.
Resumiren wir noch einmal. 20 mal habe ich wegen der mehr
oder weniger wahrscheinlichen Diagnose eines Tumors des Rücken¬
marks resp. seiner Häute operirt. Darunter waren 2 Fälle, in denen
sich kein Tumor fand, 2 Fälle wo der Tumor intramedullär lag,
1 sicherer Fall von Meningitis serosa, 1 nicht absolut sicherer,
1 intradurale Cyste der Arachnoides, 1 intradurales cystisches
Gliom, 3 intradurale Endotheliome, 1 intradurales Angioma fibro-
matosum, 3 extradurale Sarkome, 1 extradurales Fibrosarkom,
1 extradurales Endotheliom und 2 vertebrale Tumoren, (1 Enchon-
drom und 1 Sarcoma myxomat.).
Das Rückenmark war stets nur beeinträchtigt durch Druck,
der Tumor war aber nie hineingewachsen, hatte es nie infiltrirt.
Während Schlesinger sagt, die Rückenmarkstumoren machen
keine Metastasen, verfüge ich über einen Fall von extraduralem
Fibrosarkom, in dem eine kirschgrosse Metastase in der Leber sass.
Wurzeldurchschneidungen.
Aus sehr verschiedenen Gründen habe ich bei 6 Kranken
7 Mal intradurale Wurzeldurchschneidungen ausgeführt. 3 Mal
waren es die sensiblen Wurzeln der Nerven der oberen Extremi¬
täten. Die Indication war gegeben in einem Fall durch die heftig¬
sten Schmerzanfälle im Arm wohl auf luetischer Basis, der andere
Fall durch unerträgliche Schmerzen in Folge eines Carcinorareci-
dives, dessen Entfernung aus dem Plexus nicht vollständig ge¬
lungen war. 2 weitere Operationen von Wurzeldurchschneidungen
wurden im Bereich der Lendenwirbelsäule vorgenommen, im ersteren
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234
Dr. 0. Hildebrand,
Fall wegen Neuralgien im rechten Bein, die durch nichts zu be¬
seitigen waren, und deren Ursache unklar blieb, im zweiten bei
einer 50jährigen Frau wegen spastischer Contracturen in Folge
multipler Sklerose. Ein Tumor hatte sich bei einer früheren Ope¬
ration nicht gefunden.
Schliesslich bei 2 Kindern wegen Little’scher Krankheit.
Einem 2 7 2 Jahre alten und einem 7 Jahre alten Kinde wurde die
hintere 1. resp. 2. Sacral- und die 5., 3. und 2. Lendenwurzel beider¬
seits durchschnitten.
Dass die Erfolge bei den Wurzeldurchschneidungen wegen
Neuralgie nicht immer gerade sehr befriedigend waren, das er¬
klärt sich ohne Weiteres daraus, dass es unklare, unsichere Fälle
waren, bei denen man nicht mit Sicherheit sagen konnte, dass die
Stelle der Wurzeldurchschneidung wirklich central vom Krankheits¬
herd war. Besserungen wurden erzielt, aber keine Heilung. Der
erste Fall erinnert sehr an den ersten Fall, bei dem überhaupt eine
Wurzeldurchschneidung gemacht wurde, an den ersten von Abbe 1 ).
Sehr auffallend war es in diesem Fall, wo bei der ersten Opera¬
tion die 7. und 8. Halswurzel durchschnitten war, dass der Patient
tagelang nach der Operation vollständig schmerzfrei war, so dass
er ruhig und zufrieden war, während er vorher stets von heftigsten
Schmerzen geplagt mit verzogenem Gesicht und gekrampftem Arm
in seinem Bett lag. Als sich aber wieder Schmerzen einstellten,
glaubte ich die Ursache dafür in productiven Veränderungen an
den Durchschneidungstellen der centralen Stümpfe sehen zu müssen.
Schliesslich stellten sich die Schmerzen in alter Stärke wieder ein
und wurden so heftig, dass ich 8 Wochen später den Patienten
nochmals einer Wurzeldurchschneidung unterwarf, diesmal war es
die 6. Cervical- und die 1. Dorsalwurzel. Die Operation war gut
und glatt gelungen, als Patient plötzlich collabirte und nicht mehr
zu retten war. Die Section erwies keine Ursache für den Tod.
Meiner Ueberzeugung nach starb der elende Mann an zu starkem
Abfluss der Cerebrospinalflüssigkeit, die durch eine Hebung
des Kopfes zu Stande kam.
Sehr bemerkenswerth war der andere Fall von Wurzeldurch¬
schneidung an der Halswirbelsäulc dadurch, dass trotz Durch-
1) Abbe, Contributions to tlic surgery of the spinc etc. New York mcd.
Record. 1889. 1890.
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Beitrag zur Kückenmarkschirurgie.
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schneidung sämmtlicher sensibler Wurzeln die Schmerzen nach
Angabe der Patientin nicht verschwunden waren. Freilich war
Patientin in ihren Angaben nicht zuverlässig, da der Wunsch nach
.Morphium sie stark beherrschte. Dasselbe gilt von der einseitigen
Wurzeldurchschneidung im Bereich der Lendenwirbelsäule wegen
heftigster Schmerzen im Bein etc. Hier trat ganz zweifellos eine
wesentliche Besserung ein, Patient klagte aber über analogo
Schmerzen im anderen Bein. Da der Kranke auch an schwerer
Arteriosklerose litt, so war die Diagnose bis zuletzt zweifelhaft.
Bei den spastischen Contracturen war bei dem 2y 2 jährigen
Kind ein relativ guter Erfolg zu verzeichnen. Die Contracturen
sind geschwunden, das Kind fängt an zu stehen, der ganze Erfolg
ist aber dadurch noch nicht ganz in die Erscheinung getreten, dass
das Kind geistig nicht normal ist, ausserdem noch eine angeborene
Luxation im Hüftgelenk hat und dann bei seiner Jugend (es ist
wohl das jüngste Kind, an dem wegen Little’scher Krankheit die
Fürster’sche Operation gemacht wurde) nicht in entsprechender
Weise nachbehandelt w’erden konnte. Das zweite Kind, bei dem
die Förster’sche Operation gemacht wurde, hat auch alles gut
überstanden, aber über das Endresultat lässt sich noch nichts sagen.
Die spastischen Contracturen der 50jährigen Frau hatten sich
wesentlich gebessert, doch starb die Patientin mit vollständig ver¬
narbter Wunde circa 2 Monate nach der Operation an Lebens¬
schwäche.
Wir haben also unter diesen 7 Operationen einen Todesfall
durch die Operation zu verzeichnen, der hätte vermieden werden
können. Bei den übrigen kam es zu glatten Heilungen. Nach¬
theile der Wurzeldurchschneidungen habe ich in keinem Fall ge¬
sehen, wenn nicht etwa ein starker Decubitus in dem einen Fall,
wo 1, 3, 4, 5 der Lendenwurzeln beiderseits durchschnitten wurden,
darauf zu beziehen ist. Die Wurzeldurchschneidungen, die jetzt
durch die Förster’sche Indicationsstellung bei der Little’schen
Krankheit an Gebiet gewonnen haben, wurden schon 1889 von
Abbe wegen Neuralgien ausgeführt. Chipault führte im Jahre
1893 5 solcher Operationen auf, worunter auch eine von Bonn et
im Bezirk der 1., 3., 4., 5. Lenden- und der 1. und 2. Sacral-
wurzel ist. Dabei erwähnt Chipault, dass sowohl intradurale
als extradurale Wurzeldurchschneidungen gemacht worden waren,
Archi? für klis. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2.
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Dr. 0. Hildebrand,
wofür ich freilich keine näheren Angaben habe finden können.
Also auch der neueste technische Vorschlag von Gulecke wäre
schon vor 20 Jahren gemacht und ausgeführt worden.
1. F. VV., 48 J. 6. 1. 10. Grossmutter gest. an Geisteskrankheit, Vater
an Dementia paralyt. Pat. batte bis zum 7. Jahre Geschwüre am Körper. Seit
jeher Beschwerden beim Uriniren. November 09 Reissen und heftige Schmerzen
zuerst im kleinen Finger der linken Hand, nachher zeitweise auch in der Hand.
Schmerzen in der linken Hand dauernd, in der rechten Hand mehr Kriebeln.
Daneben Gürtelgefühl und Athembeklemmungen. — Motilität: Gang bei ge¬
schlossenen Augen schwankend. Romberg: schnelle Schwankungen. Fundus
o. Bes. Pupillen sehr eng, wenig verzogen. Pupillenlichtreflex links schwach -j-,
rechts —. — Sensibilität: Aeusserst heftige Schmerzen in der linken Hand und
im linken Arm, bei denen der kleine Finger sich krampfhaft abspreizt, das
Gesicht stärker verzogen wird und Pat. nach der linken Wange greift. — Reflexe:
Babinski-j- rechts und links, fast isolirt zu erhalten. Fussclonus angedeutet.—
Sonstige klin. Erscheinungen: Trotz aller angewandten Mittel Schmerzen un¬
erträglich (Natr. jodat., Seifenbäder, Antipyrin, Atropin, Rhumasan). — Dia¬
gnose: Neuritis luetica. Lues der Wurzeln oder des Rückenmarkes. — Ope¬
ration 23. 2. 10: Laminektomie. Proc. spinös. 5, 6, 7 und Bogen 6, 7. Spal¬
tung der Dura. Linke hintere Wurzeln 7 u. 8 durchschnitten. — Operations-
u. pathol.-anatom. Befund: Die Aussenfläche der Dura ist injicirt, zeigt Auf¬
lagerungen. Nach Spaltung der Dura entleert sich reichlich Liquor cerebro¬
spinalis. Die Arachnoidea ist spinnewebartig verdickt. — Verlauf: Glatt.
Wunde geheilt. Befinden anfangs wechselnd, tagelang gar keine Schmerzeu,
gar keine Krämpfe im Arm, dann wieder sehr heftige Schmerzen. Schliesslich
dauernd sehr heftige Schmerzen. — Da Pat. wieder ausserordentlich heftige
Schmerzen andauernd hat, zweite Operation 16.4.10: Laminektomie. 4.Dom
und 4. u. 5. Bogen weggenommen. Dura mit der Narbe verwaohsen, abgolöst.
Dura gespalten. Linke hintere 6. Cervicalwurzel und 1. Dorsalwurzel durch¬
trennt. Naht der Dura. — Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Die Pia des
Rückenmarks grauweisslich verdickt. Sehr viel klarer Liquor. Von den durch-
tronnten Wurzeln 7 u. 8 sieht man die Stümpfe. — Verlauf: Plötzlicher Tod
im Collaps, trotz anhaltender künstlicher Athmung. — Sectionsbefund:
Geringe chronische Leptomeningitis. Blutige Suffusion der Pia. Schwellung
der obersten linksseitigen Cervicalganglien. Ependymitis granularis. Fettherz.
Milzschwellung. Chronische Cystitis. Suffocationsstellung der Epiglottis.
2. J. L. aus Charkow, 60 J. Vater Alkoholiker, Schwester ebenso. Pat.
starker Raucher, Abstinenzler. October 09 beim Heben Schmerzen in der
rechten Glutäalgegend und im rechten Hüftgelenk. Dann öfters allnächtlich,
aber anlallsweise. Gebessert durch Salicyl. November 09 Schmerzen constant
im rechten Ober- und Unterschenkel, besonders an der Aussenseite. — Moti¬
lität: Richtet sich mit Unterstützung im Bett auf, hebt die Beine aus dem Bett
und kann einige Minuten stehen. Dabei zieht er das rechte Bein an und steht
mehr auf dem linken. Bewegungen rechts und links ungehindert. Keine Spas-
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Beitrag zur Rückenmarkschirurgie.
237
men. Atrophie der rechten Glutäal- und Beinmusculatur. Fibrilläre Zuokungen
im Gebiet der Musculi peronaei. — Sensibilität: Starke constante Schmerzen
im rechten Unterschenkel und Fuss. Ausserdem acut auftretende Schmerzen
im Gebiet des N. peronaeus dexter. Bei jeder Bewegung, jedem Schritt die
heftigsten Schmerzen. Ischiadious nicht druckempfindlich. Sensibilität nicht
gestört. Der rechte Unterschenkel und Fuss auf Druck sehr empfindlich.
Elektrische Erregbarkeit beiderseits stark herabgesetzt r. ^>1. Keine E aR. —
Patellar- und Achillessehnenreflex beiderseits gleich und nicht gestei¬
gert. Babinski negativ. — Sonstige klin. Erscheinungen: Ausgesprochene
Arteriosklerose. Oedeme und leichte Cyanose beider Füsse (r.^>l.).
Wirbelsäule nirgends druckempfindlich. Bewegung frei. In der Höhe des
5. Lendenw. eine geringe harte Prominenz. Röntgenbild ohne Besond. Lum-
balpunction: Klare Flüssigkeit. — Operation 1. 6. 10: Laminektomie. 1. bis
5. Lendenwirbelbogen. Wurzeldurchschneidung hinten rechts. Naht der Dura.
Dura sehr zart, zerreisslich. Tampon. Naht der Weichtheile. — Pathologisch¬
anatomisch nichts Besonderes. — Verlauf: Glatt. Nach Entfernung des Tam¬
pons fliesst etwas klare Cerebrospinalflüssigkeit. Diese versiegt bald. Wunde
geheilt. — Resultat: Zeitweise Schmerzen sehr viel weniger, ja verschwunden,
ln letzter Zeit klagt Pat. öfters übor das linke Bein. 15. 7. giebt er an, er
hätte dieselben Schmerzen wie früher. Sensibilität überall intact. Es bleibt
unklar, oh die Angaben des Pat. wahr sind. Auf Wunsch entlassen.
3. F. Brustcarcinom, vor 7 Jahren operirt. Jetzt sehr heftige Schmerzen
im linken Arm von der Hand an. In der Supraclaviculargrube Knoten in der
Plexusgegend. Quere Excision eines Knotens im Plexus, der ein metastatisches
Carcinom ist. Keine Besserung. Keine Sensibilitätsstörung. Andauernd heftige
Schmerzen. — Motilität nicht beeinträchtigt. — Sensibilität: Aeusserst heftige
Schmerzen im linken Arm. Kann die Hand und den Arm kaum bewegen vor
Schmerzen. — Diagnose: Carcinom der Nerven des Plexus brach, in der Nähe
derWurzeln. — Operation 16.7.10: Laminektomie. 5.—7. Halsw., 1., 2. Brustw.
Hintere linke Wurzeln durchschnitten. Naht der Dura. Schluss der Wunde. —
Pathologisch-anatomisch nichts besonderes. — Verlauf: Glatt. Wunde geheilt,
platzt aber oberflächlich wieder auf.
4 . 0. M., 2y 2 J., unehelioh. 6. 2. 10. Seit der Geburt Lähmung der
Beine. — Motilität: Spastische Lähmung beider Beine derart, dass das Kind
ohne gestützt zu werden nicht gehen kann. Beim Gang werden die Beine ge¬
kreuzt. Spitzfussstellung. Passivem Spreizen der Beine wird erheblicher Wider¬
stand durch Anspannung der Adductoren entgegengesetzt. — Sensibilität nicht
erheblich gestört. — Reflexe an den Beinen gesteigert. Rechts Babinski deut¬
lich -{-, links unsicher. Fussclonus bei Beklopfen der Achillessehne beider¬
seits, l.^>r. — Sonstige klin. Erscheinungen: Stupider Gesichtsausdruck.
Spricht nicht, schreit blöde. — Diagnose: Little’sche Lähmung der Beine. —
I. Operation 12. 4. 10: Laminektomie. Wegnahme der Bögen der Lendenw. 1
bis 4. II. Operation 18. 4.: Wegnahme des 5. Lendenwirbelbogens. Becken¬
hochlagerung. Spaltung der Dura. Hint. 1. Sacralw., 5., 3., 2. Lendenw.
beiderseits durchschnitten. — Operations- u. pathol.-anatom. Befund: Dura mit
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238
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Fett überlagert. Die Lumbalwurzeln sind sämmtlich erbeblich feiner als die
1. Sacralwurzel. — Verlauf: Glatt. Wunde geheilt. 29. 6. mit Gypsverband
entlassen. — Resultat: 24. 11. Ganz bedeutende Besserung. Die Contracturen
sind weg. Das Kind macht Gehversuche. Wäre das Kind intelligent, so würde
das Resultat sehr viel besser sein.
5 . E. F., 50 J. 17. 2. 10. Siehe Tumoren. Zustand nach der 1. La-
minektomie unverändert. — Operation 23. 7. 10: Laminektomie. Bogen des 1.
bis 5. Lendenw. Wurzel 1, 3, 4, 5 durchschnitten beiderseits. Naht der Dura.
Jodoformgazetampon. — Verlauf: 28.7. glatt. 3.8. linke Niere grösser zu fühlen.
Trüber Urin. Leukocyten. Rückeuwunde geheilt. 8. 8. Extensionsverband.
Später Gypsverband. — Resultat: 5.9. auf Wunsch entlassen. Die Beine waren
gestreckt. Krämpfe weniger. Decubitus. Pyelonephritis. 24. 9. stirbt sie
zu Hause.
6. M. B., 7 J. Gegen Ende des 1. Jahres beobachteten die Eltern eigen-
thümlich steife Haltung der Beine. Das Kind machte keine Versuche, zu gehen
oder zu stehen. Keine Erkrankung vorher. — Motilität: Beide Beine im Hüft¬
gelenk leicht flectirt, ebenso im Kniegelenk. Starke Adduction. Füsse in ex¬
tremer Spitzfussstellung. Zehen plantarflectirt. Activ kein Ausgleich der Con¬
tracturen, passiv nur mit erhebt. Kraftaufwand. — Sensibilität: Keine gröberen
Störungen.— Patellarreflexe beiderseits gesteigert. Achillessehnenreflexe beider¬
seits lebhaft. Babinski 0. Fussclonus 0. — Sonstige klin. Erscheinungen: In-
telligenzdefecte mässigen Grades. — Diagnose: Diplegia spastica infantilis. —
Operation 7. 11. 10: Laminektomie. Wegnahme der Bögen des 1.—ö.Lendenw.
12.11. 10 II. Act: Durchschneidung der 2. Sacralw. und der 5., 3., 2.Lenden¬
wurzel beiderseits nach Spaltung der Dura. — Verlauf: 24. 11. glatt. Wunde
geheilt. Adductionscontractur ist verschwunden. Flexionscontractur auch ge¬
bessert. Die Spitzfusscontractur am wenigsten beeinflusst. Durchschneidung
der Achillessehne rechts.
Zur Technik der Laminektomie.
In den meisten Fällen habe ich die Laminektomie so aus¬
geführt, dass ich die Proc. spinosi geopfert habe. In einzelnen
Fällen jedoch wurden sie erhalten, indem ich sie in Verbindung
mit dea seitlichen Weichtheilen liess. Auf einen Längsschnitt dicht
neben den Proc. spinosi wird oben und unten ein Querschnitt ge¬
setzt. Nachdem dann auf der einen Seite Proc. spin. und Bogen
von Muskeln befreit sind, werden die Proc. spin. durch Meissei¬
schläge an der Basis von den Bögen abgetrennt und können nun
im Zusammenhang mit den Weichtheilen bei Seite gezogen werden.
Nach Beendigung der Operation am Rückenmark wird dann der
Lappen mit den Proc. spin. wieder darauf gelegt, und die Verheil¬
ung erfolgt so ausgezeichnet, dass man nichts von einer Knochen-
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Beitrag zur Kückenmarkschirurgie.
239
difformität sehen und fühlen kann. Die Wirbelsäule erscheint ab¬
solut normal. Das ist hervorzuheben gegenüber der Wegnahme
der Proc. spin., nach der öfters eine Delle an der Operationsstelle
zu sehen ist. Auserdem ist das Rückenmark durch die Wieder-
anheilung der Knochenfortsätze hinten mehr geschützt. Für die
Function aber scheint es gleichgültig zu sein, ob man sie erhält
oder nicht. Bei meinen geheilten Patienten war die Function
der Wirbelsäule, die Stütze, die Bewegungen nach allen Richtungen
hin so gut, wie man es nur wünschen kann, einerlei, ob es Hals¬
oder Brustwirbel gewesen waren. Eine Verbiegung der Wirbelsäule
trat nie ein, trotzdem kein Corsett getragen wurde, natürlich ab¬
gesehen von den Fracturen der Wirbelsäule. Die Wegnahme der
Bögen habe ich gewöhnlich mit der Luer’schen Zange oder der
de Quervain’schen Modification ausgeführt, was immer ohne
Schwierigkeiten, bei Kindern besonders leicht gelingt. Uebrigens
ist es keineswegs immer so einfach, mit aller Sicherheit den
7. Halswirbel zu bestimmen und damit eine richtige Abzählung
der Proc. spin. und der Wirbel zu machen. Und doch ist das von
so grosser Wichtigkeit bei der Bestimmung der Höhe, in welcher
man die betr. Segmente zu suchen hat. Da empfiehlt es sich zur
Sicherheit, auf den für die Vertebra prominens gehaltenen Proc.
spin. ein Stückchen Heftpflaster mit einem Metallplättchen zu
kleben, dann eine Röntgenaufnahme zu machen und so die Lage
dieses Heftpflasters zu dem 7. Wirbeldorn festzustcllen. So ge¬
winnt man absolute Sicherheit.
Die Dura habe ich immer vollständig zu schliessen vermocht,
dabei bin ich aber in einzelnen Fällen auf Schwierigkeiten ge-
stossen, weil die Dura so zart war, dass die Nähte ausrissen.
Auf die Dura wurde gelegentlich ein Streifen Jodoformgaze auf¬
gelegt und darüber die Weichtheile vereinigt. Die Heilung der
Wunde erfolgt gewöhnlich glatt ohne Complicationen. Wenn es
nach der Entfernung des Jodoformgazestreifens zum Abfluss etwas
blutigen Secretes oder von etwas Cerebrospinalflüssigkeit kam, so
versiegte das gewöhnlich in kürzester Zeit, so dass die Heilung
nicht gestört wurde.
Wenn ich nun meine Erfahrungen resumire, so sind es im
Canzen 48 Laminektomien an 46 Kranken. Von 10 Wirbelver-
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letzten starben 4 bald nach der Operation mehr oder weniger im
Anschluss daran, darunter 3 Halswirbelverletzte. Ich betone die
Gefährlichkeit der Operation an der Halswirbelsäule. Von 10 Tuber-
culösen starb keiner. Von 20 Tumoren starben 2, einer an Infee-
tion, einer im Collaps und dazu 2 inoperable. Ausserdem habe ich
noch 7 Wurzeldurchschneidungen mit einem Todesfall gemacht.
Damit kommen also auf diese 48 Fälle 9 Todesfälle, auf 38
(ohne die Verletzungen) 5 = 13,1 pCt., immerhin doch ein Resultat,
das nicht ganz ungünstig genannt zu werden verdient, wenn man
bedenkt, um wie schwere, aussichtslose Fälle es sich handelt.
bv Google
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XI.
(Aus der chirurg. Universitätsklinik der Königl. Charite zu
Berlin. — Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Hildebrand.)
Arbeiten aus dem Gebiet der Knochen¬
pathologie und Knochenchirurgie.
Von
Privatdocent Dr. Georg Axhausen,
Assistenten der Klinik.
(Hierzu Tafel VII und VIII und 10 Textfiguren.)
1. Kritische Bemerkungen und neue Beiträge zur
freien Knochentransplantation.
Vor etwa 2 Jahren suchte ich nach eingehenden Studien am
Menschen und am Versuchsthier den Gesetzen näher nachzugehen,
die dem Vorgang der Einheilung überpflanzter Knochenstüeke zu
Grunde liegen. Es lag mir daran, offenkundige Widersprüche
zwischen den vorliegenden Erfahrungsthatsachen und der herrschenden
histologischen Lehre aufzuklären und richtigzustellen, und weiterhin
eine zuverlässige Grundlage zu gewinnen, auf der ein rationeller
Aufbau erweiterter chirurgisch-operativer Hilfeleistung möglich wäre.
Eine recht stattliche Reihe von Veröffentlichungen hat sich an
die genannte Arbeit angeschlossen. Wenn auch zu meiner Genug-
thuung die bestätigenden Mittheilungen ganz erheblich überwiegen,
so hat es doch in einzelnen Fällen auch an gegentheiligen Stimmen
nicht gefehlt.
Eins kann als sicher angesehen werden: Das Interesse für die
freie Transplantation, nicht nur der Knochen, sondern auch anderer
Gewebe, ganz vorzüglich aber der Knochen, ist in der letzten Zeit
überall in erhöhtem Maasse zu Tage getreten, und man wird Barth
beipflichten müssen, wenn er in seiner letzten Arbeit über dieses
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Dr. G. Axhausen,
Thema hervorhebt, dass „der volle Tag für die Osteoplastik erst
jetzt beginnt“. w
Es sei mir daher gestattet, zu diesem Thema noch einmal das
Wort zu ergreifen, zumal ich neue klinische und histologische Bei¬
träge beizubringen in der Lage bin. Vor allem aber liegt mir
daran, an der Hand der nunmehr erweiterten Erfahrungen die Frage
zu beantworten, ob meine damals aufgestellten Sätze auch jetzt
noch zu Recht bestehen oder nicht, und was insbesondere von den
Einwürfen zu halten ist, die gegen sie erhoben worden sind.
Bevor ich jedoch diesem Theile der Arbeit mich zuwende,
möchte ich in aller Kürze über zwei Beobachtungen berichten, die
eine weitere Bereicherung unseres Thatsachenmaterials darstellen,
und auf die ich in den folgenden zusammenfassenden Ausführungen
zurückzugreifen habe.
Der erste Fall dürfte auch schon an sich ein erhebliches
klinisches Interesse darbieten; ja, ich glaube, nach Durchsicht der
Literatur annehmen zu müssen, dass es sich um ein Unicum handelt.
Die betreffende Patientin ist schon als Kind Gegenstand wissen¬
schaftlicher Beobachtung gewesen. Sie ist die Patientin, welche in
der grundlegenden Arbeit von Schlange über die solitären Cysten
der langen Röhrenknochen als Fall III „Femur-Cyste“ figurirt. Das
jetzige Leiden, deswegen sie im Jahre 1908, also 16 Jahre später,
unsere Klinik aufsuchte, stellt die Fortsetzung der damaligen
Erkrankung dar.
Ich finde in der Schlange'schen Arbeit folgende Angaben
über Anamnese, Befund, Operation und Verlauf:
Tjährigcs Mädchen. Patientin fiel vor 4 Jahren im Zimmer von einem
niedrigen Stuhl und zog sich dabei eine hochsitzende Fractur des rechten Ober¬
schenkels zu, die in der Klinik 7 Wochen mit Streckverband behandelt und
ohne DilTormität geheilt wurde. Die Bruchstelle war zur Zeit der Entlassung
vollständig fest, der Gang war ohne Hilfe möglich. Allmählich hat sich dann
eine schmerzlose Verkrümmung des Oberschenkels im obersten Drittel und eine
entsprechende Verkürzung des Beins eingestellt. Deren Ursache wurde hier
für eine centrale Erweichung gehalten und die operative Behandlung in der
Klinik angerathen. Aber erst 1 Jahr später, als die Verbiegung des Knochens
wesentlich zugenommen hatte, entschlossen sich die Eltern des Kindes, dasselbe
in die Anstalt aufnehmen zu lassen. Der Knochen erschien jetzt wenige Finger
breit unter der Trochanterspitze etwas, jedoch nicht erheblich aufgetrieben und
hier mit nach vorn und aussen gerichteter Convexität stark abgeknickt, war
dabei normal hart und etwas druckempfindlich; keine abnorme Beweglichkeit;
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 243
Hüftgelenk frei: die ganze Extremität etwas abgemagert, sonst im Längenwachs¬
thum nicht gestört, das Allgemeinbefinden vortrefflich.
28. 6. 92. Operation. Periost am Knickungswinkel bläulich durch-
schimmernd, unter ihm eine fast walnussgrosse Cyste mit serösem Inhalt, um¬
schlossen von einer nach oben und unten mehrereCentimeter sich ausdehnenden
weiss-gelblichen, stellenweise ins Bläuliche schimmernden derben Geschwulst,
die mit Meissei und scharfem Löffel gut entfernt werden kann, da sie sowohl
central wie peripherwärts eine glatte knöcherne Abgrenzung zeigt, welche die
Markhöhle abschliesst. Darauf Geradestellung des Femur nach Fracturirung
der Innenwand, Tamponade der Wunde mit Jodoformgaze, Secundärnaht.
Schnelle Heilung. Nach 8 Wochen sind die Bruchenden fest verwachsen.
Bei der mikroskopischen Untersuchung zeigt die innerste schmale Schicht
der Geschwulstmasse keine Epithelbildung; sie besteht lediglich aus streifigem
Bindegewebe ohne erkennbare Gefässentwicklung, aber mit vielen, ausgestreuten
Pigmentkörnern. Die äussere, gefässreiche Geschwulstzono hat faserknorpeligen
Bau und enthält zahlreiche Knochenbälkchen.
Vorstellung in geheiltem Zustande mit leichter Verkürzung.
Die weitere Geschichte dieses Krankheitsfalles enthüllt nun
eine interessante Entwicklung dieses Leidens:
Die Verkürzung hat im Laufe der folgenden Jahre mehr und mehr zuge-
nomnien, sodass die Patientin gezwungen war, eine immer stärkere Erhöhung
ihres rechten Stiefels vornehmen zu lassen. Gleichzeitig hat sich ganz all¬
mählich eine zunehmende Schwellung der rechten Hiiftgegend herausgebildet.
Etwa vom 10. Jahre nach der Operation an traten auch „rheumatische“ Schmerzen
im rechten Bein auf und der Gang wurde immer unsicherer. Am 6. 6. 08 glitt
Patientin in der Stube aus, sie konnte das rechte Bein nun nicht mehr ansetzen.
Wegen des offenkundigen Oberschenkelbruches w r urde sie (als Privatpatientin)
in die Klinik aufgenommen.
Bei dem im übrigen durchaus gesunden, nunmehr 23jährigen Mädchen
war das rechte Bein recht atrophisch und um IG cm verkürzt. Die Verkürzung
gehörte dem Oberschenkel an. Das Bein lag in Aussenrotation, das obere
Drittel des stark verkürzten Femur war von einer grossen deutlich abtastbaren,
harten, leicht knolligen, unempfindlichen Geschwulst eingenommen. Unterhalb
dieser Geschwulst war die abnorme Beweglichkeit festzustellen.
Von Interesse war das Röntgenbild (Fig. 1). Der etw T as flachgedrückte,
aufgebellte Kopf liegt in der Pfanne, der Hals steigt schräg nach oben, und
seine Achse bildet mit der Achse des Femur einen Winkel von etw'a 70°. Der
Hals, die Trochantergegend und das obere Viertel des Femur ist durch einen
grossen Tumor schalig aufgetrieben, der nach allen Seiten hin wohl abge¬
schlossen erscheint. Auch nach dem übrigen, etwas atrophischen, aber sonst
normalen Femur hin ist die Grenze durchaus scharf. Von der vorliegenden
Fractur ist röntgenologisch nicht viel zu sehen.
Nach diesem Befund und nach der bekannten Anamnese wurde
die Diagnose auf eine grosse wesentlich libromatöse. vielleicht Cysten
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Dr. G. Axhausen,
einschliessende Geschwulst des oberen Femurendes gestellt. Da
wohl zweifellos die im 3. Lebensjahre aufgetretene, durch einen
leichten Unfall bedingte Fractur des oberen Femurendes eine ge¬
wisse Entwicklung der Erkrankung schon damals wahrscheinlich
macht, so musste eine Entstehung in frühester Kindheit ange¬
nommen werden, wenn nicht sogar ein angeborenes Leiden vorlag.
Fig. l.
Vor der Operation.
Bei der Operation, die am 10. 9. 09. von Geheimrath Hildebrand
ausgeführt wurde, zeigte sich, dass der Tumor überall von einer Knochen- resp.
derben Periostschicht umgeben war. Ueberall war diese Grenze gewahrt. Nach
querer Kesection des Femur etwa 1cm unterhalb der unteren Grenze des Tumors
wird der Tumor aus der umgebenden Musculatur herauspräparirt. Der in der
Pfanne liegende, ebenfalls schwer veränderte Kopf muss im Zusammenhang
mit der übrigen Geschwulst entfernt werden. Zur Deckung des Defects wurde
ein entsprechend langes Stück der Fibula desselben Beins sammt deckendem
Periost entnommen. Hierbei erwies sich als schwierig, das Periost in grossem
Umfang am Knochen zu erhalten. Nach der Entnahme zeigte es sich, dass der
Knochen nur zum grösseren Theil von Periost gedeckt war. Auch machte die
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Entfernung der dem Periost anhaftenden Muskelfasern, worauf grosse Sorgfalt
verwendet wurde, reohte Mühe. Nach dieser Präparation wurde das eine Ende
der Fibula in die Markhöhle des Femur eingekeilt, wobei ein guter Halt erzielt
wurde. Das andere Ende wurde in die Gelenkhöhle geführt. Etagennaht der
Muskulatur, vollkommener Wundverschluss, gleichzeitig wurde die Wunde am
Unterschenkel verschlossen. In Abduction fixirender Gypsverband.
Durchaus glatter, fieberfreier Verlauf. Heilung per primam.
Das Präparat (vergl. Tafel VII, Fig. I) stellt einen ovoiden Tumor dar,
dessen Länge von oben nach unten (nach der Härtung) noch 12 cm, dessen
grösste Breite 11 cm beträgt, während der grösste Umfang 23 cm ist. Der Tumor
hat überall die Gonsistenz von derbem Bindegewebe; an vielen Stellen der
Circumferenz und besonders an der der Trochanterspitze entsprechenden
Gegend fühlt man eine aufliegende, stark verdünnte Knochenschale. Dieser
Geschwulst sitzt seitlich, etwas oberhalb der Mitte, ein kurzer Hals auf,
der in dem kleinen difformen Kopf endigt Die Gelenkfläcbe des Kopfes ist fast
vollkommen von einer allerdings dünnen, eindrückbaren Knorpelschicht über¬
zogen, die nur hier und da flache Usuren aufweist. An der Unterfläche der
Geschwulst sieht mau den Querschnitt des Femur. Das Femur ist dünn an
Kaliber, anch die Dicke der Wandung ist nicht beträchtlich (3—4 mm), der
vorhandene Knochen aber durchaus compact.
Auf einem Durchschnitt (Tafel VII, Fig. 1) sieht man, dass die Geschwulst
durchgehend aus einem gleichmässig derben, weiss-gelblichen Gewebe besteht,
das dem Aussehen derben Bindegewebes entspricht. Am Kopf ist noch eine
l 1 /*—2 cm dicke Kalotte sehr atrophischen, spongiösen Knochens vorhanden,
gegen die sich das Tumorgewebe in einem glatten, nach dem Kopfe zu convexen
Bogen durchaus scharf abgrenzt. Auch in der Trochantergegend ist noch ein
Bezirk von Knochengewebe vorhanden, das hier aus derberen compacten Balken
besteht und sich allmählich in das Tumorgewebe verliert. Einige dorbe
Balken finden sich in der Gegend des Adam’schen Bogens, einige ganz
dünne Stellen auch verstreut in der Mitte — das ist alles, was noch an
Knochengewebe vorbanden ist. Alles übrige ist derbes Tumorgewebe. Unten
sieht man den etwa 1 cm langen Längsschnitt des compacten Femurrohres. Die
Compacta endigt absolut scharf in einer etwas gezackten Grenzlinie gegen den
Tumor; man sieht das Femur von Callusgewebe umgeben, doch ist das halbirte
Rohr gegen den Tumor beweglich.
Histologisch (s. Tafel VII, Fig. 2 und 3) besteht der Tumor aus¬
schliesslich (auch bei der Untersuchung an verschiedenen Stellen) aus
derbfaserigem, zell- und gefässarmem Bindegewebe. Nur da, wo der
Tumor an das noch vorhandene Knochengewebe angrenzt, ist ein relativer Zell¬
reichtum vorhanden, hier finden sich auch zahlreiche Riesenzellen, die in den
Lacunen des überall lacunär arrodirten Knochens liegen (Tafel VII, Fig. 3).
Die Grenzlinie des Knochens ist durchweg eine Resorptionsfläche, nur weiter
abseits in dön Binnenräumen des noch vorhandenen* Knochens finden sich
schmale appositioneile Säume, die in einer etwa der Norm entsprechenden Aus¬
dehnung noch kalklos sind.
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Dr. G. Axhausen,
Es handelt sich also histologisch um ein reines Fibrom,
das, von innen heraus entwickelt, zu einer Druckusur der ganzen
Knochenrinde geführt hat, die an vielen Stellen schon complett ge¬
worden ist. Eine dieser Resorption entgegenarbeitende Knochen¬
apposition auf der Aussenfläche des betroffenen Knochens, wie wir
sie bei anderen Knochentumoren zu sehen gewohnt sind, ist nirgends
wahrnehmbar.
Fig. 2.
5 Monate post Operationen!.
Im Verlauf der Nachbehandlung zeigte das Röntgenbild, dass die
Fibula in idealer Achsenstellung in dem Femur steckte; dagegen war das obere
Ende aus dem Acetabulum luxirt. Durch eine spätere Extensionsbehandlung
konnte nur vorübergehend eine Reposition erzielt werden. Späterhin stemmte
sich das obere Ende der Fibula an den oberen Pfannenrand an und ist an dieser
Stelle bis zum heutige Tage stehen geblieben.
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 247
o Monate nach der Operation wurde die Patientin mit Schienenhülsen¬
apparat entlassen, der nach einem Jahre wesentlich leichter gestaltet und im
Knie beweglich gemacht werden konnte.
Von besonderem Interesse waren nun die Veränderungen, die
in den Röntgenbildern an dem implantirten Knochen festgestellt
werden konnten.
b Monate p. op. (Fig. 2) sieht man die implantirte Fibula nur wenig ver¬
ändert. Sie ist nur unwesentlich und am meisten noch am unteren Ende ver-
Fig. 3.
1 Jahr 5 Monate post operationem.
dickt. Die Grenzen des Schattens sind nicht ganz scharf, nur auf der Innen¬
seite der oberen Hälfte sieht man direct zarte Auflagerungen (Osteophyten).
1 Jahr 5 Monate nach der Operation (Fig. 3) hat die Verdickung namentlich
auf der Innenseite ganz erheblich zugenommen, wenn auch bei weitem
noch nicht die Dicke des Femur erreicht ist. Das untere Ende ist durch einen
festen spindligen Callus mit dem Femurstumpt vereinigt, das obere Ende hat
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Dr. G. Axhausen,
sich abgeschrägt, die schräge Fläche ist nach dem gegenüberliegenden Rande
des Acetabulum zu gerichtet, der sich conform dem oberen Fibulaende umge¬
staltet hat. Die glatten gegenüberliegenden Flächen, die Uebereinstimmung
ihrer Linien und der dazwischen liegende Spalt scheinen anzudeuten, dass hier
ein neues Gelenk sich zu bilden beginnt. Es kommt dazu, dass dicht
unterhalb des oberen Endes der Fibula auf der Innenseite, dem Acetabulum
gegenüber, eine llachkuglige Knochenneubildung aufgetreten ist, die den An¬
schein erweckt, als wolle sich hier ein neuer Femurkopf bilden.
1 Jahr 10 Monate nach der Operation ist die Verdickung der Fibula
ganz ausserordentlich viel stärker (s. Fig. 4). Das Kaliber beginnt sich
Fig. 4.
1 Jahr 10 Monate post operationein.
dem des Femur zu nähern, auch hat, nach der Dichtigkeit des Schattens zu
urtbeilen, die Compactheit ganz erheblich zugenommen. Die Consolidation am
unteren Ende ist absolut zuverlässig, das obere Ende der Fibula steht genau
an derselben Stelle wie bei der vorigen Aufnahme. Die obere schräge Fläche
hat sich in eine nach innen oben convexe umgewandelt, der, durch einen ge¬
lenkspaltähnlichen Raum getrennt, die nach aussen unten concave Fläche an
dem oberen Rfannenrande gegenübersteht; gleichzeitig lässt das obere Ende
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 249
der Fibula eine leichte knollige Anschwellung deutlich erkennen. Die Bildung
einer Nearthrose geht aus diesen Veränderungen ganz einwands¬
frei hervor. Das Acetabulum ist grösstentheils ausgefüllt.
Diesem günstigen Befunde bei der Röntgenuntersuchung ent¬
spricht durchaus der jetzt (1 Jahr 10 Monate p. op.) zu erhebende
klinische Befund.
Patientin ist beschwerdefrei. Sie giebt an, dass sie jetzt schon ganz
wesentlich besser laufen könne als in den Jahren vor der letzten Spontanfractur;
dabei ist noch jetzt ein steter Fortschritt zu constatiren. Sie vermag mit ihrer
Schiene längere Spaziergänge auszuführen und ist im Stande, auch ohne diese,
nur mit dem erhöhten Stiefel, ohne Beschwerden herumzugehen. Sie hat das
Gefühl, dass das Hüftgelenk absolut sicher und zuverlässig ist, nur
Wade und Fuss werden bei langem Gehen ohne Schiene etwas müde. Sie ist
über den Ausgang hoch beglückt.
Die Untersuchung ergiebt eine Verkürzung des rechten Oberschenkels um
18 cm (gegen 16 vor der Operation). Die Stelle der Einspiessung der Fibula
in das Femur ist völlig fest, das Hüftgelenk ist activ beweglich (60°
Flexion, 20° Abduction, 15° Adduction); passive Bewegungen können noch
etwas ergiebiger ausgefübrt werden. Beim Ziehen und beim Stoss nach
oben lässt sich nicht die geringste Beweglichkeit innerhalb des
Hüftgelenks im Sinne eines Gleitgelenks feststellen.
Es bestand also bei dem 23jährigen Mädchen ein reines
Fibrom des oberen Endes des rechten Femur, das, in
frühester Kindheit entstanden oder sogar vielleicht angeboren vor¬
handen, ganz langsam sich vergrösserte und im dritten Lebensjahr
zu einer Spontanfractur führte, die nach entsprechender Behandlung
glatt verheilte. Die Geschwulst machte dann im 6, Lebensjahre in
Folge partieller Erweichung einen operativen Eingriff nöthig, ent¬
wickelte sich dann aber — wohl in Folge unvollkommener Ent¬
fernung — weiter und bildete schliesslich im 23. Lebensjahre der
Patientin (also 20 Jahre nach den ersten manifesten Symptomen)
einen grossen Tumor, der Kopf, Hals, Trochantergegend und oberes
Viertel des Schaftes einnahm, die ganze Gegend unförmlich auf-
trieb und von neuem zu einer Spontanfractur führte.
Ich habe einen analogen Fall einer so exquisit langsam wach¬
senden, expansiv sich ausdehnenden, rein libromatösen Geschwulst
eines Röhrenknochens in der Literatur nicht finden können. In
allen Darstellungen finde ich als reine Fibrome der Knochen nur
die Fibrome der Kieferknochen und auch diese ebenfalls als Selten-
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Dr. G. Axhausen,
heit erwähnt (Virchow, Kaufmann u. a.). Schon aus diesem
Grunde verdient der Fall registrirt zu werden.
Dann scheint es weiter von Interesse, dass auch in diesem
Falle trotz der mechanisch an sich ungünstigen Localisation
(Femur!) die freie Transplantation frischen periostgedeckten Knochens
zu einem so ausserordentlich erfreulichen anatomischen und func-
tionellen Resultat geführt hat. Ganz besonders aber muss ich hin-
weisen auf die röntgenologisch und klinisch nachweisbare Thatsache
der Bildung eines festen und dabei gut activ beweglichen
Gelenks zwischen Becken und implantirtem Knochen, und
dies, obwohl das obere Ende des Implantatum nicht in der Gelenk¬
höhle steckte, sondern sich gegen den oberen Pfannenrand ange¬
legt hatte. Es ist dies von neuem ein schöner Beweis, was die
Function aus vorhandenem ossificationsfähigem Material herzustellen
vermag, und von neuem ein Beweis für die ausserordentliche Ueber-
legcnheit des lebenden periostgedeckten Knochens. Dass der mass¬
gebende Factor für die functioneile Anpassung des implantirten
Knochens das lebengebliebene deckende Periost ist, kann wohl nach
den beigegebenen Röntgenbildern (vor allem Fig. 3) einem Zweifel
nicht unterliegen.
Aber— und auch dies ist bemerkenswert!) — die entscheidenden
Umwandlungen setzten erst spät ein. Erst in der Aufnahme 1 Jahr
5 Monate nach der Operation sehen wir den entscheidenden Fort¬
schritt, an der Aufnahme 5 Monate p. op. ist noch sehr wenig davon
zu sehen. Dann geht es rapide vorwärts. Das zeigt der Unter¬
schied zwischen dem 3. und 4. Röntgenbild, zwischen denen doch
nur 5 Monate liegen. Und ebenso sicher ist, dass auch jetzt die
Vorgänge noch nicht abgeschlossen sind. Es wird von Interesse
sein, die Röntgenbefunde des Falles auch weiterhin zu verfolgen.
Die Ursachen für das späte Einsetzen der modellirenden Knochen¬
bildungsvorgänge dürften verschiedene sein. Die erste Aufgabe des
deckenden Periost ist die Substitution des implantirten absterbenden
Knochengewebes, der Umbau des toten in lebenden Knochen. Hier¬
zu gehört bei einem so compacten Knochen wie die Fibula eine
längere Zeit, während der die knochenbildenden Organe zu func¬
tioneilen Aufgaben noch nicht frei sind. Es kommt dazu die Art
des implantirten Knochens. Wie schon erwähnt, gingen bei der
Entnahme nennenswerthe Antheile des Periosts verloren, und auch
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 251
das Vorhandene muss, wie ich durch die Thierexperimente nahege-
lcirt habe, zum Theil durch anhaftende Muskelfasern, die nicht
überall ganz entfernt werden konnten, in seinen Leistungen beein¬
trächtigt worden sein. Dann aber ist auch durch die Implantation
des geschlossenen Röhrenknochens der weitaus grösste Theil des
Markes als ossifieationsfähiges Organ verloren gegangen, da an solchen
Knochen, wie ich experimentell feststellte, nur die oberflächlich an
den Enden der Röhre gelegene Sch'icht erhalten bleibt und dann
erst zur Substitution des übrigen nekrotischen Marks vorrücken
kann. Ich halte für sicher, dass die weiteren Veränderungen des
iraplantirten Knochens sich an einem wandständig mit Eröffnung
der Markhöhle resecirten Knochenstück, z. B. der Tibia, wesentlich
rascher abgespielt haben würden. Zur Wahl der Fibula veranlasste
uns die Bequemlichkeit der Entnahme, ein Moment, das sich wegen
der Dauer der vorausgegangenen Ausschälung des Tumors in diesem
Falle als massgebend erwies. Weiter darf nicht vergessen werden,
dass das so überaus wichtige Moment der Function, der mecha¬
nischen Inanspruchnahme des Implantatum in der ganzen ersten
Zeit der Behandlung nicht in Betracht kam.
Alle diese Thatsachen zusammen geben eine genügende Er¬
klärung der röntgenologisch festgestellten Befunde ab. Sie erscheinen
besonders von Wichtigkeit mit Rücksicht auf die später zu be¬
sprechende Beobachtung Frankenstein’s.
Der zweite Fall, über den ich berichten möchte, ist klinisch
durchaus alltäglich. Er verdient nur mitgetheilt zu werden, weil
er die Möglichkeit einer nachträglichen histologischen Untersuchung
des implantirten Knochens verschaffte.
Es handelt sich um ein centrales Riesenzellsarkom bei einem 31jährigen
Manne, das die Grnndphalanx des rechten Daumens vollkommen ausgefüllt und
za einer scbaligen Geschwulst aufgetrieben hatte.
An die Excision der ganzen Phalanx schloss sich die Implantation eines
entsprechend grossen, wandständig resecirten, periostgedeckten Tibiastückes.
Das Periost wurde reichlich genommen und im anhaftenden Theil mit Längs-
incisionen versehen. Es bestand die Absicht, auch bewegliche Gelenke zu
schaffen. Es wnrde daher an beiden Enden das Periost länger genommen und
über die quere Schnittflächo des Knochens geklappt. Fixation der Enden mit
Catgutnähten. Hautnähte. — Da nach der Excision des Tumors nur ein überall
stark verdünnter Hautschlauch im Bereich der Grundpbalanx übrig blieb und
das Entstehen von blutgefüllten Hohlräumen rings um das implantirle Stück
Arehi* für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2.
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Dr. G. Axbausen,
nicht vermieden werden konnte, waren die Bedingungen für die Implantation
recht ungünstig. Es kam auch beim ersten Verbandwechsel zu einer reichlichen
Secretion blutigseröser Flüssigkeit aus einer der Stichcanäle, und im weiteren
Verlauf bildete sich eine bohnengrosse Nahtdehiscenz an dieser Stelle aus.
Trotzdem der implantirte Knochen, nur bedeckt von einer gelblich aussehenden
Bindegewebsschicht (implantirtes Periost?), auf dem Grunde dieser Wunde frei
lag, kam es durobaus in der gewohnten Zeit zur raschen Verheilung dieser
Stelle.
Leider stellte sich aber eine, dorsale Luxation des centralen Endes des
implantirten Stückes ein, die sich durch Zunahme der Schrägstellung des im-
plantirten Stückes dauernd steigerte. Um eine Perforation an der über dem
centralen Ende sich spannenden Haut zu vermeiden, wurde in Localanästhesie
die Narbe wiederum geöffnet (60 Tage nach der Operation); es wurde ein circa
1 cm langes Stück des centralen Endes resecirt, desgleichen das äusserste Ende
des Metacarpalköpfchen, und es wurde dann das implantirte Stück in die Mark¬
höhle desMetacarpus eingespiesst. Glatte Heilung in vollkommen guter Stellung.
Das resecirte Stück wurde in der üblichen Weise präparirt und untersucht.
Ein Querschnitt ergiebt den folgenden histologischen Befund (siehe Tafel Vll,
Fig. 4):
Man sieht den Querschnitt des implantirten Tibiastückes von dem ge¬
wöhnlichen Bau des compacten Knochens und der Gestalt eines Dreiecks mit
abgestumpfter Spitze. Die Basis des Dreiecks bildet die Meisselfläche. Die
Schenkel sind von dem mittransplantirten Periost bedeckt. Ueberall ist der
Knochen aufs innigste mit der Umgebung verbunden.
Das implantierte Knochengewebe selber ist ausnahmslos tot.
Neben den sonst überall leeren Knochenhöhlen finden sich nur ganz wenige
mit schwer veränderten, geschrumpften oder zerbröckelten Kernen. Normale
Knochenzellen sind in dem implantirten Knochengewebe nirgends sichtbar.
Das implantirte Knochengewebe ist fast vollständig revascularisirt. Fast
in allen Havers’schen Canälen finden sich lebende Capillaren, die zum Theil
Blutkörperchen enthalten. Nur in ganz wenigen finden sich noch amorphe
kernlose Massen. Nicht überall hat indessen der Umbau begonnen; an manchen
Stellen haben die revascularisirten Havers’schen Canäle noch das gewöhnliche
Kaliber und sind von den glatten Wänden des alten nekrotischen Knochenge¬
webes umgeben. Ueberwiegend aber sind die Bezirke, in denen, ganz besonders
an den Basiswinkeln, der Umbau schon im vollsten Gange ist; dieser Umbau
erfolgt auch hier wieder anscheinend allgemein auf dem Wege der aufeinander¬
folgenden lacunären Resorption und Apposition. Man sieht die Havers’schen
Canäle in allen Stadien der lacunären Erweiterung, viele von ihnen noch ohne
Zeichen der Apposition; bei den anderen ist es schon zur wandständigen Appo¬
sition neugebildeten Knochens in der Form schmaler Säume gekommen, die
sich durch Structur und Knochenzellgrösse ebenso von dem übrigen Knochen
unterscheiden wie durch die normale Kernfärbung selber.
Das deckende Periost ist nicht überall zellreich; es schliesst Stellen ein,
die einen spärlichen Keingchalt und gleichzeitig glasiges Aufgequollensein der
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 253
Fibrillen darbieten: die Substitution der abgestorbenen Periostbezirke ist noch
nicht überall vollendet. An anderen Stellen finden sich aber auch im Haupt¬
verlauf des Periosts Bilder von Proliferation und beginnender Knochenneu¬
bildung: subperiostale Randsäume neugebildeten Knochens.
Ganz auffällig ist aber auch hier wieder die ausserordent¬
liche Bevorzugung der freien Schnittränder des Periosts: an den
beiden Basiswinkeln in der Gegend der periostalen Schnittränder findet sich
eine mächtige Zellproliferation, die zur Bildung umfangreicher, maschigerOstoo-
phyten geführt hat, die auch Knorpelmassen einschliessen (vergl. Tafel VII,
Fig. 4). Die Osteophyten haben sich in der bekannten Weise auf den alten
Knochen abgelagert; von hier aus nimmt aber auch zweifellos die Substitution
des implantirten Knochengewebes selber in hervorragender Weise ihren Ausgang.
Diese kurze histologische Beschreibung steht in vollständiger
Uebereinstimmung mit den früheren beiden von mir beobachteten
und beschriebenen Fällen von Knochenüberpflanzung beim Menschen.
Und auch in diesem Falle zeigt sich deutlich, worauf ich besonders
hinweisen möchte, die Bevorzugung der freien Schnittränder des
Periosts. Dieser Befund liefert von neuem einen Beweis für die
Zweckmässigkeit der von mir empfohlenen Incisionen in
das deckende Periost. Wenn im Haupttheile des Periosts die
Proliferationsvorgänge nicht unwesentlich zurücktreten, so beruht
dies nach meinen früheren Erfahrungen nur darauf, dass die an¬
gelegten Längsincisionen nicht ganz bis ans Ende des Knochen¬
stückes geführt wurden, so dass der untersuchte Theil ausserhalb
dieser Incision lag.
Reihen wir nun diese neuen Beobachtungen dem vorhandenen
Thatsachenmaterial ein, und überblicken wir die Beobachtungen der
beiden letzten Jahre mit Rücksicht auf die von mir gemachten
Feststellungen! Meine Schlusssätze traten zu der damals allein
herrschenden Lehre Barth’s in Gegensatz. Die Lehre Barth’s
stellte sich, wie ich mit Rücksicht auf die Arbeit Kau sch’s noch
einmal wiederholen muss, folgendermaassen dar:
I. Es besteht für den Act der Einheilung und für das Schicksal
des implantirten Stückes nicht der geringste Unterschied zwischen
den verschiedenen Knochensubstanzen (lebender periostgedeckter,
lebender periostloser, macerirter, ausgekochter etc.)
II. Das transplantirte Knochengewebe, auch wenn es frisch
entnommen ist, und auch, wenn es sammt Periost und Mark trans-
plantirt wird, verfällt der Nekrose.
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Dr. G. Axhausen,
III. Mit dem Knochen transplantirtes Periost uud Mark ver¬
fällt ebenfalls ausnahmslos der Nekrose.
IV. Jedes Knochenstück spielt nur die Rolle eines Fremd¬
körpers und wird entweder resorbirt oder, wenn ossificationsfähiges
Material in der Umgebung liegt, von dort aus durch neugebildetes
Knochengewebe ersetzt.
V. Als Quelle des neugebildeten Knochengewebes kommt kein
Theil des überpflanzten Knochens in Betracht, sondern einzig und
allein das benachbiftte lebende knochenbildende Gewebe.
VI. Der Ersatz des todten durch neugebildetes Knochengewebe
erfolgt grösstentheils durch directe Substitution („schleichender
Ersatz“).
VII. Aus praktischen Gründen ist für die operative Chirurgie
macerirtes Material dem frisch entnommenen vorzuziehen.
Demgegenüber musste ich folgende Grundsätze aufstellen:
I. Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen den
einzelnen Knochenarten; es lässt sich direct eine Art Zweckmässig¬
keitsscala aufstellen:
1. Weit voran steht der frisch entnommene periostgedeckte
Knochen desselben Individuums. Dieser ist jedem anderen
Implantationsmaterial unter allen Umständen weitaus über¬
legen.
2. Es folgt in mässigem Abstande der frisch entnommene peri¬
ostgedeckte Knochen eines anderen Individuums derselben
Species.
3. Es folgt in weitem Abstand nacheinander:
a) periostloser lebender Knochen
«) von demselben Individuum,
ß) von einem anderen Individuum derselben Spccies;
b) artfremder, periostgedeckter lebender Knochen;
c) ausgekochter Kochen;
d) macerirter Knochen.
II. Das transplantirte Knochengewebe, auch wenn es frisch
entnommen ist, und auch, wenn es sammt Periost und Mark trans-
plantirt wird, verfällt der Nekrose.
III. Das deckende Periost hat in hohem Grade die Eigen¬
schaft des Ueberlebens und die Fähigkeit, neuen Knochen zu bilden.
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 255
Das dem Knochen anhaftende Markgewebe theilt diese Fähigkeit
des Periosts — vorausgesetzt, dass hier wie dort die äusseren Be¬
dingungen günstig sind.
Dies gilt in vollem Umfang für die Transplantation von dem¬
selben Individuum, in beschränkterem für die Transplantation von
einem anderen Individuum derselben Species; nicht aber für die
Transplantation von einem Individuum anderer Species.
IV. Das Verhalten der transplantirten Knochenstücke ver¬
schiedener Natur ist innerhalb des Organismus durchaus verschieden.
Nur der todte Knochen spielt die Rolle eines Fremdkörpers; er
wird entweder eingekapselt resp. resorbirt oder, wenn ossificirendes
Material in der Umgebung liegt, langsam durch neugebildeten
Knochen substituirt. Der lebende periostgedeckte, artgleiche Knochen
gewinnt rasch durch die Wucherung des intacten Periosts innigste
organische Beziehungen mit der Umgebung, er wird sehr bald von
lebendem neugebildeten Knochen umgeben und durchwachsen.
V. Als Quelle des neugebildeten Knochens kommt in erster
Linie das deckende Periost und das anhaftende Mark in Betracht,
in zweiter Linie erst die ossificationsfähigen Gewebe der Nach¬
barschaft.
VI. Der Ersatz des todten durch neugebildetes Knochengewebe
erfolgt durch aufeinanderfolgende Resorption und Apposition.
VH. Für die operative Chirurgie kommt in allererster Linie
der periostgedeckte, frisch entnommene, lebende Knochen, beson¬
ders des gleichen Individuums, in Betracht. Macerirte Knochen¬
stücke sind als das ungeeignetste Knochenimplantationsmaterial an¬
zusehen und kommen nur als letzter Ausweg in Betracht.-
Von einer Gegenüberstellung beider Lehren sehe ich ab; ich
habe dies in den früheren Arbeiten eingehend gethan. Die Gegen¬
sätzlichkeit in den praktisch wichtigsten Punkten ergiebt sich bei
einer Durchsicht der parallel laufenden Sätze ganz von selbst.
Im Verlauf der Arbeit konnte ich nun weiterhin einige neue,
für die technische Anwendung der freien Osteoplastik nicht un¬
wichtige Thatsachen erheben, die ich in folgenden Sätzen präcisirte:
1. Periostgedeckte Röhrenknochenstücke sind periostgedeckten
Schädeldachstücken vorzuziehen.
2. Durch anhaftende Musculatur und selbst dünne Schichten
anhaftender Muskelfasern wird fast stets das Ueberleben und die
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Dr. G. Alhausen,
Wiederherstellung der knochenbildenden Fähigkeiten des unterlie¬
genden Periosts unmöglich gemacht, stets jedenfalls schwer beein¬
trächtigt.
3. Es ist bei der Transplantation geschlossener periostgedeckter
Röhrenknochen das deckende Periost mit ergiebigen Längsincisionen
zu versehen.
4. Periostgedeckte, längshalbirte und wandständig mit Eröff¬
nung der Markhöhle resecirte Knochenstücke sind den geschlossenen
Röhrenknochenstücken überlegen.
5. Auch beim Fehlen der prima intentio und bei Eiterung hat
man keineswegs nöthig, den implantirten Knochen zu entfernen,
sondern* man muss die natürliche Sequestrirung ab warten, die sich
hier ebenso wie am lebenden Knochen abspielen kann (und meist
nur zur Ausstossung kleiner Bruchstücke des Ganzen führt).
Als letzten, praktisch noch besonders wichtigen Punkt fand
ich im Experiment die Thatsache, dass wegen des „Ueberlebens“
von Periost und Mark
6. periostgedeckter, wandständig mit Eröffnung der Markhöhle
resecirter Röhrenknochen von todten Individuen der gleichen Spe-
cies, wenn die Entnahme innerhalb der ersten 12—24 Stunden nach
dem Tode erfolgt, ein vorzügliches Implantationsmaterial darstellt.
Bei einer kritischen Durchsicht der seitherigen Erfahrungen
habe ich zunächst zusammenfassend der bestätigenden Mittheilungen
zu gedenken; etwas eingehender werde ich die beiden Arbeiten zu
besprechen haben, die zu den Ergebnissen meiner Untersuchungen
in einen gewissen Gegensatz getreten sind.
Die bestätigenden Mittheilungen befassen sich theils mit kli¬
nischen Beobachtungen, theils mit histologischen Unter¬
suchungen.
An der Richtigkeit des praktisch wichtigsten Schlusssatzes,
der Verschiedenwerthigkeit des knöchernen Implantationsmaterials
und der grossen Ueberlegenheit frischen periostgedeckten Knochens,
konnte schon nach den klinischen Erfahrungen des letzten Jahr¬
zehnts kaum gezweifelt werden. Die neuen und viel reicheren Erfah¬
rungen der letzten zwei Jahre müssen nunmehr jeden Zweifel beseitigen.
Allen voran erklärte Barth selbst, dass „es keinem Zweifel
unterliegt, dass die Bedeutung des Periosts bei der freien Trans-
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 257
plantation periostgedeckter Knochenstücke heute in einem anderen
Licht erscheint, als ich es vor 14 Jahren auf Grund meiner Thier¬
versuche dargestellt habe“. Seit einer Reihe von Jahren hat sich
ihm aus klinischen Beobachtungen heraus die Oeberlegenheit des
lebenden periostgedeckten Knochens als unumstössliche Thatsache
aufgedrängt, und er hat bei seinen Operationen dem Rechnung ge¬
tragen. Barth berichtet über eine Anzahl derartiger Plastiken,
die gelegentlich auch dann noch zum Ziele führen, wenn an dem
gleichen Patienten Plastiken mit maceririen und mit Leichenknochen
vorher ohne Erfolg vorgenommen worden waren (Fall 1), auch wenn
also der Boden für die Implantation gewiss ungünstig war.
Dass selbstverständlich gelegentlich auch einmal todter Knochen
und sogar macerirter Knochen in einen Continuitätsdefect eines
Röhrenknochens mit Erfolg einheilen kann, beweist ein weiterer
Fall, bei dem (1904) nach Resection des Tibiakopfes wegen Sar¬
koms in einer Ausdehnung von 10 cm der Tibiadefect durch ein
entsprechendes Stück eines macerirten Femur-Condylus gedeckt
wurde. Ungestörte Einheilung; nach 3 Monaten mit Tibia und
Femur durch Callus verbunden, 1 1 / 2 Jahre später Knochenstück
grösstentheils durch Sarkomrecidiv aufgefressen.
Ein solcher Fall beweist natürlich nichts gegen die prinzipielle
Ueberlegenheit des lebenden periostgedeckten Knochens. Auch ist
es nicht bekannt, wie weit der Ersatz des implantirten Knochens
durch neugebildeten lebenden vorgeschritten war. Und einem solchen
gelungenen Falle stehen eine ganze Anzahl anderer misslungener gegen¬
über (Lexer, Kausch u. A. s. später), während ein Misslingen bei
der heute geübten Art der Asepsis bei der Anwendung frischen
periostgedeckten Knochens so gut wie ausgeschlossen ist (Lexer,
Streissler, Codivilla u. A.). Dieses Misslingen bezieht sich
entweder auf den Einheilungsvorgang selber: es wird die primäre
Infectionsgefahr durch die Anwesenheit des todten massigen
Fremdkörpers und durch das Fehlen der als Bindeglied dienenden
überlebenden ossifieationsfähigen Organe (Periost und Mark) ganz
wesentlich erhöht; weiter ist der aus gleichen Gründen lange
Zeit noch ohne organische Verbindung mit dem Mutterboden be¬
findliche Fremdkörper auch secundären Infectionen leichter
unterworfen; und schliesslich ereignet es sich, dass der func¬
tioneile Erfolg auch nach gelungener Einheilung ausbleibt,
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Dr. G. Axhausen,
weil die Knochenneubildungsvorgänge, die bei der Implantation
todten Materials ausschliesslich von dem ossificationsfähigen Lager
— also bei Continuitätsresectionen von den Enden her — auftreten
können, nicht mit den Resorptionsvorgängen gleichen Schritt halten.
Für alle diese verschiedenen Möglichkeiten sind Beispiele aus den
Erfahrungen der letzten Jahre mitgetheilt worden (Lexer, Barth,
Streissler, Kausch, Axhausen u. A.). Alle diese Thatsachen
verbürgen die Ueberlegenheit des artgleichen periostgedeckten
Knochens gegenüber jedem anderen knöchernen Implantationsmate¬
rial, ganz besonders, aus begreiflichen Gründen, für den Ersatz
von Continuitätsdefecten. So heisst es daher am Schlüsse bei
Barth: „Es kann für mich nicht zweifelhaft sein, dass die Auto-
und Homoplastik mit periostgedeckten Knochenstücken für den
Ersatz von Continuitätsdefecten der Röhrenknochen die souveräne
und allein sicher zum Ziele führende Methode ist, und ich kann
nur meine Freude darüber aussprechen, dass wir in dieser wichtigen
und gewiss noch eine grosse Zukunft verheissenden Frage auf Grund
der neuen experimentellen Forschung, insbesondere der umfassenden
Untersuchungen Axhausen’s, nunmehr klar sehen. Der volle Tag
für die osteoplastische Chirurgie beginnt erst jetzt.“
Genau dem entsprechend sind die Erfahrungen Lexer’s. Nach
mancherlei Misserfolgen mit todtem Knochen ist er ebenfalls aus
der klinischen Beobachtung heraus zu den frischen periostgedeckten
Knochen übergegangen, und er spricht es ausdrücklich aus: „Mit
diesen frischen periostgedeckten Knochen habe ich niemals einen
Misserfolg erlebt, wenn sie sammt dem anhaftenden Periost selbst
in periostlose Defecte von 20—30 cm zum Ersatz von Diaphyse,
Meta- und Epiphyse verpflanzt worden waren.“ Und dabei ver¬
wandte Lexer in der Regel nicht einmal das allergünstigste Mate¬
rial (vom gleichen Individuum), sondern das, was an zweiter Stelle
steht (von einem anderen Individuum). Die Triumphe, die der
frische menschliche Knochen bei den Gelenkverpflanzungen feiert,
sind zu allgemein bekannt, als dass ich darauf einzugehen nöthig
hätte.
Ich darf weiter nicht versäumen, in diesem Zusammenhang der
schönen Erfolge zu gedenken, die in der Klinik v. Hacker’s ge¬
sammelt wurden, und über die Streissler berichtete. Mit Aus¬
nahme eines Falles, einer sehr complicirten Plastik zur Erzielung
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 259
einer Gelenkbildung am Knie, sind in allen Fällen beim Gebrauch
lebenden periostgedeckten Knochens die implantirten Knochen zur
Einheilung gelangt; und in dem einen missglückten Falle lag der
Ausgang, wie Streissler selbst sagt, an einem technischen Fehler,
insofern, als die Weichtheilc in der Umgebung des implantirten
Stückes nicht genügend vereinigt wurden, sodass blutgefüllte Hohl¬
räume um den cingepQanzten Knochen herumlagen. Auf die un¬
günstige Bedeutung dieser localen Gestaltung des Implantationsbe¬
zirks habe ich bereits in meinen Arbeiten hinweisen können. In
allen den zahlreichen gelungenen Fällen war auch der Erfolg in
functioneller Beziehung „ausserordentlich zufriedenstellend“. Auf
die interessanten Angaben Streissler’s bezüglich des weiteren
Schicksals des implantirten Knochens gehe ich in anderem Zu¬
sammenhang kurz ein. Aber auch Streissler betont ausdrücklich,
dass dieser günstige Verlauf nur dem lebenden periostgedeckteu
menschlichen Knochen zukommt, während „im Falle, wo der aus¬
gekochte Knochen eingesetzt wurde, er als resorbirbarcr Fremd¬
körper arrodirt und langsam aufgezehrt wurde“.
Mit diesen Mittheilungen über die bestätigenden Ergebnisse in
ganzen Serien von Implantationen kann ich mich begnügen. Ich füge
nur noch hinzu, dass die Ergebnisse in anderen mitgetheilten Fällen
(Neumann, Braun, Brentano, Coenen, Codivilla u.A.) genau
die gleichen waren. Während aber die bisher erwähnten Autoren
über ihre schlechten Erfolge bei der Benutzung todten Materials
nur kurz zusammenfassende Angaben machen, kommen solche Er¬
fahrungen in der letzten Arbeit von Kausch in voller Deutlichkeit
zum Ausdruck: Von den mitgetheilten 7 Fällen waren nicht weniger
als 6 complettc Misserfolge, denen nur ein gelungener Fall gegen¬
überstand; und auch dieser letztere Fall ist, wir wir später sehen
werden, nicht über jeden Zweifel erhaben.
Nach solchen Erfahrungen kann füglich an der von mir als
praktisch wichtigste und gleichzeitig histologisch wohl begründete
Thatsache hingestellten ausserordentlichen Ueberlegenheit des lebenden
periostgedeckten Knochens nicht gezweifelt werden. Und zu meiner
Genugthuung hat auch Kausch in seiner letzten Arbeit dem rück¬
haltlos zugestimmt.
Aber auch manche meiner Dctailangaben haben in der weiteren
klinischen Beobachtung ihre Bestätigung gefunden.
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Dr. G. Axhausen,
Ich erwähne die ausdrücklichen Angaben Lexer’s, der in Uebcr-
einstimmung mit meinen experimentellen Befunden ganz besonderes Ge¬
wicht darauf legt, dass bei der Gelenktransplantation alle dem Periost
anhaftenden, die rasche Revascularisation störenden Weichtheile
entfernt werden müssen. „Bänder, Sehnenansätze, Fett und
Muskeln, alles muss genau vom Periost fortgenommen werden “
lm Anschluss daran hebt Lex er hervor, dass die hierbei ent¬
stehenden Einschnitte ins Periost nach meinen Untersuchungen
nicht schädlich, sondern im Gegentheil förderlich für die Regenera¬
tion sind.
Beides, sowohl die Entfernung anhaftender Weichtheile, be¬
sonders der Musculatur, als auch die ergiebigen Einschnitte in das
deckende Periost halte ich in der That für praktisch ausserordent¬
lich wichtig. Ich glaube nicht, dass man nach einer Durchsicht
meiner diesbezüglichen experimentell-histologischen Befunde und
der beigegebenen Abbildungen an dem störenden Einfluss anhaftender
Muskelfasern auf die Erhaltung des periostalen Ueberzuges zweifeln
kann; und die Bedeutung der Schnittränder für die Erhaltung des
Periosts, für das rasche Einsetzen der Proliferationsvorgänge und
damit für die Organisation des implantirten absterbenden Knochens
geht auch wiederum aus den oben mitgetheilten neuen histologischen
Untersuchungen mit eindringlicher Klarheit hervor.
Meine Angaben über die Bedeutung umschriebener Infectionen
für die Transplantation periostgedeckten lebenden Knochens fanden
in Juem weiteren Falle, über den ich selbst nach klinischer wie
histologischer Seite berichten konnte (dieses Archiv, Bd. 89), eine
volle Bestätigung. Hatte ich nach meinen Thierversuchen ange¬
nommen, dass eine umschriebene Eiterung in der Umgebung des
implantirten Knochens keineswegs dessen Schicksal besiegelt, sondern
in vielen Fällen nur zu einer partiellen Sequestrirung des implan¬
tirten Knochens zu führen braucht, während der Haupttheil nach
Entfernung der Sequester einheilt, so konnte ich in dem genannten
Falle den einwandsfreien Beweis für diese Thatsache auch für den
menschlichen Organismus erbringen. Ich konnte mich im An¬
schluss an diesen Fall über das Zustandekommen dieser eigenartigen
Erscheinung einer partiellen Sequestrirung innerhalb eines total
nekrotischen Knochens auch mit Rücksicht auf andere allgemein
chirurgische Thatsachen eingehend äussern.
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Krit. Bemerkungen nnd neue Beiträge zur freien Knocbentransplantation. 261
Auch Streissler machte die Erfahrung, dass eine leichte Eite¬
rung das Schicksal des implantirten Knochens nicht gefährde. End
in einem Falle Brentano’s erfolgte trotz umfangreicher Abscess-
bildung, und trotzdem ein Erysipel über die Implantationsgegend
hinwegging, die Einheilung des Stückes, nachdem einige kleine
Sequester ausgestossen waren.
Schliesslich sind entsprechend meinen Abgaben über den Werth
frischen periostgedeckten Leichenknochens als Iraplantations-
material auch nach dieser Richtung weitere Erfahrungen gesammelt
worden. Meine Versuche hatten mich dahin geführt, die Zeit, inner¬
halb welcher man ohne Sorge vor Misserfolg und besonders ohne
Sorge vor Infection Leichenknochen direct zur Implantation ver¬
wenden könne, auf 12—24 Stunden p. op. festzusetzen. Bergc-
mann zeigte dementsprechend in eingehenden Untersuchungen, dass
die Grundbedingung der Keimfreiheit auch an menschlichen Leichen
innerhalb der ersten 12 Stunden nach dem Tode erfüllt ist. „So¬
weit nur der Keimgehalt berücksichtigt zu werden braucht, würde
demnach innerhalb der angegebenen Zeit einer Verwendung des
Leichenknochens zur Plastik nichts im Wege stehen.“
Auch praktische Erfahrungen am Menschen besitzen wir über diese
Art der Plastik. Anschütz implantirte in 2Fällen zurPseudarthrosen-
behandlung frisch entnommenen periostgedeckten Knochen einmal
eines todten Neugeborenen, einmal eines 7 monatlichen Foetus. In
beiden Fällen heilte der Knochen ein; im ersten war der func-
tionelle Endausgang gut und auch im zweiten soll nach der ersten Mit¬
theilung Anschütz’s beginnende periostale Knochenneubildung am
implantirten Knochen beobachtet worden sein. Wie ich aber aus
der letzten Arbeit Kausch’s entnehme, ist in diesem Falle später
die Ausstossung des implantirten Stückes erfolgt. Die Ursache
dieses Misserfolgs ist zunächt nicht bekannt. Doch will es mich
bedünken, dass von vornherein der Anwendung von fötalem Knochen
manche Bedenken gegenüberstehen. Gewiss ist es artgleicher Knochen;
aber es ist unentwickelter Knochen, und wir wissen nicht, ob den
gewichtigen structurellen Differenzen nicht auch nutritive Unter¬
schiede parallel laufen, ob nicht das fötale Periost und Mark andere
Anforderungen an die Ernährung stellt als das fertig entwickelte,
und daher auch andere, als die Gewebe des entwickelten Menschen
zu bieten vermögen. Mit anderen Worten: wir wissen nicht, ob
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Dr. G. Axhausen,
nicht der Vortheil der Artgleichheit durch die Unter¬
schiede des Entwicklungsstadiums zum Theil oder ganz
verloren geht. Hierüber müssten erst weitere Erfahrungen ge¬
sammelt werden.
A priori erscheint es mir wahrscheinlicher, dass der voll ent¬
wickelte, wenn auch gewiss jugendliche Leichenknochen bessere
Chancen als Ersatzroaterial des lebend entnommenen Knochens
bietet.
Lex er giebt überhaupt dem Knochen amputirter Glieder den
Vorzug gegenüber den Leichenknochen, nachdem er mit letzteren
einen Misserfolg erlebt hat. Die Zukunft wird zeigen, ob dieser
Misserfolg nur auf einem Zufall beruhte, oder ob er in der Natur
des Materials begründet ist.
Ein energischer Vorstoss in dieser Richtung wurde unlängst
von Küttner versucht, der in einen Defect des oberen Femur¬
drittels inclusive Gelenkabschnitt ein entsprechendes Stück Leichen¬
knochen implantirte, das 11 Stunden post mortem entnommen und
nach 24 ständiger Aufbewahrung in warmer Kochsalzlösung zur
Anwendung kam. Nach der letzten Mittheilung Küttner’s (4 Mo¬
nate post operat.) war der Knochen reactionslos eingeheilt; es
bestand eine feste Verbindung an der Vereinigungsstelle des Femur,
das Gelenk erwies sich beim Wechseln des Gypsverbandes als
beweglich.
Ich glaube, dass in dieser Richtung die weitere Entwicklung
der Osteoplastik sich vollziehen wird, ohne dass ich diese Annahme
durch eigene Erfahrungen stützen könnte.-
Ich komme zu den histologischen Untersuchungen mensch¬
licher Implantationen, deren Ergebniss als Erklärung der klinischen
Erfahrungen und als Wegweiser für die praktisch-chirurgischen
Maassnahmen von ganz besonderer Bedeutung sein muss.
Nach dem ersten eingehend von mir beschriebenen Falle, der
namentlich wegen seiner vollständigen Uebereinstimmung mit den
Ergebnissen der experimentell-histologischen Untersuchungen von
principiellem Interesse war, sind nicht weniger als 6 weitere Fälle
von menschlichen Implantationen lebender periostgedeckter Knochen
ausführlich untersucht und beschrieben worden, nicht nur 2, wie
Kausch in seiner letzten Arbeit irrthümlicherweise angiebt. Es
sind dies: ein zweiter Fall von mir, 1 Fall von Läwen, 3 Fälle von
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 263
Frangenheim und 1 Fall von Frankenstein. Dazu kommt als
weiteres die von mir oben mitgetheilten neuen Befunde.
Systematische histologische Nachprüfungen meiner Thierexperi¬
mente sind meines Wissens bisher nicht angestellt worden 1 ), doch
sind in den Angaben Wrede’s über seine experimentellen Gelenk¬
transplantationen werthvolle histologische Befunde enthalten, die im
übrigen mit meinen Angaben durchaus im Einklang stehen. Ich
werde mich im Folgenden auf die histologischen Untersuchungen am
Menschen beschränken.
Ich stelle den Fall Frankenstein’s abseits, da ich ihn ein¬
gehender zu besprechen habe. Er allein tritt zu meinen Angaben
in gewissen Gegensatz, während alle übrigen 6 Fälle am
Menschen eine uneingeschränkte und bis ins Detail gehende
Bestätigung ergeben haben. In 3 der angegebenen Fälle (Ax-
hausen II und HI, Läwen) handelt es sich, wie in meinem ersten
Falle, um wandständig resecirte Tibiastücke, die 82, 60, 78 Tage
p. op. zur Untersuchung kamen, in den anderen 3 (Frangenheim)
um ganze Fibulastücke, die 2 Monate und Jahre nach der
Knochenbolzung untersucht wurden, während einmal die Zeit nicht
angegeben ist.
Die volle Uebereinstimmung dieser stattlichen Anzahl von
7 Fällen lässt es als berechtigt erscheinen, nunmehr das vordem
Festgestellte als durchaus gesetzmässige Befunde zu bezeichnen.
Die Uebereinstimmung bezieht sich:
1. auf das Knochengewebe selbst, das der Nekrose verfällt.
In 4 Fällen waren sämratliche Knochenzellen leer; hier war an
der totalen Nekrose nicht zu zweifeln. Im Falle Läwen’s, wie
in meinem ersten Falle bestand die Hauptmasse ebenfalls aus
solchem Knochengewebe, weiter aber fanden sich neben zweifel¬
los ebenfalls nekrotischen Bezirken mit schwer veränderten (meist
geschrumpften), aber noch nicht gelösten Kernen hier und da
verstreute Bezirke, deren Kerne unverändert waren, die also als
lebend aufgefasst werden mussten — Befunde, die den bekannten
Ergebnissen der Thierversuche durchaus entsprachen. Quantitativ
1) Die ausführliche experimentell - histologische Studie Frangenheim's
ist erst nach Beendigung dieser Arbeit erschienen, so dass ich sie leider nicht
mehr berücksichtigen konnte. Hier sei nur erwähnt, dass sie zu meiner (ienug-
thuung in allen wesentlichen Punkten eine Bestätigung meiner Feststellungen
bringt.
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Dr. G. Axhausen,
traten diese Bezirke ganz zurück — eine praktische Bedeutung
vermag ihnen Läwen ebenso wenig zuzuschreiben, als ich in meinem
ersten Falle;
2. auf das Periost, das entweder total oder wenigstens zum
Tbeil überlebte und die Quelle einer lebhaften Knochenneubildung
auf der Aussenfläche des implantirten Stückes und einer später
einsetzenden inneren Substitution des implantirten absterbenden
Knochens darstellt.
Verschiedenartigkeiten in der Intensität dieser Knochenbildungs-
processe und im Ablauf der Substitution ergeben sich zwanglos
aus der Verschiedenartigkeit des implantirten Materials und der
Verschiedenartigkeit der Placirung;
3. auf das Mark, das, soweit die Befunde Schlüsse erheben
lassen, die Fähigkeit des Periosts theilt;
4. auf die Art des Umbaues, der sich von der Aussenfläche
und den präformirten Gefässcanälen in aufeinanderfolgendem Abbau
und Anbau vollzieht.
Dass dieser Modus auch innerhalb des implantirten Knochens
der hauptsächlichste, wenn nicht der einzige ist, scheint jetzt auch
von March and angenommen zu werden, wenn ich wenigstens
richtig vermuthe, dass die diesbezüglichen Angaben Läwen’s die
Billigung Marchand’s, in dessen Institut Läwen die betreffenden
Untersuchungen anstellte, gefunden haben;
5. auf die offenkundige hohe Bedeutung der überlebenden ossi-
ficationsfähigen Organe für die Herstellung einer raschen organischen
Verbindung mit der Umgebung, für das Zustandekommen des Knochen¬
umbaues, für die functionell nöthige Dickenzunahme, für die Her¬
stellung einer raschen knöchernen Consolidation an den Enden —
und damit für das Erreichen eines idealen Erfolges.-
Diesen übereinstimmenden Befunden stehen nun die Angaben
Frankenstein’s in gewisser Beziehung entgegen. Ich habe hierauf
mit einigen Worten näher einzugehen.
Es handelt sich um die Implantation eines periostgedeckten
Fibulastückes des gleichen Kranken in einen grossen Femurdefect.
Ein Recidiv des Knochentumors ermöglichte die Untersuchung des
implantirten Stückes 147 Tage post op.
Zwar- ergiebt auch dieser Fall die Bestätigung der Wichtig-,
keit des deckenden Periosts; auch hier finden sich periostale Osteo-
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phyten, wie übrigens auch myelogene Knochenneubildung vorhanden
ist. Aber eine Abweichung von meinen Angaben erblickt Franken¬
stein in dem Zustande des Knochengewebes selbst. Er nimmt an,
dass „das Gewebe des eingepflanzten Knochens in der Hauptsache
am Leben geblieben ist“, fügt aber sofort hinzu: „eventuell mit
verminderter Vitalität wegen der vielfach schlechten
Färbbarkeit der Zellen“. Dieser wichtige Punkt wird in der
leider nur allzu kurzen mikroskopischen Beschreibung folgender-
maassen zur Darstellung gebracht: „In den Hauptbezirken sind
allerdings vielfach die Knochenkörperchen wenig intensiv gefärbt,
die Kerne häufig wandständig und geschrumpft; auch finden sich
leere Knochenhöhlen; aber alle derartigen Stellen gehen ohne jede
Abgrenzung und überall continuirlich in Partien mit besser ge¬
färbten Knochenzellen über“.
Diese „Herabsetzung der Vitalität“ hat schon einmal eine be¬
deutsame Rolle in der Geschichte der Osteoplastik gespielt. Dieses
Problem lag der scharfen Controverse zwischen Barth und David
zu Grunde, welch’ letzterer im Grunde nur die Anschauungen von
Julius Wolff zu vertreten hatte. Ich habe nur nöthig, auf die
diesbezüglichen Arbeiten zu verweisen, um nicht noch einmal längst
Besprochenes zu wiederholen. Ich stehe mit Barth und Marchand
und, ich glaube, der Mehrzahl aller pathologischen Anatomen auf
dem Standpunkt, dass eine Zelle nur als lebend bezeichnet
werden kann, wenn der Kern tinctoriell und structurell
sich als normal erweist; und wenn sie nicht lebt, dann ist sie
todt, ganz unabhängig davon, in welchem Stadium der Kernverän¬
derung sie sich befindet. Wie ich dies auch für andere Fälle von
Knochennekrose beschrieben habe, äussern sich die dem Tod fol¬
genden Veränderungen der Knochenzellkerne der Hauptsache nach
in zwei verschiedenen Formen: entweder der Kern schrumpft,
kommt gewöhnlich wandständig zu liegen, wobei die vorhandenen
Kernreste eher intensiver gefärbt sind, als der Norm entspricht ;
von diesem Stadium aus pflegt dann der Kernrest nach und nach
zu zerbröckeln. Oder aber der Kern blasst, manchmal unter leichter
Aufquellung, nach und nach ab, bis er ganz verschwindet. Alle
diese Veränderungen aber zeigen den Zelltod an. Aehnlich den
jetzigen Ausführungen Frankenstein’s behauptete damals auch
David, solcher Knochen sei lebend, denn die Zellen „unterscheiden
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Dr. G. Axhausen,
sich von den normalen in nichts als durch ihre verminderte Tinc-
tionsfähigkeit“. Als ob dies nicht gerade der allein ausschlag¬
gebende Punkt wäre! Wenn David damals annahm, „die Vitalität
der Zellen ist herabgedrückt, und dies äussert sich in einer ver¬
minderten Tinctionsfähigkeit“, so brauchte er diese Annahme zur
Stütze der Wolff’schcn Annahme, dass der lebende Knochen als
solcher nach der Transplantation weiter lebe. Er half sich mit
der Behauptung: „Die herabgesetzte Fähigkeit der Knochenzellen
darf nicht etwa als ein Zeichen des Todes der betreffenden Partie
betrachtet werden, denn dieselben Zellen, die, da sie sich nicht
mehr normal färben, erstorben erscheinen, erlangen mit dem Fort¬
bestand des Heilungsprocesses auch wieder normale Tinctions¬
fähigkeit.“ Nun, wer auch immer späterhin sich mit der Histo¬
logie der Knochentransplantation beschäftigt hat, hat sich von der
Irrigkeit der David’sehen Auffassung einer Herabsetzung und
Wiedergewinnung der Vitalität überzeugt; dass die Substitution des
implantirten todten durch neugebildeten Knochen den Kern der
sich abspielenden Vorgänge bildet, ist seither von keiner Seite be¬
stritten worden. Und nun taucht doch wieder die „Herabsetzung
der Vitalität“ auf! Ich hoffe, dass diese Auffassung auch jetzt nur
ein kurzes Leben haben wird.
Nur wo die Knochenzellen bezüglich Färbung und Structur völlig
normal sind, kann man von einem Ueberleben des Knochenge¬
webes sprechen. Dass es unter Umständen solche Bezirke giebt,
ist, wie von Anderen, auch von mir bestätigt worden. Nun lag
es ja nahe, bei der unzweifelhaft vorhandenen Ueberlegenheit des
periostgedeckten artgleichen Knochens in diesen Befunden vielleicht eine
Erklärung hierfür zu finden. Ich habe darauf verständlicherweise bei
meinen Untersuchungen stets geachtet, musste, mich aber immer
wieder überzeugen, dass sich ein unterschiedliches Verhalten der
am Leben gebliebenen Abschnitte besonders gegenüber der Sub¬
stitution nicht finden lässt. Und so musste ich dieses gelegentliche
Ueberleben von Knochenbezirken in Uebereinstimmung mit Barth
als praktisch belanglos bezeichnen. Dagegen betonte ich aus¬
drücklich, dass diesen Befunden aus principiellen Gründen, be¬
sonders mit Rücksicht auf die Angaben Ollier’s, ein grosses In¬
teresse zukommt, und fügte hinzu: „Ob diese (überlebenden) Rand¬
zonen für die Einheilungsvorgänge irgendwie von Bedeutung sind,
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knoobentransplantation. 267
muss ich unentschieden lassen.“ Ich stehe nicht an, zuzugeben,
dass wir in dieser Beziehung vielleicht noch nicht am Ende unserer
Erkenntniss angelangt sind, dass vielleicht in einer uns bis daher
noch nicht bekannten Weise doch eine begünstigende Einwirkung
auf den Einheilungsprocess, speciell vielleicht auf die Leichtigkeit
der Einheilung und den Widerstand gegen die Infectionsgefahr von
solchen lebendgebliebenen Theilen ausgehen kann. Hier werden noch
weitere Untersuchungen nöthig sein.
Nach den obigen Ausführungen ist meines Erachtens nicht zu
bezweifeln, dass auch im Falle Frankenstein’s zum mindesten
der Haupttheil die offenkundigen Zeichen der Nekrose trägt, vor¬
ausgesetzt, dass man sich meiner Auffassung von der Bedeutung
der Kernfärbungsanomalien anschiiesst und nicht in der construirten
„Herabsetzung der Vitalität“ einen billigen Ausweg sucht. Ob
wirklich in dem Falle Falkenstein’s völlig normale Knochen¬
zellen vorhanden waren, geht aus der Beschreibung nicht klar her¬
vor, da er nur von einer besseren Zellfärbung anderer Bezirke
spricht.
Und dass schliesslich in dem Falle Frankenstein’s das Ver¬
schwinden der Kerne in den der Nekrose geweihten Bezirken, die
„Kernlösung“ noch an vielen Stellen nicht eingetreten war, ist bei
der Art der Plastik und der dadurch bedingten Langsamkeit der
Substitution nicht allzu verwunderlich. Selbst bei den dünnen
Thierknochen machte ich die Erfahrung, dass nicht etwa die Kern¬
färbung an dem der Nekrose verfallenen Knochengewebe kurz nach
der Implantation schnell verschwunden ist; „der Kernschwund er¬
folgt vielmehr erst allmählich, und zwar so, dass zunächst leere
Höhlen an der Oberfläche des Knochens auftreten, während noch
in der Tiefe gefüllte Höhlen, allerdings mit geschrumpften Kernen,
vorhanden sind“. Genau in der gleichen ganz allmählichen Weise
gestalten sich übrigens auch die Processe der Kernlösung innerhalb
des Knochengewebes, das, frisch entnommen, vor der Implantation
in Formalin fixirt war. Auch hier dauert es lange, bis die „kern¬
lösende“ Gewebsflüssigkeit ihren Weg bis in die Tiefe des Knochens
gefunden hat. Und wie sehr dieser Vorgang bei dickem Knochen
verzögert sein kann, lehrten mich die Versuche von Uebertragungen
ganzer Femurstücke an Hunden. Dass dieser Process bei der
compacten menschlichen Fibula bis zu seiner völligen Ausbildung
Archiv für klm. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2. IQ
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Dr. G. Axhausen,
und Vollendung ganz erhebliche Zeit in Anspruch nehmen kann,
ist dadurch durchaus verständlich, um so mehr, als die Eigenart
des Knochens auch sonst das Eindringen des organisirenden Ge¬
webes in das Knocheninnere nur langsam gestattete. Und hier
komme ich zu dem Punkte, der meiner Ansicht nach auch zu dem
im Falle Frankenstein’s gewiss auffälligen Zurückbleiben des
inneren Umbaues das Verständniss erschliesst.
Die Schnelligkeit der Substitution ist abhängig von der Qua¬
lität des anhaftenden überlebenden ossificationsfähigen Gewebes. Nun
weiss ich aus eigenen Erfahrungen am Menschen (vgl. S. 244—245)
sowohl, wie am Thier, dass die geschlossene Fibula von diesem
Gesichtspunkte aus ein wenig vortheilhafter Knochen ist. Es ge¬
lingt schwer, auch nur in grösserem Umfang die hier sehr zarte,
mit der Musculatur innig zusammenhängende periostale Decke zu
erhalten; und dort, wo sie vorhanden ist. haften noch gewöhnlich
Muskelfasern an — eine Thatsache, auf deren unheilvolle Wirkung
auch im Laufe dieser Arbeit mehrfach hingewiesen wurde. Und
weiter habe ich ausdrücklich betont, dass an dem übertragenen ge¬
schlossenen Röhrenknochen ein weiterer grosser Theil ossifications¬
fähigen Gewebes verloren geht: das im Innern der Röhre liegende
Mark. Nach allgemein-pathologischen Vorstellungen und nach
meinen experimentell-histologischen Erfahrungen halte ich es für
ausgeschlossen, dass bei einer solchen Transplantation mehr als
die an beiden offenen Enden liegenden begrenzten Marktheile am
Leben bleiben. Das Markgewebe braucht zum Ueberleben
unbedingt die rasche Verbindung mit dem Mutterboden.
Diese ist aber nur an den Enden gegeben. Von da aus wird nun,
wie ich das für den thierischen Knochen eingehend beschrieben
habe, ganz allmählich das übrige nekrotische Mark substituirt. Und
ebenso langsam, wie das substituirende Markgewebe nach der Mitte
zu vorrückt, so langsam und langsamer noch können auch nur die
myelogenen Knochenbildungsprocesse sich einstellen. So ist es für
mich durchaus verständlich, dass in dem Falle Frankenstein's
sich in dem Mitteltheil, dessen Untersuchung allein der Beschrei¬
hung zu Grunde liegt, die myelogenen Knochenbildungsprocesse und
damit die Substitution der angrenzenden Compacta noch in sehr
bescheidenen Grenzen hielten; damit stimmt auch überein, dass sich
„vereinzelte kleine nekrotische Bezirke“ im Mark des untersuchten
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 269
Knochenabschnitts vorfanden. Dass das der Hauptsache nach ge¬
fundene lebende Markgewebe nicht etwa das alte hier gelegene sein
kann, lässt für mich nach dem vorher Gesagten irgend einen
Zweifel nicht zu. Und auch die nicht gerade bedeutende periostale
Knochenneubildung, wie sie z. B. in der beigegcbeuen Altbildung
sichtbar ist, findet in dem vorher Gesagten eine ausreichende Er¬
klärung.
Dass übrigens die periostale und myelogene Knochenneubildung
nicht überall so geringfügig gewesen sein wird, wie in dem unter¬
suchten genau beschriebenen und abgebildeten Mittel!heil, geht
schon aus den Angaben hervor, die die makroskopische Besch rei-
bung einleiten: „Schon makroskopisch erscheint das implantirte
Fibulastück in aufgesägtem Zustande in der compacten äusseren
Schicht verdickt und der Markraum etwas verengert.“ Eine solche
Zunahme der knöchernen Masse ist doch nur durch Knochenneu¬
bildung möglich! Es ist zu bedauern, dass mikroskopisch nur eine
Stelle der Mittelpartie zur Untersuchung oder wenigstens zur Be¬
schreibung gekommen ist. Vielleicht würden die Folgerungen
Frankenstein's nicht so principiell schwerwiegender Natur ge¬
wesen sein, wenn er auch andere Bezirke mit zur Untersuchung
herangezogen hätte. Aber selbst der beschriebene und abgebildete
Theil, der sowohl periostalen wie, allerdings spärlich, myelogenen
neuirebildeten Knochen und den ersten Beginn einer Substitution
zeigt, berechtigt nicht zu dem zusammenfassemleu Unheil Franken¬
stein's, dass „jegliche Tendenz, ihn (den implantirten Knochen)
durch Heactionsproces.se zu ersetzen, fehlt“, und damit verliert
auch der Schluss, den Frankenstein aus dieser Annahme zieht,
den Boden, dass nämlich dies dafür spräche, dass „der Knochen
seine Vitalität, vielleicht etwas vermindert, erhalten haben muss“.
Ebenso muss ich durchaus dem entgegentreten, dass Franken¬
stein aus seinem Falle die Lehre entnehmen will, dass, entgegen
meiner Angabe, der geschlossene Röhrenknochen dem längs hal-
birten oder wandständig mit Eröffnung der Markhöhle resecirten
vorzuziehen ist. Das ideale Ziel ist erst erreicht, wenn an Stelle
des Defects ein neuer lebender Knochen liegt, der in Stärke und
Form dem vorher vorhandenen möglichst nahe steht; so lange die
Substitution nicht eingesetzt hat. ist immer noch eine gewisse Ge¬
fahr vorhanden, die in der Anwesenheit des grossen fremden
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270
Dr. G. Axhausen,
Körpers gegeben ist. Je rascher die Substitution einsetzt, um so
besser; desto rascher wird im Ucbrigen auch das Periost frei zur
Neuschaffung von Knochengewebe im Dienste der Function, desto
rascher wird die für die Function beste Form erreicht sein. Und
die Substitution wird um so eher erfolgen, je mehr lebendes ossi-
ficationsfähiges Material in unmittelbarer Nachbarschaft liegt. Das
ist eben in der von mir empfohlenen Form in weit höherem Grade
der Fall. Ich verweise nur auf den Unterschied der histologischen
Befunde der verschiedenartigen Fälle. Ich verweise auf die Be¬
funde der Röntgenaufnahmen der letzten Jahre, z. B. auf den
Unterschied zwischen dem in dieser Arbeit beschriebenen Fall 1,
der in seinen Röntgenbildern mit dem Falle Frankenstein’s
durchaus in Einklang steht, und den Befunden in zahlreichen
Fällen wandständiger Resection von Röhrenknochen, in denen Sub¬
stitution und functionelle Verdickung wesentlich frühzeitiger mani¬
fest wurden (besonders Brentano, Bier-Klapp, aber auch
Braun u. A.). Ich verweise ferner auf die detaillirten Angaben
Streissler’s. Er fand bei der Transplantation wandständigen
Röhrenknochens im Röntgenbild, dass schon nach 4—6 Wochen
das implantirte Stück lichtdurchlässiger zu werden beginnt — als
Zeichen des beginnenden inneren Umbaues. Daran schliessen sich
dann bald die röntgenologisch nachweisbaren periostalen Auflage¬
rungen, die zu einer Verdickung des Knochens führen. An diesem
provisorischen Callus vollziehen sich nun sehr bald, wie bei einer
Fractur, die Vorgänge des modellirendcn Umbaues, die zu der de¬
finitiven Form führen, die sogar bis auf die Bildung der Markhöhle
der Form des verloren gegangenen Knochens entspricht.
Aber selbstverständlich ist der histologische Vortheil nur ein
Gesichtspunkt, der bei der Auswahl des Implantationsmatcrials in
Betracht kommen muss. Dass man aus chirurgisch - practischen
Gründen unter bestimmten Umständen gleichwohl dem geschlossenen
Röhrenknochen den Vorzug geben wird, soll damit nicht bestritten
werden (ein Beispiel dafür stellt der oben beschriebene Fall 1 dar).
Man muss eben stets, wie ich mich schon früher ausdrückte, in
den histologischen Gesetzen nur „eine begründete Basis erblicken,
zu der die technischen Erfordernisse und technischen Möglichkeiten
in Beziehung gesetzt werden müssen, um im einzelnen Falle das
Richtige zu treffen“. Jedenfalls berechtigt nach allein Voraus-
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 271
gegangenen der Fall Frankenstein’s nicht dazu, auch diese histo -
logische Ueberlegenheit des wandständig resecirten Knochens als
unzutreffend anzusehen. —
Ich komme zu den Publicationen Kausch’s zu der vorliegen¬
den Frage. Ihnen allen liegt im Wesentlichen ein Krankheitsfall
zu Grunde, dessen principielle Bedeutung Kausch bei verschie¬
denen Anlässen ausdrücklich betont hat (Chir.-Congress 1906, 1908,
1909) und dessen genaue Beschreibung und histologische Unter¬
suchung nunmehr vorliegt (Bruns’ Beiträge, Bd. 68).
Die principielle Bedeutung seines Falles schätzt Kausch hoch
ein; denn er giebt an, dass dieser eine Fall die ßarth’sche Lehre
.stürze“ (Chir.-Congr. 1909), wie auch nach ihm die von mir prä-
cisirten Anschauungen „nicht mehr aufrecht erhalten werden können“
(Selbstbericht Centralbl. f. Chir. 1909).
Bei der Autorität ihres Urhebers ist diese Auffassung überall
in die einheimische und internationale Literatur übergegangen, und
es wird die Einheitlichkeit der Auffassung, die zwischen Barth
und mir gewonnen wurde, durch die Aeusserungen Kausch’s
wiederum in Frage gestellt. Mit welchem Recht, möge man aus
den folgenden Zeilen entnehmen.
Wer sich in der Beurtheilung der Frage allein an die früheren
kurz zusammenfassenden Mittheilungen Kausch’s und an die
Schlusssätze der zuletzt erwähnten Arbeit hält, kann leicht irre
gehen, wie ich weiterhin zeigen werde. Es ist nothwendig, die
genaue Beschreibung, die in der letzten Arbeit Kausch’s enthalten
ist, der Betrachtung zu Grunde zu legen und sie mit den früheren
Mittheilungen und den Schlüssen zu vergleichen.
In der genannten Arbeit berichtet Kausch über 7 Fälle von
Implantation todten Knochens in Continuitätsdefecte von Röhren¬
knochen. Die Fälle, in denen Metallfremdkörper implantirt wurden,
lasse ich fort. Die Art des Materials im Einzelnen und das Schicksal
des implantirten Knochens geht aus der folgenden Zusammenstellung
hervor, in der ich einige zum Verständniss noth wendige, aus der
beigefügten näheren Beschreibung entnommene Zusätze in Klammer
setze und mit einem A. versehe.
In 6 von den operirten 7 Fällen war ein Misserfolg zu ver¬
zeichnen:
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Dr. G. Axhausen,
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1. Pseudarthrosis tibiae. Implantation einer frischen ausgekochten Pha¬
lanx. Einheilung. Besserung der Pseudarthrosis. Fistelbildung. Entfernung
der Phalanx (7 Monate später).
2. Myelogenes Sarkom des Tibiakopfes. Resection des oberen Tibia- und
Fibulaendes. Implantation eines frisch gewonnenen (von Weichtheilen befreiten,
entfetteten, ausgekochten A.), längere Zeit steril aufgehobenen Knochens in
den Tibia-, der Patella in den Fibuladefect. Hautgangrän. Entfernung des
implantirten Knochens und der Patella.
3. Myelogenes Sarkom des Oberarms. Implantation von 2 sterilisirten
Leichen-Humerusstücken; im Ganzen 25 cm. Entfernung derselben nach 5 Mo¬
naten wegen Fistelbildung.
4. Myelogenes Sarkom des oberen Humerusendes. Resection. Implanta¬
tion eines frischen sterilisirten Leichenknochens (frisch der Leiche entnommen,
dann aber erst von Weichtheilen befreit, entfettet und ausgekocht. A.). Ent¬
fernung nach 1 Monat wegen Infection.
5. Myelogenes Sarkom des Condylus internus femoris. Schrägresection
dieses Condylus und des halben äusseren. Implantation eines sterilen mace-
rirten Knochens. Nach 18 Tagen Entfernung desselben.
6. Implantation eines Leichenknochens (der Beschreibung nach macerirter
Knochen A.), an Stelle des unteren Femurdrittels (myelogenes Sarkom). Ent¬
fernung wegen Eiterung.
Ich glaube, es giebt keine trefflichere Illustration für <lio Ge¬
fahren, die ich aus dem Fehlen der überlebenden knochenbildenden
Organe, besonders der lebenden periostalen Decke abgeleitet habe
und die sich in der Erhöhung der primären und secundüren In-
fectionsmöglichkeit äussern, als diese 6, von sachkundiger Hand
operirten misslungenen Fälle.
Kausch selber kommt zu dem Schluss, dass er „nach diesen
Erfahrungen nie mehr solchen Knochen (Leichenknochen und mace-
rirten Knochen) verwenden würde“. Er hält es für zweifellos, dass
„Leichcnkuochen schlechter einheilt, als frisch dem Lebenden ent¬
nommener“. Doch fügt er hinzu: „Was daran schuld i>t, weiss
ich nicht“. Ich glaube, einige solcher Gründe in meinen Arbeiten
aufgedeckt zu haben (cf. die obige Zusammenstellung), und insbe¬
sondere habe ich das unterschiedliche Verhalten von frischem
periostgedecktem und todtem Knochen milden Infcctionen gegen¬
über in einer besonderen Arbeit, die allerdings, wie ich sehe (vgl.
S. 260 u.262), Kausch bei seinen Literaturstudien entgangen ist, an
der Hand eigener klinischer Beobachtungen und histologischer Unter¬
suchungen zur Darstellung gebracht. Dagegen hält Kausch auch
nach dem misslungenen Fall 1 im Gegensatz zum Leichen-
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 273
knochen und macerirten Knochen den frisch entnommenen, aber
durch Auskochen abgetödteten Knochen „für ein recht brauch¬
bares Implantationsmaterial“. Er stützt sich dabei auf den
gleich zu besprechenden 7. Fall, über dessen principielle Bedeutung
vorher gesprochen wurde. Dieser Fall ist folgendermaassen zu¬
sammengefasst:
Myelogenes Sarkom des Tibiakopfes. Totale Resection desselben inclusive
Periost. Implantation eines frischen ausgekochten Knochens (nach Entfernung
der Weichtheile und Entfettung iu Alkoholäther, A.). Einheilung. Consolida-
tion. Amputation nach s / 4 Jahren wegen Recidiv. Periost neugebildet. Der
implantirte Knochen ist in Organisation begriffen.
Der Defeet betrug in diesem Falle, wie ich nebenbei erwähnen
möchte, 8 cm, war also für eine Continuitätsresection an einem
grossen Röhrenknochen klein zu nennen. Kausch nimmt in diesem
Falle die Einheilung als selbstverständlich an. Er spricht auch in
seinen Schlusssätzen von der dauernden Einheilung dieses
Knochens als einer sicheren Thatsache.
Von einer dauernden, sicheren Einheilung eines transplantirten
Knochens in einen Knochendefect kann man meines Erachtens erst
sprechen, wenn das implantirte Stück ringsum mit der Umgebung
innig organisch verbunden ist und sich im ganzen Umfang im Zu¬
stande der knöchernen, wenn auch erst beginnenden Substitution
befindet. Flüssigkeitsansammlungen, die die Weichtheile der
Umgebung von dem transplantirten Knochen abheben, sowie Fistel¬
bildungen sind erfahrungsgemäss besonders bei der Implantation
todten Knochens stets ein signum mali ominis.
Ich finde nun in der genauen Beschreibung des Krankheits¬
verlaufs folgende Angaben:
2 Monate p. op.: „In der Nahtlinie ist mitten über dem implantirten
Knochen ein kleines Bläschen vorhanden; die Punction ergiebt trüb - seröses
Secret, welches steril bleibt.“
7 Tage später: „Die Blase hat sich wieder gebildet, wird nochmals punc-
tirt, wächst danach noch schneller, wird dann zum dritten Male punctirt und
bleibt seither weg.“
Aber nach weiteren 7 Wochen heisst es: „Im Bezirk der Punction eine
gTanulirende Stelle, die auf Tumor verdächtig ist.“
Dieser Verdacht scheint sich nicht bestätigt zu haben, denn die Stelle
scheint zur vorübergehenden Heilung gekommen zu sein. Es heisst nämlich
nach weiteren 2 Monaten: „Dicht unterhalb des Condylus internus femoris, an
der medialen Seite, bemerkt man eine hühnereigrosse flache Vorwölbung, über
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Dr. G. Axhauson,
der die Haut etwas gespannt und geröthet ist; deutliche Fluctuation. Die
Punction ergiebt eine hämorrhagische sterile Flüssigkeit, in der mikroskopisch
nur Blutkörperchen zu sehen sind.“
Und 8 Tage später: „Die Schwellung ist wiedergekommen. Es wird
wieder punctirt und blutig-seröses, steriles Secret gewonnen. Die Punctions-
öffnung schliesst sich diesmal nicht u. s. w.“
Wir finden also in diesem Falle sowohl Flüssigkeitsansammlung,
als auch Fistelbildung! Dazu kommt, dass die Untersuchung des Prä¬
parats ergab, dass in der ganzen vorderen Hälfte des einge¬
pflanzten Stückes die Weichtheile vom Knochen abgehoben
waren, und Kausch glaubt „mit Bestimmtheit annehmen zu müssen,
dass diese Abhebung auch schon intra vitam bestanden hat“. Es liegt
wohl sehr nahe, diesen flüssigkeitgefüllten Raum mit den voraus¬
gegangenen Punctionen in Zusammenhang zu bringen. Es kommt
weiter hinzu, dass der freiliegende Knochen „elfenbeinern weiss ist
und sich scharf von dem an ihn stossenden lebenden ?ibgrenzt“.
Histologisch ist dieser Knochen „ohne jede Spur von Organisation“;
auch von Knochenneubildungsprocessen ist in den von dem Knochen
abgehobenen Weichtheilen nichts, mitgetheilt. Dieser Befund ist
mit den Angaben einer ungestörten Einheilung so wenig vereinbar,
dass Kausch selbst die Frage erhebt: „Wäre die Organisation
vielleicht noch erfolgt? Oder hätte sich dieses Stück demarkirt
und wäre im Laufe der Zeit ausgestossen worden?“
Mir scheint nach Allem, dass das Schicksal dieses iraplan-
tirten todten Knochens noch keineswegs so gesichert war, dass
man von einer dauernden Einheilung sprechen konnte. Ansamm¬
lung von blutig-seröser oder trüb-seröser Flüssigkeit in der un¬
mittelbaren Umgebung des implantirten Knochens leiten immer die
zum Misserfolg führenden Störungen ein; sehr lange können die
immer wiederkehrenden und die Punction erheischenden Ansamm¬
lungen für die Untersuchung steril bleiben — bis schliesslich doch
dielnfection das Schicksal des Fremdkörpers besiegelt. Ich zweifle
nicht daran, dass auch in dem Falle Kausch’s sich an die wieder¬
holten Punctionen chronische Fistelbildung — Anfänge davon waren
ja schon vorhanden — und fortdauernde Eiterung angeschlossen
haben würde, die die Entfernung des Implantatum nothwendig ge¬
macht hätten, wenn die Vorgänge nicht durch die Amputation
unterbrochen worden wären. Dass solcher Process oft sehr lange
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Krit. Bemerkungen and neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 275
zur völligen Entwickelung braucht, ist ja aus der Geschichte der
Osteoplastik genugsam bekannt. Nach den beigegebenen Bildern
zu urtheilen, steht nicht zu erwarten, dass der Haupttheil des im-
plantirten Knochens dem Körper erhalten geblieben wäre. Nur an
beiden Enden wären verrauthlich durch die Substitution von dem
angrenzenden lebenden Knochen her (Periost und Mark) Theile des
Implantatum erhalten geblieben.
Man möge nur nicht glauben, dass die feste knöcherne
Vereinigung an den Enden ein sicherer Beweis für die
(lauernde Einheilung solcher Knochenstücke wäre!
Die Knochenvereinigung ist, wie gesagt, in solchen Fällen eine
Folge der Thätigkeit der umgebenden ossificationsfähigen Organe,
die den todten Knochen umschliessen und durchwachsen können.
Gleichzeitig birgt aber der Haupttheil alle bekannten Gefahren des
grossen todten Fremdkörpers in sich. Wenn nicht in der Regel,
bedingt durch die dauernde Eiterung, der implantirte Knochen ent¬
fernt würde, würde es in solchen Fällen nach Jahr und Tag zur
Demarkation an beiden Enden kommen.
Es giebt kein schöneres Beispiel als Stütze dieser Auffassung,
als der erste von Barth beschriebene Fall:
Totale Resection fast der ganzen linken Humerusdiaphyse wegen peri¬
ostalen Sarkoms. Implantation eines entsprechenden Stückes eines sterilisirten
Skeletthumerus. Fieber und Eiterung nach nur 3 Wochen. Entfernung
7 Wochen p. op.
Nach 3 Monaten Implantation einer einer frischen Leiche entnommenen
sterilisirten Fibula. Heilung ohne Zwischenfall. Schon nach 6 Wochen
knöcherne Vereinigung am oberen Ende, am unteren noch Pseud-
arthrosis.
7 Monate p. op. Entfernung des Knochens, nachdem einige Zeit vor¬
her eine Fistel und dauernde Eiterung aufgetreten war. Es zeigt sich,
dass der Fremdkörper noch fast in ganzer Ausdehnung bloss lag.
Am oberen, knöchern mit dem angrenzenden Knochen verbundenen
Ende war der implantirte todte Knochen in geringer Ausdehnung
knöchern organisirt.
Also auch hier, trotz der schon 6 Wochen post operationem
vorhandenen und später am Präparat nachgewiesenen knöchernen
Consolidation an dem einen Ende, das Fehlen der organischen
Verbindung mit der Umgebung im Haupttheil, die spät einsetzende
Fistelbildung und die dauernde Eiterung, die dann zur Entfernung
des Stückes führte!
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27(i Dr. G. Axhausen,
Nach solchen Erfahrungen und nach den in der Krankenge¬
schichte enthaltenen Detailbefunden erscheinen mir die Bedenken,
die ich gegen die in der Zusammenfassung und den Schlusssätzen
Kausch’s enthaltene Beurtheilung des implantirten Knochens er¬
heben musste, nur allzu begründet. Auch Kausch selbst konnte
sich ja, Avie erwähnt, solchen Zweifeln nicht entziehen. In den
Ausführungen auf dem Chirurgen-Congress 1909 sagte Kausch
noch: „Dass dieser Knochen im Laufe der Zeit zur Resorption oder
gar zur Ausstossung gekommen wäre, wird gewiss Niemand be¬
haupten Avollen. Im Gegentheil, das ganze Stück wäre zweifel¬
los organisirt worden und noch weiter fest verwachsen.“ In
seiner letzten Arbeit rechnet er aber bereits mit der Möglichkeit
der Demarcation zum mindesten grosser Theile des implantirten
Knochens. Immerhin muss dann die so kategorische Behauptung
(lauernder Einheilung auch in den Schlusssätzen mit einem Frage¬
zeichen versehen Averden.
Auf diesem, sicher nicht ganz einAvandsfrcien Falle aber baut
Kausch den Schlusssatz auf, dass „frisch gewonnener menschlicher
todter Knochen — im Gegensatz zu den heute herrschenden An¬
sichten — ein recht brauchbares Material für den Knochenersatz
ist, auch in periostfreiem Lager“; und dies. obAVohl er in dem
zweiten Falle, in dem er solches Material benutzte (Fall I der
obigen Zusammenstellung) Avegen Fistelbildung die Entfernung der
implantirten Phalanx vornehmen musste!
BemerkensAverth sind auch die Wandlungen, die die Anschauung
Kausch’s über den Zustand des implantirten Knochens selber (lurch-
gemacht hat. In der ersten Mittheilung (Chir.-Congr. 1900) heisst
cs: „Der implantirtc Knochen ist zweifellos todt geblieben“; dagegen
in der zAveiten (Chir. Congr. 1908): „Der Knochen hat sich, A\ie
jetzt bereits feststellt, in lebenden A r erwandelt“, und in der dritten
Chir.-Congr. 1909): „Der ganze vordere Theil (des Knochens) ist
im übrigen ziemlich unverändert geblieben; makroskopisch und
mikroskopisch todter Knochen.“ In den Schlusssätzen der letzten
Arbeit heisst es nun Aviederum: „Der implantirte todte Knochen ist
in Resorption begriffen; ihr parallel gehend, ist überall im todten
Knochen neuer gebildet, Avorden.“ Aus dem Text entnimmt
man aber, dass die ganze vordere Hälfte des Implantatum nekro¬
tisch ist, „ohne jede Spur von Organisation“. Und Avie kiimmer-
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knockentransplantation. 277
lieh sind die Anbildungsvorgänge an der Rückseite! In der einen
beigegebenen Abbildung, auf die im Text verwiesen wird, sieht
man einen schmalen Saum neugebildetcn Knochens auf der Aussen-
lläche liegen, im Innern des Knochens noch nicht die geringste
Knoehenneubildung, nicht einmal von der der Apposition voraus¬
gehenden Resorption ist etwas zu sehen. Und auf der anderen
Abbildung fehlt überhaupt jede Knochenneubildung, wie jeder Be¬
ginn des inneren Umbaus. Und von dem oberen Ende eben dieser
Rückseite heisst es, dass „die Resorption ganz im Vordergründe
steht, hier fehlt zum Theil der Knochen völlig, der stehen ge¬
bliebene ist noch kaum in Organisation begriffen“. Kann man aus
einer solchen Beschreibung den Schluss ziehen, dass „überall im
todten Knochen neuer gebildet worden ist “ oder dass „der Knochen
in lebenden verwandelt ist“?
Weiter heisst es in den Schlusssätzen: „Ueber den ganzen
circularen Periostdefect auf einer Strecke von 8 cm ist neues Periost
gebildet.“
Einer transplantirtes Knochengewebe einhüllenden Bindege-
websschieht kann man meines Erachtens dann erst periostalen
Charakter zuerkennen, wenn sie nachweislich osteoblastische Func¬
tionen besitzt: es giebt kein anderes beweisendes Criterium. Man
kann nicht, wie Hart es thut, eine dem Knochen auf liegende „wohl
mehrschichtige“ Zelllage einfach als Wucherungsschicht auffassen.
Immer finden wir, auch bei der Implantation todten Knochens in
Weiehtheile, die dichter liegenden Zelllagen in unmittelbarer Um¬
gebung des Knochens. Aus diesem Grunde ist es nicht angängig,
die ganze vordere, vom Knochen abgehobene Hälfte der neuge¬
bildeten Bindegewebsschicht als neugebildetes Periost zu bezeichnen.
Tn der ersten Veröffentlichung heisst es von ihr, dass hier „die
Weiehtheile absichtlich vom Knochen abgelöst seien“, in der zweiten,
«lass sie „vorn dem Knochen ganz locker aufsitzen“, und jetzt möchte
Kausch mit Bestimmtheit annehmen, dass „die Abhebung bereits
itn Lebenden bestand“. Wie dem auch sei — Knochenbildungs¬
vorgänge sind an diesem Theil der Bindegewebshülle nicht vor¬
handen. und damit fehlt der einzig mögliche Beweis für ihre peri¬
ostale Natur.
Aber ich will garnicht auf diesen Widersprüchen und den nicht
immer wohl begründeten Folgerungen verharren. Ich will trotz
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278
Dr. G. Axh&usen,
aller Gegengründe den Fall setzen, dass die Ansammlung von
Flüssigkeit in der Umgebung des Knochens nicht wiedergekehrt
wäre, dass die abgehobenen Weichtheile sich auf den Knochen wieder
angelegt hätten, dass in diesen Weichtheilen Knochenbildungspro-
cesse eingesetzt hätten, und dass schliesslich die bisher fehlende
Organisation der vorderen Hälfte des Implantatum noch nach
3 / 4 Jahren aufzutreten begonnen hätte — wie wäre dann dieser Fall
principiell zu bewerthen?
Zunächst der vermeintliche Gegensatz zu Barth’s Lehre.
Barth lehrte, dass jegliches Implantationsmaterial — und so
auch der Kausch’sche Knochen — nur einen porösen Fremdkörper
darstellt, der allmählich von dem umgebenden ossificationsfähigen
Gewebe durch neugebildetes Knochengewebe ersetzt, substituirt, also
organisirt werde. Barth glaubte den Nachweis geführt zu haben,
dass „todte Knochenstücke unter den nämlichen histologischen Be¬
dingungen einheilen wie lebende“ (Ziegler’s Beitr., Bd. 17), da er
„mikroskopisch dasselbe Hineinwachsen und dieselbe Anlagerung
von Knochenschichten“ fand. Barth betonte selbst für den Ersatz
circulärer Defecte, dass dieser „durch neugebildeten Knochen, der
im wesentlichen von dem Periost der Umgebung geliefert werde“,
vor sich geht (Ziegler’s Beitr., Bd. 17).
Kausch sagt aber (Chir.-Congr. 1909): „Mein Fall stürzt die
zur Zeit herrschende Lehre, die sich hauptsächlich auf Lexer und
Barth stützt. Todter Knochen kann gerade so gut einheilen,
knöchern verwachsen und organisirt werden wie lebender; es mag
sein, dass es langsamer geschieht. Der Organisationsprocess ist
aber im wesentlichen derselbe“. •— Als wenn das nicht gerade
eben das wäre, was Barth nach seinen Experimenten und
ihm folgend Lexer behauptet hätte! Von einer Gegensätz¬
lichkeit ist gar keine Rede; sondern der Kausch’sche Fall bringt
höchstens eine Bestätigung des Barth’schen Einheilungs- und Er¬
satzmodus auch für Continuitätsdefecte menschlicher Röhrenknochen.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit nicht zu erwähnen ver¬
gessen, dass das, was Kausch als Kern der Barth’schen Lehre
seiner letzten Arbeit vorausschickt, und wogegen er das Principielle
seines Falles entwickelt, keineswegs den Arbeiten entnommen ist, in
denen Barth vor 12—14 Jahren seine Lehre begründete, sondern
seiner letzten Arbeit (1908), in der er bereits seinen früheren Stand-
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Krit. Bemerkungen und neue Beiträge zur freien Knochentransplantation. 279
punkt aufgegeben und sich den Ollier’schen Anschauungen zuge¬
kehrt hatte.
Der Fall Kausch »stürzt“ aber nicht nur Barth’s Lehre,
sondern auch die von mir entwickelten und seitdem vielfach be¬
stätigten Anschauungen.
Der Kernpunkt meiner Ausführungen, die verschiedene
Werthigkeit des knöchernen Implantationsmaterials und deren histo¬
logische Begründung, wird begreiflicherweise von dem Kausch’schen
Falle gamicht berührt. Nur wenn ich die Unmöglichkeit einer
functioneilen Einheilung todten Knochens behauptet hätte, würde
sich eine Gegensätzlichkeit finden lassen. Dies ist aber keineswegs
der Fall. Wohl habe ich betont, dass todter und besonders mace-
rirter Knochen das ungeeignetste knöcherne Implantationsraaterial
darstellt; ich habe dieses Material daher in der Zweckmässigkeits¬
skala auf den untersten Platz gestellt. Ich glaube im übrigen, dass
diese Bewerthung in den oben ausgeführten Erfahrungen und be¬
sonders in den Mittheilungen Kausch’s über seine Fälle die denk¬
bar beste Stütze findet. Wenn ich es aber vergleichsweise als das
ungeeignetste Material bezeichnete, das „nur als letzter Ausweg in
Betracht kommt“, so liegt darin doch nicht, dass ich es für ab¬
solut unbrauchbar halte. Dann käme es ja überhaupt nicht in Be¬
tracht. Gewiss habe ich, abgesehen von der primären und secun-
dären Infectionsgefahr, auf die Schwierigkeiten und Gefahren hin¬
gewiesen, die auch nach gelungener Einheilung bei der Deckung
von Continuitätsdefecten dem functionellen Endausgang drohen. Mit
der Grösse des Defeets wachsen die Gefahren, da damit der Weg
für das hinüberwachsende Periost immer länger und gleichzeitig
die Möglichkeit des Ersatzes in der Mitte immer schwerer wird.
„Hier (bei Continuitätsdefecten) kann die Substitution nur dadurch
erfolgen, dass von beiden Enden her, dort, wo das implantirte Stück
in den Knochen des Einpflanzungslagers steckt oder ihm anliegt,
durch Produktion des mütterlichen Periostes und Marks das neuge-
bildete Knochengewebe allmählich gegen die Mitte zu vorrückt.“
Weiter heisst es: „Allein die Resorption des in der Mitte liegenden
Abschnitts des implantirten Stückes,- das als todter Fremdkörper
in den Weichtheilen naturgeraäss der Resorption unterliegt, setzt
bereits im Augenblick der Implantation ein und nimmt ihren Weg
unabhängig von der Knochenneubildung. Man wird sich daher,
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Dr. G. Axhausen.
bei einiger Grösse des Defects, den Fall leicht vorstellen
können, dass die Resorption in der Mitte schon zu einem mehr
oder weniger vollständigen Abbau des Knochens geführt hat, bevor
die Neubildung von den Enden her an seine Stelle getreten ist.“
Für einen solchen Fall gelegentlichen späteren Misslingens gab ich
ein Beispiel. Liegt darin die Behauptung, dass todter Knochen in
einen Continuitätsdefect überhaupt nicht einheilen und von den
Enden her knöchern ersetzt werden könnte, zumal wenn der Defect
nicht mehr als 8 cm beträgt? Gewiss habe ich betont, dass das
Hinüberwachsen des Periosts auf todten Knochen nur „langsam
und zögernd“ geschieht. Damit ist doch wohl vereinbar, dass es
in einem bestimmten Falle in 0 monatiger Arbeit einen 8 cm
grossen Defect, von beiden Seiten her kommend, überbrückt! Ich
weiss nicht, worin Kausch die principielle Gegensätzlichkeit seines
Falles gegenüber meinen Anschauungen findet, zumal er selber zu-
gicht, dass er in dem Hauptpunkt, der Uebcrlegenheit des frischen
periostgedeckten Knochens, mit mir einer Meinung ist.
Ich will Kausch gern bestätigen, dass sein Fall der einzige
von eingeheiltem todtem Knochen ist, der zur makroskopischen und
mikroskopischen Untersuchung des Präparats kam. Dass dieser
Fall aber „sowohl der Bartirschen Lehre, als auch der heute
herrschenden, in erster Linie auf Axhausen's Forschungen be¬
ruhenden, widerspricht“, oder dass er gar „die zur Zeit herrschen¬
den Lehren stürzt“, das muss ich ganz entschieden in Abrede
stellen. Und ich glaube, dass jeder, der sich die Mühe nimmt,
die vorausgehenden Ausführungen zu lesen, mir hierin beipflichten
wird.
Doch nun genug der Worte. Nicht eine weitere Discussion
über den einen Fall Kausch’s, sondern die weitere Entwicklung
der Dinge wird zum Ziele führen. Wenn ich aber aus den Er¬
fahrungen der letzten 2 Jahre, die Fälle Kausch’s und Franken-
stcin's nicht ausgenommen, ein Facit ziehen darf, so ist es
das, dass
die histologischen Gesetze der freien Osteoplastik, die ich vor
nunmehr 2 Jahren auf Grund von Untersuchungen am Menschen
und am Thier zur Darstellung gebracht habe, durch die weiteren
Erfahrungen bestätigt sind und heute noch in vollem Um¬
fange zu Recht bestehen, und dass
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l'eber den Begriff der Halisterese und über die Knochendystrophie. 281
die daraus abgeleiteten Grundlinien für die operative An¬
wendung der freien Osteoplastik auch heute noch ihre volle
Giltigkeit besitzen.
2. Ueber den Begriff der Halisterese und über
die Knochendystrophie.
Die Halisterese stellt einen jener pathologischen Begriffe dar,
dir sich infolge der Prägnanz ihrer Bildung und ihrer bequemen
Anwendbarkeit auf mannigfache pathologische Zustände rasch in
den wissenschaftlichen Sprachschatz fest einbürgern und ihr Bürger¬
recht auch dann nicht verlieren, wenn die ihnen zu Grunde lie¬
genden Vorstellungen durch berechtigte Einwände erschüttert worden
sind. Wenn auch zur Zeit der Bildung, abhängig von der makro¬
skopischen Betrachtung, die Schaffung des Begriffs durchaus berech¬
tigt erschien, so muss doch erwartet werden, dass heut zu Tage ein
weiteres Festhalten an ihm nur dann möglich ist, wenn sein Inhalt
den Ergebnissen der modernen histologischen Forschung entspricht.
Bis zu welchem Grade ist dies der Fall? Dürfen wir überhaupt
der Halisterese auch fernerhin in der Pathologie einen Platz geben®
Dieser principiell gewiss recht wichtigen Frage ist der erste
Theil der folgenden Ausführungen gewidmet. Nachdem von maass-
irebenden I ntersuchern den Zweifeln eine überzeugende Form ge¬
geben worden ist, nachdem von anderer Seite unter Heranziehung
neuer Befunde ebenso eifrig für die Aufrcehterhaltung des alten
Begriffs gekämpft worden ist, muss der Versuch gemacht werden,
wenn es überhaupt durch die uns heut zu Tage zur Verfügung
stehenden Mittel möglich ist, zur Klarheit und zur bündigen Ent-
x-heidung zu kommen.
Ich habe diese Frage bereits vor 2 Jahren im Rahmen einiger
Arbeiten D der pathologischen Literatur eingehend erörtert und
1 ) A\ hausen. Ueber das Wesen . und die diagnostische Bedeutung der
v. He«*k 1 i ii trbansen 'sehen (iitterfiLruren. Uentralbl. f. l’athol. 1908. S. 97. —
l ebr-r die bei der Luft- und (iasfüllunjr des Knochen^ewebes auftretenden
l'hannmone etc. Yirehows Archiv. Bd. 194. S. 371. — Histologische Studien
nb*;r die Ursachen lind den Ablauf des Knochenumbaus im osteoplastischen
• areinum. Virchow's Archiv. Bd. 195. S. 358.
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282
Dr. G. Axhausen,
glaube der Entscheidung den Weg gebahnt zu haben. Wenn ich
es heute unternehme, die Hauptpunkte des. Problems und die meiner
Ansicht nach allein mögliche Lösung hier auch für den chirurgischen
Leserkreis zusammenzustellen, so sind hierbei für mich verschiedene
Gesichtspunkte maassgebend. Zunächst kann es kaum einem Zweifel
unterliegen, dass kein anderer Theil der Pathologie in innigerer
Beziehung zur Chirurgie steht als gerade die Knochenpathologie:
sind doch eine Fülle ausgezeichneter Arbeiten besonders in früherer
Zeit aus dem chirurgischen Lager hervorgegangen. Ich erinnere
nur an die Arbeiten Volkraann’s und König’s. Es muss daher
auch auf chirurgischer Seite ein gewisses Interesse für die hier in
Rede stehenden Fragen vorausgesetzt werden. Weiter gebe ich
mich der Hoffnung hin, durch eine kurze Darstellung des Problems
und eine Präcisirung der zur Zeit discutablen Streitpunkte den
Einen oder den Anderen zu einer Nachprüfung meiner Unter¬
suchungen anzuregen.
Die Frage der Halisterese führt ganz von selber zu einer Be¬
sprechung der histologischen Vorgänge in dem rachitischen und
osteomalacischen Knochen, der in erster Linie als Wirkungsort der
Halisterese angesehen wird. Die Identität beider pathologischen
Processe, die sich auch auf die als Ostitis deformans bezcichnete
Abart der Osteomalacie erstreckt, wird es ermöglichen, alle diese
Erkrankungen nach ihren pathologisch-anatomischen Erscheinungen
hin als grosse Gruppe innerhalb der regressiven Knochenverände¬
rungen den anderen einfacheren Rückbildungsvorgängen an die Seite
zu stellen. Nennen wir diese in alter Weise die Knochenatro¬
phie, so können jene mit voller Berechtigung unter dem Ausdruck
der Knochendystrophie zusammengefasst werden. Die Begrün¬
dung und Durchführung des Begriffs der Knochendystrophie soll
den zweiten Theil der vorliegenden Arbeit bilden.
Zunächst in kurzen Strichen die Entwickelung des Begriffs der
Halisterese!
Als der Begriff von Kilian geprägt wurde, wurden die Vor¬
stellungen ausschliesslich von klinischen nnd grob-anatomischen
Erscheinungen geleitet. Da in den betreffenden Krankheitsfällen
die Knochen die Symptome zunehmender Weichheit boten und ein
Weich werden harter Knochen ohne Verlust des Kalkgehalts un¬
denkbar war, lag es nahe, in einer Entkalkung des Vorhandenen
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Ueber den Begriff der Halisterese und über die Knochendystrophie. 283
durch die Körpersäfte die Erklärung der Erscheinungen zu suchen.
So beschrieb Kilian in seiner bekannten Monographie das „hali-
steretische Becken“. Es ergab sich von selber, dass der analoge
Process, der bei der kindlichen Rhachitis in so exquisiter Weise
klinisch und anatomisch erkennbar war, in derselben Weise ge¬
deutet wurde. Und so entstand, am klarsten ausgedrückt bei
Trousseau und Lasegue, mit der Annahme, dass in beiden Er¬
krankungen die Entkalkungsvorgänge das Entscheidende wären, die
Lehre von der Identität beider Erkrankungen. Für die genannten
Autoren war die Osteomalacie nichts als die Rhachitis der Er¬
wachsenen.
Erschüttert wurde die Lehre von Virchow, der zuerst die
kalklosen Osteophyten bei der Rhachitis sah und beschrieb. Virchow
erkannte sogleich, dass es sich hier nur um neugebildeten, nicht
um entkalkten Knochen handeln könne, also um ein Knochen¬
gewebe, für das er ein Analogon bei der Osteomalacie nicht linden
konnte. In Verallgemeinerung dieser Befunde kam er zu der
scharfen Trennung beider Erkrankungen, die in den Sätzen gipfelte:
„Schon jetzt können wir mit Bestimmtheit sagen, dass die Rhachitis
keine Malacie ist“, und: „die Knochen, welche bei dem Eintritt
der rhachitischen Störung gebildet waren, bleiben fest, und nur
diejenigen, welche nachher entstehen, werden nicht fest“*, sowie
schliesslich: „in der Malacie ist nur Schwund, Atrophie, Degene¬
ration, regressive Metamorphose; in der Rhachitis Anbildung,
Wucherung, Zunahme, progressive Metamorphose“. Diese Sätze,
die fortan die Vorstellungen der Pathologen beherrschten, fanden,
wie es schien, in Feststellungen Rind fleisch’s eine werthvolle
Stütze, der zuerst mit Hilfe der von ihm gefundenen Carminfärbung
im osteomalacischen Knochen die kalklosen Säume lamellüsen
Knochens sah und beschrieb, die einen grossen Theil der Binnen¬
räume auskleiden. Hiermit glaubte Rindfleisch den histologischen
Beweis für die von Kilian und Virchow angenommenen Ent¬
kalkungsvorgänge gefunden zu haben, indem er annahm, dass diese
Säume durch Halisterese auf dem Wege der Einwirkung der Gc-
webssäfte von den Markräumen aus entstanden seien.
Um die Deutung dieser lamellösen Säume kalklosen
Knochens dreht sich die ganze Streitfrage der Haliste¬
rese; denn dass das geflechtartig geordnete, nach dem Typ der
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2. jg
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284
Dr. G. Axhausen,
Osteophyten des Callus gebaute Knochengewebe, wenn es kalklos
ist, mit Halisterese nichts zu thun hat, sondern ausschliesslich
neugebildeten, noch unverkalkten Knochen darstellt, ist seit den
Arbeiten Virchow’s nicht wieder bestritten worden, auch dann
nicht, als v. Recklinghausen feststellte, dass auch bei der Osteo-
malacie ein solches Gewebe in ziemlicher Verbreitung gefunden
werden kann. Dadurch erlitt zwar die strenge Trennung Virchow’s
zwischen der Rhachitis und Osteomalacie eine Einbusse, indem
sichergestellt war, dass auch bei der Osteomalacie „Anbildung,
Wucherung, progressive Metamorphose“ eine Rolle spielt; nicht
aber wurde dadurch die Deutung der lamellösen Randsäume be¬
rührt. Sie stehen mit der Vorstellung einer langsam fortschrei¬
tenden Entkalkung in einem scheinbar so vollkommenen Einklang,
dass die Auffassung Rindfleisch’s rasch allgemeine Anerkennung
fand und damit die Frage der Halisterese im positiven Sinne ent¬
schieden schien.
Und doch fanden sich nur allzu bald Gegner! Nachdem
Mommsen nach eigenen Untersuchungen schon vorsichtige Zweifel
an der Deutung dieser Säume geäussert hatte, nachdem Cohn heim
einzig und allein aus allgemein pathologischen Anschauungen heraus
jede Halisterese in Abrede gestellt und auch die lamellösen Säume
für neugebildeten, noch unverkalkten Knochen erklärt hatte, war
es Pommer, der auf Grund seiner eigenen Untersuchungen die
Frage der Säume, sowie überhaupt die Frage nach der Natur des
kalklosen Knochengewebes im rhachitischcn und osteomalacisehen
Knochen, wie es schien, endgiltig histologisch entschied, und zwar
im Gegensatz zu Rindfleisch, ganz im Sinne der Lehre Cohn-
heim’s.
Pommer schuf zunächst eine Unterlage für diese Anschauung,
indem er nachwies, dass jedes Knochengewebe, auch das lamellöse,
ursprünglich kalklos angelegt wird, dann aber in der Norm rasch
verkalkt. Er fand die schmälsten osteoiden Randsäume lamellösen
Knochens auch beim normalen Knochenumbau, sowie besonders
beim wachsenden Knochen. Es war daher die Annahme wohl be¬
gründet, dass für die breiten Säume bei der Osteomalacie und
Rhachitis die gleiche Genese in Betracht käme, dass hier nur die
Verkalkung des angebildeten, lamellösen Knochens verzögert wäre,
zumal die kalklosen Zonen in beiden Fällen sich als histologisch
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lieber den Begriff der Halisterese und über die Knochendystrophie. 285
identisch erwiesen. Dass dies in der That so ist, hat nun Pommer
durch eine Fülle von Beweismomenten sichergestellt, die sich auf
histologisch nachweisbare Thatsachen beziehen; ebenso konnte er
auch nachweisen, dass einige Befunde in den osteoiden Säumen,
die angeblich für regressive Umwandlungen sprachen (Atrophie der
Knochenhöhlen, fibrilläre Zerklüftung u. a.) mit Unrecht in dieser
Richtung gedeutet worden waren. Es schien danach sicher zu
sein, dass die osteoiden Säume mit Entkalkungsvorgängen nicht
das Geringste zu thun haben.
Wer sich die Mühe nimmt, die grosse Monographie Pommcr’s
über die Osteomalacie und Rhachitis zu studiren, die, auf breitester
Basis angelegt, die Erfahrungen langjähriger, histologischer Unter¬
suchungen in einer nicht zu übertreffenden Gründlichkeit zusammen¬
trägt und mit kritischer Schärfe verwerthet und in der die Aus¬
führungen durch eine Fülle mustergiltiger Zeichnungen unterstützt
werden, kann sich der Beweiskraft der Darstellung dieses Autors
nicht entziehen. Wenn trotzalledem diese Lehre nur langsam vor¬
drang, so mag dies wohl neben dem Umfang des grundlegenden
Werkes an dem Umstande gelegen haben, dass Pommer nicht
principiell die Halisterese beseitigte. Wenn er auch für die
osteomalacischen Randsäume die Existenz halisteretischer Vorgänge
ausschloss, so gab er doch zu, dass es im osteomalacischen Knochen,
wenn auch nur sehr vereinzelt und praktisch ohne Belang, Bezirke
gäbe, die ihn zur Annahme halisteretischer Processe zwängen. Es
sind dies die kalklosen Zonen in der Umgebung bestimmter „echter“
Volkmann’scher Canäle. Wenn Pommer überhaupt die Mög¬
lichkeit einer Halisterese fertigen Knochens zugab, so blieb auch
die halisteretische Natur der osteomalacischen Säume noch dis-
cussionsfähig.
Ich werde in den folgenden Seiten der Einschränkung Poramer’s,
nach der eine Halisterese in der Umgebung gewisser Volk mann -
scher Canäle möglich ist, nicht Rechnung tragen, weil ich diese
specielle Frage, im Rahmen der folgenden Arbeit eingehend zu be¬
sprechen haben werde; ich werde im Folgenden nur seine allge¬
meine Auffassung, losgelöst von dieser speciellen Einschränkung, zu
Grunde legen. Immerhin kann nicht bezweifelt werden, dass mit
dieser Concession den Anhängern der Halisterese eine gute Waffe
in die Hand gegeben war. Noch verstärkt wurde ihre Position
19*
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286
Dr. G. Axhausen,
aber ira weiteren Verlauf der Entwickelung dadurch, dass sich sehr
bald für die Halisterese ein neuer, warmer Vertheidiger fand.
Es war v. Recklinghausen, der in seiner bekannten Arbeit
über die Ostitis deformans den Begriff der Halisterese neu belebte.
v. Recklinghausen bestritt zwar keineswegs, dass ein Theii
des im osteomalacischen und rhachitischen Knochen vorhandenen
kalklosen Knochengewebes neugebildeter, unverkalkt gebliebener
Knochen sei; er hielt aber daran fest, dass ein weiterer Theii
dieses kalklosen Knochengewebes bei beiden Erkrankungen auf dem
Wege der Entkalkung entstanden sei und dass diese Entkalkung
den Anfang «einer degenerativen Destruction des vorhandenen
Knochens darstelle, v. Recklinghausen erblickte sogar in dieser
„halisteretischen Destruction das Wesentliche des osteomalacischen
Knochenprocesses“ und liess andererseits die Möglichkeit zu, dass
auch beim normalen wachsenden Knochen ein Theii des Abbaues
auf diesem Wege vor sich gehe.
Mit dieser Deutung der osteomalacischen Säume trat v. Reck¬
linghausen der Lehre Pommer’s scharf entgegen; und diese
Controverse Pommer-v. Recklinghausen ist der Punkt, auf dem
die ganze Frage noch heutigen Tages steht.
Was konpte nun v. Recklinghausen zu Gunsten seiner ha¬
listeretischen Theorie der osteomalacischen Säume und damit zu
Gunsten des Begriffs überhaupt ins Feld führen?
Studirt man seine Arbeit, so fällt es zunächst auf, dass
v. Recklinghausen es unterlässt, auf die gegentheiligen Beweis¬
gründe Pommer’s näher einzugehen — in der That finden die
grundlegenden Arbeiten Po mm er’s nur an vereinzelten Stellen
kurze und beiläufige Erwähnung! So müssen wir also betonen,
dass die Ausführungen Pommer’s noch nicht als widerlegt gelten
können. Weiterhin berührt v. Recklinghausen noch einmal kurz
die oben bereits erwähnten, angeblich für degenerative Vorgänge
in den Säumen sprechenden histologischen Befunde, die schon von
mehreren Autoren vor ihm erwähnt und von Pommer eingehend
zurückgewiesen wurden. Das Hauptgewicht seiner Beweisführung
legt v. Recklinghausen aber auf gewisse neue Befunde, die nach
ihm das sichere Zeichen des Entkalkungsvorganges darstellen sollen:
die nach ihm benannten Gitterfiguren. Und wenn man kritisch
urtheilt, findet man in den Gitterfiguren den einzigen Be-
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Ueber den Begriff der Haiisterese and über die Knochendystrophie. 287
weis überhaupt, den man für seine Auffassung geltend
machen könnte.
Der Befund, der den Deutungen v. Recklinghausen’s zu
Grunde liegt, ist der folgende: Nach gelungener Luft- oder Gasfüllung
des Knochenschnittes sind die Knochenkörperchen und Ausläufer im
kalkhaltigen Knochen vollkommen injicirt, in den betreffenden kalk¬
losen Säumen dagegen sind sie ungefüllt, blass; und zwischen beiden,
an der Grenze von kalkhaltigem und kalklosem Antheil liegen dicht
gedrängt luftgefüllte, feinste Spalträume in Form von gekreuzten
Gittern, v. Recklinghausen deutete die Befunde so, dass an
der Stelle der Gitter durch den Vorgang der Entkalkung diese
feinsten Spalträume zwischen den Fibrillen neu entstünden, und
dass in den kalklosen Säumen selbst diese Spalträume wieder
durch Verbacken der Fibrillen verloren gingen; auch die
Knochenhöhlen und Ausläufer sollten in diesen Säumen grüssten-
theils verloren gegangen sein, da in sie die Luft der Nachbar¬
schaft nicht eindrang — alles dies Zeichen eines regressiven Vor¬
ganges, der halisteretischen Destruction.
Ohne die Auffassung der Gitterfiguren im Sinne v. Reck¬
linghausen’s ist der Begriff der Haiisterese heute nicht mehr auf¬
recht zu erhalten — das geht neben allem Anderen aus den Aus¬
führungen auch der Autoren hervor, die heut zu Tage noch der
halisteretisch-destructiven Theorie v. Recklinghausen’s folgen
(M. B. Schmidt, Kaufmann, Lexer, Hildebrand u. A.). Trotz¬
dem nun alle die wichtigen, noch nicht widerlegten Beweisgründe
Pommer’s von anderer Seite (Looser) unlängst von Neuem zu¬
sammengestellt wurden, trotzdem von Hanau -Bertschinger und
voti Schmorl gezeigt werden konnte, dass die Gitterfiguren auch
dort nachgewiesen werden können, wo sicher neu gebildeter,
noch unverkalkter Knochen an verkalkten stösst, hat die Theorie
v. Recklinghausen’s dank der Autorität ihres Autors heute noch
ihre Stellung in der Pathologie behauptet.
Damit gewinnen die Gitterfiguren eine fundamentale Bedeutung
für die ganze Knochenpathologie. Eine Klärung dieses ganzen Ge¬
bietes war nur möglich auf dem Wege einer nochmaligen gründ¬
lichen Durchforschung dieser von v. Recklinghausen beschrie¬
benen Gebilde. Dieser Aufgabe habe ich mich in den oben er¬
wähnten Untersuchungen unterzogen.
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288
Dr. G. Axhausen,
Ich habe zunächst mit dem gleichen Material wie v. Reck¬
linghausen begonnen und die von ihm angegebenen Methoden
stricte zur Anwendung gebracht. Dann habe ich die Untersuchungen
auf das verschiedenartigste Material ausgedehnt und besonders auch
Gefrierschnitte zur Untersuchung herangezogen. Ich habe Ver¬
gleichsuntersuchungen an unentkalktem, unvollkommen entkalktem
und vollkommen entkalktem Material vorgenommen und die ver¬
schiedenen Entkalkungsmethoden geprüft. Weiter habe ich die
Methoden v. Recklinghausen’s nach verschiedenen Richtungen
hin variirt und ausgearbeitet.
Die überraschenden Ergebnisse dieser Untersuchungen konnte
ich schon in meiner ersten Arbeit in den folgenden Sätzen zu¬
sammenfassen:
1. Bei geeigneter Art der Untersuchung lassen sich in dem
gesammten osteoiden Gewebe (bei Osteomalacie, Rhachitis, osteo¬
plastischer Carcinose etc.) lückenlos luftfüllbare, dicht gedrängte
Interfibrillärräume darstellen, die sich bis in die „Grenzzone“ (gegen
das kalkhaltige Knochengewebe) erstrecken. Diese Interfibrillärräume
präsentiren sich bei Luftfüllung am lamellös geordneten Knochen
als Gitterfiguren, am geflechtartig geordneten als Rasenfiguren.
2. Die Luftfüllung schwindet sehr rasch von den freien Rän¬
dern her (Gefässcanäle, Markräume etc.) unter dem Bilde einer
„Einschmelzung“. Hierbei werden die vordem verdeckten luft¬
gefüllten Knochenhöhlen und -ausläufer für kurze Zeit deutlich
sichtbar. Die Luftfüllung hält sich relativ lange an der partiell
verkalkten „Grenzzone“.
3. Die Annahme v. Recklinghausen’s und anderer Autoren,
dass in den kalklosen Randsäumen osteomalacischer Knochen die
Interfibrillärräume und Knochencanäle durch Zusaramenbacken der
Fibrillen schwinden, kann danach nicht aufrecht erhalten werden.
4. Die von v. Recklinghausen und Apolant beschriebenen
Gitterfiguren der Grenzzone stellen nur Rudimente der ur¬
sprünglich totalen Luftfüllung des kalklosen Gewebes
dar; sie unterliegen leichter der Beobachtung, weil sich in diesem
Gebiet der partiellen Verkalkung die Luftfüllung relativ lange erhält.
Dies ist am lamellös geordneten und am geflechtartig geordneten
(sicher neugebildeten!) kalklosen Gewebe in gleicher Weise der Fall.
5. Wie am ursprünglich kalklosen Knochengewebc lassen sich
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Ueber den Begriff der Halisterese und über die Knochendystrophie. 289
bei geeigneter Form der Entkalkung auch im künstlich hergestellten
kalklosen Knochengewebe die dichtgedrängten Interfibrillärräume
durch Luftfüllung darsteilen.
6. Die Anwesenheit der v. Recklinghausen’schen Gitter¬
figuren an der Grenzzone beweist einzig und allein die Anwesen¬
heit kalklosen Knochengewebes nach dem Markraum zu; sie vermag
über die Art der Genese (ob unverkalkt oder entkalkt) einen Auf¬
schluss nicht zu geben.
Hiermit war den Gitterfiguren die ihnen von v. Reckling¬
hausen vindicirte Bedeutung genommen und der halisteretisch-
destructiven Theorie der Boden entzogen.
Wer sich für die weiteren Feststellungen und für Einzelheiten
interessirt, findet in meiner zweiten Arbeit (Virch. Arch. Bd. 194)
eine minutiöse Beschreibung der Technik und eine bis ins Detail
gehende Klarlegung der auftretenden Phänomene.
Welche Aufnahme haben nun diese Feststellungen im Kreise
der Pathologen gefunden? Hierüber geben die Verhandlungen der
bald nach meinen Veröffentlichungen (1909) tagenden deutschen
Gesellschaft für Pathologie Auskunft, in denen die Discussion
über die Rhachitis und die Ostcomalacie als Hauptthema allem
Anderen vorausgestellt wurde.
Während auf der einen Seite Pommer meinen Untersuchungen
eine für die vorliegende Frage ausschlaggebende Bedeutung zumass,
während Looser hervorhob, dass ihm „durch diese Untersuchungen
die Bedeutung der Gitterfiguren als ein Zeichen der Entkalkung
einwandsfrei widerlegt erscheint“, stellte sich M. B. Schmidt als
Schüler v. Recklinghausen’s auf einen ganz anderen Standpunkt.
Zwar giebt M. B. Schmidt im principiell wichtigsten Punkte die
Lehre v. Recklinghausen’s auf: seines Erachtens sind „die Gitter¬
figuren kein absolutes Kennzeichen der Halisterese,
sondern theils regressiv, theils progressiv“. Hiermit allein schon
würde der Grundpfeiler der halisteretisch-destructiven Theorie v.Reck-
linghausen’s fallen; denn ihm waren eben die Gitterfiguren der
Beweis für die halisteretische Natur der anstossenden, kalklosen,
lamellösen Säume. Und alle weiteren Deutungen und Deductionen
v. Recklinghausen’s zerfallen in nichts, wenn die gleichen Er¬
scheinungen auch an der Grenze des kalklos-lamellösen, neuge¬
bildeten, noch unverkalkten Knochens auftreten. Oder sollen
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Dr. G. Axhausen,
auch hier etwa „neue Spalträumc in der Grenzzone gebildet werden
und später wieder verbacken“?
Auf der anderen Seite aber erkennt M. B. Schmidt die Be¬
weiskraft meiner Ausführungen nicht an. Wenn ich gefunden hatte,
dass die Gitter v. Recklinghausen’s nur Reste einer ursprüng¬
lich totalen gittrigen Luftfüllung des gesammten osteoiden Ge¬
webes darstellen, so behauptete M. B. Schmidt, dass die von mir
dargestellte Gitterbildung mit den Grenzgittern v. Recklinghausen’s
nicht zu identificiren wären, v. Recklinghausen’s Gitter
stellen „vital bestehende Räume“ dar, während die des Osteoids
„künstlich hergestellte erweiterte“ Räume sind. Letztere könnten
nur durch intensive Austrocknung dargestellt w r erden; „dagegen
füllen sich bei Eintreibung von Kohlensäure lediglich die v. Reck-
linghausen’schen Gitter der Grenzzone“.
Dieser Auslegung meiner Untersuchungen muss ich nun ent¬
schieden entgegentreten; ein Gleiches ist schon auf dem Congress,
auf dem ich leider nicht anwesend sein konnte, von Pommer ge¬
schehen. Nur die wichtigsten sachlichen Gegengründe mögen hier
Platz linden:
Die ersten Angaben M. B. Schmidt’s beziehen sich auf die
Füllung der Schnitte mit Luft. Dies konnte auch v. Reckling¬
hausen nur mit Hülfe der Austrocknung erreichen, sodass hier
auch bei v. Recklinghausen die gleichen, durch die Austrock¬
nung bedingten Veränderungen obwalten, wie bei meinen Unter¬
suchungen.
Folgt man nun in den Austrocknungsmethoden genau den An¬
gaben v. Recklinghausen’s und lässt man sich bei der Unter¬
suchung Zeit, so findet man die v. Recklinghausen’schcn Grenz¬
gitter an vielen Stellen und besonders in den tieferen Buchten der
Markräume — genau wie dies von v. Recklinghausen beschrieben
wurde. Thut man dasselbe und untersucht unmittelbar nach
dem Auflegen des Deckgläschens, so findet man die Gitter
überall an der Grenzzone und ausserdem ein Stück weit
noch im angrenzenden, kalklosen Antheil, von woher sie
sich vor unseren Augen unter Luftbläschenbildung rasch gegen die
Grenzzone hin zurückziehen.
Kann man nun aus dem zeitlichen Unterschiede der Be¬
trachtung der Präparate ableiten, dass im zweiten Falle veränderte.
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Ueber den Begriff der Halisterese und über die Knochendystrophie. 291
Bedingungen, künstliche Darstellung von Spalträumen vorlägen,
die in dem ersten Falle fehlen? Dies dürfte doch wohl nicht
angehcn. Grade die zuletzt erwähnten Bilder, die ich zufällig fand,
waren es, die mir über das Wesen der Gitter und über die Un¬
richtigkeit der Deutung v. Reeklinghausen’s keinen Zweifel Hessen;
denn v. Recklinghausen stellt direct in Abrede, dass sich die
Gitter je in den kalklosen Knochenantheil erstrecken; und nach
seiner Deutung der Dinge konnten sie es auch nicht. Ich habe
diese Punkte in meiner ersten Arbeit schon scharf präcisirt.
Und wenn ich nun statt v. Recklinghausen’s „flüchtiger
Antrocknung“ eine intensivere anwandte, die gleiche Procedur also,
die in ihrer Anwendung von vornherein mehr Zufälligkeiten unter¬
lag, etwas steigerte, so fand ich im ersten Augenblick die
total gittrige Luftfüllung des osteoiden Gewebes, die sich
rasch zu dem zweiten und ersten Bild umgeslaltetc.
Nach alledem sollte man an der Wesensgleichheit der beiden
bei Luftfüllung entstehenden Gitter zweifeln können?
Und nun zu den Kohlensäuremethoden, bei denen eine künst¬
liche Austrocknung nicht stattfindet, bei denen also die Verhält¬
nisse mehr den natürlichen gleichen — wobei aber nicht ausser
Acht gelassen werden darf, dass auch durch die Härtung schon die
Zustände verändert sein müssen! Wenn M. B. Schmidt behauptet,
dass bei diesen Methoden immer nur die Gitter der Grenzzone sicht¬
bar würden, so ist dies ein Irrthum.
Ich habe in meinen Untersuchungen die drei von v. Reck¬
linghausen angegebenen Methoden zur Kohlensäurefüllung nach
allen Richtungen hin durchprüft und konnte dabei feststellen, dass
sie durchaus nicht gleichwerthig sind. Ich verweise im Einzelnen
auf meine ausführliche Darstellung in der zweiten Arbeit (l. c.
S. 386—393).
Ich konnte nachwcisen, dass bei der ersten Methode (Einlegen
aus Wasser in Glycerin) überhaupt keine Kohlensäurebildung
au ft ritt, sondern dass hier die optischen Phänomene nur auf der
Verschiedenheit der Brechungsexponenten der beiden Flüssigkeiten
beruhen, die sich innerhalb und ausserhalb der Knochenhohlräume
vorfinden und dass sie mit Beendigung der Diffusion beider Flüssig¬
keiten verschwinden. Weiter konnte ich nachweisen, dass bei der
zweiten Methode (Einwirkung von Alaun auf den Knochen, dann
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292
Dr. G. Axhausen,
Einbetten in Glycerin) nur im kalkhaltigen Knochen Kohlen¬
säurefüllung auftreten kann, weil die Kohlensäure nur aus dem
vorhandenen kohlensauren Kalk gebildet werden kann, dass sie
im kalklosen Knochen fehlen muss, weil die Vorbedingung zur
Kohlensäureentstehung, der Kalkgehalt, fehlt, nicht weil im kalk¬
losen Antheil keine Hohl- resp. Spalträume vorhanden wären. Macht
man aber die.Kohlensäurcbildung unabhängig von dem vor¬
handenen Kalk, wie dies bei der dritten Methode der Fall ist,
wobei die Kohlensäure in den Flüssigkeiten erzeugt wird
(abwechselndes Einlegen in Alaun- und Natriumbicarbonicumlösung),
bewirkt man also eine wirkliche „Eintreibung“ in die Hohlräume
des Knochengewebes, so konnte ich nachweisen, dass hier im Gegen¬
satz zu dem, was M. B. Schmidt behauptet, das Eindringen der
Kohlensäure nachweisbar ebenso in die Knochenhöhlen
und -spalträume des kalklosen Knochens geschieht. Aller¬
dings ist hier die Kohlensäurefüllung noch wesentlich flüchtiger als
die voraus erwähnte Luftfüllung. Diesen Punkt scheint M.B.Schmidt
übersehen zu haben. Ich darf aber auch daran erinnern, dass ich
schon damals auf die kurzen Angaben v. Recklinghausen’s hin¬
wies, nach denen bei dieser Kohlensäureinethode gelegentlich
auch im kalklosen Antheil „vereinzelte gefüllte Knochenkörperchen
und federfahnenartige Gebilde vorhanden sind“. Dies letztere
waren ebenfalls die Reste der äusserst flüchtigen Gitterbildung des
kalklosen Gewebes; von v. Recklinghausen wurden aber diese
Befunde nicht weiter verfolgt.
An der Thatsache der Identität der Gitter verschiedener Lo-
calisation und an der Richtigkeit meiner Auffassung des ganzen
Vorgangs wird durch die Einwendungen M. ß. Schmidt’s nach
alledem, wie ich glaube, nichts geändert. Hier aber ist der Ort, wo
durch neue controlirende Untersuchungen anderer Forscher die Be¬
weiskraft meiner Ausführungen gestützt werden müsste, um, wenn
möglich, einheitliche Anschauungen zu schaffen 1 ).
Von grosser Wichtigkeit für die ganze Frage ist es jedenfalls,
dass selbst M. B. Schmidt den früheren Standpunkt der v.Reck-
linghausen’schen Schule nicht mehr aufrecht erhalten hat. Auch
1) Auf die Ausführungen v. Recklinghausen’s, die in seiner während
der Drucklegung dieser Arbeit erschienenen grossen Monographie zum Ausdruck
kommen, muss ich in einer späteren Arbeit eingehen.
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lieber den Begriff der Halisterese und über die Knochendystrophie. 293
sonst haben die Verhandlungen des Congresscs zu meiner grossen
Genugthuung gezeigt, dass unter den führenden pathologischen Ana¬
tomen ein Umschwung zu Gunsten unserer Auffassung einsetzt. Ich
finde die Angaben von Chiari: „Ich habe, je mehr ich zu unter¬
suchen Gelegenheit hatte, immer mehr Zweifel an der Halisterese
bekommen; hingegen immer mehr gesehen, was für den Neubildungs¬
charakter der osteoiden Säume spricht.“ Und von Ribbert, dem
früheren warmen Yertheidiger der Halisterese: „Ich habe meine
frühere Meinung über die Halisterese geändert“; sowie schliesslich
die Feststellung Marchand’s, dass er aus der Discussion den Ein¬
druck entnommen habe, dass „die Mehrzahl der Herren das Vor¬
kommen einer reinen Halisterese nicht anerkennt“.
Es darf aber auch auf diesem Gebiet nicht auf halbem Wege
stehen geblieben werden; es muss erstrebt werden, eine einheitliche
Auffassung des kalklosen Knochengewebes im pathologischen Knochen
auf der Basis der Lehre Cohnheim’s durchzusetzen und den Be¬
griff der Halisterese aus der Pathologie ein- für allemal verschwinden
zu lassen.
Auf dieser Grundlage aber ergiebt sich auch die Möglichkeit
einer einheitlichen Auffassung einer Gruppe von regressiven Vor¬
gängen im Knochen, die bislang in der Terminologie in einzelne
Bilder zerplittert war. Wir können mit Recht den atrophischen
Zuständen des Knochens die dystrophischen gegenüberstellen
und unter ihnen die Rhachitis, die Osteomalacic und die Ostitis
deformans zusammenfassen.
Das Verständniss der bei den regressiven Umwandlungen des
Knochengewebes auftretenden Bilder wird ermöglicht durch die von
Pommer festgestellte Thatsache eines steten Umbaus auch im
fertigen Knochen, eines Umbaus, der von den Havers’schen Ge-
fässcanälen aus durch aufeinanderfolgende Resorption und Appo¬
sition vor sich geht.
Erleiden beide Vorgänge eine Störung ihrer Beziehungen inso¬
fern, als die Apposition der Resorption nicht im normalen Abstand
folgt und nicht zum vollen Ersatz der geschaffenen Defecte führt,
so erhalten wir die Bilder der Atrophie. Wir finden die weiten
Markräume in der compacten Knochensubstanz, weil die Apposition
erst zu spät einsetzte und die Resorption daher bereits Räume von
einer Grösse geschaffen hatte, die die Grösse eines normalen
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294
Dr. G. Axhausen,
Havers’schen Systems bei weitem übertrifft. Wir finden dünne
Lagen concentrischer Lamellen an den Wandungen dieser Räume,
weil die wenig umfangreiche Apposition nicht zur vollen Ausfüllung
der Räume führt. Das Sichhinziehen dieses Vorgangs über zeitlich
grosse Räume macht es möglich, dass selbst Osteoporosen höheren
Grades möglich sind, ohne dass eine auffällige Vermehrung der
Osteoklasten immer in die Erscheinung tritt. Immer aber bei der
Atrophie entspricht sowohl der Typ des neugcbildeten Knochen¬
gewebes als auch der Verkalkungsvorgang durchaus der Norm.
Bei den dystrophischen Processen des Knochens finden wir
ebenfalls ein auffälliges Missverhältniss zwischen den Vorgängen
der Resorption und der Apposition, aber nicht nur in quantita¬
tiver Beziehung, sondern auch in qualitativer Beziehung. In
beiden Beziehungen ist die normale Regulirung verloren gegangen.
Auch bei der Dystrophie folgt die Apposition der Resorption nicht
im richtigen Abstande, theils bleibt sie auch hier weit zurück —
daher z. B. die bei diesen Processen nicht fehlende Porosität des
Knochens — theils schiesst die Apposition über das Ziel heraus —
daher die Knochenneubildung an Stellen, die normaler Weise
frei davon bleiben (z. B. in den Markhöhlen osteomalacischer Röhren¬
knochen); daher die massenhafte periostale Knochenneubildung bei
der Rhachitis und bei der Ostitis deformans!
Aber auch in qualitativer Beziehung ist die Regulirung ver¬
loren gegangen — und hierin liegt die augenfälligste Erscheinung
des dystrophischen Processes — indem nämlich das neugebildete
Knochengewebe garnicht oder erst sehr spät verkalkt und zweitens
indem vielfach die ersetzende Apposition nicht wie in der Norm
direct oder indirect zur Bildung rein lamellösen Knochens führt,
sondern unter Aenderung des Typs zur Bildung von geflechtartig
geordnetem Knochengewebe oder auch zur Bildung des in der
nächsten Arbeit näher zu besprechenden, auf einen Grundstock von
geflechtartigem Knochengewebe sich aufbauenden „gemischtgebauten“
Knochengewebes.
Es handelt sich also bei diesen Erkrankungen nicht
um ein einfaches Zurückbleiben der Apposition wie bei
der Atrophie, sondern um eine fehlerhafte Richtung, die
die Apposition einschlägt, um— im Gegensatz zur Atro¬
phie — einen dystrophischen Process.
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Ueber dfen Begriff der Halistorese und über die Knochendystrophie. 295
Wir würden aus der grossen Gruppe der dystrophischen Pro-
cesse die Untergruppen der Osteodystrophia infantilis, juvenilis,
puerperalis, senilis abtrennen können. Wir würden unter der
ersteren die lthachitis verstehen müssen, wobei sich der Begriff der
kindlichen Osteomalacie von selbst erledigt; wir würden unter der
Osteodystrophia juvenilis die Krankheitsbilder der Spätrhachitis und
der frühen Osteomalacie zusammenfassen können, wobei der leidige
Streit der Classißcirung solcher Krankheitsbilder auf einfachstem
Wege verschwindet; wir würden mit dem Ausdrucke der Osteody¬
strophia puerperalis die nun einmal klinisch so wohl umgrenzte
echte Osteomalacie belegen dürfen; und die Bezeichnung als Osteo¬
dystrophia senilis würde jenen Formen der ausgesprochenen „osteo-
malacischen“ Veränderungen von Greisenknochen zukommen, die
zunächst bestritten, heute zweifellos als existirend angenommen
werden müssen und für die ich selber ein ausgezeichnetes Beispiel
besitze.
Die dystrophischen Störungen des Knochensystems, die in den
klinischen Bildern der Rhachitis und der puerperalen Osteomalacie
ihren augenfälligsten Ausdruck finden, stellen in milderer Form ein
weit verbreitetes Vorkommniss dar. Ich erinnere an die leichten,
stehenbleibenden Formen der Osteomalacie, die oft nur in der
Beckenformation zum Ausdruck kommen und die erst in letzter
Zeit das Augenmerk der Untersucher auf sich gezogen haben; ich
erinnere an die Untersuchungen Hanau’s, der fcststclltc, dass in
Schwangerschaft und Puerperium schon normaler W 7 eise der
Knochenumbau den, wie ich ihn nenne „dystrophischen“ Charakter
annimmt: ich erinnere an das Heer der sogenannten Belastungs¬
deformitäten, für die eine rein mechanische Erklärung niemals
völlig befriedrigte.
Wenn man den Zusammenhang der puerperalen Osteomalacie
mit der Genitalsphäre ins Auge fasst, wenn man berücksichtigt,
dass das Auftreten der Belastungsdeformitäten zeitlich in engen
Beziehungen zu der Entwicklung der Geschlechtsdrüsen steht, wenn
man den Einfluss der Schilddrüsen und der Hypophyse auf das
Knochenwachsthum in Rechnung setzt, wenn man schliesslich der
Beziehungen gedenkt, die zwischen den dystrophischen Processen und
den Epithelkörperchen von Erdheim und den Nebennieren von
Stöltzner nahegelegt wurden, so kann man eins heutzutage als
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296
Dr. G. Axhausen,
nahezu gesichert betrachten: dass nämlich für jene Störungen
der quantitativen und qualitativen Regulierung des
Knochenurabaus, für die osteodystrophischen Processe,
krankhafte Veränderungen der inneren Drüsensecretion in
letzter Linie verantwortlich zu machen sind.
3. Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle
des Knochengewebes (Volkmann'sche Canäle).
Von jeher ist cs in der Knochenpathologie für das Verständ¬
nis» der feineren histologischen Processe als ein nothwendiges
Desiderat bezeichnet worden, gesicherte Vorstellungen über die
Vorgänge zu gewinnen, die zu der Beseitigung vorhandenen
Knochengewebes führen, d. h. also über den Modus der Knochen¬
resorption.
Ueberblicken wir die zahlreichen Arbeiten, die sich mit diesem
Thema beschäftigen, so finden wir eine Fülle der verschiedenartig¬
sten Vorstellungen. Aus ihnen trennen wir alsbald die ab, die nicht
zu allgemeiner Anerkennung durchgedrungen sind. Um einige Bei¬
spiele zu nennen: Die „lineare Einschmelzung“ Kassowitz’s (1)
kann nach den Arbeiten Pommer’s (2) nicht mehr aufrecht er¬
halten werden. Die Thatsache, dass auch an dem Knochengewebe,
das offenkundig einer raschen Resorption unterliegt, gleichwohl stets
verbreitete Apposition zu finden ist und dass dabei überall zahl¬
reiche plane Appositionsflächen vorhanden sein müssen, erklärt die
von Kassowitz gesehenen Bilder. Achnlich verhält es sich mit
der „glatten Resorption“ Busch’s (3). Ich habe in der folgenden
Arbeit darauf näher einzugehen; ich werde dort zeigen, worauf die
Befunde, die Busch zur irrigen Annahme einer „glatten Resorp¬
tion“ Veranlassung gaben, in Wahrheit zurückzuführen sind.
Beiläufig möchte ich erwähnen, dass auch neuerdings wieder
ein neuer Modus aufgestellt wurde, die sogenannte „lamelläre Ab¬
spaltung“ v. Muralt’s (4). Ich habe in einer früheren Arbeit (5)
bereits den eingehenden Beweis führen können, dass dieser Autor
sich durch Artefacte hat irre führen lassen.
Lässt man nun diese und ähnliche Vorstellungen aus dem
Spiel, so bleiben uns als heutzutage discussionsfähig nur die drei
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 297
Formen, die Volkmann in seiner bekannten Arbeit (6) über die
Caries und Ostitis seinen Ausführungen zu Grunde gelegt hat. Es
ist dies:
1. die lacunäre Arrosion;
2. der halisteretische Schwund;
3. die Vascularisation durch die nach ihm benannten Gefäss¬
canäle.
Durch sehr eingehende Untersuchungen, die sich an die Namen
von Kölliker, Wegener und Pommer knüpfen, ist der Modus
der lacunären Arrosion bis an die Grenze unseres Wahrnehmungs¬
vermögens klar gelegt worden. Wenn uns auch heute noch das
Verständniss für den Vorgang der hierbei wirksamen Knochen¬
lösung selbst fehlt, so sind doch die histologischen Bilder, so weit
sie sich mikroskopisch überhaupt feststellen lassen, ein für allemal
festgelegt.
Anders verhält es sich mit dem halisteretischen Schwund.
Wie ich in der vorhergehenden Arbeit dargelegt habe, ist nach
dem jetzigen Stand der Untersuchungen für die Annahme halistere-
tischer Processe am pathologischen Knochen eine genügende Unter¬
lage nicht vorhanden, während andererseits eine Fülle von Momenten
gegen die Annahme eines solchen biologischen Processes ins Feld
geführt werden kann. Ich muss hier auf diese Arbeit verweisen.
Nur in einem, principiell wichtigen Punkte habe ich im Verlauf der
vorliegenden Arbeit auf die Frage der Halisterese noch einmal ein¬
zugehen. Es betrifft die Zonen kalklosen Knochengewebes in der
Umgebung der gleich zu besprechenden Volkmann’schen Canäle.
Principiell wichtig sind diese Bezirke, weil an solch vereinzelten
Stellen ein so genauer Kenner der Osteomalaeie und Rhachitis wie
Pommer unter Durchbrechung seiner sonstigen Anschauungen über
die Natur des kalklosen Knochengewebes im pathologischen Knochen
eine Entstehung durch Halisterese zugiebt, weil ihm eine andere
Deutung nicht möglich erscheint. Ich werde darzulegen versuchen,
dass eine andere Deutung nicht nur möglich, sondern sogar noth-
wendig ist, und dass auch an diesen Stellen die Einheitlichkeit der
Genese des kalklosen Knochengewebes im dystrophischen Knochen
gewahrt bleibt, dass in der That die Annahme eines halistere-
tisehen Schwundes ohne Einschränkung zurückgewiesen
werden muss.
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Dr. G. Axhausen,
Die Volkmann’schen Canäle selber stellen gleichzeitig den
dritten Modus der Resorption dar, den Volkmann annehmen zu
müssen glaubte. Hier sollte es sich um eine Auflösung des
Knochengewebes durch einwachsende Gefässe handeln, die zurNeu-
vascularisirung des vorhandenen fertigen Knochengewebes führe.
Aus mancherlei Gründen heraus hat ein solcher Vorgang etwas
durchaus Einleuchtendes. Wir kennen das resorbirende Eindringen
der Gefässschlingen in den, dem Knochengewebe verwandten Knorpel
bei der enchondralen Ossification; wir wissen, dass nahe Beziehun¬
gen zwischen den Riesenzellen und den Endothelien der Gefäss-
capillaren angenommen werden. Es ist ein bestechender Gedanke,
dass im Knochen einerseits von den vorhandenen Gefässcanälen
aus die Resorption durch lacunäre Einschmelzung vor sich geht
und dass andererseits durch neu einsprossende Gefässe neue Re¬
sorptionsbahnen erschlossen werden.
Wir müssen nach Allem die Kenntniss dieser Volkmann’schen
Canäle für wichtig genug halten, wenn immer wir den Wunsch
nach einem tieferen Verständnis der feineren Knochenpathologie
besitzen. Ich darf daran erinnern, dass schon v. Ebner im Jahre
1875 in seiner für alle Zeiten grundlegenden Arbeit über die
feinere Knochenhistologie hervorhob, dass die Volkmann’schen
Canäle, denen er den auch heute noch gebräuchlichen Namen der
durchbohrenden Gefässcanäle gab, „ein specielles Studium
verdienen“.
Ueberblicken wir nun aber, was nach der ersten Veröffent¬
lichung Volk mann’s über die in Rede stehenden Bildungen zur
allgemeinen Kenntniss gelangte, so finden wir ausser den Unter¬
suchungen Po mm er’s keine einzige Arbeit, die, auf breiter Grund¬
lage angelegt, sich die Kenntniss derselben zur speciellen Aufgabe
machte. Demgemäss sind auch die Angaben, die wir in den
führenden Lehrbüchern und in den grösseren referirenden Arbeiten
über dieses Gebiet finden, überall kurz gehalten; sie lassen deut¬
lich erkennen, dass wir uns bei diesen Gebilden und bei der
Würdigung ihrer Bedeutung auf einem wenig gesicherten Terrain
befinden.
Dieses Gefühl und der Wunsch, auch in der Frage dieser
Gefässbildungen Klarheit zu gewinnen, hat mich von dem ersten
Beginn meiner Knochenuntersuchungen an veranlasst, den Gefäss-
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 299
canälen, die die von Volkmann angegebene Eigenart tragen,
meine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Auf mancherlei
Umwegen bin ich schliesslich zu ganz bestimmten Vorstellungen
gelangt, die allerdings mit den ursprünglichen Annahmen Volk-
mann’s und auch — wenn auch nur zum Theil — mit denen
Pommers im Gegensatz stehen. Die hierbei gewonnenen An¬
schauungen veranlassten mich in der letzten Zeit unter Heran¬
ziehung des verschiedenartigsten Untersuchungsmaterials, ganz be¬
sonders auch normalen menschlichen und thierischen Knochens der
verschiedenen Lebensalter, die Frage der Volkmann’schen Caniile
zum Gegenstand specieller Untersuchungen zu machen.
Wenn ich auch nach Art des Gegenstandes meine ausführ¬
lichen Darlegungen in einer monographischen Bearbeitung nieder¬
legen werde, so möchte ich doch jetzt schon an der gleichen
Stelle, an der zum ersten Male die Frage der durchbohrenden
Gefässcanäle aufgeworfen wurde, das Ergebniss meiner Unter¬
suchungen bekannt geben, ohne allerdings Details zu bringen und
ohne vor Allem in meiner Beweisführung ins Einzelne zu gehen.
Zunächst erhebt sich die Frage: Was ist das histologische
Charakteristicum der Volkmann’schen Canäle, besonders gegen¬
über den gewöhnlichen Gefässcanälen, den Hävers’schen Canälen?
Hier schon stossen wir auf Schwierigkeiten, die der Klärung
bedürfen.
Folgen wir zunächst den Angaben Volkmann’s. Während
die Ha versuchen Gefässcanäle ausnahmslos von concentrisch ge¬
schichteten Lamellen umgeben sind, die mit den einliegenden Ge-
fässen im engsten genetischen Zusammenhang stehen und die in
ihrer Zusaramenwirkung dem Querschnitt des Röhrenknochens das
bekannte eigenartige Bild verleihen, besteht das Charakteristicum
der Volkmann’schen Canäle darin, dass sie, ohne einen Mantel
concentrischer Lamellen um sich herum zu besitzen und
ohne Rücksicht auf die vorhandene Lamellenordnung, ja
selbst oft ohne Rücksicht auf die Kittlinien das Knochcn-
gew'ebe durchbohren. Die Lamellenrichtung auf der einen Seite
der Canäle findet in der auf der anderen Seite ihre natürliche
Fortsetzung. Gegenüber den glatten Wandungen der stets ge¬
streckt verlaufenden Havers’schen Canäle finden w r ir an den oft
mehr bogig sich hinziehenden Volkmann’schen Canälen eine
Archiv für klm. Chirurgie. Bd. 94 . Heft 2 , 20
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300
Dr. G. Axhausen,
charakteristische, unregelmässige, wie gezähnelt aussehende
Grenzcontour. Die beigefügten schematischen Figuren mögen
diese Verschiedenheiten veranschaulichen (s. Fig. 1—3).
Fig. l.
Havcrs’sclicr Gcfässcanal (Querschnitt).
Fig. 2. Fig. 3.
Ilavers'sclier Gcfässcanal Volkmann'schcr Gcfässcanal.
(Längsschnitt).
Volkmann beschrieb solche Bildungen von verschiedener
Weite, wenn auch im Allgemeinen die engen Canäle überwiegen.
Nach dem ganzen Bilde glaubte Volkmann annchmcn zu müssen,
dass hier ein nachträgliches Einwachsen von Gefässen in
den fertigen Knochen stattfinden müsse und dass hier also eine
Resorption des Knochengewebes durch Vascularisation
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Ueber die durchbohrenden Gef&ssoanäle des Knochengewebes. 301
erfolgt sein müsse. Auf den Vorgang der Bildung dieser Gefässe
und des Eintretens in den Knochen, von dem Volkmann genaue
Details bringt, will ich hier nicht näher eingehen, um nicht zu sehr
mich ins Einzelne zu verlieren; nur soviel will ich erwähnen, dass der
naheliegende Gedanke, es möchte die Neucanalisation des Knochens
mit den präexistirenden Hohlräumen des Knochens (Knochenhöhlen
und -Ausläufern) in Zusammenhang stehen, von Volkmann nach
seinen Befunden durchaus abgelehnt wurde.
Aber eben dieser Gedanke führte alsbald zu einer Verzerrung
des Begriffes der Volkmann’schen Canäle. Zuerst von Rind¬
fleisch (7), dann später von Soloweitschick (8), Lossen (9)
u. A. wurde in aller Entschiedenheit dafür plädirt, dass die Volk¬
mann’schen Canäle durch eine active Betheiligung der im Knochen¬
gewebe liegenden Zellen entstehen, dass es zu einer Erweiterung
und einem Zusammenfluss der Knochenhöhlen käme — Vor¬
gänge, die dann schliesslich in der Canalbildung endigen. Wenn
auch durch weitere Untersuchungen und besonders durch die Ar¬
beiten Pommer’s die ursprüngliche Annahme Volkmann’s wieder
als richtig erwiesen werden konnte, so sind doch die „erweiterten
und confluirenden Knochenhöhlen“ gleichwohl nicht ganz zur Ruhe
gekommen. So finden wir in den neueren zusammenfassenden
Darstellungen dieser histologischen Verhältnisse [z. B. bei M. B.
Schmidt (10) und in Kaufmann’s Lehrbuch] wohl mit Rücksicht
auf die oben erwähnten Arbeiten die Angabe, dass neben den
Volkraann’schen Canälen von der beschriebenen Eigenart solche
Erweiterungen und Vereinigungen der Knochenhöhlen Vorkommen,
die auch ihrerseits zu einer Canalisirung des Knochengewebes
führen.
Geht man nun aber den Angaben der oben erwähnten Autoren
auf den Grund, studirt man mit einer genügenden Kenntniss knochen¬
pathologischer Bilder die in diesen Arbeiten gegebenen Beschrei¬
bungen und Abbildungen, so sieht man, dass hierbei Missdeutungen
eine gewichtige Rolle gespielt haben. Um nur ein Beispiel zu
nennen, so beziehen sich die sehr detaillirten Angaben Lossen’s
auf Bilder, die er beim Studium von Callusgewebe gewann. Wir
wissen aber durch die schönen Untersuchungen v. Ebner’s, dass
wir es hierbei zum Theil mit dem „geflechtartig geordneten“ Knochen¬
gewebe zu thun haben, das den Grundstock jedes Callusgewebes
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Dr. G. Axhausen,
darstellt und sich durch die wirre Durchflechtung der Fibrillen¬
bündel ebenso wie durch die Form, Anordnung und Zahl der
Knochenhöhlen von dem lamellösen Knochen scharf unterscheidet.
Wir wissen, dass im geflechtartig geordneten Knochengewebe die
zwischen den Fibrillenbündeln ausgesparten Räume (Interglobulär¬
räume), in denen die Zellen liegen, oft eine erhebliche Weite und
bizarre Formen darbieten, ja dass in ihnen gelegentlich zwei Zellen
gemeinsam liegen können u. a. m. Was Lossen abbildet, sind
typische Bilder dieser Art. Dies als eine Erweiterung gewöhnlicher
Knochenhöhlen durch active Thätigkeit der inliegenden Zellen auf¬
zufassen, ist nicht angängig. Dies eine Beispiel mag genügen.
Dass auch Artefacte bei diesen Missdeutungen eine Rolle spielen,
zeigt sich z. B. in der Abbildung Soloweitschick’s auf seiner
Fig. 3, wie dies schon von Pommer festgestellt wurde. Zur An¬
nahme solcher Erweiterungen präformirter Höhlen gehören Bilder
progressiver Grössenzunahme im sicher lamellösen Knochen.
Solche Bilder sind bisher nicht beschrieben worden und ich muss
betonen, dass ich bei meinen ausgedehnten Untersuchungen niemals
etwas Aehnliches sah.
Ich muss in Uebereinstimmung mit Pommer daran festhalten,
dass alle bisherigen Angaben über active Erweiterung präformirter
Knochenhöhlen nicht beweiskräftig sind und dass daher die Vor¬
stellung einer hierauf basirten Canalisirung des Knochengewebes
und jeder genetische Zusammenhang der Knochenhöhlen mit den
Yolkmann’schen Canälen fallen gelassen werden muss. Es ist
dies unbedingt nothwendig, um einen einheitlichen Begriff der
Yolkmann’schen Canäle zu erhalten. Nur die Gefässcanäle der
eben beschriebenen Eigenart kommen als Volkmann’sche Canäle
in Betracht. Nur sie stehen für die Frage der resorptiven Knochen-
vaseularisation in Discussion. Nur mit ihnen haben wir uns daher
in den folgenden Ausführungen zu befassen.
Schon an dieser Stelle erscheint es mir aber nothwendig,
darauf hinzuweisen, dass die von Volkmann beschriebenen und
gezeichneten Bildungen, wie man bei sorgfältigem Studium nicht
übersehen kann, nicht einheitlich sind. Bei der einen Art
finden wir ein isolirtes Auftreten, deutlich zackige Ränder und vor
Allem die ausgesprochene Lamellirung des umgebenden, „durch¬
bohrten“ Knochens. Wir wollen diese Canäle Canäle A nennen.
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Ueber die durchbohrenden Gefasscanäle des Knochengewebes. 4 303
Fig. 4.
Eine der Figur 6 Volkmann’s nachgezeichnete Skizze gebe ich
in Fig. 4. Diesen Canälen gegenüber stehen die bei Volkmann
in Fig. 3 gezeichneten Canäle, von denen ich eine naehgezciehnele
Skizze in Fig. 5 wiedergebe. Sie zeichnen sich durch ihre dichte
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304
Dr. G. Axhausen,
Anordnung, ihre Auftheilung, durch Büschel- und Arkadenbildung
und durch eine meist mehr glatte Beschaffenheit der Canalränder
aus; und Vor Allem fehlen die sicheren Anzeichen des regelmässigen
lamellösen Knochenbaues in der Umgebung, wie wir ihn im fertigen
Knochen nicht vermissen. Wir wollen sie Canäle B nennen. Die
Nothwendigkeit dieser Theilung wird aus den folgenden Ausfüh¬
rungen zur Genüge klar werden. So viel ist schon jetzt zu sagen,
dass nur die Canäle der ersten Art (Canäle A) als. eigen¬
artige Gefässcanäle unter dem Namen der Yolkmann’schen
Canäle den Havers’schen Canälen gegenüberzustellen sind.
An der Existenz dieser Bildungen im normalen und patholo¬
gischen Knochen ist jeder Zweifel unmöglich. Ihre anatomischen
Eigenheiten sind in weiterer Ausführung der Angaben Volk man n’s
von Pommer bis ins Detail beschrieben und zeichnerisch dar¬
gestellt worden. Discutabel ist nur die Frage nach ihrer biolo¬
gischen Bedeutung und, damit gleichbedeutend, die Frage nach
ihrer Entstehung. Handelt es sich bei ihnen wirklich, wie Volk¬
mann annahm, um neugebildete Gefässbahnen im fertigen Knochen,
d. h. haben wir es bei ihnen mit einer besonderen Form der Knochen¬
resorption zu thun, oder stellen sie nur eine anatomisch diffe¬
rente Form der gewöhnlichen Gefässcanäle, also eine den Havers-
schen Gefässcanälen wesentlich gleiche Canalbildung dar? Sind die
Volkmann’schen Canäle wirklich resorbirendc Gefässcanäle
oder nicht vielmehr analog den Havers’schen Canälen persisti-
rende Canäle? Ist nicht doch auch bei ihnen das Gefäss das
Primäre, das in seiner Lage verharrt, persisirt, und um das sich
die Lamellen zu beiden Seiten anlegen? Trifft die letztere An¬
nahme zu, dann wäre auch die dritte, von Volkmann propa-
girte Form der Knochenresorption, wie der halisteretische Schwund
hinfällig.
Der Gedanke, dass die Volkmann’schen Canäle trotz ihres
eigenartigen, so zu sagen rücksichtslosen Verlaufes gleichwohl per-
sistirende Gefässcanäle darstellen, ist keineswegs neu. Wir finden
Erwägungen in dieser Richtung in einer Arbeit Billroth’s (11),
dann in einer kurzen Mittheilung Schwalbe’s (12) und des Weiteren
in der ausführlichen Arbeit Pommer’s.
Ein Studium der Arbeit Billroth’s ergiebt, dass er sich
sachlich nur mit den als Canäle B bczeichneten Bildungen befasste.
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 305
Auf Grund seiner Erfahrungen über das Knochenwachsthum und die
Callusbildung sprach er sich dahin aus, dass „die von Volkmann ab¬
gebildeten, von unzähligenGefässen durchzogenen Knochenstücke nicht
degenerirte Corticalsubstanz, sondern Osteophyten sind“. Damit er¬
klärte er, wenn man seine weiteren Ausführungen mitberücksichtigt,
die in ihnen gefundenen Gefässcanäle für persistirend, nicht für
resorbirend. Gerade die als Canäle B bezeichneten Gebilde sind
aber, wie ich vorher schon erwähnte und wie ich auch später
näher auszuführen habe, mit den eigentlichen Volkmann’schen
Canälen (Canälen A) nicht auf eine Stufe zu stellen. Mit diesen
letzteren aber beschäftigt sich Billroth überhaupt nicht.
Dagegen wurde die Deutung säramtlicher von Volkmann be¬
schriebener Gefässcanalbildungen als persistirender Gefässcanäle,
entgegen der Auffassung Volkmann’s, auf Grund entwickelungs¬
geschichtlicher Studien in einer kurzen Mittheilung Schwalbe’s
in der Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaften gegeben.
Leider ist mir diese Mittheilung im Original bisher nicht zugäng¬
lich gewesen, so dass ich mich auf diese kurze Angabe be¬
schränken muss.
Auf der anderen Seite lässt Pommer die als Canäle B be¬
zeichneten Gebilde ganz aus dem Spiel. Er betont ausdrücklich:
„nirgends jedoch in meinen Präparaten konnte ich so reich ver-
ästigte und anastomosirende Canäle entdecken, wie dieselben von
Volkmann beschrieben sind“. Pommer’s genaue Angaben er¬
strecken sich also nur auf die oben als Canäle A bezeichneten
Bildungen.
Hier nun aber musste er schon wieder Unterscheidungen vor¬
nehmen, die auf gewissen anatomischen Differenzen basirt waren
und die ihn veranlassten, die „echten“ von den „falschen“ durch¬
bohrenden Gefässcanälen oder Volkmann’schen Canälen zu trennen.
Für die ersteren glaubte er der Annahme Volkmann’s folgen zu
müssen, dass es sich hier um ein resorptives Hineinwachsen von
Gefässen in den fertigen Knochen handeln müsse; nur in der Auf¬
fassung über den Vorgang im Einzelnen trennte sich Pommer von
den Angaben Volkmann’s. Dagegen erschien es ihm nicht
zweifelhaft, dass für die „falschen“ durchbohrenden Canäle die Deu¬
tung Schwalbe’s zutreffen müsse, nach der es sich hierbei um
persistirende Gefässcanäle handeln müsse.
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306
Dr. G. Axhausen,
Der Grund für die Trennung beider Arten von durchbohrenden
Canälen und für ihre verschiedene Deutung ergab sich für Pommer
aus dem genauer studirten Verhalten der umgebenden Lamellen. Nur
zum kleinen Theil fand Pommer die Bilder so, dass die Lamellen¬
richtung durch das durchbohrende Gefäss völlig unbeeinflusst
Fig. 6.
blieb. Dies waren seine “echten“ durchbohrenden Canäle. Das Schema
derselben habe ich in der Fig. 6 gezeichnet. Daneben setze ich den
Typ eines „falschen“ durchbohrenden Gefässcanals (Fig. 7), die in
dem von Pommer untersuchten Material sich ungleich häufiger
Fig. 7.
vorfanden. Man sieht, dass hier die Lamellen, obwohl sie von dem
Gefässcanal durchbohrt werden, in unmittelbarer Nähe des
Gefässes sich gegen dasselbe aufbiegen. Noch ausge¬
sprochener ist dies in dem in Fig. 8 gezeichneten Typ der Fall; hier
Fig. 8.
geben die markwärts liegenden aufgebogenen Lamellen sogar einzelne
Speciallamellen ab, die das Gefäss ein Stück begleiten. Diese ver¬
einzelten Lamellen berechtigen jedoch keineswegs, das umschlossene
Gefäss ein Havers’sches zu nennen, da die Durchbrechung der
umgebenden Lamellen durchaus im Vordergründe steht. Eine solche
Beeinflussung des Verlaufes ist in der That unmöglich anders zu
deuten, als dass das Gefäss, während die Lamellen gebildet werden,
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 307
schon vorhanden ist. Gefässcanäle von dem in Fig. 7 und 8 gezeich¬
neten Typ, d. h. die „falschen“ durchbohrenden Canäle Pommcr’s,
müssen also ihrer Natur nach persistirend sein.
Wir sehen mithin, um es kurz zu wiederholen, dass zunächst
von Volkmann’s zwei Arten von Gefässcanälen, die man bei
genauerem Studium als verschiedenartig erkennt und die ich als
Canäle A und B bezeichnete, in eins zusammengenommen wurden.
•Beide Formen erklärte er für resorbirende Gefässcanäle und hielt
sie für sehr wichtig für die Knochenresorption im Allgemeinen und
für die entzündlichen Vorgänge im Knochen im Speeiellen. Auf
der anderen Seite wurden von Schwalbe beide Formen als per-
sistirende Gefässcanäle bezeichnet und die Möglichkeit einer re-
sorptiven Vascularisation generell in Abrede gestellt. Billroth
beschäftigte sich nur mit den Canälen B und bezeichnete sie als
persistirende Gefässcanäle. Pommer studirte nur die Canäle A
und theilte sie in „echte“ und „falsche“ ein. Die „echten“ haben
nach ihm, in Uebereinstimmung mit Volkmann, resorptiven Cha¬
rakter; die „falschen“ sind entsprechend Schwalb e’s Auffassung
auf Persistenz der präexistirenden Gefässe zurückzuführen. Die
neueren Autoren, die allerdings über ein specielles Studium nicht
verfügen, folgen in der Regel den ursprünglichen Angaben Volk¬
mann’s und bringen noch, wie oben bereits erwähnt, eine ander¬
weitige, angeblich von erweiterten Knochenhöhlen ausgehende Ca-
nalisirung hinzu — eine Vorstellung, die von sachkundigen Unter¬
suchern bereits zurückgewiesen wurde und die auch nach meinen
Untersuchungen nicht aufrecht erhalten werden kann.-
Wenn ich nun herangehe, das Wesen und die Bedeutung der
Volkmann’schen Canäle an der Hand meines Untersuchungs-
raaterials zu besprechen, so habe ich zunächst, um eine Basis für
die weiteren Ausführungen zu schaffen, nochmals zu betonen, dass
die von Volkmann beschriebenen und abgebildeten Canäle ana¬
tomisch different erscheinen und daher zu trennen sind. Nur von
den Canälen A, die allein die strengen charakteristischen Züge
der Volkmann’schen Canäle tragen, wird zunächst die Rede sein,
wie auch alle Autoren, mit Ausnahme Billroth’s, bei der Be¬
sprechung der Volkmann’schen Canäle sich an diese Form ge¬
halten haben. Ich werde daher im Folgenden die Canäle A kurz¬
weg als Volkmann’sche Canäle bezeichnen. Ueber das Zustande-
Difitized
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308
Dr. G. Axhausen,
kommen und die Bedeutung der Canäle B werde ich am Schluss
der Arbeit für sich zu handeln haben.
Es erweist sich als zweckmässig, die Fragestellung nach der
Natur der Volkmann’schen Canäle etwas mehr zu prücisiren, und
zwar im Sinne der folgenden Fragen:
Kommen Volkmann’sche Canäle im normalen Knochen vor?
Welches ist ihre Verbreitung und wie sind sie zu deuten?
Finden sich die Volkmann’schen Canäle bei der Knochen¬
resorption und im pathologischen Knochen vermehrt?
Wie ist eine vorhandene Vermehrung zu deuten?
Kommen halisteretische Processe in der Umgebung der Volk¬
mann’schen Canäle vor?
Zunächst also: Finden wir im normalen Knochen Gefässcanäle
von der beschriebenen Eigenart der Volkmann’schen Canäle, was
ist ihre Verbreitung und welches ihre Bedeutung?
Untersucht man histologisch grössere Querschnitte eines mensch¬
lichen Röhrenknochens, z. B. der Tibia, so sieht man auf das
Schönste die Havers’schen Systeme, die fast ausnahmslos quer,
hier und da schräg getrolfen sind. Man sieht in der Mitte der
concentrischen Lamellen die kleine Ocffnung der Gefässcanäle, in
der sich gewöhnlich ein quergetroffenes Capillarrohr befindet. Nicht
selten nun findet man von diesem oder jenem Havers’schen Canal
einen Seitencanal ausgehen, der sich eine kürzere oder längere
Strecke quer zur concentrischen Lamellenrichtung in das System
hereinerstreckt und der offenkundig nur deshalb so kurz erscheint,
weil sein schräger Verlauf nicht vollkommen in den Querschnitt
hereinfällt. Sieht man ein wenig länger zu, so findet man stets
eine Anzahl solcher Seitencanäle, die in längerer Ausdehnung ge¬
troffen sind. Hier sieht man nun, dass die Canäle nicht nur die
Lamellen des eigenen Systems durchbrechen, sondern sich auch in
das benachbarte System hereinerstrecken; und es ist unverkennbar,
dass der Canal dem Gefässcanal dieses benachbarten Havers’schen
Systems zustrebt. Fast bei jedem grösseren Schnitt finden wir
aber auch einzelne Quercanäle, die in ganzer Länge getroffen
sind und die daun deutlich erkennen lassen, dass der Seitenast
eine Anastomose zwischen den beiden Havers’schen Gefässcanälen
bildet. Ich habe diese Verhältnisse in Fig. 9 schematisch zur
Darstellung gebracht. Legt man den zu untersuchenden Knochen-
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 309
schnitt von vornherein so an, dass er deq Röhrenknochen nicht
senkrecht, sondern ein wenig schräg trifft, so nimmt in der Regel
die Anzahl dieser in ganzer Länge getroffenen anastomosirenden
Gefässcanäle innerhalb eines Schnittes nicht unwesentlich zu. Alle
diese Bilder zusammengenommen machen es sicher, dass auch die
zuerst erwähnten kurzen Fortsätze die allein getroffenen Anfänge
Fig. 9.
der zahlreich vorhandenen Qucranastomoscn der längsgerichteten
Iiavers’schen Gefässe darstellen.
Dementsprechend gelingt es selbstverständlich sofort die Ana-
stomosen zu Gesicht zu bekommen, wenn man einen Längsschnitt
eines Röhrenknochens herstellt. An einem solchen findet man bei
einiger Dicke des Schnittes ebenso, wie auch an einem Längs¬
schliff, eine reichliche Anzahl dieser Anastomosen, die die hier
längsgetroffenen Havcrs’schen Gefässe verbinden. In Fig. 10 ist
dieses Bild schematisch zum Ausdruck gebracht worden.
Untersucht man nun den Verlauf und den Bau dieser Querana-
stomosen, so findet man, dass sie durchaus den Charakter der
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310
Dr. G. Alhausen,
Volkmann’schen Canäle tragen. Sie durchbrechen rücksichts¬
los die Lamellen, machen auch an der Kittlinie nicht Halt, bohren
sich in das benachbarte System ein und zeigen den charakteristisch
gez.ähnelten Rand. Dass es sich hierbei in der That um Gefäss-
Fig. 10.
canäle handelt, geht sehr einfach aus der Thatsache hervor, dass
in vielen, ja bei weitem in der Mehrzahl von ihnen das Capillar-
rohr sichthar ist; nicht selten sogar sieht man den Zusammenhang
diesesCapillarrohres mit dem quergetroffenenGefässrohr des Havers-
sehen Systems.
Wir entnehmen daraus die wichtige Thatsache, dass im nor¬
malen, menschlichen Röhrenknochen die überaus zahl-
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 311
reichen, queren und schrägen Knochencanäle, in denen
die Anastoraosen der Havers’schen Canäle liegen, durch¬
aus den Charakter der Volkmann’schen Canäle aufweisen.
Diese „Verbindungsgefässe“ sind schon in Quains Anatomy
kurz erwähnt und auf Quer- und Längsschnitten zeichnerisch dar¬
gestellt worden. Solche Gefässcanäle wurden auch von v. Ebner
in seiner grundlegenden Arbeit — allerdings nur ganz nebenher in
einigen Worten — erwähnt; er hat sie mit den Volkmann’schen
Gefässcanälen identificirt und hält nach ihrem Verlauf für sicher,
dass sie erst später in den fertigen Knochen hineingewachsen sind —
also völlig entsprechend den Auffassungen Volkmann’s. Dieselben
Canäle hat auch Soloweitschick gesehen und in seiner Fig. 2,
Taf. II abgebildet; auch er stellt sich in ihrer Deutung auf den
Boden der Anschauung Volkmann’s.
Ist nun diese Deutung als zutreffend zu erachten? Ich muss
dies unbedingt verneinen und behaupte, dass diese sehr
reichlichen Gefässcanäle durchweg persistirende Gefäss¬
canäle sind, die bei der Entstehung der Havers’schen Systeme
von den sich bildenden Lamellen umschlossen worden sind. Zur
Stütze dieser Behauptung mögen die folgenden Ausführungen dienen.
Es liegt nach der Art ihres Vorhandenseins kein Grund zur
Annahme eines vorwärtsschreitenden Rcsorptionsprocesses vor, weil
wir im normalen Knochen, so viel wir auch untersuchen, immer
die gleichen, regelmässigen Bilder finden. Leberall finden
wir die Gefässcanäle in derselben Breite die llavers'schen Canäle
verbinden; Bilder einer zunehmenden Erweiterung dieser Gebilde,
vielleicht durch lacunäre Arrosion, kann ich mich nicht entsinnen,
im normalen Knochengewebe gesehen zu haben. Auch ist die
Zahl der verbindenden Capillarrohre in den untersuchten Knochen
verschiedener Fälle annähernd gleich. Es gehören eben diese Ana-
stomosen mit den Havers’schen Gefässen, und die verbindenden
Canäle mit den Havers’schen Canälen unbedingt zusammen: die
Gleichartigkeit und Regelmässigkeit der Bilder spricht dafür, dass
sie auch in der Anlage zusammengehören. Es müssen doch
auch bei der Bildung der Havers’schen Systeme die eingeschlos^cnen
Gefässe mit den benachbarten Havers’schen Gefässen nothwendiger-
weise anastomotisch Zusammenhängen, wenn überhaupt eine Circu-
lation möglich sein soll; und cs muss dieser Zusammenhang schon
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Dr. G. Axhausen,
bei der Entstehung der Havers’schen concentrischen Lamellen vor¬
handen sein. Was liegt näher, als die erwähnten, überall sicht¬
baren, durchaus regelmässigen Verbindungsgefässe mit diesen noth-
wendigerweise vorhandenen, präexistirenden Gefässen zu identifi-
ciren? Sollte allein die Thatsache, dass die Canäle den Charakter
der Volkmann’schen Canäle tragen, diesen natürlichen Schluss
anulliren können? Und ist es nicht durchaus gezwungen, wenn
man annehmen wollte, dass alle diese zahlreichen, regelmässigen
Verbindungsäste erst nachträglich den compacten Knochen durch¬
bohrt und die parallel laufenden Havers’schen Canäle verbunden
haben sollten? Und dies in der Weise, dass wir bei jeder Unter¬
suchung immer das gleiche, regelmässige Bild erhalten? Und
welche Kraft muss angenommen werden, die es bewirkt, dass das
Gefäss, beim Einsprossen in die compacte Substanz des Havers-
schen Systems und beim weiteren Vorsprossen immer gerade den
benachbarten Havers’schen Gefässcanal richtig trifft? Diese Rich¬
tung auf den benachbarten Gefässcanal finden wir in allen Fällen;
niemals habe ich das Bild gesehen, dass ein solcher verbindender
Canal an dem benachbarten Canal vorbeigeht.
Es kommen noch andere, gewichtige Beweisgründe hinzu. Eine
häufig zu erkennende Erscheinung ist es, dass die verbindenden Canäle
in ihrem Verlauf einen kleinen Knick zeigen, wie er z. B. in der
Fig. 9 angedeutet ist. Stets habe ich in diesen Fällen feststellen
können, dass der Knick genau der Kittlinie gegen das benach¬
barte System entspricht. Es ist zweifellos schwer verständlich,
warum das einsprossende Gefäss gerade immer an der Kittlinie
eine Verlaufsänderung nehmen sollte. Wenn wir aber annehmen,
dass das Gefäss präexistirt, dass es also auch schon in dem Havers-
schen Raum (Resorptionsraum) vorhanden ist, der stets der Bildung
des jungen Havers’schen Systems genetisch vorausgeht, so ist es
leicht denkbar, dass bei der Ausbildung dieses Resorptionsraumes
die Richtung des Gefässes gegen den im benachbarten älteren
Havers’schen System lixirten Abschnitt eine Aenderung erleidet.
Nach unserer jetzigen Auffassung der Entstehung der Havers’schen
Systeme, würde eine solche Deutung von vornherein viel plausibler
erscheinen.
Es kommt weiter dazu, dass die verbindenden Canäle, wie dies
auch schon v. Ebner gesehen und kurz beschrieben hat, in einer
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Ueber die durchbohrenden Gefasscanäle des Knochengewebes. 313
gewissen Anzahl die Charakteristica der von Pommer sogenannten
„falschen“ Canäle tragen, dass also die angrenzenden Knochen-
lamellen sich leicht nach der Richtung des Gefässes zu abbiegen,
ja in manchen Fällen sogar einige ganz dünne Speciallamellen dem
Gefäss entlang abzweigen. Diese Canäle müssen, wie der erste
Blick zeigt, präexistirt haben, sonst wäre der Verlauf unerklärlich
— und für die Canäle dieser Art hat ja auch schon Pommer die
Präexistenz der Gefässe als sicher angenommen. Dass es sich aber
bei diesen Abarten nicht etwa um genetisch differente Bildungen
handelt, das geht ganz unzweideutig aus zwei Thatsachen hervor:
erstens daraus, dass wir von der einen Art zu der anderen alle
verbindenden Zwischenstadien sehen können und zweitens daraus,
dass es Canäle giebt, die auf der einen Seite die absolut scharf
durchschnittenen Lamellen — wie bei den „echten“ durchbohren¬
den Canälen Pommer’s — auf der anderen Seite die abbiegenden
Lamellen — wie bei den „falschen“ durchbohrenden Canälen
Pommer’s — aufweisen. Ich könnte noch andere, in dieser Rich¬
tung bemerkenswerthe Thatsachen aufführen, möchte mich aber, um
nicht zu sehr ins Detail zu gehen, hiermit begnügen. Nur ein, wie
ich glaube, gewichtiger Beweispunkt mag noch kurz Erwähnung
finden. Es ist dies die später noch eingehender zu besprechende
Thatsache, dass gerade da, wo offenkundig eine rasche Resorption
oder ein rascher Umbau von Knochengewebe erfolgt, wo also grade
für die Ausbildung resorptiver Gefässbahnen der rechte Platz wäre,
eine Zunahme der Volkmann’schen Canäle im compacten Knochen
ausnahmslos vermisst wird.
Nehmen wir alle diese Thatsachen zusammen, so unterliegt es
für mich nicht dem geringsten Zweifel, dass diese im normalen,
compacten Knochengewebe so reichlich vorhandenen, quer und
schräg zwischen den Ha versuchen Canälen verlaufenden Verbin¬
dungscanäle, trotz iher anatomischen Eigenart, die sie als
Volkmann’sche Canäle charakterisirt, präexistirende, nicht
resorptive Gefässcanäle darstellen, und dass die Volk¬
mann’schen Canäle des normalen Knochengewebes mit
den Havers’schen Canälen genetisch auf eine Stufe zu
stellen sind.
Bisher war nur von den die Havers’schen Systeme verbin¬
denden Volkmann’schen Canälen die Rede; genau entsprechende
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Dr. G. Axhausen,
Bildungen finden wir aber auch an anderen Stellen des Knochens.
Genau wie zwischen den Hävers’schen Gefässen unter sich,
finden wir auch zwischen der äusseren Schicht der Gefässe
und den periostalen Gefässen und ebenso zwischen der inneren
Schicht derselben und den Markgefässen Verbindungsbahnen,
die im Verlauf und im Bau durchaus jenen entsprechen und
die die äusseren, resp. inneren Grundlamellen durchsetzen. Es
lässt sich leicht erkennen, dass sie im kindlichen Knochen,
der ja auch sonst in seiner Struktur von den Röhrenknochen
der Erwachsenen um einiges abweicht, erheblich reichhaltiger sich
finden wie im letzteren. Doch sind sie auch hier in hinreichend
grossen Schnitten nicht zu übersehen; auch hier finden wir
„echte“ und „falsche“ durchbohrende Gefässcanäle und alle die
oben erwähnten Zwischenstadien. Auf die gleichen Bildungen stossen
wir auch bei der Untersuchung des Schädeldaches, wo sie die
Periost- und Duragefässe mit den Diploeräumen verbinden. Die
gleichen Bildungen finden wir begreiflicherweise auch in den Balken
des spongiösen Knochens, und besonders auch in der mehr com¬
pacten Substanz der Corticalschicht dieses Knochens. Schliesslich,
um es kurz zu erledigen, fand ich auch die gleichen Bilder in allen
untersuchten Thierknochen (Hund, Kaninchen, Ratte), wobei zu be¬
merken ist, dass beim Heruntergehen in der Thierreihe mit der
Abnahme der charakteristischen Knochenstruktur auch die scharf¬
umgrenzten Bilder der verschiedenen Gefässcanäle sich mehr und
mehr verwischen.
Es dürfte also wohl statthaft sein, diese durchbohrenden Ge¬
fässcanäle als eine von der normalen Knochenstruktur untrennbare
Erscheinungsform der physiologischen Gefässbahnen zu bezeichnen,
wobei es selbstverständlich durchaus berechtigt erscheint, diese Ge¬
fässcanäle kraft ihres eigenartigen Verlaufes als Volkmann’sche
Canäle auch weiterhin den Havers’schen Canälen gegenüber zu
stellen.
Wenn es sich nun aber bei ihnen analog den Havers’schen
Canälen um präexistirende Gefässbahnen handelt, so ergeben sich
daraus einige für die allgemeine Knochenpathologie nicht unwichtige
Folgerungen. Zunächst erhellt daraus, dass bei der Bildung lamel-
lösen Knochens die Lamellen in ihrer Verlaufsrichtung un¬
abhängig von der Verlaufsrichtung derpräexistirenden Ge-
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 315
fasse angelegt werden können, oder dass, was auf das Gleiche
herauskomint, die Thatsache, dass Lamellen rücksichtslos von einem
Gefäss durchbrochen werden, keineswegs als Beweis dafür
angesehen werden kann, dass es sich hierbei um später
hineingewachsene Gefässe handeln müsse. Dies ist wichtig
genug! Denn gerade diese Thatsache ist immer wieder von
v. Ebner bis auf die moderne Zeit als absolut zuverlässiger Be¬
weis für den resorptiven Charakter dieser Gefässe im patholo¬
gischen Knochen angesehen worden. Und zweitens geht daraus
hervor, dass ein genetischer Unterschied, wie Pommer wollte,
zwischen den von ihm als „echte“ und „falsche“ durchbohrende
Canäle bezeichneten Abarten allein aus ihrem anatomischen Bild
nicht erschlossen werden kann; denn beide Formen finden wir
sararat allen Zwischenstadien bei den normalen, sicher präexi-
stirenden Volkmann’schen Canälen des menschlichen und thierischen
Knochens.
Finden wir nun die Volk man n’schon Canäle als integrirenden
Bestandtheil des normalen Knochens, so können wir sie auch im
pathologischen Knochen nicht vermissen, sofern dieser Theile der
ursprünglichen, normal gebauten Compacta einschliesst. Und dies ist
in derThat so! Wenn immer der untersuchte pathologische Knochen
noch unveränderte Theile der alten, vor der Erkrankung gebildeten
Compacta enthält, finden wir hier die Volkmann’schen Canäle ge¬
nau in der gleichen Anzahl und Beschaffenheit wie im normalen
Knochen. Dies gilt auch ganz besonders für den Knochen, der in
voller Resorption oder im raschen Umbau begriffen ist. Ein schönes
Beispiel hierfür finden wir in dem Umbau und dem Ersatz des trans-
plantirten compacten Röhrenknochens, an dem ich die Bilder in allen
Stadien verfolgte. Niemals lässt sich hier in der der Resorption ver¬
fallenen Compacta eine Vermehrung der Volkmann’schen Canäle fest¬
stellen. In den noch unveränderten oder wenig veränderten Theilen
sehen wir die Verbindungscanäle in gewöhnlicher Verbreitung. Erfolgt
der Umbau, so finden wir die entsprechenden Volkmann’schen
Canäle ebenso wie die Havers’schen Canäle im Stadium der lacu-
nären Erweiterung: immer geht der Umbau von den präexistirenden
Gefässen aus von statten. (Man vergleiche hierzu die schöne Fig. 1
in der Arbeit Volkmann’s!) Niemals sah ich Bilder, die auch
nur im Entferntesten für eine Neubildung von Gefässen in der
Archiv für kl in. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2. 91
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816
Dr. G. Axhausen,
ursprünglichen Com pacta, für eine resorptive Vascularisation des
dem Abbau geweihten Knochens zu verwerthen wären, obwohl ich
auf Grund meiner früheren Anschauungen solche Bilder bestimmt
zu sehen erwartete. Ich kann diese Thatsache nach meinen recht
ausgedehnten Erfahrungen als absolut sicher hinstellen. Niemals
habe ich, um noch ein weiteres Beispiel zu geben, eine solche Ver¬
mehrung der Volkmann’schen Canäle bei dem fundamentalen
Knochenumbau gesehen, den ich bei der osteoplastischen Carcinose
früher eingehend studirt und beschrieben habe. Niemals fand sie
sich, wie ich schon jetzt hier im Zusammenhang hinzufügen will,
bei dem Knochenumbau der osteodystrophischen Processe (Rhachitis,
Osteomalacie), so weit es sich um Knochengewebe handelte, das
sich histologisch sicher als ursprüngliche, vor der Erkrankung ge¬
bildete Compacta erkennen liess.
Anders müssen sich aber unter der oben angenommenen Ge¬
nese der Verbindungscanäle naturgemäss die Bilder in dem während
der Erkrankung ncugebildeten Knochen innerhalb der alten Com-
pacta gestalten.
Beginnen wir zunächst mit dem einfachsten Falle, mit der
Knochenatrophie. Hier ist der Vorgang der, dass die durch
die Resorption geschaffenen Defecte durch die Apposition nur un¬
vollkommen gedeckt werden. Daher erhalten wir in der Compacta
die grossen Räume, die rund oder elliptisch in die umgebenden
regelmässig gebildeten Hävers'sehen Systeme hereinschneiden und
mit schmalen concentrischen Randsäumen ausgckleidet sind, welch
letztere bis auf einen schmälsten Saum völlig verkalkt sind. Die
Apposition folgt verspätet auf die Resorption: daher die Grösse der
Räume, die die Grösse eines gewöhnlichen Hävers'sehen Systems
bei weitem übertrifft; die Apposition ist unvollkommen: nirgends
werden die grossen Räume zu einem regelrechten concentrischen
Havers’schen System geschlossen; über die Bildung eines Rand¬
saumes kommt die Apposition nicht hinaus. Aber der Typ des
neugebildeten Knochens ist durchaus der gleiche wie beim nor¬
malen Knochenumbau: cs bildet sich lamellüscs, concentrisch ge¬
lagertes, unmittelbar verkalkendes Knochengewebe.
Wir müssen nun nach den obigen Voraussetzungen erwarten,
hier und da im Randsaum Gefässbildungen zu finden, die die La¬
mellen des Saumes durchbohren und dem benachbarten Hävers-
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 317
sehen Gefäss zustreben; und wir können erwarten, bei der Grösse
der Räume häufiger mehrere solcher Gefässe in einem Randsaum
zu finden; auch wird es wahrscheinlich sein, dass wir analog den
normalen Verhältnissen nebeneinander Volkraann’sche Canäle von
dem Charakter der echten und falschen (nach Pommer) finden.
Alles dies lässt sich nun unschwer am atrophischen
Knochen als vorhanden erweisen; ja ich sah sogar Bilder,
bei denen das in einen echten Yolkmann’schen Canal des Rand¬
saumes hereinziehende und von dort an das benachbarte Havers’sche
Gefäss heranziehende Capillarrohr von der Ausmündungsstelle in
gleicher Richtung radiär durch den grossen Resorptionsraum bis
zur Mitte verlief, um da mit einem anderen, quergetroflenen Gefäss
zusamracnzufliessen — eine schöne Illustration der Präexistenz
solcher Gefässe!
Und nehmen wir die dystrophischen Proccsse! liier ist nicht
nur das quantitative Yerhältniss zwischen Resorption und Appo¬
sition verändert, wie bei der Atrophie, sondern auch die Qualität
des angebildeten Knochengewebes ist abweichend von der Norm;
und dies in zweierlei Richtung:
Erster Punkt: es setzt die Verkalkung des neugebildeten
Knochens verzögert ein — daher finden wir bei dem Umbau des
compacten Knochens genau die Bilder der weiten Räume, wie bei
der Atrophie und auch hier neben Resorptionsflächen die glatt ran-
digen Appositionsräume von streng lamellösem Bau; nur mit dem
gewichtigen Unterschiede, dass überall in breiter Ausdehnung diese
Säume noch unverkalkt geblieben sind. Dementsprechend
muss der Anfang der Volkmann’schen Canäle hier von kalklosem
Knochen umgeben sein, sei es, dass sie den Charakter der echten,
sei es, dass sie den der falschen Canäle tragen. Solche Bilder
finden wir nun im entsprechenden Untersuchungsmaterial (noch
nicht zu Veit vorgeschrittene Dystrophie compacter Knochen) in
reichlicher Menge und in allen Abstufungen, den normalen Volk¬
mann’schen Canälen entsprechend. Auch hier liegt keine Veran¬
lassung vor, eine andere als die oben gegebene, dem normalen
Knochen entnommene Genese anzunehmen. Weiter finden wir aber
häufig Bilder, die eine kleine Besonderheit aufweisen, Bilder, bei
denen der kalklose Antheil in unmittelbarer Nähe der
Volkmann’schen Canäle erheblich breiter ist als im
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Dr. G. Axhausen,
übrigen Bereich des Randsaumes. Ein solches Bild ist in
Fig. 11 schematisch gezeichnet worden; es illustrirt auch gleich¬
zeitig Bau und Verlauf der Volkmann’schen Canäle im atrophischen
und dystrophischen Knochen; das kalklose Knochengewebe ist auf
der Figur punktirt gezeichnet. Diese Bilder aber stellen nur eine
Theilerscheinung eines überall im dystrophischen Knochen vorhan¬
denen Gesetzes dar: das Gesetz der Abhängigkeit des Ver¬
kalkungsvorgangs von den vorhandenen Gefässbahnen,
Fig. 11.
dergestalt, dass die Ablagerung des Kalkes überall in weitester
Entfernung von den Gefässen beginnt und in unmittelbarer
Nähe der Gefässe am längsten verzögert ist. Ich habe
hierauf noch zurückzukommen. Auf Grund dieser Kenntniss sind
jene Bilder durchaus verständlich und wir können aus ihnen weder
eine andere Genese der betreffenden Gefässe, noch auch das Vor¬
kommen halisteretischer Processe in ihrer Umgebung schliessen.
Zweiter Punkt: Der Typ des bei dem Umbau des compacten
Knochens gebildeten Knochengewebcs ist verändert. Wir finden in
vielen Fällen nicht die einfache unmittelbare Ablagerung lamellösen
Knochens, sondern die Bildung von compactem Knochengewebe
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Ueber dio durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 319
auf dem Umweg über das geflechtartig geordnete Knochen¬
gewebe — genau entsprechend der Anbildung und Umbildung des
Callus. Dieser Vorgang lässt sich am dystrophischen Knochen in
allen Stadien beobachten — von dem ersten, völlig kalklosen
Maschenwerk geflechtartig geordneten Knochengewebes bis zur Bil¬
dung compacten, manchmal grösstentheils verkalkten Knochens.
Letzteres nun sind die Bezirke, in denen wir im dystrophischen
Knochen eine Vascularisation der Compacta finden, die wesentlich
reicher ist als in der Norm und die einerseits den Gedanken
an eine resorptive Vascularisation nahelegt, andererseits zu der
zweiten Gruppe der von Volkmann beschriebenen Canäle (Ca¬
näle B) herüberleitet. Reicher noch als im Inneren der Compacta
finden wir solches Knochengewebe in den äusseren und inneren
Auflagerungen, die bei der Rhachitis so reichlich gefunden werden,
die aber auch bei der Osteomalacie nicht vermisst werden.
In der That findet man solche Stellen ähnlich wie bei der
Ostitis auch bei den dystrophischen Processen, besonders im vor¬
geschrittenen Stadium. Ja, es kann Vorkommen, dass bei besonders
schweren Fällen der ganze überhaupt vorhandene, compacte, la-
mcllös erscheinende Knochen diesen Charakter trägt. Bei einem
genaueren Studium dieser Stellen sicht man aber stets, dass hier
der Modus der Knochenneubildung sich von der Norm abgewandt
hat, dass das vorhandene compacte Knochengewebc sich histo¬
logisch von dem normalen Knochengewebe der Röhrencompacta
durchaus verschieden erweist. Zwar finden wir auch hier zum
grossen Theil lamellösen Knochen; aber das normale, regelmässige
Bild der Havers’schen Systeme, Schaltsysteme und Grund¬
lamellen ist nicht mehr wiederzuerkennen; die Anordnung des la¬
mellösen Knochens ist viel unregelmässiger; es ist an zahl¬
reichen Stellen von Bezirken geflechtartig geordneten
Knochengewebes durchsetzt; es ist ein Knochengewebc, das
aus einem Grundstock von geflechtartig geordnetem
Knochengewebe entstanden ist und in diesem Zustande ver¬
harrt.
Das Prototyp eines solchen Knochengewebes finden wir im
normalen Callus.
Die beifolgenden Skizzen sollen die Entstehung eines solchen
unregelmässig gebauten, compacten Knochengewebes illustriren. In
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 321
Fig. 12 sehen wir das bekannte Netz des geflechtartig geordneten
Knochengewebes, das den ersten Osteophyten, den provisorischen
Gallus darstellt. Bei der Umformung des Gallus sehen wir nun
(Fig. 13), dass nach vorausgehender partieller Resorption eine Ab¬
lagerung lamellüscn Knochens auf den Wandungen der Maschen
des geflechtartigen Knochengewebes einsetzt, w r obei die Markräume
mehr und mehr eingeengt werden, während gleichzeitig unregel¬
mässig gestaltete und unregelmässig verlaufende llavers’schc
Fig. 14.
Systeme in Entwickelung begriffen sind. Bei weiterer Umbildung
bis zur Erzeugung compacten Knochens — die beigefügte Skizze
(Fig. 14) dieses Stadiums ist nach einem alten Gallus gezeichnet
— sehen wir die Markräume bis auf Canäle, die noch Gefässe
enthalten, eingeengt; die angelegten Systeme sind geschlossen;
auch den Grundlamellen ähnliche Schichten haben sich hier und da
abgelagert. Dies compacte, auf einem Grundstock geflechtartig ge¬
ordneten Knochengewebes angebildete Knochengewebe unterscheidet
sich ganz wesentlich von dem normalen compacten Knochen; ich
erwähne folgende Hauptpunkte:
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322
Dr. G. Axhausen,
1. Es ist gefässreicher als normale Compacta.
2. Die Gefässe haben nicht den regelmässigen Verlauf wie in
der normalen Compacta; sie liegen ungleichmässig; sie durch¬
kreuzen sich in ihrer Richtung; man sieht dicht nebeneinander
quer-, schräg- und längsgetroffene Aeste; man sieht Aushei¬
lungen zu Büscheln und Arkaden.
3. Dementsprechend haben die concentrischen Lamellensysteme
einen unregelmässigen Verlauf; sie zeigen im Bau und in
Grösse durchaus nicht die stereotype Regelmässigkeit der
normalen Compacta.
4. Zwischen die Lamellensysteme sind reichliche Bezirke ge¬
flechtartig geordneten Knochengewebes eingeschoben.
Es sei gestattet, dies Knochengewebe entgegen dem lamellösen
und dem geflechtartig gebauten als gemischt gebautes Knochen¬
gewebe zu bezeichnen.
Wer in einer grösseren Reihe von Präparaten verschiedenen
Knochenmaterials die Entstehung dieses Knochengewebes in den
einzelnen Stadien verfolgt, wird nie auf den Gedanken kommen,
dass die hier reichlich vorhandenen Gefässe erst nachträglich in
den Knochen hereingewachsen seien; der grössere Theil von ihnen
trägt ja auch das Gepräge des Havers’schen Typus; aber auch
die Gefässe des Volkmann’schen Typus gehören genetisch mit
jenen genau so zusammen wie im normalen Röhrenknochen; ich
will hierauf nicht länger verweilen.
Ein solches gemischt gebautes Knochengewebe, das hier eben
für die Callusbildung beschrieben wurde, findet sich nun auch im
pathologischen Knochen überhaupt, ja in gewissem Umfange trifft
man es auch im normalen Knochen an: wir finden es nämlich bei
der Dickenzunahme des wachsenden Röhrenknochens. Auch hier
wird in Form flacher Arkaden vom Periost aus ein Grundstock
geflechtartig geordneten Knochengewebes gebildet, dessen Maschen
von innen her durch Apposition lamellöser Säume verengt werden.
Bevor es jedoch zur vollen Ausbildung des dritten Stadiums ge¬
kommen ist, wird durch neuerliche Resorption und Apposition an
den tiefstgelegencn Abschnitten der Umbau zur normalen Compacta
vollzogen. Anders jedoch unter pathologischen Verhältnissen. Hier
nehmen die periostalen Osteophyten ganz erhebliche Dimensionen
an und gleiche Bildungen treten auch an anderen Stellen des
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 323
Knochens auf, sowohl im Markraum, als auch in den resorptiven
Binnenräumen der Compacta.
Diese Vorgänge treffen wir bei den ostitischen Processen jeder
Art, bei gewissen Knochenbindegewebstumoren und bei den dystro¬
phischen Processen; wir treffen sie auch bei der Knochentrans¬
plantation, wenn auch hier im Innern der Compacta der der Norm
entsprechende Modus des Umbaues überwiegt. Ich fand reichliche
Auflagerungen eines solchen gemischt gebauten, gefässreichen
Knochengewebes z. B. auf der Innenfläche der Compacta in unter¬
suchten Fällen von Schafttuberculose. Solche Bilder waren es,
die zweifellos den von Volkmann gezeichneten Stellen
mit den dichten büschel- und arkadenförmigen Gefäss-
canälen, die ich als Canäle B von den Volkmann’schen Canälen
trennte, zu Grunde lagen, wobei noch zu berücksichtigen ist,
dass die Schnitte resp. Schliffe Volkmann’s eine nicht unerheb¬
liche Dicke aufwiesen, so dass der Gefässreichthum noch mehr in
die Augen springen musste. Ein Blick auf die nach Volkmann's
Figur 3 gezeichnete Abbildung, die ich in Fig. 5 wiedergab, zeigt
ohne weitere Worte die Richtigkeit dieser Annahme. Man sieht
nicht nur an der Gestaltung des Knochengewebes selber, sondern
auch an der Form und der Richtung der Knochenhöhlen selbst an
dem schwach vergrösserten Uebersichtsbild und bei der halb sche¬
matischen Zeichnung deutlich den Unterschied zwischen der ur¬
sprünglichen gefässarmen Compacta und den gefässreichen Auf¬
lagerungen neugebildeten, gemischt gebauten Knochengewebes.
Diese Bilder kannte Billroth vom Callus her und seine Deu¬
tung, dass es sich hier nicht um degencrirte Corticalsubstanz,
sondern um Osteophytcn handle, muss durchaus als richtig be¬
zeichnet werden.
Sehen wir uns nun die Gefässcanäle eines solchen Knochens
näher an, so finden wir, dass ein Tlicil derselben den Typus der
Hävers’schen Canäle trägt, ein anderer den der Volkmann’schen
Canäle in allen beschriebenen Variirungen. Es ist dies ja auch
nach der Art der Entstehung völlig verständlich. Die Unterschied»*
gegenüber dem normalen, compacten Knochen habe ich oben er¬
wähnt. Von Bedeutung ist es jedenfalls, dass auch hier durch An¬
lagerung von Lamellen um präexistirende Gefässe herum „echte“
durchbohrende Gefässcanäle (nach Pommer) gebildet werden können.
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324
Dr. G. Axhausen,
Beim älteren Callus ebenso wie bei Tumoren und ostitischen
Processen ist der Kalkgehalt des beschriebenen Knochengewebes
als normal anzusehen; wir finden also auch bei den echten Volk-
raann’schen Canälen wie in der normalen Compacta die um¬
grenzenden, durchschnittenen Lamellen bis an das Gefäss heran
vollkommen verkalkt.
AVie nun aber liegen die Dinge beim dystrophischen Knochen?
Untersucht man beim rhachitischen Knochen die Knochenneubildung,
die dem ersten Stadium des Callus entspricht, so findet man ent¬
weder überhaupt nur osteoides Gewebe, oder aber man stösst auf
den ersten Beginn der Kalkablagerung. Ausnahmslos tritt diese
an den Punkten des Knochengewebes auf, die am weitesten ent¬
fernt sind von den gefässhaltigen Markräuraen; so z. B. in der
Mitte der Stellen, an denen die einzelnen Balken zusamraenstossen
oder bei dickeren Balken im Centrum derselben selber. Immer
sieht man bei der zunehmenden Vergrösserung der Balken die A r er-
kalkung vom Centrum nach der Peripherie zu fortschreiten. Bei
eingehendem Studium ist nicht zu verkennen, dass nicht so das
Alter des neugebildeten Knochens maassgebend ist für die Ver¬
kalkung als die obengenannten Beziehungen zu den Gefässen, wenn
auch gewiss beide Momente oft zusammenfallen. Genau das Gleiche
finden wir im zweiten Stadium des Callus. Hier sind die, den
geflechtartig geordneten Knochengewebe des Grundstocks angehörigen
Theile grösstentheils verkalkt. Dagegen sind die aufgelegten La¬
mellen entweder ganz oder zum grösseren Theil unverkalkt; und
auch hier vollzieht sich die A r erkalkung immer zunächst an den
von den Gefässen entferntesten Theilen; ich behalte mir weitere,
hierher gehörige Details für die monographische Bearbeitung des
Themas vor. AVas alle Bilder einheitlich zeigen und was ich ähn¬
lich auch schon bei der osteoplastischen Carcinose feststellen konnte,
ist die örtliche Abhängigkeit der Kalkablagerung von den Gefässen.
Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass die Gefässe einen be¬
stimmenden Einfluss auf die Lokalisirung der Kalkablagerung haben
—- ich werde dies durch eine Reihe von Beispielen illustriren.
Eine gewisse Entfernung von den Gcfässbahnen ist nöthig, um beim
dystrophischen Knochen die Kalkablagerung zustande kommen zu
lassen; die Nähe der Gefässe verzögert dieselbe. So werden ohne
weiteres die zahlreichen Bilder im dystrophischen Knochen ver-
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 325
stündlich, bei denen die unmittelbar am durchbohrenden Gcfäss
liegenden Lamellen in grösserer Breite unverkalkt sind als im
übrigen Bereich des Randsaumes. So erklären sich aber auch
jene eigenartige Bilder, die in der Geschichte der Osteomalacie
und Rhachitis eine grosse principielle Bedeutung gewonnen haben,
weil bei ihnen Pommer, entgegen seinen sonstigen Anschauungen,
das Zustandekommen einer Entkalkung annehmen zu müssen glaubte,
da ihm eine andere Deutung nicht möglich erschien. Ich möchte
bei diesem Punkt wegen seiner principiellen Wichtigkeit mit einigen
Worten verweilen.
Die Bilder, die hier in Frage kommen, stellen sich so dar,
dass zwischen dem Balkenwerk geflechtartig geordneten Knochen¬
gewebes ein Streifen lamellösen Knochens liegt, der vollständig
verkalkt ist. In diesem Streifen findet sich ein „echter“ durch-
Fig. 15.
bohrender Canal, dessen Umgebung in ganzer Ausdehnung des
Balkens unverkalkt ist (vergl. Fig. 15). Unter der Annahme, dass
die „echten“ Volkmann’schen Canäle stets resorbirende Gefässe sind
und dass der Streifen lamellösen Knochens der ursprünglichen Com-
pacta angehört, kann man diese Bilder mit Pommer nicht anders
deuten, als dass hier ein Entkalkungsvorgang, eine Halisterese in
der Umgebung der eingesprossten Gefässe sich abgespielt habe.
Von diesen Stellen giebt Pommer daher an, dass er „sich ge-
nöthigt sah die Annahme einer Kalkberaubung zu acceptiren“; doch
betont er sofort, dass er „diesen Vorgang nur an wenigen Stellen
nachweisen konnte“, so dass die Bedeutung derselben „für die Ent¬
stehung der kalklosen Knochenpartien nur sehr gering ist“.
Man wird von vornherein zugeben müssen, dass diese Auf¬
fassung Pommer’s mancherlei gegen sich hat. Es ist an sich
nicht gerade wahrscheinlich, dass ein biologischer Vorgang wie die
Halisterese sich auf einen so kleinen Raum beschränken sollte, wie
dies von Pommer angenommen wird, während überall sonst am
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326
Dr. G. Axhausen,
Knochen die Annahme einer Halisterese sich als irrthümliche Deu¬
tung erwiesen hat. Es widerspricht unserer logischen Vorstellung,
dass ein regressiver Process, der bei allen sonstigen so ausser¬
ordentlich mannigfaltigen Rückbildungsvorgängen des Knochens ver¬
misst wird, nur in dem verschwindend kleinen Bereich in der Um¬
gebung vereinzelter echter Volkmann’scher Canäle eine Rolle
spielen sollte. Weiter aber muss als höchst auffallend bezeichnet
werden, dass hier, wo das kalklose Knochengewebe seine Ent¬
stehung einem ganz anderen Processe verdankt als an allen anderen
Stellen, trotzdem die gleichen histologischen Bilder resultieren. Man
darf nicht ausser acht lassen, dass dies angeblich durch Halisterese
entstandene kalklose, lamellöse Knochengewebe dem sonstigen, neu¬
gebildeten noch unverkalkten lamellösen Knochengewebe morpho¬
logisch durchaus gleicht, dass ferner die Grenzlinie gegen die Ge-
fässe hin genau die gleiche ist, wie an den echten Yolkmann-
schen Canälen der gewöhnlichen Art und dass schliesslich die
Grenzlinien des kalklosen Gewebes gegen das kalkhaltige histolo¬
gisch genau die gleichen Bilder der „körnig-krümligen Grenzzone“
aufweisen, die wir sonst überall bei der vorschreitenden Verkalkung
ursprünglich kalklosen Knochengewebes finden.
Ist man sich aber darüber klar, dass auch die echten Volk-
mann’schen Canäle persistirende Gefässbahnen darstellen, berück¬
sichtigt man weiter die Thatsache, dass im dystrophischen Knochen
gefässreicher, grösstentheils lamellöser Knochen vom Typus des
gemischt gebauten Knochengewebes, während der Erkrankung ge¬
bildet wird und dass die Nähe der präexistirenden Gcfässe die
Kalkablagerung verzögert, so ist die Deutung auch dieser Bilder auf
einheitlicher Grundlage mit den übrigen leicht zu geben. Der
Unterschied des beschriebenen lamellösen Streifens gegen die nor¬
malen Bilder ist auch Pommer aufgefallen, denn er sagt, dass
man diesen Streifen „am ehesten als die erhalten gebliebenen Reste
der äusseren Rindenschichten“ auffassen könne, „wenngleich der
Umstand, dass er an einzelnen Stellen seiner Innenseite gegen die
kalklose Knochensubstanz hin von keiner deutlich buchtigen Kitt¬
linie begrenzt wird, auffällt und Bedenken erregt“. Es
handelt sich meiner Ansicht nach nicht um Reste ursprünglicher
Compacta, sondern um während der Erkrankung neugebildeten,
lamellösen Knochen und bei der vorschreitenden Verkalkung ist nur
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Ueber die durchbohrenden Getasscanäle des Knochengewebes. 327
der in der anmittelbaren Nähe der persistirenden Gefässe liegende Ab¬
schnitt unverkalkt geblieben. Ich muss nochmals betonen, niemals
habe ich einen Volkmann’schen Canal der beschriebenen Art
(„echter“ Volkmann’scher Canal mit kalklosem Mantel) in den un¬
zweideutigen Resten der alten Compacta gefunden, sondern immer
nur, bei der Osteomalacie ebenso wie bei der Rhachitis, in solchem
Knochengewebe, das sich nach seinem histologischen Aufbau als
zur Zeit des Erkrankungsprocesses und unabhängig von ihm nach
verändertem Typus neugebildetes Knochengewebe erwies.
Mit diesen kurzen Angaben, die ich an anderem Ort weiter
auszuführen gedenke, möchte ich mich hier begnügen. Meine Unter¬
suchungen haben mir jedenfalls die sichere Ueberzeugung gebracht,
dass auch in der Umgebung der Volkmann’schen Canäle der be¬
schriebenen Art das Gesetz, dass es eine Halistcrese im fertigen
Knochen nicht giebt, keineswegs durchbrochen ist, und dass auch
hier das kalklose Knochengewebe wie überall noch unver-
kalktes Knochengewebe darstellt. Hiermit ist diesen Canälen
die principielle Bedeutung genommen, die Pommer ihnen zu¬
schreiben zu müssen glaubte, und sie treten in die Reihe der übrigen
Volkmann’schen Canäle zurück. Und gleichzeitig ist damit dem
dystrophischen Process die Einheitlichkeit wiedergegeben, die durch
die von Pommer zugegebene Einschränkung gefährdet wurde. Es
ist dies der einzige Punkt, in dem ich in der Auffassung der
Rhachitis und Osteomalacie zu dem Forscher in Gegensatz treten
muss, dem wir in allererster Linie unsere Kenntniss der feineren
Histologie dieser Erkrankung verdanken. Nach einem sehr ein¬
gehenden und auf alle übrigen pathologischen Processe des Knochen¬
gewebes ausgedehnten Studium muss ich zunächst an der von mir
präcisirten Auffassung festhalten; eine definitive Entscheidung wird
erst gegeben werden können, wenn von Pommer selber zu meinen
Ausführungen Stellung genommen werden wird. — —
Fasse ich das Ergebniss meiner Untersuchungen über die
Volkmann’schen Canäle noch einmal in den wichtigsten Punkten
zusammen, so ergeben sich die folgenden Schlusssätze:
1. Man findet im menschlichen Knochengewebe neben den be¬
kannten Havers’schen Gefässcanälen, die von einem Mantel con-
centrischer Lamellen umgeben sind, zahlreiche andere Gefässcanäh*.
die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie. schräg resp. quer
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328
Dr. G. Axhausen,
zur Lamellenrichtung verlaufend, die vorhandenen Systeme rück¬
sichtslos durchbohren. Wir nennen diese Canäle, im Gegensatz zu
den Ha versuchen Gefässcanälen, Volkmann’sche Canäle.
2. Was Volk mann in seiner ersten Darstellung beschrieb und
abbildete, sind keine einheitlichen Gebilde. Neben die unter 1. be-
zeichneten Canäle, die mit Hecht seinen Namen weiter tragen sollten,
setzte Volkmann die dicht gedrängten anastomosirenden Gefäss-
canäle, die er bei der tuberculösen Ostitis sah und die vom Callus
her bekannt sind. Sie sind als Ganzes nicht als Volkmann’sche
Canäle zu bezeichnen, sondern stellen eine besonders reiche Zu¬
sammenordnung von Gefässcanälen dar, die theils den Charakter
der Havers’schen, theils den der Volkmann’schen Canäle tragen
und die ihre Entstehung dem Umstand verdanken, dass es sich hier
um neugebildetes, nach dem Typ des gemischt gebauten Knochens
geformtes, wesentlich gefässreicheres Knochengewebe, nicht um die
alte Compacta handelt.
3. Die Yolkmann'schen Canäle selber treten in einigen Ab¬
arten auf:
a) solche, die gar keine Beziehung zu den durchbohrten La¬
mellen aufweisen („echte“ Volkmann’sche Canäle nach Pom¬
mer, s. Fig. 6);
b) bei denen alle oder wenigstens ein Theil der Lamellen sich
in der Nähe der Gefässe gegen das Gefäss zu aufbiegen
(„falsche“ Volkmann’sche Canäle nach Pommer s. Fig. 7):
c) solche, bei denen einzelne der aufbiegenden Lamellen das
Gefäss eine Strecke als dünne Speciallamellen begleiten (s.
Fig. 8).
4. Die Volkmann’schen Gefässcanäle aller drei Abarten finden
sich als integrirender Bestandtheil jedes normalen, menschlichen
Knochens (sowie untersuchten Thierknochens); sie sind besonders
an der normalen Röhrenknochencompaeta überall sichtbar. Sie
bilden hier die capillaren Anastomosen zwischen den längsgestellten
Havers’schen Gefässen, sowie die anastoraotischen Verbindungen
zwischen den Havers’schen Gefässen und den periostalen Gefässen
einerseits und zwischen den Havers’schen Gefässen und den Mark-
gefässen andererseits.
5. Die Volkmann’schen Gefässcanäle des normalen mensch¬
lichen Knochens sind ausnahmslos als persistirende Gefässcanäle
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Ueber die durchbohrenden Gefässcanäle des Knochengewebes. 329
analog den Hävers'sehen Gcfässcanälen anzusehen; es ist auszu-
schliessen, dass es sich bei ihnen um secundär gebildete resor-
birende Gefässcanäle handelt.
6. Da sich in den normalen Verbindungscanälen alle drei Ab¬
arten der Volkmann’schen Canäle finden, ist die Genese für alle
Abarten als gleichartig zu erachten; aus den histologischen Unter¬
scheidungsmerkmalen auf eine verschiedene Genese zu schliessen,
ist nicht angängig.
7. Die beschriebenen Volkmann’schen Canäle finden sich auch
im pathologischen Knochen verschiedener Provenienz und zwar in
den Resten alter Com pacta genau in der Reichlichkeit und Be¬
schaffenheit wie im normalen Knochen. Bei raschem Abbau und
bei intensivem Umbau erfolgt nie eine numerische Zunahme der
Canäle; eine Neubildung solcher Canäle kommt bei der diesen Pro¬
cessen zu Grunde liegenden Resorption nicht in Betracht; die Re¬
sorption erfolgt durch lacunäre Erweiterung der präexistirenden
Gefässcanäle (llavers'seher und Volkmann’scher Canäle).
8. Im pathologischen Knochen (atrophischen, dystrophischen,
ostitischen) erfolgt der Umbau theihveise dem normalen Typ
entsprechend, indem auf die Wandungen der Resorptionsräume
ilacunär erweiterter llavers'seher und Volkmann'scher Canäle»
lamellöser Knochen in concentrischen Lagen abgelagert wird; aber
auch dann findet sich ein Unterschied, indem die Räume w’eiter
werden als in der Norm und die Ausfüllung nur unvollkommen.
Alsdann finden wir die Volkmann’schen Canäle in den erwähnten
3 Abarten in den coneentrisch geschichteten Randräumeu. Sie sind
bei den dystrophischen Processen teilweise von kalklosem Knochen
umgeben.
9. Ein anderer Theil des beim Umbau im pathologischen
Knochen gebildeten Knochengewebes trägt einen anderen Typ. Es
ist dies das theils mehr poröse, theils auch compacte, gemischt
gebaute Knochengewebe, das auf der Aussen- und Innenfläche
der Knochenröhren, aber auch in den grossen Resorptionsräumen
des Innern zur Ablagerung gelangt, und das, auch wenn es völlig
compact geworden ist, sich wesentlich von der normalen C'om-
pacta unterscheidet. Es zeichnet sich durch grösseren Gefäss-
reichthum aus, sowie durch geringe Gleichmässigkeit und eine
regellose Anordnung der Ilavers’schen Systeme und schliesslich
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Dr. G. Axhausen,
dadurch, dass es verbreitete Reste geflechtartig geordneten Knochen¬
gewebes einschliesst, aus dem es sich entwickelt. Die reichlich
vorhandenen, anastomosirenden Gefässcanäle dieses Knochen¬
gewebes bei der tuberculösen Ostitis waren es, die Volkmann in
seiner ersten Arbeit mit den durchbohrenden Gefässcanälen der
normalen Compacta verquickte.
10. Die Gefässcanäle dieses gemischt gebauten Knochen¬
gewebes tragen theils den Charakter der Havers’schen, theils den
der Volkmann’schen Canäle; sie sind in beiden Arten ausnahms¬
los als persistirende Gefässcanäle aufzufassen.
11. Bei den dystrophischen Processen des Knochensystems
findet die Kalkablagerung immer in strenger Abhängigkeit von den
gefässhaltigen Markräumen resp. von den eingeengten Gefäss¬
canälen statt. Sie erfolgt immer in grösster Entfernung von den
Gefässen; die Nähe der Gefässe verhindert resp. verzögert die
Kalkablagerung. So finden sich auch Bilder, in denen an Partien
lamellösen, sonst ganz verkalkten Knochens die „echten“ Yolkmann-
schen Canäle nur in ihrer Umgebung einen kalklosen Mantel auf¬
weisen. Auch für die kalklosen Zonen dieser Bilder, die sich nur
in dem während der Erkrankung neugebildeten, gemischt gebauten
Knochen finden, gilt die Erklärung, dass es sich um ein durch
die Nähe der Gefässcanäle bedingtes Ausbleiben der Kalkablagerung
handelt, nicht um eine Entkalkung, wie Pommer für diese Bilder
— und nur für diese — annahm.
12. Alle Gefässcanäle des normalen und patho¬
logischen Knochens, die den Charakter der Volkmann-
schen Canäle tragen, stellen genau wie die Havers’schen
Gefässe durch Knochenanlagerung eingeschlossene prä-
existirende Gefässbahnen dar. Die Existenz resorbirender,
in den fertigen compacten Knochen einwachsender Ge¬
fässe muss ich nach meinen Untersuchungen in Abrede
stellen.
13. Eine Entkalkung fertigen Knochens, eine Hali-
sterese findet bei Rhachitis und Osteomalacie auch in der
Umgebung der Volkmann’schen Canäle nicht statt. Alles
kalklose Knochengewebe im kranken Knochen ist aus¬
nahmslos noch unvcrkalktes, nicht entkalktes Knochen¬
gewebe.
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Kritisches und Experimentelles zur Genese der Arthritis deformans. 331
14. Im menschlichen Knochengewebe giebt es nur
eine Art des Abbaues: die lacunäre Arrosion. Weder die
Annahme eines halisteretischen Schwundes, noch auch
die einer Resorption durch Vascularisation, durch resor-
birende Gefässcanäle (Volkmann’sche Canäle) kann ich
nach meinen Untersuchungen als berechtigt anerkennen.
Literatur.
1. Kassowitz, Die normale Ossification etc. Med. Jahrb. 1879. S. 405.
2. Pommer, Untersuchungen über Osteomalacie und Rhachitis. Leipzig 1885.
3. Busch, Experim. Unters, über Ostitis und Nekrose. Dieses Archiv.
Bd. 20. S. 244.
4. v. Muralt, Ueber verschiedene Formen der Knochenresorption nach Meta¬
stasen maligner Tumoren. Zürich 1901. Inaug.-Dissert.
5. Axhausen, Ueber die Ursachen und den Ablauf des Knochenumbaus im
osteoplastischen Carcinom. Virchow’s Archiv. 1905. S. 358.
6. Volkmann, Zur Histologie der Caries und Ostitis. Dieses Archiv.
Bd. 4. S. 451.
7. Rindfleisch, Lehrbuch der pathologischen Gewebelehre.
8. Soloweitschick, Beiträge zur Lehre von der syphilitischen Schädel-
affection. Vircbow’s Archiv. Bd. 48. S. 210.
9. Lossen, Ueber Rückbildung des Callus. Virch. Arch. Bd. 55. S. 62.
10. M. B. Schmidt, Allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie der
Knochen. Lubarsch’ u. Ostertags Jahresber. 1897. S. 531.
11. Billroth, A., Beobachtungen über das normale Knochenwachsthum etc.
Dieses Archiv. Bd. 6. S. 712.
12. Schwalbe, Ueber das postembryonale Knochenwachsthum. Sitzungsber.
d. Jenaischen Gpsellsch. f. Med. u. Naturwissensch. 1877. S. XV.
4. Kritisches und Experimentelles
zur Genese der Arthritis deformans, insbesondere
über die Bedeutung der aseptischen Knochen-
und Knorpelnekrose.
Das klinisch und anatomisch so markante Bild der chronischen
deformirenden Arthritis hat von jeher das Interesse der Forscher
in hohem Maasse in Anspruch genommen. Dieses Interesse ist auch
nicht geschmälert worden, seitdem wir auf Grund sorgfältigere
klinischer Untersuchungen und mit Unterstützung genauerer rönt-
Arehi? für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2. 99
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332
Dr. G. Axhausen,
genologischer und histologischer Befunde das Krankheitsbild schärfer
zu umgrenzen und besonders gegen die chronischen Gelenkent¬
zündungen anderer Art abzugrenzen gelernt haben.
Ich muss es mir versagen, auf die charakteristischen radio¬
graphischen Befunde und auf die hervorstechenden histologischen
Veränderungen, die sich vorzugsweise am Knochen und Knorpel
abspielen, näher einzugehen. Ich darf ihre Kenntniss in den Grund¬
zügen als bekannt voraussetzen.
Durch alle klinischen Darstellungen, durch alle röntgeno¬
logischen und histologischen Untersuchungen zieht sich wie ein
rother Faden die Frage nach der Ursache der eigenartigen Pro-
cesse, die sich an den Gelenkenden abspielen. Mannigfach sind
die Versuche, sich die histologischen Vorgänge und die zugrunde
liegenden pathologisch-anatomischen Gesetze verständlich zu machen.
Ich will von der Aufzählung aller dieser Anschauungen hier ab-
sehen. Fast ausnahmslos begnügten sich die Untersucher damit,
die Vorgänge auf eine allgemeinere, pathologisch-anatomisch be¬
kannte Basis zu stellen; sie scheuten vor dem Versuch, in das
letzte Ende des Processes einzudringen, offenkundig zurück. Erst
in neuester Zeit ist in dieser Richtung ein entscheidender Vorstoss
gewagt worden. Es ist dies in einer Reihe von Arbeiten ge¬
schehen, die Wollenberg (1—4) über dieses Thema veröffentlicht
hat, und die ihn schliesslich zur Aufstellung einer sehr eingehend
erörterten und ausführlich begründeten Theorie geführt haben, die
er in einer grösseren zusammenfassenden Arbeit über die Aetio-
logie der Arthritis deformans niedergelegt hat.
Da es. sich hier um grundlegende pathologisch-anatomische
Anschauungen über eine ausserordentlich häufige und wichtige Er¬
krankung handelt, muss uns vom Autor die Berechtigung, ja die
Nothwendigkeit einer kritischen Nachprüfung zugestanden werden.
Vielleicht, dass es gelingt, auf dem Wege der Kritik und Anti¬
kritik das Richtige zu finden. Diesem Zwecke möchte ich an
dieser Stelle, gestützt auf langjähriges eingehendes Studium knochen¬
pathologischer Bilder überhaupt und auf Untersuchungen der vor¬
liegenden Frage im Speciellen einige Worte widmen.
In einem Punkte wird man den Ausführungen Wollenberg’s
ohne Weiteres zustimmen müssen: Die Arthritis deformans ist
keine klipisch einheitliche Erkrankung. Sie ist in ausserordentlich
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Kritisches and Experimentelles zur Genese der Arthritis deformans. 333
vielen Fällen eine secondäre Erkrankung, die auf eine anderweitige
primäre Gelenkerkrankungen sich aufpfropft. So haben wir die Ar¬
thritis deformans nach Trauma, nach Entzündung der verschiedensten
Art, ja nach Tuberculose und Syphilis der Gelenke; aber, je mehr
die Arthritis deformans sich entwickelt, desto mehr drängt sie das
vorangegangene Leiden in den Hintergrund. Daneben haben wir
jedoch eine Gruppe von Fällen, in denen der Nachweis einer pri¬
mären Erkrankung nicht zu führen ist. Es ist dies die wohl-
bekannte sogen, spontane oder auch genuine Arthritis de¬
formans.
Wie nun aber ist das Zustandekommen der charakteristischen
Veränderungen das eine oder das andere Mal zu verstehen? Wie
können die verschiedenen Ursachen die gleichen histologischen
Folgeerscheinungen hervorrufen, die wir ein anderes Mal wiederum
ohne nachweisbare Ursache auftreten sehen?
Nach Wollenberg liegt die Ursache für die Veränderungen
im Gefässsystem; er begründet eine vasculäre Theorie der Ar¬
thritis deformans.
„Länger anhaltende locale Missverhältnisse zwischen arterieller
Blutzufuhr und venösem Abfluss sollen es sein, die“ um Wollen-
berg’s Worte zu gebrauchen, „die verschiedenen regressiven und
progressiven Erscheinungen, welche das anatomische Bild der Ar¬
thritis deformans charakterisiren, auslösen, sei es, dass eine Er¬
schwerung oder Behinderung der arteriellen Zufuhr locale Unter¬
ernährungen setzt, resp. die begleitende venöse Stauung eine Ueber-
ernährung bedingt, oder sei es, dass Behinderung des venösen Ab¬
flusses mit der durch sie veranlassten activen Congestion ähnliche
Wirkungen auslöst“.
Schon die Gründe, die AVollenberg als Beweis für das Vor¬
handensein von Circulationsstürungen geltend macht, entbehren
durchaus der Bündigkeit.
Die positive Grundlage für die Annahme der Hyperämie findet
Wollenberg in der Anwesenheit verdickter Gefässe, die ich gewiss
nicht bestreiten will. Sie finden sich aber, wie Wollenberg zu-
giebt, am ausgesprochensten in alten fibrösen Herden, so dass
keineswegs von der Hand zu weisen ist, dass es sich um spätere
secundäre Veränderungen der Gefässwandung handelt. Weiter findet
Wellenberg strotzend gefüllte Gefässe und herdw T eise Blutungen.
22 *
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Dr. G. Axhausen,
Die Hyperämie ist als Begleiterscheinung der stets vorhandenen
Proliferationsvorgänge denkbar; sie beweist keine Stauungs¬
hyperämie, die zur Proliferation führt. Die Blutungen andererseits
können bei der auch von Wollenberg zugegebenen Anwesenheit von
Nekrosen durchaus nicht wundernehmen. Bei meinen Unter¬
suchungen über die osteoplastische Carcinose (5) habe ich auf die
engen Beziehungen zwischen den Blutungen einerseits und den
herdförmigen Nekrosen andererseits ausführlich hingewiesen.
Und wenn Wollenberg bei der hohen Bewerthung dieser
supponirten Stauungshyperämie in ihrer Wirkung auf das Knochen¬
system sich auf die Angaben v. Recklinghausen’s beruft, der
ja auch die massenhafte Knochenneubildung bei der osteoplastischen
Carcinose als Folgeerscheinung einer echten Stauungshyperämie be¬
trachtet, so muss dem entgegengehalten werden, dass diese Angaben
v. Recklinghausen’s nicht nur nicht allgemein anerkannt, sondern
im Gegentheil in letzter Zeit vielfach energisch bekämpft worden
sind. Ich habe die Bedingungen der Knochenneubildung und des
Knochenurabaues im osteoplastischen Carcinom zum Gegenstand
eigener specieller Untersuchungen gemacht. Ich musste feststellen,
dass die diesbezüglichen Angaben v. Recklinghausen’s nicht
zutreffend sein können, dass vielmehr eine Fülle von histologischen
Befunden gegen die Annahme der Stauungshyperämie als des ur¬
sächlichen Momentes für die massenhafte Knochenneubildung
spricht (Yirch. Archiv. Bd. 195. S. 399 ff.). Ich muss wegen
der Details auf diese Arbeit (5) verweisen. Circulationsstörungen
kommen gewiss im Verlauf der Knochencarcinose vor. Dass sie
den Charakter der Stauungshyperämie tragen, ist durch nichts er¬
wiesen. Ausgeschlossen ist es jedenfalls, dass allein eine an¬
dauernde Stauungshyperämie so elementare Umwälzungen des
Knochensystems und speciell eine so enorme Knochenneubildung
zur Folge haben könnte, wie wir sie im osteoplastischen Carcinom
beobachten.
Es stehen diese Anschauungen v. Recklinghausen’s im
engsten Zusammenhang mit seiner Lehre von der Bedeutung des
Gefässystems für die pathologischen Vorgänge am Knochen im
Allgemeinen, ganz besonders für die der Osteomalacie und der
Ostitis deforraans zu Grunde liegenden Processe. Einen Grund¬
pfeiler dieser Lehre bilden die Vorstellungen, die v. Reckling-
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Kritisches und Experimentelles zur Genese der Arthritis deformans. 335
hausen über die Natur des kalklosen Knochens im patholo¬
gischen Knochen sich gebildet hat, der zum Theil durch Haliste-
rese, durch Kalkberaubung entstanden sein soll. Durch eingehende
Untersuchungen (6, 7) glaube ich den Beweis erbracht zu haben,
dass auch diese Anschauungen, die sich auf die Deutung seiner
„Gitter figuren“ gründen, nicht zutreffend sein können. Ich verweise
auf die vorausgehende Arbeit über die Halisterese.
Doch nicht auf die Annahme einer solchen Stauungshypcrämie
bei der Arthritis deformans an sich will ich das Schwergewicht in
den folgenden Ausführungen legen, sondern vielmehr auf die eigen¬
artigen Vorstellungen, die Wollenberg über die Folgen der seiner
Ansicht nach dadurch bedingten localen „Unter- und Ueberernäh-
rung“ auf den Knochen gewonnen hat. Zuerst die Wirkung auf
den Knochen selbst.
Es soll sich im unterernährten Knochen „der so sehr meta-
plasirungsfähige Knochen auf metaplastischem Wege zu einem Ge¬
webe zurückentwickeln, welches geringere Ansprüche an die Ver¬
sorgung durch Blutgefässe stellt“, z. B. zu Knorpelgewebe oder
auch zu Bindegewebe. Auf diesem Wege sollen auch die Knorpel¬
ansammlungen innerhalb des Knochens, die Ziegler bereits be¬
schrieben und als Enchondrome bezeichnet hatte, entstehen; in
gleicher Weise auch die fibrösen Herde. Die an solchen Knorpel¬
herden nie fehlenden Wucherungsvorgänge, die mit der Entstehung
des Knorpels auf dem Wege eines Rückbildungsvorganges nicht
recht vereinbar sind, erklärt sich Wollenberg dadurch, dass
„die Ernährung für ein bestimmtes Quantum Knochen zwar nicht
ausreichte“ — daher die Rückbildung — „für das gleiche Quan¬
tum Knorpel aber sogar überreichlich ist“ — daher die Prolife¬
ration. Die gleiche Wirkung der Proliferation des Knorpels soll
nun aber auch die Hyperämie hervorrufen können, die in der Um¬
gebung des unterernährten Bezirks als collateraie Hyperämie auf-
treten soll; sie soll „einen Theil des unterernährten Gewebes der
Ernährung zurückgewinnen, die schon vorhandenen regressiven Vor¬
gänge zum Stillstand bringen, den schon in Knorpel umgewandelten
Knochen zur Proliferation der Knorpelzellen anregen“; sie soll auch
wieder den metaplastisch aus Knochen gebildeten Knorpel zu
Knochen zurückverwandeln können, ja sie soll sogar zu einer di-
recten Proliferation der Knochenzellen aus erhalten gebliebenen
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336
Dr. G. Axhausen,
Knochenbälkehen den Anstoss geben können. Aber die Hyper¬
ämie gräbt sich nach Wollenberg ihr eigenes Grab. „Um die
Hyperämie bewältigen zu können, tritt eine Wandverdickung der
Arterien resp. der Capillaren ein, mit der aber stets eine Abnahme
der Elasticität Hand in Hand geht. So führt die ursprüngliche
Hyperämie schliesslich zur Insufficienz der localen Gefässbezirke.“
Soviel über die Wirkung auf den Knochen!
Am Knorpel sollen neben Zerfall auch ausgedehnte Prolife¬
rationsvorgänge Vorhandensein. Letztere erklärt sich Wollen b erg
nach Ziegler durch die Verflüssigung der Gruridsubstanz und das
dadurch bedingte Freiwerden von Nahrungsraaterial.
Alle diese Anschauungen geben genugsam Veranlassung zur
Kritik. Die pathologisch-anatomischen Vorstellungen Wollenberg’s
über die Vorgänge innerhalb des Knochens schliessen sich voll¬
kommen an die Ausführungen Ziegler’s an, die er 1877 in seiner
grundlegenden Arbeit über die Arthritis deformans in Virchow’s
Archiv niedergelegt hat. Aber diese Anschauungen sind zum grossen
Theil heut zu Tage nicht mehr haltbar.
Es ist unrichtig, den Knochen als „sehr mctaplasirungsfähig“
zu bezeichnen und diesem Gewebe ein leichtes directes Umwandeln
in Knorpel resp. Bindegewebe zu vindiciren. Ganz das Gegentheil
ist der Fall! Wohl wissen wir, dass Bindegewebe und vielleicht
auch Knorpelgewebe direct raetaplastisch durch Aufnahme von or¬
ganischer Zwischensubstanz und Einlagerung von Kalksalzen auf
dem Wege der Gewebsmetaplasie zu Knochengewebe sich um¬
wandeln kann; ich habe typische Bilder dieser Art in meiner Arbeit
über die osteoplastische Carcinose (5) eingehend beschrieben und
zum Theil zeichnerisch wiedergeben lassen. Nirgends aber in
der ganzen Knochenpathologie sind Befunde vorhanden,
die den gegentheiligen Weg der Metaplasie sicherlegten.
Eine solche Metaplasie setzt, abgesehen von allem Anderen, auch
wieder eine Resorption der Kalksalze, eine Art der Halistcrese,
der Kalkberaubung voraus. Auch hier kann dem Körper ebenso¬
wenig wie bei der Bildung des kalklosen Knochengewebes diese
Fähigkeit zuerkannt werden. Wer noch daran zweifelt, dass dies
auch für die Arthritis deformans zutrifft, möge die der Arbeit
Ziegler’s beigefügten Zeichnungen betrachten und mit den Text¬
worten vergleichen.
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Kritisches und Experimentelles zur Genese der Arthritis deformans. 337
Was Ziegler als den Zerfall des Knochens in Bindegewebe
beschreibt und abbildet, ist etwas ganz Anderes, wie jetzt jeder
Kenner der Callusbilder sofort sieht. Es ist die neoplastische
Knochenbildung. Ziegler sagt: „man sieht nämlich, wie die
Knochencanälchen sich wenigstens zum Theil erweitern, so dass
dadurch der Knochen mehr und mehr in kleine Inseln zerlegt wird.“
Die Anschauungen über die Erweiterung der Knochencanälchen und
Knochenhöhlen, die Lehre von der Canalisation des Knochens ist
nach zahlreichen Untersuchungen als beseitigt anzusehen (vergl. die
vorausgehende Arbeit über die Volkmann’schen Canäle). Das Bild,
das Ziegler dieser Beschreibung zu Grunde legt, ist der typische
Befund, wenn die neugebildeten Bindegewebsfibrillen sich in dichten
Bündeln zur Bildung des geflechtartig geordneten Knochengewebes
Zusammenlegen; es entstehen dann die als Interglobulärräume be¬
kannten grossen Knochenzellenhöhlen. Bezeichnend auch ist es,
dass Ziegler hinzufügt: „Wo eine derartige faserige Metaplasie
des Knochens vorkommt, zeigt meistens das Knochenmark eine
fibröse Beschaffenheit.“ Gewiss, weil eben der Knochen durch die
Faserbildung der Markzellen in letzter Linie entsteht.
Und auch die Bilder, die Ziegler von der Umwandlung des
Knochens zu Knorpel giebt, sind typische Befunde in jedem Callus-
präparat: Knorpelgewebe inmitten jungen osteoiden Gewebes. Dass
dieser Knorpel Ziegler’s unmöglich metaplastisch aus Spongiosa¬
balken hervorgegangen sein kann, beweist allein schon der emi¬
nente Zellreichthum, der sich überall in dem Knorpel findet und
der die Zellzahl des lamellösen Knochens um ein Vielfaches über¬
trifft. Wenn also dieser Knorpel aus lamellösem Knochen hervor¬
gegangen sein sollte, so müsste gleichzeitig eine Zellwucherung des
sich rückbildenden Knochens vorhanden gewesen sein — eine An¬
nahme, die sofort als unzutreffend zurückgewiesen werden muss.
Auch sonst enthalten die Vorstellungen Wollenberg’s viel
des Willkürlichen. Es würde mich zu weit führen, darauf im Ein¬
zelnen einzugehen. Wenn Wollenberg der Hyperämie aber gar
die Fähigkeit zuschreibt, die Knochenzellen des lamellösen Knochens
zu directer Proliferation zu veranlassen, so entspricht auch
diese Anschauung nicht dem jetzigen Stande der Knochenpathologie.
Die Knochenzellen selber sind nicht proliferationsfähig, das ist das
Resultat langjähriger minutiöser Untersuchungen, und daran darf
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338
Dr. G. Axhausen,
nicht wieder gerüttelt werden. Auch die Vorstellung, nach der
sich die Hyperämie so zu sagen ihr eigenes Grab gräbt, dass
nämlich eine Arterie, die stärker wird, um höheren Anforderungen
zu genügen, durch die hierzu nöthige Verdickung der Wand schliess¬
lich wieder functionell unbrauchbar wird — auch diese Vorstellung
will mir nicht in den Sinn. Durch nichts weiterhin wird bewiesen
oder auch nur wahrscheinlich gemacht, dass das durch Zerfall von
Knorpelgewebe freiwerdende Nahrungsmaterial andere Knorpelzellen
zur Wucherung veranlassen kann.
Allen diesen Vorstellungen liegen meines Erachtens willkürliche
Deutungen zu Grunde. Aehnlich verhält es sich mit den Angaben,
die Wollenberg über die Beziehungen der Vorgänge innerhalb des
Knochens zu den supponirten Circulationsstörungen macht.
Es ist gewiss ein reizvoller Gedanke, dass das Knochengewebe,
wenn die Ernährung knapp wird, sich flugs in das anspruchslosere
Knorpelgewebe umwandelt und später, wenn die Zeiten besser
werden, sich rasch wieder in Knochengewebe verwandelt — so
einfach liegen die Dinge in Wirklichkeit aber nicht. Das sind
Vorstellungen, die sichtlich zur Unterstützung einer Theorie zurecht¬
gemacht sind.
Als völlig missglückt muss weiter der Versuch Wollenberg’s
angesehen werden, für seine vasculäre Theorie eine experimentelle
Grundlage zu schaffen.
Wollenberg suchte die von ihm als Ursache der Arthritis
deformans angesehene Circulationsstörung experimentell hervorzu¬
rufen und damit die Arthritis deformans experimentell zu erzeugen.
Er umnähte die Patella von Versuchstieren ringsum mit einer Reihe
von Seidenknopfnähten, nachdem die Haut an der Vorderfläche abge¬
trennt war. Seinen diesbezüglichen Mittheilungen sind die Ergeb¬
nisse an einem Hunde zu Grunde gelegt, bei dem nach Y 2 Jahren
umfangreiche Knochenwuchcrungen vom Rande der Patella aus¬
gehend, nach oben und unten ausstrahlend, röntgenologisch und
histologisch nachgewiesen werden konnten. Ich habe bereits in
einer kurzen Arbeit (8) über die juvenile Arthritis deformans darauf
hingewiesen, dass Wollenberg bei seinen Versuchen einen wichtigen
Punkt übersehen hat. Werden bei seiner Versuchsanordnung wirk¬
lich alle zur Patella führenden Gewebspartien durch die circulären
Knopfnähte gefasst, so ist die Patella ganz ausser Ernährung ge-
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Kritisches und Experimentelles zur Genese der Arthritis deformans. 339
setzt und sie muss sich dann notwendiger Weise genau so ver¬
halten, wie eine autoplastisch implantirte Patella. Dann aber ist die
mächtige periostale Wucherung wohl zu verstehen. Denn nach den
Gesetzen der freien Knochentransplantation muss in diesem Falle
das Knochengewebe selber absterben, während das Periost am Leben
bleibt und mächtig Knochen producirt, der sich theils dem todten
Knochen als Osteophyt auf lagert, theils ihn durch wuchernd sub-
stituirt. Und nicht nur das Röntgenbild, das Wollenberg beigiebt,
spricht für diese Auffassung des Processes in dem einen von ihm
genauer beschriebenen Falle, sondern auch die Photographie des
Patellardurchschnitts, die das typische Netz des geflechtartig ge¬
ordneten, also neugebildeten Knochens darstellt, mit den Wuche¬
rungszonen ringsherum, und schliesslich auch manches aus der Be¬
schreibung des mikroskopischen Befundes.
Um nun den Beweis zu erbringen, dass mein Einwurf und
meine Deutung des Wollenberg’schen Befundes richtig ist, habe
ich die Experimente nachgemacht und meine ersten Versuche von
Herrn Dr. Pels aus Baltimore fortsetzen lassen. Diese Unter¬
suchungen haben meine Annahme vollauf bestätigt.
In den 12 Versuchen, die für die Beurtheilung in Betracht
kamen, ist 8 mal eine Veränderung an der Patella weder makro¬
skopisch, noch mikroskopisch vorhanden gewesen; man muss da¬
nach annehmen, dass doch zwischen den Nähten noch etwas Ge¬
webe übrig geblieben ist, das einen geringen Blutzutritt erlaubte.
Nichts von Knochen- oder Knorpel Wucherung ist sichtbar; auch
von einer Hyperämie oder von einer Stauung ist keine Rede. Die
Gelenke sind eben einfach normal.
In den anderen Fällen konnte ich eine totale oder partielle
Nekrose der patellaren Spongiosa nachweisen, und hier fanden sich
auch sofort die erwähnten Veränderungen: deutliche periostale
Knochenneubildung, die theils zu Auflagerungen, zu Rand-Osteo-
phyten verschiedener Mächtigkeit geführt hatte, theils in den nekro¬
tischen Knochen einbrechend in voller Thätigkeit war, diesen durch
lebenden zu substituiren. Die Bilder gleichen aufs Haar denen,
die ich von der freien Knochenüberpflanzung her zur Genüge kenne.
Hieraus geht hervor, dass der Versuch Wollenberg’s als experi¬
mentelle Stütze für die vasculäre Theorie der Arthritis deformans
nicht in Betracht kommen kann.
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Dr. G. Axhausen,
Die vasculäre Theorie Wollenberg’s kann zur Zeit noch nicht
als genügend begründet angesehen werden.
Ich möchte demgegenüber mit einigen Worten auf gewisse,
von anderer Seite nur nebenbei erwähnte Detailbefunde hinweisen,
denen ich nach anderweitigen Erfahrungen aus der Knochenpatho¬
logie eine grössere Bedeutung zuzuschreiben geneigt bin, als dies
bislang geschehen ist. Ich meine die an den kranken Gelenkenden
histologisch festzustellenden Knochen- und Knorpelnekrosen.
Bei meinen Versuchen über die Knochenüberpflanzung hat sich
mir immer wieder die Frage aufgedrängt: Was veranlasst eigentlich
das übertragene Periost zu seiner mächtigen knochenbildenden
Thätigkeit, die nicht eher ruht, bis auch der dickste Knochen von
neugebildetem Knochengewebe umhüllt, durchdrungen, ersetzt ist.
Wenn das Periost sammt dem Knochen am Platz geblieben wäre,
von dem es entnommen ist, hätte es in seiner Ruhe verharrt. Der
traumatische Reiz allein kann es nicht sein; denn wir wissen, dass
das allein überpflanzte Periost nur wenig Knochen bildet, und dass
diese Knochenbildung quantitativ in gar keinem Verhältniss steht
zu der enormen Menge, die bei der freien Knochenübertragung von
dem deckenden Periost producirt wird. Auch die Annahme, dass
die Anwesenheit von Knochengewebe als Nährmaterial es ist, die
die Massenproduction hervorruft, ist unzutreffend. Wenn wir frisch
überpflanztes Periost um macerirten Knochen herumlegen und ihm so
Knochenbildungsmaterial schaffen, unterscheiden sich die Bilder kaum
von den Befunden bei der isolirten Periostüberpflanzung. Nein, es
muss der organische Zusammenhang des lebenden Periosts
mit dem von ihm nutritiv abhängigen, nunmehr abge¬
storbenen Knochen sein, der den Reiz für die enorme
Knochenneubildung abgiebt; es muss mit anderen Worten die
Knochenneubildung die Wirkung der aseptischen Knochen¬
nekrose auf die umgebenden ossificationsfähigen Ge¬
webe sein.
Wie überall im Körper der Organismus bestrebt ist, abge¬
storbenes Gewebe — bei Ausschluss von Infection — durch
lebendes zu ersetzen, so auch beim Knochen; in erster Linie ist
das so wucherungsfähige Periost dazu berufen, den Ersatz zu über¬
nehmen, und cs kann naturgemäss bei seiner Wucherung seine
knochenbildende Natur nicht verleugnen. Die aseptische Knochen-
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Kritisches und Experimentelles zur Genese der Arthritis deformans. 341
nekrose ist das Hauptmoment, das den Reiz für die Thätigkeit
der knochenbildenden Organe abgiebt, und diese kommen nicht eher
zur Ruhe, bis alles todte Knochengewebe beseitigt ist, worüber
gewiss in manchen Fällen lange Jahre vergehen können.
Durch diese Thatsache werden manche Beobachtungen klar,
die bislang schwer oder garnicht verständlich waren. Ich erinnere
an die alten Versuche von Julius Wolff, deren Ergebnisse ihm
selber paradox erschienen.
Er stellte fest, - dass man bei der autoplastischen Transplan¬
tation von periostgedeckten Tibiastücken in den Fällen, in denen
man einen periostalen Stiel erhielt, viel weniger Knochenneubildung
fand, als wenn man die letzte ernährende Brücke des überpflanzten
Knochens ebenfalls noch durchtrennte, obwohl doch die Ernährungs¬
verhältnisse des deckenden Periosts im ersteren Falle viel günstiger
waren als im letzteren. Die Erklärung dieser Versuche, deren
Richtigkeit ich bestätigen kann, liegt darin, dass im zweiten Falle
eine totale Nekrose des überpflanzten Knochens eintritt und so
ein grosser Reiz zur Knochenneubildung vorhanden ist, während
die Nekrose im ersten Falle nur einen Theil des Knochens ein¬
nimmt. So erklären sich auch die Befunde Barth’s, der fest¬
stellte, dass bei der Haut-Periost-Knochenlappenplastik die perio¬
stale Thätigkeit äusserst gering ist — eben weil bei dieser Technik
der Knochen zum grössten Theil am Leben bleibt. Schon diese
Thatsache zeigt die Ueberlegenheit der freien Knochentransplanta¬
tion bei der Deckung umfangreicher Schädeldefecte gegenüber der
Haut-Periost-Knochenplastik, wenn es darauf ankommt, eine wirk¬
lich dicke, mechanisch leistungsfähige Deckung zu gewinnen. Ich
möchte diese Thatsache, die ich an Erfahrungen am Menschen be¬
stätigt fand, hier nebenbei betonen.
Diese Mehrarbeit des deckenden Periostes bei der freien
Knochentransplantation gegenüber der gestielten ist aber selbstver¬
ständlich nur so lange vorhanden, als das wichtige Moment der
Function nicht in Betracht kommt — so bei der experimentellen
Implantation in Weichtheile, so auch bei der Schädeldefectdeekung.
Tritt der Functionsreiz in Wirksamkeit, so liegen die Dinge um¬
gekehrt. Während nämlich die volle Arbeitsleistung des deckenden
Periostes bei der freien Knochentransplantation zuerst dazu ver¬
wendet wird, den nekrotischen Knochen zu substituiren, fällt bei
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Dr. G. Axhausen,
der gestielten Knochentransplantation diese Aufgabe ausser an den
Randpartien fort, und das Periost ist frühzeitig frei zur Herstellung
des für die Function nöthigen Dickenwachsthums. So ist von
diesem Gesichtspunkte aus zweifellos bei den Continuitäts-
defecten der Röhrenknochen die gestielte Knochenplastik überlegen.
Technische Schwierigkeiten sind es, die wiederum diesen
Vortheil in der Regel illusorisch machen. In einer jüngst er¬
schienenen Arbeit Codivilla’s finde ich eine werthvolle Bestätigung
dieser Erwägungen.
Die aseptische Knochennekrose ist in ihrer Häufig¬
keit und ihrer Bedeutung für die Knochenpathologie ganz
und gar, und sehr zu Unrecht vernachlässigt worden. Wir
finden nicht nur in chirurgischen Werken, sondern auch in patho¬
logisch-anatomischen Lehrbüchern die Knochennekrose überhaupt
schlankweg mit der inficirten und zur Sequestration führenden Nekrose
identificirt. So heisst es im Lehrbuch Kaufmann’s: „Die Nekrose
des Knochens ist der locale Tod eines Knochentheils. Das in Folge
localer Ernährungsstörung abgestorbene Stück, Sequester, wird
durch eine reactive Entzündung (Eiterung und Granulationsbildung)
gegen das lebende Gewebe abgegrenzt, demarkirt“.
Und doch ist diese Identificirung keineswegs gerechtfertigt.
Das geht schon aus der unwiderleglich bewiesenen Thatsache her¬
vor, dass das transplantirte absterbende Knochengewebe bei ge¬
linden, umschriebenen Infectionen einer partiellen, quantitativ
oft nur unbedeutenden Sequestrirung fähig ist, während der
Haupttheil erhalten bleibt — trotz seiner Nekrose — und von dem
deckenden überlebenden Periost substituirt wird. Durch nichts
wird besser der Unterschied zwischen aseptischer und inficirter
Knochennekrose ad oculos demonstrirt. Ich habe solche Befunde
zuerst am Thier (U) und dann am Menschen (10) einwandsfrei
histologisch feststellen können. Ja, selbst bei der inficirten Nekrose
ist der nekrotische Bezirk keineswegs mit dem späteren Sequester
identisch. Wie ich schon früher aus Analogieschlüssen und aus
theoretischen Erwägungen nahe legen konnte, und wie ich seitdem
an verschiedenartigem Material (chron. Osteomyelitis, Frostgangrän,
Amputationsstümpfe etc.) histologisch erweisen konnte, wird stets
ein nicht unwesentlicher Theil des nekrotischen Knochens dem
Körper erhalten und allmählich von der Umgebung substituirt; die
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Kritisches und Experimentelles zur Genese der Arthritis deformans. 343
Demarcation vollzieht sich keineswegs an der Grenze zwischen
lebendem und todtem Knochen, sondern innerhalb des todten Ab¬
schnittes. Hiernach liegt die Annahme nahe, dass bei kleinen
Nekrosen trotz Infection der ganze nekrotische Bezirk erhalten
und substituirt werden kann, so dass es trotz der Nekrose über¬
haupt nicht zur Demarcation und Scquestrirung kommt. Diese
Annahme würde Erfahrungen erklären, die jedem chirurgischen
Praktiker geläufig sind, und die in der alten Chirurgie zu der An¬
nahme einer Exfoliatio insensibilis geführt haben.
Sehr schön zeigt sich der Unterschied zwischen der aseptischen
und der inficirten Knochennekrose in den bekannten experimentellen
Studien Busch’s über die acute Osteomyelitis, wenn auch diese That-
sachc Busch selber nicht zum Bewusstsein gelangte. Busch tödtete
durch elektrisch glühend gemachten Draht das Markgewebe eines
Röhrenknochens ab und studirte die verschiedenen Folgezustände.
Unter seinen vier Stadien befand sich eins, das erste, bei deir. es
nicht zur Scquestrirung kam, während bei den anderen Sequester
verschiedener Ausdehnung entstanden. Trotzdem wurde die Textur
des Knochens auch in diesem ersten Stadium, das er „Ostitis ohne
Nekrose“ nannte, sehr verändert. Massenhafter periostaler und
myelogener Callus trat auf, und die Compacta wurde in poröses
Knochengewebe umgewandelt. In dem letzteren sah Busch nun
trotz des doch offenkundigen Abbaues die glatten Ränder der
grossen, neugebildeten Räume — natürlich neben anderen, lacu-
nären Rändern. Danach nahm Busch an. dass zum Theil die
Resorption auch ohne Bildung von Lacunen vor sieh gehen müsse:
daher sein Ausdruck der „glatten Resorption“. Den ganzen Vor¬
gang nannte Busch, da er in der Vorstellung der Identität von
Knochennekrose und Sequester befangen war, Ostitis ohne Ne¬
krose. In Wirklichkeit hatte er es aber hierbei mit den Folgezuständen
der aseptischen Knochennekrose zu thun, die zu der Anlage¬
rung von neugebildetem Knochengewebe vom Periost und Mark aus
auf den todten Knochen und zum inneren Ersatz des todten
durch lebenden Knochen geführt hatte — genau entsprechend den
Vorgängen, die wir von der Knochentransplantation genugsam
kennen. Was Busch als „glatte“ Resorptionsflächen ansah, waren
in Wirklichkeit die neugebildeten, wandständig auf die Wandungen
der in den nekrotischen Knochen hineingefressenen Resorptions-
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Dr. G. Axhausen,
räume abgelagerten Appositionssäume. Hieraus ergiebt sich,
wie ich nebenbei bemerken möchte, die Nothwendigkeit, den Begriff
der „glatten Resorption“ ein für alle mal fallen zu lassen.
Von der Verbreitung der einfachen oder aseptischen Knochen¬
nekrose macht man sich allgemein zur Zeit kaum eine richtige
Vorstellung. Bei jeder Fractur z. B. verfallen die Knochenenden
an der Fraeturstelle der Nekrose, wie Bonome (11) vor 25 Jahren
zuerst gefunden hat und wie es von Barth (12) später bestätigt
wurde. Auch hier wird der nekrotische Knochen vom Periost her
substituirt, und dies trägt nicht zum Wenigsten zur innigen Ver-
schweissung der Fragmente bei; wir erhalten hier genau die gleichen
Bilder des Ersatzes wie bei der Knochentransplantation. Um nur
ein Beispiel zu nennen: Ich untersuchte vor Kurzem bei einer
14 Tage alten Luxatio ossis lunati + Fractura ossis navicularis
die eine mitexstirpirte Hälfte des Kahnbeins. Ich fand, dass fast
das gesammte Knochengewebe dieses Stückes der Nekrose
verfallen war, und fand an der Fraeturstelle den Vorgang der
knöchernen Substitution schon im vollsten Gange. Der Knorpel
war im Gegensatz hierzu nur in dem unmittelbar an die Fractur-
stelle angrenzenden Abschnitt nekrotisch, und ich fand nur den
ersten Beginn der Knorpelzell Wucherung in der Umgebung dieser
Abschnitte. Es dürfte einem Zweifel nicht unterliegen, dass gerade
die Nekrose als wichtiger ursächlicher Factor für die
Callusbildung in Frage kommt, eben aus den oben erwähnten
Gründen. Diese Thatsache und die Bedeutung der aseptischen Ne¬
krose für die Fracturheilung wird in den neuen Arbeiten, die sich
speciell mit der Callusbildung und mit den Ursachen der Fractur¬
heilung beschäftigten, vollkommen übergangen [Vogel (13), M. B.
Schmidt (14)].
Ich halte es sogar für wahrscheinlich, dass die manchmal
offenkundige Wirkung gewisser consolidationsfördernder Mittel, so
vor Allem der Jodtincturinjectionen, auf der nekrotisirenden Wirkung
beruht, die die Jodtinctur auf die Gewebe der Nachbarschaft, so
auch auf den Knochen ausübt, und auf die dadurch bewirkte
Reizung der umliegenden Gewebe zur Knochenneubildung, zum
Knochenersatz. Mit experimentellen Untersuchungen hierüber sind
wir zur Zeit beschäftigt.
Selbst die einfache Periostberaubung führt zur Nekrose der
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Kritisches and Experimentelles zur Genese der Arthritis deformans. 345
oberflächlichen Knochenpartien, wie man sich mikroskopisch leicht
überzeugen kann. Auch diese Thatsache ist allgemein wenig be¬
kannt. Seitdem 0liier die Ansicht beseitigt hat, als müsse die
Periostberaubung zur „Knochennekrose“, d. h. entsprechend der da¬
maligen Zeit zur Sequestration führen, seitdem es ihm gelungen
war, durch Erlangung ungestörter Wundheilung auch den periostbe¬
raubten Knochen der glatten Heilung entgegenzuführen, ist die An¬
schauung allgemein verbreitet, dass die Periostentfernung dem unter¬
liegenden Knochen überhaupt nichts anhaben könnte. Es ist dies
ein Trugschluss. Es kommt zur Nekrose der oberflächlichen Par¬
tien, aber zur aseptischen Nekrose nebst ihren Folgeerscheinungen.
Die aseptische Nekrose führt nämlich bald wieder zur Substitution
des todten durch lebendes Gewebe, das jetzt aber naturgeraäss von
der Tiefe her, d. h. von dem Inhalt der tiefer gelegenen Hävers-
sehen Canäle ausgeht. Diese regenerative Substitution schiesst in
der Regel, wie so häufig, über das Ziel hinaus, und so findet man
nach längerer Zeit gewöhnlich eine leichte Erhabenheit der vor¬
her planen Knochenoberfläche an der Stelle, an der das Periost
entfernt worden ist. Dabei ist die Oberfläche glatt und im Haupt-
theil von einer neugebildeten, periostähnlichen, aber auch nur
periostähnlichen, Membran bedeckt, die leicht abhebbar ist,
während selbstverständlich an den Randtheilen ein Hinüberwachsen
des angrenzenden Periostes zu constatiren ist.
Solche Befunde stellte Hofmann (15) an den Tibiae seiner
Patienten fest, bei denen er ausgedehnte Perioststücke entfernt hatte,
um damit neugebildetc Gelenkflächen zu decken. Hof mann konnte
nach längerer Zeit „im Bereich der Periostentnahme eine Gestalt¬
veränderung der sonst planen Tibiafläche in der Weise feststellen,
dass dieselbe nun convex gewölbt war“. Hof mann nahm als
Ursache dafür an, dass „offenbar die sonst vom Periost ausgehenden,
die Gestaltung der Knochenoberfläche reguiirenden Resorptionsvor¬
gänge der Knochensubstanz hier in Wegfall gekommen sind“. In
Analogie mit den Thierexperimenten muss man jedoch statt dessen
die geschilderte Wirkung der aseptischen Knochennekrose als Ur¬
sache dieser Erscheinung, die ich im übrigen nach eigenen Er¬
fahrungen am Menschen bestätigen kann, in Anspruch nehmen.
Diese Auffassung erklärt die Verhältnisse eher als der von Hof¬
mann herangezogene hypothetische resorptive Einfluss des Periosts.
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Dr. G. Axhausen,
Wie ausgedehnt die aseptische Nekrose am Knochensystem
sein kann, ohne als solche manifeste Symptome zu machen, konnte
ich in meinen Untersuchungen über die osteoplastische Carcinose
zeigen, wo die Nekrose sehr verbreitet sein kann, wo ich z. B. in
einem Falle bei einer Rippe etwa 6 /e des überhaupt vorhandenen
Knochengewebes nekrotisch fand. Es kann eben auch nekrotischer
Knochen mechanische Arbeit leisten.
Am schönsten ergiebt sich aber die Ausdehnung und Wir¬
kung der aseptischen Knochennekrose in den Versuchen, über
die vor kurzem (16) aus dem Ribbert’schcn Institut berichtet
wurde.
Man liess die Extremitäten von Yersuchsthieren verschieden
lange Zeit gefrieren, jedoch nur so lange, dass die deckenden
Weichtheile — abgesehen von gelegentlichen kleinen Hautnekrosen
— am Leben blieben. Die nach längeren Intervallen vorgenom¬
mene histologische Untersuchung der Knochen zeigte nun, dass das
Knochengewebe entweder total oder doch zum grossen Theil
nekrotisch geworden war — in einem Falle war die ganze
Tibia und Fibula nekrotisch — und dass die Substitution des todten
Knochens durch lebenden von den knochenbildenden Organen her
in vollem Gange war. Auch hier sehen wir also wieder den mäch¬
tigen Reiz, den die aseptische Nekrose auf die zugehörigen knochen¬
bildenden Organe ausübt.
Bei dem Einfluss, den die aseptische Nekrose in der geschil¬
derten Weise ausübt, wird man wohl den aseptischen Knochen¬
nekrosen, die man bei der Arthritis deformans an den Gelenk¬
enden, besonders in der subchondralen Schicht trifft, eine erhöhte
Beachtung schenken müssen. Solche Nekrosen wurden schon von
Walkhoff (17) kurz erwähnt; auch Wollenberg bestätigt ihr
Vorkommen. Von beiden werden sie jedoch als Nebenbefunde an¬
gesehen. Solche Nekrosen müssen nach allem bisher Gesagten in
derUmgebung wesentlicheKnochenneubildungsprocesse her-
vorrufen, die z. B. zur Sklerose der Spongiosa führen könnten.
Aber auch das Entstehen der Randosteophyten würde als Reaction
des Periostes auf die Nekrose unterliegender Knochentheile wohl
zu verstehen sein.
Einen noch rcgelmässigerenBefund als die herdförmigenKnochen-
nekrosen bilden bei der Arthritis deformans die Nekrosen des Knorpels,
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Kritisches und Experimentelles zur Genese der Arthritis deformans. 347
dessen regressive Veränderungen ja in der Regel das ganze Krank¬
heitsbild einleiten.
Wenn die aseptische Knochennekrose einen grossen Anreiz für
die benachbarten ossificationsfähigen Organe zur Entwickelung ihrer
specifischen Thätigkeit darstellt, wie verhält sich die aseptische
Knorpelnekrose zu den umliegenden, noch lebenden Knorpelzellen?
Diese Beziehungen habe ich bei der Transplantation knorpel¬
haltiger Knochenstücke und bei den oben näher beschriebenen Ura-
nähungsversuchen der Patella studiren können. Ich werde hierüber
a. a. 0. ausführlich berichten. Hier will ich nur hervorheben, dass
die Bilder, die ich zu sehen bekam, eine ausserordentliche Aehn-
lichkeit mit den bei der Arthritis deformans auftretenden Befunden
aufwiesen. Ich will zur Illustration des Gesagten kurz zusammen¬
fassend die Vorgänge skizziren, die ich bei der Umnähung der
Patella aufdecken konnte.
Ist die Umnähung gelungen, d. h. ist die Patella wirklich
ausser Ernährung gesetzt, so ist auch mit dem Knochengewebe das
Knorpelgewebe in seiner Existenz schwer gefährdet. Es tritt in
diesen Fällen eine umfangreiche, aber nicht totale Nekrose des
deckenden Patellarknorpels auf. Sie ist nicht total; denn
es erhält sich von dem Knorpel erstlich eine Randzone, die wohl
durch Vermittelung des angrenzenden Periostes am Leben gehalten
wird und ferner in dünner Schicht das an das Gelenkinnere stossende
Knorpelgewebe, welch letzteres offenkundig von der Synovia her
genügend ernährt wird. Der Haupttheil des Knorpels verfällt der
Nekrose, gerade wie das Knochengewebe selber. Der Unterschied
zwischen den lebenden Knorpelzellen der Innenschicht und den
todten des Haupttheils geht aus der Tafel VIII, Fig. 1, der den
Befund bei einem Kaninchen 36 Tage nach der Umnähung dar¬
stellt, ganz offenkundig hervor.
Untersucht man nun spätere Stadien, so hat man gute Ge¬
legenheit, die Wirkung der knochenwärtsliegenden Knorpelnekrose
auf das angrenzende am Leben gebliebene Knorpelgewebe zu
studiren.
Hier zeigt sich in Analogie zum Knochengewebe, dass die um¬
liegenden lebengebliebenen Knorpelzellen unter dem Reiz der be¬
nachbarten Nekrose intensiv zu wuchern beginnen und gegen
den todten substituirend Vordringen. Ein Beispiel für Be-
Archiv ftir klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2. 23
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Dr. G. Axhausen,
fände dieser Art ist in der Tafel VIII, Fig. 2 gegeben; die Wuche¬
rungsvorgänge kommen hier sehr schön zum Ausdruck: man sieht
die wuchernden Zellen zunächst, ihrer Genese entsprechend, in
Gruppen beisammen, während sie sich später gleichmässig in die
Grundsubstanz vertheilen. Gleichzeitig nimmt die Grundsubstanz
mehr und mehr den Charakter des Bindegewebes an. Auf die
feineren Vorgänge der Substitution gehe ich hier nicht näher ein.
Diese Vorgänge mussten naturgemäss Wollenberg entgehen,
da in dem Falle des einen Hundes, über den er eine genaue histo¬
logische Untersuchung giebt, der Hund 6 Monate nach der Opera¬
tion am Leben geblieben war; es ist anzunehmen, dass nach dieser
Zeit die Substitution zum mindesten zum allergrössten Theil be¬
endigt gewesen sein wird.
In älteren Fällen nämlich finden wir den gesaramten Knorpel
der Patella in das wuchernde, immer mehr den Charakter des
Bindegewebes annehmende Gewebe verwandelt, das uns von den
Gelenkflächen der Arthritis deforraans her so wohl bekannt ist.
Wir finden das Eindringen dieses Gewebes in die subchondrale
Knochenschicht, wie wir es von der Arthritis deformans her kennen.
Anfänge dieser Vorgänge kommen auch in der Fig. 2 auf Tafel VIII
zum Ausdruck. Wir beobachten hierbei u. A., dass zuweilen Theile
der nekrotischen subchondralen Knochenschicht in diesem zellreichen
Bindegewebe erhalten bleiben und wir stehen so Bildern gegenüber,
wie sie genau in der gleichen Art Walkhoff bei der Erwähnung
der Nekrosen der subchondralen Schicht bei der Arthritis defor¬
mans beschrieben hat. Auch die so charakteristische Knospen¬
bildung jungen Knochengewebes innerhalb dieses Bindegewebes habe
ich bei meinen Untersuchungen nicht vermisst (vergl. Fig. 2 auf
Tafel VIH, Kn. Kn.). Daneben finden wir gelegentlich Bilder, die die An¬
nahme von Abspaltungen solch nekrotischen Knorpels vom lebenden
nahe legen, und die so unwillkürlich auf das noch immer wenig ge¬
klärte Gebiet der Osteochondritis dissecans König’s hinüberweisen.
Schon diese kurzen Hinweise, deren weitere Ausführung ich
mir für eine spätere Arbeit Vorbehalte, lassen eine solche Aehn-
lichkeit der bei dieser experimentell erzeugten partiellen Knorpel¬
nekrose aufgedeckten Bilder mit denen erkennen, die für die Ar¬
thritis deformans charakteristisch sind, dass der Gedanke eines
ursächlichen Zusammenhanges sich ganz von selber aufdrängt.
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Kritisches und Experimentelles zur Genese der Arthritis deformans. 349
Wenn die beschriebenen Erscheinungen im Gefolge der asep¬
tischen Knochen- und Knorpelnekrose auftreten, so scheint es mir
bei der Aehnlichkeit der Bilder durchaus berechtigt, solchen herd¬
förmigen Nekrosen bei der Arthritis deformans eine erhebliche
Bedeutung innerhalb des Rahmens des ganzen pathologischen Pro¬
zesses zuzumessen. Aus den vorher geschilderten reactiv-regefle-
rativen Vorgängen in der Umgebung der Nekrosen liessen sich
zahlreiche Theilbilder der bunten histologischen Befunde der aus¬
gebildeten Arthritis deformans ohne Zwang ableiten.
Auch mancherlei aus dem vielgestaltigen klinischen Bild der
Erkrankung Hesse sich hiermit in Zusammenhang bringen. Ich
möchte hier einstweilen nur auf einen Punkt hinweisen: eben auf
die schön erwähnte Thatsache, dass die Arthritis deformans sich
als Secundärzustand an die verschiedensten Gelenkerkrankungen
anschliessen kann. Dass bei der Gelenkfractur, dass bei infectiösen
Processen, dass bei Tuberculose und Lues herdförmige Knochen-
und Knorpelnekrosen am Gclenktheil auftreten können, liegt ohne
Weiteres auf der Hand. Und bei der sogen, spontanen Arthritis
deformans würden wir die Ursache des Gewebstodes unschwer in
Gefässveränderungen im Sinne der Arteriosklerose, der Gefäss-
lues etc. finden können, — in diesem Sinne würden wir dann mit
Recht von einer vasculären Aetiologie der Erkrankung sprechen
können.
Es liegt nicht in meiner Absicht, eine neue Theorie über das
Wesen der Arthritis deformans zu bringen. Was ich zunächst be¬
zweckte, war, zu zeigen, dass die vasculäre Theorie Wollenberg’s
nicht genügend gestützt und in zahlreichen Punkten nicht haltbar
ist, und dass wir in den noch wenig bekannten Folgezuständen
der aseptischen Knochen- und Knorpelnekrose vielleicht die Mög¬
lichkeit eines weiteren Eindringens in das Problem dieser interes¬
santen Erkrankung gewinnen.
Literatur.
1. Hoffa u. Wollenberg, Die Arthritis deformans und der sogen, chronische
Gelenkrheumatismus. Stuttgart 190S.
2. Wollenberg, Die Aetiologie der Arthritis deformans im Lichte des Ex¬
perimentes. Arch. f. Orthop. Bd. 7. S. 226.
23 *
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350
Dr. G. Axhausen,
3. Derselbe, Die verschiedenen klinischen Formen der Arthritis deformans.
Yerh. d. Chir.-Congr. 1909. I. S. 51.
4. Derselbe, Die Aetiologie der Arthritis deformans. Stuttgart 1910.
5. Axhausen, Histologische Studien über die Ursachen und den Ablauf des
Knochenumbaues im osteoplastischen Garcinom. Vircbow’s Arch. Bd. 195.
S. 358.
6. Derselbe, Ueber das Wesen und die diagnostische Bedeutung der
v. Recklinghausen’schen Gitterfiguren. Centralbl. f. Path. Bd. 19. S. 97.
7. Derselbe, Ueber die bei der Luft- und Gasfüllung des Knochengewebes
auftretenden Phänomene und ihre Bedeutung. Virch.Arch. Bd. 194. S.371.
8. Derselbe, Klinische und histologische Beiträge zur Kenntniss der
juvenilen Arthritis deformans coxae. Charite-Ann. 1909. Bd. 33.
9. Derselbe, Die histologischen und klinischen Gesetze der freien Osteo¬
plastik auf Grund von Thierversuchon. Bd. 88. H. 1.
10. Derselbe, Ueber den Vorgang partieller Sequestrirung transplantirten
Knochengewebes etc. Dieses Archiv. Bd. 89. H. 2.
11. Bonome, Zur Histogenese der Knochenregeneration. Virchow’s Archiv.
Bd. 100. S. 293.
12. Barth, Histologische Untersuchungen über die Knochenimplantation.
Ziegler’s Beitr. Bd. 17. S. 65.
13. Vogel, Ueber Fracturheilung etc. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 91.
S. 143.
14. M. B. Sohmidt, Die Callusbildung. Lubarsoh u. Ostertag’s Jabresber.
5. Jahrg. S. 895.
15. Hofmann, Weitere Untersuchungen und Erfahrungen über Periosttrans¬
plantation bei Behandlung knöcherner Ankylosen. Bruns’ Beitr. Bd. 59.
S. 717.
16. Kleinschmidt, Ueber das Verhalten des Knochens gegenüber Kälteein¬
wirkung. Virch. Arch. Bd. 197. S. 308.
17. Walk hoff, Ueber Arthritis deformans. Verh. d. Pathol. Gesellsch. Bd. 9.
S. 229.
Erklärung der Abbildungen auf Tafel YII und YIII.
Tafel VH.
Figur 1. Fibrom des oberen Femurendes bei einem 23jährigen Mädchen.
Längsdurchschnitten, resp. durchsägt. Natürliche Grösse. (Vergl. S. 245 ff.)
Man sieht rechts den Rest des Schenkelkopfes; an ihm noch erhaltene
Theile des Epiphysenknorpels (E.Kn.); am unteren Umfang die halbirte Knochen¬
röhre des Femur (F.C.), umgeben von Callusgewebe (C.). Innerhalb des fibro-
matösen Gewebes verstreute Knochenbälkchen vom Charakter der Spongiosa¬
balken (Knb.).
Figur 2. EinSchnitt aus dem fibromatösenTumor bei stärkerer Vergrösse-
rung. Hämalauneosin.
Figur 3. Grenze des gleichen Tumors gegen die Knochenbalken der
Trochantergegend. Die Grenzfläche des Knochens stellt eine Resorptionsfläche
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Kritisches and Experimentelles zar Genese der Arthritis deformans. 351
dar (R. Fl.) in den weiter abseitsgelegenen Markräamen geringe Apposition
(App.).
Figur 4. Randbezirk eines menschlichen Tibiastückes, das sammtdecken-
dem Periost an Stelle einer entfernten Daumenphalanx desselben Individuums
implantirt wurde. Untersuchung 60 Tage nach der Einpflanzung. Formalin.
Entkalkung naoh Schaffer; Celloidin, Hämalaun, Eosin. (Vergl. S. 251 ff.)
J.K. implantirter Knochen, der total nekrotisch ist und sich im Zustande
der Substitution befindet. E. K. durch Resorption erweiterte Havers’sche
Canäle, tbeilweise durch appositionelle Säume lebenden Knochengewebes aus-
gefulft.
S. P. Kn. subperiostaler neugedildeter Knochen.
N.Kn. umfangreicher, neugebildeter Knochen des Randbezirks.
Tafel Vm.
Figur 1. Umnähung der Patella nach Wollenberg. Kaninchen;
Heilung per primam. Kaninchen 36 Tage p. op. getödtet. Der abgebildete
Schnitt entspricht der Mitte der Patella. Formalin, Salpetersäureentkalkung
nach Schaffer, Celloidin, Hämalaun, Eosin.
Das Knochengewebe der Patella ist nekrotisch (N. P.); es befindet sich
im Zustande der Substitution durch aufeinander folgende Resorption (R. R.)
und Apposition (App.). Auch die subchondrale Knochenschicht ist nekrotisch
(N. S. Sch.), ebenso die angrenzende grössere Hälfte des Knorpels (N. Kn.);
dagegen ist die dem Gelenkinnern zugekehrte Knorpelschicht (E. Kn.) nicht
nur am Leben erhalten geblieben, sondern bereits im Zustande der beginnenden
Wucherung.
Figur 2. Präparat aus einem Versuch gleicher Art, Versuchsthier
(Kaninchen) 48 Tage p. op. getödtet. Die Figur stellt den Randbezirk
der Patella dar.
Auch hier der Knochen der umnähten Patella nekrotisch (N. P.), inclusive
dersubchondralenSchicht(N.S.Sch.); dernekrotischePatellarknochen istin Sub¬
stitution, wobei das Entstehen einer leichten Osteoporose unverkennbar ist. Auch
hier ist der Mitteltheil des Knorpels nekrotisch (N. Kn.); auch hier ist die dem
Gelenkinneren zugekehrte Knorpelschicht erhalten geblieben (E.Kn.); sehr schön
erkennbar aber vor Allem sind die Knorpelwucherungsvorgänge, die von dem
erhaltenen Randbezirk des Knorpels ihren Ursprung nehmen und gegen das
Todte andrängen (W. Kn.). Die Knorpelzellen liegen zunächst in Gruppen zu¬
sammen, vertheilen sich aber späterhin mehr in der Grundsubstanz, so dass
ein wucherndes, dem Bindegewebe nahestehendes Gewebe entsteht. Dieses
bricht in die subchondrale Knochenschicht ein (Einbr.); in ihm sind weiterhin
Knochenneubildungsvorgänge vorhanden, die die Bilder der „Knochenknospen“
(Kn. Kn.) annehmen.
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XII.
(Aus der Chirurg. Universitätsklinik der Königl. Charite zu
Berlin. — Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Hildebrand.)
Ueber
die Entstehung parostaler Callusbildungen
und die künstliche Galluserzeugung an
Thieren und beim Menschen. 1 '
Von
Dr. Conrad Pochhammer,
Stabsarzt und Assistent der Klinik.
(Hierzu Tafel IX—XII.)
Die Vorgänge der Knochenneubildung — im physiologischen
und pathologischen Sinne — sind etwa seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts einer genaueren wissenschaftlichen Erforschung unter¬
zogen worden. Infolge Verbesserung der mikroskopischen Technik
erfuhren die histologisch-pathologischen Untersuchungsmethoden eine
wesentliche Vervollkommnung. Diesem Umstand ist es hauptsäch¬
lich zu verdanken, dass eine Reihe neuer Beobachtungen über die
Bildungsstätten der lebenden Knochensubstanz im menschlichen und
thicrischen Organismus gemacht wurden, welche in die complicirten
Vorgänge, die sich beim Aufbau des Knochengewebes abspielen,
Licht brachten.
Das Verdienst der Förderung dieser Kenntnisse und Studien
gebührt indess nicht allein den Anatomen und Pathologen, sondern
ausser ihnen sind es in erster Linie Chirurgen gewesen, welche
neben der histologischen Klarstellung von Einzelheiten der Frage
der Knochenueubildung namentlich auf experimentellem Wege näher
1) In abgekürzter Form als Vortrag mit Demonstrationen gehalten am
11. Juli 1910 in der Freien Vereinigung der Chirurgen zu Berlin.
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Lieber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc. 353
getreten sind. Die ersten grundlegenden und umfassenden Unter¬
suchungen über die Regeneration des Knochengewebes stammen von
Ollier und J. Wolff. Sie unternahmen ihre Experimente haupt¬
sächlich zu dem Zwecke, festzustellen, welche Bedingungen für eine
erfolgreiche Ausführung freier Knochenplastiken in Frage kommen.
Das Ergebniss dieser Untersuchungen lässt sich etwa in Folgendem
kurz zusammenfassen:
Das Periost wurde schon damals als derjenige Gewebsbestand-
theil erkannt, der für die Erhaltung und Regeneration des Knochen¬
gewebes die Hauptrolle spielt. Ohne das deckende Periost geht
der aus seinem Zusammenhang gelöste und transplantirte Knochen
zu Grunde. Diese alte Lehre Ollier’s ist durch neuere Unter¬
suchungen erst wieder zur vollen Geltung gebracht. Es wurde der
histologische Nachweis geführt, dass durch die proliferirende Thä-
tigkeit des Periosts die bei der Ueberpflanzung eines Knochen¬
stückes absterbenden Knochentheile wieder ersetzt werden. Die
Wichtigkeit und Nothwendigkeit des Periosts für den Ersatz und
die Neubildung von Knochengewebe hat sich vor Allem auch bei
den Transplantationsversuchen am Menschen zur Evidenz ergeben.
Eine geringere Bedeutung kommt dem gegenüber dem Knochen¬
marke für die Neubildung von Knochengewebe zu. Es muss indess
besonders hervorgehoben werden, wie namentlich aus den verschie¬
denen Thierversuchen hervorgeht, dass auch das Knochenmark ver¬
möge seiner osteogenen Zellschichten ebenfalls in der Lage ist,
unter geeigneten Umständen in beträchtlichem Maasse neues Knochen¬
gewebe zu bilden.
Diese Thatsachen sind durch unzählige Experimente und die
verschiedensten klinischen Erfahrungen sichergestellt. Die Knochen¬
haut und das Knochenmark sind demnach als die eigentlichen Re¬
generatoren des Knochengewebes anzusehen. Sie enthalten die
Keimzellen, die bei Eintritt einer Continuitätstrennung eines Knochen¬
gebildes ein neues Knochengewebe hervorbringen, die sogenannten
Osteoblasten. Das durch Wucherung dieser Zellen entstandene
junge Gewebe pflegen wir beim gewöhnlichen Knochenbruche ge¬
meinhin als Callus zu bezeichnen.
In dieser Beziehung herrscht volle Uebereinstimmung in der
Frage der Knochenneubildung. Weit auseinander gehen jedoch die
Meinungen der verschiedenen Untersucher betreffs der weiteren
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354
Dr. C. Pochhammer,
Frage, ob die Fähigkeit der Knochenneubildung allein auf die osteo¬
genen Zellschichten des Periosts und des Knochenmarks beschränkt
ist und ihnen gewissermaassen ausschliesslich anheimfällt, oder ob
auch andere Gewebe differenter Art die gleiche Fähigkeit besitzen
oder erlangen können, unter bestimmten Bedingungen Knochen¬
gewebe in irgend einer Weise hervorzubringen. Diese Frage ist
bisher noch nicht in genügender Weise geklärt und entschieden
worden. Im Gegentheil ist durch die Mannigfaltigkeit und Ver¬
schiedenheit der Befunde einzelner Beobachter und Untersucher
eine solche Unsicherheit und Verwirrung bei Beantwortung dieser
Frage hervorgetreten, dass es schwierig fällt, ein zusammfassendes
Urtheil zu gewinnen und einen bestimmten Standpunkt einzunehmen.
Bei der grossen Bedeutung, welche gerade die Frage der Knochen¬
neubildung auch für die praktische Chirurgie besitzt, dürfte es
daher der Mühe verlohnen, auf die strittigen Punkte etwas näher
einzugehen und die Beobachtungen, welche zu dem Zwiespalt der
Meinungen Veranlassung gegeben haben, einer genaueren Prüfung
zu unterziehen.
Bevor wir die eigentliche Streitfrage selbst berühren, erscheint
es nothwendig, einen kurzen Rückblick auf die primäre Entstehung
und Entwicklung des Knochengewebes überhaupt zu werfen, um
zugleich ein Verständniss für die Möglichkeit der Entstehung der
verschiedenen Controversen in der Frage der Knochenneubildung
zu gewinnen. Die Entwicklungsgeschichte lehrt uns, dass das
Knorpel- und Knochengewebe und ebenso die dasselbe umgebenden
und auskleidenden differenten Gewebsschichten des Periosts und
des Knochenmarks Abkömmlinge des ursprünglichen embryonalen
Bindegewebes sind, das aus dem sogen. Zwischenblatt oder dem
Mesenchym hervorgegangen ist. Sie gehören demnach in die grosse
Gewebsfamilie der Bindesubstanzen. Das Gallertgewebe des Mesen-
chyms wandelt sich entweder in fibrilläres Bindegewebe oder in
Knorpelgewebe um. Beide Gewebsarten können aber wiederum
eine weitere Entwickelung und Umwandlung in Knochengewebe er¬
fahren. Dementsprechend giebt es Knochen, die aus einer knor¬
peligen, und andere, die aus einer bindegewebigen Grundlage
entstanden sind. Die letztere Art Knochen findet sich jedoch nur
im Bereiche des Schädels und des Gesichts. Sie stellen dort die
sogenannten Deck- oder Belegknochen dar, welche direct aus dem
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Ueber die Entstehung parostaler Callasbildungen etc.
355
bindegewebigen Substrat der Haut und Schleimhaut des Kopfes
und Gesichts hervorgehen, ohne die Vorstufe der knorpeligen Um¬
wandlung durchgemacht zu haben, welche allen übrigen Knochen
des sogenannten primordialen Kopfskeletts sowie des gesammten
Achsenskeletts eigenthümlich ist. Es kann demnach keinem Zweifel
unterliegen, dass das fibrilläre Bindegewebe während des embryo¬
nalen Zustandes fähig ist, eine unmittelbare Umbildung in
Knochengewebe einzugehen.
Diese Umbildungsfähigkeit ist indess an ganz bestimmte
Gruppen von Zellen des embryonalen Bindegewebes geknüpft. Sie
sondern sich von den fixen Bindegewebszellen der übrigen Binde¬
substanzen und stellen nicht nur physiologisch, sondern auch
morphologisch einen besonders differenzirten Typus von Zellen dar,
welche wir als Osteoblasten zu bezeichnen gewohnt sind, eben
wegen ihrer speciellen Eigenschaften, Knorpel- und Knochengewebe
zu bilden. Aus diesen primären Osteoblasten gehen bei der Bildung
des Knorpel- und Knochengewebes die eigentlichen Knorpel- und
Knochenzellen hervor, welche gewisserraassen als in ihrer Grund¬
substanz fixirte Osteoblasten aufgefasst werden müssen. Die
ersteren sind als zelliges Element des Knorpels in den Knorpel¬
kapseln eingeschlossen, die Knochenzellen dagegen finden sich als
die sogenannten Knochenkörperchen in den zackigen Knochenhöhlen
vor. Sie sind durch diese Art der Fixation in ihren Grundsub¬
stanzen in mehr oder minder hohem Grade von einer weiteren
Zellproliferation ausgeschaltet. Erst wenn die fixirende Grundsub¬
stanz auf irgend eine Weise aufgelöst, erweicht oder zerstört wird,
würde auch wiederum eine Zellvermehrung ihrerseits denkbar sein.
Immerhin ist eine Regeneration des Knorpel- und Knochengewebes
von diesen eingeschlossenen Osteoblastenzellen aus in hohem Maasse
erschwert.
Die Natur hat daher in anderer Weise vorgesorgt. Eine grosse
Menge der primären Osteoblasten bleibt als freie Knorpel- und
Knochenbildner in zusammenhängender Schicht an den freien
Oberflächen des Knorpel- und Knochengewebes haften und bildet
dort die sogenannte osteogenetische oder Cambiumschicht des
Perichondriums bezw. des Periosts. Ausserdem enthält das Knochen¬
mark der langen Röhrenknochen ebenfalls eine wechselnde Zahl
von freien Osteoblasten, welche sich gewöhnlich mit den übrigen
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35tf
Dr. C. Pochhammer,
Markzellen vermischt vorfinden. Diesen frei gebliebenen primären
Osteoblasten des Periosts und des Knochenmarks fällt die Aufgabe
der weiteren Regeneration des Knorpel- und Knochengewebes im
fertigen Organismus zu. Von ihnen geht zunächst die Callus-
bildung bei Eintritt eines Knochenbruches aus, da diesen Zellen
die Fähigkeit, Knorpel- und Knochengewebe zu bilden, seit ihrer
specifischen Differenzirung von den übrigen Zellen des embryonalen
Bindegewebes innewohnt und erhalten geblieben ist.
Einer besonderen Erörterung bedarf aber in diesem Zusammen¬
hänge die andere Frage, welche wir aufgeworfen haben, ob ge¬
gebenen Falls, also im Falle eines Knochenbruches, auch die bis¬
her als einfache Bindegewebszellen functionirenden Zellen des den
Knochen umgebenden Bindegewebes nicht auch später noch, d. h.
im fertigen Organismus, die Fähigkeit erlangen und erwerben
können, ebenso wie die ihnen ursprünglich stammverwandten pri¬
mären Osteoblasten, an der Neubildung von Knorpel- und Knochen¬
gewebe durch Uebernahme der gleichen Functionen sich zu be¬
theiligen. Hauptsächlich hat diese Frage sich eingestellt auf Grund
der Beobachtung einer übermässigen Callusbildung nach manchen
Knochenbrüchen, die man auch als Callus luxurians bezeichnet hat.
Es trat in solchen Fällen immer wieder die Meinung hervor, dass
eine so gewaltige Knochengewebswucherung unmöglich allein von
dem meist zarten Periost ihren Ausgang nehmen könne. Der Um¬
stand, dass die gewucherten Oallusmassen sich oft weit in das
parostale und intermusculäre Bindegewebe hinein erstreckten, gab
der Vorstellung mehr und mehr Raum, dass das parostale und
intermusculäre Bindegewebe im Falle einer schweren Knochenver¬
letzung selbst ossificirende Eigenschaften gewänne und durch un¬
mittelbare Gewebsumbildung das parostale Callusgewebe erzeuge.
Diese Anschauung wurde vor Allem gestützt durch zahlreiche
Beobachtungen von Knochenneubildungen an Stellen, die mit eigent¬
lichem Knochengewebe in keinerlei Zusammenhang stehen, wo
weder Periost oder Knochenmark, noch Knorpel- und Knochcn-
substanz für die Entstehung des neugebildeten Knochengewebes in
Frage kommen konnten. Vielmehr kam für den Ursprung dieser
heteroplastischen Ossilicationcn, wie man sie mit wissenschaftlichen
Namen bezeichnet hat, einzig und allein das Bindegewebe der Um¬
gebung in Betracht.
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc. 357
Heteroplastische Knochenneubildungen sind nun in fast sämmt-
lichen Organen des menschlichen Körpers zur Beobachtung ge¬
langt. Am meisten bekannt sind die Ossificationsprocesse in der
Gefässwand der grossen Schlagadern, in der Pia mater, in der
Chorioidea des Auges, ferner in den Lymphdrüsen, in der Schild¬
drüse, in der Leber, in der Lunge, im Hoden und an anderen
Orten. Auf die besondere Art der Entstehung dieser Verknöche¬
rungen werden wir noch des Näheren einzugehen haben. Sie be¬
weisen, dass auch im fertigen Organismus das Bindegewebe unter
Umständen noch die Fähigkeit erlangen kann, echtes Knochengewebe
zu bilden in derselben Art, wie die embryonalen Bindcgewebszellen
das fibröse Knochengewebe der Deck- und Belegknochen des
Schädels zu bilden im Stande sind.
Häufig werden nun hinsichtlich ihrer Genese mit den hetero¬
plastischen Knochenbildungen auch diejenigen Knochenbildungen
identificirt, welche gelegentlich nach einmaligem oder auch mehr¬
fachem Trauma in den Muskeln beobachtet werden. Sie wurden
früher mit dem einfachen Namen „Muskelknochen“ bezeichnet, wo¬
durch der noch immer strittigen Art ihrer Entstehung in keiner
Weise vorgegriffen wird. Heutigen Tags pflegt man freilich diese
Verknöcherungen unter dem Begriff der Myositis ossificans zu¬
sammenzufassen. Diese Bezeichnung verdankt ihre Entstehung
der Auffassung, dass dem Eintritt der Verknöcherung jedesmal
ein Entzündungsprocess in dem betreffenden Muskel vorausgehe,
welcher zu einer Wucherung des intermusculären Bindegewebes und
Umwandlung desselben in Knochengewebe führe.
Diese Auffassung wird in letzter Zeit vielfach als maass¬
gebend hingestellt. Dem interstitiellen Bindegewebe wird ohne
Weiteres die Fähigkeit zu regelrechter Knochenneubildung bei¬
gelegt. Es muss jedoch betont werden, dass demgegenüber andere
namhafte Forscher auch in diesen Fällen das Periost als den Aus¬
gangspunkt der Knochenneubildung ansehen und .die Entstehung der
Muskelknochen auf die proliferirende Thätigkeit versprengter Theile
der benachbarten Knochenhaut zurückführen. Vor Allem hat Berndt
seiner Zeit den Nachweis zu führen versucht, dass in Fällen soge¬
nannter Myositis ossificans traumatica sich fast immer ein Zusammen¬
hang der im Bereiche der Muskeln entstandenen Ossificationen mit
dem verletzten Periost nahe gelegener Knochentheile finden lasse.
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358
Dr. C. Pochhammer,
Unter dem Einfluss der Ollier’schen Untersuchungen über die
Regeneration des Knochengewebes hat dann Bert hi er versucht,
auf experimentellem Wege durch Verlagerung von Perioststückchen
in die Musculatur künstlich die Bildung von Muskeiknochen her¬
vorzurufen. Es gelang ihm auf diese Weise dünne Knochenplättchen
hervorzubringen, welche nach Form und Grösse den verlagerten
Periostabschnitten entsprachen, indess konnten sie nicht den un-
umstösslichen Beweis dafür liefern, dass die oft ausgedehnten und
umfangreichen Ossificationen in den Muskeln lediglich auf dem
Wege der Periostabreissung und -Verlagerung entstanden sein
könnten. Und selbst die eifrigsten Verfechter des periostalen Ent¬
stehungsmodus, wie der schon genannte Berndt, haben sich zu
dem Zugeständniss bekehren lassen, dass bei den traumatisch ent¬
standenen Knochenbildungen in den Muskeln noch andere Einwir¬
kungen hinzutreten müssten, um aus abgelösten Periosttheilchen
die im Muskelgewebe beobachteten Ossificationen hervorgehen zu
lassen.
Die Frage, ob Periost oder interstitielles Bindegewebe bei
diesen Muskelknochenbildungen eine Rolle spielt, befindet sich da¬
her ebenfalls noch in der Schwebe und ist bisher nach keiner
Richtung in zweifelsfreier Weise geklärt.
In engem Zusammenhänge damit steht nun die Frage nach
der Entstehung des parostalen Callus bei den Knochenbrüchen.
Die Betheiligung des Bindegewebes bei der Callusbildung hat neuer¬
dings vor Allem Orth auf Grund histologischer Untersuchung eines
Calluspräparates einer 15 Tage alten Schenkelhalsfractur zu be¬
weisen versucht. Er kommt dabei zu dem Ergebniss, dass ein
grosser Theil des luxuriirenden parostalen Callusgewebes durch
„directe Gewebsmetaplasie“ aus dem intermusculären Bindegewebe
entstanden sei.
Fasst man alle diese verschiedenen Beobachtungen und Unter¬
suchungsergebnisse zusammen, so hat es den Anschein, als ob das
fibrilläre Bindegewebe allgemein auch im fertigen Organismus
ebenso die Fähigkeit besitze, Knorpel- und Knochengewebe neuzu¬
bilden, wie die osteoplastischen Gewebsbestandtheile des eigent¬
lichen Skelettsystems. Es bestünde demgemäss kein wesentlicher
Unterschied in der specifischen Function der Osteoblasten und der
fixen Bindegewebszellen. Es bliebe vielmehr nur noch zu unter-
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Ueber die Entstehung parostaler Callasbildungen etc.
359
suchen übrig, unter welchen Bedingungen die knochenbildenden
Eigenschaften der fixen Bindegewebszellen oder auch des Binde¬
gewebes in seiner Gesamrntheit, wie Orth zu beweisen versucht,
hervortreten und sich äussern.
Um aus dem Wirrwarr der sich vielfach durchkreuzenden
Meinungen über die Frage der Entstehung von Knochengewebe aus
Bindegewebe einen gangbaren Ausweg zu finden, muss zunächst
darauf hingewiesen werden, dass sehr erhebliche Verschiedenheiten
in dem Zustandekommen der heteroplastischen Knochenbildung und
der eigentlichen Callusbildung bestehen. Es ist nothwendig, beide
gesondert zu betrachten und die differenten Punkte in der Art
ihrer Entstehung durch geeignete Gegenüberstellung in richtiger
Weise zu beleuchten. Bei der heteroplastischen Knochen bildung
handelt es sich, wie Poscharissky hervorhebt, der die ausgiebigsten
Studien gerade auf diesem Gebiete gemacht hat, im Allgemeinen
um das Endresultat chronischer Entzündungsvorgänge. Als Vor¬
bedingung für den Eintritt heteroplastischer Ossificationen ist vor
Allem das Vorhandensein von Gewebsnekrosen und darauf folgender
Kalkablagerungen in den untergehenden Gewebsbestandtheilen an¬
zusehen. Das Grundgewebe, in welches die Kalkablagerung er¬
folgt ist, lässt gewöhnlich zugleich die Zeichen der amyloiden Ent¬
artung erkennen. In der Umgebung solcher Verkalkungsherde ent¬
wickelt sich allmählich ein junges zellenreiches Bindegewebe nach
Art des Granulationsgewebes, das im Laufe der Zeit die nekro¬
tischen und verkalkten Massen durchsetzt, resorbirt und ersetzt.
Dieses junge Bindegewebe gewinnt im Bereiche der Verkalkungs¬
herde unter den genannten Voraussetzungen die Fähigkeit, sich in
osteogenes Bindegewebe umzuwandeln, das echtes Knochengewebe
von rein fibrösem Typus hervorbringt. „Eine Bildung von
Knorpelgewebe kommt bei den Vorgängen heteroplastischer Ossi-
fication“, wie Poscharissky ausdrücklich betont, „nicht zur Beob¬
achtung.“
Wir haben es demnach bei der heteroplastischen Ossification
mit einer ganz bestimmten Art der Knochenneubildung zu thun,
die am meisten Aehnlichkeit mit derjenigen Form der Knoehen-
gewebsbildung besitzt, welche bei der Entstehung der Deck- und
Belegknochen des Schädels aus dem jungen fibrillären Bindegewebe
sich ergiebt. Sie ist aber grundverschieden von derjenigen Gewebs-
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360
Dr. C. Pochhammer,
neubildung, welche nach Verletzungen der Knochen des eigentlichen
Skelettsystems einzutreten pflegt, d. h. der Callusbildung, bei der
sich stets fortlaufende Uebergänge der Bildung von Knorpelgewebe,
osteoidem Gewebe und Knochengewebe vorfinden. Ebenso unter¬
scheidet sie sich von denjenigen Ossificationsprocessen, welche nach
besonderen Traumen in der Nähe der Knochen ohne eigentliche
Verletzung der festen Knochensubstanz im angrenzenden Muskel¬
gewebe beobachtet werden. Diese letzteren beiden, die Callus¬
bildung und die Muskelknochenbildung, sind in histologischer Be¬
ziehung nahe verwandt. Sie stehen dem Typus der rein peri¬
ostalen Knochenneubildung am nächsten und müssen in eine Gruppe
Zusammengefasst werden im Gegensatz zu der Gruppe der hetero-
plastischen Knochenbildungen.
Ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen diesen beiden
Gruppen vor Allem hinsichtlich des Zeitpunktes und der Zeit¬
dauer der Entstehung der Knochenneubildung. Bei den trau¬
matisch entstandenen Knochenneubildungen, dem Callusgewebe und
den Ossificationen in den Muskeln, setzen die Anfänge der Knochen-
gewebsentwickelung bereits unmittelbar nach dem Trauma ein.
Die Proliferationsvorgänge greifen äusserst rasch und reichlich um
sich. Schon nach 4—5 Tagen sind histologisch die neugebildeten
Knochenbälkchen und Knorpelinseln differenzirbar. Nach 8 bis
14 Tagen sind bereits im Röntgenbilde neu erscheinende Knochen¬
schatten als Beweis eingetretener Calcificirung des neu gebildeten
Rnochengewebes erkennbar. Auch die Muskelknochenbildungen
können schon 2—3 Wochen nach vorausgegangenem Trauma im
Röntgenbilde zur Wahrnehmung gelangen. Der Vorgang der
Knochcnneubildung kann demnach in diesen Fällen als ein mehr
oder weniger acuter bezeichnet werden.
Ein ganz anderes Verhalten zeigt demgegenüber die hetero¬
plastische Knochenneubildung. Was dort in wenigen Wochen vor
sich ging, bedarf hier vieler Monate, oft sogar Jahre zu seiner
Entwickelung. Die heteroplastische Knochenbildung setzt erst ein,
nachdem bereits Kalkablagerung im Gewebe vorausgegangen und
vorhanden ist. Nach den Untersuchungen von Poscharissky zeigen
sich im Verlaufe der traumatischen Iridocyclitis erst drei Jahre
nach dem Beginn der Erkrankung deutliche Spuren eingetretener
Ossification.
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungon etc.
361
Am beweiskräftigsten für die langsame Entstehung hetero¬
plastischer Knochenbildung sind aber die zuerst von Sacerdotti
und Frattin experimentell erzeugten Ossificationen in den Kaninchen¬
nieren. Seit Litten war es bereits bekannt, dass die Unterbindung
beider Nierengefässe, Arterie und Vene, zu ausgedehnter Verkalkung
des untergehenden Gewebes der betreffenden Niere führte. Sacer¬
dotti und Frattin zeigten nun: wenn man die Tiere nach Unter¬
bindung der Nierengefässe länger als drei Monate am Leben
erhält, so tritt in der Kaninchenniere wirkliches Knochengewebe
mit Knochenmark und Osteoblasten auf. Von anderer Seite, auch
von Poscharissky sind diese Versuche nachgeprüft und bestätigt
worden. Die Ossificationszone findet sich vornehmlich in dem
wuchernden Bindegewebe unterhalb des Becken- und Papillenepithels
der abgebundenen Niere vor.
Der histologische Aufbau dieses Knochengewebes weist inso¬
fern Verschiedenheiten auf, als ein Theil der vorhandenen lamellaren
Knochensubstanz durch directe Metaplasie des Bindegewebes in
Knochengewebe entstanden zu sein scheint; andere Theile des neu¬
gebildeten Knochens dagegen lassen deutlich ihre Entstehung durch
Osteoblastenbildung erkennen. In diesem Falle ist also die Ossi-
fication auf Umwandlung der gewucherten jungen Bindegewebszellen
in typische Osteoblasten zurückzuführen.
Alle diese Vorgänge der Umbildung und Neubildung von
Knochengewebe entwickeln sich jedoch in eminent chronischer
Weise. Von einer acuten Proliferation knochenbildender Elemente,
wie bei der Entstehung des Callusgewebes, kann nicht die Rede
sein. Ein solch’ acuter Knochenneubildungsprocess kann nur durch
die Gegenwart schon vorhandener, in ausgesprochenem
Maasse differencirter Osteoblasten ausgelöst werden. Dieser
grundlegende Unterschied zwischen heteroplastischer Knochenbildung
und traumatischer Callusbildung im weitesten Sinne ist bisher nicht
in genügendem Maasse hervorgehoben und kann dennoch meines
Erachtens nicht scharf genug betont werden, wenn wir klare Vor¬
stellungen über die Entstehung und das Wesen der Knochenneubil¬
dung im menschlichen und thierischen Organismus gewinnen wollen.
In ganz besonderem Maasse sind auch diese Verschiedenheiten
zu berücksichtigen, wenn es gilt die Frage nach der Entstehung
des parostalen Callusgewebes zu erörtern.
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362
Dr. C. Pochhammer,
Die besondere Unterscheidung eines parostalen Callusgewebes
im Gegensätze zu der sonstigen Callusbildung ist vor Allem auf
den Umstand zurückzuführen, dass wir bei den verschiedenen
Knochenbrüchen oft ein ganz verschiedenes Maass der Callusbildung
überhaupt beobachten. Die tägliche Erfahrung lehrt uns zwar,
dass die Art des Knochenbruches, insbesondere die Dislocation
und Beweglichkeit der Fragmente, von Einfluss auf den Umfang
und das Maass der Callusbildung sind. Es ist jedoch ein schwerer
Fehler, wenn immer noch in den Lehrbüchern die Vorstellung er¬
halten wird, dass die Mächtigkeit der Callusbildung im Wesent¬
lichen durch die Dislocation der Fragmente und die Beweglichkeit
der Bruchenden gegeneinander bedingt sei, mit anderen Worten:
dass sie in einem Abhängigkeitsverhältniss von zwei lediglich
mathematisch-physikalischen Begriffen stehe. Wir können unmög¬
lich den bei der Callusbildung in Wucherung gerathenen Gewebs-
eleraenten Zutrauen, dass sie gewissermaassen einen Maassstab für
Verschiebung und Bewegung der Bruchenden besitzen und ihre
regenerative Thätigkeit danach einrichten und einstellen. Und in
der That geht die Production- des Callusgewebes oft in gänzlich
abweichender Art vor sich. Das ist jedem Praktiker aus eigener
Erfahrung bekannt, insbesondere seitdem das Röntgenbild eine ge¬
naue Controle aller Bildungs- und. Regenerationsvorgänge am
Knochen ermöglicht. Es kommen Fissuren und Infractionen zur
Beobachtung ohne jede Form Veränderung des Knochens, welche zu
reichlicher, oft überreichlicher Callusbildung Veranlassung geben.
• Andererseits finden wir stark dislocirte und bewegliche Bruch-
• stücke, welche nur unter sehr spärlicher und verspäteter Callus¬
bildung zur Vereinigung gelangen oder bei ausbleibender Consoli-
dation mangels einer ausreichenden Callusbildung zu dauernder
Pseudarthrose führen. Endlich finden wir gelegentlich bei Ver¬
letzungen der Knochen und ihrer Umgebung ohne eine Continuitäts-
trennung des eigentlichen Knochengewebes neugebildetes Callus-
gewebe in der Peripherie des getroffenen Knochenabschnittes,
welches weit in die benachbarte Musculatur hineinragen kann und
unter Umständen solche Ausdehnung annimmt, dass man mit Recht
von fracturlosen Callusgeschwülsten gesprochen hat. Ent¬
steht eine solche Callusgeschwulst nach einem Trauma gänzlich
im Bereiche der Musculatur ohne nachweisbaren Zusammenhang
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
363
mit dem Knochen oder ist sie nur durch eine schmale Knochen¬
brücke mit dem Gliedknochen verbunden, so ist das klinische Bild
der Muskelknochenbildung gegeben. Alle diese Callusbildungen
bieten nicht nur in histologischer Beziehung gleichartige Formver¬
hältnisse, sondern auch hinsichtlich ihrer Genese gehören sie in
eine gemeinsame Gruppe. Sammt und sonders sind sie auf ein
Knochentrauma zurückzuführen. Ohne gleichzeitiges Knochen¬
trauma giebt es keine Muskelknochenbildung, oder wenn man will,
keine Myositis ossificans. Das muss besonders hervorgehoben
w'erden gegenüber den Befunden der pathologischen Anatomen.
Es besteht keine Berechtigung mehr, weder in genetischer
noch in histologischer Beziehung einen Unterschied zwischen eigent¬
licher Callusbildung und traumatischer Muskelknochenbildung zu
machen, vielmehr findet sich eine fortlaufende Kette von Ueber-
gängen zwischen ihnen, vom parostalen Callus, der nur auf einer
Seite von Musculatur bedeckt ist, auf der anderen Seite dem ur¬
sprünglichen Knochengewebe anliegt, bis zum Muskelknochen
xai der ringsum nur von Muskelgewebe begrenzt ist. Ein
typisches Beispiel dieser Uebergänge zeigt das beigefügte Röntgen¬
bild, das von einem Falle multipler Muskelknochenbildung stammt,
den ich zu beobachten und zu operiren Gelegenheit hatte.
Nach einem einzigen Trauma, einem Bajonettstoss gegen den
linken Oberarm, waren im Verlaufe weniger Wochen an drei ver¬
schiedenen Stellen im Bereiche des M. brachialis Muskelknochen¬
bildungen aufgetreten. Das eine dieser neugebildetcn Knochen¬
stücke sass dem Humerusschafte breitbasig auf und mussto erst
durch einen Meisselschlag von seiner Oberfläche gelöst werden.
Es stellt also einen regelrechten parostalen Callustumor dar.
Die beiden übrigen Knochenbildungen lagen frei im Muskelgewebe
des Brachialis, völlig getrennt vom Knochenschafte, würden also
im eigentlichen Sinne als Muskelknochen zu gelten haben. In
histologischer Beziehung unterschieden sie sich in nichts von der
gewöhnlichen Callusbildung, nur fand sich an verschiedenen Stellen
nekrotisches Muskelgewebe zwischen den Knochenbälkchen und
Knorpelinseln eingelagert. Es kann nach der Art der Verletzung
wie nach der Art des Befundes keinem Zweifel unterliegen, dass
in diesem Falle das Periost des Humerus in ausgedehntem Maasse
verletzt war. Es sprach kein Grund gegen die Annahme, dass
Archir für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2.
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Dr. C. Pochhainmer,
die drei Knochengebilde sämmtlich in der gleichen Weise entstanden
seien, und dass ebenso wie die parostale Callusgeschwulst auf eine
Ablösung des Periosts zurückzuführen war, auch die übrigen beiden
Ossificationsgeschwülste durch eine Abreissung und Verlagerung
des Periosts zustande gekommen sein mussten. Es würde jeden¬
falls ein merkwürdiges Zusammentreffen bedeuten, wenn hier neben
der Periostablösung sich gleichzeitig ein besonderer Entzündungs-
process im Muskel abgespielt haben sollte, den als Myositis ossi-
ficans traumatica zu bezeichnen wir leider uns allzu sehr gewöhnt
haben.
Bass nicht das Trauma, nicht der Bluterguss oder die Muskcl-
quetschung und die darauffolgende traumatische Entzündung allein
die Ursache für die Ossification abgeben, sollte mich ein anderer
Fall lehren, der mir bald darauf von demselben Truppenärzte zur
Begutachtung und Röntgendurchleuchtung zugesandt wurde. Es
handelte sich ebenfalls um eine fast knochenharte Geschwulst im
Bereiche des M. brachialis, die nach einem Bajonettstoss entstanden
war. Das äussere klinische Bild war zunächst das gleiche wie in
dem vorigen Fall. Doch blieb jegliche Knochenbildung aus. Eine
Myositis ossificans traumatica stellte sich nicht ein. Der Blut¬
erguss und das gequetschte Muskelgewebe, durch welche die harte
Schwellung im Bereiche des Brachialis bedingt war, wurden all¬
mählich resorbirt. Das Periost war in diesem Falle offenbar un¬
verletzt geblieben.
So sehr diese Beobachtungen schon gegen die Möglichkeit
einer Myositis ossificans traumatica sprachen und die Fähigkeit des
intermusculären Bindegewebes zu selbstständiger Knochenbildung
nach erfolgtem Trauma zweifelhaft erscheinen Hessen, bin ich
doch dieser Frage auch auf experimentellem Wege näher getreten
und zwar bin ich den umgekehrten Weg gegangen, den seiner Zeit
Ollier und Berthier betreten haben, um künstliche Muskel¬
knochenbildungen und parostale Callusbildungen zu erzeugen.
Ich ging zunächst darauf aus, eine experimentelle Myositis
ossificans traumatica zu erzeugen, indem ich diejenigen Verände¬
rungen nachzuahmen suchte, welche nach allgemeiner Annahme bei
der Myositis ossificans traumatica als einem selbstständigen Krank¬
heitsbild eine Rolle spielen sollen. Das sind vor Allem der Blut¬
erguss und die durch die Muskelquetschung hervorgerufenen Gewcbs-
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
365
nekrosen, welche, wie wir gesehen haben, auch unter anderen
Umständen zu Verkalkung und Ossification Veranlassung geben
können. Die Versuchsanordnung war folgende: Ich bildete, wie
ich mich damals ausdrückte, einen „aseptischen Muskelsequester“,
indem ich ein Muskelstück aus dem Vastus ext. des Hundes her¬
ausschnitt und wieder in das blutende Lager zurückverpflanzte und
dann die Muskelwunde, den Fascienschnitt und Hautschnitt durch
exacte Naht wieder vereinigte. Ich stellte nach dieser Richtung
eine grössere Zahl von Versuchen an. Die Thiere durften vom
ersten Tage an frei herumläufen, und um den ßewegungsreiz zu
erhöhen, der, wie man annahm, auf die Entstehung der ossificirenden
traumatischen Entzündung besonders begünstigend einwirken sollte,
hatte ich eine eigene Laufmaschine construirt, auf der die Hunde
täglich mehrere Stunden lang in unausgesetzter Bewegung erhalten
wurden. Ferner modificirte ich die Versuchsanordnung noch da¬
durch, dass ich von der bis auf den Knochen reichenden Muskel¬
wunde aus die Knochenoberfläche und das deckende Periost mit
einigen kräftigen Hammerschlägen bearbeitete, um auch die Art
des Traumas, das die Myositis ossificans hervorbringt, in jeder Be¬
ziehung den wirklichen Verhältnissen entsprechend zu gestalten.
Doch alles fruchtete nichts. Eine Ossification kam nicht zu Stande.
Wohl aber bildete sich an Stelle der excidirten und reponirten
Muskelsequester und des zurückgelassenen Blutergusses ein festes
narbiges Bindegewebe, oder mit anderen Worten eine Muskel¬
schwiele, welche ungefähr ihrer Grösse nach dem vorher heraus¬
geschnittenen Muskelstück entsprach, vorausgesetzt, dass ein un¬
gestörter Heilungsverlauf eintrat. Auch das in der Nähe der
Knochenoberfläche gelegene Bindegewebe wies nicht die geringsten
Spuren einer ossificirenden Thätigkeit auf. Selbst die Einfügung
kleiner Stücke ausgeglühten Knochenkalkes in die Muskelwunde
änderte nichts an dem Erfolge. Die Stücke wurden von dem um¬
gebenden Bindegewebe eingekapselt, wie es auch sonst mit Fremd¬
körpern zu geschehen pflegt.
Nach diesen völlig negativen Ergebnissen ging ich nunmehr
dazu über, auch das Periost bei diesen Versuchen abzulösen.
Zwischen Knochenoberfläche und abgelöstes Periost verpflanzte ich
ein excidirtes Muskelstück. Es entstand dann jedesmal eine
parostale Gallusauflagerung an der betreffenden Stelle des
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366 Dr. C. Pochhammer,
Knochens. Eine umfangreichere Knochenbildung kam jedoch nicht
zu Stande.
Es ergab sich daraus die Folgerung, dass eine circumscripte
Ablösung und Abhebung des Periosts noch keineswegs zu einer
Callusentwickelung führe, wie wir sie bei den wirklichen Muskel¬
knochenbildungen zu beobachten gewohnt sind, ln der Folgezeit
benutzte ich nun zu meinen Versuchen Kaninchen, bei denen Peri¬
ostablösungen der langen Röhrenknochen sich leichter in grösserem
Umfange ausführen lassen, ohne die Thiere in ihrer Bewegungs¬
freiheit in Folge des Eingriffs allzusehr zu schädigen.
Es wurde zunächst das Periost des Oberschenkels von einem
Schnitt an der Aussenseite in der ganzen Circumferenz des eigent¬
lichen Schaftes des Röhrenknochens ringsum abgelöst, und soweit
es angängig war das abgelöste Periost an die Aussenfläche des
Knochens verlagert. Es entstand auf diese Weise eine Art „Periost¬
mulde“ zwischen den Muskeln an der Aussenseite des Schenkels.
In diese Mulde wurde ein ausgeschnittenes Muskelstück hineinge¬
lagert und dann die Fascie und Haut darüber vernäht. Nach 10
bis 14 Tagen entstanden nun in der That Knochenbildungen, die
in Form von längeren Stacheln, Zacken, Schalen und ähnlichen
Gebilden weit in die umgebende Musculatur des Oberschenkels
hineinragten und mit ihr verwachsen waren. Die Resultate waren
jedoch wechselnd, und, was mir besonders auffiel, die Knochen¬
bildungen entstanden stets im unteren Drittel des Oberschenkels
und hingen gewöhnlich dicht oberhalb der unteren Epiphyse mit
dem Knochenschafte zusammen, während das eingepflanzte Muskel¬
stück sich weiter oberhalb in mehr oder weniger nekrotischem Zu¬
stande vorfand. Die aufgenommenen Röntgenogramme lassen dies
deutlich erkennen.
Es ergab sich daraus, dass die parostalen Callusbildungen
hauptsächlich in den abhängigen Theilen der künstlich ge¬
bildeten Periostmulde zu Stande kamen, während die oberen
Theile des Schenkels, wo das Periost ebenfalls vom Femur¬
knochen abgelöst war, sehr wenig Neigung zur Knochenneubildung
erkennen Hessen. Das eingelagerte Muskelstück zeigte keinen er¬
kennbaren Zusammenhang mit den eingetretenen Ossificationen,
vielmehr hatte ich den Eindruck, dass die mangelnde Callus-
production in den höher gelegenen Abschnitten des Oberschenkels
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc. 367
zum Theil auf die Zwischenlagerung des Muskelsequesters zurück¬
zuführen war.
Diese Beobachtung führte nun auf die Ueberlegung hin, dass
bei der parostalen Callusbildung abgesehen vom Periost vor Allem
der Bluterguss eine gewisse Rolle spielen müsse. Das Blut
sammelte sich naturgemäss nach Beendigung des Eingriffs am
stärksten in den abhängigen Theilen an und dort trat auch jedes¬
mal am reichlichsten Callusbildung auf. Diese Möglichkeit einer
Einwirkung des Blutergusses auf die Mächtigkeit der parostalen
Callusentwickelung ist auch bereits von anderer Seite angedeutet
worden und Bier basirte seiner Zeit auf solchen Beobachtungen
und Ueberlegungen den Werth der von ihm zur Behandlung der
Pseudarthrosen empfohlenen Bluteinspritzungen. Er stellte dabei
das Zweckmässigkeitsprincip in den Vordergrund, indem er zugleich
hervorhob, dass das ergossene und eingepresste Blut den callus-
bildenden Elementen gewissermaassen als Nährmaterial dienen könne.
Ein exacter Beweis dafür, dass die Vermuthungen und Er¬
wägungen Bier’s auf einer richtigen Vorstellung beruhten, war
jedoch bisher noch nicht erbracht worden. Die Versuche
Schmieden’s, welche an künstlich hergestellten Fracturen ange¬
stellt wurden, sind nicht dazu angethan, allen Einwänden gegen
die Bier’sche Theorie von der Bedeutung des Blutergusses bei der
Callusbildung in überzeugendem Maasse zu begegnen.
Um mich zu vergewissern, ob in meinen ersten Versuchen
thatsächlich der in den abhängigen Theilen angesammelte Bluter¬
guss zu der stärkeren Callusentwickelung Veranlassung gegeben
hatte, stellte ich eine weitere Reihe von Versuchen an, in denen
ich den früher in die gebildete Periostmulde eingepflanzten Muskel¬
sequester durch Blut ersetzte. Ich spritzte nun nicht einfach
flüssiges Blut hinein, denn das würde wenig Zweck gehabt haben.
Einmal würde sich das flüssige Blut sofort wieder in den ab¬
hängigen Parthien des Gliedes angesammelt haben, andererseits
würde ich durch eine blosse Einspritzung niemals eine sichere Ge¬
währ dafür gehabt haben, dass das Blut thatsächlich in gewünschtem
Maasse mit dem abgeschälten Periost in Berührung kam. Ich
applicirte daher das Blut in geronnenem Zustande. Ich liess
das in einem Messgläschen aufgefangene Blut zunächst sich ab¬
setzen, so dass sich ein Blutkuchen bildete. Das ausgeschiedene
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Dr. C. Pochhammer,
Serum wurde abgegossen. Um die Fibrinbildung und die Scheidung
der flüssigen und festen Bestandteile noch mehr zu erhöhen, wurde
das abgesetzte Blut noch mit einem Glasstäbchen geschlagen und
gerührt und die sich ausscheidenden festen Gerinnsel von dem
Blutwasser befreit. Diese Gerinnsel, welche den eigentlichen
Blutkuchen darstellen, wurden in die inzwischen hergestellte
Periostmulde in der ganzen Ausdehnung des Oberschenkelschaftes
des Kaninchens eingelagert und die Wunde darüber durch fort¬
laufende Fascien- und Hautnaht geschlossen.
Das Resultat war nun zum Theil ein verblüffendes. Es ent¬
wickelte sich in einigen wohlgelungenen Versuchen eine solche
Callusmasse an der Aussenseite des Oberschenkels, dass man bei¬
nahe den Eindruck erhielt, als wolle sich ein zweiter Knochen
neben dem ursprünglichen Knochenschafte bilden, welcher diesen
an Dicke fast übertraf. Die aufgenommenen Röntgenbilder, sowie
die angefertigten Photographien legen davon Zeugniss ab.
Histologisch erwies sich das neugebildete Gewebe als echtes
Callusgewebe mit zahlreichen Knorpelinseln, osteoidem Gewebe und
spongiösen Knochenbildungen, die von eingelagerten Markräumen
vielfach unterbrochen wurden.
Das so erzeugte parostale Callusgewebe bildete indes keines¬
wegs immer eine einheitliche, zusammenhängende Masse. An zahl¬
reichen Stellen wird es von breiten Zügen dichten faserigen Binde¬
gewebes unterbrochen, welche unmittelbar in das Knorpel- und
Knochengewebe übergehen.
Ferner erstrecken sich von den Rändern der neu entstandenen
Callusgeschwülste Züge neugebildeten Knorpel- und Knochengewebes
oft weit zwischen die Muskelfasern der Umgebung hinein und rufen
den Eindruck hervor, als sei die Callusproduction von dem inter¬
stitiellen Gewebe der angrenzenden Musculatur ausgegangen. Diese
intermusculäre Callusbildung ist jedoch dadurch zu erklären, dass
die Muskelfasern selbst unmittelbar in dem Periost inscriren. Das
bindegewebige Perimysium der Musculatur geht ohne scharfe Grenze
in die Bindegewebsschichten des Periosts über. Beim Ablösen des
Periosts, das oft nicht ohne einige Gewalt, unter Zerrung und
Quetschung der unmittelbar angrenzenden Musculatur vor sich geht,
ziehen sich einzelne Muskelfasern stärker, andere weniger stark
zurück. Bei diesem Retractionsvorgang werden nun Theilc des an-
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc. 369
haftenden Periosts mitgerissen und mitten zwischen die Musculatur
verlagert. Die auf diese Weise zwischen die Muskelbündel ver¬
lagerten Osteoblasten rufen aber ebenso gut Callusbildung hervor,
wie die auf der Periostmembran haften gebliebenen Zellen der
Cambiumschicht. Die mikroskopischen Bilder, deren Einzelheiten
noch an anderer Stelle besprochen werden, weisen auf derartige
Vorgänge mit aller Deutlichkeit hin.
Auch das interstitielle Bindegewebe der Musculatur ist in
Folge der eingetretenen Verletzung in Wucherung gerathen. Un¬
mittelbar neben den eingelagerten Schichten periostaler Callusbildung
finden sich Züge dichteren fibrösen Gewebes zwischen den Muskel¬
fasern vor, welche auf eine gleichzeitig erfolgte Wucherung und
Vermehrung der bindegewebigen Bestandtheile der gezerrten und
gequetschten Muskeln hindeuten. Von einer allgemeinen Umwand¬
lung der bindegewebigen Elemente der Musculatur in Callusgewebe,
wie man auf anderer Seite zu erweisen versucht hat, kann jedoch
nicht die Rede sein, trotzdem Bedingungen vorhanden sind, welche
unter Umständen, wie bereits besprochen wurde, eine solche Um¬
wandlung des jungen fibrillären Bindegewebes in osteogenes Gewebe
zur Folge haben können. Denn in Folge des operativen Traumas
kommt es auch an zahlreichen Stellen zur Nekrose des benachbarten
Muskelgewebes, und die nekrotischen Muskelfasern scheinen beim
Kaninchen wenigstens eine ausgesprochene Neigung zur Verkalkung
zu haben. Schon 4—5 Tage post operationem sind in den mikro¬
skopischen Präparaten massenhaft solche Kalkablagerungen in den
nekrotischen Muskelfasern zu finden. Ich habe Anfangs geglaubt,
dass diese Veränderungen zur Callusbildung in Beziehung stehen
könnten, habe mich aber von dem Gegentheil überzeugen müssen.
Der Kalk verschwindet mit fortschreitender Resorption des unter¬
gegangenen Gewebes wieder, eine Umwandlung des um die ver¬
kalkten Muskelabschnitte vorhandenen Bindegewebes in knochen-
bildendes Gewebe findet nicht statt, so sehr ich mich auch bemüht
habe, nach solchen Uebergängen zu suchen. Es handelt sich hier
offenbar nur um vorübergehende Kalkablagerungen, welche vielleicht
mit der in Folge der Periostablösung eingetretenen Entblössung
und Schädigung der Knochenoberfläche Zusammenhängen. Je mehr
aber die eigentliche Callusentwickelung fortschreitet, um so seltener
werden die Kalkablagerungen im nekrotischen Muskelgewebe. Der
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Dr. C. Pochhammer,
wieder resorbirte Kalk findet dann augenscheinlich bei den peri¬
ostalen Ossificationsproccssen eine bessere Verwendung. Es handelt
sich demnach nur um eine vorübergehende Calcificirung unter¬
gehender Gewebsbestandtheile, welche zu einer Umbildung des
Bindegewebes in Knochengewebe wie bei der heteroplastischen
Knochenbildung nicht Veranlassung giebt.
Das Knorpel- und Knochengewebe der künstlich erzeugten
parostalen Callusgeschwülste, welche zum Theil mit der Knochen¬
oberfläche des Femurschaftes im Zusammenhang stehen, zum Theil
aber auch gänzlich frei im Bereiche der Musculatur liegen, ist ledig¬
lich periostaler Herkunft. Durch die Anwesenheit der geron¬
nenen Bestandtheile des Blutes wird zugleich die Mächtigkeit der
Callusentwickelung in erheblichem Grade gefördert. Dieser Schluss
darf aus den angestelltcn Experimenten ohne Zweifel gezogen werden.
Ein Einwand musste jedoch in Betracht gezogen werden. Es
war möglich, dass der Bluterguss nicht durch specifische Eigen¬
schaften des geronnenen Blutes die stärkere Callusproduktion zur
Folge hatte, sondern dass er einfach als Fremdkörper wirkt und
der Fremdkörperreiz an sich schon eine stärkere Callusbildung her¬
vorbringt.
Die vorausgegangenen Versuche, in denen statt des Blutkuchens
ein Muskelstück in die Periostmulde eingelagert wurde, machten
eine blosse Fremdkörperwirkung allerdings wenig wahrscheinlich.
Um aber sicher zu gehen, habe ich in einigen Versuchen noch
andere fremdartige, aber resorbirbare Stoffe zwischen Knochenober¬
fläche und abgelöstes Periost eingebracht. Zu solchen Zwecken
geeignet erschien vor allen Gelatine und Agar-Agar. Sie er¬
wiesen sich indes als gänzlich wirkungslos im Vergleich zu dem
Blutkuchen. Die Knochenneubildung war verhältnissmässig gering,
sie erschien sogar fast geringer, als wenn eine blosse Ablösung
des Periosts erfolgt wäre ohne Anwendung eines Fremdkörper¬
reizes. Dabei ist ausserdem noch zu berücksichtigen, dass die Ent¬
stehung und Einwirkung eines Blutergusses auch bei einfacher
Periostablösung und Frcmdkörpereinlagerung sich niemals gänzlich
ausschliessen lässt.
Des weiteren habe ich, weil seit altersher dem Jod eine be¬
sondere Reizwirkung auf die Callusbildung zugeschrieben wurde,
auch hiermit einige vergleichende Versuche angestellt, die jedoch
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
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sehr zu Ungunsten des Jods auslielen. Zunächst vertrugen die
Kaninchen die Jodapplication in die Gewebe ira allgemeinen sehr
schlecht. Verschiedene Thiere, denen Jodsalbe oder einige Tropfen
Tinctura Jodi auf das abgelöste Periost gebracht war, gingen sehr
bald nach der Operation zu Grunde. Ich beschränkte mich daher
in der Folge darauf, die innere Schicht des abgelösten Periosts
und die Knochenoberfläche leicht mit einem in Jodtinctur befeuch¬
teten Wattebausch zu betupfen. Durch dies Verfahren wurde jedoch
die Callusproduction keineswegs in erheblichem Maasse angefacht,
in einzelnen Fällen erschien sie sogar besonders im Anfang deut¬
lich gehemmt. Ferner hatte die Jodapplication bei einem Kaninchen
eine sehr unerwünschte und unerwartete Nachwirkung im Gefolge.
Fs trat trotz oberflächlicher callöser Verdickung des Oberschenkel¬
knochens noch nach fast fünf Monaten eine Spontanfractur des
Femur ein, mit welcher das Thier todt aufgefunden wurde. Wie
das Röntgenbild zeigte, war eine Callusbildung um die Bruchlinie
nicht aufgetreten. Es fand sich dort ein eigentümlich lichter
Schatten, der, wie die Section ergab, aus eingedicktem Eiter be¬
stand. Die Operationswunden waren glatt verheilt. Später aufge¬
nommene Röntgenbilder hatten nichts von einer Eiterung ergeben.
Es ist anzunehmen, dass die Eiterung erst secundär durch die
Fractur entstanden war. Jedenfalls erscheint es auf Grund einer
solchen Beobachtung notwendig, die Einwirkung der Jodtinctur
auf das Knochengewebe genau zu prüfen, ehe wir sie ohne weiteres
zur Anregung der Callusbildung in die Gewebe einzuspritzen em¬
pfehlen können. Es muss der absolute Beweis der Unschädlichkeit
solcher Injectionen erbracht werden.
Aus diesen vergleichenden Versuchen ergiebt sich, dass dem
Blutkuchen eine specifische Wirkung auf das Maass der Callus¬
bildung zuzukommen scheint, und dass nicht nur der vermehrende
Reiz des Fremdkörpers dabei eine Rolle spielt. Fragen wir nun,
welchem Bestandteil des geronnenen Blutes die Anregung der
Proliferation des Callusgewebes zukoramt, so kommt in erster Linie
dafür das Blutfibrin in Betracht. Es bildet den resistenteren
Theil des Blutes gegenüber den flüssigen Bestandteilen, die einer
leichteren Ausbreitung und Verteilung und dem entsprechend
rascheren Resorption in den durch das Einsetzen der traumatischen
Entzündung veränderten Geweben unterliegen. Auch der Blutfarb-
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Dr. C..Pochhammer,
sioff diffundirt schnell in die Umgebung und verursacht die be¬
kannte Verfärbung der bedeckenden Hautabschnitte. Das ausge¬
fällte Fibrin, das zum Theil aus dem Blutplasma, zum Theil aber
auch aus dem Stroma der eingeschlossenen Blutkörperchen stammt,
und demgemäss als Plasmafibrin und Stromafibrin unterschieden
worden ist, bleibt am Orte der Verletzung bezw. der arteficiellen
Verlagerung zurück und bildet dort ein feines Filzwerk von Faser¬
stoff, das sich mit den angrenzenden Gewebstheilen mehr oder
weniger fest verbindet.
Aus den Untersuchungen Marchand’s und Anderer wissen wir
nun, dass das Fibrin beim Process der Wundheilung an sich eine
hervorragende Rolle spielt. Es kommt dabei nicht nur das Blut¬
fibrin als solches in Betracht, sondern nach jeder Gewebsläsion
scheidet sich aus dem flüssigen Exsudat, das durch die trauma¬
tische Entzündung hervorgerufen wird, Fibrin durch Gerinnung aus-
Es verhält sich chemisch und histologisch genau wie das Blutfibrin.
Durch das Fibrin wird die erste Verklebung zweier getrennter
Wundflächen herbeigeführt und die feinen Fasernetze des Fibrins
dienen, wie Marchand sich ausdrückt, den eindringenden Bildungs¬
zellen gewissermaassen als Leitbahnen. Das ausgeschiedene und
ausgetretene Fibrin bleibt demgemäss nicht als blosse Zwischen¬
substanz in den entstandenen Gewebslücken liegen, sondern es
hat nothwendigerweise eine Wucherung und Neubildung der Zellen
der angrenzenden Gewebsbestandtheile zur Folge. Die Zellproli¬
feration dauert wenigstens so lange an, als ausgeschiedenes Fibrin
in den entstandenen Gewebslücken vorhanden ist.
Bei der einfachen Wundheilung wird in dieser Weise das Fibrin
durch wuchernde Bindegewebszellen ersetzt, aus denen dann später
die bindegewebige Narbe resultirt. Ist jedoch das extravasirte
Blutfibrin und das ausgefällte Exsudatfibrin nicht nur von Binde¬
gewebe begrenzt, sondern finden sich unter den begrenzenden Schichten
auch abgelöste und verlagerte Theile des Periosts, so gerathen die
Osteoblasten ebenso wie die ihnen stammverwandten Bindegewebs-
zellcn in Wucherung und an Stelle des einfachen gewucherten
Bindegewebes, das wir schlechthin als Granulationsgewebe zu be¬
zeichnen pflegen, entsteht das specifische Callusgewebe. Die Osteo¬
blasten sind demnach ebenfalls in der Lage, genau so wie die
Bindcgewebszellen das in den Gewebslücken vorhandene Fibrin
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lieber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
373
durch entsprechende Zellwucherung zu ersetzen. Die Organisation
des extravasirten und exsudirten Fibrins geht nicht nur von den
Abkömmlingen des Bindegewebes, sondern auch des specifischen
Periostgewebes aus. Solange nicht organisirtes Fibrin vorhanden
ist, solange dauertauch die Zellproliferation der benachbarten Osteo¬
blastenschicht des Periosts an. Es handelt sich demnach bei der
Callusbildung um einen combinirten Process der Gewebs-
proliferation, bei dem neben den Bindegewebszellen vorzugs¬
weise die Osteoblasten den Hauptantheil der Zellvermehrung
tragen.
Es ergiebt sich aber zugleich aus diesen Beobachtungen und
Untersuchungen, dass das Maass der Callusbildung abhängig
ist von der Masse des vorhandenen Fibrins und zwar kommt
dabei naturgemäss nur dasjenige Fibrin für die Entwickelung des
Callusgewebes in Betracht, das unmittelbar mit den osteopla¬
stischen Gewebsschichten, insbesondere den wuchernden Osteo¬
blastenzellen in Contact kommt. Das Exsudatfibrin wird durch
das gleichwerthige Blutfibrin vermehrt und die Callusbildung wird
im Falle einer Knochenverletzung mit Periostablösung und -Ver¬
lagerung um so reichlicher ausfallen, je grösser das Blutextravasat
ist, das sich in unmittelbarer Umgebung der verletzten Knochen-
theile gebildet hat. Aus diesen Gründen wird es verständlich,
warum wir unter Umständen bei geringfügiger Continuitätstrennung
des Knochens ein Uebermaass von Callusbildung antreffen können,
während andererseits bei weiter Auseinanderlagerung der Knochen¬
fragmente die Entwickelung des Callusgewebes sehr gering sein
kann. Der Dislocation und Beweglichkeit der Fragmente kommt
dabei nur ein relativer Werth zu, soweit eben die Grösse des
Blutergusses zu der Verschiebung und Bewegung der Bruchstücke
in Beziehung steht.
Für die Mächtigkeit der Callusbildung kommen demnach zwei
Grössen in Betracht, einmal die Verletzung, Abreissung
und Verlagerung knochenbildender Gewebsbestandtheile,
zweitens die Bildung von Exsudatfibrin und Blutfibrin im
Bereiche des verletzten Knochengewebes. Durch sie allein
wird die Lage und Masse des neugebildcten Callusgewebes be¬
dingt, alle anderen. Momente sind daneben von untergeordneter Be¬
deutung.
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374
Dr. C. Pochhammor,
Ich kann jedoch diese Besprechung über den Einfluss des Fibrins
bei der Callusbildung nicht abschliessen, ohne auf die Arbeiten von
Salo Bergei aus Hohensalza über die Wirkungen des Fibrins hin¬
gewiesen zu haben. Er sieht in dem Fibrin, das er künstlich als
getrocknetes Pulver aus dem Blute von Pferden herstellt, ein all¬
gemeines Schutz- und Heilmittel für den Organismus. Es
soll leukotaktische, hyperämisirende, fermentative, gra-
nulations- und bindegewebsbildende sowie bakterien¬
hemmende und andere Eigenschaften besitzen. Unter diesem Ge¬
sichtspunkte hat er auch versucht,-zur Anregung der Callusbildung
bei Knochenbrüchen eine Fibrinemulsion unter das Periost zu spritzen
analog den ßier’schen Bluteinspritzungen und auf dem diesjährigen
Chirurgencongress Präparate von Kaninchenknochen gezeigt, an
denen es ihm gelungen war, durch subcutane Injectionen von Fibrin¬
emulsion unter das Periost kleine Knochenauflagerungen am Schien¬
bein zu erzeugen, wie sie auch sonst bei Periostitis ossificans nach
Traumen bei gleichzeitiger Verletzung der Knochenoberfläche zu
entstehen pflegen. Diese Einspritzungen sind nun an und für sich
nicht ungefährlich. Denn trotz aller Vorsicht wird es nicht zu
vermeiden sein, dass die Canülenspitze unter Umständen in eine
Vene geräth und die injicirte Fibrinemulsion dort zur Throm¬
bosenbildung mit allen ihren Gefahren und Folgeerschei¬
nungen Veranlassung giebt. Zweitens dürfte zu bedenken sein,
dass die Einspritzung eines artfremden Fibrins in einen anders
beschaffenen Organismus nicht ohne weiteres als gleichgültig an¬
zusehen ist. Bisher ist wenigstens die Identität des Fibrins der
verschiedenen Thicrspecies noch keineswegs erwiesen worden. Viel¬
mehr giebt Bergei selbst zu, dass bei seinen Versuchen am
Menschen in einigen Fällen sehr heftige locale und allge¬
meine Reactionen aufgetreten sind. Derartige Experimente am
Menschen dürften aber nicht immer Jedermanns Einverständnis
und Billigung finden.
Ich habe nun in anderer Weise die Brauchbarkeit des Bergei -
schen Präparates an Thieren ausgeprobt, indem ich auf Ein¬
spritzungen von vornherein verzichtete, sondern das sterilisirte Fi¬
brinpulver direct in eine künstlich geschaffene Periostmulde an
Stelle des früher benutzten Blutkuchens einbrachte. Bei vergleichenden
Untersuchungen zeigte sich, dass das künstlich hergestellte Fibrin
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Ueber die Entstebang parostaler Callusbildungen etc. 375
wenigstens beim Kaninchen, soweit die Anregung der Callusbildung
in Betracht kommt, dem natürlichen artgleichen Blutkuchen nur in
geringem Maasse nachsteht. Die zum Vergleich aufgenommenen
Röntgenbilder lassen meist an beiden Beinen eine reichliche Callus¬
bildung erkennen. Immerhin dürfte aus den schon angegebenen
Gründen sowie mit Rücksicht auf Einfachheit und Billigkeit die
Anwendung des Blutkuchens zwecks Anregung einer natürlichen
Callusbildung stets vorzuziehen sein. Auf den praktischen Werth
und die etwaige therapeutische Ausnutzung dieser Untersuchungs¬
ergebnisse werde ich zum Schluss noch zurückkommen.
Den Ausgangspunkt meiner Untersuchungen bildeten ursprüng¬
lich nur rein wissenschaftliche Fragen: die Betheiligung des Binde¬
gewebes bei der parostalen Callusbildung und der sogenannten
Myositis ossificans. Ich glaube, dass auf Grund der angestellten
Experimente eine metaplastische Bethätigung des Bindegewebes bei
der Bildung des eigentlichen Callusgewebes ausgeschlossen werden
kann. Alle diejenigen befinden sich im Irrthum, welche lediglich
in Anbetracht tinctorieller Verhältnisse bei der Untersuchung des
Callusgewebes einen directen Zusammenhang und Uebergang der
knorpel- und knochenbildenden Elemente in Bestandteile des Binde¬
gewebes gefunden haben und daraus die Abkunft eines Theiles des
Callusgewebes aus Bindegewebe abgeleitet haben. Dieser Schluss
hat keine Berechtigung, solange es nicht gelingt, aus Bindegewebe
echtes Callusgewebe herzustellen, das von dem heteroplastischen
Knochengewebe, wie wir gesehen haben, in vieler Beziehung völlig
verschieden ist. Ausserdem bleibt zu berücksichtigen, dass die
Osteoblasten höher differencirte Bindewebszcllen sind, welche neben
ihren specifischen Functionen der Knochenneubildung die ursprüng¬
liche Fähigkeit zu gleichzeitiger Bindegewebsentwickelung nicht
eingebüsst zu haben brauchen.
Obschon aus diesen Erörterungen, sowie vor Allem aus den
angestellten experimentellen Untersuchungen und den erhobenen
histologischen Befunden zur Genüge hervorgehen dürfte, dass die
parostale Callusbildung auf die proliferirende Thätigkeit von Osteo¬
blasten zurückzuführen ist, welche abgerissenen, verlagerten und
versprengten Theilen des Periosts entstammen, kann ich es mir
doch nicht versagen, auch im Einzelnen nochmals auf die Ein¬
wände des Näheren einzugehen, welche gegen die Annahme der
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376
Dr. C. Poohhammer,
Entstehung von parostalem Callusgewebe aus Bindegewebe geltend
gemacht werden müssen, selbst wenn ich mich dabei dem Vor¬
wurfe der Wiederholung schon angeführter Thatsachen aussetzen
sollte. Eine solche eingehende Besprechung erfordert insbesondere
die schon mehrfach erwähnte Arbeit von Orth über die parostale
Callusbildung, zumal auf deren Ergebnissen vielfach Anschauungen
fussen, die wir in gangbaren Lehrbüchern vertreten finden, und
auch weitere Hypothesen und speculative Betrachtungen über das
Wesen der Knochenneubildung und Gewebsumwandlung aufge¬
baut sind.
Orth hebt zunächst als Beweis für die metaplastische Ent¬
stehung des parostalen Callusgewebes aus Bindegewebe den Um¬
stand hervor, dass „nirgendwo sich zweifellose Osteoblasten an
den Callusbälkchen gefunden hätten“. Demgegenüber muss betont
werden, dass gerade bei der Myositis ossificans, welche auf
knochenbildende Eigenschaften des intermusculären Bindegewebes
zurückgeführt wird, sämmtliche Untersucher darauf hingewiesen
haben, dass fast überall reihenweise angeordnete Osteoblasten den
neugebildefen Knochenbälkchen angelagert vorgefunden wurden.
Busse und Blech er sprechen bei der Beschreibung der ver¬
schiedenen von ihnen untersuchten Präparate von Myositis ossi¬
ficans sogar von einem „Saum grosskerniger Osteoblasten, der den
zierlich gefügten Knochenbälkchen wie ein Epithelbesatz aufsitzt“.
Auch wir konnten diesen Befund in unseren Präparaten multipler
Muskelknochenbildung mit voller Deutlichkeit erheben. Anderer¬
seits haben wir — und das scheint in diesem Zusammenhänge
besonders wichtig — in unseren künstlich durch Periostablösung
gewonnenen Calluspräparaten vielfach Stellen gefunden, wo die
neuentstandenen Knochenbälkchen die Einfassung durch eine an¬
gelagerte Osteoblastenschicht vermissen Hessen. Es scheint, dass
die reihenförmige Anordnung der Osteoblastenzellen erst in späteren
Stadien der spongiösen Knochenentwicklung stattfindet, während
bei der ersten Anlage des osteoiden Gewebes die in Wucherung
gerathenen Osteoblasten noch in ungeordneter Form hervortreten:
Auch in dem Orth’schen Falle hat es sich offenbar noch um ein
relativ junges Callusgewebe gehandelt, das noch ohne besondere
Entkalkung in histologische Schnitte zerlegbar war. Die Osteo¬
blasten traten daher noch nicht durch typische Form und An-
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Ueber die Entstehang parostaler Callusbildungen etc.
377
Ordnung hervor. Das Lagevcrhältniss der Osteoblasten zu den
Callusbälkchen kann überhaupt in keiner Weise als ein Unter¬
scheidungsmerkmal dafür angesehen werden, ob ein Callusgewebe
periostalen Ursprungs ist oder möglicher Weise. durch Gewebs-
metaplasie aus Bindegewebe hervorgegangen ist. Findet sich doch
gerade auch bei der heteroplastischen Knochenbildung der erwähnte
Osteoblastenbesatz an den Knochenbälkchen vor, und
Sacerdotti und Frattin beobachteten ebenfalls bei den experi¬
mentell in der Kaninchenniere erzeugten Knochenbildungen, dass
„an gewissen Stellen mit dem metaplastischen Knochen eine Reihe
schöner Osteoblasten in unmittelbarem Contact steht“. Der Be¬
weis einer metaplastischen Entstehung des Callusgewebes aus dem
Umstand mangelnder Schichtung der Osteoblastenzellen muss als
hinfällig angesehen werden.
Des Weiteren wird nun vor Allem von Orth für die gewebs-
metaplastische Bildung von Callusgewebe aus Bindegewebe der
Umstand geltend gemacht, dass nach den histologischen Befunden
die neu gebildeten Callusbälkchen sich an ihren Enden vielfach in
feinste Fasern auflösen, welche unmittelbar in die Bindegewebs¬
fasern übergehen und mit diesen in unmittelbarem Zusammenhang
stehen. Diese feinfaserigen Fortsätze der Callusbälkchen stimmen
auch tinctoriell völlig mit den Bindegewebsfasern überein, so dass
man den Eindruck erhält, als ob die Callusbälkchen direct durch
„Homogenisirung und Verdickung und schliesslich Zusammenschluss
von Bindegewebsfasern zu einer anscheinend gleichmässigen Grund¬
substanz“ entstanden seien.
Soweit die Befunde Orth’s, an deren objectiver Beobachtung
und ein wandsfreier Feststellung nicht der geringste Zweifel zu er¬
heben ist. Nur den Schlussfolgerungen, die Orth daraus gezogen
hat, kann nicht ohne Weiteres in gleicher Weise zugestimmt werden.
Bei objectiver Betrachtung ergiebt sich aus den erhobenen
Untersuchungsbefunden zunächst, dass die neu gebildeten jungen
Callusbälkchen im mikroskopischen Präparat unter Umständen an
ihren Enden eine Auffaserung in feinste Fibrillen erkennen lassen,
welche sich in ihrer Färbbarkeit von den Fasern des angrenzenden
Bindegewebes nicht unterscheiden und auch in die Faserzüge des
Bindegewebes überzugehen scheinen. Daraus darf gefolgert werden,
dass die von den Callusbälkchen ausgehenden Fasern in ihrer
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378
Dr. C. Pochhammer,
chemischen Beschaffenheit eine gewisse Gleichartigkeit mit den
Bindegewebsfasern besitzen. Sowohl das Bindegewebe wie auch
das zurückbleibende Stützgewebe entkalkter Knochen geben beim
Kochen Leim, d. h. Glutin.
Wir wissen nun .aus den Untersuchungen v. Ebner’s u. A.,
dass auch die Knochengrundsubstanz aus feinsten Fibrillen zu¬
sammengesetzt ist, welche durch eine Zwischensubstanz, eine Art
interfibrillärer Kittsubstanz zusammengehalten werden. Bei der
nahen Verwandtschaft zwischen Knochengewebe und Bindegewebe
kann es nicht wunderbar erscheinen, dass die feinsten Fibrillen
der Knochengrundsubstanz besonders in aufgefasertem und mehr
oder weniger isolirtem Zustande sich in chemischer Beziehung und
auch hinsichtlich ihrer Tinctionsfähigkeit ähnlich verhalten wie die
Fibrillen der Grundsubstanz des Bindegewebes.
Die Knochenzelle, der knochenbildende Osteoblast, ist ursprüng¬
lich ein Abkömmling des embryonalen Bindegewebes und wegen
seiner besonderen Eigenschaften und Beziehungen zur Knochen¬
bildung als eine höher differenzirte Bindegewebszelle aufzufassen.
Wenn wir die Grundsubstanzen der verschiedenen Gewebe, die der
Reihe der Bindesubstanzen angehören, als Ausscheidungsproducte
zelliger Elemente ansehen dürfen, so ergiebt sich, dass auch die
Osteoblasten zur Bildung einer aus feinsten Fibrillen zusammen¬
gesetzten Grundsubstanz fähig sind, in ähnlicher Weise wie die
Fibroblasten des Bindegewebes die feinsten Fasern der ver¬
schiedenen Bindegewebsbündel hervorbringen. Wodurch sich jedoch
die Thätigkeit dieser beiden Zellarten unterscheidet, das ist die
Verschiedenheit der verbindenden Kittsubstanz, welche die ent¬
standenen Faserzüge zusammenhält. Während diese Substanz bei
dem einfachen Bindegewebe keine besonderen Merkmale aufweist
und gegen die eigentlichen Fibrillen zurücktritt, ist sie beim
Knochengewebe in besonderer Weise mit Kalksalzen imprägnirt,
wodurch die Festigkeit und Stützfähigkeit der Knochenbälkchen,
sowie bei weiterer Entwickelung das feste Gefüge der Knochen¬
lamellen bedingt ist. Die feinen Knochenfibrillen verlieren unter
dem Process der Calcinirung den bei den verschiedenen Färbever¬
fahren ihnen eigenthümlichen Farbenton. Er wird modificirt und
ändert sich je nach dem Grade und der Art der Imprägnirung der
verbindenden Grundsubstanz mit Kalksalzen. Die Fibrillen selbst
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc. 379
entziehen sich unter diesen umgestalteten Verhältnissen des Ge-
webschemismus mehr und mehr der Wahrnehmung, so weit die
üblichen Färbemethoden in Betracht kommen. Diese Schluss¬
folgerungen dürfen wir ohne Zweifel aus den erhobenen Tinctions-
befunden machen. Sie besagen aber nichts über die Herkunft der
nebeneinander Vorgefundenen und ineinander übergehenden Fibrillen¬
arten.
Wenn bei einer Gewebsläsion Fibroblasten und Osteoblasten
zu gleicher Zeit in Wucherung gerathen, so wird dort, wo die ge¬
wucherten Elemente beider sich treffen, die neugebildete Grund¬
substanz vielfach einen variirenden Charakter aufweisen, je nachdem
Osteoblasten bei ihrer Entstehung mehr oder weniger mitgewirkt
haben oder ausschliesslich Fibroblasten betheiligt sind. Diese
wechselnden Uebergänge zwischen fibroblastischer und osteo-
blastischer Grundsubstanz einerseits oder Bindegewebsfasern und
Knochenbälkchen andererseits dürfen aber nicht dazu verleiten, eine
Entstehung von Callusgewebe lediglich aus Elementen des Binde¬
gewebes zu folgern. Klinische Erfahrungen sowie eine Reihe ex¬
perimenteller Befunde sprechen durchaus gegen diese Annahme,
wie bereits mehrfach erörtert wurde.
Von besonderer Wichtigkeit erscheinen unter diesem Gesichts¬
punkt auch die von uns erhobenen histologischen Befunde. Die
durch Periostablösung und Einlagerung von Blutkuchen oder
Fibrin experimentell erzeugten parostalen Callusbildungen weisen
in vielen Schnitten ähnliche Structurverhältnisse und Beziehungen
des Knochengewebes zum Bindegewebe auf, wie Orth sie bei der
histologischen Untersuchung seines natürlichen Calluspräparates
vorgefunden und als Beweis für eine directe Umwandlung von
Bindegewebe in Callusgewebe angesprochen hat.
Die innigen Beziehungen, die zwischen dem in Bildung be¬
griffenen Callusgewebe und dem gewucherten jungen Bindegewebe
bestehen, ergaben sich vor Allem aus Präparaten, die dadurch ge¬
wonnen waren, dass bei einem Kaninchen das Periost sammt an-
anhängender oder anlagernder Muskelschicht vom Schafte des Ober¬
schenkelknochens abgelöst war und nunmehr Blutkuchen in die
aus dem abgelösten Periost und der abgedrängten Musculatur ge¬
bildete Weichtheilmulde eingelagert wurde. Nach 6 Tagen wurde
die völlig geschlossene Wunde wieder eröffnet und die um den ent-
ArehiT für klio. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2. 95
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380
Dr. G. Pochbammer,
blössten Femurschaft gelegenen Weichtheile mitsammt den Resten
des eingepflanzten ßlutkuchens herausgeschnitten. Die excidirten
Stücke wurden zwecks histologischer Untersuchung in gewöhn¬
licher Weise fixirt, gehärtet, geschnitten und gefärbt.
Bei der Untersuchung von Schnitten, welche die Grenze zwischen
den vom Knochen abgelösten Weichtheilen und dem eingelagerten
Blutkuchen getroffen hatten, ergab sich nun, dass nicht nur die
zelligen Elemente des interstitiellen Bindegewebes in Wucherung
gerathen waren und sich schichtweise gegen die angrenzenden Theile
des bereits lytischen Veränderungen unterworfenen Blutkuchens
vorschoben, sondern dass mit ihnen auch die Osteoblasten des ab¬
gelösten Periosts an der Gewebsproliferation theilnahraen. In der
beigefügten Abbildung I ist noch ein Theil des fast entfärbten, nur
noch aus Fibrin und einigen zurückgebliebenen Zelltrümmern be¬
stehenden Blutkuchens sichtbar. Es folgt dann die sogenannte
Randzone, welche fast ausschliesslich aus neugebildeten rothen
Blutkörperchen und feinen Fibrinfasernetzen besteht. Durch sie wird
gewissermaassen eine Vorstufe der neu sich anlegenden Gefäss-
capillaren dargestellt. An diese Randzone grenzt das wuchernde
junge Granulationsgewebe, das zugleich in reichlichstem Maasse
von neugebildeten Gefässcapillaren durchsetzt ist. Besonders deut¬
lich treten diese in fortgesetzter Sprossung und Neubildung be¬
griffenen Gefässcapillaren in unmittelbarer Nähe der Randzone her¬
vor. Es hat den Anschein, als ob die in den feinen Gefässcapil¬
laren enthaltenen rothen Blutkörperchen unmittelbar in die Schicht
angesammelter rother Blutkörperchen übergehen, welche die Rand¬
zone charakterisiren.
In den weiter zurückliegenden Schichten des gewucherten Gra¬
nulationsgewebes nimmt die Zahl der Gefässcapillaren allmählich
ab; um so zahlreicher aber treten zwischen den spindelförmig an¬
geordneten Zellen ,neugebildete Bindegewebsfasern hervor, die theils
nebeneinander parallel verlaufen, theils sich in den verschiedensten
Richtungen durchkreuzen. Das Gewebe wird dichter, sein Gefüge
allmählich fester, ln dieser Uebergangszone lockeren jungen Binde¬
gewebes zu dem eigentlichen fibrösen Gewebe finden wir nun, wie
die Darstellung des gewonnenen histologischen Präparates erkennen
lässt, zwischen den feinen neugebildeten Bindegewebsfasern unregel¬
mässige, aber zusammenhängende Züge einer anders geformten,
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
381
breiter und massiger erscheinenden, aber ebenfalls faserähnlichen
Gewebssubstanz, welche sich auch durch intensivere Rothfärbung
von den zarter gefärbten Bindegewebsfasern deutlich abheben. Sie
zeigen im Gegensatz zu den feinen Bindegewebsfibrillen eine mehr
homogene, dichtere Beschaffenheit, ihre zartesten Ausläufer ver¬
lieren sich jedoch ohne scharfe Grenze zwischen den Bindegewebs¬
fasern und gehen auch in deren matteren Farbenton allmählich
über. Es scheint demnach ein dontinuirlicher Zusammenhang
zwischen den Zügen dieser besonders differenzirten Gevvebssubstanz
und den eigentlichen Bindegewebsfasern zu bestehen.
Aus der weiteren Betrachtung des Präparats lässt sich un¬
schwer erkennen, dass wir es hier mit den ersten Anfängen neu
sich bildender osteoider Bälkchen zu thun haben. Im Inneren der
Bälkchen, sowie auch an einzelnen Stellen ihrem Rande angelagert
treten schon deutlich grössere, plumpere Zellformen hervor, welche
sich scharf von den feinen, spindelförmigen Bindegewebszellen unter¬
scheiden und ihrer Gestalt und Lage nach dem Typus der Osteo¬
blasten entsprechen. Eine reihenförmige Anordnung dieser Zellen
um die im Entstehen begriffenen Callusbälkchen ist noch nicht
überall wahrnehmbar; vielfach liegen sie noch ungeordnet zwischen
den mit ihnen gleichzeitig in Wucherung gerathenen Bindegewebs¬
zellen, von denen sie besonders während des Entwickelungsstadiums
nicht immer scharf und deutlich unterschieden werden können.
Eine endgültige Sonderung beider Gewebsarten und Zellformen
hat noch nicht Platz gegriffen. Trotzdem lässt sich ohne Zweifel
erkennen, dass eine Neubildung von Callusbälkchen nur an solchen
Stellen vor sich geht, wo gewucherte Osteoblasten vorhanden sind,
und dass andererseits das gewucherte Bindegewebe und die jungen
Bindegcwebszellen an dem Aufbau der eigentlichen Callusbälkchen
völlig unbetheiligt sind, so sehr auch die einzelnen Gewebselemente
beider Gewebsarten miteinander verbunden sind und ineinander
überzugehen scheinen. Aus diesen Uebergangsbildern bei gleich¬
zeitig und nebeneinander erfolgender Bildung von jungem Callus-
gewebe und Granulationsgewebe auf das Vorhandensein einer Ge-
websmetaplasie zu schliesscn, besteht nicht die geringste Berechti¬
gung. Solange sich histologische Bildungsformen auf einfache ge¬
netische Vorgänge zurück führen lassen, brauchen wir uns nicht auf
metaplastische Vorstellungen zu versteifen.
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382
Dr. C. Pochhammer,
Der innige Zusammenhang mit dem Muskelgewebe und Muskel¬
bindegewebe wird ebenfalls häufig als Beweis für eine directe Ent¬
stehung des parostalen Callusgewebes aus dem interstitiellen Binde¬
gewebe hingestellt. „Wenn einzelne Muskelfasern und kleinste
Faserbündelchen durch Bindegewebe und Callusraassen auseinander
gedrängt erscheinen, die Callusbälkchen gleichsam in die Muscu-
latur infiltrirt erscheinen“, glaubt Orth eine befriedigende Erklä¬
rung des Befundes nur in der Annahme gefunden zu haben, „dass
der Callus unabhängig vom Periost aus dem örtlichen Gewebe
entstanden ist, dass nicht nur der Lage nach, sondern auch der
Genese nach parostaler, speciell intermusculärer Callus vor¬
liegt“.
Wie wenig diese Annahme zutrifft und berechtigt ist, lassen
indessen wiederum unsere histologischen Befunde experimenteller
parostaler Callusbildung erkennen. Es gelingt bei den Versuchen
der Periostablösung und -Verlagerung nur in beschränktem Maasse,
das Periost in völlig isolirtem Zustande abzuheben und zu ver¬
schieben; an zahlreichen Stellen hängt die angrenzende Musculatur
so fest und innig mit der bindegewebigen Periostoberfläche zu¬
sammen, dass eine sichere, glatte Trennung der einzelnen Schichten
nicht nur äusserst mühsam und schwierig, sondern geradezu un¬
möglich ist. Periost und inserirende Muskelfasern reissen beim
Abheben im Zusammenhang von der Knochenoberfläche ab. Die
abgelösten Muskelfasern ziehen sich zurück je nach dem Grade
ihrer Spannung und Contractilität und fest anhaftende Periosttheile,
oft kleinster Dimensionen, folgen den zurückweichenden Muskel¬
fasern, die ihrer Verlaufsrichtung entsprechend neben andere und
zwischen andere Muskclbündel verlagert werden. Auf diese Weise
■werden osteoplastische Gewebsbestandtheile inmitten zwischen ein¬
zelne Muskelfaserzüge nach Maassgabe der einwirkenden Gewalten
gleichsam hineingezogen, hineingepresst und verstreut. Die Folge
dieser rein mechanischen Vorgänge aber ist, dass wir bei der histo¬
logischen Untersuchung solcher abgelösten, abgerissenen und ver¬
lagerten Muskelschichten zwischen den theils erhaltenen, theils ver¬
änderten Muskelbündeln je nach der Zeit, die seit dem Eingriff
verstrichen ist, förmliche Züge neugebildeten Callusgewebes an¬
treffen, "welche zum Theil den angrenzenden Muskelfasern parallel
gerichtet verlaufen, zum Theil aber auch die sich kreuzenden oder
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
383
nebeneinander gelegenen Muskelbündel durch ihr fortschreitendes
Wachsthum auseinander gedrängt zu haben scheinen.
Die beigegebene Abbildung II, eines Schnittes, der von einem
6 Tage alten experimentellen Calluspräparate stammt, stellt eine
Schicht neugebildeten Callusgewebes dar, die als schmaler Streifen
zwischen benachbarte Muskelfaserzüge eingelagert und gleichsam
eingesprengt ist. Auf der einen Seite dieses Callusstreifens findet
sich eine Schicht dichteren, parallelfaserigen Bindegewebes, von
dem zarte Züge neugebildeten feinfaserigen Bindegewebes zwischen
die einzelnen Callusbälkchen treten und sie zum Theil völlig trennen.
An zahlreichen Stellen, besonders dort, wo das Callusgewebe noch
im Entstehen und in Wucherung begriffen ist, enthält dieses zwischen
den Callusbälkchen gelegene feinfaserige Bindegewebe zahlreiche
Gefässeapillaren und geht ohne scharfe Grenze in das ihm benach¬
barte und völlig gleich beschaffene junge Granulationsgewebe über.
Dies blutreiche feinfaserige Bindegewebe zwischen den Callusbälk¬
chen stellt das neugebildete Markgewebe dar, während die Schicht
dichteren parallelfaserigen Bindegewebes, von der es ausgegangen
ist, den ebenfalls gewucherten bindegewebigen Antheil der ursprüng¬
lichen Periostmembran bildet. Auf der anderen Seite ist diese
bindegewebige Periostschicht von Muskelgewebe begrenzt, dessen
gewucherte und verbreiterte Züge interstitiellen Bindegewebes un¬
mittelbar in die Bindegewebszüge der Periostmembran übergehen.
Eine scharfe Trennung und deutliche Abgrenzung der Bindegewebs¬
faserzüge dieser einzelnen Schichten ist nicht möglich, sie setzen
sich continuirlich von einer Schicht in die andere fort, stehen dem¬
nach in ununterbrochener Verbindung.
Das mit dem Periost zusammenhängende Muskelgewebe lässt
ausserdem zwischen unveränderten Muskelfasern zahlreiche unter¬
gehende, in Zerfall begriffene und durch Kalkablagerung veränderte
Muskelfaserzüge erkennen. In der Umgebung dieser schollig zer¬
fallenen und verkalkten Muskelbündel ist das interstitielle Binde¬
gewebe in besonderem Maasse gewuchert und weist eine erhebliche
Zellvermehrung auf. Irgend eine Veränderung, die auf eine Um¬
wandlung dieses gewucherten intermusculären Bindegewebes in
Callusgewebe hindeuten könnte, fehlt jedoch vollkommen, obschon
abgelagerter Kalk in den nekrotischen Muskellibrillen in hinreichen¬
dem Maasse vorhanden ist.
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384
Dr. C. Pochhammer,
Der neugebildete Callusstreifen ist ein Product periostaler
Elemente trotz seiner Einlagerung in Muskelgewebe und Binde¬
gewebe. Auch auf der dem Periost abgewandten Seite grenzt er
an Gewebsschichten, die ebenfalls aus Muskelgewebe und ge¬
wuchertem jungen Bindegewebe bestehen. In dem mikroskopischen
Bilde, das von unserem Präparat gezeichnet ist, ist zwar der Zu¬
sammenhang der Schichten an der betreffenden Stelle durch eine
künstlich in Folge der Paraffineinbettung entstandene Gewebslücke
unterbrochen. Thatsächlich haben aber diese Gewebsschichten mit
dem neugebildeten Callusstreifen in unmittelbarer Verbindung ge¬
standen, wie die weitere Durchmusterung des mikroskopischen
Präparates ergeben hat. Aus technischen Gründen allein konnte
dieser thatsächlich bestehende Zusammenhang in der wiedergegebenen
Copie nicht mit zur Darstellung gebracht werden. Die Binde-
gewebszüge, welche den gewucherten bindegewebigen Antheil der
ursprünglichen Periostmembran darstellen, setzen sich schliesslich
in eine Bindegewebsschicht fort, welche die beiden den Callus¬
streifen umfassenden Muskelgewebspartien mit einander verbindet
oder mit anderen Worten ein die verschiedenen Muskelzüge trennen¬
des Fascienblatt bildet.
Die engen Beziehungen, die unter Umständen zwischen inter-
musculärer Bindegewebswucherung und periostaler Callusbildung
bestehen, treten sehr deutlich auch in einer Abbildung III eines
histologischen Präparates hervor, das von einem 9 Tage alten
künstlichen Callusproduct eines Kaninchens stammt. Das massen¬
haft neugebildete Knorpelgewebe und die osteoiden Callusbälkchen
erstrecken sich weit zwischen die Muskelbündel hinein, indem sie
in ihrer Ausbreitung und in ihrem Wachsthum unmittelbar dem
ebenfalls in Wucherung gerathenen und vermehrten intermusculären
Bindegewebe folgen und ohne scharfe Grenze in die gewucherten
Bindegewebsmassen allmählich übergehen. Die einzelnen Faserzüge
setzen sich aus dem interstitiellen Bindegewebe unmittelbar in die
Knorpelschicht und die osteoiden Callusbälkchen fort. Es fehlt
jede Möglichkeit, eine genaue Grenzlinie zu construiren, wo das
Knorpelgewebe und osteoide Gewebe aufhört und das gewucherte
Bindegewebe anfängt. Es hat den Anschein, als seien beide aus
derselben Matrix hervorgegangen, d. h. den gewucherten Binde¬
gewebsmassen des Perimysiums. Nach Anlage und Ausführung
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lieber die Eutstehung parostaler Callusbildangen etc.
385
der angestellten Experimente kann aber kein Zweifel darüber be¬
stehen, dass auch die intermusculäre Callusbildung ledig¬
lich auf die Betheiligung periostaler Gewebsschichten an
der durch das künstliche Trauma hervorgerufenen Ge¬
websneubildung zurückzuführen ist.
Es geht aus unseren Versuchen mit voller Gewissheit hervor,
dass die Frage nach der Entstehung des parostalen Callusgewebes
bei einem Knochenbruch durch histologische Untersuchungen und
tinctorielle Befunde nicht allein entschieden werden kann. Die
Innigkeit des Zusammenhanges des gewucherten Bindegewebes und
des neugebildeten Callusgewebes giebt unter Umständen zu Täuschun¬
gen Anlass, welche zu falschen Vorstellungen über die Herkunft
des parostalen Callusgewebes geführt haben.
Auch über das Wesen der heteroplastischen Knochenbildung
und ihr Zustandekommen auf dem Wege der Bindegewebsmeta-
plasie haben histologische Studien allein bisher eine befriedigende
Aufklärung nicht bringen können. Der Begriff der Gewebsmeta-
plasie, d. h. die Umbildung einer bestimmten bereits vorhandenen
und fertig entwickelten Gewebsart in eine andere verwandte Ge-
websart lässt sich nicht ohne Weiteres auf die Beziehungen zwischen
Bindegewebe und Knochengewebe übertragen. Auch bei der hetero¬
plastischen Knochenneubildung finden sich typisch ausgebildete
Osteoblasten vor, über deren Herkunft und Art der Entwickelung
aus fixen Bindegewebszellen bisher noch keineswegs sichere und
eindeutige Beobachtungen vorliegen. Die Frage der Verschleppung
von Osteoblasten auf dem Wege des Blut- und Lymphstroms,
die Ribbert seiner Zeit angeschnitten hat, kann noch nicht als
endgültig abgethan und erledigt zu Gunsten einer metaplasti¬
schen Theorie über die Entstehung des Knochengewebes angesehen
werden.
In diesem Zusammenhänge ist nun neuerdings wieder der Ver¬
such gemacht worden, auf experimentellem Wege zu beweisen, dass
die Osteoblasten zu ihrer Weiterentwickelung stets des Zusammen¬
hanges mit dem Bindegewebe bedürfen und dass etwa durch ein
Trauma von ihrem periostalen Mutterboden losgelöste und auf dem
Wege des Lymphstromes in den Geweben fortgeschleppte und ver¬
lagerte Osteoblasten zu Grunde gehen und keine Knochenbildung
nach sich ziehen. Aus dem Orth’schen Institut ist eine solche
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386
Dr. C. Pocbhammer,
Arbeit vor Kurzem durch einen Japaner veröffentlicht worden. Die
Transplantation der von der Cambiumschicht des Tibiaperiostes
abgeschabten Osteoblasten in eine Muskelschicht des Oberschenkels
ergab in etwa 40 Versuchen ein negatives Resultat, wurde dagegen
das Periost selbst in kleinste Theile zerzupft und transplantirt, so
ergab sich wenigstens in 15 pCt. der vorgenommenen UeberPflan¬
zungen eine echte Callusbildung. Diese Versuchsergebnisse mussten
um so mehr überraschen, als gerade durch Untersuchungen Anderer
erwiesen war, dass die Zellen des Periostes verhältnissmässig lange
„überleben“ und die vorzügliche Transplantationsfähigkeit des
Knochenhautgewebes bedingen.
Es schien mir aus diesem Grunde nothwendig, mich selbst
von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser auffälligen Resultate
zu überzeugen. In mehreren Versuchen Umschnitt ich bei Kanin¬
chen das Periost des Schienbeins an den beiden Seitenkanten des
Knochens, verband die Seitenschnitte durch einen Querschnitt in
Höhe der Tuberositas tibiae und präparirte nun die Knochenhaut
mit dem Elevatorium von oben nach unten ab. Es entstand auf
diese Weise ein länglicher gestielter Periostlappen, der an seinem
Stiel nach unten umgeschlagen und auf einen bereit gehaltenen
Spatel so aufgezogen wurde, dass die Cambiumschicht mit Sicher¬
heit als freie Fläche nach oben lag, während die bindegewebige
Aussenfläche des Periostes dem Spatel auflag. Nunmehr wurden
mit dem Messerrücken die Osteoblastenzellen von der Cambium¬
schicht abgestrichen und auch von der periostlosen Knochenober¬
fläche noch einige Abstriche gemacht. Das an dem Messerrücken
haften gebliebene klebrige Zellmaterial wurde dann unmittelbar in
einen vorher angelegten Spalt in der Oberschenkelmusculatur ein¬
gepflanzt und die Fascien- und Hautwunde darüber vernäht. Der
in seiner Continuität vollständig erhaltene Tibiaperiostlappen wurde
in seine ursprüngliche Lage zur Bedeckung des Schienbeins wieder
zurückgebracht. Schon nach 10—14 Tagen war im Röntgenbilde
an der Stelle der Ueberpflanzung ein kleiner, meist punktförmiger
Knochenschatten sichtbar. In zwei Fällen habe ich die Trans-
plantationsstellc später excidirt und sofort Knorpel- und Knochen¬
bildung auch histologisch ohne Schwierigkeit nachweisen können,
wie die beigefügte Zeichnung eines mikroskopischen Schnittes er¬
kennen lässt.
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
387
Diese positiven Ergebnisse dürften ohne Weiteres den Beweis
liefern, dass die Osteoblasten des Periostes auch nach Abtrennung
von ihrem Mutterboden in mehr oder weniger isolirtera Zustande
die Fähigkeit zur Knorpel- und Knochenbildung bewahren. Die
Möglichkeit der Knochenneubildung in Folge Verlagerung ver¬
sprengter Osteoblasten durch den Lymph- und Blutstrom innerhalb
der Gewebe ist demnach nicht zu bezweifeln.
Aus allen diesen Untersuchungen ergiebt sich aber die unab¬
weisbare Folgerung, dass wenigstens jegliche Callusbildung, die im
Anschluss an ein Knochentrauma auftritt, auch wenn sie sich in
ungewöhnlicher Lage und Massenhaftigkeit zeigt, auf die prolife-
rirende Thätigkeit periostaler oder myelogener Osteoblasten zurück¬
zuführen ist. Das Bindegewebe kommt für die osteoplastischen
Vorgänge bei der Myositis ossificans und der parostalen Callus¬
bildung nicht in Betracht. Der Begriff der Myositis ossificans
traumatica beruht auf einer irrthümlichen Auffassung histogeneti-
scher Bildungsvorgänge und ist als eine unsachgemässe Be¬
zeichnung aufzugeben. Die heteroplastische Knochenbildung
scheint dagegen mit einer langsam und allmählich sich vollziehenden
Umwandlung junger bindegewebiger Elemente in osteoplastisches
Gewebe in Zusammenhang zu stehen.
Zum Schluss sei es mir nun gestattet, noch einige Beob¬
achtungen über die künstliche Callus-Erzeugung beim
Menschen in Kürze mitzutheilen. Ich habe Gelegenheit gehabt, in
zwei Fällen den Blutkuchen als ein Mittel auszuproben, durch das
wir in den Stand gesetzt sind, die verzögerte oder ausgebliebene
Callusbildung anzuregen und zu befördern.
In dem ersten Falle handelte es sich um eine gesunde, kräftige
Frau von 30 Jahren, die sich einen Bruch des linken Unterarms
etwa in der Mitte zugezogen hatte. Zunächst wurde sie ambulant
behandelt. Da jedoch nach 18 Tagen noch keine Neigung zur
Consolidation bemerkbar war, wurde ihr der Rath gegeben, sich
in die Klinik aufnehmen zu lassen. Die Stellung der Bruchstücke
war für eine Heilung nicht ungünstig, und obschon ein deutlicher
Knochencallus nicht vorhanden war, wurde doch noch ein Versuch
gemacht, durch fixirende Verbände eine Consolidation zu erzielen.
Eine Spur von Callusbildung war auch nach 31 Tagen durch das
Röntgen bild, namentlich an der Ulna, nachzuweisen und bei einer
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Dr. C. Pochhammer,
Nachschau nach 45 Tagen schien die Festigkeit des Armes erheb¬
lich zugenommen zu haben. 4 Tage später indess, also genau
7 Wochen nach Eintritt der ursprünglichen Fractur kam es in Folge
einer heftigen Schleuderbewegung zu einer vollständigen Refractur
des Unterarmes genau an der alten Bruchstelle. Die Bruchstücke
waren gegeneinander beweglich, wie bei einer alten Pseudarthrose.
Nunmehr wurde nicht länger mit der Knochennaht gezögert. Auf
eine Anfrischung der Bruchstücke wurde dabei verzichtet, wohl
aber das Periost rings um die Enden beider Knochen eine kurze
Strecke weit abgehebelt und nach Anlegung der Naht, soweit mög¬
lich, geronnener Blutkuchen aufgelegt, dann Fascie und Haut dar¬
über exact vereinigt. Der Wundverlauf war reactionslos, nach
5 Wochen war vollkommene Consolidation eingetreten und später
aufgenommene Röntgenbilder lassen vor Allem an der Aussenseite
der genähten Knochen, wo der Blutkuchen auf die Knochennaht
aufgelagert war, eine reichliche Callusbildung erkennen, trotzdem
eine Dislocation der Bruchenden in Folge der Naht nicht bestand.
Das Callusgewebe ist zum Theil wie eine verbindende Brücke über
die Bruch- und Nahtlinie hinweggewachsen. Ich glaube, dass dieser
Fall keinen Zweifel an der Brauchbarkeit des Verfahrens lassen
wird. Der Blutkuchen befördert und vermehrt die Callusbildung,
sofern proliferationsfähiges, osteoplastisches Gewebe vorhanden ist
und mit ihm in Berührung tritt. Ist das Letztere nicht der Fall,
so ist auch die Implantation des Blutkuchens werthlos.
So sehr das Verfahren der Periostablösung und Einlagerung
von Blutkuchen auf Grund des vorliegenden Falles, sowie der vor¬
ausgegangenen experimentellen Studien zur Vorbeugung und Heilung
der Pseudarthrosenbildung bei Knochenbrüchen empfohlen werden
muss, so sehr erscheint es auch nothwendig, im Hinblick auf eine
weitere Beobachtung eines Falles, bei dem das Verfahren zur An¬
wendung kam, von vornherein auf die Grenzen auch dieser Methode
der Pseudarthrosenbehandlung hinzuweisen, um nicht trügerische
Hoffnungen zu erwecken und durch unsachgemässe Empfehlung und
verfehlte Anwendung die an sich leistungsfähige Methode in Miss-
credit zu bringen. Es würde ein Fehler sein, in der Periostab¬
lösung und Blutkucheneinlagcrung ein Allheilmittel für jede Pseud¬
arthrose zu erblicken. Es giebt eben Pseudarthrosen, wo auch die
Einbringung von Blutkuchen in die Umgebung der Bruchstelle an
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Ueber die Entstehung parostaler Gallusbildungen etc.
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sich nutzlos ist und unwirksam bleibt. Das sind vor Allem die¬
jenigen Pseudarthrosen, welche bereits mit anderen Mitteln und
nach anderen Methoden erfolglos vorbehandelt wurden. Sind während
der vorausgegangenen Behandlung Maassnahmen zur Ausführung
gelangt, bei denen auf eine möglichste Schonung und Erhaltung
der osteoplastischen Elemente der gebrochenen Knochentheile nicht
in genügendem Grade Bedacht genommen ist, sind die osteogenen
Zellschichten des Periosts durch eine unzweckmässige Vorbehandlung
in weiterem Umfange geschädigt, zerstört und untergegangen, so
fehlen die osteoplastischen Formbestandtheile des Knochens, mit
anderen Worten die Osteoblasten, ohne die eine Entstehung und
Production von Callusgewebe, wie immer wieder betont werden
muss, nicht zu Stande kommt. Die Organisation des eingelagerten
Blutkuchens wird unter solchen Umständen lediglich von Elementen
des Bindegewebes besorgt. An Stelle des gewünschten Callusge-
webes entsteht ein fibröses Narbengewebe oder eine Bindegewebs-
schwiele, durch deren Anwesenheit die Callusbildung nicht nur
nicht begünstigt und befördert wird, sondern im Gegentheil sogar
erschwert und verhindert werden kann.
In dem folgenden Fall von Pseudarthrosenbildung, bei dem
ich neben der Knochennaht und Periostablösung die Wirkungen des
eingelagerten Blutkuchens zu erproben Gelegenheit hatte, treten
diese verschiedenen Umstände, von denen der Eintritt der Callus¬
bildung und somit auch der Erfolg des Verfahrens abhängig ist, in
sehr eelatanter Weise hervor.
Es handelte sich um einen 35jährigen Knecht, G. Kl., aus
dessen früherer Lebensgeschichte hervorzuheben ist, dass er im
Alter von 20—26 Jahren häufig an epileptischen Krämpfen ge¬
litten haben soll. Ferner giebt er selbst zu, früher sehr an Alkohol
gewöhnt gewesen zu sein. In seinem ganzen Wesen macht der
Patient einen etwas beschränkten Eindruck.
Vor 2 Jahren (21. 9. 08) zog er sich einen Bruch des linken
Oberarms zu, und zwar war der Bruch dadurch zu Stande ge¬
kommen, dass ihm das Hinterrad eines mit Heu beladenen Wagens,
neben dem er zu Fall gekommen war, über den linken Arm hin¬
wegging. Der Arm soll damals vollkommen schlaff herunterge¬
hangen haben, ohne dass er ihn bewegen konnte. Zunächst wurde
er mehrere Wochen lang mit Gypsverbänden behandelt; später
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Dr. C. Pochhammer,
wurde auch noch ein Bardenheuer’scher Streckverband angelegt,
aber eine Consolidation der Bruchenden kam trotz aller Bemühungen
nicht zu Stande.
Etwa 3 Monate nach dem Unfall 15. 12. 08) wurde daher in
Esmarch’scher Blutleere nach Anfrischung der Bruchenden zum
ersten Male die Knochennaht ausgeführt. Zwischen beiden Knochen¬
enden fand sich ein trennender Muskelstrang vor. Der Bruch
selbst war ursprünglich ein Schrägbruch dicht oberhalb der Mitte
der Humerus-Diaphyse gewesen.
Nach Ablauf von zwei Monaten waren die Bruchenden jedoch
noch völlig gegeneinander beweglich. Eine knöcherne Vereinigung
war trotz der Knochennaht nicht eingetreten. Auch weitere Maass¬
nahmen, wie das Beklopfen der Bruchstelle, Einspritzungen von
Tinctura Jodi und Alcohol absolutus, ferner mehrfach wiederholte
Blutinjectionen nach Bier in den Bereich der Bruchstelle führten
nicht zum Ziel und änderten nichts an dem Fortbestand der Pseud-
arthrose.
7 Monate nach dem ersten erfolglosen Eingriff (16. 7. 09)
wurde daher ein zweiter blutiger Eingriff vorgenommen. Die
Knochenenden wurden nochmals freigelegt, angefrischt und durch
eine Silberdrahtnaht verbunden. Rings um die Bruchstelle und theils
zwischen die Knochenenden wurde aber ausserdem noch ein Periost¬
lappen gelegt, der frisch von der Tibiaoberfläche des Patienten ent¬
nommen war. Trotz völlig aseptischen Wundverlaufs und Fixirung
des Arms im Streckverband war nach weiteren zwei Monaten eine
Consolidation der Bruchenden nicht eingetreten. Die Pseudarthrose
war unverändert, die Musculatur des Armes war in Folge des
langen Nichtgebrauchs mehr und mehr atrophisch geworden.
Das zweimalige gänzliche Versagen der Knochennaht gab nun
Veranlassung, einen Versuch mit der Knochenbolzung zu machen.
Drei Monate nach der zweiten Knochennaht (13. 10. 09) wurden
die Bruchenden über einem Knochen bolzen aus der Tibia vereinigt,
der in die ausgelöffelte Markhöhle eines jeden der beiden Bruch¬
stücke gesteckt und fest eingekeilt wurde. Da nach 4 Wochen
eine gewisse Festigkeit des Knochens eingetreten zu sein schien,
wurde der Arm zur Anregung der Callusbildung noch jeden Tag
gestaut und die Bruchstelle beklopft. Alle Maassnahmen wurden
ständig unter sachgemässester ärztlicher Controle ausgeführt. Trotz-
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
391
dem stellten sich nach drei Monaten wiederum Zeichen einer ab¬
normen Beweglichkeit und deutliche Crepitation an der alten Bruch¬
stelle ein. Röntgenaufnahmen zeigten, dass das untere Ende des
eingekeilten Knochenbolzens allmählich zu einer Usurirung und Er¬
weiterung der Markhöhle des unteren Huraerusfragments geführt
hatte; ausserdem war der Knochenbolzen selbst entsprechend der
Bruchlinie deutlich zunehmender Resorption verfallen und schliess¬
lich mitten durchgebrochen. Weitere nachträgliche Jodinjectionen
und die Verabfolgung von Thyreoidintabletten änderten nichts an
dem abermals gezeitigten totalen Misserfolg. Mit Recht konnte
dieser Fall als hoffnungslos für jedes weitere Eingreifen bezeichnet
werden.
Durch den günstigen Erfolg, der in dem ersten Fall erzielt
worden war, verleitet, liess ich mich jedoch dazu bewegen, auch
in diesem zweiten, von vornherein wenig aussichtsreichen Falle das
Verfahren der Periostablösung und Biutkucheneinlagerung zu ver¬
suchen. Ein halbes Jahr nach der letzten erfolglosen Operation
wurden die beiden Bruchstücke nochmals unter Esmarch’scher
Blutleere freigelegt. Dabei zeigte sich, dass der obere Theil des
durchgebrochenen Knochenbolzens mit dem oberen Fragment fest
verschweisst und anscheinend knöchern verbunden war. Die Mark¬
höhle war durch das eingetriebene und eingewachsene Knochenstück
vollkommen ausgefüllt und verschlossen. Die Markhöhle des
unteren Fragments war dagegen offen, erweitert und theil weise mit
Granulationen ausgefüllt. In ihr steckte locker eingebettet der
untere Rest des zerbrochenen Knochenbolzens, der wie ein nekro¬
tisches Knochenstück erschien und entfernt wurde. Die Knochen¬
rinde liess in der Umgebung der veränderten Markhöhle deutlich
die Zeichen der Knochenresorption erkennen. Knochengewebsneu¬
bildung fehlte vollkommen, auch in der Umgebung der Knochen¬
enden waren Spuren deutlicher Callusbildung nicht nachzuweisen.
Dagegen war das parostale Bindegewebe im Bereich der ßrueh-
enden deutlich vermehrt und narbig-schwielig verändert. Es war
mit den Knochenstümpfen fest verwachsen und musste theils scharf,
theils stumpf von der Knochenoberfläche abgetrennt werden. Ein
deutliches, unverändertes Periostgewebe, das sich leicht von der
Knochenoberfläche hätte abhebeln lassen, war überhaupt nicht mehr
vorhanden. Das schwielige Narbengewebe, das im Bereiche der
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Dr. C. Pochhammer,
Bruchstelle sich vorfand, setzte sich auch in die umgebende, fast
völlig atrophisch gewordene Musculatur fort. In unmittelbarer
Nähe der Bruchstelle war der Nervus radialis in solches schwielige
Narbengewebe eingebettet und fest umwachsen. Nur mit Mühe
gelang es, ihn aus den schwartigen Verwachsungen allmählich zu
lösen und bei Seite zu schieben.
Bei der nun folgenden Vereinigung der Bruchstücke wurde von
einer Anfrischung der Knochenenden abgesehen, vielmehr wurde
das in Folge der Eintreibung des Knochenbolzens konisch sich ver¬
jüngende obere Fragment nach Möglichkeit in die erweiterte Mark¬
höhlenöffnung des unteren Bruchstückes eingepasst und hineinge¬
schoben und beide Bruchstücke in dieser Lage durch eine Draht¬
naht fixirt, deren untere Schlinge zugleich durch die Knochenwand
des unteren Bruchstückes und die Spitze des in das obere Frag¬
ment getriebenen Knochenbolzens geführt wurde. Dann wurden
Stücke geronnenen Blutes, das zuvor durch Punction der rechts¬
seitigen Ellbogenvene gewonnen war, um die Nahtstelle herum,
zwischen Knochenoberfläche und abgchebelte Weichtheile eingelegt,
in der Hoffnung, dass in dem narbigen Gewebe in unmittelbarer
Nähe der Bruchstelle noch Reste osteoplastischer Substanz vor¬
handen sein möchten, welche in Verbindung mit dem eingelagerten
Blutkuchen zur Bildung von Callusgewebe führen könnten.
Diese Hoffnung wurde indes getäuscht. Trotz völlig aseptischen
Heilungsverlaufs, zweckmässiger Schienung und nachfolgender
Massage kam eine knöcherne Heilung der Pseudarthrose abermals
nicht zu Stande.
Eine Complication aber, die als Folge der Operation eintrat,
darf nicht unerwähnt bleiben, da sie auf den Heilerfolg in diesem
Falle sicherlich ebenfalls in äusserst ungünstiger Weise einwirken
musste, das ist eine complette Blutleerlähmung des linken Armes,
die in unmittelbarem Anschluss an den Eingriff sich zeigte und
alle drei Armnerven gleichmässig betraf. Die Esmarch’sche Binde
■war im Verhältniss zu der bereits vorhandenen Atrophie der Ober-
armmusculatur zu fest angelegt worden und hatte eine länger
dauernde Schädigung und Unterbrechung der Nervenleitung im Ge¬
folge. Motilität und Sensibilität waren unterhalb der Achselhöhle
im Bereiche des linken Armes vollständig aufgehoben. Erst im
Verlaufe mehrerer Wochen und Monate wurden allmählich die ein-
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
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getretenen Nervenstörungen unter zweckentsprechender Behandlung
einigermaassen wieder ausgeglichen. Dass unter solchen Umständen
auch die trophischen Functionen in dem gelähmten Gebiet beein¬
trächtigt waren und demgemäss auch die Regenerationsvorgänge im
Bereich der angelegten Knochennaht in ungünstiger Weise beein¬
flusst wurden, kann keinem Zweifel unterliegen. Es würde aber
ein Fehler sein, das negative Resultat auch dieses missglückten
Eingriffs lediglich dem Umstand des Eintritts der Blutleerlähmung
zuzuschreiben. Der Ausfall der Callusbildung und das Ausbleiben
der Consolidation ist vielmehr im Wesentlichen auf den Mangel
osteoplastischer Gewebselemente in der Umgebung der Bruchstelle
zurückzuführen, ohne die eine regelrechte Callusentwickelung nicht
zu Stande kommt. Auch in gelähmten Gliedmaassen kommen
Brüche bei richtiger Reposition der Fragmente unter regelrechter
Callusbildung zur Heilung.
Es kann nicht geleugnet werden, dass in diesem Falle, abge¬
sehen von den constitutionellen Momenten, dem chronischen Alko¬
holismus und der vorausgegangenen Epilepsie, eine Summe von
ungünstigen Bedingungen sich vereinigt haben, welche die Heilung
einer Pseudarthrose erschweren und verhindern. Von den localen Ver¬
änderungen fallen die eingetretene Muskelatrophie und die operative
Blutleerlähmung als erschwerende Momente für einen Heilerfolg bei
der Pseudarthrose weniger ins Gewicht, als der Schwund der osteo¬
plastischen Elemente und die Zunahme des schwieligen Narben¬
gewebes oder mit anderen Worten des Bindegewebes im Bereiche
der Bruchstelle. Das Bindegewebe allein, selbst im unmittelbarsten
Zusammenhang mit dem Knochengewebe der atrophisch gewordenen
Bruchenden, ist nicht in der Lage, trotz reizender Jod- und Alkohol-
injectionen, trotz Bluteinspritzungen und schliesslich Blutkuchen¬
einlagerung, C’allusgewebe hervorzubringen, es sei denn, dass noch
Reste osteoplastischer Gewebsbestandthcile mit. ihm verbunden oder
in ihm vorhanden sind.
Als Lehre ergiebt sich aber aus dieser Erfahrung, dass bei
einer veralteten, vielfach und vergeblich vorbehandelten Pseud¬
arthrose nothwendig ist, zunächst das schwielige, gewucherte Binde¬
gewebe, das die Bruchenden fest umwachsen hat und die Bildung
eines Callusgewebes meist verhindert, möglichst radical zu ent¬
fernen. Naturgemäss ergiebt sich daraus in den meisten Fällen
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auch die Nothwendigkeit der Anfrischung der Bruchenden. Diese
Anfrischung muss sich wenigstens auf diejenigen Knochentheile er¬
strecken, welche von dem schwielig-narbigen Bindegewebe um¬
wachsen sind. Die Knochenenden müssen nach der Anfrischung
von gesundem unveränderten Periost bedeckt sein oder eine peri¬
phere Callusumwallung aufweisen, sonst ist die Resection der Bruch¬
enden unvollkommen und zwecklos und hat zumeist wiederum eine
Pseudarthrosenbildung im Gefolge.
Die Anwesenheit osteoplastischer Gewebssubstanzen im Bereiche
der Bruchstelle ist eine Vorbedingung für jeden Versuch, eine
Pseudarthrose zur Heilung zu bringen. Aus dieser Erkenntniss
sind auch die Versuche, durch Ueberpflanzung von Periost- oder
Periostknochcnlappen (König-Müller) oder durch freie Periost¬
knochenplastiken (v. Bramann) bei hartnäckigen Pseudarthrosen
eine Consolidation zu erzielen, hervorgegangen.
Als zweite Forderung für den Eintritt der Callusbildung und
Consolidation der Fragmente kommt dann in Betracht, dass die
losgelösten Periosttheile und die überpflanzten Periostknochenlappen
einen günstigen Boden für ihre weitere Entwickelung und für die
Proliferation von Callusgewebe finden. Dazu dient der eingelagerte
Blutkuchen, welcher eine Zellwucherung der angrenzenden Gewebs-
schicht gleichsam herausfordert und somit auch die osteoplastischen
Gewebsbestandtheile zur Zellvermehrung anregt und die Callus-
production fördert und erleichtert, während ein einengendes starres
Narbengewebe in Folge ungünstiger Ernährungsverhältnisse und er¬
schwerter Circulationsbedingungen jede Einheilung und Weiterent¬
wickelung überpflanzter Periost- und Knochentheile nur hemmt und
unmöglich machen kann. Aus diesem Grunde ist auch die Fort¬
schaffung allen narbig veränderten Bindegewebes vor Ausführung
jeglicher Knochenplastik anzustreben.
Die Frage, ob unter diesen Umständen die Einlagerung ge¬
ronnenen Blutes auch bei der Vornahme grösserer Knochenplastiken
zum Ersatz von Knochentheilen eine Bedeutung gewinnt, kann auf
Grund der bisherigen Erfahrungen noch nicht entschieden werden
und bedarf noch experimenteller Untersuchung und Prüfung.
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
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Erklärung der Abbildungen auf Tafel IX—XII.
A. Röntgenbilder und Photogramme.
Fig. 1. Fall multipler Knochenbildung im Bereiche des M. brachialis
internus dos Oberarms. Es findet sich parostale und intramusculäre Knochen¬
bildung nebeneinander. Zwei der Knochengebilde sind vollständig in das
Muskelgewebe eingebettet, die dritte Geschwulst sitzt dagegen dem Oberarm-
knochcn breitbasig auf; sie musste bei der Exstirpation erst durch einen Meissei¬
schlag von der Oberfläche des Diaphysenknochens getrennt werden. Es handelt
sich um sogenannte Bajonettirknocben, die nach einem Bajonettstoss gegen den
linken Oberarm im Laufe weniger Wochen entstanden waren. Die Operation
fand am 27. 7. 05 in der chirurgischen Universitätsklinik zu Greifswald statt.
Fig. 2. Experimentelle parostale Callusbildung auf der Vorderseite des
Oberschenkels eines grossen Ziehhundes. Durch Spaltung und Abhebung des
Periosts am Femurschafte und Einlagerung eines excidirten Muskelstücks
(aseptischen Muskelsequesters) in die entstandene Periosttasche war es ge¬
lungen, 3 cm oberhalb der Kniescheibe an der Vorderseite des Oberschenkel¬
knochens eine 6 cm lange, bis zu l 1 /,, cm dicke, parostale Callusauflagerung
zu erzeugen, ohne dass eine Verletzung der eigentlichen Knochensubstanz statt¬
gefunden hatte. Ein kirschkerngrosses Stück der neugebildeten Callusmasse lag
völlig frei in dem gleichzeitig entstandenen fibrösen Narbengewebe, ohne nach-
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Dr. C. Pochhamraer,
weisbaren Zusammenhang mit der Knochenoberfläche. Die Operation war am
18. 6. 06 ausgeführt, das Röntgenogramm am 9. 8. 06 aufgenommen.
Fig. 3a u. 3b. Parostale Callusbildung in Form einer stachelartigen
Exostose am Oberschenkel eines Kaninchens, experimentell erzeugt durch
nahezu ringförmige Ablösung des Periosts vom Femursohafte und Verpflanzung
eines fast pflaumengrossen Muskelstückes zwischen Periost und Knochenober¬
fläche. Der Eingriff erfolgte am 5. 1. 09, die Röntgenaufnahmen am 25. 1. 09,
sowohl in vivo als auch am ausgelösten Oberschenkel nach Tödtung des Thieres.
Das erste Röntgenbild lässt ausser dem im unteren abhängigen Theile des
Operationsgebietes entstandenen Knochenfortsatze weiter oberhalb im Bereich
der Musculatur, der Knoohenoberfläche des Femurschaftes unmittelbar be¬
nachbart, einen helleren, fleckförmigen Schatten erkennen, der, wie die an-
sohliessende Section ergab, dem eingelagerten, nekrotisch gewordenen und in
Erweichung begriffenen Muskelstück entsprach.
Das zweite Röntgenbild vom ausgelösten Oberschenkelknochen zeigt ausser
dem vom unteren Drittel des Femur ausgehenden Knochenstachel in der Nähe
der Spitze dieses Fortsatzes noch ein zweites dünnes Knochenplättchen, das
völlig frei von jedem Zusammenhang mit dem Gliedknochen in der angrenzenden
Musculatur gelegen ist.
Das eingepflanzte Muskelstüok ergab keinen erkennbaren Zusammenhang
mit der eingetretenen Knochenneubildung.
Fig. 4. Ausgedehnte parostale Callusbildung an der Aussenseite des
Oberschenkels eines Kaninchens, die durch ringförmige Ablösung des Periosts
vom Femurschaft und Einlagerung von Blutkucheu in die entstandene Periost¬
mulde experimentell erzeugt wurde. Die Knochenneubildung entspricht fast
genau der ganzen Länge des der Knochenhaut entblössten Femurschaftes und
erreicht an ihrer breitesten Stelle ungefähr die Dicke des ursprünglichen Glied¬
knochens. Der operative Eingriff wurde am 20. 11. 09 vorgenommen, das
Röntgenbild am 4. 12. 09, also nach 14 Tagen aufgenommen.
Fig. 5a u. 5b. Röntgenbild und Photogramm parostaler Callusbildung
am Oberschenkel eines Kaninchens (No. 49) nach Periostablösung und Blut¬
kucheneinlagerung.
Der experimentelle Eingriff wurde am 1.2. 10 ausgeführt und nach ring¬
förmiger Ablösung des Periosts nebst anhaftenden Weichtheilen (Muskeln) vom
Femurschaft die geronnenen Bcstandtheile von 10 ccm vorher dem Kaninchen
entnommenen Bluts in die entstandene Weichtheilmulde zwischen abgelöstem
Periost und Knochen an der Hinterfläche des Obersohenkels eingelagert.
Das am 23. 2. 10 aufgenommene Röntgenbild (5a) zeigt die experimentell
erzeugte parostale Callusbildung nach 22 Tagen.
Das Photogramm (5 b) ist nach dem Tode des Thieres am 18. 6. 10 —
4 Monate später — von dem ausgelösten und abgeschälten Oberschenkel¬
knochen angefertigt. Es ist eine ausgedehnte Knochenneubildung in der ganzen
Länge des Femurschafles entstanden, welche vom Ansatz des Femurhalses bis
zu den Condylen herabreicht, an Breite dem Femurschafte nahezu gleichkommt
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
399
und an Dicke etwa dem halben Durchmesser des Oberschenkelknochens an
seiner dünnsten Stelle entspricht.
Sie sitzt dem Oberschenkelschafte wie ein mächtiger Knochenkamm auf,
der weit in die umgebende Muscul&tur hineinragte. Die anhaftenden Weich*
theile sind von den freien Knochenfläcben vollständig abpräparirt worden.
Fig. 6. Photogramm einer experimentellen Knochenexostose von erheb¬
licher Dicke im Bereich des unteren Drittels des Oberschenkels eines Kaninchens.
Sie ist nach ringförmiger Periostablösung vom Femurschaft und Einlagerung
eines Muskelstücks zwischen abgelöstes Periost und Knochenoberfläche ent¬
standen und beweist, dass Knocbenneubildung nach Ablösung des Periosts
hauptsächlich nur da entsteht, wo gleichzeitig, wie hier, in den abhängigen
Partien des Gliedes angesammelte Blutgerinnsel vorhanden sind.
Fig. Tau. 7b. Vergleichende Röntgenogramme experimenteller parostaler
Callusbildung: a) nach Einlagerung von eigen gewonnenem Blutkuchen, b) nach
Einlagerung von künstlichem Fibrin zwischen abgelöstes Periost nebst Weich-
theilen einerseits und KnocbenoberQäche andererseits.
Der Eingriff wurde am 18. 4. 10 an den beiden Oberschenkeln eines
Kaninchens ausgeführt, rechts Blutkuchen, links Fibrin in die entstandene
Periostmulde eingelagert.
Die Röntgenogramme stellen die nach 16 Tagen entstandenen parostalen
Callusbildungen vergleichsweise dar. Rechts (Blutkuchen) ist eine raschere
und reichlichere Calluswucherung eingetreten als links (Fibrin).
Fig. 8. Künstliche Callusbildung nach Knochennaht bei einer
Pseudarthrose der Unterarmknochen einer 30 jährigen Frau.
Ausführung der Knochennaht am 13.4.10 — ohne Anfrischung der Bruch¬
enden. Das Periost wurde jedoch an allen vier Bruchenden in Ausdehnung
von 1—2 cm möglichst ringförmig abgelöst. Die Einlagerung von Blutkuchen
zwischen Knochenoberfläche und abgelöste Weichtheile war wegen der starken
Muskelspannung nach Anlegung der Knochennaht nur an den freien Aussen-
flächen der wieder vereinigten Knochentheile möglich.
An diesen Stellen allein, wie das am 8. 6. 10 — genau 8 Wochen nach
der Naht — aufgenommene Röntgenbild aufweist, hat sich an beiden Knochen
ausgedehnter Callus gebildet, der namentlich an der Ulna die Nahtstelle, gleich
wie eine dicke feste Haltespange zwei aneinander gefügte Stützbalken, über¬
brückt und zusammenbält. Am oberen Radiusfragment hat die etwas zu ober¬
flächlich angelegte Knochennaht durchgeschnitten. Der an der Aussenfläche
künstlich entwickelte parostale Callus hat jedoch ein Auseinanderweichen der
Fragmente verhütet.
Fig. 9a bis e. Röntgenogramme einer mehrfach operativ behandelten
Pseadarthrose des Oberarms, bei der auch durch die Einlagerung von Blut¬
kuchen zwischen Knochenoberfläche und abgelöste Weichtheile wegen Mangels
osteoplastischer Gewebsbestandtheile in der Umgebung der Bruchstelle eine
ausreichende parostale Callusbildung nicht herbeigeführt und eine Consolidation
der Fragmente nicht erzielt wurde. Text vgl. S. 389—393.
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400
Dr. C. Pochhammer,
Pig. 'Ja. Pseudarthrose 7 Monate nach der ersten erfolglosen Knochen*
naht. (Operation 15. 12. 08, Röntgenogramm 9. 7. 09.) Eine nachweisbare
Callusbildung ist nicht eingetreten.
Fig. 9b. Pseudarthrose 3 Monate nach der zweiten erfolglosen Knochen¬
naht, zu der zugleich die Verpflanzung eines Periostlappens aus der Tibia
hinzugefügt wurde. (Operation 16. 7. 09, Röntgenogramm 11. 10. 09.) Die
Naht hat den von seinem eigenen Periost cntblössten Knochen durchschnitten.
Der frei überpflanzte Periostlappen weist nur Spuren von Callusbildung auf.
Fig. 9c. Wiedereintritt der Pseudarthrose 6 Monate nach der Knochen¬
bolzung. (Operation 13. 10. 09, Röntgenogramm 14. 4. 10.) Der Knochen¬
bolzen ist an der Grenze zwischen mittlerem und unterem Drittel, entsprechend
dem oberen Rande des unteren Bruchstücks des Oberarmknochens, spontan
fracturirt. Das abgebrochene Stück des Knocbenbolzens steckt noch locker in
der erweiterten Markhöhle des unteren Fragments des Humerusschaftes, gleich
einem in Lösung begriffenen Kooohensequester.
Fig. 9d. Pseudarthrose 3 Wochen nach der letzten Knochennaht,
welche nach Ablösung der narbigen Weichtheile durch das untere Stück des
im oberen Fragment eingewaebsenen Knochenbolzens und die noch erhaltenen
Knochenschichten der erweiterten Markhöhle des unteren Fragments geführt
war. Um die Nahtstelle herum war nach Möglichkeit Blutkucben zwischen die
abgelösten Weichtheile eingelagert. (Operation 25. 4. 10, Röntgenogramm
17. 5. 10.)
Eine sichtbare Callusbildung ist noch nicht eingetreten.
Fig. 9e. Pseudarthrose 10 Wochen nach der letzten Knochennaht
und Blutkucheneinlagerung (4. 7. 10).
Die Knochennaht hat das untere Ende des in das obere Fragment ein¬
gekeilten Knochenbolzens durchschnitten, ln der Umgebung des oberen wie
des unteren Fragments sind Spuren parostaler Callusbildung sichtbar,
die jedoch zur Herbeiführung einer Consolidation nicht ausgereicht haben.
B. Mikroskopische Schnitte.
Fig. I. BeginnendeCallusbildung in neu gebildetem Bindegewebe (Granu¬
lationsgewebe), das in Wucherung begriffen ist und sich gegen dio veränderten
Fibrinmassen des eingelagerten Blutkuchens vorschiebt.
Das Präparat ist von dem Oberschenkel eines Kaninchens gewonnen, bei
dem am 31. 3. 10 der Periost ringförmig vom Femurschafte sammt anhaftenden
Weichtheilen abgelöst war; zugleich wurden frische Blutgerinnsel in die ent¬
standene Periostmulde eingelagert. Nach 6 Tagen, am 6. 4. 10., wurden die
speckig veränderten Gerinnsel nebst den angrenzendenWeichtheilen, mit denen
sie vollständig verfilzt waren, wieder herausgeschnitten und einer histologischen
Untersuchung unterzogen.
Der abgebildete mikroskopische Schnitt hat die Grenze zwischen dem ein¬
gelagerten Blutgerinnsel und dem angrenzenden gewucherten Weichtheilgewebe
getroffen. Man erkennt im untersten Winkel des Gesichtsfeldes (Blk.) noch ein
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Ueber die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
401
Stück des eingelagerten veränderten Blutkuchens. Daran schliesst sich eine
Randzone (Rz.), welche im Wesentlichen ans angehäuften rothen Blutkörperchen
zu bestehen scheint und die zartesten Gefasssprossen des benachbarten Granu¬
lationsgewebes enthält, die im mikroskopischen Bilde noch nicht hervortreteu,
aber mit den feinen Gefässcapiliaren der nächsten Schiebt dieses Granulations¬
gewebes (Gw.) in Verbindung stehen. Das gefässhaltige Granulationsgewebe
gebt allmählich in eine Schicht jungen gewucherten Bindegewebes (gw. Bg.)
über, zwischen dessen feinsten Fasern sich deutlich spinnegewebsartig ver¬
zweigte Bälkcben neugebildeten osteoiden Gewebes mit eingelagerten und an¬
gelagerten Osteoblasten finden (ost. Gw.). Die Ausläufer der künftigen Callus-
bälkchen gehen ohne scharfe Grenze in die Fasern des jungen Bindegewebes
über. Am oberen Rande des Gesichtsfeldes ist noch eine Schicht parallel-
faserrgen Bindegewebes (fi. Bg.) sichtbar, von der die Neubildung der übrigen
Schichten ausgegangen zu sein scheint. Text vergl. S. 380).
Fig. II. Intermusculär gelagerte Schicht experimentell erzeugten Callus-
gewebes nach 6 Tagen. Das Präparat stellt eine andere Stelle aus den ex-
cidirten Gewebstheilen vom Oberschenkel desselben Kaninchens dar, von dem
der erste Schnitt (Fig. 1) gewonnen war.
Der neu gebildete Callusstreifen liegt zwischen 2 Schichten von Binde¬
gewebe und mit ihm zusammenhängendem Muskelgewebe. Auf der einen Seite
grenzt unmittelbar an den Callusstreifen (C.) eine schmale Zone dichteren
fibrösen Bindegewebes (P.), welche dem bindegewebigen Theile des ursprüng¬
lichen Periosts entspricht. Sie steht in unmittelbarer Verbindung mii Muskel¬
gewebe (M 1 ), dessen Muskelfasern zum Theil nekrotisch geworden und verkalkt
sind (n. M.).
Auf der anderen Seite hängt der Callusstreifen (C.) zum Theil mit ge¬
wuchertem, jungem, sehr gefässreichem Granulationsgewebe zusammen (G.),
das stellenweise durch künstlich in Folge der Einbettung zu Stande gekommene
Lücken von dem Callusgewebe getrennt erscheint. Die schmale Schicht neu¬
gebildeten Granulationsgewebes verliert sich wiederum in das interstitielle
Bindegewebe angrenzender Musculatur (M 11 ). Text vergl. S. 383.
Fig. III. Weit in ein Muskelinterstitium hineinreichende und in das ge¬
wucherte intermusculäreBindegewebe unmittelbar übergehende Calluswucherung
mit reichlicher Knorpelneubildung (Kn.) und Anlagerung osteoider Gewebs-
schichten (ost. G.), deren feinste Fortsätze ohne scharfe Abgrenzung in den
Faserbündeln des intermusculären Bindegewebes (fi. G.) sich verlieren. Auch
aus dem Knorpelgewebe (Kn.) erstrecken sich Faserfortsätze in die Binde-
gewebszüge der interstitiellen Muskelhülle (fi. G.). Letztere stehen wieder oon-
tinnirlich mit den feinen Bindegewebsschichten zwischen den einzelnen Muskel¬
bündeln (M 1 und M n ) in Verbindung. Text vergl. S. 384.
Die Callusbildung selbst ist periostalen Ursprungs und nach Ablösung
des Periosts sammtWeiohtheilen vom Femurschafte eines Kaninchens innerhalb
von 9 Tagen entstanden.
Fig. IV. Callusinseln in frischem Narbengewebe, durch Transplantation
abgeschabter Osteoblasten des Tibiaperiosts in die Oberschcnkclmusculatur beim
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402 Dr. C. Pochhammer, Die Entstehung parostaler Callusbildungen etc.
Kaninohen experimentell entstanden. Im Verlaufe von 27 Tagen hat sich aus
den verlagerten Osteoblasten echtes Knochengewebe mit Knochenmark zwischen
den spongiösen Knochenbälkchon gebildet (a und b). Die dritte Callusinsel (c)
weist noch einen deutlich knorpeligen Bau auf. Alle 3 Callusinseln sind durch
ein fibröses Zwischengewebe (fi. G.) getrennt, das zum Theil die Knorpel-
Knocheninseln nach Art eines Periosts umgiebt. Text vergl. S. 386.
Fig. V. Querschnitt durch eine experimentell erzeugte parostale Callas-
Wucherung am Oberschenkel eines Kaninchens. Die Callusbildung erstreckte
sich in der Längsrichtung in Form einer vorspringenden Knochenspange fast
an der ganzen Anssenfläche des Femurschaftes entlang und war nach Ablösung
des Periosts vom Oberschenkelknochen und Einlagerung von Blutkuchen
zwischen die abgelösten Weichtheile innerhalb von 16 Tagen entstanden.
Die neugebildeten Callusmassen sitzen zum Theil (a) der Oberfläche des
Femurschaftes (F.) breitbasig auf, zum Theil aber liegen sie völlig frei in den
umgebenden Weichtbeilen durch gewuchertes Bindegewebe und verdrängtes
Muskelgewebe von dem eigentlichen Oberschenkelknochen getrennt (b, c, d, e).
An ihrer äusseren Umrandung sind die einzelnen Callusabschnitte zum Theil
noch von einer deutlioh von dem übrigen Gewebe sich abhebenden Periost¬
schicht bekleidet. M. Muskelgewebe, g. B. gewuchertes Bindegewebe.
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XIII.
(Aus der Chirurg. Universitätsklinik der Königl. Charite zu
Berlin. — Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Hildehrand.)
Experimentelle Studien über tryptische
Digestion.
Von
Dr. Fr. Rosenbach,
Assistent der Klinik.
(Mit 5 Textfiguren.)
Das Jahr 1898 hat uns zwei Monographien gebracht, welche
dem wichtigsten Verdauungsorgan, dem Pankreas gewidmet sind:
„Die Erkrankungen des Pankreas“ von Oser in Nothnagel’s
Handbuch und „Die chirurgischen Erkrankungen und Verletzungen
des Pankreas“ von Körte.
Das Studium der zu beiden grossen und dankenswerthen
Werken gesammelten Materie veranlasst beide Autoren zu dem Bc-
kenntniss, dass wir in der klinischen Erforschung der Pankreas¬
erkrankungen weit hinter den anatomischen und besonders physio¬
logischen Forschungen zurückgeblieben sind. So schreibt Körte
am Schluss seiner historischen Würdigung: „Es wird noch vieler
gemeinsamer Arbeit der inneren Mediciner, pathologischen Anatomen
und Chirurgen bedürfen, um unsere Kenntnisse über die Erkran¬
kungen der Bauchspeicheldrüse und deren Behandlung zu fördern.“
Und in gleichem Sinne leitet Oser im Vorwort sein ausführliches
Werk ein mit den Worten: „Vielleicht bei keinem Organ des mensch¬
lichen Körpers besteht eine solche Niveaudifferenz zwischen der
Höhe seiner physiologischen Bedeutung und niederen Stufe unseres
klinischen Wissens, wie beim Pankreas.“
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404
Dr. Fr. Hosenbach,
Anschliessend an diesen Ausspruch kündigt jedoch Oser eine
neue Aera für dieses so bedeutungsvolle Verdauungsorgan an, in¬
dem er zugleich Friedreich’s energischer Initiative, die uns eine
erste Pathologie des Pankreas schuf, und den Arbeiten der Chirurgen
ein grosses Verdienst auf diesem Gebiete wissenschaftlichen
Forschcns zuerkennt! Verdanken doch die experimentirenden
Forscher der inneren Medicin, die Physiologen und Biologen es der
Fntwicklung der Chirurgie, dass sie in den Stand gesetzt wurden,
gewagte Versuche am Organ, Experimente an seinem Ausführungs¬
gange, Resectionen u. s. w. auszuführen, haben doch von Mehring
und Minkowski im gewissen Sinne es der Chirurgie zu danken,
dass ihnen die Exstirpation des Pankreas gelang und sie ihre
grossen klassischen Untersuchungen über den Pankreasdiabetes aus¬
führen konnten.
Wenn Oser ferner in seinem Vorworte constatiren konnte,
dass bereis in den vergangenen 10 Jahren ein gesteigertes Inter¬
esse am Pankreas sich bemerkbar mache, so können wir jetzt
nach einem weiteren Decennium die Früchte dieses Interesses mit
Recht erkennen und geniessen und weitergehend behaupten, dass
nach allen Richtungen hin, auch nach der therapeutischen, nicht zu
Unterschätzendes geleistet worden ist! Auch an den Arbeiten
dieses Decenniums hat wiederum die Chirurgie einen nicht ge¬
ringen Antheil. Durch den Aufschwung, welchen die Bauchchirurgie
in den letzten Jahren genommen hat, durch die rasche Entwick¬
lung, welche in der Appcndieitisfrage und der Gallenchirurgie zu
erkennen ist, haben die Chirurgen auch die Scheu vor dem ver¬
steckt und geschützt gelegenen Pankreas verloren. Zahlreiche
Operationen am entzündeten Pankreas sind geglückt. Die sub-
cutanen und complicirten Verletzungen sind heute zu Tage nicht
mehr absolut tödtlich. Ist doch nach dem ersten durch Naht von
Gar re 1905 zur Heilung gebrachten Fall über die Hälfte der sub-
cutanen Rupturen geheilt worden. Die chronische Pankreatitis, von
Riedel zuerst erkannt, von Robson, Kehr, Kocher und Anderen
eifrig studirt, ist in zahlreichen Fällen Gegenstand erfolgreicher
operativer Behandlung geworden. Bescheidenere Resultate sind
über die Radicaloperationcn von Pankreastumoren berichtet worden.
Eine ausführliche Kritik derselben verdanken wir Sauve. Aber
auch sie klingt nicht ohne Hoffnung für die Zukunft aus. Endlich
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
405
haben wir bei der Autopsia in vivo und am Scctionstische manch’
interessante Beziehungen der Pankreaserkrankungen mit den Er-
kungen benachbarter Organe (Magen, Leber, Gallenblase) verstehen
und würdigen gelernt.
Aus allem diesen ist grosser Nutzen gezogen und speciell in
den letzten 5 Jahren ist Arbeit auf Arbeit erschienen in der inneren
Medicin, Physiologie und Biologie, welche auf Grund der operativen
Ergebnisse am Menschen und am Thier eine Menge brauchbarer
Früchte gezeitigt haben.
Damit ist natürlich eine vollkommene Aufklärung, welche uns
befriedigen würde, noch lange nicht geschalfen. Es bleiben auch
heute, wie in jedem anderen Gebiete der Medicin, grosse Lücken,
die Ausfüllung fordern und uns immer wieder zu neuem Forschen
anregen, unser stetes Interesse an diesem Organ wach halten.
Es soll in vorliegender Arbeit versucht werden, zur Ausfüllung
solcher Lücken beizutragen, auf Grund bereits vorliegender Experi¬
mente und durch neue Versuchsanordnungen und Gesichtspunkte
einige wichtigere Fragen zu fördern.
Von diesen steht mit an erster Stelle die Lehre von der acuten
Pankreasnekrose mit und ohne Hämorrhagie und mit ihr verbunden
die Frage der Fettgewebsnekrose. Die acute Pankreasnekrose ist
seit der Entdeckung der Feltgcwebsnekrose durch Baiser, einem
Schüler Ponficks, vielfach studirt worden, und man hat wohl
heute durch das Studium der Pankreasverletzungen, besonders aber
der acuten Pankreasnekrose und der sogenannten „Pancreatitis
haemorrhagica“ trotz einiger weniger gegenteiliger Befunde den
inneren Zusammenhang dieser Veränderungen als sicher zu be¬
trachten. Die Frage nach der Aetiologie hat ferner nach viel¬
fachem Wechsel der Theorien dahin eine feste Richtung gewonnen,
indem sowohl für die Fettgewebsnekrosen, als auch für die Pan¬
kreasnekrosen als der primären Erkrankung als ursächliches Moment
das Pankreassecret angesehen wird.
Bevor wir jedoch in dies specielle Thema eintreten, scheint
es mir wichtig, eine physiologische Frage zunächst zu beantworten,
die meiner Ansicht nach auch heute noch nicht in genügendem
Maasse ventilirt worden ist.
Die Frage nämlich, ob der Pankreassaft bei den in Rede
stehenden Erkrankungen des Organs eine wesentliche Rolle spielen
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Dr. Fr. Rosenbach,
kann, ist natürlicher Weise mit der zuerst zu stellenden Frage
eng verbunden, ob lebendes Gewebe überhaupt, und zweitens, ob
die Organe von ihrem eigenen von ihnen producirten Verdauungs-
secrete angegriffen bezw. verdaut werden können.
Ueber die Verdauung lebenden Gewebes existirt eine keines¬
wegs allzugrosse Literatur, die sich insbesondere mit dieser Frage
im Hinblick auf den Magen und der Entstehung des peptischen
Magengeschwürs in zweiter Linie erst mit dem Pankreas und der
Autodigestion desselben beschäftigt.
Aufgeworfen wurde die Frage der Autodigestion von Claude
Bernard, welcher die Beobachtung machte, dass der Frosch¬
schenkel eines lebenden Frosches im Hundemagen verdaut wurde,
und damit eine Verdauung lebenden Gewebes als möglich hin¬
stellte.
Dieser Versuch und die daraus zu ziehenden ausserordentlich
wichtigen Schlüsse sind später Gegenstand reger Discussion ge¬
worden. Besonders wurde durch die Aufstellung der Hunter’schen
sogenannten vitalistischen Theorie eine Gegenthese geschaffen, wo¬
nach lebendes Gewebe der Verdauung nicht verfallen kann. Der
Hunter’sche Gedanke wurde auch durch eine Reihe experimen¬
teller Beobachtungen zu stützen versucht. Die interessante Frage
ist, wie ich schon sagte, weiter verfolgt worden als Ausgangspunkt
für die Erklärung des peptischen Magengeschwürs.
Die Lehre Günsburg’s und Virchow’s, gestützt später durch
Pavy und andere Autoren sagt uns, dass der Magensaft eine
corrodirende Wirkung auf die Magenschleimhaut ausüben kann,
allerdings nur in dem Falle, wenn eine Schwächung der Schleim¬
haut durch Läsionen oder Circulationsstörung vorliegt. In erster
Linie wurden die hämorrhagischen Erosionen hierfür verantwortlich
gemacht, bis die Versuche Cohnheim’s und Panum’s, die künst¬
lich solche hervorriefen, bewiesen, dass man zwar durch circula-
torische Störungen geschwürige Veränderungen hervorrufen kann,
dass aber die dadurch entstandenen Defecte sofort wieder aus¬
heilten. In gleicher Weise entstanden durch künstlich erzeugte
Verletzungen und Excisionen von Schleimhautstücken aus dem
Magen zwar zunächst Geschwüre, aber auch sie gingen nach kürzerer
Zeit in Heilung über und die Erzeugung eines wirklichen peptischen
Magengeschwürs wurde nicht erreicht. Damit deckten sich die
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
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Beobachtungen am Menschen, dass Schleimhautverletzungen beim
Sondiren meist keine nachtheiligen Folgen haben.
Cohn heim zog aus diesen Thatsachen den Schluss, dass ein
drittes Etwas hinzukommen müsse, welches die Heilung des Magen¬
geschwürs verhindere.
Andere Autoren, wie Neu mann, Nauwerk sprechen dem
Magensaft eine ganz untergeordnete Rolle zu, die lediglich darin
gipfelt, dass der Saft durch das durch Circulationsstörungen oder
aber Bakterien nekrotisch gewordene Schleimhautgewebe verdauen
und dadurch wegzuschaffen im Stande sein kann.
In gleichem Sinne haben auch die Arbeiten von Matth es
ebenfalls wesentlich durch experimentelle Bearbeitung zu der Frage
beigetragen. Es blieb deshalb eine geraume Zeit danach die vita¬
listische Theorie bestehen.
Eine neue Wendung in der Frage brachten zwei Versuche
Katzenstein’s, die mir ausserordentlich wichtig erscheinen wollen.
Katzenstein hatte nach Anlegung einer Gastroenterostomie an
zwei correspondirenden Stellen am Magen und Darm künstliche
Defecte gesetzt und diese Stellen noch mit Salzsäure bestrichen.
Der Schleimhautdefect im Magen heilte aus, während am Jejunum
eine Perforation eines scharf umränderten Geschwüres entstand.
Katzenstein schloss hieraus, dass die Wand des Magens und des
Darms sich den Schädlichkeiten des vom Magen produeirten Saftes
gegenüber verschieden verhalten müssten. Er stellte nun weitere Ver¬
suche nach dieser Richtung an. Es wurde sowohl geöffneter, wie ge¬
schlossener Dünndarm bei mehreren Thieren in den Magen genäht
und durch Darmnaht fixirt. Bei anderen Thieren wurde die lebende
Milz theilweise dem Magen einverleibt. Sowohl die Darmschlingen,
wie das Milzstück fielen der Verdauung anheim. Im Gegensatz
dazu ergaben Versuche mit Einnähung von Duodenum in den Magen
und Implantation eines gut ernährten Stückes der Magenwand
des Versuchsthieres, dass weder Duodenalschlingen noch Magen¬
wand vom Magensaft verdaut wurden. Katzenstein schliesst
daraus:
1. dass lebendes Gewebe bei normaler Ernährung vom natür¬
lichen Magensaft im eigenen Magen verdaut wird;
2. dass die Gewebe, welche den Magensaft produciren oder
dauernd von ihm umspült sind, bei gleicher Versuchsanordnung in
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Dr. Fr. Rosenbach,
Folge eines Anpassungsvorganges der Wirkung des Magensaftes zu
widerstehen im Stande sind.
Mit den interessanten Versuchen wurde in der That bewiesen,
dass der alte, von Claude Bernard aufgestellte Satz zu Recht
besteht. Katzenstein folgert aber weiter, dass die Resistenz,
welche vom Magen und Duodenum gegenüber dem Magensaft ge¬
zeigt wird, auf das Vorhandensein eines Antifermentes (Antipepsins)
zu beziehen sei. In der That ist von Danilewsky ein solches
im Magensafte nachgewiesen, und Weinland ist es ferner gelungen
zu zeigen, dass die Resistenz parasitisch im Darm lebender Würmer
nicht allein an das Leben des Thieres gebunden ist, dass vielmehr
auch die mit Sand verriebenen Thierleiber im Stande sind, die
Verdauung des Fibrins durch Pepsin zu verhindern. Katzenstein
konnte in gleicher Weise durch Versuch zeigen, dass auch die
todte Magenschleimhaut im Stande ist, gegen die von seinem Saft
ihm drohende Verdauung zu arbeiten.
Die Experimente Katzenstein’s sind von Käthe ebenfalls
angestellt worden, der im Grossen und Ganzen die Katzcnstein’sche
Theorie auch durch histologische Befunde stützen konnte 1 ).
Wir sehen also, dass das peptische Ferment lebendes Gewebe
vielleicht zu verdauen im Stande ist, dass jedoch der Magen, welcher
das Ferment producirt, im gesunden Zustande von ihm verschont
bleibt. Nicht in gleichem Sinne ist bis jetzt für das Pankreas die
Frage beantwortet worden.
Die tryptische Digestion ist ja insofern eine verschiedene von
der peptischen, als von dem Pankreas in den Darm das unwirk¬
same Proferment abgesondert wird, welches erst durch den Darm¬
saft durch eine Kinase (Pawlow) activirt wird.
Auch vom Pankreas sind nach dieser Richtung lyn experimentelle
und pathologisch-anatomische Untersuchungen ausgeführt worden, die
bis jetzt eine zufriedenstellende Erklärung noch nicht gegeben haben.
Zunächst wissen wir von Kühne, dem wir die Entdeckung des
Trypsins verdanken, dass das Ferment, unter die llaut gebracht,
Zerstörungen machen kann, während cs andererseits wiederum ins
Blut gebracht, keinen Schaden anrichtet. Diese Zerstörungen in
der Haut führte später Kühne nicht direct auf Trypsinwirkung,
1) Xeuerdiims hat Holz die K a t ze ns t ei ifschen Versuche naeliirepriifl,
jedoch nicht bestätigt ircfimden.
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion. 409
sondern vielmehr auf Fäulniss oder Bakterienmitwirkung zurück
(naeh Matthes). Matthes selbst hatte bei später ausgeführten
Trypsineinspritzungen keinen Erfolg und konnte keine digestiven
Processe beobachten. Am Schluss seiner ausführlichen Arbeit über
die Digestion lebenden Gewebes kommt er zu dem Schluss: „Durch
die Versuche erscheint mir bewiesen, dass das Trypsin durch die
Einverleibung in das Unterhautzellgewebe zunächst nicht zerstört
wird, sondern todtes Material sicher löst, dagegen lebendes Gewebe
nicht anzugreifen im Stande ist. Wie es um die Wirkung des
Trypsins bei einer secundären Infection mit irgend welchen In-
fectionserregern steht, lässt sich nicht entscheiden.“ In der Frage
der subcutanen Injectionen von Pankreassecret möchte ich zwei
Versuche an Hunden kurz erwähnen, denen ich reines menschliches
Secret. in den Bauch einspritzte. Beide Mal fand sich an der In-
jectionsstelle das subcutane Gewebe zu einer schleimigen dünnen
Masse zusammengeschmolzen, das Fett zeigte deutliche Fettgewebs-
nekrose. Andere Injectionen von künstlichem, activem Trypsin
(Grübler) zeigten unter der Haut keine grösseren Veränderungen.
Bei den ersten beiden Hunden aber muss erwähnt werden, dass
bei beiden eine Infection, einmal eine Peritonitis, das andere Mal
eine Abscessbildung als Begleiterscheinung vorhanden war. Leider
wurden in den beiden Fällen keine Culturen angelegt. Es dürften
damit die Matthes’schen Beobachtungen in bescheidener Weise
bestätigt sein. Anschliessend hieran möchte ich hier gleich die
ganz neuerdings veröffentlichten Berichte von Pinkus, Hofbauer
und Anderen erwähnen, wo es sich um die Fermentbehandlung des
Carcinoms handelt, und wo sowohl am Carcinom, als auch an den
sonstigen subcutanen Injectionsstellen Einschmelzungsherde gefunden
worden sind. Da es sich bei den Carcinomkranken von vornherein
um in ihrer Constitution geschwächte Individuen mit herabge¬
mindertem Stoffwechsel handelt, können diese positiven Resultate
natürlich nicht mit den eben erwähnten Experimenten verglichen
werden. Auch sind die Befunde so inconstant und die publicirten
positiven Resultate so gering, dass sie für uns zur Erklärung nicht
herangezogen werden können. Matthes hat weitere Versuche mit
Fröschen angestellt, die er in Trypsinlösung setzte und dieselben
Tage lang in der Lösung beliess, ohne dass er irgendwelche Ver¬
dauungserscheinungen beobachten konnte. Die positiv ausgefallenen
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Dr. Fr. Rosenbach,
Versuche mit Fröschen, die Frentzel anstellte, erklärt Matth es
in der Weise, dass die von Frentzel als Lösungsmittel für das
Trypsin angewandten Glycerinlösungen allein schon fähig sind, eine
Nekrose der Froschhaut zu machen, wodurch der Verdauung Thür
und Thor geöffnet ist, ebenso wie nach Matthes beim Magensaft
das Pepsin erst durch die schädigende Salzsäure das todte Epithel
verdauen könne. Matthes’ Arbeit gipfelt in dem Schlusssatz:
„Todtes Gewebe wird verdaut, lebendes nicht.“ In demselben Sinne
hat der Autor in einer anderen Arbeit über Hämolyse zu beweisen
gesucht, dass rothe Blutkörperchen nur dann vom Trypsin angegriffen
werden, wenn sie vorher eine Schädigung erfahren hatten. Gegen¬
teilige Beobachtungen machte Delezenne (nach Oppenheimer).
Wir sehen, dass über die tryptische Digestion von lebendem
Gewebe noch keineswegs die Acten geschlossen sind, und dass
auch hier noch manche offene Frage zu beantworten ist.
Die Vermuthung, dass Pankreassecret auf das eigene produ-
cirende Organ verdauend einwirke, ist besonders von pathologisch¬
anatomischer Seite ausgesprochen worden. In ganz besonderer
Weise hat sich mit dieser Frage Chiari beschäftigt.
Chiari fand im Jahre 1891 gelegentlich einer 12 Stunden
nach dem Tode ausgeführten Section eines 25jährigen Mannes, der
an einer Blutung aus der Carotis infolge sarkomatöser Arrosion
von malignen Lymphomen gestorben war, einen 1 cm grossen scharf
abgegrenzten Nekroseherd im Pankreas, welcher auch histologisch
sich als solcher erwies. Um den Herd herum befand sich eine
Vermehrung des interstitiellen Bindegewebes. Eine zweite derartige
Beobachtung machte derselbe Autor bei einer an diffuser Bronchitis
und Erythema exsudativum multiforme gestorbenen 52jährigen Frau.
Beide Veränderungen mussten, so schliesst Chiari, auf Selbstver¬
dauung des Pankreas durch sein Secret zurückzuführen sein, da
nachweisbare Circulationsstörungen oder eine traumatische Ursache
nicht zu finden gewesen waren. Chiari hat daraufhin eine Anzahl
von Pancreata (75) vom anatomischen Standpunkte aus untersucht
und konnte feststellen, dass in 11 Fällen eine totale Nekrose, in
29 Fällen eine partielle Nekrose herdweise stattgefunden hatte.
Grösstentheils waren diese Nekrosen ganz frisch, bei einigen aber
konnte er mikroskopisch eine deutliche bindegewebige Zone mit
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
411
/eiliger Infiltration und reactiver Entzündung constatiren. Es fehlte
auch nicht an vereinzelten Fettgewebsnekrosen. Chiari macht
aus diesen Befunden den wohlbcrechtigten Schluss, dass eine Selbst¬
verdauung intraagonal oder postmortal Vorkommen kann, die mit
der Fäulniss des Organs nichts zu thun hat, dass aber diejenigen
Fälle, die eine Reaction histologisch erkennen liessen, als intravitale
Autodigestion zu betrachten seien. Eine weitere Arbeit Chiari’s be¬
handelt ferner die Beziehungen der Fettgewebsnekrose zur Nekrose
des Pankreas und er kommt nach eingehender Berücksichtigung der
bis 1900 publicirten Arbeiten casuistischen und experimentellen In¬
haltes zu dem wichtigen Schluss: „Immerhin wurde besonders im
Hinblick auf den Fall Pförringer (siehe später) und die viel¬
fachen Angaben in der Literatur über die Combination von Fett-
gewebsnekrosen und Nekrose des Pankreasgewebes bei diesbezüg¬
lichen Experimenten die Vorstellung in mir immer reger, dass die
intravitale Autodigestion des Pankreasgewebes und die Fettgewebs-
nekrose in der Art zusammengehörige Processe seien, dass der
Pankreassaft unter geeigneten Umständen, sowie primär die Auto¬
digestion des Pankreasgewebes durch sein Trypsin, im Zusammen¬
hänge damit, nachdem ihm einmal durch die Autodigestion des
Pankreasgewebes der Austritt aus den Drüsenläppchen ermöglicht
wurde, secundär durch sein Ferment auch die Nekrose des Fettge¬
webes im Pankreas und ausserhalb desselben bedingen könne.“
Chiari hat damit nicht allein einen intravital bestehenden
Process der Autodigestion als eigenes Krankheitsbild aufgestellt,
sondern auch den Zusammenhang der von ihm gefundenen intra-
agonalen und intravitalen Nekrosen mit der Erkrankung des Fett¬
gewebes erklärt. Er trennt in seinen ersten Arbeiten diesen Process
von der sogenannten Pancreatitis haemorrhagica und es werden von
ihm die bei den publicirten Fällen gefundenen Blutungen und Bak¬
terien als secundär hingestellt. Die eingangs von Chiari erhobenen
Leichenbefunde hat Pförringer, wie schon erwähnt, durch weitere
pathologisch-anatomische Befunde an einer Serie von 100 Pan-
creata ohne Auswahl bestätigt. Pförringer glaubt ferner, dass
die Ursache der Pankreasnekrose die Fettgewebsnekrose darstclle,
und kommt zu folgendem Schluss:
„Eine solche vitale Autodigestion kann hervorgerufen werden
durch Fettgewebsnekrosen, die durch Einbeziehung kleiner Theilc
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2.
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412
Dr. Fr. Rosenbach,
des Drüsengewebes in die Nekrose Austritt von Pankreassecrct
ermöglicht und dadurch die weitere Autodigestion verbreitet.“ Ueber
die Natur der Fermente lässt sich Pförringer nicht weiter aus.
Vor Chiari hat übrigens bereits Klebs in seinem Handbuch der
pathologischen Anatomie darauf hingewiesen, dass die Ursache für
die Pankreasblutungen in der corrodirenden Wirkung des Secretes
zu suchen sei. Es gehören hier ferner die Ausführungen hin, die
der Entstehung der Pankreascysten durcli Verdauung das Wort
reden (Gussenbauer, Salzer, Tilger). Das Gleiche gilt nach
Jung und Dettmcr für die Entstehung und Sequestration von
Pankreasabscessen.
Während nun Chiari anfangs sich im allgemeinen mit der
Wirkung des Pankreassecretes auf die multiplen kleinen Pankreas¬
nekrosen beschäftigte, entwickelte sich allmählich durch die immer
sich mehrende klinische und experimentelle Kenntniss die Lehre
von der Pankreasnekrose. Und wir erkennen heute, dass die von
Chiari und Pförringer beobachteten Nekrosen nichts anderes
sind, als die geringeren Oirade derjenigen pathologisch-anatomi¬
schen Befunde, die wir heutzutage als acute Pankreasnekrose und
als sogenannte Pancreatitis haemorrhagica bezeichnen.
Die von Langerhans und Hildebrand aufgestellte Ferment¬
theorie war durch diese Autoren sehr bald in Fluss gebracht, und
es folgten eine grosse Menge experimenteller Arbeiten, welche den
von Hildebrand erbrachten Beweis stützten, dass das Pankreas-
secret seine verdauende Wirkung auf das Fettgewebe durch das
Fettferment ausübe. Von dieser Theorie aus kam man im selbstver¬
ständlichen Gedankengange auf die weitere Folgerung, dass auch
das Pankreassecrct in erster Linie sein eigenes Parenchym an¬
greifen könne (Gulecke, Eppinger, Hess, Polya). Wir kommen
auf alle diese Fragen in dem Capitel über Pankreasnekrose noch
eingehend zurück. Sie sind von den letztgenannten Autoren in
der verschiedensten Weise zu lösen versucht worden, jedoch, wie
wir später sehen werden, nicht in ein und demselben Sinne.
Beim Durchlesen der Katzenstciivschen Arbeit kam mir
nun der Gedanke, zunächst einmal der rein physiologischen Frage
näher zu treten und ähnlich, wie dieses beim Magen geschehen
ist, auch beim Pankreas zu untersuchen, in wieweit gesundes
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
413
lebendes Pankreasgewebe von seinem Safte angegriffen wird. Dieser
Aufgabe sind die folgenden Experimente gewidmet worden, und
zwar war die nächstliegendste Frage die: Wie verhält sich das
gut ernährte Pankreas gegen sein activcs Secret.
Die Experimente wurden unter möglichst normalen Verhält¬
nissen ausgeführt.
Versuche (Serie I).
Die Technik dieser Versuche ist folgende:
Der duodenale vertical absteigende Pankreastheil beim Hunde
ist bekanntlich frei beweglich zwischen den Peritonealblättern ge¬
legen. Seine Ernährung erhält er von oben von Aesten der
Arteria pancreatico-duodenalis, während von unten in den meisten
Fällen ein kleineres Darmgefäss herantritt, welches von einer Vene
begleitet ist. Diesen Pankreastheil löste ich aus seinem peri¬
tonealen Blatt unter Schonung der zuführenden Gefässc zum Thcil
heraus, eine etwaige Veränderung der Parenchymfarbe (Cyanose
u. s. w.) stets berücksichtigend. Nach Mobilisirung wurde dann
der anliegende verticale Schenkel des Duodenums breit geöffnet und
nun das losgelöste Pankreas mit seinen Gefässen in den Darm
eingestülpt. Leber dasselbe wurde der Darm durch eine Lembert-
nahtreihe vorsichtig ohne Quetschung der Gefässc verschlossen.
Zur Sicherung der Nahtreihe habe ich in den meisten Fällen das
grosse Netz herangezogen und dasselbe über die Operationsstelle
breitend dort durch einige Nähte fixirt.
Derartige Versuche wurden an 9 Hunden angestellt. Bei dem
9. Versuchsthier wurde zu gleicher Zeit noch eine Gastroenterosto¬
mie mit einer Jejunumschlinge ausgeführt, von der Erwägung aus¬
gehend, dass grössere Mengen Speisebrei bei dem Passiren des
Darms an dieser durch das Pankreas verengten Stelle mechanische
Insulte und nicht gewollte Störungen hervorbringen könnten, die
das Bild trüben würden. Die Furcht, es möchten durch mecha¬
nische Schädigungen der Oberfläche des implantirten Stückes
grössere Nekrosen entstehen, haben mich bestimmt, die Lebens¬
dauer der Hunde nicht über drei Wochen auszudehnen. Wenn eine
Verdauung überhaupt stattfmden würde, so musste dieselbe ja in
viel kürzerer Zeit vollendet sein. Die Hunde lebten zwei Tage bis
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Dr. Fr. Rosenbach,
3y 2 Wochen. Sie starben theils, theils wurden sie getödtet. Ich
schliesse die Protokolle hier an.
Hund I. Männlich. Gewicht 11 kg. Operation am 3. 5. 09. 4 Uhr
Naohmittags. Laparotomie. Chylusgefässe prall gefüllt. Hervorziehen des
verticalen duodenalen Pankreastheiles, welcher aus seiner peritonealen Umklei¬
dung ausgelöst wird. Es wird dasselbe in einen 3 cm langen Einschnitt des
Duodenums eingestülpt und dieses mit einer Lembertnaht versohlossen. Netz¬
plastik.
Bei diesem ersten Fall war die Operation insofern nicht ganz
glatt, als das bereits eingestülpte Pankreas einen leicht cvano-
tischen Farbenton bekommen hatte.
7. 5. Der Hund wird getödtet und zeigt folgenden Befund: Keine Peri¬
tonitis, keine Fettgewebsnekrosen. Das Operationsgebiet selbst ist verklebt,
doch hat sich unter dem Netz an der Darmnahtstelle ein Abscess gebildet, der
dem implantirton Pankreas benachbart liegt. Der aufgeschnittene Darm zeigt
an der betreffenden Stelle ein flaches 2 cm langes Geschwür, auf dessen Grunde
man einige feine Höckerchen, die dem Pankreasstumpfe angehören, wahrnimmt.
Aus dem Geschwür wird ein Stück zur histologischen Untersuchung heraus¬
genommen. Präparate von diesem Stück lassen Folgendes erkennen: Der am
Geschwürsgrund deutlich siohtbare Pankreasstumpf zeigt bei starker Vergrösse-
rung noch deutlich die Zeichnung d$s Pankreasparenchyms, dessen Zellen zum
allergrössten Theile abgestorben sind. Doch tritt überall der Bau des Pankreas¬
gewebes noch deutlich hervor. Vereinzelte Zellen, besonders die Endothelien
der Capillaren sind theilweise noch gut gefärbt. Das nekrotische Gewebe selbst
ist durchsetzt mit grossen Mengen von Leukocyten. Die peritoneale Serosa-
zellenschicht zeigt nur einige wenige erhaltene Zellen. Von der Submucosa des
Darmes sieht man bereits den schüchternen Beginn von Granulationsgewebe-
entwickluug. Ausserhalb des Darmes liegt der Stiel des gesunden Pankreas¬
gewebes.
Zur Beurtheilung dieses Versuches muss im voraus bemerkt
werden, dass die Technik noch nicht vollendet genug war, sodass, wie
auch beim zweiten Hund, eine Infection an der Operationsstelle
eintrat.
Der Versuch aber zeigt makro- und mikroskopisch, dass das
Pankreas vom Darmsaft, mithin auch von seinem tryptischen Fer¬
mente verdaut worden ist. Dass neben dieser Nekrose eine Infection
durch Darmbakterien stattgefunden hat, zeigt makroskopisch der
erwähnte Abscess, mikroskopisch die ausserordentlich zahlreiche
Menge von Leukocyten. Auf eine Bakteriencultur und Nachweis
der Bakterien im Schnitt wurde leider nicht geachtet. Dass eine
ungenügende GefässVersorgung in diesem Falle für die Nekrose mit.
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
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in Betracht komme, erscheint mir fraglich, da die Gefässe des
implantirten Stieles noch gut gefüllt waren.
Hund II. Männlich. Gewicht 12 kg. Operation 3. 5. 09. Laparotomie.
Hervorziehen des Pankreas, Lostrennung aus dem Mesenterium. Die von unten
her herantretende Arterie ist besonders gross. Die Implantation gelingt leicht.
Die Uebemähungsnaht macht dagegen Schwierigkeiten und es wird deshalb
eine exacte Netzplastik ausgeführt.
5. 5. Hund frisst. Er bekommt, um die Secretion des Pankreas zu steigern,
in sein Wasser ein paar Tropfen Salzsäure.
8. 5. Der Hund ist elend und wird heute deshalb getödtet.
Sectionsbefund: Peritonitis ausgehend von der Operationsstelle. Das
übergenähte Netz ist nekrotisch. Eitrige Beläge in der Umgebung. Die Darm*
Öffnung bildet mit dem daraufgelegten Netz eine Höhle, in der sich Eiter und
Darminhalt befindet. Von dem implantirten Pankreasgewebe ist nichts mehr
zu sehen. Man sieht nur die angedaute Fläche des centralen Pankreastheiles.
Auch hier ist der Versuch durch die Infection der Naht ge¬
stört worden. Nichtsdestoweniger lehrt uns der Fall, dass, wie
bei I, das implantirte Pankreas einer Verdauuung anheimfällt, wenn
in der Umgebung des implantirten Stückes eine Infection stattge¬
funden hat.
Ganz andere Resultate bieten uns die nächsten 6 Versuche,
die uns im grossen und ganzen ein einheitliches und, wie wir sehen
werden, auch klares Bild geben.
Hund III. Männlich. Gewicht 7*/ 2 kg. 5. 5. 09 Laparotomie. Ilervor-
ziehen des Duodenums. Freilegung und Auslösung des duodenalen Pankreas¬
endes mit guter Gefässversorgung. Es wird in den Darm eingestülpt. Darm-
raht und Netzplastik ohne Schwierigkeiten.
9. 5. Getödtet.
Sectionsbefund: Operationsstelle aseptisch. Keine Fettnekrosen in
der Umgebung. Nach Aufsebneiden des Darmes präsentirt sich das einge¬
stülpte Pankreasstüok fast vollkommen in seiner ursprünglichen Grösse. Die
Oberfläche ist ein wenig abgerundet, hat etwas von seiner Substanz eingebüsst,
doch ist die Läppchenzeichnung auf der leicht gerötheten Oberfläche gut er¬
kennbar. Auf derselben liegt eine schleimige Schicht, scheinbar vom Darmsaft
herrührend. Es wurden durch das implantirte Stück in seiner grössten Breite
und zugleich durch den Darm Sohnitte hindurchgelegt, die folgendes histo¬
logisches Bild zeigen: Man sieht bei schwacher Vergrösserung das aus den
beiden Darmschleimhautenden hervorragende Pankreasstück, umgeben von einer
helleren Mantelschicht. Bei starker Vergrösserung nimmt man an der Darra-
mucosa zwischen den einzelnen Darmschläuchen eine ziemlich starke Leuko-
cytose und zeitige Infiltration wahr. Das implantirte Stück zeigt auf der Ober¬
fläche ringsherum, besondersaber auf den an den Darm anstossendenParthien eine
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Dr. Fr. Rosenbach,
Randzone, innerhalb welcher das Drüsengewebe nekrotisch ist. Eine Zeichnung
des nekrotischen Gewebes ist an den meisten Stellen nur undeutlich wahr¬
nehmbar, alles Uebrige ist mit gelapptkernigen Leukocyten durchsetzt. Auf
dieser oberflächlichen nekrotischen Schicht liegen zahlreiche Haufen von Bak¬
terien. Unter dieser eben angegebenen Zone zeigt sich das gut gefärbte, nirgends
angegriffene Pankreasgewebe. Einzelne Drüsenschläuche in der äussersten Peri¬
pherie der Läppchen zeigen auch hier eine leichte Zerstörung, die jedoch mehr
den Eindruck einer infectiösen Drüsenschwellung als einer durch Ferment¬
wirkung entstandenen Nekrose gleichkommt. Die Interstitien zwischen den
einzelnen Läppchen zeigen vermehrteBindegewebsentwickelung und zelligelnfil-
tration. Die Gefasse der Peripherie sind mit Eiterkörperchen am Rand besetzt.
Auch die grösseren Gefasse haben mehr Leukocyten wie normal. Die ober¬
flächliche Schicht zeigt zweifellos eine dünne Schicht zu Grunde gegangenen
Pankreasgewebes, die zugleich einen entzündlichen Charakter trägt. Es ist die
Kuppe des implantirten Stückes weniger nekrotisch, als die beiden seitlichen.
Wir können aus diesem Präparat Folgendes herauslesen: Das
implantirte Pankreasstück ist in den 4y 2 Tagen im Darm erhalten
geblieben. Da der Hund gut gefressen hat, besonders Fleischkost,
so müssen wir annehmen, dass das implantirte Stück mit dem
activ tryptischcn Darmsafte in stetige innige Berührung gekommen
ist. Es ist insofern eine Veränderung des Stückes vorhanden, als
an den beiden Seitenflächen, wo eine mechanische Reibung und
noch innigere Berührung des Breies und etwaiger fester, nicht zur
Verdauung kommender Partikelchen statthat, sich eine schmale
nekrotische, durch Zutritt von Bakterien leicht entzündete Parthie
befindet. Das Pankreasstück ist gleichsam wie ein Kieselstein im
dahinfliessenden Wasser abgeschliffen. Von einer primären An¬
dauung ist weder an den beiden Seitenflächen noch an der Kuppe
die Rede. Natürlich würde bei noch längerer Implantationszeit die
Nekrose umfangreicher sich gestaltet haben.
Hund IV. Männlich. Gewicht 6 1 /, kg- Laparotomie 8. 5. 09. Es ge¬
lingt hier nicht vollkommen, die Spitze des Pankreastheiles zu mobilisiren,
und es wird deshalb das Pankreas in Continuität etwa 3 cm lang in den Duo-
denumschenkel eingepflanzt. Notzplastik. Das Pankreasstück hat sich während
der Einstülpung in seiner Farbe nicht verändert.
11. 5. Getödtet. Leicht abgeschwächter Glanz des Peritoneums und ge¬
trübtes Exsudat in der Bauchhöhle.
Bakteriologisch: Nichts gewachsen. Operationsgebiet nicht verklebt
mit der Bauchwand, jedoch mit dem Leberrand ohne Abscessbildung. Im auf¬
geschnittenen Darm liegt das noch vollkommen erhaltene, in seiner Form ab¬
gerundete Pankreasstück, ebenfalls mit einer schleimigen Masse ringsum be¬
deckt. (Beifolgende Fig. 1 giebt den makroskopischen Befund deutlich wieder).
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion. 417
Histologisch: Beide Schleimhautränder des Darmes sind sehr stark
eingekrempelt. Zwischen den Spalt drängt sich der ziemlich schmale Stiel des
implantirten Stückes hervor. Das abgerundete Pankreasstück zeigt wohl¬
erhaltenes Drüsengewebe. Alle Drüsenzellen haben gut gefärbte Kerne. Die
Gefässe sind sehr stark mit Blut gefüllt, besonders die Venen, so dass man auf
einen geringen Grad von Stauung schliessen muss. Eine etwaige Randstellung
von Leukocyten in den Venen, aus der man auf entzündliche Processe schliessen
könnte, ist nicht wahrzunehmen. Der periphere Rand der äussersten Läppchen
ist nicht scharf abgegrenzt. Es haben sich hier Bindegewebszellen, runde und
Fig. 1.
/ '
polynucleäre Leukocyten eingeschoben, die von den Capillarw ? änden ausgehende
Wucherung entwickelt sich nach aussen hin in eine schon makroskopisch sicht¬
bare Randzone. Diese sehr schmale Randzone, welche das ganze Stück um-
giebt, wird aus ausgeschw’itztem Fibrin und einer Menge lympho- und leuko-
cytärer Elemente gebildet. Grössere Parthien nekrotischen Pankreasgewebes
sind nicht wahrzunehmen. Das sich unter der Serosa des Darmes weiter fort¬
setzende Pankreasgewebe ist vollkommen normal. Das deckende Netz zeigt
mikroskopisch einzelne kleine Abscesse, Hämorrhagien, fibrinöse Massen. Im
Fettgewebe des Netzes nirgends mikroskopisch sichtbare Fettgewebsnekrosen,
welche auf das Freiwerden von Pankreassecret schliessen lassen könnten.
Auch in diesem Versuche ist die vollkommene Einheilung des
Pankreasgewebes geglückt. AVir sehen nichts von ausgedehnteren
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Dr. Fr. Rosenbach,
raakro- und mikroskopischen Nekrosen an den Läppchen. Der
l’ankreaskern wird wiederum durch eine aus Fibrin und Leuko-
cytcn bestehende Zone bedeckt, in die hinein von dem interstitiellen
Fankrcasgewebe eine lebhafte Granulationsbildung zu bemerken ist.
Fig. 2.
HundV. Männlich. G kg. Laparotomie am 12.5.09. Einpflanzung des
duodenalen Schwanztheiles unter vollkommener Schonung der Gefässe. 19. 5.
getödtet.
Keine Peritonitis, keine Fettgewebsnekrosen. Das Operationsfeld mit Netz
fest verbunden ohne Abscedirung. Das Pankreas ist hyperämisch im Ver-
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
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dauungszustand. Im Magen und Duodenum gallig gefärbter Darmbrei und
unverdaute Massen (Strohpartikelcben!). Im Darm liegt an der betreffenden
Stelle das etwa Z l j 2 cm lange, gut eingeheilte Pankreasstüok von graugelber
Farbe. Die Läppchen zeigen sich deutlich als kleine, sehr derbe Knötchen
auf der Oberfläche. Auf dem Durchschnitt sieht man eine grau durchscheinende,
etwas weichere Schicht, die das normal sich anschauende Pankreasgewebe um-
giebt. Auch hier ist die Läppchenzeichnung deutlich. Das Pankreasgew^ebe
fühlt sich etwas derber an wie normal.
Fig. 3.
Histologisch: Die mikroskopischen Befunde bei diesem Versuchsthier
gestalten sich insofern interessant, als wir neben dem gewöhnlichen Befunde
noch acutere Stadien wie im Fall I und II vorfinden. In der Mitte sieht man
einen centralen Kern, welcher aus vollkommen gesundem Pankreasgewebe be¬
steht, in dessen Mitte ein mit gesundem Cylinderepithel ausgekleideter Ductus
Wirsungianus gelegen ist. Die Septen zwischen den Läppchen sind verbreitert,
zum Theil aus derbem Bindegewebe, zum Theil aus Rundzellen bestehend.
Die uns bereits bekannte Randzone ist auch hier vorhanden, ist an der Ober¬
fläche nach dem Darmlumen zu leicht nekrotisch; das übrige Gewebe lässt hier
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Dr. Fr. Hosenbach,
und da abgestorbenes nekrotisches Pankreasgewebe erkennen. Dazwischen
liegt eine Anzahl noch gut erhaltener Drüsenscbläuche, die von einem gefäss-
reichen, mit Leukocyten durchsetzten Granulationsgewebe, welches üppig ge¬
wuchert ist, in die Bindegewebssepten des gesunden Pankreasgewebes und
zwischen die einzelnen Acini sich hineingedrängt hat. Das Granulationsgewebe
hat hie und da schon Bindegewebsbündel, die sich nach van Gieson roth
färben. (Nebenstehende Abbildungen zeigen die mikroskopischen Veränderun¬
gen einmal bei schwacher und einmal bei starker Vergrösserung. Bei schwacher
Vergrösserung [s. Fig. 2 und 3] sieht man sehr schön das durchaus gut er¬
haltene Pankreasgewebe und das von ihm getrennte Granulationsgewebe mit
theils nekrotischen, theils atrophischen Drüsenschläuchen. Abbildung 3 zeigt
ein Stück aus der Randzone bei starker Vergrösserung. Das Granulationsgewebe
und fertiges Bindegewebe sowie die Atrophie der Drüsenschläuche tritt hier
besonders gut hervor.)
Wir sehen aus diesen Bildern, dass in diesem Fall mehr
Pankreasgewebe durch irgend eine Schädigung in der Peripherie
untergegangen ist. Der Obductionsbefund scheint mir gerade hier
besonders darauf hinzudeuten, dass für die gefundene Nekrose die
fngesta als mechanische Ursache in Frage kommen.
Hund VI. Männlich. Gewicht 5y 2 kg- Laparotomie am 12. 5. 09. Sehr
grosses, im Verdauungszustand sich befindendes Pankreas. Es wird zur Ein¬
stülpung ein grosses Stück mobilisirt und in einen weiten Schlitz des Duo¬
denums eingestülpt.
18. 5. 09 getödtet. Der Hund ist stark abgemagert, trotzdem er immer
gut gefressen hat. Die Bauchwunde ist inficirt und hängt mit der operirten
Duodenumschlinge zusammen. Das Netz ist entzündlich geröthet. Keine Fett-
gewebsnekrose. Im aufgeschnittenen Duodenum liegt nur noch ein kleiner Theil
des eingenähten Pankreasstückes, etwa t/ 3 desselben. Das daran stossende
Pankreasgewebe ist geröthet und von ödematöser Beschaffenheit. Im umliegen¬
den Fettgewebe befinden sich einzelne kleine Fcttgewebsnekrosen. Auf dem
Durchschnitt des implantirten Stückes sieht man im Centrum noch deutliche
Panbreaszeichnung, in der Peripherie ist dieselbe nicht mehr wahrzunehmen.
Bakteriologisch wurde aus der Bauchhöhle auf Agar-Agar abgestrichen; es
wurden vereinzelte Colonien von staphylokokkenartigem Typus gezüchtet.
Histologisch; Das implantirte Stück zeigt im Centrum gut begrenzte
Läppchen von gesundem Parenchym. In den Interstitien diffuse zeitige Infil¬
tration. Die bereits erwähnte Randzone besteht aus einer Schicht Fibrin mit
nekrotischem Gewebe. Daneben sieht man wiederum Granulationsgewebe mehr
wie sonst mit Leukocyten durchsetzt. In der Randzone verthoilt eine Anzahl
atrophischer Drüsencanälchen, daneben Partien von. nekrotischem Pankreas¬
gewebe. Im aufgepflanzten Netz Eiterherde und hie und da Blutungen. Eine
grössere Pankreasnekrose ist nur an einer Stelle deutlich hervortretend. Da¬
neben ist in den Präparaten ein kleiner Herd von Fettnekrosen sichtbar.
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Experimentelle Studien über tryptisclie Digestion.
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Der Versuch demonstrirt, dass ein Theil des Pankreas durch
Eiterung und Nekrose zu Grunde gegangen und von Granulations¬
gewebe ersetzt worden ist. Aus dem mikroskopischen Bilde und
der makroskopischen Verkleinerung des implantirten Stückes
schliessen wir auf eine in Folge infectiöser Eiterung entstandene
typische Pankreasnekrose.
Hund VII. Weiblich. Gewicht 13 kg. 13. 5. 09 Laparotomie. Bei diesem
Thiere werden etwa 4 cm Pankreas mit glatter Technik in den Darm gepflanzt.
Sorgfältige Netzplastik. 22. 5.: Der Hund hat sich bis jetzt sehr wohl be¬
funden und immer gut gefressen. Er wird heute getödtet.
Sectionsbefund: Keine Eiterungsprocesse im Bauch. Im Darm gallig
gefärbter Darmbrei. Das Pankreasstück ist im Darm gut erhalten geblieben,
hat seine ursprüngliche Länge beibehalten. Der makroskopische Befund zeigt
auf der Oberfläche und auf dem Durchschnitt gut erhaltenes Pankreasgewebe
mit einem Mantel von einem feinen, grau durchscheinenden weicheren Gewebe.
Mikroskopisch: Das vollkommen gut genährte Pankreasstück zeigt
einen centralen, vollkommen gesunden Kern. Die Kandzone besteht aus ober¬
flächlicher Nekrose, Bindegewebe und auch geringfügigen Besten von atrophi¬
schen Canälchen. Ferner sieht man Pankreasläppchen insofern in der Auf¬
lösung begriffen, als Bindegewebszüge sich zwischen die einzelnen Drüsen¬
schläuche hineindrängen und wie bei der chronischen Pankreatitis durch
Atrophie der Läppchen allmählich den Untergang des Parenchyms bewerk¬
stelligen. Ein Theil des Parenchyms liegt direct, an der Oberfläche, dem Darm¬
saft ausgesetzt, ohne auch nur im Mindesten in seiner Färbbarkeit verloren zu
haben. An diesen Präparaten ist besonders eine Stelle zu bemerken, die sich
ausserhalb des implantirten Pankreas befindet. Es ist hier nämlich das aussen
liegende Pankreas von einem aus dem subserösen Gewebe des Darmes stammen¬
den Grannlationsgewebc durchwuchert. Aehnlich, wie wir dieses an der Rand¬
zone der implantirten Pankreasstücke gesehen haben.
Hund VIII. Männlich. 13 kg. Laparotomie 13. 5. 09. Chylusgefässe
gefüllt. Pankreas etwa auf 4 cm mit dem duodenalen Pol in das Duodenum
gepflanzt.
Netzplastik. 26.5. getödtet. Wunde und Bauch aseptisch. Im Duodenum
gallig gefärbter Darmbrei. Im Lumen des Darms das rundlich geformte ver¬
kleinerte Pankreasstück. Auf dem Durchschnitt genau derselbe Befund wie bei
den vorigen Versuchen: Als Centrum das gut gezeichnete Pankreasgewebe von
grauweisser Farbe und darum eine ziemlich breite grau durchscheinende Zone.
Histologisch: Wir haben hier besonders der Randzone unsere Auf¬
merksamkeit zu widmen. Auf der Oberfläche derselben liegen grosso Haufen
von Bakterien, zum Theil kokkenartige Gebilde, zum Theil lange fadenförmige
Bakterien. Unter den Bakterienhaufen überall eine Zone nekrotischen Gewebes,
welche eine besondere Differenzirung nicht zulässt. Erst unter dieser Nekrose
nehmen wir Leukocyten und Rundzellen wahr, gemischt mit bindegewebigen
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422
Dr. Fr. Rosenbach,
Elementen. Daneben sieht man aber Inseln von Pankreasparenchym, theilweise
nekrotisch, theilweise atrophisch. An einer Stelle liegt ein gnt erhaltener
Pankreasgang nahe der Oberfläche, so dass wir zur Annahme gelangen müssen,
dass hier in der That ein Theil des Pankreasgewebes von aussen abgeschmolzen
sein muss. An anderen Stellen wiederum ist statt der Nekrose ein derbes
Bindogewebe zum Schutz hervorgewuchert. Es ist in diesem Versuch ein
grösserer Theil des implantirten Stückes an der Peripherie zu Grunde ge*
gangen. Der Kern des Pankreasgewebes ist auch hier vollkommen intact ge¬
blieben.
Hund IX. Männlich. Gewicht 12Y 2 kg. Laparotomie am 21. 5. 09.
Einpflanzen eines grossen Tbeils des duodenalen Schwanzes mit Netzplastik.
Um den mechanischen Reiz des vorbeifliessenden Darmbreies etwas abzu¬
schwächen, wird ausserdem noch eine Gastroenterostomie mit einer Jejunum¬
schlinge hinzugefügt.
Am 16. 6. getödtet. Keine peritonitischen Verwachsungen. Magen stark
erweitert und mit Ingesta gefüllt. Die Gastroenterostomie functionirt, jedoch
scheint die Oeffnung zu klein angelegt zu sein, da auch das Duodenum vor
dem implantirten Stück durch Darmbrei erweitert ist. Pankreas auf der Höhe
der Verdauung hyperämisch. Im Duodenum liegt das wenig verkleinerte, auf
der Oberfläche höckerige und ziemlich derb sich anfühlende Pankreasstück.
Mikroskopisch: Der grösste Theil wird aus intactem Pankreasparen¬
chym gebildet. Auf der Randzone zeigen sich wiederum grössere Mengen von
staphylokokkenartigen Bakterienhaufen, unter denen nekrotisches Gewebe sich
befindet. Darunter Leukocyteninfiltration und Bindegewebe. Das Granulations¬
gewebe geht auch hier aus dem interstitiellen Bindegewebe hervor.
Um nun dem Einwand begegnen zu können, dass eine grössere
verdauende Wirkung nicht sowohl im Duodenum, als vielmehr im
Jejunum stattlinde, indem erst hier die gründliche Mischung von
Pankreassecret und Darmsaft vor sich gehe und grössere Mengen
des Trypsinogens mit der Kinase in Berührung kommen, habe ich
noch in einem 10. Versuch den in gleicher Weise ausgelösten
Pankreastheil in das Jejunum, etwa 40 cm von der Flexura duo-
deno-jejunalis entfernt, gepflanzt.
Hund X. Laparotomie am 4. 7. 09. Technik wie soeben erwähnt. Am
17. 7. getödtet.
Sectionsbefund: Keine peritonitischen Veränderungen, keine Fett-
gewebsnekrosen. Die Operationsstelle aseptisch geheilt. Das etwa 3 cm lange
Stück ist aseptisch eingeheilt und vollkommen erhalten. Im Jejunum gallig
gefärbter Darmbrei. Der makroskopische Befund genau wie bisher.
Mikroskopisch: Die Randzone besteht aus Granulationsgewebe mit
zahlreichen Gefassen. Fibrin und Leukocyten. Theile von Pankreasläppchen
durch Einwachsen des Granulationsgewebes auseinander gedrängt.
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Experimentelle Stadien über tryptische Digestion.
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Wenn auch die Anzahl der vorliegenden Versuche eine nicht
sehr grosse ist, so sind doch die Befunde übereinstimmend und
besonders das mikroskopische Bild ein so charakteristisches, dass
eine Schlussfolgerung mir absolut gerechtfertigt erscheint.
Es ist zunächst festzustellen, dass schon nach 3 Tagen eine
oberflächliche Nekrose des implantirten Stückes statthat. Diese
Nekrose bildet um das implantirte Pankreas einc*n Saum, der mehr
oder weniger gegen das gesunde centrale Pankreasgewebe abge¬
grenzt ist. Bei längerer Lebensdauer (13—25 Tage) ist dement¬
sprechend mehr vom Parenchym in diese Nekrose aufgegangen.
Sahen wir doch in Fall VIII einen Ausführungsgang isolirt in der
Randzone liegen, umgeben von bindegewebigen und parenchymatösen
Resten, jedoch scheint nach den Versuchen, die sich über mehrere
Wochen erstrecken, der Verlust an Pankreasparenchym sehr lang¬
sam vor sich zu gehen. Hierfür spricht der makroskopische Be¬
fund und die mikroskopisch gefundene reichliche Entwickelung von
Granulationsgewebe. Zu einer Nekrose in kürzester Zeit ist es nur
in zwei Fällen gekommen (Versuch I und H). Bei diesen Ver¬
suchen geht aus den Protokollen hervor, dass das implantirte Stück
keineswegs eingeheilt war, sondern durch das Hinzutreten einer
Infection in dem ersten Fall einer Peritonitis, im zweiten Fall eines
abscedirenden Processes an der Operationsstelle nekrotisch ge¬
worden war. Hier sahen wir nichts mehr vom implantirten Stück
und die histologischen Bilder klärten uns darüber auf, dass that-
sächlich eine Nekrose des Stückes stattgefunden haben muss,
fanden wir doch noch die Reste so verändert, wie wir das nur bei
der acuten Pankreasnekrose zu sehen gewohnt sind. In geringem
Maasse ist die Nekrose bei Versuch VI ausgefallen, wo wir nach
(j Tagen an dem Pankreasstück Abscedirung und Nekrose eon-
statirten.
Es entsteht nun die Frage, wie kommt diese Oberflächen¬
nekrose zu Stande, welcher Art ist dieselbe?
Wir sind von dem Gedanken ausgegangen, dass bei regel¬
mässiger Fütterung des Versuchstieres täglich eine genügende
Secretion von Darm- und Pankreassaft und Galle stattfinden muss.
Es wurden hierzu die durch die Pawlow’schen Ausführungen be¬
kannten Resultate der verschiedenen Diät verwerthet. Auch die
gute Verdauung der zugeführten Nahrung hat dies vollkommen
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Dr. Fr. Rosenbach,
bestätigt. Bei der Scction fanden wir einige Male das Pankreas
in hyperämisch secretorischem Zustande. Wir müssen deshalb an¬
nehmen, dass das implantirte Stück in der That genügend vom
Darmsaft und dem darin enthaltenen Trypsin umspült wurde. Um
darüber ganz sicher zu sein, habe ich im letzten Versuch X das
Pankreas weiter unten ins Jejunum eingenäht und damit denselben
Erfolg erzielt.
Es fragt sich nun, ob die in dem Versuch constatirlen ober¬
flächlichen Nekrosen an dem implantirten Stücke das Product der
Trypsinverdauung sind, oder ob nicht vielleicht noch andere Fac-
toren dafür in Betracht kommen. Gegen eine durch das Ferment
bedingte Nekrose sprechen eine Anzahl Momente. Es würde meines
Erachtens der Process als solcher, wenn es sich um eine directe
Wirkung des Saftes handelte, ein rascherer und ausgedehnterer sein
müssen, wie das aus den Versuchen I, II und VI hervorgeht, die
bei der Beurtheilung wogen der sie begleitenden Infection gesondert
betrachtet werden müssen. Ferner aber könnte es bei einer Fer¬
mentwirkung nicht zu einer so reichlichen Bildung von Granulations¬
gewebe kommen, zwischen dem sich noch Beste gut erhaltenen
Parenchyms befanden. Auch haben wir in einzelnen Versuchen
ganz gesundes Drüsengewebe an der Oberfläche gefunden, welches,
dem Darmlumen zugekehrt, der chemischen Wirkung ausgesetzt war.
Hier hätten wir Veränderungen wahrnehmen müssen. Schliesslich
ist die Nekrose eine viel zu ungleichmässige; es werden hier und
da kleine Zellcomplexe angegriffen und nekrotisch, während daneben
wiederum andere vollkommeu intact geblieben sind. Das ist nicht
recht denkbar, wenn wir die Wirkung eines in der Dannflüssigkeit
vorhandenen und gleichmässig wirkenden Fermentes annehmen. Es
kann also eine verdauende Wirkung des Sccretes allein nicht in
Frage kommen, und wir müssen eine andere noch mögliche Er¬
klärung heranziehen, und ich meine, dass der chronische Charakter
der Veränderungen am besten auf mechanische Momente (Reibung
durch vorbeifliessenden Darmbrei) und vielleicht auch auf leicht
toxische Einwirkungen von Bakterien hinweist, die entweder direct
oder aber auch in Gemeinschaft mit dem Trypsin die Nekrose ver¬
ursachen. Dass auch Bakterien eine Bolle spielen, können wir aus
den mikroskopischen Bildern leicht entnehmen, besonders im Ver¬
such VI und IX sah man schon mit schwächerer Vergrösserung
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
425
die Kokkenhaufen, in deren Umgebung eine ausgedehnte Nekrose
stattgefunden hatte.
Die einmal gesetzte Oberlläehennekrose scheint, den Bildern
nach zu urtheilen, nach Möglichkeit bald durch Bindegewebe ersetzt
zu werden. Im Falle III und IV, die nur 3 Tage resp. 4 Tage
lebten, war dieses Bild genau so ausgebildet, wie im Versuche IX,
welcher am 25. Tage getödtet wurde. Man kann sogar sagen,
dass, je länger die Lebensdauer des Thieres sich gestaltet, um so
langsamer das Fortschreiten der Nekrose sein wird, da das sich
bildende Bindegewebe allmählich einen besseren, ja vollkommenen
Schutz gegen mechanische und bakterielle Einflüsse bildet. Bei
einer rein chemischen proteolytischen Wirkung des Saftes wäre ein
derartiger Vorgang nicht zu denken. Dass bei der Resorption der
oberflächlichen Nekrosen die verdauende Wirkung des Saftes eben¬
falls mit in Frage kommt, muss aus den Befunden der ersten
beiden Versuche angenommen werden.
Anders stellt sich die Frage in den Versuchen I, II und IV.
liier ist in der That an eine directe Wirkung des proteolytischen
Fermentes zu denken. Specicll bot der Versuch I des noch be¬
stehenden Pankreasgewebes das Bild der exquisiten acuten Pan¬
kreasnekrose. Die schwere Art der Infcction in diesen Versuchen
scheint dabei aber eine nicht unwichtige Rolle gespielt zu haben.
Kh werde später darauf zurückzukommcn haben.
Wir ziehen aus den übrigen Versuchen den Schluss, dass das
gesunde Pankreas ohne eine vorhergehende oder zugleich einsetzende
andere Schädlichkeit vom Darmsaft, welcher das activc Trypsin
enthält, nicht angegriffen werden kann, und es wird somit die
Frage zu beantworten sein, ob überhaupt eine Autodigestiorf des
Pankreas stattfinden kann und welches die Bedingungen sein müssen,
welche sie zu Stande kommen lassen.
Bevor wir an diese Frage herantreten, liegt es nahe, an¬
schliessend an die soeben erwähnten Experimente, weitere Versuche
anzustellen, um zu untersuchen, wie sich die beiden stärksten pro¬
teolytischen Fermente gegeneinander verhalten, speciell ob nicht
eine Andauung des Pankreasgewebes durch den Magensaft statt¬
haben kann, da diese Frage von Illava aufgeworfen worden
ist, der zu beweisen suchte, dass die acute Pankreasnekrose
durch den in den Ductus Wirsungianus eindringenden Magensaft
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entstehen könne. Auch hinsichtlich des durchbrechenden Magen-
ulcus nach dem Pankreas hin ist diese Frage nicht allein von
theoretischer Bedeutung. Man kann vielleicht aus ihr praktische
Gesichtspunkte gewinnen.
Ich habe zu diesem Zweck bei einer Anzahl von Thieren das
in ähnlicher Weise mobil gemachte Pankreas mit dem duodenalen
Endtheil in die hintere oder vordere Magenwand eingepflanzt. Es
wurde nach Einstülpung des zu implantirenden Stückes die Duo¬
denalwand als Verschluss der Magenöffnung benutzt. Vom Duo¬
denum wissen wir durch Katzenstein, dass eine Andauung des¬
selben durch den Magensaft wahrscheinlich nicht statthat.
Versuche (Serie II).
Hund I. Männlich. 12 kg. Laparotomie am 2. 7. 09. Der duodenale
Theil des Pankreas wird mit den ernährenden Gefässen aus dem Peritoneum
ausgelöst, dann eine Lembertnaht zwischen Magen und Duodenum ausgeführt,
der Magen geöffnet und nach Einstülpung des mobilisirten Pankreasstückes
geschlossen. Notzplastik wie bei Serie I.
15. 7. Hund hat bis jetzt gut gefressen. Es ist ihm Fleisch stets in
kleinen Portionen gereicht worden. In der Nacht vom 14. zum 15. 7. ge¬
storben.
Sectionsbefund: Beginnende Peritonitis von der Operationsstelle aus¬
gehend, wo die vorderen Lembertnähte durchgeschnitten haben, aus denen sich
gelblich-eitrige Flüssigkeit entleert. Keine Fettgewebsnekrosen. Magen mit
angedautem Speisebrei gefüllt. Von dem implantirten Stück ist nichts zu
sehen, als eine feinhöckerige Masse, die den Grund eines ovalen Schleimhaut-
defectes bildet.
Mikroskopisch: Zwar sieht man auch hier eine feine Schicht nekro¬
tischen Gewebes, welches mit starker Vergrösserung Epithelien von zu Grunde
gegangenem Pankreas zeigen. Die Zone jedoch ist schmal und an sie stösst
eine Schicht Bindegewebe, dem interstitiellen Pankreasgewebe angohörend,
und ferner Granulationsgewebe mit wenigen leukocytären Elementen. Grössere
nekrotische Partien sind nicht zu sehen, und das Bild differirt insofern von
Versuch I der Serie I. Nach dem makro- und mikroskopischen Bilde ist ein
sicherer Schluss nicht möglich. Entweder hat sich die Magenschleimhaut über
das an und für sich noch ziemlich grosse implantirte Stück herübergeschlagen,
welches bei der leicht überquellenden Schleimhaut vom Hund sehr möglich ist
oder aber es ist ein grösserer Theil des Pankreasgewebes durch mechanische
oder fermentative Wirkung losgelöst worden. Jedenfalls spricht das mikrosko¬
pische Bild absolut gegen eine schwere Nekrose.
Hund II. Männlich. 11 kg. Laparotomie am 2. 7. 09. Loslösung von
3y<> cm Pankreasgewebe. Einstülpen desselben in die eröffnete vordere Magen¬
wand. Verschluss wie eben erwähnt.
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
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7. 7. Bisher Wohlbefinden des Thieres. Nahrung mit rohem Pferde¬
fleisch und Milch. Getödtet. Leichte Abscedirung der Hautwunde. Im Bauche
keine Fettgewebsnekrose. Operationsstelle am Magen reactionslos. Im Magen
angedautes Fleisch. Man sieht das gut eingeheilte implantantirte, über hasel¬
nussgrosse, etwas abgerundete Stück ähnlich wie bei denVersuchen der Seriel.
Auf dem Durchschnitt durch das implantirte Stück wird die Pankreaszeichnung
deutlich. Auch hier ist eine graue durchscheinende Mantelschicht deutlich zu
erkennen. Der Gelassstiel ist intact. (Beigegebene Zeichnung illustrirt den
makroskopischen Befund [Fig. 4].)
Fig. 4.
Mikroskopisch: Die umgebende Hülle besteht grösstentheils aus zell¬
reichem Granulationsgewebe, welches sich in die grösseren Interstitien des cen¬
tralen Pankreaskernes fortsetzt. In den Interstitien sieht man ferner Züge von
frischen fibrinösen Einlagerungen. In dem gebildeten Granulationsgewebe sieht
man zahlreiche Pankreasdrüsenschläuche, die atrophisch oder auch nicht atro¬
phisch sind. An der Oberfläche ist fast nichts von Nekrose zu sehen. Ferner
ist die Zahl der vorhandenen leukocytären Elemente eine verhältnissmässig
geringe. Das central gelegene Pankreasgewebe ist vollkommen normal ohne
irgend welche Besonderheiten.
Wir haben somit auch hier* einen ähnlichen Befund, wie wir
ihn bei den früheren Versuchen bereits kennen gelernt haben. Nur
ist die geringe Nekrosenwirkung und die üppige Wucherung von
Granulationsgewebe hier hervorzuheben. — In dem folgenden Ver¬
suche können wir aber beweisen, dass auch acute Veränderungen
an dem implantirten Pankreas im Magen Vorkommen.
Archiv fUr klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2.
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428
Dr. Fr. Rosenbach,
Hund III. Männlich. 13 kg. Laparotomie am 3. 7. 09. Der sehr lange
und voluminöse Theil des duodenalen Pankreastheiles wird mit derselben Me¬
thode in den Magen eingenäht, nachdem er vom Peritoneum entkleidet worden
ist. (Es mag hier im Uebrigen erwähnt werden, dass nach den Erfahrungen
von Katzenstein und auch nach den meinigen es irrelevant ist, ob man das
Peritoneum vom Pankreas loslöst oder nicht.)
Fig. 5.
9. 7. Der Hund ist in der Nacht plötzlich gestorben.
Sectionsbefund: Die Baucheingeweide sehr anämisch. Keine Perito¬
nitis. Operationsstelle am Magen gut verheilt. Im Magen und Darm grosse
Mengen von bereits verändertem Blut 'und Darmbrei. Im Pylorustheil des
Magens, etwa 5 cm von demselben entfernt, an der grossen Curvatur ein Ulcus,
aus welchem das Pankreasstück in seinem Volumen verringert an vielen Stellen
wie ausgefressen herausragt. Der freiliegende Theil des Ulcusgrundes wird
vom angedauten Pankreasgewebe gebildet. Ueber dem Geschwürsgrund läuft
ein feines Gefäss, anscheinend eine Vene, welches an einer Stelle eine deut¬
liche OefTnung hat, woraus die Verblutung des Thieres stattgehabt haben muss.
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
429
Mikroskopisch: Während wir in den bisherigen Fällen, sowohl bei
der Implantation in den Dünndarm, als auch in den Magen nur oberflächliche
Nekrose und Granulationsgewebe beobaohtet haben, herrscht hier Nekrose und
entzündliche Veränderung vor. Am Boden des Geschwürs ist das angrenzende
Pankreasgewebe leicht nekrotisch. Es scheinen sich hier bereits grössere Par¬
tien losgestossen zu haben. Die Interstitien des herausragenden Pankreas¬
gewebes sind verbreitert und durch grössere Fibrinlager, welche mit Leuko¬
zyten und Lymphocyten durchsetzt sind, auseinandergedrängt. Das stark redu-
cirte Parenchym zeigt naoh aussen hin eine breite Zone, innerhalb welcher das
Pankreasgewebe eine bedeutende Abschwächung der Tingirbarkeit aufweist.
Diese Zone setzt sich zu beiden Seiten des hervorragenden Stückes fort. Bei
starker Vergrösserung sind diese schwächer gefärbten Partien noch dadurch
besonders charakterisirt, dass die Zellgrenzen nicht mehr scharf umschrieben
sind, das ganze Gewebe, auch die interstitiellen Bindegewebszüge, im Begriff
sind, zu nekrotisiren. An anderen Stellen wiederum ist bereits vollkommene
Nekrose eingetreten. Anhäufungen von Leukocyten sind überall bemerkbar.
Dass ein grosser Theil des Drüsengewebes bereits fortgeschafTt sein muss, er-
giebt nicht allein der stark verminderte Umfang des implantirtcn Pankreas,
sondern auch die zahlreichen Ausbuchtungen, welche durch das schädliche
Agens hervorgerufen sind. An einigen Stellen ist die Fibrinexsudation eine
besonders starke. Im Fettgewebe sieht man Fettgewebsnekrosen und zeitige
Infiltration. Eine Färbung auf Bakterien hatte keine Ergebnisse. (Die bei¬
gegebene mikroskopische Zeichnung ist aus der Aussenzone des Implantations¬
stückes entnommen und soll den Uebergang des gesunden zum nekrotisirenden
Pankreasgewebe darstellen [Fig. 5].)
Die mikroskopische und makroskopische Betrachtung dieses
Falles lehrt uns, dass wir es hier wiederum mit einer pro¬
gredienten Pankreasnekrose acuten Charakters zu thun haben. Be¬
merkenswerth ist die Arrosion des am Pankreas verlaufenden Ge-
fässes. Diese Arrosion wird gleichfalls auf fermentativer Wirkung
beruhen, wie wir das später auseinandersetzen werden. Ob Ent¬
zündungserscheinungen, worauf die Exsudation und die Leukocytose
hinweisen, das Prädisponirende für die Nekrose sind oder hier
nicht eventuell auch allmählich eingetretene ischämische Zustände
eine Rolle spielen, muss vorläufig dahingestellt bleiben. Die Fett¬
gewebsnekrosen deuten auf die Resorption von freiem Pankreas-
secret.
Hund IV. Männlich, 9 kg, Laparotomie. 13.7.09. Implantation eines
etwa 3 cm langen Pankreasstückes in die hintere Magenwand nahe am Pylorus.
Keine Circulationsstörungen.
21. 7. Das Thier hat die ersten Tage gut gefressen, in der Nacht plötz¬
licher Exitus.
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Sectionsbefund: Bauchnaht vereitert, im oberenWundwinkel geplatzt.
Von dort ausgehend eitrige Peritonitis. Im Magen sieht man das wohl erhaltene,
allerdings sehr weiche Stück Pankreas. Die Organe sind faulig und stinkend,
so dass die mikroskopischen Bilder, welche absolute Nekrose und Quellung des
Gewebes zeigen, keiue weiteren Schlüsse erlauben und unberücksichtigt bleiben
müssen.
Hund V. Männlich, Gewicht 9^2 kg, Laparotomie am 17. 7. 09. Ein¬
nähen von ca. 3 Y 2 cm gut ernährten Pankreasgewebes in den Magen und zwar
in die Hinterwand in die Nähe des Pylorus. Netzplastik.
20. 7. Der Hund ist an eitriger Peritonitis, von der Bauchwunde her-
rührend, gestorben. Die Operationsstelle am Magen und Darm ist gut ver¬
klebt. Im Magen selbst eine Menge Magensaft. Das etwas verkleinerte, aber
noch ansehnliche Stück ist auf der Oberfläche höckrig und gerötbet. Auf dem
Durchschnitt sieht man eine breite graurothe Aussenzone, im Centrum normales
Pankreasgewebe.
Mikroskopisch zeigt das herausgeschnittene Stück Folgendes: Die breite
Randzone besteht aus feinfadigem, netzförmig angeordnetem Fibrin mit einge¬
lagerten gelapptförmigen und rundzelligen Elementen. In diesem Fibrin liegen
Pankreasinseln, welche in ihrer Peripherie und theilweise auch in ihrem Innern
nekrotisch sind. Manche von den Pankreasinselchen sind im Uebergang in
Nekrose begriffen. Es fällt auf, dass auch die besser gefärbten Pankreasläpp¬
chen eine nicht mehr distinguirte Färbung beibehalten haben. An mehreren
Stellen befinden sich ferner wolkenartige, mitBakterien übersäte Fibrinbildungen
auf der Oberfläche des implantirten Stückes. In der Nähe der Darmserosa ist
die Entzündung rein hämorrhagisch, und man sieht grössere Blutaustritte in
das nekrotische Pankreas und die veränderten Interstitien. Die Gefässe sind
überall erweitert und strotzend mit Blut gefüllt. Randstellung der Leukocyten.
Auch die Capillarwände haben an Färbbarkeit abgenommen. Das Ganze ist
also das Bild der hämorrhagischen Pankreasnekrose, die vielleicht in kurzer
Zeit zur Totalnekrose des implantirten Stückes geführt hätte.
Diese 5 Fälle mögen genügen, um zu zeigen, dass wir
im Grossen und Ganzen gleichartige Verhältnisse haben, wie
wir sie in der ersten Serie bei Einpflanzung des Pankreas in
das Duodenum sahen. Wir haben zweierlei Veränderungen zu
unterscheiden: 1. Oberflächennekrose und 2. acute Pankreas¬
nekrose, die im V. Fall als hämorrhagisch zu bezeichnen ist.
Es taucht deshalb die Frage auch hier auf, ob das Magensecret
diese Veränderungen ausgeführt hat? Für die erste Form der Ober¬
flächennekrose möchte ich gleichfalls annehmen, dass eine rein
mechanische Wirkung des Mageninhaltes zusammen vielleicht mit
leichter Bakterienwirkung das ätiologische Moment abgeben, und
dass das proteolytische Ferment dabei entweder gar keine oder
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
431
eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Auch hier spricht gegen
die proteolytische Wirkung erstens, dass wir in dem Zeitraum von
7 Tagen bis 3 Wochen bei wirklicher Fermentwirkung eine aus¬
gedehnte Nekrose hätten haben müssen. Ausserdem ist bei
dauernder Einwirkung eines chemischen, überall eindringenden Fer¬
mentes die Entwicklung eines Granulationsgewebes und einer in¬
durativen Veränderung des dem Darmlumen anliegenden Pankreas¬
gewebes nicht recht denkbar. Schliesslich ist die zweifache Ver¬
änderung (Granulationsgewebe und acute Pankreasnekrose) bei stets
in gleicher Weise und in gleicher Stärke wirkendem Fermente
nicht zu erklären. Wir können somit alle die Einwände, welche
wir bei der Serie I erhoben haben, auch hier mit Recht Vor¬
bringen.
Wir folgern aus den Experimenten, dass das Pankreas
im normalen Zustande von dem Magensecret nicht angegriffen wird,
und wir kommen zu dem verallgemeinerten Schluss, wie Eingangs
erwähnte Forscher ihn für die Entstehung des peptischen Magen¬
geschwürs gezogen haben: Ein Organ wird durch das eigene proteo¬
lytische Ferment nicht verdaut, und erweiternd können wir sagen,
dass Organe, welche proteolytische Secrete liefern, überhaupt gegen
letztere unempfindlich sind, wenn nicht bei ihnen ein disponirendes
Moment hinzutritt.
Es liegt die Frage nach der Wirkung eines Antifermentes
gegen die Selbstverdauung beim Pankreas noch schwieriger als
beim Magen, wo Katzenstein sie annahm, um die Schutzwirkung
gegen die Entstehung des Ulcus rotundum zu erklären. In der
3. Auflage von Oppenheimer’s Abhandlung über die Fermente
spricht dieser Autor sich folgendermaassen aus: „Die Frage nach
der Natur der natürlich vorkommenden und künstlich erzeugten
Hemmungsstoffe gegen Trypsin ist noch in vielen Punkten unklar,
selbst wenn man die generellen Bedenken bei Seite stellt. Besonders
ist es noch nicht entschieden, ob die Paralysatorcn auf das fertige
Trypsin, auf die Kinasen oder auf das l’rypsinogen wirken.“
Bayliss und Starling nehmen nur Antikinasen und Antitrypsin
an (nach Oppenheimer). Ueber das Vorkommen von Antitrypsin
im menschlichen Körper sind gerade im letzten Jahre anlässlich
der Brieger’schen Carcinomuntersuchung eine Anzahl Beobachtungen
gemacht. Wir wissen heute, dass das normale Serum antitrvptische
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Dr. Fr. Rosenbach,
Eigenschaften besitzt. Es sind auch bereits von mehreren For¬
schern immunisatorische Versuche mit Antitrypsin gemacht worden
(Achalme, v. Bergmann, Jochmann). Die endgültige Ent¬
scheidung in dieser Frage muss den physiologischen Chemikern in
Zukunft überlassen werden.
So viel sagen uns aber die angestellten Versuche, dass eine
Autodigestion bei vollkommen intactem Parenchym nicht möglich
ist und somit der Begriff der Autodigestionsnekrose, wie er von
Chiari und, wie wir sehen werden, von anderen Autoren für die
acute Pankreasnekrose mit und ohne hämorrhagische Form ge¬
schildert wurde, nur ein bedingter sein kann. Dass eine Ein¬
wirkung des activen Secretes sicherlich statthaben muss, werden
uns noch die bei der Pankreasnekrose angestellten Versuche be¬
weisen.
Die nächstfolgenden Untersuchungen hätten sich demnach mit
der Frage zu beschäftigen, unter welchen Umständen denn das
Pankreassecret überhaupt an sein lebendes Gewebe herantreten
kann, und welches eventuell die Bedingungen sind, die eine nekroti-
sirende Wirkung zulassen. Solche Bedingungen müssen Geltung
haben für die von Chiari zuerst beschriebenen kleinen multiplen
Nekrosen. Sie müssen aber ebenso gut Berücksichtigung finden da,
wo es sich um die Erklärung der acuten Pankreasnekrose handelt.
Die acute Pankreasnekrose.
Der Umstand, durch welchen die Pankreasnekrose Gegenstand
der allgemeinen experimentellen Betrachtung wurde, ist die Ent¬
deckung und Erforschung der Fettgewebsnekrosen durch Baiser
und der bald darauf geführte Beweis, dass die Fettgewebsnekrose
und die Pankreasnekrose zwei von einander abhängige Dinge seien.
Durch die experimentell geschaffene Erkrankung des Pankreas ge¬
lang es im Lauf der Zeit fast stets Fettgewebsnekrose zu er¬
zeugen, und so wandte man sich dann dem Studium der Pankreas¬
nekrose selbst zu.
Es ist auf zweierlei Wegen gelungen, Nekrose zu erzeugen,
einmal auf dem Blutwege, welchen besonders Bunge mit Erfolg
besehritten hat. Der zweite ist die Erzeugung der Pankreasnekrose
und sogenannten „hämorrhagischen Pankreatitis“ durch Abbindung
des Ductus Wirsungianus auf der Höhe der Verdauung und Injec-
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
433
tionen von den verschiedensten chemischen Substanzen und der
proteolytischen Fermente in den Ausführungsgang.
Der hämatogene Weg kann theoretisch wiederum auf zweierlei
Weise die schädliche Wirkung auf das Parenchym hervorrufen. Es
können auf ihm schädliche chemische Gifte oder aber Bakterien
und ihre Toxine zugeführt, ferner aber durch embolische Processe
nicht bakterieller Natur eine Absperrung des Blutes und dadurch
Gewebstod hervorgebracht werden.
Die primäre Schädigung durch Gifte und Bakterien, wie sie
von Orth, Fitz und Körte zunächst in Rechnung gezogen sind,
dürfte deshalb heute allgemein nicht mehr anerkannt werden, weil
wir wissen, dass gerade die bakterielle suppurative Pankreatitis
nicht mit ausgedehnter Nekrose, Blutung und Fettgewebsnekrose
einhergeht. Würde man annehraen müssen, dass ein schon nekroti-
sirendes Agens, vielleicht ein Bakterientoxin (Diphtheriebacillus
z. B.) die Ursache wäre, dann würden auch in anderen Organen
zu gleicher Zeit Veränderungen zu treffen sein, die ein gleich
schweres Bild, wie das der Pankreasnekrose zeigten, und es würde
die Pankreasnekrose als Theilerscheinung einer schweren septischen
Erkrankung und nicht als Erkrankung sui generis anzusehen sein,
was in ganz seltenen Fällen wohl einmal eintreffen kann.
Eine andere Entstehungsmöglichkeit der Nekrose ist die
Embolie. Panum hat in seiner ausführlichen experimentellen
Arbeit über die Folgen der Embolie des kleinen und grossen
Kreislaufes gezeigt, dass durch Eintreten von injicirten Wachs¬
kügelchen in die Arterie des Pankreas kleine und grössere Blut¬
extravasate in das Parenchym statthaben. In gleicher Weise konnte
Lepine (nach Bunge) durch Lykopodiumeinspritzungen hämor¬
rhagisch nekrotische Veränderungen in der Drüse erzielen. In
neuerer Zeit hat sich namentlich Bunge mit dieser Frage ex¬
perimentell beschäftigt. Er konnte durch Gefässligaturen, durch
lnjection von Luft und Oel und Paraffinum liquidum das Bild der
schwersten Pancreatitis haemorrhagica erzeugen. Bunge ist der
Ansicht, dass die so erzeugte Blutung das Primäre, die Nekrose
das Secundäre sei und giebt damit eine Bestätigung für dieselbe
Behauptung, wie sie zuerst auf Grund klinischer Betrachtung von
Seitz, Dieckhoff u. A. besonders vertreten worden ist. Hilde¬
brand konnte ebenfalls durch Unterbindung von Gefässen Pankreas-
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Dr. Fr. Rosenbach,
nekrose und Fettgewebsnekrose erzeugen. Ich habe anlässlich eines
später zu erwähnenden Versuches bei einer Hündin wegen Blutung
aus einem grösseren Aste der Pancreaticoduodenalis dieselbe unter¬
binden müssen. Das Thier starb zwei Tage später an einer
Pankreasnekrose mit Abscedirung und Fettgewebsnekrose in der
Umgebung des erkrankten Pankreas. Bei zwei Thieren, welche
ich laparotomirte und denen ich das vom Peritoneum entblösste
Pankreas mit Adrenalin bestrich, bekam ich keine weiteren Ver¬
änderungen. Vorübergehende Ischämien scheinen mir aus diesem
Grunde allein nicht auszureichen, um Nekrose zu bewirken.
Aus den Versuchen von Panum, Lepine und Bunge aber
geht hervor, dass in der That Störungen vom Blutwege aus acute
Pankreasnekrose mit Hämorrhagie zur Folge haben können. Ob
derartige Verhältnisse beim Menschen häufig zu finden sind, ist
fraglich. Dass gelegentlich beim Menschen durch losgelöste
Thromben (Endocarditis, Arteriosklerose) einmal eine derartige
Aetiologie vorliegen kann, soll deshalb nicht geleugnet werden,
nur sind diese Fälle sicherlich sehr selten. Wir wissen, dass
arteriosklerotische Gefässveränderungen das Pankreas alteriren und
wir bekommen in diesen Fällen dann eine chronische Pankreatitis.
Es ist durchaus möglich, dass sich durch locale Verschlüsse kleinster
arteriosklerotisch erkrankter Gefässe Nekrosen bilden können, die
bald durch Bindegewebe ersetzt werden. Es brauchen aber arterio¬
sklerotische Veränderungen in den Gefässen gar keinen Antheil an
der Erkrankung zu haben. Auf die Erklärung Bunge’s, dass
durch Gefässverstopfung erst Hämorrhagie und dann Pankreas¬
nekrose entsteht, komme ich bei Besprechung der hämorrhagischen
Veränderung noch zurück.
Während die Erzeugung der Pankreasnekrose vom Blutwege
aus die Autoren experimentell nur wenig beschäftigt hat, ist um
so mehr die Injection in den Ductus pancreaticus ausgeführt worden.
Auch hier sollte zuerst der Beweis geführt werden, dass die
Pankreasnekrose lediglich auf bakterielle Ursachen zurückzuführen
sei, später aber legte man auf die Injectionen chemischer Sub¬
stanzen und von Fermenten den grösseren Werth und suchte die
Wirkung durch chemisch fermentative Ursachen zu beweisen.
Die bakterielle Forschung hat eine Anzahl Forscher verlockt,
doch sind die erzielten Resultate nicht absolut beweisend aus-
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gefallen. Körte hat frischen Appendicitiseiter, Staphylokokken
und Colibacillen injicirt und bekam unter 16 Fällen nur einmal
Fettgewebsnekrosen, Hlava und Carnot konnten andererseits mit
Coli- und Diphtheriebacillen hämorrhagische Entzündungen erzeugen.
Dasselbe konnte auch mit Einspritzung von Toxinen erreicht werden.
Desgleichen hat auch Flexner durch Diphtheriebacillen, nicht aber
durch Pyocyaneus leichte hämorrhagische Nekrosen erreicht, meist
ohne Fettgewcbsnekrosen zu erhalten, ein Beweis, dass das Pankreas¬
gewebe nur unwesentlich verändert gewesen sein muss. Ponfick
züchtete von einem Fall von Pankreasnekrose ein Bakterium, was
einerseits dem Typhusbacillus, andererseits dem Bacterium coli
Escherisch nahestand, hat aber mit dieser Cultur typische Bilder
nicht erzeugt. In letzter Zeit sind auch von Polya erneute Ver¬
suche mit Einspritzungen von Colibacillen ausgeführt, doch mit
negativem Erfolg.
Nun ist bei allen bakteriellen Experimenten nach dieser
Richtung hervorzuheben, dass natürlich die für den Menschen als
pathogen geltenden Bakterien beim Hunde im Allgemeinen nicht
anzuwenden sind. Ein grosser Theil derselben mag wohl eine
leichte Pankreatitis mit interstitieller Eiterung hervorrufen können,
und dies ist in der That bei einzelnen Versuchen auch der Fall
gewesen. Es haben auch Bakterien, wie der Diphtheriebacillus,
der beim Menschen eine stark nekrotisirende Neigung hat, in einer
Reihe von Versuchen, wie sie z. B. Hlava anstellte, leichte Nekrose
des Pankreas erzeugt. Demselben Forscher gelang es, mit Bacterium
coli, Lactis aerogenes und Bacterium capsulatum Friedlaender Ver¬
änderungen im Pankreas hervorzurufen.
Immerhin aber zeigt die Mannigfaltigkeit der injicirtcn Bakterien,
dass eine specifische Art von Mikroorganismen nicht die Aetiologic
für die Pankreasnekrose darstellen kann. Dass sie aber eventuell
doch in gewissen Fällen eine Rolle zu spielen im Stande sind,
möchte ich aus den im folgenden Abschnitt erwähnten Versuchen
für möglich halten. Es war ferner, glaube ich mit Bestimmtheit
sagen zu können, in den 5 Versuchen der zwei Serien, bei denen das
Pankreas in den Darm und Magen implantirt wurde, und das Bild
der acuten Pankreanekrose gefunden wurde, stets eine bakterielle
Infection vorhanden und die Stücke waren nicht aseptisch eingeheilt.
Trotzdem ich später noch darauf zurückzukommen habe, möchte
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Dr. Fr. ltosenbach,
ich hier gleich einen weiteren Versuch anführen, welcher das eben
Behauptete zu stützen im Stande ist. Ich nahm von einem Hunde,
der an Peritonitis zu Grunde gegangen war, Eiter, dessen Züchtung
auf Agar-Agar laut der von pathologisch-bakteriologischer Seite
gütigst ausgeführten Untersuchung aus einem Bakterium bestand,
welches dem Bacterium coli des Menschen nahestand und, wie der
Verlauf der Peritonitis beim Hund zeigte, ausserordentlich virulent
war. Ich implantirte nun in der von mir im ersten Theil an¬
gegebenen Weise das Pankreas in das Duodenum und bestfich vor
dem Einstülpen das Pankreasstück mit der Cultur und liess zu
gleicher Zeit ein Stück des mit den Bakterienculturen durchsetzten
Nährbodens mit im Darm. Der Hund starb zwei Tage später an
eitriger Peritonitis. Es war das implantirte Stück fast vollkommen
verschwunden, der Rest nekrotisch, weich und nicht mehr zu er¬
kennen. Der Versuch ergänzt die bereits in den ersten Serien ge¬
machten Erfahrungen. Er und die anderen Versuche sind aber in ihrer
Anordnung nicht als rein bakterielle anzusehen, da die implantirten
Stücke neben der Infection durch die Bakterien auch noch der
Wirkung des Darmsaftes und damit der tryptischen Einwirkung
ausgesetzt sind, eine wichtige Thatsache, auf die wir noch zu
sprechen kommen werden.
Neben den positiven Befunden von Bakterien in den Experi¬
menten ist auch noch eine grössere klinische Literatur vorhanden,
aus der wir entnehmen, dass in 37 Fällen von Fett- und Pankreas¬
nekrose 15 mal im Pankreas Bakterien gefunden wurden. In der
grossen Monographie der Fettgewebsnekrose von Truhart linden
wir dieselbe bis 1902 aufgeführt. Truhart nimmt trotz der Be¬
funde eine absolut ablehnende Haltung gegenüber der mikro-
parasitären Theorie an. Die aus dem Leichenmaterial gezüchteten
Bakterien waren auch hier ganz verschieden; in mehreren Fällen
wurde Bacterium coli commune gefunden. Gegenüber der grossen
Zahl von Pankreaserkrankungen mit Fettgewebsnekrosen aber, wo
keine Bakterien gefunden wurden, und auch der so zahlreichen
Misserfolge im Experiment kann bis jetzt nur die Behauptung auf¬
gestellt werden, dass die Bakterien in der Aetiologie wohl als
Nebenfactor eine Rolle spielen können, aber nicht im Stande sind,
die schweren pathologisch-anatomischen Veränderungen hervor-
zurufcn, wie wir sie bei der Pankreasnekrose mit und ohne
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
437
Hämorrhagic beobachten. Auch die von mir ausgeführten Experi¬
mente beweisen nur, dass bei dem Entstehen einfer Pankreas¬
nekrose am implantirten Stück für den Hund pathogene Bakterien
mitwirken können.
Abgesehen von den Bakterieninjectionen ist ferner die Pankreas¬
nekrose durch Injectionen von verschiedenartigsten chemischen
Flüssigkeiten erzielt worden. Ein grosser Theil dieser Versuche
hat lediglich zur Erzeugung von Fettgewebsnekrosen gedient und
hat auf eine beim Menschen bestehende Entstehungsmöglichkeit,
der Pankreasnekrose keine Rücksicht genommen. Ich erwähne nur
die Chlorzinkätzung von Oser, Katz und Winkler, die Säure-
und Alkalieneinspritzungen, wie sie von Hlava, Flexner u. A.
mit und ohne Erfolg ausgeführt worden sind. Formalin, Terpentin
und andere Substanzen sind verwandt worden. Mehr Berück¬
sichtigung verlangen die Versuche Hlava’s mit Magensaft, die ge¬
sonderten Versuche mit Pepsin von Hildebrand. Sie entsprechen
schon mehr der Forderung, 'wie wir sie beim Menschen stellen
müssen. Dennoch sind die Versuche Hlava’s deshalb abzu¬
lehnen, weil durch die Neutralisation des Magensaftes durch den
Darmsaft seine Wirkung nicht mehr in Frage kommt. Hilde-
brand hat bewiesen, dass das Pepsin als alleiniger Factor die
Nekrose nicht erzeugt. Die vielen anderen Versuchsreihen und
chemischen Flüssigkeiten beweisen nur, dass es gelingt, mit einem
grösseren Quantum (meist über 5 ccm und mehr) einer chemisch
nicht indifferenten Flüssigkeit eine schwere dem Bilde der mensch¬
lichen Pankreasnekrose gleiche Schädigung zu machen. Eine viel
verheissende Richtung ist erst durch den stricte ausgeführten Ge¬
danken der Fermenttheorie eingeschlagen worden, den wir in erster
Linie den Untersuchungen Hildebrand’s zu verdanken haben.
Während Langerhans unter 12 Experimenten, welche er mit
frisch verriebenem Pankreas ausführte, nur einmal Fcttgewebs-
nekrose zum ersten Mal erzeugte, gelang es Hildebrand, durch
Ligaturen, Secretstauung und durch llesection am Pankreas und
Implantation vom frischen Pankreas Fettgewebsnekrose regelmässig
zu erzeugen. Die Fermenttheorie ist ursprünglich von Hildebrand
für die Erklärung der Fettgewebsnekrosen herangezogen und von
seinen Schülern Dettmer und Mielisch, zu gleicher Zeit von
Jung, J. Rosenbach und später von einer Reihe von Forschern
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Dr. Fr. Rosenbach,
weiter ausgebaut und bestätigt worden. Erst mit der Erkenntniss
der Abhängigkeit der Fettgewebsnekrose von der Pankreasnekrose
ist auch in diesem Sinne für die Aetiologie der Pankreasnekrose
selbst eingetreten worden. Hildebrand wies nach, dass die
Fettgewebsnekrose ihre Entstehung dem fettspaltenden Ferment
verdanke, welches bei Erkrankung des Pankreas aus dem Parenchym
diffundirc. Zu gleicher Zeit sind dem Trypsin die zahlreichen
Blutungen von Rosenbach und Hildebrand zugeschrieben worden.
Fl ex n er konnte zwei Jahre später bei seinen Experimenten in
frischen Fettnekrosen das fettspaltende Fennent sogar nachweisen,
wärend er es in älteren ausheilenden Herden vermisste. Truhart
macht ferner auch auf die ausgedehntere Wirkung des Trypsins
aufmerksam, welches nicht nur die hämorrhagischen Veränderungen
hervorrufen könne, sondern auch dem Steapsin als Pionier zur Er¬
schliessung der Fettgewebe diene.
Mit diesen Thatsachen war dem Pankreassecret eine führende
Rolle zuerkannt. Und die weiteren Arbeiten hatten sich in der
Folge mit der Frage zu beschäftigen, inwiefern das Pankreas¬
secret eine Rolle bei der Pankreasnekrose selbst zu spielen habe.
Auch hier sind die Experimente meistens so angestellt, dass
Injectionen in den Ductus Wirsungianus gemacht wurden. Zur
erfolgreichen Injection hatte sich aber als nothwendige Bedingung
herausgestellt, dass zugleich eine Stauung am Pankreassystem statt¬
finden muss. Ja, man hatte allein schon durch eine Unterbindung
aller Pankreasgänge auf der Höhe der Verdauung Pankreas- und
Fettgewebsnekrosen erzielen können (Hess).
Die Misserfolge bei diesen Versuchen werden von Hess dahin
gedeutet, dass nicht alle Gänge unterbunden wurden und das
Secret durch einen solchen nicht unterbundenen Canal entweichen
konnte.
Die Injectionen wurden ausgeführt mit Oel (Hess, Guleke),
Galle (Opie, Guleke) und Duodenalinhalt (Polya, Hess), schliess¬
lich auch mit künstlichem Trypsin (Polya). Alle diese Injectionen
sollen den Verhältnissen beim Menschen deshalb am meisten Rech¬
nung tragen, weil wir aus den klinischen Beobachtungen gelernt
haben, dass Fettsucht und Gallensteinkrankheit oft zu acuter Pan¬
kreaserkrankung disponiren, dass eine acute Stauung auf der Höhe
der Verdauung meist einen Ausbruch der schweren Symptome
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
439
hervorruft (Gulcke). Die Beurtheilung der ausgeführten erfolg¬
reichen Experimente hat zu dem Resultat geführt, dass in der That
das Pankreasferment die Hauptrolle bei der Nekrose spielen muss.
Bei diesen Versuchen ist auch hier die Secretstauung auf jeden
Fall als eine nicht unwichtige Bedingung anzusehen. Diese wird
im Experiment durch Unterbindung des Ductus Wirsungianus auf
der Höhe der Verdauung oder aber durch die Injection grösserer
Mengen der zu injicirenden Flüssigkeit erreicht. Beim Menschen
kann eine derartige Stauung auf verschiedene Weise entstehen. —
Diese vermögen in erster Linie die Gallensteine und eventuell die
Pankreassteine hervorzubringen, und es haben sich Halsted und
Opie dieser Frage besonders angenommen. Ersterer fand bei
einem Fall von hämorrhagischer Pankreatitis eine enorme Stauung
im Choledochus bei der Operation, ohne jedoch den winzigen Stein
als Ursache entdecken zu können, der bei der Obduction in der
Papilla Vateri gefunden wurde.
Halsted, welcher als vorherrschende Aetiologie gleich vielen
anderen Autoren die Cholelitiasis ansieht, führt die Seltenheit der
acuten „hämorrhagischen Pankreatitis“ darauf zurück, dass die
Beschaffenheit der Steine nur selten so ist, dass letztere einerseits
die Papille nicht passiren können, andererseits zu gleicher Zeit das
nur kurze gemeinschaftliche Ende des Choledochus und des Pan¬
kreasganges verschliessen.
Weiterhin kann aber auch durch Schwellung der Schleimhaut
der Papilla Vateri in Folge acut entzündlicher Processe oder durch
narbige Veränderungen an derselben eine derartige Secretstauung
zu Stande kommen.
So hat Hildebrand auf das Uebergreifen enteritischer Pro¬
cesse auf die Papilla Vateri ausdrücklich hingewiesen. Andererseits
kann durch Hineindringen von Darmbrei in den Ductus Wirsun¬
gianus ebenfalls ein mechanischer Verschluss stattfinden, der aller¬
dings nicht allein mechanisch, sondern, wie wir sehen werden, auch
durch Fermentwirkung für die Pankreasnekrose verantwortlich ge¬
macht w T erden muss. Bei dem Eindringen von Darminhalt in den
Ductus gilt es den durch den Helly’schcn Schliessmuskcl bedingten
Widerstand zu lösen. Es muss deshalb eine Incontinenz ange¬
nommen werden, die beim Menschen durch Läsionen erklärt werden
kann, welche durch die Einkeilung von Gallensteinen und das
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Dr. Fr. Rosenbach,
Passiren derselben entstehen. Eine Incontinenz der Papille dürfte
aber ebenso gut durch entzündliche Zustände vom Darm aus her¬
vorgerufen werden. Und schliesslich kann durch antiperistaltische
Bewegungen, so z. B. beim Brechact (Lazarus) oder auch durch
starke peristaltische, krampfartige Zustände des Darmes, wie sie
bei acut toxischen Enteritiden ausgelöst werden, der Muskelwider¬
stand aufgehoben werden. Auf diese Art habe ich mir bei einem
Fall von Lysol Vergiftung, bei dem sich eine acute hämorrhagische
Pankreasnekrose als hauptsächlichste Veränderung vorfand, das
Zustandekommen der Veränderung erklärt. Auch mag hier an
toxische Bleivergiftungen, die z. B. von Seitz angeführt werden,
erinnert sein. Ueber die Folgen der Secretstauung hat namentlich
Eppi nger sehr schöne Untersuchungen gemacht. Es gelang ihm
durch ein besonderes Imprägnirungsverfahren, die Secretcapillaren
gut sichtbar zu machen, und er war dadurch im Stande, die Folgen
der Stauung bis in die feineren Details zeigen zu können. Bei
der Einführung grösserer Mengen von Flüssigkeit tritt fast stets
eine Sprengung der Secretcapillaren ein, nachdem vorher eine Dila¬
tation derselben stattgefunden hatte, und es kann sich nun das
überall austretende Secret an das zum Theil auseinander gesprengte
Parenchym heranwagen. Die Sprengung der Secretcapillaren
kann man übrigens schon makroskopisch beobachten, wenn man
z. B. gefärbte Flüssigkeit (Galle) injicirt. Es tritt bei grosser Menge
ein Oedem des peripankreatischen Gewebes auf, welches gallig ge¬
färbt ist.
Die Stauung allein kann jedoch die Veränderung im Pankreas
nicht hervorrufen. Es kommt hierzu noch die specifische Wirkung
des Pankreassecretes Gerade in diesem Punkte bestehen aber in
der Literatur noch zahlreiche Controversen.
Es handelt sich hauptsächlich um die Frage, ob das Steapsin
oder das Trypsin auf die Zellen einwirke. Gestützt auf seine zahl¬
reichen, in mehreren Veröffentlichungen niedergelegten Experimente
von Injectionen mit Oel, Fetten und Seifen in den Ductus Wirsun-
gianus stellt sich Hess den Vorgang so vor, dass fettige Sub¬
stanzen, mögen sie nun vom Darm herrühren oder aber in rück¬
gestauter Galle bereits enthalten sein, durch das Steapsin gespalten
werden. Durch die chemische Umsetzung erfolge dann die Bildung
von Seifen, welche ihrerseits eine Nekrose des Parenchyms hervor-
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
441
rufen; aus dem zerstörten Parenchym solle dann wiederum neues
Secret frei werden, welches einerseits Nekrose der Drüsenzellen,
andererseits Fettnekrose durch erneute Steapsinspaltung verursache.
Hess sagt wörtlich, „die löslichen Na-Seifen diffundiren von den
Gängen aus in das Pankreasgewebe, zerstören dasselbe durch Kalk-
ausfällung innerhalb der Zelle und eröffnen dadurch dem Pankreas¬
safte die Wege in die Umgebung; gelangt derselbe zum Fett¬
gewebe, so wird dieses durch Spaltung und Verseifung nekrotisirt und
bildet das Centrum einer durch Verseifung weiter fortschreitenden
Nekrose“.
In der That sind die zahlreichen Versuche von Hess mit
Olivenöl, welche nach ihm mit gleichem Erfolge von Guleke aus¬
geführt worden sind, derartig dem klinischen Bilde gleichend, dass
zunächst die von Hess aufgestellte Behauptung einer Seifenwirkung
einleuchtend erscheint. Auch wurde durch pathologisch-anatomische
Studien beobachtet, dass die Pankreasnekrose des öfteren von der
Fettgewebsnekrose dem Ursprungsherde neuer gebildeter Seifen aus¬
zugehen schien (Beneke, Blume, Marchand u. A.) Um die Be¬
hauptung von Hess nach dieser Richtung hin zu prüfen, habe
ich eine Versuchsreihe mit Seifen angestellt, die aber in ihren
Resultaten nicht so ausgefallen ist, dass sie die Theorie zu stützen
im Stande ist. Die Versuche mögen hier in Kürze angeführt
werden.
Bei sämmtlichen Versuchen wurde ein Gemisch von chemisch
reinen Seifen (olein-, palmitin- und stearinsaures Natron zu gleichen
Theilen) in den darauf doppelt ligirten Pankreasgang gespritzt. Bei
zwei Versuchen wurde nur einfach die Laparotomie ausgeführt und
nun ein concentrirter Seifenbrei auf das Pankreas gerieben.
Versuche (Serie III).
Hund I. Männlich. Gewicht 6 kg. 26.2.09. Laparotomie. Bestreichen
des Pankreas mit dicker concentrirter Seifenlösung.
8. 3. Hund ist stark abgemagert. Bei der Relaparotomie zeigten sich
Verwachsungen zwisohen Pankreas und Netz einerseits, mit Dünndarmschlingen
andererseits. Keine deutlichen Fettnekrosen. Dagegen ist das mittlere Pan¬
kreasstück verhärtet und zeigt einige chronisch pankreatitische Veränderungen.
Hund II. Männlich. Gewicht 7 1 /« kg- 1- 3. 09. Dieselbe Versuchs¬
anordnung.
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Dr. Fr. Rosenbach,
5. 3. 09. Exitus in Folge Nahtinsufficienz und peritonealer Infection.
Frische Eiterung am Pankreas mit einzelnen Fettgewebsnekrosen in dev Um¬
gebung.
Bei der folgenden Versuchsreihe wurde den Hunden Seifen¬
lösung in den Ductus pancreaticus injicirt und der Gang doppelt
unterbunden.
Hund 111. Männlich. Gewicht 6 kg. Laparotomie am 19.3.09. Chylus-
gefässe gefüllt. Pankreas im Verdauungszustande. Injection von 4 ccm einer
3y 2 p r °c. Seifenlösung.
24. 3. Starke Abmagerung. Hund Morgens gestorben. Section keine
Peritonitis. Leber und Dünndarm mit dem Pankreas verwachsen, verklebt,
durch fibrinöse Schwarten. Beim Ablösen zeigt sich ein grosser Abscess am
Pankreas, und zwar an der Hinterseite desselben. Das an den Abscess an¬
grenzende Pankreasgewebe zeigt Nekrosen. Auch sieht man einige Fettgewebs¬
nekrosen in der Umgebung. Der Abscess enthält bakteriologisoh einige wenige
Colonien von Kokken, die in ihrem Wachsthum auf Agar-Agar nach zu ur-
theilen den Staphylokokken nahestehen. Mikroskopisch sind ausgeprägte kleine
Nekrosen des Parenchyms mit kleinen Blutungen und Durchtränkungen des
interstitiellen Gewebes mit Fibrin zu constatiren. Auch Fettgewebsnekrosen
werden in der Umgebung durch die Benda’sche Färbung sehr schön nach¬
gewiesen.
Bei den letzten beiden Versuchstieren sehen wir, dass nach
der Seifeninjection eine bakterielle Infection, Pankreasnekrose und
Fettgewebsnekrose entstanden ist.
Dackel IV. Weiblich. Gewichte 1 ^ kg- Mittlerer Verdauungszustand.
Laparotomie am 20. 3. 09. Ductus freigelegt. Injection von 4 ccm einer
3V 2 p roc . Seifenlösung.
24. 3. Hund abgemagert. Exitus an eitriger Bronchopneumonie.
Sectionsbefund: Verwachsungen des Netzes mit dem Pankreas. Pan¬
kreas selbst verdickt, derb. Keine Fettgewebsnekrosen.
Mikroskopisch: Chronische Pankreatitis. Bindegewebsentwickelung
zwischen den Septen und in das intertubuläre Gewebe. An einer Stelle sieht
man einen kleinen acuten Nekrosenherd und einzelne Fettgewebsnekrosen.
Hund V. Weiblich. Gewicht 9 kg. Injection von 2 ccm 4proc. Seifen¬
lösung.
Am 23. 4. 09 zu anderem Zweck laparotomirt. Leichte Verwachsungen.
Keine sichtbaren pathologischen Veränderungen.
Hund VI. Weiblich. Gewicht 12 kg. Laparotomie am 25. 3. 09. In¬
jection von 2 ccm derselben Seifenlösung. Relaparotomie am 23. 4. Adhäsion
des Netzes und der Leber mit dem Operationsgebiete. Pankreas im verticalen
Theil vollkommen atrophisch und derb.
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
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Hund VII. Männlich. 11kg. 26.3.09. Dieselbe Versuchsanordnung.
Gewichtsabnahme 3% Pfd. Getödtet am 26. 4.
Sectionsbefund: Keine Fettgewebsnekrose, keine Pankreasnekrose.
Pankreas besonders in der mittleren Partie, aber auch im lienalen und duode¬
nalen Theil atrophisch.
Hund VIII. Männlich. 12 kg. Laparotomie am 3. 4. 09. Verdauungs¬
zustand. Injection von 4 ccm einer 4proc. Lösung.
Am 10. 5. getödtet. Atrophie des Pankreas. Keine Fettgewebsnekrosen.
Alte peritoneale Verwachsungen am Operationsgebiet.
Dass auch bei Injection von grösseren Mengen Scifenlösung
eine schwere acute Pankreasnekrose im allgemeinen nicht eintritt,
zeigen die beiden folgenden Versuche.
Hund IX. 12y 2 kg. Laparotomie am 5.4.09. Chylusgefässe gefüllt.
Injection von 6 ccm einer 4proo. Lösung.
Am 13. 4. Hund an Peritonitis durch Aufplatzen der Bauchwunde ge¬
storben. Keine Fettgewebsnekrose. Netz mit Pankreas in grösserer Ausdehnung
an der Operationsstelle, verwachsen. Das Pankreas fühlt sich derber an, wie
normal, besonders in seiner mittleren Partie.
Mikroskopisch zeigten die Präparate folgende Veränderungen: In dem
peripankreatischen Gewebe sind mehrere Fettgewebsnekrosen und zeitige Infil¬
trationen vorhanden. Das interstitielle Gewebe besonders aber das intertubuläre
ist vermehrt und zellreich. Die Drüsenschläuche selbst sind wenig verändert.
Diagnose: Chronisch indurative Pankreatitis mit vereinzelten Fettge¬
websnekrosen im peripankreatischen Bindegewebe.
Hund X. Männlich. 12y 2 kg. Laparotomie am 6. 4. 09. Chylus¬
gefässe gefüllt. Einführung von 6 ccm der 4proc. Seifenlösung. Doppelte
Ligatur des Ductus.
13. 4. Peritonitis durch Aufplatzen der Bauchwunde. Keine Fettgewebs¬
nekrosen. Pankreas im ganzen härter, wie normal. An der Operationsstelle
sieht man in dem sonst grauweissen indurirten Gewebe einen linsengrossen keil¬
förmigen Herd von mehr braungrauer Farbe und weicher Beschaffenheit. Dieser
infarktähnlicbe Herd ist von einer feinen gelben Zone umsäumt und um diese
zeigt sich collaterale Hyperämie.
Mikroskopische Veränderung: Das Parenchym des Pankreas zeigt
überall Bindewebsentwicklung. Der eben erwähnte Herd besteht aus Pankreas¬
nekrose mit kleinen Blutextravasaten in der Peripherie der Nekrose. Irgend ein
Embolus oder Thrombus ist nicht festzustellen. Der Herd wird von breiteren
Bindewebsmassen, die den nächstliegenden Interstitien angeboren, vom übrigen
Gewebe abgeschlossen! In der Nähe sind eine Anzahl kleiner Fettnekrosen.
Diagnose: Chronisohe Pankreatitis, infarktähnlicher Nekroseherd. Letz¬
terer ist sehr wahrscheinlich derart entstanden, dass in das betreffende Capillar-
system die Sectionsmasse mit grösserem Druck hineingespritzt worden ist, sodass
hier eine intensivere Berührung der Seifenlösung mit dem Parenchym unter
mechanischer Betheiligung stattgefunden hat.
Arehir für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2. 9<)
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444
Dr. Fr. Rosenbach,
Fassen wir die vorliegenden Experimente zusammen, so kommen
wir zu dem Schluss, dass eine Seifenlösung als rein chemisches
Agens nur dann eine Veränderung in grösserem Maassstabe im
Pankreas verursacht, wenn grosse Mengen (Hess injicirte sogar
10 ccm) in den Ductus Wirsungianus hineingedrängt werden, während
kleinere Mengen mit Unterbindung des Ductus nur chronische Pan¬
kreatitis und Atrophie machen, Veränderungen, die wir allein schon
durch Unterbindungen des Ductus erhalten (Hess und Sinn). Man
bekommt also durch die Seifenlösung nur eine Wirkung, wie sie
auch andere nicht gerade chemisch indifferente Substanzen aus-
lösen, sobald sie in ihrer Wirkung durch mechanische Factoren
unterstützt werden. Mithin können wir von einer directen Proto¬
plasmazerstörung durch Seifen, wie sie Hess annimmt, nicht
sprechen. Es lassen sich gegen die Theorie von Hess aber auch
noch andere Einwände erheben. Wir wissen bereits von Claude
Bernard, dass Olivenöl die schwerste Pankreasnekrose erzeugen
kann. Hess und Guleke’s Experimente haben das von Neuem
bewiesen. Bei der Beurtheilung der Wirkung aber wird fast ganz
ausser Acht gelassen, dass wir mit dem dickflüssigen Oel eine
grössere mechanische Störung verursachen, wie mit den leichteren
diffundirenden wässerigen Lösungen. Diese mechanische Störung
wird sich natürlich mit der Menge der zu injicirenden Flüssigkeit
steigern. Es mag zugegeben werden, dass bei Injectionen von
Seifenlösungen die Reizwirkung immerhin acut nekrotische Ver¬
änderungen auch einmal in grösserem Umfange erzeugen kann. Ich
stehe jedoch ab, ihnen bei der Entstehung der acuten Pankreas¬
nekrose eine führende Rolle zuzuweisen, umsomehr, als die später
aufgeführten Versuche mit activirtem Trypsin eine unvergleichlich
grössere und sichere Wirkung gezeigt haben, ein Umstand, welcher
ebenfalls gegen die Annahme von Hess spricht. Es sei hier
nebenbei erwähnt, dass Eppinger zum Zustandekommen der Ne¬
krosen eine Activirung des Steapsins in Rechnung zieht, die jedoch
in den meisten Fällen sich erübrigt, weil das Pankreassecret in
der Drüse bereits activirtes Steapsin liefert (Pawlow). Versuche
bei Pankreasfisteln am Menschen haben fast stets fettspaltendes
actives Ferment ergeben.
Gegenüber der Behauptung von Hess, welcher die acute
Pankreasnekrose als Seifen Wirkung ansieht, haben andere Forscher
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
445
diese Erkrankung als eine digestive Nekrose durch das Trypsin
angesehen, und zwar ist hier ein besonderer Schwerpunkt auf die
Activirung des Trypsins gelegt worden. Der erste Vertreter dieser
Ansicht ist Polya, welcher Trypsinlösungen in das Pankreas inji-
cirte, die einmal activirt, das andere Mal nicht activirt wurden.
Zur weiteren Unterstützung seiner Theorie sind ausser den Injec-
tionen von Trypsin auch solche von Darminhalt, Blut, Enterokynase
etc. gemacht worden, welch letztere lediglich zur Activirung des
gestauten Pankreassecretes im Ductus dienen sollten. Durch die
ausserordentlich umfangreichen physiologischen Forschungen, welche
wir zum grössten Theil Pawlow und seinen Schülern zu danken
haben, wissen wir heute, dass eine Activirung des Pankreassecretes,
d. h. also die Ueberführung des unwirksamen Trypsinogens in das
wirksame proteolytische Ferment in erster Linie durch den Darm¬
saft geschieht, und zwar durch eine Substanz, welche man aus der
Darmwand gewinnen kann: Die Enterokinase. Ausser dieser Sub¬
stanz aber sind mit der Zeit noch eine grössere Menge Kinasen
gefunden worden, welche ebenfalls, wenn auch meist schwächer,
die Activirung des Trypsins verursachen. Ich nenne nur das Blut¬
serum, Galle, Fette, Bakterientoxine und anorganische Salze.
Es ist bis jetzt die ganze Activirungsfrage noch nicht so weit
erledigt, dass man auf sie auf bauend alle Fragen in der Pankreas¬
pathologie mit positiver Sicherheit entscheiden kann. Doch haben
die Versuche von Polya und anderen gezeigt, dass thatsächlich
durch die Activirung das Trypsin nekrotisirende Eigenschaften be¬
kommt.
Ich möchte hier eine kleine Reihe von Versuchen nicht uner¬
wähnt lassen, die sich auf Activirungsversuche beziehen.
Anlässlich eines in diesem Archiv von mir beschriebenen
Falles von subcutaner Pankreasruptur war eine Secretfistel ent¬
standen, die sich 3 Monate lang erhielt und täglich bis zu dem
grossen Quantum von 600—900 reines Pankreassecret lieferte. In
diesem Safte wurde das Steapsin und das diastatische Ferment sehr
activ vorgefunden, während das Trypsin bei zahlreichen Unter¬
suchungen nur zweimal sich als schwach activ erwies, und zwar
trat die Activität ein nach längerem Stehen des Saftes, eine Be¬
obachtung, die bereits von anderen Autoren des häufigeren gemacht
worden ist. Dieses Secret wurde von mir zu Versuchen benutzt.
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Dr. Fr. Rosenbach,
Es sind lediglich bei den Versuchen Injectionen in die Peritoneal¬
höhle gemacht worden, um Pankreasnekrosen zu erzeugen. Gegen
diese Versuchsanordnung ist von anderen Autoren eingewandt worden,
dass von dem intacten Peritoneum aus die Erzielung von Pankreas-
und Fettgewebsnekrosen nicht zu erreichen ist. Senn konnte nach
Durchschneidung vom Ductus pancreaticus keine Nekrose erzeugen,
während Guleke durch Anlegung von Lippenfisteln solche erzeugte.
Von 8 auf diese Weise von mir behandelten Hunden wurden 4 mit
dem einfachen Secret, 4 wurden mit Secret plus Blut, welches der
Femoralis desselben Thieres entnommen war, injicirt. Die Secret-
mengen waren ganz verschiedene, bis zu 4 und 5 ccm pro Kilo
Thier. Zwei von diesen Hunden hatten positive Resultate, und ich
möchte ihr Protokoll kurz hier wiedergeben.
Hund I. Männlich. 8y 2 kg. Am 28. 4. 08 Entnahme von 3 ccm Blut
plus 5 ccm frischen menschlichen Saftes. Injection derselben in die Bauch¬
höhle.
30. 4. unter zunehmender Schwäche und Mattigkeit ohne Krämpfe ge¬
storben.
Section: Am Pankreaskopf und im grossen Netz Nekrosen des Pankreas¬
gewebes und Fettgewebsnekrosen. Blutung im Pankreasgewebe.
Hund II. Männlich. 5 x / 2 kg* 6. 5. 08 Injection von 10 com reinen Se-
cretes von 24 Stunden mit Zusatz von frischerem nach 3 Stunden.
7. 5. früh Morgens gestorben.
Section: Zahlreiche punktförmige und flächenhaft verbreitete Fett¬
gewebsnekrosen am subserösen Fett, Mesenterium und grossen Netz, sowie am
Pankreas Pankreasnekrose, in der Ahdominalhöhle mehrere Esslöffel blutiger
Flüssigkeit. Leider ist in beiden Fällen die Activität durch Fibrinflockenver¬
dauung vorher nicht geprüft worden. Auch sind Culturen aus der Bauchhöhle
nicht angelegt, so dass wir lediglich den Schluss ziehen können, dass es ge¬
lungen ist, durch menschliches Pankreassecret bei Hunden vermittelst perito¬
nealer Injection Pankreas- und Fettgewebsnekrose zu erzeugen. Weitere Ver¬
suche, die mit Blut-, Milz- und Leberextract angestellt wurden, haben keine
positiven Resultate erzielt und brauchen deshalb hier nicht weiter ausgeführt
zu werden. Versuche mit Einspritzungen von Enterokinase in den Ductus pan¬
creaticus wurden unter Anderem von Eppinger und Polya angestellt und
haben theilweise leichte und theilweise schwere Veränderungen des Parenchyms
ergeben. Aehnlich war der Erfolg mit Milzvenenblut, während die Activirung
mit zerriebenem Milzgewebe negativ ausfiel.
Die Einspritzungen von Enterokinase kommen auf dasselbe
hinaus, wie die Injectionen von Duodenalbrei, wie Pölya sie
zuerst ausführte, um hiermit in gleicher Weise Activität des
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
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Trypsins zu erzeugen. Pölya, Hess und späterhin Seidel haben
absolut positiv den Beweis geliefert, dass durch eingespritzten
Darmbrei schwere Pankreasnekrose mit Hämorrhagien zu erzeugen
ist, wenn auch Hess die erzielten Erfolge durch die bereits aus¬
einandergesetzte Theorie zu deuten versucht. Im Sinne der Acti-
virung des Trypsins sind ferner Galleinjectionen gemacht worden.
Der Erste, welcher hiermit experimentirte, war Opie.
Es lag bei der häufig beobachteten Coincidenz von Gallen¬
steinen und Pankreatitis nahe, an eine Gallenstauung im Ductus
pancreaticus durch Steineinklemmungen zu denken, und so wurden
von Opie auf Grund der klinischen Fälle zuerst derartige Injec-
tionen beim Thiere ausgeführt. Es gelang auch in der That, durch
Einspritzung grösserer Mengen hämorrhagische Pankreasnekrosen
zu erzeugen. Sieben Versuche wurden transduodenal von Opie
ausgeführt, wobei allerdings eine Invasion von Bakterien vom Darm
aus nicht absolut auszuschliessen ist. Zwei weitere Versuche mit
Unterbindung des Ganges und Injectionen von aussen hatten jedoch
denselben positiven Erfolg. Die Galleinjectionen sind von Eppinger,
Guleke u. A. mit demselben positiven Erfolge ausgeführt worden.
Guleke hat feststellen können, dass die Pankreasnekrose nicht so
ausgedehnt sich gestaltete, wie bei den Oelinjectionen, dass jedoch
die Blutungen stärker seien wie bei Oelinjectionen.
Während Opie die Wirkung der Galle direct als Schädigung
der Zelle auffasst, ist man heute, wie gesagt, mehr der Ansicht,
dass durch Gallenrückstauung eine Activirung des Pankreassecrets
eintrete und erst diese die Parenchymnekrose zu Stande bringe.
Aehnlich wie das durch die im Darmbrei enthaltene Enterokinase
geschehen soll. Es lag nun nahe, auch mit dem activen künst¬
lichen Trypsin Versuche anzustellen, um dessen Wirkung festzu¬
stellen. Dieses hat, wie ich meine, Pölya mit Glück unter¬
nommen.
Pölya hat einerseits mit käuflichem Merck’schen Trypsin,
dessen Activität er genauer bestimmte, andererseits zur Controle
mit frischem, aus einer Pankreasfistel entnommenem Secret Ver¬
suche angestellt. In einer grossen Anzahl von Versuchen gelang
es ihm, Pankreasnekrose mit Hämorrhagien zu erzielen, während
die Versuche mit inactivirter Trypsinlösung, welche auf 70° erhitzt
war, negativ ausfielen. Ebenfalls konnte er Pankreasnekrose mit
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Dr. Fr. Rosenbach,
dem aus der Pawlow’schen Fistel entnommenen Secret nur dann
bekommen, wenn das Secret nicht direct der Fistel entnommen
wurde, sondern erst durch Darmsaft activirt worden war. Die
Concentration des Trypsins und die Quantität der eingespritzten
Lösungen wurden von ihm ganz verschieden gewählt. Aus seinen
Tabellen ist ersichtlich, dass bereits kleine Mengen einer 2proc.
Lösung schwere Parenchymläsionen verursachten.
Polya legt auf die Concentration der Lösungen deshalb einen
besonderen Werth, da nach der Schütz’schen Regel „die Ge¬
schwindigkeit der Fermentwirkung eine Function der Concentration
ist“, dass eben bei der Einwirkung des Trypsins auf das Pankreas
die Schnelligkeit eine hervorragende Rolle spielt. Im Allgemeinen
aber lehrt uns die Versuchstabelle doch, dass die Quantität für
die Grösse der Nekrose ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle
spielt. Bei kleineren Mengen muss man bedenken, dass die inji-
cirte Flüssigkeit nicht selten nur in ein kleines Ganggebiet hinein¬
tritt und hierdurch durch prallere Füllung des circumscripten Ge¬
bietes mechanische Druckwirkung ausüben kann, ein Umstand, der
mir nicht unwichtig erscheint und auf den ich gleich noch zurück¬
kommen werde.
Polya konnte ferner durch intraabdominale Einverleibung von
activem Trypsin auf die Darmserosa eine schädigende Einwirkung
beobachten, die von anderen Autoren geleugnet wird. Die sehr
schwierig zu beantwortende Frage, ob die nekrotisirende Wirkung
dem proteolytischen Fermente zuzuschreiben oder ob in der Trypsin¬
bildung noch eine andere pathogen wirkende Substanz vorhanden
sei, glaubt Pölya zu Gunsten des proteolytischen Fermentes be¬
antworten zu können. Bei intraperitonealen oberflächlichen Schädi¬
gungen ist zu bedenken, dass das künstliche Trypsin, aber auch
das aufgefangene Secret noch andere reizende chemische Substanzen
in sich birgt, deren Wirkungen wir noch nicht kennen, da eine
Analyse des Saftes heute zu Tage noch nicht möglich ist. Durch
den Beweis Katzenstein’s, dass lebendes Gewebe vor Verdauung
nicht geschützt wird, ist die Möglichkeit einer proteolytischen Wir¬
kung sicherlich in Rechnung zu stellen.
Der Gedanke, dass die Pankreasnekrose auf der Wirkung des
activirten proteolytischen Fermentes allein beruhe, ist auf Grund
der im Beginn dieser Arbeit ausgeführten Implantationsexperimente,
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion. 449
in denen lebendes Pankreas dem tryptischen Duodenalsaft ausgesetzt
wurde, nicht zulässig. Wir sahen, dass in diesen Versuchen keine
acuten Nekrosen erzielt wurden, wenn nicht eine Infection hinzu¬
trat, und ich glaube, dieses durch die Experimente überzeugend
nachgewiesen zu haben. Aus dem Hinzutreten der Infection haben
wir bereits aber geschlossen, dass nothwendigerweise eine Dispo¬
sition des Gewebes zur proteolytischen Wirkung des Gewebes vor¬
handen sein müsse.
Auch Chiari hat im Laufe seiner häufigen Beobachtungen die
Vermuthung ausgesprochen, dass noch ein anderer Factor mit zur
Erklärung der acuten Nekrose heranzuziehen sei, und dieses deckt
sich mit unseren Beobachtungen.
Bei den sogenannten agonalen Autodigestionsnekrosen liegt
es nun sehr nahe, bei der Suche nach einer solchen Disposi¬
tion an die allmählich eintretende und zunehmende Herzschwäche,
an Circulationsstörungen und Ischämien zu denken, welche
die Ernährung des Parenchyms, damit den Stoffwechsel der
Zellen herabsetzen und sie der Wirkung des Fermentes preis¬
geben. Agonale Nekrosen sind auf diese Weise ohne Zwang zu
erklären.
Beneke, Blume und Chiari haben sich aber auch in diesem
Sinne bei der Erklärung der Fälle ausgesprochen, die den Menschen
in voller Gesundheit treffen und die nichts Anderes vorstellen, als
die acute Pankreasnekrose mit und ohne Hämorrhagie. Ohne
Weiteres einleuchtend erscheint mir diese Annahme bei den Fällen,
bei denen sich die Pankreasnekrose an einen grossen Blutverlust
(so z. B. nach Geburten) angeschlossen hat. In der Arbeit von
Seitz sind solche Fälle beschrieben worden.
Beneke hat ferner darauf hingewiesen, dass auch locale
Ischämien lang oder kürzer anhaltende Gefässkrämpfe, wenn nicht
gar Embolien prädisponirend für die Fermentnekrose in Betracht
kommen. Sein Schüler Blume hat diese Behauptung mit einer
kleinen Anzahl von Experimenten zu stützen gesucht. Er com-
primirte bei Katzen 10 Minuten lang das Pankreas mit den Fin¬
gern, in einem anderen Versuche führte er diese Compression
vermittelst zweier Gazestreifen aus und beobachtete im letzteren
Falle nach 20 Minuten Nekrose mit Hämorrhagien. Diese Ver¬
suche können jedoch kaum für die von ihm angenommenen Gefäss-
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450
Dr. Fr. Rosenbach,
krämpfe beweisend sein, speciell da er nur in einem Versuch eine
wirkliche hämorrhagische Nekrose bekam.
In der Mehrzahl der Fälle glaube ich auf eine weit plausiblere
Erklärung hinweisen zu müssen, die bis jetzt noch wenig oder gar
nicht in den Vordergrund der Discussion gerückt worden ist. Dies
ist nämlich die Ischämie, welche im Blutcapillarsystem des Pan¬
kreas entsteht, sobald eine Secretstauung in den Secretgängen statt¬
findet. Wir haben gesehen, dass eine derartige, in den meisten
Fällen von acuter Pankreasnekrose vorhanden sein muss.
Ich habe es nicht unterlassen zu betonen, dass die meisten
Experimentatoren nur dann wirklich das schwere Bild der Total¬
nekrose erzielen konnten, wenn sie von der zu injicirenden Flüssig¬
keit grössere Quantitäten eingespritzt haben. So hält auch Guleke
es für wichtig, dass über 5 ccm eingespritzt werden müssen. Bei
den Versuchen, bei welchen kleinere Quantitäten genügt haben, ist
im Protokoll oft zu lesen, dass nicht die ganze Drüse Nekrose
zeigte, dass nur ein kleiner Bezirk des Capillarsystems gestaut
worden war. Durch die Injectionen von grossen Mengen besonders
dickflüssiger Substanzen (Oel) muss zugleich eine Compression der
feinsten Blutcapillaren sich vollziehen, und wir erhalten damit eine
Ischämie. Wir können übrigens beim Experiment nach der Injec-
tion oft genug eine solche mikroskopisch durch Blasserwerden des
Pankreas constatiren. Mit der Compression und der dadurch er¬
zielten Ischämie ist die Ernährung auf kürzere oder längere Zeit
unterbrochen. Tritt nun jetzt actives Pankreassecret an die Zellen
heran, so hat dieses an dem geschädigten Parenchym den besten
Angriffspunkt zur Digestion.
Um diese Art der vorübergehenden Ischämie durch das Ex¬
periment zu demonstriren, bin ich auf doppelte Weise vorgegangen.
Zunächst wurde in derselben Weise, wie ich cs Anfangs bereits
erklärt habe, das duodenale Pankreasende in das Duodenum ein-
gepflanzt. Vor der Einstülpung wurde aber das iraplantirte Stück
mit einer Suprareninlösung (Höchst) imprägnirt, von welcher wir
wissen, dass sie vorübergehende Ischämie erzeugt. Es wurden auf
diese Weise 4 Versuche angestellt.
Versuche (Serie IV).
Hund I. Männlich, 4 1 /, kg. Laparotomie 19.7.09. Einpflanzung des
Pankreas ohne Circulationsstörungen. Vor der Implantation wird das Pankreas-
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
451
stück mit einem Wattebausch, welcher mit Suprarenin getränkt ist, längere Zeit
betupft. Die anämisirende Wirkung wurde vorher geprüft.
25. 7. Tod in der vergangenen Nacht. Peritonitis von der Darmnaht aus¬
gehend. Fibrinöse Massen auf den Därmen und am Netz. An der Operations¬
stelle das implantirte stark verkleinerte Pankreasstück, welches weicher als
normal und mit zahlreichen Blutungen durchsetzt ist. Auch das übrige Pan¬
kreasgewebe zeigt eine grangelbliche Färbung.
Mikroskopisch: Die Oberfläche des implantirten Stückes zeigt zahlreiche
aasgedehnte Nekrosen des Parenchyms. Die Interstitien sind mit fibrinösen
Massen durchtränkt uud blutig suffundirt. Die Blutgefässe in den Interstitien
sind erheblich erweitert.
Diagnose: Acute Pankreasnekrose mit hämorrhagischer Infarcirung des
Gewebes.
Hündin II. Gewicht unbekannt. 18. 8. 09. Pankreas im Verdauungs-
zustande. Beim Einstülpen des duodenalen Pankreastheiles wird derselbe, wie
bei I, mit Suprarenin bestrichen.
20. 8. Getödtet. Das Pankreas ist noch erhalten, jedoch bedeutend ver¬
kleinert.
Mikroskopisch: Nur oberflächliche Nekrosen. Es besteht hier eine
Randzone, welohe vom Granulationsgewebe gebildet wird und anscheinend aus
den Interstitien stammt.
Hündin III. ö 1 /« kg* Dieselbe Versuchsanordnung. Imprägnirung mit
Suprarenin.
29. 7. 09 gestorben. Hämorrhagisches Exsudat in der Bauchhöhle. Fett-
gewebsnekrosen. Blutungen in der Serosa und im mesenterialen Fettgewebe.
Das implantirte Pankreasgewebe ist in eine schwarzrothe weiche Masse ver¬
wandelt, aus der man die Structur nicht mehr erkennen kann. Das anstossende,
ausserhalb des Darmes liegende Pankreasgewebe ist hämorrhagisch infiltrirt.
Diagnose: Schwere hämorrhagische Pankreasnekrose.
Hund IV. Männlich, kg. Laparotomie am 6. 10. 09. Freilegen des
duodenalen Endes. Einstülpung. Injection von Suprarenin in die Interstitien.
Schluss der Darmwunde.
7. 10. Exitus in der Nacht. In der Bauchhöhle blutige Flüssigkeit. Das
ganze Peritoneum hämorrhagisch verändert. Flächenhafte Fettnekrosen in der
Nachbarschaft des implantirten Pankreas. Um die Implantationsstelle herum
ausgedehnte Hämorrhagien. Das Pankreasstück selbst ist in eine dunkelrothe
nekrotische zerfliessende Masse verwandelt.
Zwei weitere Versuche mit Aufstreichen von Suprarenin auf
das vom Peritoneum entblösste Pankreas nach Laparotomie des
Versuchsthieres verliefen erfolglos, ein Beweis, dass actives Trypsin
fehlte, welches die Digestionsnekrose herbeiführen konnte.
Wenn auch die vier vorliegenden Versuche nicht absolut be¬
weisend sind, so halte ich doch bei der Versuchsanordnung drei
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452
Dr. Fr. Rosenbach,
derartige Erfolge für werthvoll, zumal ich durch Injectionen von
Suprarenin in den Ductus pancreaticus in meiner Meinung unter¬
stützt worden bin, deren Resultate ich an dieser Stelle ebenfalls
kurz berichten will.
Hund V. Männlich, 10 kg. Laparotomie am 27. 8. 09. Aufsuchen des
Ductus. Injection von 4 ccm Suprarenin. Es kommt die zu injicirende Flüssig¬
keit besonders in den mittleren Theil und vertheilt sich dann in das peripan-
kreatische Bindegewebe, welches dadurch ödematös wird.
28. 8. Exitus in der vergangenen Nacht. In der Bauchhöhle 2—3 Thee-
löffel flüssiges Blut. Bakteriologisch nichts gewachsen. Unter der Serosa der
Därme und der Baucbwand zahlreiche flächenhafte Blutungen. Das Pankreas
hämorrhagisch infarcirt, das Parenchym von grauerFarbe, weich und nekrotisch.
Mikroskopisch: Das histologische Bild zeigt überall fast vollkommene
Nekrose des Drüsenparenchyms. An einigen der Drüsenläppchen sieht man
noch Färbung der Centren, während die Peripherie kernlos ist. Die grösseren
Secretgänge sind dagegen erhalten. Ihr Epithel ist gut gefärbt. Die Inter-
stitien sind durch fibrinöse Massen ausgefüllt. Parenchym und Interstitien
zeigen überall blutige Suffusion. Bei Elastinfärbung nach Weigert sieht man,
dass die grösseren Gefässe, besonders alle arteriellen, ihre elastischen Bestand¬
teile behalten haben, an zarteren Venenstämmen aber kann man bereits ein
lückenweises Ausbleiben der Elasticafärbung beobachten. Um die grösseren
Gefässstämme ist das Blut besonders gehäuft. Es gelang mir bei einer Vene im
histologischen Bilde direct nachzuweisen, dass der sich darin befindliche
Thrombus durch eine deutliche Lücke in der Gcfässwand sich in die Umgebung
hin fortsetzte. Kleinere derartige Perforationen konnten auch ohne Elastica-
farbung mit starker Vergrösserung leicht sichtbar gemacht werden. In den
Nekroseherden war das Endothel der Capillaren völlig abgestorben.
Hund VI. Männlich, 9 kg. 30.8. 09 Laparotomie. Aufsuchen des Ductus
pancreaticus. Injection von 4 ccm Suprarenin. Dabei bläht sich das Pankreas
auf und wird anämisch. Das Thier wurde am 14. 9. relaparotomirt, und es
fanden sich im Bauch Verwachsungen an der Operationsstelle. In dem Netz
einige stecknadelkopfgrosse Fettnekrosen. Das Pankreas selbst zeigt fleckweise
Sklerose, anscheinend das Endresultat vorhergegangener multipler Nekrosen.
Hund VII. Weiblich, 17y 2 Pfd. 31.8.09. Laparotomie. Chylusgefässe
gefüllt. Injection von 3 ccm Suprarenin in den Ductus pancreaticus.
2. 9. Plötzlicher Exitus.
Section: In der Bauchhöhle 3—4 Esslöffel blutigen Exsudates. Fett-
gewebsnekrosen im präperitonealen Fett, Mesenterium, Netz, an den Nieren und
grossen Gofässen, im mediastinalen und pericardialen Fettgewebe. Pankreas
nekrotisch. In der Lunge Infarcte. Bakteriologisch konnte man staphylo¬
kokkenartige Bakterien züchten.
Bei der Beurtheilung dieses Falles scheint mir zunächst die
Ischämie den Anfangstheil des Ductus pancreaticus der Verdauung
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Experimentelle Stadien über tryptisohe Digestion.
453
preisgegeben zu haben, so dass das Secrct gleich in grosser Menge
ausgetreten sein musste. Auf diese Weise wenigstens könnte man
die ausserordentliche Verbreitung der Fettgewebsnekrose am zwang¬
losesten erklären.
Hand VIII. Männlich, 7y 2 kg. Laparotomie am 4. 9. 09. Ductus auf¬
gesucht. Injeotion von 4 ccm Suprarenin. Ductus doppelt abgebunden. Es
waren die Cbylusgefasse dieses Versucbsthieres gefüllt.
12. 9. getödtet. Keine Fettgewebsnekrosen. Im Pankreas fleckweise grau-
weisse derbe Partien (Sklerosen).
Mikroskopisoh: Das interstitielle Bindegewebe ist stark gewuchert und
hat durch Zwischenwucherung zwischen die Läppchen und Drüsenschläuche
das Parenchym zum Untergang gebracht.
Diagnose: Chronische Pankreatitis.
Von diesen 4 Experimenten haben wir wiederum 2 Versuche
mit acuter Pankreasnekrose und Hämorrhagie, bei den beiden
anderen hat sich nach der Injection eine chronische Pankreatitis
eingestellt, welche sehr wahrscheinlich durch den Zerfall kleinster
Nekrosen entstanden ist. Wir sehen also, dass das Suprarenin
auch bei Injectionen in den Ductus acut hämorrhagische Nekrose
machen kann, und wir schliessen mit Recht daraus, dass das
Suprarenin durch seine vasostrictorischen Eigenschaften eine Dis¬
position abgiebt. Dass nicht bei allen Fällen bei Suprarenin ver¬
suchen Nekrose entsteht, ist klar. Es fehlt eben dann an vor¬
handenem activen Trypsin. Bei den Implantationen in das Duo¬
denum ist solches ohne Weiteres vorhanden und deshalb auch der
Erfolg ein sicherer. Es ist nicht ganz leicht anzügeben, weshalb
in den Versuchen von Suprarenininjection wir das eine Mal Resul¬
tate erzielt haben, das andere Mal nicht. Wahrscheinlich wird der
Grund des Erfolges darin zu suchen sein, dass das frei werdende
Secret in dem durch Anämie geschädigten Parenchym sich mehr
oder weniger stark erst mit Kinase sättigt. Es bleibt aber noch
abzuwarten, ob diese Vermuthung in Zukunft zu Recht bestehen
wird.
Es fragt sich nun weiter, ob in allen Fällen die Ischämie die
alleinige disponirende Ursache sei, wie wir sie uns bei acuter Secret-
stauung durch Gallen- oder Pankreassteine oder aber durch plötz¬
lich acut entzündliche Schwellung der Papilla Vateri vorgestellt
haben. Es giebt vielleicht doch noch andere Momente, die dem
activen Trypsin zur Wirkung verhelfen.
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Dr. Fr. Rosenbach,
Die Experimente mit Darmsaft haben unter anderem gezeigt,
dass schon kleinste Mengen, welche die eben erwähnte Stauung und
Ischämie nicht machen können, Pankreasnekrose erzeugen, und ich
bin deshalb doch geneigt, in einer Anzahl von Fällen eine dispo-
nirende Schädigung des Parenchyms durch Bakterien und ihre
Toxine anzunehmen. Bei der klinischen Beobachtung käme hier¬
für namentlich in Frage erstens der Darmbrei selbst oder aber
auch inficirte Galle. Dass Bakterienculturen für sich allein nur in
den allerwenigsten Versuchen das gewünschte Resultat gezeigt
haben, ist bereits erwähnt worden. Zur Erklärung habe ich anderer¬
seits bereits darauf hingewiesen, dass die verschiedenen ßakterien-
arten für den Hund meist nicht pathogen zu sein brauchen und
deshalb die negativen Erfolge nicht absolut beweisend sind. Ich
habe nun noch einmal einen Versuch mit sehr pathogenen Strepto¬
kokken gemacht, deren Virulenz ich bei einem klinisch beobachteten
Erysipel kennen gelernt hatte. Ich injicirte aber zugleich mit diesen
auch künstliches Trypsin, dessen proteolytische Wirkung erprobt
worden ist, um neben der disponirenden Wirkung der Bakterien¬
toxine gleich fertiges actives Trypsin an Ort und Stelle zu haben.
Diese Beifügung des activirten Trypsins kann sich erübrigen, da
wir wissen, dass Bakterien das Pankreassecret auch activiren
können. In der That hat ein Vorversuch mit diesen Streptokokken
ebenfalls ein positives Resultat ergeben.
Versuche (Serie V).
Hund IX. Männlich, ß 1 /^ kg. Laparotomie 19. 9. 09. Chylusgefässe
gefüllt. In den Ductus pancreaticus wird eine 24stündige Bouilloncultur von
Streptokokken injicirt (3 ccm). Das Gewebe wird bald nach der Injection
ödematös.
20. 9. Exitus.
Seotion: In der Bauchhöhle 100 ccm Blut. Peritonitis. Starke Blutungen
im visceralen und parietalen Peritoneum. Flächenhafte und punktförmige Fett-
gewebsnekrose. Pankreas geschwollen, besonders in seinem mittleren Theil.
Nahe an der Unterbindungsstelle des Ductus ein etwa 2 cm breiter keilförmig
in die Tiefe sich erstreckender Herd, dunkelroth, zerfliessend. In der Umgebung
eitrige Belege. Bakteriologisch aus der Bauchhöhle Streptokokken.
Mikroskopisch: Sämmtliche Pankreasgänge vollkommen zerstört und
nekrotisch. Das interstitielle Gewebe des Pankreas durch fibrinöse Massen ver¬
breitert und mit Eiterzellen durchsetzt. Fast das ganze Pankreasgewebe nekro¬
tisch. Andere Läppchen im Uebergang zur Nekrose befindlich. Die Kerne sind
hier nicht mehr scharf vom Protoplasma abzugrenzen.
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
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In den weiteren Versuchen wurde der Streptokokkencultur
noch actives Trypsin (Grübler) hinzugesetzt.
Hund X. Männlich. 10 kg. Laparotomie am 17. 9. 09. Injection von
2 ccm Trypsin (lOpCt.) plus 1 ccm Streptokokkenbouillon von 48 Stunden.
Unmittelbar nach der Injection tritt eine bedeutende Schwellung des inter¬
stitiellen Gewebes auf. Etwa nach 15 Minuten wird das lienale Pankreasstück
blauroth, und bald darauf fliesst ohne vorhergehende Verletzung aus einem
kleinen Gefäss dunkles Blut heraus, in die Bauchhöhle difTundirend. Nach
Kurzem war das ganze Parenchym des Pankreas vollkommen blutig infarcirt.
18. 9. Der Hund windet sich unter Schmerzen und wird deshalb im
moribunden Zustande getödtet.
Section: In der Bauchhöhle 50—60 ccm dunklen flüssigen Blutes. Beido
Peritonealflächen blutig suffundirt. Fettgewebsnekrosen am Netz, besonders in
der Nähe des Pankreas. Im Pleuraraume zahlreiche Blutungen. Das ganze
Pankreas geschwollen, dunkelblauroth. Auf der Oberfläche des Pankreas Fett¬
nekrosen und eitrig fibrinöse Belege. Letztere zeigen sich auch auf den Ge¬
därmen.
Mikroskopisch: Der DuctusWirsungianus ist mit Blut gefüllt. Sämmt-
liche Pankreasläppchen sind nekrotisch bis auf einzelne kleine Partien des
Centrums und der Peripherie. Ueberall Dilatation der Gefässe. Blut in grosser
Menge im interstitiellen Gewebe und den einzelnen Drüsenschläuchen. Inmitten
des nekrotischen Gewebes anscheinend im Verlauf der Secretcanäle Haufen der
injicirten Kokken.
Bei Elasticafarbung nach Weigert zeigen zahlreichere feinere Gefässe
Unregelmässigkeiten in der Dicke der Elasticaschicht und Unterbrechungen in
der Wandlung. Die Endothelien sind fast alle abgestorben. Die Färbbarkeit
der elastischen Fasern ist jedoch grösstentheils noch vorhanden.
Hund XI. Männlich. 12 kg. Laparotomie am 18. 9. 09. Chylusge-
fäss gefüllt. Injection von 2 1 / 2 ccm lOproc. Trypsins und 2ccm Streptokokken¬
serum. Nach etwa 5 Minuten röthet sich das Pankreas. Die Gefässe werden
weit und nach weiteren 10 Minuten treten an verschiedenen Stellen kleinere
Blutungen auf, die zunächst rundliche Gestalt haben und sich erst später
flächenförmig ausbreiten. Daneben findet eine starke Exsudation in das inter¬
stitielle und peripankreatisohe Bindegewebe statt. Die Drüsenläppchen werden
voneinander abgehoben. Zu gleicher Zeit sieht man im Netz und Mesenterium
ebenfalls massenhafte Blutungen entstehen. Nach etwa 20 Minuten tritt eine
grössere Blutung ins Pankreasgewebe selbst ein.
Mikroskopisch: Totale Nekrose des Pankreas mit Blutungen; massen¬
hafte Bakterien häufen. An mehreren Gelassen zeigt auch hier die Elastica Auf¬
lockerung und kleine Unterbrechungen und Austritt von Blut.
Hund XII. Weiblich. 12 kg. Laparotomie am 16. 9. 09. Chylusge-
fässe gefüllt. Injection von 5 ccm lOproc. Trypsins plus Streptokokken.
17. 9. Morgens plötzlicher Exitus.
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456
Dr. Fr. Rosenbach,
Section: Baach aufgetrieben. Darm gebläht. Im Bauch 150ccm blutiger
Flüssigkeit. Peritoneum vollkommen blutig imbibirt, besonders das Netz. Fett-
gewebsnekrosen am Uesenterium, Netz und Pankreas. Pankreas selbst ge¬
schwollen, in einen dunkelrothen Blutklumpen verwandelt und mit grossen
geronnenen Blutklumpen bedeckt.
Mikroskopisch: Pankreasgewebe auch hieran den meisten Stellen total
nekrotisch, gleichfalls das Gangsystem. Die Gefasse sind erweitert. Blut und
fibrinöses Gewebe durchsetzen die noch kaum kenntlichen Interstitien. Das
Gesichtsfeld zeigt daneben Haufen von injicirten Kokken, um die herum be¬
sonders die Nokrose stattgefunden hat.
Bei den beiden letztangeführten Versuchen könnte mir viel¬
leicht der Vorwurf gemacht werden, dass die Menge von 5 ccm zu
gross und dadurch bereits Stauung und Ischämie eingetreten sei,
welche die Zellthätigkeit herabgesetzt haben könnte. Es mag dies
zugegeben werden, wenngleich wir schon aus dem Versuch I ge¬
sehen haben, dass eine kleine Menge der Bouillon allein genügte,
um hämorrhagisch nekrotische Vorgänge in der Drüse hervorzu¬
rufen. Die Stärke der Erscheinungen in den drei anderen Fällen
jedoch beweist, dass das Trypsin allein diese Verheerungen nicht
gemacht hat. Mit 2y 2 ccm Trypsin ist mir in gleicher Concen-
tration der Versuch nicht in solcher Ausdehnung gelungen. Es sind
vielmehr die Toxine der Streptokokken, welche sicherlich wohl
albuminöse Trübung des Parenchyms gemacht haben und damit für
die digestive Wirkung des Secretes die Disposition abgesehen haben.
Es mag zum Schluss hier noch einmal betont werden, dass der¬
artig virulente Bakterien wohl nur in den seltensten Fällen im
Darm sich befinden und in den Ductus pancreaticus eindringen. Im
Grossen und Ganzen scheint mir trotz der positiven Resultate, die
wir eben gesehen haben, die Ischämie durch Stauung eine weit
grössere Rolle als prädisponirendes Moment zu spielen.
Ich resumire also auf Grund meiner bisherigen Ausführungen:
Es kann die acute Pankreasnekrose nur dann durch tryptisches
Ferment entstehen, wenn das Parenchym vorher eine Schädigung
erlitten hat. Diese Schädigung beruht in erster Linie auf einer
Ischämie der Blutcapillaren, welche ihrerseits durch die Stauung in
den Secretgängen hervorgerufen wird. In seltenen Fällen kann ein
derartig prädisponirendes Moment zur Nekrose auch durch Bak¬
terientoxinwirkung bedingt sein.
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
457
Die Versuche mit Bakterientoxinen haben uns nun nicht allein
eine Einwirkung des Trypsins auf die Drüsenzellen vor Augen ge¬
führt, sondern wir konnten auch noch eine andere Erscheinung ge¬
nauer studiren, nämlich die Einwirkung des tryptischen Fermentes
auf die Blutgefässe. Das Gebiet der Pankreashämorrhagie gehört
auch zu denjenigen Gebieten, von denen ich anfangs behauptete,
dass sie noch manche Lücken aufweisen. Es sind die zahlreichen
Hypothesen noch keineswegs in befriedigender Weise auf die noth-
wendig klare Form präcisirt. Das folgende Capitel soll auch zu
diesem Gebiet einige experimentelle Beiträge liefern.
Pancreatitis haemorrhagica,
Pankreasapoplexie, Haemorrhagia pancreatis.
Der Frage der Hämorrhagien des Pankreas sind in früherer
Zeit Seitz, Diekhoff, Fitz, 0&£r, in neuerer Zeit wiederum
Bunge nähergetreten, und wir sehen aus der verschiedenen Zu¬
sammenstellung des casuistischen Materials und der Beurtheilung
der experimentellen Ergebnisse, dass in diesem Punkte eine über¬
einstimmende Meinung noch nicht erzielt worden ist. Die drei Be¬
zeichnungen in meiner Ueberschrift werden auch heute noch von
verschiedenen Autoren in der verschiedensten Auffassung gebraucht.
Von einem eigenen selbst beobachteten Falle ausgehend, bei
dem es sich um eine Blutung aus einem syphilitisch veränderten
Nebenast der Cocliaca ohne wesentliche Pankreasbetheiligung
handelte, hat Seitz 1892 säramtlichc bekannten Fälle von Pankreas-
blutung zusammengestellt und aus ihnen 7 Gruppirungen gebildet,
von denen jede einzelne ein besonderes ätiologisches Moment auf¬
weist. Seitz unterscheidet:
1. Blutungen in Cystenräume.
2. Freie Blutung durch Zerreissung eines kranken Gefässes
(Arteriosklerose, Syphilis, urämische Sklerose, Bleiintoxication).
3. Traumatische Blutungen.
4. Stauung, Anämie, Blutzersetzung. Hierunter sind eine
Anzahl Fälle schwerer Anämie in Folge Blutung nach der Geburt
aufgeführt, wie sie uns Peiser, Sarfert u. A. mitgetheilt haben.
Ich habe von ihnen bereits gesprochen und die hieraus rcsultirenden
Anämien als disponirendes Moment für die Pankreasnekrose hervor¬
gehoben.
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458
Dr. Fr. Rosenbach,
Bei einer 5. Gruppe soll nach Seitz die Fettentartung der
Drüsenzellen, übermässige Fettablagerung im Pankreas den Gefässen
die nöthige Stütze nehmen und ihre Wand auch fettig degeneriren,
und es nun bei Steigerung des Blutdruckes zu einer Blutung
kommen. Für diese fettige Entartung wurde Marasmus, Fettsucht,
Alkoholismus als ätiologisches Moment herangezogen. Als sechste
Aetiologie figurirt die Fettnekrose und als letzte Ursache wird von
Seitz die Pancreatitis haemorrhagica genannt.
Von letzter Gruppe, die uns hier besonders beschäftigen soll,
sagt Seitz: „Obschon man meist die Blutungen in und um das
Pankreas als hämorrhagische Pankreatitis bezeichnet, so ist meines
Erachtens der zwingende Beweis noch wenig erbracht, dass wirklich
als erster Anfang ein Entzündungserreger einwirkt und die Ent¬
zündungshyperämie zu so hochbedeutenden Blutaustritten gesteigert
habe, wie sie hier Vorkommen. Tod nach wenigen Stunden kann
nur durch Gefässzerreissung entstehen“.
Seitz bekennt sich also nur schwer zu dieser letzterwähnten,
uns heut zu Tage wohlbekannten Ursache. Auch Diekhoff hat
einen ähnlichen Standpunkt eingenommen und beide Autoren stossen
sich mit Recht an der Vorstellung einer Entzündung, welche noch
bis in die neueste Zeit hinein viele Irrthümer hervorgerufen hat.
Jetzt wissen wir, dass wir eine Fermentnekrose, aber keine Ent¬
zündung im geläufigen Sinne vor uns haben. Fitz hat bei der
Unsicherheit der Aetiologie in seiner Monographie neben der
Pankreasblutung den Begriff einer hämorrhagischen Pankreatitis
bestehen lassen und Pankreashämorrhagie und Pankreatitis von
einander getrennt. Viele der von Seitz rubricirten Fälle sind von
den Autoren ungenügend beobachtet und untersucht worden. Oft
fehlt die bakteriologische oder auch die pathologisch-histologische
Untersuchung, so dass der Zustand des Pankreas im Einzelnen
nicht genau festgestellt worden ist und man so Veränderungen am
Pankreas makroskopisch nicht gesehen hat, wo mikroskopisch solche
vorhanden waren. Es sollen damit grössere Blutungen aus Gefässen
der Pankreasumgebung nicht geleugnet werden. Sie können natür¬
lich auch einmal das Pankreasgewebe zertrümmern, doch kommen
sie für die Pankreaspathologie im engeren Sinn nicht in Frage.
Traumatische Blutungen sind ebenfalls nicht allzu häufig, sie be¬
gegnen uns in letzter Zeit in der Literatur des Oefteren anlässlich
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
459
der Beschreibung der subcutanen und offenen Verletzungen des
Pankreas. Im Grossen und Ganzen aber haben die Beobachtungen
gelehrt, dass gerade hier die Blutung neben der oft schweren
Nekrose des Parenchyms, welche durch das Ausfliessen des Pankreas-
secretes hervorgerufen wird, eine geringe Rolle spielt.
Hervorzuheben sind die schon kurz erwähnten Versuche von
Bunge, welche auf klinische Untersuchungen von Körte und
Brentano hin ausgeführt sind. Bunge konnte durch künstliche
Embolien und Unterbindungen von Gefässen Blutungen im Pankreas
erzielen, während Hlava es nicht gelang. Die von Bunge er¬
zielten hämorrhagischen Nekrosen wandelten sich später zu Cysten
um mit manchmal hämorrhagisch verfärbtem Inhalt. Eine aus¬
gedehnte Infarcirung und Blutung wurde von Bunge nur dann er¬
zielt, wenn er Unterbindung und Injection von Paraffin oder Oel
zusammen vornahm. Diese Tiere starben sämmtlich an dieser
Veränderung. Es soll nicht geleugnet werden, dass diese Art
emboliseher Entstehung vorkomrat. Es wird z. B. von Os er ein
Fall Moliere’s citirt, doch sind derartige Hämorrhagien selten und
sie treten hinter den Fällen zurück, die wir bis jetzt unter dem
Namen „Pancreatitis haemorrhagica“ verstanden haben. Ich meine
die Fälle, bei denen die ganze Drüse mit Blut durchtränkt ist und
es secundär zu einer Blutung in die Bauchhöhle kommt. Bei der
Entstehung der infarctähnlichen Herde nimmt Brentano eine In-
fectionsmöglichkeit an, die Frage offen lassend, ob etwa eine be¬
sondere Species oder Virulenz der Infectionserreger für den hämor¬
rhagischen Charakter der vorliegenden Entzündung verantwortlich
zu machen ist. Blutungen um und in die Drüse resultiren dann
aus dem Absterben und Zerfall des Drüsengewebes und der da¬
durch bewirkten Arrosion der Gefässe, die genau so zu Stande
kommt, wie eine Hämoptoe bei Lungentuberculose oder eine
Hämatemesis bei Magengeschwüren.“ Gegen diese Auffassung ist
der Einwand zu erheben, dass wir nur wenige Bakterien kennen,
die eine derartig nekrotisirende Eigenschaft besitzen, sodass sie
diese Veränderungen hervorrufen können. Ich denke hier an die
hämorrhagischen Veränderungen bei Scharlach (hämorrhagischer
Nephritis) und an die Arrosionsblutung bei Eiterungen am Hals.
Im Experiment ist die hämorrhagische Pankreatitis durch Diph¬
theriebakterien von Hlava und Flexner erzeugt worden, doch
Archiv ftlr klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2. 3Q
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Dr. Fr. Rosenbach,
sind die erhaltenen Resultate keineswegs den pathologischen Ver¬
änderungen beim Lebenden vergleichbar.
Eine wesentliche Aufklärung in der Frage der Hämorrhagien
hat auch hier die Fermenttheorie zu Wege gebracht. Gleich bei
der Aufstellung derselben hat Hildebrand und in gleicher Weise
I. Rosenbach und Jung darauf hingewiesen, dass die bei den
Experimenten oft entstehenden punktförmigen Blutungen sehr wahr¬
scheinlich auf eine Wirkung des Trypsins zurückzuführen seien.
Die grosse Reihe der darauf folgenden experimentell arbeitenden
Forscher konnten Pankreasnekrose mit schwersten Hämorrhagien
erzeugen. Es ist aber den Hämorrhagien in der Folge bis heute
wenig Rechnung getragen und die Frage ist für sich allein nur
äusserst selten Gegenstand experimenteller Bearbeitung gewesen.
Es schien so, als ob mit der Erklärung der Pankreasnekrose und
der Fettgewebsnekrose durch die Fermenttheorie auch die Hämor-
rhagie stillschweigend erklärt worden wäre. Die letzt beschriebenen
Experimente von Injection mit Trypsin und Streptokokken haben
uns bereits gezeigt, dass man im Stande ist, nach der Injection in
kürzester Zeit Hämorrhagien zu erzeugen, die nicht allein local
begrenzt im peripankreatischen Gewebe verbleiben, sondern sehr
bald sich in die Bauchhöhle ergiessen, und ich habe deshalb zur
Lösung dieser Frage noch eine weitere kleine Reihe von Experi¬
menten ausgeführt, die sich lediglich nur mit dieser Frage be¬
schäftigen sollen. Es wurde auch hier mit künstlichem Trypsin
experimentirt, welches eine absolut sichere proteolytische Wirkung
zeigte, während es eine fettspaltende Wirkung vermissen liess. Es
wurde zunächst eine lOproc. wässrige Lösung auf die ausgespannte
Zunge von lebenden Fröschen gebracht oder in sie injicirt und nun
die Wirkung unter dem Mikroskop betrachtet. Die Resultate waren
positiv. Etwa nach 10 bis 20 Minuten traten kleine punktförmige
Blutungen auf. Unter dem Mikroskop sah man diese Blutungen
sehr schön entstehen. Es war zum Theil eine richtige Diapedese;
bei grösseren Concentrationen sah man aber auch öfters einen
grösseren Wanddefect entstehen, aus dem sich nun das Blut unter
Druck entleerte. Am besten trat die Wirkung ein, wenn man das
Trypsin nicht auftropfte, sondern mit einer feinen Canüle in die
Zungenspitze injicirte. Den Blutungen ging stets eine sehr be¬
deutende Dilatation der Gcfässe vorher. Sie trat bei allen Experi-
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
461
menten mit activem Trypsin auf. Die Concentration des Trypsins
scheint im Stadium der vasomotorischen Lähmung keine sehr
wesentliche Rolle zu spielen, so traten z. B. bei 20—40proc.
Lösungen die Blutungen nach anfänglich rasch eintretender Gefäss-
erweiterung und Verlangsamung des Blutstromes nicht viel rascher
ein, wie bei lOproc. Lösung, doch war dann später die hämor¬
rhagische Diathese eine ausgedehntere, sodass die Zunge wie ein
dunkelschwarzrother Lappen aus dem Froschmaul heraushing.
Die gefässdilatirende Eigenschaft ist bereits von anderer Seite
hervorgehoben und Achalme gründet darauf die Anschauung, dass
durch das Trypsin zunächst eine maximale Ausdehnung der Gefässe
stattfindet und durch diese eine Ernährungsstörung der Gefässwand
«intritt, welche eine Fermentnekrose ihrerseits zulässt. — Wenn
wirklich die schädigende Wirkung zunächst in der maximalen Ge-
fässdilatation bestünde, so müssten keine Blutungen eintreten
können, wenn man dies auf irgend eine Art zu verhindern suchte.
Ich habe deshalb mit Suprarenin zusammen das Trypsin einge¬
spritzt und in der That auf diese Weise ein paar Mal Blutungen
verhindert und glaube damit die Vermuthung Achalme’s bestätigen
zu können. Es lag ferner nahe, durch Unterbindung von Venen
Stauung ähnlich wie im physiologischen Experiment zu machen und
dann die Wirkung des Trypsins zu beobachten. Die Versuche sind
vorläufig noch im Gange und werden von Herrn cand. med. Mück
•weitergeführt; auch sie scheinen ein positives Resultat zu ergeben.
Gekochtes Trypsin hat keine Wirkung verursacht. Es muss
deshalb die giftige Substanz in dem proteolytischen Fermente selbst
vorhanden oder aber mit ihm fest verankert sein. — Wir können
vorläufig nur soviel sagen, dass das active Trypsin eine vaso¬
motorische Lähmung zu Stande kommen lässt. Auf Capillaren
scheint dieselbe so zu wirken, wie Achalme es behauptet. Diese
werden dilatirt und ihre zarte Gefässwand kann natürlich bald
durch Ernährungsstörung geschwächt der Verdauung anheimfallen.
Bei grösseren Gefässen scheint die Sache so zu liegen, dass zwar
die Endothelien und das adventielle Gewebe leidet, doch die
elastische Schicht der Einwirkung des Trypsins noch längere Zeit
standhält, und es in Folge dessen bei der hämorrhagischen Pan¬
kreatitis nie zu einer foudroyanten Blutung kommt, die direct als
Todesursache zu betrachten ist. Die Frage der Hämorrhagien ist,
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462
Dr. Fr. Rosenbach,
wie wir schon sahen, an Hunden sehr gnt zu studiren, und ich
habe deshalb zur Ergänzung der Froschexperiraente solche an
Hunden noch hinzugefügt.
Wir haben bereits erwähnt, dass die Concentration des Trypsins
für den Eintritt der Gefässdilatation nicht so in Frage kam, und
ich versuchte deshalb bei den folgenden Hundeexperimenten durch
Activitätssteigerung durch Gailezusatz die vasomotorische Lähmung
schwerer, rascher eintreten zu lassen. Dadurch musste auch die
Blutung rascher und ausgedehnter erfolgen. Eine derartige Acti¬
vitätssteigerung haben wir bereits bei den Experimenten mit Strepto¬
kokken erreicht. Delezenne hat bekanntlich als erster darauf
hingewiesen, dass Bakterien im Stande sind, das Trypsin zu acti-
viren, und wie aus den Versuchsprotokollen ersichtlich, ist die Ein¬
wirkung des injicirten Trypsins mit den Streptokokken, besonders
auf das Blutgefässsystem gelungen.
Versuche (Serie VI).
Hund I. Männlich. 6 kg. Laparotomie 20. 9. 09. Einspritzung vod
2 ccm Galle, 1 ccm lOproc. Trypsin Grübler. Es gelingt leider nur, in den
duodenalen Theil des Pankreas zu injioiren. Eine Verletzung des Ductus wird
durch sofortigen Austritt von Flüssigkeit in die Interstitien angezeigt. Nach
etwa 10 Minuten sieht man eine allgemeine Hyperämie eintreten. Daneben
zeigen sich punktförmige kleine Blutungen im Gewebe. Eine grössere Menge
solcher Petechien sind auch im Netz und Mesenterium des Dünndarms vor¬
handen.
Die geringe Quantität der injicirton Flüssigkeit und des darin enthaltenen
Trypsins scheint nicht genügt zu haben, nebon den Gefässveränderungen eine
ausgedehntere Einwirkung auf das Parenchym auszuüben. Der Hund blieb
nach anfänglichem Kranksein am Leben.
Hund II. Männlich. 10 kg. 20. 9. 09 Laparotomie. 2 ccm Galle plus
2 ccm lOproc. Trypsinlösung. Nach 5 Minuten Hyperämie, naoh weiteren
10 Minuten diffuse Blutung in das zuerst sulzig infiltrirto peripankreatisebe
Gewebe. Eine grössere Blutung entsteht zu gleicher Zeit an der Hinterseite
des duodenalen Pankreastboiles, die sich zunächst intraperitoneal, dann aber
extraperitoneal ergiesst. Das veränderte Pankreasgewebe sieht grauroth aus.
22. 9. Exitus.
Sectionsbefund: Bauch aufgetrieben. In der Bauchhöhle 250,0 ccm
blutig-gallig gefärbter Flüssigkeit. Serosa überall dunkelroth, blutig suffun-
dirt. Das grosse Netz zeigt die ausgedehntesten Blutungen und Fettgewebs-
nekrosen. Die Injectionsstelle in der Gallenblase ist noch offen, und es hat
sich sicherlich daraus nach der Operation weiter Galle ergossen, und damit ist
stetig activirende Kinase in die Bauchhöhle getreten. Das Pankreas ist im mitt-
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion.
463
leren und lienalen Theil blutig suffundirt, mit Fettgewebsnekrosen bedeckt;
Dünndarmschleimhaut dunkelblauroth mit ilächenbaften Blutungen. Die Lunge
ist mit dunkelrothen Infarcten durchsetzt.
Die mikroskopische Untersuchung bat folgenden Befund ergeben: Fast
völliger Untergang des Parenchyms, vollständige Nekrose des Ductus Wirsun-
gianus und seiner Aeste. Besonders auffallend ist die überaus grosse Schädi-
gung der Gefässe, selbst der Arterien. Endothelien und Adrentitia kernlos.
Die Kerne der Muscularis zum Theil noch gefärbt. Mit Weigert’scher Elastica-
färbung erkennt man nicht nur eine Abnahme dor tinctoriellen Eigenschaften,
sondern auch eine Unterbrechung und Auseinanderdrängung der einzelnen
Fasern.
Hund IU. Männlich. 9 kg. Laparotomie am 21. 9. 09. Es werden
4 ccm Galle plus Trypsin in das Parenchym injicirt, welches darauf durch die
eintretende Gefässerweiterung und durch kleine Blutungen eine dunkelblau-
rothe Färbung annimmt. Nach 10 Minuten wird aus dem Parenchym ein Stück
excidirt. Dasselbe zeigt folgenden Befand: Das Pankreasparenchym ist ge¬
quollen, das Protoplasma zeigt Vacuolenbildung. Die Chromatinfärbung hat
abgenommen. Die Grenzen zwischen Kern und Protoplasma gehen ineinander
über, andere Läppchen sind vollkommen nekrotisch. Dazwischen siebt man
Blutungen um die Gefässe herum. Die Wand der Gefässe ist vollkommen ne¬
krotisch. Man kann sie nur noch durch Färbung der elastischen Fasern deut¬
lich maohen, aber auch diese haben eine Läsion erfahren. Durch den Fortfall
des Aussendruokes von der Umgebung her ist es zur Lockerung der Faserbündel
gekommen.
28. 9. Exitus.
Section: Pankreas verklebt mit dem Duodenum und der Leber. Fett¬
gewebsnekrosen in der Umgebung. An der Resectionsstelle ein etwa haselnuss¬
grosses Hämatom. Das umgebende Pankreasgewebe erweicht, von dunkelgrau-
rother Farbe.
Hund IV. Weiblich. 9 kg. Laparotomie am 21. 9. Freilegen des Ductus.
Injection von 3 ccm Galle plus 2 ccm lOproc. Trypsin (diese Lösung wird
etwa 3 Stunden im Brutofen stehen gelassen). 10 Minuten nach der Injection
dunkelrothe Färbung des Pankreas. Zahlreiche kleine Blutungen, zum Theil
direct in die Bauchhöhle. Wiederum Resection eines 2 cm grossen Stückes
aus der Continuität.
1. 10. Hund stark abgemagert, ist an Nahtperforation gestorben.
Section: Die Resectionsstelle am Pankreas ist erweicht, von bräunlich-
rother Farbe. Fettgewebsnekrose. Histologische Untersuchung des excidirten
Stückes, welches leider beim Einbetten etwas zerfallen ist, zeigt vollkommene
Nekrose im Pankreasgewebe sowohl des Parenchyms wie der Interstitien und
der dazu gehörigen Gefässe.
Hund V. Laparotomie am 23. 9. 09. Injection von 5 ccm 40proc.
Trypsin plus 2 ccm Galle. Es tritt nach längerer Zeit erst Blutung im Pan¬
kreasgewebe ein, nachdem Dilatation der Gefässe vorhergegangen war. Es
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464
Dr. Fr. Rosenbach,
wird ein Stück Pankreasgewebe zur histologischen Untersuchung herausge-
schnitten, welches ebenfalls vollkommene Nekrose des Pankreasgewebes und
Nekrose der Gelasse in allen drei Schichten zeigt. Die Elastica der grösseren
Gelasse ist noch gut erhalten, die der kleineren wenig gefärbt und theilweise
unterbrochen. Der Hund ist am Leben geblieben.
Die letzten 5 Experimente demonstriren das vor mir bereits
Gesagte, dass bei höherer Concentration des Trypsins und Verstär¬
kung der Activität wir stets eine bald eintretende Nekrose des
Parenchyms und eine Schädigung der Blutcapillaren und kleineren
Gefässe bekommen. An der eingespritzten Menge wird es liegen,
wieviel von dem Parenchym bei diesen Versuchen zu Grunde geht.
Aus den histologischen Untersuchungen geht ferner hervor, dass
durch die vasomotorische Lähmung zunächst die Endothelien der
Intima leiden und vom Trypsin angegriffen werden, dass jedoch
das elastische Gewebe erst ganz allmählich dem proteolytischen
Fermente ausgeliefert wird. Der Tod des Versuchsthieres wird
dem in den meisten Fällen zuvorkommen. Kennen wir somit den
Schlüssel zu den Pankreasblutungen, so lässt sich auch die von
Seitz und Oser aufgestellte Gruppirung der Ursachen erheblich
beschränken. Es sind in der That die meisten Blutungen auf die
Wirkung des Trypsins zurückzuführen. Auch die Blutungen in
Cysten und die Neubildungen beruhen Wohl sicherlich ebenfalls auf
tryptischer Ursache. Und wenn man an derartige Fälle heut zu Tage
mit diesem Gesichtspunkte herantritt, so werden sich auch andere
Blutungen am Pankreas auf diese letztere Ursache zurückführen
lassen. Durch die frühzeitigen Excisionen wollte ich ferner zu¬
gleich beweisen, dass ein Abhängigkeitsverhältniss zwischen Blu¬
tung und Parenchymtod nicht besteht. Es erliegen eben beide Ver¬
änderungen derselben Schädlichkeit, eben dem Trypsin.
Der Zufall wollte es, dass während der Fertigstellung dieser
Arbeit ein Fall in unserer Klinik beobachtet wurde, bei dem es
sich um eine ausgedehnte Blutung handelt, die auf eine Digestion
durch den Pankreassaft zurückzuführen ist und den unmittelbaren
Tod des Patienten verursachte. Es handelt sich in diesem Falle
um eine Blutung aus der Vena lienalis in eine „Cyste“ des Ductus
pancreaticus.
Ich gebe im Folgenden kurz die Kränkheitsgeschichte, das
Operationsjournal und Sectionsprotokoll wieder:
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Experimentelle Stadien über tryptische Digestion.
465
Anamnese: Adolf K., 33 Jahre. Vater an Gicht und Rheumatismus
gestorben. Als Kind Diphtherie. 1898 harter Schanker, weswegen er mehrere
Curen durchmachte. Zeitweise Drüsensohwellung. Heiserkeit. Im Sommer
1908 plötzlich Schmerzen im Leibe, die 2 Tage andauerten und dann wieder
verschwanden.
März 1909 erneuter Anfall von 14 Tagen Dauer. Danach lange dauernder
Schwächezustand.
Mitte April traten neue Schmerzen auf und Patient wurde icterisch. Er
wurde poliklinisch mit Karlsbader Salz und Abführmitteln behandelt, ohne dass
Besserung eintrat. Auf Gaben von Jodkali traten „Magenkrämpfe 11 ein. Pat.
lag 3 Wochen im Bett und der Icterus versohwand. Am 12. Juni, im Anschluss
an eine Ueberanstrengung, starkes Unwohlsein. Am 15. Juni trat Blutbrechen
auf nnd der Pat. wurde wieder gelb. Der Stuhl war nach der Blutung schwarz.
Die jetzigen Klagen bestehen in Leibschmerzen und Schwäche.
Status praes.: Mittelkräftiger Mann in leidlichem Ernährungszustände.
Haut und Scleren icterisch. Zahlreiche Kratzeffecte. Am Halse eine kleine
hühnereigrosse Geschwulst, die sich derb anfühlt und nicht verschieblich ist.
Brustorgane frei.
Das Abdomen gespannt, oberhalb des Nabels im Epigastrium druck¬
empfindlich. Leber vergrössert, Milz in normalen Grenzen, im Urin kein Zucker,
kein Eiweiss. Bilirubin und Urobilin positiv.
Am 17. 6. Stuhl nach Ricinusöl schwarz, thonartig, von üblem Geruch.
Zwei andere Stühle enthielten reichlich dunkelschwarzes Blut. Pat. klagt über
starke Leibschmerzen, die vom Epigastrium in beide Seiten ausstrahlen.
18. 6. In der Nacht bekam Pat. einen Magenkrampf, an den sich starke
Schmerzen oberhalb des Nabels anschlossen. Morphium. Morgens einmaliges
Erbrechen. Im Erbrochenen kleine Mengen alten Blutes.
Am 19. 6. in der Nacht schwere Koliken. Es wird eine Inunctionscur be¬
gonnen. Der Icterus nimmt zu.
Am 24. 6. heftige, langdauernde Kolikanfälle mit grossen Schmerzen.
Am 30. 6. Temperaturanstieg auf 35,5, Puls 120. Epigastrium sehr
druckempfindlich.
Am 1. 7. fühlt sich Pat. sehr matt und elend. Nach jeder Nahrung er¬
folgt Erbrechen. Digalen, Coffein.
Pat. wurde mit der unbestimmten Diagnose eines Choledochussteines auf
die chirurgische Klinik zur Operation verlegt.
Es wurde am 3. 7. 09 von Geheimrath Hildebrand die Laparo¬
tomie mit Querschnitt am reohten Rippenrande ausgeführt. Die Gallenblase
zeigte sich hierbei vergrössert und prall gespannt; stark erweitert erweist sich
ferner der bis zu Daumendicke angeschwolleno Ductus choledochus, der an¬
scheinend mit einer weichen Masse gefüllt ist. Die Gegend des Pankreas, be¬
sonders des Kopfes wird durch einen etwa gänseeigrossen Tumor ausgefüllt,
welcher mit dem Duodenum und der hinteren Magenwand verwachsen zu sein
scheint. Eine genaue Analysirung der Geschwulst bezüglich ihres Ausgangs¬
punktes und Zusammenhanges ist nicht möglich, erscheint auch angesichts des
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466
Dr. Fr. Rosenbach,
sohlechten Zustandes des Patienten vorläufig nicht angezeigt, da der Puls sehr
klein und unregelmässig ist und auch wegen des cholämisohen Zustandes starke
Blutungen zu furchten sind. Es wird eine Poppertdrainage der Gallenblase
angelegt, aus welcher blutige Galle fliesst. Tamponade. Bauohnaht. Verband.
Nach 6 Stunden unter Herzschwäche Exitus.
Seotionsprotokoll: Leiche eines grazil gebauten Mannes mit stark gelb-
grünlicher Hautfarbe. Skleren ebenfalls gelbgrün.
Bauchhöhle: Im kleinen Becken etwa 50 ccm flüssigen Blutes (cholä-
mische Blutung bei der Operation?). Die Serosa der Därme zeigt hie und da
aufliegende Cruorgerinnsel. Ihr Glanz ist herabgesetzt. Unter der Leber eben¬
falls Blutklumpen, die sich um den zwischen Leber und Colon transversum
befindlichen Gazetampon gesammelt haben.
Zwerchfellstand: Beiderseits oberhalb der 4. Rippe.
Herz von der Grösse der Faust mit reichlioh entwickeltem subpericar-
dialem Fettpolster, welches die ganze rechte Ventrikelwand durchsetzt und auch
unter dem Endocard als gelber Flecken sichtbar ist. Intima der Klappen stark
gelblich gefärbt. Klappen intact. Coronararterien ohne Besonderheiten.
Lungen: Rechte Lungenpleura unten matt und beschlagen. Ober- und
Unterlappen durch strangförmige grauweissliche Membranen miteinander ver¬
bunden. Rechte Lungo am Oberlappen verwachsen. Am Oberlappen eine klein¬
aprikosengrosse derbe Partie. Unterhalb derselben eine mit gelblichen mem¬
branartigen Massen gofüllte Höhle, deren Umgebung aus schiefrigem Bindege¬
webe mit zahlreichen submiliaren bis miliaren Knötchen besteht.
Halsorgane: Ueber dem linken Sternocleido eine über taubeneigrosse
derbe Gewebspartie von scharfer Umgrenzung zwischen Musculatur und Haut
gelegen. Auf dem Durchschnitt sieht man grauweissliche Partien durchsetzt
mit zahlreichen kleinen gelblichen Einlagerungen.
Milz: 16, 9, S 1 /^. Pulpa nicht abstreifbar. Trabekel deutlich, Lymph¬
knötchen kaum sichtbar.
Nieren ziemlich gross. Unter der Kapsel eine vertiefte Partie, an welcher
die Rinde sehr schmal ist. Im Rectum acholischer Stuhl.
Leber etwas vergrössert.
Gallenblase mit grünlichen Cruormassen prall gefüllt. In der Wand
der Gallenblase mehrere pfennigstüokgrosse flache Substanzverluste. Cysticus
weit, durchgängig. Ein paar Centimeter von der Papilla Vateri entfernt liegt
im Choledochus ein wurstförmiges graurothes, an der Oberfläche geriffeltes Ge¬
bilde von ziemlich trockener Beschaffenheit und Daumengrösse. Oberhalb dieses
Gebildes sind die Gallenwege stark erweitert und mit flüssigem Blut gefüllt.
Dieses grauröthliche Gebilde steht im Zusammenhang mit ähnlichen, theils
trockenen, theils feuchten grauröthlichen Massen, die an einer Stelle in einer
Ausdehnung von einem Pfennigstück den Grund eines Geschwüres des Ductus
hepaticus an der Grenze zum Choledochus bilden. Es ist hier die Wand der
Gallenwege, sowohl die geschwürig, wie die nicht geschwürig veränderte stark
vorgewölbt.
Der Ductus Wirsungianus lässt sich in den ersten 2 cm seines Verlaufes
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Experimentelle Stadien über tryptische Digestion.
467
leicht äufschneiden. Dann wird er enger und biegt rechtwinklig nach hinten
und unten um. 2 3 / 4 cm hinter der Umbiegungsstelle kommt man in einen mit
ziemlich weichen an der Oberfläche geriffelten grauröthlichen Hassen gefüllten
Hohlraum, der sich als pfirsichgrosse Erweiterung des Ductus pancreaticus er*
weist. Dieser „cystische Hohlraum“ ist in den Hepaticus durchgebrochen und
der Grund des Geschwüres im Hepaticus wird gebildet von den Thrombus¬
massen in der Pankreascyste. Zwischen Magen und Colon transversum befindet
sich noch ein apfelgrosser Hohlraum im kleinen Netz, der ebenfalls mit ge¬
ronnenem Blut gefüllt ist. Diese beiden Hohlräume communiciren durch eine
hanfkorngrosse Oeffnung.
Das Pankreas ist in seinem Schwanztheil hinter der ,,Cyste“ äusserst derb
und atrophisch. Man erkennt an einigen Stellen kleine starke icterisch gefärbte
Herdchen, die stellenweise opakweisslich sind. Nach Ausräumen der Throm-
busmassen aus der ,,Pankreascyste“ zeigt sich, dass in der Wand eine klein¬
stecknadelkopfgrosse Oeffnung ist, an der das Gewebe sehr weich und gelb ist.
Durch diese Oeffnung gelangt man in die Vena lienalis.
Diagnose: ,,Cyste“ des Ductus Wirsungianus und des kleinen Netzes.
Fettgewebsnekrosen im Pankreas. Frische Blutungen aus der Vena lienalis in
die,,Cyste“ mit Durchbruch in den Hepaticus und die intrahepatischen Gänge.
Compression des Ductus choledocbus. Icterus, Gummi der linken Halsseite.
Chronische Spitzenphthise der rechten Lunge, frische und alte Pleuritis. Fett¬
herz. Blutung in die Bauchhöhle.
Die mikroskopische Untersuchung des „Cystensackes“ ergab kein
Epithel des Ductus pancreaticus, sondern überall anstossendes nekrotisches
Pankreasgewebe mit Fettnekrosen. Eine bakteriologische Untersuchung wurde
nicht ausgeführt.
Wir habeD also einen sehr seltenen Fall von Blutung aus einer
grossen Vene vor uns, welche nach unseren Ausführungen und
Experimenten durch entzündliche Processe mit Hinzutritt tryptiseher
Wirkung zu Stande gekommen sein muss. Nach den theoretischen
Erörterungen und unseren experimentellen Resultaten müssen wir
uns den Vorgang so vorstellen, dass es zunächst zu acuten circum-
seripten Nekrosen im Pankreas gekommen ist, die allmählich zu
einer Art Demarkirung führten und ihre Producte wahrscheinlich
durch den Ductus W'irsungianus abgestossen haben. Durch Ein¬
dringen von Darmbrei oder Galle, vielleicht auch Bakterien, jeden¬
falls einer Kinase, hat sich der Process unter allmählicher Ver¬
dauung weiter entwickelt, und es ist auf diese Weise zu einer An¬
dauung des Ductus hepaticus gekommen. Dieser Durchbruch hat
wiederum das Einfliessen von Galle ermöglicht und dadurch ist
immer neu activirende Substanz in die Zerfallshöhle eingedrungen,
bis schliesslich durch die Andauung der Vena linealis dem Leben
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468
Dr. Fr. Rosenbach,
des Patienten ein Ende gesetzt wurde. Der cystische Hohlraiun
stellte also keine Cyste im richtigen Sinne vor, sondern war ein
durch Erweichung von Pankreasgewebe entstandener Hohlraum.
Die Fettgewebsnekrose.
Es liegt nicht in meiner Absicht und in dem Rahmen dieser
Arbeit, eine weitergehende Studie auch über die Fettgewebsnekrose
hier zu geben, doch möchte ich nicht unterlassen, ganz kurz auf
dieses in der Pankreaspathologie so wichtige Symptom kurz ein¬
zugehen.
Ihre Entdeckung verdanken wir, wie ich schon erwähnte,
Baiser, welcher sie unter 25 Sectionen allein 5mal constatiren
konnte. Ihm folgten in der weiteren Beschreibung Ponfick,
Williams (nach von Brunn), Blume, Pförringer u. A.
Baiser und Williams konnten zu gleicher Zeit dieselben Ver¬
änderungen auch bei gewissen Schweinesorten constatiren. Ihrer
Entdeckung folgten alsbald eine Anzahl von Theorien, welche die
Ursache ihrer Entstehung erklären sollten. Von ihnen ist heute
nur noch die bakterielle und die fermentative Theorie discutabel.
Mit dem Einzug der erfolgreich bewiesenen Fermenttheorie (Langer-
hans und Hildebrand) wurde in der Frage der Aetiologie Wandel
geschaffen. Auch konnte bald darauf mit der Auffassung aufge¬
räumt werden, dass die Fettgewebsnekrose die Ursache der
Pankreasnekrose und der Blutungen sei. Es wurde dieses Ab¬
hängigkeitsverhältnis umgekehrt und die Berechtigung hierzu viel¬
fältig bewiesen. Eine entscheidende Rolle hierbei haben unter
Anderem die sorgfältig studirten Fälle von offenen und subcutanen
Pankreasrupturen gespielt. Trotzdem giebt es immer noch einige
wenige Autoren, welche an der primären Entstehung der Fett-
gewebsnekrosen festhalten, da sie in ihren Fällen Pankreasverände¬
rungen nicht constatiren konnten. Wir wissen heute zu Tage, dass
zum Zustandekommen dieser Veränderungen nur minimale Pankreas¬
läsionen genügen. Der grösste Concurrent der Hildebrand’schen
Fermenttheorie ist die mikroparasitäre Theorie gewesen, die bereits
von Baiser, später von Ponfick u. A. verfochten ist. Bei den
meisten daraufhin gerichteten Untersuchungen fiel der Bakterien¬
befund negativ aus, und Truhart spricht sich in seiner Mono-
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Experimentelle Stadien über tryptische Digestion. 469
graphie auf Grund des vollständig gesammelten Materials gegen
die Möglichkeit der bakteriellen Aetiologie der Fettgewebsnekrosen
aus. Er weist zugleich darauf hin, dass es sehr wahrscheinlich
das Trypsin sei, welches dem fettspaltenden Ferment durch Er¬
schliessung der Eiweisshüllen die Wege öffne.
Trotzdem wir nun wissen, dass sicherlich das Pankreassecret
selbst und in ihm in letzter Linie das fettspaltende Ferment die
Fettge websnekrosen hervorruft, so bestehen doch auch hier noch
strittige Punkte, die einer Aufklärung bedürfen. Senn hat bereits
bei Thieren innere Pankreasfisteln angelegt, aber keine Nekrosen
erzeugen können, während andere Autoren (Hildebrand und
Guleke) fast immer in ihren Experimenten solche erzielten. Die
negativen Erfolge von Senn erklärte Guleke in der Weise, dass
bei den Versuchen von Senn die Oeffnung vom Ductus pancreaticus
sich verklebt habe und deshalb wenig oder gar kein Secret in die
Bauchhöhle geflossen sei. Diese Verklebung wird noch dadurch
begünstigt, dass kurz nach der Operation am Ductus ein vorüber¬
gehender Stillstand in der Secretion stattfindet (Pawlow). Guleke
legte aus diesem Grunde Lippenfisteln an und erhielt, wie gesagt,
positive Resultate.
Eine Reihe von Versuchen hat mich jedoch schwankend ge¬
macht, ob wirklich das Steapsin allein die Nekrosen bewirken
kann. Ich habe schon erwähnt, dass ich Gelegenheit hatte, einen
Fall von isolirter subcutaner Pankreasruptur zu operircn und zu
beobachten, bei welchem sich nach der Operation eine Secretfistel
bildete, die grosse Mengen reinen Pankreassecretes lieferte. Mit
diesem Secret habe ich eine Reihe Thierversuche ausgeführt, und
zwar injicirte ich die Flüssigkeit in das Peritoneum. Der Saft
wurde theils frisch, theils nach längerem Stehen (24—48 Stunden)
injicirt. Die Untersuchung des Secretes (öfters ausgeführt) ergab
stets actives Steapsin und Diastase. Nur bei zwei Untersuchungen
konnte schwach actives Trypsin nachgewiesen werden. Dieses war
in länger stehendem Secretsaft der Fall. Die Activirung durch
längeres Stehen des Saftes ist eine bekannte Thatsache, der Grund
hierfür noch nicht bekannt.
Die folgende Tabelle giebt uns einen kurzen Ueberblick über
8 ausgeführte Versuche (von denen 2 bereits vorher erwähnt
wurden).
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470
Dr. Fr. Rosenbach,
I. Hund
8 V* kg
1 28. 4. 08
i
!
5 ccm Secret +
3 ccm Blut
j Gestorben 30. 4. 09. Därme injicirt
1 am Pankreaskopf, Netz und Mescn-
! terium. Fettgewebsnekrosen. Blut ud-
| gen im Pankreas.
II. Hund
6'/ 2 kg
1
| 28. 4. 08
i 8 ccm frisches
Secret
III. Hund
10*/ 2 kg
1
30. 4. 08
20 ccm frisches
Secret
—
IV. Terrier männl.
9'/2 kg
30. 4. 08
|
8 ccm frisches
Secret + 8 ccm
Blut
Relaparotoraie am G. 5. 09. Kein Be*
fund. Nochmalige Injection von
20 ccm. Getödtet am 11. 5. OS.
Ohne positives Resultat.
V. Langhaariger
Hund
7 kg
2. 5. 08
i
1 i
1
i
14 ccm 1
Relaparotomie am 26. 5. 08. Erneute
Injection von 40 ccm Secret älteren
Datums (48 Stunden). 28. 5. OS ge¬
storben. Fettgewebsnekrosen.Röthu n g
der Serosa. Blutiges Exsudat in
der Bauchhöhle.
VI. Hündin
6i/ 2 kg
1
oo
o
lO
oi
7 ccm frisches
Secret + 5 ccm
Blut
Relaparotomie am 26. 5. 08. Keine
Fettgewebsnekrosen.
VII. Terrier 1
i
i
i
i
5 V* kg 1
1
|
6. 5. 08
1
i
10 ccm älteres
Secret
i
Gestorben am 7. 5. 08. Subseröses
Fettgewebe.Netz,Mesenterium durch¬
setzt mit massenhaften Fettgewebs¬
nekrosen. Pankreas geschwollen.
Ebenfalls mit Fettgewebsnekrosen.
r 7 III. Hund
7Vz kg
6. 5. 08
10 ccm Blut +
10 ccm frischer 1
Saft |
' Gestorben am 8. 5. 08 an Peri¬
tonitis.
Von den 8 Versuchen fielen also 3 positiv aus und bei zweien
(5 und 7) wurde zur Injection älteres Secret verwandt, im Ver¬
such V allerdings eine sehr grosse Menge. Im Versuch I wurde
das Secret mit Blut versetzt, und wir erhielten ebenfalls Pankreas¬
nekrose und Fettgewebsnekrose. Wir lernen, aus diesen Versuchen,
dass menschliches Pankreassecret beim Hunde dieselben Verände¬
rungen machen kann, wie das Hundesecret selbst, eine bisher selten
beobachtete Thatsache. Damit können wir sagen, dass die von
Pawlow gefundene Uebereinstimmung zwischen menschlichem Pan¬
kreas und dem vom Hunde nicht allein im physiologischen Sinne,
sondern auch im pathologisch-physiologischen Sinne Geltung hat.
Es geht ferner aus den Versuchen hervor, dass die Entstehung der
Fettgewebsnekrosen nicht in allen Fällen auf einer Spaltung des
Fettes durch das Steapsin allein besteht. Es scheint auch hier
ein zweiter Factor nothwendig zu sein, welcher dem Steapsin erst
die Gelegenheit giebt, an das Fettgewebe heranzukommen. Es
scheint mir deshalb die Annahme von Truhart nicht ganz un-
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Experimentelle Studien über tryptische Digestion. 471
gerechtfertigt, dass nämlich erst die Eiweissmembran des Fett¬
gewebes durch actives Trypsin gesprengt werden müsse. Den Er¬
folg in unseren 3 Versuchen glaube ich deshalb darin zu sehen,
dass das injicirte Secret actives Trypsin enthalten hat. Im ersten
Versuch war die Activirung durch das Blut, in den beiden anderen
durch eventuelle autolytische Processe beim längeren Stehen des
Secretes bedingt. Die positiven Befunde von Guleke, welcher
das Secret aus Lippenfisteln und Resectionsflächen am Pankreas in
die Bauchhöhle fliessen Hess, kann ich mir so vorstellen, dass die
geringen Verletzungen im Parenchym und Blutungen an der Ope¬
rationsstelle völlig genügen, um so viel Kinase zu liefern, dass
das Trypsin im ausfliessenden Safte activirt wird. Auch die ent¬
fernteren metastatischen Fettgewebsnekrosen, mögen sie nun auf
dem Blut- oder auf dem Lymphwege entstehen, bieten in ihrer
Erklärung in diesem Sinne keine Schwierigkeiten. In den Fällen
von menschlicher acuter Pankreasnekrose ist natürlich jeder Zeit
so viel actives Trypsin vorhanden, dass es bei der Diffusion des
Secretes in die Bauchhöhle oder aber auf dem Lymphwege sich
verbreiten und das Steapsin überall begleiten kann. Der Transport
auf dem Blutwege macht heute noch einige Schwierigkeiten, da
wir wissen, dass das Serum eine stark antitryptische Eigenschaft
besitzt. Positive Erfolge im Experiment sind allerdings auch so
erzielt worden (Payr und Martina). Letztere Autoren konnten
nämlich durch intravenöse Injection von zerriebenem Pankreas ent¬
fernte Pankreasnekrosen erzeugen. Hier bestehen noch allerlei
Widersprüche, die der Lösung harren.
Chronische Pankreatitis.
Wir haben im Verlaufe unserer Experimente gesehen, dass
eine Anzahl der Hunde, welche zunächst nach den Injectionen acut
erkrankt waren, allmählich gesundeten. Bei der Relaparotomie
oder späteren Section fanden wir dann nichts weiter als eine in¬
durative Pankreatitis mit Sklerose oder Atrophie. Es waren also
die acut entstandenen Nekrosen allmählich resorbirt und vom
Bindegewebe ersetzt worden, ähnlich wie wir dies in der Patho¬
logie in anderen Organen auch beobachten. Diese Aetiologie der
chronischen indurativen Pankreatitis ist bereits von zahlreichen
Forschern klinisch und experimentell bewiesen worden. Auf eine
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472
Dr. Fr. Rosenbach,
weitere Ursache der chronischen Pankreatitis hat uns Hess auf¬
merksam gemacht, welcher diese Frage experimentell bearbeitet
hat. Es kann nämlich die Secretstauung nach Unterbindung sämmt-
licher Pankreasgänge allein schon die chronische Pankreatitis her-
vorrufen. Hess resumirt in seiner letzten Arbeit: „Jede Pankreas¬
partie, deren Secretabfluss aufgehoben wird, verfällt der Sklerose.
Die durch die Unterbindung aller Ausführungsgänge bedingte völlige
Absperrung des Secretes vom Darm führt zu einer Sklerosirung
des gesammten Pankreas und zu Störungen der Ausnützung der
Fett- und Eiweisskörper im Darmcanal.“ Ist beim Hunde noch
einer der Nebengänge des Pankreas frei, so tritt partielle Nekrose
und Ausnutzung der Nahrung ein. Den Verschluss des Ductus
pancreaticus können auch hier Steinbildungen herbeiführen, und
zwat sind besonders die Gallensteine als die häufigste Ursache
anzusehen. Mayo Robson fand unter 51 Fällen von chronischer
Pankreatitis 27 Mal Gallensteine. Aehnlich sind die Befunde
anderer Autoren. Viel seltener wie Gallensteine sind es Steine
im Ductus pancreaticus, die dann meist in grösserer Anzahl, nach
Hess auch durch ihre rauhen Oberflächen einen starken Reiz zur
Bindegewebswucherung ausüben. Das klinische Studium der chroni¬
schen Pankreatitis ist, nachdem es von Riedel angeregt wurde,
besonders in den letzten Jahren in der Chirurgie eifrig betrieben
worden. Eine grosse Anzahl Schriften hat den Zusammenhang
dieser Erkrankung mit der Cholelithiasis vollkommen bestätigt,
und es wird heute vom Chirurgen verlangt, dass er bei Gallen¬
steinoperationen sich auch von dem Zustande des Pankreas ver¬
gewissern muss. Da die Steinbildung im Pankreas eine seltene
Erkrankung ist (Rindfleisch konnte unter 2000 Obductionen der
Medicinischen Klinik in Königsberg nur 3 Fälle nachweisen), sei
es mir gestattet, zum Schluss dieser Arbeit einen hierhin gehörigen
vor Kurzem beobachteten Fall anzuführen.
Anamnese: W., 55 Jahre. Eltern an Altersschwäche gestorben. Pat. ist
verheirathet. 5 gesunde Kinder. In den letzten Jahren nervös und magenkrank.
Schmerzen nach dem Essen. Oefters Erbrechen. Die Beschwerden dauerten
bis Ende 1907. Im Juli 1908 stellte sich starkes Durstgefühl, besonders in
der Nacht ein. Daneben traten Diarrhoen ein. Gewichtsabnahme 20 Pfund.
Status praes.: Kleiner Mensch von gracilem Körperbau. Schlaffe Mus-
culatur. Geringes Fettpolster. Skleren leicht ikterisch, ebenfalls die Haut des
Körpers.
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Experimentelle Studien über tryptisohe Digestion.
473
Lungen: Schallverkürzung, links vorn mit tympanitischem Beiklang und
mit abgeschwächtem Athmen ohne Nebengeräusche.
Herz o. B.
Abdomen: Wenig aufgetrieben. In der Gegend der Magengrube druck¬
empfindlich, ohne Palpationsbefund.
Leber unter dem Rippenbogen fühlbar, nicht druckscbmerzhaft.
Magen und Milz o. B.
Urin: Kein Albumen, geringe Mengen von Zucker.
Stuhl von grauwoisser Farbe.
Mageninhalt: Keine Salzsäure, keine Milchsäure. Gesammtacidität 3.
Stuhluntersuchung: Neutralfett -j-, Calciummagnesiumseifen
Fettsäurekrystalle -j-, Pankreon bleibt ohne Wirkung. Die nervösen Beschwer¬
den werden mit Brom bekämpft. Cammidgeprobe zweimal ausgeführt, davon
einmal positiv.
20. 3. 09. Appetit und Befinden haben sich gebessert. Ausnutzung der
Nahrung hat sich ein wenig gehoben.
Pat. wurde mit der Diagnose auf Pankreaserkrankung zur Operation der
chirurgischen Klinik überwiesen, zumal in der letzten Zeit auch eine undeut¬
liche Resistenz im Epigastrium gefunden wurde.
Die am 22. 3. ausgefübrte Laparotomie batte kurz folgenden Befund:
Der Pankreaskopf zeigte sich vergrössert zu einem harten, mit der Hand zu
umgreifenden Tumor. Ob ein Carcinom des Pankreas oder eine chronische
Pankreatitis vorlag, konnte mit Sicherheit nicht entschieden werden. Ein unter
dem Peritoneum liegendes Knötchen, auf der Vorderiläche des Pankreas liegend,
wurde excidirt und zeigte mikroskopisch eine tuberculöse Lymphdrüse. Magen
und Gallengänge waren frei von Veränderungen und es wurde deshalb von
einer weiteren operativen Maassnahme (Cholecystenterostomie) abgesehen.
29. 3. Pat. hat sich merklich erholt. Er wird zur weiteren Cur zur
medicinischen Klinik zurückverlegt. Hier ist er am 23. 5. gestorben, und es
fanden sich bei der Section am Pankreas folgende Veränderungen:
Sectionsbefund: Miliartuberculose der Hirnhäute, der Lungen und
des Peritoneums. Das Pankreas ist auffallend klein. Länge 13 cm. Es fühlt
sich härter an als gewöhnlich. Der Drüsenbau ist an vielen Stellen nicht deut¬
lich zu erkennen. Beim Aufschneiden des Ductus pancreaticus vom Duodenum
aus stösst man am Pankreaskopf mit der Scheere auf Widerstand. Es befindet
sich hier eine Verlegung durch mehrere erbsengrosse, gelbbraune, harte Steine.
Die Wand des Ductus ist geschwürig verändert und theilweise stenosirt. Hinter
den Steinen ist der Ductus pancreaticus stark erweitert und mit gelblich eitri¬
gem Inhalt angefüllt. Die Drüse ist fast vollkommen atrophisch.
Mikroskopisch sieht man Reste von Pankreasinseln eingebettet in ein
derbes sklerotisches Bindegewebe, in dem auch Reste der Secretgänge mit
atrophischem Epithel zu erkennen sind. Die atrophischen Pankreasinseln
zeigen nicht allein atrophische Parencbymzellen, in anderen sieht man eine
gut ausgebildete tryptisebe Nekrose. Daneben sind auch Infiltrationsherde,
Ansammlungen von Leukocyten und Lymphocyten vorhanden. Das mikrosko-
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474
Dr. Fr. Rosenbach,
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pische Bild lässt uns zwei Processe nebeneinander annehmen, welche die Atro¬
phie der Drüse herbeigeführt haben, erstens multiple tryptische Nekrosen,
zweitens ohronisch interstitielle Infiltrationen.
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Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 2.
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XIV.
Kleinere Mittheilungen.
(Aus der chirurg. Abtheilung der Academie für practische Medicin des Bürger¬
hospitals zu Cöln. — Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Bardenheuer.)
Ein Beitrag zur Casuistik der posttraumatischen
Verknöcherung des Lig. trapezoideum und conoideum.
Von
Dr. Grüne.
(Mit 3 Textfiguren.)
Die äusserst seltenen Fälle von Verknöcherung oben genannter Bänder
geben mir Veranlassung, sie zu veröffentlichen.
Ein 41jähriger Arbeiter wurde am 4. 5. 10 Abends beim Nachhausegehen
von Streikenden von hintenher angegriffen, auf die Schulter geschlagen und
hingeworfen, wobei er auf die linke Schulter fiel. Seitdem will Sch. ständig
Schmerzon in der linken Schulter haben. Am 7. 5. wurde Sch. in das Bürger-
hospital aufgenommen.
Der Befund war kurz‘folgender: Klein-mittelgrosser Mann von unter¬
setztem Körperbau und kräftig entwickelter Musculatur. Aussehen gesund. Er¬
nährungszustand gut. Das acromiale Ende der linken Clavicula war druck¬
empfindlich, auch fühlte man eine Delle zwischen Acromion und Clavicula.
Die Musculatur war straff ilnd die darüber liegende Haut liess keinerlei Ver¬
änderungen erkonnen. Ein Knochenreiben war nicht nachweisbar, desgleichen
stand der Kopf des linken Oberarmes in der Pfanne. Der Schulterhals war
nicht druckempfindlich. Ein Erguss liess sich ebenfalls nicht nachweisen. Die
Bewegungen nach vorn, der Seite zu, nach hinten und oben konnten fast regel¬
recht, jedoch nur langsam ausgeführt werden. Die Prüfung der Erregbarkeit
der Musculatur ergab regelrechte Verhältnisse.
Diagnose: Leichte Luxation des acromialen Endes der Clavicula
nach oben.
Die am 7. 5. gemachte Röntgenaufnahme zeigte nur scharfe Umrisse der
Knochen; geringe Absprengungen oder Fissuren waren nicht festzustellen. Das
äussere Ende der Clavicula steht auf dem Röntgenbilde etwas weit vom Acro¬
mion ab (nach oben leicht luxirt). Ein Schatten im Bereich der Bänder war
nicht vorhanden.
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Posttraumatische Verknöcherung etc.
477
Die Behandlung bestand zunächst in einer Streckung fusswärts nach
Bardenheuer (8 Tage), hierauf Streckung deckenwärts, während dieser
Streckung täglich Pumpbewegungen. Sch. hatte hierbei keinerlei wesentliche
Beschwerden, nur äusserte er Klagen über allmählich zunehmende Schmerzen
im äussersten Drittel der linken Clavicula. Nach Abnahme der Strecke
machte Pat. täglich mehrmals Stabübungen unter ärztlicher Aufsicht. Die
Bewegungen waren anfangs regelrecht, jedoch wollten die Klagen über genannte
Schmerzen nicht schwinden.
Fig. 1.
Aufnahme vom 7. 5. 1910.
Die am 3. 6., also nach vier Wochen gemachte zweite Röntgenaufnahme
brachte die Aufklärung in Betreff der Klagen. Man sah im Röntgenbilde an
Stelle der acromio-clavicularen Band Verbindungen zwei deutliche Streifen,
gleichzeitig bemerkte man deutlich die Schatten des Lig. trapezoideum und
conoideum. Die Schatten rühren von Verknöcherung der Bänder her. Eine
am 2. 7. gemachte Aufnahme bestätigte die Annahme der Verknöcherung. Die
Diagnose muss dahin ergänzt werden, dass das betreffende Ligament bei der
Entstehung der Lux. claviculae Periost von der unteren Fläche derselben abge¬
rissen hat.
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478
Dr. Grüne,
Von Mitte Juni an sind nun die Klagen des Mannes unverändert geblieben.
Er konnte mit dem linken Arm alle Bewegungen regelrecht, jedoch, sobald sie
ausgiebiger wurden, also eine grössere Dehnung der Bänder erforderten, nur
langsam ausführen. Insbesondere fiel diese Erscheinung auf, wenn er seine
linke Hand auf die rechte Schulter oder auf den Scheitel legen wollte. Auch
beim Heben des linken Armes bekam er sofort Schmerzen, sobald er über die
Horizontale hinaus war. Pat. will das Gefühl gehabt haben, als ob er gegen
einen harten Gegenstand stosse, der nur langsam nachgebe.
Fig. 2.
Aufnahme vom 3. G. 1910.
Die Röntgenbilder geben genau die Gestalt der Ligamente wieder, sie er¬
strecken sich zwischen dem Proc. coracoideus und der nach oben verschobenen
Clavicula.
Den zweiten Fall verdanke ich Herrn Prof. Graessner, welcher mir
denselben in liebenswürdiger Weise zur Verfügung stellte. Der Patient hatte
vor ungefähr 9 Monaten einen Schlag von oben her auf die Schulter bekommen.
Bei ihm entwickelte sich die Verknöcherung nur langsam im Gegensatz zu dem
von mir beobachteten Falle.
Wenn man die Ursache bei beiden Fällen erforscht, so stellt sich heraus,
dass diese jedesmal in einer stumpfen Gewalteinwirkung besteht, wobei es sich
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Posttraumatische Verknöcherung etc.
479
um Zerrung der Bänder und allem Anschein nach auch um eine Verletzung des
Periosts handelt. Im ersten Falle muss man jedenfalls mit aller Bestimmtheit
eine Zerreissung des Periosts annehmen, da bei der bestehenden Lux. incompl.
claviculae die Verbindung zwischen Clavicula und Acromion gelöst war. Wäh¬
rend früher sich bei der Behandlung der Fracturen mit Gypsverbänden meistens
ein grosser parostaler Callus bildete, haben wir derartiges bei der Extensions¬
behandlung nicht beobachtet, da durch sie die Perioststücke durch die Dehnung
der die Muskeln umschliessenden Fasciengehäuse, welche die Muskeln gleich-
Fig. 3.
Aufnahme des 2. Falles.
sam umscheiden und in Gruppen zusammenfassen, sowie durch die Dehnung
der Muskeln selbst, wieder in ihre richtige Lage gebracht, nämlich über die
Knochenfragmente hinübergelagert werden, wodurch eine Wucherung an ent¬
fernt gelegenen Stellen ausgeschlossen ist. In dem vorliegenden Falle muss
daher die Verknöcherung dor Ligamente langsam von dem in die Ligamente
verlagerten Periost ausgegangen sein. Die Erklärung ist gegeben durch die
Annahme, dass die Ligamente bei der Entstehung der Luxatio claviculae Periost
von der unteren Fläche der letzteren abgerissen haben, ähnlich wie man es zu-
weilen auch an Ellenbogengelenken in der vorderen Gelenkkapsel und noch
häufiger in dem Muscul. brachialis int. findet. Bardenheuer hat mehrmals,
wo er frühzeitig operirte, feststellen können, dass die Knochenneubildung nicht
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480
Dr. Grüne, Posttraumatische Verknöcherung etc.
nur im Brachialis internus, sondern auch in der vorderen Kapsel bestand, ein
Beweis dafür, dass die Callusbrücken den abgerissenen Periosttheilen gefolgt
sind. Bardenheuer sieht bei seiner grossen Anzahl von Brüchen, die mittels
Streckverbänden behandelt werden, niemals einen Callus hypertrophicus resp.
Callus parostalis in Folge der mittels der Extension erzielten gleichzeiligen Re¬
position der Fragmente und des Periosts.
Bardenbeuer nimmt bei Myositis ossificans an, dass die Muskeln und
die Ligamente Periost abreissen, wodurch eine Verknöcherung in den Muskeln,
den Ligamenten resp. in der Kapsel von den in denselben zerstreuten Periost¬
stückchen herbeigeführt wird.
Zu einer anderen Ansicht, nämlich der Entstehung der Verknöcherung
aus dem Bindegewebe der Muskeln, kann Bardenheuer sich in diesen Fällen
nicht bequemen, da wir sonst auf der Klinik derartige Fälle von parostalem
Callus u. s. w. des Oefteren beobachten müssten. Trotz des so reichlichen
Materials an Fracturen und der ständigen mehrmaligen Röntgencontrole haben
wir bei uns eine derartige Verknöcherung der genannten Bänder nicht be¬
obachten können, auch haben wir Mittheilungon von anderen Seiten nicht ge¬
funden.
Druck Ton L. Schumacher in Berlin N. 24.
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XV.
Experimenteller Beitrag zur Pathogenese
des Ulcus rotundum. 1 )
Von
Dr. Fr. Rosenbach, Assistenten der Klinik, und cand. med. Eschker.
Ein grösserer Zeitraum ist verstrichen, als mau begann, das
aller internen Therapie trotzende Ulcus ventriculi chirurgisch an¬
zugreifen, und man ist in der augenblicklichen Zeit bedacht, die
im Laufe der Jahre gesammelten Erfahrungen zu vergleichen, zu
sichten und das gesammelte Material unter der kritischen Lupe zu
betrachten. Dabei ergiebt sich schon jetzt, dass der chirurgische
Eingriff den Ulcuskranken, welche sich Jahre lang mit dieser hart¬
näckigen Erkrankung gequält haben, wesentlichen Nutzen verschafft
hat, besonders wenn wir dabei im Auge behalten, dass wir in der
ersten Zeit des chirurgischen Handelns nur die schwierigsten und
hartnäckigsten Fälle, in der neueren Zeit erst uncomplicirtere Fälle
zur Operation bekommen haben.
Viele Fälle haben aber auch durch die chirurgische Behand¬
lung nicht Heilung gefunden; Blutungen, Recidive und die alten
Schmerzen sind nach der Operation wieder eingetreten. Dieser
Umstand hat gerade in der letzten Zeit den Anlass zur Aufwerfung
der specielleren Frage herbeigeführt, ob vielleicht die schlechten
Resultate durch die Wahl radicaler Operationsmethoden vermieden
werden können. Während man nämlich anfangs der Pyloro-
plastik, namentlich aber der Gastroenterostomie ein breites Feld
1) Vortrag, gehalten in «ler Sitzung «ler freien \ ereinigung <ler ^hiruriren
Herlins irn Juli 11)10.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3. 09
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482
Dr. Fr. Rosenbach und Eschker,
eingeräumt hat, ist man jetzt auf den Vorschlag Riedel's immer
mehr zur radicalen Behandlung des Ulcus (Excision, quere Resec-
tion) übergegangen, und es scheint, dass diese Methode der radi¬
calen Entfernung des Krankheitsherdes den Vorrang sich er¬
obern wird.
Riedel und zahlreiche andere Chirurgen haben bei den com-
plicirten Ulcustumoren gute Resultate durch Resection gesehen, also
gerade bei denjenigen Ulcusveränderungen, welche der inneren The¬
rapie absolut trotzten und die auch vom Chirurgen durch die
Gastroenterostomie wenig oder gar nicht beeinflusst worden sind.
Der Gastroenterostomie wird vielfach der Vorwurf gemacht,
dass sie unphysiologisch sei, da sie den normalen Zutritt der Ver¬
dauungssäfte verhindere. Von zahlreichen Chirurgen ist ferner zu
Gunsten der Resection auf die Möglichkeit der Entstehung eines
Ulcus pepticum jejuni infolge der Anastomose hingewiesen. Das
wichtigste Argument aber für eine ausgedehntere Anwendung der
Resection bildet der Umstand, dass eine grosse Anzahl der Magcn-
carcinome auf dem Boden eines Ulcus rotundum entsteht. In der
That zeigt die Statistik der Magencarcinome einen recht erheb¬
lichen Procentsatz von Ulcuscarcinomen. Payr lindet in 20 pCt. der
Fälle in seinen excidirten und resecirten Ulcera mikroskopisch car-
cinomatöse Degeneration und äussert sich deshalb dahin, „dass die
Resection des Ulcus callosüm für manche Fälle das darstellt, wo¬
nach wir Chirurgen uns seit so vielen Jahren sehnen und w r ozu
uns alle Verfeinerung der internen Diagnostik noch nicht gebracht
hat: eine Frühoperation des Magencarcinoms u .
Es ist sicher zuzugeben, dass die radicale Behandlung bei der
Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte eine grosse Bedeutung und
Zukunft hat und dass sie weit mehr noch ausgeführt werden wird,
als bisher. Doch würde es heissen, weit über das Ziel hinaus¬
gehen, wenn wir die Gastroenterostomie fallen lassen würden, denn
ihre Statistik hat ebenfalls zahlreiche gute Erfolge gezeitigt. Auch
wir haben in unserer Klinik bis in die Neuzeit die Gastroentero¬
stomie als das Normalverfahren angewandt und einen grossen Theil
guter Erfolge gesehen, wenn auch vielleicht eine Anzahl der Fälle
durch die Resection erfolgreicher behandelt worden wären.
Es gilt zukünftig als die vornehmste Aufgabe für beide Me¬
thoden, die Indicationen genauer zu präcisiren. Hierzu trägt in
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Experimenteller Beitrag zur Pathogenese des Ulcus rotundum. 483
allererster Linie die klinische Erfahrung bei, nach ihr aber das
Experiment, welches die Frage der Pathogenese des Ulcus mitzu¬
lösen hat. Dies ist bisher noch nicht gelungen; doch können wir
eonstatiren, dass auch hier Fortschritte zu verzeichnen sind. Gerade
in der chirurgischen Aera der Ulcustherapie ist die experimentelle
Forschung von grösserem Erfolg gewesen, nicht zum wenigsten ge¬
stützt durch die Möglichkeit an frisch durch die Operationen ge¬
wonnenem Material Studien anstellen zu können.
Die experimentelle Herstellung eines Ulus rotundum beim Ver¬
suchsthier (Hund, Kaninchen) ist ein schwieriges Ding. Während
es leicht gelingt, vorübergehende Geschwüre von kurzem Dasein
auf die verschiedenste Art zu erzeugen, ist es mit einzelnen Aus¬
nahmen eigentlich erst Payr gelungen, einwandsfreie torpide Ul-
cera mit ihren Complicationen (Ulcustumor, Blutung, Perforations¬
peritonitis) zu erzeugen. Die Abbildungen in seiner letzten Arbeit
lassen dies unschwer erkennen. Aber auch Payr bemerkt, „dass
wir ein dem menschlichen Ulcus absolut identisches Krankheilsbild
wahrscheinlich überhaupt nicht nachzuahmen vermögen“, und dass
wir uns damit begnügen müssen, ein Ulcus zu erzeugen, das die
Eigentümlichkeit der „Progredienz und Tenacität“ besitzt und
anatomisch mit dem menschlichen in wichtigen Punkten überein-
stimmt.
Payr hat seine Erfolge erreicht, indem er der ursprünglich
Yirehow-Pavy'sehen Theorie der Circulationsstörung nachging,
letztere in einer anatomischen Veränderung der Gefässwände ver¬
mutete, wie dies von Hauser und Anderen zuerst des ausführ¬
lichen belegt worden ist. Eine derartige Gefässwandschädigung ist
ihm durch intravasale Gcfässinjection von Formalin, Alkohol,
heisser Kochsalzlösung unter Anwendung einer von ihm besonders
ausgedachten Technik gelungen. Durch sic wird eine chronische
Unterernährung der Schleimhaut bedingt, welche ihrerseits ein
rundes Ulcus zur Folge hat. Payr hat damit zweifellos bewiesen,
dass anatomische Veränderungen der Gefässe den Grund zur Ent¬
stehung des Ulcus bilden können und hat dieses Resultat mit
seinen zahlreichen anatomischen Befunden an frisch excidirten
Ulcera beim Menschen, in denen er arteriosklerotische Verände¬
rungen vorfand, verglichen. Ohne verallgemeinernde Schlüsse zu
machen, giebt Payr selbstverständlich zu, dass derartige Verän-
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Dr. Fr. Rosenbach und Eschker,
dcrungen nicht allein den Grund zur Ulcusgenese abgeben. Zweifellos
giebt es noch inehr der ätiologischen Momente.
Ob aber gerade bei der grösseren Mehrzahl der Ulcusfällc
derartige pathologisch-anatomische Veränderungen an den Gelassen
bei der Entstehung des Ulcus eine Rolle spielen, muss aus oft
laut gewordenen Bedenken bezweifelt werden. Wir wissen, dass
bei einem grossen Procentsatz der im jugendlichen Alter erkrankten,
vielfach chlorotischen Individuen Arteriosklerose zur grössten Selten¬
heit gehört, dass andererseits etwaige Vorgefundene arteriosklero¬
tische Veränderungen am Boden des Ulcus oder in seiner Umgebung
ebensogut Secundärreactionen auf chronisch einwirkende Reize dar¬
stellen, wie wir dies bei zahlreichen anderen chronisch entzünd¬
lichen Processen beobachten. Unwahrscheinlich ist auch die noth-
wendigerweise zu machende Voraussetzung, dass der Grund zu
einem Ulcus durch eine locale arteriosklerotische Veränderung ent¬
stehen soll.
Es kann selbstverständlich nicht geleugnet werden, dass der¬
artige Processe am Magen die Disposition zum Magengeschwür
abgeben. Wir haben dann ein Ulcus des höheren Alters vor uns,
also einer Zeitepoche, in welcher nur der kleinere Theil der Ulcera
vorkommt. Viel wahrscheinlicher ist die Annahme, dass derartige
Gefässveränderungen nicht die Entstchungsursache sind, sondern
erst im weiteren Verlaufe der Ulcuskrankheit als secundäre Schäd¬
lichkeit eine wichtige Rolle spielen. Und dafür geben die Experi¬
mente Pavr's einen werthvollen Beitrag. Wie allbekannt, haben
längerdauernde chronische entzündliche Processe (es sind das nicht
nur die syphilitischen, tuberculösen und anderen infectiösen Gra¬
nulome) häufig Veränderungen an den Gefässen zur Folge, und
dieser Umstand fällt meiner Meinung nach auch beim Ulcus rotun-
dum ins Gewicht. Gerade in diesem Punkte müssten die patho¬
logisch-anatomischen Untersuchungen eine präciserc Eintheilung er¬
fahren, insofern, als man die Geschwüre auf den Zeitpunkt unter¬
suchen muss, wann derartig pathologisch-anatomische Veränderungen
an den Gefässen auftreten. Meiner Ansicht nach bedeutet der
Eintritt dieser Veränderungen in der Pathogenese des Ulcus das
Ereigniss, welches „Progredienz und Tenacität“ des Geschwürs be¬
dingt und es zu einem Leiden macht, das wir nur durch radicale
Behandlung der Heilung zuführen können. Der Eintritt der arterio-
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Experimenteller Beitrag zur Pathogenese des Ulcus rotundum. 485
sklerotischen Veränderung wird aller Wahrscheinlichkeit nach davon
abhängen, ob die primäre schädliche Ursache lange genug besteht,
ob sie auf irgend eine Weise gehoben wird oder nicht. Die pri¬
märe Störung aber hat, das geht aus den vorhandenen Experimenten
zahlreicher Forscher hervor, wahrscheinlich einen ganz verschiedenen
Ursprung.
Von den experimentellen Erklärungsversuchen scheinen beson¬
ders diejenigen erwähnenswerth, welche Störungen weniger im cen¬
tralen, als im peripheren Nervensystem berücksichtigen. Von letz¬
teren Versuchen haben die besten Erfolge Talma und v. Yzcren
erzielt, welche bei Thiercn ein- und doppelseitige Vagotomie aus¬
führten uud in grösserer Zahl Ulcera der IMorusgegend beobach¬
teten, welche über 200 Tage lang bestanden und in einem Fall
sogar eine Ulcusperforation hervorriefen. Die Schlussfolgerungen
Talma’s und v. Yzeren’s fussen auf experimentell begründeten
physiologischen Anschauungen über den Ablauf der Erregung der
Magenmusculatur, welche sich in dem Pylorustheil und dem Magen¬
fundustheil verschieden verhält. Während der Fundustheil im Grossen
und Ganzen nur als Speisereservoir dient und sich hier die Con-
tractionswellen bei der Erregung weniger stark verhalten, hat das
muskelstarke Pylorusantrum die Austreibung der Speisen durch
den Pylorus zu besorgen und es sind in Folge dessen der Tonus
bei Weitem erhöht und die Contractionen intensiver. Der Pylorus-
theil soll dabei vom Fundus fest abgeschlossen sein und in ihm
ein höherer Druck herrschen wie im Fundus.
v. Yzeren hat diese Thatsache von Neuem experimentell be¬
stätigt und es gelang ihm, eine Abhängigkeit der Contractions-
wellen von der Erregung des abdominellen Vagus herzustellen.
Durch Vagusdurchschneidung erzielt er nämlich einen erhöhten
Tonus und krampfhafte Contractionen der Pylorusmusculatur. Da
er zu gleicher Zeit bei diesen Thieren Ulcera selbst noch am
289. Tage im Pylorustheile vorfand, glaubt er den Zusammenhang
so formuliren zu können, dass durch Vagusschädigung Oontrac-
tionen der Pylorusmusculatur entstünden, welche eine Anämie der
Schleimhaut im Gefolge hatten, welche ihrerseits das Ulcus zu Stande
kommen Hessen. Diese Versuche bestätigen die bereits von Talma
geäusserte Ansicht, dass der Pyloruskrampf die Ursache des Ulcus
rotundum sein könne. In diesem Sinne hätten wir zwar keine
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Dr. Fr. Rosenbach und Eschker,
directe, aber eine indirccte Beeinflussung des Gefüsssystenis anzu-
nehraen.
Deila Vcdova konnte die Versuche dieser beiden Autoren
nicht bestätigen, erzeugte vielmehr durch operative Eingriffe am
«Splanchnicus und Ganglion coeliacum solitäre Pylorusgesehwüre,
welche ebenfalls eine längere Zeit (bis zu 60 Tagen) bestanden.
Es ist bei den Manipulationen an diesem Nervengeflecht noch nicht
klar, ob durch sie vasomotorische Störungen oder Secretionsano-
malien hervorgerufen werden, welche dann also als die Entstehungs¬
ursache des lllcus zu deuten wären.
Beide Versuchsreihen sowohl am Vagus, wie am Splanchnicus
und Ganglion coeliacum sind von Donati geprüft, aber nicht mit
Erfolg ausgeführt worden und es verwirft dieser Autor in durchaus
ablehnender Form die Schlusssätze, welche von den genannten
Forschern auf Grund ihrer Experimente aufgestellt worden sind.
Donati hat insofern Recht, Kritik zu üben, als gerade die Ver¬
schiedenheit der Versuchsanordnung nicht zu erklärende Gegen¬
sätze in sich trägt, nicht aber deswegen, weil seine Versuche
negativ ausgefallen sind. Handelt es sich doch bei diesen Ver¬
suchen um eine sehr subtile Versuchstechnik, welche, in Zukunft
noch verfeinert, vielleicht doch positive Ergebnisse haben kann.
Wir haben in letzter Zeit uns speciell den Versuchen von
v. Yzcren von Neuem zugewandt und werden an anderer Stelle
darüber berichten.
Eine andere Frage, der man experimentell noch wenig näher
trat, ist die, ob nicht locale functioneile Störungen an den Ge¬
lassen der Magenwand die Ursache der Ulcusgenese abgeben
können.
Schon Klebs hat auf diese Möglichkeit hingewiesen. Auch
sprechen eine Anzahl klinischer Beobachtungen bei der Gruppe
von chlorotischen ulcuskranken Patienten für eine derartige Ent¬
stehung. Kennen wir doch bei diesen Patienten zahlreiche angio-
spastische Erscheinungen (wie z. B. die plötzlich eintretenden Haut¬
anämien an den Extremitäten, kalte, anämische Finger und Zehen,
ferner die aus Jlirnanämie entstehende Ohnmacht und manche andere
Localanämien), welche die Annahme ohne Weiteres zulassen, dass
auch in abdominellen Organen derartige vorübergehende Anämien
möglich sind.
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Experimenteller Beitrag zur Pathogenese des Ulcus rotundum. 487
Machen aber derartige, durch Gefässkrämpfe bedingte Anämien
wirklich Geschwüre im Magen, die über längere Zeit durch Fort¬
dauer der Schädlichkeit bestehen bleiben, so will es uns durchaus
plausibel erscheinen, dass nun durch erneut hinzutretende mecha¬
nische, thermische und chemische Reize vom Magen aus Weiter¬
veränderungen am Ulcus vor sich gehen, welche nun ihrerseits eine
Heilung des Geschwürs unmöglich machen. Und hier wäre zu¬
nächst an die Arteriosklerose zu denken.
Wir haben uns dieser speciellen Frage bei Entstehung des
Ulcus auf Grund angiospastischer Störungen experimentell zuge¬
wandt, natürlich stets vor Augen habend, dass letztere nicht die
einzige Ursache sein können, dass auch sie eine Hypothese wie
viele andere enthalten, welche jedoch als Stütze manche klinische
Erfahrungstatsache zur Seite hat. Selbstverständlich bringen die Ex¬
perimente auch nicht den allerletzten Grund für die Gefässkrämpfe.
Dazu müssen weitere Experimente angestcllt werden, welche even¬
tuell einen Zusammenhang der vorhin erwähnten peripheren Nerven¬
störungen nachweisen. Vielleicht hängen diese Gefässkrämpfe auch
mit der allgemeinen Anämie und Chlorose zusammen, wofür die¬
jenigen Experimente zu sprechen scheinen, welche durch Blutver¬
luste und Blutveränderungen geschwürige Processe erzielten.
Um nun durch Gefässkrämpfe Ulcera zu erzeugen, haben wir
uns einer einfachen Methode bedient, mit der cs in der That ge¬
lingt, solitäre Ulcera in der Pylorusgegend zu erzielen. Diese
Methode wurde zuerst von Bcneke 1 ) zur Erzeugung der Stigmata
(hämorrhagischen Erosionen) mit Erfolg angewandt, und besteht in
der Injection von der Stammlösung des Suprarenin-Höchst in die
Magenwandung. Wir injicirten die Lösung in die Pylorusgegend,
und zwar in grössere Partien der Magenwand, um eine Hauptforde¬
rung der experimentellen Ulcusforschung zu erfüllen, welche darin
besteht, dass nämlich ein grösseres Gebiet der Magenwand in Mit¬
leidenschaft gezogen werden muss. Vom Adrenalin wissen wir,
dass es eine stark vasoconstrictorischc Eigenschaft besitzt und eine
vollkommene Anämie der injicirten Theile hervorruft. Injectionen
in die Gefässe selbst waren, wie die Protokolle ergeben, deshalb
erfolglos, weil das Adrenalin zu rasch in den allgemeinen Kreislauf
1) Vcrhantll. <ier pathnl. < ipso lisch. 11)10.
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Dr. Fr. Rosenbach und Eschker,
einverleibt wurde. Bei der Beurtheilung unserer Versuche machen
auch wir nicht den Anspruch, vollkommen identische Ulcera pro-
ducirt zu haben, sondern nur Geschwüre, die meist ohne reactive
Veränderungen bis zur Musculatur gehen, doch durch ihre Dauer
dem menschlichen Ulcus als nahestehend zu betrachten sind. Sollte
unsere anfangs geäusserte Meinung die richtige sein, so müsste
fernerhin durch das Experiment bewiesen werden, dass sich in der
That durch weitere Hinausziehung unserer Versuche allmählich
Veränderungen am Geschwürsgrund zeigen, welche im Sinne der
Arteriosklerose zu deuten sind. Von diesen wissen wir durcli
Payr, dass sie zu dem torpiden Ulcus rotundum mit seinen
Complicationen führen. Die Blutung als Complication des
Magengeschwürs konnten wir bei unseren Versuchstieren bereits
mehrfach beobachten. Auch war die Form des Ulcus makro¬
skopisch nach mehreren Wochen eine dem menschlichen Ulcus
ähnliche.
Unsere Technik war einfach folgende: Bei den in Narkose
laparotomirten Hunden wurde der Magen vor die Bauchhöhle vor¬
gezogen und nun mit einer Recordspritze 1—2 ccm und mehr des
Suprarenins in die Musculatur und das subseröse Gewebe des
Magens cingespritzt. Wir wählten meist die Vorderwand des Ma¬
gens nahe am Pylorus. Bei den meisten Versuchen trat sofort
eine Anämie, bei einigen auch eine Contraction der Pvlorusmuscu-
latur auf. Die Thiere wurden einmal, einige zweimal, wenige
sogar dreimal injicirt. Natürlich genügen diese Injectionen eigent¬
lich nicht, da man sich doch vorstellen muss, dass derartige Ge-
fässkrisen bei den chlorotischen Individuen über Monate und Jahre
sich hinziehen. Um so bemerkenswerther sind jedoch die Erfolge,
die wir bereits mit den wenigen Injectionen bei unseren Thicren
erzielen konnten.
Wir lassen in Folgendem in Kürze unsere Protokolle folgen.
Versuche.
Bevor wir jedoch unsere Adrenalinprotokolle mittheilen, möchten
wir der Vollständigkeit halber noch einige Vorversuche hier wieder¬
geben, die bereits von anderen Forschern angestellt worden sind
und sich auf andere Entstehungsmöglichkeiten beziehen. Da die
Resultate dieser Versuche mehr oder weniger negativ ausgefallen
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Experimenteller Beitrag zur Pathogenese des Ulcus rotundum. 489
sind, so haben wir sie kurzer Hand abgebrochen und haben auf
unsere Adrenalinversuche zurückgegriffen.
Zuerst schien uns nämlich die Frage der Infection eine vor¬
wiegende Rolle zu spieleü, da unzweifelhaft eine Anzahl der Ulcus-
fälle einen infectiÖsen Charakter tragen, speciell diejenigen, welche
acut in kürzester Zeit mit Perforation verlaufen. Auch haben sich
mikroskopisch in den chronischen ulccrösen Belägen öfters Processe
infectiÖsen Charakters vorgefunden. In erster Linie würde auf ent¬
stehende Verletzungen der Magenschleimhaut Rücksicht genommen
werden können, die sich leicht durch eingeführte Ingesta inliciren.
Unsere Experimente bestanden darin, dass bei dem Versuchsthier
ein ca. 2 cm grosser Defect in der Magenschleimhaut erzeugt wurde
und dann der Grund des Defectes und seine unterminirten Ränder
mit hochvirulenten von einer Osteomyelitis abstammenden Staphylo-
kokkencultur eingerieben wurde. Zwei Hunde wurden auf diese
Weise operirt und nach 26 bezw. 21 Tagen getödtet. Im ersteren
Falle war keine Spur von Magenschleimhautveränderung noch von
einem Ulcus vorhanden. Es bestand kaum eine Narbe. Der zweite
Hund hatte eine vereiterte Bauchwunde mit circumscripter Peri¬
tonitis an der Leber. Es waren geschwürige Processe vorhanden.
Der Magen war stark anämisch, die Schnittwunde gut verheilt. Ihr
gegenüber lag an der Defectstelle ein noch hanfkorngrosses Ge¬
schwür mit leicht erhabenem Rand.
Da die freie Salzsäure des Magens sicherlich einen desinfiei-
renden Charakter trägt und die in den Magen gelangten Bakterien
in ihrer Virulenz abschwächt oder vielleicht sogar abtödtet, schlossen
wir den beiden ersten Versuchen noch acht andere an, bei denen
wir die Bakterien auf der Blutbahn bis in die Schleimhaut zu
bringen versuchten. Gleichzeitig haben wir das Injectionsmaterial
so gewählt, dass es auch eine Schädigung der Schleimhaut durch
Thrombose hervorrufen kann. Es sollte bei diesen Versuchen die
durch die Ernährungsstörung geschwächte oder der Nekrose ver¬
fallene Schleimhaut sofort inlicirt werden. Auf diese Weise be¬
kamen wir nachgeahmte septische Thrombosen. Die Bakterien
— virulente Staphylokokken — wurden zum Theil in einer körper¬
warmen Paraflinum liquidum-Emulsion oder im Blut von demselben
Thier, das 24 Stunden im Brutofen durch Bakterien inlicirt war,
injicirt. Die Injection geschah theilweise in die Arterien, theil-
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Dr. Fr. Rosenbach und Eschker,
weise in die Venen. Das Resultat dieser Experimente war nicht
zufriedenstellend. Zwei Hunde hatten Magengeschwüre, dem ersten
Hund wurde am 18. 2. 10 eine in Bouillon gezüchtete Staphylo-
kokkencultur mit Paraffinum liquidum in eine Arterie der kleinen
Curvatur des Magens injicirt. Die Injectionswundc zur Vorsicht
iibcrnäht. Der Hund wurde nach 26 Tagen getödtet, und es fanden
sich zwei flache Geschwüre mit deutlicher Demarcationslinie. Der
Geschwürsgrund selbst war mit etwas Schleim bedeckt. Der zweite
Hund wurde zu einem weiteren Versuch verwandt und wird später
erwähnt. Bei den anderen Hunden haben wir keine Veränderung
der Magenwand constatiren können. Es schien uns somit zweifel¬
haft, dass durch derartige septische Embolien und Thrombosen
Ulcera entstehen können. Vielleicht verhinderte, wie gesagt, die
Acidität des Magensaftes, dass die eitererregenden Bakterien ihre
Wirksamkeit entfalten können; nur für wenige Fälle Averden wir
die Infection unter die ätiologischen Momente rechnen dürfen. Auch
glauben wir nicht, dass sie als secundäres Moment, als welches
wir die Arteriosklerose vorhin in Erwähnung gezogen haben, in
Frage kommt.
Um die Wirkung der Localanämie genau zu prüfen, haben
wir uns der Adrenalininjectionen bedient, dessen anämisirende
Wirkung wir aus dem Operationssaal zur Genüge kennen. Um eine
möglichst ausgebreitctc Gefässcontraction zu erreichen, versuchten
wir zunächst, in die Magengefässe, wie schon erwähnt, das Adre¬
nalin zu injiciren. Es trat sofort nach der Injection eine Anämie
der Pyloruspartie auf, doch dauerte diese Anämie nur kurze Zeit.
Nach einigen Minuten hatte der Magen seine frühere Färbung
wieder angenommen und zeigte zeitweilig die von der Localan-
ästhesic ebenfalls her bekannte consecutive Hyperämie. Das Adre¬
nalin wurde zu schnell in den Blutkreislauf aufgenoramen. Die
Resultate waren ebenfalls unbefriedigend. Hund I starb zwei Tage
nach der Operation. Er zeigte nur geringfügige Veränderungen in
der Schleimhaut und einige Stigmata.
Fünf weitere Thiere hatten absolut ein negatives Resultat. Wir
haben deshalb die Versuchsmethode in der Weise geändert, dass
wir auf eine längere Einwirkung des Adrenalins auf die Gefässe
hoffen durften. So injieirten wir ringförmig um den Pylorus herum
direct in die Magenwand subserös und intramusculär. Schon der
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Experimenteller Beitrag zur Pathogenese des Ulcus rotundum. 491
äussere Erfolg war zufriedenstellender. Die injicirte Partie wurde
ganz anämisch weiss; nach einigen Minuten nahm das anämische
Gebiet einen bläulichen bis dunkelblauen Ton an, sodass man auf
diffuse Blutungen der Schleimhautgefässe schliessen konnte. Eine
Annahme dieser starken Schädigung musste unbedingt ein Zerfall
der empfindlichen Magenschleimhaut folgen und unsere Resultate
haben durchweg die Richtigkeit dieser Annahme bewiesen. Die
meisten unserer Versuchstiere wurden zweimal relaparotomirt und
in dieser Weise behandelt.
Hund I. Männlich, 4 1 / 2 kg. Freilegung des Magens, ln 2 Gefässe der
Pylorusgegend 2 ccm Adrenalin injicirt. Der Magen anämisch, nach kurzer Be¬
obachtung hyperämisch. Nach 2 Tagen Exitus, in der Schleimhaut kleine
Hämorrhagien und vereinzelte hirsekorngrosse Ulcera.
Hund II. Männlich, 10 kg. Op. 4. 5. 5—6 cm vom Pylorus entfernt
Injection von 2 ccm Adrenalin. Am 23. 5. Relap. In der Schleimhaut keine
Veränderung. 2 ccm Adrenalin in die Schleimhaut injicirt. 2. 6. getödtet.
Magenwunde glatt geheilt. 2—3 cm vom Pylorus entfernt an der vorderen
Magenwand ein ca. einmarkstückgrosser Schleimhautdefect mit radiären Aus¬
strahlungen. In der Mitte dieses Defectes zwei linsengrosse bis in die Muscu-
laris reichende, mit scharfen, steil abfallenden Rändern versehene Ulcera. Das
eine mit eitrigem Grund, ihm entsprechend sieht man an der äusseren Magen¬
wand eine röthliche fibröse Auflagerung. Das zweite Ulcus ist weniger ausge¬
prägt und reicht nur bis an die Muscularis heran.
Hund III. Während der Operation gestorben, sehr wahrscheinlich an der
Adrenalinwirkung, da das Herz bis zum Maximum contrahirt war.
Hund IV. 7 l / 2 kg. Op. 11. 5. 2 ccm Adrenalin in eine Vene in der
Pylorusgegend. Der Hund wird am 14. und 18. 5. mit Tart. stib. gefüttert.
Am 1. 6. mit Apomorphin injicirt. Nur nach letzterem starkes Erbrechen.
2. 6. Relap. Da keine Veränderung, wird in die Magenwand etwa 2 ccm vom
Pylorus entfernt, 2,5 ccm Adrenalin injicirt. Am 8. 6. getödtet. Auf der
Schleimhaut über die ganze Ausdehnung zahllose hirsekorngrosse nur ober-
llächlicbe Geschwüre, keine tiefergehenden Ulcerationen.
Hund V. Nicht gewogen. Op. 12. 5. Injection von 2 ccm Adrenalin
in eine Arterie. Durch Unvorsichtigkeit wird ein Theil in die Magenwand
injicirt. Dio Magenwand wird zur Vertheilung des Adrenalins etwas massirt.
Auch dieser Hund bekam am l. 6. Apomorphin, wonach starkes Erbrechen
auftrat. 13. 6. Relap. 2 ccm Adrenalin in die Magenwand. Am 29. 6. getödtet.
5—6 cm vom Pylorus entfernt eine hämorrhagische mit etwas fibrösen Auf¬
lagerungen versehene Stelle. In der Schleimhaut 2 bohnengrosse Geschwüre
mit scharfen Rändern und strahligen narbigen Einziehungen. Der Rand der
Geschwüre ist etwas dunkelroth gefärbt. Daneben punktförmige Blutungen.
Hund VI. 8 kg. Op. 13. 5. Injection von 2 ccm Adrenalin in eine
Magenvene. Die Magenwand wird mit den Fingern gequetscht. Getödtet am
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492 ‘
Dr. Fr. Rosenbach und Eschker,
19. 5. ln der Schleimhaut eine Anzahl diffuser Blutungen und ein etwa erbsen¬
grosser, ziemlich scharfrandiger, aber seichter Defect in der Schleimhaut, ohne
tiefergehende Processe in der Muscularis.
Hund VII. 10y 2 kg. Op. 19. 5. Injection von 2 ccm Adrenalin in die
Magenwand. Es tritt zunächst eine ganz weisse Färbung der Pylorusgegend
auf, die langsam in dunkelblaue, beinahe schwarze Färbung übergeht. Die
Pulsation der kleinen Gefässe, welche deutlich zuerst hervortrat, hört voll¬
kommen auf. 26. 5. getödtet. In der Mähe des Pylorus an der vorderen Magen¬
wand 2 Geschwüre, von denen das dem Pylorus nähere grösser ist (18 mm zu
7 mm). Es hat scharfe Ränder und reicht bis in die Musoularis hinein. Der
Boden ist mit feinen Granulationen bedeckt. Die Ränder des zweiten Ge¬
schwüres sind nicht so steil wie die des ersten (22 : 10 mm). Der Geschwürs¬
grund zeigt keine Granulation. Die Umgebung der Geschwüre ist leicht blass-
roth. Vereinzelte kleine Schleimhautblutungen.
Hund VIII. 15y 2 kg. Op. 26. 5. Injection von ca. 4 ccm Adrenalin.
Dieser Hund bekommt am 1. 6. Apomorphin, wonaoh starkes Erbrechen auftritt.
Relap. 6. 6. Der Magen von aussen unverändert. Man fühlt und sieht an der
vorderen Magenwand ein varicenförmig ausgebuchtetes Gelass. Dieser Ver¬
änderung entsprechend zeigt sich in der Magenschleimhaut ein 10Pfennigstück¬
grosses Geschwür mit einem der kleinen Gurvatur zu schief abfallenden Rande.
Am Rande des Geschwürs kleine Blutungen.
Hund IX. Op. 30. 5. Injection von ca. 3 ccm Adrenalin. Der Hund be¬
kommt im Laufe der nächsten Tage Apomorphin. Am 14. 6. nochmalige In¬
jection nach voraufgegangener Laparotomie. Am 15.6. Exitus. An der äusseren
Magenwand eine starke subseröse Blutung. Man fühlt, wie auch in den anderen
Fällen in der Magenwand eine Verdickung mit einer deutlichen Delle, ln der
Schleimhaut findet sich ein Geschwür mit stark geröthetem Grund. Der ge-
schwürige Process reicht bis in die Muscularis. Die Blutdurchtränkung reicht
durch die Magenwand bis zur Serosa.
Hund X. 10 kg. Op. 31. 5. Injection von 2,5 ccm Adrenalin. Am 7. 6.
Apomorphin. Am 16. 6. Relap. Injection derselben Menge Adrenalin. Am
20. 6. Exitus. iy 2 cm vom Pylorus entfernt eine starke narbige Einziehung
der Schleimhaut ohne Geschwür. 4 cm vom Pylorus kleine bis zu Bohnen¬
grösse fiaohe Erosionen.
Hund XI. 11 kg. Op. 31. 5. 2,5 ccm Adrenalin injicirt. Am 7. 6. Apo¬
morphin, Erbrechen. 16. 6. Relap. 2,5 ccm Adrenalin injicirt. Am 5. 7. ge¬
tödtet. 5 cm vom Pylorus ein 3 mm breites und 8 mm langes steilrandiges, bis
auf die Muscularis reichendes Geschwür. Der Rand ist nach dem Pylorus steil
wie nach dem Fundus. Wie in den folgenden Fällen, keine weiteren entzünd¬
lichen Erscheinungen. Mehrere kleine Erosionen.
Hund XII. 8y 2 kg. Op. 7.6. 2,5 ccm Adrenalin ringförmig in die
Pylorusgegend injicirt. Am 18. 6. neue Injection. Am 20. 6. Exitus. An der
Innenfläche 2 Querfinger breit vom Pylorus ein 5 Pfennigstück grosses Geschwür
mit steilem Rande nach dem Pylorus hin. Die Umgebung des Geschwürs
blutig durchtränkt.
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Experimenteller Beitrag zur Pathogenese des Ulcus rotundum. 493
Hund XIII. 10 kg. Op. 12. 8. 2 ccm Adrenalin in die Pylorusgegend
injicirt. 20. 9. Relap. Man fühlt durch die innere Magenwand ein deut¬
liches Geschwür. Um disse Stelle werden von Neuem 2,5 ccm Adrenalin in¬
jicirt. Am 14. 10. getödtet. An der Innenfläche der Schleimhaut etwa 1 Finger
breit vom Pylorus ein über linsengrosses Geschwür mit nach dem Pylorus zu
ausstrahlender narbiger Veränderung. Der Rand des Geschwüres ist nach dem
Fundus hin steil abfallend. Die Schleimhaut etwas unterminirt. Vom Pylorus
her fällt der Rand des Geschwürs stiegenförmig ab. Das Geschwür reicht bis
in die Muscularis. Der Grund ist etwa schrotkorngross, mit röthlichen Granu¬
lationen bedeckt. Keine entzündlichen Erscheinungen am Ulcus. Etwas weiter
dem Fundus zu eine vernarbte Stelle.
Hund XIV. 5Y2 kg- Op. 17.8. Injeotion wie beim vorigen Hund. Relap.
am 6. 9. Das Geschwür ist durch die Magenwand zu palpiren. Injection von
2 ccm Adrenalin an dieselbe Stelle. Am 8. 9. blutiger Stuhl. Am 8. 10. ge¬
tödtet. An der Aussenwand des Magens fibröse röthlicbe Auflagerung. Dieser
Stelle entsprechend in der Magenschleimhaut ein Geschwür mit treppenförmig
abfallenden Rändern. Der Grund des Geschwürs mit gelblichem Belag. In der
Mitte eine blutige Stelle.
Hund XV. 5 kg. Op. 17. 8. Injection wie vorher. 8. 10. Relap. Auch
hier ein Geschwür durch die Magenwand zu fühlen. Injection von 2 ccm Adre¬
nalin. Am 13. 10. Exitus. Das Thier hat nach dem Tode zu lange im Stall
gelegen, so dass eine genaue Beschreibung der Veränderung nicht möglich ist.
Hund XVI. 5 kg. Op. 17. 8. Der gleiche Eingriff wie vorher. Am 8. 9.
Relap. An der durchzufühlenden Geschwürsstelle Injection von 2 ccm Adre¬
nalin. Am 13. 9. Exitus. 2 Finger breit vom Pylorus 3 Geschwüre. Das erste
hirsekorngross mit strahligen, narbigen Einziehungen. Der Geschwürsgrund
gelblich, das zweite Geschwür ist tiefer, mehr lochförmig, bis in die Muscularis
reichend. Das dritte ist bohnengross, scharfrandig. Der Grund ist mit
schmierigem Belag bedeckt. An der Aussenwand keine Veränderungen.
Hund XVII. 10 kg. Op. 17. 8. Derselbe Eingriff. Am 15. 9. Relap.
Exitus am selben Tag durch Magenblutung. An der Aussenwand des Magens
hämorrhagische Stellen, an der Innenfläche 2 cm vom Pylorus entfernt ein
ca. 3 cm breites und 4,5 cm langes Geschwür. Nach dem Pylorus zu geht die
Geschwürsfläcbe allmählich in die Schleimhaut über. An der hinteren Magen¬
wand ein tieferes erbsengrosses Geschwür, dem eine hämorrhagische Stelle an
der Aussenwand entspricht.
An diese Versuchsserie soll noch das Protokoll eines Versuchs-
thieres angeschlossen werden, welches am 25. 2. zum ersten Mal
operirt wurde (Staphylokokkeninjection), aber wegen der negativen
Resultate, welche die erste Operationsserie an anderen Thieren
ergab, nachher noch mit Adrenalin behandelt wurde:
Hund. 12 kg. Op. 25. 11. Injection von Blut, welches der Vena
femoralis desselben Thieres entnommen und mit einer Bouillon von Staphylo-
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494
Dr. Fr. Kosenbach und Eschker,
kokkencultur gemischt war. Die Injection wurde in eine Arterie der kleinen
Curvatur gomacht. Am 6. 6. Injection von 2,5 ccm Adrenalin in die Pylorus-
gegend. Am 8. 6. Exitus. An der äusseren Magenwand in der Nähe des
Pylorus eine längliche livide Färbung mit etwa hirsekorngrossen gelblichen
Flecken. An der Innenwand findet sich eine 2 cm breite und 5 cm lange Ge¬
schwürsfläche, welche theilweise nekrotische Schleimhaut zeigt, an anderen
Stellen aber aus älteren geschwürigen Processen zu bestehen scheint. An letz¬
terer Stelle sind die Ränder schärfer abfallend, ln der Umgebung zahlreiche
kleine Blutungen.
Wie die aufgetührten Protokolle der Versuchsthiere zeigen,
haben alle mit Adrenalin behandelten Thiere ein positives Resultat
ergeben, und es liegt der Schluss nahe, dass die entstandenen ge¬
schwürigen Processe zweifellos die Folge der durch das Adrenalin
erzeugten Anämie sind. Mit wenigen Ausnahmen entstanden durch
die diffuse Adrenalindurchtränkung der Magenwand solitäre Ulcera.
Wir beobachten, dass nach Adrenalininjection zunächst flächen- und
punktförmige Blutungen der Schleimhaut entstellen, wie dies bereits
von Beneke beschrieben worden ist. Eine weitere Folge der
Adrenalinwirkung ist die Nekrose der Schleimhaut, aus welcher
nach Abstossung derselben das Geschwür entsteht. Auch bei unseren
Geschwüren sehen wir die Tendenz zur Regeneration der Schleim¬
haut. Thiere, welche kurz nach dem Eingriff getödtet wurden,
zeigten meist einen grösseren Schleimhautdefeet wie diejenigen,
welche nach Wochen starben. Eine erneut ausgeführte Injection
des Adrenalins verhinderte eine Verheilung des Geschwürs, und es
scheint, dass gerade nach erneuter Injection die Heilungstendenz
erheblich abnimmt, so dass wir zu der Annahme berechtigt sind,
dass durch zahlreichere Injectionen, wie wir sie aus begreif¬
lichen Gründen am Versuchsthier nicht ausführen können, schliess¬
lich das ßestehenbleiben des Geschwürs garantirt wird. Es bleibt
noch zu erwähnen, was in den Protokollen nicht geschehen ist,
dass mehrere von den Thieren Wochen nach der Injection Blut er¬
brochen haben, und zwar nicht im Zusammenhang mit dem Er¬
brechen, welches nach Apomorphin auftrat.
Weniger charakteristisch wie das makroskopische Verhalten
sind die mikroskopischen Befunde. Fast alle Geschwüre gingen
bis auf die Muscularis und reichten nur in den wenigsten Fällen
in die Muscularis hinein. Der Geschwürsgrund zeigte eine feine
Granulationsfläche. An tiefer gelegenen Partien des Geschwürs-
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Experimenteller Beitrag zur Pathogenese des Ulcus rotundum. 495
grundes sahen wir nun Zellwuoherungen an den Gefässen, die uns
auf die Eingangs ausgesprochene Hypothese brachten, dass in der
That allmählich auftretende obliterirende Veränderungen als secun-
däres Moment den Eebergang des Geschwüres zur Chronicität her¬
beiführen. Der Umstand, dass derartige Veränderungen beim Thier
schwerer entstehen und nur auf complicirtere Eingriffe, wie Payr
es uns gezeigt hat, zu erreichen sind, erklärt unsere wenig charak¬
teristischen mikroskopischen Befunde.
Literatur.
Die ausführliche Literatur findet sich in:
1. Lieblein u. Hilgenreiner, Deutsche Chirurgie. 1905.
2. Payr, Dieses Archiv. 1910. Bd. 93. 11. 2.
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XVI.
(Aus der Chirurg. Universitätsklinik zu Strassburg i. E. —
Director: Prof. Dr. Madelung.)
Experimentelle Untersuchungen über
Tetanie.
Von
Privatdocent Dr. Guleke,
Oberarzt der Klinik.
Die Ursachen und das Wesen der Tetanie waren bis in die
neueste Zeit in ein geheimnissvolles Dunkel gehüllt. Selbst für die
wohl am häufigsten beobachtete und ihrer Entstehung nach durch¬
sichtigste Form der Tetanie, für die postoperative, im Anschluss
an ausgedehnte Strumektomien auftretende Tetanie fand sich keine
rechte Erklärung. Denn die Annahme, dass die Strumektomie als
solche, vielleicht unter veränderten Nebenbedingungen, die Tetanie
hervorrufe, konnte nicht befriedigen, da man nach demselben Ein¬
griff auch das chronische Myxödem, die C'achexia struraipriva auf-
treten sah, also ein und derselben Ursache zwei grundverschiedene
Folgezustände, im einen Fall eine ganz acut verlaufende, zum Tode
führende Erkrankung, im anderen Fall ein chronisches, über Jahre
sich erstreckendes Siechthum, zur Last legen musste. Die Ent¬
deckung der Epithelkörperchen durch Sandström im Jahre 1880
blieb unbeachtet, und auch die 12 Jahre später erschienene Arbeit
von Gley führte noch zu keinen Consequenzen. Erst die exacten
anatomischen Untersuchungen von A. Kohn und die experimentelle
Arbeit von Vassale und Generali führten den Umschwung in der
Auffassung der Function und Bedeutung der Epithelkörperchen bei
den verschiedenen Thierarten herbei. Es folgten schnell die grund-
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
497
legenden Arbeiten von Gley, Moussu, ßiedl. Jeandelize, Wal¬
baum, Pineies, Erdheim, Pfeiffer u. Mayer, Hagenbach,
llaberfeld u. Schilder, die zur Folge hatten, dass man heute
allgemein die postoperative Tetanie scharf von der Cachcxia strumi-
priva und dem Myxödem trennt: während die erste eine Folge der
Exstirpation der Epithelkörperchen — und nur dieser — ist, sind
die Cachexia strumipriva und das Myxödem als Folgen des Schild¬
drüsenausfalles aufzufassen. Die in den verschiedensten Combina-
tionen an Thieren der verschiedensten Arten angestellten Versuche
ergaben übereinstimmend, dass bei Entfernung aller (4) Epithel¬
körperchen regelmässig — sofern nicht etwa ein acccssorisches
Epithelkörperchen vorhanden war — tödtliche Tetanie auftritt. Ent¬
fernt man nur 2—3 Epithelkörperchen, so bleiben die Thiere meist
am Leben, doch kommt es bei ihnen zu einer vorübergehenden
Tetanie und später gelegentlich, so während Graviditäten, zu teta-
nischen Zuständen. Diese Thiere befinden sich also im Zustand
einer latenten Tetanie. Den Verlust der Hälfte ihrer Epithel¬
körperchen pflegen die Thiere ohne Schädigung zu überstehen. Aller¬
dings scheinen die „äusseren“ Epithelkörperchen, ihrer von der
Schilddrüse mehr oder weniger gesonderten anatomischen Lage ent¬
sprechend, eine physiologisch höhere Werthigkcit zu besitzen, als
die in die Schilddrüse eingebetteten „inneren“ Parathyreoideae. Nach
Kortnahme eines Theiles der Epithelkörpersubstanz hypertrophiren
die zurückbleibenden Theile, wie Haberfeld u. Schilder, ßiedl
u. A. nachweisen konnten.
Dass auch bei der postoperativen Tetanie des Menschen die¬
selben Verhältnisse vorlicgen, hat zuerst Erdheim exact nachge¬
wiesen, nachdem schon Pineies durch eingehende Literaturstudien
gefunden hatte, dass bei partieller Strumektomic am häufigsten
dann Tetanie aufgetreten war, wenn die unteren Theile der Seiten¬
lappen, an denen gerade die Epithelkörperchen sitzen, exstirpirt
worden waren. Erdheim konnte durch Serienschnitte von den
Halsorganen dreier an Tetanie nach Kropfexstirpation Verstorbener
zeigen, dass bei ihnen in der That die Epithelkörperchen fehlten
(nur in einem Fall fand sich ein winziges accessorisches Epithel¬
körperchen in der Thymus, während die 4 grossen neben der
Thyreoidea exstirpirt waren).
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft
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498
Dr. Guleke.
Es fehlte nicht an Einwänden und gegenteiligen Ansichten,
die so unscheinbaren Gebilden keine so wichtige Rolle im Haus¬
halt des Organismus zuerkennen wollten. Wenn auch die Einwände
Caro's, die sich auf ganz ungenügende Untersuchungen stützten,
nicht ernst genommen zu werden brauchten, so traten doch nam¬
hafte Autoren, wie Blum und Lanz, und vor allem v. Eisels-
berg zunächst gegen die neue Lehre auf. Es darf auch nicht ver¬
schwiegen werden, dass heute noch einige Thatsachen sich nicht
völlig mit der parathyreopriven Natur der Tetanie in Einklang
bringen lassen, so vor allem die Erfolge bei der Tetanie mit Schild-
drüsenraedication. die nach Biedl regelmässig Besserung herbeige¬
führt haben soll. Trotzdem ist die Fülle des vorliegenden Mate¬
rials eine so erdrückende, dass an der Richtigkeit der Annahme,
die postoperative Tetanie sei parathvreopriver Natur, nicht mehr
gczweifelt werden kann. Eigene, in folgendem anzuführende Ver¬
suche bestärken mich in dieser Ansicht.
Es lag nahe, auf Grund dieser Erkenntniss einen Schritt weiter
zu gehen und den Versuch zu machen, ausser der postoperativen
Form der Tetanie, für die der Zusammenhang als erwiesen ange¬
sehen werden kann, auch die übrigen Formen der Tetanie mit den
Epithelkörperchen m Zusammenhang zu bringen. So traten Erd-
heim u. Mac Callum dafür ein, dass alle Arten von Tetanie
einheitlicher Natur seien, Fineles u. Chvostek sprachen sielt
dafür aus, dass die Tetanie Magen-Darmkranker parathyreogener
Art sei. Bezüglich der Kindertetanic wurde von verschiedenen
Autoren auf das Auftreten von Blutungen in den Epithelkörperchen
hingewiesen. Yassalc behandelte, von demselben Gesichtspunkt
aus, einen Fall von Kindertetanie und 3 Fälle von Eklampsie mit
Parathyreoidin, dem activen Princip aus Rinder-Nebenschilddrüsen.
Er erzielte damit, nach seiner Angabe, „überraschend“ gute Wir¬
kungen. So aussichtsvoll nun auch der Versuch, die Tetanie ein¬
heitlich aufzufassen, erscheint, muss doch zugegeben werden, dass
bis jetzt noch kein Beweis dafür erbracht ist, und dass derselbe
wahrscheinlich auch nicht leicht bei der Verschiedenartigkeit der
Entstehung der einzelnen Formen zu erbringen sein wird. Als
Grundbedingung dazu wird man verlangen müssen, dass über
das eigentliche Wesen der Tetanie genauere Kenntnisse gewonnen
werden.
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
499
Zur Zeit gehen die Anschauungen darüber, wie die inneren
Vorgänge, die zur Tetanie führen, aufzufassen sind, noch weit aus¬
einander. Während die Tetanie auf der einen Seite als reine Aus¬
fallserscheinung der Epithelkörperfunction aufgefasst wird, wird sie
auf der anderen Seite auf eine Vergiftung durch ein specifisches Gift,
das nach Entfernung der Epithelkörperchen im Körper entsteht, zu¬
rückgeführt. Schon Vassale u. Generali hatten die Theorie auf¬
gestellt, dass die Epithelkörperchen giftige, von der Schilddrüse pro-
ducirte Stoffe unschädlich zu machen hätten, und dass die Tetanie
eine Folge des Ausfalles dieser Entgiftung sei. Ihre Annahme,
dass das dabei auftretende Gift aus der Schilddrüse stamme, wurde
bald als unrichtig verworfen. Pfeiffer u. Mayer nahmen ein
specifisches „Tetaniegift u unbekannter Herkunft an, das nach Fort¬
fall der Epithelkörperchen im Körper auftrete. Sie konnten mit
Colzi (1884), Fano und Zande, Gley und JBiedl nachweisen,
dass die Injection von Serum tetanischer Thiere bei anderen Thieren,
die noch im Latenzstadium der Tetanie sich befanden, den Aus¬
bruch tetanischer Krämpfe herbeiführt. Unter 17 von tetanischen
Hunden gewonnenen Seris erwiesen sich 6 als toxisch, d. h. Tetanie
erregend, bei Mäusen, die eine Schädigung ihrer Epithelkörperchen
erfahren hatten. Diese Versuche wurden indessen von Biedl auf
ihre Beweiskraft für ein specifisches Tetaniegift hin angegriffen,
da es bekannt sei, dass nach partieller Parathyreoidektomie die
verschiedensten Noxen einen tetanischen Anfall auslösen könnten.
Viel beweisender für die Annahme eines im Blute kreisenden Giftes
sei die vielfach von Biedl geprüfte Besserung der Tetanie nach
ausgiebiger Blutentziehung, die dafür spräche, dass durch letztere
in der That der Körper von einem im Blut kreisenden Gifte be¬
freit werde. Die interessanten Versuche von Cecci und Berta,
specifische Antikörper gegen das Tetaniegift zu gewinnen und
therapeutisch zu verwenden, führte nach ihrer Angabe bei teta¬
nischen Hunden zu schnell und energisch einsetzenden Erfolgen,
doch wurde der Gesammtverlauf der Erkrankung nicht beeinflusst.
Neuerdings haben Berkeley und Beebe die Annahme von dem
itn Körper nach Epithelkörperchenausfall sich bildenden Gift wieder
zu stützen gesucht und durch Injection eines Parathyreoidpräparates
in einem Fall von Halstead und Putmann sofortiges Aufhören
der Tetanie erzielt. Die durch Ott erforschte physiologische Wirkung
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500
Dr. Guleke,
dieses Präparates besteht in Blutdrucksenkung, Temperaturerniedri¬
gung, Beschleunigung der Respiration und Vermehrung der Diurese.
In bestimmterer Weise hat sich in letzter Zeit mehrfach Mac
Ca 11 um dahin ausgesprochen, dass die Epithelkörperchen die Auf¬
gabe haben, den Calciumstoffwechsel zu überwachen und zu rcgu-
liren, und dass nach ihrem Fortfall eine vermehrte Ausscheidung
mit ungenügender Resorption von Calcium auftrete, wofür auch
Erdheim’s Befunde an den Nagezähnen von parathyreoidektomirter»
Ratten sprechen. Für die Richtigkeit dieser Annahme sind die Er¬
folge heranzuziehen, die man mehrfach bei manifester Tetanie auch
beim Menschen mit Calciumfütterung gemacht hat. Ob aber das
Wesen der Tetanie wirklich nur in einer Störung des Calciumstoff¬
wechsels besteht, muss mit Bicdl bezweifelt werden, da möglicher
Weise die krarapfhemmende Wirkung des Calciums bei der Tetanie
nur ein Analogon zu der auch sonst durch dasselbe bei jeder Form
von Muskelzuckung bewirkten Hemmung ist. Da also auch die
bisherigen therapeutischen Maassnahmen und Erfolge keinen sicheren
Rückschluss auf die bei der Tetanie sich abspielenden feineren Vor¬
gänge erlauben, so muss das eigentliche Wesen dieser Krankheit
vorläulig als noch ungeklärt bezeichnet werden.
Es schien mir von Interesse, den Versuch zu machen, diese
Frage durch Prüfung der Beziehungen der Epithelkörperchen zu
anderen Organen mit innerer Secretion der Aufklärung etwas näher
zu bringen. Die Anregung dazu gab mir die vor einem halben
Jahr erschienene Arbeit von Kostlivy „Ueber chronische Thyreo-
toxikosen“, in der der Verfasser Beziehungen zwischen Thyreoidea
und Nebennieren an Struma- und Basedow-Patienten nachweisen
konnte und zu dem Schluss gelangt, dass bei schweren Basedow-
Fällen die Coordination zwischen dem antagonostisch wirkenden
Vagus- und sympathischen System, als deren Indicator er die be¬
stehende Lymphocytose resp. die Adrenalinämie ansieht, gestört ist.
Wenn auch die praktischen Consequenzen, die Verf. zieht, noch
weiter gestützt werden müssen, ehe sie entscheidend auf das
Handeln des Chirurgen einwirken könpen, so bringt doch die Arbeit
interessante Gesichtspunkte für die Bedeutung und Gruppirung ver¬
schiedener Theilerscheinungcn der genannten Krankheitsbilder.
Auf Grund der Thatsache, dass zwischen Thyreoidea und
chromaffinem System nahe Beziehungen bestehen — auf weitere
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
501
diesbezügliche Arbeiten komme ich weiter unten zurück — glaubte
ich zur Klärung der Tetaniefrage die Beziehungen
zwischen Epithelkörperchen und Nebennieren unter¬
suchen zu sollen. Die Fragestellnng war eine zunächst recht
einfache. Es galt, das klassische Bild der postoperativen Tetanie
— nur auf diese beziehen sich vorläufig meine Versuche — zu
erzeugen und dann zu prüfen, ob durch Entfernung der Neben¬
nieren oder sonstige Eingriffe, die die Function der Nebennieren
und damit den durch sie regulirten Tonus des Sympathicus ver¬
änderten, das Krankheitsbild der Tetanie sich beeinflussen lasse.
So einfach diese Frage auch klingt, so mancherlei Schwierig¬
keiten stellen sich ihrer Beantwortung und der Bewerthung der
gewonnenen Resultate in den Weg. Schon die regelmässige Er¬
zeugung der Tetanie ist keineswegs ohne Weiteres sicher zu er¬
reichen. Das beweisen die vielfach sich widersprechenden Re¬
sultate früherer Experimentatoren, durch die die parathyreogene
Genese der Tetanie immer wieder in Frage gestellt wurde und die,
wie wir heute wissen, doch nur auf eine ungenügende, weil nicht
totale Entfernung der Epithelkörperchen zurückzuführen waren. Es
hat sich auch mir wiederholt gezeigt, dass das Aufsuchen und iso-
lirte Herauspräpariren der Epithelkörperchen während der Operation,
also die makroskopische Identification dieser Drüschen bei Hunden
und Katzen immer wieder zu Trugschlüssen führt, dass Verwechs¬
lungen mit accessorischen Schilddrüsen, isolirten Schilddrüsen¬
läppchen, selbst mit kleinen Lymphdrüsen makroskopisch gar
nicht zu vermeiden sind, und dass nur die mikroskopische
Untersuchung sicheren Aufschluss geben kann. So bin ich, da es
mir vor Allem darauf ankam, das Bild der classischen Tetanie zu
erzeugen, und da dasselbe nach den bisher vorliegenden Arbeiten
im Allgemeinen in gleicher Weise verläuft, ob die Parathyreoideae
allein oder zusammen mit der Schilddrüse entfernt werden, ganz
davon abgekommen, die Epithelkörperchen während der Operation
aufzusuchen. Sie sind bei Hunden und Katzen, die ich zu meinen
Versuchen benutzte, so gelagert, dass man mit Sicherheit darauf
rechnen kann, sie mitzuentfernen, wenn man die Schilddrüse mit-
sammt dem sie umgebenden Bindegewebslager von den Muskeln,
von den grossen Halsgefässen und dem N. recurrens im Zusammen¬
hang abpräparirt und den Gefässstiel am oberen Schilddrüsenpol
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502
Dr. Guleke,
möglichst weit von der Drüse entfernt mitsammt dem hier lie¬
genden Fettgewebe durchtrennt. Auf diese Weise habe ich ganz
regelmässig auch die manchmal ganz isolirt vom oberen Schild-
drüsenpol liegenden äusseren Epithelkörperchen mitentfernen können.
Bezüglich der genaueren anatomischen Daten bei Hunden und
Katzen sei auf die vorzüglichen Arbeiten von A. Kohn, Pineies,
Ilagenbach, Pfeiffer und Mayer hingewiesen. Uebereinstimmend
wird hervorgehoben, dass die Lage der Epithelkörperchen bei den
Katzen eine besonders typische sei und daher die Tetanie bei ihnen
besonders regelmässig auftrete. Aus diesem Grunde verwendete
ich anfangs zu meinen Versuchen auch Katzen, bin aber dann
wieder davon abgekommen, da der Verlauf der Tetanie bei Katzen
ein relativ chronischer ist, was bei der kurzen Lebensdauer nach
erfolgter Nebennierenexstirpation bei meiner Versuchsanordnung die
Beurtheilung der Resultate stört. Ausserdem gelang bei der an¬
gegebenen Technik die Erzeugung der Tetanie bei Hunden gerade
so regelmässig wie bei Katzen.
Das durch die totale Parathyreoidektomie erzeugte Krank¬
heitsbild der acuten Tetanie bei Hunden gestaltet sich nach
den Erfahrungen anderer Autoren und nach meinen eigenen Unter¬
suchungen folgendermaasscn: Nach einem Latenzstadium von etwa
40 Stunden nach der Epithelkörperchenexstirpation, während dessen
die Thiere ganz munter sind und gut fressen, kommt cs zum Aus¬
bruch des tetanischen Anfalles, nachdem 1—3 Stunden vorher
schon Vorboten — Unlust zum Fressen, Unruhe, Niedergeschlagen¬
heit, ab und zu auftretende blitzartige Contractionen in einzelnen
Muskelbündeln und eine auffallende Steifheit anfangs meist nur in
den Hinterbeinen, später auch in den Vorderbeinen — vorangehen.
Der tetanische Anfall beginnt mit ausgesprochener motorischer
Unruhe der Thiere. Winselnd laufen sie ziellos im Zimmer umher,
klettern auf Tische und Schränke und sind nicht zu beruhigen.
Neben schnell sich über den ganzen Körper ausbreitenden fibril¬
lären Muskelzuckungeu treten unter Steigerung der Spasmen in den
Extremitäten schwere clonische Krämpfe auf, die das Thier dauernd
in Bewegung halten. Anfangs ist es noch soweit Herr seiner
Glieder, dass es noch ein paar Schritte schwankend und durch die
krampfhaften Zuckungen hin und her geschleudert gehen kann, in
späteren Stadien ist es nicht mehr im Stande, sich zu erheben, es
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
503
liegt mit starr extendirten, weit gespreizten Beinen platt auf dem
Boden, fällt nachher auf die Seite und bleibt dann oft bis zum
Nachlassen des Anfalls auf der Seite liegen, während ständige
elonische Krämpfe die tonisch starren Extremitäten erschüttern
und oft wie Trommelschlägel hin und her werfen. Manchmal be¬
fallen die Krämpfe die Kau- und Schlingmusculatur zuerst. Für
gewöhnlich greifen sie erst in späteren Stadien des Anfalles auf
diese und die Nacken- und Halsrausculatur über, und während das
Thier in äusserster opisthotonischcr Stellung gehalten wird, tritt
durch Mitbetheiligung der Athemmusculatur und des Zwerchfelles
an den Krämpfen der Tod durch Athemstillstand ein. Eine regel¬
mässige, während der ganzen Dauer der Anfälle bestehende weitere
Erscheinung ist die colossal beschleunigte keuchende Athmung,
während die in den ersten Stadien des Anfalles hochgradig ge¬
steigerte Speichelsecretion allmählich versiegt. Das Bewusstsein
der Thiere ist allem Anschein nach während der ganzen Zeit nicht
gestört. Vielfach, besonders bei sehr lebhaften, aufgeregten Hunden,
tritt der Exitus schon während des ersten Anfalles ein, doch über¬
stehen andere den ersten Anfall, um einem späteren, nach ver¬
schieden langer Zeit, aber nach meinen Erfahrungen gewöhnlich
vor Ablauf von 24 Stunden sich wiederholenden Anfall zu erliegen.
Nach Pfeiffer u. Mayer tritt der Exitus meist 8—14 Stunden
nach dem ersten Anfall ein. Nach Ablauf eines Anfalles befinden
sich die Thiere im Zustand hochgradigster Mattigkeit und Apathie.
Sie reagiren auf nichts, verharren Stunden lang in den unbequemsten
Stellungen, in die sic während des Anfalles gerathen waren, und
wenn man sie passiv auf die Beine stellt, so zeigen sie hoch¬
gradige Schwäche- und Lähmungszustände, besonders in den hin¬
teren Extremitäten, und eine wohl meist nur dadurch bedingte
Ataxie. Ferner lassen sich an ihnen oft in ihrer Intensität schwan¬
kende Spasmen nachweisen, wie auch fibrilläre Muskelcontractionen
abwechselnd an verschiedenen Stellen des Körpers auftreten. Die
Athmung dagegen beruhigt sich nach Ablauf des acuten Anfalles
völlig und wird erst wieder beim Auftreten des nächsten Anfalles
schneller und keuchend. Der Puls, der übrigens bei Hunden schon
normaler Weise ausserordentlich variiren kann, ist während der
Anfälle beschleunigt, colossal gespannt, die Herzaction so stark,
dass das ganze Thier durch den Herzschlag deutlich sichtbare
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504
Dr. Guleke,
Erschütterungen erfährt, die erst einige Zeit nach Abklingen des
Anfalles aufhören. Auf der Höhe des Anfalles kommt es vielfach
zum Aussetzen des vorher regelmässigen Pulses als Ausdruck der
übermässigen Inanspruchnahme des Herzmuskels.
So einheitlich nun das Krankheitsbild im Ganzen auch ist, so
kommen doch vielfache Abweichungen von diesem Verlauf vor.
Zunächst kann die Dauer des Latenzstadiums bis zum Beginn des
Anfalles ziemlich schwanken. Bei aufgeregten, lebhaften, beson¬
ders aber bei graviden Thicren (cf. Hund 17) tritt der Anfall
früher, bei meiner graviden Hündin schon 8 Stunden nach Exstir¬
pation der Epithelkörperchen auf und verläuft oft schwerer, als der
Norm entspricht. Bei jungen Hunden ist nach Pfeiffer u. Mayer
der Verlauf häufig ein langsamerer als bei alten. Eine Latenz¬
dauer von 5—10 Tagen, wie ich sie bei 2 meiner Hunde beob¬
achtete, ist wohl so zu erklären, dass anfangs noch restirendes
Epithelkörpergewebe bei der Operation so geschädigt wurde, dass
es nachträglich zu Grunde ging. Die Dauer des Anfalles selbst,
die gewöhnlich, wenn die Thiere überleben, 3—5 Stunden beträgt,
schwankt gleichfalls, wenn auch nicht sehr weitgehend. Wenn die
Thiere die ersten Anfälle überleben, entwickelt sich das Bild chro¬
nischer Tetanie. Die wieder auftretenden Anfälle verlieren mehr
und mehr an Intensität, und in der Zwischenzeit kommt es nicht zu
so deutlichen Intermissionen bezüglich der Krampfzustände, wie zu
Beginn der Erkrankung. Unter zunehmender Prostration verenden
die Thiere meist nach einigen Tagen, wobei gewöhnlich ein ago-
naler Krampfanfall durch Athemlähmung den Exitus herbeiführt.
Bei Katzen ist das Bild des acuten Anfalles genau dasselbe
wie bei Hunden. Bei ihnen dauert aber die Latenzzeit bis zum
Eintritt des Anfalles 5—7 Tage, also wesentlich länger, und es
kommt häufiger zur Entwickelung einer chronischen Tetanie, als bei
den Hunden.
Es sei hier nochmals hervorgehoben, dass die Erscheinungen
der acuten Tetanie nach den zur Zeit bestehenden Anschauungen
(cf. Biedl, Innere Secrction, 1910) im Allgemeinen in gleicher
Weise auftreten sollen, ob nun die Schilddrüse raitentfernt wird
oder nicht. Die bekannten Folgen der totalen Schilddrüsenexstir¬
pation, die thyreoprive Kachexie und das Myxödem, entwickeln
sich so langsam, dass sie für den nur wenige Tage dauernden
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
505
Verlauf der Tetanie nicht in Betracht kommen können. Ich glaubte
daher, bei meinen Versuchen, bei denen es mir nur auf etwaige
Beeinflussungen der Tetanie durch Abänderung der Function der
Nebennieren ankam, die Mitentfernung der Schilddrüse zunächst un¬
berücksichtigt lassen zu können.
Bietet nun schon das wechselvolle Bild der Tetanie mancherlei
Schwierigkeiten bezüglich der Beurtheilung künstlich hervorgerufencr
Schwankungen oder Abänderungen in ihrem Verlauf, so entstehen
neue Schwierigkeiten bei der Kritik der Ausfallserscheinungen nach
Nebennierenoperationen. Wir wissen, dass die Nebennieren kein
einheitliches Organ darstellen, dass Rinde und Mark durchaus diffe¬
rente, auch entwickelungsgcschichtlich nicht zusammengehörende
Organe sind. Das Markgewebe stellt den grössten und wichtigsten
Theil des im Körper an verschiedenen Stellen situirten chromaffinen
Systems dar (Carotisdrüse, die chromaffmen Abschnitte der sym¬
pathischen Grenzstrangganglien und des Plexus solaris, die „Para¬
ganglien“, im Ganglion stellatum, an der linken (Koronararterie des
Herzens, im subpericardialen Nervengeflecht, am Nierenhilus und
a. a. 0.). Die Nebennierenrinde steht ihrerseits nicht allein da,
sondern bildet den wichtigsten Theil des im Bauchraum und in der
Genitalsphäre zerstreuten Interrenalsystems. Ihre Function ist noch
völlig unbekannt, während das Nebennierenmark das Adrenalin
producirt, das vom Markgewebe continuirlich durch die Vena supra-
renalis in die Blutbahn ausgeschieden wird. Das Adrenalin übt
neben seiner blutdrucksteigernden Wirkung einen regulirenden Ein¬
fluss auf die Vorgänge der Zuckerverbrennung aus, da nach ver¬
mehrten Adrcnalinmengen im Blut, wie sie z. B. durch Injection
von Adrenalin erzeugt werden können, Glykosurie und vermehrter
Blutzuckergehalt auftritt. Die Wirkung solcher, wie auch der zu
therapeutischen Zwecken vorgenommenen Injectionen ist stets nur
eine sehr kurzdauernde, und es wurde daher angenommen, dass
das Adrenalin durch Oxydation sehr schnell im Körper wieder zer¬
stört und ausgeschieden wird, wobei der Alkaligehalt des Blutes
von wesentlicher Bedeutung ist. In neuerer Zeit hat nun Ehr-
mann nachgewiesen, dass zwar die Wirkung des Adrenalins nach
Injectionen bald vorübergehe, dass aber auch nach Aufhören der¬
selben sich noch relativ grosse Mengen Adrenalin im Blute nach-
weisen lassen. Nach Allem muss man annehmen, dass das con-
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50(5 Dr. Guleke,
tinuirliche Einstrümen des Adrenalins ins Blut, „die physiologische
Adrenalinämie für den ständigen Tonus sympathisch innervirter
Organe, vor Allem für den Gefässtonus un<J Zuckertonus von aus¬
schlaggebender Bedeutung sein dürfte“ (Biedl).
Beide Theile der Nebenniere sind lebenswichtig, wie aus den
Untersuchungen von Biedl, Christiani n. A. hervorgeht. Die
einzeitig vorgenommene totale doppelseitige Nebennierenexstirpation
führt regelmässig in kurzer Zeit zum Tode, bei Hunden nach
Brown-Sequard, Langlois u. Symonowicz in 15—36 Stunden.
Die einseitige Exstirpation wird von den Thieren überstanden,
wobei sich nach einiger Zeit Hypertrophie der restirenden Neben¬
niere, sowie anderer Theile des chromaffinen Systems findet. Auf
die vicariirende Hypertrophie der letzteren Theile ist mehrfach das
etwas längere Ueberleben der Thiere bei zweizeitiger Operation,
bei der die zweite Nebenniere einige Wochen oder Monate nach
der ersten entfernt wurde, wie das Andersson u. Hultgreen
ausführten, zurückgeführt worden. Katzen gehen nach Strehl u.
Weiss 15—47 Stunden nach der einzeitigen Operation zu Grunde.
Den Einwand, dass möglicher Weise der Operationsshock bei den
Thieren den Tod herbeiführe, widerlegte Biedl in der Weise, dass
er zunächst die Nebennieren von hinten her in eine Tasche der
Rückcnmusculatur unter die Haut dislocirte und sie dann nach
völliger Erholung der Thiere secundär durch einen kleinen Ein¬
schnitt entfernte. Auch nach diesem Eingriff gingen die Thiere
regelmässig nach 3—4 Tagen zu Grunde.
Die Erscheinungen, die dabei auftreten, und die als Ausfalls¬
erscheinungen der inneren Secretion der Nebennieren aufgefasst
werden müssen, sind in Kürze folgende: Nach anfänglich leidlichem
Befinden tritt nach Biedl unter zunehmender Prostration eine
grosse Steifigkeit und Unsicherheit der Hinterbeine auf, die all¬
mählich einer schlaffen Parese Platz macht, so dass die Thiere mit
gestreckten Beinen platt auf dem Boden liegen. Die allgemeine
Muskelschwäche und Hinfälligkeit, die so charakteristische Asthenie,
nimmt fort und fort zu, die Temperatur fällt ab, die Athmung ist
anfangs beschleunigt, später verlangsamt, und in immer tiefer
werdendem Coma verenden die Thiere, wobei der Tod oft fast un-
merklich eintritt. In manchen Fällen sind prätcrminal Muskel¬
zuckungen, seltener Convulsionen (Biedl), nach Brown-Sequard
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
507
und Tizzoni auch „tetanische Krämpfe“ beobachtet worden,
was allerdings von Abelous u. Langlois bestritten wird. Im
Vordergründe der terminalen Erscheinungen stehen jedenfalls ner¬
vöse Schwächezustände, die wohl auf den Ausfall der Nebennieren¬
function zurückzuführen sind. Ein stricter Beweis dafür, dass durch
Fortfall des Adrenalins, d. h. der blutdrucksteigernden Substanz,
der Tod herbeigeführt wird, ist bis jetzt nicht erbracht. Es ist
weder Biedl, noch Anderen gelungen, durch Zufuhr von Neben¬
nierensubstanz oder -Tabletten das Leben der Thiere wesentlich zu
verlängern.
Die angeführten Versuchsergebnisse anderer Experimentatoren
und eigene Erfahrungen, die ich vor einigen Jahren bei zu anderen
Zwecken angestellten Nebennierenexstirpationen gemacht hatte,
liessen mich annehmen, dass bei den im Allgemeinen grundver¬
schiedenen Krankhcitsbildern nach Epithelkörperchen- und nach
Nebennierenexstirpation eine gegenseitige Beeinflussung der Aus¬
fallserscheinungen sich deutlich genug manifestiren würde, um
brauchbare Resultate zu liefern. Allerdings wird die Beurtheilung
der Resultate durch mehrere Umstände erschwert. Vor Allem ist
das relativ kurze Ueberleben der Thiere nach der Nebennieren¬
exstirpation in dieser Beziehung ungünstig, um so mehr, als die
Zeit des Wiederauftretens der tetanische» Anfälle keine gleich-
massig lange ist. Weiter könnte die Beobachtung, dass auch nach
einfacher Nebennierenexstirpation gelegentlich -tetanische“ Krämpfe
beobachtet wurden, die Entscheidung, ob etwa auftretende Krämpfe
von der Epithelkörper- oder Nebennierenexstirpation herrühren, un¬
möglich machen. In praxi kam das jedoch nicht in Krage. Der
Umstand, dass mit der Nebennierenexstirpation nur der grösste
und wichtigste Theil des chromaffinen Gewebes entfernt wird, nicht
aber das ganze chromaffine System, dessen zurückbleibende Reste
doch noch gewisse gleichbedeutende Functionen ausüben könnten,
muss ebenfalls berücksichtigt werden. Schliesslich stellt die Neben¬
nierenexstirpation an sich einen schweren Eingriff für die Thiere
dar, besonders, da sie bei schon ausgebrochener Tetanie operirt
wurden. Ich habe den Operationsshock dadurch zu verringern ge¬
sucht, dass ich mehrfach die Nebennieren in zw’ei Sitzungen ent¬
fernte, also 8—10 T;ige vor der Exstirpation der Epithelkörperchen
zuerst die rechte Nebenniere, die technisch durch ihre Lage un-
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Dr. Guleke,
mittelbar hinter der Vena cava inf. anfangs oft grosse Schwierig¬
keiten machte, exstirpirte und dann nach Ausbruch der Tetanie
nur die linke, die sehr leicht zu entfernen ist, herausnahm. In
späteren Versuchen und nach einiger Uebung gelang es mir meist
leicht, von einem Schnitt in der Mittellinie aus, ohne jede Eventra¬
tion der Eingeweide, beide Nebennieren auf einmal zu entfernen.
Nach der ganzen Art der Operation, ihrer kurzen Dauer und dem
Befinden der Thiere nach der Operation kann ich nicht annehmen,
dass durch diese Art des Vorgehens wirklich ein den Verlauf be¬
einflussender Operationsshock herbeigeführt wird. Viel grösseren
Einfluss auf den weiteren Verlauf hatte der Umstand, ob die Ncben-
nierenexstirpation gleich zu Beginn des tetanischen Anfalles oder
erst nach längerem Bestehen desselben ausgeführt wurde, da in
letzterem Fall die Resistenz der Thiere meinem Eindruck nach
wesentlich herabgesetzt war.
Trotz all' dieser Schwierigkeiten ergaben nun meine Versuche
ein so übereinstimmendes Resultat, dass ich glaube, schon jetzt
darüber Mittheilung machen zu sollen.
Meine Versuchsanordnung war in Kürze folgende: Theils nach
vorbereitender rechtsseitiger Nebennierenexstirpation, theils ohne
eine solche wurde bei 14 Hunden und 2 Katzen die Schilddrüse mit
allen Epithelkörperchen entfernt und dann das Eintreten des typi¬
schen acuten tetanischen Anfalles abgewartet. Erst wenn der An¬
fall sich voll entwickelt hatte, die Thiere mit keuchender Athmung.
wogenden Muskeln und krampfhaft zuckenden Extremitäten auf der
Seite lagen, unfähig, sich selbst zu erheben, wenn also kein Zweifel
darüber sein konnte, dass es sich um schwerste Tetanie, i. e. um
totalen Epithelkörperausfall handelte, wurde zur Nebennierenexstir¬
pation geschritten und diese peinlichst sorgfältig total entfernt. Die
Operationen an Hunden wurden alle in Morphiura-Acthcrnarkose,
die an Katzen in leichter Acthernarkose ausgeführt. Die Thiere
wurden während der Dauer der Experimente in einem warmen
Raume gehalten und sorgfältig überwacht. Da eine Reihe der
Thiere w-ährend der ersten Zeit Nachts einging und ich dem Ein¬
wand begegnen wollte, dass möglicher Weise Nachts etwaige teta-
nische Anfälle übersehen würden, sind die Thiere bei sämmtlichen
späteren Versuchen auch Nachts 1—2stündlich regelmässig con-
trolirt worden. Da nun selbst terminale Zuckungen und Krampf-
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
509
Unfälle stets länger als 2 Stunden dauerten, wenn sie auftraten,
konnte hierbei nichts übersehen werden und sind die Versuche in
dieser Beziehung als einwandsfrei zu bezeichnen.
Den Nachtschwestern unserer Klinik, die sich freundlichst der
Mühe dieser Controle unterzogen haben, bin ich zu grossem Danke
verpflichtet, ebenso meinen Herren Collegen, die mir bei den Ope¬
rationen, mehrfach auch Nachts, bereitwilligst assistirt haben, be¬
sonders Herrn Dr. Jung und Herrn Dr. Sulzer.
Liess sich nun nach Ausbruch des tetanischen Anfalles bei
den Versuchsthieren durch die Nebennierenexstirpation eine deutlich
erkennbare Beeinflussung des weiteren Verlaufes der Tetanie her¬
beiführen? Mir stehen zur Beantwortung dieser Frage 8 Versuche
(Hund 1, II, III, IX, XI, XII, XVII und Katze III) zur Verfügung. Das
Resultat bei all’ diesen Versuchen war ein durchaus eindeutiges.
In allen Fällen schwanden im Anschluss an die Operation
die Symptome der manifesten Tetanie und traten bis zu
dem Exitus der Thiere nicht wieder auf. Nur bei 2 Thieren
(Hund H und Katze III) sind noch einige leichte Muskelzuckungen
beobachtet worden. Bei dem Hund II traten kurz vor dem Exitus
(22 Stunden nach der Nebennierenexstirpation) einige leichte
Zuckungen der Nackenmusculatur auf, bei der Katze III im Laufe
des ersten Tages nach der Operation 3 mal etwa 1 / 4 Minute lang
dauernde Zuckungen in der rechten Scbultermusculatur. Ob diese
Zuckungen als Ausdruck einer noch bestehenden latenten Tetanie
aufzufassen sind, oder ob sie nicht vielmehr mit den von anderen
Autoren als Ausfallserscheinung nach Nebennierenexstirpation be¬
schriebenen Muskelzuckungen identisch sind, möchte ich dahin¬
gestellt sein lassen.
Der Verlauf gestaltete sich bei diesen Versuchen gewöhnlich
so, dass nach Beendigung der Nebennierenexstirpation meist inner¬
halb von y 2 —2 Stunden die acuten tetanischen Erscheinungen,
zuletzt die Athemstörung verschwanden. Die Thiere verhielten sich
nach dem Erwachen, besonders bei der zweizeitigen Nebennieren¬
exstirpation, wie nach jeder Narkose. Einen eigentlichen Opera-
tionsshock habe ich nicht gesehen. Im Gegentheil fiel mir auch
bei den, wenige Stunden nach dem Eingriff eingegangenen Thieren
immer die colossal kräftige Herzaction, die sich als weithin sicht¬
bare Erschütterung des ganzen Körpers manifestirte und die erst
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Dr. Guleke,
1—2 Stunden nach dem Eingriff zur Norm überging, auf. Diese
Erscheinung wurde auch von Anderen als Nachwirkung des vorher¬
gegangenen tetanischcn Anfalles beobachtet. Beim Herumgehen der
Thiere liess sich beobachten, dass von Zuckungen und Spasmen
nichts mehr vorhanden war. Sic bewegten sich völlig frei, nur
wiesen sie meist eine starke Ataxie in den Hinterbeinen und Pa¬
resen derselben, manchmal nach vorhergegangenen leichten Spasmen,
auf, also Erscheinungen, wie sie als typisch für die einfache Neben¬
nierenexstirpation beschrieben werden (cf. Biedl). Unter zuneh¬
menden Lähnningserscheinungen und schwerer Asthenie gehen die
Thiere dann allmählich zu Grunde, gewöhnlich ganz unmerklich.
Die Lebensdauer der Thiere nach der Nebennierenexstirpation
betrug bei zweizeitiger Operation (Hund T, II, III) 68, 22.
60 Stunden, bei einzeitiger Operation allerdings ipeist wesentlich
kürzer (Katze HI, Hund IX, XI, XII, XVII). nämlich 61, 6, 20, s
und 4 Stunden.
Das Ergebniss dieser Versuche lässt sich dahin zusammen¬
fassen, dass es gelingt, den acuten tetanischcn Anfall
durch rechtzeitige Nebennierenexstirpation derart zu
coupiren, dass die Erscheinungen der manifesten Tetanie
verschwinden und bis zum Exitus nicht wieder auftreten.
Ob es sich dabei nur um eine graduelle Abschwächung handelt
und ob etwa eine latente Tetanie bestehen bleibt oder ob die Te¬
tanie völlig beseitigt wird, das lasse ich vorläufig unentschieden.
Mir scheint das Erstere wahrscheinlicher.
Gegen die Beweiskraft dieser Versuche können sich nun einige
Redenken erheben. Zunächst kann daran gedacht werden, dass die
Narkose oder der Eingriff als solcher das Aufhören des tetanischcn
Anfalles bedingen kann. Ich habe nach dieser Richtung hin viel¬
fache Versuche angestellt und feststellen können, dass das nicht
der Fall ist. Das Anfangsstadium der Aethernarkose steigert,
trotz vorheriger grosser Morphiumdosen, regelmässig die Anfälle,
wie das ja auch in der Literatur angegeben ist. In der tiefen
Narkose schwinden dann die Zuckungen, nur die Athmung bleibt
noch krampfhaft und keuchend, bis die Narkose in maximaler
Tiefe eingetreten ist. Lässt man nun die Thiere nach längerer
Zeit, auch während der Operation, wieder aus der Narkose auf-
wachen, so treten prompt die Erscheinungen des tetanischen An-
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falles wieder auf. Hund VI hatte ich 2 Stunden nach Beginn des
tetanischen Anfalles während 35 Minuten tief narkotisirt. 1 / 4 Stunde
nach Weglassen der Narkose setzten ungewöhnlich schwere teta-
nische Krämpfe wieder ein und dauerten noch etwa 6 Stunden in
gleicher Intensität fort. Der ungewöhnlich langdauernde schwere
Verlauf dieser Anfälle konnte nur mit der Narkose in Zusammen¬
hang gebracht werden.
Auf der anderen Seite ist es nicht angängig, das Aufhören
des Anfalles und sein weiteres Ausbleiben etwa mit einem Opera-
tionsshock in Zusammenhang zu bringen. Ich glaube diesen Ein¬
wand a limine abweisen zu können, da die Beobachtung an un¬
beeinflussten tetanischen Thicren lehrt, dass bei ihnen, trotz zu¬
nehmender Prostration, immer wieder tetanische Krämpfe auftreten
und der zum Exitus führende terminale Anfall immer im schwersten
Collapszustande der Thicrc einsetzt. Ich glaube also nicht, dass
Collapszustände das Auftreten eines tetanischen Anfalles verhindern
können. Zudem machen die Thicrc, wie auch schon oben gesagt
wurde, nach der Operation, wenn diese nicht zu spät im Anfall
ausgeführt wird, zunächst gar keinen collabirten Eindruck. Erst
allmählich tritt die für das Fehlen der Nebennieren so charakte¬
ristische Asthenie auf. Endlich spricht der Ausfall der weiter
unten besprochenen Versuche, bei denen ich die Thyreoidea zum
Thcil zurückliess, gegen den angeführten Ein wand.
Ein gewichtigerer Einwand gegen die von mir angenommenen
Ergebnisse meiner Versuche schien mir dagegen der zu sein, dass
bei mehreren von ihnen (Hund IX, XII, XVII) der Zeitraum zwischen
Nebennierenexstirpation und Exitus, der 6, 8 und 4 Stunden be¬
trug, kürzer war, als er gewöhnlich zwischen erstem und zweitem
tetanischen Anfall zu sein pflegt. Man könnte also annehmen,
dass es bei den Thieren zu weiteren Anfällen aus dem Grunde
nicht kam, weil sie zu früh starben. Ich kann das für diese drei
Versuche nicht widerlegen. Aber für die übrigen 5 Versuche kann
ich diesen Eiwand nicht gelten lassen, da wir wissen, dass Hunde
durchschnittlich etwa 50 Stunden nach Entfernung der Epithel¬
körper zu Grunde gehen (Pfeiffer u. Mayer), im Durchschnitt
7 Stunden nach dem ersten Anfall. Da meine übrigen 5 Thicrc
20—68 Stunden nach dem Eingriff gelebt haben (20, 22, 60, 61,
6N Stunden), hätten sie also mit Bestimmtheit in der Zwischenzeit
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512
Dr. Guleke,
weitere Anfälle bekommen müssen, wenn die Vorbedingungen dazu
erfüllt gewesen wären.
Um aber weiteres Beweismaterial zu erhalten, änderte ich bei
3 Thieren (Hund XVIII, XIX u. XX) die Versuchsanordnung dahin
ab, dass ich an Stelle der Nebennicrenexstirpation nur die Unter¬
bindung der Nebennierenvenen beiderseits ausführte. Ich stützte
mich dabei auf die Versuche von Strehl u. Weiss und Anderen,
die die Nebennierenvenen ligirt hatten, um den Beweis zu erbringen,
dass dadurch die Secretion des Adrenalins wenigstens für einige
Zeit unwirksam gemacht würde. Dieser Beweis ist ihnen gelungen.
Thiere, denen die Nebennierenvenen unterbunden waren, gingen in
3—14 Tagen unter ähnlichen Erscheinungen wie nach Nebennieren¬
exstirpation zu Grunde. Ich konnte also hoffen, auf diese Weise
das wirksame Princip der Nebennieren ausschalten und die Thiere
doch lange genug am Leben erhalten zu können. Allerdings schien
es mir fraglich, ob durch die Unterbindung der Vena suprarenalis
wirklich die Adrenalinausfuhr dauernd unterbrochen werde, da mir
bei meinen Nebennierenexstirpationen immer die vielen kleinen
Venen in der Umgebung dieser Organe aufgefallen waren, die
zweifellos weitgehende Anastoraosen bildeten.
Gleich der erste dieser Versuche gab unzweideutigen Auf¬
schluss. Ich unterband bei dem Thier beiderseits die dicke Neben¬
nierenvene, ausserdem aber, aus den obigen Erwägungen heraus,
auch die zuführende Vena intercostalis mit ihren Nebenästen. Der
Eingriff dauerte etwa 5 Minuten. Das Thier verhielt sich nach
der Operation, bei der von einem Operationsshock keine Rede sein
konnte, genau wie alle übrigen. Es lag einige Stunden ruhig da.
wurde dann sehr munter, fressgierig und verhielt sich b 1 /. 2 Tage,
ohne die geringsten Spuren von Tetanie zu zeigen, völlig wie ein
normales Thier. Dann trat ganz allmählich während 2 Tage.
Schritt für Schritt zunehmend, ein eigcnthümlich zergliedertes Bild
des tetanischen Anfalles, wie ich cs im Protokoll wiederzugeben
versucht habe, auf, bis dann endlich der klassische Anfall mit
elementarer Wucht zum Ausbruch kam. Es trat danach keine
Erholung ein, sondern alle 15 Minuten wiederholten sich kurz¬
dauernde schwere Anfälle, bis das Thier getödtet wurde. Die
Scetion zeigte nun, dass in der That auf beiden Seiten kleine
Venen, die bei der Operation nicht beachtet worden waren, sich
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
513
erweitert hatten und offenbar durch Anastomosen (links nachweis¬
lich mit der Vena renalis) die ßlutcirculation völlig wiederher¬
gestellt hatten. Die Nebennieren sahen dementsprechend makro¬
skopisch ganz unverändert aus und boten mikroskopisch ein völlig
normales Verhalten, weder Nekrosen, noch auch ein«; Spur von
venöser Stauung. (Bezüglich der complicirtcn Gefüssversorgung der
Nebennieren siehe auch Biedl. S. 275). Dieser Befuud klärt den
klinischen Verlauf vollkommen auf. So lange die Venenligatur
die Abfuhr des Nebennierensccretes verhindert hatte, war die
Tetanie ausgeblieben. Kntsprechend der allmählichen Wiederher¬
stellung der Circulation durch die Collateralen traten auch ganz
allmählich wieder Symptome der Tetanie auf, bis nach genügender
Wiederherstellung der Adrenalinausfuhr auch wieder der tetanisehe
Anfall zum Ausbruch kam.
Während Hund XIX als complioirtes Kxperiment nicht ver¬
wertet werden kann, ergab Hund XX ganz analoge Resultate.
Nur dauerte hier der Effect der Venenligatur nur etwa 2 Tage,
wohl weil ich mich darauf beschränkt hatte, die abführende Vene
allein und nicht auch die übrigen Gefässe zu unterbinden. Als im
Anschluss an den danach ausgebrochenen schweren tetanischen
Anfall sich dasselbe Bild chronischer manifester Tetanie zu ent¬
wickeln begann, wie bei dem vorigen Tier, exstirpirte ich nun noch
beide Nebennieren, was mir innerhalb weniger Minuten gelang.
Auch hier fanden sich reichlich erweiterte Collateralen und sahen
die Nebennieren auch mikroskopisch völlig normal aus. Obgleich
die Operation erst nach Ablauf des 4 Stunden dauernden Anfalles
ausgeführt wurde, zu einer Zeit, wo das Thier ohnehin schon er¬
schöpft war, überlebte es den Eingriff noch fast (> Stunden. Die
tetanischen Erscheinungen waren kurz nach der Nebennieren¬
exstirpation völlig geschwunden und blieben bis zu dem ganz
unmerklich eintretenden Exitus fort.
Nach dem Ausfall dieser Versuche dürfte es schwer sein, sich
der Annahme zu vcrschliessen, dass der Ausbruch der tetanischen
Anfälle in ursächlichem Zusammenhänge mit der inneren Seeretion
der Nebennieren steht. Es liegt nun nahe, dabei in erster Linie
an das Adrenalin, das uns bekannte Secretionsproduct der Neben¬
nieren zu denken.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3.
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Dr. Guleke,
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In dieser Annahme wird man noch bestärkt durch die Unter¬
suchungen von v. Fürth u. Gerhardt, die fanden, dass man bei
normalen Hunden durch grosse subcutane Suprarenininjectionen
(0,2 g) tödtlichc Vergiftungen herbeiführen kann, die unter dem
Bilde der Tetanie verlaufen. Beide Autoren betonen, dass der
Symptomencoraplex die grösste Aehnlichkcit mit dem Bilde der
Tetanie nach Exstirpation der „Schilddrüse“ habe (1899 u. 1900!).
Ich habe in dieser Richtung auch Untersuchungen angestellt
und versucht, durch Adrenalininjectionen tetanische Anfälle zu er¬
zeugen. Nun ist die individuelle Empfänglichkeit der Thiere eine
durchaus verschiedene, und man muss annehmen, dass die erforder¬
liche Dosis in den einzelnen Stadien des Verlaufes der Tetanie und
besonders nach der Xebennierenexstirpation eine ganz verschieden
grosse sein muss. Der ganze Verlauf der Tetanie weist darauf hin.
dass die Erregbarkeit bis zum Anfall sich steigert, im Anfall ihren
Höhepunkt erreicht und dann durch Uebersättigung oder Erschöpfung
für einige Zeit abfällt. Erst allmählich nimmt dann die Erregbar¬
keit wieder zu, bis sich das Spiel wiederholt.
Hiermit stimmt überein, dass Straub und Ritzmann durch
exacte Untersuchungen nachweisen konnten, dass bei continuir-
lichem Einfliessenlassen von Adrenalin in die Venen nach einiger
Zeit der Reiz des Adrenalins unwirksam wird, und dass erst
Steigerung der Zuflussgeschwindigkeit die Wirksamkeit wieder hcr-
stellt 1 ).
1) Mit ein paar Worten muss der weiteren Untersuchungen Ritzmann's
über den Einfluss der Thyreoidea-Exstirpation auf die Adrenalinglykosurie ge¬
dacht werden. Ycrf. exstirpirte bei Katzen Thyreoidea und Epithelkörperchen
und wartete die dadurch bedingten nach 2 x 24 Stunden maximal ausge¬
bildeten „acuten \ ergiftungscrscheinungerU ab, um die Wirkung der Adrenalin-
injection bezüglich des Blutdrucks und der (ilykosurie zu untersuchen. Unter
den „acuten Vergiftungserscheinungen** versteht Verf. Paresen der Beine, Uon-
vergenzstellung der Augen. Pupillenstarre und maximale Pupillcnerwciterung
durch Sympal hicusreizung, nicht etwa die Tetanie, da er wörtlich schreibt:
„(teilen die Thiere an den acuten Erscheinungen nicht zu (»runde, so tritt nach
einiger Zeit die bekannte Tetanie ein“. Bei der Art der Fragestellung bleibt
die Mitentfernung der Epithelkörperchen unberücksichtigt. Kitz mann kommt
zu dem Resultat, dass vor Eintreten der maximalen Exstirpationsfolgen die
blutdrucksteigernde Wirkung des Adrenalins noch erhalten, aber abgeschwächt
ist. während auf der Höhe der Exstirpationsfolgen eine Steigerung des Blut¬
drucks durch gewöhnliche Dosen nicht mehr, sondern nur noch durch mächtig
gesteigerte Dosen erzielt werden kann. Nach Abklingen der acuten Ersehei¬
nungen wird das Adrenalin dagegen wieder wirksam. Die glykosmische
Wirkung bleibt, wie auch Eppinger, Falta und Rudinger nach Schild-
driisenexstirpatiun fanden, aus. Ritzmann kommt zu dem Resultat, dass die
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
515
Dementsprechend wird die Toleranz kurz vor Ausbruch des
acuten Anfalles eine geringere sein, als nach Abklingen desselben,
nach Exstirpation der Nebenniere dagegen sehr gross, da die
Summation mit dem ohnehin im Blut vorhandenen Adrenalin
fortfällt.
Diese Schwankungen lassen die verschiedenartigen Resultate,
die ich bei meinen diesbezüglichen Versuchen bisher erhielt, erklär¬
lich erscheinen. Bei Katze III und Hund VI war der Erfolg von
*2 resp. 5 mg Adrenalin subcutan negativ, weil die Dosis eine zu
geringe war, wie ich am gesunden Controlthier (Katze VIII) fest-
steilen konnte. Bei Katze VII und Katze IX, bei denen, dem Ver¬
lauf nach zu urthcileu, noch etwas functionsfähiges Epithelkörper-
gewebc vorhanden war, zeigte sich auf Injcction von .'> resp. 10 mg
nur ein Theil der bei dem tetanischen Anfall zu beobachtenden
Erscheinungen. Es trat äusserste motorische Unruhe, Speichelfluss,
beschleunigte keuchende Athmung auf, wie wir sic direct vor Aus¬
bruch des Anfalles sehen, aber die eigentlichen tetanischen Störungen
blieben aus. Dagegen konnte ich bei Hund III, einem Foxterrier,
'2 Tage nach der Nebennierenexstirpation, zu einer Zeit, wo keinerlei
Erscheinungen mehr vorhanden waren, die auch nur für eine latente
Tetanie zu verwerten gewesen wären, nach subcutancr Injcction
von S 1 / 2 mg ausgesprochenes Muskelwogen hervorrufen, wie es zu
Beginn des tetanischen Anfalles sich regelmässig zeigt. Einige
Stunden später wurde das Thier auf 5 mg hin nur auffallend leb¬
haft, ohne tctanischc Anzeichen zu bieten. Bei Katze V konnte
ich durch subcutanc Injection von 5 mg Adrenalin im Latenzstadium
den Ausbruch eines schweren tetanischen Anfalles herbeiführen.
Dass es sich dabei nicht etwa nur um ein zufälliges zeitliches Zu-
IhHÖntriichtigung der Adrenalinwirkung nicht mit dem Fehlen oder Ausfall der
Thyreoidea zusammenhängt, sondern wahrscheinlich mit einer Zustandsänderung,
wie sic im Verlaufe der Anpassung des Organismus an das Fehlen dieses
Organs sich entwickelt, und Straub, auf dessen Anregung diese Arbeit ent¬
stand, schreibt: .Daraufhin ist die Frklärung der Erscheinung, dass das Reiz¬
gift Adrenalin im sehilddriiscnlosen Thicrc unwirksam wird, kaum in Anderem
zu suchen, als in einer narkotischen acuten Vergiftung des Sympathicus, her-
vorgenifen durch ein Agens, das ja im gleichen Stadium auch anderwärts nar¬
kotische Wirklingen äussert," (?). Mir scheint es viel naheliegender, anzunehmen,
da die Versuche an Thieren vorgenommen wurden, die sieh in Folge der Mit-
«•ntferaung der Epithelkörperchen im Stadium der latenten Tetanie befanden,
dass es sieh um eine ähnliche temporäre Uebersättigung des Organismus mit
Adrenalin handelte, wie sie oben bereits erwähnt wurde, und dass in Folge
giessen die Wirkung gewöhnlicher Dosen ausblieb.
:;4*
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Dr. Guleke,
5 IG
samraentreffen gehandelt hat, licss sich dadurch feststellen, dass
hei demselben Thier an weiteren 2 Tagen sofort nach 3 zu ver¬
schiedenen Zeiten vorgenommenen Adrenalininjectionen (je 5 mgi
prompt wieder schwerste tetanische Anfälle auftraten, deren einem
das Thier schliesslich erlag, während in der Zwischenzeit, einmal
innerhalb 48 Stunden, kein einziger Anfall aufgetreten war, ebenso
wenig auf Controlinjection von gleicher Menge Kochsalzlösung hin. -
Weitere systematische Untersuchungen über die Veränderungen
des Blutdruckes, über etwaige glykosurisehc Erscheinungen, über
mydriatische Wirklingen des Blutserums (einige bisher von mir an-
gestellte Versuche gaben noch kein übereinstimmendes Resultat)
während des ganzen Verlaufes der Tetanie u. s. w. können die
Frage einer Entscheidung näher bringen, ob wirklich dem Adrenalin
die erste Rolle bei der Entstehung der Tetanie zukommt oder
einer anderen bisher noch unbekannten Componente der inneren
Secrction der Nebenniere. Im Uebrigen ist mit grosser Wahr¬
scheinlichkeit anzunehmen, dass auch anderen Organen mit innerer
Secretion, vor Allem der Hypophyse und der Thymus eine, wenn
auch wohl geringere Bedeutung für die Tetanie zukommt. Bisher
halte ich diese Frage für ungelöst.
Auf Grund des vorliegenden Materials lässt sich dagegen als
erwiesen erachten, dass zwischen der Function der Epithel¬
körperchen und der der Nebenniere ein Antagonismus be¬
steht. Nach Exstirpation der Epithelkörperchen kommt es zur
manifesten Tetanie. Entfernt man dann die Nebenniere, so ver¬
schwindet die Tetanie wieder, oder die Erscheinungen derselben
nehmen so an Intensität ab, dass keine Symptome derselben mehr
nachweisbar sind. Man muss daher annchmen, dass das normaler
Weise zwischen den beiden Organen bestehende Gleichgewicht in
Folge des Ausfalles der Function des einen gestört wird, ein Vor¬
gang, wie wir ihn durch die Forschungen der letzten Jahre über
die Wechselbeziehungen der Drüsen mit innerer Secretion ja schon
vielfach kennen gelernt haben. Da nun, wie bekannt, das An-
griffsobject des Nebennierensecretes der Sympathicus und die sym¬
pathisch innervirten Organe sind, das Adrenalin „für das Zustande¬
kommen des normalen Sympathicustonus eine nothwendige Be¬
dingung ist“ (Biedl), liegt es nahe, auf Grund der vorliegenden
Versuche anzunehmen, dass der normale Sympathicustonus ausser
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Kxpcrimenteile Untersuchungen über Tetanie.
517
von der Nebenniere auch noch von den Epithelkörperchen regulirt
•wird. Während das Adrenalin erregend auf den Sym-
pathicus einwirkt, haben die Epithelkörperchen eine
hemmende Wirkung auf denselben.
Nach Feststellung dieser Thatsache schien es mir, angesichts
der vielseitigen und zum Theil noch ganz ungeklärten Wechsel¬
beziehungen der Organe mit innerer Secretion doch wünschens¬
wert, die Versuchsanordnung noch cxacter zu gestalten und die
Thyreoidea Avenigstens nicht vollständig mit den Epithelkörperchen
mit zu entfernen. Da es bekannt ist, dass verhältnissmässig ge¬
ringe Reste der Schilddrüse ihre Function so ausreichend über¬
nehmen können, dass dauernd keinerlei Ausfallserscheinungen auf-
treten, war es leicht, durch Zurücklassung der unteren Schild¬
drüsenhälften genügendes Organgewebe zurückzulassen, während
mit den oberen Schilddrüsenhälften die Epithelkörperchen bei der
beschriebenen Art der Technik sicher entfernt werden konnten. Ich
machte 3 derartige Versuche (Hund XIV, XV, XVI) und erzielte
zunächst bei allen 3 die typische acute Tetanie. Während dabei
bei dem Hund XV der tetanische Anfall 57 Stunden nach der
Parathyrcoidektonye auftrat, betrug die Latenzzeit bei den beiden
anderen Thieren nur 24 und 21 Stunden, sie war also bedeutend
kürzer, als dem Durchschnitt entspricht. Nach der Exstirpation
der Nebennieren verschwanden die manifesten Symptome der Tetanie
wieder genau, wie bei den übrigen Versuchsthieren, und die Hunde
unterschieden sich zunächst in Nichts von den übrigen. Dann aber
traten bei allen 3 nach 6y 2 , 9 und 16 Stunden wieder klassische
tetanische Anfälle auf, in denen die Thiere nach l 1 /«—2 Stunden
verendeten. Die Anfälle stimmten dabei in allen Symptomen mit
den primären tetanischen Anfällen überein, nur waren sie an In¬
tensität geringer.
Während also bei den Thieren, bei denen mit den
Epithelkörperchen die Schilddrüse entfernt war, durch
Nebennicrencxstirpation die manifeste Tetanie zum Ver¬
schwinden gebracht werden kann, gelingt das nicht,
wenn noch functionirende Theile der Schilddrüse zu¬
rückgeblieben sind. Die durch Epithelkörperverlust ent¬
standene manifeste Tetanie verschwindet also, wenn Nebenniere
und Schilddrüse entfernt werden, sie bleibt bestehen, wenn eines
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Dr. Guleke,
der beiden Organe oder Theile davon im Körper vorhanden sind.
Dabei scheint der Nebenniere ein stärkerer Einfluss zuzukommen
als der Schilddrüse, wenn man aus der Intensität der Krämpfe
Rückschlüsse ziehen darf. Hieraus folgt, dass neben dem Anta¬
gonismus zwischen Epithelkörperchen und Nebenniere
ein gleichartiger Antagonismus zwischen Epithelkörper¬
chen und Schilddrüse besteht. Aller Wahrscheinlichkeit nach
erregt das Schilddrüsensecret den Syrapathicus in gleicher Weise
wie das Nebennierensecret, während die Epithelkörperchen den
beiden Organen das Gleichgewicht zu halten haben. Dass dem
Schilddrüsensecret in der That eine den Sympathicus erregende
Wirkung zukommt, geht aus den Arbeiten von Kraus und
Friedenthal hervor, die den Nachweis lieferten, dass beim Hyper-
thyreoidismus ein erhöhter Erregungszustand des Syrapathicus ent¬
steht. Auch Eppinger, Hess und Kostlivv kommen, zum Theil
auf Grund ausgedehnter Untersuchungen an Struma- und Basedow¬
kranken, zu ähnlichen Resultaten.
Vergleichen wir nun die durch meine Versuche, wie ich glaube,
erwiesene Thatsachc, dass ein Antagonismus zwischen Epithel¬
körperchen einerseits, Schilddrüse und Nebenniere andererseits be¬
steht, mit den in der Literatur vertretenen Anschauungen, so findet
sich eine geradezu überraschende Uebereinstimmung.
Unter Fortlassung aller sonstigen Details soll in Folgendem
ganz kurz nur das herangezogen werden, was mit unserer Frage
direct zusamraenhängt.
Von Eppinger, Falta und Rudinger war ein Schema der
Wechselbeziehungen zwischen den 3 grossen Drüsen mit innerer
Secretion, Pankreas, Thyreoidea und Nebenniere (chromaffines
System) aufgestellt worden. Danach üben Schilddrüse und chrom-
affines System auf einander einen gegenseitigen begünstigenden,
fördernden Einfluss aus, während das Pankreas eine ausgesprochene
Hemmung von ihnen erfährt. Umgekehrt wirkt das Pankreas
hemmend auf die innere Secretion von Schilddrüse und Neben¬
nieren ein. Graphisch dargestellt wäre das Verhältnis folgendes:
Thyr.
/'\
lluinnnimr N^hnnlunmir
Pan kr. ^■■— - ^N-hrom. S.
JleinininiLi
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
519
Bezüglich der Beweisführung verweise ich auf die betreffenden
Arbeiten.
Wollten wir in dieses System die dabei nicht berücksichtigten
Epithelkörperchen einfügen, so würde es sich darum handeln, ihre
Beziehungen zu den genannten Organen zu präcisiren.
Was zunächst die Beziehungen der Epithelkörperchen zum chrom-
affinen System (= Nebenniere) anlangt, so haben meine Versuche
einen ausgesprochenen Antagonismus zwischen diesen Organen er¬
geben. ln gleichem Sinne muss wohl der von Kraus u. R. Hirsch
erhobene Befund gedeutet werden, dass nach Entfernung der Thy¬
reoidea + Epithelkörperchen die Adrenalin-Glvkosurie erhalten
bleibt, während sie bekanntlich nach Exstirpation der Thyreoidea
allein verschwindet.
Im Verlauf ihrer Untersuchungen über den Einfluss des Aus¬
falles bestimmter Organe und ihrer inneren Secretion auf den Stoff¬
wechsel kommen Eppinger, Falta und Rudinger übrigens zu
ähnlichen Ergebnissen, wie ich. Wenn ich den diesbezüglichen,
etwas unklar ausgedrückten Passus in ihrer Arbeit richtig verstehe,
denken sich die genannten Autoren die Wirkung des specifischen
inneren Secretes der Epithelkörperchen als Hemmung, die theils
am Sympathicus, theils am chromaffinen System ihren Angriffs¬
punkt hat. „Fällt dieses (das innere Secret) weg, so kommt es
zu einem Uebererregungszustand in diesem System, zu einer ge¬
steigerten ' Mobilisirung von Kohlehydraten“ etc. Bei ihnen liegt
also das Hauptgewicht auf den Stoffwechselstörungen.
Auch der Antagonismus zwischen Epithelkörperchen und
Schilddrüse, der sich aus meinen Versuchen ergiebt, ist in der Lite¬
ratur mehrfach erwähnt worden. Schon Vassale und Generali
weisen darauf hin, dass bei reiner Parathyreoidektomie die Erschei¬
nungen der Tetanie viel stürmischer einsetzen und verlaufen, als
bei Entfernung von Epithelkörperchen und Schilddrüse. Wenn auch
die Schlussfolgerungen der genannten Autoren in der Folgezeit
widerlegt wurden, so glaube ich doch die Beobachtung bezüglich
des früheren Eintretens der Tetanie auf Grund meiner Versuche
bestätigen zu können. Auch Eppinger, Falta und Rudinger
pflichten dem bei und nehmen an, dass „ein Theil des Ausfalles
der Epithelkörperchen durch den gleichzeitigen Ausfall der Schild¬
drüse abgeschwächt wird und daher die Verchiedenheiten nach
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520
Dr. G »1 e k e,
Parathyreoidektomie oder Thyreoparathyreoidektomic zu erklären
seien“. Biedl lehnt allerdings die Beweiskraft ihrer Argumente ah
und spricht sich in seinem Werke dahin aus, dass die Hypothese
eines functionellen Antagonismus zwischen Schilddrüse und Epithel¬
körperchen in den bisher vorliegenden Erfahrungen keine genügende
Stütze findet. Ich glaube, durch meine Versuche eine neue Stütze
dafür erbracht zu haben.
Es bliebe endlich die Beziehung der Epithelkörperchen zur
inneren Secretion des Pankreas zu erörtern. In dieser Beziehung
fehlen mir eigene Erfahrungen. Doch stellten Eppinger, Falta
und Rudinger fest, dass die Epithelkörperchen und das Pankreas
auf den Stoffwechsel retardativ einwirken, im Gegensatz zur Schild¬
drüse und zum chromaffinen System, die acceleratorisch wirken,
dass also ein Antagonismus zwischen Epithelkörperchen und Pan¬
kreas nicht besteht.
Wollte man also die Epithelkörperchen in das genannte Schema
ein fügen, so ginge das zwanglos in folgender Weise:
Th.
Chrom. S.
Dabei würden die benachbarten Theile antagonistisch aufein¬
ander einwirken, die gegenüberliegenden sich fördern.
Kehre ich von dieser Abschweifung auf ein vielleicht noch
nicht ganz sicher fundirtes Gebiet der Theorie zu dem zurück,
was, wie ich hoffe, durch die vorliegende Arbeit thatsächlich er¬
wiesen ist, so ist es der Satz, dass zwischen Epithelkörperchen einer¬
seits und Schilddrüse und Nebenniere andererseits ein stricter Anta¬
gonismus besteht. Während Nebenniere und Schilddrüse den Sym-
pathicustonus erregen, hemmen ihn die Epithelkörper. Durch
regelrechte gegenseitige Einstellung wird der normale Sympathicus-
tonus unterhalten. Wird das eine der Gegengewichte functionell
untüchtig, so kommt es zu einem Ueberwiegen des anderen, das
deshalb nicht in vermehrter Menge vorhanden zu sein braucht.
Ob diese Thatsachcn für die Auffassung der Tetanie von
Nutzen sein können, ob es vielleicht möglich sein wird, auf Grund
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
521
derartiger Vorstellungen doch noch zu einem einheitlichen Krank¬
heitsbegriff der Tetanie zu gelangen, das müssen erst weitere Unter¬
suchungen lehren. Ich glaube aber, dass durch unsere Auffassung
schon jetzt manche bisher ungeklärte Thatsache in ein anderes
Licht gerückt wird. So ist die von R. Hirsch bei der Tetanie
beobachtete Herabsetzung der Assimilationsgrenze für Zucker und
Stärke, die Hirsch als typisches Symptom der Tetanie bezeichnet,
durch Ueberwiegen der Nebennieren infolge Ausfalles der antago¬
nistischen Epithclkörperfunction leicht zu erklären. Die von Mac
Callum und Vögtlin inaugurirte Calciumtherapie der Tetanie und
ihre Erfolge werden erklärlich, wenn man weiss. dass die Zerstö¬
rung des Adrenalins vom Alkaligehalt des Blutes abhängt (Embden,
v. Fürth, Kretschmer) und dass bei Epithelkörperverlust das
Blut infolge vermehrter Kalkausscheidung und verminderter Kalk¬
aufnahme kalkärmer ist, als der Norm entspricht (Mac Callum i.
Die Schwangerschaftstetanie rückt vielleicht einer Erklärung näher,
wenn man berücksichtigt, dass während der Gravidität die Neben¬
nieren oft stark hypertrophiren (Guieysse, Stoerk u. v. Haberer),
dass also auch hier wahrscheinlich Gleichgewichtsstörungen der
Organe mit innerer Sccretion vorhanden sind.
Protokolle. 1 )
I. Versuche an Katzen.
Katze III. Grau, mittelgross.
2. 7. 10. Exstirpation der Thyreoidea -p Epithelkörperchen,
die deutlich sichtbar sind.
3. 7. Munter, frisst, geht umher. Nachts 12 Uhr leichte Steifigkeit der
Hinterbeine.
4. 7. früh. Ausgesprochener tetanischer Anfall. Hochgradige Spas¬
men der Hinterbeine, Unfähigkeit zu gehen, Muskelkrämpfe am ganzen Körper,
Athmung 66, krampfhaft, röchelnd. Bis 10 Uhr Zunahme der Erscheinungen.
10 Uhr Exstirpation beider Nebennieren vom Mittelschnitt aus.
Zwischendurch Aufwachenlassen aus der Narkose, worauf sofort starke Muskel¬
krämpfe und Zuckungen in den Beinen auftreten. Nach Beendigung der Ope¬
ration ruhig. Mittags und Nachmittags Katze traurig, liegt ruhig, geht aber
auf Locken in normaler Weise umher, macht beim Streicheln einen Buckel.
Athmung ruhig, 24. Hin und wieder noch ganz leichte, kurz vorübergehende
1) Es werden nur die Versuche, bei denen infolge technischen Misslingens
der Operation keine Resultate sich ergaben, fortgelassen. Bezüglich der Lite¬
ratur verweise ich auf Bicdl, Innere Sccretion. 1910.
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522
Dr. Guleke,
Zuckungen in einzelnen Muskelgruppen, aber keine Spur von Steifigkeit in den
Beinen. Trinkt. Abends ziemlich munter, springt vom Tisch, trinkt viel.
5. 7. Tm Ganzen ruhig, etwas traurig, sitzt oder liegt in behaglichen
Stellungen. Keine Krämpfe, Athmung ruhig, 24. Trinkt viel. 3mal im Laufe
des Tages ganz leichte Zuckungen in der rechten Schultermusculatur von
1 l i Minute Dauer. Abends etwas matter. Parese in den Hinterbeinen.
6. 7. Liegt ruhig. Hochgradige Schwäche, Ataxie, taumelt, wenn man
sie aufsetzt und fällt um. Keine Spasmen, keine Muskelzuckungen. Athmung
ruhig, 24. Morgens 2 mg Adrenalin subcutan ohne Einwirkung. Nachmittags
völlig reactionslos. Athmung ruhig. 2 mg Adrenalin wieder wirkungslos.
Abends x / 2 ^ Uhr Exitus (beobachtet), ganz ruhig, ohne Krämpfe.
Sectionsbefund: Operationsgebiete glatt geheilt. Keine Reste von
Nebennieren oder Schilddrüsenapparat mehr nachweisbar. Nieren, Leber hvper-
ämisch.
Katze V. Weissgrau, mittelgross.
11. 7. 3 Uhr Nachmittags Exstirpation der Thyreoidea -|- Epi¬
thelkörperchen.
12. 7. Munter, geht umher, trinkt. 2 Uhr Nachts einzelne clonische
Zuckungen in den Hinterbeinen bei Bewegungen.
13. 7. Muskelzuckungen an verschiedenen Stellen, nioht stark.
14. 7. Völlig normal, munter.
17. 7. Apathisch, Nasen- und Augenausiluss.
18. 7. Matt, miaut viel, unruhig. Hin undwieder leichteMuskelzuckungen.
Seit Mittag Steifigkeit der Hinterbeine, gleichzeitig Ataxie und Parese aller vier
Extremitäten. 4UhrNachmittags 5 mg Adrenalin subcutan injicirt. 1 / i Stunde
darauf stärkere fibrilläre Muskelzuckungen, die sich weiter steigern. Nach
1 Stunde voll entwickelter tetanischer Anfall. Motorische Unruhe, keu¬
chende Athmung, clonische Krämpfe, tonische Starre der Extremitäten. Abends
dauern die tetanischen Krämpfe fort, um 11 Uhr schwere Beugekrämpfe
(„Pfötchen“-Stellung, Kopf auf die Brust gepresst), abwechselnd mit Streck¬
krämpfen. Das Thior wird im Zimmer umhergeschleudert, ruckweise herum¬
gerollt etc.
19. 7. Anfall vorüber, Thier liegt apatlisch da, nur ganz selten von clo-
niseben Zuckungen in den Extremitäten befallen. Spasmen, Paresen. y 2 4Uhr
Nachmittags 5 mg Adrenalin subcutan. Naoh */ 4 Stunde Zuckungen, nach
1 Stunde tetanischer Anfall, wie gestern, nur nicht ganz so grossartig ent¬
wickelt. Dauer bis 12 Uhr Nachts.
20. 7. Keine Anfalle, Thier scheinbar moribund daliegend, Steifigkeit in
den Beinen, hin und wieder leichte Zuckungen.
21. 7. Scheint Morgens moribund. Chronische Tetanie, kein Anfall.
6 Uhr Nachmittags 5 mg Adrenalin subcutan. Nach 2 Minuten schwerer An¬
fall, der bis 8 Uhr dauert. Danaoh Katze wieder ruhig. 3 / 4 10 Uhr Abends
5 ccm Kochsalz subcutan (= gleiche Quantität), ohne Erscheinungen. 10 Uhr
5 mg Adrenalin, nach 2 Minuten schwerer Anfall, in dem das Thier um 11 Uhr
verendet.
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
523
Sectionsbefund: Hochgradige Verfettung der Nierenrinde, sonst nichts
Besonderes.
Katze VII. Schwarzweiss, gross.
14. 7. 3 Uhr Nachmittags Exstirpation der Thyreoidea -(- Epi-
thelkörperohen.
16. 7. Munter. Seit der Operation Stridor — wohl beide Nn. recurrentes
durchschnitten. Durchfälle.
17. 7. Leichte Steifigkeit der Hinterbeine. Apathie. Durohfälle.
18. 7. Neben den Spasmen auch ausgesprochene Parese der Hinterbeine,
ab und zu Zuckungen darin.
19. 7. Steifigkeit aller 4 Beine nimmt zu, ab und zu Zuckungen in den
Beinen. Apathie. Athmung ruhig.
21.7. Desgl., bisher kein Anfall. 6 Uhr Nachmittags 5 mg Adrenalin,
ohne Erfolg.
22. 7. 10 Uhr Vormittags leichte Steifigkeit beim Gehen. 10 mg Adre¬
nalin subcutan. Wenige Minuten darauf Athmung schnell, krampfhaft, Katze
liegt auf derSeite. Nach 1 Stunde ausgesprochene motorisohe Unruhe, Speichel¬
fluss, aber keine Krämpfe. Bis y»2 Uhr Erscheinungen vorüber. Katze schläft.
6 Uhr Nachmittags wieder 10mg Adrenalin subcutan. Sofort danach krampf¬
hafte Athmung, sehr beschleunigt, Speichelfluss, Unruhe, desgleichen noch
um i/ 2 9 Uhr Abends. Nachts Exitus.
Sectionsbefund: Hochgradige Verfettung der Nierenrinde. Auf der
rechten Seite der Trachea, etwas unterhalb des Abgangs der Thyreoidea inf.,
ein Gebilde, das wie ein normales Epithelkörperchen aussieht (mikroskopisch
leider nicht untersucht, da Präparat verloren ging).
Katze VIII. Weiss, gross.
19. 7. 3 Uhr Nachmittags 5 mg Adrenalin subcutan. Keinerlei Er¬
scheinungen.
22. 7. Nichts Besonderes beobachtet.
23.7. 3 Uhr Nachmittags Exstirpation beider Nebennieren. Nach
20 Minuten aus der Narkose erwacht. 12 Uhr Nachts. Sitzt aufrecht im Kasten,
relativ munter.
24. 7. Morgens Katze todt.
Sectionsbefund: Keine Blutung. Nichts Besonderes.
Katze IX. Weissgrau, mittelgross.
25. 7. 3 Uhr Nachmittags Exstirpation der Thyreoidea -j- Epi¬
thelkörperchen.
31. 7. Völlig munter.
6. 8. 2 Stunden dauernder tetanischer Anfall.
22. 8. Keine Anfälle mehr (offenbar 1 Epithelkörperchen erhalten). Wird
struppig, sitzt stumpfsinnig da, frisst nicht ordentlich, miaut viel, keine teta-
nisohen Erscheinungen. Injection (subcutan) von 5 mg Adrenalin. Bricht,
Athmung danach beschleunigt, starker Speichelfluss, sonst nichts Besonderes.
23. 8. Unverändert, wie sonst.
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524
Dr. Guleke,
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28. 8. Immer struppiger, stumpfsinnig, frisst wenig. Haarausfall. Keine
titanischen Erscheinungen. Ausgesprochenes Bild der thyreopriven Kachexie.
Wegen der Ferien getödtet.
n. Versuche an Hunden.
Hund I. Schwarzweisser Fox, jung.
31. 5. 10. 3 Uhr Nachm. Exstirpation der rechten Nebenniere.
5. 6. Munter. Wunde völlig geheilt.
10. 6. 3 Uhr Nachm. Exstirpation der Thyreoidea -f- Epithel¬
körperchen.
11. 6. Munter, frisst.
12.6. Morgens noch munter. 11 Uhr Mittags tetanischer Anfall,
nach 1 Stunde sehr schwer. Clonische Krämpfe zuerst in den Hinterbeinen,
dann in den Vorderbeinen, fibrilläre Muskelzuckungen in allen Muskeln, teta-
nische Starre der Extremitäten, hochgradig beschleunigte keuchende Athmung.
1 Uhr 30 Min. Thier macht den Eindruck, kurz vor dem Exitus zu stehen.
1 Uhr 30 Min. Exstirpation der linken Nebenniere. Nachmittags und
Abends Hund leidlich munter, keine Anfälle mehr, geht umher, reagirt gut.
13. 6. Morgens Thier ziemlich munter, geht herum, frisst. Athmung
ruhig.
14. 6. Hund freundlich, geht herum, frisst, aber sehr phlegmatisch,
schläft viel. Athmung ruhig.
15. 6. Morgens Hund wie gewöhnlich, geht herum, trinkt. 1 / 2 10 Uhr
ziemlich plötzlich Exitus in gewöhnlicher Seitenlage ohne Krämpfe.
Sectionsbefund: Von Schilddrüse, Epithelkörperchen und Neben¬
nieren nichts mehr nachweisbar. Nierenrinde stark verfettet. Herzmuskelver¬
fettung.
Mikroskopisch: Nephritis acuta parenchymatosa. In der Leber, die
stark hyperämisch ist, fettige Degeneration der Leberzellen.
Hund II. Schwarzweisser Schäferhund.
15. 6. 3 Uhr Nachm. Exstirpation der rechten Nebenniere.
17. 6. Sehr munter. Wunde gut.
22. 6. Exstirpation der Thyreoidea -j- Epithelkörperchen.
23. 6. Munter, geht herum, frisst.
24. 6. Bis 10 Uhr Vorm, ganz normal. 1 / 2 11 Uhr Hinterbeine steif, be¬
schleunigte Athmung, Speichelfluss, Erbrechen. 12Uhr fibrilläres Muskelzittern
am ganzen Körper, Hinterbeine in Strecksteilung, Hund kann sich nur mühsam
erheben, bricht mehrfach, keuchende Athmung (160 in der Min.). 1 Uhr auch
Vorderbeine steif gestreckt, doch kann sich der Hund auf ihnen noch halten,
auf den Hinterbeinen nicht mehr. x / 2 2 Uhr Exstirpation der linken
Nebenniere. 4 Uhr Hund ziemlich wach. Leichte Zuckungen in der Nacken-
musculatur, alles Uebrige weich, Athmung ruhig, Hund liegt zusammengerollt
da. 5 Uhr keine Zuckungen mehr, Hund ganz wach, Athmung ruhig. 7 Uhr
noch leichte Narkosennaohwirkung, doch setzt sich das Thier auf, geht mit
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
525
normalen Bewegungen umher. Athmung 22. 12 Uhr Nachts, geht ohne Spas¬
men herum, ziemlich schlaff.
25. 6. Morgens sehr elend. Ganz leicht spastisch. Athmung 30—40,
ruhig. Puls 120. 10 Uhr Parese im rechten Vorderbein. Puls und Athmung
w ie vorhin. 12 Uhr Mittags nach einigen leichten Zuckungen der Nackenmus-
culatur Exitus unter zunehmender Schwäche.
Sectionsbefund: Operationsgebiete in Heilung, keine Infection. Nichts
von Nebennieren- und Epithelkörperresten gefunden. Auffallende Hyperämie
der Leber, Milz und Nieren. Nierenrinde stark verfettet.
Hund III. Foxterrier.
18. 6. 3 Uhr Nachm. Exstirpation der rechten Nebenniere.
Dabei gleitet die Klemme von der V. suprarenalis ab, starke Blutung, mühsame
Blutstillung, dabei durch seitliche Ligatur starke Verengerung der V. cava inf.
20. 6. Frisch, munter.
25. 6. Exstirpation der Thyreoidea Epithelkörperchen.
27. 6. Munter, ganz normal, keine Tetanie.
4. 7. War bis jetzt normal, heute matter, frisst wenig.
5. 7. Gegen Mittag tetanischer Anfall. Schwere Krämpfe im rechten
Vorderbein, Kau- und Nackenmusculatur, die sich rasch auf den ganzen Körper
ausdehnen. 3 Uhr Nachm. Exstirpation der linken Nebenniere. (Bei
Einleitung der Narkose trotz vorheriger Morphiumgabe so starker Opisthotonus,
dass der Hund im Halbkreis auf Kopf und Kreuz steht und nicht aufgebunden
werden kann.) 4 Uhr, athmet ruhig, Muskelzuckungen hören um Y 2 6 Uhr auf.
8 Uhr Abends, liegt ruhig da, keine Zuckungen mehr. 12 Uhr Nachts ruhig.
Athmung 24, keine Spasmen oder Krämpfe. Matt, Schwäche beim Aufsitzen.
6. 7. Apathisch, liegt ruhig da, keinerlei tetanische Erscheinungen.
Nachmittags ausgesprochene Paresen der Beine, Ataxie hochgradig.
7. 7. Morgens scheinbar moribund, reagirt auf nichts, unfähig, zu sitzen
oder zu stehen. Keine Spasmen oder Zuckungen, Athmung ruhig. 11 Uhr
Vorm. 3 l / 2 mg Adrenalin subcutan. Nach 20 Minuten Muskelwogen, Hund
wird lebhafter, frisst etwas. Nachm, steht er auf Locken auf und kommt etwas
atactisch, aber ohne besondere Steifigkeit zu Einem, nimmt Antheil an der Um¬
gebung, kratzt sich seine Decken zurecht, ehe er sich hinlegt, etc. 4 Uhr
Nachm. 5 mg Adrenalin subcutan. Danach auffallend munter, geht umher,
folgt auf Locken, nimmt an Allem Antheil. Bleibt so bis zum Abend. Zuckungen
oder Krämpfe nicht vorhanden. Abends 12 Uhr ziemlich lebhaft, bleibt aber
liegen.
8. 7. Morgens todt gefunden, der Stellung nach ohne Krämpfe verendet.
Sectionsbefund: Leichte Verfettung der Nierenepithelien, sonst nichts
Abnormes.
Hund IV. Grauweisser Spitz.
21.6. 3 Uhr Exstirpation der rechten Nebenniere. Sehr
schwierig!
28.6. Wunde völlig geheilt. Exstirpation der Thyreoidea -f-
Epithelkörperchen.
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Dr. Guleke,
526
30. G. Munter, keine Tetanie.
4. 7. Frisst heute weniger, matt.
5. 7. Wird todt im Käfig gefunden (wohl Tetanie).
Hund V. Kleiner Fox, sehr lebhaft. (Controlversuch.)
7. 7. 3 Uhr Nachm. Exstirpation der Thyreoidea -j- Epithel¬
körperchen. Abends 12 Uhr gut erholt.
8. 7. 9 Uhr Morgens Steifigkeit in den Hinterbeinen. In 1 Stunde Ent¬
wickelung schwerster tetanischer Anfälle. Uebergreifen der Spasmen und
klonischen Krämpfe auf die vorderen Extremitäten, profuser Speichelfluss,
hochgradige motorische Erregung. Springt trotz der Krämpfe auf Tische und
Stühle. Athmung keuchend, krampfhaft, 80—90 pro Min. Allmählich Fort¬
schreiten der Krämpfe auf Nacken- und Kaumusculatur, um 12 Uhr Opistho¬
tonus, s / 4 Minuten lang Athemstillstand. Dann Beruhigung, Hund reagirt auf
nichts mehr, liegt unbeweglich auf der Seite, spastisch gestreckte, zuckende
Extremitäten, fibrilläres Muskelwogen. Athmung ruhiger, 35—40. 4 Uhr Nachm.
Liegt unbeweglich, reagirt nicht, Athmung ruhig. 7 Uhr Nachm, leidlich
munter, folgt auf Locken, trinkt. 12 Uhr Abends munter, kein Zittern mehr.
9. 7. 9 Uhr Morgens munter, läuft umher, keine Zuckungen. 12 Uhr
neuer tetanischer Anfall, fast so stark wie gestern. Uebergreifen auf Hais¬
und Rachenmusculatur, Schlingkrämpfe, Opisthotonus. Im Anfall um 2 Uhr
Exitus.
Hund VI. Mittelgrosser Pintscher. (Controlversuch.)
18. 7. 3 Uhr Nachm. Exstirpation der Thyreoidea -j- Epithel¬
körperchen. 12 Uhr Nachts erholt.
19. 7. Vormittags Steifigkeit der Hinterbeine, später auch der Vorder¬
beine. Seit 12 Uhr Athmung beschleunigt, krampfhaft. Muskelzuckungen.
1 Uhr 30 Min. ausgesprochener tetanischer Anfall. 3 Uhr 30 Min. Nachm.
35 Minuten lange Aethernarkose nach 0,04 Morph. Während der Narkose
Ruhe. 1/4 Stunde nach Aussetzen der Narkose setzen klonische Krämpfe in
den Hinterbeinen ein, die sioh allmählich steigern, auf die Vorderbeine über¬
gehen. 5 Uhr wieder das ausgesprochene Bild des tetanischen Anfalles: Hund
liegt keuchend auf der Seite, die 4 Beine steif von sich gestreckt, in zuckender
Bewegung, wie Trommelschlägel. 8 Uhr Abends Anfall noch in gleicher
Stärke. 11 Uhr desgl. 12 Uhr Nachts nur noch leichte Zuckungen. Steifig¬
keit der Beine, Hund liegt ruhig atbmend da.
20. 7. 1 Uhr Mittags wieder schwerer tetanischer Anfall, der bis
5 Uhr Naohm. dauert. 12 Uhr Abends, Hund schläft ruhig, Beine steif.
21. 7. Spasmen, kein Anfall. 6Uhr Nachm. 5mg Adrenalin subcutau.
Keinerlei Erscheinungen (zu w r enig Adrenalin!).
22. 7. Ruhig, reagirt wenig. Spasmen geringer.
23. 7. Nachts Exitus im tetanischen Anfall.
Sectionsbefund: Im Operationsgebiet etwas Nachblutung. Hoch¬
gradige Verfettung der Nierenrinde.
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527
Hund VII. Kleiner brauner Jagdhund.
9. 8. 2 Uhr Nachm. Exstirpation der Thyreoidea -j- Epithel¬
körperchen.
10. 8. Munter.
11. 8. Nachts Exitus im tetanischen Anfall.
Sectionsbefund: Leichte blutige Infiltration des Operationsgebietes.
Hund VIII. Brauner Rattenfänger.
11. 8. 3 Uhr Nachm. Exstirpation der Thyreoidea -|- Epithel¬
körperchen.
13. 8. Munter.
14. 8. 6 Uhr Abends schwerer tetanischer Anfall.
15. 8. Munter.
16. 8. 2 Uhr Mittags wieder tetanisoher Anfall. 4 Uhr Exstir¬
pation der Nebennieren (ohne Assistenz!). Asphyxie und Exitus.
Hund IX. Alter brauner Bastard.
18.8. 3 Uhr Nachm. Exstirpation der Thyreoidea -j- Epithel¬
körperchen.
20. 8. Munter.
21. 8. Wird Morgens 7 Uhr in schwerem tetanischen Anfall ge¬
funden. 9 Uhr Exstirpation der Nebennieren (Asphyxie!). Auffallend
starke Herzaction während der Operation. 10 Uhr, Atbmung wird wieder
ruhiger, keine Zuckungen mehr. 12 Uhr, liegt ruhig, Athmung ruhig, keine
Krämpfe. 3 Uhr Nachm. Exitus ohne Krämpfe (genau beobachtet).
Sectionsbefund: Wunden in Ordnung. Hochgradigste Herzmuskel-
und Nierenrinden Verfettung.
Hund XI. 3 Monate alter schwarzer Pintscher.
18. 10. 3 Uhr Nachm. Exstirpation der Thyreoidea -(- Epithel¬
körperchen.
20. 10. Sehr munter, springt herum.
21. 10. Vorm. y 2 10 Uhr tetanischer Anfall. Krämpfe, Muskel¬
wogen, Spasmen, kann nioht mehr geben. Beschleunigte keuchende Athmung,
Speichelfluss. 11 Uhr 30 Min. Exstirpation beider Nebennieren. Nach
Beendigung hören die Zuckungen bald auf, Athmung noch beschleunigt.
12 Uhr 30 Min. keinerlei Zuckungen mehr, keine Spasmen, Athmung ruhig,
tief, Hund liegt ruhig da. Puls 88, sehr kräftig, ab und zu aussetzend.
3 Uhr 30 Min. ruhig, wedelt, keine Zuckungen und Spasmen, Athmung 28,
Puls 96, gleichmässig. 9 Uhr ruhig, hebt den Kopf, wenn man kommt, wedelt.
Puls kleiner, 128, oft aussetzend. 12 Uhr Nachts, liegt ruhig, stöhnt, sehr
matt. Puls nicht mehr fühlbar. Athmung normal. Keinerlei Zuckungen.
22. 10. Morgens todt, genau in der Stellung von der Nacht gefunden,
also Krämpfe wohl auszuschliessen.
Sectionsbefund: Wunden in Ordnung. Beträchtliche Leber- und
Herzmuskelverfettung.
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528
Dr. Guleke,
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Hund XII. 3 Monate alt, Bruder von XI. 20. 10. 3 Uhr Nachmittags
Exstirpation der Thyreoidea -j- Epithelkörperchen.
24. 10. Bis jetzt munter, frisst, spielt.
25. 10. Mittags leichte Muskelzuckungen in den Hinterbeinen, am
Schultergürtel. Steifigkeit der Hinterbeine, Unruhe. 6 Uhr Abends. Zunahme
der Zuckungen, Zuckungen in der Kiefermusculatur, in Vorder- und Hinter¬
beinen. Starke Unruhe. 8 Uhr Abends. Ausgesprochener tetanischer An¬
fall. Streckkrämpfe, keuchende Athmung, Speichelfluss, fibrilläres Muskel-
zittern. y 2 10 Uhr Abends Exstirpation der Nebennieren. — Danach
Hund ruhig, wenig Zuckungen. Athmung noch keuchend und krampfhaft.
V 2 1 Uhr Nachts. Keine Zuckungen mehr, liegt ganz ruhig, reagirt gut.
Athmung normal. 3 Uhr Nachts desgl. 4 Uhr. Ganz ruhig. Athmung ruhig.
Stöhnt.
26. 10. 6 Uhr Exitus ohne Krämpfe.
Sectionsbefund: Operationsgebiet in Ordnung. Von Epithelkörpern,
Schilddrüse und Nebenniere nichts mehr nachweisbar.
Hund XIV. Alter weisser Pintscher. 2. 11. 10. 3 Uhr Nachmittags
Exstirpation der Thyreoidea -f- Epithelkörperchen unter Zurück¬
lassung der unteren Hälfte des rechten Schilddrüsenlappens.
3. 11. Morgens gut erholt, ganz munter. 3 Uhr Nachmittags schwerer
tetanischer Anfall, nachdem seit Vormittag Hinterbeine steif, Zuckungen in
den Extremitäten auftraten. 4 Uhr 30 Min. Exstirpation der Nebennieren
(sehr schwierig, schwere Asphyxie). Zu Beginn der Narkose sehr heftige teta-
nische Krämpfe. — Nach der Operation leichte Zuckungen, Athmung wieder
ruhig, Puls kräftig, 130. 6u.9 Uhr Abends. Hund liegt apathisch, aber ruhig
da. Athmung ruhig, keine Krämpfe. 11 Uhr Abends. Ausgesprochener mittel¬
schwerer tetanischer Anfall (klonische Krämpfe, Muskelzittern, krampfhafte
Athmung). Puls nirgends mehr fühlbar, Hund macht komatösen Eindruck.
12 Uhr 30 Min. Exitus im tetanischen Anfall.
Sectionsbefund: Halswunde reactionslos, l / 2 Schilddrüsenlappen gut
erhalten. Im Bauch nichts Abnormes. Nebennieren total entfernt.
Hund XV. Gelber Schäferhund. 11. 11. 3 Uhr Nachmittags Exstir¬
pation der Epithelkörperchen -}- 1 1 / / 2 Schilddrüsenlappen (linke
untere Hälfte bleibt zurück).
12. 11. Munter.
13. 11. Traurig, frisst und trinkt aber. 12 Uhr Abends. Typischer
tetanischer Anfall. Keuchende jagende Athmung, hochgradige Salivation,
Muskelwogen, Spasmen, klonische Krämpfe der Beine; Thier geht wie auf
Stelzen, wird dabei durch die Krämpfe umhergeschleudert. Zwischendurch
stärkere Anfälle, so dass das Thier nicht aufstehen kann.
14. 11. V 2 1 Uhr Nachts. Exstirpation der Nebennieren. — Nach
Beendigung der Operation nur noch beschleunigte Athmung, keine Spasmen
oder Zuckungen mehr. 4 Uhr Morgens. Liegt ruhig da, keine Zuckungen.
6 Uhr. Athmung langsam, tief, keine Zuckungen. 9 Uhr Morgens. Typischer,
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
529
wenn auch nicht sehr foudroyanter tetanischer Anfall. Krämpfe besonders
stark in den Kaumuskeln, Opisthotonus. Per Anfall unterscheidet sich nut-
graduell von den sonstigen Anfällen. lOUhr Exitus im tetanischen Anfall.
Sectionsbefund: Halswunde iu Ordnung, zurückgelassener Thyreoidea¬
rest gut erhalten. Keine accessorischen Schilddrüsen oder Epithelkörper auf¬
findbar, ebenso wenig accessorische Nebennieren. Nierenrinde fettig degenerirt.
Sonst nichts Abnormes. — Urin deutlich zuckerhaltig.
Hund XVI. Kleine sehr kräftige Dogge. 15. 11. 3 Uhr Nachm. Ex¬
stirpation der Epithelkörperchen -J- oberer Hälfte beiderThyreoi-
dealappen.
16. 11. Morgens munter, frisst. 12 Uhr. Parästhesien am Ohr. Einzelne
leichte Zuckungen der Thorax- und Schultermusculatur. Thier traurig, geht
unruhig umher. 1 Uhr. Leichte Spasmen in allen 4 Beinen. 2 Uhr. Teta¬
nischer Anfall voll entwickelt. 3 Uhr. Exstirpation der Neben¬
nieren. — Nach dem Erwachen Athmung noch 220 in der Minute, sonst ganz
ruhig, leichte Spasmen, keine Zuckungen. Urin: Zucker positiv. 5 Uhr.
Athmung nur noch 100, keine Spasmen mehr, liegt ruhig. 6 Uhr. Athmung
30. Hund geht ohne jede Spasmen etwas umher. 7 Uhr 30 Min. Geht wie ge¬
wöhnlich herum, traurig. Leichte Parese der Hinterbeine. 11 Uhr Abends.
Auffallend munter, gebt viel herum. Gut erholt. 1 Uhr 30 Min. Nachts.
Wird unruhig, aber keine Zuckungen. Athmung ruhig. 3 Uhr Nachts. Geht
viel herum, unruhig. Athmung ruhig. Keine Zuckungen. 4 Uhr. Leichte
Zuckungen in der Thorax- und Bauchmusculatur. Liegt jetzt ruhig. 5 Uhr
30 Min. Schlapp, liegt ruhig. Stärkere Zuckungen am Bauch und Thorax.
17. 11. 7 Uhr früh. Klonische Krämpfe in den Beinen von Zeit zu Zeit.
8 Uhr ausgesprochener tetanischer Anfall. Exitus im Anfall 8 Uhr 30 Min.
Sectionsbefund: Operationswunden inOrdnung. Thyreoideareste (auch
mikroskopisch) gut erhalten, normal. Leber, Nieren hyporämisch. Nierenrinde
verfettet.
Hund XVII. Schwarze hochträcbtige Setterhündin. 18.11. 3 Uhr Nachm.
Exstirpation der Thyreoidea -(- Epithelkörperchen. 8 Uhr Abends
leidlich erholt. 12Uhr Nachm, schwerer tetanischer Anfall (nach 8Stunden!
Gravidität!).
19.11. Liegt apathisch auf der Seite, nimmt aber Antheil, trinkt. Keine
Spasmen oder Zuckungen. Abends lebhafter, munterer. Parese der Hinterbeine.
20. 11. Viel munterer wie gestern. Kann wegen Parese aller 4 Extremi¬
täten nicht aufstehen. Keine tetanischen Erscheinungen. Mittags wirft das
Thier 6 todte vollentwickelte Junge. 12 Uhr Abends munter, keine tetanischen
Erscheinungen.
21. 11. Morgens munter, aber Spasmus in den Beinen. 11 Uhr Vorm,
tetanischer Anfall. Auf seiner Höhe, 12 Uhr Exstirpation der Neben¬
nieren. Zu Beginn der Narkose schwerer Krampfanfall. Nach Beendigung
der Operation keine Spasmen, Athmung noch keuchend. 2 Uhr Puls 180, sehr
kräftig, Herzaction erschüttert den ganzen Körper. Athmung 56, keine
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. ‘.)4. Heft 3.
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Dr. Guleke,
;>;*<)
Zuckungen, keine Spasmen. 3 Uhr Puls 120, aussetzend. Athmung 40. Keine
Zuckungen, keine Spasmen. 3 Uhr 45 Min. Ohne tetanische Erscheinungen
Exitus, kaum merklich.
Sectionsbefnnd: Operationswunden in Ordnung. Leber und Nieren
stark verfettet.
Hund XVIII. Ueber mittelgrosser, gelber Schäferhund. 25. 11. 3 Uhr
Nachmittags Exstirpation der Thyreoidea -|- Epithelkörperchen.
26. 11. Sehr munter, frisst ordentlich.
27. 11. 9 Uhr Vormittags beginnender tetanischer Anfall, bis 10 Uhr
voll entwickelt: Keuchende Athmung, Speichelfluss, fibrilläres Muskelzittern,
klonisohe Krämpfe in den Extremitäten und der Nackenmusculatur, tonische
Starre der 4 Beine, so dass Aufstehen unmöglich. 10 Uhr Unterbindung
aller sichtbaren Nebennierenvenen (peripher und proximal). Zu Beginn
der Narkose schwerer Krampfanfall. — Nach Beendigung der Operation noch
keuchende Athmung (100), Puls 200, hin und wieder leichte Zuckungen, bei
Streichen über den Nacken noch deutliche klonische Krämpfe im Sinne der
Streckung. 12 Uhr. Liegt ruhig, keine Krämpfe mehr auszulösen, keine
Zuckungen, keine Spasmen, Athmung 40. 4 Uhr. Völlig ruhig, athmet langsam,
normal. 12 Uhr Nachts. Geht wie gewöhnlich umher, wedelt.
28. 11. Keine Krämpfe mehr (2stündlich controlirt, auch Nachts). Munter,
frisst, kommt Einem entgegen, dabei keine Spasmen, keine Zuckungen. Puls
80—88. Athmung normal.
29. 11. Munter, frisst, völlig normal. Parese und Ataxie in den Hinter¬
beinen.
30. 11. Munter, Parese etwas stärker. Keine tetanischen Erscheinungen.
1. 12. Desgl.
2. 12. Bis heute Mittag völlig normal, munter. Seit 3 Uhr Nachmittags
Stöhnen, steht mühsam auf, Parästhesien am Ohr, dann einzelne blitzartige,
manchmal hörbare Zuckungen im Gebiet des linken Ohres und Halses, etwa alle
3 Minuten eine Zuckung, die anscheinend sehr schmerzhaft ist. 4 Uhr Spasmen,
hin und wieder Zuckungen im Bein, im Nacken, im linken Ohr. 6 Uhr.
Spasmen stärker, Hund kann aber gehen. Vereinzelte, sehr heftige Muskelcon-
tractionen. Speichelsecretion vermehrt, Athmung ruhig. 12 Uhr Nachts Status
idem. Wedelt beim Eintreten, kann sich bewegen, aber starke Spasmen, verein¬
zelte Muskelcontractionen. Stöhnt fort.
3. 12. Seit 4 Uhr Morgens etwas besser. Keine Spasmen mehr, keine
Zuckungen, Athmung normal. Aber beständiges Stöhnen. Geht umher, ziem¬
lich schlapp.
4. 12. Chronische Tetanie, stundenweise stärker, dann wieder geringer.
Vereinzelte Zuckungen, Spasmen, manchmal ungewollte Krampfbewegungen.
Aber Hund auffallend munter, geht herum, frisst mit Lust.
5. 12. Status idem.
6. 12. Morgens 5 Uhr beginnt ein schwerer tetanischer Anfall, der
bis y 2 9 Uhr Morgens dauert; danach Hund ruhig, schläft zusammengerollt.
11 Uhr 3 Min. langer schwerer Anfall, danach Hund ruhig. 1 Uhr desgl. 4Uhr.
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Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
531
Seit einer Stunde alle 15 Minuten ein 2—3 Minuten dauernder Anfall: Spasmen,
Krampf bewegungen sehr heftiger Art, das kräftige Thier daboi im Zimmer um¬
bergeschleudert. Dabei Athmung ruhig, wenn auoh duroh Zwerchfellkrämpfe
beeinflusst, kein Muskelzittern. i/ 2 5 Uhr Tödtung durch Chloroforminjection
ins Herz.
Sectionsbefund: Operationsgebiete in Ordnung. Nebennieren etwas
blass, die rechte etwas verkleinert, sonst unverändert. Venen richtig unter¬
bunden, aber nicht thrombosirt, einzelne kleine anastomosirende Venenäste er¬
weitert und durchgängig, links deutliche Anastomose mit der Vena renalis.
Mikroskopisch sowohl Rinden- als Marksubstanz der Nebennieren intact, keine
Stauung, keine Nekrosen.
Hund XIX. Brauner, sehr lebhafter Rattenfänger. 2. 12. 3 Uhr Nach¬
mittags Exstirpation der Thyreoidea-f-Epithelkörperchen. Abends
munter.
4. 12. Morgens: bis jetzt munter, frisst, läuft viel umher. 2 Uhr Mittags
erste leichte Zuckungen. 7 Uhr Zuckungen stärker, häufiger, Unruhe, leichter
Speichelfluss. 8 Uhr intravenöse Injection eines Organpräparates, dabei sehr
starke Blutung. 12 Uhr Nachts. Zuckungen bestehen weiter, Spasmen.
5. 12. 4 Uhr Morgens. Thier sehr unruhig. Speichelfluss, Spasmen,
Zackungen, aber noch gehfähig. y 2 6 Uhr früh. Schwerer tetanischer An¬
fall, der bis l / 2 9 Uhr dauert. 10 Uhr. Völlig erschöpft, liegt reactionslos auf
<ler Seite, noch iinrnor Zuckungen in den Extremitäten. Scheinbar moribund.
Ligatur der Nebennieren-Venen, die in wenigen Minuten leicfit ge¬
lingt. Danach ruhiger, Zuckungen selten. Colossale Herzaction. y 2 l2 Uhr
Zuckungen noch da, um 1 / 2 1 Uhr Exitus.
Seotionsbefund: Hochgradige Anämie. Braune Degeneration des Herz¬
muskels, starke Leber- und Nierenverfettung. Nebennieren unverändert, Ligatur
liegt richtig.
Hund XX. Ziemlich alter Pintscher. 6. 12. 3 Uhr Exstirpation der
Thyreoidea --j- Epithelkörperchen.
7. 12. Erholt, frisst, etwas gedrückt. Bricht 1 mal.
8. 12. Morgens normal. 8 Uhr 30 Min. früh tetanischer Anfall.
10 Uhr. Ligatur der Nebennierenvenen (der abführenden allein). 2 Uhr.
Sofort nach der Operation Aufhören der Krämpfe. Athmung normal, Puls 120,
kräftig. 5 Uhr Nachmittags. Erholt. Läuft über den Hof trotz Parese in den
Hinterbeinen und leichter Ataxie. Keine Spasmen, keine Zuckungen. 12 Uhr
Nachts. Ruhig, völlig erholt, läuft umher.
9. 12. Nachts über ruhig gewesen. Munter. Ausser leichter Parese der
Hinterbeine nichts Abnormes. Frisst. 12 Uhr Abends munter, ganz normal.
10. 12. 5 Uhr noch leidlich munter, nimmt aber nichts mehr. 7 Uhr
15 Min. früh Ausbruch des tetanischen Anfalles: Athmung schnell,
keuchend, Muskelzuckungen (ähnlich Hund XVIII), klonische Krämpfe in den
Beinen. Anfall dauert mit kurzen Remissionen bis 11 Uhr, von dann an alle
paar Minuten Zuckungen im ganzen Körper, Muskelwogen, ständig einzelne
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532 Dr. Guleke, Experimentelle Untersuchungen über Tetanie.
Muskelzuckungen. Beginn des chronischen tetanischen Anfalles wie bei
Hund XVIH. — 12 Uhr 15 Min. Exstirpation der Nebennieren. Sehr
leicht, in wenigen Minuten ausgeführt. Zu Beginn der Narkose schwerer Krampf*
anfall. Beim Erwachen wieder starke Zuckungen. (Nebennieren sehen normal
aus, auch mikroskopisch, Vene richtig unterbunden, aber zahlreiche Anasto-
mosen.) 1 Uhr. Zuckungen hören auf. 1 Uhr 30 Min. Hund völlig ruhig,
Athmung ruhig, Spasmen aufgebört. 3 Uhr Nachmittags. Keinerlei tetanische
Anzeichen mehr. Liegt ganz ruhig. 6 Uhr. Ohne weitere tetanische Anzeichen
ganz unmerklich Exitus.
Sectionsbefund: Operationswunden in Ordnung. Nebennieren, Schild¬
drüsen und Epithelkörperchen fehlen vollständig.
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XVII.
(Aus der chir. Abtheilung des Krankenhauses der jüdischen
Gemeinde zu Berlin. — Dirig. Arzt: Prof. Dr. J. Israel.)
Benigne Epithelheterotopie
als Ursache eines Mastdarmtumors.^
Von
Dr. Alfred Cahn,
Assistenzarzt.
(Hierzu Tafel XIII.)
Am 17. Februar 1909 wurde auf der chirurgischen Abtheilung unseres
Krankenhauses eine 40jährige Frau aufgenommen, deren Anamnese folgendes
ergab:
Sie war als Kind stets gesund und wurde mit 12 Jahren zum ersten Male
menstruirt. Die Periode war unregelmässig, alle 14 Tage bis 3 Wochen, stark,
von 4—5 tägiger Dauer.
Die erste Entbindung fand vor 18 Jahren statt, das Kind lebt. Seitdem
machte sie 3 Aborte durch, den letzten vor 13 Jahren.
Vor 9 Jahren wurde von Herrn Professor Mackenrodt der Uterus und
die rechtsseitigen Adnexe vaginal exstirpirt. Wie mir sein Assistent, Herr
Dr. Kosenthal, mittheilte, batte es sich um chronische Metritis, Peri- und
Parametritis, Pelveoperitonitis und rechtsseitige Salpingooophoritis gehandelt.
Nach der Operation war Patientin zunächst beschwerdefrei, bis sie vor
6 Jahren über Beschwerden von seiten des Darmes zu klagen begann. Bei
regelmässigem Stuhlgang fiel ihr zunächst die Form der Fäces auf, die blei¬
stiftartige Gestalt angenommen hatten. Diese Formveränderung wurde seit
2 Jahren noch erheblicher. Blut will sie zweimal, Schleim wiederholt, Eiter
nie im Stuhlgang beobachtet haben. Schmerzen im Darm hatte sie nie, auch
nicht bei der Defäcation. Der Stuhlgang war bis zuletzt regelmässig, seit
1*4 Jahren allerdings mit Hilfe von Abführmitteln.
1) Nach einem in der 181). Sitzung der freien Vereinigung der Chirurgen
Berlins am 14. November 1910 gehaltenen Vortrage.
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534
Dr. A. Cahn,
Der Status ergab eine kräftige, gut genährte Frau mit reichlich vor¬
handenem Fettpolster. Herz, Lungen und Bauohorgane ohne Besonderheiten.
Die inneren Genitalorgane fehlten, auch das der Anamnese nach vorhandene
linke Ovarium konnte nicht palpirt werden.
Bei der Reotaluntersuchung fühlte man 5—6 cm oberhalb des Anus
in der vorderen Reotumwand einen halbkuglig prominirenden harten Tumor
von der Grösse einer Kastanie, der ganz von Schleimhaut bedeckt war und das
Lumen mässig verengerte. Von der Umgebung liess er sich allenthalben scharf
abgrenzen. Ueber die Natur des Tumors waren wir von Anfang an zweifelhaft,
nur soviel schien sioher, dass es sich nicht um Carcinom handelte. Dagegen
sprach nicht nur die Thatsache, dass der Tumor von intacter Schleimhaut über¬
zogen und scharf gegen die Nachbarschaft abgegrenzt war, sondern auch die
bereits 6jährige Dauer der Beschwerden. Ob ein Zusammenhang mit der früheren
Genitalaffection bestehen konnte, Hessen wir in suspenso.
Am 15. Februar wurde von Herrn Professor Israel die Operation aus¬
geführt, die unter Lumbalanästhesie eingeleitet und mit Aether vollendet wurde.
Der Versuch, durch Spaltung der hinteren Scheidenwand Zugang zum Tumor
zu erhalten, misslang wegen Raummangels, daher wurde der sacrale Weg be-
sohritten und der Tumor mit sammt einem Stüok Rectum in derselben Weise
wie ein Carcinom resecirt.
Die Vereinigung der beiden Darmenden geschah nach Hochenegg, indem
die Schleimhaut des analen Theils excidirt, das centrale Darmende durch das
periphere hindurchgezogen und mit der Analhaut vernäht wurde.
Die Reconvalescenz verlief ungestört, und Patientin wurde am 17.März
1909 mit vollkommener Continenz geheilt entlassen. Die Dauer der Heilung
wurde durch eine vor kurzem vorgenommene Nachuntersuchung festgestellt.
Das Präparat ist ein 10 cm langes Stück Rectum, dessen vordere Wand
den oben beschriebenen Tumor aufweist. Die Schleimhaut zeigt sich überall,
auch über dem Tumor, intact. Auf dem Durchschnitt scheint eine erheb¬
lich verdickte Musculatur den wesentlichen Bestandteil des Tumors auszu¬
machen.
Es wurden Stücke des Tumors und der angrenzenden Darmwand in For¬
malinalkohol gehärtet und nach Einbettung in Paraffin 10 fi dicke Schnitte mit
Hämatoxylin - van Gieson, resp. Hämatoxylin-Eosin gefärbt.
Herr Geheimrath Orth hatte die Liebenswürdigkeit, einige Präparate
durchzusehen, wofür ich ihm verbindlichst danke.
Ein Querschnitt durch die Darmwand und das angrenzende Bindege¬
webe im Bereich des Tumors zeigt bei Lupenvergrösserung (Fig. 1) eine stark
verbreiterte Musculatur und Submucosa, in denen eine Anzahl kleinster rund¬
licher und ovaler Hohlräume eingefügt ist, die, wie noch erörtert werden wird,
mit Epithel bekleidet sind. Am reichhaltigsten sind dieselben in den der Mus¬
culatur anliegenden Schichten des periproctalen Bindegewebes und der Submu¬
cosa vertreten, während dieMusculatur nur dieCommunicationswege derEpithel-
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Benigne Epithelheterotopie als Ursache eines Mastdarmtumors. 535
räume zwischen Submucosa und periproctalem Bindegewebe zu beherbergen
scheint.
Diese epithelialen Räume hängen vielfach mit der Schleimhautoberfläche
zusammen, dringen in die Submucosa ein, wo sie sich submucös ausbreiten.
Von da dringen sie mit einzelnen Schläuchen durch die verdickte Musculatur
in das pararectale Bindegewebe, wo sie sich stark ausbreiten.
Verfolgen wir den Weg, den die epithelialen Räume von der Schleimhaut
aus in die Tiefe nehmen (Fig. 2), so ist zunächst zu constatiren, dass die
Drüsenschicht (a) im Bereiche des Tumors in ihren tieferen Partien allent¬
halben erhalten ist. Die Drüsen selbst sind in diesem Abschnitt erweitert und
liegen in einer Tunioa propria, die sich durch ihren Zellreichthum von der
normalen, faserreichen Tunica propria wesentlich unterscheidet. Der Zusammen¬
hang der Epithelräume mit den Darmdrüsen ist daran deutlich erkennbar,
dass einzelne Drüsen die hier stark verbreiterte Muscularis mucosae, die sonst
eine scharfe Grenze zwischen Schleimhaut und Submucosa darstellt, durch¬
brechen, deren Bündel auseinanderdrängen und sioh unmittelbar in die Epithel¬
räume fortsetzen, die die gesammte Darmwand durchsetzen. Dieselben sind
von einem Mantel von Zellen bekleidet, die weiter unten noch geschildert
werden.
Wie erwähnt, ist die Muscularis mucosae (Fig. 2b) im Bereich der
epithelialen Wucherung verbreitert und durch die Epitheleinlagerungen ausein¬
andergesprengt. Die Grenze der Submucosa ist ganz unscharf, sodass letztere
auch noch von Muskelbündeln durchsetzt erscheint. Ihr Gewebe ist verdichtet,
faser- und relativ zellreich. Besonders bekleiden Mäntel sehr zahlreichen
Bindegewebes alle epithelialen Räume. Dieselben sind interfasciculär der¬
artig eingelagert, dass die Fascikel des Bindegewebes und der Musculatur von
ihnen auseinandergedrängt scheinen.
Die Darmmusculatur (Fig. 3) ist im Bereich der Epithelwuoherung
hyperplastisch und wird nur an vereinzelten Stellen von den epithelialen
Räumen durchsetzt, die auch hier in zeitige Bindegewebszüge eingehüllt sind.
Jenseits der Darmmusculatur, im pararectalen Gewebe, sind die Epithel¬
räume zwangloser ausgebreitet (Fig. 4) und bilden an der Grenze der Längs-
musculatur einzelne Cysten. Am meisten fällt dio enge nachbarliche Beziehung
der Epithelräume zu den Gefässen auf, was auch in der Submucosa, wenn auch
weniger ausgeprägt, der Fall ist. Die Lymphbahnen sind vielfach erweitert
und scheiden die Epithelräume und ihre zeitige Umhüllung häufig so ein, dass
diese halbinselförmig in die Lymphräume hineinragen. Meist jedoch liegen sie
im fibrösen Bindegewebe.
Die begleitenden Zellmäntel (Fig. 2—4) sind in ihrem Umfang propor¬
tional der Menge der darin enthaltenen Epithelräume. Sie umgeben letztere
nicht als Mäntel von allseitig gleicher Stärke, sondern sie sind häufig auf der
einen Seite breiter als auf der anderen. In der Submuoosa (Fig. 2) sind sie,
entsprechend den engen Epithellumina, schmäler als in dem peripher der Mus¬
culatur gelegenen Bindegewebe (Fig. 4). Sie sind nur dann scharf umschrieben,
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Dr. A. Cahn,
wenn sie von grösseren Lymphbahnen abgegrenzt sind, sonst strahlen sie un¬
regelmässig nach den verschiedensten Riohtungen hin aus. In den Zellmänteln
liegen kleine Blutgefässe und Capillaren. Die zellreichen Partien sind
nicht ausschliesslich an die epithelialen Räume gebunden, sondern man findet
sie auch in den Spalten des Gewebes, ohne dass sie Epithelräume beherbergen.
Der Ursprung dieses zellreichen Gewebes liegt in der Tunica propria
der Schleimhaut. Denn nicht nur ist es in seiner Structur mit dieser identisch,
sondern an einzelnen Stellen ist zu sehen, wie es die Muscularis mucosae
durchsprengt und sich in die Tiefe fortsetzt (Fig. 2).
Die die Epithelräume umgebenden Mäntel (Fig. 5) bestehen aus einem
capillar- und zellreichen Granulationsgewebe, dessen Zellen mannigfache Grösse
und verschiedene Form haben. Am reichhaltigsten vertreten sind grosse Spindel¬
zellen mit länglichem Kern, ferner Bindegewebszellen mit unregelmässig ge¬
formtem Kern und eine wechselnde Zahl von Lymphocyten. Letztere finden
sich nicht nur innerhalb der Zellmäntel, sondern auch in deren Umgebung.
Die Epithelräume communiciren in einem von der Schleimhautoberfläche
bis ins periproctale Bindegewebe dringenden System, das sich in der Musculatur
am deutlichsten den Muskelinterstitien anpasst, während es sich im Bindege¬
webe den Gefässbahnen entsprechend verzweigt. In den Knotenpunkten der
Verzweigungen sind die Epithelräume zum Theil cystisch, ebenso in der Peri¬
pherie. Es ist dies erklärlich durch den geringen Gewebswiderstand im Gegen¬
satz zu den engen Bahnen der Musculatur.
Die Epithelräume selbst (Fig. 5) bestehen aus einer durchgängig ein¬
schichtigen Lage hoher Cylinderzellen mit stäbchenförmigen Kernen in palli-
sadenartiger Anordnung. In den cystisch und ampullär erweiterten Räumen
sind die Zellen niedriger und werden bisweilen sogar endothelartig. Ihre Ab -
stammung vom Darmepithel verräth sich nicht nur durch ihre Form,
sondern auch durch einzelne Becherzellen, die hier und da zerstreut anzutreffen
sind. Ferner — und das ist für die Abstammung der Epithelräume vom Darm¬
epithel absolut beweisend — sieht man an einzelnen Stellen (s. Fig. 2) er¬
weiterte Drüsenschläuche in die Submucosa hineinragen und sich direct in die
Epithelschläuche fortsetzen.
Die meisten Räume sind leer, einzelne dilatirte mit colloidem Inhalt und
Resten von Epithelien und Kernen gefüllt.
Zusammenfassend haben wir es also mit einer adenom-
artigen Wucherung zu thun, die sich als ein zusammenhängendes
System von epithelialen Räumen durch alle Schichten der Darm¬
wand ausbreitet. Von der Drüsenschicht der Schleimhaut ihren
Ursprung nehmend, durchsetzt diese Wucherung die Submucosa.
alsdann die Jnterstiticn der Muscularis mit relativ wenig Bahnen
und breitet sich jenseits der Muscularis in dem fibrös verdickten
Bindegewebe längs der Gelasse aus.
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Benigne Epithelheterotopie als Ursache eines Mastdarmtumors. 537
Es handelt sich also um eine Epithelwucherung, die durch
alle Schichten der Darimvand hindurch einen Zusammhang auf¬
weist.
Da epitheliale Gebilde an Stellen liegen, wo normaler Weise
Epithel nicht vorkommt, so müssen wir diese Wucherung als
Epithelheterotopie bezeichnen. Im Gegensatz zu Carcinom, dem
ja auch eine Epithelheterotopie charakteristisch ist, nennen wir
diesen Process benigne Epithelheterotopie und drücken damit
zugleich die klinische und pathologisch-anatomische Gutartigkeit
dieser Wucherung aus. L eber die wesentlichen Unterschiede zwischen
beiden Processen Carcinom und benigner Epithelheterotopie —
wird später noch Einiges zu sagen sein. Vor Allem möchte ich
daran erinnern, dass derartige Epithelhelerotopien in den ver¬
schiedensten Organen Vorkommen. Sie wurden von Chiari im
Isthmus der Tube entdeckt, besonders bei Tubereulose und Gonorrhoe.
.Robert Mcvcr fand sie in allen Theilcn der Tube und bei vielen
Arten von Salpingitis, wobei sie bis tief ins Eig. latum eindringen
können. Im Uterus wurden die lleterotopien zuerst von Lubarseh
beschrieben. R. Meyer zeigte die grosse Ausdehnung dieser
Wucherungen, ohne dcstructiv zu sein. v. Recklinghausen nannte
diese Epithel Wucherung, die stets mit erheblicher Hyperplasie der
Musculatur verbunden ist, Adenom vom, mit Unrecht, da es sich
um keine autonome Neubildung handelt, sondern um eine ent¬
zündliche Hyperplasie des Gewebes, verbunden mit heterotoper
Epithelwucherung. Diese entsteht so. dass epitheliale Schläuche
in Granulationsgewebe bei Tuberculose. Gonorrhoe und anderen
Entzündungen Vordringen. Nicht nur ist ausgesprochenes Granu¬
lationsgewebe für das Epithel durchgängig, sondern auch in klein¬
zellig infiltrirte Gewebsspaltcn dringt es vor. In den seltensten
Fällen entsteht ein Carcinom daraus. Meyer konnte in einem
Uterus Carcinom und epitheliale Hetcrotopie nebeneinander nach-
weisen.
Auch im Verdauungstractus sind epitheliale lleterotopien
häufig nachgewiesen (von Ort, Richter, Aschoff), so im Magen,
Darm und der Gallenblase. Ihre Feststellung ist hier leicht, da
normaler Weise die Muscularis mucosae eine scharfe, fast grad¬
linige Grenze zwischen Drüsen und Submucosa bildet. Wir sprechen
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538
Dr. A. Calin,
von Heterotopie, wenn die epithelialen Gebilde zwischen den aus¬
einander gedrängten Bündeln der Muscularis mucosae oder voll¬
kommen unterhalb von ihr gelegen sind, wie in unserem Falle.
Auch hier entstehen diese Wucherungen auf entzündlicher Basis.
Durch entzündliche Processe findet eine Auflockerung und Zer-
theilung der Musculatur statt, durch die neugeschaffenen Lücken
werden die Drüsen in die Tiefe gezogen, wo sie wuchern und sich
verbreiten. Man hat auch congenitale Veränderungen als Ur¬
sache'für die Epithelheterotopie beschuldigt, eine Ansicht, die von
den meisten Pathologen aus hier nicht zu erörternden Gründen
nicht getheilt wird.
Kehren wir zu unserem Präparat zurück, so zeigt es mit
Deutlichkeit das Bild einer solchen epithelialen Heterotopie auf
entzündlicher Basis. Wenn uns auch die tumorartige Entwick¬
lung dieser Wucherung zunächst an der entzündlichen Provenienz
stutzig macht, so ergiebt doch die mikroskopische Untersuchung
eine solche mit Sicherheit. Von ausschlaggebender Bedeutung sind
dabei die die Epithelräume umgebenden Zcllmäntel, von denen
schon öfters die Rede war. Dieselben stellen nichts Anderes dar,
als verschiedene Stadien eines entzündlichen Granulationsgewebes
vom frischen Granulationsgewebe in der Submucosa an bis zur
fibrösen Neubildung im Bindegewebe. Dieses Granulationsgewebe
hat seinen Ausgangspunkt in der Schleimhaut, dringt von dort in
die Submucosa und von hier perivascylär durch die Musculatur
hindurch bis tief ins periproctale Bindegewebe. Bemerkenswerth
ist, dass dieses Granulationsgewebe auch allein, ohne die epi¬
thelialen Räume anzutreffen ist, ein Zeichen, dass ihm eine durch¬
aus selbstständige Bedeutung zukommt, ln dieses Granulations¬
gewebe dringen die Epithelien der Darmdrüsen, indem sie es als
vorgeschriebene Bahn benutzen. Das entzündliche Bindegewebe
wuchert zu den zeitigen Mänteln, die die Epithelbahn allenthalben
begleiten. So ist es auch erklärlich, dass sich die Epithelwuche¬
rung längs der Gefässe ausbreitet.
Wenn ich noch kurz auf die Unterschiede einer solchen
Epithelheterotopie gegenüber Carcinom aufmerksam machen darf,
so sind das folgende:
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Benigne Epithelbeterotopie als Ursache eines Mastdarmtumors. 539
1. Die Heterotopie ist beim Careinom Folge aetiver. destruirender
Wucherung, bei der heterotopischen Epithelwucherung die
Folge passiver Verlagerung oder Verzerrung.
2. Bei der heterotopischen Epithelwucherung sind die Epithelien
in Structur und Form meist ganz unverändert, beim Carcinom
sind Abweichungen von der Form der Epithelien des Mutter¬
bodens etwas Gewöhnliches.
3. Beim Carcinom wird die Hauptmasse des Tumors vom
Fipithelgewebe gebildet, während bei der heterotopischen
Epithelwucherung (wie in unserem Falle) der Tumor im
Wesentlichen aus hyperplastischem Organgewebe, Musculatur
und Bindegewebe besteht, in dem die epithelialen Elemente
nur in relativ spärlicher Menge eingelagert sind.
Ob eine solche heterotope Epithelwucherung in Carcinom
übergehen kann, ist bis jetzt nicht festgestellt. Dass beides
in einem und demselben Organ Vorkommen kann, ist oben er¬
wähnt.
Ein ähnlicher Befund eines auf Epithelbeterotopie beruhenden
Darmturaors ist nur einmal erhoben worden, und zwar von R. Meyer
bei einem Tumor der Flexura sigmoidea. Auch in diesem Falb:
ist Meyer der Nachweis der entzündlichen Aetiologie des Tumors
geglückt, wenn auch dir Verhältnisse nicht so durchsichtig lagen
als in unserem Falle.
Ich glaube daher, dass dieser bemerkenswerth ist nicht nur
wegen der ausgesprochenen Geschwulstbildung, sondern auch be¬
züglich der zweifellos erwiesenen entzündlichen Aetiologie des
Processcs.
Literatur.
Robert Meyer, lieber entzündliche heterotope Epithel Wucherungen im weib-
lioben Genitalgebiete und über eine bis in die Wurzel des Mesocolon aus¬
gedehnte benigne Wucherung des Darmepithels. Virchow’s Arch. 1900.
Bd. 195. S. 487 (Lit.).
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540 Dr. Cahn, Benigne Epithelheterotopie als Ursache eines Mastdarmtumors.
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Erklärung der Abbildungen auf Tafel XIII.
Fig. 1. Querschnitt durch die gesammte Darmwand im Bereich des
Tumors, a Schleimhaut; b Submucosa; c Musoularis; d fibröses periproctales
Bindegewebe.
Fig. 2. Mucosa und verbreiterte Muscularis mucosae mit Epithelräumen.
a Drüsenschicht der Schleimhaut; b verbreiterte Muscularis mucosae; c Epi¬
thelräume.
Fig. 3. Epithelräume und umgebende Zellmäntel in den Interstitien der
Musculatur.
Fig. 4. Epithelräume im periproctalen Bindegewebe.
Fig. 5. Einige Epithelräume und begleitende Zellmäntel bei starker Ver-
grösserung.
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XVIII.
Ueber die Technik
ausgedehnter Magenresectionen.
Von
Dr. J. Schoemaker (Ilaag).
(Mit 4 Textfiguren.)
Im Anfang meiner .selbstständigen Tliätigkeit habe ich, aller¬
dings in sehr geringer Anzahl, die Magenresectionen nach Billroth I
ausgeführt. Bald verliess ich diese Methode unter dem Druck der
herrschenden Meinungen in der Literatur und ging zu der zweiten
Billroth’schen Methode über. Da aber diese Operation etwas
complicirter ist und die dadurch geschaffenen Verhältnisse doch
nicht die einfachsten sind, kam ich dazu, in Fällen, wo nur ver-
hältnissmässig wenig vom Magen resecirt worden war, dann und
wann die Kocher’sche Methode anzuwenden.
Aber auch dabei bin ich nicht geblieben. Ich konnte nicht
einsehen, dass es praktisch war, erst den Magen ganz zu ver-
schliessen, um dann wieder an einer anderen Stelle eine neue Ocff-
nung zu machen, und so kam ich zu meiner ersten Liebe zurück
und übte die erste Billroth’sche Methode in Fällen, bei welchen
Magenrest und Duodenum nicht zu weit voneinander entfernt waren.
.Jetzt aber bin ich so weit gekommen, dass ich nach dieser Methode
auch bei den ausgedehntesten Resectionen vorgehe.
Ich behaupte nun, dass es technisch immer möglich ist, den
Magenrest an das Duodenum zu bringen und ohne Spannung zu ver¬
nähen, auch wenn nur ein ganz kleiner Theil des Magenfundus ge¬
spart bleiben konnte.
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542
Dr. J. Schoemaker,
Eine totale Magcnresection. wobei der Oesophagus mit dem
Duodenum verbunden werden musste, habe ich allerdings noch
nicht gemacht, aber ich bin wohl so weit gegangen, dass von der
kleinen Curvatur fast Alles fortgenommen war, so dass die Durch-
trennungslinic am Magen ungefähr 1 cm unterhalb des Oesophagus
anfing. Vom Magen blieb dann ein kleiner Schlauch übrig, der mit
dem Duodenum vereinigt wurde. Nach Beendigung der Naht lag
der kleine Magenrest ohne Spannung.
Fig. l.
Oesophagus.
Magen regt.
Magen-
Dtiodennl nullt.
In der Weise bin ich dreimal vorgegangen; die Naht hat
immer gut gehalten und zwei Patienten leben und sind gesund seit
October resp. December 11108. Der dritte ist leider 4 Tage nach
der Operation an einer Nachblutung aus einem Gefäss des Meso¬
colons gestorben. Das Präparat, dessen Photographie hier bei¬
gefügt wird, zeigt nun, dass die erste Naht am Oesophagus an¬
gelegt wurde, dass der Magenrest nur ganz klein war, dass alle
Nähte intact waren und keine Spur von Spannung zeigten und dass
eine Verwachsung resp. Verklebung schon eingetreten war.
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Ueber die Technik ausgedehnter Magenresectionen.
543
I»oi dergleichen ausgedehnten Resectionen giebt es nun aber
ein paar Umstände, welche die Operation schwierig machen können.
Ich glaube aber, diese durch kleine Aenderungen der Technik um¬
gangen zu haben, so dass die Ausführung der Operation eher als
leicht, denn als schwierig zu bezeichnen war.
Ich möchte mir erlauben, den Gang der Operation zu be¬
schreiben:
Bauchschnitt in der Mittellinie vom Processus xyphoideus bis
zum Nabel. Der Magen wird eventrirt und die Ausdehnung des
Carcinoms festgestellt. Nachdem das Bestehen von unüber¬
windlichen Metastasen ausgeschlossen ist, wird ungefähr 4 cm
oberhalb der fühlbaren Geschwulstgrenze nahe an der kleinen
Curvatur das Omentum minus durchlocht und hier die A. eoronaria
sup. doppelt unterbunden und durchschnitten. An der grossen
Curvatur wird in gehörigem Abstand vom < arcinom das Omentum
majus ebenfalls durchtrermt und hier die A. eoronaria inf. unter¬
bunden.
Vorläufig gehen wir mit der Unterbindung der Go-
fässligamente nicht weiter, da dies nach der Durchtren¬
nung des Magens viel leichter ausgeführt werden kann
als jetzt.
Es werden nun zwei Klemmzangen genommen, womit der
Magen so abgeklemmt wird, dass man in gehöriger Entfernung von
der Geschwulst bleibt, wenn man dicht neben diesen Klcmmzangen
den Magen durchtrennt.
•Jetzt kommt die erste Schwierigkeit. Ich setze den Kall,
dass links von den Zangen so wenig gesunder Magen übrig bleibt,
dass, wenn hier auch noch eine Zange angelegt wird, die Naht am
Magen wegen Raummangels nicht mehr möglich ist. Darum wird
hier die Zange fortgelassen, aber am Magen wird tüchtig gezogen.
Nun wird an der kleinen Curvatur mit einer Schecre ein kleiner
Schnitt gemacht.
Durch die Spannung des Magens legen sich die Wund¬
ränder so fest aneinander, dass kein Inhalt nach aussen
Giesst. Mit einer Knopfnaht werden die Ränder vereinigt
(s. Fig. 2).
Es folgt ein zweiter Schnitt und eine zweite Naht.
Ueber der ersten wird eine Serosanaht gelegt.
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hoemaker,
Ueber die Technik ausgedehnter Magenresectionen.
545
Wiederum ein Schnitt und eine Naht u. s. w., bis der Magen
so weit durchtrennt und vernäht ist, dass noch ungefähr 6 cm
zum Durchschneiden übrig bleiben.
Jetzt haben wir Raum genug für eine Abschliessungszange.
Diese wird angelegt, wie es auf Fig. 3 angegeben ist, und der
Rest des Magens durchschnitten, nachdem ein Stück steriler Gaze
hintergestopft worden war.
Jetzt sind wir so weit gekommen, dass der Magen durch¬
trennt und die doppelreihige Verschlussnaht, soweit nöthig,
fertig ist.
Nun folgt die Unterbindung und Durchtrennung des Omentum
majus und minus, wobei selbstverständlich auf eventuell anwesende
Drüsenmetastasen geachtet wird, und die Durchschneidung aller
pathologischen Stränge, die vielleicht an der Hinterwand des Magens
haften.
Dazu wird der Magenstumpf mit der Geschwulst nach rechts
umgelegt und kräftig angezogen. Alle Verbindungen des Magens
spannen sich dann und bieten sich gewissermaassen zur Unterbin¬
dung an, die sofort ausgeführt wird. Ich bediene mich dabei
immer einer Scheere, die ich bei Hausmann in St. Gallen habe
anfertigen lassen und die in geschlossenem Zustande die Form
einer Kocher’schen Kropfsonde hat Diese ist sehr handlich und
erleichtert diesen Act noch etwas, aber das ist natürlich Neben¬
sache. Auch die feinen Gewebsstränge zwischen Pankreas und
Hinterwand des Duodenums können nun leicht gefasst, unterbunden
und durchtrennt werden. Man fährt hiermit so weit fort, bis eine
gehörige Fläche des Duodenums von hinten bloss liegt. Wir haben
dann erreicht, was Fig. 3 bietet. Der Magen liegt ganz nach
rechts um und zieht das Duodenum mit nach aussen.
Würde man jetzt den Magen vom Duodenum trennen, dann
würde man sich eine grosse Schwierigkeit bereiten. Der Zwölf¬
fingerdarm zieht sich dann unwiderruflich zurück und ist fast nicht
zu halten, Eine Klemme macht dann die Unbequemlichkeit der
Naht so gross, dass man sich nicht mehr sicher fühlt und lieber
ganz auf die Magendarmnaht verzichtet.
Das ist aber nicht nöthig. Die Naht ist ganz leicht auszu¬
führen, wenn man den Tumor nur mit dem Darm in Verbindung
lässt, um daran festen Halt zu haben.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3. or?
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546
Dr. J. Schoemaker,
Es folgt also jetzt die Naht der Hinterwand des Magenrestes
an die Hinterwand des Duodenums.
Dazu wird der Magenschlauch, der bis jetzt, in steriler Gaze
verpackt, noch links lag, nach rechts hinübergeführt und erreicht
dann immer das Duodenum. Der Schlauch nimmt nämlich den
geraden Weg vom Foramen oesophageum diaphragmatis bis zum
Duodenum, er braucht nicht einmal mehr der Krümmung der
kleinen Curvatur zu folgen, und dieser gerade Weg ist sehr kurz.
Fig. 4.
Die erste Naht fasst nun die Ecke an der Serosanaht des
Magens und befestigt diese am oberen Rande des Duodenums. Es
folgen dann etwa sechs Knopfnähte zwischen Serosa des Magens
und Hinterwand des Duodenums. Diese Nahtlinie verläuft schief,
da die Oeffnung des Magens grösser ist als die Breite des Darmes.
Die Fäden werden abgeschnitten, nur der erste und der letzte
bleiben. An den Pylorus kommt wieder eine Darmklemme, und dann
wird die Hinterwand des Duodenums parallel mit der Nahtlinie
incidirt (s. Fig. 4). Es kommt nun etwas Galle zum Vorschein,
aber die Menge ist meistens gering, so dass sie abgetupft werden
kann oder von der zuvor untergeschobenen Gaze aufgesaugt wird.
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Ueber die Technik ausgedehnter Magenresectionen.
547
Es folgt der hintere Theil der inneren Naht. Diese fasst die
ganze Magen- und Darmwand und wird fortlaufend angelegt.
Jetzt muss der Magen vom Duodenum getrennt werden. Zeigt
aber das Duodenum starke Neigung, sich zurückzuziehen, dann
kann man auch, wie ira Anfang am Magen, so Vorgehen, dass man
erst nur einen kleinen Schnitt macht, diesen sofort vernäht und
so weiter fortfahrend die innere Naht der Vorderwand beendigt,
währenddem der Magen vom Darm getrennt wird.
Bei dieser Naht bin ich immer so inconsequent, dass ich an
der Hinterseite alle Schichten fasse, während ich an der Vorder¬
seite die Mucosa nicht mitfasse, da es sonst fast unmöglich ist,
die Wundflächen miteinander in Berührung zu bringen.
Die Verschlussklemme am Magenschlauch wird nun ab¬
genommen, und dann bleibt noch übrig die Serosanaht der
Vorderseite. Diese ist aber nicht mehr schwierig, da das Duo¬
denum jetzt fixirt ist und mit den zwei Zügeln in Fig. 4 ge¬
halten wird.
Wie gesagt bin ich in dieser Weise dreimal so vorgegangen,
dass die erste Naht ganz nahe dem Oesophagus lag, das letzte
Mal lag sie sogar noch höher, nämlich auf dem Oesophagus, wie
in Fig. 1 zu sehen ist; — ich fand nun aber die Ausführung so
wenig schwierig, dass ich dazu kam, dieselbe Technik bei allen
Magenresectionen anzuwenden, und meine, dass es Argumente
giebt, die dafür sprechen, diese Methode der zweiten Billroth’schen
vorzuziehen.
Vor allen Dingen fällt die Verschlussnaht des Duodenums fort,
die technisch auch nicht so leicht auszuführen ist und auch nicht
sehr solide hält. Dass das keine Chimäre ist, geht aus den meisten
Veröffentlichungen über Magenresection hervor, wo man öfters er¬
wähnt findet, dass eine Gallenfistel entstand wegen Nichthaltens
der Duodenumverschlussnaht, und aus der Thatsache, dass Klapp
es für nöthig hielt, für die Verschliessung eine specielle Methode
zu erfinden. Ich selber habe bei 7 Magenresectionen nach Bill-
roth II zweimal mit einer Duodenalfistel zu thun gehabt, während
bei 19 Resectionen nach der jetzt beschriebenen Methode die Naht
immer gehalten hat. Das beweist doch nach meiner Meinung,
dass die sogenannte gefährliche Ecke, wo die Nahtlinien zusammen-
stossen, nicht gefährlich ist. Die Serosa des Magens ist so ver-
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548 Dr. J. Schoemaker, Die Technik ausgedehnter Magenresectionen.
schieblich, dass sie ohne jede Spannung über die innere Naht ge¬
legt werden kann und sie verwächst ja so leicht, wie kein anderes
Gewebe im ganzen Körper.
Die ganze Operation ist einfacher und dauert kürzere Zeit, als
die mit der Verschlussnaht und nachfolgender Gastroenterostomie,
und die Verhältnisse, die wir nach der Operation im Bauch hinter¬
lassen, sind die denkbar einfachsten; und das müssen wir in der
Chirurgie doch auch als Axiom betrachten: Je einfacher, um so
besser.
bv Google
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XIX.
(Aus der chirurg. Abtheilung des St. Marien-Krankenhauses
zu Frankfurt a. M.)
Zur Behandlung der acuten eitrigen
Appendicitis mit circumscripter oder diffuser
Peritonitis.
Von
F. Sasse (Frankfurt a. M.).
M. H.! Das grosse Interesse, welches die Appendicitis mit all’
ihren Folgeerscheinungen dauernd in Anspruch nimmt, rechtfertigt
es, das Thema auch in diesem Vereine wieder zur Sprache zu
bringen. Das Gebiet ist zwar ein so umfangreiches, die Zahl der
noch im Flusse befindlichen Fragen eine so grosse, dass es un¬
möglich ist, auf alle in gleich ausführlicher Weise einzugehen. Ich
habe es mir daher zur Aufgabe gemacht, nur über die Behandlung
der schwersten Form dieser Krankheit, der eitrigen, gangränösen
Appendicitis mit circumscripter oder diffuser eitriger Peritonitis
etwas eingehender zu sprechen und mich dabei besonders auf meine
eigenen Erfahrungen zu stützen.
Um jedoch dem Zuhörer und Leser zu ermöglichen, sich selbst
ein objectives Urtheil über die von mir erreichten Resultate und
über die Richtigkeit der von mir vertretenen Anschauungen zu
bilden, halte ich für zweckmässig, Ihnen eine Uebersicht über mein
gesammtes, seit dem 1. April 1909, dem Tage der Uebernahme
der Leitung der chirurgischen Abtheilung des Marienkrankenhauses,
beobachtetes Material zu unterbreiten.
1) Vortrag, gehalten mit einigen Abkürzungen am 19. December 1910 im
ärztlichen Verein zu Frankfurt a. M.
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550
Dr. F. Sasse,
Mit Statistiken lässt sieh bekanntlich alles beweisen, und wohl
kaum eine andere Krankheit bietet in Folge der verschiedenen Er¬
scheinungsformen der individuellen Auffassung grösseren Spielraum
als die Appendicitis. Daher scheint mir nur die vollständige Mit¬
theilung des gesammten Beobachtungsmaterials geeignet zu sein,
ein richtiges Bild von der Art des vorhandenen Beobachtungs¬
materials sowie von dem Ergebnisse der stattgehabten Behandlungs¬
methode zu geben und weiterhin auch die Möglichkeit zu bieten,
einen Vergleich mit den Resultaten anderer Autoren anstellen zu
können.
Tabelle I.
Gesammtzahl der Fälle
Nicht operirt
Operirt
232
15
217
Gestorben 4 = 1,72 pCt.
0
4 = 1,84 pCt.
Die Tabelle I giebt mein gesammtes vom 1. 4. 1909 bis
1. 12. 1910 beobachtetes Material wieder. Von den 232 Fällen
wurden 15 Fälle nicht operirt, theils weil sie bei der Aufnahme
schon so vollständig abgelaufen waren, dass nachweisbare Residuen
nicht mehr bestanden, theils deshalb nicht, weil die Patienten die
vorgeschlagene Operation verweigerten. Auch bei diesen letzteren
handelte es sich um leichtere Fälle, bei denen der Vorschlag zur
Operation nicht in eindringlicher Weise gemacht worden war. Ge¬
storben ist von diesen Fällen keiner.
Operirt wurden 217 Fälle und zwar auch die schwersten,
diffusen Peritonitiden. Wegen Aussichtslosigkeit auf Erfolg wurde
kein Fall von der Operation ausgeschlossen. Von den operirten
starben 4 Fälle = 1,84 pCt., während die Gcsammtmortalität der
Appendicitis überhaupt hiernach 1,72 pCt. beträgt.
Diese 217 operirten Fälle scheiden sich wieder in:
A. chronische Appendicitiden und
Intervalloperationen ... 51 mit 0 pCt. Todesfällen
B. acute Appendicitiden . . . 1(56 „ 4 = 2,41 „ ,.
Das Verhältnis der chronischen und Intervalloperationen zu
den Operationen „im Anfall“ ist somit der Art, dass erstere
24 pCt., letztere 76 pCt. der Gesammtzahl ausmachen, also etwa
wie 1 zu 3.
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Zur Behandlung der acuten eitrigen Appendicitis.
551
Ganz anders ist das Verhältnis dieser Zahlen bei Kümmell 1 ),
den ich hier zum Vergleiche heranziehen möchte.
Tabelle 11.
Kümmell’s Statistik pro 1909.
Gesammtzahl
der Operationen
Chronische
Appendicit.
u. Intervall¬
operationen
Acute Appendicitiden = 199
(t 15 = 7,54 pCt.)
Früboperat. j Abscesse | Peritonitiden
423
Gest.: 15 = 3,55pCt.
224
f 0 pCt.
143
+1 =0,6pCt.
8
fl = 12,5 pCt.
48
f 13 = 27 pCt.
Hier machen also die chronischen und Intervalloperationen
über die Hälfte der Fälle aus = 52,98 pCt., während die acuten
Appendicitiden nur 47,02 pCt. betragen. Das Verhältniss ist also,
die Gefährlichkeit der Operation berücksichtigt, ein sehr viel
günstigeres, trotzdem aber beträgt die Gesammtmortalität 3,55 pCt.,
ist also doppelt so hoch wie bei mir, während die Mortalität der
acuten Appendicitiden allein berechnet mit 7,54 pCt. sogar 3 Mal
so hoch ist wie bei mir.
Bevor ich noch weiter auf die Statistik eingehe, will ich in
Betreff der allgemeinen Indicationen zur Operation Folgendes vor¬
ausschicken :
Die chronischen Appendicitiden wurden operirt aus dem wohl
allgemein anerkannten Grunde dann, wenn dauernde Beschwerden
den Lebensgenuss beeinträchtigten und das Gefühl der Gesundheit
nicht aufkommen liessen. Intervalloperationen wurden ausgeführt
nach einem ausserhalb des Krankenhauses überstandenen ernsteren
Anfall auf Anraten des behandelnden Arztes und auf Wunsch des
Patienten.
In allen acuten Fällen halte ich bei dem unberechenbaren,
heimtückischen Charakter der Krankheit die Exstirpation des Wurm¬
fortsatzes für die ungefährlichste, sicherste und schnellste Behand¬
lungsmethode.
In allen Frühfällen, welche innerhalb der ersten 24 Stunden
noch nicht völlig abgelaufen sind, halte ich mich für verpflichtet,
dem Patienten die sofortige Operation dringend zu empfehlen, zu¬
mal dann, wenn irgend welche ernsteren Symptome vorhanden
1) Kümmell, Dieses Archiv. Bd. 92.
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552
Dr. F. Sasse,
sind. In diesen Fällen wird sobald als möglich nach Einlieferung
in das Krankenhaus die Radicaloperation ausgeführt, sei es bei
Tage, sei es bei Nacht.
In den ausgesprochenen leichteren Fällen, welche nach
24 Stunden in Behandlung kommen, trage ich gleichwohl kein
Bedenken, die Operation als die empfehlenswerthere Behandlungs¬
methode vorzuschlagen. Handelt es sich dabei um Fälle, welche
eine fühlbare Resistenz oder ein Exsudat nachweisen lassen, so
dringe ich eingehend auf die Operation, da mehrfach trübe Er¬
fahrungen früherer Jahre mich gelehrt haben, dass auch selbst die
klinisch scheinbar leichtesten Fälle doch in ihren Folgen über¬
raschend schnell zum unabweisbaren Tode führen können. So
machte ich unter Anderem vor Jahren 2 Mal die Beobachtung,
wie sich an einen Anfall leichtester Art, der den Patienten nicht
einmal bewog, das Bett aufzusuchen, nach etwa 10 Tagen eine
eitrige Thrombophlebitis der Leber anschloss, der der Patient als¬
bald erlag. Die am 12. Tage nur auf eine leichte Druckschmerz¬
haftigkeit hin ausgeführte Operation entdeckte einen kaum hasel¬
nussgrossen Granulationsherd am Processus, von dem die Venen¬
thrombose ihren Ausgang genommen hatte. Solche und ähnliche
Erfahrungen zwingen den ernsten und gewissenhaften Beobachter,
auch in dem leichtesten Anfalle den Keim zu einem vielleicht
schon nach wenigen Tagen nicht mehr aufzuhaltenden tödtlichen
Ausgange zu sehen und daher zu dem einzigen Mittel zu greifen,
welches allein die Krankheit sicher, schnell und gefahrlos zu heilen
vermag, nämlich zur möglichst frühen Radicaloperation.
Tabelle III.
Uebersioht über die acuten Appendicitiden.
Gesaramtzahl
der Fälle
Append.
simpl.
Appendicitis
gangr. pur.
mit Periton.
circumscr.
Peritonitis
diffusa
Alte
Abscesse
166
51
63
36
6
Gest.: 4 = 2,41 pCt.
0
2 = 3,17 pCt.
2 = 5,56 pCt.
0
Davon waren
Frühfalle:
Sa. 65
mit f 2
17
t o
34
t 1 (Embolie
am 19. Tage)
17
t 1 (Pneum.
am 11. Tage)
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Zur Behandlung der acuten eitrigen Appendicitis.
553
Die vorstehende Tabelle III zeigt die Verkeilung der acuten
Fälle nach dem Stadium, in welchem sie zur Operation kamen,
bezw. nach dem Befunde, der bei der Operation erhoben wurde.
Unter Appendicitis simplex sind alle die Fälle gerechnet, bei
denen der Krankheitsprocess sich im Wesentlichen noch auf den
Processus beschränkte, wo noch keine circumscripte oder diffuse
eitrige Peritonitis vorhanden war. Es findet sich darunter eine
grosse Anzahl, fast die Hälfte der Fälle, welche klinisch unter den
schwersten Symptomen verliefen und bei der Operation einen im
Zustande höchster Entzündung befindlichen, mit Eiter prall ge¬
füllten, theilweise gangränösen und oft unmittelbar vor der Per¬
foration stehenden Wurmfortsatz finden Hessen, bei denen natürlich
auch das Peritoneum der Umgegend wohl eine starke entzündliche
Reaction zeigte, aber doch noch kein freies, eitriges Exsudat ab¬
geschieden hatte. Bei längerem Zuwarten, vielleicht schon nach
wenigen Stunden, würden dieselben ohne Zweifel einen sehr schweren
Verlauf genommen und ohne rechtzeitige Operation nicht selten
wohl auch den Tod herbeigeführt haben. Die Operation dieser
Fälle ist insoweit eine einfache, als sie gewöhnhch den primären
völligen Verschluss der Bauch wunde zulässt und damit eine Hei¬
lung per primam erfolgt. Gestorben ist von diesen 61 Fällen
keiner.
Die folgenden Zahlen geben die Anzahl der mit circum-
scripter und diffuser eitriger Peritonitis verbundenen,
acuten, eitrigen Appendicitiden wieder, deren Behandlung
uns sogleich ausführlicher beschäftigen soll, sowie die der alten
(theilweise Monate alten) abgekapselten Abscesse.
Bemerken will ich nur, dass ich unter diffuser Peritonitis nur
solche Fälle verstehe, in denen wirklich die ganze oder doch
fast die ganze Bauchhöhle erkrankt war. In jedem einzelnen
Falle habe ich mir hierüber genaue Gewissheit verschafft, in¬
dem ich unter Anwendung langer, sogenannter Vaginal - Seiten¬
hebel und vorderer Platten, und unter Benutzung einer Stirnlarape
sowohl das kleine Becken, wie auch die Leber- und Magengegend
dem Auge zugängig machte. Alle nur theilweise diffusen Peri¬
tonitiden, welche nur auf eine Seite oder auf das kleine Becken
beschränkt waren, sind nicht zu den diffusen Peritonitiden gerechnet
worden.
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554
Dr. F. Sasse,
Das Verhältniss der diffusen Peritonitiden zu den acuten Fällen
überhaupt beträgt bei mir 36 : 166 = 21,69 pCt.; Kümmell hat
unter 199 Fällen 48 diffuse Peritonitiden gezählt = 24,12 pCt.
Ob dieses darauf zu beziehen ist, dass er ein schwereres Material
gehabt hat, oder ob er in der Classificirung der Fälle etwas weniger
streng gewesen ist als ich, lasse ich dahingestellt. Die grosse Zahl
eitriger Appendicitiden, die ich im Gegensatz zu Kümmell habe,
sprechen meines Erachtens eher dafür, dass mein Durchschnitts¬
material ein wesentlich schwereres gewesen ist. Die Mortalität
der diffusen Peritonitis beträgt bei meinen Fällen 5,56 pCt.. bei
Kümmell hingegen 27,0 pCt.
Ein ähnliches Verhältniss von acuten Peritonitiden zu den
Operationen im Anfall wie Kümmell hat auch Sprengel 1 ). Unter
583 Operationen im Anfall waren 143 Peritonitiden = 24,52 pCt.
und von diesen sind 69 gestorben = 48 pCt. Diese letztere Zahl
zeigt einen so colossalen Unterschied von den von mir erreichten
Resultaten, dass ich einstweilen eine Erklärung dafür nicht zu
geben vermag. Am wahrscheinlichsten ist mir, dass darunter sehr
viele Spätfälle sind, die schon fast moribund zur Behandlung
kamen.
Es wäre gewiss interessant gewesen, wenn ich auch das
Rehn’sche Material, besonders der letzten Jahre, zum Vergleich
hätte heranziehen können, da man wohl annehmen kann, dass in
der Schwere das Material des städtischen Krankenhauses mit dem
von mir beobachteten gleichwertig ist. Indessen habe ich hierüber
in der Literatur keine entsprechenden Zahlen finden können. Nur
in Bezug auf die diffusen Peritonitiden finde ich bei Nötzel die
Angabe, dass deren Mortalität im Jahre 1907 bei 37 Fällen 7
= 19 pCt., im Jahre 1908 bei 40 Fällen ebenfalls 7 = 18 pCt.
betragen hat.
In Betreff der Todesursachen muss ich noch kurz bemerken,
dass unter den 2 Todesfällen bei acuter, eitriger Appendicitis einer
an Embolie am 19. Tage erfolgte. Die Patientin war geheilt und
sollte nach Hause entlassen werden, wollte zuvor aber noch ein
Bad nehmen. Beim Einsteigen in die Badewanne erfolgte eine
schwere Embolie, infolge deren sie nach 3 Minuten verschied.
1) Sprengel, Yerhandl. d. Deutsch. Gesellseh. f. Chir. 1909.
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Zur Behandlung der acuten eitrigen Appendicitis.
555
Dieser Todesfall ist somit der Behandlungsmethode nicht zur
Last zu legen, sondern bildet einen jener unglücklichen Zufälle,
die wie ein Damoklesschwert über unseren Operirten schweben
und leider nur zu häufig das schönste operative Resultat zer¬
stören.
Aehnliches gilt von dem einen Todesfall bei diffuser Perito¬
nitis. Dieser Patient, ein decrepider Mann mit starrem, emphyse¬
matosem Thorax, starb am 11. Tage post operationem bei völlig
geheilter Bauchwunde und Peritonitis an Pneumonie, wie durch die
Section bestätigt wurde.
Der zweite Todesfall bei diffuser Peritonitis erfolgte bei einer
am 8. Tage der Erkrankung schon fast moribund eingelieferten
Patientin 5 Stunden nach der Operation, die sich nur auf eine In-
cision unter Localanästhesie in der Mittellinie beschränken musste.
Derartige Fälle können wohl überhaupt nicht mehr gerettet
werden; sie bilden eigentlich kein Object chirurgischer Behandlung
mehr, indessen, um consequent zu sein und kein Mittel unversucht
zu lassen, habe ich doch operirt.
Nur in dem einen Falle schwerer gangränöser Perforativappen-
dicitis mit grossem Abscess zwischen Leber, Duodenum und Colon
transversum hat sich unser operatives Vorgehen trotz Appendix¬
exstirpation, Eröffnung eines subphrenischen Abscesses und Gastro¬
enterostomie wegen acuter Magendilatation, die trotz wiederholter
Magenausspülungen andauerte, als unzulänglich erwiesen. Der Fall
war noch dadurch ausgezeichnet, dass im Eiter massenhafte
Streptokokken nachzuweisen waren. Bei der Section fand sich
eine eitrige Entzündung retroperitoneal in der Nierengegend, ein
subphrenischer Abscess, rechtsseitige eitrige Pleuritis und acute
Magendilatation.
Zum Schlüsse bitte ich Sie, noch einen kurzen Blick auf die
folgende Tabelle zu werfen, welche die operativen Resultate der
acuten Appendicitis überhaupt bei einer Anzahl der bekanntesten
Autoren wiedergiebt.
Absichtlich habe ich dabei die Resultate der letzten Jahre be¬
rücksichtigt, um möglichst vergleichbare Zahlen zu erhalten. Die
Anzahl der Fälle der einzelnen Autoren ist zum Theil grösser,
zum Theil kleiner wie bei mir, doch scheinen mir die Unterschiede
nicht allzugross zu sein.
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556
Dr. F. Sasse,
Tabelle IV.
Es beträgt die Mortalität der acuten Appendicitis bei
Kümmell 1 ) im Jahre 1909 . 7,54 pCt.
Küttner 2 3 ) „ „ 1909/10 .... 8 „
Sprengel 8 ) „ „ 1908/09 .... 5,5 „
Rotter 4 5 ) „ „ 1909 . 8,5 „
Sasse „ „ 1909/10 .... 2,41 „
Die von mir erreichten Resultate sind somit als ausserordent¬
lich günstige anzusehen. Ich glaube nicht, dass man dieses als
Zufall bezeichnen kann, da die Zahlen immerhin nicht unbeträchtlich
gross sind. Auch der Einwand, dass das Material ein besonders
leichtes gewesen sei, kann nicht wohl mit Ernst gemacht werden.
Wie sind nun diese Erfolge erzielt worden? Bevor ich hierauf
nähere Antwort gebe, scheint es mir zweckmässig, auf einige
wichtige, durch das Experiment gefundene Thatsachen hinzuweisen,
welche das Verhalten des Peritoneums gegenüber Infectionen, sowie
gegenüber verschiedenen Behandlungsmethoden illustriren.
Wegener 6 ) zuerst erbrachte in seiner bekannten klassischen
Arbeit den Nachweis, dass das gesunde Peritoneum im Stande ist,
indifferente Flüssigkeiten in verhältnissmässig colossalen Mengen
zu resorbiren; so können z. B. Kaninchen und Hunde bis zu 8 pCt.
ihres Körpergewichts in einer Stunde von der Bauchhöhle aus re¬
sorbiren.
Aber nicht allein indifferente, sondern auch bakterienhaltige,
fäulnissfähige Flüssigkeit wird in verhältnissmässig grossen Mengen
vom normalen Peritoneum glatt resorbirt, ohne dass es zu nach¬
haltigen Störungen kommt. Nur wenn eine grössere Menge Flüssig¬
keit, als in kurzer Zeit resorbirt werden kann, eingespritzt w'ird,
so dass die Bakterien sich in der stagnirenden Flüssigkeit weiter¬
entwickeln können, tritt der Tod durch Septikämie oder fortschrei¬
tende Peritonitis ein.
Grawitz 6 ) bestätigte und erweiterte diese Forschungsergeb¬
nisse dahin, dass er experimentell nachwies, dass eine eitrige Peri-
1) Kümmell, 1. c.
2) Küttner, erwähnt bei Coenen. Berliner klin. Wochenschr. 1910.
No. 48. S. 2177.
3) Sprengel, 1. c.
4) Rotter, Dieses Archiv. Bd. 93.
5) Wegener, Dieses Archiv. Bd. 20.
6) Grawitz, Charite-Annalen. XI Jahrg.
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Zar Behandlung der acuten eitrigen Appendioitis.
557
tonitis hervorgerufen wird, wenn die Infection in die anormale
Bauchhöhle erfolgt, sei es, dass dieselbe stagnirende Flüssigkeit
enthält, sei es, dass das Peritoneum durch ätzende Flüssigkeiten
ertödtet ist, so dass das Gewebe für das Eindringen von Eiter¬
kokken derart vorbereitet ist, dass sie sich ansiedeln und eine
allgemeine purulente Exsudation hervorrufen können, vor Allem
entsteht sicher eine eitrige Bauchfellentzündung, wenn eine Wunde
der Bauchwand die Ansiedelung der lnfectionsträger begünstigt
und von einer solchen, wenn auch kleinen Phlegmone des Bauch¬
fells aus die weitere Ansteckung ihren Ablauf nimmt.
Diese Versuche wurden im Wesentlichen mit demselben Re¬
sultate von Reichel 1 ) wiederholt. Weiterhin aber suchte dieser
auf experimentellem Wege die Frage nach der Möglichkeit der
Reinigung und eventuellen Desinfection der Peritonealhöhle durch
Spülungen mit den verschiedensten Substanzen, indifferenten und
desinficirenden Stoffen zu lösen. Er kam dabei zu dem Resultate,
dass eine Reinigung und Desinfection der Bauchhöhle durch Spü¬
lung nicht zu erreichen ist; eine Desinfection nicht, weil alle des¬
inficirenden, toxischen Substanzen in Lösung sehr rasch resorbirt
werden, so dass sehr schnell eine allgemeine Vergiftung eintritt,
und andererseits das Peritoneum sehr schwer davon alterirt wird;
selbst Spülungen mit der relativ unschädlichsten Flüssigkeit, der
physiologischen Kochsalzlösung, bedingen immerhin eine nicht gleich-
giltige Verletzung und Alteration des Peritoneums, die sich darin
zeigt, dass das Spülwasser stets blutig gefärbt wieder abfliesst. Er
kommt daher zu einem für die Spülung völlig abfälligen Urtheile.
Wenn wir nun an der Hand dieser durch das Experiment ge¬
wonnenen Kenntnisse die Vorgänge betrachten, die sich bei der
eitrigen Appendicitis im Bauchraume abspielcD, so können wir die¬
selben, glaube ich, nicht treffender als mit dem Worte „Phlegmone“
bezeichnen, von der eine stetige Infection des Bauchraumes erfolgt,
die, wenn nicht besonders günstige Umstände eintreten und eine
Abkapselung bewirken, eine allgemeine Bauchfellentzündung hervor¬
rufen muss. Die einzig rationelle Behandlung besteht somit darin,
neben der Entfernung des bereits ausgeschiedenen Infectionsmaterials
und des schon vorhandenen Eiters, diese Inlectionsquelle selbst so
1) Reichel, Dieses Archiv. Bd. 30.
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558
Dr. F. Sasse,
schnell wie möglich aus der Bauchhöhle zu entfernen. Aus dieser
Ceberlegung resultirt die Forderung der möglichst frühesten Früh¬
operation, wie sie von Sprengel 1 ), Riedel, Rehn, Kümmell,
Rotter u. A. aufgestellt worden ist und zweitens auch derRadi-
caloperation, d. h. der Entfernung der Appendix.
Dass die Früh Operation in der That die besten Behand¬
lungsresultate giebt, ist vielfach statistisch an einem grossen Ma¬
teriale nachgewiesen worden, so dass es nur Bekanntes wiederholen
hiesse, wenn ich näher darauf eingehen wollte. Nur auf den von
Kümmell auf dem diesjährigen Chirurgencongress (1910) in Berlin
gehaltenen Vortrag will ich hin weisen, wo an der Hand eines
grossen Materials diese Frage in erschöpfender Weise behandelt
wird und worauf der Congress mit imponirender Einstimmigkeit
die Frühoperation als diejenige Behandlungsmethode bezeichnete,
durch welche die Mortalität der Appendicitis am meisten herab¬
gesetzt werde. Kümmell hat in den letzten 3 Jahren unter
347 Frühoperationen innerhalb der ersten 48 Stunden überhaupt
nur 2 = 0,5 pCt. verloren. Auch unsere Erfahrungen stimmen
hiermit ganz überein und ich kann noch hinzufügen, dass nicht nur
die Mortalität dadurch am meisten herabgesetzt wird, sondern nicht
minder auch die Krankheitsdauer. So kommt bei den diffusen
Peritonitiden auf diejenigen Fälle, welche innerhalb der ersten
2 Tage operirt wurden, eine Heilungsdauer von durchschnittlich
24 Tagen (vom Tage der Aufnahme bis zur Entlassung), bei den
Fällen, welche am 3. Erkrankungstage operirt wurden, dauerte die
Heilung durchschnittlich 34,4 Tage und stieg bei den am 4. Er¬
krankungstage operirten auf 37,2 Tage, um bei den noch später
operirten (5.—8. Tag) gar auf 57 Tage anzusteigen.
Es giebt wohl kaum eindringlichere Zahlen, welche den hohen
Werth der Frühoperation in gleich überzeugender Weise illustriren,
als diese. Wenn man bedenkt, wie grosse wirthschaftliche Werthe
sowohl an Arbeitskraft, wie auch an Kosten durch die Frühopera¬
tion gewonnen werden, so muss man auch aus diesen Gründen
eindringlichst für dieselbe eintreten. Sicherlich ist die möglichst
frühzeitige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit für manchen Pa¬
tienten von der grössten Wichtigkeit und mag nicht selten auch
1) Sprengel, Appendicitis, Deutsche Chimnrie: vollständige Literatur
bis 1906.
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Zur Behandlung der acuten eitrigen Appendicitis. 559
entscheidend sein für den finanziellen Bestand oder Ruin der
Familie.
Die Frühoperation ist noch um so wichtiger für diese Frage,
als sie meistens einen primären oder doch secundären Nahtver¬
schluss der Bauchdeckenwunde ermöglicht und damit eine wider¬
standsfähige Narbe setzt, durch welche die Arbeitsfähigkeit des
Trägers nicht beeinträchtigt wird, während in den späteren Fällen,
welche unter Drainage oder Tamponade heilen, welche vielfach
noch Spätabscesse bekommen, die wiederum incidirt werden müssen,
weiche, nachgiebige Bauchnarben entstehen, die den Träger oft
arbeitsunfähig machen, bis durch eine Nachoperation die entstan¬
denen Bauchbrüche wieder beseitigt sind. Leider ist dieses aber
in manchen Fällen nicht oder doch nur unvollkommen möglich.
Neben der Frühoperation ist, wie oben bemerkt, die sofortige
primäre Radicaloperation, d. h. die Entfernung des erkrankten
Wurmfortsatzes zu fordern.
Man sollte meinen, dass, nachdem einmal der wirkliche Sach¬
verhalt erkannt worden war, dieser Forderung auch als selbstver¬
ständlich von Allen beigestimmt wird. Und doch ist es nicht so!
Nach zwei Richtungen hin werden hier noch Ansichten ver¬
treten, die mit obiger Forderung in Widerspruch stehen. Sie be¬
treffen einmal diejenigen Fälle, welche nach dem zweiten Tage in
Behandlung kommen und keinen unmittelbar ernsten oder progre¬
dienten Charakter mehr zeigen; und zweitens diejenigen eitrigen
Fälle, in welchen, wenn sie zur Operation kommen, der Wurm¬
fortsatz nicht sofort frei zu Tage liegt oder doch nicht bequem
gefunden werden kann.
In den ersteren Fällen wird von manchen namhaften Chir¬
urgen, Kümmell 1 ), Rotter 2 ) u. A., noch ein abwartendes Ver¬
halten empfohlen, bis der Entzündungsprocess völlig abgelaufen
und das Exsudat geschwunden ist. Kümmell wartet mit der Ra¬
dicaloperation mindestens ! / 2 Jahr.
Bei den Fällen der zweiten Categorie wird empfohlen, sich
nur auf die Incision und Tamponade zu beschränken und ebenfalls
in einer späteren Operation den Wurmfortsatz zugleich mit dem
entstandenen Bauchnarbenbruch zu entfernen.
1 ) l. <•.
2) I. e.
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560
Dr. F. Sasse,
Ich halte beide Ansichten nicht für richtig und glaube auch,
dass die von mir erreichten Resultate überzeugend dafür sprechen,
die Appendicitis in jedem Stadium sobald als möglich
und zwar auch sofort radical, d. h. mit Entfernung des
Wurmfortsatzes, operativ anzugreifen. Im Wesentlichen
stimme ich in dieser Hinsicht den Forderungen Sprengel’s 1 ) bei,
wobei ich nur noch hinzufügen will, dass es selbst bei den ganz
alten Abscessen nur selten nicht gelingt, den Wurmfortsatz zu
finden, es sei denn, dass er nekrotisch zu Grunde gegangen ist.
Einen Nachtheil von der Radicaloperation derjenigen Fälle,
welche nach dem zweiten Erkrankungstage auch bei anscheinendem
Stillstände oder gar bei Abklingen der Entzündungserscheinungen
operirt wurden, habe ich nie gesehen, wohl aber sehr trübe Erfah¬
rungen gemacht in einigen wenigen solchen Fällen, wo zunächst in
der irrthümlichen Annahme, es handele sich um eine Cholecystitis
oder um einen anderen Krankheitsprocess mit der Operation gewartet
wurde.
Wenn man weiter bedenkt, dass die Heilungsdauer eines
acuten Anfalles bei interner abwartender Behandlung gewöhnlich
viel länger dauert als bei operativer Radical behandlung, dass also
diese Zeit eine völlig verlorene ist, wenn man weiter die ausser¬
ordentliche Schwierigkeit in der richtigen Beurtheilung eines in der
Bauchhöhle befindlichen Entzündungsprocesses berücksichtigt, die
meiner Erfahrung nach auch nach dem zweiten Tage ebenso
schwierig oder, besser gesagt, unmöglich ist, wie in den ersten
2 Tagen, wo wir doch principiell die Radicaloperation fordern
sollen, so muss man zu der Ueberzeugung kommen, dass die
Radicaloperation in jedem Falle zu der frühst möglichen Zeit, aber
auch in jedem Stadium des Krankheitsverlaufs die empfehlens-
wertheste Behandlungsmethode ist. An dieser Stelle möchte ich
wohl die Frage aufwerfen, ob nicht der grössere Procentsatz an
diffusen Peritonitiden und Todesfällen bei Kümmell, der doch
sonst so vorzügliche Resultate hat, mit der zuwartenden Behand¬
lung der nach dem zweiten Erkrankungstage eingelieferten und
scheinbar im Rückgang befindlichen Fälle in Verbindung zu
bringen ist?
1) 1. c.
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Zur Behandlung der acuten eitrigen Appendicitis.
561
Auf die Gefahren und Häufigkeit der Recidive (50—60 pCt.)
will ich hier nur hinweisen, ohne weiter darauf einzugehen; und
wer verbürgt dem Patienten, dass der nächste Anfall nicht sofort
in Form einer schweren allgemeinen Peritonitis einsetzt zu einer
Zeit und an einem Orte, wo vielleicht rechtzeitig chirurgische Hülfe
nicht zu erlangen ist? Ich glaube, dass jeder beschäftigte Arzt
genügend derartige Erfahrungen hat machen können, ich wenig¬
stens habe früher verschiedene derartige Beobachtungen gemacht
und halte daher den oben gekennzeichneten Standpunkt für den
einzig consequenten und für den Patienten auch für den besten
und ungefährlichsten.
Ich komme nun zur Erörterung einiger technischer Fragen:
Da ist zunächst die Frage der Eröffnung der freien
Bauchhöhle. Noch immer besteht bei manchen Chirurgen ein
gewisser hoher Respect vor der Eröffnung der Bauchhöhle, als
wenn dieselbe besonders gefährlich und daher möglichst zu ver¬
meiden wäre. Und doch ist es gerade umgekehrt, und es ist ein
nicht geringes Verdienst Rehn’s 1 ) zu wiederholten Malen eindring¬
lichst hierauf hingewiesen zu haben. In der That giebt es kein
Organ und kein Gewebe im Körper, welches, wie die zahlreichen
Experimente sowie auch die tägliche Erfahrung übereinstimmend
zeigen, eine grössere Widerstandskraft gegen eine Infection besitzt
und eine einmal gesetzte Infection leichter überwindet als gerade
die Bauchhöhle, so lange sie sich im normalen Zustande
befindet und sofern nur die 2 Bedingungen erfüllt sind,
dass einmal die Infection nicht steten Nachschub erhält,
und dass zweitens sich nicht eine grössere Menge
Flüssigkeit in der Bauchhöhle befindet, als in kurzer
Zeit resorbirt werden kann, so dass die vorhandenen Bak¬
terien sich darin vermehren können. Wird man diesen beiden
Forderungen gerecht, so darf man die freie Bauchhöhle zur Ex¬
stirpation des erkrankten Processes oder zur Entleerung eines
intraperitonealen Abscesses unbedenklich öffnen, ohne den gering¬
sten Nachtheil befürchten zu müssen.
Ich gehe daher in jedem Falle principiell so vor, dass ich
den freien Bauchraum eröffne, auch bei völlig abgekapseltem
1) Rehn, Dieses Archiv. Bd 64.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3. 07
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562
Dr. F. Sasse,
Abscess und zwar am liebsten, noch bevor ich den Abscess er¬
öffne. Mittels langer, in Form einer lockeren Rolle zusammen¬
gelegter Mullcompressen und unter Zuhülfenahme langer soge¬
nannter „Vaginal-Seitenhebel und vorderer Platten“ wird der freie
Bauchraum alsdann abgeschlossen. Die genannten Hebel und
Platten werden hierbei so zu einander gestellt, dass eine glatte
Rinne entsteht, durch welche sich das Einführen der Mullcom¬
pressen bis in die entlegensten Theile der Bauchhöhle ausserordent¬
lich leicht gestaltet, da jede Reibung an den Darmschlingen ver¬
mieden wird. Daher braucht man auch nicht, falls Jemand dieses
vermieden sehen möchte, zu fürchten, etwaige Verklebungen oder
Eiteransammlungen vorzeitig zu eröffnen. Je nach Bedarf werden
3—5—8 und mehr derartige Compressen zur Leber- und Magen¬
gegend, zur linken Bauchseite und zum kleinen Becken hinab bis
in den Douglas hinein eingeführt und zwar sowohl zwischen Bauch¬
wand und Darmschlingen wie auch zwischen den Darmschlingen
selbst. Letztere werden hierdurch gewissermaassen fixirt, so
dass die nun folgende Exstirpation des Wurmfortsatzes ausser¬
ordentlich erleichtert wird, da es nun gelingt, durch dieselben
Hebel und Platten die Wunde kräftig auseinander zu ziehen,
ohne zu viel durch hervorquellende Darraschlingen belästigt zu
werden.
Der Wurmfortsatz selbst wird unter Leitung des Auges auf¬
gesucht und exstirpirt. Der hierbei zum Vorschein kommende Eiter
wird sofort abgetupft und entfernt. Das Operationsfeld ist dabei
mit Hülfe einer Stirnlampe möglichst intensiv beleuchtet, so dass
sich jede Maassnahme unter Leitung des Auges vollzieht und man
in jedem Augenblick auch genauen Ueberblick über den Zustand
des Bauchraumes erhält.
Besonderen Werth lege ich darauf, dass alle Peritoneal wunden
wieder in sich vernäht oder doch mit Peritoneum überkleidet
werden, so dass keine secernirenden Wundflächen Zurückbleiben.
Auch Abbindungen von Netzzipfeln sind zu vermeiden, da hier¬
durch schwer resorbirbare, nekrotische Unterbindungsstümpfe ent¬
stehen, welche für die vorhandenen Keime einen .vorzüglichen Nähr¬
boden abgeben.
Als Schnitt benutze ich den Lennandersehen Schnitt am
Aussenrande des Rectus. Der Patient befindet sich dabei in
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Zur Behandlung der acuten eitrigen Appendicitis.
563
leichter Beckenhochlagerung, die nur dann gesenkt wird, wenn die
Leber- und Magengegend revidirt werden soll.
Bei diesem Vorgehen ist es ausgeschlossen, dass die freie
Bauchhöhle verunreinigt wird, ob schliesslich auch eine zufällig
hervorquellende Darmschlinge je einmal mit etwas Eiter beschmutzt
wird, hat gar nichts zu sagen, sofern der Eiter sofort wieder ab¬
getupft wird.
In allen meinen Fällen, auch in den alten Abscessen, habe
ich gleich bei der ersten Operation den Wurmfortsatz entfernt. Nur
in 2 Fallen gelang es nicht, denselben zu finden, da er augenschein¬
lich zu Grunde gegangen war. Auch bei der schon fast moribund,
am 8. Erkrankungstage operirten diffusen Peritonitis beschränkte
sich die Operation lediglich auf eine Incision unter Localanästhesie.
Ebenso wie bei der Operation des einfachen abgekapselten
Abscesses gehe ich auch in den Fällen mit freiem, eitrigem Ex¬
sudate vor, sei es, dass es sich um eine circumscripte, sei es,
dass es sich um eine diffuse, über die ganze Bauchhöhle ver¬
breitete Peritonitis handelt. Durch die eingeschobenen Com-
pressen, die nöthigenfalls bei massenhaftem Exsudat gleich anfangs
nach Bedarf ausgewechselt werden, wird das Exsudat so ausser¬
ordentlich schnell, begierig und vollständig abgesaugt, dass nach
Beendigung der Exstirpation des Processus und Herausnahme der
Tampons der Bauchraum völlig trocken und frei von abnormem
Inhalt erscheint.
Auch in den Fällen von diffuser Peritonitis, wo es sich nicht
um ein ganz freies Exsudat, sondern um mehrere abgekapselte
Eiteransammlungen handelt — es sind dies auch meiner Erfahrung
nach die schon länger als 2 Tage bestehenden und prognostisch
ungünstigeren Fälle —, werden unter Anwendung der Hebel und
Platten die Abscesse geöffnet und durch eingeschobene Tampons
die Eitermassen abgesaugt. Auch hier gelingt es, nöthigenfalls
auch noch von einem linksseitigen Schnitt aus, unter Anwendung
der Stirnlampe sicher und schnell jeden Winkel dem Auge zu¬
gängig zu machen und somit sich die Sicherheit zu verschaffen,
dass man sämtlichen Eiter entfernt hat. Ich habe mir angewöhnt,
in jedem Falle eitriger Appendicitis und Peritonitis systematisch
die ganze Bauchhöhle abzusuchen und mich über den Zustand genau
zu informiren.
37*
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564
Dr. F. Sasse,
Das geschilderte Verfahren ist so schonend wie möglich. Jede
Eventration und Abkühlung der Darmschlingen, jedes Zerren am
Mesenterium, überhaupt jedes brüske Vorgehen wird vermieden
und das vom theoretischen und experimentellen Standpunkte aus
zu erstrebende Ziel der Reinigung der Bauchhöhle von dem bereits
gebildeten Exsudate wird mindestens ebenso vollkommen und in
viel kürzerer Zeit erreicht, wie bei der Spülmethode. Dabei wird
ein durch das Spülen immerhin mögliches Verschleppen von In-
fectionsmaterial an Orte, die bisher noch nicht inficirt waren, ver¬
hütet, ebenso auch verhütet, dass sich an abhängiger Stelle eine
grössere Menge von Flüssigkeit ansammelt, als in kurzer Zeit re-
sorbirt werden kann, so dass in dieser stagnirenden Flüssigkeit die
vorhandenen Keime sich weiter entwickeln können.
Für besonders unrationell muss man von diesem Gesichts¬
punkte aus gerade das Nachfüllen der bereits geschlossenen Bauch¬
höhle durch das Drainrohr mit Kochsalzflüssigkeit halten, wie es
von Rehn empfohlen ist.
Noch ein anderes Bedenken gegen das unterschiedlose Spülen
kann ich nicht unterdrücken, welches mir gelegentlich eines jüngst
operirten Falles von perforirtem Ulcus duodeni aufgestiegen ist. Die
leichte Resorbirbarkeit der Kochsalzflüssigkeit erstreckt sich natür¬
lich auch auf die in ihr gelösten bezw. fein aufgeschweramten Sub¬
stanzen. Es scheint mir daher gar nicht unmöglich, dass gerade
durch die Verdünnung mit Kochsalzlösung besonders virulente Bak¬
terien, zumal wenn sie sich vorher in einer, dem Peritoneum sehr
heterogenen Flüssigkeit, wie Mageninhalt, befanden und von dort
wahrscheinlich nur sehr schlecht oder gar nicht resorbirt worden
wären, nunmehr leicht zur Resorption gelangen. Im Anschluss an
die Spülung obigen Falles trat schon nach 24 Stunden eine so
universelle und foudroyant verlaufene Gasphlegmone des ganzen
Körpers auf, dass ich mich des Eindruckes nicht erwehren konnte,
als wenn durch die Spülung die Resorption und der Uebertritt der
Bakterien ins Blut erleichtert bezw. bewirkt worden sei.
Es soll indessen nicht geleugnet werden, dass auch mit der
Spülmethode, wie sie von Rehn ausgebildet und so warm empfohlen
ist, sich gute Erfolge erzielen lassen. Dafür sprechen schon die
vielfachen günstigen Berichte anderer Chirurgen, welche die Methode
nachgeprüft haben. Meiner Ansicht nach liegt aber der Werth der
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Zur Behandlung der acuten eitrigen Appendicitis.
565
Methode nicht so sehr im Spülen, als vielmehr in der Be¬
tonung der Wichtigkeit der möglichst vollständigen Fort¬
schaffung des in der Bauchhöhle befindlichen Exsudates,
und es bleibt das Verdienst Rehn’s bestehen, eine a priori sehr
einleuchtende und brauchbare Methode angegeben zu haben, diese
zu erreichen.
Weiter möchte ich an dieser Stelle auf die Vor- und Nach¬
theile der Spülmethode nicht eingehen, sondern nur kurz resümirend
wiederholen, dass das Spülen bei den Fällen circumscripter,
wie diffuser eitriger Wurmfortsatzperitonitis, welche mit
einem freien Exsudate einhergehen, völlig entbehrlich ist,
dass es aber auch in den Fällen mit abgesackten Eiteransamm¬
lungen auf dem von mir angegebenen Wege (ich möchte ihn Aus¬
trocknungsmethode der Bauchhöhle nennen), schonender und,
weil unter Leitung des Auges, auch exacter gelingt, die vorhan¬
denen Eiterraengen zu entfernen, als mittels der Spülmethode.
Auf die Frage des Spülens in den Fällen, wo es sich, wie
beim perforirten Magengeschwür, um die Fortschaffung ganz fremd¬
artigen Inhalts aus der Bauchhöhle handelt, will ich hier nicht
eingehen, da dieselbe nicht zum Thema gehört, will aber bemerken,
dass auch ich in diesen Fällen spüle, wenn ich auch gewisse Be¬
denken habe.
Mit der Spülung der Bauchhöhle steht in enger Beziehung die
Drainage derselben. Es ist nur consequent und rationell und
vermindert auch den besonderen Nachtheil des Spülens, nämlich
des Stagnirens grösserer Mengen Flüssigkeit an abhängigen Stellen
der Bauchhöhle, wenn für möglichst ausgiebige Drainage und ent¬
sprechende Lagerung der Patienten in sogen. Fowler’scher oder
besser Rehn’scher Steillage gesorgt wird. Aber man darf sich,
worauf besonders von Rotter 1 ) in jüngster Zeit hingewiesen wurde,
über die Möglichkeit der Dauer der Drainirbarkeit der Bauchhöhle
keine falschen Vorstellungen machen. Das Peritoneum besitzt be¬
kanntlich in hohem Maasse die Eigenschaft der sogen. „Plasticität“,
d. h. durch Abscheidung von Fibrin Verklebungen und Abkapse¬
lungen um einen Fremdkörper zu bilden. Wir finden daher schon
nach wenigen Stunden ein Fibringerinnsel im Drainrohr und wenn
1) Rotter, Dieses Archiv. Bd. 93.
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566
Dr. F. Sasse,
man Gelegenheit hat, kurze Zeit nach der Operation die Bauch¬
höhle wieder zu eröffnen oder die Section machen zu müssen, so
findet man regelmässig, dass die Darmschlingen sowohl unter sich,
als auch um das Drainrohr Verklebungen gebildet haben, so dass von
einer Drainage des freien Bauchrauraes nicht mehr die Rede sein
kann. Ein längeres Belassen des Drains als höchstens 12 Stunden
hat sicher keinen Werth, wie ich mich mehrfach habe überzeugen
können. Auch durch Gazetampons lässt sich keine Drainage der
freien Bauchhöhle bewirken, und seien sie noch so gross. Es wird
nur jeweilig die der Gaze unmittelbar anliegende Peritonealfläche
drainirt, keineswegs aber der freie Bauchraum.
Es fragt sich nun, wie sollen wir uns bei der Peritonitis in
dieser Hinsicht verhalten? Die Antwort darauf ergiebt sich meines
Erachtens wiederum aus der richtigen Anwendung der durch das
Experiment gewonnenen Kenntnisse.
Wir wissen, dass das gesunde Peritoneum eine verhältniss-
mässig grosse Menge von Infectionsmaterial glatt überwindet, falls
nur nicht ein steter Nachschub erfolgt oder sich eine grössere
Menge von Flüssigkeit im Bauchraum befindet, als in kurzer Zeit
resorbirt werden kann.
Letztere beiden Voraussetzungen sind durch die Exstirpation
des Wurmfortsatzes und Entfernung des bereits gebildeten Eiters
erfüllt worden; falls daher keine blutende bezw. secernirende, vom
Peritoneum entblösste Stelle, oder ein massiger Unterbindungs¬
stumpf vorhanden sind, dürfen wir die Bauchhöhle primär
ohne jede Drainage schliessen, sofern noch angenommen
werden darf, dass das Endothel des Peritoneums noch
nicht allzu sehr geschädigt ist. Meiner Erfahrung nach
ist dieses gerade in den FriihfHlleit mit reichlichem, freiem,
eitrigem Exsudat fast regelmässig der Fall. Ich schliesse
daher in diesen Fällen die Bauchhöhle durch fortlaufende Peritoneal¬
nahtvollständig, höchstens führe ich in einem Wundwinkel einen kleinen
Tampon auf die blutende oder gangränöse Peritonealstelle oder auf
den massigen Unterbindungsstumpf, falls solcher vorhanden ist.
In den älteren Fällen peritonealer Eiterung, welche schon
abgesackte Eiteransammlungen und Abscesse zeigen, ist das Peri¬
toneum im Bereiche der Abscesse infolge der länger bestehenden
Entzündung stellenweise so geschädigt, dass ein Ueberwinden der
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Zur Behandlung der acuten eitrigen Appendicitis.
567
Infeetion ohne Weiteres nicht erwartet werden darf. In diesen
Fällen lasse ich die Bauchwunde genügend weit offen und tampo-
nire diese Stellen mit langen, locker zusammengerollten Compressen,
welche mit einer einfachen Lage Vioformgaze umgeben sind. Die
weitere Behandlung gestaltet sich alsdann genau wie bei einem
Abscesse. Die Tampons werden nach Bedarf jeden Tag oder jeden
zweiten Tag gewechselt, was wiederum mit Anwendung genannter
Hebel und Platten, sowie der Stirnlampe leicht und exact unter
Leitung des Auges, eventuell im Aetherrausch geschieht. Hierbei
hat man Gelegenheit, sich jedesmal wieder eingehend von dem
Zustand auch der freien Bauchhöhle überzeugen zu können und
eine etwaige Eiteransammlung gleich im Entstehen wieder zu er¬
öffnen, auszutupfen und eventuell auszutamponiren, und gerade
dieses halte ich in den vorgeschrittenen, späteren Fällen für unbe¬
dingt nothwendig. Die von Rehn empfohlene Methode, auch in
diesen Fällen nach dem Spülen die Bauchhöhle zuzunähen und nur
2 Drains in den Douglas einzuführen, ist, wenigstens schon nach
wenigen Stunden, sobald sich Verklebungen und Abkapselungen
um das Drain gebildet haben, gleichbedeutend mit dem völligen
Schluss der Bauchwunde und er begiebt sich somit der Möglich¬
keit, noch ferner direct die Vorgänge im Bauch raume beeinflussen
zu können, es sei denn, dass er die Wunden wieder aufraacht oder
neue Incisionen setzt. So sehr ich den Schluss der Bauchwunde
in den frischen Fällen peritonealer Eiterung bei noch verhältniss-
mässig normalem Endothel empfehle, so sehr muss ich davor
warnen in Fällen, wo infolge der längerdauernden Entzündung das
Endothel grösstentheils verloren gegangen ist und das Peritoneum
mehr einer Granulationsfläche als einer serösen Membran gleicht
und wo, wie Grawitz sagt, „die Eiterkokken sich im Gewebe
ansiedeln und eine purulente Granulation hervorbringen“. Solche
Fälle sollen nach den allgemein gütigen Regeln der Abscesse be¬
handelt, d. h. tamponirt werden und dieses gelingt eben leicht
nach der von mir vorhin geschilderten Methode.
In vielen Fällen sieht man dann schon nach 2—3 Tagen die
starke entzündliche Reaction, sowie die Secretion bedeutend sich
vermindern, so dass alsdann die Secundärnaht gemacht werden
kann; in anderen Fällen dauert es allerdings länger und ist erst
sehr viel später oder überhaupt nicht möglich.
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568
Dr. F. Sasse,
Ich kann im Rahmen dieses Vortrages nicht auf weitere Einzel¬
heiten eingehen, da es mir nur darum zu thun ist, die Principien,
welche mir für die operative Behandlung der vorliegenden Krank¬
heit maassgebend und empfehlenswerth erschienen, kurz darzulegen.
Wie bei so vielen anderen Dingen scheint mir auch hier die
einfachste und consequenteste Behandlungsmethode die beste zu
sein, und auch die Behandlung der eitrigen Peritonitis weicht nicht
ab von den sonst allgemein gültigen chirurgischen Regeln und Er¬
fahrungen als nur insoweit, als die grosse Widerstandsfähigkeit
des Peritoneums gegen Infectionen hier die Sache in vieler Hin¬
sicht recht erleichtert.
Noch einige Worte zur Nachbehandlung, die sich ebenfalls
möglichst einfach und schonend für den Patienten gestaltet. Ge¬
wöhnlich spüle ich bei den diffusen Peritonitiden, sowie bei den
Fällen, welche vor der Operation grössere Brechneigung zeigten,
den Magen unmittelbar nach der Operation, während Patient sich
noch auf dem Operationstische in Halbnarkose befindet, gründlich
aus. Statt der subcutanen oder intravenösen Kochsalzinfusionen
lasse ich 2 stündlich Kochsalzklystiere, je 1 / 4 — 1 / 2 Liter Kochsalz¬
lösung mit einem Glase Wein geben; ich glaube hiervon bessere Re¬
sultate sowohl in Bezug auf die Hebung des Blutdruckes, wie auch
auf die Anregung der Peristaltik gesehen zu haben wie von ersteren.
Vorzüglich bewährt zur Anregung der Peristaltik und zur Be¬
seitigung des oft erheblichen Collapses der Patienten haben sich
auch mir die elektrischen Glühlichtbäder mittelst Lichtkasten. Zur
Bekämpfung der Schmerzen und der Uebelkeit wird mit Morphium
oder besser mit Scopomorphin nicht gespart, während Digalen die
Herzthätigkeit unterstützt.
Von grosser Wichtigkeit ist es, dass die Operation möglichst
schnell und schonend erledigt wird, und dass der Verbrauch an
Chloroform und Aether ein möglichst geringer ist. Die Patienten
erhalten daher fast alle, selbst Kinder von 5 Jahren an, 1 bis
2 Stunden vor der Operation entsprechende Dosen von Scopo¬
morphin zugleich mit Digalen. Gelegentlich bei besonders schwachen
oder alten Leuten oder bei solchen mit Herzfehlern führe ich die
Operation nur in Localanästhesie aus.
Ich bin am Schlüsse. Die erste Operation bei der eitrigen
Appendicitis und besonders bei der Peritonitis ist zwar nach
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Zar Behandlung der acuten eitrigen Appendicitis. 569
mancher Richtung hin entscheidend für das weitere Schicksal des
Patienten, aber sie ist keineswegs immer der schwierigere Theil
der Behandlung. Die grösseren Schwierigkeiten beginnen erst in
der Nachbehandlungsperiode, wenn der entzündliche Process zwischen
den Darmschlingen weiter kriecht, wenn sich sogen. Spätabscesse,
subphrenische oder retroperitoneale Eiterungen bilden, wenn sich
Anzeichen eines Darmverschlusses oder dergl. geltend machen. In
allen diesen Fällen kommt es darauf an, möglichst frühzeitig und
genau Art und Sitz des Leidens zu erkennen und die geeigneten
Schritte zur Beseitigung desselben zu unternehmen. Abscesse
müssen eröffnet und entleert werden; in vielen Fällen gelingt dieses
von der offen gelassenen Bauchwunde aus, in anderen Fällen muss
eine neue Incision angelegt werden. Beim Darm Verschluss ist eben¬
falls möglichst frühzeitige Beseitigung des Hindernisses dringendstes
Erforderniss. Dabei kann nicht genug betont werden, diese späteren
Eingriffe möglichst schonend und klein für den Patienten zu ge¬
stalten, am besten unter Vermeidung der Inhalationsnarkose in
Localanästhesie.
So einfach der Verlauf bei den frühoperirten, noch keine aus¬
gedehnte peritoneale Infection zeigenden Fällen bei primärem Schluss
der Bauchwunde ist, so schwierig und langdauernd ist er in den
Spätfällen von diffuser Peritonitis. Diese erfordern unausgesetzt
sorgfältigste Beobachtung und Behandlung und stellen an das ärzt¬
liche Können die grössten Anforderungen. Daher wird auch hier,
wie auf so manchem anderen Gebiete, der erfahrene Arzt noch
manchen Fall einem glücklichen Ende zuführen können, dessen
Schwierigkeiten für den Anfänger oder weniger Erfahrenen unüber¬
windliche gewesen wären; das beste Mittel aber, diese ganz zu
verhüten, ist die möglichst frühste Frühoperation.
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XX.
Beitrag zur Mechanik der Luxation der
einachsigen Gelenke.
Von
Privatdocent Dr. H. Zuppinger (Zürich).
(Mit 8 Teitfiguren.)
Bei den Luxationen der Kugel- und Seharaiergelenke gelangt
oft das luxirte oder distale Glied in eine Stellung, welche einer
physiologischen Stellung ungefähr parallel ist. So ist es gewöhn¬
lich bei den Luxationen des Humerus, der Ulna, der Fingerphalangen,
des Knies. Es sieht in diesen Fällen aus, als ob die Luxation
sich vollzogen hätte ohne Drehung um eine Gelenkaxe oder um
irgend welche andere Achse, sondern lediglich durch Translation
(Parallelverschiebung). Es kann die Frage aufgeworfen werden,
ob bei solchen Luxationen eine Drehung wirklich nicht im Spiele
war. Da ist nun zu sagen, dass Luxationen durch reine Trans¬
lation allerdings zur Beobachtung kommen, am häufigsten am
Schultcrgelenk, das durch eine besonders flache und schmale Ca-
vitas sich auszeichnet, und ferner am Talocruralgelenk, hier zu¬
sammen mit Fractur der Malleolen. Immer wird die Translation
erzeugt durch eine Gewalt, welche in der Nähe des Gelenkes an¬
greift. Aber auch die centrale Luxation des Hüftgelenkes und die
diaglenonidale des Kiefergelenkes entstehen durch Translation.
Die überwiegende Mehrzahl der Luxationen aber, gleichviel,
ob sie das Glied parallel zu einer physiologischen Stellung bringen
oder nicht, kommen zu Stande durch Drehungen um mehrere
Achsen. Alle Luxationen des Femur, und sonst alle Verrenkungen
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Beitrag zur Mechanik der Luxation der einachsigen Gelenke.
571
der Kugel- und Scharniergelenke durch indirecte Gewalt oder durch
Muskelaction vollziehen sich unter mehrfachen Rotationen.
Die Kugelgelenke verhalten sich bei der Luxation etwas anders
als die Scharniergelenke. Am Hüftgelenk z. B. dreht sich zuerst
das Femur mit Verzögerung so, dass der Trochanter sich aufwärts
bewegt. Dann springt die Drehaxe, ohne ihre Richtung zu ändern,
gegen den Trochanter zu, der Kopf geht mit Beschleunigung ab¬
wärts, sprengt die Kapsel und verlässt das Acetabulum. Bis hier
ist die Bewegung des Femur eine ebene und setzt sich zusammen
aus zwei gleichsinnigen Drehungen um zwei parallele Achsen, sie
könnte als eine Hyperabduction, als eine übertriebene physiologische
Bewegungsart bezeichnet werden. Es erfolgen nun weiter eine
Reihe von Drehbewegungen, deren Art bestimmt wird von der ur¬
sprünglichen Stellung des Femur, von der Spannung der Muscu-
latur und von äusseren Kräften. Damit erst erhält das luxirte
Glied seine charakteristische Stellung, und gilt die Luxation als
vollendet.
Am Schultergelenk spielen sich die Luxationsbewegungen in
grösserer Freiheit, aber doch in ähnlicher Weise ab.
Die einachsigen oder Scharniergelenke gestatten normal nur
Bewegungen in einer Ebene, und es ist die Extension begrenzt
durch die Anspannung der beiden excentrisch angehefteten Seiten¬
bänder. Die Luxation vollzieht sich fast immer so, dass der den
Kopf tragende proximale Knochen nach der Beugeseite, der die
Cavitas tragende distale Knochen nach der Streckseite dislocirt
wird. Es sieht also aus, als ob eine Hyperextension die Luxation
erzeugt hätte, worauf dann noch eine massige Flexion gefolgt wäre.
Doch ist diese Auffassung wahrscheinlich nicht richtig.
Am Ellenbogengelenk z. B. sieht man, dass die Extensions¬
bewegung so weit getrieben werden kann, bis die vorderen Por¬
tionen der Seitenbänder gespannt sind und das Olecranon am Hu¬
merus anstösst. Wird die Bewegung gegen die rasch sich stei¬
gernden Widerstände fortgesetzt, so müssen, wenn nicht das Ole¬
cranon abbricht, die Seitenbänder ab oder durchreissen. Aber
selbst wenn der Bandapparat und das Olecranon intact blieben, so
würde es doch nie gelingen, die Trochlea vor den Processus coro-
noides oder den letzteren hinter die Trochlea zu bringen, weil das
in der Fossa sich anstemmende Olecranon ein Rückwärtsgleiten
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572
Dr. H. Zuppinger,
der Ulna unmöglich macht. Die Abhebelung allein führt eben am
einachsigen Gelenk nicht zur Luxation, sondern nur zur Distorsion.
Man hat deshalb die Berechtigung, daran zu zweifeln, dass die
Luxatio posterior cubiti durch reine Hyperextension oder auch nur
über die extreme Streckstellung weg sich vollziehe. Vielmehr ist
es äusserst wahrscheinlich, dass diese Luxation entsteht bei halb-
flectirtera Ellenbogen, und zwar durch Drehung und Gegendrehung
um Achsen, welche parallel zur Längsachse des Humerus sind.
Dafür spricht die nicht seltene Angabe der Patienten, der Vorder¬
arm sei unmittelbar nach dem Unfall seitwärts vom Rumpfe weg¬
gerichtet gewesen, und der Patient selbst oder ein Hilfeleistender
habe erst wieder die Hand nach vorn gebracht. Auch die That-
sache, dass corticale Abreissungen sich fast immer nur entweder
am inneren oder am äusseren Epicondylus, nicht aber an beiden
vorfinden, spricht stark gegen die Hyperextension.
Die übrigen einachsigen Gelenke haben freilich keinen Knochen¬
vorsprung, welcher dem Olecranon gleich zu setzen wäre; nichts¬
destoweniger ist anzunehmen, dass auch bei ihnen die reine Hyper¬
extension keine Luxationen hervorbringt. Es ist ein allgemein gütiges
Gesetz, dass Formänderungen stets in der Weise ablaufen, dass in
jedem Moment der erforderliche Arbeitsaufwand ein Minimum ist.
Bei der reinen Hyperextension aber sind beide Seiten bänder gleich¬
zeitig auf die höchste Spannung zu bringen; wird aber der distale
Knochen um Achsen, welche der Längsrichtung des proximalen
Knochens parallel sind, bei halbflectirtem Gelenk gedreht und gegen¬
gedreht, so wird erst das eine Seitenband gespannt, und während
dieses bereits wieder erschlafft, wird das andere Band gespannt.
Der auszurenkende Knochen muss also den zweiten Weg einschlagen,
und die luxirende Kraft liefert immer eine Componente, welche die
Drehung einleitet und durchführt.
I. Nachdem die überknorpelten Gelenkflächen ihren normalen
Contact miteinander verloren, klappen sie entweder wieder zu¬
sammen oder sie begeben sich an eine Stelle geringeren Druckes
und setzen sich dort wieder in ein Gleichgewicht. Der erste Aus¬
gang wird Distorsion, der zweite Luxation genannt. Das neue
Gleichgewicht der luxirten Knochen ist aber nicht mehr, wie am
normalen Gelenk, ein nahezu indifferentes mit einer bestimmten
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Beitrag zur Mechanik der Luxation der einachsigen Gelenke.
573
Bewegungsfreiheit, sondern ein stabiles; mit anderen Worten: die
Luxation verwandelt das Gelenk in ein Gesperre.
Woran liegt es nun, ob im einzelnen Falle ein Gesperre sich
bildet oder nicht, und was ist das Wesentliche dieses Gesperres?
Die Beantwortung kann nicht ganz kurz sein.
Am Rande der Cavitas oder doch in ihrer Nachbarschaft in-
seriren sich die Gelenkkapsel, selbstständige Ligamente, die Mus¬
keln, alles Gebilde, welche geeignet sind, eine Kraft als Zug zu¬
übertragen. Sie werden deshalb hier den gemeinsamen Namen
„Zugelemente oder Stränge“ führen. Mit ihrem anderen Ende sind
diese Zugelemente am kopftragenden Knochen oder auch noch ent¬
fernter angeheftet. Jedes dieser Elemente hat, wenn es gespannt
ist, das Bestreben, seine Anheftungspunkte einander zu nähern
und, da eine Annäherung nicht anders als durch eine Drehbewegung
durchführbar ist, den einen Knochen gegen den anderen zu drehen.
Der gespannte Strang hat also ein Drehungsbestreben, das ge¬
wöhnlich (statisches) Moment genannt wird. Die Ebene der Drehung
steht senkrecht auf der Drehachse, ist also bei den Scharnier¬
gelenken gegeben. Bei den Kugelgelenken giebt es unendlich viele
Drehachsen und Drehungsebenen. Am intacten Gelenke nun ist
der Sinn der Drehung, welche durch ein gespanntes Zugelement
angestrebt wird, immer der nämliche, also entweder rechts herum
oder links herum. Niemals kann also ein Muskel, etwa bei ver¬
schiedenen Gelenkstellungen, bald als Flexor, bald als Extensor
wirken, oder eine Bandfaser das eine Mal die Streckung, das andere
Mal die Beugung hemmen. Der Grund dafür liegt in der Anord¬
nung der Zugelemente, und bei den nicht contractilen im Auf¬
treten und Verschwinden der Spannung bei bestimmten Gelenk¬
stellungen. Man kann deshalb die Gesammtheit aller Zugelemente
am Scharniergelenk in zwei Gruppen eintheilen; die eine Gruppe
umfasst diejenigen Fasern, deren Anheftungspunkte bei der Flexions¬
bewegung einander sich nähern, die also, wenn sie gespannt sind,
ein flexorisches Moment haben. Die zweite Gruppe setzt sich
zusammen aus denjenigen Elementen, deren Insertionen bei
der Flexionsbewegung von einander sich entfernen, die also
extensorisches Moment erhalten, sobald sie gespannt werden.
Zu jeder Gruppe gehören ebensowohl contractile als fibröse Zug¬
elemente.
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574
Dr. II. Zuppinger,
Bei den Kugelgelenken liegen die Verhältnisse nicht so ein¬
fach; aber es wäre doch nicht unmöglich, zu jedem Mustel eine
Portion Kapsel oder Ligament abzugrenzen, welche mit jenem
stets gleichsinniges Moment hätte. Das Nämliche gilt für ganze
Muskelgruppen.
So lange nun kein Zugelement den Sinn seines Momentes um¬
kehrt, so lange entsteht keine Luxation 1 ); sobald aber ein Zug¬
element den Drehsinn seines Momentes urakehrt, so geht das be¬
wegliche Gelenk in ein Gesperre über, in welchem zwei Momente
einer Gruppe einander entgegen wirken und ein stabiles Gleichgewicht
erzeugen.
II. Warum verwandelt sich aber ohne Trauma oder einen ab¬
normen Muskelzug ein rechtsdrehendes Moment an einem normalen
Gelenk nicht in ein linksdrehendes?
Zu einer solchen Perversion seines Momentes am Scharnier-
und Kugelgelenk müsste das Zugelement seinen todten Punkt über¬
schreiten, welcher die höchste, vielleicht eine unzulässige Spannung
des Stranges erfordert. Im todten Punkt besteht kein Moment,
daher der Name. Die Figuren 1—4 sollten die Verhältnisse ver¬
ständlich machen.
Aus den Figuren sollte ersichtlich sein, dass ein Zugelement,
welches einerseits am Rande der Cavitas, andrerseits am Gelenk¬
kopf, aber nicht an einem Punkte der Drehachse angeheftet ist,
erschlafft oder sich spannt, je nach der Gelenkstellung. Schneidet
die Richtung des Zugelementes die Drehachse, so hat das Element
kein Drehmoment, es ist in seiner Totlage. Fällt nun, wie es
bei den Kugel- und Scharniergelenken stets der Fall ist, der Dreh¬
punkt zwischen die Anheftungspunkte des Stranges, so besteht in
der Totlage zugleich auch höchste Spannung. Durch Drehung im
Gelenk entfernt sich der Strang von seiner Totlage, und damit
nimmt seine Spannung ab. Zu gleicher Zeit bekommt aber auch
die Kraft der Spannung einen Hebelarm: es entsteht ein Moment,
dessen Drehsinn rechts oder links ist, je nachdem das Zugelement
nach der einen oder der anderen Seite von der Totlage abge¬
wichen ist.
1) Eine Ausnahme macht die seltene Kieferluxation nach hinten, welche
eine andere Art Gesperre bildet.
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Totlage des Ligaments.
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UNIVERS
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Dr. H. Zuppinger,
Es gehört eine sehr beträchtliche Gewalt dazu, um ein Liga¬
ment in seine Totlage zu bringen und ihm die hierzu gehörige
Spannung zu ertheilen. Muskelcontraction aber vollbringt diese
Arbeit wohl nur unter abnormen Verhältnissen, namentlich bei er¬
schlafftem, gedehntem Ligament.
Das Zugelement, das bei der Luxation sein Moment umkehrt,
ist fast immer von Bindegewebe gebildet, bei den einachsigen Ge¬
lenken sind es die Seitenbänder, welche in die Kapsel eingewoben
sind. Aber auch Hülfsbänder, welche der Kapsel nur theilweise
oder gar nicht angehören, wie das Lig. ileofemorale oder Mandib.
laterale extemum, unterziehen sich diesem wichtigen mechanischen
Vorgang. Ist, wie gewöhnlich, die Kapsel durchgerissen, und der
Kopf durch den Riss ausgetreten, so rückt der gespannte Rand
des Kapselrisses, d. h. die beiden Seitenbänder, über die Drehachse
hinweg nach der anderen Seite, unter Ueberschreitung ihrer Tot¬
lage. Reisst aber die Kapsel nicht durch, wie in der Regel beim
Kiefergelenk und etwa einmal am Schultergelenk, so kehrt sich
das Moment des selbstständigen Seitenbandes oder des Coraco-
humerale um.
III. Wären nun der Kapselriss resp. die Reste der Kapsel oder
auch das Ligament, welches die Drehachse auf der Unrechten Seite
passirt, die einzigen Gebilde, welche für die Luxation Wichtig¬
keit hätten, so Hessen einige Erscheinungen sich schlechterdings
nicht erklären. Es ist z. B. nicht einzusehen, warum die Kapsel¬
reste oder die Bänder gespannt sein sollen, wenn weiter keine
Kräfte betheiligt wären. Die von der luxirenden Gewalt gespannten
Bänder würden ja sofort vollständig oder grössten Theils sich ent¬
spannen, indem sie das luxirte Glied entsprechend ihrem Moment
drehten. Nehmen aber noch mehr Kräfte am Luxationsmechanismus
Theil, so sind sie ebenfalls in Rechnung zu setzen.
Bei der typischen Luxation ist das luxirte Glied in eigen-
thümlicher Weise fixirt; das proximale Ende lässt sich nicht ver¬
schieben, Drehbewegungen sind nach allen Seiten unmöglich, nur
nach einer Seite besteht eine geringe Beweglichkeit gegen einen
federnden, d. h. rasch wachsenden Widerstand. Es ist absolut aus¬
geschlossen, dass ein oder zwei Stränge, die von einem Knochen
zum andern gehen, und deren Spannung einfach als selbstverständ¬
lich gilt, den einen Knochen in dieser Art feststellen könnten. Nimmt
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Beitrag zur Mechanik der Luxation der einachsigen Gelenke. 577
man der Wirklichkeit entsprechend an, dass das proximale Ende
des luxirten Knochens gegen einen Widerstand gepresst werde, so
sind mindestens 3 Zugelemente nöthig, um den Knochen festzu¬
stellen; diese Zugelemente müssen gespannt sein, und ihre An¬
ordnung ist keine beliebige.
Bei den typischen Luxationen der Kugel- und Scharniergelenke
findet man diese Forderung dadurch realisirt, dass ein oder zwei
Stränge, welche ihr Moment gewechselt haben, und ein oder mehrere
Muskeln den luxirten Knochen festhalten. Dabei übernehmen die
Muskeln die ganze Leistung, jene Stränge anzuspannen und den
Knochen gegen die Unterlage anzudrücken. Es ist also die
Spannung der Musculatur die fixirende Kraft, welche das Gesperre
geschlossen hält; die zerrissene Kapsel, die Seitenbänder sind
lediglich der Keil, den die Musculatur vorschiebt.
Warum ist nun die Musculatur gespannt? Die Antwort lautet:
Die luxirende Gewalt spannt die zu einer Gruppe gehörenden
Zugelemente, die also gleichsinniges Moment haben, excessiv an,
und zwar ebenso wohl die Muskeln wie die fibrösen Elemente. Wo
die Grenze der Zugfestigkeit überschritten wird, da tritt Ruptur
ein. Das ist in der Regel der Fall an denjenigen Strängen, welche
am kürzesten, am wenigsten fest und am meisten excentrisch an¬
geheftet sind, also an einer Stelle der Kapsel. Weniger excentrisch
befestigte Gebilde, wie die Seitenbänder, solche von grösserer
Festigkeit, wie die selbstständigen Ligamente, solche von grösserer
Länge und viel grösserer Dehnbarkeit, wie die Muskeln, entgehen
einer Continuitätstrennung. Dagegen überschreiten bei der typischen
Luxation die kurzen, wenig excentrischen Stränge ihre Totlage,
und sobald das geschehen, setzen sie der äusseren Gewalt nicht
nur keinen Widerstand mehr entgegen, sondern sie wirken mit ihr
in gleichem Sinne, um ihre eigene Spannung zu vermindern. Die
passive Spannung der Muskeln aber wächst, so lange die äussere
Gewalt fort besteht.
Von dem Zeitpunkte an, da die äussere Gewalt verschwindet,
sucht die Musculatur ihre passive Spannung dadurch zu vermindern,
dass sie das luxirte Glied im Sinne ihres Momentes zurückdreht.
Dabei begegnet sie sofort dem Widerstand des über seinen todten
Punkt hinübergegangenen Kapselrestes oder Ligamentes, welches
nun ein entgegengesetztes Moment erlangt hat. Die intensiv gc-
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3. 3$
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578
Dr. H. Zuppinger,
spannte Musculatur spannt nun diesen Kapselrest oder dieses Liga¬
ment, bis ihre entgegengesetzten Momente gleich gross sind; als¬
dann besteht Gleichgewicht. Und zwar ist das Gleichgewicht ein
stabiles, weil eine jede Stellungsänderung eine Spannungssteigerung
im Gefolge hat (Fig. 5 u. 6).
Gelenk; Flexor und Ligament haben gleiches Moment.
Daraus ist ersichtlich, was übrigens selbstverständlich war,
dass Kapselrest oder Ligament bei der typischen Luxation aller¬
dings gespannt sind, aber nicht sich selbst spannen, sondern erst vor¬
übergehend von der äusseren Gewalt, nachher dauernd von der
passiv gespannten Musculatur gespannt erhalten werden.
(icsperre; Flexor und Ligament haben entgegengesetztes Moment.
Ist es aber statt einer äusseren Gewalt die Muskelaction, welche
die Luxation macht, so ist der Vorgang genau der nämliche, es ist
einfach statt „äussere Gewalt“ die active Spannung der Antagonisten
einzusetzen.
Es ist aber noch auf eine andere Ursache der Spannung des
Kapselrestes oder des Ligamentes hinzuweisen, nämlich auf die
active Spannung der Muskeln. Dass bei den Luxationen eine active
Muskelspannung besteht, ergiebt sich ja unbestreitbar daraus, dass
in der Narkose die hart gespannten Muskeln einen grossen Theil
ihrer Spannung verlieren, während die passive Spannung erhalten
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Beitrag zur Mechanik der Luxation der einachsigen Gelenke. 579
bleibt. Es ist müssig, darüber zu streiten, ob diese active An¬
spannung eine willkürliche sei oder nicht; es genügt, zu wissen,
dass der Patient nicht im Stande ist, sie zu unterdrücken, meist
auch derselben gar nicht bewusst ist. Diese Muskelverkürzung mit
grosser Spannungssteigerung bei den Luxationen ist verwandt mit
den Muskelcontractionen, die immer eintreten, sobald ein Gelenk
einer seiner Grenzstellungen sich nähert. Sie bleibt aus, wenn eine
äussere Kraft die Hemmung übernimmt, zu unterdrücken aber ist
sie nicht durch den grössten Willensaufwand. Ebenso stellt sich,
je nach der Geschwindigkeit, mit der die Luxation sich vollzieht,
diese Muskelcontraction schon während des Luxirens oder sofort
nachher ein, und dauert, da auch der Reiz weiter besteht, merk¬
würdig lange fort.
Die active Muskelspannung spannt ebenfalls, meist wohl in
noch höherem Maasse, den Kapselrest und die Ligamente, welche
ihr Moment gewechselt haben, und es ist besonders bemerkens-
werth, dass durch die Narkose zugleich mit Muskelspannung auch
diejenige von Kapselrest und Ligamenten, aber auch der Druck
gegen die Unterlage herabgesetzt werden.
Die gespannten Muskeln und die durch sie gespannten Bänder
liefern ausser den Drehmomenten, welche im Gleichgewicht sich ja
compensiren, noch die Druckcomponenten, welche den luxirten
Knochen gegen das Lager, das er in seiner neuen Stellung ge¬
funden, anpressen. Ohne diesen Druck, welcher dem Zug sämmt-
licher Stränge das Gleichgewicht hält, wäre die Fixation des luxirten
Gliedes undenkbar. Auch die Höhe dieses Druckes entspricht
jederzeit der Muskelspannung.
Es mag noch erwähnt sein, dass bei einigen Luxationen die
Schwerkraft dazu beiträgt, den Strang mit dem verkehrten Moment
zu spannen; namentlich ist das der Fall bei den Hüftluxationen.
Bei Kiefer- und Ellenbogenluxationen trägt sie ein Geringes zur
Entspannung bei. Diese Einwirkung ist von untergeordneter Be¬
deutung.
Damit sollte die Zusammensetzung des Gesperres, genannt
„typische Luxation“, und die Bedeutung ihrer Bestandtheile genü¬
gend gezeigt sein. Bei den atypischen kommt ein Gesperre nicht
zu Stande, die nöthigen Coraponenten werden zum Theil sofort un¬
wirksam gemacht.
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Dr. H. Zuppinger,
IV. Das Gesperre besteht aber nicht aus starrem, sondern aus
elastischem Material, und dadurch werden einige Erscheinungen be¬
dingt, welche nicht unbesprochen bleiben dürfen.
Ueber die Elasticität des Muskels ist ausser dem Web er'sehen
Gesetze nicht viel Zahlenmässiges bekannt; von den Ligamenten
wissen wir noch weniger. Die gröbere Beobachtung ergiebt aber,
dass das Ligament einestheils ausserordentlich fest ist, und ferner,
dass durch höchste Zugbelastung seine Länge kaum um 1 pCt.
vergrössert wird. Der lebende Muskel ist ebenfalls sehr zugfest,
dehnt sich aber vor dem Zerreissen um 20 pCt. und darüber.
Diese Verlängerung ist rein elastisch und geht vollständig wieder
zurück unter Leistung von mechanischer Arbeit. Dabei hat der
lebende Muskel die Fähigkeit, durch Cont.raction in einen neuen
Körper überzugehen von geringerer Länge und noch grösserer
elastischer Dehnbarkeit. Am Gelenk sind die Ligamente erheblich
kürzer als die Muskeln, und ihr Verhältniss zu einander wird ge¬
nügend kenntlich gemacht, wenn man sagt, das Ligament kann
durch eine kurze feste Schnur, der Muskel durch eine erheblich
längere scharfe Feder ersetzt werden.
Nicht ebenso verhält sich der tote Muskel. Er ist nicht nur
viel weniger zugfest, auch seine Dehnbarkeit ist nur zum geringen
•Theil elastisch; schon ein schwacher Zug bringt eine bleibende
Verlängerung hervor. Der tote Muskel ist also nicht nur keiner
activen Contraction, sondern einer höheren Spannung überhaupt
nicht fähig. Der tote Muskel ist deshalb einer lahmen, etwa
ausgeglühten Feder zu vergleichen. Der tote Muskel, welcher,
anstatt sich straff anzuspannen, nachgiebt, vermag natürlich auch
nicht das Ligament, den Kapselrest stark anzuspannen und auch
nicht den luxirten Knochen fest anzudrücken. Luxationen an der
Leiche sind deshalb mit grösster Vorsicht auszuwerthen.
Am luxirten Knochen wirken sich zweierlei Stränge entgegen,
von denen die einen kaum merklich dehnbar sind, die anderen
ausgiebig dehnbar und mit starkem Retractionsbestreben ausgestattet.
Daraus folgt mit Nothwendigkeit, dass der Knochen nicht in der
Weise bewegt werden kann, dass die nicht dehnbaren Stränge ver¬
längert werden müssten; dass dagegen eine gewisse Bewegung aus¬
geführt werden kann, welche eine Verlängerung der dehnbaren
Stränge im Gefolge hat. Der dehnbare Strang, der bereits stark
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Beitrag zur Uechanik der Luxation der einachsigen Gelenke. 581
gespannt ist, setzt aber dieser Bewegung einen rasch wachsenden
Widerstand entgegen, und die Spannkraft des dehnbaren Stranges
führt auch den Knochen wieder in die Gleichgewichtslage zurück.
Wird nun der gespannte dehnbare Strang, sei er gebildet durch
lebenden oder toten Muskel, durchtrennt, so ändert der luxirte
Knochen kaum seine Stellung, weil eben der kaum dehnbare Strang
sich nicht merklich verkürzt. Und die Stellungsänderung müsste
um so kleiner ausfallen, je weniger gespannt die Muskeln waren,
am kleinsten an der Leiche.
Es ist aus der Beobachtung dieser Erscheinung der Schluss
gezogen worden, der gespannte dehnbare Strang, also die ge¬
spannte Musculatur, sei mechanisch ohne Bedeutung. Das ist ja
schon deshalb unrichtig, weil ein gespanntes Zugelement mechanisch
niemals unwirksam ist. Es ist aber durch diese Folgerung die
Wichtigkeit der Muskeln für die Luxation ganz verkannt worden.
Es muss ja zugegeben werden, dass, nachdem die typische
Luxation perfect geworden, sowohl die fibrösen Stränge mit dem
verkehrten Moment, als auch die Muskeln derselben Gruppe ge¬
spannt sind, und dass die ersteren die zweiten ebensowohl in
Spannung erhalten wie umgekehrt. Aber ebenso sicher ist es,
dass die fibrösen Elemente ihre Spannung erst von den Muskeln
erhalten haben, nicht umgekehrt. Der Grund dafür liegt nicht bloss
darin, dass die Muskeln eine Spannung autogen erzeugen können.
Es ist aber bei der typischen Luxation, besonders in der Narkose,
sehr wohl möglich, die Muskeln noch mehr zu dehnen und dabei
die Ligamente völlig zu erschlaffen. Lässt man nun los, so spannt
augenscheinlich und unbestreitbar die sich retrahirende Musculatur
die Ligamente wieder an. Es ist aber gänzlich unmöglich, an der
Luxation die Ligamente so weit zu dehnen, bis die Muskeln
spannungslos würden, und ebenso unmöglich ist es, dass die kaum
retractilen Ligamente nachher die Muskeln spannten. Es bleibt
also nichts übrig, als anzunehmen, dass die passiv und
activ gespannten Muskeln die ganze Fixation der typi¬
schen Luxation besorgen, indem sie sowohl die Bänder
mit dem verkehrten Moment anspannen, als auch den
Knochen gegen einen Widerstand anpressen.
V. Die Reposition hat den luxirten Knochen von seinem neuen
Lager abzuheben, entgegen dem Drucke, der ihn dort festhält.
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Dr. H. Zuppinger,
Dann ist seine Gelenkfläche mit derjenigen des anderen Knochens
in möglichst ausgedehnte Berührung zu bringen, und endlich sind
die Bandzüge, welche ihr Moment gewechselt haben, über ihren
todten Punkt zurückzuführen.
Der ersten Forderung wird am einfachsten genügt durch einen
Zug am luxirten Knochen, oft noch besser durch einen Druck auf
dessen zugängliches proximales Ende. Zug und Druck dürfen,
wenn sie wirksam sein sollen, die bereits bestehende Spannung der
Kapsel und Ligamente nicht steigern, sonst wächst die nöthige
Kraft ins Ungemessene und der Patient wird in hohem Grade ge¬
fährdet. Es muss vielmehr erst eine Stellung bewirkt werden, in
welcher die Kapsel schlaff ist, dann hebt der Zug den Knochen
ab einzig unter Spannungssteigerung der Muskeln. Diese sollen
für den Zug fast den einzigen Widerstand bilden. Die kapsel¬
entspannende Bewegung ist eine Drehung, bei den Scharniergelenken
meist eine Extension, und spannt lediglich eine Muskelgruppe stärker.
Die weiteren Repositionsbewegungen sind Drehungen, die aller¬
dings besser unter passend gerichtetem Zuge ausgeführt werden.
Die Widerstände, gegen welche sie vollzogen werden, sind die
Muskelspannung und im letzten Stadium die excessive Bandspan¬
nung. Durch die Narkose wird das grösste Hinderniss, die active
Muskelspannung beseitigt; aber auch dann ist die passive Muskel¬
spannung höher anzuschlagen als der Widerstand der zu dehnenden
Ligamente.
Das Gesagte soll noch illustrirt werden durch eine kurze Be¬
sprechung der Kieferluxation nach vorn. Dieses Beispiel ist ge¬
wählt, weil es fast alle Schematisirung unnöthig macht, und weil
es zeigt, dass die Fixation und das Repositionshinderniss mit einem
Kapselriss nicht immer etwas zu schaffen haben.
Die bewegliche Verbindung zwischen Schädel und Unterkiefer
wird hergestellt durch zwei Gelenke, welche symmetrisch angeordnet
sind. In jedem dieser Gelenke stehen sich zwei Flächen gegen¬
über, die einander die convexen Seiten zukehren. Die Flächen je
eines Gelenkes berühren sich nicht direct, sondern es ist zwischen
dieselben eine Zwischenscheibe eingeschaltet. Die Beweglichkeit
ist demgemäss, sogar für beide Gelenke zusammen, eine recht
mannigfaltige; hier genügt es, die ebene, also die reine Oeffnungs-
bewegung allein zu betrachten.
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Beitrag zur Mechanik der Luxation der einachsigen Gelenke. 583
Legt man beim Oeffnen des Kiefers den Finger auf das Capi-
tulum mandibulae, so fühlt man, dass es sich nach vorn und ab¬
wärts bewegt. Die Achse dieser Drehbewegung liegt also nicht
im Kieferköpfchen, sondern in der Hauptsache hinten unten von
demselben; erst gegen Ende der Oeffnungsbewegung rückt die Achse
in den Ramus articularis hinein, und zwar zwischen Kieferwalze
und Insertion des äusseren Seitenbandes.
Sieht man den Kopf von der rechten Seite an, so findet man
leicht, dass der Musculus digastricus ein rechtsdrehendes, also öff¬
nendes Moment hat. Ebenso hat der Musculus pterygoideus minor
bei allen Kieferstellungen ein öffnendes Moment; bei der Kürze des
Hebelarmes macht sich selbstverständlich auch ein Vorziehen der
Mandibula geltend, während der Digastricus den Unterkiefer beim
Oeffnen zurückzieht.
Linksdrehendes, also schliessendes Moment haben der Musculus
teraporalis, der Masseter, der Musculus pterygoideus major und
auch das Ligamentum collaterale laterale, sofern es gespannt ist.
Es ist aber dieses Band bei den Stellungen, welche durch die
reine Oeffnungsbewegung entstehen, theils schlaff, theils gespannt.
Bei Kieferschluss ist das Band schlaff, bei völliger Oeffnung ist es
gespannt; die stärkste Erschlaffung tritt ein, wenn bei fast voll¬
ständigem Schlüsse der Unterkiefer durch den Pterygoideus vor¬
gezogen wird.
Die Luxation des Unterkiefers nach vorn tritt ein als Wir¬
kung einer äusseren Gewalt, viel häufiger aber durch Muskelaction.
Im ersten Falle wird der Kiefer so weit geöffnet, bis unter
heftiger Spannung der ganzen Gruppe von Zugelementen, welche
linksdrehendes Moment haben, also des Temporalis, Masseter, Ptery¬
goideus major und des lateralen Ligamentes, das Capitulum über
das Tuberculum articulare nach vom gleitet. Dabei schlüpft das
Capitulum unter dem äusseren Seitenband nach vorn, wodurch dieses
zuerst heftig gespannt wird und dann sein linksdrehendes Moment
in ein rechtsdrehendes verwandelt. Gleichzeitig oder sofort nachher
setzt noch zu der passiven Spannung der Schliessrauskeln deren
Contraction ein. Das nun von hinten oben nach unten vorn ver¬
laufende Seitenband wird von den Kieferschliessem so weit ge¬
spannt, bis deren linksdrehendes Moment dem rechtsdrehenden des
Ligamentes das Gleichgewicht hält; und die Muskeln zusammen
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584
Dr. H. Zuppinger,
Gelenk.
mit dem Ligament drücken den Kieferkopf aufwärts, bis er einen
genügenden Widerstand findet, der nun Punctum fixum wird. Das
ist eine Stelle der unteren Joch bogenfläche und der hintere Rand
des Masseter internus. Der Processus coronoides, dessen Spitze
übrigens in der Sehne des Temporalis eingehüllt ist, erreicht den
Jochbogen wohl nie.
Gesperre.
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Beitrag zur Mechanik der Luxation der einachsigen Gelenke. 585
Es hat sich also ein Gesperre gebildet in der Art, dass durch
Anpressung an den Jochbogen und die anterior-posteriore Span-
nungscornponente der Zugelemente das Capitulum unverschiebbar
gemacht wird. Linksdrehung des Unterkiefers um die gemeinsame
Achse beider Kiefergelenke, also Schliessung der Kiefer, wird ver¬
hindert durch das unnachgiebige Seitenband, dessen rechtsdrehendes
Moment schon bei sehr geringer Schliessbewegung gewaltig an¬
steigt. Eine kleine Rechtsdrehung, Oeffnung des Kiefers, ist da¬
durch ermöglicht, dass die Schliessmuskeln einmal länger sind als
das Seitenband, und dann durch die viel grössere procentuale Dehn¬
barkeit, selbst bei schon bestehender Spannung. Verwickelung des
Processus coronoides und Aehnliches hat mit der Bildung des Ge-
sperres nichts zu schaffen, ebensowenig ein Kapselriss, der ja bei
der Kieferluxation meist fehlt. Dass die Fixation in dem Gesperre
nicht eine vollkommene ist, liegt an der Dehnbarkeit der Muskeln,
und diese ict es auch, welche bei der Reposition auszunützen ist.
Bei der Luxation durch Muskelaction scheint, nach der An¬
gabe einiger Patienten, der Process etwas anders abzulaufen; ob
das die Regel oder die Ausnahme ist, lässt sich vorläufig nicht
sagen. Es soll nämlich die Luxation bei wenig geöffnetem Kiefer
eintreten und die völlige Oeffnung erst nachher sich einstellen. In
diesem Falle würde durch eine Coordinationsstörung beim Gähnen
der Pterygoideus minor vorzeitig und zu kräftig sich contrahiren
und bei wenig gespanntem Bande das Capitulum nach vorn über
das Tuberculum ziehen, während der Digastricus erst beginnt, die
Kieferöffnung zu bewerkstelligen. Wie nun das Capitulum das Tu¬
berculum verlässt, contrahirt sich der Digastricus stark und die
Schliessmuskeln folgen sofort nach.
Auch so bildet sich das nämliche Gesperre mit Umkehrung
des Drehungsmomentes des Seitenbandes, mit Anpressung des Ca-
pitulums und mit Spannung der Schliessfnuskeln. Es scheint aber,
dass auf diese Weise die Totlage leichter passirt wird.
Zur Reposition der Unterkieferluxation ist es nöthig, das Ca¬
pitulum von dem Drucke zu befreien, welchen die Schliesser und
das Ligament ausüben. Ein einfacher Zug abwärts, der in der
Gegend des hintersten Backenzahnes angebracht wird, hätte die
gesammte Musculatur, welche bereits stark gespannt ist, noch mehr
zu dehnen, aber auch das unnachgiebige Ligament länger zu machen.
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586 Dr. H. Zuppioger, Zar Mechanik der Luxation der einachsigen Gelenke.
Das ist offenbar nicht das Zweckmässigste. Wird aber gleichzeitig,
wie die übliche Vorschrift es verlangt, das Kinn aufwärts gedrückt,
so werden die Verhältnisse noch ganz wesentlich ungünstiger. Das
Aufwärtsdrängen des Kinns spannt nicht nur das Seitenband noch
viel heftiger an, sondern drückt auch das Köpfchen noch stärker
gegen sein Lager. Die nöthige Kraft wird durch diese sogenannte
Abhebelung oft auf eine unerreichbare Höhe gebracht. Das einzig
Richtige wird sein, die Kiefer noch mehr zu öffnen, indem man
das Kinn rückwärts drängt. Das ist ja das einzige Mittel, das
kaum dehnbare Seitenband zu erschlaffen. Nun erst kann der
Unterkiefer mit Erfolg abwärts gezogen werden, und es kann der
Zug nicht wohl anderswo als in der Gegend des letzten Backen¬
zahns angebracht werden. Während dieses kräftigen Zuges abwärts
wird der Unterkiefer, immer mit Angriff am hintersten Backen¬
zahn, rückwärts geschoben, bis das Capitulum die Kuppe des
Tuberculums und damit die Todtlage des Seitenbandes passirt;
eine sogenannte Hebelung mit Aufwärtsbewegung des
Kinns ist zu vermeiden. Wie aber das Capitulum den Gelenk¬
höcker überschreitet und das Seitenband wieder sein normales Mo¬
ment gewinnt, besorgen die Muskeln den Kieferschluss so rasch
und kräftig, dass der Chirurg nicht raithelfen, sondern seine Finger
sichern muss.
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XXI.
(Aus dem hygienischen Institut der Universität Berlin.)
Vergleichende Desinfectionsversuche
mit Jodtinctur und Alkohol.
Von
Dr. F. Brüning,
Oberarzt im 2. Badischen Foldartillerie-Regiment No. 30 in Rastatt
Die Hautdesinfection durch Jodtinctur vor chirurgischen Ope¬
rationen und in der Umgebung von Wunden ist durch Gros sich
in die chirurgische Therapie eingeführt worden. Wohl ist die
Jodpinselung der Haut auch schon früher geübt worden zum
gleichen oder ähnlichen Zweck, wie z. B. durch v. Mikulicz.
Eingebürgert hat sich das Verfahren aber fraglos erst durch die
Veröffentlichungen Grossich’s im Jahre 1908 und 1909. Die
Methode besteht bekanntlich darin, dass das Operationsgebiet oder
die Umgebung einer Wunde ohne jedes vorhergehende Waschen
einen zweimaligen Anstrich mit der officinellen Jodtinctur erhält,
die in einem Zeitraum von 5—10 Minuten aufeinander folgen.
Bei eiligen Operationen wird vorher lediglich das Operationsgebiet
trocken rasirt, sonst am Tage vor der Operation rasirt und
gebadet.
Das Grossich’sche Verfahren ist vielfach modificirt worden,
so empfiehlt z. B. Bogdän vor der Jodpinselung mit Jodbenzin
die Haut abzureiben, Knoke reinigt vorher mit Benzin.
Das Grossich’sche Verfahren in seinen verschiedenen Modi-
ficationen hat in den letzten Jahren eine ganz ausserordentliche
Verbreitung gefunden und an Tausenden von Operationen ist die
Brauchbarkeit des Verfahrens klinisch erwiesen. Es hat eigentlich
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588
Dr. F. Brüning,
niemals versagt, wenigstens habe ich in der mir zugänglichen
Literatur nur anerkennende Berichte gefunden.
Nachdem ich nun selbst seit einem Jahr im Gamisonlazareth
Rastatt und in meiner chirurgischen Privatpraxis das Verfahren in
fast 100 Fällen mit dem besten Erfolge erproben konnte, war es
mir sehr willkommen, dass ich während eines bakteriologischen
Kursus am hygienischen Institut der Universität Berlin durch das
liebenswürdige Entgegenkommen des Herrn Geheimen Medicinalrath
Prof. Dr. Flügge Gelegenheit fand, auch bakteriologisch das
Grossich’sche Verfahren nachprüfen zu können.
Bei Durchsicht der Literatur findet man auffallend wenig
Berichte über bakteriologische Controlen. Grossich selbst hat
keine bakteriologischen Nachprüfungen angestellt, er verweist nur
auf eine Arbeit von Walther und Touraine, die mir leider im
Original nicht zugänglich war. Diese sollen 5, ganz sicher
10 Minuten nach der Application der Jodtinctur auf die Haut alle
Keime vernichtet gesehen haben.
Sie machten folgenden Versuch: Einem Meerschweinchen wurde
der Rücken trocken rasirt, die eine Rückenhälfte wurde alsdann
mit Seife, Wasser, Aether, Alkohol und Jodtinctur behandelt, die
andere nur mit Jodtinctur. Es wurden dann kleine Hautstückchen
in Nährböden gebracht. Aus den der ersten Hälfte entnommenen
Stückchen wuchsen bis zu 27 Colonien, aus denen der zweiten
Hälfte nur eine.
Hierdurch wurde bewiesen, dass eine vorhergehende Waschung
die Wirkung der Jodtinctur stark beeinträchtigt, worauf Grossich
schon von Anfang an hingewiesen hat. Die Jodtinctur kann in
eine durch lange Waschung mit Wasser und Seife aufgeweichte
Haut nicht so gut eindringen wie in eine trockene Haut, auch geht
das Jod mit den in den Hautporen zurückbleibenden Resten der alka¬
lischen Seife feste Verbindungen ein und wird dadurch unwirksam.
Myauchi machte mit den Fingern von Aerzten, Dienern und
Wärterinnen, die er mit Jodtinctur bestrichen hatte, Culturversuche.
Nur auf wenigen Nährböden gingen Bakteriencolonien auf. Reinigung
mit Alkohol allein war von geringerer Wirkung wie Jodtinctur.
Während also diese Untersucher zu Ergebnissen kamen, die
im Einklang standen mit der klinischen Erfahrung, gelangte
Kutscher zu anscheinend entgegengesetzten Resultaten.
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Vergleichende Desinfectionsversuche mit Jodtinotur und Alkohol. 589
Kutscher nahm erst eine künstliche Infection vor, weil es nur
so möglich sei, die sonst bei allen Hautdesinfectionsversuchen stören¬
den Luftkeime in ihrer Bedeutung für das Endresultat auszuschalten.
Es wurden einem Kaninchen auf die rasirte Bauchhaut viru¬
lente Milzbrandsporen eingerieben. Nachdem die Haut trocken
geworden war, wurde sie nach etwa 24 Stunden zweimal hinter¬
einander in einem Zeitabstand von 15 Minuten mit Jodtinctur be¬
pinselt. 10 Minuten nach der zweiten Pinselung wurden aus der
Haut Stückchen herausgeschnitten und auf weisse Mäuse verimpft.
Ferner hat er von der mit Jod behandelten Haut mittels steriler
Messerklingen oberflächliche Partien abgeschabt und auf Agar
verarbeitet. Das Jod war vor der Excision bezw. vor der
Impfung soweit als möglich durch sterile 10 proc. Natrium¬
thiosulfatlösung von der Haut wieder entfernt worden.
Von den geimpften 4 Mäusen starben 3 an Milzbrand, die
4. war krank. Auf sämmtlichen Agarplatten wuchs in 24 Stunden
bei 37° sehr reichlich Milzbrand. Aehnlich gelang ihm der Nach¬
weis vegetativer Formen, z. B. Pyocyaneus.
Schliesslich machte er Versuche mit Seidenfäden und Filtrir-
papier, an die Aufschwemmungen von Bakterien angetrocknet und
die dann verschieden lange Zeit in Jodtinctur eingelegt wurden.
Das Jod wurde vor dem Einbringen in die Nährsubstrate immer
durch Natriumthiosulfatlösung entfernt. Es waren Milzbrand und
Staphylokokken selbst nach 60 Minuten langem Verweilen der
Fäden in Jodtinctur noch lebensfähig.
Diese so sehr verschiedenen Resultate von Walther und
Touraine einerseits und Kutscher andererseits erklären sich,
wie ich später zeigen werde, lediglich aus dem Unterschied in
den Versuchsanordnungen.
Bei meinen eigenen Versuchen suchte ich vor Allem zu ent¬
scheiden, ob die Jodtinctur lediglich das Gleiche leiste wie der in
ihr enthaltene Alkohol, ob also, wie Kutscher vorschlägt, das
Jod fortgelassen werden könne oder nicht.
Ich habe daher, was ich von vornherein scharf betonen möchte,
nur vergleichende Desinfectionsversuche angestellt, nicht aber über
die absolute Desinfectionskraft der Jodtinctur.
Zunächst stellte ich sog. Reagenzglasversuche an. Ich begann
mit Versuchen an Seidenfäden.
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590
Dr. F. Brüning,
Es wurde von einer 24 ständigen Cultur, die auf Schräg-Agar
bei 37° gewachsen war, von einem aus der Luft gezüchteten
Staphylococcus albus eine Aufschwemmung in 10 ccm steriler
NaCl-Lösung hergestellt. Diese Aufschwemmung wurde durch
einen sterilen Filter hindurchgegeben und dann wurden die Seiden¬
fäden hineingelegt. Die Fäden wurden darauf im Brutschrank bei
37° getrocknet und jetzt verschieden lange Zeit (1—60 Minuten)
in Jodtinctur eingelegt. In einer Versuchsreihe kamen die Fäden
nun direct in die Röhrchen, die 10 ccm Nährbouillon enthielten,
in einer zweiten Reihe wurde das Jod erst in einer 5proc. Natrium¬
thiosulfatlösung neutralisirt. Ausserdem wurden zum Vergleich
auch Fäden in eine bekannte desinficirende Flüssigkeit, nämlich in
2proc. Carbolsäurelösung eingebracht. Die Röhrchen kamen jetzt
48 Stunden in den Brutschrank von 37°.
In Uebereinstimmung mit Kutscher fand ich nun selbst nach
60 Minuten langem Verweilen der Fäden in Jodtinctur noch Bakterien¬
wachsthum. Nach 30 Minuten langem Verweilen in 2 proc. Carbol¬
säurelösung war ebenfalls noch Wachsthum eingetreten. Merkwürdiger
Weise war aber in der Versuchsreihe, in der das Jod wieder neu¬
tralisirt worden war, schon nach 20 Minuten langem Einwirken
der Jodtinctur Wachsthurashemmung eingetreten.
Dieses unerklärliche Ergebniss konnte nur auf einem Mangel
in der Versuchsanordnung beruhen, und diesen Mangel sah ich in
der Anwendung von Seidenfäden. Seidenfäden sind ein nicht
immer brauchbares Vehikel für Testobjecte besonders bei ver¬
gleichenden Desinfectionsversuchen. Denn infolge ihrer unregel¬
mässigen, zerklüfteten Oberfläche ist die Vertheilung der Bakterien
zu ungleichmässig selbst bei Anwendung einer sehr gleichmässigen
Bakterienaufschwemmung. An einzelnen Stellen liegen sie in dünner
Schicht, an anderen in dicken Haufen. In Folge dessen kann auch
die desinficirende Flüssigkeit auf erstere viel besser einwirken als
wie auf letztere. Auch die in den tiefen Buchten des Seidenfadens
liegenden Bakterien kommen nicht in so gute Berührung mit der
desinficirenden Flüssigkeit. Diese Uebelstände treten noch besonders
bei der Anwendung alkoholischer Lösungen in Frage, bei denen ja
zu der keimtödtenden noch die keimfixirende Wirkung hinzutritt.
Unter Anderen haben auch Krönig und Paul bei ihren ver¬
gleichenden Desinfectionsversuchen den Gebrauch der Seidenfäden
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Vergleichende Desinfectionsversache mit Jodtinctur and Alkohol. 591
als ungeeignet verworfen und empfehlen als das geeignetste Vehikel
die rohen böhmischen Granaten.
Aus allen diesen Gründen, besonders auch, weil mir gleich
mein erster Versuch die Unzulänglichkeit der Seidenfadenmethode
bewies, habe ich weitere Versuche mit Seidenfäden nicht angestellt
und nur die böhmischen Granaten verwendet.
Die Granaten wurden zunächst nach der Vorschrift von Krönig
und Paul gereinigt und sterilisirt. Dann wurden sie in eine in
gleicher Weise, wie für die Seidenfäden beschrieben, hergestellte
Bakterienaufschwemmung gebracht und dann ebenfalls im Brut¬
schrank von 37° angetrocknet. Nun kamen die Granaten ver¬
schieden lange Zeit (>/ 4 —30 Minuten) in die zu untersuchende
Flüssigkeit und darauf entweder direct in 10 ccm Nährbouillon
oder es wurde vorher die desinficirende Flüssigkeit möglichst ent¬
fernt und neutralisirt (Jod durch 5proc. Natriurathiosulfatlösung,
der Alkohol durch Abspülen in destillirtem Wasser). Die Röhrchen
kamen dann sämmtlich für 48 Stunden in den Brutschrank von
37°. Das Resultat wurde nach 24 und 48 Stunden abgelesen.
Es wurden untersucht Jodtinctur, Alkohol von verschiedener
Concentration, Benzin und zum Vergleich meist auch 2- und 3proc.
Car bolsäurelösu ng.
Ich will gleich vorweg nehmen, dass Benzin eine keimtödtende
Wirkung überhaupt nicht gezeigt hat. Es wurde raituntersucht,
weil es ja, wie eingangs erwähnt, bei einigen Modificationen des
Grossich’schen Verfahrens zur vorhergehenden Waschung benutzt
wird und immerhin wegen seiner fettlösenden Eigenschaft an eine
mögliche Schädigung der Bakterien zu denken war.
Als Testobjecte dienten fünf verschiedene Stämme von Sta-
phylococcus albus, der theils aus Eiter, theils aus der Luft und
theils von der unversehrten Haut gezüchtet war, ferner Strepto¬
coccus longus, Pyocyaneus und Coli.
Jeder Versuch wurde möglichst gleichzeitig an allen in Be¬
tracht kommenden Flüssigkeiten durchgeführt. Denn nur dann,
wenn jede Desinfectionsflüssigkeit unter den gleichen Bedingungen
einwirken kann, erhalten wir vergleichbare Werthe.
Ich will gleich bemerken, dass die Granatversuche absolut
einwandfreie Ergebnisse gehabt haben. Alle Einzelheiten sind aus
den im Anhang gebrachten Versuchsprotokollen zu ersehen. Ich
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592
Dr. F. Brüning,
habe nicht etwa nur einzelne ausgewählte Versuchsprotokolle auf¬
geführt, sondern sämmtliche. Da nun die Versuche alle das Gleiche
zeigen, so glaube ich berechtigt zu sein, die Ergebnisse nicht als
zufällige, sondern begründete ansehen zu können.
Im Granatversuch zeigt sich die Jodtinctur — es
wurde, wenn nicht anders vermerkt, immer die officinelle Jodtinctur
[lOproc. Jod in 96proc. Alkohol 1 )] angewandt — allen sonst
zum Vergleich herangezogenen Flüssigkeiten weit über¬
legen. Mit zwei Ausnahmen hat sie in allen Fällen (88 Röhrchen)
das Wachsthum für die Beobachtungsdauer von 48 Stunden voll¬
ständig aufgehoben. In dem einen Fall (Versuch No. 7) war das
Wachsthum auch stark gehemmt, für 24 Stunden vollständig und
erst nach 48 Stunden zeigte sich eine schwache Trübung. Auch
betreffen diese beiden Ausnahmefälle Granaten, die nur l / 4 bezw.
1 I 2 Minute in der Jodlösung gelegen hatten.
Wird nach dem Einwirken der Jodtinctur das Jod durch Ab¬
spülen in 5proc. Natriumthiosulfatlösung gleich wieder neutralisirt,
so wird die desinficirende Kraft der Jodtinctur bedeutend herab¬
gesetzt. Während sie, wie wir gesehen haben, im ersten Fall bei
88 Röhrchen nur 2 mal, d. i. in 2,2 pCt., unwirksam war, konnte
sie nach der Neutralisation unter 88 Röhrchen 35 mal Bakterien¬
wachsthum nicht verhindern, d. i. in 39,7 pCt. Wenn auch durch
die Neutralisation des Jods die keirntödtende Kraft bedeutend herab¬
gesetzt wird, so besteht doch fast immer eine ausgesprochene
Wachsthumshemmung, besonders dann, wenn die Jodlösung vorher
10 Minuten und mehr eingewirkt hatte. Dies können wir ersehen,
wenn wir die Beobachtungen nach 24 Stunden mit denen nach
48 Stunden vergleichen.
Für die praktischen Verhältnisse kommt die starke Herab¬
setzung der keimtödtenden und wachsthumshemraenden Wirkung der
Jodtinctur durch Neutralisation nur wenig in Frage, da ja hier
eine Neutralisation des Jods nicht vorgenommen wird, wenigstens
nicht für kurzdauernde und verhältnissmässig unblutige Operationen.
Bei längerdauernden, blutigen Operationen sehen wir nämlich regel¬
mässig, dass am Schluss der Operation die starke Braunfärbung
der Haut vollständig verschwunden ist. Schon Grossich hat hierauf
1) Nach der neuen 5. Ausgabe des deutschen Arzneibuches (1910) wird Jod-
tinctur nunmehr aus 1 Theil Jod und 9 Theilen Weingeist bereitet, früher 1 auf 10.
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Vergleichende Desinfectionsversuche mit Jodtinctur und Alkohol. 593
aufmerksam gemacht, ohne jedoch eine Erklärung dafür zu geben.
Ich glaube, dass in diesen Fällen eine Neutralisation des Jods ein-
tritt, und zwar durch das Blut. Koch weist nämlich darauf hin,
dass das Jod sehr leicht mit den im Blut enthaltenen alkalischen
Substanzen feste Verbindungen eingeht und dadurch unwirksam
wird. Die gleiche Wirkung wie das Blut übt übrigens auch die
Peritonealflüssigkeit aus, wovon man sich nach Laparotomien über¬
zeugen kann.
Einwirkung des Alkohols auf an trockenen Seidenfäden
haftende Bakterien (nach Hüne und Schwarz).
I = Staph. II = Strept. III = Pyoc.
Zeit in Minuten
3
5
10
15
20
l I
+
+
+
+
+
98,8 pCt. { II
+
+
+
+
+
1 III
+
+
+
+
+
( I
+
+
+
+
—
80 pCt. { II
+
+
+
+
+
1 III
+
+
+
+
—
l I
+
+
+
—
—
70 pCt. { II
+
+
+
+
—
y ui
+
+
+
—
—
t i
+
—
—
—
—
60 pCt. { 11
+
+
+
—
—
y in
+
—
—
—
—
i i
+
—
—
—
—
50 pCt. { 11
+
—
—
—
—
y m
+
—
—
—
—
40 pCt. 1 II
+
+
+
_
_
_
y m
+
—
—
—
—
i i
+
+
—
—
—
30 pCt. { 11
+
+
+
—
—
y in
+
+
+
—
—
1 i
+
+
+
+
—
20 pCt. { 11
+
+
+
+
+
y ui
+
+
+
+
—
Vergleichen wir die Wirkung der Jodtinctur an den Granaten
mit denen des Alkohols, so ist sie jedenfalls sowohl der des
65proc., wie besonders der des in ihr enthaltenen 96proc. Alko¬
hols weit überlegen. Meine Versuche erhärten wieder die bekannte
Thatsache, dass dem 96proc. Alkohol eine keimtödtende oder
ArehiY fttr klm. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3. on
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594
Dr. F. Brüning,
wachstumshemmende Wirkung gar nicht oder nur in äusserst ge¬
ringem Grade zukommt. Der 65proc. Alkohol wirkt bedeutend
kräftiger. Wie die Wirkung des Alkohols von verschiedenen Con-
centrationsgraden sich verhält, das zeigt am besten vorstehende
Tabelle, welche ich der Arbeit von Hüne und Schwarz in den
Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militairsanitätswesens,
1910, Heft 44, entnommen habe.
Danach hat der Alkohol von 60—70 pCt. die stärksten desinfi-
cirenden Eigenschaften. Ich habe deshalb auch mit einer Jodtinctur
in 65- und 70proc. Alkohol Versuche angestellt aus dem Gedanken
heraus, es würde sich dann zu der desinficirenden Wirkung des
Jods noch die des 65- bezw. 70proc. Alkohols hinzuaddiren. Ich
habe leider hierüber nur noch wenige Versuche anstellen können,
doch soviel geht daraus hervor, dass in meinen Versuchen eine
Jodtinctur von 65- und 70proc. Alkohol immer dasselbe geleistet
hat wie die oföcinelle von 96proc. Alkohol, ob sie aber letzterem
in ihrer Wirkung überlegen sind, müssten erst weitere Versuche
nachweisen.
Wenn ich nochmals das Ergebniss meiner Granatversuche
überblicke, so geht das eine jedenfalls bestimmt daraus hervor,
dass dem in der Jodtinctur enthaltenen Jod eine aus¬
gesprochene keimtödtende und wachsthumshemmende
Wirkung zukommt, welche die des in ihr enthaltenen
Alkohols weit übertrifft. Auf Grund meiner Granat versuche
muss ich der Meinung Kutscher’s, das Jod in der Jodtinctur sei
überflüssig, weil unwirksam, und könne durch Waschung mit con-
ccntrirtem Alkohol ersetzt werden, entgegentreten. Der grosse
Unterschied zwischen Kutscher’s und meinen Ergebnissen erklärt
sich daraus, dass Kutscher seine Versuche an Seidenfäden machte,
dass er mit einem sehr resistenten Testobject (Milzbrandsporen)
arbeitete, und dass er das Jod immer neutralisirt hat. Ich habe
dagegen Granatversuche gemacht und mich damit begnügt, Jod¬
tinctur auf die chirurgisch wichtigsten Keime (Eitererreger, Haut- und
Luftkeime) ein wirken zu lassen. Es sind also wohl lediglich die zu
hoch gestellten Anforderungen Kutscher’s, welche ihn dazu führten,
die dcsinficirende Wirkung der Jodtinctur zu gering einzuschätzen.
Doch so werthvoll auch die Granatversuche sind, sie bedurften
unbedingt noch der Ergänzung durch praktische Versuche an der
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Vergleichende Desinfectionsversuche mit Jodtinctnr und Alkohol. 595
Haut ganz besonders wegen der specifischen Einwirkung des
Alkohols auf die Haut. Der concentrirte Alkohol setzt ja be¬
kanntlich die Keimabgabefähigkeit ganz auffallend stark herab,
während er doch, wie wir eben gesehen haben, eine nennenswerthe
keirntödtende Wirkung nicht besitzt. Die Wirkung auf die Haut
erzielt der Alkohol durch seine härtende und keimfixirende Eigen¬
schaft.
Da ich, wie schon erwähnt, nicht Händedesinfectionsversuche
anstellen wollte, sondern Hautdesinfectionsvcrsuche entsprechend
der Vorbereitung des Operationsfeldes, so konnte ich die ver¬
schiedenen zur bakteriologischen Controlc der Händedesinfection
angegebenen Methoden nicht an wenden und musste anders
Vorgehen. Ich stellte mir kleine Wattebäusche her, die so gross
waren, dass sie in die gewöhnlichen Reagenzröhrchen gerade
eben noch hineingebracht werden konnten. Sie wurden im Auto-
claven sterilisirt. Mit ihnen wurden der Haut in der Weise Proben
entnommen, dass immer in gleicher Ausdehnung und bei möglichst
gleichem Druck 4 mal auf der Haut hin- und hergefahren wurde.
Die Wattebäusche wurden immer nur mit sterilen Pincetten an¬
gefasst. Nach dem Ab wischen der Haut wurden sie in sterile,
hohe Bouillonröhrchen eingebracht, so dass sie vollständig in der
Bouillon drinsteckten. Die Röhrchen kamen für 48 Stunden in
den Brutschrank, das Resultat wurde wiederum nach 24 und
48 Stunden abgelesen.
Diese Methode, die, wie ich später fand, auch schon in etwas
anderer Form durch v. Brunn angewandt wurde, erscheint sehr
wenig exact, was ich gern zugeben will. Ich behaupte auch
durchaus nicht, dass wir durch sie alle auf der Haut befindlichen
Keime zur Untersuchung bekommen, oder dass, wenn sich keine
Keime finden, die Haut nun wirklich steril ist. Sie giebt aber
sicher brauchbare Vcrgleichswcrthe, da ja die betreffenden Flüssig¬
keiten immer unter den genau gleichen Bedingungen untersucht
wurden.
Auch die Entnahmestelle an der Haut habe ich für die beiden
zu vergleichenden Flüssigkeiten möglichst gleich gewählt. Ich zog
z. B. auf der Rückenfläche des Vorderarmes in der Mittellinie mit
dem Fettstift einen Strich und habe dann die Haut links davon
mit Alkohol, rechts mit Jod behandelt, auf diese Weise also
yy*
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596 Dr. F. Brüning,
möglichst gleichwerthige Hautstellen zur Entnahme der Proben
gehabt.
Luftkeime sind allerdings bei meiner Versuchsanordnung nicht
ausgeschlossen, kommen aber bei vergleichenden Untersuchungen
nicht so sehr in Betracht, weil sie ja beide Vergleichsobjecte in
gleicher Weise beeinflussen. Dass sie aber in der That kaum eine
Rolle bei meinen Versuchen gespielt haben, geht daraus hervor,
dass alle 21 Controlen, die ich zur Prüfung der Sterilität der
Wattebäusche und der Verunreinigung durch Luftkeime angelegt
habe, sämmtlich steril geblieben sind.
Ich habe von Thierversuchen Abstand genommen, weil der
histologische Aufbau der Haut von Kaninchen und Meerschweinchen
zu sehr von dem der menschlichen Haut abweicht.
Deshalb habe ich alle meine Versuche an der menschlichen
Haut vorgenommen und zwar meistens an meinen eigenen
Vorderarmen, einige auch an denen der Laboratoriumsdiener, weil
anzunehmen war, dass deren der Verunreinigung mehr ausgesetzte
Haut schwerer keimarm zu machen sei. Die Haut wurde in allen
Versuchen nicht rasirt. An meine Arme habe ich während der
ganzen Zeit weder Sublimat noch andere desinficirende Flüssig¬
keiten gebracht, um das Resultat nicht dadurch zu verschleiern.
Es wurde zunächst von der unvorbereiteten Haut mit dem
Wattebausch eine Probe entnommen, in sämmtlichen 24 Röhrchen
trat deutliches Bakterienwachsthum immer schon innerhalb der
ersten 24 Stunden ein. In der ersten Hälfte der Versuche wurde
dann die Haut mittels eines gleichen sterilen Wattebausches mit
Benzin abgerieben. Entsprechend den Granatversuchen trat in den
nach der Benzinabreibung entnommenen Proben ebenfalls immer
schon in den ersten 24 Stunden Bakterienwachsthum ein.
Es wurden übrigens die Proben stets erst dann entnommen,
wenn die Haut wieder vollständig trocken geworden war.
Dann wurde die Haut wieder mittels steriler Wattebäusche mit
Jodtinctur bezw. Alkohol bestrichen und zwar Beides in gleicher
Weise. Ich betone das ausdrücklich, ich habe also nicht etwa die
Haut 5 Minuten lang mit concentrirtem Alkohol abgewaschen,
sondern nur in gleicher Weise wie mit Jod die Haut bepinselt,
mir kam es ja nur darauf an, Vergleichswerthe zu haben haupt¬
sächlich zur Entscheidung der Frage, ob das Jod wirklich, wie
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Vergleichende Desinfectionsversuche mit Jodtinctur und Alkohol. 597
Kutscher meint, überflüssig ist oder nicht. 10 bezw. 5 Minuten
nach der ersten folgte dann meist eine zweite Pinselung und nach
jeder Pinselung eine Keimabimpfung mittels Wattebausch.
Die praktischen Versuche an der menschlichen Haut haben
die gleichen Ergebnisse erbracht wie die Granatversuche. Die
Jodtinctur ist bei gleicher Anwendung dem 65proc. und
96proc. Alkohol ganz offensichtlich überlegen. Nach der
zweiten Pinselung bei Anwendung der Jodtinctur sind sämmtliche
Proben steril geblieben, nach der ersten Pinselung ist auch nur
in einem Fall schwaches Wachsthum eingetreten. Bei Anwendung
des Alkohols ist sowohl bei dem 65 proc. wie bei dem 96 proc.
nach der ersten Pinselung fast jedesmal Bakterienwachsthura ein¬
getreten, ja beim 96 proc. Alkohol sogar 2 mal nach der zweiten
Pinselung.
Die Wirkung der Jodtinctur setzt sich aus 3 verschiedenen
Factoren zusammen. Einmal haben wir die keimtödtendc Eigen¬
schaft des in ihr enthaltenden Jodes, die durch die Granatversuche
bewiesen wird, zweitens die keimfixirende Wirkung des concentrirten
Alkohols und schliesslich noch die stark hyperämisirende Wirkung.
Da bekanntlich gut durchblutete Gewebe weniger zur Infection und
mehr zur prima intentio neigen als wie schlecht durchblutete Ge¬
webe, so gewährt uns die durch die Jodtinctur hervorgerufene
stärkere Durchblutung einen wirksamen Schutzwall gegen eine In¬
fection. Keime, welche je nach den Untersuchungen von Döder-
lein, von Brunn u. A. in jede Operationswunde gelangen, werden
eben in einem gut durchbluteten Gewebe leichter unschädlich ge¬
macht. Auch diese hyperämisirende Eigenschaft macht die Jod¬
tinctur dem Alkohol überlegen.
In Versuch 5 habe ich auch noch 5, 10 und 20 Minuten nach
der zweiten Pinselung Proben entnommen, um zu sehen, wie lange
die Keimarmuth anhält. Nach 24 Stunden bestand noch in
allen Röhrchen vollständige Wachsthumshemmung, während nach
48 Stunden in den Röhrchen, welche die nach 10 und 20 Minuten
entnommenen Proben enthielten, Wachsthum eingetreten war. Bei
diesem langandauernden Versuch ist natürlich eine Verunreinigung
durch Luftkeime sehr möglich. Ich konnte diesen Versuch nicht
wiederholen, weil bei der langandauernden Einwirkung der Jod¬
tinctur meine Haut zu sehr angegriffen wurde. Ich habe sonst
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598
Dr. F. Brüning,
immer nach der zweiten Pinselung das noch in der Haut steckende
Jod durch Waschung mit concentrirtem Alkohol oder Natriumthio¬
sulfatlösung möglichst zu entfernen gesucht, um die Haut zu
schonen. Selbstredend habe ich die einmal mit Jod bepinselte
Hautstelle nicht wieder zu anderen Versuchen benutzt.
Die bearbeitete Hautstelle hatte meist eine Ausdehnung von
6 : 10 cm. Bei der Entnahme der Proben wurde darauf geachtet,
dass sie nicht von dem gleichen Hautstück genommen wurden,
sondern immer eine neben der anderen, damit nicht eingewendet
werden kann, durch die voraufgegangenen Entnahmen seien die
Keime schon mechanisch entfernt worden und daraus erkläre sich
die Keimfreiheit der späteren Proben.
Aus dem gleichen Grunde habe ich den Versuch 6 ausgeführt.
Ich entnahm nach mehrfachem Abreiben mit immer wieder ge¬
wechselten sterilen Tupfern der gleichen Stelle, der nicht be¬
handelten Haut, Proben, die alle kräftiges Waehsthura zeigten.
Wenn ich also auch bei meinen praktischen Versuchen zu
anderen Resultaten gekommen bin wie Kutscher, so liegt das
wiederum wohl nur an der verschiedenen Versuchsanordnung.
Kutscher experimentirte an Thieren, ich an Menschen, er mit
künstlicher Infection, ich ohne solche, weil ich glaube, so den bei
einer Operation vorhandenen Bedingungen am meisten nahe zu
kommen. Kutscher hat das Jod immer neutralisirt und mit den
sehr resistenten Milzbrandsporen gearbeitet. Bei seiner Versuchs¬
anordnung bestehen die denkbar ungünstigsten Bedingungen aus
folgenden Gründen: Die tiefer in der Haut gelegenen Keime, die
von den desinficirenden Flüssigkeiten nicht angegriffen werden
können, liegen an den Schnittflächen der excidirten Stücke offen
da und können bei der Ueberimpfung auf Mäuse sofort sich ver¬
mehren. Doch auch die nicht an den Schnittflächen gelegenen
tiefen Keime werden nach der Ueberimpfung auf Mäuse durch
Auflockerung des Gewebes allmählich actionsfähig. Ferner wird
sowohl durch das Neutralisiren in Natriumthiosulfatlösung wie
auch durch das Einbringen in die Hauttasche der Mäuse die
keimfixirende Wirkung der Jodlösung vollständig aufgehoben.
Ich bin natürlich weit davon entfernt, auf Grund meiner Ver¬
suche nun mit Grossich anzunehmen, die Jodlösung bewirke eine
vollständige Keimfreiheit der Haut. Das ist nach Kutsch er’s
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Vergleichende Desinfectionsversuche mit Jodtinctur und Alkohol. 599
Versuchen allerdings vollständig auszuschliessen; wohl aber bin ich
berechtigt festzustellen, dass durch die Jodpinselung eine be¬
trächtliche Herabsetzung der Keimabgabefähigkeit der
Haut eintritt, und zwar eine grössere als die unter den
gleichen Bedingungen durch 65 proc. oder 96 proc. Alkohol
erzielte.
Damit habe ich den Zweck meiner Versuche erreicht.
Es haben sich mir jedoch bei den Versuchen manche Fragen
aufgedrängt, die ich im Folgenden noch kurz besprechen möchte.
Einmal habe ich, wie auch bei den Granatversuchen, Jod¬
tinctur von 96 proc. Alkohol mit solcher von 70 proc. Alkohol
verglichen in ihrer desinficirenden Wirkung auf die Haut, wiederum
von dem Gedanken ausgehend, dass bei dem 70 proc. Alkohol
sich noch seine dem 96 proc. Alkohol ja fehlende desinficirende
Kraft zu der Wirkung der Jodlösung summiren könnte. Die
70 proc. Alkohol enthaltende Jodlösung hat stets das Gleiche
geleistet wie die officinelle Jodtinctur, ob sie mehr leisten
kann, müssten erst weitere Versuche ergeben. Es ist möglich,
dass der Vortheil, den die keimtödtende Wirkung des 70 proc. gegen¬
über dem 96 proc. bietet, aufgewogen wird durch die bessere
keimfixirende Wirkung des 96 proc. Alkohols.
In meinen letzten Versuchen habe ich daher mit der gleichen
Versuchsanordnung die desinficirende Wirkung des 65 und 96 proc.
Alkohols auf die Haut verglichen. Den Granatversuchen ent¬
sprechende Ergebnisse habe ich dabei aus den eben angeführten
Gründen natürlich nicht erhalten, doch scheint mir der 65 proc.
Alkohol noch in seiner Wirkung auf die Haut dem 96 proc. etwas
überlegen zu sein. Um dieses sicher festzustellen, müsste man
nach der Methode, die Kutscher in seiner in den Veröffentlichungen
auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens, Heft 44, erschienenen
Arbeit angewandt hat, vergleichende Händedesinfectionsversuchc
mit concentrirtem und verdünntem Alkohol anstellen. Sollte sich
dann der 60—70 proc. gleich gut bewähren, so würde dieser
einmal deshalb, weil er neben den keimfixirenden auch noch
keimtödtende Eigenschaften hat und dann vor Allem wegen seiner
grösseren Billigkeit den Vorzug verdienen. Sollte er aber, wenn
auch nicht ganz, so doch annähernd, die Keimabgabefähigkeit der
Haut soweit herabsetzen wie der conccntrirte Alkohol, so wäre
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600
Dr. F. Brüning,
immer Doch zu überlegen, ob man nicht die Waschung mit 60 bis
70 proc. Alkohol beginnen und nur zum Schluss kurz den 96 proc.
anwenden sollte. Es würde sich dadurch immer noch eine be¬
deutende Ersparniss an dem kostbaren concentrirten Alkohol er¬
zielen lassen. Doch, wie gesagt, nach meinen Versuchen möchte
ich annehmen, dass der 60—70 proc. Alkohol auch bei der Des-
infection der Hände das Gleiche leistet wie der 96 proc.
Zum Schluss glaube ich nochmals aussprechen zu dürfen,
dass auf Grund meiner Versuche das Verfahren der Hautdesinfection
durch Jodtinctur, das sich klinisch allseitig gut bewährt und ein¬
gebürgert hat, auch billigen Anforderungen der Bakterio¬
logie Genüge leistet.
Versuchsprotokolle.
Zeichenerklärung: J = Jodtinctur von 96proc. Alkohol. J -{-N
= Jod nachträglich neutralisirt. J 65 — Jodtinctur von 65proc. Alkohol.
J70 = Jodtinctur in 70proc. Alkohol. A65 = 65proc. Alkohol. A96 =■
96proc. Alkohol. C — Carboisäurelösung. A65-J- = 65proc. Alkohol mit
nachfolgender Spülung in Wasser.
I. Reagensglasversuche.
Versuch 1. Seidenfäden. 24stündige Cultur eines aus der Luft ge¬
züchteten Staphylococcus.
Zeit in Minuten
1 2 5 10 20 30 45 60
J 4 + + + + + + + +
J + N + + + +--
C 2 proc. + + + + + +
Versuch 2. Granaten. Wie bei Versuch 1.
Zeit in Minuten
1 2 5 10 20 30 45 60
j ________
J + N + + + + + + + +
Benzin + + + + + + + +
C 2 proc. + + + — + —
Versuch 3. Granaten. 24stündige Cultur eines von der Haut gezüch¬
teten Staphylococcus.
Zeit in Minuten
1 2 5 10 20 30 45 60
j__ — _____
Versuch 4. Granaten. 24stündige Cultur eines aus der Luft gezüch¬
teten, braunen Farbstoff liefernden Staphylococcus, der sehr wenig resistent ist.
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Vergleichende Desinfectionsversuche mit Jodtinctur und Alkohol. 601
Zeit in Minuten
1 2 5 10 20 30 45 60
J + N — — — — — — — — nach 24 Stunden
flo. + + + ? — — — — „ 48 „
Versuch 5. Granaten. 24stündige Cultur von Streptococcus longus.
In J, J + N, A 60, C3proc. auch nach 48 Stunden kein Wachsthuni.
2 Controlen mit inficirten Granaten positiv.
Versuch 6. Granaten. 24stündige Cultur von Bac. pyocyaneus.
Nach 24 Stunden Nach 48 Stunden.
Zeit in Minuten Zeit in Minuten
V« V 2 */« 1 2 5 10 20 30 1/4 V* 3 /4 1 2 5 10 20 30
j - -
J + N- -
A 65 - -
A 96 + + + - + + + + - + + + + + + + + -
C 3proc. —----—
Versuch 7. Granaten. 24stündige Cultur von Staphylococcus pyo¬
genes albus.
Nach 24 Stunden Nach 48 Stunden
Zeit in Minuten Zeit in Minuten
1/4 V. */ 4 1 2 5 10 20 30 »/4 V* V * 1 2 5 10 20 30
J --- — *+-
A 65 _________ + + + - + i + --
C 3 proc. — — — — — — — — — — — — — — — — — —
* schwach.
Versuch 8. Granaten. 72 Stunden alte Cultur von Staphylococcus
albus von der eigenen Haut gewonnen.
Nach 48 Stunden
Zeit in Minuten
V 4 Vi 8 /4l 2 5 10 20 30
j _________
J + N + + +
A 65 + + + + + -- --
A 65+ + + + + + + ___
C 3 proc. + — — + — — — — —
Versuch 9. 12ständige Cultur von Bacillus coli.
Nach 24 Stunden Nach 48 Stunden
Zeit in Minuten Zeit in Minuten
V 4 V» ®/4 1 2 5 10 20 30 >/4 V 2 */* 1 2 5 10 20 30
J + N — + — — — + + + — 4- — — —
J 65 - -
J65 + N- -
A 65 -1- -(-
A96 + + + + + + + + - + + + + + + + + +
C 3 proc. —-___- -----
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602
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Versuch 10. Granaten. 24stündige Cultur von Staphyloooccus albus,
wie in Versuch 1 und 2.
Nach 48 Stunden
Zeit in Minuten
V« V« 74 1 2 5 10 20 30
J _________
J + N + + + + + +*+*+*+
J 70 — — — — — — — — —
J 70 + N + + + + + + *+*+*+
A65 + 4* 4* *4" 4-4-4- — —
A65+ 4444444 + -
A 96 + + + + + + + + +
* schwach positiv.
11. Praktische Versuche an der menschlichen Haut
Versuch 1. Hautdesinfection am eigenen linken Vorderarm. Haut nicht
vorbereitet, nioht rasirt. Jodtinctur.
I steriler Tupfer zur Controle. II nach Abreiben der unbearbeiteten Haut.
III nach Benzinwaschung. IV nach einmaliger Jodpinselung. V nach zwei*
maliger Jodpinselung. Zwisohen IV und V liegen 10 Minuten.
J I II III IV V
Nach 24 Stunden — + -+- — —
»48 „ — 4 4 + -
Versuch 2. Wiederholung von Versuch 1. Am eigenen linken Vorder¬
arm, an einer anderen Stelle wie Versuch 1.
J I II III IV V
Nach 24 Stunden — + + — —
»48 * — 44. — —
Versuch 3. Hautdesinfection mit 96proc. Alkohol. Eigene Haut des
rechten Vorderarmes, sonst Alles wie in Versuch 1.
A 96 I II III IV V
Nach 24 Stunden — + + *+ +
»48 „ — + 444
• schwach.
Versuch 4. Hautdesinfection mit Jodtinctur und 65proc. Alkohol.
Eigener rechter Vorderarm, sonst Alles wie in Versuch 1.
J I II III IV V
Nach 24 Stunden — -(- -f- — —
» 48 „ - + + - _
A 65
Nach 24 Stunden — + + — —
» 48 » - + + + -
Versuch 5. Hautdesinfection mit Jodtinctur undßöproc. Alkohol.
Eigener linker Vorderarm, wie in Versuch 1. Ferner VI 10, VII 15, VIII
20 Minuten nach der zweiten Pinselung.
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Vergleichende Desinfectionsversuche mit Jodtinctur und Alkohol. 603
J I II III IV V VI VIIVIII
Nach 24 Stunden — 4- + — — — — —
^ 48 „ - + + — — + _ +
A 65
Nach 24 Stunden — + + + — — — —
» 48 „ - + + + - + - +
Versuch 6. Abreiben der unbehandelten Haut mit sterilen Tupfern an
der gleichen Stelle mehrmals hintereinander.
I nach 3 maligem Abreiben + +
II A 4 „ , + +
HI » 6 » A + +
Versuch 7. Hautdesinfection mit Jodtinctur nnd 65proc. Alkohol.
Eigener linker Vorderarm. Vorauf ging eine gründliche Reinigung mit Wasser
und Bürste. Sonst wie in Versuch 1.
J I II 111 IV V
Nach 24 Stunden — + + — —
A 48 „ — + + — —
A 65
Nach 24 Stunden — + + — —
* 48 „ — + + + —
Versuch 8. Hautdesinfection mit 65proc. und 96proc Alkohol.
Handrücken der eigenen linken Hand. Kein Benzin. I =- sterile Controle II.
Abreiben der Haut vor der Desinfection. III und IV nach 1- bezw. 2maligem
Pinseln, dazwischen 5 Minuten.
A 65 I II III IV A 96 I II III IV
Nach 24 Stunden — + — — Nach 24 Stunden — + — —
A 48 „ — + — — « 48 „ — + — —
Versuch 9. Hautdesinfection mit Jod in 70proc. und 96proc. Al¬
kohol. Keine Benzinwaschung wie in Versuch 8, aber zwischen III und IV
10 Minuten. Eigener rechter Vorderarm.
J 70 I II III IV J 96 I II III IV
Nach 24 Stunden — + — — Nach 24 Stunden — + — —
„ 48 „ - + - - „48 „ - + - -
Versuch 10. Hautdesinfection mit 65proc. und 96proc. Alkohol.
Rechter Vorderarm der Laboratoriumsdienerin Frau S., wie Versuoh 8.
A65 I II III IV A96 I II III IV
Nach 24 Stunden — + + — Nach 24 Stunden — + -f- -f-
„48 „ - + + - „ 48 fl - + + +
Versuch 11. Hautdesinfection mit 65proc. und 96proc. Alkohol.
Rechter Vorderarm vom Laboratoriumsdiener II., wie Versuch 8.
A 65 I II III IV A96 I II III IV
Nach 24 Stunden — + — — Nach 24 Stunden — + + —
„ 48 „ — + — — „48 „ — + 4" —
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Versuch 12. Hautdesinfection mit Jodtinctur in 70- und %proc.
Alkohol. Linker Vorderarm der Laboratoriumsdienerin Frau S., sonst wie
Versuch 8. Die zweite Pinselung fällt weg.
J70 I II III
Nach 24 Stunden — + —
„ 48 „ - + -
Versuch 13. Hautdesinfection mit
linker Vorderarm, sonst wie Versuch 8.
A65 I II III IV
Nach 24 Stunden — + -j- —
, 48 „ - + + -
J96 I II III
Nach 24 Stunden — + —
* 48 - + -
65 proc. und 96 proc. Alkohol. Eigener
A96 I II III IV
Nach 24 Stunden — — —
„48 „ - + - -
Literatur.
1. Bogdän, Modificirung der Hautdesinfection des Operationsfeldes nach
Grossich. Centralbl. f. Chir. 1910. No. 13. S. 73.
2. von Brunn, Ueber neuere Methoden der Hautdesinfection des Operations¬
feldes. Beitr. z. klin. Chir. 1907. Bd. 54. S. 630.
3. Derselbe, Ueber neuere Bestrebungen zur Verbesserung und Verein¬
fachung der Hautdesinfeotion. Münchener med. Wochenschr. 1908. No. 17.
S. 893.
4. Donati, Ueber die Hautdesinfection des Operationsfeldes mit Alkohol und
Jodtinctur. Deutsche med. Wochenschr. 1910. No. 13. S. 620.
5. Grekow, Zur Frage der Desinfection der Hände und des Operationsfeldes
mit Alkohol und Jodtinctur. Dieses Archiv. Bd. 90. H. 4.
6. Grossich, Eine neue Sterilisirungsmethode der Haut bei Operationen.
Centralbl. f. Chir. 1908. No. 44. S. 1289.
7. Derselbe, Eine neue Sterilisirungsmethode der Haut bei chirurgischen
Operationen. Berliner klin. Wochenschr. 1909. No. 43.
8. Haegier, Händereinigung, Händedesinfection und Händeschutz. Basel
1900.
9. Hüne und Sohwarz, in Veröffentlichungen auf dem Gebiete des Militär¬
sanitätswesens. 1910. H. 44.
10. Kausoh, Zur Jodtincturdesinfection nach Grossich. Med. Klinik. 1910.
No. 25. S. 178.
11. Knocke, Die Grossich’sohe Methode der Hautdesinfection. Münchener
med. Wochenschr. 1910. No. 18. S. 965.
12. Kutscher in Veröffentlichungen aus dem Gebiete d. Militärsanitätswesens.
1910. H. 44.
13. Derselbe, Ueber die Wirkung der Jodtinctur bei der Hautdesinfection.
Berliner klin. Wochenschr. 1910. No. 9.
14. Krönig und Paul, Die chemischen Grundlagen der Lehre von der Des-
infeotion. Zeitschr. f. Hygiene. 1897. Bd. 25. S. 1.
Gck igle
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Vergleichende Desinfectionsversuche mit Jodtinctur und Alkohol. 605
15. Koch, UeberDesinfection. Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheits¬
amt. 1881. Bd. 1. S. 234.
16. Myanchi, Desinficirender Werth von Jodtinctur. Sitzungsbericht der Medi¬
cinischen Gesellschaft in Tokio. Deutsche med. Wochenschr. 1910. No. 30.
S. 1432.
17. Speck, Hygienische Händedesinfection. Zeitscbr. f. Hygiene. 1905.
Bd. 50. S. 502.
18. Seitz, Ueber Händeinfection und Desinfection. Centralbl. f. Bakteriologie.
1904. Bd. 37. S. 721.
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XXII.
(Aus der I. chirurgischen Universität«-Klinik in Wien. —
Vorstand: Prof. Dr. Freiherr von Eiseisberg.)
Die gestielte Nebennierentransplantation
und ihre Endresultate.
Von
Frivatdocent Dr. Hans von Haberer,
Assistent der Klinik.
(Mit 15 Textfiguren.)
In Band 86 dieses Archivs publicirte ich eine Arbeit, die sich mit der
experimentellen Verlagerung der Nebenniere in die Niere beschäftigte.
Zweck dieser Arbeit sollte es sein, auf experimentellem Wege der Frage
nach der Entstehung der sogenannten „Grawitz’schen Tumoren 41 aus in die
Niere verlagerten Nebennierenkeimen näher zu treten.
Es musste deshalb eine Methode gewählt werden, die der transplantirten
Nebenniere eine möglichst lange, eventuell dauernde Lebensfähigkeit in der
Verpflanzungsstätte gewährleisten konnte, und so kam ich auf den Gedanken
der gestielten Transplantation der Nebenniere in die Niere. Während ich be¬
züglich aller technischen Details auf meine erste Arbeit verweise, möchte ich
zur raschen Orientirung bloss hervorheben, dass die Nebenniere bei Hunden,
Katzen und Kaninchen unter Ligirung fast aller an sie herantretenden Gefasse
mobilisirt wurde, so dass sie schliesslich frei an einem zum oberen, bezw.
unteren Pol der Nebenniere heranziehenden zarten Gefässstiel hing. Letzterer
blieb erhalten und nun folgte die Transplantation der nahezu stets angefrischten
Nebenniere in den oberen Pol der gleichnamigen Niere.
Zu dieser Versuchstechnik hatte das Studium der Literatur Veranlassung
gegeben, das zu dem Resultate führte, dass bei der freien Transplantation der
Nebenniere der verpflanzte Keim fast regelmässig zu Grunde geht, die bis dahin
mitgetheilten spärlichen positiven Befunde vielfach keinen sicheren Schluss auf
thatsächliehes Ueberleben des verpflanzten Organes bezw. Organstüokes zulassen
und dass schliesslich die Beobachtungszeit im Allgemeinen eine zu kurze war.
Da die Literatur in der oben citirten Arbeit eingehend (bjs inclusive 1907) be¬
rücksichtigt worden war, erübrigt es sich, nochmals darauf einzugehen.
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 607
Im Ganzen waren an 86 Thieren, vorzüglich Hunden, theils einseitige,
theils doppelseitige Tiansplantationen der Nebennieren in die Nieren vor¬
genommen, theils so verfahren worden, dass nach Transplantation der einen
Nebenniere die andere entweder allein oder sammt der gleichseitigen Niere ex-
stirpirt wurde. Eine letzte Versuchsreihe war derart angeordnet, dass nach
beiderseitiger Transplantation der Nebennieren in die Nieren die eine Niere
sammt der in sie eingepflanzten Nebenniere exstirpirt worden war. Bezüglich
der zeitlichen Aufeinanderfolge der einzelnen Eingriffe in den complicirteren
Versuchsreihen sei auf die erste Arbeit verwiesen.
Von 104 in den verschiedenen Combinationen ausgeführten Transplanta¬
tionen waren 54 erfolgreich, 43 misslangen, 7 mal war das Resultat als fraglich
zu bezeichnen und daher nicht verwerthbar. Immerhin war also in mehr als
50 pCt. ein positiver Erfolg erzielt worden.
Wenngleich durch diese Arbeit keine positiven Befunde für die Entstehung
der Grawitz’schen Tumoren beigebraobt werden konnten, da von Tumorbildung
in keinem, auch nicht im längst beobachteten Falle die Rede war, so hatte ich
doch, durch die Art der Versuchsanordnung und die gewählte
Technik dasGlück, als erster in derLiteratur den einwandsfreien
Beweis erbringen zu können, dass es durch die gestielte Trans¬
plantation gelingt, die Marksubstanz am Leben zu erhalten 1 ).
Das war vor mir keinem Experimentator geglückt, wohl deshalb, weil alle
mit freier Transplantation gearbeitet hatten, und daher war es vor mir auch
keinem möglich, den einwandsfreien Beweis zu erbringen, dass eine transplan-
tirte Nebenniere in der That functioniren könne. Ich konnte nun darthun,
dass die nach der von mir gewählten Methode verpflanzten Noben-
nieren wirklich vollkommen functioniren, falls die Transplanta¬
tion im anatomischen Sinne gelungen ist, da die überlebenden Ver-
sucbsthiere ausschliesslich auf die Function ihrer transplantirten Nebennieren
angewiesen waren, und dabei keinerlei Ausfallserscheinungen zeigten, wie dies
aus einer Beobachtungszeit bis zu 6 Monaten hervorging.
Das Resultat der Beobachtungen über die histologisch-anatomischen Ver¬
änderungen der in die Niere verpflanzten Nebennieren, welches sich aus der
Untersuchung einer fast lückenlosen Reihe von Präparaten der transplantirten
Nebennieren, und zwar von wenigen Tagen nach der Transplantation angefangen
bis 4 Monate nach derselben ergab, und durch einzelne Untersuchungen in
späteren Etappen (nach 5 und 6 Monaten) vervollständigt und bestätigt wurde,
ist in einer eigenen Arbeit von Professor Stoerk und mir im gleichen Archiv,
Bd. 87 niedergelegt. Der Zusammenarbeit mit einem so trefflichen Kenner der
1) Da dies in der Arbeit mit besonderem Nachdruck betont ist und nicht
nur aus einem gesperrt gedruckten Absatz im Text, sondern auch aus Schluss¬
satz No. 4 in nicht misszuverstehender Weise erhellt, ist es mir ganz unver¬
ständlich, wieso sich in einem Referate über die Publication im .Jahresbericht
über die Fortschritte auf dem Gebiete der Chirurgie, XIV. Jahrgang, II. Abth.,
S. 898, der Satz finden kann: .Nebennierenrinde erhält sich, Mark geht immer
zu Grunde.“ Ich möchte hiermit diesen Irrthum, der das wichtigste Resultat
meiner Versuche direct umstüsst, berichtigt haben.
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608
Dr. H. v. Haberer,
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Nebenniere wie Stoerk, verdanke ich nicht bloss selbst eine wesentliche Ver¬
tiefung in der Kenntniss der Morphologie der Nebenniere und der Erkenntniss
und richtigen Deutung ihrer Veränderungen nach der Transplantation, sondern
es war auch dadurch möglich, die einschlägigen Literaturangaben kritisch zu
verwerthen und sie auf das richtige Maass zurückzuführen. In 4 Schlusssätzen
konnten wir dartbun, dass eine im Sinne günstiger Ernährung geeignete Ein-
pflanzungsmetbode der Nebenniere in die Niere einen Theil der ersteren und
zwar sowohl der Rinde wie des Markes vor Untergang bewahrt, dass sich aus
diesem erhaltenen Rest duroh völligen Neu- und Umbau ein neues Organ aus¬
bilden kann, welches functionell und in vielen Structurdetails mit der physio¬
logischen Nebenniere übereinstimmt 1 ), wenn es auch in Einzelheiten ganz
charakteristische Abweichungen davon zeigt, und dass speciell der Um- und
Neubau der Rindenzellverbände histologische Bilder schafft, welche vollkommen
mit den sogen. Adenomen der Nebennierenrinde des Menschen und Thieres
übereinstimmen. Hingegen kam uns niemals ein Bild zur Beobachtung, welches
eine Analogisirung mit den histologischen Bildern der Grawitz’schen Nieren¬
geschwülste gestattet hätte.
Das Resultat unserer Publicationen wurde in den seither erschienenen,
zusammenfassenden Berichten bezw. Monographien von Poll, Beitzke und
Ehrmann, sowie von Neusser und Wiesel, und von Biedl eingehender
Besprechung gewürdigt und die Wichtigkeit der erhobenen Befunde anerkannt,
1) Nach diesen, an Hunden, Katzen und Kaninchen beobachteten Bildern
der Neubildungsfähigkeit und Tendenz der Nebenniere, zu hypertrophiren,
Beobachtungen, die übrigens, wie damals gezeigt werden konnte, durchaus nicht
vereinzelt dastehen, muss das Resultat einer seither erschienenen experimentellen
Arbeit von Arturo Carraro und Erich lvugnitzky auffallen, zu welchem
die Autoren auf Grund von Schädigung einer Nebenniere bei Kaninchen durch
Gefrieren kamen. Sie konnten nämlich nach derartiger Schädigung keine Rege¬
nerationsvorgänge beobachten, auch dann nicht, wenn sie die Gefrierung einer
Nebenniere erst nach Exstirpation der zweiten vorgenommen hatten. Ebenso
sahen sie in keinem Falle nach Exstirpation oder vollkommerer Zerquetschung
einer Nebenniere compensatorische Hypertrophie der anderen. Die Autoren
glauben die Erklärung hierfür darin zu finden, dass sie bloss an ausgewachsenen
Thieren experimentirten, und stellen daher Versuche an jüngeren Thieren in
Aussicht. Hätten die Autoren Kenntniss von unseren, ein Jahr früher erschie¬
nenen Arbeiten gehabt, so hätten sie sich überzeugen können, dass wir auch
bei vollständig ausgewachsenen Thieren prächtige Regeneration und Hyper¬
trophie geschädigter Nebennieren bezw. einer nach Wegfall der zweiten resti-
renden Nebenniere beobachten konnten, wodurch ihre Schlussfolgerung von
selbst hinfällig wird. Die Ursache dieser Versuchsergebnisse, die in einem so
krassen Widerspruch zu unseren Erfahrungen stehen, muss einen tieferen
Grund haben. Da aber gerade bei derartigen Untersuchungen positive Befunde
weit mehr Beweiskraft haben als negative, so glaube ich mich berechtigt, den
genannten Autoren gegenüber aussagen zu können, dass ihnen irgend welche
Beobachtung»- bezw. Versuchsfehler unterlaufen sein dürften. Ich möchte die
genannten Autoren ausser auf unsere schon citirtcn Arbeiten noch auf die
Publication von Stocrk und mir „Beitrag zur Morphologie des Nebennieren¬
markes“ (Archiv f. inikrosk. Anatomie u. Entwicklungsgeschichte, Bd. 72, 1908)
aufmerksam machen, in welcher die Beziehung zwischen Hypertrophie und
Hypersecretion vielfach zur Sprache kommt.
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 609
so dass ich unter Verweis auf die genannten Arbeiten es unterlassen kann,
selbst nochmals die Bedeutung der Frage im Detail aufzurollen.
Wohl aber muss ich auf einige Arbeiten zu sprechen kommen, die seit Er¬
scheinen unserer Publicationen die Literatur bereicherten.
Kurze Zeit nach dem Erscheinen meiner ersten Publication theilten Busch,
Leonard und Wright mit, dass es ihnen mit freier Transplantation der
Nebenniere in die Niere bei 3 Kaninchen unter 30 Versuchen gelungen sei,
anatomischen und functioneilen Erfolg zu erzielen, insofern diese Versuchs-
thiere mit der verpflanzten Nebenniere functionirten und die histologische Unter¬
suchung der letzteren zeigte, dass sowohl Mark-als Rindensubstanz erhalten war.
Von noch grösserem Interesse ist eine Mittbeilung Neuheuser’s, der
fötale Kaninchennebennieren, sowie die Nebennieren von neugeborenen Ka¬
ninchen in die Nieren älterer Kaninchen implantirte und in einem Falle einen
Tumor erhielt, der exquisit maligne Eigenschaften, wie Einbrechen des Tumors
in die Blutbabn und destruirende Vorgänge im umgebenden Nierengewebe auf¬
wies. Diese Beobachtung steht bisher vereinzelt da, ist aber von allergrösster
Bedeutung, weil sie die Möglichkeit des Entstehens eines Tumors aus ver¬
lagerten Nebennierenkeimen zeigt und die Cohnheim-Ribbert’sche Theorie
über die Entstehung von Tumoren auf experimentellem Wege stützt. Im
gleiohen Sinne waren ja seiner Zeit die Versuche von Schmieden und später
von mir gedacht, ohne dass es gelungen wäre, ein einwandsfrei positives Er¬
gebnis zu erbringen.
Für die Function der transplantirten Nebenniere kommen Neuheuser’s
Versuche nicht in Betracht, da die Nebennieren der Thiere dabei unangetastet
blieben.
In dieser Beziehung verdient eine Publication Shiota’s volle Beachtung,
der Nebenniere frei in Milz oder Niere verpflanzte und zeigen konnte, dass nach
zweimal 24 Stunden das Adrenalin aus den transplantirten Organen ver¬
schwindet, und dass, während die Rinde ziemlich lange, bis zu 17 Wochen in
leidlichem Zustande erhalten bleiben kann, dieChromirbarkeit der Marksubstanz
jedoch schon nach 24 Stunden fehlt. Die verpflanzte Nebenniere stellt wahr¬
scheinlich schon unmittelbar nach der Verpflanzung ihre Thätigkeit ein, und
das in der transplantirten Nebenniere bis zu 48 Stunden nach der Verpflanzung
nachweisbare Adrenalin ist als das Product dieser Drüse vor der Transplanta¬
tion anzuseben.
Es zeigt diese Arbeit Shiota’s auf’s Neue, und zwar durch eine sehr
zweckmässige Versuchsanordnung, dass es bei der freien Transplantation nioht
gelingt, die Nebenniere am Leben und functionell tüchtig zu erhalten, wie dies
ja auch zur Genüge aus den älteren Publicationen über freie Transplantation
der Nebenniere hervorgeht. Wenngleich nun durch die Versuche von Busch,
Leonard und Wright, sowie durch die von Neuheuser gezeigt wird, dass
Dauereinheilungen bei freierTransplantation möglich sind, ja dass sogar einmal
ein verpflanzter Keim wuchern und die Eigenschaften eines malignen Tumors
annehmen kann, so handelt es sich doch bisher dabei immer um Einzelerfolge
in einer grossen Reihe von Misserfolgen. Trotzdem wird der von den genannten
Archir för klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3. 40
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610
Dr. H. v. Haberer,
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Autoren betretene Weg weiter zu verfolgen, werden die Resultate ihrer Arbeiten
einer sorgfältigen Nachprüfung zu unterziehen sein, da ein positiver Aus¬
gang mehr beweist als alle negativen zusammengenommen, und da die
Wichtigkeit der Frage an Aktualität zur Zeit eher gewonnen als verloren hat.
Ich beabsichtige jedenfalls, mit genauer Einhaltung der von den genannten
Autoren angegebenen Technik, ihre Versuchsanordnung in nächster Zeit in
grösserem Maassstabe aufzunehmen. Bezugnehmend auf meine erste Arbeit
muss mich in erster Linie die Versuchsanordnung von Busch, Leonard und
Wright interessiren, danach ihrer Mittheilung es gelungen ist, bei Kaninchen
frei in die Niere verpflanzte Nebennieren anatomisch sowohl in Rinde und Mark
lebenskräftig und functionirend zu erhalten. Da aber gerade bezüglich der
Function, soweit ich aus den Versuchen entnehmen kann, die längste Beob¬
achtungsdauer 77 Tage beträgt, —* denn es kann ja von einer bewiesenen
Function der verpflanzten Nebenniere nur von dem Moment an gesprochen
werden, wo das Versuchsthier bloss auf die transplantirteNebenniereangewiesen,
mithin alle übrige Nebennierensubstanz aus dem Organismus entfernt war, —
so ist die Beobachtungsdauer meines Erachtens nach eine zu kurze, wie ich im
Folgenden noch glaube darthun zu können.
Ich habe in meiner ersten Arbeit ausdrücklich betont, dass
ich zwecks längerer Beobachtungsdauer einige Thiere am Leben
liess, um späterhin über dieselben zu berichten. Diesem Vorhaben
nachzukommen ist Zweck der folgenden Zeilen.
Es handelt sich um die Thiere, welche im Auszug aus den Versuchs¬
protokollen der ersten Arbeit mit No. 9, 12, 34, 43, 45, 52, 55, 60 und 79 be¬
zeichnet sind. Wegen der ungünstigen Thierstallverhältnisse des Laboratoriums
der Klinik habe ich diese Thiere aufs Land gegeben und verpflegen lassen.
Es handelte sich bei Thier No. 9 und 12 um Transplantation der Neben¬
niere auf der einen und Exstirpation auf der anderen Seite, bei Thier No. 45 um
Transplantation der einen Niere, während die zweite Nebenniere und die
correspondirende Niere exstirpirt worden waren, bei Thier No.34, 43, 53, 55 und
60 um in zwei Sitzungen ausgeführte Transplantationen beider Nebennieren in
die gleichnamigen Nieren und in einem dritten Acte folgende Exstirpation der
linken Niere sammt der in sie verpflanzten Nebenniere. Ein Thier, No. 79,
endlich hat bloss eine, und zwar die linke Nebenniere, transplantirt, während
die zweite vollständig unangetastet gelassen wurde. In den, den einzelnen
Capiteln meiner Arbeit beigegebenen Tabellen findet sich ebenfalls bei den zu
besprechenden Fällen angegeben, dass die Thiere am Leben gelassen wurden.
Es dürfte nun zweckmässig sein, die einzelnen Beobachtungen
in extenso folgen zu lassen, um dann in epikritischer Weise die
Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
Die dabei zur Sprache kommenden histologischen Befunde,
hatte Herr Professor Stoerk die Hüte zu überprüfen, und ich
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 611
sage ihm sowohl dafür, wie auch für manchen werthvollen Wink,
den er mir dabei gab, meinen herzlichsten Dank.
Von vorn herein möchte ich gleich Versuch No. 79 von der weiteren Be¬
sprechung ausscbliessen. Bei diesem Thiere, einem jungen Bulldoggweibchen,
war am 12. 12. 07, also vor 3 Jahren, die linke Nebenniere in die linke'Niere
verpflanzt worden. Das Thier lebt und ist vollständig gesund, Hat zweimal
normale, lebende Junge geworfen und unterscheidet sich in nichts von einem
vollständig normalen Thier. Da die zweite Nebenniere dieses Thieres unan¬
getastet blieb, bietet der Versuch wenig Interesse. Wie wir wissen, kann ein
Thier mit einer Nebenniere ganz gut auskommen, und wir können daher auf
die etwaige Function der zweiten, implantirten Nebenniere in keiner Weise
schliessen, denn gleichmütig, ob dieselbe erhalten oder abgestorben ist, das
Thier hat eine normale Nebenniere, und die reicht hin. Durch Exstirpation der
letzteren könnte ich mich freilich sofort von dem Zustande der transplantirten
Nebenniere überzeugen, allein ich verfüge über derart viele einschlägige Ver¬
suche, dass es mir wenig gerechtfertigt erscheint, das Thier, zur Befriedigung
einer Neugierde, zu tödten. Viel Neues ist dabei nicht zu holen. Nach den
seiner Zeit gesammelten Erfahrungen dürfte die transplantirte Nebenniere eher
zu Grunde gegangen sein, da es sioh ja gezeigt hat, dass transplantirte Neben¬
nieren dann meist zu Grunde geben, wenn nach der Transplantation eine lange
Zeit verstreicht, ehe die zweite Nebenniere in irgend einer Weise geschädigt
wird. Da eine Nebenniere für die Erhaltung derVita desHundes vollkommen aus¬
reicht, derOrganismus in diesem Falle also gar keinen Hunger nach Nebennieren¬
substanz leidet, so ist der geschilderte Vorgang auch recht leicht einzusehen.
1. Thier No. 9. Ausgewachsener Hund. Transplantation der linken
Nebenniere in die linke Niere am 14. 10. 07. Exstirpation der rechten Neben¬
niere am 2. 11. 07. Beide Operationen waren reactionslos vom Thier vertragen
worden. Das Thier lebte dann über 2 Jahre am Lande, war frisch und munter,
unterschied sich in'nichts von anderen normalen Hunden, nahm bei guter Pflege
beträchtlich an Gewicht zu.
Am 10. 12. 09 exstirpirte ich nun dem Thiere seine linke Niere sammt der
in dieselbe transplantirten Nebenniere. Diese Exstirpation gelingt einwandfrei,
ohne Läsion der Niere oder der Nebenniere. Besonderes Augenmerk wird auf die
Stielverhältnisse der Nebenniere gerichtet. Es zeigt sich der Gefässstiel in eine
derbe, schwielige Masse umgewandelt, aus der sich auch bei querem Einschnitt
kein Tropfen Blut entleert, so dass auf Verödung des Gefässstieles geschlossen
werden kann. Die Operation war Abends ausgeführt, das Thier lag am Morgen
des nächsten Tages todt im Stalle, hatte also die Operation nicht einmal um
12 Stunden überlebt.
Der Obductionsbefund war ein vollständig negativer: Keine Reizung des
Bauchfelles, keine Blutung in die Bauchhöhle. Fehlen irgendwie auffindbarer
accessorischer Nebennieren. Weder dem Bette der rechten, noch der linken
Nebenniere entsprechend ein Nebennierenrest nachweisbar. Rechte Niere etwas
hypertrophisch. Ziemlich hochgradige, concentrische Herzhypertrophie, Intima
der Aorta glatt, keine Veränderung der Schilddrüse.
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612
Dr. H. v. Ilaberer,
Das bei der letzten Operation gewonnene Präparat zeigt auf
dem Sectionsschnitt gewöhnlich beschaffenes Nierengewebe mit einer
weissen Narbe entsprechend dem oberen Nierenpol, herrührend von
der alten Keilresection aus dieser Nierenpartie. In den Narben¬
bereich hinein ragt der eine Nebennierenpol, während die übrige
Nebenniere aus der Niere, in die sie seiner Zeit versenkt worden
war, herausgewuchert ist und mit diesem Antheile in der bekannten
Helmform der Niere aufliegt. Dieses Bild entspricht ganz den
Bildern, wie wir sie seiner Zeit für eine ganze Reihe von Fällen
beschrieben haben, in denen ein energisches, regeneratives Wachs¬
thum im stielproximalen Antheile eine Formation der Nebenniere
bedingt, derart, dass der grösste Antheil der transplantirten Neben-
Fig. 1.
niere, wiewohl bleibend unter der Nierenkapsel gelagert, über das
Niveau des umgebenden Nierenparenchyms vorragt. Die über
bohnengrosse Nebenniere selbst zeigt auf dem Durchschnitt ein
wirres Durcheinander von Rinde und Mark, mit vielfach knoten¬
förmigem Vorspringen der ersteren über die Schnittfläche (adenom¬
artig), und bietet so ein vom physiologischen Typus wesentlich
abweichendes Bild dar (s. Fig. 1).
Während die eine Hälfte des Präparates zur Conservirung in
Kaiserling verwendet wurde, gelangte die zweite Hälfte zur histo¬
logischen Verarbeitung. Die mikroskopische Untersuchung ergab:
Auf dem kreisförmigen Querschnitt erscheint die breite Rinden¬
schicht durch zarte, in unregelmässigen Abständen von der Rinde
abstehende, vorwiegend radiär, vereinzelt auch flachgestellte, tief
in die Rindenschicht hineingreifende Bindegewebssepta in eigen¬
artiger, vom physiologischen Typus abweichender Weise gegliedert.
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 613
Rings an der Peripherie läuft eine recht typische Schleifenschicht,
welche an den erwähnten Bindegewebssepten mehrfach ein Stück
weit hinunterreicht. In breiter Ausdehnung wird das mittlere Ge¬
biet des Querschnittes von Markmasse eingenommen, welche theils
unmittelbar an die compacte Rinde angrenzt, theils, und zwar an
mehreren Stellen, von ihr durch eine spongiosaartige Rindeninnen-
schicht getrennt wird. Inmitten des Marklagers zeigt sich noch
der Querschnitt eines plumpen Rindenausläufers. Die Rindenzellen
erscheinen überwiegend von physiologischem Typus, mit reicher
Durchsetzung ihres Protoplasmas mit fettartigen Tröpfchen, nur
die Rindenzellen der innersten Schichten sind frei davon. Die
Markzellen, durchaus schön chromgebräunt, mit gleichmässig
runden, je ein Kernkörperchen enthaltenden Kernen und succulcntem
Protoplasma, zeigen in Form und Anordnung die gewohnten Bilder.
Vereinzelt zeigt sich im Lumen der Markgefässe zart chromgebräunte
Substanz (Secret).
In der aus Bindegewebe und Fett bestehenden Gewebsbrücke,
welche zwischen Nieren Oberfläche und Nebennierenperipherie zieht,
finden sich mehrere, ziemlich kräftige, kleine Arterien, insbesondere
lässt sich ein besonders starkes Stämmchen im Verfolg seines
Verlaufes als Abkömmling der renalen Arterienverzweigung sicher¬
stellen.
2. Thier No. 12. Ausgewachsenes Hundeweibchen. Transplantation der
linken Nebenniere in die linke Niere am 15. 10. 07. 15 Tage später, am
30. 10. 07, wird die rechte Nebenniere exstirpirt, was ebenso wie im vorher¬
gehenden Falle ohne irgendwelche Läsion des bereits hypertrophischen Organes
gelingt. Das Thier übersteht beide Eingriffe ohne kenntliche Störung.
Nach über 2 Jahre währendem Landaufenthalt, während welchem sich
das Thier in keiner Weise von einem normalen Hunde unterschied, 2mal, und
zwar am 4. 6. 08 vier, am 31. 12. 08 sechs lebende Junge warf, die es selbst
säugte, wird dem Thiere am 10. 12. 09 mitten aus bestem Wohlbefinden heraus
in Narkose die linke Niere sammt der in sie transplantirten Nebenniere exstir¬
pirt. Das gelingt ohne Läsion der beiden Organe vollständig. Es ziehen zu
der, auch in diesem Falle in eine Narbenmasse eingebetteten Nebenniere keine
irgendwie erkennbaren Gefässe, die dem seinerzeitigen Stiele entsprechende
Narbe blutet auch beim Einschneiden nicht. Die exstirpirte Niere ist klein und
geschrumpft 1 ). Am 11. 12. 09 Thier sehr matt, zeigt deutliche Spasmen der
1) Der Fall zeigt von Neuem die hinlänglich bekannte Thatsache, dass
unter Umständen eine Niere durch lneision bezw. Keilresection derart schwer
geschädigt werden, dass sich im Anschluss an den Eingriff eine wahre Schrumpfung
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Dr. H. v. Haberer,
hinteren Extremitäten, kann nur im Kreise gehen, säuft, frisst aber nicht. Am
12. 12. 09 Morgens Exitus letalis. Die sofort angeschlossene Section vollständig
negativ, keine Peritonitis, keine abdominelle Blutung. Nirgends accessorische
Nebennieren, im Bereiche des Bettes der Nebennieren kein Nebennierenrest.
Rechte Niere mächtig hypertrophisch, fast doppelt so gross wie die exstirpirte
linke. Keine wesentliche Herzhypertrophie.
Das bei der letzten Operation gewonnene Präparat zeigt am
Sectionsschnitt die Niere wesentlich geschrumpft. Aus dem oberen
Pol derselben, mit ihr durch einen Stiel im Zusammenhang, die
über bohnengrosse Nebenniere hervorgewuchert, welche sich auf
dem Durchschnitt dadurch als vollkommen neu- und umgebaut
Fig. 2.
erweist, dass Rinde und Mark regellos durcheinandergemengt er¬
scheinen. Das halbe Präparat wird in Kaiserling conservirt (Fig. 2),
während die andere Hälfte der mikroskopischen Untersuchung zu¬
geführt wird.
Das histologische Bild lässt Folgendes feststellen: Die rings
umgebende, mächtige Rindenschicht zeigt an der Peripherie sub-
capsulär eine fast continuirliche Schleifenschicht, von welcher
mehrfach Fortsätze theils in die Kapsel dringen, theils, dieselbe
durchwuchernd, zu förmlichen kleinen Adcnömchen der Oberfläche
sich entwickelt haben. Besonders deutlich zeigt sich letzteres
Verhalten in jenem Antheile der Kapsel, welcher ohne Grenze in
den reich vascularisirten, derb bindegewebigen „Stiel“, also in die
Niere und Nebenniere verbindende Stromapartie übergeht. Sowohl
des Organes entwickeln kann. Dies wird namentlich dann der Fall sein, wenn
wie hier, die zweite Niere im Stande ist, vicariirend einzutreten. Daraus muss
man den immer wieder zu betonenden Schluss ziehen, wie wohl eine Nephro¬
tomie zur Klärung von zweifelhaften Fällen überlegt werden muss.
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 615
hier, wie in den anderen extracapsulären Rindenzellengruppen
finden sich Querschnitts- und Schiefschnittsbilder kleiner, chrom-
affiner Zellcomplexe — also die Schnittbilder zarter Markausläufer
(Fig. 3 u. 4).
Fig. 3.
Diese Abbildung zeigt bei schwacher Vergrösserung ein Stück der Nebenniere
mit Kapsel. Bei a Uebergang der Kapsel in die, Nebenniere und Niere ver¬
bindende Stromapartie, innerhalb derselben bei b Rindenadenömchen und bei
c Markausläufer.
Die Hauptmarkmasse liegt central in unregelmässiger Begren¬
zung, unmittelbar auf compacte Rindensubstanz folgend. Ihre
Zellen zeigen in Form, Grösse, Structurirung und Färbung das
geläufige Bild, mehrfach chrombraunes Zellsecret in den kleinen
Markgefässen.
Das Nierenparenchym weist eine hochgradige Veränderung auf,
indem fast alle erkennbaren Nierencanälchen mit mehr oder minder
stark lichtbrechenden Cylindern verstopft erscheinen, das Canälchen-
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Dr. H. v. Haberer,
epithel um diese herum sich maximal atrophisch zeigt. Ein Theii
der Malpighi’schen Körperchen bindegewebig verödet, und von den
nicht verödeten, zahlreiche, im Sinne einer Glomerulitis proliferans
verändert.
Fig. 4.
Diese Abbildung zeigt bei starker Vergrösserung dieselben adenomähnlichen
Bildungen b und die Markausläufer c, welche in Fig. 3 bei schwacher Ver¬
grösserung zu sehen sind.
3. Thier No. 34. Ausgewachsener, weisser, männlicher Spitz. Trans¬
plantation der linken Nebenniere in die linke Niere am 26. 10. 07. Eingriff
wird vom Thier anstandslos vertragen. Am 13. 11. 07 wird die inzwischen
deutlich hypertrophirte rechte Nebenniere in die rechte Niere transplantirt. Der
Hund erholt sich gut, wird aufs Land gegeben. Daselbst acquirirt er nach
kurzer Zeit Räude und kommt dadurch sehr herab. In diesem Zustand wird
am 4. 2. 08 dem Thiere die linke Niere sammt der in sie transplantirten linken
Nebenniere exstirpirt. Diese Operation gestaltet sich wegen flächenhafter Ver¬
wachsungen mit der Milz sehr schwierig, gelingt aber vollkommen, ohne Ver¬
letzung der beiden Organe. Auf dem Durchschnitte erweist sich die Nebenniere
zum grösseren Theile extra-, zum kleineren Thcile intrarenal.
Die histologische Untersuchung der durch Exstirpation gewonnenen, trans¬
plantirten, linken Nebenniere ergiebt exquisiteste Hypertrophie des extrarenalen
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 617
Antheiles, der in den regressiven intrarealen Antheil vorwuchert. Die Kinde
wuchert in Form ausgesprochener Adenombildungen in die Niere ein, auch
das schön chromaffine, stark gewucherto Mark dringt in die Nierennarbe ein.
Das Thier erholt sich vollständig und wird wieder aufs Land gegeben.
Es unterscheidet sich auch dieses Thier in nichts von einem normalen. Im
Mai und Juni 08 deckt es je eine Hündin (No. 60 und No. 63), mit der es in
gleichem Zwinger gehalten wird. (Beide Weibchen warfen, wie später noch be¬
sprochen werden soll, lebendige, gesunde Junge.)
Am 30. 10. 09 tödtete ich das Thier mit Chloroform mitten aus bestem
Befinden heraus. Die sofort angeschlossene Obduction ergab: Hypertrophie und
leichte Dilatation des linken Hcrzventrikels, im Anfangstheil der Aorta descen-
dens zwei frische atheroraatöse Auflagerungen. Im Bette der seinerzeit exstir-
pirten linken Niere und Nebenniere Narbengewebe, ohno Spur von Nebennieren¬
substanz. Auch sonst nirgends accessorische Nebennieren.
Fig. 5.
Die rechte Niere recht gross, auf dem Sectionsschnitt von
normaler Zeichnung. Kapsel zart, Oberfläche glatt. Die rechte
Nebenniere vollständig im oberen Nierenpol versenkt, kommt erst
am Sectionsschnitt der Niere zur Ansicht. Sie ist erbsengross,
vollständig umgebaut, insofern sich die breite Rinde aus lauter,
über die Schnittfläche vorspringenden kleinen adenomartigen Bil¬
dungen aufzubauen scheint, während die im Centrum gelegene
Marksubstanz strahlenförmige Ausläufer durch die Rinde schickt.
Die Hälfte des Präparates wird in Kaiserling conservirt (Fig. 5),
die zweite Hälfte der mikroskopischen Untersuchung zugeführt.
Letztere ergab folgenden Befund: Bei schwacher Vergrösse-
rung repräsentirt sich die grosse Nebenniere als völlig umgebaut,
ist durch eine neugebildete Kapsel scharf gegen die Niere abge¬
grenzt, von deren Parenchym sie im Uebrigen rings umschlossen
wird. Innerhalb dieser Kapsel findet sich nur lebenskräftiges
Nebennierengewebe, nirgends ist ein Rest von regressiv veränderten
Elementen zu erblicken. An vielen Stellen grenzen gesundes Neben-
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Dr. H. v. Haberer,
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nieren- und Nierengewebe hart aneinander. Dagegen findet sich an
anderen Stellen zwischen Nebennicrenkapsel und Niere in sehr aus¬
gedehnter Weise ein Gewebe eingelagert, das unschwer als Rest
zu Grunde gegangener Nebennierensubstanz erkannt werden kann.
Es hat sich also die Nebennierenkapsel an der Grenze zwischen
normaler Nebenniere und nekrotischem Nebennierengewebe aus¬
gebildet.
Die Rindensubstanz der Nebenniere ist oberflächenwärts durch
eine mächtige, zum Theil unregelmässig angeordnete Schleifen¬
schicht begrenzt, zeigt durch vielfache Lappung adenomartigen
Typus und trägt am höchsten Punkte des Schnittes ein nahezu
allseits freies Adenom. An einzelnen Stellen, namentlich an
den tiefsten, nierenwärts gelegenen Partien finden sich adenom¬
artige Bildungen, die bloss aus Zellen der Schleifenschicht be¬
stehen.
Die Hauptmasse des intensiv chrombraunen Markes findet sich
subkapsulär in dem am tiefsten in der Niere liegenden Antheil der
Nebenniere, und erstreckt sich dann in breiter Strasse centripetal
in die Nebenniere, gegen das Centrum hin immer schmäler werdend.
Als schmale Fortsätze dieser Hauptmarkmasse finden sich dann
weithin verstreut kleine, aus wenigen Zellen bestehende Markdepots
(Fig. 6).
Unterhalb der Nebenniere, pyramidenwärts finden sich in der
Niere in grosser Zahl schlauchartige Gebilde von auffälligem Aus¬
sehen, welche sich continuirlich, in allmählichem Uebergang zu den
Tubuli recti der Pyramiden verfolgen lassen. Dieselben zeigen an
zahlreichen Stellen eine ganz beträchtliche, mehrfach auch cysten¬
ähnliche Erweiterung mit blasser oder dunkler sich färbender homo¬
gener Inhaltsmasse, wobei manche, besonders der cystenartigen
Formen ihre Entstehung aus mehreren aufeinander folgenden Win¬
dungen ein und desselben Canales deutlich erkennen lassen (Fig. 6).
Das Auffälligste an diesen tubulären Formationen sind ihre be¬
sonders chromatinreichen, meist zu scheinbarer Mehrschichtigkeit
übereinander geschobenen Kerne; gelegentlich finden sich auch
riesenzellenartige Zellen mit förmlichen Kerncomplexen. Das Ganze
ruft den Eindruck lebhafter Proliferation hervor und ist zweifellos
den Harncanälchenwucherungen in der Umgebung von Nierentraumen
und gesetzten Nierendefecten der verschiedensten Art in Parallele
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620 Dr. H. v. Haberer,
zu stellen. Ihre Deutung als frustraner Regenerationsvorgang ist
wohl gestattet 1 )
Bei starker Vergrösserung zeigen sich die Zellen von Rinde
und Mark der Nebenniere durchaus als wohlgebildet, mit grossen,
intensiv tingirten Kernen. Die Chrombräunung der Marksubstanz
allenthalben eine sehr ausgeprägte.
4 . Thier No. 43. Weiblicher ausgewachsener Foxbastard. Transplan¬
tation der linken Nebenniere in die linke Niere am 6. 11. 07. Der Eingriff
wurde vom Versuchsthier anstandslos vertragen. Daher am 21. 11. 07 Trans¬
plantation der rechten Nebenniere in die rechte Niere. Auch dieser Eingriff
ging an dem Thiere, ohne irgend welche Erscheinungen zu machen, vorüber,
so dass es nach einer Woche aufs Land gegeben werden konnte. Es theilte mit
dem Thiere des vorher beschriebenen Versuches (Thier 34) denselben Stall,
erkrankte daher ebenfalls bald an Räude und kam dadurch recht herunter.
Trotzdem wurde am 8. 2. 08 die linke Niere sammt der in sie transplantirten
linken Nebenniere des Thieres exstirpirt. Dabei erwies sich die Nebenniere
total in die Niere versenkt, der Gefässstiel war verödet und in der Schwiele
aufgegangen, die sich in dem alten Nebennierenbett entwickelt hatte. Bei der
mikroskopischen Untersuchung erwies sich diese Nebenniere als vollständig
umgebaut, lebhaft wuchernd, mit Adenombildung, von der Niere her kräftig
ernährt. Doch fanden sich auch noch ausgedehnte Partien regressiv verän¬
derten Gewebes. Das Thier kam kurze Zeit nach diesem Eingriff, den es aber¬
mals sehr gut überstanden hatte, mit dem vorigen Thiere (34) zusammen aufs
Land, wurde einer Schmiercur gegen die Räude unterzogen, verlor diese, und
war dann vollständig gesund.
Es wurde das Thier dann auch von dem im vorigen Versuch beschrie¬
benen Thiore (No. 34) gedeckt und warf am 4. 9. 08 vier lebende Junge, die
es selbst säugte. Zwei der Jungen gingen am zwölften Tage zu Grunde, zwei
hingegen waren sehr kräftig und entwickelten sich ausgezeichnet. Im Juli 09
warf das Thier — es war abermals vom Hunde des vorigen Versuches (No. 34)
gedeckt worden — drei lebende, sehr kräftige Junge.
1) Es wäre nicht undenkbar, dass sich aus derartigen proliferativen Ver¬
änderungen gelegentlich einmal ein echtes neoplasinaiisches Wachsthum etwa
im Sinne eines Nierencarcinomes ergeben könnte, wobei der Untersuchen sich
vor einer Verwechselung mit einem, etwa von der transplantirten Nebenniere
ausgehenden, krebsigen Wachsthum zu hüten hätte. Diese hypothetische An¬
nahme sei aber ja nicht etwa als eine Kritik der Neuheuser’schen (1. e.)
Ergebnisse anzusehen. Neuheuser hat sicher echte Xebennierenrindonpn»-
liferation vor sich gehabt, also etwa das Bild analog einem primären Xeben-
niereneareinom. Eine solche Bildung Ilypernephrom zu nennen, wäre zwar
sinngemäss, könnte aber leicht Verwirrung stiften: denn dieser Name wird
eigentlich für die Grawitz'schen Tumoren der Niere verwendet. Dass X e ti¬
li euser's experimentell erzeugte Gesehwulstbildung durchaus einem Neben¬
nierenkrebs. aber absolut nicht einer Grawi t z'schen Nierengeschwulst gleicht,
wird ein Israel-Schüler sicher eindeutig eonstatirt haben, wenn er es auch nicht
präcis ausspricht.
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 621
Wie aus dieser Geschichte hervorgeht, erfreute sich also das Thier des
besten Wohlseins und hatte vollständig normale Functionen.
Am 28. 10. 09 tödtete ich den Versuchshund mitten im besten Wohl¬
befinden heraus durch Chloroform. Die sofort angeschlossene Obduction ergab
Tuberculose der Pleura und der bronchialen Lymphdrüsen, Hypertrophie und
Dilatation des linken Herzens. Narbe nach Exstirpation der linken Niere und
Nebenniere. Weder im Bereiche dieser Narbe, noch sonst irgendwo accesso-
rische Nebennieren oder Nebennierenreste auffindbar.
Rechte Niere hypertrophisch, zeigt am Durchschnitt vollständig
normale Zeichnung und enthält im oberen Pole, fast vollständig
von Nierengewebe umschlossen, die transplantirte rechte Neben¬
niere, die nur ein kleines Stück aus der Niere herausgewuchert
Fig. 7.
erscheint. Der alte Gefässstiel vernarbt und verödet, doch ziehen
von der lateralen Seite her zwei feinste Gefässchen an den oberen
Nierenpol heran. Am Durchschnitt erweist sich die Nebenniere
vollständig uragebaut, sieht wie ein Conglomerat von drei kleinen
Nebennieren aus, von denen jede einzelne Rinde und Mark deutlich
unterscheiden lässt; sie gehen theils scheinbar ineinander über, theils
sind sie scharf voneinander abzugrenzen. Das ganze Gebilde ist
kleinbohnengross. Die halbe Niere und Nebenniere wird in Kaiserling
aufbewahrt (Fig. 7), die andere Hälfte zur mikroskopischen Unter¬
suchung verwendet.
Letztere ergiebt: Grosse, lappig gebaute, durch bindegewebige
Septen unterteilte Nebenniere, deren Rinde einer normalen Neben¬
nierenrinde recht ähnlich sieht. Vielleicht zeigt die Schleifenschicht
diesbezüglich einige Unregelmässigkeiten, insofern sie an einzelnen
Stellen besonders mächtig entwickelt, tief in die darunter liegende
Rindenpartie hineinreicht. Durch die septenartige Anordnung des
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Bindegewebes ruft das Schnittbild der Nebennierenrinde den Ein¬
druck hervor, als ob sich letztere aus lauter grösseren Adenomen
aufbauen würde. Im Centrum dieser Nebennierengewebsmasse ein
umschriebenes Marklager von fast physiologischer Structur, indem
es, wenigstens zum Theil, zahlreiche, charakteristisch weite Gefäss-
lumina mit umkleidenden MarkzelJlagen erkennen lässt. Von diesem
schön chromirten Marklager, mit succulenten Zellen, gehen nun
weithin in die Rindenmasse versprengte kleine Markzellgruppen
von gleicher Beschaffenheit aus. Diese Markdepots zu drei bis
vier Zellen finden sich allenthalben, wie verspritzt zwischen Rinden¬
zellen eingelagert. Nirgends mehr eine Spur von regressiv ver¬
ändertem Gewebe (Fig. 8).
5. Thier No. 45. Männlicher Spitzhund. Transplantation der linken
Niebenniere in die linke Niere, und zwar sehr tief in die linke Niere hinein,
am 7. 11. 07. Diesem Eingriffe folgte am 21. 11. 07 die Exstirpation der
rechten Niere und der rechten Nebenniere. An diese Operation, von welcher
an das Thier mit einer einzigen, in die einzig vorhandene linke Niere trans-
plantirten Nebenniere auskommen musste, schlossen sich zunächst Krankheits¬
erscheinungen an, die sich in Form von Abmagerung, verminderter Fresslust,
Trübung der Cornea und allgemeiner Mattigkeit dooumentirten. Dazu gesellte
sich noch eine schwere Laryngitis. Das Thier erholte sich aber bei Land¬
aufenthalt bald vollständig, und ist heute ein verlässlicher Haushund. Ich
habe dieses Thier geflissentlich am Leben gelassen und möchte seine natür¬
liche Lebensdauer aus noch zu erörternden Gründen abwarten.
6. Thier No. 52. Grosses kräftiges Buldoggweibchen. Transplantation
der linken Nebenniere in die linke Niere, am 11. 11. 07. Da das Thier den
Eingriß sehr gut vertragen hatte, wurde bei ihm am 29.11.07 die reohteNeben-
niere in die rechte Niere verpflanzt. Auch diesmal keinerlei Krankheits¬
erscheinungen. Am 7. 1. 08 wird nun bei dem Thiere die linke Niere sammt
der in sie verpflanzten Nebenniere exstirpirt. Auch diesen Eingriff hat das
Thier ausgezeichnet vertragen. Das bei der Operation gewonnene Präparat,
das die unverletzte linke Niere mit der in sie transplantirten Nebenniere vor¬
stellt, zeigt die Nebenniere zum grössten Theil intrarenal, zum Theil imKapsel-
niveau der Niere gelegen.
Die mikroskopische Untersuchung ergab: Die Nebenniere in exquisiter
llypertrophio mit unregelmässigem, plumpem Rindenbau. Mehrfach plumpes
Einwachsen von Rinde in die mächtig gewucherte, stark chrombraune Mark¬
substanz. Daneben aber auch noch ausgedehnte Partien, in denen sich in
buntem Wechsel jung gewucherte Rinde und regressives Gewebe präsentiren.
Insbesondere finden sich ganz junge, schöne Rindenzellverbände im distalsten
Abschnitt entlang der basalen Markperipherie.
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Fig. 8.
Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 623
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Diese Abbildung zeigt bei schwacher Vergrösserung den adenomartigen Rindenbau dieser Nebenniere, mit centralem Mark
und davon abgetrennten Markdepots (c). Bei a versprengte Schleifenschicht.
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Dr. H. v. Haberer,
Einige Zeit nach der dritten Operation war das Thier von einem im Ver¬
suchsstalle gehaltenen Leonberger gedeckt worden und kam bald nachher aufs
Land. Daselbst blieb es frisch und gesund bis zum 30. 3. 08, an welchem
Tage es 6 lebende, kräftige Junge warf. Eines dieser Thiere ging noch am
Tage des Wurfes ein, hatte normal entwickelte Nebennieren, hingegen zeigte
sich bei ihm der hohe Dünndarm plötzlich blind endend, weiter Fehlen des
ganzen übrigen Darmes, bis auf das oralwärts blind endende Rectum.
Die Hündin säugte ihre Jungen selbst, bekam aber bereits nach 2 Tagen
Trübung beider Corneae, Spasmen und Schwäche der hinteren Extremitäten
und magerte rapid ab. Diese mir als Nebennierenausfallserscheinungen wohl-
bekannten Symptome nahmen so zu, dass das Thier am 6. 4. 08 nicht mehr
stehen und gehen konnte, da es mit dem Hintertheil fortwährend umfiel. Da
auch jedwede Nahrungs- oderFlüssigkeitsaufnahme verweigertwurde, entschloss
ich mich, das Thier durch Chloroform zu tödten.
Fig. 9.
Die sofort vorgenommene Obduction ergab missfärbige Endometritis, den
Placentarstellen entsprechend. Linksseitige Thombophlebitis und Parametritis,
Schwellung der retroperitonealen und inquinalen Lymphdrüsen. Nirgends
accessorische Nebennieren. Im Bereich der seiner Zeit exstirpirten linken Niere
und Nebenniere solide Narbe.
Rechte Niere sehr gross, am Durchschnitt von normaler Zeich¬
nung, enthält im oberen Pol die eingepflanzte rechte Nebenniere,
die über bohnengross, zum grössten Theil über das Nierenniveau
emporragend, unter der Nierenkapsel liegt. Makroskopisch be¬
trachtet, machte diese Nebenniere den Eindruck einer schön hyper¬
trophischen, ganz den Bildern entsprechend, wie wir sie so oft bei
einzig restirenden, secundär hypertrophirten Nebennieren sahen.
Die breite Rinde hob sich scharf von einer mächtigen, als Mark¬
lager anzusprechenden Gewebsmasse ab. Das halbe Präparat wurde
in Ivaiserling conservirt (Fig. 9), die andere Hälfte zur mikroskopischen
Untersuchung verwendet.
Im histologischen Bilde setzt sich die Nebenniere aus einer
Reihe von grossen, aus vollständig gesunden Zellen bestehenden,
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 625
mehr minder wohlabgegrenzten Lappen zusammen, wodurch die
Nebenniere in ihrem Rindenantheile das Aussehen eines Adenom-
conglomerates erhält. Die Schleifenschicht noch recht unregel¬
mässig, an einzelnen Stellen sehr mächtig entwickelt.
Genau central, bezw. axial befindet sich nun ein mächtiges
Marklager, bei dem jedoch schon bei schwacher Vergrösserung auf-
Fig. 10.
Diese Abbildung zeigt bei starker Vergrösserung einen Theii des Marklagers
der rechten transplantirten Nebenniere von Thier No. 52. Man sieht die un-
gleichraässigc Chromirung, das vielfache Verschwundensein der Zellgrenzen,
z. B. bei a, die ausgedehnte Vacuolisirung b , sowie die ungleiehmässigc Kern¬
vertheil ung.
fällt, dass die Chromirung eine ungleiche, fleckige ist. Auf der
einen Seite, peripheriewärts, setzt sich dieses Marklager in ein,
Markposition einnehmendes Gewebe fort, welches, ich möchte sagen,
schwammigen Aufbau zeigt: Die Lücken entsprechen ziemlich weit
offenen Gefässlumina, die Balken zeigen entweder, und zwar central-
wärts, bindegewebigen Charakter, jj )C ils führen sie peripheriewärts
Archiv für kl in. Chirurgie. Bd. 94. lieft 3. \\
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626
Dr. H. v. Habercr,
in immer zunehmender Reichlichkeit Rindenzellen, so dass das
Ganze sich als eine neugebaute Reticularis erweist.
Bei starker Vcrgrösserung zeigen die Rindenzellen scharfe Be¬
grenzung ihrer Zellleiber und sehr intensiv tingirte, grosse Kerne.
Im Gegensatz zu den sonst so klaren und geläufigen Bildern des
Kig. 11.
/
Dies^ Abbildung zeigt hei gleicher Yergrüsscrung (wie Fig. 10) zum Vergleich die
linke, transplantirte, aber zu früherer Zeit wieder cxstirpiric Nebenniere von
Thier No. 52. Hier erkennt man unter normaler Kinde (R) das gleichmässig
eliromirte Mark (M) mit seinen gleiehmässigen Zellen und gut [tingirten Kernen.
Markgewebes linden sich hier auffällige Ungleichheiten in der Chro-
mirung, ferner fast allenthalben Unschärfe der Zellgrenzen und ein
besonders zahlreiches Auftreten von vacuolenartigen Lücken im
Protoplasma des chromaffinen Gewebes. Die Ungleichmässigkeit
der Zellgrössen kennzeichnet sich durch entsprechende Ungleich-
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 627
mässigkeit der Vertheilung der Kerne in den die liefasslumina um¬
gebenden Markzellreihen. Daneben scheint es auch zu Kern¬
wucherung gekommen zu sein, so dass sich da und dort Bilder
riesenzellähnlicher, chromaffiner Elemente ergeben (Fig. 10).
Dieser ungewohnte Polymorphismus, das vielfache Auftreten
von Vacuolen etc. gestatten wohl mit Sicherheit die Annahme,
dass das Mark dieser Nebenniere als ein degenerativ verändertes
zu betrachten ist. Niere ohne Besonderheiten.
7 . Thier No. 55. Schwarzer ausgewachsener männlicher Hund. Am
16. 11.07 Transplantation der linken Nebenniere in die linke Niere. Das
Thier erholt sich von diesem Eingriffe sehr rasch. Am 28. 11. 07 wird nun¬
mehr die rechte Nebenniere in die rechte Niere verpflanzt. Auch diesen Eingriff
verträgt das Thier sehr gut und wird am 18. 12. 07 aufs Land gegeben. Da¬
selbst wird das Thier von einer hartnäckigen Räude befallen, ist aber selbst
frisch und munter. Am 12. 2. 08 bei noch bestehender starker Räude Exstir¬
pation der linken Niere sammt der in sie verpflanzten linken Nebenniere. Die¬
selbe gestaltet sich relativ einfach; es lindet sich im Bereiche des seiner Zeit
belassenen Gefässstieles der Nebenniero eine derbe Schwiele, aus der sich beim
Einschneiden kein Tropfen Blut entleert, so dass auf Verödung des Gefäss¬
stieles geschlossen werden kann. Die Exstirpation gelingt ohne Verletzung von
Niere oder Nebenniere. Letztere erweist sich vollständig intrarenal gelegen.
Am Sectionsschnitt bietet die Niere gewöhnliche Verhältnisse dar, die im oberen
Pole der Niere gelegene Nebenniere ist erbsengross, zeigt Rinde und Mark in
gewohnter Weise. Die mikroskopische Untersuchung ergiebt:
Die eine Hälfte des Schnittbildes zeigt soh^ne und typische, rein intra¬
renale Adenombildung der Nebenniere, die andere Hälfte durchaus regressive
Metamorphose mit spärlich einwuchernden jungen Adenomen; viel Krystalle,
wenig Pigment. Die centrale Markmasse kaum getroffen, es zeigen sich vor¬
nehmlich schön chromirte Markzellverbände als corticaleMarkausläufer. Sowohl
Mark- als Rindenzellen gross, mit gut tingirten Kernpn.
Nach der dritten Operation erholt sich das Thier vollständig und ist bald
wieder von einem ganz normalen Hunde nicht zu unterscheiden.
Ende Mai 1908 stellen sich Harnbeschwerden ein, die auf eine Strictur
im Bereiche der Harnröhre schliessen lassen. Das Thier urinirt oft, unter
sichtlicher Anstrengung, wobei sich manchmal nur wenige Tropfen Harnes
entleeren.
Anfangs Juni 1908 ist das Thier abgemagert, zeigt deutliche Störungen
des Gleichgewichtes, spastische Zustände der Extremitäten und verweigert die
Nahrungsaufnahme. Derl Verfal ist ein derart rapider, dass ich mich ver¬
anlasst sehe, das Thier am 6. 6. 08 mit Chloroform zu tödten.
DieObduction ergiebt Cystitis haemorrhagica, Strictura urethrae cicatricea.
Narbe im Bereiche der seiner Zeit exstirpirten linken Niere und Nebenniere
vollkommen solid, nirgends accessorische Nebennieren. Die rechte Niere stark
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628
Dr. H. v. Haberer,
hypertrophirt, enthält im oberen Pole die bohnengrosse, allseitig von Nieren¬
parenchym umschlossene Nebenniere. Letztere macht bei makroskopischer Be¬
trachtung den Eindruck einer hypertrophischen Nebenniere mit deutlich abgrenz-
barer Rinden- und Marksubstanz. Das ganze Präparat wird mikroskopisch
verarbeitet.
Fig. 12.
Diese Abbildung zeigt bei starker Vergrösserung von der rechten Nebenniere des
Falles No. 7 neben normaler Rinde R das hochgradig veränderte, der Chromirung
entbehrende Mark (M) mit zahlreichem Kernuntergang und mit Vaeuolisirung.
Das histologische Bild ergiebt bei schwacher Vergrösserung
eine grosse, vollständig neu gebaute Nebenniere mit exquisit
lappigem Bau der Rindensubstanz, so dass der Eindruck her¬
vorgerufen wird, als würde sich die Nebenniere aus einem
Complex grösserer Adenome zusammensetzen. Fast nirgends mehr
Ueberreste von regressiv verändertem Gewebe auffindbar. Die
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 629
Rindenzellen scharf begrenzt, mit grossen, gut gefärbten Kernen.
Die Schleifenschicht noch vielfach recht unregelmässig angeordnet.
Auch extracapsulär zeigt sich eine Adenombildung.
Im Centrum der Nebenniere ein grosses, vielfach zerklüftetes
Marklager, dessen Zellen der weitaus grössten Hauptmasse nach
keine Spur von Chromfärbung erkennen lassen. Dabei sind die
meisten Zellen gut begrenzt, zeigen einen normal grossen Kern, der
auch zumeist gut gefärbt erscheint. Daneben finden sich allerdings
auch zahlreiche kleine, recht blasse Zellkerne. In dieser Masse des
Fig. 13.
.][
Diese Abbildung zeigt bei gleicher Ycrgrüsserung (wie Fiir. 12) zum Vergleich
eine Rindenpartie (Ä) mit .Markstrahl (M) der linken Nebenniere desselben
Thieres, die ebenfalls seiner Zeit transplantirt und nach einiger Zeit wieder
oxstirpirt worden war. Die Markzellen scharf begrenzt, mit gut lingirten
Kernen schön chromirt.
Markes erscheinen in der Continuität der chromnegativen Mark¬
zellen hier und da einzelne Markzellen oder Markzellgruppen, die
noch eine leichte Chrombräunung angenommen haben.
Bei starker Vergrösserung werden die eben geschilderten Ver¬
hältnisse viel deutlicher und insbesondere zeigt sich auch an zahl¬
reichen Stellen Vacuolisirung des Protoplasmas der Markzellen
(Fig. 12).
Aus diesen Bildern muss man auf nicht functionirendes (func-
tionell insufficientes), zum Thcil zu Grunde gehendes Mark schliessen.
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Dr. II. v. Haberer,
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630
Die Niere, allenthalben scharf von der Nebenniere durch eine
bindegewebige Kapsel getrennt, lässt keine wesentliche Abweichung
von der Norm erkennen.
Der Beschreibung des mikroskopischen Bildes dieser, uns
wesentlich mit Bezug auf das differente Verhalten von Lebens¬
kräftigkeit der Mark- und Rindensubstanz interessirenden Neben¬
niere ist noch ein nicht unwesentlicher Nachtrag anzufügen: Zur
Zeit der Transplantation dieser Nebenniere in die Niere am
28. 11. 07 wurde der obere Pol der Nebenniere abgekappt und
der mikroskopischen Untersuchung zugeführt. Die letztere ergab
damals eine schön hypertrophische Nebenniere (die zweite war ja be¬
reits seit einiger Zeit transplantirt) mit prächtig chromirter Mark¬
substanz und lebenskräftigen Zellen. Deutlich chromirtes Secretions-
product in den Gefässen.
Es zeigt sich also, dass die Marksubstanz dieser Nebenniere
ihre histologischen Charaktere erst nach der Transplantation ge¬
ändert hat.
8. Thier No. 60. Kleines weisses Spitzweibchen, noch nicht ganz aus¬
gewachsen. Transplantation der linken Nebenniere in die linke Niere am
20. 11. 07. Da dieselbe anstandslos vertragen wurde, erfolgt am 6. 12. 07 die
Transplantation der rechten Nebenniere in die rechte Niere. Auch nach diesem
Eingriffe erholt sich das Thier sehr rasch und wird aufs Land gegeben. Das
Thier ist sehr munter, acquirirt aber Räude und wird in diesem Zustande am
15. 2. 08 abermals operirt. Diesmal wird die linke Niere sammt der in sie
seiner Zeit transplantirten Nebenniere exstirpirt. Es zeigt sich der Gefässstiel
der Nebenniere in der Narbe des alten Nebennierenbeckens aufgegangen, in
dem Narbengewebe lassen sich keine Gefässe auffinden, so dass auf Verödung
des Gefässstieles geschlossen werden darf. Die Exstirpation gestaltet sich ein¬
fach, da nahezu keine Verwachsungen vorgefunden werden und gelingt ohne
Gewebsläsion der zu entfernenden Organe. Auf dem Sectionsschnitt erweist
sich die Niere als normal und enthält im oberen Pole die kleinbohnengrosso
Nebenniere, die gut abgrenzbare Mark- und Rindensubstanz erkennen lässt.
Die eine Hälfte dieser Nebenniere wurde von Herrn Professor Biedl zu
einem Blutdruckversuch verwendet, der sehr deutlich positiv ausfiel; die mikro¬
skopische Untersuchung der anderen Hälfte ergab charakteristische Hypertrophie
der Rinden- und Marksubstanz, neben regressiv verändertem Gewebe. Nament¬
lich dieSchleifenschicht in exquisitester Hypertrophie, mehrfache Adenombildung.
Nachdem das Thier auch diesen Eingriff gut überstanden hatte, kam es
gemeinsam mit zwei anderen, den als Fall 3 und 4 (Thiere No. 34 und 43)
beschriebenen Hunden, in einen Zwinger aufs Land, und gedieh dort vorzüglich.
Von Tier No. 34 belegt, warf es Anfang Juli 1908 vier gesunde, lebendige
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 631
Junge, die es selbst säugte. Auch während der Lactation keinerlei Ausfalls¬
erscheinungen.
Mitten aus bestem Befinden heraus tödtete ich das Thier am 27. 10. 09 mit
Chloroform. Die sofort angeschlossene Obduction ergab an Stelle der exstir-
pirten linken Niere und Nebenniere eine solide Narbe, in der keine Spur von
Nebennierensubstanz vorlindlich war. Nirgends accessorische Nebennieren,
linkes Herz hypertrophisch.
Rechte Niere eompcnsatorisch hypertrophirt, trägt im oberen
Pole die theilweise aus ihr herausgewucherte Nebenniere der
rechten Seite. Der seiner Zeit belassene Gefässsticl erscheint ver¬
ödet, in der im alten Nebeunierenbett vorbildlichen Narbe gänz¬
lich aufgegangen. Auf dem Durchschnitt zeigt die Niere voll-
Fig. 14.
ständig normale Zeichnung und trägt im oberen Pol die grössten-
theils vom Nierengewebe umschlossene Nebenniere. Letztere lässt
sich als ganz umgebautes Organ erkennen, insofern in demselben
Mark und Rinde in ganz regellosem Durcheinander zu erkennen
sind. In der Rinde sind schon mit freiem Auge Adenome von
bedeutender Grösse zu sehen. Am tiefsten Punkte der Nebenniere
findet sich, von ihr deutlich abgegrenzt, in der Niere ein scheinbar
bloss aus Nebennierenrinde bestehendes rundes Gebilde.
Die Hälfte des Präparates wird in Kaiserling conservirt (Fig. 14),
die andere Hälfte zur mikroskopischen Untersuchung verwendet.
Die mikroskopische Untersuchung ergiebt: Grosse, allseits
durch eine starke, bindegewebige Kapsel gegen die Niere ab¬
geschlossene Nebenniere mit, durch Bindegewebssepten hervor¬
gerufenem, lappigem Bau. Die mächtig entwickelte Schleifenschicht
trägt den Charakter normalen Nebennierenrindengewebes. Die
s
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Diese Abbildung zeigt bei schwacher Yergrüsscrung die rechte Nebenniere von Thier No. GO. Man erkennt den exquisit
lappigen Kindenbau, das centrale Marklager und die in der ganzen Nebenniere verstreuten grösseren und kleineren Mark¬
depots. Kxtracapsuliir. nicrenwärts Adenoinbiblung (n) und ein grösseres Markdepot (c).
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 633
Rindenzellcn erweisen sich alle als gross mit gut tingirten Kernen
und scharfen Zellgrenzen. Die Marksubslanz findet sich zunächst
als ein grösseres centrales Lager situirt, dann aber auch allent¬
halben zerstreut in der ganzen Nebenniere; sowohl central wie
peripher und subcapsulär in Form grösserer und kleinerer Depots.
Die Zellen sind gut chromirt, scharf begrenzt und haben grosse,
schön gefärbte Kerne. Die sonst normale Niere zeigt dort, wo
sie an die Nebenniere grenzt, eine bindegewebige Narbe. In dieser
Narbe finden sich nun, extracapsulär mit Bezug auf die Neben¬
niere, Nebennierenrindenadenome und ein grösseres Depot schöner,
lebenskräftiger, gut chromirter Markzellen.
Zusammenfassung.
Alle diese Versuchstiere mussten schliesslich mit einer ein¬
zigen Nebenniere, und zwar mit der in die gleichnamige Niere
transplantirten, ihr Auskommen finden 1 ). Verschieden waren bloss
die dazu nöthigen Voroperationen gestaltet, und nach diesen gruppiren
sich die Versuche wie folgt:
No. 1, 2 und 5 stellen eine Gruppe vor, bei welcher nach
Transplantation der linken Nebenniere die rechte in einem zweiten
Acte einfach exstirpirt worden war. Während aber bei 1 und 2 die
rechte Niere unangetastet belassen worden war, wurde bei Thier
No. 5 anch die rechte Niere gleichzeitig mit der Exstirpation der
Nebenniere mit entfernt, so dass dieses Thier von da ab auch nur
über eine einzige Niere verfügte.
Die Thiere No. 3, 4, 6, 7 und 8 gehören ebenfalls in eine
Gruppe zusammen, weil bei ihnen zunächst in zwei Sitzungen die
beiden Nebennieren in die gleichnamigen Nieren verpflanzt worden
waren und in einem dritten Acte dann die Exstirpation der linken
Niere sammt der in sic verpflanzten Nebenniere folgte. Von
diesem Momente ab musste der Organismus dieser Thiere sein
Auslangen mit einer einzigen Niere und einer einzigen, in die
Niere verpflanzten Nebenniere finden.
1) Für die folgenden Zeilen kommt der schon oben besprochene und
ausgcsclialtete Versuch 7!) natürlich nicht mehr in Betracht, zumal ja bei
diesem Thiere beide Nebennieren belassen sind und nur die eine derselben
transplantirt worden war.
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Dr. H. v. Haberer,
Von den 8 Versuchstieren haben 6 dauernd mit ihrer einzigen
transplantirten Nebenniere ausgereicht, ihre Functionen waren denen
ganz normaler Thiere vollständig gleich. Die Thiere (No. 1, 2, 3,
4, 5 und 8) begatteten sich sogar untereinander, und die Weibchen
warfen lebende, gesunde Junge, die sie selbst säugten. Man darf
sagen, dass diese Thiere dauernd die Reduction ihrer Nebennieren¬
substanz überlebt haben, denn sie wurden entweder zu einem
willkürlich gewählten Zeitpunkt, mitten aus bestem Wohlbefinden
heraus getödtet, und zwar, nachdem sie durch nahezu 2 Jahre
den Beweis erbracht hatten, dass sie zum normalen Leben ge¬
nügend Nebennierensubstanz besitzen, oder aber sie wurden (1 und 2)
nach Ablauf von fast 2 Jahren einem operativen Eingriff unter¬
worfen, der zeigen musste, ob die Thiere vielleicht ausser der
transplantirten Nebenniere noch andere verfügbare, functionell in
Betracht kommende Nebennierensubstanzen besitzen. Dieser Ein¬
griff bestand in der Exstirpation der linken Niere sammt der in
sie verpflanzten linken Nebenniere. Er konnte nur bei zwei Thiereu
(1 und 2) in Betracht kommen, da das die einzigen Thiere waren,
die bis zu ihrem Tode 2 Nieren besassen, in deren eine die gleich¬
namige Nebenniere transplanlirt war, während die zweite Neben¬
niere durch Exstirpation entfernt worden war.
Da wir nun einerseits wissen, dass eine Niere zur Erhaltung
des Lebens ausreicht, da andererseits vielfach auf experimentellem
Wege gezeigt worden ist, dass auch in der Regel eine Nebenniere
für den thierischen Organismus genügt, während der Wegfall beider
Nebennieren den Tod unbedingt nach sich zieht, falls nicht anderswo
im Organismus functionirende Nebennierensubstanz vorhanden ist,
so stand in beiden Fällen (1 und 2) Folgendes zu erwarten: Die
Exstirpation der linken Niere mussten die Thiere voraussichtlich
vertragen, da sie ja noch über eine gesunde rechte Niere verfügten.
Andererseits war vorauszusehen, dass die Exstirpation der in die
linke Niere verpflanzten Nebenniere, da sie ja die einzige war»
den Tod der Thiere durch Nebennierenausfall nach sich ziehen
müsse. Nur das Vorhandensein anderwärtiger Nebennierensubstanz,
mit dem ich aber nach der Erfahrung aus meinen zahlreichen
Experimenten am Hunde absolut nicht rechnen konnte, hätte die
Thiere nach Wegfall ihrer transplantirten linken Nebenniere am
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 635
Leben erhalten können. Kurz gesagt, die Verhältnisse lagen bei
den beiden Thieren so, dass man ihnen zwar beruhigt die linke
Niere exstirpiren konnte, während die gleichzeitige Exstirpation der
in die linke Niere transplantirten Nebenniere voraussichtlich den
Tod des Thieres nach sich ziehen musste.
Dieser Eingriff wurde nun bei beiden Thieren mitten im besten
Wohlbefinden ausgeführt, nachdem sie durch mehr als 2 Jahre
nur mehr eine einzige, in die linke Niere transplantirtc Nebenniere
besessen hatten. Bei beiden Thieren wurde am 10. 12. 09 Abends
auf transperitonealem Wege die linke Niere saramt der in sie
transplantirten Nebenniere exstirpirt, in beiden Fällen gestaltete
sich die Operation ganz einfach, konnte ohne Läsion der Niere
und Nebenniere ausgeführt werden, in beiden Fällen fand sich an
Stelle des seiner Zeit belassenen Xebcnnierengefässsticles eine
Narbe.
Die theoretische Voraussetzung dieses Experimentes traf, man
kann sagen, mit mathematischer Sicherheit ein. Thier 1 war nach
12 Stunden todt. der Sectionsbefund war vollständig negativ,
Thier 2 überlebte den Eingriff um 36 Stunden, zeigte aber in
dieser Zeit die deutlichen, uns geläufigen Erscheinungen des Neben¬
nierenausfalles, Schwäche, Spasmen der hinteren Extremitäten,
Ataxie etc., und ging unter zunehmender Schwäche zu Grunde.
Auch in diesem Falle war, wie zu erwarten, der Obductionsbefund
negativ, bei beiden Thieren fehlten accessorische Nebennieren, die
zurückgebliebenen Nieren waren normal bezw. im Fall 2 hyper¬
trophisch (infolge der Schrumpfung der linken Niere im Anschlüsse, an
die seiner Zeit zum Zwecke der Transplantation vorgenommene
Keilresection aus derselben). Die beim letzten Eingriff gewonnenen
Präparate der linken transplantirten Nebennieren ergaben sowohl
makroskopisch als mikroskopisch, dass es sich um nach Rinde und
Mark vollständig lebenskräftige, total neu- und umgebaute Neben¬
nieren handelte. Diese hatten für den Haushalt des Organismus
der Versuchsthiere voll und ganz ausgereicht, ihr Wegfall musste,
da sonst keine Nebennierensubstanz im Organismus vorgefunden
werden konnte, den Tod des Thieres zur Folge haben.
Beide Versuche bestätigen hiermit einerseits aufs Neue die
längst bekannte Thatsachc, dass Thiere mit einer Nebenniere leben
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Dr. H. v. Haberer,
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können, der Verlust beider Nebennieren jedoch unbedingt den Tod
des Thieres nach sich zieht, sie beweisen aber auch andererseits
ganz besonders überzeugend die Richtigkeit meiner seiner Zeit auf¬
gestellten Behauptung, dass es mit der von mir gewählten, gestielteu
Transplantation gelingt, die Nebenniere nicht bloss anatomisch,
sondern auch functionell am Leben zu erhalten.
Thier 5. bei dem seiner Zeit nach Transplantation der linken
Nebenniere in die linke Niere die rechte Nebenniere und gleich¬
zeitig die rechte Niere exstirpirt worden war, eignete sich eben
wegen der Exstirpation der rechten Niere nicht zu dem gleichen
Experiment, wie die eben besprochenen Versuche 1 und 2. Diesem
Thiere musste die linke Niere erhalten bleiben, da es sonst an
Anurie hätte zu Grunde gehen müssen. Diesbezüglich erschien mir
auch die Keilresection dieser Niere zum Zwecke der Exstirpation
der transplantirten Nebenniere nicht mehr einwandfrei, da ein
darauf folgender Tod des Thieres doch nicht ohne gewisse Ein¬
schränkung hätte bloss auf den Verlust der Nebenniere zurück¬
geführt werden dürfen, wenngleich ich seiner Zeit zeigen konnte,
dass Hunde nach Exstirpation der einen Niere selbst rasch folgende,
ausgedehnte Resectionen der zweiten vertragen können. Auf Grund
dieser Ueberlegung und um einen strieten Beweis erbringen zu können,
dass nach gestielter Transplantation einer Nebenniere und Wegfall
der zweiten Nebenniere die transplantirte Nebenniere die ganze
Function dauernd übernehmen kann, habe ich dieses Thier am
Leben gelassen, und es lebt nunmehr über 3 Jahre mit einer
einzigen, in die einzig restircnde Niere verpflanzten Nebenniere, ohne
jede Störung seiner Gesundheit, was mir um so interessanter er¬
scheint, als gerade dieses Thier im Anschluss an die Reduction
seiner Nebennierensubstanz vorübergehend Krankheitssymptome dar¬
geboten hatte. Da ich das Thier zu meinem Eigenthum gemacht
habe, es daher beständig controliren kann, werde ich gewiss nicht,
verfehlen, wenn cs einmal aus welchem Grunde immer zu Grunde
geht, eine genaue Obductiou vorzunehmen, die nach verschiedenen
Richtungen hin interessante Ergebnisse liefern kann.
Die übrigen Hunde (3, 4 und 8), welche den Eingritf der
Nebennierenreduction bei gleichzeitiger Transplantation dauernd
überlebt hatten, besassen durch fast 2 Jahre nur eine Niere und
eine in sie transplantirte Nebenniere. Sie mussten schliesslich
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. (137
zwecks Erlangung eines abschliessenden Urtheils über das Verhalten
dieser transplantirten Nebenniere getödtet werden (sie wurden zu
Tode narkotisirt). Diese 3 Thiere waren ständig beisammen in
einem Zwinger gehalten worden, so dass das Männchen (3) die
beiden Weibchen (4 und 8), das eine (4) zweimal, das zweite (8)
einmal erfolgreich deckte, wodurch die 3 Thiere zeigten, dass ihre
vitalen Functionen durch die Reduction und Transplantation der
Nebennierensubstanz in keiner Weise gelitten hatten. Bei allen
diesen 3 Thieren fanden sich die transplantirten Nebennieren, wie
aus den Versuchsprotokollen hervorgeht, vollständig neu- und um¬
gebaut, die Zellen der Rinden- und Marksubstanz erwiesen sich als
vollständig normal und lebenskräftig, accessorische Nebennieren
waren nicht auffindbar.
Gemeinsam allen schliesslich gewonnenen Präparaten der trans¬
plantirten, einzig rcstirenden Nebenniere dieser Versuchstiere, die
den Eingriff dauernd überlebt hatten, war der völlige Neu- und
Umbau der Nebenniere, wie er sich aus der ausführlichen Beschrei¬
bung der mikroskopischen Bilder so eindeutig ergiebt, dass ein
nochmaliges Eingehen darauf eine überflüssige Wiederholung be¬
deuten würde. In der Rindensubstanz wiegt die Bildung von Ade¬
nomen vor, das Mark zeichnet sich vornehmlich durch seine un¬
regelmässige, durch die ganze Nebenniere verstreute Anordnung
aus. Nirgends findet sich mehr regressives Gewebe, wo etwa noch
Gewebsmassen sich finden, die als Ueberreste zu Grunde gegangenen
Nebennierengewebes aufzufassen sind, liegen sie ausserhalb der
neugebildeten Nebennierenkapsel, also ausserhalb der in sich ab¬
geschlossenen Nebenniere. Die Umgestaltung der Nebenniere hat
ihren endgiltigen Abschluss gefunden. Zu einer Tumorbildung ist
es in keinem Falle gekommen.
Ich rechne naturgemäss die allerdings aussergewöhnlich reich¬
lichen sogenannten Adenome des Nebennierenrindengewebes nicht
hierher, da derartige Bildungen, wenn auch seltener, so doch
immerhin physiologischer Weise in Nebennieren vorzukommen pflegen
und nicht das allgemein gütige Neoplasmakriterium des unaufhalt¬
samen Wachsthums darbieten (Stoerk). Es sei damit bloss ge¬
sagt, dass an keinem Schnitte der neugebildeten Nebennieren Bilder
nachgewiesen werden konnten, die auch nur den Verdacht zu einer
Umwandlung von Zellgruppen in Tumorzellen (etwa entsprechend
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«38
Dr. H. v. Habercr,
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dem Befunde Neuhcuser’s) hätten aufkommen lassen. Hingegen
geben die im Fall 3 constatirten Veränderungen am Niereneanälchen-
epithel, nämlich die tubulären Bildungen mit den chromatinreichen.
zu scheinbarer Mehrschichtigkeit übereinander geschobenen Kernen,
wohl zum Denken. Anlass 1 ). Wie schon bei der Beschreibung des
Falles hervorgehoben, wäre es nicht undenkbar, dass derartige
proliferative Veränderungen einmal ihren Charakter ändern, und in
ein echt neoplasmatisches Wachsthum ausarten könnten. Daraus
würde dann ein Nierencarcinom entstehen können, das aber mit
der Verpflanzung der Nebenniere histogenetisch gar nichts zu thuu
hätte. Vielmehr könnte in einem solchen Falle nur das durch die
Transplantation bedingte Nierentrauma als Causa movens für die
Auslösung einer neoplasmatischen Tendenz der Nierencpithelien
aufgefasst werden. Jedenfalls wird in Zukunft derartigen Verän¬
derungen ein besonderes Augenmerk zugewendet werden müssen.
Ich werde speciell bei dem noch lebenden Thicre (5) seiner Zeit
genau darauf achten, möchte aber nochmals betonen, dass den
fraglichen Gebilden im vorliegenden Falle (3) meines Erachtens
irgendwelche Geschwulstcharaktere mangeln.
Interessant war es, die restirenden Nebennieren dieser Thierc
zu vergleichen mit den zweiten Nebennieren, die ebenfalls trans-
plantirt, aber zu viel früherer Zeit durch Exstirpation aus dem
Organismus wieder entfernt worden waren. Hierfür kommen der
Versuchsanodnung zufolge nur die drei Versuche 3, 4 und 8 in
Betracht. Die parallele Betrachtung der exstirpirten transplan-
tirten Nebennieren mit den beim Tode des Versuchsthiercs, also
nach sehr langer Zeit gewonnenen zweiten transplantirten Neben¬
nieren ergiebt durchaus, dass erstere noch als unfertige, in Neu-
uiul Umbildung begriffene Nebennieren mit mehr oder minder aus¬
gedehnten Lagern regressiven oder todten Gewebes neben oder im
Bereiche hypertrophirender Nebennierensubstanz anzusprechen sind,
während die fast zwei Jahre nach der Transplantation gewonnenen
zweiten Nebennieren, wiewohl sie sich in der geschilderten Weise
auf das deutlichste vom physiologischen Typus unterscheiden, doch
1) Sloerk und icli haben im 87. Bd. dieses Archivs bereits auf ähnliche
Befunde in dem Capitol über Veränderungen der Niere infolge der Einpflanzung
einer Nebenniere hingewiesen und damals der Meinung Ausdruck gegeben, dass,
trotz ganz beträchtlicher ursprünglicher Waehsthuinsenergio. später doch eine
Rückbildung dieser Formationen eint roten dürfte.
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 83!)
den unbedingten Eindruck der fertigen, organähnlichen Bildung her-
vorrufen müssen. Hier fehlt eben im mikroskopischen Bilde das
bunte Nebeneinander von Neubildung und Untergang, wie wir es
seiner Zeit bis zu 180 Tagen nach der Transplantation immer
wieder constatiren konnten, wir sehen nirgends mehr Zellen, die
als regressiv verändert anzusprechen wären, abgestorbenes, noch
nicht resorbirtes Gewebe fehlt völlig. Ein so in sich abgerundetes,
wenn auch atypisch gebautes Organ darf aber eben als fertig an¬
gesprochen werden, und da in diesem fertigen Stadium lebhaftere
Wachsth ums Vorgänge keine Rolle mehr zu spielen scheinen, so ist
mit aller Wahrscheinlichkeit ein echtes neoplastisches Wachsthum
auch kaum mehr zu erwarten; es haben also auch in diesem
Sinne die Versuche in der That ihren naturgemässen Abschluss
gefunden.
Die histologischen Bilder der untersuchten Nebenniere lassen
es aber auch begreiflich erscheinen, warum diese Nebennieren nor¬
mal functionirten und für die Thiere hinreichten. Finden wir doch
in denselben alle Bestandteile einer normalen Nebenniere, Rinde
und Mark in entsprechender Menge, und zeigen doch die Zellen
sowohl der Rinden-, als auch der Marksubstanz alle Charaktere,
wie sie eben vollständig lebenskräftigen, üppigen Zellen zukommen.
Es sei diesbezüglich bloss auf die Grösse, den Reichthum an
Protoplasma, die scharfen Zellgrenzen, die .gute Kernfärbbarkeit
und bezüglich der Marksubstanz noch speziell auf die gute Chro-
mirbarkeit hingewiesen.
Der Besprechung dieser Versuche, welche zeigen, dass eine
gestielt transplantirte Nebenniere, wenn sie in ihrer Rinden- und
Marksubstanz erhalten bleibt, bezw. sich aus Resten der beiden
Substanzen neu bildet, dauernd auch functioneil leistungsfähig bleibt
und die Gesammtfunction für den Organismus leisten kann, muss
nun die Schilderung der zwei restirenden Versuche 6 und 7 gegen-
übergestellt werden, welche einen natürlichen Abschluss durch
den eigentlich nicht zu erwartenden Tod der betreffenden Vcrsuchs-
thiere fanden.
Der Tod dieser Thiere musste insofern auffällig erscheinen,*
als sie beide zunächst die Transplantation ihrer Nebennieren in
die gleichnamigen Nieren anstandslos vertragen hatten und auch
auf die folgende Exstirpation der linken Niere mit der in sie vor-
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640
Dr. H. v. Haberer,
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pflanzten Nebennieren in keiner Weise mit Ausfallserscheinungen
reagirten. Beide Thiere unterschieden sich nach diesem dritten
Eingriff in keiner Weise von normalen Hunden, es schien also,
ebenso wie bei den früher besprochenen Versuchsthieren, die einzig
restirende transplantirte Nebenniere nicht nur gut eingeheilt zu sein,
sondern auch dauernd die Gesammtfunction übernommen zu haben.
Dieser Gedankengang musste um so berechtigter erscheinen, als
seit der Exstirpation der linken Niere sammt der in sie verpflanzten
Nebenniere, seit der Zeit also, seit welcher die beiden Thiere einzig
auf ihre rechte in die rechte Niere verpflanzte Nebenniere an¬
gewiesen waren, in dem einen Falle (6) bereits 4 Monate, in dem
zweiten Falle (7) ebenfalls fast 4 Monate verstrichen waren. Bei
meinen zahlreichen Versuchen habe ich niemals nach so langer
Zeit den Eintritt einer Insufficienz der transplantirten Nebenniere
gesehen. (Die verwerthbare Beobachtungsdauer der Versuche vou
Busch, Leonard und Wriglit war eine beträchtlich kürzere.)
Beide Thiere gingen aber unter Symptomen zu Grunde, die
jeder Kenner ohne Weiteres auf Nebennierenausfall beziehen muss.
Die Ataxie der Thiere, die Spasmen der hinteren Extremitäten, die
auffallende Hinfälligkeit und Schwäche, die absolute Verweigerung
von Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme Hessen keinen Zweifel
darüber aufkommen, dass bei den bis dahin gesunden Thieren eine
Veränderung der einzig vorhandenen Nebenniere eingetreten sein
müsse, die eine deletäre Wirkung auf ihre Function entfaltet habe.
Ich neigte also am ehesten der Annahme zu, dass aus irgend
einem Grunde, die bis dahin gut functionirenden Organe bei den
beiden Thieren atrophirt, bezw. degenerirt seien. Auffallend war
nur der sich über Tage hinziehende, protrahirte Verlauf, da nach
den bisherigen Erfahrungen bei Insufficienz einer einzig vorhandenen
Nebenniere der Tod sehr rasch einzutreten pflegt. Um so mehr
war ich in beiden Fällen von dem Ergebnisse der Obduction über¬
rascht. Beide Male fand sich nämlich eine vollständig gesund aus¬
sehende, schön hypertrophste Nebenniere, an der sich Rinden-
und Marksubstanz deutlich erkennen und abgrenzen Hess. Aceesso-
rische Nebennieren fehlten. Die mikroskopische Untersuchung
ergab nun in beiden Fällen das Vorhandensein von vollständig
normaler, hypertrophster Rindensubstanz in den geläufigen Bildern,
nirgends waren kranke oder degenerirte Zellen auffindbar. In beiden
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 641
Fällen war, offenbar als Ausdruck der Hypertrophie, die Masse der
Rindensubstanz eine ganz auffallend grosse.
Dem gegenüber musste das Verhalten der Marksubstanz als
ein ganz besonderes imponiren. In Fall 6 hätte man bei
flüchtiger Beobachtung zunächst glauben können, es handle sich
um ein grosses Marklager mit auffallend starker Chrombräunung,
doch fiel sofort die bisher nie beobachtete starke Ungleichmässig-
keit der letzteren auf. Sie war eine ausgesprochen fleckige. Inten¬
sive Chrombräunung wechselte mit hellen Stellen ab, und im
Bereiche der dunkleren Stellen fehlte die Möglichkeit, die Zellen
zu differenciren, es fehlte die normale Kernfärbung, es waren die
Zellgrenzen nicht zu sehen, es handelte sich hier sichtlich um Ver¬
klumpungsvorgänge. Ganz ähnlich, aber noch leichter zu deuten,
waren die Bilder im Bereiche jener Partien, die einen weniger
intensiv chrombraunen Farbton angenommen hatten. Hier zeigten
sich neben dem geschilderten Verhalten zahlreiche Vacuolen in den
Zellen, da und dort auch riesenzellähnliche Zellformationen, offenbar
als Folge beträchtlicher Kernwucherung. Es war wohl zweifellos,
dass dieses Mark als degenerativ verändertes anzusprechen ist, und
dass es sich dadurch in auffallendster Weise von dem ganz intacten,
lebenskräftigen Rindengewebe unterschied. Ein Vergleich dieser
Nebenniere mit der linken, ebenfalls seiner Zeit transplantirten und
später wieder exstirpirten Nebenniere desselben Thieres ergab (wenn
man von dem bunten Wechsel der noch beträchtlich ausgedehnten,
in Regress befindlichen Gewebspartien mit üppiger Proliferation
anderer Theile der linken Nebenniere absieht) eine schöne Ueber-
einstimmung bezüglich des histologischen Verhaltens der Rindenzellcn,
während das degenerativ veränderte Marklager der rechten Nebenniere
auf das deutlichste zu den schönen, wohlgeformten chrombraunen
Markzellen der linken Nebenniere conirastirte (siehe Figg. 10 und 11).
Ira zweiten Falle (7), fand sich im Centrum der mächtigen,
lappig gebauten Nebennierenrinde ein ebenso mächtiges, vielfach
zerklüftetes Marklager, dessen Zellen aber fast durchaus jeder Spur
von Chromfärbung entbehrten. Nur hier und da finden sich ein¬
zelne Markzellen oder Markzellgruppen, die noch ganz leichte
Chrombräunung angenommen haben. Die meisten Zellen sind
gut begrenzt, haben normale Kerne, doch finden sich daneben auch
zahlreiche ganz blasse, kleine Kerne, und an zahlreichen Stellen
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3. 49
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zeigt sich auch eine ausgesprochene Vacuolisirung des Protoplasmas
der Markzellen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass wir es in
diesem Falle, ganz ähnlich wie im vorher beschriebenen (6) mit
einer in Bezug auf die Rindensubstanz normalen und gesunden,
mit Bezug auf die Marksubstanz krankhaft veränderten Nebenniere
zu thun haben. Nur kommt die Veränderung des Markes im letzt¬
beschriebenen Falle (7) in anderer Weise zum Ausdruck. Der
Mangel der Chrombräunung ist es, der im Vordergründe der Er¬
scheinung steht, und aus ihm müssen wir schliessen, dass dieses
Mark nicht vollwerthig functionirte, functioneil insufficient war.
Daneben ist es freilich unverkennbar, dass wenigstens ein Theil
der Marksubstanz bereits im Untergehen begriffen ist, dass also
auch der anatomische Charakter eines Theiles der Zellen schon
den baldigen Zerfall derselben documentirt. Auch in diesem Falle
war ein auffälliger Unterschied dieses Markes mit dem Marke der
zuerst transplantirten und secundär wieder exstirpirten linken
Nebenniere des Thieres zu constatiren, insofern letzteres, wenn
auch in den Schnittbildern nur in Form von Ausläufern zu sehen,
schön chromirte Markzellverbände mit vollständig normal aus-
schenden Zellen zeigte (s. Fig. 12 und 13). Gerade in diesem
Falle verfügte ich aber über ein noch besseres Vergleichsobject.
Zur Zeit der Transplantation der in erster Linie interessirenden
rechten Nebenniere, mit der das Thier ja alsbald sein einziges
Auslangen finden musste, habe ich ein Stück dieser, damals noch
normalen oder seit der Transplantation der linken Nebenniere
höchstens hypertrophsten Nebenniere abgekappt. Dieses Stück
zeigte nun bei der mikroskopischen Untersuchung, dass es sich
um eine hypertrophische Nebenniere mit prächtig chromirter Mark¬
substanz und lebenskräftigen Zellen handelte. In dem Präparate
liess sich auch deutliche Secretchromirung innerhalb der Gefäss-
lumina erkennen. Es zeigt sich also, dass die Veränderung der
Markzellen erst nach der Transplantation erfolgte, und ich möchte
aus den mikroskopischen Bildern den Schluss ziehen, dass die
besagte Veränderung als eine frische, erst kurze Zeit vor dem Tode
des Versuchsthieres einsetzende aufzufassen ist.
Hinzufügen möchte ich noch, dass, wie bei allen übrigen
Thieren, über deren weiteres Verhalten in der vorliegenden Arbeit
berichtet wurde, auch in diesen beiden Fällen (6 und 7) der Grenz-
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 643
Strang des Sympathicus untersucht worden war, aber keinerlei
Abweichung von der Nonn ergab.
Die beiden Fälle lehren, wie spät einerseits durch
Transplantation eingeheilte functionirende Nebennieren
noch insufficient werden können, so dass wirklich nur
eine über Jahr und Tag währende Beobachtung verläss¬
liche Schl üsse liefert und sie zeigen andererseits auch, dass
eine entsprechende Erfahrung, eine sehr gründliche Kenntniss des
histologischen Nebennierenbildes dazu gehört, um derartige Verände¬
rungen des Markes, wie sie z. B. hier Vorlagen, zu erkennen und
richtig einzuschätzen. Namentlich im Fall 6 wäre bei Mangel von
Vergleichsobjecten die Degeneration der chrombraunen Substanz
leicht zu übersehen gewesen.
Es fragt sich nun: 1. Können wir die bis dahin niemals bei
unseren zahlreichen Versuchen beobachtete, so spät einsetzendc
secundäre Degeneration der Marksubstanz der transplantirten Neben¬
niere erklären? 2. Wie ist der Contrast zwischen lebenskräftiger
Rinde und degenerirtem Mark zu verstehen? und 3. Sind die
Nebennierenausfallserscheinungen in den beiden Fällen wirklich von
der Erkrankung der Marksubstanz abhängig?
Die Beantwortung dieser Fragen ist von grösstem Interesse;
denn mit ihrer Beantwortung hängt die Frage nach der Werthig-
keit der beiden, die Nebenniere aufbauenden Gewebsarten, der
Rinde und des Markes innig zusammen.
Was die erste der aufgeworfenen Fragen anlangt, so müssen
wir sagen, dass darüber, dass die verpflanzte Nebenniere zunächst
bei beiden Thieren gut functionirte, kein Zweifel bestehen kann.
Beide Thiere erfreuten sich doch durch Monate des besten Be¬
findens, das Weibchen (6) warf sogar gesunde Junge. Nach unseren
Erfahrungen war nun in allen Fällen dauernder, auch functions¬
tüchtiger Einheilung der transplantirten Nebenniere stets bei späterer
Untersuchung Rinde und Marksubstanz in gleicher Weise lebens¬
kräftig befunden worden. Da wir über hundert Fälle von trans¬
plantirten Nebennieren zu untersuchen Gelegenheit hatten, so dürfte
aus den dabei gemachten Beobachtungen wohl der Schluss auf ein
gleiches Verhalten der Nebenniere auch der in Rede stehenden
beiden Versuchstiere mit grosser Wahrscheinlichkeit gezogen
werden. Wenn wir obendrein zu so später Zeit nach der Trans-
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plantation niemals ein Zugrundegehen der Nebenniere, noch das
einer ihrer beiden Antheile gesehen haben, so dürfte es sich in den
beiden Fällen mit secundärer Markdegeneration wohl um besondere
Einflüsse gehandelt haben.
Es zeigt sich nun, dass beide Thiere in der letzten Zeit ihres
Lebens an entzündlichen Erkrankungen litten, die bei der Obduction
nachgewiesen werden konnten. In dem einen Falle (6) handelte
es sich um einen vom Genitale ausgehenden, acuten septischen
Process. Das Weibchen hatte geworfen, war von da ab krank
und es fand sich bei der Obduction eine von den Placentarstellen
ausgehende, missfarbige Endometritis mit secundärer Thrombo¬
phlebitis und Parametritis und Lymphdrüscnschwellung. Die Ver¬
änderungen waren immerhin hochgradig genug, dass sie auch den
Tod des Thieres hätten erklären können. Aber letzterer war, wie
gesagt, unter so typischen Nebennierenausfallserscheinungen erfolgt,
dass es von vornherein als sicher betrachtet werden musste, dass
die Function der Nebenniere schwer gelitten hatte. Als anato¬
misches Substrat dieser Krankheitssymptome fand sich nun die
Degeneration des Nebennierenmarkes. Das mikroskopische Bild
liess auch erkennen, dass es sich gewiss um frischere Erscheinungen
dabei handelt, denn Nekrosenherde waren noch nirgends zu sehen.
Alles in Allem musste man also zu dem Schlüsse gelangen, dass
die zeitlich mit dem Puerperium zusammenfallende, und nach dem
Obductionsbefund auch dadurch bedingte, septische Erkrankung des
Thieres die bis dahin normal functionirende Nebenniere schwer ge¬
schädigt hatte und dass es dadurch zu den geschilderten Ausfalls¬
erscheinungen gekommen war. Die transplantirte einzige Neben¬
niere dieses Thieres, die für den normalen Haushalt genügte und
den physiologischen Ansprüchen des Organismus vollkommen ent¬
sprach, zeigte sich den Mehranforderungen unter pathologischen
Verhältnissen nicht mehr gewachsen. In dem Momente, als die
schwere Erkrankung des Thieres einsetzte, erwies sich die trans¬
plantirte Nebenniere als locus minoris resistentiae und wurde ihre
vitale Kraft erschöpft.
Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse im zweiten Fall (7). Auch
dieses Thier war zunächst frisch und munter, die transplantirte
Nebenniere functionirte vollständig. Mit einem Male stellen sich
Harnbeschwerden ein, und von diesem Momente an ist das Thier
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 645
sichtlich krank. Ganz allmählich treten die geschilderten Sym¬
ptome des Nebennierenausfalles in den Vordergrund des Krank¬
heitsbildes, das Thier verfällt im Verlauf einer Woche derartig,
dass ich mich veranlasst sehe, es gleich dem Thiere des zuvor ge-
' schilderten Versuches zu tödten. Ich darf wohl sagen, dass ich
beide Thiere in ultimis zu Tode narkotisirte, also ihre Lebens¬
dauer kaum um 24 Stunden abgekürzt habe, aber doch lieber zu
diesem Mittel griff, um die Präparate lebenswarm zu gewinnen und
nicht etwa durch Fäulniss veränderte Organe zu erhalten, deren
Bilder dann nicht mehr eindeutig gewesen wären. Die Obduction
des Thieres ergab nun eine Cystitis haemorrhagica als Folge einer
narbigen Urethralstrictur. Dieser Befund musste als ein schwerer
pathologischer Process bei einem Thiere bezeichnet werden, das
nur eine Niere besass. Letztere liess allerdings weder makro¬
skopisch noch mikroskopisch, ausser der zu erwartenden Hyper¬
trophie, pathologische Veränderungen erkennen. Man war daher
nicht ohne Weiteres berechtigt, den bei der Obduction erhobenen
Befund als directe Todesursache anzusprechen. Hingegen fand sich
bei der mikroskopischen Untersuchung als Ausdruck der klinischen
Erscheinungen des Nebennierenausfalles die geschilderte Markver¬
änderung der Nebenniere, die vorzüglich darin gipfelte, dass das
Mark functionell geschädigt war. Daneben allerdings waren auch
unverkennbare Zeichen von Zellzerfall der Marksubstanz vorhanden.
Von einem zeitlichen Zusammenfall der Nebennierenschädigung mit
der Erkrankung der Harnorgane des Thieres kann in diesem Falle
wohl nicht gut die Rede sein. Es ist im Gegcntheil wahrschein¬
lich, dass letztere schon geraume Zeit bestand, bevor es zur Er¬
schöpfung der Nebenniere kam. Während also im vorigen Falle (6)
eine acute Erkrankung des Thieres zur acuten Schädigung der
Nebenniere führte, kam es in diesem Falle (7) unter dem Einflüsse
eines chronischen Processes allmählich zu einer Beeinflussung der
Nebenniere, bis diese ihre Function einstellte, woran sich dann in
allerletzter Zeit auch Degenerationsprocesse der Nebennierenmark¬
zellen anschlossen. Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht
auch die Ungleichraässigkeit des histologischen Bildes. Wiewohl
das Marklager der weitaus grössten Masse nach keine Spur von
Chromfärbung zeigte, fanden sich doch daneben noch Markzell¬
gruppen, die eine schwache Chromfärbung angenommen hatten,
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646 Dr. H. v. Haberer,
also noch weniger geschädigt erschienen, als die Hauptmasse der
Zellen. Damit stimmt auch überein, dass die meisten Zellen noch
scharfe Zellgrenzen, gut gefärbte und normal grosse Kerne zeigten,
dass die Zellen mit kleinen, blassen Kernen und Vacuolisirung des
Zellprotoplasmas entschieden noch in der Minderheit waren.
Beiden Fällen aber gemeinsam ist, dass eine transplantirte
Nebenniere, die bis dahin functionirte und obendrein die Gesammt-
function leisten musste und auch thatsächlich leistete, durch eine
accidentelle anatomisch nachgewiesene Erkrankung des Thieres er¬
schöpft wurde, und dass dieser functionellen Erschöpfung ein nicht
zu missdeutendes anatomisches Substrat zu Grunde lag 1 ).
Sohin wäre die erste der aufgeworfenen Fragen dahin zu be¬
antworten, dass wir in der Erkrankung der beiden Thiere die
Ursache für die so spät einsetzende Markdegeneration der trans-
plantirten Nebenniere zu erblicken haben, dass diese schon unter
physiologischen Verhältnissen functionell maximal in Anspruch ge¬
nommene Nebenniere dem Plus, das die Erkrankung des Thieres
an dieselbe stellte, eben einfach nicht mehr gewachsen war.
Wie steht es nun mit der zweiten Frage? Es war ja in der
That ganz besonders auffallend, dass die beiden in Rede stehenden
transplantirten Nebennieren einen so scharfen Contrast zwischen
Rinde und Mark aufweisen. Erstere so lebenskräftig, wie wir sie
nur in den Fällen schönster Einheilung bei den Transplantations¬
versuchen sahen, wie sie mit Bezug auf Zellstructur auch in einer
1) Diese beiden Fälle geben mir unwillkürlich Veranlassung zu rctro-
spcctiver Beurtheilung von Fällen, über deren Deutung ich mich in meiner
ersten Arbeit noch recht vorsichtig gefasst habe und fassen musste, weil der
Tod der Versuchsthiere zu rasch im Anschlüsse an die Operation eingetreten
war. Immerhin war es mir schon damals aufgefallen, dass bei einer Reihe von
Thieren mit schwerer Allgemeinerkrankung (meist war es Pneumonie) oft recht
plötzlich und unerwartet Nebenniorenausfallserseheinungen eintraten, manchmal
auffallend lange Zeit nach der Transplantation, und dass die histologische
Untersuchung solcher Nebennieren dann in einigen Fällen Bilder zeitigte, die
nicht ganz zu denen stimmten, in welchen sich ausgedehnte Nekrosen als Aus¬
druck missglückter Transplanta lionsversuche fanden. Die Bilder waren näm¬
lich derart, dass man auf ganz frische Nekrose schliessen musste. Die Neben¬
niere erschien eingeheilt, zeigte schönste Strueturirung bei ganz diffuser,
frischer Nekrose. Als Paradigma schweben mir namentlich die Fälle 18 und 39
meiner damaligen Mittheilung vor. Wenn ich damals mit Reserve von einer
vielleicht causal.cn Abhängigkeit dieser frischen Nekrose von der schweren All¬
gemeinerkrankung des Thieres sprach, möchte ich mich nach den hiermit neu
hinzugekommenen Beobachtungen diesbezüglich viel präciscr ausdrücken. Die
Möglichkeit einer derartigen causalcn Beziehung erscheint mir heute zweifellos.
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 647
normalen Nebenniere nicht anders angetroffen werden kann, letzteres
schwer krankhaft verändert. Nun wissen wir aber einerseits ge¬
rade aus der Literatur sehr gut, und ich habe das ja in meiner
ersten Arbeit seiner Zeit genügend betont, dass bei freier Trans¬
plantation der Nebenniere es keinem Autor gelungen ist, die ver¬
pflanzte Marksubstanz zur Einheilung zu bringen, auch den Autoren
nicht, welche mit der Einheilung der Rindeusubstanz partielle Er¬
folge hatten.
Andererseits konnte auch ich bei der gestielten Transplantation
zeigen, dass in einer Reihe von Fällen mit functionellem Miss¬
erfolg ganz ansehnliche Antheile der Rinde überlebend und in
Hypertrophie und Neubildung angetroffen werden können, während
die Marksubstanz vollständig zu Grunde gegangen ist. Daraus
geht hervor, dass die Marksubstanz als wesentlich debiler bezeichnet
werden muss als die Rinde. Und diese Thatsachc ist offenbar
auch zur Erklärung des verschiedenen Verhaltens von Rinde und
Mark in den beiden in Rede stehenden Fällen heranzuziehen. Das
Nebennierenmark, als besonders empfindliches Gewebe, hat zuerst
gelitten, zu einer Zeit, als die Rinde der grösseren Inanspruch¬
nahme des Organes noch standhielt. Ob cs bei längerer Lebens¬
dauer der Thiere nicht auch zu erkennbaren Veränderungen der
Rindensubstanz gekommen wäre, muss dahingestellt bleiben.
Die dritte Frage endlich, ob die Nebennierenausfallserscheinungen
in den beiden Fällen wirklich von der Degeneration der Mark¬
substanz der transplantirten Nebenniere abhängig waren, ist die
wichtigste deshalb, weil bekanntlich bis in die neueste Zeit der
Standpunkt aufrecht erhalten wird, dass die lebenswichtige Sub¬
stanz der Nebenniere in der Rinde zu suchen sei, während das
Mark durch die auch sonst im Organismus reichlich vorhandene
chromaffine Substanz in vicariirender Weise ersetzt werden könnte.
Ich habe in meiner ersten einschlägigen Fublication durch
kritische Verwerthung der Literatur den Beweis zu erbringen ver¬
sucht, dass den bis dahin mitgetheilten Resultaten mit freier
Transplantation der Nebenniere vor Allem der Mangel anhaftet,
dass in keinem Falle der einwandfreie Beweis einer wirklichen
Function der verpflanzten Nebenniere erbracht sei. Auf Grund
meiner eigenen Versuche konnte ich darthun, dass in jedem Falle
gelungener Transplantation die Marksubstanz der Nebenniere genau
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in derselben Weise überlebt wie die Rinde, und gelangte auf Grund
jener Beobachtungen, in welchen Thiere an Nebennierenausfall
starben, bei welchen sich dann mehr minder ansehnliche Rinden¬
massen bei absolutem Markmangel fanden, zu dem Schlüsse, dass
die Marksubstanz für die Function der Nebenniere ebenso wichtig
sei wie die Rindensubstanz. Später haben Stoerk und ich an¬
lässlich der Mittheilung über das anatomische Verhalten intrarenal
eingeptlanzten Nebennierengewebes diese Thatsache wieder betont
und in einer Fussnote ausdrücklich hervorgehoben, dass in den
vereinzelten Fällen, in welchen transplantirten Nebennieren die
Marksubstanz thatsächlich zu fehlen schien, die Thiere stets nach
Wegfall der zweiten Nebenniere Ausfallserscheinungen zeigten,
welche analog den Symptomen in Fällen totalen Nebennieren¬
ausfalles waren und sich nur durch verminderte Intensität und
protrahirteren Verlauf von letzteren unterschieden. Nun mag man
gegen diese Schlussfolgerungen den Einwand erheben, dass es sich
ja in dem, denselben zu Grunde liegenden Material wohl immer
auch um eine mehr minder hochgradige Reduction der Rinden¬
substanz gehandelt hat, da wir ja damals bei der viel kürzeren
Beobachtungszeit in allen Fällen auch im Bereiche der Neben¬
nierenrinde regressive bezw. nekrotische Antheile fanden. Aller¬
dings verfügten wir reichlich über Vergleichsobjecte, die zeigten,
dass bei Fällen mit annähernd gleicher Menge von Rindensubstanz
die Ausfallserscheinungen dann ausgeblieben waren, wenn lebende
Marksubslanz vorhanden war. Da aber genaue Messungen der
Quantität in diesen Vergleichsfällen doch nicht möglich waren, so
mag der Einwand ja immerhin eine gewisse Berechtigung haben.
Wie steht es aber nun diesbezüglich mit den beiden so lange
Zeit nach der Transplantation neu hinzugekommenen Beobachtungen?
Für die Beurtheilung der Function einer transplantirten Neben¬
niere steht uns bei Ausschaltung aller Fehlerquellen des Versuches
der klinische Ablauf desselben zu Gebote, die Lebensfähigkeit des
Nebennierengewebes im anatomischen Sinne entscheidet das anato¬
misch-histologische Bild. Auf einer Correlation der aus beiden
Beobachtungen gewonnenen Erfahrungen beruhen unsere Schlüsse.
In beiden in Rede stehenden Versuchen zeigte der klinische
Ablauf, dass zunächst durch lange Zeit die Nebennieren functionirten,
um schliesslich die Function einzustellen. Die Obduetion erwies
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 649
das Fehlen anderweitig im Körper vorhandener Nebennierensubstanz,
die transplantirten Nebennieren erschienen bei makroskopischer
Betrachtung sehr gross, von scheinbar ganz normalem Bau, die
mikroskopische Untersuchung zeigte, dass es sich in beiden
Fällen um neu- und umgebildete, in sich abgeschlossene
Nebennieren handelte, deren Binde vollständig intact, deren
Mark pathologisch verändert war. Hierzu wäre noch zu be¬
merken, dass in beiden Fällen, namentlich aber in Fall 6," so
viel Rindensubstanz vorhanden war, wie in keinem der übrigen
Fälle, die dieser Publication zu Grunde gelegt sind und von denen
dargethan wurde, dass sie als Dauererfolge zu bezeichnen sind.
Ja, es kann als sicher gelten, dass der Grösse nach in
keinem Falle die transplantirte Nebenniere annähernd der von
Versuch 6 gleichkam.
Nach dieser Ueberlegung muss ich die anatomische
Schädigung der Marksubstanz in beiden Fällen als den
Ausdruck der functionellen Insufficienz der Nebenniere
bezeichnen. In diesem Urtheil wurde ich durch den
Ausfall eines eigens zu dem Zwecke unternommenen
Controlversuches bestärkt.
Derselbe bestand in der Freilegung beider Nebennieren bei einem noch
nicht einjährigen Hnnde. Die Nebennieren wurden nun sowohl am oberen als
auch am unteren Pole gekappt, und von den so gesetzten Wunden aus mit
einem scharfen Löffel die Marksubstanz beider Nebennieren ausgekratzt. Es
gelang auf diese Weise beide Nebennieren vollständig zu tunnelliren. Der
Eingriff wurde von dem Thiere zunächst ganz gut überstanden, doch schon
nach Ablauf einer Woche machte das Thier einen kranken Eindruck. Es magerte
stark ab und vorweigerte jede Nahrungsaufnahme. Zwölf Tage nach der Ope¬
ration zeigte das Thier nebst auffallender Schwäche deutliche Spasmen der
hinteren Extremitäten, fiel, bei dem Versuche zu gehen, immer nach einer Seite,
bot also Symptome dar, wie wir sie bei Nebennierenausfall zu sehen gewöhnt
sind. Das Thier wurde jetzt getödtet, die Section war vollständig negativ.
Beide Nebennieren schienen makroskopisch marklos, die Stelle des Marklagers
war beiderseits durch eine Blutung eingenommen. Mikroskopisch zeigten die
Nebennieren eine vollständig normale Rinde bei Mangel jedweder Marksubstanz.
Auch in Serienschnitten war kein Mark zu finden. Wenngleich ich auch trotz
der genauen mikroskopischen Untersuchung nicht behaupten kann, dass diesen
beiden Nebennieren thatsächlich jedes Mark fehlte, so geht doch wohl aus dem
Mangel jedweden auffindbaren Markdepöts in den untersuchten Schnitten mit
Sicherheit hervor, dass die Nebennieren thatsächlich grössere Markmengen nicht
besassen.
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Solche Versuche sind ja sohon wiederholt ausgeführt worden, um die
Bewertbung der Marksubstanz festzustellen, vor Allem hat Biedl sich eingehend
damit beschäftigt. Sie führten aber zu keinem eindeutigen Resultat, da es meist
nicht gelang, die Marksubstanz vollständig genug auszurotten.
Das Ergebniss dieses Controlversuches zeigte also, dass bei
einem Hunde die Ausrottung der Nebennierenmarksubstanz zu
Nebennierenausfallserscheinungen führte, wiewohl die Rinde beider
Nebennieren intact gelassen wurde und sich auch im mikroskopischen
Bilde als vollständig intact erwies.
Ich bin gewiss weit davon entfernt, aus einem einzigen der¬
artigen Versuche irgend welche weitergehenden Schlüsse folgern
zu wollen, das Ergebniss desselben passt aber wohl so gut als
Ergänzung zu den hier in Rede stehenden Beobachtungen, dass
seine kurze Erwähnung berechtigt sein dürfte.
Eines aber darf ich auf Grund meiner Beobachtungen aussagen,
bezw. muss es als logisch unabweislich bezeichnen: Die Mark¬
substanz der Nebenniere ist für deren Function beim
Hunde ebenso wichtig als die Rinde, ihr Mangel führt zu
den typischen Ausfallserscheinungen, wie wir sie bei
Verlust der Nebenniere überhaupt sehen, die Anwesenheit
genügender Mengen von Rinde hält den raschen Ablauf
der Erscheinungen nur auf, das heisst, die Zeit von den
ersten Ausfallssymptomen bis zum Tode des Versuchs-
thieres ist eine längere, wenn bloss die Marksubstanz
insufficient, die Rinde aber sufficient ist.
Ich kann natnrgemäss diesen Schluss nur für die Thiorgattungen aufrecht
halten, mit denen ich experimentirt habe und weiss wohl, dass z. B. die Ratte
sich ganz anders verhält. Von ihr ist erwiesen, dass sie gelegentlich im Stande
ist, die Exstirpation selbst beider Nebennieren zu vertragen. Aber das Adre-
nalsystem dieses Thieres ist schon insofern ein eigenartiges zu nennen, als wir
wissen, dass bei ihm in besonderer Menge accessorische Nebennieren gewöhn¬
licherweise vorzukommen pflegen, so dass vielleicht auoh das chromaffine
System dieser Thierspecies sich anders verhalten mag; ich will mich aber, da
ich nie mit Ratten selbst experimentirte, jedes Urtheilj darüber enthalten, und
bloss für den Hund feststellen, was mich reichliche Experimente lehrten.
Meiner Erfahrung nach sind accessorisohe Nebennieren beim Hunde als Rari¬
täten zu bezeichnen und hierin liegt eine gewisse Aehülichkeit mit dem
Menschen.
Aus Alldem ergiebt sich also, dass das anderweitig
im Körper vorhandene chromaffine Gewebe den Wegfall
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 651
des Nebennierenmarkes nicht zu compensiren vermag.
Da nun, wie die Untersuchungen, namentlich der neueren
Zeit, dargethan haben, in morphologischer Hinsicht die
chromaffinen Zellen des ganzen Organismus weitest¬
gehende Ucbereinstimmung aufweisen, so liegt wohl der
Gedanke nahe, dass den Nebennierenmarkzellen eine
functioneile Besonderheit innewohnt, wodurch sie sich
vom übrigen chromaffinen System unterscheiden. Nahe¬
liegend erscheint es, diese Besonderheit in der nachbar¬
lichen Beziehung zum Rindengewebe zu suchen und es
wären vielleicht gerade diesbezüglich weitere Forschungen
erwünscht.
Ich möchte es an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass ich mit den
Hunden der Würfe von Thier 12, 43, 52 und 60, und zwar theils in ihren
ersten Lebenstagen, theils in den ersten Lebensmonaten wieder experimentirte.
Technik und Anordnung der Versuche unterschieden sich nicht von meinen
bisherigen Experimenten, so dass ich mich diesbezüglich wohl nicht weiter zu
verbreiten brauche.
Da die Thiere von Eltern stammten, deren Nebennierensubstanz in der
beschriebenen Weise längst vor der Begattung reducirt worden war, bestand
immerhin die Möglichkeit, dass die Jungen gegenüber Ausfall von Neben¬
nierensubstanz resistenter sein konnten. Ich habe deshalb die Reduction von
Nebennierensubstanz in ausgiebigerer Weise bezw. in kürzeren Intervallen vor¬
genommen. Es zeigte sich aber, dass die Thiere in keiner Weise sich von
Hunden normaler Eltern unterschieden. Sie vertrugen die rasche Reduction
von Nebennierensubstanz absolut nicht besser als die Hunde meiner früheren
Versuchsreihe, die transplantirten Nebennieren machten bei ihnen genau die¬
selben Veränderungen durch, wie bei allen übrigen Versuchsthieren. Es erwies
sich also obigo Ueberlegung als unrichtig, so dass ich die genaueren Details
des Ablaufes dieser Versuche füglich übergehen kann. Ich wollte bloss der
Vollständigkeit halber ihrer Erwähnung gethan haben.
Anwendung des Thierexperimentes.
Seit Jahresfrist nun beschäftigte ich mich mit der Frage, ob
meine aus dem Thierexperimente gewonnene Erfahrung, die dahin
ging, dass eine transplantirte Nebenniere, falls Rinde und Mark in
gleicher Weise am Leben bleiben, auch dauernd functioniren könne,
nicht auch auf den Menschen übertragbar wäre. Wesentlich be¬
stärkt wurde ich in diesem Gedankengang durch Prof. Hermann
Schlesinger, der in Kenntniss meiner Versuche mir immer wieder
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die Frage vorlegte, ob man denn nicht Nebennierentransplantationen
beim Morbus Addisonii versuchen könnte.
Solche Transplantationen sind als freie und ohne jeden Erfolg,
wie ich ja schon in meiner ersten diesbezüglichen Arbeit hervorhob,
bereits versucht worden.
Wie aber, wenn man daran dächte, Nebennieren mit den Ge¬
lassen zu verpflanzen?
Zur Lösung dieser Frage hätte es zunächst Versuche bedurft,
wie sich die Nebenniere von llund auf Hund sammt den Gefässen
übertragen lasse. Diese Versuche scheiterten jedoch an den com-
plicirten Gefässverhältnissen der Hundenebenniere, wie ich sie ja
in meiner ersten Publication eingehend geschildert habe, und
Massentransplantationen im Sinne von Carrel und Guthrie habe
ich nicht versucht, da sie schwerlich, selbst Erfolg vorausgesetzt,
zur Nachahmung beim Menschen Veranlassung geben können.
Andererseits konnte ich aus meinen bisherigen Versuchen, in denen
es sich ja ausnahmslos um Autotransplantationen handelte, keine
irgendwie geartete Schlussfolgerung für die neue Fragestellung ab¬
leiten.
Ich ging deshalb sofort daran, Versuche an menschlichen
Leichen vorzunehmen, und will gleich betonen, dass meine dies¬
bezügliche Arbeit noch nicht über dieses Versuchsstadium hinaus ist.
Die Transplantation selbst der Nebenniere des erwachsenen
Menschen sammt den Gefässen bereitet grosse Schwierigkeiten;
denn erstens strömen bekanntlich von allen Seiten der menschlichen
Nebenniere Gefässe zu bezw. von ihr ab, und zweitens ist das Ca-
liber der Arteria und Vena suprarenalis, also der Hauptgefässe der
Nebenniere, noch immer ein so kleines, dass die Transplantation
in den seltensten Fällen gelingt.
Wenn man dazu nimmt, dass das Material von Erwachsenen
so gut wie nicht zu beschaffen ist, da es selbst zur Collision mit
dem Gerichte führen könnte, wenn man bei nach Unfällen eben
verstorbenen, bis dahin gesunden Individuen — und andere kämen
kaum in Betracht — unmittelbar post mortem die Nebenniere ent¬
nehmen wollte, so war es klar, dass dieser Weg gewiss zu keinem
gedeihlichen Ziele führen kann.
Das gewünschte Material liesse sich vorerst nur auf einem
Wege gewinnen. In Krankenhäusern, die über geburtshilfliche Sta-
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 653
tionen verfügen, kommt es doch in einem gewissen Procentsatze
aller Geburten vor, dass, um das Leben der Mutter zu erhalten,
ein sonst lebensfähiges Kind geopfert werden muss, d. h. dass die
Geburt in einer Art beendet werden muss, die den Tod des Kindes
zur Folge hat. Wenn es nun möglich wäre, die Nebenniere eines
solchen eben verstorbenen Neugeborenen zu verpflanzen, dann könnte
man einen Schritt weiter gelangen. Bei gutem Willen des Collegen
von der geburtshilflichen Station könnte man das zu verpflanzende
Material in der That möglichst frisch gewinnen und würde ein
solches Beginnen auch kaum juridischen Bedenken begegnen.
Deshalb ging ich daran, das Verhalten der Nebenniere des
Neugeborenen zu studiren, wobei ich an der Hand des reichen Ma¬
terials des hiesigen pathologischen Instituts, das mir in liebens¬
würdiger Weise zur Verfügung gestellt wurde, schnell vorwärts kam.
Alles oben für die Gefässverhältnisse der Nebenniere des er¬
wachsenen Menschen Gesagt«? gilt auch für das neugeborene Kind,
nur sind die Gefässe der Nebenniere so klein, dass an eine directe
Einpflanzung derselben in grössere Gefässe mittels Naht gar nicht
gedacht werden kann.
Man muss, will man zum Ziele kommen, nicht bloss die
Nebenniere mit ihren Gefässcn, sondern auch noch das .Stück von
Aorta und Cava, in das letztere münden, transplantiren. Aus
diesem Grunde eignet sich zunächst überhaupt nur die rechte
Nebenniere zur Verpflanzung, deren Hauptvene in die Cava mündet,
während die linke Vena suprarenalis bekanntlich sich meistens in
die linke Nierenvene ergiesst. Ich habe nun eine ganze Reihe von
Leichenversuchen in der Weise angestcllt, dass ich die rechte
Nebenniere samrat ihren Gefässcn und das zugehörige Stück von
Aorta und Cava von Neugeborenen entnahm, und nach Ligatur des
cranialen Lumens von Aorta und Cava, sowie aller übrigen durch¬
schnittenen Gefässe im Bereiche des entnommenen Aorten- und
Cavastückes, das caudale Lumen von Aorta und Cava End-zu-Seit
in die zuvor freigelegte Arteria bezw. Vena femoralis einer er¬
wachsenen Leiche einpflanzte. Das gelingt fast regelmässig, doch
erfordert die Präparation der Nebenniere und der Gefässe, sowie
die Ligatur aller offenen Gefässlumina so ziel Zeit, dass, selbst
wenn man das zu verpflanzende Material ganz frisch bekommen
würde, es fraglich erscheinen muss, ob das Organ nach der Ver-
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Dr. H. v. Haberer,
pflanzung noch lebensfähig bleibt. Jedenfalls müsste man also,
sollte man sich zu einer solchen Verpflanzung entschliessen, das
zu verpflanzende Organ von den grossen Leibesgefassen aus, schon
während der Präparation mit einer der bekannten, die Lebens¬
fähigkeit der Zellen erhaltenden Flüssigkeit durchströmen.
Alles in Allem kann ich mir nach dem, was ich aus den Ver¬
suchen lernte, zunächst von der Methode nicht viel versprechen,
doch ahnt man ja gewiss nicht voraus, was verbesserte Technik
zu leisten im Stande ist.
Selbstverständlich würde ich mich nach dem bisherigen Erfolg
meiner Versuche gewiss nicht entschliessen, bei einem an Morbus
Addisonii Leidenden die Transplantation der Nebenniere eines Neu¬
geborenen zu versuchen. Die Erfolge müssten viel eindeutiger, die
Operationszeit wesentlich kürzer werden, bevor man es wagen
könnte, einem so debilen Organismus, wie der eines an Morbus
Addisonii Leidenden es ist, die Transplantation zuzumuthen. Daran
ändert meines Erachtens auch die Ucberlegung nichts, dass
gerade diese Kranken rettungslos verloren sind; denn auch einem
solchen Kranken darf man doch nur einen Eingriff zumuthen, der
cinigermaassen Aussicht auf Erfolg hat.
Jedenfalls aber ist die geschilderte Methode der Verpflanzung
durchführbar und die theoretische Möglichkeit gegeben, dass auf
diesem Wege vielleicht doch einmal eine chirurgische Therapie des
Morbus Adissonii anzubahnen wäre. Vorerst aber dürfen wir davon
noch nicht zu viel hoffen, eingedenk gerade der in jüngster Zeit
von den Vertretern der Gefässtransplantation immer wieder ge¬
zeigten Thatsache, dass, so schöne Erfolge die Autotransplantation
drüsiger Organe mit ihren Gefässen gezeitigt hat, so unbefriedigend
die Dauererfolge der Heterotransplantation oder sagen wir besser
Homoiotransplantation in dieser Richtung genannt werden müssen.
Ich verweise diesbezüglich nur auf die eben so kurze als gute
Zusammenfassung von Hotz, sowie auf die letzte, auf Ge fass- und
Organtransplantationen mittels Gefässnaht sich beziehende Arbeit
von Stich, die die modernsten Errungenschaften in der Lehre von
der Transplantation eingehend berücksichtigt.
Trotzdem also meine Leichenversuche nur zu sehr vagen, hypo¬
thetischen Annahmen bisher geführt haben, wollte ich doch nicht
unterlassen, ihrer in dem cingehaltenen Rahmen Erwähnung zu thun,
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Die gestielte Nebennierentransplantation und ihre Endresultate. 655
weil ich cs nicht für ganz aussichtslos halte, auf dem betretenen
Wege weiter zu kommen. Alle Hoffnungen, die wir überhaupt und
gewiss mit aller Reserve an diese Versuche knüpfen dürfen, basiren
auf der Thatsache, dass es möglich ist, bei der Transplantation
der Nebenniere auch das Mark am Leben zu erhalten, bezw. An-
theile desselben, die weiter regenerationsfähig bleiben. Diesen
Beweis aber glaube ich nunmehr für den Hund einwandsfrei er¬
bracht zu haben. Ich habe an den seiner Zeit (1. c.) aufgestellten
Schlussfolgerungen nichts zu ändern, kann sie im vollen Umfang
aufrecht erhalten, jedoch noch ergänzen, wie folgt:
1. Die mit gestielter Transplantation der Nebenniere erzielten
functionellen Erfolge dauern nach Jahr und Tag fort und
erfahren unter normalen Verhältnissen mit dem natürlichen
Tode des Thieres ihre natürliche Begrenzung.
2. Diesen functionellen Erfolgen entsprechen nach Jahr und Tag
anatomisch vollständig neu- und umgebaute Nebennieren mit,
neu gebildeter Kapsel, die aus Mark und Rinde von physio¬
logischem Typus, aber in besonderer Anordnung dieser beiden
Substanzen bestehen.
3. Auch in den längst beobachteten Fällen zeigten die trans-
plantirten Nebennieren keine Tendenz zur malignen Dege¬
neration.
4. Hingegen bot die Niere als Aufnahmeorgan der transplan-
tirten Nebenniere nach Jahr und Tag in einem Falle Ver¬
änderungen dar, die den Gedanken an die Möglichkeit eines
neoplasmatischen Wachsthums gestatten.
5. Das Nebennierenmark ist als ein lebenswichtiger Bestandtheil
für die Function der Nebenniere anzusprechen.
6. Das Nebennierenmark kann bei Ueberinanspruchnahme auch
nach längerer Zeit noch degeneriren, wobei es zu dem schweren
Syraptomencomplex des Nebennierenausfalles kommt, dem das
Thier schliesslich erliegt.
7. Einschlägige Leichenversuche gestatten die Annahme, dass
vielleicht mit der Verpflanzung menschlicher Nebenniere sammt
Gefässen bei verbesserter Technik eine chirurgische Therapie
des Morbus Adissonii anzubahnen wäre, doch ist diese An¬
nahme vor der Hand rein hypothetischer Natur.
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656 Dr. H. v. Hab er er, Die gestielte Nebennierentransplantation etc.
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Literatur.
1. v. Haberer, Experimentelle Verlagerung der Nebenniere in die Niere.
Dieses Archiv. Bd. 86.
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14. Stoerk, Beiträge zur normalen Histologie der Nebennierenrinde. Berl.
klin. Wochenschr. 1908.
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XXIII.
Der schnellende Finger.
Von
Prof. Dr. Kr. Poulsen (Kopenhagen).
Der Franzose nennt das Leiden bekanntlich doigt ä ressort,
der Engländer trigger finger. Biegt man den Finger, geht die Be¬
wegung normal vor sich bis zu einem gewissen Punkt, dann hört
sie auf, und der Patient muss eine gewisse Kraft anwenden um
gleichsam einen Widerstand zu überwinden; ab und zu muss die
andere Hand über den todten Punkt hinweghelfen; ist dieser passirt,
wird die Flexion ziemlich plötzlich unter einem Knack, einem
Schnellen vollführt. Ebenso tritt eine Hemmung ein, wenn man
die Extension ausführt, und zwar unter demselben Winkel, unter
dem die Flexion anhielt; wiederum bedarf es hier einer kräftigen
Muskelaction, um die Streckung vollenden zu können, und sie endet
dann, wie die Flexion recht brüsk, ebenfalls unter einem Schnellen.
Man pflegt die Bewegung, welche dann und wann von einem hör¬
baren Knacken oder Knistern begleitet ist, mit dem Ruck zu ver¬
gleichen, den man bekommt, wenn man ein Taschenmesser öffnet
oder schliesst.
Ist der Widerstand nicht besonders gross, so gehen die Bewegungen
ziemlich schmerzlos vor sich, aber recht oft, namentlich zu Anfang
des Leidens, sind die Schmerzen gross, besonders bei der Streckung
sind sie so heftig, dass der Patient vermeidet, den Finger zu be¬
wegen, der recht gewöhnlich in flectirter Stellung fixirt wird. Der
Schmerz wird auf die Volarseite des Metacarpophalangealgelenkes
localisirt, wo man recht oft einen kleinen, etwas empfindlichen
Tumor fühlt von der Grösse eines Hanfsamens bis zu der einer
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3.
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Dr. Kr. Poulsen,
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Erbse, ein Tumor, welcher mit dem vagino-tendinösen Apparat zu¬
sammenzuhängen scheint, und der hier und da mit der Sehne be¬
wegt wird. Ab und zu strahlt der Schmerz von der angegebenen
Stelle aus in den Arm hinauf und kann dann so stark sein, dass
er, besonders wohl bei nervösen Individuen, Ohnmacht hervorruft.
Das Leiden kann sich ziemlich plötzlich zeigen, aber nicht
selten wird es von dumpfen Schmerzen, Parästhesien (Einschlafen,
Ameisenkriechen), sowie einer gewissen Steifheit des Fingers ein¬
geleitet, eine Steifheit, die sich besonders Morgens geltend macht;
dieselbe kann im Laufe des Tages verschwinden und sich am
nächsten Morgen wieder einstellen. Nach und nach kommt das
Schnellen zu Stande; auch dieses kann sich ab und zu, besonders
in leichten Fällen, beim Gebrauche des Fingers verlieren, und ist
ebenso wie die Steifheit Morgens am bemerkbarsten. Bei einem
Theil der Patienten verschlimmert sich der Zustand, wenn es kaltes
und feuchtes Wetter ist, und er bessert sich, wenn es warm ist;
warme Bäder und Schwitzkuren lindern ab und zu.
Die Krankheit ist zum ersten Male im Jahre 1850 von Notta
beschrieben, der Name doigt ä ressort stammt von Nölaton. Als
charakteristisch führte Notta an: das Schnellen, den fühlbaren
Tumor an der Volarseite des Metacarpophalangealgelenkes und die
Empfindlichkeit an dieser Stelle. Es hat sich nun indessen später
gezeigt, dass der erwähnte Tumor ab und zu bei gut ausgesprochenen
Fällen vermisst wird, jedenfalls an der angegebenen Stelle; andrer¬
seits ist hier und da ein Tumor am Locus electus gefühlt, während
eine Incision an der Stelle denselben nicht hat nachweisen können.
Charakteristisch wird dann für das Leiden nur das erwähnte
Schnellen, welches bei der Flexion hier und da fehlt, aber immer
vorhanden ist, wenn der Patient seinen Finger bei extremer Flexion
strecken will; es scheint in den im übrigen normalen Interphalangeal-
gclenken, gewöhnlich im ersten, stattzufinden. Sehr selten erhält
man ein doppeltes Schnellen, wie bei Rehn’s Patienten, wo das
erste Schnellen bei der Flexion der ersten Phalanx, das zweite bei
der Beugung der zweiten Phalanx kam.
Die Krankheit wurde im Anfang für selten angesehen, später
hat man aber doch eine Anzahl von Fällen gesammelt, z. B.
Carlier 105 im Jahre 1889, Röbel 156 im Jahre 1900. Es hat
sich nun gezeigt, dass der Mittelfinger am häufigsten angegriffen
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659
Der schnellende Finger.
ist, demnächst der Ringfinger, dann folgen der Daumen und der
Zeigefinger, am seltensten ist der Kleinfinger afficirt. Hier und da
findet sich das Leiden an mehreren Fingern bei demselben Indi¬
viduum, nicht selten an den gleichseitigen Fingern beider Hände,
z. B. an beiden Daumen. Es ist in allen Altersklassen gefunden.
Das älteste Individuum war 90 Jahre, das jüngste 3 Monate, und hier
wird sogar angegeben, dass der Zustand seit der Geburt vorhanden ge¬
wesen war. Congenital soll es auch bei einem Kinde von 17 Monaten,
welches Genzer beschrieben hat, gewesen sein; selbst habe ich es
bei einem halbjährigen Kinde gesehen, und ich habe zwei 2jährige
kleine Mädchen operirt, wo das Leiden im Alter von P /2 Jahren
eingesetzt hatte. Es ist jedoch selten vor dem 20. und nach dem
70. Jahr; in der Regel tritt es zwischen dem 30. und 50. Jahr
auf. Man nahm früher an, dass das weibliche Geschlecht be¬
sonders disponirte; neuere Zusammenstellungen haben gezeigt, dass
beide Geschlechter ungefähr gleichmässig repräsentirt sind. Die
Finger der rechten Hand scheinen doppelt so oft ergriffen zu sein
wie die der linken Seite. 1 )
In den meisten Fällen verliert sich das Symptom spontan
oder unter passender Behandlung im Laufe einiger Monate, man
pflegt zu rechnen, dass die Heilung ein halbes Jahr dauert. Es
giebt aber Fälle, die rebellisch sind, die sich mehrere Jahre lang
stationär halten, die fortwährend schmerzhaft sind — es sind
solche Fälle, welche man in der späteren Zeit operirt hat, wodurch
man grössere Klarheit als vordem über diesen recht eigenthümlichen
Krankheitsprocess bekommen hat.
Notta und Nelaton 2 ) meinten, dass der an der Volarseite ge¬
fühlte Tumor von einer Schwellung des proximalen Blindsackes der
Sehnenscheide (Vaginitis) herrührte, der sich gerade vor dem Meta-
1) Nach deutschen militärischen Statistikern sind die Finger der linken
Hand häufiger angegriffen als die der rechten (Harriehausen).
2) In Nelaton's Elements de pathologie chirurgicalc, T. V, 1859, p. 953
steht angeführt, dass es sich um ein Corpus liberum in der Sehnenscheide
handelt, infolge einer Entzündung im subsynovialen Gewebe entstanden analog
mit der Bildung eines Mus articuli. Das Symptom entstand, wenn dies Corpus
liberum zwischen die Fasern der fibrösen Scheide hineingezwängt wurde. Diese
Annahme aber harmonirt nicht mit Notta’s Schilderung, woraus es hervorgeht,
dass er und sein Lehrer Nelaton darin einig sind, wie der Tumor aufzufassen
ist. Marcano behauptet, dass Notta Recht hat, die gegebene Beschreibung in
Elements de pathologie ehir. rührt nicht von Nelaton her, der nur in geringem
Grade mit der Redaction des betreffenden Bandes zu thun gehabt hat.
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Dr. Kr. Poulsen,
carpophalangealgelenk findet, der bei der Verrückung der Sehne
zwischen die transversalen Bündel der Fascia palmaris hinein¬
gezwängt, von diesen festgehalten würde, bis der Widerstand während
des „Schnellen u -gefühls überwunden würde. In einem seiner Fälle
fand sich 2 mal Hemmung und Schnellen bei der Extension, das
erste Mal am stärksten, — das Knötchen sollte dann gegen die
erwähnten transversalen Fascienbündel stossen, das andere Mal
schwächer und dann sollte das Schnellen auftreten, wenn die ßi-
furkatur der Flexor sublimis-Sehne den proximalen Rand selbst der
fibrösen Sehnenscheide passirte. Ara Daumen, wo eine Fascia
palmaris nicht vorhanden ist, sollten es Pseudomembranen in der
Sehnenscheide sein, die zwischen Ossa sesamoidea eingeklemmt
würden. Auch hier also eine Tendovaginitis, durch Rheumatismus
oder Ueberanstrengung hervorgerufen. Dass es eine Geschwulst der
Sehne selbst sein sollte, erachtete Notta für wenig wahrscheinlich,
da ähnliche begrenzte Sehnentumoren nie gefunden waren, weder an
Fingern noch anderswo.
Während Pitha geneigt ist, zu glauben, dass Corpora oryzoidea
in der Sehnenscheide die Ursache sind, nimmt Roser an, dass es
sich um Unebenheiten auf der Sehne selbst handelt, speciell auf
dem Flexor profundus, wo sie die Sublimisbifurcatur passirt. Hyrtl,
der übrigens keinen Fall gesehen hat, meint, dass sowohl ein
Sehnentumor als auch eine Scheidenverengerung vorhanden ist, eine
Hypothese, die durch Menzel’s Versuch (1874) gestützt wird. Er
wickelte einen Faden um die Sehne und bildete dadurch einen Tumor
auf derselben. Es zeigte sich nun, dass das Passieren des Tumors
durch die Sehnenscheide nur vom Schnellen begleitet wmrde, wenn
die Scheide gleichzeitig verengert war, Verengerung allein oder
isolirter Sehnentumor war ohne Wirkung, ebenso wie auch Corpora
oryzoidea, selbst wenn die Sehnenscheide verengert war.
Aehnliche Versuche sind von Blum und Marcano angestellt,
beide meinen, dass die Sehnenscheide nicht pathologisch verengert
zu sein braucht. Für Blum findet sich ein normales Hindemiss
für den Tumor am proximalen Rand der Scheide, für Marcano
giebt es Hemmungen im Verlaufe der ganzen Sehnenscheide, die be¬
kanntlich aus stärkeren und schwächeren Partien besteht, die letzten
vor den Interphalangealgelenken; die Uebergangsstellen zwischen
diesen Partien bilden einen fibrösen Vorsprung, der einen Tumor
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Der schnellende Finger.
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aufhalten kann. Wo die Hemmung stattfindet, ist natürlich ab¬
hängig von der Stelle, wo sich das Sehnenknötchen findet. Blum’s
Auffassung passt, sagt Marcano, nur in den Fällen, wo der Tumor
sich vor dem Metacarpophalangealgelenk findet, es sind freilich die
häufigsten, aber es giebt auch Krankengeschichten, wo man den
Tumor mehr distal gefunden hat.
Auch Felicki behauptet contra Menzel, dass es nicht noth-
wendig ist, dass sowohl ein Tumor als auch eine Verengerung vor¬
handen sein muss. Im übrigen schliesst er sich am meisten Notta
an, indem er sich keine Sehnengeschwulst, eine Art Sehnencallus,
ohne sehr grosse Gewalt entstanden denken kann, und eine solche
wird in den Krankengeschichten nicht erwähnt. Er glaubt eher,
dass es sich um eine durch kleinere Traumata, wiederholte Irrita¬
tionen, hervorgerufene Tendosynovitis im Blindsack der Sehnenscheide
handelt, vielleicht um Blutextravasate hier, oder auch um Ver¬
dickungen in den transversalen Bündeln der Fascia palmaris, Ver¬
dickungen nach fibrillärer Abreissung entstanden.
Ausser diesen vagino-tendinösen Theorien aber findet sich in
allen Abhandlungen über die Frage eine arthrogene Theorie, wesent¬
lich auf 5—6 Autopsien amputirter Finger oder Zehen gestützt,
wo man durch passive Bewegungen einen Ruck, ein Schnellen er¬
zeugen konnte, das dem typischen glich, ohne dass man übrigens
bei den meisten gewusst hat, ob das Symptom bei Lebzeiten vor¬
handen war, ja in einigen ist es bestimmt ausgeschlossen, so z. B.
in Steinthal’s Fall, wo es sich um einen durch ein tendinöses
Panaritium erzeugten krummen und steifen Finger handelte, wo
man nach dem Durchschneiden der Flexorensehnen bei Bewegungen
im Interphalangealgliede, dessen Knorpelflächen normal waren, das
Schnellen hervorbringen konnte. Steinthal meinte, es beruhe auf
einem durch den Schrumpfungsprocess hervorgerufenen Herab¬
ziehen nach der Volarseite der Insertion der Seitenligamente an
2. Phalanx, wobei diese Ligamente durch eine gewisse Stellung der
Phalanx, die dadurch fixirt wurde, gespannt wurden, bis die Be¬
wegung, und dann unter einem Schnellen, fortgesetzt wurde. In
den anderen sogenannten arthrogenen Fällen hat man Unebenheiten
auf den Gelenkflächen oder Schrumpfungen der Seitenligamente ge¬
funden, während der Sehnenapparat normal war. Diese arthrogene
Theorie wird eifrig von Poirier (1889) verfochten, der mittheilt,
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Dr. Kr. Poulsen,
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dass sich physiologisch ein hervorspringender Kamm am Caput
metacarpi findet; stellt sich hier ein vergrösserter Vorsprung ein,
so werden die Seitenligamente sich spannen, wenn die Phalanx
die Stelle passirt, und das Schnellen wird sich nach der Passage
emsteilen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass alle Theorien in der
Luft schwebten, so lange man keinen Operationsbefund hatte, auf
den man sich stützen konnte. Die erste Operation bei doigt
ä ressort wurde im Jahre 1889 von Schönborn (0. Schmitt : s
Dissertation) vorgenommen.
Er fand ein angespanntes fibröses Band, Vs cm breit, etwas
proximal zur Sehnenscheide selbst, unter der Fascia palmaris,
die unterliegende Beugesehne war von fibrinösen Massen bedeckt,
— das Band wurde durchgeschnitten und das Symptom hörte auf.
Einige Operateure haben die Sehnenscheide an sich verengert ge¬
funden, andere haben einen Sehnentumor gefunden, und dann in
der Regel vor dem Metacarpophalangealgelenk, bald begrenzt,
ab und zu gestielt, bald spindelförmig; andere haben wiederum
sowohl einen Tumor auf der Sehne als auch eine Verengerung der
Scheide gefunden, keiner aber hat wahrgenommen, dass die Fascia
palmaris ein Hinderniss für die Bewegung der Sehne bildete.
Endlich finden sich 3 Fälle, einige der ersten, die in Frank¬
reich operirt wurden, wo man trotz fühlbaren Tumors am Locus
electus weder Veränderungen an der Sehne noch in der Vagina
derselben fand; 2 wurden von Carlier, 1 von Quenu operirt.
Die erstgenannten hielt man so lange fixirt, dass der Finger bei
der Publication der Fälle noch steif war, so dass man nicht weiss,
ob das Schnellen verschwunden war; dagegen wird über Quenu’s
Patient berichtet, wo die Sehnenscheide suturirt war, dass das
Symptom fortgesetzt vorhanden war.
Diese 3 Fälle haben Carlier veranlasst, eine ganz neue
Theorie für doigt ä ressort aufzustellen. Das Symptom beruht
äusserst selten auf einem Gelenkleiden oder auf Veränderungen im
vagino-tendinösen Apparat. Es handelt sich dagegen um eine
Neurose, einen functionellen Spasmus in den Flexoren, besonders
im Flexor sublimis; findet sich ein Sehnentumor, so kann er wohl
bei der Bewegung geniren, aber er ist es nicht, welcher das
Schnellen verursacht, dagegen trägt er vielleicht dazu bei, den
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Der schnellende Finger.
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reflectorischen Spasmus hervorzurufen. Bei der Extension ist es
der Spasmus im oberflächlichen Flexor, der die Hemmung bildet,
welche während des Schnellens durch eine kräftige Contraction der
Extensoren überwunden wird. Bei der Flexion ist es dagegen eine
momentane Impotenz des Flexor sublimis oder auch eine Con¬
traction der Extensoren, vornehmlich erstere, die die Hemmung
der Bewegung hervorruft, das Schnellen entsteht durch eine brüske
und spasmodische Contraction der Flexoren.
Die ganze Theorie ist gekünstelt und unwahrscheinlich, wird
leicht dadurch widerlegt, dass das Symptom des Schnellens nicht
selten durch passive Bewegungen hervorgerufen und bei tiefer
Narkose gefunden werden kann, wovon man sich wiederholt über¬
zeugt hat. Ausserdem wird der Schmerz in den allermeisten Fällen
in die Gegend des Metacarpophalangealgelenkes, nicht in die Muscu-
latur des Unterarms verlegt.
Obgleich Ferc sich nicht der Hypothese Carlier’s anschliessen
kann, nimmt er doch an, dass die Muskelaction in gewissen Fällen
allein im Stande ist, das Symptom hervorzurufen, so z. B. bei
normalen Individuen, wenn in stark abducirten Fingern Extensions¬
und Flexionsbewegungen vorgenommen werden, — er hat es z. B.
unter solchen Umständen bei einigen Pianisten im Index und dem
Kleinfinger gesehen. Mit anderen Worten, wenn die Richtung des
Muskelzuges unter Flexion und Extension verändert ist. Ferner
hat er typischen doigt ä ressort spontan bei gewissen neuropathischen
Individuen kommen und schwinden sehen. Er meint, dass es sich
hier um eine Veränderung der Stärke der Muskelaction handelt, so
wie sie sich bei neuropathischen Affectionen zeigen kann, die von
motorischen Functionsstörungen, Paresen, Spasmen oder Incoordi-
nation begleitet werden.
Ich habe folgende 1!) Fälle des schnellenden Fingers beob¬
achtet, von diesen sind 5 (IV, VI, X, XI, XV) operiert.
I. August 1895. 67 jähriger Mann. Steinpflasterentrepreneur. Arthri¬
tiker. L. Pollex. Typisches Schnellen im Interphalangealgelenk sowohl beim
Beugen als auch beim Strecken. Das Leiden ist 3 Monate alt, ohne Gelegen¬
heitsursache entstanden. War im Anfang von Schmerzen begleitet. Kein
Tumor längs der Sehne. Das Gelenk schien normal; die anderen Artikula¬
tionen ebenfalls frei.
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II. November 1898. 51 jährige Frau. Näherin. L. Pollex. Typische
Symptome. Erbsengrosser mit der Sehne verschiebbarer Tumor auf der Volar¬
seite des Metacarpophalangealgelenkes.
September 07. Naoh dreiwöchiger Behandlung mit warmen Seifen¬
bädern schwand das Symptom. Eine Woche nach der Consultation im Jahre
1898 zeigte sich das Leiden auoh im rechten Daumen, verlor sich auch hier
beim Gebrauoh von Seifenbädern und Massage. Das Knötchen am linken
Daumen fühlt man unverändert, nur wenig empfindlich für Druck. Auch am
rechten Daumen fühlt man an entsprechender Stelle einen mit der Sehne ver¬
schiebbaren Tumor von der Grösse einer kleinen Erbse. Keine späteren
Schnellensymptome.
III. April 1898. 31 jährige Frau. Hausmutter. Rechter Index. Der
Finger steht in leichter Flexion ünd kann nur durch besondere Anstrengung
ausgestreckt werden. Der Finger stellte sich so vor einigen Tagen nach an¬
strengender Häkelarbeit. Sie hat früher einen ähnlichen Anfall gehabt, der
Finger ist damals aber mit einem kleinen Knack in die natürliche Stellung zu¬
rückgeschnellt. FixirtmandasMetacarpophalangealgelenk, so fühlt man bei kräf¬
tiger Extension ein Schnellen, und der Finger kann hiernach complett gestreckt
werden. Wird er wieder in die gebeugte Stellung gebracht, so tritt aufs neue
die Schwierigkeit bei der Extension ein, die erst bei einer kräftigen Ueberwin-
dung des Widerstandes in Gang kommt; es wird dann stets das erwähnte
Schnellen hervorgerufen. Die Flexion ist stets ungehindert. Man fühlt keine
Knötchenbildung längs der Flexorensehne.
September 07. Die Symptome verloren sich nach und nach, ab und zu
kann aber der Finger noch fixirt werden unter der Flexion und muss dann
durch eine kräftige Extension ausgestreckt werden.
IV. Februar 1900. 57 jährige Frau. Näherin. L. Pollex. Vor einem
Jahre hob sie mit der linken Hand einen schweren Gegenstand auf, sie fühlte
hiernach gleichsam einen Krampf im linken Arm, der Unterarm stand flectirt
und musste mit Gewalt ausgerichtet werden. Kurz hernach fühlte sie Schmerzen
im linken Daumen, wenn er gestreckt werden sollte. Nach und nach merkte
sie ein Sohnellen, wenn die Extension stattfand, der Finger blieb stehen bis
ein Widerstand überwunden wurde, wie sie denn auch einen Widerstand fühlte,
wenn sie denselben von völliger Ausgestrecktheit beugen sollte. Den Wider¬
stand musste sie ab und zu dadurch überwinden, dass sie mit der anderen
Hand den betreffenden Daumen beugte und streckte. Wenn der Widerstand
überwunden wurde, hörte man das erwähnte Schnellen, und es stellten sich
dann Schmerzen im Finger ein, in den Arm hinaufstrahlend. Es findet sich
keine Geschwulst längs der Streckungs- oder Beugesohne des Fingers. Da¬
gegen zeigt sich Empfindlichkeit für Druck längs der Sehnen im ersten Fach
(die Sehnen des M. abduct. pol. long. und extensor pol. brevis) vom Proc. styl,
radii bis nach der Insertion der Abductorsehne hin. Man fühlt während des
Streckens hanfsamengrosse feste Körper und man hört fortwährend das erwähnte
Schnellen.
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Der sohneilende Finger.
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Incision der Sehnenscheide und OefTnung des ersten Faches; es fliesst
etwas seröses Exsudat aus, keine Corpora oryzoidea. Die Sehnenscheide na¬
türlich. Es findet sich ein hanfsamenkorngrosses Fibrom auf der Portion der
Abductorsehne, die dem Ursprung der Bündel des M. abductor pollicis brevis
dient, das betreffende Fibrom liegt in dem Fache selbst auf dem Proc. styl,
radii. Die Sehnenpartic wird mit dem Fibrom excidirt, die Sehnenscheide
wird suturirt. Oberflächliche Suturen. Reactionsloser Verlauf. Normale Be¬
wegung des Fingers ohne Schnellen.
September 07. Es haben sich später keine Schnellensymptome gefunden.
Die Narben gut, normale Beweglichkeit des Daumens.
V. März 1900. 49 jährige Frau. Hausmutter. Kein Rheumatiker. R.
Daumen. Im letzten Monat ein Schnellen im Interphalangealgelenk bei Be¬
wegungen gemerkt. Namentlich Morgens kann sie nur mit Mühe beugen,
2. Phalanx bleibt dann etwas flectirt stehen und sie kann dann nur durch eine
passive Extension strecken, was schmerzt. Wenn sie etwas gearbeitet hat,
geht es besser. Zu Zeiten merkt sie gar nichts, zu Zeiten wiederum stellen
sich ziemliche Schmerzen auf der Volarseite des Metacarpophalangcalgelenkes
ein, und hier fühlt man deutlich bei der Bewegung des Daumens ein hanf-
samenkorngrosses Knötchen auf der Flexorensehne, es zeigt sich gerade hinter
den Ossa sesamoidea, wenn man den Daumen beugt. Fixirt man die 1. Phalanx
und beugt man die 2., merkt man kein Schnellen.
0ctober07. Die Symptome verloren sich spontan nach Verlauf einiger Monate.
4 Jahre später traten dieselben Symptome im linken Daumen auf, schwanden
auch hier spontan naoh Verlauf einiger Monate. Später sind die Bewegungen
beider Finger normal gewesen. Sowohl am rechten als auoh am linken Daumen
fühlt man auf der Volarseite des Metacarpopbalangealgelenkes einen hanfsamen¬
korngrossen mit der Sehne beweglichen Tumor.
VI. Mai 1900. 6 jähriges Mädchen. L. Daumen. In den letzten ein¬
einhalb Jahren hat der linke Daumen stark extendirt im Metacarpophalangeal-
gelenk (in Suhluxationsstellung) und rechtwinklig flectirt im Interphalangeal¬
gelenk gestanden, und es ist nicht im Stande gewesen, das letzte Glied zu
streoken. Man fühlt einen Tumor wie eine halbe Erbse auf der Flexorensehne
unmittelbar vor dem Metacarpophalangealgelenk, mit der Sehne beweglich.
Kein Schnellen.
Incision duroh die Sehnenscheide unmittelbar vor dem Tumor, der an an¬
gegebener Stelle auf der Dorsalseite der Sehne sitzt, der Tumor wird excidirt,
und die fibröse Scheide wird in einer Ausdehnung von 3 cm geöffnet. Die
Hautwunde wird mit einigen Suturen zusammengezogen. Nach der Operation
waren die Bewegungen des Fingers normal. Reactionsloser Verlauf. (Das
Knötchen ist offenbar zu gross gewesen um das proximale Ende der Sehnen¬
scheide passiren zu können).
VII. März 1902. 38 jährige Frau. L. Daumen. Vor einigen Monaten
umfasste sie recht kräftig mit der linken Hand einen Tisch, wobei die Volar¬
seite des Metacarpopbalangealgelenkes des Daumens sicherlich einen starken
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Druck erfahren hat. Einen Monat später merkte sie, dass der betreffende Finger
sich nicht ohne besondere Anstrengung im Interphalangealgelenk completi
beugen licss. Wiederholt merkte man ein Knacken, wenn sie mit Gewalt zu
ilectiren suchte, ebenso, wenn sie von Flexion zu Extension fiberging. Auf der
Volarseite des Metacarpophalangealgelenkes fühlt man auf der Sehne einen
erbsengrossen, empfindlichen Tumor, mit dieser verschiebbar.
VIII. Mai 04. 2jähriges Mädchen. Linker Daumen. Typische Sym¬
ptome. Hanfsamengrosser Knoten auf der Vorderseite des Metacarpophalangeal- '
gelenkes, folgt den Bewegungen der Sehne.
October 07. 2. Phalanx steht zurHälfte rechts flectirt, kann etwas gebeugt,
aber nicht gestreckt werden, bei passiven Versuchen sträubt sie sich. Tumor
der Sehne ist wie eine kleine Erbse. Bewegungen des rechten Daumens frei.
Die Eltern schlagen Operation ab.
IX. October 05. 53jähriger Mann. Schneider. Kein Rheumatiker. Vor
einigen Monaten typische Symptome im 3. und 4. Finger der rechten Hand,
besonders im 3., sowie im 3., 4. und 5. Finger der linken Hand, besonders im
letzten. Giebt als Moment der Ursache den Druck auf das Steuer eines
Rades an.
September 07. Die Symptome verloren sich nach und nach auf der linken
Seite, dagegen noch stark am 3. Finger der rechten Hand, wo man einen
erbsengrossen Tumor auf der Sehne vor dem Metacarpophalangealgelenk fühlt;
die Bewegungen werden von schmerzhaftem Schnellen begleitet, das nicht auf-
tritt, wenn die 2. Phalanx gebeugt wird, während die erste fixirt ist. Man er¬
hält auch Schnellen beim Beugen und Strecken des 4. Fingers, dieselben sind
aber nicht schmerzhaft; auch hier Tumor auf der Sehne (locus electus). Auch
bei passiven Bewegungen erhält man Schnellen am 3. Finger, dessen Be¬
wegungen ihm sehr lästig fallen, indem sie von krampfartigen Empfindungen
im Unterarm begleitet werden.
X. Januar 06. 2jähriges Mädchen. Linker Pollex. Das Leiden entstand
vor Y 2 Jahre ohne Gelegenheitsursache. Es fand sich deutliches und schmerz¬
haftes Schnollengefühl sowohl beim Strecken als auch beim Beugen. Man
fühlte einen empfindlichen, hanfsamengrossen Tumor auf der Sehne vor dem
Metacarpophalangealgelenk. Auch am rechten Daumen fand sich an derselben
Stelle ein kleiner Tumor, hier waren aber die Bewegungen frei. Sie ging einen
Monat lang mit der Appreturbandage, bekam darauf Massage, aber ohne
Wirkung. Der Zustand verschlimmerte sich eher; im letzten Monat hat sie das
Interphalangealgelenk flectirt gehalten, bei passiven Versuchen kann der Finger
unter Schnellen ausgestreckt werden, er kehrt aber sofort in die flectirte Stellung
zurück, und sie weint beim Versuch des Ausstreckens.
Incision, 2 cm lang, an der Volarseite des Metacarpophalangealgelenkes
mit Oeffnung der fibrösen Scheide, die normal erscheint. Es zeigt sich, dass
der hanfsamengrosse Tumor von einer diffusen Verdickung auf der Flexoren¬
sehne unmittelbar vor der Loge zwischen den zwei Sesambeinchen, die nicht
verändert sind, herrührt. Es wird theils auf der Oberfläche, theils an beiden
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Der schnellende Finger.
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Seiten so viel vom Tumor excidirt, dass die betreffende Stelle von derselben Dicke
wird, wie die vor- und hinterliegende Partie der Sehne. Die Hautwunde wird
mit Suturen in den Winkeln vereinigt, in der Mitte offen gelassen. Reactions-
loser Verlauf. Im März war die Bewegung des Fingers normal.
October 07. Die Bewegungen des Fingers frei, die Sehne springt bei der
Flexion nicht hervor.
XI. Februar 06. 42jährige Frau. Näherin. Rechter Daumen. Vor
einem Monat drehte sie einen kleinen Schlüssel in einem engen Schloss um.
Sie merkte darauf einigen Schmerz im rechten Daumen, und etwa 4—5 Tage
später fühlte sie hier beim Beugen und Strecken ein Schnellen und Schmerzen,
namentlich, wenn sie die Nadel halten sollte, so dass sie seitdem nicht im
Stande gewesen ist, die Näharbeit zu verrichten.
Man fühlt vor dem Metacarpophalangealgelenk ein Knötchen wie eine
Erbse auf der Flexorensehne, mit dieser beweglich. Sie ist etwas empfindlich
für Druck auf den Tumor. Beugen und Strecken geht leicht vor sich, fortwährend
aber unter Schnellen im Interphalangealgelenk, die Bewegungen schmerzen
etwas, besonders stark aber ist der Schmerz, wenn sie eine Nadel halten soll.
Die Tumorstelle ist fortdauernd einem Drucke ausgesetzt gewesen, wenn sie
ihre Scheere gebraucht, aber sie hat doch nie das Gefühl eines Schnellens
gehabt vor dem erwähnten Drehen des Schlüssels.
Incision bis zum Tumor hinein mit Oeffnung der Sehnenscheide in einer
Ausdehnung von 2 cm. Die Scheide erscheint normal. Auf der Sehne sieht
man eine diffuse spindelförmige Verdickung, wie eine kleine Erbse. Auf der
Oberfläche und an den Seitenrändern wird so viel abgeschnitten, dass die
Dicke der Sehne der davor- und dahinterliegenden Partie gleich wird. Die
Hautwunde wird vereinigt. Reactionsloser Verlauf. Die Bewegung des Fingers
normal.
October 07. Kein Gefühl des Schnellens später. Die Sehne ist etwas
gespannt, weswegen die Extension nioht complet ist, die Kraft ist aber gut,
und sie giebt an, dass es mit dem Daumen „ausgezeichnet geht.
XII. Mai 06. 54jährige Frau. Hausmutter. Rechter Ringfinger. Typische
Symptome seit 2Monaten. Keine Gelegenheitsursache. Erbsengrosse Verdickung
auf der Sehne, gerade vor dem Metacarpophalangealgelenk.
October 07. Dio Anfälle verloren sich nach und nach, doch ab und zu
noch das Gefühl des Schnellens. Tumor fühlt man fortgesetzt.
XIII. November 06. 44jährige Frau. Hausmutter. Linker Daumen.
Keine Gelegenheitsursache. Loidet nicht an Gicht. Das Leiden entstand vor
V 2 Jahr. Sie merkte dann, während sie nähte, dass der Finger sich nicht
ganz ausstrecken liess, sie musste dio andere Hand zur Hülfe nehmen, und das
Ausstrecken fand dann unter einem Schnellen statt. Die Symptome haben sich
seitdem gehalten, namentlich Morgens stand der Finger flectirt im Inter¬
phalangealgelenk, sie konnte ihn unter einem Schnellen mit der anderen Hand
ausstrecken, er stellte sich aber bald hernach wieder gebeugt. Er steht nun
leicht flectirt im Interphalangealgelenk, eine Ausstreckuug schmerzt sie; der
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Schmerz localisirt sich an der Volarseite des Metacarpophalangealgelenkes, wo
man ein erbsengrosses Knötchen auf der Sehne fühlt, etwas empfindlich bei
Druck. Am rechten Daumen findet sich kein Sehnenknötchen, und die Be¬
wegungen sind frei.
September 07. Der Zustand unverändert. Der Daumen steht beständig
im Interphalangealgelenk fiectirt, lässt sich nicht ausstrecken; der Versuch
schmerzt sie. Die Flexion geht dagegen normal vor sich. Tumor unverändert,
liegt gerade proximal zum Sesambeinchen. Eine Operation wird angerathen.
XIV. Januar 07. 52jährige Frau. Näherin. Nicht Rheumatiker. Rechter
Daumen. Typische Symptome, waren 1 / 2 Jahr vorhanden. Erbsengrosses
Knötchen auf der Sehne vor dem Metacarpophalangealgelenk, mit der Sehne
verschiebbar.
September 07. Die Symptome verloren sich bei der Massage im Laufe
eines Monats. Die Bewegungen sind nun frei. Der Tumor wird gefühlt, viel¬
leicht ist er aber etwas kleiner als früher. Auf dem linken Pollex fühlt man
kein Sehnenknötchen
XV. Mai 07. 2jähriges Mädchen. Rechter Mittelfinger. Typische,
augenscheinlich etwas schmerzhafte, Symptome, indem das Kind sich weigert
den einmal gebeugten Finger zu strecken. Die Symptome waren nach Aussagen
der Mutter mindestens seit l / 2 Jahr vorhanden. Man fühlt einen hanfsamen¬
grossen Tumor auf der Sehne, mit dieser verschiebbar, vor dem Metaoarpo-
phalangealgelenk.
Incision gerade vor dem Gelenk mit Oeffnung der fibrösen Scheide, deren
Lig. vaginale etwas verdickt erscheint. Es zeigt sich, dass das Sehnenknötchen
sich auf den zwei Partien des Flexor sublimis, gerade wo er sich spaltet, ge¬
trennt auf beiden Seiten entwickelt und die ganze Dicke des Sehnenblattes
einnehmend; er ist weiss, hart, auf beiden Seiten von der Grösse eines kleinen
Hanfsamens. Die Flexor profundus-Sehne normal. Da das Sehnenblatt zu
dünn ist, um eine theilweise Exstirpation des Tumors zu versuchen, unterlässt
man dies, und man begnügt sich mit der Spaltung der Sehnenscheide in einer
Ausdehnung von 2 om. Die Wunde wird complet geschlossen. Reactionsloser
Verlauf. Die Beweglichkeit des Fingers normal.
August 07. Die Bewegungen des Fingers vollständig normal.
XVI. Juni 07. 61 jähriger Mann. Arzt. Arthritiker. Rechter Ring¬
finger. Das Leiden entstand im Jahre 1897 nach dem Schneiden in eine Gyps-
bandage. Bei starker Flexion wird der Finger in der Vola fixirt, es schmerzt
dann sehr, bis er wieder gestreckt wird, oft nur mit Hülfe der anderen Hand,
und es geschieht dann unter einem Schnellen (kein Schnellen bei der Flexion).
Man fühlt einen kleinen Sehnentumor, mit der Sehne verschiebbar, vor dem
Metacarpophalangealgelenk.
XVII. Juli 07. 52jährige Frau. Rechter Daumen. Das Leiden zeigte
sich zu Anfang des Jahres, vielleicht durch den Druck einer Scheere hervor¬
gerufen. Typische Symptome. Erbsengrosser mit der Sehne beweglicher
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Der schnellende Finger.
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Tumor auf dem Locus electus. Auch am linken Daumen an entsprechender
Stelle ein Tumor, die Bewegung aber ohne Beschwerden.
Oktober 07. Brauchte einen Monat lang Massage. Bedeutende Besserung,
keine weiteren Sohmerzcn, aber ab und zu noch Sohnellen. Tumor fühlt man
unverändert.
XVIII. September 07. 36jähriger Mann, Zimmermann. Rechter Index.
12 Jahre lang an Arthritis deformans in mehreren Gelenken gelitten, u. A. in
den Fingergelenken; der Pr'ocess in den letzten paar Jahren im Rückgang. Im
Jahre 1901 Symptome des doigt ä ressort im linken Kleinfinger, verlor sich
nach Verlauf eines halben Jahres. Im letzten halben Jahr hat sich das Sym¬
ptom im rechten Index gezeigt; beugt man diesen stark in die Vola hinein,
wird er hier fixirt und kann nur unter einem Schnellen mit Hülfe der andern
Hand ansgestreckt werden. Man fühlt ein Knötchen auf der Flexorensehne, mit
dieser beweglich, vor dem Metaoarpophalangealgelenk.
XIX. December 07. Y 2 irriger Knabe. Rechter Daumen. Das Leiden
hat in den letzten 14 Tagen bestanden. Reohter Daumen wird wiederholt in
rechtwinkliger Flexion im Interpbalangealgelenk fixirt. Das Kind kann hier
und da den Finger selbst ausrichten, aber in der Regel muss es die Mutter
thun. Es findet sich sowohl beim Beugen als auch beim Strecken ein Schnellen.
Es scheinen bei der Bewegung keine Schmerzen vorhanden zu sein. Es findet
sioh eine fühlbare Verdickung der Sehne auf dem Locus electus; zweifelhafte
Verdickung an derselben Stelle auf der linken Seite.
Es wird Operation angerathen, aber das Kind wird später nicht gestellt.
Es handelt sich um 4 Männer, 10 Frauen und 5 Kinder, einen
halbjährigen Knaben und 4 Mädchen, das eine 6 Jahre, die drei
andern 2 Jahre alt; bei letztgenannten war das Leiden seit Y 2 Jahr
vorhanden. Linker Daumen war in 8 Fällen afficirt, rechter in 5,
rechter Index in 2, rechter Mittel- und Ringfinger jeder ebenfalls
in 2 Fällen, doch muss man daran erinnern, dass einige Male
mehrere Finger ergriffen waren, sogar an beiden Händen, so z. B.
in den Krankengeschichten IX und XVIII, in II und V zeigten
sich die Symptome mit einjährigem Zwischenraum an beiden Daumen. .
Nur in 2 Fällen fühlte man keinen Sehnentumor, dieser war
dagegen in den restirenden 17 vorhanden, 16 mal sass er auf der
Flexorensehne auf dem Locus electus vor dem Metacarpophalangeal-
gelenk und verschob sich bei der Bewegung der Sehne, 1 mal
(Krankenbericht IV) fand er sich auf der Streckseite, an der Ab¬
ductorsehne im ersten Fache. Ab und zu ist Sehnentumor am
gleichseitigen Finger der gesunden Seite constatirt, im Kranken¬
bericht X z. B. an beiden Daumen, aber nur der linke zeigte das
Schnellensymptom.
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5 mal ist der diagnosticirte Tumor durch Operation eonstatirt,
3 mal sass er auf der Flexorensehne des Daumens, lmal am
oberflächlichen Flexor des Mittelfingers, lmal an der Streckseite
des Daumens, auf der Abductor longus-Sehne beim Verlaufe der¬
selben im ersten Fache. Die Sehnenscheide war vielleicht in einem
Falle etwas verdickt, sonst erschien sie normal. Unter den Ope-
rirten befinden sich drei kleine Mädchen, das eine 6 Jahre alt. und
zwei 2 Jahre alt.
In der folgenden Liste habe ich den Befund durch Operation
oder Nekropsie für 64 Fälle des schnellenden Fingers festgestellt;
die Beschreibung ist für die allermeisten aus den betreffenden Ori¬
ginalabhandlungen ausgezogen — vielleicht weicht meine Liste
gerade deswegen an mehreren Stellen von den früheren Zusammen¬
stellungen ab.
Veränderungen in der Sehne allein.
1. Bögoune (Perret): 4jähr. Mädchen. Locus electus (vor Meta-
carpo-Phalangealgelenk) des rechten Daumens. Befund: Hagelgrosse Ver¬
dickung auf der Sehne. Wird excidirt.
2. Bögoune (Perret): 50jähr. Frau. Locus electus des rechten Dau¬
mens. Befund: Spindelförmige Geschwulst des Flexor subl. Wird zu normaler
Dicke excidirt.
3. Carlier: 30jähr. Frau. Volarseite des 1.Interphalangealgelenks des
rechten Mittelfingers. Befund: Gestielter, erbsengrosser Tumor (fibröseWuche¬
rung) auf der Vorderfläche des Flexor prof. Wird excidirt. Die Scheide wird
offen gelassen.
4. Friedel: Frau. Locus electus des linken Zeigefingers, Stichwunde.
Befund: Ein 8Y 2 mm langes Stück des äusseren Abschnittes des radialen
Grus der Sublimisbifurcatur aufwärts geschlagen: wurde während der Flexion
unter Lig. capit. transv. eingeklemmt. Wird excidirt. Die Scheide wird offen
gelassen.
5. Gal 1 i Valerio: 79jähr. Frau. Proximales Drittel der 1. Phalanx
des rechten Mittelfingers. Befund: Nekropsie. Spindelförmige Verdickung des
Flexor prof., wo er die Bifurcation des Sublimis passirt.
6. Jeannin: 60jähr. Mann. Locus electus des rechten Daumens (?).
Befund: Tumor auf Flexor sublimis, wahrscheinlich oberhalb der Theilung.
Die Scheide wird offen gelassen.
7. Jeannin: 52jähr. Frau. Locus electus des rechten Daumens (?).
Befund: 2 kleine hagelgrosse Tumoren, getrennt durch eine Einschnürung,
auf Flexor subl. Spaltung des proximalen Theiles der Sehnenscheide in einer
Länge von 2—3 mm.
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Der schnellende Finger.
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8. Jeannin: 62jähr. Mann. Locus eleotus des linken Daumens. Be¬
fund: Kleiner Tumor auf der Flexorensehne, wird fortgeschabt.
9 . Pels-Leuden: 4jähr.Mädchen. Locus electus des rechten Daumens.
Befund: KleinerTumor auf der Sehne, wird nach der Längsspaltung desselben
excidirt. Die Scheide wird genäht. Mikroskopisch bestand der Tumor aus Ge-
fässschlingen mit loserem Bindegewebe, vielleicht fötalen Ursprungs.
10 . Pels-Leuden: 2 1 / 2 jähr. Knabe. Locus electus des rechten Dau¬
mens. Befund wie beim vorhergehenden Fall.
11. Marchesi: 53jähr. Frau. Locus electus des linken Daumens. Be¬
fund : Verdickung der Flexorensehne. Die Scheide wird offen gelassen,
12 . Marchesi: 39jähr. Mann. Volarseite des l.Interphalangealgelenks
nach Stichwunde des linken Zeigefingers. Befund: Hanfsamengrosser Tumor
auf Flexor prof. Wird excidirt. Die Scheide wird genäht.
13 . Necker: 52jähr. Mann. Locus electus des rechten und linken
Mittelfingers. Befund: Nekropsie. Spindelförmige Verdickung dos Flexorprof.
und subl. gerade oberhalb der Theilung. Die Scheide nicht verengert, aber an
der Stelle des Knötchens findet sich ein 1 mm breites Verstärkungsband.
14 . Po ulsen: 57jähr. Frau. Die Streokseite. 1. Fach des linken
Daumens. Befund: Hanfsamengrosses Fibrom auf einem Theil der Abductor¬
sehne. Wird excidirt. Die Scheide wird genäht.
15 . Poulsen: 6jähr. Mädchen. Locus electus des linken Daumens.
Befund: Erbsengrosser Tumor auf der Dorsalseite der Sehne. Wird excidirt.
Die Scheide wird offen gelassen.
16 . Poulsen: 2jähr. Mädchen. Locus electus des linken Daumens.
Befund: Spindelförmige Verdickung der Sehne. Partielle Excision. Die Scheide
wird offen gelassen.
17. Poulsen: 42jäbr. Frau. Locus electus des rechten Daumens. Be¬
fund: Spindelförmige Verdickung, wie eine kleine Erbse, auf der Sehne. Par¬
tielle Excision. Die Scheide wird offen gelassen.
18 . Ross: 53jähr. Frau. Proximaler Theil der 1.Phalanx des rechten
Ringfingers. Befund: Spindelförmige Geschwulst des Flexor subl. gerade ober¬
halb der Theilung. Partielle Excision. Die Scheide wird genäht.
19 . Sch illing: 32jähr. Mann. Locus electus des rechten Ringfingers.
Befund: Spindelförmige Verdickung des Flexor prof. bei der Theilung der
Sublimissehne, die einige Centimeter gespalten wird. Die Scheide wird ge¬
schlossen.
20. Sick: Kind, ln der Mitte der 1. Phalanx des rechten Zeigefingers.
Glassplitterläsion. Befund: Ulnare Partie der Bifurcatur des Subl. über¬
schnitten und aufwärts gerollt, die radiale verdünnt und verlängert. Beide
Crura werden aufgefrisoht und an die Insertionsstelle genäht.
21 . Sudeck: 23jähr. Mann. Die Digitopalmarfurche des linken Ring¬
fingers. Befund: Verdünnung der Profundussehne von der Stelle an, wo sie die
Subl. perforirt, sich nach der Insertion hin fortsetzend. DerUebergang zwischen
der verdünnten und normalen Sehnenpartie wirkte wie ein Tumor während der
Passage durch die Bifuroatur der Sublimis. Die Scheide wird offen gelassen.
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Dr. Kr. Poulsen t
22 . Thorn: Mann. Linker Mittelfinger. Befand: Hanfsamengrosser
Tumor der „langen Beugesehne u . Exstirpation. Sehnensutur.
23 . Tilmann: 17jähr. Frau. Locus electus des Ringfingers. Befund:
Spindelförmige Geschwulst der Sehne (wahrscheinlich Suhl.). Die Scheide
wird offen gelassen.
24 . Tilmann: 14jähr. Mann. Locus electus des Ringfingers. Befund
wie beim vorhergehenden Fall.
25 . Tilmann: 3jähr. Mädchen. Locus electus am Daumen. Befund:
Spindelförmige Geschwulst der Sehne, der Kern des Tumors wird excidirt
nach der Spaltung der Sehne. Die Scheide wird offen gelassen.
26 . Wiesinger: 39jähr. Mann. Locus electus des linken Daumens.
Befund: Verdickung der Sehne. Excision der prominirenden Partie. Die
Scheide wird offen gelassen.
Veränderungen in der Sehnenscheide allein. (Die Sehne normal.)
27 . Btfgoune: 57jähr. Frau. Locus electus des rechten Daumens.
Befund: Verdickung der fibrösen Scheide. Excision einer 4 mm grossen Partie.
28 . Bennecke: 25jähr. Mann. Locus electus des linken Mittelfingers.
Befund: Eine kleine Verdickung an der äusseren Seite der Scheide, sie wird
mit der zugehörigen Scheidenpartie entfernt, die innen normal zu sein
scheint, ebenso wie auch die Sehne. Die Scheide wird nicht geschlossen. Die
Mikroskopie zeigt Granulationsgewebe, das mitten in der fibrösen Sehnen¬
scheide lag.
29 . Büdinger: 68jähr. Frau. Locus electus des Daumens. Befund:
Verdickung der Sehnenscheide, die sich während der Verschiebung der Sehne
faltete. Die Scheide wird gespalten; partielle Excision, wird offen gelassen.
30 . Duplay (Clement): 37jähr. Frau. Locus electus des rechten
Daumens. Befund: Verdickung der Scheide. Wird gespalten, wird offen ge¬
lassen.
31 . Duplay (Clement): 52jähr. Frau. Locus electus des linken
Daumens. Befund: Verdickung der Seitenpartien der Sehnenscheide; Excision
dieser Abschnitte. Die Scheide wird offen gelassen.
32 . Heilborn: 25jähr. Mann. Locus electus des linken Mittelfingers.
Befund: Wahrscheinlich verengerte Scheide, da die Symptome aufhörten, als
die Scheide gespalten war. Wird offen gelassen.
33 . Heinlein: 25jähr. Frau. 2. Phalanx des Mittelfingers. Befund:
Eine herniöse Ausstülpung der Sehnenscheide auf der 2. Phalanx; nach der
Spaltung zeigt sich ein linsengrosser, knorpelharter Tumor, der vom Vinculum
des Flexor prof. ausgeht; er wird entfernt. Die Scheide wird geschlossen.
34 . Jeannin: 28jähr. Mann. Locus electus des linken Ringfingers.
Befund: Die Scheide scheint verengt zu sein, die Sehne gleitet schwer. Der
proximale Theil der Scheide wird gespalten und offen gelassen.
35 . Lannelongue (Carlier): 60jähr. Frau. Distales Ende der ersten
Phalanx des rechten Zeigefingers. Befund: Erbsengrosses Fibrom an der
Aussenseite der Scheide, wird excidirt. Die Scheide wird offen gelassen.
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Der schnellende Finger.
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36 . A. Schmitt: Mann. Locus electos des Mittelfingers. Befand:
Nach Exstirpation eines Condrosarkoms in der Vola zwischen der Fasoie und
der Sehne, wobei die Sehnenscheide der Exstirpation wegen gespalten werden
musste, tritt nach beendeter Heilung doigt ä ressort auf; man nimmt an, dass
es von narbiger Verengerung der Scheide herruhrt.
37 . 0. Schmitt: 23jähr. Mann. Locus electus des linken Mittelfingers.
Befund: Fibröses Band, l / s cm breit, etwas proximal zur Sehnenscheide, unter
der Fascie. Wird durchgesohnitten.
38 . Stcherbatcheff: 24jähr. Mann. Locus electus des rechten Zeige¬
fingers. Befund: Villositäten (hypertrophische Villi) an der Innenseite der
Scheide. Werden exstirpirt. Die Scheide wird offen gelassen.
39 . R. Weir: Der Verfasser. Locus electus des linken Mittelfingers.
Befund: Die Scheide wird geöffnet, ist etwas roth und verdickt, ein kleiner
sessiler Tumor an der Innenseite wird entfernt, die Scheide muss oben in der
Vola gespalten werden, bevor das Schnellen verschwindet. Kein Tumor auf
dor Sehne. Die Scheide wird offen gelassen.
Veränderungen sowohl in der Sehne, als auch in der
Sehnenscheide.
40 . Bägoune: 26jähr. Frau. Oberster Theil der Vola des rechten und
linken Zeigefingers bis Kleinfinger. Befund: Fungöse Massen auf Flexor prof.,
von den Lumbricales ausgegangen; auch die Sehnenscheide (Bursa manus) mit
Granulationen gefüllt. Wird excidirt.
41 . Franz: lljähr. Knabe. Locus electus (nach Messerstich) des
rechten Zeigefingers. Befund: Verdickung des radialen Theiles des Flexor
subl., auch die Scheide erscheint etwas verdickt; Excision des Tumors, der
ein Ganglion ist.
42 . Harriehausen: Junger Mann. Locus electus des linken Klein¬
fingers. Befund: Als die Scheide geöffnet wird, zeigt es sich, dass die Sehnen
in sich und mit der Sehnenscheide verwaohsen sind. Es findet sich ein hanf¬
samengrosses Knötchen auf Flex. prof. Es wird entfernt und zeigt unter dem
Mikroskop, dass es aus knorpeligem Gewebe besteht. Die Scheide wird ge¬
schlossen.
43 . H iller: 14jähr. Mädchen. Locus electus des rechten Daumens. Be¬
fund: Verdickte Scheide und spindelförmiger Tumor auf der Sehne. Die ver¬
dickte Scheidenpartie wird entfernt. Mikroskopisch: Knorpeliges und fibröses
Gewebe. Die Scheide wird offen gelassen.
44 . Leisring: lOjähr. Mädchen. Locus electus des Mittelfingers. Be¬
fund: Hernienartige Ausstülpung der Scheide und Duplicatur der Profundus¬
sehne, wo sie die Sublimistheilung passirt. Exstirpation und Sehnensutur.
45 . Marchesi: 58jähr. Frau. Die Dorsalseite des Handgelenkes am
untersten Rande vom Lig. carpi dorsalis com. Rechter Zeige- und Mittelfinger.
Befund: Centrales erbsengrosses Knötchen (Tuberculose) in den Sehnen, wird
nach der Längsspaltung dieser excidirt. Die Scheide wird genäht.
Archi? für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3. a ±
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46. Marchesi: 48jähr. Frau. Locus electus des rechten Zeigefingers.
Befund: Erbsengrosse Granulationsgeschwulst auf dem äusseren Theil der
Scheide, in diese eingedrungen und den entsprechenden Theil der Profundus¬
sehne infiltrirt. Wird excidirt. Die Scheide wird offen gelassen.
47. Marchesi: 53jähr. Frau. Locus electus des rechten Daumens. Be¬
fund: Verdickte Scheide und Sehne. Die Scheide wird offen gelassen.
48. Marchesi: 19jähr. Mann. Die Digitopalmarfurche (Stichwunde)
des rechten Mittelfingers. Befund: Die Sehnenscheide eingezogen, auf dem ra¬
dialen Theil der Sublimissehne ein bohnengrosser Tumor, durch Lösen der
Sehnenbündel gebildet. Wird excidirt. Sutur der Scheide.
49. Marchesi: 36jähr. Mann. Auf der Mitte der 2. Phalanx (Stich¬
wunde) des linken Zeigefingers. Befund: Die Scheide verengert; auf der Pro¬
fundussehne ein hirsekorngrosses Knötchen an der Radialseite. Excision. Die
Scheide wird genäht.
50. Marchesi: 16jähr. Mann. Basis der 1. Phalanx des rechten Zeige¬
fingers. Befund: Haselnussgrosses, an dem äusseren Theil der Scheide adhä-
rentes Fibrosarkom. Excision mit entsprechender Scheidenpartie. Die unter¬
liegende Partie der Sehne verdünnt (Compression des Tumors).
51. Payr: 71 jähr. Frau. 1. Phalanx des linken Mittelfingers. Befund:
Häkelnadel, deren Spitze in die Scheide hineinragte, während die proximale
Partie zwischen dem Knochen und der Scheide lag. Die Spitze der Nadel
hakte sich in der Profundussehne fest, besonders infolge Extension, und es trat
Schnellen ein. Extraction.
52. Poulsen: 2jähr. Mädchen. Locus electus des rechten Mittelfingers.
Befund: Etwas Verdickung der Scheide und hanfsamengrosser Tumor auf beiden
Crura der Sublimisbifurcatur. Die Scheide wird offen gelassen.
53. Wolfgang Schmidt: 25jähr. Mann. Locus electus des linken
Mittelfingers. Befund: Linsengrosser Tumor auf dem äusseren Theil der
Scheide, wird mit entsprechender Scheidenpartie excidirt, ist in der tiefen
Schicht dieser entwickelt; auf dem entsprechenden Theil der Sehne ist das Ge¬
webe gelockert. Die Scheide wird offen gelassen.
54. Röbel: 55jähr.Mann. Die Volarseite des Interphalangealgelenks des
linken Daumens. Befund: Spindelförmige Geschwulst der Sehne, die Scheide
verdickt. Die prominirte Partie der Sehne wird excidirt. Die Scheide wird
offen gelassen.
55. Ulm er: 23 jähr. Mann. Locus electus des linken Ringfingers. Be¬
fund: Verdickung der Sehnenscheide und spindelförmige Geschwulst des Flex.
prof. Die verdickte Sehnenpartie wird excidirt. Die Scheide wird offen gelassen.
Trotz fühlbaren Tumors keine Veränderung in der Sehne oder
Sehnenscheide.
56. Carlier: 55jähr. Frau. Locus electus des rechten Mittelfingers.
Befund: Incision der Scheide, diese und die Sehne normal. Die Scheide wird
offen gelassen. Auf Grund langdauernder Bandage ist der Finger steif, als der
Fall referirt wird.
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Der schnellende Finger.
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57. Carlier: 43jähr. Mann. Locus electus des rechten Mittelfingers.
Befund wie beim vorhergehenden Fall.
58. Quönu (Carlier): 12jähr.Knabe. Locus electus des rechten Daumens.
Befund: Scheide und Sehne normal. Die Scheide wird nach der Spaltung ge¬
näht. Nach der Heilung dauern die Symptome des doigt ä ressort fort.
Gelenkveränderungen.
59. König: l.Interphalangealgelenk der Zehe. Befund: Das Schnellen¬
symptom vorhanden, zeigte sich auch au der infolge der begleitenden Schmerzen
amputirten Zehe. Es fand sich eine Erhöhung auf dem knorpeligen Theil der
1. Phalanx; in einer gewissen Stellung während der Flexion und Extension
waren die Seitenligamente gespannt, wurde die Bewegung vollfährt, so wurden
die Ligamente schlaff, und es erfolgte ein Schnellen.
60. Nicaise (Oettinger): 57jähr. Mann. Linker Ringfinger. Ne-
kropsie: Rheumatiker mit Steifigkeit in mehreren Gliedern, u. a. in den
Fingergliederu. Am linken Ringfinger Gefühl des Schnellens (man weiss
nicht, ob der Patient bei Lebzeiten das Symptom zeigte). Nichts in der Sehne
und Sehnenscheide. Die Gelenkfläche hat ihre Glätte verloren und die Seiten¬
ligamente sind geschrumpft.
61. Steinthal: 48jähr. Frau. Das Interphalangealgelenk des rechten
Zeigefingers. Nekropsie: An einem exarticulirten Finger, infolge eines Pa-
naritiums steif und gekrümmt, wurden die Flexorensehnen durchschnitten,
die Bewegung wurde dann im Interphalangealgelenk frei, ging aber unter
Schnellen vor sich. Die Ursache hierfür war, dass die Seitenligamonte in
einer bestimmten Stellung gespannt wurden, ging die Bewegung über diesen
Punkt hinaus, so erschlafften die erwähnten Ligamente unter Schnellen. Ihre
Insertion an der 2. Phalanx war infolge des Schrumpfens der Volarseite näher
gerückt. Die Gelenkfläohen normal.
62. Ross: 65jähr.Frau. Das Interphalangealgelenk des rechten Daumens.
Befund: Die Sehne normal. Nichts über die Scheide bemerkt, die gespalten
wird. Das Interphalangealgelenk wird geöffnet. Ein an der Basis der 2. Phalanx
adhärentes und abnorm bewegliches Sesambeinchen, das sich während des
Streckens zwischen die Gelenkflächen einzwängt, wird exstirpirt, das Gefühl
des Schnellens gehoben.
63. Villard (Carlier): 24jähr. Frau. Ringfinger. Nekropsie: Gefühl
des Schnellens bei Lebzeiten. Nichts Abnormes in der Sehne und Sehnen¬
scheide, auch nicht in den Gelenken. Caput der 1. Phalanx war in seinem
hintersten Abschnitt etwas mehr voluminös als an den anderen Fingern.
64. Walther (Carlier): 1. Interphalangealgelenk der Hammerzebe.
Nekropsie: Keine Veränderungen der Sehne. Arthritische Veränderungen
im l.Interphalangealgelenk; auf Caput der 1. Phalanx eine transversale Crista.
Unter den 64 Fällen fanden sich also Veränderungen im vagino-
tendinösen Apparat: 55mal (86 pCt.), 26mal waren es allein Ver¬
änderungen in der Sehne, 13 mal allein in der Sehnenscheide,
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16 mal an beiden Stellen. In 3 Fällen fanden sich Sehne als auch
Sehnenscheide normal, — hier sind die Gelenke nicht untersucht.
Endlich finden sich 6 Fälle mit Gelenk Veränderungen, wo der
Sehnenapparat normal war.
Untersuchen wir nun erst die arthrogenen Formen, so zeigt es
sich, dass der locale Befund recht ungleich ist. 4mal handelt es
sich um Sectionspräparate, und nur in einem Falle weiss man,
dass der Patient das Schnellensymptom bei Lebzeiten zeigte. Das
Symptom war auch in den beiden operirten Fällen (König, Ross)
vorhanden, dagegen fehlte es ganz bestimmt bei Steinthal’s
Patienten. Letzterer Fall ist schon früher erwähnt. Es handelte
sich um einen in Folge eines Panaritiums steifen und krummen
Finger, wo die Bewegung erst bei dem Durchschneiden der Flexoren¬
sehnen frei vor sich ging; bewegte man im Interphalangealgelenk,
kam das Gefühl des Schnellcns, das, wie man annahm, auf einem
durch Schrumpfen hervorgerufenen Verrücken nach der Volar¬
seite der Insertion der Seitenligamente an 2. Phalanx beruhte.
König und Walther führen Verdickungen auf dem Caput der
I. Phalanx als ursächliches Moment an, bei Nicaise finden sich
Schrumpfungen der Seitenligamente und leichte Gelenkverände¬
rungen, bei Villard’s Patienten war das Caput auf der 1. Phalanx in
seinem hintersten Abschnitt etwas mehr voluminös als an den
anderen Fingern. Endlich findet sich bei Ross ein abnormes be¬
wegliches Sesambein, adhärent an der Basis der 2. Palanx; es legte
sich beim Strecken zwischen die Gelenkflächen und wurde exstirpirt,
- übrigens der einzige Patient, der auf reguläre Art operirt ist,
indem erst die Sehnenscheide gespalten wird, die Sehne zeigt sich
normal, worauf das Interphalangealgelenk geöffnet und das Sesam-
beinchen entfernt wird; das Schnellensymptom war nach der Ope¬
ration fort. Leider ist die Beschreibung lückenhaft, der Zustand
der Sehnenscheide wird nicht erwähnt, desgleichen, ob das Schnellen
nach der Spaltung vorhanden war. Wie wir später sehen werden,
giebt es nämlich Fälle, wo die Sehne auch normal ist, und wo das
Schnellen doch nach der Incision der Sehnenscheide fortbleibt. Es
ist deswegen nicht ganz klar, ob es das erwähnte Sesam-
beinchen ist, das bei Ross’ Patienten das Symptom hervorgerufen
hat. König hat die kranke Zehe amputirt und auch an dieser
das Schnellen hervorgerufen, das offenbar auf einer Unebenheit auf
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Der schnellende Finger.
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dem Caput der Phalangen beruhte, — in einer gewissen Stellung
wurden die Seitenligamente gespannt; wurde die Bewegung aus¬
geführt, wurden sie schlaff, und das Schnellen stellte sich ein.
Im Ganzen genommen spielen im operirten Material Ge¬
lenkveränderungen eine äusserst geringe Rolle. Gemeinsam ist für
die referirten Fälle, dass die Gelenkveränderungen sich in dem
Gelenk finden, wo das Sehnellensymptom entsteht, sehr oft im
Interphalangealgelenk, im Gegensatz zu den tendinösen Formen,
wo die Veränderung in der Regel mehr proximal sitzt.
Man hat zur Verteidigung für die Bedeutung der Gclenkver-
änderungen angeführt, dass sich das Leiden nicht selten im An¬
schluss an rheumatische Krankheiten zeigte, dann und wann nach
einer acuten Polyarthritis, recht häufig nach chronischen Gelenk¬
leiden, wie z. B. Arthritis deformans, wo oft mehrere Finger das
Schnellensymptom zeigten. Aber die Fälle sind nicht überzeugend,
da die Autopsie fehlt. Andererseits finden sich im operirten
Material tendinöse Formen, sogar an mehreren Fingern, die bei
Rheumatikern entstanden sind, bei Patienten mit Arthritis deformans.
Es ist namentlich von französischer Seite (Jeannin u. A.)
behauptet, dass es sich bei den arthrogenen Formen nicht um den
typischen doigt ä ressort handelte, das von Notta geschilderte
Leiden, das durch eine Hemmung der Bewegung charakterisirt
wurde, ein Schnellen, wenn man sie fortsetzte, sowie Schmerzen
und einen Tumor auf der Volarseite des Metacarpophalangeal-
gelenkes. Liegen Gelenkveränderungen vor, so handelt es sich mehr
um einen doigt ä ressaut, es findet sich keine Hemmung der Be¬
wegung, nur ein Schnellen oder ein Knacken, das auch in anderen
Gelenken als im Finger constatirt ist; es ist so z. B. im Hüft¬
gelenk (Folet [Carlicr]) gefunden, im untersten Radio-Ulnar¬
gelenk (Stcherbatcheff), sowie im Kniegelenk (Delorme,
Bögoune). Begoune referirt den operativen Befund bei einem
genou ä ressort; es fand sich ein luxirter Meniscus, ein Defect auf
dem Condylus ext. femoris und eine auf den Ligg. cruciata adhärentc
Gelenkmaus.
Nun ist es klar, dass ein Sehnentumor, der eine enge
Partie in der Scheide passiven soll, leichter Hemmung in der Be¬
wegung bewirken wird als eine Unebenheit auf der Gelenkfläche,
aber es ist doch, besonders im Kniegelenk, dann und wann eine
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ähnliche Hemmung constatirt, bevor das Schnellen zum Vorschein
kam, ebenso wie sich auf der anderen Seite tendinöse Formen des
schnellenden Fingers fanden, die sich nur durch das Schnellen
manifestiren. Ein palpabler Tumor und Schmerzen auf dem Locus
elcctus fehlen ab und zu bei typischen Fällen, und doch hat der
operative Eingriff, z. B. Spaltung der Sehnenscheide, das charakte¬
ristische Symptom zum Verschwinden gebracht. Es ist deswegen,
wie früher erwähnt, nicht correct, Notta’s Beschreibung und Kenn¬
zeichen als charakteristisch für einen sogenannten typischen
doigt ä rcssort aufzustellen; man muss zugeben, dass das
Symptom auch durch Gelenkveränderungen entstehen kann, aber
es ist sicherlich seltener, als man glaubt. Man fordert ja
Unebenheiten auf den Gelenkflächen an bestimmten Stellen,
an der Volarseite der Capitula, wodurch die Seitenbänder gespannt
werden können, wenn die Basis der entsprechenden Phalanx die
Stelle passirt; nur hierdurch bekommt man das Schnellen, während
die mehr diffuse Veränderung der Gelenkfläche nur ein Knistern
oder Knacken erzeugt. Wie erwähnt finden sich im operirten
Material 3 Fälle, wo sich trotz fühlbaren Tumors am Locus
electus (Volarseite des Metacarpophalangealgelenkes) doch normale
Sehne und Sehnenscheide an der Stelle fanden, wo die Incision
angelegt wurde, wo man den Tumor fühlte. Die Fälle könnten mög¬
lichen Falls durch ein Gelenkleiden verursacht sein, — jedoch ist
es nicht sicher, dass sich ein solches fand. Es wird in den
Krankenberichten bemerkt, dass die Gelenke normal waren, doch
kann man sich bei der Palpation täuschen. Man kann sich aber
auch bei der Constatirung eines Tumors auf dem Locus electus
täuschen. Hie und da kann man nämlich unter normalen Verhält¬
nissen während der Bewegung des Fingers eine verschiebbare Ver¬
dickung an dieser Stelle fühlen. Carlier nimmt an, dass es auf Auf¬
wärts- und Abwärtsgleiten der Sublimisbifurcatur beruht, man fühlt
abwechselnd ein und zwei Sehnen und bekommt dadurch ein Tumor¬
gefühl. Poirier giebt an, dass das Phänomen zu Stande kommt,
wenn die Flexorensehne die etwas concave Phalanx verlässt, um
auf das mehr prominirende Capitulum metacarpi hinaufzugleiten.
Die drei Fälle sind operirt, zwei von Carlier, der dritte
von Quenu. Nun haben Carlier’s Krankenberichte den Mangel,
dass man nicht zu wissen bekommt, ob das Schnellensymptom
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Der schnellende Finger.
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nach der Operation fort war; er hält den Finger so lange immobi-
lisirt, dass er bei der Veröffentlichung der Abhandlung noch steif
ist. Bei Quönu’s Patienten dagegen verblieb das Symptom, hier
aber war die Sehnenscheide genäht, es ist die Möglichkeit nicht
ausgeschlossen, dass dies eine Rolle gespielt hat.
Es fanden sich, wie gesagt, keine Veränderungen im vagino-
tendinösen Apparat an der Stelle, wo man incidirte, hiermit ist
aber nicht bewiesen, dass die Sehne oder Sehnenscheide während
des ganzen Verlaufes normal gewesen ist. Erstens kann es schwierig
genug sein, eine Verengung z. B. des proximalen Abschnittes der
Scheide nachzuweisen; es finden sich Fälle, wo eine einfache
Spaltung der betreffenden Stelle, die verdickt oder verengt zu sein
„schien“, das Symptom hob, trotzdem die unterliegende Sehne
normal erschien. Demnächst kann dann und wann die Sehne ver¬
ändert sein, sowohl distal und proximal von der Gegend um das
Metacarpophalangealgelenk herum, und die Veränderung wird nicht
entdeckt, bevor eine grössere Spaltung der Scheide vorgenommen
ist. Ich verweise auf Sud eck’s interessanten Fall (No. 21), wo
es sich um eine Verdünnung der Flexor profundus-Sehne von der
Sublimisbifurcatur bis nach der Insertion hin handelte, wo die
Stelle zwischen der normalen Sehnenpartie und dem verdünnten
Abschnitt sich als ein Tumor geltend machte, der während der
Passage durch die Sublimissehne eingeklemmt wurde. Schliesslich
kann man dann und wann finden, dass die Sehnenveränderung
weit von der gewöhnlichen Stelle liegt, bei Bögoune (No. 40)
am obersten Theil der Vola, bei Marchcsi (No. 45) auf der
Dorsalseite des Handgelenkes, in einem meiner Fälle (No. 14)
fand man den Sehnentumor auf der Streckseitc liegen, im ersten
Fache.
Carlier’s Fall entzieht sich, wie gesagt, einer genaueren ße-
urtheilung, bei Quenu’s Patienten, wo der Daumen operirt wurde,
kann möglichen Falls eine Enge der Sehnenscheide Vorgelegen
haben, eine Verengung, die nach dem Nähen wieder eintritt. Es
ist unter allen Umständen nicht ausgeschlossen, dass im vagino-
tendinösen Apparat Veränderungen Vorgelegen haben.
Wenden wir uns demnächst zu den Hauptgruppen unter den
operirten Fällen, zu denen, welche die vaginotendinösen Formen
in sich fassen, so ist es leicht erklärlich, dass ein Tumor auf der
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Sehne und eine gleichzeitige Verengung der Scheide eine Hemmung
der Bewegung und ein Schnellen ergeben können, wenn der Wider¬
stand überwunden wird. Aber auch ein isolirter Sehnentumor
wird, wenn er genügend gross ist, Beschwerden bei der Bewegung
verursachen; schwieriger ist es zu verstehen, wie die isolirte Ge¬
schwulst oder Verengung der Scheide wirken muss.
Was nun den Sehnentumor betrifft, so kann derselbe mehr be¬
grenzt sein, so wie er sich im Anschluss an eine Stichwunde zeigt,
wo die Sehnenbündel auf der lädirten Seite der Sehne aufgerollt
sein können, angeschwollen (No. 4, 20, 41, 48, 49), dann und
wann kann eine begrenzte Geschwulst gestielt sein (No. 3), am
häufigsten ist es jedoch, dass die Geschwulst mehr diffus ist und
sich als eine spindelförmige Verdickung präsentirt, bald auf der
Profundus-, bald auf der Sublimissehne, ab und zu auf beiden auf
einmal, dann und wann in einem solchen Falle auf der Seite
applanirt, die die zwei Tumoren gegeneinander kehren. Ab und
zu kann der Sitz des Tumors bestimmt werden. Findet man z. B.,
dass das Schnellen nur bei der Flexion des 3. Gelenkes auftritt,
während das 1. und 2. in gestreckter Stellung fixirt gehalten
werden, muss die Geschwulst natürlich auf der Profundussehne
sitzen.
Es ist wohl freilich etwas theoretisch, scheint aber ganz
plausibel zu sein, wenn Marchesi behauptet, dass die spindel¬
förmige Verdickung der Sehne, wenn die Scheide intact ist,
Schnellensymptome ergeben wird, sowohl beim Beugen als auch
beim Strecken, die Hemmung der Bewegung wird oft etwas elastisch
sein: sie tritt oft etwas langsam und retardirt ein, was man
mehr beim Strecken als beim Beugen bemerkt. Beim circum-
scripten Tumor ist die Hemmung abrupt und das Schnellen ge¬
wöhnlich heftiger; auch hier ist das Symptom gleichmässig aus¬
gesprochen sowohl beim Strecken als auch beim Beugen, wenn
auch ausgesprochener beim Strecken, weil die Strecker als schwächere
Muskeln sich mehr als die Beuger anstrengen müssen. Findet sich
der Tumor an der Seite der Sehne, so ist die Intensität des Schneilens
gewöhnlich verschieden; ist er gestielt, so kann das Schnellen ent¬
weder beim Beugen oder Strecken fehlen, je nachdem er beim Ver¬
schieben in eine weitere oder engere Partie der Sehnenscheide
kommt, jedenfalls ist das Symptom bei der einen Bewegung ge-
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ringer als bei der anderen, — etwas Aehnliches kann sich übrigens
beim sessilen Tumor geltend machen.
Der Tumor kann verschiedene Grösse haben, er kann wie ein
Hirsekorn, ein Hanfsame, eine Erbse, ein Böhnchen sein. Wo er
nach der Excision mikroskopirt ist, ist Sehnengewebe 1 ) nachge¬
wiesen, in einzelnen Fällen mit tuberculösen Ablagerungen (No. 45,46),
in einem von Begoune’s Krankenberichten (No. 40) handelte es
sich um eine mehr diffuse fungöse Infiltration in der Sehne und
Scheide, die im betreffenden Fall die Bursa raanus war.
Schliesslich sei angeführt, dass der Tumor in Hi 11er’s Fall
(No. 43) aus Knorpelgewebe bestand, in Pels-Leusden’s (No. 5))
aus Gefässschlingen mit loserem Bindegewebe.
Wie schon früher erwähnt, hat man hie und da den Tumor
vom Finger selbst weit entfernt gefunden, so z. B. auf der Streck¬
seite des Handgelenkes (No. 14, 45). Schliesslich sei der oben
erwähnte Fall von Sudeck berührt, wo die Profundussehne ver¬
dünnt war und der normale Abschnitt als Tumor fungirte. Eine
Verdünnung der Sehne findet sich auch bei Marchesi (No. 50)
beschrieben; hier ist es ein Fibrosarkom auf der Scheide, das den
Druck ausübt.
Es ist, wie gesagt, leicht erklärlich, dass ein Sehnentumor
während der Passage in der Scheide an deren centralem Rande
auf Widerstand stossen kann, wenn der Tumor vor dem Meta-
carpophalangealgelenk sitzt, weiter nach vorn, wenn der Tumor vor
den Phalangen entwickelt ist, besonders dann, wenn die Scheide
an den betreffenden Stellen verengt ist. Wenn der Tumor an der
Profundussehne sitzt, kann es ja auch sein, dass sich die Hemmung
der Passage in der Sublimisbifurcatur findet, aber auch hier spielt
vielleicht eine gewisse Enge der Scheide eine Rolle. Eine solche
Enge zu constatiren kann sicherlich oft schwierig genug sein, und
in den Krankenberichten findet man wiederholt angeführt: Die
Scheide scheint verengt zu sein, ja ab und zu begnügt man sich
damit, eine Verengung „anzunehmen“, wenn das Schnellensymptom
in Folge der Spaltung der betreffenden Stelle verschwindet. Viel-
1) Es wird gewöhnlich in den Abhandlungen angeführt, dass uratisehe
Ablagerungen, gummöse Infiltrationen den betreffenden Sehnentumor müssen
bilden können; es kann wohl nicht verneint werden, aber bisher ist es nicht,
beobachtet. Eine andere Sache ist es, ob Arthritis oder Lues zur Bildung des
Tumors disponiren sollten, — hierüber weiss man indessen nichts Zuverlässiges.
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leicht findet sich in einem Theil der Fälle, wo die Sehne verändert,
aber die Scheide normal ist, trotzdem eine gewisse Enge der
letzteren, fibröse Bänder, die sich bei der Spaltung der Scheide
nicht besonders zu erkennen geben.
Was nun die Fälle betrifft, wo die Scheide allein verengt
war, so handelt es sich in den meisten gerade um solche fibröse
Bänder, hie und da in die Richtung des Lumens prominirend;
vereinzelt haben sich hypertropische Villi oder ein kleiner Tumor auf
dem Vinculum gefunden, ein anderes Mal ein erbsengrosses Fibrom
auf der Aussenseite der Scheide. In No. 37, dem zuerst operirten
Fall von schnellendem Finger, fand man das fibröse Band proximal
zur Sehnenscheide, muss aber wohl mehr als ein Ausläufer von
dieser betrachtet werden. Ausgeschieden werden dürfte eigentlich
Fall No. 36, wo sich nach der Exstirpation eines subfascialen
Chondrosarkoms schnellender Finger einstellt, der, wie man annimmt,
auf einer narbigen Verengung der Sehnenscheide beruht, die wegen
der Exstirpation gespalten ist. Das Ganze ist eine Annahme, nicht
auf eine directe Untersuchung gestützt; dass sich eine narbige
Verengung nach der Spaltung einstellen sollte, harmonirt jeden¬
falls nicht mit den recht zahlreichen, längere Zeit hindurch beob¬
achteten Fällen, wo gerade das Schnellensymptom nach der Spaltung
fortgeblieben ist.
Man hat gemeint, dass die Scheidenverengung während der
Ruhe eine Impression auf der Sehne bilden könnte, die dann
während der Passage der Verengung das Schnellen hervorrief, eine
Impression, die sich später ausglich. Man hat eine Stütze für
diese Annahme darin gefunden, dass das Symptom ab und zu
Morgens am stärksten ist und sich im Laufe des Tages verliert,
aber in mehreren Fällen ist es gerade vor der Operation hervor¬
gerufen, und doch hat man die Sehne normal gefunden. Mehr
plausibel ist Jeannin’s Hypothese, dass die Sehne sich geradezu
vor der engen Stelle aufrollen und dadurch einen Tumor bilden
kann, — er vergleicht es mit dem Aufrollen, das stattfinden kann,
wenn man einen dicken Faden durch ein enges Nadelöhr zieht.
Ist nun aber die Sehne in diesen Fällen immer normal ge¬
wesen? Dass sie es an der Incisionsstelle gewesen ist, muss man
wohl für gegeben betrachten, obgleich eine leichte Verdickung des
Synovialblattes der Sehne zu beobachten schwierig genug sein
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kann, der Tumor kann aber vielleicht wohl mehr proximal oder
distal zur Stelle, in die man eingegangen ist, gesessen haben, er
kann, wie in No. 15, vielleicht auf der Dorsalscite der Sehne ge¬
legen haben, es kann sich vielleicht wie in Sudeck’s Fall um
eine Verdünnung der Sehne handeln, mehr distal liegend. Dass
das Symptom des Schnellens nach der Spaltung der Scheide auf¬
hörte, ist kein Beweis dafür, dass es allein die Scheide ist, welche
verändert gewesen ist, denn das sicht man auch, selbst wenn es
ein deutlicher Sehnentumor ist, und dieser wird unberührt gelassen.
Wenig oder gar keine Wahrscheinlichkeit ist dafür vorhanden, dass
Steinthal in seiner Annahme Recht hat, dass es sich bei diesen
etwas unklaren Fällen um Einschrumpfung der Seitenligamente
der Gelenke handeln kann, entweder durch eine Tendosynovitis oder
durch eine chronische Arthritis hervorgerufen, — bei der Spaltung
der Scheide sollten die Ligamente wieder schlaff werden. Denn eine
Tendosynovitis kann die betreffenden Ligamente nicht beeinflussen,
und eine Arthritis müsste klinisch doch einige Symptome ergeben,
aber in den Journalen steht immer angeführt, dass die Gelenke
normal waren.
Es ist nun die Frage: Wie entsteht der betreffende Sehnen¬
tumor? Leicht verständlich ist es, wenn er von traumatischen
Läsionen der Sehne herrührt, Stichwunden z. B., die, wie in
No. 4 und 20, entweder ganz oder theilweise eins der beiden
Crura in der Sublimisbifurcatur gelöst haben können, oder wie in
No. 12, 40, 48, 49 einen Rand der Profundussehne lädirt haben,
betreffender Abschnitt kann sich aufrollen, kann geradezu einen
kleinen Sehnencallus oder wie bei Franz ein kleines Ganglion
bilden, das eingeklemmt werden kann. Leicht verständlich ist es,
wenn eine Nadel wie in No. 51 in die Scheide gedrängt ist und
sich während der Bewegung in die Sehne einhakt.
Weiter finden sich einige Fälle, die im Anschluss an eine
Distorsion im Metacarpophalangealgelenk entstanden sind, oder
wo die Sehne einem einzelnen starken Druck ausgesetzt gewesen
ist. Ein Patient z. B. drückt einen Korkzieher, beim Versuch eine
Flasche aufzuziehen, stark gegen die Basis des 3. Fingers, es
treten heftige Schmerzen auf und kurz hernach das Gefühl des
Schnellens; ein anderer Patient, übrigens Arzt (Heilborn), erhält
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einen starken Druck von einer Leiter beim Versuch dieselbe zu trans-
portiren, es stellt sich intensiver Schmerz ein und nach einiger Zeit
Schnellen; bei einem 3. Patienten (Blum) zeigt das Leiden sich nach
einem beschwerlichen Oeffnen eines Fensters, wobei der Daumen
beim Heben einer Haspe stark gespannt wird; bei einem vierten
Pat. trifft ein Schlag den in gespannter Volarflexion stehenden Finger,
wobei derselbe dorsal flectirt wird (Vogt). In diesen Fällen
könnte man an traumatische Läsionen der Sehne, Blutinfiltrate,
partielle Rupturen der Sehnenfasern denken, Momente, die viel¬
leicht eine Verdickung an der Stelle bewirken könnten. Aber wie er¬
klären sich alle anderen Fälle, und die bilden das Hauptcontingent,
wo sich keine directe traumatische Gelegenheitsursache findet?
Schon seit Notta’s Zeit hat man von Rheumatismus und
Ucberanstrengung als ursächliches Moment gesprochen. Carlier
führt so z. B. Rheumatismus in 50 von 105 Fällen an; spätere Zu¬
sammenstellungen haben doch nicht so viele, Nccker z. B. 52 von
126, Begönne 57 von 150. Es giebt ganz sicherlich, wie an¬
geführt, Fälle, die im Anschluss an eine wirklich rheumatische
Affection entwickelt zu sein scheinen, sogar eine acute; häufig
steht in den Journalen doch nur angeführt, dass der Patient
Rheumatiker ist, das sind aber bekanntlich so viele Menschen, und
doch verhältnissmässig wenige von diesen, die Symptome des
schnellenden Fingers zeigen. Andererseits haben verschiedene der
operirten Patienten keine Symptome rheumatischer Affection dar¬
geboten.
Nervosität ist angeführt, und besonders Carlier hatte zur
Begründung seiner Theorie von dem functioneilen Spasmus darauf
hingewiesen, es waren aber doch nicht so besonders viele seiner
Patienten, die man eigentlich nervös nennen konnte.
Weiter ist es die Ueberanstrengung, die sich bei Carlier in
37, bei Nccker in 39 und bei Begoune in 42 pCt. zeigt. Das
Leiden findet man besonders bei Leuten, die ihre Hände viel ge¬
brauchen, so z. B. bei Näherinnen, Strickerinnen, Waschfrauen,
Landarbeitern, bei gewissen Handwerkern, z. B. Typographen,
Schneidern, weiter bei Leuten, die hart arbeiten müssen, besonders
wenn die Arbeit ungewohnt ist. Es liegt deswegen nahe, an
Ueberanstrengung als ursächliches Moment zu denken, und zwar
durch Irritation der Sehne oder Sehnenscheide. Marchesi meint
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so z. B., dass die bei der Arbeit flectirten Finger eine Stase
und Irritation der Synovialis, eine Tendovaginitis mit Ver¬
dickung der Sehne oder Scheide hervorrufen müssen. Auf die
Bedeutung des Druckes lenkt Tilmann die Aufmerksamkeit;
er meint, dass die Sehne am Locus electus durch Gebrauchs¬
gegenstände gegen das vorspringende Capitulum metacarpi ge¬
drückt wird und dadurch irritirt und verdickt wird, — seine
Patienten sind gerade einem solchen Drucke ausgesetzt gewesen;
der jüngste, ein 3jähriges Kind, war so z. B. lange im Lauf¬
korb gegangen und hielt sich an der Kante desselben fest. Auch
Sudeck behauptet den Einfluss des Druckes; er hat z. B. das
Symptom bei zwei Radfahrern am Kleinfinger in Folge des Druckes
auf’s Steuer gesehen. Sein operirter Patient war Einjähriger, und
das Leiden sollte durch den Druck des Gewehrkolbens entstanden
sein, — übrigens soll sich in der deutschen Armee nicht selten
ein schnellender Finger zeigen, besonders bei denen, die nur ein
Jahr dienen. Es ist übrigens gewiss zweifelhaft, ob es sich in
diesen Fällen, wie Sudeck meint, immer um eine Verdünnung
der Sehne handelt, durch eine Verengung hervorgerufen, dem die
Scheide unter dem Drucke des Gewehrkolbens ausgesetzt ist.
Jedenfalls finden sich auch Fälle, wo ein entsprechender Druck
eine Verdickung der Sehne hervorgerufen hat.
Ein directer Druck aber kann sich bei den oben angeführten
Individuen nicht geltend machen, die also die Hand zu mehr
einförmiger Arbeit gebrauchen, z. B. Näherinnen, Strickerinnen.
Und schliesslich giebt es eine Reihe von Fällen, wo sich keinerlei
Anstrengung geltend macht, und hierzu kann man die kleinen
Kinder rechnen, z. B. die, welche in meinen Krankenberichten X
und XV erwähnt sind, wo sich das Leiden im Alter von iy 2 Jahren
gezeigt hatte, und wo die Operation denselben Tumor zeigte, wie
bei den Erwachsenen.
Sollte es sich in diesen Fällen, ja vielleicht auch in den
anderen, wo man als ursächliches Moment einen directen äusseren
Druck annimmt, nicht um eine Irritation der Sehne handeln, da¬
durch hervorgerufen, dass diese sich während der Flexion gegen
den scharfen proximalen Rand der Sehnenscheide stemmt? Palpirt
man während des Beugcns des Fingers die normale Sehne vor dem
Metacarpophalangealglicde, fühlt man, wie sie sich hervorhebt, und
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Dr. Kr. Poulsen,
es kommt mir nicht so unwahrscheinlich vor, dass sie hierbei,
wenn die Contraction stark war, oder wenn sie sich häufig auf
dieselbe einförmige Weise wiederholte, wenn nicht direct contundirt,
so doch so sehr irritirt werden konnte, dass sich eine Verdickung
an der Stelle einstellte, besonders dann, wenn die Scheide verengt
war, sei es, dass es von einem directen Druck irgend eines
Gebrauchsgegenstandes, sei es, daß es von einer irritativen Ge¬
schwulst der Synovialis oder einer congenitalen Anlage herührte, —
letztere Möglichkeit könnte vielleicht die Ursache für die Tumor¬
bildung bei den oben erwähnten kleinen Kindern sein, die ich
operirt habe 1 ). Die Verengung der Sehnenscheide bekommt sicher¬
lich auch für die Tumorbildung auf der Profundussehne Bedeutung,
die wahrscheinlich von einer Irritation bei der Passage der Sub-
limisbifurcatur herrührt; es ist ja möglich, dass eine kräftige Con¬
traction und ein starker Druck, z. B. der eines Gewehrkolbens,
hier und da anstatt einer irritativen Geschwulst eine Verdünnung
der betreffenden Sehne hervorrufen kann.
Wenn sich ein Tumor bildet, braucht er keine Symptome zu
machen. Man fühlt z. B. bei einem kleinen Mädchen im Kranken¬
bericht X einen Tumor sowohl am rechten als auch am linken
Daumen, aber nur der erstere giebt das Gefühl des Schneilens.
Der Tumor muss natürlich eine gewisse Grösse haben, bevor er bei
der Bewegung geniren, bevor er ein Schnellen verursachen kann,
oder auch muss die Scheide bei der Irritation so verengt werden,
dass der Tumor nur mit Mühe passiren kann, — es ist ja
möglich, dass das ab und zu mehr acute und anscheinend trau¬
matische Gefühl des Schnellens auf einer solchen Geschwulst der
Scheide beruhen kann, während die Sehnengeschwulst selbst schon
früher vorhanden gewesen ist. Hier und da wird angegeben, dass
der Tumor mit den Symptomen schwindet, aber in nicht wenigen
1) Kino andere Hypothese ist die von Pels-Lcusden. Er nimmt an,
dass der betreffende Sehnentumor bei kleinen Kindern fötalen Ursprungs ist, indem
er in seinen Füllen fand, dass er aus (iefässschlingen mit loserem Bindegewebe
bestand, was normaler Weise der Sehne nicht zukommt. Auch Harrie¬
hausen, der Knorpelgewebc im Tumor fand, ist geneigt, eine fötale Anlage
anzunehmen. Man muss jedoch bemerken, dass man in den meisten anderen
Füllen nur fibröses (iewebe gefunden bat, häufig vom Bau des Sehnengewebes
nicht abweichend. Ausserdem würde cs recht merkwürdig sein, dass sieh das
fötale (iewebe immer an der Stelle ablagerte, wo sich der Sehnentumor am
häufigsten findet, nämlich vor dem Metaearpophalangealgelenk.
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Der schnellende Finger.
687
Fällen (siehe z. B. Krankenbericht II, V, XII, XIV) hält er sich
unverändert, selbst wenn das Schnellensymptom schwindet, selbst
wenn die Bewegungen des Fingers normal werden.
Es ist am häufigsten, dass die Symptome des schnellenden
Fingers entweder spontan oder bei passender Behandlung schwinden.
Wahrscheinlich geschieht es dadurch, dass die für den Tumor enge
Stelle in der Scheide nach und nach dilatirt wird; vielleicht auch
dadurch, dass sich die wohl immer vorhandene Geschwulst der
Synovialis der Scheide nach und nach verliert. Es kann aber eine
geraume Zeit vergehen, hier und da halbe Jahre, ja sogar längere
Zeit; im Krankenbericht III findet sich das Schnellen noch 9 Jahre,
in XVI sogar 10 Jahre, nachdem das Leiden sich zum ersten Mal
gezeigt hatte.
Ab und zu hat man den Finger immobilisirt, oder der Patient
hat es unterlassen, denselben bei besonders anstrengender Arbeit
zu gebrauchen. Einer meiner Patienten, der angab, dass das Leiden
vom Häkeln stamme, gab diese Arbeit auf, wonach die Symptome
fortblieben. Hier und da haben warme Umschläge, warme Bäder
oder Massage geholfen; es finden sich aber auch Patienten, die
angegeben haben, dass das Leiden bei der Massage, die übrigens
etwas schmerzt, schlimmer wurde, weswegen nicht wenige nach
Verlauf kürzerer Zeit diese Behandlung aufgegeben haben.
Es giebt im Uebrigen Fälle, die so leicht sind, dass sie nicht
geniren, wo sich nur ein leichtes, schmerzloses Schnellen findet,
das man nicht weiter beachtet. Es giebt aber auch Fälle, die
fortdauernd schmerzen, wo der Schmerz sogar so stark ist, dass
der Finger permanent flectirt gehalten wird, um das Strecken zu
umgehen; das war z. B. der Fall im Krankenbericht XIII ein Jahr
nach dem Beginn der Krankheit, in VIII stand der Daumen in
Flexion sogar 3y 2 Jahre nach der ersten Untersuchung fixirt. In
letzterem Falle handelte es sich um ein kleines Mädchen, das zur
Consultation erschien, als es 2 Jahre alt war; Pat. kam nicht später,
da der Vater sie nicht behandelt haben wollte; sie wurde auf’s Neue
untersucht, als sie b l / 2 Jahre alt war, der Finger stand fortwährend
flectirt, und sie schrie auf, wenn man eine Ausrichtung versuchte.
Bei solchen rebellischen Fällen hat man operirt, und scheinbar
mit gutem Resultat; in den referirten Krankenberichten haben die
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Dr. Kr. Poulsen,
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Symptome nach dem operativen Eingriff aufgehört. Besonders
indicirt ist gewiss die Operation bei ganz kleinen Kindern,
namentlich wenn der Finger flectirt gehalten wird, denn die
Stellung wird leicht permanent, da sie sich wegen der Schmerzen
nicht überwinden können, den Tumor durch die Verengung zu
zwingen.
Nelaton schlug seiner Zeit ein subcutanes Debridement der
transversalen Fasern der Fascia palmaris vor, das für ihn die
Hemmung für die Bewegung der Sehne und des Tumors bildete,
eine Operation, die er übrigens nicht Gelegenheit fand auszuführen.
Ein subcutanes Durchschneiden der Seitenligamente der Glieder
wurde von Poirier vorgeschlagen, der, wie erwähnt, das Leiden
für arthrogen ansah. Selbstverständlich ist eine subcutane Ope¬
ration unsicher, und nach Einführung der Antiseptik wurde immer
zur Sehnenscheide incidirt, diese geöffnet, bald durch ein kleineres
Debridement des proximalen Randes desselben (Blum), bald durch
eine grössere Spaltung. Die Sehne wurde dann untersucht, ein leicht
zugänglicher Tumor ist excidirt, bei einer mehr spindelförmigen Ge¬
schwulst ist hier und da der centrale Kern derselben entfernt, aber
in der Regel wurden die Ränder mit Scheere oder Messer ab¬
geglättet, so dass die Dicke gleich der darüber und darunter
liegenden Partie der Sehne geblieben ist. Ein einzelnes Mal
(Schilling) ist die Sublimisbifurcatur aufwärts gespalten worden,
so dass der Tumor auf der Profundussehne ohne Schnellen passiren
konnte. Bei den tuberculösen Affectionen wurde der Focus entfernt,
in No. 45 war es die centrale Partie des Knotens, in No. 40 sassen
Granulationen auf der Aussenseite der Sehnen sammt der Sehnen¬
scheide.
Wo der Tumor complet entfernt ist, hat man hier und da die
Sehnenscheide geschlossen, aber in den meisten Fällen ist sie, und
das mit Recht, offen gehalten, und nicht in so wenigen Fällen des
Sehnentumors hat man sich hiermit begnügt, man hat die Scheide
gespalten und den Tumor auf der Sehne intact gelassen, indem
man bei den passiven Fingerbew r egungen gefunden hat, dass das
Schnellensymptom fort war; man hat die Operation dann damit
abgeschlossen, dass man die Haut nähte. Hier und da kann die
Sehne, wie in meinem Fall XV, so dünn sein, dass eine Excision
des Tumors ohne Resection nicht thunlich ist.
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Der schnellende Finger.
689
Die operirten Fälle haben uns gelehrt, wo wir die Hemmung
der Bewegung suchen können. Liegt ein fühlbarer Tumor vor, ist
das Verhältniss einfach genug. Fehlt derselbe, und die Gelenke
scheinen normal zu sein, so wird erst die Sehnenscheide an ihrem
proximalen Rande gespalten. Man untersucht dann, ob das
Schnellensymptom fortdauert; ist dies der Fall, wird die Sehne in
ihrer ganzen Länge inspicirt. Ist der Befund negativ, ist weder
Tumorbildung noch Verdünnung der Sehne vorhanden, so sitzt die
Hemmung vielleicht mehr proximal in der Vola oder auf der Streck¬
seite — in der Regel kann man doch im Voraus diagnosticiren,
ob das Leiden seinen Sitz an den letztgenannten Stellen hat.
Die operirten Fälle sind reactionslos verlaufen; das Resultat
ist wie gesagt gut gewesen und das Schnellensymptom ist ge¬
schwunden. Nachuntersuchungen haben gezeigt, dass sich das gute
Resultat gehalten hat.
Schlussfolgernngen.
I. Der schnellende Finger rührt am häufigsten von Verände¬
rungen im vaginotendinösen Apparat, von Tumoren auf der Sehne
oder Verengungen in der Sehnenscheide, hier und da Veränderungen
an beiden Stellen her. Seltener handelt es sich um Gelenkver¬
änderungen und zwar in dem Gelenk, welches das Symptom zeigt.
II. Der Tumor kann durch Lösen der Sehnenbündel traumatisch
(Stichwunde) entstehen; sind directe Traumen ausgeschlossen, so
kann er sich durch den Druck der Sehne gegen eine vorspringende
Partie der Sehnenscheide bilden; sehr oft ist der Vorsprung eine
Verengung, congenital oder erworben, hier und da durch Druck von
aussen, z. B. bei der Arbeit erzeugt.
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Vogt, Die chirurgischen Krankheiten der oberen Extremitäten. Deutsche Chir.
1881. 64. Lieferung.
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XXIV.
(Aus dem Stadt. Krankenhause zu Brandenburg a. H. —
Chefarzt: Dr. K. Appel.)
Prolaps des Fettlagers der Niere,
eine Hernia lumbalis vortäuschend.
Von
Dr. Duncker.
(Mit 1 Textfigur.)
Das relativ seltene Vorkommen und die grosse Mannigfaltig¬
keit der Hernia lumbalis machen eine gewisse Unsicherheit in den
Angaben über Bruchpforte, Bruchinhalt und Austrittsmechanismus
dieses Bruches erklärlich. Als Bruchpforten dieser Hernie kommen,
abgesehen von congenitalen Muskellücken beim Kinde und trauma¬
tisch oder pathologisch entstandenen Muskel- oder Knochendefecten
(Körte, Saxl u. A.), naturgemäss diejenigen Stellen der hinteren
Bauchwand in Betracht, welche durch Aussparungen der sich über¬
schneidenden Rückenmuskeln gebildet werden. Als solche gelten
das Petit’sche Dreieck, oberhalb des Darmbeinkarames gelegen,
und das Trigonum lumbale superius, das in concretem Falle als
Bruchpforte benützt wurde. Dieses von Graser als Trigonum
costo-lumbo-abdominale bezeichnete Dreieck stellt eine unterhalb
der 12. Rippe gelegene, meist unregelmässig rhombische Lücke dar,
deren obere Ränder vom Musculus serratus posterior inferior und
Obliquus abdominis externus, deren untere vom Musculus sacro-
lumbalis und Obliquus abdominis internus gebildet werden. Da die
Internus-Aponeurose (tiefes Blatt der Fascia lumbo-dorsalis) im Be¬
reiche dieser Lücke nur vom Latissiraus dorsi bedeckt ist, so
scheint dies eine Prädilectionsstelle für Brüche der Lendengegend
zu sein.
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Prolaps des Fettlagers der Niere etc.
693
Ausser diesen beiden Austrittspforten sind nach Braun auch
die Durchtrittsstellen der Vasa und Nervi clunium superiores poste¬
riores beliebte Wege der Lumbalhernie.
Trotz mehrfacher kleiner Sammelstatistiken von Braun,
Grange und Besendonk lassen aber gerade die als ßruchpforten
der Hemia lumbalis anatomisch am genauesten beschriebenen Drei¬
ecke noch manchen Zweifel zu. So sollen nach einer Zusammen¬
stellung von Grange (1) von 20 eingehender beschriebenen Lenden¬
brüchen 9 das Trigonum Petiti, 2 das obere Lendendreieck und
3 angeborene Muskeldefecte als Bruchpforten benützt haben. Die
übrigen traten aus durch Gefäss- und Nervenlücken und durch
Defecte, die auf Trauma oder chronische Eiterung zurückzuführen
waren. In keinem von den erstgenannten Fällen ist jedoch nach
Sultan (2) die Bruchpforte durch Autopsie einwandfrei nachgewiesen
worden!
Eine ähnliche Mannigfaltigkeit wie für Art und Lage der
ßruchpforte gilt auch für Hülle und Bruchinhalt der Lurabalhernie.
Schon die erste Forderung, die an eine Hernie gestellt wird, kann
der Lendenbruch umgehen. Er ist durchaus nicht immer mit einer
Peritonealhülle bekleidet. Es kann der retropcritoneale Theil des
Coecum ohne Bauchfellüberzug direct unter der Haut liegen. Aller¬
dings kommt einem solchen Befunde die Bezeichnung Darmvorfall
näher. Aber auch Lipome, die nach Art einer Hemia epigastrica
einen Peritonealkegel nach sich ziehen, können in der Lenden¬
gegend zu Verwechselungen mit einer echten Hemia lumbalis
führen. Es sind solche Fettgeschwülste von Wullstein (3) als pro¬
peritoneales Lipom der Lendengegend beschrieben. Ebenso können
hernienartige Ektasien der Bauch wand, die auf Schwäche und Atro¬
phie der Musculatur (Borchard), bezw. auf Lähmung der Bauch¬
muskeln in umschriebener Ausdehnung nach spinaler Kinderlähmung
(de Quervain) beruhen, differential - diagnostisch Schwierigkeiten
bereiten. Eine besonders interessante Combination von Lumbal-
hemien beim Kinde wurde von Namba (4) in einer Münchener
Dissertation beschrieben. In seinem Falle fand sich über einer
echten, durch eine congenitale Muskellücke getretenen Hernia lum¬
balis eine circumscripte Ektasie der Bauchwand, in der deutlich
Milz und linke Niere palpirt werden konnte.
Nicht erwähnt fand sich in der einschlägigen, uns zugänglichen
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Dr. Duncker,
Literatur — wenn man von einem nicht genauer beschriebenen
Fall Küttner’s (5) absieht — die Thatsache, dass eine Hernia
lumbalis auch durch perirenales Fettgewebe vorgetäuscht werden
kann, welches durch die Internus-Aponeurose hindurchgetreten war.
Der Liebenswürdigkeit des Herrn Geh.-Raths v. Angerer verdanke
ich die Mittheilung, dass in der Münchener Klinik ein solcher Fall
beobachtet wurde, jedoch aus äusseren Gründen nicht zur Ver¬
öffentlichung kam. Ein zweiter Fall, der im Städtischen Kranken¬
hause zu Brandenburg behandelt wurde und, wie aus beistehender
Photographie ersichtlich, die Vermuthung einer Hernia lumbalis
zuliess, möge hier in Kurzem Erwähnung finden, da er hinsichtlich
seiner Entstehung und des autoptischcn Befundes bei der Operation
manches Interessante bot.
Aus der Krankengeschichte seien folgende Daten kurz er¬
wähnt:
S. H., landwirtschaftlicher Arbeiter, 54 Jahre alt. Lernte mit 3 Jahren
laufen und kam vom Militärdienst wegen allgemeiner Körperschwäche frei. Im
September 1910 glitt H. mit dem linken Fuss beim Schieben eines schwer be-
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Prolaps des Fettlagers der Niere etc.
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ladenen Karrens auf einem feuchten Brett aus. Heftiger Schmerz in der linken
Rückenseite, Erbrechen. Im Laufe der nächsten Wochen stets wiederkehrende
Uebelkeit und Erbrechen, sowie stechende Schmerzen in obiger Körpergegend,
die Pat. hinderten, in gebüokter oder knieender Stellung zu verharren, so dass
er arbeitsunfähig das hiesige Krankenhaus aufsuchte.
Status praesens: Kleiner hagerer Patient mit welken Hautdecken, in
reducirtem Ernährungszustände. Musculatur leidlich gut entwickelt, leichte
Schwellung der Inguinaldrüsen, keine Exantheme.- Costae decimae fluctuantes.
Abdomen zeigt mässig gespannte, diffus druckempfindliche Bauchdecken,
die die Palpation der Bauchorgane sehr erschweren. In der Mittellinie, 2 Quer¬
finger über dem Nabel eine reponible Hernia lineae albae. Offener Leistenring
und Bruchanlage in beiden Leistenbeugen.
In der linken Lendengegend findet sich unterhalb der 12. Rippe ein vom
Latissimus theilweise verdeckter, unter der Haut verschieblicher, bühnerei¬
grosser Tumor von flaumweicher Consistenz, welcher der hinteren Bauchwand
breitbasig aufsitzt. Dieser ist durch Druck leicht zu reponiren und fällt bei
Aufhören des Druckes sofort wieder vor. Er zeigt eine von der Respiration
abhängige Bewegung. Bei tieferer Inspiration wölbt sich die Geschwulst stärker
vor, um sich bei der Exspiration wieder abzuflachen. Eine Bruchpforte ist nicht
palpabel. Auch ist bei plötzlichem Anspannen der Bauchdecken kein Anschlägen
der Geschwulst gegen den Finger zu constatiren.
Uebrige körperliche Untersuchung ohne wesentlichen Befund.
Operation in Seitenlage (Dr. Appel): Unter Chloroformnarkose aus¬
giebiger Schnitt in der Spaltrichtung der Haut. Vom äusseren Rande des
Latissimus bedeckt wird eine, die oberflächliche Fascie flach vorwölbende Ge¬
schwulst sichtbar. Nach Eröffnung der bruchsackartigen Ausstülpung erweist
sich deren Inhalt als ein gelapptes Fettträubchen von Hühnereigrösse, das von
zarten Membranen umkleidet ist. Keine dieser Membranen ist als Peritoneal¬
hülle zu differenziren! Die Fettgeschwulst selbst tritt aus einem in der Internus-
Aponeurose liegenden, 1 cm langen, quer gestellten scharfrandigen Schlitz aus,
der von der Medianlinie 9, von dem unteren Rippenrande 2 cm entfernt ist.
Nach Erweiterung des Spaltes wird eine, etwa dor Grösse des vorliegenden
Bruchinhalts entsprechende Höhle zugänglich, die nach oben von dem unteren
Pol der bei der Respiration deutlich auf- und absteigenden Niere, nach innen
von zartem Bindegewebe (subperitoneales Gewebe) und dem Peritoneum be¬
grenzt, sich nach unten mit dem Finger bis zum Ansatz an den Darmbein¬
kamm verfolgen lässt. Die mit ihrem Stiel in die restirende Fcttkapsel der
Niere übergehende Fettgeschwulst wird abgetragen und die Bruchpforte mit
Catgutnähten verschlossen. Fascientransplantation nach König aus der Fascia
lumbo-dorsalis. Annähen des Latissimusrandes an den Obliquus abdominis ex-
ternus. Heilung p. pr. Patient ist beschwerdefrei.
Nach dem klinischen Befunde handelt es sich also in unserem
Falle um eine Geschwulst, die ihrer äusseren Erscheinung nach als
echte Lumbalhernie angesprochen werden konnte. Sowohl die
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Dr. Duncker,
anamnestischen Angaben über ihre Entstehung und die subjectiven
Krankheitserscheinungen, als auch ihre leichte Reponirbarkeit
konnten zu dieser Diagnose führen. Dagegen passten nicht recht
zum Bilde einer echten Lumbalhernie der Mangel eines tastbaren
Bruchringes, die flaumweiche Consistenz unserer Geschwulst und
die breitbasige Form, mit der sie der hinteren Bauchwand aufsass.
Auch ihr Verhalten bei Erhöhung des intraabdominalen Druckes
machte einen Eingeweidebruch unwahrscheinlich. Obwohl leicht
reponirbar, wölbte sie sich bei plötzlichem Änspannen der Bauch¬
presse nicht stärker hervor und liess beim Husten ein Anschlägen
gegen den palpirendcn Finger vermissen. Jedoch zeigte sie eine
von der Respiration abhängige Gestaltsveränderung, die die Ver-
muthung eines Zusammenhangs mit einem respiratorisch verschieb¬
lichen Organ nahe legen konnte. Ein solcher Zusammenhang
konnte allerdings wegen beträchtlicher Spannung der Bauchdecken
palpatorisch nicht nachgewiesen werden. Der autoptische Befund
bei der Operation überzeugte nach Erweiterung der Bruchpforte,
dass die ihres Lagers beraubte Niere bei der Athmung auf- und
abstieg und hierbei das durch einen Schlitz der Internus-Aponeurose
getretene Fettgewebe hin und her bewegte. Dieses stand nurmehr
mit einem dünnen, langausgezogenen Stiel in Verbindung mit der
Nierenfettkapsel, so dass ein Zug am Peritoneum nicht ausgeübt
wurde. Da also weder eine Peritonealhülle vorhanden, noch heraus¬
getretene Eingeweidetheile sich an der Bruchbildung betheiligten,
kann unsere Geschwulst nicht als Hernia lumbalis angesehen
werden; ihr kommt vielmehr bei den bestehenden anatomischen
Verhältnissen die Bezeichnung eines Prolapses zu.
Beim Zustandekommen unseres Prolapses hat sicherlich, wie
dies bei dem Entstehungsmechanismus einer Ren raobilis häufig
beobachtet wurde, die plötzliche Steigerung des intraabdominellen
Druckes im Augenblick des Ausgleitens eine wesentliche Rolle ge¬
spielt. Hierfür spricht ausser der sich nach dem Trauma unter
weiteren Schmerzen nach und nach stärker vorwölbenden Ge¬
schwulst (Sultan) besonders die Beschaffenheit des Bruchringes.
Dieser stellte sich bei der Operation als ein 1 cm langer, quer
gestellter scharfrandiger Schlitz dar; und zwar war die Internus-
Aponeurose, um die Bezeichnung Sprengel’s (6) zu gebrauchen,
in ihrer Längsrichtung, d. h. in ihrem Faserverlauf eingerissen und
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Prolaps des Fettlagers der Niere etc.
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zeigte keinerlei Defecte, wie z. B. siebartige Durchlöcherungen,
welche öfter bei Hernia epigastrica in der Rectusscheide angetroffen
werden. Trotz der bestehenden allgemeinen ßruchanlage des
Patienten, die in einer Hernia lineae albae, beiderseitigen „weichen
Leisten“ und offenem Leistenring zum Ausdruck kommt, muss
daher an eine traumatische Entstehung unseres Vorfalls gedacht
werden.
Fassen wir unser Untersuchungsergebniss zusammen, so er¬
scheint die Feststellung beachtenswerth, dass in der Lenden¬
gegend nach Art der properitonealen Lipome auch Fett¬
geschwülste Vorkommen, die aus dem Fettlager der Niere
bestehen und echte Lurnbalhernien Vortäuschen können.
Zum Schluss obliegt mir die angenehme Pflicht, meinem ver¬
ehrten Chef, Herrn Dr. Appel für seine gütigen Rathschläge und
die liebenswürdige lleberlassung des Materials, sowie Herrn Dr.
Hauber, Assistenzarzt der Münchener chirurgischen Klinik, für
freundliche Mittheilung auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten
Dank auszusprechen.
Literatur.
1. Cit. nach v. Bergmann, Handbuch der practischen Chirurgie. Bd. II.
S. 1069.
2. Sultan, Atlas und Grundriss der Unterleibsbrüche. S. 235.
3. Wullstein und Wilms, Lehrbuch der Chirurgie. Bd. II. S. 392.
4. Namba, Angeborene echte Lumbalhernie u. s. w. Inaugural-Dissertation.
München 1907.
5. Küttner, Centralbl. f. Chirurgie. 1905. S. 1364.
6. Sprengel, Kritische Betrachtungen über Bauchdeckennaht und Bauch¬
schnitt. Verbandl. d. Deutschen Gesellscb. f. Chirurgie. 1910. II. S. 95.
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Kleinere Mittheilungen.
i.
(Aus der Chirurg. Abtheilung des k. k. Kaiser Franz Josef-Spitals in Wien. —
Vorstand: Primararzt Docent Dr. G. Lotheissen.)
Ueber Wundbehandlung mit Novojodin.
Von
Dr. Alfred Deutsch,
Secundararzt der Abtheilung.
Seit Lister gezeigt hat, dass sich durch Anwendung der Karbolsäure
die Eiterung in den Wunden hintanhalten lasse, und so die Antiseptik inaugu-
rirt hat, fehlte es nicht an Bestrebungen auch mit anderen Mitteln die Weiter¬
entwickelung von Keimen in infectiösen Wunden zu hemmen. Unter all den
zahllosen Präparaten, die zu diesem Zweck in den Handel gebracht wurden,
war es das Jodoform, das seit Beginn der 80er Jahre verwendet, immer wieder
als das Beste erkannt wurde. So zweifellos wirksam nun die antiseptische
Kraft des Jodoforms auch ist, haften ihm auch Mängel an, die seine allgemeine
Gebrauchsfähigkeit stark beeinträchtigen. Bekanntlich leiden viele, nament¬
lich jüngere Individuen, an einer lästigen Idiosynkrasie gegenüber dem Jodo¬
form, so dass oft schon ein ganz winziges Partikelchen davon genügt, um bei
solchen Leuten ein bullöses und nässendes Ekzem hervorzurufen. Nicht zum
geringsten ist es auch der penetrante Geruch, der uns die Verwendung des
Jodoforms verleidet. Ausserdem ist das Jodoform selbst nicht ungiftig und
führt bei älteren Leuten nicht selten zu bedrohlichen Erscheinungon und manch¬
mal gar zum Exitus. Seine Lösungen sind ferner dem Lichte gegenüber wenig
widerstandsfähig. Wegen all der erwähnten unangenehmen Eigenschaften des
Jodoforms war man namentlich in neuerer Zeit, seit dem Aufschwung der mo¬
dernen chemischen Industrie, bestrebt, Ersatzpräparate hierfür zu finden.
Alle diese Präparate enthalten als wirksame Substanz entweder Jodoform
selbst oder Jod, oder Formaldehyd oder aber Wismuth. Gerade die Vielheit
der Ersatzpräparate beweist, dass keines ein wirklich vollwertiger Ersatz für
das Jodoform ist und in der That hat es sich herausgestellt, dass die meisten
Mittel theils zu wenig antiseptisch wirken, theils ätzend sind; manche ver¬
ursachen sogar Intoxicationserscheinungen, wie zum Beispiel die wismuthhaltigen.
Es ist also kein Wunder, wenn man jedem neuen derartigen Antisepticum
skeptisch gegenüber steht. So ging es uns auch mit dem Novojodin, das
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Die Wundbehandlung mit Novojodin.
699
wir an derAbtheilung meines Chefs, Herrn Primarius Lotheissen im November
1909 zu erproben begannen. Wir wurden aber angenehm überrascht, denn dieses
Präparat hat sich ausserordentlich bewährt. Es steht seither ständig in Verwen-
düng, ja wir suchen den Kreis seiner Anwendung noch immer zu erweitern.
Wir wollen daher über die gewonnenen Resultate in Kürze berichten und
halten uns dazu um so mehr berechtigt, als auch die Mittheilungen von anderer
Seite diese günstigen Erfahrungen bestätigen.
Novojodin ist der gesetzlich geschützte Name für ein Präparat, das von
der Firma Scheuble u. Hochstetter in Tribuswinkel (Nieder-Oesterreich)
erzeugt und in den Handel gebracht wird. Es ist ein nahezu geruchloses,
feines, amorphes, bräunliches Pulver, das durch Condensation von Jod und
Formaldehyd entstanden ist. Die chemische Zusammensetzung ist C 8 H 12 N 4 J«,;
es ist also ein Hexametbylentetramindijodid. Von seinen übrigen chemischen
Eigenschaften sei erwähnt, dass es in den meisten Lösungmitteln nahezu voll¬
kommen unlöslich ist bis auf den Alkohol und Aceton, in welchen Flüssigkeiten
es sich zum geringen Theile löst. Mit Oleum olivarum, Collodium, Paraffinum
liquidum und Glycerin kann es leicht 10- und 20 proc. Suspensionen eingehen.
Die baktericide Wirkung beruht hauptsächlich auf Abspaltung von Jod
(32 pCt.) und Formaldehyd (20 pCt.), wenn es mit Eiter und anderen Wund-
secreten in Berührung kommt.
Dem Lichte gegenüber ist cs ausserordentlich widerstandsfähig, wird also
von diesem nicht zersetzt. Temperaturen bis zu 75° erträgt es, ohne dass Zu¬
sammensetzung und Wirkung des Präparates irgend welchen Schaden leiden.
Das Präparat, obwohl an und für sich steril, kann daher noch, um auch
den peinlichsten Anforderungen Genügo zu leisten, einer fractionirten Sterili¬
sation unterzogen werden. Man thut dies, indem man es dreimal in Zwischen¬
zeiten von je 24 Stunden eine Stunde lang andauernd auf 75° C erhitzt. Erst
Temperaturen von 80° und darüber zerstören das Novojodin.
Ueber die baktericide Kraft des Novojodins geben Untersuchungen, welche
im hygienischen Institut der Wiener Universität vorgenommen wurden, den
besten Aufschluss:
. . . Das Präparat Novojodin wurde in zahlreichen Versuchen
hinsichtlich seiner Desinfeclionskraft geprüft und diesbezüglich
mit Jodoform und den Ersatzmitteln für Jodoform: Airol, Xero¬
form und Vioform verglichen.
Es ergab sich in allen Fällen, dass das Novojodin in Blut¬
serum, Eiter und physiologischer Salzlösung bereits in Concen-
tration von 1 : 1000 eine starke Desinfectionskraft besitzt und hin¬
sichtlich derselben das Jodoform und dessen Ersatzmittel er¬
heblich übertrifft.
. . . Das Präparat ist in wässerigen Flüssigkeiten und in den
Körperflüssigkeiten in geringem Grade löslich. Es ist jedoch die
gegenüber anderen Präparaten beobachtete leichtere Löslichkeit
des Novojodins, wie Vergleichsversucho ergaben, nicht die Ur¬
sache seiner überlegenen Wirkung.
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700
Dr. A. Deutsch,
Gegenüber dem Jodoform und dessen anderen Ersatzpräparaten zeigt das
Novojodin grosse Vorzüge:
1. Darf es geradezu als ungiftig bezeichnet werden; denn wir sehen, dass
vom Versuchsthier (Kaninchen) Mengen von 0,5 bis 1,0 g Novojodin
pro Kilogramm Körpergewicht anstandslos vertragen werden.
2. Niemals sind Ekzeme nach Art des Jodoformausschlags bei der Verwen¬
dung des Novojodins beobachtet worden. Was nach dem Novojodin-
gebrauch gesehen wurde, ist nur ein ganz harmloser, gelblich-braun
gefärbter Fleck um die Wundränder ohne jede entzündliche Erscheinungen;
und auch dieser schwindet ganz kurz nach Gebrauch des Präparates.
3. Ferner zeichnet sich das Novojodin durch Geruchlosigkeit aus, sowie
4. durch Widerstandsfähigkeit gegen Licht, und endlich
5. last not least durch die Billigkeit. Beträgt doch der Preis von 10 g
Novojodin in einer Streubüchse nur 70 Heller. Da es nie pur, sondern
stets mit Talcum venetum gemischt, gebrauoht wird, stellt es sich im
Gebrauch nooh viel billiger.
Die Anwendungsformen des Novojodins sind folgende:
I. Als Streupulver mit nachfolgender Salbendeckung bei Geschwüren
jeglicher Art. Hierbei fiel uns ganz besonders die stark desodorirende Kraft
des Präparates auf, die uns oft Wasserstoffsuperoxyd, Perubalsam und andere
Desodorantien ersparen Hessen.
II. ln Form von 10, 20 oder 33 proc. Gaze zur Tamponade von Höhlen¬
wunden. Kasche Hemmung der Eiterseoretion und Anregung von satten, festen
Granulationen charakterisirten hierbei die Wirkung des Novojodins.
UI. Suspensionen in 01. olivarum oder Paraffinnm liquidum. Novo-
jodinemulsion zur Injection in Höhlen, die nach Punction kalter Abscesse
Zurückbleiben, wobei es nach Analogie der bisher gebrauchten Jodoformglycerin¬
emulsion verwendet wird. Auch in tuberculöse Fisteln wurde die Emulsion in-
jicirt und dadurch oft eine Beschränkung, allmählich oft auch ein Versiegen
der Secretion erzielt.
IV. Novojodincollodium und
V. Novojodinpflaster als Wund Verschluss und zur Deokung von
oberflächlich gelegenen Verletzungen haben wir nie angewendet; da man früher
bei Anwendung des Jodoformcollodiums so oft gesehen hat, dass darunter sich
eine Reizung der Wunde, ja sogar Eiterung einstellte, hatten wir keinen Grund,
einen Versuch in dieser Richtung zu wiederholen. Das Jodoform war ja sicher
nicht die Ursache der Reizung, bedurfte also keines Ersatzes. Immerhin könnte
man nach Exstirpation kleiner Atherome oder nach der Naht kleiner Wunden im
Gesicht die Wunde mit einem kleinen Stück steriler Gaze bedeoken, dieses durch
Emplastrum anglicanum befestigen und darüber eineSchicht von Novojodincollo¬
dium streichen, so wie wir bisher gewöhnliches Collodium elasticum gaben, um
zu verhüten, dass bei einer Benässung des Pflasters dieses sich ablösen könne.
Bei kleineren Wunden, z. B. Schnitten an den Händen, wie sie im Leben
alltäglich Vorkommen, mag auch das Novojodinpflaster recht zweckmässig sein.
Es ist aber mehr für die Laien als für Aerzte bestimmt.
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Die Wundbehandlung mit Novojodin.
701
VI. Novojodinstäbchen verschiedenen Kalibers eignen sich zur
Einführung in kleine Abscesse, Fistelgänge oder in die entzündlich ver¬
änderte Urethra.
VII. 15 proc. Novojodinglobuli zur Behandlung von Vulvovaginitis,
ferner
VIII. Novojodinsuppositorien zur Behandlung von Mastdarmfisteln,
Fissuren und periproktitischen Abscessen.
Auch die Globuli und Suppositorien zu verwenden, hatten wir keinen An¬
lass, während wir die Stäbchen in reichem Maasse gebraucht haben.
IX. Novojodinplombe. In einigen Fällen haben wir die v. Mosetig-
sohe Plombenmasse verwendet, statt Jodoform aber Novojodin genommen. Die
Wunden heilten per primam. Hier und da entleerte sich wohl später ein wenig
Sesamöl, sonst aber war der Erfolg glänzend. Ferner wäre zu sagen, dass die
Novojodinplombe auf dem Röntgenbilde viel dunklere Schatten giebt als die
Jodoformplombe. Ueber das Schwinden der Novojodinplombe können wir noch
nichts aussagen, da die verstrichene Zeit noch zu kurz ist.
Auf der chirurgischen Abtheilung des Kaiser Franz-Josefspitals haben wir
seit einem Jahre das Novojodin vielfach angewendet. In grosser Zahl worden
die Patienten des Ambulatoriums damit behandelt. Die Art des Be¬
triebes und die grosse Zahl dieser Patienten (12 000 im Jahre), die oft ein Arzt
allein verbinden muss, bringt es mit sich, dass hier keine genaueren Auf¬
zeichnungen gemacht werden konnten. Solche finden sich hauptsächlich
von den stationären Patienten. Insgesammt wurde Novojodin in einigen
hundert Fällen gebraucht.
Der Gehalt an Formalin wies schon von selbst darauf hin, dass eine
secretionsbeschränkende Wirkung, zugleich eine leichte Aetzung, insbesondere
aber eine energische Desinfection zu erwarten war, welch letztere noch durch
das abgespaltene Jod ausserordentlich gesteigert werden musste. Diese Eigen¬
schaften des Präparates konnten wir auch in der That bei allen unseren Fällen
beobachten. Da nun das Jod als Specificum gegen Tuberculose gelten muss,
war auch hier vom Novojodin Gutes zu erwarten.
Unsere Fälle betreffen daher tuberculose Processe, Phlegmonen,
Abscesse, Carbunkel (speciell bei Diabetischen), Fisteln, unreine
Wunden und Geschwüre.
I. Tuberculöse Processe.
Zahlreiche Fälle von Abscessus frigidus wurden in der Weise behandelt,
dass der Absoess durch Puuction entleert wurde. Nach Auswaschen mit Bor¬
lösung, oft auch ohne diese, wurde dann 10 proc. Emulsion von Novojodinöl
injicirt. Die dabei gebrauchte Menge der Emulsion betrug je nach der Grösse
des Abscesses nur wenige Cubikcentimeter oder auch bis zu 50. Hier und da
bei sehr grossen Abscessen, z. B. Psoasabscessen oder in Fällen von multiplen
Abscessen, betrug die Gesammtmenge auch 100 ccm. Wir sahen niemals Ver-
giftungserscheinungen oder andere Störungen. Bei manchen Kranken, ins¬
besondere mit kleinen Abscessen, war der Erfolg sehr gut. Bei anderen ging
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Dr. A. Deutsch,
die Punctionsstelle nach einiger Zeit wieder auf, weil die Haut schon sehr
verdünnt war, und die Emulsion entleerte sich wieder. Hier wurde öfters breite
Spaltung nöthig. Tamponade mit Novojodingaze brachte aber auch in diesen
Fällen Heilung. Ob Olivenöl oder Paraffinöl genommen wurde, scheint ziemlich
gleichgültig zu sein; wenigstens konnten wir keinen bemerkenswerthen Unter¬
schied wahrnehmen.
Bei cariösen Processen und tuberculösen Hautgeschwüren wurde die
Novojodinbehandlung stets mit der Excochleation verbunden. Oberflächliche
Processe wurden mit Streupulver eingestäubt, tiefer gelegene mit Novojodin¬
gaze tamponirt. Hatten sich Fisteln gebildet, die keine Miene machten, sich
zu schliessen, so wurde des Oefteren Novojodinemulsion injicirt. Sehr oft sahen
wir davon guten Erfolg. Bei Patienten mit multipler Caries und zahlreichen
Fisteln blieb der Erfolg manchmal aus, entsprechend dem elenden Allgemein¬
zustand der Kranken.
In fungöse Processe haben wir einige Male Novojodinemulsion injicirt
nach Analogie der Jodoformglycerininjeetionen und darnach Bier’sche Stauung
angewendet. In keinem Falle aber blieb uns die Resection oder gar Amputation
erspart. Wurden leichtere Fungusfälle excochleirt und dann mit Novojodin be¬
handelt (Pulver oder Gaze), so sahen wir schöne Heilung.
n. Phlegmonen, Abscesse.
Da das Novojodin keinen Reiz auf die Haut ausübt, und auch nahezu als
ungiftig anzusehen ist, kann man es verwenden, um verdächtige Wunden,
namentlich solche, die durch Maschinen oder unreine Werkzeuge
hervorgerufen und gequetscht wurden, zu bestäuben, sind sie tiefer, mit
Novojodingaze auszulegen. So liess sich öfters das Auftreten einer starken
Eiterung verhindern.
Ist einmal die Eiterung aufgetreten, so handelt es sich darum, dem Eiter
Abfluss zu verschaffen. Trotz der Stauungsbehandlung haben die Drains hier
ihre Berechtigung noch lange nicht verloren, bei grösseren Höhlen ist die
Gazetamponade sehr nützlich. Hier haben wir mit sehr gutem Erfolge Novo¬
jodingaze verwendet. Die Secretion wurde stets günstig beeinflusst und nahm
rasch ab. Zahlreiche Panaritien, Phlegmonen, Mastitiden, vereiterte Hämatome,
Periostitiden, Höhlen nach Osteomyelitis wurden mit Novojodingaze behandelt.
Wir waren stets mit dem Erfolg zufrieden.
Hier wäre noch besonders ein Fall von Urininfiltration zu erwähnen, bei
dem unter Novojodingazetamponade rasche Besserung eintrat. Später musste
der Patient in’s Wasserbett (permanentes Bad) verlegt werden, wo er Wochen
lang blieb. Als er dann wieder heraus kam, trat ein soloh jauchender Gestank
der Scrotalwunde auf, dass der Kranke seinen Nachbarn zur Qual wurde.
Einstäuben mit Novojodin benahm rasch den Geruch und führte
schnell zur Heilung.
Hierher gehört auch die Verwendung der Novojodingaze zur Tamponade
nach v. Mikulicz. Man hat wohl beim Novojodin eine Vergiftung nicht so zu
fürchten, wie beim Jodoform; man brauchte also in der Regel nicht einen
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Die Wundbehandlung mit Novojodin.
703
Novojodinschleier mit steriler Gaze zu füllen. Vorsichtshalber haben wir es
aber doch gethan. Bei perityphlitischen Abscessen, nach Rectumexstirpationen
und dergleichen, haben wir diese Methode Anfangs sehr oft verwendet.
Die Drainage des Bauches bei Appcndicitis, Adnex- und Gallen¬
blaseneiterungen machen wir seit einigen Monaten nur noch mit den bei
den Amerikanern so beliebten Cigarettendrains: Ein entsprechend langer
und dicker Streifen oder Schleier aus Novojodingaze wird mit Guttapercha¬
papier umwickelt und analog einem Mikulicztampon eingelegt. Gegenüber den
Drains haben sie den Vortheil, dass kein Decubitus entstehen kann, was
namentlich bei nicht ganz frischen Appendicitisfällen sehr richtig ist. Ein be¬
deutender Vortheil der Cigarettendrains ist ferner der, dass sie sich leicht
herausziehen lassen, der Patient also keine Schmerzen empfindet. Hier ge¬
brauchen wir seit ca. Jahr ausschliesslich Novojodingaze.
in. Carbunkel.
Die breite Eröffnung der Carbunkel spielt immer die Hauptrolle bei der
Therapie, eventuell die Excision der nekrotischen oder mit Eiter infiltrirten
Partien des Centrums. Der dadurch entstandene Substanzverlust verkleinert
sich rasch, wir hatten daher niemals nöthig, zu transplantiren. Durch die An¬
wendung des Novojodins wird die Ausbreitung der Eiterung gehemmt und die
Abstossung der Nekrose beschleunigt. Der Verbandwechsel muss täglich
wenigstens einmal stattfinden. Spülungen mit Wasserstoffsuperoxyd dienen
zur Unterstützung. Das Novojodin wird in alle Winkel und Taschen der
Wunde gestäubt; darauf folgt lockere Tamponade mit Novojodingaze. Nach¬
folgend ein Beispiel für die überaus günstige Wirkung des Novojodins in solchen
Fällen:
Ein 65jährijjrer Mann, starker Diabetiker, hatte schon oft Furuneulose
und schon zweimal schwere Carbunkel am Nacken. Diesmal war die ganze
linke Hälfte der Calvaria von einem derben, eitrig durchsetzten Infiltrat ein¬
genommen. Es bestand hohes Fieber, schlechter Allgemeinzustand. In leichter
Narkose breite Spaltung und Excision des ganzen nekrotischen Centrums. Aus¬
legen mit Jodoformgaze. Der l’rocoss schreitet weiter fort. Die Peinigung
geht sehr langsam vor sich, obwohl der Zuckergehalt nun bis auf 0 pCt. herab¬
gesetzt war. Täglich Austupfen mit 1I 2 0 2 , Abtragen der Nekrosen. Als nun
Novojodinpulver zum Einstäuben und Novojodingaze zur Tamponade
verwendet wurde, ging die Abstossung der Nekrosen rascher von
Statten, die ganze handtellergrosse Stelle überhäutete sich rasch.
Plötzlich trat ein kleiner Furunkel an der rechten Schläfe auf, der binnen
2 Tagen sich so vergrüsserte. dass er bis zum Kieferwinkel reichte. Mehrfache
Incisionen unter Localanästhesie (Herz war schlecht). Novojodinbchandlung
wie das erste Mal. Die Peinigung geht relativ rasch vor sich, die Wunde heilt,
darauf wird der Kranke nach Karlsbad geschickt und ist seither ( 3 4 Jahr)
dauernd gesund.
IV. Ulcera.
Bei exulcerirten Carcinomen, insbesondere der Mamma und des Uterus,
sahen wir nach Bestäuben mit Novojodinpulver ein Aufhören der Jauchung.
Waren die Tumoren inoperabel, so konnte man den Patienten wenigstens damit
eine Erleichterung ihres Zustandes bringen; kam es aber zu einer Operation,
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704
Dr. A. Deutsch, Die Wundbehandlung mit Novojodin.
so war damit die Gefahr einer Infection der Wunde verringert. Zur Sicherheit
aber wurde stets noch mit dem Paquelin verschorft.
Aehnlich steht es mit den Unterschenkelgeschwüren, wohl einem der
lästigsten Leiden für Arzt und Patient. Hier haben wir oft schon nach ein¬
maligem Bestäuben mitNorojodinpulver ein Verschwinden des geradezu scheuss-
lichen Geruches feststellen können. Namentlich in Combination mit Fussbädern
und Einhüllung des Beines in feste Verbände (Burow) hat hier das Novojodin
gute Dienste geleistet. Ist die. Geschwürsfläche schon völlig gereinigt, dann
darf man aber auch hier, wie bei anderen Präparaten, welche Formalin ent¬
halten, nicht täglich einstäuben, da die Granulationen sonst leicht blass und
glasig werden. Nach 1—2tägiger Pause aber ist diese Erscheinung wieder ge¬
schwunden. Meist genügt auch dann der feuchte Verband um die Heilung zu
erreichen, falls der Pat. nicht gar zu viel geht und steht. Aus naheliegenden
Gründen behandeln wir die meisten dieser Kanken ambulatorisch. Nur die
schwersten Fälle werden aufgenommen. Manche, die schon vor der Ablatio
standen, konnten, als die Jauchung durch Novojodin beseitigt war, bei Er¬
haltung des Beines geheilt werden. Hier pflegen wir aber stets noch über den
feuchten Verband durch täglich eine Stunde eine Einwickelung mit einer Natur¬
gummibinde zu machen. Deren Wirkung ist oft ganz erstaunlich und unter¬
stützt die Novojodinwirkung ganz wesentlich, indem sie die Stauung beseitigt.
Sohliesslich sei noch erwähnt, dass wir ebenso wie bei tuberbulösen Fisteln,
auch bei anderen eiternden Fisteln (z.B. nach eitriger Gonitis, Empyem u.s.w.)
öfters Novojodinemulsion durch ein Drain in die Fistel injicirt haben. In ähn¬
lichen Fällen wurden auch Novojodinstäbchen eingeführt. BeideMethoden hatten
gute Erfolge, wenn der Allgemeinzustand der Kranken nicht zu schlecht war.
Nach Berichten von Pollandt (Graz) einerseits und v. Zumbusch
(Wien) andererseits scheint das Novojodin berufen zu sein, auch in der Der¬
matologie bezw. in der Therapie der Geschlechtskrankheiten eine grosse
Rolle zu spielen. Beide Autoren berichten über zahlreiche Fälle von Ulcus
molle, bei denen sich die Geschwüre nach ausserordentlich kurzer Zeit unter
Behandlung mit Novojodin gereinigt und einen durchaus befriedigenden Heil¬
verlauf genommen haben. Ausserdem führt v. Zumbusch eine ganze Reihe
von Fällen von Bubo theils nach Ulcus molle allein, theils nach Ulcus mixtum
an, die nach vorhergehender Punction und darauf folgender Injection von
20proo. Novojodinglycerinsuspensionen rasch zur Heilung kamen.
Auch die Berichte anderer Chirurgen und Dermatologen lauten günstig.
Berücksichtigen wir dies und insbesondere die eigenen Erfahrungen, so müssen
wir also das Novojodin als ein vorzügliches Wundantisepticum bezeichnen.
Ich glaube wohl sagen zu können, dass das Jodoform an unserer Abtheilung
fast völlig verdrängt worden ist und durch das Novojodin vollwerthig
ersetzt wurde.
An dieser Stelle sei meinem Chef, Herrn Primär. Dr. Lotheissen der
wärmste Dank ausgesprochen für die Anregung und Förderung, die er dieser
Arbeit zu Theil werden liess.
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2 .
(Aus dem Krankenhaus von Persiceto, Bologna.)
Ueber die spontane Rückbildung des Hautepithelioms.
Von
Dr. Joseph Bolognesi,
Interimschirurg.
(Mit 4 Textfiguren.)
Es ist allgemein bekannt, dass zur Heilung des Epithelioms ausser dem
chirurgischen Eingriffe auch andere Methoden — bisweilen mit günstigem Er¬
folge — vorgeschlagen und verwendet worden sind. Neben physikalischen
Mitteln — wie Röntgenstrahlen, Radium, Fulguration, Thermo-, Photo-, Helio¬
therapie, thermischer Cauterisation, elektrischem Strom, Finsenmethode —
machte man Versuche mit der Localanwendung von Medikamenten wie Chinin,
Sublimat, Jodpräparaten, Anilinfarben, Arsenik, Kupfersulfat, Aceton, Essig¬
säure, Trypsin, Formol, Jodcacodylat, Jequirity, Cbloraten und Hypochloriten
und auoh Eiskohlensäure.
loh habe hier solche Mittel angeführt, die alle die Heilung des Epithelioms
zum Zwecke haben und zwar, entweder durch directe Zerstörung der neoplastischen
Zellen (es ist unmöglich, mit Sicherheit zu bestimmen, ob durch Phagocytose
oder durch erworbene anticarcinomatöse Eigenschaften der Säfte des Organismus,
oder duroh Mangel an Lebensfähigkeit der Geschwulstelemente selbst), oder
durch Sklerose des bindegewebigen Stützgewebes, welche in der Folge den
Schwund der epithelialen Neubildung verursacht. Die therapeutische Beseitigung
des krankhaften Processes dürfte man also durch fast den gleichen Mechanismus
bedingt erklären wie bei der spontanen Heilung des Epithelioms, selbstver¬
ständlich, wenn für letztere eine wohl begründete Möglichkeit vorhanden ist.
In der That, dürfen wir heute von einer spontanen echten, vollkommenen
Heilung des Krebses sprechen?
Abgesehen von der Entwicklungshemmung und den theilweisen Rück¬
bildungen, die ein Epitheliom durch dazwischeqtretende Krankheiten (Infection,
Blutungen etc,) erfährt, und die in keiner Weise einen echten Heilungsprocess
vorstellen, ist es einleuchtend, dass derartige klinische Beispiele (ich werde
einige aus den Beobachtungen von Howard, Sengcr, Croscie, Mohr,
Archiv Ihr klio. Chirurgie. Bd. 94. Heft 3.
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706
Dr. J. Bolognesi,
Rotter, PearceGould, Frank, J. Hall, Saar, Gideon Wells, Mackay,
Caussade erwähnen) aus verschiedenen Ursachen einer wissenschaftlich
genauen Controle, wenigstens grösstentheils, nicht Stand halten können.
Velpeau — und übrigens die meisten Chirurgen negiren die spontane
Heilung des Epithelioms; die Dermatologen dagegen, obschon in seltenen Fällen
und unter günstigen Bedingungen, stimmen für die Möglichkeit einer spontanen
Atrophie der epithelialen Neubildung, die ihren Sitz in der Haut hat (Mracek
kommt jüngst wieder auf diesen Gegenstand zu sprechen). Diese Atrophie
würde anatomisch durch Rückbildungsprocesse der epithelialen Wucherung
und durch reactive Bindegewebsbildung, biologisch durch Auf hören jener localen
Reize, die nach den Autoren ätiologisch wichtig für die Entwicklung des
Krebses sind, zu erklären sein.
Fig. 1.
Vorderansicht der Kranken. .Man sieht die verschiedenen Knötchen und eine
sichelförmige riickgebildete Narbe auf der linken Backe.
In Anbetracht der Wichtigkeit dieses Gegenstandes und der Meinungs¬
verschiedenheit der Autoren in dieser Beziehung, schien es mir zweckmässig,
einen klinischen Fall bekannt zu geben, den ich im Krankenhause von Persiceto
(Bologna) beobachtet habe. Herrn Dr. T. Ungarclli möchte ich meinen leb¬
haftesten Dank aussprechen, da er die Güte hatte mir das zum Studium nöthige
Material zu übermitteln.
Es handelt sich um eine 72jährige Witwe (S.M.C.) aus der Provinz
Bologna, ohne erbliche Belastung. Sie war Mutter dreier Kinder, die in frühem
Alter an unbestimmten Krankheiten starben. Diese Frau hatte nie eine ernst¬
liche Krankheit, ausser der eben zu beschreibenden, die vor iy 2 Jahren begann.
Pat. bemerkte damals in der Mitte der äusseren Hälfte der Oberlippe links ein
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Ueber die spontane Rückbildung des Hautepithelioms.
Fig. 2.
707
Profilansichl der Patientin. Der linke Backenschorf ist sichtbarer.
Fig. 3.
Schnitt durch ein neugebildctn <^ntc\veusUK , V.c.\\cn (Biopsie).
(Ocul. 2, Obj 55 l\; 0 risUu.)
n r 46*
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708
Dr. J. Bolognesi,
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kleines, schmerzloses Knötchen, welches nach kurzer Zeit leicht blutete und
sich dann allmählich mit einem leichten, gelb-rotben Schorf überzog. Später
wurde Pat. gewahr, dass sich auch solche Knötchen in anderen Theilen des
Gesichtes, aber ganz besonders oberhalb der rechten Augenbraue und auf jeder
Backe gebildet hatten.
Alle Knötchen entwickelten sich zuerst langsam und die grösseren er¬
reichten allmählich die Grösse eines Fünfpfennigstückes, die kleineren die
Fig. 4.
Schnitt durch das Augenbrauenknötchen (abgelöst).
(Ocul. 2, Obj. 2 Koristka.)
eines Pfennigs. Dann nahmen nach und nach einige von ihnen ab, besonders
aber die Knötchen oberhalb der rechten Augenbraue und der linken Backe, und
zuletzt verschwanden diese beiden vollkommen.
Bei der objectiven Untersuchung war stets hervorzuheben, dass in den
oben beschriebenen Stellen rundliche, erhabone, bei der Betastung etwas weiohe
Flecke mit rauher Oberfläche bemerkbar waren; diese Flecke w’aren mit gelb-
röthlichem Schorf bedeckt, ihre Grenzlinien waren ziemlioh regelmässig, bis¬
weilen mit gerötheter Haut umgeben, bisweilen auch — und zwar besonders
um die in Rückbildung begriffenen Knötchen — von weiss-röthlicher Färbung
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lieber die spontane Rückbildung des Hautepithelioms.
709
und schorfigem Aussehen. In der letzten Zeit sieht man nichts mehr als einen
sichelförmigen, weisslichen, rückgebildeten Schorf an der linken Backe.
Die Untersuchung der wiederholt den verschiedenen Knötchen entnommenen
Stückchen, wie auch die vollkommene chirurgische Exstirpation, Hessen für
das Augenbrauenknötchen mit aller Gewissheit die Diagnose eines Haut¬
epithelioms stellen, und zwar eines Epithelioms, dessen Elemente nicht der
Epidermisation und Keratinisation verfallen (die baso-cellulären Epitheliome
von Krompecher: Epitheliome zweiter Klasse von Darier). Die histologische
Untersuchung bewies in derThat beständig das Vorhandensein von neugebildeten
Knötchen, die aus ziemlich kleinen, länglichen, stark färbbaren Zapfen von
Epithelzellen bestehen. Die Zapfen sind unregelmässig, gitterartig unter ein¬
ander verflochten und bilden bisweilen die Fortsetzung von den tieferen Epi-
dermisschichten, bisweilen befinden sie sich auch in keinem Yerhältniss zu der
epidemischen Umhüllung selbst. Das Stützgewebe besteht im Uebrigen aus
einem bindegewebigen, mit Gefassen versehenen Netz, oft - besonders in jenen
Stellen, die in Rückbildung begriffen sind - mit Lvmphelementen durchsetzt
oder durch Bildung von bindegewebigen Zellen verdichtet: letztere sind bald
gross und spindelförmig, mit bläschenförmigem Kern, bald länglich, dünner,
las er förmig.
Es erhellt also, dass vielfache Epitheliomknötchen einer spontanen Rück¬
bildung unterlagen (wahrscheinlich in Folge einer Sklerose des bindegewebigen
Stützgewebes, welche eine Atrophie der epithelialen Elemente verursacht), die
zur völligen Heilung mit Vernarbung eines derselben führte. Dies also ist der
von mir beobachtete wichtige und mit Sicherheit bewiesene Fall.
Gewiss wird das hohe Alter der Patientin - wie es den Forschern be¬
kannt ist die Involution der Neubildung begünstigt haben: diese Involution
aber ist, wie mir scheint, von hohem Interesse, wenn man bedenkt, dass es
>ich im vorliegenden Falle nicht um ein Hauteancroid handelt (d. h. um eine
Epithelgeschwulst aus Elementen bestehend, welche der Epidermisation und
oft der Keratinisation unterliegen), sondern im Gegcnthcil — wie ich erwähnte
-- um ein tubuläres Epitheliom, d. h. um eine Art Neubildung mit einem
klinisch bösartigeren Verlauf, dessen spontane Rückbildung sehr selten beob¬
achtet wurde, selbst von jenen Autoren, welche doch die Möglichkeit zugeben,
dass das Epitheliom im Allgemeinen, und das Hautepitheliom im Besonderen
heilbar sind.
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I>ruck V'»ii
L. Schumacher in Kerlin N. 24.
< Tff* '<rsr 5
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XXVI.
(Aus der chirurg. Abtheilung des Stadt. Krankenhauses am
Urban zu Berlin. — Director: Geh.-Rath Prof. Dr. Körte.)
Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
Von
Dr. Ernst Buge,
dirigircndem Arzt der äusseren Abtheilung des Stidt Krankenhauses in Frankfurt a. O.,
früher Assistenzarzt am Stadt. Krankenhaus am Urban in Berlin.
(Mit 9 Textfiguren.)
Zu den wichtigsten Complicationen und Folgeerkrankungen der
Perityphlitis gehört die Störung der Darmpassage, der Darm-
verschluss, gewöhnlich Ileus genannt (obwohl dieser Name nicht
ganz zutreffend ist).
Es kann bei der acuten Perityphlitis zum Versagen der Darm¬
function durch ausgedehnte Lähmung der Darmmusculatur kommen.
Diese ist eine gewöhnliche Folge der allgemeinen Peritonitis, sie
kann aber auch früher schon auftreten, ehe allgemeine Peritonitis
besteht, ferner auch noch später, nachdem der Bauch bereits durch
Operation vom Eiter befreit ist.
Von diesem Darmverschluss durch Lähmung ist die andere
Art zu trennen, welche im Spätverlaufe der Entzündung oder auch
Jahre lang nach erfolgter Ausheilung der Entzündung auftritt, der
mechanische Darmverschluss, verursacht durch die Ver¬
klebungen, welche die Entzündung hinterlassen hat.
Es können sowohl flächenförmige Darmverwachsungen, wie
Bindegewebs- und Netzstränge, ferner Schwielen und Narben in
der Umgebung des Darmes, endlich auch der mit der Spitze an
1) Auszugsweise vorgetragen in der Sitzung der Freien Vereinigung der
Chirurgen Berlins am 13. Februar 1911.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4. 47
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712
Dr. E. Rüge.
anderen Organen angewachsene Wurmfortsatz selbst die Ursache
zu gefährlichen Einschnürungen von Darmschlingen werden.
Je länger die Entzündung der Serosa bestanden hat, desto
reichlicher pflegen solche Verwachsungen auszufallen. Dies ist ein
Grund mehr für die Empfehlung der Frühoperation der Appendicitis,
durch welche wir der Entzündung am schnellsten ein Ziel setzen
und schlimmeren Folgen Vorbeugen.
Nach Sprengel sind schon in der älteren Literatur Erfahrungen
niedergelegt von nach Perityphlitis auftretendem Darmverschluss und
die Reihe der Autoren, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
(Abercrombie, Merling, Monro u. s. f.) bis auf die Gegenwart
sich mit diesem Thema befassten, ist eine sehr lange. Zumeist
freilich handelte es sich um den auch von Wilms ausführlich ge¬
würdigten mechanischen Dannverschluss, der durch postperityphli-
täre Verwachsungen und Stränge herbeigeführt wird. In einer Arbeit
von Williams finden sich 86 Fälle von Darmverschluss nach Peri¬
typhlitis zusammengestellt, von denen 53 auf die genauere Art der
Darmocclusion hin untersucht werden konnten. Auch hier handelte
es sich in mehr als der Hälfte der Fälle um Einschnürung durch
Narbenbänder, in 11 Fällen war nur der Dünndarm geknickt, in
10 Fällen handelte es sich um eine Darmdrehung, 4 Mal führten
die peritonealen Verklebungen in der lleocoecalgegend zur Bildung
von Taschen mit Incarceration innerer Hernien; in allen Fällen war
der Dünndarm der betroffene Theil des Intestinaltractus.
Deshalb erscheint es lohnend, das reiche Perityphlitis- und
Darmverschluss-Material des städtischen Krankenhauses am Urban
im Hinblick auf diese Frage durchzusehen. Meinem hochverehrten
Lehrer, Herrn Geheimrath Körte, danke ich auch an dieser Stelle
verbindlichst für die Ueberlassung der. Krankengeschichten, ins¬
besondere für die grosse Liebenswürdigkeit, mir auch nach meinem
Ausscheiden aus seiner Abtheilung die Fertigstellung der vorher
begonnenen Arbeit zu gestatten.
Aus seiner Privatklinik übergab mir ferner Herr Geheimrath
Körte freundlichst noch das dort von ihm gesammelte Material
von weiteren 12 Fällen, so dass mit den aus dem Krankenhause
am Urban stammenden 32 Fällen der folgenden Bearbeitung ein
Material von 44 Krankheitsgeschichten zu Grunde gelegt werden
konnte.
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
713
Ein ganz klares Bild der Häufigkeit eines mit einer be¬
stehenden oder verflossenen Perityphlitis in ursächlichem Zusammen¬
hang stehenden Darmverschlusssymptomencomplexes zu gewinnen,
ist aus verschiedenen Gründen nicht ganz leicht. Obwohl einem
geübten Kliniker heute die Diagnose der Perityphlitis nur noch in
Ausnahmefällen bedeutende Schwierigkeiten macht, lässt doch oft
bei einem bestehenden Darmverschluss die ätiologische Anamnese
leider im Stich. Und auch bei der Operation lässt sich manchmal
nicht mit Bestimmtheit sagen, ob die als Ursache des Darmver¬
schlusses Vorgefundenen Stränge oder flächenförmigen Verklebungen
in Folge einer früheren Wurrafortsatzentzündung oder in Folge der
Entzündung eines anderen Bauchorganes entstanden sind.
Und auch an der Appendix vermiformis selbst können heftige
Entzündungsanfälle nur sehr geringe Spuren, wie feine Narben oder
Obliteration der Spitze zurücklassen. Wenn man die voraufge¬
gangenen Entzündungen nicht selbst gesehen hat, oder wenn nicht
zweifellose anamnestische Daten dafür vorliegen, so wird man oft
im Zweifel bleiben darüber, ob die als Ursache des Darm Verschlusses
Vorgefundenen Stränge einer früheren Appendicitis ihren Ursprung
verdanken.
Es ist daher wohl möglich, dass die Perityphlitis eine viel
grössere Rolle in der Aetiologie des adhäsiven Darmverschlusses
aller Stadien spielt, als klinische Untersuchungen, wie die folgende,
beweisen (Hotschkin).
Ich habe aus meinen hierunter folgenden Auseinandersetzungen
alle die Fälle ausgeschieden, bei denen nicht mit einer gewissen
Sicherheit die Erkrankung an Darmverschluss auf eine acute oder
chronische Perityphlitis zurückzuführen ist. Entweder stützte sich
<lieser Nachweis auf den anatomischen Befund, den die Operation
oder die Section erbrachte, oder auf eine klare Anamnese.
Unter den 44 Fällen von Darm Verschluss in Folge von acuter
oder abgelaufener Perityphlitis sind nun mehrere Hauptgruppen
zu trennen.
Einen breiten Platz von 14 Fällen nimmt der atonische
Darraverschluss ein. Der Rest von 30 Fällen von auf Perityphlitis
zurückzuführendem mechanischem Darmverschluss enthält 10 Fälle
von Darm Verschluss durch breite flächenförmige Adhäsionen, 18 Fälle
von Verschluss durch derbe peritoneale Stränge, 1 Fall vor
47*
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714
Dr. £. Rüge,
Obturation durch einen entzündlichen Tumor und 1 Fall von
Deocöcalstenose durch chronisch-entzündliche ulceröse Processe im
Cöcum, offenbar vom Wurmfortsatz ausgehend.
Das während der gleichen Zeit (vom Jahre 1890—1910) im
Krankenhause am Urban (Körte’sehe Abtheilung) gesammelte ge-
saramte Darmverschlussmaterial (ausgenommen die rein atonischen
Formen) beläuft sich auf 168 Fälle, sodass die entsprechenden
30 Fälle von postappendicitärem Darm Verschluss einen Antheil von
17,9 pCt. ausmachen. Sicher auf vorhergegangene Perityphlitis zu¬
rückzuführende Fälle von flächenhaft adhäsivem Darm Verschluss er¬
geben einen Antheil von 10:25 = 40pCt. aller gleichartigen Fälle
des Gesammtmaterials. Und bei den Fällen von Strangverschluss
spielt die Perityphlitis eine pathogenetische Rolle in 18 von 49 Fällen,
also in 36,8 pCt. Ein Fall von Compressionsdarmverschluss steht
vereinzelt neben 11 Fällen von andersartiger Aetiologie.
Was nun die Häufigkeit des Darmverschlusses mit Rücksicht
auf die vorhergegangene Appendicitis anlangt, so kann eine Gegen¬
überstellung der an einer grossen chirurgischen Abtheilung im Laufe
eines grösseren Zeitraumes behandelten Appendicitidenzahl und der
Zahl der Fälle von Darraverschluss nach Appendicitis, die während
eines gleichen Zeitraumes beobachtet wurden, wenigstens annäherungs¬
weise einen Begriff geben. Freilich handelt es sich bei den wegen
Darmverschlusses behandelten Fällen nur in Ausnahmen um solche
Patienten, die gerade im gleichen Krankenhaus vorher wegen
Appendicitis behandelt worden waren. Und ebenso haben mit
grosser Wahrscheinlichkeit eine Anzahl von Patienten, die zu dem
Perityphlitismaterial des Krankenhauses am Urban gehörten, später
aus äusseren Gründen mit einem Darm Verschluss anderweitige ärzt¬
liche Hülfe aufgesucht. Doch wird der hieraus resultirende Fehler
sicherlich in etwas durch die Ausdehnung der verglichenen Ver¬
hältnisse auf einen langen Zeitraum von 20 Jahren ausgeglichen.
Es wäre wenigstens unwahrscheinlich, dass in so langer Zeit eine
von beiden Gruppen in erheblichem Maasse die andere überwiegen
könne.
Mit einer gewissen Bedingtheit kann man also das Peri¬
typhlitismaterial des Krankenhauses am Urban (1890—1910) dem
para- bezw. postappendicitischen Darmverschlussmaterial derselben
Zeitspanne gegenüberstellen. Doch ist zu berücksichtigen, dass,
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
715
wie später näher gezeigt wird, die Fälle von Frühoperation der
einfachen Perityphlitis hiervon ausscheiden müssen, da Darmver-
schlusserkrankungen nach erfolgter Frühoperation (1.—3. Tag) selten
vorzukommen scheinen. Wenigstens ist in keinem einzigen unserer
Darmverschlussfälle eine Frühoperation vorhergegangen.
Die entsprechenden Zahlen sind:
total gestorb.
I. Perityphlitis (alle Fälle) 1890-1910 . . 2700 309 = 11,4 pCt.
II. „ (1.-3. Tag) „ „ . . 315 1 = 0,31 „
III. Rest., . . 2385 308 = 12,8 „
IV. Darmverschluss bei oder nach Perityphlitis 44 20 = 45,5 „
Daraus geht hervor, dass der Darmverschluss zwar
keine sehr häufige Complication der Perityphlitis ist
(44:2385 = 1,8 pCt.), die Mortalität der nach dem 3. Tage
operirten Fälle von Perityphlitis aber nicht unwesentlich
erhöht (von 12,8 pCt. auf 13,8 pCt.).
Es ist zu unterscheiden der Darm Verschluss im Verlaufe oder
im directen Anschluss an die Perityphlitis von den Fällen,
in denen zwischen Perityphlitis und Darm Verschlussanfall ein mehr
oder weniger langer Zeitraum liegt (Darmverschluss als Spät¬
folge). Zwischen ihnen, sowohl klinisch als anatomisch, steht
eine Reihe von Fällen, die dem intermediären Stadium der Peri¬
typhlitis angehören und auf die Federmann als Adhäsionsdarm¬
verschluss bei perityphlitischem Abscess besonders aufmerksam
machte. Während dem acuten Stadium der Perityphlitis bezw.
Peritonitis die atonische Darmhemmung vor Allem zu eigen ist,
gehört die überwiegende Mehrzahl der Spätdarm Verschlüsse unter
die Gruppe der mechanischen Hemmungen der Darmpassage. Diese
sind die klinisch bei weitem wichtigeren.
Nach diesen Gesichtspunkten eingetheilt gruppirt sich unser
Material folgendermaassen:
A. Frühdarm Verschluss bei Perityphlitis.
a) Atonie bei Perityphlitis ... 3 Fälle, 2 geheilt, 1 gestorben
b) „ „ Peritonitis ... 11 „ 5 „ 6 „
c) Adhäsion hei frischem Abscess 6 n 3 „ 3 „
Summa 20 Fälle, 10 geheilt, 10 gestorben
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716
Dr. E. Rüge,
»)
b)
c)
d)
•)
0
6. Spätdarm Verschluss nach Perityphlitis.
Verschluss durch flächenförmige
Adhäsionen.
Durch solide Peritonealstränge .
Durch Netzstränge ....
Durch den an der Spitze adhä-
renten Wurmfortsatz .... 6
Compression durch entzündlichen
Tumor.1
Ileoooecalstenose.1
4 Fälle, 1 geheilt,
10 „ 7
2 „
1
n
n
v
rt
3 gestorben
3 „
1 *
Summa 24 Fälle, 13 geheilt, 11 gestorben
Insgesammt 44 Fälle, 23 geheilt, 21 gestorben
Selbst in dem Frühstadium (1.—3. Tag) der Perityphlitis
finden sich nicht ganz selten Andeutungen von Darmverschluss¬
symptomen. Neben dem, die Entzündungsvorgänge an der Ap¬
pendix vermicularis charakterisirenden Symptoraencomplex, als dessen
wichtigste bezw. constanteste Bestandteile die Erhöhung der Puls¬
frequenz, der ileocoecale Druckschmerz und die Döfense musculaire
im Bereich der rechtsseitigen Abdominalmusculatur zu betrachten
sind, findet man in sehr vielen Fällen die Sistirung der Stuhlent¬
leerung vergesellschaftet mit periodisch bezw. anfallsweise auftre¬
tender peristaltischer Unruhe. Gurren und Reliefbildungen, sowie
Andeutungen von kolikartigen Schmerzen bezeichnen eine ira unteren
Theil des Ileuras stattfindende „Einengung“ (Federmann). Bei der
Operation bieten sich dann als anatomisches Substrat dieser Sym¬
ptome zwei von einander deutlich unterschiedene Bilder. In der
einen Gruppe von Befunden sieht man neben den localen Verän¬
derungen an der Appendix (Entzündung, Schwellung des Organs,
erective ödematöse Steifung, mehr oder weniger feste frische oder
ältere Verklebungen oder Verwachsungen des Wurmfortsatzes mit
der benachbarten serösen Oberfläche) die untersten Partien des
Dünndarms hoch geröthet und stark dilatirt. Nach oben hin ver¬
liert sich diese Erweiterung ohne scharfe Grenze. Oft jedoch er¬
lebt man noch während der Operation, dass sich die weniger inji-
cirten oberen Dünndarmschlingen unter gurrenden Geräuschen stark
contrahiren, während diese Bewegung sich den gerötheten und dila-
tirten coecalen Schlingen nur in sehr geringem Maasse mittheilt.
Man erkennt, dass es sich um eine locale Atonie der untersten,
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Darmversohluss bei und nach Perityphlitis.
717
dem Entzündungsherd nächsten Ileumschlingen handelt. Mit clem
Abklingen der Entzündung nach der Operation und der Anregung
der Dickdarmperistaltik durch Eingiessungen oder Oelinjectionen ver¬
schwinden zugleich die geschilderten Passagestörungen. Man geht
wohl nicht fehl, wenn man diese allerleichtesten Formen des der
Perityphlitis zur Last zu legenden atonischen Darmverschlusses auf
die locale Intoxication der Darmwand infolge der partiellen peri-
tonitischen Infection schiebt.
Ganz ähnliche klinische Symptome macht ein anderer patho¬
logisch-anatomischer Befund. Derjenige nämlich, bei dem sich die
Atonie nicht am untersten Ileum, sondern am Coecum findet. Die
Ausdehnung dieses Darmabschnittes durch Gase und dünnbreiigen
infectiösen Darminhalt kann auch ohne jede distal gelegene mecha¬
nische Occlusion recht erheblich werden, so dass man von einem
Beckenrandschnitt aus rechte Mühe hat, unter dem ausgedehnten,
schwappend gefüllten coecalen Sack den Ileocoecalwinkel und das
erkrankte Coecalanhängsel zu erreichen. Häufig coincidirt mit
diesem Befund das Vorhandensein eines langen freien Coecum-
abschnittes (Coecum mobile) und klinisch eine laute sonore Tym-
panie in der Ileocoecalgegend.
•Uebrigens findet man beide besprochenen Arten localer Atonie
ab und zu gemeinsam vor. Therapeutisches Interesse beansprucht
keine von ihnen, da sie mit Entfernung des Entzündungsherdes
und bei mechanischer Anregung der Darmthätigkeit in den ersten
Tagen nach der Operation von selbst zu verschwinden pflegen.
Wir haben derartige leichteste Formen des „atonischen Darm-
verschluSses“ bei Perityphlitis in dem Körtc’schen Material häufig
gesehen.
Als Beispiel füge ich folgenden Fall an:
1. Frau W., 34 Jahre alt (Rec.-No. 726/04).
Seit 3 Tagen krank mit Leibschmerzen rechts unterhalb des Nabels, seit
2 Tagen leichter Meteorismus, Erbrechen, Stuhlverhaltung. — Appendic-
ektomie: Der beckenwärts gelagerte Wurmfortsatz, keulig empyematös ge¬
schwollen, eitergefüllt, ln der Bauchhöhle einige Tropfen klarer Flüssigkeit.
Serosa überall völlig intact. Keine Verklebungon. Coecum und Colon trans-
versum enorm gebläht, völlig atonisch. Punction derselben, Entleerung einer
grossen Gasblase. Punctionsstelle duroh Naht verschlossen. Bauchwunde
secundär genäht.
Glatter Verlauf. Stuhl nach 2 Tagen. Geheilt entlassen.
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718
Dr. E. Rüge,
Dahingegen ist der complete atonische Darmverschluss
qei Perityphlitis acuta ohne Peritonitis sehr viel seltener, so häufig
die peritonitische Darmlähmung als Signum mali ominis im End¬
stadium der Perityphlitis auftritt.
Es muss bemerkt werden, dass der Ausdruck „atonischer Darm Verschluss“
ja eigentlich eine Contradictio in adjeoto ist. Unter Darm Verschluss schlecht¬
hin kann man doch eigentlich nur einen mechanischen Verschluss des
Darmlumens (durch Fremdkörper, Tumoren, Stränge) verstehen, der durch die
Peristaltik des Darmes nicht oder nioht mehr überwunden wird. Beruht jedoch
die Behinderung der Kotbpassage auf einem Versagen der Peristaltik selbst, so
ist in strengem Sinne von einem Verschluss nicht mehr die Rede. Das, was
dem mechanischen und dem atonischen (und natürlich auch dem spastischen)
Darm verschloss gemeinsam ist, sind lediglich eine Anzahl von klinischen Sym¬
ptomen, die man seit Alters unter dem Namen des Miserere zusammengefasst
hat. Von internen Klinikern findet man demgemäss logischerweise auch häufig
die Krankheit ohne Rücksicht auf die anatomischen Verhältnisse mit diesem
Symptomennamen: Miserere bezeichnet. Es fehlt eben ein Wort, das dem
weiteren Begriff der grossen Krankheitsgruppe, deren Hauptsymptom das Mi¬
serere ist, entspräche. Das ist um so unbequemer, als gerade dieser Symptomen-
complex (unstillbares Erbrechen, Inanitions- und stercorämischer Verfall) bei
den verschiedensten Darmverschlussformen fohlen kann. Auch in dem später
zu schildernden Material giebt es Fälle, in denen trotz längeren Bestehens
eines derben anatomischen Verschlusses sowohl Erbrechen als Collaps aus¬
blieben. Man hat sich mit dem griechischen Wort Ileus (von tikeo) — ich
drehe, also wohl = Volvulus) geholfen, und auch Wilms wendet dieses Wort
überall im Sinne des paralytischen, spastischen oder mechanischen Unter-
broohenseins der Peristaltik an. Damit ist natürlich noch viel weniger präcise
das Gemeinte gesagt und ein viel kleinerer Theil der unter dem so bezeichneten
Begriff subsumirten Krankheitsbilder getroffen. Es würde sich vielleicht em¬
pfehlen, die Ausdrücke Ileus und Darmverschluss in weiterem Sinne ganz
fallen zu lassen und etwa statt ihrer ebenso kurz Darmhemmung ‘zu sagen,
wobei man den paralytischen und spastischen „Darmverscbluss“ als toxisch-
reflectorisch gehemmte Darmbewegung, die Darmverschlussformen sensu stric-
tiori als mechanische Hemmungen der Kotbpassage denken kann.
Es ist zu unterscheiden zwischen der einfachen Darmatonie
bei Perityphlitis und der Darrnlähmung bei Peritonitis e perityphlitide.
Während letztere bekanntlich von recht übler Prognose ist, scheint
die Darmatonie bei intactem Peritoneum mit der Beseitigung des
Entzündungsherdes im Wurmfortsatz therapeutischen Maassnahmen
leichter zugänglich zu sein.
Auf eine diffuse toxische Lähmung der Darmmusculatur lässt
sich therapeutisch wohl nur in den allerseltensten Fällen einwirken.
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
719
Selbst wenn es gelingt, trotz der absoluten Passivität der Dünn-
darmmusculatur durch mehrere Enterostomien den grössten Theil
des stagnirenden Darminhalts zu entfernen und durch gründliches
Auswischen und Ausspülen der Bauchhöhle den peritonitischen Eiter
zu beseitigen, pflegt vor völliger Restitution der Darmperistaltik der
Exitus an stercorämischer bezw. peritonitischer Herzparalyse ein¬
zutreten.
Anders bei der Darmatonie im Frühstadium der Peri¬
typhlitis. In zwei von drei Fällen trat prompt nach der Ent¬
fernung des erkrankten Organes mit Punction und Entleerung der
geblähten Därme die Peristaltik wieder in Action und führte zur
Heilung.
Gemeinsam für die hierher gehörigen Fälle ist das völlige
Fehlen von Adhäsionen oder Peritonitis. Der erste (R. No. 4605/00)
betraf einen 47 jährigen Mann, der zum ersten Mal seit 15 Tagen
an Schmerzen in der Ileocoecalgegend litt. Seit ungefähr derselben
Zeit ist sein Bauch stark aufgetrieben, es besteht Erbrechen und
Stuhlverhaltung. Mit der Diagnose eines Darmverschlusses wird
eine Colostomie angelegt. Auf eine genaue Revision der Bauch¬
höhle wird wegen des schlechten Allgemeinzustandes verzichtet.
4 Tage nach dem Eingriff Exitus letalis. Bei der Obduction fand
sich eine acute Peritonitis e perityphlitide mit beginnender Abscess-
abkapselung, während bei der Operation das Peritoneum spiegelklar
und blank gewesen war. — Im zweiten Falle (R. No. 2174/99) be¬
stand in der Ileocoecalgegend ein apfelgrosser Abscess, am achten
Tage des ersten Perityphlitisanfalles. Diffuse hochgradige Atonie
ohne jede Peritonitis oder mechanische Darmocclusion. Exstir¬
pation des Processus vermiformis, Colotomia coeci. Es entstand
eine Coecalfistel, die 16 Tage später spontan heilte. Heilung. —
Der dritte Fall wurde ebenfalls geheilt entlassen. Hier fand sich
lediglich ein Empyem des Wurmfortsatzes und eine enorme Atonie
der gesaramten Därme. 1. Anfall, 3. Tag. Coecotomie, Exstirpa¬
tion der Appendix, glatte Heilung.
Eine diffuse Darmatonie bei bestehender diffuser Peri¬
tonitis erlebten wir im Krankenhause am Urban im Ganzen fünf
Mal. Drei Mal bestand die Perityphlitis vier Tage lang, ein Mal
acht Tage. Immer handelte es sich um angeblich erste Anfälle.
Die Atonie bestand zumeist 2—3 Tage, in 2 Fällen waren keine
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720
Dr. E. Kuge,
genauen Angaben zu erreichen. Zwei Fälle wurden neben der ge¬
wöhnlichen Peritonitisoperation (Exstirpation des Processus vermi¬
formis, — Auswischen und Spülen der Bauchhöhle) enterostomirt.
Sie gingen beide an ihrer Peritonitis zu Grunde. In den drei an¬
deren Fällen wurden ceteris paribus die geblähten Därme an ver¬
schiedenen Stellen punctirt und ausgestrichen, die Punctionsstellen
übernäht und versenkt. Von ihnen erlag einer (H. H., R.-No.
4765/04) der Peritonitis, nachdem an der Punctionsstelle einer
Dünndarm schlinge sich eine Kothfistel gebildet hatte. Die beiden
anderen kamen zur Heilung. Bei einem von ihnen (A. R., R.-No.
974/09) befand sich in der Ileocoecalgegend ein unvollkommen ab¬
gekapselter Jaucheabscess mit Kothsteinen. Fast totale Gangrän
des Processus.
In seiner Privatklinik hat Herr Geh.-Rath Körte sechs Mal
wegen Darmatonie bei acuter Peritonitis e perityphlitide eingreifen
müssen durch die Enterostomie.
Von den 6 waren zur Zeit der Peritonitisoperation
Geheilt
t
am
1. Tage der Erkrankung
1
1
0
n
2- 71 71
71
3
2
1
n
3. 71 11
11
1
—
1
71
7
1 * 71 11
11
1
—
1
Summa
6
3
3
Die Enterostomie wurde stets erst im Laufe der Nachbehand¬
lung vorgenommen, Avenn die Lähmung des Darmes nicht weichen
wollte. Bei einigen wurde sie sogar mehrfach vorgenommen. Bei
den 3 Patienten, welche danach gesund wurden, hatte Herr Geh.-
Rath Körte die Uebcrzeugung, dass sie nur durch die Enterostomie
gerettet wurden.
Ob die Enterostomie im einzelnen Falle von Erfolg sein wird
oder nicht, kann man sehr bald nach Einlegen des Rohres in den
Darm sehen. Tritt bald danach eine ausgiebige Entleerung von
Darminhalt in die vorgelegte Flasche ein, dann kommt die günstige
Wirkung bald zur Geltung. Läuft nicht recht etwas aus, dann ist
das ein Zeichen, dass die Lähmung complet ist und die Peritonitis
ihren Gang geht.
Die beschriebenen Arten der Functionshemmung der Darm¬
peristaltik betrafen das acute Stadium der Perityphlitis. Es handelte
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
721
sich durchweg um atonische Zustande. Diese treten im Verlaufe
der weiteren Entwickelung des Entzündungsprocesses (Abscess-
bildung, Heilungsvorgänge) zurück hinter dem mechanischen Darm¬
verschluss, der in den mannigfachsten Formen als Resultat der
perityphlitären und postperityphlitären Veränderungen in der Bauch¬
höhle auftritt. Während also die Darmatonie, sowohl die locale,
als die diffuse, eine Begleiterscheinung der acuten Entzündungs¬
insulte innerhalb der Bauchhöhle zu sein pflegt, kommen die von
Federmann beschriebenen Formen des mehr oder weniger unvoll¬
kommenen mechanischen Darmverschlusses im Verlaufe einer
eitrigen Perityphlitis nur dann zur Beobachtung, wenn es bereits
zur Bildung pelviner oder pararectaler Abscesse gekommen ist. Meist
sind bei dieser Art des Darmverschlusses flächenhafte Verwachsungen
von Dünndarmschlingen unter einander oder mit der Abscesswand
vorhanden, die zu incompleter oder zeitweiliger completer Darm-
occlusion führen. Es handelt sich dann nicht mehr um functioneile,
sondern um mechanische Störungen der Kothpassage, die ihr ana¬
tomisches Substrat in wohlcharakterisirter Knickung oder Com-
pression fixirter Dünndarmschlingen, meist im Bereich des kleinen
Beckens haben. Ihr klinischer Ausdruck hat von Federmann die
klare Bezeichnung der „Einengungssymptome“ erfahren. Die be¬
hinderte, nicht völlig aufgehobene Fortbewegung des Darminhalts
zeigt sich klinisch in Neigung zum Erbrechen, in gurrenden Ge¬
räuschen, Reliefbildungen und mehr oder weniger starker Verstopfung
neben den Symptomen der fortgeschrittenen abscedirenden Peri¬
typhlitis. Diese Art des incompleten Adhäsivdarmverschlusses ist
eine Complication des intermediären Stadiums und tritt nach
unserer Erfahrung so häufig im Geleit der Abscessbildung bei
nicht operirter Perityphlitis im Verlauf der ersten bis zweiten
Woche auf, dass man Fe der mann beistimmen kann, wenn er
aus dem Vorhandensein dieses Symptomencomplexes auch bei
negativem Palpationsbefund auf das Bestehen eines Abscesses
schliessen will.
In das gleiche Stadium der perityphlitischen Peritonealerkran¬
kung, in das intermediäre, gehören die Darmverschlussbilder, die
von einer effectiven bezw. completen Abschnürung oder Ab-
knickung von Dünndarmschlingen an appendicitischen Ab-
scesswänden herrühren. Gerade diese Formen des perityphlito-
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722
Dr. E. Rüge,
genen Darmverschlusses sind in der älteren Casuistik oft beschrieben
worden. Nordmann und Sprengel bringen neuerdings hübsche
Beispiele dafür. Mit dieser Form beginnt in der Reihe der auf
perityphlitischer Basis entstandenen Darmverschlussformen der com-
plcte mechanische Verschluss. Hier handelt es sich nicht
mehr, wie in den Federmann’schen Fällen um „Einengungs¬
symptome“. Vielmehr sind die im Folgenden beschriebenen Fälle
ausgezeichnet durch das voll ausgeprägte Bild des Miserere. Dieser
so benannte Symptomencomplex kann sich allerdings auf die ver¬
schiedenste Weise entwickeln, von langsam entstehenden, am häu¬
figsten sonst bei Dickdarmtumoren beobachteten, mit Intermissionen
einhergehenden „chronischen“ Darmverschlussformen an, bis zu den
acutesten, momentan unter bedrohlichsten Collapsen einhergehenden
Formen, die in ihrer ganzen Plötzlichkeit an Brucheinklemmungen
erinnern.
Ein Beispiel hierfür, das den Gedanken an eine innere
Einklemmung nicht völlig von der Hand weisen liess, ist fol¬
gender Fall:
2. Diagnose: Perityphlitischer Abscess zwisohen verklebten Dünndarm¬
schlingen. Adhäsiver Darmverschluss.
Therapie: Laparotomie, Enterotomio, Appendicektomie.
A. K., Obstzüchter, 48 Jahre, Rec.-No. 4634/08. Aufgenommen 18. 2. 09.
Geheilt entlassen 24. 4. 09.
Vorgeschichte: Erkrankte aus vollem Wohlbefinden am 14. 2. mit
starken Schmerzen im Abdomen. Nähere Localisation nicht anzugeben. Seit
demselben Datum mehrfaches Erbrechen und völlige Verhaltung von Stuhl und
Winden. Früher angeblich nie krank.
Befund: Sohwerkranker Mann mit verfallenen Zügen, belegter Zunge,
Foetor ex ore. Abdomen: Im Ganzen stark aufgetrieben, roässig gespannt, in
der Magengegend wenig, etwas unterhalb und rechts am Nabel stark druck¬
empfindlich, weniger in der Ileocoecalgegend. Keine Dämpfung oder Resistenz.
Leberdämpfung fingerbreit. Puls 64, voll, kräftig. Temperatur 37,3. Atbmung
ruhig und tief. Rectal nihil. Mit der Diagnose: Adhäsive Peritonitis?
Cholecystitis und Pericholecystitis? Darmverschluss!
Am 18.2. Operation (Geh.-Rath Körte) in leichter Mischnarkose. Auf
dem Operationstisch in Narkose ist die Gegend der linken Darmbeingrube
deutlich stärker vorgewölbt als die rechte. Bauchschnitt 8 cm lang zwischen
Nabel und Symphyse in der Mittellinie. Zuerst kommt seröse Flüssigkeit, dann
sehr geblähte und geröthete Darmschlingen. Fibringerinnsel. — Eventration
der am meisten geblähten Schlingen. In der Gegend der Flexura hepatica des
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Darmversohluss bei und nach Perityphlitis.
723
Colons, vor Allem unter diesem bestehen Verklebungen, bei deren Lösung dicker
stinkender Eiter herausquillt. Zu dem um den eröffneten Abscess ver¬
klebten Darmconvolut ziehen sowohl extrem geblähte als auoh
collabirte Dünndarmschlingen. Nach der Lösung der Verwachsungen
füllen sich letztere, so dass es nicht gelingt, eine genauo anatomische An¬
schauung des Verschlusses zu erhalten. Ursache ist der gangränöse Wurm¬
fortsatz, der, mit einiger Mühe gefasst, vorgezogen, entfernt wird. Uebernähung
des Stumpfes mit Netzfalte. Punction der stark gefüllten Darmschlingen mit
dickem Troicart. Entleeren durch Ausstreichen zwischen den Fingern. Ein-
nähen eines Drainrohres in die Punctionsöffnung. Reichliches Spülen
der Bauchhöhle mit heisser Kochsalzlösung. Rohr durch Knopflochschnitt am
rechten Hüftbeinkamm. Naht des Peritoneums mit Catgut. Haut und Musculatur
über Gaze zusammengezogen.
Die glatte Wundheilung wird duroh ausgedehnte Baucbdeckeneiterung in
der Umgebung des eingenähten Darmrohres complicirt. Es sind Gegenincisionen
und später Drahtnähte nöthig.
Die Stuhlentleerung kam sofort nach der Operation wieder in Ordnung.
Schnelle Erholung des Allgemeinzustandes.
Die Kothflstel nach Entfernung des Darmrohres (24. 2.) setzte der Heilung
lange Widerstand entgegen. Erst Mitte April war sie völlig geschlossen.
Pat. wurde am 24. 4. mit einem wässigen Bauchbruch entlassen, fühlt sich
jetzt völlig gesund, trägt eine einfache Leibbandage und geht seinem Be¬
rufe nach.
Bemerkenswerth ist bei diesem Fall ausser der eigenartigen
Anamnese, in der jede Spur eines früheren Anfalles von Peri¬
typhlitis fehlt, sowie dem bei Perityphlitis seltenen ruhigen, lang¬
samen Puls vor Allem die Localisation des Abscesses oberhalb
und median von der Regio ileocoecalis, fast in der Mitte des
Abdomens.
Ganz ähnlich lagen die anatomischen Verhältnisse in dem
Falle der 60jährigen Frau B. (Rec.-No. 3044/04), bei der ein
medianwärts und nach oben geklappter Wurmfortsatz einen Abscess
unter dem Leberrande gesetzt hatte, der durch Adhäsionen am
Colon transversum und einigen Dünndarmschlingen einen completen
Darraverschluss bewirkte. Die in diesem Falle nur sehr langsam
zunehmenden Stenoseerscheinungen, der am Rippenrande fühlbare
Tumor, eine in der letzten Zeit verhältnissmässig rasch zunehmende
starke Abmagerung hatten die Diagnose zwischen Carcinom der
Gallenblase und Tumor der Flexura hepatica schwanken lassen.
Angesichts des hohen Alters der Patientin wurde zunächst ab¬
gewartet. Bei der Operation fand sich neben dem geschilderten
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724
Dr. E. Hu ge,
Befund eine beginnende diffuse, fibrinös eitrige Peritonitis, der die
Patientin 9 Tage später erlag.
Exquisit chronisch verlief der Darmverschluss in dem folgenden,
ebenfalls durch Abscessadhäsionen hervorgerufenen Falle von Darm¬
verschluss, der so sehr dem Bilde eines Ileocoecaltumors maligner
Art entsprach, dass der Gedanke an eine Blinddarmentzündung so
fern wie nur möglich lag.
3. Diagnose: Perityphlitischer Abscess, adhäsiver Darmverschlass.
Therapie: Lösung der Verwachsungen, Entfernung des Eiters, Exstir¬
pation des Wurmfortsatzes.
C. B., 55 Jahre, Rec.-No. 3238/09. Aufgenommen 25. 11. 09. Geheilt
entlassen 10. 2. 10.
Vorgeschichte: Angeblich bisher nie krank gewesen. Erkrankte am
14. 11. mit leichtem Frösteln und Schmerzen im Unterbauch, die ihn seither
nicht verliessen. Stuhl erfolgte nur mit grossen Gaben Ricinus und Klystieren:
doch war das Allgemeinbefinden des Mannes durchaus nicht besonders alterirt.
Befund: Grosser hagerer Mensch, ruhiger Puls, keine Temperatur¬
erhöhung. Sehr aufgetriebenes, nirgend besonders empfindliches, aber ballon¬
artig, hartes Abdomen ohne Resistenzen oder Dämpfungen. Kein Erbrechen,
kein starker Verfall. Pat. steht auf und hat frische Farbe und Bewegungen.
Enorme Obstipation. Erst nach 14 Tagen gelang es, die Füllung des Abdomens
so weit zu reduciren, dass man in der Ileocoecalgegend einen harten, etwas
beweglichen, kaum empfindlichen Tumor palpiren konnte.
Deshalb mit der Diagnose: Tumor coeci seu ilei und chronischer Darm¬
verschluss.
8. 12. 09 Operation (Geh.-Rath Körte) A.-C.-A.-Narkose. Schräg¬
schnitt am Beckenrand, Muskeln stumpf getrennt. Am Coecum ein fester,
rundlicher Tumor. Abstopfen der Bauchhöhle. Lösung von vielen Adhäsionen.
Beim Versuch, den Tumor an der Aussenseite stumpf zu lösen, wird nach aussen
und hinten ein etwa faustgrosser Abscess entleert. Austupfen, Ausspülen.
Danach Eröffnung noch zweier weiterer Abscesse, einer medialwärts, der andere
gegen das Becken hin. Damit ist der vorher gefühlte Tumor verschwunden.
Wurmfortsatz liegt nach dem kleinen Becken zu, ist stark gequollen und ver¬
dickt, wird entfernt, seine Ansatzstelle doppelt übernäht. Nochmaliges Ans¬
waschen. Gegenincision lumbalwärts. In der vorderen Wunde entwickelt sich
eine Bauchdeckenphlegmone. Danach glatte Heilung.
Im Ganzen finden sich unter dem Material des Krankenhauses
am Urban 6 Fälle typischen schweren Darmverschlusses, durch
Abscessadhäsionen bei Perityphlitis hervorgerufen. Vier davon
konnten durch Entleerung des Abscesses, Entfernung des kranken
Wurmfortsatzes, Lösung der Adhäsionen und sorgfältige Reinigung
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
725
der Bauchhöhle von dem infectiösen Material geheilt werden.
Zwei Patienten starben, die erste, oben erwähnte Frau B., an der
consecutiven Peritonitis, der zweite, ein 49jähriger Arbeiter W. Z.
(Rec.-No. 3275/09) an Inanition bezw. Säfteverlust durch die ge¬
setzte Enterostomie. Trotz Anwendung jeder Art von Flüssigkeits¬
zufuhr war der unaufhaltsame Verfall des Mannes nicht zu be¬
kämpfen. In kürzester Zeit zum Skelett abgemagert, kam er am
9. Tage nach der Operation zum Exitus. Die Obduction erwies
die inneren Organe völlig intact, besonders das Peritoneum frei
von Entzündung. Die Krankengeschichte ist weiter unten (S. 757)
wiedergegeben.
Wir kommen nunmehr zu dem als Spätfolge der Perityphlitis
auftretenden Darmverschluss.
Sowohl klinisch als pathologisch-anatomisch scharf abgegrenzt
von den bisher besprochenen Fällen von im Anschluss an einen
Perityphlitisanfall beobachtetem atonischera bezw. adhäsivem
Darmverschluss sind die zeitlich entfernt von der letzten Peri¬
typhlitisattacke auftretenden Occlusionen. Sie sind nicht mehr
der Effect von Verklebungen durch frisches plastisches Entzündungs¬
material, sondern vielmehr in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit die
Folge reparatorischer Vorgänge, die sich am Orte der abgeklungenen
Entzündung abspielen. Die in Resorption befindlichen Exsudatmassen
(Abscesse, zellreiches Bindegewebe, fibrinöse Schwarten) werden
durch Neubildung faserigen Bindegewebes ersetzt, das seinerseits
nur unvollkommen resorbirt wird und, wie überall, schliesslich als
mehr oder weniger derbe Narbe von fast homogener Beschaffenheit
übrig bleibt. So entstehen die für die Bauchhöhle typischen Narben¬
gebilde des Peritoneums, die schleierartigen, durch Einlagerung von
Fettträubchen netzartigen, je nach ihrer Dicke zarteren oder derberen
Pseudomembranen, die flächenhaften oder strangartigen Adhäsionen
benachbarter Darmschlingen, die Verwachsungen von solchen an
der parietalen Bauchwand oder dem Netz oder aber den weiblichen
inneren Sexualorganen. Infolge der unter den sich in der Bauch¬
höhle abspielenden Entzündungen dominirenden Stellung der Peri¬
typhlitis, die ihre Concurrentin in dieser Hinsicht nur in den Er¬
krankungen der weiblichen Sexualorgane findet, stellt die Peri¬
typhlitis bekanntlich gerade zu den von aussen auf den Darm
wirkenden Occlusionen desselben ein sehr beträchtliches Con-
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726
Dr. £. Rüge,
tingent. Im Krankenhause am Urban war die Perityphlitis in 18
von 85 Fällen adhäsiven Darm Verschlusses aller Art der sichere
Ausgangspunkt.
Während es sich in den bisherigen Fällen um den Darm¬
verschluss als eine Frühfolge der Perityphlitiserkrankung handelte,
stellen die im Folgenden bezeichneten Bilder Beispiele des Spät-
darmverschlusses nach Perityphlitis dar.
Die bei weitem häufigste und am besten gekannte Ursache
solcher Darmverschlüsse sind die nach Entzündungen an der
Appendix bezw. peritonitischen Verwachsungen zurückbleibenden
Membranen bezw. Bänder. In der That nehmen diese unter
unseren Fällen von mechanischem postappendicitärem Darmverschluss
auch den grössten Raum ein.
Es kamen zur Beobachtung:
a) Adhäsiver Darraverschluss nach abgelaufener Peri¬
typhlitis 4 Fälle, von denen 3 starben;
b) Strangverschluss nach abgelaufener Perityphlitis 18 Fälle,
von denen 11 geheilt wurden, 7 starben;
im Ganzen also 22 Fälle mit 10 Todesfällen. Die hohe Mortalität
kann nicht verwundern bei dem ausserordentlich schweren Krank¬
heitsbild, das solche Patienten bieten und bei den schwierigen Ver¬
hältnissen, deren operative Lösung oft fast unmöglich ist. Dem¬
gemäss vertheilen sich auch die Todesursachen. Ein Patient
starb kurze Zeit nach der Aufnahme an der durch den Darm¬
verschluss gesetzten Peritonitis, ohne noch operirt werden zu
können, drei weitere starben trotz schleunigsten Eingriffes an der
mitgebrachten Peritonitis, drei erlagen dem postoperativen Collaps,
zwei einer postoperativen Pneumonie, bei einem Fall fand sich
bei der Section ein zweiter Strang, der den Effect des Ein¬
griffes, bei dem ein scharfer Strang durchschnitten wurde, illuso¬
risch machte.
Sind Stränge die abschnürende Ursache, so pflegt der Darm¬
verschluss meist ein relativ acuter zu sein und es ist wohl anzu¬
nehmen, dass die Symptome der mechanischen Occlusion in dem
Moment einsetzen, wenn die unter einen Strang gerathene Diinn-
darraschlinge infolge ihrer Füllung und hinzutretender peristal tisch er
Momente definitiv verschlossen w r ird.
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
727
Im Gegensatz hierzu waren die Darmverschlusserscheinungen
bei diffusen adhäsiven bezw. membranösen Verwachsungen (adhäsivem
Darm Verschluss xai’f'Soxtjr) in sämmtlichen vier beobachteten Fällen
äusserst chronische. Alle 4 Patienten litten seit Monaten, einer
von ihnen seit Jahren an ständig in kurzen Intervallen sich wieder¬
holenden Anfällen von Stuhlverhaltung, Dannsteifungen und Er¬
brechen. In drei Fällen waren die vorhergegangenen Attacken
von Perityphlitis äusserst schwere gewesen, wahrscheinlich mit
diffuser Peritonitis einhergegangen, die zur Ausheilung unter aus¬
gedehnten Verwachsungen führte. In dem vierten Falle, eines
Bankdirektors F., traten die Darmverschlussattacken auf, ohne dass
vorher von einer Perityphlitis dem Patienten etwas bekannt ge¬
worden war. Wahrscheinlich ist, dass der erste solche Anfall eine
Perityphlitis gewesen ist.
4. Diagnose: Recidivirender Darmverschluss durch Adhäsionen nach
(nicht operirter) Appendicitis perforativa.
Therapie: Lösung der Adhäsionen. Appendektomie.
F., Bankdirector, 38 Jahre. (Privatklinik des Herrn Geheimrath Körte.)
Aufgenommen: 3. 8. 10. Geheilt entlassen: 27. 8. 10.
Vorgeschichte: Früher gesund. Weiss nichts von überstandenen Peri¬
typhlitis-Anfällen. Seit Februar 1908 fünf Anfälle von Darmverschluss, da¬
zwischen Wohlbefinden. Abmagerung.
Befund: In Narkose fühlt man oberhalb der Symphyse einen beweglichen,
nach oben und links verschiebliohen Tumor. Diagnose: Darmtumor (Ca?).
Kleiner Nabelbruch.
6. 8. 10. Operation: Schnitt in der Mittellinie, oberhalb des Nabels
beginnend, bis nahe an die Symphyse. Etwas blutig-seröse Flüssigkeit. Därme
theils geröthet und ausgedehnt, theils blass und collabirt. In der Wurzel des
Dünndarmmesenteriums cinentzündlicherTumor aus verbackenen Darmschlingen.
Vorsichtige Lösung. Eingedickter Eiter im Centrum. Darin entzündeter Wurm¬
fortsatz. Appendektomie. Auswischen des Eiters. Cauterisation der Granula¬
tionsfläche. Lösung sämmtlicher Adhäsionen zwischen den Därmen. Ab¬
spülung der Därme. Reposition. Etagennaht mit Zwirn. Nabelbruch exoidirt.
Der Wurmfortsatz ist stark entzündlich verdickt. Oedem der Submucosa. Nahe
der Spitzo die Narbe einer alten Perforation.
Glatte Heilung. 1911 völliges Wohlbefinden.
Epikrise: In Folge einer Perityphlitis, welche als solche
nicht erkannt wurde, ist eine knäuelförmige Verwachsung von Dünn¬
därmen um den chronisch entzündeten Wurmfortsatz herum ent¬
standen. Von diesem entzündlichen Tumor aus sind dann die
Archiv für klin. Chirurgie. Dd. 04. Heft 4. i ^
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Dr. E. Rüge,
späteren Anfälle von Störungen der Darmpassage entstanden. Der
erste Anfall, Februar 1908, ist offenbar eine Appendicitis perforativa
gewesen. Die späteren hatten den Charakter von vorübergehendem
Darmverschluss.
Vielleicht handelt es sich in solchen F'ällen um persönliche
Dispositionen zu Adhäsionsbildungen, um eine vermehrte Neigung
der fibrinösen Exsudate, sich zu fibrösen Massen umzugestalten.
Dafür spricht die vielfache Erfahrung des Operateurs, dass auch
ausgedehnteste peritonisch-fibrinöse Verklebungen und Exsudationen
restlos resorbirt werden können, sodass man oft erstaunt ist, wenn
man einige Wochen nach schwerster eitrig-fibrinöser Peritonitis das
Peritoneum blass, glatt und spiegelnd findet.
Folgender Fall eines im Ganzen vier Mal wegen postappendi-
citärer Darrastenose opcrirten Kutschers, der schliesslich seinem
Potatorium an einer Pneumonie erlag, scheint ein Beispiel für solche
Disposition zu Verwachsungen zu sein.
5. Diagnose: Adhäsiver Darmverschluss 4 Jahre nach operirter Peri¬
typhlitis.
Therapie: 18. 10. 01 Iieocoloanastomose; 4. 11. 02 Darmresection.
Tod an Pneumonie.
K. F., Kutscher, 42 Jahre. Rec. No. 2555/01 u. 3459/02. Aufgenommen:
10. 10. 01; geheilt entlassen: 10. 1. 02; wieder aufgenommen: 2. 11. 02, ge¬
storben: 14. 11. 02.
Vorgeschichte: 1897 in der Charit^ an Perityphlitis oporirt. 1898 dort-
selbst angeblich wegen Verwachsungen laparotomirt. März 1901 wegen Bauch-
bruohs in der letzten Narbe in der Kgl. Klinik wieder operirt. Seit September
Schmerzen im Leib, rechts, anfallsweise auftretend, meist von einstündiger
Dauer. Ab und zu Erbrechen. Stuhlgang nur auf Drastica. — Seit 3 Jahren
rechtsseitige Facialisparese aus unbekannter Ursache. Lues negativ.
Befund: Grosser kräftiger Mann. Abdomen leicht gewölbt, in der rechten
Unterbauchgegend drei etwa 12 cm lange Narben. Keine Hernien. Etwa 2 bis
3 Mal täglich starke Koliken in der Gegend der Narben. Während derselben
deutliche Darmsteifungen in der ganzen rechten Bauchhälfte, die unter
gurrenden Geräuschen verschwinden. Auf grosse Dosen von Abführmitteln er¬
folgt meist prompter Stuhlgang von normaler Färbung ohne Blutbeimischung.
Morphium bringt die Anfälle meist schnell zum Verschwinden. Mit der
Diagnose „adhäsive Abknickungen am Darm“ wird am 18. October zur
Operation (Geh.-Rath Körte) in A-C-A-Narkose geschritten. Längsschnitt
in der Mittellinie vom Nabel bis nahe an die Symphyse. Sehr starke Ver¬
wachsungen der Därme mit der Bauchwand und untereinander. Letzteres
besonders in der Ileocoecalgegend, wo die Dünn- und Dickdarmschlingen
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Darmverschluss bei und naoh Perityphlitis.
729
unlösbar in einen voluminösen Knäuel verbacken sind. Aufsuchen der
untersten freien Dünndarmschlinge. Vorziehen des Colon transversum.
Enteroanastomose zwischen diesen beiden mit typischer doppelreihiger fort*
laufender Zwirnnaht mit Anwendung von Collin-Klammern. Netz auf die
Nahtstelle. Schluss der Bauchwunde mit versenkten Catgut-, Hautzwirn- und
durchgreifenden Drahtnähten. — Glatter Wundverlauf.
Die Enteroanastomose erwies sich als wenig hülfreich. Die Koliken traten
naoh wie vor, wenn auch etwas seltener, in derselben Stärke auf. Der Patient
wurde auf sein Drängen zunächst am 10. 1. 02 entlassen. Erst als die Koliken
sehr viel häufiger und stärker wurden als je, im November 1902, kam er wieder
in das Krankenhaus. Er hatte sich excessivem Scbnapstrunke ergeben und
wurde total betrunken eingeliefert. Bei der Neuaufnahme am 2. 11. 02 wird
im Uebrigen derselbe Befund festgestellt wie früher: Kein Erbrechen, reichlich
Stuhlgang. Abdomen etwas vorgewölbt, keine besonders empfindliche Stelle.
Laute Darmgeräuscbe. Nach reichlicher Entleerung mit Ricinus wird am 4.11.02
von Geh.-Rath Körte die Relaparotomie ausgeführt.
Schrägscbnitt in der rechten Bauchseite, später in Folge der nur unvoll¬
kommenen Uebersicht auch Relaparotomie in der Mittellinie. Es ergeben sich
folgende Verhältnisse: Die Enteroauastomose befindet sich ungefähr in der
Milte des Ileums. Seine anale Partie ist mit dem Coecum zu einem fast
unlösbaren Wust von Darmschlingen verlötet. Dieses ganze Paket, von der
Enteroanastomose aus bis wieder zu ihm zurück, also ein Theil des Colon as-
cendens, das Coecum und eine grosse Partie des Ileums wird resecirt, im
Ganzen etwa 2 m Darm. Die Stümpfe am Lleum und Colon werden mit Zwirn¬
fäden ligirt, doppelt übernäht. Ein Drain und ein Jodoformgazestreifen wird
durch einen lumbalen Knopflochscbnitt herausgeleitet. Etagennaht der Baucb-
decken.
Der Potator erholt sich nur langsam von dem schweren Eingriff. Am 9.11.
wird das lumbale Drain entfernt. Die Wunde am Abdomen ist reactionslos
geblieben.
Vom 10. 11. ab entwickeln sich die Symptome einer rechtsseitigen (Jnter-
lappenpneumonie, der der Patient am 14. 11. erliegt.
Die Section ergab als Todesursache multiple abscedirende Pneumonien
in beiden Unterlappen, besonders rechts. Für die Beurthoilung des Krank¬
heitsbildes im Peritonealraum keine bemerkenswerthen Befunde.
Offenbar hatte in diesem Falle das Peritoneum auf jeden Ein¬
griff mit leichten Entzündungserscheinungen geantwortet, die zu
Fibrinausscheidungen und Verwachsungen führten.
Die beiden anderen Fälle diffuser fibröser Venvachsungen
boten sowohl klinisch als anatomisch sehr ähnliche Verhältnisse,
wie der letztberichtete Fall, weshalb ich auf deren Wiedergabe ver¬
zichte. Auch sie führten zum Tode durch Peritonitis. In einem
von ihnen riss bei Löseversuchen eine Darmschlinge ein und ent-
4.8*
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730
Dr. E. Rüge,
leerte ihren Inhalt in die Bauchhöhle; im anderen entwickelte sich
nach der ausgeführten Enteroanastomose schleichend eine eitrige
Peritonitis, die in 9 Tagen zum Tode führte. Die Section gab bei
der fast völligen Synechia peritonei keinen Aufschluss über die
Herkunft der Infection, da nicht einmal die Enteroanastomosen-
stelle wiedergefunden wurde.
Im Gegensatz zu den ausgedehnten flächenhaften Verwachsungen,
die zu dem chronisch verlaufenden Darmverschluss durch Adhäsionen
führten, handelt es sich bei der folgenden Gruppe des Darm-
verschlusscs durch Stränge meist nur um ganz locale Reste
früherer peritonitischer Vorgänge. Eine oder auch mehrere Ver¬
klebungen haben sich zu fibrösen Verwachsungen consolidirt, sind
durch die nebeneinander hergehenden Wirkungen der Vernarbung
und der Peiistaltik zu mehr oder weniger soliden Bändern ausge¬
zogen werden. In allen beobachteten Fällen sass einer der beiden
Fusspunktc des Stranges in nächster Nähe des Wurmfortsatzes,
der andere entweder an einer beliebigen Stelle des Umfanges
einer Dünndarmschlinge (meist des untersten Ileums) oder am
Mesenterium.
Der Incarcerationsmeehanismus war stets derselbe: eine Dünn¬
darmschlinge war unter dem Adhäsionsstrange abgeklemmt,
zeigte mehr oder weniger starke Einschnürung ihrer Basis, mehr
oder weniger starke Beeinträchtigung ihrer Ernährung bis zur
Gangrän.
In 5 unter unser 13 hierher gehörigen Fällen war die einge¬
klemmte Schlinge total brandig und musste resecirt werden; drei
dieser Patienten, bei denen die Einklemmung 1, 2 bezw. 3 Tage
bestanden hatte, konnten durch Resection geheilt werden; die beiden
anderen (mit 4 bezw. 6 Tagen Incarceration) erlagen der jauchigen
Peritonitis. Bei drei weiteren Patienten waren lediglich die Schnür-
furchen gangränös, zwei wurden geheilt, der andere starb an seiner
Peritonitis und der durch sie gesetzten Darralähmung am Tage der
Operation.
Es würde zu weit führen, sämmtliche hierher gehörige Kranken¬
geschichten mitzutheilen, so viel Interesse auch jeder Fall durch
seine Besonderheiten bietet. Ich kann nur einige herausgreifen.
Im folgenden Falle (No. (>) zog der durchtrennte Strang von
dem Mesenterialansatz der untersten Dünndarmschlinge zu der
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Darraverschluss bei und nach Perityphlitis.
731
Convexität einer zweiten, die dadurch lang V-förmig ausgezogen
war. Als der Strang getrennt war, entleerte sieh der zuführende, .
sehr erweiterte Theil dieser Schlinge in den eollabirten ab¬
führenden. Der Dannverschluss schien behoben. Doch zeigte die
Section des bald nach der Operation im Collaps zum Exitus ge¬
langten Mannes, dass noch ein zweiter, sehr merkwürdig situirter
Fig. 1.
E
W M
E = Eingeklemmte Dünndarmschlinge. H r = Wurmfortsatz. M = Meckel'sches
Divertikel.
E. G. (Fall 6). Strang geht in Achtertour erst um ein Meckcl’sches Divertikel,
dann um eine Dünndarmschlinge, die abgeklemmt ist. Beide Fusspunkte des
Stranges am Mcsenterialansatz deslleums dicht oberhalb der Yalvulo ilcococealis.
Wurmfortsatz keulenartig aufgetrieben, ist mit seiner Spitze dicht in der Gegend
der Fusspunkte des Stranges adhärent. (Halbschematisch.)
8-förmig gebogener Strang vorhanden war, der in seiner ersten
Schlinge ein Meckel’sches Divertikel, in seiner zweiten eine weitere
Ileumschlinge abschnürte (s. Fig. 1).
ft. Diagnose: Strangabklemmung durch zwei Stränge. Doppelter
Darmverschluss. Letzter Anfall von Perityphlitis vor zwei Jahren.
Therapie: Probelaparotomio, Lösung eines Stranges.
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732
Dr. E. Rüge,
E. G., 27 Jahre, Rec. No. 505/94. Aufgenommen: 17.5. 1894. Ge¬
storben: 18. 5. 1894 im Collaps.
Vorgeschichte: Vor 2 Jahren Blinddarmentzündung, die auf innere
Behandlung zurückging, ohne Störungen zu hinterlassen. Am 12. 5. plötzlich
erkrankt. Schmerzen im Leib. Stuhlverhaltung, auch bei Eingüssen and
Drasticis. Brechreiz, kein Erbreohen. Auftreibung des Leibes. Kräfteverfall.
Befund: Mittelkräftig. Facies abdominalis, glanzlose Augen. Temp.36,9.
Puls 120, regelmässig, distinct. Thoracalorgane o. B. Abdomen: aufge¬
trieben, im Ganzen druckempfindlich, insbesondere Ileocoecalgegend. Ueber
der Symphyse und links davon eine pralle, wenig gedämpfte Resistenz, etwas
prominent. Eine ähnliche Resistenz dicht über dem Nabel. In den abhängigen
Partien des Bauches Dämpfung, unverschieblich. Probepunction negativ. Blase
leer. Rectum leer. Einguss erfolglos.
Operation (Dr. Brentano): Aethernarkose. Bauchschnitt in der Mittel¬
linie über dem Nabel. Die dort gefühlte Resistenz präsentiert sich als eine ge¬
füllte, sehr stark ausgedehnte Dünndarmschlinge. Man fühlt von der Wunde
aus in der Ileocoecalgegend einen scharfen kurzen drehrunden Strang.
Schnitt bis handbreit unter dem Nabel verlängert. Eventration wegen des sehr
schlecht werdenden Allgemeinbefindens unterlassen. Durchtrennung des
Stranges unter Leitung der Finger zwischen zwei Klammern. Die pralle
Schlinge entleert sich. Dagegen sind im kleinen Becken noch weitere geblähte
und stark geröthete Schlingen vom Dünndarm vorhanden. Wegen ziemlich
schweren Collapses wird der Eingriff abgebrochen. Etagennaht der Bauch¬
decken bis auf Drain und Jodoformgazestroifen im unteren Wundwinkel.
Trotz Analepticis 5 Stunden nach der Operation Exitus im Collaps.
Section ergiebt, dass der durchtrennte Strang von dem Mesenterialansatz
einer Dünndarmschlinge zu dem freien Rande einer zweiten führte. Die letztere
zeigte eine tiefe Einschnürung. Ausserdem bestand aber noch ein zweiter
ca. 8 cm langer, ooförmig gebogener Strang in der Ileocoecalgegend,
dessen Anfang und Ende in nächster Nähe des fixirten Wurmfortsatzendes
fussen und der sowohl ein Dünndarmpaket, als auch ein Meckel’scbes Diver¬
tikel einer weiteren Dünndarmschlinge abgeschnürt hatte. (Siehe Fig. 1.) Die
Untersuchung des Wurmfortsatzes ergab thoilweise Atrophie der Schleimhaut an
der Spitze, theilweise Obliteration, ferner eine Stenose etwa in der Mitte des
Organs. Distal hiervon ist das Lumen ausgedehnt und enthält flüssigen Koth.
Keine frischen Entzündungsersoheinungen.
Aus diesem Falle geht hervor, dass sich auch in klar er¬
scheinenden Fällen von Strangverschluss stets ein genaues Ab¬
suchen der Bauchhöhle nach eventuellen weiteren Strängen empfiehlt.
Einen zweiten Strang fanden wir unter den 18 Fällen unseres
Materials von Strangverschluss noch bei einer zweiten Patientin,
die im 8. Monat ihrer Gravidität mit acuten Darmverschluss¬
symptomen erkrankte. Doch wurde er hier noch in der Operation
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
733
gefunden und getrennt. Die unter ihm abgeschnürte Diinndarra-
schlinge war total brandig. Die dadurch nöthig gewordene Resection
machte die Operation zu einer so eingreifenden, dass die Patientin
im Collaps starb. Das sub finem durch die Sectio caesarea ge¬
holte Kind war todt.
7. Diagnose: Appendicitis gangraenosa recidiva. Darmverschluss
durch Stränge. Gangrän einer eingeklemmten Schlinge. Grariditas mens. VIII.
Therapie: Laparotomie. Lösung der Stränge. Darmresection. Ileocolo-
anastomose. Sectio caesarea unmittelbar nach dem Tode.
Frau L., 35 Jahre. Rec. No. 282/99. Aufgenommen: 8.5.99. Ge¬
storben: 20. 5. 99 im Collaps nach der Operation.
Vorgeschichte: Im letzten Wochenbett vor 2Jahren wurde der Patientin
ein perityphlitischer Abscess in der lleocoecalgegend incidirt. Damals restlose
Heilung. Seither gesund bis zum 4. 5. 99. Da erkrankte sie unter Leib¬
schmerzen, Erbrechen, völliger Verhalten von Stuhl und Winden. Grosses
Krankheitsgefühl.
Befund: Kyphoskoliotische gracile Frau, im 8. Monat schwanger. Sehr
stark geblähtes Abdomen. Häufige Darmsteifungen im Epigastrium mit lauten
Darmgeräuschen und starken Schmerzen. Alte Inoisionsnarbe über dem rechten
Ligamentum inguinale. Allgemeinbefinden nicht wesentlich gestört. Auf Ein¬
giessungen reichliche Stuhlentleerungen bis zum 18. 5. Dann unter vermehrten
Darmsteifungen und Schmerzen und mit ziemlich schnellem Verfall neuer absoluter
Darm Verschluss. Da bei der vorliegenden Schwangerschaft möglichst schonend
verfahren werden soll und zunächst nur ein unvollständiger Darmverschluss
bestand, wird noch einige Tage versucht, den Stuhlgang durch Eingiessungen
wieder in Ordnung zu bringen. Da das misslingt, wird am 20. 5. zur Ope¬
ration (Geh.Rath Körte) geschritten zunächst nur in der Absicht, eine Coeco-
stomie herzustellen. Zuerst genügt Localanästhesie, im weiteren Verlauf der
Operation muss etwas Chloroform gegeben werden. Eröffnung des Abdomens
in der alten Narbe. Bei der Suche nach dem Coecum findet sich am Fuss-
punkt des Ileomesenteriums ein scharfer Strang, der eine Ileumschlinge
scharf abkniokt und eine zweite stark strangulirt. Trennung des Stranges
zwischen Klammern. Darm füllt sich nur tbeilweise. Kurz vor der Einmün¬
dung des lleums ins Coecum ist durch einen zweiten Strang eine
weitere Dünndarmschlinge abgeklemmt und total brandig. Lösung des
Stranges. Resection der Darmscblinge. Seitliche Implantation des unteren
Stumpfes ins Quercolon. Ausspülen der Bauchhöhle mit heissem Wasser. Ent¬
leerung der geblähten Dünndärme mit Enterotomie. Reposition. Drain in
die Coecalgegend. Doppelreihige Zwirnbauchdeckennaht. — Trotz Excitantien
V 2 Stunde post operationem Exitus letalis. — Kaiserschnitt. Kind in Mace-
ration, seit Tagen todt.
Section: Gangränöse Appendicitis. Abscess im Douglas. Vielfache
Adhäsionen.
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734
Dr. E. Rüge,
Einen glücklichen Ausgang erzielte Herr Geheimrath Körte
in folgendem Fall, der dadurch ausgezeichnet ist, dass eine sehr
feste und scharfe Einschnürung schon 24 Stunden nach der Ein¬
klemmung zur Gangrän geführt hatte:
8. Diagnose: Wiederholte Appendicitis. Intervalloperation. 9 Monate
später Strangabkleromung. Darmgangrän.
Therapie: Reseotion von 25 cm Darm.
Frau Tr., 42 Jahre alt. Privatklinik des Herrn Geheimrath Körte. Auf¬
genommen: 24. 12. 04. Geheilt entlassen: 1. 2. 05.
Vorgeschichte: Wegen Appendicitis recidiva März 04 Exstirpation im
freien Intervall (von anderer Seite). Glatte Heilung. 23. 12. 04 Abends
1 / 2 9 Uhr plötzlich heftige Schmerzen in der reohten oberen Bauchgegend.
Uebelkeit, Erbrechen. 24. 12. Morgens, rechts vom Nabel eine druckempfind¬
liche Resistenz fühlbar. Peristaltische Unrnhe, Darmsteifungen, Reliefs. Kein
Abgang per rectum. Diagnose: Darmeinklemmung.
24.12. 2 1 / 2 Uhr Operation: Bauchschoitt in Mittellinie, Querschnitt nach
rechts. Blutig-seröses Exsudat. Dünndärme stark gebläht. Rechts vom Nabel
eine unter einem Strang sehr fest eingeklemmte Darmschlinge, deren Wand
gangränös ist. Stinkendes hämorrhagisches Exsudat in der Umgebung. Resec-
tion der 25 cm langen Schlinge im Gesunden. End-zu-End-Vereinigung des
Darms. Von dem Querschnitt aus ein Jodoformgazestreifen eingelegt. Naht.
Sehr glatte Heilung. Der Querschnitt schliesst sich langsam durch Gra¬
nulationen.
Epikrise: Der schnürende Strang war offenbar im Gefolge
der früheren Entzündungen entstanden, welche der Intervallope¬
ration vorausgegangen waren. Im Gebiete dieser letzteren fanden
sich keine bemerkenswerthen Adhäsionen. Die Einschnürung war
so fest, dass die Enden des Stranges beim Durchtrennen mit einem
Knall auseinander sprangen. Daraus erklärt sich auch der schnelle
Eintritt der Gangrän, 17 Stunden nach der Einklemmung.
Dass nach mehreren schweren Perityphlitisattaquen auch eine
Intervalloperation nicht vor den Folgen der durch die früheren Er¬
krankungen entstandenen narbigen Verwachsungen schützt, zeigt
auch folgender Fall:
9. Strangabklemmung l / 2 Jahr nach Intervalloperation wegen
Appendicitis recidiva.
S., 11 jähriger Knabe. Privatklinik dos Herrn Geheimrath Körte.
Nach mehreren leichten Anfällen am 11. 2. 03 ein mittelschwerer Anfall
von Perityphlitis, heilt spontan. Am 24. 3. 03 Intervalloperation. Es
findet sich in ausgedehnten Adhäsionen ein scharf geknickter, chronisoh ent¬
zündeter Wurmfortsatz, der in typischer Weise entfernt wird. Glatte Heilung.
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
735
im September 1903 erkrankte der Kranke plötzlich an Erscheinungen von
Darmverschluss; wurde in Abwesenheit des Herrn Geheimrath Körte von
anderer Seite operirt. Es fand sich eine soharfe Darmeinklemmung durch einen
Adhäsionsstrang.
Heilung.
Ohne in die Augen springende Symptome waren offenbar in
folgendem Falle recidivirende kurze Einklemmungen der später
definitiv abgekleramten Schlinge eingetreten, die sich durch jteri-
staltischc Bewegungen stets wieder gelöst hatten. Es ist aber auch
möglich, dass ein länger dauernder Aufenthalt der später definitiv
inearcerirten Schlinge unter dem abschnürenden Strang zu
einer circulären Narbenstenose geführt hatte, die in Folge
der Anschoppung und Entzündung der eingeklemmten Schlinge bei
der Operation noch nach Durchtrennung des Schnürbandes die
Kothpassage hemmte. Die Analogie mit einer Hernie ist hier sehr
gross.
10 . Diagnose: Schwere Peritonitis e perityphlitide. Appendektomie,
Heilung. 5 Monate später Strangabklemmung und Darmstonose.
Therapie: Lösung des Stranges. Enteroanastomose. Darmpunction.
Ruth P., 5 Jahre. Privatklinik des Herrn Geheimrath Körte. 31. 5. bis
26. 7. und 3. 11. bis 20. 12. 1910. Geheilt.
Vorgeschichte: Erkrankte 29. 5. Nachmittags mit Leibschmerzen, Er¬
brechen. 31. 5. Mittags T. 39°, starke Verschlimmerung. Abends y a 7 Uhr
deutliche Peritonitis. Leib aufgetrieben, diffus schmerzhaft.
31. 5. 8y 2 Uhr Abends Operation: Diffuse eitrige Peritonitis von
Appendicitis gangraenosa. Appendektomie. Drainage. Zwei Gegenöffnungen.
Durchspülung. Peritoneum, Muskel, Fascie genäht. Haut offen gelassen.
Sehr schwerer Verlauf. Mehrfach neue Abscesse entleert bezw. vom
Rectum punctirt. Coecalfistel. 25. 7. mit feiner Kothfistel am Coecum, jedoch
sonst gesund entlassen.
Nach völligem Wohlbefinden und normaler Darmfunction am 30. 10. 1910
an Stuhlverstopfung erkrankt. Abführmittel und Eingiessungen vergeb¬
lich. Periodische Schmerzanfälle. Erbrechen, keine Entleerungen.
2. 11. Wegen Darmverschlusses wieder in die Klinik aufgenommen.
3. 11. Wegen Verschlimmerung Operation: Fistel übernäht. Mittel¬
linienschnitt. Blutig-seröses Exsudat. Dünndarm gebläht. Durch einen binde¬
gewebigen Strang ist eine tiefe Dünndarmschlinge abgeschnürt. Durchtrennung
des Stranges. Tiefe Schnürfurchen übernäht. An der unteren Schnürfurche
besteht eine bindogewebig-narbige Stenose. Der überfüllte Darm entleert sich
schlecht. Deshalb Enteroanastomose oberhalb und unterhalb der Stenose.
Darmpunction. Ausstreichen der geblähten Schlingen. Uebernähung der
Punctionsöffnung. Vielfache Adhäsionsstränge getrennt. Ausspülung mit
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736
Dr. E. Rüge,
heissem Wasser. Naht. Kochsalzinfusion. Glatte Heilung. Am 4. Tage reich¬
licher Stuhl. 20. 12. Geheilt entlassen.
Epikrise: Das Kind erkrankte am 29. 5. an gangränöser
Appendicitis und jauchiger Peritonitis, welche nach Operation lang¬
sam unter vielerlei Zwischenfällen zur Heilung kam. Fünf Monate
nach der ersten Erkrankung trat Darm Verschluss ein durch Ab¬
schnürung einer Dünndarmschlinge unter einem der in Folge der
Peritonitis entstandenen Adhäsionsstränge. Da an der unteren
Schnürfurche des Darmes eine durch schwielige Serosanarbe be¬
dingte Stenose bestand, wurde eine Anastomose zur Umgehung der
verengten Stelle hinzugefügt. Der überfüllte obere Darmabschnitt
wurde durch Punction und Ausstreifen entleert. Die Heilung er¬
folgte dann ohne Zwischenfälle.
Wie leicht eine Verwechselung einer Darmverschlussattaque
mit einem Pcrityphlitisrccidiv möglich ist, bevor die Dann Verschluss¬
symptome deutlicher hervortreten, geht aus folgendem Fall hervor.
11. Diagnose: Darmverschloss duroh Strang. 3 Monate nach
abscedirender Appendicitis. Damals Abscessincision.
Therapie: Lösung des Stranges. Appendektomie.
Renee H., 2 1 / 2 Jahre. Privatklinik des Herrn Geheimrath Körte. 28.
bis 20. 4. und 16. 6. bis 10. 7. 1905. Geheilt.
Vorgeschichte: Erkrankte am 20. 3. 05 an Perityphlitis. Am 28. 3.
wurde ein abge kapselter Absoess durch Incision entleert. Intervallope¬
ration sollte später folgen. 16. 6. 2 Uhr früh erkrankte das Kind in Harzburg
von Neuem mit Leibschmerzen, Erbrechen, Verstopfung. Letzter Stuhlgang
15. 6. Morgens. Seitdem keinerlei Abgang per rectum.
Befund: Leib im unteren Drittel aufgetrieben, druckempfindlich; hier
eine nur undeutlich abgegrenzte Resistenz.
17. 6. 3 1 / 2 Uhr naobmittags Operation: Incision in der alten Narbe,
nach oben und unten verlängert. Seröse Flüssigkeit im Bauche. Processus
vermiformis liegt retrocoecal in Adhäsionen eingebettet, wird ausgelöst und
exstirpirt, zeigte keine frisohe Entzündung. Bei Revision der Bauchhöhle
zeigten sich theils geblähte, theils collabirte Dünndarmschlingen. Als Grund
fand sich eine durch Adhäsionsstrang bewirkte scharfe Einschnürung
einer Dünndarmschlinge. Lösung der Einklemmung. Trennung noch
einer zweiten Adhäsion. Uebernähung der Serosadefeote. Austupfen desBauches.
Kochsalzinfusion. Es gingen bald Blähungen ab. Am 20. 6. erfolgte
Stuhlgang. Dann glatte Heilung.
Epikrise: Die zweite Erkrankung wurde zuerst als ein neuer
Perityphlitisanfall angesehen. Es fanden sich aber keine neuen
Entzündungen am Wurmfortsatz, sondern die Einschnürung durch
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis. 737
einen Adhäsionsstrang, welche in Folge der ersten Entzündung sich
gebildet hatte.
In zwei Fällen waren es Netzzipfel, die durch Adhärenz
an perityphlitischen Abscessnarben zum abschnürenden Strang ge¬
worden waren. In einem Falle erfolgte glatte Heilung nach Lösung
der Incarceration und Uebernähung der Schnürfurchen. Im anderen
Falle trat 5 Tage nach einer Appendicektomie wegen gangränöser
Perityphlitis ein completer acuter Darmverschluss ein, nachdem
kurz vorher die Darmfunctionen völlig intact waren.
12 . Diagnose: Perityphlitis acuta, am 3.Tage operirt. Darmversobluss
durch Notzstrang. Dehnnngsgangrän des Jejunum und Ueum.
Therapie: Appendicektomie 3.4. Laparotomie wegen Darmverschlusses
am 9. 4.
Luise Tr., Dienstmädchen, 16 Jahre. Rec.-No. 11/1907. Aufgenommen
3. 4. 07. Gestorben 15. 4. 07 an Kothperitonitis.
Vorgeschichte: Vor 2 Jahren Anfall von Blinddarmentzündung. Am
1.4. Morgens mit Schmerzen in der rechten Bauchseite und Erbrechen erkrankt.
Da die Schmerzen immer schlimmer werden, kommt sie zur Operation ins
Krankenhaus. Genitale Anamnese belanglos.
Befund: Puls 120. Temperatur 37,8. Abdomen diffus schmerzhaft,
auch im Epigastrium und in der linken Bauchhälfto. Ileocoecalgegend am
schmerzhaftesten. Keine objectiven localen Symptome. Sonstige Untersuchung
(rectal, genital) ergebnisslos.
Mit der Diagnose „Perityphlitis acuta“
3. 4. Operation: Rectusrandschnitt. Im Peritonealsack trübseröse
Flüssigkeit, die Colibakterien in Reincultur enthält. Der Wurmfortsatz liegt in
einem von Netz und adhärenten Darmschlingen gebildeten, etwa nussgrossen
Abscess. In diesem auch ein bohnengrosser Kothstein. Wurmfortsatz ist per-
forirt, die distale Hälfte völlig gangränös und matsch. An zwei nur sehr müh¬
sam von einander und vom Colon gelösten Dünndarmschlingen ist auf ca. je
1 qcm die Serosa defect, wird übernäht. Wurmfortsatz in typischerWeise ent¬
fernt. Abspülen des ganzen Operationsgebietes mit heissem Wasser. Lum¬
bales Drain durch Knopfloch. Drain ferner durch die Wunde beckenwärts. Im
Uebrigen Etagennaht der Bauchdecken.
Nach der Operation entwickelt sich bei sonst gutem Allgemeinbefinden
zuerst ein sehr starker Meteorismus. Am 5. 4. gegen Abend Erbrechen. Danach
Magenausspülung und Kochsalz subcutan. Erst am 6. 4. gelingt es, mit hohen
Eingiessungen und Physostigmin Stuhl zu erzielen.
Nach dieser einzigen reichlichen Ernährung wiederum Verhalten von
Flatus und Fäces. Dabei gutes Allgemeinbefinden, ordentlicher Puls, kein
Fieber. Der Bauch wird wieder meteoristisch, ist aber nicht besonders ge¬
spannt, kaum schmerzhaft.
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Dr. E. Rüge,
Am 8. 4. viel Erbrechen, zuletzt fäculent. Hit keinem Mittel ist Stahl
zu erzielen. Der Allgemeineindruok ist nicht der der Peritonitis, sondern völlig
der des Darm Verschlusses. Zunge fencht. Puls 72. Kein Fieber.
Deshalb am 9. 4. erneute Oeffnung der Wunde. Die Weichtheile der
Bauchwand sind ohne Reaction. Die Umgebung der Wunde hat auoh im Ab¬
domen nichts Besonderes. Deshalb Erweiterung nach unten. Dadurch gelangt
man im kleinen Beoken zu collabirten Dünndarmschlingen, daneben im ganzen
Abdomen stark geblähte Schlingen. An der Grenze zwischen beiden findet
man Netzverklebungen, die um das mit Jodoformgaze umwickelte
Drainrohr sich gebildet hatten. Hinter einem breiten Netzstrang ist
eine Ileumschlinge völlig abgeklemmt. Ablösen des Stranges. Der
collabirte Darm füllt sich. Punction einer Stelle des Ueum dicht oberhalb
der Abklemmung mit Troicart. Sehr viel dünnflüssiger stinkender Darminhalt
iliesst aus. Doch entleeren sich die obersten Schlingen nicht. An einer der
obersten Jejunalschlingen befindet sich eine kleine quere brandige Stelle
von grauer schlaffer Beschaffenheit. Sie wird übernäht. An einer anderen
hohen Jejunalschlinge ist ein kleiner Netzzipfel adhärent, wird abgelöst. Dabei
reisst die völlig morsche Wand ein. Durch dieses Loch wird ein dünnes
Drain eingeführt und festgenäht Dasselbe geschieht an der Punctionsstelle
des Ileums. Aus beiden Rohren läuft andauernd dünner graugelber Koth aus.
Reichliches Ausspülen mit heissem Wasser. Durchgreifende Nähte.
Zwischen ihnen Herausleiten der beiden Darmrohro.
Im Laufe der auf die 2. Operation folgenden Woche entwickelt sich das
Bild der diffusen Peritonitis, der die Patientin am 15. 4. 07 erliegt.
Seotion: Ergiebt ausgedehnte Infarcirung und Gangrän unterer Jejunum-
und oberer lleumschlingen mit Perforation. Kotherguss in die Bauchhöhle.
An anderen Schlingen Dehnungsgeschwüre. Wurmfortsatzgegend völlig intact.
Der Frau wurde es zum Verhängniss, dass der ganze Verlauf
ihrer Erkrankung nach der Appendicektomie den Eindruck einer
jener postoperativen Darmlähmungen machte, wie sie gerade bei
eitrigen Perityphlitiden nicht so selten sind. Ob der abschnürende
Strang die Folge frischer Verklebungen oder seine Verwachsung
der Effect des 2 Jahre früher überstandenen ersten Anfalles war.
war nicht zu entscheiden, doch spricht die Festigkeit der Ver¬
wachsungen mehr für ihr höheres Alter.
Einen besonderen Fall des Strangverschlusses nach
Perityphlitis stellen diejenigen Verschlüsse dar, die durch den mit
seiner Spitze an einem Darm oder an einer Stelle des Gekröses
verlötheten Wurmfortsatz selbst verursacht werden. Dabei
fungirt also die Appendix vermiformis selbst als Strang. Die
klinische Seite dieser Besonderheit hat freilich kein besonderes
Interesse, da irgendwie abweichende oder bezeichnende Symptome
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Darmverschlass bei and nach Perityphlitis.
739
in der Regel nicht gefunden werden und es für das klinische Bild
des Darmverschlusses gleichgiltig ist, welcher Art der verschliessende
Strang ist. Doch ist es für den Operateur immerhin von wesent¬
licher Wichtigkeit, zu wissen, dass dieser Specialfall relativ häufig
ist und eine einfache Durchtrennung eines, wenn auch dünn und
fibrös erscheinenden Stranges die Gefahr der Kothperitonitis nach
sich ziehen* kann. Unter unseren 18 Strangverschlüssen nach Peri¬
typhlitis repräsentirte den Strang nicht weniger als sechsmal die
Appendix selbst. In zweien dieser Fälle hatte sich, wohl unter
dem Einflüsse der untergeschobenen Diinndarmschlingc, in dem
fixirten Hohlorgane eine acute Appendicitis etablirt, die in einem
Falle zur Gangrän geführt hatte. In einem dritten Falle war
offenbar durch den Druck der eingeklemmten Dünndarmschlinge
ein in der Appendix vorhandener Kothstein durch die Appendix¬
wand perforirt und hatte dadurch die zum Tode führende Perito¬
nitis verursacht.
13 . Diagnose: Straugabklemmung durch adhärenten Wurmfortsatz.
Perforation desselben. Eitrige Peritonitis.
Therapie: Laparotomie. Appendicektomie.
v. K., iy 2 jähr. Kind (Privatklinik des Herrn Geheimrath Körte). Auf¬
genommen 9. 8. 96. Gestorben 10. 8. 96.
Vorgeschichte: Das vorher gesunde Kind erkrankte am 7. 8. Mittags
mit Erbrechen und Durchfall. 8. 8. keine Entleerungen mehr. Leibschmerzen.
9. 8. Leib aufgetrieben. Erbrechen.
9. 8. Abends 9 Uhr Operation: Bauchschnitt; eitrige Peritonitis.
Dünndärme grösstentheils gebläht, im Becken collabirte Schlingen. Appendix
nach links hin am Mesenterium adbärent, darunter eine Dünndarmsohlinge ab¬
geschnürt. Appendix an der Basis durch Kothstein perforirt. Appendektomie.
Austupfen. Drainage. Bauchnaht.
10. 8. Tod Nachts 3y 2 Uhr im Collaps.
Epikrise: Der Wurmfortsatz war durch latent verlaufen«*
Entzündung am Mesenterium des Dünndarms angewachsen. Infolge
eines Darmkatarrhs klemmt sich eine Dünndarmschlinge unter dem
Appendixstrang ein. Wohl infolge der Zerrung perforirte der Koth¬
stein die Wand der Appendix und es entstand eine eitrige Peri¬
tonitis. Die erst 9. 8. angerufene chirurgische Hilfe kam zu spät.
In den ersten Tagen wäre vermuthlich noch vor dem Beginn der
Peritonitis Rettung möglich gewesen.
Alle drei erwähnten Fälle, in denen die Abklemmung unter
der Appendix zu Schädigungen dieser geführt hatte, starben an
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740 Dr. E. Rüge,
Peritonitis. Ein vierter Fall erlag dem schweren postoperativen
Collaps.
Bei den geheilten zwei Fällen handelte es sich einmal um
den völlig obliterirten, zu einem soliden Strang gewordenen Wurm¬
fortsatz. Das andere Mal war das nur einige Centimeter lange
Fig. 2.
Frau F. (Fall 14.) Ein rabenfederkicldicker Strang zieht von der Spitze (a)
des Wurmfortsatzes (b) zum Mcsenterialansatzc (c) der untersten lleumschlingc
(d) und schnürt dadurch eine andere lleumschlingc ( e-f-g ) ab. e zuführendes,
g abführendes Ende derselben.
Organ durch einen federkieldicken derben Strang von gleicher Länge
an die Convcxität einer Dünndarmschlinge fixirt und hielt die un¬
terste Ileumschlinge hinter sich gegen die Radix mesenterii gepresst.
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis. 741
In dem (geheilten) Falle der Frau F. hatte kurz vor der Ein¬
lieferung im Krankenhaus eine Hemienincarceration und Reposition
mittels Taxis stattgefunden, so dass die Verrauthung einer Repo¬
sition en bloc nahelag (Fig. 2, Fall 14).
14 . Diagnose: Darmverschluss durch Strangabhlemmnng. Strang geht
von der Spitze des Wurmfortsatzes aus.
Therapie: Laparotomie. Lösung des Stranges.
F., Frau, 28 Jahre. Rec.-No. 352/95. Aufgenommen 7. 5. 95. Geheilt
entlassen 3. 6. 95.
Vorgeschichte: Früher rechts wiederholt Austreten einer Leisten¬
hernie. Gestern Incarceration derselben und Taxis durch einen Arzt. Gleich
darauf heftige Schmerzen im Leib. Stuhlverhaltung, Auftreibung des Leibes.
Erbrechen, heute früh fäculent. Angeblioh nie Blinddarmentzündung gehabt.
Befund: Kräftige Frau. Puls ca. 100, unregelmässig, kräftig. Kein
Fieber. — Leistencanal rechts für Finger durchgängig, ohne Inhalt. Keine
sonstigen Hernien. Aufgetriebenes Abdomen, besonders deutlich im rechten
Hypogastrium. Hier fühlt man eine gesteifte Darmschlinge. Im Magen bei
Ausspülung fäculenter Inhalt. Unter der Diagnose: Reposition en bloc oder
Netztorsion sofortige
Operation (Geheimr. Körte) in Aethernarkose: Medianschnitt von Nabel
bis Symphyse. Im Peritonealraum dunkle blutig-seröse Flüssigkeit. Rechts von
der Mittelline entspricht der gefühlten Darmsteifung eine blutig sugillirte, prall
geblähte, ca. 40 cm lange Dünndarmscblinge, die an ihrer Basis von einem
ringartig sie umspannenden rabenfederkieldioken Strang abgeschnürt ist. Es
stellt sich heraus, dass der Strang von der Spitze des Processus
vermiformis ausgeht und zu dem untersten Theil des Ueum zieht. Unter
ihm hindurch gehen zu- und abführende Schenkel der incarcerirten Schlinge.
Lösung des Stranges. Schnürfurchen gut. Darm entleert sich, contrahirt sich
gut. Abbindung und Uebernähung des Wurmfortsatzes. Austupfen der Bauch¬
höhle, deren Inhalt bakteriologisch steril gefunden wird.
Wundheilung absolut glatt. Reconvalescenz durch eine am 3. Tage nach
der Operation einsetzende neuntägige rechtsseitige Unterlappenpneumonie com-
plicirt. Danach schnelle Erholung.
In dem folgenden Fall der Frau R. war der eingeklemmte
Darm schon so morsch, dass er bei dem Versuche der Lösung
von Adhäsionen einriss und etwas von seinem Inhalt in die Bauch¬
höhle entleerte. Zugleich bestand fast völlige Gangrän des mit
seiner Spitze in der Nähe der Radix mesenterii angehefteten dünnen
und langen Wurmfortsatzes (Fig. 3, Fall 15).
15 . Diagnose: Darmverschluss infolge Abklemmung durch den adhä-
renten Wurmfortsatz. Acute gangränescirende Perityphlitis. Beginn der Darm¬
gangrän.
Therapie: Laparotomie. Exstirpation des Wurmfortsatzes.
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742
Dr. E. Rüge,
A. R., geb. Z., 50 .Jahre. Rec.-No. 76/99. Aufgenommen 11. 4. 99. Ge¬
storben 11. 4. 99 im Collaps.
Vorgeschichte: Bis zum Juli 98 stets gesund. Seitdem dreimal ähn¬
liche Anfälle wie der jetzige, die in Leibschmerzen, Stuhlerschwerung und Er¬
brechen, einmal auch mit Icterus bestanden. Dauer zweimal einige Tage, ein¬
mal fast 4 Wochen. Jetzt seit 5 Tagen Erbrechen, Leibschmerzen, völlige Ver¬
haltung von Stuhl und Blähungen.
Befund: Elende, leicht ikterischeFrau mit eingesunkenen Augen, spitzer,
kühler Nase und kühlen Extremitäten. Puls 112, klein, weich. Temperatur
136,8. Zunge graugelb belegt, feucht. Abdomen: aufgetrieben, überall
Fig. 3.
I'rau K. (Fall 15.) Wurmfortsatz ist dünn, schlank, gangränös. Eine Jejunal¬
schlinge ist abgeklemmt, eine llcumsehlinge an ihr adhärent. Fixation der
Wunnfortsatzspitze an der Radix mesenterii.
deutlich sicht- und hörbare peristaltische Unruhe, Leberdämpfung verkleinert:
in den abhängigen Partien gedämpfter Schall, sonst Tympanie. Zeitweilige
krampfartige Schmerzattaquen in der Mitte des Abdomens. Hinderniss nicht
localisirbar. Mit der Diagnose recidivirender Darmverschluss unbekannter
Aetiologie:
Operation (Geheimr. Körte) in Localanästhesie: Bauchschnitt in Mittel¬
linie vonNabel bisSymphyse. Blutigseröses Exsudat. Eventration grosser Mengen
stark geblähter Darmschlingen. In der Tiefe des Beckens eng collabirte Dünn¬
därme. Colon eng contrnhirt. Vor der Mesenterialwurzel ist der lang aus¬
gezogene Wurmfortsatz mit seiner Spitze adhärent. Hinter dem hier—
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
743
durch gebildeten scharfen, straff gespannten Strang ist eine mittlere
lleumschlinge eingeklemmt. Scharfe Sohnürfurchen. Eine zweite lleumschlinge
ist an dem eingeklemmten Darmstöck adhärent. Bei ihrer Ablösung reisst die
Darmwand ein; ein Guss flüssigen Kothes entleert sich in die Bauchhöhle.
Uebernähung dieser und noch zweier weiterer morscher Stellen der Darmwand.
Exstirpation des Wurmfortsatzes. Aus der Gegend hinter dem Coecum entleert
sioh ein stinkender Abscess. — Intensive Heisswasserspülung der Bauchhöhle.
Tiefgreifende ßauchdeckennähte einreihig mit zwischengeknüpfter Compresse.
— Patientin wacht aus dem operativen Collaps nioht mehr auf. Exitus erfolgt
noch am gleichen Tage. W'urmfortsatz zeigt alle Zeichen der acuten gan-
gränesoirenden Entzündung.
Section: Ueberall im Dünndarm Dehnungsgeschwüre und malacische
Stellen.
Die Gangrän des Wurmfortsatzes ist hier ätiologisch ganz
klar. Eine Stenose oder Kothsteine waren nicht vorhanden. Es
bleibt nur die Möglichkeit, dass die Gangrän erst eine secundäre
war, als Folge der durch die Abklemmung der Darmschlinge be¬
wirkten starken Dehnung des Organs und der erheblichen Com-
prcssion der mesenterialen Gefässe.
Ebenso verhält es sich offenbar irn folgenden Falle. Der
Wurmfortsatz war entzündet, an seinem Ende kolbig aufgetrieben
und in die zum Mesenterium einer Jejunalschlinge führenden Ad¬
häsionen perforirt (s. Fig. 4, Fall 16). Der Darm Verschluss¬
mechanismus selbst war hier ein anderer wie in den bisher
beschriebenen Fällen. Er kam dadurch zustande, dass die Adhä¬
sion durch ihren Längszug das Darmlumen längs drehte und zu¬
gleich gegen die Unterlage (Gegend der Linea innominata pelvis)
presste.
16 . Diagnose: Appendicitis acuta. Darmverschluss durch Strang.
Peritonitis.
Therapie: Laparotomie. Entfernung des Processus vermif. Enterotomie.
A. Bl., Tischler, 28 Jahre, Rec.-No. 3864/01. Aufgenommen 6. 1. 02.
Gestorben 6. 1. 02 an der Peritonitis.
Vorgeschichte: Früher nicht krank, war Soldat. Seit langer Zeit
schwerer Stuhlgang, nahm Abführmittel. Am 27. 12. plötzlich erkrankt mit
Leibschmerzen im ganzen Leib, Erbrechen, Stuhlverhaltung, Auftreibung des
Leibes. Am 4. 1. Aufnahme auf die innere Abtheilung, daselbst keine Flatus,
kein Stuhl, kothiges Erbrechen. Deshalb heute auf die äussere Abtheilung
verlegt.
Befund: Grosser kräftiger Mann. Puls 100, kräftig. Magengegend stark
vorgewölbt, Abdomen überhaupt stark aufgetrieben. Leib schmerzhaft, nirgends
besonders. Kein Exsudat nachweisbar, kein Tumor, keine Borborygmen, keine
Archi? för klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4. i<»
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Dr. E. Rüge,
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Darmsteifungen. Viel kothiges Erbrechen. Im Magen bei Ausspülung viele
kothige Flüssigkeit. Einige Flatus gehon ab.
6. 1.02 Operation (Geh.-Rath Körte) in Misobnarkose. Schnitt in der
Mittellinie von Nabel bis Symphyse. Trübes Exsudat in der Bauchhöhle. Darm-
scblingen theilweise enorm gebläht, besonders Dünndarmschlingen. Ihre Serosa
intensiv gerötbet, getrübt. In der Tiefe des kleinen Beckens collabirte Schlingen.
An .diesen entlang gehend kommt man zu einem strangartigen Gebilde, dem
stark entzündeten Wurmfortsatz, der mit seiner Spitze am Dünn-
Fig. 4.
TV = Wurmfortsatz. F = Fistel. A = Adhäsionsstrang.
A. Bl. (Fall 16.) Skizze der topographischen Lage der Absehnürungsstelle.
Wurmfortsatz aufgeschnitten gezeichnet mit der nach der Adhäsionsstelle ge¬
öffneten Fistel. Der Adhäsionsstrang inscrirt am Mesenterium einer Jejunal¬
schlinge, deren einer Schenkel stark gebläht, deren anderer, der abführende (J l )
collabirt ist.
darmmesenterium adhärent ist, so dass die betreffende Dünndarmschlinge
abgeschnürt ist. Hier tiefe Strangulationsmarke. Wurmfortsatz wird abgetragen,
seine Insertionsstclle übernäht. Sowohl an einer Stelle des äusserst geblähten
Jejunums, als auch im Colon, das sich nach dei Lösung der Strangulation sehr
aufgebläht hatte, Enterotomie mittels Troicart. Abfliessenlassen grosser Mengen
von Gas und dünnem Koth. Schluss der Bauchhöhle.
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
745
Am Wurmfortsatz findet sich eine sein mittleres Drittel umfassende Stenose.»
Das distale Drittel ist kolbig aufgesohwollen, an einer Stelle führt duroh die
Wand eine feine Fistel zu der Adhäsion. Auf Druck quillt eitriger Schleim
heraus (siehe Skizze!).
Drei Stunden nach der Operation Exitus letalis im Collaps. Section er-
giebt keine andere Ursache als der operative Befund: Beginnende Peritonitis
nach Darmverschluss (oder auch von dem kranken Wurmfortsatz aus?). Herz-,
muskeldegenerati on.
Aus diesen 6 Fällen von Strangulationsverschluss unter dem
adhärenten Wurmfortsatz lässt sich also schliessen, dass nicht nur
der eingeschnürte Darmtheil, sondern auch der die Einschnürung
bewirkende Wurmfortsatz der Gangrän in Folge von Circulations-
störung ausgesetzt ist. Für den Wurmfortsatz kommt auch, gegen¬
über einfachen bindegewebigen oder Netzsträngen noch die Gefahr
der Anhäufung von infectiösem Material im Innern hinzu, welches
sich beim Nachgeben der Wand in die Bauchhöhle ergiessen kann.
Dadurch wird die Prognose dieser Einklemmungsart noch ver¬
schlechtert. Von den bisher beschriebenen Gruppen des mecha¬
nischen Darm Verschlusses nach Blinddarmentzündung verliefen
unter im Ganzen 28 Fällen 14 tödtlich. Unter diesen war nur
ein Fall von völlig obliterirtem Wurmfortsatz, der jedoch erst am
12. Tage der Incarceration operirt werden konnte, so dass sich
der mit Dehnungsgeschwüren wie besetzte Darm nicht mehr er¬
holte. Zudem handelte es sich in den bisherigen Fällen stets um
flächen- oder strangförmige Adhäsionen, die entweder die Operation
sehr mühselig und eingreifend gestalteten oder durch den scharfen
Verschluss eine tiefgreifende Schädigung der Darmwand involvirten.
In den folgenden zwei Darm verschlussfällen, die einer
Heilung zugeführt werden konnten, handelte es sich um
Patienten, deren frühere Perityphlitis in eine Art von Spontan¬
heilung übergegangen war. Diese Fälle beanspruchen eine Sonder¬
stellung, weil der Darmverschlussmechanismus ein absolut ver¬
schiedener von den bisherigen war. In dem Falle W. Sch. war
der Wurmfortsatz völlig obliterirt, eine Schleimhaut nicht mehr
vorhanden, in dem Falle W. Kr. war sogar der ganze Wurmfort¬
satz mit Mesenteriolum der Resorption angeheimgefallen, der
Coecalblindsack wesentlich geschrumpft. Im erstereu Falle hatte
ein entzündlicher Tumor, der sich um zwei am Ende der Appendix
deponirte Kothsteine gebildet hatte, eine seitliche Compression
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74(> Dr. E. Rage,
einer Darmschlinge hervorgerufen, wie es bei einem Fibrom der
Subserosa vorkommt. Im anderen der beiden Fälle war es durch
chronisch entzündliche Ulcerationen zu einer üeocoecalstenose ge¬
kommen.
Der Seltenheit halber berichte ich die beiden Krankheitsfälle
ausführlich.
17 . Diagnose: Darmverschluss durch entzündlichen Adhäsionstumor
an einer Dünndarmsohlinge.
Therapie: Laparotomie, Resectio intestini.
W. Sch., 8 Jahre, Roc.-No. 1885/08. Aufgenommen 2. 8. 08. Geheilt
entlassen 13. 9. 08.
Vorgeschichte: Angeblich früher schon öftere Anfälle von Darmver¬
schluss; aber nach Abführmitteln schliesslich doch immer Stuhlgang. Jetzt
seit dem 30. 7. kein Stuhl. Seit dem 1. 8. mehrfach Erbrechen. Abführmittel
diesmal wirkungslos.
Befund: Kräftiger, gesund aussebender Junge. Zunge etwas belegt.
Kein Fieber. Puls 84. Leib stark aufgetrieben, deutliche Reliefs über dem
ganzen Abdomen, laute Darmgeräusche. Keine Druckempfindliobkeit, keine
palpablen Resistenzen. Rectal ohne Besonderheiten. Auf mehrfache hohe
Eingiessungen etwas Stuhlgang.
5. 8. Auf Ricinus und weitere Eingiessungen sehr grosse Stuhlmengen.
Röntgenbild nach Irrigation von 2*/ 2 Liter 5proo. Bismutaufscbwem-
mung ins Rectum (siehe Skizze!) lässt die Diagnose Stenose im unteren Theil
der Flexura sigmoidea als sehr wahrscheinlich erscheinen.
Deshalb am 8. 8. 08 Operation (Geh.-Rath Körte) in A.-C.-A.-Narkose.
Bauchhöhle oberhalb des Nabels bis zur Symphyse. Geblähte und collabirte
Darmschlingen. An den geblähten entlang gehend kommt man in der linken
Beckenschaufel zu einem circa haselnussgrossen Tumor, der an der freien Seile
einer Dünndarmsohlinge sitzt (siebe Skizze!). An ihm adhärent der völlig
obliterirte Wurmfortsatz, der, 8 cm lang, auf diese Weise einen querdurch
die ganze Bauchhöhle ziehenden Strang formirt. Abtrennen desselben, typische
Excision und Uebernähungen am Coecum. Reposition der Därme bis auf die mit
dem Tumor versehene Schlinge. An dieser ist noch eine zweite Dünndarmschlinge
fest adhärent und wie die erste abgeknickt. Vorsichtige Ablösung derselben.
Uebernähung eines dabei entstehenden Serosadefectes. Da der Tumor noch
immer seine Dünndarmschlinge völlig stenosirt und als Grenze zwischen stark
geblähten und collabirten Darmpartien erscheint, ferner über die Natur des
Tumors nichts Sicheres feststeht, wird die circuläre Resoction des Dünn¬
darmstückes von ca. 8 cm Länge ausgeführt. End- zu End-Anastomose.
Reposition. Schluss der Bauchwunde mit Etagennaht.
Völlig glatter Verlauf. Stuhlgang regelmässig.
Das gewonnene Präparat wird zuerst in toto mit Formalin fixirt.
dann aufgesebnitten. Es ergiebt sich, dass der Tumor aus fibrösem Gewebe
besteht, das der Dünndarmschlinge aufsitzt, während ihre Muscularis und
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Dannverschluss bei and nach Perityphlitis.
747
Mucosa völlig intact ist. Im Innern des Tamors befinden sich zwei je hasel-
nasskerngrosse Kothsteine. Die Stenose wird weniger dadurch erzeugt, dass
der Tumor als soloher das Lumen des Darms beengte, als vielmehr durch den
Zug des an dem Tumor festsitzenden Wurmfortsatzes. Nooh im fixirten Prä¬
parat sieht man deutlich den starken Weitenunterschied des zu- und abführeuden
Schenkels.
Der Fall bietet eine Fülle von interessanten Einzelheiten.
Zunächst das irreführende Röntgenbild, das seine einfache Erklärung •
in einer, nach Auffüllungen des Dickdarms so häufigen reflectorischen
Fig. 5.
\V. Sch. (Fall 17.) Röntgenbild nach Auffüllung des Dickdarmes mir Wismut-
brei. Im Einklang mit den klinischen Symptomen wurde im Verlauf der Flcxur
hei a eine Stenose angenommen, während es sich bei der Operation heraus¬
stellte, dass die Verengerung am Dünndarm sass.
Oontraction einer Darinpartie, hier des Mastdarras findet (Fig. 5,
Fall 17). Da jedoch gerade in der im Bilde scheinbar stenosirten
Gegend des Abdomens nach den klinischen Symptomen (und auch
nach dem Operationsbefund) die Verengerung sich befand, war es
naheliegend, das Röntgenbild auf eine Dickdarmstenose zu deuten,
die wohl den flüssigen Wismuthbrei durchliess, für den festen
Dickdarminhalt aber nur schwer passirbar war. Auch das ver-
hältnissmässig sehr wenig veränderte Allgemeinbefinden des Jungen
liess an ein weit nach abwärts gelegenes Hinderniss denken.
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748
Dr. E. Rage,
Interessant ist ferner die Beobachtung der Einheilung zweier
haselnussgrosser Kothsteine, die doch gewöhnlich der Aufenthaltsort
ganz besonders virulenten Bakterienmaterials zu sein pflegen.
Wahrscheinlich wurden sie schon vor längerer Zeit aus dem ehemals
an der Spitze perforirten Wurmfortsatz in einen zwischen den beiden
Jejunalschlingen Jej. 1 und Jej. 2 (Fig. 6, Fall 17) situirten Abscess
deponirt und führten nach Resorption desselben die Bildung der
starken Bindegewebskapsel herbei, die durch ihre nachträgliche
Fig. 6.
W. Sch. (Fall 17.; Resccirtes Darinstück, aufgcschnittcn. Schleimhaut um!
Subserosa intaet. In der Dannwand liegt, fest verlöthet, ein fibröser Tumor,
der in seinem Innern zwei Kothsteine birgt, die von Bindegcwebsziigen fest
eingeschlossen sind. Kein Abscess. Kein Zusammenhang mehr mit dem Lumen
des Wurmfortsatzes, das auch in diesem Organ selbst völlig verlöthet ist.
Schrumpfung die Kuppen der beiden Schlingen fest aneinander¬
zog. So wurde in beiden Schlingen die Passage erschwert und
zugleich der Tumor mit der darunter hinziehenden Schleimhaut
der Schlinge Jej. 1 (Fig. 7, Fall 17), in deren Lumen vorgedrängt.
Der Zug an dem straff angezogenen Wurmfortsatz brachte schliesslich
die betroffene Jejunalschlinge in eine spitzwinklige Knickung und
fügte dadurch den beengenden Momenten noch ein weiteres zu.
Von mechanischen Gesichtspunkten aus ist der in diesem
Falle vorliegende Darm Verschluss ein recht complicirter, insofern
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
749
es sich, wie gezeigt, um eine Combination von adhäsivem, Knickungs-
und Compressionsverschluss unter Einbeziehung zweier verschiedener
Dünndarmschlingen handelte.
Im folgenden Falle hatte eine schwere, mit Gewebseinschmelzung
verbundene und vor längeren Jahren spontan „abgeheilte“ Blind¬
darmentzündung zu einer starken Entwicklung von schwieligem
Narbengewebe in der Umgebung des Darmes wie auch in der
Fig. 7.
Coec.
\V. Sch. (Fall 17.) Skizze des Operationsbefundes. Der lanire nbliterirte Wurm¬
fortsatz endigt in einen Tumor, der bei einer Jejunalschlinire in der linken
Beckenschaufel eine Obturationssteno.se erzeugt, eine zweite höhere durch Ad¬
häsionen stark beengt.
Darmwand geführt. Dadurch war eine starke Verengerung an
dieser Stelle entstanden, welche wiederholte Verschlussattacken
auslöste.
Der Fall lehrt, welch schwere Gefahren noch nach anscheinend
glücklicher Spontanheilung den Patienten drohen können. Nur durch
die frühzeitige Entfernung des erkrankten Wurmfortsatzes lässt sich
solch Vorkommniss verhüten.
18. Diagnose: Ileocoecalstenose nach mehrfachen Anfällen von Peri¬
typhlitis.
Therapie: Resectio ileocolica, End- zu Seit-Anastomose.
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750
Dr. E. Kuge,
K. K., Postbeamter, 53 Jahre, Rec.-No. 2595/09. Aufgenommen 7. 10. 09.
Geheilt entlassen 30. 10. 09.
Vorgeschichte: Vor 25 Jahren 2 leichte Anfälle von Perityphlitis.
Vor 4 Jahren nach 21jähriger Panse ernente Anfälle von Schmerzen in der
lleocoecalgegend mit Erbreoben und Stuhlvorhaltung. Seitdem bis vor 14 Tagen
in Abständen von einigen Monaten Anfälle der gleichen Art.
Befund: Blasser, unterernährter Mann. Abdomen weich, eindrückbar.
ohne abnorme Resistenzen, Dämpfungen, Druokempfindlichkeiten. Bauchdecken
durch heisse Umschläge braun pigmentirt. Zur Zeit keine Symptome von
Darmverengerung oder -verschloss. Unter der Diagnose: Chronische Appen-
dicitis im Intervall, nach Entleerung des Darms mittels Klysmen und Rioinns
8. 10.09 Operation (Geh.-Rath Körte) in A.-C.-A.-Narkose. Gewöhn¬
licher Sohrägschnitt am Beckenrand unter Trennung der Muskeln in der Faser¬
richtung, wird nachher wegen Raummangels naoh oben aussen scharf verlängert.
Coecnm und unterste lleumschlinge zeigen ausgedehnte, schwer entwirrbare
Verwachsungen; in ihnen wird der Wurmfortsatz gesucht, aber nicht gefunden.
Unterste lleumschlinge ist weit und zeigt starke Hypertrophie ihrer Wand,
während Coecum und Colon eng zusammengefallen ist. Im Mesenterium sind
zahlreiche kleine Drusen zu fühlen. Deshalb in der Annahme einer entzünd¬
lichen oder Tumorstenose: Resectio ileocolica in typischer Weise. Ab¬
bindung des Ileums bozw. Colons. Abtragen des ausgeschalteten Stückes.
Einstülpen des Colonstumpfes. Seitliche Implantation des lleumstumpfes in
das Colon transversum. Netz auf die Darmnaht. Etagennaht der Bauchdecken.
Am 11. 10. auf Eingiessung Stuhl. Prima intentio der Wunde. 28.10. Auf-
stehen. 30. 10. Entlassen als geheilt.
Präparat: 6 cm langes, anscheinend blind endigendes Stück am Colon,
7 cm langes, ebenfalls anscheinend blind endigendes Stück des Ileums. Dieses
hat sehr stark hypertrophische Muscularis, ist stark erweitert. Erst bei ge¬
nauerem Zusehen zeigt sich, dass Ileum und Coecum durch einen sondenstarken,
durch fibröse Massen hindurchführenden, von atrophischer Schleimhaut aus¬
gebildeten Canal mit einander verbunden sind. An ihm ist ein derbes, tumor-
artig infiltrirtes Stück eines Netzzipfels adhärent. Die Coecalausbuchtung des
Colon ascendens fehlt völlig, ebenso der Processus vermiformis. An der Ein¬
mündungsstelle des engen Canals in das Colon ist die Sohleimhaut von einem
alten Ulcus eingenommen, dessen Grund schwielig derb ist und in den ad-
härenten Netzzipfel hineinreicht.
Histologisch: Keine Spur von Tumor. Ueberall nur Zeichen chronisch-
entzündlich-fibrösor Processe. Reste des Wurmfortsatzes sind nicht aufzufinden.
Einige untersuchte Drüsen zeigen ebenfalls nur chronisch entzündliche Indu¬
ration. Keinerlei Anzeichen eines specifischen Processes.
Der Patient wurde nach mehrfachen Vcrschlussanfällen im
freien Intervall operirt. Ich führe ihn trotzdem hier an, weil, wie
die Zeichnung (Fig. 8 und Fig. 9) zeigt, in Wirklichkeit eine sehr
intensive Verengerung des Darmlumens vorlag, auf die doch offen-
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752
Dr. E. Rüge,
bar die Beschwerden des Patienten zurückzuführen waren (Fig. $
und Fig. 9, Fall 18). Ich führe auch mangels Vorhandenseins
irgendwelcher früheren anatomisch nachweislichen Entzündungs¬
vorgänge die bis kurz vor der Operation beobachteten leichten
Temperatursteigerungen des Patienten auf Stagnation der Ingesta
im unteren Ileum zurück. Es ist klar, dass selbst leichte ent¬
zündliche Schwellungen in dem verengten Gebiet Kothstauungen und
kolikartige Schmerzen in der Ileocoecalgegend hervorrufen mussten.
Es muss nun in diesem Falle die Frage aufgeworfen werden,
ob derselbe auch auf das Conto der Perityphlitis zu setzen sei.
Doch fiel die histologische Untersuchung der Coecal- und Deum-
wand, wie des zwischen ihnen gelegenen narbigen Gewebes bei
einer genauen Durchsicht auf Reste von Tuberculose oder auf
luetische Vorgänge völlig negativ aus. Ferner ergab die mikro¬
skopische Untersuchung auch nicht die geringsten Reste eines
Wurmfortsatzes. Es erscheint somit die Annahme berechtigt, dass der
Wurmfortsatz vor Jahren bei einer schweren destructiven Entzündung
zu Grunde gegangen ist, und dass die Stenoseubildung die Folge jener
entzündlichen Vorgänge ist. Dafür sprechen auch die in der
Anamnese verzeichneten, bis 25 Jahre vor die Operation zurück¬
reichenden Anfälle von Schmerzen in der Ileocoecalgegend. Die
Möglichkeit eines congenitalen Defectes des Wurmfortsatzes mit
congenitaler Ileocoecalstenose ist unwahrscheinlich, da die ersten
Beschwerden in dieser Gegend erst im Ende des dritten Lebens¬
jahrzehnts auftraten, einer Zeit, die innerhalb des Vorzugsalters der
Perityphlitis liegt. Zu diagnostischen Bedenken könnte das im
Coecaltheil dicht an der Einmündungsstelle der fistelartigen Commu-
nication mit dem Ileum situirte Ulcus anregen. Doch kommen
einerseits bei schwerer recidivirender Perityphlitis als Theilerschei-
nung der Typhlitis auch coecale Ulccra vor; andererseits liess die
histologische Untersuchung auch dieses Geschwürs jede andere der
im Coecum bekannten Erkrankungen wie Tuberculose, Lues, Neo¬
plasma ausschliessen.
Auffallend ist, ein wie ausserordentlich feines Lumen der Ileo-
eoecalVerbindung genügte, um die Kothpassage Wochen und Monate
ungehindert vor sich gehen zu lassen. Offenbar wurde dieselbe
durch den im Ileum noch dünnflüssigen Zustand der Ingesta er¬
möglicht und in der letzten Zeit nur dann unterbrochen, wenn ein
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Dannverschluss bei und nach Perityphlitis.
753
Aufflackern des entzündlichen Processes eine Verschwellung der
Schleimhaut innerhalb dieses dünnen Canals oder an seinen Mün¬
dungen herbeiführte.
Das in den vorangegangenen Seiten im Auszug wiedergegebene
bezw. referirte Material giebt einen Einblick in den Formenreich¬
thum des Darmverschlusses, soweit er im Gefolge der Perityphlitis
auftritt. Wir haben fast sämmtliche beobachteten Möglichkeiten
mechanischen Darmverschlusses im Gefolge perityphlitischer und
postperityphlitischer Veränderungen verzeichnet und neben dem
chronischen Verschluss durch mehr oder weniger ausgebreitete
flächenhafte Adhäsionen acute Strangulationen, Abknickungen, end¬
lich Verschluss durch Compression und Strictur als Folge abge¬
laufener oder recidivirender Perityphlitis berichtet. Der Voll¬
ständigkeit halber füge ich hinzu, dass von anderen Autoren
(Williams, Sprengel, Martens) auch Fälle von Achsendrehung
und inneren Hernien nach appendicitischen Verwachsungen be¬
schrieben wurden.
Nachdem ich mich bisher im ganzen Grossen auf die Wieder¬
gabe des vielgestaltigen Materials beschränkt habe, möchte ich im
Folgenden einige allgemeinere Punkte zusammenfassen, soweit
sie die Diagnose, Prognose und Therapie des postappcndicitären
Darmverschlusses betreffen.
Man sollte denken, die Diagnose Dannverschluss nach Peri¬
typhlitis sei eine recht einfache, wenn nur sowohl der Darmver¬
schluss ausgeprägte Symptome macht und vorhergegangc Peri¬
typhlitisattaquen gemeldet werden. Aber gerade diese beiden
Punkte lassen sehr häufig im Stich, denn erstens ist es durchaus
nicht immer leicht, eine Differentialdiagnose im einzelnen Falle
gerade zwischen Perityphlitis und Darmverschluss zu begründen
und zweitens ist man bei einmal festgestellter Diagnose „Darm¬
verschluss u bezüglich der perityphlitären Grundlage desselben auf
eine nur zu häufig recht ungenaue Anamnese angewiesen.
Handelt es sich in einem gegebenen Falle mit grosser Wahr¬
scheinlichkeit um einen Darmverschluss, so wird die Frage: be¬
ruht er auf kürzere oder längere Zeit vorhergegangener
Perityphlitis? zunächst einmal zu Recherchen nach früheren
Perityphlitisattaquen führen.
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754
Dr. E. Rüge,
Die Antwort war in 38 unserer 44 Fälle: Der jetzigen Er¬
krankung gingen angeblich voraus:
Mehrere schwere Anfälle.in 8 Fällen.
Ein schwerer Anfall.„ 9 „
Keine oder nur sehr leichte Anfälle „ 21 ,,
ln sechs Fällen war keine Auskunft zu erhalten.
In der Hälfte unserer Fälle sind also nach den Angaben der
Kranken sichere Perityphlitisattaquen den zumTheil schweren Narben¬
veränderungen im Peritoneum nicht vorangegangen.
Ich glaube, dass dieses Ergebniss ein trügerisches und nur
dadurch zu erklären ist, dass trotz der Verbesserung unseres dia¬
gnostischen Könnens auf dem Gebiete der Blinddarmentzündung
eben doch noch sehr viele leichte und mancher schwere Anfall von
Perityphlitis übersehen und verkannt werden.
Denn so schwere pathologisch-anatomische Veränderungen, wie
ausgedehntere peritoneale Verwachsungen bezw. derbe, scharfe
Peritonealstränge beweisen meines Erachtens das Voraufgehen
schwerer Entzündungen oder mindestens vieler leichter bis mittel¬
schwerer Attaquen von Perityphlitis.
Auf die Anamnese ist also kein sicherer Verlass, wenn sie
negativ ausfällt. Und ist sie positiv, dann erhebt sich sofort die
weitere. Frage: Handelt es sich im vorliegenden Falle um
einen neuen Perityphlitisanfall oder um einen postperi-
typhlitären Darmverschluss? Oder um beides zugleich, wie
in den 20 Frühdarmverschlussfällen unseres Materials.
Da es sich gerade in diesen Fällen zumeist um ein späteres
Stadium der Appendixentzündung handelt (15 Patienten von 20
kamen erst nach dem 4. Tage ihrer Erkrankung!) wird man meist
an das Vorliegen einer Peritonitis glauben und sehr überrascht
sein, wenn in solchen Fällen das Peritoneum blank und blass ge¬
funden wird. In der That schwankte unsere Diagnose in den
meisten dieser Fälle auch zwischen Darmverschluss und Peritonitis
e perityphlitide. Ausschlaggebend für den mechanischen Darm¬
verschluss ist vor Allem die starke peristaltische Unruhe,
welche das wichtigste Symptom der behinderten Darmpassage dar¬
stellt. Für die Perityphlitis spricht der Beginn der Schmerzen in
der Ileocoeealgegend. Sitzt die Einklemmung etwa dicht am
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Dannverschluss bei und nach Perityphlitis.
755
Coecum, so kann natürlich auch dort localer Schmerz und Spannung
«/
von Anfang an bestehen.
Wenn in der Anamnese eines auf Darmverschluss
verdächtigen Kranken eine früher durchgemachte Peri¬
typhlitis verzeichnet wird, so muss dies allein schon die
Diagnose „Darmverschluss“ bedeutend befestigen. Und,
was wichtig ist, diese ananmestische Thatsache muss zur Ope¬
ration drängen, weil eine Strangabschnürung mit drohender
Gangrän das Wahrscheinlichste ist.
Meist handelt es sich nach der Williams’schen Zusammen¬
stellung, der unser Material hierin völlig secundirt, um Verschlüsse
des Dünndarms, also um relativ hohe Darm verschlösse mit den
entsprechenden Symptomen. Das kommt wohl daher, dass sich
die Appcndicitis und die consecutive Peritonitis zunächst im Be¬
reiche des Dünndarmabdomens, nämlich unter der Schürze des
grossen Netzes und am Eingänge des kleinen Beckens abspielt
und der Dickdarm deshalb seltener in die Lage kommt, unter
Adhäsionsstränge zu gerathen oder in Verwachsungen verstrickt zu
werden.
Die Prognose des im Verlauf einer Perityphlitis auftretenden
Darmverschlusses wird natürlich durch das Mitvorhandensein der
Appendicitis, die zudem meist über das Frühstadiura hinaus ist,
getrübt. Die operativen Eingriffe müssen ausgiebiger sein, die Ge¬
fahr der diffusen Peritonitis ist unendlich viel grösser, als bei ein¬
fachem Adhäsionsdarmverschluss oder z. B. Fremdkörperobturation
des Darmes. Die Resultate unserer Operatiönen waren beim Darm¬
verschluss in der Appendicitis:
Atonie bei Perityphlitis.3 Fälle, 2 geheilt, 1 gestorben
„ „ Peritonitis.11 „ 5 „ 6 „
Adhäsionsverschluss bei frischem Abscess 6 „ 3 „ 3 „
Summa 20 Fälle, 10 geheilt, 10 gestorben
also 50 Procent Mortalität. Sieben Todesfälle an Peritonitis, ein
Todesfall an Pneumonie, einer im postoperativen Collaps, einer
an Inanition durch eine Dünndarmenterostomie.
Bei der anderen Gruppe, der an Darm Verschluss ä l’etat froid
der Perityphlitis Erkrankten, kann der Eingriff ein sehr schwerer
sein, wenn nämlich ausgedehnte Verwachsungen die Orientirung
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756
Dr. E. Rüge,
hindern, oder wenn es bereits zur Gangrän der Darmwand ge¬
kommen ist — andererseits kann aber der Eingriff, wenn er früh
unternommen wird und wenn ein einfacher Strang vorliegt, relativ
einfach und glatt verlaufen. Auf rechtzeitiges Erkennen und als¬
baldige Operation kommt hierbei Alles an. Wenn endlich, wie in
einem Viertel unserer Fälle, der Wurmfortsatz selbst durch Ver¬
wachsung seiner Spitze mit anderen Organen den schnürenden
Strang bildet, kann die Klarlegung der Verhältnisse mühsam sein
infolge der bestehenden Darmverklebungen. Es können dabei in
der Appendix selbst infolge der Zerrung und Spannung der
Wand Retentionsentzündungen entstehen, welche bei der Lösung des
Schnürstückes grosse Vorsicht erfordern, um Infection der Bauch¬
höhle durch den Wurmfortsatzinhalt zu vermeiden.
Die Mortalität ist daher bei den Fällen dieser Kategorie eben¬
falls verhältnissmässig hoch.
Adhäsionsrersohluss im entzündungsfreien
Stadium.
Netzstränge.
Peritonealstränge.
Wurmfortsatz als Strang.
Compression des entzündlichen Tumors .
lleocoecalstenose.
Summa
4 Fälle, 1 geheilt, 3 gestorben
24 Fälle, 13 geheilt, 11 gestorben
Den Hauptantheil an den 11 Todesfällen hat auch hier
die diffuse Peritonitis mit sechs Fällen. Viermal gingen die
Patienten kurze Zeit nach dem Eingriff im Collaps zu Grunde,
der letzte starb nach Resection von 2 m gangränösen Darmes im
Beginn der zweiten Woche nach der Operation an seinem Alko¬
holikerherz.
Was die Therapie des Darmverschlusses nach Perityphlitis
anlangt, so besteht dieselbe selbstverständlich, wie bei jedem Darm¬
verschluss, lediglich in der sofortigen Operation. Dass die
Anwendung innerer Mittel nach festgestellter Diagnose: Darm Ver¬
schluss völlig aussichtslos und, weil zeitraubend, nur zweckwidrig
ist, ist wohl allgemein angenommener Grundsatz, denn der mecha¬
nische Verschluss des Darmes kann nur durch chirurgischen Ein¬
griff gehoben werden.
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Darmverschluss bei und naoh Perityphlitis.
757
Die Operation selbst hat in allen Fällen, in denen eine be¬
stehende oder frühere Perityphlitis als ursächliches Moment in
Frage kommt, in der Beseitigung des verschliessenden Momentes
zu bestehen. Ich betone das ausdrücklich im Gegensatz zu den
Federmann’schen Ausführungen, der gerade in einzelnen Fällen
von perityphlitärera Darm Verschluss zunächst die Anlegung einer
Dünndarmenterostomie empfiehlt, um die Radicaloperation später
anzuschliessen. Nach unserem Material wäre dieser Modus proce-
dendi zweifellos in mehreren Fällen von schwersten Folgen ge¬
wesen. Fanden sich doch in fast der Hälfte aller Fälle späteren
Darmverschlusses gangränöse Schnürfurchen oder ausgedehnte Darm¬
gangrän. Aber auch in den Fällen frühen Darm Verschlusses im
Anschluss an den acuten Anfall halte ich die Enterostomie nur
dann für ausreichend, wenn man sich durch Absuchen des Darmes
davon überzeugt hat, dass keine mechanischen Hindernisse vor¬
liegen, welche zu Circulationsstörungen und Gangrän führen können.
Damit ist zumeist der Haupttheil der Operation bewerkstelligt und
die Entfernung des Wurmfortsatzes ist in der Mehrzahl der Fälle
nur eine kleine Episode der Operation. Die Enterostomie kann bei
Atonie des Darmes, sofern sie noch nicht zu weit fortgeschritten
ist, günstig wirken, sie birgt aber die Gefahr in sich, dass durch
den starken Säfteverlust aus der Fistel die Kranken zu Grunde
gehen, besonders wenn die Oeffnung in einer hohen Dünndarm¬
schlinge angelegt wurde. Ich habe schon in meiner Arbeit über
die Nabelbrüche bei Erwachsenen Fälle erwähnt, in denen der.
grosse Flüssigkeitsverlust aus einer Dünndarmfistel schliesslich zum
Tode führte. Auch in unserem Material ist ein Fall von adhä¬
sivem Darmverschluss bei perityphlitischem Abscess, bei dem der
enorme, nicht zu ersetzende Säfteverlust den Patienten erliegen
Hess. Ich setze die Krankengeschichte hierher, weil sie typisch ist
für derartige unangenehme Zwischenfälle.
19 . Diagnose: Perityphlitischer Abscess. Adhäsiver Darmverschluss.
Therapie: Laparotomie, Enterostomie.
Wilhelm Z., Arbeiter, 49 Jahre. Rec. No. 3275/09. Aufgenommen:
29. 11. 09. Gestorben: 7. 12. 09, an Inanition durch die Enterostomie.
Vorgeschichte: Nie früher Magendarmbeschwerden. Erkrankte am
23. 11. mit heftigen Schmerzen im ganzen Leib, vor Allem in der Nabelgegend,
ging aber trotzdem seiner Arbeit nach. Am 27. 11. Schüttelfrost, Erbreohen,
Stuhlverhaltung. Erst heute auf Eingiessung reichlicher Stuhl. Da aber die
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758
Dr. E. Rüge,
Schmerzen, die exquisit kolikartig auftraten, nicht aufhörten, kommt ei (zu
Fuss) ins Krankenhaus.
Befund: Elend. Blasse Schleimhäute. Zunge grau belegt, Foetor ex
ore. Temp. bis 37°. Puls ruhig, ca. 70, voll, kräftig. Ab und zu Aufstossen.
kein Erbrechen mehr. Abdomen: Mässig gespannt und aufgetrieben, be¬
sonders in der Magengegend* vorgewölbt. Druckschmerzhaftigkeit am grössten
unter dem rechten Rippenbogen, lleoooecalgegend frei. Ueber dem ganzen
Abdomen laute Darrogeräusche bei Beklopfen. Rectal etc. ohne Besonder¬
heiten. — Es wird an chronischen Darmverschluss bei Darmtumor oder bei
alten perityphlitischen Adhäsionen gedacht.
Deshalb am 30. 11. Operation (Geh.-Rath Körte) in A.C.A.-Narkose.
Medianschnitt vom Nabel abwärts. Darmschlingen stark geröthet, drängen
sich vor. Beim Eingehen mit der Hand kommt Eiter aus dem kleinen Becken.
Man fühlt daselbst eine entzündliche Geschwulst, bei deren Lösung viel fotider
Eiter herauskommt. Der brandige, an der Spitze perforirte Wurmfortsatz liegt
in dieser Geschwulst im kleinen Becken, wird vorgezogen, abgetragen, in
typischer Weise versorgt. — Die Darmschlingen sind ausserordentlich stark
geröthet und gebläht, die Wand zeigt entzündliche Verdickungen und reich¬
liche Fibrinbeläge. Spülen mit heissem Wasser. Punction der untersten Dünn¬
darmschlinge mit Troicart. Viel Gas und etwas gelber Danninhalt entleert.
Ausstreichen zwischen zwei Fingern. Rohr eingenäht. Reposition. Netz
herabgezogen. Enterostomiestelle in der Wunde fixirt. Einige durchgreifende
Nähte.
Anfangs gute Erholung. Keine Peritonitis. Nach 2 Tagen lockert sich
das Rohr in der EnterostomieöfTnung. Enorme Mengen flüssigen Darminbalts
entleert. Leichte Bauchdeokenphlegmone. Pat. erliegt dem nicht zu ersetzenden
enormen Säfteverlust. Exitus am 7. 12.
Section: Keine Peritonitis, Pneumonie, Embolie oder dergl. In der Nähe
des Operationsgebietes am lleocoecum ein nussgrosser Abscess. Todesursache:
Inanition als Folge der Enterostomie.
Die Einklemmung trifft gerade bei den Darmverschlüssen der
Ileococcalgegend meist recht hohe Darmschlingen (auch Sprengel'.
Selten ist es das Ileum, das verschlossen wird, sondern eine
Jejunumschlinge, deren grössere Anzahl gerade hier zu liegen
pflegen. Und je höher die Schlinge, die enterostorairt wird, um
so geringer die Aussicht auf genügende Ernährung, um so grösser
die Gefahr der zu grossen Wasserverarmung des Organismus.
Wesentlich verringert werden natürlich die Gefahren der hohen
Dünndarmeuterost omie durch gleichzeitige Wiederherstellung der
Kothpassage. Aber auch in diesen Fällen haben wir in der
hinterotomie ein gutes Ersatzmittel für die Anlegung der Dauer¬
listei. Man punctirt den Darm an mehreren Stellen, streicht ihn
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Darmverschluss bei und nach Perityphlitis.
759
durch den eingeführten Troicart oder Schlundsonde möglichst völlig
aus und verschliesst die Punctionsöffnungen mit zwei sich kreuzenden
Nähten. Diese Darmentleerung wirkt zugleich als ein starker peri-
staltischer Reiz.
Selbstverständlich wird es immer Fälle geben, in denen aus
technischen Gründen die Radicaloperation des Darmverschlusses
nicht gelingt. Dann tritt die Enterostomic in ihr Recht. Aber
diese Fälle sind selten und müssen selten bleiben, angesichts der
dringenden Gefahren, denen man die Kranken aussetzt, wenn man
ihnen die Möglichkeit der secundären Darmgangrän oder pro¬
gressiver Verwachsungen nicht benimmt.
Das Wichtigste aber, was die Zusammenstellung des in
dieser Arbeit geschilderten Materials in therapeutischer Hinsicht
ergiebt, geht die Prophylaxe an. Wenn Federmann sagt, die
beste Prophylaxe zur Vermeidung des Adhäsionsileus sei die,
grössere Abscesse nicht der spontanen Resorption zu überlassen,
sondern möglichst bald mit dem Messer zu eröffnen, so muss man
ihm rückhaltlos Recht geben. Man muss aber noch viel weiter
gehen, wenn man einen Blick auf die oben eingefügte Tabelle der
anamnestischen Daten thut. Die beste Prophylaxe aller secun¬
dären Erkrankungen der Perityphlitis, besonders des Darmver¬
schlusses, ist die Frühoperation der Appendicitis. In dem
ganzen Material, das ich schilderte, ist nicht ein im Frühstadium
operirter Fall. Vielmehr trafen fast sämmtliche Operationen, die
dem späteren Darm Verschluss vorangingen, in das intermediäre
Stadium. In zwei Fällen (Krankengeschichten 8 und 9) war wegen
Appendicitis recidiva die Intervalloperation gemacht worden. In
zwei Fällen war nur eine frühere Abscessincision, in zwei weiteren
eine intermediäre Radicaloperation (im Abscess), endlich in zwei
Fällen eine Exstirpation des Appendix bei Peritonitis vorauf¬
gegangen. In neun Fällen waren schwere und wiederholte leichte
Anfälle lediglich intern behandelt worden.
Allein die Frühoperation vermeidet die Abscessbildung
bezw. die Peritonitis in gewissem Maasse, sie giebt die
einzige Möglichkeit, ansgedehntere Verwachsungen zn verhindern,
ist ebenso ungefährlich wie die Intervalloperation und
hat vor dieser den Vorzug der grösseren Promptheit und
Archiv fUr klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4.
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760
Dr. E. Rüge, Darm Verschluss bei und nach Perityphlitis.
oft der leichteren Technik. Im Krankenhause am Urban be¬
trug die Mortalität der Intervalloperation vom 1. 3. 1890 bis
1. 3. 1910 bei 867 Fällen 0,81 pCt.; die Mortalität der Frühope¬
ration in den ersten 3 Tagen im gleichen Zeitraum bei 314 Fällen
0,31 pCt.
Die Appendicektomie im Frühstadiura setzt also nicht nur die
Mortalität der Appendicitis als solcher herunter, sondern sie schafft
auch die Gefahr der späteren Erkrankung an Darmverschluss fast
völlig fort.
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XXVII.
(Aus der chir. Abtheilung des Israelitischen Krankenhauses
zu Breslau. — Primärarzt: Prof. Dr. Gottstein.)
Anlegung arterio-venöser Anastomosen
bei erhaltenem Blutkreislauf.
Von
Dr. S. Hadda,
Secundirarst der AbtheU ung.
(Mit 26 Textfiguren.)
Allgemeiner Theil.
Der Anfang dieses Jahrhunderts bedeutet einen Wendepunkt
in der Geschichte der Gefässchirurgie. Bis dahin hatte man trotz
seiner grossen practischen Wichtigkeit diesem Zweige der Chirurgie
nur geringe Aufmerksamkeit zugewandt. Allerdings war bereits
seit 100 Jahren hier und da versucht worden, auf experimentellem
Wege dieses bis dahin dunkelste Gebiet der operativen Chirurgie
zu erschliessen, doch war man durch die schlechten Resultate so
muthlos, dass sogar hochbedeutende Chirurgen, wie v. Langen-
beck und Pirogoff die Möglichkeit in Zweifel zogen, hier das Ziel
zu erreichen.
Wie mit einem Schlage änderte sich das Bild, als kurz hinter¬
einander von Murphy 1 ), Payr 2 ) und Carrel 8 ) Methoden der Ge-
fässnaht angegeben wurden, die im Thierexperiment beinahe ein¬
wandsfreie Resultate ergaben. Damit war der Bann gebrochen;
der Verwerthung dieser Ideen in der menschlichen Chirurgie standen
keine Hindernisse mehr im Wege. Wenn auch heute noch glücklich
1) Murphy, Ann. of Surgery. 1S97.
2) Payr, Dieses Archiv. Hd. 62.
3) Carrel, Lyon med. 1902.
50*
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762
Dr. S. Hadda,
ausgeführte Gefässnähte als besonders interessante Fälle vorgestellt
und veröffentlicht werden, so zeigt gerade das unverhältnissrnässig
rasche Ansteigen der Zahl dieser Publicationen in den letzten
Jahren, dass dieses Gebiet bald Gemeinbesitz aller Chirurgen ge¬
worden sein wird.
Mannigfach sind bereits die Indicationen, auf Grund deren man
bisher Operationen am Gefässsystem ausgeführt hat. Dass hierbei
zufällige Verletzungen durch Schnitt, Stich und Schuss im Vorder¬
gründe stehen, kann wohl als selbstverständlich vorausgesetzt
werden. Ermuthigt durch die hierbei erzielten günstigen Resultate
ist man dazu übergegangen, grössere Gefässstämme in der Con-
tinuität zu reseciren, ja man hat sogar ganze Gcfässstücke mit
Erfolg transplantirt [Lexer 1 )].
Alle diese Eingriffe sind an im Grossen und Ganzen nicht
veränderten Gefässen ausgeführt worden.
Es ist nur ein Schritt weiter auf dem einmal begangenen
Wege, dass man versucht hat, auch diejenigen Erkrankungen der
Gefässe chirurgischer Therapie zugänglich zu machen, deren Ur¬
sache in Veränderungen der Gefässwände zu suchen ist. Ich will
hier nur kurz auf die von Sabanäjew 2 ) schon 1896 inaugurirte
und später von Stewart 8 ), Handley 4 ) und Moynihan 5 ) ver¬
wandte Methode der Extraction von Embolis und Thromben aus
grösseren Arterien hinweisen.
Für diese Erkrankungen, sowie für die durch angioskleroti-
sche und oblitcrirende Processe entstandene Extremitätengangrän
dürfte bei weitem geeigneter die Herstellung einer Anastomose
zwischen der unwegsam gewordenen Arterie und der zugehörigen
Vene erscheinen, die den Zweck hat, dem in der Ernährung be¬
drohten Gebiete auf dem Wege der Vene arterielles Blut zuzuführen.
Die Idee dieser Operation stammt von San Martin y Satrustegui 6 ),
der im Jahre 1902 über eine grosse Anzahl von Versuchen be¬
richtete, mit denen er sich bereits seit dem Jahre 1898 beschäftigt
1) Lexer, Dieses Archiv. Bd. 83. 1907.
2) Sabanajcw, eit. nach Faykiss in Bruns’ Beitr. Bd. 58.
3) Stewart, Bef. (’entralbl. f. Chir. 1908. S. 53.
4) Handley, Ebenda.
5) M o y n i li a n, Ebcnda.
tl) San Martin y Satrustegui, Cirurgia del aparato circulatorio. Madrid
1902. Ref. Sem. ined. 1902. p. 395.
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Anlegung arteriovenöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 763
hatte. Seitdem haben sich zahlreiche Autoren bemüht, diesen aus¬
sichtsreichen Gedanken in der practischen Chirurgie zu verwerthen.
Wie bei der Anastomose zwischen den einzelnen Theilen des
Vcrdauungstractus kann man die bisher angegebenen Verfahren
der Gefässanastomose in drei grosse Klassen eintheilen. Wir
unterscheiden:
1. End-zu-End-Anastomose,
2. End-zu-Seit-Anastomose,
3. Seit-zu-Scit-Anastomose.
Am häufigsten von diesen Methoden ist die End-zu-End-
Vereinigung experimentell geprüft worden; dies hat seine Ursache
in dem schnellen Aufschwung, den die circulare Gefässnaht ge¬
nommen hat. Als grundlegend sind, wie bereits erwähnt, die
40 Versuche zu betrachten, die San Martin y Satrusteguiim
Jahre 1902 an 36 Hunden angestellt hat. Er operirte hauptsäch¬
lich an den Femoral-, doch einige Male auch an den grossen
Bauch- und Halsgefässen. Die Nahtmethode, deren er sich be¬
diente, um das periphere Ende der quer durchschnittenen Vene mit
dem centralen Ende der durchtrennten Arterie zu vereinigen, ent¬
sprach dem von Murphy angegebenen Verfahren der Invagination.
S. sah stets, wenn er die Anastomose hergestellt hatte, dass die
Vene arterielles Blut führte. So vielversprechend diese Versuche
bezüglich des unmittelbaren Erfolges auch waren, ergab doch stets
die locale Inspection bei der 48 Stunden bis 20 Tage nach der
Operation ausgeführten Autopsie völlige Verlegung der Anastomose
durch Gerinnsel. Nur in einem einzigen Falle war die Circulation
bis zum Tode erhalten geblieben. Alle Thiere, mit Ausnahme der
intraperitoneal operirten, überstanden den Eingriff gut, doch gingen
die meisten am 8. Tage an Nachblutung zn Grunde.
Aehnlich verliefen Experimente, über die Carrel in Gemein¬
schaft mit Berard 1 2 ) im selben Jahre berichtete. Diese beiden
Autoren hatten die Art. femoralis mit der Vena saphena magna
des Hundes circulär vereinigt, sahen aber stets Thrombose als
Folge des Eingriffs. Kurze Zeit darauf konnten jedoch Carrel
und Morel 3 ) über eine gelungene Anastomose zwischen Art. carotis
1) San Martin y Satrustegui, 1. c.
2) Berard und Carrel, Lyon med. 1902.
3) Carrel und Morel, Lyon nu*d. 1902.
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764
Dr. S. Hadda,
communis und Vena jugularis externa durch directe Circulämaht
berichten. Noch nach Monaten fand sich bei diesen Thieren die
Jugularis pulsirend, und man konnte über ihr ein deutliches
Schwirren als Ausdruck des Pulses wahrnehmen.
Ein Jahr später, 1903, veröffentlichte Exner 1 ) die Ergebnisse
von 4 Versuchen mit der End-zu-End-Anastomose, die er mittels
der Payr’schen Methode zwischen Carotis und Jugularis angelegt
hatte, um den Einfluss des arteriellen Blutdruckes auf die Venen¬
wand zu studiren. Die Thiere lebten 2—6 Wochen nach der Ope¬
ration. Bei der Autopsie fand sich in allen 4 Fällen völlige
Obliteration von Arterie und Vene bis in die feinsten Aeste.
Ebenso ungünstige Ergebnisse erzielte Go y an es 2 3 * ). Er operirte
an der Artcria bezw. Vena iliaca oder femoralis, und obgleich un¬
mittelbar nach der Operation das Resultat stets gut war, trat doch
in allen Fällen von reiner Anastomose Verlegung durch Thrombus
ein. Welcher Methode sich Goyanes bediente, habe ich aus dem
mir zur Verfügung stehenden Referat nicht ersehen können.
Den ersten grossen Erfolg mit der End-zu-End-Anastomose
errang Carrel 8 ) in Gemeinschaft mit Guthrie im Jahre 1905.
Mit Hülfe der einfachen Circulämaht gelang es ihnen 13 mal,
Arterie und Vene ohne einen einzigen Misserfolg zu vereinigen.
Thiere, denen eine Anastomose zwischen Carotis und Jugularis an¬
gelegt worden war, zeigten nach der Operation keinerlei Störungen,
und noch nach 7 Monaten liess sich der Nachweis erbringen, dass
die Anastomosenstelle völlig durchgängig war. Ja sogar bei der
Vereinigung der Carotis einer Seite mit der Jugularis der anderen
hinter der Trachea liess sich volle 6 Tage hindurch die Circulation
aufrecht erhalten. Einen gleich günstigen Verlauf nahm der Ver¬
such, das centrale Ende der Carotis mit dem centralen Ende
der Jugularis zu vereinigen, um auf diesem Wege das arterielle
Blut durch die obere Hohlvene direct dem Herzen zuzuführen.
Allerdings sagen die Autoren bezüglich dieses Experimentes nur,
dass keine wesentlichen Störungen beobachtet wurden. Wie das
locale Resultat war, darüber wird leider nichts berichtet. Auch
1) Exner, Wiener klin. Wochenschr. 1903.
2) (Joyanes, lief. Münch, med. Wochenschr. 1905, S. 1508.
3) Carrel and Guthrie, Americ. Med. 1905 und Surgerv, Gynaeeology
and Obstetrics. 1906. Yol. II.
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Anlegung arterio-venöser An&stomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 765
über je einen Versuch von Anastoraose zwischen den Nierengefässen,
sowie zwischen einer Nierenarterie und einer Vene des Pfortader¬
gebietes machen sie keine näheren Angaben.
Stich 1 ), der die Methode Carrel’s experimentell nachgeprüft
und ausgebaut hat, konnte, im Gegensatz zu seinen sonstigen vor¬
züglichen Resultaten bei der Gefässnaht, einen Erfolg mit der Ge-
fässanastomose nicht erzielen. Er versuchte bei 3 Hunden Carotis
communis und Jugularis externa miteinander circular zu vereinigen.
Eins von den Thieren ging am Tage nach der Operation im An¬
schluss an eine Nachblutung zu Grunde; die Vene war, abgesehen
von reichlichen wandständigen Thromben, gut durchgängig. Auch
ihre Aeste waren erweitert und mit arteriellem Blute gefüllt. Bei
einem zweiten Hunde fand sich nach 10 Tagen totale Thrombose.
In dem dritten Falle bestand nach 2 Tagen eine ziemlich ausge¬
dehnte, aber wandständige Thrombose der Nahtstelle, zunächst noch
gut durchgängig für den Blutstrom. — Auf Grund dieser Misserfolge
hat Stich weitere Versuche mit der Anastomose nicht mehr ge¬
macht.
Watts 2 ) dagegen hat 8 mal die End-zu-End-Vereinigung mittels
fortlaufender durchgreifender Circulärnaht ausgeführt; bei seinen
4 Versuchen an den grossen Halsgefässen konnte er durchweg ein
absolut positives Resultat constatiren. Dagegen wurde in den 4
anderen Versuchen, die sich auf die Femoralgefässe bezogen, nur
1 mal ein Erfolg erzielt, während in den 3 übrigen Fällen Throm¬
bose das Ergebniss war. Dieses Missverhältniss zwischen dem
Ausfall der Operationen am Oberschenkel und am Halse erklärt
Watts mit der Schwierigkeit, Wunden am Schenkel beim Hunde
aseptisch zu erhalten. Die Thiere belecken die Wunden und
beissen sich die Nähte auf; die Folge ist Infection und Thrombose
des Gefässes.
Recht günstig sind die Versuche verlaufen, die Tuffier 3 ) und
auf dessen Anregung Frouin 4 ) und Cottard 6 ) angestellt haben.
Tuffier erzielte in 3 Fällen von Anastomose der Femoralgefässe
Durchgängigkeit der Nahtlinie, Frouin opcrirte unter 17 Versuchen
1) Stich, Makkas und Dowraan, Bruns’ Beitr. Bd. 53. 1907. S. 142.
2) Watts, Bull, of the John Hopkins Hospital. 1907.
3) Tuffier, Bull, de la Soc. de chir. 1907.
4) Frouin, Presse med. 1908.
5) Cottard, These de Paris. 1908.
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766
Dr. S. Hadda,
15 mal glücklich. Cottard gelang es sogar, einen Hund nach
Unterbindung beider Art. vertebrales durch Anastomosirung von
Carotis und Jugularis 2 Stunden lang am Leben zu erhalten, ohne
dass dieses Thier irgendwelche Störungen zeigte.
Coenen 1 ) spricht sich dagegen auf Grund seiner an 4 Hunden
angestellten Versuche, den Blutkreislauf umzukehren, ungünstig
über die Gefässanastomose aus.
Diesen zahlreichen Experimenten über termino-terrainale Ana-
stomose stehen nur ganz vereinzelte Versuche mit der End-zu-
Seit-Vereinigung gegenüber. Carrel und Guthrie 2 3 ) berichten
über einen Versuch, in dem sie das centrale Ende der querdurch¬
schnittenen Vena jugularis in die Seitenwand der Carotis communis
cinnähten. Die Vene führte darauf gemischtes Blut zum Herzen,
die Arterie functionirte normal. Ueber den weiteren Verlauf finden
sich keine Angaben. Bei einem anderen Hunde haben sie die Arteria
und Vena thyreoidea superior in die Seitenwand der Carotis bezw.
Jugularis eingenäht. Alle anderen Schilddrüsengefässe wurden
unterbunden, trotzdem war noch nach 6 Monaten das Thier völlig
gesund. Bei einem Hunde, der an einer grossen Struma litt, wurde
das periphere Ende einer Schilddrüsenvene seitlich mit der Carotis
vereinigt. Nach 6 Monaten war auf der operirten Seite der Kropf
vollkommen verschwunden. Die mikroskopische Untersuchung be¬
stätigte diesen Befund. Dies sind die einzigen bisher experimentell
ausgeführten End-zu-Seit-Anastomosen. Wir werden weiter unten
sehen, dass man auch beim Menschen bereits ähnliche Eingriffe
versucht hat.
Auch die Seit-zu-Seit-Anastomose zwischen Vene und Arterie
hat nur beschränkte Bearbeitung erfahren. Abgesehen von Ver¬
suchen, die F. Franck 8 ) im Jahre 1896 publicirte und die darauf
abzielten, mit Hülfe einer solchen seitlichen Vereinigung die Ent¬
stehung und Entwickelung des arterio-venösen Aneurysmas zu stu-
diren, war es wiederum San Martin y Satrustegui 4 ), der zuerst
in der Absicht, eine therapeutische Methode daraus zu entwickeln,
die Seit-zu-Seit-Anastomose experimentell prüfte. An 3 Ziegen
1) Carrel and Guthrie, Surgery, Gynecologv and Obstetrics. 1906.
2) Coenen, Allgein. med. Centralzeitung. 1909. No. 2.
3) Fr. Franck, Soc. de biologie. 1896.
4) 1. e.
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 767
stellte er mittels durchgreifender Seidenknopfnähte einseitige Com-
munication zwischen Carotis und Jugularis im Sinne der Darm-
anastomose her. Eine Ziege starb in der Narkose. Bei 2 anderen
verlief der Versuch erfolgreich. Aber als nach 3 Monaten bei der
einen Ziege das Präparat entfernt wurde, war die Anastomosen-
stelle verheilt, die Vene unterhalb collabirt, die Arterie jedoch
pulsirte völlig normal.
Vignolo 1 ) veröffentlichte zu gleicher Zeit Resultate einer Ver¬
suchsreihe, bei der er an correspondirenden Stellen elliptische Stücke
aus den Gefässen excidirt und die Ränder vernäht hatte. Bei allen
seinen Versuchen, die sich auf die Hals- und Oberschenkelgefässe
bezogen, fand er nach einiger Zeit entweder Verwachsung der Ana-
stomose oder Thrombose.
Sehr eingehend hat sich mit der Frage der seitlichen Anasto-
mose Franz 2 ) beschäftigt. In seiner 1905 erschienenen vortreff¬
lichen Arbeit berichtet er über nicht weniger als 28 Versuche, die
er der Frage nach der Entstehung des Aneurysma arterio-venosum
gewidmet hat. Bei 2 Hunden nähte er die Oberschenkelgefässe
zunächst 2 cm lang aneinander. Nach 8 Tagen eröffnete er die
Vene seitlich und durchstach von hier aus die miteinander ver¬
wachsenen Gefässwände. Die Vene wurde hierauf wieder seitlich
verschlossen. Es zeigte sich nun bei diesen Versuchen, dass nur
einen Moment lang das arterielle Blut in die Vene einfloss, dann
hörte dies wieder auf. Bei dem einen Thiere, das nach 8 Monaten
getödtet wurde, fand sich eine 2 mm breite und ebenso lange
Rauhigkeit an der Anastomosenstelle. Bei dem anderen war nach
7 Monaten eine Verengerung der Gefässlumina zu constatiren, doch
bestand bei beiden keine Communication mehr. Franz ging des¬
halb dazu über, die Anastomose nach Art der Darmanastomose
mit durchgreifenden Nähten auszuführen. Er hat dies 26 mal ge¬
macht. Von diesen 26 Versuchen hatten 12 Thrombose der Com¬
munication zur Folge, während bei den übrigen ein positives Re¬
sultat zu verzeichnen war. Desselben Verfahrens bediente sich
Watts 3 ), der bei 4 Hunden an den Femoralgefässen operirte. In
allen Fällen war das unmittelbare Resultat gut. Das arterielle
1) Vignolo, II Policlinico. 1902.
2) Franz, Dieses Archiv. Bd. 75.
3) Watts, 1. c.
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768
Dr. S. Hadda,
Blut trat in die Vene über, strömte aber grösstentheils zum Herzen
zurück. In einem Falle blieb die Anastomose 5 Wochen lang be¬
stehen, doch liess sich dieser Befund durch Autopsie nicht con-
troliren, da das Thier nach einiger Zeit entlief. In einem zweiten
Falle schloss sich die OelTnung wieder, die Gefässe blieben durch¬
gängig. Beim dritten Versuchsthier thrombosirte die Arterie und
das vierte ging an Verblutung zu Grunde. Bei allen diesen letzt¬
genannten Versuchen fällt uns eins auf, dass keiner der Unter¬
sucher es für nothwendig gehalten hat, die Vene central zu unter¬
binden. Es ist naheliegend, dass, wenn man diese Sicherheits¬
maassregel unterlässt, das Blut eher nach dem Herzen, d. h. nach
dem Orte des geringen Druckes hinströmen wird. Ich selbst habe
bei meinen ersten Versuchen den gleichen Fehler begangen.
Was haben diese Methoden in der practisehen Chiurgie
bis jetzt geleistet?
Die ersten Versuche beim Menschen, eine Anastomose zwischen
Arterie und Vene herzustellen, um eine Störung der Circulation zu
beseitigen, stammen von San Martin y Satrustegui 1 ), der im
Jahre 1902 darüber berichtete. Er und kurze Zeit nach ihm
Jaboulay 2 ) wandten die Methode der Seit-zu-Seit-Vereinigung an.
In dem ersten Falle handelte es sich um einen 52 jährigen Mann,
bei dem wegen Fussgangrän die Operation oberhalb des
Hunter’schen Canals ausgeführt wurde. Nach 6 Tagen musste
jedoch der Unterschenkel amputirt werden, später folgte eine hohe
Amputation dicht unterhalb der Anastomose, und der Patient starb
13 Tage nach der ersten Operation. In einem zweiten Falle war
bei einem 75 jährigen Manne nach .Anlegung eines Verbandes durch
einen Kurpfuscher Gangrän dreier Zehen eingetreten. Nach der
Exarticulation der erkrankten Phalangen schritt die Gangrän fort.
Der Verf. machte die Seit-zu-Seit-Anastomose oberhalb des Hunter-
schen Canals und fand dabei eine sehr stark verkalkte Arterie.
Er schloss die Syrae’sche Operation an, der Patient wurde geheilt.
Es ist dieser Fall insofern nicht ganz einwandsfrei, als die Gangrän
durch die Absetzung des Fusses an sich wahrscheinlich schon zum
Stillstand gebracht worden wäre. Immerhin spricht dieser Fall
dafür, dass die Operation nicht gerade eingreifend sein kann, denn
1) 1. c.
2) Jaboulay, Sem. raed. 1902. p. 406.
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 769
es handelte sich hier ja um einen schwer arteriosklerotischen
Greis.
Zu gleicher Zeit wie San Martin berichtete Jaboulay über
einen nach ähnlichen Principien operirten Fall. Hier handelte es
sich um einen 47 jährigen Mann, der an schwerer Arteriosklerose
litt und dem bereits vorher das eine Bein wegen dieses Leidens
hoch amputirt war. Jaboulay vereinigte, da Gangränerscheinungen
am anderen Bein auftraten, Arteria und Vena femoralis im Scarpa-
schen Dreieck im Sinne der Gastroenterostomie. Oberhalb legte
er eine provisorische Ligatur an einer Stelle der Arterie an, wo,
wie sich später herausstellte, ein sklerotischer Plaque bestand. Der
Erfolg blieb aus. Jaboulay führt dies auf die Verletzung der
veränderten Gcfässpartie durch die provisorische Ligatur zurück.
Auch Tuffier 1 ) hat über eine Seit-zu-Seit-Anastomose beim
Menschen berichtet. Ein 56 jähriger Alkoholiker, der eine Lues
überstanden hatte, bot seit 3 Monaten Erscheinungen von Gangrän
der fünften Zehe des linken Fusses dar. Auch hier wurde im
Scarpa’schen Dreieck die Anastomose angelegt, die Vene wurde
oberhalb unterbunden. Das erwartete Resultat blieb aus und nach
wenigen Tagen erfolgte der Exitus. Die Autopsie ergab Thrombose
der Vene an der Anastomosenstelle.
Diese 4 negativen Fälle sind die einzigen Beobach¬
tungen von Seit-zu-Seit-Anastomose beim Menschen. Mit
den fortschreitenden Erfolgen circulärer Gefässnaht ist man dazu
übergegangen, Arterie und Vene quer zu durchschneiden und die
Enden der beiden Gefässe, die anastomosirt werden sollen, durch
Circulärnaht miteinander zu vereinigen.
Hubbard 2 ) invaginirte bei arteriosklerotischer Gangrän einer
Zehe die Arteria femoralis in die Vene, im Scarpa’schen Dreieck.
Die Venen pulsirten nach der Operation nicht, die Gangrän schritt
fort und es wurde schliesslich die Amputation des Unterschenkels
nothwendig. Bei der Section des Präparates fanden sich angeblich
die Arteriae tibiales mit arteriellem Blut gefüllt, die Venen leer.
Lilienthal 3 ) führte bei einem 20jährigen Matrosen dieselbe
Operation durch circuläre Naht wegen angiosklerotischer Gangrän
1) 1. c.
2) Hubbard, Ann. of surg. 1906.
3) Lilien thal, Ann. of surg. Vol. 45. 1907.
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770
Dr. S. Hadda,
aus. Es fand sich in diesem Falle die Art. poplitea obliterirt.
Nach 31 Stunden starb der Patient im Shock. An der Nahtstelle
fand sich ein Thrombus.
Torrance 1 ) sah einen 40 jährigen Mann, der eine schwere
Quetschung beider Beine erlitten hatte. Auf der einen Seite fehlte
der Puls in der Tibialis postica, während die Tibialis antica bis
zur verletzten Stelle hin pulsirte. Es wurde deshalb die Tibialis
antica in die Vena saphena parva invaginirt. Obwohl nach der
Operation am Fusse kein Puls wahrzunehmen war, schien 2 Wochen
lang die Circulation vorhanden zu sein. Trotzdem musste auf
Wunsch des Patienten späterhin die Amputation vorgenommen
werden, weil sich heftige Schmerzen einstellten. Ueber die Be¬
schaffenheit der Anastomosen wird nichts berichtet, da das Prä¬
parat verloren ging.
Hubbard 2 ) führte im Jahre 1907 bei einer 60jährigen Frau
wegen seniler Gangrän die Anastomose der Femoralgefässe aus.
Er bediente sich dabei der Invaginationsmcthode. Nach 10 Tagen
musste er amputiren; es fand sich ein weicher Thrombus an der
Nahtstelle.
Einen thatsächlichen Erfolg hatte Doberauer 3 ) zu ver¬
zeichnen. Sein Patient zeigte 12 Tage nach Embolie der Art.
brachialis beginnende Gangrän und ischämische Contracturen. Er
machte eine Längsincision in das Gefäss und entfernte den Thrombus.
Da trotz wiederholter Eröffnung immer wieder Thrombose eintrat,
wurde zwei Tage später wegen fortschreitender Gangrän die Inva-
gination der Art. axillaris in die Vene ausgeführt. Das Blut drang
in der Vene bald bis zum Handgelenk vor. Nach 8 Tagen war
in der Vene ein dem Herzschläge synchronisches Geräusch hörbar.
Tuffier hat durch Cottard 4 ) drei Fälle von End-zu-End-
Anastomose zwischen Arterie und Vene beim Menschen berichten
lassen. Bei einem 50jährigen, an schwerer Arteriosklerose lei¬
denden Manne trat Gangrän der dritten und vierten Zehe ein. Der
Puls in der Dorsalis pedis war dabei leidlich gut fühlbar. Trotz¬
dem entschloss sich Tuffier zur Anlegung der Anastomose in der
1) Torrance, Ann. of surg. Vol. 4<>. 1907.
2) Hubbard. Ann. of surg. Vol. 4G. 1907.
.•*) Doberan er. Prager med. Woehenschr. 1907.
4) Cottard. These de Paris. 1908.
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 771
Mitte des Oberschenkels. Am Abend der Operation war der Puls
in der Kniekehle fühlbar, es musste sich demnach um ein Pulsiren
der Vene handeln. Zwei Tage später war dieses Phänomen nicht
mehr nachweisbar. Trotzdem blieb die Circulation ungestört, die
Schmerzen hörten auf. In dem zweiten Fall von Tuffier handelte
es sich um einen 58jährigen Mann, bei dem infolge von Arterio¬
sklerose der ganze linke Fuss und das untere Drittel des Unter¬
schenkels gangränös geworden war. Am oberen Rande der Gan¬
grän bestand ein circulares, überall bis auf den Knochen gehendes
Geschwür. Der Puls in der Poplitea fehlte, in der Femoralis war
er deutlich erhalten. Wegen fortschreitender Gangrän wurde die
Amputation im unteren Drittel des Oberschenkels ausgeführt, die
Venenwand erwies sich dabei als stark verdickt. Arterie und Vene
wurden nicht unterbunden, sondern es wurden die Stümpfe circulär
miteinander vernäht. Dann wurde die Vene im Scarpa’schen
Dreieck ligirt. Es trat sofort Puls in der Vene auf, der Heilungs¬
verlauf war ungestört und nach 30 Tagen wurde Patient entlassen.
In einem zweiten Falle von Gangrän des ganzen linken Fusses
wurde ebenfalls nach Amputation im unteren Drittel des Ober¬
schenkels dieselbe Operation ausgeführt. Nach Anlegung der Ana-
stomose war der vorher blutleere Stumpf gut durchblutet. Auch
hier erfolgte glatte Heilung und nach 4 Wochen wurde Patient
entlassen.
Diese beiden letzteren Fälle darf man, wenn man ein Urtheil
über die Leistungsfähigkeit der Anastomose bei Gangrän abgeben
will, nicht zu den erfolgreichen Fällen rechnen. In den bisher an¬
geführten Fällen war die Anastomose stets angelegt worden, um in
einer der Gangrän verfallenen Extremität die Circulation wieder
herzustellen. In den beiden Fällen von Tuffier jedoch waren
Arterie und Vene nach der hohen Amputation des Beines nur zu
dem Zwecke miteinander vereinigt worden, um dem Stumpf eine
bessere Ernährung zu gewährleisten. Es wurde also hier die Ana¬
stomose in einem Gebiete etablirt, von dem man voraussetzen
konnte, dass es gut ernährt sei. War doch in beiden Fälleu Puls
in der Femoralis nachgewiesen worden. Es kommt noch hinzu,
dass man in beiden Fällen nicht durch Autopsie feststellen konnte,
ob das bei der Operation gewonnene Resultat auch dauernd be¬
stehen blieb.
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772
Dr. S. Iladda,
Im vergangenen Jahre hat Lacroix 1 ) einen Fall, der von
Imbert operirt wurde, veröffentlicht. Bei einem 25jährigen Ma¬
trosen wurde nach einer Schussverletzung des Oberschenkels die
Unterbindung der Femoralis im Adductorencanal ausgeführt. Da
trotzdem die Blutung nicht stand, wurden am folgenden Tage die
Kniekehlengefässe freigelegt, und man fand jetzt eine quere Durch¬
trennung der Arterie, aus der es naturgemäss nicht mehr blutete,
sowie eine seitliche, noch blutende Verletzung der Vene. In diesem
Falle wurde eine End-zu-End-Anastomose zwischen Arterie und
Vene ausgefiihrt und die am Tage vorher angelegte Ligatur ent¬
fernt. Nach 6 Tagen musste zur Amputation geschritten werden,
es bestand totale Thrombose.
Schmieden 2 3 ) vereinigte bei einer 48jährigen Frau mit be¬
ginnender embolischer Gangrän des linken Fusses Arterie mit Vene
am Oberschenkel durch fortlaufende Naht nach der End-zu-End-
Methode. Das Bein wurde warm und normal gefärbt, doch starb
leider die Patientin am folgenden Vormittag an Herzinsufficienz.
An der Nahtstelle fand sich nur ein stecknadelkopfgrosser Thrombus.
Enderlen 8 ) hat in zwei Fällen die End-zu-End-Anastomose
wegen Circulationsstörungen am Beine versucht. Er durchschnitr
die Art. femoralis unterhalb des Abganges der Profunda femoris,
die Vene etwas höher oben, vereinigte das centrale Arterienende mit
dem peripheren der Vene und ligirte die beiden anderen Enden.
Im ersten Falle mussten kleine Kalkplatten durchschnitten werden,
die Aussichten waren deshalb von Anfang an ungünstig. Das Bein
musste später amputirt werden, Arterie und Vene waren thrombo-
sirt. Im zweiten Falle war die Gangrän ganz im Beginn, nachdem
die eine Extremität bereits amputirt war. 6 Stunden nach der
Operation war der erkrankte Unterschenkel warm und gut gefärbt,
nach 24 Stunden trat wieder Blaufärbung ein. Am 3. Tage starb
der Patient. Die Anastomosenstelle selbst war durchgängig, da¬
gegen fand sich eine von unten nach oben fortschreitende Throm¬
bose in den Venen.
Go van es 4 ) führte die End-zu-End-Anastomose wegen eines
1) Lacroix, These de Montpellier. 1909.
2) Schmieden, Berliner klin. Wochenschr. 1910. No. 13.
3) Enderlen, Münch, med. Wochenschr. 1910. S. 1866.
4) Go y an es, Ref. .Münch, med. Wochenschr. 1906.
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 773
grossen Aneurysmas der Art. poplitea aus. Er vernähte die nicht
zur Anastomose verwendeten Stümpfe der Gefässe. Nach der Ope¬
ration bestand gute Function der Anastomose und noch nach
5*/ 4 Monaten waren die Verhältnisse am Bein völlig normal.
Ganz selten hat man bisher die End-zu-Seit-Anastomose beim
Menschen in Anwendung gebracht.
Wieting 1 ) hat in letzter Zeit dieser Methode das Wort ge¬
redet. Er erzielte bei einem 40jährigen Manne mit beginnender
Gangrän des linken Fusses und Unterschenkels einen vollen Erfolg
durch die End-zu-Seit-Anastoraose. Er pflanzte das centrale Ende
der querdurchschnittenen Art. femor. seitlich in die Vene ein. Der
Patient konnte geheilt entlassen werden.
Orhan 2 ) hat, angeregt durch diesen Erfolg, als Erster die
Wieting’sche Operation an den Kniekehlengefässen nachgemacht.
Doch schon am zweiten Tage begann die Gangrän fortzuschreiten,
und er sah sich zur Amputation gezwungen. Die Vena poplitea
fand sich frisch thrombosirt.
Krüger 8 ) hat ebenfalls die Wieting’sche Operation am Ober¬
schenkel ausgeführt. Es handelte sich um eine 48jährige Frau mit
arteriosklerotischer Gangrän des rechten Hallux. Unterschenkel
und Fuss waren kalt. Nach 8 Tagen wurde die Gritti’sche
Amputation nothwendig, es fanden sich alle Venen thrombosirt.
Was aus der Anastomose geworden ist, konnte nicht festgestellt
werden, da die Amputation unterhalb derselben ausgeführt wurde.
Tietze 4 ) berichtete im Anschluss an meinen Vortrag: „Die
neuesten Fortschritte der Gefässchirurgie“ über eine Anastomose
nach Wieting unterhalb des Abganges der Art. prof. fern, bei einer
69jährigen Frau mit arteriosklerotischer Gangrän. Schon beim Durch¬
schneiden der Arterie kam man auf ein Gerinnsel, das entfernt wurde.
Nach Beendigung der eigentlichen Operation fand sich kein Puls in
der Vene. Deshalb wurde die Arterie seitlich eröffnet und ein Throm¬
bus aus ihr entfernt, die Wunde darauf wieder vernäht. Jetzt war
der Puls in der Vene fühlbar. Trotz glatter Heilung schritt die Gan¬
grän fort. Patientin starb nach 19 Tagen an allgemeiner Schwäche.
Die Autopsie ergab Thrombose der Arterie und Vene. — Bei
1) Wieting. Deutsche mecl. Woehenschr. 1908.
2) Orhan. Cit. nach Wieting 1. c.
3) Krüger, Dieses Archiv. Bd. 91. S. 577.
4) Tietze, Allgeni. med. Ccntralztg. 1910. Xo. 4.
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Dr. S. Hadda,
einem 64jährigen Manne hatte dieselbe Operation wegen Gangrän
des rechten Fusses einen erheblich besseren Erfolg. Nach der
Operation war Puls in der Kniekehle fühlbar, der Unterschenkel,
der vorher kühl war, wurde wieder warm, die Sensibilität besserte
sich und es trat Demarkation der Gangrän ein. Nach 15 Tagen
starb Patient an einem Erysipel. Die Anastomose war theihvcise
durch Thromben verlegt, doch durchgängig.
Imbert 1 ) bediente sich bei Gangrän des Fusses eines ähn¬
lichen Verfahrens. Er durchtrennte die Vena saphena magna quer
und pflanzte sie seitlich in die Art. femoralis ein. Die Vene füllte
sich sofort mit Blut, zeigte jedoch keinen Puls und der Patient,
der schon vorher stark kachektisch war, starb. Was aus der Ana¬
stomose geworden ist, erfahren wir in diesem Falle nicht.
Payr 2 ) hat bei einem 70jährigen Manne mit beginnendem an-
giosklerotischen Brande der grossen Zehe und Ferse die Art. prof.
femoris knapp unterhalb der Art. circuraflexa femoris lat. in die
Vena femoralis intubirt und durch Gefässnaht befestigt. Nach
11 Tagen schritt die Gangrän fort, am 16. Tage starb der Patient
unter den Erscheinungen von Herzschwäche und Lungenödem. An
der Anastomosenstelle fand sich ein festhaftender wand ständiger,
nicht obturirender Thrombus. In der Vena femoralis war unter¬
halb der Einpflanzungsstelle ein lockeres Blutgerinnsel, dann kam
eine lange, freie Strecke und in der Vena poplitca, bis zur Ein¬
mündungsstelle der Vena saphena parva reichend, abermals ein
ganz kurzes Gerinnsel. Die Art. tibialis post, war thrombosirt.
Payr giebt der Anastomose zwischen Art. prof. femoris und
Vena femor. vor der bisherigen Methode der Vereinigung von Art.
und Vena femoralis den Vorzug, da die Art. prof. fern, an ihrem
Ursprung der Hauptarterie an Umfang nahe kommt und bei ihrer
Verwendung die bis dahin vorhandene Circulation intact bleibt.
Ich glaube, dass dieser Vorschlag sehr viel für sich hat, zumal
die Methode bei ungenügendem Effect immer noch die Möglichkeit
einer Anastomose zwischen Art. und Vena femoralis offen lässt.
Wenn wir diese Resultate kritisch betrachten, so werden wir
uns sagen müssen, dass das, was man bis jetzt mit der arterio¬
venösen Anastomose bei GefässVerlegung erreicht hat, keineswegs
1) Imbert, s. Lacroix 1. e.
2 ) Payr, Deutsche med. Woehcnsehr. 1910. S. 1506.
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 775
zur weiteren Verwendung dieser Operation ermuthigt, denn von
20 Fällen sind 16 misslungen.
Trotzdem zeigen doch die Fälle von Goyanes, Doberauer,
Wieting und Tietze, die man als gelungen bezeichnen muss,
dass die Idee einer solchen Operation nicht völlig zu verwerfen ist.
Fs scheint nur darauf anzukommen, dass man die Fälle richtig aus¬
wählt, dass man vor allen Dingen schwere Kachexie und locale
Infectionen als Contraindication für den Eingriff betrachtet,
und dass man eine möglichst einfache Technik wählt, bei der die
Circulation auch nicht einmal vorübergehend gestört wird. Denn
wir haben an dem Falle von Jaboulay gesehen, dass bei so
schwer veränderten Gefässen, wie wir sie in den einschlägigen
Fällen wohl meist finden werden, selbst die provisorische Ligatur
verhängnisvolle Folgen haben kann.
Ich habe deshalb, angeregt durch Versuche, die Herr Professor
Gottstein in Gemeinschaft mit Herrn Dr. Roscnthal ausführte,
und die darauf abzielten, Eck’sche Fisteln anzulegen, mich mit
der Frage der arteriovenösen Anastomose eingehend beschäftigt
und habe mich dabei einer Technik bedient, die sich an die von
Pawlow angegebene Methode zur Herstellung Eck’scher Fisteln
anlehnt. Der Vorzug dieses Verfahrens 1 ) besteht darin, dass die
Mängel, die den bisherigen Methoden anhafteten, dabei vermieden
werden. Bei der End-zu-End-Vereinigung macht die Adaptirung
meist grosse Schwierigkeiten, da die Vene fast immer ein bedeu¬
tend stärkeres Caliber aufweist als die zugehörige Arterie. Bei
der seitlichen Anastomose durch directe Naht können durch das
Fassen der Wundränder mit der Pincette, durch die unmittelbare
Vemähung und die daraus resultirende Ungleichmässigkeit der Naht¬
flächen leicht Thrombosen zu Stande kommen. Dazu kommt bei
allen diesen Verfahren noch die NothWendigkeit einer temporären
Abkleramung der Gefasse, die, wie bereits erwähnt, zu Schädigungen
der Gefässwand führen kann. Diese Gefahren werden bei der vor¬
liegenden Methode vermieden. Es ist hier zum ersten Male ge¬
lungen, Arterie und Vene ohne Unterbrechung des Kreis¬
laufes zu anastomosiren. Das ist wohl einer der grössten
Vortheile des Verfahrens. Doch nicht nur die temporäre Abklem-
1) Dasselbe ist kurz publicirt in der Bcri. klin. Woclienschr. 1910. Xo. 1.
Archir für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4.
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Dr. S. Hadda,
mung der Gcfässe fällt hierbei weg; auch die circulare Durch¬
schneidung, die unmittelbare Vernähung der Anastomosenränder mit
durchgreifenden Nähten ist unnöthig, ja die Gefässe brauchen nicht
einmal mit der Pincette gefasst zu werden.
Ich möchte im Folgenden zunächst das Instrumentarium und
die Technik der Operation schildern und erst dann auf die einzelnen
Versuche und deren Erfolge näher eingehen.
Technik.
Was das Nahtmaterial anbetrifft, so bediente ich mich ge¬
wöhnlich der auch von Stich verwandten englischen Seide
No. 00000 oder „extrafein“. Die Seide wurde vor der Operation
Fig. 3.
Fig. l.
Fig. 2.
W
Fit:. 1: Seidenspule nach v. Mikulicz. — Fig. 2: Gefässnadel nach Stich
(natürliche Grösse). — Fit:. 3: Xadelhalter nach Garro.
V 2 Stunde in destillirtem Wasser gekocht und in sterilisirtem
flüssigem Paraffin auf bewahrt. Ich habe die Gefässseide auf
Glasspulen, wie sie v. Mikulicz angegeben hat (Fig. 1), auf¬
wickeln lassen. Glasplatten zu verwenden halte ich nicht für ge¬
eignet, da die feine Seide, auch wenn die Platten gar keine
scharfen Kanten aufweisen, immerhin an den Stellen, an denen sie
mit den Kanten in Berührung kommt, durchgescheuert werden
kann. Recht gut bewährt hat sich mir auch die von Schaerer-
Bern in den Handel gebrachte schwarze Turner’sche Gefässseide.
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 777
Nadeln: Es wurden gewöhnlich die von Stich angegebenen
und von Georg Härtel-Breslau fabricirten Gefässnadeln verwendet
(Fig. 2). Es sind das feinste englische Nähnadeln, von 0,25 mm
Dickendurchmesser und 15 mm Länge, die so gebogen sind, dass
sie etwa dem Drittel eines Kreises entsprechen. Stärker gebogene
Nadeln, wie sie von der Firma Schaerer-Bern hergestellt werden,
haben sich nicht bewährt. Als Führungsinstrument für die Nadeln
benutzten wir den Garre’schen Nadelhalter (Fig. 3), der vor dem
Hagedorn’schen und Kader’schen, die wir beide versucht haben,
den Vorzug hat, dass er beim Oeffnen keine ruckartige Bewegung
der Nadel auslöst. Wie wir weiter unten sehen werden, ist gerade
die Vermeidung solcher heftiger Bewegungen von grossem Vortheil;
Fig. 4. Fig. 5. Fig. 6. Fig. 7.
a b
Fig. 4: Anastomosenmesser, in seine beiden Branchen zerlegt, a und b die
beiden Theile des Druckknopfes, ein wenig vergrüssert. — Fig. 5: Die beiden
Branchen sind durch den Druckknopf miteinander vereinigt. — Fig. 6: Das
Führungsinstrument geschlossen. — Fig. 7: Dasselbe geöffnet.
es kommt sonst sehr leicht zu Einrissen in die Gefässwand und
zu Blutungen, die die Uebersicht nicht unwesentlich erschweren
können.
Zur Herstellung der Anastomose wurde ein Instrument be¬
nutzt, das sich im Princip an die Anastomosenscheere von Eck 1 )
und Pawlow 2 ) anlehnt. Ich habe dieses Instrument, das Herr
Georg Härtel angefertigt hat, im Laufe der Versuche mehrfach
modificirt. In der Form, wie ich es jetzt gebrauche, besteht es
1) Eck, Journal f. Kriegsmedicin. Bd. 131.
2) Pawlow, Archiv f. experim. Pathologie u. Pharmakologie. 1893.
Bd. 32. S. 161.
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Dr. S. Hadda,
aus zwei Messerchen von 3 mm Breite und 3 cm Länge, die mir
einer leichten Biegung in je eine gerade feine Nadel von 5 cm
Länge übergehen (Fig. 4).
Die beiden Messerchen können an ihrem oberen Ende durch
einen Druckknopf (Fig. 4 a und b) fest mit einander vereinigt
werden (Fig. 5). Für diese Messerchen sind besondere Führungs¬
instrumente nothwendig. Dieselben bestehen, wie die nebenstehenden
Abbildungen zeigen (Fig. 6 u. 7), aus 2 durch eine Spiralfeder
gegeneinander in der Längsrichtung verschiebbaren Branchen, die
in ihrem unteren Ende in je eine kleine, unter einem Winkel von
25° abgebogene Platte übergehen. Beide Platten sind an den
einander zugekehrten Seiten mit Zink belegt.
Fig. 9. Fig. 10.
Fig. 8: Die beiden Branchen des Duppelmessers sind in die Schnäbel der
Führungsinstrumente eingelegt. — Fig. 9: Instrument zum Schliessen des
Druckknopfes, geschlossen. — Fig. 10: Dasselbe geöffnet.
ln den hierdurch gebildeten Schnabel des Instrumentes wird
das Messerchen so eingelegt, dass die Schneide der Oeffnung des
Schnabels zugekehrt ist (Fig. 8). Um beide Theile mittelst eines
Druckknopfes aneinander zu bringen, ist ein drittes Instrument
nothwendig, das auf demselben Princip wie das Führungsinstruraent
beruht. Der Unterschied gegenüber diesem ist jedoch, dass es
zweimal rechtwinkelig abgebogen ist, und dass der Schnabel
hohl ist (Fig. 9 u. 10).
Was die Vorbereitung der Versuchsthiere und den Gang der
Operation betrifft, so hat sich die Technik im Laufe der Versuche
nur unwesentlich geändert. Sie weicht nur wenig von dem in der
früheren Publication bereits geschilderten Verfahren ab. Die Hunde
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 779
wurden mit Aether narkotisirt, nachdem sie y 2 Stunde vorher
Morphiumeinspritzungen von 0,02—0,06 g je nach dem Körper¬
gewicht erhalten hatten. In der Narkose wurden dann die Thiere
ausgiebig rasirt. Hierauf wurde die Haut 5 Minuten lang mit
Seifenspiritus gewaschen. Nach Durchschneidung der Haut wurde
ein Stück Mosettigbattist mit Peritonealklemmen am Unterhaut¬
zellgewebe nach Gottstein 1 ) im Bereich der Hautwunde befestigt.
Bei der Anlegung der Anastomose selbst verfahre ich ähnlich
wie Pawlow' bei der Anlegung der Eck’scheu Fistel. Zunächst
wird die Gefässscheidc in einer Ausdehnung von 6—8 cm eröffnet;
die Gefässe werden von dem periadventitiellen Bindegewebe exact
befreit. Dass dies der Gefässwand jemals geschadet hätte, habe
ich nicht beobachtet.
Fig. 11.
Die beiden Gefässe sind durch fortlaufende Naht miteinander vereinigt.
(I. Act der Operation.)
Der erste Act (Fig. 11) der eigentlichen Operation besteht
darin, dass mittelst fortlaufender Naht beide Gefässe möglichst
nahe ihrer Unterlage aneinander genäht werden. Man soll ver¬
suchen, diese Nahtlinie in einem nach unten convexen Bogen zu
legen. Die Nahtlinie soll im Ganzen, je nach dem Umfang der
Gefässe, 2—3 cm lang sein. Es empfiehlt sich, die Naht fort¬
laufend auszuführen, da bei Einzelnähten die nach innen liegenden
Knoten Störungen verursachen können. Bei der Anlegung der
fortlaufenden Naht ist darauf zu achten, dass der Faden vom
Assistenten stets gespannt gehalten wird, da sonst die Gefäss-
1) Gottstein, Bruns’ Beitr. 1899. Bd. 25. S. 500.
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Dr. S. Hadda,
wände nicht fest genug aneinander zu liegen kommen. Die Enden
dieser Naht bleiben lang und werden mit je einer feinen Klemme
gefasst, die man dann herunterhängen lässt.
Etwa 2 mm oberhalb und unterhalb des Endes der Nahtlinie
legt man je eine Naht (Ventilnaht) durch die Mitte der vorderen
Circumferenz der beiden Gefässe, knüpft dieselbe jedoch nicht,
sondern fasst auch hier die Enden des Fadens in eine Moscito-
klemme (Fig. 12). Handelt es sich um sehr starke Gefässe, so
empfiehlt es sich, diese Naht im Sinne einer Schnürnaht anzulegen.
Bei allen Nähten gehe man nur durch Adventitia und Mus-
cularis hindurch, und fasse dabei die Gefässe niemals mit
der Pincette an.
Fig. 12.
Diese Figur veranschaulicht die Anlegung der beiden Ventilnähte.
Sobald man einige Uebung darin erreicht hat, wird man diese
Vorschrift mit Leichtigkeit beobachten können. Sollte es trotzdem
einmal passiren, dass man auch die Intima durchbohrt hat und
dadurch eine Blutung entstanden ist, so wird man mit dem Nähen
einige Minuten lang aufhören müssen, und die Blutung durch ganz
leichte Compression mit einem Tupfer zum Stehen bringen.
Während dieser ganzen Zeit jedoch ist darauf zu achten, dass der
Seidenfaden gespannt gehalten wird.
Nach Abschluss dieses Actes der Operation sind beide Ge¬
fässe fest aneinander genäht. Um das Eintrocknen der Gefäss-
wand während der Operation zu vermeiden, betupft man dieselbe
öfters mit etwas Paraffinum liquidum.
k
r
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 781
Der zweite Act der Operation besteht in der Einführung
des Anastomoseninstrunientes. Die beiden Branchen des Instru¬
mentes werden gesondert eingeführt und erst nach der Einführung
durch den Druckknopf mit einander vereinigt. Zunächst durch¬
sticht man mit der Nadel der einen Branche das Gefäss etwa
V 4 cm vor dem einen Ende der fortlaufenden Naht und etwa
ebenso hoch über dem Niveau derselben innerhalb des Be¬
reiches der bereits vernähten Stelle (Fig. 13). Die Nadel wird
im Inneren des Gefässes entlang geführt; etwa 1 / i cm vor dem
anderen Ende der fortlaufenden Naht — ebenfalls innerhalb des
Bereiches der bereits vernähten Stelle — lässt man sie wieder
Fig. 13.
Einführung der einen Brancho des Anastomoseninstrunientes. (II. Act der
Operation.) Die Nadel ist eingestochen und wird im Innern des Gefässes
entlang geführt.
austreten. Das Führungsinstrument wird hierauf dem Assistenten
übergeben, der cs so nach aussen geneigt hält, dass die Fläche
des Messerchens in der Horizontalebene steht. Genau ebenso wird
die andere Branche eingeführt. Auch hier wird das Führungs¬
instrument vom Assistenten in derselben Weise gehalten, wie auf
der anderen Seite. Das Anastomoseninstrument liegt nun mit
seinen Nadeln an correspondirenden Stellen in den beiden anein¬
ander genähten Gefässen (Fig. 14 und 15). Es bleibt jetzt nur
noch übrig, die beiden Branchen mittelst des Druckknopfes mit
einander zu vereinigen. Zu diesem Zweck werden vom Assistenten
die Messerchen mit ihren oberen Enden so aufeinander gelegt,
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Dr. S. Hadda,
Fig. 14.
Fig. 14: Die beiden Theile des Instruments sind eingeführt, aber noch nicht
miteinander vereinigt. — Fig. 15 zeigt die Stellung der Führungsinstrumente
in dieser Phase der Operation.
Fig. lfi.
Die beiden Messerchen liegen so aufeinander, dass die Theile des Druckknopfes
sich decken. Unter den Spitzen der Nadeln liegt zum Schutze der Gefässwände
ein elastischer Metallstreifen.
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Anlegung arterio-venöser An&stomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 783
dass die beiden Theile des Druckknopfes sich decken (Fig. 16).
Mit Hilfe des dritten Instrumentes, das bei weit auseinander ge¬
zogenen Branchen seitlich über das Ende des Anastoraosen-
instrumentes hinweggeschoben wird, wie es nebenstehende Zeichnung
zeigt (Fig. 17), wird nun der Druckknopf geschlossen. Um durch
die frei endigenden Nadelspitzen die Gefässwand nicht zu verletzen,
thut man gut, einen elastischen Metallstreifen, ähnlich der Braatz-
schen Sonde (Fig. 16) unterzulegen. Zu beachten ist bei der An¬
legung des Instrumentes, dass sowohl die Spitze, als auch das
andere Ende über die noch nicht geknüpften Fäden zu liegen
Fig. 17.
Der Druckknopf wird durch das hierfür bestimmte Instrument geschlossen.
kommt, damit dieselben beim Herausziehen des Instrumentes nicht
zwischen die Branchen kommen und durchgeschnitten werden (Fig. 18).
Jetzt legt man eine zweite fortlaufende Naht, durch die die seitlichen
Theile der Gefässe in einem nach oben convexen Bogen über dem
Instrument aneinander gelegt werden. Auch hier bleiben die Enden
der oberen Naht lang und werden mit einer Klemme gefasst (Fig. 19).
Der jetzt vorhandene Status ist so, dass zwischen den beiden
Nahtreihen die Gefässe an correspondirenden Stellen durch die
Nadeln des Anastomoseninstrumentes durchbohrt sind. In derselben
Höhe der Gefässcircumferenz, in der die beiden Nadeln durch¬
gestochen sind, ist am oberen und unteren Ende der beiden Naht¬
linien je eine nicht geknüpfte Naht angebracht, die erst nach An-
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784 Dr. S. Hadda,
Fig. 18.
Das Instrument ist fertig cingefiihrt, der Druckknopf geschlossen.
Fig. 19.
rr
Anlegung der oberen fortlaufenden Naht.
Fig. 20.
Durchziehen des Instrumentes nach Anlegung aller Nähte.
(In dieser Zeichnung sind die noch nicht geknüpften Fäden bis auf die beiden
letzten weggelassen.)
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 785
legung der Anastomose zugezogen wird und die dazu dient, die
Oeffnung zwischen beiden Nahtlinien zu versehliessen. Anasto-
mosenwärts von diesen beiden Nähten liegen die Enden der oberen
und unteren Nahtlinie, die ebenfalls nach Anlegung der Anasto-
niose mit einander verknüpft werden und dazu dienen, die Anasto¬
mose gegen Nachblutung zu sichern.
Ist alles soweit ausgeführt, dann zieht man das Instrument,
dessen Nadelspitzen man so mit einer Gefässklemme gefasst hat,
dass zwischen ihnen ein Zwischenraum von etwa 2 mm liegt,
zwischen den beiden Nahtlinien hindurch (Fig. 20): dabei schneiden
beide Messerchen, die jetzt im spitzen Winkel zu einander liegen,
Fig. 21.
Fertige Anastomose.
die Gefässe an correspondirenden Stellen auf, und sobald das In¬
strument herausgezogen wird, besteht die Anastomose. Die Blutung
ist häufig nur massig, mitunter aber überraschend stark. Zieht
man jetzt die bis dahin noch nicht geknüpften Fäden zu, so wird
die Blutung auf ein Minimum reducirt, da die letzten OelTnungen
zwischen den beiden Gefässen jetzt geschlossen sind. Der Rest
der Blutung steht, wenn man die Anastomosenstelle einige Minuten
leicht mit Tupfern comprimirt. Nur selten muss man noch ver¬
einzelte Zwischennähte legen. Es ist auch hier, wie alle Autoren,
die sich mit Gefässnaht beschäftigt haben, übereinstimmend ver¬
sichern, überraschend, wie eine relativ bedeutende Blutung durch
leichte Compression vollkommen beherrscht werden kann.
Unmittelbar nach dem Durchziehen des Anastomosenmessers
wird die Arterie etwa 3 cm peripher, die Vene ebenso weit central
von der Communication doppelt unterbunden (Fig. 21). Die Ligatur
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Dr. S. Hadda,
der Arterie hat den Zweck, den ßlutstrom in die neu eröffnet?
Bahn hinüberzuleiten. Die Vene wird unterbunden, um den Rück¬
strom des arteriellen Blutes nach dem Ort des geringeren Drucke*
zu verhindern.
Versuchsprotokolle.
1 und 2. 15. 11.09, Morgens 8y 2 Uhr. Mittelgrosser Hund. Die rechte
Art. femoralis wird freigelegt und im unteren Drittel unterbunden, nachdem
alle Seitenäste, insbesondere dieArt. profundafemoris doppelt ligirt
und durchschnitten sind. Die Wunde wird hierauf durch Naht geschlossen.
Um 10 */ 2 Ubr Vormittags ist das Bein kalt, die Farbe nicht merklich verändert.
Nachmittags 4 Uhr wird die Femoralis wieder freigelegt. Die Arterie
wird im oberen Drittel an die Vene angenäht, dabei reisst die Arterie häufig
ein; es kommt zu Blutungen, die aber stets auf Compression stehen. Hierauf
wird das zerlegbare Anastomoseninstrument in die beiden Gefasse eingefiihrt
und darüber die zweite Nahtreihe angelegt. Dabei reisst die Arterie so stark
ein, dass sie mit zwei feinen Klemmen gefasst und seitlich ligirt werden muss.
Anlegung je einer Ventilnaht am oberen und unteren Ende der beiden Naht¬
linien, Durchziehen des Instruments nach oben, auffallend leicht. Trotz Knüpfens
der Ventilnähte tritt eine schwere Blutung ein, so dass bereits beabsichtigt
wird, die Femoralis zu unterbinden, doch gelingt es, durch ständige Com¬
pression die Blutung zum Stehen zu bringen. Man sieht nun die Vene deut¬
lich und kräftig pulsiren und man fühlt es auch an Theilen, die weit unterhalb
der Anastomose liegen. Die Arterie wird zwischen den beiden morgens ange¬
legten Ligaturen durchschnitten; die Stümpfe retrahiren sich. Verschluss der
Wunde in zwei Schichten.
Abends ist das Bein kalt.
Auf der linken Seite wird im Anschluss daran Nachmittags um 6 Uhr die
Unterbindung der Art. femoralis und ihrer Aeste, am nächsten Morgen die Ana¬
stomose mit denselben Schwierigkeiten wie rechts ausgcführt.
Die am Tage der Operation kalten Extremitäten werden im Laufe der
nächsten 48 Stunden vollkommen warm. Es setzt jedoch bald eine Infection
beider Wunden ein und nach 8 Tagen geht das Thier an einer Nachblutung
aus der rechtsseitigen Anastomose zu Grunde.
Die Autopsie ergab beiderseits Thromben in den Anastomosen.
Epikrise. Dieser Misserfolg wird begreiflich, wenn wir be¬
denken, dass dies die ersten Operationen nach der obep beschrie¬
benen Methode sind. Die Technik war noch sehr mangelhaft, die
Nähte wurden mehrfach durch die ganze Dicke der Gefässwandung
gelegt; dadurch kam es zu erheblichen Blutungen, die zum Theil
erst nach langer Compression gestillt wurden. Die zweite Naht¬
linie rechts war nicht exaet genug angelegt; dieser Fehler hat sich
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 787
später als verhängnissvoll erwiesen, da der Hund bei Einsetzen der
Infection hieraus verblutete.
3. 23. 11.09, Abends 7 Uhr. Schwarz-weiss gescheckte Hündin, 9700 g
schwer, ziemlich klein. Nach ausgiebigem Rasiren des Bauches und der Beine
Desinfection der Haut mit Seifenspiritus. Schrägschnitt vom Lig. Poup. bis zum
Knie in der Richtung der Femoralisgefässe. Nach Durchtrennung der Haut
wird Mosetig-Battist angeklemmt, darauf nach Beiseiteschieben des Sartorius
die Femoralgefässe freigelegt, aus der Scheide tbeils stumpf, theils scharf die
Arterie herausgehoben. Es werden zuerst alle Muskeläste der Art. femoralis,
darauf die Art. profunda femoris doppelt ligirt und durchschnitten. Es liegt
jetzt die Art. fern, in einer Länge von etwa 10 cm von ihrem Austritt aus dem
Schenkelcanal bis zur Theilungsstelle dicht oberhalb des Kniegelenkes frei be¬
weglich und ohne Seitenzweige zu Tage. Der Durchmesser der Arterie
beträgt 2 mm, der der Vene fast 5 mm. Die Vene ist nur an ihrer vor¬
deren Circumferenz von Gefässscheide und periadventitiellem Gewebe befreit,
ist dagegen an ihrer Hinterwand fest mit der Unterlage verwachsen. Im mittleren
Drittel des Oberschenkels wird Arterie und Vene so nahe der Unterlage, als
dies überhaupt möglich, durch 5 oder 6 feinste Seideneinzelnähte, die in leicht
nach unten convexem Bogen angelegt werden und nur Adventitia und Media
fassen, miteinander vereinigt. Die Fäden werden ganz kurz abgesohnitten, so
dass sie kaum zu sehen sind. Hierauf Anlegung je einer Ventilnaht am oberen
und unteren Ende. Diese beiden Ventilnähte werden zunächst noch nicht ge¬
knüpft. Jetzt werden mittelst zweier Höpfnerklemmen, die
mit Gummidrain überzogen sind, Arterie und Vene ober- und
unterhalb gemeinsam abgeklemmt und hierauf nach Betupfen
beider Gefasse mit Paraffin, liquid, zuerst die Vene, dann die
Arterie in der Längsrichtung je 1 cm weit geschlitzt. Dies ist
nur möglich durch Fassen der Gefässwand mit der Pincette.
Hierauf Vereinigung der Arterie und Vene durch Seidenoinzel-
nähte in derselben Weise wie oben beschrieben. Knüpfen der hintere Naht
beiden Ventile. Hieraus resultirt eine Nahtlinie in der neben- j vordere Naht*
stehenden Form. Nun werden die Höpfnerklemmen abgenoro- c u. c l Ventile,
men. Aus den Zwischenräumen der Nahtlinien nur mässige
Blutung, die auf Comprossion nach einigen Minuten steht. Jetzt doppelte Unter¬
bindung der Femoralis dicht über der Theilungsstelle und Durcbschneidung
zwischen beiden Ligaturen. Der Stumpf retrahirt sich stark.
Die Vene ist an der Anastomosenstelle fast ganz collabirt, ober- und
unterhalb dagegen von normalem Kaliber. Man siebt ganz deutlioh, wie das
hellrothe Arterienblut in die Vene bineinpulsirt und die vorher schwarzblaue
Vene roth wird. Eine Pulsation ist (wahrscheinlich wegen des Missverhält¬
nisses der Lumina) nicht wahrnehmbar, auoh an den grösseren Verzweigungen
der Vene nicht. Dagegen sieht man einen ganz feinen, dicht unterhalb
der Anastomosenstelle gelegenen Venenast deutlich pulsiren.
Nachzutragen ist noch, dass die Rothfärbung der Vena femoralis unter¬
halb der Anastomose nicht das ganze Gefäss betraf, sondern nur die lateralen
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Dr. S. Hadda,
zwei Drittel, während das andere Drittel sowie die hier gelegenen grösseren
Venenzweige zunäohst dunkelblau blieben. Nach 10 Minuten langer Beobach¬
tung noch keine Aendernng. Hierauf Schluss der Wunde in zwei Etagen. Aaf
die Wunde Jodoformcollodium und sterile Tücher. Darüber Gypsverband.
der das Bein bis zum oberen Drittel des Unterschenkels und die Unterbaucb-
gegend bedeckt. Nach Schluss der Operation ist das Bein kalt und leicht bläu-
lioh verfärbt.
24. 11. Morgens ist das Bein noch kalt. Hund sonst munter, läuft unter
Schonung des eingegypsten Beines.
Abends 9y 2 Uhr (nach 26 Stunden) ist das Bein ganz warm und weist,
soweit es sichtbar ist, keinen Unterschied gegenüber dem anderen auf.
25. 11. Morgens. Kein Oedem, Bein warm.
Abends 9 Uhr wie früh, Puls am Unterschenkel und Fuss nicht fühlbar.
26. 11. Früh und Abends Bein warm.
30. 11. Stat. idem. Gyps ab. Wunde tadellos verheilt.
2. 12. Heute fühlt man zum ersten Male in der Gegend des Adductoren-
canals ein Schwirren, synchron dem Puls der anderen Seite.
16. 12. Wunde geöffnet. Peripherer Arterienstumpf angeschnitten, blutet
deutlich in schwachem Strahl hellroth, hört aber bald auf. Schnitt bis zum
Unterschenkel. Venen vom Oberschenkel aus bis hierhin freigelegt. Zwei etwa
1 mm dicke Venen angeschnitten, spritzen deutlioh, hellroth. Wieder Schluss
der Wunde in drei Etagen.
5. 4. 10. Die Oberschenkelgefässe werden heute, nach 4 x / 2 Monaten, frei¬
gelegt. Pulsation ist nicht vorhanden. Die Gefässe sind in einen bindegewebigen
Strang verwandelt; Gefässlumina sind nicht nachweisbar, ebensowenig
ist eine Anastomose zu entdecken. Es ist somit völlige Obliteration der
anastomosirten Gefässe eingetreten.
Epikrise. Dieser Versuch kann nur als Vorversuch angesehen
werden. Es wurde hier unter Anwendung temporärer Unterbrechung
des Blutstromes mittelst Höpfner’scher Klemmen operirt. Die
Obliteration der Gefässe ist wohl darauf zurückzuführen, dass hier
die Vene central von der Anastomose nicht unterbunden wurde.
Der zum Offenhalten der Anastomose nothwendigg Druck in der
Vene wurde aus diesem Grunde nicht erreicht; die Folge war
Thrombose der anastomosirten Gefässe, die ihrerseits die Ursache
für die 4 */ 2 Monate später constatirte Obliteration der Gefässe ab¬
gab. Es ist dies eine Beobachtung, die bereits von Watts und
Franz gemacht wurde, und insbesondere bei Letzterem zu den¬
selben Folgeerscheinungen führte, wie der vorstehende Versuch.
Ich habe oben (S. 767) darauf hingewiesen.
4. 24. 11. 09, Abends 8 1 /* Uhr. Gelber, mittelgrosser Hund, 16,800 kg
schwer. Vorbereitung und Hautschnitt wie in Versuch 3, ebenso die Frei-
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 7 89
legung der Gefässe. Heute reisst jedoch die Arterie beim Herausheben aus der
Gefässscheide seitlich ein, so dass sie sofort gefasst und doppelt ligirt werden
muss. Daher muss die Anastomose etwas höher als bisher angelegt werden.
Auch heute genaueste Unterbindung aller Seitenäste, insbesondere der Art. prof.
fern. Anlegung der hinteren Naht im mittleren Drittel dos Oberschenkels mittelst
fortlaufender Naht in leichtem Bogen wie gestern.
Durchmesser der Arterie 2 mm, Durchmesser der Vene 4 mm. Ventilnäbte,
je eine oben und unten, werden nicht geknüpft. Die erste Nahtreihe geht ohne
jegliche Blutung ab, bei der oberen Ventilnaht wird die Intima der Vene mit
durchstochen, daher leichte Blutung. Keine Höpfnerklemmen. Hierauf
Betupfen der Gefässe mit ParafT. liquid, und Einführung der beiden Branchen
des zerlegten Instrumentes, das vorher mit Paraffin betupft ist, mit den Spitzen
kopfwärts. Spitzen werden zusammen mit einer Moskitoklemme angeklemmt.
Hierauf vordere Naht in Einzelnähten, insgesammt 6. Durchziehen des Instru¬
mentes nach oben stösst wegen der relativen Länge desselben auf Schwierig¬
keiten, die Gefässe müssen sehr stark in die Höhe gezogen werden und werden
dabei erheblich gezerrt. Nach dem Durchziehen ziemlich beträchtliche Blutung
aus dem oberen und unteren Ende, geringere aus den Räumen zwischen den
Einzelnähten. Nach Knüpfen der unteren Ventilnaht nimmt die Blutung nur
unwesentlich ab, der obere Ventilfaden reisst. Er wird durch eine neue Ventil¬
naht ersetzt. Die nun nur noch mässige Blutung steht auf leichte Compression
nach 2—3 Minuten. Auch heute an der Anastomosenstelle die Vene collabirt.
Unterhalb der Anastomose tritt schon nach etwa 2 Minuten völlige Rothfärbung
der Vene ein, es ist deutlicher Puls fühlbar und sichtbar. Die Seitenäste pul-
siren noch nicht und sind dunkelblau. Aber bereits nach weiteren 2—3 Minuten
sieht und fühlt man 3 zur Adductorenmusculatur ziehende Venen
stark pulsiren, eine deutliche Farbenänderung lässt sioh jedoch auch noch
10 Minuten nach Etablirung der Anastomose nicht constatiren. Die Vene pulsirt,
so weit sie freigelegt ist. Kurz nachdem die Blutung zum Stehen kam, wurde
die Arterie durchschnitten. Sie retrahirte sich stark. Naht der Wunde in drei
Schichten, Gipsverband wie gestern.
Am Schluss der Operation ist das rechte Bein vom Fuss bis zum Knie
ganz kalt. Abbindung bestand um die Zeit bereits iy 2 Stunden.
25. 11. Morgens 9 x / 2 Uhr, 12 Stunden post operationem. Das Bein ist,
so weit es ausserhalb des Gypsverbandes ist, kühl, Farbenunterschied nicht
deutlich. Abends 9 Uhr Bein warm, nur der Fuss selbst noch kühl. Keine
Stauungserscheinungen, Umfang in der Mitte des Unterschenkels beiderseits
7 cm.
26. 11. Morgens Status idem. Abends, nach 2 mal 24 Stunden, ganzes
Bein warm, ebenso der Fuss, doch leichtes Oedem bis zum Tarsus.
27. 11. Oedem unverändert.
28. 11. Das Oedem hat etwas zugenommen. Um Schädigungen des
üdematösen Beines durch den Gypsverband zu vermeiden, wird derselbe heute
entfernt. Wunde völlig rein.
29. 11. Keine Veränderung.
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790
Dr. S. Hadda,
2. 12. Oedem bis auf Spuren am Fusse vollständig verschwunden. Kein
Puls fühlbar.
3. 12. Heute Freilegung der Nahtlinie. Han fühlt vorher, was bei
Fig. 22. dem ungebärdigen Hunde bisher nicht möglich war, sehr deutlich in
der Gegend des Adductorencanals ein pulsartiges Schwirren. Nach
der sehr schwierigen Freilegung der Gefässe zeigt sich das pulsatori-
sehe Schwirren unterhalb der Anastomose über der Vena femoralis,
die roth erscheint. Die weitere Freilegung nach oben stösst auf euorme
Schwierigkeiten, da die Gefässe in Folge der exacten Schichtennaht in
festes Narbengewebe eingebettet sind. Da die Arterie dicht oberhalb
der Anastomose einreisst, wird um der Gefahr der Beschädigung der
Anastomose durch die Unterbindung zu entgehen, der Hund getödtet
und die Anastomose exstirpirt. Dieselbe ist völlig frei von
Thromben, etwa 1 cm lang und 3 mm breit. (Siehe Fig. 22.)
Die Ränder der Anastomose sehen völlig glatt aus, sie scheinen von
Endothel überzogen zu sein. Unterhalb der Anastomose in dem durch Unter¬
bindung der Arterie gebildeten Blindsack keine Thromben. Die Anastomose
ist etwa 5 mm lang und 3 mm breit.
Epikrise: Es fand sich hier 9 mal 24 Stunden nach An¬
legung der Communication die Oeffnung weit und gut durch¬
gängig, obwohl auch hier der centrale Venenabschnitt nicht
unterbunden war. Dies widerspricht keineswegs dem Resultat des
vorigen Versuches. Denn dort konnte 23 Tage nach der Operation
arterielles Blut in den Venenästen nachgewiesen werden, während
nach 4 l / 2 Monaten die Gefässe obliterirt gefunden wurden. Es
scheinen sich demnach die schädlichen Folgeerscheinungen
des Offenbleibens der centralen Venenabschnitte erst
ganz allmählich auszubilden.
5. 25. 11.09, Abends 7Y4 Uhr. Schwarzweiss gescheckte mittelgrosse
Hündin, 11,800 kg schwer. Am reohten Oberschenkel in der Adductorengegend
eine glatt verheilte Wunde, angeblich von einer vor mehreren Monaten aus¬
geführten Muskelplastik herrührend.
Schnittführung wie bei Vers. 1 u. 2. Mosetigbattist ist nicht ausgekocht,
daher Mull (4fach) an die Schnittränder angeklemmt. Freilegen und Aushülsen
der Arterie wie bisher. Die anatomischen Verhältnisse sind insofern abnorm,
als etwa in der Mitte des hier sehr langen Oberschenkels ein ziemlich dicker
medialer Seitenast der Arterie entspringt, der doppelt ligirt und durchschnitten
wird. Deshalb muss die Anastomose etwas höher als gewöhnlich angelegt
werden. Alle Aeste der Femoralis sind hier auffallend stark; Art. profund,
femor. entspringt direct im Schenkelcanal und verläuft dicht medial an der
Art. femoralis. Sie wird in der üblichen Weise unterbunden und durchschnitten.
Hierauf einfache Ligatur der Art. fern, im unteren Drittel.
Arterie im Durchmesser kaum 2 mm. Vene über 4 mm.
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 791
Vereinigung von Arterie mit Vene in der üblichen Form mit fortlaufender
Naht etwa 2 cm lang. Beim letzten Stich erfolgt, da das Lumen der Arterien
mit angestochen wird, eine Blutung in die Adventitia, die aber bald steht.
Anlegung einer oberen und unteren Ventilnaht, dann Betupfen der Gofässe mit
Paraffin. Einführung der beiden paraffinirten Branchen des Instrumentes,
Spitzen nach oben, hierauf vordere Naht mit Einzelnähten. Es müssen heute
auffallend viel, im Ganzen 9 Nähte gelegt werden, da die Nahtlinie an einigen
Stellen klafft. Zwischenräume zwischen den einzelnen Nähten 1—2 mm. Durch¬
ziehen des Instrumentes spielend leicht. Starke arterielle Blutung. Das obere
Ventil wird zu heftig zugezogen, dadurch reisst die Arterie ein. Da bei Digital-
compression die Rissstelle nicht zu übersehen ist, wird oberhalb eine mit Mull
umwickelte Klemme angelegt. Hierauf Anlegung einer arterio-venösen Naht an
der Rissstelle. Abnehmen der Klemme. Die Blutung ist geringer, steht nach
Compression von 5 Minuten. Vene wieder collabirt, füllt sich in wenigen
Minuten mit rothem Blut und pulsirt sofort, ebenso ihre Seitenäste,
bis 4 Y 2 cm weit abwärts. Nach etwa 5 Minuten Durchschneidung
der Arterie zwischen 2 Ligaturen und Verschluss der Wunde in drei
Etagen. Gypsverband. Bein nach der Operation ganz kalt.
26. 11. Früh ist das Bein kalt, Abends, nach etwa 24 Stunden,
schon bis auf den Metatarsus warm.
27. 11. Extremität warm. Allgemeinbefinden gut.
28. 11. Bein vollkommen warm.
29. 11. Leichtes Oedem in der Tarsalgegend. Gypsverband ab¬
genommen.
2. 12. Hund hinkt mit dem rechten Bein.
8. 12. Hund läuft gut. Neben dem unteren Ende der Nahtlinie ein
Abscess, der perforirt ist.
14. 12. Thier getödtet.
Anastomose 5 mm lang, 3 mm breit, gut durchgängig, Ränder glatt, keine
Thromben. Auch das blinde Ende der Arterie ist nicht thrombosirt (Fig. 23).
Epikrise: Hier fand sich 19 Tage post Operationen! eine
gut durchgängige Anastomose vor, obwohl das Thier eine Wund-
infection durchgeraacht hatte. Dass dieselbe nicht, wie in den
früheren Versuchen, zur Thrombose geführt hatte, ist wohl dem in
mehreren Etagen ausgeführten Verschluss der Wunde zuzuschreiben.
Bezüglich der fehlenden Unterbindung des centralen Venenabschnittes
verweise ich auf das bei der Epikrise der beiden vorigen Versuche
Gesagte.
6. 27. 11. 09, Nachmittags 5y 4 — 6 i / i Uhr. Schwarzweiss geschockter
Hund, 11,300 kg schwer. Rechte Femoralis. Versuchstechnik wie bei Vers.3, nur
werden beide Nahtreihen mit fortlaufender Naht angelegt. Blutung auffallend
gering, steht nach kurzdauernder Compression. Vene collabirt an der Anasto-
mosenstelle sofort. Man sieht sehr deutlichen Puls in der Vene, ln 5 Minuten
9
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4.
Fig. 23.
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792
Dr. S. Hadda,
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ist die Vene bis fast zum Knie herab roth. Alle Seiten äs tepulsiren.
Starker Druck in der Vene. Durchmesser der Art. fern. 2 mm, Durchmesser
der Ven. fern. 4 mm. Naht der Weichtheile und Haut in 3 Schichten. Gyps-
verband.
28. 11. Früh ist das Bein noch kühl, Nachmittags 4 Uhr, nach 22 Stunden,
ist es warm, nur beide Füsse selbst sind noch kalt. Der Gipsverband ist auf¬
gerissen.
29. 11. Gypsverband fast ganz abgeknabbert, wird abgenommen. Bein
warm, nach 2 X 24 Stunden.
30. 11. Kein Oedem.
2. 12. Heute in der Gegend des Adductorenoanals Schwirren synchron
mit dem Pulse fühlbar. Dies ist um so deutlicher, da der Hund eine Arhythmie
hat. Hund frisst nicht, stammt aus einer neuen Serie, die anscheinend nicht
an den Stall gewöhnt ist, denn die anderen, nioht operirten Hunde fressen
ebenfalls nicht.
7. 12. Exitus in Folge Verhungerns. Bronchopneumonie. Herde in
beiden Lungen. Von der Aorta aus wird mit roth gefärbter Gypsmasse injicirt.
Anastomose ist gut durchgängig, reisst trotz des hohen Druckes
nicht ein.
Epikrise: Es fand sich demnach 11 Tage post operationem
eine gut durchgängige Anastomose, die trotz hohen Druckes durch
die injicirte Gypsmasse nicht einriss. Im Uebrigen sei auf die
Epikrise des vorigen Falles verwiesen.
7. 28. 11. 09, 8 Uhr Morgens. Schwarzweisser Hund, gross, 10,300 kg
schwer. Freilegung wie sonst. Art. prof. fern, leicht gefunden, doch blutet es
nach Unterbindung derselben stark aus der zugehörigen Vene, die mit unter¬
bunden werden muss. Beide Nahtlinien fortlaufend. Paraffin dazwischen.
Beim Nähen wird öfters das Lumen angestochen. Es kommt daher zu mehr¬
fachen Blutungen. Dadurch Thrombenbildung zwischen beiden Gefässen. Es
wird auf Grund dieser Blutungen von vorn herein ein Misserfolg vor&usgesagt.
Instrument lässt sich gut durchziehen, fällt dabei auseinander. Die Blutung
ist mittelstark und steht nach Verknüpfen der beiderseitigen Nahtenden und
kurzdauernder Compression. Die Veno collabirt an der Anastomosenstelle nicht,
es ist auch kein Puls nachweisbar. Verschluss wie gewöhnlich nach 10 Minuten
Beobachtung. Gypsverband, Bein kalt.
Abends ist das Bein kalt und blau. Hund liegt auf der Seite, athmet
schwer, hat wahrscheinlich Pneumonie.
29. 11. Heute früh wird das Thier todt im Käfig aufgefunden. Die
Section ergiebt doppelseitige ausgedehnte Pneumonie mit Ausnahme der Ober¬
lappen, die nur zum geringen Theil mit pneumonischen Herden durchsetzt
sind. Keine Lungenembolie nachweisbar. Die Herde in den Unterlappen sehen
älter aus als 24 Stunden, haben wahrscheinlich schon vor der Operation be¬
standen. Die Art. fern, wird im Zusammenhang mit der Tbeilungsstelle der
Aorta und der Cava sowie der Femoralis bis zum Ifnie herausgenommen. Die
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 793
Vene ist abwärts von der Nahtstelle total thrombosirt, es besteht
gar keine Anastomose, da das Instrument auseinander gegangen ist.
Epikrise: Im vorliegenden Versuche kam keine Anastomose
zu Stande, da das zur Herstellung benutzte Instrument keinen
festen Verschluss der beiden Branchen hatte. Es fiel deshalb
beim Durchziehen auseinander. Bei der jetzigen Form des Messers
ist dies wegen des fest schliessenden Druckknopfes, der beide
Branchen zusammenhält, unmöglich.
10. 5. 12. 09, Abends 7 Uhr. Schwarzweisser Hund. Technik wie
sonst, keine Besonderheiten. Anastomosenbildung leicht, Blutung gering.
Naht der Wunde in 3 Schichten. Anastomose functionirt vorzüglich, die Vene
fühlt man durch die Haut bis herunter zur Kniekehle pulsiren.
6. 12. 09. Bein bis zur Mitte des Tarsus warm, nach 24 Stunden leichtes
Oedem. Gypsverband schnürt, wird daher abgescbnitten.
Nach Abschneiden des Gypsverbandes in wenigen Tagen Rückgang des
Oedems.
16. 12. Anastomose functionirt gut.
5. 4. 10. Die Oberschenkelgefässe werden heute freigelegt; Pulsation ist
nicht zu constatiren. Anstatt der Gefässe findet man einen bindegewebigen
Strang, der excidirt wird. Weder Lumina noch eine Anastomose zu entdeoken.
Epikrise: In diesem Falle wurde 11 Tage post op. eine gut
functionirende Anastomose constatirt. Als aber nach 4 Monaten
die Anastomosenstelle untersucht wurde, waren die Gefässe in
einen bindegewebigen Strang verwandelt; es war weder ein Lumen
noch eine Anastomose zu entdecken. Zur Erklärung dieses Befundes
verweise ich auf das bei Versuch 3 Gesagte.
13. 8 . 12. 09. Abends 7 Uhr. Schwarzer Hund von mittlerer Grösse.
Gefässe 2:4mm (A.: V.). Femoralisanastomose mit gewöhnlicher Technik; bald
am Anfang brechen alle Nadeln bis auf eine. Die ganze Operation muss mit einer
Nadel gemacht werden. Nach Durchziehen des Instrumentes starke Blutung
am unteren Ende, steht durch Compression nioht. Beim Versuch, die Oeffnung
zu vernähen, bricht die letzte Nadel. Daher Blutungsstelle seitlich gefasst und
unterbunden. Die Prognose wird deshalb schlecht gestellt.
9. 12. Starkes Oedem. Gypsverband muss abgenommen werden.
11. 12. Obwohl das Oedem im Rückgang begriffen ist, tritt heute Blutung
ein, der der Hund erliegt. Die Blutung erfolgt aus der oben erwähnten seit¬
lichen Oeffnung.
Epikrise: Der Misserfolg ist hier auf Mängel in der Technik
zurückzuführen. Eine nach Durchziehen des Instrumentes einge¬
tretene Blutung aus der Nahtlinie konnte, da keine Nadel mehr
vorhanden war, nicht in der nöthigen Weise durch Naht gestillt
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Dr. S. Iladda,
werden. Es musste eine seitliche Unterbindung angelegt werden,
die nach Abnahme des Gypsverbandes, als das Thier seine Extre¬
mität ausgiebiger zu gebrauchen begann, abging. Die Folge davon
war die tödtliche Blutung.
14 . 9. 12. 09. Vormittags 10 Uhr. Hund von 16 Pfund. Femoralis-
anastomose. Typischer, sehr glatter Verlauf. Gefässe 2 : 4 mm (A. : V.). Nur
massige Blutung nach Durchziehen, steht nach Knöpfen derVentile und kurzer
Compression. Blut stTömt bald ein. Gypsverband.
10. 12. Bein warm. Hund frisst nicht.
Fig. 24. 14.12. Exitus infolge Verhungerns. Todesursache: Broncho-
I pneumonie.
Anastomose 5 mm lang, etwa 3 mm breit; im Bereich der¬
selben kein Thrombus, dagegen in der Arterie dicht
oberhalb der Anastomose ein ganz flaches, 2:3mm grosses
wandständiges Gerinnsel. Das blinde Ende der Arterie ist thrombosirt.
In der Vene findet sich unterhalb der Communication ein stecknadel¬
knopfgrosser, wandständiger Thrombus (Fig. 24).
Epikrise: Der Tod erfolgte hier, wie bei einem Theil
der anderen Versuchsthiere, infolge Verhungerns. Die Ver¬
weigerung der Nahrungsaufnahme war bei allen schon vor der Opera¬
tion — bald nach ihrer Unterbringung in unserem Thierstall —
aufgefallen und ist deshalb nicht der Operation zuzuschreiben. Da¬
gegen spricht auch die Thatsache, dass die anderen Versuchsthiere
nach Ablauf der ersten Tage post operationem keine Aenderung
ihres Verhaltens zeigten.
15 . 16. 12. 09. Mittclgrosser, schwarzweiss gescheckter Hund. Femo-
ralisanastomose rechts in gewöhnlicher Weise. Unterbindung der Vena femo¬
ralis oberhalb der Anastomose.
20. 1. 10. Hund völlig normal.
10. 4. dito.
8. 9. Am ganzen rechten Oberschenkel deutlich Puls fühlbar, doch nicht
so stark wie links. Ein Schwirren kann nicht sicher constatirt werden.
10. 9. Schenkelgefässe freigelegt. Die vorgestern wahrgenommene Pul¬
sation geht nicht von der Vene, sondern von dem unteren Stumpf der Arterie
aus. Die Gefässe werden freipräparirt und entfernt. Dabei zeigt sich, dass die
Vene arterielles Blut führt. Nach Excision der Anastomosenstelle blutet der
distale Stumpf der Vene nicht mehr. Die Vene hat demnach aufgebört, das
Blut centripetal zu leiten. Die Anastomose selbst ist kaum 3 mm lang und
2 mm breit, doch sieht man keine Thromben.
Epikrise: In diesem Versuche wurde zum ersten Male die
Vene nach Anlegung der Anastomose central unterbunden.
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 795
Die Anastomose hat noch nach */ 4 Jahren functionirt.
Allerdings war eine Verengerung eingetreten, die auch die auf¬
fällige Thatsache erklärt, dass die Vene nicht pulsirte. Der Druck
des durch die Anastomose hindurchpassirenden schwachen Blut¬
stromes war so gering, dass in der neuen Blutbahn, die doppelt
so breit war als die frühere, die pulsatorischen Bewegungen für
das Tastgefühl nicht wahrnehmbar wurden. Worauf die Pulsation
des distalen Arterienendes znrückzuführen ist, lässt sich nicht fest¬
stellen. Grosse Anastomosen mit einer anderen Arterie konnten
jedenfalls nicht nachgewiesen werden.
16. 16. 1. 10. Vormittags $ l / 2 Uhr. Ziemlich grosser, kräftig gebauter
Hund. Freilegung der rechten Arteria bezw. Vena femoralis. Am ganzen Ober¬
schenkel Unterbindung und Durchscbneidung aller Seitenäste der Arterie.
Hierauf Anlegung der Anastomose in der üblichen Weise mit fortlaufenden
Nähten und doppelter Ventilnaht. Einführung des Instrumentes ohne Schwie¬
rigkeiten. Unterbindung und Durchschneidung der Arterie dicht über dem
Kniegelenk. Man sieht jetzt sehr deutlich das arterielle Blut in die Vene hin¬
einströmen, die vorher blaue Vene wird im Moment hellroth und beginnt
bald zu pulsiren, ebenso ihre feinen Seitenäste. Es blutet wenig,
daher bald Verschluss, nachdem die Vene oberhalb der Anastomose unter¬
bunden ist. Vor dieser Unterbindung ging das arterielle Blut in der Vene cen-
tripetal. Die Unterbindung der Vene stiess deshalb auf Schwierigkeiten, weil
dabei ein Seitenast, aus dem es stark blutete, eingerissen wurde. Die Blutung
war nur sehr schwer zu stillen. Die Wunde wird diesmal, dieser Schwierigkeit
wegen, nur in zwei Schichten vernäht (Fascie und Haut), die Prognose ge¬
staltet sich daher schlechter. Anlegung eines Gypsverbandes. Am Abend ist
das Bein kalt.
17. 1. Am Morgen Bein kalt. Keine Oedeme.
18. 1. Bein kalt, doch weniger wie gestern. Keine Oedeme.
19. 1. Das Bein hat nach 3mal 24 Stunden post op. dieselbe Temperatur
wie das linke. Der Gypsverband scheuert heute ziemlich stark, der Hund
schont deshalb das Bein beim Laufen. Abnahme des Gypsverbandes.
25. 1. Exitus.
Epikrise: Hier wurde der Versuch gemacht, die Gefässe
nach der von Katzenstein 1 ) angegebenen Methode zu injiciren,
um sie radiographisch darstellen zu können. Da hierbei sehr
starker Druck angewendet wurde, zerriss die Anastomose, es lässt
sich deshalb nichts Genaueres über ihre Beschaffenheit angeben.
Sicher ist nur, dass sie zuerst ausgezeichnet functionirt hat.
1) Katzenstein, Deustche Zeitschr. f. Chir. 1905.
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796
Dr. S. Hadda,
Die vorliegenden 12 Versuche, eine Anastoraose zwischen Ar-
■teria und Vena femoralis anzulegen, wurden an 11 Hunden an¬
geführt. Nur für die beiden ersten Experimente wurde dasselbe
Thier benutzt. Späterhin habe ich es vermieden, in zwei kurz auf¬
einander folgenden Sitzungen dasselbe Thier zu operiren. Ich
glaube, dass die Resultate dadurch verschlechtert werden. Denn
durch die heftigen Abwehrbewegungen, die das Thier bei Einleitung
der Narkose macht, können frisch gebildete Thromben der Naht¬
linie gelöst und Nachblutungen veranlasst werden. Abgesehen von
den allerersten Versuchen habe ich späterhin bei der Femoralis-
anastomose auf den Rath von Herrn Professor Gottstein stets
das operirte Bein eingegipst. Ich kann dieses Verfahren für alle
Thierexperimente, die an den Extremitäten ausgeführt werden,
empfehlen.
Von den 12 Versuchen müssen 7 als gelungen bezeichnet
werden (3, 4, 5, 6, 10, 14, 15). Die Beobachtungsdauer betrug
5 Tage (Fall 10) bis ®/ 4 Jahre (Fall 15). Zwei Fälle, bei denen
nach 20 bezw. 11 Tagen (Versuch 3 und 10) ein einwandsfreies
Functioniren der Anastomose constatirt werden konnte, wurden bis
4y 2 und 4 Monate nach der Operation beobachtet, dann wurden
bei beiden die Schenkelgefasse freigelegt. Dieselben fanden sich
in bindegewebige Stränge verwandelt, von einer Anastomose war
keine Spur mehr zu finden. Wie dies zu erklären ist, habe ich in
der Epikrise der beiden Fälle bereits angedeutet. Ich hatte bei
beiden den central von der Anastomose gelegenen Theil der Vene
nicht abgebunden. Die Folge davon war, dass das arterielle Blut
nur zum Theil den neugeschaffenen, nach der Peripherie führenden
Weg benutzte, zum anderen Theile aber nach dem Orte des ge¬
ringeren Druckes, also centralwärts floss. Das Missverhältniss
zwischen der Richtung des Blutstromes im unteren und oberen
Theile des Gefässes, sowie der Unterschied des Blutdruckes mögen
wohl zu Störungen speciell an der Anastomosenstelle geführt haben,
die ihrerseits wiederum Thrombose des unteren Venenabschnittes
und der Anastomose auslösten. Aehnliche Beobachtungen sind,
wie bereits erwähnt, schon früher von Vignolo, Franz und Watts
gemacht worden'; auf welche W T eise sie zu erklären sind, darüber
lassen die Versuchsprotokolle dieser Autoren nichts verlauten. —
Von den übrigen Versuchen verdient besonders Fall 15 erwähnt
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 797
zu werden. Noch nach a / 4 Jahren liess sich hier Function der
Anastomose nachweisen. Dieser Fall ist zugleich eine Bestätigung
dafür, wie wichtig es ist, den centralen Theil der zur Anastomose
benutzten Vene zu unterbinden. Hier hatte ich zum ersten Mal eine
Ligatur angelegt. Ich bin seitdem bei allen meinen Experimenten
so verfahren. In dem kurze Zeit später operirten Fall 16 war nicht
mit Sicherheit festzustellen, ob die Anastomose gelungen war, da
bei dem Versuche, die Gefässe zu injiciren, die Nahtstelle einriss.
Die übrigen 4 Versuche müssen als misslungen bezeichnet
werden, doch ist das negative Resultat in keinem einzigen Falle
der Methode zuzuschreiben. Im Fall 7 benutzte ich noch nicht
die Form des Anastomoseninstrumentes, wie ich sie oben be¬
schrieben habe; der Mangel desselben bestand darin, dass die Ver¬
einigung der beiden Messer durch Knopf nur dann festhielt, wenn
man das Instrument an derjenigen Branche herauszog, die den
männlichen Theil des Knopfes trug. In dem vorliegenden Falle
nun war durch ein Versehen an der falschen Branche gezogen
worden. Das Messer fiel deshalb beim Durchziehen auseinander,
und es kam gar keine Anastomose zu Stande. Versuch 1 und 2
fielen wegen Infectiön mit anschliessender Nachblutung negativ aus.
Hier war am gleichen Thiere mit nur eintägiger Pause experiraentirt
worden. Ich habe auf die Unzweckmässigkeit dieses Verfahrens,
an einem Thiere besonders kurze Zeit nacheinander zu operiren,
bereits aufmerksam gemacht. Fall 13 ging an einer Nachblutung
3 mal 24 Stunden post op. zu Grunde. Der Grund für die tödtliche
Nachblutung ist hier in groben technischen Fehlern zu suchen.
11 und 12 . 6 . 12. 09. Abends 7 x / 2 Uhr. Schwarzer pudelartiger Hund.
Linke Carotis commun. mit Jugularis ext. anastomosirt. Unterbindung der
Carotis. Technik wie gewöhnlich. Keine wesentlichen Zwischenfälle.
7. 12. Hund ist ganz munter, läuft aber nicht herum. Abends 7 Uhr
wird bei demselben Hunde die Anastomose zwischen rechter Carotis communis
und Jugularis ext. angelegt. Während der Operation Zuckungen des Kopfes.
8. 12. Hund hat seit der zweiten Operation im Käfig auf der Seite gelegen.
Exitus Abends 6 Uhr.
Ganzes Präparat mit Gyps-Wismuthmischung injicirt. Die Anastomosen
sind gut durchgängig.
Epikrise: Hier fand sich am 3. Tage post op. sowohl links
als rechts eine gut durchgängige Anastomose zwischen Carotis ext.
und Vena jugul.
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Dr. S. Hadda,
22. 23. 3. 10. Anastomose zwischen Art. carotis common, und Vera
jugul. auf der linken Seite. Die Gefässscheiden werden freigelegt und eröffnet.
Da die Carotis von der Vene durch Muskeln getrennt ist, werden diese durch¬
schnitten, um bequemer die Anastomose anlegen zu können. Bei Anlegung
der Anastomose, die bei der Grösse der Gefässe glatt vor sich geht, wird der
N. vagus geschont. Die Vene wird central unterbunden. Es zeigt sich bald
Pulsation und Rothwerden der Vene. Um die arterielle Versorgung der be¬
treffenden Gehirnhälfte ganz auszuschalten, wird der Versuch gemacht, die
Art. vertebralis zu unterbinden, doch wird sie nicht gefunden. Grosser Blut¬
verlust, da bei der Durchscbneidung der Soaleni erhebliche Muskel-
Fig. 25. blutungen entstehen. Wahrscheinlich wurden die aus dem Halsmark
| |f abgehenden Nervenwurzeln verletzt. Die Wunde wird deshalb ge-
' #» schlossen. Jeden Tag controlirt, keine Bewegungsstörungen.
II 28. 3. 10. Exitus. Tod erfolgte durch Blutung aus einer kleinen
j| Jrj Oeffnung in der Nahtlinie, die schon bei der Operation bestanden
hatte und durch mehrfache Umstechungen, seitliche Unterbindungen
und Compression gestillt worden war. Es wurde mit Rücksicht darauf
die Prognose ungünstig gestellt.
Anastomose 1 cm lang und 0,5 cm breit, scharfrandig. Die
Ränder scheinen von Epithel überzogen zu sein. Nirgends Spuren
von Gerinnselbildung zu constatiren. (Siehe Fig. 25.)
Epikrise: Hier hatte die Anastomose vorzüglich functionirt;
der Tod war durch Verblutung aus einer undichten Stelle in der
Nahtlinie nach 5 X 24 Stunden eingetreten. Er ist demnach einem
technischen Fehler zuzuschreiben. Im vorliegenden Falle war auch
der Versuch gemacht worden, die Art. vertebralis der operirten Seite
zu unterbinden, doch konnte dieselbe nicht gefunden werden.
23 und 24. 29. 3. 10. Doppelseitige Durchschneidung der Carotis
communis und Anlegung einer doppelseitigen Anastomose zwischen Carotis und
Jugularis. Ehe die Anastomose nach der früher geschilderten Art angelegt
wird, wird versucht die Art. vertebralis freizulegen. Die linken Querfortsätze
werden unter ziemlich starker Blutung mit der Luer’schen Zange abgetragen,
um die Art. vert. freiznlegen, doch bald davon Abstand genommen, da wegen
der Blutung diese nicht zu linden ist. Hierauf wird erst links, dann durch
einen zweiten Längsschnitt rechts die Anastomose angelegt, was glatt von
Statten geht. Dauer der Operation S l / 2 Stunden. Leichte Blutungen aus der
Nahtlinie stehen bald nach wenigen Sicherungsnähten. Hund reagirt gleich
p. op. gut.
30. 3. Hund steht im Käfig. Zunge hängt weit heraus, sonst keine
Störungen.
31. 3. 2 X 24 Stunden nach der Operation beginnendes Oedem des
Halses, links stärker, wahrscheinlich hier Hämatom. Hund geht im Käfig um¬
her, fängt an zu trinken. Zunge geht zurück.
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Anlegung arterio-renöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 799
1. 4. Oedem wird stärker, erstreckt sich auf den ganzen Hals und Unter*
kiefer. Zunge geht ganz in den Schlund zurück.
2. 4. Oedem geht rechts zurück, links wenig.
3. 4. Links im unteren Wundwinkel Vorwölbung aus der Nahtlinie. Hier
Secretentleerung.
4. 4. 2 Nähte im linken unteren Wundwinkel entfernt, starke Seoretent-
leerung im Strahl. Hund lauft im Freien ohne Störung herum.
5.4. Nochmals Erweiterung der bereits verklebten Oeffnung. Wenig Secret.
6. 4. Keine Secretion mehr. Hund ist munter, frisst und trinkt gut.
7. 4. Status idem.
8. 4. Hund fängt an zuzunebmen.
9. 4. Status idem.
8. 9. 10. Rechts bis weit herauf am Halse Pulsation sichtbar
und fühlbar. Auscultatorisch kann man hier ein lautes blasendes Ge*
rausch wabrnehmen. Links ist nur eine dicke Narbe, dagegen nichts
von Pulsation fühlbar.
29. 12. 10. Der Hund kommt heute in Folge Bissverletzung
durch die anderen Hunde ad exitum. Die rechtsseitige Anasto*
mose ist weit und viel länger, als sie ursprünglich angelegt war.
Sie hat eine Länge von 3 cm und eine Breite von 1 cm. Die Ränder
sind ganz glatt, nirgends ist auch nur die Spur einer Thrombose
vorhanden (Fig. 26). Auf der linken Seite eine derbe Narbe, keine
Anastomose.
Epikrise: Wir haben hier auf der rechten Seite noch nach
9 Monaten einen vollen Erfolg zu verzeichnen. Die Anastomose ist
völlig frei von Thrombose und gut durchgängig. Der Misserfolg auf
der linken Seite muss auf das grosse, in Folge der Entfernung der
Querfortsätze eingetretene, später vereiterte Hämatom zurückgeführt
werden. Dasselbe war ursprünglich so gross, dass es wahrschein¬
lich die Anastomose in ihrer Function behinderte. Unterstützt wurde
die Störung noch durch die Infection des Blutergusses, die ja auch
allein im Stande gewesen wäre, den positiven Ausfall des Versuches
zu verhindern.
Die merkwürdige Thatsache, dass die Anastomose nach längerer
Zeit viel grösser gefunden wurde, als sie ursprünglich angelegt
war, ist bereits von Franz beobachtet worden.
25 und 26 7. 4. 10. Mittelgrosse scheckige Hündin. Längsschnitt von
12 cm. Aufsuchen der Vena jugularis ext. links. Dabei kleiner Einschnitt.
Es blutet stark. Seitliche Ligatur, gleitet ab, daher mit Klemmen gefasst.
Hierauf Anlegung der Anastomose unter Benutzung des Führungsinstrumentes
spielend leicht, ohne Blutung. Beide Nahtlinien fortlaufend. Die Enden werden
miteinander verknüpft. Da ausserdem Ventilnähte gelegt werden, ist doppelte
Fig. 26.
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800
Dr. S. Hadda,
Sicherung vorhanden. Hierauf doppelte Unterbindung der Vene, central, za
beiden Seiten des Loches. Arterie peripher doppelt unterbunden und durch¬
schnitten. Sofort Puls in. der Jugul&ris bis oben herauf. Verschluss in zwei
Schichten. Hierauf auf der rechten Seite Operation ebenso, doch reisst die
obere fortlaufende Naht beim Knüpfen des Schlusses. Deshalb werden eine
Anzahl Einzelnähte gelegt. Keine Blutung. Trotzdem wird die Prognose un¬
günstig gestellt. Durchziehen des Instrumentes schwierig, hakt beim Heraus¬
ziehen, weil die beiden Spitzen zu stark genähert sind. Starke Blutung aus
der oberen Nabt steht nach einigen Einzelnähten. Verschluss in zwei Schichten.
Dauer im Ganzen 2 1 /, Stunden. 2 Stunden später Blutung rechts. Eröffnung.
Blutende Stelle an der Anastomose gefasst und unterbunden. Verschluss in
zwei Schichten.
7 Stunden nach der Operation Exitus. Hund hat 2 Stunden nach der
Operation 0,06 Morph, bekommen. Früher Nephrektomie durchgemacbt. Section
ergiebt ausgedehnte Hypostase der ganzen linken Lunge, keine Embolie. Die
Anastomosen waren beiderseits thrombosirt.
Epikrise: Hier waren schon 7 Stunden post op. beide Ana¬
stomosen thrombosirt. Rechterseits ist dies erklärlich, wenn man
die Complicationen der Operation in Betracht zieht. Ob es sich bei
der linksseitigen Thrombose um einen Fehler in der Asepsis oder
Mängel in der Methode selbst handelte, liess sich nicht entscheiden.
Diese 7 Versuche (11, 11, 22, 23, 24, 25, 26) beziehen sich
auf Anastomosen zwischen Vena jugularis ext. und Art. carotis
commun. Bei zweien von diesen Thieren — es waren im Ganzen
vier — wurde in einer Sitzung auf beiden Seiten operirt. Bei
einem Hunde lag zwischen beiden Operationen ein Zeitraum von
24 Stunden (11 und 12). Ein Thier (22) wurde nur einseitig
operirt. Die Hunde vertrugen den schweren Eingriff der doppel¬
seitigen Carotisunterbindung fast ausnahmslos sehr gut. In den
ersten Tagen hing bei den doppelseitig operirten Thieren die Zunge
weit zum Maule heraus. Dann stellte sich Oedem des ganzen
Halses bis herauf zum Unterkiefer ein. Diese Erscheinungen
schwanden jedoch im Verlauf von 4—5 Tagen. Die Hunde waren
von da an wieder völlig normal.
Als vollkommen gelungen sind die Versuche 11, 12, 22, 24
zu bezeichnen, da bei ihnen eine gut functionirende, nicht throm-
bosirte Anastomose gefunden wurde. Die Beobachtungsdauer be¬
trug 2 Tage, 1 Tag, 5 Tage und 9 Monate. Bei 11 und 12,
die sich auf dasselbe Thier beziehen, stand die Todesursache wahr-
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 801
scheinlich mit der schon oben beschriebenen Verweigerung der
Nahrungsaufnahme in Zusammenhang. Der betreffende Hund stammte
aus derselben Gruppe wie das Versuchsthier im Fall 14. Jeden¬
falls erwiesen sich die Anastomosen bei Injection mit Gypsmasse
als genügend weit und gut durchgängig. Bei Versuch 22 ging das
Thier an einer Nachblutung zu Grunde. Schon bei der Operation
hatte man die Prognose quoad vitam ungünstig gestellt, weil es
infolge mangelnder Exactheit der Naht zu einem Defect in der
Nahtlinie und infolge dessen zur Blutung gekommen war, die sich
zwar mit einiger Mühe stillen liess, nach 5 Tagen jedoch von neuem
einsetzte und den ungünstigen Ausgang herbeiführte.
Auch hier bestand eine breite Anastomose ohne die geringste
Gerinnselbildung. Ich glaube mit Bestimmtheit, dass sich ähnliche
Fehler wie im vorliegenden Falle vermeiden lassen, wenn man die
in dem Capitel über die Technik gegebenen Vorschriften beachtet
und über geschulte Assistenz verfügt.
Versuch 24 hat das günstigste Resultat ergeben. Das Thier
lebte noch 9 Monate; die rechte Jugularis zeigte bis zum Kiefer
herauf ausgiebige Pulsationen, die schon bei Inspection wahrge¬
nommen werden konnten. Auf der linken Seite (Versuch 23) da¬
gegen war der Puls weder sicht- noch fühlbar. Die Autopsie be¬
stätigte diesen Befund. Während rechts eine weite Anastomose
bestand, waren links beide Gefässe in eine derbe Narbe verwan¬
delt. Es wird dies erklärlich, wenn wir in Betracht ziehen, dass
hier ein grosses tiefliegendes Hämatom vereitert ist. Welcher Ur¬
sache der Misserfolg in dem vorletzten Falle (Versuch 25) zuzu¬
schreiben ist, konnte ich nicht mit Sicherheit fcststellen. Der beim
Aufsuchen der Vene gesetzten Verletzung derselben ist sicherlich
keine Schuld beizumessen, da die Unterbindung der Vene peripher
von ihr angelegt wurde, die Verletzung selbst also ganz ausserhalb
des Bereiches der Anastomose zu liegen kam. Es wäre immerhin
möglich, die bei der Autopsie gefundene Hypostase der linken
Lunge als Erklärung in Betracht zu ziehen, doch möchte ich jeden¬
falls die ganze Frage offen lassen. Dass Versuch 26 kein günstiges
Resultat ergeben hat, ist leicht erklärlich, denn hier musste wegen
Nachblutung zwei Stunden nach der Operation eine seitliche Li¬
gatur an die Anastomosenstelle angelegt werden. Die Nachblutung
ist auf einen technischen Fehler in der Ausführung der fortlaufenden
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802
Dr. S. Hadda,
Naht zurückzuführen. Ich möchte an dieser Stelle nochmals darauf
hinweisen, dass nicht genug Sorgfalt darauf verwendet werden kann,
und dass es besser ist, die fortlaufende Naht durch einige Einzel¬
nähte zu unterstützen, wenn man nicht ganz exact genäht hat.
Was die Versuche einer Anastomosenbildung zwischen Aorta
abdominalis und Vena cava inf., sowie zwischen Art. carotis com¬
munis und Vena jugularis ext. bei Unterbindung der Art. verte-
bralis betrifft, so bin ich augenblicklich noch mit weiteren Ver¬
suchen beschäftigt, über die ich erst nach deren Abschluss geson¬
dert berichten möchte.
Fassen wir die eben geschilderten Versuchsergebnisse noch
einmal zusammen, so sehen wir, dass in 11 von 19 Fällen, also
bei fast 2 / 8 der Versuche, ein absolut günstiger Erfolg erzielt wurde
(3, 4, 5, 6, 10, 11, 12, 14, 15, 22, 24).
In einem Falle (16) liess sich über die Beschaffenheit der
Anastomose nichts aussagen, da die Nahtstelle beim Versuche, die
Anastomose zu injiciren, einriss. In den übrigen 7 Fällen (1, 2,
7, 13, 23, 25, 26) war ein ungünstiges Resultat zu constatiren.
Es ist dies für den ersten Blick eine ziemlich hohe Zahl von
Misserfolgen, doch wir werden bald sehen, dass keiner davon der
Methode selbst zur Last gelegt werden kann.
Die vorliegenden Versuchsprotokolle geben alle an den Fe-
moral- und Halsgefässen von mir ausgeführten Experimente wieder,
auch die Vorversuche. Dass daraus eine bedeutende Verschlechte¬
rung der Erfolge resultirt, ist erklärlich. Bei den Versuchen war,
abgesehen von der geringen Uebung, die ich selbst damals be¬
züglich der Technik der Gefässnaht hatte, auch insbesondere das
Instrumentarium vollkommen unzulänglich. Ich verwandte damals
nämlich ein Doppelmesser, dessen beide Theile nur lose mitein¬
ander verbunden waren und leicht auseinander fielen. Erst auf
Grund der bei Gebrauch dieses Instrumentes eingetretenen Miss¬
erfolge ging ich dazu über, die beiden Branchen des Doppelmessers
mittels eines sehr fest schliessenden Druckknopfes zu vereinigen.
Jedoch als hierdurch eine gewisse Sicherheit für das Gelingen der
Versuche erreicht war, gab es noch eine Anzahl technischer
Schwierigkeiten zu überwinden. Die beiden Theile des Druck¬
knopfes Hessen sich jetzt, sobald sie in die zur Anastomosenbil-
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Anlegung arterio-venöser Anastomosen bei erhaltenem Blutkreislauf. 803
düng bestimmten Gefässe eingeführt waren, nur mit grosser Mühe,
häufig erst nach schwerer Schädigung der Gefasswand und infolge
davon starker Blutung miteinander vereinigen. Es musste also für
diesen Zweck ein besonderes Instrument angegeben werden. Zu
gleicher Zeit liess ich auf Veranlassung von Herrn Prof. Gott¬
stein die beiden auf S. 777 abgebildeteu Instrumente zur Einfüh¬
rung des Doppelmessers anfertigen, da sich im Verlaufe der Vor¬
versuche gezeigt hatte, dass das Einführen der Messer mittels der
blossen Hand häufig wegen der Kleinheit der Verhältnisse auf er¬
hebliche Schwierigkeiten stiess, ganz abgesehen davon, dass die
Gefässe selbst sehr oft dabei einrissen. Die vor der vollständigen
Ausbildung des Instrumentariums misslungenen Operationen, es
sind die Versuche 1, 2, 7, 13, können deshalb nicht voll zur Be-
urtheilung der Methode heraugezogen werden. Die Versuche 1
und 2 misslangen infolge Infection und Nachblutung. Es sind dies
die allerersten Versuche, die ich mit der Anastomose zwischen
Arteria und Vena femoralis machte, sic wurden beide kurz hinter¬
einander bei demselben Thiere ausgeführt; ich nähte die Weich-
theile über der Anastomose nur in einer Schicht und legte damals
noch keinen Gypsverband an. Im Falle 7 trug das noch unzu¬
längliche Instrument die Schuld an dem Misserfolge, denn es fiel
beim Durchziehen auseinander, eine Anastomose kam daher gar
nicht zu Stande. Beim Versuch 13 hatte ich nur wenige Nadeln
vorbereitet; als dieselben gebrochen waren und eine Hämorrhagie
aus der Nahtlinie eintrat, konnte die blutende Stelle nicht vernäht
werden. Es musste vielmehr eine seitliche Ligatur angelegt werden.
Diese ging, als der Gypsverband abgenommen wurde und der Hund
herumzulaufen begann, ab, und das Thier verblutete. Was die
Versuche 23, 25 und 26 betrifft, so ist das negative Ergebniss in
dem ersteren sicher, in den beiden anderen höchstwahrscheinlich
auf Infection zurückzuführen.
Ueberschauen wir noch einmal die eben geschilderten Resultate,
so müssen wir uns sagen, dass nicht ein einziger Misserfolg der
Methode, wie wir sie jetzt anwenden, zur Last zu legen ist.
Wichtiger jedoch ist noch, dass wir in zwei Fällen ein vorzügliches
Dauerresultat zu verzeichnen hatten. Bei beiden (15 und 24) war
noch nach ®/ 4 Jahren die volle Function der Anastomose erhalten ge¬
blieben. Dies ist ein Beweis dafür, dass sich auf die geschilderte
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804 Dr. S. Hadda, Anlegung arterio-venöser Anastomosen etc.
Weise eine dauernde, gut functionirende Vereinigung von Arterie und
Vene herbeiführen lässt, und dies durch eine Methode, bei der die
Circulation auch während derOperation dauernd erhalten
bleibt und die Gefässwände durch die Naht gar nicht geschädigt
werden. Wie wichtig dies gerade für die Gefässanastoraose bei der
angiosklerotischen Gangrän ist, habe ich weiter oben bereits ausein¬
andergesetzt. Sollte es uns gelingen, auch beim Menschen ähnliche
Dauerresultate wie bei den oben genannten beiden Versuchen zu
erzielen, so wäre hier das Ideal erreicht. Aber auch wenn wir nur
temporäre Erfolge bekämen, wäre viel gewonnen, denn dann wäre
doch wenigstens die Möglichkeit der Ausbildung eines Collateral-
kreislaufes für die erkrankten Partien in der Zwischenzeit gegeben.
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XXVIII.
(Aus der chir. Abtheilung des Israelitischen Krankenhauses
zu Breslau. — Primärarzt: Prof. Dr. Gottstein.)
Ueber Fusswurzelsarkome.
Von
Dr. Carl Stern,
ehemaligem Assistenten der Abtheiluiig.
Im Gegensatz zu den Sarkomen der langen Röhrenknochen
sind Sarkome der kurzen Extremitätenknochen, vor Allem der
Fusswurzelknochen, nur selten beschrieben worden.
Alle früheren Mittheilungen von Erkrankungen des Calcaneus,
die zu einer operativen Entfernung des Fersenbeines geführt hatten,
beziehen sich auf Caries und Nekrose, wahrscheinlich tuberculösen
Ursprunges; so fanden sich unter den 79 Fällen von Calcaneus-
exstirpation, über die Vincent 1876 berichtet, 69 Fälle von
Caries und Nekrose, während von 10 die Diagnose nicht ange¬
geben war.
Ob es sich nicht in dem einen oder dem anderen Falle doch
vielleicht um ein Sarkom gehandelt hat, ist nicht auszuschliessen,
zumal in den 10 Fällen, in denen eine nähere Identifieirung der
Calcaneuserkrankung fehlt.
Auch Ollier lässt sich in seiner Arbeit über „Calcaneus-
operationen“ über die Sarkome des Fersenbeines nicht weiter aus;
er berichtet nur kurz über 6 Fälle, in denen er sich genöthigt sah,
den Unterschenkel zu amputiren, „parce qu’il s’agissait d’un sar-
comc de Tos ou d’une affection inflammatoire“.
Die erste genaue Publication eines Fusswurzelsarkoms, und
zwar eines Sarkoms'des Calcaneus, stammt aus dom Jahre 1894
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806 Dr. C. Stern,
und geschah durch Barthauer aus der Helferich’schen Klinik,
damals in Greifswald.
Nach einer Statistik von Schwarz aus dem Jahre 1880
kamen auf 155 Sarkome der unteren Extremitäten 8 auf die Fus>-
wurzelknochen; davon entfielen 4 auf den Calcaneus, 2 auf das
Os naviculare und 2 auf das Os cuboideum.
Borchardt beobachtete den ersten Fall von primärem Sarkom
des Talus, und die Zahl der Fusswurzelsarkome, die er zusammen¬
stellen konnte, betrug 17.
Sieht man von den Fällen ab, in denen eine histologische
Untersuchung fehlt, so finden sich insgesamrat 18 zuverlässige
Mittheilungen von Sarkomen der Fusswurzelknochen; von diesen
entfallen 1 auf den Metatarsus II, 1 auf den Talus, die übrigen
betreffen das Fersenbein.
Auf der chirurgischen Abtheilung des Herrn Prof. Gotistein
kam in den Jahren 1907 und 1909 je ein Fall von Sarkom des
Calcaneus zur Beobachtung, so dass wir im Stande sind, die Casui-
stik der sicheren Fersenbeinsarkome von 18 auf 20 erwiesene Fälle
zu erhöhen.
Die Krankengeschichten der beiden Fälle sind die folgenden:
I. 4. 3. 09. H. P., 54 Jahre alter Mann.
Familiengeschichte o. B. Pat. ist früher stets gesand gewesen, Frau und
8 Kinder gesund. Seit 2 Jahren besteht an der rechten Ferse eine schmerz¬
hafte Anschwellung, die zuerst eiterte und bereits einmal operirt wurde. Seit
1 / 2 Jahr sind die Schmerzen an der Ferse stärker geworden, ausserdem begann
sich an der rechten Wade eine Geschwulst zu entwickeln. Gleichzeitig ist die
Geschwulst an der Hacke stark gewachsen und hat „wildes Fleisch“ producirt.
Es wurde eine Operation an der Ferse vorgenommen. Bald darauf zeigte sich
eine Geschwulst in der rechten Kniekehle, die ebenfalls allmählich wuchs.
Seit etwa 1 Monat bemerkt Pat. auch in der rechten Leistenbeuge eine An¬
schwellung. Temperaturen schwanken zwischen 36,8° und 38°.
Status: Mittelgrosser, sehr abgemagerter und elend aussehender Mann.
Exantheme fehlen. Drüsen: ln der linken Leistenbeuge zahlreiche bobnen-
grosse Drüsen, in der rechten Leistenbeuge ein über faustgrosses starres, hartes,
unverschiebliches Conglomerat von Drüsen. In der rechten Kniebeuge eine
überfaustgrosse Anschwellung von harter Consistenz, die auf der Unterlage
nicht verschieblich ist und auf dem Röntgenbilde mit dem Knochen nicht zu¬
sammenhängt. Hals-, Supraclavicular-, Achsel- und Cubitaldrüsen o. B. Herz,
Lungen, Urin ohne krankhaften Befund. Blut: 7200 Leukozyten, 4Mill. Erythro-
cyten, Hämoglobin 65. Pirquet, Wassermann negativ. Das rechte Bein steht
in Beugecontracturstellung, in einem Winkel von etwa 130°. Beugung von
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Ueber Fusswurzelsarkome.
807
diesem Winkel aus fast vollkommen möglich, Streckung dagegen nicht. Be¬
wegungen im Hüft- und Fussgelenk sind völlig unbehindert. Der Fuss steht
in leichter Spitzfussstellung. Die ganze Ferse ist verdickt und blauroth ver¬
färbt, die Haut glänzend und gespannt. Auf dem Fersenhöcker sieht man eine
kleinhandtellergrosse, ulcerirte, jauchende Geschwulstfläcbe, die theilweise mit
grünlichem, widerlich riechendem Eiter belegt ist. Röntgendurchleuchtung
der Lungen ergiebt rechterseits deutlich vergrösserte Bronchialdrüsen, im
linken Unterlappen einen apfelgrossen runden Schatten. Röntgen bi ld des
Fusses: An der Ferse sieht man einen, dem Calcaneus schalenartig auf-
sitzenden Tumorschatten, der jedoch nioht auf den Calcaneus übergeht. Die
Structur dieses Knochens ist vielmehr vollkommen erhalten. Das Röntgen¬
bild der Kniegelenksgegend lässt keinerlei Knochenveränderungen er¬
kennen. Röntgenbild des Thorax: Beiderseits am Lungenhilus sind grosse
länglich geformte Schatten zu sehen. Am rechten Unterlappen ist ein apfel-
grosser, dichter Schatten zu constatiren. Beide Lungen, insbesondere jedoch
die rechte, sind von einer grossen Anzahl kleinerer erbsen- bis bohnengrosser
Schatten durchsetzt.
6. 3. Aus dem Tumor der Ferse wird ein Stück probeexcidirt.
Mikroskopische Untersuchung (Königl. pathologisches Institut):
Einbettung in Paraffin, Färbung mit Hämatoxylin-Eosin. Das vorliegende Ge-
websstück besteht aus grösseren, zu Alveolen angeordneten Rundzellen, dio
vielfach feinste Ausläufer haben, mittelst deren sie mit dem bindegewebigen
Gerüst der Alveolen in Verbindung stehen. Die Diagnose muss demnach auf
Sarcoma alveolare gestellt werden.
Auf Grund dieses Befundes und mit Rücksicht auf die in der Kniekehle
und Leistengegend, sowie in den Lungen bestehenden Metastasen wird von
einer Operation abgesehen. Durch feuchte Verbände gelingt es, das jauchende
Ulcus fast völlig zu reinigen. Die Temperaturen gehen zu gleicher Zeit zur
Norm herab und Pat. wird am 29. 3. 09 als ungeheilt nach Hause entlassen.
II. 11 . 4. 07. A. B., 28 Jahre alter Mann.
Familienanamnese o. B. Pat. hatte vor 20 Jahren Typhus, ist späterhin
nie ernstlich krank gewesen. Er war Soldat und hat den russisch-japanischen
Feldzug mitgemacht, aus dem er vollkommen gesund zurückkehrte. Seit
10 Wochen bestehen Schmerzen im rechten Fussgelenk, die mit Fieber ange¬
fangen haben, ln der ersten Zeit konnte Pat. umhergehen, wenn auch unter
starken Schmerzen. Nach Verlauf von 2 Wochen war er wegen zunehmender
Schmerzen im rechten Fussgelenk gezwungen, sich zu Bett zu legen. 4Wochen
nach Beginn der Beschwerden liess Pat. sich in das Hospital zu K. aufnehmen,
wo ihm ein Gypsverband angelegt wurde, der jedoch schon nach 6 Tagen wegen
starker Schmerzen entfernt werden musste. Der Fuss war jetzt stark ge¬
schwollen und geröthet und Pat. konnte nicht mehr auftreten. Eine nun ein¬
geleitete Massagebehandlung verursachte dem Pat. sehr starke Schmerzen, die
Schwellung des Fussgelenks nahm zu, und Pat. verliess das Hospital unge¬
heilt. Seit Bestehen der Erkrankung hat Pat. stark an Gewicht abgenommen.
Pat. sucht jetzt das Israelitische Krankenhaus auf.
ArchiT für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4. rto
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808
Dr. C. Stern,
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Status: Mittelgrosser, blasser Mann. Fettpolster stark reducirt.
Oedeme, Exantheme, Drüsenschwellungen fehlen. Lungen, Herz, Urin ohne
krankhaften Befund. Die rechte untere Extremität ist atrophisch. Unmittelbar
über den Knöcheln setzt eine starke, spindelförmige Anschwellung ein, die bis
zur Mitte des Fusses reicht und ihre grösste Ausdehnung in der Tarsusgegend
hat. Die Haut darüber ist gespannt, geröthet, glänzend, unterhalb der Malleolen
besteht deutliche Fluctuation, besonders unterhalb des inneren Knöchels. Die
Anschwellung ist sowohl auf Druck wie auch spontan äusserst schmerzhaft.
Der grösste Umfang der Anschwellung beträgt 37 cm, während der Umfang des
gesunden Fusses an der entsprechenden Stelle nur 32 cm beträgt. Der Umfang
in der Höhe der Malleolen beträgt rechts 26,5, links 20 cm. Röntgen bi Id:
Die Contouren des gesammten Tarsus, sowie der proximalen Hälfte der Meta¬
tarsalknochen sind vollkommen verwischt. Man sieht an der Stelle der 3 Cunei-
formia, sowie der entsprechenden Basen der Metatarsen nur einen undeutlich
begrenzten Schatten. Vom Os cuboideum, Naviculare, dem Talus und Calcaneus
sind die Contouren noch angedeutet, doch ist die Structur nicht mehr zu sehen.
Der Talus sowie der Calcaneus sind in ihrer Form scower verändert. Ersterer
soheint comprimirt zu sein. Die Gclenkenden der UnterschenkelknocheD sind
in ihren Contouren noch deutlich erkennbar, doch ist die Structur nicht mehr
erhalten.
Pat. hat dauernd abendliche Temperatursteigerung bis auf 38° und
darüber. 21. 4. Unterhalb des äusseren Malleolus an der am stärksten fluc-
tuirenden Stelle Probepunction. Dieselbe ergiebt nur Blut. Verimpfung des
Blutes auf Agar. Die Röhrchen bleiben steril. 22. 4. In Morphium-Aether-
narkose wird zunächst eine Probeincision unter dem äusseren Malleolus ge¬
macht. Es quellen graue, schwammige Tumormassen hervor, daher wird so¬
fort die Amputatio supramalleolaris angeschlossen, die unter Bildung
zweier breiter Hautmuskellappen ausgeführt wird. Es wird ein Drain eingelegt.
4. 5. Pat. ist dauernd fieberfrei gewesen, ln der Mitte der Nahtlinie scheint
die Haut gangränös zu werden. Es wird deshalb ein Heftpflaster-Extensions¬
verband, 15 cm oberhalb der Amputationsstelle beginnend, angelegt, um die
Hautlappen möglichst vom Knochen abzuziehen. 24. 5. Die Wunde ist voll¬
kommen verheilt. Pat. klagt heute über Schmerzen in der rechten Kniekehle.
Es findet sich hier eine taubeneigrosse, schmerzhafte Drüse. Auch in der
rechten Inguinalgegend ist eine kirsebgrosse harte Drüse fühlbar. 6. 6. Die
Temperatur, die bereits seit vorgestern erhöht ist, steigt houte auf 39,4° an.
Es besteht ein zunehmendes Oedem des rechten Unterschenkelstumpfes. Die
Drüse in der Kniekehle ist etwa hühnereigross, die Inguinaldrüse ist nussgross
geworden. Ausser diesen Leistendrüsen sind noch einige andere bis bohnen¬
grosse Inguinaldrüsen fühlbar. Die Haut über der Amputationsstelle ist ge¬
spannt und glänzend. Der Umfang ist hier auf das l l / 2 fa c he angewachsen.
10. 6. Es bestehen dauernd abendliche Temperatursteigerungen bis über 39°.
Die Lungenuntersuchung ergiebt rechts hinten, dem oberen Theile des Unter¬
lappens entsprechend, eine 2—3 Querfinger breite Dämpfungszone, darunter
und darüber normaler Schall. Ueber der gedämpften Partie besteht abge-
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-schwächtes Athraen, sonst ist das Athemgeräusch überall rein. Das Röntgen-
bild zeigt im reohten Unterlappen zahlreiche bis thalergrosse Schatten, die
•wohl auf Tumormetastasen zu beziehen sind. 20. 6. Die Temperatur ist in
•der Zwischenzeit nur selten unter 38° heruntergegangen. Pat. ist appetitlos,
Jiommt an Gewicht sichtlich herunter. Er klagt über unerträgliche Schmerzen
im ganzen rechten Bein, die auch auf Morphium nur unvollständig nachlassen.
in der rechten Inguinalgegend bosteht ein Paket bohnen- bis nussgrosser harter
Drüsen. Die Kniekehle ist von einem faustgrossen Tumor ausgefüllt. Der
Unterschenkel ist ödematös, auf das Doppelte seines früheren Umfanges ange¬
schwollen. Die Amputationsstelle ist von harten Tumormassen eingenommen,
die Haut darüber dunkelblauroth und glänzend. Pat. wird auf eigenen Wunsch
nach Hause entlassen.
10. 7. 07. Pat. ist heute in seiner Heimat verstorben.
Makroskopisches Präparat: Der Fuss ist etwa 10 cm oberhalb des
Malleolus abgetragen. Die Gegend des Fussgelenkes, sowie die Fersengegend
•ist enorm spindelförmig aufgetrieben, die Schwellung erstreckt sich fast bis an
-die Zehen heran. Auf dem Durchschnitt in sagittaler Richtung sieht man den
ganzen Tarsus, sowie die proximale Hälfte des Metatarsus ersetzt durch un¬
regelmässige, schwammige Tumormassen. Von den Contouren des Caloaneus
•und der Tarsalknochen ist nichts mehr zu sehen, erhalton ist nur noch der
Talus, dessen obere vordere Fläche hinter der Rolle und vor derselben von
Tumormassen arrodirt ist. Der Knorpelüberzug ist zum grössten Theil noch
gut erhalten. Es besteht kein Bruch, keine Compression des Talus. Dieselbe
wurde im Röntgenbild durch derbe Tumormassen vorgetäuscht. Die Gelenk-
-enden der Unterschenkelknochen sind frei von Tumormassen, doch reicht an
ihnen entlang der Tumor vorn und hinten noch etwa 5 cm in die Höhe.
Mikroskopische Untersuchung (Königl. pathologisches Institut):
Einbettung in Paraffin, Färbung mit Hämatoxylin-Eosin. Es besteht diffuses
Wachsthum kleiner Rundzellen mit grossen Kernen und wenig Protoplasma.
Das Geschwulstgewebe ist zum grossen Theil nekrotisch. Diagnose: Klein¬
zelliges Rundzellensarkom.
Beiden Fällen ist gemeinsam der histologische Charakter des
Sarkoms; beide Male handelte es sich um zellreiche, kleinzellige
Rundzellensarkome, in denen, nicht einmal vereinzelt, Riesenzellen
zu finden waren. Verschieden dagegen ist in beiden Fällen der
Ausgangspunkt des Sarkoms.
Während es sich in dem zweiten Falle um ein centrales, vom
Mark ausgehendes Sarkom handelt, ist im ersten Falle das Periost
n,Js die Ursprungsstelle des Tumors anzusprechen.
Bei den vom Periost ausgehenden Sarkomen muss man die
von der Innenschicht der Knochenhaut ausgehenden Geschwülste
von denen trennen, die von der äusseren, der sogenannten
Faserschicht, ihren Ursprung nehmen.
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Dr. C. Stern,
Die inneren Periostsarkome geben Anlass zu einer Knochen¬
neubildung in Gestalt einer Knochenschale, die in mehr oder
weniger grosser Ausdehnung den Tumor begrenzt; diese Sarkomart
ist insofern gutartiger als die andere Form, weil sie von allen
Seiten von einer starren Wand begrenzt ist, und in Folge dessen
ihrem infiltrativen Wachsthum gewisse Grenzen gesetzt sind. Da¬
gegen verhalten sich die von der äusseren Periostschicht aus¬
gehenden Tumoren ähnlich den Weichtheilsarkoraen; die Erschei¬
nungen am Knochen beschränken sich in der Regel auf eine
Arrosion desselben, über die, wie auch in unserem Falle, das
Röntgenbild Aufschluss giebt.
Das centrale Sarkom in Fall II hatte nicht, wie in manchen
Fällen beschrieben wird, eine Knochenschale gebildet, vielmehr
war das ganze Fersenbein in Sarkommassen aufgegangen; ferner
hatte es vor den Gelenkknorpeln nicht Halt gemacht, sondern war
auf den Talus übergegangen, der ebenfalls völlig durch Tumor
ersetzt war, während die Gelenkflächen der Tarsalknochen vom
Sarkom angenagt erschienen.
Ebenso war der Gelenkknorpel des Talus nach dem Unter¬
schenkel hin völlig zerstört. Dagegen waren die Unterschenkel¬
knochen an ihrer Gelenkfläche frei von Tumor. Es ist dieser
Punkt besonders hervorzuheben wegen des localen Recidives am
Amputationsstumpf, von dessen Bedeutung noch zu sprechen
sein wird.
Während der histologische Charakter des periostalen Sarkoms
in unserem Falle übereinstimmt mit dem gewöhnlichen pathologisch-
anatomischen Befund der vom Periost ausgehenden Sarkome, ist
für die centralen Tumoren das Bild des reinen Rundzellensarkoms
nicht die Regel. Von den 20 Fällen myelogener Fusswurzelsarkome
erwiesen sich nur noch 3 als reine zellreiche Rundzellensarkome.
Besonderes Interesse hinsichtlich seines pathologisch-anatomischen
Charakters bietet der von Borchardt mitgetheilte Fall von Fuss-
wurzelsarkom vor Allem deshalb, weil er Aufschluss giebt über
den Entwicklungsgang eines Theiles der in Rede stehenden Sar¬
kome aus versprengten Knorpelkeimen.
Bei der Häufigkeit des Vorkommens von Knorpelkeimcn an
den Fusswurzelknochen und den von ihnen ausgehenden Chon¬
dromen und Enchondromen ist cs nicht ausgeschlossen, dass viel-
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Ueber Fasswurzelsarkome.
811
leicht sogar alle Sarkome der Fusswurzelknochen gleicher Her¬
kunft sind wie das Sarkom im Falle B.’s und in einigen anderen
Fällen, von denen vier bei Borchardt erwähnt werden, einer
später von Weigel publicirt worden ist.
Der Umstand, dass nicht jedesmal Knorpelzellen gefunden
wurden, wäre dann vielleicht in einem Theil der Fälle darauf
zurückzuführen, dass alle Knorpelzellen durch Sarkomzellen sub-
stituirt worden sind, in einem anderen Theile wäre die mangel¬
hafte Untersuchung, die sich mit Schnitten aus nur einem Theil
des Tumors begnügte, dafür anzuschuldigen, dass das ursprüngliche
Enchondrom übersehen worden ist.
So betont auch B. ausdrücklich, dass erst nachträglich die
Knorpelzellen gefunden werden, und damit die Entwicklung des
Sarkoms bezw. Enchondroms klargestellt worden ist. Daher er¬
scheint es rathsam in Zukunft alle Theile eines Sarkoms nach
Knorpelzellen zu durchsuchen, wobei besonders den härteren, noch
gut erhaltenen Partien des Tumors eine besonders sorgfältige
Untersuchung zu widmen ist; und vor Allem sind cs die Sarkome,
in denen sich Schleimgewebe findet, bei denen die Entdeckung
von Knorpelzellen grosse Wahrscheinlichkeit bietet. In dem Falle
B.’s war Talus und Calcaneus vollkommen in dem Tumor auf¬
gegangen, dagegen war das Bild, das der Calcaneus bot, verschieden
von dem des Talus. Der Talustumor stellte sich dar als eine
„harte, homogene, schneeweisse“ Geschwulstmasse, ähnlich einem
Fibrosarkom, dagegen war der Calcaneus ersetzt durch eine weiche,
schwammige, blutreiche Masse, die man schon „makroskopisch als
zellreiches, myelogenes Sarkom“ ansprechen durfte. Mikroskopisch
erwies sich der Talustumor als Chondrom, das nach dem Calcaneus
hin immer zellreicher wurde, so dass der Fersenbeintumor den
Charakter des typischen Riesenzellensarkoms angenommen hatte.
Kleine Chondrome am Cuneiforme III und Metatarsus III be¬
stätigten die Auffassung, dass der primäre Tumor ein Chondrom
des Talus war, das nach dem Fersenbein durchgebrochen und hier
den Typus des Riesenzellensarkoms angenommen hatte.
Ausser seinem eigenen Fall hat B. noch 4 Fälle in der Lite¬
ratur finden können, die neben dem Charakter des Sarkoms
durch das Vorhandensein von Knorpelzellen ihre Entwicklung aus
Chondromen bezw. Enchondromen documentirten.
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812
Dr. C. Stern,
Verschieden durch den Sitz, ihm entsprechend durch die
pathologisch-anatomische Grundlage der Entwicklung ist der Fall,
den Weigel publicirt hat.
Es handelt sich um eine 53jährige Frau. Vor 3 Jahren wiederholt Stösse
auf den rechten Fussrücken. Seitdem ständige Schmerzen am vorderen Theile
des Fusses. Seit 5 Monaten Schwellung am Fass, die rasch zunahm. Wieder¬
holte Einschnitte seitens eines Arztes ergaben keinen Eiter, sondern entleerten
eine schleimig gelatinöse Masse in reichlicher Menge, so dass die Geschwulst
für einige Tage verkleinert war, um bald wieder über das ursprüngliche Maass
hinauszuwachsen. Amputation nach Pirogoff. Makroskopisch: Metatarsus I,
aufgegangen in schleimig entartete Geschwulstmassen, in der Bruchstücke,
meist Roste des knöchornen Metatarsus II, noch zu erkennen sind. Mikro¬
skopisch: Knorpelzellen, Spindelzellen, Schleimgewebe und bindegewebige
Faserzüge.
In allen diesen Fällen wird des Befundes von reichlichem
Schleimgewebe Erwähnung gethan. Es geht demnach die Ent¬
wicklung von Chondromen bezw. Enchondromen zu Sarkomen in
allen Fällen auf die gleiche Weise vor sich: Schleimige Degene¬
ration resp. Metamorphose des Knorpelgewebes und im Anschluss
an die Metaplasie Wucherungsprocesse, auf deren Boden, wie so
oft bei Knochenneubildung beobachtet wird, ein bereits charakte¬
ristisch ausgebildetes Gewebe (in diesem Fall Schleimgewebe), in
ein anderes Gewebe (in diesem Falle Sarkom) übergeht (Ziegler).
So lange die Knorpelkeime der Fusswurzelknochen, deren
Häufigkeit Virchow betont, keine Neigung zu Wachsthum und
maligner Degeneration zeigen, bleiben sie unerkannt. Erst wenn
der ruhende Keim sich zu regen beginnt, wird sein Bestehen
offenbar, er nimmt zunächst den Charakter des Myxosarkoms an,
und vermag leicht eine entzündliche Erkrankung vorzutäuschen.
Eine dahingehende Mittheilung stammt von Albert. Der
Fall betraf einen 58jährigen Mann, bei dem zwei Jahre nach
einem einmaligen festen Auftreten mit dem Hacken eine Schwellung
im inneren Knöchel links und Schmerzen bei Bewegungen des
Fusses auf traten. Die Erkrankung wurde zunächst für Tuberculose
gehalten und von einem Arzt incidirt. Ein Enchondrom an der
vierten Zehe des gleichen Fusses führte A. auf die richtige Spur
und zur Amputation des Unterschenkels; die mikroskopische
Untersuchung ergab ein Enchondrom bezw. Myxochondrom, be¬
stehend aus hyalinem Knorpel und Schleimcysten. Hervorzuheben
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lieber Fusswurzelsarlcome.
813
ist hier, wie in dem Falle ßorchardt’s, das multiple Vorkommen
der Enchondrome.
ln unseren Fällen waren Knorpelzellen nicht zu finden. Aller¬
dings handelte es sich beide Male um sehr vorgeschrittene Fälle,
in denen die ganze Neubildung den Charakter des weichen, blut-
und zellreichen Rundzellensarkomes aufwies. Von der gleichen
histologischen Beschaffenheit, d. h. weiche, zellreiche Rundzellen¬
sarkome ohne Riesenzellen, fanden sich unter den Fällen von
Fusswurzelsarkom noch 3. In 5 Fällen handelte es sich um ein
Spindelzellensarkom, 3 mal um ein Riesenzellensarkom, und 6 Fälle
documentirten durch Knorpelzellen ihre Herkunft aus Chondromen
resp. Enchondromen. In den übrigen Fällen ist die Angabe des
histologischen Baues theils ungenau, theils fehlt sie gänzlich.
Während in unserem Falle und in der Mehrzahl der übrigen
Fälle von myelogenem Fusswurzelsarkom der befallene Knochen
völlig oder fast völlig durch das Sarkom zerstört war, repräsen-
tiren 2 Fälle den Typus des schaligen Myeloids. Im Falle Barth-
hauer’s erwies sich das Innere fast des ganzen Calcaneus in
einen Tumor verwandelt. Die Neubildung hatte den Knochen
mässig ausgedehnt und sass „wie ein Ei in seiner Schale“ nur
von einer dünnen Knochenlamelle zusammengehalten; nur im
vorderen Theil des Knochens war noch eine iy 2 cm breite Schicht
Spongiosa erhalten. An keiner Stelle erwies sich die Knochen¬
schale von der Geschwulst durchbrochen. Entsprechend war der
Befund im Falle Fahlenbock’s. Das Bemerkenswerthe ist, dass
das myelogene Sarkom, das Barthauer als typischen Schalen¬
tumor geschildert hat und durch eine gute Abbildung als solches
deraonstrirt, nicht wie in dem Falle F.’s, und wie gewöhnlich an
den langen Röhrenknochen ein Riesenzellensarkom war, sondern
als ein „zellreiches, schnell wachsendes Rundzellensarkom“ dia-
gnosticirt wurde (Grawitz).
Das periostale Sarkom in unserem Falle hatte sich zuerst
docuraentirt durch Schmerzen in der Ferse und bald auch durch
einen Knoten daselbst. In das Krankenhaus kam der Patient mit
einem grossen, ulcerirten Tumor.
Nicht so klar lagen die Verhältnisse in Fall II, in dem es
sich um ein myelogenes Sarkom handelte. Bei diesem Patienten
setzten die Beschwerden fast acut ein mit Schmerzen irn rechten
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Dr. C. Stern,
Fassgelenk, die Anfangs nur beim Gehen bestanden, und ihn nach
14 Tagen zwangen, das Bett zu hüten. Zehn Wochen nach Beginn
der Beschwerden zeigte sich das Fussgelenk spindelförmig ge¬
schwollen, die Haut über dem Gelenk geröthet und gespannt:
unterhalb der Knöchel bestand deutliche Fluctuation, die An¬
schwellung war auf Druck sowohl wie auch spontan, vor Allem
aber bei Bewegungen, äusserst schmerzhaft. Es fehlte in beiden
Fällen eine anamnestische Angabe, die wir in den meisten Fällen
von Calcaneussarkom beobachtet finden: nämlich die Erwähnung
eines Traumas. In der Mehrzahl der Fälle wird als Grund der
Erkrankung ein heftiger Sprung auf die Ferse erwähnt. Ob in
allen Fällen das Trauma die Disposition zur Sarkomentwicklung
gefördert hat, bleibe unerörtert. Ein gewisser Zusammenhang
zwischen Trauma und Sarkom besteht sicher. Andererseits ist
der stärke Schmerz, den der Patient in Fall II auch in der Ruhe,
vor Allem aber bei Druck und bei Bewegungen hatte, keine regel¬
mässig wiederkehrende Beobachtung; sie steht sogar in directem
Widerspruch zu dem, was Liebetreu in seinem Fall hinsichtlich
der Schmerzempfindung constatiren konnte. L. fand die Empfind¬
lichkeit sehr gering, active Bewegungen im oberen und unteren
Sprunggelenk wurden etwas vorsichtig ausgeführt, waren aber
ebenso w r ie passive nicht schmerzhaft.
Die Erklärung für diesen Unterschied in der Empfindlichkeit
liegt darin, dass in unserem Falle der Gelenkknorpel bereits vom
Sarkom ergriffen war, während die Gelenkflächen in dem Falle
Liebetreu’s bei der Aufnahme des Patienten noch frei von
Tumor waren.
Im Allgemeinen wird angegeben, dass Schmerzen in der Ferse
beim Stehen und Gehen auftreten, die in der Ruhe schwinden.
Der Patient Bart hau er’s gab sogar an, dass die beim Gehen
auftretenden Schmerzen in der Ruhe und bei längerem Marsche
nachliessen.
Unser Fall ist ein sprechendes Beispiel dafür, zu welchen
diagnostischen Irrthümern ein centrales Sarkom des Calcaneus
führen kann. Vier Wochen nach Beginn der Erkrankung wurde
dem Patienten in einem auswärtigen Hospital ein Gypsverband
angelegt, offenbar w r eil man die Affection für eine entzündliche
hielt. Nach Abnahme des Gvpsverbandes, die schon nach 10 Tagen
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Ueber Fusswurzelsarkome.
815
wegen starker Schmerzen sich als nothwendig erwies, zeigte sich
das Fussgelenk noch stärker geschwollen. Eine nun eingeleitete
Massagebehandlung wollte der Patient nicht mehr über sich er¬
gehen lassen, und er verliess das Hospital.
Die Verwechselungen und Fehldiagnosen, die auch sonst hin¬
sichtlich der Erkennung der Calcaneus- und Talussarkome vor¬
gekommen sind, sind recht mannigfaltiger Art, und sie finden
z. Th. ihre Erklärung durch die geringe Einheitlichkeit der Sym¬
ptome der Geschwülste der genannten Knochen und vor Allem
dadurch, dass die Erscheinungen, die die Sarkome machen, auch
für eine Reihe anderer Erkrankungen pathognomonisch sind. Im
Falle Liebetreu’s dachte man zunächst an Tuberculose. Die
Schwellung des Fussgelenkes, das Oedem des Fussrückens und
das Anfangs niedrige Fieber verleiteten dazu. Gerade die Ver¬
wechselung von Sarkom und Tuberculose ist eine recht häufige,
und besonders sind es die Sarkome der den Gelenken benachbarten
Knochen, die deshalb zu Irrthümern verleiten, weil sie schon ganz
im Beginn der Entwicklung zu einer Gelenkschwellung Anlass
geben können. Wichtig ist es dann, die Form der Gelenk¬
schwellung zu beachten, die bei der Tuberculose in der Regel die
bekannte spindelförmige ist, die bei Sarkomen sich dann erst
finden soll, wenn der Tumor die Weichtheile mit ergriffen hat
(Nasse). Fall II beweist, dass diese Angabe nicht immer zutrifft,
da die Form der Schwellung eine „spindelförmige“ war, trotzdem
die Weichtheile von Sarkom noch frei waren.
Allerdings giebt es auch bei der Gelenktuberculose eine tube¬
röse Form, bei der die Auftreibung nicht spindelig, sondern un¬
regelmässig knollig ist. Dann sitzen aber die Knollen bei der
Tuberculose an der Kapsel, nicht an oder im Knorpel wie beim
Sarkom (Nasse).
Als beachtenswert wird ferner der Umstand hervorgehoben,
dass bei Sarkomen, solange sie noch auf den Knochen beschränkt
sind, die Gelenkschwellung in der Ruhe abnimmt; auch diese Be¬
obachtung erwies sich in Fall II nicht als zutreffend.
Gegen Tuberculose und überhaupt gegen eine entzündliche
Affection der Gelenke bezw. der Knochen spricht die bei Sarkomen
zunächst fehlende Röthe der Haut über den geschwollenen Ge¬
lenken und die trotz der Gelenkschwellung stets beobachtete ge-
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Dr. C. Storn,
ringe Empfindlichkeit bei Bewegungen im Gelenk; diese besteht
jedoch nur solange, als das Sarkom, wie bereits angedeutet, die
Gelenkflächen frei lässt. Das ist verhältnissmässig lange der Fall,
da die Knochensarkomc nur selten in die Gelenke eindringen, eine
Erfahrungsthatsache, die man allgemein auf die grosse Wider¬
standsfähigkeit des Knorpels gegen Sarkom zurückführt; aber es
ist nicht die Regel und deshalb nicht, wie Nasse meint, diffe-
rcntialdiagnostisch gegenüber Tuberculose zu verwerthen. So hatte
in unserem Falle und in dem ßorchardt’s der Tumor den
Knorpelüberzug an einzelnen Stellen zerstört; immerhin wird als
interessant auch von Borchardt hervorgehoben, wie lange der
Knorpel den vordringenden Geschwulstmassen Widerstand geleistet
hatte.
Auch die Art des Schmerzes ist, falls er bei Sarkomen auch
in der Ruhe besteht, verschieden von dem Schmerz bei entzünd¬
lichen Erkrankungen; bei letzteren wird er als „klopfend“, beim
Tumor als „ziehend“ und „reissend“ geschildert und bisweilen
nimmt er beim Sarkom neuralgischen Charakter an.
Ausser der Tuberculose kommt von entzündlichen Affectionen
des Fersenbeines noch die Osteomyelitis in Betracht, sowohl in
ihrer acuten, als auch in ihrer subacuten und chronischen Form.
Der in der Regel acute Anfang mit Fieber und event. Schüttel¬
frost und Schmerzen an der befallenen Körperstelle ist in gleicher
Weise bei Sarkomen beschrieben und auch in unserem Falle setzten
die subjectiven Beschwerden plötzlich und mit Schmerzen ein.
Dazu kommt, dass das von Borchardt als wesentlicher Stütz¬
punkt der Diagnose angegebene Symptom der Venenektasie in der
Haut über den erkrankten Partien auch für Osteomyelitis patho-
gnomonisch ist. Andererseits fehlen die erweiterten Venen gerade
bei den Frühformen der Sarkome, d. h. gerade in den Stadien der
Sarkomentwicklung, in denen ihre Erkennung noch besondere
Schwierigkeiten macht. Und selbst in so vorgeschrittenen Fällen,
wie in den unsrigen und dem Liebetreu’s, sind erweiterte Venen,
wie ausdrücklich erwähnt ist, nicht beobachtet worden.
Immerhin wird die Osteomyelitis des Fersenbeines weniger als
die Tuberculose differentialdiagnostisch in Erwägung zu ziehen sein.
In Betracht kommt sie eigentlich nur in jugendlichem Alter, vor
Allem zwischen dem 6.—12. Lebensjahr (Sheldon), und ferner
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Ueber Fusswurzelsarkomo.
817
ist ihr Vorkommen an sich ein recht seltenes. Der einzige Fall,
den ich in der Literatur habe finden können, ist von Almartine
beschrieben und betraf einen 12jährigen Knaben, der eine acute
Osteomyelitis des Fersenbeines durchmachte, die ohne Operation
im Laufe einiger Jahre auszuheilen schien. Nach achtjähriger
Ruhepause plötzlich wieder heftige Schmerzen; die Operation er¬
gab eine chronische Osteomyelitis des Fersenbeines mit centralem
Knochenabscess, Resection des Calcaneus, Heilung.
Recht naheliegend ist ferner die Verwechselung mit einem
entzündlichen Plattfuss einmal wegen der Aehnlichkeit des äusseren
Krankheitsbildes mit einem Sarkom des Talus oder Calcaneus im
Frühstadiura, vor Allem aber wegen der bei Sarkom des Fersen¬
beines häufig wiederkehrenden Angabe von Schmerzen beim Gehen
und Auftreten, die in der Ruhe geringer werden resp. schwinden.
Allein es fehlen beim Sarkom des Calcaneus die sonstigen, für
Plattfuss charakteristischen Schmerzpunkte, die Ueberführung in
extreme Valgusstellung ist bei Plattfuss überhaupt, vor Allem aber
beim entzündlichen Plattfuss, ungemein schmerzhaft, im Gegensatz
zu der bereits hervorgehobenen geringen Empfindlichkeit beim
Sarkom, und auch die Einseitigkeit der Beschwerden dürfte zu¬
nächst eher an Tumor oder Tuberculose denken lassen.
Trotzdem ist die in Rede stehende Verwechselung vorgekoramen
und der Fall Borchardt’s ist wegen dieses diagnostischen Irr¬
thums besonders interessant und lehrreich. Er betraf einen
47jährigen Mann, dessen Beschwerden im Anschluss an einen
Sprung von der Pferdebahn datirten und in Schmerzen im rechten
Fuss bestanden, die schubweise an Intensität Zunahmen. Die Be¬
schwerden wurden „von einer grossen Reihe hervorragender Aerzte
und Chirurgen“ als Plattfussbeschwerden gedeutet und dement¬
sprechend 9 Jahre lang behandelt. Plattfusssticfel, Massage, Ein¬
reibungen aller Art wurden verordnet, selbst ein gewaltsames
Redressement wurde versucht, und Monate lang wurde der Patient
mit fixirenden Verbänden gequält, auch Hessing erreichte nichts
mit einem Entlastungsapparat. Die Schwellung unterhalb des Fuss-
gelenkes nahm zu, und erst das Röntgenogramm, in der v. Bcrg-
mann’schen Klinik aufgenommen, änderte die diagnostische Auf¬
fassung, indem es eine durch Osteoporose bedingte Aufhellung der
Knochenschatten des Talus und Calcaneus aufdeckte.
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818
Dr. C. Stern,
Ist das Röntgenbild in der Entscheidung zwischen Sarkom
und Plattfuss ausschlaggebend, so ist cs bei der Differentialdiagnose
zwischen Tumor und Tuberculose rcsp. Osteomyelitis von grossem
Werth. Charakteristisch für Sarkom im Gegensatz zu den ent¬
zündlichen Knochenerkrankungen ist die Gleichmässigkeit der Auf¬
hellung der Knochenschatten, während bei Osteomyelitis und Tuber¬
culose in den hellen, osteoporotischen Herden dunklere Stellen
(Sequester oder gesunde Knocheninseln) zu erkennen sind. Speciell
bei der Tuberculose zeigen sich die Knochen an einzelnen Stellen
zernagt und zerfressen, in vorgeschrittenen Fällen erscheint der
ganze Knochenabschnitt wolkig getrübt.
Grosse Aehnlichkeit dagegen besteht im Röntgenbild zwischen
Sarkom und Gumma. Die Unterscheidung ermöglicht die röntgeno¬
logisch fast stets erkennbare Betheiligung des Periostes in Form
von Auffaserungen und Verdickungen.
Fehlen diese syphilitischen Knochenveränderungen, dann ist
nach dem Röntgenbild allein die Unterscheidung von Sarkom
schwierig, da die Aufhellung beim Gumma eine ebenso gleich-
mässige ist, wie beim Sarkom; jedoch erwähnt Preiser als patho-
gnomonisch für Gumma eine mehr oder weniger intensive Ver¬
dichtungszone um den hellen Herd.
Ausser im Röntgenbild besteht noch in einer anderen Hinsicht
eine gewisse Aehnlichkeit zwischen Gumma und Sarkom: bei beiden
Affectionen stehen die geringen subjectiven Beschwerden des er¬
krankten Gliedes in Widerspruch zu den oft sehr schweren Knochen¬
veränderungen des Röntgenogramms. So führen bei Sarkomen oft
erst Spontanfracturen zur Erkennung der Erkrankung, und bei den
gummösen Affectionen ist man fast versucht, von einer „luetischen
Anästhesie analog der tabischen zu sprechen“ (Preiser).
Diese Punkte lassen eine Fehldiagnose zwischen Sarkom und
Gumma möglich erscheinen; immerhin vermag eine genaue Ana¬
mnese, die Vornahme der Wassermann’schen Reaction und ein
genaues Studium der Röntgenbilder, bei dem auch andere Knochen
in Bezug auf periostitische Veränderungen einer röntgenologischen
Untersuchung zu unterwerfen sind, vor dem für den Kranken ver-
hängnissvollen Irrthum zu schützen; verhängnissvoll insofern, als
durch eine antisyphilitische Cur der rechte Moment zu einer opera¬
tiven Heilung des Sarkoms vielleicht verloren geht.
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819
Und nicht allein diagnostisch ist das Röntgenbild von grossem
Werth, auch hinsichtlich der Prognose und der Stellung der Indi-
cation zu einem operativen Eingriff bedeutet seine Verwerthung
einen grossen Fortschritt, indem es, wie in unseren Fällen, ge¬
stattet, Metastasen in den Lungen zu erkennen, zu einer Zeit, in
der diese noch keine sonstigen objectiven oder subjectiven Be¬
schwerden machen. Auf die Bedeutung der Röntgenuntersuchung
für die Controle conservativ operirter Sarkomfälle hat als erster
Karewski aufmerksam gemacht. Gleichzeitig konnte Karewski
zeigen, dass das Röntgenogramm Recidive am Knochensturapf er¬
kennen lässt zu einer Zeit, in der der Palpationsbefund noch im
Stich lässt.
V ermag man auch durch das Röntgenbild eine sichere Diagnose
nicht zu stellen, so bringt zuweilen eine Probepunction die dia¬
gnostische Entscheidung, wenn sie als Ergebniss, wie in unserem
Falle, grössere Mengen Blutes oder gar Tumorzellen zu Tage
fördert. Das letztere ist sehr selten, Blut ergeben nur die weichen,
hämorrhagischen Sarkome, und auch bei diesen können selbst mehr¬
fache Punctionen resultatlos bleiben (Nasse). Bei sehr grosser
Schwierigkeit der Differentialdiagnose kann eine Explorativincision
indicirt sein, die auch in unserem Fall ausgeführt wurde. Aber
selbst dann ist zuweilen die Unterscheidung, ob Gumma oder
Sarkom vorliegt, noch schwierig, vor Allem bei den kleinzelligen
Rundzellensarkomen, die die gleiche centrale regressive Meta¬
morphose aufweisen können, wie die Gummigeschwülste. Es
empfiehlt sich deshalb, bei Probeexcisionen sich der Randzonen zu
bedienen, da das Gumma an seiner Peripherie, besonders in älteren
Fällen, eine gewisse Abkapselung oder periphere Schwietenbildung
aufweist, die bei Sarkom stets fehlt. In nur 2 unter 20 Fällen
fand sich die von den Franzosen als diagnostisches Merkmal an¬
gegebene „Crepitation parcheminee“. Sie ist der Ausdruck da¬
für, dass die Corticalis nur noch als papierdünne, leicht eindrück-
bare und dabei knisternde Lamelle existirt. Es findet sich dieses
Symptom demnach nur bei den schaligen Tumoren, also immer nur
in einer beschränkten Zahl von Fällen und nur in einem gewissen
Stadium der Sarkomentwicklung; wo es vorhanden ist, ist es
allerdings sehr charakteristisch und diagnostisch von grossem
Werth.
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820
Dr. C. Stern,
In den letzten Jahren haben eine Reihe von Arbeiten darauf
aufmerksam gemacht, dass maligne Knochenmarksturaoren charakte¬
ristische Veränderungen ira Blutbild bedingen und dass es eventuell
gelingt, aus dem Blutbild noch occulte, maligne Knochenmarks¬
tumoren zu diagnosticiren. Die Veränderung besteht darin, dass
das rothe Blut den Charakter bekommt wie bei der pemiciösen
Anämie, und in dem gleichzeitigen Auftreten von Alyelocytcn und
eigentümlichen Zellen mit grossen, runden oder ovoidcn Kernen,
schwach basophilem Protoplasma, frei von Granula, die Sehleip
„abnorme Zellen“ nennt und die er neuerdings auch bei allgemeiner
Sarkomatosc des Knochenmarkes gefunden hat. Weitere Unter¬
suchungen müssen ergeben, ob diese Veränderungen nur für die
sogenannten Myelome charakteristisch sind oder ob sie sich bei
allen centralen Sarkomen finden.
Schwarz hat über schnellwachsenden Sarkomen eine Erhöhung
der Hauttemperatur gefunden, und er ist geneigt, dieses Symptom,
falls es existirt, für eine Sicherung der Sarkomdiagnose zu ver¬
werten. Einschlägige Versuche sind immerhin einer Nachprüfung
wert; wahrscheinlich aber fehlt das gleiche Symptom über ent¬
zündlichen Processen an den Extremitäten gleichfalls nicht. Von
viel weittragenderer Bedeutung als locale VVärmeerhöhung der Haut
über Sarkomen sind allgemeine Temperatursteigerungen des Orga¬
nismus, für die keine andere Erklärung zu finden ist als der Tumor
selbst mit seinen Folgen.
In unseren beiden Fällen wurden Temperaturerhöhungen beob¬
achtet, für die in dem einen Fall die Ulceration als Ursache des
Fiebers angesehen werden kann, im anderen Fall dagegen liess
sich eine Ursache nicht finden. In diesem Falle setzten die sub-
jectiven Beschwerden sogar acut mit Fieber ein. Von einem be¬
stimmten Fiebertypus kann man nicht sprechen, insofern als auf
eine Reihe lieberfreier Tage schubweise Temperaturerhöhungen bis
39,5 erfolgten, um am anderen Tage langsam bis auf die Norm
zurückzugehen. Diese Art des Fiebers findet sich wiederholt als
Begleitsymptom von Sarkomen in der Literatur erwähnt, in anderen
Fällen zeigt die Temperaturerhöhung bei Sarkom einen fast eon-
tinuirlichen Charakter mit morgendlichen kleinen Remissionen; so
schwankten die Temperaturen in dem Fall von Calcaneussarkom
Liebetreu’s Wochen lang zwischen 38,5 resp. 39,5 Abends und
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Ueber Fusswurzolsarkome.
821
37,5 resp. 38,6 Morgens. Und noch geringere Remissionen beob¬
achtete Gar re in einem Fall von Kapselsarkom des Kniegelenkes,
in dem die Morgen- und Abendtemperaturen zwischen 38,0 resp.
38,7 und 38,3 resp. 39,3 sich bewegten.
Eine völlig einwandfreie Erklärung des Fiebers bei Sarkom
giebt es nicht; Schwarz (1880), der mehrere Fälle von Sarkom
mit Fieber citirt, hält die Ursache der Temperatursteigerung für
dunkel, und er bezeichnet das Fieber als „fievre sarcomateuse“,
um es als specifisch für Sarkom zu charakterisiren.
Eine eigenartige Anschauung bezüglich der Aetiologie des
Fiebers bei Sarkom vertritt Nasse, der „Temperaturen bei schnell¬
wachsenden Sarkomen“ fand, und der den alleinigen Grund für
das Fieber höchstwahrscheinlich darin sucht, „dass gerade bei den
schnellwachsenden, weichen, gefässreichen Sarkomen häufig Blutungen
und Gewebszerfall eintrcten, und dass die zerfallenen Elemente
resorbirt werden.“ Nasse hält das Fieber bei Sarkom demnach
für ein Resorptionsfieber und er sieht eine Stütze seiner Anschauung
in der Thatsache, dass in allen Sarkomen mit Fieber grosse Hämor-
rhagien oder erweichte und nekrotische Stellen sich fanden.
In neuerer Zeit hat unter Anderen Bull Untersuchungen über
das Fieber bei Sarkomen angestellt, und er fand unter 14 von
58 Fällen Fieber, für das auch die Obduction keine andere Er¬
klärung finden liess als die Sarkomentwicklung. Bull konnte
feststellen, dass das bei Sarkom vorkommende Fieber „ohne be¬
stimmten Typus ist, sich häufiger bei jungen als bei älteren
Personen findet und keine Beziehung zur Dauer der Krankheit oder
zu der Art des Sarkoms hat.“
Der bemerkenswerthe und wichtige Schluss, zu dem Bull auf
Grund seiner Studien kommt, ist der, dass Fieber erst dann auf-
tritt, wenn sich Metastasen zu bilden beginnen und dass rätsel¬
hafte Fieberbewegungen ein zuverlässiges Merkmal von Metastasen¬
bildung für den Chirurgen sind.
Für die Richtigkeit dieser Beobachtung sprechen auch unsere
beiden Fälle, die beide Fieber und beide Metastasen hatten; ferner
ging der schon mehrfach erwähnte Patient Liebetreu’s an Meta¬
stasen zu Grunde, und auch die Patientin Garre’s, über deren
Fiebertypus vorher berichtet ist, starb an Metastasen in Lunge,
Leber und anderen Organen.
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822
Dr. C. Stern,
In einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1894 theilt Petrina
2 Fälle von acutem Auftreten von Sarkomatose innerer Organe
mit typischem hohen Fieber mit, unter dem Bilde eines „Typhus
recurrens oder einer acuten Tuberculose innerer Organe“ ver¬
laufend: allabendlich hohe Fieberanstiege mit morgendlichen
Remissionen bis 37,5. In dem einen Fall ergab die Section ein
Lymphosarkom einer Halslymphdrüse mit Metastasen in Milz und
Leber, in dem anderen ein primäres Mediastinalsarkom mit Meta¬
stasen in Lunge und Leber. In keinem der beiden Fälle war die
geringste Eiterung vorhanden, und auch Entzündung innerer Organe
fehlte. Auch Petrina kommt zu dem Schluss, dass die hohen
Temperaturen mit dem Auftreten der Sarkommetastasen in Lunge,
Milz und Leber in unmittelbarem Zusammenhang stehen.
Gerade die schubweisen Temperaturerhöhungen, wie sie u. a.
in unserem Falle beobachtet wurden, scheinen auf Metastasen bi ldung
zu beruhen.
Ein Analogon dazu bilden die Fälle von Ebstein, Renvers,
Käst u. A., bei denen hohe, typische, dem Recurrens gleichende
Temperaturanstiege bestanden, und deren Section eine ausgebreitete
Metastasenbildung in den inneren Organen aufdeckte, ohne jede
Complication mit einem eitrigen Zerfall derselben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Fieber bei Sarkom auf Meta¬
stasenbildung beruht, ist eine hohe und der weiteren Nachprüfung
werth, da eine Sicherstellung dieser Annahme ein neues Moment
in der Indicationsstellung für das therapeutische Handeln bedeuten
würde.
Ausser den Temperaturanstiegen verdient noch ein Symptom,
das in unseren beiden Fällen beobachtet wurde, besondere Er¬
wähnung.
Bei beiden Patienten bestanden bei der Aufnahme starke Drüsen¬
schwellungen in der Leistengegend, in einem Falle auch solche in
der Kniekehle.
Ob es sich in Fall 1 um eine entzündliche oder um eine me¬
tastatisch sarkomatose Schwellung gehandelt hat, ist ohne histolo¬
gische Untersuchung nicht zu entscheiden; die Möglichkeit spricht
für eine entzündliche Natur der Schwellung, da an der Ferse ein
entzündeter jauchender Tumor sich befand, die Wahrscheinlichkeit
dagegen spricht für Sarkommetastasen.
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Ueber Fasswurzelsarkome.
823
Dagegen ist die Lymphdrüsenschwellung in dem zweiten Falle
mit Sicherheit als eine sarkomatöse, metastatische anzusprechen,
da die Schwellung auch nach Entfernung des primären Tumors
nicht zurückging, eine Thatsache, die stets dann beobachtet wird,
wenn die Schwellung nicht eine sarkomatöse war. Auch war ein
Grund für eine entzündliche Lymphdrüsenschwellung nicht vor¬
handen.
Dieses Vorkommen von Sarkommetastasen in Lymphdrüsen
ist ein verhältnissmässig seltenes, da in der Regel die Venen die
Bahnen sind, in denen die Metastasenbildung vor sich geht.
Andererseits ist es ein sehr häufiges Vorkommniss, dass in der
Nachbarschaft auch nicht ulcerirter Tumoren geschwollene Lymph¬
drüsen gefunden werden, die keine Spur von Sarkom zeigen. In
der Literatur finden sich eine ganze Reihe von Fällen, in denen
zum Theil durch das Mikroskop, zum Theil durch das Verschwinden
der Schwellung nach der Operation constatirt wurde, dass die
Schwellung der Drüsen nicht sarkomatöser, sondern entzündlicher
Natur war. Nasse führt diese Lymphdrüsenschwellung zurück auf
die Resorption von Zerfallsproducten aus dem Tumor.
Erweisen sich die regionären Lymphdrüsen als sarkomatüs,
dann ist dieser Befund gleichbedeutend mit Metastasen auch an
entfernteren Körperstellen, da beim Sarkom das Ergriffen werden
der Drüsen nicht auf directem Wege vor sich geht, sondern unter
Durchwuchern der Wände der Lymphbahnen.
So konnte in unseren beiden Fällen das gleichzeitige Bestehen
von Lungenmetastasen durch das Röntgenbild festgestellt werden
und von den 5 Patienten Nasse’s (unter 44 Sarkomfällen), bei
denen eine sarkomatöse Lymphdrüsenschwellung festgestellt wurde,
gingen 4 an Metastasen zu Grunde, der 5. blieb nur 3 Monate in
Beobachtung.
Es ist daher rathsam, vor jedem operativen Eingriff, durch
den es gilt, den Primärtumor zu entfernen, sich über die Natur
event. vorhandener Drüsenschwellungen Gewissheit zu verschaffen;
erweisen sich diese als sarkomatös, so ist es sehr wahrscheinlich,
ja fast gewiss, dass die Drüsenmetastasen nicht die einzigen im
Organismus sind.
Die Prognose der Fusswurzelsarkome ist, wie die der Sar¬
kome überhaupt, eine unsichere und fast unberechenbare.
Archiv für klio. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4. -t
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Dr. C. Stern,
Von den 20 Fällen von Fusswurzelsarkomen gingen 7 an Meta¬
stasen zu Grunde, davon waren 3 kleinzellige Rundzellensarkome: je
1 Fall betraf ein Riesenzellen- und Fibrosarkom. Die beiden
anderen waren gemischter Natur; in beiden fanden sich Riesen¬
zellen. 1 Fall war nach einem Jahre noch recidivfrei, sein histo¬
logischer Charakter ist nicht angegeben; zwei Patienten waren nach
2 Jahren noch gesund, es handelte sich um ein myelogenes Spindel¬
und Riesenzellensarkom und um ein typisches Riesenzellensarkom:
einmal konnte nach 5 Jahren der Patient als frei von Sarkom vor¬
gestellt werden; es hatte sich um ein Chondrom gehandelt, das,
soweit es sarkomatös geworden war, den Typus des zellreichen
kleinzelligen Rundzellensarkoms aufwies.
In den übrigen Fällen fehlt theils eine Angabe über den Aus¬
gang, theils ist die Beobachtung nach der Publication eine zu kurze,
um ein Urtheil über den Operationserfolg zu erlauben.
Bis zu einem gewissen Grade ist es möglich, aus dem histo¬
logischen Charakter des Sarkoms einen Schluss auf seine Malignität
und seine Prognose zu machen.
Es ist bemerkenswerth, dass alle Sarkome, die nur aus kleinen
Rundzellen sich zusammensetzten, trotz Amputation durch Meta¬
stasen ihre Träger zu Grunde richteten.
Es ist das die Form, die nach Virchow dazu neigt: „rapid
zu wachsen, Weichtheile zu inficiren und Recidive und Metastasen
zu bilden“.
Im Falle Borchardt’s bestand der Calcaneustumor auch aus
einem zellreichen kleinzelligen Rundzellensarkom, aber der Grund¬
typus der Geschwulst war ein Chondrom.
Eine prognostische Sonderstellung nehmen hinsichtlich ihrer
Aussichten auf operativen Dauererfolg die sogenannten „schaligen
Tumoren“ ein. In den 3 Fällen, die nach 1—2 Jahren noch reci¬
divfrei waren, trotzdem der Eingriff sich auf die Resection des
Calcaneus beschränkt hatte, handelte es sich um diese Art von
Sarkom, das, allseitig von einer zum Theil papierdünnen Knochen¬
schale umgeben, nur eine mechanische Einwirkung auf die um¬
gebenden Weichtheile ausübte, bei dem deshalb ein infiltrirendes
Wachsthum in die umgebende Musculatur in der Regel nicht vor¬
kommt, und das auch nach der Markhöhle hin glatt abgegrenzt zu
sein pflegt. Und doch bietet selbst ein schaliges Sarkom keine
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Ueber Fosswurzelsarkome.
825
absolute Gewähr einer gewissen Gutartigkeit, denn es giebt Fälle,
in denen die Knochenkapsel dem Wachsthum des Tumors nicht
zu widerstehen vermag und von den Sarkomzellen durchbrochen wird.
So fand Fedor Krause bei einer 43jährigen Frau, die ein
solch schaliges Sarkom des Tibiakopfes hatte, dass die Knochen¬
kapsel an zwei Stellen vom Tumor durchbrochen war und dass
fingerförmige Geschwulstmassen weit in die Musculatur hineinge¬
wachsen waren.
Bei diesen schaligen Tumoren scheint der histologische Cha¬
rakter bedeutungslos zu sein, denn in einem der Fälle (Barden¬
heuer) war der Tumor ein reines zellreiches Rundzellensarkom,
trotzdem hatte die Calcaneusexstirpation zur recidiv- und raeta-
stasenfreien Heilung genügt.
Im Allgemeinen sind die „schaligen Geschwülste“ reich an
Riesenzellen, und Xelaton geht so weit, das Vorkommen von
Riesenzellen in jedem Sarkom für ein Zeichen besonderer Gutartig¬
keit zu halten. Das ist bis zu einem gewissen Grade zutreffend,
wie die schaligen Myeloide der Röhrenknochen und des Calcaneus,
vor Allem aber die Epulis am Kiefer beweisen. Dass diese An¬
schauung aber nur bedingt zutreffend ist, zeigt der Fall Bürger’s
(cit. nach Borchardt), in dem es sich um ein Riesenzellensarkom
des Calcaneus handelte, das 15 Tage nach der Operation den Tod
des Patienten an Metastasen herbeiführte. Auch in dem von
Krause mitgetheilten Fall von schaligem Sarkom handelte es sich,
wie ausdrücklich hervorgehoben wird, um ein Riesenzellensarkom,
und trotzdem hatte es die Kapsel durchbrochen und war weit in
die Weichtheile hineingewuchert.
Einen gewissen Maassstab für die Prognose bietet die Länge
der Zeit, die seit dem ersten Auftreten von Beschwerden am Fuss
und dem Sichtbarwerden einer localen Veränderung vergangen ist,
denn es ist anzunehmen, dass im Allgemeinen ein Sarkom um so
langsamer wächst, also um so gutartiger ist, je längere Zeit
zwischen den ersten Beschwerden und dem Manifestwerden der
Erkrankung verflossen ist.
Auch diese Ueberlegung trifft nicht immer zu, wie die Kranken¬
geschichte eines 65jährigen Mannes beweist (cit. nach Borchardt),
dessen Beschwerden seit 12 Jahren bestanden und in Schmerzen
in der Ferse sich äusserten. Seit einem Jahre Schwellung der
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Dr. C. Stern,
Ferse, Amputation des Unterschenkels. Prognose scheinbar günstig.
Histologische Untersuchung: Fibrosarkom des Calcaneus. Nach
15 Tagen Tod an zahlreichen Lungenmetastasen.
Im Falle I unserer Beobachtung konnte eine operative The¬
rapie bei den bereits nachweisbaren Metastasen in Drüsen und
inneren Organen nicht mehr in Frage kommen; im Falle II wurde
der Unterschenkel amputirt; trotzdem kam es an der Operations¬
stelle zum Wiederauftreten eines Sarkoms.
Es sei gleich vorausgeschickt, dass in allen den Fällen (7), in
denen die Patienten an Metastasen zu Grunde gingen, amputirt
worden war, in den 2 Fällen dagegen, die nach 2 Jahren noch
recidivfrei waren, hatte man sich auf die Calcaneusresection be¬
schränkt; der dritte, nach 5 Jahren noch recidivfreie Fall war
gleichfalls amputirt worden.
Eine Impfmetastase durch Instrumente war in unserem Fall
auszuschliessen, ebensowenig trifft für unseren Fall das zu, was
Nasse als Ursache für so viele locale Recidive anschuldigt: dass
vielfach das Vordringen der Geschwulst in die Weichtheile nicht
genügend berücksichtigt würde, und dass darauf die vielen Reci¬
dive an den Amputationsstümpfen zurückzuführen seien. Denn das
Sarkom hatte Talus und Calcaneus völlig zerstört, war aber in die
umgebenden Weichtheile noch nicht eingedrungen.
In Erwägung zu ziehen wäre die Frage, ob das Sarkom an
der Amputationsstelle ausgegangen ist von einem Sarkomherd im
Mark. Es bestand nämlich lange Zeit die Anschauung, dass im
Mark, weit entfernt von dem primären Herde, disseminirte Sarkom¬
keime sich finden könnten und dass von diesen aus, nach nicht
ausreichenden Amputationen die Metastasenbildung resp. das locale
Recidiv ausgeht.
Auf Grund dieser Auffassung hätte man in unserem Fall im Knie¬
gelenk exarticuliren müssen, hat man doch bei Sarkomen des Ober¬
schenkels die Exarticulation im Hüftgelenk ausgeführt und bei Sarkom
des Armes mit dem Humerus den ganzen Schultergürtel entfernt.
In dieser Auffassung ist eine Wandlung eingetreten, die einmal
sich stützt auf Statistiken, dann auf Untersuchungen des Markes
entfernt von dem primären Tumor.
Von 10 Dauerheilungen von Oberschenkelsarkomen in der
Statistik von Jenkei wurden 6 Patienten (darunter 3 myelogene
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Ueber Fusswurzelsarkome.
827
Sarkome) durch Amputation, 2 durch Evidement und nur 2 durch
Exarticulation von ihrem Sarkom befreit.
Andererseits konnte Borck, der in seiner grossen Statistik über
87 im Hüftgelenk wegen Enochensarkom des Femur ausgeführte
Exarticulationen verfügt, über keine sichere Dauerheilung berichten.
Auch Jenkel schliesst aus der Thatsache, dass von 19 mit
Amputation behandelten Sarkomen 18 ohne Recidiv geblieben sind,
dass die fleckweise im Knocheninneren weiter wachsenden Sarkome
seltener sind, als man annimmt, dass es deshalh durchaus nicht
angebracht sei, jedes Sarkom eines Gliedes mit Exarticulation des
höheren Gelenkes zu behandeln.
Im letzten Jahre hat Herten Nachforschungen über die Pro¬
gnose der verschiedenen Knochensarkomarten bei 60 in der Bres¬
lauer chirurgischen Klinik operirten Fällen von Sarkomen der langen
Röhrenknochen angestellt Von diesen 60 Fällen bekam er über
54 Auskunft. Unter 32 periostalen Sarkomen war nur ein einziges
dauernd geheilt, während von den myelogenen, centralen und Chon¬
drosarkomen 13 dauernd geheilt blieben. Herten fasst deshalb
die Prognose der Knochensarkome dahin zusammen, dass er die¬
selben bei periostalen Sarkomen als durchaus ungünstig hinstellt,
während bei den übrigen Sarkoraarten immerhin die Aussicht auf
Radicalheilung relativ günstig ist
Nach Borchardt ergiebt die mikroskopische Untersuchung
des Markes sarkomatöser Knochen, dass „disseminirte Geschwulst¬
herde im Mark gar nicht Vorkommen“, sondern dass der scheinbar
isolirte Markherd stets im Zusammenhang mit der primären Ge¬
schwulst steht. Daher genüge es, wenn ein Knochen, 5 cm von
der Geschwulst entfernt durchsägt, gesundes Mark ergiebt, voraus¬
gesetzt natürlich, dass man in gesunden Weichtheilen operirt hat.
Trotzdem ist es rathsam, gleich nach der Amputation den
Knochen durchzusägen und sich zu überzeugen, wie nahe an die
Sägefläche heran die Wucherung des Sarkoms geht.
Und dass das fleckweise Auftreten von Markherden entfernt
von dem Priraärherd doch Vorkommen kann, zeigt ein Fall aus der
Göttinger Klinik: Bei Sitz des Tumors am Oberschenkel nahe am
Knie fanden sich im Mark bis zu der hohen Amputationsstelle hin,
trotz des periostalen Ursprunges des Primärherdes, fleckweise Sar¬
komherde.
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Dr. C. Stern,
Es beweist das locale Recidiv trotz der Amputation in un¬
serem Fall und das Ausbleiben des Recidivs in den Caleaneus-
exstirpationsfällen, dass es Sarkome giebt, in denen die sorgfältigste
Vermeidung von Impfinfectionen mit Instrumenten und ein radieale>
Vorgehen weit im Gesunden nicht vor Metastasen schätzt
Denn es ist das „locale Recidiv“ an der Amputationsstelle
in unserem Fall als Metastase aufzufassen an der Narbe, die als
Locus minoris resistentiae gewirkt hat. Diese Auffassung ist um
so berechtigter, als die Drüsenmetastasen in Kniekehle und Leisten¬
beuge schon vor dem Auftreten des Sarkoms am Amputationsstumpf
vorhanden waren. Auch ist es äusserst unwahrscheinlich, dass
gerade an der Amputationsstelle ein Markherd gesessen haben soll,
der zu dem Stumpfsarkom geführt hätte.
Während auch der ausgedehnteste Eingriff gegen Metastasen
machtlos ist — höchstens die Frühzeitigkeit der Entfernung des
Sarkoms spielt hier eine Rolle — sind echte locale Recidive bei
genügender Sorgfalt des Vorgehens wohl stets zu vermeiden.
Von diesem Gesichtspunkte aus kann dem Vorschlag Fahlen-
bock’s, bei schaligem Sarkom des Calcaneus sich mit der Ex-
cochleation des Tumors zu begnügen, nicht das Wort geredet werden,
denn es giebt Fälle, in denen das Sarkom die Knochenschale an
einer oder mehreren Stellen durchbrochen hat (Fedor Krause),
ein Ereigniss, das bei einer conservativen Operation immerhin über¬
sehen werden könnte, und es besteht hier die Möglichkeit, dass bei
dem Auskratzen die oft papierdünne Knochenschale perforirt wird
und Geschwulstkeirae in die Umgebung übertragen werden.
Wie bereits erwähnt, wurde in zwei Fällen die Exstirpation
des Calcaneus ausgeführt, die natürlich nur dann in Frage kommen
kann, wenn es sich um schalige Tumoren handelt, die die Knochen¬
schale an keiner Stelle durchbrochen haben. Der Erfolg war also
in beiden Fällen ein günstiger, sowohl in Bezug auf das Ausbleiben
eines Recidivs, als auch in Bezug auf das functionelle Resultat.
Natürlich ist es unvermeidlich, dass es durch das Fehlen des
Fersenbeines zu einer ausgesprochenen Plattfussstellung kommt und
der Fuss kürzer wird. Auch kann, da die Exstirpation des Cal¬
caneus nicht subperiostal vor sich gehen kann, wegen der immerhin
bestehenden Gefahr eines Recidivs seitens des Periosts die Inser¬
tion der Achillessehne in der Regel nicht geschont werden. Trotz-
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Ueber Fusswurzelsarkome.
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dem gelang in einem der Fälle die Wiederherstellung der Fähig¬
keit, den Fuss dorsal und plantar zu flectiren, ein günstiges
Resultat, das nur so zu erklären ist, dass die Achillessehne eine
tiefere Insertion an fibrösem Gewebe gefunden hat, was wahr¬
scheinlich der Fixation des Fusses in starker Equinusstellung, die
längere Zeit nach der Operation innegehalten wurde, zuzuschreiben ist.
Die Schnittführung muss es vermeiden, die Narbe auf die
Planta pedis zu verlegen. Die beste Schnittführung, die alle Sehnen
mit Ausnahme des Peroneus longus schont, besteht in einem verti-
calen Schnitt längs der Achillessehne, auf dieser entlang bis fast
zur Fersenbeinspitze; von dem unteren Ende dieses Schnittes aus
umgreifen zwei Schnitte die Ferse von aussen und innen, der längere
äussere bis zum Würfelbein hin, der kürzere innere bis zur Knöchel¬
spitze.
In einem Falle wurde von Peters bei einem Neger, dem man
vor der Operation versprochen hatte, nicht zu amputiren, die Re-
sectio tars. totalis nach Wladimiroff-Mikulicz gemacht bei
einem centralen Sarkom, das den Knochen schon an einigen Stellen
durchbrochen hatte. Nach einem Jahre bestand noch Recidivfreiheit.
Reichen diese Methoden nicht aus, so kommt die Amputation
resp. die Exarticulation im Kniegelenk in Frage, die bisher aller¬
dings noch nicht bei Fusswurzelsarkomen in Anwendung kam.
Literatur.
1. Liebetreu, Uober primäres Sarkom des C&lcaneus. Inaug.-Dissertation.
Jena 1902.
2. Seitz, Myxochondrosarkome. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 78.
3. Fedor Krause, Ueber die Behandlung der schaligen myelogenen Sarkome.
Dieses Archiv. Bd. 39.
4. Nasse, Sarkome der langen Extremitätenknochen. Dieses Archiv. Bd.39.
5. Borchardt (Posen), Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 93.
6. Borok, Ueber die Heilbarkeit maligner Neubildungen des Oberschenkels
durch Exarticulation im Hüftgelenk. Dieses Archiv. Bd. 40.
7. Fahlenbock, Centrales Riesenzellensarkom des Calcaneus. Deutsche
Zeitschr. f. Chir. Bd. 42.
8. P. Bull, Fieber und Sarkom. Centralblatt f. Chir.. 1906. No. 30.
9. M. Borohard (Berlin), Sarcoma oss. pedis. Dieses Archiv. Bd. 59.
10. Petrina, Ueber hohe typische Temperatursteigerungen bei acuter Sarko-
matose innerer Organe. Prager med. Wochenschr. 1894. No. 3, 4, 5.
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Dr. C. Stern, Ueber Fasswurzelsarkome.
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11. Barthauer, Ueber Exstirpation des Calcaneus nebst Beschreibung eines
Falles von centralem Sarkom des Calcaneus, durch Calcaneusexstirpation
geheilt. Deutsobe Zeitschr. f. Chir. Bd. 38.
12. Peters, Sarkom des Fersenbeins. Centralbl. f. Chir. 1894. No. 46.
13. Olli er, De l’exstirpation du caloaneus. Cit. nach Barthauer.
14. Albert, Fall von Enchondrom des Fersenbeins, der eine Caries vor¬
täuschte. Wiener med. Presse. 1871.
15. Bircher, Knochentumoren im Röntgenogramm. Fortschr. auf d. Gebiete
d. Röntgenstrahlen. Bd. 12. H. 4.
16. Schleip, Zur Diagnose von Knoohenmarkstumoren aus dem Blutbefund.
Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 59.
17. Weigel, Myelogenes Sarkom des Metatarsusll. Münch, med.Wochenschr.
1904. No. 46.
18. Almartine, Osteom des Calcaneus. Lyon möd. 1908. No. 42. Ref. in
Fortschr. d. Chir. 1909.
19. Schwarz, Des osteosarcomes des membres. Paris 1880. (Cf. Nasse.)
20. Borchard, Fall von Calcaneussarkom. Münch, med. Wochenschr. 1908.
S. 259.
21. Herten, Breslauer Chirurg. Gesellsch. 1910.
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XXIX.
(Aus der Kgl. Chirurg. Universitätsklinik in Halle a. S. —
Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. v. Bramann.)
Beiträge zur freien Knochenplastik. 1 )
Von
Prof. Dr. A. Stieda,
Oberarzt der Klinik.
(Mit 6 Textfiguren.)
Der von König und v. Bergmann vertretene Grundsatz, bei
periostalen oder durchgebrochenen myelogenen Sarkomen langer
Röhrenknochen hoch zu amputiren oder so zu exarticuliren, dass
die sämmtlichen dazu gehörigen Muskelgruppen in Wegfall kom¬
men, besteht auch heute sicherlich noch zu Recht, denn nach
Nasse’s (20) 2 ) Untersuchungen findet sich Geschwulstgewebe oft
schon sehr frühzeitig in den Muskelgefässen weithin verbreitet und
dadurch ist auch die häufige Metastasirung und die rasche Wachs¬
thumsausbreitung dieser Tumoren zu erklären.
Aber wie schon v. Mikulicz auf dem Chirurgen-Congress 1895
die Forderung aufstellt, man solle bei den Sarkomen der langen
Röhrenknochen — einerlei ob ein myelogenes oder periostales
Sarkom vorliege — die verstümmelnde Operation zu Gunsten mehr
conservativer Eingriffe einschränken, ebenso konnte Lex er auf dem
Naturforscher - Congress in Meran 1905 in der Discussion zu
v. JHaberer’s (10) diesbezüglichem Vortrag erwähnen, dass sich
in der v. Bergmann’schen Klinik eine Reihe von Fällen fand, in
1) Auszugsweise vorgetragen auf der 82. Versammlung deutscher Natur¬
forscher und Aerzte in Königsberg i. Pr. im September 1910.
2) Die Zahlen beziehen sich auf das Literaturverzeichniss am Schlüsse
der Arbeit.
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832
Dr. A. Stieda,
denen selbst bei periostalen Gewächsen, wenn sie noch nicht in die
Weichtheile gedrungen waren, eine ausgiebige Resection des Knochens
genügt hatte, um Heilung zu schaffen, v. Habe rer war in seinem
Vortrage ebenso mit Entschiedenheit dafür eingetreten, dass man
das Indicationsgebiet der verstümmelnden Operationen bei Knochen¬
sarkomen einengen müsste, und hatte diese Forderung an der Hand
des Materials der v. Eiselsberg’schen Klinik zu motiviren versucht.
Für die Fälle von centralen Osteosarkomen ist ja von jeher die
Resection als eine genügende Methode anerkannt worden, wenn nur
nach Entfernung alles Krankhaften die Ernährung der zurück-
bleibenden Weichtheile durch ausreichende Gefässversorgung ge¬
sichert ist.
Die zahlreichen wohlgelungenen Experimente der Knoehen-
plastik des letzten Jahrzehnts haben es uns nun geradezu zur
Pflicht gemacht, wenn sich die Continuität des erkrankten Gliedes
nach der Resection eines Knochenstückes nicht ohne Weiteres
wiederherstellen lässt, der geretteten Extremität durch einen ent¬
sprechenden Knochenersatz entweder volle oder doch eine gewisse
Gebrauchsfähigkeit wiederzugeben; das Gleiche gilt natürlich für die
Fälle von Resectionen an langen Röhrenknochen wegen Knochen¬
cysten verschiedenster Aetiologie.
Ueber einen solchen Fall von Resection eines Oberarmes in
seiner oberen Hälfte mit nachfolgender Autoplastik möchte ich im
Folgenden berichten:
Otto P., 8 Jahre, Dachdeokerskind aus Radegast, Kr.-Journ.-No. 2857.
Aufgenommen am 30. 3. 10, entlassen am 15. 5. 10.
Auamnese: Der Knabe soll früher stets gesund gewesen sein, insonder¬
heit ist den Eltern nie eine weniger gute Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes
aufgefallen. Vor 3 Tagen fiel der Knabe über einen anderen Jungen hinweg
auf den rechten Arm. Er klagte über grosse Schmerzen; der zu Rathe gezogene
Arzt stellte einen Bruch des rechten Oberarmes fest und schickte den Patienten
zur Röntgenuntersuchung in die Klinik, weil er wegen der vorhandenen
Schwellung noch an eine Auskugelung des Armes dachte.
Status praesens: Mittelgrosser, kräftig entwickelter Knabe von 8 Jahren.
Die Gegend des rechten Schultergelenks und das obere Ende des rechten Ober¬
armes erscheinen ziemlich stark geschwollen. Einige Hautvenen sind erweitert.
Ein Bluterguss ist unter der Haut nicht nachzuweisen. Beim Zufühlen lässt
sich in der Tiefe ein deutliches Pergamentknittern am Oberarmkopf nachweisen.
Fixirt man den Kopf des Humerus und macht Drehbewegungen mit dem Ober¬
arm, so fühlt man am Collum humeri ein leichtes Crepitiren; dabei werden
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Beiträge zur freien Knochenplastik.
833
Schmerzen angegeben. Die active Beweglichkeit ist sehr beschränkt, Pat. ver¬
mag den Arm nur mit Hilfe der ganzen Schulter etwas zu erheben.
Das Röntgenbild (Fig. 1) zeigt, dass der Oberarmkopf an normaler Stelle
steht. Direct an der deutlich sichtbaren Epiphysenlinie beginnt eine kolbige
Auftreibung des Humerus, die etwa 6 cm weit nach abwärts in den Schaft reicht.
Fig. 1.
Röntgenaufnahme vor der Operation.
Cystischer Tumor mit Spontanfractur des Humerus.
Auf dem Röntgenbilde sieht man in diesem Theil hellere rundliche Partien,
zwischen denen sich dunklere Streifen befinden. Die Contour des Oberarm¬
knochens bildet nicht eine glatte gerade Linie, sondern es zeigt sich etwa
querfingerbreit unterhalb der Epiphysenlinio eine Continuitätstrennung.
Diagnose: Knochentumor des rechten Oberarmes mit Fractur.
Therapie: 9. 4. 10: Operation (Prof. Stieda). In Chloroformnarkose
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Dr. A. Stieda,
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wird an der Vorderseite der rechten Schultergegend, in der Mitte zwischen
Acromion und Proc. coracoideus beginnend, ein 14 cm langer Schnitt durch
Haut und die Weichtheile geführt bis auf den verdickten Knochen. Die Muskeln
werden theils scharf, theils stumpf von dem Knochen abpräparirt, insonderheit
der Pectoralisansatz nahe dem Knochen durchschnitten. Dort, wo äusserlich
der Knochen nicht mehr aufgetrieben erscheint, wird der Humerus mit der
Ketteusäge quer durchtrennt. Hierbei zeigt sich, dass das Mark nicht von
normalem Aussehen ist, und es wird in Folge dessen noch ein etwa 3 cm langes
Stück des Schaftes mit fortgenommen. Hier ist das Mark anscheinend von
normaler Beschaffenheit, wie dieses auch durch eine sofort noch während der
Operation am frischen Präparat vorgenommene mikroskopische Untersuchung
bewiesen wird.
Nunmehr wird der Humeruskopf weiter isolirt und an der Epiphysen¬
scheibe sobarf durchtrennt. Da diese an einer Stelle von Geschwulstgewebe
durchbrochen ist, so wird auch die Epiphyse selbst zum Theil ausgehöhlt, so
dass nur ein kappenartiger Theil derselben, noch mit der Gelenkkapsel zu¬
sammenhängend, zurückbleibt.
Alsdann wird an der vorderen inneren Seite des linken Unterschenkels
über der Tibia ein bogenförmiger, etwa 18 cm langer Hautschnitt ausgeführt
und von der freigelegten Tibia ein 14 cm langer, dem Defect des Oberarmes
entsprechender Knochenspan aus der Tibia mit daian haftendem Periost mit
Hilfe der Kreissäge herausgeschnitten. Es wird dabei auch die Markhöhle der
Tibia eröffnet, so dass also das entnommene Knochenstück auf der einen Seite
Periost, auf der anderen noch anhaftendes Knochenmark besitzt. Die Knochen¬
leiste hat etwa die Breite von 1 cm und dieselbo Dicke.
Es erfolgt nun das Einsetzen dieses entnommenen Knochenspans der Tibia
in den Defect des Oberarmes. Das eine Ende wird in die Markhöble des peri¬
pheren Humerusstückes eingestemmt, während das andere Ende in die übrig
gebliebene Epiphysenkappe des Humerus, so weit dort noch Knochengewebe
vorhanden ist, eingebohrt wird. Auf diese Weise ist der Defect vollständig
gedeckt, und das implantirte Knochenstück giebt dem ganzen Oberarm wieder
vollständige Festigkeit, so dass bei Drehbewegungen des unteren Humerusendes
auch der Rest des Kopfes sich mitbewegt. Es wird alsdann der abgeschnittene
sehnige Ansatz des Muse, pectoralis in der Gegend der früheren Insertionsstelle
wieder fixirt und die Wunde durch Naht geschlossen. Unter dem acromialen
Ende der Spina scapulae wird in der Haut ein Knopfloch als Drainöffnung
angelegt.
Die Wunde am linken Unterschenkel wird völlig durch Naht vereinigt.
Der rechte Oberarm wird in einer Abductionsstellung von ungefähr 46°, bei
mässiger Aussenrotation durch einen circulären Gypsverband, der auch den
Thorax mit umfasst, fixirt.
Makroskopische^ Beschreibung des exstirpirten Knochen¬
stückes. Das Präparat umfasst den oberen Theil des Humerus bis auf einen
Theil der Epiphyse. Die Epipbysensohoibe gehört dem Präparat vollständig
mit an. Die Degeneration des Knochens betrifft den ganzen oberen Theil in
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Beiträge zur freien Knoohenplastik.
835
einer Länge von 10 cm. Der Humerus ist hier aufgetrieben und durch eine
Anzahl von cystischen Hohlräumen ausgefüllt, zwischen denen sich wieder
noch Knochenbalken hinziehen. Die genannten Cysten sind von einem braun»
röthlicben, im frischen Zustande fadenziebenden, myxomatösen Gewebe aus*
gefüllt, welohes sich am durchsägten Knochen besonders deutlich zeigt. Man
kann eine grössere und 3 kleinere Cysten unterscheiden, von deren letzteren
2 mehr nach der Diaphyse zu deutlich von einander getrennt gelegen sind.
Die untere Sägefläche zeigt wieder normales Mark in normalem Aussehen.
Dicht unterhalb der Epiphysenscheibe, etwa iy 2 cm von derselben ent¬
fernt, erkennt man, dass die sehr verscbmächtigte Corticalis, die hier nur eine
Dicke von knapp 1 1 / 2 mm hat, eingebrochen ist, und dass sich die beiden Enden
des Knochens gegen einander verschoben haben. Nach aussen davon sieht
man eine i l / 2 cm dicke Masse aufsitzen von festem derbem Gewebe, welches
beim Durchschneiden etwas härteren Widerstand leistet. Nach aussen hängen
dem Präparat noch einige Muskel- und Periostfotzen an.
Das Periost ist in dem zugehörigen Tbeil der Diaphyse zum Theil fetzen¬
artig abgehoben und durchblutet.
Die tumorartige Degeneration durchbricht an einer Stelle auch die Epi-
physensebeibe und geht in die Epiphyse selbst hinein.
1m mikroskopischen Bilde sieht man in einzelnen Schnitten Haufen
von Knorpelzellen theils in Verbänden zusammen liegen, theils stark ausein¬
ander gedrängt und übergehend in myxomatöses Gewebe, in dem nur einzelne
Zellen noch zu erkennen sind, im Uebrigcn ein einfaches Netzwerk, dessen
Maschen vorwiegend mit rothen Blutkörperchen ausgefüllt sind. Dieses zarte,
stark vascularisirte Gewebe, das die normalen Markzellen vollkommen verdrängt
hat, nimmt die Stelle des sonst vorhandenen Knochenmarks vollständig ein.
Am unteren Schnittende der Diaphyse macht das Mark wieder den Eindruck
des normalen und zeigt den Bau gewöhnlichen Fettmarks. Die mehr compacte
Partie an der Aussenseite der noch vorhandenen Corticalis ist nicht Tumor¬
gewebe, sondern bindegewebiger und osteoider Callus und zwar voraussichtlich
schon einige Wochen alter Callus, so dass also die Fractur des Humerus an
dieser Stelle als eine Spontanfractur aufzufassen ist und zwar eine solche, die
nicht, wie es aus der Anamnese schien, erst kurz vor der Aufnahme des Pat.
in die Klinik zu Stande gekommen ist, sondern die sich offenbar allmählich
entwickelt hat.
15. 4. Nachdem nur am Tage nach der Operation die Temperatur Abends
38,2° betragen hat, ist Pat. andauernd fieberfrei gewesen. Er hat nur über
mässige Schmerzen zu klagen. An der Rückseite des Verbandes wird in der
Gegend der Drainöflfnung ein Fenster in dem Gypsverband ausgeschnitten und
von demselben das eingelegte kleine Gummidrain entfernt. Reizlose Wunde.
Kein Hämatom.
18. 4. Von einem an der Vorderseite angelegten Fenster im Gypsverband
werden dio Nähte sämmtlich entfernt. Auch hier prima intentio. Desgleichen
Verbandwechsel am linken Unterschenkel, Entfernung sämmtlicher Nähte:
ebenso hier reactionsloser Wund verlauf.
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Dr. A. Stieda,
12. 5. Abnahme des Gypsverbandes. Röntgenaufnahme (Fig. 2). Mao
siebt auf dem Röntgenbilde, dass der Rest der Kopfepipbyse nach innen gegen
den Proo. coracoideus hin abgewichen ist. Das implantirte Tibiastück zeigt
deutlich seine Verbindung mit dem unteren Tbeil des Hamerus. Die Contouren
des Implantatums weisen einige Rauhigkeiten auf. Das obere Ende zielt aof
die Mitte der Epiphysenkappe hin, das untere Ende ist in etwas stärkerer Aas*
debnung in die Markhöhle des Humerus yorgedrungen, als es bei der Operation
eingesetzt wurde. Neuer Gypsverband in Aussenrotation und leichter Abdnction
des Armes.
15. 5. Mit dem neuen Verband wird Pat. in ambulante Behandlung
naoh Hause entlassen. Narbe an dem linken Unterschenkel von gutem Aus*
sehen. Gehfähigkeit in keiner Weise beeinträchtigt.
14. 6. Wiederaufnahme in die Klinik zwecks Verbandwechsels.
16. 6. Abnahme des Verbandes. Narbe von guter Beschaffenheit. Dreh*
bewegungen an dem Arm zeigen, dass eine feste Consolidation des implantirten
Knochens eingetreten ist, nur steht der liest des Kopfes — wie bereits erwähnt
— nach innen zu gegen den Proc. coracoideus hin abgewichen. Der Oberarm
wird nunmehr mit Hilfe einer Pappschiene gegen die Schulter hin fixirt; von
einem neuen Gypsverband wird abgesehen.
Eine Röntgenaufnahme ergiebt, dass das implantirte Knochenstück etwas
schmächtiger geworden ist. Der Uebergang von dem breiteren Humerusrest auf
das schmälere Implantatum ist nioht mehr durch die scharfe Kante an der
Sägefläche gekennzeichnet, sondern man kann jetzt schon einen allmählichen
Uebergang von dem Humerusschaft auf das Implantatum durch übergreifende
Knochenneubildung erkennen.
25. 6. Abnahme des Pappschienenverbandes, erneute Röntgenaufnahme.
Dieselbe zeigt vollständige Einheilung des Tibiastückes und eine noch deut¬
lichere Vereinigung namentlich am unteren Ende mit dem Humerus (Aufnahme
in Aussenrotation). Pat. bleibt jetzt ohne Verband, der Arm wird massirt und
elektrisirt.
21. 7. Vorläufige Entlassung nach Hause. Pat. ist im Stande, den Arm
schon etwas selbstständig zu bewegen und einige Hantirungen mit demselben
vorzunehmen.
Entlassungsbefund. An dem entblössten Oberkörper sieht man, dass
der rechte Oberarm etwas verkürzt ist. An der vorderen Fläche des rechten
Oberarms eine 14cm lange geradlinige Operationsnarbe. Die grobe Kraft der Hand
ist rechts etwa9 geringer als links. Sämmtliche Finger- und Handbewegungen
sind rechts und links in gleich vollkommener Weise möglich. Der Unterarm ist
rechts um 1 cm dünner als links; Bewegungen des Unterarms sind beiderseits
gleich gut möglich, nur rechts mit geringerer Kraft. Nicht völlig ausführbar ist
die Streckung im rechten Ellbogengelenk; auch die Beugung geschieht nur mit
geringer Kraft. Umfang des Oberarms beiderseits gleich: 18 cm, Umfang unter
der Achsel rechts 18, links 20 cm. Die Schultercontour tritt rechts sehr deut¬
lich hervor in Folge Atrophie der umgebenden Muskeln. Von der Atrophie am
meisten befallen erscheint der Deltoideus und der Triceps, weniger der Biceps
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Beiträge zur freien Knochenplastik. 837
und Cucullaris. Die Function des letzteren ist fast garnicht beeinträchtigt, die
des Triceps aber in deutlichem Grade. Auch der Muse, pectoralis ist atrophisch.
Der Arm kann activ seitwärts nicht bis zur Horizontalen, sondern nur bis zu
einem^Winkel von 45° gehoben werden, passiv lässt er sich seitlich bis über
Fig. 2.
4 l / 2 Wochen nach der Implantation des Tibiaspans.
die Horizontale hinaus erheben. Aehnlich ist es mit der Hebung des Armes
nach vorn, nach hinten geht dieselbe fast so weit wie auf der linken Seite.
Die Nervengeflechte und -Stämme sind nicht druckempfindlich, die Armsehnen-
rellexe beiderseits schwach, rechts beinahe garnicht auszulösen. Die Sensibilität
ist ungestört. Der elektrische Befund ergiebt Seitens der Nerven normale Erreg-
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838
Dr. A. Stieda,
barkeit für beide Stromarten, an den Mnskeln geringe quantitative Herabsetzung
der galvanischen Erregbarkeit an der atrophischen Musculatur. Am deutlichsten
ist diese am Triceps, Deltoideus und Cucullaris. Entartungsreaction und l’m-
big. 3.
Aufnahme 4 Monate nach der Operation.
Das Implantatum giebt mit dem Humerus einen einheitlichen Knochenschatten.
kehr der Zuckungsformel besteht nirgends. (Untersuchung durch dieUniversitäts-
Nervenklinik: Dr. Willige.)
7. 8. Nachdem der Knabe 3 Wochen zu Hause gewesen ist und seinen
Arm nach Möglichkeit gebraucht hat, erfolgt zu einer erneuten Massagecur die
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Beiträge zur freien Knochenplastik.
839
Wiederaufnahme. Ein aufgenommenes Röntgenbild zeigt denselben Stand der
Epiphysenkappe des Humerus, sowie eine vollständige Einheilung des implan-
tirten Tibiastückes jetzt derart, dass die Stelle des Ueberganges vom Implan-
tatum auf den Humerusschaft nur noch an der Verschmächtigung des Knochens
Fig. 4.
5 Monate nach der Operation.
zu erkennen ist. Die Knochensubstanz geht von einem Theil auf den anderen
vollständig undifferenzirbar über.
28. 8. Nach Ablauf einer dreiwöchigen Massagecur wird der Knabe
definitiv nach Hause entlassen. Röntgenaufnahme (Fig. 3).
Entlassungsbefund (vergl. Fig. 4): Die rechte Schulter läuft am
Akromion spitz zu, die normale Schulterwölbung fehlt. Der rechte Oberarm
erscheint deutlich kürzer, die Entfernung vom vorderen Rand des Akromion bis
Archiv fllr klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4.
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Dr. A. Stieda,
zum Epicondylus lateralis humeri beträgt rechts 28, links 23^2 cm. Die früher
beschriebene Oporationsnarbe ist auf der Unterlage verschieblich und bei Be¬
rührung nicht schmerzhaft. Activ vermag der Knabe den ausgestreckten rechten
Arm bis zur Horizontale zu erheben sowohl seitlich wie auch nach vorn; nach
hinten können beide Arme gleich weit geführt werden. Bei allen Bewegungen
des Oberarmes macht die Scapula die Bewegungen mit. Bei der Palpation
fühlt man, dass der Rest des Oberarmkopfes auch heute unter dem Proc. cora-
coideus steht und sich etwas schräg gestellt hat, mit der Gelenkfläche medial-
wärts geriohtet; passiv lässt sich der Arm bis zur Senkrechten erheben. Die
Bewegungen im rechten Ellbogengelenk sind normal, ebenso im Handgelenk.
Die Kraft der rechten Hand bleibt gegen die der linken nicht zurück. Der
Ringumfang des rechten Vorderarmes beträgt, 9 cm unterhalb des Olecranon,
rechts 15 %, links 16 cm, an entsprechender Stelle gemessen. Ueber der
Milto des Biceps ist ebenfalls heute eine Differenz von 1 cm im Ringumfang vor¬
handen.
An dem 29y 2 cm langen linken Unterschenkel befindet sich eine IG 1 /» cm
lange bogenförmige Narbe mit der Convexität nach aussen. Die Narbe ist mit
dem Knochen nicht verwachsen, sie beginnt an der Tuberositas tibiae. Der
Knabe gebraucht den rechten Arm fast wie einen normalen, er isst, schreibt
mit der rechten Hand (Schriftprobe) und kleidet sich unter Gebrauch des
rechten Armes an 1 ).
Es handelt sieh also in dem beschriebenen Falle um die
Exstirpation der oberen Hälfte eines rechten Oberarmknochens
nur mit Erhaltung des nach dem Schultergelenk zu gelegenen
Theiles der Epiphysenkappe und um die Implantation eines
Stückes einer Tibia desselben Individuums in den gesetzten
Defect. Das implantirte Knochenstück enthielt sowohl Periost
wie auch noch anhaftendes Knochenmark. Die Einheilung er¬
folgte prompt und nach Verlauf von 10 Wochen konnte der
Patient den Arm bereits wieder zu gewöhnlichen Hantirungen ge¬
brauchen.
Sowohl nach dem palpatorischen Befund, wie auch nach An¬
sicht der Röntgenaufnahmen, musste im vorliegenden Falle die
Diagnose auf einen Tumor des oberen Humerusendes gestellt
werden und zwar einen cystischen Tumor, voraussichtlich eiu
Sarkom.
1) Gelegentlich einer Demonstration des Knaben im Verein der Aerzte zu
Halle konnte am 30. 11. 10. eine weitere Besserung in der Gebrauehsfähigkeit
des rechten Armes constatirt werden. Auch die elektrische Erregbarkeit der
Muskeln war bis auf eine massige quantitative Herabsetzung der galvanischen
Erregbarkeit am Musculus deltoideus eine normale geworden.
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Beiträge zur freien Knocbenpl&stik.
841
Die mikroskopische Untersuchung ergab ein Myxochondroma
cysticum mit Gefässektasicn und Hämorrhagien. Diese Diagnose
war in der Mehrzahl der angefertigten Schnitte nicht ohne Weiteres
zu stellen, sondern erst nach Durchsicht zahlreicher Präparate
und Entnahme von verschiedenen Stellen des Tumors konnte der
erwähnte Charakter der Geschwulst erkannt werden.
Bekanntlich trifft dieses für dje makroskopisch fast genau so
aussehenden Myeloid- oder centralen (Riesenzellen-)Sarkome auch
zu, bei denen durch Cystenbildungen, Blutungen etc. der Geschwulst-
oharakter so undeutlich werden kann, dass nur hier und da an
der Cystenwand das typische Geschwulstgewebe aufzufinden ist.
Es wird sonach selbst an dem operativ freigelegten Tumor in
solchen Fällen nicht mit Sicherheit zu entscheiden sein, ob ein
Sarkom oder Chondrom oder Knochencyste anderer Aetiologie
vorliegt, und die Entfernung des Tumors in allen diesen Fällen
geboten sein, vor Allem, wenn — wie in dem vorliegenden Falle
— die Stützfähigkeit des betreffenden Knochentheiles aufge¬
hoben ist.
Ich bin weiter in der Lage, über das Schicksal eines in der
Literatur öfter erwähnten Falles von Knochenimplantation zu be¬
richten, welchen Grosse (9), ehemals Oberarzt der v. Bramann-
schen Klinik, bereits im Jahre 1900 auf dem Chirurgen-Congress
kurz vorgestellt hat, und welchen ich jetzt nachzuuntersuchen
Gelegenheit hatte.
Es handelte sich um ein damals 10jähriges Mädchen, Luise B.,
Arbeitertochter aus Gross-Salze, welche wegen einer Pseudarthrose
am linken Unterschenkel 4 Jahre vorher in die Behandlung der
Klinik gekommen war. Die Pseudarthrose war nach einer Osteo¬
tomie wegen Verbiegung des Unterschenkels in Folge intrauteriner
Fractur entstanden. Es wurde an dem Mädchen zunächst die
Knochennaht versucht. Als diese nicht zu dem gewünschten Er¬
folge führte, wurde der Versuch gemacht, durch Knochenimplantation
Heilung und wenn möglich auch theilweise Ausgleichung der sehr
erheblichen Verkürzung zu erzielen. Es wurde deshalb im
Juni 1896 eine bei einer Operation gewonnene Exostose eines
17jährigen Mannes in die Stelle der Tibia-Pseudarthrose ein¬
gepflanzt. Die Exostose war vorher von ihrem Knorpelüberzug
befreit worden. Zwar heilte dieses Knochenstück ein, jedoch
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842
Dr. A. Stieda,
zeigte sich nach Ablauf von einigen Monaten, dass dasselbe wieder
zura grössten Theil resorbirt worden, und in Folge dessen von
Neuem ein falsches Gelenk eingetreten war.
Im Röntgenbilde lässt sich dieser Befund verfolgen. Man
erkennt an demselben das allmähliche Kleinerwerden der ein¬
geheilten cartilaginären Exostose, ohne dass von den benachbarten
Knochentheilen der Tibia eine genügende Knochenneubildung stau¬
gefunden hat.
Im April 1898 wurde abermals eine Osteoplastik vorgenommen
und zwar eines Stückes Ulna, das gelegentlich einer Vorderarm¬
amputation bei schwerer Verletzung gewonnen war. Das Knochen¬
stück war vorher vom Periost entblösst worden. Es wurde mit
2 Silberdrahtnähten an den Knochenenden der Tibia befestigt.
Auch hier erfolgte zunächst Einheilung; jedoch sehr bald trat
auch bei diesem Knochenstück eine Resorption ein, so dass der
Status wie früher war.
Im November 1899 wurde nun zura dritten Male eine Knochen¬
plastik an dem Kinde vorgenommen, und zwar wurde ein 57t cm
langes, 2 /s ^ er Circumferenz umfassendes Stück der Tibia eim s
Erwachsenen, das gelegentlich einer Amputation gewonnen war,
benutzt. Dasselbe wurde vorher auf das Sorgfältigste gesäubert,
die Markhöhle jeglichen Inhaltes beraubt, das Periost auf das Ge¬
naueste entfernt, so dass nur Cortiöalis zurückgeblieben war, so¬
dann wurde das Knochenstück 1 Stunde lang io Wasser ausgekocht.
Die beiden zugespitzten Enden der Tibiapseudarthrose wurden in
diese knöcherne Hohlrinne hineingestemmt. Es erfolgte auch jetzt
eine reactionslose Einheilung des Knochenstücks.
Durch zahlreiche Röntgenaufnahmen lässt sich nun nach-
weisen, dass zunächst eine Verschmächtigung des Knochenstücks
in seinem Umfange eintrat, dass ferner an den Rändern Rauhig¬
keiten auftraten und besonders an den Enden eine allmähliche
Abflachung gegen den lebenden Theil der kindlichen Tibia sich
geltend machte.
Ein Jahr nach dieser letzteren Implantation, nachdem das
Kind dauernd fixirende Verbände gehabt hat, liess sich eine deut¬
liche Festigkeit an der Tibia bereits feststellen und im Februar
1900 — also 174 Jahr nach der Operation — war das Kind
bereits im Stande, sich auf das betreffende Bein zu stützen.
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Beiträge zur freien Knochenplastik.
843
Das damals aufgenommene Röntgenbild zeigt eine deutliche
Verschmälerung des Implantatums, zeigt aber auch, dass eine *
Verwachsung desselben mit dem lebenden Knochen eingetreten ist.
Fig. 5.
Implantation eines ausgekochten Tibiastückes in eine Pseudarthrose.
Aufnahme kurz nach der Operation.
Im April 1900 erfolgte die bereits erwähnte Vorstellung auf
dem Chirurgen-Congress. Das Mädchen hat dann noch eine Zeit
lang einen Schienenapparat an dem linken Bein getragen, diesen
aber nach Verlauf von etwa 2 Jahren fort gelassen.
Fast 12 Jahre nach der Implantation hatte ich Gelegenheit,
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Aufnahme des Unterschenkels 11 3 / 4 Jahre nach der Implantation des aus¬
gekochten Knochenstückes in die Pseudarthrose einer Tibia. (Einheitlicher
Knochenschatten der Tibia!) Aufnahme vom September 1910.
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Beiträge zur freien Knochenplastik.
845
das Mädchen nachzuuntersuchen. Dasselbe geht mit einem Stiefel
mit erhöhtem Absatz und erhöhter Sohle, weil der linke Unter¬
schenkel erheblich im Wachsthum zurückgeblieben ist; es geht
ohne Schiene und kann sich vollständig auf das linke Bein stützen.
Bei der Untersuchung zeigt sich, dass das linke Bein 16 cm kürzer
ist als das rechte, und dass auch die Fusslänge linkerseits erheb¬
lich geringer ist als wie rechts. Die Maasse betragen links 16 cm
zu 22 rechts. Aeusserlich sind an dem linken Unterschenkel die
bei den verschiedenen Operationen gesetzten Narben sichtbar, eine
stärkere Verbiegung ist an dem Unterschenkel nicht zu constatireu.
Das Röntgenbild zeigt nun den auffallenden Befund, dass in
dem Schatten, den die Tibia wirft, nirgends mehr sich die Stelle
nachweisen lässt, an welcher die Implantation des todten Tibia¬
stückes stattgefunden hat. Die ganze Diaphyse ist in ihrem Ver¬
lauf von gleicher Breite und zeigt nirgends eine Abstufung in
ihrer Contour, so wie sich dies früher vor 10 Jahren noch an der
Stelle des implantirten Knochenstücks nachweisen liess. Ich ver¬
weise auf die beiden Röntgenbilder (Fig. 5 u. 6), von denen das
eine bald nach der Operation (December 1898), das andere im
September 1910 aufgenommen wurde.
Das 2. Röntgenbild zeigt auch, dass die untere Epiphyse der
Tibia zum Theil verloren gegangen ist. Dem hat man es auch
offenbar zuzuschreiben, dass das Wachsthum der Tibia so stark
zurückgeblieben ist. Die Epiphysenscheibe ist offenbar bei den
verschiedenen Operationen in ihrer Knochenproductionsfähigkeit
stark irritirt worden. Die Fibula, die oberhalb des Malleolus ex-
ternus bei einer der Operationen schräg durchmeisselt wurde, um
durch das zu implantirende Knochenstück gleichzeitig eine Ver¬
längerung der Tibia zu cnnöglichen, ist trotz der Länge der Zeit
nicht knöchern verheilt.
In diesem jetzt fast 12 Jahre seit der Operation zurück¬
liegenden Fall ist also ein vollständig todtes, ausgekochtes, von
Periost und Knochenmark entblösstes 5'/ 2 cm langes Knochenstück
eines artgleichen Individuums eingeheilt. Am Röntgenbilde hat
der Verlauf der Einheilung verfolgt werden können, es hat sich
die theilweise Resorption nachweisen lassen und ebenso das all¬
mähliche Herüberwachsen von dem benachbarten lebenden Knochen
auf den implantirten todten. Eine Ausstossung auch eines Theiles
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846
Dr. A. Stieda,
des todten Knochens hat nicht stattgefunden, es ist zu einer voll¬
ständigen festen Vereinigung von dem implantirten und dem be¬
nachbarten Knochen — allerdings erst nach geraumer Zeit — ge¬
kommen.
Dieser Fall stellt sich an die Seite des vor Kurzem von
Kausch (13) näher beschriebenen Falles von Knochenimplantation,
in welchem ausgekochter Knochen ohne Periost und ohne Mark
in 8 cm Länge in einen Knochendefect nach Resection einer Tibia
eingeheilt ist. Kausch konnte in Folge einer später an derselben
Extremität nothwendig werdenden Amputation den betreffenden
Knochen des Genaueren mikroskopisch untersuchen. Sein Präparat
stellt seiner Ansicht nach den grössten bisher beim Menschen
in ein periostfreies Lager implantirten todten Knochen dar, der
einheilte und s / 4 Jahr in Verbindung mit dem benachbarten
Knochen blieb. Der implantirte Knochen war fest mit dem
anstehenden Knochen — sowohl mit dem Femur, wie der Tibia
— verbunden und über dem implantirten Knochen hatte sich ein
Gewebe gebildet, welches makroskopisch und auch mikroskopisch
als Periost anzusprechen war, und welches unmittelbar in das
stehen gebliebene Periost des Femur und der Tibia überging.
Kausch ist der Meinung, dass die Neubildung des Periosts durch
Hinüberwachsen von der anstehenden Knochenhaut zu Stande ge¬
kommen ist.
Nicht so dauernd wie in dem vorerwähnten Fall v. Bramann\s
mit der Implantation eines todten 5 x / 2 cm langen Tibiastückes in
die Pseudarthrose eines Unterschenkels war die Einheilung eines
16 cm langen Stückes einer durch Amputation von einem anderen
Patienten gewonnenen Fibula. In diesem Falle, den v. Bramann ( 5 )
auf dem Chirurgen-Congress im April 1904 veröffentlicht har,
handelte es sich um ein 23jähriges junges Mädchen, bei welchem
im Alter von 12 Jahren eine cartilaginäre Exostose des oberen
Endes des Humerus abgemcisselt war. Zehn Jahre danach hatte
sich an dieser Stelle ein Osteosarkom entwickelt und es wurde
deshalb die Ilumerusdiaphyse in einer Ausdehnung von 14 cm mit
dem aufsitzenden Tumor resecirt und ein 16 cm langes Stück
einer Fibula eines anderen Patienten implantirt. Das Knochen¬
stück wurde vorher 2 Stunden lang ausgekocht, nachdem es vorher
vom Periost vollständig entblösst war. Bezüglich der Einpflanzung
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847
ist zu bemerken, dass das untere Ende zugespitzt in die Mark¬
höhle des Humerus fest hineingestemmt wurde, während das obere
Ende durch einen Silberdraht an dem oberen Theil des Humerus
befestigt wurde. Auoh hier erfolgte zunächst eine Einheilung und
3 / 4 Jahr nach dieser Implantation konnte eine leidlich gute Con-
solidation an dem betreffenden Oberarm festgestellt werden, so
dass man eine dauernde knöcherne Vereinigung auch hier erhoffen
durfte.
Im Verlaufe eines weiteren Vierteljahres zeigte sich aber,
dass an dem oberen Ende des implantirten Knochenstücks und
der Humerusdiaphyse eine Beweglichkeit auftrat, die zu einer
nochmaligen Operation Veranlassung gab, bei welcher ein ebenfalls
todtes, vorher ausgekochtes Knochenstück in Form einer Schiene
an die beiden Knochenenden der neu entstandenen Pseudarthrose
angelegt wurde. Auch hiernach trat aber keine knöcherne Ein¬
heilung ein, im Gegentheil bildete sich sowohl an dem oberen,
wie auch später an dem unteren Ende des eingesetzten Knochen¬
stücks eine Fistel, die immer mehr und mehr Secret entleerte und
aus der sich dann im Laufe der Jahre allmählich eine grosse
Reihe kleinerer und grösserer Sequester entleerte, so dass
schliesslich zu der vollständigen Herausnahme des Restes der
ehemals eingesetzten Fibula geschritten wurde, die sich als todter
Knochen mit usurirter Oberfläche erwies. Dadurch war es nun
zu einer ausgedehnten Pseudarthrose an dem rechten Oberarm ge¬
kommen, weil ja ein grosser Theil der Knochensubstanz der Dia-
physe verloren gegangen war. Die Patientin musste sich jetzt mit
einer Bandage an dem Arm begnügen, welche dem Oberarm wenig¬
stens einige Festigkeit verlieh.
Ein ganz kürzlich aufgenommenes Röntgenbild zeigt, dass
sich das obere Ende des implantirten Fibulastückes noch erhalten,
und dass sich dieses mit dem zugespitzten unteren Ende des
oberen Diaphysentheils durch Knochenneubildung fest verbunden
hat. Das untere Ende des Humerus, in dessen Markhöhle seiner
Zeit die todte Fibula eingestemmt wurde, hat sich etwas zuge¬
spitzt, die Markhöhle selbst scheint sich zum Theil verschlossen zu
haben 1 ).
1) Am 19. November 1910 habe ich in den Defect des Oberarms bei dieser
Patientin ein 16 ein langes Stück der bei einer Exarticulatio coxac gewonnenen
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848
Dr. A. Stieda,
In diesem eben geschilderten Fall, wo die Einpflanzung eine-
allerdings 16 cm langen tndten periostfreien Knochens in ex
periostfreies Lager ausgeführt wurde, ist der Versuch einer solcher
Knochenimplantation als gescheitert zu betrachten, obgleich 1 / 2 Jahr
nach der vorgenommenen Operation die Aussichten für eine dauernde
Einheilung durchaus günstige zu sein schienen.
Die Anschauungen über die Möglichkeit, Knochensubstanz zu
verpflanzen und zur Einheilung zu bringen, haben im Verlaufe de?
letzten Jahrzehnts eine Wandlung erfahren. Man war früher der
Ansicht, dass der herausgeschnittene und losgelöste Knochen seine
Lebenskraft behalten kann und selbst weiter wachsend in Defeete
einheilt. Die umfangreichen Arbeiten Ollier’s (21) hatten z;
dieser Anschauung geführt.
Im Jahre 1893 veröffentlichte dann aber Barth (2) sehr
exacte und vorzügliche Untersuchungen, aus denen hervorzugehen
schien, dass der anderswo entnommene und an einer anderen Stelle
implantirte Knochen nicht lebensfähig mit der Umgebung verwächst,
sondern gewisse regressive Veränderungen eingeht, denen dann sehr
bald wieder regenerative folgen. Das Implantatum wird nach
seiner Ansicht von gefässhaltigem jungen Bindegewebe, welche?
vom Periost und Mark der Umgebung spriesst, umwachsen und
durchwachsen und zwar so, dass man zuerst in der nächsten Nähe
der Hävers'sehen Canälchen gut färbbare Knochenzellen auf treten
sieht, die allmählich später auch in die Umgebung sich vorschieben
und zu einer schichtweisen Anlagerung jungen Knochengewebes an
die Substanz des alten führen. Das implantirte Knochenstück wird
zwar mit derZeit aufgesaugt, bildet jedoch nach der Barth'sehen
Lehre die Unterlage und das Nährmaterial für den neuen Knochen,
durch den es substituirt wird, nachdem die knöcherne Verbindung
des Iinplantatums mit der Umgebung durch eine ähnliche Anlage¬
rung junger Lamellen und Bälkchen hergestellt ist. Die durch
eine grosse Versuchsreihe gewonnenen Anschauungen Barth’s sind
dann vielfach nachgeprüft und bestätigt worden. Die Resultate
periostgedeckten, lebenden Fibula eines anderen Patienten implantirt. Die Kin-
hcilung erfolgte rcactionslos. Der oben erwähnte Rest der einstmals cingepflanzteu
todten, ausgekochten Fibula wurde exstirpirt. Der mikroskopische Befund. dt*r
sich bei diesem vor 8 Jahren in ein periostfreies Lager implantirten Knochen
jetzt erheben lässt, wird an anderer Stelle veröffentlicht werden.
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Beiträge zur freien Knochenplastik.
849
dieser Arbeiten zeigten, dass eine Unterscheidung zwischen
Rcimplantation frischer and Transplantation todter Knochen ent¬
weder der gleichen oder anderer Art histologisch bedeutungslos
geworden ist, weil ein principieller Unterschied im Heilungsmodus
nach Barth’s Auffassung thatsächlich nicht besteht. Das frische
Knochenstück stirbt auch ab und dient ebenso nur zum Aufbau
für die neu gebildete Knochensubstanz, wie der todte implantirte
Knochen. Während also Ollier annahm, dass sowohl verpflanztes
Periost wie die Knochensubstanz selbst, solange sie mit dem Periost
in Verbindung steht, am Leben bleibt, führten die Barth’schen
Untersuchungen dahin, dass der Knochen stets zu Grunde ginge,
einerlei ob er in lebendem oder in todtem Zustande verpflanzt
wird.
Diese Anschauungen herrschten auch noch 1905 vor, als ich
Gelegenheit hatte, mich mit der Frage der Knochenimplantation
und der Einheilung von Knochenstücken bei der Behandlung trauma¬
tischer Schädeldefecte zu befassen. Ich konnte damals auf dem
Chirurgen-Congress über eine grössere Reihe von nachuntersuchten
traumatischen Schädeldefecten berichten, die einen dauernden Ver¬
schluss durch Implantation von theils lebenden, theils todten
Knochen gefunden hatten (2).
1908 veröffentlichte Axhausen (1) umfassende Arbeiten, die
sich mit dem Stande der Frage des Knochenersatzes befassten.
Die Frucht seiner Untersuchungen war, dass Ollier’s Lehre, nach
der ein principieller Unterschied zwischen freier Knochenverpflanzung
lebender und todter Knochen vorhanden sein sollte, wieder als
richtig anerkannt wurde. Axhausen’s Untersuchungen zeigten,
dass bei der Transplantation eines frischen lebenden Knochens,
welcher Periost und Knochenmark enthält, sowohl Periost wie
Knochenmark am Leben bleiben und neuen Knochen zu bilden im
Stande sind. Die mittransplantirte Knochensubstanz geht zum
Theil zu Grunde, dient aber dem neu sich bildenden Knochen als
Nährmaterial. Todter Knochen wird nach Axhausen’s Unter¬
suchungen vollständig resorbirt und eignet sich deshalb in keiner
Weise zu dauerndem Knochenersatz.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier nochmals die ganze
Frage des Knochenersatzes mit ihren mikroskopischen Befunden
aufzurollen, die in zahlreichen Arbeiten von Barth, der auf dem
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Dr. A. Stieda,
Chirurgen-Congress 1908 einen Theil seiner früher gemachten und
vorher erwähnten Untersuchungen im Sinne Ollier’s und AxhausenV
änderte; ferner von Grohe (8), Sultan (27), kürzlich von
Kausch (13), Läwen (16), Frankenstein (7) und zuletzt in
ausserordentlich exacten Untersuchungen von Frangenheim c6>
aus der Lexer’schen Klinik behandelt worden ist. Ich will mich
vielmehr, da mir eigene mikroskopische Untersuchungen nicht
zur Verfügung stehen, auf den klinischen Erfolg beschränken,
den Knochentransplantationen der verschiedensten Art gezeitigt
haben.
Da ist nun besonders hervorzuheben, dass auf Grund zahl¬
reicher ausgeführter Operationen festgestellt ist, dass lebender mit
Periost versehener Knochen die Fähigkeit besitzt, am schnellsten
einen brauchbaren Knochenersatz nach Resection grösserer Knochen¬
stücke der Extremitäten abzugeben. Gerade in den letzten Jahren
sind aus den verschiedensten Kliniken und Krankenhäusern der¬
artige Fälle veröffentlicht worden, in denen von demselben Indi¬
viduum Knochentheile in operativ gesetzte Knochendefecte oder bei
Pseudarthrosen übertragen und eingeheilt wurden [v. Mangoldt (181
Klapp (14), Katzenstein (12), v. Hacker [StreisslerJ (24).
Toraita (26) u. A.].
Ueber eine derartige Knochenimplantation hat — wenn ich
recht unterrichtet bin — mit als Erster v. Bramann (5) auf dem
Chirurgen-Congress 1894 berichtet. Es handelte sich damals uni
einen 23 Jahre alten Eisenbahnarbeiter, der nach einer schweren
coraplicirtcn Fractur eine Pseudarthrose des einen Oberarmes
aequirirt hatte. Demselben wurde eine 6 cm lange, 3Vs cm breite
und 2 cm dicke Knochenplatte aus seiner eigenen linken Tibia mit
Periost in frischem Zustande in die Oberarmwunde implantirt.
Dieses Knochenstück heilte ein und führte zu einer vollständigen
Brauchbarkeit des Armes.
Als dann Barth’s (2) Untersuchungen die Gleichwerthigkeit
von frischen lebenden und todten Knochen zu beweisen schienen,
ist man allerdings auch an der v. Bramann’schen Klinik mehr
zu dem Standpunkt übergegangen, den kostbaren lebenden Knochen
desselben Individuums, der doch eventuell nur um den Preis einer
zweiten Operation an einem anderen Knochen des Skeletts zu er¬
halten war, möglichst zu schonen, und es ist dann mehrfach die
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851
Implantation von todten ausgekochten Knochen geübt worden,
namentlich da mit der Implantation völlig herausgesprengter
Knochenstücke bei der Behandlung von grossen Schädeldefecten
zahlreiche günstige Erfahrungen durch glatte und dauernde Ein¬
heilung gemacht worden waren.
Bei der Verpflanzung aus dem Zusammenhang gelöster auch
periostfreier Knochenstücke in Schädeldefecte muss aber ihre Ein¬
heilung wohl vor Allem der knochenbildenden Fähigkeit der Dura
mater und etwa noch vorhandenem Periost der Umgebung zuge¬
sprochen werden.
Neuerdings hat Kausch (13) auf Grund des vorher bereits
erwähnten, von ihm vor längerer Zeit operirten Falles, der nach¬
her zur Amputation kam, noch einmal für den todten Knochen als
Implantationsobject eine Lanze gebrochen. In den Ergebnissen
seiner Arbeit bemerkt er am Schluss: „Es ergiebt sich, dass frisch
gewonnener, menschlicher todter Knochen — im Gegensatz zu den
heute herrschenden Anschauungen — ein recht brauchbares Material
für den Knochenersatz ist, auch in periostfreiem Lager. In letzterem
Falle muss der implantirte Knochen aber mit dem anstehenden
Knochen sowohl wie Periost in Contact stehen.“
Kausch weist darauf hin, dass nicht jeder Kranke, wenn an
seiner einen Extremität eine grössere Operation unbedingt vorge¬
nommen werden muss, noch an einem anderen Gliede sich einer
zweiten Operation ohne Weiteres unterziehen wird, und lebende
Knochen eines anderen Individuums, abgesehen von der nicht so
leichten Verfügbarkeit, scheut Kausch sich wegen der Gefahr der
Uebertragung anderer Krankheiten, speciell der Lues, zu implan-
tiren. Kausch besitzt deshalb — wie er sagt — eine Sammlung
frischer, von Lebenden gewonnener Knochen, die aseptisch präparirt
und ausgekocht, in Alkohol aufgehoben, bei geeigneten Fällen Ver¬
wendung Anden können.
Für kleinere Knochenstücke mag die Anschauung Kausch’s,
dass todter Knochen ein geeigneter Ersatz für verloren gegangenen
lebenden ist, zu Recht bestehen, für grössere ist sie meines Er¬
achtens nach nicht richtig.
Wird ein kleineres todtes Knochenstück fest in möglichst
inneren Contact zwischen die Enden eines lebenden, in der Conti-
nuität unterbrochenen Knochens in periostfreies Lager eingepflanzt,
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852
Dr. A. Stieda,
so erhält der betreffende Knochen wieder seine Festigkeit, ähnlich
als ob man einen anderen Fremdkörper, wie z. B. ein Elfenbein¬
stück oder einen Nagel oder dergl. einlegt und einheilt. Hält nun
die Knochenneubildung an den Enden des lebenden Knochen>
Schritt mit dem gleichzeitig auftretenden Abbau des Knochens oder
übertrifft diesen Abbau sogar, so bleibt die Festigkeit eines solchen
Knochens bestehen, die sogen, völlige Einheilung erfolgt auf diese
Weise Ist das Knochenstück aber von beträchtlicher Länge, wie
in dem zweiten der von mir erwähnten Fälle früherer Knochen¬
implantation, von einer Länge von 16 cm z. B., so findet früher
eine Resorption des linplantatums im periostfreien Lager statt, che
ein Anbau von genügendem neuen Knochen möglich ist. Die Festig¬
keit des gestützten Knochens leidet, es erfolgt keine dauernde Ein¬
heilung.
Frangenheim (6) sah bei seinen Versuchen die Resorption
des transplantirten Knochens und seine Substitution zuerst an den
Enden des verpflanzten Knochens. Hier ist der Knochen poröser
als in seiner Mitte. Hier beobachtet er auch zuerst den lamellaren
Bau der Knochensubstanz nach erfolgtem Ersatz. Er hatte Resultate,
die den Befunden der Art des Knochenersatzes gleichen, die Barth
(2) und March and (19) als schleichenden Knochenersatz be-
zeiclmeten.
Dem Periost kommt geradezu eine eigene Lebensthätigkeit zu.
und da nach mehrfachen mikroskopischen Untersuchungen diese
Fähigkeit der Knochenneubildung gerade das innere Lager des
Periosts zeigt, so empfiehlt es sich, zur Schonung dieser Osteo¬
blastenschicht am Periost das Periost unter Mitnahme einer dünnen
Schicht des Knochens zu verpflanzen. Bei den osteoplastischen
Operationen des Schädels hat sich diese Methode ja schon lange
des besten Erfolges zu erfreuen gehabt.
1907 hat Sohr (22) aus der Garre’schen Klinik das auf
jener Erkenntnis beruhende, von Garre schon seit 1895 geübte
Verfahren der Schädelplastik beschrieben, welches in Verlagerung
event. subaponeurotischer Verschiebung eines Periostlappens mit
daran haftendem Theil der obersten Lagen der Tabula externa be¬
steht, so wie ich dieses auch als eine schon 1895 geübte Methode
v. ßrainann’s in einer bereits citirten Arbeit über den Verschluss
traumatischer Schädeldefecte erwähnt habe (23).
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Beiträge zur freien Knocbenplastik.
853
v. Hacker (10) hat 1903 das gleiche Verfahren publicirt und
Durante in Rom gab durch seinen Schüler Biagi (4) sein seit
1884 geübtes sehr ähnliches Verfahren in der deutschen Literatur
bekannt, bei dem es sich um eine Verlagerung des Hautperiost¬
lappens mit daran hängenden Theilen der Tabula externa handelt.
Hat das verpflanzte Periostknochenstück aber auch die Aufgabe zu
erfüllen, für einen verloren gegangenen Theil eines Extremitäten¬
knochens als Stütze zu dienen, so wird natürlich zweckmässig
mehr Knochensubstanz in Verbindung mit dem Periost bleiben und
mitverpflanzt werden.
v. Mangold (18) hat darauf bereits mit Recht 1904 auf dem
Chirurgen-Congress hingewiesen.
In ein neues Fahrwasser ist die Technik der Knochenüber¬
pflanzung gekommen, seitdem Lexer’s (17) epochemachende Ver¬
öffentlichungen bekannt wurden über die Einheilung halber und
ganzer Gelenke von frischen, bei einer Amputation gewonnenen
Gliedmaassen nach Resectionen erkrankter oder versteifter Ge¬
lenke.
Ich brauche auf Lexer’s grossartige Resultate hier nicht ein¬
zugehen, sie sind von seinen Demonstrationen und Ausführungen
auf den beiden letzten Chirurgcn-Congressen noch in Aller Er¬
innerung.
Nachdem sich bis vor Kurzem nun alle Operateure mehr
weniger im Klaren darüber zu sein schienen, dass Leichenknochen
nach den gemachten Erfahrungen sich nicht zur Einpflanzung eignen
— frischer sowohl wie macerirter —, musste es überraschen, von
einer Operation Küttner’s (15) zu hören, der im Frühjahr 1910
wegen eines Chondrosarkoms ein Hüftgelenk mit dem oberen Drittel
des Femur entfernte und durch die analogen Theile der Leiche er¬
setzte, nachdem dieselben, 11 Stunden nach dem Tode entnommen,
24 Stunden lang in Kochsalzlösung mit Chloroformzusatz aufge¬
hoben waren 1 ).
1) Es ist aus den verschiedenen Berichten über diese K ü 11 n er'sche Ope¬
ration nicht ^anz klar ersichtlich, ob es sieh um den Ersatz eines vollständigen
iielenkes, d. h. einen Theil des Beckenknochens mit der Pfanne -f- Ober¬
schenkelkopf oder Femurdrittel, oder nur um das obere Femurdrittel -f- Kopf
handelt. In dem Selbst bericht des Chirurifonconirresscs (ref. Ontralbl. f. (’hir.
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Dr. A. Stieda,
Erfolgt in diesem Falle wirklich dauernde Einheilung, so
werden einer erfolgreichen Osteoplastik dadurch wieder neue Wege
gewiesen. Ueberhaupt zielten Untersuchungen der Küttner sehen
Klinik in letzter Zeit auch daraufhin ab, frisch gewonnene Knochen
durch Aufbewahrung in geeigneter Flüssigkeit zu conserviren und
lebend zu erhalten, um so jederzeit Material vorräthig zu haben
für eine eventuell nöthig werdende Implantation. Ich verweise auf
die Versuche von Bauer und Weil (3) und ihren Bericht auf dem
Ohirurgen-Congress 1910.
Auf Grund der an der v. Bramann’schen Klinik gemachten
Erfahrungen, die sich nun über 16 Jahre erstrecken, komme ich
zu dem Schluss, dass sich lebender, mit Periost und Mark be¬
hafteter Knochen frisch implantirt ausgezeichnet zur Ausgleichung
auch grösserer Knochendefecte eignet, weil dem Periost gleichsam
eine Vita propria innewohnt, und dass somit nach jeder, die Längen¬
ausdehnung eines Extremitätenknochens erheblicher beeinträchti¬
genden Operation die Implantation eines solchen lebenden Knochens
dringend geboten ist entweder von einem artgleichen oder dem¬
selben Individuum, wobei sich besonders die Entnahme eines
Knochenspans aus einer Tibia empfehlen dürfte.
Literatur.
1. Axhausen, Die pathologisch-anatomischen Grundlagen der Lehre von
der freien Knochentransplantation beim Menschen und beim Thiere. Med.
Klinik. 4. Jahrg. 1908. 2. Beiheft. — Histologische Untersuchungen über
Knochentransplantation am Menschen. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 91.
S. 385.
2. Barth, Ueber Osteoplastik in histologischer Beziehung. Verhandl. der
Deutschen Gesellsch. f. Chirurgie. 1894. II. S. 201; 1908. II. S. 154
und Ziegler’s Beitr. z. patholog. Anatomie. Bd. XVII. S. 92.
3. Bauer und Weil, Ueber Knochentransplantation. Centralbl. f. Chir.
1910. No. 31.
4. Biagi, Ueber die Itcparationsprocesse der Schädelknochen. Deutsche
Zeitschr. f. Chir. Bd. 65.
N’o. 31) sagt Kiittner: „Bei der Implantation ergab sich insofern eine Schwierig¬
keit, als der Femurkopf des Spenders grösser war, als die Hüftgelenkpfanne
des Empfängers.“ Küttncr hat sich deshalb so geholfen, dass er den Limbu>
gespalten und ihn nach Einsetzen des Kopfes mit einem Geflecht von Seiden¬
fäden wieder vereinigt hat.
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Beiträge zur freien Knochenplastik.
855
5. v. Bramann, Verhandl. d. Deutschen Gesellsch. f. Chir. 1894. I. S. 127.
— Ebendas. 1904. I. S. 149. — Verhandl. der Gesellschaft deutscher
Naturforscher u. Aerzte. Halle 1891.
6. Frangenheim, Dauererfolge der Osteoplastik im Thierversuch. Dieses
Archiv. Bd. 93. Heft 1.
7. Frankenstein, Ueber freie Knochentransplantation zur Deckung von
Defecten langer Röhrenknochen. Bruns’ Beiträge. Bd. 64.
8. Grohe, Die vita propria der Zellen des Periostes. Virchow’s Archiv.
S. 155 u. 428.
9. Grosse, Verhandl. d. Deutschen Gesellsch. f. Chir. 1900. I. S. 155.
10. v. Haberer, Zur Therapie der Sarkome in den langen Röhrenknochen.
Naturforscher-Versamml. 1905. Meran. Verhandl. II. S. 148.
11. v. Hacker, Verhandl. d. Deutschen Gesellsch. f. Chir. 1908. I. S. 48.
— Ersatz von Schädeldefecten etc. Bruns’ Beiträge. Bd. 37.
12. Katzenstein, Ueber eine Periostknochentransplantation in einem durch
Resection verursachten Femurdefect. Berl. klin. Wochenschr. 1910. No. 14.
S. 619.
13. Kausch, Ueber Knochenersatz. Beiträge zur Transplantation des todten
Knochens. Bruns’ Beiträge. Bd. 58 (1910). Heft 3. S. 670.
14. Klapp, Ueber einen Fall ausgedehnter Knochentransplantation. Deutsche
Zeitschr. f. Chir. Bd. 54.
15. Küttner, Centralbl. f. Chir. 1910. No. 31 (Referat) und Berl. klin.
Wochenschr. 1910. No. 14. S. 651. (Ref. d. Gesellsch. d. vaterl. Cultur
in Breslau, 4. III. 10.)
16. Läwen, Zur Histologie des frei transplantirten periostgedeckten Knochens
beim Menschen. Dieses Archiv. Bd. 90 (1909). S. 469.
17. Lexer, Die Verwendung der freien Knochenplastik nebst Versuchen über
Gelenkversteifung und Gelenktransplantation. Verhandl. d. Deutschen Ge-
sellsch. f. Chir. 1908. II. S. 188. — Ueber Gelenktransplantation.
Ebendas. 1909. II. S. 398.
18. v. Mangold, Uebertragung ungestielter Periostknochenlappen zur Heilung
von Pseudarthrosen und Knochenhöhlen. Verhandl. d. Deutschen Ge¬
sellsch. f. Chir. 1904. II. S. 362.
19. Marchand, Der Process der Wundheilung mit Einschluss der Transplan¬
tation. Deutsche Chirurgie. Lief. 16. S. 487. — Verhandl. d. Deutschen
patholog. Gesellsch. 1899.
20. Nasse, Die Exstirpation der Schulter und ihre Bedeutung für die Behand¬
lung der Sarkome des Humerus. Sammlung klin. Vorträge. Neue Folge.
No. 86. Leipzig 1893.
21. 0liier, Traitti experimental et clinique de la rcgeneration des os et de la
production artific. du tissu osseux. Paris 1867.
22. Sohr, Zur Technik der Schädelplastik. Bruns’ Beiträge. Bd. 55. S. 465.
23. Stieda, Beitrag zur Frage des Verschlusses traumatischer Schädeldefecte.
Dieses Archiv. Bd. 77. Heft 2.
Archiv flir klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4.
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856
Dr. A. Stieda, Beiträge zar freien Knochenplastik.
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24. Streissler, Ueber die Bedeutung der freien Knochentransplantation für die
Wiederherstellung normaler Knochen* und Gelenksfunctionen. Verhandl.
d. Deutschen Gesellsch. f. Chir. 1909. I. S. 233.
25. Sultan, Ueber die Verpflanzung von todten Knochen in indifferente Weich-
theile allein oder in Verbindung mit Periost. Verhandl. d. Deutschen Ge¬
sellsch. f. Chir. 1902. Theil I. S. 56.
26. Tomita, Experimentelle Untersuchungen über Knochentransplantation.
Virchow’s Archiv. Bd. 191. — Ueber Knochentransplantation bei ausge¬
dehntem Continuitätsdefect der langen Röhrenknochen. Deutsche Zeitschr.
f. Chir. Bd. 90.
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XXX.
(Aus der chirurg. Abtheilung des Alt-Ekatherinenkranken-
hauses in Moskau. — Vorstand: Priv.-Doc. P. A. Herzen.)
Ein Fall
von Resection des linken Leberlappens. 1 '
Von
Dr. N. Krön (Moskau).
(Mit 2 Textfiguren.)
Der zu beschreibende Fall bietet vom chirurgischen wie vom
diagnostischen Standpunkte einiges Bemerkenswerthes und scheint
aus dem Grunde der Veröffentlichung werth zu sein.
Die 52jährige Patientin kam am 3. Mai a. c. in die chirurgische Abthei-
lang des Alt-Ekatherinenkrankenhauses. Sie klagte über Schmerzen in der
hypogastrischen Region und Druckgefühl in der Magengegend. Die Schmerzen
hielten mit geringen Unterbrechungen 5 Jahre an. Die letzten 2 Jahre wieder*
holten sich die Schmerzen öfter und wurden heftiger; besonders intensiv spürte
sie dieselben nach dem Essen. In der letzten Zeit verschlechterte sich der Zu¬
stand, so dass sie gar keine Speisen zu sich nehmen konnte. Sie magerte stark
ab. Syphilis wurde negirt. Sie hatte 3 normale Geburten, keine Aborte, doch
starben die Kinder, wie ich erst später erfuhr, im ersten Lebensjahre.
Status praesens: Die Kranke ist mittleren Wuchses, sehr abgemagert.
Die Haut trocken mit ikterischer Verfärbung. Die Fossae jugulares sehr stark
ausgesprochen. In der hypogastrischen Region, zwischen beiden Mamillar-
linien sieht man eine faustgrosse Geschwulst, die dank den rigiden Hautdecken
leicht palpirt werden kann. Die Geschwulst geht in die Lebergrenzen über.
Bewegungen nach rechts und links sind nicht möglich; die obere Hälfte des
Tumors ist beweglich, die untere ist verwachsen; die Consistenz ist hart;
1) Als Vortrag gehalten am 16. November 1910 in der chirurgischen Ge¬
sellschaft zu Moskau.
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Dr. N. Krön,
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der Leberrand glatt. An der Ucbergangsstelle des Tumors auf die Leber fühlt
man eine Einziehung. Die Magenuntersuchung ergab keine freie Salzsäure
und keine Milchsäure. Temperatur normal. Die anderen Organe ohne Be¬
sonderheiten.
Am 3. 5. 10 wird unter Chloroformnarkose und 0,01 Morph, mur. zur
Operation geschritten (P. A. Herzen). Der Schnitt wird in der Mittellinie
vom Proc. xyphoideus bis zweifingerbreit über den Nabel geführt; unten wird
der Schnitt unter rechtem Winkel nach rechts fortgesetzt. Bei Eröffnung der
Bauchhöhle kam die Geschwulst zum Vorschein, die fast den ganzen linken
Leberlappen einnahm; in dem oberen Theile ragte sie über die Leberkuppe
hervor und war glatt, in der unteren Hälfte zeigte die Leberoberfläche und die
Geschwulst mehrere Unebenheiten: neben der grossen Geschwulst fand man an
der unteren Fläche 3—4 kleine Knoten, die ungefähr die Grösse einer Wallnuss
erreichten. Der rechte Leberrand war unverändert und an der ganzen Fläche,
soweit palpirt werden konnte, wurde kein Knoten gefunden. Um den linken
Leberlappen zu befreien, wurden die Lig. falciforme hepatis und trianguläre
durchschnitten. Der linke Leberlappen wurde beweglicher und konnte von
allen Seiten untersucht werden. Da der Tumor sehr gross war und den ganzen
linken Lappen einnahm, so wurde beschlossen, den Lappen zu reseciren. ln
der Fossa umbilicalis wurde eine federnde Klemme leicht angelegt. 1 cm von
der Geschwulst, im normalen Gewebe, wurden Matratzennähte aus starkem
Catgut mit einer gewöhnlichen spitzen Nadel durch das Leberparenchym ge¬
führt. Die Fäden wurden allmählich und vorsichtig angezogen, ohne das
Parenchym zu durchschneiden, und die Geschwulst angeschnitten. Vorn und
unten musste man auf den rechten Lappen, 1 cm vom Lig. teres hepaiis auf
den Lotus quadratus übergehen; hinten unten wurden die Nähte an der me¬
dialen Seite des Lfg. falciforme hepatis angelegt. Die Geschwulst wurde mit
dem Anlegen der Nähte in das Parenchym der Leber schrittweise resecirt. Die
geringe Blutung wurde zum Theil durch Compression, zum Theil durch Liga¬
turen gestillt. Auf die Leberw’undc wurde ein Gazestreifen gelegt. Die Haut¬
wunde wurde geschlossen, mit Ausnahme einer kleinen OefTnung für den Gaze¬
streifen. Am 5. 5. Entfernung des Gazestreifens. Die.Wunde ist rein; die
Secretion sehr gering. Am 11.5. werden die Nähte entfernt; Heilung per
primam intentionem. Am 1. 6. wurde die Patientin geheilt entlassen.
Am 11. 10. zeigte sich die Patientin wieder. — Auf dem Abdomen sieht
man eine gut geheilte rechtwinklige Narbe. Bei der Palpation fühlt man den
normalen, nicht vergrösserten glatten Hand der rechten Leber; an der Stelle
des linken resecirten Lappens erhält man einen tympanitischen Schall. Die
Kranke äusserte siel), dass sic sich so gut fühlt, als wenn sie früher nie krank
gewesen wäre.
Die exstiipirte Geschwulst ist 14 cm lang, 11 cm breit, 7 cm hoch und
wiegt ungefähr 300 g.
Im Durchschnitt (Fig. 1) stellt die Geschwulst eine homogene Masse dar,
durch welche bindegewebige sklerosirtc Stränge in sehr unregelmässiger Form
ziehen und das Bild einer Landkarte Vortäuschen. Die Farbe derselben ist
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Ein Fall von Uesection des linken Leberlappens.
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gelbgrau. Die Consistenz ist hart. An beiden Rändern rechts und links sieht
man noch Lebergewebe.
Das mikroskopische Bild aus verschiedenen Stellen der Geschwulst
ergab Folgendes: Die Geschwulst ist von einer breiten sklerosirten bindegewe¬
bigen Kapsel umgeben, in welcher zerstreut kleine runde Zellen, Capillaren und
Fig. 1.
Durchschnitt des resecirten linken Lcberlappens, welcher von einem Gumma
vollständig eingenommen war.
Gallengänge liegen (Perihepatitis). Von der Kapsel ziehen in das homogene
Gewebe Stränge von gleichem Bau, jedoch mit stark erweiterten Gallengängen.
Die Stränge theilen die Geschwulst in kleine runde und halbrunde Räume. In
der homogenen Masse der Geschwulst kann man drei Schichten unterscheiden:
die centrale Schicht stellt eine structurlose Masse dar, in der gar keine Zellen¬
elemente zu sehen sind, man findet hier in verschiedener Richtung zerstreut
vereinzelte bindegewebige Fibrillen; die zweite Schicht besteht aus Resten von
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Dr. N. Krön,
Zellen, degenerirten Kernen, die sich kaum färben und eine gesetzmässige An¬
ordnung in Form von Guirlanden besitzen; bei der Sudanfärbung werden nur
diese Stellen körnig gefärbt, — hier findet man auoh viele Lacunen. Die dritte
äusserste Schicht ist sehr schmal und auch homogen; hier liegen zerstreut
Kerne, die sich gut färben. Weiter folgen die erwähnten bindegewebigen
Stränge, die im Inneren der Geschwulst keine Besonderheiten aufweisen, doch
mehr zur Peripherie, an der Grenze des Lebergewebes findet man in den
Strängen kleinzellige Infiltrationen, theils diffus zerstreut, theils in Form von
einzelnen, scharf begrenzten Haufen; die Gefässe sind hier stark entwickelt
und verändert, insbesondere die Intima und Media. Die kleinzellige Infiltration
concentrirt sioh nicht nur um Gefässe, sondern auch um Gallengänge, von
denen viele neugebildet sind. Von den Zellenelementen findet man im Präpa¬
rate selten Riesenzellen, viele Zellen mit kleinen runden Kernen und wenig
Protoplasma, die sich gut färben; ausserdem sieht man Zellen mit sehr grossen
Kernen, die scharfeConturen und Nucleolen besitzen und eine Menge länglicher
Zellen verschiedener Gestalt, die sich schwach färben.
Was das Lebergewebe anbelangt, welches an der Grenze der Geschwulst
liegt, so ist seine Structur gar nicht erkonnbar; stellenweise findet man Leber-
zollenbalken mit degenerirten Zellen, die mit solchen aus normalen und regene-
rirten Zellen alterniren; zwischen ihnen liegen bindegewebige Fibrillen und
stark erweiterte Lymphräume. Neugebildete Gallengänge findet man zerstreut
zwischen den Leberzellenbalken, deren Zellen sich gut färben.
Somit haben wir es hier zu thun mit einem alten Gumma, mit einer Peri¬
hepatitis und interstitiellen Hepatitis, die zum Theil in einer Atrophie und
Degeneration, zum Tbeil in einer Regeneration der Leberzellen sich äussert.
Absichtlich beschrieb ich so ausführlich das mikroskopische Bild der
gummösen Geschwulst und ihrer Zellen, da in der Literatur noch ein Streit
herrscht zwischen den primären und secundären Erscheinungen der verschie¬
denen Stellen, ob die Atrophie oder die Regeneration das Primäre ist.
Die Diagnose der Lebergeschwülste gehört zu den schwierigen
Aufgaben des Arztes. Nicht selten erkannten berühmte Chirurgen
ihre diagnostischen Fehler auf dem Operationstische. Jen ekel
(an der Braun’schen Klinik) widmet in seiner Arbeit ein ganzes
Capitel denjenigen Operationen an der Leber, bei welchen eine
Geschwulst vermuthet wurde; doch handelte es sich dabei in zwei
Fällen um eine Schnürleber, in den anderen um Stauungsleber
(3 Fälle). Aus dem Grunde greifen auch viele Chirurgen zu einer
Probelaparotomie. Auf dem Internationalen Congresse in Brüssel
(1908) räth Payr bei Verdacht auf einen Lebertumor, so rasch
als möglich eine Laparotomie auszuführen, da die malignen Ge¬
schwülste zu spät in die Hände der Chirurgen gelangen, und ge¬
wöhnlich die antisyphilitische Behandlung aus diagnostischen
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Ein Fall von Resection des linken Leberlappens.
861
Gründen die Operation verzögert. Payr spricht sich sogar für
eine Operation benigner Geschwülste aus im Falle ihres schnellen
Wachsthums und heftiger Schmerzen, die sie den Patienten ver¬
ursachen.
Payr’s Vorschlag scheint sehr berechtigt zu sein, insbesondere
wenn man in Betracht zieht, dass es ganz unmöglich ist, klinisch
den Charakter der Geschwulst zu eruiren. In den 47 Fällen von
Lebersyphilis, die ich in der Literatur sammelte (die meinen sind
hier eingeschlossen), wurde die Diagnose kein Mal gestellt. Es ist
interessant, mit welchen diagnostischen Vermuthungen man zur
Operation schritt: einige, wie auch wir, vermutheten eine maligne
Geschwulst, die anderen einen Abscess oder Echinococcus der
Leber oder Erkrankungen der Gallengänge und der Gallenblase;
mehrmals stand man vor der Frage, ob es eine Geschwulst
der Leber oder der Niere sei (Trinkler, Spencer, König);
mehrere konnten nicht feststellen, ob es sich um einen Tumor der
Leber oder des Magens handelte (Lequeur, Jenkel); Cumston
dachte ein Ulcus duodeni, Schmidt einen Krebs oder Tuber¬
eulose des Colon transversum vor sich zu haben. Beachtenswerth
sind die Fälle von Wlasof und Jenkel. Der Letzte beschreibt
die Krankengeschichte eines 15jährigen Mädchens, welches mehrere
Jahre über Schmerzen im Hypogastrium klagte und an Ascites
litt. Mehrmals wurde sie wegen des Ascites operirt. Das erste Mal
begnügte sich Jenckel mit einer Laparotomie, da die ausgebreiteten
Adhäsionen einen weiteren Eingriff nicht zuliessen. Der Ascites
sammelte sich wieder an, es wurde die Talma’sche Operation
gemacht, — doch resultatlos — nach 3 Wochen punctirte man
6 Liter Flüssigkeit. Erst auf dem Sectionstische wurde eine
schwere Form von Lebersyphilis mit vielen Gummata festgestellt.
Wlasof’s Patient spürte Schmerzen und ein Gefühl der Schwere
in der linken Seite (Tumor lienis). Ascites war ausgesprochen.
Im Blute wurde nichts Abnormes gefunden. Die Leber war ver-
grössert, der Rand glatt. Wlasof schloss eine Neubildung, die
Laeunec’sche Cirrhose, die biliäre Cirrhose von Hanot aus, und
stellte die Diagnose „Cirrhose mixte“. Resultatlos war die
Talma’sche Operation. Der Patient starb an einer Blutung.
Die Section ergab eine Hepatitis gummosa. Die diagnostischen
Fehler in beiden Fällen werden erklärlich, wenn man in Betracht
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862
Dr. N. Krön,
zieht, dass von den 47 Fällen nur 8 mal Ascites (16 pCt.) und
3 mal ein Milztumor beobachtet wurde. Und wirklich die Sympto¬
matologie der Lebergeschwülste, insbesondere der Lebergummata.
ist ganz im Dunkeln. Die Symptomatologie der gummösen Pro-
cesse in der Leber besitzt gar keine objectiven Anhaltspunkte.
Allgemeine Klagen unbestimmten Charakters, sehr oft ein jegliches
Fehlen beweisender Veränderungen in der Leber (Klemperer.
Lippmann, Reyer, Treumann) verschleiern oft vollständig das
Bild der Krankheit. Meistentheils kann man eine erhebliche
Lebervergrösserung mit Narben auf weisendem stumpfem Rand pal-
piren oder nur eine grosse Geschwulst feststellen, die mit der
Athmung sich bewegt. Oft ist das Gumma der Leber nur durch
einen dünnen Stiel mit der Leber verbunden (Neumann, Lequeur.
Bastianelli, Tricomi, Schmidt, Cumston); in solchem Falle
ist die Diagnose sehr schwer, und es ist sehr erklärlich, dass hier
Verwechselungen mit Tumoren anderer Organe Vorkommen. Beim
Lesen der Krankengeschichten aus der Literatur fiel es mir auf.
dass die Kranken zum Arzte kommen mit der einzigen Klage, sie
hätten in der Magengegend einen dumpfen oder heftigen Schmerz,
welcher gewöhnlich nach dem Essen sich verstärkt (König,
Keen, unser Fall). Vielleicht wird dieses Symptom bei grösserer
Aufmerksamkeit in Zukunft irgend welche nähere Anhaltspunkte
für die Diagnose liefern. In Folge der Vielseitigkeit und Unbeständig¬
keit der erwähnten Symptome ist die Diagnose eines Lebergummas
sehr schwierig, um so mehr da die Kranken meist Syphilis negiren.
und in den Krankengeschichten objective Symptome sehr selten
verzeichnet werden. In den 47 Fällen meiner Statistik wurde nur
5 mal auf Syphilis hingewiesen. Es ist interessant, dass die in
diesen Fällen angewandte antisyphilitische Behandlung gar keine
Erfolge zeigte, so dass man zur Operation schreiten musste.
Roberts machte eine Probelaparotomie, konnte aber die Ge¬
schwulst wegen ihrer Grösse nicht entfernen (sie reichte bis zum
Os ilei). Lilicnthal, Mikulicz, Trinkler kratzten die Ge¬
schwulst mit einem scharfen Löffel aus. Thompson exstirpirte
eine solche, trotzdem in der Anamnese Lues vorhanden war.
Der Umstand, dass wir bei diesen Patienten objective Zeichen
von Lues selten finden, erschwert noch mehr die Differential¬
diagnose zwischen Erkrankungen der rechten Hälfte des Abdomens
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Ein Fall von Resection des linken Leberlappens.
863
(z. ß. Carcinom, Abscess, Echinococcus der Leber, Nierengeschwulst.
Erkrankungen der Gallengänge, des Colon u. s. w.). Das Gumma
kann oft ebenso schnell wachsen und nimmt ebensolche unregel¬
mässige Contouren an, wie das Carcinom; jedoch scheint die Leber
beim Carcinom meistentheils grösser zu sein als bei Syphilis
(Cumston u. A.). Was die Kachexie betrifft, so ist auch dieses
Symptom sehr trügerisch, da bei der Lebersyphilis die Abmagerung
und Verlust an Gewicht die Hauptmerkmale sein können [Lequeur,
Thompson, Schmidt, Mac Laren, Cumston (4 Fälle)]. Wegen
solcher Schwierigkeiten bei der Diagnosenstellung eines Leber¬
gummas sprachen sich die meisten Autoren für eine Probe¬
laparotomie aus.
Was soll mit der Geschwulst geschehen? Die Ansichten
der Autoren gehen hier sehr auseinander. Jenkel und Körte
sind der Meinung, dass eine Operation bei gummösen Processen
der Leber nicht indicirt sei; Bergmann räth, die Operation zu
unterbrechen, wenn während derselben deutlich wird, dass die
Veränderungen in der Leber ein Product der Lebersyphilis sind.
König will in solchen Fällen nur von Fall zu Fall entscheiden.
In der letzten Zeit schreiten viele Chirurgen zur Operation, wenn
die Geschwulst auf einem Stiel sitzt oder dieselbe grosse
Dimensionen annimmt und die antisyphilitische Behandlung nicht
zur Resorption der Geschwulst führt (Trinkler, Cumston,
W. Keen, Mac Laren u. A.). Die letzten Erwägungen scheinen
aus verschiedenen Gründen am zweckmässigsten zu sein. In einigen
Fällen führt die antisyphilitische Behandlung zu gar keinen Resul¬
taten; so in den Fällen von Mikulicz, Trinkler, Roberts u. A.
Hochenegg’s Fall zeigt uns deutlich die irrthümliche Vorsicht
vor einem operativen Eingriff bei einer Lebergeschwulst, um eine
antisyphilitische Behandlung aus diagnostischen Gründen einzu¬
leiten; als der krebsige Charakter der Geschwulst erkannt war,
war die Operation zu spät. Wie tragisch für den Kranken
gummöse Processe in der Leber sein können, lehrt uns der Fall
von Galvagni, in welchem ein Gumma durch Erweichung im
Durchbruch gegen die ßauchdeckcn begriffen war, während ein
zweites, wie die Section ergab, von der Leber ausgehend, das
Diaphragma durchbrochen hatte, so dass eine Communication
zwischen Leber und Lunge geschaffen wurde. In vivo fand sich
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Dr. N. Krön,
dementsprechend im Sputum Gallenpigment. Ausser den ange¬
führten Erwägungen, die den Chirurgen veranlassen zur Operation
zu greifen, muss noch erwähnt werden, dass die Gummata manch¬
mal so grosse Dimensionen erreichen, so hart sklerosirt sind, da^s
eine Resorption fast garnicht zu erwarten ist und die antisyphiliii-
sche Behandlung resultatlos bleibt. Viele Chirurgen mussten m
einzelnen Fällen die Operation eines gummösen Processes der Leber
nur aus dem Grunde unterlassen, weil dieselbe unmöglich war.
So wurde von den 47 Fällen meiner Statistik nur 19 mal reseciri:
19 mal wurde eine Probelaparotomie gemacht, man konnte aber in
11 Fällen nicht operiren, da die ganze Leber mit Gummata be¬
setzt war (Trinkler, Mac Laren, Cumston, Abb6, Lilienthal.
König), in 2 Fällen wegen der colossalen Grösse der Geschwulst
(Jenckcl), in einem Falle reichte die Geschwulst bis in’s kleine
Becken (Roberts). Cumston und Spencer mussten sich mit
einem Bauchschnitt begnügen, der erste wegen sehr starker Ad¬
häsionen, der zweite wegen der Schwäche des Patienten: und nur
3 mal wurde die Operation unterbrochen, weil die syphilitische
Natur der Geschwulst erkannt wurde (Trinkler, Jenckel). Zu
den 19 Resectionen will ich noch 7 Fälle von erweichten Gummata
hinzufügen, bei denen chirurgisch eingegriffen wurde; entweder
wurde die erweichte Masse mit einem scharfen Löffel entfernt
(Lilienthal, Mikulicz) oder es wurde ein kreuzförmiger Schnitt
in den Tumor gemacht mit nachfolgender Auskratzung (Spencer
(2 Fälle), Parker]. Jenckel, der sich scharf gegen einen chirur¬
gischen Eingriff bei Lebergummata ausspricht, punctirte die Ge¬
schwulst, ein anderes Mal bemerkte er, dass „von einer Exstirpation
des Tumors wegen ihrer grossen Ausdehnung Abstand genommen
wurde“.
Die Methode der Entfernung spielt, meiner Meinung nach,
keine Rolle, die Hauptsache besteht darin, dass man auf diese
oder jene Art den Tumor entfernt und somit den Kranken von
den Folgen rettet, die Galvagni beschrieben hat. Somit sehen
wir aus unserer Statistik, dass von 47 Fällen 26 mal (19 -f d
die Geschwulst entfernt wurde, was 55,3 pCt. ausmacht, in den
anderen Fällen wurde eine Probelaparotomie gemacht und die
Operation wegen der diffus gummösen Ausbreitung oder aus anderen
schon erwähnten Gründen unterbrochen.
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Ein Fall von Resection des linken Leberlappens.
865
Soll die Geschwulst entfernt werden?
Meiner Meinung nach wird man sich gegenwärtig an folgende
Regel halten müssen: Man wird sich mit einer Probe¬
laparotomie in dem Falle begnügen müssen, wenn die
ganze Leber mit kleinen Gummiknoten bedeckt ist (die
Meinung wird von allen Autoren vertheidigt); die Geschwulst
soll entfernt werden, wenn ausser der Geschwulst
keine Dissemination von Gumraiknoten vorhanden ist,
wenn die Geschwulst gross ist, dem Patienten Schmer¬
zen verursacht und eine Resorption nicht vorauszu¬
sehen ist.
Jetzt, wo die Technik der Operation zum grössten Theile aus¬
gearbeitet ist, hat man sich nicht vor den Complicationen zu
fürchten, mit denen man früher zu kämpfen hatte, z. B. primären
oder secundären Blutungen, Luftembolien, Gallenfisteln u. s. w. Und
wirklich, wenn wir die Statistik verschiedener Autoren betrachten,
die die Fälle von operativen Eingriffen in die Leber sammelten,
so finden wir, dass der Procentsatz der Todesfälle nicht gross
ist: von 74 Fällen, die Keen gesammelt hatte, starben 11 =
14,9 pCt. Von den 38 Fällen der Statistik von Terrier und
Auvray starben 6 = 15,9 pCt. Von den 47 Fällen meiner
Statistik starben 5 — 10,0 pCt; von diesen starb 1 an Septikämie,
2 an Verblutung und Herzschwäche (Wagner, Wlasof), 1 an
Luftembolie (Keen).
Was die Technik des operativen Eingriffs an der Leber be¬
trifft, so kann man jetzt behaupten, dass man an der Leber ebenso
operiren kann, wie an anderen parenchymatösen Organen; unser
Fall liefert einen weiteren Beweis dafür. In diesem Falle wurde
1 cm von der Geschwulst im normalen Lebergewebe eine Reihe
gewöhnlicher Nähte gelegt; das Parenchym wurde dann einge¬
schnitten und der Stumpf mit einer fortlaufenden Catgutnaht und
einer gewöhnlichen scharfen Nadel zusaramengezogen, dabei wurde
der Faden allmählich und nicht stark angezogen, im Gegensatz
zu Kusnezof und Pensky, die eine stumpfe Nadel benutzten
und den Faden stark angezogen hatten, um absichtlich das
Parenchym zu durchschneiden. In unserem Falle gelang die
Resection sehr gut, die Blutung war minimal; man hatte nur
zwei Ligaturen anzulegen. In solchen Fällen ist die Hilfe
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866
Dr. N. Krön,
eines Assistenten nothwendig, der zur rechten Zeit die einge¬
schnittene Leberfläche tamponiren muss, ohne den Operateur beim
Lösen der Geschwulst und bei der Unterbindung des Stumpfes zu
stören.
Dass man bei einer partiellen Leberresection mit sehr wenigen
Gefässen zu thun hat, davon können wir uns bei der Betrachtung
• einer injicirten Leber leicht überzeugen. Ich injicirte die Arterien
einer Leber mit einer Wismuthmasse und machte drei Röntgen¬
aufnahmen dieser Leber, von oben nach unten, von unten nach
oben und in seitlicher Richtung. Auf diesen Röntgenbildern sieht
man deutlich die Verzweigung der Gefasse in Form von Segmenten:
in dem rechten Lappen sieht man drei solcher Segmente. In dem
linken Lappen ist das Gefässnetz reicher, doch kann man auch
hier zwei Segmente deutlich unterscheiden. Die Gefässe des linken
Lappens sind von den Gefässen des rechten vollständig getrennt:
daraus kann man aber den Schluss ziehen, dass die Operation
eines Lappens leicht möglich ist, ohne dass die Ernährung des
anderen zu leiden hat. Nach dem beigefügten Bilde (Fig. 2) zu
urtheilen, scheint der Fall von Wakasugi auch eine Erklärung zu
Anden; Wakasugi beobachtete bei der Section einer Leberver¬
letzung eine keilförmige Nekrose des Leberparenchyms. Er meint
damit beweisen zu können, dass die Rami parenchymatosi End¬
arterien sind. Ob Wakasugi’s Ansicht richtig ist, kann ich
augenblicklich, wo experimentelle Beweise noch fehlen, nicht sagen:
doch aus der Verzweigung der Lebergefässe, wie es meine Röntgeno¬
gramme zeigen, glaube ich, dass seine Meinung eine grössere Auf¬
merksamkeit verdient.
Was die Technik der Lebernaht anbelangt, so ist die Zahl der
Methoden in der Literatur sehr gross. Der erste chirurgische Ein¬
griff wurde von Bruns im Jahre 1888 ausgeführt; in dem Falle
hing die Geschwulst an einem Stiele, um welchen eine Ligatur
gelegt wurde. Es würde zu weit führen, alle Methoden von Stiel¬
operation aufzuzählen; es giebt viele Vorschläge von Bruns,
Doyen, Bergmann, Riedel, extra- und intraperitoneale Me¬
thoden. Ich werde mich mehr an unseren Fall halten und von
der Exstirpation einer Geschwulst mit gleichzeitiger partieller Re-
section der Leber sprechen. Alle Methoden erstreben eine voll¬
ständige Blutstillung. Früher dachte man, dass man dies mit
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868
Dr. N. Krön,
zu verhüten, wurden Fremdkörper verwendet in Form von Jode-
formgaze (Albert), Fischbein, Elfenbein oder decalcinirtem Knochen
(Cecherelli und Bianchi, Segale), Magnesiumstreifen (Payr.
Im Jahre 1896 veröffentlichten in der Revue de Chirurgie Kusnezof
und Pensky eine neue Methode der intrahepatischen Ligatur; doch
fand das Verfahren keine Annahme und Langen buch prophezeit''
ihm keine Zukunft. Und wirklich, man begann die Methode von
Cecherelli u. Bianchi zu ändern, indem für die Fremdkörper
leicht resorbirbare Stoffe gesucht wurden. Beck benutzte einen
Lappen aus der Wunde, welcher aus Peritoneum, Fascie und Muskel
bestand und an einem Ende mit der Wunde in Zusammenhang
blieb. Der Lappen wurde auf die Leberfläche gelegt und durch
ihn wurden die Nähte geführt. Der Nachtheil dieser Methode be¬
steht in der schwierigen Technik und der Dauer der Operation.
Aus dem Grunde suchte man lange nach anderen Methoden, doch
kam man bald wieder zum Verfahren von Kusnezof und Pensky
zurück. Das Verdienst dieser Verfasser bestand darin, dass sie
eine stumpfe Nadel in die Leberchirurgie einführten und Ligaturen
an den grösseren Gefässen anlegten, ohne einen Fremdkörper zu
benutzen. Sie führten in kurzen Abständen durch das Lebergewebe
einen doppelten Faden und knoteten denselben bis zum Zer¬
reissen des Gewebes in einer ganz bestimmten Art und Weise.
Terrier u. Auvray, die experimentell das Verfahren revidirten.
modificirtcn es etwas. Sie benutzten keinen doppelten, sondern
einen gewöhnlichen Faden, den sie nach Art einer Nähmaschinen¬
naht durch das Lebergewebe führten. In der letzten Zeit wurde
die intrahepatische Ligatur von mehreren Autoren befürwortet (An¬
schütz u. A.). Obgleich die letzten Autoren uns gezeigt haben,
dass man eine Blutstillung der Leber mit einfachen Nähten ohne
Fremdkörper erreichen kann, ging man trotzdem bald ab von dem
Verfahren, die Fäden stark anzuziehen. So empfiehlt Walter
U-förmige Nähte dachziegelartig anzulegen, Tuffier u. Ricard
einfache Knopfnähte: dabei empfehlen sie, den Faden langsam und
kräftig, aber nicht bis zum Durchquetschen des Gewebes anzu¬
ziehen. Unser Fall kann als Bestätigung der letzten Me¬
thode dienen und zeigt uns deutlich, dass man ander
Leber ebenso operiren kann, wie an den anderen paren¬
chymatösen Organen, und glaube ich, dass man auch die neueren
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Ein Fall von Resection des linken Leberlappeus.
869
Methoden wird entbehren können, wie z. ß. die Loewi’sche Me¬
thode der isolirten Netzplastik, welche von ßoljarski wiederum
experimentell untersucht und empfohlen wird.
Literatur.
W. Anse hü tz, Beiträge zur Leberreseotion. Dieses Archiv. 1907. Bd. 84.
Ch. Cumston, Eine kurze Betrachtung der Lebersyphilis vom chirurgischen
Standpunkte. Dieses Archiv. 1903. Bd. 70.
Beck, Surgery of the liver. Journ. of the americ. assoc. April 1902. Ref. im
Centralbl. f. Chir. No. 33. S. 873.
G. J. Gurewitsch, Ueber die Degeneration und Nekrose des Leberparenchyms
bei Syphilis. Wjenno-medizinsky Journ. 1907. No. 219.
Galvagni, La sifilide nel fegato dell’ adulto. Clinica med. No. 16—17.
Jenckel, Beiträge zur Chirurgie der Leber. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1908.
Bd. 96.
W. W. Keen, Report of case of resection of the liver for the removal of a
neoplasm. Annals of surgery. 1899. Vol. 30.
Kusnezof u. Pensky, Sur la resection partielle du foie. Revue de chir.
1896. No. 16. Ljetopis russkoi Chirurg. 1901.
A. Mac-Laren, Note on Syphilis of the liver. Annals of surgery. Aug.1908.
Ferrier et Auvray, Les tumeurs du foie. Revue de chir. 1898.
Trinkler, Ueber Syphilis visceralis u. s. w. Mittheil, aus den Grenzgebieten.
Bd. 10. No. 5.
Thompson, The surgical treatment of neoplasm of the liver. Annals of
surgery. Vol. 30.
Wakasugi, Zur pathologischen Anatomie der Stiohverletzungen der Leber.
Berliner klin. Wochensohr. 1910. No. 17.
Walther, Sur la suturo du foie. Bullet, et mdm. de la soci&6 de Chirurg.
1908. T. 6.
N. ßoljarski, Klinische u. erperimentelle Erfahrungen über Leberverletzungen
und Netzplastik. Dieses Archiv. 1910. Bd. 93. H. 2.
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XXXI.
(Aus der chir. Abtheilung des Gouvernementskrankenhauses
zu Smolensk. — Vorstand: Dr. S. Spassokukotzky.)
Die Dauererfolge der Magenoperationen
bei gutartigen Erkrankungen.
Von
Dr. J. Galpern,
früherem Assistenten der Abthcilung.
Die Gesammtzahl der im SmolenskschenGouvernementskrankcn-
hause (1899—1908) ausgeführten Operationen beträgt 179. Wenn
man von dieser Zahl diejenigen Operationen ausschliesst, welch'
gleichzeitig mit einer anderen, oder als ergänzende in den nächst¬
folgenden Tagen gemacht wurden (Gastrotomia, Pyloroplastik.
Enteroanastomosis — im Ganzen 4), so bleiben 175 Operationen,
von denen 7 einen tödtlichen Ausgang hatten.
Allgemeine Mortalität 4 pCt.
Wenn wir diese Ziffer genauer nach dem Charakter der
Erkrankungen betrachten und hiervon 5 Operationen aussehliessen.
welche wegen Durchbruchs des Geschwürs ausgeführt wurden, >"
bleiben 170 Operationen mit 6 tödtlichen Ausgängen: Die Morta¬
lität ist bei allen Operationen, ausser bei den Gesehwür>-
perforationen, 3,5 pCt.; 5 Geschwürsperforationen mit einem
tödtlichen Ausgange ergaben 20 pCt. Mortalität.
Nach der Art der Operationen kann man die 175 fälle
in 3 Gruppen eintheilen:
I. Alle Operationen ausser Magenresection (175—12) = Hw
mit 5 tödtlichen Ausgängen; die Mortalität ist gleich 3,00 pCt.
Wenn wir einen Todesfall nach Geschwürsperforation aus-
sehliessen, so sinkt die Mortalität bis auf 2,5 pCt.
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Die Dauererfolge der Magenoper&tionen bei gutartigen Erkrankungen. 871
II. 12 Magenresectionen, 2 Todesfälle; Mortalität 16,6 pCt.
III. Von allen 151 Magendarmanastomosen starben 3; die
Mortalität beträgt 2 pCt.
Die Ursachen der tödtlichen Ausgänge sind folgende: 2 starben
nach Geschwürsexcisionen auf der Curvatura min. an
Peritonitis; 3 tödtliche Ausgänge nach Gastroenterostomie:
im ersten Falle infolge Ileus, welcher während der Operation nicht
bemerkt worden war, im zweiten an Peritonitis infolge Geschwürs¬
perforation und im dritten an Herzschlag; nach Gastrostomie
an Erschöpfung; nach Laparotomie wegen Geschwürsperforation
an Peritonitis.
Es gelang mir, bei 128 Kranken von 160, welche das Kranken¬
haus nach der Operation verlassen hatten, Dauererfolge festzu¬
stellen:
Untersucht im Smolenskschen Krankenhause ... 22
_ von Kreisärzten am Wohnorte der Kranken 38
Mittheilung von Feldscherern.30
v „ Geistlichen.3
„ „ Kreisschullehrern.2
Briefliche Antworten von Kranken selbst erhalten . 33
Im Ganzen . . .128
Nach den in der Literatur bekannten Ergebnissen zu urtheilen,
war nur ein Theil der Kliniken, die ihre Beobachtungen veröffent¬
licht haben, so glücklich, dass sie die Untersuchungen aller Kran¬
ken, welche auf schriftliche Aufforderung erschienen oder von ihren
eigenen Aerzten am Wohnorte der Kranken selbst besichtigt worden
waren, vornehmen konnten.
Eben diese Kliniken haben überaus werthvolle Ergebnisse über
functionelle Resultate der Magenperforationen veröffentlicht.
Meistentheils bedienten sich auch andere Anstalten des schrift¬
lichen Befragens der Kranken.
Unser Fragezettel ist auf folgende Weise zusammengestellt:
No. . . Familienname.
Sie wurden im Smolenskschen Gouvernementskrankenhause im Jahre . . .
operirt. Antworten Sie, bitte, sofort auf alle Fragen auf der unbeschriebenen
Seite dieses Blattes, legen Sie dasselbe in den beigelegten Briefumschlag und
sohicken Sie den Brief per Post ab.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4.
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872
Dr. J. Galpern,
1. Wie fühlen Sie sich nach der Operation, fühlen Sie sich ganz gesund?
2. Wenn die Krankheit nach der Operation wiederkana, so berichten Sie
genau, wann die ersten Erscheinungen aufiraten.
3. Sind Sie arbeitsfähig?
4. Sind Sie mager geworden oder haben Sie zugenommen?
5. Haben Sie nach dem Essen Schmerzen?
6. Haben Sie Erbrechen?
7. Was erbrechen Sie, und wie oft stellt sich das Erbrechen ein?
8. Hatten Sie nach der Operation Bluterbrechen?
9. Wann hatten Sie in diesem Falle Bluterbrechen?
10. Können Sie jegliche Kost essen?
11. Wenn das nicht der Fall ist, so halten Sie welche Speisen für schädlich?
Was für Speisen meiden Sie?
Als ich diesen Fragezettel zusammenstellte, machte ich mir
zur Aufgabe, die einfachsten Fragen zu stellen, damit die Beant¬
wortung derselben auch unseren, grösstentheils noch wenig schrift¬
kundigen Kranken ermöglicht werde. Zugleich wollte ich, dass
alle Antworten zusammengefasst ein klares Bild von dem Befinden
des Kranken, seiner Arbeitsfähigkeit und seiner Ernährung darböten.
Mit der Frage No. 2 bezweckte ich, festzustellen, was für ein
Minimum an Zeit bei den meisten Fällen zur Schätzung von Dauer¬
erfolgen nothwendig ist.
Nach der Zeitdauer der Beobachtung vertheilen sich die Kranken
auf folgende Weise:
Bis zu 1 Jahre
... 4
Von 1—2 Jahren
... 34
* 2-3
n
... 23
* 3-4
r»
... 30
t. 4-5
T
... 10
V
... 6
A 6-7
... 13
7—8
n
... 5
A 8-9
T
... 3
Im Ganzen
128
Die Dauererfolge wurden auf dreifache Weise abgeschätzt: mit
der Censurnummer 5, wenn das Resultat tadellos ist; mit der
Censurnuramer 3, wenn eine bemerkenswerthe Besserung eintritt.
wenn der Kranke nach der Operation wieder arbeitsfähig wird,
wenn die Krankheitssymptome im Vergleich zu den früheren un¬
bedeutend sind (zeitweise Schmerzen oder in seltenen Fällen Er-
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 873
brechen nach sehr grober Kost), wenn der Kranke sich zufrieden¬
gestellt fühlt, aber hoch einige Vorsicht in der Auswahl seiner
Kost beobachtet; endlich mit der Censurnummer 1, wenn der Zu¬
stand des Kranken derselbe geblieben ist, oder wenn er sich nur
wenig von dem Zustand vor der Operation unterscheidet.
Mit der Censurnummer 5 sind zwei Verstorbene — No. 49
und No. 120 — bezeichnet; No. 49 starb (Brief eines Arztes) nach
5 Jahren und 1 Monat an acuter Lungenentzündung; was den
Magen betrifft, fühlte er sich vollkommen gesund. Der zweite
starb 2 Jahre nach der Operation mit 58 Jahren. Er war Vieh¬
hirt und ass die gewöhnliche Arbeiterkost. An dem Tage seines
Todes trieb er, wie gewöhnlich, das Vieh aufs Feld. Von dort
wurde er bewusstlos zurückgebracht und starb am selben Tage.
Möglich, dass die Todesursache Apoplexia cerebri war.
Unter 28 Kranken, bei denen der Dauererfolg der Operation mit
der Censurnummer 1 bezeichnet ist, sind 9 Verstorbene; von diesen
konnten bei 5 Kranken mehr oder weniger bestimmte Anzeichen
von Magenerkrankung als Todesursache festgestellt werden; einer
(No. 159) starb nach l Monat an Blutsturz „aus der Kehle“
(Lungen- oder Magenblutung?). Er hatte ausser einem Magen¬
geschwür Lungen- und Bauchfelltuberculose; zwei (No. 99 und
No. 150) starben an Schwindsucht, der erste 1 Jahr nach der
Operation an Phthisis florida (Brief eines Arztes), der zweite ein
halbes Jahr nach der Operation. Schliesslich starb einer (No. 20)
nach 5 Jahren 1 Monat an einer „unbekannten“ Krankheit. Unter
die mit Censurnummer 1 bezeichneten kommen 3 wegen Verenge¬
rung der Anastomose zum zweiten Mal Operirten, bei denen der
Dauererfolg der zweiten Operation beim Befragen ein ausge¬
zeichneter war: bei No. 31 nach 3 Jahren 9 Monaten, bei No. 41
nach 4 Jahren 5 Monaten, bei No. 46 nach 2 1 /, Jahren (letzterer starb
nach 2 1 /* Jahren an Lungentuberculose, während der Magen vorzüg¬
lich functionirte). Hierher gehört auch No. 79, bei welchem 4 Monate
nach einer misslungenen Gastroduodenostomie die Gastroenterostomie
mit vortrefflichem Erfolge ausgeführt wurde (beobachtet 2 Jahre
6 Monate). Das Minimum der Beobachtungszeit, welche zur Schätzung
von Dauererfolgen nöthig ist, schwankt in der diesbezüglichen Lite¬
ratur in ziemlich grossen Grenzen von 6 Monaten (Schulz) bis zu
IV 2 Jahren (Bamberger) und sogar bis zu 2 Jahren (Westphalen).
Ö7»
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874
Dr. J. Galpern,
Beim Durchsehen von 58 Krankheitsgeschichten, bei weleheo
der Dauererfolg die Censurnummer 3 oder 1 ergab, fand ich in
49 Fällen Hinweise auf den Zeitpunkt des Auftretens eines Rück¬
falls der Krankheit oder des Auftauchens solch unbedeutender Er¬
scheinungen, dass die Schätzung mit Censurnummer 3 und nicht 5
erfolgte. — Von 49 Fällen:
im 1. Jahre naob der Operation
o
77 *' 77 77 77 77
Q
77 77 77 77 77
4
77 77 77 77 77
7
77 * * 77 77 77 77
Es ergiebt sich daraus, dass 77 pCt. Rückfälle oder unbedeu¬
tende Störungen schon im Laufe des ersten Jahres auftraten. Von
7 Rückfällen im 9. Jahre traten 6 im Laufe der ersten Hälfte des
zweiten Jahres auf. Folglich wurden 44 Rückfalle von 49, d. h.
gegen 90 pCt. vor dem Ablaufe von IY 2 Jahren beobachtet. Es
ist klar, dass die Schätzung von Dauererfolgen bei Fällen, welche
nicht weniger als l 1 /., Jahre beobachtet wurden, eine genauere ist
als diejenige bei Fällen, welche nicht weniger als 1 Jahr beob¬
achtet wurden.
Doch wenn man bedenkt, dass 38 von 49 Rückfällen (77 pCt.)
schon im Laufe des ersten Jahres eintraten, so kann man auch
eine Beobachtungszeit von nicht weniger als einem Jahre zur
Schätzung von Dauererfolgen als genügend bezeichnen.
Weiter unten sind zwei Tabellen mit der Schätzung von
Dauererfolgen bei Kranken, welche 1. nicht weniger als 1 Jahr
und 2. nicht weniger als 1 1 / 2 Jahre beobachtet wurden, ange¬
geben.
Im Ganzen sind, wie oben bemerkt wurde, Nachrichten über
das weitere Schicksal von 128 Kranken vorhanden, doch 4 der¬
selben sind weniger als 1 Jahr (6—8 Monate, aber alle mit Cen¬
surnummer 5) verfolgt worden; folglich ist der Dauererfolg bei
124 Kranken, w r elche nicht weniger als 1 Jahr controlirt wurden,
bekannt.
Wenn man als Minimum der Beobachtungszeit iy 2 Jahre fest¬
stellt, so muss man von 124 Kranken 8 (von 1 Jahr bis zu 15Mo-
38 Rückfälle
7 *
2 7,
1 *
1
Somit 49
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 875
waten, alle mit Ccnsurnummer 5 bezeichnet) abziehen. Somit bleiben
116 Fälle, welche nicht weniger als 1V 2 Jahre verfolgt wurden.
Sowohl in die Zahl 124 (nicht weniger als 1 Jahr), als auch in
die Zahl 116 (nicht weniger als IV 2 Jahre) kommen einige Fälle
mit Censurnummer 1, doch weniger als 1 Jahr beobachtet. Mit
anderen Worten: zur Schätzung von Dauererfolgen wurden
alle Fälle genommen, bei denen das Resultat ein schlechtes
war, doch von den Fällen mit gutem Resultate nur die¬
jenigen, welche nicht weniger als 1 oder 1 1 / 2 Jahre con-
trolirt worden waren.
Von 160 Kranken, welche das Krankenhaus verlassen haben,
sind 124 nicht weniger als 1 Jahr beobachtet worden; von
diesen hat sich bei 66 Dauererfolg mit Censur-No. 5 ergeben
(53,2 pCt.), bei 30 mit No. 3 (24,6 pCt.) und bei 28 No. 1
(22,2 pCt.).
Eine Gruppe mit voller Genesung und bemerkenswerther Besse¬
rung bilden 77,8 pCt. Wenn man die 116 Kranken, welche nicht
weniger als l J / 2 Jahre controlirt wurden, ebenso vertheilt, so wird
das Verhältnis der Zahlen der Censurnummern 5:3:1 gleich
58 : 30 : 28
50 pCt. : 25 pCt. : 24,1 pCt. sein.
75,9 pCt.
Vollkommene Genesung und bedeutende Besserung bei 75,9 pCt.
aller Fälle. Diese Ziffer unterscheidet sich von der ihr ent¬
sprechenden (77,8 pCt.) bei der Schätzung von Dauererfolgen bei
124 nicht weniger als ein Jahr beobachteten Kranken nur um
1,9 pCt.
Wenn man nun noch die Operationsmortalität (7 Pat.) in Be¬
tracht zieht, so wird ein guter Dauererfolg (Genesung und Besse¬
rung) bei den mehr als 1 Jahr beobachteten Kranken 73,3 pCt.
ausmachen, bei über iy 2 Jahre beobachteten 71,5 pCt., wobei hier
alle Todesfälle (auch der nach Geschwürsperforationen und eines
Kranken nach Magenverätzung in extremis operirt) mit einbe¬
griffen sind.
Dauererfolg von Operationen bei 124 Kranken, die nicht weniger
als ein Jahr beobachtet wurden:
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876
Dr. J. Galpern,
Diagnose
Gesammtzahl der
Operirten
I
Nach der Ope- i
ration gestorben j
Die Operation
überstanden |
Zahl der mehr als
ein Jahr beob- |
achteten Kranken
Dauererfolg
Censurnummer
= 5
Dauererfolg
Censurnummer
= 3
Dauererfolg
Censurnummer
= 1
Ulcus pylori. . .
48
1
47
34
22
6
6
Wenn mau i-
Ulcera, extrapylo-
rationsmörtaiü-
rische ....
25
2
23
21
7
7
7
(7 Pat.) Linrü-
M agen per foration en
4
1
3
2
1
i
so erhält nun a
Gicatrices pylori .
60
1
59
46
26
14
6
guten Dauer: r:
Perigastritis . . .
10
10
9
6
1
2
73.3 ptu »-
Ptosis ventriculi .
4
—
4
3
1
—
2
Genesung usc t}
Ulcus duodeni . .
7
1
6
4
1
1
2
pCt. Besserung r
Gicatrices duodeni.
4
4
2
—
1
I
26,7 pCt. sttm
Magen Verätzung
•J V
3
1
2
1
1
—
Dauererfolge.
2
—
2
2
I
—
i
Somit
167
7
160
124
66 |
30
28
1
53,2 pct.;
24,6 pCt.
22,2 pCt.
77,8 pCt.
Dauererfolg von Operationen bei 116 Kranken, die nicht weniger
als ein Jahr beobachtet wurden:
Diagnose
Gesammtzahl der
Operirten
Nach der Ope¬
ration gestorben
Die Operation
überstanden
Zahl der mehr als
1 Jahr 6 Monate
beobachteten
Kranken
Dauererfolg
Censurnummer
= 5
Dauererfolg
Censurnummer
= 3
Dauererfolg
Censurnummer
= 1
Ulcus pylori. . .
48
i
47
30
18
6
6
Wenn man die , r : ;
Ulcera, extrapylo-
rationsraortaliüt
rische ....
25
2
23
20
6
7
7
(7 Pat.) hier-
Magenperforationen
4
i
3
2
1
1
so erhält man t- -
Cicatrices pylori .
60
i
59
43
23
14
6
guten .Dauere .
Perigastritis . . .
10
10
9
6
1
2
71,5 pCt. (Gcb*--
Ptosis ventriculi .
4
—
4
3
1
2
und Besserung '
Ulcus duodeni . .
7
1
6
4
1
1
2
28 pCt. seil?..
Cicatrices duodeni.
4
4
2
—
1
1
Resultate.
Magenverätzung
3
i
2
1
1
—
—
? ? ....
2
—
2
1
1
—
1
Somit
167
7 1
1 i
160 1
116
58
30
28
50 pCt.
25,9 pCt.
4 ^
O
Pu
äfl
75,9 pCt.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 877
Aus diesen Tabellen ersieht man ausser den allgemeinen Re¬
sultaten der Operationen bei gutartigen Erkrankungen die Dauer¬
erfolge der Operation in ihrer Abhängigkeit von der Art der
Krankheit.
Die Operationen bei Pförtnergeschwüren ergaben 22 Ge¬
nesungen und 6 Besserungen aus der Gesaramtzahl von 34 Beob¬
achtungen, d. h. 82,4 pCt. gute Dauererfolge. Die Operationen
bei Geschwüren, welche extrapylorisch sitzen, d. h. auf der
kleinen Curvatur an der hinteren Magenwand, ergab 66 pCt. gute
Resultate aus der Gesammtzahl von 21 Beobachtungen. Hierbei
ist zu bemerken, dass bei dieser Gruppe von Geschwüren die Zahl
der vollen Genesungen der Zahl der Besserungen gleich ist,
während bei den Pförtnergeschwüren die Zahl der vollen Genesungen
372 mal grösser ist als die Zahl der Besserungen.
Die Operationen bei Stenosis pylori cicatrica ergaben bei
86,9 pCt. (46 Beobachtungen) gute Dauererfolge, wobei die Zahl der
vollen Genesungen 2mal grösser ist als die Zahl der Besserungen:
26 : 14.
Die chirurgische Behandlung von Perigastritiden ergab in
7 Fällen von 9 (darunter eine Besserung) einen guten Dauererfolg.
Die übrigen Gruppen sind zu wenig zahlreich, um daraus
irgend welche Schlüsse zu ziehen. Es ist nur zu constatiren, dass
die Gruppe der Erkrankungen des Zwölffingerdarms (4 Geschwüre
und 2 Narben) verhältnissmässig ein schlechtes Dauerresultat er¬
gab: eine Genesung, zwei Besserungen und drei Kranke, die gar
keine Erleichterung von der Operation bekommen hatten.
Wenn wir somit die Dauererfolge von Operationen bei ver¬
schiedenen Formen gutartiger Magenerkrankungen be¬
trachten, so sehen wir, dass die chirurgische Behandlung der
Narbenstenosen des Pförtners die besten Erfolge ergab; nächst
diesen kommen die Erfolge chirurgischer Eingriffe bei Pförtner¬
geschwüren und etwas schlechtere Resultate ergaben sich bei cxtra-
pylorischen Geschwüren.
Wir wollen jetzt die Abhängigkeit der Erfolge von der
Art der Operationen studiren.
Die nicht weniger als ein Jahr beobachteten 124 Fälle des
Smolensk’schen Krankenhauses werden nach der Art der Operation
folgenderraaassen vertheilt:
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878
Dr. J. Galpern,
Gastroenterostomie.111
Gastroduodenostomie. 3
Magenresection. 7
Gastropexie. 1
Probelaparotomie. 1
Laparotomie und Tamponade bei Perforation 1
Im Ganzen 124
Dauererfolg verschiedener Operationen:
Dauererfolg verschiedener Operationen:
Zahl der
bekannten
Dauererfolge
Censur-
nummer 5
Censur- *
nummer 3
Censur-
nummer 1
Gastroenterostomie.
in
61
27
23
Gastroduodenostomie ....
3
—
2
1
Pfürtnerresection.
3
3
—
—
Excisio ulceris curvaturae minoris
4
1
1
2
Gastroenterostomie ergab 55 pCt. Genesung, 24,3 pCt. Besse¬
rung und im Ganzen 79,3 pCt. guten Dauererfolg.
3 Pförtnerresectionen ergaben volle Genesung (2 Geschwüre
und 1 Narbe); von 4 Excisionen extrapylorischer Geschwüre
(Curvatura min.) 1 Genesung, 1 Besserung, 2 Recidive.
Gastroduodenostomie (im Ganzen 3) ergab zwei Besserungen
und ein schlechtes Resultat, geheilt durch eine zweite Operation
(Gastroenterostomie nach Hacker).
Die Resultate der Gastroenterostomie nach Art der
Krankheit sind in folgender Tabelle wiedergegeben:
Krankheit
Gesammtzahl
der Gastro¬
enterostomien
Operations¬
mortalität
Operation
überstanden
Nicht weniger
als ein Jahr
beobachtet ,
Censur-
nummer = 5,
Censur-
uummer = 3
Ccnsur-
nurnmer = 1
Ulcus pylori.
44
1
43
33
21
6
6
Ulcera, extrapylorische . .
17
—
17
15
6
5
4
Cicatrices pylori ....
58
i
57
44
25
13
6
Perigastritis.
10
_
10
9
6
1
2
Ptosis ventriculi ....
3
—
3
2
1
—
I
Ulcus duodeni .
7
i
6
4
1
1
o
Cicatrices duodeni....
4
—
4
2
—
1
I
Magen Verätzung ....
V V
2
—
2
1
1
—
—
1
1
1
—
i
Im Ganzen
146i)
3
143
111
61
1 27
28
1) Nicht miteinbegriffen sind 3 Gastroduodcnostomien und 2 nachträgliche
Gastroenterostomien. Im Ganzen wurden 151 Magendarmanastomosen ausgeführt.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 879
Resultate der Resectionen und Excisionen nach Art der
Krankheit:
Im Ganzen
Operations¬
mortalität
Operation
überstanden
Dauererfolg
bekannt
Dauererfolg
Censur-
nummer = 5
Dauererfolg
Censur-
nummer = 3
Dauererfolg
Censur-
nummer = 1
Ulcus pylori.
4
-
4
2
2
Cicatrices pvlori.
1
1
1
1
—
—
Geschwüre der kleinen Curvatur
(extrapylorische).
6
2
4
4
i
1
2
Excision des peptischen Geschwürs
und der Anastomose ....
l
1 ~
1
1
—
—
1
12
0
**
i°
8
4
i
3
Gastroduodenostomia ergab bei Pförtnernarben Besserung, und
von 2 Gastroduodenostomien bei extrapylorischen Geschwüren eine
Besserung, einen schlechten Dauererfolg. Aus den Tabellen ist zu
ersehen, dass Gastroenterostomie bei Pfürtnergeschwüren
81,7 pCt. guten Dauererfolg ergab, bei NarbcDstenoscn 84,6 pCt.
und bei extrapylorischen Geschwüren 73,3 pCt. Es ist darauf
zu achten, dass die letzte Ziffer aus 40 pCt. Genesung und 33,3 pCt.
Besserung zusammengestellt ist (40 + 33,3 = 73,3). Bei den
übrigen Erkrankungsarten muss bemerkt werden, dass von 9 Peri¬
gastritiden in 7 Fällen ein gutes Resultat nach Gastroenterostomie
erzielt wurde, und dass Gastroenterostomie bei Duodenalerkran¬
kungen sich als wenig wirksame Operation erwies: Von 6 Fällen
nur in 1 Falle volle Genesung, in 2 Fällen Besserung und in
3 Fällen ein schlechtes Resultat.
Aus der Tabelle der Resectionen und Excisionen er¬
sieht man, dass 3 Resectionen des Pförtners (1 Cicatrix pylori
und 2 Ulcus pylori) Genesung ergaben. Von 4 Excisionen der
extrapylorischen Geschwüre nur in einem Falle Genesung, in einem
andern Besserung und in 2 Fällen war das Resultat der Excision
ein schlechtes (No. 83 und 95): Wiederkehr aller Krankheits-
symptorae, Bluterbrechen inclusive, welches 2 Jahre nach der
Operation ein trat.
Wir wollen nun die Gruppe gänzlicher Misserfolge — 28 Fälle
— näher betrachten und versuchen die Ursachen, wenn auch nur
in einigen Fällen, festzustellen:
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880
Dr. J. Galpern,
28 Misserfolge bestehen aus folgenden Gruppen:
1. 9 Patienten gestorben, von denen 5 an Krankheiten, welcne
auf den Magen zurückzuführen sind, einer an unbekannter Krank¬
heit 5 Jahre nach der Operation, 3 an Lungentuberculose (einer
nach einem halben Jahre, einer nach einem Jahre und einer einen
Monat nach der Operation; der letztere an Blutsturz — bei ihm
waren schon vor der Operation ernste Lungenveränderungen con-
statirt). Es ist unmöglich, bei den ersten 5 den genaueren Cha¬
rakter der Magenerkrankung, gutartige Erkrankung oder Ucbergang
zu einer bösartigen, auf Grund der Fragezettel, festzustellen. Fünf
der später an Magenerkrankungen Gestorbenen machen 3,09 pOt.
aller 162 Magenkranken aus [167—5 (3 Magenverätzungen und
2 unbestimmte Erkrankungen) = 162], oder 4 pCt. aus der Zahl
124, welche nicht weniger als 1 Jahr beobachtet wurden.
2. 8 Beobachtungen, wo die Ursachen der Recidive fehlen.
3. 2 Beobachtungen, No. 14 und 149, wo es fraglich ist, ob
es nöthig war, die Gastroenterostomie zu machen. Bei No. 14 wurden
perigastritische Verwachsungen gefunden und es wurde Gastroenter¬
ostomie nach Hacker ausgeführt. Später lag diese Kranke
mehrere Male im Krankenhause und klagte über Schmerzen und
Erbrechen, was sich bei den Beobachtungen nicht bestätigte. Bei
der -zweiten Operation nach l 1 /, Jahren wurde die Anastomose
nicht verengt gefunden. Man beschränkte sich auf einen Probe¬
schnitt. Die Kranke war hysterisch und Trinkerin; es ist möglich,
dass nicht die perigastritischen Verwachsungen Ursache der Klagen
waren, sondern Hysterie. No. 149 litt an hartnäckigem Erbrechen
(auch mit Blut). Dauernde innere Behandlung im Krankenhause
blieb resultatlos — bei der Operation wurden keine Geschwüre
gefunden. Es wurde Gastroenterostomie ausgeführt, nach welcher
eine schnelle Wiederkehr aller Symptome eintrat.
4. 2 Fälle, wo ein schlechtes Resultat sich wahrscheinlich
durch die ungünstige Wahl der Operationsmethode erklären lässt.
Bei No. 29 — Ptosis — wurde die Gastropexie gemacht. Nach
5 Monaten wurde wegen Wiederkehr der Symptome Gastroenter¬
ostomie nach Hacker ausgeführt. Während der zweiten Operation
fand man, wie auch während der ersten, Magensenkung. In No. 79
wurde wegen eines Geschwürs an der hinteren Magenwand Gastro-
duodenostomie gemacht. Noch vor Verlassen des Krankenhauses
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Die Dauererfolge der Magonoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 881
kehrten Schmerzen und Erbrechen wieder. Nach 4 Monaten kam
der Kranke äusserst abgemagert wieder; Gastroenterostomie nach
Hacker-Petersen. Das Resultat ist ein ausgezeichnetes. Dauer
der Beobachtung 2 Jahre 6 Monate.
5. No. 83 und 95 — in beiden Fällen Excisiou des Ge¬
schwürs der kleinen Curvatur. Bei beiden Recidive der Krankheit
(bei No. 95 nach 1 Jahr 9 Monaten, beim zweiten ist die Zeit der
Wiederkehr unbekannt), augenscheinlich Auftreten neuer Geschwüre.
6. Bei No. 133 bildete sich ein peptisches Geschwür des
Dünndarms.
7. No. 21, 32, 41 und 49 wurden wegen Verengerung der
Anastomose nachträglich operirt.
Die beiden letzten Ursachen von Misserfolgen verdienen
grössere Beachtung.
Das peptische Geschwür des Dünndarms nach Gastro¬
enterostomie, welches zum ersten Male von Braun 1 ) im Jahre 1899
beschrieben wurde, zog die Aufmerksamkeit der Chirurgen auf sich.
Tiegel 2 3 ) hat im Jahre 1904 ausser seinen 6 Fällen noch
16 Fälle aus der einschlägigen Literatur gesammelt; Gosset 8 )
31, Lion und Mareau (nach Bamberger) 4 ) 42, im Jahre 1909,
Dobrotworsky 5 ) (mit 4 Fällen aus der Moskauer Chirurgischen
Klinik) 45, v. Roojen 6 ) hat im Jahre 1910 schon 91 Fälle ge¬
sammelt. Der Fall des Smolensk’schen Krankenhauses ist aus¬
führlich von Dr. Spassokukotzky 7 ) beschrieben worden und ist
in keine der oben genannten Arbeiten aufgenommen.
Der beschriebene Fall gehört zu den verhältnissmässig seltenen
— Durchbruch des peptischen Geschwürs des Dünndarms in das
Colon transversum. Nach Dobrotworsky ist diese Complication
7 mal von 45 Fällen beschrieben; Gastroenterostomia retrocolica
neigt zu solchen Durchbrüchen. Bei dieser Gastroenterostomie
wird das peptische Geschwür überhaupt seltener beobachtet, von
1) Braun, Verhandlungen des Deutschen Chirurgen-Congresses. 1899.
2) Tiegel, Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Mediein und Chirurgie.
Bd. 13.
3) Gosset, Revue de Chirurgie. 1906.
4) Bamberger, Die innere und chirurgische Behandlung des Ulcus ven-
triculi. Berlin 1909. S. 153.
5) Dobrotworsky ^Chirurgia“ (Kuss.) 1908.
6 ) v. Roojen, Dieses Archiv. Bd. 91. H. 2.
7) Spassokukotzky, Russky Wratseh. No. 49. 1909.
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882
Dr. J. Galpern,
45 Beobachtungen — 14 mal. Bei anderen Methoden, wie Gastro-
enterostomia antecoüca, besonders mit Braun’scher Enteroanasto-
mose und Gastroenterostomia ypsiliforrais nach Roux kommen
peptische Geschwüre öfters vor — 31 mal. Die Rolle der Entero-
anastomose wird durch den Fall Neumann (citirt nach Tiegel 1
illustrirt, wo sich das peptische Geschwür erst nach der Aus¬
führung der Enteroanastomose (wegen Circulus vitiosus) bildete.
Daher neigt Dobrotworsky zu der Meinung, dass in der Aetio-
logie der Geschwüre die verdauende Wirkung des sauren Magen¬
inhalts auf diejenigen Theile des Darms, welche unter normalen
Bedingungen nur von alkalischen Säften bespült werden, eine her¬
vorragende Rolle spielt. Bei der Methode von Roux und bei der
vorderen Gastroenterostomie mit Enteroanastomose nach Braun
wird in der That ein Theil des Darms, zwischen der Magen-Darm-
Anastomose und der Enteroanastomose nur von dem sauren Magen¬
inhalt bespült und die Neutralisation mit dem alkalischen Pankreas¬
saft und der Galle erfolgt weiter unten. Bickel 2 ) hat folgenden
Versuch angestellt: Bei einem Hunde wurde der Zwölffingerdarm
entfernt und der gemeinsame Ausführungscanal der Leber und
des Pankreas nach aussen geführt und in die Haut eingenäht.
Dann Anlegen einer Magendarmanastomose. Bei der Section nach
4 V 0 Wochen wurden auf der Anastomose zwei grosse Geschwüre
gefunden, und auf der zuführenden Schlinge des Darms fanden
sich ebenfalls 2 Geschwüre, doch von kleineren Dimensionen vor.
8 cm unterhalb der Anastomose ein perforirtes peptisches Ge¬
schwür. Bickel 2 ) meint, obwohl das Experiment auf die Rolle
der Neutralisation des sauren Mageninhalts hinweist, so werden
damit noch lange nicht alle Bedingungen der Bildung von pep¬
tischen Geschwüren erschöpft. Andererseits hat Hotz 3 ) Gastro¬
enterostomie mit isolirter Schlinge des Dünndarms gemacht, wobei
ebenfalls beide Enden derselben in den Magen eingenäht wurden.
(Folglich wurde der Darm mit dem Magen im Ganzen durch
3 Oeffnungen verbunden.) Es ergaben sich keinerlei Geschwüre,
obwohl die Schleimhaut des Darms im Verlaüfe von 14 Tagen
1 ) Tiegel, Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Medicin und Chirurgie.
Bd. 13.
2) Bickel, Berliner klin. Wochenschr. 1909. S. 1201.
3) Hotz, Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Medicin und Chirurgie.
Bd. 21. II. 1.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 883
nur vom Magensaft bespült wurde. Solche Bedingungen wie bei
Gastroenterostomie nach Roux, oder antecolica sind bei Gastro-
enterostomia retrocolica nach Hacker-Petersen nicht vorhanden,
indessen kommen aber auch hier peptische Geschwüre vor. Was
den Gehalt von Salzsäure anbelangt, so sind Hinweise vorhanden,
dass derselbe in den meisten Fällen vor der Operation gesteigert
war (Dobrotworsky). In den meisten Fällen, doch lange nicht
in allen. In unserem Falle war HCl im Magensaft schon beim
Vorhandensein des peptischen Geschwürs. Das Quantum von HCl
war nicht genau festgestellt.
Bamberger 1 ) findet den normalen Gehalt von HCl im Magen¬
saft für die Verdauung hinreichend, wenn derselbe durch denjenigen
Theil des Darms lliesst, welcher gewöhnlich nur von alkalischen
Säften bespült wird, sobald sich in den Darmwänden Theile mit
gestörter Ernährung befinden. Aber auch mit dieser Erklärung
stimmen diejenigen Fälle nicht überein, bei denen HCl garnicht
vorhanden war. Das hat Mikulicz beobachtet (siehe Lieb lein,
S. 329).
Borszeky 2 3 ) versuchte experimentell die Bedeutung des ge¬
steigerten Säuregehalts bei Entstehung von peptischen Geschwüren
zu studiren. Er machte Gastroenterostomie bei 12 Hunden, theils
indem er den Pylorus verengte, theils bei nicht verengtem Pylorus.
Nach der Operation bekamen die Hunde ein grosses Quantum HCl;
bei einem derselben trat am 17. Tage nach der Operation Peri¬
tonitis ein, in Folge von Durchbruch eines kleinen typischen Ulcus
pepticum jejuni. In den übrigen 11 Fällen war das Resultat ein
negatives. Trotzdem die Hunde Monate lang nach Gastroenter¬
ostomie grosse Quantitäten von HCl erhielten, gelang es nicht, ein
peptisches Geschwür des Dünndarms hervorzurufen.
Das Studium eines grossen Materials führt v. Roojen 8 ) zu
dem Ergebniss, dass das peptische Geschwür sich auch in Fällen
mit normaler Säurebildung ebenso wie mit verminderter bei allen
Arten von Gastroenterostomie bildet, folglich unabhängig von den
Veränderungen der chemischen Verhältnisse und auch nicht wegen
1) Bamberger, Die innere und chirurgische Behandlung des Ulcus ventri-
culi. Berlin 1909. S. 152.
2) Borszeky, Beiträge zur klin. Chirurgie. Bd. 57. S. 110.
3) v. Roojen, Dieses Archiv. Bd. 91. II. 2.
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884 Dr. J. Galpern,
ungenügenden ßespülens des Darmabschnittes mit alkalischen
Säften.
Der grösste Theil der Autoren lenkt die Aufmerksamkeit
noch auf ein anderes Moment — Blutcirculations- und Ernährungs¬
störung der Darmwände als Folge des operativen Eingriffs. Hier¬
her gehören Unterbindung der Gefässe, Verletzung des Darms.
Druck mit den Fingern. Ulcus pepticum, sagt v. Rooien 1 ). kann
entstehen bei Wirkung des sauren Mageninhalts auf die verletzte
Darmwand (Klemmen, Abklemmen mit den Fingern u. s. w., Schnitte
solcher Individuen, welche zur Erkrankung an Magengeschwür neigen,
besonders solcher, bei denen in Folge von Gefässverändcrungen
(degcnerative oder vasomotorische) die Darraschleimhaut vulnerabel
ist. Augenscheinlich können die Ernährungsstörungen durch Ope¬
rationstrauma die Bedingungen zu solchen Geschwüren vorbereiten,
welche sehr bald nach der Operation auftreten. Damit lassen sieh
aber diejenigen Fälle nicht erklären, bei denen Symptome v<>n
peptischen Geschwüren nach einigen (6—8 Jahren — Czerny) Jahren
auftraten, man müsste denn zugeben, dass ein Geschwür, welches
sich bald nach der Operation gebildet hat, lange Zeit zu jenem
Typus gehörte, welcher symptomlos verläuft und bei welchem erst
nach einigen Jahren Krankheitssymptome hervortreten.
Für solche Fälle ist vielleicht das gleichzeitige Vorhandensein
mehrerer Bedingungen nothwendig, darunter Ernährungsstörungen
der Darmwand nicht aus zufälliger (während der Operation) Ursache,
sondern in Folge von Störungen der Blutcirculation aus anderen
Gründen (Atheromatose, Embolie, Thrombose).
Das peptische Geschwür des Dünndarms ist eine schwere
Complication der Gastroenterostomie. Von 45 Fällen, welche
Dobrotworsky gesammelt hat, starben 9 an Peritonitis in Folge
von Gcschwürsperforationen und 7 an nachträglichen Operationen,
im Ganzen also 16 Patienten. Für genesen hält er nur 7 Pa¬
tienten. von denen bei 4 ein mehr oder weniger dauerhafter Erfolg
beobachtet worden ist. Dazu kommt noch, dass 6 von diesen
7 dem Itisico einer nachträglichen, oft complicirten Operation
unterworfen wurden. No. 133 des Smolensk’schen Krankenhauses
unterwarf sich der complicirten Operation: Excision der Anastomose,
1) v. lloojen, Dieses Archiv. Bd. 91. II. 2.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 885
eines Theils des Dünndarms mit Anastomose und des peptischen
Geschwürs und einer Fistel in dem Colon transversum. Alles das
wurde gemacht in Anbetracht der wiederhergestellten normalen
Verhältnisse, da der Pförtner schon passirbar war und die Infiltrate
im Bereich desselben verschwunden waren. Doch alle krankhaften
Erscheinungen — Blutbrechen inclusive — kehrten wieder. Folg¬
lich hatte sich von Neuem ein Magengeschwür gebildet.
In Anbetracht des geringen Erfolges der Behandlung peptischer
Geschwüre nach Gastroenterostomie heben alle Autoren die Pro¬
phylaxe besonders hervor. Ist einmal festgestellt, dass die Säure
des Mageninhalts, Ernährungsstörungen der Darmwand in Folge von
Trauma, schliesslich die Operationsmethode in grösserem oder ge¬
ringerem Maasse die Bildung eines peptischen Geschwürs nach
Gastroenterostomie beeinflussen können, so liegen die Vorsichts¬
maassregeln auf der Hand: 1. Entsprechende Diät nach der Ope¬
ration um eine geringere Absonderung des Magensaftes hervorzu¬
rufen, und Alkalien zur Neutralisation derselben; 2. Anwendung
derjenigen Operationsmethode, bei welcher seltener peptische Ge¬
schwüre nach Gastroenterostomie, d. h. Gastroenterostomia retro-
colica posterior, beobachtet werden und 3. äusserst vorsichtige
Manipulation mit dem Darme. Spassokukotzky 1 ) ist der Meinung,
dass die geringe Zahl peptischer Geschwüre (eines) bei einer grossen
Zahl von Gastroenterostomien (151) im Smolenskschen Krankenhausc
sich theils dadurch erklären lässt, dass 146 mal von 151 die hintere
Gastroenterostomie nach Hacker gemacht worden war. Ich denke,
von noch grösserer Bedeutung ist der Umstand, dass das Zudrücken
des Darms mit den Fingern oder mit Klemmen fast nie angewendet
wurde. Eine sorgfältige, abgrenzende Tamponade und das Empor¬
heben der zur Anastomose nöthigen Theile des Magens und des
Darms mit „haltenden“ Nähten schützte (0 pCt. Sterblichkeit an
Peritonitis in Folge von Operationen) die Bauchhöhle vollkommen
vor Verunreinigung und machte das provisorische Abklemmen des
Magens und des Darms mit Klemmen überflüssig. Wenn im
Smolensk’schen Krankenhause Klemmen deshalb nicht gebraucht
wurden, weil sie sich zum Schutz gegen Verunreinigung der
Bauchhöhle 2 ) als überflüssig erwiesen, so meiden sie andere Chir-
1) Spassokukotzky, Russky Wratsch. (Russisch.) 1909. No. 49.
2) Der erste Fall eines peptischen Geschwürs wurde in Smolensk erst
1908 beobachtet.
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886
Dr. J. Galpern,
urgen, z. B. Rotgans 1 ) mit dem bestimmten Zwecke durch ein
Trauma die Bildung eines peptischen Geschwürs nach Gastro¬
enterostomie nicht zu begünstigen.
Was die Frequenz des peptischen Geschwürs nach Gastro¬
enterostomie anbelangt, so fand Dobrotworsky von 80 Fällen der
Moskauer Klinik 3, Borsz6ky (Reczey) von 25 1, Mikulicz
von 160 2, Mayo Robson von 266 1, Cacovic von 115 3 1 3 ),
Spassokukotzky von 151 1, Gebr. Mayo 8 ) von 1141 3.
Auf Grund dieser Angaben ist es schwer, über die Frequenz
der peptischen Geschwüre nach Gastroenterostomie zu urtheilen.
In jeder Statistik entgeht ein Theil von Fällen gänzlich der Beob¬
achtung und aus der Zahl derjenigen, bei denen es bekannt ist,
dass der Dauerfolg ein schlechter war, lässt sich in vielen Fällen
die genaue Ursache eines Misserfolges nicht bestimmen. Wie oben
gezeigt worden, kann man von 28 Misserfolgen des Smolenskschen
Krankenhauses in 8 Fällen die nächstliegendcn Ursachen der Wieder¬
kehr der Krankheit nicht feststellen, 5 starben an Krankheiten,
welche zum Magen in Beziehung stehen — somit 13 Patienten, bei
denen die genaue Ursache des Misserfolges nicht bekannt ist. Doch
andererseits lassen die oben angeführten Angaben anderer Chirurgen
den Gedanken zu, dass diese schwere Complication der Gastro¬
enterostomie verhältnissmässig selten vorkommt.
Von 4 Fällen von Verengerung der Anastomose war so
zu sagen nur in 3 Fällen starke Verengung die Ursache der Reci-
dive. Im 4. (No. 32) bestand wohl Verengerung, doch liess die
Anastomose den Zeigefinger frei durch und dieselbe konnte leicht
mit den Fingern 3 Finger breit auseinander gespannt werden. In
diesem Falle hingen die schmerzhaften Symptome theils wohl von
der falschen Lage der Anastomose nahe der Flexura coli dexira
ab, so dass sich an der abführenden Schlinge eine Knickung bildete.
In allen Fällen in Smolensk wurde die Anastomose vermittelst
einer dreireihigen Naht ohne Murphyknopf angelegt. Alle drei
Schichten mit einer fortlaufenden Naht. Dobrotworsky weist mit
Recht auf die Unrichtigkeit des Anlegens einer fortlaufenden Naht
durch alle Schichten hin, was unvermeidlich eine langdauernde
1) v. Koojen, Dieses Archiv. Bd. 91. II. 2.
2) Nach Borszeky, Beiträge zur. klin. Chir. Bd. 57.
3) \Y. Mayo, (iastro-jejunal ulcer. Ref. Ccntralbl. f. Chir. 1910. S. 944.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 887
Vernarbung nach sich zieht, weil eine solche Naht nur schwer
durchschneidet und, da sie lange liegen bleibt, leicht entzünd¬
liche Infiltration hervorruft. Möglich, dass eine fortlaufende
Naht, wenn auch nur in die Schleimhaut gelegt, in Folge lang¬
sameren Durchschneidens die Entwickelung eines Granulationspro-
cesses mit darauffolgender Vernarbung begünstigt hat. Richtiger
wäre es gewesen, eine Knopfnaht in die Schleimhaut zu legen,
dann dürfte die Anzahl der Anastomosenverengerungen eine ge¬
ringere gewesen sein. Jetzt geben alle Chirurgen zu, dass das
Anlegen einer Schleirahautnaht eine der Bedingungen ist, um ein
regelrechtes Zusammenheilen der Gewebe zu bewirken. Es ist zu
vermuthen, dass das Anlegen einer grossen Zahl von Nähten (drei¬
reihige) in die Magen- und Darmwand in grösserem oder geringerem
Maasse eine entzündliche Reaction mit darauffolgender Anastomosen-
verengerung hervorruft. Doch ist es unzweifelhaft, dass bei sonstigen
gleichen Bedingungen in den Fällen, wo die Schleimhaut des Ma¬
gens und Darms in den ersten Tagen verwächst, wo sich an den
Rändern der Anastomose keinerlei Geschwüre bilden, die nachherige
Narbe eine kleinere sein wird, als dort, wo an den Anasto-
mosenrändern ein Granulationsprocess auftritt. Letzteres wird un¬
vermeidlich in den Anastomosen mit Murphyknopf stattfinden,
wo das Abfallen desselben auf dem Absterben der Anastomosen-
ränder beruht. Wie bekannt, wurden Stimmen laut, welche be¬
haupteten, dass die Anwendung des Knopfes die Anastomose im
Gegentheil vor nachheriger Verengerung schützt. Dobrotworsky 1 )
führt aus der diesbezüglichen Literatur 16 Fälle von nachheriger
Verengerung der Anastomose mit Murphy knöpf an. Ich habe
noch 20 Fälle gesammelt, im Ganzen wurden folglich 36 be¬
schrieben 2 3 * ). Somit ist die Zahl dieser Verengerungen nicht so
gering, als dass man behaupten könnte, der Murphy knöpf gebe
keine Chancen nachheriger Verengerungen.
Kelling 8 ) hält die functioneile Unthätigkeit der Anastomose
bei Passirbarkeit des Pförtners für eine der Ursachen der Verenge¬
rungen derselben. Nach seiner Meinung geht der Speisebrei seinen
1) Dobrotworsky, Disscrt. St. Petersburg. J909 (russisch).
2) J. Galpern, Die gutartigen Erkrankungen des Magens und Duodenums
und ihre chirurgische Behandlung. 1910. S. 65—66 (russisch).
3) Kelling, Dieses Archiy. Bd. 62.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4.
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888
Dr. J. Galpern,
normalen Weg, sobald der Pylorus passirbar ist und die Anasto-
mose verengert sich, weil sie nicht functionirt. Deshalb räth er,
den Pylorus künstlich zu verengern. Die Versuche von Borszeky 1 )
an Hunden haben gezeigt, dass der Speisebrei bei nicht geschlossenem
Pförtner theils durch denselben, theils durch die Anastomose geht.
Veyrassat und Testot 2 3 ) röntgenoskopirten Kranke mit unvoll¬
ständiger Schliessung des Pförtners und beobachteten das Passiren
des Wismuthbreies auch durch die Anastomose. Heuk s ) sah (bei
Gastrotomie) die Anastomose 3 Monate nach Jejunostomie. Der
Kranke nährte sich ausschliesslich durch die Darmfistel, von irgend
einer Thätigkeit der Anastomose konnte nicht die Rede sein, und
doch war sie vollkommen durchgängig. Hierher gehört ebenfalls
die Beobachtung Scherren’s 4 5 ), welcher bei der Section die Ana-
storaose sah, die bei passirbarem Pförtner wegen eines Geschwürs
der kleinen Curvatur angelegt worden war. Eben solch’ eine Be¬
obachtung findet man bei Busch 6 ): Operation im Jahre 1901
wegen callösen Geschwürs der kleinen Curvatur. Section (Tod in¬
folge chronischer Nephritis) nach 6 Y 2 Jahren: Heilung des Ge¬
schwürs der kleinen Curvatur, Anastomose vollkommen passirbar.
Zweiter Fall — ebenfalls von Busch —, breite Anastomose wurde
bei der Section bei geheiltem Geschwür 9 Jahre nach der Ope¬
ration gefunden. Somit kann sich die Anastomose sowohl bei
vollkommen passirbarem Pförtner, als auch bei starker Stenose
desselben verengern, jedoch nicht, weil sie nicht functionirt, son¬
dern wegen des Vernarbungsprocesses.
Die Ueberzeugung, dass ein gewisser Grad von Zusammen¬
ziehung der Anastomose unvermeidlich ist, bewog die Chirurgen
zum Anlegen einer Anastomose von grösserem Maassstabe; die
letzten Jahre wurde dieses Verfahren auch im Smolenskschen Kranken¬
hause angewendet. Die Methode von Roux, welche den Chirurgen
an eine bestimmte Dimension des Querschnittes des Darmes bindet,
wurde unter Anderem auch aus diesem Grunde nicht angewendet.
Völlige Schliessung der Anastomose nach Roux beobachtete Fe-
1 ) Borszeky, 1. c.
2) Voyrassat, Revue de Chirurgie. 1908.
3) Hcuk, Beiträge z. klin. Chir. Bd. 34.
4) Schcrren, Lancet. 1907. p. 1362. Cit. nach Bamberger. S. 130.
5) Busch, Dieses Archiv. Bd. 90. H. 1. S. 60.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 889
dorow 1 ). Die ersten Fälle einer zweiten Operation wegen Ana-
stomosenverengerung wurden von Reiske 2 ) (Czerny u. Mikulicz)
veröffentlicht. Bei denselben wurde die Methode der Gastroentero-
plastik, welche der Pyloroplastik nach Beinecke-Mikulicz analog
ist, angewendet.
Im Sraolensk’schen Krankenhause hat Spassokukotzky
folgende Methode angewandt: Durchschneiden der vorderen Magen¬
wand, Fingeruntersuchung der Anastomose. Die Ränder derselben
werden vermittelst zweier Kocher’schen Pincetten fixirt; sie selbst
wird in den Einschnitt der vorderen Magenwand gezogen und nach
rechts und links durchschnitten. Die Schnitte werden zweireihig
• zugenäht, darauf folgt Naht des vorderen Magenwandschnittes.
Diese Operation wurde zum ersten Mal am 16. März 1905 ausge¬
führt, veröffentlicht wurde sie erst 1909 8 ). Eine ähnliche Methode
wandte Helferich [Graf 4 )] an: No. 9. Wegen Verwachsungen war
os unmöglich, von aussen an die Anastomose heranzukommen.
Daher wurde durch einen Schnitt in der vorderen Magenwand der
hintere Rand der Anastomose zerschnitten, die Ränder der Wunde
der Anastomose wurden auseinandergezogen und in Querrichtung
zusammengenäht. Diese Operation wurde am 6. Juli 1903 ausge¬
führt und im Jahre 1907 von Graf veröffentlicht. Die Methode,
nach welcher Spassokukotzky operirte, ist sehr einfach und
bequem. Die Anwendung derselben ist nur da schwierig, wo
wegen fester, reichlicher Verwachsungen um die Anastomose die¬
selbe durch den vorderen Magenwandschnitt nicht herausgezogen
werden kann.
Beurtheilnng der Operationsmethoden bei gutartigen Magen-
erkrankungen.
Indem wir uns zur Beurtheilung der chirurgischen Behandlung
gutartiger Magenerkrankungen wenden, müssen wir vor Allem be¬
merken, dass sich von einer ganzen Reihe Operationsverfahren zur
Zeit nur zwei behauptet haben: Gastroenterostomie und Resection.
Jedes derselben hat seine Anhänger; die Mitte zwischen diesen
1) Fedorow, Arbeiten des VI. russ. Chir.-Congr.
2) Reiske, Beitr. z. klin. Chir. Bd. 27.
3) Spassokukotzky, Arbeiten des IX. russ. Chir.-Congr. 1909.
4) Graf, Deutsche Zeitsehr. f. Chir. Bd. 90.
58 *
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890
Dr. J. Galpern,
beiden äussersten Richtungen nehmen diejenigen ein, welche
Gastroenterostomie bei Pförtnergeschwüren anwenden, hingegen
Resection bei extrapylorischen vorziehen (z. B. Payr). Die Gegner
der Gastroenterostomie (Rydygier, Ali Krogius, Noetzeb
halten sie für eine Palliativoperation und stellen derselben die
Resection als Radicalmittel entgegen. Die Unrichtigkeit dieser Be¬
hauptung ist augenscheinlich. Es kann keine Rede von einer
Radicalheilung des Kranken da sein, wo vermittelst der Operation
die Krankheitsursache nicht beseitigt wird. Die Bedingungen zu
Magengeschwürsbildungen verändern sich nicht im Geringsten nach
Entfernung des einen gegebenen Geschwürs. Vielfache Beob¬
achtungen [z. B. 2 bei Busch 1 ), No. 83 und No. 95 des Smolensk-
schen Krankenhauses, No. 3 bei Payr 2 )] bestätigen die Möglich¬
keit der Bildung neuer Geschwüre nach Resection. Die Resection
ist nur insoweit Radicalmittel, als sie die Gefahren, welche von
dem gegebenen Geschwür abhängen, beseitigt: 1. Perforationen.
2. Blutungen, 3. bösartige Neubildung.
Alle drei gegen die Gastroenterostomie aufgestellten Beschul¬
digungen sind vollkommen richtig. Es fragt sich nur wie schwer¬
wiegend dieselben sind.
Ad 1: Auch unter dem Material des Smolensk’schen Kranken¬
hauses sind zwei Fälle No. 25 und No. 76 von Geschwürsperfo¬
ration nach Gastroenterostomie. Im letzteren Falle wurde die
„ Diagnose bei der Section bestätigt, bei No. 25 ist die Diagnose
eine mehr oder weniger wahrscheinliche. Die Frequenz dieser
schweren Complication in der auf die Operation folgenden Periode
ist sehr gering: nach Dobrotworsky ist die Mortalität an Peri¬
tonitis gleich 1 pCt. und die Mortalität an Geschwürsperforationen
macht nur einen Theil dieser Ziffer aus. Von 134 Fällen von
Peritonitis stehen nur 19 in Abhängigkeit von Perforation des
runden oder Krebsgeschwürs. In zahlreichen Berichten über Dauer¬
erfolge kommen selten Hinweise auf Perforationen vor.
Die Frequenz der Perforation ist im Ganzen nach Leube
1,2 pCt, nach Ewald 1,2 pCt., nach Joslin 3,2 pCt., nach Bara-
berger 1,8 pCt. 3 )
1) Busch, Dieses Archiv. Bd. 90. H. 1.
2) Payr, Dieses Archiv. Bd. 92. II. 2.
3) Bambcrger, S. 97 u. 98.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 891
Ad 2: Wir haben in der Literatur Beispiele von tödtlicher
Blutung trotz ausgeführter Gastroenterostomie. Auch diese Fälle
kommen nicht oft vor. Wenn wir zugeben, dass diese beiden
Complicationen nach Gastroenterostomie, wenn auch selten, doch
Vorkommen, so müssen wir auch noch bemerken, dass die Ge-
schwürsexcision in dieser Hinsicht keine absolute Garantie bietet,
da die Möglichkeit gegeben ist, dass gleichzeitig mehrere Ge¬
schwüre vorhanden sind, oder dass sich neue Geschwüre in der
nächsten Zeit nach der Resection bilden. Als Beispiel, dass nach
der Resection neue Geschwüre mit Blutungen erscheinen, dienen
die Beobachtungen von Czerny [Kramer 1 )], Clairmont 2 ). Letzterer
(S. 249) erinnert an die von v. Eiseisberg (Dieses Archiv. Bd. 39)
beschriebenen Beobachtungen aus der Klinik Billroth’s: Bei dem
Kranken (Gottl. Sl.) erschien nach der Resection von Neuem ein
Geschwür, welches eine tödtliche Blutung zur Folge hatte. Als
Beispiel der Perforation eines anderen Geschwürs nach der Resection
des einen dient der Fall Hofmann r s (Bamberger, 1. c. S. 121).
Die Wahrscheinlichkeit dieser Complicationen nach Resection ist ab¬
hängig von der Häufigkeit des Vorkommens mehrerer Geschwüre.
Nach Carless sind es 13 pCt., nach Moynihan 3 ) 50 pCt.,
nach Kreuzer 4 ) 45 pCt. In dem Material des Smolenskschen
Krankenhauses sind nur wenige Fälle mit dem Hinweis auf
mehrere Ulcerationen, doch bin ich fest überzeugt, dass die Ziffern
Moynihan’s und Kreuzer’s der Wirklichkeit mehr entsprechen
als die Ziffern von Carless und des Smolensk’schen Kranken¬
hauses. Seitdem ich bei jeder Operation den ganzen Magen,
äusserlich vermittelst Befühlens und innerlich vermittelst Einführens
des Fingers in die für die Anastomose bestimmte Oeffnung gründ¬
lich untersuche und mich nicht auf das Geschwür oder
die Narbe, welche sofort in die Augen fallen und hinlänglich das
Krankheitsbild erläutern, beschränke, stosse ich bedeutend öfter
auf mehrere Geschwüre als früher.
Ad 3: Während Einige (Anhänger der Resection) die Gefahr
einer krebsigen Degeneration des Geschwürs für sehr gross (Jed-
1) Kramer, Beitr. z. klin. Chir. Bd. 51. S. 320. No. 80.
2) Clairmont, Dieses Archiv. Bd. 76.
3) Citirt nach Schwarz, Beitr. z. klin. Chir. Bd. 67. 1910.
4) Kreuzer, Beitr. z. klin. Chir. Bd. 49.
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Dr. J. Gal porn,
licka) halten, finden v. Eiseisberg und Andere dieselbe über¬
trieben. Nach Bamberger (1. c. S. 119) kommen auf 1025 Gastro¬
enterostomien, welche lange Zeit nach der Operation beobachtet
wurden, 22 Fälle mit nachheriger Krebsentwicklung, d. h. 2,1 pCt.
Bei 152 mit Resection behandelten Magengeschwüren war das Er¬
gebnis 1,9 pCt. Ein grosser Theil der auf Grund von Geschwüren
beschriebenen Magenkrebse trat im Laufe der ersten zwei Jahre
nach der Operation auf, was Grund zu der Vermuthung giebt, dass
zur Zeit der Operation die bösartigen Neubildungen schon im Ent¬
stehen waren, v. Eiseisberg (ebenso wie auch Hochenegg)
behaupten, dass sich auch auf Grund einer Narbe nach Excision
der Krebs bilden kann. Diese Meinung bestreitet Noetzel 1 ) sehr
heftig, indem er auf den Unterschied zwischen einer dünnen line¬
aren Narbe nach Resection und einer dicken, schlecht ernährten
Narbe nach einem geheilten Geschwür hinweist. Bamberger be¬
hauptet kategorisch, indem er die oben angegebenen Ziffern ver¬
gleicht, dass keine Ursache vorhanden sei, die Resection der Gastro¬
enterostomie vorzuziehen, wenn man die Möglichkeit der Krebs¬
bildung in Folge von Geschwüren ins Auge fasst. Wie dem auch
sei, es ist klar, dass diese Gefahr in den engen Grenzen der oben
angeführten Ziffern besteht und der Radicalismus der Resection in
dieser begrenzten Auslegung in Beziehung zum gegebenen, mit
Resection behandelten Geschwür anerkannt werden muss: Der
Kranke ist von dem gegebenen Geschwür mit allen seinen Folgen
für immer befreit.
Diese relative Sicherheit der nach Resection am Leben ge¬
bliebenen Kranken ist indessen sehr theuer erkauft. Wenn die
Operationsmortalität bei Payr 2 3 ), Jedlicka, v. Eiseisberg und
Spassokukotzky verhältnissmässig gering ist und vorerst als
Ideal dient, dem andere Chirurgen zustreben, so ist sie in Bezug
auf die Gesammtheit der veröffentlichten Fälle höher. Payr s ) hat
465 Resectionen mit 46 Todesfällen = 10 pCt. Mortalität ge¬
sammelt. In seiner Tabelle muss man zwei Berichtigungen machen:
1. bei Hofmeister starb ein Kranker (nach Payr 0 Sterblichkeit)
— Beitr. z. klin. Chir. Bd. 59. S. 639; 2. bei Körte (Tabelle
1) Xoetzel, Beitr. z. klin. Chir. Bd. 51.
2) Payr, Wiener klin. Wochcnschr. 1910. No. 9.
3) Payr, Dieses Archiv. Bd. 93. II. 2. S. 481.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 893
Warnecke’s) wurden 6 operirt, 1 starb, und nach Busch wurden*
10 operirt, 2 starben, somit 16 Resectionen mit 3 Todesfällen.
Dieser Tabelle von Payr muss man folgende Daten beifügen:
mm
Zahl der
Fälle
Gestorben
Quellen
Kramer . . . .
14
6
Beitr. z. klin. Chir. Bd. 51.
Rydygier . . .
8
4
Tabelle Warnecke’s.
Billroth ....
10
7
Tabelle Warnecke’s.
Schloffer . . .
2
1
Hoffmann, Beitr. z. klin. Chir.
Bd. 50.
Lauenstein . .
8
4
Tabelle Warnecke’s.
Krönlein . . .
4
1
Kreuzer, Beitr. z.klin.Chir. Bd.49.
Hartmann . . .
6
1
Ccntralbl. f. Chir. 1905. S. 1285.
Helferich . . .
3
Graf, Deutsche Zeitschr. f. Chir.
Bd. 90.
Spassokukotzky
14
2
12 in meiner Arbeit, 2 nach per¬
sönlichen Mittheilungen.
Ali Krogius . .
13
3
Dieses Archiv. Bd. 75.
Gussenbauer . .
3
2
Etner, Centralbl. f. Chir. 1905.
S. 266.
Schwarz ....
S
2
Beitr. z. klin. Chir. Bd. 67.
Sprigs ....
3
1
Bamberger, 1. c. S. 210.
Krüger ....
2
0
Bamberger, S. 210.
Marnoch. . . .
1
0
Bamberger, S. 210.
Mayer.
2
0
Beitr. z. klin. Chir. Bd. 61.
Galpern ....
2
2
—
Im Ganzen 1
l
103
37
Somit also 572 Resectionen mit 87 Todesfällen — Mortalität
gegen 15,2 pCt. Diese Ziffer ist natürlich geringer als in Wirk¬
lichkeit, denn 1—2 Resectionen mit gutem Erfolg sind von vielen
Autoren publicirt worden, hingegen werden 1—2 Resectionen mit
Misserfolg weniger gern veröffentlicht.
Immerhin ist die Mortalität bedeutend geringer als in der
Tabelle Warnecke’s (gegen 40 pCt.!). Doch unendlich weit ist
die Grenze, bis zu welcher die Sterblichkeit nach Resectionsopera-
tionen gesunken ist, von der durch Gastroenterostomie erzielten.
3,5—14 pCt. Mortalität bei Resection bilden noch einen beneidens-
werthen Erfolg einiger wenigen Chirurgen an einem Material,
welches 30 Fälle nicht übersteigt. Hingegen ergab die Sterblich¬
keit im Smolensk’schen Krankenhause bei 151 Gastroenterostomien
2 pCt., wobei in Abhängigkeit von der Operation selbst die Morta¬
lität = 0 war. Von 151 Gastroenterostomien wurde die Hälfte
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894
Dr. J. Galpern,
von den Assistenten und Externen der chirurgischen Abtheilung
mit einer Technik, welche das Mittelmaass nicht überstieg, ausge¬
führt. Ebenso wurden im Twer’schen Gouvernementskrankenhause
von November 1907 an 33 Gastroenterostomien mit 0 pCt. Morta¬
lität gemacht. Ein Kranker starb 3 Wochen nach der Operation
an asiatischer Cholera. Oie Anastomose functionirte tadellos, das
Bauchfell war gänzlich unverändert (die Diagnose wurde durch
Section und bakteriologische Untersuchung bestätigt). 6—8—12 pCt.
Mortalität in anderen Krankenhäusern ist, nach Kreuzer’s treffender
Bemerkung, „das Lehrgeld der Erfahrung“ in den ersten Jahren
der Anwendung der Gastroenterostomie. Von 5 Todesfällen der
Moskauer chirurgischen Klinik kommen 4 auf die ersten 9 Fälle
und 1 auf die übrigen 90 1 ). In der Klinik von v. Eiseisberg ist
die Mortalität bei Gastroenterostomia retrocolica im Jahre 1906
in der Abhandlung von Clairmont gleich 16,6 pCt. angegeben.
Im Jahre 1909 sank dieselbe bis auf 3,5 pCt. [Clairmont 2 )] bei
167 Fällen. Somit bilden in unserer Zeit 2 pCt. Mortalität nach
Gastroenterostomie bei gutartigen Erkrankungen keine Ausnahme,
sondern die Regel, und die Worte von Mikulicz, dass ein Magen¬
geschwür für den Kranken eine weit grössere Gefahr bedeute als
die Operation, sind besonders bei den gegenwärtigen Resultaten
der Gastroenterostomie am Platze.
Obwohl die Gastroenterostomie nur eine Palliativoperation ist,
so ist es doch unzweifelhaft, dass sie einen mächtigen Einfluss auf
den Heilungsprocess des Geschwürs haben kann. Das Wesentliche
dieses Einflusses besteht darin, dass es den Circulus vitiosus
bricht, welcher aus Geschwür, Hyperacidität und Stauung des
Mageninhalts besteht. Rasche Entleerung des Magens, Verminde¬
rung der Acidität wegen Eindringens der Galle und des Pankreas¬
saftes in den Magen gelten als Regel nach Gastroenterostomie.
Dieser letztere Umstand, der zuerst als Nachtheil -der Gastro¬
enterostomie galt, wird jetzt von den meisten Forschern zu den
Vorzügen derselben gerechnet. Nach Katzenstein 3 ) muss man
sich dieser Eigenthümlichkeit bedienen und sie so lange wie mög¬
lich durch entsprechende Diät (Fette) unterstützen; Neutralisation
1) Spicharny, Buss. Chir. Arch. 1910. No. 2.
2) Clairmont, Mittheil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. Bd. 20. H. 2.
3) Katzen stein, Deutsche med. Wochcnschr. 1907. No. 3 u. No. 4.
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Die Dauererfolge der Magenoperatiooen bei gutartigen Erkrankungen. 895
des sauren Mageninhalts mit Hilfe dieser „inneren Apotheke“
[Roux 1 )] ist dem Kranken nur nützlich. Die Arbeiten von
Arbekow 2 ) und Boldirew 8 ) beweisen unter Anderem, dass das
Eindringen der Galle in den Magen auch unter normalen Verhält¬
nissen beobachtet wird.
Die nach Gastroenterostomie geheilten Geschwüre, die man
geraume Zeit nach der Operation bei der Section gefunden hat,
überzeugen noch nicht so sehr (da Geschwürsheilung ja auch ohne
Gastroenterostomie möglich ist), wie die Fälle, bei welchen grosse
callöse Geschwüre, die für Krebsgeschwülste gehalten wurden, er¬
staunlich schnell verschwanden, nachdem eine Anastomose an¬
gelegt worden war. So bei dem Falle Mizokuhi’s 4 ) No. 117:
23 Tage nach Gastroenterostomie wurde die zweite Laparotomie
gemacht, um eine Pförtnergeschwulst zu entfernen, welche bei der
ersten Operation festgestellt worden war. Doch im Laufe dieser
3 Wochen war sie verschwunden. Beispiele von Verschwinden
grosser callöser Geschwüre, welche für unentfernbare Krebs¬
geschwülste gehalten wurden, findet man in der Literatur in grosser
Anzahl (Brenner, Clairmont, Busch, Spicharny); es giebt
deren auch unter den Fällen des Smolensk’schen Krankenhauses.
Als bestimmender Grund zu Gunsten des einen oder des
anderen Verfahrens dienen doch nur die Dauererfolge.
Bei Narbenstenosen ergiebt die Gastroenterostomie ausgezeich¬
nete Resultate und nur der Verdacht, dass sich bösartige Neubil¬
dungen in der Narbe bilden, rechtfertigt die Resection (No. 113 des
Smolensk’schen Krankenhauses). Bis jetzt gründeten die äussersten
Anhänger der Resection ihre Handlungsweise auf den Misserfolg
bei Gastroenterostomie. So verlor Ali Krogius 6 ) im Laufe einiger
Monate mehrere Geschwürskranke (einen nach dem andern), denen
die Gastroenterostomie gemacht worden war, an Blutungen oder
Peritonitis. Seine unmittelbaren Resultate nach Gastroenterostomie
sind ebenfalls sehr schlecht, die Operationsmortalität beträgt 31 pCt.
(von 41 starben 14). Wenn man von dieser Zahl sogar 6 Patienten
ausschliesst, welche an Blutungen oder Perforation nach Gastroentero-
1) Roux, Semaine med. 1907.
2) Arbekow, Dissert. 1904. (Russisch.) St. Petersburg.
3) Boldirew, Dissert. 1904. (Russisch.) St. Petersburg.
4) Mizokuhi, Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 101.
5) Ali Krogius, Dieses Archiv. Bd. 75.
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Dr. J. Galpern,
stomie starben, so ergab doch die Gastroenterostomie bei Krogius
eine Mortalität von 19 pCt. Solche traurigen Resultate gaben ihm
natürlich das Recht, mit der Gastroenterostomie unzufrieden zu sein
und er empfiehlt die Resection in allen Fällen, ausgenommen die¬
jenigen, bei welchen als Hinderniss auftreten: 1. unüberwindliche
technische Schwierigkeiten, oder 2. der allgemeine Zustand des
Kranken. Auf 13 Fälle von Resection fallen 23 pCt. Mortalität
Bei 10 am Leben Gebliebenen ist der Dauerfolg (nicht weniger als
ein Jahr) bei 3 bekannt, von diesen sind zwei gesund, der dritte
starb nach 13 Monaten an Krebs, welcher sich auf der Excisions-
stelle des Geschwürs gebildet hatte („wahrscheinlich war Ulcus
carcinomatosum“ sagt Krogius). Somit sind sowohl die unmittel¬
baren, als auch die bis jetzt bekannten Dauerresultate (im Ganzen 3)
der Magenresectionen bei Geschwürskranken von Krogius nicht so
glänzend, dass man darauf basirend die Resection vorziehen sollte.
Clairmont wies als Erster auf den Unterschied der Dauer¬
erfolge der Gastroenterostomie bei Pylorusgeschwüren und extra-
pylorischen hin. Die Beurtheilung dieser Frage ist deshalb nicht
leicht, weil in vielen Arbeiten alle diese Geschwüre in eine Gruppe
zusammengefasst sind. So ist z. B. in der grössten russischen
Statistik der Moskauer Klinik [Spischarny 1 )] diese Eintheilung
nicht gemacht. Was die Vergleichung der Dauererfolge von Gastro¬
enterostomie und Resection bei Pförtnergeschwüren anbetrifft, so
finden wir einen schwachen Versuch in dieser Richtung bei Bam-
berger (1. c. S. 217). Von 5 von ihm in der Literatur gefundenen
Resectionen bei Pförtnergeschwüren ist der Dauererfolg nur bei 4
(bei 3 ein guter) bekannt. Darauf basirend nimmt er an, dass die
Resection 75 pCt. guten Dauererfolg ergiebt!!
Bei Bamberger sind nicht alle veröffentlichten Fälle ange¬
geben. Ich habe in der Arbeit von Kramer 2 ) (Czerny) noch
Mittheilungen von Dauerfolgen bei 7 Resectionen und Excisionen
von Pförtnergeschwüren gefunden: zwei starben nach einigen Monaten
dennoch an Geschwüren, einer nach 3 Jahren 2 Monaten an
Magenkrebs, einer nach 17 Jahren an Lungentuberculose und drei
sind gesund. Somit schlechter Dauererfolg in 3 Fällen.
1) Spicharnv, Kuss. Chir. Areh. 1910. Xo. 2.
2) Kramer, Beitr. z. klin. Chir. Bd. 51.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 897
3 Geschwürskranke, welchen Krönlein den Pylorus resecirte,
genasen 1 ).
Ebenso erzielte Reczey 2 3 ) einen guten Dauerfolg nach 3 von
ihm ausgeführten Pförtnerresectionen.
Hofmeister 8 ) hat 4 Resectionen gemacht, alle, wie er sagt,
mit gutem Dauererfolg, aber bei seiner No. 27 „tritt manchmal
Erbrechen auf, doch fehlen Ulcuserscheinungen und nennenswerthe
Stenosebeschwerden.“ Augenscheinlich ist bei diesem Kranken der
Dauererfolg kein tadelloser. Ausserdem hat er bei 3 der erwähnten
Fälle der Excision noch die Gastroenterostomie hinzugefügt.
Bei Payr 4 5 ) sind 5 Fälle (No. 1, 2, 4, 5, 7) von Pförtner¬
geschwüren oder von Geschwüren der pylorischen Theile angeführt,
welche über ein Jahr beobachtet wurden und welche theils durch
Geschwürsexcisionen, theils durch Resection nach Billroth II
behandelt worden waren. Bei allen 5 ist der Dauererfolg ein sehr
guter.
Clairraont 6 * ) theilt 7 Resultate von Magenrescctionen mit:
zwei starben gleich nach der Operation, bei drei ist der Dauer¬
erfolg ein guter, bei zwei ein schlechter (beide starben an Magen¬
krankheit).
In der späteren Arbeit Clairmont’s 6 ) sind Mittheilungen von
Dauererfolgen nach 15 Geschwürsexcisionen: 8 sind gesund, 5 ge¬
storben (2 von ihnen an Magenkrankheit, was die übrigen 3 anbe¬
langt, so liegt, nach der Zeitdauer, die sie am Leben geblieben, zu
urtheilen, der Verdacht nahe, dass das Geschwür ein krebsartiges
war, um so mehr als Krebsverdacht die Resection indicirte). Beide
Fälle von segmentärer Excision des Geschwürs der kleinen Curvatur
(ohne Gastroenterostomie) ergaben Recidive (Blutungen). Die Mit¬
theilungen von Dauererfolgen sind bei Clairmont sehr kurz ge¬
fasst und beschränken sich auf das eben Gesagte. Wahrscheinlich
waren nur 2 Geschwürsexcisionen der kleinen Curvatur, die übrigen
beziehen sich auf den Pförtner.
1) Kreuzer, Beitr. z. klin. Chir. Bd. 49. S. 491.
2) Borszeky, Beitr. z. klin. Chir. Bd. 57. S. 164.
3) Stumpf, Beitr. z. klin. Chir. Bd. 59.
4) Payr, Dieses Archiv. Bd. 92. Heft 1.
5) Clairmont, Dieses Archiv. Bd. 76.
6) Clairmont, Mittheilungen a. d. Grenzgeben d. Medicin u. Chirurgie.
Bd. 20. II. 2.
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898
Dr. J. Galpern,
Wenn man dazu noch 2 Pförtnerresectionen von Krogiu?
(1 mit schlechtem Erfolg) und 2 des Smolensk’schen Krankenhaust:
(beide mit gutem) hinzufügt, so erhalten wir im Ganzen 43 Pylorus-
resectionen mit 10 schlechten Resultaten 1 ).
Doch auch diese Zahl ist zu gering, um daraus bestimmte
Schlüsse zu ziehen; bei 76,8 pCt. ein guter Dauererfolg, bei
23,2 pCt. ein schlechter, wobei hier die Operationsmorta¬
lität nicht mit einbegriffen ist. Die Frage wird dadurch
entschieden, dass die Gastroenterostomie an und für sich einen sehr
guten Dauererfolg bei Pförtnergeschwüren ergiebt. Das be¬
stätigen auch die Anhänger der Resection [Payr 2 )]. Im Smolensk-
schen Krankenhause ist von 33 Pförtnergeschwüren, welche mit
Gastroenterostomie behandelt wurden, nur bei 6 ein schlechter
Dauererfolg, bei 27 ein guter (darunter 6 namhafte Besserungen!
= 81,8 pCt. Wenn man die Operationsmortalität hinzufügi, so sinkt
diese Ziffer auf 79,4 pCt.
Was die Dauererfolge der Gastroenterostomie bei extra-
pylorischen Geschwüren anbelangt, so sind sie schlechter als
bei den Pylorusgeschwüren.
Ein guter Dauererfolg wurde erzielt:
Bei Pförtnergesch wären
Ciairmont 62 pCt.
Kreuzer 81,2 pCt.
Kindl 84,1 pCt.
Graf 74 pCt.
Kubritius 53,5 pCt.
Smolensk’sches Krankenhaus 79,4 pCt.
Bei extrapylorischen
Geschwüren
47 pCt.
73,3 pCt.
75pCt. (darunter 12,5pCt.
Besserung).
50 pCt. (auf 18 Gastro¬
enterostomien).
70 pCt. (von 10 Gastro¬
enterostomien).
73,3 pCt. (auf 15 Fälle —
6 Genesungen u. 5 nam¬
hafte Besserungen).
Den grössten Unterschied finden w r ir bei Ciairmont und
Graf; bei den übrigen ist er unbedeutend. In Wölffler’s Klinik
1) Busch's Arbeit konnte ich in dieser Hinsicht nicht ausnützen, da ick
nicht herausünden konnte, wieviel von den 12 bekannten Dauererfolgen sich
auf Pförtnergeschwüre und wieviel sieh auf Magengeschwüre beziehen. Eben:»
auch in Kuttner's Vortrag auf dem XXXIX. Deutsch. Chir.-Congr. 1910.
2) Payr, Deutsche med. Wochenschrift. 1909. No. 1 u. 2.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 899
(Rubritius) war der Dauererfolg nach Gastroenterostomie bei
extrapylorischen Geschwüren ein besserer als bei Pförtnergeschwüren.
Allerdings ist die Zahl der erstercn nicht gross (im Ganzen 10).
Im Smolensk’schen Krankenhause ist der Unterschied kein be¬
deutender, aber es muss bemerkt werden, dass das Verhältniss
zwischen der Zahl voller Genesungen und der Zahl merklicher
Besserungen ein anderes ist. Während bei 33 Pförtnergeschwüren
nach Gastroenterostomie 21 mal vollständige Genesung und 6 mal
merkliche Besserung beobachtet wurde, ergab die Gastroenterostomie
bei 15 extrapylorischen Geschwüren 6 mal Genesung und 5 mal
merkliche Besserung.
Zum Vergleich von Dauererfolgen bei Gastroenterostomie und
Resection bei extrapylorischen Geschwüren haben wir folgende
Angaben: Bamberger hat in seiner Tabelle (S. 214) 75 ver¬
öffentlichte Dauererfolge nach Gastroenterostomie (von 97) und
8 Dauererfolge nach Resection und Excision (von 32) gesammelt
(Arbeiten von Hoffmann, Clairmont, Graf, Schulz, Mayer,
Kindl, Riedl, Taylor, Delore und Almartine, Marnoch,
Drummond und Morrisson, Gouilloud).
Nach Bamberger:
Zahl
Zahl der be¬
kannten
Dauerresultate
Gutes
Resultat
Procent guter
Resultate
Operations¬
mortalität
Gastroenterostomie
97
75
46
60,6
9,2 pCt.
Resection u. Excision
der Geschwüre . .
32
8
l
7
87,9
18,8 „
Auf Grund dieser Zahlen kommt Bamberger zu dem Schlüsse,
dass man bei extrapylorischen Geschwüren die Resection der Gastro¬
enterostomie vorziehen muss. Besonders hebt er hervor, dass bei
Resectionen keine Recidive vorkamen und eine nachträgliche Ope¬
ration nicht nöthig war.
Der Procentsatz guter Resultate nach Gastroenterostomie stimmt
im Allgemeinen mit den von mir in der Tabelle eben angeführten
Ziffern überein.
Hingegen scheinen mir die Schlüsse Bamberger’s in Bezug
auf Resection nicht überzeugend.
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900
Dr. J. Galpern,
1. Weil sie auf eine ganz geringe Zahl von Fällen gegründet
sind — nur 8 im Ganzen;
2. weil die Mortalität in seiner Tabelle ohne Zweifel geringer
ist als in Wirklichkeit. Wenn die mittlere Mortalität bei allen Arten
von Resection (Excision, typische Resection des Pförtners) gegen
15 pCt. ausmacht, so muss die Mortalität bei Resection der Ge¬
schwüre der kleinen Curvatur und des mittleren Magentheils ohne
Zweifel höher sein. Hat doch Riedel von 21 Kranken 5 verloren
(23,3 pCt.). Im Smolensk’schen Krankenhause starben nach 12 Re-
sectionen 2, beide nach Geschwürsexcisionen der kleinen Curvatur.
Im Ganzen waren 6 Excisionen gemacht worden; die 18,8 pCt.,
welche Bamberger anführt, erklären sich dadurch, dass er sich zu
seiner Tabelle solcher Arbeiten bediente, in welchen je 1—2 Fälle
mit gutem Ausgange veröffentlicht worden waren. Diese Arbeiten
geben keine richtige Vorstellung von der Operationsmortalität nach
Geschwürsresectionen.
3. Der Hinweis auf das Fehlen von Recidiven ist sogar, was
die von ihm angeführten 8 Dauererfolge anbelangt, nicht ganz
richtig, denn ein Misserfolg ist der Todesfall an Perforation eines
anderen Geschwürs nach Excision des ersten; folglich wird durch
denselben der Radicalismus der Methode stark widerlegt. Ausser¬
dem ergeben 2 Fälle des Smolensk’schen Krankenhauses, No. 85
und No. 93, 2 typische Beispiele von der Bildung eines neuen Ge¬
schwürs nach Excision. Dasselbe gilt von 2 Fällen bei Körte
(Busch, 1. c. S. 32 u. 33) mit nochmaliger (nach einigen Jahren)
Gastroenterostomie in Folge von Narbenverengerung des Pförtners
auf der Stelle eines neuen, schon geheilten Geschwürs. Ebenso
liegt auch der Fall v. Eiselsberg’s (Clairmont) —Recidive der
Schmerzen und Blut in den Entleerungen nach Geschwürsexcision —.
und der Fall Küttner’s — Tod 13 Monate nach Resection — an
Perforationsperitonitis.
Schliesslich dienen als Beispiel nachträglicher Operation nach
Resection, ausser den soeben angeführten Beobachtungen Körte’s,
noch folgende von Wölfler (Rubritius): „5 Tage nach Geschwürs¬
excision der kleinen Curvatur Relaparotomie, da Schmerzen und
Erbrechen nicht auf hörten; es wurde noch eine ergänzende Gastro¬
enterostomie gemacht. Die Kranke genas.“
Bamberger hat nicht alle veröffentlichten Dauererfolge von
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 901
extrapylorischen Geschwürsresectionen gesammelt. In der mir zu¬
gänglichen Literatur fand ich noch 26 Fälle:
Autoren
Zahl der Dauererfolge
Zahl der Recidive
Rubritius 1 )
3
1
Krogius 2 )
3
1
Busch 3 )
C
2
Schwarz 4 )
5
2
Clairmont 5 6 )
2
2
Payr«)
4
2
Riedel 7 )
3
3
26
13
Dazu gehören noch 12 Dauererfolge nach Resection bei
Kranken Küttner’s (XXXIX. Congress Deutscher Chirurgen 1910),
bei denselben ist jedoch der Sitz der resecirten Geschwüre nicht
angegeben: 7 Kranke befinden sich nach der Resection ausgezeichnet,
3 leiden von Zeit zu Zeit an unbedeutenden krankhaften Magen-
erscheinuogen, 1 (nach 8 Jahren 10 Monaten) fühlt sich schwach
und hat in der letzten Zeit abgenommen, 1 starb 13 Monate nach
der Operation an Perforationsperitonitis.
Wenn wir noch 4 Fälle des Smolensk’schen Krankenhauses
mit 2 Recidivcn hinzufügen, so erhalten wir 30 Fälle mit 15 Reci-
diven. Wenn wir sie Bamberger’s 8 gesammelten Fällen (ein
Misserfolg) beifügen, so erweist sich, dass auf 38 Resectionen
extrapylorischer Geschwüre in 23 Fällen, d. h. 60,7 pCt., gute
Dauererfolge und 39,3 pCt. schlechte kommen; in der letzten Ziffer
ist die Operationsmortalität nicht mitgerechnet.
In beiden Fällen von Busch handelt es sich um Bildung
neuer Geschwüre, welche Narbenstenosen erzeugten, in Folge dessen
nach einigen Jahren eine ergänzende Gastroenterostomie gemacht
werden musste.
1) Rubritius, Beiträge zur klin. Chirurgie. Bd. 67. S. 241.
2) Krogius, Dieses Archiv. Bd. 75.
3) Busch, Dieses Archiv. Bd. 90. If. 1.
4) Schwarz, Beiträge z. klin. Chirurgie. Bd. 67.
5) Clairinont, Dieses Archiv. Bd. 76.
6) Payr, Dieses Archiv. Bd. 92. II. 1. Die ausgezeichneten Operations¬
resultate Payr’s sind noch nicht durch Dauererfolge bestätigt. Von 25 Re¬
sectionen sind 15 weniger als 1 Jahr beobachtet. Von 9 bekannten Dauer¬
erfolgen gehören 5 zu den Pylorusgeschwüren.
7) Riedel, Deutsche med. Wochenschrift. 1909. No. 1 u. 2.
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902
Dr. J. Galpern,
Bei allen Kranken von Schwarz bestanden penetrirende Ge¬
schwüre (in die Bauchhöhle und Leber). Die Operation bestand
darin, dass er den Magen und den Defect in demselben abtrencte.
nach Auffrischung der Ränder bis zu dem gesunden Gewebe zu¬
nähte. Ausserdem legte er zum Schluss der Operation eine Magen-
Darm - Anastomose an (in 4 Fällen von den 5, bei welchen der
Dauererfolg bekannt ist) und tamponirte die Stelle, welche früher
den Boden des Geschwürs bildete. Der Fall No. 3 ist ausser¬
ordentlich interessant:
Segmentäre Resection eines Magenlebergeschwürs. Keine
Besserung. Nach 1 Jahr Gastroenterostomie, dabei noch ein
Magen-Pankreasgeschwür gefunden. Schmerzen bleiben unver¬
ändert; Leube’sche Cur. Besserung. Nach 3 Jahren neuerdings
Entwicklung eines Magenbauchwandgeschwürs. Segmentäre Re¬
section. Dauernde Heilung.
In dem Falle von Clairmont Wiederkehr der Schmerzen
und Blut in den Ausleerungen nach segmentärer Excision.
Bei Payr (No. 3) Geschwürsexcision der kleinen Curvatur
und Gastroenterostomie. Nach 5 Monaten wieder eine Operation
— neues Geschwür der kleinen Curvatur, Anastomose gut passir-
bar. Querresection des Magens mit Anastomose. Dauererfolg
(5 Jahre Beobachtung) ein guter. No. 9: Geschwür des Magen¬
körpers und der kleinen Curvatur, Querresection des Magens und
Gastroenterostomie nach Roux. Nach 9 Monaten bei Erscheinungen
von Circulus vitiosus Laparotomie. Enteroanastomosis. Nach
weiteren 7 Monaten Oeffnung eines subdiaphragmatischen Abscesses
in Folge von Perforation eines peptischen Geschwürs der zu¬
führenden Schlinge. Tod.
Riedel führt 3 Fälle (No. 30, 54 und 56) von Geschwürs-
excisionen der kleinen Curvatur mit unbefriedigendem Resultat an,
wobei in den ersten beiden Recidive constatirt werden.
In beiden Fällen des Smolensk’schen Krankenhauses Recidiv
der Krankheit nach Geschwürsexcision — alle klinischen Geschwürs¬
symptome (in einem Falle bis zu Bluterbrechen inclusive).
Obwohl 38 Dauererfolge überzeugender sind als die von
Bamberger citirten 8, so ist doch diese Ziffer an und für sich
noch nicht gross genug zur endgiltigen Entscheidung der Frage.
Jedenfalls kann man auf Grund der bis jetzt bekannten Ergebnisse
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 903
behaupten, dass sich die Dauererfolge nach Excision der cxtra-
pylorischen Geschwüre nur wenig von den Dauererfolgen nach
Gastroenterostomie unterscheiden und jedenfalls nicht günstiger als
die letzteren sind. Was aber die Operationsmortalität anbelangt,
so ist sie nach Resection vielmal grösser als nach Gastroenter¬
ostomie.
Folglich ist durchaus kein Grund vorhanden, die Resection
der Gastroenterostomie vorzuziehen.
Die Dauererfolge nach querer Magenresection, welche in
Riedel’s Praxis 23 pCt. Mortalität und in Payr’s 6,6 pCt. er¬
geben, sind bis jetzt noch nicht mit genügender Vollständigkeit
veröffentlicht. Wie sie sich erweisen, wird die Zukunft lehren.
Bis jetzt sind von 23 Resectionen, welche Riedel gemacht hat,
in seinem Bericht 12 angegeben: 6 mit gutem Dauererfolg (nicht
weniger als 1 Jahr), 4 wurden kurz vor der Publicirung operirt
und 2 starben 2 Monate nach der Operation, nicht an Magen¬
krankheiten.
Die meisten von Payr’s Kranken wurden auch in der aller¬
letzten Zeit operirt und der Dauererfolg ist nur bei No. 3 und
No. 9 bekannt. Bei No. 3 ein guter (5 Jahre Beobachtung), bei
No. 9 ein schlechter. Beide sind oben citirt.
Payr und Riedel, welche die grösste Erfahrung in queren
Magenresectionen haben, und welche in ihrem Material die oben
angeführten Misserfolge bei Excision der extrapylorischen Geschwüre
angeben, bestehen darauf, dass die Querresection grosse Vorzüge
vor der Geschwürsexcision hat. 1. Nach Resection nimmt der
Magen seine normale Form an, während er bei Geschwürsexcision
der kleinen Curvatur eine Beutelform bekommt, was die Stauung
des Mageninhalts begünstigt; 2. es wird nicht nur das Geschwür
mit den naheliegenden Theilen excidirt, sondern die Resection
wird — nach sorgfältiger Mobilisation — in vollkommen gesunden
Geweben gemacht; 3. es ist nach den Ergebnissen der modernen
Magenphysiologie anzunehmen, dass die quere Resection mit der
Durchschneidung der in der Magen wand verlaufenden Vagusäste
den Tonus in Antrum und Pylorus für längere Zeit wesentlich
herabsetzt und dadurch den Pylorospasmus beseitigt.
Theoretisch ist es nicht schwer zu vermuthen, dass Recidive
auch bei dieser Art Resection möglich sind, da die Grundursache
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4.
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904
Dr. .1. Galpern,
des Auftretens eines Geschwürs ja unbekannt ist und sie schwer¬
lich auf diesem Wege entfernt wird. Payr hofft, indem er die
Methode aus oben angeführten Gründen heiss vertheidigt, auf die
Bestätigung seiner Ansicht durch Dauererfolge in der Zukunft.
Brenner 1 ), welcher früher resecirte, neigt zur Gastroenter¬
ostomie, nachdem er sich 3 mal davon überzeugt hat, dass die
Geschwüre auch nach Gastroenterostomie vernarben, und dass
andererseits die Resectionen bei grösserer Operationsmortalität
keine besseren Erfolge aufzuweisen haben.
Die Ziffern Brenner’s 2 ) sind folgende:
Zahl
Gestorben
Mortalitäts-
Procent
Zahl der (Procentgutex
Dauererfolge Dauererfolge
Resection ....
21
6
28,6
i
12
I
l 66,6
Gastroenterostomie .
30
4
13,3
j 22
1 63,6
In der vor Kurzem vou Schwarz 3 ) publicirten Arbeit be¬
zeichnet sich der Autor auch als Anhänger der Gastroenterostomie
und ist, wie er sich bildlich ausdrückt, aus dem Saulus ein Paulus
geworden: „Ganz im Beginn prakticirte ich die segmentäre Re-
section, später fügte ich zu dieser principiell die Gastroenterostomie
hinzu, schliesslich ging ich bei allen Magenleber- und Magen¬
pankreasgeschwüren einfach zur Gastroenterostomie über“.
Indem er Gastroenterostomie bei allen Geschwüren im Allge¬
meinen für angezeigt hält, behauptet er, dass auch speciell bei ausser¬
halb des Antrum pyloricum liegenden Geschwüren und bei den
penetrirenden die Gastroenterostomie glänzende Resultate crgiebt.
Derselben Meinung ist auch Hochenegg 4 5 ), ein überzeugter
Anhänger der Gastroenterostomie, auch bei extrapylorischen Ge¬
schwüren. Alle 5 Privatkranken Hochenegg’s genasen nach
Gastroenterostomie bei extrapylorischen Geschwüren. Die Nach¬
untersuchung des klinischen Materials Hochenegg’s (allerdings ist
dieselbe noch nicht beendet) bestätigt seine Meinung.
Kelling 6 ) erhielt in 17 Fällen bei extrapylorischen Geschwüren
1) Brenner, Dieses Archiv. Bd. G9. 1903.
2) Brenner, Dieses Archiv. Bd. 78. 1906.
3) Schwarz, Beiträge zur klin. Chirurgie. 1910. Bd. 67. S. 119.
4) Hochenegg, Wiener klin. Wochenschrift. 1910. No. 2.
5) Kelling, Münchener raed. Wochenschrift. 1910. No. 38. S. 1996.
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Die Dauererfolge der Magenoperationen bei gutartigen Erkrankungen. 905
einen ebenso guten Dauererfolg nach Gastroenterostomie, wie bei
Pförtnergeschwüren.
Folglich sahen einige Chirurgen keinen Unterschied in den
Resultaten von Gastroenterostomie bei Pförtnergeschwüren oder
extrapylorischen, andere aber bemerkten ein grösseres Procent
Misserfolge bei letzteren. Der letzten Meinung trete auch ich,
gestützt auf das Material des Smolensk’schen Krankenhauses, bei.
Doch an und für sich sind diese Dauererfolge lange nicht
schlecht zu nennen und concurriren mit Erfolg mit eben solchen
Resultaten nach Resection und Excision der extrapylorischen Ge¬
schwüre. In Anbetracht des Gesagten und dessen, dass die Gastro¬
enterostomie eine unvergleichlich geringere Operationsmortalität er-
giebt, ist die Gastroenterostomie nicht nur bei Pförtnergeschwüren,
sondern auch bei extrapylorischen der Resection vorzuziehen.
Zum Schluss der Betrachtung aller Operationsmethoden bei
verschiedenen gutartigen Erkrankungen, will ich noch die Resultate
der Operationen der Duodenalgeschwüre und -Narben anführen.
Viele Autoren sind mit den Resultaten der Gastroenterostomie
bei diesen Erkrankungen vollkommen zufriedengestcllt (Clairraont
weist 73 pCt. guter Dauererfolge auf). Moynihan 1 ) fand unter
163 beobachteten Kranken 144 Genesungen, 17 Besserungen und
2 resultatlos. Von den 10 im Smolensk’schen Krankenhause ope-
rirten Kranken sind Nachrichten von 6 vorhanden: Genesung in
1 Falle, Besserung in 2 und Misserfolg in 3 Fällen. Somit hat
Gastroenterostomie bei Duodenalerkrankungen des Smolenskschen
Krankenhauses ein schlechteres Resultat als bei anderen Chirurgen
ergeben, und die Aufmerksamkeit richtet sich unwillkürlich noch
auf andere Methoden.
Die von v. Eiseisberg vorgeschlagene Pylorusausschaltung ist
theoretisch sehr verlockend, da durch diese Operation die Möglich¬
keit eines mechanischen und chemischen Reizes, sowohl des Pförtner¬
geschwürs als auch des Duodenum, ausgeschlossen ist.
Der Autor 2 ) selbst hat die Operation im Ganzen nur 12 mal
ausgeführt. Unter 8 bekannten Dauererfolgen ein schlechter
(No. 5). Er zählt auch die anderen Fälle, bei denen diese Ope¬
ration angewandt wurde, auf: Jonnesco 9, Körte (Busch) 7,
1) Moynihan, Rcf. Russky Wratsch. (Russisch.) 1910. S. 1281.
2) y. Eiselsbcrg, Wiener klin. Wochenschrift. 1910. No. 2.
59*
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906 Dr. J. Galpern, Die Dauererfolge der Magenoperationen etc.
Sacharow 1. Wie man sieht, hat sich die Pylorusausschaltung
in der Praxis nicht eingebürgert.
Indem Wilms 1 ) die Ansicht einiger Chirurgen anführt, die
principiell für Excision des Duodenalgeschwürs sind, aber die>er
Operation zu Gunsten der Gastroenterostomie wegen technischer
Schwierigkeiten entsagen, behauptet er, dass ein einfacheres Ver¬
fahren dieselben Resultate wie die Excision erzielt. Das leber¬
nähen der Wunde mit der Lembert’sehen Naht auf derartige
Weise, dass der Darmtheil mit dem Geschwür in Form einer
Leiste in das Darmlumen hineinragt. Dabei nekrotisirt naeb
Wilms die Leiste theilweise, und es wird dasselbe Resultat wie
nach Resection erzielt. Als Beweis führt Wilms 3 Fälle, alle
mit gutem Resultat, an. Die Dauer der Beobachtung war im
ersten Falle 2 x / 2 Jahre, in den beiden andern 3 Monate, d. h. eigent¬
lich nur eine ungenügend lange Beobachtung. Das ist zu wenig
um sich von der Wirksamkeit des beschriebenen Verfahrens zur
Heilung der Geschwüre zu überzeugen.
Theoretisch ist es begreiflich, dass das Uebernähen des Ge¬
schwürs die Perforationsgefahr vermindert, doch können wir nicht
sicher sein, dass das Geschwür wirklich geheilt wird und dass
keine Blutung eintritt.
Nach zum Busch 2 ) wendet Movnihan auch das Uebernähen
des Geschwürs an, aber nicht als selbstständige Operation, sondern
er fügt die Gastroenterostomie hinzu, da er die Möglichkeit einer
Verengerung des Duodenallumens durch die gebildete Leiste m*
giebt. Der Autor selbst hält die Gastroenterostomie für d»>
Normalverfahren und, wo es möglich ist, vervollständigt er sie
durch Uebernähen des Geschwürs.
Zum Schlüsse dieser Arbeit sei mir noch gestattet, meinem
hochverehrten früheren Chef, Dr. S. Spassokukotzkv, auch an
dieser Stelle meinen besten Dank abzustatten für die Ueberlassung
der Fälle und das grosse Interesse, das er an der Arbeit ge¬
nommen hat.
1) Wilms, Münchener med. Wochenschrift. 1910. No. 13.
2) zum Busch, Münchener med. Wochenschrift. 1910. No. 28.
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XXXII.
(Aus der I. chirurgischen Universität«-Klinik in Wien. —
Vorstand: Prof. Dr. Freiherr von Eiseisberg.)
Zur Frage der primären Dickdarmresection.
Von
Privatdocent Dr. Hans von Haberer,
Assistent der Klinik.
Wie fast alle Zweige der Chirurgie, habeu auch die Magen-
Darmoperationen in den letzten Jahren nicht unwesentliche Fort¬
schritte erfahren, nicht zum mindesten auch die noch bis vor Kurzem
mit Recht so gefürchteten Dickdarmrcscctionen.
Wenn Denk im 89. Bande dieses Archivs auf Grund einer
Sammelstatistik, die 39 Radicaloperationen von Dickdarmcarcinomen
aus der v. Eiselsberg’schen Klinik in Wien umfasste, noch zu dem
Schlussegelangte, dass die primäre Dickdarmresection unbrauchbar sei,
so war dieser Schluss, aus der Mortalitätstabelle gezogen, ein vollkom¬
men logischer. Hatte es sich doch gezeigt, dass von 14 primären Dick-
darmresectionen 10 im Anschluss an die Operation gestorben waren.
Daher herrschte bis vor relativ kurzer Zeit an der ersten
chirurgischen Klinik in Wien das Princip der zweizeitigen Resection
im Bereiche des Dickdarraes, weil wir das längere Krankenlager
und die Beschwerden des temporären Anus praeternaturalis als
einen relativ geringen Nachtheil gegenüber der hohen Mortalität
der primären Resection ansprechen mussten.
Die zweizeitige Resection war auch für die Resection des
Coecums an der Klinik die Methode der Wahl, was vielleicht des¬
halb besonders zu betonen ist, weil daraus erhellt, wie wenig Zu¬
trauen wir zur primären Resection hatten; denn bekanntlich ist sie
von allen Dickdarmresectionen die relativ ungefährlichste und ist
andererseits die Vorlagerungsmethode im Bereiche des Coecums
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908
Dr. H. v. Haberer,
für den Kranken dadurch besonders lästig, dass der daraus resul-
tirende Anus praeternaturalis Dünndarmstuhl entleert. In der
letzteren Zeit haben wir allerdings durch die Verwendung des von
v. Frisch (Wiener klin. Wochenschr. 1909. No. 22) angegebenen
Apparates gelernt, diesen Nachtheil ganz erheblich zu vermindern.
Die Geschichte der Vorlagerungsmethode und die einschlägige Literatur
findet sich von Anschütz (Grenzgeb. d. Medicin u. Chirurgie, Gedenkband für
v. Mikulicz. 1907) so eingehend besprochen und wurde auch von Denkit
seiner citirten Arbeit so gründlich gewürdigt, dass es sich erübrigt, darauf «in¬
zugehen.
Auch beabsichtige ich nicht, in den folgenden Zeilen den Standpunkt der
einzelnen Chirurgen zu präcisiren, denn bekanntlich hatte die primäre Resec-
tion zu allen Zeiten Anhänger, bezw. wurde wenigstens in einzelnen Fällen
ausgeführt. Ich brauche ja nur zu erwähnen, dass Billroth (Wiener klin.
Wochenschr. 1891. No. 34) bereits über 32 primäre Resectionen im Bereich;
des Dickdarmes berichtete, die mit 17 Heilungen und 15 Todesfällen verlaufen
waren. Salzer publicirte ein Jahr später im 43. Bande dieses Archivs 18pri¬
märe Coecumrescctionen mit 8 Todesfällen, v. Eiseisberg, der in diesem
Archiv, Bd. 54, 1897, ausschliesslich die von ihm selbst theils an der Bill-
roth’schen Klinik, theils an den Kliniken in Utrecht und Königsberg ausge¬
führten Resectionen und Enteroanastomosen am Magen-Darmtracte mittheilte,
berichtet in dieser Arbeit ebenfalls über 3 primäre Dickdarmresectionen mit
1 Todesfall. Ueber ganz besonders günstige Resultate konnte Körte (dieses
Archiv. Bd. (51 und Deutsche Zeitschr. f. Cbir. Bd. 40) Mittheilung machen, der
unter 30 Dickdarmresectionen, die primär ausgeführt wurden, nur 7 Patienten
am Eingriffe verloren hat. Ein wesentliches Verdienst in der Frage der pn-
mären Dickdarmresectionen gebührt unter anderen auch Friedrich (Archiv,
international. 1905), da er nachgewiesen hat, an welchen Stellen die primären
Dickdarmresectionen besonders gefährlich sind und wie man diese Gefahren
durch Ausdehnung der Resection über diese Stellen hinaus, trotz scheinbarer
Vergrösserung des Eingriffes wesentlich vermindern kann.
Mögen diese wenigen Beispiele genügen, um zu zeigen, dass in der That
die primäre Dickdarmresection immer in Verwendung stand.
Die Einführung der zweizeitigen Verfahren sowie schliesslich das von
Schloffer (Bruns’ Beiträge. Bd. 38) angegebene dreizeitige Verfahren, das
nicht nur in seiner Hand gute Resultate zeitigte, sondern bereits vielfach Nach¬
ahmung fand und für manche Fälle gewiss ganz besonders geeignet erscheint,
war — ich möchte sagen — eine Reaction auf die sohlechten Resultate der ein¬
zeitigen Dickdarmresection.
Die Resultate haben sich bei den mehrzeitigen Dickdarmresectionen in
der That wesentlich gebessert, und wenn trotzdem eine Reihe von Chirurgen
die einzeitige Methode weiter auszubilden versuchte und ihr Anwendungsgebiet
erweitern wollte, so geschah dies sicher in dem Bestreben, die Kranken vor den
Misshelligkeiten eines mehrzeitigen Operationsverfahrens za bewahren. Und so
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Zur Frage der primären Diokdarmresection.
909
finden wir in der That gerade in den allerletzten Jahren wieder in der Litera*
tur eine Vermehrung der Stimmen, welche sich zu Gunsten der primären Re-
section ausspreohen.
Ohne auf alle diese einzelnen, meist kleineren Mittheilungen eingehen zu
wollen, sei bloss darauf hingewiesen, dass namentlich Moszkowicz in einer
Reihe von llPublicationen bezw. Demonstrationen über aseptische Magen-Darm¬
operationen — die letzte zusammenfassende Arbeit findet sich in diesem Archiv,
Bd. 91, 1910 — sich bemühte, einem von Rostowzew angegebenen Instrumen¬
tarium weitere Verbreitung zu verschaffen. Moszkowicz modificirte dieses
Instrumentarium und vereinfachte es schliesslich nicht unerheblich, da er ge¬
rade in der Anwendung dieses Instrumentariums die Möglichkeit einer wesent¬
lichen Verbesserung der Resultate bei der primären Darmresection erblickte.
Auf die von ihm erzielten Resultate werde ich später noch zurückkommen.
In noch einfacherer Weise suchte Wullstein (Verhandl. der Deutschen
Gesellsch. f. Chirurgie. 1908) dem Principe der aseptischen Darmoperationen
gerecht zu werden und gerade der Vergleich aller dieser einschlägigen Mit¬
theilungen rief in mir sohon lange den Gedanken hervor, ob denn wirklich die
besseren Resultate auf der Anwendung eines bestimmten Instrumentariums oder
einer besonderen Methode beruhen oder ob sie nicht doch lediglich dadurch zu
erklären seien, dass unsere Technik in der Bauchohirurgie im Allgemeinen
wesentliche Fortschritte gemacht habe, wie sich dies aus der Zunahme unserer
Erfahrungen nahezu von selbst erklärt.
Ich bin nun heute in der Lage, über 19 primäre Dickdarm-
resectionen aus der ersten chirurgischen Klinik in Wien zu berichten,
die seit August 1909 ausgeführt wurden. 3 von denselben sind im
Anschluss an die Operation gestorben, die übrigen 16 sind operativ
geheilt und, soweit bei der relativ kurzen Zeit, seit der wir die
primäre Diokdarmresection wieder aufgenommen haben, überhaupt
davon die Rede sein kann, sind auch die Resultate in Bezug auf
das Befinden der Patienten nach der Operation — den Ausdruck
Dauerresultat darf ich wohl nicht für diese Fälle gebrauchen —
durchaus befriedigend. Von diesen Operationen hatte, ich selbst 13
auszuführen Gelegenheit, während von meinen Collegen v. Frisch 4,
von Leischner 2 vorgenommen wurden.
Da es sich weniger um die Mittheilung der Krankengeschichten,
als vielmehr eben um die Thatsache der primären Resection des
Dickdarmes handelt, so kann ich mich bezüglich der ersteren
ganz kurz fassen, und möchte sie skizzenhaft der weiteren Be¬
sprechung vorausschicken.
1. 37jährige Frau, am 10. 8. 09 an der ersten chirurgischen Klinik auf¬
genommen. Abdomen stark aufgetrieben mit mächtigen Darmsteifungen in der
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910
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Dr. H. v. Haberer,
Ileocoecalgegend, die bei dem Versuche der Palpation noch stärker werden.
Dabei Brechreiz. Unterhalb des rechten Rippenbogens ein faustgrosser Tumor
mit guter Verschiebliohkeit tastbar, der genau der rechten Nierengegend ent*
spricht und bei Aufblähung des Darmes vom Rectum her, in die Tiefe ver¬
schwindet. Auf Grund der functioneilen Nierenuntersuchung, die vollständige
Anurie der rechten Niere ergab, wurde ein Nierentumor, wahrscheinlich tuber-
culöser Natur, mit gleichzeitiger Darmstenose angenommen. Ich brauche auf
die Krankengeschichte nicht näher einzugehen, weil ioh sie in der Wiener klin.
Wochenschr., 1909, No. 49, unter dem Titel „Ueber einen Fall von Nierendefect,
bei dem ein Nierentumor vermuthet wurde“ in extenso veröffentlicht habe.
Operation am 12. 8.09 (v. Haberer). Es fand sich ein Carcinom des Colon
ascendens, das retrograd ins Coecum invaginirt war, bei angeborenem Defect
der rechten Niere. Es wurde die primäre Resection des untersten Heum, Coecum,
Colon ascendens und der Flexura hepatica ausgeführt und die Darmcontinuität
durch eine laterale Anastomose zwischen Ileum und Colon transversum her¬
gestellt. Bis auf Drainage des weit freigelegten retroperitonealen Raumes durch
einen Isoformdocht und ein Drainrohr wurde die Laparotomiewunde vollständig
vernäht. Die Heilung war eine glatte und vollzog sich bis auf die Drainage
per primam intentionem. Die Frau hat jetzt, anderthalb Jahre nach der Ope¬
ration, an Gewicht wesentlich zugenommen und erfreut sich des besten Wohl¬
befindens.
2. 24jähriger Jurist mit chronischen lleuserscheinungen seit zwei Mo¬
naten. Darmsteifung im Bereiche des untersten Dünndarmes. Wahrscheinlich¬
keitsdiagnose: Tuberculose desCoecums. 13. 11. 09 Operation (v. Haberer).
Das Coecum ist in einen kleinapfelgrossen, ziemlich derben, stenosirenden Tu¬
mor aufgegangen, Appendix fast unverändert. Die dem Coecum benachbarten
Mesenterialdrüsen stark geschwellt. Resection des unteren Ileum, des Coecum
und halben Colon ascendens, Verschluss des Colon- und Ileumstumpfes, seit¬
liche Anastomose zwischen Ileum und Colon transversum. Vollständiger Ver¬
schluss der Laparotomiewunde durch Etagennaht. Afebriler Verlauf, Heilung
p. p. Laut letzter Nachricht vom Sommer 1910 fühlt sich Pat. seit der Ope¬
ration vollständig wohl und hat stark an Gewicht zugenommen. Der exstirpirte
Tumor erwies sich als Tuberculose des Coecums.
3. 48jäbriger Mann. Seit einem halben Jahre Darmbeschwerden. Ab¬
domen meteoristisch, keine Resistenz tastbar, ab und zu rechts vom Nabel
leichte Peristaltik sichtbar. Vermuthliche Stenose im Bereiche des unteren Ileum
oder Coecum. Operation am 3. 2. 10. (Leischner). Es findet sich ein frei
beweglicher orangengrosser Tumor des Coecums, der sofort als Carcinom im-
ponirt. Keine Drüsensohwellungen. Primäre Resection des Coecums, blinder
Verschluss des Ileum und Colon ascendens. Laterale Anastomose zwischen
Ileum und Colon transversum. Etagennaht der Laparotomiewunde. Heilung p. p.
Keine spätere Nachricht erhalten.
4. 53jähriger Mann. Seit fünf Monaten Krämpfe im Bauch um den Nabel
herum, ab und zu Darmsteifungen, oft Erbrechen nach der Mahlzeit. In letzter
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Zeit Verschlimmerung der Beschwerden. Abdomen stark aufgetrieben, in der
rechten Unterbauchgegend starke Peristaltik sichtbar. Genaue Diagnose kann
wegen Mangels einer tastbaren Resistenz nioht gestellt werden. Operation am
19. 2. 10 (Leischner). Unterer Dünndarm stark gebläht, Invagination des
unteren Ileums sammt der Ueocoecalklappo in das Coecum. ln letzterem ein
harter, höckeriger Tumor tastbar. Resection des unteren lleum, des Coecum
und eines Stückes des Colon ascendens. Blinder Verschluss des Ueum- und
Colonstumpfes. Laterale Anastomose zwischen Ueum und Colon transversum.
Etagennaht der Laparotomiewunde, Heilung p. p. Histologische Diagnose:
Adenocarcinom derValvula ileocoecalis. Patient befindet sich derzeit vollständig
beschwerdefrei, und hat an Gewicht wesentlich zugenommen.
5. lßjäbriges Mädchen mit Tuberculose beider Lungen, schmerzhafter
Resistenz im Bereiche desCoecums, subfebrilen Temperaturen. Diagnose: Tbc.
coeci. Schon zur Operation vorbereitet, bekam das Mädchen eine heftige An¬
gina tonsillaris, welche allerdings im Verlaufe von wenigen Tagen abklang.
Das Mädchen drängte zur Operation, so dass dieselbe 12 Tage nach Ablauf der
Angina am 11. 4. 10. (v. Haberer) vorgenommen wurde. Es fand sich eine
isolirte Tuberculose des Coecums mit Uebergreifen auf die Appendix und wurde
das untere lleum, Coecum und ein Stück des Colon ascendens resecirt. Nach
blindem Verschluss des lleum- und Colonstumpfes folgte laterale Anastomose
zwischen lleum und Colon transversum.
Das Mädchen ging an foudroyanterSepsis zu Grunde. Bei der Obduction
fand sich eine Streptokokkenperitonitis bei vollständiger Sufficienz aller Nähte,
Tuberculose beider Lungen und Eiterpfropfe in beiden Tonsillen.
6. 18jähriger Hochschüler. Seit einem Jahre öfter Anfälle von Schmerzen
in der Blinddarmgegend. Seit dieserZeitbemerktePat.,das sich eine Darmschlinge
in der rechten Unterbauchgegend öfter aufstellt und nach einiger Zeit unter
Gurren wieder verschwindet. Dabei ziemlich starke Abmagerung, Stuhl jedoch
regelmässig und weich. Linke Lungenspitze suspect, Abdomen weich, nicht
aufgetrieben, im Bereiche des Coecum ein harter, hühnereigrosser, gut ver-
schieblioherTumor tastbar. Diagnose: Tbc. coeci. Laparotomie am 23.7. 10.
(v. Frisch). Es findet sich ein harter, faustgrosser Tumor des Coecums mit
Schwellung dor regionären Lymphdrüsen. Primäre Resection des Coecum und
Colon ascendens, blinder Versohluss des Ueum- und Colonstumpfes, laterale
Anastomose zwischen lleum und Colon transversum. Etagennaht der Bauch¬
decken. Heilung p. p. Patient seither beschwerdefrei. Der anatomische Be¬
fund bestätigt die Diagnose Tuberculose. Patient im Januar 1911 nachunter¬
sucht, hat seit der Operation 14 kg zugenommen und ist vollkommen be¬
schwerdefrei.
7. 40jährige Frau mit einem kindskopfgrossen Tumor in der Coecal-
gegend und hochgradigen Darmsteifungen. Diagnose: Carcinoma coeci. Ope¬
ration am 12. 8. 1910 (v. Haberer). Es findet sich ein kindskopfgrosser
Tumor des Coecums mit der lateralen und vorderen Bauchwand fest ver¬
wachsen. Die Appendix in dem Tumor aufgegangen. Die regionären Lymph-
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Dr. H. v. Haberer,
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drüsen mächtig angeschwollen. Resection des unteren lleum, Coecum, Colon
ascendens und des Anfangsstückes des Colon transversum. Laterale Entero-
anastomose zwischen lleum und Colon transversum nach blindem Verschluss
des lleum- und Colonstumpfes. Etagennaht der Bauchdecken. Heilung p. p.
Oie anatomische Untersuchung ergab ein Lymphosarkom. Patientin, die sich
Ende Januar 1911 persönlich vorstellte, hat an Gewicht wesentlich zugenommen,
fühlt sich seit der Operation vollständig gesund.
8. 56 Jahre alte Frau mit hochgradiger Darmstenose. Tumor in Folge
starker Anblähung des Abdomens nicht tastbar. Imposante Dünndarmperistaltik,
starke Coecalblähung. Carcinom an der Flexura hepatica mit Wahrscheinlich¬
keit diagnosticirt. Operation am 19. 8. 10 (v. Haberer). Coecum und
Colon ascendens mächtig gebläht, desgleichen der untere Dünndarm, Colon
transversum vollständig collabirt. In der Flexura coli hepatica sitzt ein scir-
rhöses, nussgrosses, den Darm hochgradig stenosirendes Carcinom. Primäre
Kesection des unteren lleum, Coecum, Colon ascendens und halben Colon
transversum. Nach blindem Verschluss des lleum- und Colonstumpfes laterale
Anastomose zwischen lleum und Colon transversum, Etagennaht der Laparotomie¬
wunde. Afebriler Verlauf, Heilung p. p. Patientin im Januar 1911 nachunter¬
sucht, hat seit der Operation um 14 kg zugenommen, fühlt sich voll¬
kommen wohl.
9 . 54jähriger Mann. Seit 7 Wochen schneidende Schmerzen im Bauch
mit kolikartigem Charakter, Stuhl nur auf Abführmittel, nach demselben Er¬
leichterung. Wiederholt einige Stunden nach der Mahlzeit Erbrechen. Abdomen
ilach, weich, in der Ileocoecalgegend ein faustgrosser, harter, höckeriger Tumor
tastbar. Diagnose: Carcinoma coeci. Operation am 20. 8. 10 (v. Frisch).
Das Coecum in einen faustgrossen, barten Tumor verwandelt, an der lateralen
und hinteren Bauch wand leicht fixirt. Primäre Kesection des Coecums und
Colon ascendens. Blinder Verschluss des lleum- und Colonstumpfes, laterale
Anastomose zwischen lleum und Colon transversum. Etagennaht der Laparo¬
tomiewunde. Heilung p. p. mit leicht febrilen Temperaturen, die auf eine
Bronchitis bezogen werden müssen. 10 Tage nach der Operation in der Nacht
plötzliches Einsetzen einer Peritonitis. Trotz Relaparotomie Exitus letalis am
80. 8. 10. Obduction ergiebt diffuse fibrinös eitrige Peritonitis ausgehend Ton
einem apfolgrossen Abscess im Resectionsbereiche des Dickdarmes, Fettdegene¬
ration von Herz, Leber und Nieren.
10 . 25jährige Frau, seit langer Zeit an Cholelithiasis leidend. Letzter
Anfall vor 6Tagen. In der Gallenblasengegend ein hühnereigrosser, gespannter,
wenig beweglicher Tumor tastbar. Diagnose: Cysticusverschluss durch Stein,
Cholecystitis. Operation am 26. 10. 10 (v. Frisoh). Gallenblase in einen
harten Tumor umgewandelt, mit der Umgebung stark verwachsen. Das Colon
transversum in einer Ausdehnung von ca. 10 cm an die Gallenblase heran¬
gezogen, seine Wand hart und derb infiltrirt. Da es nicht entschieden werden
kann, ob es sich nicht um einen Tumor handelt, wird die Gallenblase exstirpirt
und das fragliche Stüok des Colon transversum primär resecirt. Blinder Ver-
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913
Schluss beider Colonstümpfe, laterale Anastomose zwischen Ileum und Colon
transversum. Drainage des Cysticusstumpfes, im übrigen exakte Schichtennaht
der Bauchwunde. Heilung p. p. bis auf die Drainage. Die mikroskopische
Untersuchung ergab einen entzündlichen Process im Bereiche der Gallenblase
und des Colon transversum, keinen Tumor. Die Patientin fühlt sich ganz
wohl, mit Ausnahme eines ab und zu sie belästigenden Druckgefühles im Be¬
reiche des Colon asoendens.
II. 1 ) 53jährige Frau mit deutlich sichtbarer Peristaltik und starkem
Plätschergeräusch im Abdomen. Enorme Coecalblähung. Seit einiger Zeit täg¬
lich mehrmals Erbrechen. Beiläufig der Mitte des Colon transversum ent¬
sprechend ein Tumor tastbar. Diagnose: chronischer Ileus in Folge Carcinom
des Colon transversum. Operation am 31. 10. 10 (v. Haberer). Es findet
sich in der Mitte des Colon transversum ein hochgradig stenosirendes Car¬
cinom. Primäre Resection des Coecum, Colon ascendens und von zwei Dritteln
des Colon transversum. Nach blindem Verschluss des Ileum- und Colon¬
stumpfes laterale Anastomose zwischen Ileum und Colon descendens. Etagen-
liaht der Laparotomiewunde. Heilung p. p. Patientin verliess mit wesentlicher
Gewichtszunahme das Spital. Sie fühlte sich ausgezeichnet, als sie am 28. 12.
plötzlich von einer Apoplexie betroffen, halbseitig gelähmt wurde. Die
Lähmungserscheinungen bilden sich jedoch zurück, von Seiten des Abdomens
keinerlei Symptome.
12 . 35jähriger Mann, bei dem wegen chronischer Appendicitis im
August 1908 die Appendectomie gemacht worden war. Schon damals fiel die
enorm grosse, mächtig geblähte Flexura sigmoidea auf, deren Fusspunkto
sehr stark genähert waren. Wegen ganz besonders schlechter Narkose konnte
damals wegen des Megasigraa nichts unternommen werden. Am 11. 11. 10 kam
Patient abermals, diesmal mit den Erscheinungen eines chronischen Ileus an
die Klinik, die am ehesten durch den temporären Volvulus des Megasigma zu
erklären waren. Unter dieser Diagnose Laparotomie am 17. 11. 10
(v. Haberer). Die grosse Flexur um 180° gedreht, nimmt fast den ganzen,
der vorderen Bauchwand anliegenden Bauchraum ein, neben ihr nur noch das
mächtig geblähte Coecum sichtbar. Blähung und Hypertrophie der untersten
beiden lleumschlingen. Im Bereiche der Flexura coli dextra intensiveAdhäsion
einer winkelig geknickten Dünndarmschlinge, die nach ihrer Lösung so aus¬
gedehnt von Serosa entblösst ist, dass sich die Ileo-Ileostomia lateralis des zu-
und abführenden Schlingenschenkels als nothwendig erweist. Hierauf wird an
den Fusspunkten des Megasigma eine laterale Colo-Colostomie angelegt, der,
da die Tendenz zur Drehung der Flexur weiterbesteht, die primäre Resection
1) Dieser Fall findet sieh wegen einer vorhandenen chronisch-adhäsiven
Peritonitis, die zu einer Schlinuenbildung im Bereiehe des Colon ascendens
lind zu intensiven Verwachsungen der Flexura hepatica mit der Lcberunter-
flächc geführt hatte, in der Arbeit von Denk, „Zur Frage der circuinscripten,
chronisch - adhäsiven Peritonitis", Wiener klin. Wochenschr. 11)11, No. 2 als
Fall 2.
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Dr. H. v. llaberer,
der Flexur bis nahe an die Anastomose heran folgt. Blinder Verschluss der
beiden Colonbürzel, Etagennaht der Laparotomiewunde, Heilung p. p. Patient
seit der Operation vollkommen wohl.
13. 25jähriger Kellner. Wiederholt angebliche Attaquen von Blinddarm¬
entzündung, weswegen dem Patienten anderwärts im Mai 1910 der Blinddarm
exstirpirt worden war. Die Beschwerden blieben jedoch bestehen, es gesellten
sioh im Gegentheile Blähungen und Steifungen des Darmes hinzu. Abdomen
aufgetrieben, rechts vom Nabel zeitweilig deutliche Darmsteifung, die gegen
die Operationsnarbe hin verläuft. Keine Resistenz tastbar. Diagnose: Darm¬
stenose duroh Adhäsion. Laparotomie am 28. 11. 10 (v. Frisch). Im Colon
asoendens, knapp vor der Flexura coli hepatica ein knolliger, harter Tumor
von Hühnereigrösso, der den Darm hochgradig stenosirt und von nahezu un¬
veränderter Serosa überzogen ist. Exstirpation von Coecum, Colon ascendens
und Anfangstück des Colon transversum, blinder Verschluss des Ileum- und
Colonstumpfes, laterale Anastomose zwischen Ileum und Colon transversum.
Etagennabt derLaparotomiewunde, Heilung p. p. Der exstirpirte Tumor erweist
sioh bei der mikroskopischen Untersuchung als Tuberculose des Colon. Patient
zur Zeit vollständig gesund.
14. 50jährige Frau mit deutlich tastbarem Tumor in der Flexura coli
hepatica, der wenig verschieblich, nach rückwärts verwachsen erscheint.
Diagnose: Carcinom der Flexura coli hepatica. Operation am 23. 11. 10
(v. Haberer). Es findet sich ein Carcinom des Anfangstückes des Colon
transversum, das innig mit der hinteren Bauchwand und mit der Leber ver¬
wachsen erscheint. Die Adhäsionen sind jedoch entzündlicher Natur und es
gelingt das Carcinom zu mobilisiren, worauf die Resection des untersten Ileum,
Coecum, Colon ascendens und der Hälfte des Colon transversum folgt. Nach
blindem Verschluss des Ileum- und Colonstumpfes laterale Anastomose
zwischen lloum und Colon descendens. Da sich bei der Patientin eine sehr
grosse Gallenblase findet, die Steine enthält, wovon einer als Verschlussstein
im Ductus cysticus steckt, wird die Cholecystendyse mit Entfernung der Steine
angeschlossen. Etagennaht der Laparotomiewunde. Heilung p. p. Histologisch
ergiebt das Darmcarcinom ein Bild, wie es etwa am ehesten der Metastase
eines Ovarialcaroinoms entspräche. Daraufhin wird die schon vor derOperation
mit negativem Erfolg vorgenommeno gynäkologische Untersuchung genauestens
wiederholt, jedoch mit demselben negativen Ergebniss wie das erste Mal. Pa¬
tientin ist seit der Operation vollständig beschwerdefrei und hat an Gewicht er¬
heblich zugenommen. Allerdings liegt die Operation noch kaum drei Monate
zurück.
15. 59jährige Frau im subacuten Ileus der Klinik eingeliefert, bricht
viel, hat eine starke Auftreibung des Leibes mit mächtiger Peristaltik und
eklatanter Coecalblähung. Besonders das Colon transversum als stehende
Schlinge tastbar. Auch die Flexura sigmoidea scheint etwas dilatirt zu sein.
Bei der Darmaufblähung staut sich die Luft sichtlich im Bereiche der Flexura
coli lienalis, doch ist daselbst ein Tumor nicht tastbar. Rectoskopie ergiebt
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915
bis auf 40 cm vollständig negativen Befund. Wahrscheinlichkeitsdiagnose:
Carcinom der Flexura lienalis. Am nächsten Morgen, 29. 12. 10, Operation
(v. Haberer). Das vollständig mit der hinteren Bauchwand verwachsene Car¬
cinom der Flexura lienalis lässt sich nur unter sehr grosser Schwierigkeit mo-
bilisiren, doch gelingt es schliesslich. Primäre Resection des Carcinoms weit
im Gesunden, blinder Verschluss der beiden Colonstümpfe, laterale Anastomose
zwischen dem mächtig hypertrophirten und dilatirten Colon transversum und
der Flexura sigmoidea im antiperistaltischen Sinne, exakte Etagennaht der
Laparotomiewunde. Noch vor Ablauf der ersten 24 Stunden nach derOperation
ausgiebige Stuhlentleerung. Heilung p. p. Patientin hat Ende Januar in sehr
gutem Zustande das Spital verlassen.
16 . 43jährige Frau als Nothfall mit peritonealen Reizsymptomen der
Klinik eingeliefert, bricht viel, hat deutliche Dünndarmperistaltik und Coecal-
blähung bei brettbarter Bauchdeckenspannung. Oberhalb des Nabels ein faust¬
grosser, diffus in die Umgebung übergehender, passiv fast nicht, respiratorisch
deutlich verschieblicher, äusserst druckempfindlicher Tumor. Derselbe rückt
bei Magenaufblähung eine Spur tiefer, bei der Aufblähung des Darmes dentlich
nach rechts. Diagnose: Carcinom, entweder von der grossen Curvatur des
Magens ausgehend und ins Colon transversum penetrirend oder Carcinom des
Colon transversum mit Uebergreifen auf die grosse Curvatur des Magens.
Operation am 2. 1. 11 (v. Haberer). Es findet sich ein über faustgrosses
Carcinom der vorderen Magenwand mit Durchbruch in das Colon transversum,
letzteres stenosirend, und carcinomatöse Infiltration eines grossen Abschnittes
des Mesocolon transversum. Da die Porta hepatis frei von Drüsen gefunden
wird, erscheint eine Radicaloperation als möglich und wird daher die primäre
Resection des Colon transversum von der Flexura hepatica bis zur Flexura lie¬
nalis, sowie die Resection von ca. zwei Dritteln des ganzen Magens ausgeführt.
Vom Magen bleibt ein so kleines Stück zurück, dass die Gastroenterostomia
retrocolica posterior nur mit grosser Anstrengung gelingt. Blinder Verschluss
des Duodenalstumpfes und blinder Verschluss beider Colonstümpfe. Zur Her¬
stellung der Darmpassage kann nur eine laterale Anastomose zwischen Coecum
und Flexura sigmoidea gewählt werden, welche aber auch erst nach Mobili-
sirung der beiden Darmabschnitte vom Peritoneum parietale gelingt. Vollstän¬
diger Verschluss der Laparotomiewunde.
Fünf Tage war der Verlauf ein vollständig glatter, fieberfreier, die Hei¬
lung vollzog sich per primam. Am 6. Tage, unmittelbar nachdem die Patientin
aufgestanden war, verspürte sie einen heftigen Schmerz in der rechten Ober¬
hauchgegend, der Puls ging in die Höhe und schwankte zwischen 120 und 130,
während er vor diesem Ereigniss 94 Schläge in der Minute betrug. Dabei be¬
stand unmittelbar unter dem rechten Rippenbogen, ziemlich weit lateralwärts
eine exquisiteDruckempfindlichkeit mit Muskelspannung. DieSchmerzen nahmen
im Verlauf von 24 Stunden zu, der Puls wurde qualitativ schlechter und nun
konnte ich durch Punktion ganz lateralwärts neben dem Colon ascendens einen
Abscess nach weisen, dessen sofort vorgenommene Incision zur Entleerung einer
reichlichen Menge Eiters ohne Darminhalt führte. Darauf sichtliche Besserung
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durch anderthalb Tage, dann Auftreten von Schmerzen in der linken Ober*
bauchgegend, daselbst ebenfalls Entleerung eines Abscesses durch Incision.
Von da ab zunehmende Verschlechterung, am 11. Tage nach der Operation
trat Exitus letalis ein.
Die Obduction (Prof. Stoerk) ergab eitrige Peritonitis in Form multipler
Absoesse, ausgehend von einer Nahtdiastase des blind verschlossenen Colon
ascendens in Folge Kandnekrose im Bereiche dieses Colonabschnittes. Alle
übrigen Nähte — und zwar sowohl Bürzel* wie Anastomosennähte — voll¬
ständig sufficient.
17 . 15jähriges Mädchen, auffallend klein und in der Entwicklung zu¬
rückgeblieben, klagt seit langer Zeit über Stuhlbeschwerden und über Schmerzen
kolikartigen Charakters in der linken Bauchhälfte. Bei längerer klinischer
Beobachtung, während welcher das subjective Befinden der Patientin stark
schwankte, konnte einige Male in der linken Bauchhälfte Dickdarmperistaltik
beobachtet werden. Bei der Aufblähung des Dickdarms zeigte es sich, dass
das Sigma ganz rechts herüber und aufwärts bis an den Rippenbogen reicht.
Probelaparotomie am 23. 1. 11 (v. Haberer). Das ganze Colon besonders
weich und gross, nirgends fixirt. Am auffallendsten ist die enorm lange
Flexura sigmoidea, deren Fusspunkte einander sehr genähert sind und die
intra operationem im Zustande des Volvulus um ISO 0 gedreht vorgefunden
wird. Nach Anlegen einer Enteroanastomose zwischen den Fusspunkten der
Flexur folgt die primäre Resection der freien Flexurschlinge in einer Aus¬
dehnung von 25 cm und blinder Versohluss der Bürzel. Etagennaht der Lapa¬
rotomiewunde. Afebriler Verlauf, Heilung p. p. Die Patientin erklärt, seit der
Operation von ihren unangenehmen Abdominalsensationen befreit zu sein und
bat täglich normalen Stuhl.
18 . 42 jährige Frau, steht seit 3 Jahren wegen eines angeblichen Gallen¬
steinleidens in Behandlung. Es findet sich ungefähr in Nabelböbe ein grosser,
harter, verschieblicher Tumor, der sich von der Leber leicht trennen lasst.
Starke Coecalblähung. Beim Versuch der Darmaufblähung tritt eine heftige
Kolik auf. Wahrscheinlichkeitsdiagnose: Tumor im Bereiche des Colon trans-
versum. Operation am 24. 1. 11 (v. Haberer). Grosses Carcinom des Colon
transversum, in dem der Flexura coli lienalis benachbarten Abschnitt mit hoch¬
gradiger Stenose und starker Blähung des ganzen zuführenden Colonabschnitts.
Multiple Metastasen im grossen Netz bis Kleineigrösse, Metastasen auch in den
regionären Lymphdrüsen. Da eine vor der Operation ausgeführte Rectalunter¬
suchung eine unklare Härte im Douglas ergeben hatte, wird letzterer ausge¬
tastet. doch frei befunden. Das Coecum an das Coloncarcinom herangezogen
und mit demselben verwachsen. Es gelingt die Resection des ganzen auf¬
steigenden nnd des Quercolons bis fast zur Flexura lienalis und können die
regionären Lymphdrüsen sowie das carcinomatös veränderte Netz mitentfernt
werden. Nach blindem Verschluss der Flexura coli lienalis und des untersten
Ileum, laterale Anastomose zwischen Ileum und Flexura coli lienalis. Jetzt
erst wird man auf eine fast eigrosse, innig mit der Vena portae verwachsene
Metastase aufmerksam, die sich jedoch ausschälen lässt, wobei bloss die Vena
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Zur Frage der primären Dickdarmresection. 917
mesenterica superior an einer winzigen Stelle verletzt wird, so dass eine seit¬
liche Ligatur zur Versorgung derselben genügt. Etagennaht der Laparotomie-
wunde. ln den ersten 6 Tagen vollständig afebriler Verlauf, Heilung p. p.
Vom 7. bis zum 10. Tage Schmerzen in der rechten Unterbauchgegend und
Druckempfindlichkeit daselbst, sowie Unmöglichkeit, spontan Urin zu entleeren.
Dabei bestanden auch leichte Temperaturerhöhungen. Ein Exsudat war nicht
nachweisbar, doch handelte es sich offenbar um ein solches, wahrscheinlich
hervorgegangen aus einem Hämatom im Bereiche der Ablösungsstelle des auf¬
steigenden Colons von der hinteren Bauchwand, das aber unter Thermophor¬
behandlung zurückging. Die Patientin hat jetzt wieder guten Wind- und Stuhl¬
abgang und fühlt sich subjectiv ganz wohl. Leider ergiebt die rectale Unter¬
suchung auch jetzt nach der Operation entsprechend der vorderen Rectalwand
oberhalb des Uterus zwei kleine, submucös gelagerte Knoten, die in Anbetracht
des negativen Ausfalls der Austastung des Douglas während der Operation
sehr verdächtig auf submucöse Metastasen sind, etwa in dem Sinne, wie sie
in letzterer Zeit Schnitzler (Mittheil, aus d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir.
Bd. 19) in grösserer Häufigkeit beim Magencarcinom gefunden bat.
19 . 41jährige Frau. Hochgradige, ins Coecum zu localisirende Darm¬
stenose mit ausgeprägter DUnndarmperistaltik. Chronischer Ileus. Wegen
deutlicher Verschlimmerung in den letzten Tagen wird die Patientin mit der
Diagnose Tuberc. intestini von der zweiten medicinischen Klinik zwecks Ope¬
ration auf die chirurgische Station verlegt. Operation am 27. 1. 11 (v. Ha¬
ber er). Bei der Laparotomie findet sich hochgradige Blähung und Hyper¬
trophie des Dünndarms, Tuberculose des Coecums und Appendix, doch fällt
die starke Blähung des Colon ascendens auf. Als Ursache derselben findet
sich im Anfangstheil des Colon transversum ein harter, etwa nussgrosser, das
Colon transversum hochgradig stenosirender Tumor, der auf Carcinom sehr
verdächtig ist. Primäre Resection des Coecum, Colon ascendens und fast des
ganzen Colon transversum, laterale Anastomose zwischen Ileum und Flexura
lienalis nach blindem Verschluss der beiden zu anastomosirenden Darm¬
schlingen. Die Frau fühlt sich schon am Tage der Operation wesentlich er¬
leichtert, da die heftigen Koliken beseitigt sind, und entleert noch innerhalb
der ersten 12 Stunden nach der Operation reichlich Winde und Stuhl. Voll¬
ständig afebriler Verlauf, Heilung p. p.
Wie aus der Mittheilung dieser Krankengeschichten ersichtlich
ist, handelte es sich bei den 19 primären Difckdarmresectionen
7 mal um Erkrankungen, die im Coecum sassen, 12 mal waren
tiefere Abschnitte des Coecum betroffen, und zwar 2 mal das Colon
ascendens, 5 mal das Colon transversum, 1 mal das Colon trans-
versura bei gleichzeitiger Erkrankung des Coecum, 1 mal die
Flexura hepatica, 1 mal die Flexura lienalis und 2 mal die Flexura
sigmoidea.
Von diesen 19 Fällen sind 3 im Anschluss an die Operation
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918
Dr. H. v. Haberer,
gestorben (Fall 5, 9 und 16). Der eine Fall (5), bei dem wegen
Tuberculose des Coecums resecirt worden war, starb an fou-
droyanter Peritonitis innerhalb der ersten 36 Stunden nach der
Operation. Die Peritonitis war eine reine Strcptokokkenperitonkk
Es fehlte jede Spur von Darraflora, die Darmnähte w'aren alle
sufficient. Die Patientin hatte 12 Tage früher eine Angina durch¬
gemacht, deren Residuen bei der Obduction gefunden wurden.
Zieht man in Betracht, wie unwahrscheinlich es ist, dass bei dem
heutigen Stande der Asepsis, bei der Ausschaltung unserer Hände
durch Gummi- und Zwirnhandschuhe eine operative Streptokokken¬
infection zu Stande kommt, nimmt man ferner hinzu, dass ied*
Spur von Darmflora im Peritoneum fehlte, dass eine Invasion der¬
selben ins Bauchfell entsprechend der später noch zu besprechenden
eingehaltenen Technik bei der Operation auch in der That mit
grösstmöglicher Wahrscheinlichkeit ausgeschaltet werden kann, dass,
diesen Fall gesetzt, wohl wahrscheinlich auch die Darmnähte ent¬
sprechende Veränderungen gezeigt hätten, so liegt der Gedanke
nahe, die Streptokokkeninfection aus der Patientin selbst zu er¬
klären. Und ich möchte um so eher die vor relativ kurzer Zeit
abgelaufene Angina dafür anschuldigen, als ich bald darauf bei
einer im Anschluss an Angina aufgetretenen, und sofort operirten
acuten Appendicitis eine schwere Streptokokkeninfection beobachten
konnte, bei welcher Streptokokken auch aus dem Blut gezüchtet
wurden. Auch in diesem Falle, der schliesslich in Heilung aus¬
ging, war die Angina zur Zeit der Operation bereits vollständig
abgelaufen. Vielleicht war im anderen Falle die Sepsis deshalb
so foudroyant verlaufen, weil es sich, abgesehen von dem viel
grösseren Eingriff, um ein, wie die Obduction zeigte, schwer tuber-
culös erkranktes Individuum gehandelt hatte. Trotzdem ist der
Tod selbstverständlich auf die Operation zurückzuführen und muss
durch eine unrichtige Indicationsstellung erklärt werden, da ich
mindestens längere Zeit von dem Ablauf der Angina bis zur Ope¬
ration hätte verstreichen lassen sollen, vielleicht aber sogar in
Anbetracht der hochgradigen Lungenerkrankung bei relativ gering¬
fügigem Befund im Abdomen statt der Kesection einfach die En-
teroanastomose hätte ausführen sollen. Es kam mir hier in erster
Linie darauf an, zu zeigen, dass der Todesfall der bei der Opera¬
tion eingehaltenen Technik kaum zur Last gelegt werden kann.
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Zur Frage der primären Üickdarmresection.
919
Der zweite Todesfall (Fall 9) betraf einen 64jährigen Mann,
bei dem ein Carcinom des Coecums resecirt worden war. Der
Tod war durch Perforation eines im Operationsterrain gelegenen
Abscesses in die freie Bauchhöhle und daran sich anschliessende
Peritonitis erfolgt. Dieser Todesfall fällt also der Operations¬
methode zur Last.
Der dritte Todesfall endlich (Fall 16) betraf den Fall von
ausgedehnter Magen-Dickdarmresection und ist um so bedauer¬
licher, als dieser, bekanntlich eine sehr schlechte Prognose
gebende schwere Eingriff zunächst von der Patientin geradezu
ausgezeichnet vertragen wurde. Der Verlauf war in den ersten
5 Tagen der denkbar günstigste. Die-Wunde war bereits per
primara verheilt. Die nach dieser Zeit einsetzende tödtliche Peri¬
tonitis war hervorgerufen durch eine Insufficienz der Verschlussnaht
des Colon ascendens und diese Insufficienz hatte ihrerseits die
Ursache in einer ca. 2 cm breiten Nekrose des blind endenden
Colonabschnittes. Es war also die Ernährung dieses Dannstückes
eine unzureichende. Dieser Todesfall ist also ebenfalls der Ope¬
rationsmethode zuzuschreiben. Ich komme später noch darauf
zurück.
Die übrigen Fälle sind, und darauf möchte ich besonderen
Werth legen, alle per primam geheilt, niemals haben wir Bauch¬
decken- oder Fadeneiterungen beobachtet.
Wie aus den Krankengeschichten hervorgeht, wurde eine End-
zu End-Anastomose durchweg vermieden und die seitliche Anasto-
mose auch der Einpflanzung End zu Seit vorgezogen. Für alle
jene Fälle, bei welchen der Krankheitsherd im Coecum, Colon
ascendens oder der Flexura coli hepatica gelegen ist, bedarf dieses
Vorgehen ja keiner weiteren Erklärung, denn hierbei empfiehlt cs
sich stets, den ganzen aufsteigenden Dickdarra zu resecircn und
das Ileum mit dem Colon transversum zu vereinigen. Anders aber
liegen die Verhältnisse, wenn der Krankheitsherd bereits im Colon
transversum oder in den tieferen Dickdarraabschnitten liegt. Aus
den Krankengeschichten ist ersichtlich, dass bei Tumoren im Be¬
reiche des Colon transversum mehrmals, und zwar immer mit
Erfolg, der ganze aufsteigende Dickdarra bis über das Carcinom
hinaus resecirt wurde. Dieser Vorgang hat aber eine natürliche
Grenze, will man nicht allzu grosse Dickdarmabschnitte unnöthiger
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 04. Heft 4.
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Dr. H. v. Haberer,
Weise opfern und, was mindestens ebenso in die Wagschale fällt,
den operativen Eingriff unnöthiger Weise verlängern. Deshalb
erwies es sich in dem Falle von Carcinom an der Flexura coli
lienalis nach blindem Verschluss des Colon transversum und des
Colon descendens als zweckmässig, eine breite Colo-Colostomie
zwischen Colon transversum und Flexura sigmoidea anzulegen.
Dadurch war der grösste und wichtigste Abschnitt des Dickdarms
trotz ausgiebiger Resection erhalten geblieben. Auch im Bereiche
der Flexura sigmoidea konnte gelegentlich der beiden Fälle von
Resectionen eine laterale Anastomose zwischen zu- und abführenden
Sigmaschenkeln angelegt werden. In jenem Falle, in dem gelegent¬
lich der Resection eines ins Quercolon durchgebrochenen Magen-
carcinoras das ganze Colon transversum von der Flexura coli
hepatica bis zur Flexura coli lienalis exstirpirt werden musste, wo
an eine directe Vereinigung der Colonstürapfe absolut nicht gedacht
werden konnte, schien es zweckmässig, die Anastomose zwischen
Coecum und Flexura sigmoidea herzustellen. Wenngleich auf diese
Weise der grösste Theil des Dickdarms ausgeschaltet war, so war
es doch auf der anderen Seite möglich, gerade dadurch den Ein¬
griff nicht noch grösser zu gestalten; denn nur eine Methode hätte
der Patientin einen grösseren Dickdarmabschnitt erhalten können,
die Einpflanzung des Ileums in den Anfangstheil des Colon des¬
cendens. In diesem Falle aber hätte dann logischer Weise das
ganze Colon ascendens sammt dem Coecum exstirpirt oder aber
die totale Ausschaltung unter Einnähen eines Darmlumens in die
Bauchwand ausgeführt werden müssen.
Bei retrospectiver Beurtheilung des Falles ist es wohl sehr zu
bedauern, dass nicht doch nebst dem Colon transversum auch das
ganze Colon ascendens resecirt wurde, denn es ist dabei entschieden
ein Denkfehler unterlaufen. Wissen wir ja doch, und bei allen
übrigen Resectionen wurde auch stets darauf Rücksicht genommen,
dass gerade das Endstück des Colon ascendens und die Flexura
coli hepatica nach Unterbindung des Stammes der Arteria colica
media in der Ernährung sehr gefährdet sein können. In vielen
Fällen reicht ja das Verzweigungsgebiet der Arteria ileocolica aus,
in vielen Fällen aber nicht, und gerade zu diesen gehörte, wie die
Obduction zeigte, der mitgctheilte Fall.
Die Fälle von Magen-Colonresection sind glücklicher Weise
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Zur Frage der primären Dickdarmresection.
921
selten und geben ja, schon aus dem Grunde, weil es sich immer
um sehr herabgekommenc Individuen handelt, eine sehr schlechte
Prognose. Wenn man sich aber überhaupt zu einem so grossen
Eingriffe bei einem Patienten entschliesst, der nichts zu verlieren
hat und nur gewinnen kann, so soll man die Verlängerung des
Eingriffes durch Wegnahme des ganzen aufsteigenden Dickdarmes
nicht scheuen. Die Verhältnisse für die Heilung liegen dann viel
günstiger.
Es giebt mir gerade dieser Fall Veranlassung, darauf hinzu¬
weisen, dass in Fall 10 die Anastomose des Darmes in einer Weise
angelegt worden ist, die riskirt genannt werden muss. Glück¬
licherweise sind bisher daraus keine üblen Folgen erwachsen. In
diesem Falle wurde nämlich nach Exstirpation der Gallenblase und
des damit verwachsenen Stückes vom Colon transversura ein blinder
Verschluss der daraus resultirenden beiden Colonstümpfe ausgeführt
und dann die laterale Anastomose zwischen Ileum und abführendem
Colon transversum-Abschnitt hergestellt, weil der Versuch, eine
laterale Anastomose zwischen auf- und absteigendem Dickdarm
anzulegen, sich als unmöglich erwies. Was nun in diesem Falle
resultirt, ist, normale Function der Ileocoecalklappe vorausgesetzt,
nichts anderes als eine totale Darmausschaltung des Coecum und
Colon ascendens ohne innere oder äussere Abflussraöglichkeit. Be¬
kanntlich sind derartige Ausschaltungen bedenklich, da wir wissen,
dass solche selbst nach Jahr und Tag zu hochgradigen Beschwerden,
ja sogar unter Umständen zu Peritonitis Veranlassung geben können 1 ).
In der That hören wir von der Patientin, dass sie ab und zu ein
Druckgefühl entsprechend dem Colon ascendens empfindet. Objectiv
ist derzeit keine Blähung nachweisbar. Die Patientin bleibt in
Evidenz, sie lebt glücklicherweise in Wien, so dass zunächst an
einen Eingriff nicht gedacht werden muss. Würden aber je stärkere
Beschwerden bei ihr auftreten, so würde die Anlegung einer äusseren
Fistel, bezw. die Exstirpation des ganzen Colon ascendens in Be¬
tracht zu ziehen sein, die sich ja um so einfacher gestalten
1) In letzter Zeit hat Willmanns in No. 35 des Oentralbl. f. Chir. 1910
einen Originalartikel „Zur Dickdarmresection“ veröffentlicht, der ein ein¬
schlägiges Beispiel dieser Art mittheilt. Ks handelte sich um eine Magen-
Colonresection, bei der nach blindem Verschluss der Colonstümpfe eine Ileo-
colostomia lateralis angelegt worden war. Es kam durch Ucbcrdeknung des
Colon ascendens zum Platzen der blinden Verschlussnaht desselben.
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922 Dr. H. v. H&berer,
dürfte, als die Darmpassage durch die Ileocolostomie bereits ge¬
sichert ist.
Jedenfalls ergiebt sich aus den verschiedenen hier mitgetheilten
Fällen, dass sich in der Regel doch der eine oder andere Weg zur
Herstellung einer lateralen Anastomose, auch im Bereiche des Dick¬
darmes finden lassen wird. Gewiss giebt es aber Fälle, in denen
die Verhältnisse so ungünstig liegen, dass nach der Exstirpation
eines Dickdarmabschnittes für die laterale Colo-Colostomie keine
Möglichkeit besteht. Aber es hat ja jede Methode ihre Grenzen
und die Anzahl derjenigen Fälle, bei welchen eine End zu End-
Vereinigung noch möglich ist, eine laterale Anastomose hingegen
nicht mehr angelegt werden kann, wird wohl eine recht geringe
sein, will man nicht auf Kosten der Radicalität des Eingriffes die
Darmvereiniguug erzwingen. Ob die End zu End-Vereinigung im
Bereiche des Dickdarmes nicht auch noch bessere Resultate zu
leisten im Stande ist, als bisher, muss erst die Erfahrung lehren.
Depn auch Moszkowicz berichtet nur über drei Fälle von End zu
End-Vereinigung im Bereiche des Dickdarmes, wovon ein Fall an
Peritonitis durch Nahtinsufficienz zu Grunde gegangen ist. Hier
müssen also noch wesentlich bessere Resultate abgewartet werden,
bevor ein abschliessendes Urtheil abgegeben werden kann.
Noch ein Punkt erscheint mir nicht unwesentlich. In den
Fällen, in welchen im Anschlüsse an die Dickdarmresection die
Colo-Colostomie zur Wiederherstellung der Darmpassage ausgeführt
wurde, wurde sie im antiperistaltischen Sinne gemacht. In dem
Falle von Magen-Colonresection blieb wohl nichts Anderes übrig.
In den beiden Fällen von Resection der Flexura sigmoidea (12 und
17) war es bequemer, vor der Resection die Anastomose am
tiefsten Punkte der Flexurschenkel anzulegen, weil dadurch die
Schätzung der nothwendigen Ausdehnung des zu resecirenden Darm¬
stückes wesentlich erleichtert wurde. In dem Falle von Resection
der Flexura lienalis wegen Carcinom (Fall 15) wurde nach ausge¬
führter Resection die Anastomose geflissentlich im antiperistaltischen
Sinne angelegt. Es machte nämlich entschieden den Eindruck,
dass bei der antiperistaltischen Aneinanderlagerung des mächtig
geblähten Colon transversum und der Flexura sigmoidea das blinde
Colonbürzel, das auf diese Weise cranialwärts zu liegen kam, weit
weniger dem Anpralle von Kothmassen, der ja entgegen dem Ge-
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Zur Frage der primären Dickdarmrosection.
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setze der Schwere hätte erfolgen müssen, ausgesetzt sei, als dies
bei dem Versuche der isoperistaltischen Lagerung, wobei das Colon¬
bürzel den tiefsten Punkt eingenommen hätte, dem Anschein nach
der Fall gewesen wäre. Durch einige Knopfnähte ist man leicht
in der Lage, das blind verschlossene Colonende in der gewünschten
Lage zu erhalten. Ich möchte mit aller Reserve die Möglichkeit
erwägen, dass aus dem genannten Grunde, nämlich der Entlastung
des blind verschlossenen Colonendes wegen, am Dickdarm die Ana-
stomose im antiperistaltischen Sinne vielleicht im Allgemeinen den
Vorzug verdient.
Einige der hier mitgetheilten Fälle zeigen, dass cs unter Um¬
ständen gelingt, Dickdarmcarcinomc noch primär zu reseciren, deren
Vorlagerung undurchführbar wäre, die also bei ausschliesslicher
Anwendung der zweizeitigen Vorlagerungsmethodc als inoperabel
gelten müssten. Ich verweise diesbezüglich nur auf die Fälle 14,
15 und 18. Wenn wir nun durch ein einzeitiges Verfahren ein
Carcinom noch radical entfernen können, das sich nicht mehr vor¬
lagern lässt, dann ist entschieden die primäre Resection auszu¬
führen, wenn wir nicht nach Schloffer (1. c.) dreizeitig operiren
wollen. Letzterer Weg wäre meines Erachtens nach unbedingt
cinzuschlagen, wenn in einem solchen Falle cetcris paribus bereits
Ileussymptome bestehen.
Wie die mitgetheilten Krankengeschichten lehren, wurde in
dem Bestehen eines subacuten Ileus keine Contraindication gegen
die primäre Dickdarmresection erblickt, wohl aber wurde im Stadium
des acuten Ileus die primäre Resection niemals gemacht und in
diesem Stadium der Darmocclusion im verflossenen Sommer bei
zwei 69jährigen und einem 70jährigen Patienten die zweizeitige
Operation durch Vorlagerung mit bestem Erfolge ausgeführt.
Was nun die bei der Operation eingehaltene Technik anlangt,
so ist sie eine denkbar einfache gewesen, und haben wir dazu
bloss der üblichen, für die Darmchirurgie überhaupt gebräuchlichen
Instrumente bedurft. Die Technik deckt sich im Allgemeinen mit
der von Kocher in seiner Operationslehre angegebenen. Das
wesentlichste Instrumentarium besteht daher in zwei sicher und
gut fassenden Quetschzangen. Zwischen diesen beiden Quetsch¬
zangen, die möglichst nahe aneinander liegen, wird der Darm lang¬
sam mit dem Thermokauter durchgebrannt. Nun folgt zwecks
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Dr. H. v. Haberer,
blinden Verschlusses desjenigen Dannabschnittes, der im Organismus
zurückbleibt, hart unterhalb der Quetschzange eine fortlaufende
Matratzennaht durch die ganze Darmdicke mit gerader Nadel.
Nimmt man jetzt die Quetschzange ab, so bleibt der gründlich
verschorfte Darm vollständig verschlossen und können leicht noch
seromusculäre Einstülpungsnähte in zwei Etagen angelegt werden.
Wo irgend Netz zur Verfügung steht, wird dasselbe auf die letzte
Nahtreihe noch darauf genäht. Genau in derselben Weise wird
der Darm jenseits des zu resecirenden Abschnittes zwischen den
Quetschzangen durchtrennt und der abführende Darmabschnitt ver¬
sorgt. Die Mesenterialunterbindungen habe ich nicht eigens be¬
schrieben, da sic ja bei jeder Art von Technik sich gleich bleiben.
Damit ist aber die Resection beendet, ohne dass ein Darmlamen
offen war, so dass bis hierher die Operation eine aseptische ge¬
nannt werden kann. Man könnte bloss den einen Einwand er¬
heben, dass die unter der Darmklemme durch die ganze Wand¬
dicke gelegte Matratzennaht, wobei Nadel und Faden immer wieder
den Weg auch durch das Darmlumen nehmen, die Asepsis in Frage
stelle. Dieser Einwand ist theoretisch sicher gerechtfertigt. Allein
die praktische Erfahrung lehrt, dass diese Fehlerquelle vernach¬
lässigt werden darf, da wir von demselben Modus nicht nur bei
den Dickdarmresectionen, sondern auch bei den reichlichen Magen-
und Dünndarmresectionen stets Gebrauch machen und niemals einen
Nachtheil davon gesehen haben.
In der Beschreibung der Operation fortfahrend, folgt die late¬
rale Anastomose. Von ihr wissen wir, dass sie bei vorsichtiger
Ausführung sehr gute Resultate zeitigt. Auch Moszkowicz giebt
zu, dass für die lateralen Anastomosen kein besonderes Instrumen¬
tarium nothwendig erscheint. An der ersten chirurgischen Klinik
in Wien werden seit Jahren Falten der zu anastomosirenden Darm¬
schlingen mit Doyen’schen Pincen gefasst. Drückt man die Falte
während des Schlusses der Pince mit den Fingern gut aus, so ist
sie in der Regel vollständig kothleer, namentlich dann, wenn es
sich um den weit mehr zu fürchtenden, dünnflüssigen Inhalt handelt.
Wenn man nun nach Eröffnung des Darmlumens die Schleimhaut
mit einem Sublimattupferchen reinigt, so geht man auch diesbezüg¬
lich möglichst sicher. Ueber die typische Anastomosennaht brauche
ich wohl kein weiteres Wort zu verlieren.
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Zur Frage der primären Dickdarmresection.
925
Die grossen Vortheile, die es bietet, wenn man eine Lapa¬
rotomiewunde ohne Drainage verschliessen kann, sind heute all¬
gemein anerkannt. So geht auch aus den hier mitgetheilten Fällen
hervor, dass wir nur äusserst selten zur Drainage Zuflucht nahmen.
Ist unsere Arbeit sauber und die Darmnaht exact, so ist die
Drainage in der That überflüssig und stört höchstens den glatten
reactionslosen Wundverlauf. Von besonderer Wichtigkeit ist es
allerdings, dass im Operationsbereiche keine des Peritoneums cnt-
blössten Flächen oder Buchten Zurückbleiben. Defecte der Parietal-
serosa kommen ja für gewöhnlich nur im Bereiche des Colon
ascendens und descendens in Betracht, sie lassen sich fast jedes
Mal secundär durch Naht schliessen oder durch Netz plastisch
decken.
Noch ein Wort über die laterale Enteroanastomose. Haben
wir sie einerseits weniger zu fürchten, als die End-zu-End-Ver¬
einigung, so gewährt sie uns vor der letzteren, wenigstens für
manche Fälle, einen nicht zu verkennenden Vortheil. Beginnen
wir nämlich mit der Anastomose, so können wir, falls es der
Zustand des Patienten verlangt, die Operation unter Vorlagerung
des Tumors abbrechen. Bei schwachen, sehr heruntergekommenen
Patienten kann ein operabler Tumor unter Umständen in zweck-
rcässiger Weise auf diese Art zweizeitig entfernt werden. Aus
dieser Ueberlegung wurde bei mehreren der hier mitgetheilten
Fälle zuerst die Beocolostomie angelegt und erst nach Beendigung
derselben die Resection des Dickdarmes angeschlossen. Wie ich
gelegentlich der Mittheilung der lateralen Enteroanastomosen
(Dieses Archiv, Bd. 72) ausführen konnte, hat mein Chef, Professor
v. Eiseisberg, schon vor Jahren, gelegentlich der Resection eines
Coecalcarcinoms, das gut operabel war, wegen schlechter Narkose
der Patientin zuerst die Ileocolostomie angelegt und dann das
Carcinom resecirt, da sich der Zustand der Patientin im Verlaufe
der Operation gebessert hatte.
Sind auch die hier mitgetheilten Resultate noch keineswegs
glänzende, so hat sich doch die Mortalität der primären Dick¬
darmresection wesentlich gebessert, wie aus dem Vergleiche der
hier mitgetheilten Fälle (19 mit 3 Todesfällen) und der in der
Arbeit Denk’s enthaltenen Tabelle (14 mit 10 Todesfällen) zu
ersehen ist. Mortalitätsprocente aus so kleinen Zahlen zu be-
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Dr. H. v. Haberer,
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rechnen, hat weder Berechtigung noch Sinn, daher hat es auch
keinen Werth, wenn ich diesbezüglich die hier mitgetheilten Fälle
mit den 7 Fällen vergleiche, welche Moszkowicz bisher publicirt
hat. Zu vergleichen sind bloss die Todesursachen. Moszkowicz
hat unter 7 Fällen einen Todesfall in Folge von Nahtinsufficienz,
der also mithin der Methode zur Last fällt 1 ). Von den 3 Todes¬
fällen des der vorliegenden Arbeit zu Grunde gelegten Materiales
sind 2 der Methode zur Last zu legen, im dritten Falle ist eine
hämatogene Infection zum Mindesten nicht auszuschliessen.
Bemerkenswerther aber erscheint mir ein Vergleich des all¬
gemeinen Wundvcrlaufes in den Fällen von Moszkowicz und in
den Fällen aus der ersten chirurgischen Klinik. Derselbe war in
den Fällen von Moszkowicz ein einziges Mal ganz uncomplieirt
(ltesection der Flexura sigmoidea wegen eines Fibrolipoma poly-
1) Höchst befremdend ist die Art und Weise, wie Moszkowicz über die
Todesursache dieses Falles in verschiedenen Mittheilungen berichtet:
In den Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1908,
2. Theil, 8. IST heisst es: «Bei der Obduction des 66jährigen anämischen
Mannes fand sich überdies ein Mageneareinom und an der Anasto-
rnosens teile fand sich ei reu m scriptc Peritonitis, die von cin^m
kräftigeren Individuum gewiss überstanden worden wäre“.
im Protokoll der Gesellschaft der Acrztc in Wien vom 29. Mai 1908 (Wieier
k 1 in. Wochenschrift, 1908, S. 853) steht bloss: «Ich habe von mein in
Fällen einen verloren, dem ich ein grosses Carcinom der Flexura
sigmoidea entfernt hatte. Bei der Obduction fand sich, dass der
Patient auch ein Magencarcinom hatte, das nicht diagnosticir
worden war“.
In einer Arbeit „lieber aseptische Dann Operationen“ in der Wiener klin.
Wochenschrift, 1908, No. 46, schreibt Moszkowicz S. 1596 über denselben
Fall: «Von meinen 15 angeführten Fällen ist ein Fall gestorben
und auch dieser fällt nicht eigentlich der Methode zur Last. Es
wurde ein Careinom der Flexura sigmoidea resecirt und bei der
Section fand sich überdies ein Carcinom des Magens, von dem wir
nichts gewusst hatten. Hier hatte es sich also eher um eine un¬
richtige Indicationssteilung gehandelt.“
In der Arbeit in diesem Archiv, 1910, Bd. 91, S. 915, endlich findet
sich als Todesursache im Obductionsbefund (Prof. Albrecht): „Peritonitis
purulenta diffusa e diastasi suturae coli post exstirpationem
flcxurae sigmoideae carcinomatosae, etc. . .
Ich glaube, gerade bei der Mittheilung einer Methode wäre der genaue
und richtige Obductionsbefund gleich in der ersten Publication am Platze ge¬
wesen. Wenn man dann nach Jahr und Tag den Befund des Obducenten
liest, muss man wohl zweifeln, dass Moszkowicz in der That zu irgend einer
Zeit hätte glauben können, ein kräftigerer Patient wäre mit dieser Peritonitis
fertig geworden. Moszkowicz wird hoffentlich auch darüber nicht im Zweifel
sein, dass der Fall sehr wohl der Methode zur Last fällt und dass es sich
nicht eher, sondern obendrein um eine unrichtige Indicationssteilung ge¬
handelt hat.
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Zur Frage der primären Dickdarmreseetion.
927
posum durch Regierungsrath Gersuny). In allen andern Fällen
traten secundär Faden- bezw. Bauchdeckenabscesse auf. In den
von mir hier mitgetheilten Fällen wurde ein solches Vorkommniss
überhaupt nicht beobachtet. Die Heilung trat jedesmal per primam
intentionem ein. Daraus muss man logisch folgern, dass die von
uns gewählte Methode in puncto Asepsis der von Moszkowicz
propagirten Methode mindestens nicht nachsteht. Wenn dem aber
so ist, so wird der Kliniker den einfachen Weg und das einfache
Instrumentarium schon aus didactischen Gründen vorzuziehen haben.
Gerade die Klinik ist verpflichtet, schon im Interesse der oft
schlecht dotirten Collegen am Lande und in ärmeren Kranken¬
häusern mit möglichst einfachen Behelfen Methoden auszuarbeiten,
die ohne kostspieliges und complicirtes Instrumentarium dem
Patienten weitgehendste Sicherheit versprechen. Es ist dies ein
Princip, welches mein Chef überall durchzuführen sich bemüht.
Aus diesem Grunde wurde zum Beispiel auch von der Verwendung
des gewiss sehr empfehlenswerthen Roth-Dräger’schen Narkose¬
apparates an der Klinik bisher abgesehen.
Ich bin mir wohl bewusst, durch diese Mittheilung nichts
Neues gebracht zu haben, da wie gesagt, die primäre Dickdarm-
resection zu jeder Zeit ihre Anhänger hatte. Aber ich hielt den
Zeitpunkt für gekommen, die Wandlung des Standpunktes der
ersten chirurgischen Klinik in Wien oder sagen wir besser, die
Verschiebung desselben bezüglich der Methodik der Dickdarm-
resection zu präcisiren und zu begründen.
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XXXIII.
(Aus der I. chirurgischen Universität«-Klinik in Wien. —
Vorstand: Prof. Dr. Freiherr von Eiseisberg.)
Einige Bemerkungen zur Technik der
Sehnennaht
Von
Dr. Otto von Frisch,
Assistent der Klinik.
(Mit 2 Textfiguren.)
Von den in den letzten Jahren publicirten Arbeiten über die
Technik der Sehnennaht [Kölliker 1 ), Male witsch 2 3 ) Ritter*),
Bardenheuer 4 ), Dreyer) veranlasst mich speciell jene von
Dreyer (Ueber die Möglichkeit sofortiger Bewegungsaufnahme nach
Sehnennaht. Beitr. z. klin. Chir. Bd. 70. H. 2), zu dem Gegen¬
stand wieder das Wort zu ergreifen.
Dreyer giebt für die Sehnennaht eine neue Fadenführung an,
welche durch ihre grössere Haltbarkeit eine frühere Bewegungs¬
aufnahme gestatten und die Fixation des Gliedes in einer, die
Sehne entspannenden Extremstellung unnöthig machen soll. Durch
eine Reihe von Thierexperimenten versucht der Autor die Haltbar¬
keit der Naht zu demonstriren und zu beweisen, dass auch ohne
Ruhigstellung des Organs eine nach seiner Methode genähte Sehne
zur Verheilung kommt.
1) Kölliker, Zur Technik der secundärcn Sehnennaht. Münch, med.
Wochenschr. 1908. No. 47.
2) Malewitsch, Die verschiedenen Formen der Sehnennaht. Prüfung der
Zugfestigkeit derselben am Leichenmaterial. Diss. Basel 1908.
3) Ritter, Eine neue Methode der Sehnennaht. Med.Klinik. 1908. S. 1191.
4) Bardenheuer, Myotomie und Myorhaphie. Deutsche Zeitschr. f. Chir.
Bd. 100.
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Einige Bemerkungen zur Technik der Sebnennaht.
929
Der Forderung Rechnung tragend, dass der Faden nicht ein¬
schnüre, dabei aber auch nirgends in der Faserrichtung der Sehne
verlaufe, führt Dreyer die Schlinge wie in Fig. 1 kreuzweise über
die Rückseite der Sehne, wobei letztere an den Punkten A B C D
Fig. l.
vollkommen perforirt wird. Dieselbe Ansohlingung geschieht mit
einem zweiten Faden am anderen Ende der Sehne, worauf die
beiden Stümpfe durch Zug an diesen „Haltefäden“ erst einander
genähert und zunächst durch zwei feine einfache Nähte zur Berührung
gebracht werden, ehe die Haltefäden definitiv geknüpft werden.
Die Methode ist gewiss zu jenen zu zählen, w r elche eine grössere*
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930
Dr. 0. v. Frisch,
Haltbarkeit bieten, und wäre vielleicht eine der besten, wenn wir
nicht in der Lange’schen Naht und in der von mir bereits 1907
angegebenen 1 ) Modification der letzteren eine zum mindesten ebenso
feste, das Gewebe vielleicht noch mehr schonende, dabei aber
wesentlich einfachere Art der Fadenführung hätten. Die Lange’sche
Naht kann ich hier, obwohl sie Dreyer keines Wortes würdigt,
als allgemein bekannt voraussetzen und bringe nur eine Skizze
meiner Modification derselben, wie ich sie seit mehr als 3 Jahren
an der Klinik v. Eiselsberg’s mit bestem Erfolge verwende (Fig. 2).
Auf Grund meiner damals bereits mehr als zwei Dutzend
Schnennähtc betreffenden Erfahrungen über die Verwendbarkeit der
Lange’schen Nahtmethode in der Unfallchirurgie schrieb ich wie
folgt 2 ): „Lange durchflicht, vom Querschnitt der Sehne beginnend
dieselbe in einer Ausdehnung von mehreren Centimctern sow r ohl
distal als proximal, überträgt somit die Belastung auf eine an¬
sehnliche Strecke der Sehne, während fast alle anderen Methoden
den ganzen Zug und Druck an einer bestimmten Stelle und zwar
recht nahe dem Querschnitte wirken lassen. Darin liegt der wesent¬
liche Vortheil und gerade in der Vcrwerthung eines grösseren
Abschnittes der meist leicht darstellbaren Sehne die Lösung des
Problems.
Die Lange’sche Sehnennaht ist ausserordentlich fest, ohne
eomplicirt zu sein; sie quetscht das Gewebe nicht, indem sie an
keiner Stelle circulär verläuft. Sie gestattet durch ihre Faden¬
führung ein genaues Adaptiren der Querschnitte. Ferner liegen
die Punkte der grössten Belastung am weitesten von den Sehnen¬
enden entfernt und dies ist meines Erachtens von grosser Be¬
deutung. Denn erstens bedingt ein eventuelles Nachgeben der Naht
durch zu heftigen Zug noch lange nicht das Aufgehen derselben;
zweitens ist das Gewebe desto besser ernährt, je weiter man sich
von der ursprünglichen Stelle der Verletzung entfernt, so dass diese
stärkere Belastung füglich auch einen widerstandsfähigeren Theil
des Organs betrifft. Schliesslich kann eine eventuell auftretende
localisirte Entzündung nicht leicht die Naht lockern, viel weniger
zur Abstossung bringen. Weiter hat der Faden nur einen Knoten.
1) 0. v. Frisch. Zur Technik der Sehncnnähte. Wiener klin. Wochenschr.
1907. No. 7.
2) 1. c.
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Einige Bemerkungen zur Technik der Sehnennaht.
931
ein Vortheil, der bezüglich der Gleitfähigkeit der geheilten Sehne
nicht belanglos ist. Die enorme Zugfestigkeit der Naht, welcher
eine etwaige Quetschung, mangelhafte Ernährung, Auffaserung oder
Infection der Sehnenenden kaum etwas anhaben kann, gestattet
uns, sehr bald mit der Nachbehandlung zu beginnen, wo¬
durch unliebsamen Verwachsungen vorgebeugt und das functioneile
Resultat günstig beeinflusst wird.“
Auch die weiteren Erfahrungen und Resultate, welche an der
Klinik v. Eiselsberg’s mit der seit jener Zeit fast ausschliesslich
in Verwendung befindlichen Methode gemacht wurden, bestätigen
vollauf die oben citirten theoretischen Erwägungen und müssen als
durchaus günstig bezeichnet werden.
Jene in Fig. 2 abgebildete modificirte Fadenführung verwandte
ich ursprünglich in einem Falle frischer Sehnenverletzung, bei
welcher der Abductor pollucis longus nahe seinem Uebergang vom
Muskel in die Sehne durchschnitten war. Durch die Art der
Fadenführung hielten die am proximalen Ende bereits in der Muscu-
latur liegenden Schlingen die Gewebsbündel beisammen und konnten
durch den leicht concentrischen Druck auch einen stärkeren Zug
ausüben, ohne den Muskel zu zerfasern. Später gebrauchte ich
meine Modification häufig bei der Naht besonders flacher Sehnen
oder solcher, die beim Aufsuchen, Anfassen, Anschlingen u. dergl.
sich leicht auf faserten, ein Nachtheil, mit dem man besonders dann
zu kämpfen hat, wenn es sich um ältere Verletzungen handelt, die
mit Atrophie der Sehnenstümpfe einhergehen. Solche Sehnen sind
oft weit zurückgeschlüpft, ihre Enden haben eine teigige Consistenz,
sind matsch, mürbe und spalten sich bei dem Versuch, sie mit
der Pincette in die Wunde vorzuziehen. Ich habe es mir zur
Regel gemacht, bei älteren Sehnenverletzungen mit stärkerer
Diastase der Querschnitte, die Sehne, den allgemein chirurgischen
Regeln entgegen, womöglich nur mit den Fingern anzufassen, da
dieselbe dadurch am meisten geschont bleibt. Dabei machte ich
die Beobachtung, dass nicht selten eine mächtige Diastase, welche
einem die Nothwendigkeit einer Plastik aufzudrängen scheint, durch
sehr kräftigen Zug des eventuell um den Finger gewickelten proxi¬
malen Endes bis auf wenige Millimeter ausgeglichen werden kann.
Lässt man hierauf mit dem Zug nach, so schnurrt die Sehne,
welche sich unter leicht krachenden „Geräuschen“ gestreckt hat,
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Dr. 0. v. Frisch,
nur mehr wenig zurück und es gelingt ohne wesentliche Anstren¬
gung die übliche Naht. Es sind wahrscheinlich zum geringen Theil
Adhäsionen zwischen Sehne und Scheide, welche auf diese Weise
gelöst werden, vielmehr ist es in erster Linie eine Dehnung des
nutritiv geschrumpften Muskels und lässt sich diese Manipulation
in Parallele stellen mit manchem Handgriff aus der orthopädischen
Technik. Dies nur nebenbei.
Da meine ursprünglich für specielle Fälle ersonnene Modifi-
cation der Lange’schen Naht rascher und einfacher ausführbar
ist, als letztere und mir bei genauer Prüfung noch andere Vor¬
theile zu haben schien, benutzte ich sie später bei jeder Sehnen¬
verletzung. Sie besteht darin, dass 2—3 cm vom Querschnitt an¬
gefangen mit einem doppelt armirten Faden einmal der eine, dann
der andere Sehnenrand nach Art einer fortlaufenden Naht um¬
stochen wird, wobei von einem Ende der Sehne direct auf das
andere übergegangen wird. Zwecks exacterer Adaptirung ist es
praktisch, wie bei der Lange’schen Naht, den Uebergang der
Fäden von einem Sehnenende zum anderen in den Querschnitt zu
legen. Die Fäden werden gestrafft und geknüpft, während ein
Assistent mit den Fingern die Querschnitte adaptirt. Weitere
Maassnahmen (Adaptionsnähte) sind selten nöthig. Versuche, die
ich an frischen Kalbssehnen wiederholt ausführte, zeigten mir, dass
eine dreimalige Umstechung eines Sehnenrandes (vergl. Fig. 2) eine
derartige Haltbarkeit ergab, dass mir die stärkste an der Klinik
gebräuchliche Seide häufiger riss, als dass das Sehnengewebe nach¬
gab. Zur Naht frischer Sehnenverletzungen mit geringer Spannung
genügt es, den Sehnenrand nur zweimal zu umstechen. Vergleiche
der Zugfestigkeit zwischen der Lange’schen Naht und meiner
Modification fielen zu Gunsten der letzteren aus. Doch sei hier
nochmals darauf hingewiesen, dass die genügende Haltbarkeit der
Lange’schen Naht keinem Zweifel unterliegt, es vielmehr andere
Eigenschaften derselben sind, welche mich zur Abänderung der¬
selben veranlassten. Zu diesen gehört auch der Umstand, dass
sich bei Anwendung der Originalmethode die Sehne, insbesondere
wenn eine stärkere Spannung besteht, leicht in Falten legt, die
eine geringe Verkürzung mit sich bringt und in der Regel noch
1—2 Adaptionsnähte erfordert. Es erscheint mir daher meine
Methode in der Weise, wie ich sie in Fig. 2 abgebildet habe
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Einige Bemerkungen zur Technik der Sehnennaht.
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(3 maliges Umstechen), eine zweckmässige Vereinfachung und Ver¬
besserung der Lange’schen Naht. Sie ist einfacher als letztere
und lässt sich viel rascher ausführen. Die Sehne legt sich nicht
in Falten, Auffaserung oder besondere Kleinheit derselben er¬
schweren die Naht nicht; Adaptionsnähte sind meist überflüssig.
In ihrer Haltbarkeit steht sie der Lange’schen nicht nach. Diesen
Vortheilen stehen keinerlei „aber“ gegenüber.
Existirte die Lange’sche Methode nicht, so wäre Dreyer’s
Tendorhaphie eine wesentliche Verbesserung aller früheren Naht¬
methoden; denn sie trifft wie jene den schwachen Punkt in der
Technik: die Art der Belastung.
Viele Autoren haben sich bemüht, dem Faden trotz der
grossen Spaltbarkeit der Sehne Halt zu verschaffen, ohne das Ge¬
webe zu quetschen und in der Ernährung zu stören. Erst Lange
ist es gelungen, dem Faden die genügende Reibung zu geben
und Dreyer kommt ihm im Princip ziemlich nahe. Doch halte
ich die Dreyer’sche Naht für complicirter und weniger rasch aus¬
führbar. Ihre Belastungsfähigkeit ist, wie ich mich an wiederholt
ausgeführten Versuchen überzeugt habe, ungefähr die gleiche, wie
jene der Lange’schen Naht.
Und nun die Frage: Gestatten die drei hier beschriebenen
zugfesten Sehnennähte eine Aenderung in der bisher üblichen Art
der Nachbehandlung?
Dreyer klagt mit Recht die lange Ruhigstellung bei maxi¬
maler Entspannung, wie sie in den meisten Lehrbüchern als Regel
angegeben ist, an, die Hauptschuld an dem relativ grossen Procent¬
satz functionell schlechter Resultate zu haben. Aber von fast
allen vor Lange angegebenen Nahtmethoden kann man kaum
mehr verlangen, als die Adaptirung der Sehnenenden bei fixirter
Entspannung. Einer Beanspruchung auf Zug und Dehnung halten
sie nicht sicher stand. Es ist darum nur natürlich, wenn erst
eine feste Verheilung der Sehnenquerschnitte abgewartet werden
soll, ehe man das Muskelspiel wieder freigiebt und die Stelle der
Naht einem stärkeren Zug aussetzt. Daher der ziemlich allgemeine
Vorschlag, die entspannende Fixation 2—4 Wochen durchzuführen.
Freilich ist dann in der Regel eine derart starke Verwachsung
der genähten Sehne mit ihrer Umgebung eingetreten, dass eine
völlige Wiederherstellung meistens nur nach sorgfältiger lang-
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Dr. 0. v. Frisch,
dauernder Nachbehandlung erreicht wird, und es giebt Fälle genug,
in welchen, allein in Folge ungünstiger Narbenbildung und Ver¬
wachsung, alle Mittel und Behelfe der Mobilisation erfolglos blieben.
Mit Bezug auf die sich daraus ergebende besondere Wichtigkeit
der Verwendung einer dauernd haltbaren Naht, schrieb ich 1. c.:
„Die Vorsicht und Zurückhaltung mit der orthopädischen Behandlung
kann nicht ohne hemmenden Einfluss auf die Wiederherstellung
der Function sein; denn je sicherer die Sehnennaht hält, desto
früher kann mit der Nachbehandlung begonnen werden, und je
eher dies geschieht, desto besser das Endresultat“. Und seit an
der von Eiselsberg’schen Klinik die Lange’sche Naht, bezw.
meine Modification derselben angewandt wird, werden die Patienten
bereits in den allerersten Tagen zu activen Bewegungen angehalten,
ja ich lasse seit jener Zeit jeden nicht in der Narkose operirten
Patienten sofort nach Vollendung der Naht kräftige Bewegung mit
den betreffenden Fingern ausführen. Der Kranke freut sich, die
Wiederkehr der Beweglichkeit zu sehen und ich controlire die
Gleitfähigkeit der Sehne.
Dreyer kommt auf Grund seiner Thierversuche (über Erfah¬
rungen am Menschen berichtet er nichts) zum Schluss, dass die
auf seine Weise genähte Sehne haltbar genug sei, um auf jene
dauernde Fixation in extremer Entspannung verzichten zu können,
und empfiehlt, dem Glied nach der Operation eine Mittelstellung
zu geben.
Wenn auch die Nahtmethode diese relativ stärkere Spannung
in der Regel vertragen wird, so halte ich sie doch, und zwar aus
andern gleich zu erläuternden Gründen, für einen Fehler und bleibe
nach wie vor bei der Fixation in extremer Stellung, allerdings
nicht für 2—4 Wochen, sondern nur für wenige Tage.
Ein concretes Beispiel mag mir Recht geben: Als ich vor
mehr als 4 Jahren bereits über eine grössere Reihe sehr guter
Resultate nach der Lange’schen Methode verfügte und sich in
mir die Ueberzeugung gefestigt hatte, dass diese Art der Naht
auch einem stärkeren Zug Widerstand zu leisten vermag, ging ich,
von der Möglichkeit früh einsetzender Mobilisirung bereits Gebrauch
machend, noch einen Schritt weiter und gab in einem Falle, wo
die in der Höhe des Metacarpophalangealgelenkes durchtrennten
Beugeselmen des Zeigefingers eben genäht waren, als Verband eine
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Einige Bemerkungen zur Technik der Sehnennaht.
935
typische Chirotheca completa, deren Touren über den Handrücken
nach dem Vorderarm ziehen und die Finger in massige Streck¬
steilung zwingen. Als ich 3 Tage später den Verband löste, um
mit activen Bewegungen zu beginnen, hatte der ziemlich empfind¬
liche Kranke nicht die Energie (oder nicht die Kraft) den Finger
zu beugen, obwohl ihm dies direct nach vollendeter Naht noch
am Operationstisch ohne jede Anstrengung gelungen war. Es war
wohl anzunehmen, dass hier Verklebungen Vorlagen, die zu zer-
reissen der Patient nicht die Kraft hatte. Diese Situation war
insofern nicht leicht zu nehmen, als es auf eine andere Weise als
durch einen kräftigen faradischen Strom nicht möglich war,
auf unblutigem Wege die Verklebung zu lösen 1 ). Ich
konnte zwar passiv den Finger vollkommen beugen, was ich aber
damit erreichte war nichts, als die Erschlaffung der Sehne zwischen
Fingerspitze und der Stelle der Naht. Ich bin deshalb schon im
folgenden Falle zur alten Regel zurückgekehrt und habe seither
stets wieder das Glied nach der Operation bei möglichster Ent¬
spannung der Sehne fixirt. Durch passive Dehnung, sofern sie
bei Zeiten geübt wird, gelingt es immer, etwaige Verwachsungen
zu lösen. Für die Zeit der ersten Woche ist es darum besser,
die Sehne im Verband zu entspannen und nur während des Ver¬
bandwechsels das Glied einige Male zu strecken, bezw. zu beugen.
Eine verlässliche Sehnennaht wird dadurch nicht leicht gefährdet
und dem allgemein gütigen, gewiss auch hier zutreffenden Lehrsatz
der Ruhigstellung eines verletzten Körpertheiles Genüge geleistet.
Ist die Spannung, unter welcher die Sehnennaht gemacht
wurde, besonders gross, so wird es auch nach Anwendung einer
möglichst sicheren Nahtmethode nicht thunlich sein, die passiven
Bewegungen in der ersten Zeit zu forciren; man verursacht damit
starke Schmerzen und macht den Patienten zaghaft und zurück¬
haltend in der activen Gymnastik. Est ist Erfahrungs- bezw.
Empfindungssache, wie weit die passive Streckung und Beugung
über die Grenzen der activen Beweglichkeit ausgedehnt werden
dürfen. Eine wesentliche Unterstützung dieser Nachbehandlung
bildet auch hier der Heissluftapparat, welcher schon in der ersten
Woche nach der Operation in Verwendung kommen soll und von
1) Der Patient wurde vollkommen wicderhcrgestcllt.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4.
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936 Dr. 0. v. Frisch, Einige Bemerkungen zur Technik der Sehnennaht.
dessen eklatanter Wirkung man sich sehr leicht überzeugen kann,
wenn man die Bewegungen kurz vor und nach der Application
der Heissluft ausführt, bezw. vom Patienten ausführen lässt. Dies
ausgezeichnete Hilfsmittel für die Mobilisirung sollte in keinem
Falle versäumt werden und ist gegebenen Falles immer leicht zu
improvisiren.
Ich wiederhole also, dass wir in der Lange’schen Naht und
in meiner Modification derselben seit mehreren Jahren Methoden
haben, die die Forderungen, welchen Dreyer nur durch seine
Naht gerecht zu werden glaubt, vollauf erfüllen und die nach
meinem Dafürhalten der letzteren sogar vorzuziehen
sind; Dreyer’s Vorschlag entgegen erscheint mir viel zweck¬
mässiger auch bei durchaus verlässlicher Naht die alte
Methode der vollkommenen Entspannung der Sehne in der
ersten Zeit nach der Operation aufrecht zu erhalten nicht auf
lange Zeit, auch nicht um die gespannte Sehne zu entlasten,
sondern allein um nicht eventuellen Verklebungen der Sehne mit
der Umgebung ohnmächtig gegenüber zu stehen, wenn die eigene
Kraft des Patienten, wie das gewöhnlich der Fall ist, nicht aus¬
reicht, der genähten Sehne ihr normales Ausmaass der Bewegung
wiederzugeben.
Auf die Wichtigkeit einer früh einsetzenden Mobili¬
sirung sowie auf die Möglichkeit derselben bei Anwendung
einer derart verlässlichen Naht, w r ie es die von Lange angegebene
ist, habe ich 1. c. hingewiesen.
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XXXIV.
Das toxische Verhalten von metallischem
Blei und besonders von Bleigeschossen im
thierischen Körper.
Von
L. Lewin (Berlin).
(Mit 5 Textfiguren.)
1. Allgemeine Bemerkungen.
In den letzten Jahrzehnten sind, besonders im Anschluss an
Unfall- oder Gewerbeleiden, manche neue Thatsachen über das
Verhalten von metallischem Blei und Bleiverbindungen im belebten
Körper zu Tage gefördert worden, die auch auf das chirurgische
Handeln in Bezug auf Bleigeschosse, die im Körper zurückgeblieben
sind, nicht ohne Einfluss bleiben dürften.
Es ist heute als sicher anzunehmen, dass ein Bleistück, wo
immer sein Lagerungsort im Körper sein mag, Veränderungen er¬
fährt. Diese müssen alsbald nach der Berührung mit den saft-
durchströmten Geweben beginnen. Es ist dies eine Nothwendigneit,
deren Grundlage die chemischen Beziehungen des Bleies zu den
Bestandtheilen der Gewebe bezw. der Gewebssäfle bildet. Diese
Beziehungen sind so zahlreich und so variabel, dass sie weder in
ihrer Gesamratheit übersehen werden können, noch dass auch nur
in einem bestimmten Falle die Bedingungen zu erkennen sind, unter
denen sich eine bestimmte Bleireaction zu irgend einer Zeit des
Verweilens dieses Metalls oder seiner Verbindungen an einer be¬
stimmten Stelle im menschlichen Körper gerade so vollzieht, wie
sic äusserlich in die Erscheinung tritt. Denn wenn ich auch
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L. Lewin,
annehme, dass der grösste Theil der Bleisymptome den
Ausdruck besonderer chemischer Reactionen darstellt,
dass ein Blei-Gehirnleiden sich auf einer anderen chemischen Basis
aufbaut als ein Blei-Magenleiden oder ein Blei-Parotisleiden oder
ein Blei-Abort, so darf es doch als aussichtslos gelten, je einzu¬
sehen, warum sich die eine oder die andere Reaction einstellt.
Dass auch hier wie überall das Geschehen in belebten Wesen nach
Gesetzen sich vollziehen muss, ist selbstverständlich. Diese selbst
blieben aber bisher verborgen und werden meiner Ueberzeugung
nach kaum je erkannt und formulirt werden können, weil ausser
denen, die eine allgemeine Gültigkeit beanspruchen müssten, noch
viele zu fassen übrig blieben, die das so verschiedenartige Verhalten
eines Giftes innerhalb einer unübersehbaren Zahl von Einzelindi¬
vidualitäten zu erklären im Stande wäre. Denn auch diese Varia¬
tionen, die alle Stärkegrade von Veränderungen an den Functionen
eines Organs, ferner alle erdenklichen Combinationen von gleich¬
zeitigen oder zeitlich verschiedenen Functionsstörungen an mehreren
Organen und schliesslich die mannigfaltigsten Abhängigkeitsleiden
von primär ergriffenen Organen umfassen, können nur auf dem
Boden einer biologischen Gesetzmässigkeit entstehen und sich ent¬
falten.
Kaum ein Gift giebt es, das dem Blei in der Vielgestaltigkeit
seiner Giftäusserungen gleicht, die häufig so das Gepräge leichter
oder schwerer idiopathischer Leiden tragen, dass nur der Erfahrene
diagnostisch den richtigen Weg einzuschlagen vermag. Selbst
Quecksilber und Kohlenoxyd, beide reich an toxischer Energie,
stehen dem Blei in dieser Beziehung nach.
2. Die Wirkung von metallischem Blei,
das auf unblutigem Wege in den Körper gedrungen ist.
Diese Anschauungen finden allmählich immer mehr Eingang.
Sie werden willig getheilt, insoweit Vergiftungen mit Bleiverbin-
dungen durch Aufnahme in den Magen oder von irgend welchem
bleihaltigen Staub in die Lungen, ja sogar von Bleisalzen durch
die Haut zu Stande gekommen sind. Anders freilich urtheilte man
bisher über die Möglichkeit einer Giftwirkung von metallischem
Blei, das in den menschlichen Körper gedrungen ist — noch nicht
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
939
einmal so abwegig von der Wahrheit für den Fall, dass das Metall
in den Magen gelangte, als für den Fall der Lagerung einer
Bleikugel in irgend einem Körpergewebe. Denn dass Menschen
auch schwer gelitten haben, denen Blei als solches in Gestalt von
Bleischroten oder Bleikugeln oder Bleistücken in den Mund und
den Magen gelangt war, wurde praktisch zu häufig erwiesen, um
in Abrede gestellt werden zu können. Die Salzsäure des Magens löst
Blei reichlich auf. Ferry wies nach, dass, wenn er 10 g Jagd¬
schrot No. 12 in einer Salzsäure von 6: 1000 Wasser unter wieder¬
holtem Umrühren beliess, folgende Bleimengen in Lösung gingen:
Nach 1 Stunde.0,104 g
„ 2 Stunden . 0,174 g
,3 » 0,236 g
« 4 n 0,318 g
A 5 „ 0,383 g
A 6 n . 0,394 g
n ^ A . 0,444 g
A 8 A .0,454 g
n 0 „ 0,517 g
A 10 n . 0,574 g
Von der Mannigfaltigkeit der energetischen Aeusserungen des
Bleies im Menschen geben die Erfahrungen reichlich Kunde. Ein
einziges Bleischrot, das bei einem Arzte zwischen dem zweiten
und dritten Molaren links oben eingeklemmt lag — wahrscheinlich
beim Genuss von Wild dorthin gelangt — veranlasste wochenlang
metallischen Geschmack, Verschlechterung des Appetits, Belegtsein
der Zunge mit grauem Belag und Schwellung. Die ganze Zunge
war fast um ein Viertel dicker als normal. Dazu kamen Schmerzen
an ihr, kleine Unbequemlichkeiten beim Sprechen und eine abnorme
Trockenheit im Munde. Nachdem das Blei entfernt war, schwanden
die Symptome.
Es giebt noch andere Fälle, die schlimmer verliefen. Ein
Jäger hielt, um schneller laden zu können, immer eine Kugel im
Munde. Er bekam nach einiger Zeit Parese der Beine und Ex¬
tensorenlähmung an den oberen Gliedmaassen.
Ein anderer nahm häufig aus Spielerei eines der Schrote in
den Mund, die sich in einem Glase zum Abtrocknen der Schreib¬
federn fanden. Er kaute daran und spie sie wieder aus. An ihm
fanden sich alle Symptome der Bleikachexie.
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940
L. Lewin,
Schliesslich wurden an einem Fischer, der beim Zusammen-
nehraen des an der Peripherie mit Bleikugeln versehenen Netzes
vor dem Auswerfen desselben zum besseren Halten etwa eine Mi¬
nute lang, aber sehr oft am Tage, eine solche Kugel im Munde
gehalten hatte, ein ßleisaum und Bleikoliken von 5—9 Stunden
beobachtet 1 ).
In allen diesen Fällen konnten auf die Kugel nur der alka¬
lische Mundspeichel und die Mundgewebe selbst ein wirken. Werden
dagegen Bleikugeln verschluckt, dann tritt die Magensäure noch
stärker bleilösend in Thätigkeit. Wiederholt wurden die hierdurch
entstandenen Vergiftungsvorgänge geschildert. Auch hierbei kann
die Giftdosis sehr klein sein. So erkrankte an schwerer Kolik
eine Frau, die mit einem Apfel nur ein Schrotkorn, das wohl bei
einem Schuss auf einen Vogel in ihn eingedrungen sein mochte, auf¬
genommen hatte. Ein alter Volksglaube sieht in den verschluckten
Bleikugeln ein Mittel gegen Magen- und Darmstörungen. Schon
bei Ambroise Parö 2 ) fand ich eine solche Angabe. „Maistre
Jean de St. Germain, Apothicaire ä Paris“, habe ihm erzählt, dass
ein vergeblich von Aerzten wegen Koliken behandelter Edelmann
auf Rath eines Deutschen 3 Unzen Mandelöl getrunken und dann
eine zur Glättung mit Quecksilber amalgamirte Bleikugel verschluckt
habe, die bald wieder mit dem Koth ausgestossen worden sei. Er
sei dadurch geheilt worden. Von Bleisymptomen wird nicht be¬
richtet. Sie waren wohl auch nicht eingetreten, weil das Amalgam
die Bleilösung verhindert hat. Es giebt auch andere Ausgänge,
z. B. in Koliken, Bleikachexie und Empfindungsstörungen nach dem
Verschlucken von mehr als 300 g Bleischroten gegen ein Darm¬
leiden. Mit dem Koth waren 300 g Blei fortgegangen.
Der tödtliche Ausgang nach dieser Art der Bleieinführung wurde
mehrfach festgcstellt. In einem solchen Falle waren dem Tode voran¬
gegangen: Stomatitis, Zungenschwellung, Bleiverfärbungen im Munde,
Koliken, kachektisches Aussehen, Störungen im Rhythmus der Herz¬
arbeit, Lebercirrhosis, halbseitige Lähmung und die comatösen
Symptome der Encephalopathia satumina. Man fand noch 28 Kugeln
grossen Calibers im Magen-Darmtractus.
1) Bourguet, Gazette des hop. 1891. T. 64. p. 1376.
2 ) Ambroise Bare, Oeuvres. Paris 1614. Livre XVII. Chap. LXV.
p. 650.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei eto.
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Dass es nur sehr viel geringerer Mengen von Blei als der eben
angegebenen bedarf, um solche Symptome entstehen zu lassen, be¬
weist die Thatsache, dass eine Frau, die wegen Schmerzen eine
Hand voll Jagdschrot verschluckt hatte, nach einem freien Inter¬
vall von fast 3 Wochen Koliken bekam. Nach etwa 28 Tagen
fanden sich im Stuhl die meisten Schrote und die letzte Menge
nach 40 Tagen. Sie erkrankte mit dem üblichen Bleiathem, Koliken,
Albuminurie, motorischer Unruhe, gefolgt von linksseitiger Lähmung
und schweren Erscheinungen der Encephalopathia saturnina. ße-
wusstseinsverlust, der von tagelang anhaltendem Schreien einge¬
leitet worden war, führte in den Tod. In der Leber fanden sich
pro Kilogramm 0,09 g Blei.
Auch andere Bleiformen als die Kugel haben vom Intestinal-
tractus aus schwer vergiftet. Schon Avicenna 1 ) zeichnet als
Symptome nach der Aufnahme von „limatura plumbi“: fit color
corporis sicut color plumbi, accidentia ileos, constringitur anhelitus
ipsius“ etc.
Ein Kind von 12 Monaten starb, nachdem es ein Bleiklötzchen
von ca. 8 g verschluckt hatte; Krämpfe waren vorangegangen.
Wie gewaltsam auch verhältnissmässig kleine Mengen metalli¬
schen Bleies wirken können, davon geben die weiteren Erfahrungen
an Thieren, besonders an Kühen, Kunde. Hier sah man tödtliche
Ausgänge, bald unter den Symptomen einer Cerebrospinalmenin¬
gitis, bald nach vorangegangener Bewegungslähmung.
Dem Eindringen von metallischem Blei in die Säftebahnen
auf anderen Wegen wird ebenfalls nicht gewehrt. Reichlich könnten
dafür Belege gegeben werden, wie die Haut als Eingangspforte
genug Blei aufnehmen kann und in lösliche Producte umwandelt.
Schon Galen 2 ) erwähnt: „Quin et in laminam diductum plumbum
ipsum per sese athletarum sese exercitantium lumbis insternitur
ubi Veneris somniis vexantur, scilicet: nimirum haud obscure eos
refrigerans.“ Ich nehme an, dass diese Minderung der Geschlechts¬
erregbarkeit, die bei jeder Art der Bleiaufnahrae eintreten kann,
auf Wahrheit beruht. Es giebt der Belege genug hierfür aus alter
und neuer Zeit. Es scheint, als wenn man auch in späteren Jahr-
1) Aviccnnae Opera, Venctiis 1G08. T. II. Lib. IV. Fen. 6. p. 201.
2) Galenus, De sirnpl. medic. facult. Basil. 15G1. Lib. IX. dass. V.
p. 144.
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L. Lewin,
hunderten nach Galen umfangreicher von diesem Mittel zur Her¬
beiführung des genannten Zweckes Gebrauch gemacht habe. Denn
Sinibaldi 1 ) giebt an: „Plurimum celebratur laraina plumbi undique
perforata renibusque alligata lumbos namque refrigerat ipsumque
seraen incrustat atque ad modum torpidum reddit.“ Aber schon
er fürchtet anderweitige Wirkungen des Metalls bei längerem Ge¬
brauche.
Dringen Bleitheilchen in die Luftwege ein, wie dies in Ge¬
werbebetrieben häufig vorkommt, so sind resorptive Bleisymptome
die Folge. Wann sie subjectiv oder objectiv in die Erscheinung
treten, ist bei dieser Resorptionsart ebenso wenig zu bestimmen,
wie bei jeder anderen. Es kann aber kein Zweifel sein, dass, be¬
vor gewisse Symptome in irgend einer Form manifest werden,
Vorläufer derselben bereits kürzer oder länger latent vorhanden
waren. Dies folgt an sich als innere Nothwendigkeit in
dem Werdegang eines jeden Leidens und speciell bei den
Bleileiden auch noch aus den Beobachtungen im gewerblichen
Leben.
3. Das Eindringen von Blei in den Körper dnreh Wanden.
Sobald als metallisches Blei im Körper in resorbirbare Formen
übergeführt wird, liegt mehr als die Möglichkeit, nämlich die
Wahrscheinlichkeit vor, dass es irgend welche Wirkungen entfaltet.
Nun ist es auffallend, dass, während von natürlichen Körperhöhlen
aus Lösung, Uebergang in die Säftebahn und Giftwirkungen des
Bleies genugsam bekannt geworden sind, über Blei-Giftwirkungen
durch eingeschossenes Blei von den ältesten römischen medicini-
schen Schriftstellern an bis etwa zur Mitte des vorigen Jahrhunderts
nichts berichtet wird, obschon man oft genug in diesem gewaltigen
Zeitraum solche Geschosse in den Menschen sehr lange hat ver¬
weilen sehen. Man muss bedenken, dass auch vor der Erfindung
des Pulvers reichlich Bleigeschosse in Menschen eingeschossen
worden sind. Sagt doch schon Celsus 2 ): „Tertium genus telorum
quod interdum evelli debet cst plumbea glans aut lapis aut si¬
mile aliquid, quod perrupta cutc, integrum intus insedit.“ Ja, die
1) Sinibaldi, Cieneanthropeia. Itomae 1642. p. 556.
2) Celsus, De Mcdicina. Patavii 1750. Lib. VII. Cap. IV. p. 41S.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
943
Kraft, die ein solches eichelförmiges Bleigeschoss durch die Haut
hindurchjagte, hat es auch bis in den Knochen gelangen lassen.
Denn Celsus erblickt eine Schwierigkeit in der Entfernung „si
telum vel ossi inhaesit vel in articulo se inter duo ossa demersit“.
Die „Missilia“ des Tacitus umfassen auch bleierne Schleuder¬
geschosse. Sallust 1 ) erwähnt die Benutzung des Bleis für diesen
Kriegszweck und die römischen Dichter Virgil 2 ) und Ovid 3 )
haben wiederholt diesen Gebrauch anschaulich geschildert. Ovid
meint, dass das Blei beim Fliegen heiss wird 4 ) und Lucrez 5 )
lässt es sogar schmelzen. Die Verwundungen, die solche Ge¬
schosse erzeugten, wenn sie von geschickten Männern geworfen
wurden, mussten schwer gewesen sein und die Getroffenen wohl
schnell kampfunfähig gemacht haben, sonst würden die Blei-
schleuderer nicht im Heere so hoch geschätzt worden sein, dass
die Kaiser Diocletian und Maximian sie allen anderen Legionen
vorzogen. In Illyrien standen zwei Legionen nur von solchen,
„Martiobarbuli“ benannten Soldaten. Vegetius 6 ) empfahl drin¬
gend die Ausbildung in dem Gebrauch dieser Geschosse, von denen
jeder Schleuderer fünf in der Höhlung seines Schildes trug. Ein
alter Commentator hält freilich die Bleigeschosse nicht für „glandes
plumbeae“, sondern für mit einem Bleistück versehene Wurf¬
pfeile 7 ). Zur Zeit des Kreuzzuges benutzte man unter Philipp II in
1) Saliusti De bello Jugurthino. Cap 57: „Romani pro ingenio quis-
<que pars eminus glande aut lapidibus pugnare . . .“
2) Virgilii Opera. Ed. Burmanni. T. II. Aencid. lib. IX. Vers 585:
Stridentem fundam, positis Mezentius armis,
Ipse ter adducta circum caput egit habena:
Et media adversi liquefaeto tempora pluinbo
Diffidit ac multa porrcetum extendit arena.
3) Ovidii Metamorphos. Lib. IV. Vers. 709.
„Tantum aberat scopulis quantum balcarica torto
Funda potest pluinbo medii transmittere eacli a .
4) „Non secus exarsit quam cum balcarica plumbum
Funda jacit; volat illud et incandescit eundo.
5) Lucretii De rerum natura, ed. Crecch 1754. Lib VI. Vers. 176.
„.ut omnia motu
Percalefacta vides ardescere* plumbea vero
Glans ctiam longo cursu volvenda liquescit*.
An einer anderen Stelle lässt er das fliegende Blei nur heiss werden.
6) Fl. Vegctii, De re militari ed. Sehwebclii. Norimb. 1767. Lib. I.
Cap. XVII. p. 24: „Plumbatarum quoque exercitatio quos Martiobarbulos vocant
tradenda est junioribus*.
7) Stevechus, Commcnt. ad Fl. Vegeti Renati de re militari libros 1592.
p. 402.
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944
L. Lewin,
der französischen Armee noch als Wurfgeschosse Bleikugeln. Sie
bildeten zum Theil auch das Material, das Schleudermascliinec
warfen.
4. Die alte und neue Beurtheilung der Folgen von Bleieinschussei
in den menschlichen Körper.
Unter den vielen Fällen, in denen seit Jahrtausenden metal¬
lisches Blei in Kugel- oder anderer Form in Wunden gelangte, gab
es auch eine beträchtliche Zahl solcher, in denen es entweder
wegen der Unmöglichkeit der Entfernung oder wegen seiner an¬
geblichen Ungefährlichkeit im Körper belassen wurde. Das Er¬
staunen, dem Alfons Ferri um die Mitte des 16. Jahrhunderts
^Ausdruck gab: „Mirabile quidem et visu et auditu est, plumbeura
globulum quandoque in corpore sine noxa diutissirae detineri“. ist
vor ihm wahrscheinlich schon sehr oft empfunden und getheilt
worden. Ja, mehr als dies, man hatte schon sehr früh hierfür eine
Erklärung ersonnen, die Jahrhunderte hindurch gewissermaassen als
Axiom festgehalten wurde. Arabische Aerzte, vor Allem, w r ie es
scheint, Averroes 1 ) meinten „plumbum habere cum carne hominis
similitudinem.“ Diese Aehnlichkeit, die sich später sogar zu einer
„Verwandtschaft“ auswuchs, sollte die Möglichkeit seines schad¬
losen Verweilens begründen. Um so überraschender wirkt diese
drollige Auffassung eines an sich immerhin bemerkenswerthen Ver¬
haltens des Bleis, als derselbe Averroes 2 ) die schon von Galen
mitgetheilte ungünstige Wirkung von Blei auf die Funktion des
Gcschlechtsapparates wiederholte.
Ein Zweifel, der sich vielleicht hier und da bezüglich einer
möglicherweise doch vorhandenen Giftwirkung einer Bleikugel im
Körper regte, wurde mit dem angeführten Argument beseitigt.
Ambroisc Pare bezieht sich an einer Stelle seines grossen Werkes
auf Guy de Chauliac, der im 14. Jahrhundert Beobachtungen
über das lange Verweilen von Bleikugeln im Menschen gemacht
hatte: Wenn Bleikugeln an sich giftig wirkten, dann könnten.
1) Bei Avicenna habe ich diese Anschauung nicht finden können.
2) Averrois Colliget. Lib. V. Cap. XLUI. fol. 56: r Et quando fit
ex eo (plumbo) lamina et ponitur super femur privat coituni sed mul tum lae-
duntur instrumenta spermatis“.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
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wie der würdige Guido sagt, nicht ihrer viel, die in den Leib ge¬
schossen wären, so viele Jahre ohne Schaden in demselben herum¬
getragen werden. Giftig würde die Bleikugel erst durch Ver¬
mischen mit Quecksilber.
Diese letztere Bemerkung lässt bereits erkennen, dass doch
gelegentlich Giftwirkungen entstanden seien, die man, da einmal
die Nichtwirkung von Bleikugeln als ein medicinischer Grundsatz
bestand, umzudeuten versuchte. Pare 1 ) selbst acceptirte und er¬
weiterte den arabischen Grundsatz mehr als irgend ein anderer Chi¬
rurg vergangener Zeiten. Es ist vielleicht nicht unwichtig, seine
Auffassung hierüber zu wiederholen:
„Aucunes fois les balles de plomb demeurent long temps de-
dans les membres comme par l’espace de sept ou huict ans, et
plus, ainsi que j’ay observe moy-mesme sans neanmoins survenir
aucun mauvais accident, ni empeschement de consolider la playe
et demeurent lä jusques ä ce qu’elles soieBt poussees hors par la
vertu expultrice, descendant pour leur gravite et pesanteur es
parties inferieures, esquelles elles se manifesten!, puis doivent estres
tir£es hors par l’opöration du Chirurgien.
Or ceste demeure si longue aux corps sans pourriture aucune,
ny mauvais accident (comme j’estimc) ne prouient que de la
matiere du plomb, dont la dite balle est composee, comme ainsi
soit que le plomb a certaine familiarite et accointance
aveo la nature principalement des parties charneuses
ainsi que nous voyons par experience ordinaire qui nous
apprend que le plomb appliquö par dehors a vertu de
clorrer et cicatriser les vieux ulceres.“
Man könnte glauben, dass er an die Möglichkeit einer Blei¬
vergiftung gedacht habe, wenn man die beiden aneinandergereihten
Ausdrücke „pourriture“, d. h. als eine rein örtliche Veränderung,
und „mauvais accident“ als eine Allgemeinwirkung deuten wollte.
Dem widerspricht aber eine Deutung an anderer Stelle 2 ), in der er
angiebt, Kugeln nach Jahren von höheren nach tieferen Stellen
wandern gesehen zu haben, „sans faire aucune putrefaction ou
nuisance ä nature, qui demonstre n’avoir nulle venenositc mais
1) Parc, Oeuvres. Paris 1614. Livre onzieme. C'hap. XI. p. 434.
2) 1. c. p. 790.
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L. Lewin,
plutost quelque chose de faroilier avec nostre nature“. Als einen
weiteren Beweis hierfür bezieht er sich auf Galen, der angegeben
habe, dass das in bleiernen Behältnissen auf bewahrte Wasser nur
giftig würde durch den sich darin absetzenden Schlamm.
Die Verschiedenheit des Kugclmaterials in ihrem Einflüsse auf
secundäre Körperstörungen sucht er noch besonders in das Licht
zu stellen: „Mais si la balle estoit de pierre, de fer ou d’autre
metal e’est chose toute asseuree qu’elle ne pourroit demeurer long
teraps au corps parceque le fer s’enrouille et ä cause de ce corrode
la partic, ce qui ameine quant et-soy de pernicieux accidents: mais
sic le boulet estoit en partie nerveuses ou nobles et fut-il de
plomb il ne pourroit gueres y demeurer sans causer de bien grands
inconveniens“.
So hoch schätzte er die Eigenartigkeit des Bleimaterials allem
anderen gegenüber ein, dass er irrthüralich die Möglichkeit des Yer-
weilens anderer Stoffe im Körper leugnet: „Nature ne peut souffrir
un petit poil enferme en une playe ou autre corps esirange".
Wenn aber jemand behauptet, dass eine mittels einer arquebuse
eingeschossene Bleikugel (ballotte de plomb) lange Jahre im Körper
sitze, so wolle er dies zugeben.
Nicht anders als Pare urtheilten andere, im gleichen und den
nächsten Jahrhunderten wirkende Chirurgen. Du Chesne 1 ) hat
keinerlei Bedenken die Kugeln im Körper verweilen zu lassen, da
das Blei mit Eigenschaften der menschlichen Natur Zusammenfalle
und ihr verwandt sei. Nur eine Möglichkeit einer eventuellen Gift¬
wirkung liess er offen, nämlich wenn die Kugel von aussen vergiftet
worden sei — eine Anschauung, die sehr bald als hinfällig be¬
zeichnet wurde.
Noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Ueberlegen-
heit des Bleis über anderes Kugelmaterial, insoweit eine Körper¬
störung dadurch entstehen könne, selbst von denen gerühmt, die
der schnellen Extraction das Wort redeten: „Es ist einerley, von
welchem Metalle die Kugeln sind, wofern sie nur nicht im Körper
Zurückbleiben; in diesem Falle steht von jener, welche aus Blev
1) Quercetanus, Sclopetarius Lugduni 1576. p. 15: r globuli plumbei
in corporibus permanent cum plinnbum naturae nostrae magnopere cougruat
eique valdc familiäre sit u .
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
947
ist, weniger zu befürchten als von jener so von Erz oder
Silber ist“ 1 ).
Das, was die alten Chirurgen für ein familiäres Verhältuiss
des Bleis zu den menschlichen Geweben und besonders zu den
Muskeln hielten, ist nichts Anderes als eine Deutung für den Vor¬
gang der „Einheilung“, der früher pathologisch-anatomisch nicht
erkannt werden konnte, über den wir aber jetzt eine Reihe ge¬
sicherter Forschungsergebnisse haben.
Die durch den Fremdkörperreiz gesteigerte histogenetische
Energie schafft auch noch nach heftigen Entzündungsstürraen in
Weichtheilen einen bindegewebigen Mantel, der der allgemeinen
Annahme nach den Fremdkörper von der Berührung mit Blut und
Lymphe zum grossen Theil ausschaltet. Auch eine im Knochen
steckende Bleikugel übt meist einen genügenden formativen Reiz
aus um einen Mantel von neuem Gewebe entstehen zu lassen, das
später in gefässarmes Narbengewebe übergeht. Vereinzelt fand sich
die Kugel direct in einer Exostose. So berichtet Percy 2 3 ), dass
er nach dem Tode eines Soldaten, der das Geschoss 20 Jahre ge¬
tragen hatte, dasselbe als den Kern eines Beinauswuchses am
Schienbein gefunden habe.
Die meisten Einheilungen kommen in den spongiösen Enden
der grossen Röhrenknochen vor, welche dick genug sind, um eine
Kugel aufzunchmen und nur von so dünner Lage compacten Ge¬
webes umgeben sind, dass eine Splitterung und die von dieser
unterhaltene Eiterung nur an der Eingangsöffnung in den Knochen
stattfindet 8 ).
Wegen der Knochensplitterung ist das Einheilen der Kugel in
den Diaphysen der Röhrenknochen, in den glatten Knochen des
Schädels und des Beckens, bei welchen eine Lage spongiösen von
zwei Lagen compacten Knochengewebes eingeschlossen ist, wegen
des Entstehens von Sprüngen wohl kaum möglich 8 ), jedenfalls un-
gemein selten.
Es liegt dem Zwecke meiner Auseinandersetzungen ferner, die
Thatsachen anzuführen, die in so vielen Jahrhunderten bezüglich
des oft staunenerregenden, über sehr lange Zeiträume sich er-
1) Platner, Institut, ehirurgicac Lipsiae 1783. § 4G7.
2) Percy, Vom Ausziehen fremder Körper etc. S. 84.
3) Simon, Prager Yicrteljahrssehr. 1853. I. S. 177.
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L. Lewin,
streckenden Venveilens von Bleigeschossen in den verschiedensten
Körpertheilen festgestellt wurden. Selbst das Herzinnere, die
Lungen, die Brust-, Bauchhöhle und Schädelhöhle, das Gehirn, die
Orbita, das Becken haben solche Fremdkörper Jahre, bezw. Jahr¬
zehnte ohne örtliche Reaction bewahrt.
So berichtet schon Ferri 1 ) von einer „plumbea pilea“, die er
nach 30 Jahren ausgezogen habe, ebenso Maggi 2 ), Pare von
Kugeln, die in Weichtheilen drei, vier und zehn Jahre gesessen
haben, Fabricius Hildanus 3 ) von einer Bleikugel, die 30 Jahre
in der Harnblase geblieben und nach dem Tode im Innern eines
eigrossen Steines gefunden worden sei, und von einer anderen, die
ein halbes Jahr zwischen Schädel und Dura mater verweilt habe.
Ein Soldat trug ein solches Geschoss 30 Jahre im Fusse 4 ) und
ein anderer 30 Jahre „maxillae accreta“. Eine in den Hals ge¬
schossene Kugel wurde nach 9 Jahren aus dem Schlüsselbein
extrahirt 5 ). Jahre hindurch trug ein Militär eine Kugel, die naeh
ihrem Einschüsse in den Bauch sich verloren hatte, frei beweglich
in diesem. Er erlitt nur bei gewissen Bewegungen des Körpers,
welchen die Kugel jedes Mal folgte, einige Unbequemlichkeiten 6 ).
Fünfzehn Jahre blieb eine Kugel im Os ethmoideum stecken. Eine
andere, in den Hals geschossene senkte sich zur Lunge, wo sie
7 Jahre verblieb 7 ), und 6 Jahre nach einem Brustschuss fand man
bei einem Soldaten in der rechten Herzkammer nahe der Spitze
das eingekapselte Geschoss 8 ). Sogar im Rückenmark wurde die
Einkapselung einer Bleikugel 14 Jahre nach dem Einschuss fest¬
gestellt 9 ).
1) Alf. Ferri, De sclopetorum sive archibusorum vulneribus libri tres.
Lib. III. Cap. V. Fol. 303 v.
2) Maggi, De vulneribus sclopet. cur. 1552. Fol. 90.
3) Fabricius Hildanus, Observ. Chirurgie. Lugd. 1651. Cent III.
Obs. LXVII. p. 457.
4) Acta med. Berolinens. Dec. III. Yol. I. 1731. p. 70.
5) Ravaton, Abhandl. von Schuss-, Hieb- und Stichwunden. Strassb.
1767. p. 189.
6) Schmidt, Preisfrage, welche ist die sicherste Methode Schusswunden
zu heilen? Wien 1788. S. 22 Anmerk.
7) Broussais, Histoire des phlegmasies. 1808. T. I.
8) Dictionnaire des Sciences midie. T. IV. p. 317.
9) Butin, Bulletin de TAcademie de medccine. T. XIV. 1848/49.
p. 1151.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
949
5. Die Anschauungen über das ärztliche Eingreifen bei im
Körper befindlichen Bleikugeln.
Nach den bisherigen Ausführungen kann es nicht bezweifelt
werden, dass Bleigeschosse lange Jahre auch in functioneil besonders
wcrthigen Körpertheilen verweilt haben, ohne dass die betreffenden
Individuen sehr störende örtliche Symptome aufwiesen oder dass man
Blei Wirkungen erkannt hat: Hiernach sollte man aber auch meinen,
dass stets Uebercinstimmung darüber geherrscht habe, solche Ge¬
schosse sich selbst zu überlassen, wofern sie nicht gerade durch
acute Störungen zu einem Eingreifen nöthigten. Wäre wirklich der
natürliche Vorgang der Einheilung ein in jeder Beziehung folgeloser,
so ist nicht einzusehen, warum es hier von Alters her gegensätz¬
liche Forderungen für das ärztliche Thun gegeben hat, die eine: die
schnelle Entfernung, wenn sie vorgenoramen werden kann, eine
andere: die Entfernung um jeden Preis, und die dritte: kleine oder
grosse Bleigeschosse zu belassen, wo sie sind, wenn sie keine fühl¬
baren Störungen veranlassen.
Meiner Meinung nach haben diejenigen, die der Entfernung
unter allen Umständen das Wort redeten, yrenn auch nicht das
klare Bewusstsein, so doch vielleicht das entfernte Empfinden ge¬
habt, dass neben allem Anderen, was an geweblichen Störungen
kommen kann, man diesem Metall, als einem Giftkörper, nicht den
Stempel des Gleichgültigen während seines Verweilens im Körper auf¬
drücken dürfe. Die lautlos schleichende, stetig wachsende,
immer verderbenbringende Naturgewalt einer chronischen
Vergiftung ist bis heute nur ganz vereinzelt wissenschaftlich klar
als hier in Frage kommend dargelegt worden. Und doch mag sie
oft genug empfunden und nur aus Mangel an toxikologischem Wissen
und an Kenntnissen von beweisenden Vorgängen nicht zugegeben
worden sein.
Von Celsus an, der bereits das Ausziehen von in den Körper
geworfenen Bleimassen empfiehlt, bis in die neuere Zeit hinein war
überwiegend die Meinung vorherrschend, das Projectil möglichst
schnell zu entfernen, selbst bei denen, die in manchen Fällen Jahr¬
zehnte hindurch solche in Weichtheilen haben sitzen sehen. Ferri,
der sogar an jenen arabischen Irrthum von der Aehnlichkeit des
Bleis mit dem „menschlichen Fleische“ glaubte und selbst ein Blei¬
geschoss nach zwanzigjährigem Verweilen im Körper entfernt hatte,
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950
L. Lewin,
erklärt Alles dies für nicht genügend, um die Kugel sitzen zu
lassen 1 ). Man verlangte die Entfernung schon am ersten Tage 1 ).
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Paris gelehrt, man
solle das Bleiprojectil in der Wunde belassen. Dagegen wandte
sich Percy mit seiner grossen Erfahrung und seinem scharfen
Blick. Man dürfe eine Kugel nicht immer sitzen lassen, wenn¬
gleich sie kein Unglück zu stiften scheine. Denn sie sei doch ein
der Natur lästiger, fremder Körper, der gemeiniglich die Narbe
hindert und dessen Unschädlichkeit niemand versprechen kann.
Er wisse wohl, dass manche Personen lebtägig Kugeln ohne Schaden
in sich getragen haben; aber bei vielen anderen stören sie die Ver¬
richtungen des Theils, unterhalten unaustilgbare Fisteln und ver¬
ursachen allerhand anderen Unfug 8 ).
Die Möglichkeit des Eintretens örtlicher Gewebsleiden mag für
diese Stellungnahme fast immer bestimmend gewesen sein. Ver¬
einzelt wird als Grund auch angegeben, dass dadurch ein günstiger
Einfluss auf die Gemüthsstimmung des Kranken erzielt würde 4 ).
Am eifrigsten forderte und begründete Hutin die baldige Ent¬
fernung der Projectile. Der Satz: „in dubio abstine“ sei der erste
Fehler, der dem Chirurgen später Reue und dem Kranken langes
Leiden und vielleicht eine unheilbare Minderwertigkeit bringe.
Die Geschosse blieben stets Fremdlinge. Da sie nicht assirnilirbar
seien, so würden sie nicht assimilirt. Den Fällen von geringer
Symptomenerzeugung stünden sehr oft solche mit sehr ernsten in
späterer Zeit gegenüber. Es sei vortheilhaft, klug, rationell und
nothwendig, die Extraction schnell und immer vorzunehmen, wenn
sie überhaupt ausführbar sei 6 ).
Demgegenüber vertraten neuere Chirurgen den Grundsatz:
Quieta non movere. So meinte Simon, dass z. B. die Einheilung
einer im spongiösen Knochen festsitzenden Kugel der Extraction
1) Ferri, 1. <\: „Non tarnen propterea est, cur eam cunctatius extra-
hendum eures, ex ea nainque persaepe saevissima fiunt accidentia.*
2) Maggi, 1. c. — (iuillemeau, Oeuvres. Paris 1G02. Livre X.
Chap. III. p. 193; ebenso Fabricius ab Aquapendate: „et statiin indieati»
oboritur extrahendi . . . w
3) Percy, Vom Ausziehen fremder Körper aus Schusswunden, übersetzt
von Lauth. 1789. S. G8.
4) Le Dran, Traite aux reflexions tirccs de la pratique sur les playes
d’armes a fcu. Amsterdam 1741. p. 28.
5) Hutin, Mcmoires de PAcademie de medecine. 1852. T. XVI. p. 411.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
951
bei Weitem vorzuziehen sei. Sie solle stecken bleiben, wenn sie
bis über ihren grössten Durchmesser eingedrungen sei und festsitze
und keine bedeutenden Sprünge und Splitterungen des Knochens
aufgefunden werden. Dagegen solle man jedes Mal ein im Schädel¬
gewölbe steckendes Projectil ausziehen. Auch Dieffenbach 1 )
meinte, derjenige Chirurg würde am glücklichsten in der Behand¬
lung der Schusswunden sein, der nicht mit geschäftiger Hand den
Mineur oder Sappeur macht. Soweit tiefer eingedrungene Schrot¬
körner in Frage kommen, räth v. Bergmann geradezu von ihrer
Entfernung ab.
6. Die toxikologische Bewerthang in den Körper eingeschossener
Bleikugeln.
a) Das chemische Verhalten.
ln dem Widerstreite der Ansichten über das Verhalten von
Bleigeschossen im Körper bezw. über die Stellungnahme des
Chirurgen zu ihnen kann die toxikologische Betrachtung einen viel¬
leicht nicht unwesentlichen Beitrag liefern. Der Stand der heutigen
Erkenntniss der Bleiwirkung von metallischem Blei lässt nicht nur
nicht die alte Absurdität von einer natürlichen Verwandtschaft des
Bleis mit Körpergeweben aufrechterhalten, sondern widerstreitet
auch der Annahme, dass eine in Weichtheilen oder in Knochen
sitzende Bleikugel eine chemisch reactionslosc Masse darstelle.
Gewiss erscheint es für manchen „mirabile visu et auditu“, dass
ein solches Geschoss scheinbar ohne Nachtheile auch Decennicn im
Körper verweile. Wie verschieden aber auch unter bestimmten
individuellen Verhältnissen oder unter den in der Bedeutung von
einander sich wesentlich unterscheidenden Bedingungen der Lage¬
rung das Bleiverhalten sich gestalten mag — eines ist sicher, dass
an der Bethätigung einer oder der anderen seiner chemischen
Wirkungsmöglichkeiten nicht gezweifclt werden kann, gleichgültig
ob es von der Haut, dem Magen, den Muskeln oder den Knochen
aufgenommen worden ist. Selbst in den Fällen, in denen durch
irgendwelche günstigen Verhältnisse eine Incrustation der Bleikugel¬
oberfläche als völliger Schutz gegen die Bleilösung stattfände,
würde doch immer ein langes Stadium vorangegangen sein, in dem
1) Dieffenbach, Opcrat. Chirurgie. IM. 1. S. 42.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4.
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052 L. Lewin,
das Blei dieses Schutzes entbehrte und daher der Lösung ausge¬
setzt gewesen ist.
Solche Vorgänge kennen wir von dem Verhalten der neuen
Bleiröhren gegenüber dem sie durchfliessenden Wasser.
Es ist bekannt genug, dass ein solches Wasser Blei löst, wenn
auch an sich in geringer Menge, so doch innerhalb einer längeren
Zeit in Gesammtmengen, die nach dem häufigen Genüsse solchen
Wassers auch schwere Bleivergiftungen erzeugen können. Erst
dann, wenn sich im Innern der Bleiröhre gleichmässig eine Deck¬
schicht von sehr unlöslichen Bleicarbonaten, vorzüglich aber von
2 PbC0 3 Pb(0H) 2 gebildet hat, hört das Löslichw r erden und somit
die mögliche Giftwirkung des Bleis auf. In sehr kurzer Zeit voll¬
zieht sich dieser ganze Vorgang nicht. Er dauert je nach der
chemischen Beschaffenheit Monate und vielleicht Jahre. In dem
bereits angeführten Falle, bei welchem es sich um eine in die
Harnblase geschossene Bleikugel gehandelt hat, lagen schliesslich
die Verhältnisse ähnlich wie bei dem durch die Deckschicht ge¬
schützten Bleirohr. Man wusste nicht, wohin die Kugel, die am
Os coccygis eingedrungen war, gelangt sei. Nach 15 Jahren ent¬
standen angeblich die ersten unangenehmen Symptome: Dysurie,
Harnverhaltung und andere Symptome, „die ihn dem Tode nahe
brachten“. Der Chirurg fand einen Stein im Blasenhalse und stiess
ihn zurück. Die Symptome schwanden und der Betreffende lebte
weitere 15 Jahre. Dann, also nach 30 Jahren, stellten sich Nieren-
schmerzen, eine Febris continua und schliesslich der Tod ein. Man
fand in der Blase einen eigrossen Stein von ungewöhnlicher Schwere.
Beim Zerbrechen fand sich als Kern eine haselnussgrosse Blei¬
kugel, umgeben von einer „sandigen Masse“. Der übliche Vorgang
der Blasensteinbildung um einen festen Kern hatte sich hier voll¬
zogen und von einem gewissen Zeitpunkt ab war dann die Lösung
des Bleis verhindert worden. Keinesfalls ist es aber deswegen
ausgeschlossen, dass nicht doch das vorher in Lösung gegangene
oder das aus Salzen durch Umsetzungen freigewordene Blei
Symptome erzeugt hat, die nur nicht richtig gedeutet wurden,
oder dass es sogar an dem schweren späteren Leiden bethei¬
ligt w r ar.
Ob das letztere nun richtig sein mag oder nicht — immerhin
ist es eine chemische Nothwendigkeit, dass in den Körper ein-
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
953
geschossenes Blei so viel von seinem Gewichte an vorhandene,
lösende oder Salz schaffende Factoren abgiebt, als nach chemischen
Gesetzen erfordert wird. Ob die Summe alles dieses veränderten
Bleis geeignet ist in dem Bleiträger Körperstörungen zu veranlassen
ist eine Frage, die generell weder bejahend noch verneinend be¬
antwortet werden kann. Diejenigen, die den Uebergang von Blei
aus einem Projectil in die Säftemassen unbeachtet Hessen oder
gar leugneten, oder jene, die von der schliesslich löslich gewordenen
Bleimenge keinen Schaden erwarteten, sind an der toxikologischen
Erkenntniss und an vielen das Gegentheil ihrer Auffassung be¬
weisenden Erfahrungsthatsachen achtlos vorbeigegangen. Nur da¬
durch konnto ein Chirurg 1 ) schreiben: „Wir wissen, dass alle
fremden Körper, die nicht faulen, sich nicht verändern, also auch
die Metalle und das Blei vom Körper tolcrirt werden“. Gerade
das Gegentheil ist wahr. Alle Metalle müssen sich im Körper
verändern und verändern sich. Von den an der Lagerstätte der
Kugel möglichen, sehr zahlreichen Einflüssen auf die ßleilösung
seien einige angeführt.
Durch die Einwirkung von Feuchtigkeit und Gewebssauerstoff
kann Bleihydroxyd Pb(0H) 2 entstehen und dieses durch Kohlen¬
säure als Hydrocarbonat gelöst werden.
Alkalische Gewebsflüssigkeit, die an das Projectil herangelangen
kann, greift bei höherem oder niederem Salzgehalt Blei an.
Fette und fettartige Stoffe, Lipoide, lösen metallisches Blei
bei längerer Berührung erheblich. Es scheint als wenn Pflanzen¬
fette, wie Olivenöl, diese Fähigkeit in geringerem Maassc besitzen
als thierische Fette.
Dies sind nur einige der Möglichkeiten, die für den Ueber¬
gang des festen Bleis in eine resorbirbare Form in Frage kommen.
Manche andere, von den Zellen ausgehende chemische Energie
mag es noch geben, die zu dem gleichen Ziele führt. Hierfür
giebt es Analogien bei anderen, noch schwieriger als Blei in
Lösung überzuführenden Giften, z. B. dem Bleisulfat, dem Fliegen¬
kobalt u. a. m., bei denen zum Theil neben einer oder der andern
der oben angeführten chemischen Einwirkungsmöglichkeiten, noch
andere in Thätigkeit treten müssen, um so viel von dem Gifte in
1) Neudörfer, Kriegschirurgie. IST 2. Hd. 2. Th 1. S. 405.
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die Säftebahnen überzuführen, dass die beobachteten Vergiftungen
entstehen konnten.
b) Umstände, die eine Bleilösung von der Kugel begünstigen
können.
Die Lösung von Blei aus dem eingedrungenen Projectil wird
selbstverständlich nie in kurzer Zeit in grossem Umfange sich
vollziehen können, niemals etwa so, wie wenn Salpetersäure auf
Blei in der Wärme einwirkt, weil die vorhandenen lösenden Fac-
toren nicht so mächtig sind und vor Allem nicht so schnell ihre
Energie zu entfalten vermögen. Es kommt aber ausserdem noch
hinzu, dass die Angriffsfläche an der compacten Bleikugel nur
verhältnissmässig klein ist. Mit dem Wachsen der chemisch an¬
greifbaren Oberfläche muss auch die Möglichkeit der Bleilösung
zunehmen. Deswegen bieten Schrotkömer mit ihren, einer Blei¬
kugel vom gleichen Gewicht weit überlegenen Oberflächen viel
erfolgversprechendere Bedingungen für die lösenden Factoren an
den Lagerstätten dar. Und unter den Schroten müssen aus dem
gleichen Grunde die kleinsten die in dieser Beziehung gefährlichsten
sein. Die Verhältnisse sind ungefähr denjenigen ähnlich, die beim
Quecksilber dazu geführt haben, es in die Form der grauen Salbe
zu bringen, damit der Organismus aus den mikroskopisch kleinen
Quecksilberkügelchen nach ihrem Eindringen in die Haut leichter
ihre Lösung bewerkstelligen könne. Und der Vorgang ist ferner
demjenigen zu vergleichen, der den überlegenden Arzt dazu ver¬
anlasst, falls er die schnelle Aufnahme eines pulverförmigen, in
Wasser unlöslichen Arzneimittels herbeizuführen beabsichtigt, das¬
selbe als Pulvis subtilis zu verschreiben. Läge kein weiterer
Grund vor, gerade Schrotkörner kleinen Kalibers, die in Menschen
eingeschossen wurden, zu entfernen, so würden ihre in ihrer Ge-
sammtheit grossen Angriffsflächen es erheischen.
Gewöhnlich erleidet aber auch schon das Volumen grösserer
Bleigeschossc dadurch eine Verminderung beim Einschüsse, dass
Theilchcn abgesprengt werden. So ist chirurgisch immer darauf
hingewiesen worden, dass an durch Bleiprojectile gebrochenen
Knochen, wenn auch selten, Blei Verfärbungen vorkämen, viel
häufiger aber sich daran kleine eingesprengte Bleipartikelchen
fänden.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
955
Den Vorgang des Absprühens des Bleis hat man auch experi¬
mentell weiter verfolgt. Es interessirt hier nicht, auf die Frage
einzugehen, wie die Bleispritzlinge entstehen. Denn, gleichgiltig
ob sie rein mechanischen Ursprungs sind oder ob eine Schmelzung
des Bleis dabei betheiligt sein mag, sie gestatten durch ihre
Kleinheit eine sehr viel leichtere Ablösung von Blei. Je mehr
von ihnen vorhanden sind und je kleiner sie sind, um so sicherer
bezwingt sie der menschliche Körper.
Neben der Kleinheit des Objectes kommt bezüglich der An¬
greifbarkeit des Bleis als wesentlich noch seine Lagerstätte in
Frage. Denn die Körpergewebe sind verschieden stark saftdurch-
strörat an sich und auch individuell. Dadurch können die blei¬
lösenden Factoren in verschiedener Menge und Stärke ihre Thätig-
keit im Sinne einer einfachen Lösung oder einer chemischen
Wechselwirkung entfalten. Die Voraussetzung ist hier, wie stets
bei chemischen Wirkungen, eine möglichst innige Berührung. Diese
ist aber wohl ausnahmslos gewährleistet.
Aber nicht allein die Säftemenge, sondern auch die chemischen
Bestandteile der berührenden Gewebe, haben verschiedenartige
und verschieden starke Beziehungen zu Blei. Es braucht in dieser
Beziehung nur an die Lipoide des Gehirns und Rückenmarks oder
an das Fett des Knochenmarks einerseits und den Muskel anderer¬
seits erinnert zu werden. Somit wird ein Bleiprojectil unter sonst
gleichen Umständen vielleicht am günstigsten für eine Bleivergiftung
im Knochen bezw. Knochenmark lagern, weil hier neben der blei¬
lösenden Eigenschaft des Fettes noch ein besonderer Säftereichthum
besteht; denn Blut- und Lymphgefässe treten überall in die
Havers’schen und Volkmann’schen Canälchen und bilden an
der Innenfläche des Knochens mit den Gefässen des Marks ein
sehr weites Blutgefässnetz. Dazu kommt, was nicht ohne Be¬
deutung ist, dass die Blutgefässe innerhalb des Knochenmarks an
einzelnen Stellen einer eignen Wandung entbehren, also leicht
Fremdes in sich eindringen lassen. Selbst wenn ein Narbenmantel
um das Geschoss sich gebildet hat, kann dieses nicht trocken
liegen. Denn das Narbengewebe ist, wenngleich es in den ver¬
schiedenen Epochen seines Bestandes einen wechselnden Gefäss-
reichthum zeigt, immer noch auf eine genügende Säfteernährung
angewiesen, die auch * in einer gewissen Suceulenz des Gewebes
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956
L. Lewin,
zum Ausdruck kommen muss. Diese kann dem Blei gegenüber
nicht reactionslos sein. Die gelösten Bleimengen oder andere
Blci-Reactionsproducte können aus dem Narbengewebe auf den
Wegen abgeführt werden, auf denen die Stoffwechselproducte des
Narbenraantels abziehen.
Die Verhältnisse sind einer Bleilösung in der ersten Zeit
nach dem Einschüsse meiner Ueberzeugung nach besonders günstig.
Denn das Projectii erzeugt unter allen Umständen eine trauma¬
tische Entzündung, wodurch viel mehr bleilösende Factoren ge¬
schaffen werden. Dabei kann sogar die höhere Temperatur, mit
der die Kugel in den Körper dringt, ausser Acht gelassen werden.
Das entzündete Gewebe mit der reichen Blut- und Lymph-
zuströmung ist schon für sich durchaus schädlicher für den Pro-
cess der Bleilösung als der normale Gewebszustand. Die Rolle
der Lymphbahncn hierbei schätze ich sehr hoch ein. Sie
ist noch lange nicht genug für die Fortschaffung von Giften vom
Entstehungsorte nach entfernteren Körpergebieten gewürdigt worden.
Ich habe an mir selbst nachweisen können, dass das Phenyl¬
hydroxylamin auf diesem Wege meine Hand vom Daumen aus,
der allein mit dem Gift in Berührung gekommen war, vergiftete 1 ).
Schon früher habe ich die springenden Hautausschläge, z. B. den
durch Jodoform bei manchen Menschen entstehbaren, auf diese
Ursache zurückgeführt 2 ).
Das gelöste Blei kann auf die angeführten Weisen resorbirt,
d. h. im Körper verbreitet werden. Es ist aber nicht unwahr¬
scheinlich, dass zuvor die eine oder die andere der entstandenen
Bleiverbindungen einen örtlichen Reiz auf seine Hülle ausübt und
dadurch Hyperämie ev. Entzündung oder Eiterung hervorruft. Ja,
vielleicht ist die früher oder später entstehende Eiterung
ein Vorgang, an dem, neben dem Reize der an ihrer Ober¬
fläche uneben gewordenen Kugel, die chemische Bleireiz¬
wirkung ätiologisch nicht unbctheiligt ist. Die Anschauung,
dass die noch nach Jahren cintretende Eiterung als eine Wirkung frei
gewordener, bis dahin latent gebliebener Pilze aufzufassen sei 3 ), ver¬
mag ich nicht zu theilen. Denn selbst wenn man die höhere Pro-
1) L. Lewin, Deutsche med. Wochenschrift. 1906. No. 18.
2) L. Lewin, Die Nebenwirkungen der Arzneimittel. 1899. 3. Aull.
3) Köhler, Moderne Kriegswaffen. 1900. Bd. 2. S. 747.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
957
jectilwärme bei ihrem Eindringen, z. B. in einen Knochen, nicht für
genügend erachten sollte, etwa vorhandene Eiterkokken zu vernichten,
so ist nicht abzusehen, warum solche lebend in die Wunde gelangten
Organismen sich nicht gleich oder in einigen Monaten zu einer
destructiven Thätigkeit veranlasst sehen sollten. Die Bedingungen
für ihr Wirken können doch dadurch nicht ein Ende finden, dass
sic in eine Kapsel eingeschlossen sind. Die Gewebskapsel lebt
wie anderes vascularisirtes Gewebe und ist deswegen zu allen
Zeiten angreifbar.
Wie immer auch die Eiterung entstehen mag — ihr Vorhan¬
densein kann für eine weitere Bleilösung durch den Eiter nur
günstig wirken, da auch dem Eiter diese Fähigkeit in hohem Grade
zukommt. Hier besteht ein Circulus vitiosus, der für den Blei¬
träger verhängnisvoll werden kann.
Und noch ein Weiteres ist möglich und oft gesehen worden,
nämlich das Wandern des Projectils. Wenn durch seine An¬
wesenheit die anliegenden Gewebe Veränderungen erfahren haben,
wenn durch Eiterung und Usur der bisherige Tragboden nicht mehr
den Druck der Kugel aushalten kann, sinkt sie durch diejenige
Stelle hindurch, die den geringsten Widerstand bietet, in neue
Regionen. Hier erneuert sich das alte Spiel des Verweilens und
der Bleilösung und kann sich in einer tieferen Körperetage noch
mehrfach wiederholen. Dies zeigte klar jener Kranke, dem eine
Kugel in den Hals geschossen wurde. Die Wunde heilte. Nach
einem Jahre bekam er Schmerzen in der Höhe der siebenten Rippe
und Hämoptoe, nach 5 Jahren einen Abscess in der Lendengegend,
nach 8 Jahren einen Abscess an der Spina ilea anterior inferior
und nach 11 Jahren einen Abscess am Damm, aus dem die Kugel
entfernt wurde 1 ). Es ist völlig ausgeschlossen, dass in dieser Zeit
durch die vielen Eiterungen und andere Lösungsbedingungen nicht
auch reichlich Blei in den Körper gekommen sein sollte.
c) Die Gründe für die Seltenheit der Mittheilungen über Blei¬
wirkungen nach Schüssen.
Wenn wirklich aus dem lagernden Bleiprojectil Blei in irgend
einer Form in den Körper abschwemmt, so könnte es manchem
1) Sehaffranek, Deutsche med. Wochenschr. LS7S. No. 12.
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L. Lewin,
seltsam erscheinen, dass über Bleiwirkungen unter solchen Be¬
dingungen nur selten berichtet worden ist. Für denjenigen, der
die Bleipathologie näher kennt und der ausserdem viele Bleiarbeiter,
auch solche, die metallisches Blei durch die Haut oder in die
Lungen aufnehmen, gesehen hat, ist diese Thatsache nicht beson¬
ders verwunderlich. Zwei Umstände begründen sie. Der erste
ist die ausserordentliche Vielseitigkeit der Blei-Giftsymptorae, die
auch ärztlicherseits nicht immer ganz der Beurtheilung zu Grunde
gelegt wird. In sehr viele Gruppen von Krankheitsäusserungen
strahlen sie in allen erdenklichen Intensitätsgraden hinein und
können deswegen leicht mit sogenannten idiopathischen Leidens¬
symptomen verwechselt werden, wenn sie sich nicht gerade als so¬
genannte typische Bleisymptome, wie Kolik mit Bleisaum oder als
Lähmung darstellen. Bei manchen Bleiarbeitern, die sich für völlig
gesund hielten und bei denen ein Bleisaura fehlte, nahm ich z. B. den
widerlichen Bleiathem war. Andere klagen über gichtisch-rheumatische
Beschwerden, die sie und auch wohl der Arzt von vornherein nicht
auf das im Körper vorhandene Blei zurückführen, ebensowenig wie
eine Schwäche in der Zeugungssphäre, oder einen typischen asthma¬
tischen Zustand, oder eine Parotitis, oder einen Herpes zoster, oder
Nierenentzündungen mit allen ihren möglichen Folgen, oder Verstopfung,
die zum dauernden Gebrauch von starken Abführmitteln nöthigt, oder
Leberleiden, oder geschwürige Veränderungen im Duodenum, oder
gewisse Herzstörungen, wie sie auch Nichtbleivergiftete aufweisen.
Wie mannigfaltig in Gestalt und Schwere sind nicht allein die
Störungen in den Sinnesorganen, die das Blei veranlassen kann, von
allerlei Schstörungen ohne oder mit erkennbaren Veränderungen an
den Augen an bis zu den Functionsänderungen im Gehör und den
Empfindungsstörungen! Und weiter die zahlreichen Vergiftungs-
äusscrungen seitens des Gehirns, die, wenn sic noch leicht sind und
vielleicht in ihrer Gesammtheit nur einem neurasthcnischen
Zustand ähneln, gewiss nicht leicht ätiologisch auf einige Gramm
Blei zurückgeführt werden, die irgendwo im Körper seit langer Zeit
stecken. Gerade hierin liegt die grösste Tücke des Bleis, sich in
seinen Giftäusserungen gewissermaassen pathologisch - familiär
zu zeigen, so familiär, dass selbst in unserer Zeit deutliche, man
könnte fast sagen, grobe Bleisyraptome, die durch eine Bleikugel
veranlasst wurden, nicht als ßlcisymptome erkannt worden sind.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
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Der zweite Umstand, der das Stellen einer ursächlichen Dia¬
gnose erschwert, ist die scheinbare oft langdauernde lncubation
eines Bleileidens. Aus Gründen, die bald entwickelt werden sollen,
können schwerere Symptome erst unter gewissen Bedingungen einer
chemischen Cumnlation löslich gewordener Bleiverbindungen, oder
einer functioneilen Cumulation, d. h. einer Addition kleiner primärer
Symptome zu einem einzigen oder mehreren sehr sinnfälligen ent¬
stehen. Es ist aber ohne Weiteres klar, dass, wenn das Blei durch
seine biochemische Energieentfaltung leichtere Functionsstörungen
hervorzurufen vermag, es zwar schon an sich, besonders aber auf diesen
Grundlagen auch Gröberes veranlassen kann. So kommt es, dass
ein Bleiträger sein Blei kaum noch als Fremdes betrachtet, während
es thatsächlich bereits seine Wirkungen in den Körper eingezeichnet
hat. Es giebt in gesundheitlicher Beziehung einen „Standard of
life“, mit dem ein Jeder auszukommen sucht, wenngleich er nicht
den Normalzustand eines Menschen darstellt. So accommodirt sich
subjectiv auch ein Bleibehafteter, ohne den Grund zu kennen, an
diese oder jene Symptomengruppe, die thatsächlich von dem Metall
herrührt, so wie sich ein Anderer an ein gichtisches Symptom
oder an eine Schwerhörigkeit oder an zeitweilig auftretende ar-
thralgische Zustände accommodirt — bis gelegentlich die Rohheit
der Bleiwirkung das Toleranzmaass überschreitet. Wann und ob
dieses letzte Stadium eintritt, lässt sich nicht Vorhersagen. Im
Wesentlichen hängt dies von den regulatorischen Kräften des
menschlichen Organismus ab.
Zwei Möglichkeiten des Verbleibs von anorganischen Giften
giebt es, nämlich die Ausscheidung und die Ablagerung.
Alle praktische Erfahrung lässt die Annahme zulässig erscheinen,
dass der menschliche Leib das eingeborene Bestreben hat, alle in
ihm entstandenen oder von aussen in ihn hineingelangten, ihm
fremdartigen, nicht assimilirbaren chemischen Stoffe schnell und
auf dem bequemsten Wege abzustossen. Als Ausführungswege
stehen ihm in reicher Zahl die Drüsen zur Verfügung, die er auch
unter normalen Verhältnissen benutzt, um sich von denjenigen
Abnutzungsproducten seines Zellenlebens und seiner Säfte zu be¬
freien, die nicht nur als gleichgültiger Ballast fortgeschafft werden
müssen, sondern auch als Stoffe, die, mit nicht geringen chemischen
Wirkungen versehen, bei längerem Verweilen Giftwirkungen zu
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L. Lewin,
äussem vermögen. Im Allgemeinen kann man als wahr annehmen,
dass bis auf gewisse Widerstände, die in ihren besonderen che¬
mischen und physikalischen Eigenschaften liegen, oder bis auf Ab¬
weichungen, die durch die Veranlagung der betroffenen Person be¬
gründet sind, die Ausscheidung giftiger Stoffe in einem geraden
Verhältnisse steht zu der Grösse der Drüsen, d. h. der Flüssig¬
keitsmenge, die sie liefern, und zu ihrer Wärme. Obenan stehen
die Nieren und die vielen Darmdrüsen, dann die Schweiss- und
Speicheldrüsen. So kann, wenn nicht sehr grosse Giftraengen an¬
genommen wurden, eine mehr oder minder regelmässige Entlastung
des Körpers auf dem bezeichneten Wege zu Stande kommen, be¬
sonders wenn der Heilplan danach eingerichtet ist. Gifte können
aber auch für längere oder kürzere Zeit im Körper deponirt
bleiben und entweder ein verhältnissmässiges Gesundsein oder un¬
unterbrochenes oder nur zeitweiliges Kranksein durch erneutes Ueber-
gehen der Gifte aus den Depots in die Säftebahnen veranlassen.
Sobald die regulatorische Ausscheidung z. B. an den Nieren
versagt oder sioh mindert, so kann es zu einer chemischen Cumu-
lation mit allen möglichen Folgen kommen. Auch eine biologische
Regulation eines bereits durch das Gift gesetzten Schadens kann
sich vollziehen. Denn jedes Lebewesen verfügt gegen einen ihn
treffenden Schaden über ein gewisses Maass abwehrender und regu¬
latorischer Energie, deren Grösse einen ebenso schwankenden
Werth darstellt, wie die Energie der normalen Lebensvorgänge. Die
Bethätigung der Selbsthilfe erfolgt in irgend einem Umfang, hört
aber auf, wenn die chemisch-reactive Kraft des Giftes die vitale
Energie am Orte der Giftwirkung oder allgemein ausschaltet. Auch
mit der Reservekraft, über welche die betroffenen Gewebe verfügen,
wird ein Ausgleich der Schädigung dann nicht mehr so, wie es die
allgemeine Regel erwarten lässt, herbeigeführt.
Erscheint bei einem Menschen, der ein Stück Blei in seinem
Körper trägt, Blei im Harn, so ist dies ein Symptom einer Regu¬
lation aber auch ein Zeichen, dass das Blei aus dem Metall¬
zustande in eine lösliche Verbindung übergegangen ist,
d. h. aus dem biologisch sicher inactivcn Stoff in einen
chemisQh und biologisch reactiven.
Die Auffassung 1 ), dass das Vorkommen von aus einem Pro-
1) Braatz, Münchener med. Wochenschr. 1907. S. 1068.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
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jectil stammendem Blei in einem Secret oder Excret eben so wenig
ein Vergiftungssyraptom darstellt, wie das Vorhandensein etwa von
Jod im Harn, ist aus dem eben angegebenen Grunde schief und
geeignet, Verwirrung bei Unerfahrenen zu erzeugen. Denn hier
sind zwei völlig incommensurablc Verhältnisse mit einander ver¬
glich«! worden. Gerade die bisherige Annahme, dass die Blei¬
kugel in ihrer Totenlade, unberührt von allem, was um sie her an
chemischen Vorgängen sich abspielt, ruht, hat ja Viele veranlasst,
sie als eine reactionslose und nicht reactiv werdende Masse an¬
zusehen. Sobald der Nachweis erbracht wird, dass dem nicht so
sein kann, dass Blei von der Kugel gelöst in den Kreislauf ein-
t ritt, muss mit der Möglichkeit seiner Giftwirkung gerechnet
werden. So gross ist die Gefahr dieses Erfolges, dass meines Er¬
achtens Lebensversicherungen einen Menschen mit Bleigeschossen
im Körper anders bewerthen müssen als einen andern Menschen,
besonders wenn in seinem Harn oder im Speichel oder im Kothe
Blei gefunden wurde. Denn diese regulatorische Ausscheidung kann
versagen und dann Folgen zeitigen, die auch in. Bezug auf die
Lebensdauer einen Einfluss haben können. Toxikologisch ist jede
Annahme als der Wirklichkeit nicht Rechnung tragend anzusprechen,
die darauf hinausläuft, im Kreislauf befindliches Blei als harmlos
zu bezeichnen. Es muss wirken, weil es dann ein reactiver Körper
geworden ist, der Beziehungen zu Zellsubstanzen und sogar zu den
rothen Blutkörperchen hat, die frühzeitig dadurch degenerative
Veränderungen erfahren. Eine Sicherheit über den Umfang dieser
Wirkungen zu geben vermag Niemand. Sie können heute gering
sein aber vielleicht in Monaten oder Jahren sich zu schweren oder
lebensbedrohenden ausbilden. Läge kein anderer Grund als
dieser, d. h. die völlige Ungewissheit über das Schicksal
des Bleiträgers vor, so müsste er genügen, um Geschosse
nicht im Körper zu belassen.
7. Bleivergiftungen nach Kugel- und Schrotschössen.
Wahrscheinlich sind Bleivergiftungen durch im Körper weilende
Kugeln oft gesehen und nur falsch gedeutet worden. Nur ein
winziger Bruchtheil der heute gekannten Bleisymptome war bis
zum 18. Jahrhundert beschrieben worden. Aber selbst die ge¬
kannten, groben, wie z. B. die Kolik, würde man mangels einer
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L. Lewin,
genügenden toxikologischen Erkenntniss und der zum Axiom er¬
hobenen Toleranz des menschlichen Körpers für Bleiprojectile auf
andere als diese Ursachen zurückgeführt haben. Wenn Girolaino
Fabrizi sagt: „Globulus intus detentus solet a multis gestari annos
intcgros sine ullo fere corporis sed forte animi tantum mo-
lestia“, so hat er vielleicht Fälle gesehen, in denen psychische
Bleiwirkurigen vorhanden waren, hat sie aber sehr wahrscheinlich
nicht als solche aufgefasst.
Aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts giebt es eine Kranken¬
geschichte, in welcher ich den durch eine Bleikugel veranlassten
Saturnismus erkenne, während der Verfasser an einen solchen nicht
gedacht hat. Ein Oberst trug 30 Jahre lang eine Bleikugel, die
höher eingeschossen, schliesslich im Fusse gelandet war. Man ex-
trahirte sie. Nach 5 Wochen war die Wunde verheilt „absque
ullo superveniente symptomate, nisi podagrico, cui alias jam tura
obnoxius esse suevit, ita ut non saltem pedes sed et genua imo
ipsum caput quoque suos ferre torturas debuerint“. Die hier ge¬
schilderte Bleigicht war wahrscheinlich nicht das einzige Blei¬
symptom, an dem der Mann gelitten hatte. Aber auch eine solche
Pathoelectivität giebt es.
Erst wieder aus dem Jahre 1828 liegt ein Bericht über eine
durch eine Bleikugel veranlasste Hemiplegie vor, der ein volles
Bild einer chronischen Bleivergiftung darbietet und der seiner be¬
sonderen Wichtigkeit wegen hier angeführt werden soll 1 ). Ein Soldat,
der 1801 in Egypten einen Schuss in das rechte Schienbein er¬
halten hatte, wurde 1827 in das Lazareth in Erfurt wegen einer
halbseitigen Lähmung der rechten Körperhälfte aufgenoramen. Der
völligen Lähmung war eine Schwäche der unteren und später in «
etwas geringerer Weise auch der oberen Extremität dieser Seite
vorangegangen. Neben dieser Hemiplegie bestanden: asthmatische
Beschwerden, Husten mit Auswurf, geringe Esslust, ein fieberhafter
Puls, Verstopfung und Beschwemiss beim Entleeren des Harns.
Dazu gesellten sich: Schlafneigung, Verdriesslichkeit, Empfindlich¬
keit gegen Geräusche, Verlust der Empfindung in der gelähmten
Seite, Sopor, Kopfschmerzen, die dadurch erkannt wurden, dass er
häufig mit der linken nicht gelähmten Hand an den Kopf griff,
1) Stiive u. Grossheim, Journ. d. Chir. u. Augenheilk. 1827. Bd. X.
S. 142.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
963
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 1: aana das obere Ende der Tibia; bb Capitulum Fibulae; cc (ielenk-
fläche der Condyli tibiae; d Eminentia intermedia; ec Spina tibiae; /7/7’Be¬
grenzung der im Zustande von Degeneration befindlichen Knochentheile; gggg
Begrenzung des in Fig. 3 dargestelltcn abgesprengten Stückes; h Vertiefung an
der Stelle, wo die Kugel eingedrungen.
Fig. 2: ece die nach Absprengung des Stückes Fig. 3 sichtbar werdende, das
degenerative Gefüge des Knochens darstellende unebene Fläche, die bei f durch¬
aus fest ist; g die halbkugelige Vertiefung, in welcher die Hälfte des Umfanges
der Kugel geruht hatte.
Fig. 3: Das abgesprengte Stück (Fig. 1, gggg), von der hinteren Fläche aus
gesehen, mit der darin festsitzenden Kugel n.
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L. Lewin,
Unempfindlichkeit des rechten Auges, Ptosis des rechten Lides.
Verzogensein der rechten Gesichtsmuskeln, tiefe röchelnde Athmung
und als Vorläufer des nach 12 Tagen erfolgenden Todes eine all¬
gemeine Lähmung.
Bei der Section fand sich die linke Gehirnhemisphäre „fast
ganz degenerirt“. Es zeigten sich bei der schichtweisen Abtragung
der Gehirnmasse eine Menge sackförmiger Behälter, in welchen
eine bräunliche, krümelige Masse, wie von altem Blut, enthalten
war. Diese Massen erstreckten sich bis zum Corpus callosura, wo
Eiter vorhanden war „und das Gehirn ganz dünnflüssig erschien-.
Solche Erweichungsherde, die aus Blutungen hervorgehen, hat man
in neueren Fällen von Encephalopathia saturnina mit oder ohne
Hemiplegie wiederholt festgestellt. Die Bleikugel fand man, fest
eingekeilt, am oberen Ende der Tibia, mitten in dem Knochen,
wie die Kastanie in ihrer Schale sitzend. Nicht" unwichtig ist es.
darauf hinzuweisen, dass das Blei der Kugel die Höhlung,
in der sie gelegen hatte, blauschwarz gefärbt hatte, d. h.
dass kleinste Bleitheilchen abgerieben und so der Resorption leichter
zugänglich gemacht worden waren.
Diese so schwere Bleivergiftung hat den Schilderern derselben
keinen Anlass gegeben, auf die pathogene Rolle des Bleies in der
Bleikugel einzugehen, und auch in unserer Zeit wurde dieser, ein¬
mal in einem Berichte angeführte, Fall völlig verkannt.
Im Jahre 1843 wurden, worauf ich vor längerer Zeit hinwies,
durch den Einschuss von Schrotkörnern bei einem Menschen, hoch
oben am Oberschenkel — der Schusscanal endete an der inneren
Schenkelfläche — bei einem anderen in den unteren Theil des
Oberschenkels Bleisymptome in der Form von Koliken, Schwäche
und Fieber beobachtet, aber irrthümlich auf das in dem Bleischrot
enthaltene Arsen zurückgeführt 1 ).
Ganz verkannt 2 ) wurde der Zusammenhang einer Blei Wirkung
durch ein in der Schlacht bei Trafalgar von oben und vorn vor
dem Acromion in den Gelenkkopf gedrungene Bleikugel mit dem
endlichen Leiden. Die Kugel war 45 Jahre lang getragen worden,
ohne örtliche Beschwerden irgend einer Art gemacht zu haben.
Der Betreffende soll nach seiner Verabschiedung durch den Genuss
1) Fluskal, Oesterr. med. Wochenschr. 1843. S. 505.
2) Simon, Prager Vierteljahrsschr. 1853. I. S. 168.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
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von Branntwein „fast stumpfsinnig“ geworden sein. An die Mög¬
lichkeit und, wie ich glaube, an die Wahrscheinlichkeit des Zu¬
sammenhangs dieser cerebralen Affection mit einer Blei-Gehirn¬
wirkung wurde nicht gedacht, obschon die nach dem Tode extrahirte
Kugel durch ihren Salzbelag erkennen liess, dass chemische Blci-
umsetzungen stattgefunden hatten, deren Producte ihrerseits in
Lösung zu gehen vermochten.
Fig. 4.
Fig. 4: a In die Gelenkhölile frei hineinragendes Kugelsegment; a' dureli den
Sägeschnitt freigelegter Theil der Kugcloberfläche.
Fig. 5: a Das in die Gelenkhöhle blickende Kugelsegment; b ringförmige Ver¬
tiefung um die Kugel, durch Abstossung des Knorpels und einiger Knoehcn-
theilchcn erzeugt; c langer Kopf des Iliceps.
Erst 1867 wurden durch vielleicht nur drei in die Hohlhand
eingeschossene und in den Vorderarm gedrungene Bleischrote Nr. 5
Bleisymptome beobachtet und richtig gedeutet 1 ). Sieben Wochen
dauerte der Heilungsprocess der Wunde. Nach der achten er¬
schienen Koliken, Bleisaum, eine sechstägige Verstopfung, ein kleiner
frequenter Puls, Abmagerung und Kachexie. Man extrahirte zwei
Schrote .nach 8 Wochen. Obwohl der Bleisaum und die Koliken
geringer wurden, blieben die Abmagerung, der Appetitverlust, die
bis 130 gehende Pulszahl, die erdige Gesichtsfarbe unerfreulich.
1) Bronvin, L'Union mcd. 18G7. T. III. Nr. 3. p. 89.
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L. Lewin,
Noch nach 3 Monaten war es ebenso. Angeblich entliess man den
Kranken geheilt. Er hatte aber noch Schrot in seinem Körper.
War hier die Vergiftung ziemlich acut eingetreten, so zeigte
sich in dem später von Küster und mir beschriebenen Falle 1 )
scheinbar ein etwa 17 1 /«, Jahre dauerndes Latenzstadium nach dem
Einschuss in den Kopf der Tibia. Dann folgten eine Bleianämie,
Schwäche, Koliken, Verstopfung, Bleisaum und leichtes Handzittern.
Im Harn fand sich Eiweiss. Bei der Operation schimmerten unter
der Narbe, schon am Periost graublau gefärbte, in das Gewebe
eingesprengte Massen durch, die sich bis in den Knochen verfolgen
liessen. Auch in einem Bindegewebsknoten der Innenseite fanden
sich eingesprengte graublaue Partikelchen. Ebenso war der Knochen
dicht unterhalb des Gelenkknorpels mit schwarzblauen Blättchen
durchsetzt. Es war somit sicher ein Theil des Geschosses beim
Einschuss zersplittert worden. Dass ich zur Zeit der Untersuchung
im Knochenfett kein Blei nachweisen konnte, beweist selbstver¬
ständlich nicht, dass nicht doch vorher eine solche Lösung statt¬
gefunden hat. Zu erweisen war nur Bleioxyd, Bleioxydhydrat und
Bleicarbonat.
Das einfache von mir 2 ) angegebene Verfahren für den Blei¬
nachweis gestattet dem Arzt leicht selbst die hierhergehörigen Fest¬
stellungen zu machen: Wenn Eiereiweiss oder thierisches Gewebe
mit Natronlauge gekocht wird, so entsteht eine gelbe Lösung. Das
Molekül des Eiweisses wird zerstört. Hierbei wird der Schwefel
des Eiweisses frei, der sich sofort mit dem Natrium zu Schwefel¬
natrium verbindet. Befand sich in dem zerstörten Gewebe auch
nur eine Spur von freiem oder an Eiweiss gebundenem Blei, so
entsteht durch Umsetzung mit Schwefelnatrium Schw r efelblei, da>
sich als braunschwarze Verfärbung der Flüssigkeit oder als schwarzer
Niederschlag zu erkennen giebt. Auf diese Weise konnte ich noch
0,000096 g Blciacetat nachweisen.
Man hat da, wo Blei in metallischer Form vermuthet wird,
nur nöthig, durch Salpetersäure zu lösen, dann Eiereiweiss und
Natronlauge im Ueberschuss hinzuzufügen und zu kochen. Handelt
es sich um ein eiweiss- und bleihaltiges Gewebe, so versetzt man
nur mit Natronlauge und erhitzt. Die bräunliche Färbung oder
1) Küster u. L. Löwin, Dieses Archiv. Bd. XL1II. 1892. Jubelheft.
2) L. Löwin, Deutsche Medicinalzcitung. 1883. Nr. 12.
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Das toxische Verhalten ron metallischem Blei eto.
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der schwarze Niederschlag von Bleisulfid lassen sich durch Sal¬
petersäure zum Verschwinden bringen. Es entsteht Bleinitrat unter
Abscheidung von Schwefel oder bei hoher Concentration der Sal¬
petersäure unlösliches Bleisulfat.
Während bis zu der Mittheilung von Küster und Lewin in
einem Zeitraum von über 2000 Jahren nur von einem Beobachter
zweimal Vergiftungen bewusst auf ein im Körper steckendes Projectil
bezogen wurden, kamen nach dieser Mittheilung im Jahre 1892
bis jetzt, also in 19 Jahren, sieben solcher Fälle zur Veröffent¬
lichung. Dies spricht deutlich genug für einen Fortschritt der
Erkenntniss von dem schädlichen Einfluss, den solche Fremdkörper
haben und den sie nach Naturgesetzen zu allen Zeiten haben
mussten.
In einem dieser Fälle war einem Treiber eine volle Schrot¬
ladung in die Beine geschossen worden. Nach ca. 3 Wochen stellte
sich Kolik ein. Einige Tage später erschienen ein Bleisaum und
gleichzeitig eine Neuralgie beider Gesichtshälften. Es musste der
grössere Theil der Zähne ausgezogen werden. Der Verletzte verlor
20 kg Körpergewicht. In dem anhängig gemachten Civilprocess
gaben die später hinzugezogenen ärztlichen Sachverständigen zu,
dass einige Symptome denen einer Bleivergiftung entsprächen, dass
aber die eingeschossenen Schrote nicht die Erkrankung verursacht
haben könnten. Das Gericht schloss sich dem ersten Gutachter
an, der den Zusammenhang für erbracht ansah 1 ).
Die eigenartigen Veränderungen an den Zähnen wurden auch
bei einem Officier nachgewiesen, der eine Ladung Schrote No. 9 in
die linke Handfläche eingeschossen bekam. Der Schusscanal
endete an der hinteren Fläche des unteren Drittels des Vorder¬
arms. Ein Theil der Geschosse konnte sofort ausgezogen werden.
Nach etwa 4 Wochen traten Koliken von achttägiger Dauer und
bald auch ein ßleisaum auf. Die Zähne waren leicht blossgelegt
und locker geworden. Nach etwa 14 Wochen stellten sich
Koliken mit Erbrechen von durchschnittlich viertägiger Dauer
während eines Zeitraumes von 18 Tagen ein. Das Röntgenbild
zeigte Blciinfiltration der Palmaraponeurose und der tieferen Ge¬
webe. Man extrahirte nach der Freilegung aus der subperiostalen
1) Monatshefte des Allgemeinen deutschen Jagdschutzvercins. 1893 bcr.
hei K Ikonin. Das Original vermochte ich nicht aufzufinden.
Archiv fUr klin. Chirurgie. Bd. 94. Heft 4. ^
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L. Lewin,
Schicht des Knochens im Ganzen noch 1,63 g deformirte Schrote.
Es trat danach allmählich Besserung ein 1 ).
Wiederholt ist nun auch von Neuem erwiesen worden, dass es
nicht nur der grossen Oberfläche vieler kleiner Bleigeschosse bedarf,
um eine genügende toxische Bleilösung zu veranlassen, sondern
dass auch eine einzige Bleikugel zur Bleivergiftung führen kann.
So bekam ein Soldat im Jahre 1872 einen Schuss in die rechte
Wange. Die Kugel ging hinter die obere Insertion des Sterno-
cleidomastoideus. Nach 2 Jahren stellte sich eine starke Anämie
ein und nach etwa 3y 2 Jahren Koliken mit Erbrechen von
24—48 ständiger Dauer. Dieses Leiden hielt 4 Jahre an. Nach
9y 4 Jahren kamen Gichtanfälle von etwa fünftägiger Dauer
5—6 mal im Jahr, 4 Jahre lang. Dann erschien statt der Gicht
ein universelles Eczem und dann wieder einmal im Jahre ein
Gichtanfall. Nach im Ganzen 19 Jahren nach dem Schoss ging
es dem Kranken leidlich. Ein Bleisaum fehlte und im Harn war
kein Blei 2 ). Andere Secrete und Excrete wurden nicht darauf
untersucht. Da aber das Blei durch alle Drüsen, z. B. auch,
wie Pouchet 8 ) nach wies, reichlich durch die Speicheldrüsen aus¬
geschieden wird, so müsste die Untersuchung sich auch darauf
erstrecken.
In den meisten derartigen Fällen erfahren die Stoffwechsel¬
vorgänge eine mehr oder minder starke Störung, und da auch die
Integrität des Blutes leidet, so sind Gewichtsverluste des Körpers,
allgemeine Schwäche und ein krankhaftes Aussehen häufige Folgen.
So kann es kommen, dass ein Mann von 40 Jahren wie ein
70jähriger Greis aussah. weil er 18 Jahre lang eine Bleikugel im
Oberschenkel trug. Zu der fahlen Bleifarbe des Gesichts gesellten
sich weisse Haare. Foetor ex orc, ein breiter, schiefergrauer
Bleisaum, Verstopfung, Koliken, Bleihciserkeit und ein gespannter
Puls wiesen auf die toxische Energie des Bleis hin. Das etwa
2 cm grosse Projcctil mit gekerbter, stellcnweis wie abgenagter
Spitze, sass so fest im Knochen, dass es ausgemcisselt werden
musste 4 ). Der Kranke erholte sich rasch. Wenn man häufiger
1) Nimier ct Laval, Lc Caducec. T. I. 1901. p. 53. — Lafitte,
De rintoxication saturnine. Bordeaux 1907. p. 57.
2) Choynau, bei Mabit. De rintoxication saiurnine. Paris 1902.
3) (i. Pouchet, Conipt. rend. de Pacad. des Sciences. 1879. 28 jublet.
4) Vueetic, Allgem. Wiener Med. Zeitung. 1897- Jahrg. XLI1. 8. 221.
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
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als bisher solche Bleiträger untersucht haben wird, so werden sich
die degenerativen Blutveränderungen, auf die man freilich, wie ich
glaube, ein zu grosses Gewicht legt, in ihrem wahren früh¬
diagnostischen Werthe mehr aufhellen lassen. Schon jetzt hat
man sie in der Form des Vorhandenseins von „basophilen Granu¬
lationen“ bei einem Manne erwiesen, der eine Bleigeschossladung
im Arme trug 1 ). Ich halte schon mit Rücksicht darauf, dass
diese Degenerativvorgänge an den Blutkörperchen auch bei Darm-
fäulniss, ferner bei septischen Processen und mancher anderen
äusserlichen oder innerlichen chemischen Beeinflussung Vorkommen,
es für wichtiger, auf der Grundlage einer guten Kenntniss der
initialen und späteren Bleivergiftungssymptome klinisch den Ver¬
letzten so eingehend wie möglich zu untersuchen. Sollte überdies
in dem zu verschiedenen Zeiten untersuchten Harn sich Blei er¬
weisen lassen, so wäre nicht nur die Diagnose gesichert, sondern
überdies auch prognostisch ein guter Anhalt gegeben. Man müsste
aber, selbst wenn ausser der Plumburie noch kein klinisches
Symptom vorhanden ist, zum Ausdruck bringen, dass mit einer
Bleivergiftung gerechnet werden muss. Dies ist erfreulicher Weise
in einem solchen neueren Falle geschehen 2 ). Ein Mann hatte
durch Unfall eine Schrotladung in die rechte Wadengegend be¬
kommen. Man entfernte einige Schrote und entliess den Kranken
nach einiger Zeit als geheilt. Nach einem Jahre wurde er mit
Köntgenstrahlen untersucht. Man stellte über 150 eingeheilte Schrot¬
körner von etwa 2 3 / 4 mm Durchmesser fest. Ganz mit Recht wurde
erklärt, dass die Prognose für die Zukunft nicht gerade günstig
lauten könne. Fünf Jahre später fand sich im Harn Blei.
Dass die Grundfrage, die auf den vorstehenden Blättern be¬
handelt wurde, nämlich ob ein im Körper sitzendes Bleigeschoss
Saturnismus erzeugen könne, auch unfallrechtlich Bedeutung
gewinnen kann, habe ich in einem dem Reichs versicherungsamt
erstatteten Obergutachten dargelegt 3 ). Es ist dies der neueste
Fall von Vergiftung durch Bleigcschosse.
1) Sabrazcs, Proces-verbaux de la societe lineenne de Bordeaux 1901.
9 janv., und Münchener med. Wochensehr. 1907. S. 1214.
2) K Ikonin, IVber Bleivergiftung nach Sehussverletzuiuien. Königsberg
1907. S. 16.
3) L. Lewin, Amtliche Nachrichten des Keichsversieherungsamts 1907.
17. Deeeinber,
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970
L. Lewin,
Ein Jäger wurde im Berufe durch einen Sehrotschuss an-
gcschossen. Meinen Feststellungen nach erfordert das Gewehr¬
kaliber 16 eine Menge von 30 g Schrot von 2 l / 2 mm. Dies sind
ungefähr 285 Schrotkörner. Das Kaliber 12 erfordert 35 g Schrot
desselben Durchmessers, d. h. etwa 350 Schrotkörner. Das An¬
schiessen erfolgte auf etwa 25 Schritt in die linke Seite, haupt¬
sächlich in den Kopf und die Schulter. Nimmt man an, dass
von 285 Schroten nur 60 in den Körper gedrungen seien — es
waren wahrscheinlich viel mehr, da es sich um einen berufs¬
mässigen Schützen handelte, der den Schuss abgab — so würden
diese einer Menge von 6 g Blei entsprechen. Das linke Auge war
durch eingedrungene Schrote verloren gegangen, wofür eine Unfall¬
rente von 30 pCt. bewilligt wurde. Acht Monate nach dem Un¬
fälle musste wegen nervöser Störungen eine Klinik aufgesucht
werden, die aber nur wenig Hilfe brachte. Als arbeitsunfähig
entlassen, klagte der Verletzte in den nächsten 5 Jahren über
Uebelkeit, Appetitlosigkeit, Gedächtnissschwäche und Kopfschmerzen.
Nach 7 Jahren erschienen epileptische Krämpfe, rechtsseitige
Pupillenstarre und Herabsetzung des Kniesehnenreflexes. Es be¬
standen Verfall und Siechthum in geistiger und körperlicher Be¬
ziehung. Eine Erhöhung der Unfallrente wurde abgelehnt. Zehn
Jahre nach dem Unfälle starb der Verletzte nach vorangegangener
Sprachlosigkeit in Bewusstlosigkeit unter den Erscheinungen eines
apoplektischen Anfalles. Die Klage der Wittwe auf Hinterbliebenen-
Rente gelangte schliesslich an das Reichsversicherungsamt. Dieses
vermochte ich davon zu überzeugen, dass selbst unter der Be¬
rücksichtigung der Angabe, dass der Verstorbene früher ganz
kurzdauernde Bewusstseinspausen, vielleicht als Ausdrucksforin
einer Epilepsia mitior, gehabt habe, die ganze Entwickelung des
Leidens auf eine Encephalopathia saturnina hinweise, die dem
Verletzten die Arbeitsfähigkeit und schliesslich das Leben raubte.
Die beträchtliche Menge des Bleis, die in den Körper gerathen
und darin verblieben war, konnte mit ihren grossen Angriffsflächen
für bleilösende Einflüsse und ihren grossen Abgabeflächen an die
resorbirenden Theile nicht als eine energielose Masse angewiesen
werden. Die Symptome offenbarten sich für den Wissenden deut¬
lich genug als Bleiwirkungen. Von den vielen Vorgutachtern hatte
auch nicht einer an die Möglichkeit eines vorliegenden Saturnismus
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Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
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gedacht, obschon einige der Symptome während der Entwickelungs¬
jahre des Bleileidens und besonders die gegen das Ende des
Lebens auftretenden, wie die Pupillenstarre, die Stimmlosigkeit,
der körperliche und geistige Verfall, eine solche Annahme nahe¬
legen mussten.
Der erkennende Senat erkannte an, dass der ursächliche Zu¬
sammenhang zwischen dem Leiden des Mannes und dem Schiess¬
unfall hierdurch auf einen ganz neuen Boden gestellt worden und
überzeugend sei, und sprach der Wittwe die Rente zu.
Schlussbetrachtimgen.
Je mehr ich von den verderblichen Wirkungen durch Blei ge¬
sehen habe, um so mehr hat sich in mir die Ueberzeugung ge¬
festigt, dass man mit allen Mitteln dafür sorgen soll, dieses heim¬
tückische, an den Lebensfunctionen scheinbar wahllos nagende
Metall aus dem Körper zu entfernen. Ich denke jetzt über die
Folgen des Verbleibens desselben im Körper noch pessimistischer
als in meiner ersten Auseinandersetzung aus dem Jahre 1892.
Niemand kann wissen, wann und in welchem Umfange das Blei¬
depot chemisch mobil wird. Und angesichts dieser immer drohenden
Gefahr, der man — wenn man nicht radical eingreift — nur in
ganz ungenügendem Maasse zu begegnen vermag oder die man,
wenn sie zur Verwirklichung geworden ist, in den Folgen kaum
beeinflussen kann — darf man nicht darauf verweisen, dass es
Menschen gegeben hat, die Jahre hindurch von solchen Projectilen
keine Bleivergiftung davongetragen haben. Denn ich zweifle sogar
an der Thatsächlichkeit dieser Annahme, weil in keinem Falle
Jahre hindurch kritische Beobachtungen über den Gesundheits¬
zustand solcher Individuen mit Berücksichtigung etwaiger Blei¬
wirkungen angestellt worden sind und Angaben darüber fehlen,
unter welchen Symptomen solche Individuen ihr Leben geendet
haben.
Aber selbst wenn man alles dies vernachlässigen wollte, so
würde die höhere wissenschaftliche Erkenntniss über die Bleigefahren
zu dem chirurgischen Eingriffe der Entfernung der Pro-
jectile Anlass geben müssen.
Im glücklichen Besitze der Methode, durch Röntgendurchleuch¬
tung den Sitz des Bleis nachzuweisen, hat die Aufsuchung von Kugeln
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972 L. Lew in, Das toxische Verhalten von metallischem Blei etc.
oder Schroten ihren früheren Schrecken verloren. Die Chirurgie
ist auf der Höhe der Leistungsfähigkeit, bei solchen, auch schwer
erreichbaren Projectilen die Entfernung zu bewerkstelligen. Ich
halte es jetzt für ausgeschlossen, durch innerlich gereichte Mittel,
wie etwa auch Jodkalium, der Bleigefahr zu begegnen. Dies würde
vielleicht bei andersartiger Bleigestalt, z. ß. irgendwelchen Blei¬
salzen, in sehr geringem Maasse eine günstige Folge haben, nicht
aber gegenüber dem massiven Blei, das eine Quelle darstcllt, aus
der die Säfte dauernd gespeist werden können. Nur die Extraction
schafft Hülfe für die Gegenwart und die Zukunft.
Druck von L. Schumacher in Berlin X. 24.
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Archiv f klin. Chirurgie. Bd. 94,
Tafel IX
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Lichtdruck von Albert Frisch, Berlin W35.
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Archiv für klin Chirurgie. 94 Bd.
Fig. 1
Fig. 5
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